Der unsichtbare Feind Das Wirken elektronischer Spezialeinheiten im II. Weltkrieg
Der Zweite Weltkrieg bestand nicht n...
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Der unsichtbare Feind Das Wirken elektronischer Spezialeinheiten im II. Weltkrieg
Der Zweite Weltkrieg bestand nicht nur aus großen Schlachten zu Lande, zu Wasser und in der Luft, sondern auch aus stillen, geheimen Geschehnissen. Sie wurden nie im großen Stil der damaligen Öffentlichkeit bekanntgegeben; nur ein kleiner Kreis von Spezialisten war darüber informiert, die aber zur strengsten Geheimhaltung verpflichtet waren. Ihre Waffen waren elektronische Geräte und unsichtbare Radar- oder Funkstrahlen, die aber in letzter Konsequenz zum oft folgenschweren Einsatz von Bomben, Maschinengewehren oder Bordkanonen führten. Zum Geheimkrieg gehörten auch die Hirne von Spezialisten der Funkaufklärung aller kriegführenden Nationen. Ferner die Radioexperten, die Funktäuscher, die Funk- und Radarstörer, die intelligenten Kodeknacker sowie auch alle anderen Experten der wissenschaftlichen Kriegführung. Sie waren es, die hinter den Geheimnissen ihrer jeweiligen Gegner herforschten, ihnen auf die Spur kamen, sie schließlich entdeckten und enthüllten, um danach Gegenmaßnahmen einzuleiten, die aber wiederum von der jeweiligen Truppe an den Fronten in die rauhe Wirklichkeit umgesetzt werden mußten. In der nachstehenden Dokumentation, in der Erlebnisberichte von damals Beteiligten eingearbeitet wurden, werden aus der Vielzahl von Vorkommnissen im Geheimkrieg einige wichtige, herausragende Episoden geschildert. Die Redaktion
18. Dezember 1939.13.50 Uhr. Insel Wangerooge. »Herr Leutnant Diehl, sofort ans Gerät!« rief Funkgefreiter Rudi Pieper.' »Komme sofort!« antwortete der Leutnant der Luftnachrichtentruppe, der mit einem Offizier der Kriegsmarine und einigen Luftnachrichtensoldaten an einer rechteckigen Öffnung in einem seltsamen Gehäuse stand, das einem großen Rundzelt ähnelte. Es bestand aus Tarnnetzen, die mit Sand und Strandhafer bedeckt waren. Das Ganze sah wie eine echte Düne aus, war aber keine. Unter, aber auch über diesem angeblichen Sandberg befand sich etwas, das zur damaligen Zeit ein großes Geheimnis war: ein Funkmeßgerät vom Typ »Freya« der deutschen Luftnachrichtentruppe. »Herr Leutnant, es ist dringend. Da liegt irgendein dicker Hund (damaliger Jargon) in der Luft!« wiederholte der Funkgefreite Pieper seine Forderung mit erhobener Stimme, weil der Nachrichtenleutnant nicht sofort kam. Jetzt aber verabschiedete dieser sich und eilte zu der Bedienungszentrale hinüber, die mitten in der künstlichen Düne stand. Er kletterte über die drei Sprossen einer eisernen Leiter und zwängte sich auf einen Schalensitz in der engen Kabine, in der außer ihm und Pieper noch der Funkgefreite Pitzmaus Platz hatte. Der gesamte übrige rechteckige Raum war ausgefüllt mit Geräten, Meßinstrumenten, Armaturenbrettern, Kabeln, gußeisernen Handrädern und anderen speziellen Vorrichtungen. Gefreiter Pieper zog die schmale Eisenblechtür hinter dem Funkmeßtruppenführer zu, so daß in der Zentrale des Funkmeßgeräts völlige Dunkelheit herrschte; nur durchbrochen von dem blassen, violett-grünen Schein der Bildschirme.
»Und? Wo ist der dicke Hund?« Der Leutnant richtete die schnell gesprochenen Worte an den Gefreiten Pieper. Aber Pitzmaus gab ihm die Antwort: »Sehen Sie auf die Röhren, Herr Leutnant!« Der Gefreite sah genauso aus wie der zweite Teil seines Namens: klein und schmächtig. Aber in seinem Spezialfach als Rundfunktechniker und ehemaliger Funkamateur war er ganz groß; denn damit hatte er sich schon befaßt, als er noch nicht die taubenblaue Uniform mit den braunen Kragenspiegeln der Luftnachrichtentruppe trug. »Ich sehe nichts, Pitzmaus«, stellte der Leutnant fest. »Nur das übliche Flimmern!« »Moment, das werden wir gleich haben«, sagte Pitzmaus und betätigte ein Handrad. Die Bedienungskabine und mit ihr die an einem zehn Meter hohen Mast befindliche, über die künstliche Düne hinausragende Gitterantenne (von den Spezialisten »Matratze« genannt) drehten sich auf einem Zahnkranz nach links. Die Sendeantenne strahlte elektromagnetische Wellen aus, die unsichtbar über die Deutsche Bucht huschten, auf in der Luft befindliche Objekte prallten, von diesen reflektiert wurden und innerhalb von Sekundenbruchteilen zur Empfängerantenne des Freya-Geräts zurückgejagt wurden. Als kleine Lichtreflexe waren sie dann auf den Röhren in der Bedienungskabine zu sehen. »So, jetzt sehen Sie sich mal an, was da draußen los ist, Herr Leutnant«, sagte Gefreiter Pitzmaus, als er die kleinen Bildschirme für Feinübersicht und Entfernungsmessung entsprechend eingestellt hatte. »Hier!« Er deutete mit dem Zeigefinger auf deutlich sichtbare Lichtimpulse auf den Bildschirmen.
»Einhundertunddreizehn Kilometer nordwestlich von uns«, stellte der Leutnant fest, nachdem er eine Weile die Radarechos beobachtet und die Entfernung sowie die Richtung der vom Freya-Gerät erfaßten Objekte an Meßskalen festgestellt hatte. »Ganz genau, Herr Leutnant!« stimmte Pitzmaus zu. »Das sind Flugzeuge«, sagte der Leutnant sofort darauf. »Und sogar eine ganze Menge.« »Ganz richtig, Herr Leutnant«, sagte Pitzmaus leise. »Deshalb haben wir Sie auch ans Gerät gerufen. Denn soweit wir wissen, ist bei uns keine Meldung darüber eingegangen, daß sich ein großer deutscher fliegender Verband in der Luft befindet.« »Genau!« nickte der Leutnant. »Es ist außerdem ungewöhnlich, daß die Flugzeuge aus nordwestlicher Richtung auf die deutsche Nordseeküste zukommen.« »Und um was kann es sich demnach nur handeln, Herr Leutnant?« fragte Pitzmaus mit einem lauernden Unterton in der Stimme. Sekunden später kam die Antwort: »Um Engländer!« Zum drittenmal war das Wort »Genau« im Stand des Funkmeßgerätes zu hören. Diesmal kam es aus dem Mund des Funkgefreiten Pieper. Der Leutnant nahm den Hörer vom Feldtelefon und drehte die schwarze Induktorkurbel kräftig durch. Der dadurch erzeugte Schwachstrom jagte durch eine direkte Telefonleitung, die zwischen dem Funkmeßgerät in den Sanddünen der Nordseeinsel Wangerooge und dem Gefechtsstand des Jagdgeschwaders 1 (JG 1) in Jever/Ostfriesland bestand. Kommodore dieser erst vor kurzem neu aufgestellten Einheit war Oberstleutnant Carl Schumacher, der auch als »Jagdfliegerführer Deutsche Bucht« (abgekürzt: Jafü) fungierte.
Wenn er den Befehl dazu gab, konnten innerhalb von wenigen Minuten folgende fliegenden Verbände zur Abwehr feindlicher Flugzeuge im Großraum Deutsche Bucht starten: Die III. Gruppe des Jagdgeschwaders 77 unter Hauptmann Seliger vom Flugplatz Nordholz bei Cuxhaven; die Jagdgruppe 101 unter Major Reichardt, von der eine Jägerstaffel in Westerland/Sylt lag, zwei weitere befanden sich in Neumünster; die 10. Nachtjagdstaffel des JG 26 unter Oberleutnant Steinhoff in Jever; die I. Gruppe des Zerstörergeschwaders 76, ebenfalls in Jever, und die II. Gruppe des JG 77 auf der Insel Wangerooge. Und auf diese Gruppe kam es in der bevorstehenden Luftschlacht ganz besonders an. Das waren insgesamt bis zu 100 Jäger und Zerstörer. Ein zu jener Zeit sehr großer Luftabwehrverband; denn der Zweite Weltkrieg war erst etwa drei Monate alt, und zu größeren Kampfhandlungen mit England in der Luft war es bis dahin noch nicht gekommen. »Bretterbude!« war die dunkle Stimme eines Telefonisten von der Vermittlung auf dem Flugplatz Jever zu hören. »Den OvD!« verlangte der Leutnant. »Und das mit affenartiger Geschwindigkeit!« »Ich verbinde!« sagte der Telefonist aus Jever. Kurz darauf meldete sich der Offizier vom Dienst aus dem Gefechtsstand des Kommodore. Der Leutnant der Luftnachrichtentruppe erstattete Meldung darüber, was er mit seinem Freya-Gerät geortet hatte. Zum Schluß erklärte er: »Wenn der fliegende Verband Kurs und Geschwindigkeit beibehält, erreicht er in etwa zwanzig Minuten die deutsche Küste im Raum Jadebusen.« »Erzählen Sie keine Märchen!« stieß der OvD barsch hervor. »Von unserem ganzen Geschwader befindet sich kei-
ne Mühle in der Luft. Außerdem liegt über einen Einflug von feindlichen Maschinen keine Meldung vor.« »Sie haben doch gerade gehört, daß ich Ihnen einen Feindeinflug gemeldet habe«, konterte der Leutnant aus der künstlichen Düne ebenso scharf. »Es handelt sich um mehrere Maschinen, die wir einwandfrei geortet haben.« Kurzes Schweigen auf der Gegenseite. Dann aber eine Feststellung in bösem Ton: »Ich darf Sie daran erinnern, daß Sie uns schon einige Fehlmeldungen geliefert haben.« »Zugegeben«, erfolgte prompt ebenso kühl die Antwort. »Vergessen wir aber dabei nicht, daß wir als Versuchstrupp völliges Neuland betreten haben. Inzwischen haben wir viel dazugelernt. Deshalb sind wir uns diesmal ganz sicher: Ein feindlicher Flugverband kommt auf uns zu!« »Trotzdem kann ich keinen Startbefehl geben, Verehrter. Der Kommodore ist zur Zeit nicht erreichbar. Warten wir ab, was weiter geschieht. Wenn die Tommys wirklich kommen sollten, dann erwischen wir sie schon. Ende.« Es knackte in der Leitung. Dann war sie »tot«. Die Klingel in dem dunkelbraunen Bakelitkasten ertönte. Das Abläutesignal für die Vermittlung, die dadurch verständigt wurde, daß das Gespräch beendet war. Enttäuscht legte der Leutnant in der künstlichen Düne den Hörer auf den Feldfernsprecher. »Der Feindverband steht im Raum Helgoland, Herr Leutnant«, meldete Funkgefreiter Pitzmaus. »Er hat den Kurs geändert und fliegt nun mit Südkurs auf den Jadebusen zu.« »Versuchen Sie es doch mal bei unseren Jägern, Herr Leutnant«, schlug Gefreiter Pieper vor. »Die wissen doch, wie unser Kasten hinhaut.« Denn mit den auf der Insel Wangerooge stationierten Jägern vom JG 77 hatten die Radarfunker schon einige erfolgreiche
Versuche mit ihrem Freya-Gerät durchgeführt. »Ob es klappt, weiß ich nicht«, meinte der Leutnant. »Aber versuchen will ich es.« Er rief über eine direkte Leitung den Gefechtsstand der Wangerooger Abfangjäger an. Der dortige OvD meldete sich. Der Funkmeßleutnant informierte ihn darüber, welche Gefahr aus der Luft drohe. »Das ist ja ein tolles Ding!« stieß der OvD aufgeregt aus. »Aber mehr kann ich auch nicht dazu sagen«, schränkte er sofort ein. »Der Kommandeur ist zur Zeit nicht hier. Ich selbst kann keinen Startbefehl auf eigene Kappe erteilen. Aber ich werde mich um die Angelegenheit kümmern. Wenn wir Starterlaubnis bekommen, melden wir uns bei Ihnen. Klar?« »Damit muß ich mich wohl zufriedengeben«, antwortete der Nachrichtenleutnant enttäuscht. Er legte den Hörer auf und drehte die Induktorkurbel zum Abläuten. »Das ist doch zum Kotzen!« rief Gefreiter Pieper wütend. »Wir melden einen Haufen Bomber, und von den hohen Herren rührt sich kein Aas. Ich glaube, die werden erst wach, wenn ihnen die Bomben auf die Köpfe fallen.« Das war eine Vermutung. Doch sie war richtig. Aber was wirklich bei der Royal Air Force geschehen war, wußte auf deutscher Seite keiner. Folgendes nämlich: * »Skipper an Besatzung!« rief Wing Commander (Oberleutnant) Terry Brown über das Intercom (Bordsprechanlage) in dem zweimotorigen Bomber vom Typ »Wellington«. »Sofort Klarmeldungen durchgeben!«
Von dem Bordfunker und aus zwei MG-Ständen kamen die Antworten: »Alles klar, Skipper!« Nur Corporal (Unteroffizier) George Allen, der Bordschütze hinter dem Zwillings-MG (Kaliber 7,7 mm) im Heckstand des Bombers schwieg. »George, sind Sie eingeschlafen?« rief Pilot Officer (Leutnant) Rob Hunter (Navigator) mit scharfer Stimme über das Intercom des Bombers, dessen zwei Pegasus-Sternmotoren mit je 1000 PS im Leerlauf tuckerten. »Mir paßt der verdammte Nebel auf unserem Flugplatz nicht. Wer weiß, wie es in Germany aussieht. Das ist ein Wetter für die Entenjagd, aber nicht zum Bomben werfen«, schimpfte der kleine Corporal mit den rötlichen Haaren aus dem absprengbaren Heckstand. George Allen war der größte Spaßvogel in der ganzen Squadron. »Uns paßt dieser ganze Scheißkrieg nicht!« donnerte der Navigator los. »Also, wie steht es bei Ihnen? Alles klar?« »Natürlich! Bis auf den grauen Dunst...« »Shut up, George!« mischte sich Wing Commander Brown mit ruhiger Stimme ein. »Wir starten!« Er schob die Gashebel nach vorn. Die Motoren dröhnten lauter. Die Propeller wirbelten in unsichtbaren Kreisen rasend schnell herum. Der Commander schaltete die Positionslampen ein und nahm die Füße von den Bremspedalen. Der Bomber machte einen Satz nach vorn und rollte dann über die Betonpiste, auf der graue Dunstschleier wallten. Als das weiße Hecklicht von Browns »Wellington« am Ende der Startbahn in die Höhe stieg, startete der nächste Bomber der 9. Squadron. Ähnliche Szenen spielten sich auch auf den Flugplätzen der 37. und 149. Bombersquadron ab.
Alle »Wellingtons« gingen auf Kurs zum Raum The Wash, in dem sich der vorher festgelegte Sammelpunkt befand. Wing Commander Browns Maschine traf als erste im Rendezvousraum ein. »Wir kreisen. Gut aufpassen! Gebt mir Bescheid, wenn alle da sind.« Aus drei Hauptrichtungen näherte sich das Gewirr der roten, grünen und weißen Lichter dem Sammelraum; denn alle Bomber flogen mit eingeschalteten Positionslichtern. »Abflug, Skipper!« sagte Pilot Officer Hunter kurz darauf. »Alle Vögel sind da!« »Zweimal Grün schießen, Rob!« gab Brown dem Navigator Anweisung, denn das war das Signal für den Abflug. Bord-zu-Bord-Sprechfunk gab es zu der Zeit noch nicht. Alle Signale oder Fluganweisungen mußten deshalb mit Hilfe von Leuchtkugeln oder anderen visuellen Zeichen übermittelt werden. Rob Hunter betätigte die fest im Rumpf eingebaute Leuchtpistole. Nach einem dumpfen Knall flogen zwei grüne Leuchtkugeln durch den grauen Dunst. Die Bomber bildeten vier Gruppen und flogen in Richtung Küste ab. An der Spitze Wing Commander Browns »Wellington«. »Licht aus, Rob!« befahl Brown dem Navigator, als voraus die Küste auftauchte. Hunter betätigte einen Kippschalter. Die Positionslampen erloschen. Sofort darauf schalteten auch die übrigen Besatzungen ihre Lichter aus. »Cromer, Skipper!« sagte Hunter kurz darauf und deutete mit der rechten Hand nach unten, wo im grauen Dunst die Umrisse der größeren Stadt zu erkennen waren. »Überfliegen und dann auf fünfundzwanzig Grad gehen!« lautete seine nächste Anweisung.
Brown brauste über die Küste hinweg und ließ dann am Kompaß die vom Navigator angegebene Gradzahl einlaufen. Neben und hinter ihm drehten auch alle übrigen »Wellingtons« auf den neuen Kurs ein. In etwa 1000 Metern Höhe flog der Verband über die Nordsee. Generalkurs: Die deutsche Insel Helgoland! Ihr Kampfauftrag: Bombardierung von deutschen Kriegsschiffen aus einer Höhe von über 3000 Metern! »Die Mets (Jargonwort für Meteorologen) haben tatsächlich recht gehabt, Terry. Der Dunst lichtet sich immer mehr«, sagte Rob Hunter, als die Bomber ungefähr die Hälfte der Strecke bis zum Wendepunkt zurückgelegt hatten. »Das paßt mir gar nicht so recht in den Kram«, erwiderte der Commander und verzog die schmalen Lippen. »Wieso?« Leichte Verwunderung schwang in dem Fragewort mit. »Denk an die deutschen Jäger«, antwortete Brown. »Denk an unsere Feuerspritzen, die sind auch nicht von Pappe«, meinte Hunter ruhig. »Und an unsere Abwehrtaktik«, setzte er noch hinzu. Den Besatzungen des Bomber Command (Bomberkommando) war vorher immer wieder eingehämmert worden, wie sie sich bei Jägerangriffen zu verhalten hatten: Ganz dicht nebeneinander fliegen! Sozusagen Tragfläche an Tragfläche; dadurch sollte eine äußerst konzentrierte Feuerkraft erreicht werden. Von den insgesamt sechs 7,7-mm-Browning-MG in jeder Maschine waren zwei in einem nach allen Seiten schwenkbaren Waffenstand am Heck der Bomber angebracht. Aufgrund dieser zu jener Zeit wirklich enormen Verteidigungsmöglichkeit nahm die Führung des britischen Bomber Command (eine spezielle Abteilung innerhalb der Royal Air Force) an, daß sie die »Wellingtons«
bei Tage und auch ohne Jagdschutz auf Feindflüge nach Deutschland schicken konnte. »Na ja, wir werden ja sehen, was auf uns zukommt«, schloß Brown das Thema ab. »Noch hat sich keiner von den Jerrys (Jargonwort für Deutsche) blicken lassen.« Die Sicht verbesserte sich immer mehr, je weiter die Bomber über die Nordsee nach Nordosten vorstießen. »In fünf Minuten erreichen wir den Wendepunkt, Terry«, sagte der Navigator, als voraus am Horizont die Insel Helgoland auftauchte. Hunter blickte immer wieder auf die Borduhr am Armaturenbrett. »Noch eine Minute!« informierte er den Commander. Die letzten Sekunden zählte er laut mit. Nach dem »Zero!« rief er sofort: »Auf einhundertundzwanzig Grad eindrehen, Terry!« Der Wing Commander steuerte den Bomber in einer Rechtskurve auf die vom Navigator angegebene Gradzahl, um ihn dann wieder geradezulegen. Der gesamte Verband machte den großen Schwenk mit. Er flog jetzt auf Generalkurs Jadebusen/Wesermündung. Kurz darauf wurden die Bomber von dem deutschen Freya-Gerät in der künstlichen Düne auf Wangerooge geortet. Weder Wing Commander Brown noch alle übrigen Flieger seines Verbandes ahnten etwas davon, was auf deutscher Seite los war und daß sie sozusagen in ein Netz der geheimen Kriegsführung hineingeraten waren. Denn keinem einzigen Mann vom britischen Bomber Command war zu dem Zeitpunkt bekannt, daß es überhaupt Radargeräte gab. »Das ist doch zum Kotzen! Kein einziges Schiff ist zu sehen«, schimpfte Pilot Officer Hunter, der in die Runde blickte und den Seeraum absuchte.
Und mit ihm auch die Flieger in den übrigen Bombern. Sie alle konnten aus den in über 3000 Metern Höhe fliegenden Bombern bei der klaren Sicht den gesamten Raum Schillig-Reede, Jade- und Wesermündung gut überblicken. Aber von dem, was sie bombardieren sollten, war weit und breit nichts zu sehen. »Und was nun, Skipper?« Rob Hunter blickte seinen Piloten von der Seite an. Der Commander sah starr nach vorn, als er antwortete: »Wir behalten den Kurs bei! Lassen Bremerhaven links liegen...« Weiter kam er nicht; denn links von der Wellington zuckte ein greller Blitz auf, dem sofort ein zweiter folgte. Der Bomber schleuderte zur Seite und sackte durch. Brown und sein Navigator flogen in die Höhe und klatschten wieder auf ihre Schalensitze zurück. Die Männer hinter ihnen im Rumpf wurden durcheinandergewirbelt, griffen um sich und klammerten sich irgendwo fest. »Was war da denn los?« tönte die Stimme des kleinen Corporals Allen aus dem Heckstand über das Intercom. Er bekam keine Antwort. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte der Commander die Maschine wieder im Griff. Er, Hunter und auch alle übrigen blickten nach draußen und stellten fest, daß über, unter, rechts und links vom Bomberverband pausenlos Granaten mit zuckenden Blitzen detonierten. Sie hinterließen schwarze Rauchwölkchen, die nach hinten wegwirbelten. »Zieh nach oben, Terry, damit wir aus dem Mist herauskommen!« rief Rob Hunter aufgeregt. »Ruhe! Ruhe!« beschwichtigte ihn der Commander. Er zog die Steuersäule an. Die »Wellington« stieg langsam nach oben.
»Allen!« rief er den Heckschützen an. »Kommen die anderen hinter uns her?« »Yes, Sir!« erwiderte der kleine Corporal sofort, der hinter dem ZwillingsMG saß. »Unter uns blitzt überall Mündungsfeuer auf. Es sieht so aus, als würden dort Hunderte von Feuerwerksfröschen herumspringen.« Das waren die schweren FlakBatterien, die im Großraum Bremerhaven in Stellung gegangen waren. Die Kanoniere hatten erkannt, was auf die deutsche Küste zukam. Deshalb feuerten sie, was die Rohre hergaben. Wing Commander Brown flog Abwehrbewegungen. Seine übrigen Besatzungen folgten seinem Beispiel. Später nannte man diese Flugbewegungen »Flak-Walzer.« Obwohl pausenlos Granaten an dem fliegenden Verband detonierten, geriet keiner der Piloten in Panik. Sie behielten alle ihre Positionen in den jeweiligen Gruppen bei und flogen stur durch das deutsche Abwehrfeuer. Es ließ nach, je weiter die Bomber nach Süden vorstießen. »Unser Gespräch war vorhin unterbrochen worden, Terry«, sagte Rob Hunter in einem ruhigen Ton, als würde er sich in der Offiziersmesse in England und nicht am Himmel über Deutschland befinden. »Ach ja, richtig«, ging Wing Commander Brown auf ihn ein. »Also, wie gesagt, wir lassen Bremerhaven links liegen, schwenken ein, fliegen eine kurze Strecke über das Land und greifen Wilhelmshaven direkt von Südosten her an. Denn dort sollen die dicken Pötte liegen.« »In Ordnung!« stimmte Rob Hunter zu und gab seinem Piloten die Gradzahlen bekannt, die zum Ziel führten. In Wilhelmshaven heulten die Sirenen, als sich die Bomber näherten. Die dort stationierten schweren 8,8-cmGeschütze eröffneten das Feuer. Wieder hüllten Detonationsblitze und
schwarze Rauchwolken die britischen Bomber ein, die erneut Abwehrbewegungen flogen. »Wie sieht es dort unten aus, Rob?« fragte Wing Commander Brown seinen Navigator. »Da liegen ein paar Kriegsschiffe...« »Dann ran an den Speck!« unterbrach ihn Brown impulsiv. »Laß mich doch erst einmal ausreden«, rief Rob Hunter schnell. »Die Pötte liegen so dicht an der Küste und im Hafen, daß wir sie nicht bepflastern können...« »Warum nicht?« fiel ihm der Pilot wieder in die Rede. »Die Zivilbevölkerung könnte dabei zu Schaden kommen, Terry«, erwiderte der Navigator. Die Besatzungen des britischen Bomber Command waren vor dem Feindflug nämlich ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß nur kriegswichtige Ziele bombardiert werden dürfen. Auf gar keinen Fall sollte die deutsche Bevölkerung durch die Bombardierungen Schaden erleiden. Diese strengen Anweisungen gab es auch für die Besatzungen der deutschen Luftwaffe, die nach England flogen. Sie durften nur militärisch wichtige Ziele angreifen. Zu jener Zeit herrschte im Luftkrieg auf beiden Seiten noch eine Fairneß, die es später nicht mehr gab. Rob Hunter sah nach unten auf das große, von ausgebuchteten Rändern umgebene Dreieck des Jadebusens. Er wollte seinem Piloten gerade neue Anweisungen geben, da stiegen plötzlich von der weiten Wasserfläche bläßlich schimmernde Geschoßketten von leichten und mittleren Fla-Geschützen in die Höhe. Wenig später feuerten auch schwere Kaliber, deren Granaten bei dem Bomberverband detonierten und schwarze Rauchwölkchen hinterließen.
»Terry, da gibt es etwas für uns«, rief Hunter aufgeregt. »Vier große Pötte! Mitten im freien Wasser.« Wing Commander Brown blickte nach vorn, erkannte die Kriegsschiffe ebenfalls und steuerte auf sie zu. »Weiter so!« rief Rob Hunter, der am Bombenzielgerät lag und sah, wie die deutschen Kriegsschiffe in die Optik einliefen. Direkt neben dem Bomber zuckte ein greller Blitz auf. Die »Wellington« schleuderte zur Seite. »Halt den Vogel gerade!« schrie Hunter. Plötzlich merkten er und die übrigen der Besatzung, daß eiskalte Luft in die Kabine strömte. »Was ist passiert?« rief der Commander. »Ein großer Granatsplitter hat die Rumpfwand durchschlagen. Das Loch ist etwa faustgroß«, antwortete der Funker mit ruhiger Stimme. »Sonst liegt weiter nichts an«, setzte er hinzu. »Dann wieder Kurs auf die Schiffe, Terry!« rief Rob Hunter dem Commander zu. Brown sah wieder nach vorn. Die Kriegsschiffe feuerten immer noch und waren inzwischen näher auf die anfliegenden Bomber zugekommen. Aber es bestand immer noch genügend Abstand und Zeit, um sie mit Bomben zu erwischen. »Achtung, ich werfe!« rief der Navigator. Die Bomben purzelten Sekunden später aus dem Bombenschacht und sausten zum Wasser hinunter. Rob Hunter kam vom Bombenzielgerät hoch, setzte sie wieder neben den Piloten und blickte zur Seite aus dem Cockpit. »Kannst du Wirkung erkennen, George?« rief er dem Schützen im Heckstand zu, der den Einschlag der Bomben genau beobachten konnte. »Die Eier (Jargon) schlagen bei den Schiffen ein«, erwiderte der kleine Al-
len. »Wasserfontänen spritzen hoch, aber mehr kann ich auch nicht erkennen.« »Wie sieht es bei den anderen aus, Allen?«.rief der Commander dem Heckschützen zu. »Moment, Sir, da tut sich noch nichts.« Sekunden vergingen. Kurze zeitliche Augenblicke, die aber den Besatzungen des Bomber Commands im heftigen deutschen Abwehrfeuer wie Ewigkeiten vorkamen. Denn immer noch und immer wieder zuckten die hellweiß gleißenden Detonationsblitze an allen Ecken und Enden des Bomberverbandes. Granatsplitter fetzten da und dort durch die Rümpfe der Bomber, schrammten an ihnen vorbei, rissen Teile von Tragflächen und Leitwerken weg. Aber zu einem Abschuß oder auch Absturz kam es nicht; denn aufgrund ihrer speziellen Konstruktion konnte die »Wellington« ziemlich viel »einstecken«. Die Bomber wurden von den durch die Granatdetonationen erzeugten Luftdruckwellen hin und her geschleudert oder geschoben. Doch die Piloten glichen diese Unregelmäßigkeiten immer wieder geschickt aus und brachten ihre Maschinen in die Normallagen zurück. »Commander!« plärrte Corporal Allens Stimme über das Intercom. »Einige von unseren Maschinen werfen ebenfalls ihre Eier!« »Aufpassen, ob sie treffen!« rief Brown zurück. Sekunden vergingen! »Und? Wie sieht es jetzt aus, Allen?« rief Brown, der mit seiner »Wellington« längst über die deutschen Schiffe hinweggeflogen war. »Die Einschläge liegen dicht bei den Schiffen«, erwiderte Corporal Allen. »Ich kann aber nicht sehen, ob tatsächlich Treffer erzielt worden sind.«
»Dann nichts wie raus aus diesem Feuerzauber, Terry«, rief Rob Hunter mit erregter Stimme. »Volle Pulle auf die Motoren! Klettere auf viertausend! Kurs Null Grad!« Wing Commander Brown schob die Gashebel auf Höchstleistung. Der Motorenlärm schwoll an. Die »Wellington« zitterte und vibrierte unter den rasenden Umdrehungen der Propeller. Brown zog die Steuersäule an. Der schwere Bomber glitt mit einem Ruck nach oben und stieg immer höher in den klaren winterlichen Himmel. Brown und Hunter blickten auf den Höhenmesser. Als sie auf über 4000 Meter angekommen waren, ging Brown wieder in den Geradeausflug über. »Wie sieht es beim Verband aus, Allen?« fragte Brown. Der kleine Corporal im Heckstand überblickte den Luftraum hinter der Führer-«Wellington« und antwortete: »Der Verband ist etwas auseinandergeraten, Skipper. Aber die Jungs schließen bereits wieder auf und kommen hinter uns her.« »Nimm die Gashebel zurück, Terry«, sagte Rob Hunter. »Dann erreichen sie uns schneller.« Es geschah. Die »Wellington« ging in den Reiseflug über. Von allen Seiten kamen die Bomber auf Browns Maschine zu, bildeten die Formationen, in denen sie angeflogen waren und mit denen sie jetzt wieder den Rückflug nach England antraten. Der gesamte Verband stieß über die Nordsee immer weiter nach Norden vor. »Na ja, die deutsche Ack-ack (englisches Jargonwort für Flak) hat uns zwar kräftig Feuer unter den Hintern gemacht, aber erwischt haben sie keinen von uns«, meinte Rob Hunter, als vor ihnen, diesmal rechts querab, die Insel Helgoland auftauchte. »Ich frage mich allerdings schon die ganze Zeit
über: Wo bleiben die deutschen Jäger?« »Das hätten Sie besser nicht gesagt«, war die Stimme des Heckschützen George Allen kurz darauf im Intercom zu hören. »Wieso?« fragte der Navigator verdutzt. »Von hinten flitzen ein paar komische Vögel auf uns zu«, antwortete Corporal Allen. »Ich kann sie aufgrund der weiten Entfernung noch nicht genau identifizieren. Aber ich glaube, das sind Jerrys!« Der kleine Corporal mit den rötlichen Haaren hatte recht. Die deutschen Jagdverbände waren endlich aus ihrer Lethargie erwacht und traten in größerem Stil zum Angriff an. Dadurch kam es im Großraum Deutsche Bucht zur ersten großen Luftschlacht des Zweiten Weltkriegs zwischen deutschen und britischen fliegenden Verbänden. Die Jäger von Wangerooge waren mit dabei! Und auch das Freya-Gerät in der künstlichen Düne! * Der Feldfernsprecher klingelte. Der Leutnant der Luftnachrichtentruppe hob den Hörer ab, drückte die an ihm angebrachte Sprechtaste und meldete sich. »Wir haben Startbefehl bekommen, Leutnant«, klang die Stimme des inzwischen wieder zurückgekehrten Kommandeurs der Jäger durch die direkte Telefonverbindung vom Flugplatz zu dem Radargerät in den Dünen. »Können Sie mir sagen, wo die Tommys stehen?« Mit den Worten drang auch der Lärm von Flugzeugmotoren an das Ohr des Nachrichtenoffiziers. »Selbstverständlich, Herr Major«, antwortete der Leutnant. »Seit etwa vierzig Minuten verfolgen wir sie...« »Keine langen Reden, Mensch!« unterbrach ihn die hastige Stimme des
Jägerkommandeurs. »Wo stehen die Brüder?« »Sie sind auf Nordkurs abgeflogen, Herr Major...« »Wo sie stehen, will ich wissen!« unterbrach ihn der Kommandeur der Jäger ungestüm. »Dazu müssen wir erst neue Messungen durchführen, Herr Major.« »Tun Sie das! Wir starten jetzt. Schalten Sie unsere Sprechwelle ein. Wenn wir in der Luft sind, melde ich mich wieder. Dann geben Sie mir die neuesten Meßwerte durch. Verstanden?« »Geht in Ordnung, Herr Major! Ende!« Ein kalter Windhauch trug den immer lauter werdenden Motorenlärm vom Jägerflugplatz zu den Luftnachrichtensoldaten in den Dünen hinüber. In schneller Folge starteten die Me 109 der II. Gruppe des JG 77, die dem Jagdgeschwader 1 unterstellt waren. Die Jäger drehten eine Platzrunde, gingen dabei auf Höhe und flogen zur See hin ab. »Funksprechgerät auf Jägerwelle einstellen, Pitzmaus«, befahl der Leutnant in der künstlichen Düne. Er bewegte ein Handrad und blickte zusammen mit dem Gefreiten Pieper auf die Bildschirme. Die AntennenMatratze drehte sich und blieb plötzlich stehen. »Da sind sie wieder!« stieß der Leutnant mit leisem Triumph in der Stimme aus. Auf den grünlich leuchtenden Bildschirmen erschienen die über die Nordsee abfliegenden Feindbomber als flimmernde Pünktchen. »Standort notieren, Pieper! Verbindung zu den Jägern herstellen, Pitzmaus!« befahl der Leutnant. Gefreiter Pitzmaus hängte den Bügel mit den Kopfhörern um den Hals und drehte an den Feinabstimmungen für Sender und Empfänger. »Hier Emil!
Hier Emil! Radfahrer, bitte kommen!« sprach er ins Mikrofon. Es rauschte und knisterte in den Kopfhörern. »Hier Radfahrer. Hier Radfahrer!« meldete sich der Stellvertreter des Kommandeurs, da dieser wegen Motordefekts den Feindflug hatte abbrechen müssen. Die Verbindung zwischen dem Radargerät und den am Himmel befindlichen Jägern war damit hergestellt. »Jetzt heißt es aufpassen!« rief der Leutnant seinen beiden Funkern zu. »Es muß uns gelingen, die Jäger auf dem kürzesten Weg an die Tommys heranzubringen.« »Gib mir die Position der Tommys an!« verlangte Pitzmaus von dem Gefreiten Pieper. Er bekam sie kurz darauf. »Achtung, Radfahrer!« rief Pitzmaus danach ins Mikrofon. »Caruso (Kurs) eins, null (= 10 Grad). Hanni (Feindhöhe) drei, null, null, null (3000). Kuriere (feindliche 2-mot. Flugzeuge) fliegen in Richtung Helgoland.« »Viktor«. (Verstanden) Viktor!« tönte es aus dem Äther zurück. Gespannt verfolgten die drei Männer im Freya-Gerät die Wanderung der flimmernden Pünktchen auf den Bildschirmen. »Jetzt kann doch nicht mehr viel schiefgehen«, meinte Gefreiter Pieper. »Unsere Jäger müßten in wenigen Minuten die Tommys mit eigenen Augen sehen.« »Durchaus möglich«, stimmte ihm der Leutnant zu. »Aber warten wir erst einmal ab, was noch passiert.« Die Worte waren ein paar Minuten alt, da rief Gefreiter Pieper überrascht: »Was ist denn da los, Herr Leutnant? Die Tommys sind verschwunden!« »Tatsächlich!« sagte der Nachrichtenoffizier verblüfft, als er sah, daß sämtliche Radarimpulse von den Bildschirmen verschwunden waren.
»Gerät sofort überprüfen!« ordnete er an. »Sie helfen mit, Pitzmaus.« Die Funker überprüften schnell alle Möglichkeiten, die zu einer Störung führen konnten. Ergebnis: Das Gerät war intakt. »Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit«, sagte der Leutnant. »Die Tommys haben plötzlich den Kurs geändert. Und wir haben das nicht mitbekommen. Suchen!« Mit Hilfe der Handräder schwenkte die Kabine samt Antenne nach links. Der Leutnant und Gefreiter Pieper blickten gespannt auf die Bildschirme. Aber es erschienen keine Radarimpulse. In den Kopfhörern des Gefreiten Pitzmaus plärrte die Stimme des Offiziers, der die Jäger führte. »Herr Leutnant!« rief Pitzmaus. »Der Verbandsführer meldet, daß der Luftraum dort leer ist, wo wir sie hingeschickt haben. Weit und breit ist nichts von den Tommys zu sehen. Er verlangt neue Positionsangaben.« »Er soll warten! Sagen Sie ihm das. Neue Werte werden so schnell wie möglich durchgegeben.« Während die Worte aus dem Mund des Leutnants sprudelten, drehte er immer noch langsam an dem Handrad. Die Kabine samt Antenne schwenkte auf einem Zahnradkranz am Boden nach Westen. »Wenn wir sie nicht wiederfinden, ist der ganze Einsatz im Eimer, Herr Leutnant«, sagte Gefreiter Pieper mit düsterer Stimme. »Dann können wir uns auf dem Flugplatz nicht mehr sehen lassen.« »Abwarten, abwarten!« erwiderte der Nachrichtenoffizier verhalten, drehte langsam am Rad und ließ den Blick nicht von den noch immer leeren Bildröhren. Sekunden darauf erschienen am linken Rand des Schirms kleine flirrende Punkte.
Vorsichtig drehte der Leutnant das Freya-Grät weiter in westliche Richtung. Die einzelnen Pünktchen verdichteten sich immer mehr zu einer Art künstlichem Sternbild, das grünlich schimmerte. »Da haben wir sie wieder«, rief der Leutnant triumphierend. »Höhe, Seite und Entfernung messen, Pieper!« In aller Eile wurden die ermittelten Werte auf den Skalen abgelesen. Das Ergebnis: Die Engländer hatten tatsächlich überraschend den Kurs geändert. Sie waren vom Nordkurs abgewichen und befanden sich jetzt auf Westkurs in Richtung England. »Los, Pieper, mitmachen! Jetzige Position unserer Jäger orten!« Die Handräder wurden wieder gedreht. Das Freya-Gerät schwenkte nach rechts. Kurz darauf erschienen die Jäger auf den Bildschirmen. Ihre Position wurde genau festgestellt. Auf der bereitliegenden Karte verband Pieper schnell die beiden ermittelten Positionen mit einem Bleistiftstrich. Alle Werte wurden Pitzmaus zugerufen. »Radfahrer, bitte melden!« Sofort darauf war die Stimme des Verbandsführers zu hören. »Kuriere haben plötzlich Caruso geändert. Expreß (schneller fliegen) auf Caruso zwei, sechs, null. Hanny drei, null null.« »Viktor! Viktor!« »Jetzt müssen wir am Ball bleiben«, sagte der Leutnant, »damit uns die Tommys nicht wieder entwischen.« Die Funker drehten das Freya-Gerät in westliche Richtung, bis wieder die Feindbomber radarmäßig zu sehen waren. »Zurückdrehen!« befahl der Leutnant. Jetzt erschienen wieder die Jäger. Sie hatten den Kurs geändert und rasten hinter den Bombern her. Von nun an schwenkte das FreyaGerät ständig zwischen den beiden fliegenden Verbänden hin und her.
Diese Drehbewegungen verkleinerten sich schnell. »Der Abstand wird immer geringer, Herr Leutnant«, rief Gefreiter Pieper. »Unsere Jäger erwischen die Tommys noch!« Plötzlich sahen die drei einsamen Männer rechts am Rand der Bildschirme flimmernde Pünktchen. »Das sind unsere Jäger!« rief der Leutnant. Die verfolgten Bomber und die in ihnen auf den Fersen sitzenden deutschen Jäger befanden sich damit gemeinsam im Meßbereich des FreyaGeräts, und damit war zum erstenmal der Einsatz eines fliegenden Verbandes mit Hilfe eines Radargeräts geglückt. In den Kopfhörern des Gefreiten Pitzmaus klirrte die Stimme des Verbandsführers: »Wir sehen sie. Sie fliegen vor uns her! Wir machen gleich Pauke, Pauke!« (Angriff) * »Skipper, da kommen noch welche auf uns zu!« rief Corporal Allen in Wing Commander Terry Browns »Wellington«. »Verdammt noch mal! Hat das denn gar kein Ende!« stieß der Commander wütend aus. Denn er und sein Verband waren bereits mehrmals angegriffen worden. Deshalb war er im Glauben, daß alles vorüber gewesen sei und er die Reste seiner einstmals so stolzen Gruppe in Ruhe nach England würde zurückführen können. Aber es half alles nichts. Er und die übrigen Besatzungen mußten sich dem erneuten Angriff steilen. Wie eine vor einem Orkan Schutz suchende Tierherde schlossen sich die Bomber enger zusammen. Die ersten Jäger rasten heran und feuerten. Aus den Heckständen der »Wellingtons« schlug ihnen das kon-
zentrierte Feuer der Zwillings-MG entgegen. Obwohl sich Commander Browns Gruppe nochmals verzweifelt wehrte, holten die deutschen Jäger noch drei Feindbomber vom Himmel. Dann mußten sie abdrehen, um mit den noch vorhandenen Benzinreserven den heimatlichen Flugplatz zu erreichen. * Wie bereits erwähnt, nahmen nicht nur die mit dem Radargerät geführten Jäger an dieser ersten großen Luftschlacht teil, sondern auch das gesamte Jagdgeschwader 1 unter Oberstleutnant Carl Schumacher. Über die in dieser Luftschlacht erzielten Abschüsse liegen verschiedene Zahlen vor. Das Jagdgeschwader 1 verlor zwei Me 109 im konzentrierten Abwehrfeuer der dicht nebeneinander fliegenden »Wellingtons.« Die deutschen Jäger schossen 27 Bomber ab, davon der damalige Leutnant Jent, späteres Nachtjägeras und Brillantenträger, allein drei. Im offiziellen Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht hieß es: »34 britische Flugzeuge wurden nach hartem Kampf abgeschossen.« Englische Quellen gaben den Abschuß von zwölf Wellingtons zu. Ein exaktes Abschußergebnis liegt bis heute nicht vor. Auch etwas anderes ist nicht einwandfrei geklärt worden. Und zwar folgendes: Wie bereits angeführt, liegt dieser Darstellung ein englischer Bericht zugrunde, laut dem die britischen Flugzeuge tatsächlich Bomben auf deutsche Kriegsschiffe geworfen haben. Es gibt aber auch noch eine andere Version aufgrund von englischen Quellen, laut der keine Bomben auf deutsche Ziele geworfen wurden. Daraus ergibt sich die Vermutung, daß nicht nur ein Bomberverband an die-
sem Wintertag über die Deutsche Bucht und Wilhelmshaven geflogen ist, sondern zwei. Aber trotz aller Unklarheiten steht eines fest: In dieser Luftschlacht erfolgte der erste radargeführte Einsatz von Jägern durch das Funkmeßgerät »Freya«. Am Abend dieses Tages ging es auf dem Flugplatz Wangerooge verständlicherweise hoch her. Die Soldaten der Luftnachrichtentruppe standen im Mittelpunkt einer Feier. Vom damaligen Großdeutschen Rundfunk wurde eine Sondermeldung über den Erfolg des Jagdgeschwaders Schumacher ausgestrahlt. Doch in allen offiziellen oder halboffiziellen Berichten in Presse und Rundfunk, in der Wochenschau und bei verschiedenen Ehrungen war immer nur von den Jägern die Rede. Die Männer von der Luftnachrichtentruppe samt ihrem Radargerät wurden überhaupt nicht erwähnt. Man mußte sie einfach übergehen und totschweigen, weil sie und die Radargeräte im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkriegs noch eine wichtige Rolle spielen sollten. Und zum anderen auch deshalb noch, weil sie ein Bestandteil des Geheimkrieges waren, in dem sich keine kriegführende Nation gerne in die Karten blicken ließ. * Am 12. Januar 1941 kam es auf dem Gebiet der elektronischen Kriegsführung zu einem Höhepunkt in einem Duell zwischen einer englischen und einer deutschen fliegenden Einheit, das als einmalig bezeichnet werden darf. Kontrahenten waren die Nachtjägersquadron 604, ein Spezialverband des britischen Fighter Command (Jägerkommando) und somit ein Teil der Royal Air Force (RAF = britische Luft-
waffe). Und auf deutscher Seite die Kampfgruppe 100 (KGr 100); eine Bombereinheit für spezielle Einsätze mit Hilfe von elektronischen Mitteln. Die Abenddämmerung senkte sich über die flachen Hügel, die mit Baumund Sträuchergruppen bewachsen waren. Grauer, kalter Dunst kroch über den Flugplatz Middle Wallop in Südengland, nördlich von Southampton gelegen. Pilot Officer John Cunningham (damaliges Alter 24) schob den Gashebel für den rechten Motor seiner Bristol »Beaufighter« etwas nach vorn. Das Triebwerk heulte auf. Die schneller rotierende Luftscheibe riß die Maschine herum. Cunningham trat auf die Bremspedale. Der zweimotorige Nachtjäger blieb mit einem Ruck in Startrichtung stehen. »Alles klar, Jimmy?« fragte Cunningham über das Intercom seinen hinter ihm sitzenden Begleiter, der drei Funktionen ausüben mußte: Funker, Navigator und Bordschütze (Gunner). Es war Sergeant John (genannt »Jimmy«) Rawnsley. »Alles in Ordnung! Du kannst abschwirren!« antwortete Rawnsley. Die beiden Männer flogen schon lange zusammen. Cunningham hatte trotz seiner jungen Jahre eine beachtliche fliegerische Laufbahn hinter sich. Unter anderem war er Testpilot bei den weltberühmten Flugzeugwerken de Havilland gewesen. Und in der Squadron 604 war er inzwischen zum Commander des Flight B, bestehend aus drei Flugzeugen, ernannt worden. Cunningham schob die beide Gashebel zügig nach vorn und stemmte die Füße auf die Bremspedale. Die Hercules-Motoren dröhnten lauter. Die »Beaufighter« zitterte und bebte. Cunningham blickte auf die Tourenzähler, deren Zeiger auf der Skala schnell nach oben stiegen. »Achtung, Jimmy! Es geht los!«
Cunningham nahm plötzlich die Füße von den Bremspedalen. Die Zweimotorige ruckte nach vorn und raste in den grauen Dunst hinein. Rechts und links flitzten die Lampen der Startbahnbefeuerung an den beiden Nachtjägern vorbei. Von vorn kamen die roten Lichter der Flugplatzbegrenzung und der hellweiße Schein des künstlichen Horizonts immer schneller auf sie zu. Kurz davor zog Cunningham die Steuersäule an. Die »Beaufighter« hob ab und stieg in die Höhe. Der Pilot Officer fuhr das Fahrwerk und die Landeklappen ein. Drei Minuten später war die gesamte Platzbefeuerung hinter der im Steigflug befindlichen Maschine im dichten Dunst verschwunden. Dunkles Grau umhüllte die beiden einsamen Männer. Nur das grünliche Licht der Instrumentenbeleuchtung erhellte die Kabine notdürftig. »Wenn die Angaben des Wetterfrosches stimmen, dann stoßen wir in vier Minuten durch die Wolkenschicht«, durchbrach Cunningham das Schweigen, das sich zwischen ihn und seinen Hintermann gelegt hatte. Die Dunkelheit lichtete sich immer mehr. Der dichte Dunst löste sich in Fetzen auf, die am Cockpit vorbeischwirrten. Dann tat sich plötzlich vor den Augen der beiden Nachtjäger eine ganz andere Welt auf: Unter ihnen eine große gewellte Fläche, die weiß wie Watte war. Darüber am Himmel ein voller Mond, der die Wolkenschicht mit einem goldenen Schimmer übergoß. Die Sicht war ausgezeichnet und klar, so daß Myriaden von funkelnden Sternen am Himmel zu sehen waren. »Schalte deinen schwarzen Kasten ein, damit die Röhren warm werden!« rief Chunningham. »Wird gemacht!« antwortete Rawnsley und drückte einen geriffelten Kippschalter nach unten.
Dann preßte er die Augen an die Öffnung einer breiten Röhre, »Visier« genannt. Er blickte auf die beiden kleinen, nebeneinander angebrachten Bildschirme (heutige Fernsehschirme) des Air Interception-Geräts (kurz AI oder, im Fliegerjargon, auch »Schwarzer Kasten« genannt). Das Gerät arbeitete ebenso wie die deutschen Funkmeßgeräte, nach dem von den Amerikanern so benannten Radarprinzip. Auf einem der kleinen Bildschirme erschien eine hellgrüne waagerechte Linie, auf dem anderen eine senkrechte. Beide waren mit Zahlenskalen versehen. Mit diesen Radarempfängern konnten über die am Bug der »Beaufighter« befindlichen sogenannten »Fingerhut«-Antenne (weil sie sehr klein war) Radarimpulse ausgeschickt und empfangen werden. Das AIBordgerät war damit in der Lage, in der Luft befindliche Ziele zu orten. »Ist schon etwas zu sehen?« erkundigte sich Pilot Officer Cunningham. »Nein! Frag mal bei Boffin an«, erwiderte der Sergeant. »Boffin« war der Deckname einer Ground Controlled InterceptionStation.(Abgekürzt GCI = Radarstation am Boden, Leitstation für die Nachtjäger) Diese Stationen waren erst kürzlich an der gesamten englischen Südküste neu eingerichtet worden. »Boffins« Standort war der Flugplatz bei der südenglischen Stadt Tangmere. »Hier Blazer zwei, vier! Boffin, bitte melden!« rief Cunningham mehrmals ins Mikrofon, bis die Verbindung zustande kam. Tief unter den beiden einsamen Nachtjägern saß der Chief Controller der Leitstation Tangmere vor einem großen Bildschirm, auf dem alle Flugzeuge radarmäßig zu sehen waren, die den von dieser Station kontrollierten Sektor durchflogen. Um ihn herum saßen wie auch bei den deutschen Nachtjagdleitstellen eine Menge Helfe-
rinnen und Helfer. Alle hatten folgende Aufgabe: Feindliche Flugzeuge mußten geortet und deren weiterer Flug radarmäßig verfolgt werden. Gleichzeitig mußten die eigenen Nachtjäger bis auf etwa zwei Kilometer oder noch näher an die Feindflugzeuge herangeführt werden. Denn dann erst erschienen diese auf den Bildschirmen der an Bord der Nachtjäger befindlichen Air Interception-Geräte. Von da an mußten also die Nachtjäger selbst die weitere Verfolgung der Feindmaschinen bis zum eventuellen Abschuß übernehmen und durchführen. Auf deutscher Seite existierte ein ähnliches Verfahren, bei dem das an Bord der Nachtjäger befindliche Radarsuchgerät den Decknamen »Lichtenstein« hatte. »Blazer! Blazer!« meldete sich der Chief Controller plötzlich wieder aus seiner großen Holzbaracke auf dem Flugplatz Tangmere. »Fliegen Sie zwei, vier, null!« Das war ein Kurs von 240 Grad, der zum Kanal führte. Pilot Officer Cunningham kurvte ein und ließ den verlangten Kurs am Kreiselkompaß einlaufen. Die Wolkendecke löste sich immer mehr auf und bestand schließlich nur noch aus größeren Fetzen, die an der Zweimotorigen vorbeiflitzten. Dicht voraus schimmerten die weißen Kreidefelsen direkt an der Steilküste, über die die »Beaufighter« hinweg und dann hinaus auf dem Kanal flog. »Guck mal in deinen Kasten, Jimmy!« rief Cunningham. »Vielleicht tut sich da etwas!« Denn der Sector Controller von »Boffin« hüllte sich immer noch in Schweigen. Sergeant Rawnsley preßte die Augen ans Visier des Air Interception-Geräts und blickte auf die beiden kleinen Bildschirme. Nur ihr grünliches Licht war zu sehen; von Radarechos keine Spur. »Nichts zu machen, John«, verständigte der Sergeant seinen Piloten.
»Du mußt abwarten, bis sich der Chiefy (Jargon) wieder meldet.« Und das geschah kurz darauf. Die krächzende, durch atmosphärische Störungen verzerrte Stimme des Mannes in der Station rief: »Blazer! Blazer! Bitte kommen!« Cunningham meldete sich. Der Sector Controller darauf: »Ein Bandit (englisches Jargonwort für deutsches Flugzeug) kommt auf Sie zu. Auf zwei, sechs, null gehen! Waffen klarmachen!« Cunningham trat ins Seitensteuer und kurvte langsam nach rechts ein. Sergeant Rawnsley preßte sein schmales Gesicht an das Visier des Air Interception-Geräts. Auf den beiden Bildröhren war aber noch immer kein Radarecho zu sehen. Doch der Sergeant beobachtete weiter, während der Pilot die Kurve drehte und dann etwas höher stieg. »Wie sieht es aus?« fragte Cunningham. Genau in dem Augenblick erschien ein flimmernder Punkt auf einer Bildröhre, der wie ein winziger Diamant aussah. »Wir haben Kontakt, John«, verständigte der AI-Mann den Piloten. Dann blickte er auf die Höhenanzeige und meldete wieder: »Der Gegner fliegt auf unserer Höhe. Er muß vor uns stehen.« »Verdammt noch mal«, stieß Cunningham plötzlich aus. »Eine Heinkel. Genau vor uns. Kommt auf uns zu!« Bevor Cunningham nach unten wegdrücken konnte, raste ein großer schwarzer Schatten über die »Beaufighter« hinweg. Der Nachtjäger geriet in die Propellerböen der deutschen Maschine, wurde hin und her geschüttelt. Sergeant Rawnsley bekam vom »Visier« einen harten Schlag ins Gesicht und wurde in seinen Sitz gepreßt. Cunningham fing den Nachtjäger wieder ab, setzte sich mit der Boden-
leitstelle in Verbindung und meldete, was passiert war. »Boffin« hatte die »Heinkel« immer noch auf seinem großen Bildschirm. Cunningham bekam neue Anweisungen, wie er fliegen mußte: »Gehen Sie auf 1500! Kurven Sie über Backbord ein auf null, sechs!« Sergeant Rawnsley beobachtete während dieser Flugmanöver die Bildschirme und stellte dabei fest, daß sie von der Bodenleitstelle wieder zur englischen Küste zurückgeführt wurden. »Er muß in Ihrer Nähe sein«, meldete »Boffin«. »Wieder klarmachen!« »Und wie sieht es bei dir aus?« fragte Cunningham seinen AI-Mann. »Noch nichts zu sehen, John!« Kurz darauf war auf den Bildschirmen ein flimmernder »Blip« (Bezeichnung für Radarimpuls) zu sehen. Sergeant Rawnsley wartete noch ein paar Sekunden, um ganz sicher zu sein. Dann meldete er dem Piloten: »Gegner befindet sich vor uns. An Steuerbord. Entfernung dreitausend. Fliegt etwas tiefer als wir. Nimm die Geschwindigkeit zurück, sonst rasen wir über ihn hinweg.« »Mach ich«, erwiderte Cunningham. Er zog die Gashebel etwas zurück, drückte die »Beaufighter« vorsichtig nach unten und kurvte nach rechts ein. »Stop!« rief Sergeant Rawnsley plötzlich, der während der Flugmanöver ständig auf die beiden kleinen Bildschirme gestarrt hatte. Der Blip war über sie hinweggewandert und stand nun wieder deutlich als hell flimmernder Punkt zu sehen in der Mitte der Kathodenröhren (So nannten die Engländer die Bildschirme damals). »So weiterfliegen, John!« gab Sergeant Rawnsley Anweisung. »Entfernung zum Ziel zweitausendfünfhundert! Ziel genau vor uns auf gleicher Höhe! Geschwindigkeit erhöhen!«
Cunningham schob die Gashebel wieder langsam nach vorn. Die beiden Hercules-Motoren gingen zu tiefer brummenden Tönen über und zogen die »Beaufighter« schneller nach vorn. Sergeant Rawnsley sah, wie der helle Blip plötzlich nach links auswanderte. Sofort gab er eine Korrektur an Cunningham durch: »Zehn Grad nach links fliegen, John!« »Backbord zehn Grad!« bestätigte der Pilot die Anweisung seines Gefährten. Denn dieser war in solchen Augenblicken, in unmittelbarer Nähe einer feindlichen Maschine, der Mann, der den weiteren Einsatz des Nachtjägers durchführte. Der Abstand zwischen Nachtjäger und Bomber verringerte sich immer mehr. Sergeant Rawnsley gab aufgrund der Ortungen mit seinem AIGerät weitere Fluganweisungen an den Piloten durch. Cunningham suchte dabei ständig den Himmel ab, um den Gegner auch mit den Augen zu erfassen, was aber nicht gelang. Sergeant Rawnsley mußte ihn mit seinem Bordradargerät weiterhin führen. Doch plötzlich sah Cunningham, wie ein dunkler Schatten über einen vom Mondlicht hell beleuchteten Wolkenfetzen hinweghuschte. »Ich kann das Ziel sehen, Jimmy!« verständigte er sofort seinen Radarmann. »Wir sind unter ihm! Blick nach oben und schau dir den Vogel an!« Sergeant Rawnsley schob seinen Sitz vom AI-Gerät weg. Jetzt konnte er durch das Kabinendach nach oben blicken. Und genau an der Stelle, an der er eben noch mit seinem Radargerät das feindliche Objekt geortet hatte, sah er einen dunklen Schatten, der seine Bahn am nächtlichen Himmel zog. »Paß auf«, rief Cunningham. »Ich ziehe jetzt hoch und versuche, mich hinter ihn zu hängen.«
»In Ordnung«, erwiderte Rawnsley und ließ den Schatten nicht aus den Augen. Aufgrund der charakteristischen dunklen Silhouette erkannten er und Cunningham, daß es sich um einen deutschen Bomber vom Typ He 111 handelte. Das war der Standardtyp, mit dem der große Gegner der britischen Nachtjagdsquadron 604 ausgerüstet war die deutsche Spezialkampfgruppe 100! Cunningham zog die Steuersäule an. Die »Beau« (Jargon) stieg langsam in den wie aus schwarzem Samt mit funkelnden Löchern bestehenden Himmel hinauf. Es sah dabei so aus, als würde die deutsche He 111 ebenso langsam vom nächtlichen Firmament herunterfallen. »Jetzt ist die Heinkel genau vor uns!« rief Cunningham, als er wieder in den Horizontalflug übergegangen war. Sergeant Rawnsley drehte seinen Sitz herum, beugte sich etwas hinunter und blickte über die Schulter des vor ihm sitzenden Piloten hinweg. »Ich gehe bis auf hundert ran!« instruierte ihn Cunningham. »Dann knallt es.« »In Ordnung!« stimmte der Sergeant leise zu. Cunningham gab etwas mehr Gas auf die Motoren. Langsam glitt die »Beaufighter« auf den Bomber zu, den die beiden britischen Nachtjäger gespannt beobachteten. »Die Jerrys haben anscheinend noch nichts von uns bemerkt«, meinte Sergeant Rawnsley. Cunningham ging nicht auf ihn ein, denn er beschäftigte sich gerade damit, die Heinkel in sein Reflexvisier einlaufen zu lassen. Dann war es soweit. Die He 111 flog etwa hundert Meter in guter Schußposition vor dem Nachtjäger her. »Los, schieß!« zischte der Sergeant über das Intercom.
Cunningham drückte auf die Auslösung. Die vier Hispano-Bordkanonen (Kaliber 20 mm) ratterten los. Mündungsblitze zuckten durch die Nacht. Wie feurige Schlangen rauschten die Leuchtspurgeschosse davon. Die »Beaufighter« vibrierte unter den Rückstößen der Waffen. Die Kabine füllte sich mit beizendem Corditgeruch. Das mußte der vernichtende Todesstoß für die Heinkel gewesen sein! Als die Waffen schwiegen, starrten Cunningham und Sergeant Rawnsley zu ihr hinüber. Das, was sie erwartet hatten, war aber nicht eingetreten. Die »Heinkel« schwebte immer noch auf Kurs nach Norden am nächtlichen Himmel. »Das ist doch nicht zu fassen!« schimpfte Cunningham. »Ich hatte den Kasten doch genau im Visier!« »Reg dich ab, John«, rief der AIMann mit ruhiger Stimme. »Flieg nochmals an! Dann erwischen wir sie schon!« Cunningham erhöhte die Geschwindigkeit, weil sich inzwischen der Abstand zwischen den beiden Flugzeugen vergrößert hatte. Langsam schob sich die »Beaufighter« wieder auf den deutschen Bomber zu, der seltsamerweise Kurs, Höhe und Geschwindigkeit beibehalten hatte. »Ich wundere mich darüber, daß die Jerrys noch nicht die Kurve gekratzt haben«, sagte Sergeant Rawnsley erstaunt. »Sie müssen doch schließlich gesehen haben, was auf sie zukam.« »Darüber staune ich auch schon die ganze Zeit«, stimmte ihm Cunningham zu. »Der Abstand beträgt nur noch etwa einhundertundzwanzig Meter! Und sie reagieren immer noch nicht.« »Dann geh noch näher ran!« rief ihm Rawnsley zu, der wieder über die rechte Schulter seines Piloten hinwegsah und den großen dunklen Schatten mit den charakteristischen Formen einer He 111 gut erkennen konnte.
»Einhundert!« murmelte Cunningham, der durch das Reflexvisier blickte. »Weiter, weiter!« drängte der Sergeant. »Dann erwischen wir ihn bestimmt!« Noch ein Stück kam die »Beaufighter« näher an die He 111 heran. Cunningham wollte gerade mit einem kräftigen Ruck auf die Auslösung für die vier Hispano-Bordkanonen drücken, da geschah etwas, mit dem die beiden britischen Nachtjäger nicht gerechnet hatten... * Was zu diesem Zeitpunkt zu einer immer härter, schärfer und gefährlicher werdenden Auseinandersetzung zwischen dem britischen und dem deutschen fliegenden Verband wurde, hatte vor wenigen Monaten still und völlig geheim begonnen. 13. August 1940, nachts. »Wann sind wir beim Sender, Klaus?« fragte Feldwebel Uwe Hasky, der hinter der Steuersäule einer He 111 saß. Er blickte nach rechts zu seinem Navigator (damals Beobachter genannt) hinüber, der im Schein einer Taschenlampe auf die Karte und dann auf die Borduhr am Armaturenbrett blickte. »In fünf Minuten«, gab Unteroffizier Winter dann seinem Piloten Auskunft. »Gerd!« rief Feldwebel Hasky drei Minuten später seinen Bordfunker Unteroffizier Gerd Swora. »Hier Funker!« meldete sich Swora. »Empfänger einschalten!« »Empfänger ist eingeschaltet«, ertönte die Bestätigung des Befehls über die Eivau (Bordsprechanlage). In den FT-Hauben des Flugzeugführers, des Navigators, des Funkers, aber auch in denen der beiden in ihren Waffenständen befindlichen Bordschützen ertönten leises Summen und
das Kratzen und Knistern von ätherischen Geräuschen. »In einer Minute auf fünfundvierzig Grad einkurven, Uwe«, erfolgte kurz darauf die nächste Anweisung des Navigators, der zugleich den Sekundenzeiger an der mattgrün beleuchteten Borduhr drückte. Er und auch Feldwebel Hasky beobachteten, wie der Zeiger über das Zifferblatt ruckte. Kurz bevor er sein 60-Sekunden-Soll erfüllt hatte, kurvte Feldwebel Hasky nach rechts ein. In den FT-Hauben war plötzlich ein starker Brummton zu hören. »Wir sind auf dem Strahl«, sagte Unteroffizier Winter. »Hat prima hingehauen.« Der Strahl stammte von dem XSender, der bei Morlaix (etwa Nordspitze der französischen Halbinsel Cotentin) stand. Er war von dort aus genau über das Ziel in England gerichtet, das Feldwebel Hasky und mit ihm noch weitere Heinkel-Bomber in dieser Nacht angreifen sollten. »Versuch mal, ob wir tatsächlich richtig liegen«, sagte Unteroffizier Winter. Feldwebel Hasky steuerte etwas nach rechts. In den FT-Hauben waren jetzt Morsepunkte (...) zu hören. »Zur anderen Seite rüber!« ordnete Winter an. Feldwebel Hasky flog nach links und durchquerte den Dauerton. Dann waren in den FT-Hauben Morsestriche (--) zu hören. »Bist du nun zufrieden?« fragte Hasky und sah den neben ihm sitzenden Navigator von der Seite an. »Natürlich«, antwortete Winter. »Flieg zurück auf den Dauerton!« In neunzehn anderen He 111 fanden ähnliche Flug- und Überprüfungsmanöver statt. Sie waren in dieser Nacht von dem französischen Flugplatz Vannes (Bretagne) gestartet und gehörten der Kampfgruppe 100 an. An den dunklen Rümpfen ihrer Flugzeuge be-
fanden sich neben den Balkenkreuzen auch noch das Symbol dieser Spezialeinheit ein Wikingerschiff in einem Kreis. Alle Bomber waren mit einem XGerät ausgerüstet, mit dem Bomben automatisch, ohne Bodensicht, bei Nacht und Nebel, präzise geworfen werden konnten. Der Name war auf die Tatsache zurückzuführen, daß bei diesem Bombenabwurfverfahren mit drei Sendern gearbeitet wurde, deren Funkstrahlen über dem jeweiligen Ziel ein großes unsichtbares »X« bildeten. An diesem Tag (13. August 1940, auch »Adlertag« genannt) begann im Rahmen der großen Luftschlacht um England der verstärkte Luftkrieg gegen Großbritannien. Deshalb flog die deutsche Luftwaffe insgesamt 1485 Angriffe gegen kriegswichtige Ziele auf der englischen Insel. Einen davon führte die Kampfgruppe 100 durch. »Achtung, Leute! Aufpassen«, rief Unteroffizier Winter. Die He 111 war inzwischen bis in die englischen Midlands vorgestoßen. »In fünf Minuten kommt das Vorsignal. Verstanden, Gerd?« »Natürlich, ich sitze doch nicht auf den Ohren«, erwiderte der angesprochene Funker. Gebannt blickten Hasky und Winter auf die Borduhr. Die Minuten verrannen. Die letzten zehn Sekunden zählte Winter laut mit. Er hatte gerade »Null« gesagt, da waren in den FT-Hauben außer dem normalen Dauerton Morsestriche zu hören. Sie stammten von einem Sender mit dem Decknamen »Rhein«, der an der Kanalküste im Raum Calais stand. Diese Morsezeichen waren das sogenannte Vorsignal. Es sagte den Besatzungen: Ihr befindet euch in der Nähe des Zieles. Und speziell für den Funker bedeutete das: Du mußt die sogenannte X-Uhr einschalten. Das war eine Spezialuhr,
die mit dem automatischen Bombenabwurf gekoppelt war. Unteroffizier Swora drückte auf die Taste, die sich oben auf der Uhr befand, und meldete in den Kampfraum: »Uhr eingeschaltet! Der Kasten funktioniert!« Denn er sah, daß sich ein grüner und ein schwarzer Zeiger auf der Skala bewegten. (Das Arbeitsprinzip des X-Geräts wurde zum besseren Verständnis vereinfacht dargestellt.)' »Gleich kommt das Hauptsignal«, meldete Unteroffizier Winter einige Zeit später. Diesmal waren neben dem Dauerton andere Morsesignale (Striche) zu hören, die von dem ebenfalls bei Calais stehenden Sender »Elbe« quer durch den Marschstrahl der He 111 gelegt worden waren. Unteroffizier Swora drückte wieder auf die Taste an der X-Uhr und meldete dies nach vorn. Er beobachtete, wie der schwarze und der grüne Zeiger stehenblieben und dafür ein roter Zeiger schnell über die Skala kroch. »Mühle genau auf Kurs, Höhe und Geschwindigkeit halten«, rief Unteroffizier Winter. Denn nach drei Minuten erfolgte nun der automatische Abwurf der Bomben. Die geringste Abweichung von der augenblicklichen Fluglage würde den Präzisionsabwurf verderben. Und genau in dem Augenblick geschah das, was die Besatzung Hasky auf ihren vorhergehenden Feindflügen oft erlebt hatte: Scheinwerfer flammten auf und tasteten den Himmel ab. Am Boden war das Mündungsfeuer von Fla-Geschützen zu sehen. Rechts und links von der He 111 zuckten die Blitze von detonierenden Granaten auf. Druckwellen warfen sie hin und her. »Durchhalten, Uwe! Nur noch zwei Minuten!« rief Unteroffizier Winter. Ein dickes, grellweißes Lichtbündel eilte plötzlich über den Himmel, kam ganz schnell auf die Heinkel zu und
erfaßte sie. Die Flieger verengten die Augenlider zu Schlitzen, um nicht geblendet zu werden. »Hau ab, du blöder Hund!« schimpfte Winter gereizt. Der Scheinwerfer tat ihm zufällig den Gefallen. Er glitt langsam über die »Heinkel« hinweg und suchte weiter hinter ihr den Himmel ab. »Noch eine Minute!« meldete Unteroffizier Swora aus seinem Funkerstand; er hatte die X-Uhr ständig beobachtet und sah nun, wie der rote Zeiger sich immer mehr dem stillstehenden schwarzen näherte. Dann hatte er ihn erreicht. »Kontakt!« rief Swora. »Bomben fallen!« meldete gleichzeitig Gefreiter Maus, der in der Bodenlafette (Bola) hinter dem MG lag und sah, wie die Bomben aus dem Schacht purzelten und in die dunkle Tiefe fielen. Nachdem die »Heinkel« von der Bombenlast befreit war, machte sie einen Sprung nach oben. »Abdrehen, Uwe!« rief Unteroffizier Winter und fuhr die Bombenklappen ein. »Detonationsblitze im Ziel«, meldete Gefreiter Maus, der nach unten starrte. »Dort flackert Feuer auf.« Feldwebel Hasky kurvte scharf nach links ein, drückte die Maschine an und raste über den Abwehrgürtel der Engländer hinweg, aus dem nach wie vor Mündungsblitze zuckten und Leuchtspurketten zum Himmel stiegen. Die Detonationen der schweren FlakGranaten lagen bereits hinter der He 111. Die Engländer feuerten jetzt auf die übrigen Bomber der Kampfgruppe 100. »Weitere Detonationsblitze im Ziel«, meldete Gefreiter Maus aus der Bodenlafette. »Verstärkter Feuerschein.« Er hatte im Gegensatz zu den anderen noch eine gute Bodensicht. Die Detonationen in der Luft ebbten um Haskys Maschine immer mehr ab;
ebenso die Luftturbulenzen. Die He 111 ging auf Kurs nach Süden und flog ohne weitere Schwierigkeiten und Vorkommnisse zum Flugplatz Vannes zurück, wo sie glatt landete. Auch die übrigen He 111 der KG 100 warfen ihre Bomben auf eine Fabrik in Castle Bromwich bei Birmingham, die gerade für die Produktion von »Spitfire«-Jägern mit Werkzeugmaschinen ausgerüstet wurden. Einige Bomber wurden durch den Beschuß mehr oder weniger schwer beschädigt, aber Totalausfälle gab es in dieser Nacht nicht. Alle Maschinen kehrten zum Absprungflugplatz Vannes zurück. Die Kampfgruppe erzielte elf Volltreffer im Hauptteil der Fabrik, die schwere Beschädigungen anrichteten und den Beginn der »Spitfire«-Produktion wesentlich verzögerten. Das war ein großer Erfolg für einen nächtlichen XGerät-Angriff. Die Spezialisten der KGr 100 traten zu neuen Einsätzen an. Sie flogen unter anderem Bombenangriffe gegen Liverpool und andere wichtige Ziele. Bis Ende September 1940 griffen sie London an. Zu Beginn des Monats Oktober 1940 ging die Spezialkampfgruppe zum Abwurf von sechseckigen Stabbrandbomben über. Das war eine neue Angriffstaktik zur Markierung mit Bränden, die der nachfolgenden Bombermasse die Auffindung des Zieles und den Abwurf der Bomben erleichtern sollte. Diese warf dann ihre Lasten nach Sicht in den von der KGr markierten Sektor. Damit hatte die deutsche Luftwaffe als erste das »Pfadfinder-Verfahren« (auch Ausleuchtung, Markierung oder »Brandstiftung« genannt) erfunden. Die Engländer griffen diese Taktik später auf, verfeinerten und vervollkommneten sie und wandten sie bei den spä-
teren schweren Angriffen auf deutsche Städte im großen Stil an. Diese Präzisionsangriffe der KGr 100 lösten in England bei den Experten der wissenschaftlichen Kriegsführung eine Gegenreaktion aus. Die Wissenschaftler des britischen Abwehrdienstes, unter ihnen der Physiker Dr. Jones, machten sich Gedanken über die Exaktheit der Bombenabwürfe, über die hohen Trefferquoten und die geringfügigen Ablagen von den jeweiligen Punktzielen. Und das alles noch bei Nacht! Man sammelte alle Unterlagen über diese Luftangriffe. Nach deren Auswertung wurde folgendes vermutet: Die deutsche Luftwaffe fliegt anscheinend nach einem neuen Angriffsverfahren, das in England nicht bekannt ist. Der britische Funkhorchdienst hörte Mitte 1940 auf einer Frequenz von 74 Megahertz Funksignale ab, wie man sie bis dahin nicht empfangen hatte. Aufgrund von weiteren Beobachtungen fand man heraus, daß es sich um Navigationshilfen handeln mußte. Dr. Jones und seine Mitarbeiter recherchierten weiter in diese Angelegenheit, die den Decknamen »Ruffian« (Rohling) bekam. Ende September 1940 war Dr. Jones sicher, daß die Deutschen ein neues Funkleitgerät einsetzten, das in England tatsächlich noch völlig unbekannt war. Er berichtete Premierminister Churchill darüber: »Anscheinend bemühen sich die Deutschen sehr darum, die Genauigkeit ihrer nächtlichen Bombardierungen zu verbessern. Es sind eine Anzahl neuer Strahlen auf kürzerer Wellenlänge als bisher in Erscheinung getreten.« Dr. Jones, seine Mitarbeiter und weitere Geheimdienstler fanden auch heraus, daß die Angriffe der KGr 100 mit Hilfe von Spezialapparaten durchgeführt und hohe Volltrefferzahlen erreicht worden waren. Die Experten in
England kannten auch die Standorte der Sender. Ihnen war bekannt, daß der Leitstrahl (Marschstrahl) von der Halbinsel Cotentin gesendet wurde; die Querstrahlen dagegen kamen aus dem Raum Calais. Als Gegenmaßnahme schlug Dr. Jones vor: Störung der Spezialgeräte. Vernichtung der neuartigen Sender durch Luftangriffe oder Kommandounternehmen. Ferner riet er dazu, »Abwehrmaßnahmen durch Funk einzusetzen.« Als erste Gegenmaßnahme erfolgte eine Störung durch Funkmittel. Dr. Robert Cockburn, ein Mitarbeiter von Dr. Jones, begann mit seinen Technikern sofort mit dem Umbau von Heeresradargeräten, die als Störsender gegen die X-Strahlen zum Einsatz kommen sollten. Sie erhielten die Bezeichnung »Bromid«-Geräte. Aber die KGr 100 flog trotzdem noch weitere Spezialangriffe, weil die »Bromid«-Störungen unwirksam waren; denn die britischen Experten wußten kaum etwas über das eigentliche XGerät und dessen Arbeitsweise. In dem Augenblick aber spielte der Zufall dem englischen Geheimdienst etwas Wichtiges in die Hände. Am 6. November 1940 verflog sich eine Besatzung der KGr 100, deren He 111 das taktische Kennzeichen 6N+BH trug. Die deutschen Flieger glaubten, sich über der südwestlichen Küste der Bretagne zu befinden. Der Flugzeugführer (damalige Bezeichnung für Pilot) setzte die »Heinkel« mit eingefahrenem Fahrwerk (Bruchlandung) auf den Strand. Dabei kam ein Besatzungsmitglied ums Leben, zwei wurden verletzt. Erst danach erfuhren die deutschen Flieger, wo sie in Wirklichkeit gelandet waren: am Strand von West Bay, in der Nähe von Bridport. Die britischen Experten untersuchten die Maschine, entdeckten das X-Gerät und bauten es aus. Nach eingehender
Untersuchung des Beutegerätes modelte man die »Bromid«-Störgeräte entsprechend um, so daß sie von da an den richtigen Störton ausstrahlten. Aber trotz der ständig intensiver werdenden englischen Störmaßnahmen erzielten die X-Strahlen-Pfadfinder auch weiterhin Erfolge; so im Dezember 1940 bei Angriffen auf London, Southampton und Sheffield. Aber neben diesen Funkstörungen führte man auf britischer Seite noch etwas zur Bekämpfung der deutschen Spezialflugzeuge ein. Das war die Squadron 604 unter Commanding Officer Michael Anderson. Diese Einheit bekam vom Fighter Command folgenden Befehl: »Ab sofort sind die deutschen Spezialbomber zu bekämpfen und zu vernichten, die Ziele in den Midlands anfliegen.« Das war der Großraum um Coventry, Birmingham, Wolverhampton, Bristol und andere Städte. Das Fighter Command gab zugleich auch Einzelheiten über das Verhalten der deutschen Bomber bekannt. In diesen Anweisungen hieß es unter anderem: »Die deutschen Spezialbomber überqueren in der Abenddämmerung, von Cherbourg her kommend, den Kanal. Im Raum von Portland Bill überfliegen sie die englische Küste. Von dort aus nähern sie sich dann landeinwärts ihren jeweiligen Zielen.« Commanding Officer Anderson und führende Offiziere des Fighter Command berieten gemeinsam, wie die deutschen Bomber am besten und erfolgreichsten zu packen wären. Eine entsprechende Taktik wurde ausgearbeitet und festgelegt. Der Führer der Squadron 604 kehrte daraufhin wieder zu seiner Einheit zurück und befahl alle Besatzungen zur Besprechung. Die Flieger versammelten sich in einer großen Nissenhütte.
Commanding Officer Anderson trat an das kleine Pult, das am Kopfende der mit einem halbrunden, gewellten Dach versehenen Baracke stand. Das Gemurmel verstummte. Die Männer in den hellblauen Uniformen blickten gespannt auf ihren Führer. Der schlanke, schmalgesichtige RAFOffizier, ein Squadron Leader (Major) erklärte ausführlich alles über die deutschen Spezialbomber; was sie inzwischen geleistet, beziehungsweise in England schon angerichtet hatten und was die Experten der wissenschaftlichen Kriegsführung über sie herausbekommen hatten. »Und nun«, führte Anderson aus, »muß ich von dem sprechen, was auf uns zukommt. Ab sofort ist unsere Squadron der Hauptgegner der deutschen Spezialkampfgruppe. Zu ihrer Bekämpfung ist von mir zusammen mit den Experten des Fighter Command folgende Taktik ausgearbeitet worden: Jeden Tag fliegt eine Maschine von uns Dusk Patrol (Kontrollflug während der Abenddämmerung). Wenn es erforderlich ist, werden auch mehrere Maschinen eingesetzt. Die Dusk Patrols werden grundsätzlich im Tiefflug durchgeführt.« Commanding Officer Anderson machte eine kurze Pause, während er die vor ihm auf dem Stehpult liegenden schriftlichen Unterlagen umblätterte. »Warum Tiefflug, Sir?« meldete sich ein Nachtjäger zu Wort. »Wir haben doch schließlich die Schwarzen Kästen an Bord.« Anderson sah den in der ersten Stuhlreihe sitzenden Frager an und erwiderte: »Hören Sie gut zu. Und natürlich auch alle anderen.« Er verstummte wieder und blickte in die Runde. »Ich habe eben erklärt, daß die Einflüge der deutschen Spezialbomber während der Abenddämmerung stattfinden. Das bedeutet: Zu diesem Zeit-
punkt herrscht noch einigermaßen gute Sicht. Wir können sie deshalb besser gegen den helleren Himmel erkennen, wenn wir unter ihnen fliegen. Klar?« Die Männer nickten. »Und wenn eine Ortung nach Sicht nicht mehr möglich ist, dann muß der Luftraum in größeren Höhen mit dem Schwarzen Kasten abgesucht werden.« Der Führer der Squadron 604 beantwortete noch weitere Fragen. Dann war die Besprechung beendet. Die Praxis begann. Als erster versuchte Commanding Officer Anderson eine He 111 der KG 100 während einer Dusk Patrol bei Augensicht und auch mit dem AI-Gerät zu erwischen. Ohne Erfolg! Andere Piloten mit ihren AI-Männern versuchten es ebenfalls. Ohne Erfolg! Das einzig Positive, was bei diesen Dusk Patrols herauskam, war, daß die Nachtjäger mit ihren Maschinen und auch den Bordradargeräten immer perfekter umgehen konnten. Mitte November 1940 startete Pilot Officer John Cunningham zu einer Dusk Patrol. Er flog an der englischen Küste im Einflugraum der deutschen Spezialbomber hin und her und wartete. Als die Dunkelheit über den Kanal und das Land fiel, gab Cunningham die Suche nach Augensicht auf und ging mit seiner »Beaufighter« auf Höhe. »Sieh dir das mal an!« rief sein AIMann plötzlich. Zu dem Zeitpunkt flog Cunningham noch nicht mit Sergeant Rawnsley, sondern mit einem anderen Radio Observer (AI-Mann). Cunningham blickte nach Norden, wo zahlreiche Scheinwerfer zu sehen waren, die sich alle auf einen Punkt am Himmel konzentrierten. »Das sehen wir uns mal näher an«, sagte Cunningham. Er flog nach Norden. Sein AI-Mann bekam schließlich Kontakt mit einem
deutschen Flugzeug. Cunningham ging auf Schußposition heran, erkannte, daß es sich um eine Ju 88 handelte und schoß sie ab. Den zweiten Abschuß erzielte Cunningham Mitte Dezember 1940. Diesmal war es eine »Heinkel« der KGr 100. Dann hatte er sich, wie am Anfang geschildert, in der Januarnacht 1941 zusammen mit seinem AI-Mann Sergeant Jimmy Rawnsley an eine He 111 herangepirscht, flog in guter Schußposition hinter ihr her und wollte gerade seinen dritten Abschußerfolg einleiten. Aber bevor Cunningham zum Schuß kam, geschah etwas Unerwartetes. Aus der MG-Kuppel auf dem Rumpf der He 111 sprühten plötzlich kleine Flammen. Eine rötlich glühende Kette von Geschossen raste auf die »Beaufighter« zu. »Sie sahen wie kleine heiße Tomaten aus«, sagte Rawnsley später dazu. Die Geschosse rasten über die rechte Tragfläche der »Beaufighter« hinweg. Dann wanderte der gefährliche Feuerstrahl ruckartig auf das Cockpit des britischen Nachtjägers zu. Es knisterte und knackte. Irgendwo mußten die Geschosse ein Loch in die »Beaufighter« gerissen haben, denn plötzlich strömte kalte Luft in die Kabine. Das Ganze spielte sich in wenigen Sekunden ab. »Weg! Runter! Runter!« schrie Sergeant Rawnsley aufgeregt. Instinktiv drückte Cunningham die Maschine an. Sie sackte nach unten weg und kam so aus dem Schußbereich des MG auf dem Rumpf der »Heinkel« heraus. Doch sofort geriet sie in einen neuen Gefahrenbereich; denn jetzt feuerte der in der Bola der He 111 liegende Bordschütze mit seinem MG auf den englischen Nachtjäger. Sergeant Rawnsley sah nur noch, wie zwei drei dunkle Fetzen von der rechten Tragfläche wegflogen. Dann
stürzte er plötzlich von seinem Sitz und blieb neben ihm liegen; denn Cunningham hatte sozusagen die »Notbremse« gezogen und war mit der »Beau« nach links in die Tiefe gestürzt. Die Motoren überdrehten und heulten auf. Der deutsche Bordschütze feuerte immer noch hinter dem Nachtjäger her, traf ihn aber nicht mehr. Dann stellte er das Feuer ein. Pilot Officer Cunningham fing die »Beaufighter« ab, regulierte die Motoren ein und ging in den Geradeausflug über. Währenddessen kroch Sergeant Rawnsley wieder auf seinen Sitz zurück. »Das war aber eine verdammt haarige Sache«, meinte Cunningham, als er sich wieder einigermaßen gefaßt hatte. »Alle Achtung, John« sagte Rawnsley. »Die Jungens hatten Nerven. Sie haben uns sicher gesehen und rankommen lassen. Beinahe wäre ihr Trick sogar geglückt.« Cunningham blickte nach oben. Weit voraus war die »Heinkel« gegen das helle Mondlicht noch als kleiner dunkler Punkt zu sehen, der sich dann schließlich in der unendlichen Weite der Januarnacht verlor. Wenig später sahen die beiden Nachtjäger, wie weit vor ihnen Scheinwerfer aufflammten. Die Flak feuerte, und am Himmel waren Detonationsblitze zu sehen. Dann schlugen plötzlich am Boden Stichflammen hoch, die von den Bomben der He 111 stammen mußten. »Nächstenmal besser aufpassen«, sagte Cunningham. »Und jetzt sehen wir zu, daß wir nach Hause kommen.« Er kurvte ein und ließ den nach Middle Wallop führenden Kurs am Kompaß einlaufen. Der Kampf mit elektronischen Mitteln ging weiter. Die Männer von der Squadron 604 gewannen immer mehr Erfahrung und
Geschicklichkeit im Umgang mit ihren Maschinen, den AI-Geräten und den Leitstellen am Boden, in denen die Leitoffiziere (Controller) samt ihren Radar- und Funkgeräten sowie ihren vielen Helfern saßen. Aber aufgrund ihrer im heißen Einsatz gemachten Erfahrungen, ihrer Erfolge, aber auch ihrer Rückschläge, gingen die Flieger der X-Bomber ebenfalls zu Gegenmaßnahmen über. Die Piloten flogen mit wechselnden Höhen und führten Abwehrbewegungen durch. Außerdem benutzten sie häufig nicht mehr stur den Marschstrahl des X-Senders; blieben aber in dessen Nähe. Erst kurz vor dem Ziel, vor dem Ertönen der Querstrahlen, gingen sie dann wieder auf den Leitstrahl. Die Bordschützen paßten schärfer auf und feuerten sofort auf alles, was von hinten oder unten auf sie zukam und irgendwie nach Feind aussah. Und noch etwas: Die Besatzungen der X-Bomber änderten ihre Anflugund Einflugtaktik. Sie überquerten den Kanal und die englische Küste im Tiefflug. Dadurch gerieten sie nicht in den Ortungsbereich der englischen Radargeräte (»Home chaine« genannt), die bereits vor (!) Beginn des Zweiten Weltkriegs entlang der englischen Küste auf hohen Gittertürmen aufgestellt worden waren. Von ihnen erhielten die in den Tagund Nachtjägerleitstellen sitzenden Controller auf ihren großen Bildschirmen radarmäßig Informationen über die Einflüge von deutschen Verbänden, aber auch von Einzelmaschinen. Diese wurden von den Bodenleitstellen ausgewertet und an die am Boden oder auch in der Luft befindlichen Abwehrkräfte weitergeleitet. Sie ermöglichten eine elektronische Führung der britischen Tag- und Nachtjagd, die es zu diesem frühen Zeitpunkt auf deutscher Seite in diesem Umfang noch nicht gab. Denn die Radarführung der deut-
schen Tagjäger durch den Luftnachrichtenoffizier Leutnant Diehl auf der Insel Wangerooge war zu dieser Zeit noch die Ausnahme und nicht die Regel. Aufgrund dieser Vorteile erzielten die Nachtjäger der Royal Air Force Anfang 1941 folgende Abschüsse: Im Januar drei, im Februar vier, im März 22, im April 48 und im Mai 59; insgesamt also 146 Abschüsse. Die Spezialsquadron 604 schoß mit ihrem AI-Beaufighter allein 50 deutsche Flugzeuge nachts ab. Darunter auch einige X-Bomber. Trotzdem operierte die Kampfgruppe 100 vor allem als Pfadfinder weiter, wie zum Beispiel bei Großangriffen gegen London und andere kriegswichtige Städte. Alle übrigen Abschüsse gingen auf das Konto von anderen Nachtjägereinheiten. Pilot Officer Cunningham und sein Radio Observer, Sergeant Rawnsley, holten sechs deutsche Bomber vom nächtlichen Himmel. Sie erhielten Orden und wurden befördert: Rawnsley zum Fight Sergeant (Oberfeldwebel) und Cunningham zum Wing Commander (Oberstleutnant); gleichzeitig ernannte man ihn zum Chef der Squadron 604. Die beiden schienen das Kriegsglück und den Erfolg gepachtet zu haben. Wenn das so weiterging, dann standen sie bald an der Spitze der britischen Nachtjägerelite. Aber dann kam urplötzlich etwas ganz Besonderes auf sie zu... »Flight Sergeant Rawnsley sofort zu Wing Commander Cunningham!« plärrte eine verzerrte Stimme aus den Lautsprechern, die in den Unterkünften, Flugzeughallen, Kantinen und Werkstätten des Flugplatzes Middle Wallop angebracht waren. »Und? Was liegt an?« fragte Rawnsley, der schon Minuten nach der Lautsprecherdurchsage im Dienstzimmer
des neuen Squadron-Chefs stand. Nach einem Handzeichen nahm Rawnsley auf einem wackeligen Stuhl vor dem abgeschabten, mit Papierbergen bedeckten Schreibtisch Platz, hinter dem Cunningham saß. »Folgendes, Jimmy: Die Nachtjägersquadron 255 auf dem Flugplatz Coltishall (Ostküste Englands) hat einige Schwierigkeiten. Die Jungs sind gerade von den alten >Defiants< auf mit AI ausgerüstete >Beaus< umgestiegen. Doch sie kommen mit ihren neuen Vögeln noch nicht richtig klar. Du weißt vielleicht, daß diese Squadron für den Großraum Wash zuständig ist. Und ausgerechnet dort schwirren die deutschen Bomber Nacht für Nacht in rauhen Mengen herum. Über dem Wash fliegen sie ein und marschieren dann zu den Industriestädten der Midlands weiter. Dort tauchen auch deutsche Minenleger auf, die den Humber und auch Häfen an unserer Ostküste mit ihren Teufelseiern verseuchen. Außerdem gibt es dort deutsche Nachtjäger, die sich unter unsere von Feindflügen zurückkehrenden Bomber mischen, um sie abzuschießen. Kurz gesagt, an der gesamten Ostküste ist der Teufel los.« »Und warum erzählst du mir das alles?« erkundigte sich der frisch gebackene Flight Sergeant und sah sein Gegenüber interessiert an. »Gegen diese katastrophalen Zustände dort oben im Raum Wash muß etwas unternommen werden.« »Und wie soll das aussehen?« »Wir werden unseren Sportsfreunden helfen. Du, ich und die Besatzungen von vier anderen Maschinen verlegen nach Coltshall. Das ist ein Befehl vom Fighter Command.« »Dort oben soll nicht viel los sein, John«, wandte Rawnsley ein. »Ich meine, was das Freizeitleben betrifft.« »Wir helfen dort oben so lange aus«, überging Cunningham den Einwurf,
»bis unsere Kameraden den Umgang mit den AI-»Beaus« gelernt haben. Und dann kommen wir wieder nach Middle Wallop zurück.« Wing Commander Cunningham ahnte in dem Augenblick noch nichts davon, daß zwischen dem Hinflug nach Coltishall und dem Zurückkommen einige Schwierigkeiten liegen würden. »Hier!« Cunningham schob seinem Radio Observer einen Zettel zu. »Darauf stehen die Namen der Besatzungen, die mit uns verlegen. Verständige sie! In zwei Stunden rauschen wir ab. Klar?« »Geht in Ordnung, Chef!« erwiderte der lange Rawnsley, erhob sich und verließ das Dienstzimmer. Zur befohlenen Zeit starteten die fünf »Beaus« aus dem Platz heraus und gingen auf Kurs nach Coltishall. Von dort stiegen sie nun zusammen mit den Nachtjägern der Squadron 225 jede Nacht, soweit es das Wetter zuließ, auf und mischten sich unter die vom Feindflug zurückkehrenden Flugzeuge des Bomber Command. Es war aber nicht nur für die im AIAngriff unerfahrenen Männer der Squadron 225, sondern auch für die bewährten Füchse um Wing Commander Cunningham schwierig, aus der Vielzahl der auf den Bildschirmen der Bordradargeräte auftauchenden Radarechos (Blips) herauszufinden, ob es ein Freund oder ein Feind war. Auch der Controller in der Bodenstation mit dem Decknamen »Seacut« hatte Schwierigkeiten, die in der Luft befindlichen Nachtjäger zu führen und präzise auf die deutschen Bomber oder Nachtjäger anzusetzen; denn auch auf den großen Bildschirmen der Bodenstation wimmelte es ebenfalls von flimmernden Pünktchen. Deshalb erzielten die Nachtjäger des Flugplatzes Coltishall in ihrem Sektor Großraum The Wash anfangs keine Abschüsse.
Aber dann kam eine Julinacht, die es in sich hatte. Sie war dunstig. Der Mond war nur als schmale Sichel zu sehen. »Blazer zwei, vier!« rief der Controller von der Bodenleitstation »Seacut« den Decknamen von Wing Commander Cunninghams »Beaufighter«, die sich gerade auf einem Patrouillenflug vor der englischen Ostküste befand. »Hier Blazer zwei, vier!« meldete sich Cunningham. Darauf Seacut: »Empfehle Rückkehr zum großen Wasser! Dort weitersuchen!« Mit dem großen Wasser war die Bucht The Wash gemeint. »In Ordnung, Seacut!« stimmte Cunningham zu. Er wendete und flog auf die Küste zu. Während des Rückfluges in 3000 Metern Höhe preßte Flight Sergeant Rawnsley hin und wieder seine Augen an das Visier des AI-Geräts und beobachtete die beiden Bildschirme. Plötzlich flimmerte ein kleiner Punkt an deren oberem Rand auf, der zur Mitte und dann noch etwas weiter nach unten wanderte. »Ortung, John! Ortung!« kamen die Worte hastig über die Lippen des AIManns. »An Backbord vor uns! Aber etwas tiefer als wir! Ran an den Vogel!« Cunningham stellte die »Beaufighter« auf die linke Tragfläche und riß sie herum. Rawnsleys Gesicht wurde durch das plötzliche Flugmanöver in das Visier gepreßt. Dabei beobachtete er, daß beide Bildschirme plötzlich grau und dunkel wurden. »Er ist weg, John!« verständigte er den Piloten. Dann aber sah er sofort darauf, wie sich die Bildschirme wieder aufhellten und auch das flimmernde Radarecho wieder erschien. Jetzt wanderte es zurück in das Zentrum der Röhren.
»Ortung ist wieder da, John!« informierte der Radio Observer seinen Vordermann im ruhigen Ton; denn Cunningham hatte das plötzliche Einkurven im Messerflug beendet und flog nun wieder geradeaus. Die beiden Motoren (neue vom Typ »Merlin«) brummten in tieferen Tonlagen. »Entfernung?« fragte Cunningham. »2000 Meter!« antwortete Rawnsley nach einem kurzen Blick auf die Entfernungsskala. »Weiter ran! Aber paß auf, daß du nicht über ihn wegfliegst!« »In Ordnung!« sagt Cunningham und nahm die Gashebel langsam zurück. Dabei blickte er scharf nach vorn. Vor dem hellgrauen Horizont war mit einemmal plötzlich ein dunkler Schatten zu sehen, der langsam von einer Seite zur anderen hin und her schwang. »Da ist er, Jimmy!« rief Cunningham. Flight Sergeant Rawnsley schwenkte mit seinem Sitz herum und blickte nach vorn. »Tatsächlich!« stieß er leise aus. »Was für ein Typ?« »Weiß ich noch nicht«, erwiderte der Pilot ebenso leise und beobachtete das dunkle Ding in etwa hundert Meter Entfernung. »Geh etwas tiefer runter. Dann können wir ihn vielleicht besser identifizieren«, schlug Rawnsley vor. Die »Beaufighter« wippte ganz schwach und kaum merklich nach unten. Und schon war das dunkle Gebilde über den beiden lauernden Nachtjägern. »Sieh dir die Tragflächen an, Jimmy!« rief Cunningham. »Und die Motorengondeln.« »Eine Heinkel«, sagte Rawnsley. »Da gibt es keinen Zweifel.« »Genau!« meinte auch Cunningham, nachdem er die Maschine noch ein paar Sekunden beobachtet hatte. »Ich greife an!« verständigte er dann seinen AI-Mann und zog die »Beaufighter« hoch.
Die Feindmaschine tauchte im Reflexvisier auf. Cunningham feuerte. Die glühenden Geschoßketten ratschten von unten nach oben durch den Rumpf der Feindmaschine, die sofort zu brennen begann. Wing Commander Cunningham steuerte seine »Beaufighter« zur Seite und flog in etwa 100 Meter Abstand neben der brennenden »Heinkel« her, die immer noch weiter geradeaus flog. Die beiden englischen Nachtjäger beobachteten, wie sich dunkle Klumpen von der He 111 lösten und in die Tiefe stürzten. »Die Besatzung steigt aus«, rief Cunningham. Das Feuer breitete sich weiter aus. Lodernde Flammen schlugen nach hinten weg und sprangen auf die Leitwerke über. Der Bug des lichterloh brennenden Bombers neigte sich nach vorn. Dann sauste das Wrack nach unten. Cunningham und Rawnsley sahen noch, wie es wie eine Rakete in das dunkle Wasser des Wash einschlug und darin für immer verschwand. Cunningham setzte sich sofort mit der Bodenleitstation »Seacut« in Verbindung und schilderte dem Controller, was geschehen war. Denn die von ihm abgeschossene He 111 war allein durch das AI-Gerät und nicht von »Seacut« entdeckt worden. »Geben Sie Ihren Standort bekannt«, verlangte die Bodenstelle. »Bitte warten!« erwiderte Cunningham, während sein Radio Observer schnell den Standort der »Beaufighter« feststellte. »QTH fünfundsechzig Kilometer nordwestlich der Basis. Zeit: Sechs Minuten nach zehn! Haben Sie noch etwas für uns?« (QTH = Q-Gruppe für die Standortbestimmung.) »Verstanden«, lautete die Antwort. »Im Moment haben wir nichts mehr für Sie.« Dann folgte die Anweisung, in
den Raum Cromer an der Ostküste zu fliegen und dort zu warten. »Verstanden!« antwortete Cunningham, wendete und flog vom Wash her auf Cromer an der Küste zu. Dort angekommen, kurvte er in etwa 300 Metern Höhe hin und her. Er suchte den dunklen Himmel ab. Flight Sergeant Rawnsley beobachtete die beiden Bildschirme des AI-Geräts durch das Visier. Doch keiner von den beiden sah etwas von einem »Kunden«, wie die englischen Nachtjäger der Squadron 604 und auch die Controller der Bodenstation die deutschen Flugzeuge nannten. »Ich glaube, heute nacht ist nichts mehr für uns drin, John«, meinte Rawnsley, als etwa dreißig Minuten verstrichen waren. »Wir haben noch genug Sprit in den Tanks«, erwiderte Cunningham, »deshalb bleiben wir noch etwas oben.« Der Kurzdialog zwischen den beiden war gerade beendet, da meldete sich der Controller ihrer Ground Controll Interception: »Habe Kunden für Sie in zweitausend Metern Höhe!« Dann folgten nähere Angaben darüber, wo der »Kunde« radarmäßig geortet wurde. »Den Vogel sehen wir uns an«, meinte Wing Commander Cunningham, als er alles wußte und sein »Verstanden« an den Controller in der Baracke am Boden durchgegeben hatte. »Guck in deinen Kasten«, wies er dann seinen AI-Mann an. Die Merlin-Motoren heulten auf, und die »Beaufighter« stieg wie eine leichte Feder nach oben. Das in Bodennähe herrschende Dunkel hellte sich langsam auf und verwandelte sich in ein trübes Grau. In 2000 Metern Höhe ging Cunningham in den Geradeausflug über und flog nach den Anweisungen weiter, die er von dem Controller erhalten hatte. Flight Sergeant Rawnsley blickte durch das Visier. Auf den Bildschirmen
erschien kurz darauf der deutsche »Kunde« als flimmernder Blip. »Ich habe ihn im Kasten, John«, rief Rawnsley über das Intercom. Minuten später: »Er muß jetzt dicht vor uns herfliegen, John. Kannst du ihn sehen?« Cunninghams Kopf kreiste von rechts nach links, von oben nach unten. Auch Rawnsley suchte mit den bloßen Augen den Luftraum um die Beaufighter herum ab. »Da ist er!« rief Rawnsley plötzlich. »In etwa fünfzig Metern über uns!« Cunningham blickte nach oben und erkannte jetzt ebenfalls einen verschwommenen Schatten mit der charakteristischen Form einer He 111. Schwach glimmten die Auspuffflammen der beiden Motoren. »Etwas höher und dann laß gehen, John!« rief Rawnsley. Die »Beaufighter« stieg nach oben und hing hinter der Heinkel. Cunningham drückte auf die Auslösung. Die Bordkanonen ratterten los. Die »Beaufighter« schüttelte sich. Die leuchtenden Geschoßketten rasten durch die Nacht und zischten unter dem deutschen Bomber her. Cunningham und Rawnsley sahen, wie der dunkle Schatten förmlich auf sie zuraste. Dicht vor ihren Augen tauchte plötzlich das breite Seitenruder der Heinkel auf. »Wir rammen ihn!« schrie Rawnsley erschrocken. »Paß auf!« Cunningham reagierte blitzschnell. Er zog die Steuersäule an. Die Zweimotorige machte einen plötzlichen Sprung nach oben, raste über das Seitenruder hinweg und flog sekundenlang dicht über der Heinkel. Diesen Augenblick nutzte der im MGStand auf der Oberseite des Rumpfes befindliche deutsche Bordschütze aus. Er richtete seine Waffe auf den dunklen Schatten und jagte ein paar kurze, aber gut gezielte Feuerstöße nach o-
ben. Die Geschosse zischten in die »Beaufighter« hinein. »Weg, John! Nichts wie weg!« schrie Rawnsley, der das Rattern des deutschen MG und das Knacken und Knistern der in die »Beaufighter« einschlagenden Geschosse hörte. Cunningham riß die Maschine hoch. Mit aufheulenden Motoren stieg sie in die Höhe und entfernte sich von der »Heinkel«, aus welcher der Bordschütze immer noch feuerte. Dann aber endete der Beschuß. Die Heinkel sackte nach unten weg und verschwand im Grau der Nacht. »Da haben wir aber...« Die Worte »Glück gehabt« blieben Rawnsley im Mund stecken, denn der linke Merlin heulte plötzlich auf. Rawnsley und Cunningham blickten hinüber. Ihnen blieb fast das Herz stehen. Mit dem Aufheulen wirbelte die Luftschraube rasend schnell herum. Dann ertönte ein fürchterliches Kreischen, als Metall auf Metall rieb. Und mit einem Ruck stand die Luftschraube still. Sekunden später sprangen kleine Flammen aus dem Motor, der eine dunkle Rauchfahne hinter sich herzog. »Der Motor brennt, John!« gellte Rawnsleys Stimme über das Intercom. »Das sehe ich doch selbst! Reg dich ab!« erwiderte Cunningham mit seltsam ruhiger Stimme. »Schnall deinen Fallschirm an! Nicht eher aussteigen, bis ich es befehle.« Flight Sergeant gehorchte und schnallte nicht nur den Fallschirm, sondern auch das Einmannschlauchboot an, denn die »Beaufighter« befand sich noch über dem Wasser des Wash. Wing Commander Cunningham stellte die Benzinzufuhr zum ausgefallenen Motor ab. Während das geschah, sackte die »Beaufighter« immer mehr nach unten. Aber Cunningham bekam sie wieder in den Griff, trimmte sie aus und
flog mit dem einen »Merlin« in Richtung Küste weiter. »So, das hätten wir«, stellte er erleichtert fest. Erst jetzt kam er zu der Frage: »Hast du etwas abbekommen, Jimmy?« »Nein!« Rawnsley blickte besorgt auf den linken Motor, an dem immer noch Flammen herumgeisterten. »Ich habe den Eindruck, daß der Brand zurückgeht«, informierte er seinen Vordermann. »Dann scheint ja doch noch alles zu klappen«, erwiderte Cunningham zuversichtlich. Der Motor hielt auch weiterhin durch. Die »Beaufighter« rauschte über die Küste hinweg und ging auf Kurs nach Coltishall. Flight Sergeant Rawnsley setzte sich über Funk mit der Flugplatzleitung in Verbindung und unterrichtete sie über das, was an Bord der »Beaufighter« los war. Dann tauchte schließlich in der Ferne der große Ring aus Lichtern und somit die Befeuerung des Flugplatzes Coltishall auf. Cunningham kurvte über den laufenden Motor ein, bis das beleuchtete Landekreuz vor ihm lag. Die »Beaufighter« schwebte ein, setzte kurz hinter dem Landekreuz auf und rollte zum Liegeplatz. »Dann haben wir es doch noch geschafft«, rief Cunningham erleichtert, als das Motorengeräusch erloschen war. »Und jetzt so schnell wie möglich raus aus der Maschine!« Als die beiden in einiger Entfernung von der »Beaufighter« standen, rollten Feuerwehrwagen mit zuckendem Blaulicht und Sankas mit großen roten Kreuzen herbei, aus dem Sanitäter sprangen und auf die beiden Flieger zugingen. »Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Sir?« fragte einer von ihnen Wing Commander Cunningham.
»Bei uns ja«, antwortete Cunningham gedehnt und blickte immer noch starr zu dem »Beaufighter« hinüber. Dann geschah tatsächlich das, was er vermutet hatte. Aus dem defekten Motor schlugen kleine Flammen, die sich schnell vergrößerten. »Na, was habe ich gesagt?« fragte er Rawnsley. »Ich weiß doch schließlich, was dieser Vogel für ein Schlitzohr ist. Da gibt es Arbeit für euch, Jungs!« rief er dann den Feuerwehrmännern zu, die nun in Aktion traten und die Flammen erstickten. * Nicht nur die Deutschen und Engländer mischten aber im Geheimkrieg mit, sondern auch die Amerikaner. Und zwar unter anderem auch auf dem riesigen Kriegsschauplatz im Fernen Osten, auf dem die Auseinandersetzung mit den Japanern stattfand. Dort gab es einen mächtigen Gegner, durch dessen Wirken Amerikaner und Engländer schwere Verluste hinnehmen mußten: die Seemacht des japanischen Kaiserreiches! Ihre Erfolge waren praktisch auf einen einzigen Mann zurückzuführen. Seine Ausschaltung hätte Amerikanern und Engländern auf dem fernöstlichen Kriegsschauplatz sicherlich wesentliche Vorteile gebracht. Aber niemand kam an diesen Japaner heran. Doch dann trat etwas ein, das diese Sachlage änderte durch ein Unternehmen, das im Zweiten Weltkrieg einmalig bleiben sollte. Dabei wirkten Funkaufklärer, Kodeknacker, Radiospezialisten, Funktäuscher und letztlich vor allem amerikanische Flieger mit. Und alles begann mit einem Funkspruch! *
17. April 1943. Marinedock von Pearl Harbor (Hawaii), nachts... Morsezeichen zirpten durch den schwach beleuchteten Kellerraum, der mit Funkgeräten, Fernschreibern, Regalen, Stühlen und Schreibtischen mit Aktenordnern und Papierstapeln vollgestopft war. Second Lieutenant (Leutnant) Frank Truett saß vor einem Radioempfänger. An ihm war ein kleiner Topscheinwerfer angebracht, dessen helles Licht auf einen Spruchblock fiel. Über diesen huschte Truetts rechte Hand mit einem Bleistift hin und her. Er schrieb die aus dem Lautsprecher am Empfänger kommenden Morsezeichen mit. Plötzlich verstummten die Signale. Truett weckte den neben ihm auf einem Feldbett schlafenden Sergeant Eddy Sanders, der trotz seines militärischen Dienstgrades wie Truett Zivilkleidung trug. »Weck den Commander, Eddy!« rief Truett ihm zu. »Funkspruch von der >Yamato
Sanders plazierte den Funkspruch auf der Schreibunterlage, knipste die Armlampe an, drückte den Lichtkegel näher auf die Schreibtischplatte und sah sich den aus Gruppen zu je acht lateinischen Buchstaben bestehenden japanischen Funkspruch an. Minuten später betrat Commander Joseph J. Rochefort jr. den Raum. Er war der Chef der amerikanischen Geheimabteilung »Combat (Kampf) Intelligence Unit«, die mit offenem Kampf überhaupt nichts, mit dem geheimen, lautlosen Krieg aber viel zu tun hatte. Rocheforts Einheit, die aus einer kleinen Gruppe von Spitzenkönnern bestand, war für das Abhören und Auswerten des gesamten japanischen Funkverkehrs zuständig. Sie hatte beispielsweise sämtliche Angriffspläne herausbekommen, mit denen die Japaner Anfang Juni 1942 die Midway-Inseln erobern wollten. Aufgrund von Rocheforts Unterlagen konnte der amerikanische Oberbefehlshaber im Pazifik, Admiral Nimitz, seine Streitkräfte derart aufstellen, daß die Japaner in eine Falle liefen und vernichtend geschlagen wurden. Das war die Wende im Pazifik-Krieg zugunsten der Amerikaner gewesen. Commander Rochefort, ein großer, hagerer Mann mit einem Raubvogelgesicht, ging langsam durch den Raum. Als Spezialist der Kryptoanalyse (Funkverkehrsanalyse), der Radiotechnik und des Kodeknackens war der fließend japanisch sprechende Rochefort einsame Spitze. Ebenso aber auch in seiner äußeren Aufmachung, denn er trug eine rote Smokingjacke und Pantoffeln. Er setzte sich an den Schreibtisch und rief: »Truett, Sie helfen mir. Und Sie«, gemeint war Sergeant Sanders, »übernehmen solange den Dienst am Empfänger.« Die beiden Männer wechselten ihre Plätze.
»Dann wollen wir mal sehen, was die Japs (Jargonwort für Japaner) gefunkt haben«, sagte Rochefort. Ihm war es bereits gelungen, in den äußerst schwierig zu knackenden Funkkode JN-25 der Japaner einzudringen. Dadurch waren die Amerikaner in der Lage, dem japanischen Admiral Yamamoto in die Karten zu blicken. Die beiden Chiffrierexperten entschlüsselten den Funkspruch der japanischen Befehlszentrale und stellten fest, daß er von Admiral Yamamoto persönlich stammte. Er gab darin bekannt, daß er von seinem augenblicklichen Gefechtsstand Truk aus einen Flug zu den Salomonen-Inseln durchführen wollte, um die dort stationierten japanischen Einheiten zu inspizieren. Im Funkspruch waren genau erwähnt: Startzeit, Flugstrecken und die Ankunftszeiten bei den jeweiligen Garnisonen sowie weitere Details. »Der alte Fuchs verläßt seinen Bau«, sagte Commander Rochefort und rieb sich mit der linken Hand um das spitze Kinn. »Das könnte ihn die Ohren kosten.« Dabei sah er den neben ihm sitzenden Lieutenant an. Dieser stutzte. Sein junges Gesicht war bis zu den Rändern mit Ratlosigkeit ausgefüllt. »Wissen Sie immer noch nicht, was ich meine?« bohrte der Mann in der roten Jacke weiter. »Dieser Oberjaps läuft uns doch nicht zum erstenmal über den Weg. Sie wissen doch auch, daß wir es mit einem Pünktlichkeitsfanatiker zu tun haben. Deshalb können wir davon ausgehen, daß er zu den in dem Funkspruch angegebenen Zeiten auch an den ebenfalls genannten Orten erscheint. Wissen Sie jetzt, was ich meine?« »Jetzt habe ich Sie verstanden, Commander«, grinste Truett. »Es besteht die Chance, den Oberjaps auf diesem Flug zu erwischen.«
»Genau«, Rochefort nickte. »Sie ist zwar dünn, aber sie ist da. Wir können jetzt aber nur folgendes tun: Verschlüsseln Sie den Text mit unserem Kode und geben Sie ihn nach >Negat< durch.« »Negat« war der Deckname der zu Rocheforts Combat Intelligence Unit gehörenden Abhör- und Funkstation in Washington. Rocheforts Station in Pearl Harbor trug den Decknamen »Hypo«; es gab außerdem noch eine weitere Station in Australien. »Beeilen Sie sich, Lieutenant«, sagte Commander Rochefort abschließend. Dabei legte er die flache rechte Hand auf das Stück Papier mit dem entschlüsselten japanischen Funkspruch. Das mochte ein Gramm wiegen. Doch die darauf stehenden Worte waren dermaßen schwerwiegend, daß sie den gesamten Krieg im Pazifik wieder einmal zugunsten der Amerikaner wenden konnten. Wenig später hatten Truett und Sanders den Spruch in den US-Navy-Kode umgewandelt. Truett setzte sich an die Taste und schickte ihn in Form von zirpenden Morsebuchstaben durch den Äther nach Washington. Der Funker von »Negat« bestätigte den Empfang. »Jetzt bin ich mal gespannt, was passiert«, meinte Truett. »Ich auch«, setzte Sergeant Sanders hinzu. * »Lieutenant Dexter, stellen Sie sofort eine Verbindung mit dem Präsidenten her«, rief Colonel Frank Knox im Washingtoner Pentagon seinem Adjutanten durch die offenstehende Tür zum Vorzimmer zu. »Die Sache ist äußerst dringend!« Knox war ständiger Verbindungsoffizier zwischen der US-Navy und dem amerikanischen Präsidenten. Er hatte
gerade, gegen 11.00 Uhr morgens des 17. April 1943, den von Rocheforts Einheit abgehörten Funkspruch erhalten, gelesen und sofort das erkannt, was der Commander mit der roten Smokingjacke in Pearl Harbor bereits einige Zeit vorher ebenfalls festgestellt hatte. »Der Präsident, Sir!« meldete Lieutenant Dexter kurz darauf aus dem Vorzimmer. »Heben Sie bitte ab!« Zugleich summte auch schon auf dem riesigen Schreibtisch das Telefon. »Good morning, Mister President«, eröffnete Knox das Gespräch mit dem damaligen US-Präsidenten Roosevelt und informierte ihn dann näher. Roosevelt schwieg einen Augenblick. Dann aber äußerte er die Meinung, daß die Navy die Sache weiter verfolgen sollte. »Kommen Sie mal bitte zu mir, Lieutenant Dexter«, rief Knox nach Beendigung des Gespräches. »Wie können wir das Ding drehen?« fragte er, als Dexter vor seinem Schreibtisch in einem protzigen Armsessel saß. Dexter war nicht nur ein tüchtiger Seeoffizier und der Adjutant des Verbindungsoffiziers, sondern auch hin und wieder sein Gesprächspartner. »Wie können wir es schaffen, Yamamoto auf dieser Reise zu den Salomonen zu erwischen und auszuschalten?« »Mit unseren Schiffen haut das nicht hin, Sir«, meinte Dexter. »Da muß die Air Force (Luftwaffe) mitmachen.« Knox überlegte kurz und sagte dann: »Sie haben recht, Dexter.« Er hob den Hörer vom Telefon und wählte eine Nummer im Haus. Am anderen Ende des Drahtes meldete sich General Henry H. Arnold, der Chef des Army Air Force Corps (eine Einheit der amerikanischen Luftwaffe). »Hören Sie mal bitte gut zu, General«, sagte Knox. Dann erklärte er alle Einzelheiten des anstehenden Planes
und gab auch den Text des abgehörten Funkspruchs durch. Zum Schluß fragte er: »Wie denken Sie darüber?« »Im Moment dazu keinen Kommentar, Colonel«, erwiderte Arnold. »Aber ich werde mich um die Sache kümmern. Und zwar sofort. Sie hören wieder von mir.« »In Ordnung«, schloß Knox ab und legte auf. Da er General Arnold gut kannte, wußte er, daß dieser die Lösung des anstehenden Problems sofort in Angriff nehmen würde. General Arnold führte ein paar Telefongespräche. Fünfzehn Minuten später saßen Colonel Charles Lindbergh der berühmte Ozeanflieger, der im Mai 1927 als erster den Atlantischen Ozean auf der etwa 6000 Kilometer langen Strecke zwischen New York-Paris überquerte und Flugingenieur Frank Meyer in Arnolds Dienstzimmer. Lindbergh war ein erfahrener Spezialist für Langstreckenflüge mit P-38 »Lightnings«, Flugingenieur Meyer ebenfalls. »Hören Sie bitte gut zu«, begann General Arnold das Gespräch. »Der japanische Admiral fliegt von der Insel Truk aus zunächst nach Rabaul. Und von dort aus geht es dann wieder per Flugzeug weiter zu dem japanischen Stützpunkt Kahili. Dort steigt der Admiral auf ein Kriegsschiff um, mit dem er seine Inspektionsreise fortsetzt.« General Arnold nannte jetzt die im Funkspruch genau angegebenen Zeiten. Dann blickte er Lindbergh und Meyer an. »Das ist zuerst einmal eine Rechenaufgabe«, meinte Colonel Lindbergh. Er und Meyer begannen sofort damit. Dann erklärte Lindbergh: »Wenn der Admiral die Flugzeiten pünktlich einhält, dann muß er am 18. April 1943, um 09.45 Uhr, morgens mit seinem Flugzeug samt Eskorte über dem Flugplatz Kahili eintreffen.«
»Sie wissen doch sicher auch, daß Yamamoto ein äußerst pünktlicher Mann ist«, meinte General Arnold. »Nach unseren Berechnungen«, fuhr Lindbergh fort, »sind die P-38 von Captain Mitchells Squadron 339 auf unserem Stützpunkt Henderson Field (Insel Guadalcanal) in der Lage, Yamamotos Maschine über Kahili abzufangen und eventuell abzuschießen. Die Voraussetzung für das Gelingen des Planes aber ist, daß die P-38 rechtzeitig mit Zusatzbehältern für Treibstoff ausgerüstet werden.« General Arnold verständigte nach dieser Besprechung Colonel Knox. Aufgrund der gesamten Vorarbeit, der Berechnungen und der Berücksichtigung aller übrigen Voraussetzungen entschied die Führung der US-Navy schließlich: Das Unternehmen wird durchgeführt! Um 15.35 Uhr (17. April 1943) tasteten amerikanische Funker zwei verschlüsselte Befehle von Colonel Knox an ihre Gegenfunkstellen im fernöstlichen Raum. Einer von ihnen war für General Kenney bestimmt. Er war Befehlshaber der US-Luftstreitkräfte im Südwestpazifik. Sein Hauptquartier befand sich in Australien. Er sollte dafür sorgen, daß die in den Depots der 13. US-Luftflotte im Stützpunkt Port Moresby lagernden Zusatztreibstoffbehälter sofort nach Henderson Field auf Guadalcanal geflogen wurden. Bereits drei Stunden nach Eintreffen des Funkspruchs starteten vier Bomber vom Typ »Liberator« (viermotorig) zum Flug nach Henderson Field. An Bord befanden sich die angeforderten Treibstoffbehälter. Der zweite Funkspruch traf um 16.00 Uhr im Hauptquartier der Fighter Control (Teil der amerikanischen Luftwaffe) ein, das bei dem Ort Tassafa-
ronga auf der Insel Guadalcanal lag; etwa fünfzehn Kilometer von Henderson Field entfernt. Die Baracken und sonstigen Gebäude dieser Befehlszentrale waren zum Schutz gegen japanische Bombenangriffe bis zur Hälfte in den sandigen Boden eingegraben und standen unter Palmen. Der bis zur endgültigen Absendung noch durch weitere Geheiminformationen ergänzte Funkspruch lautete: »Washington, 17. 4. 43. 03.35 nachmittags. Geheim. Marinesekretär an Fighter Control Henderson Field. Admiral Yamamoto heute morgen um 08.00 Uhr von Truk gestartet zur Inspektion von Stützpunkten auf der Insel Bougainville. Begleitet von Stabschefs und sieben Stabsoffizieren der kaiserlich japanischen Marine. Admiral und Begleiter fliegen in zwei >SallyZeke< (»Sally« = amerikanischer Deckname für den japanischen mittelschweren Bomber Mitsubishi Ki.21, zweimotorig, sieben Mann Besatzung. »Zeke« für den einmotorigen japanischen Jäger A6M-Zero-Sen, auch »Zero«-Jäger genannt - einmotorig, ein Mann Besatzung. Damals das berühmteste japanische Jagdflugzeug, vergleichbar mit der deutschen FW 190.) begleitet werden. Weiterer Jagdschutz von Kahili her ist wahrscheinlich. Vorgesehener Fahrplan: Rabaul Bucka 16.30 Uhr, dort übernachten. Weiterflug bei Tagesanbruch nach Kahili. Landung in Kahili voraussichtlich um 09.45 Uhr. Admiral wird anschließend auf einem Torpedojäger zur Inspektion der Einheiten Admiral Tanakas fahren. Squadron 339 muß mit ihren P-38 auf jeden Fall Yamamoto und Stab im Laufe des Vormittags des 18. April abfangen und vernichten. Zusatzbehälter und Instruktionen bezüglich Treibstoffverbrauch ankommen 17. April abends von Port Moresby. Feindaufklärungsdienst betont extreme Pünktlichkeit
Yamamotos. Präsident mißt dieser Aktion größte Bedeutung bei. Resultate sofort nach Washington melden.« »Henderson Field benachrichtigen! Captain Mitchell soll sofort hierherkommen!« rief der wachhabende Offizier aufgeregt. Der Sergeant am Funkgerät rief den Decknamen des Flugplatzes ins Mikrofon, aber niemand meldete sich. »Versuchen Sie es noch mal!« drängte der wachhabende Offizier. Dann neigte er den Kopf, stand ganz still und lauschte. Von weit her war dumpfes Donnern und Dröhnen zu hören. »Da stimmt irgend etwas nicht!« Im gleichen Augenblick war auch eine klirrende Stimme aus dem Lautsprecher des Funkgeräts zu hören: »Sergeant Lester!« Das war der Mann am Funkgerät in Henderson Field. »Was ist los?« »Captain Mitchell sofort zur Fighter Controll« »Das geht im Augenblick nicht. Wir liegen hier alle mit dem Bauch im Sand. Die Japse hauen uns gerade mal wieder ihre Bomben um die Ohren. Werde aber den Captain verständigen. Ende.« Aus diesem Grund konnten Captain Mitchell und seine beiden »Number Two« (US-Ausdruck für Unterführer), die First Lieutenants (Oberleutnant) Thomas G. Lanphier und Besby Holmes erst nach dem Luftangriff mit einem Jeep ins Hauptquartier nach Tassafaronga fahren. Die Gespräche der Luftwaffen- und Marineoffiziere verstummten, als Captain Mitchell und seine beiden Begleiter die Befehlszentrale betraten. »Sehen Sie sich das einmal an!« forderte der Flugplatzkommandeur Captain Mitchell auf und überreichte ihm den Funkspruch.
»Mitlesen!« forderte Mitchell seine Begleiter auf. »Damit ich nicht noch lange Erklärungen abgeben muß.« Die drei lasen das, was die auf dem schmutzigen, feuchten Fußboden stehenden Offiziere bereits wußten. Captain Mitchell ließ das Blatt mit dem Funkspruch sinken und hob den Kopf. »Und? Können Sie den Auftrag ausführen?« »Damit müssen wir uns erst einmal näher befassen«, erwiderte Mitchell. »Beeilen Sie sich! Sie wissen ja, daß uns nur wenig Zeit zur Verfügung steht.« Captain Mitchell und seine beiden Offiziere setzten sich an einen Tisch und begannen mit ihren Berechnungen. »Darf ich um Ruhe bitten, Gentlemen«, tönte dann wenig später Mitchells feste Stimme in das Gemurmel der anwesenden Offiziere. Schweigend blickten die Männer den Führer der Squadron 339 an. Mitchell erklärte: »Unsere Berechnungen haben ergeben, daß das Unternehmen durchgeführt werden und Erfolg haben kann. Es ist möglich, daß wir morgen gegen neun Uhr fünfunddreißig etwa neunzig Kilometer östlich von Kahili Kontakt mit den japanischen Flugzeugen bekommen. Vorausgesetzt, Admiral Yamamoto ist morgen genauso pünktlich, wie das bisher immer der Fall war.« »Das hoffen wir auch, Captain«, sagte der Flugplatzkommandant. »Noch etwas«, fuhr Mitchell fort. »Das ganze Unternehmen kann nur durchgeführt werden, wenn die Zusatzbehälter noch heute abend eintreffen und während der Nacht in unsere Maschinen eingebaut werden.« »Die kommen, Captain! Und sie werden eingebaut! Dafür sorge ich persönlich«, versicherte der Flugplatzkommandant.
»Dann zum Schluß noch etwas«, sagte Captain Mitchell. »Ein eventueller Erfolg kann von mir und meinen Männern nur dann erzielt werden, wenn wir die Japse wirklich finden. Doch bedenken Sie bitte, dieser Funkspruch«, Mitchell wedelte mit dem Blatt Papier in der Luft herum, »kann auch ein Täuschungsmanöver sein.« Keiner der im Raum stehenden Offiziere sagte dazu ein Wort. Weißviolette Blitze zerrissen knallend den schwarzen Tropenhimmel. Donner grollte dumpf, als die vier aus Port Moresby (Australien) kommenden »Liberator«-Bomber auf den schmalen, nur schwach beleuchteten Flugplatz Henderson Field einschwebten umd landeten. An Bord die abwerfbaren Zusatzbehälter, mit denen 18 Maschinen von Captain Mitchells Squadron ausgerüstet werden mußten. »Raus mit den Dingern! Sofort einbauen!« spornte der Flugplatzkommandant von Henderson Field das Bodenpersonal an. Regen prasselte in der dunklen Nacht auf den Kommandanten und seine Mechaniker herab, als diese im Schein von Taschenlampen die Zusatzbehälter einbauten und letzte Vorbereitungen für den kommenden Einsatz trafen. Am frühen Morgen waren alle P-38 voll aufgetankt und einsatzbereit. Um 05.00 Uhr trillerten in den Baracken die Pfeifen zum Wecken. Eine Stunde später versammelten sich die Piloten in einem Kokospalmenhain, den sie scherzhaft »Flugbesprechungsraum« nannten. Am klaren Himmel strahlte die Sonne. Ein Jeep brauste mit hoher Geschwindigkeit heran. Er stoppte plötzlich, rutschte aber auf dem losen Sand noch ein Stück weiter. Captain Mitchell sprang heraus und kletterte auf die Motorhaube.
Gespannt blickten die jungen Piloten zu ihm auf. »Was heute auf uns zukommt, habe ich euch bereits gestern abend in groben Umrissen erzählt. Jetzt aber noch Einzelheiten zu dem bevorstehenden Feindflug.« Er informierte die Piloten eingehend über die Angriffstaktik, die er sich während der Nacht ausgedacht hatte. »Wir fliegen in drei Gruppen von je sechs P-38. Das sind: Eine Abschußgruppe und zwei Abwehrgruppen. In der zuerst genannten Gruppe fliegen folgende Piloten: Lanphier, Holmes, Ray Hine, Joe Moore, Rex Barber und James MacLanahan. Ihr habt nur eine einzige Aufgabe: Durchstoßt den japanischen Begleitschutz und schießt die beiden Bomber ab. Um alles andere habt ihr euch nicht zu kümmern. Klar?« Die in Frage kommenden Männer nickten. »Ich selbst«, fuhr Mitchell fort, »und Second Lieutenant Cannings sind die Führer der beiden Abwehrgruppen. Diese haben die Aufgabe, die japanischen >Zero-Jäger< in Schach zu halten, damit die Angriffsgruppe ihren Auftrag durchführen kann. Mit wie vielen >Zeros< wir uns herumschlagen müssen, das kann ich im Augenblick nicht sagen. Wir wollen hoffen, daß es nur die sind, die in dem Funkspruch angekündigt wurden. Hat noch jemand eine Frage?« Captain Mitchell blickte einen nach dem anderen an. Keiner von ihnen meldete sich zu Wort. »Dann zu den Maschinen, Leute! Drücken wir uns selbst die Daumen, damit alles klappt.« Die Piloten liefen auseinander und eilten zu den Liegeplätzen. Die Motoren sprangen an. Die zweimotorigen Jäger rollten an den Start. An der Spitze Captain John Mitchell. Er schob die Gashebel nach vorn. Die Motoren dröhnten lauter. Die doppel-
rumpfige »Lightning« setzte sich in Bewegung, flitzte über das mit Metallrosten belegte Flugfeld und hob ab. Hinter Mitchell starteten alle übrigen P38 in Abständen von einer Minute. Zwei von ihnen fielen wegen Defekten aus. Die übrigen bildeten eine Formation aus vier und zwei zu je sechs Maschinen, umflogen die kleine mit Dschungel bestandene und mit Kokospalmen bewachsene Insel und gingen auf Kurs. Captain Mitchell drückte (Sinkflug) seine P-38 ganz dicht an die Wasseroberfläche des Pazifischen Ozeans heran. Die übrigen handelten genauso. Eine Vorsichtsmaßnahme, denn im Tiefflug konnten die Maschinen nicht von den japanischen Radargeräten entdeckt werden. Es herrschte herrliches Wetter. Der Wind schlief. Die nur zehn Meter unter den schlanken Doppelrümpfen der P38 vorbeiflitzende See war spiegelglatt. Während des Fluges herrschte absolute Funkstille. »Verdammt und zugenäht«, fluchte Captain Mitchell hin und wieder. Und mit ihm schimpften auch alle übrigen Piloten in den Cockpits der schnellen Jäger. Denn dieser Flug war eine Strapaze ohnegleichen. Er kostete Kraft und Nerven. Denn die Zusatzbehälter waren nicht in Zellen unterteilt. Deshalb schwappte der gesamte in ihnen befindliche Treibstoff ständig vor und zurück oder von einer Seite zur anderen. Diese Bewegungen mußten die Piloten durch ständige Korrekturen mit den Steuerknüppeln ausgleichen. Geschah so etwas nicht rechtzeitig, konnte es bei der geringen Flughöhe zu einer Wasserberührung und zum Absturz in die See kommen. Die Insel Bougainville kam in Sicht. Die Piloten atmeten auf und blickten auf die Borduhren, die 09.30 Uhr anzeigten. Das bedeutete: der Flug war bisher ohne Zwischenfälle und plan-
gemäß verlaufen. Würde das auch weiterhin der Fall sein? Die Borduhren zeigten 09.30 Uhr an. In fünf Minuten mußte also der Flugzeugverband der Japaner auftauchen. Vorausgesetzt, der von Commander Rocheforts Combat Intelligence Unit abgehörte japanische Funkspruch war kein Täuschungsmanöver der Japaner gewesen. Denn so etwas war im Geheimkrieg auf dem fernöstlichen Kriegsschauplatz durchaus an der Tagesordnung. Immer wieder suchten die Piloten den klaren Himmel ab. Von den Japanern war weit und breit nichts zu sehen. »Diese verdammten Japse«, führte Captain Mitchell ein gemurmeltes Selbstgespräch. »Sie haben uns reingelegt.« Doch seine Zweifel waren nur von kurzer Dauer. Denn kurz darauf durchbrach Second Lieutenant Cannings die bis dahin streng eingehaltenen Funkstille mit den ruhig gesprochenen Worten: »Nach oben blicken! In Richtung zehn Uhr fliegen die Japse!« ' Die Köpfe der Piloten ruckten hoch. Die Sonne stach ihnen in die Augen. Sie verengten die Lider zu Schlitzen, um besser sehen zu können. Links von ihnen, hoch oben am blauen Pazifikhimmel, waren tatsächlich silbern glitzernde Pünktchen zu sehen die japanischen Flugzeuge! »Zusatzbehälter abwerfen! Angreifen!« befahl Captain Mitchell über Sprechfunk den fünf Piloten seiner Abwehrgruppe. Sekunden später flogen die bombenförmigen Gebilde von den Maschinen weg. Dasselbe geschah bei der zweiten Abwehrgruppe, die Second Lieutenant Cannings führte. Kurz darauf stiegen die zwölf P-38 fast senkrecht in die Höhe. Innerhalb kurzer Zeit erreichten sie aufgrund der Leistungsfähigkeit ihrer Motoren die Höhe, in der die Japaner flogen.
»Hinterher!« befahl auch First Lieutenant Tom Lanphier seiner Angriffsgruppe, die wegen der Ausfälle beim Start nur noch aus vier Jägern bestand. Das waren außer Lanphier noch die Piloten Rex Barber, Besby Holmes und Ray Hine. Sie sollten die beiden »Mitsubishi«-Bomber abschießen. Lanphier und Rex Barber schoben Vollgas auf die Motoren und zogen die Steuerknüppel an. Die P-38 röhrten nach oben. Während des Steigflugs blickte Lanphier nach rechts. Dort zog, wie vorgesehen, Rex Barber mit seiner P38 neben ihm her. Dann sah er nach links. Dort sollten plangemäß Holmes und Hine den Angriff mitfliegen. Aber der Luftraum war leer! »Wo sind Holmes und Hine?« brüllte Lanphier aufgeregt. »Keine Ahnung!« erwiderte Rex Barber. Da war plötzlich eine dünne Stimme von weit her in den FT-Hauben zu hören: »Leitwerk von einem Zusatzbehälter beschädigt. Kann nicht mitfliegen!« Das war Besby Holmes. Und sofort darauf meldete sich auch Ray Hine. Er konnte ebenfalls am letzten entscheidenden Angriff nicht teilnehmen, weil sein kleiner Zusatzbehälter klemmte und sich nicht von der Maschine löste. »Und was nun?« rief Rex Barber, wobei er zu Lanphier hinübersah. »Wir fliegen weiter! Dann müssen wir beide es eben alleine schaffen!« lautete die Antwort. »Hoffentlich geht das gut«, zweifelte Barber. »Schnauze halten und ran!« Die beiden waren in dem Augenblick noch etwa 300 Meter unter dem feindlichen Verband. Sie konnten die zweimotorigen Bomber deutlich erkennen. Einer von ihnen war grün gestrichen, der andere grau. Dieser zuletzt genannte war zusätzlich mit olivgrünen
Streifen versehen. Außerdem flogen an jeder Seite dieser Zweimotorigen drei »Zero«-Jäger. »Siehst du den Gestreiften mit den sechs Jägern, Rex?« rief Tom Lanphier seinem Rottenkameraden zu. »Natürlich!« »Darin sitzt bestimmt dieser Bursche. Den nehmen wir uns als ersten vor. Klar?« »Verstanden!« Die beiden stiegen weiter nach oben, erreichten die Höhe, in der die gestreifte Maschine flog, gingen in den Geradeausflug über und rasten auf den japanischen Bomber zu. In diesem Augenblick erkannten die japanischen »Zero«-Piloten, was die Amerikaner vorhatten. Drei von ihnen rissen ihre Maschinen sozusagen auf den Tragflügelspitzen herum und jagten den beiden P-38 entgegen. Dabei sprühten Leuchtspurketten aus ihren Bordwaffen. Auch Lanphier und Barber drückten auf die Knöpfe. Die 20-mm-Kanonen und die Maschinengewehre ratterten los. Die Maschinen wurden von den Rückstößen gerüttelt. Die Geschoßketten rasten davon und kreuzten sich mit denen der Japaner. »Treffer!« rief Tom Lanphier, als er sah, wie seine Geschosse in einen einschlugen, der sofort Rauchentwicklung zeigte. Doch mit dem, was dann geschah, hatte Lanphier nicht gerechnet. Der japanische Pilot gab nicht auf. Er zog seinen abwärtstaumelnden, an allen Ecken und Ende qualmenden Jäger hoch und raste genau auf Lanphiers P38 zu. »Paß auf, der will dich rammen!« schrie Rex Barber. Lanphier riß seine P-38 hoch. Der angeschlagene Japaner rauschte unter ihm hinweg und stürzte dann in die Tiefe.
»Los, weiter angreifen!« rief Lanphier seinem Rottenkameraden zu und flog neben ihm auf die Bomber zu. In dem gesamten Luftraum um die Bomber herum waren heftige Luftkämpfe zwischen den »Zero«-Jäger und den amerikanischen Abwehrgruppen im Gange. Die Japaner versuchten, die P-38 von den Bombern abzudrängen. Doch das gelang nicht. Die »Lightnings« setzten sich immer wieder hinter die Feindmaschinen und feuerten. Die ersten von ihnen stürzten brennend vom Pazifikhimmel. Den japanischen Jägern gelang es, eine P-38 zu beschädigen und eine abzuschießen. Während das geschah, erkannten die Besatzungen der beiden Bomber, in denen Admiral Yamamoto und seine Stabsoffiziere saßen, die beiden von hinten auf sie zukommenden P-38. Die Piloten flogen Abwehrbewegungen, um den Amerikanern das Zielen zu erschweren. Dann aber drückten sie ihre Maschinen steil nach unten. Mit hoher Geschwindigkeit rasten sie auf die Insel zu, auf der kahle Basaltfelsen aus dem dichten Dschungel aufragten. »Kampfleistung, Rex! Und hinterher!« rief Lanphier seinem Begleiter zu. Die Motoren der amerikanischen Jäger heulten auf. Wie riesige Raubvögel stürzten die beiden P-38 hinter den Bombern her, um sie zu vernichten. Der Abstand zwischen ihnen und den Gegnern verringerte sich immer mehr. »Tom!« rief Rex Barber. »Warum schießen die Brüder denn nicht auf uns?« »Keine Ahnung!« erwiderte Lanphier. Denn beiden Piloten war bekannt, daß die »Sallys« normalerweise mit sechs Maschinengewehren ausgerüstet waren. Immer näher schoben sich Lanphier und Barber an die Bomber heran. Von den Seiten her stürzten sich »Ze-
ro«Jäger auf sie, um sie abzuschießen. Aber genauso schnell waren die P-38 von den Abwehrgruppen zur Stelle, feuerten auf die Japaner, beschädigten sie oder schickten sie in die Tiefe. Dadurch konnten Lanphier und Barber ihren Angriff ungestört fortsetzen. »Mensch, sieh dir das an!« rief Barber plötzlich durch den Äther: »Die Japse haben nicht einen einzigen MGStand besetzt!« Tom Lanphier starrte angestrengt nach vorn und erkannte, daß sein Rottenkamerad recht hatte. Die japanischen Piloten beendeten den Sturzflug und rasten im Horizontalflug nur wenige Meter über dem grünen Laubdach der Dschungelbäume weiter. Dabei flogen sie leichte Abwehrbewegungen. Lanphier und Barber nahmen die Gashebel zurück, damit ihre Maschinen nicht mit überhöhter Geschwindigkeit über die »Sallys« hinwegflogen. »Ich den linken! Du den rechten, Rex!« gab First Lieutenant Lanphier letzte Anweisungen, als die beiden P38 in Schußposition hinter den japanischen Bombern schwebten. Lanphier blickte durch das Visier. Dann drückte er auf den Auslöseknopf. Zwei, drei kurze, gut gezielte Feuerstöße sprühten aus den Kanonen und Maschinengewehren. Treffer am rechten Motor der »Sally«! Teile der Tragfläche flogen weg! Die Maschine sackte ab und taumelte auf die Bäume zu. Dann stieg sie nochmals in die Höhe. Lanphier bekam sie wieder ins Visier und feuerte. Es sah nun so aus, als würde der japanische Bomber plötzlich in der Luft stillstehen. Lanphier verringerte die Geschwindigkeit, um nicht in die Feindmaschine hineinzurasen. Dann schlugen plötzlich Flammen aus dem japanischen Flugzeug. Es stürzte auf die Dschungelbäume. Die
Tragflächen wirbelten weg. Der flügellose, brennende Rumpf sauste noch weiter, pflügte eine Schneise in das grüne Laubdach, verschwand schließlich im Dschungel und brannte am Boden aus. Eine dicke schwarze Rauchsäule stieg an der Absturzstelle in die Höhe. Während das alles geschah, raste Rex Barber hinter der zweiten »Sally« her. Sie versuchte, in Richtung Strand zu entkommen. Doch Barber blieb dahinter und feuerte. »Zero«-Jäger eilten herbei und wollten Barber abschießen. Doch sofort waren die amerikanischen P-38 hinter ihnen, beschossen und vertrieben sie. Rex Barber ging wieder in Schußposition. Zweimal kurz hintereinander drückte er auf die Auslösung. Die Geschosse knallten in die »Sally«. Die rechte Tragfläche brannte. Rauch strömte aus den Motoren, der sich immer mehr verdichtete. Plötzlich sackte das Flugzeug wie ein schwerer Stein nach unten. Im Sturz flogen Fetzen weg. Die Maschine knallte gegen ein Korallenriff und explodierte in einem roten Feuerball. Captain Mitchell war etwas erhöht neben First Lieutenant Barber hergeflogen und hatte alles mitbekommen. Sofort nach dem Abschuß der »Sally« gab er durch: »An alle! Angriff abbrechen! So schnell wie möglich sammeln! Wir gehen sofort auf Heimatkurs!« Er und auch andere Piloten hatten beobachtet, daß während der Luftgefechte und dem Abschuß der beiden Bomber vom Flugplatz Kahili mehrere »Zero«-Jäger gestartet waren. Und mit denen wollte sich Mitchell nicht mehr anlegen. Innerhalb weniger Minuten hatten sich die P-38 gesammelt. Sechs von ihnen waren im Luftkampf beschädigt, zweien war ein Motor zerschossen worden. Sie wurden in die Mitte der
Formation eingereiht und gingen im Einmotflug auf die lange Rückreise. »Die Geschwindigkeit des gesamten Verbandes richtet sich nach der der Einmotflieger«, gab Captain Mitchell Anweisung. Gleichzeitig gab er vier Piloten den Befehl, etwas erhöht hinter dem Hauptverband mitzufliegen. »Wenn die Japse uns noch angreifen, packt ihr sie von hinten!« gab er ihnen mit auf den Weg. Die vier Piloten zogen ihre Maschinen an und gingen 500 Meter über dem Hauptverband wieder in den Geradeausflug über. Sie nahmen die Geschwindigkeit zurück und flogen in etwa 1000 Metern Abstand hinter ihren Kameraden her. Dabei beobachteten sie den Luftraum hinter der Hauptgruppe. Kurz darauf kamen tatsächlich drei »Zero«-Jäger in ihr Blickfeld, die auf die P-38 um Captain Mitchell zustießen. »Runter! Ran!« rief First Lieutenant Clark, der die vier P-38 führte. Sie stürzten aus der Überhöhung herunter, hingen innerhalb von wenigen Sekunden hinter den japanischen Jägern und feuerten auf sie. Die japanischen Piloten drückten, völlig überrascht, ihre Maschinen bis dicht auf das Meer herunter, kurvten ein und rasten in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. »Sollen wir noch weiter sichern, Captain?« fragte Clark nach diesem Zwischenfall bei Mitchell an. »Das ist nicht mehr nötig. Die werden uns nicht mehr angreifen, weil wir schon viel zu weit von ihren Stützpunkten entfernt sind. Kommt wieder zu uns.« Ohne weitere Zwischenfälle und Schwierigkeiten erreichten die P-38 wieder die Insel Guadalcanal und umkreisten ihren Stützpunkt Henderson Field.
»Könnt ihr euch noch in der Luft halten?« fragte Mitchell bei den Einmotfliegern und den anderen Piloten an, deren Maschinen beschädigt waren. Alle bejahten die Frage. Captain Mitchell: »Alle gesunden Vögel so schnell wie möglich landen. Sofort Landebahn räumen und zu den Liegeplätzen rollen. Dann folgen die beschädigten Maschinen. Zum Schluß die Einmotflieger. Die legen ihre Kisten neben der Piste in den Sand. Alles klar?« »Verstanden!« In schneller Folge schwebten die P38 ein, setzten auf und rollten aus. Dann suchten sie sofort ihre Liegeplätze auf. Alles klappte ohne Zwischenfälle. Auch die beiden Bauchladungen verliefen glatt. Damit war dieses einmalige Unternehmen im geheimen Krieg gelaufen. Die Nachricht über den Erfolg wurde sofort per Funk nach Washington weitergegeben. US-Präsident Roosevelt gratulierte First Lieutenant Tom Lanphier, der den gesamten Einsatz schließlich mit dem erhofften Erfolg gekrönt hatte, in einem Funktelegramm. Lanphier wurde mit dem Navy Cross ausgezeichnet und zum Captain befördert. Doch das alles wurde erst nach völliger Beendigung des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1945 bekanntgegeben, nachdem Japan im August 1945 kapituliert hatte. Denn ein Bruder von Tom Lanphier befand sich zur Zeit des Spezialunternehmens in japanischer Kriegsgefangenschaft.
Es war deshalb zu befürchten, daß ihn die Japaner schlecht behandeln würden, wenn sie erfuhren, daß sein Bruder Tom Admiral Yamamoto ausgeschaltet hatte. Nach dem geglückten Einsatz warteten Captain Mitchell und seine Piloten, Commander Rocheforts Combat Intelligence Unit in Pearl Harbor und alle amerikanischen Führungsspitzen im Pazifikraum darauf, wie sich die Japaner verhalten würden. Doch vorerst schwiegen sie völlig über den Vorfall. Erst etwa einen Monat später erklärte die japanische Regierung offiziell, daß Admiral Yamamoto im Luftkampf gefallen sei. Er wurde posthum noch befördert und mit Ehrungen aller Art überhäuft. Dabei schaltete sich auch der deutsche Verbündete ein, und es geschah wieder etwas Einmaliges. Am 27. Mai 1943 sandte Adolf Hitler als Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht folgendes Telegramm an den japanischen Kaiser: »Eure Majestät! Unter dem tiefen Eindruck des heldenhaften Einsatzes Ihres Flottenchefs, des Großadmirals Isoroko Yamamato, und in der Würdigung seiner geschichtlichen Verdienste in dem gemeinsamen Kampf unserer Waffen habe ich dem gefallenen Helden das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes mit Eichenlaub und Schwertern verliehen.« Wahrscheinlich hat der »Führer« wie Hitler damals offiziell genannt wurde nie mehr erfahren, daß auch der legendäre japanische Marinestratege ein Opfer des geheimen Krieges geworden war...
ENDE
Titelbild: Britischer mittelschwerer Bomber vom Typ »Wellington«