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Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
41
Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert Konfrontationen ⴚ Kontroversen ⴚ Konkurrenzen Herausgegeben von Hans-Edwin Friedrich, Wilhelm Haefs und Christian Soboth
De Gruyter
Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Harald Bluhm, Wolfgang Hirschmann, Gabriela Lehmann-Carli, Monika Neugebauer-Wölk, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Levermann, Jean Mondot, Jürgen Osterhammel, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling Satz: Andreas Mohrig
ISBN 978-3-11-025128-9 e-ISBN 978-3-11-025129-6 ISSN 0948-6070 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
I. KARL EIBL: Aporien-Reflexion. Zur funktionalen Äquivalenz von Religion und Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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REINHART SIEGERT: Theologie und Religion als Hintergrund für die „Leserevolution“ des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
WILHELM HAEFS: „Charfreytagsprocession“, „Sündfluthspiel“ und „Monachologie“. Zur Literatur und Theologie der Katholischen Aufklärung . . . . . . . . . . . . .
32
GERHARD LAUER: Bücher von Kühen und andere Freuden der Seelen. Zur jüdischen Literatur und Frömmigkeit, bevor sie aufgeklärt wurden . . . . .
64
ALF CHRISTOPHERSEN: Schnittpunkt Hermeneutik. Zum Synthesecharakter einer sich ausbildenden Disziplin im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert . . . . . . . .
77
II. JAN ROHLS: Vorsehung und Übel. Das Theodizeeproblem in Philosophie, Theologie und Literatur von Wolff bis Wieland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
ALBRECHT BEUTEL: Spalding und Goeze und Die Bestimmung des Menschen. Frühe Kabalen um ein Erfolgsbuch der Aufklärungstheologie . . . . . . . . . . . 108 DANIEL CYRANKA: „Warum nicht?“ Lessings Äußerungen zur Seelenwanderung . . . . . . . . . . . 122
VI HANS-JÜRGEN SCHRADER: Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer Studenten=Gesang als „Anweisung zur Seligkeit in allen Facultäten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 CHRISTOPHER VOIGT: Freigeistiges Publikum und protestantische Apologetik im 18. Jahrhundert . . 161 III. JOACHIM JACOB: Analysis of Beauty. Zur Aufklärung des Schönen zwischen theologischer und materialer Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 RALPH HÄFNER: Bukolik, Physikotheologie, Antimachiavellismus. Barthold Heinrich Brockes’ Preislied auf den Tokayer Wein . . . . . . . . . . . . 199 HANS-JOACHIM KERTSCHER: Vor dem „Richterstul der Religion“. Sensus mysticus und religiöse Poetologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 KATRIN KOHL: Die „beste Art über Gott zu denken“? Auseinandersetzungen um das religiöse Potential der Dichtung im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 IV. HANS-GEORG KEMPER: Literaturtheorie als Predigt im Sturm und Drang. Theologische Implikationen eines literarischen Paradigmenwechsels . . . . . . 243 CHRISTINA JULIANE FLECK: Das Göttliche im Menschen. Ästhetik und Theologie bei Herder . . . . . . . . . 261 MARTIN BOLLACHER: „… über Gott werde ich nie streiten.“ Die Befreiung des Geistes aus dem Buchstaben in Herders Schrift Gott. Einige Gespräche . . . . . . . . . . 275 BRITA HEMPEL: „... die weltliche Theologie oder der Naturalismus, den ich Ihnen predige“. Poetologische Konsequenzen der Religiosität bei J. M. R. Lenz . . . . . . . . . . 285
VII V. CHRISTIAN SENKEL: Zwischen den Stylen. Hamann und die Schwächung Gottes . . . . . . . . . . . . . 296 KARL PESTALOZZI: „Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen“? Schillers Das Reich der Schatten und Lavaters Aussichten in die Ewigkeit . . . 310 BERND AUEROCHS: Was ist eigentlich Kunstreligion? Reflexionen zu einem Phantasma um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 KLAAS HUIZING: Das Geheimnis der Begeisterung oder: Wackenroders narratives Versteckspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Vorwort
I. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert veröffentlichte Karl Muth, Herausgeber der katholischen Literaturzeitschrift Hochland, eine programmatische Schrift, die der Rolle des Katholizismus in der Literatur nachging. Er konstatierte, „daß in dem ganzen ästhetisch wie literarisch so schöpferischen achtzehnten Jahrhundert die Katholiken in Deutschland sich jeder Teilnahme an dem literarischen Leben entzogen sahen.“ Dem katholischen Blickwinkel war die als kanonisch geltende Literatur dieses Jahrhunderts durchgehend fremd: Die deutschen Katholiken haben bekanntlich in der neueren deutschen Dichtung erst eine Rolle zu spielen begonnen, nachdem die von Protestanten ausgegangene romantische Bewegung auf dem Umweg über das Mittelalter den Katholizismus als poetische Weltanschauung sich nutzbar zu machen unternommen hatte. Dieser Eintritt der Katholiken in die neuere Literatur ist ein Ereignis von weittragender Bedeutung. Seit dem Bruch der Glaubenseinheit waren sie so gut wie ausgeschlossen von allen literarischen Bestrebungen der Nation.1
Muth war nicht der Entdecker dieses Sachverhalts; er berief sich auf ein älteres Urteil Ignaz von Döllingers, wonach die „ganze deutsche Literatur seit Lessing […] der katholischen Literatur und dem Christentume ganz entfremdet“ sei, da sie als „Enkelin des Protestantismus“2 gelten müsse. In der Literaturwissenschaft ist dieser Zusammenhang als „geheimnisvolle[s] Wichtigwerden des protestantischen Pfarrhauses für die weltliche Literaturgeschichte“3 bis hin zu Albrecht Schönes „Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne“4 aus dem Jahr 1958 als zentrale Forschungsfrage behandelt worden. Herbert Schöffler war der erste, der, im Rückgriff auf Max Weber und Ernst Troeltsch, eine religionssoziologische Erklärung dieses Phänomens zu geben versuchte.5 Die Sonderrolle des Protestantismus für die Entwicklung der deutschen Literatur hat im 18. Jahrhundert zur Transformation des Literatursystems geführt, deren
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Muth, Carl, Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis. Gedanken zur Psychologie des katholischen Literaturschaffens. Kempten, München 1909, S. 1. Muth, (wie Anm. 1), S. 49. Schöffler, Herbert, Protestantismus und Literatur. Neue Wege zur englischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1922, S. 228. Schöne, Albrecht, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne. Göttingen 1958. „Geistliche, Geistlichensöhne und Jungtheologentum greifen jedenfalls seit 1740 geradezu massenhaft in den Gang der Literaturgeschichte ein, so daß sich das Gesamtbild seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gewaltig verschiebt.“ (Schöffler, [wie Anm. 3], S. 229)
X augenfälligster Ausdruck die Herausbildung der Autonomieästhetik darstellt. Genuin religiöse Texte und Gattungen erwiesen sich im Gefolge dieser Veränderungen zunehmend nicht mehr als kanonfähig. Klopstock hatte in seiner Abschiedsrede aus Schulpforta den Plan zum Messias als „audacia“ angekündigt, einen „noch größern und herlichern Stoff“6 als Milton gestalten zu wollen, indem er den bedeutendsten Stoff in der bedeutendsten literarischen Gattung behandeln werde. Die Rezeptionsgeschichte dieses Epos’ zeigt jedoch eine bereits zu Lebzeiten Klopstocks einsetzende auffallend extreme Entwicklung, die von exorbitanter Hochschätzung hin zu scharfer Abwertung einige Jahrzehnte später führt. In Grabbes Lustspiel Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung (1822) nimmt schließlich der Teufel „mein altes unfehlbares Schlafmittel, Klopstocks Messias“,7 zur Hand. Diese skizzenhaften Bemerkungen zeigen, welche Bedeutung Religion im 18. Jahrhundert für die Ausdifferenzierung der Literatur zukommt. Religion wird für Literatur zunehmend unwichtiger, erfährt einen Geltungsverlust, was als Emanzipation der Literatur von der Vormundschaft der Religion bewertet werden kann; zugleich aber übernimmt Literatur in auffälliger Dichte Merkmale von Religion. In systemtheoretischer Perspektive lässt sich die Neuzeit als Phase der sozialstrukturellen Umstellung von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung beschreiben. Die einzelnen ausdifferenzierten Funktionssysteme sind mit Beginn ihrer Autopoiesis auf den Primat ihrer Funktion spezialisiert. Es handelt sich dabei um einen Prozess, der im 16. Jahrhundert beginnt und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abgeschlossen ist.8 Im Rahmen einer religionssoziologischen Reformulierung und Umstülpung der Thesen Max Webers zum ‚Geist des Kapitalismus‘ lässt sich behaupten, dass die funktionale Differenzierung Anpassungsdruck erzeugt, auf den Religion als soziales Subsystem mit der Herausbildung des spezifischen religiösen Habitus reagiert. Weber hatte in seiner Analyse des modernen Kapitalismus plausibel gemacht, auf welche Weise Religion zum Habitus des ‚modernen‘ Menschen beigetragen hatte: Sie lieferte die stabilisierende Form. Der Protestantismus war so als kausal entscheidendes Vorspiel der Moderne herausgestellt. Das 18. Jahrhundert war der Zeitraum, in dem der welthistorische Prozess in das entscheidende Stadium der Transformation gekommen war: „Teile der Gesellschaft und Ausschnitte der Kultur [wurden] aus der Herrschaft religiöser Institutionen und Symbole entlassen“.9 Diese Phase der historischen Entwicklung wurde und wird zumeist als Säkularisierungsprozess beschrieben.
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7 8 9
Zitiert nach: Cramer, C[arl] F[riedrich], Klopstock. Er; und über ihn. Erster Theil. 1724–1747. Hamburg 1780, S. 75. – „si quid, quod te deceat, dixerimus, neque nostrae huic irascere audaciae, quae te non sequi solum, sed majorem etiam materia tua excellentioremque adgredi molitur“ (S. 116 f.). Grabbe, Christian Dietrich, Werke. Bd. 1: Dramen I. München, Wien 1975, S. 258. Vgl. Luhmann, Niklas, Funktion der Religion. Frankfurt a.M. 1982, S. 256 ff. Berger, Peter L., Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie. Frankfurt a.M. 1988, S. 103.
XI In der germanistischen Literaturwissenschaft galt lange Zeit das Säkularisierungstheorem in der Analyse der Relationen und Interdependenzen zwischen Theologie und Literatur im 18. Jahrhundert als paradigmatisch, seit Albrecht Schönes und Gerhard Kaisers Studien aus den 1950er und 1960er Jahren.10 Noch 2002 rekurrierte Heinz Schlaffer in seiner Kurzen Geschichte der deutschen Literatur auf diesen forschungsgeschichtlichen Zusammenhang und kleidete die historische Entwicklung des Problems in den prägnanten, mehr um Pointierung als um Differenzierung bemühten Satz: „Mit der Übernahme religiöser Sprachgebärden beginnt der Aufstieg der deutschen Literatur, mit der Ersetzung der Religion durch die Kunst ist er vollendet.“11 Säkularisierung aber sei, meinte Reinhart Koselleck schon 1985, ein „weitgreifendes und diffuses Schlagwort geworden, über dessen Gebrauch kaum Einigkeit“ erzielt werden könne. Es diene „der christlichen oder antichristlichen Kulturkritik so gut, wie es als geschichtsphilosophisches Deutungsmuster verwendet wird“12 – wie der Begriff der „Dechristianisierung“ fungierte auch Säkularisierung früh schon als konfessions- und kulturpolitischer Kampfbegriff.13 Ein schillernder Begriff also in der Tat,14 dessen Erklärungswert und heuristischer Nutzen in der Literaturwissenschaft nicht zu Unrecht mehr und mehr in Zweifel gezogen wurden; insbesondere deshalb, weil dem Begriff und dem damit bezeichneten Phänomen ursprünglich ein frühneuzeitlicher kanonischer und juristischer Sachverhalt zugrunde liegt, der später von grundlegender historisch-politischer Relevanz wurde und der noch heute in staatsrechtlichen und politischen Debatten nachwirkt: etwa in dem Sinne, wenn der politische Liberalismus von Jürgen Habermas als „eine nichtreligiöse und nachmetaphysische Rechtfertigung der normativen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates“ verstanden wird.15 Dieser Begriff ist zu trennen von jenem, der in der Wissenschaftsgeschichte als Makroerklärung für einen epochalen Wandel im 18. und 19. Jahrhundert steht, darüber hinaus als zentrale 10 11 12
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15
Vgl. Schöne, Säkularisation, (wie Anm. 4); Kaiser, Gerhard, Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh 1963. Schlaffer, Heinz, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München, Wien 2002, S. 93, vgl. auch ebd., S. 54 ff. Koselleck, Reinhart, Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation [urspr. ein Vortrag auf italienisch 1985]. In: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer. Frankfurt a. M. 2000, S. 177–202, hier S. 179, zum Folgenden auch S. 180 ff. Graf, Friedrich Wilhelm, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2004, S. 70. Vgl. dazu auch den grundlegenden Überblick von Lübbe, Hermann, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe. Freiburg, München 2003 (1. Aufl. 1965). Vgl. auch ders., Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral. München 2004, insbes. Kap. I: Religion säkularisierungsbegünstigt. Habermas, Jürgen, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? In: Habermas, Jürgen, Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Mit einem Vorwort hg. v. Florian Schuller. Freiburg i. Br. 2005, S. 15–37, hier S. 18.
XII Kategorie für Ursprung und Entwicklung der „Moderne“ Anwendung findet.16 Nicht zu Unrecht wird darüber hinaus neuerdings von literaturwissenschaftlicher Seite darauf hingewiesen, dass es sich um eine Erzählung handelt, dass der Begriff also metaphorisch benutzt wird. Unabhängig von diesem Befund wird man die als paradigmatisch angesehene große Studie von Albrecht Schöne Säkularisation als sprachbildende Kraft, die eine breite Rezeption in der Literaturwissenschaft nach sich gezogen hat, als wertvollen Beitrag zum Problem ansehen können, ähnlich Hans-Georg Kempers große Monographie zur deutschsprachigen Lyrik in Barock und Aufklärung, die unter dem Titel Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozess (1981) veröffentlicht wurde. In der Rezeption der Studie Schönes ging allerdings der stringente, auf spezifische Weise auf Theologie referierende Deutungsansatz verloren und diente immer wieder als eine Art basaler Theorie für das Verhältnis von Theologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Schöne selbst bezog sich aber – jenseits des bis heute immer wieder zitierten Befundes der Geburt der ‚klassischen‘ Literatur des 18. Jahrhunderters „aus dem Pfarrhaus“ – primär auf die verborgene „Theologie in Dichtwerken, die von weltlichen Dingen handeln“ – von Kirchenliedern und Gebetbüchern über Katechismen bis zur Bibel selbst. Die Wirkungen in der „weltlichen“ Literatur waren beträchtlich, wie Schöne in einer späteren Veröffentlichung ausgeführt hat: „[W]as man da fallweise und eben zu ganz anderen Zwecken aus den Schatzkammern der heiligen Schriften entleihen konnte an Sprachformen und Redeweisen, an Bildern und Motiven, Figuren und Geschehnissen, besaß eine unschätzbare Mitgift: es war im hochgespannten Kraftfeld der Religiosität aufgeladen worden mit Bedeutungs- und Wirkungsenergien, die sich in weltliche Dichtung transformieren ließen.“17 Und weiter meinte Schöne: „Das gilt auch dort, wo solche säkularisierenden Transformationen ihren religiösen Herkunftsbereich nicht unangetastet lassen, vielmehr – theologieverdrossen, religionskritisch, kirchenfeindlich – gegen ihn eingesetzt werden. Noch was man als diffamierende Parodie oder Blasphemie zu verstehen geneigt ist, selbst die Lästerung und der Frevel leben von der Dignität dessen, an dem da gefrevelt wird (und bezeugen sie, wie widerwillig auch immer).“18 II. Angesichts der communis opinio von der Relevanz des Protestantismus für die Entwicklung der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert muss überraschen, dass die Beziehungen von Theologie, Religion und Literatur ab der Jahrhundertmitte 16 17 18
Vgl. Marramao, Giacomo, Die Säkularisierung der westlichen Welt. Aus dem Italien. v. Günther Memmert. Frankfurt a. M. 1996. Schöne, Albrecht, Dichtung als verborgene Theologie. Versuch einer Exegese von Paul Celans ‚Einem, der vor der Tür stand‘. Göttingen 2000, S. 8. Ebd.
XIII zwar häufig in Einzelstudien, bislang jedoch kaum systematisch untersucht worden sind. Eine Überblicksarbeit zur Theologie des 18. Jahrhunderts unter spezifisch literarhistorischer Fragestellung, die Karl Aners klassische Studie Die Theologie der Lessingzeit (1929) auf dem gegenwärtigen methodologischen Niveau, ergänzt um das in der Literaturwissenschaft noch kaum erforschte Verhältnis von Katholischer Theologie und Literatur sowie unter Berücksichtigung weiterer Quellen, beerbt hätte, gibt es (noch) nicht. Dies liegt auch an dem immer noch zu konstatierenden Theologiedefizit der deutschen Aufklärungsforschung und der literaturwissenschaftlichen im Besonderen, ist im Fehlen eines heuristischen Konzepts begründet, das für die Analyse des Verhältnisses von Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert nutzbar gemacht werden könnte. An diesem Punkt setzt der vorliegende Band an: Er verknüpft theorie- und methodengeleitete mit historisch-empirischen und historisch-hermeneutischen Untersuchungen, die die Frage, ob – und wenn ja auf welche Weise – die Literatur im 18. Jahrhundert Funktionen von Theologie und Religion zu übernehmen beginnt, klären und entsprechende literarische Transformationen aufzeigen sollen. Methodisch sind sowohl ältere Erklärungsmodelle wie das der ‚Säkularisierung‘ als auch neuere Konzepte, vor allem religionssoziologische (Max Weber, Emile Durkheim, Peter L. Berger und Thomas Luckmann u.a.) und systemtheoretische (vgl. insbesondere Niklas Luhmanns Funktion der Religion von 1977) zu diskutieren, auf ihre Reichweite und Trennschärfe hin zu befragen und auf ihre Praktikabilität hin zu prüfen; auch Begriffe wie ‚Theologisierung‘ und ‚Sakralisierung‘ sowie der geschichtswissenschaftliche Leitterminus der ‚Konfessionalisierung‘ stehen auf dem Prüfstand. Die methodischen Schwierigkeiten sind allerdings beträchtlich; das Spektrum der Konzepte und der interpretativen Verfahren ist breit, vorgeblich universalistische Konzepte können keine befriedigenden Erklärungen für die genannten Transformationen liefern. Blickt man auf das Verhältnis von Literatur und Theologie in historischer Perspektive, so wird man vor allem für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts den folgenreichen Umstand bedenken müssen, dass die Theologie – und die protestantische weit mehr als die katholische – stärkeren, teils wiederum theologisch motivierten Transformationen ausgesetzt war als andere, Theorie und Praxis verschränkende Wissenschaften. Grundsätzlich ist zu beachten, dass im 18. Jahrhundert das Verständnis von Theologie sich entscheidend wandelt: von der cura animi, der erbaulich-seelsorgerlichen Pflege des Gemüts, zur vernünftigen Wissenschaft von Gott, die sich zum Ende des Jahrhunderts in Gestalt und Funktion einer universitären (Leit-)Wissenschaft als Drittes neben privater und öffentlicher Religion etabliert. Insofern meint Theologie im Kontext des Bandes und seiner Beiträge eine Pluralität von mit unterschiedlicher Wirkmacht koexistierenden und konkurrierenden religiösen Haltungen, Frömmigkeitsformen und vernünftig-wissenschaftlichen Zugriffen. Dieser heuristischen Offenheit im Verständnis von Theologie entspricht die konfessionelle und innerkonfessionelle Binnendifferenzierung: Vorgestellt wer-
XIV den Bestimmungen des Verhältnisses sowohl von jüdischer und katholischer Theologie und Frömmigkeit zur Literatur im 18. Jahrhundert als auch – und dieses vor allem – Untersuchungen zur protestantischen Theologie in ihren prägenden Bezügen zur Literatur der Zeit. Der historischen Sachlage angemessen nimmt dieser Bereich den umfänglichsten Raum ein, auch unter Berücksichtigung der ihrerseits von Koexistenzen und Konkurrenzen gekennzeichneten Binnenstruktur des Protestantismus und ‚seiner Theologien’ im 18. Jahrhundert: Lutherische Orthodoxie, Pietismus, Übergangstheologie, Neologie und theologischer Rationalismus sowie, am Ende des Jahrhunderts, die Erweckungsbewegung zeigen das Bild einer facettenreichen, mitunter widersprüchlich erscheinenden Gemengelage, deren Beziehung zur Literatur und deren Bedeutung für die Literatur weder mit den ‚Dogmen‘ von deren Säkularisierung und Autonomisierung noch mit dem Hinweis auf die insbesondere dem Pietismus zugeschriebene Prägekraft für die Literatur hinreichend zu beschreiben und zu erfassen sind. Bemerkenswert ist der Umstand zu nennen, mit welcher Aufmerksamkeit Theologen des 18. Jahrhunderts die Literatur ihrer Zeit zur Kenntnis genommen und zustimmend oder schroff ablehnend kommentiert haben. Ihre Begeisterung für die Literatur konnte durchaus so weit gehen, den Amtsbrüdern den Besuch des Theaters zu empfehlen, um sie für die Möglichkeit zu sensibilisieren, ein Publikum mittels des gesprochenen Wortes oder gestisch und mimisch zu bewegen. Freilich, angesichts der rührenden, ‚weinerlichen‘ Lustspiele eines Gellert warnte nur wenige Jahre später eben dieser Theologe seine Kollegen, dass ein Prediger, der im Gottesdienst mit seiner Gemeinde in Tränen ‚ersaufe‘, nichts Förderliches bewirken könne. Auch der legendäre Disput zwischen dem lutherisch orthodoxen Pfarrer Johann Melchior Goeze und Lessing um Goethes Werther dokumentiert das gesteigerte Interesse von Theologen an Literatur. Zu fragen ist an diesem herausragenden sowie an anderen Beispielen, ob Goeze ein Einzelkämpfer auf verlorenem Posten war, oder ob und, wenn ja, wie, kirchenterritorial differenziert, die lutherische Amtskirche und der hallische Pietismus öffentlichkeitswirksam und unter Androhung von Zensur in konzertierten Aktionen Front gemacht haben gegen ihnen aus unterschiedlichen Gründen suspekte Autoren und deren Publikationen. Verschiebungen auf dem Buch- und Zeitschriftenmarkt werden dementsprechend im Blick auf das Verhältnis von Literatur und Theologie und auf dessen Veränderungen beschrieben und erörtert. Zudem werden die Druckmedien des 18. Jahrhunderts diskutiert, Zeitungen, Zeitschriften und Kalender, ebenso wie die Institutionen der (teils theologisch motivierten) Literaturkritik und der immer stärker formalisierten und bürokratisierten Zensur, die für die Durchsetzung von Geltungsansprüchen, sozialen Normen und religiösen Überzeugungen sowohl von weltlicher als auch von geistlicher Seite in Anspruch genommen und für die Legitimationsstrategien entwickelt wurden. Die Bedeutung von Theologie und Religion für die Literatur im 18. Jahrhundert erschöpft sich nicht in sprachlich-rhetorischen und stofflich-motivischen Anleh-
XV nungen, Übernahmen oder Umformulierungen. Im – mit Luhmann gesprochen – Prozess der Umstellung des frühneuzeitlichen Gesellschaftssystems auf funktionale Differenzierung hat das System Religion, als autonomes (autopoietisches) Subsystem, einen Vorlauf; andere Systeme, wie das System Kunst, folgen nach. Das gesellschaftliche Teilsystem Religion entwickelt aufgrund dieses Vorlaufs eine Semantik, die sich für andere soziale Systeme als anschlussfähig erweist, zum Beispiel für das System Kunst mit dem Subsystem Literatur. So verwendete die Autonomieästhetik, die sich als ‚theoretische‘ Fundierung einer ‚zweckfreien‘ Literatur verstand, seit den 1770er Jahren zu ihrer Konturierung und Profilierung gegenüber einem traditionalistisch-pragmatischen Literaturbegriff theologische Konzepte. Autorkonstruktion, Produktion und Wertigkeit des autonomen Werkes wurden über eine theologische Semantik formuliert (Beispiele: Geniebegriff, Schöpfungskraft, Inspiration). In Zusammenhang mit dieser Unterfütterung und Legitimation durch eine theologische Semantik steht die Auseinandersetzung mit jenen längerfristigen Prozessen, die mittels konkurrierender Konzepte modelliert und diskutiert wurden: Neben der Säkularisierung sind dies: funktionale Differenzierung, System der Theologie und System der Literatur. Damit ist zugleich eine Kernthese der Systemtheorie zu diskutieren, ob nämlich die Ausdifferenzierung der Poesie im 18. Jahrhundert tatsächlich eine Funktionsschwäche der Religion voraussetzt und ob der steigende Begründungsdruck gegenüber den ungelösten Problemen zu einer in der Literatur vielfach dokumentierten Individualisierung geführt hat. Mit Blick auf Konzepte der Produktion und Phänomene der Rezeption von Literatur seien an dieser Stelle aus der skizzierten Gemengelage zwei Tendenzen im 18. Jahrhundert exemplarisch extrapoliert: Erstens wurde nicht genuin religiösfromme Literatur durchaus religiös-fromm rezipiert, was etwa für Brockes‘ Irdisches Vergnügen in Gott, für Klopstocks Messias und Goethes Werther dokumentiert ist; zweitens konstituierte sich zum Jahrhundertende eine ‚romantische‘ Kunstreligion, die, indem sie auch die Literatur, vor allem aber die bildende Kunst und die Musik, zu Medien und Organoi des Göttlichen hypostasierte, Positionen und Funktionen der Theologie und Frömmigkeit usurpierte – als ‚Ersatzreligion‘ wird man sie freilich nicht bezeichnen können:19 Die Kunst wurde zu einem Gott; die künstlerische Produktion war von Gott inspiriert oder wurde mit dem göttlichen Schöpfungsakt, die Rezeption von Kunst mit dem Genuss des Abendmahls verglichen. Gleichwohl verlor die religiöse, auch theologisch untersetzte Dichtung zur Mitte des 18. Jahrhunderts ihren noch zu Jahrhundertbeginn exponierten Stellenwert innerhalb des Systems Literatur. Ein wesentlicher Indikator für diese Entwicklung scheint, in eins mit Verschiebungen auf dem Buchmarkt, die oben schon erwähnte rasche Abkühlung der ursprünglichen Begeisterung etwa für Klopstocks Messias 19
Vgl. dazu die grundlegende Studie von Auerochs, Bernd, Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 (Palaestra, 323). Vgl. ferner Müller, Ernst, Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004.
XVI zu sein. Sicherlich haben Autor und Werk ausgangs des Jahrhunderts an Namen und Rang verloren; gleichwohl ist zu diskutieren, ob der Geltungsverlust Klopstocks tatsächlich der Genie- und Autonomieästhetik geschuldet war und – zudem – ob der Messias aus der Abgrenzung zur Genie- und Autonomieästhetik als religiös motivierte Dichtung zu verstehen ist. Mit Blick auf Klopstock, aber nicht auf ihn beschränkt, werden an religiösen Textsorten und an solchen theologischer Diskursivität, an literarischen Gattungen sowie an deren Schnittmengen (Predigt, Erbauungsliteratur, geistliches Lied, Epos, Kontrafaktur, Parodie u.a.m.) Konzepte und Ausprägungen einer pragmatischen Funktionalisierung der Literatur durch die Theologie sowie einer entpragmatisierenden-entfunktionalisierenden Poetisierung religiöser Textsorten untersucht. Während Johann Georg Hamann in der Aesthetica in nuce ein poetisches Modell der Theologie entwickelte, diskutierte Herder (und mit ihm taten dies viele andere Autoren) die Bibel als literarisches Kunstwerk. Das sind nur zwei Beispiele für den sehr produktiven Dialog und für Schnittmengen zwischen Literatur und Theologie im späteren 18. Jahrhundert; zugleich indizieren sie Systemkonkurrenzen zwischen Theologie und Literatur. Rezipienten der ‚schönen Literatur‘ nahmen aufmerksam und kritisch an theologischen Diskussionen Teil, umgekehrt und nicht weniger kritisch zeigten sich Theologen an der Poesie und den zugehörenden Debatten interessiert. Personalunionen, Kontakte und Kooperationen sowie Konkurrenzen von Dichtern und Theologen sind Indizien für die fortschreitende Ausdifferenzierung von Theologie und Literatur im späten 18. Jahrhundert bis hin zur Entfremdung beider voneinander. Diese für die Signatur des Jahrhunderts auffällige ‚Gleichzeitigkeit des Ungleich(zeitig)en‘ in Form von Frontstellungen, Engführungen, Schnittmengen, Amalgamierungen und Transformationen von Theologie, Religion und Literatur vornehmlich während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nimmt der vorliegende Band in den Blick. Er dokumentiert eine Tagung vom Juni 2004, die von den Interdisziplinären Zentren für die Erforschung der Europäischen Aufklärung und für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Verbindung mit dem Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München veranstaltet wurde. Die Herausgeber danken den Beiträgerinnen und Beiträgern sehr herzlich für Ihr Engagement und für ihre außerordentliche Geduld. Andreas Mohrig sei herzlich für die Betreuung und Einrichtung des Manuskripts gedankt. Halle (Saale), im November 2010 Hans-Edwin Friedrich Wilhelm Haefs Christian Soboth
KARL EIBL (München)
Aporien-Reflexion Zur funktionalen Äquivalenz von Religion und Dichtung
Es gibt eine Art von Konsens, daß um 1770 herum die Literatur zum funktionalen Äquivalent für Religion wird und diese Rolle zumindest bis in die 30er Jahre des neuen Jahrhunderts beibehält – bis zu dem von Heinrich Heine und vielen anderen vermerkten „Ende der Kunstperiode“ in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, und wenn man an den bildungsbürgerlichen Umgang mit Kunst denkt, vielleicht sogar ein ganzes Stück darüber hinaus.1 Aber Kunst steht damit nicht allein. Die Zahl der Kandidaten für funktionale Äquivalente der Religion steigt sprunghaft an, wenn man die Rede von der ‚Ersatzreligion‘ mit berücksichtigt: Konsum, Fernsehen, Körper, Esoterik, Technik, Fußball, Psychologie, Ökonomie, Wissenschaft, Sexualität … Beliebt ist auch der Brauch, politischen Bewegungen den Charakter von Ersatzreligionen zu unterstellen.2 Doch geht es auch umgekehrt: Für Marx war Religion das „Opium des Volkes“, also Ersatz für ein Rauschmittel, das seinerseits Realität ersetzen sollte,3 und Heinrich Heine wollte an die Stelle des „Eiapopeia vom Himmel“ ein „neues Lied, ein besseres Lied“ – also keineswegs einen Ersatz – setzen: Wir wollen hier auf Erden schon Das Himmelreich errichten.
und
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3
Mit erster ausführlicherer Begründung des Begriffs „Bildungsreligion“: Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, bes. S. 440ff., im Abschnitt „Stationen der Entchristianisierung; der Sinn des Lebens.“ Ferner: Timm, Hermann, Bildungsreligion im deutschsprachigen Protestantismus – eine grundbegriffliche Perspektivierung. In: Koselleck, Reinhart, Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990, S. 57–89 (= Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 2); Schieder, Wolfgang, Sozialgeschichte der Religion im 19. Jahrhundert. Bemerkungen zur Forschungslage, in: Schieder, Wolfgang (Hg.), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1993. Hierzu aktuell: Hildebrand, Klaus (Hg.), Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. München 2003 (Schriften des Historischen Kollegs 59). „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, in: Marx, Karl, Engels, Friedrich, Werke, Bd. 1. Berlin 1956, S. 378–391, hier: S. 378).
2
Karl Eibl Den Himmel überlassen wir Den Engeln und den Spatzen.4
Oder aus aristokratischer Perspektive: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion; Wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion.5
Insgesamt also ein großes Karussell der Substitutionen. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man Religion als „plurifunktionales Steuerungssystem“ auffasst.6 Es ist dann in erster Linie eine Frage des Aspekts, worin man ihren Funktionsprimat sieht und was demnach als funktionales Äquivalent in Frage kommt. Wer es mit Kranken- und Altersversicherung zu tun hat, wird in unseren sozialen Sicherungssystemen ein funktionales Äquivalent für Almosengeben entdecken können, und wer sich einer Diät unterzieht, genießt zwar nicht die jenseitigen, aber doch die irdischen Segnungen des Fastens. Es gibt eine Fülle von Aufgaben, die von uns als religionsfremd eingeschätzt werden mögen, aber doch im Zusammenhang mit der Religion wahrgenommen werden konnten und teilweise noch können: Ruhigstellung der Untertanen, Regelung der Sexualität, Antworten auf Ursprungsfragen, Speicherung von Wissen, Sicherung von Siedlungs- und Handelsplätzen, Sicherung der Kooperationsfähigkeit (‚Moral‘), Bereithaltung von Heilmitteln und Placebos, Sorge für die Armen usw. In vormodernen Gesellschaften hat Religion keinen eigenen Ort, sondern durchzieht alle Lebensbereiche. Man spricht in diesem Zusammenhang wohl besser von Religiosität als von Religion. Religion (oder gar Theologie) wäre dann ein Zustand, in den die Religiosität unter bestimmten Bedingungen geraten kann, aber Religiosität wäre der anthropologische Grundbestand. Auch ein Erklärungswort für die neuzeitliche Aufsplitterung des einen Steuerungssystems in eine Vielzahl kleiner, voneinander weitgehend unabhängiger, Funktionskreise liegt bereit: Es ist der neuzeitliche Prozess der ‚funktionalen Differenzierung‘, der auch hier zu einer Verselbständigung von Subsystemen geführt hat. Damit ist immerhin ein Rahmen gewonnen. Dass von funktionalen Äquivalenten der Religion überhaupt gesprochen werden kann, ist offenbar Ergebnis eines Ausdifferenzierungsprozesses der letzten paar Jahrhunderte. Was einstmals unter dem einen Dach untergebracht war, wohnt heute in vielen Häusern. Möglicherweise ist es sogar irreführend, im Zusammenhang mit vor- oder nichtmodernen Gesellschaften überhaupt von Religion zu sprechen, weil sich allzu leicht der
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Deutschland ein Wintermärchen, Caput I. In: Heine, Heinrich, Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hg. von Klaus Briegleb (u.a.). Bd. 7, S. 577f. Johann Wolfgang von Goethe, in den nachgelassenen Zahmen Xenien [IX]. Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 2, Gedichte 1800–1832, hg. von Karl Eibl, S. 737f. Topitsch, Ernst, Erkenntnis und Illusion. Tübingen 21988.
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moderne, partikulare Religionsbegriff einschleicht. Wo Religion als plurifunktionales Steuerungssystem in voller Blüte steht, umfaßt sie alles und ist folglich gar nicht mit einem separaten Namen greifbar; eine Unterscheidung zwischen Religion und Nichtreligion tritt allenfalls als Unterscheidung von Gläubigen und Ungläubigen oder Menschen und Barbaren auf, also zwischen denen, auf die es ankommt, und den anderen, die allenfalls stören. – Es bleibt aber die Frage zu stellen, ob es nicht einen harten Kern, eine nach unserem Wissen in allen Kulturen auffindbare Grundfunktion gibt, an die sich alle anderen Funktionen anlagern konnten, und was gegebenenfalls aus dieser Grundfunktion in den letzten 250 Jahren geworden ist. Die ältere Soziologie lässt uns bei der Frage nach einem solchen Kern von Religiosität im Stich. Emile Durkheim oder Max Weber haben sich in ihren religionssoziologischen Untersuchungen auf so handfeste Funktionen wie Gruppenzusammenhalt oder Motivation für diesseitiges ökonomisches Handeln konzentriert7 – in guter Soziologentradition war der Ideologiecharakter der Religion selbstverständlich, und was aus religiöser Perspektive allenfalls eine Nebenfolge wäre, wurde zum Hauptzweck erklärt. So blieb die Frage nach einem genuinen Referenzproblem von Religiosität denen überlassen, die Religion ‚hatten‘ – insgesamt eine wissenschaftlich wenig befriedigende Situation. Immerhin gibt es mittlerweile einen bemerkenswerten Vorschlag von Seiten Niklas Luhmanns, d. h. der soziologischen Systemtheorie. An ihn will ich anknüpfen, aber sogleich hinzufügen, dass ich ihn in eher anthropologisch-gegenständlicher Wendung weiterverfolgen werde. Luhmann konzediert fast unter der Hand, dass Religionen es mit dem Übernatürlichen zu tun haben.8 Man muss aber sogleich hinzufügen, dass es sich dabei nur um einen vorläufigen Begriff handelt. In der Luhmannschen Systemtheorie ist auch das Übernatürliche nur denkbar als das Ergebnis einer Unterscheidung, und zwar als die dunkle, unmarkierte Seite einer Unterscheidung. „Das, was Religion als Übernatürliches zu fassen versucht“, so schreibt er, „gehört zur Umwelt des jeweiligen Systems“, und zwar als „stets implizierter und sich selbst implizierender Hintergrund der Umwelt“ (19f.). Es geht demnach um eine „Zweiteiligkeit der Umwelt“ – um eine vom jeweiligen System zugelassene und definierte Umwelt und einen unsichtbaren Hintergrund, von dem wir nur wissen, ‚dass‘ es ihn gibt. Oder anders gesagt: Um ein Wissen von der Selektivität unserer Weltkonstruktionen. Es gibt die Grenze. Mehr kann man nicht sagen. Wir kennen sie immer nur von einer Seite. Schon wenn man das jenseits der Grenze Liegende Transzendenz nennt, ist 7
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Durkheim, Émile, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M. 1981 [Orginal: Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1912]. Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band 1, Tübingen 1920, S. 17–206 (erstmals 1904/05). Ich beziehe mich auf Luhmann, Niklas, Funktion der Religion. Frankfurt/M. 1982 (erstmals 1977).
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das eine Extrapolation unserer bisherigen Erfahrungen mit Grenzen, von denen wir beide Seiten kennen, auf solche, von denen wir nur eine Seite kennen. Es bedarf keines großen psychologischen Exkurses, um zu plausibilisieren, dass dieses Wissen ein hohes Maß an Beunruhigungspotential enthalten kann: Man ist ständig bedroht vom „Risiko des Außerachtlassens“ (24). Gebändigt wird dieser potentielle Dauerstress durch eine Verfahrensweise, die Luhmann als „Simultanthematisierung von Bestimmtem und Unbestimmtem“ bezeichnet. Die spezifische Sinnform der Religiösen sei Resultat eines Prozesses der Chiffrierung […], der Unbestimmbares in Bestimmtes oder doch Bestimmbares transformiert. Chiffren sind nicht einfach Symbole […] Sie haben ihren Sinn überhaupt nicht in der Relation zu etwas anderem, sondern sind es selbst. Sie konstituieren Wissen, indem sie das Bestimmte an den Platz des Unbestimmten setzen und es dadurch verdecken. Was durch sie verdeckt wird, bleibt Leerhorizont; es hat keine Realität, nicht einmal negierbare Realität, aber es wird miterlebt als das, was kontingente Form notwendig macht. (33)
Indem das Unbestimmte in bestimmtem Material thematisiert wird, wird es in einem doppelten Sinne parat gehalten: Man kann scheinbar über die abgeblendete Seite der Unterscheidung verfügen, weil sie ja unter irgendwelchen Platzhalter-Namen zur Verfügung steht, und man kann sogar tatsächlich auf sie zugreifen, wenn es notwendig werden sollte, indem man die Platzhalter durch tauglichere Informationen zu ersetzen versucht. Es entsteht „eine Art Grenzproblem: das Zugleich von Bestimmtheit und Unbestimmbarkeit“ (36, Hervorhebung im Original), und dieses Grenzproblem ist das zentrale Referenzproblem von Religion. Insofern wird man die Existenzphilosophie vom Typus Jaspers mit ihrer Favorisierung von ‚Grenzsituationen‘, in denen das ‚Umgreifende‘ sich manifestiert, als eine besonders reine Form des Religiösen bezeichnen können. Nicht zufällig stammt eine der gültigsten Formulierungen des Sachverhalts von Immanuel Kant, vom Beginn der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1786: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.9
Nur wird man Kants Spezifizierung auf ‚eine Gattung der Erkenntnisse‘, nämlich die metaphysische, zumindest dahingehend modifizieren müssen, dass Metaphysik dann alles betrifft, was wir nicht wissen. Grundsätzlich ist jeder menschliche Tätigkeitsbereich religionsfähig, weil es für jeden Tätigkeitsbereich Grenzen des Bekannten und des Beherrschbaren gibt, jenseits derer die terra incognita liegt. Damit die Einstellung gegenüber diesen Grenzen aber als religiös bezeichnet werden kann, muss der Tätigkeitsbereich eine gewisse Dominanz gegenüber oder Reprä9
Unveränderter Neudruck der von Raymund Schmidt besorgten Ausgabe (Hamburg 1956).
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sentanz für die anderen Tätigkeitsbereiche erhalten. Insofern hat die oben angesprochene Vielfalt möglicher Kandidaten für Ersatzreligionen einen realen Hintergrund. Generell ließe sich wohl sagen: Als Katalysatoren religiöser Empfindungen eignen sich alle Tätigkeitsbereiche, in denen Aporien mit Verallgemeinerungspotential erlebt werden können. Auch die Erfahrung, dass das Geld nicht reicht, wäre jedenfalls dann religionsfähig, wenn sie zur Obsession wird, die die Wahrnehmung und Organisation aller übrigen Bereiche strukturiert. Das religiöse Potenzial der unglücklichen Liebe ist uns spätestens seit dem Werther bekannt. Aber auch jenes délir à deux, das sich im Falle des Gelingens einstellen kann und dann zeitweise geeignet ist, die Weltkonzeption zweier Menschen völlig zu dominieren, ist zugleich durchsetzt mit der Topik der Unaussprechlichkeit, Unmöglichkeit, Unerreichbarkeit, Unerfüllbarkeit, die sie religionsfähig macht. Der Nationalismus taugt so lange zum Stimulus religiöser Begeisterung, solange die Nation in einem defizienten Zustand ist (geteilt, von Fremden unterdrückt, von Feinden, Verrätern, Zersetzern bedroht), auf den auch alle anderen Mängel projiziert werden können. Die zentrale Aufgabe der traditionellen Religionen besteht also in der Regulierung unseres Umgangs mit dem Wissen von unserem Nichtwissen. Die meisten empirisch auffindbaren Einrichtungen, die wir als ‚Religion‘ zu bezeichnen pflegen, bieten denn auch Lösungen für unbeantwortbare Fragen an, die im wörtlichen oder im übertragenen Sinne unseren Horizont übersteigen: Was war früher, in der Welt also, zu der wir keinen direkten empirischen Zugang haben? Was wird in der Zukunft sein (auch individualisiert: nach meinem Tod)? Und woher kommt das Leiden, der Schmerz? An diese anthropologische Konstante eines Hinausreichens der Fragekapazität über die Antwortkapazität10 können sich dann all die anderen Leistungen anlagern, so weit sie (jeweils) aporetischen Charakters und insoweit isomorph zum Kernproblem sind. Zu betonen ist allerdings, dass die betreffenden Aporien historisch sehr wandelbar sein können. Die Tatsache zum Beispiel, dass der Mensch in der Regel in zwei Sorten auftritt, ist zwar ein dauernder, ‚ewiger‘ Problemgenerator. Aber die konkreten Lösungen und ihre Folgeprobleme wandeln sich je nach kultureller Einbettung und werden dann von der Religion bearbeitet, als wären sie ewig. Darin liegt die immense Absorptionskraft, mit der Religion auf ungelöste Probleme reagieren kann, und in dieser Absorptionskraft ist begründet, dass Gesellschaften mit einem leistungsfähigen Religionssystem so erstaunlich indolent waren und sind, während moderne Gesellschaften mit viel leistungsfähigeren Subsystemen häufig weit niedrigere Erträglichkeitsschwellen aufweisen.
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Vgl. dazu aus der Perspektive der biologischen Anthropologie u. a. Cosmides, Leda, Tooby, John, Consider the Source. The Evolution of Adaptations for Decoupling and Metarepresentations, in: Sperber, Dan (Hg.), Metarepresentations. A Multidisciplinary Perspective. New York 2000, S. 53–116, die allerdings den Bereich der Religion nicht besonders behandeln.
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Dass der Prozess der Modernisierung mit einem Geltungsschwund der Religion verbunden war, ist ein Gemeinplatz. Problematischer ist es, dass wir damit sogleich an die beliebte Frage nach Henne und Ei geraten: Ist das, was wir ziemlich pauschal als Modernisierung bezeichnen, die Ursache für den Geltungsschwund der Religion oder ist umgekehrt der Geltungsschwund der Religion Voraussetzung für die Modernisierung? Ich finde es nicht gut, wenn man sich bei solchen Fragen voreilig darauf zurückzieht, daß hier mit Kausalerklärungen nichts anzufangen sei. Auch das Stichwort von der funktionalen Differenzierung bezeichnet nur eine Gesamttendenz. Es ist von unserer Bestimmung der Kernfunktion von Religion her durchaus möglich, den Mechanismus wenigstens teilweise etwas näher, causaliter, zu beleuchten. Wenn man diese Kernfunktion im Sinne der obigen Bestimmung als Regulierung unseres Umgangs mit dem Wissen von unserem Nichtwissen auffasst, dann wird klar: Die Verbindlichkeit und damit die Leistungsfähigkeit einer Religion hängt entscheidend mit einem Konsens über unser Nichtwissen (weniger freundlich: von gemeinsam anerkannter Borniertheit) zusammen. Nur dann ist es möglich, eine konsensuelle Methode der Simultanthematisierung zu pflegen, d. h. kulturell zu stabilisieren. Mit der funktionalen Differenzierung entstehen aber Subsysteme, die mit je eigenem Fokus in die Welt blicken und deshalb durchaus heterogene Wissensbestände erwerben. Deren Integration ist eine neue, kaum zu bewältigende Aufgabe. Dass die Kirche, als institutionalisierte Religion, dabei zu Gewaltmaßnahmen griff, sollte man ihr heute nicht mehr allzu sehr verübeln; die Aufgabe war ja tatsächlich ganz neu und letztlich nicht zu bewältigen. Schon was allein der Umgang mit fremden Ländern und Völkern sozusagen zufällig an neuem Wissen vermittelte, war im wahrsten Sinne des Wortes horizontsprengend. Dass jenseits der Säulen des Herkules nicht etwa Nichtwelt, sondern die Neue Welt lag, dass die ‚Sineser‘ eine hochentwickelte Kultur ohne Offenbarungsreligion besaßen, dass auf Otahiti oder sonst wo gar glückliche Menschen ganz ohne Zivilisation lebten und dass vielleicht die Erde überhaupt nicht der einzige bewohnte Himmelskörper war (und hatte auf den anderen dann auch ein Sündenfall stattgefunden? Eine Erlösung? Oder war, provozierende Pointe, die Heils-Tat Christi eine im Wortsinne nur irdische Angelegenheit?) – das waren Wissenselemente ganz handfest und sinnlich fixiert räumlicher Art, durch welche der alte Gesichtskreis erweitert wurde. Nimmt man Erfahrungen hinzu wie die, dass Geld entgegen der alten Lehre doch Kinder bekommen kann (und zwar nicht nur bei jüdischen Bankiers, sondern auch bei christlichen Kaufleuten), dass man über den Wortlaut der Bibel und dessen Auslegung streiten kann, daß Neugierde, die curiositas, nicht etwa bestraft, sondern durch nützliches neues Wissen belohnt wird usw. – dann entsteht insgesamt eine Situation, in der der Umgang mit dem Wissen von unserem Nichtwissen anders, elastischer zu regeln ist. Eine der wichtigsten neuzeitlichen Methoden ist dabei die Futurisierung. Wir wissen ‚es‘ nicht, aber wir werden es wissen. Institutionalisiert hat sich das als ‚Forschung‘. Es sind nicht zuletzt diese unterschiedlichen Techniken des Umgangs mit Wissensgrenzen,
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die die Beziehungen zwischen institutioneller Religion und Forschung über die letzten Jahrhunderte hin so konfliktreich gestaltet haben. Das gilt bis in die Gegenwart, bis zur Konstellation der ‚zwei‘ Kulturen, in der die philosophisch geprägte Kultur nach wie vor dazu neigt, das Ganze zu antizipieren und sich dabei in Antinomien zu begeben, während die von den Realwissenschaften geprägten Kulturbereiche auf Futurisierung setzen. Vielfach beschrieben wurde, wie im 18. Jahrhundert (für Hellhörige vielleicht schon früher) ein Platz für die Rolle der Subjektivität im System des Wissens gesucht und wie als dieser Platz die Poesie ausfindig gemacht wurde.11 Nur über die individuelle Erfahrung (die etwas anderes ist als die standardisierte Empirie) kann nun das Allgemeine mit dem Konkreten versöhnt werden, und entsprechend offen und flexibel muss das Allgemeine konzipiert werden. Das geschieht am erfolgreichsten, wenn die Simultanthematisierung als solche gekennzeichnet und bewusst gemacht wird: als ‚uneigentliche‘ Rede. Das lässt sich von beiden Seiten her, von der Religion und der Poesie, entwickeln. Die historisch-kritische Bibelforschung mit ihrem Bestreben, das Wort Gottes und das der Menschen in der Heiligen Schrift zu unterscheiden, befand sich damit schon seit einiger Zeit auf einer irreversiblen und gefährlichen Bahn. Was blieb vom Wort Gottes übrig, wenn man die historische Zutat strich? Tumultuös wurde die Situation im ‚Fragmentisten-Streit‘, d. h. in jenem Streit zwischen Lessing und dem Hauptpastor Goeze, der für die späteren freisinnigen Intellektuellen den Wert einer Ikone erhielt. Er ist weniger wegen seines Inhalts (der unter Theologen eher ein alter Hut war) als wegen der Öffentlichkeit der Kontroverse bemerkenswert. Lessings Behauptung, dass die Religion zwar in der Bibel enthalten sei, dass aber die Bibel nicht die Religion sei und daß man Brutto und Netto unterscheiden müsse: Die Bitte des heiligen Paulus an Timotheus, er möge ihm seinen in Troas zurückgelassenen Mantel mitbringen, sei nur mit allerlei allegorischen Finessen als Inspiration des Heiligen Geistes zu halten – diese Behauptung war keine theologische Sensation.12 Die wirkliche Gefahr, die der hellhörige Hamburger Hauptpastor witterte, bestand darin, dass die Entscheidung über die Grenzziehung zwischen Offenbarung und historisch-kontingenter Zutat den Händen der befugten und kompetenten Ausleger zu entgleiten drohte, wenn ein beliebiger Wittenberger Magister, Hamburger Theaterdichter und Wolfenbütteler Bibliothekar sich zu solchen Fragen äußerte und gar noch dem ‚Publicum‘, d. h. den anonymen Einzelnen ohne irgend-
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Ich verweise hier nur auf meinen eigenen Beitrag: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt/M. 1995. Lessings eigene Aufzählung (Axiomata): „Wenigstens muß man ein Rabbi oder ein Homilet sein, um nur eine Möglichkeit oder ein Wortspiel auszugrübeln, wodurch die Hajiemim des Ana, die Krethi und Plethi des David, der Mantel, den Paulus in Troas vergaß, und hundert andere solche Dinge, in einige Beziehung auf die Religion gebracht werden können.“ (Lessing, Gotthold Ephraim, Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, Bd. 8, hg. v. Helmut Göbel. München 1979, S. 132)
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eine korporative Legitimation, als Richter vorlegte. Wenn Lessing es doch wenigstens auf Lateinisch getan hätte! Aber selbst über diesen Stand war die Entwicklung schon hinweggegangen. Unter den meisten jüngeren Gebildeten der Zeit hatte der consensus-Gedanke Raum gegriffen: Der Gedanke, dass alle Religionen einen gemeinsamen Kern von Wahrheit besitzen, der durch unterschiedliche historische Bedingungen unterschiedlich modifiziert worden ist. Deshalb konnte Lessing in einem unpublizierten Text auch sagen: Alle positiven Religionen sind folglich gleich wahr und gleich falsch […] Gleich wahr: in sofern es überall gleich notwendig gewesen ist, sich über verschiedene Dinge zu vergleichen […] Gleich falsch: indem […] das, worüber man sich verglichen […] das Wesentliche schwächt und verdrängt.13
Das ist offenbar ein unauflösbares Paradox. Es ist dem Menschen „notwendig“, dass er gesellig lebt und mithin auch die Religion gemeinschaftlich macht. Aber an den eigentlichen Kern der Religion rührt das nicht – er wird damit radikal in die Innerlichkeit der Subjekts gelegt. Ganz Ähnliches, wenn auch mit anderem Temperament formuliert, kann man beim jungen Goethe finden, im Brief vom 16. 4. 1774 an Pfenniger und Lavater, der provokativ auch – so die damalige Einschätzung – den Atheisten Spinoza und den Zyniker Macchiavelli in den Consensus der Religionen einbezieht: Lieber du redest mit mir als einem Unglaubigen der begreifen will, der bewiesen haben will, der nicht erfahren hat […] Binn ich nicht resignierter im Begreifen und Beweisen als ihr? Hab ich nicht eben das erfahren als ihr? – Ich bin vielleicht ein Thor daß ich euch nicht den Gefallen thue mich mit euern Worten auszudrücken, und daß ich nicht einmal durch reine Experimental Psychologie meines Innersten, euch darlege daß ich ein Mensch binn, und daher nichts anders sentiren kann als andre Menschen, daß das alles was unter uns Widerspruch scheint nur Wortstreit ist der daraus entsteht weil ich die Sachen unter andern Combinationen sentire und darum ihre Relativität ausdrückend, sie anders benennen muß. Welches aller Controversien Quelle ewig war und bleiben wird. Und daß du mich immer mit Zeugnissen packen willst! Wozu die? Brauch ich Zeugniss daß ich binn? Zeugniss daß ich fühle? – Nur so schäz, lieb, bet ich die Zeugnisse an, die mir darlegen, wie tausende oder einer vor mir ebendas gefühlt haben, das mich kräftiget und stärcket. Und so ist das Wort der Menschen mir Wort Gottes es mögen Pfaffen oder Huren gesammelt und zum Canon gerollt oder als Fragmente hingestreut haben. Und mit inniger Seele fall ich dem Bruder um den Hals Moses! Prophet! Evangelist! Apostel, oder. Darf aber auch zu iedem sagen, lieber Freund geht dir s doch wie mir! Im einzelnen sentirst du kräfftig und herrlich, das Ganze ging in euern Kopf so wenig wie in meinen.14
Goethe hebt in dieser Äußerung die Unterscheidung zwischen Religion und Philosophie auf, indem er Spinoza und Machiavell in eine Reihe mit den Religionsstiftern stellt. Von der andern Seite her wird die Bibel als poetischer Text wahrgenommen, wie sich unschwer an vielen Beispielen belegen ließe. Und damit auch der 13 14
Lessing, Werke, Bd. 8, (wie Anm. 12), S. 283. Goethe, Johann Wolfgang, Frankfurter Ausgabe, (wie Anm. 5), Bd. 28, S. 358f.
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Wegfall der Unterscheidung von Philosophie und Dichtung belegt ist, sei Herder mit einer Rezension aus dem Jahr 1772 zitiert. Er spricht da von Berkeley und sagt: Ich betrachte sein System, wie das System des Spinoza, Des-Cartes als Fiktion, als Dichtung (welch System ist etwas anders? und sollte als etwas anders betrachtet werden?) und da ist die Dichtung groß.15
Religion, Philosophie, Dichtung: Sie alle sind gleichermaßen notwendig unvollkommene Manifestationen von emphatischer Wahrheitserfahrung in kontingentem Material. Natürlich gibt es nach wie vor Religionsgemeinschaften, die sich an der alten Plurifunktionalität orientieren; aber bezeichnenderweise werden sie von der liberaleren Öffentlichkeit des ‚Fundamentalismus‘ oder gar des Missbrauchs der Religion für politische oder sonstige Zwecke bezichtigt, obwohl sie doch nur das bewahren oder wiederherzustellen versuchen, was Religion ursprünglich war. Ebenso gibt es dogmatische Philosophie und ‚engagierte‘ Dichtung. Aber so weit sie sich aus ihren alten Bindungen gelöst haben, bilden sie ein Sonderreich, in dem pragmatische Zusammenhänge nur noch geringe Bedeutung besitzen, weil man sich primär mit unlösbaren Problemen befasst. Nicht nur Dichtung wird somit ‚autonom‘, sondern auch Religion, die als Dichtung verstanden wird und damit ihren unmittelbaren Direktionswert für die Praxis einbüßt, und ebenso dogmenfreie Metaphysik. Das ist die Pointe, die man leicht verfehlt, wenn man nur die AutonomisierungsBewegung der Dichtung im Auge hat. Die funktionale Differenzierung führt nicht nur zur Verselbständigung eines Bereichs Poesie, sondern sie führt zu einem generellen New Deal der Reflexionsinstanzen, den wir noch gar nicht so recht durchschaut haben. Ich neige heute zu der Auffassung, hoffe die Begründung nachliefern zu können, dass die Unterscheidung der ‚zwei Kulturen‘ unter bestimmten Aspekten durchaus sinnvoll sein kann. Allerdings handelt es sich dabei primär um zwei verschiedene Modi der kognitiven Konzeption unserer Welt, während das, was man auf Anhieb als ‚Kultur‘ identifizieren würde, nämlich die Dimension der Milieus, Institutionen und Einstellungen, als Vergegenständlichungsdimension dieser Konzeptionen anzusehen wäre. Seit dem 18. Jahrhundert jedenfalls verfestigen sich die Differenzen zwischen zwei intellektuellen Betätigungsfeldern, nämlich einem Bereich technischer Intelligenz, in dem ‚Wahrheit‘ als zuverlässige Information über mögliche Handlungsfelder aufgefasst wird, und einer vornehmlich an ästhetischen Binnenkriterien orientierten Reflexionssphäre, in der zumindest die unmittelbare Erfolgskontrolle suspendiert ist. Zu dieser ästhetischen Sphäre mit ihrer genuinen Verantwortungslosigkeit gehört nicht nur der von Künstlern geprägte Bereich. Auch die philosophische und die religiöse Reflexion bewegen sich weithin auf Gebieten, in denen die Frage nach richtig oder falsch nicht nach Sachgesichtspunkten entschieden wird, sondern nach solchen des grup15
Herders sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 5. Berlin 1891, S. 461.
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peninternen Konsenses, nach dem Passen zu den gruppeninternen Spielregeln. Wenn z. B. jemand ‚transzendent‘ und ‚transzendental‘ verwechselt, hat er im philosophischen Seminar schlechte Karten. In allen anderen Lebenszusammenhängen aber kommt er, wie der große Rest der Menschheit, ohne entsprechendes Wissen aus. Selbst Katholiken haben oft falsche Vorstellungen von der Unbefleckten Empfängnis, aber das ist für das diesseitige Heil ohne Bedeutung. Natürlich riskiert man auch über solche Fragen die Karriere, vielleicht sogar das Leben, wenn man anders denkt oder redet als die Mehrheit. Aber schon der nächste Stamm, das Nachbarmilieu, kann ganz andere Überzeugungen haben und ebenso gut oder schlecht überleben. Ganz anders ist es mit falschen Vorstellungen über die Tragfähigkeit von Brücken, die Essbarkeit von Pilzen oder das Ansteckungspotenzial von Krankheiten! Ein etwas verfremdender Blick auf eine berühmte Äußerung Lessings kann die Raison der neuen Art des Umgangs mit Aporien beleuchten. Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein schon seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusätze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!16
Diese Textstelle ist in den nachfolgenden zwei Jahrhunderten zu einem Mantra aufgeklärt-liberaler Intellektualität geworden, und es liegt mir fern, dagegen irgendwelche Einwände zu erheben. Aber um die Selbstverständlichkeit und Gegenwartsbefangenheit etwas aufzubrechen, lohnt die Konfrontation mit der Reaktion des Hauptpastors Goeze: Nach Lessings Grundsätzen, so meinte Goeze, sei auch Tantalus (heute nennt man in diesem Zusammenhang meist Sisyphus) glücklich zu preisen, denn er genoß die Vollkommenheit, die in einer immer größeren Erweiterung der Kräfte bestehet. Ein herrlicher Trost für die Goldmacher. Je länger sie in Kohlen wühlen, und im Dampfe und Rauche arbeiten, desto mehr erweitern sie ihre Kräfte, desto mehr wachset ihre Vollkommenheit.17
Goeze hält diese Auffassung für ‚schröcklich‘. Denn gehört die reine Wahrheit allein für Gott, bin ich in ewiger Gefahr zu irren; so ist kein Augenblick möglich, da ich versichert sein könnte, daß ich nicht irre, und dabei einen immer
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Lessing, Werke, Bd. 8, (wie Anm. 12), S. 32f. Lessing, Werke, Bd. 8, (wie Anm. 12), S. 208.
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regen Trieb nach Wahrheit zu haben, das ist der schröcklichste Zustand, in welchem ich mir eine menschliche Seele denken kann. […] Schröckliche, zur Verzweiflung führende Lehre!18
Goezes Einwand, so scheint mir, ist nicht ohne Weiteres abzuweisen. Ein Wesen mit immer regem Trieb nach Wahrheit, das doch immer und ewig irrt, wäre nicht ein Geschöpf der göttlichen Weisheit, es wäre absurd, ein Irrläufer der Schöpfung, der um seiner selbst willen wie um der Ordnung der Dinge willen annulliert werden müsste. Damit Goezes Urteil abgewiesen werden kann, muss ein zusätzliches Gedankenelement bedacht werden, das ihm noch nicht bekannt oder zumindest nicht vertraut war: Goeze hat nicht den von Lessing herangezogenen Begriff der Vollkommenheit berücksichtigt, oder er hat ihn nicht begreifen wollen.19 Es ist der in der Zeit vielfach bedachte Begriff der Perfektibilität, bezogen auf die Entwicklung der Einzelseele. Eine der bekanntesten Versionen stammt von Goezes neologischem Amtsbruder Johann Joachim Spalding.20 Spalding entwickelt die Vorstellung einer förmlichen Seelenkarriere, in der der Einzelne im Diesseits wie im Jenseits zu immer größerer Vollkommenheit sich läutern kann. Mag diese Vorstellung auch in der alten christlichen Seelenlehre wurzeln oder bei Spalding von ihr aufgefangen worden sein, so ist sie in ihren aktuellen Formen doch eindeutig eine Neuapplikation. Der in der Zeit immer wieder erörterte Gedanke der Palingenesie zum Beispiel folgt einer ähnlichen Grundstruktur. Da geht es dann tatsächlich nicht mehr um Erkenntnis einer wie immer zu vergegenständlichenden Wahrheit, die man ‚besitzen‘ könnte, sondern um die Übung der ‚Kräfte‘, für die der Erfolg des Bemühens zwar nicht gleichgültig, aber doch zweitrangig bleiben kann, weil es um die möglichst vollständige Ausfaltung einer Entelechie geht. Damit ist eine Art kopernikanischer Wende des Wahrheitsstrebens signalisiert: Ziel ist nicht mehr eine dogmatisch fixierbare Wahrheit, sondern die Ausbildung der Seelenkräfte, bei der der Wahrheitsbegriff zum Mittel, wenn nicht zum Vorwand geistesgymnastischer Tätigkeit wird. – ‚Aufklärung‘ heißt dann nicht Gewinnung von gegenständlichen Wahrheiten und Einsichten, sondern eine Läuterung der Seele oder des Verstandes. Solche Aufklärung geschieht nach Auskunft der Erziehung des Menschengeschlechts durch „Spekulationen“ über letzte Dinge – „unstreitig die schicklichsten Übungen des menschlichen Verstandes überhaupt“. Unser Verstand „will schlechterdings an geistigen Gegenständen geübt sein, wenn er zu seiner völligen Aufklärung gelan18
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Lessing, Werke, Bd. 8, (wie Anm. 12), S. 210: Goeze löst das Problem der Differenz von göttlicher und menschlicher Wahrheit dadurch, daß Gott uns sehr wohl die ‚reine‘, für das Heil zureichende Wahrheit wissen lasse, allerdings nicht die ‚ganze‘, aber die brauchten wir ohnedies nicht. „Was kann ungereimter widersprechender sein“, so meint er, „als dieser Satz: ‚Unsre immer wachsende Vollkommenheit bestehet in der Erweiterung unserer Kräfte‘?“, da der Zweck dieser Kräfte doch die Erlangung und der Besitz der Wahrheit sei! (S. 208). Ausführlicher: Hinske, Norbert (Hg.), Die Bestimmung des Menschen, Hamburg 1999 (Zs. Aufklärung 11/1), dort auch Spaldings Bestimmung des Menschen, 1768/1794 (10. und 13. Aufl.), S. 69–96.
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gen […] soll“.21 Die Gedankenfigur ist durchaus zeittypisch, typisch auch für den Denkstil der Folgezeit. Schiller hat die Kategorie des „Spiels“ ins Zentrum seiner ästhetischen Erziehung gestellt. Und Wilhelm von Humboldt gab nun ausdrücklich als Letztzweck des Menschen die Verwirklichung seiner Entelechie an: „Der wahre Zweck des Menschen“, so meint er, „ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte“22 – nicht etwa die Erkenntnis irgendwelcher fixierbarer Wahrheit. Das zeremonielle Sichabarbeiten an Aporien ist fortan fester Bestandteil der neuhumanistischen Bildungsbewegung. Aporien sind sozusagen die Turn- oder Fitnessgeräte des Geistes. Und natürlich steht dabei die Dichtung an herausragender Stelle. Hier kann z. B. unter dem Titel der ‚Tragik‘ unermüdlich und Abend für Abend die Liturgie des unauflösbaren Widerspruchs zelebriert werden. Lyrik kann Augenblickserfahrungen des ganzen Wahren aufscheinen lassen. Dichtung, mehr noch Musik, kann emotionale Feuerwerke entzünden, die ohne riskante Realitätsberührung bleiben, aber dem Subjekt die Möglichkeit einer entgrenzten Selbsterfahrung vermitteln. Die Philosophie plant unter dem Titel der Dialektik Versöhnung im Unendlichen. Als Existenzphilosophie konnte sie ein angenehmgruseliges Geworfenheitsgefühl vermitteln. Der letzte große Hit der ‚Metaphysik des alpha privativum‘ (Topitsch) verschmolz Philosophie und Dichtung und umwarb in wortreicher Sprachlosigkeit die ‚Präsenz‘-Erfahrungen und deren Abwesenheit. Wo doch, im Geiste der Aufklärung, Denken und Kommunikation ermöglicht werden, etwa bei Popper oder bei Habermas, da werden von den Kritikern sogleich unerfüllbare Begründungsansprüche gestellt, so dass der alte Zustand der Aporien, Antinomien und Paradoxien mit seiner intensiven Folgenlosigkeit sogleich wieder restituiert wird. – Helmut Schelsky hat für solche Arten der Religionsnachfolge den Begriff der „Dauerreflexion“ verwendet. Die Religiosität der Moderne sei nicht mehr dogmatisch fixierbar, so meint er, sondern sie vollziehe sich in einem „dauernden, aber gegenstandsunstabilen Weg des Menschen zu sich selbst und vielleicht zu Gott.“23 Die Praxis solcher Dauerreflexion weist natürlich höchst unterschiedliche Niveaus auf. Oder vielleicht kann man historisierend sagen: Es sind im Laufe der letzten 200 Jahre immer mehr Sparten unterschiedlichen Niveaus hinzugekommen. Für mich selbst sind die Praktiken ehemaliger bildungsbürgerlicher religiöser Reflexion noch in Teilen meines eigenen Faches wiederzuerkennen, in denen die Interpretation rätselhafter kanonischer Texte die Gemüter und Tagungsräume noch 21 22
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Lessing, Werke, Bd. 8, (wie Anm. 12), S. 507. Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: Humboldt, Wilhelm von, Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 1. Darmstadt 21980, S. 56–233, hier: S. 64. Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie (1957), in: Schelsky, Helmut, Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. München 1979, S. 268–297, hier: S. 278.
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immer wenn nicht mit Bedeutung, so doch mit Bedeutsamkeit erfüllt. Ähnliches geschieht in anderen geisteswissenschaftlichen Fächern, so weit man sich dort weniger auf Empirie einlässt als auf das Binnenspiel der Begriffe, das, wie Kant uns gelehrt hat, notwendig in Antinomien führt, wenn man es nur weit genug treibt. Derzeit z. B. geht wieder einmal das Problem der Willensfreiheit um und hat seinen Weg sogar bis in den Pfarrbrief meiner Kirchengemeinde gefunden – ein Musterfall, wie man einen Aporienspender über die Jahrtausende hin am Leben hält. Aber die Technik des Aporien-Recycling kann offenbar auch in theoretisch recht wenig anspruchsvollen Atmosphären praktiziert werden, was ein deutliches Indiz für ihren lebensweltlichen Bedarf ist. Nicht nur die ‚echten‘ Gespräche über ‚brennende‘ Probleme auf Kirchen- und Katholikentagen und in allerlei Akademien, sondern auch die unsäglichen Moraldiskurse in den Spektakel-Talkshows im Fernsehen – sie schrammen ständig an Aporien entlang. Aus ihnen bezieht das Dauergerede über Gott und die Welt seine Energie. So gerät Religiosität in Feinstverteilung in alle von unmittelbarer Erfolgskontrolle entlasteten Diskurse und kann das andauernde Ringen um den Konsens über die richtige Art des Lebens auf spezifisch moderne Weise religiös stabilisieren.
REINHART SIEGERT (Freiburg)
Theologie und Religion als Hintergrund für die „Leserevolution“ des 18. Jahrhunderts
1. „Soll ein Theolog auch ein Belletrist seyn?“ In einem Berner Antiquariat fiel mir vor einiger Zeit ein schmales Büchlein in die Hände: Geistliches Lieder-Büchlein. Eine Sammlung auserlesener Morgen- und Abend-Gesänge, wie auch zur Communion und auf alle Festtage. Für christliche Familien in Freuden und Leiden, in Gesundheit und Krankheit zu gebrauchen.
Es ist verlegt in Reutlingen bei Fleischhauer und Spohn und trägt keine Jahreszahl; gedruckt sein dürfte es zwischen 1830 und 1850. Es handelt sich um ein typisches Reutlinger Volksbüchlein, wie es in Hunderttausenden von Exemplaren von den Eninger Kolporteuren in Südwestdeutschland vertrieben worden ist. 1 Das Vorwort des Volksbüchleins scheint genau zu unserem Thema geschrieben zu sein: Wenn die Sprache der Poesie vorzüglich geschickt ist, die Einbildungskraft zu beleben, den Verstand auf eine angenehme Weise zu beschäfftigen, und dem Gedächtnisse die Arbeit zu erleichtern; wenn sie geschickt ist, das Herz in Bewegung zu setzen und die Empfindungen der Freude, der Liebe, der Bewunderung, des Mitleidens, des Schmerzes zu erwecken, oder zu unterhalten: so ist es unstreitig eine große Pflicht der Dichter, diese Kraft der Poesie vornehmlich den Wahrheiten und Empfindungen der Religion zu widmen. Da überdieses der Gesang eine große Gewalt über unsre Herzen hat und von gewissen Empfindungen ein eben so natürlicher Ausdruck ist, als es die Mi[e]nen und Geberden des Gesichts sind: so sollte man der Religion besonders diejenige Art der Poesie heiligen, die gesungen werden kann. Ich habe in den nachstehenden Oden und Liedern diese Pflicht zu erfüllen gesucht. Habe ich sie mit dem gehörigen Fleiße, und zugleich mit Glücke, ausgeübt; sind diese Gesänge […] geschickt, die Erbauung der Leser zu befördern, den Geschmack an der Religion zu vermehren und Herzen in fromme Empfindungen zu setzen: so soll mich der glückliche Erfolg meines Unternehmens mehr erfreuen, als wenn ich mir den Ruhm des größten Heldendichters, des beredtesten Weltweisen aller Nationen, ersiegt hätte.
Diese „Vorrede“ ist datiert „Leipzig, im Monat März, 1757“. Sie stammt von Christian Fürchtegott Gellert und leitet seine berühmten Geistlichen Oden und Lieder
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Vgl. Rückblick für die Zukunft. Berichte über Bücher, Buchhändler und Verleger zum 150. Geburtstag des Ensslin-Verlages. Hg. v. Jörg Ulrich Hebsaker. Reutlingen 1968 [nicht im Buchhandel], hier bes. die Beiträge von Hans Widmann und Rudolf Schenda.
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ein. Das Reutlinger Volksbüchlein2 hat einen klassischen Text der deutschen Literaturgeschichte in Bauern- und Handwerkerstuben gebracht. – Gellert führt weiter aus: Zu der Verachtung der geistlichen Gesänge überhaupt tragen unstreitig die vielen schlechten Lieder dieser Gattung nicht wenig bey. Viele wackere und fromme Männer haben es gewagt, geistliche Lieder zu dichten, und ihren Eifer für die Geschicklichkeit zur Poesie angesehen. Aber wie die Frömmigkeit demjenigen, dem es an Kenntnissen der Staatskunst fehlet, nicht die Geschicklichkeit ertheilen wird, in öffentlichen Geschäften glücklich zu arbeiten: so wird auch ein frommer Mann, bloß darum, weil er fromm ist, noch nicht mit Glücke in der Poesie arbeiten, wenn er mit ihren Regeln nicht bekannt und mit keinem poetischen Genie begabt ist. Man kann ein sehr gutes Herz, auch Verstand und Wissenschaft, und doch einen übeln Geschmack besitzen. […] Noch eine Ursache, warum wir vielleicht in unsern Tagen mehr für die geistliche Poesie arbeiten sollten, ist diese, daß sich der Geschmack der Dichtkunst und Beredsamkeit in unserm Jahrhunderte sehr geändert hat. Vieles ist in der Sprache unsrer Väter, in ihrer Art zu denken, erlaubt, gebräuchlich und unanstößig gewesen, das es in unsern Tagen nicht mehr ist. […] wenn die Sitten feiner werden, so bekommen wir an einer nachlässigen, ungewählten und platten Schreibart einen Eckel. Dieser Eckel erstreckt sich auch auf die Schreibart in den Werken der Religion; und wir fangen an, oft die Uebungen der Andacht geringe zu schätzen, oder zu verachten, weil die Mittel, sie zu erwecken oder zu unterhalten, dem allgemeinen Geschmacke nicht mehr gemäß sind. Ich will diesen Eckel nicht ganz billigen; aber ich billige es auch nicht, daß man nicht eifriger ist, ihm vorzuwehren.3
Wir können aus dem Vorwort zwei Aussagen ablesen: – Gellert will die Poesie (wie die Rhetorik) in den Dienst der Theologie stellen; es geht ihm um Affektweckung und größtmögliche Wirkung – Andererseits: Auch vor theologischen Geistesprodukten macht der wechselnde Geschmack nicht halt; ihre sprachliche Gestaltung muss mit der Zeit gehen. Gellert wird in Killys Literatur-Lexikon hervorgehoben als „zweifellos der meistgelesene Schriftsteller des 18. Jahrhunderts“.4 Das „meistgelesene[r] Schriftsteller“ bezieht sich allerdings nicht auf Gellert als Autor des Romans Leben der Schwedischen Gräfin von G*** und auch nicht auf den Autor der Lustspiele Die Betschwester und Die zärtlichen Schwestern, sondern auf den Autor der Fabeln und Erzählungen (1746/48), des Briefstellers (1751) und der Geistlichen Oden und Lieder (1757).
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Geistliches Lieder-Büchlein. Eine Sammlung auserlesener Morgen- und Abend-Gesänge, wie auch zur Communion und auf alle Festtage. Für christliche Familien in Freuden und Leiden, in Gesundheit und Krankheit zu gebrauchen. Oder Oden und Lieder von C.F. Gellert. Reutlingen o.J. [ca. 1830–1850]. XVI, 112 S. kl. 8°. Ich zitiere der leichteren wissenschaftlichen Verwertbarkeit zuliebe nach Gellert, Christian Fürchtegott, Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausg. Hg. v. Bernd Witte. Bd. 2. Berlin, New York 1997, S. 103ff. Der Text des Volksbüchleins weicht nur marginal ab. Jung, Werner, [Art.] Gellert, in: Killy, Walther (Hg.), Literatur[-]Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 4, Gütersloh, München 1989, S. 104–106; Zitat: S. 104.
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Gellert war zwar Pfarrerssohn und hatte selbst theologische Vorlesungen gehört;5 er hatte aber kein theologisches Examen abgelegt und war nicht Pfarrer geworden. Als Professor für Philosophie hielt er in Leipzig Vorlesungen über Poetik, Stilistik, vor allem aber über Moral. Diese Vorlesungen gehörten zu den Hauptattraktionen der Universität Leipzig und zu den bestbesuchten ihrer Zeit; Goethe hat sie besucht und in Dichtung und Wahrheit Gellerts Morallehre als „Fundament der deutschen sittlichen Kultur“ bezeichnet.6 „Geschmack“ und „Moral“ sind die zentralen Begriffe in Gellerts Lehre und Werk. Beide haben starken Bezug zur Theologie ihrer Zeit. Die Betonung der Moral unter Zurückstellung dogmatischer Festlegungen ist wohl das Hauptmerkmal aufklärerischer Theologie. Aber auch der Geschmack hat dort eine ganz zentrale Bedeutung: Der schwäbische Theologe Philipp Heinrich Schuler hat seine großartige Geschichte der Homiletik im Zeitalter der Aufklärung benannt: Geschichte der Veränderungen des Geschmacks im Predigen.7 Schuler untersucht in seinem monumentalen, aus den Quellen geschriebenen Werk die Entwicklung der Predigt bei den Protestanten. Der große Einschnitt von der früheren Predigt zur aufgeklärten Predigt seiner Zeit ist für ihn das fast gleichzeitige Erscheinen von Friedrich Nicolais Rezensionsorgan Allgemeine deutsche Bibliothek (1765) und der Zeitschrift Journal für Prediger (1770). Die Allgemeine deutsche Bibliothek ist das Rezensionsorgan der protestantischen Aufklärung, auch für theologische Schriften; das Journal für Prediger ist die renommierteste theologische Fachzeitschrift der Aufklärung mit vielen programmatischen Artikeln und eingehenden Rezensionen; beide haben durch ihr Geschmacksurteil die Entwicklung der protestantischen Predigt maßgeblich beeinflusst. Aber auch die Katholiken konnten sich dem Geschmacksdiktat nicht entziehen. Sebastian Sailer, uns Heutigen in der Regel nur noch durch seine derb-fröhlichen schwäbischen Dialektdichtungen Die Schöpfung und Die schwäbischen heiligen 5
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John, Heidi [u.a.] geben an: „Studium der Philosophie, Geschichte, Literatur und Theologie in Leipzig“ und nennen Heinrich Klausing und Christian Weise als seine akademischen Lehrer in Theologie (in: Witte, Bernd (Hg.), „Ein Lehrer der ganzen Nation“. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München 1990, S. 12); anderswo findet man Johann Lorenz Mosheim und Johann August Ernesti als Lehrer angegeben; sein Herausgeber Adolf Schullerus nennt ausdrücklich „Theologie als Hauptstudium“ (Gellerts Dichtungen. Hg. v. A. Schullerus. Leipzig und Wien o.J. [1892] [= Meyers Klassiker-Ausgaben], S. 2). Goethe, Dichtung und Wahrheit, Teil 2, Buch 7 (z.B. Hamburger Ausgabe, Bd. 9, 6. A. Hamburg 1967, S. 295). Schuler, Philipp Jakob, Geschichte der Veränderungen des Geschmacks im Predigen, insonderheit unter den Protestanten in Deutschland, mit Actenstücken im Auszug belegt. Th.1–3 und [Ergänzungsband]: Beyträge […]. Halle 1792; 1793; 1794; [Ergänzungsband] 1799 (s. Böning / Siegert, Volksaufklärung – wie Anm. 56 – Bd. 2.2, 2001, Nr. 3560, alle folgenden Nachweise daraus abgekürzt nach dem Muster VA 2.2/3560). – Vgl. dazu auch: Von dem Einfluße des guten Geschmacks auf die Religion. [Verf.: Heinrich Gottfried Reichard], Leipzig 1768, und Klein, Anton von, Sammlung zur Aufmunterung des guten Geschmackes in der Pfalz. Samt einigen vorläufigen Gedanken über den Einfluß des guten Geschmackes auf den Staat und die Religion. Mannheim 1776.
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drei Könige bekannt, als „Cicero Suevicus“ aber einer der berühmten Kanzelredner seiner Zeit, schreibt schon 1766 im Vorwort seiner Geistlichen Reden: Sind die Bänke unter der Kanzel mit Witzigen meistens besetzt, oder will man seine Rede in die Presse schicken, muß man in der Orgel ein anderes Register spielen lassen, weil es die Zeiten itziger Verfassungen heischen; und es ist dennoch noch das Wort Gottes. Ich lese Poeten […] Ich fand in den Fabeln des gelehrten Herrn Gellert etwas, so mir da zum Behufe kömmt. Ich setze das daher, weil Herr Gellert vielen unbekannt ist, welche sich auf nichts weniger, als gut zu schreiben, befleißigen.8
Und der Prämonstratenserchorherr Sailer zitiert im Vorwort seines Predigtbandes die witzige Geschichte von dem Hute des protestantischen Poesieprofessors Gellert, die da schließt mit den Worten: Was mit dem Hute sich noch ferner zugetragen, Will ich im zweiten Buche sagen. Der Erbe ließ ihm nie die vorige Gestalt. Das Außenwerk ward neu, er selbst, der Hut, blieb alt. Und, daß ich’s kurz zusammenzieh’, Es ging dem Hute fast wie der Philosophie.9
Man könnte wohl ergänzen: und der Theologie. Allerdings klingt Sailers Adaption von literarischen Qualitätsmaßstäben doch recht unfreiwillig und steht insofern im Gegensatz zum eingangs zitierten Gellert-Vorwort. Während Gellert in der mitreißenden Macht der Poesie ganz ohne Druck von Seiten der Zuhörer eine Chance sieht, dem Wort Gottes und der Moral besseren Eingang in die Ohren und Herzen zu verschaffen, ist es bei Sailer der Publikumsgeschmack, der den Prediger zu Zugeständnissen zwingt: Die leidige Noth, göttlichen Dingen abgeneigte Herzen zu gewinnen, zwang in unsren heickeln Zeiten auch die geistlichen Redestühle[,] einen andern Ton von sich zu geben […] Die Prediger müßten zeither sich fremde Wörterbücher anschaffen, um aus selben den Stoff einzukramen, und die Wahrheiten des Christenthumes, welche Gewand und Aufputz verschmähen, in einem den Zuhörern gefälligen Kleide aufzuführen.10
Ob das ganz ernst gemeint ist oder aber eine Schutzbehauptung, scheint mir zumindest zweifelhaft. Denn einerseits wettern, während Sebastian Sailer Gellerts Geschichte von dem Hute zitiert, die zeitgenössischen katholischen Predigtvorreden um ihn herum meist noch gegen jegliche weltliche Lektüre;11 andererseits 8
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Sailer, Sebastian, Geistliche Reden, Bd. 1, Augsburg 1766, Vorrede; zit. nach Werner Welzig (Hg.), Katalog gedruckter deutschsprachiger Predigtsammlungen. Unter Mitwirkung von Franz M. Eybl, Heinrich Kabas, Robert Pichl und Roswitha Woytek hg. von W.W. Bd. 1. Wien 1984 (Sitzungsberichte. Österreichische Akademie d. Wiss. Phil.-Hist. Kl., Bd. 430), S. 638. Gellert, Gesammelte Schriften, (wie Anm. 3), Bd. 1, 2000, S. 62. Sailer, Sebastian, Geistliche Reden, (wie Anm. 8), Bd. 2, Augsburg 1768, Vorrede, zit. nach Welzig S. 639. Vergleiche die in Welzigs großartigem Werk (s. Anm. 8) abgedruckten Vorreden und meine Rezension Die Revolution des Geschmacks im Predigen als geistesgeschichtlicher Indikator in: Buchhandelsgeschichte, Jg.11 (1989), S. B 115–119.
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aber ist Sebastian Sailer zusammen mit Christoph Martin Wieland und Sophie La Roche Mitglied des schöngeistigen Musenhofs, den der aufgeklärte Musteradlige Friedrich Reichsgraf Stadion auf seinem Schloss Warthausen um sich scharte. Und genauso wie Philipp Jakob Schuler spricht Sailer vom „Geschmack“ auch in geistlichen Dingen, wenn er stolz vermeldet, er habe 1767 in Wien in der Hofkirche gepredigt, „auf ebendemselben Redestuhle, wo vor Jahren ein P. Abraham von sanct Clara […] nach damaligem Geschmacke die hohe Stelle eines kaiserlichen Hofpredigers vertrat“.12 Abraham a Sancta Clara (1644–1709), immerhin der berühmteste deutsche Prediger des Barock, erscheint hier schlicht als obsolet. Mag Sebastian Sailer 1766 vielleicht noch als staunenswerte Ausnahme erscheinen,13 so erweist er sich rasch als Vorbote dessen, was auch auf katholischer Seite kommt. Als 1787 Johann Michael Feder, „der Theologie und morgenländischen Sprachen öffentl. Lehrer an der Julius-Universität zu Wirzburg“, im Titel einer Programmschrift fragt: „Soll ein Theolog auch ein Belletrist seyn?“, da antworten ausnahmslos alle Rezensenten14 (die es mittlerweile übrigens auch auf katholischer Seite gibt): Ja, „wie sich’s von selbst versteht“.15 Die Oberdeutsche allgemeine Litteratur-Zeitung, das qualitativ hervorragende16 katholische Gegenstück zu Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek und der in Halle erscheinenden Allgemeinen Literatur-Zeitung, zitiert Feder mit der rhetorischen Frage: Ist der Mann, der Theolog und Belletrist zugleich ist, nicht ein weit brauchbarerer, nützlicherer, ja sogar gründlicherer, und eben darum auch weit ehrwürdigerer Theolog, als derjenige, der – trockner und dürrer Theolog – und sonst weiter nichts ist?17
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Sailer, Geistliche Reden, (wie Anm. 10), Bd. 2, Augsburg 1768, Vorrede, zit. nach Welzig S. 639. Wobei noch am Rande vermerkt sei, dass er nur ausnahmsweise in Wien und anderswo große Festpredigten gehalten hat, sonst aber nicht etwa in einer großen Residenz- oder Universitätsstadt Prediger für ein überdurchschnittlich gebildetes Publikum war. Sailer war Pfarrer in den Gemeinden Seekirch, Reutlingendorf und 1757–1773 Dieterskirch (in Oberschwaben, 10 km südöstlich von Obermarchtal). Rezensionen in: Allgemeine Literatur-Zeitung (ALZ) 1787, Bd. 3, Sp. 471 [unbedeutende Kurzrez.]; Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung (OALZ) 1788, Bd. 3, Sp. 1111f. [mit detaill. Inhaltsangabe]; Tübinger gelehrte Anzeigen 1787 S. 655; Auserlesene Literatur des katholischen Deutschlands, Bd. 1, 1788, S. 328–330; letztere schließt: „Man werfe nur einen flüchtigen Blick auf jene unseligen Zeiten, wo die schönen Wissenschaften verbannt waren, und bedenke, ob alle jene Abentheuer der Mißbräuche, des Aberglaubens, alle jene Verkrüppelungen des gesunden Menschenverstandes erschienen wären, wenn die schönen Wissenschaften auf Herz und Verstand Einfluß gehabt hätten.“ OALZ 1788, Bd. 3, Sp. 1111. – Vgl. dazu Schindling, Anton, Die Julius-Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Baumgart, Peter (Hg.), 400 Jahre Universität Würzburg. Neustadt/Aisch 1982, S. 77–128; hier: S. 113. Vgl. Siegert, Reinhart, Selbsteinschätzung und Selbstbewußtsein der katholischen Aufklärung im Spiegel der „Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung“, in: Aurnhammer, Achim, Kühlmann, Wilhelm (Hg.), Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800. Freiburg i.Br. 2002 (= Rombach Wissenschaften [o.Nr.]), S. 99–114. OALZ 1788 III, Sp. 1112.
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Damit sind wir wieder beim eingangs zitierten Gellert-Vorwort angelangt: bei der aus dem Blickwinkel der Rhetorik und damit des Wirkungsbezugs gesehenen Funktionalisierung der Macht der Poesie für religiöse oder zumindest moralische Zwecke. Folgerichtig schrieb Ignaz Heinrich von Wessenberg, der einflussreichste Katholik des deutschen Südwestens, selbst Schöngeist und belletristischer Autor, Abhandlungen Über den sittlichen Einfluß der Schaubühne (1824, Titelaufl. und 2. Aufl. jeweils 1825) und Über den sittlichen Einfluß der Romane (1826). Wir geraten damit außerhalb der Sphäre der direkten Kommunikation, wie sie die Predigt darstellte. Natürlich hatte nicht jeder das Glück, Gellert oder Sebastian Sailer hören zu dürfen. Doch das musste er auch nicht, um ihre Botschaft zu empfangen. Es gab ja schließlich die Printmedien.
2. Das Gesangbuch als Einstiegsdroge – Wege zur „Leserevolution“ Wir wissen inzwischen, dass die vielbeschworene „Leserevolution“ des 18. Jahrhunderts18 weniger eine Alphabetisierungsrevolution gewesen ist als vielmehr die Nutzbarmachung eines bereits vorhandenen Lesepotentials. Gewiss sind gegen Ende des 18. Jahrhunderts in vielen Regionen die Dorfschulen verbessert worden, die Lehrerausbildung, die Schulbücher, der Schulbesuch; insbesondere die Namen Rochow und Felbiger stehen dafür. Doch würde die dadurch erreichte Verbesserung der Alphabetisierungsquote wohl nicht zur Bezeichnung „Revolution“ berechtigen. Die im deutschen Sprachraum besonders schwierige Quellenlage lässt bisher keine flächendeckenden Alphabetisierungszahlen zu. Wo immer aber für einzelne Regionen konkrete Alphabetisierungszahlen ermittelt werden konnten,19 widersprechen sie den pessimistischen Schätzungen, wie sie in der älteren Forschungsliteratur verbreitet sind. Wir finden am Ende des 18. Jahrhunderts im deutschen 18
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Der Begriff „Leserevolution“ wurde m.W. von Rolf Engelsing 1969 kreiert und u.a. von Wolfgang Langenbucher verbreitet; Rudolf Schenda kennt ihn in Volk ohne Buch 1970 noch nicht. Engelsing, Rolf, Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. Das statistische Ausmaß und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe, 25.1969, Nr. 51, Sp. 1541–1569 und in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 10 (1970), Sp. 945–1002; erg. Fassung in: Ders., Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, 2., erw. Aufl. Göttingen 1978, S. 112–154, Anm. S. 305–313. – Langenbucher, Wolfgang R., Die Demokratisierung des Lesens in der zweiten Leserevolution. Dokumentation und Analyse. In: Göpfert, Herbert G. (Hg.), Lesen und Leben, Frankfurt a.M. 1975, S. 12–35. Zusammenfassung des Wissensstandes: Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hans Erich Bödeker und Ernst Hinrichs. […] Tübingen 1999; seitdem neue Detailergebnisse von Andrea Hofmeister (1999), Norbert Winnige (1999, 2001), Reiner Prass (2000), Jan Klussmann (2002), Petra Schad (2002). Danach neuerliche Zusammenfassung und weiterführende Gedanken bei Hinrichs, Ernst, Alphabetisierung. Lesen und Schreiben, in: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. v. Richard van Dülmen u.a. Köln u.a. 2004, S. 539–561.
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Sprachraum zwar signifikante Unterschiede selbst zwischen benachbarten Regionen; wir finden darunter aber zwar eine ganze Reihe, die eine fast vollständige Alphabetisierung erreicht hatten, aber keine, wo Lesestoffe auf dem Land überhaupt keine Rezeptionschancen gehabt hätten. Die östlichen Randgebiete von Preußen und dem Habsburgerreich sowie das katholische Altbayern sind die einzigen Regionen, in denen nach zeitgenössischen Äußerungen tatsächlich noch mit verbreitetem Analphabetismus gerechnet werden musste. Unter den Bedingungen einer Gesellschaft, in der individuelles Lesen die große Ausnahme, kollektive Lesestoffrezeption aber die Regel war, war selbst dort mit Rezeptionschancen zu rechnen – sobald ein Interesse am Rezipieren von Lesestoffen vorlag. Der Anteil der Lesefähigen verbreiterte sich durch die Schulverbesserungen rasch: insbesondere bei den Frauen, die zuvor in der Regel beim Unterricht benachteiligt gewesen waren. Die eigentliche „Leserevolution“ spielte sich jedoch in der Wahl der Lesestoffe ab.20 Es ging darum, eine elementar lesefähige Bevölkerung dazu zu bringen, neue Gedanken durch Lesestoffe aufzunehmen. Geistliche Lektüre war bei Protestanten und Katholiken empfohlen und verbreitet.21 Ein Minimal-Buchbesitz war bei den Protestanten durch Luthers Vorstellung vom allgemeinen Priestertum insbesondere des Hausvaters und von den darauf beruhenden Visitationsrichtlinien vorgegeben. Pflichtbestand jedes evangelischen Haushaltes war vielerorts – – – –
die Bibel (oder zumindest das Neue Testament) der Katechismus Gesangbuch samt Gebetbuch eine Hauspostille.
Der Pfarrer hatte bei den Hausvisitationen zu prüfen, ob diese Bücher vorhanden waren und „ob in solchen Büchern auch gehörig gelesen werde“, insbesondere täglich ein Stück aus dem Katechismus. Die bei diesen Hausbesuchen geführten Visitationsprotokolle sind aus manchen Regionen erhalten, der darin stereotyp aufgeführte Standardbuchbesitz wird auch durch die amtlichen Teilungsinventare nach Todesfällen und durch viele literarische Zeugnisse bestätigt. Im katholischen Bereich ist die Lage insofern schwieriger, als hier keine dogmatisch begründeten Vorgaben vorliegen – außer dem Verbot des Besitzes von 20
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Die früheste mir bekannte Anwendung des Terminus „Revolution“ auf einen geistesgeschichtlichen Befund bezieht sich denn auch zu Recht auf einen Wandel der Lesestoffe, nicht des Alphabetisierungsgrades ([anonym,] Revolution der deutschen Litteratur in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts [Verf.: Johann Wilhelm von Archenholtz], in: Minerva, hg. v. J.W. v. Archenhol[t]z. Berlin 1792, Bd. 1, S. 544–549). Diese Passage folgt Siegert, Reinhart, Der „gemeine Mann“ und die Welt der Bücher um 1800, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte (JbKG), Bd. 4. Wiesbaden 2002, S. 32–51, hier: S. 33f.; vgl. auch Petra Schad, Buchbesitz im Herzogtum Württemberg im 18. Jahrhundert am Beispiel der Amtsstadt Wildberg und des Dorfes Bissingen/Enz. Stuttgart 2002 (= Stuttgarter historische Studien 1).
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Bibeln in der Landessprache. Dennoch stoßen wir auch hier in zeitgenössischen Quellen auf einen ziemlich konstanten Kanon: An die Stelle von Bibel oder Neuem Testament treten hier Heiligenlegenden (mit Martin von Cochem als populärstem Autor). Die Bibliothek des „gemeinen Mannes“ war also bei Katholiken und Protestanten ähnlich: ein geistlicher Grundbestand, dazu der Kalender und eventuell ein paar „Volksbücher“ vom Kolporteur, in fortschrittlichen22 Territorien das eine oder andere Schulbuch. Besonders beliebt bei den Protestanten war das Gesangbuch. Aus ihm wurde auch außerhalb des Gottesdienstes gern gesungen; viele Haushalte besaßen außer dem in der örtlichen Kirche eingeführten Gesangbuch noch weitere. Das konnten daher z.B. die Hersteller von Jahrmarktsdrucken (mit Titeln wie Drei schöne neuen weltliche Lieder, gedruckt in diesem Jahr) voraussetzen23 und deshalb zu ihren Liedern einfach passende Kirchenliedmelodien angeben. Hier lag eine Schnittstelle zwischen Religion und Poesie vor, und erstaunlich oft stoßen wir in zeitgenössischen Autobiographien darauf, dass das Singen und Lesen aus dem Gesangbuch nicht nur als religiöses, sondern durchaus auch als ästhetisches Erlebnis empfunden wurde. So schreibt der Bauer Isaak Maus aus Badenheim, 30 km südwestlich von Mainz: Von der Dichtkunst hatte ich nur ein dunkles Gefühl, das sich in der vorzüglichen Liebe zu Gesängen äußerte. Ein musikalischer Takt schien in meinen Adern zu schlagen, und das Metrische der Lieder fesselte mein Herz, daß ich mehrere Stunden lang im Gesangbuche las, ohne den Sinn der Lieder zu verstehen. In der Meinung, diese Kirchenlieder (keine andere[n] kannte ich) seyen etwas Uebermenschliches, weil man sie, wie die Bibel, Gottes Wort nennt, fiel mir auch nicht eher ein, sie nachzuahmen, bis ich einmal nach den im Marburger Gesangbuch unter den Liedern stehenden Namen, Luther, Frank, Hermann, Gerhard, u.s.w. fragte, und erfuhr, daß dieses die Namen der Verfasser wären. Ey! dacht’ ich, wenn Menschen diese Lieder machen konnten, sollt’ ich es wohl auch lernen können; und fing an zu reimen. Mein Bruder, der indessen an den Hof zu Grehweiler gekommen war, fand Gelegenheit, mir Hagedorns poetische Werke zu verschaffen. Wie staunte ich, ein Buch zu sehen, das kein Gesangbuch war, und doch aus Versen bestand. Nun hatte ich eine Lieblingslektüre, freuete mich über den Inhalt dieses Buchs, ohne daß ich viel davon verstanden hätte. Bald aber sah ich, theils aus den Anmerkungen, daß es dergleichen Bücher mehrere gäbe, und daß man ihre Verfasser Dichter heiße. Gellert’s Fabeln und Erzählungen waren damals noch neu; mein Bruder hatte mir davon gesagt, und Buchbinder Herr Geis zu Kreuznach, verschaffte sie mir um ein Billiges.24
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Es gab auch um 1800 noch Orte, an denen jeder Schüler ein anderes Schriftstück mit zur Schule brachte, um daraus Buchstabieren zu lernen. Das Gesangbuch hatte für den „gemeinen Mann“ dieselbe geistliche Autorität wie die Bibel. Singen aus dem Gesangbuch war religiös legitimierter Literaturgebrauch; es war die wichtigste praxis pietatis, zugleich Demonstration der Rechtgläubigkeit. Maus, Isaak, Lyrische Gedichte, Mainz 1821, S. VIII–XIV (mit Auslassungen). – Auch von Johann Peter Hebel erfahren wir diesen Weg zur Poesie (Hebel an F.H. Jacobi, 28.01.1811, s. Hebel, Briefe. Gesamtausgabe. Hg. u. erläutert v. Wilhelm Zentner. [2., erw. u. verb. Aufl.] Bd. 2. Karlsruhe 1957, S. 121).
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Gellerts Fabeln waren das erste Buch, das er in seinem Leben kaufte.25 Zwanzig Jahre später war Maus ein belesener Mann mit weitem Horizont, ein politischer Kopf und anerkannter Dichter mit achtbarem Oeuvre, daneben aber einer der erfolgreichsten und wohlhabendsten Landwirte Rheinhessens.26 Was bei Maus im Einzelfall durch eine reizvolle autobiographische Aufzeichnung anschaulich wird, muss sich in dieser Zeit öfter abgespielt haben. Am Ende des 18. Jahrhunderts wird in wirtschaftlich bevorzugten, stadtnahen Gebieten Bewegung registriert: hier beginnen auch Bauern, Zeitungen und andere aktuelle Druckerzeugnisse zu lesen, sich kleine Bibliotheken anzulegen und Möglichkeiten zu suchen, Lesestoffe zu entleihen. Wenn auch der geistliche Grundstock unangetastet bleibt, so treten daneben doch jetzt vermehrt weltliche Lesestoffe.27 Gellert hat dabei eine herausragende Rolle gespielt. Seine geistlichen Lieder gingen umgehend in die Gesangbücher ein;28 28 Vertonungen des Liederbandes in 36 Auflagen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts29 sind ein weiterer Beleg für ihre Beliebtheit. Eckhardt Meyer-Krentler hat die geradezu penetrante FrömmigkeitsAura, die den moralisierenden Poesie-Professor Gellert umgab, sehr anschaulich beschrieben.30 Sie prädestinierte ihn zunächst für gebildetere Schichten und insbesondere für Frauen als Einstieg in unangreifbare, nützliche, moralisch hochstehende weltliche Lektüre und machte ihn, nachdem seine Gedichte in Gesangbücher eingegangen waren, vollends auch für den „gemeinen Mann“ zum Tor zur Literatur.31 Rochow verwendete Gellerts Fabeln in seinem Kinderfreund, dem bahnbrechenden modernen Lesebuch für Schulen,32 und die Volksaufklärer wurden nicht müde, Lieder und Fabeln des frommen und zugleich „sanften“ und „freundschaftlichen“33 Gellert zu zitieren.34 Denn Gellert ist bei aller Frömmigkeit eben
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Maus, Isaak, Gedichte und Briefe, Mainz 1786 (VA 2.1/2240), Vorwort; abgedr. bei Auernheimer, Richard, Siegert, Reinhart, Isaak Maus und sein Badenheim. Alzey 1998, S. 57. Vgl. dazu Siegert, Reinhart, Isaak Maus, der „Bauersmann in Badenheim“. Ein bäuerlicher Intellektueller der Goethezeit und sein soziales Umfeld, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 10 (1985), S. 23–93 (mit einer Personalbibliographie). Ich folge hier meiner Darstellung in Siegert, Welt der Bücher, 2002 (wie Anm. 21), hier: S. 41. Zur Bedeutung Gellerts für den prot. Kirchengesang s. u.a.: Koch, Eduard Emil, Geschichte d. Kirchenlieds und Kirchengesangs der christl., insbes. der dt. ev. Kirche, Bd. 6, 3. A. Stuttg. 1869, S. 210f. und 263–277. Gellert, Gesammelte Schriften, (wie Anm. 3), Bd. 2, 1997, S. 402–406. Meyer-Krentler, Eckhardt, „[…] weil sein ganzes Leben eine Moral war.“ Gellert und Gellerts Legende, in: Witte (Hg.), „Ein Lehrer der ganzen Nation“, (wie Anm. 5), S. 221–257. Nicht umsonst war Gellerts Rezeption ausgerechnet in der reformierten Schweiz, die sich mit weltlichen Lesestoffen bekanntlich ganz besonders schwer tat, geradezu enthusiastisch. – Auch sonst ist „im 18. Jh. keine einzige Lieder-Sammlung eines deutschen Dichters als Ganzes so oft in Musik gesetzt worden“ (Max Friedländer, zit. b. Gellert, Gesammelte Schriften, [wie Anm. 3], Bd. 2, 1997, S. 402; Belege ebd. S. 402–457). Siehe dazu: Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow 1734–1805 im Aufbruch Preußens. Hg. von Hanno Schmitt und Frank Tosch. [Katalog zur Ausstellung in Reckahn, Sommer 2001] o.O. [Berlin] 2001 [mit weiterführender Literatur]. Witte, „Ein Lehrer der ganzen Nation“, (wie Anm. 5), S. 153 bzw. 182.
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nicht mehr ein Vertreter der Jammertal-Theologie35 des vorhergehenden Jahrhunderts. Die Katholiken taten sich beim Übergang zu weltlicher Literatur schwerer. An eine Gesangbuchtradition wie bei den Protestanten konnten sie nicht anknüpfen; die neuen Diözesan-Gesangbücher, mit denen die katholische Aufklärung versuchte, die Gemeinden am Gottesdienstgeschehen gedanklich teilnehmen zu lassen, wurden seit den 1770er Jahren erst eingeführt.36 (Versteht sich, dass auch hier Gellert Eingang fand).37 Mehr noch als bei den Protestanten waren bei den Katholiken die Volksaufklärer darauf angewiesen, sich zunächst der Erbauungsbücher zu bedienen. Ansätze zum Aufbrechen des starren geistigen Rahmens durch Literatur gab es gleichwohl auch bei den Katholiken. Es fällt auf, dass die Legendenbücher der Katholiken, gerade die in Hunderten von Auflagen verbreiteten des berühmten Martin von Cochem, lange erzählende Partien, Exotisches, Historisches, ja sogar Erotisches enthalten und weitaus unterhaltsamer sind als die protestantischen „Alten Tröster“.38 34
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Sie waren bestens geeignet für den Übergang zur belletristischen Lektüre: kurze, leicht zu lesende und leicht vorzulesende Texte mit moralischer Tendenz, legitimiert durch den Gebrauch in Schullesebüchern und vor allem durch Gellerts erwähnte Frömmigkeits-Aura. Ich bin mir freilich darüber im Klaren, dass das kein terminus technicus ist. Statt einer zeitgenössischen Definition zwei Zitate: „Doch so lange unser Volks-Unterricht noch so organisirt ist, daß zahlreiche Menschen-Classen sich einbilden müssen, der mit göttlicher Weisheit gebaute Leib sey nichts als eine verächtliche Hülle, keiner Ausbildung und Vorsorge werth – die Welt ein Jammerthal, und […] nur eine Herberge für kurze Zeit – das Leben selbst, unstreitig die größte aller Wohlthaten Gottes, weil ohne sie alle übrigen Wohlthaten nicht existiren könnten, nur ein elend und jämmerlich Ding, – so lange wird und kann auch National-Stupidität, deren Gefährtin gewöhnlich Armuth ist, kein Ende nehmen.“ (Rochow, Friedrich Eberhard von, Ueber die Nothwendigkeit einer zweckmäßiger[e]n Einrichtung der nieder[e]n Stadt- und Landschulen […], in: Neue Deutsche Monatsschrift. Hg. von Friedrich Gentz. Berlin 1795, Bd. 3, S. 3–13, hier: S. 6) – „So lange man die Erde immer als ein Jammerthal schilderte, konnte man keine andre Glückseligkeit verheißen, als die im Himmel. Sobald man von dieser finstern Idee abkam, und die Welt nicht mehr von ihrer blos nächtlich traurigen, sondern auch von ihrer lichtvollen erfreulichen Seite zu betrachten anfieng, verhieß man auch Glückseligkeit auf [der] Erde.“ (Mutschelle, Sebastian, Vermischte Schriften oder philosophische Gedanken und Abhandlungen. 2. verb. Aufl. Bd. 4. München 1799 – VA 2.2/5127 –, Abhandlung „Ueber die vielfältigen Anweisungen in Sittenbüchern, wie man glückselig werden könne“, S. 118– 126, Zitat: S. 118. Mutschelle benennt aber auch klar die darin liegende Gefahr der Profanierung und Säkularisierung). Vgl. dazu Kohlschein, Franz, Küppers, Kurt (Hg.), „Der große Sänger David – euer Muster“. Studien zu den ersten diözesanen Gesang- und Gebetbüchern der katholischen Aufklärung. Münster 1993 (= Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 73). Vgl. dazu Busch, Gudrun, „Da der Gesang eine große Gewalt über unser Herz hat […]“ – Die musikalische Rezeption der Dichtungen Gellerts, in: Witte (Hg.), „Ein Lehrer der ganzen Nation“, (wie Anm. 5), S. 192–220, die bei Kohlschein / Küppers, David, (wie Anm. 36) genannte Literatur (v.a. Matthäus Schneiderwirth 1908) und oben Anm. 30; außerdem Koch, Kirchenlied, Bd. 6, 3. A. Stuttgart 1869, (wie Anm. 28), S. 273. Vgl. Siegert, Reinhart, Enzyklopädisches in Erbauungsschriften, in: Tomkowiak, Ingrid (Hg.), Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens. (In memoriam Rudolf Schenda). Zürich 2002, S. 127–142 + Titelblatt auf S. 126. – Auf eine rare
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Ein anonymes bayerisches Landpfarrer-Team suchte sich das 1788 bei seiner Bearbeitung von Heinrich Gottlieb Zerrenners Volksbuch zunutze zu machen. Es machte nicht nur Zerrenners kaum gegliedertes Volksbuch-Monstrum durch viele kleine Kapitel für schwache Leser konsumierbar und passte es sprachlich, konfessionell und regional mit großem Geschick an bayerische Verhältnisse an. Vor allem aber versuchten die Bearbeiter durch ein ganz ungewöhnliches Mimikry in der Aufmachung die Akzeptanz beim „Volk“ zu erhöhen. Zerrenner hatte sein Werk plump und ungeschickt benannt: Volksbuch[.] Ein faßlicher Unterricht in nüzlichen Erkenntnissen und Sachen mittelst einer zusammenhängenden Erzählung für Landleute[,] um sie verständig, gut, wohlhabend, zufriedner und für die Gesellschaft brauchbarer zu machen.39
Die katholischen Landpfarrer benannten es um in Legende für den gemeinen Mann40 und kleideten es ganz wie ein barockes Erbauungsbuch ein, nicht wie die modischen Kleinoktavbändchen der aufklärerischen Belletristik und Sachliteratur. Mit gravitätischem Quartformat, rot-schwarzem Titel, zweispaltigem Druck, je einem Kupfer-Frontispiz, das im ersten Band ausgedeutet wird wie das allegorische Frontispiz eines barocken Predigtbandes, knüpfte das ganze Erscheinungsbild an die Tradition der barocken katholischen Erbauungsliteratur an.41 Das Vorwort des Verlegers redet die Leser als „gute katholische Christen“ an, streicht die geistlichen Bearbeiter heraus und die moralische Überlegenheit eines guten Buches gegenüber müßigem Geschwätz am Feierabend. Während hier das weltliche Buch eines protestantischen Pfarrers an die religiösen Lesegewohnheiten von Katholiken angepasst wurde, war der Benediktiner Ägidius Jais noch behutsamer. Sein Gebetbuch Guter Samen für ein gutes Erd-
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protestantische Paralle weist Anna Löffler-Herzog hin, wenn Sie – zu Recht – das „Böhmische Marterbuch“ unter „erzählende Bücher“ einordnet (Löffler-Herzog, Anna, Bildungsstand der Thurgauer Bevölkerung im Anfang des 18. Jahrhunderts […], in: Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte, H. 72. Frauenfeld 1935, S. 1–40, hier S. 29). – August Hermann Francke lehnte bei der Bibellektüre derartige Nebeninteressen ausdrücklich ab (A.H.F., Einfältiger Unterricht […], 1694 u.ö. Neudruck Halle 1995, S. 1). Zerrenner, Heinrich Gottlieb, Volksbuch. […]. Th.1–2. Magdeburg 1787 (VA 2.1/2508; dort weitere Aufl. und Bearbeitungen). Legende für den gemeinen Mann, zum nützlichen Unterricht über Religion, Welt- und Menschenkenntniß, Folgen der Tugend und des Lasters, Kinderzucht und Ausartung, Gesundheit und Behandlung der Krankheiten an Menschen und Vieh, über Acker-Feldbau, und allerhand wirthschaftliche Dinge, schädliche und gute Sachen. In Erzählungen unsern herzlich geliebten Mitmenschen des gemeinen Standes vorgelegt, und jedem redlichen Menschenfreunde gewidmet. Th.1–4. München 1788; 1788; 1789; 1790 (VA 2.1/2588; eines der interessantesten Bücher der Volksaufklärung überhaupt. Die Leseanleitung im Vorwort ist geradezu eine Einweisung in den anderen, elementaren Teil der Leserevolution: ins sinngemäße Lesen!). Eine ähnliche Verkleidung wendet übrigens J. C. Nägeli in Des Lehrnsbegierigen und Andächtigen Landmanns Getreuer Wegweiser (Zürich 1736; VA 1/118; Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1992), dem frühesten uns bekanntgewordenen „richtigen“ Volksaufklärungsbuch an: Das Inhaltsverzeichnis verrät nur den geistlichen Teil des Buches; der weltliche erschließt sich erst bei der Lektüre.
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reich42 will zugleich ein „Lehr- und Gebetbuch sammt einem Hausbüchlein für gutgesinnte Christen“ sein. Die Großkapitel lauten unverfänglich: „Morgenandacht“ (1ff.), „Abendandacht“ (13ff.), „Wie man Sonn- und Feyertage zubringen soll“ (17ff.), „Meßandacht“ (26ff.), „Gott“ (53ff.), „Jesus Christus“ (75ff.), „Jesus in seinem Leiden“ (126), „Sendung des heil. Geistes“ (165), „Der gute Christ“ (175) usw. Gegen Schluss zu stehen Gebete für besondere Anlässe. Und hier folgt auf ein „Gebeth bey einem Ungewitter“ und ein „Gebeth nach dem Ungewitter“ die Überschrift: „Bey einem Ungewitter, was zu beobachten sey“. Und da ist zu lesen: Freylich bebt und zittert der freche Sünder, wenn Blitze herabschießen, und Donner brausen, weil sein Gewissen erwacht: aber der Fromme vertraut auf Gott, seinen Vater. Er weiß zwar, daß sein Leben allzeit in der Hand Gottes steht: doch wendet er gegen die Gefahr auch n a t ü r l i c h e M i t t e l an, gleichwie er sich durch natürliche Mittel gegen den Regen zu schützen sucht. Wer vorsichtig und vernünftig handeln will, der soll folgendes beobachten: […].43
Und jetzt zeigt sich, dass das „Hausbüchlein“ auf dem Titelblatt nicht nur geistlich gemeint war: es folgen nun weltliche Ratschläge, für die Rudolph Zacharias Beckers berühmtes Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute die Vorlage darstellt.44 Das beginnt mit vernünftigem Verhalten bei Blitzschlaggefahr und geht über „Hexereyen“, Viehseuchen, Feuerschutz bis zum Schwerpunktthema Gesundheitspflege. Nach einem Kapitel über Krankenpflege erfolgt dann wieder der Übergang zu „Geistliche[r] Hülfe“: „Anweisung, wie ein Kranker bethen soll“ (335). Bevor ein Begräbnislied das Buch abschließt, mahnt ein Zwischentext, mit dem Begräbnis auch ja zu warten, bis der typische Totengeruch und die schwarzblauen Leichenflecken sich einstellten, damit man sich ja nicht der schweren Sünde des Lebendigbegrabens schuldig mache. – Während Zerrenners weltlichem Buch trotz aller äußerlichen Verbrämung größerer Erfolg versagt blieb, brachte es das geistliche Buch mit kleinem weltlichem Einsprengsel auf weit über 100 Ausgaben, wurde das auflagenstärkste Buch der katholischen Aufklärung45 und gehört, was die Verbreitung angeht, in eine Kategorie mit den Hauptwerken Martin von Cochems.46 42 43 44
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VA 2/3471 mit Hinweisen zur Auflagenfolge; Erstausgabe Bayrdießen o.J. [1792]. Jais, Guter Samen, neue Auflage, Hildesheim 1821, S. 321f. Das ist trotz äußerster Verknappung gut zu erkennen; sogar einige der Merkverse aus dem N&HB sind beibehalten. – Zum Noth- und Hülfsbüchlein und seiner Wirkungsgeschichte vgl. umfassend Siegert, Reinhart, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem „Noth- und Hülfsbüchlein“. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Sp. 565–1344; auch als Separatdruck Frankfurt a.M. 1978. – 2. erg. Aufl. in Vorbereitung. Hierzu und zu vielen anderen katholischen aufklärerischen Erbauungsschriften vgl. kenntnisreich Burkarth, Klaus-Peter, „Raisonable“ Katholiken. Volksaufklärung im katholischen Deutschland um 1800. Diss. Essen 1994 (bisher zugänglich nur in Mikroreproduktion: 3 Microfiches). Signer, Leutfried, Martin von Cochem […]. Wiesbaden 1963, S. 22, reklamiert für Cochems Leben Christi über 300 ermittelte Auflagen.
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Ich muss es mir versagen, hier weitere Beispiele aus dem Grenzgebiet zwischen religiöser Erbauung und kognitiver oder ästhetischer Horizonterweiterung aufzuführen; auch die von den Aufklärern geforderte Freigabe der Bibellektüre in der Landessprache für Laien kann ich hier nur erwähnen –47 für Katholiken war sie gewiss revolutionär.
3. Der literatursoziologische Hintergrund Ich will stattdessen den überaus engen Bezug von Theologie, Religion und Literatur im 18. Jahrhundert noch durch einige literatursoziologische Fakten untermauern. Hier ist zunächst daran zu erinnern, dass der Pfarrstand im 18. Jahrhundert das Gros der akademisch Gebildeten stellte. 50% der Studenten um 1800 studierten Theologie,48 und das Theologiestudium war zu dem Zeitpunkt noch vielseitig und weltoffen. Das norddeutsche Modell des reinen Fachstudiums, das sich seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland durchsetzte,49 scheint die um 1800 amtierenden Geistlichen noch kaum berührt zu haben; sie hatten zuvor in der Regel ein Grundstudium an den philosophischen Fakultäten absolviert. Darin liegt auch die Erklärung, warum bis ins 19. Jahrhundert hinein Theologen im Wartestand ohne Weiteres in der Lage waren, Hauslehrerstellen oder Gymnasiallehrerstellen in allen Fächern zu bekleiden; viele schafften den Absprung ins Pfarramt überhaupt nicht mehr oder hatten geistliche und weltliche Lehrämter in Personalunion inne.50 Mehr noch: bis ins 19. Jahrhundert hinein waren die philosophischen Fakultäten fast ganz mit Theologen besetzt, aus denen sich dann die freiwerdenen theologischen Lehrstühle rekrutierten.51 Wir treffen Akademiker mit theologischer Ausbildung also keineswegs nur im Pfarramt an. – Pfarrer selbst (verstanden als die in der unmittelbaren Seelsorge beschäftigten Geistlichen) waren um 1800 in Preußen 5.200 Personen, in Württemberg etwa 700 bis 900; rechnen wir entsprechend mit
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Vgl. VA 2.1/1600, 1601, 1727, 1750, 1775, 1783, 1914, 1926, 2170, 2171, 2188, 2250, 2467, 2777, 2806, 2851, 3116; VA 2.2/3495, 4001, 4142, 4465; jeweils mit Kommentaren. RGG3 5 (1961), Art. „Pfarrer“, Sp. 287f.: 35% der Studenten um 1800 studierten evangelische Theologie, der Anteil der Katholiken dürfte bei 15% gelegen haben. – Hasselhorn, Martin, Der altwürttembergische Pfarrstand im 18. Jahrhundert Stuttgart 1958 (= Veröffentlichungen d. Kommission f. Geschichtl. Landeskunde in Baden-Württ. Reihe B, Bd. 6), S. 43, nennt für Württemberg 50% evangelische Theologiestudenten. Laut Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, München 1987, S. 230f. verbreitete sich zwar schon im 18. Jahrhundert vom Norden aus das reine Fachstudium; zumindest in Süddeutschland (auch im protestantischen Teil davon) hat es für die um 1800 amtierenden Geistlichen jedoch offenbar noch keine Rolle gespielt. Vgl. für die Universität Würzburg ausdrücklich Schindling, Julius-Universität, 1982, (wie Anm. 15), S. 79. So war auch, als 1818 die Landwirtschaftshochschule Hohenheim gegründet wurde, für den Physik- und Chemielehrstuhl ursprünglich der Ortspfarrer vorgesehen! (Franz, Günther, Hohenheim. Geschichte und Gegenwart. Stuttgart 1979, S. 23). RGG3 2 (1958), Art. „Fakultäten“, Sp. 859f.
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einem Pfarrer pro 1.000 Einwohner,52 so kommen wir für das Reichsgebiet auf etwa 30.000 Pfarrer beider Konfessionen.53 Auch von den 10.648 Schriftstellern aus den verschiedensten Berufen, die Meusels Gelehrtes Teutschland für die Wende zum 19. Jahrhundert ausweist,54 dürfte etwa die Hälfte ein geistliches Amt bekleidet oder doch zumindest eine geistliche Ausbildung erhalten haben.55 Johann Martin Miller, Johann Gottfried Herder, Johann Timotheus Hermes, Johann Nikolaus Götz und viele andere deutsche Autoren des 18. Jahrhunderts waren im Zivilberuf Pfarrer. Sie schrieben keineswegs nur über theologische oder religiöse Themen: ein großer Teil der Literatur aller Fächer stammt aus ihrer Feder, selbst ein Teil der medizinischen Literatur und sogar ein Viertel der nicht-anonym erschienenen Romane. Vollends die Beiträge zu den Zeitschriften: „In allen Journalen und Zeitschriften geben sie den Ton an“, rief ein Zeitgenosse unwillig aus.56 Lediglich juristische Fachliteratur entzog sich der geistlichen Feder. – Bei den Volksschriftstellern – und um die muss es bei einer „Leserevolution“ ja vor allem gehen – war die Vorherrschaft der Geistlichen noch stärker. Eine Auszählung der ersten 200 Autoren-Einträge unserer Datenbank „Volksaufklärung“57 für die Geburtsjahre 1730ff. erbrachte 100 Pfarrer; da 13 Einträge bisher ohne Berufsangabe sind, liegt der Pfarrer-Anteil also hier sogar über 50%! 52
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Zu Preußen Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära. München 2008 (11987), S. 621, Anm. 4; zu Württemberg Hasselhorn, Martin, Der altwürttembergische Pfarrstand im 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B, Bd. 6). Stuttgart 1958, S. 80; das Verhältnis 1:1000 bestätigt für Hannover durch Marbach, Rainer, Säkularisation und sozialer Wandel im 19. Jahrhundert. Die Stellung von Geistlichen zu Entkirchlichung und Entchristlichung in einem Bezirk der hannoverschen Landeskirche (= Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 22). Göttingen 1978, S. 26. Ich folge hier Siegert, Reinhart, Pfarrer und Literatur im 19. Jahrhundert, in: Evangelische Pfarrer. Zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18. bis 20. Jahrhunderts Hg. v. Luise Schorn-Schütte, Walter Sparn. Stuttgart 1997 (Konfession und Gesellschaft, Bd. 12), S. 169–184, hier: S. 172f. mit Nachweisen. Hamberger, Georg Christoph, Meusel, Johann Georg, Das gelehrte Teutschland, 5. A., Bd. 12, Lemgo 1806, S. VI. – Zur Kritik dieser Zahl s. Kiesel, Helmuth, Münch, Paul, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland. München 1977 (= Beck’sche Elementarbücher), S. 90f. Basler, Susanne, Pfarrstand und Literatur um 1800. Zulassungsarbeit zur wissenschaftlichen Prüfung für das Höhere Lehramt an Gymnasien[,] vorgelegt bei Prof. Dr. Joachim Dyck. Freiburg 1973, S. 42 (Balthasar Haug zu Württemberg 1790, Gymnasiallehrer mit theol. Ausbildung nicht mitgerechnet!). – Vgl. die Liste der schriftstellernden Theologen und Theologensöhne bei Schöffler, Herbert, Protestantismus und Literatur. Neue Wege zur englischen Literatur des 18. Jahrhunderts (= Englische Bibliothek 2), Leipzig 1922, S. 229f. und die Angaben bei Hasselhorn, Pfarrstand, (wie Anm. 48), S. 51. Heinzmann, Johann Georg, Appel[l] an meine Nation über Aufklärung und Aufklärer. Bern 1795 (VA 2.2/4230), S. 480. Böning, Holger, Siegert, Reinhart, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd. 1–4. Stuttgart, Bad Cannstatt 1990ff. [Bd. 1: 1990, Bde. 2.1 und 2.2 2001]; dazu umfassende Datenbank.
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Aber auch von den gelesenen Textsorten her ergibt sich eine Prädominanz der Geistlichen. Die gelesenen Volkslesestoffe – auch die durch Kolporteure vertriebenen Heftchen –58 waren im 18. Jahrhundert ganz überwiegend religiöse Lesestoffe. Diese hatten eine Besonderheit: Hier muss mit geistigen Ausrichtungen besonders vorsichtig umgegangen werden – ein Gebet, das nach einer bestimmten theologischen Richtung schmeckt, ist für die Anhänger einer anderen Richtung kein Gebet mehr. Es ist belegt, dass auch Bauern sehr wohl die neue Akzentuierung erkannten, wenn ein orthodoxer Pfarrer durch einen Rationalisten abgelöst wurde und dieser wiederum durch einen Erweckten. Theologische Richtungen59 sind in religiöser Volksliteratur daher nur in homöopathischen Dosierungen möglich oder sinnvoll. Entsprechend schwer feststellbar sind sie durch den heutigen Forscher. – Religiöse Literatur stammt naturgemäß meist von Theologen; Ausnahmen sind freilich möglich, am ehesten dort, wo entweder religiöse Intuition und spontane göttliche Eingebung religiösen Stellenwert erlangen, oder aber, wo eine stark moralisch ausgerichtete Theologie sich mit der praktischen Philosophie berührt.60 Die religiöse Komponente stellte für die inhaltliche Rezeption neuer Gedanken sicherlich einen Vorteil dar. Für die ästhetische Gestaltung und die Unterhaltsamkeit hingegen konnte sie zum Pferdefuß werden: Wie ein Zeitgenosse 1801 anmerkt, geht es in den neuern Volksschriften […] fein ehrbar zu, des Spaßes giebt es wenig, und den will man doch nach vollbrachter Arbeit, um sich vom Amtmann, Frohnvoigt und Einnehmer zu erholen[,] und trif[f]t dafür, eigentlich zu sagen, wieder auf den Pastor. Denn den Sachkundigen kann die Aehnlichkeit des Tons in diesen Volksschriften mit dem immer allgemeiner werdenden Ton in den Predigten für den Landmann nicht entgangen sein.61
Der das schreibt, ist selbstkritischer protestantischer Pfarrer.
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Schenda, Rudolf, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. Frankfurt a.M. 1970 (= Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. 5) (= Neunzehntes Jahrhundert. Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen Stiftung), passim, insbes. S. 258ff. Sie wurden selbst Thema von (schöngeistiger) Literatur – vgl. Seidel, Ina, Lennacker. Stuttgart 1938 u.ö. Von Gellert als weltlichem frommem Autor war schon die Rede; unbedingt erwähnt werden müssen hier noch die anonym erschienenen Stunden der Andacht (Erstausgabe in Jahrgängen Aarau 1809–1816), das wichtigste und verbreitetste aufklärerische Erbauungsbuch des 19. Jahrhunderts Als Verfasser wurde der katholische Generalvikar Ignaz Heinrich von Wessenberg vermutet; tatsächlicher Autor war dessen protestantischer Freund, der Schweizer Staatsmann und Publizist Heinrich Zschokke. Hübbe, C[arl], Vortrag an die Deliberationsversammlung der Gesellschaft, am 29sten August 1799, über die Mittel zur Beförderung des gemeinnützigen Unterrichts unter den niedern Ständen, besonders auf dem Lande, in: Verhandlungen und Schriften der Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe. Bd. 6. Hamburg 1801, S. 465– 477; Zitat: S. 471.
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4. Zusammenfassung und Ausblick Die „Leserevolution“ im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts fand vor einem theologischen und religiösen Hintergrund statt. Entscheidend war der aufklärerische Paradigmenwechsel in der Theologie: weg von der Erde als „Jammertal“ und hin zum „Himmel auf Erden“, wie es Christian Gotthilf Salzmann prägnant formuliert hat.62 Dieser Paradigmenwechsel führte zum aufgeklärten Berufsbild und Standesethos des Pfarrers als eines Volkslehrers,63 und zwar bei allen Konfessionen. Viele dieser aufklärerischen Geistlichen waren auch als Schriftsteller tätig; sie dominierten die deutschsprachige Literaturproduktion. Dass sie sich dabei weit über das Gebiet der religiösen Literatur hinauswagten, ist weniger einer Akkomodation an eine neue Zeit als vielmehr ihrer Wirkungsabsicht als Aufklärer zuzuschreiben: Wer über sein persönliches Umfeld hinaus seinen Mitmenschen helfen wollte, das bewusste „Himmelreich auf Erden“ zu bauen,64 konnte das nur durch Lesestoffe tun. So brachte die Abkehr von der Jammertal-Theologie gedanklich die Leserevolution mit sich und half sie zugleich institutionell durchführen: Die Haupt-Träger der „Leserevolution“, sowohl im engeren Sinn der Alphabetisierung als auch im weiteren Sinn einer Horizonterweiterung durch Lektüre, waren im deutschen Sprachraum die aufklärerischen Pfarrer aller Konfessionen. Sie setzten bei ihrem Wirken bei der Religiosität der Bevölkerung ein und holten ihre Leser dort ab, wo sie tatsächlich standen: bei der religiösen Wiederholungslektüre. Von diesem Ausgangspunkt führten sie sie zu neuen Lesestoffen, geistlichen wie weltlichen. Wo die Botschaft vom Pfarrer zum Volk über Literatur geht, da geht sie zunächst über geistliche Lesestoffe. Wollte die Hilfe der Volkslehrer jedoch auch bei der lebenspraktischen Seite des „Himmelreichs auf Erden“ wirksam werden, so musste sie über die religiösen Lesestoffe hinausreichen: über Kindererziehung, Krankenpflege, Diätetik, Zivilisierung des Umgangstons, über das Einrichten von Sparkassen, über Brandbekämpfung, Pockenschutzimpfung und Stallfütterung bis hin zu einem guten Unterhaltungsangebot. Dass dies im deutschen Sprachraum vorwiegend durch Geistliche erfolgte, hatte zur Folge, dass das ethische Programm
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Salzmann, Christian Gotthilf, Der Himmel auf Erden. Schnepfenthal 1797 (VA 2.2/4704 – mit Auflagenfolge bis zur Reclam-Ausgabe Lpz. 1897!). Dazu Siegert, Reinhart, Die „Volkslehrer“. Zur Trägerschicht aufklärerischer Privatinitiative und ihren Medien, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, Jg. 1. Stuttgart 1999, S. 62– 86. – Zum theologischen Hintergrund Basler, Pfarrstand, (wie Anm. 54), S. 23. Diese griffige Formulierung hat Rudolph Zacharias Becker im Mildheimischen Liederbuch, dem am weitesten verbreiteten Liederbuch der Goethezeit, in seinem „Danklied für die fortschreitende Aufklärung“ gebraucht: „Wir sollten, seinem Vorbild gleich, / Auf Erden bau’n ein Himmelreich; / Darin, als Brüder, allgemein / Durch Lieb’ und Weisheit glücklich seyn; / Selbstständig, frey, aus eignem Mut / In allem thun, was recht und gut.“ (Becker, Mildheimisches Liederbuch. Gotha 1799 – VA 2.2/5035 –, Nr. 426; in der erweiterten Neuausgabe des MLB von 1815 als Nr. 720 mit der Anmerkung: „Nach der bekannten Kirchen-Melodie“).
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der Aufklärung nicht als reine Moral, sondern über die Frömmigkeit und mit religiöser Begründung vermittelt wurde. In diesem praktischen Bemühen blieb der aufgeklärte Teil der Geistlichkeit jahrzehntelang ohne ernstlichen Widerpart. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte die Erweckungsbewegung ein massives, aggressiv vermarktetes Gegenangebot an Massenlesestoffen. Das allerdings fällt sicherlich nicht unter den Begriff „Leserevolution“. Die nächste, zweite Leserevolution kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und fand vor allem über veränderte Markt- und Rezeptionsbedingungen statt.65 Unterschiedliche politische Gruppierungen und die Selbstorganisationsbestrebungen der Arbeiterklasse nahmen darauf Einfluss; der Einfluss der Kirchen hingegen war jetzt eher gering. Und die Rolle der Geistlichen innerhalb des literarischen Lebens wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts marginalisiert. Aber diese Entwicklung nachzuzeichnen, erforderte ein eigenes Kapitel.66 Als Germanist steht es mir nicht schlecht an, meinen Beitrag mit einem Dichterwort zu schließen. Ich wähle dazu die Schlusszeilen einer Versepistel: Nun eil’ ich, bester Freund! zum Schluß, Bin stolz, daß ich dich schnarchen höre, Denn: reicht’s nicht meiner Kunst zur Ehre? Beweist es nicht, wie stark sie wirken muß? Im Anfang schon sah’ ich dich gähnen, Und in der Hälfte kaum entspannten Harmonie Und Zauberkraft der Sinne starke Sehnen; Die Seele sank, und wußte selbst nicht wie, Im Taumel um; bezaubernd wiegte sie Der alte Morpheus sanft in seinem Arme. Was gleicht an Macht der Poesie?
Diese Zeilen waren nicht von Gellert, sondern von dem Bauern Isaak Maus.67 Aber sie wären ohne das Gesangbuch und ohne Gellert nie entstanden.
Nachbemerkung In der Diskussion, die an meinen Vortrag anschloss, reklamierte Hans-Jürgen Schrader zu Recht, dass die Volksbildungsleistung des Pietismus nicht erwähnt worden sei. Ich hätte in der Druckfassung gern einen Exkurs zu diesem Thema eingefügt, sah mich aber von der an sich reichen Forschungsliteratur zum Pietismus in diesem speziellen Punkt im Stich gelassen. Es gibt zwar interessante Arbeiten zur Stellung des Pietismus zu Literatur und Künsten allgemein (z.B. Wolfgang Mar65 66 67
Vgl. v.a. Langenbucher, Demokratisierung, (wie Anm. 18). Siegert, Pfarrer und Literatur im 19. Jahrhundert, (wie Anm. 52). „Der Pflüger hat den Dichterspleen […]“. Gedichte des rheinhessischen Bauern Isaak Maus aus Badenheim, ausgewählt und eingeleitet von Reinhart Siegert. Alzey 1985, S. 152.
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tens 1989), aber nur schüttere Anspielungen auf eine Verbreiterung des Lesepublikums durch sein Wirken. Die gehaltvollsten Hinweise dazu gibt Schrader selbst,* aber bisher nur nebenbei – eine spezielle Untersuchung neueren Datums dazu scheint völlig zu fehlen. Ich musste mich daher auch in meinem Beitrag Volksbildung im 18. Jahrhundert (in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2, München 2005, S. 442–481) auf einen kurzen Hinweis beschränken: Der Pietismus dürfte in der ersten Hälfte des 18. Jhs. zwar bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung (laut Schrader 40% der Protestanten) zur Lese-Gewöhnung auch unterer Sozialschichten beigetragen haben, gab aber mit den mentalen Folgen seines Beitrags den Aufklärern hinsichtlich der emanzipativen Komponente ihrer Lektüre-Kampagne eine harte Nuss zu knacken: für die Pietisten waren die Lesestoffe ein Fenster zum Jenseits, für die Volksaufklärer darüber hinaus in unterschiedlicher Gewichtung auch (und manchmal vor allem) ein Fenster zur Welt. (S. 447)
*
V.a. in Schrader, Hans-Jürgen, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Heinrich Reitz’ Historie der Wiedergebohrnen und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989 (= Palaestra, Bd. 283) [überarb. Phil. Diss. Göttingen 1979], S. 243ff., bes. S. 257.
WILHELM HAEFS (München)
„Charfreytagsprocession“, „Sündfluthspiel“ und „Monachologie“ Zur Literatur und Theologie der Katholischen Aufklärung I. Aufklärung, katholische Territorien und Verschwörungstheorien Versetzen wir uns in das Jahr 1786 und in einen Professor der Philosophie an der Universität Halle: Er informiert sich über die Fortschritte der Aufklärung in den Leitmedien der deutschen Gelehrtengesellschaft, in der Allgemeinen deutschen Bibliothek, der Berlinischen Monatsschrift, im Deutschen Zuschauer, im Teutschen Merkur, im Journal von und für Deutschland, in Schlözers Statsanzeigen, um nur einige zu nennen. Natürlich liest er auch Reiseberichte, und er interessiert sich für das, was im katholischen Deutschland und in Österreich passiert: Anselmus Rabiosus Reise durch Oberdeutschland von Johann Ludwig Wekhrlin von 1778 machte den Anfang der kritischen Beschreibungen über die katholischen Territorien, es folgten Johann Caspar Riesbecks Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland (1783), Johann Pezzls Reise durch den baierschen Kreis (1784), dann die Litterarische Reise durch Deutschland (1786) von Friedrich Schulz. Vor allem aber war er abonniert auf die zwölfbändige große Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 von Friedrich Nicolai, die seit 1783 erschien; die Bände über Wien und München kamen 1785 heraus und zeichneten ein sehr kritisches, bisweilen polemisches, in jedem Fall ziemlich realitätsfernes und verzerrtes Bild der katholischen Staaten aus der Perspektive vermeintlicher kultureller und ökonomischer Überlegenheit der protestantischen Territorien.1 Es sind die Jahre, in denen auch Journale wie die bedeutende Berlinische Monatsschrift
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Eine sachliche Bestandsaufnahme des Gesamtproblems gibt es noch nicht. Vgl. aber zur Kritik an den katholischen Territorien Schaich, Michael, Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung. München 2001. Grundlegend in konfessionsgeschichtlicher und kulturpolitischer Perspektive ist zu diesem Thema Carl, Horst, „Die Aufklärung unseres Jahrhunderts ist ein bloßes Nordlicht […]“. Konfession und deutsche Nation im Zeitalter der Aufklärung. In: Haupt, Heinz-Gerhard, Langewiesche, Dieter (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Frankfurt a.M., New York 2001, S. 105–141, zur Katholischen Aufklärung 129ff. Zum Problem der Fremdwahrnehmung von Katholiken, des Katholizismus und der katholischen Staaten vgl. die kritische Darstellung bei Mix, York-Gothart, „Lucri bonus odor“ oder Wie aufgeklärt war Friedrich Nicolai? Konstituenten kultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung in den Reiseberichten über Franken von Nicolai, Wackenroder und Tieck. In: Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hg. v. Rainer Falk und Alexander Košenina. Hannover 2008, S. 339–358.
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voll sind mit Berichten über den Katholizismus, die Katholische Kirche, das Verhältnis von Protestantismus und Katholizismus, die katholischen Landesfürsten. Ein sehr widersprüchliches Bild muss da entstanden sein: Erinnerte sich der Gelehrte aus Halle doch, dass in vielen Rezensionen (und nicht nur der Allgemeinen deutschen Bibliothek) schon seit 1772/73 Publikationen aus dem katholischen Oberdeutschland anerkennend rezensiert, der Topos von der „Morgenröte der Aufklärung“ nicht mehr nur von bayerischen Aufklärern immer wieder beschworen, Bayern gelegentlich sogar als besonders fortschrittlich unter den katholischen Territorien bezeichnet worden war.2 Doch welches Bild wurde nun, nur wenige Jahre später, in den Berichten der reisenden Aufklärer vermittelt? Nicht nur, dass die selbsternannten Ethnologen den Bayern als dickbäuchig, dickschädelig, dickfellig, dumm und bigott charakterisierten; die Katholischen Territorien des Reiches, schwerpunktmäßig aber Bayern und Bayerisch-Schwaben und darüber hinaus Österreich, wurden in den düstersten Farben gemalt: Territorien, geprägt von Aberglaube und Religionswahn, Ketzerverfolgung und Inquisition, schärfster Zensur und Unterdrückung jeder freien Meinung. Aufklärung: offensichtlich mit der Katholischen Religion nicht vereinbar; die Fürsten, und selbst die gutwilligsten, bloße Marionetten in der Hand böswilliger Berater, erliegend den Einflüsterungen intriganter und machtlüsterner Exjesuiten, die nicht nur gegen Freimaurer und insbesondere die Illuminaten kämpfen, sondern gegen jeden gutwilligen Aufklärer. Eine schwarze Legende, ganz offensichtlich:3 Ergebnis von Phobien, von Stereotypisierungen „des fremden Anderen“, wie sie jeder „religiösen Gruppenidentität“ eigen sind,4 gewiss auch eine Reaktion auf die Allgegenwart des Numinosen mit Mirakelbildern und Votivtafeln angesichts einer sozialen und kulturellen Realität, die mehr und mehr den Ansprüchen von Rationalität zu unterwerfen war. Am Ende stand eine regelrechte Bavarophobie: Bayern schien, jedenfalls in den Augen vieler protestantischer, aber auch einiger radikaler katholischer Aufklärer das Kli2
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Vgl. Haefs, Wilhelm, Staatsmaschine und Musentempel. Von den Mühen literarisch-publizistischer Aufklärung in Kurbayern unter Max III. Joseph (1759–1777). In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848). Hg. v. Wolfgang Frühwald und Alberto Martino. Tübingen 1989, S. 89–125, hier 119f. Vgl. Schaich, (wie Anm. 1); Carl, (wie Anm. 1); ferner Altgeld, Wolfgang, Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus. Mainz 1992, bes. S. 118ff.; Nicklas, Thomas, Publizität und Intrige. Eine antikatholische Pressekampagne in der Zeit der Spätaufklärung. In: Historisches Jahrbuch 119 (1999), S. 134–158. Vgl. zu den zeitgenössischen Auseinandersetzungen auch Fechner, Jörg-Ulrich, Aufklärung und ‚oberdeutsche‘ Kultur in der Kontroverse. Zu zwei offenen Briefen an und von Friedrich Nicolai. In: Grenzgänge. Literatur und Kultur im Kontext. Beiträge für Hans Pörnbacher zum 60. Geburtstag und zum Abschied von der Universität Nijmwegen. Hg. v. Guillaume van Gemert und Hans Ester. Amsterdam, Atlanta 1990, S. 141–156. Zur Funktion und Rolle des Illuminatenordens im Zusammenhang des Problems vgl. Hippchen, Christoph, Zwischen Verschwörung und Verbot. Der Illuminatenorden im Spiegel deutscher Publizistik (1776–1800). Köln, Weimar, Wien 1998. Graf, Friedrich Wilhelm, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2004, S. 37.
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schee vom zurückgebliebenen Territorium, das angeblich in Wunderglauben und Barockfrömmigkeit gefangen geblieben war, zu bestätigen.5 Die Legende war erstaunlich langlebig, auch wenn schon früh einige protestantische Aufklärer dagegen anschrieben; der Annäherungsprozess zwischen den beiden Hauptkonfessionen im Reich war ein schwieriger. So enthält die Berlinische Monatsschrift, die für die Selbstverständnisdebatte der deutschen Aufklärer von allergrößter Bedeutung war, durchaus differenzierte Analysen, zum Beispiel von dem besonnenen, um Ausgleich bemühten Christian Garve, dem Aufklärer aus dem bikonfessionellen Breslau. Johann Georg Schlosser wiederum kritisierte 1787 im Deutschen Museum das „intolerante Geschrey gegen den Catholicißmus“. Und auch andere Aufklärer, z. B. Christian Felix Weisse, teilten den Dogmatismus Nicolais keineswegs, sondern waren um eine offene, unvoreingenommene Kommunikation zwischen den beiden größten Konfessionen im Reich bemüht, meist vor dem Hintergrund persönlicher Kontakte zu katholischen Aufklärern. Auch Johann Gottfried Herder hielt nichts von dem konfessionellen Parteienstreit, der in seinen Augen der Sache einer deutschen Nationalkultur erheblich schadete. Er verfolgte eine Art dekonfessionalisierender Strategie: Manches, so meinte er 1793 in den Briefen zur Beförderung der Humanität, schütze die „Zerteilung“ des Vaterlands: „Religionen, Sekten, Dialekte, Provinzen, Regierungen, Gebräuche und Rechte.“6 Der Bau der Humanität in Deutschland werde so verhindert: [D]er Unterschied der Religionen macht es nicht, denn in allen Religionen Deutschlands gibt es aufgeklärte, gute Menschen. Der Unterschied von Dialekten, von Bier- und Weinländern macht es auch nicht, was uns voneinander hält und sondert; ein leidiges Staatsinteresse, eine Anmaßung mehreren Geistes, mehrer Kultur auf der einen, auf der andern Seite mehreren Gewichts, mehreren Reichtums u. f. war es, was uns entzweiet; und dem, dünkt mich, muß und wird die allmächtige Zeit obsiegen.7
Dennoch, trotz solcher Einreden behauptete sich die schwarze Legende in der literarischen Öffentlichkeit. Dies lag auch daran, dass an ihrer Entstehung und Tradierung nicht nur Protestanten, sondern auch Katholiken mitgeschrieben haben: Während Protestanten vor allem die Deutungshoheit über die Aufklärung anstrebten und nur den Protestantismus mit der Aufklärung für vereinbar hielten, polemisierten radikalere katholische Aufklärer gegen die Institution der katholischen Kirche sowie gegen Erscheinungsformen des Barockkatholizismus und der Barockfrömmigkeit, auch gegen einflussreiche katholische Kontroversprediger wie Aloys Merz in Augsburg und Peter Fast in Wien, die, in der Tradition der gegenreformatorischen Barockprediger, gegen das Luthertum polemisierten und die katho-
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Vgl. dazu auch das satirische Buch des Pseudonymus R. W. B. McCormack (d.i. Gert Raithel), Tief in Bayern. Eine Ethnographie. Frankfurt a.M. 1991. Herder, Johann Gottfried, Briefe zur Beförderung der Humanität. 2 Bde. Berlin, Weimar 1971. Bd. 1, S. 27. Ebd., S. 28.
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lische Religion als die einzig wahre proklamierten:8 Darüber hinaus wurden von katholischer Seite Verschwörungstheorien konstruiert, im Blick auf die angeblich Staat, Kirche und generell die Öffentlichkeit bedrohenden Geheimbündler, gegen Freimaurer und Illuminaten, gegen Atheisten und Freigeister. Vor allem die Veröffentlichung von Nicolais Reisebeschreibung war von vielen Katholiken als Kampfansage an die eigene Konfession verstanden worden. Auch deshalb ging ein tiefer Riss durch die deutsche Gelehrtenrepublik, die durchaus noch stärker konfessionell geprägt war, als es die Aufklärungsdebatten über die Konfessionsgrenzen hinweg nach außen signalisierten.9 Dieser Riss als Ergebnis einer „diskursive[n] Abgrenzung von norddeutsch-protestantisch und süddeutschkatholisch in der Publizistik der Aufklärung“ war kulturpolitisch und literaturgeschichtlich folgenreich: Er verdeutlichte, „daß die konfessionelle Spaltung eine Hypothek für ein modernes deutsches Nationalbewußtsein blieb“.10 Zugleich perpetuierte er die um 1750 erreichte ‚Siegerposition‘ des protestantischen Deutschland in der Literaturgeschichtsschreibung; „Sprache und Literaturkanon“ blieben „demnach auch in Zeiten der Aufklärung eine konfessionspolitische Angelegenheit“.11 Diese Konstellation lässt sich auch vor dem Hintergrund einer unübersehbaren publizistischen und kulturellen Modernisierung in den größeren katholischen oberdeutschen Territorien seit den 1760er Jahren beschreiben. Sie war Folge eines erwachenden kulturellen Selbstbewusstseins: Dafür stehen in Bayern die Baierischen Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur von 1779–1781 sowie der Zuschauer in Baiern, andernorts das Journal von und für Deutschland,12 in Salzburg die Oberdeutsche Allgemeine Litteraturzeitung (OALZ) Lorenz Hübners seit 1788.13 Insbesondere die OALZ, die sich als Rezensionsorgan für das katholische 8 9 10 11
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Zu Merz vgl. Horstmann, Fred, Aloys Merz, Dom- und Kontroversprediger von Augsburg, als Opponent der Aufklärung. Frankfurt a.M. u.a. 1997. Vgl. Carl, (wie Anm. 1), bes. S. 107f., 131. Carl, (wie Anm. 1), S. 141. Breuer, Dieter, Die protestantische Normierung des deutschen Literaturkanons in der frühen Neuzeit. In: Haupt, Heinz-Gerhard, Langewiesche, Dieter (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Frankfurt a.M., New York 2001, S. 84–104, hier S. 104. Er fügt hinzu: „die deutsche Literaturgeschichtsschreibung trägt noch immer an dieser Hypothek.“ An anderer Stelle erläutert er: „Erst die politische Schwächephase der katholischen Reichsstände von 1740/50 und die Umkehrung der Machtverhältnisse im Reich entschied auch die Auseinandersetzung um Sprache und Literatur zugunsten der protestantischen Seite. Erst ab diesem Zeitpunkt gelang die Ausgrenzung der Kultur des katholischen Deutschland als ‚undeutsch‘ (S. 88). Vgl. Braubach, Max, Die kirchliche Aufklärung im katholischen Deutschland im Spiegel des „Journal von und für Deutschland“ (1784–1792). In: Ders., Diplomatie und geistiges Leben im 17. und 18. Jahrhundert. Gesammelte Abhandlungen. Bonn 1969, S. 563–659. Vgl. Hammermayer, Ludwig, Die Aufklärung in Salzburg (ca. 1715–1803). In: Dopsch, Heinz, Spatzenegger, Hans (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land. Bd. II/1. Neuzeit und Zeitgeschichte, Teil 1. Salzburg 1988, S. 375–535 u. Bd. II/5, S. 3003–3054; Reb, Sylvaine, L’Aufklärung catholique à Salzbourg (1772–1803). L’œuvre reformatrice de Hieronymus von Colloredo. 2 vol. Bern, Berlin etc. 1995. – Zur OAL vgl. Wagner, Karl Otto, Die „Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung“. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde
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Deutschland verstand und schnell zum Spiegel des kulturellen Lebens in Oberdeutschland avancierte (im Gegensatz zur Litteratur des katholischen Deutschland, die, von Benediktinern herausgegeben, stärker konfessionell geprägt war),14 stellte für Nicolai, der seine Machtposition in der literarischen Öffentlichkeit bedroht sah, ein Problem dar. Er fürchtete, und dies nicht zu unrecht, dass die neue Zeitschrift dem Absatz seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek – jahrelang konkurrenzloses Integrationsmedium der deutschen Gelehrten15 und einflussreichstes Rezensionsorgan auch in den katholischen Territorien, schaden könnte. Und in der Tat: Die OALZ sollte Nicolai das Monopol und den Rang als literaturkritische Autorität im katholischen Oberdeutschland, in Salzburg und Österreich kosten, insofern war sie für Nicolai auch ökonomisch eine Gefahr.16 Tatsächlich war die Resonanz der Zeitschrift positiv, die Wirkungen waren, über die katholischen Territorien hinaus, nachhaltig. Die Auflage erreichte schnell 1000 Exemplare, während die überregionale Allgemeine Literaturzeitung in Jena sowie Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek zeitweise bei 2000 Exemplaren und leicht darüber lagen. Es ging der OALZ vor allem um die Selbstdarstellung der oberdeutschen katholischen Aufklärung, mit dem Ziel, die wissenschaftliche und literarische Kultur im Sinne einer gemäßigten Aufklärung voranzubringen. Ehrgeizig war auch das Ziel, so vollständig wie möglich alle in Oberdeutschland erscheinenden Werke anzuzeigen und zu besprechen und ihnen gerechter zu werden in umfangreichen Besprechungen (katholischer Rezensenten), als dies in anderen kritischen Journalen geschah, etwa in den meist kurzen Anzeigen der Allgemeinen deutschen Bibliothek. Die Richtlinien für die Abfassung der Rezensionen forderten neben Objektivität ein klares moralisches und ästhetisches Werturteil, das dem Normenhorizont der Spätaufklärung entsprach: Toleranz, Kampf gegen Vorurteil und Aberglaube, Rationalitätskriterien standen gegen Irrationalität.
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48 (1908) S. 89–221; Beutner, Eduard, Die Perspektive der literarischen Kritik in der „Oberdeutschen Allgemeinen Literaturzeitung“ 1788–1811. Phil. Diss. Salzburg 1974; Siegert, Reinhart, Selbsteinschätzung und Selbstbewußtsein der katholischen Aufklärung im Spiegel der „Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung“. In: Zwischen Josephinismus und Frühliberalismus. Literarisches Leben in Südbaden um 1800. Hg. v. Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann. Freiburg i. Br. 2002, S. 99–114. Vgl. Forster, Wilhelm, Die kirchliche Aufklärung bei den Benediktinern der Abtei Banz im Spiegel ihrer von 1772–1798 herausgegebenen Zeitschrift. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 63 (1951), S. 172–233; 64 (1952), S. 110–233. Vgl. Schneider, Ute, Friedrich Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik. Wiesbaden 1995. Zu Friedrich Nicolai immer noch grundlegend ist die Monographie von Möller, Horst, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974. Vgl. auch den Sammelband Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung, (wie Anm. 1).
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II. Modernisierungsdefizite der katholischen Staaten? Wenn es zutrifft, dass der Stand der Kommunikationsverhältnisse in einer Gesellschaft stets auch deren Modernisierungsgrad indiziert, dann ist das Bild, das die Forschung lange Zeit von der angeblichen Rückständigkeit der literarisch-kulturellen Verhältnisse im katholischen Oberdeutschland und im Österreich der Aufklärung gezeichnet hat, zu revidieren, zumindest mit Blick auf das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts seit etwa 1760/65, nach dem Beginn von Schulreformen in den katholischen Staaten und der Neugründung von Universitäten und Akademien durch katholische Landesherren. Man kann die literarischen Verhältnisse nicht mehr normativ aus der Perspektive der protestantischen Aufklärungsterritorien beschreiben, sondern muss dem seit der Gegenreformation entstandenen spezifischen neuen Bildungssystem, unter der großen Leitlinie der ‚katholischen Konfessionalisierung‘,17 Rechnung tragen. Bekanntlich waren die aus der Gegenreformation erwachsenen vielfältigen politischen und kulturellen Restriktionen auf der Grundlage der ‚ausschließlichen Katholizität‘ (unter Führung der Jesuiten) und eine Verweigerungshaltung gegenüber den protestantischen Territorien Gründe für die Entstehung eines eigenen kulturellen Selbstverständnisses, zugleich Ursache der Entfremdung zwischen Katholizismus und Protestantismus; schließlich standen sich zwei unterschiedliche, konfessionell geprägte Kulturen gegenüber, die aber einige gemeinsame Schnittmengen hatten. Die Ausbildung und Nebeneinander-Existenz zweier unterschiedlicher Bildungssysteme (und entsprechend auch kultureller Systeme) im Alten Reich, eines protestantischen und eines katholisch-oberdeutschen mit tiefgreifenden Wirkungen noch im langen 18. Jahrhundert, wird in der germanistischen Literaturwissenschaft freilich immer noch weitgehend ignoriert.18 Jene Konstruktion einer deutschen 17
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Aus der Fülle der Literatur zum Forschungsparadigma der ‚katholischen Konfessionalisierung‘ seien nur angeführt: Reinhard, Wolfgang, Schilling, Heinz (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung. Gütersloh 1995, vgl. darin den Forschungsbericht von Heinz Schilling, der das Konfessionalisierungsparadigma für besonders geeignet hält, Reduktionismen in der Frühneuzeitforschung zu vermeiden: Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft, S. 1–45; Schilling, Heinz, Ehrenpreis, Stefan (Hg.), Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel. München, Berlin 2003. Vgl. insbes. die Forschungen von Dieter Breuer zur oberdeutschen Literatur und Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts. Breuer, Dieter, Oberdeutsche Literatur 1565–1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979; ders., Warum eigentlich keine bayerische Literaturgeschichte? Defizite der Literaturgeschichtsschreibung aus regionaler Sicht. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des 7. Internationalen GermanistenKongresses. Bd. 7. Hg. v. Klaus Grubmüller und Günter Hess. Tübingen 1986, S. 5–13; ders., Volkstümliche Lesestoffe. Zu einer Grundfrage der bayerischen Literaturgeschichte. In: Wege der Volkskunde in Bayern. Ein Handbuch. Hg. v. Edgar Harvolk. Würzburg, München 1987, S. 421–442; ders., Die protestantische Normierung, (wie Anm. 9); ders. (Hg.), Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern 1750–1800. Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel von Bibliotheken in Luzern, Eichstätt und Klosterneuburg. Paderborn u. a. 2001, insbes. die Einleitung. Vgl. ferner Hess, Günter, Deutsche Nationalliteratur und oberdeutsche Pro-
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Nationalliteratur, einer aus ‚protestantischer‘ Perspektive geschriebenen Literaturgeschichte lässt territorialspezifische Entwicklung und Eigenentwicklungen im katholischen Oberdeutschland weitgehend unberücksichtigt; die neuere Geschichtsschreibung wiederum reduziert Katholische Aufklärung gerne auf eine innerkirchliche Reformbewegung. Kam zumindest das ‚josephinische‘ Wien in den ‚Sozialgeschichten der Literatur‘ um 1980, wohl unter dem Eindruck der kurz zuvor erschienenen Monographie von Leslie Bodi über die Prosa der österreichischen Aufklärung, zu literarhistorischen Ehren,19 so ist dies mittlerweile, nach dem Geltungsverlust des sozialgeschichtlichen Paradigmas, auch schon wieder ein Stück Wissenschaftsgeschichte, katholische Aufklärung ist zur quantité und qualité négligeable geworden.20 Auch wenn die im 16. und 17. Jahrhundert noch klar ausgeprägten Konturen einer territorialstaatlichen und konfessionellen Kultur und Literatur in den katholischen Territorien spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts undeutlich werden, ohne dass sie bis zum Reichsdeputationshauptschluss tatsächlich verschwänden, gibt es auch noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine spezifische, in Teilen autochthone Literatur in den katholischen Territorien des Reichs, vor allem in Bayern, in Salzburg sowie in Österreich, eine Literatur, die von den Traditionen des Barockkatholizismus, zugleich aber auch aus der Auseinandersetzung mit ihnen und der Institution der katholischen Kirche geprägt ist. Dies soll am Beispiel Bayerns sowie mit einem Blick auf Wien kursorisch gezeigt werden; dabei geht es um einen Teilbereich der Literatur des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts, genauer: um die Phase von der Aufhebung des Jesuitenordens 1773, die wie ein kultureller Katalysator wirkte, bis zum Beginn der Französischen Revolution – ein Zeitraum von nicht einmal zwei Jahrzehnten, während denen in den größeren katholischen Territorien Oberdeutschlands die Phasenverspätung der Aufklärung eingeholt wurde, darüber hinaus Ansätze zu einer neuen autochthonen Literatur entstanden und manche ihrer Repräsentanten in einen produktiv-kritischen Dialog mit ‚protestantischen‘ Aufklärern traten.21
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vinz. Zu Geschichte und Grenzen eines Vorurteils. In: Jahrbuch für Volkskunde N.F. 8 (1985), S. 7–30. Vgl. Bodi, Leslie, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781–1795. Frankfurt a.M. 1977, 2. Aufl. 1995. Vgl. zum Beispiel das verbreitete „Lehrbuch Germanistik“ Aufklärung von Peter-André Alt (Stuttgart, Weimar 1996, S. 34–44), in dem zwar die Bedeutung theologischer Konzepte und Debatten zurecht betont und ausführlich dargestellt wird (für die frühe und mittlere Aufklärung, Stichworte: Physikotheologie, Deismus, Neologie, Pietismus), doch fällt weder das Stichwort Katholische Aufklärung noch gibt es Hinweise zur Aufklärung in Oberdeutschland bzw. zur Territorialaufklärung. Eine Ausnahme war Schmidt, Siegfried J., Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1989, allerdings nur mit einem Überblick zur protestantischen und katholischen Theologie des 18. Jahrhunderts (S. 199–219, zur katholischen Theologie S. 211–219). Für eine Gesamtanalyse von Gesellschaftssystem und Literatursystem des katholischen Oberdeutschlands, Salzburgs und Österreichs im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts müsste man alle literarischen Medien, auch die pragmatischen, religiösen und volkssprachlichen, berück-
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III. Kulturelle Modernisierung im Kurfürstentum Bayern III.1 Medien als Spiegel und Katalysatoren der Modernisierung Kurbayern, ein zwar großes, aber politisch und kulturell gut überschaubares Territorium im 18. Jahrhundert, – in der Perspektive der Fremdwahrnehmung von Protestanten im 18. Jahrhundert zumeist als ‚terra benedicta‘ oder als ‚Bavaria Sancta‘ mit einem entsprechend spezifischen kulturellen Code begriffen –, könnte als Paradigma für eine noch zu schreibende elaborierte, räumlich und konfessionell differenzierende Literaturgeschichtsschreibung dienen.22 Für die literarische Produktion
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sichtigen. Für den folgenden Überblick sei auch auf einige ältere Publikationen von mir verwiesen: Staatsmaschine, (wie Anm. 2); „Praktisches Christentum“. Reformkatholizismus in den Schriften des altbayerischen Aufklärers Lorenz Westenrieder. In: Klueting, Harm (Hg., in Zusammenarbeit mit Norbert Hinske und Karl Hengst), Katholische Aufklärung – Aufklärung im Katholischen Deutschland. Hamburg 1993, S. 271–301; Aufklärung in Altbayern. Leben, Werk und Wirkung Lorenz Westenrieders. Neuried 1998; Territorialzeitschriften. In: Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. Hg. v. Ernst Fischer, Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix. München 1999, S. 331–345; Reformkatholizismus und Komödien der Religion – Katholische Aufklärung und Literatur als Forschungsgegenstand. In: Zwischen Aufklärung und Romantik. Neue Grenzen der Forschung. Hg. v. Konrad Feilchenfeldt, Ursula Hudson-Wiedenmann u.a. Würzburg 2006, S. 257–291 (der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete Fassung dieses Aufsatzes). – Vgl. ferner Grassl, Hans, Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765–1785. München 1968; von Moisy, Sigrid (Bearb.), Von der Aufklärung zur Romantik. Geistige Strömungen in München. Ausstellungskatalog. Regensburg 1984; Breuer, Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern, (wie Anm. 16). – Zur ‚Katholischen Aufklärung‘ allgemein, auch zur Begriffsdiskussion, vgl. Klueting, Katholische Aufklärung, (wie oben), darin die Einleitung: „Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht“. Zum Thema Katholische Aufklärung – Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts, S. 1–35; Plongeron, Bernard, Recherches sur l’‚Aufklärung‘ catholique en Europe occidentale (1770–1830). In : Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine XVI (1969), S. 555–605. Kovács, Elisabeth (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus. München 1979; Schindling, Anton, Theresianismus, Josephinismus, katholische Aufklärung. Zur Problematik und Begriffsgeschichte einer Reform. In: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 50 (1988), S. 215–224; Zander, Helmut, Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 100 (1989), S 231–239; Schäfer, Philipp, Literaturbericht zu „Katholische Aufklärung“. In: Theologische Revue 92 (1996), S. 89–106. – Vgl. weiterhin den Überblick bei Müller, Winfried, Die Aufklärung (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 61). München 2002, S. 76–85; die ausführlichste Überblicksdarstellung immer noch bei Möller, Horst, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1986, S. 86–100. Vgl. zu Religion, Theologie und Katholizismus im Kontext einer Frömmigkeitsgeschichte der Frühen Neuzeit van Dülmen, Richard, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung 16.–18. Jahrhundert. München 1994. Vgl. zum Raum-Begriff die Studie von Schlögel, Karl, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München, Wien 2003. Schlögel „nimmt die Einheit von Ort, Zeit und Handlung ernst“ (S. 10) und will „eine große, in Deutschland verschwundene und vom nazistischen Diskurs über den ‚Lebensraum‘ kontaminierte theoretische Tradition zurückgewinnen.“ (S. 12); dieser Ansatz könnte für die Literaturgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts genutzt werden. Vgl. zu Fragen einer territorialen Literaturgeschichtsschreibung von Heydebrand, Renate, Literatur in der Provinz Westfalen 1815–1945. Ein literarhistorischer Modell-Entwurf. Münster 1983. Als (sozial- und kommunikationsgeschichtlich konzipiertes) Paradigma für die Erforschung der Literatur des 18. Jahrhunderts im Zeichen der Ter-
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in Bayern gilt im übrigen, dass wohl drei Viertel aller Veröffentlichungen zwischen 1770 und 1790 der Apologie der vaterländischen Geschichte und Traditionen und/oder dem konfessionellen Problem gewidmet sind, der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, mit den Riten und der Volksfrömmigkeit. Zu fragen ist demnach: Vom wem wird auf welche Weise diese Auseinandersetzung geführt, mit welchen Zielen und Strategien, mit welchen literarischen Mitteln und mit welchen literarischen Formen und Gattungen, ferner: auf welche Wissensbestände und Glaubensinhalte wie reagiert wird, wie sie literarisch verarbeitet werden. In den katholischen Territorien ganz Oberdeutschlands, besonders ausgeprägt im katholischen Kurfürstentum Bayern, vollzieht sich im Zeitraum von 1760 bis 1790 (nach einer Phase, die von der Rezeption der frühen Aufklärung in den Klöstern und vom Interesse an empirischer und historischer Forschung geprägt war), konzentriert auf die Jahre von der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 bis zum Beginn der Illuminatenverfolgung 1785/86, phasenverschoben zwar, dafür aber mit rasch steigender Intensität und Spannung, ein Strukturwandel der Aufklärung.23 Es vollzieht sich auch eine Dynamisierung der literarischen Öffentlichkeit, es gibt erste Ansätze zur Entstehung des Literatursystems. Eine erste Phase reicht von der frühen Zäsur im Prozess der Aufklärung, der Gründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1759, bis zur Aufhebung des Jesuitenordens im Jahr 1773, die als Katalysator für die Dynamisierung der Aufklärung in den katholischen Territorien und für die Entstehung eines relativ autonomen Sozialsystems Literatur fungiert; eine zweite datiert von 1773 bis etwa 1785/86, bis zum Verbot und zur Unterdrückung des Illuminatenordens in Bayern. Die zwei nachfolgenden Phasen sollen hier nicht weiter beachtet werden: Eine Phase ist auf die Jahre 1786 bis zum Tod Karl Theodors 1799 zu begrenzen (in den 1790er Jahren im Zeichen einer politischen Reaktion auf die Französische Revolution), eine letzte folgt ab
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ritorialstaaten kann gelten Seidel, Robert, Literarische Kommunikation im Territorialstaat. Funktionszusammenhänge des Literaturbetriebs in Hessen-Darmstadt zur Zeit der Spätaufklärung. Tübingen 2003, der allerdings die konfessionelle Problematik ausklammert. – Vgl. auch Siegert, Reinhart, Zur Topographie der Aufklärung in Deutschland 1789. Methodische Überlegungen an Hand der zeitgenössischen Presse. In: Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Holger Böning. München u.a. 1992, S. 47–89; Breuer, Dieter, Raumbildungen in der deutschen Literaturgeschichte der frühen Neuzeit als Folge der Konfessionalisierung. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 117 (1998), S. 180–191 (Sonderheft: Regionale Sprachgeschichte); Haefs, Wilhelm, Territorialzeitschriften. In: Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. Hg. v. Ernst Fischer, Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix. München 1999, S. 331–345, hier 331ff. Vgl. bereits van Dülmen, Richard, Phasen der Aufklärung im katholischen Bayern. In: Ders., Religion und Gesellschaft. Beiträge zu einer Religionsgeschichte der Neuzeit. Frankfurt a.M. 1989, S. 124–140; Haefs, Staatsmaschine, (wie Anm. 2), mit Differenzierungen der van Dülmenschen Phasengliederung. Grundlegend auch die als Gesamtgeschichte Bayerns in der Aufklärung konzipierte Darstellung von Hammermayer, Ludwig, Geschichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften 1759–1807. Bd. I: Gründungs- und Frühgeschichte 1759–1769. 2. Aufl. München 1983; Bd. 2: Zwischen Stagnation, Aufschwung und Illuminatenkrise 1769– 1786. München 1983.
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1799 mit der Politik von Montgelas unter Kurfürst Maximilian IV. Joseph: Eine verspätete, radikalisierte, stark rationalistische und im Zeichen der Säkularisierung stehende Aufklärung unter französischem Einfluss, die auch Spuren eigenkultureller Entwicklungen, wie sie in einem Teil der Literatur und Publizistik altbayerischer Autoren aufgehoben ist, zerstörte. Gegen die Politik einer umfassenden Säkularisierung trat eine Phalanx aus traditionalistischen Aufklärern wie Lorenz Westenrieder und Johann Michael Sailer, dem späteren Bischof von Regensburg, an, die mit der Inthronisierung Ludwigs I. 1817 in ihrem Urteil bestätigt schienen.24 Am Anfang existierte ein breiter Konsens zwischen staatlichen Reforminitiativen und den kulturellen Aktivitäten der Aufklärer. Konsens bestand darüber, angesichts der eingestandenen ‚Verspätung‘ Anschluss an die teilweise als paradigmatisch gewertete Aufklärungsliteratur des nördlichen und nordöstlichen, des protestantischen Deutschland, die durch die Zentren Göttingen, Halle, Berlin und Leipzig repräsentiert wird, zu finden. Man wollte auch in Bayern, und die Motive sind in allen katholischen Territorien Oberdeutschlands ähnlich, zunächst mit Zeitschriften, Zeitungen und (Schul-)Lehrbüchern (die sich sprachlich am Normativ der sächsisch-meißnischen Hochsprache anlehnten, während in der frühen Aufklärung in Bayern noch mehr Wert auf Autonomie gelegt worden war),25 sowie durch Lektüreempfehlungen die Grundlagen für eine vertiefte Rezeption der Literatur und der Wissensformen der Aufklärung schaffen und auf diese Weise zu schriftstellerischer Produktivität motivieren und aktivieren. Literatur und Publizistik fungierten in der ersten kurzen Phase als Medium aufklärerischen Denkens sowie der Geschmacks- und Stilbildung. Sie dienten darüber hinaus der kollektiven Identitätsversicherung über die Sprache, die Historie, die Kultur und die katholische Konfession sowie der Selbstverständigung einer kleinen Gruppe von Autoren im literarischen Feld, die noch keine freien Schriftsteller waren. Die Zeitschrift Baierische Sammlungen zum Unterricht und Vergnügen (1764–1768), ein eklektisches anthologisches Unternehmen, das fast ausschließlich auf Rezeption und Präsentation kanonisierter Dichtung der mittel- und norddeutschen Aufklärung abzielte, ist Ausdruck dieser Verspätungs-Phase.26 Die normativen Maßstäbe fand man hier in den verbreiteten Aufklärungspoetiken und Stillehren, von Gottscheds Critischer Dichtkunst über Gellerts Briefsteller bis zu Batteux’/Ramlers Einleitung in die schönen Wissenschaften.
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Vgl. dazu, am Beispiel von Utopien Westenrieders, Haefs, Aufklärung in Altbayern, (wie Anm. 19), Kap. XXV, S. 716ff.; Schmitz, Walter, Der ästhetische Staat. Die Kulturpolitik Ludwigs I. von Bayern und ihre literarischen Wirkungen in Deutschland. Habilitationsschrift München 1987 (ungedr.), hier insbes. der Verweis auf die ludovizianische Kulturpropaganda, die „eine Wechselwirkung von Religion, Kunst und Öffentlichkeit“ vorausgesetzt habe (S. 118). Van Gemert, Guillaume, Oberdeutsche Poetiken als Forschungsproblem. Zur Dichtungslehre des „Parnassus Boicus“ (1725/1726). In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 47 (1984), S. 277–296. Vgl. Haefs, Staatsmaschine, (wie Anm. 2), S. 94–100.
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In einer Phase sozialer und kultureller Differenzierung sowie erster Polarisierungen, gegen Ende der 1770er Jahre, wurde die literarische Öffentlichkeit des Kurfürstentums grundlegend transformiert, genauer: Es entstanden überhaupt erst Strukturen einer literarischen Öffentlichkeit. Sowohl die Entfaltung einer literarischen Öffentlichkeit als auch die Radikalisierung und Polarisierung im literarischen Feld, die Wirkungen auch auf andere katholische Territorien wie Passau und Salzburg hatten, wurden wesentlich beeinflusst durch die Aufhebung des Jesuitenordens und die weitere Rolle der Exjesuiten in den Jahren seit 177327 sowie durch die 1776 in Ingolstadt erfolgte Gründung des Geheimbundes der Illuminaten durch Adam Weishaupt. Beide Vorgänge setzten literarische Energie und Phantasien frei, beide sind als Initialzündung für eine publizistisch und literarisch produktiv werdende Literatur der katholischen Aufklärung zu werten. Die Modernisierung erfolgte mit Unterstützung der Kurfürsten Maximilian III. Joseph und Karl Theodor, die ihre Machtposition in zentralen Fragen sichern und die Medien für ihre politischen Reformziele, insbesondere für staatskirchenrechtliche, nutzen wollten. Sie erfolgte auf der literarischen Produktionsseite mit neuen, innovativen Zeitschriften und literarischen Gattungen (z.B. der Predigtsatire), mit neuen Themen und Inhalten und führte auf der Rezeptionsseite zu einer Ausweitung des Lesepublikums. Zeitungen, Zeitschriften und Almanache sowie Lehr- und Lesebücher wurden nun auch in katholischen Territorien wie Bayern zu Leitmedien der Aufklärung einer intellektuellen Elite, die vor allem der Durchsetzung einer vernünftigen Moral, der Förderung des sogenannten ‚gemeinen Besten‘ dienen sollten. Die Medien hatten demzufolge eine wichtige Vergesellschaftungsfunktion, sie dienten auch der sozialen, politischen und kulturellen Integration. Es konstituierte sich, mit Schwerpunkt in München, unter Einschluss von Unterzentren mit kurfürstlichen Gymnasien, der Kern einer bayerischen Aufklärungsgesellschaft, die aus einigen hundert Personen des Adels, der Gelehrten und diverser bürgerlicher Berufe zusammengesetzt war. Die meisten Aufklärer, darunter auch ein überdurchschnittlich hoher Anteil Adliger, waren Geistliche, Lehrer und Beamte. Sie traten, angesichts der politisch-ökonomischen Besonderheiten Bayerns und vor dem Hintergrund ihrer Sozialisation (eine große Zahl hatte noch das Münchner Jesuitengymnasium besucht),28 als Pragmatiker in unterschiedlichen Reformkontexten (Akademie, Schule, Seelsorge) auf. Die Literatur war für die meisten nicht die Basis des Broterwerbs; sie lasen mit Begeisterung die großen Texte der Aufklärer (auch der englischen und französischen), rezipierten die litera-
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Vgl. Müller, Winfried, Universität und Orden. Die bayerische Landesuniversität Ingolstadt zwischen der Aufhebung des Jesuitenordens und der Säkularisation (1773–1803). Berlin 1986; ders., Der Jesuitenorden und die Aufklärung im süddeutsch-österreichischen Raum. In: Klueting, Katholische Aufklärung, (wie Anm. 19), S. 225–245. Vgl. Kraus, Andreas, Das Gymnasium der Jesuiten zu München (1559–1773). Staatspolitische, sozialgeschichtliche, behördengeschichtliche und kulturgeschichtliche Bedeutung. München 2001.
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rische Aufklärung, schätzten aber auch die Geschichtsschreibung und Geographie, die Volkskunde und die Landesbeschreibung und schließlich die Pädagogik. Im Zentrum des skizzierten literarischen Feldes steht, gemeinsam mit jungen geschäftstüchtigen Buchhändlern und Druckern, eine neue Generation von Schriftstellern der Jahrgänge 1746 bis 1760:29 Genannt seien der Jurist Andreas Zaupser, Verfasser einer im ganzen Reich rezipierten, auch in der Allgemeinen deutschen Bibliothek rezensierten Ode auf die Inquisition (1777), deren zweite Auflage von der Zensur verboten wurde und dadurch Aufsehen erregte;30 der Lehrer Ludwig Fronhofer, der Satiriker Anton von Bucher, Klostergeistliche wie Beda Mayr (mit Satiren) und Beda Aschenbrenner, letzter Abt des Klosters Oberaltaich (mit dem Aufklärungs Allmanach für Aebbte und Vorsteher katholischer Klöster von 1784),31 der junge Johann Michael Sailer und dessen Freund Johann Nepomuk Neumiller (empfindsame Lyrik und Prosa),32 der einflussreiche Pädagoge Heinrich Braun (mit Lehrbüchern und Dramen),33 die Dramatiker Joseph Anton sowie Clemens August von Törring (mit patriotischen Dramen) sowie Joseph Marius Babo,34 ferner Karl von Eckartshausen (mit einer aus der moralisch-empfindsamen Erzählprosa heraus entwickelten, katholisch-religiös untersetzten Erbauungsliteratur),35 Johann Pezzl (der schon früh nach Salzburg und dann nach Wien ging), Peter Philipp Wolf, Georg Aloys Dietl, Lorenz Hübner, Joseph Milbiller und, besonders produktiv und einflussreich, Lorenz Westenrieder.36 Während Westenrieders und Buchers Romane, Satiren und Erzählungen durch oberdeutsche Literaturtraditionen und territoriale Eigenheiten geprägt sind, stehen Pezzl und Wolf, die sich kritisch und teils polemisch auf den bayerischen Katholizismus beziehen, für den rationalistischen, spätaufklärerischen Episodenroman unter dem Einfluss Voltaires (Candide) und Johann Carl Wezels sowie von Wielands Abderiten-Roman.
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Die im folgenden genannten Autoren sind sämtlich mit literarischen Texten bzw. Textauszügen vertreten in einer umfassenden Dokumentation der Literatur Bayerns im 18. Jahrhundert (nach den Grenzen von 1806), wie sie kein zweites Territorium vorweisen kann: Die Literatur des 18. Jahrhunderts. Das Zeitalter der Aufklärung (= Bayerische Bibliothek, Bd. 3). Nach den Vorarbeiten von Benno Hubensteiner hg. v. Hans Pörnbacher. München 1990. Vgl. Haefs, Staatsmaschine, (wie Anm. 2), S. 112f. Vgl. die kirchengeschichtlich-historische Monographie von Anton Hofmann, Beda Aschenbrenner (1756–1817). Letzter Abt von Oberaltaich. Leben und Werk. Passau 1964. Zu Neumiller und seiner einzigen literarischen Veröffentlichung Laute aus dem Leben eines Edlen vgl. Haefs, Staatsmaschine, (wie Anm. 2), S. 115. Zu Heinrich Braun vgl. Keck, Christian, Das Bildungs- und Akkulturationsprogramm des bayerischen Aufklärers Heinrich Braun. Eine rezeptionsgeschichtliche Werkanalyse als Beitrag zur Kulturgeschichte der katholischen Aufklärung in Altbayern. Mit einer Werkausgabe auf CD-ROM. München 1998. Vgl. Wimmer, Silvia, Die bayerisch-patriotischen Geschichtsdramen. Ein Beitrag zur Geschichte der Literatur, der Zensur und des politischen Bewußtseins unter Kurfürst Karl Theodor. München 1999; Meinel, Katharina, Für Fürst und Vaterland. Begriff und Geschichte des Münchner Nationaltheaters im späten 18. Jahrhundert. München 2003. Vgl. die Monographie von Antoine Faivre, Eckartshausen et la théosophie chrétienne. Paris 1969. Vgl. dazu Haefs, Aufklärung in Altbayern, (wie Anm. 19).
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In dieser Phase profilierte sich Westenrieder als führender Publizist und literarischer Aufklärer Altbayerns, der die literarisch-publizistischen Medien im katholischen Kurfürstentum modernisierte und dessen Stimme auch außerhalb des Kurfürstentums gehört wurde. Vor allem die Zeitschrift Baierische Beyträge zur schönen und nützlichen Litteratur (1779–1781) ist eine innovative, auch in den Aufklärungszentren des Reiches wahrgenommene und in einigen Rezensionen hoch gelobte Territorialzeitschrift, ein erstes, wenn auch nur kurze Zeit erschienenes ‚Integrationsmedium‘ der kleinen bayerischen Aufklärungsgesellschaft, die zwischen 1778 und 1784 in der Kurfürstlichen Haupt- und Residenzstadt München konzentriert war. Die Baierischen Beyträge nehmen eine Schlüsselstellung in der bayerischen Literatur der Spätaufklärung ein. Sie entfalten das reformaufklärerische Programm des Herausgebers, der selbst mehr als drei Viertel aller Beiträge verfasste, mit fiktionalen Texten in Prosa und expositorischen, vom moralischempfindsamen und sozialen Roman, der empfindsamen und satirischen Erzählung bis hin zur Utopie, von der Theaterkritik und fortlaufenden Chronik des Münchner Theatergeschehens bis hin zur Kunstbeschreibung, Pädagogik, Philosophie und zum agrarreformerischen Diskurs über die „Landescultur“. Westenrieders Medienprojekt sollte primär zur Stabilisierung nationaler Identität, das einen gleichsam moderierten und modernisierten Katholizismus im Sinne des ‚praktischen Christentums‘ einschloss, beitragen, einer – zu diesem Zeitpunkt allenfalls imaginierten – Nationalerziehung dienen. Vor allem aber ist es ein erster Ausweis für das schlagartig gewachsene kulturelle Selbstbewusstsein der Altbayern; Vergleichbares findet sich zu diesem Zeitpunkt in keinem zweiten katholischen Territorium. Der Kreis literarischer und publizistischer Spätaufklärer, ergänzt um interessierte Beamte und protegierende Adlige, dokumentierte mit Stolz den Aufklärern in den Zentren Berlin, Göttingen und Leipzig den eigenen kulturellen Fortschritt. Mit ihren mehr als 700 Subskribenten aus dem altbayerischen Raum und einigen wenigen aus anderen Territorien und Städten sind die Beyträge ein für die Trägerschicht der Aufklärung repräsentatives und zugleich das meistrezipierte kulturelle Medium der altbayerischen Aufklärungsbewegung. Das Blatt war aber nicht nur ein Indikator der plötzlich entstehenden literarischen Öffentlichkeit im Kurfürstentum, sondern wirkte selbst als Katalysator in einem Prozess der Radikalisierung. Als Konkurrenzblatt zu Westenrieders Zeitschrift, ohne dass ein vergleichbarer repräsentativer und gesellschaftsreformerischer Anspruch vertreten worden wäre, etablierte sich der Zuschauer in Baiern (1779–1782/84), herausgegeben von einigen ‚freien‘ Autoren, darunter Joseph Milbiller. Er richtete sich auch an nichtgelehrte Leser, gab der Satire sehr viel Raum und war, mit einer sehr direkten Schreibart und einem bisweilen ausgesprochen frechen Ton, erfolgreich. Parallel dazu erschien in Nürnberg die Zeitschrift Annalen der baierischen Litteratur (1779–1782), ein erstes kritisches Rezensionsblatt speziell für Bayern, aber auch die anderen Territorien Oberdeutschlands.
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III.2 Paradigmatische Katholische Aufklärung im Medium des Romans Lorenz Westenrieders Leben des guten Jünglings Engelhof, rund 800 Seiten stark in der zweibändigen Buchausgabe von 1781/82, zuvor gekürzt in den Baierischen Beyträgen erschienen, ist der bedeutendste literarische Beitrag eines altbayerischen katholischen Schriftstellers zur Aufklärung; als fiktionaler Text zur politischen und religiösen Reformdiskussion ist er ein eigenwilliges Zeugnis katholischer Aufklärung.37 Es handelt sich um einen in zeitgenössischen Rezensionen (u.a. von Knigge) erstaunlich hochgewerteten,38 empfindsam-sozialen Roman, der die Geschichte eines am Ende scheiternden empfindsamen Pädagogen und Aufklärers mit – literarisch stark verfremdeten – autobiographischen Zügen erzählt. Er spiegelt den widerspruchsvollen Prozess katholischer Aufklärung in Bayern, historisch zurückverlegt, und thematisiert die Schwierigkeiten mit den traditionalen Mächten: mit Beamten und Juristen, mit der adligen, höfischen Gesellschaft, die als von Intriganten dominiert gezeigt wird; mit der Institution der katholischen Kirche und ihren Repräsentanten, die als intolerant erscheinen, sich gegenüber der Aufklärung als politischer, sozialer und kultureller Fortschrittsbewegung ablehnend verhalten und (meist mit dem Droh-Mittel der Zensur) reformwillige wie gläubige katholische Aufklärer abkanzeln. Auch der Synkretismus der literarischen Traditionsbezüge im Roman ist bemerkenswert: Man hat es mit einem Amalgam zu tun aus den moralischen Romanen Richardsons, Gellerts Tugendempfindsamkeit, Friedrich Nicolais Roman Sebaldus Nothanker und, allen voran, Goethes Leiden des jungen Werthers, aber auch der Bibel. Im Vergleich mit Goethes epochemachendem Werther von 1774 erscheint der Engelhof – formal mit der Konstruktion einer komplexen Herausgeberfiktion statt eines perspektivisch subjektzentrierten Briefromans vom Werther abweichend – als eigenwillige Kontrafaktur, als spezifisches Gegenbild im Zeichen von Katholizismus und Aufklärung. Der Protagonist, von einem „praktischen Christentum“ programmatisch angetrieben,39 ist sozial statt asozial, nützlich statt unproduktiv, gläubig statt pantheistisch und stirbt eines natürlichen Todes im Gottvertrauen, nicht durch Selbsttötung wie Goethes Werther. Als eine Art Märtyrergeschichte endet bezeichnenderweise der ‚katholische‘ Roman: Engelhof gelangt auf dem Bettelkarren wieder in seine Heimatstadt (gemeint ist München); er stirbt psychisch zerstört und völlig verarmt. Bei all dem, was der Protagonist zu erleiden hatte, glaubt er doch zu wissen, „daß unser Gott lebe, und daß Gott der Vergelter, […] heilig und gütig sey“. Er liest in der Heiligen Schrift, liest begeistert in den Psalmen und vergibt am Ende allen, die ihm Böses taten, gemäß den Worten Hiobs „Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen und das Leben den betrübten Her37 38 39
Vgl. ausführlich Haefs, Aufklärung in Altbayern, (wie Anm. 19), S. 277–344. Zur zeitgenössischen Rezeption vgl. Haefs, Aufklärung in Altbayern, (wie Anm. 19), S. 327ff. Vgl. zum Konzept des „pracktischen Christentums“ auch Haefs, „Praktisches Christentum“, (wie Anm. 19).
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zen“ (Hiob,3,20). Der Roman kann insofern als modernisierte christlich-katholische Passion gelesen werden, als ‚imitatio christi‘-Version, die keineswegs rein säkular erscheint. Er ist damit auch als spezifisch katholische Antwort auf den – aus der Sicht eines gläubigen katholischen Aufklärers – demoralisierenden und ‚unchristlichen‘ Roman Goethes zu lesen. III.3 Literarische Skandalchroniken des Katholizismus: Johann Pezzl, Peter Philipp Wolf Der aus Mallersdorf bei Landshut stammende Johann Pezzl, der das bischöfliche Lyzeum in Freising besucht hatte, später in das Benediktinerkloster Oberaltaich eingetreten war, sich aber schon 1776 in Salzburg für ein Jurastudium immatrikuliert hatte, debütierte mit den drei 1780 bis 1782 in Zürich erschienenen Bändchen Briefe aus dem Novizziat, fiktiven literarischen Briefen eines in einem bayerischen Benediktinerklosters lebenden Novizen an seinen Freund.40 Die Fiktion präsentiert, unter dem Einfluss französischer Aufklärer, eine ‚chronique scandaleuse‘ des Mönchslebens, wie sie in den Jahren um 1780 häufig zu finden ist;41 literarisches Paradigma für die Konzeption war Diderots 1781 in Melchior Grimms Correspondance veröffentlichter Roman La Religieuse. Berühmt wurde Pezzl dann mit seinem Roman Faustin oder das philosophische Jahrhundert von 1783, ein philosophisch-satirischer Episodenroman, der auf dem Forum der öffentlichen Vernunft im literarischen Diskurs am Beispiel einer eigenwilligen Faust-Gestalt (Faustin ist sinnigerweise in der fiktiven bayerischen Abtei Wansthausen geboren!) vorführte, wie unaufgeklärt die Menschen angeblich immer noch lebten und handelten.42 Der Roman wurde der deutsche Prototyp einer Gattung, die in wenigen Jahren Dutzende von Beispielen hervorbrachte. Der kurzweilige Abenteuerroman nach dem Muster von Voltaires Candide und unter dem Einfluss von Wezels Belphegor kontrastierte die Erscheinungen des Aberglaubens und der unaufgeklärten Menschheit mit der apologetisch gezeichneten josephinischen Aufklärung. Er rekapituliert die ersten Jahre staatlicher Reforminitiativen und zeichnet satirisch Versuche der Behörden nach, ökonomisch 40
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Zu Johann Pezzl vgl. den Artikel in: Killy Literatur Lexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Hg. v. Wilhelm Kühlmann, Bd. 9. Berlin u.a. 2010 (W. Haefs); vgl. auch den Reprint: Pezzl, Johann, Reise durch den Baierschen Kreis. Faksimileausgabe der 2. erweit. Auflage von 1784. Mit Vorwort, bibliogr. Nachwort, Anmerkungen und Register v. Josef Pfennigmann. München 1973. Vgl. ferner die Studie von Griep, Wolfgang, Johann Pezzls Jugendjahre (1756–1780). Bremen 1983 (Typoskr.). Vgl. Jäger, Hans-Wolf, Mönchskritik und Klostersatire in der deutschen Spätaufklärung. In: Klueting, Katholische Aufklärung, (wie Anm. 19), S. 192–207. Vgl. Pezzl, Johann, Faustin oder das philosophische Jahrhundert. Reprogr. Druck der 1. Ausgabe Zürich 1783. Mit Erläuterungen, Dokumenten und einem Nachwort von Wolfgang Griep. Hildesheim 1982, S. 1*–124* (Nachwort, Kommentar und Bibliographie). Vgl. zum Roman und seinem Kontext auch Bauer, Werner M., Fiktion und Polemik. Studien zum Roman der österreichischen Aufklärung. Wien 1978.
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begründete Veränderungen im religiösen Alltagsleben und Alltagshandeln zu plausibilisieren. Ein charakteristisches Beispiel ist der Versuch des Protagonisten, den bayerischen Bauern Arbeitsmoral für die – zu Zwecken der Steigerung der ökonomischen Produktivität – abgeschafften Feiertage zu lehren. Die Bauern trotzten dieser Form von moderner Sozialdisziplinierung und zogen nach alter Sitte zur Kirche; als sie sie verschlossen fanden, ertränkten sie ihren Unmut im nächstgelegenen Wirtshaus im Branntwein. Faustin, wenig beeindruckt, macht sich auf, als Vorbild zu wirken: In ein ländliches Kleid gestekt zog er nun, den Karst auf der Schulter, mit den Knechten seines Vaters neben der Schenke vorbei in einen Garten, fieng dort an Bäume umzusetzen und eine Umzäunung aufzuführen. Ein wieherndes Gebrüll schallte ihm bald entgegen: Die Bauern stürzten aus der Schenke, fluchten auf Faustin, rissen die eingeschlagnen Pfähle wieder aus, und zertraten die jungen Bäume. Faustin fieng an, ihnen zu beweisen, dass dies gegen Vernunft und Aufklärung sey. Schlaegt den Lutheraner zu Boden, riefen die Hintersten im Haufen, und sogleich lag der Philosoph wie ein Frosch dahin gestrekt.43
So endete die Maskerade des Möchtegern-Weltweisen, der die Realität völlig falsch eingeschätzt hatte – (selbst-)ironisches Spiegelbild realitätsferner Beamter und schreibender Aufklärer. Peter Philipp Wolf, der jüngste der genannten Autoren (1761–1808), radikalisierte die Sozial-, Kirchen- und Religionskritik in Salvator oder merkwürdige Beiträge zur Geschichte unsers philosophischen Jahrhunderts.44 In dem Roman wird die kompromisslose Forderung nach Säkularisation des kirchlichen Vermögens aufgestellt und sogar zum „Sturz des Vatikans“ aufgerufen.45 Salvator, die erzählte Figur, ist bezeichnenderweise ein aus einer Vergewaltigung hervorgegangenes Kind „eines gerühmten Jesuiten“.46 Er wächst bei einem toleranten Dorfpfarrer auf und schreibt später, auf Ansinnen eines geschäftstüchtigen Verlegers, Romane. Der erste von ihm verfasste Roman ist eine Fürstenutopie, in deren Mittelpunkt der aufgeklärte Herrscher Mechmet steht: Das Buch wird, es enthält eine ausführliche Kirchen- und radikale Religionskritik,47 auf dem Scheiterhaufen verbrannt, die Erzählerfigur Salvator inhaftiert. Auch dieser Roman findet freilich ein versöhnliches Ende mit einer Apologie Josephs II. Der Roman erscheint, in Fort-
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Pezzl, Faustin, (wie Anm. 40), S. 19f. Vgl. [Wolf, Peter Philipp] Salvator oder merkwürdige Beiträge zur Geschichte unseres philosophischen Jahrhunderts. O.O. 1784. Zu Wolfs Biographie vgl. den Artikel in: Killy Literatur Lexikon (1. Aufl.), Bd. 12. Gütersloh 1992, S. 398f. (W. Haefs). Wolf, Salvator, (wie Anm. 42), S. 236. Ebd., S. 25. Salvator äußert zur Geschichte der Institution: „Der Schaafstall Kristi wurde zu einem Palaste, und wo man von Frömmigkeit, von Frieden, und Toleranz predigte, erweitere man seine Macht durch Feuer und Schwert“ (wie Anm. 42, S. 234), und zur Religion heißt es, ganz rationalistisch: „[I]ch glaube, daß der beste, der erhabenste Gottesdienst immer derjenige sey, welchen der Tugendhafte in Erfüllung seiner Pflichten verrichtet. Gott verlangt keinen andern Dienst von uns, als den Zweck unsers Daseyns zu erfüllen.“ (S. 233).
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schreibung der Ansätze bei Pezzl, als schärfste literarische Abrechnung mit der Tradition der ‚Bavaria Sancta‘. III.4 Der Satiriker der Katholischen Aufklärung: Anton von Bucher Auch der Satiriker Anton von Bucher (1746–1817),48 nach seinem Scheitern als Schulreformer seit 1778 Pfarrer in der bayerischen Provinz, hat sich in spezifischer Weise literarisch an der ‚terra benedicta‘ abgearbeitet. Seine herausragenden Satiren, der Germanistik bis heute nahezu unbekannt,49 entstanden und wurden publiziert in der Mehrzahl zwischen 1780 und 1784. Sie tragen Titel wie Entwurf einer ländlichen Charfreytagsprocession samt einem gar lustigen und geistlichen Vorspiel zur Passionsaction, mit dem Vermerk auf dem Titelblatt „Herausgegeben von einem Ordenspater 1782“, oder: Seraphische Jagdlust, das ist vollständiges Porziunkulabüchlein von P. Martin Cochem, Kapuzinerordens oder: Ein freyes Pferderennen und hernach Soupee und Ball an dem hocherfreulichen Geburtstag eines neugebohrnen Prinzen eines durchlauchtigsten höchsten Stammhauses zum Beweiß der tiefsten Ehrfurcht, und allschuldigsten Devotion einem hochansehnlich zahlreichen Zuhörerauditorium auf öffentlichen Kanzelgerüst in einer sittlichen Moralrede Preis gegeben von P. F. Fabianus Hirschaviensis d. Z. Jubelpredigers. 1781. Auf Kösten des Herausgebers. Parodiert werden barocke Erbauungs- und Predigtbücher, Titel und Texte leben vom Witz und dem Einfallsreichtum von Fingierungen und fingierten Titelzuschreibungen an klassische Autoren der katholischen Erbauungsliteratur wie Martin von Cochem. Sie verknüpfen eine bildkräftige, zuweilen derbe, an barocke Prediger gemahnende Sprache, die volks- und bildungssprachliche Elemente integriert und sich auch des bayerischen Dialekts bedient, mit einem ausgeprägten Sinn für Handlungskomik und einer realitätsnahen Darstellung von Charakteren. Der eigenwillige, durch Sprachmontagen und Kurzparodien fortwährend gebrochene Stil verdankt seine Wirkung und Originalität dem souveränen Spiel mit allen 48
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Anton von Bucher erhielt 1768 die Priesterweihe, war dann Geistlicher Rat und von 1773– 1777 Rektor des Münchner Gymnasiums, danach Rektor für das gesamte deutsche Schulwesen, schließlich Pfarrer in Engelbrechtsmünster von 1778–1811, lange Jahre auch Illuminat. Vgl. Klüglein, Heinrich, Anton von Bucher. Sein Leben und die erste Gruppe seiner literarhistorisch wichtigeren Schriften. Diss. München 1922 (masch.); Wittmann, Reinhard, Nachwort zu: Anton von Bucher, Bairische Sinnenlust bestehend in welt- und geistlichen Comödien, Exempeln und Satiren. München 1980. Die einzige Werkausgabe ist: Bucher, Anton von, Sämmtliche Werke, gesammelt und hg. v. Joseph von Klessing. 6 Bde. München 1819–1822. Vgl. neben Reinhard Wittmanns Ehrenrettung im Nachwort zur Neuausgabe der Satiren (wie Anm. 46) als Ausnahme Kiermeier-Debre, Joseph, Eine Komödie und auch keine. Theater als Stoff und Thema des Theaters von Harsdörffer bis Handke. Stuttgart 1989, S. 96–110, S. 298– 300 (zum Geistlichen Vorspiel zur Passion-Action); Haefs, Wilhelm, „Warum hat Deutschland kein Nationaltheater?“ Der Satiriker Anton von Bucher und die Preisfrage der Belletristischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von 1781/82. In: Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann. Hg. v. Monika Estermann, Ernst Fischer und Ute Schneider. Wiesbaden 2005, S. 283–298.
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überlieferten Formen religiöser Gebrauchs- und Erbauungsliteratur, einer Symbiose von produktiv rezipierten, konfessionell geprägten, oberdeutschen Kultur- und Literaturtraditionen, der katholischen Kontroversliteratur und Polemik sowie der Parodierung und Travestierung der literarischen Formen. Das erwähnte Vorspiel zur Charfreytagsprocession, das „Geistliches Vorspiel zur Passionsaction, betitelt DILUVIO CoMeta singulis orlens; oder fürwahr ein Schreckstern jedem ist, der Sündflutgrund zu aller Frist, das die erschröckliche Tragödia aller Tragödien usw.“ heißt, hat Clemens Brentano Goethe vorgelesen; der soll, überliefert jedenfalls Johann Nepomuk von Ringseis, ausgerufen haben: „Wie ist es möglich, daß solch ein Mann mir so lange verborgen bleiben konnte!“50 Einen anderen Text Buchers lernte Goethe bereits früher kennen, die Kinderlehre auf dem Lande, 1780 in erster Auflage erschienen, 1781 mehrfach nachgedruckt (vermutlich, weil die Allgemeine deutsche Bibliothek eine Rezension druckte), durch einen Hinweis im Journal von Tiefurt.51 In seiner Kinderlehre lässt Bucher einen orthodoxen, gelegentlich etwas wirren, impulsiven katholischen Prediger vor sich hin monologisieren, auch schwadronierend und moralisierend auf die bedauernswerten Kinder einreden; dies alles in einer Sprache, die gespickt ist mit lateinischen Zitaten, Anspielungen, Verweisen. Es handelt sich um ein stellenweise groteskes Nonsens-Spektakel, das aus der Zitatmontage unterschiedlicher Sprachen lebt und in einer Parodie der Ringparabel Lessings gipfelt. Hans Jörgl, der Schüler, wird aufgefordert, das Exempel zu erzählen, und er beginnt folgendermaßen: Es seynd einmal Drey g’wesen, ein Jud, ein Türk, und ein katholischer Christ. Und diese Drey seynd in d’Handl kommen, wer den rechten Glauben hat. Und da hat der Jud g’sagt: Ich haben. Und der Türk hat auch g’sagt. Ich haben. Und der Katholisch hat sich weiter nicht lang bsonnen, und hat Watsche einem jeden eine Orfeige g’fangt, und hat g’sagt: auf ein Lug gehört ein Maultaschen. Ihr könnt ihn nicht haben, weil ich ihn hab.52
Was Bucher gerade nicht beabsichtigt hatte, trat ein: Der Text wurde im ‚protestantischen‘ Deutschland – jedenfalls in der Allgemeinen deutschen Bibliothek53 – nicht als literarischer, als fiktionaler, wahrgenommen, sondern als kritische, vermeintlich realistische Beschreibung einer vor-aufgeklärten kleinen Provinz-Welt. Man sah darin einen weiteren Beleg für das angeblich ‚finstere‘, zurückgebliebene, unaufgeklärte Kurfürstentum Bayern. Der spielerische Un-Ernst des Textes ging so verloren, Ergebnis einer bezeichnenden Rezeptionsdifferenz zwischen Katholiken, 50 51 52 53
Zitiert nach Wieckenberg, Ernst-Peter, Komödienspiele [Rezension von Anton von Bucher: Bairische Sinnenlust]. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 43, 21./22.2.1981. Journal von Tiefurt, 2. Stück, 24. August 1781 (Das Journal von Tiefurt, hg. v. Eduard von der Hellen. Schriften der Goethe-Gesellschaft 7. Weimar 1892, S. 4). Vgl. [Bucher, Anton von], Eine Kinderlehre auf dem Lande von einem Dorfpfarrer. 4. vermehrte Auflage. München 1782, S. 46. Der Rezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek glaubte, das bayerische Volk, „dem so notorischer Unsinn und ein so ärgerliches Gaukelspiel“ widerfahre, „beseufzen“ zu müssen (AdB 53/1 [1783], S. 282).
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die die Referenzebenen des Textes und die Codierungen erkennen und bewerten konnten, und den Protestanten, denen diese Referenzebenen fremd waren und fremd bleiben mussten – jedenfalls bis hin zu Autoren wie Jean Paul und den Romantikern (Tieck und Clemens Brentano). Die Modernität von Buchers satirischen Texten – ein Stück ‚Bayerisches Welttheater‘ lange vor Carl Orff – besteht vor allem in ihrer Performativität. Das Spiel und Zusammenspiel heterogener formaler Elemente der christlich-katholischen Tradition bleibt an eben diese Tradition gebunden. Religiöse Erfahrung und Frömmigkeit werden zwar punktuell negativ gebrochen und ironisiert, nie aber denunziert, ihr Wert für das Individuum wird nicht infragegestellt.54 Buchers Satiren verweisen punktuell auch auf ein neues Genre, das man als geradezu charakteristisch für die Aufklärungsliteratur in den katholischen Territorien, vor allem in Bayern und in Österreich, bezeichnen kann: Auf die Gattung der Predigtsatire, die auch neueren Untersuchungen zur Satire der Spätaufklärung unbekannt ist.55 Auch der junge Bucher hat sich in diesem Genre versucht, seine erste literarische Veröffentlichung trägt den Titel Erstes Fastenexempel und weist alle Merkmale der Gattung auf: Die Predigerfiktion, der kontrafaktorische Bezug auf die gegenreformatorische Kontroverspredigt und die Parodie der klassischen katholischen Lobund Leichenrede, das Spiel mit der jesuitischen ars rhetorica. III.5 Anglophilie und Katholische Aufklärung:56 Georg Aloys Dietl Georg Aloys Dietl, Pfarrer in einer kleinen Gemeinde bei Landshut, bis er später von Montgelas an die Universität Landshut berufen wurde, debütierte als Autor zu einem Zeitpunkt – 1786 –, als das Ende des literarischen und publizistischen ‚Tauwetters‘ in Bayern Mitte der achtziger Jahre gekommen schien:57 Der Illuminatenorden war von der Regierung verboten, einige Illuminaten waren inhaftiert worden, andere (auch solche, die nicht Mitglieder des Illuminatenordens waren) hatten fluchtartig das Land verlassen, zum Beispiel nach Passau (Joseph Milbiller), nach Salzburg zu dem aufklärungsfreundlichen Fürstbischof Hieronymus Graf Colloredo (Lorenz Hübner) oder nach Zürich in das Ausstrahlungsfeld des Verlags Orell, Füßli, Gessner und Compagnie (Peter Philipp Wolf). 54
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Das wäre der Unterschied zur literarischen Moderne und ihrem Umgang mit religiöser Erfahrung. Vgl. dazu Osinski, Jutta, Katholizismus und deutsche Literatur im 19. Jahrhundert. Paderborn u.a. 1993; Braungart, Wolfgang, Fuchs, Gotthard, Koch, Manfred (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. I: um 1800. Paderborn u.a. 1997. Zur Predigtsatire vgl. Haefs, Aufklärung in Altbayern, (wie Anm. 19), S. 134–139; zur Satire der Spätaufklärung allgemein zuletzt Herboth, Franziska, Satiren des Sturm und Drang: Innenansichten des literarischen Feldes zwischen 1770 und 1780. Hannover 2002. Zur „Anglophilie“ vgl. Maurer, Michael, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. Göttingen, Zürich 1988. Zu Dietl vgl. Knedlik, Manfred (Hg.), Georg Alois Dietl (1752–1809). Literarische Spätaufklärung in Bayern. Pressath 2002.
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Dietl fügte der oberdeutschen katholischen Aufklärungsliteratur eine neue Facette hinzu. In seiner Prosa, die verschiedene narrative Konzepte der Aufklärungsliteratur verknüpft,58 lehnte er sich vor allem an Laurence Sternes Verbindung von wit und sentiment an, von (Schreib-)Witz und Empfindung und schrieb damit für eine größer gewordene, auf komplexe Erzählstrukturen eingestellte und Erzählersignale dechiffrierende Leserschaft. In den Vertrauten Briefen (1786) finden sich zwar starke pragmatische Elemente, doch zielte der anonyme Autor durch die Fokussierung auf ein durchgängig identisches, empirisches Ich und, durchaus modern, auf literarische Subjektivierung. Die damit verbundene Autonomisierung des narrativen Diskurses war für die ältere Generation der katholischen bayerischen Aufklärer noch undenkbar. Der Autor betreibt nicht nur ein Spiel mit Autorschaft, sondern auch ein Versteckspiel mit seiner Identität als Geistlicher, ohne diese zu ‚verraten‘; bezeichnend, dass im selben Jahr 1786, parallel also, die literarischen Briefe anonym und die Predigten an seine Pfarrgemeinde mit Namen autorisiert erschienen. Wenn in der Vorrede der Vertrauten Briefe die Erzählerfigur expliziert, sein Freund, an den die Briefe gerichtet seien, habe sie publizieren wollen, und er, der Urheber, habe dies nicht mehr verhindern können, so ist dies nicht nur Teil des Fiktionsspiels, vielmehr ermöglicht es dem katholischen Geistlichen auch die Distanzierung und Entlastung von einem nicht unheiklen Gegenstand. Die Vertrauten Briefe dienen nämlich auch der Selbstdistanzierung von jenen Problemen, mit denen der katholische Geistliche tagtäglich konfrontiert war. Sie verarbeiten, in anderer Weise als Predigten, Erfahrungen und Wahrnehmungen, und sie reflektieren den schwierigen Prozess der Aufklärung, vor allem das Thema der Entkopplung von Kirche und Staat. Darüber hinaus lassen sie sich einem fundamentalen anthropologischen Diskurs der Spätaufklärung zuordnen, in dem die Natur des Menschen als Triebwesen und ‚animal rationale‘ bestimmt und analysiert und mit Fremd- und Selbstbeobachtung verknüpft wird. Am Beispiel der Triebnatur des Menschen reflektiert der Briefschreiber die Problematik der ‚einsamen Existenz‘ (als zölibatärer Geistlicher) vor dem Hintergrund des Melancholiediskurses. Eine positive Bewertung der Offenbarungsreligion erfolgt im übrigen nicht. Der Briefschreiber zeigt sich als ‚empfindsamer Rationalist‘ und scharfer Kritiker des Aberglaubens, der, wie lobend vermerkt wird, durch die Vernunftphilosophie zerstört worden sei. Insofern spiegelt sich in den literarischen Schriften Dietls noch nicht der um 1785 schon virulent gewordene Gegensatz zwischen ‚protestantischen‘ und ‚katholischen‘ Aufklärern. Das spezifisch katholische Element lässt sich, angesichts einer vernunftreligiösen Position, kaum noch ausmachen. Eine Art 58
Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlicher Verf., Georg Alois Dietl und die Literatur der Spätaufklärung in Bayern. In: Knedlik, Georg Alois Dietl, (wie Anm. 55), S. 45–62, bes. S. 51– 62. Vgl. auch den Neudruck des Hauptwerks von Dietl, Vertraute Briefe eines Geistlichen in Baiern an seinen Freund. Frankfurt und Leipzig 1805. Hg. u. mit einem Nachwort v. Manfred Knedlik. Pressath 2002.
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vernünftiger Religion scheint das Ideal des Briefschreibers, eine Religion „in ihrer himmlischen Simplizität“,59 eine von allen Äußerlichkeiten und historischen Verzerrungen gereinigte, eine, die nicht von Gelehrten deklamiert und interpretiert werde. Die Priester sollten Volkslehrer sein – der Briefschreiber übernahm eine programmatische Forderung, die die meisten katholischen wie protestantischen Aufklärer vertreten hatten.
IV. Josephinismus und Katholische Aufklärung IV.1 Literarische Medien in der Phase der „erweyterten Preßfreyheit“ Nachdem Kaiser Joseph II. die Amtsgeschäfte von seiner Mutter Maria Theresia übernommen hatte, begann er mit einer rigoros auf die Beschneidung von kirchlichen Privilegien, auf die Säkularisierung von Vermögenswerten von Klöstern und Orden und auf die Reduktion volksreligiöser und kirchlicher Bräuche ausgerichteten Politik. Damit weckte er, in Verbindung mit der Lockerung der Zensur, große Erwartungen auch bei den katholischen Aufklärern. Die literarische Öffentlichkeit reagierte auf diese im Ansatz revolutionäre, vornehmlich gegen die päpstliche Zentralgewalt gerichtete Politik mit einer Flut von Publikationen. Die Zeitgenossen bezeichneten die folgenden Jahre (1781–1790) als Phase der „erweyterten Preßfreyheit“, von Leslie Bodi ist sie in einem anschaulichen Buch als Tauwetter in Wien dokumentiert worden.60 Eine vergleichbare, in einem derart kurzen Zeitraum sich vollziehende dichte Medienproduktion (die sich vornehmlich auf „religiöse Sachen“ bezog)61 hatte es bis dahin im deutschsprachigen Raum noch nicht gegeben; es handelt sich um ein singuläres kommunikationsgeschichtliches Phänomen. Aloys Blumauer hat dieses Phänomen schon 1782 in seinen Beobachtungen über Österreichs Aufklärung und Literatur beschrieben. Er hat die Marktmecha59 60
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[Dietl, G. A.] Vertraute Briefe eines Geistlichen in Baiern an seinen Freund. München 1786, S. 120. Bodi, Tauwetter in Wien, (wie Anm. 17). Vgl. auch Zeman, Herbert (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750–1830). 2 Bde. Graz 1979. Für den historischen Kontext von Interesse und zugleich methodisch aufschlussreich ist Eybl, Franz M. (Hg.), Strukturwandel kultureller Praxis. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Sicht des theresianischen Zeitalters. Wien 2002, darin bes. die methodisch an Bourdieu anschließende Analyse von Wolf, Norbert Christian, Der Raum der Literatur im Feld der Macht. Strukturwandel im theresianischen und josephinischen Zeitalter, S. 45–70. Vgl. auch ders., Polemische Konstellationen. Berliner Aufklärung, Leipziger Aufklärung und der Beginn der Aufklärung in Wien (1760–1770). In: Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien 2. Hg. v. Ursula Goldenbaum und Alexander Košenina. Hannover-Laatzen 2003, S. 34–64. Eine umfangreiche Auswahl literarischer Texte bietet die Anthologie: Literatur der Aufklärung 1765–1800. Hg. v. Edith Rosenstrauch-Königsberg (Österreichische Bibliothek). Graz, Wien 1988. Vgl. Wernigg, Ferdinand, Bibliographie österreichischer Drucke während der „erweiterten Pressfreiheit“. 2 Bde. Wien 1973/1979.
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nismen dargestellt, die Auswirkungen auf und die Veränderungen in der Autorenschaft und im Lesepublikum seismographisch erfasst, die in den Broschüren traktierten Gegenstände, die thematisch breit gestreut waren, gemustert.62 Erst eine jüngere, um die Mitte des 18. Jahrhunderts geborene und um 1760/70 schulisch sozialisierte Autorengeneration konnte diesen Umschwung herbeiführen. Von den jüngeren Autoren hatte einige die Jesuitenschule besucht, andere waren sogar in den Jesuitenorden eingetreten, die Mehrzahl verließ aber den Orden wieder nach dem Noviziat (Ignaz von Born, Aloys Blumauer). Das Literatursystem zeigt in Wien ähnliche Ausprägungen und Spezifika wie im katholischen Oberdeutschland. Ähnlich wie in Bayern seit etwa der Mitte der 1770er Jahre erschienen auch in Wien antiklerikale Broschüren, Abhandlungen, Pamphlete, satirische Gedichte, Parodien und Travestien, allerdings in ungleich größerer Zahl. Die Institution der Kirche, die Orden, die Kirchenriten und auch die gelebte Volksfrömmigkeit wanderten in alle literarischen Gattungen ein, vom Roman Pezzls über die Satire Joseph Richters bis zu Blumauers Travestie nach Vergil (mit dem Thema der josephinischen Kirchenpolitik).63 Die literarische Kritik war oft kompromisslos, radikal und polemisch; und sie war dies auch deshalb, weil der Buchmarkt danach verlangte, bereits einer modernen Logik der ständigen Aufmerksamkeitserregung im literarischen Feld folgte, vor dem Hintergrund der ökonomischen Expansion und zunehmender Konkurrenzorientiertheit. Gerade katholische Aufklärer generierten so, vom Roman abgesehen, komplexere literarische Formen wie die Kontrafaktur und die Travestie, auch die Parodie (in jeweils spezifischen Ausprägungen) – Formen, die leicht fehlrezipiert werden konnten, wenn Ironie-Signale und andere Codes der narrativen Distanzierung übersehen wurden. Auch die Literatur der katholischen Aufklärung in Österreich greift auf diskursive Elemente, auf argumentative Versatzstücke und rhetorische Muster der katholischen Theologie zurück bzw. nimmt sie auf, verarbeitet und amalgamiert sie mit anderen Elementen. Dabei kann es zu einer Transformation von Formen und Gattungen wie dem Kalender, dem Katechismus, katholischen Erbauungsbüchern, Klugheitstraktaten, Benimmbüchern, diätetischen sowie kameral- und policeywissenschaftlichen Werken kommen, zu extremen Mischformen aus Travestie, Parodie und Kontrafaktur.64 Markantes Beispiel dafür sind das Joseph Richter zuge62
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Rosenstrauch-Königsberg, Edith, Freimaurerei im josephinischen Wien. Aloys Blumauers Weg vom Jesuiten zum Jakobiner. Wien, Stuttgart 1975. Eybl, Franz M., Frimmel, Johannes, Kriegleder, Wynfried (Hg.), Aloys Blumauer und seine Zeit. Bochum 2007. Vgl. Die Abentheuer des frommen Helden Aeneas, oder: das zweyte Buch aus Virgil‘s Aeneis. Erstes Buch. Travestiert. Wien 1782; Virgils Aeneis travestiert von Blumauer. 3 Bde. Wien 1784–1788. Vgl. zur Kontrafaktur die Definition von Theodor Verweyen und Gunter Witting: ein „Verfahren, das zwar, wie die Parodie, charakteristische Merkmale der Vorlage übernimmt, allerdings nicht, um diese Vorlage herabzusetzen, sondern um ihr kommunikatives Potential und ihre Struktur für die Formulierung einer eigenen Botschaft auszunutzen.“ (Killy Literatur Lexikon,
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schriebene Wiener Taschenbuch für Grabennymphen auf das Jahr 1787, alles andere als ein Werk der Pornographie, vielmehr eine literarische Satire und ein komplexes Spiel mit literarischen Formen unter parodistischer und kontrafaktorischer Verwendung vorgegebener Formen und Gattungen65 sowie Paul Weidmanns Travestie und Macht-Parodie Der Eroberer (1786) mit einer „Polyphonie“ der Sprachen und Stile, einem genre mixtum, wie es in der normativen Poetik der ‚protestantischen‘ Aufklärung (noch) verpönt war.66 IV.2. Katholische Aufklärung und literarische ‚Monachologie‘ Den neuen kirchenkritischen Ton gab der Kanonist Joseph Valentin Eybel in seiner in kurzer Zeit in mehreren Auflagen erschienenen Broschüre Sieben Kapitel von Klosterleuten (1781) an, die zahlreiche Nachfolgeschriften hervorrief. In 156 Paragraphen werden die Mönchsorden gerichtsförmig auf ihren sozialen Nutzen überprüft und Kirchenreformen angemahnt, am Ende ergeht an den Kaiser der Aufruf: „Gott erhalte Sie, und geben Ihnen den Gedanken, den heutigen Mönchstand nur bald aufzuheben.“67 1783 veröffentlichte Ignaz von Born,68 berühmter Mineraloge, Geologe, Montanist und führender Wiener Freimaurer zunächst in lateinischer, noch im selben Jahr in deutscher und englischer Sprache Specimen Monachologiae, ein Hauptwerk der josephinischen Aufklärungsliteratur, und zwar unter dem sinnigen Pseudonym P. Ignaz Lojola Kuttenpeitscher bzw., in der lateinischen Version, unter dem Pseudonym „Joannes Physiophilus“. In deutscher Sprache lautete der Titel: Neueste Naturgeschichte des Mönchsthums […] von P. Ignaz Loyola Kuttenpeitscher, aus der ehemaligen Gesellschaft Jesu. Nebst einigen […] Sätzen aus der Theologie […] der verschollenen Zeloten Oberteutschlands Fast, Pochlin, Jost, Kreutner, Gruber, Weissenbach, Samberger […] In Oestereich, auf Kosten der Exmönche […] 1783. Das lateinischsprachige Pendant erhielt den noch klangvolleren Titel: Joannis Physiophili Specimen Monachologiae methodo linnaeana tabulis tribus aeneis illustratum, cum adnexis thesibus e Pansophia P.P.P. Fast […] Quas Praeside A.R.P. Capistrano a Mulo Antonii […] und gibt als Druckort sinnigerweise Augsburg an: Augustae vindelicorum, sumtibus P. Aloysii Merz, Concionatoris ecclesiae cathe-
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Bd. 14. Gütersloh 1993, S. 194). Vgl. dazu Verf., Ein Kalender „für die mitleidigen Schwestern der Venus“? Die Literarisierung der Prostitution im Wiener Taschenbuch für Grabennymphen auf das Jahr 1787. In: Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft 2003 (= Rückert-Studien XV), S. 101–110. Vgl. die Edition Weidmann, Paul, Der Eroberer. Eine Parodie der Macht. Nachdruck der Ausgabe von 1786. Hg. und erläutert v. Leslie Bodi und Friedrich Voit. Heidelberg 1997, darin die Einleitung von Bodi, Parodie der Macht und Macht der Parodie: Paul Weidmanns Der Eroberer von 1786 und die österreichische Literaturtradition, S. 9–41. [Eybel, J. V.], Sieben Kapitel von Klosterleuten. Wien 1781, S. 120. Reinalter, Helmut (Hg.), Die Aufklärung in Österreich. Ignaz von Born und seine Zeit. Frankfurt a.M. u.a. 1991.
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dralis, 1783; es ist ironischerweise Aloisius Merz, einem der produktivsten und polemischsten katholischen Kontroversprediger, untergeschoben. Der Titel parodiert weitschweifige lateinischsprachige theologische Dissertationen und Abhandlungen bis in die Typographie und den Buchschmuck hinein, macht sich überdies den Spaß, fingierte Zuschreibungen als reale erschienen zu lassen. Borns Satire rief heftige Proteste des Wiener Kardinals Migazzi hervor; der Ruf nach Zensur blieb jedoch zunächst wirkungslos, da der Autor die Rückendeckung Josephs II. hatte. Jedenfalls blieb die lateinische Version in Umlauf; die deutsche Fassung wurde dagegen 1786 verboten, für den ‚großen Haufen‘ – die Zensuren machten einen wesentlichen Unterschied, nicht nur die Philosophen – sollte der Text offenbar nicht zugänglich sein. Die Monachologie ist eine der originellsten Satiren der deutschsprachigen Aufklärungsliteratur, wurde jedoch von der germanistischen Forschung (von L. Bodi abgesehen), wohl wegen der vermeintlichen literarischen Schmucklosigkeit im Vergleich etwa zu Lichtenbergs Lavater-Parodie Fragment von Schwänzen, nicht zur Kenntnis genommen. Die Mönchsorden werden in dieser Satire in der Art der Linnéschen Klassifikationen der Tierarten nach Aussehen, Verhalten, Kleidung, Ess- und Trinkgewohnheiten etc. eingeordnet und abgehandelt. Die satirische Wirkung des Textes als Travestie ergibt sich aus dem scheinwissenschaftlichen, „objektivierenden“ Beschreibungsverfahren von Menschen als Tieren, das durch drei hinzugefügte Kupfertafeln, im Stile der naturkundlichen Darstellungen der Zeit (wie etwa in Buffons Naturgeschichte) und zugleich in ironisierender Anspielung auf Lavaters Physiognomik unterstützt wird. „In früheren Zeiten“, heißt es in der Einleitung, da das Studium der Naturgeschichte noch in der Kindheit war, zählte man die Mönche zu den Menschen. Ungefähr im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts wurden zwischen Menschen, und Mönchen die auffallendsten Verschiedenheiten entdeckt, und die Naturforscher, nicht so beobachtend einherwandelnd, wie die Natur, fiengen nun einstimmig an, den Mönchen ihren Platz bey dem Geschlechte der Affen anzuweisen. Wieder zu viel! Die Wahrheit steht meistens in der Mitte; auch hier traff es so zu. Uns war es vorbehalten, den Mönchen ihren eigenthümlichen Platz bey dem Geschlechte der Affen anzuweisen. Um uns dieser Eigenmächtigkeit wegen zu rechtfertigen, haben wir einige Mönchsorden naturhistorisch zergliedert, und aus dieser Zergliederung wirst du, lieber Leser! ganz deutlich erkennen, dass die Mönche weder Menschen, noch Thiere sind. 69
Die Satire, die sich gleichsam naturwissenschaftlich deskriptiv verkleidet und zugleich ein ironischer Beitrag zur Anthropologiedebatte der Aufklärung ist, beginnt mit einem „Plan Zur Abfassung einer vollständigen Naturgeschichte des Mönchthums“, eines Geschlechts, das in die drei Familien „Fleisch-, Fisch- und Früchte fräßige Mönche“ einzuteilen sei. „Die Kennzeichen der Gattungen“ werden sodann, wie es heißt, „vom Kopfe, den Füssen, dem Hintern, der Kapuze, und 69
[Born, Ignaz von], Neueste Naturgeschichte des Mönchthums, […]. 1783, Einleitung, unpaginiert.
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der Tracht“ abgeleitet. Der erste Abschnitt „Der Mönch überhaupt“ charakterisiert den Mönch als vernunft-unbegabtes Tier. Zitiert seien die Eingangsdefinition und der Anfang der Beschreibung: Der Mönch ist ein menschenartiges, bekuttetes, zu Nachts heulendes, durstiges Thier. Des Mönchs Körper ist zweyfüssig, gerade; der Rücken krum gebogen, der Kopf vorgesenkt; er ist immer bekapuzet, und allenthalben bekleidet, mit der Ausnahme einiger Gattungen, derer Kopf, Füsse, Hintern und Hände bloß sind; übrigens ein geitziges, stinkendes, unfläthiges, dürstelndes, träges Thier, das lieber Hunger, als Arbeit ertragen will. Beim Auf- und Niedergang der Sonne, vorzüglich aber bey Nacht, sammeln sich die Mönche; da schreit einer, und die andere schreyen nach. Auf den Glockenklang laufen alle zusammen. Immer fast gehen sie paarweise. Sie kleiden sich in Wolle; leben von Raub und Wucher; prahlen: die Welt sey nur um ihrer Willen erschafen worden; halten Winkelversammlungen; gehen keine Ehen ein; setzen ihre Kinder aus; wüthen gegen ihre eigene Gattung, und fallen den Feind hinterlistig an.70
Es folgt, in der Art eines literarischen Bestiariums, die Charakteristik der Unterarten nach dem jeweils gleichen Schema: Benediktiner, Dominikaner, Franziskaner, Kapuziner, Augustiner usw. Die Illustrationen, die als Kupfertafeln an den Text angehängt sind, treiben die Groteske der (schein-)wissenschaftlichen Deskription und des vorgeblich empirischen Verfahrens auf die Spitze: Auf der ersten Tafel finden sich, nummeriert von 1 bis 12.b, die Köpfe der verschiedenen Mitglieder der Mönchsorden, mit Haaren, Bärten und Kapuzen, die Gesichter dabei abwechselnd von vorne, von der Seite oder von hinten; die zweite Tafel zeigt Stolen, Ärmel und Gewänder, die dritte Gürtel, Hosen und Schuhe bzw. Sandalen. Unter den zahllosen antiklerikalen Veröffentlichungen der josephinischen Ära ragt Borns Monachologie durch die moderne Textstruktur, mit dem konsequent durchgehaltenen Prinzip der formalen Äquivalenz, heraus. Borns Satire, aber auch eine Reihe weiterer Prosatexte aus den 1780er Jahren von Franz Xaver Huber, Joseph Richter, Paul Weidmann und Joachim Perinet zum Beispiel, belegen, dass es einen kulturellen „Modernisierungsschub“ in der Phase des josephinischen „Tauwetters“ gegeben hat und dass Leslie Bodis Zuschreibung und Urteil nicht zu hoch gegriffen ist: Es geht um die Amalgamation der gesamteuropäischen Aufklärung sowie der literarischen Strömungen des protestantischen deutschen Sprachbereichs mit weiterlebenden Traditionen der katholischen Gebiete Europas, mit Haltungen der Volkskomödie und der „karnevalistischen Lachkultur“ im Sinne Michael M. Bachtins.71
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Born, Naturgeschichte, (wie Anm. 67), S. 7f. Bodi, Tauwetter, (wie Anm. 17), S. 517 (aus: Nachwort zur 2. Auflage, die 1. Auflage war 1977 erschienen), der Begriff „Modernisierungsschub“ ebd., S. 516.
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V. Theologie, Aufklärung und Katholische Aufklärung Auch die katholischen Aufklärer wurden vom Willen zur Selbstbehauptung gegenüber dem „theologischen Absolutismus“ angetrieben, wie ihn Hans Blumenberg genannt hat.72 Während die älteren, um 1740 bis 1750 geborenen Autoren meist noch die Wolffsche Metaphysik und den Gottschedschen Rationalismus, einige auch Klopstocks religiös aufgeladene Dichtungen, vor allem aber den Messias sowie Gellerts Tugendempfindsamkeit als literarische Paradigmen rezipierten, die Spuren in einer Reihe literarischer Texte der 1760er und 1770er Jahre hinterlassen haben, orientierte sich die Mehrzahl der Autoren der Jahrgänge zwischen 1755 und 1765 an französischen und englischen Philosophen und Dichtern: Sie erhoben Voltaire, Helvétius und Sterne zu ihren Leitfiguren. Die radikalen katholischen literarischen Aufklärer unter ihnen – die eine vollständige oder weitgehende Säkularisierung kirchlichen Vermögens, die Aufhebung der Klöster und Orden und die Abschaffung des Zölibats forderten – steuerten dabei, über die Neologie hinaus, auf den Deismus zu. Die oft selbst als Pfarrer tätigen, stärker innerkirchlich verwurzelten literarischen Aufklärer vertraten dagegen moderate Reformen, forderten zum Beispiel die Purifizierung der kirchlichen Rituale und Feste, die Beschneidung des Barockkatholizismus und die Bekämpfung des Volksaberglaubens; kurzzeitig, um 1782, vor dem Hintergrund der Kirchenpolitik Josephs II., traten sie auch offen für die Aufhebung des Zölibats ein.73 Sie sahen Vernunft und Offenbarung anfangs (noch) nicht als unvereinbar an, zweifelten nicht an der Möglichkeit des Gottesbeweises (genauer: setzten ihn implizit voraus), plädierten mit Nachdruck – wie Westenrieder, Dietl oder Bucher – für ein „pracktisches Christentum“, wie es auch zahlreiche protestantische Aufklärer, unter dem Einfluss vor allem Johann Joachim Spaldings, taten. Später rückten dann einige von diesen Standpunkten wieder ab, 72
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Blumenberg, Hans, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweit. und überarb. Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, 1. und 2. Teil. Frankfurt a.M. 1972 (Teil 2 u.d.T.: Theologischer Absolutismus und humane Selbstbehauptung). Zur Theologie der Katholischen Aufklärung vgl. neben den Beiträgen des Bandes von Klueting, Katholische Aufklärung, (wie Anm. 19) auch Schäfer, Philipp, Kirche und Vernunft. Die Kirche in der katholischen Theologie der Aufklärungszeit. München 1974; ders., Aufsätze zur Aufklärung. Passau 1999. Vgl. die anonym erschienene, sachlich gehaltene Schrift bayerischer Aufklärer, die großes Aufsehen erregte: Dringende Vorstellungen an Menschlichkeit, und Vernunft, um Aufhebung des ehelosen Standes der katholischen Geistlichkeit. o.O. [München] 1782. Westenrieder verfasste die Zusammenfassung am Ende, den Haupttext sollen der Geistliche Anton von Bucher, die Lehrer Thomas Joachim Schuhbauer und Anton Nagel sowie der Publizist Lorenz Hübner verfasst haben. Vgl. zu Inhalt und Bedeutung dieser Publikation Haefs, Aufklärung in Altbayern, (wie Anm. 19), S. 365ff. Vgl. auch die Studie von Picard, Paul, Zölibatsdiskussion im katholischen Deutschland der Aufklärungszeit. Auseinandersetzung mit der kanonischen Vorschrift im Namen der Vernunft und der Menschenrechte. Düsseldorf 1975. Die Forderung der bayerischen Aufklärer stand im Kontext des Besuchs Papst Pius’ VI. in Wien und München, vgl. Kovács, Elisabeth, Der Pabst in Teutschland. Die Reise Pius’ VI. im Jahre 1782. München, Wien 1983.
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andere hatten Probleme mit der Verknüpfung von Vernunftansprüchen und Offenbarungswahrheiten, die sie lange verdrängt hatten. Während die protestantischen Aufklärer seit den 1780er Jahren „die Offenbarungsinhalte in Vernunftinhalte“ umdeuteten und mit ihnen ineins setzten,74 so dass am Ende „auf die Voraussetzung einer Offenbarung überhaupt verzichtet werden“ konnte, vollzogen diesen Schritt die kirchlich gebundenen katholischen Aufklärer nicht.75 So durften sich die Protestanten noch einmal bestätigt fühlen: Der Jakobiner A. G. F. Rebmann meinte 1797 in triumphierendem Ton: „Ein ganz aufgeklärter Katholik ist kein solcher mehr, sondern entweder Protestant [!] oder Naturalist.“76 An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob die katholischen Aufklärer die „Entfremdung zwischen Katholizismus und deutscher Kultur“ nicht auch unfreiwillig selbst vorangetrieben haben, weil sie sich von der „Idee einer ganz und gar religiösen, auf die Religion konzentrierten Institution und Gemeinschaft“ abwandten, wie es der Historiker Thomas Nipperdey formuliert hat.77 Als Gegenbeispiel wird oft auf den gläubigen Ireniker Johann Michael Sailer verwiesen, der, im Geiste der (katholischen) Aufklärung und katholisch sozialisiert aufgewachsen, zur entscheidenden Mittlerfigur zwischen Katholizismus und Kulturprotestantismus wurde. Sailer, früh zu einer Integrationsfigur der katholischen Reformbewegung aufgestiegen, wies der katholischen Aufklärung in der Tat den Weg ins 19. Jahrhundert. Schon früh deutete er auf die vermeintlichen Gefahren einer „sich selbst gelassene[n] Vernunft“ hin.78 Er bekannte sich zur apostolischen Tradition, begriff die Überlieferung als einen lebendigen Prozess und sah die Lessingsche „Bildung des Menschengeschlechts“ untrennbar verbunden mit dem Glauben an die göttliche Offenbarung, weshalb man in seinen Schriften „die früheste Übernahme spezifisch Lessingschen Gedankengutes in die katholische Theologie“ gefunden zu haben glaubte.79
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Sparn, Walter, Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Vierhaus, Rudolf (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Aus Anlaß des 250jährigen Bestehens des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 1985, S. 18–57, hier S. 22. Vgl. allgemein auch Aner, Karl, Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, Rohls, Jan, Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert. Tübingen 1997. Vgl. zur Naturrechtsfrage im Werk protestantischer und katholischer Philosophen, Juristen und Theologen Fritsch, Matthias J., Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen. Hamburg 2004. Rebmann, A. G. F., „Wie wird es in zwanzig Jahren um die katholische Geistlichkeit in Deutschland aussehen?“ In: Das neue graue Ungeheur, Heft 10. Upsala [d. i. Altona] 1797, S. 148. Vgl. auch die Bemerkung von Dieter Breuer: „Ein aufgeklärter geistlicher Staat war und blieb ein Widerspruch in sich.“ (Breuer, Einleitung, in: Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern, [wie Anm. 16], S. 18f.) Vgl. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, S. 406 und S. 408. Sailer, Johann Michael, Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind. Bd. 1. München 1785, S. 160f. Vgl. Schilson, Arno, Zur Wirkungsgeschichte Lessings in der katholischen Theologie. In: Göpfert, Herbert G. (Hg.), Das Bild Lessings in der Geschichte. Heidelberg 1981, S. 69–92, hier S. 80f.
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Dieser Glaube sei, meinte Sailer in seiner Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind, dem philosophischen Hauptwerk der Katholischen Aufklärung, der „kürzeste, leichteste, sicherste und königliche Weg […] das Menschengeschlecht zur Wahrheit, Tugend und Glückseligkeit zu leiten.“80 Sailer war im katholischen Oberdeutschland die erste Persönlichkeit mit überregionaler Ausstrahlung, die eine rege Gelehrtenkommunikation mit bedeutenden Schriftstellern der Goethezeit, über die Konfessionsgrenzen hinweg, führte. Dies hatte er nicht zuletzt seinem Sprach- und Formulierungsvermögen zu verdanken, das sich in erfolgreichen Andachts-, Leseund Gebetbüchern sowie der Übersetzung der Nachfolge Christi von Thomas a Kempis dokumentiert. Sailer zielte, in der Linie einer modernisierten volksliterarischen Tradition der katholischen Literatur (Martin von Cochem), auf eine ebenso schlichte und eingängige wie bildreiche Sprache, die, wie ausdrücklich vermerkt wird, „kein sächsisch deutsch“ sein sollte.81 Fraglos gab es „kulturelle Ausgleichsprozesse“ zwischen dem protestantischen Deutschland und den oberdeutschen katholischen Territorien, aber auch den Willen zur konfessionell-kulturellen Selbstbehauptung und Autonomie gegenüber dem Normierungsanspruch des Protestantismus bzw. einer ‚protestantischen‘ Aufklärung, der sich in der literarischen Produktion niederschlug. Der Befund gilt allerdings nicht für alle katholischen Territorien gleichermaßen, vielmehr sind territoriale Differenzen zu beachten: Bikonfessionialität mit weitreichenden Folgen prägt zum Beispiel die Reichsstädte Augsburg und Regensburg, darüber hinaus Teile Oberschwabens (zum Beispiel Kempten). In Augsburg wird die „unsichtbare Grenze“ zwischen Protestanten und Katholiken durch eine starke „Abgrenzungsdynamik“ zwischen den Hauptkonfessionen markiert, die, bei allen ‚Mischungen‘ und Annäherungen, unterschiedliche neue soziale und kulturelle Identitäten ausbildete, wie die Forschung gezeigt hat.82 Für die benachbarten Territorien Altdorf (protestantisch) und Bamberg (katholisch) hat ein Vergleich für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hingegen kaum Unterschiede in der Intensität der Durchdringung von Staat, Gesellschaft und Kultur mit den Ideen der Aufklärung ergeben.83
VI. Literatur und Katholische Aufklärung Offensichtlich ist, dass die heteronomen Kräfte im literarischen Feld – die berufliche Bindung der Autoren entweder an den Staat oder die katholische Kirche und 80 81 82
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Sailer, Vernunftlehre 1, (wie Anm. 75), S. 156. Sailer, Johann Michael, Vorlesungen aus der Pastoraltheologie. Bd. 2. München 1789, S. 143. François, Etienne, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648 – 1806. Sigmaringen 1991, S. 236f. Vgl. auch Schlögl, Rudolf, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster – 1700–1840. München 1995 Vgl. Seiderer, Georg, Formen der Aufklärung in Fränkischen Städten. Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich. München 1997.
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entsprechend ein erheblich geringerer Anteil sogenannter freier Schriftsteller; der Druck der Institutionen, ferner die Zensur84 – erheblichen Einfluss auf die literarische Aufklärung, auf Themen- und Gattungspräferenzen sowie Schreibweisen hatten, auf die Verarbeitung von Theologie, Religion und der katholisch-konfessionellen Überlieferung. Katholische Aufklärer haben im Medium der Literatur Fragen verhandelt, die andernorts wenig oder überhaupt nicht thematisiert wurden, d.h. der Literatur kommt entlastende und problemlösende Funktion zu. Der Problemlösungsdruck wurde für zahlreiche katholische Aufklärer schließlich derart groß, dass diese, erfindungsreich, das Themen- und Formenspektrum im literarischen Diskurs, in der produktiven Auseinandersetzung mit den eigenen konfessionellen, kulturellen und literarischen Traditionen erweiterten.85 In den katholischen Territorien vollzog sich in den 1770er und 1780er Jahren in der Auseinandersetzung mit der Aufklärung, dem Protestantismus, dem Katholizismus und der Volksfrömmigkeit eine Ausdifferenzierung der poetischen Ausdrucksformen, in den Genres Satire, Parodie, Travestie und Kontrafaktur ist dies vor allem dokumentiert; Intertextualität und Performativität sind kennzeichnend für viele dieser Texte. Katholische Aufklärer schufen eigene symbolische Codes zur Komplexitätsreduktion, die auf einer Verbindung von religiösen und kulturellen Identitätskonstruktionen beruhten. Auf diese Weise dürften sie jenes Maß an Autonomie verwirklicht haben, das ihnen im ‚gemeinen‘ Leben verwehrt blieb. In diesem Absetzungsprozess zeigt sich der kulturelle Behauptungswille auch darin, dass eine Reihe von Autoren (neben dem schon erwähnten J. M. Sailer) gerade nicht dem im 18. Jahrhundert von protestantischen Aufklärern vertretenen, von Adelung fixierten sprachlichen Normierungsanspruch des Meißnisch-Sächsischen folgte, vielmehr auf autochthonen literarischen und sprachlichen Traditionen und den Spracheigentümlichkeiten des Oberdeutschen beharrte. Katholische Aufklärung lässt sich also keineswegs nur als innerkirchliche Reformbewegung bezeichnen, die von Harm Klueting durch folgende staatskirchliche und reformkatholische Elemente charakterisiert worden ist: als „innere Angelegenheit der katholischen Theologie und der Kanonistik der Mitte und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“; als Bewegung, die den Papst auf ein Ehrenprimat 84
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Vgl. zu einem exemplarischen Fall Lehmstedt, Mark, Der „Fall Sailer“. Zur Komplexität der katholischen Zensur im späten 18. Jahrhundert. In: McCarthy, John, von der Ohe, Werner (Hg.), Zensur und Kultur. Censorship and culture. Zwischen Weimarer Klassik und Weimarer Republik. From Weimar Classicism to Weimar Republic and Beyond. Tübingen 1995, S. 37– 62. Zu einem katholischen Religionslehrbuch Westenrieders von 1774, das von den kirchlichen Behörden beanstandet, dessen Indizierung gegen die mit Aufklärern besetzte kurfürstliche Büchercensurkommission durchgesetzt wurde und für das der Verfasser einen herben Verweis erhielt, vgl. Haefs, Aufklärung in Altbayern, (wie Anm. 19), S. 64–76; zu einer Reihe weiterer Fälle vgl. Schaich, Staat und Öffentlichkeit, (wie Anm. 1). Vgl. auch Wüst, Wolfgang, Censur als Stütze von Staat und Kirche in der Frühmoderne. Augsburg, Bayern, Kurmainz und Württemberg im Vergleich. München 1998. Vgl. allgemein auch Haefs, Wilhelm, Mix, York-Gothart (Hg.), Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen 2007. Vgl. zum ‚Sozialsystem Religion‘ Luhmann, Niklas, Funktion der Religion. Frankfurt a.M. 1977.
„Charfreytagsprocession“, „Sündfluthspiel“ und „Monachologie“
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beschränken und den Bischöfen für ihre Diözesen die beim Papst konzentrierten Rechte übertragen wollte (reichskirchlicher Episkopalismus); als „bayerisches Staatskirchentum und Josephinismus“; als publizistische „Kritik am Mönchtum und an den geistlichen Staaten“.86 Die spezifische kulturelle Produktivität und die literarischen Innovationen werden mit solchen Bestimmungen marginalisiert. Vielmehr gilt, dass, unabhängig von den deutlichen Konvergenzen zwischen protestantischer und katholischer Aufklärung, auch eine katholisch-konfessionell geprägte Literatur mit autochthonen Ausdrucksformen existiert, die sich der ‚Katholischen Aufklärung‘ zuordnen lässt.87 Diese Literatur geht tatsächlich weit über das hinaus, was in der Forschung stereotyp als literarische Kritik an Mönchen und Klöstern und tendenziell als Säkularisierungsphänomen beschrieben worden ist.88 Eine Reihe literarischer Texte der Katholischen Aufklärung wird man vielmehr jenem Phänomen der „Karnevalisierung der Literatur“ zuordnen, wie es von Michail Bachtin beschrieben worden ist: Während die Gattungen des ‚Klassizismus‘ sich ganz von der „grotesken Lachtradition“ absetzten, lebte die aus dem 16. und 17. Jahrhundert überkommene Tradition der Lachkultur fort „sowohl in den niederen kanonischen Gattungen (der Komödie, Satire und Fabel), als auch in den nichtkanonischen Gattungen“ (u.a. im Roman und in der Burleske):89 Sinnlichkeit, Enthierarchisierung und Profanation sind zentrale Modi dieser Literatur. Entsprechende Revisionen in der Literaturgeschichtsschreibung sind freilich kaum zu erwarten. Im Gegenteil: Scheint doch die Literaturgeschichtsschreibung wieder ganz im Zeichen der Rekanonisierung und der Reformulierung älterer Stereotypisierungen zu stehen, wie sie, geradezu exemplarisch, von Heinz Schlaffer in seiner Kurzen Geschichte der deutschen Literatur 2002 vorgeführt worden sind. Hier wird wieder, im Anschluss an das Säkularisierungstheorem Albrecht Schönes, konstatiert: Auf der Landkarte der deutschen Literatur bilden Österreich und Bayern, die wichtigsten katholischen Staaten im Deutschen Reich, vom 16. bis zum 19. Jahrhundert leere Flächen. Vor Raimund und Grillparzer gibt es keine österreichischen, vor Valentin und Brecht keine bayerischen Dichter, die mehr als eine lokale Erscheinung gewesen wären.90 86 87
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Vgl. Klueting, Harm, „Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht“, (wie Anm. 19), S. 1– 35, hier S. 16–29. Auch Dieter Breuer nennt in seinem (gegenüber Klueting) erweiterten Kriterienkatalog für Katholische Aufklärung keine autochthone Literatur, er gewichtet die kulturellen ‚Ausgleichsprozesse‘ und „die Vorbildfunktion des aufgeklärten protestantischen Deutschland, der Reformuniversitäten Halle, Göttingen und Leipzig sowie der kulturellen Zentren Hamburg, Hannover, Berlin und Königsberg“ höher (Breuer, Einleitung, in: Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern, [wie Anm. 16], S. 12). Klueting (wie Anm. 5) bezieht sich u.a. auf Jäger: Mönchskritik und Klostersatire (wie Anm. 39); vgl. auch die ältere, materialreiche, aber methodisch unzulängliche Studie von Böhm, Irmingard, Literarische Wegbereiter der Säkularisation. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 94 (1983), S. 518–537. Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Übers. von Alexander Kämpfe. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1985, S. 45 und S. 46 (aus: Grundzüge der Lachkultur) sowie S. 47ff. (aus: Der Karneval und die Karnevalisierung der Literatur). Schlaffer, Heinz, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München, Wien 2002, S. 135
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Und weiter heißt es, in völliger Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse (oder in grober Verzerrung): Bis ins 18. Jahrhundert hinein schirmten die Regierungen katholischer Länder ihre Untertanen durch Verbot und Zensur gegen Bücher aus protestantischen Ländern ab, unterbanden also auch die Kenntnis und Wirkung der klassischen deutschen Literatur. Wer in Österreich und Bayern Gellert oder Wieland las, machte sich strafbar.91
Dagegen lässt sich als Resümee festhalten: Auch wenn die Aufklärung, insbesondere mit der Idee der Nationalliteratur, an der Nivellierung sozialer, politischer, moralischer und frömmigkeitspraktischer Trennlinien, die Religionen als komplexe „Deutungskulturen“ durchziehen,92 gearbeitet hat: Nicht nur die Katholische Aufklärung des 18. Jahrhunderts und ihre literarischen Repräsentanten, sondern auch noch die Literatur der katholischen Milieus im 19. Jahrhundert zeigen, dass jene Trennlinien keineswegs verschwinden; sie zeigen zugleich, dass der Katholizismus in der Spätaufklärung autochthone literarische Formen schafft, aber erst in der Romantik an literarischer Geltungskraft gewinnt, weil er in der Lage ist, die Konfession ins Ästhetische zu transzendieren und eine erste ‚Moderne‘ zu begründen.93 Die Literaturgeschichtsschreibung über das 18. und frühe 19. Jahrhundert ist noch weit von Theorie und Praxis einer „Politik, Religion und literarische Identitätsbildung“ integrierenden Darstellung entfernt.94 Statt weiterhin unterschiedliche kulturelle Traditionen zu unifizieren und die Bedeutung von Religion und Glaube, Theologie und Kirche sowie die Existenz von Teilöffentlichkeiten (in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) zu ignorieren95 und auf eine viel zu kurz greifende
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(die Hervorhebungen von W. H.). An anderer Stelle schreibt Schlaffer: „In dem für die Geschichte der deutschen Literatur entscheidenden 18. Jahrhundert spielen katholische Dichter ebensowenig eine Rolle wie katholische Philosophen und Gelehrte, obwohl die deutsche Bevölkerung, nimmt man Österreich hinzu, den beiden Konfessionen ungefähr zu gleichen Teilen angehörte. Erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert treten katholische Autoren hervor: Görres, Brentano, Eichendorff; erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kommen sie nach Zahl und Rang den protestantischen gleich, übertreffen sie sogar.“ (S. 54f.) Schlaffer, Geschichte, (wie Anm. 92), S. 135. Graf, Wiederkehr der Götter (wie Anm. 4) , S. 111ff. Vgl. dazu Osinski, Katholizismus (wie Anm. 52); dies., Goethe oder Eichendorff? Katholische Literaturmodelle des 19. Jahrhunderts. In: German Life and Letters 53/2 (2000), S. 143–161; dies., Katholische Restauration und „Biedermeier“: Ästhetik, Religion und Politik in spätromantischen Harmoniemodellen. Sieben Thesen. In: Zwischen Goethezeit und Realismus. Hg. v. Michael Titzmann. Tübingen 2002, S. 183–195. Am Ende siegte eine konfessionalisierte Gegenmoderne ohne Sinn für ästhetische Autonomie über das Modell der katholischen Frühromantik. Vgl. den Titel eines Sammelbandes mit entsprechenden Perspektiven auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert: Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitätsbildung 1850–1918. Hg. v. Martin Huber und Gerhard Lauer. Tübingen 1996. Vgl. die Einleitung von Fischer, Ernst, Haefs, Wilhelm, Mix, York-Gothart, Aufklärung, Medien und Öffentlichkeit in Deutschland. In: Von Almanach bis Zeitung, (wie Anm. 19), S. 9–23, bes. S. 11f. und S. 15ff.
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Säkularisierungsthese abzustellen,96 sollte es der literaturwissenschaftlichen Aufklärungsforschung und der Literaturgeschichtsschreibung auch um die Differenzierung nach Raum (Territorien, Städten), Zeit und Konfession gehen. Erst dann wird man, jenseits des Konzepts der Kunstautonomie, der katholischen Aufklärung und ihrer Literatur gerecht werden können.
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Diesen Aspekt betont Breuer in: Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern, (wie Anm. 16), S. 30ff. Zum Säkularisierungstheorem in der Literaturwissenschaft vgl. die klassische Studie von Albrecht Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. 2., überarb. u. erg. Aufl. Göttingen 1968 (1. Aufl. 1958). Zur Problematik des Säkularisierungsbegriffs sei hier aus der Fülle der Literatur nur die klassische Studie von Hermann Lübbe angeführt: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Um ein Nachwort erweit. Neuausgabe. Freiburg, München 2003.
GERHARD LAUER (Göttingen)
Bücher von Kühen und andere Freuden der Seelen Zur jüdischen Literatur und Frömmigkeit, bevor sie aufgeklärt wurden
Die jüdische Literatur vor der Aufklärung war lange nur ein Gegenstand am Rande der institutionalisierten Historiographie. Im 19. Jahrhundert hatte die damalige liberale Geschichtsschreibung des Judentums unter dem Namen „Wissenschaft vom Judentum“1 die historische Eigenständigkeit der jüdischen Geschichte gegen die These verteidigt, das Judentum sei historisch überlebt, seine Geschichte ein Relikt und habe nur mehr das Ziel einer Selbstauflösung in der Mehrheitskultur. Dagegen machte die Wissenschaft vom Judentum geltend, das Judentum sei erst mit Mendelssohn und der Aufklärung zu seinem „Grundwesen“2 zurückgekehrt. Nicht Auflösung, sondern Rückkehr zum Eigenen, sei die Logik der jüdischen Geschichte und ihrer Literatur. Die Geschichte und Literatur der Juden sei darum notwendiger Gegenstand einer historisch begründeten Selbstbeschreibung des Judentums, weil nur in der historischen Reflexion auf das Vergangene die Zukunft in der bürgerlichen Gesellschaft begründet werden könne. So hat es der große und viel gelesene Historiker der jüdischen Geschichte Heinrich Graetz 1846 formuliert. Das Judentum der Frühen Neuzeit sei gemessen am aufgeklärten Judentum zwar nur eine Vorzeit der „Verwilderung“3 gewesen, aber erst vor ihr als Hintergrund lassen sich die Erfolge der bürgerlichen Emanzipation fassen. Die Vorzeichen dieser Wertung des 19. Jahrhunderts hat man um die Wende zum 20. Jahrhundert umgekehrt. Für den Zionismus und den Kulturzionismus war der Eintritt des Judentums in das bürgerliche Zeitalter der Anfang einer Entfremdung von einem als eigentlich angenommenen Judentum, das vor der Zeit der sabbatianischen Wirren um die Mitte des 17. Jahrhunderts gelegen habe, wenn nicht – wie es Martin Bubers einflussreiche Drei Reden über das Judentum von 1911 behaupten – gar in vorrabbinischer Zeit.4 1
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Trautmann-Waller, Céline, Selbstorganisation jüdischer Gelehrsamkeit und die Universität seit der ‚Wissenschaft des Judentums‘, in: Barner, Wilfried, König, Christoph (Hg.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933. Göttingen 2001, S. 77–86. Graetz, Heinrich, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Eine Skizze. Berlin 1936 [1846], S. 12. Graetz, Heinrich, Volkstümliche Geschichte der Juden. Bd. 6: Das europäische Judentum der Neuzeit bis zur Revolution von 1848. 10. Aufl. Berlin, Wien 1923, S. 98. Katz, Jacob, Die Entstehung der Judenassimilation in Deutschland und deren Ideologie. Dissertation. Frankfurt a.M. 1935. Neudruck. In: Ders., Emancipation and Assimilation. Studies in Modern Jewish History. Westmead, Farnborough 1972, S. 195–276 und Buber, Martin, Drei Reden über das Judentum. Frankfurt a.M. 1911, vgl. dazu Robertson, Ritchie, Die
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Beide Wertungen setzten die Annahme voraus, es gebe einen von der übrigen Geschichte separierten, überhistorischen Kern dessen, was das Judentum eigentlich sei und was daran gemessen seine Ent- bzw. Wiederherstellungen seien. Die Bestimmung dieses Kerns ist Aufgabe einer eigenen Wissenschaft, eben der Wissenschaft vom Judentum und seiner Nachfolger. Die Beschäftigung mit der jüdischen Literatur und ihrer Geschichte wurde damit zugleich zu einer Angelegenheit, die der Struktur des Kulturprotestantismus gleicht: Dass nämlich Moderne und Religion einander bedürfen, ohne einander aufzuheben. Die Religion habe eine Kulturbedeutung, moderne Kultur eine religiös-moralische Bedeutung. Aufgabe der Wissenschaft vom Judentum wie seiner zionistischen Überbietung sei es daher, die Kulturbedeutung der jüdischen Tradition zu erweisen und darüber eine Art innere Mission für die moderne Kultur zu erbringen.5 Das verpflichtet die Fragestellung nach dem Zusammenhang von Religion und Literatur in der Geschichte der jüdischen Literatur und Frömmigkeit auf ein historisch ungenaues, wenn nicht falsches Forschungsprogramm von Eigentlichkeit/Uneigentlichkeit. Wer fragt, wie religiöse Entwicklung und Literatur im Judentum des 17. und 18. Jahrhunderts zusammenhängen, wäre daher vom kulturprotestantischen Programm auf ein Schema der historischen Verlaufsform auch im Judentum festgelegt, das abkürzend ‚Säkularisierung‘ genannt wird, so als wäre der Aufstieg der Literatur im modernen Sinn entweder um den Preis einer Selbstaufgabe des Judentums als Religion erkauft oder die jüdische Religion wäre erst in der modernen Kultur auf eine höhere Stufe gehoben zu sich selbst gekommen.6 Meine Überlegungen werden im Folgenden diese bis heute nachwirkenden makrohistorischen Vorannahmen in Frage stellen und plausibel zu machen versuchen, dass man den Wandel in der Literaturgeschichte des aschkenasischen Judentums beim Eintritt in die Neuzeit nicht mit der Unterscheidung Eigentlichkeit/Uneigentlichkeit beschreiben kann, noch substituiert die Literatur ein Proprium der jüdischen Religion. Vielmehr antwortet die Literatur auf Problemlagen, die erst durch spezifisch frühneuzeitliche Entwicklungen des Judentums zu erklären sind. Religion erzeugt Literatur – so könnte man formelhaft den Zusammenhang benennen. Nicht irgendeine Schwäche eines eigentlichen Judentums ermöglicht dessen Modernisierung im 18. Jahrhundert, sondern emergente Prozesse der religiösen Selbstüberbietung sind die Ursache dafür, warum das frühneuzeitliche Judentum in die Aufklärung eintrat.
5 6
Erneuerung des Judentums aus dem Geist der Assimilation. 1900 bis 1922, in: Braungart, Wolfgang, Fuchs, Gotthart, Koch, Manfred (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 2: um 1900. Paderborn 1998, S. 171–193. Lauer, Gerhard, Jüdischer Kulturprotestantismus. Jüdische Literatur und Literaturvereine im Deutschen Kaiserreich, in: Barner, König, (wie Anm. 1), S. 253–270. Vgl. die Kritik an der säkularisationstheoretischen Modellierung von Geschichte bei Graf, Friedrich Wilhelm, „Dechristianisierung“. Zur Problemgeschichte eines kulturpolitischen Topos, in: Lehmann, Hartmut (Hg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen 1997, S. 32–66.
Gerhard Lauer
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Das aber hängt mit weiterreichenden Umstellungen zusammen, die als Konfessionalisierung zusammengefasst worden sind und von denen das Judentum nicht ausgenommen ist.
1. Jüdische Schriften, bevor sie Literatur wurden Literatur in unserem neuzeitlichen Sinne als fiktionale und/oder literarische kennt das aschkenasische Judentum in den deutschen Territorien der Frühen Neuzeit nicht. Seine Literatur ist religiös funktional, und das auf praktisch allen Ebenen. Der Befund kann nicht verwundern, denn im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit verlor das Judentum in den deutschen Territorien seine exponierte Stellung im Fernhandel und wurde auf mittlere, wenn nicht kleine Handlungskreise der Landjudenschaften beschränkt, wurde von Höfen und den Städten überwiegend aufs Land verwiesen. Mit der glanzvollen Stellung der sefardischen Gemeinden konnten sich die Aschkenasim nicht vergleichen. Welcher Sefarde hätte einem Aschkenasim seine Tochter zu Frau gegeben? Ein Sefarde aus Amsterdam oder London blickte vom eigenen kulturellen Reichtum ganz selbstverständlich herab auf das Wenige der aschkenasischen Kultur. Ein Druckerwesen etwa entwickelte sich hier erst im 17. Jahrhundert und das vielfach auf Veranlassung des Landesherrn. Entsprechend rasch sind die Textsorten aufgezählt, die im aschkenasischen Judentum zirkulierten: Da sind zunächst die im weitesten Sinne rabbinischen Schriften, beginnend bei Mischna und Talmud, der vom dritten Lebensjahr an gelernt wird, dazu rabbinische Auslegungen, etwa in Briefen, die selbst wiederum einen juristischen Status hatten, etwa auch strafrechtliche Urteile enthalten konnten, und natürlich auch Predigten in gedruckter Form. Charakteristisch für die rabbinische Gelehrsamkeit in den deutschen Territorien waren die Bücher über das jüdische Brauchtum (minhagim) der jeweiligen Gemeinden, die oft erst wie das Buch Josef omez des Frankfurter Rabbiner Josef Hahn im 18. Jahrhundert zum Druck gelangten, aber schon im frühen 17. Jahrhundert niedergeschrieben sein dürften.7 Rabbi Juspa wie andere Rabbiner des 17. Jahrhundert orientierte sich in seinen Schriften nicht an der osteuropäischen Tradition der feingliedrigen, wenn nicht oft gar haarspalterischen Talmudexegese. Seine Grundorientierung war ganz auf die Lebenspraxis der Gemeinde ausgerichtet, auf die Liturgie und das Brauchtum, das alltägliche religiöse Leben oder die Fragen der Kindererziehung. Dazu kommt in dieser Literatur ein Bemühen um philologisch geschulte Textkritik, damit um eine leidliche Kenntnis der hebräischen Sprache und Grammatik wie überhaupt der rabbinischen Schriften. 7
Hahn, Joseph (Juspa), Josef omez (hebr.). Neudruck Frankfurt a.M. 1928, vgl. dazu FraenkelGoldschmidt, Chava, Jüdische Religion und Kultur in Frankfurt am Main im 16. und 17. Jahrhundert. Yuzpa Hahn und sein ‚Yosif omez‘, in: Grözinger, Karl E. (Hg.), Jüdische Kultur in Frankfurt am Main von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1997, S. 101–121.
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Wenn der Wormser Rabbi Josef Schammes alte Legenden sammelte und sie unter dem Titel Ma’asei nissim redigierte, tat er dies in der Absicht, den rituellen Gebrauch im Alltag zu sichern. Literatur war hier ganz unverstellt lehrhaft. Auch die Responsenliteratur folgte der pragmatisch-philologischen Auslegungstradition des Judentums im Alten Reich. In den teilweise monumentalen Werken des 17. Jahrhundert – wie dem des mährischen Landesrabbiners Menachem Mendel Krochmal Zemach zedeck (1675) oder Rabbi Jair Chajim Bacharach Chawat Jair (1699) – werden mit textkritischem Blick die Rechtsentscheide der aschkenasischen Tradition zu allen Fragen des täglichen Leben gesammelt, zu solchen der Gemeindeorganisation wie zur Frage der Wiederverheiratung von Frauen, deren Männer im Dreißigjährigen Krieg verschollen blieben. Noch im 18. Jahrhundert wurden Responsensammlungen wie die von Jacob Emden Sche’ilat Jawez (1739– 1759) oder Rabbi Jecheskel Landaus Noda bihuda (1776–1811) zu Standardnachschlagewerken für die rabbinischen Autoritäten, um neu aufkommende religionsgesetzliche Fragen zu erörtern, etwa ob Autopsien von Verstorbenen zulässig seien oder nicht und unter welchen Umständen. Literatur im frühneuzeitlichen Judentum meinte für die rabbinische Elite fast ausschließlich Rechtsauslegungen, auch in Formen von Erläuterungen und Superkommentaren zu dem klassischen Rechtswerk der Aschkenasim, dem Schulchran Aruch [Gedeckter Tisch]. Auch diese Kommentare folgen überwiegend den moralisch-pragmatischen Auslegungslinien der aschkenasischen Rabbiner. Große Verbreitung fanden dabei auch umfangreiche Kommentare zum Gebetbuch wie der der überragenden rabbinischen Autorität des 18. Jahrhunderts Rabbi Jacob Emden (1697–1776) in Altona. Gesetzeserläuterungen, Zusammenstellungen von Bräuchen und Vorschriften für die verschiedenen Jahrestage und ethisch-theologische Abhandlungen sind in solchen Büchern zu finden. Philosophische Erörterungen oder Fragen der Bibelexegese spielten dagegen im Alten Reich keine Rolle. Neben diesen Schriften für die wenigen gab es die für die vielen, eingeschlossen auch die Frauen, also Texte in „Waiberteitsch“, d.h. Westjiddisch mit eigener Drucktype. Gelehrte waren auch im Judentum nur eine Minderheit. Viele Männer waren „wie Frauen“, sollte sagen: des Hebräischen nicht mächtig, wie ja überhaupt die Kenntnis des Hebräischen als Schreibsprache kontinuierlich bis zum 18. Jahrhundert abnahm. Moses ben Chanoch Altschul schreibt in seinem Sittenbuch Brantspigel, sein Buch sei für die Frauen und für Männer mit geringer Bildung verfasst. Daher wurde es 1602 in Basel in Jiddisch gedruckt, obgleich es zunächst in Hebräisch geschrieben und in Abschriften im 16. Jahrhundert verbreitet war. Das Buch ist eine Zusammenstellung von Predigten, untermischt mit Erzählungen aus Talmud und Midrasch, und leitet zum sittlichen Leben an. Es erklärt, wie sich die Frau in Ehe, Küche und Kindererziehung zu verhalten habe und was die Pflichten des Mannes seien. Das ist vorbildlich für ähnliche Sittenspiegel geworden. Eines der populärsten über Generationen nicht nur von Frauen benutzten Bücher ist zweifellos die Zennerenne [Kommet und seht], eine Paraphrase der Wochen-
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abschnitte des Pentateuch, der Haftarot, also der dazugehörigen Prophetenkapitel. Hinzugefügt sind den Bibelparaphrasen außerdem Geschichts- und Legendenüberlieferungen der Aggada. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Lublin und Krakau von Jakob ben Isaak Aschkenasi herausgegeben, erlebte es zwischen 1622 und 1800 mehr als 43 Auflagen.8 Solche Bibelparaphrasen und Sittenbücher erscheinen noch im 18. Jahrhundert in großer Zahl wie Jechiel Michal Epsteins 1703 in Frankfurt in jiddischer Sprache veröffentlichtes Buch Derech hajaschar la’olam haba [Der gerechte Weg in die kommende Welt], eine Zusammenfassung der Religionsgesetze, wie sie auch in der rabbinischen Literatur üblich waren, nur eben in der Volkssprache. Elchanan Henle Kirchhans Buch Simchat hanefesch [Freuden der Seele] von 1707 beschreibt genau, wie ein gesittetes Leben möglich sein soll, welche religiöse Lyrik und welche Lieder – Noten druckt er bei – dabei helfen. Und die autobiographischen Aufzeichnungen, wie jene berühmten, gegen Ende des 17. Jahrhunderts niedergeschriebenen der Glückel aus Hameln,9 dienten ganz der Unterweisung der eigenen Kinder und sind daher keine Confessiones. Wenn etwas in einem engeren Sinne unter die frühneuzeitliche Literatur gerechnet werden kann – aber hier sind die Auflagen deutlich bescheidener –, dann die Erzählsammlungen wie das klassische Maise [Geschichten]-Buch, welches 1602 in Basel zum ersten Mal im Druck erschien und mehr als 250 Prosaerzählungen überwiegend aus Talmud und Midrasch enthält.10 Jiddische Adaptionen der Stoffe wie Kaiser Octavian, Die schöne Magelone, Eulenspiegel oder die SchildbürgerGeschichten belegen, dass es auch in den aschkenasischen Gemeinden ein Interesse für profane Erzählstoffe der christlichen Mehrheitskultur gab. Das Kühe-Buch ist dafür das vielleicht bekannteste Beispiel.11 Seine nicht mehr nur frommen Geschichten machen unverstellt Anleihen bei der novellistischen Erzähltradition Europas. Aber die Lizenzen für solche Drucke wie überhaupt für nicht religiös geregelte Lustbarkeiten waren beschränkt, etwa auch die Lizenzen für Musik auf Festtagen wie Simchat Tora, bei Hochzeiten und Beschneidungsfesten, für die es Berufsmusikanten und Spielleute auch in den jüdischen Gemeinden gab. Gute Kantoren konnten mitunter auch eine Opernarie oder sonst eine zeitgenössisch beliebte Melodie einbringen, seitdem im 17. Jahrhundert auch in aschkenasischen Synagogen die festliche Ausgestaltung des Gottesdienstes barocke Züge annahm und sogar Versuche unternommen wurden, im Rahmen des religionsgesetzlich Erlaubten Instrumentalmusik in der Synagoge zur Aufführung zu bringen. Für die Prager Meisel-Synagoge ist überliefert, hier hätten Musikanten „ein schönes Lied 8 9 10 11
Ashkenazi de Janow, Jacob ben Isaac, Le commentaire sur la Torah. „Tseenah Ureenah“. Traduction, introduction et notes par Jean Baumgarten. Paris 1987. Die Memoiren der Glückel von Hameln. Aus dem Jüdisch-Deutschen von Bertha Pappenheim. Weinheim 1994. Meitlis, Jacob, Das Ma'assebuch. Seine Entstehung und Quellengeschichte. Zugleich ein Beitrag zur Einführung in die altjiddische Agada. Berlin 1933 (Reprint Hildesheim u.a. 1987). Das Buch heißt mit Namen Kühe Buch. Verona 1595. (Nachdruck mit einer Einleitung von Moshe N. Rosenfeld. London 1984).
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vor Eingang des Sabbat“ auf einer Orgel und auf Streichinstrumenten gespielt. Ähnliche Berichte liegen auch von anderen Gemeinden wie Frankfurt und Offenbach vor. Instrumentalmusik wurde offensichtlich zu Beginn und zum Auszug geduldet. Noch 1708 wurde von den Vorstehern ein für das Purimfest 1708 gedrucktes Schauspiel konfisziert und verbrannt, weil es „gar albern und abgeschmackt“ sei, „zu schweigen der Gottlosigkeit, daß sie den frommen Mardochai als einen garstigen und unzüchtigen Unfläther aufführen“.12 Das alles unterschied sich nicht grundsätzlich von der christlichen Literatur der Frühen Neuzeit und ihrer Funktion. In der Summe wird man aber kaum um die Feststellung herumkommen, dass weltlichen Stoffen aus den Prosaauflösungen und der Schwankliteratur, den Mären, Novellen und den aufkommenden Belles Lettres in den Gemeinden des Alten Reiches – im Unterschied zu den Gemeinden in den romanischen Ländern oder in England – nur eine marginale Rolle zukam, religiöse Literatur dagegen überwog. Der Unterschied zu der Literatur der Aufklärung, damit zu den Texten Mendelssohns und der Generation der jüdischen Aufklärer, der Maskilim, könnte kaum größer ausfallen, so dass der Schluss nahe liegt, zwischen beiden literarischen Kommunikationsformen gäbe es keine Verbindung.
2. Konfessionalisierung des Judentums Um hier zu unterscheiden, lohnt der genauere philologische Blick. Er erst zeigt, dass von der jüdischen Literatur nicht einfach in einem Kollektivsingular gesprochen werden kann, ohne erhebliche Funktionsdifferenzen einzuebnen. Der philologische Blick kann, so möchte ich plausibel machen, drei Hauptfunktionen der Literatur im Judentum unterscheiden: Die Funktion der Tradition, die der Orthodoxie und die der radikalen religiös-sezessionistischen Richtungen, die man nicht ohne Grund als jüdische Pietisten bezeichnet hat. Auf Grund der rechtlichen und religiösen Selbständigkeit der frühneuzeitlichen jüdischen Gemeinden waren ihre Frömmigkeit und ihre Ausdrucksformen lokal verschieden, misst man sie an ihren Binnendifferenzen und nicht an den Unterschieden zur christlichen Umgebung. Das Judentum von innen betrachtet, achtete streng auf den Brauch seiner jeweiligen Gemeinde. Das Gebot, die Pietät gegenüber den Vorfahren und Ältesten der Gemeinde zu wahren, war die Richtschnur der Frömmigkeitspraxis. Der jeweilige Minhag ha-Makom, der Brauch des Ortes, galt gerade in den Landgemeinden als unantastbar. Tradition war Brauchtum der Gemeinde und beides wechselseitig ineinander übersetzbar. Das hatte seine Gültigkeit seit dem Spätmittelalter. Insofern kann hier von einer jüdischen Tradition gesprochen werden. 12
Breuer, Mordechai, Graetz, Michael, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600–1780. München 1996, S. 172.
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Die Geltung eben dieser jüdischen Tradition nach Überlieferung und Riten des örtlichen Gebrauchs geriet nun im Laufe des 16. Jahrhunderts parallel zur Reformation und zunächst von den Rändern her unter Druck. Von Safed in Galiläa aus begann die Verbreitung von Schriften und ihrer sie tragenden rabbinischen Elite, die die eigene religiöse Tradition einer strengen Sichtung unterzog. Schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts lag mit dem Schulchan Aruch ein Kompendium vor, das auf eine monumentale Arbeit am Religionsgesetz zurückging: die fast vollständige Sichtung, Rubrizierung sowie text- und quellenkritische Rückführung auf eine wahre Fassung des Gesetzes. Sie hatte Josef Karo, um 1488 in Toledo geboren und 1575 in Safed gestorben, in jahrzehntelanger, entbehrungsreicher Arbeit geleistet.13 Karo hat nicht mit seinem gewaltigen Kommentar Beit Josef, wohl aber mit der Zusammenfassung dieses Kommentars, dem Schulchan Aruch eine für Jahrhunderte geltende Richtschnur jüdischen Lebens geschrieben, die bis heute durch Kommentare und Rechtsentscheide immer wieder erneuert wird. Die Arbeit am Religionsgesetz erneuerte die jüdische Tradition durch ihre Kritik. Das stellte die bis dahin fraglos gültige Tradition unter Rechtfertigungszwang. Religion und die sie ausformulierenden Schriften der Tradition verloren mit ihr den Rang einer selbstverständlichen Geltung. Aus Tradition wurde Orthodoxie. Das ist der zentrale Vorgang in der jüdischen Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit. Die Besonderheit dieses Vorgangs ist, dass die Kritik der jüdischen Tradition nicht Kritik im neuzeitlichen Sinn meint, sondern mystische Überbietung. Josef Karo und die Kreise in Safed waren religiöse Radikale ihrer Zeit, die mit einer bis dahin unbekannten Entschlossenheit die mystische Erneuerung des Judentums betrieben. Der Schritt in die Orthodoxie wurde daher von einer mystischen Disziplinierung der religiösen Frömmigkeitspraxis und ihrer Selbstdeutung begleitet, die nicht mehr die Einhaltung der Tradition, sondern die unbedingte Aufopferung des ganzen Lebens einforderte: „Denke an nichts als an das Gesetz des HErrn“,14 verlangten Rabbi Josef Karo und seine Schule. Würde das göttliche Gericht beschließen, ihn zur Hölle zu verdammen, so würde Rabbi Josef nicht zögern, in die Hölle zu springen. Denn das Gebot ist heilig und der Fromme nur die Schale, in die die Heiligkeit einfließen kann. Aus sich selbst heraus ist er nichts. Die Unbedingtheit, mit der diese Forderung auftrat, die negative und auch hierin der Reformation vergleichbare Anthropologie, sie ließen immer weniger Platz für die Tradition. Das unbedingt geforderte Mehr an Religion transformierte Tradition in Orthodoxie. Und das betraf dann in der Folge auch die aschkenasischen Gemeinden des Alten Reichs. Die Verschärfung der Gebote – etwa ob Juden Wein trinken dürften, der von Christen gekeltert war – verbunden mit einer Separierung von den Christen, weil die Söhne Abrahams und die Söhne Esaus ihrer mystischen Substanz nach 13 14
Tschernowitz, Chaim, Die Entstehung des Schulchan Aruch. Bern 1915. Schechter, Salomon, Safed in the Sixteenth Century. A City of Legists and Mystics, in: Ders., Studies in Judaism. Second Series. London 1908, S. 202–285, hier S. 216.
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wesensverschieden und damit heilsverschieden seien, gibt der entstehenden Orthodoxie von Anfang an den Zug zur Sozialdisziplinierung bei. Darin gleicht der Transformationsprozess von der Tradition zur Orthodoxie dem der Konfessionalisierung in der christlichen Mehrheitskultur.15 Folge der mystischen Überbietung der Tradition sind eine Flut von Schriften und eine ihr korrespondierende rabbinische Praxis, die beständig auf die Durchdringung der Gemeindeinstitutionen und des privaten Lebens durch eine mystisch aufgeladene Religiosität drängte. Noch im Jahr 1765 kommt es in der heiligen Gemeinde zu Metz zu einem der typischen und um diese Zeit schon stereotyp gewordenen Konflikte zwischen dem neu berufenen Rabbiner Arje Löb Gunzburg, dem Autor eines angesehen halachischen Kommentars, und der Gemeinde. Anlass des Streites war der Gemeindebrauch, eine Hymne mitten in der Toravorlesung aus der Offenbarung Gottes vom Berg Sinai am ersten Tag des Wochenfests einzuschalten. Die Hymne gehört der mittelalterlichen Totengedenk-Lyrik an, den Pijutim. Die Gemeinde beharrte gegenüber ihrem neuen Rabbiner darauf, die peinlich genau geregelte Melodieführung sei so alt wie die Tora. Sie stamme selbst mi-sinai, das heißt vom Berg Sinai. Für den neuen Rabbiner aber widersprach der Brauch dem orthodoxen Religionsgesetz, dessen unbedingte Heiligkeit seine Einhaltung forderte. Rabbi Arje Löbs Sorge um das Heilige stand in einer langen Reihe ähnlicher Konflikte seit dem 16. Jahrhundert. Immer ging es ihm und den anderen Rabbinern um die religiöse Durchdringung der jüdischen Gemeinde mit dem richtigen Glauben.16 Das veränderte Tradition zum Bekenntnis, verwandelte sie zur Orthodoxie. Der rechte Glaube wollte auch gelernt sein. Von den Sefardim lernten die Aschkenasim nicht nur die neuen Bücher kennen, sondern auch das neue Lesen. Das traditionelle Talmudlernen mit seiner Wort-für-Wort-Übersetzung und dem Formalismus, mit den Kindern den Traktat über das Scheidungsrecht als Übungstext an den Anfang des Unterrichts zu stellen, war aufzugeben für ein Lernen, das auf Verstehen des Gelesenen ausgerichtet sein sollte. Der Glaube sollte selbst verstanden werden. Als Ende des 17. Jahrhunderts in Amsterdam für die aschkenasischen Leser erstmals zwei vollständige jiddische Bibelübersetzungen erschienen, wird in den Vorworten ausdrücklich darauf verwiesen, die Übersetzungen seien erstellt worden, auf dass „jedes Kind [sie] lesen“ könne.17 Die Parallele zu Luther und seiner Übersetzung haben schon die Zeitgenossen wahrgenommen. Jetzt erst war der biblische Text auch dem gemeinen Manne zugänglich, lasen die Frau und Kinder, was in den sefardischen Gemeinden schon längst Praxis war. Wie dort galt die religiöse 15
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Vgl. hierzu die Beiträge in Greyerz, Kaspar von u.a. (Hg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neuere Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Heidelberg 2003. Breuer, Mordechai, Ausdrucksweisen aschkenasischer Frömmigkeit in Synagoge und Lehrhaus, in: Grözinger, Karl E. (Hg.), Judentum im deutschen Sprachraum. Frankfurt a.M. 1991, S. 103–126, hier S. 104. Aptroot, Marion, Blitz und Witzenhausen. Neue Ansichten von einem alten Streit (jidd.), in: Oksforder Yidish. A Yearbook of Yiddish Studies 1 (1990), S. 3–38, hier S. 9.
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Durchdringung allen, gerade auch den Kindern und Frauen. Einer der Übersetzer und zugleich der erste Bibliograph der hebräischen und jiddischen Literatur, Schabbatai Baß, empfahl den Aschkenasim ausdrücklich das bessere, weil auf das Textverstehen konzentrierte Lernsystem der Sefardim. Nicht nur die Literatur, der Umgang mit ihr sollte verändert werden. Eine orthodoxe Lektürepraxis begleitete die neuen Bücher. Alphabetisierung meinte auch hier wie in der christlichen Umwelt nicht so sehr das Lesenlernen als vielmehr den Zugang zu neuen Lesestoffen. Wie dort auch war es die Religion, die die Bücher neu aufschlug. Der gleichen Funktion einer Erneuerung des Heiligen aus dem Geist der Orthodoxie entsprang die schon erwähnte jiddische Bibelparaphrase Zennerenne [Kommet und seht].18 Sie war in bewusster Konkurrenz zur profanen Literatur in Judendeutsch, den sifrei chul, zusammengestellt worden. Auch das populäre Maise-Buch ist in gezielter Konkurrenz zur altjiddischen Prosa redigiert worden und ist daher gerade nicht Ausdruck einer bis zu Mendelssohn fraglos geltenden jüdischen Tradition. Das Buch richtete sich an „raw un rebezin“, also an den hebräisch lesenden Rabbiner und seine ungelehrte Frau, und ist damit auch an jene gerichtet, die sonst nur „ois dem bicher fun Kühen un von Dietrich von Bern un Meister Hildebrand“19 lesen würden, wie der Herausgeber Jakob ben Abraham beklagt. Wie sehr auch solche, auf den ersten Blick fast profan erscheinende Literatur wie das Maise-Buch dem Geist der mystischen Überhöhung der Tradition zur Orthodoxie verpflichtet ist, zeigt nicht zuletzt die Druckausgabe von 1703. Ihr sind zwölf neue Geschichten vorangestellt, ausnahmslos Legenden um die Safeder Kabbalisten, von denen mehr als hundert Jahre zuvor die religiöse Erneuerung des Judentums ihren Ausgang genommen hatte. Kabbala und orthodoxe Lesekultur gehen nicht nur hier Hand in Hand. Erst die mystisch gesteigerte Religion setzt neue Bücher frei. Auch die Sittenbücher, die Mussar-Literatur, entsteht im Nachgang zur mystisch-orthodoxen Durchdringung der jüdischen Lebenswelt in der Frühen Neuzeit und ist ebenfalls nicht einfach Ausdruck von Tradition, sondern Überwindung der Tradition. Die Sittenbücher vom Brantspiegel bis zu den Freuden der Seele sind Anleitungen zum orthodoxen Leben, wie die Familie zu leben habe, wie mit Dienstboten umzugehen sei, wie der klare Wortsinn der religiösen Schriften zu erfassen sei und ähnliches mehr. Wenn Rabbi Zwi Hirsch ben Aaron Samuel Kojdanower in seinem mehr als zwei Jahrhunderte immer wieder aufgelegten Maß der Aufrechten dem Vater rät, „das Kind auf dem Weg zur Schule zuzudecken, damit es nichts Unreines wahrnehme“,20 dann fungieren alle diese Schriften als Heiligung des jüdischen Lebens, das in seiner Praxis wie Tradition dieser Orthodoxie vielfach nicht entsprach und daher der mystischen Sozialdisziplinierung bedurfte. Orthodoxie und Orthopraxie gehörten zusammen. 18 19 20
Turniansky, Chava, Mädchen in der altjiddischen Literatur (jidd.), in: Röll, Walter u.a. (Hg.), Jiddische Philologie. Festschrift für Erika Timm. Tübingen 1999, S. 7*–20*. Zitiert nach Meitlis, (wie Anm. 10), S. 25f. Kojdanower, Zwi Hirsch, Das Maß der Aufrechten (hebr., jidd.). Sulzbach 1795, Kap. 72, Fol. 81b.
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Die Wandlungen in der frühneuzeitlichen jüdischen Literatur, die durch die Selbstüberbietung der Religion erzeugt wurden, waren keineswegs mit der Orthodoxie zu Ende. Diese wurde vielmehr selbst durch diverse Separationen überboten. 1779 und noch einmal 1789 belegte die Frankfurter Gemeinde Rabbi Nathan ben Simeon Ha-Kohen Adler mit dem Bann, weil dieser mit seinen Anhängern offen die Abspaltung von der Orthodoxie betrieb. Seinen Schülern galt er als wundertätiger Heiliger, der das Recht hatte, Gebete zu ändern und Riten umzustoßen. Tischgemeinschaft mit den Gemeindemitgliedern verbaten sich die Sezessionisten. Sie hielten das Fasten strenger und machten ihre Schaufäden breiter, die Gebetsriemen doppelt. Sie richten „neue Gesetze“ ein, wie es in einem Pamphlet gegen sie noch 1790 heißt, geben sich als fromme Männer, „aber sie blasen sich auf und agieren überheblich, beachten nicht die Gewohnheiten der Kinder Israels, nicht die Tora, die uns von altersher durch unsere Vorfahren, selig sei ihr Andenken, überliefert wurde“.21 Jetzt war die Orthodoxie in der Rolle der zu überbietenden ‚Tradition‘. Die sezessionistischen Frommen wurden als Peruschim, das heißt als Abgesonderte bezeichnet. Solche Abgesonderten schrieben ihre eigene Literatur und das nicht nur in einer Stadt wie Frankfurt am Main. Diese Literatur war eine andere als die der Orthodoxie. Sie zirkulierte vielfach handschriftlich und wollte einfach sein wie der Glaube, von dem sie sprach. Gebetbücher statt Kommentare, Briefe statt Sittenbücher tauchten im 18. Jahrhundert auf. Auch hier gilt, dass nicht die Alphabetisierung weiterer Teile der jüdischen Gemeinden das eigentlich Neue der Leserevolution im 18. Jahrhundert war,22 sondern die Eröffnung des Zugangs zur Literatur, die Nutzbarmachung des Geschriebenen und Gedruckten für an sich schon lesefähige Gemeindemitglieder. Sie, die gemeinen Leute, fingen nun selbst an, nicht nur zu lesen, sondern auch zu schreiben, und fragten dafür nicht mehr die Autoritäten ihrer Gemeinden. Durch einen Zufall hat sich aus dem hessischen Dorf Hergershausen ein kleines Buch erhalten. Es trägt den charakteristischen Titel Liebliche Tefilloh [Liebliche Gebete]. Sein Autor, wohl Aaron ben Samuel, stellt in seinem Büchlein zu Anfang des 18. Jahrhunderts der erstarrten rabbinischen Religiosität die Frömmigkeit des Herzens entgegen: „Unsre tefilaus [Gebete] von grunt des herzens zu tun […] mit ganzer neschomo [Seele]“, so schreibt er, „dass mir sich solen ferchten vor im […] un’ lust haben zu saine gebot“.23 Kein Zufall, dass die Missionare des Halleschen Institutum Judaicum glaubten, der Autor des von der Orthodoxie verbotenen Buches sei ein konversionswilliger Jude. Wieviel erstaunter waren sie, als dieser sie 21
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Zitiert nach Elior, Rachel, R. Nathan Adler and the Frankfurt Pietists. Pietist Groups in Eastern und Central Europe During the Eighteenth Century, in: Grözinger, Jüdische Kultur, (wie Anm. 7), S. 135–177, S. 153. Vgl. Siegert, Reinhart, Art. Alphabetisierung, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1, hg. v. Klaus Weimar u.a. Berlin, New York 1997, S. 55–58. Zitiert nach Stein, Siegfried, Liebliche Tefilloh. A Judaeo-German Prayer-Book Printed in 1709, in: Year Book of the Leo Baeck Institute 15 (1970), S. 41–72, S. 50.
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umgekehrt in seinem wahren Glauben zu belehren versuchte. Solche antiorthodoxe Frömmigkeit als jüdischen Pietismus zu bezeichnen, legen schon die zeitgenössischen Einflüsse durch den christlichen Pietismus nahe. Denn viele dieser Schriften benutzen teils offen pietistisches Vokabular wie etwa der mehrfach abgeschriebene Libesbrif des Isaak Wetzlar, wohl um 1749/50 verfasst.24 Wetzlar empfiehlt, sich an der viel größeren Gottesfurcht und Kirchendisziplin der pietistischen Christen zu orientieren, die auch ihre Kinder und Frauen in einer aufrichtigen und einfachen Weise im Glauben unterweisen würden. Nicht der Talmud, sondern die Liebe und Gnade Gottes sei das Zentrum des Glaubens. Gnade ist aber kein zentraler Begriff der jüdischen Orthodoxie. Für den Preziosenhändler Isaak Wetzlar dagegen steht sie im Mittelpunkt seines Libesbrifs an die „herzallerliebsten Brüder und Schwestern“. Die Orthodoxie wurde nicht nur hier von einer noch einmal gesteigerten Sorge um das Heil überboten. Radikale Gruppen von Kryptochiliasten zählten ebenso dazu wie der in seinen Anfängen im 18. Jahrhundert radikal-asketische Chassidismus.25 Die Orthodoxie, die sich selbst als unüberbietbare Erneuerung des Judentums verstand, verlor damit ihre selbstverständliche Gültigkeit. Sie war beständig von der Sezession bedroht. Im Amuletten-Streit, als sich die bedeutendsten aschkenasischen Autoritäten des 18. Jahrhunderts gegenüberstanden und die jeweils andere Seite verdächtigten, die Gemeinden vom wahren Glauben abzubringen, wurde dieser Streit über die Grenzen der jüdischen Gemeinden hinaus sichtbar, der Bruch zwischen den Gemeinden und in den Gemeinden unübersehbar.26 Hinter diesem Streit aber stand die Katastrophe des „falschen Messias“ Sabbatai Zwi, dessen millenaristische Versprechungen in der Mitte des 17. Jahrhunderts fast den Untergang des Judentums vom Jemen bis nach Amsterdam ausgelöst hatten und als untergründiges Trauma weiterwirkten.27 Die Sorge um das Heil hatte längst vor dem 18. Jahrhundert eine Dynamik entwickelt, die nicht mehr ruhigzustellen war. In der Summe haben der Amuletten-Streit und der falsche Messias und seine Nachfolger noch weit ins 18. Jahrhundert, der Libesbrif und die Liebliche Tefilloh, mit den Sittenbüchern, den Bibelparaphrasen, dem Maise-Buch und dem Schulchan Aruch die Logik der religiösen Selbstüberbietung gemeinsam. Funktional dient die jüdische Literatur aber im 16. Jahrhundert anderen Zielen als im 18. Jahr24 25
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Wetzlar, Isaak, The „Libes Briv“ of Isaac Wetzlar. Hg. und übersetzt v. Faierstein, Morris M. Atlanta/Georgia 1996. Scholem, Gershom, Die Metamorphosen des häretischen Messianismus der Sabbatianer in religiösen Nihilismus im 18. Jahrhundert, in: Ders., Judaica 3. Frankfurt a.M. 1973, S. 198– 217 und Doktór, Jan, Kryptochiliasten und Kryptosabbatianer. Eine verborgene Seite der Halleschen Missionsionstätigkeit, in: Hallesche Beiträge zur Orientwissenschaft 24 (1997), S. 61–73. Abramsky, Chimen, The Crisis of Authority Within European Jewry in the Eighteenth Century, in: Stein, Siegfried, Loewe, Raphael (Hg.), Studies in Jewish Intellectual and Religious History. Alabama 1979, S. 13–28. Scholem, Gershom, Sabbatia Zwi. Der mystische Messias. Übersetzt von Angelika Schweikhart. Frankfurt a.M. 1992.
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hundert. Gattungen und Funktionen der jüdischen Literatur unterliegen damit einem Wandel, so dass es zu einfach wäre, das alles unter eine jüdische Tradition rechnen zu wollen. Man sieht erst mit dem philologischen Blick des Literaturhistorikers, welche Friktionslinien im frühneuzeitlichen Judentum selbst vorlagen. Man kann dann erst die ungeheure Dynamik ermessen, die gerade aus einer Selbstüberbietung der Religion immer neue Literatur erzeugt hat und das Selbstverständnis der Gemeinden immer wieder und nicht selten auch krisenhaft in Frage stellte.
3. Die neuen Bücher für den Menschen Die jüdische Aufklärung, die Haskala, ist nun nicht weniger als ein Herausspringen aus der Logik dieser immer weiter gesteigerten Sorge um das Heil. Man liest in der Forschung oft, die Aufklärung des Judentums wäre von außen an diese herangetragen worden und habe seine Traditionen aufgelöst. Tatsächlich ist aber die Aufklärung des Judentums eben kein ihr fremdes Überzeugungssystem. Vielmehr löst die Haskala die Probleme der religiösen Dauerüberbietung, wie sie in der Frühen Neuzeit entstanden waren und hier immer wieder zu fast katastrophischen Abspaltungen wie dem Sabbatianismus geführt hatten. Je weniger im 18. Jahrhundert der Druck von außen auf den Gemeinden lastete, desto sichtbarer wurden die Sezessionen auch im Alltag der jüdischen Gemeinden, tauchten andere Bücher auf als die offiziell erlaubten. Das hat aber Lösungen attraktiv gemacht, die nicht ein Mehr an Religion für sich behauptet haben, sondern eine ganz andere Lösung vorschlugen: Die der Vernunft, der allgemeinen kulturellen Vergesellschaftung als Mensch, nicht mehr als Jude. Diese Lösung verbreiteten nun Bücher, die sich prinzipiell an den Menschen wandten. Sie sind weiterhin religiös, aber in einem ganz anderen Sinn als dem frühneuzeitlichen. Religion gehörte hier zum Begriff des Menschen und war nur wahre Religion, wenn sie zugleich menschlich war. Mendelssohns Hauptschrift Phaidon ist dann keine jüdische Literatur mehr, sondern ein Buch für Menschen und ihre Seelen. Damit verlässt die Literatur der Aufklärung die jahrhundertelange Logik der Konfessionalisierung. Man mag dagegen einwenden, Mendelssohn selbst habe doch in seiner Schrift Jerusalem von 1783 die Juden auf die unbedingte, weil nur für die Juden geoffenbarte Gesetzgebung der Tora verpflichtet und ebenso auf die Einhaltung der 615 Gebote. Mendelssohn geht dabei aber davon aus, dass zwischen den noachitischen Geboten, also dem in der Vernunft gegründeten Recht, und dem Judentum kein prinzipieller Gegensatz entstehen könne. Tora und Talmud enthalten Gesetze für das Gelingen des Staatswesens wie für die Privatglückseligkeit, die zugleich allgemeine sein können. Keines der Zeremonialgesetze der Juden für Festtage wie Wochentage sei wider die Vernunft. Ähnlich argumentiert auch sein zusammen mit Dubnow und Wessely geschriebener Kommentar Bi’ur zu seiner Bibelübersetzung. Die gesteigerte Sorge um das religiöse Heil leitet die Bücher der Haskala nicht
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mehr an, sondern das Vertrauen auf den möglichen Ausgleich von Vernunft und Glauben.28 Das nimmt der Religion jene Wucht, von der die messianischen Bewegungen seit dem 16. Jahrhundert immer wieder Zeugnis abgelegt haben und die mindestens im Fall des Sabbatianismus das Judentum an die Grenze seiner Weiterexistenz geführt hatten. Das alles ist nicht mehr in der Vorstellungswelt der Frühen Neuzeit formuliert und gerade darum die Lösung für die religiösen Konfliktlagen, die ihr vorausgehen. Die jüdische Aufklärung säkularisiert daher nicht in einem als legitim oder illegitim bewerteten Prozess eine ihr unbefragt gültige, scheinbar einheitliche jüdische Tradition. Vielmehr ist das frühneuzeitliche Judentum angetrieben von einer Religiosität, die in beständiger Selbstüberbietung immer neue Formen und damit auch immer neue Literatur hervorbringt und sich beständig der Gefahr der Absplitterung aussetzt. Das geforderte Mehr an Religion stellt die Religion nicht ruhig, im Gegenteil setzt sie gerade deren Unbedingtheit gegen sich selbst frei und löst damit die mittelalterliche Tradition auf. Die nicht stillzustellende religiöse Unruhe der Frühen Neuzeit wird sich selbst zum Problem. Das gilt für die chiliastischen Bewegungen im Judentum, aber auch für die Bewegungen, die sichtbar werden konnten, als sich die Ghettoisierung des Judentums von außen abschwächte. Dies geschieht im 18. Jahrhundert. Jetzt kann der aufgestaute religiöse Innendruck nach ganz anderen Lösungen suchen als denen, die eigene Religiosität und Frömmigkeit noch einmal zu überbieten und damit die Gefahr einer Spaltung der Gemeinden zu provozieren. Das wird die jüdische Aufklärung tun. Sie redet zu den Juden nicht als mystische Wesen, sondern als Menschen im emphatischen Sinn des 18. Jahrhunderts und erlaubt gerade damit, jüdische Religion zu bewahren, ohne ihre selbstzerstörerischen Kräfte freizusetzen. Aus den mystischen Kommentaren und den Büchern über die Freuden der Seelen werden Bücher für den ganzen Menschen, es mögen jüdische oder sonst Angehörige einer Religion sein. Gerade weil Mendelssohn und die erste Generation der Maskilim die jüdische Religion bewahren wollten, mussten sie zu Aufklärern werden. Neuzeit entsteht nicht gegen Religion, sondern aus ihr.
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Schulte, Christoph, Die jüdische Aufklärung. München 2002.
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Schnittpunkt Hermeneutik Zum Synthesecharakter einer sich ausbildenden Disziplin im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert Johann Albrecht Bengel, der Begründer neutestamentlicher Textkritik, stellte 1734 in der Einleitung zu seinem Novum Testamentum Graecum1 das berühmte Diktum auf: „Te totum applica ad textum; rem totam applica ad te“. Er verband damit die Intention unmittelbarer exegetischer Zuwendung zum Text mit der Aufforderung, „die ganze Sache“ der Schrift auf sich anzuwenden, womit nicht nur auf den klassischen Literalsinn, sondern mit pietistischem Impetus auch auf die Heilsrelevanz des Neuen Testaments abgezielt wurde. Die Verbindung von Schriftauslegung und pietistischer Frömmigkeit hatte der Schwabe Bengel mit den Theologen in Halle gemeinsam. Die pietistisch bestimmte Hermeneutik charakterisiert sich wesentlich dadurch, dass sie sich in oppositioneller Haltung zur herrschenden Kirchendoktrin ausprägt. Gegen die normativen Vorgaben kirchlicher Traditionsbildung wird der Versuch eines unmittelbaren Zugriffs auf die eigentliche christliche Verkündigungsbotschaft unternommen. Die Entfaltung der Hermeneutik als theologisch selbständige Disziplin dient der Absicherung dieses Unterfangens, das schließlich in die Ausgestaltung historisch-kritischer Methoden zur regelgeleiteten Exegese des Alten und Neuen Testaments umschlägt und Aufklärung sowie Rationalismus innerhalb von Theologie und Philosophie Ausdruck gewinnen lässt. Die Hermeneutik bleibt so in Halle auch nicht auf die Kombination mit dem Pietismus beschränkt, sondern löst sich allmählich von ihm ab.2 Als wegweisende Vertreter sind zunächst August Hermann Francke (1663– 1727), Begründer der „Franckeschen Stiftungen“, Joachim Lange (1670–1744), dessen Hermeneutica sacra 1733 erschien, sowie Franckes Nachfolger als Professor der Theologie, Johann Jakob Rambach (1693–1735), zu nennen. In seinen Institutiones hermeneuticae sacrae,3 1723, wird, so wie es auch bei Bengel begegnet, die subtilitas applicandi zu einem Zentralbegriff.4 Der Text war auf das ihn 1 2
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Bengel, Johann Albrecht, Novum Testamentum Graecum […] (Quartausgabe). Tübingen 1734. Vgl. in diesem Zusammenhang Barth, Ulrich, Hallesche Hermeneutik im 18. Jahrhundert. Stationen des Übergangs zwischen Pietismus und Aufklärung, in: Beetz, Manfred, Cacciatore, Guiseppe (Hg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Köln, Weimar, Wien 2000 (Collegium Hermeneuticum, 3), S. 69–98. Rambach, Johann Jakob, Institutiones hermeneuticae sacrae. Jena 1723 u. ö. „Der wohl aus der humanistischen Wettbewerbsgesinnung stammende Ausdruck ‚subtilitas‘ (Feinheit) deutet auf elegante Weise an, daß die ‚Methodik‘ der Auslegung – wie alle Anwendung von Regeln überhaupt – Urteilskraft verlangt, die nicht selber wieder durch Regeln gesi-
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lesende oder hörende Individuum anzuwenden. Vertieft wurde auf diese Weise die von Francke in die Hermeneutik eingeführte Lehre von den „Affekten“. „Omni, quem homines proferunt sermoni, ex ipsa animi destinatione unde is procedit, affectus inest.“5 Unter Aufnahme dieses einschlägigen Satzes Franckes kommt Wilhelm Dilthey zu dem Urteil: „War es nicht ein Dogma, sondern ein Seelenzustand, was man aus der Schrift gewinnen wollte: so mußte der Interpret vor allem sich dem Seelenzustand, der sich in den Heiligen Schriften ausspricht, hingeben. Das ist der wahre Sinn von der Lehre von den ‚Affekten’.“6 Maßgeblich wurden auch Siegmund Jakob Baumgarten (1706–1757) sowie sein Schüler Johann Salomo Semler (1725–1791).7 Eng befreundet mit Semler war Johann August Ernesti (1707–1781), der im nahen Leipzig tätig, mit seiner Anweisung Institutio interpretis Novi Testamenti (1761, 51809) für die Entwicklung der historisch-kritischen Exegese bahnbrechend war. Durch ihre zahlreichen Veröffentlichungen und Vorlesungen zur Hermeneutik machten die genannten Theologen den Standort Halle zum entscheidenden Zentrum für die Entfaltung dieser Disziplin, die in den hermeneutischen Überlegungen Friedrich Schleiermachers, der bis zur Schließung der Universität durch Napoleon im Oktober 1806 in Halle wirkte, einen ins 19. Jahrhundert reichenden Höhepunkt fand. Schleiermacher wusste sich nicht nur der theologischen Traditionsbildung in Halle verpflichtet, sondern auch der philosophischen.8 So hatte Christian Thomasius (1655–1728) bereits 1691 in Halle seine Ausübung der Vernunftlehre erscheinen lassen, in der er sich auch zur Hermeneutik verhält. Von herausragender Bedeutung wurden zudem Christian Wolff (1679–1754), vor allem sein Werk Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes (Deutsche Logik) von 1713, sowie Georg Friedrich Meier (1718–1777).9 1757 erschien als „letzte
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chert werden kann“ (Gadamer, Hans-Georg, Artikel: Hermeneutik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 [1974], Sp. 1061–1073, hier Sp. 1064). Francke, August Hermann, Praelectiones Hermeneuticae, ad viam dextre indagandi et exponendi sensum scripturae S. theologiae studiosis ostendendam. Halle 1723, S. 196. Dilthey, Wilhelm, Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik, in: Ders., Leben Schleiermachers, Bd. 2: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. 2. Halbbd.: Schleiermachers System als Theologie. Aus dem Nachlaß von Wilhelm Dilthey mit einer Einleitung hg. v. Martin Redeker. Berlin, New York 1966 (entspricht: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. XIV/2. Göttingen 1966), S. 595–787, hier S. 619, bei Dilthey Hervorhebungen. Vgl. auch die Aufnahme bei Grondin, Jean, Einführung in die philosophische Hermeneutik. Darmstadt 1991, S. 80f. Vgl. Baumgarten, Siegmund Jakob, Unterricht von der Auslegung der heiligen Schrift. Halle 1742; ders., Ausführlicher Vortrag der Biblischen Hermeneutik, hg. v. Joachim Christoph Bertram. Halle 1769; Semler, Johann Salomo, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, 4 Bde. Halle 1760–1769. Vgl. dazu nur Nowak, Kurt, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 2001, S. 198–200. Zu Georg Friedrich Meier vgl. v. a. Szondi, Peter, Einführung in die literarische Hermeneutik, hg. v. Jean Bolack und Helen Stierlein. Frankfurt a.M. 1975, bes. S. 98–134; Scholz, Oliver R., Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier, in: Bühler, Axel (Hg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1994,
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Allgemeinhermeneutik des Rationalismus“10 sein in Paragraphen unterteilter Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst.11 In den Anfangspassagen bestimmt er die vier „vornehmsten Nutzen der allgemeinen Auslegungskunst“. Ihnen zufolge besteht die Leistung der Hermeneutik, die „eine so nöthige und nützliche Wissenschaft“12 sei, darin, „1) daß sie vieles zur Verbesserung und dem rechten Gebrauche des Bezeichnungsvermögens beyträgt, 2) daß sie die Erlernung aller Künste, Wissenschaften und Wahrheiten befördert, 3) daß sie zur Vermeidung eines pöbelhaften Aberglaubens gereicht, 4) daß sie die Gewisheit der besondern Auslegungskünste befördert u. s. w.“13 In einer Vorrede betont Meier, dass er „den Versuch einer Wissenschaft“ vorlege, „die gewisser massen noch neu ist. Ich will mich nicht für den Erfinder dieser Wissenschaft ausgeben, so viel aber weiß ein jedweder, daß die allgemeine Auslegungskunst, unter diejenigen Theile der Gelehrsamkeit, gehöre, welche bis jetzt noch sehr schlecht angebauet sind“.14 In thetischem Duktus bemüht sich Meier, einige grundlegende Schneisen in die bisherige Überlieferung zu schlagen. Dabei entledigt er sich zugleich einer ganzen Reihe von vorhergehenden Veröffentlichungen anderer Autoren dadurch, dass er sie für irrelevant erklärt; denn: Ein Autor im engsten Verstande, (auctor sensu strictissimo) ist ein Urheber der Zeichen, welcher sich im bezeichnen der Worte bedient. Wenn man die Rede eines Autors auslegt, so sagt man, daß man den Autor selbst auslege. Wenn es also wahrscheinlich und gewiß ist, daß ein Autor seine Rede ohne Verstande herschwatze, oder zusammenschmiere, so muß man es nicht einmal versuchen ihn auszulegen.15
Gleichzeitig gesteht er jedoch mit einer Formulierung, die in der neu zu begründenden Wissenschaft nachhaltige Berühmtheit erlangen sollte, ein: „Kein Ausleger kan mit eben so grosser Gewißheit, den Willen und den Zweck des Autors erkennen, als der Autor selbst. Folglich ist ein jedweder der beste Ausleger seiner eigenen Worte.“16 Meier verfolgte das Ziel, zu einem wahren Verständnis des auszulegenden Textes zu gelangen. Er war dabei den Arbeiten Christian Wolffs verpflichtet und verband logische Tradition und Vernunftlehre. Der Versuch Meiers, die hermeneutische Disziplin unter semiotischer Ausrichtung zu etablieren, konnte auf die
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S. 158–191; Schenk, Günther, Leben und Werk des halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle 1994; sowie Beetz, Manfred, Georg Friedrich Meiers semiotische Hermeneutik, in: Ders., Cacciatore, Guiseppe, (wie Anm. 2), S. 17–30. Grondin, (wie Anm. 6), S. 74. Meier, Georg Friedrich, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757; Nachdruck mit einer Einl. v. Lutz Geldsetzer. Düsseldorf 1965. – Zu Meier vgl. v. a. ausführlich Grondin, (wie Anm. 6), S. 73–78. Meier, (wie Anm. 11), S. VI. Ebd., S. 3, § 5. Ebd., S. IVf. Ebd., S. 60, § 110. Ebd., S. 74, § 136.
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ein Jahrhundert zuvor von Johann Conrad Dannhauer eingeführte Unterscheidung von hermeneutica sacra und profana zurückgreifen;17 zugleich jedoch auch auf die universalen Anspruch erhebende Entwicklung einer hermeneutica generalis, die sich von der Fixierung auf eine Spezialhermeneutik, etwa einzelner theologischer Parteiungen, lösen wollte. Maßgeblich sind hier Dannhauers Idea boni interpretis et malitiosi calumniatoris von 1630 (41652) und Johann Claubergs Logica vetus et nova, quadripartita aus dem Jahr 1654. In dem Bemühen um eine allgemeine Auslegungskunst, in der Verpflichtung auf eine verbindliche, logisch-vernünftig nachvollziehbare Deutung liegt die Grundlage für alle späteren Bemühungen, diese Form der „Interdisziplinarität“ auch auf die tiefergehende Ebene der allgemeinen Sprachphilosophie, der historischen Analyse unterschiedlicher Kulturkreise und ihrer Ausdrucksformen zu übertragen. Denn, so formulierte es Friedrich Schlegel 1797 treffend: „Was hilft mir der Text, wenn ich ihn nicht verstehe?“18 Hermeneutik und Ausbildung historischer Kritik laufen gegen Ende des 18. Jahrhunderts zusammen und bilden einen untrennbaren Zusammenhang. Beispielhaft lässt sich dies an Johann Gottfried Herder verdeutlichen. Herder, der in Königsberg ein Schüler des vorkritischen Immanuel Kant gewesen war, sich jedoch zunehmend von ihm distanzierte,19 hat kein geschlossenes System vorgelegt und oftmals fragmentarische, teilweise auch aphoristische Texte verfasst. In seinem Sprachstil kombiniert er wissenschaftliche und poetisch-literarische Elemente zu einer eigentümlichen Mischung. 1780/81 erschienen in erster Auflage die Briefe, das Studium der Theologie betreffend.20 Sie stellen eine Mischung verschiedener Elemente dar. Zum einen haben sie einen enzyklopädischen Charakter, und zum anderen sind sie eine durchaus praxisbezogene Anleitung zu einem rechten Studium der Theologie und der beginnenden Amtsführung. In diesen Briefen finden sich grundlegende Einsichten
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Dannhauer, Johann Conrad, Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum s. literarum. Augsburg 1654. Schlegel, Friedrich, Zur Philologie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Behler, Ernst, Bd. 16. Paderborn, München, Wien 1981, S. 55. Vgl. Gaier, Ulrich, Poesie oder Geschichtsphilosophie? Herders erkenntnistheoretische Antwort auf Kant, in: Bollacher, Martin (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Würzburg 1994, S. 1–17. – Zu Herder vgl. Herms, Eilert, Artikel: Herder, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XV (1986), S. 70–95; Irmscher, Hans Dietrich, Artikel: Herder, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 3 (2000), Sp. 1641–1645. Zur Hermeneutik Herders ist zu beachten: Schnur, Harald, Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Studien zur Bibelauslegung, zu Hamann, Herder und F. Schlegel. Stuttgart, Weimar 1994, bes. S. 97–138; Christophersen, Alf, Friedrich Lücke (1791–1855), zwei Teilbd., Bd. 1: Neutestamentliche Hermeneutik und Exegese im Zusammenhang mit seinem Leben und Werk; Bd. 2: Dokumente und Briefe, Berlin, New York 1999 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 94/1.2), besonders Bd. 1, S. 91–120. Herder, Johann Gottfried, Briefe, das Studium der Theologie betreffend. Fünf Teile, 2. verb. Aufl. Weimar (1780–1781) 1785–1808, in: Herders Sämmtliche Werke, Bd. X, hg. v. Bernhard Suphan. Hildesheim 1967 [Repografischer Nachdruck der Ausg. Berlin 1879], S. 1–152; S. 153–268; S. 269–402; Bd. XI, S. 1–128. 129–149. 150–153; S. 155–211.
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Herders nicht zuletzt zur Hermeneutik und zum Traditionsbegriff. Sie haben noch zu Lebzeiten des Verfassers eine weite Verbreitung gefunden. Die Briefe über das Theologiestudium bestehen aus fünf Teilen. Der letzte trägt den Titel Briefe an Theophron. Die Teile eins und zwei bestehen aus 24 Einzelbriefen und entwickeln unter Bezug auf den „Fragmentenstreit“ Grundsätze der Schriftauslegung. Der erste Brief beginnt programmatisch: Es bleibt dabey, mein Lieber, das beste Studium der Gottesgelehrsamkeit ist Studium der Bibel, und das beste Lesen dieses göttlichen Buchs ist menschlich. […] Menschlich muß man die Bibel lesen: denn sie ist ein Buch durch Menschen für Menschen geschrieben: menschlich ist die Sprache, menschlich die äussern Hülfsmittel, mit denen sie geschrieben und aufbehalten ist; menschlich endlich ist ja der Sinn, mit dem sie gefaßt werden kann, jedes Hülfsmittel, das sie erläutert, so wie der ganze Zweck und Nutzen, zu dem sie angewandt werden soll. Sie können also sicher glauben, je humaner (im besten Sinne des Worts) Sie das Wort Gottes lesen, desto näher kommen Sie dem Zweck seines Urhebers, der Menschen zu seinem Bilde schuf, und in allen Werken und Wohlthaten, wo er sich uns als Gott zeigt, für uns menschlich handelt.21
Als unerlässliche Voraussetzung des Bibelstudiums dient die Sprachkenntnis, so dass der „Sprachgenius“22 erfasst werden kann. Dies ist die Grundlage dafür, dass der Geist und die Geschichte eines jeden biblischen Buches erkannt werden können, um, wie Herder am Beispiel der alttestamentlichen Propheten aufzeigt, hineinzukommen „in den innern Idiotismus Eines Schriftstellers, den ich mir [Herder, A.C.] immer als Heiligthum, nicht als Heerstraße denke“.23 Herders Ausführungen über die Propheten können paradigmatisch aufgefasst werden. Es „ist bey keiner Gattung Schriften das einzelne Lesen, und Erwägen nothwendiger, als bey ihnen“.24 Unveränderliches Kennzeichen prophetischer Rede ist ihre Individualität. Jeder Prophet sprach einzeln, für sich, zu verschiedener Zeit, unter eigenen Umständen und Veranlassungen, und seine Aussagen dürfen genauso wenig wie die Teile eines prophetischen Buches vorschnell mit denen anderer vermischt werden. Es kommt hinzu: Mich [Herder, A.C.] dünkt, niemand hindert sich im rechten Gesichtspunkt, Propheten zu lesen, mehr, als der nur allgemeine Sentenzen, dogmatische Sprüche und Weissagungen in ihnen aufsucht, und gar Zwangsmittel hat, einen Propheten hiezu und nach seinem eignen Sinn zu vergestalten.25
Es war die Funktion des Propheten, das Volk zu führen, Gottes Willen zur Zeit anzusagen. Dies konnte er tun, auch ohne den Messias unmittelbar zu weissagen. Herder lehnt es ab, die prophetische Rede allein daran zu messen, zu schätzen oder zu verwerfen, ob sie alles hinreichend auf Christus hin deutet. „Ein Prophet ist kein Evangelist; und ein Zug in einem Propheten mehr oder minder, ändert ja nichts im 21 22 23 24 25
Ebd., Bd. X, Br. 1, S. 7. Siehe ebd., Br. 2, S. 13. Ebd., Br. 8, S. 98. Siehe auch ebd., Br. 22, S. 248–254. Ebd., Br. 8, S. 98. Ebd., S. 99.
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Gemälde sämmtlicher Schriften und ihrer Aussicht aufs Reich und die Person des Messias.“26 Herder fordert den Adressaten seines Briefes dazu auf, den prophetischen Text zu unterteilen, zu gliedern und Bezüge zwischen den Teilen herzustellen. Zur Klärung dunkler Stellen seien alte Übersetzungen heranzuziehen. „Werden Sie“, propagiert er hermeneutisch grundlegend, „mit jedem derselben gleichsam Zeitgenoß, theilen mit ihm Leiden und Freuden, gegenwärtigen Druck und künftig freyere Aussicht.“27 Innerhalb des Übergangs vom Alten zum Neuen Testament, den Herder mit dem zweiten Teil der Briefe vollzieht, ist seine Interpretation des Wunders wegweisend. Im 13. Brief reflektiert er über die Wahrheit der biblischen Aussagen, und zwar unter direkter Aufnahme des „Fragmentenstreits“. Hinsichtlich der Behauptung, die Jünger hätten Leben und Botschaft Jesu wissentlich verkehrt, stellt Herder für die synoptischen Evangelien die Alternative auf, dass wir von Christus entweder – so ihnen nicht geglaubt werden kann – nichts wissen können, oder „wir wissen etwas durch sie und dörfen sie lesen […] wohlan, so müssen wir sie lesen, wie sie sind“.28 Entweder sie sind vollständig zu verwerfen oder ihnen ist vollständig zu glauben. Insbesondere am wunderbaren Charakter der Berichte scheiden sich die Geister; denn das Geschilderte widerspricht jeder Wahrscheinlichkeit, und der Glaube findet hier seine Grenze. Aber Wahrscheinlichkeit ist kein Wahrheitskriterium. Das Wunderbare an der Person Christi ist ihr so eigentümlich, charakteristisch und notwendig, daß Christus Christus zu seyn aufhöret, wenn er nicht so gebohren, so wunderbar thätig, so lieb dem Himmel, also lebte und starb, litte, und wieder erweckt wurde. Augenscheinlich ist dies der Zusammenhang, der Zweck ihres ganzen Christus; die Sache nehmlich nur als factum betrachtet und alles Dogmatische noch davon gesondert.
Das Wunderbare ist ein wesentlicher Teil Christi. Mithin können diese wunderbaren Facta durch keinen Schluß von unsrer Erfahrung, und die Analogie, die in ihnen selbst liegt, durch keine Analogie aus unserm Leben über den Haufen raisonnirt werden.29
Indem Herder an dieser Stelle konstatiert, dass sich Wahrscheinlichkeit und Geschichtswahrheit nicht einfach gegeneinander aufwiegen lassen, kommt er zu einer Aussage, die für die Kombination von Hermeneutik und Geschichtsbegriff im ausgehenden 18. Jahrhundert charakteristisch ist und zugleich den herausragenden Beitrag Herders in der Ausformung der Hermeneutik als Disziplin zum Ausdruck bringt: „Geschichte muß man durch Vergleich mit ihr selbst, mit ihrem Ort, Zweck, Zeitalter, Zeugniß u.d.gl. glauben, oder sie ist für uns nicht da“.30 Über26 27 28 29 30
Ebd., S. 100. Ebd., S. 100f. Ebd., Br. 13, S. 162. Ebd., S. 164. Ebd., S. 165.
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tragen auf die Frage nach der Wahrheit des Christentums ergibt sich, dass es sich nicht beweisen lässt. „Unglaube“, so Herder polemisch, „mag die Pest des Christenthums seyn; schlechte Beweis-Metaphysik ist seine garstige, faule Seuche.“31 Aber immerhin ruht die Wahrheit des Christentums auf einem historischen Grund. „Der Grund des ganzen Christenthums ist historische Begebenheit und derselben reine Erfassung, simpler, schlichter, thätig-ausdrückender Glaube.“32 Im dritten Teil vollzieht Herder den Übergang zur Dogmatik. Er nimmt eine Verhältnisbestimmung von Vernunft, Natur, Schrift und Offenbarung vor und liefert einen vertiefenden Einblick in die Grundstrukturen seines Geschichtsverständnisses. Es muß also wirklich Geschichte an die Stelle des Raisonnements treten und diese Geschichte beurkundet und commentirt die Offenbarung. Sie zeigt nicht nur, daß der Mensch noch nicht im Seyn, sondern erst im Werden sey; sondern sie zeigt auch, was er werden solle und durch welche Uebergänge ers werden werde? Was alle Völker dumpf gefühlt und einige zum Theil in so liebliche Fabeln eingekleidet haben: das beurkundet uns die Schrift historisch. Sie begnügt sich nicht mit lieblichen Fabeln und einem Nebel der Morgenröthe; sondern giebt Unterricht, Lehre, Beispiele, Thatsachen der Geschichte.33
Die Gottebenbildlichkeit verbindet die Offenbarung Gottes – seine immerwährende Weltregierung – und den Menschen. Der Sohn Gottes nahm unsere Natur an und wurde zum Vorbild, Lehrer und Mittler, „so daß wir nach immer mehrerer Gottähnlichkeit streben und zu ihr zu gelangen, für dieses und jenes Leben eine aufmunternde unsterbliche Hoffnung haben“.34 Ein darauf gründender Glaube ist „reine Philosophie über das menschliche Leben“,35 und die Dogmatik – so etwa ihr Heilsordnungssystem und die Trinitätslehre wie auch das Apostolikum – lässt sich hierauf zurückführen. Sie geht aus der Heiligen Schrift hervor, deren Vielfalt einer Dogmatik widerspricht, die sich ausschließlich auf eine Metapher stützt, wie etwa „Licht“ oder „Bund“; denn die „Schrift hats nicht gethan: sie braucht viele Bilder; worauf sie alles bauet, ist der Zustand, die Natur des Menschen“.36 Im Zeitraum 1794 bis 1798 ließ Herder seine Christlichen Schriften erscheinen.37 Exegetische, dogmatische, religionsgeschichtliche und philosophische Ele31 32 33 34 35 36 37
Ebd., Br. 14, S. 168. Ebd., S. 171. Ebd., Br. 32, S. 346f. Ebd., S. 347f. Ebd., S. 348. Ebd., S. 349. Herder, Johann Gottfried, Christliche Schriften. Fünf Sammlungen. Riga 1794–1798, in: Herders Sämmtliche Werke, Bd. XIX, hg. v. Bernhard Suphan. Hildesheim 1967 (Repografischer Nachdruck der Ausg. Berlin 1880), S. 1–134; S. 135–252; S. 253–424; Bd. XX, S. 1– 131; S. 133–265. – Es handelt sich um fünf Sammlungen: Erste Sammlung (1794): 1. Von der Gabe der Sprachen am ersten christlichen Pfingstfest. 2. Von der Auferstehung, als Glauben, Geschichte und Lehre. Zweite Sammlung (1796): Vom Erlöser der Menschen. Nach unsern drei ersten Evangelien. Dritte Sammlung (1797): Von Gottes Sohn, der Welt Heiland. Nach Johannes Evangelium. Nebst einer Regel der Zusammenstimmung unsrer Evangelien aus ihrer Entstehung und Ordnung. Vierte Sammlung (1798): Vom Geist des Christenthums. Nebst eini-
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mente werden hier zu einer Einheit verknüpft. Die Darstellung verbindet literarische, poetische und auch dialogische Elemente. Vor dem Hintergrund des Streits um die von Lessing herausgegebenen Wolfenbüttler Fragmente eines Ungenannten behandelt Herder in den beiden Teilen der ersten Sammlung die Gleichzeitigkeit von Offenbarungscharakter der biblischen Aussagen und Historizität. Zu Beginn seiner Abhandlung über die Auferstehung betont Herder, dass es ihm darum geht, „die Geschichte als ein Ereigniß im Zusammenhange der Begebenheiten, und die darauf gegründete Lehre als historischen Glauben im Zusammenhange seiner Ursachen und Wirkungen, ganz, ohne Rücksicht auf ein geglaubtes System, ins Licht zu setzen“.38 Gleichzeitig mit der Behandlung des neutestamentlichen Auferstehungsglaubens – die Berichte von der Auferstehung werden von ihm auf eine Wiederbelebung des Gekreuzigten zurückgeführt – und seiner Ursprünge zeigt Herder eine Humanitätsvorstellung auf, die sich in der jeweils spezifischen Eigenart unterschiedlicher Religionsformen ausdrückt. Er setzt nicht unvermittelt beim Christentum ein, sondern stellt ein Ineinander von Geschichte und Aktualität vor, wobei er die Auferstehungsvorstellung in ihrer Entwicklung konturiert, also die Überlieferungsgeschichte aufweist. Dabei betont er das Unterschiedliche, aber prinzipiell Gleichrangige des Glaubens und Wissens verschiedener Religionsformen. Das Christentum wird so unter Würdigung der jeweiligen Eigenarten und Phänomene, die kongenial erfasst werden, in einen Gesamtkontext eingeordnet. „Jeder Geschichtschreiber gehört, so wie seine Geschichte, dem Volk, der Zeit, der Sprache, den Umständen an, in und unter welchen er schreibet.“39 So lautet der hermeneutische Grundsatz der Schrift über den Erlöser. Um den Geist einer Zeit zu ermitteln, ist es erforderlich, den Bedingungen nachzugehen, unter denen „das Volk“, die Zeit, die Sprache und die Umstände sich konstituierten. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass Herder hier eine überlieferungsgeschichtliche Methode einsetzt. Die biblischen Texte sind demnach Ergebnisse eines Traditionsprozesses. Dieser geht im vorliegenden Kontext von Jesus aus und führt schließlich zu den Synoptikern und zum authentischen, vom Lieblingsjünger verfassten Johannesevangelium.40 Es kommt hinzu, dass die regula fidei, die Glaubensnorm, älter als die Schrift ist; „denn sie war das Evangelium selbst, das die Apostel vom ersten Pfingsttage an predigten, darauf sie tauften, das als Glaubensbekenntniß galt“.41 Die regula fidei ist der kritische Maßstab und Garant für den Geist des Christentums, der ewig gilt und nicht in Kanon und Tradition aufgeht. Diese regula fidei kann aber nur dann in ihrer alle Zeiten überspannenden, bleibenden Bedeutung angemessen verstanden werden, wenn die sprachliche Eigenart,
38 39 40 41
gen Abhandlungen verwandten Inhalts. Fünfte Sammlung (1798): Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen. Ebd., Bd. XIX, S. 60f. Ebd., S. 148. Siehe dazu besonders ebd., S. 347–349; beachte Anm.* zu S. 348. Ebd., S. 202; vgl. dazu auch Herms, (wie Anm. 19), S. 77.
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in der sie formuliert wurde, berücksichtigt wird. Jede Gesellschaft besitzt, so Herder für seinen hermeneutischen Ansatz bestimmend, eine eigene Sprache oder schafft sie sich. Wer nach zwei Jahrtausenden, wenn die werdende Gesellschaft längst geworden und vielleicht gar nicht mehr dieselbe ist, ohne Sinn und Geist an den Formeln und Symbolen ihres Ursprunges, als wären sie das Wesen, haftet, der verliert eben dadurch den Zweck ihres Daseyns für seine Zeit, weil er in einer ihm fernen Zeit zu leben anstrebt.42
Griechische oder lateinische Formen der Abstraktion widersprechen dem Geist der „Stifter“ der „werdenden Gesellschaft des Christenthums“, bei denen es sich um „Ebräer, größtentheils ungelehrte Galiläer“ handelte. Je feindseliger eine dergestalt erzwungene Lehre dem menschlichen Gemüth und Geschlecht ist, desto sicherer sey man, daß sie nicht im Sinne der Stifter gelegen: denn der Sinn dieser ging offenbar auf eine Bildung nicht zum Menschenhaß, sondern zur Menschenwohlfahrt.43
Schon seit seinen Anfängen war das Christentum „ein lebendiges Institut“ und nicht nur eine Lehre. Als ein solches Institut entwickelte es sich weiter und auch fort von seinem Stifter. Und auch an dieser Stelle findet sich ein prägnanter Basissatz herderscher Hermeneutik, in dem die Problematik der gegenwärtigen Relevanz des Textes in den Vordergrund rückt: „In vergangnen Zeiten möge das Christenthum gewesen seyn, was es wolle: die Hauptfrage bleibt: was es uns jetzt seyn kann und seyn soll?“44 Der Geist des Christentums geht für Herder nicht in den einzelnen geschichtlichen Erscheinungsformen und Festlegungen auf, sondern kann als bleibender kritischer Maßstab dienen. In seiner Schrift Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen übt Herder von dieser Perspektive aus Kritik an Lehrvorgaben, die „in ein System oder in eine Dichtung zusammengeordnet“45 sind. Im Kern handelt es sich dabei um eine subtile Kritik an Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, dem dort enthaltenen Begriff vom Bösen und dem Moralbegriff. „Ueberhaupt“, stellt Herder heraus, „dünkt mich, habe jede Philosophie, die es unternimmt, eine durch schriftliche Urkunden bewährte Geschichte innerhalb der Grenzen ihrer Vernunft a priori vestzustellen und zu deduciren, ihre eigne Grenzen verlohren.“46 Im Zusammenhang damit zeigt er die Grenzen einer Religionsphilosophie auf, die aus einem moralischen Impetus heraus die biblischen Texte verbessern will, und verwahrt sich gegen einen solchen Anspruch.
42 43 44 45 46
Herder, Christliche Schriften, (wie Anm. 37), Bd. XX, S. 21. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd., S. 212. Ebd., S. 224.
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Alf Christophersen Auch der schlechteste Schriftsteller will sagen, was Er gesagt hat und verbittet jede Deutung ins Bessere. Wenn also den Worten der Schrift eine dergleichen Transmoralisation unter dem Vorwande unterlegt werden soll, weil ihre Verfasser göttliche Scribenten gewesen, so wird es wahrscheinlich, daß man sich für noch göttlicher als diese göttliche Schriftsteller halte, die man Ehren halben transmoralisiret.47
Würde ein derartiges Prinzip zur Auslegungsregel, wäre es um die Auslegung geschehen, da der eigentümliche Sinn des Schriftstellers nicht mehr erkannt wird. „Die Welt würde mit dieser Regel so enge als der Gesichtskreis des Philosophen“.48 Herder belässt es jedoch nicht nur bei allgemeinen Grundsatzformulierungen, sondern er liefert auch Konkretisierungen. In der Abhandlung Von Personificationen des Geistes49 etwa bezieht er ausführlich Stellung zur Funktion von Bildern in der religiösen Sprache. Die Untersuchung setzt mit fünf Grundsätzen ein: 1) „Worte, die abstrakte Begriffe bezeichnen, wenn sie zuerst und lange von sinnlichen Dingen gebraucht waren, verlohren den Eindruck ihrer ursprünglichen Bedeutung selten.“ Entwickelte sich die ursprüngliche Bedeutung fort, so war diese Weiterbildung der ständige Ausgangspunkt für die fortschreitende Ausprägung des abstrakten Begriffes. Der geistigere Begriff hatte stets weiter Anteil an dem sinnlichen und hob diesen nicht auf, sondern partizipierte lebhaft an seinen Modifikationen. „Beide Worte waren zwo Geschwister; das Eine ein Kind des Leibes; das andre des Geistes, die der Sprache nach immer in Gemeinschaft blieben.“50 2) Waren für den ursprünglichen sinnlichen Begriff eine Vielzahl an Anwendungen möglich, so galt dies erst recht für den geistigen, da er „abgezogen einen größeren Umfang gewann, und mehrere Anwendung zuließ“.51 3) „Nirgend zeigt sich der eigene Geist einer Nation so wirksam, als in Schöpfung und Fortleitung der Bilder ihrer Sprache.“52 Jede Ausformung ist individuell und abhängig vom Geist, von den Umständen und vom Sprachgenius, es heben sich so Standes-, Klassen- und Zeitunterschiede voneinander ab. 4) Die Kulturstufe, auf der sich „ein Volk“ befindet, und die ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmittel bringen einen erheblichen Unterschied bei der Feststellung und der Verwandlung von Bildideen mit sich. „Ein singendes Volk z. B. läßt den Ideen freien Lauf; die Psalmen, Pindar u. f. wechseln und verbinden rasch ihre Bilder.“53 Herder führt die lyrische Dichtkunst, den erzählenden und lehrenden Poeten, den Redner und Philosophen an. Fünftens betont er: 47 48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 222. Ebd. Es handelt sich bei diesem Text um eine eigene kurze Abhandlung (ebd., S. 115–124), die zusammen mit zwei weiteren der Schrift Vom Geist des Christentums (ebd., S. 3–102) beigefügt ist. Ebd., S. 115. Ebd., S. 116. Ebd. Ebd.
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Den merkbarsten Unterschied in der Vorstellung oder Verwandlung der Bildausdrücke giebt einem Volk die bildende Kunst. Eine Nation, die keine bildende Kunst hat und nie hatte, weiß nichts von Personificationen, wie sie eine Mythologie in Statuen oder Gemählden vesthielt. Der Griffel dieses Volks, wenn es schreibet, oder der lebendige Hauch seines Mundes, wenn es singet, schuf und verwandelt Bilder, als vorüberfliegende Gestalten. Gedanken- und Wortbilder, (Ideen) erscheinen ihm; keine gegossene Idole. Auf der ganzen Erde unterscheiden sich hiernach die Allegorieen und Mythologieen künstlicher und Kunstloser Völker unverkennbar.54
Dieser fünfte Grundsatz liefert eine Zusammenfassung für Herders Verständnis der Begriffe „Kunst, Bild und Mythologie“. Im Anschluss an die fünf Grundsätze, deren Geltung Herder für alle Bildworte alter Nationen beansprucht, liefert er in dreizehn Paragraphen eine Anwendung auf den Geist-Begriff der „Ebräer“, dessen „Personificationen“ er nachgehen will. Herder geht davon aus, dass der Streit, der hierüber, „d. i. über ein Capitel der Grammatik, Poetik und Rhetorik“, entstand, letztlich darauf zurückzuführen ist, dass der Geist „der alten Zeit und Sprache“55 missverstanden wurde. Unwissende Spekulation ist der schädlichste Feind der Bildersprache. Friedrich Schleiermacher, in dessen Arbeiten zur Hermeneutik diese Disziplin einen für ihre weitere Ausformung richtungsweisenden epochalen Höhepunkt erhielt, griff unmittelbar auf Anregungen Herders zurück und vollendete eine Vielzahl seiner Gedankengänge. Es waren vor allem die Einsicht in die Universalität der Sprache und die Einbindung in den Überlieferungsstrom, die die bleibende Leistung Herders bezeichnen. Trotz aller Spezialisierungen, denen die Hermeneutik in ihren einzelnen Fachschwerpunkten ausgesetzt war, fand ihre „interdisziplinäre“ Breite im Denken Herders eine einmalige Verkörperung und wurde für die Geschichte der Disziplin prägend. Herder war, so Dilthey, „der wahren Hermeneutik näher als irgendein anderer vor Schleiermacher gekommen“. Die Verbindung von Herders ästhetischem Einfühlungsvermögen und ordnender philosophischer Methode brachte den Durchbruch: „Indem […] die kongeniale Nachempfindung Herders sich mit der konstruktiven Methode der Philosophie verband, wurde der Grund zur der wahren Methode der Auslegung und einer wissenschaftlichen Hermeneutik gelegt.“56 Der bahnbrechende Charakter der hermeneutischen Einsichten Herders liegt überdies gerade auch darin begründet, dass er das geschichtsphilosophische Moment herausarbeitet. Insofern integriert bereits Herder die hermeneutische Fragestellung in die sich abzeichnende Debatte über die Relativität der Geschichte.
54 55 56
Ebd., S. 117. Ebd. Dilthey, (wie Anm. 6), S. 650.
JAN ROHLS (München)
Vorsehung und Übel Das Theodizeeproblem in Philosophie, Theologie und Literatur von Wolff bis Wieland Man hat das 18. Jahrhundert als das Jahrhundert der Theodizee bezeichnet. Das ist insofern richtig, als für diese Epoche wie für keine zuvor jene Versuche charakteristisch sind, die die Existenz des Negativen in der Welt in Einklang bringen mit dem Gedanken Gottes als des vollkommensten Wesens und der von ihm geschaffenen Welt als der besten aller möglichen Welten. Ende des 17. Jahrhunderts hatte Pierre Bayle in seinem Dictionnaire historique et critique, und zwar im Artikel Rorarius, sich kritisch mit dem System der prästabilierten Harmonie von Leibniz auseinandergesetzt, und die Lektüre Bayles war für die brandenburgische Kurfürstin Sophie Charlotte der Anlass gewesen, sich mit Leibniz über theologisch-philosophische Fragen auszutauschen. Die Theodicée, die Leibniz 1710, bald nach dem frühen Tod Sophie Charlottes, in Amsterdam publizierte, ist aus den Gesprächen zwischen Leibniz und der Kurfürstin bzw. preußischen Königin hervorgegangen. Nach einer allgemeinen Einleitung, die die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft statuiert, folgen Versuche über die göttliche Gerechtigkeit, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Im Anhang setzt Leibniz sich kritisch mit der Schrift De origine mali auseinander, die der anglikanische Bischof von Derry und spätere Erzbischof von Dublin, William King, wenige Jahre zuvor, 1702, veröffentlicht hatte. Und noch ein drittes Werk aus demselben Zeitraum verdient hier Erwähnung, das ein Jahr vor der Theodicée von Leibniz, also 1709, erschien: The Moralists aus der Feder des Earl of Shaftesbury. Ein Grundzug ist all diesen Werken gemeinsam, nämlich ihr metaphysischer Optimismus. Die wirkliche Welt ist für sie die beste aller möglichen Welten. In seinen ideengeschichtlichen William James Lectures, die er 1933 in Harvard hielt und die dann unter dem Titel The Great Chain of Being publiziert wurden, hat Arthur O. Lovejoy den neuplatonischen Hintergrund dieser optimistischen Weltsicht herausgearbeitet. Es ist die Vorstellung einer Kette der Wesen, eines Universums, das von allen nur möglichen Wesen vollkommen erfüllt und zudem hierarchisch wohlgeordnet ist. An der Spitze stehen die geistigen Wesen, während dem unteren Ende zu die Wesen immer mehr dem Nichts zuneigen.1 In Popes 1733/34 erschienenem Essay on Man hat diese Vorstellung ihren klassischen dichterischen Ausdruck gefunden. Der erste Brief des Essays endet mit dem Verweis auf die klare Wahrheit: „Whatever
1
Lovejoy, Arthur O., Die große Kette der Wesen. Frankfurt a.M. 1985, S. 221ff.
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is, is right.“2 Höchstwahrscheinlich kannte Pope Kings Theodizee, zumal die Entstehung seines Essays in dieselbe Zeit fällt, in der die lateinische Originalversion von Kings Buch ins Englische übertragen wurde. 1730 veröffentlichte sie Edmund Law, der spätere Bischof von Carlisle, damals noch Fellow von Christ College in Cambridge, unter dem Titel: An Essay on the Origin of Evil, versehen mit eigenen Anmerkungen, die Kings Position gegenüber den Einwänden von Bayle und Leibniz rechtfertigen sollten. Im Folgenden geht es mir aber gar nicht darum, die gesamteuropäische Theodizeedebatte seit Bayle und Leibniz zu rekonstruieren. Vielmehr werde ich mich auf einen Ausschnitt beschränken, und zwar auf die deutsche Diskussion zwischen Wolff und Wieland, wobei Philosophen, protestantische Theologen und Dichter zu Worte kommen sollen.
1. Wolffs Theodizee Die deutsche Theodizeekontroverse wurde weniger durch Leibniz selbst denn durch Christian Wolff ausgelöst, der den Gedanken, die Leibniz in seiner Theodicée entwickelt hatte, eine einprägsame, knappe Form verlieh. 1720 publizierte Wolff, der in Jena Theologie studiert hatte und nunmehr als Philosophieprofessor in Halle tätig war, seine Vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Er teilt mit Leibniz die Überzeugung, dass mehr als eine Welt möglich sei. Unter einer Welt versteht er dabei den Zusammenhang oder die Verknüpfung von Dingen. Zwar seien verschiedene Welten möglich, aber nicht alles, was an sich möglich sei, könne wirklich werden, sondern nur das, was dem jeweiligen Zusammenhang der Dinge nicht widerspreche.3 Wolff unterscheidet daher zwischen dem, was an sich, und demjenigen, was unter der Voraussetzung eines bestimmten Zusammenhangs der Dinge, also in einer bestimmten Welt möglich, unmöglich und notwendig ist. Im Hinblick auf die wirkliche Welt heißt es, dass sie zufällig, kontingent sei. Zwischen den möglichen Welten gebe es allerdings Unterschiede im Hinblick auf ihre Vollkommenheit, wobei die Unvollkommenheit desto größer sein soll, je größer die Ausnahmen von der Regel sind. Unterdessen ist gewiß, daß eine Welt vollkommener ist, wo die Ausnahme dergestalt eingerichtet, daß die größte Zusammenstimmung mit den Regeln beybehalten wird […], als wenn die Ausnahme von einer Regel wieder eine Ausnahme von der andern verursachet. In dem letztern Falle werden sich die Unvollkommenheiten ohne Noth häuffen.4
2 3 4
Pope, Alexander, Vom Menschen, hg. v. Wolfgang Breidert. Hamburg 1993, S. 36. Wolff, Christian, Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Neue Aufl. Halle 1751, S. 347ff. Ebd., S. 444.
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Da er zudem die Vollkommenheit in einer Übereinstimmung des Mannigfaltigen erblickt, hält Wolff eine Welt für vollkommener, wenn in ihr eine größere Mannigfaltigkeit angetroffen wird als in einer anderen. Je größer also die geregelte Vielfalt, desto größer die Vollkommenheit. Die Vollkommenheit einer Welt impliziert daher zweierlei: zum einen die Regelmäßigkeit, die die Ordnung der Natur ausmacht, und zum anderen die nur mit einem Minimum an Ausnahmen verbundene Zusammenstimmung der Regeln. Dass die wirkliche Welt vollkommen sei, das ist allerdings für Wolff keine Erfahrungstatsache. Nicht einmal die Ordnung der Natur nehme man einfach wahr, sondern halte die Ordnung sogar vielfach für Unordnung. Doch Wolff meint, sie aus den Eigenschaften Gottes ableiten zu können. Denn der göttliche Verstand stelle sich alle möglichen Welten vor, und unter den unzähligen möglichen Welten habe er eine den anderen vorgezogen und in die Wirklichkeit überführt. Diese auf dem freien Willen beruhende Wahl könne aber nicht ohne zureichenden Grund geschehen sein. Da nun die verschiedenen Welten als Dinge von einer Art, nicht anders als durch die Grade der Vollkommenheit unterschieden seyn können […]; so kan dieser Grund nicht anders seyn, als ein grösserer Grad der Vollkommenheit, den GOtt bey dieser Welt angetroffen, die er anderen vorgezogen. Und demnach ist die gröste Vollkommenheit der Welt der Bewegungs-Grund seines Willens.5
Damit gelangt Wolff zu demselben Ergebnis wie Leibniz, nämlich „daß die gegenwärtige Welt unter allen die beste ist“.6 Denn die Welt mit der größten Vollkommenheit ist die beste. Wäre die wirkliche Welt nicht die beste, müsste man annehmen, dass Gott eine unvollkommenere der besten vorgezogen hätte. Das aber – so Wolffs These – könnte nur aus Unwissenheit geschehen sein, eine Unmöglichkeit, da Gott alle möglichen Welten kenne. Da andere Welten als die wirkliche möglich seien, sei die Wahl dieser Welt gleichwohl nicht absolut notwendig gewesen. Gott sei zu dieser Wahl auch in keiner Weise gezwungen worden, sondern er habe sich aufgrund seiner Erkenntnis, dass diese Welt die beste aller möglichen Welten sei, zu seinem Wollen selbst determiniert. Da er die beste Welt vorgezogen und erwählt habe, sei sein Wille der allervollkommenste, so dass der höchste Grad der Vollkommenheit des göttlichen Willens und die Wirklichkeit der besten Welt einander bedingen. In Anlehnung an die dogmatische Tradition bezeichnet Wolff den Willen Gottes, unsere Welt aus dem Stand der Möglichkeit in den der Wirklichkeit zu überführen, als Ratschluss, und zwar gebe es aufgrund der Verknüpfung aller Dinge in der Welt nur einen einzigen Ratschluss Gottes. Das aber habe zur Folge, dass alles in der Welt von Gott komme, also auch das, was wir, da wir die Verknüpfungen der Dinge nicht vorhersehen, Glück und Unglück nennen.
5 6
Ebd., S. 604. Ebd.
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Weil alles in der Welt so kommet, wie es GOtt haben will […]; so sind auch die schlimmen und guten Begebenheiten, die mit dem Thun und Lassen der Menschen verknüpfft seyn, nicht anders anzusehen, als daß sie durch den Willen GOttes so und nicht anders erfolgen. Nehmlich, ich kan mit Recht sagen: GOtt will, daß aus diesem Bezeigen der Menschen dieses Uebel und Unglück für sie erfolge: hingegen auch aus einem andern Bezeigen dieses Gute und Glück für sie erwachse.7
Da Wolff davon ausgeht, dass Gott nur dasjenige verwirklicht, von dem er vorher bedacht hat, dass es kommen soll, gelangt er zu dem Schluss, dass es nichts in der Welt gibt, das Gott nicht vorhergesehen und beabsichtigt hat. Daher sei die ganze Natur voller göttlicher Absichten und Ausdruck der Weisheit Gottes, insofern die Welt Gott als Mittel dient, seine Hauptabsicht zu verwirklichen. Auch hier greift Wolff wieder auf einen traditionellen dogmatischen Topos zurück, indem er erklärt, dass die Welt Gottes Vollkommenheiten spiegele und man sagen könne, „GOTT habe die Welt gemacht, um seine Herrlichkeit zu offenbaren“.8 Um seine Hauptabsicht zu verwirklichen, seine eigene Vollkommenheit zu offenbaren, habe Gott die beste aller möglichen Welten erschaffen müssen. Da aber nur Gott und nicht die Welt das vollkommenste Wesen sei, die Welt vielmehr eingeschränkt sei und alle Unvollkommenheiten aus der Beschränktheit der Dinge herrührten, gelte dies auch für das Übel und das Böse. Nun meint Wolff, dass die Einschränkungen, da sie in den Dingen selbst ihren Grund hätten, nicht auf die erhaltende Kraft Gottes angewiesen seien. Das aber führt ihn zu folgendem Schluss: Da nun alles, was wir Uebel und Böse nennen, aus den Einschränckungen der Dinge herstammet; so hat GOtt bey dem Uebel und Bösen nichts mit zu thun, sondern es ist der Creatur ihr eignes. […] Unterdessen da gleichwol GOtt diejenigen Dinge hervorbringet, aus deren Einschränckungen die Unvollkommenheiten und das Uebel entspringet […]; so lässet er das Böse zu.9
Das Übel und das Böse sind aber für Wolff nicht nur etwas, das in der Welt faktisch vorkommt, sondern – so seine These – wenn es vorkommt, dann muss es auch vorkommen, und zwar deshalb, weil die wirkliche Welt die beste aller möglichen ist und eine Welt ohne Übel und Böses nicht mehr die bestmögliche wäre. Wenn Gott beides zugelassen habe, dann nur deshalb, weil er auf diese Weise mehr Gutes bewirken konnte. Nun könnte man sich ja durchaus vorstellen, dass Gott, um das Übel und das Böse zu verhindern, mit einem Wunder in den Lauf der Natur eingreift. Doch Wolff sieht in dieser Vorstellung einen Widerspruch zur göttlichen Weisheit, deren Ausdruck ja gerade die regelmäßige Ordnung der Natur sei, und eben die werde durch das Wunder durchbrochen. Das faktische Böse werde vielmehr dadurch mit der Weisheit Gottes vereint,
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Ebd., S. 622f. Ebd., S. 643. Ebd., S. 650f.
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daß er das Böse, welches ohne seinen Beytrag aus den Einschränckungen der Creatur entspringet, mit dem Guten, was von ihm kommet, zusammen stimmet […]. Nehmlich, er brauchet es als ein Mittel zum Guten und machet, daß dadurch in der Welt alles besser mit einander zusammen stimmet, folgends grössere Vollkommenheit in die Welt kommet, als sonst darinnen seyn würde.10
Und zwar befördere Gott nicht nur durch die Zulassung des Übels das Gute, sondern er bediene sich seiner auch als Mittel, um die Bösen zu bestrafen und die Guten vom Bösen abzuhalten. Wolff hält es für ausgeschlossen, die Möglichkeit einer Welt ohne Übel und Böses aufzuzeigen. Theologisch besonders relevant ist seine Verwerfung der Annahme, „daß GOtt den Menschen auf dem Erdboden so hätte erschaffen können, daß er gantz ohne Sünde geblieben wäre, das ist, daß bey den Umständen, da er gesündiget, ihm zu sündigen unmöglich gefallen wäre“.11 Wolff begründet seine Kritik mit der These, dass das Vermögen oder die Möglichkeit zu sündigen, zur Natur des Menschen gehöre und ihm daher nicht genommen werden könne. Menschen, die im Gegensatz zu Adam und Eva unter denselben Umständen, unter denen diese sündigten, unmöglich hätten sündigen können, wären andere Wesen gewesen als wir es sind. Dagegen spreche auch nicht, dass wir im ewigen Leben nicht mehr die Möglichkeit zu sündigen besitzen. Denn im Jenseits seien die Umstände andere als im Diesseits.
2. Die Kritiker Wolffs: Lange, Budde und Walch Es war zwar nicht in erster Linie, aber auch nicht zuletzt Wolffs Theodizee, die die orthodoxen und pietistischen Lutheraner auf die Barrikaden trieb. Im Jahre 1724 erschienen gleich mehrere Angriffe auf Wolff. In Halle veröffentlichte Joachim Lange im Namen der Theologischen Fakultät Anmerkungen über des Herrn HoffRaths und Professor Christian Wolffens Metaphysicam von denen darinnen befindlichen so genannten der natürlichen und geoffenbarten Religion und Moralität entgegen stehenden Lehren. Noch im selben Jahr druckte das Waisenhaus Langes Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemate Methaphysico von Gott, der Welt und dem Menschen. In Jena meldete sich Franz Budde zu Wort mit den Bedencken über die Wolffianische Philosophie. Nachdem Wolff darauf geantwortet hatte, bezog Buddes Schwiegersohn Johann Georg Walch, gleichfalls in Jena lehrend, Stellung in seiner Bescheidenen Antwort auf Herrn Christian Wolffens Anmerckungen über das Buddeische Bedencken Dessen Philosophie betreffend. Ein Jahr später, 1725, schickte er einen Bescheidenen Beweis, daß das Buddeische Bedencken noch fest stehe hinterher. Lange bestreitet vehement Wolffs These, dass das Böse und das 10 11
Ebd., S. 652f. Ebd., S. 655.
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Übel zur besten aller möglichen Welten gehören müsse, da die wirkliche Welt ja die beste aller möglichen Welten sei und sie das Böse und das Übel enthalte. Denn kan das beste nicht ohne das schlimmere, das vollkommne nicht ohne Unvollkommenheit seyn, und zwar einer solchen, die sündlich ist; als davon die Rede ist: so muß ja diese zu jenes Natur und Wesen gehören. Solches aber ist contradictorisch.12
Es ist für Lange ein offenkundiger Widerspruch, dass die Sünde zum Wesen von etwas Vollkommenem gehören solle. Wolffs These widerstreitet in seinen Augen aber nicht nur der gesunden Vernunft, sondern auch der Schrift und der in ihr enthaltenen Urstandslehre. Danach war der paradiesische Urstand ein Stand der Unschuld, dem der Sündenfall ein Ende setzte. Im Stand der Unschuld besaß Adam die Freiheit nicht zu sündigen, die er mit dem Fall verlor. Der Mensch ist von Gott ohne Sünde erschaffen, und die Sünde trat erst mit Adams Missbrauch seiner Freiheit in die Welt. Wenn hingegen Wolff recht hat, dann – so Langes These – hat GOTT die Menschen vergeblich ohne Sünde erschaffen: und die Sünde ist entstanden, nicht also, daß sie im rechten Gebrauch der Freyheit wohl ausbleiben können; sondern weil sie zur Vollkommenheit der Welt unentbehrlich gewesen. So hat auch die Welt, nachdem sie anfangs gar unvollkommen und mangelhaft erschaffen worden, durch den Sünden-Fall, der ein horribles Verderben bey dem menschlichen Geschlechte nach sich gezogen, müssen besser und voll-kommner werden.13
Lange stellt Wolffs These die sowohl der Vernunft wie auch der Schrift angemessene Auffassung entgegen, dass Gott die Welt gut erschaffen habe und sie nur aufgrund des Missbrauchs der menschlichen Freiheit nicht ohne Übel und Böses geblieben sei. Gott habe beides nicht deshalb zugelassen, weil die Welt ohne Übel und Böses weniger vollkommen wäre, sondern weil er den Menschen als freies Wesen habe schaffen wollen. Daher hält Lange auch gegenüber Wolff fest, dass eine Welt ohne Böses durchaus möglich sei. Denn andernfalls wäre es ja nicht möglich gewesen, dass die Menschen im Stand der Unschuld geblieben wären, eine Möglichkeit, die doch vom göttlichen Verbot, nicht zu sündigen, vorausgesetzt werde. Wolffs Meinung sei es also nicht, GOtt habe eine solche Welt für die beste erkannt, in welcher solche vernünftige und mit Freyheit des Willens begabte Creaturen wären, welche zwar im guten, darinnen er sie erschaffen, bestehen, und damit zu immer mehrern Vollkommenheiten gelangen, aber auch durch Mißbrauch ihrer Freyheit und eignen Schuld davon verfallen und in ein grosses Unheil gerathen könten, also daß solcher ihr Verfall wegen der Freyheit ihres Willens durch seine absolute Macht sich nicht wol verhindern lasse, und also müsse zugelassen werden.14
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Lange, Joachim, Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemate Metaphysico von Gott, der Welt und dem Menschen, in: Wolff, Christian, Gesammelte Werke. Materialien und Dokumente, hg. v. Jean École u.a., Bd. 56. Hildesheim 1999, S. 317. Ebd. Ebd., S. 321f.
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Wolff leugne letztlich, dass Adam unter den Umständen, in denen er sich befand, hätte nicht sündigen können, so dass bei ihm sich die Menschen in bloße Maschinen verwandelten, wie ja für Wolff die Welt als ganze eine nach festen Regeln funktionierende Maschine ist. Wie bei Lange ist es auch bei Budde die Freiheit des menschlichen und göttlichen Willens, die gegenüber dem Determinismus des Leibnizschen und Wolffschen Systems betont wird. Budde schreibt Wolff die Auffassung zu, Gott habe die beste aller von ihm vorgestellten möglichen Welten wählen müssen, und da in dieser Welt das Gute mit dem Bösen vermischt sei, verursache Gott auch das Böse, dem zudem notwendige Existenz zugeschrieben werde. „Und ist gewiß/ wenn GOtt nothwendig die beste Welt hat erwählen müssen/ diese aber/ darinn sich das Böse befindet/ die beste ist/ so muß ja nothwendig das Böse von GOtt herkommen“.15 Wolff hat diese Interpretation nicht gelten lassen, sondern betont, dass Gottes Wahl auf seinem freien Willen beruhe. Er stelle sich alle möglichen Welten vor und wähle die, die ihm am besten gefalle und seiner Hauptabsicht, seine Vollkommenheit zu offenbaren, am angemessensten sei. Wolff lehnt auch die Beschreibung der bestmöglichen Welt als einer Welt, in der Gutes und Böses vermischt seien, ab. Die bestmögliche Welt sei vielmehr die Welt mit der größten Vollkommenheit, in der allerdings auch das Böse einen Platz habe. Und wenn Budde ihm vorwerfe, dass er Gott zum Urheber des Bösen mache, so müsse Budde doch Gott zum Urheber der Sünde machen, wenn er ihn eine Welt erschaffen lasse, in der die Sünde vorkommt. Dass der Sündenfall notwendig sei, wird von Wolff ebenso bestritten, wie er Gott nicht zum Urheber des Bösen machen will. Adam und Eva hätten zwar notwendigerweise die Möglichkeit zu sündigen gehabt, aber daraus folge keineswegs, dass sie wirklich sündigen mussten. Die Möglichkeit zu sündigen resultiere aus der Beschränktheit der menschlichen Natur, und über sie habe Adam daher auch schon im Stand der Unschuld verfügt. Wenn Adam sündige, so sei er selbst der Urheber der Sünde und damit des Bösen, während Gott das Böse nicht verursache, sondern mit der Erschaffung des Menschen nur zulasse, um es gleich wieder als Mittel zum Guten zu nutzen.16 Dass Gott ihn als jemanden geschaffen habe, der sündigen könne, weil dies zum Wesen des Menschen gehöre, impliziere allerdings auch, dass er ihn nicht als ein Wesen habe schaffen können, das unter den Umständen, unter denen Adam sündigte, nicht gesündigt hätte.17 Die Sache liegt allerdings nicht so klar, wie Wolff möchte. Man kann Budde nicht einfach Böswilligkeit unterstellen, wenn er aus Wolff die Notwendigkeit von Adams Fall herausliest. Es wundert daher auch nicht, dass Walch seinen Schwie15 16 17
Budde, Johann Franz, Bedencken über die Wolffianische Philosophie mit Anmerkungen erläutert von Christian Wolffen. Frankfurt a.M. 1724, S. 56. Wolff, Christian, Nöthige Zugabe zu den Anmerckungen über Herrn D. Buddens Bedencken von der Wolffischen Philosophie. Frankfurt a.M. 1724, S. 111ff. Wolff, Christian, Klarer Beweis, daß Herr D. Budde die ihm gemachten Vorwürffe einräumen und gestehen muß. Frankfurt a.M. 1725, S. 118ff.
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gervater gegen Wolffs Kritik verteidigte. Wolff habe ursprünglich keineswegs nur behauptet, Gott habe den Menschen nicht ohne die Möglichkeit zu sündigen erschaffen können. Vielmehr habe er die weitergehende These vertreten, dass Gott den Menschen nicht so habe erschaffen können, dass er ohne Sünde geblieben wäre. Es sei also nicht nur die Fähigkeit zu sündigen, sondern die Wirklichkeit der Sünde, deren Notwendigkeit Wolff behaupte. Außerdem sei nicht einzusehen, weshalb das Böse notwendigerweise aus der Eingeschränktheit der Geschöpfe resultiere. Denn schließlich seien auch die guten Engel endliche Kreaturen, obgleich sie jetzt nicht einmal mehr die Fähigkeit zu sündigen besäßen. So wär es auch im Stand der Unschuld gewesen, daß wenn die Menschen nicht gefallen, so wären sie im Guten dermaßen bestätiget worden, daß die Endlichkeit geblieben, und die Möglichkeit zu sündigen aufgehört, wie wir dies auch bei dem Stand der Seligen sehen.18
Auch will Walch nicht einleuchten, weshalb es Gottes Weisheit widersprochen haben sollte, das Böse durch Wunder zu verhindern. Denn schließlich habe es auch in weit geringeren Fällen Gottes Weisheit nicht widersprochen, den regelmäßigen Lauf der Natur wunderbar zu durchbrechen, wie beispielsweise beim Schilfmeerwunder, das den Israeliten die Flucht aus Ägypten ermöglichte. Ebenso wenig will Walch einleuchten, dass ohne den Sündenfall Gott seine Gerechtigkeit, Güte und Weisheit nicht auf so herrliche Weise hätte offenbaren können. Denn so müßte man auch sagen: derjenige Fürst, welcher unruhige und rebellische Unterthanen habe, habe eine vollkommenere Republic, als derjenige, in dessen Staat alles ruhig und stille zugehe, indem jener durch die Straffen seine Gerechtigkeit und durch die Erlassung oder Minderung derselben seine Gnade erweisen könne; welches hingegen derjenige zu thun nicht im Stande sey, der nur gehorsame und friedliebende Unterthanen habe.19
Walch endet mit der seelsorgerlichen Bemerkung, Wolff hätte besser daran getan, seine Vernunft dem Glaubensgehorsam unterzuordnen und bei der Einfalt des Glaubens zu bleiben, statt sich durch die Beispiele Bayles und Leibniz’ verführen zu lassen. Denn wer die Saiten der Vernunft so hoch spanne, der gelange schnell auf Abwege.
3. Die Rezeption Wolffs Die Einwände der Hallenser und Jenaer Theologen vermochten den Siegeszug der Wolffschen Theodizee in Theologie und Philosophie allerdings nicht aufzuhalten. Wolffs ältester Schüler, Georg Bernhard Bilfinger, lehrte zunächst in Tübingen Philosophie, erhielt dann einen Ruf nach St. Petersburg, um schließlich als Ordina18 19
Walch, Johann Georg, Bescheidener Beweis, daß das Buddeische Bedencken noch fest stehe, wider Hrn. Christian Wolffens nöthige Zugabe aufgesetzet. Jena 1725, S. 74. Ebd., S. 84.
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rius für Theologie an den Neckar zurückzukehren. Noch während seiner ersten Tübinger Zeit verfasste er 1725 sein Hauptwerk, das sich nicht nur im Titel an Wolffs Vernünftige Gedanken anlehnt: Dilucidationes philosophicae de Deo, Anima humana, Mundo, et generalibus rerum affectionibus. Das Werk erschien, noch bevor die theologische und die philosophische Fakultät Tübingen ihrem Landesherrn die Bedenken gegen die Philosophie Wolffs vorgetragen hatten. Das Gutachten der Theologen stellt an die Spitze der anstößigen Lehren Wolffs die Meinung, daß diese Welt ungeachtet alles Bösen, daß sich darinne befindet, dennoch die allerbeste sey, so gar daß GOtt nach den Regeln seiner Weißheit keine andere habe erschaffen können, darinnen nichts Böses oder auch nur weniger Böses gewesen wäre.20
Das ist eine These, die sich in ähnlicher Form auch bei Bilfinger findet. In dem Teil seiner Dilucidationes, der der natürlichen Theologie gewidmet ist, behandelt er im Rahmen der Vorsehungslehre auch die Theodizeefrage. Er greift dabei auf seine ein Jahr zuvor erschienene Commentatio philosophica de origine et permissione mali, praecipue moralis zurück. Wie Wolff geht es Bilfinger darum, Gott nicht zum Urheber der Sünde zu machen. Bei der Vorsehung unterscheidet er mit der traditionellen orthodoxen Dogmatik conservatio, concursus und gubernatio. Gottes Vorsehung sei deshalb nicht Ursache des Sündenfalls, weil die conservatio sich nur auf Realitäten, nicht aber auf Nichtiges wie das Böse bezieht. Der concursus hingegen erhalte zwar die Kräfte des Menschen zum Handeln fähig, bewirke aber nicht das Handeln selbst. Die göttliche gubernatio schließlich richte sich nicht auf das Böse, sondern auf das Gute.21 Der Sündenfall sei vielmehr ein freier menschlicher Akt, der aus der Beschränktheit des menschlichen Vorstellungsvermögens resultiert. Die üblichste Antwort auf die Frage, weshalb Gott den Fall und damit das Böse wie das Übel überhaupt zugelassen habe, ist laut Bilfinger die, dass die Gesamtökonomie eines Gottes, der das Übel zulässt, besser ist als die eines Gottes, der es verhindert. Dasjenige Gut aber, das die erste Ökonomie vor allem besser mache als die zweite, sei die Wiederherstellung der gefallenen Menschheit durch Christus. Das Übel, das Gott mit dem Sündenfall zugelassen habe, sei also ein heilbares Übel.22 Wenn eine bessere Welt als die wirkliche möglich gewesen wäre, dann hätte Gott sie gewählt, und die Tatsache, dass er die wirkliche Welt gewählt hat, zeigt Bilfinger zufolge hinreichend, dass die beste Welt keine Welt ohne Übel ist. 1731 erschienen die Ersten Gründe der gesamten Weltweisheit aus der Feder des Leipziger Philosophie- und Poetikprofessors Johann Christoph Gottsched. Der theoretische Teil des Werkes schließt mit zwei Abschnitten „Von den Werken 20 21 22
Ludovici, Carl Günther, Sammlung und Auszüge der sämmtlichen Streitschriften wegen der Wolffischen Philosophie, Tl. 1. Leipzig 1737, S. 158. Bilfinger, Georg Bernhard, Dilucidationes philosophicae de Deo, Anima humana, Mundo, et generalibus rerum affectionibus. Tübingen 1725, S. 556ff. Ebd., S. 594f.
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Gottes“ und „Von der Stadt Gottes“, in denen Gottsched auch auf das Verhältnis Gottes zum Bösen eingeht. Er unterscheidet dort zwischen metaphysischem, moralischem und physischem Übel. Das metaphysische Übel bestehe darin, dass jedes Geschöpf zwar gut sei, die Güte bei endlichen Dingen aber ihre Schranken habe. Da es zum Wesen endlicher Gegenstände gehöre, habe Gott es nicht erschaffen und werde es auch nicht von Gott erhalten. Das moralische Übel hingegen sei eine Folge des metaphysischen Übels, insofern es ein Ergebnis der Unvollkommenheit des menschlichen Verstandes sei, und als Folge des metaphysischen Übels sei es wie dieses weder von Gott erschaffen noch werde es von ihm erhalten. Dass aber eine Welt ohne alles Übel möglich sei, hält Gottsched für unmöglich. Jedes endliche Wesen hat nicht alle, sondern nur gewisse Vollkommenheiten, und allemal viele Unvollkommenheiten dabey. Dieses metaphysische Uebel bringt bey verständigen Geschöpfen das moralische hervor. Also muß auch in jeder Welt ein moralisches Uebel vorhanden seyn; das moralische aber zieht das physikalische nach sich: und es ist also nicht möglich gewesen, eine Welt ohne alles Böse zu schaffen.23
Wer aber die Welt wegen des in ihr enthaltenen Bösen tadele, der beschuldige ihren Schöpfer entweder wegen seines die schlechte Wahl begründenden schlechten Verstandes bei der Beurteilung der möglichen Welten oder wegen seiner Ohnmacht. Da das Böse und das Übel zur besten aller möglichen Welten gehören, wie Gottsched meint bewiesen zu haben, lasse Gott es zu, ohne daran Gefallen zu haben, um das Gute insgesamt nicht zu verhindern. Gottsched verweist in diesem Zusammenhang auf seine eigene deutsche Ausgabe von Leibniz’ Theodizee und seine Anmerkungen dazu. Denn sie würden zeigen, dass es die Weisheit Gottes sei, die ihn daran hinderte, das Böse nicht zuzulassen, zumal Gott selbst das Böse zu einem guten Zweck lenke. In der Welt bilden für Gottsched die vernünftigen Einwohner eine Republik der Geister mit Gott als ihrem Monarchen, die Stadt Gottes. Auch hier gelte natürlich, dass Gott zwar manches Böse zulasse, es aber zum Besten seiner Stadt wende. In der besten aller möglichen Welten müsse die Stadt Gottes natürlich auch die beste aller möglichen Städte sein. Und ob es uns gleich scheint, daß unter dem menschlichen Geschlechte gar zu viele Unvollkommenheit, Bosheit und Elend herrschet: so ist doch dieses, was wir davon übersehen können, nur ein kleiner Theil der Stadt Gottes; von dessen Unvollkommenheit man, auf die Unvollkommenheit des Ganzen, gar nicht schließen kann.24
Gottsched ist davon überzeugt, dass die Übel, verglichen mit dem Guten, weder quantitativ noch qualitativ so groß sind wie von den Kritikern der Theodizee angenommen. Wohl bestehe das metaphysische Übel des Menschen in der Beschränktheit seiner Erkenntnis. Doch der menschliche Verstand ist dennoch in der Lage, sich die gesamte Natur forschend zu unterwerfen und unzähliges Gutes hervorzu23 24
Gottsched, Johann Christoph, Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, 7. Aufl. Leipzig 1762, S. 587. Ebd., S. 595.
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bringen, was alle Gattungen der Tiere zusammen niemals leisten könnten. Auch das moralische Übel als Folge des metaphysischen sei nicht so groß wie von strengen Moralisten unterstellt. Zwar gebe es wenige völlig tugendhafte Menschen, aber ebenso gering sei die Zahl der vollkommen Boshaften. „Die meisten Menschen halten ein gewisses Mittel im Bösen und Guten; und sündigen mehr aus Versehen und Unverstand, als aus Bosheit. Die Vernunft aber hat, durch Einführung der Gesetze und Oberkeiten die Ausübung des Bösen so zu hemmen gewußt; daß man ganz ruhig und friedlich in der Welt leben kann.“25 Und wie es mehr ehrliche Leute als Spitzbuben, mehr natürlich Verstorbene als Geräderte gebe, so auch – was schließlich das physikalische Übel betrifft – mehr Gesunde als Kranke. Zudem sei das physikalische Übel oft eine natürliche Strafe böser Handlungen, also Folge des moralischen Übels oder Mittel zur Erlangung größerer Vollkommenheit. Gottsched endet mit der Einsicht, jeder Bürger der Stadt Gottes könne mit dem Regiment des allervollkommensten Monarchen ganz und gar zufrieden sein. Und wer die Belohnung für seine Tugend nicht in dieser Welt empfange, der dürfe auf den göttlichen Monarchen vertrauen, der ihm postmortal alles vergelten werde. Am 5. Juli 1736 sandte Friedrich Wilhelm I., der auf Betreiben der Halleschen Pietisten Wolff seines Lehrstuhls beraubt und aus Preußen verbannt hatte, eine Kritik der Philosophie Wolffs von Lange sowie eine Stellungnahme des inzwischen in Marburg lehrenden Wolff an die reformierten Hofprediger und Konsistorialräte Jablonsky und Noltenius sowie an den lutherischen Probst und Konsistorialrat Johann Gustav Reinbeck und den Feldprobst Carstedt. Die Adressaten wurden als Mitglieder einer Untersuchungskommission aufgefordert, das zugesandte Material zu überprüfen und zu entscheiden, wer der beiden Kontrahenten Recht habe. Die Kommissionsmitglieder sahen Langes Vorwürfe gegen Wolff als unberechtigt an, und damit wendete sich im Streit um die Wolffsche Theodizee das Blatt zugunsten des verbannten Philosophen, der dann ja auch 1740 von Friedrich II. nach Halle zurückberufen wurde. Im zeitlichen Umkreis der neuen Überprüfung der Wolffschen Philosophie erschienen eine Reihe theologischer Schriften, die Wolff verteidigten. Johann Jacob Köthen, Pfarrer der deutschen Gemeinde in Genf, schrieb 1736 Von der Vortrefflichkeit und dem Nutzen der Wolffischen Philosophie, in Bestetigung und Ausübung der Christlichen Religion. Was speziell die Sünde und das mit ihr verbundene Übel betrifft, so meint Köthen, dass sie der größtmöglichen Vollkommenheit der Welt nicht schade, „weil dieser Mangel durch was anders ersetzet wird, nemlich durch die allervollkommenste Genugthuung Jesu Christi“.26 Johann Michael Herbart, Rektor der Oldenburgischen Schule, publizierte 1737 einen Kurtzen Erweis, daß die Sätze der neuern Philosophie zur Verherrlichung Gottes gereichen. Angesichts der theologischen Kritik an Wolffs Lehre von der bestmöglichen Welt, durch die man die Freiheit Gottes bei der 25 26
Ebd., S. 595f. Ludovici, (wie Anm. 20), S. 139.
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Schöpfung bedroht sieht, klagt er: „Ich wenigstens möchte einen solchen Abgott nicht anbeten, der um seine eingebildete Freyheit zu behaupten, lieber etwas schlimmes, als das beste hätte erwehlen wollen. Ich weiß nicht, mit was vor Andacht man mit der Christlichen Kirchen singen könnte: Was GOtt thut, das ist wohl gethan, sein Will der ist der beste.“27 Auch Herbart meint, dass die Lehre von der besten Welt den Ursprung des Bösen am angemessensten erkläre. Schließlich ergriff eines der Mitglieder der preußischen Untersuchungskommission, der lutherische Probst und Konsistorialrat Reinbeck, selbst die Gelegenheit und schrieb 1736 eine Beantwortung der Einwürffe, welche ihm in einer ohnlängst heraus gekommenen Schrifft: Abhandlung von der Unschuld Gottes bey der Zulaßung des Bösen genannt, sind gemacht worden, worinn zugleich diese wichtige Lehre nebst der Frage: Ob diese Welt die beste sey, in ihr gehöriges Licht gesetzet wird.
4. Die Theodizee in der Dichtung Zwei Jahre bevor der preußische König die von Theologen dominierte Untersuchungskommission einsetzte, die die pietistischen Vorwürfe gegen Wolff überprüfen sollte, hatte Albrecht Haller sein philosophisch-theologisches Lehrgedicht Über den Ursprung des Übels veröffentlicht. Haller war zwar selbst kein Theologe, sondern Mediziner, der in Tübingen, Leiden und Basel studiert und sich in London, Oxford und Paris weitergebildet hatte, bevor er sich 1730 in seiner Heimatstadt Bern als praktischer Arzt niederließ. Aber Haller war ein überzeugter, philosophisch interessierter reformierter Christ, der sich auch mit der aktuellen Frage der Theodizee befasste. Das Lehrgedicht von 1734 Über den Ursprung des Übels ist das Resultat dieser Beschäftigung. Als Einleitung zum Thema dient ein Blick vom Gurten bei Bern auf das zu Füßen des Dichters liegende Land, der mit dem Bekenntnis des Physikotheologen endet: „Ja, alles, was ich seh, sind Gaben vom Geschicke!/ Die Welt ist selbst gemacht zu ihrer Bürger Glücke,/ Ein allgemeines Wohl beseelet die Natur,/ Und alles trägt des höchsten Gutes Spur!“28 Die gute, auf die menschliche Glückseligkeit als Endzweck ausgerichtete Natur scheint zunächst der pessimistischen Sicht zu widersprechen, wonach die Welt ein Kerker ist, in dem sich Toren plagen. Doch Mandevilles Bild einer Gesellschaft, deren eigentliche Triebfeder das Laster ist, öffnet Haller den Blick auf die Welt als Schauplatz menschlicher Not. „Ich seh die innre Welt, sie ist der Hölle gleich:/ Wo Qual und Laster herrscht, ist da wohl Gottes Reich?“29 Der Mensch, getrieben von immer neuen Begierden, werde von ständiger Unzufriedenheit gequält, so dass er 27 28 29
Ludovici, Carl Günther, Sammlung und Auszüge der sämmtlichen Streitschriften wegen der Wolffischen Philosophie, Tl. 2. Leipzig 1737, S. 150. Haller, Albrecht v., Über den Ursprung des Übels I, 61–64, in: Ders., Die Alpen und andere Gedichte, ausgewählt v. Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 1965, S. 55. Ebd. I, 77f., S. 56.
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seine eigene Hölle bei sich trage. Doch damit nicht genug, folgt doch auf das lasterhafte Leben ein postmortaler Zustand ewiger Qual als göttliche Strafe. Und die Unsterblichkeit, das Vorrecht seiner Art,/ Wird ihm zum Henker-Trank, der ihn zur Marter spart;/ Im Haß mit seinem Gott, mit sich selbst ohne Frieden,/ Von allem, was er liebt, auf immer abgeschieden,/ Gepreßt von naher Qual, geschreckt von ferner Not,/ Verflucht er ewig sich und hoffet keinen Tod.30
Entgegen dem ersten Eindruck eines wohlgeordneten natürlichen Kosmos, der dem Menschen zur Glückseligkeit verhilft, entpuppt sich Haller zufolge die Welt als Ort menschlicher Qual, der Mensch als ein zur Pein bestimmtes Wesen, dessen Erschaffung man am liebsten rückgängig machen möchte. Damit ist der Boden für die Theodizee bereitet. Haller verweist auf den in Gott selbst liegenden Ratschluss und die mit Gnade und Langmut verbundene Güte als Gottes Wesen. Rache und Hass seien mit dem Wesen Gottes ebenso unvereinbar wie Lust und Freude an der Qual des Menschen. „Du schufest nicht aus Zorn, die Güte war der Grund,/ Weswegen eine Welt vor nichts den Vorzug fund!“31 Die Güte Gottes, der selbst das höchste Gut ist, wird als Grund dafür ausgegeben, dass nicht nichts ist, sondern Gott die Existenz einer Welt bevorzugt hat. Er habe nicht nur sich selbst genießen, sondern auch andere Wesen beglücken und so seine Seligkeit erhöhen wollen. Aber gerade wenn man die Existenz der vorhandenen Welt auf die Güte Gottes zurückführt, sieht Haller ein fundamentales Problem: „Wie daß, o Heiliger! Du dann die Welt erwählet,/ Die ewig sündiget und ewig wird gequälet?/ War kein vollkommner Riß im göttlichen Begriff,/ Dem der Geschöpfe Glück nicht auch entgegenlief?“ Einerseits steht für Haller die Güte als Gottes Wesen und Grund der Schöpfung fest, andererseits aber weiß er dies nicht zu vereinen mit der Sünde des Menschen und der ihr folgenden Qual, die ihm in der Welt begegnen und die die Vollkommenheit des göttlichen Schöpfungsplanes, des Grundrisses der Welt, in Frage stellen. Zwar verlange Gott vom Menschen tugendhaftes Handeln und nicht Erkenntnis. Aber die Tatsache, dass die scheinbare Unvollkommenheit der Welt Häresien wie den Manichäismus und damit ein falsches Gottesbild hervorbringt, fordere aus apologetischen Gründen die Erkenntnis der Wahrheit, wenngleich diese auch immer schwach bleibe. Damit schließt das erste Buch, während das zweite im Gefolge von Leibniz und Wolff die Theodizee entfaltet. Den Ausgangspunkt bildet Gottes Vorstellung aller möglichen Welten. „Verschiedner Welten Riß lag vor Gott ausgebreitet,/ Und alle Möglichkeit war ihm zur Wahl bereitet.“32 Haller nennt die drei für die Schöpfung wesentlichen Eigenschaften Gottes: Weisheit, Allmacht und Huld bzw. Güte. Es sei der Vergleich der verschiedenen möglichen Welten, der die Wahl der faktischen Welt begründe, insofern unsere Welt von Gott als die vollkommenste unter allen erkannt 30 31 32
Ebd. I, 113–118, S. 57f. Ebd. I, 133f., S. 58. Ebd. II, 5f., S. 59.
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werde. „Allein die Weisheit sprach für die Vollkommenheit,/ Der Welten würdigste gewann die Würklichkeit.“33 Die Erschaffung der Welt schildert Haller dann ganz im Rahmen des Konzepts der großen Kette der Wesen mit der Geisterwelt als Abschluss. Denn ohne geistige Wesen würden Gott Geschöpfe fehlen, denen er sich zeigen oder offenbaren kann. Zwar sei jedes Geschöpf auf die Vollkommenheit der Art als Ziel seines Wirkens ausgerichtet, aber bei den geistigen Wesen hänge die Einhaltung dieser Ausrichtung vom Willen ab, und damit sei zugleich die Möglichkeit der Abkehr gegeben. Die Frage, weshalb Gott diese Möglichkeit zulässt, beantwortet Haller ganz im Einklang mit Leibniz und Wolff. Dann Gott liebt keinen Zwang, die Welt mit ihren Mängeln/ Ist besser als ein Reich von Willen-losen Engeln;/ Gott hält vor ungetan, was man gezwungen tut,/ Der Tugend Übung selbst wird durch die Wahl erst gut.34
Zwar habe Gott durchaus vorhergesehen, wohin der Gebrauch der Freiheit aufgrund der Beschränktheit der Erkenntnis geschaffener Geister führen werde. Aber er habe die Welt nicht als rein mechanisches Uhrwerk schaffen wollen und daher die geistigen Wesen mit freiem Willen ausgestattet, den sie auch missbrauchen konnten. „Gott sah dies alles wohl, und doch schuf er die Welt;/ Kann etwas weiser sein als das, was Gott gefällt?“35 Trotz des von Gott vorhergesehenen Missbrauchs der Freiheit durch seine geistigen Geschöpfe stimmt Haller mit Leibniz und Wolff darin überein, dass die wirkliche Welt der bestmögliche Ausdruck göttlicher Weisheit ist. Der Mensch, der mit den Engeln die Klasse der geschaffenen Geistwesen ausmacht, wird als gottebenbildlich und ursprünglich gut charakterisiert, begabt mit der Selbst- und Nächstenliebe. Damit stellt sich jedoch die Frage, wie es von diesem Urstand zum jetzigen Zustand des Menschen und der Welt gekommen ist. Haller nimmt einen doppelten Fall an, den Fall der Engel und Adams Fall. Mit dem Sündenfall als dem Ursprung des Übels befasst er sich im dritten Buch seines Lehrgedichts. Was den Engelsturz angeht, so sieht er dessen Ursprung im Hochmut der Engel, die ihre eigenen Schranken leugnen statt Gott zu danken. „Ihr Aufruhr rächte Gott, ihre Hochmut ward zur Schmach,/ Das Böse war gewählt, das Übel folgte nach“.36 Dass überhaupt Übel in die Welt kam, führt Haller so auf den Engelsturz zurück, der die Zahl der Himmelsbewohner verringerte, und dieses Übel hält er für die Quelle von Adams Fall. „Das Übel, dessen Macht den Himmel konnte mindern,/ Fund wenig Widerstand bei Adams schwachen Kindern.“37 Nicht zuletzt die Endlichkeit und Beschränktheit des menschlichen Verstandes führe zu Irrtü33 34 35 36 37
Ebd. II, 7f., S. 59f. Ebd. II, 33–36, S. 60. Ebd. II, 51f., S. 61. Ebd. III, 23f., S. 68. Ebd. III, 33f., S. 68.
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mern bei der Identifizierung des Guten. Haller sieht die Welt durch den Fall verkehrt, insofern sie, die Gott zu seiner Verherrlichung und unserer Glückseligkeit geschaffen habe, nunmehr eine Stätte des Übels geworden sei. Angesichts der Folgen des Falls stellt sich aber erneut die Frage der Theodizee, die Haller zwar einerseits mit der Verborgenheit der Wege der göttlichen Huld oder Güte beantwortet. Andererseits schlägt er aber auch drei verschiedene Lösungen der Theodizeefrage als alternative Möglichkeiten vor. Erstens könne man einen postmortalen Reinigungsprozess annehmen, der am Ende alle zu Gott führen werde. Statt der Apokatastasis panton könne man auch annehmen, dass das Glück der Erwählten die Schmerzen der Verdammten aufwiege. Und schließlich biete sich als dritte Lösung die Möglichkeit an, dass die Welt zwar ein Ort des Übels sei, die Sterne aber Sitz der tugendhaften Geister seien und die schlechte Welt nur der Vollkommenheit des gesamten Universums diene. Doch selbst wenn Haller sich aufgrund der Verborgenheit Gottes nicht für eine der Lösungen entscheidet, zweifelt er nicht an der Gerechtigkeit Gottes, die dem Menschen im Jenseits offenbar werden wird. Noch Unrecht, noch Versehn kann vom Allweisen kommen,/ Du bist an Macht, an Gnad, an Weisheit ja vollkommen!/ Wann unser Geist gestärkt dereinst dein Licht verträgt/ Und uns des Schicksals Buch sich vor die Augen legt;/ Wann du der Taten Grund uns würdigest zu lehren,/ Dann werden alle dich, o Vater! recht verehren/ Und kündig deines Rats, den blinde Spötter schmähn,/ In der Gerechtigkeit nur Gnad und Weisheit sehn!38
Anlässlich der vierten Auflage von 1748 versah Haller sein Gedicht mit einer Vorrede, in der er auch auf die Kritik an dem Schluss eingeht, der als zu kurz, zu abgebrochen und zu unvollständig getadelt worden war. Haller bemerkt dazu: „Es können in der Tat noch beßre Ursachen für die Mängel der Welt gesagt werden. Aber ein Dichter ist kein Weltweiser, er malt und rührt und erweiset nicht.“39 Gleichwohl meint Haller, dass er bestimmte Aspekte deutlicher hätte herausstellen sollen. So findet er, die Mittel seien unverantwortlich verschwiegen worden, die Gott zum Wiederherstellen der Seelen angewandt hat, die Menschwerdung Christi und sein Leiden, die aus der Ewigkeit uns verkündigte Wahrheit, sein Genugtun für unsre Sünden, das uns den Zutritt zu der Begnadigung eröffnet.40
Haller bemerkt ausdrücklich, dass es sich bei dem Gedicht um eine Verteidigung der Gerechtigkeit und Güte Gottes angesichts des Übels in der Welt handle, und dementsprechend sollte in ihm alles aufgeführt sein, was Gott zur Errettung der Menschheit getan hat. Tatsächlich wurde die Vollkommenheit der Welt trotz des 38 39 40
Ebd. III, 225–232, S. 74. Ebd., S. 53. Ebd. Zu Hallers Gedicht vgl. Stäuble, Ernst, Albrecht von Haller „Über den Ursprung des Übels“. Zürich 1953; Hirzel, Ludwig (Hg.), Albrecht von Hallers Gedichte. Frauenfeld 1882, S. CXXXff.
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moralischen Übels, den der Sündenfall bedeutet, ja gewöhnlich mit dem Hinweis auf die Satisfaktion Christi verteidigt. Doch von der satisfaktorischen Kompensationsleistung Christi ist auch in den späteren poetischen Theodizeeentwürfen nicht die Rede. 1751 verfasste der siebzehnjährige Pfarrerssohn und Tübinger Jurastudent Christoph Martin Wieland sein Lehrgedicht Die Natur der Dinge oder Die vollkommenste Welt. Kurz zuvor war er aus Erfurt zurückgekehrt, wo er sich an der dortigen Universität von dem Privatdozenten Johann Wilhelm Baumer, einem ehemaligen fränkischen Pfarrer, in die Philosophie Wolffs hatte einführen lassen. Auch seine Lektüre der Theodizee von Leibniz fällt in diese Zeit. In dem späteren Vorbericht zur dritten Auflage erwähnt Wieland, dass ihm die Idee zu dem Lehrgedicht nach einer etwas kalten Predigt über 1 Joh 4,16 „Gott ist die Liebe“ gekommen sei. Das Gedicht selbst orientiere sich zwar schon vom Titel her an Lukrez, sei aber inhaltlich völlig antilukrezisch, also antimaterialistisch. Im ersten der insgesamt sechs Bücher wird Wieland zur Erkenntnis des Daseins Gottes aus dem Anschauen der Natur geführt. Die Erschaffung der Welt wird damit begründet, dass Gott sich selbst offenbaren wollte. Nein, der Vollkommenste kann ohne uns nicht seyn,/ Sein ewig Daseyn schließt auch unser Daseyn ein./ Untrennbar ist das Band, das Kraft und Wirkung einet,/ Gott denkt die Welt in Sich, und, was er denkt, erscheinet.41
Wieland betrachtet es als eine seiner Aufgaben, den Dualismus des Parsismus und Manichäismus zu widerlegen, den Bayle durch den Hinweis auf die offenkundigen Mängel der Welt wieder plausibel gemacht hatte.42 Am Schluss des ersten Buches wird die Hypostasierung des Übels abgewiesen, indem zunächst das Bild eines göttlichen Verstandes gezeichnet wird, der sich die unendliche Schar der möglichen Wesen vorstellt. Mit weiser Macht habe Gott die Wesen nach Ähnlichkeit verbunden, der Ordnung des Kausalgesetzes unterworfen und auf den besten Zweck ausgerichtet. Angesichts der Vollkommenheit der Schöpfung verschwänden auch ihre Mängel. Der Mängel kleine Zahl schwindt in des Guten Größe,/ Und gleicht kaum einem Punkt, den ich mit Sonnen messe,/ Die Welt ist ja nicht Gott; genug, daß ihre Pracht/ Sie, nach dem Schöpfer selbst, zum höchsten Wesen macht./ Sie ist so groß und gut als Gott sie kann bereiten,/ Ein völliger Begriff von allen Möglichkeiten,/ Und führt der Wesen Schaar, von Mängeln endlich rein,/ Durch den bequemsten Weg in ihren Ursprung ein.43
Die Unvollkommenheit der Welt resultiert für Wieland wie für Leibniz und Wolff aus ihrer Beschränktheit. Der Zweck der Schöpfung aber sei die Ehre Gottes, die im Glück der Welt, vor allem ihrer geistigen Wesen, liege.44 Dieser Zweck werde 41 42 43 44
Wieland, Christoph Martin, Sämtliche Werke, hg. v. der „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur“. Bd. XIII. Hamburg 1984, S. 42f. Ebd., S. 50. Ebd., S. 61. Ebd., S. 74f.
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auch durch die menschlichen Mängel nicht aufgehoben. „Warum denn schuf er uns, fragt Manes, nicht zu Engeln,/ Fest in des Guten Wahl, und frey von strafbarn Mängeln?“45 Doch die freie Wahl rechnet Wieland zum Wesen des Menschen, so dass man ebenso gut fragen könnte, warum der Bach nur rausche und keine Opernarien singe. Die aus der menschlichen Unvollkommenheit resultierenden Mängel aber sieht er durch das Werk der göttlichen Liebe eschatologisch behoben. „Des Übels ganze Summe, wie groß sie Baylen dünkt,/ Ist kaum ein Regentropf, der in das Weltmeer sinkt,/ Verglichen mit dem Glück, das noch entfernte Zeiten,/ Von Titan nicht erlebt, den Geistern zubereiten.“46 Wieland schlägt als Lösung des Theodizeeproblems eine von Haller nur genannte Möglichkeit vor: Die Apokatastasis panton, die Wiederbringung aller. In der Inhaltsangabe des sechsten Buches, das sich mit dem Ursprung des sittlichen Übels befasst, geht er darauf eigens ein. Die Zweifel, die das Faktum des moralischen Übels heraufbeschwört, werden durch die bekannte Hypothese des Origenes aufgelöst, welche, ungeachtet sie von der Kirche verworfen worden, wenigstens in einer poetischen Kosmologie, wo das ganze System bloß als eine wahrscheinliche Dichtung anzusehen ist, geduldet werden kann.47
Das sechste Buch endet in einem Dialog zwischen Wieland und einem Gegner der Theodizee, der einen Widerspruch sieht zwischen der Liebe Gottes und dem Elend des Menschen, so dass er es für besser hielte, wenn die Schöpfung des Menschen unterblieben wäre. Wieland verweist auf die Kürze der irdischen Qual verglichen mit der postmortalen Zeit der Erlösung. Zwar würden die Bösen nach dem Tode sich selber hassen, die Laster sich selber strafen. Doch selbst wenn der göttliche Richter den Wunden, die sich die Sünder selbst schlagen, noch neue Strafen hinzufügt, geschähe dies nur aus pädagogischen Gründen. „Und weit entfernt die Straf’ aus Rache zu vergrößern,/ Aus bloßer Liebe zürnt, und züchtigt um zu bessern.“48 Da Wieland die orthodoxe These von der Unendlichkeit der Sünde leugnet, kann er auch die daraus abgeleitete Ewigkeit der Sündenstrafe ablehnen und stattdessen lehren, dass das Übel sich allmählich selbst verzehrt. „Seyd unbesorgt! Zuletzt muß seine Weisheit siegen,/ Und um der Schöpfung Zweck wird Ihn kein Feind betrügen!/ Nur macht erst lange Pein und tiefgefühlte Reu/ Die Sünder aller Art aus ihrem Kerker frey.“49 Die postmortalen Sündenstrafen haben für Wieland also nur eine erzieherische Funktion, insofern sie dazu dienen, dass sich der so bestrafte Sünder bessert und läutert, um schließlich von allem Übel befreit zu werden. Das sei die Zeit, in der Gott alles in allem sein werde. Wieland legt so eine Theodizee vor, die die Antwort auf den Einwand, das Übel in der Welt widerspreche der gött45 46 47 48 49
Ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 252. Ebd., S. 270. Ebd., S. 271.
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lichen Liebe, in der eschatologischen Aufhebung allen Übels durch die Wiederbringung aller erblickt. So schwindet nach und nach das Übel aus der Welt,/ Das jetzt die Ordnung stört und unser Glück vergällt./ So wird die Zukunft erst des Schöpfers Güte preisen./ Dann löst sich alles auf; dem zweifelreichen Weisen,/ So wie dem Grübler, der vor Witz die wahre Bahn/ Verfehlte, wird das Buch des Schicksals aufgethan.50
Zwei Jahre nach Wielands Lehrgedicht schrieb Johann Peter Uz seine Theodicee, die 1755 publiziert wurde. Uz besaß in seiner Bibliothek nicht nur die deutsche Ausgabe der Leibnizschen Theodicée von 1720. Er hatte zudem als Jurastudent in Halle 1740 die triumphale Rückkehr Wolffs erlebt und 1742 dessen Kolleg über Hugo Grotius gehört. 1743 erschien sein Lobgesang des Frühlings, wo von der Göttin Wahrheit die Rede ist: „Dort, in der Göttinn Heiligthum,/ Wo Licht und reiner Schimmer lachen,/ Da thront ihr Liebling und ihr Ruhm,/ Wolf, der für Eifer glüht, die Wahrheit groß zu machen.“51 Und auch in dem Lehrgedicht Theodicee steht neben Leibniz Wolff im Hintergrund. Wie Haller und Wieland tritt auch Uz als Apologet Gottes gegenüber den Spöttern auf, die den Schöpfer verklagen. „Die Welt verkündige der höhern Weisheit Ruhm!/ Es öffnet Leibnitz mir des Schicksals Heiligthum“.52 Dank der Lektüre von Leibniz zur Gottheit selbst entrückt, sieht Uz die verschiedenen Grundrisse aufgeschlagen, die Gott bei der Erschaffung der Welt vorlagen. Diese Grundrisse, die tausend lockenden Entwürfe, bilden das Reich des Möglichen. Zwar meine der Mensch, sich bessere Welten als die wirkliche Welt vorstellen zu können. Doch diese verfehlte Meinung schreibt Uz der Maulwurfsperspektive des Menschen zu, während die Perspektivenänderung durch den Höhenflug dem Dichter Einblick in die Weisheit des göttlichen Schöpfungsplanes gewährt. Die Erde erscheint ihm nurmehr als ein verschwindend kleiner Teil des Universums, die Menschheit nur als kleine Herde im Vergleich mit der Vielzahl der verschiedenartigen Geschöpfe. Aus der Perspektive Gottes erscheint Uz die Welt als vollkommener Ausdruck der Weisheit Gottes. Er sieht mit heiligem Vergnügen/ Auf unsrer Erde selbst sich alle Theile fügen,/ Und Ordnung überall, auch wo die Tugend weint:/ Und findet, wann sein Blick, was bös’ und finster scheint,/ Im Schimmer seiner Folgen siehet,/ Daß, was geschieht, aufs beste stets geschiehet.53
Überblickte man die Welt im Ganzen, würden die dunklen Flecken vom allgemeinen Glanz untergehn. Uz führt alles Böse in der Welt auf den Menschen zurück, so dass man dann, wenn man das Böse aus der Schöpfung eliminieren wollte, auf die 50 51
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Ebd., S. 273. Vgl. Blasig, Uwe, Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland. Frankfurt a.M. 1990. Stenzel, Jürgen, Uz ein Metaphysiker!, in: Rohmer, Ernst, Verweyen, Theodor (Hg.), Dichter und Bürger in der Provinz. Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach. Tübingen 1998, S. 136. Uz, Johann Peter, Sämtliche poetische Werke, hg. v. August Sauer. Stuttgart 1890, S. 162. Ebd., S. 165.
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Erschaffung des Menschen hätte verzichten müssen. „Soll Welten alles Böse fehlen?/ So müßte nie den Staub der Gottheit Hauch beseelen;/ Denn alles Böse quillt bloß aus des Menschen Brust:/ So muß der Mensch nicht seyn: welch grösserer Verlust!“54 Ohne den Menschen wäre die Welt weniger vollkommen als mit dem Menschen als Ursache des Bösen. Denn in diesem Fall würde dem Reich der Natur, in dem alles stufenweise geordnet ist, der Mensch als Mitte zwischen Wurm und Engel fehlen. Denn der Mensch ist mit seinem Verstand immer an den Leib gebunden und daher des Irrtums fähig. Sein Wille ist zwar frei, aber aufgrund der Irrtümer des Verstandes trifft er falsche Entscheidungen. Doch Uz ist davon überzeugt, dass die Vollkommenheit des gesamten Universums nur gewährleistet ist, wenn auch der fehlbare Mensch als Ursache des moralischen Bösen und der ihm folgenden Übel geschaffen wird. In allen Ordnungen der Dinge,/ Die Gott als möglich sah, war Menschenwitz geringe:/ Der Mensch war immer Mensch, voll Unvollkommenheit./ Durch Tugend soll er sich aus dunkler Niedrigkeit/ Zu einem höhern Glanz erheben,/ Unsterblich seyn, nach einem kurzen Leben.55
Zwar nicht ausdrücklich wie bei Wieland, der die Wiederbringung aller lehrt, wohl aber andeutungsweise findet sich bei Uz der Gedanke, dass der Mensch sich postmortal noch läutern kann, um schließlich von Gott einen höheren Rang zu erhalten.
Schluss Pierre Louis Moreau de Maupertius, der von Newton beeinflusste und dem Hylozoismus anhängende Präsident der Berliner Akademie, hegte eine besondere Abneigung gegen Leibniz und Wolff. Es war deren These von der besten aller möglichen Welten, die er 1753 mit der Formulierung der Preisaufgabe der Akademie treffen wollte: „On demande l’examen du système de Pope, contenu dans la proposition: Tout est bien.“ Gottsched erkannte schnell, dass sich hinter der geforderten Untersuchung des Optimismus von Pope ein Angriff auf Leibniz und Wolff verbarg. Trotz aller Distanz zu ihm war man sich auch im Zürcher Kreis um Bodmer und Breitinger mit Gottsched einig in der Abwehr dieses Angriffs. Martin Künzli reichte eine Arbeit ein, die Leibniz und Wolff verteidigte. Doch statt ihrer wurde eine unbedeutende Destruktion der Leibnizschen Philosophie aus der Feder des Strelitzschen Justizsekretärs Reinhard gekrönt. Lessing und Mendelssohn hatten wie Gottsched den wahren Sinn der Preisaufgabe der Akademie erkannt und publizierten 1755 anonym eine Abhandlung mit dem Titel Pope ein Metaphysiker! Die Zürcher wiederum, die damit nicht zufrieden waren, forderten eine Widerlegung Reinhards, mit der unter anderem der damals bei Bodmer und Breitinger 54 55
Ebd., S. 166. Ebd., S. 168. Vgl. Sparn, Walter, Johann Peter Uz und das Ansbachische Gesangbuch von 1781, in: Rohmer / Verweyen (Hg.), (wie Anm. 51), S. 163ff.
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lebende Wieland beauftragt wurde.56 Kant, der 1755 in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels mehrfach Pope und Haller zitiert hatte, verteidigte noch 1759 in seinem Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus die Leibniz-Wolffsche Theodizee. Als am 1. November 1755 ein Erdbeben Lissabon zerstörte, ließ ihn dies keineswegs an deren Richtigkeit zweifeln. Was des einen Unglück, könne durchaus des andern Glück sein. Immerhin habe das Erdbeben im fernen Portugal den Zustrom der Heilquellen in Teplitz verstärkt. „Die Einwohner dieser Stadt hatten gut te Deum laudamus zu singen, indessen daß die zu Lissabon ganz andere Töne anstimmten.“57 In der Schlussbetrachtung seiner Geschichte und Naturbeschreibung des Erdbebens am Ende des 1755sten Jahres wandte Kant sich vehement gegen eine anthropozentrische Deutung der Naturereignisse. Das Erdbeben sei weder ein Einwand gegen die These, dass die wirkliche Welt die bestmögliche sei, noch lasse es sich als Strafe Gottes für fehlerhaftes menschliches Verhalten deuten. Welchen Sinn gewann Kant ihm aber dann ab? Der Mensch ist nicht geboren, um auf dieser Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu erbauen. Weil sein ganzes Leben ein weit edleres Ziel hat, wie schön stimmen dazu nicht alle Verheerungen, die der Unbestand der Welt selbst in denjenigen Dingen blicken läßt, die uns die größte und wichtigste zu sein scheinen, um uns zu erinnern: daß die Güter der Erden unserm Triebe zur Glückseligkeit keine Genugthuung verschaffen können!58
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Harnack, Adolf v., Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. I/1. Nachdruck Hildesheim 1970, S. 403ff. Kant, Immanuel, Geschichte und Naturbeschreibung des Erdbebens am Ende des 1755sten Jahres, in: Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I. Berlin 1910, S. 437. Ebd., S. 460.
ALBRECHT BEUTEL (Münster)
Spalding und Goeze und Die Bestimmung des Menschen Frühe Kabalen um ein Erfolgsbuch der Aufklärungstheologie1
1. Spaldings Schrift über Die Bestimmung des Menschen Er zählt zu den großen Repräsentanten der Aufklärungstheologie. Von vielen Zeitgenossen wegen seiner intellektuellen Redlichkeit, kirchlichen Modernität und menschlichen Integrität als Patriarch der Epoche verehrt, ist Johann Joachim Spalding zu einem Bahnbrecher der Moderne geworden.2 Ein schmales Heft, 1748 in Greifswald erschienen, begründete seinen Ruhm. Die zunächst anonym publizierte Betrachtung über die Bestimmung des Menschen avancierte zu einer der erfolgreichsten Buchveröffentlichungen des 18. Jahrhunderts3 und war „ein Erstling der Aufklärungstheologie“.4 In ihr haben ein „Leitwort“5 und „eine Basisidee der deutschen Aufklärung“6 maßgebende Gestalt angenommen. Als Anleitung zu einem tugendhaften Leben gab der Basler Geschichtsphilosoph Isaak Iselin 1770 den schlichten Rat, man möge im letzten Monat eines jeden Jahres den neuen Phaedon von Mendelssohn7 lesen „und in dem ersten die Bestimmung des Menschen“.8 Der Aufschwung, den die philosophische Anthropologie im 18. Jahrhundert genommen hatte, verdankte dem Frühwerk Spaldings einen wesentlichen Impuls. Aus1 2
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Erheblich gekürzte Fassung meiner unter demselben Titel in Zeitschrift für Theologie und Kirche 101 (2004), S. 426–449 erschienenen Studie. Schollmeier, Joseph, Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung. Gütersloh 1967; Beutel, Albrecht, Johann Joachim Spalding. Populartheologie und Kirchenreform im Zeitalter der Aufklärung, in: Walter, Peter, Jung, Martin H. (Hg.), Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter – Pietismus – Aufklärung. Gütersloh 2003, S. 226–243. Hinske, Norbert, Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant, in: Albrecht, Michael, Engel, Eva J., Hinske, Norbert (Hg.), Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Heidelberg 1994, S. 136 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 19). Spaldings Bestimmung des Menschen (1748) und Wert der Andacht (1755). Mit Einl. neu hg. v. Horst Stephan. Gießen 1908, S. 10. D’Alessandro, Giuseppe, Die Wiederkehr eines Leitworts. Die Bestimmung des Menschen als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung, in: Hinske, Norbert (Hg.), Die Bestimmung des Menschen. Hamburg 1999, S. 21–47 (Aufklärung 11,1). Hinske, Norbert, Eine antike Katechismusfrage. Zu einer Basisidee der deutschen Aufklärung, in: Ders. (Hg.), Die Bestimmung des Menschen, (wie Anm. 5), S. 3–6. Mendelssohn, Moses, Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drey Gesprächen. Berlin, Stettin 1767. [Iselin, Isaak], Rez. Die Bestimmung des Menschen, 91768, in: ADB 11 (1770), S. 262.
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schlaggebend war dafür nicht zuletzt die literarische Form, die die Frage nach der Bestimmung des Menschen nicht mehr in akademischer Gelehrsamkeit, sondern popularphilosophisch traktierte und damit die „Literarisierung der Philosophie in praktischer Absicht“9 wirksam vorantrieb.10 Nicht allein die titelgebende Wendung, sondern auch das damit spezifisch markierte Sachinteresse hat Spalding in die philosophische Erörterung eingebracht.11 Für die dadurch initiierte Wirkungsgeschichte stellt die 1763/64 zwischen Thomas Abbt und Moses Mendelssohn ausgetragene Debatte um Die Bestimmung des Menschen12 das bekannteste, jedoch längst nicht das einzige Beispiel bereit.13 Interessanterweise scheint die Bestimmung des Menschen in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts noch einmal intensiv und, als eine „Übergangsidee von der Aufklärung zum Idealismus“,14 gleichsam epochenübergreifend erörtert worden zu sein. Johann Gottlieb Fichte hat das frühe Werk Spaldings beifällig zitiert15 und sich im Übrigen ausdrücklich dazu bekannt, dass Die Bestimmung des Menschen des „ehrwürdige[n] Vater[s] Spalding […] den ersten Keim der höhern Speculation in meine jugendliche Seele“ geworfen habe.16 In seiner 1800 erschienenen popularphilosophischen Schrift17 hat Fichte nicht nur die Überschrift, sondern auch die literarische Form18 und wichtige Elemente der Argumentationsstruktur fortgeschrieben.19 Von der 7. Auflage an (Leipzig 1763) gab sich Spalding als Verfasser seines Erfolgsbuchs, dessen Titel er zugleich20 auf Die Bestimmung des Menschen verkürzte, namentlich zu erkennen.21 Im Laufe der Zeit hat er es um etliche Beigaben erweitert22 9 10
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Sommer, Andreas Urs, Sinnstiftung durch Individualgeschichte. Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 8 (2001), S. 166. Vgl. Riedel, Wolfgang, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 6. Sonderheft (1994), S. 93–157. So auch Sommer, (wie Anm. 9), S. 167. Lorenz, Sönke, Skeptizismus und natürliche Religion. Thomas Abbt und Moses Mendelssohn in ihrer Debatte um Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen, in: Albrecht / Engel / Hinske, (wie Anm. 3), S. 113–133. Vgl. etwa Riedel, Wolfgang, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“. Würzburg 1985; Eibl, Karl, Goethes Faust als poetisches Spiel von der Bestimmung des Menschen, in: Hinske, Die Bestimmung des Menschen, (wie Anm. 5), S. 49–66. D’Alessandro, (wie Anm. 4), S. 23. Fichte, Johann Gottlieb, Gesamtausgabe, hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Gliwitzky, Supplement zu Nachgelassene Schriften Bd. 4. Stuttgart, Bad Cannstatt 1977, S. 306. Ebd., Bd. 5, S. 446,36–447,6. Fichte, Johann Gottlieb, Die Bestimmung des Menschen. Berlin 1800. Schildknecht, Christiane, Philosophische Masken. Literarische Formen der Philosophie bei Platon, Descartes, Wolff und Lichtenberg. Stuttgart 1990. Sommer, (wie Anm. 9), S. 167. Also nicht bereits „nach der vierten Auflage“, wie Wolfgang Erich Müller meint (Spalding, Johann Joachim, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794, hg. v. Wolfgang Erich Müller. Waltrop 1997, S. X). Allerdings nannte Spalding seinen Namen weiterhin nicht auf dem Titelblatt, sondern am Ende der nun hinzugefügten Widmungsvorrede an die schwedische Königin bzw. in der letzten Auflage (1794) unter der dort neu hinzugekommenen Vorrede.
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sowie den Text seit der 7. Auflage mehrmals, teilweise erheblich, verändert und ausgeschrieben. Eine detaillierte Analyse dieses einschneidenden Umarbeitungsprozesses ist erst kürzlich wieder angemahnt worden23 und wird mit Hilfe einer kritischen, sämtliche Textstufen dokumentierenden Edition zu bewerkstelligen sein.24 Dass Die Bestimmung des Menschen zu Lebzeiten Spaldings in 13 Auflagen25 erschienen sei, ist ein alter,26 bis heute unkritisch fortgeschriebener Mythos. Bis zu der 1764 erschienenen 8. Ausgabe hat Spalding die Auflagen durchnumeriert. Danach sind bei „seinem“ Leipziger Verlag Weidmanns Erben und Reich drei weitere, „von neuem verbesserte und vermehrte“ Auflagen erschienen.27 Infolgedessen wird man von elf rechtmäßigen Auflagen ausgehen können. Hinzu kamen, für Autor und Verleger gleichermaßen ärgerlich,28 mindestens sieben Raubdrucke.29 Nachweisbar sind außerdem je eine schwedische, russische und lateinische, ferner zwei niederländische und sechs französische Übersetzungen.30 Einschließlich der Raubdrucke und Übersetzungen lassen sich damit für Die Bestimmung des Menschen im 18. Jahrhundert mindestens 29 Auflagen nachweisen.
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Anhang bey der dritten Auflage (31749–101774). – An Ihre Königliche Majestät Die Königinn von Schweden (71763–101774). – Der [vernünftige] Werth der Andacht (71763–101774). – Das glückliche Alter (71763–111794). – Die menschlichen Erwartungen (71763–111794). – Die Entschlossenheit (71763–111794). – Nachricht (91768–101774). – Einleitung (91768–111794). – Vorrede (111794). – Schlußgedanken (111794). Schwaiger, Clemens, Zur Frage nach den Quellen von Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung, in: Hinske, Die Bestimmung des Menschen, (wie Anm. 5), S. 9. Im Rahmen der Kritischen Spalding-Ausgabe (SpKA) erschien die Edition der Bestimmung des Menschen (SpKA I/1) 2006 (Tübingen: Mohr). Einstweilen unersetzt ist die Ausgabe von Stephan, (wie Anm. 4). Boehart, William, Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing). Schwarzenbek 1988, S. 151, weiß von „mehr als 14 Auflagen“. Zuerst in: Neuestes gelehrtes Berlin; oder literarische Nachrichten von jetztlebenden Berlinischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Zweiter Theil, hg. v. Valentin Heinrich Schmidt u. Daniel Gottlieb Gebhard Mehring. Berlin 1795, Nachdruck 1973, S. 176. Nämlich 1768, 1774 und 1794. – Der auffallend große zeitliche Abstand zwischen den letzten beiden regulären Auflagen dürfte damit zu erklären sein, daß der Verlag auch in diesem Fall, nicht zuletzt um das Autorenhonorar einzusparen, stilllschweigende Doppel- bzw. Mehrfachdrucke veranstaltet hat (ausführlicher in der Einleitung zu SpKA I/1). Vgl. die in der 9. und 10. Auflage vorangestellte Nachricht: „Die rechtmäßigen Verleger der Bestimmung des Menschen haben das Vergnügen, dem Publico hiermit eine neue und von dem Herrn Verfasser selbst vermehrte Auflage in einer Gestalt zu überreichen, die sie von dem vor einiger Zeit herausgekommenen schlechten Nachdrucke in allen Stücken unterscheidet. Sie verweisen die Leser auf die Sache selbst, und überlassen auch ihrem eigenen Urtheil, in welche Classe von Menschen ungerechte Nachdrucker zu setzen sind, und hierin soll ihre vornehmste Genugthuung bestehen. Leipziger Ostermesse 1768. Weidmanns Erben und Reich“. Wien 1769. – Berlin 1776. – Schaffhausen 1776. – Salzburg 1779. – Tübingen 1782. – Tübingen 1787. – Reutlingen 1789. – Ausweislich der in Anm. 28 mitgeteilten Nachricht der Verleger muss zumindest ein weiterer, heute nicht mehr nachweisbarer Raubdruck vor 1768 erschienen sein – es sei denn, die Verleger hätten damit auf die von Spalding später als fünfte Auflage gezählte Ausgabe Schwerin 1759 angespielt. Für die Einzelnachweise vgl. Anm. 36–40 meines in Anm. 1 genannten Aufsatzes.
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2. Die Erstausgabe von 1748 Die theologische Orientierungslosigkeit, mit der Spalding 1733 die Universität Rostock verlassen hatte,31 begann allmählich zu weichen, als er kurz darauf den Wolffianismus für sich entdeckte.32 In ergänzender Auseinandersetzung mit der empirischen Erkenntnisphilosophie Andreas Rüdigers und namentlich durch die intensive Rezeption des englischen Moralphilosophen Shaftesbury33 formierten sich seine weithin autodidaktisch erworbenen Kenntnisse zu einer eigenständigen, sein Lebenswerk grundierenden Bildung. In Berlin, wohin Spalding Ende 1745 als Sekretär der schwedischen Gesandtschaft gekommen war, entspann sich mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Ewald von Kleist, Karl Wilhelm Ramler, Johann Georg Sulzer und anderen Vertretern der Anakreontik alsbald ein empfindsamer Freundschaftskult. Mit dem Versprechen, die den Berliner Freunden offenbar bereits mündlich entwickelten „Gedanken über die Bestimmung des Menschen“ aufzuzeichnen,34 kehrte Spalding Anfang April 1747 in der Hoffnung auf pastorale Bestallung und zur Pflege seines wassersüchtigen Vaters nach Hause zurück. In den am Kranken- und Sterbebett des Vaters durchwachten Nächten reifte die literarische Etüde zur Vollendung heran.35 Am 3. November 1747, unmittelbar nach seinem 33. Geburtstag, sandte er das Manuskript an Gleim nach Berlin36 und bat die Freunde um kritische Rückmeldung. Am 19. Februar 1748 starb Spaldings Vater. Unterdessen hatten die Freunde längst reagiert. Der preußische Generalmajor und Kurator der Berliner Akademie der Wissenschaften Christoph Ludwig von Stille, den Spalding tief verehrte, hatte ihn mit einem günstigen Urteil beglückt, die konstruktive Kritik anderer Freunde einige „Veränderungen und Zusätze“ veranlasst.37 Am 4. Mai berichtete Spalding an Gleim, das Manuskript sei nun bei dem Greifswalder Verleger Weitbrecht im Druck. Spalding wiederholte den Dank für etliche von den Freunden veranlasste Korrekturen. Am 22. Mai meldete Spalding das Erscheinen des Bandes. Um „fremden Richtern zu entwischen“,38 wollte er einen möglichst großen Teil der 350 Exemplare umfassenden Erstauflage39 an seine nachsichtigen Freunde verteilen.40 Mehrere von ihnen gingen nachweislich auch an Gleim.41 31 32
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Spalding, Johann Joachim, Lebensbeschreibung (SpKA I/6-2), S. 116,18–117,33. Ebd. 118,20–22. – Von der Wolff-Begeisterung jener Jahre zeugt die launige Etüde von Spalding, Johann Joachim, Der Wolffischen Philosophie Bittschrift an die Akademie zu R**, ans Licht gestellet von einem Liebhaber der Wahrheit. Frankfurt, Leipzig 1738. Spalding, Lebensbeschreibung (SpKA I/6-2), S. 124,19–125,4. Ebd., S. 133,20–25. Für den diese Entstehungssituation prägenden existentiellen Ernst vgl. Spalding an Gleim, 8.3.1748 (SpKA I/6-2), S. 18,24–19,12. Spalding an Gleim, 3.11.1747 (SpKA I/6-2), S. 16,26–17,5. Spalding an Gleim, 16.3.1748 (SpKA I/6-2), S. 23,17–28. Ebd., S. 32,15. Ebd., S. 32,12–14. Spalding an Gleim, 22.5.1748 (SpKA I/6-2), S. 32,12–17. Ebd., S. 3–8. 17f. – Spalding an Gleim, 21.9.1748, ebd., S. 37,16–19.
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Durch Shaftesbury angeregt, wählte Spalding die literarische Form des Selbstgesprächs: Mittels eines inneren Monologs sollte ein Ich sich seiner Bestimmung vergewissern und damit zugleich den Leser zu aufgeklärtem Selbstdenken anregen. Die popularphilosophische, allein auf empirische Evidenz gegründete und darum auf offenbarungstheologische und andere Autoritätsrekurse verzichtende Schrift wandte sich nicht an Christen, sondern an den Menschen schlechthin. Wie das als Motto vorangestellte Persius-Zitat, so folgte auch der Gedankengang zunächst einer von Shaftesbury vorgezeichneten Spur.42 Ausgehend von der Frage, „warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll“,43 rekurriert das Ich, über das Streben nach Reichtum und Ehre hinausgreifend, alsbald auf die Natur. Zwar findet es den „Trieb zum Vergnügen […] tief in meiner Seele“,44 doch wird es bald darauf der Endlichkeit alles sinnlichen Vergnügens gewahr. Selbst „ein ordentlicher Wollüstling“45 erfahre seine sinnliche Befriedigung letztlich als defizitär. Das damit angewandte Verfahren wiederholt Spalding auf allen Stufen der über Sinnlichkeit, Vergnügen des Geistes, Tugend und Religion zum vernünftigen Unsterblichkeitspostulat emporführenden Skala des Denkens. Jedesmal würdigt er die erreichte Stufe zuerst in ihrer positiven Bedeutung, um dann ihre Grenzen zu erkunden und dadurch auf die nächsthöhere Stufe geführt zu werden, auf der die vorausgehende Stufe nicht etwa dualistisch negiert, sondern als den Aufstieg konstituierendes Erkenntnismoment in das größere Ganze integrativ eingebracht wird.46 Über der „Sinnlichkeit“ steht für Spalding das Streben nach Vervollkommnung des eigenen Geistes. Defizitär erweist sich jedoch auch dieses „Vergnügen“ insofern, als der dabei verfolgte eigene Nutzen nicht den einzigen „Zweck […] meiner Sele“47 ausmachen kann. Die damit in den Blick rückende Moralität erschließt dem sich selbst ergründenden Ich die „Triebe […] zu dem, was sich schickt“,48 die „Triebe des Rechts und der Güte“,49 als eine „ursprüngliche Einrichtung meiner Natur“.50 In der dadurch freigesetzten Vorstellung eines vollkommenen Geistes „erweitert sich meine erstaunte Sele bis zum Unendlichen“.51 Die religiöse Wendung des Moralitätsgedankens macht das Gewissen als die Stimme Gottes kenntlich, „die sich ohne Unterlaß in dem innersten Grunde meiner Sele hören lässet“.52 Diese Einsicht erschließt dem Ich die sittliche Pflicht, nach Übereinstimmung seiner Natur „mit den Absichten der höchsten Regie42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52
Zur Übereinstimmung des Persius-Zitats „Quid sumus? et quidnam victuri gignimur?“ vgl. Schwaiger, (wie Anm. 23), S. 13. Spalding, Johann Joachim, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. Greifswald 1748, S. 3. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7. Für die von Spalding dadurch geleistete Entdämonisierung der Sinnlichkeit vgl. Sommer, (wie Anm. 9), S. 171. Spalding, Bestimmung des Menschen, 1748, (wie Anm. 43), S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18.
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rung“53 zu trachten, und zugleich die Beruhigung, sich in den verwirrenden Rätseln des Lebens „den Fügungen desjenigen überlassen“ zu können, „der alles nach seinem Willen lenket, und dessen Wille immer gut ist“.54 Bereits in dieser Verknüpfung – nicht Identifikation! – von Moralität und Religion hat Spalding eine die Denkspur Shaftesburys verlassende Anverwandlung von Leibniz-Wolffischen Ideen vollzogen.55 Erst recht wählt er dann in der Begründung seines Unsterblichkeitspostulats einen neuen, auf seinen späteren Briefpartner Immanuel Kant vorausweisenden Weg. Zum einen lasse die in der Welt wahrzunehmende „Disharmonie“, deren Erscheinungsformen Spalding in ungeschminkter Drastik benennt und durch die sich sein „Begriff von einer herrschenden Ordnung […] gänzlich [verwirret]“,56 die Erwartung einer späteren „vollkommene[n] Zusammenstimmung“ und „vollständige[n] Aufklärung“57 unabweisbar erscheinen: „Es muß eine Zeit seyn, da ein jeder das erhält, was ihm zukömmt“.58 Zum andern transzendiere die Einsicht in die eigene moralische und geistige Perfektibilität die Grenzen der Endlichkeit: „Ich bin also für ein anderes Leben gemacht“.59 Bereits für Spalding dienen die axiomatischen Gottes- und Unsterblichkeitsvorstellungen gleichsam als regulative Ideen: Der Begriff des „ganzen Lebens“ macht „dieses Leben“ erst wahrhaft schätzenswert, indem er dazu anhält, „von einer jeden Sache immer so zu denken, wie ich einmal in der zukünftigen Welt und in den letzten Augenblicken des itzigen Lebens davon werde denken müssen“.60 Dass der Mensch dazu bestimmt ist, „rechtschaffen, und in der Rechtschaffenheit glückselig zu seyn“,61 ist dem zu seiner Bestimmung vorgedrungenen Selbsterkunder eine so wichtige Einsicht, „daß ich mich aufs möglichste hüten würde, sie falsch zu finden, wenn sie es auch seyn könnte. Es ist mir zu viel daran gelegen, daß sie wahr sey“.62 Die transzendentalphilosophische Relevanz dieser abschließenden Äußerung taucht den gesamten Text in ein eigenes, von den meisten Rezipienten bis heute nicht wahrgenommenes oder abgeblendetes Licht.
3. Goeze als Zensor und Erst-Editor Der Versuch, „fremden Richtern zu entwischen“,63 ist Spalding gründlich missglückt. Bereits zwei Monate vor dem Erscheinen der Erstauflage hatte Goeze eine streitbare 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63
Ebd. Ebd., S. 20. Schwaiger, (wie Anm. 23), S. 16f. Spalding, Bestimmung des Menschen, 1748, (wie Anm. 43), S. 21. Ebd. Ebd. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 26. Ebd., S. 25. Spalding an Gleim, 22.5.1748 (SpKA I/6-2), S. 32,15.
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Entgegnung verfasst, die dann im Herbst 1748 zusammen mit einem Wiederabdruck des inkriminierten Büchleins bei Gebauer64 in Halle erschienen ist. Johan(n) Melchior Goeze,65 1717 als Sohn des Pfarrers an St. Martini in Halberstadt geboren, hatte 1734 in Jena das Studium der Theologie, Mathematik und Physik aufgenommen und zwei Jahre später in Halle fortgesetzt. Mit einer von Siegmund Jacob Baumgarten betreuten Arbeit über den theologiegeschichtlichen Erfolg der Kirchenväter wurde er 1738 promoviert. 1741 als Pfarrsubstitut nach Aschersleben berufen, übernahm Goeze im Folgejahr das Diakonat der Stephanskirche. 1750 veränderte er sich nach Magdeburg, 1755 schließlich als Hauptpastor an St. Katharinen nach Hamburg. Während seiner zehnjährigen Dienstzeit in Aschersleben hat Goeze größtenteils Erbauliches publiziert. Dreimal hat er sich daneben in der polemischen Tonart geübt: 1746 focht er gegen die clandestine Schrift Von den drei Betrügern,66 1750 präsentierte er die Prüfung einiger Stellen aus dem bekanten Buche Les Moeurs oder die Sitten,67 dazwischen unterbreitete er seine Gedanken über die Betrachtung von der Bestimmung des Menschen.68 Der Text ist auf den 18. März 1748 datiert. Da die Erstauflage der Bestimmung des Menschen zwei Monate später erschien, kann Goeze nur aus dem Manuskript Spaldings gearbeitet haben. Das zeigt sich auch darin, dass die von Goeze eingestreuten Spalding-Zitate gegenüber dem Erstdruck diverse Varianten, Auslassungen und Änderungen aufweisen. Wie das Manuskript in Goezes Hände geriet, dürfte nicht mehr zu klären sein. Hans Nordmann sah in Gleim, dem Spalding im November 1747 sein Konzept übersandt hatte, den wahrscheinlichen Mittelsmann.69 Möglich erscheint in der Tat, dass sich Gleim und Goeze während ihrer Studienzeit in Halle begegnet sind.70 Allerdings findet sich im Nachlass Gleims keinerlei Spur, die einen Kontakt der beiden belegen würde. Mutmaßen ließe sich deshalb auch, ob nicht der von Spalding verehrte und mit Gleim vertrauten Umgang pflegende General von Stille, der sich nach dem Zweiten Schlesischen Krieg (1744/45) in Aschersleben zur Ruhe gesetzt 64
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Kertscher, Hans-Joachim, Hallesche Verlagsanstalten der Aufklärungsepoche: Der Verleger Johann Justinus Gebauer. Mit einem Anhang: Ungedruckte Briefe aus dem Geschäftsnachlaß der Druckerei Gebauer & Schwetschke u.a. Halle 1998. Beutel, Albrecht, Art. Goeze, Johan(n) Melchior, in: RGG4 3 (2000), Sp. 1070f. (Lit.). Goeze, Johann Melchior, Wiederlegung eines Einwurfs, welchen der ungenannte Verfasser eines in französischer Sprache geschriebenen Buches, so den Titel führet: De trois imposteurs, wieder die Göttlichkeit der Sendung des Moses gemacht, in: Compendium historiae litterariae novissimae oder Erlangische Gelehrte Anmerkungen und Nachrichten 1 (1746), S. 281–284, 289f., 297–301, 305–308. Goeze, Johann Melchior, Prüfung einiger Stellen aus dem bekanten Buche Les Moeurs oder die Sitten, insonderheit der von dem Verfasser desselben vorgeschlagenen Trostgründe wider die Furcht des Todes. Halle 1750. Gedanken über die Betrachtung von der Bestimmung des Menschen, in einem Sendschreiben entworfen von G*** nebst dem Abdruck gedachter Betrachtung selbst. Halle 1748. – Im Folgenden werden Verweise auf diese Schrift durch in den Text eingefügte Seitenangaben nachgewiesen. Nordmann, Hans, Spalding und seine Zeitgenossen, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 26 (1931), S. 102 Anm. 14. Gleim hatte von 1739 bis 1743 in Halle Philosophie und Jura studiert.
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hatte, seinem wissenschaftlich interessierten Ortspfarrer das Manuskript zugänglich gemacht haben könnte.71 Wie aus dem Geschäftsnachlass72 ersichtlich, ist Baumgarten für den Halleschen Verleger Johann Justinus Gebauer der theologische Hauptberater gewesen. Vermutlich hat er auch den Verlagskontakt seines Schülers geknüpft. Im Augustheft der Nachrichten von einer Hallischen Bibliothek annoncierte Gebauer seine zur Leipziger Michaelismesse neu erscheinende Verlagsproduktion, darunter den Titel Gedanken über die Betrachtung von der Bestimmung des Menschen, in einem Sendschreiben entworfen von G.73 Unmittelbar vor Drucklegung kam es zu einer kleinen Irritation. Baumgarten hatte nämlich angeregt, die Streitschrift Goezes nicht separat, sondern zusammen mit einem Abdruck der Bestimmung des Menschen zu publizieren.74 Ob sich daraus eine Änderung des Titels ergeben würde, ließ Gebauer bei Goeze erkunden.75 Dieser antwortete am 17. August 1748. Die Entscheidung, ob der Text Spaldings mit abgedruckt werden solle, überließ er seinem Verleger. Allerdings schlug er für diesen Fall eine von der soeben erschienenen Verlagsanzeige abweichende Gesamtüberschrift vor.76 Gebauer ließ sich darauf nicht ein. So ist Ende September unter dem ursprünglich vorgesehenen Titel ein 60 Seiten starker Oktavband zum Preis von zwei Groschen in den Handel gelangt, der, bei durchlaufender Paginierung, nacheinander die Texte von Goeze und Spalding enthielt und Goeze damit für die Geschichte der SpaldingEdition gleichsam zum Ausgangspunkt machte. Die mit den Hintergründen nicht vertrauten Leser mag es verwundert haben, dass Goeze die Bestimmung des Menschen, ohne auf deren beigegebenen Wiederabdruck zu verweisen, in einer deutlich abweichenden Textgestalt zensiert und zitiert hat. Zunächst stimmt Goeze auf den Text des Unbekannten ein Loblied an. Es sei eine angenehme Lektüre, heißt es einleitend (4) und, respondierend, noch einmal am Ende (26).
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Für Januar 1748 ist zudem ein Besuch Gleims bei von Stille in Halberstadt bezeugt (Lange an Gleim, 13.01.1748 [Gleimhaus Halberstadt, Hs. A. 2553]). Hingegen dürfte es kaum wahrscheinlich sein, dass die engen Gleim-Freunde Samuel Gotthold Lange oder Johann Peter Uz, die annähernd zeitgleich mit Goeze in Halle studiert hatten, als Mittelsmänner fungierten, zumal die in der fraglichen Zeit von Lange und Uz an Gleim gesandten Briefe das Thema mit keiner Silbe erwähnen. Vgl. die durchsuchbare Bestandsliste des Archivs Gebauer-Schwetschke unter der URL: https://secure3.halle.de/archiv/dokoartwahl.FAU?sid=0EDC29581&DM=1&OART=24 (22.03.2010). Nachrichten von einer Hallischen Bibliothek. Achtes Stück. Im August 1748. Halle 1748, S. 192. Goeze an Gebauer, 17.08.1748 (Stadtarchiv Halle, Nachlaß Gebauer 1748). Ebd. „Mein Bruder hat mir gemeldet, daß Ew. Hochedl. einiges Verlangen bezeuget, meine Meinung wegen des Titels meines kleinen Aufsatzes zu erfahren. Es komt darauf an, ob es Ew. Hochedl. noch gefällig, nach dem Rathe Sr. Magnificenz des H. D. Baumgarten, die Betrachtung von der Bestimmung des M. selbst von neuem mit abdrucken zu laßen; so müßte unmasgeblich der Titel so lauten: ‚Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, nebst einigen Gedanken, worin verschiedene Sätze derselben beurtheilet werden, in einem Sendschreiben entworfen von G.[’] Solte aber mein Aufsatz allein abgedruckt werden, so könnte der Titel bleiben, welcher Ew. Hoched. bereits in dem achten Theile der Hall. Bibl. bekant gemacht haben“ (ebd.).
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Der gute Eindruck wird sogleich konkretisiert: erst durch das Lob der logischen und sprachlichen Form, dann durch ein im Wesentlichen zutreffendes Referat des Gedankengangs (4–6). In deutlicher Aufnahme einschlägiger Metaphorik wird der Verfasser sogar als Aufklärer gepriesen (5). Indessen bricht die Eloge kurz darauf ab und wird von Goeze nachträglich zu bloßer Taktik entwertet: Er habe sich damit nur als unvoreingenommen erweisen wollen (6). Seine Kritik fasst Goeze in vier fundamentale Einwände zusammen. Der erste lautet auf „Undankbarkeit gegen die göttliche Offenbarung“ (7, 14). Da der Verfasser unbestreitbar aus dieser Quelle geschöpft habe, wäre er auch schuldig gewesen, seine Leser darauf zu verweisen (7). Seien doch die eschatologischen Gewissheiten nun einmal nicht aus der Vernunft zu beziehen (8). Zwar hätten die Heiden durchaus entsprechende Mutmaßungen geäußert, oft genug freilich auch deren Gegenteil (8f.). Und soweit sie damit in die richtige Richtung verwiesen, habe es sich höchstwahrscheinlich um „Ueberbleibsel […] aus einer unmittelbaren göttlichen Offenbarung“ gehandelt (9). Im Übrigen seien dem Verfasser zwei kardinale Denkfehler unterlaufen. Wenn er Fähigkeiten verspüre, die eines Wachstums ins Unendliche fähig sind, so schließe er damit „von dem Möglichen auf das Wirkliche“, was zwar „den Beyfall einiger leichtgläubiger Gemüther“ erzielen könne, jedoch einen „harte[n] Gegner“ wie etwa Voltaire zu der gegenteiligen Schlussfolgerung provoziere (9f.). Außerdem inkriminiert Goeze, übrigens in Bezug auf eine in der Druckfassung von Spalding getilgte Stelle, es sei logisch unzulässig, aus der Unverweslichkeit der Seele deren Unsterblichkeit abzuleiten (11). Kurzum: Auch wenn für Goeze die Unsterblichkeit der Seele selbstverständlich nicht zweifelhaft ist, sei mit den Beweisen, die der Verfasser, die Offenbarung ausblendend, „erfunden hat“, weder der Verstand zu überzeugen noch der menschliche Wille zu lenken (13). Eben dies ist ihm „Undankbarkeit gegen die Offenbarung“ (14). Deren Grund kennt er genau: Der unbekannte Verfasser sei das Opfer seiner „natürliche[n] Eigenliebe“ (13) geworden, indem er Offenbarungswahrheiten zum Erweis der eigenen Geistesstärke missbrauche (13f.). Goezes zweiter Einwand läuft auf den Vorwurf des Pelagianismus hinaus. Zwar sei er „mit dem Verfasser vollkommen einig, daß uns nichts mit den Absichten der höchsten Regierung übereinstimmig machen kan, als unsere innerliche Richtigkeit“ (16). Freilich sei diese „Richtigkeit“ niemals aus eigener Kraft zu erlangen, sondern allein aus den „übernatürlichen Kräften der Gnade“ (21). Dass der Unbekannte die „mächtige[n] und gefährliche[n] Feinde in dem Innersten unserer Seele“ (18) verkennt, gründet für Goeze in dessen massivem Defizit an Lebenserfahrung (14, 16, 18, 20), das wiederum dessen fataler „Eigenliebe“ geschuldet sei (16). Demgegenüber ruft Goeze „die allgemeine Erfahrung zum Zeugen“ (18) auf, dass ein aus natürlichen Kräften tugendhaft gewordener Mensch ebenso irreal sei wie der platonische Staat (20). Als dritten Einwand konstatiert Goeze eine Bagatellisierung der menschlichen Angst vor dem Tod. Wenn der Unbekannte von sich behaupte, „daß alle meine Vergnügungen mit der Vorstellung vom Tode sich vollkommen“ vertrügen, so „erzehlet
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[er] uns den grossen Sieg, welchen er erhalten, und verschweiget uns die Waffen und die Mittel, wodurch er denselben erfochten“ (22). Goeze glaubt sich mit „alle[n] grosse[n] Philosophen“ verbunden, wenn er entgegenhält, dass der Todesgedanke „einem natürlichen sich selbst gelassenen Menschen allemal erschrecklich“ (24) sei. Standhafte Hoffnung gewähre allein die Offenbarung (24). Die Liste der Einwendungen kulminiert in der Attacke auf die von Goeze gründlich missverstandene Figur der regulativen Idee, also auf die Auskunft des Unbekannten, er würde sich „aufs möglichste hüten“, seine Einsicht in die Bestimmung des Menschen „falsch zu finden, wenn sie es auch seyn könte“ (25). Fassungslos fragt Goeze, wie man „sein Herz beruhigen, und seinen Geist befriedigen“ könne, „so lange man das Gegentheil von dem, was man hoft und glaubt, für möglich hält“ (25). Gehe doch „unbewegliche Gewisheit“ einzig aus dem „Licht der Gnade“ hervor (26). Nicht nur philosophisch, auch theologisch – man denke an das Röm. 4,18 entlehnte Motiv „spes contra spem“ – artikuliert sich bei Goeze ein erstaunlich restringiertes Problembewusstsein. Indessen desavouiert er die Position des Unbekannten abermals als Ausdruck eines sittlichen Defektes: Waren es in den ersten beiden Fällen die Eigenliebe und im dritten die Überheblichkeit, die ihn verblendet hätten, so jetzt die unbewältigten und darum in seinem Herzen erneut „aufsteigenden Nebel der Zweifel“ als „die richtigsten Vorboten eines bald darauf folgenden Sturms der Begierden“ (25). Der freche Aufklärer, dem die allein aus dem „Licht der Gnade“ zuströmende „unbewegliche Gewisheit“ (26) verwehrt ist, scheint überführt, sein Rückfall auf die unterste Stufe der Sinnlichkeit unabwendbar. Die von Goeze eingebrachten Monenda tangieren zentrale fundamentaltheologische Fragen. Zumal sein Pelagianismus-Vorwurf berührt einen zwischen aufklärerischer und spätorthodox-pietistischer Theologie aufgebrochenen anthropologischen Grunddissens. Gleichwohl scheint Goeze den inkriminierten Text Spaldings dreifach missverstanden zu haben. Zum einen verkennt er dessen gradualistische Denk- und Argumentationsstruktur, indem er die von Spalding skizzierte Stufenfolge nicht als ein Aufgehen in das nächsthöhere Ganze, sondern jeweils als antithetische Überwindung begreift. Zum andern verkennt Goeze den transzendentalphilosophischen Vorbehalt des von Spalding als regulative Idee in Anschlag gebrachten Gottes- und Unsterblichkeitsgedankens. Während Spalding die Selbstvergewisserungsfähigkeit des menschlichen Denkens erkundet und dabei zu Einsichten findet, an deren Wahrheit ihm so viel gelegen ist, dass er sie selbst dann festhalten würde, wenn sie falsch sein könnten, pocht Goeze auf eine offenbarungstheologisch garantierte, unangefochtene Gnadengewissheit. Darin manifestiert sich zugleich ein drittes Missverständnis: Goeze verkennt die von Spalding gewählte literarische Form. Naturgemäß kann die von Spalding popularphilosophisch inszenierte menschlich-vernünftige Selbsterkundung allenfalls zu subjektiven Gewissheiten führen. Goeze hingegen klagt supranaturale Sicherheit ein und vollzieht darum, anders als Spalding, immer wieder den Rekurs auf unangefoch-
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tene Autoritäten, so auf Pierre Bayle (24), Johann Lorenz von Mosheim (12, 20) und, alles überragend, die heilige Schrift (21, 24, 26). Indem sich Goeze dem von Spalding begonnenen und selbst noch von Fichte beipflichtend fortgeführten philosophischen Diskurs um die Bestimmung des Menschen verweigert, überspitzt er das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, das bei Spalding analogisch gedacht ist, zur unversöhnlichen Antithese. Nicht Spalding, sondern Goeze hat damit die von der Übergangstheologie eines Baumgarten vertretene Synthese gesprengt.77 Hatte Goeze noch 1742 „Die künftige Auferstehung der Todten, als eine Lehre, die nach den Gründen der Vernunft möglich und glaubwürdig […] ist“,78 zu konzedieren vermocht, so war ihm nun jene Transparenz zwischen Vernunft und Offenbarung schlechthin suspekt. Ob dies nur als ein Rückgang aus der BaumgartenSchule in vermittlungslos orthodoxe Positionen zu verstehen ist oder möglicherweise zugleich die Aufnahme einer pietistischen Traditionsspur andeuten könnte, markiert eine Frage, für deren auf das Gesamtwerk Goezes ausgreifende Bearbeitung sich ertragreiche Einsichten nicht ausschließen lassen.79
4. Spaldings indirekte Repliken Aus den Initialen des Verfasser- und Ortsnamens80 hatte Spalding mühelos den Autor der gegen ihn gerichteten Streitschrift erraten. Umgehend entwarf er einen an Goeze adressierten Verteidigungsbrief,81 von dessen Absendung er sich dann aber durch Gleim und Sulzer abhalten ließ.82 Stattdessen fügte er der 1749 erschienenen Neuauflage einen Anhang83 hinzu, in dem er den Ascherslebener Fehdehandschuh aufnahm, jedoch den Angriff nicht direkt erwiderte, sondern in die konstruktive Erläuterung der eigenen Position überführte. 77 78
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Gegen Boehart, (wie Anm. 25), S. 152f. Goeze, Johann Melchior, Die künftige Auferstehung der Todten, als eine Lehre, die nach den Gründen der Vernunft möglich und glaubwürdig, und nach der Offenbarung unleugbar und gewiß ist. Aus Apost.Gesch. XXVI. 8 erwiesen […], in: Der Beweis des Lehrsatzes: Die Todten werden auferstehen. Nach Anlaß der öffentlichen Aufgabe in Vorber. des III. Th. der Canzelreden nach den Gründen des Glaubens und der Vernunft in einigen Reden von berühmten und begabten Lehrern ausgeführet. Zweyter und letzter Theil […]. Hamburg, Leipzig 1742, S. 127–176. Vgl. etwa Goezes Widerspruch gegen die von Friedrich Germanus Lüdke (Vom falschen Religionseifer. Berlin 1767) propagierte Indifferenz gegenüber allen moralisch irrelevanten religiösen Lehren, in welchem er die pietistischen Streitigkeiten mißbilligt und insbesondere Ph. J. Spener und die Halleschen Pietisten in Schutz nimmt (Goeze, Johann Melchior, Die gute Sache des wahren Religions-Eifers, überhaupt erwiesen: insonderheit aber gegen den Verfaßer des zu Berlin 1767 herausgekommenen Tractats vom falschen Religions-Eifer vertheidigt. Hamburg 1770). Goeze, Gedanken, (wie Anm. 68), hatte auf dem Titelblatt seinen Namen mit „G***“ und in der abschließenden Datierung seines Textes den Ort mit „A.“ (= Aschersleben) abgekürzt (ebd., S. 26). Spalding, Lebensbeschreibung (SpKA I/6-2), S. 133,33f. Spalding an Gleim, 15.1.1749 (SpKA I/6-2), S. 39,30–40,1. Anhang bey der dritten Auflage, in: [Spalding, Johann Joachim], Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. Dritte und vermehrte Aufl. Berlin 1749, S. 26–32.
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Damit suchte Spalding zu zeigen, dass der offenbarungstheologische Rahmen, den Goeze eingeklagt hatte, für ihn selbstverständliche Voraussetzung war. Indem Spalding den Druck von 1749 als die dritte Auflage zählte, hat er die Goeze-Edition als zweite Auflage der Bestimmung des Menschen nostrifiziert. Den Zweck des Anhangs erklärt Spalding, den wahren Anlass verschleiernd, als Reaktion auf eine illegitime Rezeption der Bestimmung des Menschen, in der seine Schrift zur deistischen Verunglimpfung des christlichen Glaubens missbraucht worden sei.84 Nur ungern kehre er zu dieser längst ausgetragenen Kontroverse zurück. Lediglich fünf Hauptbeweise wolle er rasch dafür erwähnen, dass sein Konzept nicht in Konkurrenz zur Offenbarungsreligion stehe, sondern im Gegenteil jedermann „zu der aufrichtigsten und tiefsten Hochachtung gegen die Lehre Christi“ bewege.85 Zum einen sei „die Religion der H. Schrift“ der beste Zeuge für die Wahrheiten der vernünftigen Religion, mit deren Zielvorgabe – nämlich „Besserung und Glückseligkeit“ – die [!] „Stifter unsers Glaubens“ nahtlos übereinstimmten.86 Es sei ihm denn auch schlechhin unbegreiflich, wie man einerseits die natürliche Religion wertschätzen und andererseits eine „Glaubenslehre“ verachten könne, welche die natürliche Religion allererst deutlich, wirksam und vollständig mache.87 Zum andern habe sich spätestens in der Deismus-Debatte unhintergehbar erwiesen, „daß keine natürliche Religion in der Welt seyn würde, wenn keine geoffenbarte wäre“.88 Die menschliche Vernunft sei schlechterdings außerstande, aus eigenen Kräften sich zu Gott zu erheben. Erst die göttliche Ur-Offenbarung sowie deren neutestamentliche Präzisierung hätten eine natürliche Gotteserkenntnis möglich gemacht.89 Die sich daraus ergebende Dankesschuld gegen die göttliche Güte verpflichte ferner dazu, „den eigenthümlichen Lehren des Christenthums“90 Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Den materialen Mehrwert der christlichen Religion erkennt Spalding in neuen Wahrheitsbeweisen, neuen Bewegungsgründen und vor allem neuen Vertrauensursachen, die angesichts des nun einmal herrschenden Verderbens ganz unentbehrlich seien.91 Durch das „Hinabsteigen in uns selbst“92 entdeckten wir unsere untilgbare Schuld gegen Gott. Die dadurch ausgelöste Reue und Scham lasse die Menschen empfänglich werden für die „Versicherungen des Evangeliums“, die Spalding in einer geradezu anselmisch anmutenden Versöhnungslehre reformuliert: Um die kosmische Ordnung wiederherzustellen, habe Gott „einen Mittler verordnet […], dessen Tod zu
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Ebd., S. 26f. Ebd., S. 27. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 28f. Spalding, Johann Joachim, Die Bestimmung des Menschen nebst einigen Zugaben. Neue, vermehrte Auflage. Leipzig 1794, S. VII.
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einem allgemeinen Opfer für die Sünden der Menschen“ und zum „Pfande ihrer Wiederaufnehmung gereichen soll“.93 Überdies erweise sich die Unersetzlichkeit der christlichen Offenbarung darin, dass die Lobredner der natürlichen Religion „nichts weniger als Andächtige und Heilige sind“.94 Zureichende Willenskraft und eine „gutgeartete Sele“ zu gewinnen, sei der Natur des Menschen verwehrt. Weshalb sei dann aber, fragt Spalding schließlich, das „Wesentliche und Eigenthümliche des Christenthums“, das er in den Themen Buße, Versöhnung und Gnade konkretisiert, in seiner Bestimmung des Menschen gar nicht erwähnt?95 Schlicht deshalb, weil dort ein anderes Thema, nämlich „die Geschichte der Empfindungen eines ehrlichen Mannes“96 erzählt worden sei. Mich dünkt: Wer die gerade Strasse nach einem Orte bezeichnen will, der macht sich nicht verbindlich, die Wege und Mittel anzuzeigen, wodurch ein Verirrter wieder darauf zurück gebracht werden kann. Dieß ist eigentlich eine Arbeit von ganz anderer Art.97
Den Wunsch, Spalding möge auch diese „Arbeit von ganz anderer Art“ noch in Angriff nehmen, weil er wie kein anderer zu ihr prädestiniert sei, hat Iselin in seiner Rezension von 1770 zum Ausdruck gebracht. Näherhin regte er Spalding zur Abfassung eines Andachts- und Gebetsbuches an.98 Zwar ist es dazu, wie man weiß, nicht gekommen. Jedoch bietet die umfangreiche, breit rezipierte Predigtpublikation Spaldings einen veritablen Ersatz. Den Anhang hat Spalding bis zur vorletzten Auflage (1774) tradiert. Erst in der letzten von ihm besorgten Ausgabe (1794) ist er entfallen. Goeze war 1786 gestorben, der unterdessen fast ein halbes Jahrhundert zurückliegende Konflikt längst Geschichte geworden. Doch lebte die Intention des Anhangs in zwei anderen Ergänzungen fort. Seit 1768 ließ Spalding dem Text eine knappe Einleitung99 vorangehen, die den „Mensch[en], der in dem Folgenden spricht“, charakterisierte. Er sei christlich erzogen und habe sich in der „Unschuld seiner angehenden Jünglingsjahre“ die ererbte Offenbarungsreligion zu eigen gemacht. Dann aber sei sein Kinderglaube durch verführerische Vergnügungen, aufkeimende Zweifel und „Sophistereyen des Unglaubens“ ins Wanken geraten.100 In dieser Zerreißprobe habe er sich auf eine vorurteilslose, in ihrem radikalen Aufklärungspathos an den Eingang der cartesischen Meditationes erinnernde Suche nach der Bestimmung des Menschen begeben.101 Dass diese Suche in
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Spalding, Anhang, (wie Anm. 134), S. 29f. Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd., S. 31f; entsprechend bereits ebd., S. 27. Ebd., S. 32. Iselin, (wie Anm. 8), S. 262. Spalding, Bestimmung des Menschen, 1794, (wie Anm. 92), S. 1–5. 100 Ebd., S. 2f. 101 Ebd., S. 4f.
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selbstverständlicher Kenntnis des christlichen Glaubens vonstatten geht, war damit auf neue Weise zum Ausdruck gebracht. Diese Voraussetzung hat Spalding in den 1794 eingefügten Schlußgedanken102 autobiographisch verifiziert. Rückblickend sieht er sich in dem einst eingeschlagenen Denkweg noch immer bestärkt.103 „Unangenehme Umstände“, darunter gewiss auch das Sterbelager des Vaters, hätten ihm damals den „Widerstand gegen stark versuchende Thorheiten“ erleichtert.104 Dankbar sei er vornehmlich dafür, dass ihn die „Fürsehung“ in christianisierten Verhältnissen habe aufwachsen lassen.105 Mochte der genossene „christliche Unterricht“ auch mit „unverständlichen Gedächtnißformeln“ und „unfruchtbaren Spitzfindigkeiten“ vermengt gewesen sein,106 so habe das darin enthaltene „einfache, unverkennbare Wahre und Gute“ doch bleibenden Eindruck auf ihn gemacht, indem es sein Urteilsvermögen zu schärfen und seine Vernunft „mit dem recht verstandenen Geiste des Christenthums“ zu versöhnen vermochte.107 Als wolle er den Wunsch des 1782 verstorbenen Iselin postum zu Ehren bringen, beschließt Spalding die Schlußgedanken mit einem langen Gebet.108 Darin fasst er seine in jenem alten Streit explizierten Denkvoraussetzungen noch einmal doxologisch zusammen. In hymnischer Sprache dankt er Gott für seine Teilhabe an der „unendlichen Seligkeit“109: „O daß ich doch nie diese meine so gänzliche Abhängigkeit von dir vergessen […] möge […]!“110 Die kleine, aber ungemein sachhaltige, in ihren Folgen sehr weitreichende Kontroverse mit Goeze scheint mir ein Musterbeispiel dafür zu sein, wie Spalding einen gleichermaßen aus positionellem Dissens und hermeneutischer Unzulänglichkeit gespeisten Widerspruch für die eigene theologische Rechenschaft fruchtbar zu machen vermochte. Rezipiert man jene frühe Auseinandersetzung in ihrem problem- und zeitgeschichtlichen Horizont, so bestätigt sich einmal mehr, dass es die religionstheologische Reflexionsarbeit gewesen ist, die ein, wenn nicht sogar das Schlüsselthema der Aufklärungstheologie ausmachte – und also keinesfalls nur, wie Karl Aner einst suggerierte, der Streit um eine sachgemäße Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung.111
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Ebd., S. 162–174. Ebd., S. 162f. Ebd., S. 164. Ebd., S. 164f. Ebd., S. 166. Ebd., S. 167. Ebd., S. 169–174. Ebd., S. 169f. Ebd., S. 171. – Diese durch Schleiermacher berühmt gewordene Formel begegnet, leicht variierend, mehrfach bei Spalding: Vgl. etwa SpKA I/3, S. 70,24–26, S. 193,21f., S. 200,20f.; SpKA I/4, S. 80,28f., S. 118,25f.; SpKA I/5, S. 36,24f., S. 97,13–15, S. 98,28–99,2; vgl. ferner die Schrift Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum. Leipzig 31769, S. 29. 111 Aner, Karl, Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, Nachdruck Hildesheim 1964, S. 4. – Noch die Darstellung von Gericke, Wolfgang, Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung. Leipzig 1989 (KiE III/2) war diesem Ansatz verpflichtet.
DANIEL CYRANKA (Halle)
„Warum nicht?“ Lessings Äußerungen zur Seelenwanderung
Das hier zu verhandelnde Thema berührt verschiedene Debatten und Forschungsinteressen. Ausgangspunkt für die Fragestellung ist die Beobachtung, dass der Name Gotthold Ephraim Lessing in den unterschiedlichsten Texten, die sich mit Seelenwanderung oder Reinkarnation auseinandersetzen, auftaucht. Meist an prominenter Stelle. Der bekannteste Text sind die Schlußparagraphen der 1780 vollständig von Lessing publizierten kurzen Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts. Allerdings trat er selbst öffentlich nur als Herausgeber des Textes in Erscheinung. Mehrfach fragte Lessing hier im Blick auf das Wiederkommen des Menschen nach dem Tod auf diese Erde bzw. in die Geschichte: „Warum nicht?“ Auf die überaus reiche und vielfältige Wirkung, die dieser kurze, aber bedeutende Text und einige andere kleine Hinweise und Textfragmente Lessings in den Debatten über Seelenwanderung und Reinkarnation haben, und auf den Stand der Lessing-Forschung zu dieser Frage soll hier nur stichpunktartig und exemplarisch verwiesen werden.1
1. Zur Wirkung Lessings in alternativ-religiöser bzw. esoterischer Literatur Gehet hin und leset euren Lessing, den wir Spiritisten stolz den unseren nennen! In hoc nomine vincemus! Er hat nicht blos vorahnend alles ausgesprochen, was der Spiritismus jetzt lehrt, sondern er hat vor allem einer andächtig seinen Worten lauschenden Nation das grosse Wort: Toleranz! zugerufen.2
Diese schönen Sätze schrieb Carl von Rappard, Vizepräsident der „Wissenschaftlichen Gesellschaft für psychologische Studien“ in Paris sowie Mitglied der Direktion der spiritistischen Zeitschrift Licht, mehr Licht!, im Jahre 1882.3 Von Rap1 2 3
Weiterführend: Cyranka, Daniel, Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung. Göttingen 2005. Rappard, Carl von, Der Spiritismus und sein Programm. Gotha 1883, S. 15. Er veröffentlichte 1882/83 in dieser Zeitschrift einen mehrteiligen Leitartikel unter dem Titel „Der Spiritismus und sein Programm“; vgl. Rappard, Carl von, Der Spiritismus und sein Programm, in: Licht, Mehr Licht! Spiritistisches Sonntagsblatt. Redigiert von unabhängigen Forschern des In- und Auslandes 4 (1882/83), S. 89–92, 97–100, 105–107, 113–115, 121–123. Der Text erschien noch einmal Anfang 1883, vgl. Rappard, (wie Anm. 2) sowie im Jahre 1912
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pards Beitrag, eine Art Programmschrift des kardecistischen Spiritismus, endet mit praktischen Ratschlägen unter dem Titel „Anweisung zum spiritistischen Experimente“. Auf Lessing nahm von Rappard in diesem Text vielfach Bezug. Er grenzte den deutschen Spiritismus, den er in Anlehnung an Allan Kardecs (Hippolyte Léon Denizard Rivail, 1804–1869) Buch der Geister von 1857 formulierte, klar vom amerikanischen Spiritismus, für den der Name Andrew Jackson Davis (1826– 1919) steht, ab. Neben anderen Differenzpunkten benannte er vor allem das Thema Seelenwanderung – im Anschluss an Kardecs neue Begrifflichkeit „Reinkarnation“ genannt.4 Als Quelle für den von ihm vertretenen Gedanken der „Wiedereinverleibung“ benannte von Rappard wiederum Lessing. Allan Kardec habe diese Lehre zwar durch Geistermitteilungen erhalten: Allan Kardec adoptirte sie aber nicht, weil Geistermittheilungen ihn darauf hinwiesen und sie gewisser Massen voraussetzten, nicht weil der grösste Teil der indogermanischen Völker in der Urzeit diesem Glauben gehuldigt hat (Indier, Griechen, Römer, Kelten, spurweise auch Perser, Germanen, Slaven), nicht weil die grössten Geister des Alterthums und hervorragende Männer der neueren Zeit (unter ihnen Lessing*) sich zu ihm bekannt haben, sondern einfach darum, weil sie vernünftig ist.5
Zu Lessing, dem „Spiritisten“, bot von Rappard eine sehr lange Anmerkung über das Thema Präexistenz und Wiedereinverleibung. Hier finden sich die einzigen ausführlichen Zitate in seiner Programmschrift – alle von Lessing. So schrieb er einleitend: „Da es selbst in Kreisen Hochgebildeter wenig bekannt ist, dass unser grosser Lessing bereits vor mehr als hundert Jahren die Grundsätze des modernen Spiritismus gelehrt hat, so möge hier der Nachweis folgen.“6 Nach einem Hinweis auf Lessings Bemerkungen über die Schwärmer des 13. und 14. Jahrhunderts in der Erziehungsschrift zitierte von Rappard die bekannten §§ 90 bis 100 aus diesem Text. Im Anschluss bezog er sich ausführlicher auf ein Fragment Lessings, das von Karl Lessing aus dem Nachlass unter dem Titel Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können veröffentlicht worden war.7
4
5 6 7
(Rappard, Carl von, Der Spiritismus und sein Programm dargelegt von einem Deutschen. Leipzig 2. Aufl. [1912]). Vgl. Rappard, (wie Anm. 2), S. 43f. Bislang gilt Allan Kardecs Buch der Geister von 1857 als erster Beleg für den Neologismus „Reïncarnation“; vgl. Zander, Helmut, Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute. Darmstadt 1999, S. 474. Rappard, (wie Anm. 2), S. 46f. Ebd., S. 47 Anm. Vgl. ebd., S. 48 Anm.; von Rappard zitierte hier aus: Lessing, Karl Gotthelf, Gotthold Ephraim Lessings Leben, nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse, Bd. 2. Berlin 1795, S. 77. Er beschloß die ausführliche Fußnote mit einem Hinweis auf seine Quelle: „Wer über diesen interessanten Gegenstand noch etwas mehr lesen will, den verweisen wir auf eine kleine verdienstliche Abhandlung des jüngst verstorbenen Prof. Franz Hoffmann in Würzburg: ‚Die Unsterblichkeitslehre G. E. Lessing’s‘ (Psychische Studien. Herausgeg. v. A. Aksakow. VI. 7.). Aber schon die Stellen, die wir in dieser Anmerkung hervorgehoben haben, beweisen auf das Evidenteste, dass der moderne Spiritismus Allan Kardecs sich in seinen grossen Umrissen bereits vollkommen ausgeführt bei unserm grossen Lessing findet und dass wir mit Recht in
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Die spiritistische Programmschrift Carl von Rappards belegt exemplarisch, dass Lessings kurze Äußerungen zur Seelenwanderung spätestens um 1882 im Umfeld des kardecistischen Spiritismus in Deutschland als Vorabbildungen der eigenen Positionen angesehen und in Anspruch genommen wurden. Von diesem und von anderen vergleichbaren Texten aus lassen sich Verbindungen zu theosophischen und anthroposophischen Debatten erkennen, die wiederum in der modernen populären Esoterik und bspw. auch in neohinduistischer Literatur weiterwirken.8 Auf die Fülle der literarischen Spuren dieser Lessing-Texte kann hier nur hingewiesen werden. Sie ist Gegenstand eigenständiger Untersuchungen.9
2. Lessing in der religionsgeschichtlichen Forschung Für die große Bedeutung von Lessings Äußerungen zur Seelenwanderung in religionsgeschichtlicher Forschungsliteratur sei stellvertretend und zusammenfassend nur auf die große Monographie Helmut Zanders, Geschichte der Seelenwanderung in Europa, von 1999 hingewiesen.10 Bereits im ersten Satz der Einleitung geht Zander auf Lessings Erziehungsschrift ein und folgert dann: „Seit Lessing gibt es eine Autorität, auf die man sich berufen kann, wenn man Seelenwanderungsvorstellungen für vernünftig hält.“11 Lessing ist in Zanders Darstellung der entscheidende Popularisator des Seelenwanderungsgedankens, seine Erziehungsschrift gilt ihm als „Prinzipienlehre der europäischen Esoterik“.12 Ein Überblick über die weiteren religionsgeschichtlichen und theologischen Beiträge zum Thema zeigt darüber hinaus, dass sich in diesem Kontext der ursprünglich spiritistische Terminus „Reinkarnation“ in den letzten Jahrzehnten zu einem religions- und kulturgeschichtlich übergreifenden Oberbegriff für unterschiedlichste Vorstellungen und Zusammenhänge entwickelt hat.13 Damit ist aber der Diskurs über das Thema keinesfalls als eine Art zusammenhängende Ideengeschichte der ältesten eschatologischen Vorstellungen ausgemacht, sondern als ein religions- und geistesge-
8 9 10 11 12 13
unseren Leitartikeln zu wiederholten Malen auf Lessing als einen Vorläufer des modernen Spiritismus uns bezogen haben.“ (Rappard, [wie Anm. 2], S. 48 Anm.) Vgl. z. B. die von Eder, August Paul besorgte Auflage des Textes (wie Anm. 3). Vgl. Cyranka, (wie Anm. 1). Zander, (wie Anm. 4). Ebd., S. 11. Ebd. Vgl. zuerst Benz, Ernst, Die Reinkarnationslehre in Dichtung und Philosophie der deutschen Klassik und Romantik, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 9 (1957), S. 150– 175 sowie z.B. auch Scheffczyk, Leo, Der Reinkarnationsgedanke in der altchristlichen Literatur. München 1985 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 1985, 4). Stellvertretend für die neuere und neueste Literatur: Schmidt-Leukel, Perry, Die Idee der Reinkarnation in Ost und West. München 1996 (Schriftenreihe der Gesellschaft für europäisch-asiatische Kulturbeziehungen 1); Obst, Helmut, Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee. München 2009.
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schichtlich relativ neues Phänomen, in dem Texte Lessings – allerdings in argumentativ äußerst heterogener Weise – eine Rolle spielen. Das Stichwort Reinkarnation gilt in der religionsgeschichtlichen und theologischen Forschung inzwischen weithin als Begriff für eine religions- und kulturgeschichtlich übergreifende Kategorie. Doch das lässt sich von der historischen Genese des Diskurses her nicht belegen. Zur Problematik der Disparatheit der Kontexte und Theoreme des so genannten Reinkarnationsgedankens verweise ich auf die Anfragen von Michael Bergunder.14 Bergunder fragt, welchen heuristischen Wert es habe, völlig disparate Konzepte religionsgeschichtlich unter einem gemeinsamen Oberbegriff zu klassifizieren.15 Darüber hinaus ist zu fragen, was es bedeutet, wenn Schlagwörter wie Metempsychose, Palingenesie oder Seelenwanderung so wirksam werden. Handelt es sich vielleicht um ganz andere, um neue Debatten- und Diskurslagen? Hier soll nach der Bedeutung Lessings für diese Debatten gefragt werden und zwar insoweit, als diejenigen seiner Texte in den Blick kommen, die in esoterischer und religionsgeschichtlicher Literatur zum Thema Seelenwanderung und Reinkarnation Wirkung zeigen. Wesentlich ist es jedoch, auch die Debatten der Lessing-Forschung zu beachten, die sich seinen Texten in anderer Perspektive und mit anderen Fragestellungen nähert. Dies soll an dieser Stelle jedoch ebenfalls nur exemplarisch geschehen.16
3. Lessing und die Seelenwanderung in der Lessing-Forschung Auch die Lessing-Forschung bleibt von den änigmatischen Äußerungen zur Seelenwanderung selbstverständlich nicht unberührt. Als jüngstes Beispiel mag hier das 2003 erschiene Buch Lessings Horizonte von Karl S. Guthke gelten, in dem einmal mehr das Stichwort „Toleranz“ bei Lessing v.a. im Hinblick auf religiöse Toleranz in drei systematisch orientierten Zugängen untersucht wird.17 Unter der Überschrift „Der Blick auf die Weltkarte: Toleranz global“ skizziert Guthke Lessing als den Vertreter einer Beförderung von Toleranz. In den beiden anderen 14 15 16
17
Bergunder, Michael, Reinkarnationsvorstellungen als Gegenstand von Religionswissenschaft und Theologie, in: Theologische Literaturzeitung 126 (2001), Sp. 701–720. Ebd., Sp. 716. Zur Diskusssion der Lessing-Forschung vgl. Cyranka, (wie Anm. 1), S. 146–203. Im LessingHandbuch wird diese Debatte erneut aufgegriffen werden. Die dritte, überarbeitete Auflage erscheint voraussichtlich 2010 im Metzler-Verlag Stuttgart. Das Thema „Lessings Toleranz“ ist beispielsweise auch von Gerd Hillen problematisiert worden, da es in Kontrast zu einem anderen wichtigen Deutungsrahmen steht – Lessings Kritik und Polemik; vgl. Hillen, Gerd, Toleranz und Wahrheit. Absicht und Grenzen der Toleranz Lessings, in: Freimark, Peter u.a. (Hg.), Lessing und die Toleranz. Beiträge der vierten internationalen Konferenz der Lessing Society in Hamburg vom 27. bis 29. Juni 1985, Sonderband zum Lessing Yearbook. Detroit, München 1986, hier S. 186–197, S. 186. Für das Thema insgesamt ist immer noch einschlägig Schultze, Harald, Lessings Toleranzbegriff. Eine theologische Studie. Göttingen 1969.
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Zugängen „Der bestirnte Himmel: Toleranz kosmisch“ und „,Die Ökonomie des Heils‘: Toleranz historisch“ geht Guthke u.a. auch auf Lessings Äußerungen zur Seelenwanderung ein. Unter dem Stichwort „Toleranz kosmisch“ wertet er Lessings Beschäftigung mit Charles Bonnets Philosophischer Palingenesie, wie sie sich im Fragment über die Sinne niederschlägt, aus.18 Im Gegensatz z.B. zu Alexander Altmanns Untersuchung von 1976, auf die noch kurz zurückzukommen sein wird, findet sich bei Guthke eine systematisierende Zusammenschau verschiedener Äußerungen Lessings zum Thema Seelenwanderung. In seiner Darstellung der Lessingschen Toleranzvorstellung besteht ein Problem darin, dass in der Erziehungsschrift nicht auf alle Religionen positiv eingegangen werde.19 Um auch diese „Grenze der Toleranz“ für Lessing aufzuheben, verweist Guthke auf die von Lessing in unterschiedlichen Kontexten angedeuteten Seelenwanderungsvorstellungen. Sein Ziel ist es, innerhalb der Texte Lessings eine Heilsmöglichkeit für die Angehörigen derjenigen Religionen zu entdecken, die in der Erziehungsschrift nicht vorkommen, z.B. für die Muslime, die im Nathan so positiv und gleichberechtigt dargestellt sind. Guthke schreibt: So oder so kann man nur hoffen, daß die Anhänger auch jener (geographisch fernen) Religionen zur heilsgeschichtlich rektifizierenden Seelenwanderung qualifiziert sind: wenn nicht zur terrestrischen, so doch zur interplanetarischen. ‚Geographisch‘, ‚interplanetarisch‘, ‚heilsgeschichtlich‘ – auch im Problematischen, sieht man, kommen die drei Horizonte zusammen.20
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19
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„Eine gewisse Analogie zur Erziehung des Menschengeschlechts ist gar nicht zu verkennen. Ebenso wie dort die Entwicklung der Stufenfolge der Bewußtseinsstadien oder Religionen auf unserem Planeten von Gottes wohlwollender Vorsehung geleitet wird, so daß Intoleranz gegenüber Gottgewolltem gar nicht erst aufkommen kann, so auch in Bonnets ‚System‘ die Entwicklung oder der Aufstieg der Seele des Menschen von ihrem Zustand auf unserem Planeten zu immer höheren Bewußtseinszuständen (mit verfeinerten und vermehrten Sinnen, wohlgemerkt) auf anderen Planeten im Weltraum bis hin zur höchsten spirituellen Vollkommenheit. Das höchste Stadium dieses Ferntourismus der Seele, dessen Reiseroute Gott persönlich festgelegt hat, ist die quasi-christliche Verklärung der Seele in der Aura des Schöpfergottes.“ (Guthke, Karl S., Lessings Horizonte. Grenzen und Grenzenlosigkeit der Toleranz. Göttingen 2003 [Kleine Schriften zur Aufklärung 12], S. 41f.) Das Thema Toleranz kann ich allerdings nicht als grundlegend für die Erziehungsschrift entdecken. Vielmehr ist festzustellen, daß es über das zeitgenössische Judentum keine direkten Äußerungen in diesem Text gibt. Die Religion des Alten Testaments wird im Grundkonzept und in der Durchführung einzelner Themen von Lessing zwar als notwendig, jedoch als inzwischen überholt dargestellt. Über das „rohe und im Denken ungeübte Israelitische Volk“ (vgl. § 27 der Erziehungsschrift) finden sich im Text nur historische Aussagen. Für die Religion des Neuen Testaments gilt tendenziell dasselbe. In der Erziehungsschrift geht es nicht um religiöse bzw. interreligiöse Toleranz, sondern um den Religionsbegriff, der mit der Erziehungskonzeption gegen deistische Kritik und gegen apologetische Übertreibung neu konzipiert wird (näheres s.u.). Die von Guthke herangezogenen Seelenwanderungsäußerungen sprechen gerade nicht für Toleranz gegenüber dem zeitgenössischen Judentum, wenn für Juden eine Wiederkehr auf die Erde als nötig angesehen wird, während der sie zu Christen werden sollen. Darüber hinaus wird in der Erziehungsschrift für (ehemalige) Juden und Christen bei nochmaliger Wiederkehr eine Art vernünftiger postchristlicher Religion in Aussicht gestellt. Ist das tolerant? Unter diesem Gesichtspunkt wäre die Erziehungsschrift alles andere als ein religiös aufgeklärter, toleranter Text! Guthke, (wie Anm. 18), S. 59.
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So formt die Frage nach Lessings Toleranzbegriff ein aufgeklärtes, tolerantes Seelenwanderungsparadigma. Während die Debatten der alternativen Religion und Weltanschauung sowie der Esoterik mehrheitlich drei Texte Lessings verhandeln, die Erziehung des Menschengeschlechts, Lessings Anmerkungen zu Campes Philosophischen Gesprächen aus dem Nachlass sowie das Nachlassfragment Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können, wird in der Lessing-Forschung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch ein Kommentar Lessings in seiner Veröffentlichung der Philosophischen Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem als Quelle für das Thema „Lessing und die Seelenwanderung“ herangezogen.21 Die lange Forschungsdebatte darüber sei hier stellvertretend durch Alexander Altmanns Beitrag von 1976, Lessings Glaube an die Seelenwanderung, vorgestellt.22 Altmann arbeitet heraus, dass Lessing in der Erziehungsschrift und in den Anmerkungen zu Campe eine geschichtsphilosophische Seelenwanderungshypothese vortrage, während das Fragment über die Sinne eine erkenntnistheoretisch-sensualistische Hypothesenform biete. Zusammenfassend stellt er fest: „Keine der beiden Theorien kann als feste philosophische Überzeugung Lessings gedacht werden“.23 Jerusalems Aufsatz Über die Freiheit sowie Lessings Zusatz gelten Altmann als Prototyp für den Kontext der geschichtsphilosophischen Hypothesenform. Lessing antworte mit der Seelenwanderungshypothese auf das verschärfte Theodizeeproblem im Rahmen eines konsequent deterministischen Systems. Aus diesem Zusammenhang leitet Altmann auch das Muster für die Interpretation der Erziehungsschrift ab. Einerseits unterscheidet Altmann also verschiedene Hypothesenformen, andererseits deutet er die Seelenwanderungsthematik von der Determinismus- bzw. Theodizeeproblematik der Jerusalem-Veröffentlichung her. Zu den hier nur exemplarisch präsentierten drei Diskurszusammenhängen ist festzuhalten: In verschiedenen wissenschaftlichen und anderen Debatten über Lessing und die Seelenwanderung werden insgesamt vier Texte verhandelt, deren Interpretation im Rahmen ihrer historischen Kontexte in den nächsten Abschnitten kurz skizziert werden soll. Es geht um die Frage, in welchen Zusammenhängen die Seelenwanderungsäußerungen Lessings auftauchen und auf welche Problemstellungen sie reagieren sowie um die Frage, woher Lessing die Anregung zu seinen Seelenwanderungsäußerungen bekam.
21 22 23
Alle genannten Texte sind leicht zugänglich in den neuen kritischen Ausgaben mit abgedruckt. Altmann, Alexander, Lessings Glaube an die Seelenwanderung, in: Lessing Yearbook 8 (1976), S. 7–41. Zur Foschungsdebatte insgesamt vgl. Cyranka, (wie Anm. 1), S. 146–203. Altmann, (wie Anm. 22), S. 27.
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4. Lessing, Jerusalem und das „zweite System“ Zum ersten Text, der Jerusalem-Veröffentlichung von 1776, ist in aller Kürze Folgendes zu sagen: Innerhalb des Zusatzes zum dritten veröffentlichten Aufsatz Jerusalems, Über die Freiheit, finden sich Formulierungen, die in der Debatte der Lessing-Forschung24 und darüber hinaus25 als Hinweis Lessings auf eine Seelenwanderungshypothese aufgefasst werden. Von Seelenwanderung ist in diesem Text jedoch gar nicht die Rede. Es gibt lediglich den Hinweis auf ein „zweites, gemeinen Augen eben so befremdendes System“,26 das in der Regel als indirekte Äußerung einer Seelenwanderungsvorstellung gedeutet wird. Es lässt sich durch die Analyse der Jerusalem-Veröffentlichung zeigen, dass Lessing – laut Jerusalems Aufsatz – in den Gesprächen 1770/71 keinen inhaltlichen bzw. argumentativen Grund hatte, eine Seelenwanderungshypothese zur Lösung des Theodizeeproblems innerhalb des deterministischen Systems vorzutragen. Lessing hatte in seinen 1770/71 mit Karl Wilhelm Jerusalem (1747–1772) in Wolfenbüttel geführten Gesprächen, die dieser in seinem Aufsatz Über die Freiheit zusammenfasste und ergänzte, für den Freiheitsgedanken votiert, indem er die Frage des Verhältnisses von Wille und Vorstellung als Grenzfrage für den Verstand klassifiziert hatte. Auf der Grundlage eines Buches über deterministisches Naturrecht, das Jerusalems Leipziger Lehrer, der Jurist Karl Ferdinand Hommel (1722– 1781), unter einem Pseudonym gerade veröffentlicht hatte,27 hatten Lessing und 24
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So zuerst wohl angeregt durch Gottschalk Eduard Guhrauer bei Carl Hebler in seinen LessingStudien von 1862; zuletzt ausführlicher bei Alexander Altmann und Martin Bollacher. Der neueste Kommentar (Arno Schilson / Axel Schmitt) fasst diese hier nur angedeutete Entwicklung zusammen. Monika Fick weist in ihrem Lessing-Handbuch ebenfalls auf diese Interpretationsvariante hin. Vgl. Guhrauer, Gottschalk Eduard, Lessings Erziehung des Menschengeschlechts kritisch und philosophisch erörtert. Eine Beleuchtung der Bekenntnisse in Wilhelm Körte’s Albrecht Thaer. Berlin 1841, S. 88f.; Hebler, Carl, Lessing-Studien, Bern 1862, S. 157; Altmann, (wie Anm. 22); Bollacher, Martin, Lessing. Vernunft und Geschichte. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften. Tübingen 1978 (Studien zur deutschen Literatur 56) S. 329; Schilson, Arno, Schmitt, Axel, Kommentar, in: Lessing, Gotthold Ephraim, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen u.a., Frankfurt a.M. 1985ff., hier Bd. 10: 1778–1781: Die Erziehung des Menschengeschlechts, Ernst und Falk, Zur Geschichte und Litteratur V/VI, hg. v. Arno Schilson und Axel Schmitt (2001), S. 661–1306, S. 988 (im folgenden abgekürzt mit B 10); Fick, Monika, Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 22004. Vgl. z.B. Mulsow, Martin, Monadenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1747–1760, Hamburg 1998 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 22), S. 206–211; Zander, (wie Anm. 4), S. 349f. in: Lessing, Gotthold Ephraim, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen u.a. Frankfurt a.M. 1985ff. hier Bd. 8: 1774–1778: Zur Geschichte und Litteratur III/IV, Fragmentenstreit I, Notizbuch der Italienischen Reise, hg. v. Arno Schilson (1989), S. 169 (im folgenden abgekürzt mit B 8). von Joch, Alexander [d.i. Karl Ferdinand Hommel], Über Belohnung und Strafe nach Türkischen Gesetzen. Bayreuth, Leipzig 1770; vgl. ders., Über Belohnung und Strafe nach Türkischen Gesetzen. Neudruck der 2. Ausgabe von 1772, mit Einführung und Erklärungen hg. v. Heinz Holzhauer. Berlin 1970.
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Jerusalem über das Verhältnis von Wille und Vorstellung, über Determinismus und Freiheit diskutiert. Jerusalem schrieb dazu zusammenfassend: Dies alles hat der angeführte Verfasser [Hommel, DC] glücklich aus einander gesetzt, und hierüber waren sie auch mit ihm einig. Nur daß wir keine solche Gewalt über unsere Vorstellungen haben, glaubten Sie noch nicht einräumen zu können. Sie wollten dies lieber für die Grenze unsers Verstandes betrachten, über die unser Forschen nicht reiche. Sie wollten lieber diese Gewalt für eine besondere Kraft unserer Seele halten, die wir nicht weiter erklären könnten. Sie wollten lieber mit andern Weltweisen unser Gefühl hierüber den Ausspruch tun lassen, welches Ihrer Meinung nach laut für die Freiheit spreche.28
Lessing hatte in den Gesprächen demnach klar für die Freiheit votiert. Eine ähnliche Auffassung findet sich auch bei Christian Günther Rautenberg (1728–1776), Prediger an der Martinskirche in Braunschweig, der Henry Homes (Henry Home Lord Kames, 1696–1782) Essays on the Principles of Morality and Natural Religion (zuerst Edinburgh 1751) übersetzt und kommentiert hatte.29 Jerusalem und Lessing hatten sich offenbar auch mit der Position beschäftigt, die Rautenberg gegen Home in seinem Kommentar niedergelegt hatte. In seinem Aufsatz hatte Jerusalem namentlich auf Rautenberg als einen der „Weltweisen“ verwiesen, welche die Freiheit verteidigten.30 Aus Jerusalems Text ist deutlich zu erheben, dass Lessing wie Rautenberg auf der Empfindung, dem Gefühl der Freiheit insistierte. Damit ging es in Lessings Argumentation aber nicht um das Theodizeeproblem, sondern um die Frage von Freiheit und Determinismus. Auch im entscheidenden und oft zitierten Passus seines Zusatzes zur JerusalemVeröffentlichung von 1776 geht es Lessing nicht um Determinismus und Theodizee, sondern um die Frage der Grundlegung des von Jerusalem skizzierten deterministischen Systems. Lessing gibt hier einen Hinweis auf ein zweites System, das gemeinen Augen eben so befremdlich wäre wie das System des konsequenten Determinismus, das eine von Leibniz her bekannte Unterscheidung von absoluter und hypothetischer Notwendigkeit nicht kenne.31 Er schreibt: Ob aber die Speculation nicht noch ganz andere Einwendungen dagegen machen könne? Und solche Einwendungen, die sich nur durch ein zweites, gemeinen Augen eben so befremdendes System heben ließen? Das war es, was unser Gespräch so oft verlängerte, und mit wenigen hier nicht zu fassen stehet.32 28 29
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B 8, S. 145. Versuche über die ersten Gründe der Sittlichkeit und der natürlichen Religion in zween Theilen von Heinrich Home, aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von C. G. Rautenberg. Braunschweig 1768. B 8, S. 146. Jerusalem hatte in Bezug auf die Frage, ob der Mensch durch seinen Willen Vorstellungen selbst hervorbringen oder beeinflussen könnte, geschrieben: „Haben wir eine solche Gewalt nicht, so mögen wir so viele Wendungen machen, als wir wollen, wir mögen uns noch so viel hinter den Unterschied zwischen absoluter und hypothetischer Notwendigkeit zu verbergen suchen, wir sind nicht frei, unsere Handlungen hängen nicht von uns ab; wir können eben so wenig als die Urheber derselben angesehen werden, als der Hammer in der Uhr von der Zahl der Stunde, die er schlägt.“ (B 8, S. 145). B 8, S. 169.
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Dieser Hinweis bezieht sich meiner Überzeugung nach jedoch auf Spinozas Monismus als konsequente Fassung eines deterministischen Systems und nicht, wie üblicherweiser in der Forschung angenommen, auf die Seelenwanderung.33 Das heißt: Weder die Aufsätze Jerusalems noch Lessings Zusätze, die seine erste Seelenwanderungsäußerung enthalten sollen, verhandeln das Seelenwanderungsthema. Jerusalem vertrat eine konsequent deterministische Position, Lessing votierte dagegen für eine Freiheitsvorstellung. Somit lässt sich die in der Forschung übliche Positionierung Lessings: Determinismus – Theodizee – Seelenwanderung an diesen Texten nicht verifizieren. Die Frage nach der Herkunft bzw. dem Kontext von Lessings Seelenwanderungsäußerungen ist daher anhand des chronologisch nächsten Textes neu zu stellen.
5. Lessings Fragen nach dem Wiederkommen in der Erziehungsschrift – „Warum nicht?“ Der zweite zu beachtende Text, die Erziehungsschrift, gehört klar in den Kontext der Fragmentenveröffentlichung und damit in Lessings Auseinandersetzung mit Hermann Samuel Reimarus’ (1694–1768) Apologie und mit William Warburtons (1698–1779) Divine Legation of Moses und ist in diesem Sinne eine Gelegenheitsschrift. Diese Kontextualisierung in der deistisch-antideistischen Debatte bietet die Möglichkeit, das Thema des Diskurses – Unsterblichkeitsvorstellungen als notwendiges Kennzeichen einer vernunftgemäßen Religion – zu erheben und als Interpretament der Erziehungsschrift zu beachten. In der Erziehungsschrift entwirft Lessing unter Rückgriff auf Einsichten Adam Fergusons (1723–1816), den Mendelssohn und er im Zusammenhang der Lektüre der Apologie gelesen hatten,34 einen dreistufigen, geschichtlichen Religionsbegriff, der, um in Lessings Bildsprache zu bleiben, das Ziel so verschiebt, daß Reimarus‘ offenbarungs- und christentumskritische Pfeile daran vorbeifliegen: Die natürliche Religion skizziert Lessing als anthropologische Anlage, die ursprünglich mitgeteilt und nicht erworben ist (vgl. §§ 6 u. 7). Die positive Religion schildert er anhand des ersten und zweiten Zeitalters als besondere göttliche Offenbarung des Alten und Neuen Testaments (vgl. §§ 8–79). Die vernünftige Religion des anbrechenden dritten, aufgeklärten Zeitalters des neuen, ewigen Evangeliums stellt er als Ergeb33
34
Dazu sei stellvertretend verwiesen auf Altmann, (wie Anm. 22). Hugh Barr Nisbet hält dies für möglich, aber weniger wahrscheinlich; vgl. Nisbet, Hugh Barr, Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 687. Vgl. den Brief Mendelssohns an Lessing, Berlin, den 29. November 1770 (B 11/2, Nr. 619, S. 99f.). Es handelt sich um: Ferguson, Adam, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Leipzig 1768 (im Original: Essay on the history of civil society, 1767). Auf diesen Kontext hat bereits Oz-Salzberger hingewiesen; vgl. Oz-Salzberger, Fania, Translating the Enlightenment. Scottish Civic Discourse in Eighteenth-Century Germany. Oxford 1995 (Oxford Historical Monographs), S. 226f.
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nis der Beschäftigung der menschlichen Vernunft mit der positiven Religion der besonderen göttlichen Offenbarung vor (vgl. §§ 80–100). Lessings Fragen nach der Seelenwanderung, die er am Ende der Erziehungsschrift im Stil des „Warum nicht?“ aufwirft, sind in dieser Perspektive als Thema der vernünftigen Religion aufzufassen. Sie setzen sowohl die natürliche Religion und damit auch die für Lessings Argumentation wichtigen, anthropologisch verankerten religiösen Ur-Vorstellungen voraus als auch die an der Individualität der Moral orientierte positive, christliche Religion. Diese Fragen nach der Seelenwanderung präsentiert er im Zusammenhang eines goldenen Zeitalters in Gestalt säkularisierter chiliastischer Zukunftshoffnung. Dieser Chiliasmus ohne Christus verbindet wiederum sowohl religionsgeschichtlich älteste Vorstellungen – Ur-Vorstellungen also – und christlich-spiritualistische Vorstellungen in Anlehnung an den Joachimismus.35 Mit diesen beiden „Häresien“ argumentiert Lessing gegenüber Reimarus und gegenüber Warburton. Für Reimarus konnte das Alte Testament nicht mehr als Offenbarungsurkunde gelten, weil sich dort keine Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele finde. Warburton hatte mit seiner Divine Legation of Moses das Gegenteil beweisen wollen: Gerade weil sich im Alten Testament die Unsterblichkeitsvorstellung nicht finde, sei es eine Urkunde für eine wahre Theokratie und damit Offenbarungsurkunde. Der Mangel dieser für die Moral und damit für das Funktionieren jeder Gesellschaft notwendigen Vorstellung könne nach Warburton nur durch Gott selbst ausgeglichen werden. Lessing entwirft dagegen in der Erziehungsschrift ein Konzept einer Religionsgeschichte. Er unterscheidet hier die natürliche und die vernünftige Religion klar voneinander und lässt keine logischen und übergeschichtlichen Kriterien für Religion gelten. Religion ist – ebenso wie Vernunft – ein geschichtliches Phänomen, das geschichtlich begriffen werden muss.36 Doch damit ist das Thema „Religion“ nicht beendet. Der Ablehnung des Offenbarungscharakters der jüdisch-christlichen Tradition durch Reimarus begegnet Lessing mit dem Konzept einer progressiven Religionsgeschichte, in deren Verlauf Religion (Offenbarung) und Vernunft einander wechselseitig dienen.37 Hier gilt die jüdisch-christliche Offenbarung als notwendiges 35
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Zum Joachimismus in der Erziehungsschrift vgl. Timm, Hermann, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. 1: Die Spinoza-Renaissance. Frankfurt a.M. 1974, S. 98f. sowie Schilson, Arno, Geschichte im Horizont der Vorsehung. G. E. Lessings Beitrag zu einer Theologie der Geschichte. Tübingen 1974 (Tübinger Theologische Studien 3), S. 233. Diese konsequent geschichtliche Fassung des Religions- und Vernunftbegriffs lässt sich sicherlich mit monistischen Konzepten, wie z.B. Spinozas İȞ țĮȚ ʌĮȞ, vergleichen. Darauf wies mich mündlich Hans-Georg Kemper hin. Jedoch finden sich keine Anhaltspunkte für einen solchen Diskurszusammenhang in den Texten der rekonstruierten literarischen Debatte Lessings mit Reimarus und mit Warburton über die Unsterblichkeitsvorstellung als notwendiges Kennzeichen einer vernunftgemäßen Religion. In der hier eingenommenen Perspektive lässt sich darum ein derartiger systematischer Zusammenhang nicht erheben. Vgl. §§ 36f. der Erziehungsschrift, in denen vom wechselseitigen Dienst von Vernunft und positiver Offenbarung die Rede ist. Vgl. dazu auch Strohschneider-Kohrs, Ingrid, Historische
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geschichtliches Bindeglied zwischen der natürlichen und der vernünftigen Religion. In der gesamten literarischen Debatte ist der Prüftstein für die Vernünftigkeit einer positiven Religion die Unsterblichkeitsvorstellung. Zu den Texten dieser literarischen Debatte ist – wie gesagt – sowohl Warburtons Divine Legation of Moses zu rechnen,38 als auch Reimarus’ Apologie und Lessings Gegensätze des Herausgebers verbunden mit der hier primär interessierenden Erziehungsschrift. In 44 der 100 Paragraphen der Erziehungsschrift wird von Lessing das Thema Unsterblichkeit berührt oder diskutiert. Was hat das nun mit Seelenwanderung zu tun? In Anlehnung an das in dem Diskurs angelegte Kriterium – die Unsterblichkeitsvorstellung – fragt Lessing am Ende der Erziehungsschrift, ob nicht die lächerliche alte Seelenwanderungsvorstellung – allerdings in transformierter, vernünftiger Gestalt – die der vernünftigen Religion angemessene Individualeschatologie sein könnte. Ebenso die Vorstellung eines innergeschichtlichen, aufgeklärten goldenen Zeitalters – ein säkularisierter Chiliasmus. Sie könnte die der vernünftigen Religion entsprechende Universaleschatologie abgeben. Die Idee einer Seelenwanderung musste Lessing in die skizzierte Debatte nicht erst einführen, etwa aufgrund einer historisch nicht beweisbaren Kenntnis östlicher Überlieferungen.39 Diese Idee lag ihm in der benannten Debatte um Religionsbegründung bzw. Offenbarungsanspruch anhand des Kriteriums Unsterblichkeitsvorstellung vor. Sie wurde sowohl von Warburton sehr ausführlich abgehandelt als
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Wahrheit der Religion. Hinweise zu Lessings Erziehungsschrift, Göttingen 2009 (=Kleine Schriften zur Aufklärung 16), bes. S. 36–44. Jan van den Berg bestreitet zu Recht, dass Warburtons Divine Legation sich direkt auf Thomas Morgans Moral Philosopher beziehe. Er schreibt: „Warburton never showed any interest in the author of the Moral Philosopher as is clear from his correspondence with the dergyman and historian Thomas Birch (1705–1766) and with the nonconformist divine and hymnwriter Philipp Doddridge (1702–1751), and above all, a substantial part of the Divine Legation already existed by the end of 1735, long before the publication of the Moral Philosopher.“ (Berg, Jan van den, Did Reimarus use (implicitly) the work of the english deist Thomas Morgan? Some methodological questions. In: Notes and Queries Advance Access published May 14, 2009. Oxford University Press, S. 1f.) Methodologische Fragen werden in dem Beitrag nicht diskutiert, der historische Hinweis ist allerdings weiterführend. Ursprünglich hatte van den Berg diesen Hinweis bereits 1991 gegeben (vgl. Berg, Jan van den, Thomas Morgan versus William Warburton: A conflict the other way round. In: Journal of Ecclesiastical History, Vol. 42, No. 1, January 1991, S. 82–85). Dass, wie dort geschildert, Warburton Morgan in Briefen für verrückt erklärte und hoffte, niemand würde öffentlich auf sein Buch eingehen, heißt allerdings nicht, dass Morgan in dieser Debatte keine Rolle spielte – im Gegenteil (Foucault). Die von van den Berg deutlich monierte historische Korrektur ist vorzunehmen, für die Interpretation des Diskurses über Unsterblichkeit als Kennzeichen natürlicher Religion spielt Morgan – auch wenn er für die Frage nach Lessing, Reimarus und Warburton nicht zentral ist – weiterhin eine Rolle. „Warburton had no intention of reacting publicly“ (van den Berg, A conflict, 1991), schreibt van den Berg zu Recht – aber heißt das, dass Warburton überhaupt nicht reagierte, dass Morgans Leugnung des Offenbarungscharakters des Alten Testaments in seinen Schriften wirklich keine Rolle spielte? Hier ist noch einmal tiefer in die Texte zu gehen. Die großen Übersetzungen aus der indischen Tradition erschienen auch erst nach Lessings Tod in den 1780er Jahren; vgl. Halbfass, Wilhelm, Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung. Basel, Stuttgart 1981, S. 78.
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auch von Reimarus in seiner Apologie aufgegriffen. Lessings zunächst seltsam anmutende Fragen nach der Seelenwanderung am Ende der Erziehungsschrift sind im Kontext der rekonstruierten Debatte durchaus passend und verständlich. Sie gehören gewissermaßen in den Hauptstrom der Auseinandersetzungen. Es handelt sich keinesfalls um abstruse Ideen Lessings aus geheimen oder neu erschlossenen Quellen. Im dritten Buch seiner von Reimarus und auch von Lessing diskutierten Divine Legation beschäftigte Warburton sich sehr ausführlich mit Seelenwanderungsvorstellungen im Sinne der doppelten Lehrart: älteste exoterische Lehren in Bezug auf künftigen Lohn oder künftige Strafe und esoterisch-natürliche Konzeptionen im Anschluss an Pythagoras.40 In der Lessing-Forschung spielt dieser Text soweit ich sehe für die Gesamtinterpretation der Erziehungsschrift bisher keine Rolle. Auch Reimarus hatte die exoterische, pythagoräische Seelenwanderungslehre in seiner Apologie erwähnt. Für die Besserung der Menschen sei die Vorstellung der Ewigkeit der Höllenstrafen unerträglich: Dafür ist die Pythagorische Seelen-Wanderung, welche in gantz Orient geglaubt ward, weit erträglicher und von mehrerem Nutzen gewesen; daß nämlich die Seelen, welche sich im menschlichen Leibe lasterhaft aufgeführt hätten, zu ihrer Strafe in Esel, Schweine, Löwen und Tiger wandern müsten, bis sie in sich schlügen, und sich ihres göttlichen Ursprungs erinnerten.41
Wie eine im vernunftlosen Esel gefangene Seele verbesserungsfähig sein könnte, problematisierte Reimarus in diesem fünften Kapitel seiner von Lessing in Auszügen veröffentlichten Apologie nicht. Formulierungen Lessings zur Seelenwanderung erinnern jedoch deutlich an diesen kurzen Text. Damit ist die Herkunft der Seelenwanderungsthematik aus dem Kontext der Auseinandersetzung Lessings mit Hermann Samuel Reimarus und mit William Warburton über die Unsterblichkeitsvorstellung als notwendiges Kennzeichen einer vernunftgemäßen Religion bestimmt.
6. Lessings Notiz zu J. H. Campes Philosophischen Gesprächen Wir kommen kurz zum dritten relevanten Text Lessings. In Lessings Anmerkungen zu Joachim Heinrich Campes (1746–1818) Philosophischen Gesprächen über die unmittelbare Bekanntmachung der Religion und über einige unzulängliche Beweisarten derselben42 von 1778 wird eine dem Kontext der Erziehungsschrift analoge Problematik verhandelt. Lessings in der Forschung häufig zitierte Äuße40
41
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Diese Ausführungen finden sich im dritten Buch von Warburtons Divine Legation (Warburton, William, The Divine Legation of Moses demonstrated, Bd. I, 3. Aufl. London 1742, Bd. II/1 u. II/2, London 2. Aufl. 1742); vgl. Cyranka, (wie Anm. 1), S. XXX. Reimarus, Hermann Samuel, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, im Auftrag der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg hg. v. Gerhard Alexander. Frankfurt a.M. 1972, S. 507. Campe, Joachim Heinrich, Philosophische Gespräche über die unmittelbare Bekanntmachung der Religion und über einige unzulängliche Beweisarten derselben. Berlin 1773.
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rung zur Seelenwanderung in einer von seinem Bruder Karl Gotthelf Lessing (1740–1812) aus dem Nachlass veröffentlichten, fragmentarischen Notiz,43 erfüllt dementsprechend eine analoge Funktion. Karl Lessing hatte in seinem Nachlasskommentar auf die Theodizeeproblematik als thematischen Horizont für das Fragment verwiesen.44 Der argumentative und thematische Zusammenhang des Buches von Campe45 geht jedoch über diese theoretische Frage hinaus. Campe diskutiert vielmehr die Frage der Ungleichheit unter den Menschen vor dem Hintergrund der allgemeinen Notwendigkeit einer positiven Offenbarung. Wenn die jüdisch-christliche Offenbarung ein notwendiges Mittel für die Erlangung der allgemeinen menschlichen Bestimmung sein solle, dann entstehe das Theodizee-Problem in verschärfter Weise. Festzuhalten bleibt, dass Lessing gegenüber Campes Philosophischen Gesprächen im Kontext der Diskussion der Religionsbeweise aus der geschichtlichen Offenbarung mit einer Gedankenfigur – Seelenwanderung als Vervollkommnungsmöglichkeit mit Hilfe positiver Offenbarungen – operiert, die er bereits in der Erziehungsschrift im Zusammenhang seines Konzeptes von natürlicher, positiver und vernünftiger Religion entworfen hatte. Lessing variiert also mit seiner Äußerung zur Seelenwanderung im Fragment zu Campes Philosophischen Gesprächen die Fragen nach dem Wiederkommen, wie er sie in der Erziehungsschrift gestellt hatte – „Warum nicht?“
7. Lessings Fragment Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können Einen anderen Kontext, andere Interessen und eine andere Hypothesenform findet man in Lessings berühmt gewordenem Nachlassfragment Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können, das durch Charles Bonnets (1720–1793) Philosophische Palingenesie46 angeregt und beeinflusst ist. Die hier angedeutete Theorieform bezieht sich auf psycho-physische Höherentwicklung einer immer mit irgendeiner Art von Körperlichkeit verbundenen Seele und steht so genannten Planetenwanderungsvorstellungen nahe, die dem Gedanken der Wiederkehr auf die Erde im Grundsatz widersprechen. Erst dieses letzte Fragment bietet durch sein explizites Interesse an der Seele den begrifflichen Anknüpfungspunkt für spätere Seelenwanderungsvorstellungen. 43 44 45
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Lessing, Karl Gotthelf, Gotthold Ephraim Lessings theologischer Nachlaß. Berlin 1784, S. 37f. Ebd. Der Text ist in der mir bekannten Forschungsliteratur bisher noch nicht zitiert worden. Es findet sich bislang nicht einmal der vollständige Titel der Schrift in den Lessing-Interpretationen. Auch in der mir bekannten Literatur zu Campe wird das Buch nicht erwähnt. Bonnet, Charles, Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen, aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater, 2 Bde. Zürich 1769f.
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In seinen Notizen zu Charles Bonnets Palingenesie-Schrift konfrontiert Lessing dessen Seelentheorien mit – seiner Meinung nach – religionsgeschichtlich ältesten Vorstellungen. Jedoch brechen seine Andeutungen vor einer Begründung ab.47 Hier zeigt sich ein deutlich anderer Zugang zum Thema Seelenwanderung als in der Erziehungsschrift und im Fragment zu Campe. Es geht um Erkenntnistheorie und ihren Zusammenhang zu körperlich-organischen Dispositionen, es geht um den Begriff der Seele selbst. Lessing spekuliert im Anschluss an Bonnet über psycho-physische Höherentwicklung nach dem Tod in anderen Sphären, über Planetenwanderung, also über die Wanderung der Seele von Planet zu Planet.48 Reimarus‘ Kritik an der positiven, jüdisch-christlichen Offenbarung war auf die Schöpfung bzw. auf diese Welt bezogen. Daher ist die von Lessing in diesem Kontext angedeutete Seelenwanderung inhaltlich notwendig an die Geschichte bzw. an diese Erde gebunden. Die von Lessing im Anschluß an Bonnet diskutierte Thematik führt dagegen weiter. Der organische Zuwachs an Sinnen wurde von Bonnet und wird auch von Lessing nicht als künftige Revolution der Erde verstanden, sondern im Sinne der Spekulationen über die Pluralität der Welten als extramundanes Geschehen im kosmischen Rahmen.49 Das ist eine gegenüber den früheren Äußerungen Lessings neue Vorstellung. In Bezug auf diesen Zusatz erst lässt sich von Seelenwanderungsspekulationen Lessings im eigentlichen Sinne reden, die als Planetenwanderungsvorstellungen jedoch nicht in die Geschichte verweisen wie die „Warum nicht?“-Fragen am Ende der Erziehungsschrift oder die Notizen Lessings zu Campe. Die Verbindung zwischen diesen verschiedenen thematischen Zusammenhängen lässt sich nur über den implizierten Entwicklungs- bzw. Fortschrittsgedanken herstellen.50 Von einer Variante der einmal in Betracht gezogenen Vorstellung einer Wiederkehr des Menschen in die progressive Geschichtsentwicklung kann keine Rede sein.51 Die Zusammenfassung der benannten Texte Lessings unter dem Stichwort Seelenwanderung bzw. Reinkarnation ist eine Konstruktion. Um diese Konstruktion historisch und sachlich nachvollziehbar zu machen, ist sie zunächst mit Hilfe von 47 48 49 50
51
Lessing, Karl Gotthelf, Gotthold Ephraim Lessings Leben, nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse. 2 Bde. Berlin 1793–1795, hier: Bd. 2 (1795), S. 77; vgl. B 10, S. 232. Vgl. auch Altmann, (wie Anm. 22), S. 20–27. Vgl. zum Thema Kosmologie und Pluralität der Welten Benz, Ernst, Kosmische Bruderschaft. Die Pluralität der Welten. Zur Ideengeschichte des Ufo-Glaubens. Freiburg/Br. 1978. Zum Verhältnis von Reinkarnationshypothesen und Fortschrittsgedanken vgl. Hanegraaff, Wouter J., New Age religion and Western culture. Esotericism in the mirror of secular thought. Leiden 1996 (Studies in the history of religions 72), S. 471 u.ö. sowie Zander, (wie Anm. 4), S. 11. So z.B. Dilthey, Wilhelm, Zu Lessing’s Seelenwanderungslehre. Erwiderung von Wilhelm Dilthey, in: Preußische Jahrbücher 20 (1867), S. 439–444, S. 443; Fittbogen, Gottfried, Lessings Anschauung über die Seelenwanderung, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 6 (1914), S. 643–655, S. 639, Kofink, Heinrich, Lessings Anschauungen über die Unsterblichkeit und Seelenwanderung. Straßburg 1912, S. 157.
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Kontextanalysen zu dekonstruieren. Die vielfältige Wirkungsgeschichte dokumentiert demgegenüber diese von dem Kontext der verschiedenen Texte Lessings absehenden, zusammenführenden Interpretationen und Konstruktionen eindrücklich.52 In der Lessing-Forschung ist vielfach darüber nachgedacht worden, wie die verschiedenen kurzen Texte Lessings zur Seelenwanderung zusammenstimmten bzw. zusammenstimmen könnten. Meines Erachtens lässt sich vor dem Hintergrund der verschiedenen Kontexte dieser Texte und Textfragmente Lessings sehr gut einsehen, warum diese vielfach zitierten Referenzen für Lessings Glauben an die Seelenwanderung – so trotz aller Unterscheidungstendenzen noch der Titel von Altmanns wichtigem Beitrag53 – so auseinanderfallen. Lessings verschiedene Äußerungen zur Seelenwanderung müssen einander nicht entsprechen und können es wohl auch nicht. Es ist gar nicht dasselbe Thema, das mit den unterschiedlichen Äußerungen traktiert wird. Diese disparaten Texte können nur dann zu einem Glauben oder zu einer Vorstellung Lessings gemacht werden, wenn man die Einheitlichkeit des Themas voraussetzt. Wenn man also von einer Idee der Seelenwanderung ausgeht, diese in verschiedenen Textzeugnissen aufsucht und dann in ein kohärentes System, z.B. erst Erden- dann Planetenwanderung der Seele, bringen möchte und Lessing damit systematisch zusammenhängende Spekulationen über Seelen- und Planetenwanderung zuschreibt.
8. Schlussbemerkungen Eine Selbstbeschreibung Lessings wird zu Recht sehr häufig zitiert. In seinen Axiomata schrieb Lessing an Johann Melchior Goeze (1717–1786): „Ich bin Liebhaber der Theologie, und nicht Theolog. Ich habe auf kein gewisses System schwören müssen. Mich verbindet nichts, eine andre Sprache, als die meinige, zu reden“.54 Die Formen seiner theologischen Äußerungen sind unkonventionell: Der theologisch gebildete Literat, Dramatiker und Philologe bediente sich aller zur Verfügung stehenden Mittel der damals modernen Publizistik, um in theologische Debat52 53
54
Zur Wirkungsgeschichte vgl. Cyranka, (wie Anm. 1). Vgl. Altmann, (wie Anm. 22), sowie Nisbet, (wie Anm. 33). Manfred Beetz hat in jüngster Zeit Kritik an der Unterscheidung der Hypothesenformen geübt. Die konsequente Historisierung der Texte führt jedoch auf unterschiedliche Kontexte. Die von Beetz zitierte Feststellung einer Konvergenz von Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte im 18. Jahrhundert, die logisch ein Getrennt-Sein voraussetzt, bedeutet nicht, dass die hier erhobenen unterschiedlichen Hypothesen- bzw. Theorieformen übereinstimmen müssen. Dies wäre ja von der heutigen Aufklärungsforschung und nicht vom historischen Text- und Kontextbefund her gedacht. Vgl. Beetz, Manfred, Lessings vernünftige Palingenesie. In: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarbeit v. Andre Rudolph. Tübingen 2008 (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 37), S. 131–147. Lessing, Gotthold Ephraim, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen u.a., Frankfurt a.M. 1985ff, hier Bd. 9: Werke 1778–1780, S. 57.
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ten einzugreifen. Die hier im Zusammenhang des Seelenwanderungsthemas herangezogenen Texte erweisen sich bei näherem Hinsehen als provozierende Gelegenheitsschriften in konkreten Kontexten. Besonders die Erziehungsschrift bietet ihre religionsphilosophischen Überlegungen in einer neuen, von üblicher theologischer und philosophischer Schreibart abweichenden Weise.55 Den von Lessing gewählten publizistischen Mitteln entsprechen die geäußerten Anschauungen, die Argumentationsweisen und Sprachmuster. Lessings kurze Texte, v.a. die von ihm selbst publizierte Erziehungsschrift mussten in der damaligen Zeit als modern und als ungewöhnlich gelten und wurden entsprechend wahrgenommen und bis heute kontrovers diskutiert. Innerhalb dieser damals modernen Diskussionskultur fielen und fallen besonders Lessings seltsame Äußerungen zur Seelenwanderung auf. Sie ließen sich damals wohl kaum anders als im Stil des „Warum nicht?“ öffentlich äußern. Die anderen Texte zum Thema, blieben – wie bereits betont – Fragmente und wurden von Lessing nicht veröffentlicht. Die überaus große und vielfältige Wirkung Lessings ist wohl weniger den Seelenwanderungs- und Planetenwanderungssaussagen seiner Texte selbst geschuldet, sondern vielmehr dem hinter den verschiedenen Hypothesenformen stehenden Fortschritts- und Entwicklungsgedanken. Die Wirkungsgeschichte seiner Texte zeigt, dass der gemeinsame Nenner der äußerst heterogenen Bezugnahmen im modernen Fortschrittsdenken besteht. Weder in Lessings Texten selbst noch in ihrer Wirkungsgeschichte sind kohärente Spekulationen über eine nachtodliche Seelenentwicklung zu finden. Die Heterogenität der Vorstellungen zeigt vielmehr, dass Aussagen über die Wiederkehr auf die Erde oder über die Weiterentwicklung der menschlichen Seele in Form von Planetenwanderungen wie auch der gesamte spätere Reinkarnationsdiskurs als Illustrationen bzw. Ausformungen des modernen Fortschrittsdenkens aufgefasst werden können. Die Verbindung mit vormodernen oder außereuropäischen kulturellen und religiösen Traditionen steht in der Regel implizit oder explizit unter diesem Vorzeichen. Angesichts des änigmatischen Charakters und der Widersprüchlichkeit bzw. Variabilität seiner Äußerungen kann Lessing, dessen Name für die deutsche und europäische Geistesgeschichte wohl kaum zu unterschätzen ist, durchaus mit Gewinn als Autoritätsargument aus der westlichen Tradition, deren christliche religiöse Prägung keine Seelenwanderungsvorstellungen enthält, eingesetzt werden. So ist dem eingangs exemplarisch zitierten Carl von Rap-
55
Vgl. Michel, Willy, Antidogmatische Fiktionsbildung im geschichtsphilosophischen Verstehen. Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“, in: Ders. (Hg.), Die Aktualität des Interpretierens. Hermeneutische Zugänge zu Lessing, Heidelberg 1978, S. 20–33, Eibl, Karl, Lauter Bilder und Gleichnisse. Lessings religionsphilosophische Begründung der Poesie, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 224–252 und Strohschneider-Kohrs, Ingrid, Gesten der ars socratica in Lessings Schriften der Spätzeit. In: Mauser, Wolfram, Saße, Günter (Hg.), Streitkultur. Strategien der Überzeugung im Werk Lessings. Tübingen 1993, S. 503–508 sowie dies., „Doppelreflexion“ und „Sokratische Ironie“ in Lessings Spätschriften, in: Dies., Poesie und Reflexion. Tübingen 1999, S. 159–195.
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pard, für den Lessing ein Vorläufer des modernen Spiritismus war, abschließend ein anderes Beispiel aus der vielfältigen Wirkungsgeschichte an die Seite zu stellen. Unter dem Titel The Esoteric Tradition schrieb Gottfried de Purucker (1874– 1942), Leiter der Theosophical Society Point Loma/Kalifornien, im Jahre 1935, dass die größten Geister und brilliantesten Köpfe, die besten spirituellen Lehrer und die größten Seher der Welt alle eine Form der Wiederverkörperungslehre vertreten hätten.56 Ausführlicher präsentierte de Purucker Lessing und dessen Erziehungsschrift57 und begründete dies folgendermaßen: His view ist particularized here because in certain respects it approaches closely to an outline of what the Theosophical teaching is with regard to Reincarnation. Lessing wrote more openly than others who privately held the same view.58
Auf diese Weise wurden und werden alternative religiös-weltanschauliche und esoterische Konzepte mit Hilfe des so genannten Reinkarnationsgedankens, nicht zuletzt mit Berufung auf Lessing, innerhalb der europäischen Tradition verankert. Lessing kann als entscheidender Vorläufer dieser späteren Debatten angesehen werden. Dass er bestimmte Hypothesenformen konsequent vertreten und damit auch direkt angeregt hätte, lässt sich m. E. aus den Texten Lessings und aus ihrer Wirkungsgeschichte nicht erheben. Die kontextuelle und wirkungsgeschichtliche Untersuchung von Lessings Texten zum Thema Seelenwanderung bzw. Reinkarnation ist damit einerseits ein Beitrag zur Lessing-Interpretation und andererseits zur historischen Erforschung der Genese moderner alternativer Religion und Esoterik. „Warum nicht?“
56
57 58
„Philosophers, poets, scientists, religionists, sociologists, what not: the greatest minds, the most brilliant intellects, the noblest spiritual teachers, and the greatest seers that the world has ever known, all taught some form of the doctrine of Reimbodiment, without one exception-that the present writer can recall; and in many cases they have given to us the reasons for their belief in the form of religious und philosophical systems of thought.“ (Purucker, Gottfried de, The Esoteric Tradition [elektronische Fassung der 2. Ausgabe Pasadena 1940: http://www.theosociety.org/pasadena/et/et-20.htm (31.08.2004)] unpag.) Vgl. Purucker, (wie Anm. 56), unpag., Anm. 312. Dort sind die §§ 94–100 nach der englischen Übersetzung der Erziehungsschrift von F. W. Robertson zitiert. Purucker, (wie Anm. 56), unpag., Anm. 311.
HANS-JÜRGEN SCHRADER (Genève)
Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer Studenten=Gesang als „Anweisung zur Seligkeit in allen Facultäten“
Ein Lehrgedicht zur Studienreform aus dem Jahre 1710 möchte ich hier vorstellen.1 Zur Debatte stehen da wie in unseren heutigen Reformdisputen um Pisa-Studien und Bologna-Harmonisierungen die perspektivische Gesamtorientierung, auf die alle fachlichen ebenso wie die intellektuell-charakterlichen Lernziele im Unterricht, von der schulischen Vorbereitung an und dann besonders auf akademischem Niveau, bezogen sein sollen, ferner die Inhalte der Ausbildung und die Auswahl der für das Studienziel und seine gesellschaftliche Nutzbarkeit geeignetsten Paradigmata. Ausgeblickt schließlich wird auf Fragen der Lehrmethode, der Evaluierung und Abschlüsse bzw. Erfolgsbescheinigungen. Das zwanzig Strophen lange Gedicht unter dem Titel Studenten=Gesang mit seiner erschöpfenden Systematik beim Besichtigen des Studiums in allen Fakultäten ist nun nicht, wie man von Gattung und Gegenstand, Entstehungszeit, beträchtlicher Länge und lückenloser Gründlichkeit des Argumentierens vermuten könnte, ein Stück der aufklärerischen Lehrpoesie. Sein gegenläufiger Ansatz, verwandter dem, den August Hermann Francke für die akademische Ausbildung, insbesondere der Theologen an der jungen Universität Halle von seinem Timotheus von 1695 über den Großen Aufsatz von 1704 bis zu seinem Methodus studii theologici von 1723 vorgegeben hat,2 ist schon durch den Rahmen angedeutet, in den diese Verse
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Kursorisch vorgestellt habe ich das hier analysierte Gedicht bereits auf einem Kolloquium, das die Schüler Albrecht Schönes ihrem Lehrer im Juli 1995 im alten Kloster Bursfelde zu seinem 70. Geburtstag dargebracht haben. Diesem verehrten Meister widme ich das hier Ausgearbeitete zu seinem Fünfundachtzigsten am 17. Juli 2010. Seit der vorliegende Tagungsbeitrag zum Hallenser Kolloquium 2004 entstanden ist, habe ich ihn zu anderweitiger Verwendung revidiert und erweitert. Die Neuversion mit ihren aktuellen Forschungsausgriffen kann hier nicht publiziert werden; sie soll andernorts erscheinen. Vgl. die Übersicht und sorgsame Erörterung der verschiedenen Programmschriften und Anleitungen Franckes zur akademischen Theologenausbildung im Kontext der pietistischen Reformbemühungen in der detailreich und solide informierenden Münsteraner theol. Diss. von Kang, Chi-Won, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Die Reform des Theologiestudiums im lutherischen Pietismus des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts. Gießen, Basel 2001 (Kirchengeschichtliche Monographien 7), S. 33f., 56f., 330–423 (zum Großen Aufsatz S. 352f., 413f.). Am entschiedensten über den engeren Blickkreis der Theologenausbildung hinaus, mit den perspektivischen Zielsetzungen der akademischen Reform zu einer christlichen Welt- und Gesellschaftserneuerung, weist AUGUST HERMANN FRANCKEs Schrift über die Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. DER GROSSE AUFSATZ. Mit einer
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Hans-Jürgen Schrader
bei ihrer Publikation gestellt sind. Das Buch nämlich, das sie als unpaginierter „Nachklang“ beschließen, verkündet schon im Titel ein Gegenprogramm, THEOSOPHIA PNEUMATICA, oder / Geheime GOttes=Lehre / Die Dinge GOTTES vortragend Im neuen Wesen des Geistes / abthuende Das alte Wesen des Buchstabens […] Gedruckt im Jahr 1710.3
An die Stelle des selbsttätigen Verstands und des intellektuellen Wissens, dessen sich dieser vernunftgemäß bedienen soll, tritt da also eine Weisheit, die aus Gott kommt, verborgen und geheim, nicht auf offenem Markte zu prüfen. Das Titelwort der Theosophie nimmt nicht allein einen Leitbegriff der paracelsisch-böhmistischen Tradition auf,4 Theosophia pneumatica war vielmehr der Untertitel bereits einer der heterodoxesten Erscheinungen des radikalpietistischen Buchmarkts überhaupt, jener uns als zauberisches Hilfsbüchlein des Goetheschen Faust bekannten Anleitung zur weißen Magie, die der Weseler Drucker-Verleger Andreas Luppius 1686 zwischen allerlei paracelsischen und Böhmisten-Werken unter dem Titel CLAVICULÆ SALOMONIS Et THEOSOPHIA PNEUMATICA herausgebracht hatte.5 Wie überall dort wird auch hier höheres Wissen auf pneumatologische Eingebung gegründet, es kann nicht selbst erarbeitet werden durch intellektuelle Anstrengung. Dass im Entgegensetzen des neuen Geists gegen den alten Buchstaben außer der
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quellenkundlichen Einführung hg. v. Otto Podczeck. Berlin 1962 (Abhandlungen der sächs. Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Kl. 53/3). THEOSOPHIA PNEUMATICA, oder / Geheime GOttes=Lehre. o.O. [Idstein] 1710. SB Braunschweig: I 9/377. Ein weiteres Exemplar in der BCU Lausanne: TP 973 [elektron. Buch-Nr. 109 47 97 448] enthält nicht die im Braunschweiger Exemplar beigebundenen Anhänge, also auch nicht den das Buch als „Nachklang“ beschließenden Studenten=Gesang. Rezensiert ist das Gesamtwerk in: Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen 12. Leipzig 1712, S. 465–471 [StUB Göttingen: 8° Eph. lit. 366/5:12], vgl. in: Unschuldige Nachrichten 13. Leipzig 1713, S. 1072 und Vollständige Register Uber die anderen Zehen Jahr. Leipzig 1728 [StUB Göttingen: 8° Eph. lit. 366/5:20A] bzw. Theologische ANNALES 1. LEIPZIG 1731, S. 551. Die Theologie, die diesen Band prägt, hat schon in der frühen Pietismusforschung Beachtung gefunden, s. Ritschl, Albrecht, Geschichte des Pietismus 2 (Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. 1. Abt.). Bonn 1884 (Reprint Berlin 1966), S. 352. Vgl. die Titel der zweiten (Hamburger) und dritten Böhme-Gesamtausgabe, Theosophia relevata, 1715 bzw. 1730 und den Titel der Böhme-Korrrespondenzausgabe, Theosophische Sendbriefe, die Theosophicae epistolae Leidenses und den Titel der Werkausgabe des Böhmisten Johann Georg Gichtel, Theosophia practica. CLAVICULÆ SALOMONIS Et THEOSOPHIA PNEUMATICA, Das ist / Die warhafftige Erkänntnüß Gottes / und seiner sichtigen und unsichtigen Geschöpffen / Die Heil. Geist=Kunst genannt / Darinnen der gründliche einfältige Weg angezeigt wird / wie man zu der rechten wahren Erkänntnüß GOttes / auch aller sichtigen und unsichtigen Geschöpffen / aller Kuensten / Wissenschafften und Handwercken kommen soll. [ – ] Wesel / Duisburg und Franckfurth / Druckts und verlegts ANDREAS LUPPIUS, Privil. Buchhändler daselbst / 1686 [SUB Göttingen: 8° Philos. IV,33]. Für nähere Aufschlüsse zu diesem Buch, seinen Kontexten und Wirkungen vgl. Schrader, Hans-Jürgen, Salomonis Schlüssel für die „halbe Höllenbrut“. Radikalpietistisch tingierte „Geist=Kunst“ im Faustschen „Studierzimmer“, in: Kemper, HansGeorg und Schneider, Hans, Goethe und der Pietismus. Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6), S. 231–256, bes. 240f.
Ein radikalpietistischer „Studenten=Gesang“
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aufklärerischen Wissenschaftskultur vorrangig die konfessionellen Orthodoxien ins Visier geraten, zeigt übrigens die Fortsetzung des Buchtitels, „Zur Entwöhnung der Säuglinge Von ihren Sectirischen Mutter=Brüsten“. Im typischen Polemikwortschatz der radikalen Pietisten, spezifischer ihrer „philadelphischen“ Spielart,6 die eine neue Erwecktengemeinschaft jenseits aller Kirchenzugehörigkeit und Konfessionsdogmatik begründen wollte, werden damit die Amtskirchen als Sekten verunglimpft: Mit ihrer falschen Buchstabenkost hätten sie die geistliche Nahrung von Geburt an verkümmert.7 Das anonym gedruckte, rar gewordene Buch ist, wie neben zeitgenössischen Bezeugungen auch das Kryptonym J. F. H. unter der Vorrede anzeigt,8 von dem nur fünf Jahre zuvor wegen seiner philadelphischen Umtriebe aus dem Straßburger Kirchendienst entlassenen Theologen Johann Friedrich Haug9 kompiliert und her6
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Vgl. im Überblick Schneider, Hans, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, in: Brecht, Martin (Hg.), Geschichte des Pietismus 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen 18. Jahrhundert. Göttingen 1993, S. 391–437 und speziell 405f.; ders., Der radikale Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, in: Brecht, Martin, Deppermann, Klaus (Hg.), Geschichte des Pietismus 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1995, S. 107–197, speziell 112f., 123–128, 160–166; zu den verschiedenen Phasen und Zentren der philadelphischen Sammlung und ihrer Bedeutung für die Toleranzgeschichte Schrader, Hans-Jürgen, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Göttingen 1989 (Palaestra 283), S. 63– 73, 373–386, ferner in der Reihe „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus“ Grutschnig-Kieser, Konstanze, Der „Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumen=Garten“ des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches „UNIVERSAL-Gesang=Buch“. Göttingen 2006. Die doppelte Stoßrichtung wird in der Herausgeber-Vorrede auf den Begriff gebracht: Das Buch richte sich gegen jene, die sich anmaßen, in „Religions= oder Glaubens=Streitigkeiten zu decidiren / und die Schrifft auszulegen / nach den Principiis der Reguln ihrer ungesunden Vernunfft und deren Theologie“ (THEOSOPHIA PNEUMATICA, [wie Anm. 3], Erste Vorrede. Den Liebhabern der Warheit Gnade und Licht durch JEsum Christ!, S. C 3v). Die neunzigseitige, nur mit Bogensignaturen paginierte „Erste Vorrede“ mit ihrer Abhandlung „Eine Untersuchung der Academischen Theologie und dero Systematischen Lehr=Art“ (so die Überschrift dieser Vorrede im Titelblatt des Bandes) unterzeichnet deren Verfasser mit dem zugleich auf seine Ausgrenzung durch die Weltlichgesinnten [Ps 120,5] wie auf sein Erwählen des besten Teils [Lk 10,42] verweisenden Kryptonym „J. F. H.“, „ein armer Fremdling in Mesech / der seine Lust bey Jesu Füssen Hat“. Außer den orthodoxen Kritikern (zuerst Georg Gustav Zeltner) in: Unschuldige Nachrichten 13, (wie Anm. 3), S. 1071f. haben auch kooperierende Gesinnungsfreunde Johann Friedrich Haug als Herausgeber namhaft gemacht, vgl. Edelmann, Johann Christian, Selbstbiographie. Geschrieben 1752, hg. v. Karl Rudolph Wilhelm Klose. Berlin 1749 (Reprint: Sämtliche Schriften in Einzelausgaben, hg. v. Walter Grossmann. Bd. 12. Stuttgart, Bad Cannstatt 1976), S. 241. Das Braunschweiger Exemplar trägt auf dem Schmutztitel den Eintrag von alter Hand „Der Vorredner ist Joh. Fr. Haug, der Bearbeiter der Berlenburger Bibel.“ – Nähere Aufschlüsse über dieses Buch, seine Verfasserschaft und den Ort bzw. die Umstände der anonymen Publikation in meiner Monographie, Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt, (wie Anm. 6), S. 170f., 456f. Vgl. die Artikel (mit Lit.) von Schneider, Hans, Johann Friedrich Haug, in: RGG4 3. Tübingen 2000, S. 1472 sowie von Kroh, Andreas, Johann Friedrich Haug (1680–1753), in: Kroh, Andreas, Lückel, Ulf, Wittgensteiner Pietismus in Portraits. Ein Beitrag zur Geschichte des radikalen Pietismus in Wittgenstein. Bruchsal 2003, S. 66–72. Kontextuelle Angaben in Artikeln über den Verleger-Bruder, Burkardt, Andreas, Johann Jacob Haug, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, begr. u. hg. v. Friedrich Wilhelm Bautz, fortgeführt v. Traugott Bautz. Bd. 19. Herzberg 2001, S. 635–337 sowie von Kroh, Andreas, Johann Jacob Haug
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ausgegeben worden. Der hat sich kurz darauf zeitweilig der noch radikaler spiritualistischen Gemeinschaft der Inspirierten angeschlossen;10 seine bedeutsamste Leistung freilich war später die Hauptverantwortung für die Planung, Neuübersetzung, Kommentierung und den Vertrieb der Berleburger Bibel und darüber hinaus sein Einsatz für die Buchproduktion und die Literaturvermittlung der radikalen Pietisten überhaupt.11 Das über tausend Seiten starke Buch, zusammengesetzt aus unterschiedlichen, vom Herausgeber z.T. aus der Handschrift veröffentlichten oder übersetzten schroff separatistischen, hermetischen und eschatologisch-prophetischen Traktaten (darunter ein wohl auf den Barock-Spiritualisten Paul Felgenhauer zurückgehendes
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([recte: 1690–1756]), in: Kroh / Lückel, Wittgensteiner Pietismus, ebd., S. 166. Grundlegende Information über die Haug-Familie in: Schrader, Literaturproduktion, (wie Anm. 6), S. 163f., 448f. und Reg. – Zu den Auseinandersetzungen um Johann Friedrich Haugs philadelphische Aktivitäten und seine Amtsenthebung in Straßburg, denen im Januar 1705 die Ausweisung und bald darauf auch Ausschaffung aus Straßburg (im Januar / Februar 1707 ebenfalls die aus Esslingen) folgte, vgl. die Streitschriften des Professors der Straßburger Universität, Hardtschmidt, Johann Nicolaus, Dissertatio de Conventiculis, 1705, rez. in Unschuldige Nachrichten 6. Leipzig 1706, (wie Anm. 3), S. 693–695, die Erwiderung an solche „Hirten/ welche zugleich Wölffe sind / und die Schaafe zerreissen“, Bedächtliches Antwort=Schreiben An einen guten Freund / Worinnen Von den letztern ruchbaren Begebenheiten mit denen so genannten Pietisten in Straszburg raisoniret wird [o.O. 1705], [StUB Göttingen: 8 in: 8° Theol. pol. 148/11], v.a. aber die offizielle Rechenschaftslegung seitens des Kirchenkonvents-Präsidenten und vormaligen Professors Haugs, [Zentgraff, Johann Joachim,] Deß Evangelischen Kirchen=Konvents in Straßburg Abgenöthigter Historischer Bericht / Von der jüngst daselbs entstandenen Pietistischen Brüderschafft / Und Philadelphischen Gesellschaft. Straßburg 1706 [ LB Hannover: T–A 614]. Ergänzende Information in der darauf erfolgenden apologetischen Entgegnung, Haug Johann Friderich, Zeugnusz der Liebe an die Inwohnere der Stadt Straßburg und Eßlingen. o. O. 1708 [LB Stuttgart: Theol. qt. 3058 bzw. BU Strasbourg: M 103 356]. Detaillierte Geschichtsdarstellung aus kirchenamtlicher Perspektive: Adam, Johann, Evangelische Kirchengeschichte der Stadt Strassburg bis zur franzoesischen Revolution. Straßburg 1922, S. 472–478. Vgl. seinen für die Entstehung der Inspiriertengemeinschaft höchst signifikanten Rechenschaftsbericht vom 25./26. März 1715 im Rahmen der frühesten Bekenntnissammlung der Inspirierten, Unterschiedliche Erfahrungs=volle Zeugnisse / Welche Einige in Gott verbundene Freunde Von der so sehr verhassten und verschreyten INSPIRATIONS=SACHE […] dargeleget haben. o.O. 1715 [LB Stuttgart: Theol. qt 7829, auch UB Tübingen: 4 in: G.h. 896c4°], S. 117– 135 (mit Rechenschaft auch über die Inspirationserweckung seines alten Vaters, des Straßburger, dann Idsteiner und schließlich nochmals Berleburger Druckers David Haug). Eine knappe Autopsychographie J. Fr. Haugs enthält auch seine Vorrede zur THEOSOPHIA PNEUMATICA, S. E 8rf., Umfassenderes zur Autobiographie Haug, Zeugnusz der Liebe, (wie Anm. 9), insbes. S. 8– 31, 54–59. Vgl. Schneider, Ulf-Michael, Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten. Göttingen 1995 (Palaestra 297), insbes. S. 34. Ausführlichste Rechenschaft über Haugs Anteil an diesem Bibelwerk und seine organisatorischen Verdienste auch um die drucktechnische Herstellung und den Vertrieb, für den er die Infrastruktur und das Kontaktsystem des Verlags seines Bruders Johann Jacob Haug nutzen konnte, bei Schrader, Literaturproduktion, (wie Anm. 6), S. 182f., 189–197, 207, 465, 469– 472. Vgl. dazu auch Brecht, Martin, Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze 2: Pietismus. Stuttgart 1997, S. 369–408 und ders., Die Bedeutung der Bibel im deutschen Pietismus, in: Geschichte des Pietismus 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, S. 106f.
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Wichtiges Gespräch vom Kirchengehen12 oder, in deutscher Übersetzung, Jacob Brills Weg des Friedens,13 auch eine Sammlung steifer Alexandriner-Gedichte mit gemeinpietistischen Lehrinhalten, Der Dienst Gottes und der Welt), ist ohne Drukkerangabe erschienen in der Idsteiner Druckerei des Erdmann Andreas Lyce.14 Dort waren – neben ordnungsgemäß imprimierten pietistischen Lehr- und Erbauungsbüchern – ungefähr gleichzeitig ebenso anonym Selbstbekenntnisse und Bußpredigten prophetischer Handwerker von beträchtlicher theologischer Radikalität herausgekommen, von Johann Tennhardt und Johann Maximilian Daut, auch separatistische Traktate eines vertriebenen Theologen, Wilhelm Christian Gmelin, dazu eine für die Fortwirkung der spätmittelalterlichen Mystik aufschlussreiche Neuedition der Lehrschriften Johannes Taulers.15 Zumindest den Druck der Theosophia pneumatica hat der Herausgeber Haug selbst als Korrektor in der Druckerei überwacht16 und wohl auch für den Absatz gesorgt. Die in dem wahlweise auf 12
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Felgenhauers Urheberschaft dieses Traktats wird in der Besprechung der in ihren Zuschreibungen meist recht zuverlässigen, von Valentin Ernst Löscher gegründeten kontroverstheologischen Zeitschrift der Orthodoxie vermutet: Unschuldige Nachrichten, (wie Anm. 3). Bd. 12. Leipzig 1712, S. 471. Dieselbe Zuschreibung findet sich im (Versteigerungs-)Katalog der Bibliothek Johann Wilhelm Petersens, BIBLIOTHECA PETERSENIANA, id est Apparatvs librarivs, qvo, dvm viveret, vsvs est Ioan. Gvilielmvs Petersenivs. Berlin 1731, S. 107f. (Nr. 342). Allerdings ist dieser Titel nicht enthalten in dem rund 100 Titel ermittelnden gründlichen Werkverzeichnis von Wolters, Ernst Georg, Nachweis der Druck- und Handschriften Felgenhauers, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 54 (1956), S. 71–84, aus dem aber erkennbar wird, dass Felgenhauer seine frühen Schriften oft mit dem Namenszusatz „Theosophiae Discipulus“ herausgab (S. 72f.). Vgl. den ihm und seiner Versammlung einer „Philadelphia“-Gemeinde in Bederkesa schon im frühen 17. Jahrhundert gewidmeten Abschnitt in der Übersichtsdarstellung von Brecht, Martin, Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), Geschichte des Pietismus 1, (wie Anm. 6), S. 205– 240, hier 220f. und den Artikel von Zaepernick, Gertraud, Paul Felgenhauer, in: RGG4 3 (2000), S. 63. – Der Traktat Ein wichtiges Gespräch vom Kirchen=Gehen ist vom selben Druck auch als gesondert verkauftes Einzelheft verbreitet [erhalten in einem Sammelband heterodoxer Lehrschriften, UB Marburg: XIX eC 1938]: offenbar für diese zusätzliche AbsatzOption erhielt er seine neue Paginierung. Zur Exempel-Biographie des Verfassers und seiner Rezeption im Pietismus vgl. Schrader, Hans-Jürgen, Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung, in: Geschichte des Pietismus 4, (wie Anm. 11), S. 405 und 417f. – Im Sammelband heterodoxer Traktate in der UB Marburg [XIX eC 1938], der einzeln auch Felgenhauers Gespräch vom Kirchengehen (wie Anm. 12) enthält, finden sich ferner Schriften von Brill, Die Wahre und Falsche Erkänntniß JESU Chirsti [Entworffen von Jacob Brill / nebst dessen beygefügtem Lebens=Lauff und einem Catalogo aller seiner Schrifften]. [o.O.] Im Jahr 1712, sowie eine Einzelausgabe des auch der THEOSOPHIA PNEUMATICA (als Anhang vor dem Studenten=Gesang) einverleibten Der Weg Des Friedens / angewiesen von Jacob Brill: Aus dem Niederländischen ins Teutsche übersetzt [o.O., o.J.]. Charakteristische Signets und Vignetten machen den Druck eindeutig zuweisbar, vgl. die detaillierten Nachweise bei Schrader, Literaturproduktion, (wie Anm. 6), S. 171 und 457f. Belege und Genaueres ebd., S. 168–174, 454–461. Vgl. das Postscript zur Vorrede, THEOSOPHIA PNEUMATICA, (wie Anm. 3), S. F 6v: „Als wir dieses geschrieben und uns bereits gegürtet hatten / das gantze Werck der Preß zu überantworten / und der Ausfertigung selber beyzuwohnen / kam uns erst von vertrauter Hand ein gewisses Gespräch zu von allerhand geistlichen Materien / daß es möchte mit beygedruckt werden / welchem dann sein Platz gleich vor dem Weg des Friedens angewiesen worden“; vgl. die Vor-
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billigem Druckpapier oder in gehobener Ausstattung auf Schreibpapier lieferbaren Band zusammengefügten Einzelschriften sind z.T. gesondert paginiert, so dass sie auch einzeln verkäuflich waren. Laut Angabe im Messekatalog des Erscheinungsjahrs war der von der Reichszensur nicht erreichbare theosophische Buchhandel in Amsterdam am Vertrieb beteiligt,17 später dann die für die radikal Gesonnenen marktführende Buchhandlung von Haugs jüngerem Bruder, dem Berleburger Verleger Johann Jacob Haug.18 Wer den Studenten=Gesang geschrieben hat, ist nicht mit vollkommener Sicherheit anzugeben. Johann Friedrich Haug aber ist mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst der Verfasser gewesen. Darauf deuten recht weitgehend analoge Argumente und sogar wörtliche Anklänge zwischen seiner ja auch thematisch verwandten Buchvorrede (Eine Untersuchung der Academischen Theologie und dero Systematischen Lehrart) und dem Gedicht. Ebenso wie die Vorrede hatten schon Haugs Straßburger philadelphische Briefe, aus der Zeit, in der er – offenbar auch mit eigenen Liedtexten – ein für heterodox erachtetes Gesangbuch Jesus=Lieder herausgebracht hatte,19 und sein wenige Jahre späteres Inspirationsbekenntnis fulmi-
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rede zu diesem neu paginierten [Felgenhauer-]Anhang: Ein Wichtiges Gespräch vom Kirchengehen, (wie Anm. 12), S. [2]. Nachweise zur Verbreitung Schrader, Literaturproduktion, (wie Anm. 6), S. 457, Anm. 160. CATALOGUS UNIVERSALIS. Leipzig, Michaelis 1710, S. C 3r [StUB Göttingen: 8° Hist. lit. libr. II, 5171A, Mikrofiche-Ausg. StaBi Berlin Zsn 90101 MF]. Sein CATALOGUS oder Verzeichniß derjenigen Bücher / welche in der Berlenburgischen Buchhandlung bey Johann Jacob Haug in beygesetzem Preiß anjetzo zu haben seynd. 1729, S. G 3r [Fürstl. Hof-Bibl. Bad Berleburg: Rb I 2/58], bietet die „Theosophia pnevmatica, oder geheime GOttes=Lehre. 8°. 1710“ in beiden Ausstattungen an, auf Normalpapier für 50 Kreuzer, auf feinem Schreibpapier für einen Gulden. Dieses Liederbuch, ein Kern geistlicher Lieder von vier Bogen (64 S.) Stärke, das Haug 1704, vermutlich in der Druckerei seines Vaters und unter eigener Mithilfe, an der Zensur vorbei in einer Auflage von annähernd 400 Stück ans Licht gebracht hatte und als dessen (im Gegensatz zum Drucker nicht zensurpflichtiger) Verleger er sich selbst bezeichnet, diente offensichtlich dem konventikularen Gottesdienst und wurde unter philadelphischen Gesinnungsfreunden verbreitet. Nähere Angaben dazu sowohl in der orthodoxen Beschuldigungsschrift, Zentgraff, Historischer Begriff, (wie Anm. 9), S. 86, 200 und 205 als auch in Haugs Apologie, Haug, Zeugnusz der Liebe, (wie Anm. 9), S. 102f. (vgl. S. 54f.). Vgl. den in den „Archives et Bibliothèque de la Ville de Strasbourg“ (8, place de l’Hopital) handschriftlich erhaltenen Bericht Fanatische Dogmata und Lehren Johann Friderich Haugen, welche vornemlich aus seinen Briefen gezogen seind (Titelbl. und 6 S.), S. 2f.: Damit „seine Separatisten aber auch ihr eigenes und besonderes gesangbüchlein hätten, hat er III. ein sonderlich Liederbüchlein drucken laßen, 400 exemplaria, welches er hin und wieder in statt und land außgestreuet, und verschikket“. – Adam, Evangelische Kirchengeschichte, (wie Anm. 9), S. 476, bezeichnet den nach seiner Absetzung aus seinem Pfarramt in Goxwiller bei Barr/Elsaß („Gottesweiler“, wo Philipp Jacob Spener eine seiner ersten Predigten gehalten hatte) nach Halle abziehenden philadelphischen Lehrmeister Haugs, Johann Friedrich Ruopp, als für das Philadelphier-Liederbuch mitverantwortlich und als einen der Textlieferanten: „Eines dieser Lieder, ‚Erneure mich, o ewges Licht‘, das heute in einigen elsässischen Gesangbüchern sich vorfindet, ist von ihm selbst gedichtet.“ Dieses Lied hat sich bis ins heutige EG erhalten (Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Niedersachsen. Bremen, Hannover 1994, Nr. 390, vgl. S. 957. Im alten EKG. Hannover, Göttingen 41952, trug es die Nr. 264). Dabei wurde eine offenbar als zu schroff empfundene Strophe weggelassen: „Ertödt in mir die
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nante Belege einer ungewöhnlich expressiven Sprachkraft. Der bei allem Geschick der Gedankenführung und aller Strahlkraft der Bilder formal doch recht holprige Studenten=Gesang, der sich überdies anlehnt an die metrisch-musikalische Vorgabe eines Kirchenlieds, ist Haugs von keiner Literaturgeschichte erfasstem poetischem Ingenium also zweifellos zuzutrauen.20 Bis ins Wörtliche analog zur Vorrede polemisiert das Gedicht gegen akademisches „Schul=Gezäncke“ (Vorrede, S. A7r) bzw. „Schulen=Gezäncke“ (Str. 4), gleichlautend wird die „Weißheit“ des theologisch unverfälschten christlichen Sophia-Logos (als „ıȠijȓĮ ȑȞ ȝȣıIJȒȡȚȦ“, S. E1v)21 gegen den „verworrenen Circul und Maßstab“ (S. B4r) des akademischen Lehrbetriebs bzw. dessen „buchstäbliches Wischwasch“ (Str. 4) abgegrenzt, in beiden Fällen schließlich finden wir den „Gradum“ der göttlich gekrönten „Doctoren und Meister“ (Str. 20) weit über alle „Gradus“ der akademischen „Doctoren oder Licentiaten / Magister und Baccalaureen“ (S. D8v) erhoben.22 Analog ist ferner die Aufforderung, dass von Grund auf (beginnend mit dem Buchstabieren des
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schnöde Lust, feg aus den alten Sündenwust, ach rüst mich aus mit Kraft und Muth zu streiten wider Fleisch und Blut.“ Neueingerichtetes Evangelischlutherisches Gesangbuch zum Gebrauch der Stadt Halle. Halle 1790, S. 425 (Nr. 498), vgl. noch Gesangbuch für evangelische Gemeinen und Schulen. Berlin [1860], S. 59 (Nr. 81). Auch später noch ist Johann Friedrich Haug anlassgebunden poetisch hervorgetreten, so mit einem vierseitig gedruckten Gelegenheitsgedicht zur Geburt einer Tochter des Grafen Casimir, des nachhaltigen Förderers seines Berleburger Bibelwerks: Bey abermalig=glücklicher Entbindung Der Hochgebohrnen Gräfin […] Maria Esther POLYXENA […] Grafen […] Casimirs […] Frau Gemahlin. Berleburg [1725] (Hof-Bibl. Bad Berleburg: RG II 1/66), vgl. Schrader, Literaturproduktion, (wie Anm. 6), S. 206. Denselben Begriff verwendet Haug bereits in einem philadelphischen Sendschreiben vom 15. Oktober 1704 an den schon Anfang Januar 1703 aus Straßburg vertriebenen TheologieKandidaten Johann Friedrich Klein: „Grüsse alle die bey dir sind / und lust haben an der ıȠijȓĮ ȑȞ ȝȣıIJȒȡȚȦ“ (abgedruckt in [Zentgraff,] Historischer Bericht, [wie Anm. 9], S. 70 und 201 [recte: 199]). Vgl. zum Kontext Adam, Evangelische Kirchengeschichte, (wie Anm. 9), S. 473f. Der ganze polemisch mit der geläufigen universitären Theologenausbildung ins Gericht gehende Passus der Haugschen Vorrede über „die Methode, Weise und das Oel / wie und womit man die Theologiæ Candidatos auf den Academien und Universitäten salbet und ausrüstet / tauffet und ersäuffet“ (S. D8r), lautet: „Haben sich die jungen Scholaren nur auf ihren sophistischen Schwätz=Schulen u. Officinen oder Werckstätten müßiger Speculationen und unzahlbarer Grillenfängereyen frisch gehalten / die Aussprüche u. oracula ex tripode Facultatis Theologiæ aufgefangen / die verba Magistri eingeschluckt / und ihren Speichel aufgeleckt / auch manche Stunden exercitii gratia zu seichtigen Wortkriegen employret / und wohl pro & contra disputiren und declamiren gelernt / daß sie auf dialectische Art von ihren Articuln und Glauben subtil argumentiren und mit andern sich wacker herum schlagen und fechten können / und einen habitum in der Kunst zu widersprechen und schwätzen erlangt haben / so stehet ihnen der Gradus und summi honores, oder / nach dem Stylo Lutheri, [T. 2. Alt. f. 162 a. T. 2. Jen. f. 106 a. f. 119 b.] der Bestien=Character, offen / und der Archi-Synagogus macht denn allerhand Pickelhäring aus ihnen / Doctoren oder Licentiaten / Magister und Baccalaureen / als Stützen des Anti=Christenthums / wann und wie es ihnen beliebet; doch mit dem Beding / daß sie auch Geld / wann schon keinen Geist haben. […] Das ist nun die Ursach / warum auch Lutherus so sehr gegen die hohe Schulen geeyfert hat / weil er nemlich den Betrug wol sahe und erkannte.“ (S. D8r).
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göttlichen „Abba“-Vaternamens)23 die „Canaans Sprach“ (Str. 6) bzw. „die Sprache deß Geistes und die schöne und erbauliche Friedens=Sprache“ (F 1v) erlernt werden müsse. Am deutlichsten schließlich ist der identifikatorische Bezug des Haug-Kryptonyms, „der seine Lust bey Jesu Füssen Hat“, auf die Einladung der 14. Gedichtstrophe, „sitzet zun Füssen Dessen / der heisset der göttliche Sohn“. Für die Autorschaft vollends beweiskräftig allerdings sind diese Analogien zwischen dem Gedicht und Haugs zur Drucklegung geschriebener Vorrede deshalb nicht, weil er theoretisch bei deren Niederschrift auf einen ihm womöglich schon vorliegenden Studenten=Gesang eines anderen Verfassers hätte Bezug nehmen können. Jedenfalls fehlen im Gedicht die für Haug so charakteristischen Werbungen für einen aus allen Gemeinschaften zu sammelnden Bruderbund der Erweckten ebenso wie seine radikal ekklesiomachischen Polemiken. Die propagierte Orientierung weg von akkumulierter Stoffgelehrsamkeit und Disputierkunst24 hin zur 23
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Ganz gleich wie im Studenten=Gesang verwendet auch Haug, Zeugnusz der Liebe, (wie Anm. 9), den göttlichen „Abba“-Namen (Mk 14,36, Rö 8,15, Ga 4,6): „Und da gefiel es dem treuen Abba seinen Sohn / das Geheimnuß des Worts / je mehr und mehr zu offenbaren in seinem armen Geschöpffe / und es demselben zur Wohnhütte zuzubereiten.“ (S. 46). Und er erläutert ihn im Kommentar zur ‚Berleburger Bibel‘ als „das kindliche Rufen des Geistes in den Hertzen der Glaubigen“, Der Heiligen Schrifft Fünffter Theil […] Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen: Nebst der buchstäblichen und geheimen Erklärung. Berleburg 1735, S. 434, vgl. (mit syr.-hebr. etymologischen Ableitungen dieses Lall-Namens) ebd. Sechster Theil. Berleburg 1737, S. 263, 589 als das knappste Gebet und einfältig-inbrünstige „Geschrey der Seelen“, das „den Kindern des neuen Bundes zu allererst mitgetheilet wird […], ohne daß sie einer weitern Anweisung von der künstlichen Ordnung bedürfften.“ Zum Zensurprozess um dieses von Haug und seinen Mitarbeitern herausgegebene Bibelwerk vgl. Schrader, HansJürgen, Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht. Der Zensurfall ‚Berleburger Bibel‘, in: Göpfert, Herbert G., Weyrauch, Erdmann (Hg.), „Unmoralisch an sich.“[…] Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 13), S. 61–80 sowie Schrader, Literaturproduktion, (wie Anm. 6), S. 126–129, 186–198, 207, 433f., 467–473. Johann Friedrich Haugs eigene Negativerfahrungen mit diesem traditionellen Übungsfeld einer auf die dogmatisch verketzernde Abwehr jeder Abweichung von den dominierenden Lehrauffassungen der eigenen Kirche ausgerichteten akademischen Kontroverstheologie spiegelt seine während des Straßburger Studiums vorgelegte und (wie üblich) unter dem Namen des das Disputthema festlegenden Professors veröffentlichte Abhandlung über die Irrtümer der Mystiker, mit der er als „Respondens“ geprüft wurde. Das in der Tholuck-Bibliothek der Franckeschen Stiftungen erhaltene Dokument, das Haugs profunde Kenntnisse der gesamten mystischen Tradition von der Antike bis zu Spener, Bourignon, Horch, Petersen und der philadelphischen Societät spiegelt, verdiente eine quellenkundliche Edition, Übersetzung und Analyse: Haug, Johannes Fridericus, Argentorat (Resp.), Q. D. B. V. DE MYSTICA THEOLOGIA, in: Zentgravius, Joh. Joachimus, Exercitatio Historico-Theologica, de Lapsu Q. Sept. Florent. Tertulliani, Ad Montanistas, Seculi secundi fanaticos. Straßburg 1706 [Bibl. der Franckeschen Stiftungen Halle: 2 an: Tholuck X B / 294, Disp. Nr. 5, 34 S.]. Die Aufgabe war dem verdächtigen Haug offenbar spezifisch in der Absicht seiner dogmatischen Festlegung erteilt, waren doch zweifellos zum (nicht genau ausgewiesenen) Zeitpunkt der Disputation bereits seine Observierungen wegen philadelphischer Kontakte und Abirrungen im Gange (spätestens seit 1703), vgl. den handschriftlichen Bericht Fanatische Dogmata […] Johann Friderich Haugen (Anm. 19), in dem er (S. 5f.) als „turbator tranquillitatis Ecclesiasticæ […], und ein Subtiler Chiliast […] und als ein friedensstöhrer und Lermenblaser“ attackiert wird. Haug hat in dieser Disputation zwar alle erforderten Zurückweisungen von „Lehrabweichungen“ der mystischen Tradition
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Herzensoffenbarung der heilsamen Lebenslehre und zur praxis pietatis entspricht vielmehr, wie beispielreich etwa Wolfgang Martens in seiner Studie „Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit“ nachgewiesen hat,25 gemeinpietistischen Forderungen. Wenn also Haug selbst hier – woran ich keinen Zweifel habe – zur Poetenfeder gegriffen hat, hat er jedenfalls darauf geachtet, dass sein Studenten=Gesang im Vermeiden aller Sonderlehren mitsingbar sei für alle, die pietistische Kernüberzeugungen teilten. Das war sicher auch der Grund für die beigesetzte Tonvorgabe „Mel. Grosser Prophete / Mein Herze begehret“, mit der das Muster eines unter Pietisten allbekannten Lieds aufgerufen wird, des vorletzten aus Joachim Neanders weitverbreitetem Gesangbuch von 1680, Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen,26 und damit Georg Christoph Strattners Melodie von 1691.27 Das poetische Medium – ganz besonders dank der persuasiven Kraft des Mitvollzugs im gemeinsamen Gesang – schien jedenfalls mit dem mitreißenden Dreivierteltakt seiner vierhebigen Daktylenverse am eindringlichsten, um zugleich mit der pietistischen Glaubenslehre auch die Anregung zur Studienreform auszubreiten und in die Herzen einzugraben. Einige Passagen des zunächst in extenso abgedruckten Lieds möchte ich in sprunghaftem Durchgang sodann etwas näher beleuchten:
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geliefert, die reine Mystik aber „secundum doctrinam Evangelii, orthodoxe et scripturis traditi“ verteidigt (S. 31) und sich zu ihr bekannt: „§ XXIII. Ab his & similibus abusibus, quos supra jam tetigimus, repurganda est Theologia Mystica, quam secundum DEI verbum repurgatam non rejicimus, nisi ipsam Theologiam Asceticam rejicere velimus.“ (ebd.). Offensichtlich einem anderen Autor mit nur gleichem Vornamen gehört die in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen (4 in: 88 D 11) unter „JOHANNES HAVG, Argentinensis. Autor“ (lange nach Johann Friedrich Haugs Vertreibung aus der Stadt) gedruckte Disputation zu, die ebenfalls mit dem Namen des Prüfers herauskam: Wagner, Bernhardus, Be-Jahve Disputatio theologica, Miseriam Damnatorvm juxta ductum dicti Prophetici Esajæ. Straßburg 1712. Martens, Wolfgang, Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit oder vom „allzu großen Mißtrauen in die Wissenschaften“, in: Neumeister, Sebastian, Wiedemann, Conrad (Hg.), Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Bd. 2. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockdichtung 14/2), S. 497–523; Neuveröffentlichung (unter dem Titel: Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit. Oder von der „nimia differentia in litteris“) in: Ders., Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 25), S. 50–75. In der Neuedition, Neander, Joachim, Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen, hg. v. Rudolf Mohr. Leipzig 2002 (Kleine Texte des Pietismus 4), S. 95f., vgl. dazu den Kommentar 176f. und die Übersicht über abgeleitete Ausgaben, u.a. Gerhard Tersteegens GOtt=geheiligtes Harfen=Spiel der Kinder Zion. Cleve 1768. Die fortgesetzte Nutzung dieses Lieds im pietistischen Gemeindegesang zeigt sich auch an seiner Aufnahme (mit einer neuen 4. Strophe, wahrscheinlich aus Zinzendorfs eigener Feder), im „Herrnhuter Gesangbuch“: Christliches GesangBuch der Evangelischen Brüder-Gemeinen von 1735 zum drittenmal aufgelegt und durchaus revidirt [1741]. [Reprint]. Mit einem Vorwort v. Erich Beyreuther und Gerhard Meyer. Hildesheim, New York 1981 (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 4, Bd. III: Herrnhuter Gesangbuch), Nr. 69, S. 69f., vgl. Gudrun Meyer, geb. Hickel, Verfasserverzeichnis zum Herrnhuter Gesangbuch von 1735. In: Ebd. Teil III. Zugabe. Hildesheim, New York 1981, S. 80 [zu Nr. 69]. Vgl. die für den Kirchengebrauch mit den Noten gedruckte Ausgabe, Neander, Joachim, Bundeslieder und Dankpsalmen von 1680. Historisch-praktische Ausgabe mit ausgesetztem Generalbaß von Oskar Gottlieb Blarr, Köln, Bonn 1984, S. 116f., zur Melodie S. 7–9.
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Das ist / Eine hertzliche Vermahnung an die studirende Jugend / und Anweisung an den rechten Lehrmeister / bey welchem sie in allen Facultäten heilsamlichst kan unterwiesen werden zur Seeligkeit. Mel. Grosser Prophete / mein Hertze begehret. 1. JEsu / mein JEsu! ach lehre mich kennen Dich / du gecreutzigter Bräutigam! schau / Wie das unbändige Fleische zu rennen Lüstert von Deiner so heilsamen Au! Deine Zucht / grosser Prophete! mich lehre / Meinem Geist alles ausschweiffen verwehre! 2. Ach daß ich mögte dein Jünger verbleiben / Gantz zu vergessen / was ausser dir ist / Alle Adamische Witz zu vertreiben Und zu verlieren als Gräuel und Mist! JEsu / mein JEsu! du Lehrer der Thoren / Nimm du mein Hertze / mein’ Augen und Ohren! 3. Wisset ihr Lehrer der Juden und Griechen / Wisset ihr Weise und Kluge der Welt / Daß zum gecreutzigten JEsu zu kriechen Sey mein Vergnügen / das Weißheit darstellt! Euer buchstäbliches Wischwasch vergehet / Wesen und Warheit in JEsu bestehet! 4. Kommet ihr liebe studirende Brüder / Werdet bey meinem Exempel doch weiß! Fliehet den Schatten / und suchet die Güter / Die euch gedeyen zur himmlischen Reiß! Meidet / ach meidet die teufflische Räncke / Bücher=Gewirre und Schulen=Gezäncke! 5. Kommet / wir wollen Collegium halten Bey dem Professor der oberen Schul! Lasset das übrige alles erkalten / ehrwürdigen Nahet zu diesem { } Stul! verzuckenden Kommet / und bringet unmündige Hertzen / Kauffet die Lehr ohne Geld / ohne Schertzen!
Ein radikalpietistischer „Studenten=Gesang“ 6. Erstlich so müssen wir hier buchstabiren / A/b/ab : b/a/ba : Abba / o GOtt! Diese Anfänge im Grunde dociren Mag wol alleine der himmlische GOtt / Der da ist A und O / Anfang und Ende / Canaans Sprach er belehret behende. 7. Logicam, eure Gedancken zu führen / Lehret mein JEsus in himmlischer Kunst; Logos, das Worte / der Warheit Gebühren Weiset ohn falschen und schädlichen Dunst: Seine methode durch Beten und Weinen Analysiret der Himmel den Seinen. 8. Alle Philosophi / stoltze Sophisten / Werden durch JEsum in Irre gebracht; Alle scharffsinnige Academisten Mit dem zweyschneidigen Schwerdte geschlacht: Kommet ihr Redner / und lernet erblassen / Worte des ewigen Lebens zu fassen! 9. Wollt ihr natürliche Dinge studiren? Höret den himmlischen Salomon an! Sollte der Schöpffer nicht best penetriren Seiner Geschöpffen unendlichen Plan / Sonne / Mond / Sternen / und dero Geschäfften / Erde / Feur / Wasser / und irdische Kräfften? 10. Was metaphysisch und übernatürlich / Lernt man in JEsu geheimester Lieb / Wann man verläugnet das / was creatürlich / Embsig zu folgen dem göttlichen Trieb: Lasset uns lieben / studiren und loben JEsum / der über die Himmel erhoben! 11. Sucht Ihr der Artzney gründliche Kräffte? Er ist das Leben / das tödtet den Tod: Alle balsamische heylsame Säffte Quellen in ihme mit labendem Brod: Schmertzen und Kranckheit und Tode vergehet / Wann man in JEsu Gemeinschafft bestehet.
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150 12. Liebt ihr Gerichte / Gesetze und Rechte? Alle Gerechtigkeit hat er erfüllt: Seine Responsa, so lauter und schlechte / Sind wol ein unüberwindlicher Schild: Moses und David und Salomon haben Ihre Politic in ihme gegraben. 13.
Sollt nicht der Stiffter der göttlichen Rechten / Der die Gerechtigkeit wesentlich ist Seinen geheimesten Freunden in Nächten Oeffnen der Geheimnüssen Schätze und Kist? Freundlich und offen / und frey wie die Sonne / Bleibst du / o JEsu / mein eintzige Wonne! 14. Endlich ihr Freunde! wir wollen begrüssen Ihn als den besten Theologum nun: Kommt mit Maria / und sitzet zun Füssen Dessen / der heisset der göttliche Sohn / Vater der Ewigkeit / Herrscher der Erden / Huldiget ihme mit Ehren=Gebärden! 15. Göttliche Tieffen im Grunde zu wissen / Samt den Abgründen der heiligen Schrifft / Könnet ihr diesen Propheten nicht missen / Der die Propheten all weit übertrifft: Was er gesehen und was er gehöret/ Weiset er treulich und nimmer bethöret. 16. Diesen fürtrefflichen mächtigen Lehrer Rühmet der gantze Prophetische Chor: Er ist der Sünden= und Lügen=Verstörer; Wer in nicht kennet / der bleibet ein Thor: JEsu / mein JEsu / du Meister der Warheit / Laß mir auffgehen die himmlische Klarheit! 17. Dumme mit Gaben der Weißheit begaben / Blinde mit Augen und Stumme mit Stimm / Todte mit Manna des Lebens erlaben / Sänfftigen unsern unsinnigen Grimm / Fordert die Kräfften der ewigen Armen / Samt unerschöpfflichem Liebes=Erbarmen.
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18. Unsre Begierden und Sinnen bezwingen Ist ein unendliches göttliches Werck: Alle auffsteigende Bilder verschlingen Bleibet der Allmacht gewissestes Märck: Solte sonst jemend vermögen zu räumen Menschliche Hertzen / die Unflat ausschäumen? 19. Theurster Immanuel! der du gesprochen Zu den Unmündigen: Lernet von mir! Lasse die fleischliche Witz seyn gebrochen / Daß doch die Schüler sich nahen zu dir! Schaffe gelehrsame / glaubige Hertzen / Glüende Geister und brennende Kertzen. 20. Liebe mit DEmuth den Gradum erhaltet / Weil du der König der Demuth und Lieb; Liebe bleibt ewig und nimmer erkaltet / Weilen sie flammet im göttlichen Trieb: Nur die verliebten Jungfräulichen Geister Werden gecrönet Doctoren und Meister.
Die Geringachtung aller bloß buchstäblichen Gelehrsamkeit, sofern sie nicht allein auf den Erwerb des lebensverwandelnden Heiligen Geistes gerichtet ist, gehört, wie gesagt, zu den topisch wiederholten Argumenten der pietistischen Paränese.28 Besonders die Theologie wird da immer wieder angeprangert, sie sei in ihrer bis in die Predigtpraxis hinein einseitigen Fixierung auf Dogmatik und kontroverstheologische Polemik zu Mattäologie, zu leerem Wortschwall, verkommen.29 In allen 28
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Gerade dieser Topos bildet aber auch die Grundlage für Johann Friedrich Haugs Pädagogik, als ihm nach der Vertreibung aus Straßburg sein philadelphischer Gesinnungsfreund Andreas Groß 1705 eine Hauslehrerstelle in Esslingen vermittelt: „Du darffst wenig / oder gar keine Bücher mitbringen. Ich habe kaum 12. Bücher in allem / mit groß und klein. Ich bekümmere mich umb die vernunfft der Knaben nicht / daß sie was fassen und excoliren. Wann nur die Seele was fasset / auffs künfftige / damit sie bewahret werde vor dem zorn.“ (Groß’ Einladebrief an Haug, abgedruckt bei Zentgraff, Historischer Bericht, [wie Anm. 9], S. 193) Das bis ins 18. Jahrhundert sowohl das Theologiestudium als auch die Kirchenverkündigung beherrschende und gleichsam als Krone aller theologischen Übung fungierende Exerzitium des Lehrstreits, des „Refutierens“ aller von der vorgegebenen Linie abweichender Auffassungen im „Elenchus“ (an dem die Pietisten in der Abwehr gemeinsamer Gegner durchaus teilhatten), wird mit einer gewichtigen Fracht an Quellenbelegen namentlich herausgestellt von Gierl, Martin, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 129), insbes. S. 13, 16, 31, 62–75, 125, 165, 471–479. Dazu gibt förderliche Zusatzinformation in Rücksicht auf den institutionellen Studienaufbau Mau, Rudolf, Programme und Praxis des Theologiestudiums im 17. und 18. Jahrhundert, in: Theologische Versuche XI (1980), S. 71–91, hier 73, 76f., 82–84. Stärker die antidogmatische und philadelphische Tendenz der pietistischen Reformbemühungen wird herausgestellt in der
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pietistischen Programmäußerungen wird, wie in Speners De impedimentis studii theologici von 1690, zu einer Ausbildungsreform gerufen, kraft derer „die Theologie nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen erfaßt und getrieben […] und im Leben bewährt werden soll“.30 Aussagen August Hermann Franckes, beispielsweise aus Briefen von 1691: Wenn man mir gleich alles nähme, so habe ich doch in meinem Hertzen den Weg, wie man zu Gott kommen soll. [ – ] Aber der natürliche Mensch vernimmet nicht, was des Geistes Gottes ist, und wenn er 1000 Commentarios lese. [ – ] Wer den Heil. Geist erst im Hertzen hat, und durch denselben den großen Schatz und Reichthum des göttlichen Worts erkennet, der kann unmöglich die Bücher so hoch halten,31
unterscheiden sich nur durch ihren moderateren Ton von solchen der haugschen Theosophia-Vorrede, die unmittelbar auf die Methode und Praxis des Theologiestudiums zielen.32 Und ganz so, wie Haug 1710 anstelle des von den akademischen Institutionen gebotenen berufs-irrelevanten Wissenschaftstrainings ein Studieren bei Jesus als dem einzig rechten Lehrmeister anempfahl: O wie gar anderer Qualitäten / Ursprungs und Nutzens / ist doch die wahre und reine Theologie […]! Wie ihr Principium und Ursprung JEsus ist / in welchem alle Schätze der Weißheit und Erkäntniß verborgten liegen / also ist sie auch: Die Ectypa machts der Archetypæ nach,33
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grundlegenden Abhandlung von Kang, Frömmigkeit, (wie Anm. 2), insbes. S. 219–224, 236, 288, 295, 359f., 497 und 501. Kang, Frömmigkeit, (wie Anm. 2), ebd., S. 224, vgl. 236, 258, vgl. S. 333 (Franckes Aufgreifen exakt der Spenerschen Formel); Gierl, Pietismus und Aufklärung, (wie Anm. 29), S. 273–291, Mau, Programme und Praxis, (wie Anm. 29), S. 73, aber auch die Analyse der Predigt Speners am 1. Juli 1694 in der Berliner Nikolaikirche anlässlich der Eröffnung der Universität Halle. Hier hatte Spener bereits für den gesamten schulischen und akademischen Unterricht (nicht bloß den für die Theologen) gegen ein Wissen ohne Liebe gefordert, er müsse „geheiligte studia“ von innen her befördern. Dietrich Blaufuß, „Pflanzgarten des Glaubens und dessen Früchten“. Philipp Jacob Speners Predigt anläßlich der Eröffnung der ‚pietistischen‘ Universität Halle, in: Mokrosch, Reinhold, Merkel, Helmut (Hg.), Humanismus und Reformation. Historische, theologische und pädagogische Beiträge zu deren Wechselwirkung (Festschrift Friedhelm Krüger), Münster, Hamburg, London 2001 (Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie 3), S. 154–169, hier 162f. Wie weitgehend Speners und Franckes Analysen und Empfehlungen zur Studienreform konvergieren bzw. präformiert erscheinen in Adam Rechenbergs alle Fakultäten umfassendem Reformprogramm De studiis academicis von 1691, ist vergleichend herausgestellt im Aufsatz von Blaufuß, Dietrich, „Scibile et pie“. Adam Rechenbergs und Philipp Jacob Speners theologische Studienanleitungen. Wegweiser zur Aufklärung?, in: Marti, Hanspeter, Döring, Detlef (Hg.), Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Basel 2004, S. 329–358. Nach A. H. Francke, Vier Briefe August Hermann Franckes, zur Säcularfeier seines Geburtstags, hg. v. Gustav Kramer. Halle 1863, S. 5f., zitiert bei Martens, Hallescher Pietismus, (wie Anm. 25), 1987: S. 500 und 503; 1989: S. 54, 57f.; vgl. Kang, Frömmigkeit, (wie Anm. 2), S. 358–362. Haug, Erste Vorrede, in: THEOSOPHIA PNEUMATICA, (wie Anm. 3), S. D 8v, vollständig zitiert s.o., Anm. 22. Ebd., S. E 1v.
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konnte Francke noch wenige Jahre vor seinem Tod, in seinem Methodus studii theologici von 1723, postulieren: Sic enim finis studii Theologici discendus est, CHRISTUS: quatenus nimirum ille est VIA, VERITAS ET VITA, per quem solum ad Patrem venire licet.34
Die akademischen Konventikel, die Spener bereits 1676 in Frankfurt gegründet hatte, versuchten wohl, einem solchen Leitbild näher zu kommen – geradeso wie Franckes zu Eklats und schließlich 1690 zum formellen Verbot führende erbauliche und erweckliche Ausrichtung des Leipziger Collegium philobiblicum, bei dem seit 1687 über die Studentenschaft hinaus viel Stadtpublikum, auch Handwerker und Frauen, zusammenströmte und sogar ungraduierte Studierende Gebetsversammlungen und selbst akademische Kollegia über die kleinen paulinischen Briefe abhalten durften.35 Und diesen beiden Vorbildern war fallweise an anderen Universitäten nachgestrebt worden, namentlich in Jena, Gießen, Tübingen und insbesondere an der zur zentralen Pflanzstätte einer pietistischen Theologenausbildung erwachsenden jungen Universität Halle (seit 1690/93).36 Aber trotz allen Wehgeschreis der Reformkritiker wie des Orthodoxen Johann Benedikt Carpzov, dergleichen Frömmigkeitsübungen mit ihrem auch außeruniversitären, teilweise gar weiblichen Publikum zerrütteten in der Mißachtung gründlichen Basiswissens, kontroverspolemischer Disputationen und systematischer Theologie überhaupt eine solide Universitätsausbildung (entsprechende Veranstaltungen seien durch massenweises Fernbleiben der Studenten sogar schon ausgefallen), sind Auswirkungen auf die schwerfälligen institutionellen Strukturen und Studienpläne zunächst doch kaum zu konstatieren – nicht einmal in Halle, wo zwar ein größeres Gewicht auf individuelle Studienberatung gelegt wurde, Änderungen aber aufgrund der durch politische Rücksichtnahmen gebotenen „Beibehaltung des traditionellen Rahmens des theologischen Lehrbetriebs“ allenfalls subinstitutionell, durch eine veränderte Einstellung der Lehrenden und Lernenden zu den überkommenen Lehrinhalten, wirksam werden konnten, indem „herkömmliche Elemente des Studiums in eine neue Relation zueinander gesetzt und dem pietistischen Grundanliegen […] dienstbar gemacht wurden.“37 34 35
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Vgl. Kang, Frömmigkeit, (wie Anm. 2), S. 356f., vgl. 352, 402, 409. Vgl. dazu außer Kang, Frömmigkeit, ebd., S. 225f., 308, 316–318, 336 bereits Schrader, Wilhelm, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. 1. Teil. Berlin 1894, S. 21–23, besonders aber die ausführliche Analyse (auch hinsichtlich der zunehmenden Unterstützung seitens des zunächst skeptischen Spener) bei vom Orde, Klaus, Der Beginn der pietistischen Unruhen in Leipzig im Jahr 1689, in: Marti / Döring (Hg.), Die Universität Leipzig, (wie Anm. 30), S. 359–378, insbes. 365–372, 375. Eher vage Hinweise auf die präzis offenbar schwer zu fassenden Initiatoren, Gruppen und Wirkungen geben Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität, 1. Teil, (wie Anm. 35), S. 19, 118, Kang, Frömmigkeit, (wie Anm. 2), S. 56, 345f., 415–417, Gierl, Pietismus und Aufklärung, (wie Anm. 29), S. 37, 43f. Auf diesen augenfälligen Sachverhalt weist mit besonderer Klarheit Mau, Programme und Praxis, (wie Anm. 29), S. 75, 81, 83 und 86, hin (zitiert: S. 86, 83). Ein besseres Licht auf die
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Neu und weitergehend ist da doch der Aufruf im Gedicht zur Wegweisung an die studierende Jugend, in allen einzeln erwogenen Fakultäten und Studienfächern solle sie ihre gesamte Studienpraxis vollends an Jesus, ihrem himmlischen Dozenten, orientieren. Als „grosser Prophete“ wird der gleich in der ersten Strophe mit der Anrede des gleichsam fortgesungenen Neander-Lieds apostrophiert, als eine Instanz, deren Offenbarung nicht abgeschlossen ist, sondern ständig neu vernehmbar und auf Zukunft gerichtet bleibt. Für die „heilsamliche“ Unterweisung „zur Seeligkeit“, die als profundestes Lernziel aller Studien jenseits ihrer weltlichen Anwendungsfelder verlangt wird, muss seine Pädagogik Liebe und Fürsorge mit strenger „Zucht“ kombinieren, können doch die Sünden der Jugend (das „Ausschweiffen“) auch im Geiste begangen werden. In konsequenter Adaption des akademischen Institutionen-Wortschatzes wird eine grundlegende und gesamthafte Studienreform gefordert, die in jeder Fachausbildung als Endziel aller Erudition und Erkenntnisprogresse die fundamentale Umwandlung des Menschen im christlichen Sinn und nach pietistischem Verständnis ansetzt. Die Strophen 2 bis 4 grenzen noch ohne fachliche Spezifikation die angestrebten Methoden und Ziele von denen des geläufigen Studienbetriebs ab. Das Studium darf nicht aus der Jesusnachfolge abführen, zu der vorzüglich die unverbildeten „Thoren“ über Erfahrungen ihres Herzens und ihrer Sinne hinfinden (ein Gedanke, den die 17. Strophe wiederaufnimmt),38 während die Vernunft (als greuelhafter ‚adamischer Witz‘) den Weg versperrt. Die buchstäbliche Nachfolge zum Kreuz ist im Gegensatz zum intellektuell akkumulierten Wissen und zu spitzfindiger Disputierkunst der Inbegriff von Weisheit, Wahrheit und Wesen. Hier werden platonisch-neuplatonische Begriffe aufgenommen: im Exempel Christi ist im Gegensatz zu bloßen Schatten (ıțȚĮȓ) wahres Sein oder Wesen, ontologische Substanz (ȠȪıȓĮ) zu finden. Deshalb soll (Str. 5) das Studium bei Jesus, dem für die Hoch-
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tieferen Gründe für die doch befremdliche Diskrepanz zwischen der intendierten Reform der Lehrinhalte und einer unverändert übernommenen bzw. fortbestehenden Studienordnung an der Universität Halle wirft Udo Sträter in seinem Beitrag „Spener und August Hermann Francke“ zum Berliner Symposion „Philipp Jakob Spener. Begründer des Pietismus und protestantischer Kirchenvater“, gedruckt in: Wendebourg, Dorothea (Hg.), Philipp Jakob Spener – Leben, Werk, Bedeutung. Bilanz der Forschung nach 300 Jahren. Halle, Tübingen 2007. Er zeigt, wie die theologischen Gegner in der Hallenser Professorenschaft, insbesondere aber die staatliche Aufsichtsbehörde argwöhnisch über jede Neuerung im Programm der jungen Universität wachten, so dass es als eine unentbehrliche Vorsichtsmaßnahme pietistischer prudentia ecclesiastica anzusehen ist, wenn der neue Wein reformierter Lernziele und Lehrmethoden in die alten Schläuche traditioneller Firmierungen gefüllt wurde. Gedanke und Begriff finden sich etwa auch in der „Historie von Anna Maria von Schurmann / einer welt=berühmten / gelehrten und gottseligen Dame“, die ein Wunderbeispiel weltlicher Gelehrtheit gewesen und zur melioris partis electio gelangt sei: Sie verlängert so die Reihe der „Exempel, daß die himmlische Weißheit die Gelehrten und Klugen dieser Welt auch erhaschet / und sie in die göttliche Thorheit eingeführt /daß sie alles vorige Wissen dagegen für Stückwerck / ja für Koth und Schaden geachtet“ (in: [Reitz, Johann Henrich, begr.,] Historie Der Wiedergebohrnen, Teil VI [hg. v. Johann Samuel Carl], Berleburg 1730 [Krit. Neudr. v. Hans-Jürgen Schrader. Tübingen 1982, Bd. 3], S. 67f.).
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schul-Oberstufe zuständigen Ordinarius, absolviert werden, von dessen Lehrkanzel in seiner privatissime et gratis gehaltenen Vorlesung nicht bloß der Verstand gespeist werde, sondern eine verzückende, ernstlich enthusiasmierende Botschaft zu gewinnen sei. Dieses aber setze anstelle des stolzen Aufklärungsgebots, sich mündig des eigenen Verstandes zu bedienen, „unmündige Hertzen“ voraus, eine Tabula rasa, in die der Geist seine Zeichen einschreiben kann. Ganz von vorn muss, wie die Strophe 6 zur Einführung der neuen Lehrmethode anweist, begonnen werden, mit einer Grundstudienpropädeutik, die beim Neuerlernen des Alphabets einsetzt, bei einem neuen Sprechenlernen, das die infantes aus den zwei Eingangsbuchstaben schon den Vaternamen jenes göttlichen Lehrmeisters zu lallen lehrt, in dem Anfang und Ende beschlossen liegen. Vom „Abba, mein Vater“ (Mk 14,36, Rö 8,15, Gal 4,6) aus39 kommt man rasch voran im Lernen der gesamten Fach- und Sonderterminologie der Erleuchteten („Canaans Sprach“),40 die sich von der außerhalb der himmlischen Akademie gesprochenen Adamssprache fundamental unterscheidet. Nach diesen Ziel- und Methodenvorgaben nun werden von der 7. bis zur 15. Strophe alle Studienrichtungen in systematischer Folge erwogen, um aufzuzeigen, wie der Heiland in ihnen allen das oberste Leitbild und Ziel biete. Der Reihe nach durchmustert werden Disziplinen und Ausbildungsschritte, zuerst das Trivium der artes liberales mit ihrem collegium logicum, philosophicum und rhetoricum, dann auch die höheren Studien der angewandten und letzter Erkenntnis zugewandten Wissenschaften, die Physik und Metaphysik, Medizin und Pharmazie, Jura mit Staatskunst und Kameralistik, schließlich auch die Theologie. Nur wenige Explikationen, wie man sie alle durchaus studieren soll mit heißem Bemühn – dabei aber im Kern auf eine Erkenntnis hin, die jenseits von allem Wissen liegt: Logik ist hier die Wissenschaft vom ȜȩȖȠȢ, also von Christus, dem im Fleisch offenbarten 39
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Dasselbe Motiv wird wiederholt auch in der Historie Der Wiedergebohrnen ausgeführt. Ein Gebet des (ja mit einem Beitrag auch in der THEOSOPHIA PNEUMATICA präsenten) Jacob Brill sagt: „Ich will lieber sitzen auf der untersten Banck deiner A b c=Schüler / denn auf den Hohen Stühlen der Gelehrten dieser Welt“ (Reitz, Historie, [wie Anm. 38]. Teil IV, Idstein 1716, S. 188 [Dieser Band übrigens erschien zuerst in derselben Druckerei wie die THEOSOPHIA PNEUMATICA, verlegt von Johann Friedrich Haugs Bruder, Johann Jacob Haug]). Noch präziser nehmen die „Reimen von der elenden Beschaffenheit des falschen und von der seligen Art des wahren Christenthums der einfältig=weisen Seelen“ diesen Gedanken auf: „Das falsche Christenthum lernt stets das A b c, / Und lernt doch nimmermehr im Geist das Abba sagen.“ (Ebd. Teil VI, S. 88) Beide Passagen sind auch zitiert (die letzte mit irrtümlicher Seitenangabe) bei Martens, Hallescher Pietismus, (wie Anm. 25), 1987: S. 502 und 505, 1989: S. 56 und 59. Auch für Spener war eine universitäre Studienreform mit dem Leitbild des erweckten Akademikers bereits in der kindlichen Erziehung zur Frömmigkeit zu fundieren, setzte also eine christliche Schulreform voraus: „Ohne Berücksichtigung der Schulerziehung der angehenden Theologiestudenten wäre also eine grundlegende Reform der Theologenausbildung nicht denkbar.“ (Kang, Frömmigkeit, [wie Anm. 2], S. 276f.) Vgl. als Forschungsbericht Schrader, Hans-Jürgen, Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung, in: Lehmann, Geschichte des Pietismus 4, (wie Anm. 11), S. 404–427.
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Gotteswort Joh 1,1-4. Seine angemessene Analysemethode ist statt kontroverser Disputation die Erschütterung des Gemüts in „Beten und Weinen“. Der Gipfel aller Philosophie ist ıȦijȓĮ, „Weißheit“ statt akademischer Sophisterei, die Krone aller Rhetorik sind die Lebensworte des endzeitlichen Herrn („aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert und sein Angesicht leuchtete“, Apk 1,16, vgl. 2,12 und 19,15). Wer „natürliche Dinge studiren“ will, also die Physica, Aufbau und Eigenschaften des Kosmos und der irdischen Elemente, ihrer Kräfte und Gegenkräfte, lernt freilich am besten beim Schöpfer selbst, der deren Bauplan ersonnen hat (wenn er als der höchste Magus erscheint, der himmlische Archetyp des von göttlicher Weisheit erfüllten Magierkönigs Salomon, klingt die in der pietistischen Naturforschung noch sehr virulente Erkenntnisssuche über geheimwissenschaftlich-alchimistische Praxis an).41 Wer aber über die Physik hinaus zur Metaphysik fortschreiten will, kann keinesfalls auf geheimste Offenbarung verzichten, die sich (etwa auch zufolge der CLAVICULÆ SALOMONIS Et THEOSOPHIA PNEUMATICA) nur dem göttlich rein Strebenden (dem Talmid) erschließt.42 Während die 10. Strophe solche arkaneren Anwendungen nur dem mit radikalpietistischem Laborantenvokabular Vertrauten durchschaubar macht,43 wird die Quintessenz der Gleichsetzung von Studium mit Liebe und Lobpreis Gottes allen pietistisch Gesonnenen eingängig. Sofern der hermetische Hintersinn nicht realisiert wird, kann man unanstößig sprechen und singen vom „göttlichen Trieb“ und von „JEsu geheimester Lieb“. Christus als Arzt und als Apotheker sind in der pietistischen Medizin und Pharmazie (wie auch schon in der spiritualistisch-christlichen Emblematik) ebenso geläufige Bildvorstellungen44 wie das gemeinchristliche (neutestamentliche) Para41
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Vgl. Hoheisel, Karl, Christus und der philosophische Stein. Alchemie als über- und nichtchristlicher Heilsweg, in: Meinel, Christoph (Hg.), Die Alchemie in der Europäischen Kulturund Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 1986 (Wolfenbütteler Forschungen 32), S. 61–84. Vgl. hierzu die Angabe oben, Anm. 5. Dazu, mit weiteren Literaturverweisen, Habrich, Christa, Alchemie und Chemie in der pietistischen Tradition, in: Kemper / Schneider, Goethe und der Pietismus, (wie Anm. 5), S. 45–77 und neuerdings dies., Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik. Goethe zwischen hermetischem Denken und Pragmatismus, in: Schrader, HansJürgen, Weder, Katharine (Hg.), Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogischphilosophische Konzepte. Tübingen 2004, S. 9–29. Einen historischen Überblick über diese Bildtradition gibt Christa Habrich, La médecine entre Hippocrate et Jésus-Christ: Médecins et patients piétistes, in: Pitassi, Maria-Christina (Hg.), La Bible à la croisée des savoirs (Revue de Théologie et de Philosophie 133, 2001/III). Genève, Lausanne, Neuchâtel 2001, S. 325–342 (mit Abschnitten wie „Les influences de l’alchimie sur la médecine piétiste“, „‚Iatrothéologie‘ en tant que synthèse entre la Bible et la médecine“ und „Le Christ en tant que médecin qui apporte le salut pour l’âme et le corps“). Vgl. ergänzend den Katalogband von Krafft, Fritz (Hg.), Christus ruft in die Himmelsapotheke. Die Verbildlichung des Heilandsrufs durch Christus als Apotheker. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung im Museum Altomünster. Mit Beiträgen von Christa Habrich und Woty Gollwitzer-Voll. Stuttgart 2002 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie 81). Eine für das Motiv aufschlussreiche Liedpredigt des Potsdamer, dann Berliner Pfarrers und geistlichen Dichters Daniel Schönemann (vgl. den Artikel von Heimo Reinitzer in: Killy, Literatur Lexikon 10,
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dox vom irdischen Tod als Eingang ins geistliche Leben und vom Gekreuzigten als Überwinder des Todes. Helfer und Anleiter also ist er zu einer über menschliche Therapien und Medikationen hinausgehenden Heilkunst. Im Fortschreiten zu den Studieninhalten der Rechts- und Staatsrechtswissenschaften (Str. 12/13) wird erinnert, dass die reinen und einfachen (lauteren und schlichten) Lehren bzw. Rechtsgutachten von Gottvater und Sohn die Gerechtigkeit wesenhaft verkörpern.45 Sie studiert man also aufs Beste am Ursprung alles ius divinum. Wiederum ausgeblickt wird für die politischen und kameralistischen Anwendungen auf geheimeres Wissen (Scutum Davidis, nur den Adepten nächtlich offenbarte Schätze), zu dem die akademischen Pedanten nie Zugang gewinnen. Als höchstes und letztes Ziel allen Studierens wird (Str. 14/15) zuletzt die Theologie aufgerufen. Sie wird so noch einmal in die im Wissenschaftsaufbau durchaus schon angefochtene Spitzenstellung über die anderen Fakultäten versetzt, hoch über ihrer ancilla, der Philosophie. Die wahre Gottesgelehrtheit lerne man statt im Eifer unseliger Geschäftigkeit am besten, wenn man der Heilslehre lauscht ohne Umtriebigkeiten und Eigenwirken in der Demut jener Maria, die nach Lk 39-42 „das gute Teil erwählt“ hat, das einzige, das nottut: Sie „setzte sich zu Jesu Füßen und hörte seiner Rede zu“. Was aber den Aufschluss der göttlichen Geheimnisse angeht, sind sie schon gar nicht im Wortstreit um biblische loci zu ergründen, sondern nur im mystischen Hinhören auf den Propheten vor allen Propheten: abyssus abyssum invocat! Mit dem Wecken der Herzensbegier nach dem großen Propheten endet der Durchgang durch die Fakultäten und die Ausrichtung der Lehrinhalte und Lernweisen jedes Faches auf immer denselben „Professor der oberen Schul“, und das Gedicht kehrt zu seinem Ausgangsmotiv zurück. Was ihm noch anzusprechen bleibt, ist zunächst die Evaluierung, die Auflistung der Kennzeichen, an denen der
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München 1991, S. 356f.) wird derzeit von Albrecht Borchardt und Christa Habrich näher untersucht, Daniel Schönemann, Der Sarg Als Ein Rechter Artzt, allen und jeden Zur genauen Uberlegung GOtt=liebenden Gemüthern aber zur vergnügenden Erbauung In gebundener Rede fürgestellet, Berlin. Haude 1725. Auf dem Titelkupfer bereitet Christus neben einem Sarg mit der Deckelaufschrift „Wer kranck ist hat hir Artzeney || Es sey die kranckheit wie sie sey“ und mit darin liegenden Medikamentenpackungen wie „Gott=Tinctur“ und „Essent. Dulc.“ in einem Mörser eine „Universal=Medicin“ zu. Die Bildunterschrift lautet: „Ich sehe dich mein Sarg mit Glaubens Augen an / Und weiß, daß ich an dir, viel gutes finden kan / Mein Jesus legt in dir, die Besten Artzeneyen / Und übergiebt Sie mir, so werden sie gedeyen / Sehr wohl wan ich mit fleiß, für meinem Sarge steh / Er tröstet mich, weil ich, als meinen Artz Ihn seh.“ – Zum Bild von Christus als Hebamme (in der krassen Perinatalmetaphorik pietistischer Wiedergeburtsbilder), noch in Goethes Gedicht Der ewige Jude, vgl. Sahmland, Irmtraut, „Die Natur in einer schönen Verknüpfung“: Goethes Adaption der „Aurea Catena Homeri“, in: Schrader / Weder, Von der Pansophie, (wie Anm. 43), S. 55–84, hier 61, Anm. 21. In seiner Predigt zur Eröffnung der Universität Halle hatte Spener aus allen profanen Studien gerade die Rechtswissenschaft ausgeführt. Sie bedürfe als Lehranstalt am sichtbarsten einer „werckstätte […], darinnen der H. Geist wircke“, insofern die juristische Praxis am Wohl der Menschen orientiert sein müsse, also akademisches Wissen ohne Liebe verderblich sei. Vgl. Blaufuß, „Pflantzgarten des Glaubens“, (wie Anm. 30), S. 163.
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erstrebte Studienerfolg messbar wird, und die Applikation auf den Sprechenden (bzw. die Mitsingenden) selbst, wobei sich die Argumente der Lernziel-Fixierung notwendig wiederholen. Himmelsklarheit anstelle der Nebel und Schatten muß erreicht werden (ob die Kandidaten selbst schon in den Chor der Propheten gestellt sind, lässt das Examen klüglich offen). Vormalige Toren sind unter der Anleitung des magister veritatis (gerade im Verzicht auf gelehrten Wissensdunst) weise geworden, Blinde sehend, Stumme zu Sprechern, geistlich Tote haben das Leben erlangt. Als Kennzeichen des Studienerfolgs gilt nicht allein die Überwindung der hoffärtigen Begierden und der fleischlichen Sinnlichkeit, sondern auch der Schutz vor verführerischer Einbildungskraft („auffsteigende Bilder“ der Phantasie, wobei im Dichten und Trachten des Lügengeists die traditionelle Fiktionsverdammung der Pietisten anzuklingen scheint). Nur der herkulische Gottesheld könne im Augiasstall des menschlichen Herzens solchen „Unflat ausschäumen“. Die Apostrophe der vorletzten Strophe an den Heiland und „Immanuel“ (Jes 7,14, Mt 1,23)46 ist ein Gebet, er möge die Studiosi, die ihm und seiner Lehre nachfolgen wollen und dafür auf weltliche Vernünftelei Verzicht leisten, auch wirklich annehmen, er möge ihnen das in allen Studien zu bewährende gläubige Herz geben. Die nicht unbedenkliche Konsequenz der auf Unmündigkeit und eine Gängelband-Pädagogik gegründeten pietistischen Hochschuldidaktik sind nicht kritisch wägende, sondern enthusiastische Propagatoren der eingesogenen Lehre, „brennende Kerzen“ nicht nur als strahlende Kirchenlichter bei deren Verkündigung, sondern auch als sich Verzehrende und Aufopfernde für die Verbreitung dieses Lichts: lucendo consumor! Die akademischen Gradus, die in dieser Hohen Schule zu erlangen sind und auf die die Schlußstrophe ausblickt, können nur die in Demut und Liebe bewährten klugen Jungfrauen des Jesus-Gleichnisses Mt 25,1-13 erringen, weil sie ihre Lampen allzeit bereit gehalten haben. Die Qualifikation gilt, wie der Eingangsvers dieser Parabel sagt, für „das Himmelreich“. Insofern die Studiosi dem König der Demut und Liebe nachfolgend ganz zugehörig und ähnlich geworden sind, werden sie gekrönt mit den höchsten Zertifikaten der Himmelsakademie. Als deren Doktoren und Magister halten sie, Apk 2,10 und 3,11, die Krone des Lebens in Händen, die niemand ihnen rauben soll. Bei all seiner offenbaren metaphorischen Übertragbarkeit auf das unum necessarium jeder christlichen Lebensorientierung, auf Umkehr und Neuwerdung über46
Die gemeinpietistisch (insbesondere dann unter den Inspirierten) beliebte Jesus-Anrede als „Immanuel“ (nach der Heilandankündigung Jes 7,14) wird in den Sendschreiben der Straßburger Philadelphier gern als Kennchiffre verwendet, so im Brief des befreundeten Pfarrers, Mag. Johann Friedrich Ruopp, an Johann Friedrich Haug [undatiert, Herbst 1704], wo „Immanuel! In demselben lieber Bruder“ zur Eingangsformel dient und die Namensübersetzung („Gott mit uns“) zum Schlussgruß: „Der HErr ist mit uns / Alleluja! Ich grüße euch alle hertzlich“ oder in Haugs eigenem Schreiben an seinen dann langjährigen Mitstreiter, Andreas Groß in Esslingen, vom 2. Sept. 1704 als Eingangsformel: „Immanuel!“ (in: Zentgraff, Historischer Bericht, [wie Anm. 9], S. 106f. und 111).
Ein radikalpietistischer „Studenten=Gesang“
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haupt, verkündet der Studenten=Gesang zweifellos in erster Dimension ganz unmetaphorisch das pietistische Programm einer Studienreform, die die notwendige (bei aller Ablehnung eines funktionslos nur der Hoffahrt dienenden Wissensdunsts im Gedicht gar nicht in Frage gestellte) fachliche Ausbildung für die weltlichen Zielberufe stets auf die Perspektive jenes höheren necessarium bezogen sehen will. Orthodoxe Kasuistik und Disputiersucht, aber auch ein aufklärerisches sapere aude ohne vor religiösen Kernpositionen aufgerichtete Denkverbote sollen damit abgewehrt werden; zugleich wird auch positiv dem an den Universitäten um sich greifenden Pennalismus und Pedantentum ein ethisches Korrektiv entgegen gesetzt47 und eine allumfassend-höhere gesellschaftliche Verantwortlichkeit. Ein poetischer Ausblick sei mir im verbindenden Interesse an Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert verstattet jenseits des analysierten Studienreformprogramms in Versen, das 1710, gerade zwölf Jahre, nachdem Gottfried Arnold sein akademisches Lehramt in Gießen um ähnlicher Skrupel willen niedergelegt hatte,48 gegen einen Wissenschaftsbetrieb Front gemacht hatte, der Wissen produzierte, nicht aber Herzenseinkehr. Nur des Zitats bedarf es dafür jener allbekannten Dramenverse, die zwei Generationen später (und sicher ohne die Vorlage dieses Gedichts)49 ein noch einmal nach höherer Einsicht Fahndender, dabei für die radi47
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Zu deren Bedeutung auch für die junge Universität Halle vgl. Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität, (wie Anm. 35), 1. Teil, S. 116–118, Mau, Programme und Praxis, (wie Anm. 29), S. 79. Über Arnolds Offenhertzige Bekäntnis / welche Bey unlängst geschehener Verlassung eines Academischen Amptes abgeleget worden von 1698 und das ungeheure dadurch erregte Aufsehen (rasch nacheinander erschienen mindestens zehn Auflagen) vgl. abbreviativ Schneider, Hans, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, (wie Anm. 6), S. 412f., detaillierter ders., Gottfried Arnold in Gießen, in: Faulenbach, Heiner (Hg.), Standfester Glaube (Festschrift J. F. G. Goeters). Köln 1991, S. 247–275. Die Serie der möglichen Quellen und vermittelnden Vorgaben für den in gleichartigem Durchprüfen aller Fakultäten geäußerten Dégoût am akademischen Wissenschaftsbetrieb und einem auf Wissenskumulierung gegründeten Gelehrtenideal vor Fausts Verzweiflungsmonolog im Eingang des Goetheschen Dramas bedürfte wohl noch näherer Studien (denn die neueren Faust-Kommentare geben dafür nur wenig Hilfestellung, vgl. noch am einlässlichsten dazu Gaier, Ulrich, Goethes Faustdichtungen. Ein Kommentar. Bd. 1: Urfaust. Stuttgart 1989, S. 272 und 276–278). Zugrunde liegt (auf welchen Vermittlungswegen auch immer) zweifellos die Schelte der akademischen Wissenssparten in Faustus’ Eingangsmonolog des Dramas von Marlowe, Christopher, The Tragedie of Dr. Faustus (entstanden um 1592, früheste Drucküberlieferung von 1602). Vgl. The Complete Works of Christopher Marlowe, ed. by Fredson Bowers. Cambridge 1973, S. 162f.; The Complete Works of Christopher Marlowe, ed. by Roma Gill, Bd. II: Dr Faustus, S. 4f. – In dieser wird, im „Commentary“ des Herausgebers (S. 53), auf eine Analogie hingewiesen bereits in Lily, John, Euphues (1578), in: The Complete Works of John Lily, ed. by R. Warwick Bond. Bd. 1. Oxford 1902, S. 241. Auf eine Adaption in der Vorgeschichte pietistischen Denkens wies mich liebenswürdig Karl Pestalozzi hin (und machte mir den Text zugänglich), die erste Szene im 1. Akt von [Andreae, Johann Valentin,] TVRBO, Sive moleste et frvstra per cuncta divagans Ingenivm. In Theatrum productum. o.O. [„Helicone, Iuxta parnassum“] 1616, S. 8–42 (und, den Überblick der Fakultäten kurzfassend, im vorangestellten „Argumentum Comoediae“, S. 6f.); vgl. die deutsche Übersetzung, Andreae, Johann Valentin, Turbo oder der irrende Ritter vom Geist […] mit allen seinen höchst kläglichen und müßigen Kreuz= und Querfahrten. Aus dem Lateinischen übersetzt von
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kalpietistische Kritik an Institutionen, Denk- und Verhaltensformen sehr Aufgeschlossener, seinem Protagonisten nach dem ganz gleichartigen Durchgang durch die akademischen Fakultäten in den Mund gelegt hat. In ihrer ursprünglichen Fassung hatten die gelautet: Hab nun ach die Philosophey Medizin und Juristerey Und leider auch die Theologie Durchaus studirt mit heisser Müh. Da steh ich nun ich armer Tohr. Und bin so klug als wie zuvor. Heisse Docktor und Professor gar […] Und seh daß wir nichts wissen können, Das will mir schier das Herz verbrennen. Zwar bin ich gescheuter als alle die Laffen Docktors, Professors, Schreiber und Pfaffen […]. Dafür ist mir auch all Freud entrissen Bild mir nicht ein was rechts zu wissen Bild mir nicht ein ich könnt was lehren Die Menschen zu bessern und zu bekehren.50
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Wilhelm Süß. Tübingen 1907, S. 25–55. In seiner Einleitung weist der Übersetzer auf die bereits vorgängige Tradition ähnlicher „Dramen vom Studentenleben“ hin (S. 12) und macht auf Entsprechungen im Monolog Turbos zur Faust-Klage aufmerksam: „Alle Wissenschaften hat er studiert, überall hat man ihn zum Narren gehalten, seine curiositas hat nirgends einen Ruhepunkt gefunden, die Burg der Weisheit liegt in weiter, unfaßbarer Ferne.“ (Ebd., S. 15, vgl. 18–20). Eineinhalb Generationen jenseit des Haugschen Studenten=Gesangs liegt die Rousseausche Wissenschafts- und Studienkritik (vgl. Gaier, Goethes Faustdichtungen, wie oben, S. 272), die für Goethe eine Bestätigung eigener Vorbehalte geboten haben mag, wo aber die charakteristische Inspektion eines erprobten Studiengangs durch alle Fakultäten fehlt: Vorwort zum Lustspiel Narcisse ou l’amant de lui-même (1752), in: Rousseau, Jean-Jacques, Œuvres complètes, hg. v. Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Bd. 2. Paris 1964 (Bibliothèque de la Pléiade 153), S. 959–974, hier 963f. Goethe, Johann Wolfgang, Faust. Frühe Fassung nach der Handschrift des Hoffräuleins Luise von Göchhausen, Vs. 1–20, in: Ders., Faust. Texte. Hg. v. Albrecht Schöne. Sämtliche Werke (FA) I. Abt. 7/1. Frankfurt 1994 u.ö. (Bibliothek deutscher Klassiker 114), S. 496.
CHRISTOPHER VOIGT (Wuppertal)
Freigeistiges Publikum und protestantische Apologetik im 18. Jahrhundert
Das 18. Jahrhundert kann mit Fug und Recht als eine Blütezeit der Apologetik gelten. Denn mit der Aufklärung hat sich erst deren neuzeitliche Aufgabenstellung herausgebildet und „das Christentum im ‚Weltanschauungskampf‘ der Moderne zur Geltung bringen versucht“.1 Die Apologetik verteidigt die eigene Auffassung vom Christlichen gegen andere Religionen und christliche Konfessionen ebenso wie gegen philosophische und naturwissenschaftliche Weltanschauungssysteme.2 Im Fall des Protestantismus steht sie für die Aufrechtherhaltung des evangelischen Welt- und Wirklichkeitsverständnisses in der Gesellschaft ein. Diese Literaturproduktion gewinnt zumindest im Bereich des deutschen Protestantismus damit auch einen klaren institutionellen, kirchlichen ‚Sitz im Leben‘. David Hollaz hält in seiner Dogmatik, die 1707 erschien, zur polemisch-apologetischen Theologie fest: „Das Studium theologischer Kontroversen ist höchst notwendig für Studenten, die den höheren Kirchendienst anstreben“.3 Die polemisch-apologetische Theologie ist das 18. Jahrhundert hindurch ein universitäres Lehrfach, empfohlen für höhersemestrige Studenten.4 Mit dem Verfassen eines apologetischen Werkes haben so einige Theologen sich einen Schritt auf der kirchlichen Karriereleiter erhofft, und manche haben ihn auch gemacht. Die Apologetik war im 18. Jahrhundert aber noch mehr als eine bloß innerkirchliche oder binnentheologische Angelegenheit. Sie war der Diskurs, durch den sich die deutsche gelehrte Welt weit über die Grenzen der kirchlichen Institution und der theologischen Fachgrenzen hinaus über den Zustand der Gesellschaft und die Stellung und Bedeutung des Christentums in der Gesellschaft verständigte. An ihm beteiligen sich neben Theologen auch Philosophen und Literaten. Daher ist die apologetische Literatur nicht bloß vom Austausch theologisch-philosophischer Richtigkeiten geprägt, sondern von kontroversen weltanschaulichen Orientierun1 2 3
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Sparn, Walter, Religiöse Aufklärung. Krise und Transformation der christlichen Apologetik im Weltanschauungskampf der Moderne. In: Glaube und Denken 5 (1992), S. 77–105, 155–164, hier S. 83. Zu ihrem enzyklopädischen Ort in der Theologie vgl. Sparn, (wie Anm. 1), S. 85–86. Hollaz, David, Examen Theologicum Acroamaticum universam Theologiam thetico-polemico complectens, commodo candidatorum theologiae destinatum. Stargadiae Pomeranorum 1707 (ND Darmstadt 1971), 2 Bde., Bd. 1, S. 36 (Prol. I, Q. 29): „Studium Controversiarum Theologicarum maximè necessarium est Studiosis adspirantibus ad sublimiora Ecclesiae officia“. Vgl. dazu Mau, Rudolf, Programme und Praxis des Theologiestudiums im 17. und 18. Jahrhundert, in: ThV XI (1979), S. 71–91.
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Christopher Voigt
gen und strategischen Überlegungen, wie weltanschauliche Orientierungen gesteuert werden können. Mit dem Auftauchen des Begriffs des ‚Freigeistes‘ bzw. der ‚Freigeisterei‘ um 1740 werden die weltanschaulichen Orientierungsleistungen und Steuerungsmöglichkeiten der protestantischen Apologetik in fundamentaler Weise herausgefordert. Denn das Bild, das die Apologetik sich vom ‚Freigeist‘ bzw. der ‚Freigeisterei‘ macht, gefährdet die Aufrechterhaltung einer homogenen christlichen Gesinnung und Gesellschaft, die sich die Apologetik doch zum Ziel setzt. Dieser Problemkonstellation wende ich mich im Folgenden zu. Ich beschränke mich dabei zum einen auf die damaligen Beschreibungen der Herausforderung und die Überlegungen, ihr zu begegnen. Zum anderen beschränke ich mich phänomenal auf Äußerungen, die im Zusammenhang mit der Rezeption des ‚englischen Deismus‘ in Deutschland getroffen wurden, da diesem Rezeptionsprozess für die zu beschreibenden Entwicklungen ausschlaggebende Bedeutung zukommt.5 Zuerst werde ich das Auftauchen des Begriffs des ‚Freigeistes‘ und seine erste Systematisierung um 1740 skizzieren (I.). Dann werde ich die apologetische Problemkonstellation der ersten Phase des Freigeisterdiskurses bis etwa 1750 beschreiben, in der es um den Leser und das Lesen freigeistiger Literatur geht (II.). Der darauf folgende Abschnitt ist der apologetischen Konzeption des freigeistigen Publikums bis um etwa 1770 gewidmet (III.). Zuletzt werde ich die Ergebnisse noch einmal bündeln und mit einem Ausblick auf das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts schließen (IV.).
I. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts avanciert der Begriff des ‚Freigeistes‘ zu einem der Grundbegriffe protestantischer Apologetik. Mit ihm werden diejenigen weltanschaulichen Heterodoxien bezeichnet, die nicht in die interreligiösen oder interkonfessionellen Auseinandersetzungen integriert werden können. 1741 legt der Hallenser Theologe Siegmund Jacob Baumgarten eine Abhandlung von der Beschaffenheit und den Quellen der Freigeisterey vor.6 In mühsamer definitorischer Arbeit widmet er sich den Begriffen des ‚Freigeistes‘ und der ‚Freigeisterei‘.
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6
Voigt, Christopher, Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (BHTh 121). Hier auch die Sekundärliteratur, weshalb ich im Folgenden nur die Quellen und wichtigste weiterführende Literatur nenne. Baumgarten, Siegmund Jacob, Abhandlung von der Beschaffenheit und den Quellen der Freigeisterey, in: Ders., Kleine teutsche Schriften. Erste Sammlung. Halle 1743, S. 199–250. Zuerst erschienen als Vorrede zum dritten Band von [Gilbert Burnet], Vertheidigung der natürlichen und geoffenbarten Religion, oder Gilbert Burnets Auszug der von Robert Boyle gestifteten Reden. Aus dem Englischen übersetzt von Elias Caspar Reichard durchgesehen und zum Druck befördert von Siegmund Jacob Baumgarten, Bd. 3. Leipzig und Bayreuth 1741.
Freigeistiges Publikum und protestantische Apologetik
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Ein Freigeist, so stellt Baumgarten dar, gewinne seine religiösen und theologischen Überzeugungen nicht aus einer göttlichen, übernatürlichen Offenbarung. Eine Offenbarung würden die Freigeister vielmehr als Einschränkung ihrer eigenen moralischen und gedanklichen Freiheit betrachten. Sie seien bestrebt, die Überzeugungskraft religiöser und theologischer Vorstellungen eigenständig und argumentativ zu gewinnen. In der Sprache Baumgartens: Leute, die ihre Begriffe von GOtt und seinem Dienst an keine göttliche Offenbarung binden, werden Freigeister genannt: weil sie vermittelst dieser Aufhebung solcher vor gegründet gehaltenen Einschränkung eine grössere äussere Freiheit zu erlangen gedencken; auch durch die Bestimmung aller ihrer Einsichten einen höheren Grad an innerer Freiheit zu behaupten glauben. Sie pflegen aus diesem Grunde Freidenker, auch starcke Geister genannt zu werden.7
Das eigentlich entscheidende an diesem Phänomen sieht Baumgarten darin, dass es sich nicht sozial organisiert.8 Die ‚Freigeister‘ bilden keine Gemeinschaften oder Kirchen. Die nähere Kategorisierung des Phänomens fällt daher abstrakt aus. Baumgarten unterscheidet allein fünf Unterklassen der ‚Freigeisterei‘: eine skeptische, atheistische, deistische, naturalistisch-indifferentistische und eine enthusiastisch-fanatische Freigeisterei. Den ‚Freigeist‘ als Person wiederum unterscheidet Baumgarten in den ‚ungelehrten‘, der sich ans Hörensagen hält, und den ‚philosophischen‘, der sich sein eigenes System baut. Nach ihrem Verhalten lassen diese sich dann wieder unterscheiden in ‚heimliche‘ und ‚öffentliche‘, die letzteren dann noch einmal in ‚behutsame‘ und ‚dreiste‘ und diese beiden je noch einmal in ‚wirkliche‘ und ‚vorgegebene Freigeister‘.9 Diese zugegeben verwirrende Definition der ‚Freigeisterei‘ ist aber gar nicht wirklich neu. Baumgarten hat bloß verschiedene Distinktionen und Stücke aufgezählt und zusammengefügt, die um 1700 für die Beschreibung des ‚Atheismus‘ üblich waren.10 Er hat nur den ‚Atheismus‘- durch den ‚Freigeister‘-Begriff ersetzt. Begriffsgeschichtlich sind Baumgartens Ausführungen mit die ersten Belege und gleichzeitig besten Beispiele für die Ablösung des Atheismusdiskurses des 17. und frühen 18. Jahrhunderts durch den Freigeisterdiskurs der Mitte und des Endes des 18. Jahrhunderts. Allerdings ist der Freigeisterdiskurs nicht bloß die Fortsetzung der Atheismusdiskussion unter anderem Namen, sondern er bildet eine eigene Problemkonstellation aus. Es ist typisch für diesen Diskurs, dass sich in ihm Themen und Motive der älteren Diskussion mit neuen Motiven überlagern. In Baumgartens Ausführungen wird diese Überlagerung deutlich. So zählt er längst bekannte Ursachen für die Entstehung des Atheismus nun für die Freigeisterei auf wie etwa die neue Wissenschaftlichkeit, das Ermüden an den nie endenden theologischen Streitigkeiten, von 7 8 9 10
Ebd., S. 202. Ebd., S. 203f. Ebd., S. 205–208. Siehe Barth, Hans-Martin, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert. Göttingen 1971 (FSÖTh 26), S. 77–96.
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Christopher Voigt
der Unwissenheit über die Geschmäcklerei bis hin zur Unterdrückung des eigenen Gewissens.11 Als illustrierendes Beispiel findet sich aber auch – und das ist neu – das Lesen bzw. der Leser von Büchern: Gar oft saugen Leser wahrer oder erdichteter und mit untergemengter Freigeisterey angefülter Reisen und Lebensbeschreibungen, wohlgesetzer Gedichte, und anderer, bloß zur Ergötzung und Zeitvertreib geschriebener […] Bücher dergleichen Meinungen ein, ohne selbst zu mercken, daß das Vergnügen an der leichten fliessenden lebhaften und reitzenden Schreibart mehr Antheil an ihrer Ueberzeugung habe, als die eingesehene Deutlichkeit und Erweislichkeit derselben.12
Das Besondere an diesem Motiv des Lesens ist der Hinweis auf den anziehenden und suggestiven Stil der als problematisch empfundenen Literatur. Damit hat Siegmund Jacob Baumgarten, der ältere Bruder des Literaturästhetikers Alexander Gottlieb Baumgarten, seine Definition der ‚Freigeisterei‘ mit einer Diskussion verbunden, die zu seiner Zeit gerade aktuell war und die die erste Phase des nun anbrechenden Freigeisterdiskurses bestimmen sollte. Er hat damit auch das Merkmal benannt, das den ‚Freigeist‘ von dem ‚Atheisten‘ fortan spezifisch unterscheidet: Der ‚Freigeist‘ tritt in der protestantischen Apologetik meist als Leser von Literatur auf.
II. Der althergebrachte Atheismusdiskurs kannte eigentlich nur die Verführer und die Verführten. Der Freigeisterdiskurs hingegen kennt Autoren von heterodoxen Büchern und rechnet mit deren Lesern. In einem ersten Diskussionsgang bis um 1750 wird die Frage virulent, wie die Apologeten mit heterodoxen Büchern publizistisch umgehen sollen. Dabei wird Zweierlei deutlich: Einmal zeigt sich, dass unter den Apologeten zunehmend daran gezweifelt wird, ob die gewaltsame Unterdrückung von Büchern durch Zensur wirklich effektiv ist, auch wenn Zensurmaßnahmen nach wie vor ergriffen werden. Dieser Plausibilitätsverlust früherer Steuerungsmöglichkeiten reflektiert, sodann, die veränderten medialen Strukturbedingungen, in denen sich die Apologeten in den 1730er und 1740er Jahren bewegen. Mit dem Medium der Zeitschriften, deren Markt ab 1740 endgültig explodiert, hat der apologetische Diskurs ein Organ zur Verfügung, auf vermeinte heterodoxe Äußerungen schnell zu reagieren. Aber zugleich bieten die Zeitschriften bislang ungeahnte Informationsmöglichkeiten auch über heterodoxe Bücher selbst. Die deutschen Apologeten, die als Herausgeber und Rezensenten sich dieses neuen Mediums annahmen, mussten einen Weg finden, die Informationen über heterodoxe Bücher mit dem entsprechenden Widerstand gegen sie zu verbinden. Im größten deutsch11 12
Baumgarten, (wie Anm. 6), S. 218–247. Vgl. Barth, (wie Anm. 10), S. 96–135. Ebd., S. 217.
Freigeistiges Publikum und protestantische Apologetik
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sprachigen Rezensionsorgan der Frühaufklärung, den Deutschen Acta Eruditorum, wird dieses Problem schon 1734 wegweisend diskutiert. In der Rezension des als gefährlich verschrienen, in Deutschland aber bis dato gänzlich unbekannten englischen Buchs von Matthew Tindal, Christianity as old as the Creation: or, the Gospel a Republication of the Religion of Nature (London 1730) setzt der anonyme Rezensent eine „Schutz-Rede“ voran.13 Er weist darauf hin, dass der Inhalt von Tindals Schrift „schwachen Gemüthern vielleicht einigen Anstoß geben könte“.14 Allerdings weiß er sich mit „viel verständige[n] GOttesGelehrten“ einig, dass die Geheimhaltung und Unterdrückung einer Schrift mit gefährlichem Inhalt ihre Verbreitung keineswegs verhindert. Vielmehr, so fährt er fort, würde damit eine höhere Attraktivität der Schrift suggeriert. Gerade bei bornierten Gemütern werde so auch eine höhere Bereitschaft geschaffen, den Inhalt richtig und gut zu finden, „weil sie sich einbilden, darum mehr als andere zu wissen, weil sie solche Schriften gelesen, deren nicht ein ieder habhafft werden, oder sie nachzulesen Gelegenheit finden kann“.15 Das Ziel der Rezension des Buches Tindals und dann vor allem verschiedener Gegenschriften in späteren Teilen der Zeitschrift – insgesamt werden bis 1737 acht Widerlegungen rezensiert16 – ist die öffentliche Bloßstellung der Unhaltbarkeit von Tindals Gedanken. Diese öffentliche Bloßstellung erscheint in den Deutschen Acta auch deshalb als ein probates Mittel, da Tindals Buch einen neuen und gefährlichen Angriff auf die christliche Religion darstelle.17 Wer nun aber erwartet, an solche Hinweise würden sich inhaltliche Thesen aus Tindals Buch illustrierend anschließen, wird enttäuscht. Neu und gefährlich sind für die Deutschen Acta Tindals Ausführungen, weil sie sich vom klassischen ‚Atheismus‘ eines Hobbes oder Spinoza unterscheiden. Während deren Irrtümer „auf einigen falschen und willkührlich angenommenen Begriffen, von denen der ersten Gründe der Welt-Weisheit“, also der philosophischen Ontologie, beruhten, berufe sich Tindal auf Vernunft, Erfahrung und Geschichte.18 Dazu komme Tindals
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[Rez.] Christianity as old as the Creation. Das ist: Daß das Christenthum so alt als die Schöpffung der Welt, oder daß die Predigt von der Gnade, eine wiederholte Vorschrifft der natürl. Glaubens-Lehre sey &c. Londen, 1731, in: Deutsche Acta Eruditorum (1734, 182. Theil), S. 77–105, bes. S. 77–79. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Vgl. Voigt, (wie Anm. 5), S. 82–90. So der Beschluss der Rezension: [Rez.] Christianity as old as the Creation. In: Deutsche Acta Eruditorum (1734, 182. Theil), S. 77–105, S. 104f. [Rez.], An Essay upon the usefulness of Revelation, notwithstanding the greatest excellence of human Reason &c. Das ist: Versuch eines Beweises, daß die Offenbahrung, der Vortrefflichkeit der menschlichen Vernunft ohngeachtet, höchst nützlich sey &c. ausgefertiget von Christoph Robinson […] zu Londen 1732, in: Deutsche Acta Eruditorum (1734, 183. Theil), S. 153–174, S. 154f.
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„lebhaffte und die Leser anlockende Schreib-Art“, die seinen Argumenten besondere Suggestionskraft verleihe.19 Die Publikationsstrategie, die die Deutschen Acta im Umgang mit heterodoxen Büchern vorschlagen, wird relativ schnell die Meinung der meisten Apologeten. In den 30er und 40er Jahren findet sich häufiger diese Aussage: Die Wahrheit der christlichen Religion werde umso deutlicher und klarer, wenn die Einwürfe gegen die Religion bekannt gemacht und gleich daneben die Verteidigungen der Religion gestellt würden.20 Allerdings steckt in dieser Strategie auch ein massives Problem für die Apologetik. Das wird allmählich deutlich, als 1741 eben Matthew Tindals Buch in deutscher Übersetzung und eben mit jener publizistischen Strategie erscheint: Der Übersetzung Tindals ist eine Widerlegungsschrift beigebunden. Taktisch bemerkenswert ist die Übersetzung mit dem Titel Beweis, daß das Christenthum so alt als die Welt sey, nebst Herrn Jacob Fosters Widerlegung derselben21 gleich in mehrfacher Hinsicht. Auf dem Titelblatt werden sowohl Tindals Name, der Name des Druckers und Übersetzers weggelassen. Das sollte das Buch sicher vor Zensurmaßnahmen schützen. Zudem wird mit der Aufnahme des Terminus ‚Beweis‘ im Titel eher ein apologetisches Werk in Verbindung gebracht als ein freigeistiges. Vielleicht steckt auch Ironie oder Zynismus dahinter, wenn man zum Vergleich den Titel einer Schrift des Theologen Georg Heinrich Ribov heranzieht, die ein Jahr zuvor erschienen war. Sie hieß: Gründlicher Beweiß, daß die geoffenbahrte Religion nicht könne aus der Vernunft bewiesen werden, nebst einer Widerlegung des Tindals.22 Fast ein Jahrzehnt blieb der Übersetzer des Buches, Johann Lorenz Schmidt, unbekannt.23 Für ihn war die Anonymität aus biographischen Gründen geboten. Nachdem er mit seiner so genannten Wertheimer Bibel 1735 beträchtliches Aufsehen erregt hatte, war er nach erfolgter Bestrafung und Inhaftierung nach HamburgAltona geflohen. Dort hielt er sich unter dem Namen ‚Schroeter‘ versteckt und verdiente seinen Lebensunterhalt mit Übersetzungsarbeiten. Die Übersetzung von Tindals Schrift ist ein Nebenprodukt dieser Zeit. 1744 wird übrigens noch die
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[Rez.] Fortsetzung des Auszugs aus Herrn Leland Beantwortung, des ohnlängst ausgefertigten Buchs, daß das Christenthum so alt als die Schöpffung sey, in: Deutsche Acta Eruditorum (1734, 187. Theil), S. 505–529, 506. Die erste Äußerung dieses Programms schon bei: Alethophilus [d.i. Johann Christoph Colerus], [Rez.] Vertheidigung der Wunder-Wercke des HErrn JEsu wider Woolston […] Dreßden, und Leipzig […] 1732, in: Auserlesene Theologische Bibliothek (1732), 342–351, 343f. Vgl. Voigt, (wie Anm. 5), S. 78f. [Tindal, Matthew], Beweis, daß das Christenthum so alt als die Welt sey, nebst Herrn Jacob Fosters Widerlegung derselben. Beydes aus dem Englischen übersetzt. Frankfurt und Leipzig 1741. Ribov, Georg Heinrich, Gründlicher Beweiß, daß die geoffenbahrte Religion nicht könne aus der Vernunft bewiesen werden, nebst einer Widerlegung des Tindals. Göttingen 1740. Zu seiner Biographie ausführlich: Spalding, Paul S., Seize the Book, Jail the Author. Johann Lorenz Schmidt and Censorship in Eighteenth-Century Germany, Indiana 1998.
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Übersetzung von Spinozas Ethik, der er Christian Wolffs Widerlegung anbindet, folgen. In der Theologiegeschichtsschreibung wurde diese Übersetzung Tindals öfter als subversiver Akt eines Freigeistes bezeichnet. Das ist sie aber ganz und gar nicht, sondern sie folgt eben dem beschriebenen apologetischen Interesse.24 In seiner umfänglichen Vorrede über die Denk- und Redefreiheit legt Schmidt die Gründe für diese Form der Apologie dar.25 In erheblicher Zuspitzung der Argumentation der Deutschen Acta, die Schmidt kannte,26 sieht er in der Unterdrückung heterodoxer Schriften selbst einen Grund für die Entstehung des Unglaubens. Wer heterodoxe Schriften nämlich nicht kennt, kann Zweifel daran kriegen, ob seine Vorstellungen von der Religion auch richtig sind. Es fehlt der Vergleich, der allererst ermöglicht, eine bestimmte Position zu beziehen. Das hat dann Folgen, die Schmidt so schildert: Es geschiehet vielmehr auf solche Weise vielfältig, daß, wenn einmal ein Zweifel in einem Stück der Religion entstehet und nicht gehoben wird: solcher mit der Zeit sich nicht allein tief einwurzelt; sondern auch immer weiter um sich greifet, und sich allmählich auf alles erstrecket, was mit dem ersten zweifelhaften Satz Verbindung hat.
Aus Unkenntnis also entsteht Zweifel und daraus dann Unglaube. Abhilfe erblickt Schmidt in der offenen Diskussion, die zweifelnden Menschen die Gelegenheit bietet, „eine Auflösung ihres Zweifels zu bekommen und hiedurch von demselben befreit zu werden: oder wenigstens durch eine Erörterung derselben zu einer Gewißheit zu gelangen“.27 Ganz anders aber als die meisten seiner Zeitgenossen räumt Schmidt zumindest indirekt ein, dass dieses argumentativ-diskursive Verfahren nicht notwendig dazu führt, dass jeder von der Wahrheit der christlichen Religion überzeugt wird. Der Leser solcher Schriften könnte sich ja auch gegen die christliche Religion entscheiden. Nur hält Schmidt es für ziemlich unwahrscheinlich, dass das eintreten könnte.28 Angesichts dieser Übersetzung blieb der Aufschrei des Entsetzens aus. Die Reaktion auf dieses Buch fällt zurückhaltend und eher schwach aus. Es wird nur selten rezensiert.29 Die Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen loben die
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Vgl. vor allem Schröder, Winfried, Aporien des theologischen Liberalismus. Johann Lorenz Schmidts Plädoyer für „eine allgemeine Religions- und Gewissensfreyheit“, in: Kreimendahl, Lothar (Hg.), Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Bad Cannstatt 1995 (Quaestiones 8), S. 221–237. [Schmidt, Johann Lorenz], Vorbericht, in: [Tindal], (wie Anm. 21), S. 3–130. Vgl. [Schmidt, Johann Lorenz], Sammlung derienigen Schriften welche bey Gelegenheit des wertheimischen Bibelwerks für oder gegen dasselbe zum Vorschein gekommen sind, mit Anmerkungen und neuen Stücken aus den Handschriften vermehrt heraus gegeben. Franckfurt und Leipzig 1738, bes. S. 444–462. [Schmidt, Johann Lorenz], (wie Anm. 25), S. 14. Ebd., 49f. Die ganze Vorrede ist vorbildlich analysiert bei Schröder, (wie Anm. 24). Ganze dreimal: Vgl. Voigt, (wie Anm. 5), S. 106–109.
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„Reinlichkeit“ und „Deutlichkeit“ der Sprache,30 die Franckfurtischen Gelehrten Zeitungen die wenigen Druckfehler.31 Auf den Vorbericht gehen alle Rezensionen ein, und er wird durchgehend als bedenkenswert empfunden. Nur die Franckfurtischen Gelehrten Zeitungen schimpfen: Man gestehet, daß man eines unglaubigen Schrifft in Teutschland bekant gemacht, und zwar mit der bindigsten Widerlegung: in der Absicht, die herumschweifenden und öfters verborgenen Einwürffe wider die Christliche Religion nachdrücklich zu entkräfften, und solchergestalt den Unglauben aus den Hertzen der Menschen auszurotten. Unserm Urtheil nach ist dieses eben so schädlich, als wenn die Evangelisten uns die gröbsten Lästerungen der Pharisäer und Schriftgelehrten wider Christum, nebst dessen beygefügter Verantwortung, in ihren Nachrichten, ohne Zurückhaltung, vor Augen legen.32
Aber diese Äußerung ist nicht überzubewerten. Insgesamt spiegelt sich in den zeitgenössischen Reaktionen eine Auffassung, die dieses Vorgehen Schmidts für möglich hielt.33 Den Finger auf den problematischen Punkt hat dabei nur einer wirklich gelegt. Der Kollege von Siegmund Jacob Baumgarten in Halle, der Philosoph Georg Friedrich Meier, hat diesen Punkt gesehen und in seiner Schrift Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister kritisiert.34 Er benennt das Problem, dass der Leser als letzte Instanz der Auseinandersetzung das Gelingen der Widerlegung und damit der Aufrechterhaltung der christlichen Wahrheit nicht garantieren kann. Während Schmidt der Vernunft des Lesers und seiner Einsicht in die Wahrheit der christlichen Religion viel zutraut, ist Meier in seinen Ausführungen erheblich skeptischer. Er bezieht sich dabei vor allem auf den Stil, den die Angriffe gegen die christliche Religion haben. Die Einwürfe beruhten nämlich auf „verworrenen und sinnlichen Vorstellungen“, wohingegen die Widerlegungen „deutliche und ausführliche Begriffe“ seien. Diese Widerlegungen erforderten „viel Nachdencken und eine große Scharfsinnigkeit“, welche aber den „allerwenigsten Menschen“ eigen sei. Daraus folgert Meier lesepsychologisch: Die Einwürfe können mit zwey, drey Worten gesagt werden, allein die Beantwortungen erfodern gantze Ausführungen. Werden wol viele Menschen Geduld und Ueberlegung genug besitzen, den gantzen Umfang der Beantwortung einzusehen?35
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[Rez. (Matthew Tindal), Beweiß, daß das Christenthum so alt als die Welt sey (1741)], in: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen (1741, 23. St.), S. 189–191, S. 191. [Rez. (Matthew Tindal), Beweiß, daß das Christenthum so alt als die Welt sey (1741)], in: Franckfurtische Gelehrte Zeitungen (1741, Nr. 30), S. 174–177, S. 177. Ebd., S. 176. Vgl. die dritte Rezension in: Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schrifften (1741, Bd. 12. Stück), S. 111–127. Meier, Georg Friedrich, Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister. Halle 1747. Vgl. Gawlick, Günter, G.F. Meiers Theorie der Freiheit zu denken und zu reden, in: Grunert, Frank, Vollhardt, Friedrich (Hg.), Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 45), S. 281–295; Schröder, (wie Anm. 24), S. 222f. Meier, (wie Anm. 34), S. 94.
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Die publizistische Strategie, wie sie Schmidt vertritt, wird deshalb abgelehnt: Wenn man gleich mit den freygeisterischen Einwürfen die Beantwortungen verbindet, so bin ich doch gut dafür, daß die meisten Leser dennoch verführet werden können, und geschieht auch gleich das letzte nicht, so halte ich es gewiß was höchst zufälliges.36
Die erste Phase des Freigeisterdiskurses mündet damit in einem Dilemma. Mit dem Plausibilitätsverlust der traditionellen Zensur als Mittel der Steuerung literarischer Äußerungen37 und mit den veränderten medialen Strukturbedingungen literarischer Kommunikation bricht allmählich die Vorstellung zusammen, dass durch die Apologetik eine einheitliche christliche Weltanschauung garantiert werden kann. In den Motiven des Lesens und des Lesers heterodoxer Bücher wird dieses für die Apologetik weltanschauliche Risiko diskutiert: Denn ein Leser produziert keine Eindeutigkeit, sondern er wägt ab. Entsprechend klagt der Kandidat des Predigtamtes Urban Gottlob Thorschmid noch 1755: Unsere werthen Landsleute von geringem Stande haben ohnedem das Unglück, daß sie durch das Bücherlesen leicht Narren werden: die vielen Sachen verwirren sie; und indem sie niemahls die Beantwortung eines Zweifels völlig einsehen können, so geraten sie auf neue Zweifel. Der Bürger thäte daher sehr löblich, wenn er […] bey seiner Bibel und Gesangbuche lediglich bliebe: weil er sich durch die Streitschriften und subtilen Fragen und Antworten nur den Kopf verwirret.38
Das Dilemma des Lesens und Lesers freigeistigen Schrifttums wird aber auch in der zweiten Phase des Freigeisterdiskurses nicht gelöst. Vielmehr verschärft es sich noch einmal.
III. Bislang ist die Thematisierung der Leser in der protestantischen Apologetik noch reichlich abstrakt. Ab den 1750er und dann in den 1760er Jahren versucht man diese Problematik zu konkretisieren, indem man danach fragt, wer denn überhaupt als freigeistiger Leser in Betracht kommt. Man fragt nach den sozialen Trägerschichten der Freigeisterei. Man zieht dazu aber einen noch einmal erweiterten Begriff der ‚Freigeisterei‘ heran. In dessen Folge tritt das Bild einer zunehmend von Kultur- und Religionsverfall gekennzeichneten Gesellschaft vor Augen. Dabei stößt das Verfahren der deutschen protestantischen Apologetik, die Darstellung und daran anschließende Widerlegung heterodoxer Meinungen, endgültig an seine
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Ebd., S. 95. So schon bei Meier, vgl. Gawlick, (wie Anm. 34), S. 292. Thorschmid, Urban Gottlob, Critische Lebensgeschichte Anton Collins, des ersten Freydenkers in Engelland. Mit einigen Anmerkungen zur Vertheidigung der Offenbahrung und der Geistlichen versehen. Dreßden und Leipzig 1755, S. 43.
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Grenzen. Das Anschauungsmaterial für die sich nun öffnende Perspektive beziehen die deutschen Apologeten allerdings nicht aus Deutschland, sondern aus England. Der Göttinger Theologiestudent Georg Wilhelm Alberti zeichnet in seinem authentischen Reisebericht Briefe betreffend den allerneuesten Zustand der Religion und der Wißenschaften in Groß-Britannien von 1752 das Bild einer weit um sich greifenden Freigeisterei in England.39 Für ihn ist die Freigeisterei identisch mit jedem Kulturphänomen, das Ständegrenzen nivelliert. Er geißelt sie als gesellschaftliche Aufsteigerideologie, die gerade ‚Mode‘ sei: Geringe Personen, welche vom Stolze geplaget werden, lernen die Art zu denken der vornemen Freygeister, damit sie als Leute von Verstande, welche sich über den Pöbel erheben, angesehen und in solcher Geselschaft gelassen werden.40
Bei einem Theaterbesuch wird er des Schadens, den die Freigeisterei in seinen Augen anrichtet, ansichtig. Er beobachtet: Jenen, der in Stiefeln und Sporen und mit einer Peitsche über den Rücken hangend in einer Loge sitzet, solte man vor einen Ritter vom Lande ansehen; diese, welche in kostbaren Kleidungen bey ihm sitzet, vor eine Herzogin: und wenn man sich näher erkundiget, so ist jener ein Schreiber, ein Ladendiener oder Lerjunge; und diese eine Waschefrau oder Dienstmagd, und beyde wonen in der Nähe des Schauplatzes.
Die „Thorheit“, so Alberti weiter, wird zudem dadurch auf die Spitze getrieben, „daß sie [die gemeinen Leute, CV] gerne auf eine kurze Zeit unter den Vornemen sitzen und als Lords und Damen respectiret seyn wollen“.41 Das Bedrohliche an dem Szenario, das Alberti entwirft, ist die Unerkennbarkeit der Freigeisterei in der Gesellschaft. Schon Baumgarten hatte ja darauf hingewiesen, dass die Freigeister keine Gruppen oder Kirchen bildeten. Bei Alberti und in der folgenden protestantischen Apologetik verdichtet sich diese These von der soziologischen Unabgeschlossenheit der Freigeisterei zu der Vorstellung ihrer sozialen Indifferenz und Ubiquität. Wo also kein bestimmtes Milieu der ‚Freigeisterei‘ erfasst werden kann, entstehen der Verdacht und die Vermutung, dass sie in jedem Milieu heimisch werden könne und auch werde. Vor dem Hintergrund dieses extrem erweiterten Verständnisses, was die ‚Freigeisterei‘ sei, entsteht nun das Bild eines umfassenden freigeistigen Lesepublikums.42 1765 ist der schon erwähnte Urban Gottlob Thorschmid zum „Ober-Pfarrer [Dekan bzw. Superintendent, CV] zu Radeberg“ aufgestiegen.43 Zwischen 1765 39
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Alberti, Georg Wilhelm, Briefe betreffend den allerneuesten Zustand der Religion und der Wißenschaften in Groß-Britannien. Vier Theile, Hannover 1752–1754, bes. Theil 2 (Hannover 1752), 26. bis 30. Brief. Zu ihm vgl. Voigt, (wie Anm. 5), S. 123. Alberti, (wie Anm. 39), S. 480. Ebd., S. 297. Entsprechend erscheint das intellektuelle Epiphänomen der Gesellschaftsverfalls, der englische Deismus, bei Alberti auch als Literaturbewegung, vgl. Alberti, (wie Anm. 39), S. 408–411. Thorschmid, Urban Gottlob, Versuch einer vollständigen Engelländischen Freydenker-Bibliothek, in welcher alle Schriften der berühmtesten Freydenker nach ihrem Inhalt und Absicht,
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und 1767 veröffentlicht er einen vierbändigen Versuch einer vollständigen Engelländischen Freydenker-Bibliothek.44 Diese Schrift steht exemplarisch für das Publikumskonzept der damaligen protestantischen Apologetik ein. Sie zeigt aber auch, wie die Apologetik versuchte, auf ihre Gesellschaftsdiagnose zu reagieren. Dass der Begriff der ‚Freidenker‘ hier aktuell ist, hat, sehe ich richtig, nichts weiter zu bedeuten, da er schon von Anfang an synonym zu ‚Freigeist‘ gebräuchlich war.45 So diagnostiziert Thorschmid in den Vorreden zu seiner Freydenker-Bibliothek die ständeübergreifende Ausbreitung freidenkerischer, mithin englisch-freidenkerischer Literatur. An den Höfen großer Herrn, in den ansehnlichsten Städten Deutschlands und auch unter denen, die aus dem Degen Profeßion machen, trifft man Leser und Liebhaber derjenigen Schriften an, welche die Freydenker in Engelland aufgesetzt haben.
Auf die eigene Erfahrung aus dem Siebenjährigen Krieg sich berufend, bezieht Thorschmid vor allem die „vornehmen Kriegsbedienten“, also die Offiziere, als Rezipientengruppe ein.46 Das Verfahren, wie Thorschmid zu diesem Bild gelangt, ist ähnlich schon bei Baumgarten begegnet. In diesen wenigen Sätzen führt Thorschmid nämlich eine ganze Reihe zeitgenössischer Stereotype und literarisch schon bekannte Vorbilder zusammen. Die Hof- und Stadtsituation gilt bereits ab Ende der 1740er Jahre vornehmlich in Berlin als Hort freigeistiger Gedankenwelten; gleiches gilt für den Soldaten als freigeistig-rohen Gesellen.47 Allein die Gestalt des ‚Offiziers‘ ist neueren Datums, wenn literarisch auch schon bekannt und gebräuchlich. Zeitgleich mit Thorschmid veröffentlicht ein gewisser Johann Heinrich Christoph Zahn seine Briefe an die Freidenker (Eisenach 1764–1765), die als Briefe an die Offiziere, mit denen Zahn im Krieg zusammen lebte, stilisiert sind.48 Besonders bekannt ist in diesem literarischen Zusammenhang, dass der ‚Offizier‘ die ausschlaggebende Fiktion des Publikumskonzepts der ab 1759 erscheinenden Briefe, die neueste Literatur betreffend ist. Wilfried Barner hat an der literarischen Stilisierung des Offiziers das publizistische Interesse an einem Lesepublikum festgemacht, das über die akademischen Grenzen hinausreicht.49 An anderer Stelle bei Thorschmid wird die soziale Entgrenzung des Publikums dann noch deutlicher, hier werden Lehrer,
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nebst Schutzschriften für die Christliche Religion aufgestellet werden, Theil 1–2. Halle 1765– 1766, Theil 3–4. Cassel 1766–1767, Theil 4, Titelblatt. Vgl. vorige Anmerkung. So ja schon bei Baumgarten, s.o. Thorschmid, (wie Anm. 43), Theil 1, Vorbericht, b3r–b3v. Vgl. Voigt, (wie Anm. 5), S. 181. Zahn, Johann Heinrich Christoph, Briefe an die Freidenker, 3 Theile. Eisenach 1764–1765, Theil 1, 1764, S. *2r. Barner, Wilfried, Lessing zwischen Bürgerlichkeit und Gelehrtheit, in: Vierhaus, Rudolf (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg 1981 (WSA 7), S. 165– 204, S. 184.
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Journalisten, Handwerksleute und Bedienstete als Rezipienten freigeistiger Schriften hinzugefügt.50 Die Diagnose eines umfassenden freigeistigen Publikums ist also gestellt. Nur die Antwort darauf fällt unbefriedigend aus. In vier Bänden und auf insgesamt 2.429 Seiten versucht Thorschmid ein möglichst vollständiges Verzeichnis in diesem Fall des englischen freigeistigen Schrifttums mitsamt aller dazu gehörigen Widerlegungsschriften anzulegen. Was dabei herauskommt, ist eine abundante Kompilation von Buchnachrichten, Zeitschriftenrezensionen, aufgeschriebenen Gerüchten und eigenen Zusammenfassungen. Dieses Sammelsurium zeugt von unermüdlichem Fleiß und großer Assoziationsgabe, aber ebenso auch fehlender Methodik und Selektion.51 Aber diese Form des Kompendiums ist wie die in dieser Zeit entstehenden Freigeister-Lexika52 beredter Ausdruck der apologetischen Haltung, die man diesem freigeistigen Publikum gegenüber einnimmt. Man kartographiert die Freigeisterei und versucht sie bibliographisch und systematisierend wie im Lexikon zugänglich zu machen. Eine Apologie, die sich an die Freigeister wendet und die Publikumsdiagnose in ein literarisches Stilmittel umwandelt, der Freigeisterei auch wirklich zu begegnen, entsteht nicht. Anders etwa als in England, wo bereits in den 50er Jahren Apologien erscheinen, die sich dem Briefroman und Dialogroman literarisch annähern.53 Obwohl man also in Deutschland mit breiten Schichten von Lesern freigeistiger Literatur rechnet, verständigt sich die Apologetik über diese Leser und nicht mit ihnen. Damit bleibt die deutsche protestantische Apologetik bis zum Ende der 1760er Jahre ihrem gelehrt-akademischen Rahmen verhaftet. Es wird auch noch etwas dauern, bis die protestantische Theologie eine Strategie entwickelt, auf die Herausforderung ihrer eigenen Gesellschaftsanalyse zu reagieren. Bevor diese Strategie wenigstens formelhaft hier angedeutet werden soll, ist zuerst noch einmal der Freigeisterdiskurs bis um 1770 interpretativ zu bündeln.
IV. Die Rede von einer freigeistig durchsetzten Gesellschaft, wie sie die protestantische Apologetik im 18. Jahrhundert pflegt, hat in der vornehmlich geistes- und ideengeschichtlichen Forschung der evangelischen Historiographie und der Literaturwissenschaft großen Anklang gefunden. Das apologetische Bild einer sich 50 51 52
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Thorschmid, (wie Anm. 43), Theil 4, Vorrede, unpag. Vgl. Voigt, (wie Anm. 5), S. 183–194. Vgl. nur Trinius, Johann Anton, Freydenker-Lexicon, oder Einleitung in die Geschichte der neuern Freygeister ihrer Schriften, und deren Widerlegungen. Nebst einem Bey- und Nachtrage zu des seligen Herrn Johann Albert Fabricius Syllabo Scriptorum, pro veritatem Religionis Christianae. Leipzig und Bernburg 1759. Bei John Leland und Philip Skelton, vgl. Voigt, (wie Anm. 5), S. 130–149.
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vom kirchlichen Christentum entfernenden Gesellschaft ist in ihrem Zuge zu einem stereotypen historischen Urteil geworden. Aber in der Aufklärungsforschung sind für dieses flächendeckende und umgreifende Phänomen bislang überzeugende Indizien für die Haltbarkeit dieses Bildes ausgeblieben – selbst die deutschen Gebildeten erweisen sich religionsinteressierter und christentumsoffener, als es die Apologetik des 18. Jahrhunderts suggeriert.54 Und Wolfgang Martens hat bereits in den 1960er Jahren gezeigt, wie die allmähliche Ausbreitung des Lesens durch die Moralischen Wochenschriften keineswegs mit einer Popularisierung heterodoxer, sondern ganz konventioneller Werte einhergeht, der ‚Botschaft der Tugend‘.55 Allerdings erscheint es mir schon methodisch problematisch, Aussagen eines apologetischen Diskurses als historisch bare Münze zu nehmen. Der Diskurs über die Leser und das Lesen freigeistiger Bücher wie über das freigeistige Publikum – und das ist meine These – ist strukturäquivalent zu jener „Fiktion des urteilenden Publikums“, die in etwa zeitgleich zu dem Freigeisterdiskurs entsteht.56 Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Fiktion des urteilenden Publikums als Unterstützung literarischer, theatralischer und politischer Äußerungen auftritt, die ‚Freigeisterei‘ hingegen als Negativfolie weltanschaulicher Äußerungen. Lucian Hölscher hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch die Fiktion des urteilenden Publikums erst ganz allmählich und durch die Entstehung neuer Vergesellschaftungsformen literarischer Kommunikation eingeholt wurde.57 Inwieweit die Fiktion eines freigeistigen Publikums irgendwann Realität wurde, ist eine noch offene Frage. Doch bereits die fiktive Annahme einer dergestalt freigeistigen Öffentlichkeit in der Apologetik hat für die Selbstwahrnehmung der protestantischen Theologie beträchtliche Folgen. Die eindeutige normative Wertung des neuen Lesepublikums konstatiert zumindest die Einsicht in die wachsende Bedeutung literarischer Kommunikation, die sich der direkten Steuerung durch kirchlich-institutionelle und dogmatisch-ideelle Maßnahmen zu entziehen vermag. Für eine Wertorientierung, die durch traditionelle religiöse und theologische Deutemuster geprägt ist, ergibt sich eine ambivalente Situation. Es bildet sich einmal, wie der Tübinger Theologe Volker Drehsen es treffend charakterisierte, eine „von kirchliche[m] Bewußtsein und kirchlicher Lebenswelt emanzipierte, relativ verselbständigte, literarische, bürgerliche Kultur virtuell als Alternative heraus“.58 Diese tritt potentiell in weltanschauliche Konkur-
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Vgl. Bödeker, Erich, Die Religiosität der Gebildeten, in: Gründer, Karlfried, Rengstorf, Karl Heinrich (Hg.), Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Heidelberg 1989 (WSA 11), S. 145–195. Martens, Wolfgang, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968. Vgl. Hölscher, Lucian, „Öffentlichkeit“, in: GGB 4 (1984), S. 413–467, S. 436. Ebd. Drehsen, Volker, Theologia Popularis. Notizen zur Geschichte und Bedeutung einer praktischtheologischen Gattung, in: Pastoraltheologie 77 (1988), S. 2–20, S. 8. Hervorhebung C.V.
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renz zu den überkommenen Institutionen der Wertvermittlung und Werterhaltung. „Andererseits“, so wieder Drehsen, rücken Literatur und neue bürgerliche Vergesellschaftungsformen, Lektüre und räsonnierende Partizipation an öffentlicher Meinungsbildung nun auch als eigene Möglichkeiten kirchlicher und religiöser Sozialisation und Tradierung in den Blick.59
Das weltanschauliche Konkurrenzverhältnis schließt keineswegs aus, dass diese neue Kultur nicht selbst zu einer eigenen Realisationsgestalt der christlichen Religion gerät. Das hielt man freilich für unwahrscheinlich. Besonders die Theologie ist angesichts der Doppeldeutigkeit der Situation gezwungen, neue Mittel und Wege zur Selbstdarstellung der christlichen Religion zu suchen. Zumindest dann, wenn man die sich nun entwickelnde eigene Kultur nicht ihrer Dynamik überlassen will und man von der bleibenden Bedeutung der christlichen Welt- und Wertorientierung auch für diese Kultur überzeugt ist. Hiermit deutet sich nun genau die Konstellation an, deren adäquate Beantwortung nicht mehr durch einen einfachen Rückgriff auf überkommene theologisch-apologetische Programme gelöst werden kann, wie es noch in den 1760er Jahren Lexika und Kompendien versucht hatten. Es wäre sicher eine reizvolle Aufgabe, von hier aus auf eine der wichtigsten öffentlichen Kontroversen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, den Fragmentenstreit, zu blicken. Inwieweit hier neuere apologetische Programme oder Ansätze dazu entwickelt werden – ob von Lessing und/oder seinen Gegnern – ist, so denke ich, eine noch immer weitgehend unbeantwortete Frage. Und das liegt wohl vor allem daran, dass die Vorgeschichte und der Kontext der protestantischen Apologetik bislang wenig Beachtung fanden. Die Lage im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kann ich auch nur noch schemenhaft andeuten: In dieser Zeit sind es im protestantischen Deutschland jedenfalls die Populartheologie und die Religionsphilosophie, die den virtuellen Hiatus von kirchlichchristlicher und freigeistig-bürgerlicher Kultur überbrücken helfen sollen. So wird man, erstens, die publizistische Herausforderung in die Arbeit der Theologie ausdrücklich integrieren. Man schreibt dabei nicht nur populäre Bücher, sondern man gibt auch traditionellen Gattungen, wie etwa der ‚Dogmatik‘ und ‚Moral‘, eingängigere Überschriften. Ein gutes Beispiel sind die Titel der Arbeiten des bekannten Schülers Siegmund Jacob Baumgartens Gottfried Leß: Christliche Religions-Theorie fürs gemeine Leben, oder Versuch einer praktischen Dogmatik (2. Aufl., Göttingen 1780) bzw. Handbuch der Christlichen Moral und der Allgemeinen LebensTheologie. Für Aufgeklärtere (3. Aufl., Göttingen 1787).60 Vor allem aber formuliert man, zweitens, das apologetische Grundargument so um, dass man dem ‚Freigeist‘ auf seinem eigenen Gebiet begegnet. Baumgarten hatte den ‚Freigeist‘ als 59 60
Ebd. Vgl. Drehsen, (wie Anm. 58).
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einen Menschen bezeichnet, der seine Religion nicht auf eine Offenbarung gründet. Genau das war das Hauptargument gegen diese so genannte ‚natürliche Religion‘: Sie sei bloßer religiöser Subjektivismus, da sie sich auf kein objektives Faktum berufe.61 Nun aber betont man, dass die ‚natürliche Religion‘ zum christlichen Glauben hinführe, wenn man sie nur richtig versteht und glaubt. Man betont also ihre innere Affinität zu christlichen Ausdrucks- und Lebensgestalten. Das Programm dazu ist schon älter, setzt sich aber erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch. Johann Joachim Spalding formuliert es 1749, als er sich im Anhang zur dritten Auflage seiner Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen an seine Kritiker wendet: Glaubet nur die natürliche Religion; aber glaubet sie recht. Glaubet sie mit aller der Empfindung und Bewegung, mit allen großen Entschließungen der Andacht und der Heiligung, welche ihre Wahrheit bey einem jeden nachdenkenden und rechtschaffenen Gemüthe erwecken müssen; und dann sey es eurem Gewissen überlassen, wie es euch gegen den christlichen Glauben gesinnet machen wird; dann fanget an, die Religion Jesu Christi zu schmähen, wenn ihr könnt.62
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Zur Geschichte dieses Arguments noch immer vorbildlich: Bender, Wilhelm, Zur Geschichte der Emancipation der natürlichen Theologie, in: JPTh 9 (1883), S. 529–592, bes. S. 552. Zit. nach: Stephan, Horst (Hg.), Spaldings Bestimmung des Menschen (1748) und Wert der Andacht (1755). Mit einer Einleitung neu herausgegeben. Gießen 1908 (SGNP.Q 1), 35. Vgl. Sparn, (wie Anm. 1), S. 85.
JOACHIM JACOB (Gießen)
Analysis of Beauty Zur Aufklärung des Schönen zwischen theologischer und materialer Ästhetik Als er in jenem Spital war, geschah es ihm häufig am hellen Tag, ein Ding in der Luft neben sich zu sehen, welches ihm Tröstung gab, weil es in hohem Maß sehr schön war. Er konnte nicht gut die Art ausmachen, was es für ein Ding war; doch irgendwie schien es ihm, daß es die Gestalt einer Schlange hatte […]. Und nachdem dies eine gute Weile gedauert hatte, ging er, sich vor einem Kreuz, das dort in der Nähe war, niederzuknien, um Gott Dank zu sagen. […] Doch sah er gut, als er vor dem Kreuz war, daß jenes so schöne Ding nicht Farbe wie gewöhnlich hatte. Und er hatte eine sehr deutliche Erkenntnis, mit großer Zustimmung des Willens, daß dies der Teufel war. Ignatius von Loyola Bericht des Pilgers (1553/55)1
Vom Schönen wird im aufgeklärten 18. Jahrhundert viel gesprochen. Auch in den vielgestaltigen Beziehungen zwischen Theologie, Philosophie und Literatur dieser Zeit bildet es eine Schnittmenge des Interesses, über die sich ein Zusammenhang der Gebiete herstellt. Er scheint etwa in der Herrlichkeitstheologie eines Friedrich Christoph Oetingers auf, der dazu auffordert, das „Evangelium vom Kreuz niemals ohne das Evangelium von dem Glanz GOttes“ zu verkündigen,2 in der englischen und deutschen physikotheologischen Literatur, die in immer neuen Weiterungen die Schönheit der Schöpfung zur Andacht Gottes in der Natur vor Augen führen will, oder schließlich in der frühen philosophischen Ästhetik Christian Wolffs und Alexander Gottlieb Baumgartens, die das sinnliche Wohlgefallen auf die Rationalität der schönen Vollkommenheit bringt und damit einer theologischen Interpretation des Schönen zumindest noch eine Hintertür offen hält. Neben diesen Vermittlungsbemühungen im Zeichen einer die ganze Schöpfung bzw. den ganzen Naturzusammenhang durchwaltenden vernünftigen Harmonie lässt sich aber in der europäischen Aufklärung gerade im Hinblick auf die Bestimmung des Schönen auch eine Bewegung der D i s s o z i a t i o n beobachten. Sie zielt einerseits auf eine Schönheit ohne Religion, die beispielsweise im Rückgriff auf eine antikisierende Motiv- und Formensprache in Anakreontik oder Bukolik sinnli1 2
Ignatius von Loyola, Bericht des Pilgers, übers. und hg. v. Peter Knauer. Würzburg 2002, III, 19,4f., 31,1–3. Oetinger, Friedrich Christoph, Artikel „Evangelium der Herrlichkeit“, in: Ders., Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Hildesheim, New York, Zürich 1969 [Reprint der Ausgabe Stuttgart 11776], S. 189–192, hier S. 189.
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che Schönheit ohne christliche Konnotationen zu artikulieren sucht.3 Andererseits macht sich auf theologisch interessierter Seite – und durchaus nicht nur von Theologen vertreten – weiterhin ein Transzendenzbewusstsein geltend, das auch eine Herrlichkeitstheologie nicht in reine Ästhetik aufgehen lassen will. Für eine solche Differenzierung in der Beschreibung und Wahrnehmung des Schönen sind zunächst einmal zwei unterschiedliche und in gewisser Weise auch entgegengesetzte Begründungslogiken des Schönen festzuhalten. Theologisch erscheint das Schöne als eine Offenbarung der ‚Herrlichkeit‘ Gottes, der im Schönen, durch es hindurch und über es hinaus gegenwärtig ist. Das Schöne hat in Gott seinen Ursprung und führt, recht betrachtet, auch wieder zu ihm zurück.4 Anschaulich wird diese Rückführung des Schönen in seinen anderen Ursprung beispielsweise in der lange wirksamen protestantischen Tradition der Occasional Meditations, die sich unter anderem auch an gefälligen Naturgegenständen entzünden können. Upon a Fair Prospect heißt eine solche ‚zufällige Betrachtung‘, die der englische Bischof Joseph Hall Anfang des 17. Jahrhunderts über die Schönheit der Natur anstellt. Angehalten von der „pleasing variety“ einer ausgebreiteten Landschaft mit Städten, Flüssen, Hügeln und Wäldern, die sich zunächst „sense and mind“ des Betrachters darbieten, wird die Seele aufgefordert, den meditierenden Blick nun von dieser bunten Mannigfaltigkeit abzuziehen und ihn hinauf zur Schönheit der Sterne zu erheben, „that without all variety offers thee a truer and fuller delight“ [Hervorh. JJ].5 Doch auch diese ‚einfältige‘ Schönheit, die ein wahreres und – paradox – erfüllteres Vergnügen verspricht, ist immer noch nicht mehr als der „outward curtain“ des göttlichen, der irdischen Seele unvorstellbaren Mysteriums. Einmal von dieser Erfahrung berührt, wird sich die Seele am irdischen schönen Schein nicht mehr befriedigen und nicht mehr beruhigen können: 3
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Vgl. dazu den Beitrag von Ralph Häfner in diesem Band, der mit Brockes ein Beispiel dafür gibt, dass beide Möglichkeiten – Physikotheologie und Bukolik – im Werk eines Autors auch parallel gehen können. Zu den texthermeneutischen Implikationen dieses theologischen Schönheitsbegriffs von der Spätantike bis in die Neuzeit siehe Danneberg, Lutz, Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers. Das Lesen im liber naturalis und supernaturalis. Berlin 2003. Dass man freilich die Herrlichkeit Gottes auch vollkommen ohne Bezug auf Schönheit und allein als ein innerlich-mystisches Erlösungsgeschehen denken kann, zeigt mit eindrucksvoller Rigidität August Hermann Franckes Predigt Die Erfahrung Der Herrlichkeit GOttes (2.9.1716), in: Ders., Schriften und Predigten. Bd. 10: Predigten II, hg. v. Erhard Peschke. Berlin, New York 1989, S. 171–187. Hall, Joseph, Occasional Meditations (1633), Nr. V: Upon a Fair Prospect, in: Huntley, Frank Livingstone, Bishop Joseph Hall and Protestant Meditation in Seventeenth-Century England. A Study with the texts of ‚The Art of Divine Mediation‘ (1606) and ‚Occasional Meditations‘ (1633). Binghamton 1981, S. 126. Zur Bedeutung und Rezeption der englischen Naturmeditation siehe Udo Sträter, dem ich auch den Hinweis auf Hall in diesem Zusammenhang verdanke, Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987; vgl. auch Tausch, Harald, „Crux meditationis“. Die Meditation des Gartens im 17. Jahrhundert am Kreuzweg von Erinnern und Vergessen, in: Kurz, Gerhard (Hg.), Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2000, S. 368–401.
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Come down no more, O my soul, after thou hast once pitched upon this heavenly glory; or, if this flesh force thy descent, be unquiet till thou art let loose to immortality.6
Der natürlichen Schönheit kommt in dieser Form christlicher Naturbetrachtung ein hoher Wert zu, der als Impuls bis in die Physikotheologie der Aufklärung und darüber hinaus fortwirkt. Aber das wahrnehmbare Schöne fungiert dabei doch immer nur als „a Pair of Spectacles“,7 als ein Instrument zur Gotteserkenntnis und nicht als ein in sich selbst gegründeter und stabilisierter Zweck an sich. Noch in einem Klassiker deutscher Naturlyrik wie Friedrich Gottlieb Klopstocks Der Zürchersee lässt sich diese christliche Bekräftigung und zugleich Transzendierung des Naturschönen greifen: Schön ist Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch einmal denkt.8
Demgegenüber bildet sich im Laufe des 18. Jahrhunderts dann auch eine andere Konzeption des Schönen aus, die das höchste Schöne als ein ‚In-sich-selbst-Vollendetes‘ auffasst, wie Karl Philipp Moritz es später nennt. In einer sich autonom setzenden Ästhetik meint demnach das Schöne als ein ‚In-sich-selbst-Vollendetes‘ eine Form der Schönheit, die aus sich selbst heraus begründet werden muss und begründet werden kann. Oder unter einem anderen Aspekt noch einmal zusammengefasst: Wenn die Anziehungskraft des Schönen nach einer alten christlich-platonischen Vorstellung so ausgedrückt werden kann, dass das Schöne ‚ruft‘,9 dann stellt sich vor dem Hintergrund der eben skizzierten Alternative die Frage, ob es die Stimme Gottes oder das Schöne selbst ist, das da ruft. Im Folgenden geht es mir um die zweite der beiden angedeuteten Möglichkeiten, um verschiedene Konzepte einer untranszendiert bleibenden oder, wie ich es nennen möchte, ‚materialen‘ Auffassung des Schönen in der Aufklärung, die vor allem von konkreten kunsttheoretischen Problemstellungen angestoßen werden. Jedenfalls in den von mir gewählten Beispielen wird sich jedoch zeigen, dass auch in solchen alternativen Auffassungen des Schönen die früher dominierenden theologischen Schönheitsvorstellungen implizit oder explizit gegenwärtig bleiben – und so tatsächlich von einer ausgetragenen ‚Konkurrenz‘ der Begründungssysteme gesprochen werden kann. Dies unterstellt, und das ist die der folgenden Darstellung unterlegte These, dass sich das ‚Schöne‘ im 18. Jahrhundert schon deutlich vor seiner theoretisch formu6 7 8 9
Hall, (wie Anm. 5), S. 126. Ebd., Nr. CIIII: Upon a Pair of Spectacles, S. 180. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Der Zürchersee, in: Ders., Ausgewählte Werke, hg. v. Karl August Schleiden. 2 Bde. München 41981, hier Bd. 1, S. 53. Areopagita, Dionysius, De divinis nominibus. Die Namen Gottes, übers. und hg. v. Beate Regina Suchla. Stuttgart 1988, IV.7, S. 46f.
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lierten autonomieästhetischen Absolutierung auf der Ebene einer materialen Schönheitsreflexion der Künste als ein in sich geschlossener Problemkomplex herausbildet (während dann die spätere Idee eines ‚absoluten Schönen‘ in einer bemerkenswerten Umkehrbewegung offensichtlich dazu einlädt, rasch wieder mit religiöser Energie besetzt zu werden, wie etwa die romantische Idee der ‚Kunstreligion‘ zeigt). Das möchte ich im Folgenden an drei sehr verschiedenen Beispielen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts verdeutlichen: an Johann Christoph Gottscheds Deutscher Sprachkunst, William Hogarths Analysis of Beauty und Gotthold Ephraim Lessings Laokoon, die in aufschlussreicher Weise das Problem der Schönheit im Bereich der Sprachästhetik, der Bildästhetik und der Kunstkritik von theologischen Erwägungen zu distanzieren suchen. Anhand von Karl Philipp Moritz’ kleiner, an Hogarth anschließender Abhandlung über Die metaphysische Schönheitslinie soll zuletzt gezeigt werden, wie am Ende die Konkurrenz der Konzepte in der Instrumentalisierung des einen für das andere aufgeht, wenn bei Moritz theologische Vorstellungen zu einer reinen Denkfigur werden, um die Idee einer vollendeten ästhetischen Autonomie durchzuspielen.
1. Die „wahre hochdeutsche Mundart“, so Johann Christoph Gottsched in der Vorrede zu seiner Grundlegung einer deutschen Sprachkunst aus dem Jahr 1748, sowie den rechten Stamm und die Schönheit dieser europäischen Hauptsprache, fest zu setzen; sie in wahre und leichte Regeln zu bringen, und ihre Zierde auf eine so leichte und faßliche, als gegründete Weise zu setzen,10
sei die Absicht seines Buches. Die „Schönheit“ der deutschen Sprache „fest zu setzen“, ist, wie man erinnern muss, zu diesem Zeitpunkt keine Floskel. Sondern dahinter verbirgt sich ein kulturelles Dauerthema, das seit Christian Thomasius’ nachdrücklicher Ermunterung, sich auch im Deutschen nach dem Vorbild der Franzosen um eine schöne Sprache und einen anmutigen Sprachausdruck zu bemühen, gegenwärtig bleibt noch bis zur Polemik Friedrichs des Großen De la littérature allemande (1780) gegen den angeblich weiterhin ‚halbbarbarischen‘ Zustand der deutschen Mundart.11 Gottsched nimmt in diesem dann vor allem seit dem letzten Drittel des Jahrhunderts hochgradig emotional und intellektuell besetzten Diskurs um die Schönheit des Deutschen eine auffallend nüchterne und von 10
11
Hier zitiert nach der fünften Auflage: Gottsched, Johann Christoph, Vollständigere und Neuerläuterte Deutsche Sprachkunst. Nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und itzigen Jahrhunderts abgefasset. Hildesheim, New York 1970 [Reprint der verbesserten Ausgabe Leipzig 51762], Vorrede der ersten Ausgabe, o. S. Die einschlägigen Texte sind versammelt in: Friedrich der Große, De la littérature allemande. Mit der Möserschen Gegenschrift, hg. v. Christoph Gutknecht und Peter Kerner. Hamburg 1969.
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Chauvinismus freie Position ein. So versteht sich seine rasch in weiteren Auflagen erscheinende Einführung in die Deutsche Sprachkunst als ein sachdienliches Grundlagenwerk, dem es vor allem um eine „Stabilisierung“ der deutschen Sprache zu tun ist, wie Eric Blackall Gottscheds Absicht charakterisiert hat.12 Zu diesem Zweck erhält der Leser eine kompakte Einführung in die Grundzüge der deutschen Grammatik, der Orthographie, aber auch in die Regeln der Prosodie und der guten Wortfügung, die nach dem Vorbild der rhetorischen Lehrbücher für eine geordnete Gedankenführung und schließlich auch für einen schönen Sprachklang unerlässlich sind. Zusammengenommen lässt sich mit ihnen die Richtigkeit und eben auch die „Zierde“ der deutschen Sprache herbeiführen: eine klare, geschmackvolle und angenehme Schönheit des sprachlichen Ausdrucks, die, so die gut auch auf Gottsched passende spätere Definition des ‚Zierlichen‘ aus Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste, „nicht in Anhäufung des Schönen, sondern in der Schönheit des Nothwendigen zu suchen sey“.13 Im Abschnitt des Gottschedschen Lehrbuchs über die ‚Beywörter‘ findet sich unter verschiedenen tabellarischen Übersichten auch eine, die der korrekten Steigerung der Beiwörter gewidmet ist. Der letzte, krönende Eintrag unter den aufgelisteten Beispielreihen lautet, sicher nicht ganz zufällig: „schön, besonders schön, unglaublich schön“, und er wird mit der Ermahnung abgeschlossen, bei solcherart Steigerungen durch die Hinzunahme eines weiteren Beiworts, sich davor zu hüten, „nicht widersinnische Worte zusammen [zu] nehmen: als, entsetzlich schön; abscheulich gelehrt; grausam beliebt; oder erbärmlich schön.“14 Zum letzten dieser ‚widersinnigen‘ Ausdrücke, „erbärmlich schön“, merkt Gottsched an: Brokes hat diesen Ausdruck in seiner Paßion gebrauchet, und einige haben wunder! was schönes darin finden wollen. Aber ohne Grund. Denn solche Zusätze von Nebenwörtern, bestimmen nicht den Verstand des Hauptwortes, sondern des nächst dabeystehenden Beywortes. Z.E. ein trefflich gelehrter Mann heißt nicht, einen trefflichen und gelehrten Mann; sondern einen Mann dessen Gelehrsamkeit fürtrefflich ist. So würde denn erbärmlich schön, eine Person bedeuten, deren Schönheit erbärmlich wäre: welches aber ungereimt seyn würde.15
Das zur Abschreckung ausdrücklich noch einmal angeführte schlechte Beispiel, an dem „einige […] wunder! was schönes“ hatten finden wollen, hat es in sich, wie Carsten Zelle gezeigt hat.16 So unter anderem nichts weniger als den Keim der erbitterten Leipzig-Zürcher-Kontroversen zwischen Gottschedianern und Schweizer Poetikern um die Form einer wahren schönen Literatur überhaupt. Brockes’ 12
13 14 15 16
Vgl. Blackall, Eric A., Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700–1775. Mit einem Bericht über neue Forschungsergebnisse 1955–1964 v. Dieter Kimpel. Stuttgart [1970], S. 76ff. Sulzer, Johann Georg, Artikel „Zierlich; Zierlichkeit“, in: Ders., Allgemeine Theorie der Schönen Künste. 2 Bde. Leipzig 1771–1774. Bd. 2, S. 1285. Gottsched, (wie Anm. 10), S. 263. Ebd., S. 262f. Gottsched hatte die Anmerkung mit der dritten Auflage 1752 aufgenommen. Zelle, Carsten, ‚Angenehmes Grauen‘. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987, S. 225–230.
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Wendung ‚erbärmlich schön‘ entstammt dem Text seines erfolgreichen Passionsoratoriums Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus (1712), der so genannten Brockespassion, die unter anderem Telemann und Händel als Libretto diente (zumindest hat Gottsched es später so dargestellt17). Dort heißt es, an den leidenden Jesu gewandt: Heil der Welt / dein schmertzlich leiden Schreckt die Seel’ und bringt ihr Freuden Du bist ihr erbärmlich schön.18
Gottscheds grammatische Kritik stört sich nicht daran, dass etwas ‚erbärmlich‘ und ‚schön‘ sein kann, sondern, wie oben zitiert, dass die Beiworte in dieser sprachlichen Konstruktion nicht das Hauptwort, Jesus, näher bestimmen, sondern sich aufeinander beziehen, dass also hier nun dem Wortlaut nach das ‚Erbärmliche schön‘ bzw. die ‚Schönheit erbärmlich‘ sein soll. Das ist für den Rationalisten Gottsched ein nicht erträglicher Widerspruch in sich, unlogisch, und damit auch überhaupt nicht schön, weil es der Schönheit der Sprache und der Schönheit überhaupt widerspricht, einen unlogischen Gebrauch von ihr zu machen. Nur nebenbei sei hier bemerkt, dass Gottsched mit seiner Weigerung, ein ‚erbärmlich Schönes‘ zu akzeptieren, die christlich-theologische Ästhetik um eines ihrer faszinierendsten Paradoxa beraubt, nämlich eine Schönheit unterm Kreuz vorstellen zu können, die tatsächlich zum ‚Erbarmen‘ ist, oder, abstrakter formuliert, eine Schönheit der ‚unähnlichen Ähnlichkeit‘, um noch einmal Dionysius von Areopagita zu zitieren.19 Aber dies ist keine gottschedsche Besonderheit; Brockes selbst geht ihm darin voran, der sich nach der Abfassung seines Passionstextes ebenso für eine solche Schönheit des Leidens nicht mehr erwärmen konnte und sich „nachgehends […] durch die Schönheit der Natur gerühret […] entschloß, den Schöpfer derselben“ nur noch „in fröhlicher Betrachtung und möglicher Beschreibung zu besingen“.20 Gerade angesichts der von ihm selbst angedeuteten Prominenz des BrockesBeispiels fällt auf, dass Gottsched den Ursprungszusammenhang des ‚erbärmlich schön‘ mit keiner Silbe erwähnt, also möglicherweise „den theologischen Hintergrund des inkriminierten Oxymorons“ gar nicht „realisiert hat“.21 Das allerdings scheint unwahrscheinlich. Vielmehr lässt sich Gottscheds Verschweigen des „theologischen Hintergrunds“ und die Beschränkung auf eine isolierte grammatische Begutachtung als eine Geste von eigener Bedeutsamkeit verstehen, die ihrerseits ein eigenes theologisches Bekenntnis enthält. Erstens: Theologie und Grammatik, 17 18
19 20 21
Ebd., S. 225. Zitiert nach ebd., S. 226. Vgl. dazu auch, mit weiterer Literatur, die Hinweise Hans-Georg Kempers, in: Brockes, Barthold Heinrich, Irdisches Vergnügen in Gott. Naturlyrik und Lehrdichtung, hg. v. H.-G. Kemper. Stuttgart 1999, S. 89f. Areopagita, Dionysius, (wie Anm. 9), IX.6f. Brockes, Barthold Heinrich, Selbstbiographie des Senators Barthold Heinrich Brockes, zitiert nach: Brockes, (wie Anm. 18), S. 90, vgl. auch ebd., S. 273. Zelle, (wie Anm. 16), S. 227.
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Religion und Sprache lassen sich isoliert voneinander behandeln. Und zweitens: Was unlogisch ist, kann nicht nur nicht schön, sondern auch nicht Gott angemessen sein. Denn nach Gottsched spiegelt die Schönheit die Vollkommenheit einer gut eingerichteten und d.h. rational zugänglichen göttlichen Ordnung der Welt wider. Dazu gehört sowohl die schöne Natur, an die man wegen ihrer Sinnfälligkeit zuerst denken mag, wie aber eben auch die Schönheit eines widerspruchsfreien Sprachgebrauchs, in dem für Gottsched schließlich Gott und die Welt, die Kunst und die Sprachkunst konvergieren. Im Versuch einer Critischen Dichtkunst, zu dem die Deutsche Sprachkunst gewissermaßen das sprachdidaktische Grundlagenwerk darstellt, fasst Gottsched diese logische Harmonie, in der dann auch noch die aufgeklärte Naturnachahmungslehre Platz hat, mit den Worten zusammen: Gott hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen will, so muß sie dem Muster der Natur nachahmen. Das genaue Verhältniß, die Ordnung und das richtige Ebenmaaß aller Theile, daraus ein Ding besteht, ist die Quelle aller Schönheit. Die Nachahmung der vollkommenen Natur, kann also einem künstlichen Werke die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Verstande gefällig und angenehm wird.22
Gottscheds Schönheitsbegriff hat also, wenn man will, durchaus noch ein thematisierbares theologisches Fundament, das jedoch per se nicht hervortreten muss. So steht die zitierte Passage keineswegs am Anfang oder an bedeutender systematischer Stelle in der Critischen Dichtkunst, sondern wird nur im Vorbeigehen aufgenommen, um für die überzeitliche Geltung normativer Geschmackskriterien zu argumentieren. Praktisch ist die Theologie für die Sprach- und Literaturästhetik vollkommen neutralisiert, wie nicht nur Gottscheds Unverständnis für ‚erbärmlich Schönes‘, sondern beispielsweise auch für ein Werk wie John Miltons Paradise Lost (1667) zeigt, in dem der „Teufel“, wie Gottsched mit Befremden resümiert, zum „Held“ werde, „der den unschuldig erschaffenen Menschen, aller dagegen gemachten Anstalten ungeachtet, verführet, und seinem Schöpfer entreißt“.23 Wie man gleich sehen wird, spielt für Milton nicht zuletzt auch die Schönheit in diesem Drama eine maßgebliche Rolle. Gottsched allerdings hat für solche Experimente, „den Sieg einer boshaften Creatur über ihren Schöpfer zu besingen“,24 kein Verständnis. Herrlichkeit und Schönheit sind ihm eins, und in dieser Identifizierung verschwinden die theologischen Komplexionen des Schönen, wie auch die Hegemonie (und die Lizenzen) einer theologischen begründeten Ästhetik so eingedämmt bzw. logisch domestiziert sind, dass man sie in der Diskussion eines Ausdrucks wie ‚erbärmlich schön‘ auch einfach übergehen kann.
22 23 24
Gottsched, Johann Christoph, Versuch einer Critischen Dichtkunst. Darmstadt 1982 [Reprint der Ausgabe Leipzig 41751], Das III. Hauptstück. Vom guten Geschmacke eines Poeten, § 20, S. 132. Ebd., S. 483. Ebd.
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2. Die kritische Diskussion einzelner, aus ihrem Kontext herausgelöster, gelungener oder eben auch misslungener ‚Stellen‘, wie beispielsweise das ‚erbärmlich schön‘ aus Brockes Sterbendem Jesus, ist im 18. Jahrhundert noch gängige philologische Praxis. Auch mein zweites Beispiel für einen Theologie distanzierenden materialästhetischen Schönheitsdiskurs in der Hochaufklärung geht von einer solchen ‚Stelle‘ aus. Diesmal bleibt ihr wiederum theologisch geprägter Ursprungskontext jedoch nicht nur unberücksichtigt, sondern wird vielmehr einer höchst raffinierten Umwertung unterzogen. Wieder geht es um die Vermittlung von Grundlagenkenntnissen, diesmal jedoch nicht grammatischer, sondern bildnerischer Art, und wieder geht es um die Schönheit zwischen Theologie und Kunst, nun jedoch nicht der Sprach-, sondern der Bildkunst.
William Hogarth, Analysis of Beauty, London 1753, Titelblatt
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Das Titelblatt zu William Hogarths 1753 veröffentlichter kunsttheoretischer Abhandlung Analysis of Beauty, written with a view of fixing the fluctuating ideas of taste enthält zusammengedrängt das vollständige Programm einer Aufklärung des Schönen, das Hogarth mit dieser bemerkenswerten Abhandlung vorlegt. Es zeigt zuoberst den Titel der Untersuchung, der typographisch das Wesentliche und nach eigenem Anspruch Neue des vorgelegten, vergleichsweise schmalen Bandes herausstellt: nämlich das Schöne einer Analyse zu unterziehen, die das Prinzip des Schönen erklärt. Die folgende Abhandlung wird als dieses, aller erscheinenden Schönheit zugrunde liegende Prinzip eine S-förmig geschwungene Grundfigur vorstellen, die als die sogenannte ‚Hogarth’sche Schönheitslinie‘ Berühmtheit erlangen und in die ästhetische Theorie eingehen wird. Sie gibt nach Hogarth nicht nur dem ‚schwankenden Geschmack‘ die lang gesuchte Regel, sondern lüftet auch endgültig den provozierenden Schleier des Irrationalen, der das Schöne mit der alten, aber offensichtlich immer noch „fashionable phrase for grace“25 des ‚Je ne sais quoi‘ – eine auch mit theologischer Semantik besetzte Formel für die Unbegreiflichkeit des Schönen –26 umgeben hatte. Unter den vielversprechenden Titel setzt Hogarth ein Motto: So vary’d he, and of his tortuous train Curl’d many a wanton wreath in sight of Eve, To lure her eye.27
Im Wortlaut der schon im Folgejahr herauskommenden deutschen Übersetzung Zergliederung der Schönheit. Die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen von Christlob Mylius: So vielfach schön schlingt sich vor Evens Blick Ihr schlanker Leib, der, in sich selbst geringelt, Sie kräuselnd lockt.28
Autor dieser Verse ist, wie auf dem Blatt auch angegeben, John Milton, dessen Epos Paradise Lost selbst ein zu Recht bewundertes Stück Aufklärung darstellt, dessen literarische Kühnheit bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wirkt. Durch Bodmers Prosa-Übersetzung von 1732 auch einer breiteren deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich geworden, fungiert es bekanntlich gerade auch in den kontroversen poetologischen Diskussionen in Deutschland um eine aufgeklärte zeitge25 26
27 28
Hogarth, William, The Analysis of Beauty, hg. v. Ronald Paulson. New Haven, London 1997, Introduction, S. 4. Vgl. Bouhours, Dominique, Entretiens d’Ariste et d’Eugéne. Paris 51683, S. 362ff., nach Köhler, Erich, „Je ne sais quoi“. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen, in: Romanistisches Jahrbuch 6 (1953/54), S. 21–59, hier S. 45f. Hogarth, Analysis, (wie Anm. 25), o.S. Hogarth, William, Zergliederung der Schönheit. Die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen, übers. v. C.[hristlob] Mylius. London, Hannover 1754. Hier zitiert nach der verbesserten und vermehrten Auflage Berlin, Potsdam 21754.
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nössische Dichtung – auf Gottscheds Kritik war oben schon kurz hingewiesen worden – als ein wichtiger Bezugspunkt. Miltons Epos ist das herausragende wie umstrittene Beispiel einer kühn erdachten „Poetik des Wunderbaren“, die einen biblischen Stoff mit eigener Einbildungskraft unübersehbar zu einem Stück moderner Literatur gemacht hatte. Doch auf Hogarths Titelblatt erscheint Milton, wie ich gleich eingehender zeigen möchte, in einem anderen Licht. Die als Motto zitierten Verse sind dem IX. Buch von Paradise Lost entnommen,29 und sie gehören zu dem hochdramatischen Augenblick, in dem die Schlange im Garten Eden sich anschickt, die Eltern der Menschheit zum Bösen zu verführen, indem sie im vollen Bewusstsein ihrer Tat das göttliche Gebot übertreten. Die untere Hälfte des Titelblatts nimmt die stilisierte Zeichnung einer durchsichtigen Pyramide ein, die eine im dreidimensionalen Raum gekrümmte schlangenähnliche Figur beherbergt. Sie ist nichts anderes als eine bildliche Darstellung der ‚Schönheitslinie‘, deren systematischer Sinn die Inschrift des Sockels verdeutlicht, auf dem sich die Pyramide erhebt: „Variety“, oder zu deutsch: „Mannigfaltigkeit“, der zentrale Leitbegriff der folgenden Abhandlung. Er ist durch den ersten Vers des miltonschen Mottos bereits eingeführt: „So vary’d“, wie es in der englischen Vorlage heißt, „[s]o vielfach schön“, wie der deutsche Übersetzer mit ungleich größerem Gespür für das auch im Original angelegte ästhetische Potential dieser Verse ergänzt, das die frühere Prosaübersetzung Bodmers: „Sein artiger stummer Ausdruck zog endlich der Even Auge auf sich, daß sie sein Spiel betrachtete“,30 weitgehend verdeckt hatte. Die Verse des Mottos und die bildliche Darstellung bilden zusammen eine TextBild-Einheit, die von fern noch an die barocke Emblemtradition erinnert. Der folgende Traktat übernähme demnach die Funktion der subscriptio, die erläutert, was auf dem Titel in prägnanter, aber noch rätselhafter Kurzfassung angedeutet ist. Tatsächlich lässt sich, nach einem Hinweis den Hogarth an späterer Stelle selbst gibt, die Pyramide als ein verdecktes Symbol der göttlichen Schönheit der antiken Venus deuten.31 Aber auch wenn Pyramide und Schlange die allegorische Phantasie des gebildeten Lesers zu stimulieren vermögen, veranschaulicht das Bild vor allem eins: Die durch Analysis endlich geheimnislos gewordene Transparenz einer durchsichtigen, rationalen Konstruktion, die sich dem Willen der Aufklärung des Schönen verdankt. Diese Absicht scheint auch das Milton-Zitat in diesem Bild-Text-Ensemble zu umschreiben, das seinem Literalsinn nach nichts anderes als eine poetische Version des Prinzips des Schönen zu geben scheint. Für den mit Milton näher vertrauten Leser jedoch enthalten die Verse – auf die Hogarth, anders als im Fall der gläser29 30 31
Milton, John, Paradise Lost, hg. v. Christopher Ricks. London, New York 1989, S. 208. Buch IX, Verse 516–518. Zitatnachweise im Folgenden mit Buch- und Versangabe im Text. John Miltons Episches Gedichte von dem verlohrnen Paradiese, übers. v. Johann Jakob Bodmer. Stuttgart 1965 [Reprint der Ausgabe Zürich und Leipzig 1742 (11732)], S. 399. Hogarth, Analysis, (wie Anm. 25), S. 10f.
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nen Pyramide, an keiner Stelle mehr zurückkommt – einen zusätzlichen Sinn und, man darf wohl sagen, eine ungeheure Provokation. Denn Hogarth nimmt mit dieser Schlange zum vorbildlichen Modell zeitloser Schönheit ausgerechnet das, was mit seiner „Evens Blick“ anziehenden Gestalt dem biblischen Mythos zufolge Sünde und Tod in die Welt gebracht hat. Die Bedingung für diese Umwertung scheint zu sein, dass Hogarth das Innere der Schlange und d.h. in Analogie das Innere des schönen Körpers überhaupt restlos nach außen kehrt. War bei Milton die ‚vielfach schön verschlungene‘ Gestalt der Schlange in Wahrheit nur eine falsche Maske Satans, der nur zur Tarnung in den anmutigen Schlangenleib hinein gekrochen war (IX, 83–86), abstrahiert Hogarth die Gestalt der Schlange zu einer geometrischen Figur, um mit ihr den mannigfaltigen Reiz einer Schönheit ganz ohne falschen Kern zu illustrieren. „[S]ee with your own eyes“,32 lautet der Imperativ, mit dem sich Hogarth in der Einleitung zu seiner Untersuchung an seine Leser wendet und der einer solchen gleichsam offengelegten Schönheitsidee korrespondiert. Er nimmt auf ästhetischem Gebiet die spätere Maxime Kants vorweg, die zur Signatur der Epoche werden sollte: sich also nicht nur seines eigenen Verstandes, sondern auch seiner eigenen Augen zu bedienen. Hogarth bringt die damit verbundene Aufwertung des Gesichtssinns, die sich in der sensualistisch geprägten englischen Aufklärungsästhetik seit Joseph Addisons Untersuchung der Pleasures of the Imagination (1712) angebahnt hatte, zu einem vorläufigen Abschluss. Die Welt und eben auch die Schönheit erscheinen in einem neuen Licht, wenn gilt, was die Aufforderung: „see with your own eyes“, voraussetzt: Dass man seinen Augen trauen kann. Damit ist angedeutet, dass Hogarths Entscheidung, über seine analytische Rekonstruktion des Schönen ausgerechnet diese Verse Miltons zu setzen, mehr Bedeutung besitzt, als man einem geistreichen Motto gewöhnlich zubilligen möchte. Sie scheint von der Absicht geleitet zu sein, das Schöne aus dem metaphysischen, christlich-theologischen Deutungshorizont herauszulösen, der in Paradise Lost das Schöne noch ins Zwielicht getaucht hatte (IX, 48–52), und es rein in seiner phänomenalen Materialität als anziehende Form vor Augen zu führen. Im ursprünglichen Kontext der Verse, dem IX. Buch von Miltons Paradise Lost, waren gleichsam an der Schwelle zur Epochenwende, mit der am Ende des 17. Jahrhunderts auf das Schöne ein neuer, vor allem an Kunsttheorie interessierter Blick fallen wird, noch einmal alle wichtigen schönheitskritischen Topoi versammelt, die die christliche Tradition hervorgebracht hatte, um Skepsis gegenüber der weltlichen Augenlust zu lehren.33 Milton radikalisiert sogar den christlichen Vorbehalt gegenüber dem Schönen noch einmal, insofern er das Motiv der falschen, durch den äußeren Augenschein verführenden Schönheit in die Sündenfallsdar32 33
Ebd., S. 18. Vgl. dazu Hinz, Berthold, Aphrodite. Geschichte einer abendländischen Passion. München 1998.
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stellung selbst wie ein Leitfaden hineinwebt. Stellte der Bericht der Genesis die Schlange allein als ein ‚listiges‘ Tier vor,34 das Erkenntnis verspricht, nimmt Milton als das Instrument solcher List die Schönheit dazu. War schon in den vorangegangenen Büchern des Epos’ Satan mit einem gottähnlichen ‚Glanz‘ in Verbindung gebracht worden, den er jedoch nach seiner Erhebung und seinem Sturz aus dem Himmel eingebüßt hatte,35 ist er nach diesem Verlust nun auf fremde Hilfe angewiesen. So muss er sich des schönen Schlangenleibes bedienen, um Eva ins Auge zu fallen, und Adams Ahnung, dass seine Frau ob dieser besonderen List, in den Worten der Milton-Übersetzung Johann Jakob Bodmers, „von einem schönen Scheingut übereilt (Lest by some fair appearing; X, 354), ein falsches […] Urtheil fälle, und so den Willen […] verleite, etwas zu thun, was Gott ausdrücklich verboten hat“,36 erweist sich, wie man weiß, als nur zu berechtigt. Doch damit nicht genug, lässt Milton Satan auch einen besonders schönen Ort wählen, um die ausgerechnet gerade mit einer besonders schönen Blume beschäftigte schöne Eva zum Bösen zu überzeugen (IX,424ff.). Und dass in Satans Überredungskunst der schmeichelnde Hinweis auf die besonders schöne Gestalt Evas: „O allerschönstes Bild deines schönen Schöpfers (Fairest resemblance of thy Maker fair; IX,538)“,37 als zentraler Topos fungiert (IX,532ff.), überrascht dann nicht mehr sonderlich, wie auch, dass es zuletzt die außerordentliche Schönheit des verbotenen Apfels ist, die für Satan zur maßgeblichen Argumentationshilfe wird. Trotz allem reicht in Miltons Darstellung des Sündenfalls der schöne Schein, der hier so massiert auf Eva fällt (und übrigens auch ein wichtiger Beleg für die folgenreiche neuzeitliche Feminisierung des Schönen ist38), zur Verführung nicht aus. Es muss die bewegende Rede dazu kommen. Erst in der Kombination aus der Augenlust am Schönen und dem sprachlichen Pathos des Erhabenen gelangt die schöne Schlange über Auge und Ohr ans Ziel. Solange es Satan bei ‚schönen‘ Worten belässt, kann Eva widerstehen, weil sie schulrhetorisch informiert die schmeichelnden Einflüsterungen Satans als „overpraising“ (IX, 615) identifiziert, als eine Übererfüllung der epideiktischen Redeform, in der nach der rhetorischen Konvention die Schönheit zu Hause ist. Eva erliegt dem Werben des Verführers erst, als Satan zu härteren Methoden greift, sich „wie im Affecte“ aufspreizt und „[w]ie vor Alters ein berühmter Redner zu Athen oder zu Rom“ Pathos mobilisiert (IX, 664–669),39 das schließlich im Verein mit der Faszination der schönen Frucht (IX, 735) Eva zur Übertretung des göttlichen Gebots bewegt. 34 35 36 37 38 39
„VND die Schlange war listiger denn alle Thier auff dem felde / die Gott der HERR gemacht hatte“ (Gen 3,1). Vgl. II, 746–767; IV, 835–870; biblische Grundlage für diesen in der christlichen Literatur und Ikonographie immer wieder aufgenommenen Mythos ist die Allegorese von Ez 28;11–19. Milton, Episches Gedichte, (wie Anm. 30), S. 391. Ebd., S. 401. Vgl. dazu, auch mit Rücksicht auf Milton und Hogarth: Trapp, Wilhelm, Der schöne Mann. Zur Ästhetik eines unmöglichen Körpers. Berlin 2003. Milton, Episches Gedichte, (wie Anm. 30), S. 408.
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Dass das schöne Bild und die schöne Sprache zwar wegbereitende Mittel sind, aber noch nicht hinreichen, eine gutgläubige Seele zum Bösen zu verführen, dass also noch nicht die schöne, sondern erst die bewegende Rede widerstandsbrechende Kraft besitzt,40 weist auf sprachästhetische Grundüberzeugungen Miltons hin, die hier nicht weiter verfolgt werden sollen. Sie lassen sich mit einer Aufwertung des Erhabenen verbinden – als dessen Meister später Edmund Burke Milton preisen wird –,41 das in dieser Gegenüberstellung die Depotenzierung des Schönen nicht nur bei Milton verdeutlicht, sondern auch die nachfolgende Begeisterung für das Erhabene anklingen lässt, wie sie im 18. Jahrhundert zu verzeichnen ist. Für Milton jedoch birgt der schöne Schein selbst noch hinreichend Anziehungskraft, der es zu misstrauen gilt. So zeigt sich dieser in Paradise Lost nicht nur postlapsarisch durch die menschliche Schwäche verdorben, sondern auch schon vor dem Fall als ein zweideutiges Phänomen: „I […] see“, lässt Milton Eva schon an früherer Stelle sagen, „[h]ow beauty is excell’d by manly grace / And wisdom, which alone is truly fair.“ (IV,489–491) Das Schöne ist also an sich selbst wahr und falsch zugleich und verlangt die weise – dezidiert nicht von ästhetischen Normen geleitete – Unterscheidung zwischen vordergründiger „beauty“ und dem, was „truly fair“ ist. Dass es in der Natur des äußeren Schönen selbst liegt, diese Unterscheidung zu erschweren, ist das treibende Moment, welches das Drama des Sündenfalls nach Miltons Darstellung in Gang setzt. Hogarth weist diese Skepsis gegenüber dem schönen Schein zurück. Miltons Verse auf dem Titelblatt der Analysis of Beauty erinnern jedoch dezent an die Herausforderung, vor die sich ein Projekt gestellt sieht, dass das Schöne von solchen ‚in seinem Inneren‘ vermuteten Vorbehalten und Abgründen entkleiden will. Erweist sich der Satiriker Hogarth auch in anderer Hinsicht als „ein Meister“ in der „Kunst der Enthüllung“,42 unterzieht Hogarth auch theoretisch das Schöne einer rationalen Abstraktion, die es ganz durchsichtig werden lässt. Wie auch die gläserne Pyramide zu verstehen gibt, soll das Schöne von seiner verdächtigen verborgenen Innenseite befreit werden, indem auch der opake Körper, an dem es erscheint, transparent wird. Dazu muss man ihn, wie Hogarth im Weiteren vorschlägt, als einen vollständig ausgehöhlten denken. In der rationalen Analyse bleibt von ihm nur die dünne Schale einer schönen Oberfläche, die von Innen und Außen angesehen werden kann: Notwithstanding I have told you my design of considering minutely the variety of lines, wich serve to raise the ideas of bodies in the mind, and wich are undoubtedley to be consider’d as drawn on the surfaces only of solid or opake bodies: yet the endeavouring to conceive, as accu40
41 42
Diese sprachästhetisch wichtige Einschränkung übersieht die ausschließlich auf die bildlich ‚phantasmatische‘ Funktion des Schönen abgestellte Interpretation Trapps; siehe Trapp, (wie Anm. 38), S. 170f. Burke, Edmund, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. London 1757, 21759, II. Teil, Kap. 3, und passim. Starobinski, Jean, Die Erfindung der Freiheit. 1700–1789. Frankfurt a.M. 1988, S. 95. Zur Lust der Epoche an der Wellenlinie siehe ebd., S. 23.
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rate an idea as is possible, on the inside of those surfaces, if I may be allow’d the expression, will be a great assistance to us in the pursuance of our present enquiry.43
Dieses in der Tat „extreme Denkmodell“44 ist also nicht nur der Wegbereiter einer entkörperlichenden idealistischen Schönheitsästhetik, als die es dem modernen Kritiker erscheinen kann, sondern zuerst einmal Ausdruck des höchst bemerkenswerten Versuchs, ein vorbehaltlos Schönes vorzustellen. Deswegen kann man sich dann ohne Schaden auch den Teufel zum Motto nehmen, weil dessen geheimes Versteck aus dem Zwielicht ans Licht gezogen ist. Zur reinen Oberfläche geworden, ist im Schönen kein Platz mehr für einen versteckten Satan. Von Innen und Außen ansehbar geworden, wohnt dem schönen Schein keine dubiose Verführungskraft mehr inne, und man kann seinem Anblick, seinem eigenen Blick trauen. Als Konstruktionsgesetz des auf diese Weise methodisch transparent gemachten schönen Körpers erscheint die geometrische ‚Schönheitslinie‘, die als zweidimensionale ‚wave line‘ und noch wirkungsvoller als räumlich geschwungene ‚serpentine line‘ ihre höchste Gestalt gewinnt.
3. Mit großem Interesse hat offensichtlich auch Gotthold Ephraim Lessing das Erscheinen von Hogarths Analysis of Beauty zur Kenntnis genommen. Lessing macht mit mehreren Rezensionen in der Berlinischen privilegierten Zeitung auf das Werk aufmerksam. Seine erste Anzeige vom 30. Mai 1754 schließt mit der Erwartung: Ja so gar Dichter und Tonkünstler werden, vermöge der Verbindung welche alle Schönen Künste und Wissenschaften untereinander haben, ähnliche Gründe der Schönheit in den Werken des Geistes und der Töne darinnen entdecken.45
Persönlich setzt sich Lessing für eine zweite, verbesserte Auflage der deutschen Hogarth-Übersetzung von Mylius ein, die noch im selben Jahr erscheint, und steuert selbst, anonym, eine ausführliche Vorbemerkung dazu bei. Sie nimmt den Gedanken aus der Rezension noch einmal auf: Das Motiv, so Lessing, „zu diesem neuen Abdrucke“ der Zergliederung der Schönheit sei die „Begierde“ gewesen,
43 44 45
Hogarth, Analysis, (wie Anm. 25), Introduction, S. 20f. Menninghaus, Winfried, EKEL. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a.M. 1999, S. 84. Lessing, Gotthold Ephraim, [Rezension von: Hogarth,] Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmacke festzusetzen […], in: Ders., Werke und Briefe, hg. v. Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen u.a. 12 Bde. Frankfurt a.M. 1985ff. Bd. 3: Werke 1754–1757 (2003), hg. v. Conrad Wiedemann, unter Mitwirkung v. Wilfried Barner und Jürgen Stenzel, S. 47–49, hier S. 49. Lessing kommt in weiteren Besprechungen vom 25.6. und 4.7.1754 auf Hogarths Abhandlung, die „voll neuer Gedanken“ sei, zurück.
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das Hogarthsche System von der körperlichen Schönheit allen denen unter uns […] in die Hände zu liefern, welche in ihren Künsten oder Wissenschaften ein neues Licht daraus borgen können.46
Ein gutes Jahrzehnt später zeigt Lessing, dass er selbst zu denjenigen gehört, „welche in ihren Künsten oder Wissenschaften ein neues Licht“ aus Hogarths Analysis gewinnen konnten. Zwar nicht im Sinne einer direkten Adaption der hogarthschen Linientheoreme, aber einer ästhetischen Grundlagenreflexion, die Lessing mit seiner Schrift Laokoon oder: über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) auf eine neue Stufe führt. Mit Hogarth verbindet Lessings Versuch, die materialen Bedingungen der schönen Künste und ihre damit zusammenhängenden spezifischen Darstellungsmöglichkeiten und -grenzen zu klären, nicht nur die Absicht, die Schönheitsreflexion auf eine praktische Grundlage zu stellen. Sondern auch bei Lessing spielt die Distanzierung von Religion und Theologie in diesem Zusammenhang noch eine Rolle. Wie Hogarth seine Analysis streng vom Gegenstand her, dem einzelnen Bild bzw. der konkreten Plastik, entwickelt, so legt auch Lessing Wert auf die Feststellung, dass seine theoretischen Überlegungen aus der Empirie gewonnen seien. Die herangezogenen Beispiele aus der Literatur, so Lessing mit einem Seitenhieb gegen die philosophische Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, würden darum bei ihm auch „mehr nach der Quelle schmecken“ als in den ‚bündigen‘ Abstraktionen des scharfsinnigen Philosophen.47 Lessings kritischem Hinweis auf Baumgarten liegt ein systematisches Bemühen um Abgrenzung zugrunde, das nicht nur einzelne Kunstformen voneinander sondern will – im Laokoon Poesie und Malerei –, sondern auch einzelne prinzipiell geschiedene Umgangsformen mit Kunstwerken unterscheidet. So differenziert Lessing zwischen dem Typus des ‚Liebhabers‘, des ‚Philosophen‘ und des ‚Kunstrichters‘ (13), die zurecht jeweils mit unterschiedlichen Erkenntnisansprüchen den Werken der Kunst gegenübertreten. Eine in der zeitgenössischen Praxis wesentliche und verbreitete Form des Umgangs mit Texten oder Bildern fehlt jedoch in dieser Typologie: Diejenige des Theologen oder Erbauungssuchenden. Dies liegt nicht daran, dass Lessing erbauliche Literatur nicht schätzen würde,48 sondern ist ein erster Hinweis darauf, dass auch Lessing unter bestimmten Voraussetzungen die Dissoziation von Kunst und Theologie erforderlich erscheint. Für Lessings Laokoon-Projekt heißt das zunächst, bei der Analyse und Beurteilung der Darstellungsleistungen der einzelnen Künste 46
47
48
Lessing, Gotthold Ephraim, Vorbericht zu diesem neuen Abdrucke, in: Hogarth, Zergliederung der Schönheit, (wie Anm. 28), hier zitiert nach: Lessing, Werke und Briefe, (wie Anm. 45). Bd. 3, S. 350–355, hier S. 350. Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon oder: über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766), in: Ders., Werke und Briefe, (wie Anm. 45). Bd. 5.2: Werke 1766–1769 (1990), hg. v. Wilfried Barner, S. 11–206, hier S. 15. Zitatnachweise im folgenden mit Seitenangabe im Text. Vgl. z.B. Lessings Einsatz für die Psalmendichtung Stimmen aus Zion des radikalen Pietisten Johann Wilhelm Petersen im 8. Brief der Briefe, die neueste Literatur betreffend (18.1.1759).
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ausschließlich formal-ästhetische Prinzipien zur Geltung zu bringen. Das zeigt der Blick auf einige der im Laokoon auf diese Weise ‚quellennah‘ behandelten Literaturbeispiele. So blendet Lessing bei seiner kritischen Analyse der deutschen Gegenwartsliteratur Albrecht von Hallers, Barthold Heinrich Brockes’ oder Ewald von Kleists, um nur die prominentesten zu nennen, die in allen deren Werken manifeste theologische Dimension vollständig aus; und Klopstock etwa, der in jeder Hinsicht avancierteste Vertreter einer zeitgenössischen ‚Heiligen Poesie‘, wird mit keinem Wort erwähnt. Zeigen auch hier wieder beispielsweise Lessings Klopstock-Kritiken aus den 1750er Jahren, dass der Autor prinzipiell durchaus nicht unempfindlich gegenüber theologischen Aspekten in der Literatur ist, sondern im Gegenteil ein sensibler und genauer Interpret literarisch-theologischer Zusammenhänge,49 werden sie im Laokoon weitgehend übergangen. Wo sie sich unabweisbar aufdrängen, wie beispielsweise in der von Lessing zitierten berühmten Schilderung des schönen Enzians aus Hallers Lehrgedicht Die Alpen, in die auch der schönheitstheologisch einschlägige Satz: „In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele“, eingelagert ist, werden sie einer dezidiert formalen Analyse unterworfen. Dort ragt das hohe Haupt vom edeln Enziane Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin, Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne, Sein blauer Bruder selbst bückt sich, und ehret ihn. Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen, Türmt sich am Stengel auf, und krönt sein grau Gewand, Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün durchzogen, Strahlt von dem bunten Blitz von feuchtem Diamant. Gerechtestes Gesetz! daß Kraft sich Zier vermähle, In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele. Hier kriecht ein niedrig Kraut, gleich einem grauen Nebel, Dem die Natur sein Blatt im Kreuze hingelegt; Die holde Blume zeigt die zwei vergöldten Schnäbel, Die ein von Amethyst gebildter Vogel trägt.50
Zum Maßstab der Beurteilung erhebt Lessing an dieser Stelle ausschließlich die – in vorliegendem Falle für mangelhaft befundene – Qualität der poetischen Darstellungskraft einer solchen mit Theologumena durchsetzten Schilderung der schönen Natur. Wer Haller wegen dieser Passage lobe, so Lessings kritischer Kommentar, muß mehr auf die fremden Zierraten, die der Dichter darein verwäbet hat, auf die Erhöhung über das vegetative Leben, auf die Entwicklung der innern Vollkommenheiten, welchen die äußere Schönheit nur zur Schale dienet, als auf diese Schönheit selbst […] gesehen haben. (126)
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Siehe etwa Lessings einlässliche Rezensionen zu Klopstocks Messias oder Klopstocks – von Katrin Kohl im vorliegenden Band interpretierte – Abhandlung Von der besten Art über Gott zu denken (1758), in Lessings Briefen, die neueste Litteratur betreffend, Nr. 15–19, Nr. 49. Haller, Albrecht von, Die Alpen (1729), V. 381–394, hier zitiert nach: Lessing, Laokoon, (wie Anm. 47), S. 125; Hervorh. JJ.
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Das heißt ‚schön‘ können die Verse Hallers nur demjenigen erscheinen, der die in ihnen ausgesprochene theologische Dogmatik goutieren kann. Hallers These, dass die ‚inneren Vollkommenheiten‘ eines Wesens seine äußeren Schönheiten notwendig übertreffen: „In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele“, ist eine christlich-theologisch fundierte. Für die literarische Bewertung der hallerschen Verse und den Blick auf, wie Lessing notiert, „diese Schönheit selbst“ darf Hallers Komparativ jedoch nicht nur nicht in Betracht kommen, sondern er ist an dieser Stelle unter poetologischem Gesichtspunkt sogar ein Fehler. Denn die in Hallers Naturdarstellung ‚eingewobene‘ Schönheitskritik ist ein rein intellektueller ‚fremder Zierrat‘, der der poetischen, sinnlichen Vorstellung des Natureindrucks entgegenwirkt. Eine solche Verwechslung von theologischen „Zierraten“ und eigentlichen poetischen, d.h. aus der spezifischen Struktur poetischer Rede gewonnenen Schönheiten aufzudecken, ist die Aufgabe des aufgeklärten Kunstrichters. Sie läuft in diesem Zusammenhang auf eine systematische Unterscheidung von in Literatur, Gemälde oder Plastik artikulierter sinnlicher ‚Schönheit‘ und philosophischen oder theologischen Zugriffen auf ‚Schönheit‘ hinaus. Anders als Gottsched es sich vorstellte, sind diese nach Lessing nicht mehr spannungsfrei vermittelbar. Denn, so Lessing im IX. Abschnitt des Laokoon, die Voraussetzung dafür, dass die schöne Kunst ihr Höchstes leisten kann, ist, dass sie „ihre völlige Freiheit“ bei der Ausübung hat und nicht etwa dem „äußerlichen Zwang“ der Religion ausgesetzt ist (84). Das Problem einer gegenüber den freien Künsten „zur Verehrung und Anbetung“ bestimmten und damit in Produktion und Rezeption religiös gebundenen Kunst liegt aus Lessings (ästhetisch, nicht religionskritisch argumentierender) Perspektive darin, dass die religiöse Kunst von ‚Bedeutung‘ dominiert ist – wie es beispielsweise der eingeschobene Lehrsatz in Hallers Die Alpen zeigt – und sich nicht frei, ausschließlich „auf die höchste Wirkung“ hin orientiert, für die „einzig das Vergnügen“ des Betrachters oder Lesers im Vordergrund steht (ebd.).51 Den „Namen der Kunstwerke“ sollte man darum schließlich überhaupt nur „denjenigen beilegen […], in welchen sich der Künstler wirklich als Künstler“ habe zeigen können, und „bei welchen die Schönheit seine erste und letzte Absicht gewesen“ (85). In diesem für die Laokoon-Schrift bezeichnenden ästhetischen Formalismus ist wohl zurecht auch der Grund der Sympathie Lessings für Hogarths Analysis of Beauty gesehen worden.52 Aber diese neue Art der Formbewusstheit befördert nicht nur die Abgrenzung der Kunst gegenüber der Religion, sondern verändert auch, zumindest auf der Ebene der Theorie, die Maßstäbe für den Umgang mit Bibel und 51
52
Den Zusammenhang zwischen ‚Freiheit‘ und höchster Kunstleistung hatte schon Johann Joachim Winckelmann in seiner Geschichte der Kunst des Altertums (1764) exponiert, dort aber vor allem auf politische Freiheit bezogen; siehe dazu Osterkamp, Ernst, Johann Joachim Winckelmanns Beschreibungen der Statuen im Belvedere in der „Geschichte der Kunst des Altertums“. Text und Kontext, in: Winner, Matthias, u.a. (Hg.), Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Akten des internationalen Kongresses zu Ehren von Richard Krautheimer, Rom, 21.–23. Oktober 1992. Mainz 1998, S. 442–458, hier S. 456ff. Vgl. Blümner, Hugo, in: Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon. Berlin 21880, S. 498.
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mit religiösen Sujets in Kunst und Literatur. Die Einsicht, „[d]aß das nicht schön sein muß, was biblisch ist“, wie Lessing in einem nicht veröffentlichten Paralipomenon zum Laokoon notiert,53 und die nicht nur für die historische Bibelkritik folgenreiche Auffassung, dass die Inspiration des biblischen Worts durch den Heiligen Geist stilistisch offensichtlich auf die besonderen ästhetischen und kulturellen Gewohnheiten der Propheten Rücksicht genommen habe,54 gehören ebenso dazu, wie beispielsweise die Lizenz für den Dichter, theologische ‚Fehler‘ machen zu dürfen, wenn es der Steigerung der ‚poetischen Schönheiten‘ dient.55 Die so verstandene Freiheit der Kunst führt Lessing schließlich auch zu einer theoretisch weit vorausweisenden Kritik der „falsche[n] Regel von den vollkommenen moralischen Charakteren“.56 Die Vorherrschaft dieser literarisch falschen Regel, so Lessing, habe in Miltons Paradise Lost dazu geführt, dass die moralische Vollkommenheit einem ganz unangemessenen ‚Wettstreit‘ mit dem Unvollkommenen ausgesetzt worden sei. Das ist kein geringes Problem, weil die Konkurrenz zwischen dem Guten und dem Bösen zwar moralphilosophisch leicht zu entscheiden ist, wirkungsästhetisch aber nach ganz eigenen Gesetzen verläuft, so dass tatsächlich der schlimmere Charakter, welcher mehr Anteil an der Handlung nimmt, als dem vollkommnen seine Seelenruhe und festen Grundsätze zu nehmen erlauben, ihn allezeit ausstechen wird.57
Ein Kritiker habe von daher zurecht moniert, dass bei Milton der „Teufel sein Held sei“. Aber, so Lessing, das kömmt nicht daher, weil er den Teufel zu groß, zu mächtig, zu verwegen geschildert; der Fehler liegt tiefer. Es kömmt daher, weil der Allmächtige die Anstrengung nicht braucht, die der Teufel zu Erreichung seiner Absicht anwenden muß, und er mitten in den gewaltigsten Bewegungen und Anstalten seines Feindes ruhig bleibet, welche Ruhe zwar seiner Hoheit gemäß, aber keineswegs poetisch ist.58
Der „Allmächtige“ ist zu überlegen, um „poetisch“ zu wirken, und seine Ruhe ist zu groß, um die Leser zu bewegen, oder mit anderen Worten: Gott ist zu wahr, um schön zu sein.
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57 58
Lessing, Gotthold Ephraim, ‚Paralipomena zum Laokoon‘, in: Ders., Werke und Briefe, (wie Anm. 45). Bd. 5.2, S. 207–321, hier S. 261 (Nr. 8.2.XIII). Ebd. Ebd., S. 286–288 (Nr. 17). Ebd., S. 231 (Nr. 3.IX). Die nur wenig später erfolgende radikale literarische Einlösung dieser neuen Freiheit in Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers ging Lessing allerdings zu weit, siehe Lessings Brief an Johann Joachim Eschenburg vom 26. Oktober 1774. Vgl. dazu Jauß, Hans Robert, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1991 [11982], S. 319–322. Lessing, Paralipomena, (wie Anm. 53), S. 232. Ebd.
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4. 1793 publiziert Karl Philipp Moritz eine kleine, in jeder Hinsicht nicht leicht zugängliche Schrift über Die metaphysische Schönheitslinie. Sie nimmt Hogarths Linien-Theoreme aus der Analysis of Beauty auf, abstrahiert sie jedoch gewissermaßen noch einmal und zwar so weit, dass sie damit wieder eine „metaphysische“ Dimension gewinnt, die dieser – wie gezeigt – gerade mit Bedacht getilgt hatte.59 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildete sich eine reiche kunsttheoretische Reflexion über den Zusammenhang von Schönheit und bewegter Linie, Umriss, Arabeske und Ornament aus, die vor allem für die bildenden Künste von Bedeutung war und durch Klassizismus und Romantik hindurch eine anhaltende ‚Hochkonjunktur‘ hatte.60 Moritz zieht in diese Überlegungen zur Bedeutung der geschwungenen Linie wieder einen spekulativen Sinn ein. Die streng immanent angelegte Rückführung des Schönen auf ein aufgeklärtes, vorbehaltloses Sehen, das Hogarth gegen den theologischen Vorbehalt gesetzt hatte, vermochte offenbar die theoretische Phantasie – jedenfalls in Deutschland – nicht lange zu befriedigen. So kehrt in Moritz’ „spekulativem ‚Ideenspiel‘“61 über „das allerhöchste Schöne“62 auch die Theologie wieder. Die Beziehungen zwischen Theologie und Kunst in und seit der Aufklärung verlaufen, wie sich daran sehen lässt, nicht als ein einfacher teleologischer Prozess der Ablösung und Differenzierung, sondern eher in der Form einer bis in die Gegenwart anhaltenden Dynamik von Um- und Neubesetzungen. So erscheint auch bei Moritz die Theologie nicht als einfacher Widerpart der ästhetischen Autonomie – der Autonomie des Sehens und der schönen Empirie wie bei Hogarth, oder der Autonomie als Freiheit der künstlerischen Praxis wie bei Lessing. Sondern Moritz bedient sich theologischer Vorstellungen als einer Denkfigur, um seine Idee einer vollendeten ästhetischen Autonomie theoretisch anschaulich zu machen.63 Es geht also nicht darum, alte theologische Ansprüche auf das Schöne zu restituieren, und Moritz' die Theologie gleichsam instrumentalisierende Schönheitsmetaphysik geht auch über die aufgeklärt-rationalisti59
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Eine solche hatte schon Lessing, allerdings in ganz anderem Sinne, als Moritz sie erfüllen wird, in seinem Vorbericht zur Hogarth-Übersetzung angemahnt und einem ‚philosophischen Meßkünstler‘ vorbehalten: „Er [Hogarth; J.J.] ließ also seinen Faden, als ein Künstler, da fahren, wo ich wollte, daß ihn ein philosophischer Meßkünstler ergreifen und weiter führen möchte. / Die ganze Sache würde, ohne Zweifel, auf die Berechnung der punctorum flexus contrarii ankommen, doch so, daß man die metaphysischen Gründe der Schönheit niemals dabei aus den Augen lassen müßte.“ (Lessing, Vorbericht, [wie Anm. 46], S. 353) Siehe dazu Oesterle, Günter, Die folgenreiche und strittige Konjunktur des Umrisses in Klassizismus und Romantik, in: Oesterle, Günter, Neumann, Gerhard (Hg.), Bild und Schrift in der Romantik. Würzburg 1998, S. 27–58. Schrimpf, Hans Joachim, Karl Philipp Moritz. Stuttgart 1980, S. 95. Moritz, Karl Philipp, Die metaphysische Schönheitslinie, in: Ders., Schriften zur Ästhetik und Poetik, hg. v. Hans Joachim Schrimpf. Tübingen 1962, S. 151–157, hier S. 154. Zitatnachweise im Folgenden mit Seitenangabe im Text. Man kann, aber man muss das nicht einen Fortschritt nennen – so Saine, Thomas P., Die ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts. München 1971, S. 139.
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sche Ineinssetzung von göttlicher Vollkommenheit und irdischer Schönheit hinaus, wie sie oben am Beispiel Gottscheds exemplifiziert wurde. Die ‚Umrissästhetik‘ vor Moritz hatte die geschwungene Linienform, die bei Hogarth in Gestalt der zweidimensionalen ‚Schönheits‘- und der im Raum gekrümmten ‚Schlangenlinie‘ ein allgemeines Kompositionsgesetz darstellte, um ein Maximum an bewegter Mannigfaltigkeit im Kunstwerk wirksam werden zu lassen, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Einheit des Kunstwerks adaptiert. In Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste ist die „Einheit der Linie“ die Voraussetzung für die Geschlossenheit der Form und aus der äußeren Begrenzung eines Werks resultiert die spezifische „Schönheit des Umrisses“, mit der die schöne Form für den Betrachter ihre einnehmende Gestalt gewinnt: Die Einheit der Linie des ganzen Umrisses scheinet die erste nothwendige Eigenschaft der Schönheit des Umrisses zu seyn. Eine einzige unabgebrochene Linie muß die ganze Figur umschließen. In dieser Linie muß nichts gerades seyn; alles muß sich Wellenförmig bald mehr, bald weniger runden; aber mit so sanften Abwechslungen, daß man vom ausgebogenen auf das eingebogene, von dem mehrgekrümten, auf das gerade laufende, durch unmerkliche Stufen kommt, so daß das Aug um den ganzen Umriß sanft fortglitschen könne.64
Durchaus noch im hogarthschen Geiste erklärt sich die Forderung, dass die Umrisslinie „alles […] Wellenförmig bald mehr, bald weniger runden“ solle, mit dem Ziel, „daß das Aug um den ganzen Umriß sanft fortglitschen könne“, und auf diese Weise eine lustvolle Überschaubarkeit der Darstellung, ohne verdeckte Abgründe!, gewährleistet ist. Im Besonderen aber ist es die Einheit des Werkes, die durch die „einzige unabgebrochene Linie“ hergestellt werden soll. Dieser Gesichtspunkt ist es, den der auch ansonsten gerne mit ‚Linien‘-Gleichnissen hantierende Moritz für seine „metaphysische“ Aufstockung der „Schönheitslinie“ wie der allgemeinen Kunsttheorie als Anknüpfungspunkt wählt. Die „einzige unabgebrochene Linie“, die, so Sulzer, „die ganze Figur umschließ[t]“, stellt die Einheit des Kunstwerks her, indem sie dieses mittels der Lineatur von seiner Umgebung abhebt – und damit die wahrnehmungsphysiologische Grundlage seiner Autonomie gibt. Ist diese Abgrenzung nach Sulzers Vorstellung ein in jeglicher Hinsicht auf ‚Sanftheit‘ ausgelegtes Geschehen, zeigt Moritz in für ihn charakteristischer Weise, dass es Gewalt ist, die dieser Isolation des Werks zugrunde liegt. Im Wesen der Kunst selbst liegt es, so Moritz in seiner Abhandlung über Die metaphysische Schönheitslinie, „mehr negativ, als positiv zu Werke [zu] gehen“ (157), d.h. vor allem durch das Fortlassen und Aussparen etwas zum Vorschein zu bringen. So liegt auch der Ursprung des Werks in einer Negation. Es muss aus der inneren Vorstellungswelt des Künstlers gleichsam herausgetrennt werden, mit dessen Ich es ursprünglich innig „verwebt“ ist (151); und als ein gestalthaft in sich abgeschlossenes Werk muss es zugleich dem alles umfassenden Gesamtzusammenhang der Natur abgewonnen werden, damit es als „das in sich selbst Vollende64
Sulzer, (wie Anm. 13), Artikel „Umriß“. Bd. II, S. 1200–1202, hier S. 1201.
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te“ erscheinen kann (153), dessen Elemente auf diese Weise „eine Neigung gegen sich selbst erhalten“ haben (152). Die „krumme Linie“ (155) ist in diesem Zusammenhang nun nicht mehr nur ein wirkungsvolles Instrument, einen angenehmen Reiz zu erzeugen, sondern die zentrale Metapher dafür, wie sich das vollendete Werk sowohl von seinem Urheber wie auch von den Naturzusammenhang, dem es abgewonnen ist, ab- und auf sich selbst zurückwendet. Diese Separation des Werks aus dem Naturzusammenhang markiert die ‚Schönheitslinie‘. Das Problem ist jedoch, so Moritz seinen Gedanken weitertreibend, dass es in der Natur in Wahrheit für einen irdischen Betrachter nichts ‚in sich selbst Vollendetes‘ gibt. Ein solches ist allein die Einheit des ganzen Naturzusammenhangs selbst, und dieser zeigt sich nur einem extramundanen Betrachter – Gott –, der allein die Welt als vollendete überschauen und als das „allerhöchste Schöne“ (154) wahrnehmen und genießen kann. Der Mensch ist statt dessen auf eine ‚verjüngte‘ Welt im Kleinen angewiesen (154f.), eben auf das künstlich aus dem Naturzusammenhang herausgeschnittene Werk: Das scheinbar in sich selbst vollendete Kunstwerk. Die Funktion des so eingeführten und den Scheincharakter des autonomen Werks enthüllenden „Auge Gottes“ (154) scheint demnach für Moritz zunächst die eines kritischen Regulativs zu sein, das Bekenntnis, dass das Schöne dem Menschen auf Erden in seiner höchsten Gestalt nicht zugänglich werden kann. Damit wäre gewissermaßen auch das alte Naturnachahmungs-Postulat der Aufklärungsästhetik in die Enge getrieben, insofern deren Bestimmung der Kunst als Nachahmung der schönen Natur vor diesem Hintergrund immer partikular bleiben muss und notwendig das ‚höchste Schöne‘ – die ganze Welt – verfehlt. In der Tat gibt es für eine solche theologisch begründete Demut bei der Einschätzung der menschlichen Möglichkeiten, Schönes in der Natur wahrzunehmen oder gar herzustellen, interessante zeitgenössische Belege.65 Moritz jedoch zieht den umgekehrten Schluss aus diesem in der Natur der Sache begründeten Erkenntnisvorbehalt. Bleibt das ‚höchste Schöne‘ dem Menschen notwendig verschlossen, muss man es suggerieren. Und eben dazu dient das autonome, nach dem Vorbild der Welt im Großen, in sich geschlossene Werk. Es kommt hervor durch die künstlich gekrümmte ‚Schönheitslinie‘, die nun potentiell jedem Betrachter den Standpunkt eines göttlichen Beobachters einräumt, „gleichsam als ob wir in dem großen unermeßlichen Zirkel einen 65
Vgl. z.B. folgende Bemerkung Charles Batteux’, dessen Les Beaux-Arts réduit à un même principe (11746) so etwas wie die Bibel der aufgeklärten Naturnachahmungslehre in Deutschland war: „Die Menschen, die nach ihrer Art, das Amt kleiner Schöpfer verrichten wolten, mußten zum Theil der Materie nachgeben, in der sie arbeiteten, weil sie solche nicht nach ihrem Willen umschaffen und ihren Absichten unterwürfig machen konten. Wann Gott würckt, ruft er die Materie selbst hervor; sie erscheint und ist seinem Plane gehorsam. Wann der Künstler arbeitet; ist die Materie von seinen Absichten und Ideen abhängig, und führt ihn mehr, als sie ihm folgt, oder folgt ihm nur ungern und folglich mit keiner guten Art.“ Oder kurz gefasst: „Ein Stral vom Lichte geht auf; der Künstler folgt ihm; einen Augenblick nachher fehlt ihm die Materie, er fällt ins Leere.“ (Batteux, Charles, Cours de belles lettres ou Principes de la littérature [2 Bde. Nouveaux Édition 1755, Vorrede zum zweiten Band]. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Einleitung in die schönen Wissenschaften, übers. und hg. v. Karl Wilhelm Ramler. 2 Bde. Leipzig 1756–1758, Bd. 2, S. 9f.)
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kleineren im verjüngten Maaßstabe nachbilden wollten“ (154f.). Am derart mittels künstlicher Isolation hergestellten Kunstwerk ist damit eine Vollendung zu sehen erlaubt, die die Differenz überspielt, die den Menschen von Gott trennt. Wird der Betrachter eines Kunstwerks demnach schon zum Gott, insofern er dessen Blickpunkt auf die Welt in ‚verjüngtem Maßstab‘ übernehmen kann, spielt die theologische Perspektive auch und mehr noch in Moritz’ Rekonstruktion der ästhetischen Kreativität hinein. Denn dass es überhaupt vollendete Kunst gibt, ist für Moritz zunächst so wenig selbstverständlich, wie für die Metaphysik die Existenz der Welt selbst. Der Grund für die Unwahrscheinlichkeit des Werks ist, dass seine Herstellung den Künstler schmerzt. Verdankt sich seine äußere Entstehung dem gewaltsamen Heraustrennen des Kunstobjekts aus dem Naturzusammenhang, wird in diesem Prozess, so der Erfahrungsseelenkundler Moritz, auch die ‚innere Natur‘ des Künstlers verletzt. So ist es zuerst auch gar nicht die äußere Natur, aus der das Werk entsteht, sondern die „großen und edlen Gedanken“ der inneren Vorstellungswelt des Künstlers geben seinem Werk die Substanz und müssen analog wie jene „aus dem Zusammenhange seiner Ichheit gleichsam gerissen werden“ (151f.). Dieser Vorgang ist nicht nur leidvoll, insofern die Vorstellungen ursprünglich „in sein Ich verwebt“ sind (151), sondern, wie Moritz das leidvolle Entäußern zuspitzt, eigentlich unnötig. Denn schon die einzelnen, nicht zum ‚in sich selbst vollendeten‘ Kunstwerk gerundeten ‚großen Gedanken‘ im Inneren des Künstlers können diesen vergnügt machen und zu seiner Vollkommenheit und damit „unmittelbar zu seiner Glückseligkeit“ beitragen (152) – genauso wie im Übrigen auch das nicht ‚in sich selbst vollendete‘ Kunstwerk Vergnügen bereiten kann, wenn es denn immerhin so schön ist, dass seine Wahrnehmung angenehm ist. Was also treibt den Künstler dazu, diese für einen eudämonistischen Aufklärer streng genommen unerträgliche Zumutung auf sich zu nehmen? Diese freiwillige Läsion – die zu erklären verlangt, warum ästhetische Autonomie es wert ist, mit dem Verlust von Eudämonie erkauft zu werden –, kann nur die Logik des Opfers plausibel machen.66 Der Künstler bringt gewissermaßen seinem Werke ein Opfer, indem er den großen und edeln Gedanken eine Neigung gegen einander giebt, wodurch sie während dieser Zeit nicht unmittelbar zu seiner Glückseligkeit abzwecken, indem sie aus dem Zusammenhange seiner Ichheit gleichsam gerissen werden. (152)
Das Motiv für dieses Opfer ist die Liebe, wie gleich der folgende Satz erläutert: In diesem Verstande kann man sagen, daß der Künstler sein Werk aus Liebe zu dem Werke verfertige, indem er sich gleichsam eine Zeitlang für sein Werk aufopfert, sich selbst über dem Werke vergißt (153),
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Die weitergehende Bedeutung des Opfer-Motivs bei Moritz verfolgt Preisendörfer, Bruno, Psychologische Ordnung – groteske Passion. Opfer und Selbstbehauptung in den Romanen von Karl Philipp Moritz. St. Ingbert 1987.
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und spätestens jetzt wird deutlich, dass Moritz in seiner ästhetischen Produktionslehre auf eine aufgeklärte Version der christlichen Schöpfungslehre zurückgreift. Mit ihrer Hilfe soll das mit den alten Mitteln einer Ausdrucksästhetik nicht mehr lösbare Rätsel veranschaulicht werden, wie radikale Autonomie entstehen kann. Denn wenn dort der Sinn des Kunstwerks darin bestand, Ausdruck künstlerischer Subjektivität zu sein und sich aus dem „Drang sich mitzutheilen, und seine innere Vollkommenheit gleichsam außer sich zu vervielfältigen“ (151) erklären ließ, den auch Moritz weiter als Motiv gelten lässt, so reicht dieses Motiv gleichwohl nicht mehr aus, wenn mit dem ‚in sich selbst vollendeten‘ und der eigenen Schönheitslinie folgenden Kunstwerk ein Zweck hervorgebracht werden soll, der reiner Selbstzweck ist. Diesen Sprung im Argument soll das Opfer aus Liebe schließen, und das Vorbild für einen solchen „Künstler […] aus Liebe“ ist Gott. Gottfried Wilhelm Leibniz hatte in seiner Theodicée die Vorstellung des liebenden Künstler-Gottes, an die Moritz hier anschließt, in der Tradition der alten Renaissance-Vorstellung vom Künstler als ‚alter deus‘ aktualisiert und noch einmal theologisch gewendet.67 Nach Leibniz konnte allein die „Güte“ Gott „zum Schaffen getrieben [haben; JJ], damit er sich mitteilen konnte“.68 Die Rückführung der göttlichen Allmacht auf die Liebe, die bekanntlich nicht nur für das Theodizeeproblem, sondern auch für die Aufklärungstheologie und die Aufklärungsepoche insgesamt von nicht zu überschätzender Bedeutung gewesen ist, steckt auch als leitende, nun in die ästhetische Immanenz überführte Idee in der moritzschen Autonomieästhetik. Die Liebe gibt die Antwort auf die alte Frage, was denn dazu bewegen kann, eine Welt und Schönes hervorzubringen und aus sich zu entlassen. Angesichts der Gewalt gegen sich selbst und gegen die Natur, die Moritz bei der Entstehung einer autonomen Welt „im verjüngten Maaßstabe“ so eindringlich herausstellt, versieht das Opfer aus Liebe – eine Figur, die allerdings Leibniz gänzlich fremd ist –69 die schöne Schöpfung wieder mit einem neuen Geheimnis.
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Siehe Leibniz, Gottfried Wilhelm, Essais de Theodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et l’Origine du Mal. Amsterdam 1710, § 147. Dt.: Die Theodizee, übers. v. Arthur Buchenau, hg. v. Moritz Stockhammer. Hamburg 21968, S. 209f. Ebd., § 228, S. 278. Auf die fundamentale Bedeutung der Autonomie dieser Schöpfung, d.h. der Freiheit, sich auch gegen seinen Urheber zu richten, weist schon die Reihung im Titel der Theodicée: „[…] sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme“, siehe dazu auch ebd. §§ 298ff., S. 325ff. Vgl. Leibniz, (wie Anm. 67), §164, und auch ebd., Anhang: Betrachtungen über das von Herrn Hobbes veröffentlichte englische Werk über Freiheit, Notwendigkeit und Zufall, S. 437.
RALPH HÄFNER (Tübingen)
Bukolik, Physikotheologie, Antimachiavellismus Barthold Heinrich Brockes’ Preislied auf den Tokayer Wein
Eine skurrile Poetik gibt im fünften vorchristlichen Jahrhundert der attische Komödiendichter Kratinos († 421 v.Chr.): Die von Wassertrinkern verfassten Dichtungen finden im Allgemeinen wenig Gefallen und überdauern die Zeit nicht. In seinem Brief an Maecenas preist Horaz umso bereitwilliger den „trunksüchtigen“ Dichter Homer (vinosus Homerus) als auch Ennius, den Vater der lateinischen Dichtkunst, der versichert hatte: „Marktplatz und Wechseltisch überlasse ich den nüchternen Geschäftsleuten, aber ich verbiete den Philistern das Dichten.“1 Das Problem, das Horaz aufwarf, war von sehr grundsätzlicher Art, und es findet in der Poetik-Diskussion bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – bis zu Herder und der Sturm-und-Drang-Poetik – mächtigen Widerhall. Ist der Rückzug des Dichters aus dem aktiven, ‚nüchternen‘ Leben Voraussetzung für eine gelungene Dichtung, oder waren nicht gerade umgekehrt der Staatsmann, Heerführer und Geschäftsmann in besonderer Weise zum Dichten begabt, weil nur sie auch wussten, wovon sie sprachen?2 Horaz war überzeugt, dass der Vorwurf einer gelungenen Dichtung nicht am eigenen Leibe erfahren werde musste. Nicht die Erfahrungen, die im Gedächtnis irgendeines Banausen ihre Spuren hinterlassen hatten, regten die Kraft der Rede an; der Dichter bedurfte vielmehr gewisser Reizmittel, um eine lange kultivierte Kenntnis der rhetorischen Möglichkeiten an den Gegenständen seiner Vorstellung zu üben. Ennius, so versichert Horaz, habe sich stets ordentlich betrunken, bevor er zu den Waffen schritt, wörtlich: bevor er dazu schritt, von den Waffen zu singen.3 Im Falle von Barthold Heinrich Brockes4 schlossen sich die Lebensformen der vita activa und der vita contemplativa nicht aus. Für das Hamburgische Gemein1 2 3 4
Vgl. Horaz, epist. 1, 19, 1–9. Platon hat sich in dem Dialog Ion bekanntlich grundsätzlich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Vgl. Horaz, epist. 1, 19, 7–8: „Ennius ipse pater numquam nisi potus ad arma / prosiluit dicenda.“ Vgl. zunächst: Ketelsen, Uwe-K., Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung. Poesie als Sprache der Versöhnung: alter Universalismus und neues Weltbild. Stuttgart 1974 (Germanistische Abhandlungen 45); ders., Barthold Heinrich Brockes als Gelegenheitsdichter, in: Loose, Hans-Dieter (Hg.), Barthold Heinrich Brockes (1680–1747). Dichter und Ratsherr in Hamburg. Neue Forschungen zu Persönlichkeit und Wirkung. Hamburg 1980 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 16), S. 163–189; Fry, Harold P., Physics, Classics, and the Bible. Elements of the Secular and the Sacred in Barthold Heinrich Brockes’ Irdisches Vergnügen in Gott, 1721. New York, Bern, Frankfurt a.M., Paris 1990 (The Enlightenment. German and Interdisciplinary Studies 2).
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wesen trat er als Ratsherr in Erscheinung, reiste in diplomatischem Auftrag an den Kaiserhof nach Wien und versah eine Zeitlang die Amtsgeschäfte in Ritzebüttel. Die zeitweilig bedrohliche Lage in der Hamburgischen Nordsee-Enklave, wo die politischen Spannungen den Einsatz militärischer Mittel notwendig machten,5 eine Unwetterkatastrophe, Missernten und der unzeitige Verlust der Gattin, die sich durch fortwährendes Beten entkräftet hatte, werfen einen fahlen Schein auf jenes „Landleben in Ritzebüttel“, in dem Brockes die Prüfungen Gottes durch das reiche Arsenal bukolischer Topoi zu beschwichtigen suchte. Auch außerhalb des genannten Zyklus hatte sich Brockes immer wieder mit der Form der Bukolik auseinandergesetzt. Am 20. März 1730, fern von Unglücksfällen der genannten Art, hatte ihn der sächsische Fürst Günther (I.) zu SchwarzburgSondershausen (1678–1740; Regierungszeit: 1720–1740) zum kaiserlichen Pfalzgrafen ernannt und zum poeta laureatus gekrönt.6 Als er ihm anlässlich der Feierlichkeiten ein Fass voll Tokayer Weines schenkt – jenes berühmten und noch heute geschätzten ungarischen Dessert- oder Aperitif-Weins –, lag dem Dichter nichts näher, als „Das herrliche Geschöpf des Tockayer-Weins, in einem Hirten-Gedichte“ zu preisen.7 Der Tokayer Wein wird aus edelfaulen Trauben vorwiegend der Sorte Furmint bereitet. Lange bevor entsprechende Verfahren im Rheingau und Sauternes überhaupt erst erprobt worden waren, hatte Fürst Rákóczi um 1700 eine erste Klassifizierung des Gewächses vorgenommen. Im frühen 18. Jahrhundert war der Wein aus Tokay in der Tat einzigartig und ist es in gewissem Sinne bis heute geblieben. Mit der Wahl des Gegenstandes – der edle Süßwein – stand auch die literarische Gattung, deren sich Brockes bedienen würde, fest. Vor dem Hintergrund der antiken Ekloge (Theokrit, Moschos und Bion, Vergil, Calpurnius und Nemesian), deren Motive sich in dem Gedicht in mannigfaltiger Weise spiegeln, gelingt Brockes jedoch die bemerkenswert sichere Präsentation eines Gehaltes, von dem die naturrechtliche Diskussion seiner Zeit bestimmt ist. Dieser Gehalt umgreift vor allem drei Themenkomplexe: (1) den malerischen Stil (ut pictura poesis), (2) den Zusammenhang von Moral und Natur (Physikotheologie) und (3) den Zusammenhang von Religion und Gesellschaft (Antimachiavellismus).
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Vgl. Hindrichson, Georg, Brockes als Amtmann in Ritzebüttel, in: Barthold Heinrich Brockes. Dichter und Amtmann in Ritzebüttel von 1735 bis 1741. Herausgegeben anläßlich der 200. Wiederkehr seines Amtsantritts. Cuxhaven 1935, S. 6–20; Brandl, Alois, Barthold Heinrich Brockes. Nebst darauf bezüglichen Briefen von J. A. König an J. J. Bodmer. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Innsbruck 1878, S. 86ff. Vgl. Brandl, Barthold Heinrich Brockes, (wie Anm. 5), S. 61, Anm. 2. Vgl. Brockes, Barthold Heinrich, Das herrliche Geschöpf des Tockayer-Weins, in einem Hirten=Gedichte auf gnädigstes Verlangen des durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Günthers, Fürsten zu Schwartzburg etc. etc. etc. [entst. 1732], in: Ders., Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Vierter Theil, 2. Auflage. Hamburg: König und Richter 1735, S. 338–350. – Ich zitiere die Seiten nach dieser Ausgabe im Folgenden jeweils unmittelbar nach dem Zitat.
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1. Der malerische Stil (ut pictura poesis) Wenn wir von dem malerischen Stil des Gedichts sprechen, so beziehen wir uns nicht nur auf die dem Auge zugänglichen Qualitäten der Erscheinungswelt. Das Auge ist vielmehr das Medium, durch welches die Qualitäten aller anderen Sinne vermittelt werden können. Wie in einem trompe l’œuil glauben wir die Dinge plastisch zu ertasten, indem wir sie sehen. Musikanten, die auf ihren Instrumenten spielen, und Vögel, die wir im Gezweig üppiger Bäume erblicken, erfüllen uns mit Klängen und Lauten, die wir mit den sonoren Inhalten unseres Gedächtnisses assoziieren. Ein Bukett von Blumen bringt uns den Duft mannigfaltiger Blüten in Erinnerung. Wir glauben zu schmecken, wenn wir das farbige Spiel des Weins in Krügen oder Gläsern blinken sehen. Wir ergänzen die lebhaft aufeinander bezogenen Gesten der Figuren und Figurengruppen zu Bewegungen, die dem Rhythmus und der Harmonie einer szenischen Choreographie zugrunde liegen. In der Kunst des Malers offenbart sich die artifizielle Struktur8 einer Wirklichkeit, deren Elemente wie das Räderwerk einer Uhr ineinandergreifen. Diese Elemente entstammen dem begrenzten Vorrat von loci communes, aber die Möglichkeiten ihrer Verknüpfung sind unendlich. Die Endlichkeit der topischen Mittel verbürgt uns die Gewißheit, zu verstehen, was wir erblicken, aber die unendlich vielen möglichen Verknüpfungen vergnügen uns unablässig mit den Reiz des Neuen. Gerade in jenem unergründlichen Rest – in jenem „je ne sais quoi“ der zeitgenössischen Poetik – erfahren wir das Leben am intensivsten. Diesem Gedanken entspricht, dass auch die Möglichkeiten unseres individuellen Genusses unendlich sind. Die Tradition der europäischen Stilleben-, Genre und Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts bis hin zu Watteaus bukolischen Choreographien gibt hiervon lebhaft Zeugnis.9 Die Figuren, die wie in einem Ballett vor unserem Auge vorüberziehen, sind zugleich Ausdruck einer komplexen sozialen Interaktion, die die künstliche Harmonie der Kreatur auf beziehungsreiche Weise abbildet und wiederholt. Die Technik des trompe l’œuil ist hierbei ebenso wie die choreographischen Figurenkonstellationen eines Reliefs oder Freskos Erbe der römischen Spätantike. Brockes’ Gedicht Das herrliche Geschöpf des TockayerWeins erscheint wie ein Musterfall aemulativer Bemühungen vor dem Hintergrund dieser Bildtradition. In einer Folge von lebenden Bildern verknüpft er detailreiches Stilleben, großzügige Landschaftsdarstellung und soziale Interaktion zu einem
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Zu Herkunft und Wirkung des natura-artifex-Modells vgl. Häfner, Ralph, „Ars apparet ubique miranda“. Friedrich Spees Güldenes Tugendbuch und der apologetische Hintergrund der jesuitischen theologia naturalis, in: Laufhütte, Hartmut, Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 35), S. 1033–1045. Vgl. Alpers, Svetlana, Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Köln 1985 (zuerst engl. Chicago 1983); Vidal, Mary, Watteau’s Painted Conversations. Art, Literature, and Talk in Seventeenth- and Eighteenth-Century France. New Haven, London 1992.
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harmonischen Ganzen. Sein Gedicht ist daher auch paradigmatisch für die im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts wirksamen Prinzipien bukolischer Dichtung.10 Die Protagonisten des Gedichts sind die beiden Hirten Beraldo und Durander. Auch mit der Form einer fortgesetzten Wechselrede, die mitunter agonistischen Charakter aufweist, nimmt Brockes ein wesentliches Strukturprinzip antiker und neuerer Bukolik auf. Es ist die gängige Form nicht nur bei Theokrit und Vergil, sondern auch bei Tasso, Ronsard, Guarini, Marino usw. Brockes ergänzt sie durch hymnische Einlagen, die den ruhigen Fluss der Achtheber11 unterbricht. Die Annäherung an die Kantatenform mit dem Wechsel von Rezitativ und Arie ist offensichtlich. Ein wichtiger Topos der Hirtendichtung ist der Müßiggang (otium) der Protagonisten. Die Helden der Bukolik haben im wörtlichsten Sinne nichts zu tun. Beraldo sucht den kühlenden Schatten auf, „Weil er fast den gantzen Morgen, der Geschöpfe Schmuck und Pracht, / Auf den Hügeln, in den Tälern, zu betrachten zugebracht“ (S. 338). Auch jene „sanfte Lust“ der Betrachtung indes, ermattet zuletzt, so daß er „mit beschwitzter Stirn“ ins „kühle Gras“ sich setzt. Da erblickt er Durander. Mit deutlichen Anspielungen an Vergil preist man das „Land- und SchäferLeben“ in seiner Autarkie gegenüber dem „Städtischen beschwerlichen Getümmel“, das die Selbständigkeit des Menschen durch „Zank, Verleumdungen“, „Neid und Streit“ vernichtet. Die „Ehr-Furcht gegen Gott“, die darin besteht, den „Geist, durch das Geschöpf ergetzt, / In Andacht- voller Lust, zum grossen Schöpfer“ (S. 340) zu lenken, erscheint als das ausschließliche Privileg des Landlebens. Die Stadt mit ihrer Geschäftigkeit bietet offenbar wenig Gelegenheit zu einem Aufschwung des Geistes zu Gott. Durander lädt Beraldo zum Mittagessen ein. Man bahnt sich „Bald durch Ziegen, Pferd’ und Schaafe, bald durch das gehörnte Vieh“ den Weg und erreicht „mit nicht gar geschwinden Schritten“ – ein weiteres Indiz ländlichen Müßiggangs – eine schattige „grüne Laube“. Mit diesem „künstlich dicht geflochtnen Blätter-Zelt“ entfaltet Brockes ein typisches Genrebild; in dessen Mitte wird ein Stillleben sichtbar, das vor allem unsere Aufmerksamkeit verdient: Eben ward der Tisch gedeckt, und es ward, ohn’ alle Pracht, / Sonder Procellain und Silber, doch sehr nett und rein zu Tische, / Abgekühlte fette Milch, eben selbst gefangne Fische, / Ein gebratnes junges Lämmchen, auch recht schönes Obst gebracht, / Ein beschäumter kühler Wein ward, nachdem das Glas geschencket, / So zum Durst, als zum Vergnügen, mehr als einmahl eingeschencket, / Mehr als einmahl ausgeleert. (S. 341)
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Zur Tradition vgl. Garber, Klaus, Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974; ders., Forschungen zur deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 3 (1971), S. 226–242; ders., Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas, in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Stuttgart 1983, hier: Bd. 2, S. 37–81; ders. (Hg.), Europäische Bukolik und Georgik. Darmstadt 1977 (Wege der Forschung 355); zum frühen 18. Jahrhundert: Ehrard, Jean, L’idée de nature en France dans la première moitié du XVIIIe siècle [1963]. Paris 1994. Es handelt sich um zweischenklige Achtheber, die jeweils mit weiblichen und männlichen Reimpaaren schließen.
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Dieses Stilleben gibt Anlass zu mehreren Beobachtungen. (1) Die Schlichtheit des ländlichen Dekors („ohn’ alle Pracht“) ruft noch einmal die Entfernung zum städtischen (und höfischen) Leben in Erinnerung. (2) Die passive Satzkonstruktion („Eben ward der Tisch gedeckt“) blendet alle Mühe und Arbeit, mit der eine nicht in Erscheinung tretende Dienerschaft offenbar betraut ist, zugunsten der lustvollen Betrachtung eines mittäglichen Arrangements aus. (3) Der Dichter würdigt die Geschöpfe nicht an ihnen selbst, er betrachtet sie vielmehr nur, insofern sie uns Anlass zum Vergnügen geben. Wir ziehen „Abgekühlte fette Milch“ der frisch gemolkenen vor; frisch zubereitete Fische bieten mehr Genuss als ihr Anblick und Geruch auf einem belebten Fischmarkt; ein „gebratnes junges Lämmchen“ erregt unser Interesse vor allem dann, wenn wir hungrig sind, während wir eine Heerde von Lämmern gleichgültig an uns vorüber ziehen lassen würden. Wie kam Brockes zu diesem Arrangement? Unter den neueren Theorien bukolischer Dichtung war Bernard de Fontenelles Discours sur la nature de l’églogue (1688) besonders einflussreich. Fontenelle hatte die Abhandlung nach eigenem Bekunden erst abgefasst, nachdem er sich in einer Reihe von bukolischen Gedichten versucht hatte. Er verfolgte daher weniger die Absicht, Regeln vorzuschreiben, als vielmehr, den Charakter derartiger Dichtungen zu beschreiben. Seine kritischen Bemerkungen enthalten zugleich markante Reflexe der Querelle des anciens et des modernes. Fontenelle ist überzeugt, dass die bukolischen Gedichte notwendig ein kultiviertes Subjekt voraussetzen. Die Hirten am Beginn der Kulturentwicklung mochten zwar „ein gewisses Vergnügen“ empfunden haben, das auf den materiellen „Überfluss“ und die soziale „Freiheit“ folgt, aber ihnen fehlte die Muße, feine Umgangsformen auszubilden („le loisir de se polir“). Später, mit der Entwicklung des städtischen Lebens, wurden die Landleute zu „Sklaven“ der Stadtbevölkerung, und während sich unter dieser eine gewisse Korruption der Sitten bemerkbar machen mochte, so hatte das Leben der Bauern, dieser „unglücklichsten unter den Menschen“, doch keine Annehmlichkeiten mehr, weil sie Überfluss und Freiheit an die Stadtbevölkerung abgetreten hatten. Das Ziel der bukolischen Dichtung ist jedoch das „agréable“: Sie soll angenehme Zerstreuung bieten, Liebreiz entfalten und Vergnügen bereiten: „Anmutiges Vergnügen“, so Fontenelle, „erfordert Geister, die in der Lage sind, sich über die drückenden Bedürfnisse des Lebens zu erheben, und die ihre feinen Umgangsformen durch einen langen Verkehr in Gesellschaft ausgebildet haben.“12 Die Bukolik ist daher 12
Fontenelle, Bernard de, Discours sur la nature de l’églogue, in: Ders., Œuvres complètes, hg. v. G[eorges] B[ernard] Depping. Bd. 3. Genf 1968 [Neudruck der Ausgabe in drei Bänden, Paris 1818], S. 51–69, hier: S. 52: „Les agrémens demandent des esprits qui soient en état de s’élever au-dessus des besoins pressans de la vie, et qui se soient polis par un long usage de la société; il a toujours manqué aux bergers l’une ou l’autre de ces deux conditions.“ – Die Abhandlung erschien zuerst in Fontenelles Poésies pastorales (Paris 1688) und wurde gefolgt von der Digression sur les anciens et les modernes. Zum Kontext vgl. Ehrard, Jean, L’idée de nature, (wie Anm. 10), S. 255–275; Schneider, Helmut J., Einleitung, in: Ders. (Hg.), Deutsche Idyllendichtung im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, bes. S. 26–33.
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weder Dichtung von Bauern noch eine solche für Bauern, und Theokrit scheitere gerade daran, dass er wirkliche Bauern schildere, nämlich Schäfer mit ihrem taktlosen Gebaren und ihren bäuerischen Verrichtungen. Die Idee der bukolischen Dichtung liegt für Fontenelle vielmehr jenseits der bäuerlichen und ländlichen Wirklichkeit: „Von Schafen und Ziegen sprechen zu hören, von den Mühen, die man mit diesen Tieren hat, derartiges besitzt nichts Gefälliges an ihm selbst: das, was gefällt, ist vielmehr die Idee der Ruhe, die mit dem Leben derer verknüpft ist, die sich mit Schafen und Ziegen abmühen.“13 Das bukolische Gedicht schildert folglich keinen realen Lebenszusammenhang, die Objekte des Landlebens stehen nicht für sich selbst, sie sind vielmehr nur Auslöser eines „ruhigen Vergnügens“ (plaisir tranquille) im gebildeten Betrachter oder Leser. 14 Indem Brockes den Wein in den Mittelpunkt seines Hirtengedichts stellt, bedient er sich eines äußerst glücklichen Kunstgriffs. Anders als Ziegen oder Lämmer, Fisch oder Milch besitzt der Wein überhaupt keine Bedeutung an ihm selbst, er ist vielmehr immer schon Ausweis eines geselligen und in diesem Sinne kultivierten Umgangs von Subjekten, die die Idee des „ruhigen Vergnügens“ in ihrem Müßiggang verwirklichen. Nicht der Wein, sondern der Genuss des Weines rückt daher genauer noch ins Zentrum von Brockes’ Gedicht. Als Beraldo ein „TafelLiedchen“ zur „hellen Feld-Schallmey“ anstimmt, ist Durander „recht vergnügt“ und „innig so gerühret“, dass er bisweilen in den Gesang mit einstimmt und „Ubrigens mit Haupt und Fuß ämsiglich den Takt“ bemerkt: „Wunder-voller Safft der Reben, / Süsser Unmuths-Gegen-Gifft! / Unsers Lebens halbes Leben etc.“ (S. 341). Das Liedchen könnte gut einer weltlichen Kantate des Hamburger Komponisten und Brockes-Freundes Georg Friedrich Telemanns entnommen sein, der die bukolischen Instrumente der Blockflöte und des Chalumeau auch in seinen Konzerten oft einzusetzen liebte.15 Diesem Eindruck entspricht, dass Beraldos Lied offenbar weit über einen einfachen Bauerngesang hinausgeht. Seine Gesänge sind vielmehr so kunstvoll, dass, wie Durander nun offenbart, Fürst Günter dem Hirten den Auftrag gegeben hat,
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Ebd., S. 56: „Entendre parler de brébis et de chèvres, des soins qu’il faut prendre de ces animaux, cela n’a rien par soi-même qui puisse plaire: ce qui plaît, c’est l’idée de tranquillité attachée à la vie de ceux qui prennent soin des brébis et des chèvres.“ Ebd. Zu Telemann im Verhältnis zu Brockes und zum Hamburger Umfeld vgl. Fry, Harold P., Barthold Heinrich Brockes und die Musik, in: Barthold Heinrich Brockes (1680–1747). Dichter und Ratsherr in Hamburg, (wie Anm. 4), S. 71–104; Höft, Thomas, „Meine Seele hört im Sehen“. Libretti von Barthold Heinrich Brockes im „Irdischen Vergnügen in Gott“, in: Concerto, Jg. 7, Nr. 50, Februar 1990, S. 15–21; Häfner, Ralph, Philologische Festkultur in Hamburg im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts: Fabricius, Brockes, Telemann, in: Ders. (Hg.), Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ‚Philologie‘. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 61), S. 349–380.
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Daß du, so wie andre Dinge, der Tockayer Reben-Safft, / Dem zum Ruhm, Der dieses Wunder schafft, so wie er alles schafft, / Nach Vermögen möchtst besingen. Und, daß es gelingen möchte, / Wann dein reger Geist vielleicht selbst gerührt, noch besser dächte; / Hat er mir, da dieser Most sonst die Schäfer selten träncket, / Voll von diesem süssen Tranck ein sehr schönes Faß geschencket. (S. 342)
Auf dem Weg zu der kühlen Felsenhöhle, in der Durander das Tokayer Fässchen gelagert hat, begegnen die beiden Freunde einer Reihe weiterer Hirten. Brockes setzt ihre Tätigkeiten, die nur zum geringsten Teil bäuerliche Mühsal widerspiegeln („melcken“, „scheren“), zum überwiegenden Teil jedoch einem schicklichen Zeitvertreib dienen (Kränze winden, tanzen, flöten, geigen), in eine Choreographie, die der kunstvollen Zusammenordnung eines Balletts gleicht und die sich in „verschiednen Wechsel-Chören“ endigt (S. 344). An das Bild geselliger Heiterkeit reiht sich die Beschreibung der Höhle. Sie ist von Pflanzen überwachsen, die seit langem zum topischen Bildervorrat der bukolischen Dichtung gehören und die zusammen mit ihren Epitheta ornantia vor allem haptische Qualitäten zur Anschauung bringen: „Viele Sträucher, wilder Flieder, zähes Epheu, weiches Mooß“. Subjektzentrierung auch bei der Beschreibung des Weinfässchens: Die Reifen, aus denen es besteht, verbergen geradezu ihren handwerklichen Zweck, zu dem sie verfertigt worden sind, sie scheinen vielmehr dem Fass zur Zierde aufgelegt, eine Zier, die durch „Etwas Schnitz-Werck“ noch gesteigert wird. Ab hier nimmt der bisher eher zurückhaltend gebrauchte „style fleuri“, den Fontenelle für bukolische Dichtungen durchaus empfohlen hatte, an Intensität zu. Durander lässt den Wein, dessen Farbe „geschmoltzenem Topase“ gleicht, in ein „Crystallen-Glas“ rinnen: Gewiß, man nimmt diesmal kein gewöhnliches Glas, denn Inhalt und Form sollen in einem schicklichen Verhältnis zueinander stehen. Darin zeigt sich die Form einer Sozialisation, wie sie für die ganze frühe Neuzeit bis in die Zeit des Klassizismus um 1800 hinein Gültigkeit behält. Die Ordnung des Lebens ist Abbild einer – rhetorisch gesprochen – sozialen Angemessenheit (bienséance). Hatte der zum Mittagessen genossene Wein die Funktion, den Durst zu stillen und sinnliches Vergnügen zu bereiten, so dient der sinnliche Genuss des Tokayer Süßweins jetzt einer Erfrischung des Geistes, und es gleicht einem Wunder, dass die Stimulierung des Körpers und die Anregung des Geistes eine prästabilierte Harmonie zum Ausdruck bringen. Brockes hat diesen Umschlag, der den Zusammenhang der physikalischen und der moralischen Welt in intensivster Weise erfahrbar werden lässt, mit besonderer Sorgfalt beschrieben. Durander reicht seinem Freunde das Glas: Kaum hatt’ er es angenommen, als er das beschäumte Glas / Vor die Nase schwebend hielte, da denn gleich dieß süsse Naß, / Wie ein Balsam, sein Gehirn gantz erfüllt’ und so ergetzte, / Daß an die gespitzten Lippen er es, ohne zögern, setzte, / Sanfte schlurft’, und an dem Gaum mit der Zungen Spitz’ es drückte, / Schmatzend abzog; wodurch sich eine Lust auf ihn ergoß, / Die in einem Augenblick durch sein gantzes Wesen floß, / Ihn vergnügte, rührt’, ergetzt’, ihn erfreut’, erfrischt’, erquickte; / So daß er, halb ausser sich, zu des grossen Schöpfers Ehren, / Dieses sein Geschöpf besang. (S. 346)
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2. Moral und Natur (Physikotheologie) Fontenelle ist auch der Autor der Histoire des oracles (1686), bei der es sich um eine Adaption der De oraculis ethnicorum dissertationes duae (1683, 21700) des Haarlemer Arztes und Gelehrten Antonius van Dale handelt. Van Dale16 hatte zeigen wollen, dass die so genannten Weissagungen der heidnischen Orakelstätten regelmäßig auf einem Priesterbetrug beruhten und dass der Inhalt dieser Weissagungen einer historisch-kritischen Analyse der Überlieferungsverhältnisse nicht standhalte. Mit van Dales Darlegungen wurden jedoch implizit auch die Weissagungen im jüdisch-christlichen Bereich, die der Propheten, Christi und der frühchristlichen Wundertäter, desavouiert. Etwa zur selben Zeit machte Pierre Petit in seinem in Leipzig gedruckten Traktat De Sibylla libri tres (1686) deutlich, dass Weissagungen sich von Erinnerungen nicht grundsätzlich unterscheiden; Weissagungen und Erinnerungen gingen, wie er vor dem Hintergrund der aristotelischen Temperamentenlehre ausführte, aus demselben psychophysischen Habitus hervor. Melancholie und Einsamkeit waren die stets wiederkehrenden Merkmale, durch die sich die Wahrsager seit Moses und der Sibylle zu erkennen geben.17 Im Hamburg der drei Jahrzehnte nach 1700, zumal im Umkreis von Johann Albert Fabricius, war man sich der unlösbaren Aporien, die die antike Temperamentenlehre mit sich brachte, durchaus bewusst. Zugleich konnte von einer göttlichen Eingebung des Dichters im Sinne des Renaissance-Platonismus keine Rede mehr sein.18 Während man sich auf der einen Seite einer skrupulösen Textkritik unterzog, um die überlieferten Berichte von Weissagungen, Prognostiken und Sterndeutungen auf ihre Echtheit zu überprüfen, ohne doch von deren Sachgehalt allzu beeindruckt zu sein, traten die neuesten naturwissenschaftlichen Ergebnisse an die Stelle der mit Skepsis betrachteten und verworfenen supranaturalen (‚metaphysischen‘) Begründung physiologischer Vorgänge. Es kennzeichnet diesen kognitiven Wandel sehr gut, wenn Fabricius die mit Eklat aufgenommene Physikotheologie von Bentley, Derham, Ray, Boyle, Samuel Parker und anderer in den Horizont der Skepsis Montaignes und der ‚natürlichen Theologie‘ des Raymond Sebond stellt.19 An die Stelle willkürlicher Weissagungen trat die Untersuchung 16
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Vgl. hierzu ausführlich Häfner, Ralph, Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736). Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 80), bes. S. 389–392 und passim (s. Register); Pott, Martin, Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur 119), S. 207–213. Vgl. Häfner, Götter im Exil, (wie Anm. 16), S. 288–291. Zu dem poeta-vates-Modell vgl. Tigerstedt, Eugène Napoléon, The Poet as Creator: Origins of a Metaphor, in: Comparative Literature Studies 5 (1968), S. 455–488; ders., The Decline and Fall of the Neoplatonic Interpretation of Plato. Helsinki, Helsingfors 1974 (Commentationes Humanarum Litterarum 52). Zu Fabricius vgl. Häfner, Ralph, Das Erkenntnisproblem in der Philologie um 1700. Zum Verhältnis von Polymathie und Aporetik bei Jacob Friedrich Reimmann, Christian Thomasius und Johann Albert Fabricius, in: Ders. (Hg.), Philologie und Erkenntnis (wie Anm. 15), S. 95–
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eines Wunders von ungleich umfassenderem Ausmaß: Wie war es möglich, dass sich die sinnlich erfahrbare Schöpfung in Geist verwandelte, der uns die Strukturgesetze und damit die Güte Gottes in seinem unermesslichen Werk offenbarte? Eine so formulierte Fragestellung hatte den Vorteil, dass sie einem genuinen Verständnis der ‚natürlichen Theologie‘ des Paulus (Rom. 1,19) nicht zuwiderlief. Eben deshalb war der Zusammenhang mit Montaigne und Raymond Sebond so entscheidend. Gottes unsichtbares Wesen manifestiert sich in der sichtbaren Schöpfung, hieß: Die moralische Welt offenbart sich in der natürlichen, zwischen beiden besteht – in leibnizscher Terminologie – eine prästabilierte Harmonie. Wenn Fürst Günter – in Brockes’ Hirten-Gedicht – dem Schäfer Beraldo ein Fässchen Tokayer Weines schenkt, so tut er es mit der wohltätigen Absicht, damit der Hirt „noch besser dächte“. Brockes’ Beobachtung, dass der Weingenuss „unser zirkelndes Geblüte“ ergetzt und damit unser Wohlbefinden steigert, zeigt sehr schön, dass es sich für ihn um derartige Offenbarungen wie den von William Harvey erst kürzlich entdeckten Blutkreislauf handelt, die unseren von „Schwermut“ und „Zweifeln“ geplagten Geist aufzurichten in der Lage sind. In dieser Überlegung spiegelt sich ein geradezu literales Verständnis des PaulusWortes; im Glas, im „edlen Naß“, wird Gottes unsichtbares Wesen – im Gleichnis zwar – sichtbar: „Ich fühl’, ich seh’ in dir ein sonst nicht sichtbar Licht, / Das durch des Schwermuths Dufft und Unmuths-Nebel bricht.“ (S. 347) Wie ein Prophet des alten Bundes ist Beraldo „halb ausser sich“, als er das Lied der Schöpfung zum Lob des Schöpfers singt. Man mag darin eine Moses-Stilisierung erblicken, aber das Wunder der poetischen Eingebung ist insofern erklärbar, als sie eine nachvollziehbare Folge der Stimulierung des Körpers ist. Diesem Erklärungsmodell war auch van Dale im Blick auf die heidnischen Weissagungen gefolgt. Was indessen nicht erklärbar und dennoch „gewiss“ ist – und Brockes insistiert auf dieser Einsicht –, ist die „Harmonie“ (vgl. z.B. S. 348) der natürlichen und der moralischen Welt, das „Woher“, aus dem die durch die Geschöpfe erzeugte „Lust“ entspringt: „Wie können Reben / Mir Tugenden, die ich nicht hatte, geben?“ (S. 348) Die Frage bleibt unbeantwortet. Gewiss, Gott offenbart sich in seiner Schöpfung, aber er bleibt uns in seinem An-Sich verborgen. Newton berechnet die Bewegungen der Gestirne durch die Gravitationskraft, aber er erklärt sich außer Stande, zu definieren, was diese Kraft sei. Für mythologische Anspielungen, wie sie die Thematik des Gedichts in ungewöhnlich reicher Fülle an die Hand gegeben hätte, blieb unter diesen Prämissen kein Raum mehr. Der marginale Hinweis auf Ceres und Bacchus bleibt merkwürdig blass und steht zudem in der Perspektive einer Abwehr heidnischer Fabeln
128, hier bes. S. 116 und 127; zu Brockes’ Verhältnis zur Physikotheologie vgl. Zelle, Carsten, Das Erhabene in der deutschen Frühaufklärung. Zum Einfluß der englischen Physikotheologie auf Barthold Heinrich Brockes’ Irdisches Vergnügen in Gott, in: Arcadia 25 (1990), S. 225– 240.
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durch christliche Apologetik.20 Montesquieu hatte in der Fiktion seines bukolischen Prosagedichts Le Temple de Gnide (1725) die heidnischen Geschichten von Bacchus und Silen zu üppigen ‚Bildern‘ im Stile des Rubens und van Dyck ausgemalt.21 Brockes’ Bilder überschreiten demgegenüber niemals den Bereich des Watteauschen Genres oder die Tradition des Stilllebens. Aber auch biblische Gleichnisse fehlen ganz: Brockes spielt weder auf die Trunkenheit Noahs an – sie hätte sich gut an seine Warnung vor einem übermäßigen Weingenuß angeschlossen –, noch geht er auf die vielfältigen Bedeutungen ein, die der Wein innerhalb der Christologie besitzt. Immerhin hatte es seit dem frühen Christentum Ansätze und Vorbilder für eine ‚sakrale Bukolik‘ etwa im Ausgang des Lukas-Evangeliums gegeben.22 Der Grund für Brockes’ Abstinenz ist einigermaßen nachvollziehbar: Sowohl in der heidnischen Mythologie als auch in der Christologie besitzt der Wein eine mystische oder symbolische Bedeutung, die je immer schon über seine natürliche Beschaffenheit und Wirkung hinausreicht. Ein Wunder wie zum Beispiel die Verwandlung von Wasser in Wein anlässlich der Hochzeit zu Kanaan war unter den Bedingungen der Physikotheologie nur noch textkritisch, nicht aber von der Sache her zu integrieren. Das Problem der Wunder bezieht sich daher nicht nur auf christliches Gedankengut. Fontenelle hatte in seiner Abhandlung über das Wesen der Ekloge Vergil dafür gerügt, dass er seine Hirtengedichte mit bisweilen völlig unwahrscheinlichen Geschichten auszuzieren für nötig hielt. Geradezu abgeschmackt erschien ihm in der vierten Ekloge23 die „pompeuse Beschreibung“ über die seiner „Phantasie entsprungene Erneuerung“ des Weltalls bei der Geburt des Sohnes des Pollio, „all diese unverständlichen Wunder, die er der Sibylle von Cumae beilegt, dieses neue Geschlecht von Menschen, das vom Himmel herabsteigen, die Trauben, die dem Brombeerstrauch entwachsen, und diese Lämmer, die feuer- oder scharlachfarben geboren werden werden, um den Menschen die Mühe zu ersparen, ihre Wolle zu färben. Man hätte“, so Fontenelle, „dem Pollio besser geschmeichelt durch Gegenstände, die ein bisschen mehr Wahrscheinlichkeit für sich gehabt hätten.“24 20
21 22 23 24
Brockes, Barthold Heinrich, Das herrliche Geschöpf des Tockayer-Weins, (wie Anm. 7), S. 347: „Ein Heyde würde dieß gewiß von dir erzehlen: / Jn dir scheint Ceres sich mit Bachus zu vermählen.“ Vgl. Montesquieu, Le Temple de Gnide, in: Ders., Œuvres complètes, hg. v. Roger Caillois, Bd. 1. Paris 1949 (Bibliothèque de la Pléïade), S. 387–413, hier S. 409. Vgl. RAC 2, 786–800. Zur Wirkungs- und Deutungsgeschichte vgl. Häfner, Götter im Exil, (wie Anm. 16), Zweiter Teil, Kapitel 1, bes. Abschnitt b. Fontenelle, Bernard de, Discours sur la nature de l’églogue, (wie Anm. 12), S. 60: „Si Virgile voulait faire une description pompeuse de ce renouvellement imaginaire que l’on allait voir dans l’univers à la naissance du fils de Pollion […] il eût fait une peinture agréable des biens que le retour de la paix allait produire à la campagne, et cela, ce me semble, eût valu toutes ces merveilles incompréhensibles qu’il emprunte de la sibylle de Cumes, cette nouvelle race d’hommes qui descendra du ciel, ces raisins qui viendront à des ronces, et ces agneaux qui naîtront de couleur de feu ou d’écarlate, pour épargner aux hommes la peine de teindre leur laine.
Bukolik, Physikotheologie, Antimachiavellismus
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Von einem Mangel an wahrscheinlichen Topoi konnte im Übrigen nicht die Rede sein, wie Fabricius mit dem reichen Material seiner Hydrotheologie belegt. Der dem Titel vorausgebundene Kupferstich zeigt einen Ausblick aufs offene Meer, in dem sich die eine Sonne vielfach abspiegelt; das Motto weist auf ein allgemein christlich-platonisches Verständnis der Schöpfung: „Omnis ab uno / Von einer Schönheit kömt / was Schönes sich hier spiegelt.“25 Fabricius hatte 1734, zwei Jahre vor seinem Tod, nur die ersten drei von neun geplanten ‚Büchern‘ der Hydrotheologie abschließen können, aber bereits der über vierhundert Seiten starke Band macht hinreichend deutlich, dass er – viel stärker als sein englisches Vorbild William Derham – Textwissenschaften und Realwissenschaften als untrennbare Einheit menschlichen Wissens auffasste. Schriftauslegungen im Lichte einer bestimmten Form von Physikotheologie bilden einen integralen und konstitutiven Teil des Werks.26 Vier Jahre zuvor, im Jahr 1730, veröffentlichte Fabricius einen Entwurf zur Hydrotheologie, der eine inhaltliche Gliederung des dann nur zum Teil ausgeführten Buches dem Leser vor Augen führte. Allein die Einträge zu künstlich bereiteten oder gewonnenen Getränken umfasst einen eindrucksvollen Kosmos des Wissens, in dessen topische Struktur auch Brockes’ Hirten-Gedicht implizit eingeschrieben ist. Im neunten und letzten Abschnitt der Hydrotheologie plante Fabricius unter anderem abzuhandeln: „Vom Weine, und andern durch die Natur in Macrocosmo und Microcosmo, wie auch Thieren und Gewächsen, oder auch durch Kunst gemachten destillirten Wassern und Säften.“ – „Ambrosia, Nectar, Nepenthes der Poeten, ob es Wein gewesen?“ – „Von gemischten, gemachten und gebrochenen Weine, Lemonade, Punch, Lora &c.“ – „Von Intritis, kalten Schalen, Suppen, glüendem Weine &c.“ – „Von Meet, hydromeli, und mit Honig gemachten Geträncken.“ – „Von Rosen=Wasser, Caneel=Wasser, und unzehlichen andern solchen abgezogenen Wassern.“ – „Von Brandewein, Aquaviten, Rore Solis, und andern dergleichen Liqueurs.“ – „Von Sicera aus Dattuln, von Cidre, und den vielerley Arten von Geträncken aus dem Saffte des Obsts.“ – „Von Thée, Caffée, Paragues, Palachine, und andern dergleichen infusis. Von Chocolata.“ Das Buch sollte dann mit einer „Anwendung zum Ehrerbietigen Danck und Lobe des grossen Schöpffers, nebst einer Notice von tausend Scriptis Hydrologicis“ enden.27
25
26 27
On aurait mieux flatté Pollion par des choses qui eussent un peu plus de vraisemblance“. – Vgl. Vergil, ecl. 4,4–10, 29 und 42–44. Vgl. Motto und Kupferstich vor: Fabricius, Johann Albert, Hydrotheologie oder Versuch, durch aufmerksame Betrachtung der Eigenschaften, reichen Austheilung und Bewegung der Wasser, die Menschen zur Liebe und Bewunderung ihres Gütigsten, Weisesten, Mächtigsten Schöpfers zu ermuntern. Hamburg: König und Richter 1734. Vgl. hierzu Häfner, Philologische Festkultur, (wie Anm. 15), passim. Vgl. Fabricius, Johann Albert, Hydrotheologie oder Versuch, durch aufmercksame Betrachtung der Wasser, die Menschen zur Liebe und Bewunderung ihres Gütigsten, Weisesten, Mächtigsten Schöpffers, zu ermuntern. Jndessen, daß des belobten Herrn Derhams Werk von dergleichen Jnhalt erwartet wird, entworffen von Jo. Alberto Fabricio. Hamburg: König und Richter 1730 (32 nicht paginierte Seiten).
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3. Religion und Gesellschaft (Antimachiavellismus) Was Brockes mit dem Lob des Tokayer Weins bot, war gewissermaßen jenes „Tröpfchen Kraft“, von dem er am Ende schrieb, dass es aus dem „seelgen Wollust-Meer“ des Schöpfers geflossen sei. Der Wert des Getränks besteht in seiner moralischen Kraft, in jenem „geistig Feuer“ (S. 350), das unsere Gedanken zu Gott erhebt. „Sursum corda“, jener mystische Aufruf der Messe, war durch die Vorgänge im Körper, die der moralischen Wirkung des ‚trinkbaren Goldes‘ (vgl. S. 346) von den Tokayer Weinbergen zugrunde lagen, physiologisch erklärbar. Diese Harmonie der natürlichen und der moralischen Welt findet beredten Ausdruck in den naturrechtlichen Debatten der Zeit.28 Die Aufwertung des Landlebens gegenüber dem Leben in der Stadt – sie macht bekanntlich das Wesen bukolischer Dichtung aus – spiegelt im Falle von Brockes’ Gedicht einen tiefsinnigen sozialen Aspekt wieder. Glas um Glas tritt es dem Schäfer Beraldo deutlicher vor Augen, dass die für das Zusammenleben wesentlichen Tugenden der Menschenliebe und Billigkeit in der nüchternen Gesellschaft der Stadt „durch Gewohnheit“ verdeckt worden sind. Diese nüchterne Gesellschaft wird durch „Argwohn“, „Furcht“, „Haß“ und „Sorgen“ bestimmt, und es ist leicht zu erkennen, dass Brockes damit das ‚hässliche‘ Bild des Machiavellismus zeichnet. Fürst Günter, dem das Gedicht gewidmet ist, übt seine Herrschaft demgegenüber in der Gestalt eines pater familias aus, dem die Schäfer und Schäferinnen durch Freudengesänge huldigen. Dieses bukolische Bild des guten Herrschers entspricht zudem der Anthropologie Alexander Popes; Brockes, der dessen Essay on Man 1740 in eigener Übersetzung zum Druck gegeben hat, war über die dort verhandelte Gesellschaftstheorie seit langem sehr gut unterrichtet. Über die unterschiedlichen Regierungsformen las man dort: „Die best geführte ist die beste.“29 In seiner Kritik am Machiavellismus hatte Fabricius auf der Auffassung beharrt, dass das Gemeinwesen nur durch Religion aufrechterhalten und befördert werden könne. Der Mensch ist durch sein Wesen als „animal sociale“ zur Religion und Gesetzlichkeit geschaffen.30 Die Naturrechtslehre, die Fabricius vor allem durch 28 29
30
Vgl. hierzu Kemper, Hans-Georg, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/II: Frühaufklärung, Tübingen 1991. Vgl. hierzu Vollhardt, Friedrich, Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001 (Communicatio 26), S. 269–275, hier S. 273. Vgl. Fabricius, Johann Albert, Delectus argumentorum et syllabus scriptorum qui veritatem religionis christianae adversus atheos, epicureos, deistas seu naturalistas, idololatras, judaeos et muhammedanos lucubrationibus suis asseruerunt. Hamburg: Theodor Christoph Felginer, 1725, S. 317–323 (= Caput IX), hier S. 317: „Magni ponderis argumentum adversus Atheos etiam est hoc, quod ab ipsa natura factum ad religionem et legem, socialeque animal est homo: vita hominis extra societatem misera & exposita innumeris malis ac miseriis: homo exlex quavis bellua immanior, societas sine lege tuto consistere nulla potest: legum, pactorum, jurisjurandi nulla est sine Religione firmitas vel auctoritas: unde felicibus esse homminibus hominumque societatibus ac Rebuspublicis consistere sine Religione non licet“ – Vgl. Jean Barbeyracs
Bukolik, Physikotheologie, Antimachiavellismus
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Samuel Pufendorf und seinen Kommentator Jean Barbeyrac rezipiert hat, tritt hier als gesellschaftliches Komplement zu dem moralischen Aspekt der Physikotheologie ein. Richtmaß für den naturrechtlichen Erweis der Religion ist ein doppeltes: Glückseligkeit des Individuums durch die und in der Gesellschaft sowie Schönheit des gesellschaftlichen Körpers durch die Harmonie seiner Glieder. Die Argumentation ist allgemein bekannt. Die Religion ist weder aus Furcht (gegen Epikureismus) noch aus Gewohnheit (gegen Stoa) entstanden; dem menschlichen Geist ist vielmehr ein „Vorbegriff“ (praenotio) von Gott eingepflanzt, der sich ihm durch Betrachtung der Geschöpfe bestätigt. Wiederum mit Beziehung auf Pufendorf legte Fabricius dar, dass das Wesen der Gesellschaft – noch vor der Gründung von Städten – durch die Gestalt des pater familias bestimmt worden sei. Dessen Frömmigkeit garantiert die Integrität des Gemeinwesens, denn sie geht „aus einem göttlichen Grund“ (ex diviniore fonte) hervor. Die bürgerliche Herrschaft (civile imperium) ist demgegenüber nur von akzidenteller Bedeutung. Sie dient vor allem zur Aufrechterhaltung der Sicherheit, die durch die Böswilligkeit der Atheisten bedroht wird.31 Mit der Religion hat die Gesellschaft also zugleich einen absoluten Grund ihrer Schönheit. Eine Gesellschaft, die sich ausschließlich auf die machiavellistischen Grundsätze bürgerlicher Herrschaft stützt, ist hässlich; eine Gesellschaft, die die Frömmigkeit des pater familias als Ausdruck der gemeinsamen Religion feiert, ist schön. In Hamburg und darüber hinaus waren diese Grundsätze von Fabricius lebhaft promulgiert worden. Darin reflektiert sich sicherlich auch die Erfahrung der einem Bürgerkrieg ähnlichen Konflikte, von denen das Hamburger Gemeinwesen durch die konfessionellen Auseinandersetzungen um 1700 durcheinander gebracht worden war. Die Auffassung der Frömmigkeit als des göttlichen Grundes weltlicher Herrschaft ist gewissermaßen der Angelpunkt des Antimachiavellismus, und er entfaltet um 1700 noch immer eine starke Wirkung, nun vor allem in der Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes, aber auch im Kontext des antiquarischen und historisch-kritischen Studiums der Bibel. Wie gering konfessionelle Grenzen im Kampf gegen den Machiavellismus waren, zeigt sich in Fabricius’ kritischer Sichtung der Literatur, die sowohl William Nichols’ Abhandlung The Religion of a Prince (London 1704) als auch Jacques Benigne Bossuets Politique tirée des propres paroles de l’Ecriture (Paris 1709) einschließt.32
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Ausgabe von: Pufendorf, Samuel, Le droit de la nature et des gens, ou systeme general des principes les plus importans de la morale, de la jurisprudence, et de la politique. Amsterdam 1706. Vgl. Fabricius, Delectus, (wie Anm. 30), S. 318f.: „His accedit, quod sacra & externa testantur monumenta cultum Numinis generi humano naturalem esse ac coaevum, & patres familias antequam civitates conderentur, pietatis laude celebres vixisse, quae ab diviniore fonte utique promanat, & validius hominum movet animos, quam citra illam civile imperium, quod securitatis causa institutum esse, & malignitati hominum parum religiosorum in externas injurias errumpenti veluti obicem ac seram oppositum constat.“ – Fabricius bezieht sich u.a. auf Pufendorf, Samuel, De habitu religionis ad vitam civilem. Bremen 1678. Vgl. ebd., S. 321.
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Der aus Lausanne stammende, später in Groningen lehrende Gelehrte Jean Pierre de Crousaz – Brockes hatte in seinem Lausanner Haus logiert – hatte in seinem einflussreichen Traité du beau (Amsterdam 1715, 21724) ausdrücklich von der Schönheit der christlichen Religion gehandelt und zu beweisen versucht, dass das menschliche Leben ohne Religion aller Schönheit entbehren müsse.33 Noch Chateaubriand übrigens wird die Erstausgabe seines Génie du christianisme (1802) mit dem Titel Beautés de la religion chrétienne überschreiben. Die Hirtenwelt, die Brockes vor dem inneren Auge des Lesers entfaltet, wird in ihrer Schönheit von diesem Gegenbild des Machiavellismus grundiert, den der Autor – skizzenhaft – mit dem städtischen Leben identifiziert. Die Liebe zu dem „herrlichen Geschöpf des Tockayer-Weins“, die der Liebe zu den Nächsten und zu Gott süße Nahrung gibt, stellt erst das wahre moralische Wesen des Menschen ins Licht: Es wird in meiner Seelen hell. / Vertraulichkeit, Muth, Großmuth, holde Triebe / Der fast erstorbnen Nächsten-Liebe / Verziehen mein Gemüth, beherrschen meinen Sinn. / Kaum bin ich mehr derselbe, der ich bin. (S. 348)
Montesquieu ging in Le Temple de Gnide so weit, zu behaupten, der Himmel sei mit dem Ruhm der Liebe befaßt, aber nur auf der Erde, in den Gegenden ländlicher Intimität, verstehe man auch wirklich zu lieben. Dieser Sensualismus hatte sich von allen Bindungen an die Frömmigkeit einer Religion befreit, ohne doch darum hässlich zu sein.34 In der Schönheit irdischer Genüsse indes spürt Brockes der Glut eines himmlischen Lichtes nach, die die sittliche Güte der Menschen zur Erscheinung bringt.
33 34
Vgl. ebd., S. 321f., und Crousaz, Jean Pierre de, Traité du beau. Amsterdam 1715. Vgl. Montesquieu, Le Temple de Gnide, (wie Anm. 21), S. 410: „Tu seras ici mes éternelles amours. Dans le ciel, on n’est occupé que de sa gloire; ce n’est que sur la terre et dans les lieux champêtres, que l’on sait aimer.“
HANS-JOACHIM KERTSCHER (Halle)
Vor dem „Richterstul der Religion“ Sensus mysticus und religiöse Poetologie
Die im Frühchristentum häufig diskutierte Frage nach dem Sinn-Zusammenhang von Altem und Neuem Testament fand eine Antwort in der auf platonischem Fundament ruhenden Annahme eines mehrfachen Schriftsinns, in der die allegorische Interpretation eine wesentliche Rolle spielte. Dieses Prinzip wurde in der Spätantike auch hinsichtlich nichtsakraler poetischer Texte, denen man eine verborgene philosophische Wahrheit unterstellte, angewendet. Luther stellte dieser – vielfach variierten – hermeneutischen Methode die Forderung nach einer immanenten Schriftauslegung, dem sola-scriptura-Prinzip, entgegen – bei gleichzeitigem Wohlwollen gegenüber einer Differenzierung von sensus litteralis und sensus spiritus. Entscheidend sei jedoch die Erkenntnis des sensus litteralis, die von jedem Christen getätigt werden könne. Freilich war damit die Problematik dunkler Stellen in der Heiligen Schrift nicht vom Tisch. Der Straßburger Theologe und poeta laureatus Johann Conrad Dannhauer (1603–1666) verwies in seiner Hermeneutica sacra (Straßburg 1654) darauf, dass neben der Erfassung der buchstäblichen Bedeutung eines Textes auch die des inneren Sinns eine gewichtige Rolle spiele. Ein Vierteljahrhundert zuvor, das sei hier am Rande bemerkt, hatte bereits der belgische Jesuit Jaques Bonfrere (1573–1643) in seinem Pentateuchus Mosis (Antwerpen 1625) auf die Beachtung eines sensus mysticus bei der Schriftauslegung aufmerksam gemacht: Der mystische Sinn ist der Sinn, der nicht direkt durch Wörter, sondern vermittelt und indirekt, nämlich durch die Vermittlung der Dinge, die durch die Wörter in ihrem wörtlichen Sinne bedeutet werden, vom Heiligen Geist angezeigt wird. Ich sage auf vermittelte und indirekte Weise. Denn dadurch unterscheidet sich dieser Sinn vom wörtlichen, daß er nicht sofort über die Rede verstanden werden kann, sondern er unter Voraussetzung des wörtlichen Sinnes aus diesem und aus den durch ihn bezeichneten Dingen eruiert wird, so wie wenn er darin verborgen wäre; deswegen wird er auch mystisch genannt, das heißt verborgen und geistig.1
Dannhauers Schüler Philipp Jakob Spener (1635–1705) wandte sich schließlich dezidiert gegen eine kanonisierte Auslegung der biblischen Texte durch die Universitätstheologie. Martin Gierl hat fünf Forderungen Speners im Umgang mit biblischen Texten aufgezeigt, deren fünfte in der Gewissensfreiheit des Gläubigen 1
Zit. nach: Lombardi, Paolo, Die intentio auctoris und ein Streit über das Buch der Psalmen. Einige Themen der Aufklärungshermeneutik in Frankreich und Italien. In: Bühler, Axel (Hg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1994, S. 46.
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Hans-Joachim Kertscher
hinsichtlich der Deutung gipfelt,2 was einen „Verlust von Glaubenseindeutigkeit“3 zur Folge hatte. An Spener anknüpfend und unter gleichzeitiger Berufung auf die Affektenlehre, die bei der einseitigen Betonung des sensus litteralis vernachlässigt werde, insistierte der Hallesche Pietismus – und namentlich August Hermann Francke – wiederum auf einem mehrfachen Schriftsinn und hob in dem Zusammenhang den sensus mysticus hervor, der den Bibeltexten zusätzlich noch die Dimension einer unmittelbaren geistlichen Wirkung zubilligt. In seiner unpublizierten Predigt über Die Blindheit des Hertzens von 1699 kommt Francke auf die Notwendigkeit der Berufung auf einen sensus mysticus zu sprechen. In offenbarer Anlehnung an Salomo Glassius,4 der in seiner Philologia sacra von 1623 das Motiv des velamen Mosis ins Gespräch bringt, berichtet Francke hier über eine Tradition der Juden, beim Lesen von Mose eine Decke vor die Augen zu hängen, „damit andeütend, wie ihre Väter nicht haben die Klarheit im Angesichte Mosis erkennen können, sondern Moses habe eine Decke Vor sein Angesicht hängen müssen, so offt Er mit den Kindern Israel reden wolte“.5 Demzufolge, so Francke, sei es auch beÿ denen, die sich Christen nennen nöthig eine wahre und gründliche Hertzens bekehrung und Verenderung so anders die Decke Von ihren Augen und Hertzen soll weggethan werden daß sie das klare Licht des Evangelii erkennen. Auch Paulus bezeüget, in der 2 Corinth: am 4. daß sein Evangelium Verdeckt seÿ beÿ denen die Verlohren werden, er verkündigte es ja hell und klar, daß man hätte gedencken können es würden es ja nun wohl die menschen verstehen und erkennen, nach deme nun nicht mehr unter Bildern, nicht mehr unter Schatten die Wahrheit fürgetragen würde, wie von Mose geschehen, sondern nun mit Klaren und deütlichen Worten alles würde fürgebracht, nichts destoweniger zeiget er, daß sein Evangelium denen die Verlohren gehen, Verdecket seÿ, und so ist es den auch bis auff den heutigen Tag bedeckt beÿ denen menschen, die an die Bekehrung nicht wollen, wundern solte man sich ja, wenn Gottes Wort dergestalt hell, klar und deütlich Vor Augen geleget wird, daß die Menschen doch so wenig begriff, so wenig Verstand Von der göttlichen Warheit haben, daß man in allen ihren Worten, in ihren Wercken innen werden Kan, wie ferne sie Von dem Licht entfernet sind aber das ist die Ursach daß sie nicht an die Hertzens bekehrung wollen und daher alle Warheit die ihnen Vorgetragen wird, nur in einem äußerlichen Begriff ihrer Vernunfft wens weit komt und dieselbige nicht ihnen zu Hertzen dringen können. An solcher Blindheit des Hertzens haben noch eürer Viele biß auff den heütigen Tag gearbeitet, o daß sie daran arbeiteten, wie sie Von solcher Blindheit des Hertzens mögten befreÿet werden.6
Die Blindheit bestehe darin, dass der Mensch zwar einen begriff Von der Göttlichen warheit faßet in seinen natürlichen Verstand, weiß davon zureden, auch wohl das wort Gottes außzulegen, aber Er hat nicht den Sinn des Geistes,
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3 4
5 6
Gierl, Martin, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 129), S. 310. Ebd., S. 313. Vgl. Hübner, Hans, Die „orthodoxe“ hermeneutica sacra des Hermann Samuel Reimarus. In: Beetz, Manfred, Cacciatore, Guiseppe (Hg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Köln u.a. 2000 (Collegium Hermeneuticum 3), S. 101. Francke, August Hermann, Die Blindheit des Hertzens; Autograph, AFSt, L 10 a, Bl. 399. Ebd., Bl. 401f.
Vor dem „Richterstul der Religion“
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Er verstehet solches nicht Geistlich, sondern seinem Verstande und willen ist es zuwieder, dem Verstande eine thorheit und dem willen ein anstoß, daß Er nicht sich recht will darein geben.7
Und Francke fährt fort: [D]enn mit der erleuchtung des Menschlichen Hertzens gehet es zu alß mit den tage, es wird nicht auff einmahl der helle lichte tag, sondern es kömmt erst die Demmerung dergestalt, daß man kaum die Häuser und andere große Dinge unterscheiden kan, und nach und nach nimmet das licht zu und Vertreibet die fünsterniße, biß endlich die Helle Morgen Sonne herfürbricht, und der Helle Mittag kömmt, daß alles gantz klar erleuchtet wird, so ist es auch mit dem Menschlichen Hertzen, obgleich zu erst ein Kleines licht im Menschen endstehet, daß der Mensch mercke es stehe nicht recht mit ihm, Er seÿ nicht wie Er seÿn solle, so wird doch solches nicht auf einmahl Helle in seinen Hertzen, daß der gantze Mensch erleuchtet werde, sondern der Mensch, empfähet solches Göttliche licht nach und nach, und geht immer Heller auff in seinen Hertzen, endlich bricht an der Helle tag und die Morgenröthe gehet auff in seinen Hertzen.8
Francke hält fest: „Dieses mag uns nun darzu dienen, daß wir aufs allergewißeste erkennen, daß durch keine natürl: Wißenschafft, durch keine Gelahrsahmk: durch keinen Unterricht, wird jemahls die Blindheit von unsern Hertzen wegfallen“.9 Derlei Umgang mit biblischen Texten hatte fatale Folgen für die Theologie. Der Text, einschließlich dessen Deutung und Vermittlung, setzte einen Adressaten voraus, der bereits das Erlebnis einer Wiedergeburt durchlaufen hatte und in deren Folge erst das rechte geistliche Verständnis für den Text aufbringen konnte, „das Verstehen der objektiven Heilsordnung wird abhängig von einem subjektiven und unkontrollierbaren erbaulichen Erleben.“10 Philologische Arbeit war damit nicht mehr nötig. Gegen diese Text-Behandlung wurden in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts an der Halleschen Universität Einwände formuliert, die einen wissenschaftlichen Umgang mit Bibeltexten forderten. Interessant an dem Vorgang ist die Tatsache, dass dabei sowohl ein Philosoph (Christian Wolff) als auch ein Theologe (Siegmund Jacob Baumgarten) beteiligt waren.11 „Eigentlich hat es ein Ausleger mit dem buchstäblichen Wortverstande zu thun“, so Baumgarten in seiner Biblischen Hermenevtic. Und er fährt vermittelnd fort: „[D]er geheime Sachverstand aber gehöret theils zur fruchtbaren Anwendung des Wortverstandes, theils aber zur Erklärung der Sachen, die in einer Stelle oder einem ausgelegten Abschnitt angetroffen werden.“12 Und Baumgartens Schüler Johann Salomo Semler betonte die Historizität der Bibeltexte und unterschied zwischen einer, wie Gottfried Hornig 7 8 9 10 11 12
Ebd., Bl. 416. Ebd., Bl. 421. Ebd., Bl. 423. Gutzen, Dieter, Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert. Phil. Diss. [masch.]. Bonn 1972, S. 43. Vgl. dazu: Barth, Ulrich, Hallesche Hermeneutik im 18. Jahrhundert. Stationen des Übergangs zwischen Pietismus und Aufklärung. In: Beetz / Cacciatore, (wie Anm. 4), insb. S. 70–96. Baumgarten, Siegmund Jacob, Ausführlicher Vortrag der Biblischen Hermenevtic. Hg. v. M. Joachim Christoph Bertram. Halle 1769, S. 494.
Hans-Joachim Kertscher
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nachweist, „historischen Schriftauslegung und der erbaulichen Applikation“.13 In der Vorrede zu seiner Vorbereitung zur theologischen Hermenevtik polemisierte Semler gegen Vorstellungen, „man müsse die heilige Schrift aus der Erfarung und durch die Erleuchtung richtig verstehen lernen; man könne ohne Wiedergeburt ihren richtigen und wahren Inhalt nicht erkennen“,14 und meint, dass, im Gegensatz zum Alten Testament, in den Büchern des Neuen Testaments eine „Entdeckung eines wirklichen sensus mystici, den GOtt selbst im Gesicht gehabt habe“, schlechterdings unmöglich sei, da hierzu „der Grund“ für eine „unmittelbare götliche Anzeige“15 fehle. Im Ergebnis der Auseinandersetzungen etablierte sich eine Schriftauslegung, die die Wahrheit des biblischen Textes in dem Verhältnis von Autor, Text und Bedeutung zu fassen suchte. Damit war der pietistischen Hermeneutik ein Ende beschieden. Das bedeutete freilich auch einen Verzicht – nämlich den auf die Applikation. Hier nun eröffneten sich für die ,heilige Poesie‘ Wirkungsmöglichkeiten, so etwa in Gottfried Arnolds Adaption des Hohelieds, in der er Anknüpfungspunkte für Gedanken über diese Poesie entwickelt. Er geht von der Notwendigkeit der Erleuchtung des Poeten aus, wenn dieser sich heiliger Stoffe versichern will: Ein durch alle Göttliche Kräffte neu erschafenes gemüth / schauet in sich selbst den character des bildes von der Göttlichen gestalt / und erkennet die geheime und verständliche schönheit der gleichheit mit dem HErrn / erlanget auch die schätze des inwendigen gesetzes und der weißheit / die vor sich selbst gelehret wird und von ihr selbst lernet.16
Unterstützt werden diese Gedanken in Arnolds Kurtzem Bericht Von dem Hohenliede und dessen wahrem Verstand, in dem er über die verschiedenen Deutungen dieses Textes und über seine eigene Arbeit an demselben berichtet: er wolle „keine ordentliche oder neue auslegung“ bieten, sondern eher „zufällige und aus dem überfluß des hertzens ausgebrochene gedancken“17 vermitteln. Deutlich findet die Inspiriertheit des lyrischen Subjekts in Arnolds Lied Meine seele ist zerschmolzen ihren Ausdruck, wenn in dessen dritter Strophe folgendes zur Sprache kommt: Komm / o Herr / und sprich die worte Deines Geistes in mir aus / Oeffne mir die liebes-pforte / Schein ins dunckle seelen-hauß: Biß dein strahl mich ganz durchblitze / Und in voller brunst erhitze; 13 14 15 16 17
Hornig, Gottfried, Über Semlers theologische Hermeneutik. In: Bühler, (wie Anm. 1), S. 196. Semler, Johann Salomo, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, zu weiterer Beförderung des Fleisses angehender Gottesgelerten. Halle 1760, unpag., )()(. Ebd., )()(3. Das Geheimnisz Der Göttlichen SOPHIA oder Weiszheit / Beschrieben und Besungen von Gottfried Arnold. Leipzig 1700, S. 94. Arnold, Gottfried, Kurtzer Bericht Von dem Hohenliede und dessen wahrem Verstand. In: Ders., Poetische Lob- und Liebes-Sprüche / von der Ewigen Weiszheit / nach Anleitung Des Hohenlieds Salomonis: Nebenst dessen neuen Ubersetzung und Beystimmung der Alten. In: Geheimnisz, (wie Anm. 16), unpag., Nr. 28.
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Daß ich wie zerflossen steh / Und nach deinem wort außgeh.18
Und am Ende wird das Spielerische des Vorgangs betont: Selig / wer in sich so fühlt Wie in ihm die Gottheit spielt!19
In ähnlicher Weise bezieht Christian Friedrich Hunold (Menantes) den Spruch „Und man sah an ihnen die Zungen zertheilet / als wären sie feurig“ (Apg 2, 5.3) auf sich selbst: Ach mache mich mein Gott nicht vielen Priestern gleich / An Pfingstes-Zungen zwar / doch nicht an Hertzen reich. Entzünd erst meine Brust / wie der Apostel Kertzen / Da wieß der Zungen Gluth / welch Feuer in dem Hertzen.20
Interessant erscheint, dass sich in Johann Jacob Rambachs Poetologie solcherlei Applikationen nicht finden lassen, obwohl er, wie er in der Vorrede zur zweiten Abteilung seiner Gesammleten Geistlichen Gedichte dezidiert betont, „den gütigen Unterricht des berühmten Tit. Hrn. Menantes genossen“.21 Der Francke-Schüler und Nachfolger seines Lehrers auf dem theologischen Lehrstuhl, der mit seinen Institutiones Hermeneuticae Sacrae von 1723 noch deutlich pietistischen Vorstellungen verpflichtet war, verzichtet in seinen geistlichen Gesängen auf eine prononcierte Hervorhebung eines sensus mysticus. Zwar finden sich in Rambachs Adaption eines Gebets Johann Arndts folgende Eingangsverse in der fünften Strophe: Ach drücke mir dein Bild und deine Liebe Durch deinen Geist in meine Brust.
Dann jedoch fährt er gleichsam in Lutherischer Tradition fort: Hilf daß ich mich in deinen Wegen übe, Bis sie mir lauter Freud und Lust Komm, räume meines Hertzens Haus Von allen bösen Vorsatz aus. Ach daß doch meine Sünden-Bürden, Mir gäntzlich abgenommen würden!22
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Arnold, Gottfried, Meine seele ist zerschmoltzen / (oder da gieng meine seele heraus nach seinem wort.). In: Ebd., S. 65. Ebd., S. 67. Hunold, Christian Friedrich, Geistliche Sinn-Gedichte. In: Theatralische / Galante Und Geistliche Gedichte / Von Menantes. Hamburg 1706, S. 56. Rambach, Johann Jacob, Gesammlete Geistliche Gedichte, Mit einer Vorrede Von dem Mißbrauch und rechten Gebrauch der Poesie, Auf öfteres Verlangen zusammen dem Druck überlassen. Jena 1740, unpag. Vorrede zur 2. Abteilung, )()( 5 [5]. Rambach, Johann Jacob, Ubersetzung des Gebets So sich hinter dem 37. Cap. des 1. Buchs in Joh. Arnds wahren Christenthum befindet. In: Ebd., S. 255.
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Anklänge an die Poesie seines Lehrers Hunold finden sich, das hat Martin Zeim nachgewiesen,23 allenfalls in geistlichen Kontrafakturen von dessen galanter Dichtung. Ansonsten aber fordert er eine „gute Poesie“, so in § 11 seiner Vorrede Von dem Mißbrauch und rechtem Gebrauch der Poesie. Diese müsse „von dem Dienst der Eitelkeit […] befreyet, und in ihren rechten Gebrauch restituiret werden“. In diesem Zusammenhang verweist er auf drei Bereiche, die eine so reformierte Poesie zu behandeln habe. Der erste ist für unser Thema von besonderem Interesse. Es geht hier um die „Ehre Gottes“, die in ihren „unendlichen Vollkommenheiten“ besungen werden soll. Paradigmatisch dafür nennt Rambach Barthold Hinrich Brockes Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott. Und er fragt – in deutlicher Kritik an inspirierten Gedichten bzw. Liedern: Ists nicht einem Geist, der zur Ewigkeit erschaffen ist, anständiger, seinen Schöpfer zu verehren, als vor dem Geschöpf, oder gar von [!] den Chimaeren einer zerrütteten Imagination niederzufallen, und als ein entzückter und wahrer Phantast dieselben anzubeten?24
Doch zurück zu jenen lyrischen Produktionen, in denen der sensus mysticus eine diese konstituierende Rolle spielt. Neben einer ganzen Reihe von Modifikationen sind es im Wesentlichen zwei Bereiche, die hier betrachtet werden sollen. Einmal geht es um die Artikulation einer im Inneren des dichterischen Subjekts erfahrenen göttlichen Wahrheit, die im poetischen Verfahren Gestalt gewinnt. Zum anderen sollen Sätze, Geschehnisse und Charaktere biblischer Texte mit Hilfe von Gleichnissen, Allegorien, Exempeln etc. auf höchst individuelle und sinnliche, d.h inspirierte Weise näher bezeichnet und erklärt werden. Im Hinblick auf den zuerst genannten Bereich wären die Bemühungen von Immanuel Jacob Pyra und Samuel Gotthold Lange in Thirsis und Damons Freundschaftlichen Liedern zu nennen, die dem Geheimnis um das Numinose poetisch nachzugehen suchen. Lange beschreibt in der der zweiten Auflage der Lieder vorangestellten Ode An Herrn Georg Friedrich Meier die poetische Vorgehensweise so: Der Sterbliche, den du der Begeisterung würdigst, O himmlisches Kind, o Dichtkunst eilet erhaben Der Sternenbau [recte: n] zu, und lernt die Göttliche Tugend Und Weisheit verstehn. Sein horchendes Ohr schöpft die geheimesten Lehren Es fühlet sein Hertz die übermenschlichen Triebe. Mit englischer Kraft übt und empfindet er Freundschaft, Die niemand versteht.25
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Vgl. Zeim, Martin, Die pietistische Lyrik Johann Jacob Rambachs, in: Pietismus und Neuzeit. Bd. 18 (1992), S. 95–117. Rambach, Johann Jacob, Vorrede Von dem Mißbrauch und rechten Gebrauch der Poesie, in: Ders., Gedichte, (wie Anm. 21), § 11. Lange, Samuel Gotthold, An Herrn Georg Friedrich Meier, öffentlichen Lehrer der Weltweißheit zu Halle. In: Thirsis und Damons Freundschaftliche Lieder, hg. v. Samuel Gotthold Langen, […]. Zweyte vielvermehrte Auflage. Halle [1749], unpag.
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Und Pyra bemüht in seiner Ode Das Wort des Höchsten das Motiv des velamen Mosis: Nunmehr ziehst du mit fromm und weiser Hand Die Decke selbst dem Moses vom Gesichte. Du zeigst uns den, den schon sein Geist erkant Und vorgesagt, in göttlich klarem Lichte. Dein reiner Witz entdeckt der Bilder Sinn.26
Diesen Vorstellungen Pyras von einer ,heiligen Poesie‘ korrespondieren auch seine fragmentarisch gebliebenen Übersetzungsversuche von Pseudo-Longins Schrift Über das Erhabene. Diese beginnen mit dem Kernsatz: „Der Mensch ist zur Hoheit geboren.“27 Mittels der „hohen Rede oder Schreibart“ sei der Poet in der Lage, dem Menschen ein Bewusstsein von dieser „Hoheit“ zu vermitteln: Sie ist eine solche Ordnung solcher Worte welche einen hohen Gedancken mit allen seinen Begriffen dergestalt vorstellet, daß dadurch in dem Leser eben der vollständige Gedanke nebst denen daher fließenden Veränderungen der Seele entstehen.28
Dies geschehe mit der dem Poeten eigenen Kraft der Vorstellung und der Einbildung, der die des Gedächtnisses und der Vernunft an die Seite gestellt werden. Die VorstellungsKraft ist die Mutter der Vorstellungen und der davon abgesonderten Begriffe. Die EinbildungsKraft aber ist eine Zauberin und wecket die Todten Vorstellungen und Begriffe wieder auf. Das Gedächtnüß erkennet sie vor die rechten Kinder. Die Vernunft aber giebt alle diese […] zusammen, daher kommen dann […] die Gedanken.29
Am Ende stehen schließlich „Bewunderung Erstaunen Schrecken“.30 Auch in seiner Auseinandersetzung mit Gottsched kommt Pyra auf die Funktion der ,heiligen Poesie‘ hinsichtlich der Poetisierung biblischer Texte zu sprechen. Es sei „unvernünftig“, schreibt er da, „von einem Poeten zu verlangen, daß er, wie ein Ausleger, dergleichen Vorstellungen erklären soll“.31 Vielmehr müsse er, wie dies Milton in Lost Paradise demonstriert habe, „die grösten Religionswahrheiten durch sinnliche Vorstellungen in ein recht würdig hohes Licht setzen“.32 Und er betont, dass es „abgeschmackt“ sei, „eine dichtermäßige Vorstellung, wie einen theologischen oder philosophischen Aufsatz zu richten, da sie durch gantz ver-
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Pyra, Immanuel Jacob, Das Wort des Höchsten, eine Ode, in: Ebd., S. 173. Pyra, Immanuel Jacob, Über das Erhabene. Mit einer Einleitung und einem Anhang mit Briefen Bodmers, Langes und Pyras, hg. v. Carsten Zelle. Frankfurt a.M. u.a. 1991 (Trouvaillen 10), S. 51. Ebd., S. 67. Ebd., S. 65. Ebd., S. 67. Pyra, Immanuel Jacob, Erweis, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe. Ueber die Hällischen Bemühungen zur Aufnahme der Critik etc. Hamburg und Leipzig 1743, S. 29. Ebd., S. 30.
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schiedne Gemütskräfte, folglich nach gantz verschiednen Regeln gemacht sind“.33 „Poetische Vorstellungen heissen also sinnliche. Und entweder darf ein Dichter von allen diesen [biblischen] Wesen gar nicht schreiben, oder er muß sie sinnlich, das heißt mit Körpern versehen abbilden.“ In diesem Zusammenhang taucht auch der merkwürdige Gedanke „Besiege die Phantasie“ auf, den Pyra zum „Hauptlehrsatz der Dichtkunst“ erklärt – „Weil, so bald dieser Grund zernichtet wird, die ganze Poesie über einen Haufen fällt“.34 Pyra differenziert hier zwischen „Phantasie“ und „Einbildungskraft“. Nicht das Spielerische und letztlich Unverbindliche der Phantasie sei in solchen Texten am Platze, sondern vielmehr die Einbildungskraft, die zur Versinnlichung biblischer Vorgaben beizutragen habe. Was darüber hinausgeht, ist Lüge und deshalb in der ,heiligen Poesie‘ als verwerflich zu betrachten. „Die Einbildungskraft hat mit lauter klaren und sinnlichen Vorstellungen zu thun.“35 Die „Phantasie“ hingegen erzeugt „Lügen“, wie Pyra schon in seinem Wort des Höchsten betonte: Ein Dichter weiht der Lügen nie sein Rohr, Die Wahrheit stralt aus seiner Fabel vor.36
Wolfdietrich Rasch hat bereits darauf verwiesen, dass in den Freundschaftlichen Liedern von Pyra und Lange von einer „Säkularisation religiöser Bestände“37 gesprochen werden kann und „das Erlebnis der Freundschaft geradezu an die Stelle des religiösen Erlebnisses getreten ist“.38 Aber das ist nur ein Teil eines poetischen Vorgehens, das insgesamt auf die Befragung der individuellen Lebensführung, der Sinngebung der menschlichen Existenz gerichtet ist. Der geheime Sinn dieser Gedichte, die das Freundschaftserlebnis, ja sogar die kleinsten Dinge des Alltags feiern – Hans-Georg Kemper spricht von einer „Sakralisierung der eigenen Lebenswelt“39 –, besteht darin, dass die Beschreibung des Erlebnisses zur Selbsterfahrung des lyrischen Subjekts führt. Das trug gelegentlich komische Züge, die Abraham Gotthelf Kästner angesichts von Langes Damons Thränen über des Thirsis Tod (in einer Entgegnung auf Einwürfe Langes) zu der ironischen Frage veranlasste: [W]er kann die Ausdrückungen, so auf der 70sten Seite der freundschaftlichen Lieder vorkommen, vernünftig billigen. GOtt soll des Con-Rector Pyra Singen zuhören, die himmlischen Geister dadurch entzückt werden und schweigen, David, wie ein Gott gestalt, (wie ist ein Gott in einer Christlichen Ode gestaltet?) aufstehen und mit ihm spielen, und das Volk des Himmels ihn bewundern. Kömmt das nicht gerade so heraus, als wenn ein Bauerjunge, der in seiner 33 34 35 36 37
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Ebd., S. 43. Ebd., S. 54. Ebd., S. 53. Pyra, Wort, (wie Anm. 26), S. 182. Rasch, Wolfdietrich, Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle 1936 (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Buchreihe, 21. Band), S. 161. Ebd., S. 162. Kemper, Hans-Georg, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 6/I: Empfindsamkeit. Tübingen 1997, S. 120.
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Dorfkirche Vorsänger gewesen wäre, nach der Fürstlichen Residenz reisete, und einer seiner Collegen sänge ihm nach: Du, unsers Dorfes Orpheus, singst nun dort, Dich hört der Fürst, du fürstlich hoher Sänger, Es höret dich die Schaar der Capellisten, Und steht entzückt und sieht und schweigt. Ich glaube nicht, daß Geister einen Con-Rector bewundern werden, die nach Popens Urtheile einen Newton, wie wir einen Affen ansehen. Ist ja eine Freude über Herrn Pyra Ankunft im Himmel entstanden, so wird sie von der Art gewesen seyn, wie über bekehrte Sünder entsteht.40
Solches Dichten zielt auf einen ,eingeweihten‘ Leser, der – gleichsam in einer synästhetisierenden Anteilnahme – zum Mit-Empfinden, zur Be-Geisterung angeregt werden soll. Wir finden es wieder, freilich in modifizierter Form, etwa in Gedichten des Schenkenbuchs in Goethes Neuem Divan, wo Hatem das „Dichten“ als „Himmelsgabe“ kennzeichnet, das im „Erdeleben“ jedoch trügerische Wirkungen zeitigt: Erst sich im Geheimniss wiegen, Dann verplaudern früh und spat, Dichter ist umsonst verschwiegen, Dichten selbst ist schon Verrath.41
Johannes Robert Becher hat, bezugnehmend auf diese Verse, in kongenialer Weise auf die „schöpferische Art […] der Selbstverständigung“ verwiesen: „Es ist dem Dichter nicht gegeben, verschwiegen zu sein, das heißt, der Dichter gibt in seiner Schöpfung das Geheimnis preis, indem er es deutet und der Welt offenbart.“ Dichtung bestehe „im Enthüllen des Geheimnishaften […], wobei das Geheimnishafte in der Poesie gerade eben darin sich zeigt und enthalten bleiben kann: als selbst enthülltes Geheimnis.“42 In Ein Geheimnis bergen wir Gedichte hat Becher die Beziehung Dichter – Gedicht – Leser zum Gegenstand der poetischen Reflexion gemacht, wenn er schreibt: Ein Geheimnis – such es zwischen Zeilen, Und die Lösung wird dir zum Gewinn, Wenn du, ohne dich zu übereilen, Denkend, träumend mühst dich um den Sinn. […]
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[Kästner, Abraham Gotthelf], Kurze Gegenantwort auf die lange Beantwortung einer kurzen Critik über die freundschaftlichen Lieder, in: Staats- u. Gelehrte Zeitung Des Hamburgischen unpartheyischen CORRESPONDENTEN. CIX Stück, am Dienstage, den 12 Julius [1746], unpag. Goethe, Johann Wolfgang, Saki Nameh – Das Schenkenbuch, in: Ders., Neuer Divan ,1819– 1827‘, in: Ders., West-Östlicher Divan. Teil 1, hg. v. Hendrik Birus, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 1. Abt. Bd. 3/1. Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 13), S. 417. Becher, Johannes R.[obert], Poetische Konfession. Berlin 1954, S. 117.
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Hans-Joachim Kertscher Was verborgen ist, laßt uns entdecken! Im Gedicht bist du oft selbst versteckt Und spielst im Gedicht mit dir Verstecken Und entdeckst dich, wenn du es entdeckst.43
Auch im Hinblick auf den genannten zweiten Bereich ist auf Samuel Gotthold Lange zu verweisen, der in seiner Übersetzung der Oden Davids im Gegensatz zu Luthers Prosafassung „eine poetische Ueberlieferung“44 zu bieten sucht. Lange geht von der Voraussetzung aus, dass deren Verfasser „GOtt selbst“,45 eine völlig adäquate Adaption daher unmöglich sei. Weitaus stärker als die Prosa aber könne die Dichtung „eine sinnliche Vorstellung der Dinge“ entwickeln. „Sie dringet vermöge unsrer Sinnen an das Hertz, und der Nachdruck, die Erhabenheit u.s.w. arbeiten mit solcher Gewalt auf uns loß, daß man die Poesie billig die Sprache der Götter nennet.“46 Erst die poetische Transformation vermag dem übersetzten Text die entsprechende Wirkmächtigkeit zu verleihen, der auf poetische Weise angesprochene Leser kommt, indem seine Empfindung geweckt wird, zum Verständnis der göttlichen Worte. Hier kann Klopstock ansetzen. Auch er sah, so Dieter Gutzen, im „Gefühl ein Mittel zur Aneignung der Erkenntnis“.47 Einzig die Dichtung sei in der Lage, Gefühle anzuregen und über diese zum Verständnis der göttlichen Botschaft zu gelangen. In seinem Aufsatz Von der heiligen Poesie, den er dem ersten Band der Kopenhagener Ausgabe seines Messias voranstellte, äußert er die Auffassung, dass Poesie „die ganze Seele bewegen“48 müsse, was im Hinblick auf die ,heilige Poesie‘ bedeute, dass diese vor dem „Richterstul der Religion“49 zu bestehen habe – d.h. der Dichter sei vor die Aufgabe gestellt, die „höhern Wahrheiten der Religion“
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Becher, Johannes R.[obert], Ein Geheimnis bergen wir Gedichte, in: Ders., Gedichte 1949– 1958. Berlin, Weimar 1973, S. 301f. Lange, Samuel Gotthold, Oden Davids oder poetische Uebersetzung der Psalmen mit einer Vorrede Sr. Hochwürden des Herrn Doctor Baumgartens. Erster Theil. Halle 1746, unpag., )( 5 [3]. Ebd., )( 5 [1]. Ebd., )( 5 [5]. In einem fingierten Schreiben an den „Herrn Geselligen“, unterschrieben mit „Bibliophilus“ – vermutlich stammt es aus der Feder von Georg Friedrich Meier –, wird darauf verwiesen, daß die Heilige Schrift generell „von dem Geist GOttes verfasset ist“, was bedeute, „daß die Schreibart sowol der Sache gemäß, als auch ihres Urhebers würdig seyn müsse.“ Und der Autor folgert: „Es kan aus dieser Ursach niemand leugnen, und leugnete es jemand, so nehme ich auf mich zu beweisen, daß nichts vollkommener sey, als die Schreibart dieses göttlichen Buches, und das Muster in allen Arten der schönen Wissenschaften, das man sich darin zu unterrichten erwählen könne.“ Er wundere sich, „daß so wenige Schriftausleger und Gottesgelehrte sich an diese Sache gemacht haben.“ (Vgl. [Meier, Georg Friedrich], Von dem guten Geschmacke der heiligen Schreibart, in: Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift. Tl. 2, 78. St. Halle 1748, S. 641ff.) Gutzen, (wie Anm. 10), S. 59. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Von der heiligen Poesie, in: Ders., Der Messias. Erster Band. Koppenhagen 1755, unpag., ** 2. Ebd.
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im Gedicht so vorzutragen, dass sie „zu verstehn, und zu empfinden“50 sind. „Der Verfasser des heiligen Gedichts ahmt der Religion nach; wie er, in einem nicht viel verschiedenen Verstande, der Natur nachahmt.“51 Doch nicht lediglich hermeneutische Prinzipien macht Klopstock im Hinblick auf die Produktion und Rezeption von ,heiliger Poesie‘ geltend, sondern vor allem didaktische: „Der lezte Endzweck der höhern Poesie, und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werths, ist die moralische Schönheit.“52 Klopstock verweist also auf den unmittelbaren Zusammenhang von Moral und Schönheit, den ,heilige Poesie‘ zu vermitteln und dem Rezipienten als Wertmaßstab vorzustellen habe. Der Hallesche Ästhetiker und eifrige Förderer der Messias-Dichtung Georg Friedrich Meier hatte fünf Jahre zuvor, im Zusammenhang mit Ewald Christian v. Kleists Frühling, auf eine Stelle dieses Gedichtes verwiesen, in der von dem „göttliche[n] Wesen“ die Rede ist: [D]ie Vorstellung desselben erfüllet unser Herz voll heiliger Ehrfurcht, und zeiget die gröste Stelle des Dichters. Die meisten der heutigen Dichter vermeiden die Erwehnung GOttes; oder sie gedenken seiner so kaltsinnig, trocken und gezwungen, daß man merkt, daß sie nie zu der Erhebung des Gemüths gelanget sind, die erfodert wird, wenn man GOtt für einen würdigen Gegenstand der Dichtkunst halten soll.53
Der geheime Sinn solchen Dichtens besteht also darin, dem Rezipienten die Schönheit der göttlichen Botschaft ästhetisch durch eine adäquate dichterische Gestaltung zu vermitteln. Genauigkeit im Umgang mit den Vorgaben der Offenbarung, so Klopstock, sei dabei ebenso unerlässlich wie die beim Er-Dichten selbst. Dasienige, was uns die Offenbarung lehrt, besteht, aus moralischen Wahrheiten; aus Begebenheiten; aus Prophezeyhungen; aus Geheimnissen; und aus solchen Stellen, wo das Geheimnißvolle mit jenen, besonders mit moralischen Wahrheiten, vermischt ist.54
Es komme beim Dichten darauf an, gerade die „Geheimnisse […] mit der meisten Einfalt“55 zu gestalten. Freilich setzt dies einen Leser oder Hörer voraus, der in einer engen Beziehung zum Christentum steht. „Der Freygeist, und der Christ, der seine Religion nur halb versteht, sehn da nur einen grossen Schauplatz von Trümmern, wo der tiefsinnige Christ einen maiestätischen Tempel sieht.“56 Nicht von ungefähr überantwortet der junge Klopstockverehrer Christoph Martin Wieland 1751 seinen literarischen Erstling, das Lehrgedicht Die Natur der Dinge, anonym dem Halleschen Ästhetiker, der dieses seinem Verleger Hemmerde, wie zuvor schon die ersten Gesänge des Messias, samt einem Vorwort zukommen
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Ebd., ** 3 [2]. Ebd. Ebd., ** 2 [1]. [Meier, Georg Friedrich], Beurtheilung des Gedichts, der Frühling genannt, in: Der Gesellige, (wie Anm. 48). Tl. 5, 211. St. (1750), S. 230. Klopstock, Poesie, (wie Anm. 48), ** 3 [3]. Ebd. Ebd., *** [2].
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ließ.57 In dem Gedicht verweist der 17jährige Autor auf das verschlüsselte ,Buch der Natur‘ und beschreibt es als jene Quelle, in der Gott zu finden ist – „die Welt muß Gott so ähnlich seyn als möglich ist“.58 Die Entschlüsselung dieses ,Buches‘ mittels eines in Verse verfassten philosophischen Textes eröffne gleichsam die Pforte zu Gott. In seinem ein Jahr später publizierten Epos Der gepryfte Abraham kommt er darauf zurück. Der erste Satz seines „Vorberichtes“ lautet: Die Poesie soll nach ihrer natur und nach ihrem vvahren verhæltniss zu dem menschlichen herzen, das lob Gottes, unsers Schœpfers und Erlœsers, und den Menschen in seinen vornehmsten gesichtspuncten und bestimmungen, folglich, religion, tugend und sitten zum gegenstand haben.59
Die Poesie sei die „nachahmerin der Natur“, was bedeute, „dass aus den sinnlichen schœnheiten und angenehm ryhrenden Bildern des poetischen vortrags allezeit hœhere, geistliche und moralische schœnheiten hervorscheinen myssen“. Dichtung habe „zum preis Gottes, seiner vverke und offenbarungen“ einen Beitrag zu leisten, müsse „die herzen zur gottseligkeit und tugend […] entzünden und mit mæchtig yberredender kraft […] lehren, vvie sie [die Leser, HJK] dieses leben gebrauchen und sich zu einem bessern vorbereiten sollen“60 – kurzum: sie müsse eine „lehrerin der religion, tugend und sitten“61 werden.
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Vgl. Kertscher, Hans-Joachim, Georg Friedrich Meier und Christoph Martin Wieland, in: Donnert, Erich (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 2: Frühmoderne. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 125–137, insb. S. 125–128; ders., Die Verlage und ihre Inhaber – Bemerkungen zu ihrem Wirken anhand des Geschäftsnachlasses. In: Die Verleger Carl Hermann Hemmerde und Carl August Schwetschke. Mit einem Anhang: Ungedruckte Briefe und Schriftstücke aus dem Geschäftsnachlaß der Verlage Hemmerde und Hemmerde & Schwetschke. Hallesche Verlagsanstalten der Aufklärungsepoche. Halle 2004 (Schriftenreihe zur Geistes- und Kulturgeschichte. Texte und Dokumente hg. von Günter Schenk und Manfred Schwarz), S. 9–106, insb. S. 9–20. [Wieland, Christoph Martin], Vorläufige Anmerkungen über die vollkommenste Welt, von welcher dieses Lehrgedicht ein Entwurf ist, in: [Ders.], Die Natur der Dinge in sechs Büchern. Mit einer Vorrede Georg Friedrich Meiers […]. Halle 1752, unpag., a 5 [4]. [Wieland, Christoph Martin], Der gepryfte Abraham. Ein Gedicht in vier Gesängen. Zyrich 1753, Vorbericht, unpag., *2. Ebd. Ebd., *2 [1].
KATRIN KOHL (Oxford)
Die „beste Art über Gott zu denken“? Auseinandersetzungen um das religiöse Potential der Dichtung im 18. Jahrhundert Klopstock publizierte 1758 im Nordischen Aufseher einen Beitrag mit dem provokanten Titel Von der besten Art über Gott zu denken.1 Provokant wirkte die Schrift deshalb, weil Klopstock darin eine dreistufige Rangfolge entwirft, in der er das philosophische Denken und damit auch die philosophisch geprägte Theologie unten plaziert, um auf die höchste Stufe ein Denken zu setzen, das „von der Empfindung nicht getrennt werden“2 kann und sich am intensivsten in der Dichtung verwirklicht. Die knappe Abhandlung, die in einem Fragment aus Klopstocks Messias kulminiert, ist ein Schlüsseltext für die Beziehung zwischen Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert, weil Klopstock hier Literatur und Theologie auf höchst kontroverse Weise mittels der rhetorischen Tradition verknüpft und zur Philosophie in Gegensatz bringt. Interessant ist der Text nicht zuletzt deshalb, weil Lessing ihn 1759 in seinen Literaturbriefen herausgriff, um im Rahmen einer längeren Auseinandersetzung insbesondere die theologische Position des Nordischen Aufsehers zu attackieren.3 Ziel ist im Folgenden nicht eine Untersuchung der theologischen Argumente in dieser Debatte, an der sich auch Johann Bernhard Basedow und Johann Gottfried Herder beteiligten, zumal Klopstocks Abhandlung mehrfach besprochen worden ist, so unter begriffsgeschichtlichem Aspekt von Gerhard Kaiser, unter Bezug auf die rhetorische Tradition von Kevin Hilliard und in Hinblick auf das Modell der ‚Heiligen Poesie‘ von Joachim Jacob.4 Vielmehr geht es darum, anhand der von den Hauptkontrahenten Klopstock und Lessing eingesetzten Metaphorik Strukturen zu identifizieren, die im Diskurs der Zeit jenen 1
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Klopstock, Friedrich Gottlieb, Von der besten Art über Gott zu denken [1758], in: Ders., Sämmtliche Werke. 18 Bde. u. Supplementband (Bd. XIII–XVIII: Sämmtliche sprachwissenschaftliche und ästhetische Schriften. Hg. v. August Leberecht Back u. Albert Richard Constantin Spindler). Leipzig 1823–1830, hier Bd. 11, S. 207–216. Ebd., S. 211. Lessing, Gotthold Ephraim, Briefe, die neueste Litteratur betreffend [1759–1765], hg. v. Gunter E. Grimm, in: Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a.M. 1985ff., hier Bd. 4: Philotas, Fabeln und Fabel-Abhandlungen, Literaturbriefe (1997), S. 453–777, hier S. 603–609 (49. Literaturbrief). Kaiser, Gerhard, Denken und Empfinden. Ein Beitrag zur Sprache und Poetik Klopstocks, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.), Friedrich Gottlieb Klopstock. München 1981 (Text + Kritik. Sonderband), S. 10–28; Hilliard, Kevin, Philosophy, Letters and the Fine Arts in Klopstocks Thought. London 1987 (Bithell Series of Dissertations 12), S. 84–88; Jacob, Joachim, Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997, S. 161–171.
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Übergängen, Verschiebungen und neuen Verbindungen förderlich sein konnten, die gegen Ende des Jahrhunderts eine grundlegende Veränderung der geistigen Konstellation hervorbrachten. Im Zentrum stehen soll zunächst Klopstocks Aufsatz unter Einbeziehung auch seines Messias-Projekts und in einem zweiten Schritt dann Lessings Replik in den Literaturbriefen. Abschließend wird der Frage nachgegangen, wie sich diese Debatte um die Grenzen zwischen Literatur und Theologie zu den poetologischen Fragen verhält, die im Zeitalter der Autonomieästhetik in den Vordergrund treten. Die Diskussion um Klopstocks Aufsatz in der Forschung hat einerseits dessen „revolutionäre“ Aussage gegenüber der wolffschen Philosophie geltend gemacht,5 andererseits festgestellt, dass Klopstocks Argumentation keineswegs originell ist, sondern etablierte anti-philosophische Argumente der rhetorischen Tradition für die Verteidigung der Dichtung einsetzt.6 Jacob verweist demgegenüber auf Ansätze, die unter Einbezug neuplatonischer Einflüsse „die christlich-kosmologische Dimension des […] Seelenaufschwungs ernst [nehmen]“.7 Diese drei Positionen schließen sich jedoch nicht aus, wenn Innovation als Differenz gegenüber dem diskursiven Kontext begriffen wird und man von einer zeitlich unbegrenzten Kontinuität sowohl der philosophischen als auch der rhetorischen Tradition ausgeht. Bedeutsam ist dann vor allem die Schlagkraft, mit der Klopstock tradierte Begriffe und Argumente einsetzt. Joachim Dyck hat darauf hingewiesen, daß Klopstock „seine Dichtungstheorie in den Termini der einfachsten rhetorischen Psychologie vor[bringt]“ und vernachlässigte „Grundaxiome der antiken Rhetorik […] erfolgreich reaktiviert“, indem er „die affektive Seite der dichterischen Vermittlung religiöser Inhalte betont“.8 Diskursfördernd wirkte Klopstocks Aufsatz deshalb, weil er zeitgenössischen Debatten um die Beziehung zwischen Literatur und Theologie mit kohärenter Metaphorik eine klare Struktur verlieh. Gestützt wurde zudem die theoretische Position durch die im Aufsatz dargestellte Verbindung zwischen Theorie und Praxis, Theologie und Poesie. Der konsequente Einsatz rhetorischer Strategien muß dabei einer ernsthaften Frömmigkeit nicht widersprechen, es sei denn, ‚Einfalt‘ wäre der Maßstab für genuines Christentum. Für Klopstocks MessiasProjekt jedenfalls ist die Kongruenz zwischen rhetorischer und christlicher Tradition, poetologischer Strategie und religiöser Erfahrung die treibende Kraft; und die
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Kaiser, (wie Anm. 4), S. 10. Hilliard, (wie Anm. 4), S. 84–88. Jacob, (wie Anm. 4), S. 162, Anm. 98. Er bezieht sich dabei auf die folgenden Arbeiten: Rülke, Hans-Ulrich, Gottesbild und Poetik bei Klopstock. Konstanz 1991; Gaier, Ulrich, „[…] ein Empfindungssystem, der ganze Mensch“. Grundlagen von Hölderlins poetologischer Anthropologie im 18. Jahrhundert, in: Schings, Hans-Jürgen (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart 1994, S. 724–746. Dyck, Joachim, Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977, S. 125.
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enorme Wirkung des Epos lässt sich vor allem aus seinem wirksamen Zusammendenken von Rhetorik und Christentum erklären.9 Klopstocks Aufsatz zielt auf eine umfassende Entgrenzung, wobei er Grundmuster des menschlichen Denkens einsetzt, wie sie sich auch in der Metaphorik der Alltagssprache manifestieren.10 Die wertende Skala, mit der er die drei Arten „über Gott zu denken“ zueinander in Beziehung setzt, ist signifikant, denn sie aktiviert nicht nur ein solches Grundmuster,11 sondern erlaubt eine religiös bedeutsame Entgrenzung nach ‚oben‘ hin, mit der die ‚höchste‘ Art über Gott zu denken räumlich dem unendlichen Himmel angenähert wird. Die Unterscheidung wird auf diese Weise kongruent mit einem vertikal ausgerichteten, neuplatonische Strukturen tradierenden Weltbild, das die Wesen auf einer Stufenleiter anordnet.12 Diesem Weltbild entspricht im Messias das nach unten hin sich verlierende „Urlicht“13 und die Darstellung des Himmels: Mitten in der Versammlung der Sonnen strahlet der Himmel, Rund, unermeßlich, des Weltgebäus Urbild, die Fülle Jeder sichtbaren Schönheit, die sich, gleich flüchtigen Bächen, Ringsum durch den unendlichen Raum nachahmend ergießet.14
Bedeutsam ist zudem die Dynamisierung dieser Skala, die sich mit der Bewegungsmetaphorik aus der rhetorischen Dreistillehre in Verbindung bringen lässt: Die Skala wird durch die Assoziation mit einem körperlich vorstellbaren ‚Weg‘ – wiederum ein Grundmuster15 – zur Erhebung des Menschen, der kraft der Bewegung seiner unsterblichen Seele zu Gott strebt; dieses Muster ist mit Christi Himmelfahrt kongruent, die im Messias die Heldenlaufbahn krönt. Quintilian zufolge ist die Stilart des movere „die stärkste, und gerade für die großen Fälle die allerpas-
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Zur Bedeutung der rhetorischen Tradition für Klopstocks Werk mit Diskussion auch der Forschung zu diesem Thema vgl. Kohl, Katrin, Friedrich Gottfried Klopstock. Stuttgart, Weimar 2000 (Sammlung Metzler 325), S. 11–21 u. passim. Vgl. Lakoff, George, und Johnson, Mark, Metaphors We Live By. 2. Aufl. Chicago 2003 (dt.: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, aus dem Amerikanischen übers. v. Astrid Hildenbrand. 2. Aufl. Heidelberg 2000); Johnson, Mark, The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason. Chicago, London 1987. Vgl. Johnson, (wie Anm. 10), S. 121–124. Vgl. zu einer Variante dieses Modells – der ‚Kette‘ der Wesen – Lovejoy, Arthur O., The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. 2. Aufl. Cambridge/Mass. u. London 1964 (dt.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a.M. 1985). Zur Bedeutung dieses kulturellen Modells bis in die Gegenwart aus der Perspektive der kognitiven Metapherntheorie vgl. auch Lakoff, George, und Turner, Mark, More than Cool Reason. A Field Guide to Poetic Metaphor. Chicago u. London 1989, S. 166–213. Klopstock, Friedrich Gottlieb, Der Messias [Ausg. letzter Hand, 1799/1800], hg. v. Elisabeth Höpker-Herberg, in: Ders., Werke und Briefe. Hist.-krit. Ausg., hg. v. Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg u.a. Berlin, New York 1974ff., hier Abt. Werke, Bd. IV/1–2: Der Messias. Text, hier Bd. IV/1, S. 6f. (Gesang I, V. 195). Klopstock, Messias, (wie Anm. 13), Bd. IV/1, S. 6f. (Gesang I, V. 231–234). Vgl. Johnson, (wie Anm. 10), S. 28 u. 113–117.
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sendste“,16 wobei die mitreißende Wirkung auf der Schnelligkeit der Vermittlung des Dargestellten beruht. Diese Schnelligkeit wird bei Klopstock zu einer zeitlichen Annäherung an die unendliche Vorstellungskraft Gottes, denn die Verdichtung irdischer Prozessualität erlaubt es der Seele, vorübergehend Gott zu ‚denken‘. Hierin liegt ein entscheidender Gegensatz zur wolffschen Insistenz auf der Begrenzung der prozessual wahrnehmenden Seele.17 Klopstock intensiviert in Fortführung der Poetik von Bodmer und Breitinger die Aufwärtsbewegung durch das vertikal ausgerichtete Erhabene, dessen Wirkung Pseudo-Longinus nicht nur unter Bezug auf Homer, sondern auch unter Bezug auf die Bibel dargestellt hatte.18 Anders als Aristoteles und Horaz erklärt Longin das platonische Modell vom inspirierten Dichter zum Ideal und assoziiert ihn mit dem rhetorischen Ideal des hohen, bewegenden Stils, wobei natürliche Veranlagung, Bildung zur Seelengröße und göttliche Inspiration als wechselseitig bedingt verstanden werden.19 Für Klopstock liefert die auch im pietistischen Wortschatz belegte ‚Erhebung‘20 zugleich das schlagende Argument, mit dem er der Philosophie ihren Anspruch auf den Zugang zur göttlichen Wahrheit streitig macht: Der Philosoph setze sich „der Gefahr aus […], welche er doch am meisten zu vermeiden glaubt, nicht wahr genug von ihm [Gott, KK] zu denken. Denn wer sich nicht genug erhebt, wer nicht würdig genug von ihm denkt, der denkt auch nicht wahr genug von ihm.“21 Über die vertikale Bewegung hinaus ist speziell die Dreistufigkeit des Modells bedeutsam, zumal diese in der philosophischen, rhetorischen sowie auch mythologischen Tradition fest verankert ist. Die anregende Wirkung dieser Konstellation bemerkt Joachim Jacob unter Bezug auf die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze zu Klopstocks Abhandlung, wenn er feststellt, dass sich „die elementare Struktur“ „mit entsprechend vielen Traditionsbezügen […] füllen“ lässt.22 Damit jedoch spricht die Forschung auf ein Potential an, das schon Klopstock in seiner 16 17 18 19 20
21 22
Quintilianus, Marcus Fabius, Ausbildung des Redners, hg. v. Helmut Rahn. 2 Bde. Darmstadt 1995, hier Bd. 1, S. 781 (Buch XII, Kap. 10, 63). Vgl. Jacob, (wie Anm. 4), S. 164. Longinus, Vom Erhabenen. Übers. u. hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 1988, S. 24–27 (Kap. 9, 9). Ebd., S. 18–31 (Kap. 8 u. 9). Vgl. Langen, August, Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen 1954, S. 201, 391 u. 407. Langen bemerkt, daß das Verb ‚sich erheben‘ schon in der Bibel häufig ist, aber nicht in dem für den Pietismus typischen Sinn des „sehnsüchtigen Aufschwungs zu Gott“ (S. 201). Ähnliches gilt für „bewegen“ (vgl. ebd., S. 36 u. 436). Klopstock, Von der besten Art, (wie Anm. 1), S. 211. Jacob, (wie Anm. 4), S. 162, Anm. 98. So verfolgt Kaiser die begriffsgeschichtlichen Verschiebungen im Kontext der Aufklärungstheologie und kommt zum Schluß, Klopstock stelle die auf das vernünftige Denken zulaufende „Wolffsche Pyramide des Denkens […] auf den Kopf“ (Kaiser, [wie Anm. 4], S. 16). Gaier konstatiert die Kongruenz des klopstockschen Modells mit den im frühen 16. Jahrhundert von Agrippa von Nettesheim dargelegten drei Arten, Gott zu kennen (Gaier, [wie Anm. 7], S. 740f.). Hilliard macht die rhetorische Sequenz probatio – ethos – pathos geltend und verweist weiterhin auf Fénelons unter Bezug auf das Wissen von Gott vorgenommene Unterscheidung zwischen Philosophie und Rhetorik (Hilliard, [wie Anm. 4], S. 84–88).
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einführenden Unterscheidung zwischen „Schlaf“, „Schlummer“ und „wirklichem Wachen“ und in einer Fülle von weiteren Metaphern nutzt. Um diese näher zu beleuchten, seien zunächst die drei Stufen seines Modells charakterisiert, denn die Bedeutung und Wirkungsweise der Metaphern erhellt erst aus dem Zusammenhang, insbesondere aus der Bestimmung der „besten“ Art. Die ‚unterste‘ Art, über Gott zu denken, bestimmt Klopstock als die eines „Philosophen“,23 dessen Denkweise durch ‚Unbewegtheit‘ gekennzeichnet ist: Es giebt eine kalte, metaphysische [Art], die Gott beynahe nur als ein Objekt einer Wissenschaft ansieht, und eben so unbewegt über ihn philosophirt, als wenn sie die Begriffe der Zeit oder des Raums entwickelte. Eine von ihren besondern Unvollkommenheiten ist diese, daß sie in den Ketten irgend einer Methode einhergeht, welche ihr so lieb sind, daß sie jede freyere Erfindung einer über Gottes Größe entzückten Seele fast ohne Untersuchung verwirft.24
Hauptcharakteristikum dieser Art ist die mangelnde Involvierung der Affekte und damit der Gegensatz zum rhetorischen movere. Die eher kursorisch behandelte mittlere Stufe bezeichnet Klopstock als „Betrachtungen“; diese sind unvollkommen, weil sie uns veranlassen, „klein von Gott zu denken“, und weil man verführt wird, „Gott nach sich zu beurtheilen“.25 Klopstocks Stufenmodell erlaubt somit eine graduelle Annäherung an Gott, setzt jedoch zugleich eine Spannung der Extension voraus, mittels derer eine anthropomorphisierende Annäherung an Gott vermieden werden soll: Entscheidend ist die Ausrichtung auf die höchste Stufe, um den ‚hohen‘ Gegenstand nicht in seiner Erhabenheit zu mindern. Angestrebt wird auf diese Weise die extreme ‚Erhebung‘ des Menschen im Prozess des ‚empfindenden Denkens‘. Auf der obersten Stufe nähert sich der Denkende unter Einbezug der Empfindungen dem Gegenstand des Denkens selbst und damit zugleich der Glückseligkeit, dem Ziel des hiesigen und jenseitigen Lebens. Der rhetorische Ansatz wird nicht nur in der hohen Bewertung der ‚Bewegung‘ deutlich, sondern auch in der Fokussierung auf die Sprache, wobei die Kulmination in poetischer Sprache die spezifisch longinische Ausrichtung zeigt: Sich auf der obersten Stufe dieser Erhebung zu Gott lange zu erhalten, ist in diesem Leben unmöglich; aber sich ihr […] oft und lange nähern, ist auch hier möglich, und die höchste aller Glückseligkeiten. Sich der obersten Stufe nähern, nenne ich, wenn die ganze Seele von dem, den sie denkt […] so erfüllt ist, daß alle ihre übrigen Kräfte von der Anstrengung ihres Denkens in eine solche Bewegung gebracht sind, daß sie zugleich und zu einem Endzwecke wirken; […] wenn, wofern wir darauf kämen, das, was wir denken, durch Worte auszudrücken, die Sprache zu wenige und schwache Worte dazu haben würde; wenn wir endlich mit der allertieffsten Unterwerfung eine Liebe vereinigen, die mit völliger Zuversicht glaubt, daß wir Gott lieben können, und daß wir ihn lieben dürfen. Die Erreichung der obersten Stufe in dieser letzten Art über Gott zu denken, ist ein Zustand der Seele, da in ihr so viele Gedanken und Empfindungen auf Einmal und mit einer solchen Stärke wirken, daß, was alsdann in ihr vorgeht, durch jede Beschreibung verlieren würde.26 23 24 25 26
Klopstock, Von der besten Art, (wie Anm. 1), S. 211. Ebd., S. 210. Ebd., S. 211f. Ebd., S. 213f.
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Ohne näher auf die Argumentation einzugehen, seien lediglich die Metaphern hervorgehoben, mit denen Klopstock in seinen Ausführungen zu den drei Arten die zwei Extreme auseinandertreibt. Zentral ist eine binäre Metaphorik, die scharfe Gegensätze entwirft: horizontales Einhergehen und vertikales Sich-Erheben, Ketten und Freiheit, Methode (andernorts als „zusammengesetzte“ „Schulmethode“ bezeichnet27) und Erfindung. Die meisten lassen sich zudem skaliert vorstellen, so Schwäche und Stärke, Kleinheit und Größe, Kälte und Wärme, Leere und Fülle, Statik und schnelle Bewegung, Zweifel und Glaube, Unvollkommenheit und Vollkommenheit. Das Stufenmodell wird am Ende noch um eine weitere ‚oberste Stufe‘ erweitert, die sich sprachlich im Stammeln und in der Aposiopese äußert. Auf dieser Stufe erkennt der solchermaßen Bewegte „neue Wahrheiten von Gott“, ohne dass er im Zustand der Erregung für diese Wahrheiten einen Ausdruck zu finden vermag.28 In den Versen aus dem Messias wird dieser Moment durch die Ergriffenheit des Propheten Henoch vermittelt, die in der Ausrufung „Ach!“ ihren Höhepunkt findet und dann mit dem Wiederfinden der „Stimme“ in „Tränen“ mündet, mit denen das empfindende Denken die Körpergrenze überspült.29 Zentral ist das rhetorische Prinzip des aptum, dem Klopstock hier religiöse Signifikanz verleiht, indem in der höchsten ‚Bewegung‘ alle Kräfte im Streben nach Gott zusammenwirken. Das wahre Denken an Gott verwirklicht sich nicht als Kontemplation, sondern als Aktivität; das in höchstem Maße persuasive movere eröffnet sowohl dem Dichter als auch dem Rezipienten den Weg zu Gott. Die ‚Vereinigung‘ aller Kräfte wird zudem durch eine Coincidentia Oppositorum intensiviert, wenn Klopstock die „allertieffste Unterwerfung“ in die ‚höchste‘ Art mit hineinnimmt; dadurch wird die in der mystischen Tradition positiv besetzte ‚Tiefe‘ für die beste Art, über Gott zu denken, wirksam gemacht, so wie Klopstock für diese Art nicht nur das ‚Empfinden‘, sondern auch das ‚Denken‘ beansprucht. Im Messias bestimmt dieses Stufenmodell Produktion und Rezeption, wobei schaffenspsychologisch auch das für die Antike und dann für die deutsche Klassik grundlegende Moment des durchaus weltlichen Wettstreits mitspielt. Während Klopstock anfangs einen weltlichen Helden erwog, transformierte seine Wahl der Passion das Projekt auf entscheidende Weise. Denn damit übertraf er aus christlicher Perspektive nicht nur Homer und Vergil, sondern auch den größten modernen Epiker, Milton. Zugleich eröffnete er der deutschen Dichtung über das aptum-Prinzip die Möglichkeit, sich im größten Epos aller Zeiten zu verwirklichen, denn sofern sie angemessen eingesetzt werden, verstärken sich Inhalt und Form gegenseitig. Dabei verquickt Klopstock das rhetorische Ideal vom moralisch rechtschaf-
27 28 29
Ebd., S. 211. Ebd., S. 214. Ebd., S. 216.
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fenen Redner30 mit der christlichen Rechtschaffenheit. Einbezogen wird in diese Forderung auch der Rezipient: Das Herz ganz zu rühren, ist überhaupt, in jeder Art der Beredsamkeit, das Höchste, was sich der Meister vorsetzen, und was der Hörer von ihm fordern kann. Es durch die Religion zu tun, ist eine neue Höhe, die für uns, ohne Offenbarung, mit Wolken bedeckt war. Hier lernen der Dichter und der Leser einander am gewissesten kennen, ob sie Christen sind. […] Der Freigeist, und der Christ, der seine Religion nur halb versteht, sehn da nur einen großen Schauplatz von Trümmern, wo der tiefsinnige Christ einen majestätischen Tempel sieht.31
Die stilistische Vertikale der antiken Rhetorik ist hier weiter in die Höhe getrieben und dient der Unterscheidung des wahren Glaubens vom antiken Heidentum einerseits und dem mangelnden Glauben im modernen Zeitalter des Christentums andererseits. Binäre Metaphorik ist in der architektonischen Metapher konkretisiert, die das christliche Werk als ganzheitliches Gebäude projiziert, das nur vom christlichen Rezipienten als solches wahrgenommen wird. In der notwendigen Kongruenz von Dichter, Werk und Rezipient sind rhetorische und christliche Ideale integriert. Dass empfängliche Rezipienten auf diese intendierte Kongruenz ansprachen, sei lediglich anhand eines Briefs von Auguste Stolberg belegt, die am Gründonnerstag 1777 an Klopstock schreibt: Eben lege ich den Meßias aus der Hand, u habe die lezte Hälfte des 5t: Gesanges gelesen […] Gott wie Sie einem das Herz in der Hand nehmen und zu sich, zu Ihren Empfindungen hinauf heben! Kan man wohl diesen Tag beßer feyern als den Gesang zu lesen! […] Gottlob es ist mir nichts unbekanntes darin, aber alles ist doch jedesmal so neu, so als noch nie empfundenes wenn man’s wieder ließt. immer denke ich, daß ich ihn ganz fühle, u jedesmal ist’s doch als entdekte ich neue Schönheiten darin – 32
Mittels der emotional affizierenden Sprache ermöglicht der Dichter dem Rezipienten die Erhebung zur Erkenntnis. Neu ist nicht der theologische Gehalt, sondern die im Vorgang des Rezipierens aktualisierte Empfindung der Wahrheit Gottes. Das als „neu“ Erfahrene ist nicht ein Verständnis des bis dahin nicht Gewussten, sondern ein prozessuales Wahrnehmen, das immer wieder von Neuem aktualisiert wird. Empfindung, Erkenntnis und die Feier der Liebe Gottes sind in diesem Prozess untrennbar verquickt. Der Stoff des Epos legitimiert für Klopstock den religiösen Anspruch des Gedichts, denn mit seinem Opfertod vereinigte Christus die natürliche und übernatürliche Welt. Sinnlich fassbar wird diese Verbindung in der – möglicherweise vom Herausgeber des Nordischen Aufsehers, Johann Andreas Cramer, (mit-)verfass30 31
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Zum Topos vom vir bonus dicendi peritus vgl. Quintilian, (wie Anm. 16), S. 6f. (Buch I, Pr. 9), u.ö. Siehe auch Hilliard, (wie Anm. 4), S. 91–113. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Von der heiligen Poesie, in: Ders, Ausgewählte Werke, hg. v. Karl August Schleiden. Nachwort v. Friedrich Georg Jünger. 4. Aufl. 2 Bde. München, Wien 1981, hier Bd. 2, S. 997–1009, hier S. 1009. Auguste Stolberg an Klopstock, 27.3.1777, in: Klopstock, Werke und Briefe, (wie Anm. 13), Abt. Briefe, Bd. VII, S. 70.
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ten – Vorrede zur Erstfassung der Hymne Die Frühlingsfeyer,33 die 1758 im Nordischen Aufseher publiziert wurde:34 „Dann erst ist der Schatten recht kühl, der Wald grün, die Luft erfrischend und wohlthätig, der Mondabend recht still; wenn die ruhige und schönere Seele als jenes alles ist, auf diesen Stufen, zu dem allgütigen Vater der Schöpfung emporsteigt.“35 Die theologische Brisanz der von Klopstock verfolgten Entgrenzung und zugleich deren Wirksamkeit verdeutlicht die Erlösung des reuigen Teufels Abbadona,36 die auf die ketzerische Vorstellung von der Wiederbringung aller Kreaturen hinauslief. Empfindsam gestimmte Laien verlangten nach dessen Begnadigung und machten damit die Dichtung zum Maßstab für die Theologie. In der publizierten Version respektierte Klopstock zunächst immerhin diese Grenze der Orthodoxie: Obwohl Abbadonas intendierte Erlösung schon 1747 handschriftlich belegt ist, machte er sie erst 1768 im Druck publik, als diese Grenze ohnehin aufgeweicht war.37 Klopstocks Stufenmodell war deshalb so wirkmächtig, weil es auf vielfältigste Weise die religiöse und poetische Tradition verband, um die zeitgenössischen Kontroversen strukturbildend für die Profilierung der Dichtung wirksam zu machen. Gerade dadurch eignete es sich zur Weiterentwicklung, Übertragung und Abwandlung. Klopstocks Entgrenzung zwischen Theologie und Dichtung steht in Lessings Replik im 49. Literaturbrief im Vordergrund und wird im Rahmen einer umfassenden Kritik an der theologischen Position des Nordischen Aufsehers aufs Heftigste
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Die Erstfassung des Gedichts ist ohne Titel (Der nordische Aufseher, hg. v. Johann Andreas Cramer. 3 Bde. Kopenhagen u. Leipzig 1758–1761, hier Bd. 2, S. 309–316 [94. Stück, 2.8.1759]). Die umgearbeitete Fassung von 1771 trägt den auch später beibehaltenen Titel Die Frühlingsfeyer (Klopstock, Friedrich Gottlieb, Oden. Hamburg 1771, S. 32). In der historisch-kritischen Ausgabe von 1889 sind die Vorreden zu den im Nordischen Aufseher publizierten Hymnen im Apparat ohne Hinweis auf einen potentiell vom Autor der Hymne abweichenden Autor wiedergegeben (Klopstock, Friedrich Gottlieb, Oden, hg. v. Franz Muncker und Jaro Pawel. 2 Bde. Stuttgart 1889, Bd. 1, S. 122, 129, 133, 138). In der Forschung wird generell von einer Autorschaft Klopstocks ausgegangen, vgl. Krummacher, Hans-Henrik, Bibelwort und hymnisches Sprechen bei Klopstock, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), S. 153–179, bes. S. 165f., Anm. 22; Kohl, Katrin M., Rhetoric, the Bible, and the Origins of Free Verse. The Early „Hymns“ of Friedrich Gottlieb Klopstock. Berlin, New York 1990, S. 15f. u.ö. Den Hinweis auf eine mögliche (Mit-)Autorschaft Cramers verdanke ich Joachim Jacob. Darauf schließen lässt vor allem der für die fiktionale Selbstprojektion des Herausgebers typische Bezug auf die Figur seines „Vaters“ am Ende der Vorrede (Klopstock, Oden, Bd. 1, S. 133). Eine Klärung dieser Frage bringt möglicherweise der entsprechende Band der Hamburger historisch-kritischen Werkausgabe (Klopstock, Werke). Klopstock, Oden, (wie Anm. 34), S. 133. Vgl. den Brief des Pfarrers Heinrich Waser an Bodmer, 22.12.1747, in: Klopstock, Friedrich Gottlieb, Der Messias. Gesang I–III. Text des Erstdrucks von 1748. Studienausgabe, hg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Stuttgart 1986, S. 175. Vgl. Höpker-Herberg, Elisabeth, Nachwort, in: Ebd., S. 232–248, hier S. 246f. Bodmer hatte Waser eine handschriftliche Fassung des 2. Gesangs gesandt. Vgl. Höpker-Herberg, Nachwort, (wie Anm. 36), S. 246f. Zur apokatastasis panton s.a. die Ode Die Glückseligkeit Aller, in: Klopstock, Ausgewählte Werke, (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 95–98.
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attackiert.38 Lessings Auseinandersetzung mit Klopstocks Aufsatz verdeutlicht die Grenzen, die von theologischer Seite zu verteidigen waren. Lessings Angriff auf den Nordischen Aufseher setzt die Orthodoxie als Maßstab voraus. Er kritisiert dessen „heterodoxe Lehrart“ und erklärt, dass „die Orthodoxie […] ein Gespötte“ geworden sei, da man sich nun „mit einer lieblichen Quintessenz“ der christlichen Lehre begnüge.39 Er konstatiert bezüglich des Nordischen Aufsehers, dass „überhaupt alle seine theologischen Stücke von ganz sonderbarem Schlage“ sind40 und greift Klopstocks Aufsatz als Beispiel heraus; dies ist insofern bedeutsam, als es zeigt, dass Lessing den Aufsatz als Beitrag zur theologischen Debatte ernst nimmt. Das einzig Neue daran sei, so Lessing, dass der Aufsatz „das denken nennt, was andere ehrliche Leute empfinden heißen“.41 Damit wird Klopstocks Wahrheitsanspruch bereits in der Begrifflichkeit widerlegt. Im Folgenden unternimmt Lessing dann eine sorgfältige binäre Begriffstrennung, zunächst in Form einer allgemeinen Diskreditierung der Empfindung gegenüber dem Denken: „Seine dritte Art über Gott zu denken, ist ein Stand der Empfindung; mit welchem nichts als undeutliche Vorstellungen verbunden sind, die den Namen des Denkens nicht verdienen.“42 Dies stimmt mit Wolffs Bestimmung überein, derzufolge die „Deutlichkeit der Erkäntniß für den Verstand / die Undeutlichkeit aber für die Sinnen und Einbildungs-Krafft gehöret“, wobei Wolff folgert: „so ist der Verstand abgesondert von den Sinnen und der Einbildungs-Krafft / wenn wir völlig deutliche Erkäntniß haben“.43 Während Klopstocks „beste Art“ für Lessing „notwendig die schlechteste Art zu denken“ ist,44 räumt Lessing dem Empfinden eine positive Funktion ein, solange es vom Denken getrennt und mit dem „Vergnügen“ assoziiert ist, das der Betrachter erst dann empfindet, wenn er „in eine gewisse Entfernung zurück[weicht]“45 – eine Metapher, die offenbar aus der verminderten, ‚visuell‘ vorstellbaren Deutlichkeit abgeleitet ist. Entscheidend ist die zeitliche Nachordnung: Denn das Vergnügen entsteht erst dann, „wenn ich meine Gedanken von Gott in Empfindungen übergehen lasse“.46 Lessing benutzt für das Denken die auch von Klopstock verwendete Kältemetapher. Bei ihm ist sie jedoch positiv besetzt und anders als bei Klopstock mit Aktivität verbunden: 38
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Lessing erwähnt Klopstock nicht mit Namen, signalisiert jedoch seine Kenntnis des Autors durch die typographische Hervorhebung des Pronomens „Er“ (Lessing, [wie Anm. 3], S. 609; s.a. die Anm. d. Hg., ebd., S. 1186). Die Identität des Autors wird dann im 111. Literaturbrief in Lessings Replik auf Basedow thematisiert (ebd., S. 748). Ebd., S. 602. Ebd., S. 606. Ebd., S. 607. Ebd. Wolff, Christian, Vernünfftige Gedancken von Gott / der Welt und der Seele des Menschen / Auch allen Dingen überhaupt / Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. 4., vermehrte Aufl. Frankfurt a.M., Leipzig 1729, S. 155 (§ 282). Vgl. Kaiser, (wie Anm. 4), S. 10–12. Lessing, Briefe, (wie Anm. 3), S. 607f. Ebd., S. 608. Ebd.
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Bei der kalten Speculation gehet die Seele von einem deutlichen Begriffe zu dem andern fort; alle Empfindung die damit verbunden ist, ist die Empfindung ihrer Mühe, ihrer Anstrengung; eine Empfindung, die ihr nur dadurch nicht ganz unangenehm ist, weil sie die Wirksamkeit ihrer Kräfte dabei fühlet.47
Vorgesehen ist hier allein ein horizontaler ‚Weg‘, keine vertikale Bewegung; und die mit dem Vergnügen assoziierten Empfindungen sind von der Aktivität ausgeschlossen. Lessings Grenzziehungen unterbinden auf diese Weise nicht nur eine Fusion von Denken und Empfinden, sondern auch jene Übergänge und Verbindungen, die in Klopstocks Verquickung von Theologie, Religion und Dichtung möglich werden. Bedeutsam ist ferner Lessings philosophisch fundierte Replik auf Klopstocks Sprachtheorie. Die These, dass die Sprache nicht ausreiche, das Gedachte auszudrücken, wertet er als Beweis, dass „wir alsdenn nicht deutlich denken“.48 Er fährt fort: „Die Sprache kann alles ausdrücken, was wir deutlich denken. Daß sie aber alle Nüancen der Empfindung sollte ausdrücken können, das ist eben so unmöglich, als es unnötig sein würde.“49 Vorausgesetzt ist hier eine philosophisch orientierte Sprachtheorie, derzufolge die Hauptaufgabe der Sprache darin besteht, in einer eins-zu-eins Relation den Gedanken Ausdruck zu verleihen.50 Deutlicher könnte der Gegensatz zu Klopstocks Poetik, Religion und Theologie nicht sein. Indirekt lässt sich hier auch verfolgen, welche Bedeutung rhetorisch ausgerichtete Sprachtheorien für die Romantik haben: Denn aus rhetorischer Perspektive steht die nuancierte Wirkung der Sprache auf die Emotionen des Rezipienten im Vordergrund, und diese wiederum setzt voraus, dass der Dichter diese Emotionen möglichst intensiv gefühlt haben muss.51 Die einschneidendste Kritik behält sich Lessing für Klopstocks Behauptung vor, es ließen sich auf der höchsten Stufe des durch stärkste Beschleunigung gekennzeichneten, empfindenden Denkens „neue Wahrheiten“ erkennen; denn damit stehe Klopstock „an der wahren Quelle, aus welcher alle fanatische und enthusiastische Begriffe von Gott geflossen“ seien, und stelle sich als „Schwärmer“ bloß.52 Nur der philosophische Zugang über die Prozesse des von den Affekten getrennten Denkens erlaubt eine Erkenntnis der Wahrheit von Gott.
47 48 49 50 51
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Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Eco, Umberto, Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Aus dem Italienischen übers. v. Burkhart Kroeber. 3. Aufl. München 2002, S. 299–321. Vgl. das horazische Diktum „si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi“ (Horaz, De arte poetica, in: Ders., Sämtliche Werke. Lat./dt. Teil I: Carmina, Oden und Epoden, nach Kayser, Nordenflycht u.a. hg. v. Hans Färber. Teil II: Sermones et Epistulae, hg. u. übers. v. Wilhelm Schöne. München 1993, S. 538–575, hier S. 546f. [V. 102f.]). Lessing, (wie Anm. 3), S. 609.
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Lessing äußert sich noch einmal im 111. Literaturbrief zu Klopstocks Abhandlung, um nun auf eine Replik von Basedow einzugehen.53 Hier verdeutlicht Lessing die grundsätzliche Grenze, die er zwischen Theologie und Dichtung gewahrt wissen will. Er versichert, „daß ich dem Herrn Klopstock in allem Ernste gewogen bin; so wie ich allen Genies gewogen bin“,54 wiederholt jedoch seine Hauptkritikpunkte mit der einleitenden Frage, „Wer heißt den Herrn Klopstock philosophieren?“;55 abgeschlossen wird die Zusammenfassung durch die Verurteilung von „des Herrn Klopstocks Philosophie“.56 Die Schärfe seiner Kritik begründet er damit, dass Klopstock mit seiner Abhandlung die theologische Kritik Gottscheds und anderer an der Glaubenslehre des Messias bestätigt habe: Denn Herr Basedow wird doch wohl wissen, wofür die Gottschede und Hudemanns* den Herrn Klopstock halten. Dieser Leute wegen tat es mir im Ernste leid, daß Er eine Theorie verraten habe, die ihren kahlen Beschuldigungen auf gewisse Weise zu statten komme.57
Lessing verweist hier Klopstock in die Schranken seines Metiers als Dichter, denn nur innerhalb des Bereichs der Dichtung ist er selber bereit, die theologischen Freiheiten zu akzeptieren, die sich der Messias-Dichter herausnimmt. Im Vordergrund steht damit die seit Anfang der Kontroverse um den Messias debattierte Frage, auf die Klopstock bereits 1749 in einem Brief an den französischen Prediger Johann Heinrich Meister eingegangen war, wie „die Freyheit in diesem so wichtigen Theile der Religions-Geschichte zu dichten […] zu rechtfertigen“ sei.58 Klopstock beruft sich einerseits auf die Heilige Schrift und andererseits auf das Kriterium der Erhabenheit, womit dem Dichter ein erheblicher Spielraum gegeben ist: Der Hauptgrund dieser Freyheit ist ein Ausspruch Johannis, wo er sagt, daß die Welt die Bücher nicht faßen würde, wenn alle Thaten des Meßias aufgeschrieben werden sollten. Der zweyte Puncte kömmt darauf an, ob ich des erhabenen Systems der Christlichen Religion würdig gedichtet habe.59
Seine Begründung überschritt schon zu diesem Zeitpunkt potentiell jene Grenze zwischen Literatur und Theologie, die in der späteren Kontroverse zur Disposition stand, ohne dass allerdings ein explizit theologischer Anspruch geltend gemacht wurde. Die Provokation von Klopstocks Aufsatz von 1758 lag in der Verwendung des Wortes „denken“ und in der Behauptung einer Erkenntnis „neuer Wahrheiten 53 54 55 56 57
58 59
Ebd., S. 748–751. Es ist dies Teil einer längeren Kontroverse mit Basedow um den Nordischen Aufseher, vgl. bes. ebd., S. 710–713 u. die Anm. des Hg., S. 1230–1232. Lessing 1985ff., (wie Anm. 3), S. 648f. Ebd., S. 649. Ebd., S. 750. Ebd. Lessing bezieht sich hier auf Schriften aus der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, in denen Johann Christoph Gottsched und Ludwig Friedrich Hudemann den Messias angegriffen hatten (vgl. die Anm. d. Hg., ebd., S. 1239f.). Klopstock an Johann Heinrich Meister, 26.1.1749, in: Klopstock, Werke und Briefe, (wie Anm. 13), Abt. Briefe, Bd. 1, S. 35. Ebd. Klopstock bezieht sich auf den letzten Vers des Johannesevangeliums, Joh. 21, 25.
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von Gott“: Denn damit beanspruchte er jenseits des Bereichs der Dichtung, aber auch jenseits der Religion eine theologisch-philosophische Legitimität. Deutlich wird aus der Auseinandersetzung zwischen Klopstock und Lessing, dass es um weit mehr geht als um theologische oder poetologische Detailfragen. Zur Debatte steht die für die Poetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts so bedeutsame Frage der Beziehung zwischen Dichtung und Theologie. Dass es sich hier um eine ‚Grenze‘ handelte, geht auch aus Herders Replik auf die Auseinandersetzung zwischen Klopstock und Lessing in der dritten Sammlung seiner Fragmente hervor: Er kommentiert Klopstocks Aufsatz in einem Kontext, wo er selber in einer literaturkritischen Schrift „an die Gränzen der Theologie“ streift.60 Herder verteidigt Klopstock insbesondere gegenüber Lessings Vorwurf, dieser sei ein „Schwärmer“,61 wobei er jedoch die Kritik damit entschärft, dass er geltend macht, Klopstock wolle nicht „philosophieren“, sondern schreibe „als gefühlvoller Mensch, Christ und Dichter“.62 Anders als Lessing verleiht Herder dem nuancierten Ausdruck der Empfindungen einen hohen Status, und er betont seine Wertschätzung Klopstocks unter Bezug vor allem auf die Affekte: Klopstock ist ihm der größte deutsche „Dichter der Empfindung“.63 Auch hier handelt es sich um die Würdigung einer Leistung, die zwar – in Einklang mit der Tradition geistlicher Dichtung – in den Bereich der Religion hineinreicht, nicht aber in den Bereich der Theologie, wenn Klopstock „gleichsam lebende Ausdrücke dieser weichen, menschlichen, christlichen, dichterischen Einbildungskraft“ vermittelt.64 Mit Klopstock stimmt Herder überein, dass derjenige, der „als ein genauer Philosoph“ liest, die Nuancen nicht wahrnimmt;65 aber wie Lessing lehnt er jeglichen Anspruch auf solchermaßen zu erlangende „wirklich neue philosophische Wahrheiten“ strikt ab.66 Klopstock ist nur dann vor dem Vorwurf der Schwärmerei zu retten, wenn er die Grenze zur Philosophie und Theologie nicht überschreitet: Klopstock ist ein Schwärmer, wenn er eine einzige dieser sich hervordrängenden Gedanken in die Reihe der Wahrheiten setzt, die die natürliche und geoffenbarte Theologie von Gott lehret. Aber das wird K. bei seinem unvorsichtigen Ausdruck: Wahrheiten, nicht haben sagen wollen: denn man weiß ja, was einem dichterischen Kopf Wahrheit ist: poetisch wahrscheinliche Vermutungen, sinnlich lebhafte Vorstellungsarten, moralisch gewisse Empfindungen, die nur jenen Wahrheiten der Philosophie und Offenbarung nicht widersprechen dörfen und müssen.67 60
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Herder, Johann Gottfried, Über die neuere deutsche Deutsche Literatur. Fragmente, […] Dritte Sammlung [1767], in: Ders., Werke in zehn Bänden, hg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u.a. Frankfurt a.M. 1985–2000 (Bibliothek deutscher Klassiker 1 u.a.), hier Bd. 1, S. 367–539, hier S. 520. Zur Auseinandersetzung mit Klopstocks Aufsatz und Lessings Replik vgl. den Abschnitt „Anhang von einigen Streitigkeiten der Briefe mit Wieland, Cramer, Klopstock“, bes. S. 526–534. Ebd., S. 527. Ebd. Ebd., S. 529. Ebd. Ebd. Ebd., S. 530. Ebd.
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Wenn auch Herder Klopstock als Dichter hochschätzt und gerade auf die nuancierte Sprache der Empfindung mit Begeisterung reagiert, gilt ihm die Grenze zwischen Theologie und Dichtung als nicht überbrückbar. Der Unterschied in seiner Beurteilung des klopstockschen Aufsatzes gegenüber Lessing liegt darin, dass er ihn aus der theologischen Debatte ausgrenzt. Über die für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts kennzeichnende Frage der Beziehung zwischen Dichtung und Theologie hinaus geht es in dieser Kontroverse auch um ein grundsätzliches Problem, das noch in der Gegenwart für die Poetik bedeutsam ist: Die Frage, inwieweit die an der Literatur beteiligten Diskurse überhaupt als voneinander abgegrenzt zu denken sind. Hierauf geben seit der Antike Philosophie und Rhetorik durchaus unterschiedliche Antworten, die in dieser Zeit aufeinandertreffen. Während die Rhetorik eher zu einer Verbindung der Diskurse neigt,68 besteht in der philosophischen Tradition eher die Tendenz zur Grenzziehung. Aus der Perspektive der im Zeichen des Idealismus sich konstituierenden Germanistik wurde der Kampf zugunsten der Philosophie entschieden, mit dem Ergebnis, dass die Literatur fortan als ‚Kunst‘ unter dem Aspekt der ‚Autonomieästhetik‘ bestimmt wurde. Damit werden einerseits die Fremdbestimmung und die Zweckorientiertheit der Literatur ad acta gelegt, andererseits jedoch wird eine freie Interaktion zwischen der Literatur und anderen Diskursen ausgeschlossen. Gerhard Kaiser findet in dem Aufsatz Von der besten Art über Gott zu denken die Bestätigung, dass Klopstock „zwischen den Zeiten“ stehe und dass ihm „mit der Autonomie der Dichtung auch die des Gefühls verschlossen bleibt“; seine „marottenhafte Verkennung des wissenschaftlichen Denkens“ habe er „mit dem Ausschluß von den großen geistigen Auseinandersetzungen der Zeit, die den weiten Horizont der Klassik bilden“, bezahlt.69 Verfolgt man jedoch die Debatten um die Grenzen der Literatur bis hin zu Idealismus und Romantik, ergibt sich eine andere Geschichte. Denn es wird dann evident, dass sich die rhetorisch-humanistisch orientierte Kontroverse um die Grenze zwischen Dichtung und Theologie in eine philosophischaristotelisch orientierte Kontroverse um die Grenze zwischen der nun als ‚Kunst‘ konzipierten, mittels religiöser Metaphorik aufgewerteten Dichtung und sprachlichen Diskursen insgesamt verlagert. Auf beiden Seiten der vielbesprochenen ‚Epochenschwelle‘70 wird jedoch der Anspruch der Dichtung auf den Zugang zur Wahrheit geltend gemacht, der ihr zugleich eine besondere Legitimation sichert. Und auf beiden Seiten der ‚Epochenschwelle‘ sucht die Dichtung den Kontakt mit der Religion sowie auch eine Bildungsfunktion, die sie mit anderen Diskursen verknüpft. Die These von der Autonomieästhetik wird von philosophischen Ab- und Eingrenzungen der Dichtung gestützt, die systematisch besonders in Kants Kritik der 68 69 70
Vgl. besonders Cicero, Marcus Tullius: De oratore / Über den Redner. Lat./dt. Übers. u. hg. v. Harald Merklin. Stuttgart 1976 (Universal-Bibliothek 6884), S. 458–461 (III [6], 22f.). Kaiser, (wie Anm. 4), S. 23f. Vgl. den Sammelband: Herzog, Reinhart, Koselleck, Reinhart (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987.
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Urteilskraft und in Hegels Ästhetik gesetzt werden. So grenzt Kant die Dichtung als ‚freie Kunst‘ von der Natur, von der Wissenschaft, von Handwerk und Lohnkunst und von der gesellschaftlichen Unterhaltung ab und verpflichtet sie auf die Zweckfreiheit.71 Hegel festigt die Grenzen mit territorialer Metaphorik in Bezug auf Religion und Philosophie und macht die Dichtung auch sprachlich zu einer Enklave, indem er fordert, sie müsse „eine andere Sprache [führen]“ als jene, die im „gewöhnlichen Leben“, in Religion und in Wissenschaft benutzt wird.72 Er situiert die Kunst im „Gebiete der Phantasie“73 und scheidet dieses scharf von anderen Gebieten: „Die Kunst soll uns in allen Beziehungen auf einen anderen Boden stellen, als der ist, welchen wir in unserem gewöhnlichen Leben sowie in unserem religiösen Vorstellen und Handeln und in den Spekulationen der Wissenschaft einnehmen.“74 Besonders geht es Hegel um die Ausschaltung der Rhetorik aus dem Diskurs um die Dichtung. Dies erhellt aus dem Abschnitt „Unterschied gegen die Geschichtsschreibung und Redekunst“, in dem die humanistische Gruppierung der ‚schönen Wissenschaften‘ vorausgesetzt ist; im folgenden Abschnitt „Das freie poetische Kunstwerk“ löst er dann die Poesie aus dieser traditionellen Verbindung und überführt sie in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie.75 Einerseits wird somit der Kunst ‚Freiheit‘ zugesprochen, andererseits jedoch wird diese Freiheit von der Philosophie bestimmt und eingegrenzt. Hegels philosophische – und von philosophischen Interessen geleitete – Argumentation erlangte in der Literaturwissenschaft nicht zuletzt deswegen einen hohen Status, weil eine abgrenzbare Literatur säuberlich systematisierbar wird. Die Literaturwissenschaft erhält auf diese Weise eine sichere methodologische Basis und kann sich auch gegenüber anderen Wissenschaften legitimieren. Aus diesem Zusammenhang heraus ist auch die breite Akzeptanz von Niklas Luhmanns These der „Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems“ in der Germanistik zu erklären.76 Hier übernimmt die Soziologie die theoretische Herrschaft über die Literatur. Wie Hegel setzt Luhmann die Zugehörigkeit der Dichtung zur ‚Kunst‘ voraus und damit einen Dichtungsbegriff, der sie von vornherein dem Zugriff der Rhetorik
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Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft [2. Aufl., 1793], in: Ders., Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 55 u.a.), hier Bd. 10: Kritik der Urteilskraft, bes. S. 237f. (§ 43). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik [2. Aufl. 1842], in: Ders., Werke. Auf der Grundlage der „Werke“ von 1832–1845 neu edierte Ausg., hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. 20 Bde. u. Register. Frankfurt a.M. 1986 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 601 u.a.), Bd. 13–15, hier Bd. 15, S. 283 (3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.a.). Ebd., S. 284 (3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.a.). Ebd., S. 283 (3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.a.). Ebd., S. 257–270, bes. S. 257 u. 266 (3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., A.2.b.–c.). Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, Zitat S. 292. Zur Bedeutung seines Systembegriffs in der Literaturwissenschaft vgl. beispielsweise den Sammelband: Fohrmann, Jürgen, Müller, Harro (Hg.), Literaturwissenschaft. München 1995 (UTB UniTaschenbücher 1874).
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enthebt;77 maßgebend ist die idealistische Ästhetik. Er gründet seine Theorie auf die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierte „Vorstellung einer Systemeinheit“, wie sie sich in den Begriffen „Beaux-Arts oder schöne Kunst“ und in der „Reflexionstheorie des Kunstsystems als ‚Ästhetik‘“ manifestiert.78 Die „geläufige Redeweise […] ‚Kunst und Literatur‘“79 diskreditiert er als rein akademische Verteidigung disziplinärer Interessen; ignoriert würden damit Zusammenhänge, die „im Kunstsystem selbst wurzeln“,80 wobei er nicht nur zufällig eine für den Idealismus charakteristische organische Metapher wählt.81 Systematisch ausgeblendet wird auf diese Weise die aristotelische Tradition und somit Historizität der ‚schönen Kunst‘82 sowie die Möglichkeit, dass das Verhältnis zwischen Künsten, Dichtung und anderen Disziplinen prinzipiell unstabil sein könnte. Luhmanns Modell von der Ausdifferenzierung des Kunstsystems spricht der Kunst zwar Autonomie zu, macht sie jedoch gerade dadurch absolut abhängig vom Gesellschaftssystem, denn was „tatsächlich reflektiert wird, ist die dem Kunstsystem aufgenötigte Autonomie, ist also die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems“.83 Die Kunst, und damit die Dichtung, wird in einen Zustand absoluter Unfreiheit und zugleich absoluter Wirkungslosigkeit gebannt, indem sie bestimmt wird von „Selbstreflexion“, „Selbstprovokation“ und „Selbsteinschränkung“.84 Bei den Dichtern selbst läßt sich jedoch auch im Zeitalter des Idealismus eine freiwillige Beschränkung ihres Wirkungsbereichs nicht feststellen, weder in Sturm und Drang und Weimarer Klassik noch auch in der Romantik. Vielmehr besteht wie schon bei Klopstock eine Tendenz zur Legitimation über Entgrenzung. Zwar erhalten Aspekte, die retrospektiv unter den Begriff der ‚Autonomie‘ subsumiert wurden, im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution eine wichtige apologetische Funktion, aber sie sind Teil einer komplexen Debatte um die Funktionen und Möglichkeiten der Literatur. In einer Zeit der graduellen Lockerung des theologischen Dogmas liefern gerade Religion und Theologie eine Fülle von Metaphern – einschließlich jene der Freiheit und der Herrschaft –, die zur Adaptierung und Uminterpretation reizen und die auch die vielfältigsten Verbindungen zwischen Dichtung und Religion ermöglichen. Während die philosophisch 77
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Vgl. seine Isolierung der Sprache der Poesie von anderen Formen der Sprache (Luhmann, [wie Anm. 76], S. 45f.). So lehnt er den „Begriff des Lesens“ nicht nur für die moderne Literatur ab, sondern konstatiert allgemein, es sei „immer schon“ darum gegangen, dichterische Texte „unlesbar“ zu machen (ebd., S. 46, Anm. 51). Ebd., S. 290f. Ebd., S. 290, Anm. 142. Ebd., S. 290. Vgl. z.B. Hegels Forderung, das poetische Kunstwerk müsse „zu einer organischen Totalität […] ausgebildet und abgeschlossen werden“ (Hegel, [wie Anm. 72], Bd. 15, S. 248; 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., A.2.a.). Vgl. die Herleitung des Begriffs bei Batteux, Charles, Les Beaux Arts réduits à un même principe. Paris: Durand 1746. Ebd., S. 270. Ebd.
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bestimmte Ästhetik die Herrschaft über die Dichtung antritt, macht sich die Dichtung religiöse Motive und Strukturen zunutze, um im Diskurs der Disziplinen die Oberhand zu gewinnen: Die Religion wird zur ‚besten Art über Literatur zu denken‘, und die Literatur wird zum Ort der Wahrheit. So beansprucht Schillers Hymne Die Künstler die Vorherrschaft der Dichtung gegenüber der Philosophie.85 Der Dichter wünscht, „die ernste Wahrheit“ möge „zum Gedichte [flüchten]“, und erklärt, die „Wissenschaft“ des „Denkers“ werde erst im „Kunstwerk“ „geadelt“;86 die Künstler führen den Denker „der Dichtung Blumenleiter […] hinauf“, um die neuplatonische Vertikalbewegung am „Thron der hohen Einigkeit“ gipfeln zu lassen.87 Zudem beansprucht Schiller – durchaus zweckorientiert und unter Berufung auf die Religion als „eines Staats festeste Säule“88 – die Bildung des gesamten Publikums, wobei nun der Dichter in einem neuplatonischen Universum von oben her wirkt: „Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Theile des Volks das Licht der Weißheit herunterströmt, und von da aus in milderen Stralen durch den ganzen Staat sich verbreitet.“89 Goethe lässt sich in seinem Faust auf die gesamte Spannweite religiöser und theologischer Debatten seiner Zeit ein; und am Ende dieser Tragödie epischen Ausmaßes macht der zugleich menschliche und übermenschliche Held eine der Himmelfahrt des klopstockschen Messias entsprechende, aber mit katholischen Motiven durchwirkte Aufwärtsbewegung durch.90 Novalis lässt seine Hymnen an die Nacht in einem geistlichen Lied kulminieren, das in der mystischen Vereinigung mit „der süßen Braut […] / Jesus“ und Versenkung „in des Vaters Schoß“ endet91 – eine nach unten führende Entsprechung zu Klopstocks Aufstieg Jesu, der sich am Ende des Messias auf der „Höhe des Thrones“ „zu der Rechte des Vaters“ setzt.92 Der 85
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Schiller, Friedrich, Die Künstler [1789], in: Ders., Werke. Nationalausgabe, begr. v. Julius Petersen, fortgeführt v. Lieselotte Blumenthal. Weimar 1943ff., hier Bd. 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776–1799 (1943), S. 201–214. Ebd., S. 212f. (V. 450f. u. 402–405). Ebd., S. 213f. (V. 428 u. 473). Schiller, Friedrich, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? [Vortrag 1784, Veröffentlichung 1785], in: Schiller, Werke, (wie Anm. 85), hier Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil (1962), S. 87–100, hier S. 91. Ebd., S. 97. Goethe, Johann Wolfgang von, Faust [1808–1832], in: Ders., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Friedmar Apel, Hendrik Birus u.a. Frankfurt a.M. 1985ff. (Bibliothek deutscher Klassiker 9 u.a.), hier Bd. VII/1–2: Faust, hg. v. Albrecht Schöne (3. Aufl., 1995), hier Bd. VII/1, S. 456–464 (Bergschluchten; V. 11845–12111). Albrecht Schöne konstatiert, es werde hier alles „von einem unwiderstehlichen Vertikalsturm: vom Sog der Apokatastasis panton erfaßt“ (ebd., Bd. VII/2, S. 780). Zur Beziehung zwischen Klopstocks Messias und Goethes Faust vgl. Kohl, (wie Anm. 9), S. 145–147. Novalis: Hymnen an die Nacht [1800], in: Ders., Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hist.-krit. Ausg. in vier Bänden, einem Materialienband und einem Ergänzungsband in vier Teilbänden […]. Begr. v. Paul Kluckhohn. Hg. v. Richard Samuel. 1.–3. Aufl. Stuttgart, Berlin u.a. 1960ff., hier Bd. 1: Das dichterische Werk (1960), S. 131–157, hier S. 157 (6. Hymne, V. 55f. u. 60). Klopstock, Messias, (wie Anm. 13), Bd. IV/2, S. 299 (Gesang XX, V. 1187).
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katholische Eichendorff versteht die „Poesie“ als „in ihrem Kern […] religiös“93 und interpretiert die gesamte deutsche Literatur unter diesem Aspekt; die unendliche Bewegung zwischen allen Teilen der göttlichen Schöpfung kommuniziert er in einer poetischen Sprache, die er mit klopstockschen Mitteln dynamisiert.94 Die Übergänge zwischen Religion und Dichtung sind fließend und speisen sich aus der flexiblen Vereinigung, mit der Klopstock den philosophisch-theologischen Grenzen die poetologische Legitimation entzogen hatte. Dass die Autonomie nur ein Argument im Projekt der Romantik ist, verdeutlicht vor allem das bekannte, von Friedrich Schlegel verkündete Programm der „romantischen Poesie“. Denn dies strebt nicht nach Selbstreflexion und Abgrenzung, sondern vielmehr nach einer umfassenden Verbindung der Diskurse: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie, und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie, und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisiren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang.95
Schlegel negiert hier jegliche systematische Grenzziehung und proklamiert Verbindungen sowohl ‚innerhalb‘ der Poesie als auch zwischen der Poesie und anderen Formen der sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerung. Signifikant ist die geforderte Verbindung der Poesie sowohl mit der Philosophie als auch mit der Rhetorik. Damit lässt Friedrich Schlegel für die Dichtung alle Möglichkeiten offen. Der Kunstbegriff ist zeitspezifisch und in seinen Grenzen und Allianzen wandelbar. Die Frage, ob ‚die Literatur‘ ein Subsystem der Kunst ist oder sich als Teil eines unbegrenzten, mit Religion, Theologie, Philosophie, Naturwissenschaften sowie auch mit der Alltagssprache verbundenen Diskurses verstehen lässt, entzieht sich einer stabilen Antwort. Aus post-idealistischer wissenschaftlicher Perspektive erscheint Klopstocks Verbindung von „Denken“ und „Empfinden“ als historisches Kuriosum; den Sieg trug die rationalistische Tradition davon, die dem Denken die Vormacht zusprach und die Trennungslinie gegenüber den Emotionen bekräftigte. Diese Trennungslinie wird jedoch in den letzten Jahrzehnten aus vielen Richtungen 93
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Eichendorff, Joseph von, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, in: Ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach u.a. Frankfurt a.M. 1985–1993 (Bibliothek deutscher Klassiker 8 u.a.), hier Bd. 6: Geschichte der Poesie. Schriften zur Literaturgeschichte (1990), S. 805–1074, hier S. 820. Vgl. Langen, August, Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 70 (1948/49), S. 249–318, hier S. 270 u. passim. Schlegel, Friedrich: Fragmente [1798], in: Ders., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler. Paderborn, Zürich u.a. 1958ff., hier Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken (1967), S. 182 (Athenäumsfragment 116).
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in Frage gestellt. Herausgegriffen seien lediglich zwei Ansätze, einer aus den Neurowissenschaften und einer aus der Philosophie. Die Neurowissenschaftlerin Susan Greenfield kritisiert in ihrem Buch The Private Life of the Brain die aus der Antike bis in die Gegenwart tradierte Trennung zwischen emotionalen und rationalen Prozessen, da diese bis in die Gegenwart eine angemessene Erforschung der Emotionen im Rahmen der kognitiven Wissenschaften behindert habe; sie setzt demgegenüber eine Gleichzeitigkeit und Untrennbarkeit von Emotionen und Bewusstsein voraus: „I am suggesting that some sort of basic emotional state is present whenever you are conscious“.96 Programmatisch zu verstehen ist Martha Nussbaums Erkundung von Bezügen zwischen Philosophie und Literatur unter dem Titel Love’s Knowledge, in dem sie ein „Gespräch“ zwischen ihnen anzuregen sucht, da kein Diskurs den Zugang zur Wahrheit garantiere.97 Ähnlich programmatisch ist der Titel Upheavals of Thought. The Intelligence of the Emotions, mit dem sie aus moralphilosophischer Perspektive die Emotionen zu einem integralen Teil rationeller Prozesse erklärt: „Emotions are not just the fuel that powers the psychological mechanism of a reasoning creature, they are parts, highly complex and messy parts, of this creature’s reasoning itself.“98 Es scheint, dass die philosophisch gezogenen Grenzen zwischen Denken und Empfinden gegenwärtig demontiert werden und eine Zusammenwirkung denkbar geworden ist. In einem zunehmend rhetorisch bestimmten Umfeld lassen sich dann möglicherweise auch die Geschichten der Beziehung zwischen Literatur, Religion und Theologie im 18. Jahrhundert anders erzählen.
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Greenfield, Susan, The Private Life of the Brain. 2. Aufl. London 2001, S. 16. Nussbaum, Martha C., Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. Oxford, New York 1990. Anzuregen sucht sie ein liebevolles „Gespräch“ zwischen Philosophie und Literatur: „the attentive – or I might even (too naively?) say loving – conversation of philosophy and literature with one another“ (ebd., S. 284). Nussbaum, Martha C, Upheavals of Thought. The Intelligence of the Emotions. Cambridge u. New York 2001, S. 1 u. 3.
HANS-GEORG KEMPER (Tübingen)
Literaturtheorie als Predigt im Sturm und Drang Theologische Implikationen eines literarischen Paradigmenwechsels
I. Im April 1770 besuchte Johann Wolfgang Goethe zum ersten Mal das Straßburger Münster. In dem zwei Jahre später veröffentlichten Traktat Von deutscher Baukunst schildert er, wie er dieser Begegnung mit Bangen entgegensah, weil der Kunst-Geschmack seines Jahrhunderts, den er sich auf dem Wege zum Münster vergegenwärtigt, geradezu ein Verdikt über den gotischen Stil und damit die Formen der gotischen Architektur verhängt hatte: Als ich das erstemal nach dem Münster gieng, hatt ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntniß guten Geschmacks. Auf Hörensagen ehrt ich die Harmonie der Massen, die Reinheit der Formen, war ein abgesagter Feind der verworrnen Willkürlichkeiten gothischer Verzierungen. Unter die Rubrick Gothisch, gleich dem Artikel eines Wörterbuchs, häufte ich alle synonimische Mißverständnisse, die mir von unbestimmtem, ungeordnetem, unnatürlichem, zusammengestoppeltem, aufgeflicktem, überladenem, jemals durch den Kopf gezogen waren. […] und so graute mirs im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausborstigen Ungeheuers.1
Ironisch skizziert Goethe zunächst den „guten Geschmack“, wie ihn Shaftesbury, Hutcheson, Batteux und andere wirkungsmächtig entwickelt hatten. „Nichts ist gewiß stärker unserem Verstande eingeprägt oder tiefer mit unserer Seele verwoben als die Idee von Ordnung und Ebenmaß“, verkündet der Neuplatoniker Theokles in Shaftesburys Moralisten. „Daher die große Gewalt der Zahl und aller jener mächtigen Künste, die sich auf ihre Handhabung und ihren Gebrauch gründen.“2 Hier steht gegen John Lockes Empirismus die platonische Ideen-Lehre Pate für die Annahme einer präkognitiv mitgegebenen, durch Wiedererinnerung funktionierenden Strukturiertheit des Denk- und Empfindungsvermögens, das, von Maß und Zahl der kosmischen Ordnung und Harmonie geprägt, übereinstimmende Empfindungen für Geschmack und die Kongruenz von Schönheit und Tugend (Kalokagathie) besitzt und das vom Schönen und Guten in der Sinnenwelt und deren 1
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Goethe, Johann Wolfgang, Von deutscher Baukunst, in: Herder, Goethe, Frisi, Möser: Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter, hg. v. Hans-Dietrich Irmscher. Stuttgart 1968, S. 95–104, hier S. 99. Shaftesbury (d. i. Anthony Ashley-Cooper, Earl of Sh.), Die Moralisten. Eine philosophische Rhapsodie – Eine Wiedergabe gewisser Unterhaltungen über Natur und Moral, in: Ders., Ein Brief über den Enthusiasmus. Die Moralisten. Mit e. Einleitung neu hg. v. Wolfgang H. Schrader. Hamburg 1980, S. 37–210, hier S. 107.
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Nachahmung in der Kunst unmittelbar angezogen wird, spontan zu urteilen und sich daran zu bilden vermag.3 – Mit der Ausbreitung des ‚guten Geschmacks‘ legitimierte sich die Dichtung der Empfindsamkeit.4 Die weiteren Stichworte Goethes – „Harmonie der Massen, Reinheit der Formen“ – verweisen alle auf diesen Kontext.5 Mit dem darin mitschwingenden ästhetischen und ethischen Ideal des Ausgleichs der Gegensätze, der Harmonie und des Maßes, wie es Winckelmann an der Architektur und Plastik der Griechen entdeckt hatte und wie es als Idealzustand empfindsamer Anthropologie galt,6 wussten sich die Autoren dieser Phase der Aufklärung zugleich in der Tradition von Platons Eros-Metaphysik – der „ordnende
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Wie für das Essen und Trinken, so Hutcheson und Batteux, so gibt es auch im Bereich der Kunst ein „Gefühl der Schönheit, das denen Menschen natürlich sey“, einen angeborenen „guten Geschmack“, der mit dem „moral sense“ im Bereich des sittlichen Handelns korreliert. Beide aber sollen entwickelt und gebildet werden, am besten durch solche Kunstwerke, die das alte Platonische Ideal der ‚Kalokagathie‘, der Kohärenz des Schönen und Guten, nachzuahmen versuchen. Vgl. Hutcheson, Franz, Untersuchung unserer Begriffe von Schönheit und Tugend in zwo Abhandlungen. I. Von Schönheit, Ordnung, Übereinstimmung und Absicht. II. Von dem moralischen Guten und Übel. Aus dem Englischen übersetzt [von Johann Heinrich Merck]. Frankfurt und Leipzig 1762, S.)(5v. Vgl. dazu und zu Batteux im hier entfalteten Zusammenhang Kemper, Hans-Georg, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. VI/1: Empfindsamkeit. Tübingen 1997, S. 216ff. Der gute Geschmack, so schrieb der ‚Bremer Beiträger‘ und Klopstock-Freund Giseke in einer Versepistel an Hagedorn, „lehret einen Geist, was schön ist, schnell empfinden, […] Er giebt ihm ein Gesetz, nach dem er alles wiegt, / Und niemals in der Wahl des Schönen sich betriegt. […] Er flößt uns Zärtlichkeit und Lust am Guten ein, / Und macht ein Herz geschickt, einst tugendhaft zu seyn“ (Giseke, Nicolas [!] Dietrich, Poetische Werke, hg. v. Carl Christian Gärtner. Braunschweig 1767, S. 62, 67). In ihm verquickt sich der anthropologisch fundierte „gute Geschmack“ mit dem ‚Natürlichen‘. ‚Natürlich‘ bedeutet hier aber nicht formlos – für das Formlose und Unförmige steht eben „synonimisch“ das „Gothische“ auf dem Geschmacks-Index –, sondern bedeutet in Übereinstimmung mit der vor allem durch die ‚new science‘ frisch ins Bewusstsein gerufenen kosmischen Ordnung der Natur etwas Idealisch-Natürliches, in dem das Material der Kunst und das Stoffliche der Poesie durch bewusste Formung um der erfreuenden und veredelnden Wirkung willen verschönt erschienen. – Es passt zu dieser Kunst- und Geschmacksauffassung, dass Johann Joachim Winckelmann Mitte des Jahrhunderts eben dieses Kunst-Ideal in den altgriechischen Kunst-Denkmälern – vor allem den Skulpturen – wiederentdeckte und damit als ursprünglich authentifizierte. Man finde in den griechischen Werken „nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur, das ist gewisse idealische Schönheiten derselben“ (Winckelmann, Johann Joachim, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Sendschreiben. Erläuterung, hg. v. Ludwig Uhlig. Stuttgart 1969, S. 5). Die griechischen Künstler entwarfen im Sinne Platons „Urbilder“ schöner Körper in ihrem Geist und bildeten danach ihre Skulpturen. Die sinnliche Natur aus der Welt der Erscheinungen bot das Vorbild für die äußere Gestalt, die aus dem „Urbild“ erschaute idealische Schönheit verlieh den Gestalten die erhabenen, göttlichen Züge (ebd., S. 10f.). Auf diese Weise waren die Künstler auf dem Weg zum „allgemeinen Schönen“ und verdienten deshalb eher nachgeahmt zu werden als die real vorfindliche Natur (ebd., S. 4, 13). „Edle Einfalt“ und „stille Größe“ wurden so zu den Maß-Einheiten künstlerischer Form (ebd., S. 20). Vgl. Sauder, Gerhard, Empfindsamkeit. Bd. I: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 125ff., S. 137ff.
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Eros“ stiftet „harmonischen Ausgleich“ und „maßvolle Mischung“7 – sowie mit der „Theorie der Mitte“ in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik.8 Gegenüber der mächtigen, an der bildenden Kunst orientierten griechischen Tradition suchte der junge Goethe einen Wechsel mit der Inthronisation der literarischen Formen-Sprache als Leitdisziplin der Ästhetik herbeizuführen. Erst im Sturm und Drang, so möchte ich gegenüber anderen neueren Forschungspositionen verdeutlichen,9 ereignet sich ein radikaler formästhetischer Paradigmenwechsel. Ihm liegt der – vorübergehende – Abschied von ‚Athen‘ – hier von der Nachahmung der klassischen Formen, vom Vorbild der Architektur, Plastik und Malerei, damit vom „ut pictura poesis“-Prinzip, von der Dominanz des Seh-Sinns und der räumlichen Orientierung und Ordnungsvorstellung – und die Hinwendung zu ‚Jerusalem‘ und damit zum biblisch-christlichen Modell literarischer Hermeneutik zugrunde, zur Dominanz der Wort- und Schrift-Offenbarung in ihrer höchsten Dignität, verbunden mit der Auslegung ihrer Sinn-Intentionalität nach dem Vorbild des göttlichen, sich in Bibel und ‚Buch der Natur‘ offenbarenden Schöpfers, verbunden mit der Dominanz des Hör-Sinns und der geballten Kraft an Evokation spezifisch literarischer Sinnlichkeit als Gegenstand und Medium ästhetischen Erlebens. Im Rückgriff auf einen hermetischen Pantheismus und durch die kraftvolle Dynamisierung der Formensprache wird Literatur als ‚Ausdruck‘ der Natur zum mitreißenden ‚fast-wirklichen‘ Analogon des ‚Lebens‘. – Schon in seiner großen Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon im Ersten kritischen Wäldchen (1769) moniert Herder, Lessing habe in seinem Werk nicht „diesen Unterschied des Aristoteles zwischen Werk und Energie zum Grunde gelegt“.10 Er selbst intensiviert, ja radikalisiert aber den ‚energeia‘-Begriff, der eigentlich nur die Befähigung zum evidenten Vorstellen bzw. Imaginieren, zur sprachlichen Simulation von Bildlichkeit meint,11 so sehr zum Begriff der „Kraft“ als Kern der Poesie, dass sich dieses 7
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Vgl. Platon, Das Trinkgelage oder Über den Eros. Übertragung, Nachwort und Erläuterungen v. Ute Schmidt-Berger. Mit einer Wirkungsgeschichte von Jochen Schmidt und griechischen Vasenbildern. Frankfurt a.M. 1985, S. 37f. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzung und Nachwort v. Franz Dirlmeier. Anmerkungen von Ernst A. Schmidt. Stuttgart 1969, S. 45ff. Vgl. dazu Simonis, Annette, Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 1ff., 23ff., 57ff. – Burdorf, Dieter, Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart, Weimar 2001, S. 80ff., 93ff. Beide heben eher Herders und Goethes Kontinuität in der (neu-)platonischen Form-Tradition hervor. Einen Paradigmenwechsel, den Burdorf als „Ablösung des Konzepts rhetorischer Virtuosität durch das ästhetisch-poetologischer Reflexivität“ definiert, habe es zu Beginn des 18. Jahrhunderts – mitinspiriert durch den Neuplatonismus – gegeben (ebd., S. 12). Herder, Johann Gottfried, Kritische Wälder. Erstes Wäldchen, in: Ders., Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a.M. 1993 (Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden. Bd. 2), S. 63–245, hier S. 139. Vgl. dazu Drügh, Heinz J., Präsenzen und Umwege – Kleists medienanalytische Ekphrasis, in: Albes, Claudia und Frey, Christiane (Hg.), Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800. Würzburg 2003, S. 181–207, hier S. 202. Vgl. Ders., Die Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte von 1700 bis 2000. Tübingen 2005.
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Verständnis von ‚Kraft‘, von dem her erst „Poesie überhaupt als Expression des Ich“ begründbar wird,12 aus dieser rhetorisch-poetologischen Tradition faktisch nicht mehr zureichend herleiten lässt: „Die Poesie“, erklärt Herder, „wirkt durch Kraft. – Durch Kraft, die einmal den Worten beiwohnt, durch Kraft, die zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar auf die Seele wirket. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht aber das Koexsistente, oder die Sukzession.“13 Im Folgenden versuche ich deshalb, die Dynamik, Energie und Sprach-Kraft der Literatur- und Theorie-Sprache des Sturm und Drang von einem theologischen Modell her besser zu fassen als aus poetologischen Traditionen und aus theologie-abstinenten Diskussionen um die Herausbildung einer Ästhetik der Performanz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Verschiedene historische Bedingungen haben zum Gelingen dieses zeitweiligen Paradigmenwechsels beigetragen, der bekanntlich zugleich den internationalen Höhenflug der deutschen Literaturgeschichte einleitete.14 Am wichtigsten war dabei im Blick auf Herkunft, Studium oder Beruf die enge Beziehung fast aller Autoren des Sturm und Drang zur protestantischen Theologie und Kirche. Hamann, der am schärfsten lutherisch denkende Theologe aus Passion, hatte den Kurswechsel eingeleitet. Um die christliche Wahrheit der Bibel gegenüber den rationalistischen Einwürfen seines Zeitalters zu retten, hatte er Gott in seiner Aesthetica in nuce (1762) als absoluten Autor und Poeten verstanden, der seine Wahrheit den ersten Menschen in einer sinnlichen, bilderreichen und ihrem Verständnishorizont daher angemessenen Sprache vermittelte. In diesem Sinne war „Poesie“ „die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“.15 Zugleich entschied er den schon seit Opitz andauernden innerliterarischen Streit zwischen ‚Athen‘ und ‚Jerusalem‘ um die historische Priorität der Dichtkunst zugunsten ‚Jerusalems‘: „Das Heil kommt von den Juden.“16 Entscheidend wurde darüber hinaus, dass die 12
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Vgl. dazu Zymner, Rüdiger, Literarische Individualität. Vorstudien am Beispiel Johann Christian Günthers, in: Stüben, Jens (Hg.), Johann Christian Günther (1695–1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters. München 1997, S. 249–287, hier S. 280. Herder, Kritische Wälder (wie Anm. 10), S. 194. Vgl. dazu auch Kemper, Hans-Georg, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. VI/2: Sturm und Drang: Genie-Religion. Tübingen 2002, S. 226ff., 237f. Vgl. dazu zuletzt Schlaffer, Heinz, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München, Wien 2002, S. 54ff. Hamann, Johann Georg, Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose, in: Ders., Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar hg. v. SvenAage Joergensen. Stuttgart 1968. Bibliogr. revidierte Ausg. 1998, S. 75–147, hier S. 81. Hamann (wie Anm. 15), S. 127. Zum Streit um ‚Athen‘ und ‚Jerusalem‘, der bis in die Patristik zurückreicht und um die historische Priorität und den höheren Rang der ‚biblisch-christlichen‘ oder ‚heidnischen‘ Literatur geführt wurde, vgl. Dyck, Joachim, Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977, S. 13ff. (zum 17. Jh.), S. 91ff. (zum 18. Jh.). Vgl. ferner Kurz, Gerhard, Athen oder Jerusalem. Die Konkurrenz zweier Kulturmodelle im 18. Jahrhundert, in: Braungart, Wolfgang, Fuchs, Gotthart, Koch, Manfred (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. I: um 1800. Paderborn u.a. 1997, S. 83–96. Der vorliegende Beitrag setzt
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zentrale Form biblischer Vermittlung und Aneignung für die Literatur fruchtbar gemacht wurde, nämlich die Predigt.17 Deren Bedeutung in der protestantischen Frömmigkeit ist kaum zu überschätzen. Denn sie rückte durch Luther ins Zentrum des evangelischen Gottesdienstes, ersetzte die katholische Sakramentsmystik durch die lebendige Verkündigung des Wortes, und auch die reformatorische Theologie lässt sich von daher als eine „Theologie der Predigt“ auffassen.18 Aber eben deshalb scheint die Predigt eine so genuin kirchliche und theologische Gebrauchsform zu sein, dass ihre Übernahme in Literatur und Literaturtheorie eigentlich nur in paradoxer Radikalität denkbar erscheint: Wenn Literatur predigt – oder gepredigt wird –, dann ist sie entweder Medium und Magd von Theologie und Frömmigkeit, oder sie verkündigt umgekehrt eine eigene, andere Religiosität. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass beide Fälle im Sturm und Drang eintreten: Der erstere, dass Literatur Teil und Medium theologischer (wenn auch nicht mehr orthodox christlicher) Predigt wird, ereignet sich beim frühen Herder (II.), der zweite, dass die Literatur ihre eigene Religiosität verkündet und die Form der Predigt daher zur Plausibilisierung der eigenen Würde als Organ der Wahrheit usurpiert, vollzieht sich beim jungen Goethe (III.). Dabei muss ich mich im Folgenden auf literaturtheoretische Texte und Aspekte beschränken und daran zeigen, dass und wie der literarische Paradigmenwechsel ‚gepredigt‘ wird.
II. Im Frühjahr 1765 entwarf Herder kurz nach Antritt seiner Predigerstelle in Riga das Idealbild eines Redners Gottes.19 Dieser verzichtet in Herders imaginärem
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andere Akzente als Kurz in seiner weiträumigen Problemübersicht und kann als dessen Ergänzung gelesen werden. Als eine Konstitutionsbedingung noch der modernen Literatur nennt Helmuth Kiesel die „Formung und Bereicherung der deutschen Literatursprache durch das Vokabular und den Gestus der Lutherschen Bibelübersetzung und der protestantischen Predigt.“ Kiesel, Helmuth, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik – Dichtung im 20. Jahrhundert. München 2004, S. 65. Vgl. Albrecht, Christian, Weeber, Martin, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange. Tübingen 2002, S. 1–8, hier S. 1. Einen ergiebigen Überblick über die Geschichte der protestantischen Predigt in der frühen Neuzeit bietet Beutel, Albrecht: Art. Predigt. VIII: Evangelische Predigt vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: TRE 27 (1997), S. 296–311. Vgl. ders.: Art. Predigt. II: Geschichte der Predigt, in: RGG4 6 (2003), Sp. 1585–1591. Herder, Johann Gottfried, „Der Redner Gottes“, in: Ders. Theologische Schriften, hg. v. Christoph Bultmann u. Thomas Zippert. Frankfurt a.M. 1994, S. 9–17 (Werke in 10 Bdn., Bd. 9/1). – In diesem zu Lebzeiten unpublizierten und von der Forschung selten beachteten Selbstverständigungstext glaubte Herders spätere Frau Caroline mit Bestimmtheit ein Selbstporträt ihres Gatten zu erkennen. Sie gab diesem Text den Titel Der Redner Gottes. Herder folgt hier im Wesentlichen seinem Vorbild, dem Mosheim-Gegner Johann David Heilmann (1727–1764), einem Schüler des Hallenser Neologie-Begründers Siegmund Jacob Baumgarten (1707–1757).– Vgl. zu Herders Schrift auch Soboth, Christian, Willkommen und Abschied:
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Porträt auf die rhetorischen Errungenschaften protestantischer Predigttheorie, auf das Regelkorsett der homiletischen Tradition und die verstandesorientierte MoralVermittlung, wie sie seit Mosheim auf den Kanzeln geübt wurde20: „kein rhetorischer Donner und Blitz“, kein „unterhaltender geistlicher Discours“, keine „Theologische Abhandlung“ oder „Kanzelhomilie“; „keine weitschweifige Hermeneutische Gelehrsamkeit, keine Konkordanzeinheit, keine fünffache Nutzanwendungen, kein Donnern auf die Ketzer, noch Schimpfen auf die Freigeister!“21 Stattdessen spricht dieser Prediger eine „sinnliche Sprache“, mit der er die Hörer, aus deren Perspektive Herder schreibt, bei ihrer eigenen „kleinen Welt“ behaftet und sie ins „Herz“ trifft; er dringt in die Seele, disponiert diese applikativ zur „Andacht“ und zum Erlebnis der Gottesbegegnung: „Gott ist um mich! Hier fühlt die Seele einen Tropfen von dem Schauder, der sie durchströmt, wenn sie, als ein neugeschaffener Engel, einst vor Gott tritt.“22 In der anschließenden entscheidenden „applicatio“ und „adhortatio“, wo es um Sinneswandlung, um den Entschluss zur Tat, zum christlichen Leben, geht, verbreitet der Prediger „keine trockne Sittenlehren“, sondern entwirft mit poetischen Mitteln die Moral als Porträt oder „Gemälde“, dessen Anschauung „Wollust“ der Nachahmung „gebiert“: denn ich fühle es, daß ich die Großheit und Würde und Einfalt fasse, die die schöne Natur ist: und jedes Anschauen gebiert neue Wollust, so lange ich neue Züge entdecke, wodurch ich mich der ganzen Idee nähere, die der Künstler dachte. – Diese Idee Gottes ist die Moral.23
Hier also, wo es darum geht, das Tun im Hörer zu bewirken, wird der Prediger zum „Künstler“, der nicht stärker wirken kann als durch ein Bild – sowohl sein eigenes Bild als das des Hörers, indem er dessen Lebenszusammenhang einbezieht: „in diesen Abdruck passet niemand als ich. Ich eile meinem Bilde entgegen, ihm pocht mein Herz entgegen, es zu umarmen.“24 Damit leistet dieser Prediger zugleich die ‚Übersetzung‘ des Bibeltextes in die eigene Zeit und vermittelt hermeneutisch mit dem Geist und nicht nur mit dem Buchstaben der Schrift:
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Der junge Goethe und der Pietismus, in: Kemper, Hans-Georg, Schneider, Hans (Hg.), Goethe und der Pietismus. Tübingen 2001, S. 209–230, hier S. 212ff. Vgl. dazu Dreesmann, Ulrich, Erbauliche Aufklärung. Zur Predigttheorie Johann Lorenz von Mosheims, in: Albrecht / Weeber, Klassiker, (wie Anm. 18), S. 74–92, bes. S. 76ff. Für Mosheim war Homiletik „geistliche Beredsamkeit“ (ebd., S. 79), in der Predigt ging es um „erbauliche Verstandesbelehrung“ (ebd., S. 83). Herder, Der Redner Gottes, (wie Anm. 19), S. 10f. – Einzelheiten über den orthodoxen Predigtaufbau bietet Beutel, Albrecht, Aphoristische Homiletik. Johann Benedikt Carpzovs ‚Hodegeticum‘ (1652), ein Klassiker der orthodoxen Predigtlehre, in: Albrecht / Weeber, Klassiker, (wie Anm. 18), S. 26–47. Herder, Der Redner Gottes, (wie Anm. 19), S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15.
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Dieser Mann spricht nicht die Sprache der Bibel, aber er führt mich in ihren Inhalt, wie in ein Heiligtum ein; mit allen großen Männern der Religion bin ich vertraut, ich wandle unter ihnen, scheine zu ihrem Geschlecht zu gehören; denn mein Redner zieht aus der Bibel Saft und Kraft, nicht bloß Schmuck oder Beweise: ohne Religion wäre sein Bild ein Schattenriß.25
Dreierlei wird hier bereits deutlich: Erstens verstärkt Herder das entscheidende performative Anliegen der Predigt, nämlich das Wort Gottes im Hörer lebendig werden zu lassen und dessen Willen zur Tat zu bewegen. Zu diesem Zweck favorisiert er zweitens sinnliche poetische Mittel in der Predigt, die der Verlebendigung und Personalisierung der Moral und damit der Identifizierung mit dem Inhalt der biblischen Botschaft dienen. Darin – und im Porträt-Entwurf des idealen ‚Redners Gottes‘ selbst – zeigt sich drittens, dass die Wirkung sich ganz und gar aus der Personalität und Autorität des Sprechers herleitet. Hier werden die theologischen Wurzeln einer Hinwendung von der Wirkungs- zur Autorpoetik im Sturm und Drang sichtbar. Modell ist der Prediger, der autoritativ, authentisch, individuell, inspiriert – und deshalb mit „Saft und Kraft“ – das Wort in sinnlichen Bildern so zu Herzen bringt, dass der Rezipient sich lebendig in den Geist der Worte hineinversetzt, sich mit den darin vorgestellten „großen Männern“ identifiziert und sie nachzuahmen beschließt. Die an diesem frühen Text erkennbare Überschneidung theologischer und literarischer Interessen und Verfahren zeigt sich am ganzen Frühwerk Herders, am Nebeneinander seiner Schriften zur Ästhetik und Literaturtheorie, der Fragmente Über die neuere deutsche Literatur und der Kritischen Wälder zur Ästhetik mit den frühen theologischen Schriften, die in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts und den Fünfzehn Provinzialblättern An Prediger (beide 1774) kulminieren. In der letzteren, in zwei Anläufen 1773 entstandenen Schrift26 begründet Herder explizit die Vereinbarkeit einer in der Predigt gründenden Theologie und einer daraus abgeleiteten Ästhetik und Literatur. Dazu hebe ich fünf Aspekte hervor. Erstens fasst Herder Gottes Offenbarung als ein fortgesetztes Offenbarungshandeln 25 26
Ebd. Herder, Johann Gottfried, An Prediger. Fünfzehn Provinzialblätter, in: Ders., Theologische Schriften, (wie Anm. 19), S. 67–138. – Die Schrift richtet sich gegen das von der Aufklärungstheologie entwickelte Modell einer erbaulich-vernünftigen Vermittlung von Moral in „Vorträgen von der Kanzel“, wie der Neologe Johann Joachim Spalding die Predigt 1772 nannte, weil „vor allen Dingen, der Mensch gut werden muß, wenn er glücklich werden will“ (Spalding, Johann Joachim, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, hg. v. Tobias Jersak. Tübingen 2002, S. 108, 238. [J. J. Spalding, Kritische Ausgabe, hg. v. Albrecht Beutel. 1. Abteilung: Schriften, Bd. 3]). Insbesondere gegen dieses Werk wandte sich Herder dezidiert und polemisch in seinen ‚Provinzialblättern‘. Vgl. dazu Beutel, Albrecht, Herder und Spalding. Ein theologiegeschichtlicher Generationenkonflikt, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 100 (2002), S. 119–144. „Die Provinzialblätter“, erklärt Beutel unter Berufung auf Bultmann und Zippert (vgl. Anm. 19), „dürfen als das Schlüsselwerk für Herders Schriften in Bückeburg (1771–1776), insonderheit für sein durchaus ambivalentes Verhältnis zur Aufklärung gelten“ (ebd., S. 121). Deshalb wären sie aber auch, wie Beutel betont (ebd., S. 144), nur aus dem komplexen Werkzusammenhang Herders angemessen zu erschließen. Das ist im Rahmen der vorliegenden Studie ebenfalls nicht zu leisten.
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auf. Deshalb behält er die alte lutherische Einsicht bei: „[N]on verba sunt, sed facta, quae deus loquitur.“27 Der sich offenbarende Gott ist ein durch Handeln sprechender Gott, das „verbum dei praedicatum“ ist von daher „Heilsgeschehen im Vollzug“.28 Auch Herder hat das größte Interesse an der Predigt als einem performativen Ereignis. Der Begriff, über den sich göttliches Tun und tathaftes Predigen verbinden, ist der Begriff Kraft29. So wie Herder im „großen Gange der Offenbarung“ „alle Kräfte streben“ sieht, so wie für ihn auch „Glaube, Hoffnung und Liebe eben so wohl Kräfte, und edle, wirkende Kräfte, als das Kunstwerk“, sind,30 so wirkt die Predigt kräftig, wenn sie auf das Herz zielt: „Aber gib Kindern und Menschen Ein Wort Gottes“, ruft Herder seinen Amtskollegen zu, „stark geglaubt, anschauend erkannt, unmittelbar im Vorbilde aufs Herz, zur Tat strebend: es tut!“31 Diese Kraft aber lässt sich zweitens nicht psychologisch differenzieren. Das ist zugleich Herders theologische Position bei der Diskussion um die Ästhetik seit Alexander Gottlieb Baumgartens Fundierung des Sinnlich-Schönen in den unteren Erkenntniskräften der Seele32 und im Blick auf die Unterscheidung von Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele33. „Obere und untere“ Kräfte der Seele seien, so Herder in An Prediger, nur „Abstraktionen, verschiedne Namen Einer unzerteilten Kraft“, und dies gelte auch für „Verstand und Willen“.34 Gott, der Sprecher und Autor seiner Schöpfung, handelt drittens in seiner Offenbarung als Erzieher, und zwar – beginnend bei der Bibel – im gesamten „Verfolge entwickelter Zeiten“ als Pädagoge, der sich – hier folgt Herder Hamann und wirkt damit auf Lessing35 – an Kinder richtet, denn diesen „wächst aller Unterricht aus Erfahrung und Geschichte“. „Gott hat das Menschengeschlecht im Großen wirklich so entwickelt, wie sich die Kräfte eines einzelnen Kindes entwickeln.“36 Deshalb wird den Kin27 28 29
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WA 14; 306, 29. Zit. in: Beutel, Albrecht, (wie Anm. 14), Art. Predigt (TRE), S. 296. Ebd. Zu Herders Kraft-Begriff und Literaturtheorie vgl. (mit weiterer Literatur) Kemper, (wie Anm. 13), S. 226ff.– Zur Hermetik bei Herder vgl. auch den Beitrag von Christina Fleck im vorliegenden Band. – Auch Faust erwägt die Übersetzung von Johannes 1,1 als: „Im Anfang war die Kraft“ und ersetzt dies durch die Wendung: „Im Anfang war die Tat“ (Faust I, V. 1233, 1237). Herder, An Prediger, (wie Anm. 26), S. 83. Ebd., S. 87. Zu Herders kritischer Aneignung von Baumgartens Ästhetik vgl. Adler, Hans, Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1990 (= Studien zum 18. Jahrhundert. Bd. 13). Herder, Johann Gottfried, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume. 2. Versuch, in: Ders., Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum. 1774–1787, hg. v. Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1994, S. 365–393 (J. G. H., Werke in 10 Bdn. Bd. 4). Herder, An Prediger, (wie Anm. 26), S. 99. Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Ders., Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften. Nachwort von Helmut Thielicke. Stuttgart 1994, S. 7–31. In § 48 übernimmt Lessing dezidiert die Hauptthese aus Herders Ältester Urkunde des Menschengeschlechts: „die Schöpfung unter dem Bilde des werdenden Tages“ (ebd., S. 20). Vgl. zum Kontext Kemper, Deutsche Lyrik, Bd. VI/2, (wie Anm. 13), S. 252ff. Herder, An Prediger, (wie Anm. 26), S. 84.
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dern auch die solchermaßen offenbarte Geschichte der Religion „das erste, liebste, einzige Bildungsbuch bleiben, aus dem sich nachher im Leben, wie viel entwickelt!“37 Daher hat auch die Sprache der Predigt, welche die sinnliche Offenbarungssprache auslegt, sinnlich zu sein. Denn der Mensch „wächst aus einer sinnlichen Kindheit auf, aus der er den Samen all seiner Kräfte hernimmt – seine Bildung werde diesem Fortgange ähnlich!“38 Solche Bildung aber nimmt das Kind viertens nur in individueller Gestalt an: „Alles Allgemeine besteht nur im Besondern: […] Gott muß doch so innig in mich wirken, als ob er Einig in mich wirkte.“39 Das heißt auch, dass Gott, der nicht als Abstraktum auf die Vernunft, sondern auf die „ganz sinnlichen Kräfte des Menschen“ wirkt, auch in den konkreten Bildern, Personen, in Wundern, Erscheinungen, mythologischen Figuren anschauend erkannt und gefühlt werden muss.40 Die „Stimmen des Wortes Gottes“ sprachen in „Psalmen und Lobgesängen, Segen und Weissagungen, Bildern und Gleichnissen, in Feuerströmen der Rede an Herz und Seele“.41 So hat auch noch der ‚Redner Gottes‘ zu sprechen: „Moses, Hiob, Psalmen, Propheten – wer euch, ganz, wie ihr seid, für Welt und Nachwelt darstellen könnte – welch ein Priester! Welch ein Prophet Gottes!“42 Gerade die „Anfänge der Bibel“ und dann die Geschichten von Noah bis Hiob sind wirkmächtige Exempel kraftvoller Gottes-Rede: „Prophetengaben für unsere Zeit!“43 Deshalb kann Herder nun fünftens auch die Anfänge der Bibel im Sinne Hamanns als „Dichtkunst“ bezeichnen, und er hat diesen Gedanken seiner späteren großen Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie zugrunde gelegt. In den Provinzialblättern ruft er den Amtsbrüdern zu – und zieht damit die Summe aus seinen Thesen über die kräftig-sinnliche Rede Gottes, die von Anfang an eine poetische Rede war: „Dichtkunst, sie ist ursprünglich Theologie gewesen, und die edelste, höchste Dichtkunst wird wie die Tonkunst ihrem Wesen nach immer Theologie bleiben.“44 Das belegt er mit einer Vielzahl von Autoren, die mit Klopstock, Young und Lavater bis in seine Gegenwart reichen. – So entwirft Herder in seiner Predigttheorie die Grundzüge einer am göttlichen Sprechen orientierten kraftvollen Poesie und damit eine durch göttliches Sprechen vermittelte Literaturtheorie, und zugleich entfaltet er konsequent die eigene Literaturtheorie als Predigt! Das zeigt sich eindrucksvoll an einem seiner bekanntesten Texte: an Shakespear aus der von ihm 1773 herausgegebenen Sammlung Von deutscher Art und Kunst. Einige Fliegende Blätter, die heute als wichtigste Programmschrift des Sturm und Drang gilt. Schon der Titel Shakespear weist zurück auf die theologisch-philolo-
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Ebd., S. 84. Ebd., S. 85. Ebd., S. 104. Ebd., S. 101. Ebd. Ebd., S. 131. Ebd. Ebd., S. 127.
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gische Gattung der Denkmale und Nekrologe.45 Die Grundidee ist eine Applikation des von Hamann übernommenen Bibel-Verständnisses: Das frühe Griechenland entspricht der Kindheit der Menschheit; deshalb ist dort noch alles einfach und sinnlich: Da die Bildung eines Kindes doch unmöglich durch Vernunft geschehen kann und geschieht; sondern durch Ansehen, Eindruck, Göttlichkeit des Beispiels und der Gewohnheit; so sind ganze Nationen in Allem, was sie lernen, noch weit mehr Kinder.46
Die damals natürlichen Regeln bis in die Gegenwart festzuschreiben wie das französische Theater, ist unfruchtbare Buchstabengläubigkeit und entspricht dem Verhalten der Orthodoxie.47 Shakespeare dagegen bietet „Geist, Leben, Natur, Wahrheit – mithin alle Elemente der Rührung“,48 und von da ab wird der Text auch stilistisch zur Predigt: „Man laße mich als Ausleger und Rhapsodisten fortfahren“, ruft Herder aus,49 und er predigt das Evangelium eines gottähnlichen Autors, der auch auf sinnliche Weise zum kraftvollen „Dolmetscher“ seiner Epoche wird. Die von direktiven, kommissiven, expressiven und deklarativen Sprechakten durchsetzte Rede50 verquickt hermeneutisch-explikative und applikative Elemente zur Vor-Stellung eines Autors, der gottähnlich „hundert Auftritte einer Weltbegebenheit“ „mit der Einen durchhauchenden, Alles belebenden Seele erfüllet, und nicht Aufmerksamkeit: Herz, alle Leidenschaften, die ganze Seele von Anfang bis zu Ende fortreißt“.51 Dabei durchströmt (wie bei den biblischen Perikopen auch) eine Hauptempfindung jedes Stück „wie eine Weltseele“,52 und die ganze Welt ist wie die Natur im Blick auf Gott „zu diesem großen Geiste allein Körper“, „und das Ganze mag jener Riesengott des Spinoza ‚Pan! Universum!‘ heißen“.53 Die Stücke dieses „dramatischen Gottes“ sind analog zu den biblischen Offenbarungen „Historien“ und deshalb trotz ihrer Fiktivität, die der Illusionierung und damit der Identi45
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Die theologische Herkunft dieser Denkmale aus den Nekrologen zeigt sich u. a. in dem Entwurf zu einer Denkschrift auf A. G. Baumgarten, J. D. Heilmann und Th. Abbt, in: J. G. Herder, Frühe Schriften. 1764–1772, hg .v. Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985, S. 677–681. Hier findet sich bereits die für die Autor-Ästhetik charakteristische Vorstellung, man begegne dem Geist des Autors bei der Lektüre seiner Schriften (ebd., S. 678f.). – Vgl. auch die Rubrik Schriftstellerporträts und Nekrologe, in: Herder, Schriften zur Ästhetik und Literatur, (wie Anm. 10), S. 563ff. Herder, Johann Gottfried, Shakespear, in: Herder u.a., Von deutscher Art und Kunst, (wie Anm. 1), S. 63–91. Ebd., S. 70f. Ebd., S. 73. Ebd., S. 77. Zur Ergiebigkeit einer sprechakttheoretischen Analyse von Predigten des 18. Jahrhunderts vgl. Schulte, Andrea: „Urtheilet selbst ob die Vernunft eine Feindin der Religion heißen könne.“ Überlegungen zum Selbstverständnis des Predigers in der Aufklärungszeit, in: Müller, Wolfgang E., Schulz, H. R. (Hg.), Theologie und Aufklärung. Festschrift für Gottfried Hornig zum 65. Geburtstag. Würzburg 1992, S. 205–225. Herder, Shakespear, (wie Anm. 46), S. 79f. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84.
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fizierung dient, wahr.54 Herders Shakespear-Predigt tut, was sie sagt, und sie wendet sich am Schluss auch noch Proselyten machend an den ungenannten Freund, „der du dich bei diesem Lesen erkennest und fühlst, und den ich vor seinem heiligen Bilde mehr als Einmal umarmet“.55 – Eben dieser Freund errichtet in dem unmittelbar auf Herders Shakespear-Predigt folgenden Beitrag der Fliegenden Blätter das „heilige Bild“ eines anderen Künstlers.
III. Nachdem Herder mit seinen beiden ersten Beiträgen das Vorbild der Griechen auf dem Gebiet der Literatur entthront hatte – indem er Homer mit dem greisen blinden nordischen Sänger Ossian ein fast zeitgleiches nordisches Barden-Ideal und dem griechischen Theater das nordische Historiendrama Shakespeares entgegengesetzt hatte –, begibt sich nun also Goethe, vom Geist Erwin von Steinbachs, des legendären Münster-Baumeisters, erfüllt, im Aufsatz Von deutscher Baukunst auf den Weg, den formästhetisch-literarischen Paradigmenwechsel paradoxerweise gerade durch Rückgriff auf das bisherige Leitmodell, nämlich die Architektur und bildende Kunst, herbeizuführen, das den ästhetischen Diskurs im Blick auf die Bestimmung der Sinnlichkeit von Kunst bis hin zu Lessing, Kant, Moritz und Schiller nachhaltig dominierte.56 Nun soll sich die Qualität des Sinnlichen im Medium des Literarischen entfalten. Dies geschieht, indem das Kunst-Objekt sprachlich nicht mehr „malend“ nachgeahmt, sondern in die Agglutination einer performativen sprachlichen Anempfindung und Auslegung transformiert wird, und zwar erneut durch die in der biblisch-christlichen Tradition ‚Jerusalems‘57 entwickelten zentralen Formen der Heilsverkündigung sowie ihrer hermeneutischen Auslegung und affektiven Aneignung. Auch die Form dieses Prosastückes übernimmt zentrale Elemente der Predigt. Dabei folgt der Traktat jenem Predigt-Typ, der mit rhetorikkritischen Affekten und dem Postulat einer Rückkehr zur Einfachheit, aber mit dem Anspruch, in der „Kraft des Geistes“ zu geschehen, insbesondere bei den Inspirierten, wie Ulf-Michael Schneider gezeigt hat,58 und im Pietismus ausgebil54 55 56
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Ebd., S. 90. Ebd. Vgl. dazu Laak, Lothar van, Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003, S.1ff. Zur Debatte um eine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehende Poetik der Performativität, welche die in die Krise geratene Poetik der Repräsentation ablöst, vgl. Drügh, Heinz J., Präsenzen und Umwege, (wie Anm. 11). Erstaunlicherweise wird diese Debatte in der Literaturwissenschaft bisher weitgehend ohne Bezug zur Theologie geführt. Wie sich die Performativität des ‚Predigens‘ auf die literarischen Darstellungsverfahren selbst auswirkt, müsste eigens untersucht werden. Vgl. zum historischen Kontext Dyck und Kurz, (wie Anm. 16). Vgl. dazu Schneider, Ulf-Michael, Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten. Göttingen 1995, S. 23ff., 37ff. Die Predigtform von Goethes Baukunst-Aufsatz entgeht Schneider. Vgl. ebd., S. 175.
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det worden war.59 Die Predigt ist „Vollzug“ des Glaubens, hat proklamatorischen und zum Teil missionarischen Charakter (in diesem Fall zur „Scheidung der Geister“ als Teil der „Gesetzespredigt“60 im Dienst einer Bekehrung zum „Sinn und Geschmack“ am „gothischen Stil“), sie fordert im Warn- und Widerlegungsusus der Predigt zur Umkehr und zur Abkehr vom Alten auf und führt im Übergang von der „Gesetzes-“ zur „Gnadenpredigt“ vom ‚Kopf‘ ins ‚Herz‘ durch preisende Vergegenwärtigung des Heiligen (hier beim ersten Anblick des Münsters) mit dem liturgischen Ziel des „Erhebet eure Herzen“. Auch diese goethesche Predigt ist grundsätzlich hermeneutischer Natur, und in den Fliegenden Blättern ersetzt dies auf Literatur und Kunst angewandte Verfahren die Anweisungspoetik durch – dem Predigtstil analoge – paraphrasierende Annäherung an einen Künstler, um in dessen „Geist“ zu kommen und ihn dann als inspirierter Zeuge „authentisch“, unmittelbar aus dem „Herzen“ – und das heißt stilistisch mit allen Kennzeichen äußerlich ungeordneter Oralität – auszulegen.61 Der Prediger aber muss sich – vor allem bei den Inspirierten und im Pietismus – selbst als erweckter oder inspirierter Zeuge erweisen. Und deshalb kann sein Zeugnis auch nicht historisierend-distanzierend sein, sondern ist auf gegenwärtige sinnliche Applikation hin angelegt. Das gilt für Herders Shakespear und Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker ebenso wie für Goethes Aneignung des mittelalterlichen Sakralbaus. Die eigentliche Leistung der Predigt, etwas Vergangenes, im toten Buchstaben der Bibel Überliefertes mit ‚Geist‘ und ‚Kraft‘ im Herzen der Hörer zu verlebendigen und dadurch Liebe zu ihm zu erwecken, auch mittels Form eine symbolische Handlung durch höchstmögliche Ausdruckshaftigkeit und Eindrücklichkeit als nicht-diskursive Zeichen von Sinnlichkeit synästhetisch performativ zu vollziehen, findet sich analog als eine zentrale Intention in den literarischen Werken der Stürmer und Dränger.62 Stets von Goethes zu einem Sakralbau besonders passender ‚Münster-Predigt‘ ausgehend, hebe ich sechs Eigenschaften dieses neuen dynamischen Literatur-Verständnisses hervor. Die erste und wichtigste, mit der Predigt-Form gegebene ist hier in Ergänzung und Überbietung von Herders Integration der Poesie in ein weitgefasstes Verständnis von Theologie, Offenbarung und Religion die Usurpation religiöser Formen und Anschauungen für die Künste mit dem Ziel, die Poesie aus der frühneuzeitlichen Abhängigkeit von Theologie und Philosophie herauszuführen, zu sakralisieren und dadurch zugleich zu einem Medium der Selbst- und
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Zu den Predigtreformvorschlägen und zur Predigtpraxis Speners vgl. Haizmann, Albrecht, Erbaulichkeit als Aufgabe der Predigt bei Philipp Jakob Spener, in: Albrecht / Weeber, Klassiker, (wie Anm. 18), S. 48–73. Vgl. dazu Dreesmann, (wie Anm. 20), S. 87. Eine andere Deutungsmöglichkeit bietet Simon, Ralf, Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1998, S. 316ff. Vgl. dazu van Laak, (wie Anm. 56).
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Weltdeutung eigenen Rechts zu autonomisieren.63 Dies inszeniert auf markante Weise schon die Einleitung von Goethes Text.64 In ihr legt der Sprecher sein Bekenntnis als eingeweihter und erweckter Zeuge ab. In blasphemischer Übernahme zentraler Topoi christlicher Erbauung und auf den Schöpfergott sowie Christus bezogener Prädikationen mit zahlreichen Übernahmen und Anspielungen auf die Bibel wird Erwin von Steinbach als geistvoller göttlicher Schöpfer seines Werkes verehrt: Wenigen ward es gegeben, einen Babelgedanken in der Seele zu zeugen, ganz, groß, und bis in den kleinsten Theil nothwendig schön, wie Bäume Gottes; wenigern, auf tausend bietende Hände zu treffen, Felsengrund zu graben, steile Höhen drauf zu zaubern, und dann sterbend ihren Söhnen zu sagen: ich bleibe bey euch, in den Werken meines Geistes, vollendet das begonnene in die Wolken.65
Durch die Anspielung auf die Menschen, die den Turm zu Babel bauten, „des Spitze bis an den Himmel reichen“ sollte, „daß wir uns einen Namen machen“ (Gen. 11, 4), und die von Gott damit bestraft wurden, „daß keiner des andern Sprache verstehe“ (Gen. 11, 7), erhält der einturmige Straßburger Sakralbau die Aura eines prometheischen Protestes. Und keineswegs zufällig endet die Rede auch mit einer Erinnerung an Prometheus, welcher „die Seeligkeit der Götter auf die Erde“ leitete und damit in einer Empörungsgeste gegen die göttliche Allmacht den Menschen die Entwicklung einer autonomen Kultur ermöglichte, wie dies auch Goethes berühmte Frankfurter Hymne Prometheus darstellt.66 Erwin, der Auserwählte, „zeugte“ den „Babelgedanken“ denn auch in der eigenen Seele, und dieses mit dem Baum-Verweis (vgl. Gen. 2,10) sogleich verlebendigte Werk trägt die Züge seines „Geistes“ – hier in blasphemischer Übertragung der Schlussworte Jesu an seine Jünger: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“ (Mt. 28, 20) Aus der Sakralisierung Erwins spricht zweitens die epochentypische Hochschätzung des Individuums und der individuellen Züge seines Werkes, und auch mit der 63
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65 66
Zu den gewichtigen Unterschieden in der Verhältnisbestimmung von Theologie und Ästhetik im Werk der Stürmer und Dränger vgl. Fleck, Christina Juliane, Genie und Wahrheit. Der Geniegedanke im Sturm und Drang. Marburg 2006. Sie gibt sich als – vom Unglauben kunstfremder Weltmenschen vereitelter – Versuch frommen Gedenkens am Grabe – nun aber nicht mehr Christi, des Zentrums der christlichen Predigt, sondern des legendären „edlen“, später des „heiligen Erwin“ von Steinbach zu erkennen, den Goethe für den Hauptbaumeister des Straßburger Münsters hielt, in der Absicht, „daß sich meine Verehrung deiner, an der heiligen Stätte ergossen hätte“ (Goethe, Baukunst, [wie Anm. 1], S. 95). Ebd. Goethe, Baukunst, (wie Anm. 1), S. 104. – Eine besondere Ironie liegt darin, daß das Münster auf dem Feld eines früheren Tempels von Merkur oder Hermes erbaut wurde. Vgl. Giusti, Annamaria, Straßburg. Firenze 1980, S. 5. Hermes war der Bote zwischen Göttern und Menschen, der nach dem Zeugnis Platons die menschliche Sprache erfand. Vgl. Platon, Philebos, in: Platon, Sämtliche Werke. Bd. 5. Politikos, Philebos, Timaios, Kritias. Nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher und Hieronymus Müller mit der Stephanus-Numerierung hg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck. Hamburg 1959, S. 7–139, hier S. 83f. In der Auslegung von Erwins Babelgedanken verkündigt die Prediger-Sprache nun den Künstler zum neuen Gott und „macht ihm einen Namen“.
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Berücksichtigung des Konkreten, Besonderen sowohl im Blick auf die Bibelstellen als auch die Lebensumstände des Predigers und Hörers weist gerade die Predigttradition seit Luther eine – wie auch bei Herder gesehen – beerbbare Achtsamkeit auf das Individuelle auf. Der Betrachter des Münsters „schaut“ nicht mehr im Sinne der komplexen, auf das unsichtbare Höchste gerichteten „theoria“ Plotins, sondern er nimmt mit Sinnen und Gefühl die konkrete Gestalt des einzelnen Werkes wahr und attackiert grundsätzlich die idealistische Vorherrschaft des Allgemeinen vor dem Besonderen sowie die platonische Exklusion des Hässlichen aus der mit Schönheit korrelierten Kunst. Der Eindruck des ‚Erhabenen‘ – Goethe nennt nicht den Begriff, meint aber die Sache – sprengt Maß und Harmonie des Schönen und rüttelt zugleich an dessen Korrelation mit dem Guten. „Eine Empfindung“ des Künstlers (und nicht mehr der ‚logos‘ in ihm) schuf auch die „willkürlichsten Formen“ „zum karackteristischen Ganzen“ seines Werkes. „Diese charakteristische Kunst ist nun die einzige wahre.“67 Zugleich aber wird das Individuum drittens im Künstler bzw. Poeten zum Genie verklärt, und an diesem wird die neue Autor-Ästhetik entwickelt. Das Schaffen des Genies wird wieder religiös in Analogie zum Schöpfer-Gott als Erzeugen eigener Welten gedacht. Wie ein ‚logos spermatikos‘ teilt sich der Geist des Autors all seinen Werken mit, er ist also in seinen verschiedenen und gleichwohl untereinander ähnlichen Schöpfungen und kann daher in ihnen ge- und empfunden werden, doch geht er selbst nach dem Modell des Panentheismus in ihnen nicht auf, sondern bleibt – auch als Sinnstifter – ‚über‘ ihnen. Aber wir erfassen ihn nur über den jeweiligen ‚Körper‘ und damit über die sinnliche Form seiner künstlerischen Schöpfungen,68 wenn man sich ihm wie dem Straßburger Münster in hermeneutischer Hingabe nähert. „Da offenbarte sich mir“, berichtet Goethe, „in leisen Ahndungen, der Genius des großen Werkmeisters.“69 Wie die Predigt führt die Rede bis zu jenem numinosen Moment, da der Geist oder Genius Erwins aus seinem 67 68
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Goethe, Baukunst, (wie Anm. 1), S. 102. Dazu zählt bei diesem Münster auch der unvollendete Südturm. Über die dadurch fehlende Harmonie der Kräfte klagt der Genius Erwins (ebd., S. 100). Auch der junge Goethe entnimmt unabhängig von Herder das Vorbild für dieses Denkmodell, wie aus seinen frühen Tagebuchaufzeichnungen zur Zeit seiner Frankfurter Krankheit und des Umgangs mit Susanna Katharina von Klettenberg hervorgeht, der hermetischen Tradition, die von Marsilio Ficino mit der lateinischen Übersetzung des Corpus hermeticum an die frühe Neuzeit vermittelt worden war. Goethe notiert sich zu einem Abschnitt aus der auch Hermetica verzeichnenden Bibliographia antiquaria (1713) des Brockes-Freundes Albert Fabricius unter dem bezeichnenden häretischen Titel Deus cum natura rerum confusus, das hermetische „systema emanativum“ sei das plausibelste kosmologische Erklärungsmodell. Gott oder das Göttlich-Geistige ist danach also in seine Schöpfung „ausgeflossen“. Von daher gelangt Goethe zu dem auch Lavaters Physiognomie fundierenden Analogieschluss: „die Seele erkennen wir nur durch die Vermittlung des Körpers, Gott nur aus der Betrachtung der Natur“. (Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden, hg. von Hanna Fischer-Lamberg. Bd. I. August 1749 – März 1770. Berlin, New York 1999, S. 431, 511). Vgl. dazu Zimmermann, Rolf-Christian, Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Bd. 2. München 1979, S. 48ff., 76ff. Goethe, Baukunst, (wie Anm. 1), S. 100.
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Werk „spricht“. Der auslegende Prediger erfährt hier in unmittelbarer und damit authentischer Inspiration die Wahrheit. Im Sturm und Drang wird also viertens – wie auch dieses Beispiel zeigt – der die biblische Wahrheit letztlich fundierende Inspirationstopos der zeugenden Seele des Künstler-Genies selbst als Wahrheitsmerkmal zugesprochen, und hier beerben Herder und Goethe, wie sich vielfach belegen lässt, die ganze Breite der Traditionen, die vom christlichen, im Pietismus neubelebten Inspirationsverständnis über literarisch-poetologische Topoi der antiken Tradition bis zu hermetischen Vorstellungen von der Partizipation am ‚Geist‘ (‚nous‘) reichen.70 – Ein Werk aus solchem ‚Geist‘ aber begegnet ihm nun im Straßburger Münster. Bei dessen als gewaltige Präsenzerfahrung gestaltetem Anblick ereignet sich der Höhepunkt im zweiten Hauptteil der Rede, gewissermaßen die Epiphanie oder ‚Schau‘ des Heiligen mit dem Genuss himmlischer Freuden, wie sie auch Herder im Redner Gottes beschreibt: Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davor trat. Ein, ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonirenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. Sie sagen, daß es also mit den Freuden des Himmels sey, und wie oft bin ich zurückgekehrt, diese himmlisch-irdische Freude zu genießen, den Riesengeist unsrer ältern Brüder, in ihren Werken zu umfassen.71
Auffällig ist als fünfter Aspekt das bei diesem weithin sichtbaren, aber aus der Enge der Gassen doch plötzlich emporragenden Steinkoloss inszenierte Moment der Überraschung, die Bedeutung der ersten Begegnung, des ‚Nathanael-Blicks‘ im Sinne Lavaters,72 des „ersten (An-) Blicks“ und Eindrucks, der dem Gefühl und nicht dem Kopf gehört, der spontan, authentisch, ‚ganz‘ und deshalb wahr erfolgt, wie auch Herder ihn als entscheidende Leistung des künstlerischen Werkes in seiner Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon fordert: Die bildende Kunst schließe „ihre Wirkung also in einen Augenblick“ und erschaffe ihr Werk „für einen ewigen Anblick“.73 Typisch hierfür und für die enge Korrelation von Form und Emotion ist auch, dass im zitierten Satz zuerst die eigene „Empfindung“ hervorgehoben wird, die der Eindruck des Münsters (und kein genauer und damit distanzierender Blick darauf) auslöst. In dem einen Eindruck aktualisiert sich die Sinnlichkeit ästhetischer Erfahrung als diskursiv nicht einholbare Ganzheit, als 70
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Vgl. dazu Kemper, Deutsche Lyrik, Bd. VI/2, (wie Anm. 13), S. 36ff., 149ff., 287ff. – Nach der einleitenden Heiligsprechung des Künstler-Propheten wundert es nicht, dass der ‚Prediger‘ im dialogisch konzipierten ersten Teil der Rede das ehrwürdige abendländische „auctoritas-imitatio-exemplum-Prinzip“ mitsamt den normativen Kunstlehren verabschiedet. Durch die „imitatio“ der griechischen Kunst und Kultur hätten sich die Römer einem ihnen fremden „Geist der Massen“ und Kult der Säulen hingegeben und versäumt, aus eigener Notwendigkeit und Wahrheit „lebendige Schönheit“ „bildend“ zu schaffen. Vgl. Goethe, Baukunst, (wie Anm. 1), S. 96f. Ebd., S. 99. Zu Lavaters Deutung der Nathanael-Geschichte (Joh. 1, 45–51) vgl. Kemper, Deutsche Lyrik, Bd. VI/2, (wie Anm. 13), S. 136ff. Herder, Kritische Wälder, (wie Anm. 10), S. 137.
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präsentische Aufhebung semantischer Differenzierungen,74 wie sie Rhetorik und Poetik für Konstruktion und Simulation einzelner Affekte und Tropen bereitstellten. Vielmehr erscheint die affekt- und bilderreiche Sprache als „das affektische Hervorbrechen des autorschaftlichen ‚Sich-Äußern-Wollens‘ in der ‚Verkettung der Äußerung‘“ „zwischen den verketteten Wörtern“ und damit als unverstellter Ausdruck ihrer Divination.75 In der Literatur äußert sich das Authentizitätssignal der Spontaneität in der Bevorzugung aller Formen scheinbar ungeformter Unmittelbarkeit, vor allem der Oralität, die auch in vielen Schriften fingiert wird und zur Bevorzugung von Gattungen (wie Predigt, Lyrik, Drama) führt, die sich in mündlicher Aufführung erfüllen oder die wie der Brief in den Leiden des jungen Werthers eine gesprächsnahe und gefühlsbetonte Kommunikation ermöglichen. Im Zusammenhang mit diesem Anspruch einer aus Unmittelbarkeit erwachsenen Authentizität steht nun sechstens auch der Begriff des Lebendigen. Der Geist im Werk verlebendigt (wieder analog zur Bibel-Lektüre) auch das Werk. So wurde Erwin von seinem Genius eingegeben: Vermannigfaltige die ungeheure Mauer, die du gen Himmel führen sollst, daß sie aufsteige gleich einem hocherhabnen, weitverbreiteten Baume Gottes, der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen, und Blättern wie der Sand am Meer, rings um, der Gegend verkündet, die Herrlichkeit des Herrn, seines Meisters.76
In hermeneutischer ‚Betrachtung‘ lebendig geworden, „verkündet“ – also predigt – das Münster in seiner bewegten und bewegenden Gestalt die „Herrlichkeit“ nicht Gottes, was bei diesem Sakralbau doch nahe läge, sondern seines Schöpfers Erwin von Steinbach.77 In diesem Zusammenhang offenbart sich auch der Nutzen von Herders und Goethes Rückgriff auf die hermetische Tradition,78 in der die Natur als lebendiger, von kraftvollen, polar aufeinander bezogenen Entitäten beseelter 74 75 76 77
78
Vgl. van Laak (wie Anm. 56), S. 6ff., 20f. Vgl. Campe, Rüdiger, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990, S. 510. Goethe, Baukunst, (wie Anm. 1), S. 98f. In der Plastik muss die Skulptur nach Herders Überzeugung so lebendig wie möglich – und nicht idealisierend, wie Winckelmann und Lessing proklamierten – geformt werden: „Eine Statue“, beginnt Herder ein Fragment Von der Bildhauerkunst fürs Gefühl, „muß leben: ihr Fleisch muß sich beleben: ihr Gesicht und Mine sprechen. Wir müssen sie anzutasten glauben und fühlen, daß sie sich unter unsern Händen erwärmt.“ Vgl. Herder, Sämmtliche Werke, Bd. VIII, S. 88. Zit. in Burdorf (wie Anm. 9), S. 83. Das ist ein Beleg dafür, daß Form, nicht mehr mit der Seele, sondern mit den Sinnen in der ästhetischen Erfahrung erfaßt, nicht mehr ‚Eros‘ ist, sondern „Wollust“ werden kann. In der publizierten Fassung der Plastik von 1778 hält Herder an dieser Auffassung fest und trägt – im Kontext einer weihevollen Tempelszene, in der sich als eine Art Pygmalion-Effekt die „Transsubstantiation von Marmor in Fleisch“ ereignet, „ein platonisches Element“ in diese Form hinein. So Burdorf, (wie Anm. 9), S. 86. Vgl. zum Kontext auch Braungart, Georg, Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995, S. 55ff. Zur Hermetik bei Herder und Goethe vgl. Kemper, Deutsche Lyrik, Bd. VI/2, (wie Anm. 13), S. 149ff., 252ff., 287ff., 353ff. u. ö. – Zur Hermetik bei Herder vgl. auch den Beitrag von Christina Fleck im vorliegenden Band.
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Organismus erscheint, dessen Kräfte sinnlich spürbar auch den Bewegungsablauf der Texte strukturieren. Und diese Kräftekonstellation bildet sich ebenfalls im Straßburger Münster ab mit der hochaufstrebenden Geste der in den Himmel reichenden Expansion des Turms und dem harmonisch gegliederten Mittelteil mit Fassade und Portal sowie der riesigen Rosette über dem Hauptportal als Symbol in sich ruhender „Kontraktion“.79 Das zum Baum verlebendigte Straßburger Münster erscheint ohnehin „zu unzählig kleinen Theilen belebt, wie in Werken der ewigen Natur“.80
IV. Nach der Offenbarung durch den Genius Erwins erblickt der ‚Prediger‘ das Münster mit seinem Turm im Morgenlicht nochmals, eine Szenerie, die bei Herder und Goethe stets symbolisch an den Schöpfungsbeginn und damit an den Grundimpuls der sympathetischen Expansion, zugleich an den noch unverfälschten Ursprung göttlich-menschlichen Sprechens erinnert81 und die mit allen Sinnen (mit Gesichts-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn) synästhetisch vergegenwärtigt wird – die Passage erinnert auch an Ganymed –:82 Wie frisch leuchtet er im Morgendufftglanz mir entgegen, wie froh konnt ich ihm meine Arme entgegen strecken, schauen die großen, harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Theilen belebt; wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs geringste Zäserchen, alles Gestalt und alles zweckend zum Ganzen; wie das festgegründete ungeheure Gebäude sich leicht in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und doch für die Ewigkeit. Deinem Unterricht dank ich’s, Genius, daß mirs nicht mehr schwindelt an deinen Tiefen, daß in meine Seele ein Tropfen sich senkt, der Wonneruh des Geistes, der auf solch eine Schöpfung herabschauen, und gottgleich sprechen kann, es ist gut!83
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Goethe, Baukunst, (wie Anm. 1), S. 100. – Noch der klassische Herder wird die Begriffe „Kraft“ und „Form“ nahezu synonym gebrauchen und sich dabei dem neuplatonischen Einfluß wieder stärker öffnen („In der Schöpfung unsrer Erde herrscht eine Reihe aufsteigender Formen und Kräfte“, lautet eine Kapitelüberschrift seines klassischen Hauptwerkes. Herder, Johann Gottfried, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hg. von Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1989 [Werke in 10 Bdn. Bd. 6], S. 166). Goethe, Baukunst, (wie Anm. 1), S. 100f. – Die Baum-Symbolik reicht als Veranschaulichung eines zur Idealität aufstrebenden Organismus ebenfalls in den Neuplatonismus zurück, wurde aber, wie Gerhard Kaiser gezeigt hat, nicht zuletzt in der hermetisch-pansophischen Tradition vitalistisch aufgeladen und umgedeutet. Kräftige Wurzeln schlug der Weltenbaum in Jacob Böhmes hermetischer Pansophie (vgl. Kaiser, Gerhard, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1973, S. 160ff.). Dort wird der neuplatonische Begriffsrealismus in Vitalismus und damit eben in ‚Kraft‘ verwandelt. Von Plotin bis zu Herder und Goethe steckt in der Vorstellung von der Welt als (Lebens-)Baum die Grundidee: „Das Innerste der Geschöpfe bestimmt ihre äußere Gestalt, Bildung verläuft von innen nach außen. Spürbar ist aber auch der Unterschied: Statt Lebensprinzip [wie bei Plotin] Lebensbalsam [wie bei Oetinger], eine biologisch-vitalistische Vorstellung, statt Spiritualisierung Konkretisierung der Gestaltvorstellung“ (ebd., S. 164). Vgl. Kemper, Deutsche Lyrik, Bd. VI/2, (wie Anm. 13), S. 252ff., 338ff., 403ff. Vgl. dazu ebd., S. 403ff. Goethe, Baukunst, (wie Anm. 1), S. 100f.
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Im darstellerischen Vollzug der sympathetischen Entgrenzung wird das Münster zum Symbol des Weltenbaums und „Teil“ der „ewigen Natur“ verlebendigt. In dieser durch den Genius sanktionierten Deutung partizipiert der Sprecher an dem Ewigkeitscharakter des Werkes und gewinnt daran Halt, die „Wonneruh des Geistes“, die auch Gott als Schöpfer nach vollbrachtem Werk genoss. Und damit gelangt die provokative Usurpation christlicher Verkündigung und ihre Applikation auf die Kunst als neue Religion an ihr Ziel. Indessen konnten Literatur und Literaturtheorie nicht bei dieser Position der Selbstheiligung verharren. Sie mochte nötig sein, um die Emanzipation der Künste aus der Vormundschaft von Theologie und Kirche einmal auf die (Münster-) Spitze zu treiben und die Heiligung der Kunst ausgerechnet durch das Sakrileg der ‚Naturalisierung‘ eines kirchlichen Sakralbaus zu vollziehen. Der Organismus der Formensprache und die Literatur als Leitdisziplin der Künste konnten sich indes auch ohne die religiösen Implikationen – und in Klassik und Romantik auch wieder in fruchtbarem Wettstreit mit ‚Athen‘ – entfalten. Von daher ist es vermutlich kein Zufall, dass wir im letzten Zitat bereits den Keim zur aus der Organismus-Vorstellung sich entwickelnden Formensprache der Klassik finden: „alles Gestalt und alles zweckend zum Ganzen“. Daraus entfaltet sich der Gedanke der Metamorphose als botanisches Beispiel für das klassische Grundgesetz des Lebendigen als „geprägter Form, die lebend sich entwickelt“.84 Trotz seiner insgesamt skeptischen Haltung gegenüber der Sturm und DrangZeit hat sich der klassische Goethe, wie er in Dichtung und Wahrheit bekennt, doch die Abneigung gegen rein abstrakte „ästhetische Spekulationen“ bewahrt: „wie denn alles Theoretisieren auf Mangel oder Stockung von Produktionskraft hindeutet“.85 Ebenso erhielt er sich die Vorliebe für die Oralität und die lebendige, präsentische Wirkung des Sprechens. Am Ende des Zweiten Buches seiner Autobiographie gibt er zu bedenken, daß der Mensch eigentlich nur berufen ist, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede. Der Mensch wirkt alles was er vermag auf den Menschen durch seine Persönlichkeit, die Jugend am stärksten auf die Jugend, und hier entspringen auch die reinsten Wirkungen. Diese sind es, welche die Welt beleben und weder moralisch noch physisch aussterben lassen.86
Diese tröstliche Prophezeiung ist, meine Herren und Damen, auf meine Predigt das Amen!
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Vgl. dazu ausführlich Simonis, (wie Anm. 9), S. 23ff., S. 34ff. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. v. KlausDetlef Müller. Frankfurt a.M. 1986 (Sämtliche Werke 14, Abt. 1, Bd. 1), S. 587. Ebd., S. 486.
CHRISTINA JULIANE FLECK (Tübingen)
Das Göttliche im Menschen Ästhetik und Theologie bei Herder
I. Einleitung Mich sing ich! Welt und Gott ein All’ – in mir! – selbst bin ich Lied, und Welt und Phöbus mir!1
Das vom jungen Herder verfasste Fragment Die Welt der menschlichen Seele enthält bereits den Kern von Herders theologischer Ästhetik, auf die es hier ankommen soll. Herders Vorstellung von Ästhetik („singen“, „Lied“) ist aufs Engste verbunden mit der Position des Sprechers selbst und seinem Bezug zu Welt und Gott („ein All’ – in mir!“). Dieses verweist auf eine Weltanschauung, die, wie hier aufgezeigt werden soll, für einen Theologen und Kirchenmann unerwartet unorthodox ist. Zwei Thesen, die bereits im Titel: Das Göttliche im Menschen. Ästhetik und Theologie bei Herder anklingen, stehen dabei im Vordergrund: Einmal, dass der Mensch, gerade der als Genie künstlerisch schaffende Mensch, im Spannungsfeld zwischen der von Herder immer wieder proklamierten Selbstvergottung und dem Bewusstsein des kategorialen Unterschieds zwischen Mensch und Gott steht. Dafür ist es notwendig, sich Herders Verständnis vom Sündenfall zu verdeutlichen, nach welchem dem Menschen nicht nur die Möglichkeit grundgelegt ist im Diesseits nach dem Göttlichen zu streben, auch die im Christentum zentrale Vorstellung der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen wird zugunsten einer Vorstellung der immanenten Verwirklichung der Glückseligkeit und der Vervollkommnung des Menschen aufgegeben.2 Diese theologischen Themen sind zum Verständnis der für Herder so zentralen Problematik von dem Menschen zwischen Erdgebundenheit und Deifizierung entscheidend. Darauf aufbauend soll in einem 1
2
Herder, Johann Gottfried, Die Welt der menschlichen Seele. Fragment, in: Ders., Werke in zehn Bänden, hg. v. Arnold, Günter u.a. Frankfurt a.M. 1985–2000, Bd. 3: Volkslieder Übertragungen Dichtungen (1990), S. 786. Bei Herder spielt der Glaube an einen göttlichen Plan, an eine Vorsehung, eine große Rolle: „Für Herder ist Vorsehung das, was Gott ist“ (Rogerson, John, Herders „Gott. Einige Gespräche“ im Lichte seiner Predigten, in: Sauder, Gerhard (Hg.), Johann Gottfried Herder: 1744– 1803. Hamburg 1987, S. 35–42, hier S. 37), die er v.a. in Auch eine Philosophie ausdrückt. „An die Vorsehung zu glauben bedeutet für Herder, daß ein Mensch erkennt, er ist Teil der Natur […] von der Kraft erfüllt, die durch die ganze Schöpfung lebt und pulsiert, ein kleiner Teil eines großen Ganzen, dessen Zweck und Ziel der Mensch nicht begreifen kann, Mitglied eines Prozesses, der, trotz des äußeren Scheins, grundsätzlich gut ist, so daß er nichts wirklich Böses oder Übles erfahren kann“ (ebd., S. 37).
Christina Juliane Fleck
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zweiten Teil gezeigt werden, inwieweit Herder von der Hermetik beeinflusst wurde und was das gerade für dieses Spannungsfeld bedeutet. Daraus folgend ist zweitens diese Problematik für Herders Verständnis von Ästhetik grundlegend, ja das geniale Schaffen von Kunst ist nur aus dieser spannungsreichen Disposition des Menschen heraus begreifbar. Aussagen Herders wie die, das Genie sei „Dolmetscher der Natur in all’ ihren Zungen“,3 bekommen einen tieferen Sinn, wenn man sich Herders theologisches und hermetisches Weltkonzept vor Augen hält. Das Genie setzt die eigene menschliche Göttlichkeit um und wird zum „Sterblichen mit Götterkraft“.4 Das Schaffen von Kunst ist für Herder immer auch ethischer Aufruf zur ‚Bildung der Menschheit‘, weshalb schließlich die Aufgabe der Kunst in diesem Zusammenhang gesehen werden muss. Das In-Eins-Fallen von Theologie und Ästhetik soll daher in einem letzten Schritt gezeigt werden.
II.1
Aspekte Herderscher Theologie
II.1.1 Der Sündenfall Die Schwierigkeit, die nach dem Theologen Herder den Menschen ausmacht, ist, ein Wesen zwischen Endlichkeit und Streben nach Göttergleichheit zu sein. Es scheint sich zu widersprechen, wenn Herder einmal den Sündenfall als positiv, dann aber auch als selbstverschuldeten und hybriden, unwiderruflichen Verlust der menschlichen Unschuld und Glückseligkeit beschreibt. Die negativen Folgen des Verlustes des Einsseins mit der Natur beschreibt Herder in der Schrift Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts folgendermaßen: Im Garten des Vergnügens, da [das menschliche Geschlecht] den Kräften seiner Natur treu, in ganzer unverfälschter Menschheit, sich und die ganze Schöpfung genoß, von übertriebnen Wünschen, und von Begierden, die aus dem Gleichgewicht seiner Kräfte wichen, nichts wußte, und in Unschuld glücklich lebte. Es trat aus diesem Stande: es verließ seine Natur. Da der Mensch sich höhere Kenntnisse anmaßete, als ihm zukamen: das Reich seiner Begierden durch die Phantasie unermeßlich erweiterte; da schweifete er über die Schranken der Menschheit, da ward Unordnung unter den gesteigerten Kräften und Begierden seiner Seele: ward Böses in ihm, da voraus Alles Gut war.5
Erst durch das Streben, wie Gott zu werden, kam demzufolge Ungleichgewicht, kam Böses in die Seele des Menschen. Der einstige glückliche Naturzustand ist unwiederbringlich verloren. Durch das Bewusstsein der Möglichkeit, nach Höherem zu streben, wird die anthropologische Disposition des ‚Nicht-wie-Gott-seinKönnens‘ schmerzlich fühlbar. 3 4 5
Herder, Johann Gottfried, Shakespear 1773, in: Herder, Werke, (wie Anm. 1), Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. v. Gunter E. Grimm (1993), S. 498–521, hier S. 509. Ebd., S. 508. Herder, Johann Gottfried, Über die ersten Urkunden, in: Herder, Werke, (wie Anm. 1), Bd. 5: Schriften zum Alten Testament, hg. v. Rudolf Smend (1993), S. 11–179, hier S. 132.
Das Göttliche im Menschen
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Der Theologe Herder versteht demzufolge die altorientalische Erzählung des Sündenfalls als poetischen Versuch, das Schicksal des Menschen und der Menschheit zu begreifen.6 Der Mensch fühlt Potenz und Verlangen nach Erkenntnis, gar nach Allwissenheit, erlebt aber gleichzeitig sein Unvermögen. Diese anthropologische Disposition als Wesen zwischen Fähigkeit und Scheitern findet Herder in der Geschichte vom Sündenfall vor: „Der Baum ist Sinnbild des größesten Geheimnisses, was nur unsre Zeit und der Philosoph fand, und – die Kindheit des Menschengeschlechts in einer Kindesfabel wußte“.7 Gleichzeitig aber deutet er den Sündenfall durchaus positiv, gar als Wohltat und Segen Gottes: „[D]ie Strafe Gottes ward (wie kann der Allgütige auch anders strafen?) ein neuer, nur härter zu fühlender Segen.“8 An Hamann schreibt er: [D]aß kein edleres, antikeres Poetisch-Orientalisches Bild seyn kann, als: der Baum des Erkenntnisses […] was er ist? Es ist das Risquo, das der Mensch auf sich nahm, außer seinen Schranken, sich zu erweitern, Erkenntnisse zu sammeln, fremde Früchte zu genießen, andern Geschöpfen nachzuahmen, die Vernunft zu erhöhen, und selbst ein Sammelplatz aller Instinkte, aller Fähigkeiten, aller Genußarten seyn zu wollen, zu seyn wie Gott (nicht mehr ein Thier) u. zu wißen.9
Dieses Verständnis vom Sündenfall des Menschen führt dazu, dass Herder einen dezidiert christlichen Standpunkt aufgibt. Dies hängt nicht zuletzt mit seinem Ver6
7 8 9
Ulrich Gaier drückt dies folgendermaßen aus: „Es gab nämlich nicht eine einseitig gerichtete Antwort auf die Frage nach dem Warum der Menschengeschichte, sondern gleich drei, die sich dialektisch aufheben […] der Sündenfall ist Freveltat und notwendige Tat, Erniedrigung und Möglichkeit zur Erhöhung des Menschen; die Strafen Evas und Adams sind zugleich Wohltaten Gottes. Die Geschichte ist damit zugleich rousseauistisch Depravation und Entfremdung des Menschen von seinem göttlichen Ursprung und aufklärungsoptimistisch der selbstgeleitete Fortschritt des Menschen in sein Wesen, in seine Menschheit.“ (Gaier, Ulrich, Stellenkommentar zu Johann Gottfried Herder: Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose, in: Herder, Werke, (wie Anm. 1), Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772 (1985), S. 145f.). Er fährt fort: „Überschüttet von der Fülle des Sinns bleibt dem gläubigen Menschen nur die Bewunderung, der Lobpreis der Ehre oder Herrlichkeit des unbegreiflichen Gottes“ (ebd., S. 146). Dies entspricht, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll, nicht Herders Aussagen, in denen es immer um ein Handeln und um Bildung durch und für Menschen, um Veränderung hin zu einem großen Sinn geht, der nur durch die tatkräftige Unterstützung des Menschen, der als Hieroglyphe des Universums vorgestellt wird, verwirklicht werden kann. Herder, Johann Gottfried, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 553f. Herder, Johann Gottfried, Vom Geist der Ebräischen Poesie, in: Herder, Werke, (wie Anm. 1), Bd. 5: Schriften zum Alten Testament (1993), S. 661–1308, hier S. 797. Herder, Johann Gottfried, Briefe I. Ausgewählt, eingel. und mit Anm. versehen v. Arthur Henkel. Frankfurt a.M. 1988, S. 98. „Als Immanuel Kant 1786 den Sündenfall zum historischen ‚Übergang‘ des Menschen ‚aus dem Gängelwagen des Instincts zur Leitung der Vernunft‘ erklärte, ‚aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit‘, und Friedrich Schiller 1790 diese Interpretation mit dem Urteil krönte, das sei ‚ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte‘ gewesen, da wußten beide nicht, daß Herder schon 1768 in einem Brief an Hamann die Weichen für diese Deutung des Sündenfalls gestellt hatte. Ebensowenig wußten sie von Hamanns Entwurf zu einer grundlegenden Kritik solcher Auffassung und ihrer Folgen in seinem damaligen Antwortbrief“ (Graubner, Hans, ‚Origines‘. Zur Deutung des Sündenfalls in Hamanns Kritik an Herder, in: Poschmann, Brigitte (Hg.), Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988. Rinteln 1989, S. 108–132, hier S. 108).
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ständnis der Entstehung der Welt als Emanation Gottes zusammen: „wie alles aus Licht ward, und gleichsam nur verschattet ward in die Schöpfung“,10 was er insbesondere in der Ältesten Urkunde immer wieder mit den Worten „Eins in All’“11 ausdrückt. Es entfällt die in der christlichen Theologie zentrale, als Folge des Sündenfalls interpretierte Erlösungsbedürftigkeit des Menschen,12 die Vervollkommnung des Menschen und seine Realisation von Glückseligkeit werden ins Diesseits verlagert. Somit wird bei Herder, wie er in dem Brief an Hamann schreibt, der Sündenfall des Menschen zur Bedingung der Möglichkeit, sich selbst im Diesseits zu vergotten, zu ‚seyn wie Gott‘. II.1.2 Die Gottebenbildlichkeit Das Streben nach Göttlichkeit, das sich in der Geschichte des Sündenfalls widerspiegelt, drückt sich bei Herder in seiner Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen aus, die das Bezogensein auf und die Erhebung des Menschen durch Gott aufzeigt. Als Grundpfeiler jüdischer und christlicher Religion ist die ImagoDei-Lehre für Herder, für den der Mensch immer Ausgangs-, Mittel- und Zielpunkt seiner Betrachtungen ist,13 von äußerster Wichtigkeit. Hier liegt nicht nur der Grund für die Würde des Menschen und seinen Vorrang vor anderen Lebewesen, Herder begründet durch die Gottebenbildlichkeit auch Möglichkeit und Auftrag des Menschen, sich selbst regelrecht zu vergotten. Der Mensch ist für Herder weder nur Tier noch eine absolute Gottheit, ohne dass er das eine oder das andere nicht auch wäre: Die älteste Abgötterei war nicht Mond und Sonne, sondern das Gottesbild im Menschen […] Fülle der Weisheit ist in dem Bilde, der Knote unsrer Natur, der Knäuel unsrer Bestimmung. Verliere Eins dieser Enden, o Mensch, deine Niedrigkeit oder Hoheit; du bist in unermeßlicher Irre […] In der Mitte liegt Wahrheit. Othem Gottes, aber im Erdegefäß, der Abdruck des webenden Schöpfers, aber noch Tier des Feldes.14
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Herder, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 471. Vgl. dazu die Ausführungen über den Pantheismus und Panentheismus bei Herder, in: Kemper, Hans-Georg, Herders Konzept einer Mythopoesie und Goethes Ganymed, in: Baßler, Moritz u.a. (Hg.), Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Tübingen 1997, S 51f. Diese panentheistische Vorstellung verbindet Herder mit einer schicksalhaften: Aber „[w]oher bekam Herder diese Vorstellung von der Vorsehung, die ganz anders ist als die orthodoxe Vorstellung eines persönlichen Gottes, der außerhalb der Welt ist, aber in ihr durch Wunder wirkt? Eine mögliche Antwort wäre, daß Herder in der Bibel, besonders in den Psalmen, seine Vorstellung der Vorsehung fand“; Rogerson, (wie Anm. 2), S. 38. Herder, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 298. Das christliche Inkarnationsverständnis wird so obsolet, wobei Jesus Christus für Herder eine zentrale historische Gestalt ist, die durch ihr Leben und Vorbild das Licht ausbreitet (‚Ich bin das Licht‘ [Joh 8,12]) und so die Schöpfung der Vollendung im Eingang des Göttlichen näher bringt. Vgl. die ‚Sonderstellung des Menschen‘ bei Herder in: Kantzenbach, Friedrich Wilhelm, ‚Selbstheit‘ bei Herder. Anfragen zum Pantheismusverdacht, in: Sauder, Gerhard, (wie Anm. 2), S. 17f. Herder, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 505.
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Der Mensch ist demnach durch die Gottebenbildlichkeit dem Göttlichen auf eine Weise angenähert, die es nötig macht, ihn an seine Erdgebundenheit und Vergänglichkeit zu erinnern. Gleichzeitig aber entspricht es nicht der Würde des Menschen, wie ein Tier zu leben. Wie aber soll sich der Mensch in dieser Mitte verwirklichen, was bedeutet Mensch-Sein? „Herrschen, Walten, Leben, Würken, Genießen, Gott der Erde sein – das ist Menschen-Tun und Wesen.“15 Der Mensch hat Teil am Göttlichen, ohne je ganz im Göttlichen aufgehen zu können, er ist weder allmächtig noch allwissend. Er kann und soll sich dem Göttlichen annähern, bleibt aber in der Welt durch Endlichkeit beschränkt. Hier ist seine Bestimmung und Aufgabe grundgelegt „Gott der Erde“ zu sein. Er repräsentiert die Gottheit in der Schöpfung. Der Gottheit unendlich nahe bleibt er doch eine „Handvoll Erde“: Nicht Mond, nicht Sonne, keinem belebten Staube der Welt ist Gott so innig nahe, als mir: gegenwärtiger Gott! ein wandelnder Hauch des Schöpfers. Aber nur in einer Handvoll Erde – siehe da den Widerspruch im Menschen, Himmel und Erde, die zusammengesetzten Ende der Schöpfung!16
Es ist dem Menschen möglich, in sich selbst das Göttliche zu erleben, und es stellt sich ihm die Aufgabe, seine ihm geschenkte Göttlichkeit zu verwirklichen: Und siehe! Mensch, da stehest du! das Götterbild! Ebenbild Gottes! Herrschergedanke der Schöpfung! Von Himmel und Erden rufe den zerstreuten, betäubten Blick zurück auf dich! in dich selbst – […] betrachte dein Glück! deine Gestalt! deine Kräfte! deine große Bestimmung17
Aber nicht nur in sich selbst, in jedem Mitmenschen – und dies ist wiederum wichtig für den Bildungsgedanken Herders – strahlt die Gottheit: „hier das Göttliche im Antlitz des Menschen. Das Licht auf seiner Stirn, der Glanz, die Wonne seines Auges, was auf dieser Jugendwange lacht, heitert, glühet, erwärmet – Licht des Antlitzes, Glanz des Unsichtbaren, Gott!“18 Deshalb ist die Bildung des Menschen wichtig. Die Gottebenbildlichkeit begründet nicht nur die Würde und den Vorrang des Menschen vor allen anderen Wesen der Schöpfung. Die Bezogenheit auf Gott beinhaltet die Möglichkeit und die Aufgabe, die Schöpfung, und damit sich selbst, dem Göttlichen näher zu bringen.19 Er hat den Auftrag, die Schöpfung, das Werk Gottes, das er nie ganz zu durchschauen vermag, mitzugestalten:
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Ebd., S. 263. Ebd., S. 503. Ebd., S. 243. Ebd., S. 207. „Herders Geschichtsdenken […] ruht auf einer Anthropologie auf, die Freiheit, Tätigkeit, humane Selbstverwirklichung zum menschlich-menschheitlichen Telos erklärt, das dem Menschen in die eigenen Hände gelegt wurde“, wie Herz richtig erkennt, ohne den im Folgenden beschriebenen aufschlussreichen hermetischen Hintergrund zu bedenken (Herz, Andreas, Dunkler Spiegel – helles Dasein. Natur, Geschichte, Kunst im Werk Johann Gottfried Herders. Heidelberg 1996, S. 223).
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O eine einzige Menschliche Seele selig zu machen – zu sich sagen können, sie glücklich gemacht zu haben: schon das ist himmlische göttliche Bestimmung und Seligkeit! […] Was geht über die große Bestimmung? über den Triumph, ein so nützliches Werkzeug des Menschen, ein Gott der Erde, ein Seligmacher der Menschen gewesen zu sein.20
Das Göttliche im Menschen steht im Vordergrund, und das menschliche Leben in seiner Geschichtlichkeit erhält so einen göttlichen Sinn. Die biblischen Erzählungen von Sündenfall und Gottebenbildlichkeit des Menschen spiegeln so für Herder grundlegende Wahrheit in altorientalischen Worten und Bildern wider. Um aber die Verknüpfung von Theologie und Ästhetik bei Herder besser zu begreifen, ist eine Beschäftigung mit Herders hermetischer Position unerlässlich.
II.2
Der Mensch als Hieroglyphe einer dynamischen Schöpfung: Aspekte Herderscher Hermetik-Rezeption
II.2.1 Herders Verbindung mit der Hermetik Die Hermetik,21 „abgeleitet vom Namen des legendären ersten Alchemisten Hermes Trismegistos, bezeichnet im weiteren Sinne generell die Geheimwissenschaften. Dem mit dem ägyptischen Gott Thot identifizierten Hermes, dem mythischen Schöpfer aller Künste und Wissenschaften, wurden schon in der Antike zahlreiche Texte zugeschrieben, die [allerdings wohl] im hellenistischen Ägypten [entstanden]. Die Texte des hermetischen Schriftencorpus22 bilden ein Amalgam aus griechischer Philosophie, insbesondere Platonismus und Neuplatonismus, Stoizismus, persisch-babylonischer Religion und […] jüdischen Elementen“.23
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Herder, Johann Gottfried, Abschiedspredigt von Riga, in: Herder, Werke, (wie Anm. 1), Bd. 9/1: Theologische Schriften (1994), S. 45–66, S. 58. „Mit dem Hermetismus steht ein religions-philosophisches Paradigma im Blickpunkt, das der abendländisch-christlichen Kultur auf den ersten Blick sehr fern zu stehen scheint. Die synkretistische Religions- und Naturphilosophie spätantiken Ursprungs war zunächst genuin heidnisch bzw. nichtchristlich. Sie hat kein geschlossenes System hervorgebracht und sich institutionell auch nie gefestigt. Entgegen der heutigen begrifflichen Konnotation handelte es sich um ein bemerkenswert offenes System, das sich anderen Lehren relativ leicht anpassen ließ und ebenso in Verbindung mit christlichen wie mit wissenschaftlich ‚modernen‘ Vorstellungen zu finden ist.“ (Trepp, Anne-Charlott, Hermetismus oder zur Pluralisierung von Religiositäts- und Wissensformen in der Frühen Neuzeit. Einleitende Bemerkungen, in: Dies. u.a. (Hg.), Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2001, S. 7) „Das Corpus Hermeticum, dessen Hauptbestandteil achtzehn Traktate bildeten, wurde auf Hermes Trismegistos, einer mit dem griechischen Gott Hermes und dem altägyptischen Gott Thot identifizierten Offenbarungsinstanz, zurückgeführt. Er galt als Urheber aller Wissenschaften und Künste, insbesondere als Erfinder der Alchemie.“ (Ebd., S. 7) Smith, Pamela H., Art. Hermetik, in: Priesner, Claus, Figala, Karin (Hg.), Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. München 1998, S. 176f.
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Offensichtlich wird Herders Verbindung zur Hermetik,24 wenn man seine Handbibliothek betrachtet, in der sich eine große Anzahl heterodoxer hermetisch-mystischer Schriften befand.25 Auch der Brief, den Herder 1770 an Johann Heinrich Merck schrieb, macht seine Affinität zur Hermetik deutlich. Er schreibt, dass die mosaische Hieroglyphe, und meint damit den biblischen Schöpfungsbericht, „so gewiß der ganzen ägyptischen Götterlehre, geheimen Gottesdienste, Weisheitslehre des Thot’s oder Theut’s u.s.w. zum Grunde liege, als ich Herder heiße“.26 Schließlich zeigen auch Herders Werke inhaltlich eine nahe Verwandtschaft zur hermetischen Philosophie, ja seine Älteste Urkunde kann man mit Kemper als „HauptWerk in der Rezeptionsgeschichte der hermetischen Tradition“27 bezeichnen. II.2.2
Die hermetischen Grundpostulate Analogie und Dynamismus
Um die direkte Beschäftigung und Übernahme von hermetischem Gedankengut zu zeigen, zitiere ich aus Herders Ältester Urkunde: Der Name [Hermes] und die angebliche Reihe seiner Schriften, die Erzählungen des Altertums von ihm, und seine Erfindungen – Alles bekommt Wesen, Zusammenhalt, Möglichkeit und Existenz. Der große Dreigewaltige,28 in dem Einige so gar die Dreieinigkeit befinden wollen, mit diesem Fingerzeige auf die Symbole – welch ein Sinn! welch ein Inhalt! Was können die sogenannten heiligen Schriften eines solchen Hermes sein: als Rede von der Natur und Schöpfung der Welt?29
Offensichtlicher kann Herders Verbindung mit der Hermetik wohl kaum gezeigt werden. Auf zwei zentrale Vorstellungen der Hermetik soll hier eingegangen werden, die sich in Herders Werk immer wieder finden und eine bedeutende Rolle für sein Ästhetikkonzept spielen, da hier Kunstschaffen und der Bezug zum Göttlichen nicht zu trennen sind. Diese beiden Aspekte sind die Analogie, die Vorstellung, dass alles in der vom Göttlichen durchdrungenen Schöpfung30 aufeinander bezogen 24
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Das Zurückgreifen auf hermetische Traditionen bei Herder bildet keinesfalls einen Rückschritt hinter die Aufklärung, sondern fundiert die Möglichkeit des Menschen, sich in einer einzigartigen Weise tatsächlich selbst zu vergotten, ohne aus dem Schöpfungszusammenhang zu fallen. Vgl. die Aussagen Trepps über die Hermetik: „Tatsächlich war die Suche nach dem verschütteten bis in die Urzeiten eines Hermes Trismegistos zurückreichenden Wissens nicht gleichbedeutend mit der Hinwendung zu überholten, fortschrittshemmenden oder gar fortschrittsfeindlichen Denkweisen. Die Vorstellung von der Einheit der göttlichen Sphäre und der menschlich-kreatürlichen Welt wie auch die Idee potentieller Selbsterlösung durch die Einsicht in das durch den Sündenfall verloren gegangene vollkommene Wissen um die Schöpfung waren […] gleichbedeutend mit einer Betonung des menschlichen Intellekts und der menschlichen Autonomie.“ (Trepp, [wie Anm. 21], S. 14) Vgl. Kemper, Hans-Georg, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Sturm und Drang: Genie-Religion. Bd. 6/II. Tübingen 2002, S. 194. Herder, Briefe I, (wie Anm. 9), S. 261. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, (wie Anm. 25), S. 153. Herder meint hier Hermes Trismegistos, auf den die Hermetik zurückgeführt wird. Herder, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 323. Kern der beeindruckenden Dissertation von Andreas Herz über Herder ist die Frage nach der menschlichen Möglichkeit der Erkenntnis des Göttlichen, wobei er Herders häufig vorkom-
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ist,31 und zweitens der Dynamismus, die sich auf das Göttliche zubewegende Energie der ganzen Schöpfung, bei der dem Menschen die Aufgabe zukommt, tatkräftig mitzuhelfen. II.2.2.1 Die Analogie Der Makrokosmos ist die von Gott geschaffene und quasi durchstrahlte Natur:32 „Und wie die Eine Seele das Alles belebt; das ganze Universum sinnlicher Kraft’ und Glieder Ein Gedanke, Wink und Werkzeug Eines Willens wird!“33 Diese spiegelt sich, da alles in Analogie aufeinander bezogen ist, im einzelnen Menschen: „‚Mensch, Bild Gottes! und selbst das sichtbare Nachbild und Hieroglyphe der Schöpfung.‘“34 Der Mensch wird zum Mikrokosmos, d.h. zum Abbild und Sinnmittelpunkt des Makrokosmos, der übrigen Schöpfung. Pointiert beschreibt Herder dieses Phänomen in seinem Gedicht Die Schöpfung: Immer tiefer, höher. Ich bins, in dem die Schöpfung sich punktet, der in alles quillt und der Alles in sich füllt!– […] Fühle dich so fühlst du Gott in dir. In dir fühlt sich Gott wie ihn Sonn’ und Tier nicht fühlt wie er – sich – in sich – erzielt!–35
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mende, aussagekräftige Spiegelmetapher folgendermaßen interpretiert: „Die Welt erscheint dem Bewußtsein als dunkler, nur partiell aufgehellter Spiegel, in den sein Blick fällt. Ihre Totalität kann in keinem abschließenden Wissen eingeholt und festgehalten werden. Hinter den Spiegel zu schauen, wie Kinder, die das Vor-Bild ihrer eigenen Spiegelung hinter dem Spiegel suchen, ist gleich gar müßig. Damit verweist der Spiegel im Herder-Zitat auf eine uralte Metapher für die Anwesenheit Gottes oder des Göttlichen in der irdischen Körperwelt. Was gespiegelt wird, ist der unvollkommne Mensch selbst und die erscheinende gegenständliche Welt, deren Teil er ist, in einer umfassenden Wahrheit, die im Spiegelbild nicht aufgeht, darüber hinausweist, die nur zu ahnen ist und Gott oder Idee heißt.“ (Herz, [wie Anm. 19], S. 14f.) Damit wird genau die Möglichkeit des Menschen, das Göttliche in der Schöpfung zu begreifen, ausgedrückt, die auch hier betont werden soll. Vgl. auch S. 27. Vgl. Irmscher, Hans Dietrich, Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders, in: DVjs 55 (1981), S. 64–97. „‚Die Natur ist kein selbständiges Wesen; sondern Gott ist Alles in seinen Werken‘. Mit dem ‚hen kai pan‘ einer monistischen Wissenschaftsmaxime begegnet er also der orthodox – theologischen Inanspruchnahme der Weltweisheit als einer ancilla theologiae, zugleich aber auch dem neuzeitlichen Prozeß der Ent-Sinnlichung der Natur, indem er die Erscheinungswelt selbst als Offenbarung des ‚Sinns‘ und als Antwort auf das menschliche Sinnverlangen deutete“ (Bollacher, Martin, ‚Natur‘ und ‚Vernunft‘ in Herders Entwurf einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Sauder, (wie Anm. 2), S. 114–124, hier S. 116). Herder, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 296. Ebd., S. 292. Herder, Johann Gottfried, Die Schöpfung. Ein Morgengesang, hg. v. Ulrich Gaier, Bd. 3: Volkslieder Übertragungen Dichtungen. Frankfurt a.M. 1990, S. 813.
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Durch die Schöpfung „geht eine große Kette würkender Wesen […] durch alle Gebäude und Adern der Schöpfung“,36 und der Mensch bildet das Abbild und den Sinnmittelpunkt dieser Schöpfung. Die Gottheit durchströmt so den Menschen, der Mensch ist sich der Göttlichkeit in ihm bewusst, empfindet sie. Herder geht sogar so weit zu schreiben, dass Gott sich selbst im Menschen fühlt, sich selbst in ihm ‚erzielt‘. In diesem Sinne ist der Mensch nicht nur, wie vorher ausgeführt, Bild Gottes, sondern gleichzeitig – und das ist ein sehr wichtiger Punkt – Bild des ganzen Universums, Bild der ihn umgebenden Natur, ein Gottes- und Naturebenbild. Die Deifizierung des Menschen bei gleichzeitiger Erdgebundenheit bekommt so eine andere Qualität. Auch und gerade im innerweltlichen Schöpfungszusammenhang erlebt der Mensch als Ebenbild der göttlichen Natur eine fundamentale Aufwertung. II.2.2.2 Der Dynamismus Ein zweites wichtiges Phänomen, das in der Hermetik und bei Herder eine bedeutende Rolle spielt, ist der Dynamismus. Ich zitiere Herder: „[W]ie wird die Lehre, der erste positive Unterricht dieses Gottes an dies ganze Geschlecht sein müssen? ‚Eins in All! und All in Eins! ein Universum der Bildung!‘.“37 Dieses von Herder viel zitierte „Eins in All und All in Eins“ ist das Credo der Hermetik, das besagt, dass alles, die ganze Schöpfung, aus dem Einen Göttlichen hervorgegangen ist und diesem vollkommenen Einen wieder zustrebt.38 Der Mensch hat die Aufgabe, bei dem göttlichen Werk mitzuhelfen, das Universum zu vervollkommnen, sich und die Schöpfung dem Einen wieder zuzuführen: Eins in Allem, All’ in Ein! Warst, und bist und wirst du sein Du aus dem die Schöpfung quillt Du in Allen, Gottes Bild! Der sie schuf und durch sein Bild sie verwandelt, läutert, füllt, auftreibt, segnet und in sich einst zurückzieht! – Freue Dich Schöpfung und du Menschenbild Würker Gottes, das sie füllt und verwandelt! – Groß bist du Mittelpunkt in Gottes Ruh!39
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Herder, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 472. Ebd., S. 298. Hans-Georg Kemper bezeichnet Herders Vorstellung als „entelechisch-organologische Pantheismus-Formel des Hermetismus“ (Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, [wie Anm. 25], S. 264). Herder, Die Schöpfung, (wie Anm. 35), S. 813.
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Hier ist zwar deutlich der vorhin aufgezeigte Gedanke der Gottebenbildlichkeit präsent, aber der Dynamismus, das innerweltliche Streben zurück zu dem „Einen“, kann seine hermetischen Wurzeln nicht verleugnen. Der Mensch ist in hohem Maße aufgewertet, denn ihm kommt die Aufgabe zu, „Würker“ Gottes zu sein, die Schöpfung bis zur Vollkommenheit zu verwandeln. II.2.3 Der Mensch als Hieroglyphe der Schöpfung Der Mensch als Wesen der Erdgebundenheit und Göttlichkeit steht im Mittelpunkt von Herders Werk. Der Mensch als Hieroglyphe der Schöpfung, in dem sich die Gottheit „punktet“, ist eine Vorstellung, die mit der theologisch verstandenen Sündenfallinterpretation oder der biblischen Gottebenbildlichkeit kaum mehr vereinbar, für Herder aber in beiden grundgelegt ist. Trotz aller stark durch die hermetische Tradition beeinflussten Aufwertung des Menschen, ja seiner Deifizierung, besteht für Herder der kategoriale Unterschied zwischen Mensch und Gott: „[H]ier ist eine große Wichtigkeit daß ich bekenne, daß ich nichts weiß: ein Mensch bleibe und kein Gott werden wolle.“40 Hier spielt Herders historisierendes Denken eine große Rolle. Die Möglichkeit der Erkenntnis ist beim Menschen, im Gegensatz zur Gottheit, immer durch seinen historisch bedingten Gesichtspunkt limitiert: Der Mensch bleibt sein Lebenlang Kind einer höhern Macht: was er in, an und um sich erkennet, ist immer das Unendlichwenigere gegen das, was vor – um – und hinter ihm im dunklen Spiegel schwimmt. […] Ich bin nur, wo ich jetzt bin, auf Einem sichtbar gewordenen, eingeschloßnen, verdämmerten Punkte.41
Gerade durch sein den Menschen als göttliche Hieroglyphe der Schöpfung feierndes, hermetisch beeinflusstes Weltbild kann der Mensch bei Herder derjenige sein, der immer auf das Göttliche als Anderes bezogen ist, und gleichzeitig derjenige, in dem die Gottheit sich ‚punktet‘. Was aber bedeutet das für Herders Ästhetik?
II.3
Das Genie als ‚Dolmetscher der Natur‘ und ‚Bildner der Menschheit‘: Aspekte von Herders Ästhetik
II.3.1 Das Genie als „Dolmetscher der Natur in all ihren Zungen“ „Gott sprach es werde Licht und es ward Licht“. Diese Stelle der Genesis ist die Grundlage für Herders Vorstellung des Universums und der durch diesen Zusammenhang bedingten Schöpferkraft des Menschen: 40 41
Herder, Johann Gottfried, Über die Göttlichkeit und Gebrauch der Bibel, in: Herder, Werke, (wie Anm. 1), Bd. 5: Schriften zum Alten Testament (1993), S. 19–44, hier S. 27. Herder, Johann Gottfried, An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter, in: Herder, Werke, (wie Anm. 1), Bd. 5: Schriften zum Alten Testament (1993), S. 67–138, hier S. 85f.
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Welch Wunder Gottes, ein Lichtstrahl! wie er uns so weit außer uns selbst, bis an die Räume und Enden der Schöpfung, und mit welcher Genauigkeit! hinauswirft, oder vielmehr, wie er alle Dinge, Bilder, die ganze Gestalt der Schöpfung auf Einmal in unsre Seele sammlet! […] Wonnegefühl im Herzen, Strom der Göttlichkeit und Schöpferkraft durch die ganze Natur […] Empfindung Gottes in diesem seinem ungeborenen Kinde [dem Licht!], dem reinsten Ausfluß seines Wesens, dem entzückenden Strom, der sich durch alle Schöpfung, durch Herzen und Seelen unerforschlich ergeußt, Organ der Gottheit im Weltall.42
Das Genie ist vom göttlichen Licht durchstrahlt und spiegelt den Makrokosmos in seiner Individualität wider. Erst mit dem Wissen um den hermetischen Hintergrund Herders, für den das ganze Universum vom Göttlichen durchstrahlt ist, wird so seine Genievorstellung verständlich. Der schöpferische Mensch lässt sich auf die Natur ein,43 öffnet sich für das Licht und schafft so göttliche Kunst, die, da die Natur sich wandelt, auch historisch gebunden ist. Gleichzeitig tut er durch das Durchstrahltsein vom Licht der göttlichen Wahrheit diese kund. Herder bezeichnet Dichtung als „zurückgeworfene Strahlen der Sonne“.44 Hier fallen Theologie und Ästhetik in Eins, wenn der als Gottes- und Naturebenbild geschaffene Mensch sich auf die vom göttlichen Licht durchstrahlte Natur einlässt, sie widerspiegelt, in der historisch einmaligen Individualität des Dichters: „[D]er wahre Dichter [ist] nur Dolmetscher oder noch eigentlicher der Überbringer der Natur in die Seele und in das Herz seiner Brüder“,45 und so ist „Shakespear der größte Meister, eben weil er nur immer Diener der Natur ist“.46 Die göttliche Natur wird so zum Ausgangs- und Bezugspunkt der Kunst: „Plan, der allemal die Produktion der Natur und ihrer Nachschöpferin, der Poesie, zu einem gewißen wohlgebildeten, untrennbaren Einen macht.“47 Dichtung ist somit Spiegelung der Natur und der sich in ihr offenbarenden Wahrheit. II.3.2 Ethischer Auftrag zur ‚Bildung der Menschheit‘ So lässt sich Ästhetik nur zusammen mit dem theologischen und hermetischen Hintergrund Herders begreifen. Aber gerade weil Theologie und Ästhetik bei Herder nicht getrennt gedacht werden können, betont er die ethische Implikation48 der 42 43 44
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Herder, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 208. Er soll sich „in die Natur als Schöpfung fühlen“, so: Gockel, Heinz, Herder und die Mythologie, in: Sauder, (wie Anm. 2), S. 409–418, hier S. 415. Herder, Johann Gottfried, Über Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, in: Herder, Werke, (wie Anm. 1), Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787 (1994), S. 149–214, hier S. 155. Ebd. Herder, Shakespear, (wie Anm. 3), S. 512. Herder, Johann Gottfried, Luther. Eine Ode von J. A. Cramer. 1771. Bd. 5 in: Ders., Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, 33 Bde. Berlin 1877–1913, S. 404. Bei Elfriede Büchsel heißt es: „[U]ngemein stark und dominierend ist und bleibt bei dem Autor Herder – das ist allgemein anerkannt – der pädagogische Impuls, pädagogisch in einem ganz umfassenden Sinn.“ (Büchsel, Elfriede, Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei J. G. Hamann. Untersuchungen zur Struktur von Hamanns Schriften auf dem Hintergrund der Bibel. Gießen 1988, S. 151. Die Ethik bildet hier mit der Pädagogik eine Einheit. Büchsel fährt fort:
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Ästhetik. Herder schreibt: „Wenn hat in der ganzen Analogie der Natur die Gottheit anders, als durch Natur gehandelt? und ist darum keine Gottheit, oder ists nicht eben Gottheit, die so all ergossen, einförmig und unsichtbar durch alle ihre Werke würkt?“49 In dem göttlichen Ganzen ist es der Mensch, der als „Gott der Erde“50 die Schöpfung und Menschheit in Richtung Vollkommenheit, in Richtung Göttlichkeit voranbringen kann.51 Daraus entsteht die Aufforderung zu handeln: „Das wahre Siegel der Göttlichkeit ist tun und nicht genießen!“52 Hier spielt die Kunst und insbesondere die Poesie eine besondere Rolle, da diese im göttlichen Kontext verstanden wird: „Dichtkunst, sie ist ursprünglich Theologie gewesen, und die edelste, höchste Dichtkunst wird wie die Tonkunst ihrem Wesen nach immer Theologie bleiben. Sänger und Propheten, die erhabensten Dichter des Alten Testaments schöpften Flammen aus heiligem Feuer.“53 Herder schreibt: Ist Poesie das, was sie sein soll, so ist sie ihrem Wesen nach wirkend. […] Natur, Empfindung, ganze Menschenseele floß in die Sprache, und drückte sich in sie, ihren Körper, ab; wirkt also auch durch ihn in alles, was Natur ist, in alle gleichgestimmte, mitempfindende Seelen.54
Der Zweck des Dichtens ist für Herder, das Herz des Zuhörers zu erschüttern,55 um ihn, dem mit Hilfe des Genies das Göttliche der Natur verkündet wird, selbst zur größeren Vollkommenheit zu bilden: So lange ein Mensch noch unter Gegenständen der Natur lebt und diese ihn ganz berühren, je mehr er Kind dieser lebendigen, kräftigen, vielförmigen Mutter ist […] je mehr er ganz auf diese wirkt und sie ganz auf sich wirken läßt, […] je freier und göttlicher er, was er empfangen hat, in Sprache bringen kann und darf, sein Bild von Handlungen ganz darstellt und durch die ihm eingeborne, nicht aufgeklebte Kraft wirken läßt; endlich je treuer und wahrer die Men-
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„Der Bückeburger Autor sucht den Leser als sinnenhaften, empfindenden, um seine Orientierung in der Welt und um seine eigene Menschlichkeit ringenden Zeitgenossen zu erreichen“ (ebd., S. 151). Herder, Johann Gottfried, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts, in: Herder, Werke, (wie Anm. 1), Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787 (1994), S. 9–108, hier S. 48. Herder, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 263. „Alles Tugendgefühl im Menschen welch ein Strahl der höchsten Gottheit“ (ebd., S. 232). Herder, An Prediger, (wie Anm. 41), S. 128. Ebd., S. 127. Herder, Wirkung der Dichtkunst, (wie Anm. 44), S. 154. „Daher liegt die Vermutung nahe: Auch wenn Herders Formulierungen eine große Nähe zu einer Poetik des autonomen Gebildes anzudeuten scheinen, bleibt er doch immer ein Platoniker. Anders ausgedrückt: Auch dann, wenn in einem dichterischen Werk der bildende Gedanke ganz Gegenwart zu sein scheint, bleibt ein Überschuß an Potentialität, und diese ist es eigentlich, die nach Herder die Kraft der Poesie ausmacht, die unmittelbar auf das Herz wirkt. Noch anders formuliert: In der Einheit von Gedanke und Ausdruck, die sich in einem Originalwerk unter den Bedingungen einer Nationalsprache realisieren, meldet sich etwas, das über das national Gelungene hinausdrängt.“ (Irmscher, Hans Dietrich, Poesie, Nationalität und Humanität bei Herder, in: Otto, Regine [Hg.], Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Würzburg 1996, S. 35–37, 40)
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schen um ihn dies alles empfangen, aufnehmen, wie ers gab, in seinen Ton gestimmt sind und Dichtkunst auf seine, des Dichters, nicht auf ihre, der respektiven Zuhörer, Weise wirken lassen: da lebt, da wirkt die Dichtkunst“56
Kunst soll bilden und dies in Herders alles umfassendem göttlichen Kontext: „Erzieher der Menschen, erziehe Gott nach!“57 Herder sucht Vollendung nicht im Jenseits. Für ihn ist bereits im Diesseits – und hier ist nochmals auf den hermetischen Kontext zu verweisen – dem Menschen die Möglichkeit gegeben, sich und andere der Vollkommenheit näher zu bringen, sich zu vergöttlichen und dies mit Hilfe der Kunst, die, als Einlassen des Gottes- und Naturebenbildes Mensch, den Mitmenschen dergestalt erschüttert, dass dieser sich der Vollkommenheit, dem Göttlichen, das ihm aufgezeigt wird, annähert. Die Schöpfung befindet sich in einem dynamischen Prozess, bewegt sich als Ganzes aus Gott geschaffen diesem Einen wieder zu: ‚Eins in All‘ und All in Eins‘. Ästhetik als Theologie und Theologie als Ästhetik mit dem Ziel der Vervollkommnung, wobei eines im Vordergrund steht: das Göttliche im Menschen.
III. Ausblick Blicken wir nochmals kurz zurück auf das Fragment, von dem wir ausgegangen sind: „Mich sing ich! Welt und Gott ein All’ – in mir! – selbst bin ich Lied, und Welt und Phöbus mir!“58
Sich selbst, die eigene menschliche Göttlichkeit singt er: ‚Welt und Gott ein All’ – in mir!‘ Er spiegelt als Gottes- und Naturebenbild mikrokosmisch die ganze Welt, die vom Göttlichen durchstrahlt ist, wider. Er selbst ist sich ‚Lied‘ und ‚Welt‘ und ‚Phoebus‘, er singt den Gott im Menschen, strahlt die Welt und den Phoebus, das göttliche Licht zurück, ist sich sogar Phoebus, symbolisiert selbst die strahlende Gottheit. Es geht darum, sich als Mensch, als Natur- und Gottebenbild, als Hieroglyphe der Schöpfung im Schaffen von Kunst im Licht Gottes der Vollkommenheit zu nähern: Leuchtet uns aus allem nur Licht Gottes an, wallet uns allenthalben nur Flamme des Schöpfers: so werden wir, im Bilde Seiner, Könige aus Sklaven, und bekommen, was jener Philosoph sichte, in uns einen Punkt, sie, mit allem was sie hat, zu bewegen.59
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Herder, Wirkung der Dichtkunst, (wie Anm. 44), S. 156. Herder, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 531. Herder, Die Welt der menschlichen Seele, (wie Anm. 1), S. 786. Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in: Herder, Werke, (wie Anm. 1), Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787 (1994), S. 327–394, hier S. 363.
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In der aus Gott emanierten Schöpfung hängt alles zusammen, ist alles vom Göttlichen durchstrahlt. Der Mensch, gerade der Kunst schaffende Mensch im Mittelpunkt dessen arbeitet an der Ausbreitung des Lichtes, des Göttlichen mit und kommt so selbst, bringt durch Erziehung60 Mitmenschen und damit die ganze Schöpfung, dem Göttlichen unendlich nahe: Es geht eine große Kette würkender Wesen von Ormuzd durch alle Gebäude und Adern der Schöpfung, und der edelste sichtbarste Mitwürker der Gottheit ist – der Mensch, das Bild Gottes in Menschlicher Gestalt. Es kann kaum genug gesagt werden, wie diese Religion das Menschenbild geehret haben […] hier noch in der Sterblichkeit der Materie, ist der Mensch mit allen unsichtbar durch die Schöpfung würkenden Wesen in Verbindung: ist im Guten oder Bösen nur ein sichtbar gewordenes Glied einer unendlichen unsichtbaren Kette. […] das unsichtbare Reich ist in Bewegung und der Mensch ihm und der Gottheit so innig näher – Es kann kein veredelnder Kommentar der Worte gefunden werden ‚der Mensch soll als sichtbares Bild Gottes, herrschen! walten! leben! Gutes würken‘ als das System dieser Religion; nur alles Idealisch, im Geisterreiche, in Licht und Flammen!61
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„Nicht ohne Bedeutung ist die Abgrenzung von Lessings Erziehungsbegriff, dem Mündigkeit als Freiwerden von der Autorität des Vaters entspricht, während Herder von der mütterlichen Vorsehung spricht, ja auch die Offenbarung als Mutter bezeichnen kann, die der Erzogene niemals wird wegstoßen wollen“ (Kantzenbach, [wie Anm. 13], S. 19f.). Herder, Älteste Urkunde, (wie Anm. 5), S. 472f.
MARTIN BOLLACHER (Bochum)
„… über Gott werde ich nie streiten.“ Die Befreiung des Geistes aus dem Buchstaben in Herders Schrift Gott. Einige Gespräche In dem von zahlreichen epistemologischen Krisen und wissenschaftsgeschichtlichen Umbrüchen erschütterten 18. Jahrhundert kommt der Rettung des verschrienen und verfemten Spinoza und der damit verbundenen Aufwertung des Spinozismus eine herausragende Bedeutung zu. Spinoza avancierte in einem geradezu atemberaubenden Prozess der Rehabilitierung zu einem Ahnherrn und Gründervater der klassischen und romantischen deutschen Literatur, deren Repräsentanten – von Lessing über Herder und Goethe bis zu Friedrich Schlegel und Heine – in Spinozas pantheistischer Lehre ein vielfältig auslegbares, integratives Modell für ihre theologisch-philosophischen, naturwissenschaftlichen und vor allem auch poetisch-poetologischen Überzeugungen erkannten. Das auf der Immanentisierung Gottes aufbauende System Spinozas schien sich der deutschen Aufklärungsbewegung mit ihren erst allmählich sich von theologischen Residuen lösenden Autonomisierungstendenzen jedenfalls zwangloser assimilieren zu lassen als die radikalen Positionen der westeuropäischen Aufklärung oder gar die Doktrin der französischen Materialisten vom Schlage eines Helvétius, Holbach oder La Mettrie. Der Siegeszug des Spinozismus in Deutschland, der, seit den siebziger und verstärkt seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, die literarisch-kulturelle Elite erfasste, erschien deshalb nicht nur Lichtenberg als Vorzeichen einer alle Bereiche des Lebens umfassenden und die positiven Religionen aufhebenden „Universalreligion“.1 Heinrich Heine gab Lichtenberg einige Jahrzehnte später in seiner Abhandlung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland recht, wenn er Spinozas pantheistische Anschauungsweise als „die verborgene Religion Deutschlands“2 bezeichnete. Wo, wie bei den meisten Spinoza-Adepten des 18. und 19. Jahrhunderts, der Spinozismus als Alleinheitslehre, als Philosophie des hen kai pan und als Pantheismus aufgefasst wurde, übernahm er in der Tat eine religiöse, alle Lebensbereiche umfassende Einheitsfunktion, die – jenseits der geschichtlich-geoffenbarten Religionen – auf dem anthropologischen Grundbedürfnis 1
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„Wenn die Welt noch eine unzählbare Zahl von Jahren steht, so wird die Universalreligion geläuterter Spinozismus sein. Sich selbst überlassene Vernunft führt auf nichts Andres hinaus, und es ist unmöglich, daß sie auf etwas Andres hinausführe“ (Lichtenberg, Georg Christoph, Gedankenbücher, hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Franz H. Mautner. Heidelberg 1967, S. 148). Heine, Heinrich, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (Düsseldorfer Heine-Ausgabe). 16 Bde., hg. v. Manfred Windfuhr. Düsseldorf 1973–1997, hier Bd. 8/1, S. 62.
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nach einer Verbindung des Endlichen mit dem Unendlichen3 und der Bewältigung menschlicher Kontingenzerfahrungen beruhte. Wenn der Spinozismus aber als die geheime Religion Deutschlands gelten konnte, wenn er als geläutert-universalistische Religion die positive christlichgeoffenbarte Religion im Bewusstsein der Gebildeten und Gelehrten verdrängte, so trug diese Dissoziierung von kirchlich-religiösem Christentum und neuzeitlicher Geisteskultur doch alle Merkmale einer grundstürzenden epistemologischen Wende. Hundert Jahre hindurch hatte man Spinoza kriminalisiert, tabuisiert und exkommuniziert, und deshalb vollzog sich die Aufdeckung und öffentliche Rehabilitierung der inkriminierten Lehre mit geradezu naturhafter Gewalt. Niemand hat die Wirkung des durch Lessings Konfession, Friedrich Heinrich Jacobis Indiskretion und Mendelssohns Indignation entflammten Spinozismusstreits treffender charakterisiert als Goethe, dessen Prometheus-Hymne Lessing zu seinem spinozistischen Credo veranlasst hatte. Im 15. Buch von Dichtung und Wahrheit schreibt Goethe über dieses Gedicht, das Friedrich Heinrich Jacobi 1780 Lessing gezeigt und dann 1785 eigenmächtig in seiner Enthüllungsschrift Über die Lehre des Spinoza veröffentlicht hatte: Es diente zum Zündkraut einer Explosion, welche die geheimsten Verhältnisse würdiger Männer aufdeckte und zur Sprache brachte: Verhältnisse, die, ihnen selbst unbewußt, in einer sonst höchst aufgeklärten Gesellschaft schlummerten. Der Riß war so gewaltsam, daß wir darüber, bei eintretenden Zufälligkeiten, einen unserer würdigsten Männer, Mendelssohn, verloren.4
Goethe fällte sein Urteil über den unseligen Pantheismusstreit rückblickend, aus einem zeitlichen Abstand von knapp dreißig Jahren heraus.5 Von den Beteiligten und Kombattanten der ideologischen Fehde waren 1813 nur noch Goethe selbst und Friedrich Heinrich Jacobi am Leben, Lessing war bereits 1781 gestorben, Mendelssohn 1786 und Herder 1803. Herder war, wie Goethe, durch den gemeinsamen Freund Jacobi in den Streit hineingezogen worden, sah aber durch Jacobis christliche Glaubensphilosophie und seine polemische Gleichsetzung von Spinozismus und Atheismus6 seine eigenen Grundüberzeugungen in Frage gestellt. Die Entstehung des Buches Gott. Einige Gespräche gehört deshalb einerseits in den 3
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Vgl. Schleiermachers Definition der Religion: „alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion“. (Schleiermacher, F. D. E., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Hamburg 1958, S. 32) Goethe, Johann Wolfgang, Werke. Hamburger Ausgabe (im folgenden: HA). 14 Bde. Hamburg 1948ff., hier: Bd. 10, S. 49. Jacobis Gespräche mit Lessing fanden am 6. und 7. Juli 1780 in Wolfenbüttel statt; Jacobis Buch Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn erschien 1785; Goethe arbeitete von Ende 1812 bis Ende 1813 am 15. Buch von Dichtung und Wahrheit (vgl. HA, Bd. 10, S. 602f.). „Spinozismus ist Atheismus“ (zit. nach: Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, hg. u. mit einer historisch-kritischen Einleitung versehen v. Heinrich Scholz. Berlin 1916. Neudrucke seltener philosophischer Werke, hg. v. der Kant-Gesellschaft, Bd. VI, S. 173).
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Kontext des Pantheismusstreits, erweist sich aber andererseits als Herders eigenständige, einer produktiven Rezeption entspringende Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas. Als Herder seine Spinoza-Schrift sozusagen als Nebenwerk zu seinem geschichtsphilosophischen Hauptwerk der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1787 veröffentlichte,7 genoss Spinoza in Deutschland noch immer kein volles geistiges Bürgerrecht. Die ideologische Exilierung des „ĮʌȠıȣȞȐȖȦȖȠȢ“, des aus der Synagoge Ausgestoßenen, den der Hamburger Theologe Christian Kortholt 1680 neben Herbert von Cherbury und Thomas Hobbes unter die drei großen antichristlichen Betrüger rechnete,8 ging Hand in Hand mit einer Diffamierungskampagne, die den 1677 gestorbenen Spinoza aus dem Gedächtnis der Nachgeborenen zu tilgen oder ihn seiner Menschenwürde zu berauben suchte. Paradigmatisch ist das antispinozistische Argument in der Subscriptio des Titelkupfers in der Lebensbeschreibung des Johann Coler(us) von 1705 enthalten, da dort von Spinoza behauptet wird, dass er – wie Goethe in Dichtung und Wahrheit berichtet – „das Zeichen der Verwerfung und Verworfenheit im Angesicht trage“ („Signum [recte: characterem] reprobationis in vultu gerens“).9 Wenn Bücher ihre Schicksale haben, so besonders die ursprünglich in niederländischer Sprache geschriebene Spinoza-Biographie des deutschen evangelischen Predigers im Haag, des aus Düsseldorf stammenden Johann Köhler (Colerus). Denn Köhlers Lebensbild ist kein Pasquill, sondern eine aus christlich-orthodoxer Sicht verfasste Darstellung Spinozas, die – so Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie – doch „genaue und gutmütige Nachrichten von seinen Verhältnissen“10 enthält. Das insinuierende Wort vom Kainsmal der Verworfenheit übernahm Köhler aus der Gesprächs- und Anekdotensammlung Menagiana (1693) des französischen Literaten Gilles Ménage,11 und erst durch Vorrede und Kommentierung des deutschen Übersetzers in der Ausgabe von 1733 verschärfte sich der antispinozistische Tenor des Büchleins, das die Spinozarezeption in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert hinein entscheidend prägte. In ihrem Kern ist die köhlersche Biographie aber eine Rettung wider Willen, dementiert sie doch
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Vgl. den Hinweis in der Vorrede zu den Ideen, wo Herder eine „weitere Erörterung“ über den Begriff der organischen Kräfte und „über manche andre Materien“ in Aussicht stellt. – Herder wird in der Regel unter Angabe von Band- und Seitenzahl zit. nach: Herder, Johann Gottfried, Werke. 10 Bde. (Frankfurter Ausgabe). Frankfurt a.M. 1985ff., hier Bd. 6, S. 17. Vgl. Fischer, Kuno, Spinozas Leben, Werke und Lehre. 6. Aufl. Heidelberg 1946, S. 102. – Schon Leibniz bezeichnete in einem Brief an J. Thomasius vom Januar 1672 Spinoza als „Iudaeus ĮʌȠıȣȞȐȖȦȖȠȢ“ (vgl. Bollacher, Martin, Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturms und Drangs. Tübingen 1969, S. 34). HA, Bd. 10, S. 76. – In der Bibliothek von Goethes Vater fand sich die deutsche und vom Übersetzer kommentierte Ausgabe der 1733 in Frankfurt und Leipzig erschienenen Lebensbeschreibung (vgl. HA, Bd. 10, S. 619). Hegel, G. W. F., Werke (= Theorie-Werkausgabe), 20 Bde., hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1971, hier Bd. 20, S. 160. Vgl. Fischer, (wie Anm. 8), S. 100.
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die angeblichen „Lügen und Gotteslästerungen“12 des systematischen Atheisten durch den Aufweis seiner musterhaften Lebensführung und der durch sie beglaubigten Identität von Leben und Lehre. Deshalb dient Köhlers Lebensbeschreibung auch in Herders Spinozagesprächen als ein „vorsichtiger Führer“ (Bd. 4, S. 688) im Gestrüpp der antispinozistischen Vorurteile und unbegründeten Meinungen, „reden die Leute“ – nach Lessings schneidendem Wort – „doch immer von Spinoza wie von einem todten Hunde“.13 Herders eigenes Urteil über Spinoza war 1787 schon längst über den stereotypen Antispinozismus seiner Zeitgenossen hinausgelangt, und über dem Lesen und Wiederlesen der Ethik in den siebziger Jahren waren ihm die Augen für das „All in All!“14 der spinozistischen Gott-Natur aufgegangen. Spinozas Philosophie atmete, so lesen wir in den Erläuterungen zum Neuen Testament, als die „höchste Moral der Vernunft“15 zugleich den Geist des Christentums, und in der Konzeption des amor Dei intellectualis, der die Glückseligkeit und Geistesfreiheit des Menschen verbürgt, verschmolzen für Herder Liebe und Geist des Herrn sowie die höchste Vernunft: „[W]ollen wir dieses“ – so heißt es in seiner Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele – „nicht dem h. Johannes, so mögen wirs dem ohne Zweifel noch göttlichern Spinoza glauben, dessen Philosophie und Moral sich ganz um diese Achse beweget“ (Bd. 4, S. 363). Wie erklärt sich die spektakuläre Umdeutung des „Athée de Systême“16 zum göttlichen Spinoza und die Aufwertung seiner Philosophie, die Herder in den Rigaer Jahren noch ein „Gewebe unglücklicher Hypothesen“ (Bd. 1, S. 106) dünkte, zu einer mit der johanneischen Geist- und Liebesbotschaft vereinbaren universalen Weisheitslehre? Wenn Herder in seinen Gesprächen in Anlehnung an Lessing nach dem „Geist des Spinozismus“ fragt, dem Geist, „der in Spinoza selbst gefahren war“ (Bd. 4, S. 740)17 und der – wie Lessings Credo – „in keinem Buche steht“ (ebd.), so rekurriert er auf die paulinische Pneumatologie des 2. Korintherbriefs, die den lebendigen Geist, der als Herzensschrift von allen Menschen gelesen werden kann, vom tötenden Buchstaben des alten Gesetzes absondert: Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, der erkannt und gelesen wird von allen Menschen;/ die ihr offenbar geworden seid, daß ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, und geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens./ Ein solch Vertrauen aber haben wir durch Christum zu Gott./ Nicht, daß wir tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken als von uns selber; sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott,/ welcher auch uns tüchtig gemacht 12 13 14 15 16 17
Colerus, Johannes, Das Leben des Benedict von Spinoza, hg. v. Carl Gebhardt. Heidelberg 1952, S. 68. Zit. nach: Scholz, (wie Anm. 6), S. 88. Brief an Gleim, Ende Januar 1775 (Herder, Johann Gottfried, Briefe. Gesamtausgabe 1763– 1803, bearb. v. Wilhelm Dobbek u. Günter Arnold. Weimar 1984ff., hier Bd. 3, S. 151). Herder, Johann Gottfried, Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1877–1913, hier Bd. 7, S. 474. Bayle, Pierre, Dictionnaire historique et critique, 5. Aufl. Basel 1738, Bd. 4, S. 253. Vgl. Lessings Gespräche mit Jacobi, in: Scholz, (wie Anm. 6), S. XXX.
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hat, das Amt zu führen des neuen Testaments, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig (2. Kor. 3, 2–6; Übersetzung Martin Luther).
Herder säkularisiert jedoch die pneumatologische Schriftexegese, indem er sie vom Offenbarungstext und der vom „Geist des lebendigen Gottes“ inspirierten Botschaft des Neuen Testaments auf die Lektüre eines profanen neuzeitlichen Textes überträgt, der zwar noch von Gott redet, den jüdisch-christlichen Offenbarungsgott aber in der selbstmächtigen Allnatur aufgehen lässt. So kann er in seinen Gesprächen Lessing recht geben, der dem befremdeten Jacobi gegenüber nach der Lektüre von Goethes Prometheus-Hymne bekannte: „‚Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen […] ǼȞ țĮȚ ʌĮȞ! Eins und Alles. Ich weiß nichts anders‘“ (Bd. 4, S. 739f.).18 Das Motto der Gespräche stammt deshalb auch nicht aus dem biblischen Kontext, sondern von dem neuplatonischen Philosophen Frans Hemsterhuis, der diesen Wahlspruch seinem 1779 erschienenen Dialog Aristée, ou de la divinité vorangestellt hatte – freilich mit einem mystifizierenden, das Motto der sokratischen Schule zuschreibenden Hinweis (vgl. Bd. 4, S. 1363). Der pseudogriechische Wahlspruch: „ǹȞ ȖȞȦȢ IJȓ πıIJȚ ĬİϲȢ, ψįȓȦȞ σıϙ“ (Bd. 4, S. 679), zu deutsch: „Wenn du erkannt hast, was Gott ist, dann wirst du heiterer sein“, erinnert einmal an die sokratische Gleichsetzung von Tugend und Einsicht, resümiert aber auch die Kernthese des 5. Teils von Spinozas Ethik, „Von der Macht des Verstandes oder von der menschlichen Freiheit“.19 Denn auf der höchsten Stufe des Erkennens, dort, wo die Vernunft die Dinge in ihrem ewigen und notwendigen Zusammenhang („sub specie aeternitatis“; „unter der Form der Ewigkeit“)20 zu erkennen vermag und die Leidenschaften sich zum amor Dei intellectualis läutern, verschmelzen Erkenntnis der Gott-Natur, Tugend und Glückseligkeit im eudämonistischen Ideal der wahren Weisheit.21 „Die Glückseligkeit“, so lesen wir am Schluss der Ethik, „besteht in der Liebe zu Gott“,22 und aus dieser höchsten Erkenntnisart „entspringt die höchste Zufriedenheit des Geistes, die es geben kann“,23 sie ist – wie Hans M.
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Vgl. Scholz, ebd. – Die Formel ρȞ țĮϠ ʌκȞ kommt bei Spinoza nicht vor und stammt wohl aus der hermetisch-ägyptischen Tradition (obwohl sie in dieser genauen Form auch in der ägyptischen Geheimtheologie nicht nachgewiesen ist). Auf den Synkretismus zwischen hermetischer Tradition und Spinozismus im 17./18. Jahrhundert verweist: Assmann, Jan, ‚Hen kai pan‘. Ralph Cudworth und die Rehabilitierung der hermetischen Tradition, in: Neugebauer-Wölk, Monika (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999, S. 38–52. Die Ethica Ordine Geometrico demonstrata/Die Ethik mit geometrischer Methode begründet wird zit. nach: Spinoza, Opera. Werke. Lateinisch und Deutsch. 2 Bde. Darmstadt 1989, Bd. 2, hg. v. Konrad Blumenstock. Spinoza, Ethica/Ethik, (wie Anm. 19), V, Prop. 36, S. 544ff. Vgl. dazu Misrahi, Robert, La place du désir dans la philosophie eudémoniste de Spinoza. Delft 2002 (= Mededelingen vanwege het Spinozahuis 84). Spinoza, Ethica/Ethik, (wie Anm. 19), S. 557. Ebd., 27. Lehrsatz, S. 539.
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Wolff betont – die „einzige Quelle echter Heiterkeit“.24 Auf dieser Stufe der Erkenntnis, wo der Affekt zur Vernunft, die Vernunft zum Affekt geworden ist, ist die Macht der Leidenschaften, der Triebe und Lüste gebrochen, und der Wissende, der Weise, ist im „Besitze der wahren Seelenruhe“.25 Einem Streit der Meinungen, Vorstellungsweisen und Vorurteile (opiniones, modi imaginandi, praejudicia)26 ist der Boden entzogen, und die „Friedensluft“,27 die Goethe bei der Lektüre der Ethik anwehte, scheint auch Herder zu verspüren, wenn er in der Vorrede seines Spinozabüchleins behauptet, „über Gott werde ich nie streiten“ (Bd. 4, S. 681). Ein kühner Vorsatz angesichts der Geschichte des Spinozismus! Denn wenn Gott und die Natur synonym sind, dann wäre Spinozas Ethik der geistigen Gottesliebe – folgt man einem neueren Forscher – geradezu eine „philosophie athée du Désir“, nicht eine Sollens-, sondern eine Wollensethik, eine aus der Selbstmächtigkeit des Individuums entspringende „éthique du bonheur“.28 Spinozas Philosophie steht zweifellos in der Spannung zwischen mystisch gefärbter Theognosie und einer radikalen Autonomie der menschlichen Vernunftfähigkeit, und je nach Erkenntnisinteresse und hermeneutischem Vorverständnis erscheint Spinoza deshalb in der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte bald als Atheist (und zwar in polemischem oder identifikatorischem Sinn), bald als Theist. Spinoza, so erläutert Goethe in seinem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 9. Juni 1785, „beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott. Und wenn ihn andre deshalb Atheum schelten, so mögte ich ihn theissimum ia christianissimum nennen und preisen“.29 Auf der Synonymität von Dasein und Vollkommenheit, Gott und Natur beruht auch Herders Spinoza-Exegese, und wir verstehen nun, warum er seiner Spinozaschrift den ebenso lapidaren wie frappanten Titel Gott. Einige Gespräche verliehen hat. Den genetischen und argumentativen Zusammenhang zwischen der neuzeitlich-säkularen Weltfrömmigkeit und Spinozas „Immanenterklärung Gottes“30 bzw. – philosophiegeschichtlich gesprochen – der Aufhebung der cartesianischen Dreisubstanzenlehre in der einen, göttlichen Substanz präzisiert Herder durch die Titeländerung in der Zweitauflage des Büchleins von 1800. Der Titel lautet jetzt: Gott. Einige Gespräche über Spinoza’s System; nebst Shaftesburi’s Naturhymnus von J. G. Herder. Schon zu Beginn der achtziger Jahre hatte sich Herder, wie er Friedrich Heinrich Jacobi gegenüber bekannte, mit dem Plan einer „Parallele der Dreimänner Spinoza, Shaftesburi, Leibniz“31 getragen, aber unter dem Eindruck des 24 25 26 27 28 29 30 31
Wolff, Hans M., Spinozas Ethik. Eine kritische Einführung. Bern, München 1958, S. 86. Spinoza, Ethica/Ethik, (wie Anm. 19), S. 557. Vgl. ebd., S. 156/158; S. 226. HA, Bd. 10, S. 77. Misrahi, (wie Anm. 21), S. 14f. Goethe, Briefe. 4 Bd., hg. v. Karl Robert Mandelkow u. Bodo Morawe. Hamburger Ausgabe. München 1988, hier Bd. 1, S. 475. Specht, Rainer in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, hg. v. Rüdiger Bubner, Bd. 5: Rationalismus. Stuttgart 1979, S. 191. Brief vom 6.2.1784, zit. nach: Herder, Briefe, (wie Anm. 14), hier Bd. 5, S. 28.
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Pantheismusstreits entsprach eine Rettung Spinozas dem Gebot der Stunde. Schon in der Fassung von 1787 begreift Herder Spinozas Philosophie aber geradezu diskurstheoretisch als eine übergreifende Aussageformation, die nicht an Spinozas System gebunden ist, sondern als eine Artikulationsform der wissenschaftlichen Wahrheit an verschiedenen Orten des Denkens auftreten kann. Herder verfasst die Schrift Gott. Einige Gespräche als bekennender Spinozist – „Ich bin ein Spinosist“,32 so erklärt er am 17. Februar 1786 in einem Brief an Gleim –, aber in den Gesprächen vernehmen wir ja nicht die Stimme des Autors Herder, sondern wir werden Zeuge der in fünf Phasen gegliederten Gespräche zweier befreundeter Männer, Theophron und Philolaus, zu denen sich im letzten Gespräch noch die Freundin Theano gesellt. Die Dialogpartner tragen sprechende Namen – Philolaus lässt sich mit Volksfreund übersetzen, und die theophoren Namen Theano und Theophron, der Gottbegeisterte, verweisen unmittelbar auf den theologischen bzw. theognostischen Skopus der Schrift. Konsequenterweise erscheint Theophron als der Eingeweihte, der Wissende und Lehrer, der den Philolaus als Verkörperung der vox populi aus der Dunkelheit des Vorurteils und der affektgesteuerten Meinung zum Licht der wahren Gottes- und Naturerkenntnis führt und an seinem Freund ein exemplarisches Werk aufklärerischer Pädagogik vollbringt. Die intellektuelle Asymmetrie, die zu Beginn die Gespräche prägt und die Dynamik der Argumentation befördert, wandelt sich zum Ende hin in einen ungetrübten, harmonischen Gleichklang der Stimmen. So ist es Philolaus, der nun, obwohl er zu Beginn Spinoza noch als „Feind des menschlichen Geschlechts“ (Bd. 4, S. 682) verabscheuen zu müssen glaubte, gleichsam zur Besiegelung ihres spinozistisch-naturfrommen Credos die zehn Gebote bzw. Gesetze des neuen weltlichen Evangeliums geflissentlich auf seiner Schreibtafel notiert. In der Feier des vollkommenen Daseins und in der Anerkennung einer „Theodizee der weisen Notwendigkeit“ (Bd. 4, S. 792) jenseits aller Anthropopathien ist sich der philosophierende Dreibund einig, und der einzige Missklang resultiert aus dem Bewusstsein, dass der spinozistischen Daseinsreligion in der Philosophie des „Wortkrämers“ und „Metaphysikers“ Kant33 eine störende Konkurrenz erwachsen sei. Wie aber lösen die philosophischen Gesprächspartner ihre paradoxe Aufgabe, den Geist des Spinozismus, der in keinem Buche, aber eben doch in einem Buche, nämlich der Ethik, steht, zu bestimmen und in ihrer Sprache auszudrücken? Zwei Verfahrensweisen verbinden sich hierbei, nämlich eine systemische, d. h. Spinozas nach geometrischer Methode aufgebautes Denksystem als bloße Darstellungsform begreifende Methode, und ein gesprächstheoretisch-kommunikatives Verfahren, das sich an dem Muster der sokratischen Mäeutik orientiert. Wenn Herder in der auktorialen Vorrede den irenisch-toleranten Duktus der Dialoge hervorhebt und auf 32 33
Ebd., S. 172. Vgl. Bd. 4, S. 793 u. Kommentar S. 1406 sowie die 2. Fassung der Spinozaschrift, in der Herder seine Kant-Polemik verschärft.
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die Offenheit der Argumentation verweist – „Gespräche sind keine Entscheidungen“ (Bd. 4, S. 681) –, so folgt er der Kunst der sokratischen Dialektik, wie sie im Phaidros als wachstümlich-organologischer Vorgang beschrieben wird. Mäeutisch verfährt, wer eine „geeignete Seele“ mit „wissenschaftlichen Reden bepflanzt und besät“, die selbst wieder „einen Samen enthalten, aus dem in anders gearteten Gemütern wieder andere Reden erwachsen“.34 Offen sind die Spinozagespräche also in der Form des Frage-Antwort-Spiels, das dem Willkürlichen und Normwidrigen zumindest theoretisch Raum gibt; im „gedruckten Dialog“ aber, so charakterisiert Hegel die sokratische Methode, „sind die Antworten ganz in der Hand des Verfassers […], alle eigene Willkür ist ausgeschlossen“.35 Ganz ähnlich charakterisiert Elias Canetti in seiner Abhandlung über Masse und Macht die den platonischen Dialogen zugrunde liegende Machtstruktur: Sokrates wird in den platonischen Dialogen zu einer Art König des Fragens gekrönt. Er verschmäht jede übliche Art von Macht und weicht allem, was daran gemahnen könnte, beflissen aus. Die Weisheit, die seine Überlegenheit ist, kann sich, wer immer will, bei ihm holen. Er teilt sie aber nicht oft in zusammenhängender Rede mit, sondern er stellt seine Fragen. In den Dialogen ist dafür gesorgt, daß er die meisten und die wichtigsten Fragen stellt. So läßt er seine Hörer nicht mehr los und zwingt sie zu Trennungen mannigfachster Art. Seine Herrschaft über sie erlangt er ausschließlich durch Fragen.36
Im 17. und 18. Jahrhundert hat die Kunstform des dialogisch-agonalen Diskurses geradezu Konjunktur, unter anderem bei Leibniz in den Nouveaux essais sur l’entendement humain, bei dem „liebenswürdigen Plato Europens“ (Bd. 4, S. 22) – wie Herder Shaftesbury apostrophiert –, bei Hemsterhuis oder Lessing, der nicht nur seine „wahre Ontologie der Freimäurerei“37 in Gesprächsform konzipiert, sondern auch sein Spinozabekenntnis im Rahmen eines Gesprächs formuliert hat. Übrigens hatte auch Spinoza selbst Teile seines ersten Systementwurfs, nämlich die von der platonischen Liebesphilosophie des Leone Ebreo beeinflussten Partien der Kurzen Abhandlung, als – freilich etwas hölzernen – Dialog zwischen Theophilus und Erasmus gestaltet.38 Herder konnte hier jedenfalls an eine reiche Tradition der Dialog- und Konversationstheorie anknüpfen, an ein dialektisches Symphilosophieren, das jedoch, unter dem Scheine der Liberalität, einem unverrückbaren pädagogischen Zweck verpflichtet ist. Aus der Sicht Theophrons, des Eingeweihten, lässt sich diese Zweckgerichtetheit als eine sanfte, aber beharrliche Hermeneutik bestimmen, eine Kunst der Übersetzung, die den geistigen Sinn aus dem starren Buchstaben befreit und in einem 34 35 36 37 38
Zit. nach: Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie, hg. v. Claudia Schmölders. München 1979, S. 69. Hegel, Werke, (wie Anm. 10), hier Bd. 18, S. 462. Canetti, Elias, Masse und Macht. 2 Bde. München 1976, hier Bd. 2, S. 15. Lessing, Gotthold Ephraim, Werke. 8 Bde., hg. v. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1996, hier Bd. 8, S. 451. Vgl. Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, hg. v. Carl Gebhardt. Hamburg 1965, S. 35–39.
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divinatorischen Verstehensakt die Legitimität des Immanenzprinzips einsichtig macht. Dringlich ist ein solches Verfahren vor allem im Blick auf die Darstellungsund Funktionsweise des ordo geometricus, den Hegel, da er auf unbewiesenen Definitionen beruhe, als „Grundmangel“39 des spinozanischen Systems kritisierte. Neuere Rettungen postulieren eine ‚implizite Dialogizität‘ des ordo geometricus, der die Vormeinungen seiner Rezipienten mit ins Spiel bringe und den Leser zu ständigen Korrekturleistungen zwinge.40 Herder geht einen anderen Weg. Die wesensmäßige Analogie zwischen der „Natur des Dreieckes“, aus der folgt, „daß seine drei Winkel zweien rechten gleich sind“,41 und der Natur Gottes in der Ethik wird von Theophron als eine zeitgebundene und diskursgeschichtliche Gleichnisrede interpretiert, deren intentionalen Kern die neuere, also nachspinozanische Philosophie herauszukristallisieren vermag. „Geben Sie sorgfältig“, so ermahnt Theophron seinen Gesprächspartner, auf Spinozas „geometrische Methode Acht und lassen sich von ihr nicht nur nicht berücken, sondern bemerken auch, wo diese ihn berückte“ (Bd. 4, S. 698). Die Totalisierung einer bereits von Descartes gewählten Darstellungsform durch Spinoza wird historisch-genetisch erklärt, dadurch aber auch in ihrer Bedeutung für die Lehre relativiert. Die „sonderbaren, harten Ausdrücke des Spinoza“ (Bd. 4, S. 697) verlieren ihre Anstößigkeit, und der mit dem philosophischen Kontext des 18. Jahrhunderts vertraute Rezipient wird – so die Zuversicht Theophrons – „den Ursprung seines [d. h. Spinozas] Irrtums und den Fortgang der Wahrheit selbst gewahr werden“ (Bd. 4, S. 698). Die Irrtümer Spinozas erscheinen also dadurch marginalisiert, dass sie – von der Warte einer avancierten intellektuellen Position aus – in ihrem historischen Kontext verortet und damit entschuldigt werden: So gehen z.B. die irrigen Begriffe der Substanz und der Ausdehnung Gottes auf das Konto der geometrischen Denkart, die Spinoza von seinem Lehrmeister Descartes übernommen hat, und eine noch in den Kinderschuhen steckende Naturwissenschaft vermochte der leeren Metaphysik und Spekulation noch keine Zügel anzulegen. Der Denker des 18. Jahrhunderts durchschlägt den gordischen Knoten der uneigentlichen, mathematisch formulierten Weltweisheit und bestimmt die Natur Gottes als einen universalen Wirkungszusammenhang organischer Kräfte. Ein solches Verfahren, das, um mit Friedrich Schleiermacher zu reden, das grammatische, also sprachlich strukturierte, mit dem psychologisch-subjektiven Verstehen kombiniert,42 macht den ordo geometricus transparent auf seinen Wahrheitskern hin und „gibt“, wie Philolaus konstatiert, „dem Spinozischen System selbst eine schönere Einheit“ (Bd. 4, S. 709). 39 40
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Hegel, Werke, (wie Anm. 10), hier Bd. 20, S. 167. Vgl. Schnepf, Robert, Der ‚ordo geometricus‘ und die Transformation der kausalen Ordnung in Spinozas ‚Ethik‘, in: Czelinski, Michael, Kisser, Thomas u.a. (Hg.), Transformation der Metaphysik in die Moderne. Zur Gegenwärtigkeit der theoretischen und praktischen Philosophie Spinozas. Würzburg 2003, S. 32–51. Spinoza, Ethica/Ethik, (wie Anm. 19), S. 117. Vgl. Schleiermacher, F. D. E., Hermeneutik und Kritik, hg. und eingeleitet v. Manfred Frank. Frankfurt a.M. 1977, S. 75ff.
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Martin Bollacher
Das Epitheton „schön“ steht hier nicht von ungefähr, indiziert es doch die durchgehende Ästhetisierung der spinozanischen Lehre, so dass, wie Shaftesbury in seinen Moralists, auch der „kalte, geometrische Gläserschleifer Spinoza“ zum „Dichter“43 wird, wie Herder Ende Januar 1775 an Gleim schreibt. Die in den Spinozagesprächen propagierte Einheit des Systems offenbart sich in der Synthese von Theologie/Theognosie, Philosophie und Dichtung, wobei besonders der Dichtung die Rolle zukommt, die Schönheit, die – nach einem Wort Theanos – das „Wesen“ (Bd. 4, S. 766) der Gegenstände ausmacht, vor Augen zu führen. So wenig wie die Empfindung vom Erkennen, so wenig lässt sich die Sprache der Bilder und der Anschauung von der Sprache der Begriffe trennen. Herder begrüßt deshalb in seiner Abhandlung Über Bild, Dichtung und Fabel die Entstehung der neuen Wissenschaft der Ästhetik im 18. Jahrhundert, die als „Philosophie des Schönen“ bzw. „Philosophie der sinnlichen Empfindungen“ (Bd. 4, S. 633f.) uns die wahrnehmungspsychologischen Transformationsregeln verständlich macht, nach denen unser innerer Sinn die Bilder in „Gedankenbilder“ (Bd. 4, S. 635) verwandelt. Der Ästhetisierung des spinozanischen Systems entspricht die literarische Verfasstheit der Spinozagespräche, in denen die mäeutische Didaktik mit der ‚metaschematisierenden‘ Funktion (vgl. ebd.) der Einbildungskraft zu einer alle individuellen Positionen harmonisierenden Poeto-Logik verschmilzt. Die Dialoge enthalten deshalb zahlreiche Beispiele aus Lyrik und Spruchdichtung – von den Sentenzen der Morgenländer über Vaninis Ode Deo bis zu Gleim, August Hennings und Ewald von Kleist, die alle in individuell-einmaliger Weise die Botschaft der Daseinsvollkommenheit zum Ausdruck bringen. So münden die Spinozagespräche am Ende des fünften Gesprächs in eine nur scheinbar polyphone, in Wirklichkeit homophone Konversation, in der unterschiedliche Stimmen den „Geist des Spinozismus“ und das neue Evangelium der Daseinsfrömmigkeit preisen: Alles Gute teilt sich mit: es hat die Natur Gottes, der sich nicht anders als mitteilen konnte; es hat auch seine unfehlbare Wirkung. Die Regeln der Schönheit z. B. dringen sich uns auf, sie strahlen uns an: sie gehen unvermerkt in uns über und eben dies ist das Geheimnis der überall zusammenhangenden, wirkenden, in sich selbst bestehenden Schöpfung (Bd. 4, S. 785f.).
Im Neuen ist aber zugleich das Alte anwesend. Denn Spinozas Philosophie, so bekräftigt Herder in der zweiten Fassung seines Gott, „war lange vor ihm und wird lange nach ihm bleiben“ (Bd. 4, S. 1406).
43
Herder, Briefe, (wie Anm. 14), hier Bd. 3, S. 151.
BRITA HEMPEL (Tübingen)
„… die weltliche Theologie oder der Naturalismus, den ich Ihnen predige“ Poetologische Konsequenzen der Religiosität bei J. M. R. Lenz Bündig heißt es im Almanach der Belletristen und Belletristinnen für’s Jahr 1782 über Jakob Michael Reinhold Lenz, den 1751 in Seßwegen, heute Cesvaine, Lettland, geborenen, Anfang der 1770er Jahre in Straßburg zunächst erfolgreichen, dann unglücklichen, 1776 nach Beleidigung Goethes aus Weimar vertriebenen, in Waldersbach bei Pfarrer Oberlin zusammenbrochenen und 1792 auf offener Straße in Moskau gestorbenen Pfarrerssohn und Dichter: „War erst Theolog, dann Belletrist“.1 Diese Kurzbiographie wertet zum einen Lenz’ Beschäftigung mit Theologie als so charakteristisch für den Autor, dass der Hinweis darauf selbst in einem äußerst komprimierten Lebenslauf enthalten sein muss; zum anderen wird suggeriert, Lenz habe sich nach einer abgeschlossenen Phase der Auseinandersetzung mit theologischen Fragen einer als Gegenmodell verstandenen Schönen Literatur zugewandt. Demnach bestünde eine deutliche Kluft zwischen geistlichem Bemühen und weltlichem Schreiben. Tatsächlich scheinen zunächst Welten zu liegen zwischen der restriktiven Sittenlehre von Lenz’ Catechismus, in dem er unbedingte Keuschheit fordert, und dem munteren Tabubruch des jungen Stürmers und Drängers, der seine Komödie Der Hofmeister bestimmt. Doch nicht erst nach dem Abbruch seines Königsberger Theologiestudiums schrieb Lenz weltliche Gedichte, Dramen und Erzählungen. Umgekehrt entwirft er seine moralisch-theologischen Schriften, darunter seine umfangreichste Einzelschrift, die Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet, in Straßburg parallel zu seinen bekanntesten poetischen Werken und zu den Anmerkungen übers Theater. Natürlich spricht die Unmöglichkeit, diachron zwischen einer theologischen und einer ‚weltlichen‘ Phase zu unterscheiden, noch nicht gegen die Vorstellung, dass hier ein und derselbe Verfasser in unterschiedlichen Textsorten Unvereinbares entworfen hat. Marginalisierungen des Autors und Pathologisierungen von Werk und historischer Person, die unter diesen Vorzeichen stehen, sind zahlreich und waren bis vor relativ kurzer Zeit die Regel in der lenzschen Rezeptionsgeschichte. Fruchtbarer erscheint jedoch eine synthetisierende Betrachtung der unterschiedlichen Schriften: Die Lektüre von Lenz’ ‚schönliterarischen‘ Texten unter den Prämissen, die er in seinen Texten moralisch-theologischer Reflexion ausdrücklich 1
Schulz, Friedrich, Erbstein, Karl Friedrich Wilhelm (Hg.), Almanach der Belletristen und Belletristinnen für’s Jahr 1782. Ulietea [i. e. Berlin] 1781, S. 120.
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Brita Hempel
darlegt, vermittelt entscheidende Ansatzpunkte für deren inhaltliches wie strukturelles Verständnis. Charakteristisch für Lenz’ poetische wie theoretische Schriften ist eine unbekümmerte Inkohärenz, die Freude an plötzlichen Wendungen, am Stilbruch, an klaffenden Lücken und an Widersprüchen. Diese frappierende Ungereimtheit ist jedoch kein künstlerisches Defizit im Sinne eines Scheiterns an in sich abgeschlossenen Entwürfen – und erst recht nicht Ausdruck einer aus den Fugen geratenen Welt, der ein ordnender Gott verloren gegangen ist. Vielmehr konterkariert Lenz Texttraditionen, weil sein Schreiben von einem dezidiert religiösen Paradigma bestimmt wird: Bei Gott liegt die „Alldurchschauung“ – der Dichter verfügt als Mensch nur über eine eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit. Eindrucksvoll gestaltet Lenz diese Überzeugung in seinem satirisch-poetologischen Kurzdrama Pandämonium Germanikum von 1775: Dort krabbelt sein Selbstporträt, der Dichter Lenz, mühsam auf allen Vieren einen „steil’[en] Berg“, einen Olymp oder einen Parnass, einen Helikon, hinauf, während die Figur „Goethe“ sich mühelos zum Gipfel emporschwingt.2 Der Grund: Im Unterschied zu Goethe, der sich als Genie das Göttliche anverwandeln kann und damit der menschlichen Beschränktheit enthoben ist, bleibt der nach eigener Einschätzung lediglich k o ngeniale Lenz wissentlich seiner menschlichen Deutungs-Inkompetenz verpflichtet – und zwar aus religiös motivierter Demut. Nie kann er als ein schreibender Gott souverän die Welt deuten, nie als göttlicher Poet eine stimmige Welt in seiner Dichtung entwerfen. „Es ist alles in der Welt schraubenförmig u. wir sehen grade“3 – dieses Diktum von der geraden Sicht in einer schraubenförmigen Welt hat Lenz hastig und mit stumpfer Feder auf einem Manuskriptblatt notiert, das zum Konvolut seiner Entwürfe einer französischsprachigen Ausarbeitung seines „Soldatenehen“-Projekts, einer sozialreformerischen Schrift, gehört. Was Lenz in diesem beiläufig aufgeschriebenen Satz als frustrierten Kommentar zu einer weiter oben auf dem Blatt konzipierten und dann als „mauvaise plaisanterie“4 durchgestrichenen captatio benevolentiae formuliert, das beschreibt somit eine Grundbedingung seines Denkens und Schreibens: Die Organisationsform der Welt und der Wahrnehmungsmodus der Gruppe, zu der sich der Sprecher zählt, sind grundsätzlich disparat. Wer gerade sieht, kann eine schraubenförmige Welt nur bruchstückhaft und unzulänglich erfassen und begreifen. Dem tatsächlichen Wesen der Welt kann der Sprecher nicht gerecht werden. Mitteilungen über die Welt müssen somit von der Einsicht geprägt sein, dass nur ein prinzipiell unzureichendes Bild erfasst und weitergegeben werden kann.
2 3 4
Lenz, J. M. R., Pandämonium Germanikum, Synoptische Ausgabe beider Handschriften, mit einem Nachwort von Matthias Luserke u. Christoph Weiß. St. Ingbert 1993, S. 10. Lenz, J. M. R., Lenziana IV, Blatt 2 Rückseite. Biblioteka Jagiellioñska Kraków. Ebd.
„… die weltliche Theologie oder der Naturalismus, den ich Ihnen predige“
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Nicht allein momentane Frustration oder die Resignation des verhinderten Reformers in Weimar drücken sich in Lenz’ Notiz aus, sondern seine tiefe, religiös begründete Überzeugung: Denn Lenz geht tatsächlich von einem grundsätzlichen menschlichen Erkenntnisdefizit aus, vom Leben in einer letztlich unbegreiflichen Welt. Am deutlichsten formuliert Lenz diese Überzeugung in seinem Straßburger Vortrag über den Entwurf eines Briefes an einen Freund, der auf Akademien Theologie studiert. Dort setzt er „unser Wissen in der Welt, unsere Vernunft“ in Kontrast zu einer höheren Form des Begreifens und Erfassens, die allein bei Gott liegt. Menschliche Vernunft und menschliche Fähigkeit des Weltbegreifens versteht Lenz als Ergebnis eines unabschließbaren Lernprozesses, so dass menschliches Wissen unausgesetzt perfektibel und menschliche Erkenntnis stets unvollkommen und fehlbar bleiben: Bei den Menschen weiß der viel, der sich viel Vorstellungen erwirbt, die in Empfindung oder auch wohl nur in bloßes Gefühl übergehen, […] oder wenn der Geist edler und stärker, Entschlüssse und Handlungen veranlassen, welche Handlungen oder Wirkungen seines Selbst, er […] in ihren Folgen übersieht und daraus Endschlüsse zieht, die freilich nur für den Kreis von Wirkungen gelten, die ihm die Erfahrung gezogen hat. […] das gibt uns dann all unser Wissen in der Welt, unsere Vernunft. Das aber mit alledem […] nicht unfehlbar sein kann, da die Grenzsteine unserer Erfahrung und also auch der daraus entstandenen Vernunft nie dieselben bleiben, sondern in Ewigkeit immer verrückt werden.5
Lenz hält es für falsch, Gott diese „erworbene menschliche Fertigkeit“ zuzuschreiben, und sei es „im allerhöchsten Grad“. Gott versteht, begreift und weiß grundlegend anders, als es für den Menschen vorstellbar ist. Hier führt er sein Verständnis von der göttlichen „Alldurchschauung“ ein: Bei Gott ist keine sukzessive Begriffensammlung […]. Er durchschaut alles gegenwärtig von Anfang zu Ende durch Ewigkeiten, mehr können und dürfen wir von ihm nicht sagen. […] Die Alldurchschauung würde das ungefähr näher ausdrücken, was von dieser Eigenschaft Gottes unaussprechlich in meiner Seele liegt. 6
Die göttliche „Alldurchschauung“ allein kann also ein zutreffendes Verständnis der Welt als Gottes Schöpfung gewährleisten. Für den Menschen bleibt die Welt ein überkomplexes, zu vieldimensionales Gebilde, über das er mit seinen beschränkten Deutungsmöglichkeiten nur Arbeitshypothesen bilden kann. Diese Arbeitshypothesen sind zwar in der unendlichen Bemühung um eine Annäherung an den göttlichen Standpunkt zunehmend zu verbessern. Sie dürfen jedoch nie den Status gesicherter Wahrheiten in Anspruch nehmen. Mithin steht alles, was Lenz schreibt, unter dem Vorbehalt seiner eingeschränkten menschlichen Weltdeutungskompetenz. Seine theoretischen wie seine fiktionalen Schriften können also, mit der Formulierung, die er in einem seiner Briefe an 5
6
Lenz, J. M. R., Entwurf eines Briefes an einen Freund, der auf Akademieen Theologie studiert, in: Werke und Briefe, 3 Bde., hg. v. Sigrid Damm. München, Wien 1987, Bd. 2, S. 483–487, hier S. 483f. Ebd.
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Brita Hempel
Johann Daniel Salzmann im Oktober 1772 gebraucht, als „Blättgen mit einer Hypothese“7 gelesen werden. Eine solche Lesart versteht die zahlreichen Hinweise auf die zumindest partielle Reversibilität und die Perfektibilität, die Lenz in seine theoretischen Schriften integriert, sei es als „Laie“ oder als Verfasser poetologischer Anmerkungen, nicht nur als rhetorische Figur, die zudem den tatsächlichen Defiziten seiner Schreibsituation Rechnung tragen mag. Vielmehr sind Selbstinfragestellung, Selbstunterbrechung, assoziative Sprunghaftigkeit des Argumentationsduktus, Mischung der Stilebenen, kurz: alle Signale eines skizzenhaften, provokativen Diskussionsbeitrages, denen sich die stilistische und argumentative Eigenart des Theoretikers Lenz verdankt, die Konsequenz, die Lenz aus der Überzeugung von der eigenen ungesicherten Sprecherposition ziehen muss. Mit seinen theoretischen Schriften macht Lenz somit Vorschläge für eine möglichst zutreffende und fruchtbare Weltdeutung, die keinen absoluten Gültigkeitsanspruch erheben kann und will. In seinen fiktionalen Schriften hingegen wird der Eindruck einer unbegreiflichen Welt, die zu immer neuen Deutungsanstrengungen provoziert, performativ vermittelt: Immer wieder werden Orientierungsverluste und situationale Fehleinschätzungen in Lenz’ Dramen und Erzählungen verhandelt, und zwar auf eine verunsichernde Art und Weise, die den Leser in die Verwirrung einbezieht und ihn vor oft unentscheidbare Deutungsalternativen stellt. Wie allerdings lässt sich Lenz’ Impetus zu konkreter Weltverbesserung mit der Überzeugung von der Unbegreiflichkeit der Welt verbinden, ohne das Klischee einer von vornherein schizophrenen Struktur zu bemühen? Auf die entscheidende Bedeutung religiöser Prämissen, namentlich auf das reformatorische Potential des hallischen Pietismus, für den Stellenwert der diversen Verbesserungs- und Reformprojekte bei Lenz hat überzeugend Stefan Pautler in seiner Arbeit über Pietistische Weltdeutung und bürgerliche Sozialreform8 hingewiesen. Lenz selbst macht wiederholt den Vorschlag, sein gesamtes Schreiben auf der Basis religiöser Überzeugungen zu verstehen. Für ihn bedeutet Religiosität eine Grundbedingung des entfalteten Menschseins. Der Religion kommt gerade für den Künstler eine entscheidende Rolle zu: Von jeher und zu allen Zeiten sind die Empfindungen, Gemütsbewegungen und Leidenschaften der Menschen auf ihre Religionsbegriffe gepfropfet, ein Mensch ohne Religion hat gar keine Empfindung (weh ihm!), ein Mensch mit schiefer Religion schiefe Empfindungen und ein Dichter, der die Religion seines Volks nicht gegründet hat, ist weniger als ein Meßmusikant.9
7 8 9
Lenz, Werke, (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 280. Pautler, Stefan, Jakob Michael Reinhold Lenz. Pietistische Weltdeutung und bürgerliche Sozialreform im Sturm und Drang. Gütersloh 1999. Lenz, J. M. R., Anmerkungen übers Theater, in: Ders., Anmerkungen übers Theater. Shakespeare-Arbeiten und Shakespeare-Übersetzungen, hg. v. Hans-Günther Schwarz. Stuttgart 1976, S. 5–39, hier S. 35.
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Religion und Ästhetik gehen bei Lenz von vornherein zusammen in einem Kalokagathie-Ideal, das nicht nur das Gute im Schönen aufgehoben sieht, sondern das ethisch Gute selbstverständlich mit den Anforderungen an einen ‚guten‘ aufgeklärten protestantischen Christen in eins setzt. Lenz ist davon überzeugt, dass sich notwendig „die wahre Theologie […] mit dem wahren Schönen in den Künsten besser vertrage, als man beim ersten Anblick glauben möchte“, und hält es für möglich, „daß sich aus den Schriften der Apostel, so wie überhaupt aus der Bibel, eben so gut eine Theorie der schönen Künste abstrahieren ließe, wie aus dem großen Buche der Natur“.10 Entsprechend umfangreich ist der Anteil seiner — wie er selbst es formuliert — „pseudotheologischen Abhandlungen“11 an der Gesamtmenge seiner theoretischen Schriften. Lenz’ Anliegen, „die weltliche Theologie oder der Naturalismus, den ich Ihnen predige“, eine aus der Bibel abgeleitete Lehre für das Leben im Diesseits, durchdringt sein gesamtes Schreiben.12 Die somit zugrunde gelegte Annahme ist, dass sich trotz der notwendigen Binnendifferenzierung aus Lenz’ „pseudotheologischen“ Hauptschriften, insbesondere den Abhandlungen über den Entwurf eines Briefes an einen Freund, der auf Akademien Theologie studiert, den Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet und den Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen eine in sich kohärente Position ableiten lässt: In Abgrenzung zum theologischen Konservatismus des Vaters Christian David Lenz, dessen konservativer Eklektizismus pietistische Überzeugungen und lutherisch-orthodoxe Dogmen zu einem antiaufklärerischen Gedankengebäude vereinigt, vertritt Jakob Lenz aufklärungstheologische Ansichten, die allerdings auf dem Problemfeld Liebe-Ehe-Sexualität von den restriktiven Grundsätzen des Vaterhauses geprägt bleiben.13 Eine zentrale Stellung in Lenz’ „Naturalismus“ nimmt das Handlungsgebot einer aktiven Imitatio Christi ein. In den Stimmen des Laien etabliert er die Bergpredigt als Verhaltensmaßstab.14 Im Versuch über das erste Principium der Moral legt er dar, dass im stetigen Bemühen um individuelle Vervollkommnung, die in altruistischem Handeln erreicht wird, der einzige Weg zu entfaltetem Menschsein liegt, zur Glückseligkeit:
10 11 12
13 14
Lenz, J. M. R., Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet, in: Werke, (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 522–618, hier S. 579. Ebd., S. 616. Vgl.: „Denn die eigentliche Theologie beschäftigt sich mit unserm Zustande nach dem Tode und unserer Bestimmung dahin, die weltliche Theologie oder der Naturalismus, den ich Ihnen predige, beschäftigt sich mit unserer Bestimmung in dieser Zeitlichkeit, und diese beiden Theologien müssen auf ein Haar zusammenpassen, wenn sie echt sein wollen.“ Ebd., S. 616f. Vgl. hierzu: Brita Hempel, Der gerade Blick in einer schraubenförmigen Welt. Deutungsskepsis und Erlösungshoffnung bei J. M. R. Lenz. Heidelberg 2003, S. 32ff., S. 56–62. Vgl. Lenz, Meinungen eines Laien, (wie Anm. 10), S. 605ff.
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Brita Hempel
Gott gibt uns unsern Zustand, unsere Glückseligkeit und zwar (dies lernen wir aus der großen Weltordnung und eigenen täglich und stündlich anzustellenden Erfahrungen) nach Maßgabe unserer Vollkommenheit, das heißt, unsers Bestrebens nach Vollkommenheit.15
Die Betonung des ‚Bestrebens‘ zeigt, dass die „Vollkommenheit“ selbst unerreichbare Zielvorstellung bleiben muss. Damit sieht sich der Mensch, wie Lenz betont, in der Welt vor eine Aufgabe gestellt, mit der ihn auch seine vernünftige Einsicht konfrontiert, die er aber aufgrund seiner defizitären Natur als Mensch nicht bewältigen kann. Allein menschliches Bemühen um eine „Verbesserung unsers Zustandes“ bleibt zum Scheitern verurteilt. Nur die „Aufmunterung und Hilfe“, die Gott der Menschheit in Christus gegeben hat, lässt die Umsetzung der „einzige[n] und ewige[n] Moral“ 16 möglich erscheinen. Der Mensch steht demnach vor der Aufgabe, sich nach bestem Wissen und Gewissen für eine Vervollkommnung der Menschheit in chiliastischer Perspektive einzusetzen. Ein Christ in der Welt muss sich in permanenter struktureller Überforderung bewähren, da er mit unzureichender Einsicht eine Aufgabe bewältigen soll, die seine Kräfte übersteigt. Aus der Überforderung resultiert schließlich, dass Glückseligkeit nicht machbar ist, sondern ein von Gott verliehenes Gut bleibt. Trotz der Betonung des Handlungsgebots besteht für Lenz kein Zweifel daran, dass der Mensch „allein durch die Gnade“ selig werden kann.17 Aus dieser Haltung erklärt sich Lenz’ Begeisterung für Verbesserungsprojekte und das konkrete kritische Potential seiner Dramen und Erzählungen, das aber nie zum Theodizee-Problem führen kann, wenn sich im Zweifelsfall Gottes höhere Einsicht menschlichem Urteilsvermögen entzieht. Während Lenz’ „pseudotheologische […] Abhandlungen“ die moralischen Prinzipien für menschliches Handeln entwickeln, schildert er in seinen Dramen und Erzählungen das Leben in einer ‚schraubenförmigen Welt‘, unter deren Bedingungen Menschen leben und handeln müssen. Nicht nur der in seiner geballten fragwürdigen Harmonie irritierende Schluss des Hofmeisters, sondern nahezu alle fiktionalen Texte von J.M.R. Lenz zeichnen sich durch Momente der gewaltsamen Handlungsführung aus. Entscheidende Weichenstellungen erfolgen immer wieder als psychologisch unglaubwürdige Verzeihungen oder Entsagungen, durch Zufall und nicht näher erklärbare positive oder negative Schicksalsentwicklungen. Derar15 16 17
Lenz, J. M. R., Versuch über das erste Principium der Moral, in: Werke, (wie Anm. 5), S. 499–514, hier S. 509. Ebd., S. 510. Vgl.: „Und wenn ihr alles getan habt, sagt Christus, so seid ihr unnütze Knechte. Dieses legen viele ihrer Faulheit zu einem Polster unter und glauben das beste sei, nichts zu tun. Erschröckliche Erklärung die unsere ganze Religion umwirft und der Absicht Gottes gerade entgegen läuft. Eben darum weil wir nicht alles tun können, und wenn wir es getan hätten, wir dennoch kein für Gott geltendes Verdienst haben würden, so sollen wir durch den Glauben uns das vollgeltende Verdienst des vollkommensten Menschen Jesu Christi zueignen und um dessen willen allein die Annäherung an Gott, das heißt die ewige Seligkeit hoffen und erwarten.“ (Ebd., S. 513)
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tige Peripetien und Katastrophen lösen inhaltliche oder formale Widersprüche nicht auf. Bestehende Konflikte werden vielmehr abgebrochen und von einer äußerlich erzwungenen Lösung ersetzt, statt zu Ende geführt. Diese Deus-ex-machina-Dramatik verstehe ich als Analogie zum Wirken des gnädigen Gottes in einer unbegreiflichen Welt. Erzwungene, unplausible Lösungen, die nach üblichen, vernünftigen Kriterien unbefriedigend bleiben, führen einen Lösungmodus vor, der sich dem Bemühen der vernünftigen Kreatur entzieht. Der hiermit eingeführte Erlösungsbegriff soll nicht im engeren Sinne einer bestimmten soteriologischen Konzeption verwendet werden. 18 Angesichts des fehlenden Oberbegriffs im Neuen Testament beziehe ich mich, insofern ich auf die neutestamentarische Begrifflichkeit Bezug nehme, auf die Bedeutungen von λϾω, lösen, loskaufen, befreien; σωτ−, Retter, Heiland, Rettung, Heil, und ϹϾομαι, retten, schützen, bewahren vor. Erlösung wird verstanden als der Weg ins Heil, in die Nähe Gottes. Eine wesentliche Komponente sind Versöhnung und Vergebung. Insofern Gott bei Lenz das ganz Andere bezeichnet, kann der Begriff Erlösung wörtlich genommen werden: Die Betonung liegt auf der im deutschen Wort nach wie vor präsenten Bedeutungsnuance des Los-Machens, Erlösens von etwas. Erlösung bedeutet also ein Herauslösen aus dem Bestehenden, ein Freimachen für den Austritt aus gültigen Bedingungsgefügen, und damit das Einsetzen eines nach dem jetzigen innerweltlichen Stand unbegreiflichen Ablaufs. Das heißt auf dem Hintergrund der bis hierhin entwickelten Gedanken vor allem, dass eine Auslösung aus der beschränkten menschlichen Perspektive stattfindet und dass die Erlösung folglich in menschlicher Perspektive nicht eins zu eins darstellbar werden kann: Denn der Vorgang und das Ergebnis entziehen sich der Einsicht der Unerlösten. Die Erlösung kann somit nur als Modell aufscheinen, Erlösungshoffnung kann beschworen werden. In diesem Sinne wird in den fiktionalen Texten bei Lenz keine systematische Soteriologie entwickelt, doch in allen Texten der hoffnungsvolle Blick auf den Sotär gerichtet. Verzeihung und Erlösung, so auch die Heimkehr des verlorenen Sohnes, die exemplarische Begebenheit, die Albrecht Schöne als prominente biblische Präfiguration herausgearbeitet hat,19 spielen deshalb bei Lenz eine so wichtige Rolle, weil alternative Lösungsmodelle fehlen müssen. Schützende Regelkataloge können den Menschen zwar davor bewahren, aufgrund seiner erschlafften Konkupiszenz und aufgrund sexueller Fehltritte moralisch und sozial schuldig zu werden (vgl. Lenz’ Überlegungen in den Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen). Eine positive Lösung geht jedoch nicht von Regelzwang und Vorschriften aus. Was
18 19
Im Gegensatz zur Auffassung von Georg-Michael Schulz, der eine konkrete Bezugnahme auf Origines hergestellt sieht; vgl. Schulz, Georg-Michael, J. M. R. Lenz. Stuttgart 2001, S. 81f. Schöne, Albrecht, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. [1953]. Göttingen 21968, S. 92–138.
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Lenz in der Moralischen Bekehrung eines Poeten von ihm selbst aufgeschrieben als rhetorische Fragen formuliert, ist Programm: Muß der weise Mann keinen höheren Verstand über ihm erkennen? es wäre unerträglicher Stolz und verführte in tausend Irrtümer wenn er überall an sich selbst appellieren, nicht einmal die Augen zumachen und sagen wollte das begreif ich nicht, aber ich leide — dann erst Weiser bist Du weise, bist Du groß.20
Lenz fordert hier dezidiert dazu auf, zu akzeptieren, dass das, was über eine Person im Guten wie im Schlechten hereinbricht, sich dieser Person nicht verstandesmäßig erschließen muss. Als zentrale Botschaft im Drama des Fünfzehnjährigen, Der verwundete Bräutigam, lässt sich unschwer nachweisen, dass menschliche Berechnungen und Pläne scheitern, während höhere Fügungen das Geschehen zum Abschluss bringen. Der Mordanschlag des beleidigten Kammerdieners Tigras auf seinen Herrn misslingt, so dass der lediglich verletzte Schönwald doch noch sein Lenchen heiraten kann. Die Braut kommentiert das Vorgefallene in ihrem Schlusswort: „O möchte diese Begebenheit jeden, der sie höret, rühren und ihn zum Dank gegen die Vorsicht bewegen, die keine Wunde schlägt, welche ewig blutet!“21 Im Hofmeister, dessen erstaunliches Ende sich neben den Versöhnungen und Verzeihungen der rechtzeitigen Begegnung von Vater und ertrinkender Tochter am Teich, der zufälligen Begegnung Läuffers mit Gustchens Kind und seiner Bekanntschaft mit einer erschreckend naiven Gänsemagd, dem Lotteriegewinn und der Zusammenführung von Pätus’ Vater und Großmutter verdankt, scheitert eine ganze Reihe einleuchtender Pläne, mit denen die Figuren ihre Situation meistern wollten. Weder darf Gustchen den Konfirmandenunterricht bei Läuffers Vater besuchen, noch gelingt es Fritz, seinen Vater durch einen Bericht über seine tatsächliche Lage zu einer kooperativen Haltung zu bringen. Gustchens Versuch eines Heimwegs endet zunächst im Teich; Läuffers Selbstkastration führt ebensowenig wie Wenzeslaus’ dietätisch unterstützte Erziehung zur ersehnten Askese. Ähnliche Beobachtungen lassen sich sowohl an den anderen zwei ‚kanonischen‘ Dramen, dem Neuen Menoza und den Soldaten, wie auch an den weniger prominenten Stücken, wie beispielsweise Die Freunde machen den Philosophen, anstellen.22 Am deutlichsten 20 21 22
Lenz, J. M. R., Moralische Bekehrung eines Poeten von ihm selbst aufgeschrieben, in: Werke, (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 330– 353, hier S. 352. Lenz, J. M. R., Der verwundete Bräutigam. Ein Drama, in: Werke, (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 7– 39, hier S. 39. Im Neuen Menoza scheitern alle Anschläge Camäleons auf Wilhelmine genauso wie sein Versuch, Diana vergiften zu lassen; Tandis Flucht nach Leipzig führt ebenso wenig zur Lösung des Inzestproblems, wie es die gelehrten Bemühungen Bezas tun, der einen rational begehbaren Ausweg vorschlägt. In den Soldaten erweist sich die Vorsichtsmaßnahme eines schriftlichen Heiratsversprechens als ebenso fruchtlos wie die Versuche, Desportes’ Vater brieflich zu erreichen. Marie scheitert mit ihrer Politik des taktischen Flirts, Rammlers Eroberungsversuche missglücken, und die Gräfin kann Marie nicht, wie geplant, zur keuschen Gesellschafterin umerziehen. In Die Freunde machen den Philosophen führt Strephons Unmut über Seraphines
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wird das Thema scheiternder menschlicher Versuche, sich durch praktische Winkelzüge erfolgreich gegen das Schicksal zu behaupten, in Zerbin oder die neuere Philosophie. Zerbin findet bis zu seinem Selbstmord nicht aus dem Irrgarten seiner „neuere[n] Philosophie“.23 Lenz formuliert in seinen theoretischen wie poetischen Schriften das Doppelgebot, sich mit vollem Einsatz um die Verbesserung irdischer Verhältnisse und um seine Mitmenschen verdient zu machen — und sich dabei der eigenen beschränkten Perspektive so bewusst zu bleiben, dass Unbegreifliches nicht nur hingenommen, sondern feierlich angenommen werden kann. Das Wissen um die menschliche Unzulänglichkeit bewahrt den Menschen vor der Hybris und schützt gleichzeitig vor Verzweiflung angesichts der eigenen unvollkommenen Errungenschaften. Schicksalswendungen in Erzählung oder Drama stellen das Handlungsgebot also keineswegs in Frage, ein Gebot, das dazu aufruft, zugegebenermaßen vorläufige Annahmen zur Grundlage praktischer Aktivität zu machen. Seinen Versuch über das erste Principium der Moral beschließt Lenz: Was helfen aber diese Spekulationen, wenn sie nicht ausgeübt werden. […]. Ich kann geirrt haben. Ich will mein ganzes Leben hindurch lernen. Solange man mich nicht eines Bessern belehrt, gehe ich auf diesem Wege fort und glaube, daß es besser sei, des HERRN Willen zu tun, als ihn bloß zu wissen.24
Die Schlussworte des Hofmeisters — „Wenigstens, mein süßer Junge! werde ich Dich nie durch Hofmeister erziehen lassen.“ 25 — sind demnach kein erzwungener Rekurs auf das im Untertitel ironisch angekündigte, über weite Teile des Stückes allerdings in den Hintergrund tretende Thema der „Vorteile der Privaterziehung“.26 Fritz bekundet hier vielmehr seine Entschlossenheit, nach bestem Wissen und
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Heiratsplan mit LaFare lediglich dazu, dass Seraphine den ursprünglichen Heiratsplan mit Don Prado wieder aufnimmt; in der Spiel-im-Spiel-Szene wird die noch wesentlich merkwürdigere und ebenfalls nicht erfolgreiche Strategie einer Mutter vorgeführt, die ihre Hochzeit fingiert, um ihren Sohn als unwissentlich zum Inzest drängenden Liebhaber abzuschrecken. Als „moralische Kritik des Autonomie-Ideals“ versteht auch Rector die Erzählung; vgl. Rector, Martin, Zur moralischen Kritik des Autonomie-Ideals, Jakob Lenz’ Erzählung „Zerbin oder die neuere Philosophie“, in: Stephan, Inge, Winter, Hans-Gerd (Hg.), „Unaufhörlich Lenz gelesen…“: Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz. Stuttgart, Weimar 1994, S. 294–308. Lenz, Versuch über das erste Principium, (wie Anm.15), S. 514. Lenz, J. M. R., Der Hofmeister, Synoptische Ausgabe von Handschrift und Erstdruck, hg. v. Michael Kohlenbach. Basel, Frankfurt a.M. 1986, S. 183. Lenz selbst distanziert sich in den Briefe[n] über die Moralität der Leiden des jungen Werthers (Lenz, J. M. R, Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers, in: Werke, (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 673–690) ausdrücklich von der Frage, ob er „wirklich den Hofmeisterstand für so gefährlich in der Republik halte“ (ebd., S. 675): Eine solche Fragestellung mit der „Moral“ des Dramas zu beantworten, sei nicht sein Anliegen. Wenn Lenz allerdings seine Stellungnahme gegen zeitgenössische Praktiken der „Privaterziehung“, namentlich gegen ihre Auswirkungen auf den privaten Erzieher, auf die „Philosophie des geheimen Rats“ reduziert sehen möchte und als ‚Privatmeinung‘ einer Figur bezeichnet (die „Philosophie“ habe „nur in seiner Individualität ihren Grund“, ebd.), wird deutlich, dass er in seiner Distanzierung von einer bündigen „Moral“ in das andere Extrem verfällt und sich zu keinerlei deutlicher, kritischer Aussage der Komödie mehr bekennen will.
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Brita Hempel
Gewissen zu handeln, in voller Akzeptanz seines Schicksals, das ihm den „süße[n] Junge[n]“ als Adoptivkind beschert hat. Georg-Michael Schulz kommentiert den Dramenschluss, in dem ein gefallenes Mädchen seinen Cousin heiratet und ein kastrierter Hilfslehrer eine junge Gänsemagd ehelicht, vorsichtig wie folgt: Man kann mit Bezug auf die einigermaßen realistisch entwickelten Konflikte die herbeigezwungenen Lösungen ohne weiteres für grotesk halten und dennoch in dem rigorosen Willen zur Versöhnung, der über dem Ende waltet, einen religiösen Impuls vermuten.27
Ich möchte diesen Vorschlag von Schulz dahingehend radikalisieren, dass sich gerade im grotesken Charakter des erzwungenen Schlusses zeigt, wie sich das Geschehen einer vernünftigen Deutung nach innerweltlichen Maßstäben entzieht. In der allgemeinen Versöhnung scheint eine Perspektive auf, die den gewöhnlichen gesellschaftsklugen Blick verspottet. Dass eine Lösung, wie sie der Schluss des Hofmeisters vorschlägt, in der Gesellschaft nur zu einem äußerst fragwürdigen Scheinfrieden führen kann, bezeugt umso deutlicher den utopischen Charakter des Schlusses. Positiv bleibt dieses unbegreifliche Szenario für den Menschen Lenz unvorstellbar – deshalb kann er es nur in der grotesken Unvereinbarkeit einer allgemeinen Erlösung von Schuld und Verpflichtung mit der äußerst konkret gestalteten Menschenwelt des Dramas entwerfen. Sicher kann auch die Frage angesprochen werden, ob Erlösung als Lösung nicht einfach eine Strategie künstlerischer Improvisation ist, auf die der Verfasser angesichts eines unübersichtlichen Stoffs, angesichts konkreter Zwänge und einschränkender Produktionsbedingungen verfällt. Lenz bezeichnet im kurzen Nachwort zu Die Freunde machen den Philosophen das Stück als vorläufige Version unter einem „Notdach“, als „eine von den Notarbeiten des Verfassers“.28 Gegenüber La Roche äußert Lenz brieflich: „Menoza ist ein übereiltes Stück“.29 Dass dem Verfasser die Muße zur gründlichen Überarbeitung seiner Stücke fehlte, mag einen Lapsus erklären wie eine im Zimmer abgebrochene Rute.30 Die immer wieder massiv eingesetzte, durchgängige Zufallsdramaturgie lässt sich schwerlich darauf zurückführen: Hier steht die grundlegende Konzeption der Texte zur Debatte. Die 27 28
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Schulz, Lenz, (wie Anm. 18), S. 81. Die Nachbemerkung ist abgedruckt im Anmerkungsteil bei Damm, in: Werke, (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 750. Konkreten Zwängen als Entstehungsbedingung einzelner Texte bzw. als Verhinderungsgrund für deren Druck sind insbesondere nachgegangen: Unglaub, Erich, Werkimmanente Poetik als Dramenschluß: Zur Frage nach dem ursprünglichen Schluß der Komödie ‚Der neue Menoza‘ von Jakob Michael Reinhold Lenz, in: Text und Kontext 15 (1987), S. 182– 187 (zum „Püppelspiel“-Schluß des Neuen Menoza als angefügtem Nachspiel); Altenhein, Hans, ‚Die Wolken, oder wir arbeiten alle vergeblich‘. J. M. R. Lenz als Autor, in: Lichtenberg-Jahrbuch 1991, S. 85–90 (zum unterdrückten Druck der „Wolken“). Lenz, J. M. R., Brief an Sophie von La Roche, Juli 1775, in: Werke, (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 325–328, hier S. 326. Vgl. Lenz, J. M. R., Der neue Menoza oder Geschichte des Cumbanischen Prinzen Tandi, in: Werke, (wie Anm. 5), Bd.1, S. 125–190, hier S. 137.
„… die weltliche Theologie oder der Naturalismus, den ich Ihnen predige“
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These zu vertreten, dass schon der Entwurf und alle weiteren Stadien der Textproduktion unter fatalen Beeinträchtigungen litten, bedeutet, Lenz’ Schreiben wieder insgesamt als eine Art literarhistorischen Betriebsunfall aufzufassen, als etwas, das zu vollendeter Literatur hätte werden können. Umgekehrt will ich die Ansicht vertreten, dass Lenz’ Charakterisierung seiner ‚unfertigen‘ Arbeiten als „Materialien zu einem künftigen Gebäude unter einem Notdach“31 genau seiner Forderung nach der wissentlichen Präsentation vorläufiger Erkenntnis entspricht und dass die betonte Offenheit künftiger „Gebäude“ eine weitere Formulierung seiner Überzeugung von der Perfektibilität einer nicht völlig begreiflichen Welt bedeutet. Dass also den schuldig gewordenen Verirrten im Hofmeister ein harmonischer Dramenschluss zuteil wird, der deutlich erzwungen und aufgesetzt wirkt und der sich in mehrfacher Hinsicht über Konventionen hinwegsetzt, muss als Ausdruck einer Erlösungshoffnung verstanden werden, als Hoffnung auf eine Lösung, die auch und gerade den armseligen Getriebenen der „Komödie“ zugänglich werden kann. Eine tatsächlich traurige, wenn auch noch nicht tragische Dimension, gewinnen umgekehrt die Erzählung Zerbin oder die neuere Philosophie und die kurze „dramatische Phantasey“ Der Engländer gerade dadurch, dass dort die einzige Lösung nicht erkannt und akzeptiert werden kann: Zerbin will selbst, nach seiner menschlichen Einsicht, sein Schicksal meistern und verkennt die gnädige Möglichkeit einer ländlichen Idylle mit Marie; der Engländer hat Gott und die Väter immer nur als Bedrohung und Einschränkung erlebt. Er verfügt aufgrund seiner missglückten Erziehung über keine positiven religiösen Empfindungen. Ohne religiöses Vertrauen sucht er eine Ersatzreligion in seiner destruktiven Liebe zur unerreichbaren Prinzessin. Er muss untergehen.
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Vgl. Anm. 28.
CHRISTIAN SENKEL (Halle)
Zwischen den Stylen Hamann und die Schwächung Gottes
…weil er selber Schwachheit an sich trägt. Hebr. 5,2b
Johann Georg Hamann hatte lange Zeit den Ruf eines nicht kanonisierbaren Sonderlings. Ihm gegenüber erschienen Goethe und die idealistische Philosophie nicht zuletzt dank ihrer Selbstdarstellung als Überholung von allem zuvor Geäußerten. Für Hamann blieb allenfalls die Rolle des Wegbereiters. In der Theologie wirkte sich seine Einreihung unter die „frommen Außenseiter“1 durch Emanuel Hirsch auch bei Auslegung ad bonam partem als intellektuelle Kaltstellung aus. Eine Kanonisierung Hamanns sollte man vielleicht gar nicht wünschen, da sie die Subversivität seiner Schriften verschütten würde. Anders steht es mit dem Protest gegen die intellektuelle Kaltstellung: Mittlerweile wird Hamanns wild gesponnener Intertext genau unter die Lupe genommen. Mit interdisziplinärer Synergie zeigt sich, dass Religion und Literatur in seinen Schriften nicht als Inhalt und Form beschreibbar und deshalb auch nicht gegeneinander auszuspielen sind. In essentialistischer Manier könnte man sagen, die Komplementarität von Religion und Literatur erscheint bei Hamann zugleich als Ereignis der Form und als Durchbruch des Gehalts. Diese komplementäre Sicht droht von theologischen Studien unterlaufen zu werden, die Hamann zum Objekt ihrer Ansprüche machen. Wichtige Ausnahmen2 bestätigen die Regelmäßigkeit, mit welcher der Sonderling neuerdings zum Kronzeugen für eine Erkenntniseinstellung umgewertet wird, die seine Mehrdeutigkeit neoorthodox oder existentialistisch engführt und ihn zum Rufer-in-der-Wüste zwischen den Zeiten werden lässt. Hamann ist moderner. Seine Texte verweigern sich gerade als literarische dem bündigen Verwertungsinteresse. Glaubt man sich ihnen nahe, entziehen sie sich; glaubt man ein Zitat gefunden, das die eigene Fragehinsicht legitimiert, so wird 1
2
Hirsch, Emanuel, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bde. Gütersloh 31964, hier Bd. IV, S. 174–181. Ringleben, Joachim, Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos, in: Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft, hg. v. Bernhard Gajek. Acta des sechsten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1992. Frankfurt a.M. u.a. 1996, S. 215–275; Timm, Hermann, Literarischer Karfreitag. Die Leiden der göttlichen Autorschaft, in: Ders.: Sage und Schreibe. Inszenierungen religiöser Lesekultur. Kampen 1995, S. 39–46.
Zwischen den Stylen
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man von einer Wendung angefallen, die im Schatten des hermeneutischen Triumphs gelauert hat. Dogmatische Lehrgebäude lassen sich so nicht stützen, und auch für die kerygmatische Vereindeutigung ist Hamann zu janusköpfig. Daher ist es schwierig, sich der theologischen Intuition des Königsberger Zauberers zu nähern, ohne einen Einheitssinn seiner Schriften zu erzwingen und den theologischen Sinn seiner Schreibweise nachzuzeichnen, ohne ihr eigensinniges Spiel zu verderben. Mein Lektürevorschlag beginnt mit einer Rückfrage an Hegels Rezension. Hegel beschreibt Hamanns Schriften als völlig stildurchtränkt, was die Sache jedoch nicht trifft. Denn Hamanns Schreibweise hängt oder schwebt zwischen den Stilen, auf die sie sich bezieht – zwischen biblischen und poetischen wie zwischen anderen Stilen des Mitteilens und Erkennens. Von dieser alternativen Einschätzung ausgehend lässt sich zeigen, was Hamanns Schreibweise beabsichtigt: Nichts. Die Absicht des Magus ist, keine zu haben. Seine Schreibweise soll Medium für eine Intuition sein, die ich in Anlehnung an Überlegungen von Gianni Vattimo eine Schwächung Gottes nenne:3 Hamann versteht die christliche Offenbarung als radikale Verendlichung des Göttlichen, das sich in den Sprachumgang hineinbildet. Der Gedanke der Gottesschwächung impliziert die Schwachheit seines menschlichen Urhebers. Anders lässt er sich nicht darstellen. Aus diesem Grund läuft Hamanns Schreiben zwischen den Stilen her, zerbricht und rekombiniert sie und sich. Es entzieht sich der Fixierung, weil es von der Aufgabe umgetrieben wird, die revelatorische Selbstschwächung des göttlichen Autors nachzuahmen.3
1. „durch und durch Stil“? – Hegel und Hamanns Schreibweise Anno 1828 rezensiert G.W.F. Hegel unter dem Titel Hamanns Schriften die postum erschienenen Gedanken über meinen Lebenslauf von 1758/1759 und Fliegender Brief von 1786.4 Die Ambivalenz von Hegels Text scheint ganz besonders geeignet, den Blick auf Hamanns Schreibweise und deren Ambivalenz zu schärfen.
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Vgl. Vattimo, Gianni, Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott? München, Wien 2004. Der deutsche Untertitel zu dieser Abhandlung formuliert eine Frage, die im Buch so weder gestellt noch beantwortet wird. Sie bezeichnet genau jene metaphysische Erkenntnishaltung, die Vattimo für obsolet erklärt. Vattimo versucht eine synoptische Doppellektüre von Ereignisgeschichte und Denkgeschichte, die von der Philosophie aus auf die Religion zurückkommt: „Einen Gang der Geschichte als auf dem Wege über die Aufzehrung der starken Strukturen […] denken, wird das […] nicht eine Art und Weise sein, von der Geschichtsphilosophie her die christliche Botschaft der Fleischwerdung Gottes, die beim hl. Paulus auch kénǀsis, also Erniedrigung, Demütigung, Schwächung Gottes heißt, zu übersetzen?“ (S. 127) Ich zitiere nach: Hegel, G.W.F., Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1970, hier Werke 11: Berliner Schriften 1818–1831. – Zitate von Hegel und Hamann werden im Text durch eingeklammerte Seitenzahlen belegt.
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Christian Senkel
Hegels Leserlenkung stellt relativ früh fest: „Hamanns Schriften haben nicht sowohl einen eigentümlichen Stil, als daß sie durch und durch Stil sind“ (11, 281). Läse man nur bis zu dieser Aussage, so könnte man noch vermuten, dass Hegel Hamann als Wegbereiter eines ästhetisch vollen Vernunftkonzepts begrüßt. Und tatsächlich gibt es auch diese Töne. Hegel würdigt Hamann als Genie an der Peripherie der Aufklärungszentrale Berlin; ihm sei gelungen, das „Christentum mit ebenso tiefer Innigkeit als glänzender geistreicher Energie auszusprechen und dasselbe gegen die Aufklärer zu behaupten“ (11, 322). Hegel platziert Hamann in einer besseren Aufklärung. Doch gegenüber seiner Schreibweise lautet der Tenor anders: Hier trennt Hegel das Aussprechen eines christlichen Gehalts von Hamanns konkreten Äußerungen. Seine Schriften seien eigentlich ein „ermüdendes Rätsel, und man sieht, daß das Wort der Auflösung die Individualität ihres Verfassers ist; diese erklärt sich aber nicht in ihnen selbst“ (11, 281). Woher dann aber Tiefe und Glanz an Hamanns ‚Aussprache‘ des Christlichen? Der Stilbegriff hat in Hegels Diktum ontologischen Status: Sprache kann Stil sein, nicht nur ihn haben, soll heißen: Sie ist durch das, was Stil ausmacht, so ganz und gar bestimmt, dass ihr Wesen darin aufgeht. Mit diesem Urteil folgt Hegel vordergründig der Herauslösung des Stilbegriffs aus der Regelpoetik und seiner Neukombination: Durch Klopstock, Herder, Goethe und nicht zuletzt Hamann selbst steht Stil für schöpferische Originarität und unverwechselbare Individualität. Je mehr schöpferische Individualität, desto originärer der Stil. Hegel scheint den neu validierten Stilbegriff zu übernehmen, zieht jedoch nicht die Konsequenz, Stil gleichsam als objektiven Geist des Individuums zu verstehen. Diese Konsequenz wäre denkbar gewesen, bezieht sich doch Hegel sogar auf ein Buffonzitat Hamanns, wonach der Stil der Mensch selbst sei. Nun muss man allerdings festhalten: Hamann nimmt Buffon kritisch und schräg auf.5 Dient der Stilbegriff Buffon zur vor allem naturgeschichtlichen Unterscheidung von Gattung und Exemplar, also von Allgemeinem und Besonderem, so fungiert er bei Hamann exklusiv für die Kommunikation der Exemplare. Nur in ihr findet sich das Allgemeine der Kommunikation, nirgends außerhalb. Subsumierungen der Individuen unter ein kommunikatives Ideal zeitigen für Hamann lediglich die Herrschaft eines bestimmten Stils, wie er an seiner Obstruktion gegen die Verknüpfung von Aufklärung und Absolutismus nimmermüde zeigt.6 Sprache und Kommunikation aller Art produzieren zwar von einem Allgemeinen her, doch besondern sie es in einer unendlichen Verschiebung. Der Zugang führt also vom Stil zum Menschen, nicht von
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Vgl. Graubner, Hans, Hamanns Buffon-Kommentar und seine sprachtheologische Deutung des Stils, in: Autor und Autorschaft, (wie Anm. 2), S. 277–303. Gegen das ‚höchste Wesen‘ auf dem preußischen Thron und die Berliner ‚Nicolaiten‘. Vgl. zur Polemik und Poimenik gegenüber Friedrich II. Bayer, Oswald, Zeitgenosse im Widerspruch. Hamann als radikaler Aufklärer. München, Zürich 1988, S. 37, 134–137. Vgl. für den Begriff ‚Nicolaiten‘ z.B. ZH III, XXV.
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einem Vorbegriff des Menschen zum Stil. Hamann begegnet bereits hierin einem Ende der Metaphysik. Statt dieses Konzept zu diskutieren, überfliegt Hegel Hamanns Schriften intentionalistisch vom angeblichem „Naturell“ ihres Autors her, also vom Menschen zum Stil hin. Und das Urteil lautet: Hemmungsloser Appetit auf zweckfreie Zerstreuung (11, 287) verwehre Hamann jede objektive Produktion „zur Freude und Befriedigung seiner Mit- wie der Nachwelt“ (11, 337). Eine nachgelassene Notiz sagt es auf Theologisch: „Hamann war wirklich ein Sünder“ (11, 552) – das aber meint bei Hegel, Hamann schweife in seine Originalität verkrümmt vom rechtschaffenen Weg einer Subsumierung des Individuums unters Allgemeine ab. Der Stilbegriff gerät Hegel zur polemischen Formel für ein überflüssiges Bestehen auf Partikularität – was ihm die Spitze abbricht. Was soll Stil sonst bezeichnen, wenn nicht im Wortsinn überflüssige – überfließende – Besonderungen? Und wie soll ein Gedanke kommuniziert werden, wenn nicht als partikulare Äußerung? Hamann stellt sich der Reflexion von Universalität und Partikularität im Sprachumgang durchaus, und nicht nur gegenüber dem Stilbegriff. Er thematisiert den Zirkel von Allgemeinheit und Individualität im Sprachumgang auf vielerlei Weise – „mit mancherley Zungen“7 (ZH I, 396), wie er selbst sagt. Für eine Verknüpfung mit dem Stilbegriff besonders aufschlussreich erweist sich allerdings die Metaphorisierung der Sprache als Übersetzungsvorgang in der Aesthetica in nuce: „Reden ist Übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heißt: Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen“ (N II, 199).8 Das Sprechen als Übersetzen erscheint riskant, da auf dem Weg vom gedanklichen Beisichsein zur verbalen Entäußerung und dann vor allem im aufzunehmenden „Wortwechsel“ der Spiegel des Narziß zerbricht.9 Ohne diesen riskanten Übergang gäbe es keine gediegenen Sätze, kein Sichaussetzen vor dem Anderen. Am Vorgang des Übersetzens entdeckt Hamann einen allgemeinen Zug des Sprachumgangs: ein schöpferisches Ersetzen von etwas, das ohne Benennen und Beschreiben gar nicht greifbar wäre. Schreiben wie Reden bilden nicht eine im zeichenfreien All der Gehalte zirkulierende Idealität ab. Mithin wird, was Hegel vorprädikativ präsent glaubt, nach Hamann erst durch Reden und Schreiben produziert, und zwar durch Verschiebungen zwischen Intentionen und Medialisierungen. Da dies jedoch – hier wirkt sich Hamanns Sündenverständnis aus10 – nicht deutlich gewusst wird, weshalb auch kommunikative Fehlformen entstehen, ist eine zusätz7 8 9 10
So im Brief vom 18.8.1759 an Johann Gotthelf Lindner. Zitiert wird nach: Ziesemer, Walther, Henkel, Arthur (Hg.), Johann Georg Hamann. Briefwechsel, 7 Bde. Wiesbaden u.a. 1955–1979. Ich zitiere Hamann (inkl. zweimal die Frühschriften) als N nach: Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke. Wuppertal 1999 [Nachdruck der hist.-krit. Ausg. von Josef Nadler]. Vgl. auch N II, 209 in der Aesthetica in nuce. Vgl. Huizing, Klaas, Ästhetische Theologie, 3 Bde. Stuttgart 2000, hier Bd. I: Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie, S. 88–93. Vgl. weiter Kleffmann, Tom, Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns. Tübingen 1994.
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liche Unterscheidung fällig. So kommt der Stilbegriff ins Spiel: Stil bezeichnet in diesem Zusammenhang nichts beliebig Individuelles, sondern etwas notwendig Individuelles. Der Stilbegiff steht für Ausmaß und Nachdruck einer Individualisierung, um beim Anderen anzukommen und im Anderen Resonanz zu wecken.11 Stil ist somit ein wesentliches Element des Denkens, dessen Reichtum nach Hamann „auf dem Wortwechsel“ (N II, 129) beruht. Hamanns Weg zwischen den Stilen ist dann seinerseits als ein riskanter Grenzgang zwischen Unverständlichkeit und Banalität, zwischen Verrätselung und Albernheit zu werten, nötig als Verweisung auf die entlang seinen Spuren deutlich werdenden Bezirke von Erkenntnis, Sprache und Verhalten. Hegel hat Hamanns Überzeugungen und gravierender: dessen Sprachdenken ins Biographische abgeschoben. Das mag auch am autobiographischen Gegenstand seiner Rezension liegen. Doch vor allem scheint mir eine Differenz zwischen Hamanns Ansicht zum Stil und Hamanns Schreibweise verkannt. Während Hamann sich zur Unentbehrlichkeit von Stil im Sprachumgang äußert, laufen seine Mitteilungen selbst stillos zwischen den Stilen her. Dieses Verfahren ist aber kein biographischer Unfall, sondern Entscheidung für ein differentielles und gegen ein integrationistisches Denken. Hamann stellt sich zwischen Formen des Erkennens und des Mitteilens,12 stellt sich auch immer wieder um (mit Orakelpose und Autormasken) und versetzt mit seinen Spuren die Erwartungen und die Aufmerksamkeit der Leser. Hegel missversteht Hamanns kalkulierte Stillosigkeit; seine scheinbare Ohnmacht zur Werkgestalt (11, 319) verweist auf die partikularisierende Macht der Sprache. Hamann sucht sie aufzuweisen, indem er ihr erliegt – und sich zum Autor machen lässt. Klaus Hurlebusch bezeichnet daher Hamanns Schreibweise als „fermentum creationis des Autorgeistes“ und als „Kunst, überschießendes geistiges Tätigsein hervorzulocken“.13 Hamanns „Stilwechsel“14 dienen dieser Kunst – und setzen sie ins Werk.
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Vgl. nach wie vor Simon, Josef, Hamann und die gegenwärtige Sprachphilosophie, in: Johann Georg Hamann, hg. von Bernhard Gajek, Acta des zweiten Internationalen Hamann-Colloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1980. Marburg 1983, S. 9–20, hier S. 11, 15f. Anders Huizing, Klaas, Von Gesichtszügen und Kreuzzügen. Hamanns Physiognomik des Stils, in: Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft, (wie Anm. 2), S. 107–121. Huizing bevorzugt eine starke Lesart des ‚Bedeutens‘ in Hamanns Schreibweise. Hurlebusch, Klaus, Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne. Tübingen 2001, S. 25. Von Lüpke, Johannes, Zur theologischen Dramaturgie in Hamanns Autorschaft, in: Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft, (wie Anm. 2), S. 305–329, hier 311. Von Lüpke beschreibt überzeugend die Ersetzung monologischer durch eine dialogisch-dramatische Schreibweise zwischen den Londoner Frühschriften und den Wolken.
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2. „Gott – – ein Schriftsteller!“ – Die Intuition der Gottesschwächung Hegels Ambivalenz gegenüber Hamanns Schreibweise ist auch einer Rivalität geschuldet: der Rivalität um die angemessenere Explikation des christlichen Gottesgedankens unter den Bedingungen einer Epochenwende für das Christentum. Sie setzt Hegel bereits unter den Druck zu einer Vergegenwärtigung des Verlorenen oder des Sich-Verlierenden, mit der Hamann noch als fermentum creationis spielen kann. Zu Leitmetaphern für das Gottesdenken finden beide: Hegels Geistphilosophie entfaltet die Gottesidee als Gedanken, an dem menschliches Denken seiner höchsten Möglichkeiten bewusst, in einem damit jedoch auch einer ambivalenten Macht des Begreifens gewahr wird. In den Bann dieser Macht gerät auch der Gottesgedanke, indem er die durch das sich erhebende Selbst und eine eigengesetzliche Welt gestellte Alteritätserfahrung nicht letztlich zu integrieren vermag. Er implodiert gleichsam ins denkende Subjekt. Hegel spricht deshalb doppelsinnig vom Tod Gottes:15 Der Tod Gottes ist Ereignis für das denkende Subjekt (Moderne) und stellt zugleich ein abgeschwächtes, unterbetontes Element des christlichen Mythos dar (Tradition). Hamann betont demgegenüber mit der Äußerlichkeit des Gottesdenkens, wie dieses medial fassbar wird. Nicht um willkürlich auf der Partikularität der Glaubenssprache zu bestehen, sondern um ihre Lebensdienlichkeit zu bewahrheiten, setzt Hamann auf den konkreten Sprachumgang. Dieser wird dem Begreifen nun nicht im Sinn einer doppelten Wahrheit zugemutet, vor der es zu kapitulieren hat – denn: „Vernunft ist Sprache“ (ZH V, 177).16 Doch wissen sich Hamanns Einsichten in Sinnlichkeit und Zeichenhaftigkeit der Vernunft ihrerseits der Reflexion auf Offenbarungssprache verdankt. Dieser Umstand schließt anders als bei Hegel eine ultimative Aneignung von Selbst und Welt aus und hält deren (In-)Kongruenzen in der Schwebe. Man muss diese prägnanten Leitmetaphern für das Gottesdenken nicht gegeneinander ausspielen, wie Gianni Vattimos Reformulierung einer Christlichkeit Jenseits des Christentums – Dopo la cristianità – zeigt. In einer theologischen Reformulierung dessen, worauf Vattimo zielt, könnten sich gerade die Verwerfungen zwischen den Metaphern vom Tod Gottes (auch Nietzsches Variante) und seiner kondeszendenten Schwächung zur Überschreitung der gängigen Problemgeschichten nutzen lassen. Voraussetzung ist allerdings, Hamanns rezeptionsgeschichtliches Untergewicht aufzuwiegen. Hamanns theologische Intuition erschließt sich über sein Verständnis der göttlichen Zuwendung zu Mensch und Welt. Seine Variation im christlichen Gottes15 16
Hegel, G.W.F., Phänomenologie des Geistes, Werke 3. Frankfurt a.M. 1970, S. 545–574, hier S. 571f. Hirschs Umgang mit Hamann ist für ideengeschichtliche Zugänge symptomatisch: Der Fixierung auf das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung entgeht die dritte, aber entscheidende Konstituente: Sprache und Sprachumgang.
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denken besteht zum einen in der Erweiterung der Lektürebestände für die Ermittlung der göttlichen Gegenwart, zum anderen, für den vorliegenden Zusammenhang wichtiger, in der Doppellektüre von göttlicher Niederkunft in die Welt und epochaler Schwächung von Glauben und Gottesdenken. In seiner Erweiterung der Lesbarkeitsmetaphorik spielt Hamann den barockemblematischen Holismus gegen die physikotheologische Induktion aus, um gegen zeitgenössische Naturideale gerade den Kunstcharakter des liber naturae auszusprechen. Hamanns Offenbarungs-Synopse reicht jedoch weiter. Sie umfasst neben der Hieroglyphenschrift der Natur gleichwertig auch das Buch der Geschichte, das sich als asymmetrischer Plan neben dem Buch der Natur öffnet und mit diesem zusammen erst im Licht des Buchs der Offenbarung verständlich wird.17 Führt die vielseitige metaphorische Lesbarkeit des Göttlichen gleichsam in die Weite von Hamanns theologischer Intuition, so ist deren Prägnanz mit der Niedrigkeit Gottes bezeichnet. Hamann radikalisiert den Aspekt der göttlichen Kondeszendenz aufs Äußerste. Im Zeichen der Innerweltlichkeit – des Zurwelt- und Zursprachekommens – Gottes zeigt sich eine Nähe, wenn nicht Vertrautheit mit Positionen der orthodoxen Dogmatik wie der Ubiquitäts- und der Kenosislehre. Vermutlich verdankt sich diese Nähe allerdings eher der Rezeption von Produkten der lutherischen Religiosität im 17. und frühen 18. Jahrhundert.18 Doch auch gegenüber orthodoxen Positionen, vor allem wenn sie gleichsam aus der Gottesperspektive formulieren, forciert Hamann einen humanen Blickwinkel auf den biblischen Gott. Oft eilt diese Brechung des Gottesgedankens in die Übertreibung fort, wenn Hamann mit antimetaphysischem Affekt dem Schöpfergott menschliche Blöße und Scham zuschreibt.19 Durch solche sorgfältige Stillosigkeit entwindet sich Hamann jeder zeitgenössischen Solidarität. Er durchschneidet die Herrschaftsgebiete von Leitdiskursen und zieht sich sogleich zurück, wenn Unterwerfungsansprüche ihm gefährlich werden.20 So passiert der Vielleser Hamann auf seinen Lesewegen sowohl neologische als auch pietistische Spielräume einer Inkarnationstheologie; im Vorübergehen formt er jedoch um, färbt um und verleibt seiner eigenen Schreibweise diejenigen „Zeichen“ ein, an denen er „Geschmack“21 findet: Der Neologie entwindet er das Konzept der Akkomodation als einer Sinnzuschnei17
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Eine echte Innovation Hamanns, wie Blumenberg meint. Vgl. Blumenberg, Hans, Die Lesbarkeit der Welt. 7. Aufl. Frankfurt a.M. 2007, v.a. S. 91, 179, 190. Blumenberg behandelt Hamanns metaphorisches Verfahren insgesamt überraschend beiläufig. Vgl. mit Bezug u.a. auf Hamanns Betrachtungen zu Kirchenliedern Rößler, Martin, Die Verwendung von Kirchenliedern in Hamanns Frühschriften, in: Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft, (wie Anm. 2), S. 41–64. N I, 316; auch N III, 199. Hegel wird dieser Umstand zwar nicht an Hamanns Schreibweise bewusst, aber an dessen eigenartiger religiöser Virtuosität. Er attestiert ihr Distanz zu allen zeitgenössisch vorhandenen Stilen der Religiosität (11, 314). So im Brief vom 18.1.1778 an Johann Caspar Lavater. Vgl. zu Hamanns Epistemik der sinnlichen Zeichen die Beiträge von Michael Wetzel und Klaas Huizing in: Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft, (wie Anm. 2).
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dungsstrategie und verdreht die ‚Herablassung‘ Gottes in rationale Begreiflichkeit sarkastisch zur „Herunterlassung“ Gottes.22 Auf ähnliche Weise wird das pietistische Streben nach Gottseligkeit durchkreuzt, wenn Hamann das Bewusstsein lebendiger Gottesgegenwart zwar anerkennt, es jedoch als „Leutseeligkeit“ Gottes „in den Geschöpfen“ umbesetzt (N II, 206). Überall hält er sich einmal auf, nirgends hält er ganz und gar an. Seine Intuition treibt ihn fort zu immer neuen Variationen. Hamanns stärkste Variation auf die Kondeszendenz reflektiert zugleich sein eigenes Schreiben: die Autormetaphorik. Nicht dass die Metapher, Gott schreibe auf und mit ganz verschiedenen Materalien, neu wäre. Doch die Umschreibung der göttlichen Offenbarung als Autorenschicksal und ihre Umschreibung zum Autorenschicksal sind in Grad und Art bis dahin unversucht gewesen23 – erst recht im verdoppelten Bezug auf das eigene Schreiben. Mithilfe der Autormetapher expliziert Hamann die Unverwechselbarkeit der göttlichen Offenbarung als Stil. So heißt es mit Bezug auf die Schöpfung in der Aesthetica.In.Nuce: Die Einheit des Urhebers spiegelt sich bis in dem Dialecte seiner Werke; – in allen Ein Ton von unermäslicher Höhe und Tiefe! Ein Beweiß der herrlichsten Majestät und leersten Entäußerung! Ein Wunder von solcher unendlichen Ruhe, die Gott dem Nichts gleich macht, daß man sein Dasein aus Gewissen leugnen oder ein Vieh seyn muß; aber zugleich von solcher unendlichen Kraft, die Alles in Allen erfüllt, daß man sich von seiner innigsten Zuthätigkeit nicht zu retten weiß! – (N II, 204).
Was für ein Autor ist Gott? Er ist keineswegs Fleisch von Hamanns Fleisch, also keine bloße Projektion, ist doch der göttliche Stil Hamann zufolge durch und durch einheitlich und durchmisst eine ungeheure Amplitude von Fülle und Leere, von Nachdruck und Empfänglichkeit. Fast klingt hier Hamanns Rhapsodie wie eine Orgel. Der ungeheure, im göttlichen Stil zusammengespannte Kontrast ist überhaupt nur im Vergleich zugänglich. Die Ambivalenz des göttlichen Stils fordert indes krasse Steigerungen, wenn es a-theistisch heißt, das Werk der Schöpfung lobe seinen Meister so, dass es ihn „dem Nichts gleich macht“. Wenn die machtvollen und charakteristischen Züge im Vordergrund der göttlichen Offenbarung alle Aufmerksamkeit vom Hintergrund auf sich ziehen, ist es, als ob es keinen Autor gäbe – obgleich man angesichts des schöpferischen Scheins im Universum diesem eben noch Autorschaft hat zuschreiben wollen.
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Im flexiblen Spiel der Entsprechungen findet sich auch ein Hinauflassen des Menschen: „Wir liegen alle in einem so sumpfichen Gefängnis, worin sich Jeremias befand. Alte Lumpen dienten zu den Seilen, ihn heraus zu ziehen; diesen sollte er seine Rettung zu danken haben. Nicht das Ansehn derselben, sondern die Dienste, die ihm selbige thaten, und der Gebrauch, den er davon machte, erlösten ihn aus der Gefahr des Lebens. Jer. XXXVIII. 11 – 1“, N I, 5. Ringleben, (wie Anm. 2), S. 216f.
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In einer sich dem Formenspiel gewohnter zeitgenössischer Religiosität sich entziehenden Drastik24 charakterisiert Hamann Gott als einen exzentrischen Literaten, der im Zuge seiner souveränen Entäußerung immer schwächer wird: Gott redet sich durch die Medien seiner Offenbarung „aus dem Othem“ (N II, 213),25 um Hörer, Leser und kongeniale Nachahmer zu erzeugen.26 Indem er schließlich in seiner inkarnatorischen Selbstschwächung zum eigenen Leser wird, macht er vor, wie man seinen Stil verstehen und mit ihm umgehen soll. Daher spricht Hamann in Brechung sowohl orthodoxer als auch aufklärerischer Konzepte der Akkomodation von „Herunterlassung“, nicht aber von ‚Herablassung‘. Nun könnte man zwar die Position vertreten, dass ein Autor, der sich selbst auslegt, unter sein Niveau geht. Wenn aber der Autor „der beste Ausleger seiner Worte“ (N II, 203) ist, so kann der beste Autor gar nicht anders als im Wortsinn unter sein Niveau zu gehen: Er geht auf seine Adressaten ein, geht zu ihnen hin und wird schließlich einer von ihnen: Der Autor als Leser, der er immer schon war.27 Gott erschöpft sich, so Hamanns eigenwillige Lesart der Inkarnation, und wird zum Leser seiner eigenen Schrift: zum ebenbildlichen Vor-Leser. Hiermit wird eine dogmatische Setzung so metaphorisiert, dass deutlich wird, wie im christlichen Gottesgedanken kein einfaches Gegenüber von Gott und Mensch oder Gott und Welt intendiert ist, sondern ein relationales In- und Miteinander. „Zuthätigkeit“ und „Entäußerung“ sind diesem Gottesdenken wesentlich, seine Pointen können nachgerade darauf reduziert werden: Eine kenotische Wendung, vor der die altprotestantische Orthodoxie auch bei Betonung der Niedrigkeit Gottes zurückgeschreckt ist und die etwa dem Deismus vollends als Torheit erschienen wäre.28 Mittels der Erfahrung autorzentrierten Schreibens kommt jedoch gerade diese Wendung in die Lage, für die zeitgenössische Epochenwende des Christentums zur Leitmetapher zu werden. Kann man also sagen, dass die Autormetapher Hamann erlaubt, den seit der Krise des Schriftprinzips geschwächten christlichen Mythos neu zu erzählen, so ist zugleich mit der Schwächung Gottes weit mehr gemeint als eine versteckte Stärkung von Tradition. Hamann reformuliert nicht nur, er formuliert Neues. Denn die 24
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In der Drastik vergleichbar wäre allenfalls eine Gemeinde zweiter Ordnung: die um Klopstock gebildete. Vgl. Kohl, Katrin, Friedrich Gottlieb Klopstock. Stuttgart, Weimar 2000, S. 133ff. und die dort angegebene Literatur. Ein verdecktes – und deutendes – Zitat aus dem Hebräerbrief (Hebr 1,1f.). Ohne Bezug auf Hamann scheint mir Jack Miles etwas Ähnliches beabsichtigt zu haben. Vgl. Miles, Jack, Gott. Eine Biographie. München, Wien 1996. Inwieweit dieser Versuch mit der Fortsetzung vom selben Autor: Jesus. Der Selbstmord des Gottessohnes. München, Wien 2001, gelungen ist, ist eine andere Frage. Dogmatisch gesprochen geht es um die Schöpfungsmittlerschaft Christi, aber auch um das Sein des Vaters beim Sohn in dessen Leiden und Tod – eine weit heiklere Frage, wie die Dogmengeschichte belegt. Vgl. zur Übersicht: Sparn, Walter, Art. Jesus Christus V, in: TRE 17 (1988), S. 1–14; ausführlich Sparn, Walter, Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1976.
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Metapher von der Schwächung Gottes durch seine auctoriale Leutseligkeit reagiert auf ein Schwinden des Gottesgedankens selbst. Die Schwächung Gottes ist danach nicht bloß Gedanke, sondern eine historische Wirklichkeit. Gott muss durch die ihm zugeschriebene Offenbarung in bestimmter Hinsicht verschwinden. Der Glaube an ihn wird schwach und schwächer, die Indifferenz nimmt vielleicht nicht im historisch-statistischen Sinn, aber als Möglichkeit des Denkens und Verhaltens zu. Dieser Umstand kann aber von Hamanns Kondeszendenzkonzept her gleichermaßen aufgenommen und umgedeutet werden: Danach hätte der schwächer werdende Glaube selbst eine Funktion für die Gotteserkenntnis. Hamanns sich schwächender Gott entfällt dem Himmel und kommt ganz und gar auf die Erde, in die Welt: Des Sokrates Beruf, die Moral aus dem Olymp auf die Erde zu verpflanzen […], kommt mit dem meinigen darin überein, daß ich ein höheres Heiligtum auf eine analogische Art zu entweihen und gemein zu machen gesucht. (ZH III, 67).29
Dieses ‚Gemein-Machen‘ kann als ein vorsätzliches Profanieren und Säkularisieren und damit als Sprach-Handlung verstanden werden, die in der Konsequenz des Gottesdenkens selbst liegt.30 Im zitierten Brief spricht keine bloße Grille, keine Laune. Hamann weiß um die Tragweite seiner Intuition. Er unterläuft die rationalistische Kritik am christlichen Transzendenzmythos, indem er diesen Mythos immanenzlastig umchiffriert. Aber er trägt dem Mythos auch Rechnung, indem er die göttliche Herunterlassung als wirklich verstehen will. Eigentlich soll sie der Zwangssymmetrisierung von Oppositionsbegriffen wie ‚transzendent‘ und ‚immanent‘ überhaupt entgehen. Ihre Wirklichkeit ist an ihre Restlosigkeit geknüpft: Gott gibt sich ganz und gar der Lektüre seiner Offenbarung preis, die ihn „dem Nichts gleich“ macht.
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Im Brief vom ersten Weihnachtsfeiertag 1773 an Friedrich Carl von Moser. Vgl. zu von Moser auch unter 3.c. Vattimo geht umgekehrt von der Schwächung der Seinsgeschichte im modernen Denken aus. Letztlich gründet diese Schwächung im metaphysischen Versuch, den eigenen Ursprung einzuholen. Das biblische Erbe steht diesem Versuch nach Vattimo entgegen. So versteht er jene Schwächung als christliches Ferment: „In ihrer ‚Verwandtschaft‘ mit der biblischen Botschaft der Heilsgeschichte und der Fleischwerdung Gottes erkannt, heißt die Schwächung […] Säkularisierung, verstanden im weitesten Sinne, der alle Auflösungsformen des Heiligen umfaßt, die für den modernen Zivilisationsprozeß charakteristisch sind. Wenn aber die Säkularisierung der Modus ist, in dem sich die Schwächung des Seins, und das ist die kénǀsis Gottes […] verwirklicht, dann kann sie nicht mehr als Phänomen der Preisgabe der Religion gesehen werden, sondern als, und sei es auch paradoxe, Verwirklichung ihrer tiefsten Berufung.“ (Vattimo, [wie Anm. 3], S. 38)
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3. „Invalide des Apolls“ – zur Kultur evangelischer Selbstschwächung Hamann umschreibt die Fleischwerdung des Wortes und schreibt um eine Interpretation des Christentums auf der Schwelle zur Moderne. Seine theologische Intuition ist nicht beweisbar. Deshalb hat er sie nicht systematisiert. Eine Schwächung Gottes kann nur plausibel oder unplausibel erscheinen: Zum einen, sofern sie eine radikale Veränderung am Gottesgedanken inklusive der gelebten Religion, zum anderen, sofern sie eine Veränderung der Wirklichkeit selbst meint. Sofern die Schwächung Gottes eine theologische Bestimmtheit ist, muss sie als ein Unbegriffliches unter Begrifflichem den ganzen theologischen Sprachumgang tingieren. Sofern sie indes eine epochale Veränderung der Weltwirklichkeit durch ein Schwinden Gottes meint, kann die Gottesschwächung nur als Aspekt am Weltgeschehen deutlich werden. In jedem Fall bleibt sie – als Metapher wie als Vorgang – Gegenstand einer Bezeugung. Und in beiden Fällen konvergiert die Plausibilisierung mit der mehr oder weniger gelungenen Umsetzung des Schriftstellers, der sie vollzieht. So ist die Schwächung Gottes dem Schreiben, welches sie bezeugt, gleichzeitig, ohne mit ihm identisch zu sein. Folge muss ein Ausweichen des Schreibenden vor einer falschen Identifikation sein, der Schreibende muss Schwächen, um nicht zu sagen: seine Wunden zeigen. Der Gedanke der Gottesschwächung impliziert die Schwachheit seines menschlichen Urhebers, der sich vor der Verendlichung des Göttlichen „nicht zu retten weiß“.31 Damit stellt Hamanns theologische Intuition eine Alternative sowohl zu Gottesbeweisen als auch zu einem dogmatisch vorausgesetzten Glauben dar. Diese gleichsinnige Distanz gewinnt sie durch die Schreibweise. Insofern ist Hamanns Verknüpfung von Literatur und Theologie nichts Sekundäres. Inwiefern sich nun aber die theologische Intuition auch in einer Kultur der Schreibweise einfindet, soll im Folgenden an einigen ausgewählten Zügen von Hamanns Selbstumgang als Autor gezeigt werden. Für den Ablauf dieses Gedankengangs heißt das schlicht, dass nun asymmetrische Beobachtungen zu Hamanns Zwischen-Stil einerseits und zur Schwächung Gottes andererseits folgen. a) An seinen Masken kann man ihn erkennen:32 Hamanns Selbstumgang als Autor zeigt sich hier besonders konzentriert. Die Masken stellen ein Spiel mit Wissensstilen dar und vollziehen einen aufreizenden Wechsel zwischen Spiel und Nutzen, Erotik und Fruchtbarkeit. Als Sokrates, Rhapsode, Philologe, Spermologe, Magus entäußert Hamann sich seiner selbst, will keine Identität als die im Spiel erzielte und nutzt doch zugleich die Verstellung, um „seine Mitbürger aus den 31 32
Vgl. Vattimo, (wie Anm. 3), S. 36ff., 102ff. zur Ersetzung des Seins als Struktur im „Ruf“ zu seiner Schwächung, sowie zur Fehleinschätzung der Moderne als Preisgabe von Religion. Vgl. Senkel, Christian, Autorisierung. Das Zitat im Theologischen Sprachdenken. Fallstudien zu Erasmus von Rotterdam, Johann Georg Hamann und Karl Kraus. Weinheim 2004, S. 165– 189, S. 201–208.
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Labyrinthen ihrer gelehrten Sophisten zu einer Wahrheit“ zu locken, „die im Verborgenen liegt, […] und von den Götzenaltären ihrer andächtigen und staatsklugen Priester zum Dienst eines unbekannten Gottes“ (N II, 77). Der Maskengebrauch als Grundzug der Schreibweise verdankt sich der Einsicht, dass man angesichts der epochalen Schwächung Gottes nicht offen reden kann. Ihre Artikulation fordert die zeitgenössische Theologie und Philosophie heraus, weshalb eine barocke Pseudonymisierung geboten scheint, die mit der antizipierten Zensur sich selbst schwächt. So weist schon der Umstand, hintersinnig-indirekt vom biblischen Gottesdenken zu schreiben, auf den Widerstreit hin, der für jeden Versuch, die Schwächung Gottes darzustellen, entsteht. Der tiefere Sinn der Pseudonymie liegt indes im Geheimnischarakter der Schwächung, sofern sie aus dem Evangelium selbst herrührt. Indem dieses Geheimnis durch die historische Gottesschwächung verschüttet ist, muss, wer auf es hinweisen will, immer verdoppelte Hinweise geben: auf die selbstverschuldete Verbergung des Geheimnisses und auf seine Verborgenheit. In Hamanns Schreibweise erscheint daher durchaus Stärke gegenüber Widersachern, die allerdings in einer christomorphen Selbstschwächung gründet. Dem Einspielen all dieser „Autorhandlungen“33 dienen die Masken als Vehikel doppelten Zeigens. Hamann nimmt im Wechsel zwischen Masken Wechsel zwischen Stilen des Erkennens und Mitteilens vor. Gerade seine Schwächung als Autor gerät so zum fermentum creationis, das dem Leser eine nützliche Anstrengung gewährt oder, andersherum, eine spielerische Einsicht zumutet. b) Zu Hamanns Selbstumgang als Autor gehören die Texte, aus denen seine patchwork-Arbeiten bestehen (Centonen, Montagen, Motti etc.).34 Die Bibel hat in diesem Zusammenhang hohen – nicht in jedem Text den höchsten – Rang. In Hamanns beinah schon aggressiver, ihm aber bewusster Mimesis biblischer Sprache liegt eine Warnung an jede biblizistisch identifizierende Lektüre. Hamanns Bibelumgang stellt jedenfalls das Gegenteil heutiger fundamentalistischer Wortwörtlichkeitsmissverständnisse dar, zeigt er doch, dass die Bibel gar nicht wörtlich zitiert werden kann. Zitate reißen stets aus dem Zusammenhang, sie meinen Identität zu markieren, lösen jedoch zeitliche und kulturelle Differenz nicht auf, sondern aus.35 Hamann überträgt diesen Umstand auf seine Schreibweise, indem er hoch konzentrierte Zitationen herstellt und dadurch dauernd andere zu Wort kommen lässt. Die Schreibweise hält sich dadurch auch in den individuellen Bezugnahmen zwischen den Stilen auf. Diese Schwächung des eigenen Diskurses kann und soll freilich zu starker Erkenntnis ausschlagen: In der Zuspitzung auf die Bibel kommt mit der Selbstschwächung durch fremde Schrift eine Facette der Gottesschwächung ans Licht, die bisher im Dunkeln geblieben ist: Hamanns Schreibweise begegnet der – später so 33 34 35
So explizit N III, 366 in Fliegender Brief. Cento kann wörtlich mit patchwork übersetzt werden. Vgl. Senkel, (wie Anm. 32), S. 28–32, S. 82–114.
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genannten – Krise des Schriftprinzips als einem Syndrom der Gottesschwächung. Dabei überträgt seine Schreibweise auf sich all diejenigen Bestimmtheiten der altprotestantischen Schriftlehre, die nun in Frage stehen, indem sie deren Schwächung gleichsam am eigenen Leib vollzieht:36 Hat die Bibel ihre Autorität eingebüßt, so verzichtet auch Hamann darauf, indem er die Zweideutigkeit von Autorität zitierend vorführt, ohne sie einseitig aufzulösen.37 Wird die Klarheit der heiligen Schrift angesichts ihrer Selbstwidersprüche in Frage gestellt, ist Hamann mit einer exhibitionistischen Verdunkelung der eigenen Intentionalität zur Stelle und entdeckt gerade die Mehrdeutigkeit der Schrift als Kennzeichen ihrer Heiligkeit: Die göttliche Kondeszendenz ist nichts Eindeutiges, da sie aufgrund ihrer Säkularität kaum unterscheidend auszusprechen ist. Damit verlegt Hamann die Klarheit der Schrift in die Klarheit ihrer Mehrdeutigkeit.38 Und angesichts der eingebrochenen Suisuffizienz der Schrift für ihre Auslegung weist Hamann dem idealen Leser als dem Komplizen und Nachproduzierenden des schwachen Autors alle Macht der Deutung zu – nicht ohne anzumahnen, dass die Ausübung dieser Macht zur Selbstschwächung führen kann. Der Körper von Hamanns Schreibweise zeigt alle Wunden der Schriftkrise – und weist dadurch auf die Schwächung Gottes als der Schwächung seines Wortes hin. Da es sich bei seinem Schreiben gleichwohl um „nichts als Eitelkeit“ handelt, muss Hamann indes auch noch die eigene Christomorphie sarkastisch durchkreuzen, indem er seinen stylus atrox allenthalben ins Lächerliche kippen lässt. c) Hamanns Spiel mit der Autorenschaft findet inmitten einer ungeheuren Aufwertung der Auctorialität statt. Nicht die Schwachheit des Autors, sondern seine Autonomie soll gelten, ein Ideal, unter dessen Initiatoren Hamann vereinseitigend gerechnet wird. Dabei erinnert er entgegen der zeitgenössischen Idealisierung sowohl von Tätigkeit als auch von Souveränität durch die aufgeklärten Logokraten an die der Passioniertheit zugewandte Seite des Schreibens. Zwei Wortspiele, die zugleich Stilbrüche sind, können diese Haltung verdeutlichen. In einem höchst sarkastischen Brief vom 11.9.1763 an seinen Gönner, Friedrich Carl von Moser,39 berichtet Hamann vom Erfolg seiner Supplik an Friedrich II. von 36 37
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Die folgenden Überlegungen sollen selbstverständlich nicht mehr als eine Skizze sein. Gegen Weißenborn, Bernd, Auswahl und Verwendung der Bibelstellen in Johann Georg Hamanns Frühschriften, in: Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft, (wie Anm. 2), S. 25– 39, hier 33: „Wer zitiert, ordnet sich […] dem unter, den er zitiert“. Das verhält sich wesentlich komplexer: Man kann auch zitieren, um sich das Zitierte unterzuordnen, zu rauben, zu retten etc. Vgl. Senkel, (wie Anm. 32). – Weißenborns Begriff des ‚Zitatnests‘ ist allerdings sehr gelungen. Vgl. zur Mehrdeutigkeit von Schrift und den Folgerungen für den theologischen Umgang mit der heiligen Schrift Rödszus-Hecker, Marita, Der buchstäbliche Zungensinn. Stimme und Schrift als Paradigmen der theologischen Hermeneutik. Waltrop 1992. Friedrich Carl von Moser (1723–1798) stand zur fraglichen Zeit als Staatsrat im Dienst von Hessen-Homburg, später dann von Darmstadt. Er stand in enger Verbindung mit Susanna von Klettenberg und ihrem Kreis, hielt auch Kontakt zu Herder, und beabsichtigte zeitweilig, Hamann eine Stellung als Prinzenerzieher an einem hessischen Hof zu verschaffen. – Es könnte interessant sein, die Nachwirkungen Hamanns in von Mosers Staats- und Fürstenkritik aufzuspüren.
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Preußen, eine subalterne Verwaltungsstelle betreffend. Der Kampf um die Anstellung ist vom eigentlichen Schreiben an von Moser ironisierend eingerahmt. Den ironischen Grundzug stellt das Spiel mit dem Begriff des Invaliden her – Hamann bezeichnet sich als „Invalide[n] des Apolls“ (ZH III, XX.XXIII).40 Er schreibt dem Musendienst mittels einer unerwarteten metonymischen Kombination eine spezifische Verkrüppelung zu. Darf man diese Kombination als autobiographischen Kommentar zu Hamanns polyhistorischer Nichtfestlegung auf ein bestimmtes Fach der Gelehrsamkeit verstehen, so stellt sie doch weit mehr dar. Die Metonymie „Invalide des Apolls“ ist ein mehrdeutiges Spiel mit dem Feuer, da sie auf die (fragwürdige) Versorgung der preußischen Kriegsinvaliden aus dem Siebenjährigen Krieg anspielt. Wie die Kriegsinvaliden hinkt der Diener Apolls in Preußen umher, auf der sokratischen Suche nach einer kargen öffentlichen Speisung. Die Invalidisierung dieses Dienstes ist aber dem Umstand geschuldet, dass der König die deutsche Kultur nicht fördert und auch die Verwaltungsstäbe mit Franzosen besetzt sind. Der Anklang an Hotel und Dom der Invaliden in Paris verleiht dem Sarkasmus zusätzlichen Biss, dient der Dom doch als Begräbnisstätte des absoluten Herrschers Ludwig XIV., das Hôtel des Invalides indes zur Versorgung von Kriegsversehrten. Trotz dieser starken Mehrdeutigkeit bleibt die Schwachheit ihres Autors – des „Invaliden“ Hamann – objektiv bestehen. Er ist ohnehin Diener eines ganz anderen Apoll, Christi, wie man, das metaphorische Verweisungsgeflecht erweiternd, hinzufügen kann. Passend erscheint die Muse des Invaliden im Brief an von Moser als rotäugig: Wie verweint von der Gottesschwächung oder erschöpft vom Nachsinnen über diese.41 Mit dieser stilbrüchigen Verwertung der Musentopik verweist Hamann wiederum auf Heteronomes an der Autorschaft, und genauer: Der Hinweis auf Heteronomes besteht nicht einfach in einer Bestätigung des Inspirationstopos, sondern in dessen Verfremdung und Schwächung. Emanuel Hirsch hat vor einem halben Jahrhundert vertreten, „Hamanns Standpunkt“ verneine „die Möglichkeit eines christlich bestimmten Kulturlebens“.42 Im Gegenteil scheinen mir Hamanns Aufenthalte zwischen den Stilen und seine Bereitschaft, sich als Autor versehren zu lassen, ein frühmodernes Urbild für Interventionen ins spätmoderne Kulturleben. Was freilich keine Empfehlung zur Nachahmung sein kann. Warum sollte man gerade ihn nachahmen, der nur individuelle Wege zur Lösung allgemeiner Probleme gelten lassen wollte? In Hamanns Texten ist die Macht der Metaphysik, ist das verzehrend unduldsame Allgemeine, das unter anderem Namen die politische Moderne geplagt hat, erschüttert. Hamann ist ein Vordenker oder genauer: ein Prätextor evangelischen Kulturumgangs. Deshalb lohnt es sich, ihm auf der Spur der Schwächung Gottes nachzulesen. 40 41 42
Band III der Briefe bietet am Anfang Nachträge, daher die römische Seitenzählung. So N II, 337 im Mährchen von 1. May am Ende von Schriftsteller und Kunstrichter. Hirsch, (wie Anm. 1), S. 181.
KARL PESTALOZZI (Basel)
„Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen“? Schillers Das Reich der Schatten und Lavaters Aussichten in die Ewigkeit
Methodisch gesehen geht es bei der folgenden Skizze nicht darum, einen „Einfluss“ Lavaters auf Schiller nachzuweisen. Dafür ist, wie Martin Stern1 gezeigt hat, die Quellenlage nicht ausreichend. Man weiß zwar, dass Lavater im Mai 1793 in Jena mit Schiller zusammentraf und dass Schiller Lavater aus Distanz geschätzt hat, wohl nicht zuletzt deshalb, weil ihn die Schwestern Caroline von Lengefeld und Charlotte, seit 1790 seine Frau, hoch verehrten. Sie hatten Lavater mit ihrer Mutter zusammen zweimal, 1783 und 1784, in Zürich besucht.2 Die Mehrzahl von Schillers rund zwei Dutzend Lavatererwähnungen finden sich in den zwischen ihnen gewechselten Briefen.3 In der Nähe Lavaters stehen ferner einzelne eher pathognomische als physiognomische Bemerkungen Schillers in der Abhandlung Ueber Anmut und Würde von 1793; doch bleiben diese hier ausgeklammert. Im Folgenden soll ein struktureller Vergleich versucht werden. Die Frage geht nach Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Schillers Gedicht Das Reich der Schatten und Lavaters Aussichten in die Ewigkeit, unabhängig davon, wie es möglicherweise dazu kommen konnte. Man wird sie wohl letztlich auf das Konto des so genannten Zeitgeistes setzen müssen, den man präziser als neuzeitlichen Diskurs bezeichnen könnte. Doch das wird erst am Schluss zu diskutieren sein. Das gewählte Vorgehen bedeutet auch, dass, im Unterschied zu fast allen vorliegenden Interpretationen von Schillers Gedicht, darauf verzichtet wird, Schillers ästhetische Schriften ausdrücklich als Deutungshilfe beizuziehen, auch wenn es natürlich nicht völlig gelingt, sie einfach zu vergessen.
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2 3
Stern, Martin, Schiller und Lavater, in: Groddeck, Wolfram, Stadler, Ulrich (Hg.). Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Festschrift für Karl Pestalozzi. Berlin 1994, S. 134–152. J. C. Lavaters Fremdenbücher. Faksimile-Ausgabe. 8 Bände. Mainz 2002. Kommentarband, bearbeitet von Rudolf Pestalozzi, S. 120. Ich danke dem Deutschen Literaturarchiv Marbach a.N. für das Heraussuchen von Schillers Lavatererwähnungen.
„Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen“?
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I. Schillers Gedicht Das Reich der Schatten,4 im Juli und August 1795 entstanden und im selben Jahr im 9. Stück der Horen erschienen, schließt an die 1788 entstandenen Götter Griechenlands an, die in Schillers Denken eine neue Epoche eröffneten. Deren Grundgedanken hatte Schiller schon 1785 im Brief eines reisenden Dänen in dem Satz zusammengefasst: „Die Griechen mahlten ihre Götter nur als edlere Menschen, und näherten ihre Menschen den Göttern. Es waren Kinder einer Familie.“5 Das bedeutete zweierlei: Dem geltenden christlichen Verständnis der radikalen Differenz von Mensch und Gott konnte dank der griechischen Drapierung ein davon abweichendes entgegengesetzt und dargestellt werden. Und zugleich erlaubte das Antikisieren eine die herrschende christliche vermeidende, damit freiere Rede- und Vorstellungsweise über theo- und anthropologische Probleme. Wie Schillers Gedicht im Gewand antiker mythischer Vorstellungen einem christlichen Dogma opponiert, zeigt besonders deutlich die dritte Strophe: Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen, Frey seyn in des Todes Reichen, Brechet nicht von seines Gartens Frucht. An dem Scheine mag der Blick sich weiden, Des Genußes wandelbare Freuden Rächet schleunig der Begierde Flucht. Selbst der Styx, der neunfach sie umwindet, Wehrt die Rückkehr Ceres Tochter nicht, Nach dem Apfel greift sie und es bindet Ewig sie des Orkus Pflicht.
Offensichtlich wird hier in antikem Gewande die biblische Sündenfallgeschichte nacherzählt und umgedeutet. Proserpina steht an der Stelle des ersten Menschenpaares. Dass sie nach Ovid vom Granatapfel gegessen hat und deswegen im Orkus bleiben muss, wohin Pluto sie entführt hat, lässt sie wie Adam und Eva dem Tod verfallen sein. Was jedoch im Alten Testament die Schlange der Eva als Versuchung einflüstert: „Ihr werdet mit nichten des Todes sterben und werdet sein wie Gott“ (Gen. 3,4,5), erscheint bei Schiller als universale, ursprüngliche menschliche Bestimmung: Dieser antike Sündenfall gibt nicht der Versuchung nach, Gott gleich zu werden, sondern ist umgekehrt Verrat am Streben nach Gottähnlichkeit und deshalb Verfall an den Tod. Die Gottebenbildlichkeit erscheint, in hörbarem Anklang an Gen. 1,26, als die ursprüngliche Bestimmung des Menschen. Und noch Grundsätzlicheres verändert sich in dieser antiken Übersetzung der biblischen Geschichte: Proserpinas Sündenfall ist kein einmaliges Geschehen, mit dem die ganze nachfolgende Menschheit der Erbsünde anheimfällt, bis der Erlöser 4 5
Im Folgenden zitiert nach: Schiller Nationalausgabe [NA], 1. Band, hg. von Julius Petersen und Friedrich Beissner. Weimar 1943, S. 247–251. NA 2IIA, S. 169.
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kommt. Er steht in der Entscheidung jedes und jeder Einzelnen und ist somit vermeidbar. Das wirkt sich auch darauf aus, wie die Erlösung vorgestellt wird, nämlich nicht als allgemeine, sondern als je individuelle. Schillers Gedicht handelt im Weiteren anhand von vier typischen Beispielen davon, wie vom Menschen dieser Fall in die endgültige Naturabhängigkeit vermieden respektive überwunden und die ursprüngliche Gottähnlichkeit wieder erlangt werden kann. Die beiden Schlussstrophen des Gedichts demonstrieren das an Herakles. Herakles ist an früherer Stelle im Gedicht, ohne dass sein Name fällt, der Inbegriff des Menschen. Die Verse „Zwischen Sinnnenglück und Seelenfrieden / Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl“ (V. 7) spielen auf die Fabel Herkules am Scheideweg an, derzufolge Herakles zwischen zwei Frauengestalten zu wählen hatte, die Arete und Eudaimonia, Tugend und Wollust verkörperten.6 Diese Wahl wird nun zur anthropologischen Grundsituation erklärt. Gegen Schluss des Gedichts werden des Herakles’ irdische Taten resümiert, eingeleitet durch die Verse: Tief erniedrigt zu des Feigen Knechte Gieng in ewigem Gefechte Einst Alcid des Lebens schwere Bahn, […] Biß sein Lauf geendigt ist, Biß der Gott, des Irdischen entkleidet Flammend sich vom Menschen scheidet, Und des Aethers leichte Lüfte trinkt. Froh des neuen, ungewohnten Schwebens Fließt er aufwärts, und des Erdenlebens Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt.
Herakles erscheint als das Urbild des Menschen, der nach Taten und Leiden in einer Himmelfahrt alles Menschliche abstreift und seine ihm bestimmte Göttlichkeit verwirklicht. Das macht ihn zugleich zum Vorbild, wie die suggestive Sprachgestalt7 zeigt. Dieser Schluss fasst zusammen, was das Gedicht zuvor an den vier Beispielfällen dargestellt hat, wie der Mensch sein Irdisches überwinden und zu seiner angeborenen Göttlichkeit gelangen kann. Die bedeutende Stelle, die Herakles in Schillers Gedicht bekommt, wird verständlich, wenn man in ihm die antike Entsprechung zu Christus erkennt. Diese wird deutlich im Hinweis auf seine Erniedrigung und Knechtsgestalt und in seiner Himmelfahrt, mit der das Gedicht endet wie die Evangelien nach Markus und Lukas. Der Hinweis auf „des Lebens Traumbild“ erinnert zudem an die bildliche Darstellung in der Transfiguration von Raffael. 6
7
Zu Herkules am Scheideweg vgl. Snell, Bruno, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Hamburg 31955, S. 324ff.; Panofsky, Erwin, Hercules am Scheidewege. Berlin, Leipzig 1930 (Studien der Bibliothek Warburg Bd. 18). – Lavater kommentiert die Darstellung der Szene bei Nicolas Poussin in: Ders., Physiognomische Fragmente (Neudruck 1968), Bd. 1, S. 125–131. Vgl. die Analyse dieser Stelle in: Staiger, Emil, Friedrich Schiller. Zürich 1967, S. 218f.
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Dass Herakles und Christus sich entsprechen, hat eine lange, auf die Spätantike zurückgehende Tradition. Diese Entsprechung betrifft die Umstände der Geburt als Kind eines Gottes und einer Sterblichen, den daraus herleitbaren Charakter als Gott-Mensch, manche Einzelheiten von beider Vita, den Gang in die Unterwelt, schließlich den gewaltsamen Tod und die Himmelfahrt. Diese Entsprechungen haben in der Religionswissenschaft zur, allerdings umstrittenen, Annahme geführt, das hypothetische, den Synoptikern vorausliegende Urevangelium habe sich bei der Erzählung des Lebens Jesu an einer Herakles-Vita orientiert.8 Ob und woher Schiller diese Tradition kannte, ist schwer zu sagen. Sie wird weder im „Hederich“ noch in der „Götterlehre“ von Karl Philipp Moritz erwähnt. Walter Rehm vermutet, sie sei ihm durch das Barockdrama vermittelt worden.9 Auf dem Hintergrund dieser Tradition der typologischen Entsprechung von Herakles und Christus kann man sagen, Schiller habe wie den Sündenfall von Adam und Eva in den der Proserpina auch Christus in einen antiken Mythos umgesetzt und damit zugleich in seiner Bedeutung verändert. Herakles ist nicht mehr der Erlöser, sondern in der Szene am Scheideweg und in Himmelfahrt und Verklärung nach irdischen Taten und Leiden so etwas wie Urbild und Vorbild des Menschen, wie das Gedicht ihn zeichnet. Wir werden später sehen, dass die in diese Antikisierung gekleidete Auffassung Christi derjenigen Lavaters sehr nahe kommt. Die vier Beispielfälle in den durch „wenn“–„aber“ verbundenen Doppelstrophen entsprechen den im Mythos erzählten Taten und Leiden des Herakles und sind typenhafte Konkretisationen des in ihm verkörperten Urbildes. Diese betreffen den Kämpfenden, den bildnerisch Gestaltenden, den Schuldiggewordenen und den Leidenden. An ihnen wird demonstriert, wie Menschen ins Leben verstrickt werden. Ihre angeborene Göttlichkeit erfahren sie dann, wenn sie Kampf, Gestaltung, Schuld und Leiden durchgestanden und hinter sich haben. Weder ihr menschliches Tun noch ihr Leiden realisiert die Göttlichkeit dieser Menschen, sondern der Zustand danach, wenn der menschliche Einsatz sich erschöpft hat und an sein Ende gekommen ist. Rettung wird ihnen erst zuteil, wenn sie davon absehen, selber, aus eigener Kraft und eigenem Leiden, etwas dazu beizutragen. Das Heil kommt jedoch in allen vier Fällen nicht von einem Erlöser, sondern von einem Wechsel ihrer eigenen Einstellung. Den „Wenn“-Strophen, die Aktivität und Leiden evozieren, wird diese Umkehr regelmäßig in einer mit einem einleitenden „Aber“ eröff8
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Diese These vertritt Pfister, Friedrich, Herakles und Christus, in: Archiv für Religionswissenschaft 1937, S. 42–60. – Abraham J. Malherbe setzt sich im umfassenden Artikel Herakles im Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 14, Sp. 559–583, kritisch damit auseinander. – Rudolf Brändle, o. Prof. für Neues Testament und Ältere Kirchengeschichte, Basel, verdanke ich wichtige Hinweise zur ganzen Problematik. Rehm, Walther, Götterstille und Göttertrauer. Bern 1951, S. 97f.; Wertheim, Ursula, „Der Menschheit Götterbild“ – Weltanschauungs- und Gattungsprobleme am Beispiel von Schillers Herakles-Rezeption, in: Braemer, Edith, Wertheim, Ursula, Studien zur deutschen Klassik. Berlin 1960, S. 311–397, zieht Das Reich der Schatten ausgiebig bei, erwähnt aber die Analogie zwischen Herakles und Christus mit keinem Wort.
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neten Antistrophe entgegengesetzt. Darin folgt auf das vorangegangene Tun und Leiden das Betrachten, dem ein freies, distanziertes Verhältnis zur Welt entspricht. So gelangt der Mensch in seine ihm angeborene Göttlichkeit, die derjenigen der Olympier in der ersten Strophe entspricht. Es sollte deutlich geworden sein, dass in Schillers Gedicht Das Reich der Schatten in antikem Gewande eine Anthropologie entwickelt wird, die Elemente der traditionell christlichen aufgreift und umdeutet. Sie basiert grundsätzlich darauf, dass der radikalen Sündhaftigkeit, die nur durch Christi Erlösungstat bzw. den Glauben daran geheilt werden kann, die Ausbildung einer im Menschen angelegten Göttlichkeit entgegengestellt wird. Damit wird die Erlösung dem Menschen in seine eigenen Möglichkeiten gelegt. Allerdings doch nicht ganz in seine Hände. Der Umsprung der Perspektive von den „Wenn“- zu den erlösenden „Aber“-Strophen ist nur bedingt seine willentliche Leistung. Er ergibt sich, wenn die Taten und Leiden aus sich an ihr Ende gelangt sind, sich in jedem Sinn des Wortes „erschöpft“ haben; „bis sein Lauf geendigt ist“, heißt es von Herakles, ehe seine Himmelfahrt beginnt. Man kann daraus einen Nachklang der lutherischen Rechtfertigungslehre heraushören, die Ablehnung alles Synergismus: „Mit unserer Kraft ist nichts getan“ – weder mit der kämpfenden noch der leidenden. Auch diese metanoia ereignet sich gnadenhaft und bleibt damit unverfügbar. Sie führt jedoch nicht zu einem Glauben, sondern zu einem grundsätzlich anderen, distanzierten, überlegenen, eben ästhetischen Weltverhältnis, in dem sich die dem Menschen bestimmte Gottähnlichkeit verwirklicht, wie es in der dritten Strophe heißt: „An dem Scheine mag der Blick sich weiden“.
II. Es ist nun auffallend, wie nahe Schillers Konzept in diesem Gedicht in mancher Hinsicht den Vorstellungen kommt, die Lavater etwa 20 Jahre früher in seinen Aussichten in die Ewigkeit10 (1768–1773) entwickelt hatte. Lavater war reformierter Pfarrer, damals Helfer am Zürcher Waisenhaus. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, und er hätte es sich auch in keiner Weise leisten können, in einer andern als der auf der Bibel basierenden Sprache zu sprechen, und er insistierte auch seinen Lebtag mit fast schon verdächtigem Eifer auf der Bibelgemäßheit seiner Anschauungen. Es gelang ihm jedoch, in der Hülle, um nicht zu sagen unter dem Deckmantel biblischer Vorstellungen und Begriffe, eine ganz eigene, eigentlich ketzerische Anthropologie und Christologie zu entwickeln. Lavaters Physiognomischen Fragmenten steht als Motto voran „Gott schuf den Menschen sich zum Bilde“ (Gen. 1,27), und die Einleitung bilden die Ausführun10
Lavater, Johann Caspar, Aussichten in die Ewigkeit, in: Ders., Ausgewählte Werke. Bd. 2, hg. v. Ursula Caflisch. Zürich 2001.
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gen darüber in Herders Schrift Die älteste Urkunde des Menschengeschlechtes.11 Für Lavater ist der Mensch zur Gottähnlichkeit bestimmt und daraufhin angelegt; der Sündenfall habe daran nichts ändern können, sondern diese göttliche Anlage nur vorübergehend getrübt. So kann er in den Aussichten in die Ewigkeit schreiben: Es wäre keine so grosse Hyperbol, auch izt noch den Menschen ein Bild Gottes zu nennen, indem der Mensch seiner ursprünglichen Natur, und der innern Anlage nach, immer noch eine Copie des Sohnes GOttes wäre; eben so wie ein bestaubtes, in einen Winkel gestelltes Gemählde, immer noch eine sehr gute Copie eines vortrefflichen Urbildes seyn, und in einem buchstäblichen Sinn heissen kann. Unser Leib sey also noch so bestaubt, noch so sehr mit animalischen heterogenischen Theilen beschwert; er sey ein noch so grosses Hinderniß der Entwickelung der Seelenkräfte; man sehe uns beynahe nicht mehr an, daß wir göttlichen Geschlechtes sind; wir sind es doch und wir werden es in alle Ewigkeit bleiben!12
Das ist eine klare Bagatellisierung des Sündenfalls, fast bis zur völligen Leugnung. Mindestens stellt dieser kein unüberwindliches, nur durch Hilfe von außen zu beseitigendes Hemmnis davor dar, dass der Mensch seine Göttlichkeit, und das heißt für Lavater: seine Christusähnlichkeit, zurückerlangen kann. Christus ist für Lavater nur insofern der Erlöser, als er das Urbild des Menschen ist, das jeder und jede keimhaft in sich trägt und zu verwirklichen hat. Die biblischen Erzählungen machen das Urbild Christus zugleich zum Vorbild. An ihn zu glauben und ihm nachzueifern, ist für jeden Einzelnen, ob Mann oder Frau, der Weg, in sich die eigene angeborene Christusähnlichkeit bzw. Göttlichkeit auszubilden. In Lavaters früherem Bilde gesprochen: Der Glauben an Christus ist das Mittel, den Staub von der Copie wegzublasen, d.h. die eigene Christusähnlichkeit zu verwirklichen. Diese würde nach Lavater darin bestehen, dass der einzelne Mensch Christus „gleichförmig“ wird, was bedeutet, dass er wirkungsvoll predigen, „erhörlich“ beten und sogar Wunder tun kann. Ansatzweise kann das schon auf dieser Welt geschehen, wird aber vollends in einem Jenseits verwirklicht werden. Lavaters Leitspruch war „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matth. 5,48). Es sollte klar geworden sein, worin sich Lavaters Konzept, das er in den Aussichten in die Ewigkeit darlegt, und Schillers Anthropologie im Gedicht Das Reich der Schatten nahekommen. Beide rechnen mit einer göttlichen Anlage im Menschen, die zwar verschüttet ist, aber ebenso reaktiviert und bis zur Gottähnlichkeit ausgebildet werden kann. Die Figuren, die traditionellerweise Göttliches und Menschliches in sich vereinigen, Christus und Herakles als seine antike Entsprechung, sind nicht Erlöser im Sinne der traditionellen Dogmatik, sondern verstanden als Urbild des Menschen und damit Vorbild dessen, was jedem Einzelnen möglich ist; darauf hat sich ihre Erlösungsfunktion reduziert. Lavater und Schiller entfalten beide je eine Antwort auf die Frage: „Wollt ihr schon auf Erden Göttern 11 12
Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniss und Menschenliebe. Leipzig, Winterthur 1775 (Faksimiledruck Zürich 1968), Bd. 1, S. 3–6. Lavater, Aussichten, (wie Anm. 10), S. 257f.
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gleichen?“, der ältere unter eigenwilliger Verwendung biblischer, genauer neutestamentlicher Vorstellungen, der jüngere in antikisierendem Gewand, durch das aber Christlich-Lutherisches noch erkennbar hindurchscheint.
III. Jene, die ihre Göttlichkeit realisiert haben, nennt Schillers Gedichttitel „Schatten“. Das erwies sich als missverständlich. In Berlin, berichtete ihm Humboldt, verstehe man das „Reich der Schatten“ als Totenreich.13 Die siebte Strophe betont jedoch ausdrücklich, dass der Mensch „hier“, also auf Erden, sein könne, was er vor seiner Erschaffung war und nach seinem Tode „am Stygeschen Strome“ sein werde. Das eingetretene Missverständnis bewog Schiller dazu, später den Titel zu ändern, erst in Das Reich der Formen und endgültig in Das Ideal und das Leben. Mit dieser terminologischen Klärung fiel freilich die sachgerechte Zweideutigkeit von „Schatten“ dahin, was in Schillers Sprachgebrauch sowohl den Zustand nach dem Tode als auch „Gestalt“ bedeuten kann. Das terminologische spiegelt das sachliche Problem, wie man sich denn die auf Erden erlangte Göttlichkeit des Menschen vorzustellen habe. Eine begriffliche Antwort enthält die vierte Strophe mit der Entgegensetzung von „Körper“ und „Gestalt“. Soweit der Mensch Körper ist, ist er äußeren Mächten ausgeliefert, somit unfrei, heteronom, ein Sklave. „Gestalt“ meint dagegen den einzelnen Menschen, der gegenüber den äußeren Mächten innerlich frei geworden ist, autonom. Dass dieser Zustand „Gestalt“ heißt, weist jedoch darauf, dass er nicht nur geistig, innerlich ist, sondern sich verwandelnd auch auf den Körper auswirkt und äußerlich sichtbar wird, als Schönheit. Die auf Erden erreichte Göttlichkeit manifestiert sich am Menschen als Schönheit. Eingehende Untersuchungen von Schillers Wortgebrauch haben denn auch ergeben, dass „Schatten“, „Gestalt“ und „ästhetisches Ideal“ synonym sein können, auch wenn das nicht durchgehend so ist.14 Man kann sich „Das Reich der Schatten“ am ehesten als Versammlung von schönen antiken Statuen vorstellen, wie sie die deutschen Gebildeten seit Winckelmann vor Augen hatten und Schiller sie im Mannheimer Antikensaal vorgefunden hatte.15 Die vier „Wenn“-„Aber“-Strophenpaare illustrieren mit konkreten antikisierenden Beispielen, wie man „Gestalt“ wird, und zwar von zwei Seiten her. Der Wagen13 14 15
Am 13. November 1795, zit. nach NA 2IIA, S. 244. Wernly, Julia, Prolegomena zu einem Lexikon der ästhetisch-ethischen Terminologie Friedrich Schillers. Diss. Leipzig 1909. Vgl. Kaiser, Gerhard, Idee oder Körper. Zu Schillers und Goethes Rezeptionsweise antiker Plastik, in: Ehrich-Haefeli, Verena, Schrader, Hans-Jürgen, Stern, Martin (Hg.), Antiquitates Renatae. Deutsche und französische Beiträge zur Wirkung der Antike in der europäischen Literatur. Festschrift für Renate Böschenstein. Würzburg 1998, S. 171f.
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lenker und der an Pygmalion gemahnende Bildhauer haben ihren Ausgangspunkt in der Selbstbeherrschung bzw. Naturunterwerfung. Beide werden „Gestalt“, wenn sie darauf Verzicht leisten, zu kämpfen bzw. das Material zu bearbeiten, und sich danach gewissermaßen zurücklehnen und in sich ruhen. Der Bildhauer wird dabei selbst zum Bild. Die beiden anderen Exempel, der von Erynnien Verfolgte, der an Orest denken lässt, und der von Schlangen umwundene Laokoon dagegen, d.h. der von Gewissensbissen Geplagte und der körperlich unaussprechlich Leidende, kommen von der entgegengesetzten Seite her. Sie erlangen Distanz zu den inneren und äußeren Mächten, die sie bedrängten und denen sie unterlegen waren, und gewinnen damit ebenfalls Freiheit, die sich an ihnen als Schönheit zeigt. An der vieldiskutierten Laokoon-Plastik wird das besonders deutlich. Die mit diesem Übergang einhergehende Erleichterung und Entlastung wird in allen vier Beispielfällen durch die sprachliche Gestaltung der „Aber“-Strophen spürbar auf den Leser übertragen. Die Vergöttlichung ergibt sich somit in allen diesen Beispielfällen durch eine metanoia, genauer einen Perspektivenumsprung: Aus der durchgestandenen, aktiven oder passiven Teilnahme an der Wirklichkeit wird distanzierte Betrachtung, und wie in dieser das Betrachtete als schön erscheint, wird der Betrachtende seinerseits in sichtbarer Weise schön. „Ästhetischer Zustand“ heißt bekanntlich andernorts bei Schiller, was hier als erlangte Göttlichkeit beschrieben wird. Dabei ist die Doppeldeutigkeit von „ästhetisch“ mit gemeint: subjektiv und objektiv, innerlich und äußerlich, betrachtend und schön sind eins.
IV. Die Anfangszeilen von Schillers Gedicht, die eine Stelle der Odyssee (Od. VI, V. 41ff.) zitieren, könnten auch Lavaters Aussichten in die Ewigkeit als Motto dienen, wenn man vom Hinweis auf den Olymp absieht. Auch bei ihm geht es um den Zustand der „Seligen“, nun aber, im christlichen Sinn, der Verstorbenen. Ihr Ort ist nicht wie der Olymp räumlich von der Gegenwart entfernt, sondern zeitlich, als ein künftiges Jenseits. Grundlegend ist für Lavaters Konzeption die Bibelstelle über eine erste Auferstehung derer, die im Leben Christuszeugen waren: „Selig ist der und heilig, der teilhat an der ersten Auferstehung; über solche hat der Tod keine Macht, sondern sie werden Priester Gottes und Christi sein, und mit ihm regieren tausend Jahre.“ (Apok. 20,6) In den drei Bänden der Aussichten in die Ewigkeit unternimmt es Lavater, den Zustand der Seligen in diesem „tausendjährigen Reich“ in allen Aspekten auszumalen. Die „Wahrscheinlichkeit“ seiner Schilderung sucht er mit Bibelstellen und Naturanalogien zu beglaubigen, ohne freilich das grundsätzlich Hypothetische seiner Schilderung zu verheimlichen. Der Wahrheitsanspruch wird auch dadurch gemildert, dass Lavater seine Vermutungen als stoffliche Vorarbeit für eine spätere poetische Gestaltung in einem Gedicht klopstock-
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scher Art vorbringt und als Briefe an den Arzt Johann Georg Zimmermann adressiert. Dennoch insistiert Lavater immer wieder auf der Glaubhaftigkeit seines Gemäldes vom Zustand der Seligen der ersten Auferstehung. Wie Schillers „Schatten“ am vergöttlichten Herakles, so haben Lavaters Erstauferstandene am verklärten Christus ihr Modell. Dieses Prinzip formuliert Lavater folgendermaßen: Christus ist in jedem Sinne das Urbild der Vollkommenheit der menschlichen Natur; – das Ziel der höchsten, der menschlichen Natur erreichbaren, Tugend und Glückseligkeit. Die ganze Religion des Christenthums ist eigentlich der einzige Gedanke: Wer Jesus gleich heilig ist, wird Jesus gleich selig. Jesus hat in seiner Person gezeigt, zu welchem Grade von Glükseligkeit sich der Mensch durch unverbrüchlichen Glauben und Gehorsam gegen Gott emporschwingen könne.16
Aus der verwirklichten Gleichförmigkeit der Seligen mit dem verklärten Christus, wie er im Neuen Testament geschildert wird, entwickelt Lavater die Einzelheiten des Daseins der seligen Erstauferstandenen. Sie sind nicht nur Geistwesen, sondern haben auch einen Körper, wie auch Lavater gelegentlich sagt, eine „Gestalt“. Diese lässt noch die individuellen Gesichtszüge des Lebenden erkennen, aber in verschönter Form. Dass auch Lavater Werke der Malerei und Bildhauerei vor Augen hat, zeigt die Bemerkung: Die ganze menschliche Gestalt ist einer solchen unendlichen Verschönerung fähig, ohne eine wesentliche Veränderung zu leiden, daß ich mir beynahe nichts schöners denken kann, als einen Engel von Guido (Reni) oder einen antiken Apoll; obwol auch diese noch schlechte Copien der schönsten menschlichen Schönheit seyn müssen.17
Kommt Lavater hier für einen Moment Schillers „der Schönheit Schattenreich“ nahe, so lässt das seine Phantasie alsbald hinter sich, wenn er sich den verklärten schönen Leib als reinen Lichtleib vorstellt und erst noch als einen, der keine feste Gestalt, sondern „Gestaltsamkeit“18 hat, die es ihm gestattet, sich je nach dem Willen des Individuums auszudehnen oder zusammenzuziehen. Die Kommunikation zwischen diesen Lichtleibern wird denn auch nach Lavater ohne Worte, durch Auge und Lichtstrahlen erfolgen. Die physiognomische Sprache ist davon die blasse, irdische Vorform, die dazu dient, „itzo schon“ die Sprache des Himmels einzuüben, ein Gedanke, der ursprünglich von Swedenborg stammt.19 Wenn wir die Aussichten heute lesen, fühlen wir uns an science fiction erinnert, in der die menschlichen Vermögen ins Abenteuerliche gesteigert werden. Bei Lavater stehen diese Übersteigerungen und Überschreitungen alles hienieden Möglichen im Dienst der Illustration der Gleichförmigkeit mit dem verklärten Christus, 16 17
18 19
Lavater, Aussichten, (wie Anm. 10), S. 160. Lavater, Aussichten, (wie Anm. 10), S. 300. In den Physiognomischen Fragmenten steht das Interesse an Verschönerungen des Gesichts im Vordergrund, in denen sich die innere, moralisch-intellektuelle Schönheit spiegelt. Maßstab der Beurteilung ist dabei für Lavater ein imaginäres Christusporträt. Lavater, Aussichten, (wie Anm. 10), S. 298. Diesen Hinweis verdanke ich, neben zahlreichen weiteren Anregungen, Martin Stern.
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die den Erstauferstandenen im Jenseits zuteil werden wird. Dabei spielt mit, dass für Lavater letztlich die ersten beiden Personen der Trinität identisch sind; wie für Klopstock ist auch für ihn Christus der Schöpfer. Von Schiller her gesehen ist die Autonomie der Seligen total, sie findet weder am eigenen Körper noch an einer Außenwelt einen Widerstand. An einer der wenigen Stellen, die Lavater versifiziert hat, heißt es: Ich leite selber tausend Welten, Mit Einem Wink, wohin ich will; Und plötzlich stehen auf mein Schelten Die rollenden Systeme still! Leicht ist es, sie im Kreis zu führen, – Mir, der ich Geister selbst regieren, Und ihre Cörper bilden kann. Ich zünde hunderttausend Sonnen, Die auf mein Wort zusammenronnen, So leicht, wie eine Kerze, an. Ich baue Welten, und zernichte Den Bau nach vieler Zeiten Lauf; Sie brennen aus, und ich, ich richte Sie neu aus ihren Aschen auf. […] Ich dränge immer neue Sphären In mein unendlich Fürstenthum, Die ich verwandle und versetze, Bis mir mein ganzer Plan gelingt; So leicht ich einen Vers versetze, Bis er dem Ohr harmonisch klingt.20
Die Allmachtsphantasie, die da einem künftigen Seligen des Milleniums in den Mund gelegt ist, mündet in den Topos „poeta alter Deus“ und macht damit für diesen Moment den Dichtenden resp. den sein Gedicht konzipierenden Lavater selbst zum Analogon künftiger, seliger Christusgleichförmigkeit. Es bedarf keines Wortes darüber, wie weit diese Konzeption der Gottgleichheit von Schillers ästhetischem Zustand entfernt ist. Auch lässt Lavaters verklärter Christus als Vorbild der Seligen Schillers auf dem Olymp von Hebe empfangenen Herakles weit hinter sich. Kommt dazu, dass die Seligen bei Lavater anders als bei Schiller intensiv auf einander bezogen sind, miteinander kommunizieren und eine ideale Gemeinschaft bilden. Sie haben auch eine Aufgabe, nämlich diejenige, die zweite und endgültige Auferstehung vorzubereiten. Schillers „ästhetischer Zustand“ bleibt im Vergleich damit individuell, auf isolierte Einzelne bezogen.21 20 21
Lavater, Aussichten, (wie Anm. 10), S. 336. Goethe hat den dritten Teil der Aussichten in die Ewigkeit in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen rezensiert, noch bevor er Lavater persönlich kennengelernt hatte. Er zog nicht das ganze Unternehmen in Zweifel, stieß sich jedoch daran, daß Lavaters Visionen nur gedacht und nicht wirklich geschaut seien wie diejenigen Swedenborgs. Fischer-Lamberg, Hanna (Hg.), Der junge Goethe. Bd. III. Berlin 1966, S. 88–91. – Dass Lavater ein „artifex“ und kein „vates“ war, hatte er mit Schiller gemein.
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V. Lavater deklarierte seine Aussichten in die Ewigkeit als gedankliche Vorbereitung eines Gedichts in klopstockschem Stil über dieses Thema. Dieses sollte mehr als ein Lehrgedicht über diesen Gegenstand sein. Er zitiert zustimmend aus Klopstocks Aufsatz Von der heiligen Poesie: Der Poet, den wir meinen, muß uns über unsere kurzsichtige Art zu denken erheben, und uns dem Strome entreissen, mit dem wir fortgezogen werden. Er muß uns mächtig daran erinnern, daß wir unsterblich sind, und auch schon in diesem Leben viel glückseliger sein könnten. – Der Mensch auf diese Höhe geführt, und in diesem Gesichtspunkt angesehen, ist der eigentliche Zuhörer, den die Poesie verlangt.22
Das heißt nichts Geringeres, als dass das von Lavater geplante Gedicht bei Lesern und Hörern augenblickshaft bewirken sollte, wovon es spricht. Dadurch soll „itzo schon“, wie Lavaters wiederholte Formel lautet, etwas von der erwarteten Seligkeit verwirklicht oder mindestens der heftige Wunsch danach erzeugt werden, was die gläubige Hinwendung zu Christus befördern würde. Auch Schiller verstand sein philosophisches Gedicht Das Reich der Schatten als Vorarbeit zu einem erst noch zu schreibenden, das er Humboldt gegenüber folgendermaßen charakterisiert: Ich habe ernstlich im Sinn, da fortzufahren, wo das „Reich der Schatten“ aufhört, aber darstellend und nicht lehrend. Herkules ist in den Olymp eingetreten, hier endigt letzteres Gedicht. Die Vermählung des Herkules mit der Hebe würde der Inhalt meiner Idylle sein. […] Denken Sie sich aber den Genuß, lieber Freund, in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen – keine Schatten, keine Schranke, nichts von dem allem mehr zu sehen. – Mir schwindelt ordentlich, wenn ich an diese Aufgabe – wenn ich an die Möglichkeit ihrer Auflösung denke. Eine Szene im Olymp darzustellen, welcher höchste aller Genüsse! Ich verzweifle nicht ganz daran, wenn mein Gemüt nur erst ganz frei und von allem Unrat der Wirklichkeit recht rein gewaschen ist: Ich nehme dann meine ganze Kraft und den ganzen, ätherischen Teil meiner Natur noch auf einmal zusammen, wenn er auch bei dieser Gelegenheit rein sollte aufgebraucht werden. [am 30. November 1795].23
So sehr weit ist dieser Entwurf einer Idylle, wie mir scheint, von dem, was Lavater vorhatte, nicht entfernt, übrigens auch nicht im emphatischen Ton, wenn man vom Unterschied antik-christlich absieht. Unter der Hand aber geht in Schillers Plan das, was die Darstellung kennzeichnen soll, die Aufhebung aller aktiven und passiven Naturabhängigkeit, vom Inhalt des Gedichts auf die Voraussetzung im Dichter über. Er müsste selber zur „Gestalt“ im geschilderten Sinne werden. Schillers Leseanleitung an Humboldt für sein Gedicht Das Reich der Schatten beruht auf ähnlichen Voraussetzungen, nun aber im Hinblick auf die Rezeption. Er schrieb im Begleitbrief zu diesem Gedicht: 22 23
Lavater, Aussichten, (wie Anm. 10), S. 149. Seidel, Siegfried (Hg.), Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt. Berlin 1962, Bd. 1, S. 242f.
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Wenn Sie diesen Brief erhalten, liebster Freund, so entfernen sie alles, was profan ist, und lesen in geweihter Stille dieses Gedicht. Haben Sie es gelesen, so schliessen sie sich mit der Li (Humboldts Frau Caroline) ein und lesen es ihr vor. Es tut mir leid, daß ich es nicht selber kann [am 9. August 1795].24
Das Gedicht ist ja als eine große Paränese angelegt. Schiller versprach sich offensichtlich bereits davon eine erhebende Wirkung auf die Freunde. Humboldts Reaktion war zwar enthusiastisch, aber sie entsprach wohl doch nicht ganz Schillers Erwartungen. Er lobte daran nicht das im besten Sinn des Wortes Erbauliche, sondern das Genie seines Autors. Das weitere Briefgespräch darüber befasst sich dann mit der Beurteilung einzelner Stellen. Man gewinnt den Eindruck, die Epoche von Klopstocks „Heiliger Poesie“, die auf Erbauung zielte, zu der auch Schillers Gedicht noch gehörte, gehe in diesem Briefgespräch zu Ende und weiche einer veränderten, in der die Autorschaft und das Urteil des sachlichen Kunstverstandes dominierten, womit das Interesse am Was durch das am Wie des Gedichts abgelöst wurde. Anders gesagt: Die erbauliche Wirkung wird bei Humboldt von der kunstverständigen, ästhetischen Beurteilung abgelöst.
VI. Zwischen Lavaters Aussichten in die Ewigkeit und Schillers Das Reich der Schatten liegt die Französische Revolution. Lavater hatte bei ihrem Ausbruch für einen kurzen Moment geglaubt, sein Millenium breche an, seine ideale Gemeinschaft einer Elite der christusähnlichen Erstauferstandenen werde Wirklichkeit. Die Erfahrung machte ihn bald schon zum unerschrockenen Revolutionskritiker. Schillers Konzept des ästhetischen Zustandes des Einzelnen gehört bekanntlich zum antirevolutionären Weimarer Gegenkonzept des „ästhetischen Staates“, der über den ästhetischen Zustand Einzelner zustandekommen könne. Die herausgestellten Gemeinsamkeiten in Lavaters Aussichten und Schillers Das Reich der Schatten hängen wohl letztlich damit zusammen, dass beiden Werken die neuzeitliche, im 18. Jahrhundert allgemein werdende Hoffnung auf die perfectibilité des einzelnen Menschen und der Menschheit als Gattung zu Grunde liegt. Diese Hoffnung widersprach der orthodoxen, christlichen Auffassung von der grundsätzlichen Sündhaftigkeit des Menschen, die nur durch die Erlösungstat Christi und erst im Jenseits geheilt werden könne. Lavater suchte den Gedanken der perfectibilité des Menschen in Einklang mit der christlichen Tradition zu bringen, indem er sich, auf höchst eigenwillige, schließlich doch nur notdürftige Weise, an die biblische Sprechweise und Vorstellungswelt hielt und Christus umdachte zum Urbild und Vorbild der auch ästhetischen Vervollkommnung des Einzelnen und der Gattung. Schiller deutete durch die Wahl einer antikisierenden 24
Ebd., S. 80.
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Sprach- und Bilderwelt das grundsätzlich vom christlichen Abweichende und Neue des Vervollkommnungskonzepts an, in Abweichung von seiner späteren Gleichsetzung von antik und naiv. Dabei konnte er sich allerdings nicht völlig von der christlichen Denk- und Vorstellungswelt lösen, wie die Ersetzung von Christus durch Herakles und das Motiv der metanoia zeigen. – Wie gewaltig die gedankliche Schubkraft der perfectibilité war, lässt sich daran ermessen, dass in beiden Werken der Tod ihr nicht nur keine Grenze setzt, sondern, in Herakles und Christus, gerade zum Modell der Vervollkommnung des Einzelnen wird.25 In dieser Hoffnung haben wohl die aufgezeigten Berührungspunkte zwischen ihnen ihren tiefsten Grund.
25
Kaiser, Gerhard, Vergötterung und Tod. Die thematische Einheit von Schillers Werk. Stuttgart 1967, stellt diesen Gesichtspunkt ins Zentrum, wobei allerdings primär an das Abschließende des Todes gedacht wird. Zu Das Reich der Schatten vgl. ebd., S. 33f.
BERND AUEROCHS
Was ist eigentlich Kunstreligion? Reflexionen zu einem Phantasma um 1800
Was ist eigentlich Kunstreligion? Man muss diese Frage nicht als Frage nach dem Wesen der Kunstreligion verstehen. Franz Rosenzweig hat einst, in seinem Versuch, ein „neues Denken“ zu begründen, darauf hingewiesen, dass die Philosophie von ihren Anfängen her, seit den Zeiten, da sie behauptete, die Welt sei im Grunde Wasser, von der Leidenschaft der Rückführung der Dinge auf etwas anderes geprägt sei. Alle Philosophie frug nach dem ‚Wesen‘. Es ist diese Frage, mit der sie sich vom unphilosophischen Denken des gesunden Menschenverstands scheidet. Der nämlich fragt nicht, was ein Ding ‚eigentlich‘ sei. Es genügt ihm zu wissen, daß ein Stuhl ein Stuhl ist; er fragt nicht, ob er etwa eigentlich ganz etwas andres wäre. Eben dies fragt Philosophie, wenn sie nach dem Wesen fragt. Die Welt darf beileibe nicht Welt sein, Gott beileibe nicht Gott, der Mensch beileibe kein Mensch, sondern alle müssen ‚eigentlich‘ etwas andres sein.1
Gäbe es nur diese Möglichkeit, Fragen der Form „Was ist eigentlich x?“ zu stellen, so müsste jeder, der eine Antwort auf solche Fragen versuchte, gekommen sein, um Geheimnisse auszupacken, die landläufigen falschen Vorstellungen von dem, was x sei, auszuräumen und die endlich gefundene Wahrheit an ihre Stelle zu setzen. Indes gibt es noch eine andere Möglichkeit, die Frage zu verstehen. 1974 veröffentlichte Donald Davidson einen Aufsatz, der schon bald zu einem der Klassiker der analytischen Philosophie werden sollte; er trug den Titel On The Very Idea of a Conceptual Scheme2 Der deutsche Übersetzer Davidsons, Joachim Schulte, umging elegant das Problem, für das schwierige „very“ in diesem Titel ein direktes deutsches Äquivalent zu finden; er stellte den ganzen Satzbau um, im Deutschen trägt Davidsons Text seither den Titel Was ist eigentlich ein Begriffsschema?3 So formidentisch mit jener Frage, der Rosenzweig Vorwürfe machte, dies auch klingt, befinden wir uns hier doch in einer ganz anderen Landschaft des Geistes. Das Pathos der Wesensfrage hat sich in einen durchaus kolloquial klingenden, mit 1 2
3
Rosenzweig, Franz, Das neue Denken, in: Ders., Zweistromland [1926]. Berlin, Wien 2001, S. 210−234, hier S. 214. Davidson, Donald, On the Very Idea of a Conceptual Scheme, in: Ders., Inquiries into Truth and Interpretation. Oxford 1984, S. 183−198 (erstveröffentlicht 1974 in den Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association). Davidson, Donald, Was ist eigentlich ein Begriffsschema?, in: Ders., Wahrheit und Interpretation. Übers. v. Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 1986, S. 261−282.
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leichter Verwunderung gefärbten Wunsch nach Auskunft verwandelt – Auskunft über einen Terminus, den wir zwar immer schon im Munde führen, über den noch einmal nachzudenken sich aber trotzdem lohnen könnte. Und während der Frage, was „eigentlich“ Kunstreligion sei (im Unterschied zu dem, was sie nur scheinbar, nur an der Oberfläche sei), gewiss nur eine sehr tiefe, sehr schwere Abhandlung wahrhaft entsprechen könnte, lässt einem die kolloquiale Formulierung des Übersetzers Davidsons immerhin die Hoffnung, es könnte mit einer befriedigenden Antwort vielleicht auch knapper klappen – und sei es im Rahmen eines kurzen Aufsatzes. Lassen wir es auf den Versuch ankommen.4
I. Die Geschichte des Worts „Kunstreligion“ hilft einem in unserem Fall nicht wirklich weiter – ein kurzer Seitenblick auf sie muss trotzdem sein, da sie in die Problematik der Kunstreligion zumindest hineinführen kann. Wir begegnen dem Begriff zunächst bei Schleiermacher, in der dritten Rede Über die Religion, an einer merkwürdigen Stelle, in der er dem Phänomen gleich die Relevanz, wenn nicht gar die Existenz abzustreiten scheint. Schleiermacher sortiert an dieser Stelle historische Religionen nach dem Kriterium, ob sie mehr – wie etwa der „uralte morgenländische Mysticismus“ – sich von der „abgezogensten Selbstanschauung“ herschreiben oder sich in ausgebreiteter Weltanschauung gefielen – wie etwa das „vielgöttrige Egypten“. Beiden Typen von Religion habe der „Kunstsinn“ gute Dienste geleistet, er habe die Funktion erfüllt, „sie mit neuer Schönheit und Heiligkeit zu überschütten und ihre ursprüngliche Beschränktheit zu mildern“. Von einer „Kunstreligion“ hingegen, „die Völker und Zeitalter beherrscht hatte“ – also offenbar einem Typus von Religion, bei dem die Kunst sich nicht mit einer dienenden Rolle begnügte, sondern selbst im Zentrum der Religion stand –, behauptet der Redner über die Religion, „nie etwas vernommen“ zu haben.5 Diese Distanzierung von „Kunstreligion“, die auch aus einigen anderen Stellen der Reden her4
5
Eine eingehende Behandlung des Themas Kunstreligion außerhalb von Spezialstudien zu einzelnen Autoren (etwa zu Wackenroder oder anderen) ist immer noch selten, obwohl das Thema häufig gestreift wird. Wenig brauchbar ist Alois Halders Artikel ‚Kunstreligion‘ im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Bd. 4 [1976], Sp. 1458−1459). Knappe, gediegene (und nicht nur auf Schleiermacher beschränkte) Auskunft erhält man hingegen bei Scholtz, Gunter, Schleiermacher und die Kunstreligion, in: Barth, Ulrich, Osthövener, Claus-Dieter (Hg.), 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘. Akten des 1. Internationalen Kongresses der SchleiermacherGesellschaft Halle 14. –17. März 1999. Berlin, New York 2000, S. 515−533. Vgl. neuerdings: Müller, Ernst, Ästhetische Religiosität und Kunstreligion, in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004.Vgl. auch: Auerochs, Bernd, Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 (Palaestra, Bd. 323). Alle Zitate aus: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Ueber die Religion. Berlin 1799, S. 168 (= Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe. 1. Abt., Bd. 2, hg. v. Günter Meckenstock, S. 262).
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vorschaut, scheint Novalis bei seiner enthusiasmierten Lektüre des Textes überlesen zu haben; jedenfalls notiert er geradezu, Schleiermacher würde in den Reden eine Art „Kunstreligion“ verkündigen.6 Wenige Jahre später, 1804, die heroischen Jahre der Frühromantik liegen bereits etwas zurück, wird „Kunstreligion“ bereits wie etwas Bekanntes behandelt. Klingemann urteilt in seinen Nachtwachen. Von Bonaventura über „Kunstreligion“ als ein dubioses Gegenwartsphänomen, zu dem man offenbar herablassend-spöttisch Stellung nehmen muss: „Die Alten sangen Hymnen und Äschylus und Sophokles dichteten ihre Chöre zum Lobe der Götter; unsere moderne Kunstreligion betet in Kritiken, und hat die Andacht im Kopfe, wie echt Religiöse im Herzen.“7 Ist Kunstreligion also eine moderne Parodie heidnisch-antiker Frömmigkeit? Bei Hegel, wieder drei Jahre später, in der Phänomenologie des Geistes, ist Kunstreligion dann gleich ganz auf das klassische Griechenland bezogen.8 Die sich bei Hegel schon relativ früh – im Grunde schon in der Differenzschrift – herausbildende Überzeugung, für die Modernen könne die Kunst nicht mehr das Höchste sein (sondern eben die Philosophie), hat hier zu der Konsequenz geführt, Kunstreligion nur als vergangene historische Geistesstufe zu thematisieren.9 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts stabilisiert sich der Begriff dann als eine Bezeichnung für ein goethezeitliches Phänomen, das im Kern auf den Gedanken des Religionsersatzes verweist. Für Eichendorff – in seiner Geschichte des deutschen Romans des 18. Jahrhunderts – ist etwa Kunstreligion eine von mehreren aus der Aufklärung hervorgehenden Entwicklungen, die in der gemeinsamen „Feindschaft gegen das Christentum“ übereinkommen: Der durchgehende, bewußtlose oder absichtlich täuschende, keck vortretende oder verschämt verschleiernde Charakterzug aller dieser Verwandlungen aber ist die Feindschaft gegen das Christentum und alle positive Religion, und die Unermüdlichkeit sonach, dafür allerlei Surrogate zu erfinden. So kamen nach- und nebeneinander der Kosmopolitismus auf, die Philanthropie, Humanität, Toleranz, natürliche Religion, Religion der Empfindsamkeit, Kunstreligion, Vernunftreligion u.s.w.10
6
7 8 9
10
„Schleyermacher hat Eine Art von Liebe, von Religion verkündigt – Eine Kunstreligion – beynah eine R[eligion] wie die des Künstlers, der die Schönheit und das Ideal verehrt.“ (Novalis, Schriften. Begründet v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. Hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz. Stuttgart u.a. 1960ff. Bd. 3, S. 562 [= Fragmente und Studien 1799−1800, Nr. 48]) Nachtwachen. Von Bonaventura [1804], hg. v. Wolfgang Paulsen. Stuttgart 1974, S. 109. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1969−71. Bd. 3, S. 512ff. Vgl. dazu Jaeschke, Walter, Kunst und Religion, in: Graf, Friedrich Wilhelm u. Wagner, Falk (Hg.), Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie. Stuttgart 1982, S. 163−195, insb. S. 179ff. Eichendorff, Joseph von, Der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum [1851], in: Ders., Werke, hg. v. Wolfgang Frühwald u.a., Frankfurt a.M. 1985−1993, Bd. 6, S. 456.
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Als Dichter, bei dem er ganz konkret Kunstreligion vermutet, nennt Eichendorff keinen Romantiker, sondern – Goethe. Auf Goethe rekurriert auch – wieder einige Jahrzehnte später – Ernst Troeltsch. Er sieht nun allerdings bereits Kunstreligion ganz vorwiegend im Kreis der Frühromantiker angesiedelt, dessen Position er als den „ästhetischen Pantheismus der damaligen deutschen Literaturblüte, wie sie in einer von Goethe erregten schmalen Bildungsschicht berauschend wirkte“, charakterisiert. Troeltschs Resümee ist eher ernüchternd: „Es ist eine phantastisch-rhetorische Utopie, die Wiedergeburt der Welt durch Kunstreligion.“11 So mager diese wenigen Belege aus der Wortgeschichte erscheinen mögen, und so sehr sie divergierende Bedeutungsrichtungen anzeigen, lässt sich dieser kleinen Sammlung doch auch Gemeinsames entnehmen. Zum einen wird Kunstreligion als Ersatzreligion bestimmt, die – wie auch immer – den Anspruch erhebt, an die Stelle traditioneller Religion zu treten. Zum anderen tritt bemerkenswert häufig die Einschätzung zu Tage, es habe nichts weiter auf sich mit Kunstreligion, „eigentlich“ sei sie ein Phantasma. Wenig verrät die Wortgeschichte hingegen von der intellektuellen Energie, mit der um 1800 eine neue Religion, die sehr viel mit Kunst und Literatur zu tun haben sollte, als Programm entworfen und bedacht wurde. Ein wichtiges Zentrum dieser Gedankenspiele bildet nun in der Tat der Schlegelkreis, so dass das Beiwort, mit dem man den Begriff Kunstreligion am häufigsten versehen hat (nämlich: romantisch) durchaus gerechtfertigt ist. Verlassen wir jedoch jetzt die reine Wortgeschichte.
II. Gehen wir ein Jahrzehnt und mehr vor die Französische Revolution zurück, so treffen wir dort den Gedanken einer neuen Religion bereits an – bei einem Autor, der vehement gegen diesen Gedanken polemisiert. Die Gefahr einer „neuen Abiblischen Religion“12 sieht Johann Gottfried Herder vor allem bei Spalding und anderen Neologen, denen er den Vorwurf macht, sie würden sich statt an der Bibel und an der Tradition vorwiegend am dünnen Firnis des gegenwärtig modischen Schrifttums orientieren. „Gibt’s nicht Professoren der Moral auf Akademien? warum sollts nicht solcher auch, über Jesus, Seneka, Epiktet, Shaftesburi, Voltäre in Kirchen geben können?“13 Herder fürchtet die Verwässerung einer artikulierten religiösen Tradition: „Neue Religion haben wir uns schon halb ausgemacht und erfunden, warum nicht auch eine neue Bibel dieser neuen Wasser-Religion gemäß?“14 11 12 13 14
Troeltsch, Ernst, Der Historismus und seine Probleme. Tübingen 1922, S. 287. Herder, Johann Gottfried, An Prediger. Funfzehn Provinzialblätter [1774], Kap. X, in: Ders., Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold u.a. Frankfurt a.M. 1985–2000. Bd. 9/1, S. 113. Ebd., Kap. V, S. 91. Herder, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts [1774/76]. Erster Teil, Vorrede, in: Ders., (wie Anm. 12), Bd. 5, S. 183.
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Und er fürchtet den Verlust eines gemeinsamen Bodens: „Ehrendenkmal der ganzen Gesellschaft zertrümmern, damit jeder auf seinem eignen, herrlichen Misthaufen tanze – wissen sie, was sie wollen?“15 Die Französische Revolution verändert nun nachhaltig das Umfeld für den Gedanken einer neuen Religion, sie schafft günstigere Bedingungen für ihn. Die Vorstellung eines radikalen Umbruchs scheint durch die sich überschlagenden Ereignisse in Frankreich so geläufig geworden zu sein, dass es zunehmend leicht fällt, die eigenen geistigen Bemühungen für etwas Umstürzendes zu halten oder, wo man soweit nicht gehen möchte, in ihnen doch zumindest die Vorbereitung eines unerhört Neuen zu erblicken, das sich im eigenen Denken und Dichten unverkennbar ankündigt. So findet man im Schlegelkreis immer wieder Selbstbeschreibungen der einzelnen Autoren, die auf das gänzlich Neuartige des Idealismus, der romantischen Dichtungstheorie etc. rekurrieren,16 und man findet überreichlich die prophetische, orakelhafte Rede, die vom schon staunenswürdigen Jetzigen her ein nahe bevorstehendes, noch großartigeres Zeitalter interpoliert. Auf religiösem Gebiet hatte die Vorliebe für das Neue in Frankreich die Einführung eines Kultes der Vernunft vor sich. Dieser fand zwar rechts des Rheins wenig Anklang,17 ließ aber immerhin den Gedanken des Aufhörens oder einer radikalen Verwandlung des Christentums nicht mehr als bloße religionskritische Utopie erscheinen. Friedrich Schlegel betrachtete es im Jahr 1800 sogar als „höchste Bestimmung und Würde“ der Französischen Revolution, „daß sie das heftigste Incitament der schlummernden Religion war“,18 eben der künftigen neuen Religion, die das Christentum ablösen sollte. 15 16
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Herder, An Prediger. Kap. X, in: Ders., (wie Anm. 12), Bd. 9/1, S. 112. Einige Beispiele: „Meine Schriften“, sagt Fichte in der „Vorerinnerung“ zum Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre [1797/98], „enthalten […] etwas dem Zeitalter ganz Neues“ (Fichte, Johann Gottlieb, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Hg. v. Peter Baumanns. Hamburg 1984, S. 3). Schelling nennt den Idealismus noch 1800, in der Vorrede zum System des transzendentalen Idealismus, „ein System, welches die ganze, nicht bloß im gemeinen Leben sondern selbst in dem größten Theil der Wissenschaften herrschende Ansicht der Dinge völlig verändert und sogar umkehrt“ (Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, System des transzendentalen Idealismus, in: Ders., Sämmtliche Werke. Hg. v. K.F.A. Schelling. I. Abt., Bd. 3, S. 329). „Doch was ist nicht zu erwarten von einer Zeit“, schreibt Schleiermacher 1799, „welche so offenbar die Grenze ist zwischen zwei verschiedenen Ordnungen der Dinge!“ (Schleiermacher, Ueber die Religion, [wie Anm. 5], S. 311 [= Kritische Gesamtausgabe, S. 325]). Schlegel identifiziert im Gespräch über die Poesie „das Zeitalter“ mit dem „großen Prozeß allgemeiner Verjüngung“ (Schlegel, Friedrich, Kritische Friedrich SchlegelAusgabe. Hg. v. Ernst Behler unter Mitw. anderer Fachgelehrter. Paderborn u.a. 1958ff. Bd. 2, S. 322) usw. Gerade auch im Schlegelkreis. Repräsentativ ist A.W. Schlegels Urteil: „Das hatte man bey der französischen Revolution doch nicht ganz vergessen, daß Ideen einer sinnbildlichen Darstellung bedürfen. Allein man wollte der prosaischen Vernunft vergeblich eine neue Mythologie abzwingen; es gerieth eben so schlecht, als daß man ächten Patriotismus aus dem Eigennutz hervorzulocken gedachte“ (Schlegel, August Wilhelm, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst [Berlin 1801–1804], in: Ders., Vorlesungen über Ästhetik I. 1798–1803, hg. v. Ernst Behler. Paderborn u.a. 1989, S. 521). Schlegel, Ideen 94, (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 265. – Vgl. auch Schlegels Brief an August Wilhelm Schlegel v. 7. Mai 1799 (Schlegel, [wie Anm. 16], Bd. 24, S. 284).
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Unter denjenigen, die in den neunziger Jahren von Kant und Fichte herkommen, wird weitgehend die Meinung geteilt, dass alles, was als neue Religion in Frage kommen könnte, sich von der neuen Philosophie des Idealismus her zu beglaubigen habe und von ihr inspiriert sein müsse. „Ich werde nur ganz bescheiden darthun“, schreibt etwa Friedrich Schlegel 1799 anlässlich von Fichtes Religionshändeln, die zum Verlust von dessen Professur in Jena führten, „daß Fichtens Verdienst eben darin bestehe, daß er die Religion entdeckt hat, und daß seine Lehre nichts andres sey als wahre Religion in Form der Philosophie“.19 Auch von einigen anderen in Fichtes Umgebung wird der charismatische Philosoph, der Begründer der neuen Lehre, sei es in bewundernder, sei es in kritisch distanzierter Perspektive, geradezu als eine Art Religionsstifter aufgefasst.20 Weitere Beispiele für die Forderung nach einer neuen, philosophisch akzeptablen Art von Religion sind Hegels frühe Fragmente über Volksreligion von 1793/9421 sowie das sogenannte (in Hegels Handschrift vorliegende und wohl auch von Hegel abgefaßte) Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus aus der Mitte der neunziger Jahre. Es verlangt bekanntlich einen „Polytheismus der Einbildungskraft u. der Kunst“, der zum „Mono19
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Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel v. April 1799 (wie Anm. 16), Bd. 24, S. 262. Vgl. auch Ideen 105 und Philosophische Lehrjahre IV, Nr. 679: „Fichte‘s Lehre ist Relig[ion] in Form der ij[Philosophie]. Er hat die Relig[ion] in d[er] Tiefe d[es] Geistes entdeckt ‚nämlich daß sie frei sei‘.“ (Schlegel [wie Anm. 16], Bd. 18, S. 250). „Wenn Sie mich fragen,“ schreibt etwa der später in Fichtes Atheismusstreit verwickelte Friedrich Carl Forberg 1795, „wie sich wohl [Reinhol]ds Verdienste um die Philosophie zu denen, die sich Fichte erwirbt, verhalten mögen? so weiß ich Ihnen darauf keine bessere Antwort zu geben, als die: [Reinhol]d verhält sich zu Fichte, wie sich Johannes zu Jesus verhielt: wie der Vorläufer zu dem der da kommen soll: wie der mahnende Prediger in der Wüsten zu dem Lehrer ‚mächtig in Thaten und Worten‘“ (Forberg, Friedrich Carl, Fragmente aus meinen Papieren. Jena 1796, S. 72f.). Spöttischer phantasieren sich der Nürnberger Arzt und Jakobiner Johann Benjamin Erhard und der Däne Jens Baggesen eine Religionsstiftung durch Fichte aus: „Allein wenn Fichte die unglückliche Consequenz haben sollte, sein ‚Ich bin – nicht blos Gottes Sohn (behüte! das ist gar zu bescheiden) sondern – Gott‘ mit einem ‚ich sterbe‘ zu beweisen, wenn Fichte, nachdem er im Leben Alles gesetzt, auch zuletzt den Tod setzte, würde vielleicht das Christenthum von einem Fichtenthum verdrängt werden. Der Geisterlöser würde bald seinen Saulus finden, der durch die Blendung der Wissenschaftslehre ein Paulus würde, und von philosophischen Päpsten continuiert, allmälig einen neuen Katholicismus zu Stande bringen, weit intoleranter und alleinseligmachender als der alte.“ (Aus Jens Baggesen‘s Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi. Hg. v. seinen Söhnen Karl und August Baggesen, 2 Theile. Leipzig 1831. Bd. 2, S. 23f.) Jacobi nannte Fichte den „wahren Meßias der spekulativen Vernunft“, mit dem „Königsberger Täufer“ als „Vorläufer“ (Jacobi an Fichte. Hamburg 1799, S. 2, 5), und Knebel schrieb im Rahmen eines Referats von Fichtes Bestimmung des Menschen sarkastisch an Caroline Herder: „denn redselig ist dieser Messias gewaltig“ (Brief v. 24. Mai 1800, in: Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß. Hg. v. Heinrich Düntzer u. Ferdinand Gottfried von Herder. 3 Bde. Leipzig 1861–1862. Bd. 3, S. 163). Hegel, Fragmente über Volksreligion und Christentum, in: Ders., (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 9– 103. – „Volksreligion“ wird von Hegel in diesen Aufzeichnungen wesentlich als Zivilreligion (und damit auch als Gegenentwurf zum zeitgenössischen Christentum) verstanden: „Sie muß so beschaffen sein, daß sich alle Bedürfnisse des Lebens, die öffentlichen Staatshandlungen daran anschließen.“ (Ebd., S. 33) Die anderen beiden Bedingungen, die Hegel an dieser Stelle für eine „Volksreligion“ nennt, sind: „Ihre Lehren müssen auf der allgemeinen Vernunft gegründet sein.“ Und: „Phantasie, Herz und Sinnlichkeit müssen dabei nicht leer ausgehen.“ (Ebd.).
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theismus der Vern.[unft] des Herzens“ passen soll, und spricht damit die Forderung nach einer „neuen Mythologie“ aus, die eben eine „Mythologie der Vernunft“ sein soll.22 Auch Schelling formuliert, in Fortführung solcher mit Hegel (und wohl auch Hölderlin) geteilten Gedanken, in einer orakelhaft in „Mysterienrede“23 gehaltenen Schlusspassage einer philosophischen Abhandlung von 1797, die explizite Forderung nach einer neuen und mit dem Idealismus vereinbaren Religion: Die Philosophie hat höhere Forderungen zu erfüllen und die Menschheit, die lange genug, es sey im Glauben oder im Unglauben, unwürdig und unbefriedigt gelebt hat, endlich ins Schauen einzuführen. Der Charakter der ganzen modernen Zeit ist idealistisch, der herrschende Geist das Zurückgehen nach innen. Die ideelle Welt drängt sich mächtig ans Licht, aber noch wird sie dadurch zurückgehalten, daß die Natur als Mysterium zurückgetreten ist. Die Geheimnisse selbst, welche in jener liegen, können nicht wahrhaft objektiv werden, als in dem ausgesprochenen Mysterium der Natur. Die noch unbekannten Gottheiten, welche die ideelle Welt bereitet, können nicht als solche hervortreten, ehe sie von der Natur Besitz ergreifen können. Nachdem alle endlichen Formen zerschlagen sind, und in der weiten Welt nichts mehr ist, was die Menschen als gemeinschaftliche Anschauung vereinigte, kann es nur die Anschauung der absoluten Identität in der vollkommensten objektiven Totalität seyn, die sie aufs Neue und in der letzten Ausbildung zur Religion auf ewig vereinigt.24
Der Spott Herders über die „neue Abiblische Religion“ ist einem Zeitklima gewichen, in dem man, ausgehend von der festen Überzeugung des Bankrotts des Alten, der „große[n] Auferstehung der Religion“,25 wie es Friedrich Schlegel nennt, begierig und mit weitgespannten Hoffnungen entgegensieht.
III. Im Folgenden sollen einige Züge dieser „neuen Religion“ hervorgehoben werden. Zunächst habe sie modern zu sein, was vor allem in der Forderung zum Ausdruck kommt, dass sie vom aktuellen Stand der Philosophie ausgehen und mit ihm vereinbar sein müsse. Anders als Herder das befürchtete, wird sie jedoch in der Regel nicht als abrupte Neuerung verstanden, sondern vielmehr als eine Art Einlösung eines Versprechens der Menschheitsgeschichte. Ein Text, der in diesem Zusammenhang im Schlegelkreis (insbesondere für Friedrich Schlegel und Novalis, aber auch für Schelling) von großer Bedeutung wird, ist Lessings Erziehung des Menschengeschlechts. Die neue Religion soll auch freier und der jeweiligen Individualität angemessener sein als die durch starke Traditionsbindung und eine fest umrissene Dogmatik bestimmte traditionelle Offenbarungsreligion. Zugleich jedoch 22 23 24 25
Das sogenannte ‚Älteste Systemprogramm‘, in: Frank, Manfred, Kurz, Gerhard (Hg.), Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen. Frankfurt a.M. 1975, S. 110–112, hier S. 111f. Vgl. Petersdorff, Dirk von, Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romantischer Intellektueller. Tübingen 1996. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft [1797], in: Ders., (wie Anm. 16), I. Abt., Bd. 2, S. 72f. Schlegel, Ideen 50, (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 261.
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werden Hoffnungen mit ihr verbunden, wahrer und umfassender Totalität zu erschließen, als dies die christliche Offenbarungsreligion vermochte, die ihre partikularen Züge im Prozess der aufklärerischen Religionskritik mehr und mehr aufdecken lassen musste. Karl Eibl hat vor einigen Jahren – in Die Entstehung der Poesie − darauf hingewiesen, wie wichtig bereits für die Generation des Sturm und Drang die Vorstellung einer wechselseitigen Hinordnung von Individualität und Totalität war; als radikale Individualität konstituiert sich Individualität geradezu über eine je eigene Auffassung vom Ganzen, definiert sich über „Totalitätskorrespondenz“.26 Im Schlegelkreis wird dieser Vorstellungskomplex nun in einen explizit religiösen Kontext gestellt. Die neue Religion ist schließlich auch synkretistisch; die innere Vielfalt, die sie um der je individuellen Angemessenheit willen benötigt, wäre anders gar nicht zu haben. Und sie orientiert sich vorwiegend an Kunstwerken bzw. an der Tätigkeit des Künstlers; weil Kunstwerke geradezu exemplarisch veranschaulichen können, was individuelle Auffassung des Ganzen zu heißen verdient. „Nur derjenige kann ein Künstler sein“, so Friedrich Schlegel in den Ideen, „welcher eine eigne Religion, eine originelle Ansicht des Unendlichen hat.“27 Aus diesem Motivbündel der „neuen Religion“ möchte ich ein Motiv herausgreifen, das zwar nur einen Aspekt der frühromantischen Kunstreligion darstellt, an dem sich deren Eigenart aber trotzdem recht gut veranschaulichen lässt. Ich meine das Gedankenexperiment einer „neuen Bibel“, das bei Friedrich Schlegel (wie auch bei Novalis) eine nicht unwichtige Rolle spielt. Dieses Gedankenexperiment hat zwei eigentlich triviale Voraussetzungen.28 Zum einen muss die traditionelle Ausnahmestellung der Bibel als ausschließlicher heiliger Text, dem nichts Vergleichbares an die Seite gestellt werden kann, aufgehoben werden. Das hat notwendig eine gewisse Reduktion des Bedeutsamkeitsprofils der Bibel zur Folge, wie sie Schlegel etwa im 12. Athenaeums-Fragment andeutet: Man hat von manchem Monarchen gesagt: er würde ein sehr liebenswürdiger Privatmann gewesen sein, nur zum Könige habe er nicht getaugt. Verhält es sich etwa mit der Bibel ebenso? Ist sie auch bloß ein liebenswürdiges Privatbuch, das nur nicht Bibel sein sollte?29
Das darf nun aber zum andern nicht zur Folge haben, dass nur noch Bücher – ohne ein Buch der Bücher – übrigbleiben. Vielmehr muss der Status der heiligen Schrift übertragen werden – auf ein anderes Buch oder mehrere andere Bücher. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten schwankt Schlegel zunächst hin und her. Mal konzi-
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Vgl. Eibl, Karl, Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a.M., Leipzig 1995, S. 42ff. (Zitat S. 45). Schlegel, Ideen 13, (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 257. Vgl. Philosophische Lehrjahre V, Nr. 192 (dort: „Universum“ statt „Unendliches“); ebd., Bd. 18, S. 338. Zu Schlegels „Bibelproject“ vgl. auch Kurt Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Weimar 1986, S. 138ff. Schlegel, (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 167.
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piert er die zu schreibende Bibel als ein Buch30 (und erkennt auch bestimmten einzelnen Büchern anderer den Rang einer Bibel zu), mal lehnt er eben diese Vorstellung einer Bibel im Singular als „Biblismus“ ab: Dieser muß „negativ gesetzt werden – näml[ich] d[er] Dünkel, daß Ein Buch die ganze Rel[igion] enthalten könne“.31 Nähere Ausgestaltung findet Schlegels „Bibelproject“ im Briefwechsel mit Novalis Ende 1798, in dem Schlegel sehr direkt und wohl mit bewusster Hybris ausspricht, dass er als Religionsstifter aufzutreten gedenke, sowie in zahlreichen Notizen zur neuen Bibel aus der Zeit von 1798 bis 1800. Vor allem in den verstreuten Notizen wird zumindest umrisshaft deutlich, nach welchen Kriterien sich eine solche neue Bibel überhaupt als Bibel qualifizieren ließe. Eine bedeutende Rolle spielt der traditionelle Gedanke des enzyklopädischen Anspruchs der Bibel: in der Bibel soll alles enthalten sein. In diesem Sinne bezeichnet Schlegel Platons Politeia und Timaios als Bibeln, Bücher „über alles“,32 und überlegt, ob es möglich wäre, eine „Char.[akteristik] d[es] Universums“ als Bibel zu schreiben.33 In denselben Zusam30 31
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„In Relig[ion] giebts nur Ein Buch, in ȡ[Rhetorik], Hist[orie] und Moral unendlich viele.“ (Schlegel, Philosophische Lehrjahre IV, Nr. 383, [wie Anm. 16], Bd. 18, S. 226) Philosophische Lehrjahre V, Nr. 12, ebd., S. 326. Dass hierin eine nicht länger vertretbare geistige Enge liegt, sagt indirekt auch die Notiz in Philosophische Lehrjahre II, (wie Anm. 16), Nr. 511, ebd., S. 71: „Gott ist unter d[en] Geistern, was die Bibel unter d[en] Büchern. Nur hat mans bisher damit gemacht, wie d[ie] Chalifen mit d[em] Koran in der Alex.[andrinischen] Bibl.[iothek].“ – Die Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe liest hier fälschlich: „Alex.[andrinischen] Bibel.“ Schlegel bezieht sich aber mit seiner Notiz auf die im 18. Jahrhundert weitverbreitete Anekdote über den Kalifen Omar, der im Jahre 642 Alexandria eroberte. Als man ihm davon Bericht erstattete, dass die berühmte Bibliothek in Brand stand, und um Erlaubnis bat zu löschen, soll er geantwortet haben: „Alle diese Bücher, wenn in ihnen das steht, was im Koran auch steht, so sind sie überflüssig, und es schadet nichts, wenn sie zugrundegehen. Steht in ihnen aber etwas anderes als im Koran, so sind sie verderblich und mögen nur umkommen.“ „Die alte ijı[Philosophie] geht sehr auf Bibel im einzelnen Werk; Platos Republ[ik] und Timaeos, ihre Werke ʌİȡȚ ʌĮȞIJȠȢ.“ (Philosophische Lehrjahre V, (wie Anm. 16), Nr. 415, ebd., S. 355) Dass sie in einem Buch sozusagen einen konzentrierten Auszug des Universums geboten haben, könnte auch die Nennung von Spinoza und Dante als Autoren von „Bibeln“ begründen, wie sie sich in Philosophische Lehrjahre IV, Nr. 28 (ebd., S. 199) findet: „Winkelmann behandelte s.[eine] Kunstgeschichte auch religiös als Bibel. – Wie viel Bücher giebt es dann wohl in diesem Sinne? Spinosa‘s Ethik, Wink.[elmanns] Kunstgesch.[ichte]. Dantes Gedicht.“ Winckelmann würde in diese Reihe gehören, weil er in seiner Kunstgeschichte den ganzen Kosmos der antiken Kunst in seiner historischen Entfaltung dargestellt hätte. Indes könnte das verschwiegene tertium comparationis Schlegels auch in der Konzentration der genannten Autoren auf ein umfassendes, alle anderen ihrer Werke in den Schatten stellendes Hauptwerk bestehen, etwa im Sinne einer anderen Notiz Schlegels: „Die Bibel ist unter d[en] Werken d[es] Künstlers, was der Künstler selbst unter den Menschen.“ (Philosophische Lehrjahre IV, Nr. 709, ebd., S. 253) „Liesse sich aber auch wohl eine solche Char.[akteristik] d[es] Universums schreiben, das ein rein ij[philosophisches] Werk wäre, oder würde es nicht vielmehr Principien d[er] Religion sein? – <Es würde eine Centralschrift sein, nicht mehr isolirte Ș[ethische] Schrift die nicht ganz ʌ[poetisch] und nicht ganz ij[philosophisch] wäre. Bibel im eigentlichsten Sinne, heilige Schrift.“ (Philosophische Lehrjahre III, (wie Anm. 16), Nr. 200, ebd., S. 138) Man beachte auch die formale Vielfalt, die Zusammenführung mehrerer Disziplinen in einem Werk, die hier von Schlegel als Kennzeichen einer Bibel in Anspruch genommen wird; so auch in Philosophische Lehrjahre II, (wie Anm. 16), Nr. 507 (ebd., S. 71): „Sind nicht Moral, Șʌ[ethische
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menhang gehört auch Schlegels Bemerkung, ein „Comp[endium]“ grenze schon sehr an eine Bibel.34 Als weiteres Merkmal einer Bibel nennt Schlegel den Witz. „Die kühne witzige Form, welche im Ș[Ethischen] so nothwendig ist, hat die Bibel – das ǥİȞ țĮȚ ʌĮȞ, der Spinosistische Gott unter d.[en] Büchern im höchsten Grade.“35 Witz jedoch ist Kombinatorik, ein mit einer gewissen Willkür Zusammenhang und Beziehungen stiftendes Vermögen, „logische Geselligkeit“, wie das 56. Lyceums-Fragment knapp definiert.36 So fällt unter diesen Begriff sowohl das Ingenium der heiligen Skribenten des Neuen Testaments, mit dessen Hilfe sie überall Erfüllungen des Alten Testaments sahen und erfanden und dadurch den geschichtlichen Zusammenhang der christlichen Bibel produzierten, als auch der verwirrende Reichtum der verwandtschaftlichen und narrativen Beziehungen unter den Göttergestalten der alten Mythologie. Für die Mythologie hat Schlegel die Verwandtschaft mit dem Witz im Gespräch über die Poesie näher ausgeführt und die „künstlich geordnete Verwirrung“, die „reizende Symmetrie von Widersprüchen“ und den „wunderbaren ewigen Wechsel von Enthusiasmus und Ironie“, wie sie den Witz der romantischen Poesie kennzeichnen, eine „indirekte Mythologie“ genannt.37 In seinen Notizen bringt er unter dem Gesichtspunkt des Witzes die Bibel und die Mythologie zusammen („Witz und Religion stehn in d[er] genausten Beziehung; nichts ist witziger als die alte Götterlehre und die Bibel“)38 und nimmt auch den Witz – genauso wie andernorts die Fantasie – als „Organ d[er] Religion“ in Anspruch.39 Schließlich nennt Schlegel noch die chiliastische Ausrichtung als wesentlich für eine Bibel, die in ihr Gestalt findende Naherwartung einer unerhörten Zukunft. „Geht nicht jede Bibel auf ein Reich Gottes?“40 – „Eine Bibel ist etwas prophetisches und die Absicht ist magisch.“41 Hier betont Schlegel sehr stark in revolutionärem Gestus den Aspekt einer gemachten Umwälzung,42 einer „magischen“ Herbeizwingung des Neuen, so wie insgesamt das Projekt einer neuen Bibel unter dem abgründigen Paradox einer willkürlichen Offenbarung steht: „Man kann
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Poesie], Kritik und Historie Theile von der Relig[ion]? Alles das muß zusammenkommen zu einer Bibel.“ Philosophische Lehrjahre IV, (wie Anm. 16), Nr. 525, ebd., S. 237. Philosophische Lehrjahre IV, (wie Anm. 16), Nr. 379, ebd., S. 226. Schlegel, (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 154. Ebd., S. 318f. Vgl. auch Philosophische Lehrjahre III, (wie Anm. 16), Nr. 7: „Oder sollte d.[er] Witz die moderne Mythol.[ogie] bilden?“ (Schlegel, [wie Anm. 16], Bd. 18, S. 123) Schlegel, Philosophische Lehrjahre III, (wie Anm. 16), Nr. 138, (wie Anm. 16), Bd. 18, S. 133. Philosophische Lehrjahre IV, (wie Anm. 16), Nr. 1197, ebd., S. 295. Philosophische Lehrjahre V, (wie Anm. 16), Nr. 140, ebd., S. 334. Philosophische Lehrjahre IV, (wie Anm. 16), Nr. 774, ebd., S. 258. Hierhin scheinen mir die gelegentlichen Parallelen zwischen neuer Bibel und Revolution zu gehören. „Die neue Bibel müßte für die Deutschen werden, was die Revoluzion für die Franzosen.“ (Philosophische Lehrjahre IV, Nr. 391, ebd., S. 227) „Das Stud[ium] [Schlegels eigener Text Über das Studium der Griechischen Poesie, B.A.] ist revoluz.[ionärer] Aufruf, und insofern absolute Schrift, Bibel.“ (Philosophische Lehrjahre V, (wie Anm. 16), Nr. 390, ebd., S. 353)
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Gott zwingen, daß er uns heil[ige] Schriften eingiebt.“43 Zusammenfassend kann man sagen, dass Schlegel unter einer Bibel eine Textsammlung von universalem Gehalt und Anspruch versteht, die verschiedene literarische Formen benutzt, mehrere geistige Disziplinen miteinander in Kontakt bringt und generell qua witziger Kombinatorik Zusammenhang stiftet; ihr geschichtliches Telos findet sie in der Prophetie eines kommenden Reichs Gottes, das sie „magisch“, mit der Macht ihrer mahnenden und verkündigenden Worte, zugleich herbeizuzwingen versucht. Unter diesen Voraussetzungen wird während der Arbeit an den Ideen, in denen Schlegel ja unter anderem das Projekt eines Künstlerbundes entwirft, der Gedanke der neuen Bibel mehr und mehr zu einem Interpretationsrahmen für eine gesamte literarische Produktion, die nicht in den Grenzen eines Werks eines Autors eingeschlossen werden kann, zu einem einheitsstiftenden Konzept, mittels dessen sich das eigene Schaffen und das der frühromantischen Genossen zentrieren ließe. Den Umriss einer solchen Bibel, die nicht mehr ein Buch ist, sondern viele, hat Schlegel in Ideen 95 entworfen. „Als Bibel wird das neue ewige Evangelium erscheinen, von dem Lessing [in der Erziehung des Menschengeschlechts, B.A.] geweissagt hat: aber nicht als einzelnes Buch im gewöhnlichen Sinne“, beginnt dieses Fragment. Und es endet mit den Sätzen: Alle klassischen Gedichte der Alten hängen zusammen, unzertrennlich, bilden ein organisches Ganzes, sind richtig angesehen nur Ein Gedicht, das einzige in welchem die Dichtkunst selbst vollkommen erscheint. Auf eine ähnliche Weise sollen in der vollkommnen Literatur alle Bücher nur Ein Buch sein, und in einem solchen ewig werdenden Buche wird das Evangelium der Menschheit und der Bildung offenbart werden.44
In diesem Fragment wird nun deutlich, dass sich der Gedanke der Bibel dem Gedanken der Literaturgeschichte annähert.45 Zwar ist der Zusammenhang mit der christlichen Bibel immer noch gewahrt, insofern nämlich, als sich eben in der christlichen Bibel einerseits die Literaturgeschichte Altisraels, andererseits die des frühen Christentums dokumentiert findet. Jedoch ist dasjenige Kennzeichen aufgegeben, das die Bibel eigentlich erst zu einem autoritativen heiligen Text macht: Die Schließung des Kanons, die sicherstellt, dass es diese Texte und keine anderen sind, die unbedingte religiöse Maßgeblichkeit beanspruchen dürfen. Indem Schlegel sein Schema der einen vollendeten Zyklus bildenden antiken und der unendlich 43 44 45
Philosophische Lehrjahre IV, (wie Anm. 16), Nr. 1525, ebd., S. 319. – Vgl. auch Philosophische Lehrjahre IV, Nr. 1234: „Nur durch logische Magie läßt sich eine Bibel construiren.“ (Ebd., S. 298) Schlegel, Ideen 95, (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 265. Hans Dierkes betont in seiner Deutung von Ideen 95 hingegen den Zusammenhang der „neuen Bibel“ mit der Gattung Roman: Der Roman als die bei den Modernen dominante „universale Mischgattung“ würde sich (als „absoluter Metaroman“) am ehesten für das intendierte unendliche, absolute Buch eignen (Dierkes, Hans, Literaturgeschichte als Kritik. Untersuchungen zu Theorie und Praxis von Friedrich Schlegels frühromantischer Literaturgeschichtsschreibung. Tübingen 1980, S. 259ff.). Man vgl. aber auch Dierkes‘ Ausführungen zur religiösen Dimension der Literaturgeschichte (die „Geschichte der Poesie“ als das „universalhistorische, historisch-kritische Selbstvermittlungsmedium Gottes“), ebd., S. 164ff. (Zitat: S. 164).
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progressiven modernen Literatur auf den Bibelgedanken überträgt, wird die neue Bibel − analog zur romantischen Poesie des 116. Athenaeums-Fragments46 − zu einem „ewig werdenden Buche“, zur Geschichte der Literatur, die durch immer neue Werke bereichert wird und in der darum die Fülle die Autorität verdrängt. Eine Integration dieser Fülle zur Einheit geschieht über die Konstellation der einzelnen Werke: Selbst mit einem inneren Bezug zum Unendlichen ausgestattet, enthüllen die Werke ihren ganzen Reichtum doch erst in ihrem Zusammenhang untereinander, der durch jedes neu hinzukommende Werk wieder in Bewegung und in Werden versetzt wird.47 Dies soll das „Evangelium der Menschheit und der Bildung“ sein: eine Heiligung der künftigen, in sich unendlich zusammenhängenden Literaturgeschichte.
IV. Bei Novalis sind die Gedankengänge zur neuen Bibel leicht anders akzentuiert. Es geht ihm weniger um den literaturgeschichtlichen Zusammenhang der Werke, die eine neue Bibel ausmachen werden, als vielmehr um den subjektiven Fundus der symbolbildenden produktiven Phantasie, aus der heraus einzelne Bücher zu einer Bibel „erhoben“ werden können. Im Resultat finden wir freilich auch bei ihm die Ersetzung von kanonischer Ausschließlichkeit durch Fülle. So wie die produktive Phantasie in der Bildung von Symbolen frei ist, können auch viele Bücher zur Bibel erhoben werden. „Wenn der Geist heiligt, so ist jedes ächte Buch Bibel.“48 − „Bibel ist ein Gattungsbegriff unter dem Büchergeschlecht.“49 Indes ist es in unserem Zusammenhang nicht nötig, im Detail genauso ausführlich wie bei Friedrich Schlegel auf Novalis‘ Theorie des „Biblisirens“ einzugehen. Die Problematik der Kunstreligion zeigt sich auch hinreichend deutlich anlässlich dessen, was ich über Schlegels Konzeption einer neuen Bibel ausgeführt habe. Der zentrale Impetus dieser Konzeption scheint es zu sein, Universalität einzufangen, über eine Kombination aus freien, originellen Weisen sich auf das Universum oder das Unendliche zu beziehen. Diese Rücksicht auf Individualität findet zu 46
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Schlegel, 116. Athenaeums-Fragment, (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 182f. Ich erinnere nur beiläufig daran, dass dieses Fragment auch die Formel des „ewigen Werdens“ bereits enthält: „Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ (Ebd., S. 183) Eben die Fähigkeit, sich an diesen geschichtlichen Zusammenhang anzuschließen, ist für Schlegel darum auch das Kriterium der Scheidung zwischen Gut und Böse in Kunstdingen. Die Tendenz zur Isolation ist die falsche Tendenz; man wird es „anerkennen müssen, daß dieser organische Zusammenhang aller das Genie von dem bloßen Talent unterscheidet, welches eben dadurch, daß es isoliert ist, sich als falsche Tendenz der Kunst und der Menschheit verrät.“ (Schlegel, Abschluß des Lessing-Aufsatzes, ebd., S. 410) Novalis, Vermischte Bemerkungen, Nr. 108 (= Anfang des 102. Blüthenstaub-Fragments), in: Ders., (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 462 (102. Blüthenstaub-Fragment, S. 457). Novalis, Randbemerkungen zu Friedrich Schlegels ‚Ideen‘ [1799], ebd., Bd. 3, S. 491.
Was ist eigentlich Kunstreligion?
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wenig Nahrung in der traditionellen Offenbarungsreligion und stellt daher eine Anfrage auf Befriedigung an Kunst und Literatur. „Religion der Menschen und Künstler“ ist die Devise, und: Auch die Christen, „wenn die Morgensonne wirklich emporsteigt, werden schon niederfallen und anbeten“.50 An dieser Stelle aber zeigt sich ein ernstes Problem. Schlegels Aufgabe hätte sich ja nicht darauf beschränken dürfen, jenes Schrifttum zu propagieren und selbst zu verfassen, das als zukünftige Literatur die neue Bibel ausmachen würde. Er hätte zugleich auch die religiöse Interpretation dieses Schrifttums durchsetzen müssen. Hier aber ist eine Grenze, die durch schriftstellerische Aktivität schwerlich überschritten werden kann. Der gleiche Zwang zur Modernisierung von Religion, der das Motiv für die romantischen Intellektuellen liefert, sich in religiösen Fragen auf die Poesie zu werfen, macht es nämlich auch unmöglich, die Poesie umstandslos religiös zu interpretieren. Die Ausdifferenzierung der einzelnen Kulturgebiete oder symbolischen Formen in der Moderne lässt es nicht zu, dass Poesie mehr wird als Poesie und wirklich religiöse Funktionen erfüllt. Das beste Indiz dafür, dass es sich tatsächlich so verhält, ist eine Struktur, die sich erstmals bereits in der romantischen Kunstreligion zeigt, die im 19. und 20. Jahrhundert aber generell immer dann wiederkehrt, wenn der ernsthafte Versuch gemacht wird, Kunst und Literatur in einen Religionsersatz zu verwandeln. Diese Struktur geht so: Das Motiv für Kunstreligion ist lebensfähig und erzeugt kunstreligiöses Gedankengut immer wieder von neuem. Jede versuchte Realisation indes bleibt in der bloßen Programmatik stecken. Sollte dies am Ende doch noch für eine Auskunft darüber genommen werden können, was „eigentlich“ Kunstreligion sei, so würde ich dagegen keinen Einspruch erheben wollen.
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Schlegel, Ideen 92, (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 265.
KLAAS HUIZING (Würzburg)
Das Geheimnis der Begeisterung oder: Wackenroders narratives Versteckspiel
1. Einleitung: Realisierte Künstlerfiktionen Manche Bücher sind zu schön, um wahr zu sein. Solch ein Buch ist 2003 in Enzensbergers Reihe ‚Die Andere Bibliothek‘ erschienen: Erfundene Kunst. Eine Enzyklopädie fiktiver Künstler von 1605 bis heute, initiiert und herausgegeben vom Flamen Koen Brams. Die Idee ist gleichermaßen einfach wie genial: Ein (überschaubares) Lexikon der fiktiven Künstler, verschrobene Charaktere und frisierte Windhunde, aus den Archiven der Weltliteratur. Die Liste reicht von Shakespeares Timon von Athen, vom Maler Frenhofer aus Balzacs Erzählung Das unbekannte Meisterwerk bis hin zu Umeed Merchant aus Salman Rushdies Der Boden unter ihren Füßen. Endlich weiß man auch Definitives über Anselm und Franz Sternbald aus Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen. Anselm *Italien, zwischen 1450 und 1550 Über Anselms Jugend ist wenig bekannt, seine Eltern starben früh, schon von Kindheit an fühlte er sich zur Malerei hingezogen. Er ging bei Pietro Perugino in Perugia in die Lehre, vergaß jedoch bei Wein und Weib schon bald seine Berufung, und als er sein Erbe aufgezehrt hatte und seine Freunde ihn im Stich ließen, begann er an seinem Talent zu zweifeln. Und als gar seine Frau im Wochenbett starb und sein Kind ebenfalls, steigerte sich sein mangelndes Selbstvertrauen zur geistigen Verwirrung. In einer kleinen Kapelle in den Bergen, einige Tagesreisen von Straßburg entfernt, kam er wieder zur Besinnung. Von nun an lebte Anselm in einer Hütte unweit der Kapelle. Die Natur bedeutete ihm alles, überall empfing er rätselhafte Winke von ihr. Nach seinem Empfinden war es der allmächtige Schöpfer, der sich in der Natur offenbarte, allerdings nicht direkt, da die Menschen ihn doch nicht begreifen würden – vielmehr verblümt, auf eine heimliche, kindliche Weise, die unseren ‚schwachen Sinnen‘ entspreche. Anselm hatte bisweilen das Gefühl, daß die Bildnisse der Apostel und Märtyrer hoch oben in den Bäumen rauschten und ihn aufforderten, sie zu zeichnen. Um 1520 erhielt Anselm Besuch von Franz Sternbald (siehe dort), einem Schüler Dürers. Anselm führte Sternbald in eine kleine Stube, die voller Gemälde hing, hauptsächlich Porträts, einige Landschaften, wenige Historienstücke. Sternbald zufolge zeichneten sich die Köpfe durch eine ‚scharfe Zeichnung bestimmter Züge‘ aus. Sie zeugten von einem ernsten Gemüt, das auf Nebensächlichkeiten keine Energie verschwendete. Charakteristisch sei die Mimik, die den Betrachter zugleich anziehe und abstoße. Bei manchen Porträts spreche aus den Augen eine Heiterkeit, die fast grausam zu nennen sei, während andere so verzückt schienen, daß sie durch ihre Grimassen erschreckten. Ein eigenartiges ‚Nachtstück‘ drückte Anselms fromme Ekstase beispielhaft aus. Es zeigte einen Pilger, und oben auf einem Hügel ein von Mondstrahlen umglänztes Kreuz. Es handelte sich, wie der Künstler meinte, um eine Allegorie, wie alle Kunst. Denn der Mensch sei einsam und von der übrigen Welt abgesondert. Das einzige, was er zu tun vermöge, sei, dem Besonderen eine allgemeine Bedeutung zu geben.
Das Geheimnis der Begeisterung
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Obwohl sich Anselm als einen verunglückten Künstler betrachtete, waren Gemälde wie jene Landschaft mit Pilger und Kruzifix bei Mondschein ihrer Zeit wohl weit voraus – sie hätten von Caspar David Friedrich sein können. Wir wissen nicht, ob dieser von Anselm beeinflußt wurde. Franz Sternbald jedenfalls war von dem alten Maler sehr beeindruckt, der das, was er selber nur verworren dachte, so klar auszudrücken vermochte. In der Hütte entdeckte Sternbald auch ein kleines Bild von einer Frau, die ihm schon seit längerem als engelhaftes Bild vor Augen schwebte. Er kaufte es und zog gen Italien. [DP]1 Sternbald, Franz *Deutschland, zwischen 1495 und 1500; †nach 1525 Deutscher Renaissancemaler. Sternbald wuchs bei Pflegeeltern in einem Dorf an der Tauber auf. Im Alter von zwölf Jahren ging er nach Nürnberg in die Lehre bei Albrecht Dürer. Mit Anfang Zwanzig verließ er das Atelier seines geliebten Meisters und reiste in die Niederlande und nach Italien, um sich zu vervollkommnen und als vollendeter Meister seines Handwerks zurückzukehren. […] Sternbald hatte sich unter Dürers Anleitung zu einem frommen Künstler entwickelt, der sich zu Luther bekannte, die Bibel las und für den ‚die Andacht der höchste und reinste Kunstgenuß‘ war. Künstlertum sei Gnade, und das Höchste, was der Künstler erreichen könne, sei die Offenbarung des Göttlichen in der Kunst. Daher verbitterte ihn der engstirnige Materialismus der Städter, die, wie er glaubte, in der Kunst nur einen nutzlosen Zeitvertreib sahen. Wenn alle Menschen Künstler wären, so träumte Sternbald, oder zumindest die Kunst liebten, so wären gewiß alle um vieles glücklicher. Für die Natur, die dem Menschen die ‚Ahndung der Gottheit‘ gebe, empfand Sternbald tiefe Ehrfurcht. Als er auf dem Weg nach Italien den alten Maler Anselm besuchte, identifizierte er sich mit dessen mystischer Auffassung der Natur als einer göttlichen Hieroglyphenschrift. Den ‚harmonischen Orgelgesang‘, der aus der Natur aufsteige, konnte er zutiefst empfinden, und in solchen Augenblicken wurde ihm schmerzlich bewußt, wie unzulänglich das kindliche Gelalle der Kunst sei. Seine größte Unzulänglichkeit war jedoch, daß es ihm nie gelang, die intensiven Momente der Hingabe an Gott oder an die Natur festzuhalten. Sternbald fehlte die Beharrlichkeit und die ruhige Schaffenskraft seines Meisters. […] Franz Sternbald sollte auf seiner Reise in den Süden eine gewisse Entwicklung durchmachen und, ohne seine Herkunft zu verleugnen, seinen ‚deutschen‘ Ernst und seine Demut mit etwas italienischer Lebensfreude würzen. […] Der Genuß, den Corregios Bilder ihm bereiteten, wurde für ihn zu einer ‚hohen Schule der Liebe‘, Worte, die aus dem Mund eines treuen Dürerschülers recht ungewöhnlich klingen. Sternbalds Reise endete, soweit wir wissen, in Rom, wo er Michelangelo bewunderte und – was vielleicht noch wichtiger war – Marie begegnete, der Frau, von der er geglaubt hatte, sie inspiriere ihn gerade durch ihre Unerreichbarkeit. Ob diese Begegnung auch das Ende seines Künstlertums bedeutete, darüber geben die Quellen keinen Aufschluß. [DP]2
Die eigentlich spannende Frage verheimlicht dieses gewitzte Buch. Warum wählen Schriftsteller gerne fiktive Künstlerbiographien? Wahrscheinlich deshalb, weil sich anhand (fiktiver) Künstlerbiographien relativ elegant der verschattete Ursprung der Begeisterung und möglicherweise der Augenblick einer conversio vitae (am leichtesten?) beschreiben lassen. Literatur und Theologie geraten dabei in eine spannungsgeladene Nähe. Ich will die Debatte führen im inszenierten Gespräch zwischen dem produktionsästhetischen Ansatz von Wilhelm Heinrich Wackenroder und dem wirkungs-
1 2
Brams, Koen, Erfundene Kunst. Eine Enzyklopädie fiktiver Künstler von 1605 bis heute. Frankfurt a.M. 2003, S. 20–22. Ebd., S. 293–296.
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ästhetischen Ansatz von Aby Warburg. Ich erhoffe mir so einen Klärungsprozess in der skizzierten Frage.3
2. Des Klosterbruders Erregung Wilhelm Heinrich Wackenroder galt in den ästhetischen Debatten lange als schwierig, problematisch und verdächtig – schwierig, weil man an den schmalen Schriften des Frühverstorbenen (und Frühvollendeten) die gewichtigen redaktionellen Eingriffe des Herausgebers Reichardt und seines Freundes Tieck nicht genau ablesen konnte; problematisch, weil Wackenroder in seinen Schriften eine den philosophischen Puristen bitter aufstoßende Melange, eine Arabeske aus Essay und Erzählung auftischte und damit aufreizend seine Gleichgültigkeit gegen das strenge Denken demonstrierte; schließlich verdächtig, weil er mit dem Begriff des Enthusiasmus ganz offensichtlich einer religiösen Begründung der Kunst das Wort redete. Inzwischen haben neuere Forschungen vor allem der Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe von Wackenroders Schriften nicht nur eine größtmögliche Klärung hinsichtlich des Textbestandes erreicht, sondern auch in Fragen der literarischen Darstellung wurden neue Einsichten gewonnen. Sie konzentrieren sich nicht zufällig auf den theorieleitenden Begriff des Enthusiasmus. 2.1 Der Enthusiasmus Wackenroder profiliert seinen Begriff des Enthusiasmus gegen zwei gesicherte Fronten: gegen den Kult des Subjektiven in der Genieästhetik einerseits, gegen eine aufklärungsaffine allgemein verbindliche Regelästhetik andererseits. Die Herzensergießungen beginnen deshalb sehr offensiv mit einer ultrakurzen narrativen Inspirationsszene: Raffaels Erscheinung, nachdem aber einleitend festgestellt wurde: Die Begeisterung der Dichter und Künstler sind von jeher der Welt ein großer Anstoß und Gegenstand des Streites gewesen. Die gewöhnlichen Menschen können nicht begreifen, was es damit für eine Bewandtnis habe, und machen sich darüber durchaus sehr falsche und verkehrte Vorstellungen. Daher sind über die inneren Offenbarungen der Kunstgenies ebenso viele Unvernünftigkeiten, in und außer Systemen, methodisch und unmethodisch abgehandelt und geschwatzt worden als über die Mysterien unserer heiligen Religion.4 3
4
Dieser Aufsatz nimmt Bezug auf einen Essay über Wackenroder in Klaas Huizing, Ästhetische Theologie, Bd. 3: Der dramatisierte Mensch. Eine Theateranthropologie. Ein Theaterstück. Stuttgart 2004. Wackenroder, Wilhelm Heinrich, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders [1797]. Stuttgart 1979, S. 7. Ich zitiere nach der leicht zugänglichen Reclam-Ausgabe. Für eingehende Forschungen unerlässlich ist Wackenroder, Wilhelm Heinrich, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Silvio Vietta und Richard Littlejohns. 2 Bde. Heidelberg 1991. Ich habe kein ausgeprägt philologisches Interesse an Wackenroder. Nochmals: Mich interessieren ausschließlich die religiöse Valenz des ästhetisch veranschlagten
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Hartnäckig übersehen wurde zumeist, wie Wackenroder in dieser Eingangssequenz Religion und Kunst hinsichtlich ihres jeweils verschatteten Ursprungs parallelisiert, nicht aber synthetisiert. Die nachfolgende, stilistisch sehr genau durchgearbeitete Inspirationserzählung speist sich freilich aus religiösen Vokabularien. Die Fiktion des Textes besteht darin, es gebe ein Blatt von der Hand eines Freundes von Raffael, die jene unsagbare nächtliche Erscheinung, die Raffaels vielgepriesene Madonnen-Malerei überhaupt erst ermöglichte, in Worte fasst: Und doch wäre es zuweilen wie ein himmlischer Lichtstrahl in seine Seele gefallen, so dass er die Bildung in hellen Zügen, wie er sie gewollt, vor sich gesehen hätte; und doch wäre das immer nur ein Augenblick gewesen, und er habe die Bildung in seinem Gemüte nicht festhalten können. […] Einst […] in der finsteren Nacht sei sein Auge von einem hellen Schein an der Wand, seinem Lager gegenüber, angezogen worden, und da er recht zugesehen, so sei er gewahr geworden, dass sein Bild der Madonna, das, noch unvollendet, an der Wand gehangen, von dem mildesten Lichte strahle und ein ganz vollkommenes und wirklich lebendiges Bild geworden sei. Die Göttlichkeit in diesem Bilde habe ihn so überwältigt, dass er in helle Tränen ausgebrochen sei. […] Am anderen Morgen sei er wie neugeboren aufgestanden; die Erscheinung sei seinem Gemüt und seinen Sinnen auf ewig fest eingeprägt geblieben.
Oder in einem Brief Raffaels an den Grafen von Castiglione: „Ich halte mich an ein gewisses Bild im Geiste, welches in meine Seele kommt.“5 Die Schuld liegt nicht nur bei den Kritikern, die der Suggestivkraft dieser Szene oft schnell erlagen, Wackenroder selbst hat der frommen Lesart kräftig zugearbeitet, wenn er seinen Protagonisten sagen lässt, „dass all das profane Geschwätz über Begeisterung des Künstlers wahre Versündigung sei […], dass es doch geradezu auf nichts anderes als den unmittelbaren göttlichen Beistand ankomme.“6 Neue Studien zu Wackenroder unterscheiden so präzise wie möglich zwischen der Position des fiktiven Klosterbruders und Wackenroder selbst und insistieren zu Recht auf der behaupteten Parallelizität von Religion und Kunst, die in ärmlicheren Studien oft eingezogen wurde. So schreibt Markus Buntfuß in seiner Monographie Die Erscheinungsform des Christentums: Vor diesem Hintergrund darf das Enthusiasmuskonzept nicht mit einem supranaturalen Theologumenon zur Begründung der Kunst verwechselt werden, sondern fungiert als Überbrückung einer ,logischen Verlegenheitsstelle‘ und topische Umgangsstrategie mit einem begrifflich nicht explizierbaren Ursprungsphänomen. Die leitmotivische Rede von der Künstlerbegeisterung in den HE ist weder ein ästhetisches noch ein theologisches Theorem, sondern eine ‚absolute Metapher‘ für das höhere Wesen der Kunst. […] Indem der Verweis auf die ‚Begeisterungen der Dichter und Künstler‘ die Frage nach dem Ursprung nicht lösen, sondern poetisch umschreiben soll, übernimmt er die Funktion einer symbolisch abschließenden Deutungsfigur. […] Der Ursprung der Kunst im Enthusiasmus wird deshalb nicht auf dem Weg abstrakter Theoriebildung, sondern im Medium narrativer Legendenbildung entfaltet.7
5 6 7
Begriffs ‚Enthusiasmus‘ und die Stärken und Schwächen eines produktionsästhetischen Ansatzes im Vergleich mit einem wirkungsästhetischen Ansatz. Ebd., S. 10f. Ebd., S. 11. Buntfuß, Markus, Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette. Berlin, New York 2004, S. 107f. Zur Abgrenzung von Einbildungskraft und Phantasie vgl. ebd., S. 110ff.
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Das Rätsel der Inspiration sperrt sich – so scheint es – der Enträtselungsvirtuosität und kann offensichtlich nur narrativ dargestellt und eingefühlt werden. Diese Interpretation rettet zunächst klug die Differenz zwischen Kunst und Religion bei Wackenroder, ob allerdings die mitgeführte These, die Begeisterung entziehe sich grundsätzlich einer näheren Entschlüsselung, aufgeht, bleibt damit zunächst noch offen. Vielleicht liegt diese narrative Immunisierung auch am Gegenstand der von Wackenroder hochgeschätzten und sehr einseitig rezipierten Madonnen-Malerei. 2.2 Einige Einwände im Geiste Warburgs Zunächst: Wackenroder deutet die Madonnenmalerei der Renaissance als den eigentlichen innovativen Beitrag des Christentums zur abendländischen Malkultur – eine These, die auf eine These Herders zurückgeht.8 Dieser ‚Enthusiasmus‘ für die Madonnenmalerei wird allerdings bezahlt mit einer gleichzeitigen Geringschätzung des Mittelalters, eine vermutlich angelesene Erbschaft der Studien und Künstlerviten von Giorgio Vasari. Dessen Denunzierung des Mittelalters hat sich unter dem Wust vielspältiger Epochendefinitionen erhalten und macht doch wenig Sinn. Stillschweigend (vielleicht etwas zu leise) ist auch Wackenroders partielle Ausblendung der wiedererstarkten Antike in der Renaissance, auf die Warburg bekanntlich abhebt, zurückgenommen worden. Sehr viel richtiger ist es, zu behaupten, dass in der Renaissance die Selbstbeherrschungsästhetik mittelalterlicher Malerei aufgebrochen wurde und auch die heidnisch antike Mythologie urwüchsiger als im Mittelalter in Bildwerke Eingang fand.9 Die antike Unruhe und Leidenschaft gehören ganz wesentlich zum Erscheinungsbild der Renaissance. Sogar an den christlichen Madonnenbildern selbst ließe sich eine latent leidenschaftliche Darstellung erregter Gesten deutlich machen, die ihren Ursprung im Nachleben der Antike besitzen. Aber auch der Enthusiasmus lässt sich nicht einspruchsfrei als verschattetes Ursprungsphänomen deuten. Ich will zumindest eine mögliche Gegenlektüre im Sinne Aby Warburgs vorschlagen, der in seinen Forschungen die ursprungslogische Nähe von Kunst und religiösem Ritual beschrieben hat. Der frühe Warburg entdeckte das Festwesen als sehr prägenden Einfluss für die Kunst, kommt doch im Festwesen die leidenschaftliche Erregung zur Darstellung. Zu diesem Begriff des Festwesens rechnet Warburgs Schüler Gombrich „Festumzüge und das Theater, Tanz und orgiastische Riten als äußere Anlässe, die dem Künstler ein vorgeprägtes Bild darboten, das er nur noch in eine Skulptur oder in ein Gemälde zu übersetzen
8 9
Ebd., S. 86ff. Panofsky, Ernst u.a., Classical Mythology in Medieval Art, Metropolitan Museum Studies. New York. Bd. IV, 2, 1933, S. 228ff.
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hatte“.10 Gombrich schwächte in seinem Essay Ritualized Gesture and Expression11 diese bei Warburg aufgelesene Einsicht etwas ab: I should like to propose as my principal hypothesis that as far as gesture is concerned the schema used by artists is generally preformed in ritual and that here as elsewhere art and ritual, using the word in its narrow cultural sense, cannot easily be separated.12
Noch der späte Warburg arbeitete die These von ‚künstlerischen Entlehnungen‘ in seine Theorie des sozialen Gedächtnisses ein. Dabei war ihm wichtig, dass Kunst die Grundfragen der menschlichen Existenz deutlich darstellt, genauer: den Streit zwischen der Angst, die sich im Augenblick leidenschaftlicher Betroffenheit auftut, und der Angstkontrolle durch die symbolischen Darstellungen kultureller Akte. Und sein von ihm geprägter Begriff der Pathosformel wollte die bleibende Gültigkeit gewisser Gefühlsausdrücke und Gebärden/Gesten einfangen und zugleich in einen Zivilisationsprozess einbinden. Wenn auf Briefmarken, Reklamewänden und Pressephotos diese Pathosformeln aus den bekannten Kunstwerken vergangener Epochen auftauchen, dann tun sie, so seine Überzeugung, noch immer ihre Wirkung. Ich ziehe die kulturanthropologische Semiotik Warburgs der EnthusiasmusDeutung Wackenroders in gewissen Grenzen vor. Ritualisierte Gesten (und Gestenfolgen), im kollektiven Gedächtnis abgelagert, ‚erregen‘ die Künstler anfänglich, wobei der künstlerische Prozess der Übersetzung selbstredend innovativ sein kann. Verschweigen will ich nicht mögliche Einwände. Die Genremalerei lässt sich problemlos als Übersetzung der kulturanthropologischen Semiotik Warburgs lesen. Auch die Plastik kann im Sinne einer Ausdrucks-Ästhetik ritualisierter Gesten gedeutet werden. Warburg und Gombrich bieten in ihrer Erklärung über den Ursprung der Kunst aber ‚nur‘ eine Erklärung über die Herkunft der gestischen Stoffe. Über die ästhetische Form im engeren Sinne schweigen sie sich aus. Ungleich schwieriger sind deshalb moderne künstlerische Ausdrucksformen in ihrem Sinne auszulegen. Darf man etwa in der modernen Malerei die Geste des Malens (zum Beispiel im Tachismus Pollocks) als ritualisierte Figur deuten? Die kritische Anfrage an Warburg im Geiste Wackenroders muss deshalb lauten: Wie wird in diesem Modell die radikale künstlerische Innovation beschreibbar? Und: Gibt es die überhaupt? Im Diskurs von Aby Warburg bleibt der Spielraum für künstlerische Innovationen eher gering. Und das muss so sein, wenn man die seelischen Energien, die die europäische Geschichte der Kunstproduktion und Kunstrezeption steuern, archäologisch festmacht: 10 11 12
Gombrich, Ernst H., Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Hamburg 1992, S. 411. Gombrich, Ernst H., Ritualized Gesture and Expression, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Serie B, Nr. 772, Bd. 251, 1966, S. 393f. Ebd., S. 396. Zu Gombrich vgl. Henrich, Dieter, Fixpunkte. Abhandlungen und Essays zur Theorie der Kunst. Frankfurt a.M. 2003, S. 185ff.
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In der Region der orgiastischen Massenergriffenheit ist das Prägewerk zu suchen, das dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins, soweit es sich gebärdensprachlich ausdrücken lässt, in solcher Intensität einhämmert, daß diese Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben und vorbildlich den Umriß bestimmen, den die Künstlerhand schafft, sobald Höchstwerte der Gebärdensprache durch Künstlerhand im Tageslicht der Gestaltung hervortreten wollen.13
Treffend schreibt Raulff: Für Warburg liegt der Genius oder das Dämonische des Schöpferischen weniger im Akt des Hervorbringens, als vielmehr im Empfang und in der – transformierenden – Weitergabe der empfangenen mnemischen Signale. […] Warburg räumte dem ‚einverseelend‘ nachempfindenden bildenden Künstler einen Raum eigener kreativer Aktivität ein und sah diese Aktivität erneut polar begrenzt durch die Extreme des Dionysischen und des Apollinischen.14
Wenn es eine strategische Berechtigung des Enthusiasmus-Begriffs gibt – ich habe, wie gesagt, mit dem Begriff milde Schwierigkeiten –, dann vielleicht an dieser Stelle. Positiv formuliert: Wackenroders Enthusiasmus-Begriff dient als symbolische Freigabe von (formalen – aber auch inhaltlichen) Innovationen, die die Wirkungsästhetik (auch Warburgscher Provenienz) nicht immer restfrei erklären kann. Wackenroders eigene Überlegungen zur Produktionsästhetik beschränken sich auf, wie er an Leonardo zeigt, Verfahren der Beobachtung konkreter Gestalten und Gestaltungsweisen. Vielleicht aber gibt es an dieser Stelle eine weitergehende glückliche Vermittlung: Auch die Gestenkunde fragt im Rahmen einer groß angelegten Transformationshermeneutik selbstredend nach Neuformatierungen ritualisierter Gestenszenarien. So hat Warburg diese Transformation an Beispielen verdeutlichen können: Die ekstatische Gebärde einer Mänade im Florentiner Quattrocento wird bei Bertoldo di Giovanni zur Schmerzensgeste der Maria Magdalena unter dem Kreuz; und die Affektenergie des von Mänaden zerrissenen Pentheus wird in einer Bildfindung Donatellos zu einer Wundergeste des heiligen Antonius umgedeutet.15 Diese Neuformatierungen gelingen oft nur, leider zeigt Warburg diesen Prozess nicht, wenn charismatische, oft stigmatisierte Persönlichkeiten diese Neuformatierungen auf den Weg bringen.16 Das Verhältnis zu diesen charismatischen Figuren impliziert dabei zumeist latent dramatische Konversionen. Auch Wackenroder beschreibt eine solche Konversion. Und wie nicht anders zu erwarten, hat er sie narrativ stilisiert und sie nicht zufällig an der legendarischen Gestalt des Raffael plausibilisiert.
13 14 15 16
Warburg, Aby, Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. v. Martin Warnke unter Mitarbeit von Claudia Brink, Abt. 2, Bd. II.1, Berlin 2000, S. 5. Ebd., S. 127, 143. Gombrich, Aby Warburg, (wie Anm. 10), S. 334ff. Gerd Theißen hat die Neuformatierungen jüdischer Gestenkultur anhand des ‚Wandercharismatikers‘ Jesus von Nazaret in seinem großen Buch Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2002, minutiös aufgezeigt.
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2.3 Des Malers Höllenfahrt der Selbsterkenntnis Die eindrücklichste Szenerie, die Wackenroder in seinen Herzensergießungen aufführt, ist die dramatische Geschichte um den Maler Francesco Francia. Geboren 1450 in Bologna als Sohn gewerbetreibender Eltern, wurde er zunächst in der Goldschmiedekunst ausgebildet. Sein überdurchschnittlich figuratives Talent machte sich im Schneiden von Münzstempeln bemerkbar. Durch Andrea Mantegna und andere Maler angeregt, versuchte sich Francia bald auch in Öl. Seine erste Tafel für die Kirche Misericordia zeigte die Madonna auf dem Thron, umringt von vielen Figuren, darunter auch der Auftraggeber des Bildes. Bald schon kamen neue Aufträge hinzu, darunter große Fresken, die ihm den Ruf als ersten Maler der Lombardei einbrachten. Dieser Ruf drang auch bis zu Raffael von Urbino. Es entwickelte sich ein reger Briefverkehr. Raffael bat ihn, eins seiner Gemälde in Bologna für ihn aufzuhängen, aber als Francia es auspackte und anschaute, war sein „Staunen und Verwundern“ groß. Er sah, daß er bis dahin in thörichtem Wahn und Irrthum gestanden hatte, bekümmerte sich tief und starb nach kurzer Zeit. Das Werk Raffaels war göttlich, nicht als ob es gemalt, sondern als ob es lebend sey, und mit solcher Vollkommenheit ausgeführt, daß man es unter seinen schönen Arbeiten, die alle bewundernswerth sind, doch noch als ausgezeichnet rühmen kann. Francia verglich dieß herrliche Bild mit seinen eigenen Arbeiten, welche umher standen, und fühlte sich vom Schreck halb des Lebens beraubt.
Diese Geschichte erzählt Giorgio Vasari in seinen Künstler-Viten.17 Wackenroder covert die Geschichte, indem er sie an entscheidender Stelle zu einer Höllenfahrt der Selbsterkenntnis umgestaltet. Hatte Raffael brieflich sich verkleinert und Francia den Pinsel in die Hand gegeben, ihn gebeten, mögliche Unebenheiten seines Bildes von der heiligen Cäcilia zu bearbeiten, so nimmt Francia diesen Statusverzicht nicht wahr, sondern glaubt sich auf Augenhöhe mit Raffael. Aber wie soll ich der heutigen Welt die Empfindungen schildern, wie der außerordentliche Mann beim Anblick dieses Bildes sein Inneres zerreißen fühlte. Es war ihm, wie einem sein müßte, der voll Entzücken seinen von Kindheit an von ihm entfernten Bruder umarmen wollte und statt dessen auf einmal einen Engel des Lichts vor seinen Augen erblickte. Sein Inneres war durchbohrt, es war ihm, als sänke er in voller Zerknirschung des Herzens vor einem höheren Wesen in die Knie. Vom Donner gerührt stand er da; und seine Schüler drängten sich um den alten Mann herum und hielten ihn und fragten ihn, was ihn befallen habe? Und wußten nicht, was sie denken sollten. Er hatte sich etwas erholt und starrte immerfort das über alles göttliche Bild an. Wie war er auf einmal von seiner Höhe gefallen! Wie schwer mußte er die Sünde büßen, sich allzu vermessen bis an die Sterne erhoben und sich ehrsüchtig über ihn, den unnachahmlichen Raffael, gesetzt zu haben. Er schlug sich vor seinen grauen Kopf und weinte bittere, schmerzende Tränen, daß er sein Leben mit eitelm, ehrgeizigen Schweiße verbracht und sich dabei immer nur törichter gemacht habe und nun endlich, dem Tode nahe, mit geöffneten Augen auf sein ganzes Leben als auf ein elendes, unvollendetes Stümperwerk zurücksehen müsse. Er erhob mit dem erhobenen Antlitz der heiligen Cäcilia auch seine Blicke empor, zeigte dem Himmel sein reuiges Herz und betete demütig um Vergebung.18 17 18
Vasari, Giorgio, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister. Vom Cimabue bis zum Jahre 1567, Bd. II, 2. Teil. Nachdruck Darmstadt 1983, S. 351f. Wackenroder, Herzensergießungen, (wie Anm. 4), S. 18.
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Wackenroder packt alle protestantischen Elemente der Wiedergeburtsszenerie in diese Szene. Zumindest an dieser Stelle ist vom latenten Katholizismus Wackenroders nichts zu spüren. Er feiert Francia als ‚Märtyrer des Kunstenthusiasmus‘: „So ward dieser Mann erst dadurch recht groß, daß er sich so klein gegen den himmlischen [Hervorhebung von mir, K.H.] Raffael fühlte.“19 Verkleinert dient diese protestantische Konversionsszenerie auch als Maßstab für eine angemessene Kunst-Rezeption. Kunstwerke verlangen vom Rezipienten eine Entsockelung, so dass man „mit entgegenkommendem Herzen“ in die Werke „herrlicher Künstler“ „hineingehe und in ihnen lebe und atme“.20 Phänomenologisch nachvollziehbar sagt Wackenroder zunächst: „Kunstwerke passen in ihrer Art so wenig als der Gedanke an Gott in den gemeinen Fortfluß des Lebens; sie gehen über das Ordentliche und Gewöhnliche hinaus, und wir müssen uns mit vollem Herzen zu ihnen erheben.“21 Diese Erfahrung lässt ihn deshalb kritisch abgeschmackte Umgangsweisen mit großer Kunst ablehnen: Bildersäle werden betrachtet als Jahrmärkte, wo man neue Waren im Vorübergehen beurteilt, lobt und verachtet; und es sollten Tempel sein, wo man in stiller und schweigender Demut und in herzerhebender Einsamkeit die großen Künstler, als die höchsten unter den Irdischen, bewundern und mit der langen, unverwandten Betrachtung ihrer Werke in dem Sonnenglanze der entzückendsten Gedanken und Empfindungen sich erwärmen möchte. Ich vergleiche den Genuß der edleren Kunstwerke mit dem Gebet.22
Wackenroder leiht sich von der Religion die Geste der Andacht, um die ästhetische Erfahrung angemessen beschreiben zu können. Unterschwellig kommuniziert eine avancierte Ästhetik der Gegenwart mit diesem Modell. Hermann Schmitz spricht ausdrücklich von ‚ästhetischer Andacht‘23 und zitiert nicht zufällig die bis zum Überdruss angeführte Sequenz von Rilke, der angesichts eines archaischen Torso Apollos sagen lässt: ‚Du musst dein Leben ändern‘.24 Das ist auch die Erfahrung, die Francia angesichts des Gemäldes von Raffael macht. Er beschließt freilich zu sterben, weil seine Augen den ästhetischen Heiland gesehen haben.25 19 20 21 22 23 24
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Ebd., S. 19. Ebd., S. 73. Ebd., S. 73. Ebd., S. 71f. Schmitz, Hermann, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1990, S. 479ff. Frömmigkeitstypologisch liegen Andacht und Konversion vielleicht nicht ganz so nahe beieinander, wie die zitierten Autoren meinen. Es lassen sich auch ästhetische Theorien vorstellen, die unter dem Stichwort der Andacht antagonistische Erfahrungsmomente ausgeschaltet wissen wollen und die Erfahrung als Umgriffenwerden beschreiben, also auf Dramatisierungstendenzen verzichten. Vgl. auch Anm. 23. Vgl. auch Michael Theunissens Konzept ‚Ästhetisches Anschauen als Verweilen‘ als ‚Freiheit von Zeit‘, in der die „Gegenwart des Anderen“ aufscheint. Theunissen, Michael: Freiheit von der Zeit. Ästhetisches Anschauen als Verweilen, in: Ders. (Hg.): Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a.M. 1991, S. 285ff.
Das Geheimnis der Begeisterung
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Einschränken würde ich diese These an entscheidender Stelle: Wenn Warburg Recht hat, dass sogar in Reklame-Abbildungen Pathosgesten überleben und unterschwellig ihre Wirkung tun, dann wird man auch dort einen latenten Konversionsdruck spüren dürfen. Der Begriff ‚Andacht‘ zielt vielleicht doch sehr unverhohlen auf große Museumskunst. Ich bin im Gegenzug davon überzeugt, dass auch KleinstKunst diesen Umschlag leisten kann. Die Kata-Strophé, dramentheoretisch die Lebenswende, kann auch am entlegenen Ort und im mediokren Rahmen gelingen. Um die Parallelizität von Kunst und Religion zu wahren, sollte man abschließend vielleicht noch einmal deutlich zwischen Redeweisen von ‚Konversion‘ unterscheiden.26 Es geht in der ästhetischer Erfahrung nicht immer nur um Konversionen Rilkeschen Ausmaßes, sondern häufig um kleine Konversionen, neue Eindrücke, die aber nicht unbedingt das Lebensganze betreffen müssen. Enge Verwandtschaftsgrade zu religiösen Erfahrungen weisen ästhetische Erfahrungen auf, wenn Konversionen dargestellt werden, die das Lebensganze neu justieren.27 Das sind Konversionen zweiter Potenz. Aber auch hier muss man, so denke ich, noch einmal differenzieren. Kleine und große Kunst belässt es häufig bei einer formalen Darstellung und einem formalen Austrag der Lebensbewegtheit. Andernfalls droht, auch bei handwerklichen Meistern, der Kitsch. Wenn allerdings in der Kunst legendarisches Personal eine Deutung gelingenden Lebens vorträgt und auf eine Nachbildung drängt, berühren sich ästhetische und religiöse Erfahrung hautnah. Verständlich dürfte – so hoffe ich – zudem geworden sein, warum Schriftsteller an (fiktiven) Künstlerbiographien interessiert sind. Die narrative Verschattung des Einfalls glorifiziert die eigene Ursprungslegende der Begeisterung und gibt sich nach außen demütig. Die These einer künstlerischen Entlehnung weckt dagegen uralte Einflussängste. Notfalls nimmt man deshalb, will man spätmodern devot auf das Genie keinen Anspruch erheben, eine gewisse Nähe zur religiösen Semantik in Kauf. Man kann sich, wie ich gezeigt habe, damit beruhigen, dass die Rede von künstlerischen Entlehnungen zumindest in einer Hinsicht zu kurz greift. Radikale Innovationen kann diese Theorie nicht wirklich denken. Aber ob es radikale Innovationen überhaupt gibt, ist bis auf weiteres offen. Vielleicht lassen sich diese nur in narrativer Verschattung inszenieren. Ich fürchte aber, dass dieser Ausweg nur eine neue Runde im narrativen Versteckspiel einläutet. 26
27
Vgl. zum Konversionsbegriff Huizing, Klaas, Ästhetische Theologie, Bd. 1: Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropolgie. Stuttgart 2000; eine Auseinandersetzung mit dem Konversions-Begriff von Hörisch in: Huizing, Klaas, Ästhetische Theologie, Bd. 2: Der inszenierte Mensch. Eine Medienanthropologie. Stuttgart 2002. Neuere Religionssoziologie hat immer wieder die Möglichkeit von Konversionen in weltlichen Sinnsystemen betont – dazu Knoblauch, Hubert u.a. (Hg.), Religiöse Konversion. Systematische und fallorientierte Studien in soziologischer Perspektive. Konstanz 1998. Gräb, Wilhelm, Kunst und Religion in der Moderne. Thesen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung, in: Herrmann, Jörg u.a. (Hg.), Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute. München 1998, S. 66–80; Roth, Ursula, Die Inszenierung einer conversio vitae. Titanic im Rückgriff auf eine religionstheoretische Kategorie, in: Laube, Martin (Hg.), Himmel, Hölle, Hollywood. Religiöse Valenzen im Film der Gegenwart. Münster u.a. 2002, S. 83–103.
Personenregister
Verzeichnet sind nur die Namen historischer Personen. Aaron, Zwi Hirsch ben 72 Abbt, Thomas 109 Abraham, Jakob ben 72 Addison, Joseph 186 Adler, Nathan ben Simeon Ha-Kohen 73 Alberti, Georg Wilhelm 170 Altschul, Moses ben Chanoch 67 Aristoteles 228 Arndt, Johann 217 Arnold, Gottfried 159, 216 Aschenbrenner, Beda 43 Aschkenasi, Jakob ben Isaak 68 Äschylus 325 Babo, Joseph Marius 43 Bacharach, Jair Chajim 67 Bachtin, Michail 56, 61 Balzac, Honoré de 336 Barbeyrac, Jean 211 Basedow, Johann Bernhard 225, 235 Baß, Schabbatai 72 Batteux, Charles 41, 243 Baumer, Johann Wilhelm 103 Baumgarten, Alexander Gottlieb 164, 176, 190, 250 Baumgarten, Siegmund Jakob 78, 114f., 118, 162–164, 168, 170, 174, 215 Bayle, Pierre 88f., 95, 103f., 118 Becher, Johannes R. 221 Becker, Rudolph Zacharias 25 Bengel, Johann Albrecht 77 Bentley, Richard 206 Berkeley, George 9 Bilfinger, Georg Bernhard 95f. Bion 200 Blumauer, Aloys 52f. Bodmer, Johann Jakob 106, 184f., 187, 228 Bonfrere, Jacques 213 Bonnet, Charles 126, 134f. Born, Ignaz von 53f., 56 Bossuet, Jacques Benigne 211 Boyle, Robert 206 Braun, Heinrich 43
Brecht, Bertolt 61 Brentano, Clemens 49, 50 Breitinger, Johann Jakob 106, 228 Brill, Jacob 143 Brockes, Barthold Hinrich XV, 180f., 183, 191, 199–202, 204f., 207–210, 212, 218 Buber, Martin 64 Bucher, Anton von 43, 48–50, 57 Budde, Franz 92, 94 Buffon, Georges Louis Leclerc de 55, 298 Burke, Edmund 188 Calpurnius 200 Campe, Joachim Heinrich 127, 133–135 Canetti, Elias 282 Carpzov, Johann Benedikt 153 Carstedt, Johann Caspar 98 Chateaubriand, Francois-René 212 Clauberg, Johann 80 Cochem, Martin von 21, 23, 25, 48, 59 Colerus, Johann 277f. Colloredo, Hieronymus Graf 50 Cramer, Johann Andreas 231 Crousaz, Jean Pierre de 212 Dale, Antonius van 206f. Dannhauer, Johann Conrad 80, 213 Daut, Johann Maximilian 143 Davis, Andrew Jackson 123 Derham, William 206, 209 Descartes, René 9, 283 Diderot, Denis 46 Dietl, Georg Aloys 43, 50f., 57 Dilthey, Wilhelm 78, 87 Dionysius Areopagita 181 Döllinger, Ignaz von IX Donatello 342 Dubnow, Salomo 75 Durkheim, Emile XIII, 3 Dyck, Antonis van 208 Ebreo, Leone 282 Eckartshausen, Karl von 43
Personenregister
348 Eichendorff, Joseph Freiherr von 241, 325f. Emden, Jacob 67 Ennius 199 Epiktet 326 Epstein, Jechiel Michal 68 Ernesti, Johann August 78 Erwin von Steinbach 253, 255f., 258f. Eybel, Joseph Valentin 54 Fabricius, Johann Albert 206, 209–211 Fast, Peter 34 Feder, Johann Michael 18 Felbiger, Johann Ignaz von 19 Felgenhauer, Paul 142 Ferguson, Adam 130 Fichte, Johann Gottlieb 109, 328 Fontenelle, Bernard de 203–206, 208 Francia, Francesco 342–344 Francke, August Hermann 77f., 139, 152f., 214f., 217 Frank, Sebastian 21 Friedrich II. 98, 179, 308 Friedrich Wilhelm I. 98 Fronhofer, Ludwig 43 Garve, Christian 34 Gebauer, Johann Justinus 115 Gellert, Christian Fürchtegott XIV, 14–17, 19, 21–23, 30, 41, 45, 57, 62 Gerhard, Paul 21 Giovanni, Bertoldo di 342 Glassius, Salomo 214 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 111, 114, 118, 281, 284 Glückel von Hameln 68 Gmelin, Wilhelm Christian 143 Goethe, Johann Wolfgang XIVf., 8, 16, 45, 49, 140, 221, 240, 243–245, 247, 253– 260, 275–277, 279f., 285f., 296, 298, 326 Goeze, Johann Melchior XIV, 7, 10f., 113– 118, 120f., 136 Gombrich, Ernst 340f. Gottsched, Johann Christoph 41, 57, 96f., 106, 179–182, 185, 192, 195, 219, 235 Götz, Johann Nikolaus 27 Grabbe, Christian Dietrich X Graetz, Heinrich 64 Grillparzer, Franz 61 Grimm, Melchior 46 Grotius, Hugo 105 Guarini, Giovanni Battista 202 Gunzburg, Arje Löb 71 Hagedorn, Friedrich von 21 Hahn, Josef 66 Hall, Joseph 177
Haller, Albrecht von 99–102, 104f., 107, 191f. Hamann, Johann Georg XVI, 250–252, 264, 296–309 Händel, Georg Friedrich 181 Harvey, William 207 Haug, Johann Friedrich 139, 141, 143–147, 152 Haug, Johann Jacob 144 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 238, 277, 282f., 297–301, 325, 328 Heine, Heinrich 1, 275 Helvétius, Claude Adrien 57, 275 Hemsterhuis, Frans 279, 282 Hennings, August 284 Herbart, Johann Michael 98 Herbert of Cherbury, Edward Herbert Baronet 277 Herder, Johann Gottfried XVI, 9, 27, 34, 80–87, 199, 225, 236f., 245f., 249–254, 256–284, 298, 315, 326, 329, 340 Hermann, Daniel 21 Hermes, Johann Timotheus 27 Hobbes, Thomas 165, 211, 277 Hogarth, William 179, 184–190, 192, 194 Holbach, Paul Thiry d’ 275 Hölderlin, Friedrich 329 Hollaz, David 161 Home, Henry 129 Homer 199, 228, 230, 253 Hommel, Karl Ferdinand 128 Horaz 199, 228 Huber, Franz Xaver 56 Hübner, Lorenz 35, 43, 50 Hudemann. Ludwig Friedrich 235 Humboldt, Wilhelm von 12, 316, 320, 321 Hunold, Christian Friedrich 217f. Hutcheson, Francis 243 Iselin, Isaak 108, 121 Jablonsky, Daniel Ernst 98 Jacobi, Friedrich Heinrich 276, 280 Jais, Ägidius 24 Jaspers, Karl 4 Jean Paul 50 Jerusalem, Karl Wilhelm 127–130 Joseph II. 47, 52, 55, 57 Kant, Immanuel 4, 13, 80, 85, 107, 113, 186, 237, 253, 281, 328 Kardec, Allan 123 Karl Theodor 40, 42 Karo, Josef 70 Kästner, Abraham Gotthelf 220 Kirchhan, Elchanan Henle 68 King, William 88, 89
Personenregister Kleist, Ewald Christian von 111, 191, 223, 284 Klingemann, Ernst August Friedrich 325 Klopstock, Friedrich Gottlieb X, XV, XVI, 57, 178, 191, 222f., 225–241, 251, 298, 319–321 Knigge, Adolph Freiherr von 45 Kojdanower, Samuel 72 Kortholt, Christian 277 Köthen, Johann Jacob 98 Kratinos 199 Krochmal, Menachem Mendel 67 Künzli, Martin 106 La Mettrie, Julien Offray de 275 Landau, Jecheskel 67 Lange, Joachim 77, 92, 94, 98 Lange, Samuel Gotthold 218, 220, 222 LaRoche, Sophie von 18 Lavater, Johann Caspar 8, 55, 251, 257, 310, 313–315, 317–321 Law, Edmund 89 Leibniz, Gottfried Wilhelm 88–90, 94f., 97, 100f., 101, 103, 105–107, 113, 198, 280, 282 Lengefeld, Caroline von 310 Lengefeld, Charlotte von 310 Lenz, Christian David 289 Lenz, Jakob Michael Reinhold 285–295 Leonardo da Vinci 342 Leß, Gottfried 174 Lessing, Gotthold Ephraim IX, XIV, 7f., 10f., 58, 84, 106, 122–138, 174, 179, 189–194, 225f., 232–237, 245, 250, 253, 257, 275f., 278, 282, 329, 333 Lessing, Karl Gotthelf 123, 134 Lichtenberg, Georg Christoph 55, 275 Locke, John 243 Longinus 219, 228 Loyola, Ignatius von 176 Ludwig I. 41 Ludwig XIV. 309 Lukrez 103 Luppius, Andreas 140 Luther, Martin 20f., 71, 213, 222, 247, 250, 256 Lyce, Erdmann Andreas 143
349 Maus, Isaak 21f., 30 Maximilian III. Joseph 42 Maximilian IV. Joseph 41 Mayr, Beda 43 Meier, Georg Friedrich 78f., 168, 218, 223 Meister, Johann Heinrich 235 Ménage, Gilles 277 Menantes 217 Mendelssohn, Moses 69, 72, 75, 106, 108f., 130, 276 Merck, Johann Heinrich 267 Merz, Aloys 34, 55 Migazzi, Christoph Anton Kardinal 55 Milbiller, Joseph 43f., 50 Miller, Johann Martin 27 Milton, John X, 182, 184–188, 193, 219, 230 Montaigne, Michel de 206 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de 208, 212 Montgelas, Maximilian von 41, 50 Moritz, Karl Philipp 178f., 194–198, 253, 313 Moschos 200 Moser, Friedrich Carl von 308f. Mosheim, Johann Lorenz von 118, 248 Mylius, Christlob 184, 189 Napoleon 78 Neander, Joachim 147, 154 Nemesian 200 Neumiller, Johann Nepomuk 43 Newton, Isaak 106 Nichols, William 211 Nicolai, Friedrich 16, 18, 32, 34–36, 45 Nietzsche, Friedrich 301 Noltenius, Johann Arnold 98 Novalis 240, 325, 329–331, 334 Oberlin, Johann Friedrich 285 Oetinger, Friedrich Christoph 176 Opitz, Martin 246 Orff, Carl 50 Origenes 104 Ossian 253 Ovid 311 Quintilian 227
Macchiavelli, Nicolo 8 Maecenas 199 Mandeville, Bernard 99 Mantegna, Andrea 343 Maria Theresia 52 Marino, Giambattista 202 Marx, Karl 1 Maupertius, Pierre Louis Moreau de 106
Parker, Samuel 206 Petit, Pierre 206 Pfenniger, Johann Konrad 8 Perinet, Joachim 56 Persius 112 Pezzl, Johann 32, 43, 46, 53 Pindar 86
Personenregister
350 Platon 244, 331 Plotin 256 Pollock, Jackson 341 Pope, Alexander 88, 106f., 210, 221 Popper, Karl 12 Pufendorf, Samuel 211 Purucker, Gottfried de 138 Pyra, Immanuel Jacob 218–221 Raffael 312, 339, 342–344 Raimund, Ferdinand 61 Rákóczi, Franz II. 200 Rambach, Johann Jakob 77, 217f. Ramler, Karl Wilhelm 41, 111 Rappard, Carl von 122–124, 138 Rautenberg, Christian Günther 129 Ray, John 206 Rebmann, Andreas Georg Friedrich 58 Reichhardt, Johann Friedrich 338 Reimarus, Hermann Samuel 130–135 Reinbeck, Johann Gustav 98f. Reinhard, Adolf Friedrich 106 Ribov, Georg Heinrich 166 Richardson, Samuel 45 Richter, Joseph 53, 56 Riesbeck, Johann Caspar 32 Rilke, Rainer Maria 344f. Ringseis, Johann Nepomuk von 49 Rivail, Hippolyte Léon Denizard 123 Rochow, Friedrich Eberhard von 19, 22 Ronsard, Pierre 202 Rosenzweig, Franz 323 Rubens, Pieter Paul 208 Rüdiger, Andreas 111 Rushdie, Salman 336
Semler, Johann Salomo 78, 215, 216 Seneca 326 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl of 88, 111–113, 243, 280, 282, 284, 326 Shakespeare, William 252f., 271, 336 Sophie Charlotte 88 Sophokles 325 Spalding, Johann Joachim 11, 57, 108–121, 175, 326 Spener, Philipp Jakob 152, 153, 213, 214 Spinoza, Baruch de 8f., 130, 165, 167, 252, 275–284 Stadion, Friedrich Graf 18 Sterne, Laurence 51, 57 Stille, Christoph Ludwig von 111, 114 Stolberg, Auguste 231 Strattner, Georg Christoph 147 Sulzer, Johann Georg 111, 118, 195 Swedenborg, Emanuel 318 Tasso, Torquato 202 Tauler, Johannes 143 Telemann, Georg Philipp 181, 204 Tennhardt, Johann 143 Theokrit 200, 202, 204 Thomas a Kempis 59 Thomasius, Christian 78, 179 Thorschmid, Urban Gottlieb 169–172 Tieck, Ludwig 50, 336, 338 Tindal, Matthew 165, 166 Topitsch, Ernst 12 Törring, Clemens August von 43 Törring, Joseph Anton von 43 Troeltsch, Ernst IX, 326 Uz, Johann Peter 105f.
Sailer, Johann Michael 41, 43, 58–60 Sailer, Sebastian 16–19 Salzmann, Christian Gotthilf 29 Salzmann, Johann Daniel 288 Samuel, Aaron ben 73 Sancta Clara, Abraham a 18 Schammes, Josef 67 Schelling, Friedrich Wilhelm von 329 Schiller, Friedrich 12, 240, 253, 310–321 Schlegel, Friedrich 80, 241, 275, 327, 329, 330–335 Schleiermacher, Friedrich 78, 87, 324f. Schlosser, Johann Georg 34 Schmidt, Johann Lorenz 166f., 169 Schuler, Philipp Heinrich 16 Schuler, Philipp Jakob 18 Schulz, Friedrich 32 Schwarzburg-Sondershausen, Günther I. zu 200, 210 Sebond, Raymond 206
Valentin, Karl 61 Vanini, Lucilio 284 Vasari, Giorgio 340, 343 Vergil 53, 200, 202, 230 Voltaire 43, 46, 57, 326 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 336–344 Walch, Johann Georg 92, 94f. Warburg, Aby 338, 340–342, 345 Warburton, William 130–132, 133 Watteau, Antoine 201, 208 Weber, Max IX, X, XIII, 3 Weidmann, Paul 54, 56 Weishaupt, Adam 42 Weisse, Christian Felix 34 Wekhrlin, Johann Ludwig 32 Wessely, Hartwig 75 Wessenberg, Ignaz Heinrich von 19 Westenrieder, Lorenz 41, 43f., 57
Personenregister Wetzlar, Isaak 74 Wezel, Johann Carl 43, 46 Wieland, Christoph Martin 18, 43, 62, 89, 103–107, 223 Winckelmann, Johann Joachim 244, 316 Wolf, Peter Philipp 43, 46f., 50 Wolff, Christian 57, 78f., 89–96, 98f., 101, 103, 105–107, 113, 167, 176, 215, 233
351 Young, Edward 251 Zahn, Johann Heinrich Christoph 171 Zaupser, Andreas 43 Zerrenner, Heinrich Gottlieb 24f. Zimmermann, Johann Georg 318 Zwi, Sabbatai 74