Desmond Bagley
Der Feind Inhaltsangabe Tom Packers Parties zeichnen sich im allgemeinen dadurch aus, daß es bei ihnen ...
17 downloads
845 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Desmond Bagley
Der Feind Inhaltsangabe Tom Packers Parties zeichnen sich im allgemeinen dadurch aus, daß es bei ihnen weder aufgemotzten Punch, noch Hasch, noch Partnertausch und dennoch keine Minute Langeweile gibt. Auf einer solchen harmlosen Veranstaltung lernt Malcolm Jaggard, ein, wenn nicht unscheinbarer, so doch nicht gerade sehr aufregender Typ, Penelope Ashton kennen, eine aparte, aber ebenfalls eher unauffällige Frau, die von Beruf Biologin ist und von ihren Bekannten einfach Penny genannt wird. Die beiden verlieben sich Hals über Kopf ineinander. Er, der im Grunde biedere Finanzbeamte, befreundet sich bereits mit dem Gedanken an eine baldige Heirat. Doch urplötzlich platzt diese sorglose Idylle, und die Ereignisse beginnen, sich auf dramatische Weise zu überschlagen. Nach einem ganz und gar rätselhaften Attentat auf die Tochter, das eigentlich deren Schwester Penny galt, verschwindet beider Vater, der alte George Asthon mitsamt seinem Diener spurlos. Malcolm Jaggard will, arglos wie er ist, die Sache aufklären. Aber er stößt nur auf Hindernisse. Wer ist der unsichtbare und scheinbar unfaßbare Feind, der ihn in eine Hölle geraten läßt?
Genehmigte, ungekürzte Sonderausgabe für den Engel Verlag © 1977 by Literate Publications Limited Alle deutschen Rechte Blanvalet Verlag GmbH, München 1980 Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›The Enemy‹ bei William Collins Sons & Co. Ltd. London Gesamtherstellung: Engel Verlag GmbH, München Printed in W.-Germany Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Wir sind dem Feind begegnet: er ist in unserer Gewalt. Oliver Hazard Perry, heldenhafter amerikanischer Commodore Wir sind dem Feind begegnet: wir sind es selbst. Walt Kelly, subversiver Cartoonist
1. Kapitel
W
enn ich sage, daß ich Penelope Ashton auf einer Party kennenlernte, erweckt das vielleicht einen falschen Eindruck. Aber es war eine Party, eine Party bei Tom Packer, und Tom Packers Partys zeichnen sich dadurch aus, daß es da weder aufgemotzten Punsch, noch Hasch noch Partnertausch gibt, auch kein Gefummel in den Schlafzimmern um zwei Uhr früh und trotzdem keine Langeweile. Hier saßen einfach nur ein paar nette Leute bei einem gepflegten Abendessen zusammen, lachten viel und redeten noch mehr. Trotzdem nahm der Abend gewisse Formen an, da Tom nach dem Essen den Scotch mit ziemlich lockerer Hand einschenkte, und so fühlte ich mich am Schluß dann auch meinem Auto nicht mehr gewachsen und mußte ein Taxi nehmen. Penny Ashton war mit Dina und Mike Huxham gekommen – Dina ist Toms Schwester –, aber ich weiß bis heute noch nicht, ob ich nur als gesellschaftliches Gegenstück zu dem unbekannten Mädchen eingeladen war oder Penny als Tischdame für mich. Wie dem auch sei, bei Tisch ergab sich die obligate bunte Reihe, und Penny saß neben mir. Penny ist groß, hat dunkles Haar, und an jenem Abend wirkte sie still und ausgeglichen und ging wenig aus sich heraus. Eine überwältigende Schönheit ist Penny nicht, aber das sind die wenigsten Frauen. Die trojanische Helena mag ja schuld am Stapellauf einer ganzen Flotte gewesen sein – Penelope Ashton hingegen war kaum der Typ, für den ein Mann sich stramm ins Ruder legt, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Was nicht heißen soll, daß Penny ein häßliches Entlein ist, ganz im Gegenteil. Sie hat eine ansehnliche Figur und ein ansehnliches Gesicht, aber eben Durchschnitt. Ich schätzte sie auf siebenundzwanzig und lag damit nicht ganz falsch – sie ist achtundzwanzig. 1
Locker glitten die Gespräche, was für Toms Freundeskreis typisch ist, vom Hundertsten ins Tausendste. Tom ist ein aufsteigender Stern im Ärzte-Establishment und stellt seine Abendgesellschaften stets sorgfältig zusammen. So entwickelten sich auch an jenem Abend anregende Gespräche. Penny nahm lebhaft Anteil, wenn sie auch mehr zuhörte als sprach. Doch wenn sie sich äußerte – das fiel mir erst nach und nach auf –, gab sie immer Scharfsinniges von sich, und hörte sie jemandem zu, dessen Meinung sie nicht teilte, funkelte es stets gnädig-ironisch in ihren Augen. Mir gefiel ihr widerborstiges Denken schon sehr. Nachdem die Tafel aufgehoben worden war, gingen die Gespräche im Salon bei Kaffee und Kognak weiter. Da mir Brandy nicht bekommt, hielt ich mich an Scotch, und Tom, der mich gut genug kennt, verabfolgte mir eine zur Narkose von Elefanten ausreichende Dosis, nebst einem Eiswasserkrug in Reichweite. Wie das so läuft an solchen Abenden: das Tischgespräch bezieht jeden ein, aber nach Tisch löst sich alles in Grüppchen von Gleichgesinnten auf, und jeder kann sein Steckenpferd am langen Zügel laufen lassen. Ich landete, zu meiner gelinden Überraschung, im allerkleinsten Grüppchen; es bestand nur aus zwei Personen – nämlich aus Penny und mir. Da stand nun ein Dutzend Leute im Raum herum, aber ich mußte mich ausgerechnet mit diesem Mädchen in ein Eckchen verkrümeln und sie mit Beschlag belegen – oder beschlagnahmte sie mich? Wahrscheinlich beruhte das, wie meistens in solchen Fällen, auf Gegenseitigkeit. Worüber wir zuerst sprachen, weiß ich nicht mehr, aber so nach und nach geriet unser Dialog immer mehr ins Persönliche. Ich erfuhr, daß Miß Ashton biologische Forschungen betrieb, sich auf Genetik spezialisiert hatte und mit Professor Lumsden an der Londoner Universität zusammenarbeitete. Die Genetik gilt heutzutage wohl als das heißest umstrittene Forschungsgebiet, und Lumsden steht im Kreuzfeuer der Diskussionen. Wer mit ihm zusammenarbeitete, mußte aber schon ein immens kluges Köpfchen sein eigen nennen; ich war entsprechend beeindruckt. Hinter dieser Penny Ashton steckte zweifellos viel mehr, als sich dem oberflächlichen Männerauge offenbarte. 2
Irgendwann am Abend fragte sie dann ihrerseits: »Und was machen Sie?« »Ach«, sagte ich leichthin, »ich bin nur ein kleines Rädchen im CityGetriebe«, wobei ich mich hinter den – für gelernte Londoner freilich offenkundigen – Doppelsinn des Wörtchens City flüchtete: jemand in der City kann einfach nur in der Stadtmitte seinem Broterwerb nachgehen, kann aber auch jemand sein, der sich in Börse und Busineß kräftig seine Scheibe von den besseren Sorten Brotbelag verschafft. Penny kriegte wieder diesen spitzen Blick und sagte: »Ganz so lässig geht Ihnen die Ironie aber nicht über die Zunge.« »Wenn's doch stimmt!« protestierte ich. »Schließlich müssen auch ein paar Leute dafür sorgen, daß der Schornstein raucht.« Sie bohrte nicht weiter. Schließlich warf einer den unvermeidlichen Blick auf die Uhr und stellte mit Entsetzen fest, die Nacht sei schon arg fortgeschritten, woraufhin die Party auseinanderbrach. Meistens wird es ja um so später, je angeregter sich die Leute unterhalten, und nun war es wirklich schon fast früh geworden. Penny sagte: »Um Gottes willen – mein Zug?« »Welcher Bahnhof?« »Victoria-Station.« »Ich setze Sie, dort ab«, sagte ich und erhob mich leicht schwankend, da Toms Scotch nun Wirkung zeigte. »Mit einem Taxi.« Ich ging zum Telefon und bestellte ein Taxi, und bis es kam, standen wir noch herum und gaben das übliche Party-Blabla von uns. Dann fuhren wir durch Londons hellerleuchtete Straßen, und ich dachte darüber nach, wie nett der Abend gewesen sei – so gut hatte ich mich tatsächlich lange nicht mehr gefühlt –, und das kam nicht nur von Toms Whisky. Ich sah Penny an. »Kennen Sie die Packers schon lange?« »Seit einigen Jahren. Ich habe mit Dina Huxham zusammen in Cambridge studiert – Dina Packer hieß sie damals.« »Nette Leute. Hübscher Abend.« »Mir hat es auch sehr gefallen.« Ich sagte: »Warum wiederholen wir's dann nicht irgendwann ein3
mal – nur wir beide? Wir könnten ins Theater gehen und anschließend gut essen.« Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Warum nicht.« Wir verabredeten uns für den folgenden Mittwoch, und daraufhin fühlte ich mich noch besser. Sie wollte sich nicht in den Bahnhof begleiten lassen, also blieb ich im Taxi sitzen und fuhr heim. Erst da fiel mir ein, daß ich nicht einmal wußte, ob Penny verheiratet war; ich versuchte, mich an ihren Ringfinger zu erinnern und kam mir auch gleich ziemlich idiotisch vor: Ich kannte die Frau doch kaum, was spielte es also für eine Rolle, ob sie verheiratet war – ich wollte sie doch nicht heiraten, oder? Mittwoch abend holte ich sie um Viertel nach sieben an der Uni ab, vor der Vorstellung setzten wir uns noch auf ein Glas in ein Pub beim Theater. Ich hab' sonst für diese Theaterlokale nicht viel übrig, da sind mir meistens zu viele Leute, die sich alle kennen. »Arbeiten Sie immer so lange?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Es kommt darauf an. Es ist natürlich kein Achtstunden-Job, wissen Sie. Bei großen Projekten arbeiten wir auch schon mal die ganze Nacht durch, aber das ist selten. Heute habe ich nur Überstunden gemacht, weil ich ja sowieso in der Stadt bleibe.« Sie lächelte. »So konnte ich wenigstens meinen Papierkram aufarbeiten.« »Ja, ja, der ewige Amtsschimmel«, sagte ich. »Sie müssen's ja wissen. Ihr Beruf besteht doch wohl nur aus Papierkrieg.« Ich grinste. »Und wie. Ich wate nur so im Papier. Papiergeld.« Und dann fing auch schon die Vorstellung an. Wie versprochen führte ich sie zum Essen und anschließend – aber das war nicht versprochen – wieder zum Victoria-Bahnhof, wo wir uns für den nächsten Samstag verabredeten. Und da eins, wie man so treffend zu sagen pflegt, zum anderen führt, ging ich alsbald ziemlich regelmäßig mit ihr aus. Wir leisteten uns noch ein paar Theatervorstellungen, eine Oper, auch ein Ballett, eine Ausstellung in der Nationalgalerie, den Zoo im Regent's Park, noch eine Ausstellung, die Penny unbedingt sehen wollte, diesmal im 4
Museum für Naturgeschichte, schließlich sogar eine Schiffstour nach Greenwich. Man hätte uns glatt für ein amerikanisches Touristenpaar halten können. Als das sechs Wochen lang so weitergegangen war, fanden wir, glaube ich, beide, daß die Sache ernst wurde. Ich jedenfalls nahm es so ernst, daß ich nach Cambridge zu meinem Vater fuhr. Er lächelte still vor sich hin, als ich ihm von Penny erzählte: »Weißt du, Malcolm, ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht. Es ist an der Zeit, daß du dich im Leben einrichtest. Was weißt du denn von der Familie dieses Mädchens?« »Wenig«, gab ich zu. »Soviel ich aufgeschnappt habe, ist der Vater ein Fabrikant, aber in bescheidenem Maßstab. Kennengelernt hab' ich ihn noch nicht.« »Nicht, daß dergleichen eine Rolle spielte«, sagte mein Vater. »Über diesen Snobismus sind wir wohl hoffentlich hinaus. Warst du eigentlich schon mit ihr im Bett?« »Nein«, sagte ich langsam. »Aber wir haben schon ziemlich dicht davor gestanden.« »Hmm?« meinte er undeutlich und stopfte sich seine Pfeife. »Nach meinen Erfahrungen hier an der Universität ist die junge Generation keineswegs so leichtfertig und hemmungslos, wie sie sich selbst gern sieht. Es stimmt gar nicht, daß die Pärchen gleich bei der erstbesten Gelegenheit entblößt in die Laken springen – jedenfalls nicht, wenn sie sich ernstnehmen und respektieren. Ist das bei euch der Fall?« Ich nickte. »Früher hatte ich natürlich auch so meine gewissen Augenblicke, aber mit Penny ist das irgendwie anders. Allerdings kenne ich sie auch erst ein paar Wochen.« »Du erinnerst dich doch noch an Joe Patterson?« »Natürlich.« Patterson hatte einen Lehrstuhl für Psychologie. »Patterson«, sagte mein Vater, »vertritt die These, daß Männer sich im allgemeinen in bezug auf die bei einem Dauerpartner erwünschten Eigenschaften zwiespältig verhalten. Die Idealvorstellung des Durchschnittsmannes von seiner zukünftigen Frau stellt sich, laut Patterson, als eine Jungfrau im Endstadium der Nymphomanie dar. 5
Eine Geistreichelei, gewiß, aber doch nicht ohne ein Körnchen Wahrheit.« »Joe war immer schon ein Zyniker.« »Wie die meisten Weisen. Nun, sobald du dich stark genug dafür fühlst, mußt du mir Penny vorführen. Mutter hätte es sicher gern gesehen, wenn du nun heiratest. Schade, daß sie es nicht mehr erleben kann.« »Wie kommst du zurecht, Papa?« »Ach, es geht. Man muß sich halt hüten, nicht zum Universitäts-Exzentriker zu werden, das ist die Hauptgefahr.« Wir hechelten noch ein paar Familiengeschichten durch, dann fuhr ich heim nach London. Etwa um diese Zeit tat Penny einen folgenreichen Zug. Wir saßen gerade bei mir zu Hause und plauderten bei Kaffee und Likörchen, sie machte mir Komplimente ob meines chinesischen Abendessens, und ich gab bescheiden zu, daß ich es mir aus einem Restaurant ins Haus hatte schicken lassen. Da passierte es. Sie lud mich übers Wochenende in ihr Elternhaus ein. Um mich der Familie vorzustellen.
2. Kapitel
P
enny bewohnte mit Vater und Schwester ein Landhaus bei Marlow, in Buckinghamshire, über die Autobahn M 4 nur knapp eine Stunde von London entfernt. George Ashton war ein Mann in den Fünfzigern, Witwer, und das Haus war ein Ziegelbau im Königin-Anne-Stil; solche Häuser werden in Gesellschaftszeitschriften wie Country Life gern auf farbigen Doppelseiten abgebildet. Es fehlten auch nicht der Tennisplatz – zwei sogar – und der Swimmingpool; die ehemaligen Stallungen waren zu Garagen für fahrbare Untersätze der edleren Preisklasse umfunktioniert; aber es gab auch einen Stall, der immer 6
noch ein Stall war, für reitbare Untersätze von nicht minder edler Rasse. Alles in allem ganz das Dekor, in dem stets so hübsche Sätze fallen wie »Der gnädige Herr erwartet Sie in der Bibliothek« oder »Lassen wir uns doch den Tee auf der Terrasse servieren«. Alles war so, wie die Leute der guten, wohlhabenden, oberen Mittelklasse halt so leben. George Ashton maß seine einsachtzig, und seinen Kopf schmückte sehr viel eisengraues Haar. Er war auch, wie ich bald auf dem Tennisplatz feststellen sollte, ziemlich fit. Er spielte aggressiv und dynamisch, und ich mußte mich trotz seines Handikaps von fünfundzwanzig Jahren hart ranhalten. Er schlug mich 5 : 7, 7 : 5, 6 : 3, was deutlich sein besseres Standvermögen bewies. Ich trottete ziemlich außer Atem vom Platz, aber Ashton jumpte in vollem Dreß in den Swimmingpool und kraulte erst noch eine Runde, bevor er zum Umziehen ins Haus ging. Abgeschlafft ließ ich mich neben Penny in einen Sessel fallen. »Ist dein Vater immer so in Form?« »Immer«, versicherte sie mir. Ich stöhnte. »Da ist man ja allein vom Zuschauen schon geschafft.« Gillian war ganz anders als ihre Schwester Penny. Gillian war eher der Hausmütterchen-Typ, und sie führte auch das Haus. Das heißt nicht, daß sie die Dame des Hauses nur mimte und viel herumkommandierte – sie hatte, unter der Schürze, die Hosen an. Viel Personal beschäftigten die Ashtons nicht, nur ein Gärtnerehepaar und ein Stallmädchen, dann noch einen Mann namens Benson in einer Doppelfunktion als Hausmeister und Chauffeur, außerdem ein festangestelltes Dienstmädchen sowie eine Stundenfrau für vormittags. Wirklich nicht viel für ein Anwesen dieser Größe. Gillian war ein paar Jahre jünger als Penny, und Penny kümmerte sich, soviel ich sah, nicht sehr ums Haus, außer daß sie ihr Zimmer selber aufräumte, ihren Wagen selber wusch und ihr Pferd selber pflegte. Die Fleißarbeit im Haus leistete Gillian, aber das machte ihr offenbar wenig aus und sie schien auch ziemlich zufrieden zu sein. Natürlich, jetzt war Wochenende, und alltags mochte die Arbeitsteilung anders funktionieren. Aber trotzdem dachte ich mir, daß Ashton arg in Verlegenheit geraten müßte, falls Gillian einmal heiratete und einen 7
eigenen Hausstand gründete. Ich verbrachte ein angenehmes Wochenende, muß ich sagen, wenngleich ich mich auch anfangs, so auf dem Präsentierteller, einigermaßen befangen fühlte. In der entspannten Atmosphäre des Hauses fühlte jedoch auch ich mich bald daheim. Das Abendessen, Gillian hatte gekocht, war einfach; anschließend wurde Bridge gespielt. Dabei nahm Penny mich zum Partner, Ashton bildete mit Gillian das Gegenteam. Ich merkte schnell, daß Gillian und ich hier nur Anfängerstatus genossen. Penny trieb ein kräftiges, präzises und wohlberechnetes Spiel; Ashton spielte wie beim Tennis, aggressiv und risikoreich. Immerhin, seine Risiken gingen meistens auf, und Penny und ich gewannen nur um Haaresbreite. Dann plauderten wir eine Weile. Schließlich wollten die Mädchen ins Bett, und Ashton bot mir noch einen Gute-Nacht-Drink an. Sein Scotch verfehlte nur um einige Grade die Klasse von Tom Packers Hausbar. Wir setzten uns zu einem Männergespräch nieder. Wie erwartet, fragte er mich aus, aber ich war auf Informationsaustausch vorbereitet, und so erfuhr ich unter anderem auch bald, wie er seine Kohle machte. Er betrieb in Slough einige Fabriken. In der einen stellte er irgendein abstruses chemisches Zeug her, eine andere war auf hochdruckfestes Plastikmaterial spezialisiert; insgesamt beschäftigte er so um die tausend Leute. Und er war auch der Alleininhaber, was mich beeindruckte, denn viele Firmen, die in nur einer Hand sind, gibt es ja heute nicht mehr. Dann erkundigte er sich seinerseits, sehr höflich übrigens, womit ich mir meine Brötchen verdiente, und ich sagte: »Ich bin Analytiker.« Er lächelte milde: »Psycho?« Ich grinste. »Nein, nein. Wirtschaftsanalytiker. Ich bin Juniorpartner bei McCulloch und Ross, wir betreiben ein WirtschaftsberatungsBüro.« »Gehört habe ich von Ihrer Firma schon – aber was tun Sie im einzelnen?« »Beratung jeder Art – Marktforschung, Ausspähung von Marktlücken für neue Produkte, neue Absatzgebiete für alte Produkte, und so weiter und so fort. Außerdem allgemeine Wirtschafts- und Finanzberatung. Wir leisten die Knochenarbeit für mittlere Firmen, die mit ei8
ner eigenen Marktforschungsabteilung überbesetzt wären. Ein Multi wie ICI heuert uns nicht an, aber für einen Unternehmer wie Sie wären wir genau richtig.« Das schien sein Interesse zu wecken. »Ich spiele mit dem Gedanken, meine Firmen in eine AG umzuwandeln«, sagte er. »Ich bin zwar noch nicht so alt, aber man weiß ja nie, was kommt. Ich möchte jedenfalls den Mädchen alles ordnungsgemäß hinterlassen.« »Auch für Sie selbst könnte das durchaus einträglich sein«, gab ich ihm zu bedenken. »Und, wie Sie richtig sagen, im Falle Ihres Ablebens wären damit klare Verhältnisse geschaffen – weniger Ärger mit der Erbschaftssteuer und so.« Ich machte mir eine Minute lang Gedanken. »Aber ob die Zeit gerade jetzt für die Ausgabe neuer Aktien günstig ist, weiß ich nicht. Ich würde einen Konjunkturaufschwung abwarten.« »Es ist auch noch nichts entschieden«, sagte er. »Wenn es so weit ist, können Sie mich vielleicht beraten.« »Natürlich. Genau das ist ja unsere Spezialität.« Mehr sagte er dazu nicht, das Gespräch trieb anderen Themen zu, und wenig später gingen dann auch wir zu Bett. Beim Frühstück – das Gillian uns auftrug – lud Penny mich zu einem Morgenritt ein. Aber da ich Pferden gegenüber mißtrauisch bin, lehnte ich dankend ab. Also wanderten wir über die Wege, die wir sonst geritten wären, stiegen auf einen bewaldeten Hügel und ein heimeliges Tal hinab, wo wir in einer Dorfkneipe bei Käse, Gurken, Zwiebeln und Bier eine Brotzeit machten und Penny mir und etlichen Einheimischen ihre Geschicklichkeit im Dart-Spiel vorführte. Den Rest des sonnigen Tages verfaulenzten wir dann auf dem Rasen vor dem Haus. Als ich mich schließlich abends auf den Heimweg nach London machte, begleitete mich eine Einladung fürs nächste Wochenende – und die hatte nicht etwa Penny ausgesprochen, sondern ihr Vater. »Spielen Sie Krocket?« fragte er noch. »Nein, leider nicht.« Er lächelte. »Dann bringe ich es Ihnen bei. Ich werde Benson sagen, er soll im Lauf der Woche Reifen bestellen.« Und somit fuhr ich dann recht zufrieden nach London zurück. 9
Ich habe dieses Wochenende bei den Ashtons mit einiger Ausführlichkeit geschildert, um die in diesem Hause und in dieser Familie herrschende Atmosphäre zu verdeutlichen. Da war also Ashton, Herr über ein mittleres Industrieunternehmen, reicher als andere seiner Klasse, weil er selber alle Fäden in der Hand hielt. Da war Gillian, die jüngere Tochter, die in ihrer Aschenbrödel-Rolle als pflichteifrige Ersatzhausfrau aufging. Und da war Penny, die ältere Tochter mit dem klugen, studierten Kopf und der glänzenden Karriere als Wissenschaftlerin. Wie klug sie wirklich war, hatte ich übrigens an diesem Wochenende nur nebenbei erfahren – sie hatte ein abgeschlossenes Medizinstudium hinter sich, wenngleich sie nicht als Ärztin zu praktizieren gedachte. Und da war viel Geld. In den Garagen ein Rolls, ein Jensen, ein Aston Martin; in den Stallungen die schlanken Pferde, dazu der manikürte Rasen, die Inneneinrichtung in dem schönen Haus – all das stank nur so nach Geld und feiner Lebensart. Nicht, daß ich neidisch auf Ashton gewesen wäre – ich nenne selbst eine hübsche Stange Geld mein eigen, wenn auch nicht in vergleichbarem Maßstab. Ich erwähne es nur als Tatsache, weil es zur Beschreibung gehört. Die einzige Unstimmigkeit in diesem anheimelnden Genrebild stellte Benson dar, der Mann für alles. Denn der sah nun einmal nicht so aus, wie man sich einen Domestiken in reicher Leute Haushalt ausmalt. Auf mich wirkte er wie ein Profiboxer im Ruhestand, allerdings wie einer, der im Ring nur selten Lorbeerkränze eingeheimst hat. Seine Nase war meiner Schätzung nach mehr als einmal gebrochen, und außer seinen Blumenkohlohren trug er auch noch eine Narbe auf seiner rechten Wange spazieren – der klassische Nebenrollen-Typ in jedem Gangsterfilm für Vorstadtkinos. Zu dieser Erscheinung paßte wiederum nicht die Stimme – die klang weich und recht gebildet; Benson befleißigte sich sogar mehr als Ashton jenes für die englische Oberschicht typischen Akzents. Dieser Mann gab mir Rätsel auf.
10
In der folgenden Woche taten sich offenbar aufregende Dinge in Pennys wissenschaftlicher Welt, denn sie rief mich an, weil sie Freitag die ganze Nacht durcharbeiten mußte – und fragte, ob ich sie Samstag früh abholen könnte. Als sie dann vor der Universität zu mir in den Wagen stieg, sah sie übermüdet aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. »Tut mir leid, Malcolm«, sagte sie. »Viel wirst du an diesem Wochenende nicht von mir haben. Sobald wir daheim sind, geh ich schlafen.« Mir tat das auch leid, denn für dieses Wochenende hatte ich mir meinen Heiratsantrag vorgenommen. Aber nun war der Zeitpunkt wohl doch nicht günstig. Also grinste ich nur und sagte: »Ich komm ja nicht deinetwegen mit, sondern weil ich Krocketspielen lernen will.« Penny lächelte. »Vielleicht sollte ich es dir nicht verraten – aber Daddy meint immer, man könne einen Mann danach beurteilen, wie er Krocket spielt.« Ich sagte: »Was hast du eigentlich die ganze Nacht getrieben?« »Hart gearbeitet.« »Woran? Ist das ein Staatsgeheimnis?« »Keineswegs. Wir haben genetisches Material von einem Virus auf eine Bakterie übertragen.« »Klingt nach kribbeliger Fleißarbeit. Hat's denn geklappt?« »Das läßt sich erst feststellen, wenn wir die nachfolgenden Generationen testen. Also vielleicht in einigen Wochen. Dieses Zeugs pflanzt sich schnell fort – hoffentlich ohne Erbfehler.« Was ich von Genetik wußte, ging auf eine Nadelspitze. »Und wozu soll das gut sein?« fragte ich neugierig. »Krebsforschung«, sagte sie nur, legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Ich ließ sie in Ruhe. Nachdem ich sie zu Hause abgeliefert hatte, ging sie tatsächlich sofort ins Bett. Davon abgesehen verlief das Wochenende ähnlich wie beim letztenmal. Das heißt – bis kurz vor Schluß, als die Ereignisse einen entsetzlichen Verlauf nahmen. Ich spielte mit Ashton Tennis und tummelte mich im Swimmingpool, bis wir auf dem Rasen, im Schatten einer alten Kastanie, zu Mittag speisten – nur wir drei: Ashton, Gillian und ich, denn Penny schlief noch. 11
Dann freilich, nach dem Essen, wurde ich, wie angedroht, in die Geheimnisse des Krocketspiels eingeweiht. Kein Spiel für Zartbesaitete, wie ich alsbald feststellen sollte, vor allem auch am Beispiel des aus der Nachbarschaft herbeigebetenen Pfarrers Hawthorne – gegen den war Machiavelli ein harmloser Pfadfinder! Gott sei Dank war der Gottesmann auf meiner Seite, dennoch schien selbst auf seinen Tricks und Finten wenig Segen zu ruhen – Gillian und Ashton waren wir einfach nicht gewachsen. Vor allem Gillian nicht, denn die trieb ein bösartiges Spiel. Erst als ich dahinterkam, daß Krocket keineswegs ein Zeitvertreib für Gentlemen ist, fing es an, mir Spaß zu machen. Diese Einsicht kam mir allerdings leider erst kurz vor der letzten Runde. Zum Fünf-Uhr-Tee leistete uns endlich auch Penny wieder Gesellschaft. Sie wirkte nun erfrischt und belebt; das belebte auch mich, und das Wochenende nahm wieder seinen gewohnten Gang. So nüchtern zu Papier gebracht wie hier, mag unsere Wochenendbeschäftigung sinnlos und langweilig wirken, mir jedoch kam es anders vor – sanfte Erholung vom Alltagsstreß. Dem Hausherrn schien indessen solcherlei Erholung versagt zu bleiben, denn nach dem Tee zog er sich in seine Bibliothek zurück, die er auch als Arbeitszimmer nutzte; er habe Akten aufzuarbeiten, sagte er. Ich merkte an, auch Penny beklage sich häufig über die Bürde der Verwaltungsarbeit, und Ashton pflichtete mir bei; nutzlose Worte zu Papier zu bringen, sei die Erbsünde des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich sah ihm nach, wie er ins Haus ging – nun ja, dachte ich bei mir, man schafft nicht, was ein Ashton sich geschaffen hat, indem man seine Zeit müßig mit Tennis und Krocket vertut. So trieb das Wochenende dahin, bis für mich wieder einmal die Zeit zum Abschiednehmen kam. Der Sommerabend umfing mich behaglich, Gillian war zur Abendmesse ins Dorf gegangen, wurde jedoch jeden Augenblick vom Kirchgang zurückerwartet. Gillian hielt offenbar neben allen anderen Werten einer heilen Wert als einzige in der Familie auch noch die Frömmigkeit hoch, denn weder Ashton noch Penny bezeugten irgendwelchen Sinn fürs überlieferte Religiöse. Wir saßen also da, zu dritt, Penny, ihr Vater und ich, in unseren bequemen 12
Gartenstühlen und redeten uns die Köpfe über eine ausgefallen kitzelige Frage der wissenschaftlichen Ethik heiß, die sich aus einem Artikel in der Sonntagszeitung ergeben hatte. Genaugenommen diskutierten nur Penny und ihr Vater – ich bastelte derweil still vor mich hin an einem Vorwand, mit dem ich Penny unter vier Augen sprechen könnte, denn meinen Heiratsantrag hatte ich ja immer noch nicht anbringen können. Irgendwie waren wir an diesem Wochenende keine Sekunde lang allein gewesen. Penny erhitzte sich gerade an ihren Argumenten, als ein markerschütternder Schrei zu uns drang – und dann noch einer. Wir erstarrten, Penny mitten im Satz, und Ashton bellte: »Was zum Teufel war das?« Ein dritter Schrei – diesmal noch näher, offenbar von der anderen Hausseite, wir waren bereits hochgesprungen und da kam Gillian in Sicht, stolperte um die Hausecke auf uns zu, hielt sich die Hände vors Gesicht. Sie schrie abermals, ein gurgelndes, wortloses Kreischen, und stürzte ins Gras. Ashton sprang ihr als erster bei, beugte sich über sie; versuchte, ihr die Hände vom Gesicht zu reißen, doch Gillian wehrte sich verzweifelt. »Was ist?« schrie er, bekam aber nur ein schauerliches Stöhnen zur Antwort. Penny sagte schnell: »Laß mich zu ihr!« Sie zog ihren Vater mit sanfter Gewalt beiseite und kniete sich über Gillian. Das Mädchen lag jetzt auf der Seite, preßte sich aber immer noch die Hände vors Gesicht, die Finger wie Krallen gespreizt. Sie schrie nicht mehr, stöhnte nur immer wieder langgezogen, und einmal schluchzte sie: »Meine Augen! 0 Gott, meine Augen!« Penny zwängte ihre Hand über Gillians Gesicht, tastete behutsam mit dem Zeigefinger und hielt ihn sich dann vor die Nase. Hastig wischte sie den Finger am Gras ab. Sie sah zu ihrem Vater hoch. »Trag sie schnell ins Haus. In die Küche.« Im Aufstehen wandte sie sich mir zu: »Ruf einen Krankenwagen. Und sag ihnen gleich – Säureverbrennung.« Ashton nahm das Mädchen auf die Arme, und ich rannte ins Haus. Ich drängte mich an Benson vor13
bei, griff zum Telefon und wählte die Notrufnummer 999. Ashton trug seine Tochter durch eine Tür, die ich nie betreten hatte, Penny dicht hinter ihm. Eine Stimme meldete sich an meinem Ohr: »Rettungsdienst.« »Wir brauchen einen Krankenwagen.« Es klickte und eine andere Stimme sagte: »Rettungswagen-Bereitschaft.« Ich gab Adresse und Telefonnummer an. »Wer ist der Anrufer?« »Malcolm Jaggard. Wir haben hier eine Schwerverletzte. Säureverbrennung im Gesicht.« »Wir kommen sofort.« Erst als ich den Hörer auflegte, merkte ich, daß Benson mich schon die ganze Zeit überrascht angestarrt hatte. Nun drehte er sich unvermittelt auf dem Absatz um und stapfte aus dem Haus. Ich öffnete die Küchentür. Gillian lag auf dem Tisch, Penny trug ihr irgend etwas aufs Gesicht auf; Gillian zuckte konvulsivisch mit den Beinen, und immer noch stieß sie dieses herzzerreißende Stöhnen aus. Ashton stand daneben, und nie habe ich einen solchen Ausdruck ohnmächtiger Wut im Gesicht eines Mannes gesehen wie in diesem Augenblick. Für mich gab es da nichts zu tun, ich hätte nur störend im Weg gestanden; leise schloß ich hinter mir die Tür. Durch das große Fenster am anderen Ende der Eingangshalle sah ich Benson, wie er die Zufahrt entlangging. Plötzlich blieb er stehen und bückte sich. Was er da untersuchte, mußte jedoch nicht auf dem Fahrweg, sondern auf dem breiten Grasbankett daneben zu sehen sein. Als ich zu ihm trat, erkannte ich es auch. Hier auf dem Gras hatte ein Wagen gewendet, und zwar mit hoher Geschwindigkeit. Der sonst makellose Rasen war aufgewühlt, die Reifen hatten durchgedreht. Benson sagte mit seiner unerwartet sanften Stimme: »Meiner Meinung nach ist der Wagen in das Anwesen eingefahren und hat hier, dem Haus gegenüber, geparkt, Sir. Als dann Miß Gillian entlangkam, wurde ihr die Säure ins Gesicht geschleudert. Und zwar hier.« Er wies auf Grashalme, die sich bereits braun verfärbten. »Dann wendete der Wagen auf der Grasnarbe und entfernte sich.« 14
»Aber gesehen haben Sie es nicht.« »Nein, Sir.« Ich bückte mich über die Reifenabdrücke. »Diese Spuren müssen gesichert werden, bis die Polizei kommt.« Benson überlegte. »Der Gärtner hat kürzlich Hürden für die neue Koppel gezimmert. Ich werde sie hier aufstellen.« »Das müßte reichen«, bestätigte ich. Ich half ihm beim Aufstellen der Böcke rund um die Spuren. Aus der Ferne tönte die Sirene des Rettungswagens heran. Es hatte kaum sechs Minuten gedauert – wirklich schnell. Ich ging ins Haus zurück, zum Telefon, und wählte noch einmal die Notrufnummer 999. »Die Polizei, bitte. Ich habe einen Überfall zu melden.«
3. Kapitel
D
ie Männer vom Rettungsdienst hoben Gillian mit geübten schnellen Bewegungen in den Rettungswagen, und Penny, die sich als Ärztin auswies, stieg zu ihr. Ashton lief zu einem seiner Wagen, um der Ambulanz zu folgen. Da ich ihn unter der Schockeinwirkung für fahruntüchtig hielt, beruhigte es mich sehr, daß Benson sich ans Steuer setzte. Ich nahm Ashton beim Arm. »Damit Sie Bescheid wissen – ich habe die Polizei angerufen.« Ashton drehte mir sein verzerrtes Gesicht zu und blinzelte begriffsstutzig. »Was ist?« In dieser Viertelstunde schien er um Jahre gealtert. Ich mußte es ihm wiederholen: »Die Polizei trifft wahrscheinlich ein, während Sie noch im Krankenhaus sind. Machen Sie sich keine Sorgen, die notwendigen Auskünfte kann ich einstweilen erteilen. Ich bleibe auf jeden Fall im Haus, bis Sie zurückkommen.« »Danke, Malcolm.« 15
Ich sah ihm nach, wie er davonfuhr, dann stand ich allein im Haus. Ich ging ins Wohnzimmer, schenkte mir einen Drink ein und zündete mir eine Zigarette an. Ich setzte mich in einen Sessel und versuchte zu überlegen, was eigentlich passiert war. Sinn ergab das alles nicht. Gillian Ashton war ein schlichtes Durchschnittsmädchen mit einem ruhigen, ereignislosen Leben. Ein Hausmütterchen, das sicher eines Tages einen ebenso harmlosen Mann heiraten würde, der seine häusliche Bequemlichkeit liebte. Säureattentate paßten nicht in dieses Bild – dergleichen geschieht in Soho, in den finsteren Winkeln Ostlondons, aber doch nicht in der gepflegten Landschaft von Buckinghamshire. Ich überlegte hin und überlegte her und entdeckte keine Logik. Schließlich hörte ich einen Wagen auf der Zufahrt, und kurz darauf stand ich im Gespräch mit zwei Polizisten. Viel konnte ich ihnen nicht erzählen. Von Gillian wußte ich wenig, von Ashton auch nicht mehr, und ich nahm bei den Polizeibeamten trotz aller Höflichkeit ein wachsendes Unbehagen wahr. Ich zeigte ihnen die Reifenspuren, und der eine Beamte bezog Posten davor, dieweil der andere in sein Funkgerät sprach. Minuten später, als ich wieder aus dem Fenster schaute, rangierte er den Streifenwagen so, daß er auch die Rückfront des Hauses überwachen konnte. Zwanzig Minuten darauf traf ein höheres Polizeitier in Gestalt eines Zivilbeamten ein. Zuerst sprach er mit dem Wachtmeister im Streifenwagen, dann kam er auf das Haus zu. Ich wartete, bis er klopfte. »Kriminalinspektor Honnister«, stellte er sich zackig vor. »Sind Sie Mr. Jaggard?« »Das bin ich. Treten Sie näher.« Er stapfte in die Eingangshalle und blickte sich um. Als ich die Tür schloß, fuhr er auf mich los. »Befinden Sie sich etwa allein im Haus?« Der Wachtmeister hatte noch mit pedantischer Förmlichkeit sein ›Sir‹ in jede Anrede eingefügt – nicht so Honnister. Ich sagte: »Herr Inspektor, ich werde Ihnen etwas zeigen, was ich Ihnen eigentlich nicht zeigen dürfte, was ich Ihnen jedoch fairerweise nicht vorenthalten will. Es ist mir durchaus bewußt, daß Ihr Herr Wachtmeister meine Auskünfte unbefriedigend findet. Ich befinde 16
mich allein im Haus der Ashtons, ich muß eingestehen, daß ich die Ashtons kaum kenne, und logischerweise fürchtet er um das Tafelsilber der Herrschaften.« Um Honnisters Augen zeigten sich ein paar Falten. »Dem Augenschein nach gibt es hier mehr Mitnehmenswertes als nur Tafelsilber. Was haben Sie mir zu zeigen?« »Das hier.« Aus einer kleinen Innentasche, die mir mein Schneider in sämtliche Jacken einbaut, zog ich eine Karte, die ich ihm reichte. Honnister zog die Brauen hoch. »Das kommt einem nicht alle Tage unter die Augen«, meinte er, nachdem er das Ding lange betrachtet hatte. »Bis jetzt hab' ich erst drei gesehen.« Er schnipste mit dem Daumennagel gegen die Plastikkarte und verglich mein Gesicht mit dem Foto. »Aber Sie sehen wohl ein, daß ich das erst überprüfen muß.« »Selbstverständlich. Ich habe es Ihnen allerdings nur gezeigt, damit Sie nicht unnötig Zeit auf mich verschwenden. Sie können dieses Telefon hier benutzen oder, falls Ihnen das lieber ist, den Apparat in Ashtons Bibliothek.« »Ist der angegebene Anschluß auch sonntags besetzt?« Ich lächelte. »Bei uns geht's zu wie bei der Polizei, Herr Inspektor. Wir machen niemals Feierabend.« Ich zeigte ihm die Bibliothek. Er brauchte nicht lange. Kaum fünf Minuten später kam er wieder heraus und gab mir den Ausweis zurück. »Nun, Mr. Jaggard, wie lautet Ihre Meinung zu dem Vorfall?« Ich schüttelte den Kopf. »Völlig unbegreiflich. Im übrigen bin ich nicht dienstlich hier, falls Sie darauf anspielen.« Sein pfiffiger Blick sagte mir, daß er kein Wort glaubte, also klärte ich ihn über meine Beziehung zu den Ashtons auf und schilderte ihm den Überfall auf Gillian, womit er aber auch nicht viel anfangen konnte. »Na schön«, sagte er trocken. »Bleibt uns also nur die Knochenarbeit. Fangen wir mit den Reifenspuren an. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit, Mr. Jaggard.« Ich begleitete ihn zur Tür. »Vergessen Sie nicht, Herr Inspektor – meinen Ausweis haben Sie nie gesehen. Ist das klar?« Er nickte kurz und ging. 17
Ashton kam erst gut zwei Stunden später wieder mit Penny zurück. Penny wirkte so erschöpft wie am Morgen zuvor, aber Ashton schien einiges von seiner Farbe und seiner Form wiedergewonnen zu haben. »Gut, daß Sie noch im Haus sind, Malcolm«, sagte er. »Bleiben Sie noch etwas, ich muß mit Ihnen reden – nicht sofort. Später.« Er sprach brüsk und mit Kommandostimme, das war keine Bitte, sondern ein Befehl. Dann schritt er durch die Halle in die Bibliothek. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Ich hielt mich an Penny. »Wie geht es Gillian?« »Nicht gut«, sagte sie düster. »Es war eine starke Säure. Unverdünnt. Was sind das nur für Menschen, die zu solch barbarischen Untaten fähig sind?« »Das möchte die Polizei auch gern wissen.« Ich erzählte ihr von meinem Gespräch mit Honnister. »Der Inspektor meint, dein Vater müsse einen Verdacht haben. Hat er Feinde?« »Daddy!« brütete sie. »Er ist starrköpfig und zielstrebig, und Menschen wie er gehen nicht durchs Leben, ohne hier und da Leuten auf die Füße zu treten. Aber Feinde, die seiner Tochter Säure ins Gesicht schleudern – das kann ich mir nicht vorstellen.« Irgendwie konnte ich das auch nicht. Im Dschungel der Wirtschaft und der Industrie wird weiß Gott manch heißes Ding gedreht, aber brutale Gewalt entspricht eigentlich nicht dem Stil in diesen Kreisen. Hinter mir öffnete sich die Küchentür, ich drehte mich um. Benson trug ein Tablett mit einem Krug Wasser und einer noch ungeöffneten Flasche Whisky nebst zwei Gläsern in die Bibliothek. Ich wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Und Gillian?« Penny riß die Augen weit auf. »Gillian?« Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Glaubst du im Ernst, Gillian könnte sich derartige Feinde machen? Das ist doch ungeheuerlich!« Unwahrscheinlich, gewiß. Aber nicht so unmöglich, wie Penny meinte. Manche kleine, graue Maus vom Stille-Wasser-Typ hat schon heimlich ein exotisches Leben geführt, und ich fragte mich, ob Gillian nicht vielleicht doch dann und wann auf einem Einkaufstrip nach Marlow auch noch andere Dinge trieb, als hier und da ein überflüssi18
ges Päckchen Tee zu kaufen. Aber ich sprach taktvoll: »Natürlich, das ist unwahrscheinlich.« Ich half Penny in der Küche, notdürftig einen kleinen Imbiß zusammenzustellen, und sie berichtete: »Ich habe versucht, die Säure mit einer Sodalösung zu neutralisieren. Im Rettungswagen standen dann Gott sei Dank wirksamere Mittel zur Verfügung. Aber im Krankenhaus mußte Gillian dann in die Intensivstation.« Unser Abendessen verlief unbehaglich. Wir saßen allein, Penny und ich, denn Ashton ließ sich nicht aus der Bibliothek locken; er hätte keinen Appetit, sagte er. Eine Stunde später, ich war schon überzeugt, daß er an mich nicht mehr dachte, kam endlich Benson in die Küche und rief mich zu ihm Ashton saß hinter einem großen Schreibtisch, stand aber auf, als ich eintrat. Ich sagte: »Mir fehlen die Worte, Mr. Ashton. Entsetzlich, was da passiert ist.« Er nickte. »Ich weiß, Malcolm.« Seine Hand umspannte die Whiskyflasche, die nun nur noch halbvoll war. Er warf einen Seitenblick auf das Tablett und sagte: »Seien Sie so nett und nehmen Sie sich selbst ein frisches Glas.« »Ich möchte lieber nichts mehr trinken. Ich muß noch in die Stadt zurückfahren.« Er stellte die Flasche behutsam wieder ab und trat hinter dem Schreibtisch hervor. »Nehmen Sie Platz.« Und damit begann das wohl merkwürdigste Verhör meines Lebens. »Also, wie stehen die Dinge zwischen Ihnen und Penny?« Ich sah ihn bedächtig an. »Ist das die Frage nach meinen ehelichen Absichten?« »So ungefähr. Haben Sie schon mit ihr geschlafen?« Das war allerdings direkt. »Nein«, grinste ich ihn an. »Sie haben Ihre Tochter zu gut erzogen.« Er brummte nur. »Also. Welcher Art sind Ihre Absichten – falls überhaupt.« »Ich hatte mich bereits entschlossen, ihr einen Heiratsantrag zu machen.« Das schien ihm immerhin nicht zu mißfallen. »Und – haben Sie schon?« 19
»Noch nicht.« Er rieb sich nachdenklich übers Kinn. »Dieser Job, den Sie da haben – was bringt das ein?« Die Frage war nicht unberechtigt, falls ich seine Tochter zu ehelichen gedachte. »Im vergangenen Jahr bin ich auf über achttausend Pfund gekommen, dieses Jahr dürfte es wohl mehr werden.« Und da solche Sümmchen für einen Mann wie Ashton gewiß kaum mehr als Hühnerfutter bedeuteten, fügte ich noch hinzu: »Außerdem beziehe ich aus privaten Investitionen noch weitere elftausend.« Da zog er die Augenbraue hoch. »Trotz dieses Privateinkommens arbeiten Sie noch?« »Diese elftausend sind Bruttoeinnahmen, da gehen noch die Steuern runter«, sagte ich wehmütig und zuckte die Achseln. »Außerdem muß ein Mann ja mit seinem Leben etwas anfangen.« »Wie alt sind Sie?« »Vierunddreißig.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Nun ja, achttausend. Das ist so schlecht nicht – fürs erste. Bestehen Aufstiegschancen für Sie in Ihrer Firma?« »Ich geb mir alle Mühe.« Dann stellte er mir eine Reihe von Fragen, die wirklich verdammt persönlich waren, viel indiskreter als die nach meinen Finanzen, aber auch die mußte ich ihm in dieser Situation zugestehen. Immerhin schienen meine Auskünfte ihn einigermaßen zu befriedigen. Er schwieg eine Weile, dann meinte er: »In einem anderen Job könnten Sie es weiterbringen. Ich könnte Ihnen eine Position bieten, die für einen Mann wie Sie geradezu ideal wäre. Zu Beginn müßten Sie zwar auf ein Jahr nach Australien, um die Sache ins Laufen zu bringen, was aber für ein junges Paar wie Sie und Penny sicher kein Problem ist. Der Haken ist nur: Sie müßten sofort umsteigen. Sozusagen stehenden Fußes.« Das ging mir nun doch zu schnell. »Nun halten Sie mal die Luft an«, sagte ich. »Bis jetzt weiß ich doch gar nicht, ob Penny mich überhaupt heiraten will.« 20
»Sie will«, sagte er überzeugt. »Ich kenne meine Tochter.« Offenbar kannte er sie besser als ich, denn ich war nicht halb so zuversichtlich. »Und selbst wenn«, sagte ich. »Wir müssen auch Rücksicht auf Penny nehmen. Sie nimmt ihre Arbeit ernst. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie einfach alles stehen- und liegenläßt, bloß um nur mal so auf ein Jahr nach Australien zu schippern. Ganz abgesehen davon, was ich von so einem unvermittelten Wechsel halte. Mich hat bis jetzt noch niemand gefragt.« »Penny könnte sich ein Urlaubsjahr zu Studienzwecken nehmen. Das machen Wissenschaftler oft.« »Mag sein. Offengestanden, möchte ich mir die Entscheidung noch vorbehalten, bis ich mehr weiß.« Zum erstenmal zeigte Ashton sich unwirsch. Er schluckte seinen Ärger und überspielte ihn, aber er war unübersehbar. »Nun gut, wir nehmen uns einen Monat Zeit für die Entscheidung. Aber nun halten Sie endlich um Pennys Hand an, Malcolm. Die Aufgebotszeit läßt sich abkürzen, ich habe da gewisse Möglichkeiten. Ende der Woche könntet ihr heiraten.« Er quälte sich ein Lächeln ab, das herzlich wirken sollte, aber bis zu den Augen breitete es sich nicht aus. »Als Mitgift kriegt ihr ein Haus von mir – irgendwo in den südlichen Midlands, nördlich von London.« Jetzt war ein offenes Wort fällig. »Ich will Ihnen mal was sagen, Mr. Ashton – für meinen Geschmack haben Sie es zu eilig. Ich sehe auch die Notwendigkeit für ein abgekürztes Aufgebot nicht ein. Und wenn Sie mich fragen, ist das auch nicht in Pennys Sinn. Sie denkt gewiß nicht daran, ohne Gillian Hochzeit zu feiern.« In Ashtons Gesicht entgleisten ein paar Züge, mühsam rang er um Reste seiner Fassung. Ich sagte gleichmütig: »Ein Haus wollte ich mir selbst zur Hochzeit kaufen. Ihr diesbezügliches Angebot ist sehr großzügig – aber wie unser Haus aussehen und wo es stehen soll, das sind wohl Dinge, die Penny und ich unter uns ausmachen müssen.« Er stand auf, ging zum Schreibtisch und schenkte sich ein neues Glas ein. Er wandte mir den Rücken zu und sagte undeutlich: »Sie haben 21
natürlich in allen Punkten recht. Aber werden Sie Penny nun endlich fragen, ob Sie Ihre Frau werden will?« »Jetzt? Heute abend?« »Ja.« Ich erhob mich. »Unter den augenblicklichen Umständen halte ich das für völlig unangebracht. Ausgeschlossen! Wenn Sie mich nun freundlicherweise entschuldigen würden – ich muß in die Stadt zurück.« Er drehte sich nicht nach mir um, gab auch keine Antwort. Ich ließ ihn stehen und zog leise die Tür hinter mir zu. Sein Drängen auf Heirat war mir unbegreiflich. Wenn er bei der Einstellung seines Personals genauso vorging, überraschte es mich, daß er es so weit gebracht hatte. Penny stand am Telefon, als ich wieder in die Vorhalle trat. Sie legte den Hörer auf und sagte: »Ich habe eben mit dem Krankenhaus gesprochen. Es geht Gillian besser, sie hat sich beruhigt.« »Gott sei Dank! Ich komme morgen wieder her, dann besuchen wir sie. Vielleicht tut es ihr gut, einmal andere Leute um sich zu haben, auch wenn es sich um einen verhältnismäßig Fremden wie mich handelt.« »Ich weiß nicht, ob das wirklich eine so gute Idee ist«, sagte Penny zweifelnd. »Vielleicht geniert sie sich, so wie sie jetzt aussieht.« »Ich komme auf jeden Fall. Wir können dann immer noch entscheiden. Aber jetzt muß ich fahren, es ist schon spät.« Sie begleitete mich zum Wagen, wir küßten uns, und dann fuhr ich los – und fragte mich auf dem ganzen Heimweg, welche Art von Tassen Ashton in seinem Schrank fehlten.
22
4. Kapitel
A
ls ich am nächsten Morgen mein Büro betrat, blickte Larry Goodwin, mit dem ich das Zimmer teilte, von der tschechoslowakischen Handelszeitschrift hoch, in der er eben las, und sagte: »Harrison erwartet dich.« Harrison war unser direkter Vorgesetzter. »Okay«, sagte ich und marschierte gleich wieder zur Tür hinaus und zu Harrisons Tür hinein. Ich setzte mich in den Sessel vor seinem Schreibtisch und sagte: »Morgen, Joe. Larry meint, mein Typ wär hier gefragt.« Harrison war ein ziemlicher Spießer und hielt viel von Förmlichkeit, Protokoll und Autorität. Daß ich ihn schlicht mit Joe anredete, mochte er überhaupt nicht, aber genau deswegen tat ich es ständig, bloß um ihn zu ärgern. Er sagte steif: »Bei Durchsicht der Eintragungen im Telefon-Wachbuch stelle ich fest, daß Sie sich einem Polizeibeamten gegenüber enttarnt haben. Wie das?« »Ich war übers Wochenende zu Besuch bei Bekannten. Es kam zu einem unangenehmen Vorfall. Auf eine Tochter des Gastgebers wurde ein Säureattentat verübt. Während das Mädchen ins Hospital transportiert wurde, tauchte die Polizei auf, ich befand mich allein im Haus, und die Beamten kamen auf komische Gedanken. Damit sie nicht ihre Zeit auf mich verschwendeten, habe ich mich dem leitenden Beamten gegenüber ausgewiesen.« Harrison schüttelte mißbilligend das Haupt und versuchte mich mit einem Blick festzunageln, den er wohl für adlergleich hielt. »Der Name des Beamten?« »Kriminalinspektor Honnister. Dürfte wohl im Bullenstall von Mar23
low aufzustöbern sein.« Harrison kritzelte sich was in seinen Tischkalender, und ich beugte mich vor. »Was ist los, Joe? Wir haben doch Anweisung, der Polizei jederzeit Amtshilfe zu leisten.« Harrison sah nicht hoch. »Sie haben aber keinerlei Anweisung, sich vor jedem Hinz und Kunz zu enttarnen.« »Das war weder Hinz noch Kunz. Das war ein Beamter mittleren Dienstgrades, der seine Arbeit zu tun hatte und auf dem falschen Bahnsteig gelandet war.« Harrison hob den Kopf. »Trotzdem – es war unnötig. Sie wären nie ernstlich in Verdacht geraten.« Ich grinste ihn an. »Ihrer Auffassung nach ist Amtshilfe eine Einbahnstraße, Joe. Die Bullen leisten uns Amtshilfe, wenn wir sie brauchen, aber wir sollen ihnen nicht einmal dann aushelfen, wenn sie bloß einen Rippenstoß in die richtige Richtung brauchen.« »Die Sache wird für Ihre Personalakte zu Protokoll genommen.« »Stecken Sie sich die Personalakte, wohin Sie wollen, Joe«, sagte ich und stand auf. »Wenn Sie mich nun entschuldigen würden – ich habe Arbeit.« Ich wartete gar nicht erst ab, daß er mich verabschiedete. Larry hatte sich inzwischen in polnisches Literaturgut vertieft. »Nettes Wochenende verbracht?« »Durchwachsen. Wer hat denn unser Who is Who geklaut?« Er grinste. »War wohl nichts? Bist an eine Spielverderberin geraten?« Er angelte das Who is Who aus dem Bücherstapel auf seinem Schreibtisch und warf es mir zu. Unser Job verlangt allerhand Lesefleiß; wenn ich mal in Pension gehe, stelle ich todsicher einen Antrag auf Invalidenrente – wegen in Ausübung meines Dienstes erlittener verminderter Sehfähigkeit. Ich setzte mich an meinen Tisch und überflog die Eintragungen unter A und stellte fest, daß Ashton nicht aufgeführt war. Es gab bestimmt nicht viele Herren, die drei oder mehr Unternehmen führten, über tausend Leute beschäftigten und im Who is Who durch Abwesenheit glänzten. Merkwürdig. Ich griff zum Telefonbuch, aber darin stand er auch nicht. Wieso besaß Ashton eine Geheimnummer? Ich sagte: »Verstehst du was von hochdruckfähigen Plastikstoffen, Larry?« 24
»Worum geht's denn?« »Ein Mann namens Ashton stellt das Zeug in einer Fabrik in Slough her. Darüber wüßte ich gern mehr.« »Name unbekannt. Wie heißt denn die Firma?« »Keine Ahnung.« »Du hast schon mal mehr gewußt. Es gibt übrigens Industrieverbände.« »Du bist ein Genie, Larry!« Ich stieg in unsere Bibliothek, und eine Stunde später wußte ich, daß es mehr Verbände von Plastikherstellern gibt, als sich meine Schulweisheit träumen ließ – einer war sogar der Spezialbranche der Hochdruckplastik geweiht –, aber auch da hatte noch niemand je von einem George Ashton gehört. Irgendwie unnatürlich. Umwölkten Sinnes schritt ich zu meiner Amtsstube zurück. Traurig ist's um eine Welt bestellt, in der man nicht einmal Auskünfte über seinen zukünftigen Schwiegervater einholen kann. Ashton wußte zur Stunde verdammt viel mehr über mich als ich von ihm. Larry sah mein Gesicht und sagte: »Pech gehabt?« »Der in Frage stehende Herr hält sich sehr bedeckt.« Er lachte und wies durch den Raum. »Nicht verzagen – Nellie fragen!« Ich sah zu Nellie hin und grinste. »Warum eigentlich nicht?« sagte ich heiter und ließ mich vor der Tastatur nieder. Mit einem Computer muß man nicht erst Brüderschaft trinken, wenn man ihm intime Fragen stellen will. Alles, was man braucht, ist ein Terminal, und wir nannten unseres aus mir ewig unerfindlichen Gründen Nellie. Kreuzt man eine überdimensionale Schreibmaschine mit einem Fernseher, so entsteht ein Wesen in der Art von Nellie, und geht man zum Londoner Flughafen Heathrow, so begegnet man ihnen in der Schalterhalle dort zu Dutzenden. Freilich, bis jetzt hatte sich noch niemand die Mühe gemacht, mich darüber aufzuklären, wo unser Zentralcomputer eigentlich stand. Wie ich die Organisation kannte, bei der ich beschäftigt war, und nach dem zu urteilen, was ich vom Innenleben unseres Elektronenmon25
sters wußte, durfte ich jedoch vermuten, daß eine weißbekittelte Jüngerschar ihm in einer Kalkbergwerkhöhle in Derbyshire oder auf dem Grunde eines ebenfalls stillgelegten Steinkohlenschachts bei Mendip oder sonst in einer ähnlich für Atombomben-Explosionen unerreichbaren Lokalität huldigte. Aber, wie gesagt, genau wußte ich es nicht. Mein Verein arbeitet strikt nach dem Prinzip, daß Wissen nur an unbedingt Wissensbedürftige verabfolgt werden darf. Ich drehte etliche Schalter, drückte einen Knopf und erhielt zur Belohnung ein grünes Fragezeichen auf dem Bildschirm. Nach abermaligem Knopfdruck leuchtete die Frage auf: Identifikation? Ich identifizierte mich, was ein einigermaßen komplizierter Vorgang war, dann fragte Nellie: Code? Ich antwortete: Grün. Darüber machte sich Nellie eine Millionstelsekunde lang ihre eigenen Gedanken, dann wartete sie mit einer neuen Anweisung auf: Eingabe grüner Code. Für diese Eingabe brauchte ich gut zwei Minuten. Geheimhaltung wird bei uns recht strikt gehandhabt; ich mußte nicht nur mich selbst ausreichend identifizieren, sondern auch den für den gewünschten Informationsgrad erforderlichen Code kennen. Nellie gab sich gnädig: Gewünschte Information? Daraufhin tippte ich nun meine Vorgaben ein: Identität. Männlich. England. Zeilen flackerten auf dem Bildschirm auf, und Nellie kam zur Sache: Name? Ich tippte wieder: Ashton, George. 26
Wie Nellie gebaut war, konnte es ihr eigentlich egal sein, in welcher Reihenfolge Namen eingefüttert wurden. Ich hatte das früher schon ausprobiert, und ob man nun zum Beispiel ›Percy Byssche Shelley‹ oder ›Shelley, Percy Byssche‹ oder gar ›Byssche Shelley, Percy‹ einfütterte, spielte keine Rolle. Nellie lieferte jedesmal prompt die richtige Auskunft – immer vorausgesetzt, natürlich, daß unser Adlerauge auch auf einem Byssche Shelley, Percy ruhte. Nichtsdestoweniger tippte ich stets den Familiennamen zuerst ein, weil ich mir dachte, so wäre es für Nellies kleines überstreßtes Hirn vielleicht doch bequemer. Diesmal gab sie von sich: Ashton, George – bekannt drei. Gegenwärtige Anschrift – falls bekannt? Es mochte zweihundert George Ashtons im Land geben, vielleicht auch zweitausend. Ashton ist ein geläufiger Name; kein Wunder also, daß drei Ashtons der Dienststelle anheimgefallen waren. Während ich die Anschrift eintippte, dachte ich noch, daß ich mich eigentlich ziemlich albern benahm. Ich drückte die Abruftaste, und nun, plötzlich, zierte Nellie sich. Da bekam ich dann doch einen Schreck, denn der Schriftgeber tickerte: Information für Code Grün nicht abrufbar! Code Gelb eingeben. Gedankenschwer hing mein Blick am Bildschirm. Dann drückte ich die Stornotaste. Kein Zweifel, in den Gehirngängen des Computers mußte ein ganzer Reigen von Informationen über einen gewissen George Ashton, meinen Schwiegervater in spe, sein elektronisches Tänzchen aufführen. Und zwar, da gelb gefordert war, Geheiminformationen. Das hatte ich nun davon, daß ich Larrys dumme Scherze ernst nahm – nun war ein Rohrkrepierer daraus geworden. Dabei hatte ich überhaupt nicht damit gerechnet, Ashton bei Nellie zu finden – wie hätte ich annehmen können, daß sich die Dienststelle für ihn interessierte? Und falls doch, hätte ich ihn allenfalls unter Code Grün vermutet, als nicht eben besonders geheimnisvolles Datenpaket. Denn was unter Code 27
Grün lief, konnte man sich praktisch auch durch aufmerksames Lesen der Weltpresse aneignen. Aber Code Gelb – das war etwas ganz anderes. Aus den Untergründen meines Gedächtnisses förderte ich die Codeformel für Gelb zutage und wandte mich auf ein Neues an Nellie. »Nun reiß dich zusammen, alte Schlampe, versuch's noch mal!« Ich fütterte den Code ein, was mich etwa vier Minuten kostete, dann drückte ich den Freigabeschalter. Nellies Bild schirm flackerte ein wenig, dann buchstabierte der Schriftgeber: Information für Code Gelb nicht abrufbar. Code Rot eingeben. Nun mußte ich tief Luft holen; ich bat Nellie, mir die Sache für eine Weile auf Eis zu legen, und dann dachte ich lange nach. Zugelassen war ich für Code Rot, und daher wußte ich auch, daß die darunter gespeicherten Informationen völlig der Farbe entsprachen: glühend heiß! Wer zum Teufel war George Ashton – wo geriet ich da hinein? Ich stand auf und rief Larry zu: »Ich komm in ein paar Minuten wieder – und fummel mir nicht an Nellie rum!« Der Lift führte mich tief in die Innereien des Gebäudes hinab, zu einer merkwürdigen Rasse von Schattenreichbewohnern, den Hütern der Verliese. An einem Gitter aus Tungstem-Stahl zeigte ich meine Karte vor und sagte: »Ich muß den Computercode für Rot nachchecken. Ich hab' das Sesam, öffne dich, vergessen.« In dem hartgeschnittenen Gesicht des Mannes hinter dem Gitter rührte sich kein Lächeln. Er nahm nur die Karte und steckte sie in einen Schlitz. Eine Maschine kaute einen kurzen Augenblick darauf herum, schmeckte sie elektronisch ab, schien dem Geschmack einigermaßen Gefallen abzugewinnen, spuckte sie dann aber trotzdem wieder aus. Was passiert wäre, wenn die Apparatur darüber Sodbrennen bekommen hätte, weiß ich nicht, wahrscheinlich hätte mich dann ein Blitz erschlagen. Komisch, wie die Wirklichkeit manchmal sogar James Bond überholt. Der Wachmann blickte auf ein Bildschirmehen. »Okay, Sie sind für Rot zugelassen, Mr. Jaggard«, sagte er und widersprach damit wenig28
stens der Maschine nicht. Das Gitter öffnete sich, ich trat ein, hinter mir fiel es ins Schloß. »Sie erhalten die Codierung in Raum drei.« Eine halbe Stunde später stand ich wieder in meinem Büro und hoffte sehr, alles im Kopf behalten zu haben. Larry starrte mit großen Augen auf Nellie. »Bist du für Rot zugelassen?« fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf. »Gelb ist für mich das Höchste.« »Dann mach mal 'ne Fliege. Geh in die Bibliothek und studier den Playboy oder sonst was Erhebendes. Ich ruf dich an, sobald ich fertig bin.« Er nickte nur und verschwand. Ich setzte mich wieder vor die Tastatur und fütterte Nellie mit dem Rotcode; ich brauchte zehn Minuten, um die richtigen Dinge in der richtigen Reihenfolge zu tun. Wirklich eine Zauberformel wie das Sesam, öffne dich jedesmal, wenn ich mit Nellie zu tun bekam, fühlte ich mich ins Mittelalter mit seinen Hexen und dem Beschwören von Zauberformeln versetzt –, alles mußte in der richtigen Reihenfolge geschehen, die richtigen Worte mußten ausgesprochen werden, sonst ließ der Geist sich nicht herbeizitieren. Wie's scheint, haben wir seit damals keinen Fortschritt gemacht, jedenfalls nicht viel. Immerhin, unsere Zaubersprüche scheinen zu wirken, wir bekommen unsere Antwort aus den geheimnisvollen Tiefen, aber ob es die Mühe wert ist, kann ich nicht beurteilen. Nellie schluckte den Rotcode, zumindest bekam sie keinen Schluckauf. Ich tippte ein: Freigabe Stornierung. Gespannt wartete ich auf das Ergebnis. Der Bildschirm flackerte, und Nellie tat kund: Information für Code Rot nicht abrufbar. Code Purpur eingeben. Purpur! Die Farbe der Könige und höchstwahrscheinlich auch meines Gesichtes in diesem Augenblick. Denn hier erreichte ich das Ende meiner Fahnenstange – Purpur war für mich tabu. Ich wußte, daß es so etwas gab, aber mehr auch nicht. Und vielleicht existierte jenseits von Purpur noch ein ganzer Regenbogen sichtbarer und unsichtbarer Farben zwischen Infrarot und Ultraviolett. Wie gesagt, unser Arbeitsprinzip lautete Nur wer unbedingt etwas wissen muß, erfährt, was er 29
braucht. Und bis jetzt hatte mir noch kein Vorgesetzter gesagt, daß ich über George Ashton etwas zu wissen brauchte. Ich griff zum Telefon und ließ mich mit Larry verbinden. »Du darfst wieder heim. Der Geheimniskramladen ist geschlossen.« Ich wischte Nellie das glasige Antlitz sauber und setzte mich zu einer längeren Denkpause hin.
5. Kapitel
E
in paar Stunden später zankte ich mich mit Larry. Er war kein übler Kerl, aber manchmal stand er sich und dem Job mit seinen Idealen im Weg. Auch heute lag seine Ansicht von der Welt mal wieder mit der Wirklichkeit überkreuz, was ja immer etwas hinderlich ist, da der Mensch leicht zu Fehlern neigt. Ein bißchen Außendienst hätte ihm vielleicht die Federn gestutzt, aber diese Chance hatte er bei uns nie bekommen. Mein Telefon klingelte, und ich hob ab. »Hier Jaggard.« Harrisons Stimme fegte mir wie eine Bö Polarwind ins Ohr. »Bitte sofort zu mir ins Büro!« Ich legte auf. »Unser guter Joe segelt mal wieder auf einer Kältewelle. Ich möcht' wirklich gern wissen, wie er mit seiner Frau zurechtkommt.« Ich machte mich auf den Weg. Joes Temperatur stand tief unter Null – durch leichtes Handauflegen hätte er Helium verflüssigen können. Eisig sprach er: »Was zum Teufel treiben Sie mit dem Computer?« »Nichts Besonderes. Ist eine Sicherung durchgeknallt?« »Was geht Sie dieser George Ashton an?« Das schockierte mich. »Ach, du lieber Gott! Diese Nellie ist aber wirklich eine Tratschtante. Typisches Weibergeschwätz.« 30
»Wie bitte?« »Ich hab' nur mit mir selbst gesprochen.« »Well, nun dürfen Sie mit Ogilvie sprechen. Er will uns beide sehen.« Da blieb mir nun doch der Mund offen. Sechs Jahre arbeite ich nun in dieser Dienststelle, und genau sechsmal hatte ich in dieser Zeit Ogilvie gesprochen. Zwar begegnete ich ihm dann und wann im Lift, wo wir Höflichkeiten austauschten und er auch nie vergaß, mir Grüße an meinen Vater aufzutragen. Aber mein Flirt mit Nellie mußte ihn so empfindlich gekitzelt haben, daß nun die ganze Firma zusammenzuckte. »Stehen Sie nicht herum«, fauchte Harrison. »Ogilvie wartet.« Bei Ogilvie wartete auch ein kurzer, dicklicher Mann mit blinzelnden Augen, rosigen Wangen und sonnigem Lächeln. Ogilvie stellte ihn nicht vor, wies nur Harrison und mir Stühle an und kam gleich zur Sache. »Nun, Malcolm, was finden Sie denn an Ashton so interessant?« »Ich heirate seine Tochter«, sagte ich. Hätte ich die Absicht kundgetan, dem Prinzen von Wales beizuwohnen, wäre die Wirkung wohl kaum ergreifender gewesen. Wolken umflorten den Blick von Mr. Namenlos, das Lächeln verflog, und seine Augen verwandelten sich in Nagelbohrer. Ogilvie gab zuerst nur ein gurgelndes Geräusch von sich, dann bellte er: »Was?« »Seine Tochter heirate ich«, wiederholte ich, ebenso schlicht und immer noch ergreifend. »Ist das vielleicht verboten?« »Nein, verboten ist das nicht«, sagte Ogilvie und kämpfte mit dem Erstickungstod. Er warf Mr. Namenlos einen hilfesuchenden Blick zu, und Mr. Namenlos sagte: »Welcher Grund veranlaßte Sie zu der Vermutung, bei uns könne eine Akte über Ashton existieren?« »Gar keine. Aus einem Scherz heraus wurde mir nahegelegt, Nellie zu fragen. Niemand war überraschter als ich, als Ashtons Name dann tatsächlich auftauchte.« Ich hätte schwören können, daß Ogilvie mich in diesem Augenblick für irrenhausreif hielt. »Nellie?« fragte er entnervt. »Verzeihung, ich meine natürlich den Computer.« 31
»Erfolgte diese Anfrage im Rahmen dienstlicher Obliegenheiten?« »Nein«, sagte ich. »Das geschah aus persönlichem und privatem Interesse. Ich bedauere das und bitte hiermit in aller Form um Nachsicht. Aber im Hause Ashton haben sich gestern unerklärliche Dinge ereignet, die mich neugierig machten.« »Was heißt unerklärliche Dinge?« »Ein Unbekannter hat seiner Tochter Säure ins Gesicht geschleudert und …« Mr. Namenlos mischte sich ein: »Der Tochter, die Sie zu ehelichen gedenken?« »Nein, der jüngeren Schwester, Gillian. Anschließend verhielt Ashton sich äußerst merkwürdig.« »Wohl kaum überraschend«, sagte Ogilvie. »Wann genau geschah das?« »Gestern abend.« Ich hielt inne. »Im Zusammenhang mit diesem Vorfall mußte ich mich einem Kriminalbeamten gegenüber enttarnen, was wiederum zu einer Eintragung im Telefon-Berichtsbuch führte. Ich hatte bereits mit Joe heute morgen ein Gespräch darüber.« Ogilvie schaltete auf Harrison um. »Sie wußten davon?« »Nur von einem Säureattentat. Der Name Ashton ist nicht gefallen.« »Sie haben mich nicht gefragt«, sagte ich. »Und ich hatte auch keine Ahnung, daß Ashton so verdammt bedeutungsvoll ist – das erfuhr ich ja erst später durch Nellie.« Ogilvie sagte: »Nun wollen wir einmal Klarheit schaffen.« Er blitzte Harrison an. »Ein Angehöriger Ihrer Abteilung macht Ihnen die Mitteilung, im Zusammenhang mit einem Säureattentat in polizeiliche Ermittlungen verwickelt zu sein – und Sie fragen nicht einmal, wem dieses Attentat galt. Ist das der Sachverhalt?« Harrison wand sich nervös. Mr. Namenlos, eben im Begriff, sich eine Zigarette anzuzünden, hielt inne und sagte milde: »Ich glaube, das ist nebensächlich. Bleiben wir beim Thema.« Ogilvie drohte Harrison mit einem stilettspitzen Blick ein baldiges Hühnchenrupfen an und pflichtete dann Mr. Namenlos bei: »Natürlich. Halten Sie die Lage für ernst?« 32
»Könnte sehr ernst werden«, ließ Mr. Namenlos sich vernehmen. »Aber zum Glück haben wir ja einen Mann an der Quelle sitzen.« Dabei deutete er mit der Zigarette auf mich wie Herbert von Karajan auf die zweiten Geigen, wenn sie loskratzen sollen. »Moment mal«, sagte ich. »Was hier im Busch ist, kapiere ich zwar nicht ganz, aber Ashton ist mein zukünftiger Schwiegervater, und somit wird die Sache gewissermaßen zur Familienangelegenheit. Sie können mir doch nicht zumuten …« »Das ist keine Zumutung«, sagte Mr. Namenlos kühl, »das ist dienstlicher Befehl.« »Sie können mich mal!«, sagte ich. Er blickte arg verwundert drein, und er hatte auch längst kein Zwinkern mehr im Auge. »Laut Personalakte«, sagte er zu Ogilvie, »soll Mr. Jaggard ein äußerst fähiger Mann sein. Im Augenblick ist mir allerdings schleierhaft, wie diese positive Beurteilung zustande gekommen sein könnte.« »Wie ich bereits heute vormittag einmal auszuführen Anlaß hatte«, erklärte ich, »können auch Sie sich meine Personalakte sonstwohin stecken.« »Geben Sie doch Ruhe, Malcolm!« sagte Ogilvie verärgert, und zu Harrison: »Ich glaube, im Augenblick brauchen wir Sie nicht mehr, Joe.« Harrison gelang das pantomimische Kunststück. In ein und derselben Sekunde so gegensätzliche Empfindungen wie Überraschung, Empörung, Neugier und Bedauern ob seiner Verabschiedung im Gesicht aufscheinen zu lassen. Als die Tür sich hinter im schloß, befand Ogilvie: »Jedenfalls sind wir uns wohl alle zunächst in einem wichtigen Punkt einig – es wirkt sich ungünstig aus, wenn ein Agent seine privaten Empfindungen in den Dienst trägt. Malcolm, was halten Sie von Ashton?« »Er ist mir sympathisch – soweit ich ihn kenne. Nicht einfach im Umgang. Allerdings, viel Gelegenheit zum Kennenlernen hatte ich nicht, lediglich an zwei Wochenenden.« »Nun, die Standpunkte sind geklärt«, lenkte Mr. Namenlos ein. Er 33
zwinkerte mir zu, als wären wir auf einmal Busenfreunde. »Und zwar in unparlamentarischer Sprache. Es bleibt die Tatsache, daß unser Mr. Jaggard hier an der Quelle sitzt. Diesen Vorteil dürfen wir nicht leichtfertig aus der Hand geben.« Ogilvie meinte jovial: »Ich bin überzeugt, daß Malcolm die Gegebenheiten rund um Ashton erforschen wird, sobald man ihm richtig erklärt, worum es sich handelt.« »Vorausgesetzt«, meinte Mr. Namenlos, »daß dabei gewisse Grenzen berücksichtigt werden. Das Problem ist Ihnen bekannt.« »Ich glaube, dem bin ich gewachsen.« Mr. Namenlos erhob sich. »Dann werde ich meinen Bericht in diesem Sinne abfassen.« Nachdem das Dickerchen gegangen war, sah Ogilvie mich lange an. Schließlich meinte er kopfschüttelnd: »Malcolm, Sie können doch nicht mir nichts, dir nichts einen hochgestellten Beamten einladen, Sie – wie sagte man da? – am Abend zu besuchen.« »Hab' ich doch gar nicht. Ich habe ihn nur gebeten, sich meine Personalakte sonstwohin zu stecken. Ich hab' ihm nicht einmal gesagt, wohin.« »Das Ärgerliche mit Leuten Ihres Schlages, die über private Vermögen verfügen, ist doch immer wieder eine gewisse ungezügelte Eigenwilligkeit. Das mag zwar für die Dienststelle von Vorteil sein – und so habe ich es auch, ehe Sie hereinkamen, Seiner Lordschaft dargestellt –, aber Ihre Kollegen stellt es doch immer wieder vor herbe Schwierigkeiten.« Seine Lordschaft! Wollte Ogilvie etwa witzig sein? Er sagte: »Darf ich Sie bitten, in Zukunft etwas kürzer zu treten?« Das war nicht zuviel verlangt, also sagte ich: »Selbstverständlich.« »Gut. Wie geht es Ihrem Herrn Vater?« »Ich fürchte, er fühlt sich seit dem Tod meiner Mutter ein wenig einsam, aber er hält sich gut. Ich soll Sie grüßen.« Er nickte und sah auf seine Uhr. »Zeit zum Mittagessen. Sie kommen mit und erzählen mir alles über Ashton.« 34
6. Kapitel
I
n einem Privatraum im ersten Stock eines Restaurants, wo Ogilvie gut bekannt zu sein schien, aßen wir zu Mittag, dieweil ich die ganze Geschichte von Anfang an und haarklein erzählen mußte, von meiner ersten Begegnung mit Penny bis zu meinen mißglückten Nachforschungen über Ashton und meinem Duell mit Nellie. Das brauchte seine Zeit, und bis ich es hinter mir hatte, waren wir auch schon beim Kaffee angelangt. Ogilvie setzte sich eine Zigarre in Brand und sagte: »Nun gut. Sie sind doch ein Profi – können Sie auf Anhieb den Finger auf irgend etwas Ungewöhnliches legen?« Ich überlegte es mir ein wenig, dann sagte ich: »Ashton hat da einen sogenannten Mann für alles im Haus, Benson. An dem ist etwas faul.« »Meinen Sie sexuell?« »Nicht notwendigerweise. Dafür scheint mir Ashton nicht der Typ zu sein. Ich meine eher, daß es sich hier nicht um ein normales Herr-undDiener-Verhältnis handelt. Als die beiden aus dem Krankenhaus zurückkamen, schlossen sie sich anderthalb Stunden in Ashtons Arbeitszimmer ein und machten zusammen eine halbe Flasche Whisky leer.« »Hmm«, machte Ogilvie dunkel. »Sonst noch was?« »Und wie Ashton mich zur Hochzeit drängen wollte – verdammt merkwürdig. Zeitweise dachte ich: nun legt er jeden Augenblick ein Gewehr auf mich an, um mich zum Standesamt zu treiben.« »Wissen Sie, was ich denke?« sagte Ogilvie. »Ich glaube, Ashton hat eine Heidenangst. Nicht um sich, sondern um seine Töchter. Offenbar will er Ihre Penny auf Biegen und Brechen aus seinem Umkreis schaffen, damit wenigstens sie in Sicherheit ist. Was halten Sie davon?« »Da ist was dran«, meinte ich. »Und wenn's stimmt, muß es sich um eine verdammt heikle Situation handeln.« 35
»Armer Ashton. Plötzlich fehlt ihm die Zeit, einen sicheren Plan einzufädeln – und da versucht er nun, Sie mit dem Lasso einzufangen. Wetten, daß er diesen angeblichen Job in Australien einfach wie ein Kaninchen aus dem Hut gezogen hat?« »Aber wer ist Ashton?« »Tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht sagen.« Ogilvie blies eine Rauchwolke in die Luft. »Heute morgen, gegenüber diesem dicken Burschen, habe ich mir angemaßt zuzusagen, daß Sie den Job übernehmen, falls man Ihnen klarmacht, was auf dem Spiel steht. Natürlich weiß er verdammt genau, daß ich Ihnen überhaupt nichts sagen darf. Und eben das war auch sein, freilich verschlüsselt vorgetragener Einwand.« »Aber das ist doch idiotisch!« »Nicht unbedingt. Sie tun einfach nur, was Sie sowieso tun würden, nachdem Sie nun mal wissen, was Sie wissen.« »Und das wäre?« »Sie spielen den Leibwächter für das Mädchen. Natürlich sind Sie damit gehalten, auch über Ashtons Wohlergehen zu wachen. Ein Koppelgeschäft, gewissermaßen, verstehen Sie? Das eine bedingt automatisch das andere.« »Und all das, ohne zu wissen, warum?« »Sie wissen schon, warum. Sie bewachen Penelope Ashton, weil Sie nicht wollen, daß man ihr Säure ins Gesicht schüttet das dürfte doch für jeden liebenden Bräutigam Grund genug sein. Und was Ashton angeht – nun, unser Freund von heute morgen hat schon recht: ein General kann nicht jedem Soldaten vor der Schlacht seinen Kriegsplan ausbreiten. Der General sagt nur, wo's langgeht – und dann heißt's ganze Abteilung, marsch!« »Der Vergleich hinkt, und das wissen Sie genau«, sagte ich. »Wie soll ich einen Mann schützen, wenn ich nicht weiß, wovor und vor wem? Das ist doch so, als würden Sie Soldaten in die Schlacht schicken und ihnen nicht nur nicht sagen, wo der Feind steht, sondern auch nicht, wer er ist.« »Tja«, meinte Ogilvie gelassen, »dann müssen Sie es wohl um meiner schönen blauen Augen willen tun.« 36
Und damit hatte er mich, und ich glaube, er wußte es. Mich befiel so eine Ahnung, daß dieser Mr. Namenlos, wer immer das war, ziemlich unangenehm werden konnte, und daß Ogilvie heute morgen eine irgendwie kitzlige Situation entschärft hatte. Dafür war ich ihm einiges schuldig. Außerdem waren die Augen dieses raffinierten alten Teufels grün. »Sei's drum«, sagte ich. »Aber das ist kein EinMann-Job.« »Das ist mir klar. Vertreiben Sie sich den Nachmittag mit der Erstellung einer Wunschliste – die will ich dann morgen früh auf meinem Schreibtisch vorfinden. Ach ja – und enttarnen Sie sich nicht gleich wieder.« Ich machte den Mund auf, machte ihn aber auch gleich wieder zu, um Ogilvie nicht zu beschimpfen. Dann sagte ich: »Das dürfte wohl ein Scherz sein. Ich soll einen Mann schützen, ohne ihm zu sagen, daß ich ihn schütze?« »Ich bin überzeugt, daß Sie auch dieses Problem hervorragend lösen werden«, versicherte er mir liebenswürdig. »Sie werden sich wundern, was ich alles brauche«, sagte ich bissig. Er nickte, dann fragte er neugierig: »Beunruhigt es Sie eigentlich nicht, daß Sie in eine reichlich mysteriöse Familie einheiraten?« »Penny wird meine Frau, nicht Ashton«, grinste ich ihn an. »Aber sind Sie nicht aus dem gleichen Grund beunruhigt'?« »Bilden Sie sich nur nicht ein, ich wäre es nicht«, sagte er sehr ernst und überließ es mir, mir einen Reim darauf zu machen.
7. Kapitel
L
arry maß mich kritisch von Kopf bis Fuß, als ich wieder ins Büro kam. »Fast hätte ich einen Suchtrupp nach dir losgeschickt. Wie die Fama wissen will, hat man dich arg in die Mangel genommen. 37
Eben wollte ich im Keller nachschauen, ob da tatsächlich noch mit Daumenschrauben gearbeitet wird.« »Nichts dergleichen«, sagte ich heiter. »Der Tierschutzverein hat mir eine Medaille verliehen, weil ich immer so lieb zu Joe Harrison bin. Mehr war nicht los.« »Sehr witzig«, meinte er säuerlich und schlug die Prawda vom Vortag auf. »Einen Orden kriegst du nur einmal im Leben zu sehen – falls du dabeisein darfst, wenn ich zum Ritter geschlagen werde.« Er sah mir zu, wie ich ein paar Sachen in eine Reisetasche steckte. »Du willst verreisen?« »Ein paar Tage wirst du wohl ohne mich zurechtkommen müssen.« »Glücksschwein! Mich lassen sie nie aus dem Büro an die frische Luft.« »Einst wird kommen der Tag«, sagte ich tröstlich. »Zum Beispiel, wenn du zum Buckingham-Palast gerufen wirst, um den Ritterschlag zu empfangen.« Ich lehnte mich gegen den Schreibtisch. »Du wärst doch eigentlich in der Balkan-Abteilung viel besser aufgehoben. Wieso hast du dich hier für die Abteilung Allgemeines beworben?« »Ich hab' mal gehört, hier wäre es aufregender«, sagte er. »Muß wohl ein Gerücht gewesen sein.« Ich fuhr nach Marlow und fand auch gleich die Polizeistation. Ich nannte dem Wachhabenden meinen Namen, und im Nu stand Honnister vor mir. Er teilte sein Büro mit einem Kollegen, und als ich ihm andeutete, daß ich ihn unter vier Augen zu sprechen wünschte, zuckte er die Achseln und sagte: »Wie Sie wollen. Setzen wir uns ins Verhörzimmer. Aber gemütlich ist es da nicht.« »Das macht doch nichts.« Der andere Bulle klappte eine Akte zu und stand auf. »Ich muß sowieso gehen. Und in deine jungfräulichen Geheimnisse will ich auch nicht eindringen, Charlie.« Im Hinausgehen musterte er mich aufmerksam. Er würde mich bestimmt wiedererkennen. Unwirsch setzte Honnister sich hinter seinen Schreibtisch. »In Ihrem Laden scheint's ziemlich geheimnistuerisch zuzugehen«, sagte er. »Sie laufen ja auch nicht in Uniform herum.« 38
»Heute morgen hat mich einer von Ihren Spießgesellen am Telefon gelöchert. Harrison hieß er. Drohte mir mit dem Tower von London sowie weiteren unnennbaren Folterungen, falls ich je ein Wort über Sie verlöre.« Ich setzte mich. »Joe Harrison ist ein Dummkopf. Aber er meint es gut.« »Wenn überhaupt noch jemand auf der Welt schweigen kann wie ein Grab, dann ein Polizist«, sagte Honnister. »Und ganz besonders ein Kriminalpolizist. Ich zum Beispiel könnte ganz Marlow hochgehen lassen, so viele Geheimnisse kenne ich hier. Ihrem Kollegen müßte das eigentlich bekannt sein.« Es klang sehr trübsinnig. Harrison hatte sich offenbar mal wieder wie der Elefant im Porzellanladen benommen. Wenn er mir damit bei den Ortspolizisten die Tour vermasselte, mußte ich ihn bei meiner Rückkehr an den Daumen aufhängen. Ich sagte: »Herr Inspektor, gestern abend habe ich Ihnen versichert, daß ich mit Ashton dienstlich nichts zu tun habe. Gestern stimmte das. Heute nicht mehr. Inzwischen hat sich bei meinen Leuten ein gewisses Interesse an Ashton entwickelt.« »Ich weiß«, brummte er. »Ich soll jetzt von jedem Protokoll in der Ashton-Sache einen Extradurchschlag machen. Als ob ich nicht schon genug verdammtes Papier für Leute einzuschwärzen hätte, die mir ansonsten nicht einmal die Tageszeit zu bieten wagen, ohne erst in sämtlichen Staatssicherheitsgesetzen nachzublättern.« Sein Widerwillen wuchs mit jeder Minute. Ich sagte flink: »Diesen Unsinn können Sie vergessen. Es reicht völlig, wenn Sie mir Akteneinsicht gewähren.« »Sind Sie dazu legitimiert?« Ich lächelte. »Ein Mann hat immer soviel Legitimation, wie er sich nimmt. Ich halte schon den Kopf hin, wenn's Ärger gibt.« Er sah mich lange an, dann kräuselten sich seine Lippen belustigt. »Wir werden gut miteinander auskommen«, sagte er. »Was wollen Sie wissen?« »Zuerst – wie geht's dem Mädchen?« »Ziemlich miserabel, nehme ich an. Wir haben noch keine Sprecher39
laubnis von den Ärzten. Und wir brauchen doch zumindest eine Täterbeschreibung. Ich weiß nicht einmal, ob der Unhold Männchen oder Weibchen war.« »Miß Ashton empfängt also keine Besuche?« »Nur die Familie. Die Schwester ist fast den ganzen Tag im Krankenhaus –« »Vielleicht kann ich Ihnen da behilflich sein«, sagte ich. »Nehmen wir an, ich kriege Penny so weit, daß sie Gillian nach einer brauchbaren Beschreibung ausfragt. Das müßte reichen, bis Sie sie vernehmen können.« Er nickte. »Es kann allerdings spät werden. Wo sind Sie heute abend?« »Theoretisch hab' ich dienstfrei. Aber zwischen neun und zehn stehe ich an der Theke von der Post und genehmige mir ein paar Halbe. Ich bin da mit jemandem verabredet, der mir einen Tip in einer anderen Sache geben will. Dort können Sie mich anrufen. Der Wirt heißt Doyle, er kennt mich.« »In Ordnung. Sind Sie mit der Säure weitergekommen?« Honnister zuckte die Achseln. »Soweit wie unter den Umständen möglich. Es war Batteriesäure, und das Zeug gibt's an jeder Ecke. Auch hier im Ort haben wir ein paar Tankstellen, aber das Zeug kann von überall stammen.« Er lehnte sich zurück. »Wenn Sie mich fragen – die Sache riecht nach Londoner Unterwelt.« »Haben Sie Ashton gesprochen?« »Aber ja. Er kann sich keinerlei Motiv für einen derartigen Überfall auf seine Tochter vorstellen. Nicht das geringste. Genausogut hätte ich auf eine verdammte Wand einreden können.« »Ich spreche heute abend selbst mit ihm. Vielleicht kriege ich etwas heraus.« »Weiß er, wer Sie sind – und was?« »Nein. Und er darf es auch nicht erfahren.« »Ihr Jungs führt schon ein interessantes Leben.« Er lächelte schief. »Und seine Tochter wollen Sie auch noch heiraten.« Ich lächelte. »Woher haben Sie denn das?« »Hab' ich mir so zusammengereimt – aus dem, was Sie mir gestern 40
selber sagten. Und aus Äußerungen, die einer von meinen Männern aufschnappte, als er mit dem Dienstmädchen der Ashtons bei einem Täßchen Tee saß. Ich sag's Ihnen ja, unsereinem schwirren allerhand Geheimnisse zu – aber ich bin kein Unmensch, auch wenn ich's selber bin, der's Ihnen sagt.« »Wie erfreulich«, fand ich. »Dann verraten Sie mir doch ein paar von Ashtons Geheimnissen.« »Der Polizei ist nichts bekannt. Nichts Kriminelles. Das Diebstahlsdezernat hat mal bei ihm vorgesprochen.« »Das Diebstahlsdezernat?« »Vorsorglich. Unsere Gegend steht voller Villen mit diebstahlwürdigem Kram. Deshalb überprüft das Diebstahlsdezernat die Sicherungsanlagen. Unbegreiflich, wie bescheuert manche Geldsäcke sind. Die stellen sich Antiquitäten und Gemälde für eine Million ins Haus, aber wenn sie ein paar Tausender für Alarmanlagen hinblättern sollen, kriegen sie Zahnschmerzen.« »Wie einbruchssicher ist Ashtons Haus?« »Nur die Bank von England ist schwieriger zu knacken«, ließ er wissen. Das interessierte mich. »Sonst noch was über Ashton'?« »Nichts Besonderes. Aber er ist doch nicht überfallen worden, oder?« Honnister beugte sich vor. »Haben Sie sich schon mal überlegt, ob Miß Ashton vielleicht ins falsche Bett gestiegen ist? Wenn ich von einem Säureattentat auf eine Frau höre, kommen mir immer sofort zwei Möglichkeiten in den Sinn. Entweder war's der lange, strafende Arm der Unterwelt – oder ein Racheakt unter Frauen.« »Daran hab' ich auch schon gedacht. Aber Penny hält dergleichen für völlig ausgeschlossen. Und ich selbst halte auch nicht viel davon. Gillian ist einfach nicht der Typ.« »Mag sein. Aber ich hab' ein bißchen herumgeschnüffelt; vorzuweisen hab' ich nichts in dieser Richtung, doch für unmöglich halte ich's auch nicht.« »Natürlich nicht.« Ich stand auf. Honnister sagte: »Erwarten Sie nicht zuviel und auch nicht zu bald. 41
Am besten erwarten Sie überhaupt nichts. In diesem Fall hab' ich keine großen Hoffnungen. Aber der Überfall liegt ja auch noch keine vierundzwanzig Stunden zurück.« Das stimmte – dennoch überraschte es mich. Es war so viel an diesem Tag geschehen, daß es mir viel länger vorkam. »Okay«, sagte ich. »Sie hören heute abend von mir.«
8. Kapitel
I
ch fuhr in Richtung auf Ashtons Haus weiter, aber ich fuhr langsam und auf vielen Umwegen. Ich fuhr über schmale Landstraßen und hielt nach Ungewöhnlichem Ausschau – nach einsam geparkten Autos, in denen Leute saßen, die scheinbar nichts zu tun hatten. Aber es gab nichts zu sehen, und nach einer nutzlos vergeudeten Stunde schlug ich den direkten Weg ein. Das Tor zum Grundstück war geschlossen, aber daneben war eine Klingel und auf die drückte ich. Während ich wartete, untersuchte ich das Tor im Hinblick auf Honnisters Äußerungen über Ashtons Alarmanlagen. Die beiden Flügel bestanden aus verziertem Schmiedeeisen, waren gut drei Meter hoch und oben mit scharfen Spitzen versehen; sie hingen an zwei massiven, steinernen Säulen, links und rechts davon verlief ein ebenfalls drei Meter hoher Maschendrahtzaun, der – hinter Büschen und Bäumen versteckt – wahrscheinlich das gesamte Anwesen sicherte. Ganz gut und schön, aber am Vortag hatte das Tor offengestanden. Schließlich kam ein Mann in grober Arbeitskleidung, den ich nie zuvor gesehen hatte, die Zufahrt herunter. Er musterte mich durchs Torgitter. »Sie wünschen?« »Mein Name ist Malcolm Jaggard. Ich möchte Mr. Ashton sprechen.« »Nicht zu Hause.« 42
»Miß Ashton?« »Auch nicht zu Hause.« Ich zupfte mir nachdenklich am Ohr. »Und Benson?« Er sah mich einen Augenblick lang an. »Ich werde mich er kundigen.« Er verschwand hinter der Steinsäule; ein Klicken ertönte, gefolgt vom Drehgeräusch einer Telefonwählscheibe. Für das, was sich hier abspielte, gibt es ein Sprichwort: Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, wird er zugeschüttet. Der Mann trat wieder hervor und öffnete wortlos das Tor. Ich setzte mich in meinen Wagen und fuhr zum Haus hinauf, wo Benson mich mit gewohnt höflicher Boris-Karloff-Manier in den Salon bat: »Miß Penelope wird gewiß nicht lange ausbleiben, Sir. Sie hat vor kurzem angerufen und ihre Heimkehr für fünf Uhr angekündigt.« »Hat sie gesagt, wie es Gillian geht?« »Nein, Sir.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Eine schlimme Sache, Sir. Wirklich abscheulich.« »Ja«, sagte ich. »Abscheulich.« Ich hatte gelernt, daß es als ungezogen gilt, Domestiken nach ihrer Herrschaft auszufragen. Diesmal jedoch empfand ich wenig Hemmungen, denn Benson hatte nie den Eindruck eines Null-acht-fünfzehn-Dienstbolzen auf mich gemacht, und falls er nicht plötzlich von einem schnellwachsenden Tumor unter der linken Achselhöhle befallen worden war, trug er nun sogar eine Waffe. Ich sagte: »Wie ich sehe, wird das Tor nunmehr bewacht.« »Ja, Sir. Der Wächter heißt Wills. Ich werde ihm Ihren Namen angeben, damit er Ihnen stets Zutritt gewährt.« »Wie nimmt Mr. Ashton die Dinge auf?« »Bemerkenswert gefaßt. Heute morgen begab er sich wie gewohnt in sein Büro. Darf ich Ihnen ein Getränk anbieten, Sir?« »Ja, vielen Dank, Benson.« Er hielt sich nicht weiter auf, um sich ausfragen zu lassen, aber auch sonst hätte ich sicher nicht viel aus ihm herausholen können. Er gab nur Klischees und Gemeinplätze von sich; ob er auch so dachte, stand freilich auf einem anderen Blatt. 43
Ich brauchte nicht lange zu warten. Als Penny eintraf, hatte ich mein Glas kaum erst zur Hälfte ausgetrunken. »Ach, Malcolm! Wie schön, daß du da bist!« Sie wirkte erschöpft und übermüdet. »Ich hab' dir ja gesagt, daß ich komme. Wie geht es Gillian?« »Ein bißchen besser. Sie fängt immerhin schon an, den Schock zu überwinden.« »Gott sei Dank. Ich hatte übrigens ein Gespräch mit Honnister – du weißt, der Kriminalkommissar, der den Fall bearbeitet. Er möchte Gillian gern ein paar Fragen stellen.« »Ach, Malcolm, so weit ist Gillian längst noch nicht.« Sie kam auf mich zu, und ich nahm sie in die Arme. »Ist es so schlimm?« Sie legte den Kopf an meine Brust, dann sah sie zu mir auf. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm das für eine Frau ist. Frauen machen sich nun mal um ihr Äußeres mehr Gedanken. Vielleicht muß das so sein, wir bilden uns ja immer ein, auf Männerfang sein zu müssen. Bei Gillian geht es um mehr als nur die körperlichen Verletzungen. Du mußt das psychologisch sehen.« »Meinst du, das wüßte ich nicht? Aber versetz dich bitte in Honnisters Lage. Er kommt einfach nicht weiter. Er braucht eine Täterbeschreibung. Im Augenblick weiß er nicht einmal, ob er nach einem Mann oder einer Frau fahnden soll.« »Darüber hab' ich gar nicht nachgedacht. Für mich war immer irgendwie klar, daß nur ein Mann als Täter in Frage kommt.« »Für Honnister ist das keineswegs klar. Für ihn ist überhaupt alles unklar. Er kann auch nicht einfach von Vermutungen ausgehen. Spricht Gillian wenigstens mit dir?« »Ein wenig. Aber auch erst seit heute nachmittag. Bis jetzt habe ich es vermieden, den überfall zu erwähnen.« »Kannst du nicht heute abend noch einmal ins Krankenhaus fahren und versuchen, irgend etwas aus Gillian herauszuholen? Honnister ist wirklich mit seinem Latein am Ende. Dein Vater konnte ihm auch nicht weiterhelfen. Honnister kommt sonst einfach nicht von der Stelle.« 44
»Ich will es versuchen.« »Du kannst Gillian bestimmt viel besser befragen als er. Er geht gewiß nicht so verständnisvoll vor. Ich begleite dich – natürlich nicht ins Krankenzimmer. Aber ich begleite dich.« »Geht es um acht? Ist das nicht zu spät für dich?« »All meine Zeit steht dir zur Verfügung«, sagte ich. Allerdings nicht, daß sie das auch wortwörtlich zu nehmen hätte – mit freundlicher Genehmigung eines gewissen Herrn Ogilvie und auf Kosten des Steuerzahlers. »Du siehst aus, als könntest du ganz gut einen Drink vertragen.« »Danke. Bringst du mir einen Gin-Tonic in die Küche? Ich muß mich ums Abendessen kümmern. Daddy kommt bald.« Ich mixte den Drink für Penny und trug ihr das Glas nach. Ich bot ihr meine Hilfe all, aber sie lachte nur: »Da würdest du mir doch nur im Weg stehen. Mary kommt gleich herunter und hilft mir.« »Wer ist Mary?« »Unser Dienstmädchen. Mary Cope. Such dir was anderes, wenn du dich nützlich machen willst.« Ich ging hinters Haus und sagte mir, daß ich schon wüßte, wie ich mich nützlich machen könnte – zum Beispiel mit einer gründlichen Filzung von Ashtons Arbeitszimmer. Aber wenn es schon als ungezogen gilt, die Domestiken auszufragen – wie zum Teufel würde man es dann wohl nennen, wenn einer die Privatkorrespondenz im Allerheiligsten seines Gastgebers durchschnüffelt? Mißmutig trat ich in den Garten hinaus. Ich schlug gerade mit den Krocketkugeln auf dem Rasen herum, als Ashton auftauchte. Er wirkte abgespannt und zermürbt – als würde ihm die Seele auf einem Schleifstein wundgeschliffen. Sein Gesicht hatte nichts von seiner Sonnenbräune verloren, aber es schien mir bleicher als gestern. Und immer noch stand dieser wunde Blick in seinen Augen – dieser Blick eines kleinen Jungen, der für eine Untat bestraft wird, die er nicht begangen hat; ein Blick, der alle Ungerechtigkeit dieser Welt beklagt. Einem kleinen Jungen kann man nur schwer klarmachen, daß es auf der Welt nicht unbedingt gerecht zugeht, Ashton je45
doch war schon lange genug im Leben unterwegs, er hätte es eigentlich wissen müssen. Ich sagte: »Penny ist in der Küche, falls Sie sie suchen.« »Ich weiß«, sagte er. »Penny sagt, daß es Gillian jetzt besser geht.« Er blickte zu Boden und trat mit der Schuhspitze in den Rasen. Eine Zeitlang sagte er nichts, und ich dachte schon, er hätte mich überhört. Plötzlich blickte er auf und sagte: »Sie ist blind.« »Um Gottes willen!« Er nickte. »Ich habe Gillian heute nachmittag von einem Spezialisten untersuchen lassen.« »Weiß sie es schon? Weiß Penny es schon?« »Beide nicht. Ich muß es ihnen beiden verheimlichen.« »Daß Sie Gillian nichts sagen wollen, verstehe ich. Aber Penny?« »Anders als Schwestern sonst haben sich die beiden Mädchen immer sehr nahegestanden, obwohl sie sich im Wesen so unähnlich sind – vielleicht auch gerade deshalb. Wenn Penny Bescheid weiß, fragt Gillian es irgendwie aus ihr heraus. Und diesen Schock übersteht sie jetzt nicht.« Er sah mir in die Augen. »Sagen Sie es ihr nicht.« Das war natürlich alles sehr logisch und sehr gut ausgedacht; und daß er mir damit einen unmißverständlichen Befehl erteilt hatte, stand auch außer Zweifel. »Ich sage ihr nichts«, versprach ich. »Aber entdecken wird sie's trotzdem. Penny ist Medizinerin und läßt sich nichts vormachen.« »Wenn es sich nur so lange wie möglich aufschieben läßt«, sagte er. Ich dachte mir, daß es nun wohl endlich an der Zeit wäre, mir mein Gehalt zu verdienen. »Am Nachmittag hab' ich mit Honnister gesprochen. Er meinte, Sie hätten ihm nicht sehr viel helfen können, heute morgen. Haben Sie wirklich keine Ahnung, warum Gillian überfallen worden sein könnte?« »Nein«, sagte er tonlos. Ich betrachtete ihn prüfend. Er trug eine sehr viel besser geschnittene Jacke als Benson, aber kein noch so raffinierter Schneiderkunstgriff konnte die leichte Ausbuchtung unter dem Arm ka46
schieren. »Sie haben nicht zufällig Drohbriefe oder dergleichen erhalten?« »Nichts dergleichen«, sagte er ungeduldig. »Für mich ist alles einfach unfaßbar.« Jetzt wollte ich es genau wissen: Weshalb dann die Waffe? Aber mein Problem war, daß ich einfach nicht wußte, wieso bei uns eine Akte über Ashton existierte. Es gibt viele Gründe, Leute in unserem Informationssystem zu erfassen, und daß jemand erfaßt ist, stempelte ihn noch lange nicht zum Schurken – ganz im Gegenteil. Nur in der Tatsache, daß mich niemand aufklären wollte, in welcher Kategorie Ashton rangierte, lag der Hund begraben, und genau das machte meinen Auftrag so überaus schwierig. Weil ich nicht wußte, in welche Richtung ich Ashton schubsen mußte; weil der Spalt, an dem ich meinen Keil ansetzen mußte, nicht auszumachen war. Wacker versuchte ich trotzdem mein Glück. Ich gab mich lebenserfahren. »Dann muß irgendwo in Gillians Privatleben das Motiv liegen. Vielleicht geht sie mit irgendwelchen Leuten um.« Ashton empörte sich unverzüglich. »Unfug!« zischte er. »Eine ungeheuerliche Unterstellung! Das müßte ich doch wissen, falls sie mit solchen Typen umgeht – mit Typen, die solcher Taten fähig sind!« Ich schlüpfte in die Rolle des unparteiischen Zuschauers. »Ach, ich weiß nicht. Wenn man so die Zeitungen liest, kommt das doch andauernd vor. Da werden Jugendliche von der Polizei verhaftet, eine ganze Serie von Übeltaten wird aufgedeckt, vom Heroinhandel bis zum Portokassen-Diebstahl, bloß um die Rauschgiftsucht zu befriedigen, und die Eltern fallen aus allen Wolken, nie hätten sie geahnt, daß Klein Johnny oder Klein Mary dazu imstande wären. Und das kann man den Eltern sogar glauben.« Er holte tief Luft. »Erstens ist Gillian kein Kind, sondern eine erwachsene Frau von sechsundzwanzig Jahren. Zweitens kenne ich meine Tochter nur zu gut. Gestern machten Sie selbst mir ein Kompliment in dieser Richtung – ich hätte Penny zu gut erzogen. Und das, mein 47
Lieber, gilt auch für Gillian.« Er stieß seinen Fuß heftig in den Rasen. »Würden Sie denn von Penny genauso sprechen?« »Nein. Sicher nicht.« »Warum also dann von Gillian? Das ist doch verdammt lächerlich.« »Penny hat keine Säure ins Gesicht gekriegt«, erinnerte ich ihn. »Aber Gillian.« »Das ist doch ein Alptraum!« murmelte er. »Verzeihung. Ich hatte nicht die Absicht, Sie in Ihren Vatergefühlen zu verletzen. Ich hoffe, Sie akzeptieren meine Entschuldigung.« Er warf sich die Hände vors Gesicht, rieb sich die geschlossenen Augen. »Schon gut, Malcolm.« Er ließ eine Hand sinken. »Gillian war immer ein so braves Mädchen. Ganz anders als Penny. Penny war manchmal schwierig, und das ist sie auch heute noch. Sie kann recht eigenwillig sein, wie auch Sie feststellen werden, falls Sie sie heiraten …« Er schüttelte den Kopf. »Gillian hat mir nie Kummer gemacht.« Aus Ashtons Worten wurden mir die Ängste klar, die Eltern empfinden müssen, wenn ihre Kinder aus der Art schlagen. Aber sein Leid konnte mich nicht darüber hinwegtäuschen, daß er gesagt hatte: Falls Sie Penny heiraten, und nicht einfach wenn … Offensichtlich war er von seiner fixen Idee vom Vorabend abgekommen. Nein, doch nicht. Er sagte: »Haben Sie über unser Gespräch von gestern abend nachgedacht?« »Ein wenig.« »Und?« »Ich bin nach wie vor der gleichen Meinung«, sagte ich. »Ich halte den Zeitpunkt nicht für geeignet, Penny vor weitere Probleme zu stellen. Schon gar nicht, wenn sich die Mädchen so nahestehen, wie Sie selbst gerade sagten. Penny ist jetzt sehr unglücklich, wissen Sie.« »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte er mutlos. Er trat wieder in den Rasen. Dem Schuh tat das bestimmt nicht gut; wirklich eine Schande, wie willkürlich er mit Meister Lobbs weltberühmter Schuhmacherkunst umging. »Sie bleiben zum Abendessen?« »Mit Ihrer freundlichen Erlaubnis«, sagte ich förmlich. »Anschließend begleite ich Penny zum Krankenhaus.« 48
Er nickte. »Sagen Sie ihr nichts von Gillians Augen. Versprechen Sie mir das.« »Ich hab's Ihnen bereits versprochen.« Dazu sagte er nichts. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging ins Haus. Ich sah ihm nach; er tat mir leid. Ob Nellie ihn nun als Helden oder Schurken registriert hatte mir tat er leid, weil er ein Mensch in tiefster Verzweiflung war.
Es war halb acht, als ich mit Penny am Krankenhaus vorfuhr. Ich wartete draußen im Wagen, und sie blieb lange weg, über eine Stunde. Ich wurde unruhig, weil ich Honnister meinen Anruf versprochen hatte. Als sie endlich zurückkam, sagte sie still: »Ich habe, was du wolltest.« Ich fragte: »Willst du es Honnister selbst sagen? Ich bin mit ihm verabredet.« Honnister stand in der Post an der Theke und brütete über seinem Bier. Als wir uns neben ihn stellten, sagte er: »Der Mann, den ich hier treffen wollte, ist schon weg. Ich bin nur noch Ihretwegen hier.« Ich stellte ihm Penny vor. »Herr Inspektor, Miß Ashton hat Ihnen etwas mitzuteilen.« Er blickte sie ernst an. »Danke, Miß Ashton. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß wir in diesem Fall unser Menschenmögliches tun, aber es ist schwierig, und wir sind für jede Unterstützung dankbar.« »Das ist mir klar«, sagte sie. »Was trinken Sie?« »Einen Scotch und …« Ich sah Penny an. »Gin-Tonic.« Honnister rief dem Mann hinter der Theke zu: »Monte, einen großen Scotch und ein Gin-Tonic!« Er warf einen Blick durch den Raum. »Am besten, wir beschlagnahmen den Tisch da drüben, bevor noch mehr Leute kommen.« 49
Ich führte Penny zu dem Tisch, und Honnister trug uns die Gläser nach. Er vergeudete keine Zeit, und noch im Hinsetzen begann er: »Nun, Miß Ashton, was haben Sie mir zu berichten?« »Gillian sagt, es war ein Mann.« »Aha«, machte Honnister zufrieden. In diesem Augenblick hatte er immerhin die Hälfte der britischen Bevölkerung außer Verdacht gesetzt. »Was für ein Mann? Jung? Alt? Alles, was Sie mir sagen können, ist wichtig.« Er führte Penny mehrere Male durch den Ablauf des Vorfalls, und jedesmal filterte er ein weiteres Goldstäubchen an Erkenntnis heraus. Der Kern der Geschichte war schließlich folgender: Gillian kam von der Kirche heim. Als sie die Zufahrt zum Haus heraufging, sah sie dort einen Wagen. Die Kühlerhaube war hochgestellt, und ein Mann stand davor und guckte sich den Motor an. Gillian vermutete eine Panne und trat näher, um ihre Hilfe anzubieten. Der Mann drehte sich nach ihr um und lächelte ihr entgegen. Als sie den Unbekannten ansprechen wollte, riß er mit der einen Hand die Kühlerhaube herab und gleichzeitig schleuderte er Gillian mit der anderen Hand die Säure ins Gesicht. Gesprochen hatte der Mann nichts; er war etwa vierzig, hatte eine blasse Hautfarbe und tiefliegende Augen. Den Wagentyp hatte Gillian nicht benennen können, aber die Wagenfarbe sei dunkel gewesen. »Kommen wir noch einmal auf einen Punkt zurück«, sagte Honnister zum wiederholten Male. »Der Mann schaute sich den Motor an und die Kühlerhaube stand offen. Hat Ihre Schwester etwas über die Hände des Mannes gesagt?« »Ich glaube nicht. Ist das wichtig?« »Vielleicht«, sagte Honnister undurchsichtig. Er machte seine Sache wirklich gut, er legte der Zeugin nicht seine eigenen Vermutungen in den Mund. Penny furchte die Stirn, starrte auf die in ihrem Glas aufsteigenden Bläschen und bewegte die Lippen, wie um ihre Gedanken zu formulieren. »Ich hab's, Herr Inspektor! Gillian sagte, sie sei auf den Mann zugegangen, der Mann habe sich nach ihr umgedreht und sie angelächelt, und dann habe er seine Hände aus den Jackentaschen gezogen.« 50
»Ausgezeichnet!« rief Honnister. »Wirklich ausgezeichnet!« »Ich verstehe nicht, wieso das wichtig ist«, sagte Penny. Honnister wandte sich an mich. »Bei manchen Wagen wird die Kühlerhaube durch eine Stange hochgehalten, die mittels eines Scharniers an der Haube selbst befestigt ist. Andere Typen besitzen eine Federhalterung. Wenn also der Mann seine Hände in den Jackentaschen hatte, dann kann die Haube nicht durch Betätigung einer Haltestange offengehalten worden sein. Schlußfolgerung: Nahm der Mann die Hände aus den Taschen, um gleichzeitig die Haube zu schließen und die Säure zu schleudern, dann muß es sich bei der Haubenöffnungsvorrichtung um einen Federmechanismus gehandelt haben. Denn der Mann hätte nicht die Zeit gehabt, erst die Stange aus ihrer Halterung zu lösen. Damit aber können wir die Anzahl der in Frage kommenden Wagentypen beträchtlich einschränken.« Honnister leerte sein Glas. »Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?« »Nein, nichts mehr, Herr Inspektor.« »Sie und Ihre Schwester haben mir sehr weitergeholfen«, sagte er und erhob sich. »Jetzt muß ich mich um einen Mann und einen Hund kümmern.« Er grinste mich an. »Im Ernst. Jemand hat einen Windhund geklaut.« Penny sagte: »Sie geben uns Bescheid, falls Sie …« »Sobald sich etwas ergibt, erfahren Sie es als erste«, versprach Honnister. »Den Schurken, der das verbrochen hat, möchte ich nur zu gern in meine Finger kriegen.« Er ging, und ich sagte: »Das ist wirklich ein guter Schutzmann.« »Ich glaube auch«, sagte Penny. »Ich hätte nie gedacht, daß es so wichtig ist, wie man eine Kühlerhaube öffnet.« Ich starrte in mein Glas. Wenn ich den Säurespritzer als erster erwischte, würde für Honnister nicht mehr viel von ihm übrigbleiben. Schließlich meinte Penny: »Ich kann dir schlecht den alten Spruch aufsagen: Ich schenk dir einen Penny, wenn du mir deine Gedanken verrätst – du könntest sonst leicht auf komische Ideen kommen. Aber wissen möchte ich's trotzdem gern.« Ich sagte es automatisch, und ich sagte es, ohne daß sich meine grau51
en Zellen rührten. Ich sagte: »Ich denke gerade, daß es eigentlich eine gute Idee wäre, wenn wir heiraten.« »Malcolm!« Ich bin sonst ganz gut im Aufspüren von Nuancen, aber in diesen zwei Silben meines Namens klang jetzt für mein Fassungsvermögen einfach zuviel auf. Da schwang Überraschung mit und Erschrecken, aber auch, wie ich fürchten mußte, Mißmut; aber auch, wie ich hoffen durfte, eine gewisse Freude – alles kunterbunt durcheinander. »Hältst du es denn nicht für eine gute Idee?« Ich sah ihr zu, wie sie nach Worten suchte. »Und sag jetzt bloß nicht: Das kommt so plötzlich!« »Aber es kommt so verdammt plötzlich! Und ausgerechnet hier!« »Das ist doch ein hübsches Lokal. Kommt es auf den Ort an?« »Natürlich nicht«, sagte sie leise. »Aber die Zeit – die Auswahl des Zeitpunkts.« »Sicher, ich hätte mir einen fröhlicheren Abend aussuchen können. Aber es ist mir einfach so rausgerutscht. Ich bin übrigens nicht der einzige, dem die Idee gefällt. Wenn's nach deinem Vater gegangen wäre, hätte ich dir gestern abend schon meinen Antrag gemacht.« »Das wird also alles hinter meinem Rücken besprochen! Ich weiß wirklich nicht, ob ich das gut finde.« »Sei vernünftig. Es entspricht der Tradition – und auch der Höflichkeit –, daß man den eventuellen Schwiegervater über seine Absichten ins Bild setzt.« »Du heiratest mir niemanden – noch nicht.« Für die Gnade der beiden letzten Worte war ich ihr ehrlich dankbar. Sie legte ihre Hand auf meine Hand. »Dummkopf – ich hab' schon geglaubt, du fragst mich nie.« »Ich hatte mir gestern alles so hübsch zurechtgelegt, Wort für Wort. Aber dann kamen diese schrecklichen Umstände dazwischen.« »Ich weiß.« Melancholie schwang nun in ihrer Stimme. »Ach, Malcolm; ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll. Ich war so unglücklich, heute, als ich Gillian mit ihren Schmerzen und ihrem Leid daliegen sah. Und dann diese furchtbare Aufgabe – Gillian auszufragen. 52
Ich begriff, es mußte sein, also tat ich es. Aber es tat so weh. Und dann Daddy – er macht nicht viel Worte, aber ich weiß, er steht eine Hölle durch, und auch um ihn muß ich mich sorgen. Und nun kommst du und willst mir noch mehr Probleme aufhalsen.« »Es tut mir leid, Penny. Ehrlich. Laß uns die Frage für die nächste Zeit ins Tiefkühlfach legen. Betrachte dich als ungefragt.« »So geht es nun auch wieder nicht«, erklärte sie. »Man kann eine einmal gestellte Frage nicht als ungefragt betrachten. In gewisser Weise geht es ja auch bei meiner Arbeit um ungefragte Fragen.« Sie schwieg. Viel wußte ich mit ihrem letzten Satz nicht anzufangen, aber ich war klug genug, den Mund zu halten. Schließlich sagte sie: »Ich werde dich heiraten, Malcolm. Wenn's nach mir ginge, morgen schon. Ich brauche keine weiße Heirat mit allem Drum und Dran. Ich will dich heiraten – aber es kann jetzt nicht sein, und ich kann dir auch nicht sagen, wann. Zuerst müssen wir über die Sache mit Gillian hinwegkommen.« Ich nahm ihre Hand. »Das reicht mir schon.« Penny schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Unsere Verlobung ist nicht wie bei anderen Leuten. Ich fürchte, nach romantischen Frivolitäten steht mir der Kopf nicht. Später vielleicht, aber jetzt nicht.« Sie drückte meine Hand. »Weißt du noch, wie ich dich bat, mit mir hier herauszukommen und Daddy kennenzulernen? Es war an dem Abend, als wir bei dir chinesisch aßen.« »Ich weiß es noch sehr gut.« »Das war ein Ablenkungsmanöver. Ich mußte mich irgendwie bremsen, um keine Dummheit zu begehen.« »Dummheit? Um Gottes willen! Was für eine denn nur?« »Nicht geradewegs in dein Schlafzimmer zu marschieren und in dein Bett zu steigen.« Sie löste ihre Hand und trank ihr Glas leer. »Und nun fährst du mich am besten ganz schnell nach Hause, damit ich es mir nicht noch anders überlege und wir anfangen, gleich hier ein sogenanntes öffentliches Ärgernis zu erregen.« Als ich mit Penny zum Wagen ging, zwitscherte mein Herz wie ein Vogel und trieb auch sonst allerhand fröhliche Scherze, die früher die Poeten zu beschreiben pflegten – was sie freilich heutzutage längst den 53
Schlagertextern überlassen haben; eine beklagenswerte Entwicklung übrigens; wenn Sie mich fragen. Ich fuhr Penny heim, stellte den Wagen vorm Tor ab, wo wir uns fünf Minuten Liebesfreud' schenkten. Penny hatte keinen Schlüssel bei sich und mußte klingeln. Ich sagte: »Wenn wir auch unsere Verlobung nicht bekanntgeben – dein Vater sollte es erfahren. Wir gehen ihm sehr im Kopf herum.« »Ich werd's ihm gleich sagen.« »Bist du morgen in London?« Sie schüttelte den Kopf. »Professor Lumsden hat mir ein paar Tage freigegeben. Er ist sehr verständnisvoll.« »Dann komm ich raus.« »Aber deine Arbeit?« Ich grinste: »Auch ich hab' einen verständnisvollen Chef.« Das Tor knirschte und öffnete sich. Wills schob die Flügel auseinander, der verschlossene, unfreundliche Typ, der mich am Nachmittag eingelassen hatte. Ich trat auf ihn zu und sagte ihm: »Begleiten Sie Miß Ashton zum Haus, sorgen Sie dafür, daß sie unbehelligt hineingelangt, und vergewissern Sie sich, daß alle Eingänge gesichert sind.« Einen Augenblick lang sah er mich schweigend an, dann lächelte er – und das war, als bräche plötzlich eine Treibeisscholle auseinander. »Zu Befehl, Sir!«
9. Kapitel
A
m nächsten Morgen war ich schon früh im Büro und hielt ein langes Zwiegespräch mit Nellie. Ich hatte mich eben an die Schreibmaschine gesetzt, als Larry hereinkam und einen Stapel Zeitungen auf seinem Schreibtisch abwarf. »Ich dachte, du machst Außendienst?« »Mach ich auch«, sagte ich. »Ich bin überhaupt nicht hier. Ich bin nur ein Streich, den deine Phantasie dir spielt.« Ich tippte meine Li54
ste fertig, trug sie zu Ogilvie und kam gleich zur Sache. »Ich hab' ja nichts dagegen, mit einer auf den Rücken gefesselten Hand in den Ring zu steigen – aber beide Hände, das ist zuviel. Ich brauche wenigstens eine Liste mit allen nicht geheimen Betätigungen und Verbindungen Ashtons.« Ogilvie lächelte und schob mir eine Akte über den Schreibtisch zu. »Das habe ich bereits vorausgeahnt.« Dafür bekam er mein Blatt. »Und das brauche ich außerdem noch alles.« Er überflog die Aufstellung. »Sechs Männer, sechs Fahrzeuge, Telefonzent.« Er brach ab. »Für was halten Sie uns? Für den CIA?« Ich schaute aufmerksam auf meine Handrücken. »Waren Sie schon mal im Außendienst tätig, Sir?« »Selbstverständlich habe ich …« Ich blickte auf und begegnete einem verlegenen Lächeln. Das Lächeln verschwand, und er sagte gereizt: »Ich weiß schon; Leute wie Sie meinen immer, wir SchreibtischBeamten hätten den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren. Und da könnten Sie sogar recht haben.« Er klopfte auf mein Blatt. »Können Sie Ihre Anforderungen rechtfertigen?« »Drei Leute, vielleicht sogar vier, müssen rund um die Uhr geheim überwacht werden. Das bedeutet …« »Wieso drei oder vier?« »Zuerst Ashton und Penny Ashton. Dann Gillian Ashton. Denn daß sie bereits einmal überfallen worden ist, stellt sie nicht unbedingt lebenslänglich vom Spielfeld. Allerdings könnte ich Honnister veranlassen, einen Ortspolizisten ins Krankenhaus abzuordnen, wenn ich ihn nett darum bitte. Das wäre dann eine Entlastung für uns.« »Und die vierte Person?« »Benson. Ich hab' den ganzen Verein durch den Computer gejagt, bis ich sie allesamt im Purpurcode verlor.« »Auch Benson?« Ogilvie überlegte. »Vielleicht hält sich der Computer nur an die Adresse. Damit fiele dann jeder, der in dem Haus lebt, automatisch in Ashtons Kategorie.« »Daran hab' ich schon gedacht, aber dem ist nicht so. Das Dienst55
mädchen Mary Cope lebt auch im Haus, und zur Kontrolle habe ich sie ebenfalls gecheckt. Aber von ihr weiß Nellie nichts. Wenn Ashton so wichtig ist, dann muß er Ihnen auch verdammt noch mal sechs Mann wert sein.« »Einverstanden. Aber zur Observierung von vier Leuten reichen sechs Mann dann doch nicht aus. Sie kriegen acht.« Der Anflug eines Lächelns zeigte sich. »Ich muß wohl weich im Hirn werden. Wäre Harrison zuständig, würde Ihnen die Liste auf vier Mann zusammengestrichen.« Ich erschrak, riß mich aber zusammen, weil ich noch Personalfragen zu diskutieren hatte. »Ich möchte auch Laurence Goodwin rekrutieren.« »Ist er denn schon einsatzbereit?« »Ja. Wenn wir ihn nicht bald einsetzen, wird er uns sauer. Ich hab' ihn die letzte Zeit im Auge behalten; er behält weit öfter recht als unrecht, und das ist in unserem Beruf ja schon ein guter Durchschnittswert.« »Meinetwegen.« Ogilvie wandte sich wieder meiner Liste zu. »Mit der Telefonüberwachung bin ich einverstanden. Falls Ashton Drohungen erhält, müssen wir Bescheid wissen. Zwar bedarf es dazu noch einer Genehmigung höheren Orts, aber ich bemühe mich um vordringliche Bearbeitung. Mit der Postüberwachung verhält es sich schwieriger, aber ich will sehen, was sich machen läßt.« Er legte den Finger auf eine Zeile. »Dieser letzte Punkt macht mir Sorgen. Sie müssen schon verdammt gute Gründe anführen, wenn Sie eine Pistole haben wollen.« »Benson trägt eine Spritze unterm Ärmel, Ashton ebenfalls. Ich finde, wenn die beiden sich für Begegnungen dieser Art wappnen, müssen auch wir entsprechende Vorkehrungen treffen.« »Sie sind also überzeugt, daß …« »Todsicher. Ich möchte auch gern wissen, ob die beiden Herren einen Waffenschein besitzen.« »Ashton vielleicht, wie die Dinge liegen«, überlegte Ogilvie. »Bei Benson weiß ich es nicht, aber das läßt sich nachprüfen.« Was Ogilvie un56
ter den Dingen und wie sie lagen, verstand, hätte ich gern auch gewußt, aber da er es mir wohl kaum verraten hätte, fragte ich ihn auch nicht. Wir klärten noch eine Reihe von Nebensächlichkeiten, dann meinte Ogilvie: »Das wär's also für heute. Trommeln Sie Ihre Jungs zusammen und weisen Sie sie ein. Lassen Sie bei der Einweisung ein Band mitlaufen, das Sie mir dann vor Ihrem Weggang persönlich aushändigen. Machen Sie's gut, Malcolm.« Und ehe ich zur Tür hinaus war, setzte er noch hinzu: »Ich genehmige Ihnen zwei Pistolen.« In meinem Büro reichte ich Larry die Liste und sagte:»Häng dich ans Telefon. Ich will die hier aufgeführten Männer in zehn Minuten im Büro sehen.« Ich schaute ihn an. »Und setz deinen Namen auch unten auf die Liste.« Sein Gesichtsausdruck war eine Etüde purer Daseinsfreude: »Du meinst …« Ich grinste. »Jawohl, ich meine. Und nun tummel dich!« Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schlug die Ashton-Akte auf. Ein schmales Bündel. Angegeben waren die Namen und Anschriften seiner Unternehmen, aber seine sonstigen Verbindungen waren dürftig – Anwälte, Buchhalter und dergleichen. Klubleben fand bei ihm nicht statt: Gesellschafts-, Sport- oder Diskussionsklubs Fehlanzeige. Ein Einsiedler-Millionär. Meine Mannschaft versammelte sich, und ich schaltete das Tonbandgerät an. Die Einweisung nahm wenig Zeit in Anspruch. Ich umriß die gestellte Aufgabe, zeigte die Arbeitsweise auf und teilte die Schichten ein. Eine Pistole wurde jeweils dem Mann zugeteilt, der Ashton observierte, die andere reservierte ich für mich. Ich sagte: »Da wir Funksprechgeräte haben, wollen wir sie auch benutzen. Bleiben Sie ständig im Funknetz und melden Sie sich häufig, so daß ununterbrochener Kontakt gewährleistet ist. Die Dienstfreien haben jederzeit telefonisch erreichbar zu sein – mit Blitzeinsätzen ist zu rechnen.« Simpson wollte wissen: »Dürfen Dienstfreie nach Hause?« Er kam eben erst aus den Flitterwochen zurück. »Nein. Wir beziehen Quartier in den Hotels von Marlow.« Ein Aufstöhnen wurde laut. »Sobald Sie sich einquartiert haben, meldet sich 57
jeder unter Angabe der Hoteltelefonnummer. Ich selbst befinde mich im Zufriedenen Angler.« Brent sagte: »Und dann verjubeln wir unser Spesenkonto.« Ich grinste und sagte: »Dafür wird uns wohl bei diesem Einsatz kaum Zeit bleiben. Ich möchte betonen, daß unsere Arbeit als äußerst wichtig angesehen wird. Beweis: Ogilvie hat aus freien Stücken das Kommando von sechs auf acht Mann verstärkt, ohne daß ich ihn drängen mußte. In Anbetracht unserer Personallage besagt das viel. Daß mir also niemand verlorengeht – und verhalten Sie sich unauffällig. Das wär's.« Ich schaltete den Recorder ab und spulte das Band zurück. Larry sagte: »Du hast mir keine Aufgabe zugeteilt.« »Du hältst dich an mich. Ich bin in einer Minute zurück – ich muß noch mal zu Ogilvie.« Als ich die Tür zu Ogilvies Vorzimmer öffnete, sagte seine Sekretärin: »Ich wollte Sie eben anrufen. Mr. Ogilvie will Sie sprechen.« »Danke.« Ich trat ins Chefzimmer und sagte: »Hier ist das Band mit der Einweisung.« Ogilvie sah mich unwirsch an: »Stimmt das, daß Sie ein Ersuchen an Honnister, von allen Berichten im Fall Ashton einen Durchschlag zu überstellen, aufgehoben haben?« Ich legte ihm die Kassette auf den Schreibtisch. »Stimmt.« »Darf man fragen, warum?« »Weil ich das für Unfug halte«, sagte ich ungeschminkt. »Und störend für die guten Beziehungen zur Ortspolizei. Harrison hat sich ohnehin schon wie die Axt im Walde aufgeführt.« »Harrison? Was hat Joe angestellt?« Ich legte Harrisons plattfüßigen Eingriff und Honnisters Reaktion dar und fügte hinzu: »Wenn wir von Honnister einen Mann fürs Krankenhaus wollen, sind wir auf seinen guten Willen angewiesen.« »Gut gedacht«, sagte Ogilvie schweratmend. »Bis auf einen Punkt. Unsere Abteilung hat nicht um die Durchschläge nachgesucht. Dieses Amtshilfeersuchen ist anderenorts gestellt worden. Und irgend jemand hat mir soeben durchs Telefon ins Ohr gebissen.« »Ach nein«, sagte ich, etwas unangemessen. »Und wer?« 58
»Müssen Sie noch fragen?« fragte Ogilvie bissig. »Der Gentleman, dessen Bekanntschaft zu machen Sie gestern die Ehre hatten, steckt seine Finger in die Sache – wozu er, wie ich anmerken muß, durchaus befugt ist.« Er rieb sich übers Kinn und vervollständigte dann erst seinen Kommentar: »Sofern er sich darauf beschränkt, Auskünfte einzuholen und nicht anfängt, eigene Aktionen in die Wege zu leiten.« Er dachte noch einen Augenblick nach, dann sagte er: »Okay, Malcolm; Sie können jetzt losziehen. Aber handeln Sie von nun an nicht voreilig; halten Sie mich ständig auf dem laufenden.« »Selbstverständlich, Sir. Und ich bitte um Nachsicht für die Sache mit Honnister, Sir.« Er winkte mich zur Tür hinaus.
10. Kapitel
E
s war immer noch eine Stunde Amtsschimmel-Dressur zu überstehen, ehe ich mit Larry nach Marlow hinausfahren konnte. Unterwegs skizzierte ich ihm das bisher Vorgefallene; er nahm aufgeregt Anteil an meiner Geschichte. »Aber das ist doch idiotisch! Ogilvie will dir tatsächlich nicht sagen, was wirklich dahintersteckt?« »Ich vermute, ihm sind die Hände gebunden«, sagte ich. »Hier handelt es sich wohl echt um den Stoff, aus dem Staatsgeheimnisse gewebt sind. Außerdem hat er einen Typ aus der Regierung wie einen Affen im Nacken sitzen.« »Meinst du Cregar?« Ich warf einen Seitenblick auf Larry. »Wer?« »Lord Cregar. Ein kurzbeiniges, pummeliges Kerlchen.« »Könnte sein. Woher hast du das? Hast du Ogilvie eine Wanze ins Büro gepflanzt?« 59
Larry grinste. »Als ich gestern aufs Klo ging, kam Cregar aus Ogilvies Büro raus. Du warst noch drin.« Ich überlegte. »Ogilvie sprach von ihm nur als Seine Lordschaft, aber ich hielt das für einen Scherz. Wieso weißt du, daß es Cregar war?« »Er hat sich vorige Woche scheiden lassen«, sagte Larry. »Eine ganze Seite im Telegraph war mit einem Foto von ihm dekoriert.« Ich nickte. Der Daily Telegraph nimmt stets starkes Interesse an den ehelichen Aufs und Abs der Oberklasse. »Weißt du sonst noch was von ihm, außer daß er nun unbeweibt ist?« »Ja«, sagte Larry. »Unbeweibt ist er auch trotz Scheidung nicht. Das ergab sich deutlich aus dem Scheidungsprozeß. Aber darüber hinaus – nichts.« Bei Marlow überquerten wir die Themse. Ich sagte: »Zuerst fahren wir ins Krankenhaus, dann zur Polizei. Dort mach ich dich mit einem braven Schutzmann bekannt.« Der Parkplatz vor dem Krankenhaus war belegt, also stellte ich den Wagen verbotenerweise auf einem Arztparkplatz ab. Ich entdeckte Jack Brent, der zur Observierung von Penny eingeteilt war – sie mußte also im Krankenhaus sein, er sprach in sein Funkgerät. Ich wollte eben zu ihm gehen, als mir jemand eine Begrüßung zurief. Honnister stand neben mir. Er schien guter Dinge zu sein, und ich stellte ihm Larry vor. Ich sagte: »Ich muß mich da gestern in ein paar Drähten verheddert haben; aber meine Leute waren das nicht, die nach den Protokollkopien gefragt haben, das Ersuchen kam von einer anderen Stelle.« »Unser Chef war heute morgen ein bißchen sauer«, lächelte Honnister. »Aber machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Mr. Jaggard. Mehr als unser Bestes können wir alle nicht tun.« »Fortschritte?« »Ich glaube, wir haben den Wagentyp ermittelt. Ein Zeuge hat Sonntag nachmittag in der Nähe der Ashtons einen Hillman Sceptre gesehen. Der Fahrer entspricht der Täterbeschreibung. Es war ein dunkelblauer Wagen, und er hat eine Kühlerhaubenhalterung mit Sprungfeder, soweit stimmt's also.« Er rieb sich die Hände. »Unsere Chancen 60
scheinen nicht schlecht zu stehen. Ich möchte diesen Mann sehr gern Miß Ashton zwecks Gegenüberstellung vorführen.« Ich schüttelte den Kopf. »Daraus wird wohl nichts. Miß Ashton ist blind.« Honnister zuckte zusammen. »Mein Gott!« rief er zornig. »Dieser Hundesohn soll mir nur in die Finger fallen!« »Bitte hinten anstellen. Die Schlange wartet bereits länger.« »Ich bin eben auf dem Weg zu Miß Gillian. Der Arzt sagt, sie wäre nun vernehmungsfähig.« »Sagen Sie ihr nicht, daß sie erblindet ist. Sie weiß es noch nicht. Und sagen Sie auch ihrer Schwester nichts davon.« Ich dachte einen Augenblick nach. »Wir haben übrigens Grund zu der Annahme, daß ein weiterer Überfall auf Miß Gillian geplant ist. Können Sie einen Mann fürs Krankenhaus abstellen?« »Bißchen viel verlangt«, sagte Honnister. »Wissen Sie, was der Haken an der ganzen Polizei ist? Zu viele Häuptlinge und zu wenig Indianer. Wenn es auf der Autobahn M 4 eine Massenkarambolage gibt, tun wir uns schwer, auch nur vier Schutzleute für die Absperrung aufzutreiben. Aber gehen Sie mal nach Slough – da können Sie nicht einmal einen Stein werfen, der nicht als Querschläger in jeder Richtung auf drei Beamte der Polizei vom Chefinspektor an aufwärts trifft.« Seine Stimme klang bitter. »Ich schau trotzdem, was sich machen läßt.« »Wenn's nicht geht, schärfen Sie wenigstens dem Krankenhauspersonal ein, daß sich kein Fremder ohne ausdrückliche Genehmigung von Ihnen, mir oder der Familie Ashton an Gillian heranmachen darf. Heizen Sie den Leuten ein.« Brent stieg aus seinem Wagen; er kam zu uns herüber und ich stellte ihm Honnister vor. »Alles klar?« »Sie ist jetzt drinnen«, sagte Brent. »Ihr Wagen steht dort drüben. Aber diese Stadt hier ist ein Inferno auf Rädern. Vorhin ist Miß Ashton zum Einkaufen gefahren, das hat mich vielleicht fertiggemacht. Nirgendwo gibt's hier Park plätze, in dreißig Minuten hab' ich mir zwei gebührenpflichtige Verwarnungen eingefangen.« »Menschenskind, so geht das aber nicht!« Ich brauchte mir bloß vorzustellen, daß Penny entführt wurde, dieweil sich unsere Leute mit ei61
nem Parksünderjäger herumstritten. Ich sagte zu Larry: »Wir werden alle unsere Wagen mit CD-Schildern ausstatten.« »Raffiniert«, sagte Honnister bewundernd. Larry grinste sich eins. »Das wird aber dem Außenministerium nicht schmecken.« »Das geht das Außenministerium gar nichts an«, bemerkte Honnister. »CD-Schilder besitzen keinerlei rechtliche Bedeutung. Einer unserer Beamten hielt einmal einen Wagen mit CD-Schild an und entdeckte am Steuer einen Burschen aus London, der ihn im wüstesten Cockneydialekt beschimpfte. Und auf die Frage nach dem CD-Schild sagte der Fahrer nur: Das bedeutet cake deliverer – Kuchenausfahrer. Und das war er auch.« Honnister hob die Schulter. »Und dagegen war nichts zu machen.« Er stieß mich an. »Kommen Sie mit rein?« »Ich komme nach.« Als Honnister außer Hörweite war, sagte Brent: »Ich wollte es Ihnen nicht sagen, solange der Polizist bei Ihnen stand – aber Ashton und Benson sind verschwunden.« »Ist Ashton nicht in seinem Betrieb?« »Nein. Und zu Hause auch nicht.« Ich dachte nach. Ashton konnte aus geschäftlichen Gründen unterwegs sein, vielleicht sogar in London. Und Benson lebte ja schließlich auch nicht als Gefangener im Haus, er mußte ja auch mal vor die Tür. Trotzdem – es gefiel mir nicht. »Wir fahren zum Haus«, sagte ich. »Komm mit, Larry.« Und zu Brent: »Sie bleiben Penny Ashton auf den Fersen. Und um Gottes willen verlieren Sie sie mir nicht.« Ich fuhr etwas schneller als erlaubt, und am Tor lehnte ich mich so lange gegen den Klingelknopf, bis Wills mit unwirschem Gesicht auftauchte. »Niemand daheim«, sagte er kurz angebunden. »Davon möchte ich mich selbst überzeugen. Lassen Sie mich rein!« Er zögerte und schloß dann widerwillig die schmiedeeisernen Flügel auf; wir fuhren bis vors Haus weiter. Larry sagte: »Ein Satansbraten.« »Aber verläßlich, würde ich meinen.« Wir stiegen aus, und ich klin62
gelte an der Haustür. Es dauerte ziemlich lange, bis das Dienstmädchen erschien, das mich überrascht ansah. »Ach, Mr. Jaggard. Miß Penny ist nicht daheim. Sie ist ins Krankenhaus gefahren.« »Ich weiß. Ist Mr. Ashton da?« »Nein, Mr. Ashton ist auch ausgefahren.« »Und Benson?« »Den hab' ich den ganzen Vormittag noch nicht gesehen.« Ich sagte: »Dürfen wir eintreten? Ich möchte gern telefonieren.« Sie machte die Haustür ganz auf. Ich trat mit Larry in die Eingangshalle und fragte: »Sie sind Mary Cope, nicht wahr?« »Ja, Sir.« »Haben Sie Mr. Ashton oder Benson heute überhaupt schon gesehen?« »Nein, Sir.« »Wann haben Sie die beiden zum letztenmal gesehen?« »Nun, gesehen eigentlich nicht«, sagte sie. »Aber ich hörte sie sprechen, gestern abend, im Arbeitszimmer. Das muß so gegen neun gewesen sein. Eigentlich vor neun Uhr, denn da bin ich auf mein Zimmer gegangen, um die Neun-UhrNachrichten zu sehen, und als ich den Apparat einschaltete, war es noch fünf Minuten zu früh.« Sie schwieg und überlegte nun wohl, oh es recht war, die Familiengeheimnisse auszuplaudern, denn schließlich gehörte ich doch noch nicht so richtig zum Haus. »Hat das was mit dem zu tun, was Miß Gillian passiert ist?« fragte sie ängstlich. »Möglicherweise.« »Mr. Ashtons Bett war unbenutzt«, ging sie nun aus sich heraus. Ich sah Larry an; der zog die Brauen hoch. »Und Bensons Bett?« »Da hab' ich nicht nachgeschaut. Benson macht sein Bett immer selbst.« »So. Darf ich jetzt telefonieren?« Ich rief im Hospital an, fragte nach Penny und erklärte, sie müsse wohl in oder nahe der Intensivstation zu finden sein. Es dauerte eine Weile, bis ich sie am Apparat hatte. »Hoffentlich mußtest du nicht lange warten«, sagte sie. »Ich war nur Tee trinken. Gillian geht es schon 63
viel besser, Malcolm. Sie spricht jetzt mit Honnister, und es macht ihr gar nichts aus.« Ich sagte: »Hast du gestern abend deinem Vater von uns erzählt?« »Nein, er war schon zu Bett gegangen.« »Hast du's ihm heute morgen gesagt?« »Auch nicht. Ich habe lange geschlafen, und als ich aufstand, war er schon weg. Mary hat ihm wohl Frühstück gemacht.« Ich sagte nichts dazu. »Wann hast du Benson zum letztenmal gesehen?« Plötzlich klang ihre Stimme wachsam. »Was ist los, Malcolm? Was geht vor?« »Hör zu, Penny. Ich bin jetzt bei euch im Haus. Komm bitte sofort, ich muß mit dir reden. Honnister hält sich sicher noch eine Weile im Krankenhaus auf, du kannst also dort sowieso nichts tun.« »Es ist irgendwas passiert, nicht wahr?« »Nicht unbedingt. Ich erklär's dir, wenn du hier bist.« »Ich komme sofort.« Sie hängte ein. Ich legte den Hörer auf die Gabel und blickte mich um. Mary Cope stand am anderen Ende der Halle und sah mich neugierig an. Ich nickte zu Larry hin und gab ihm die Wagenschlüssel. »In meinem Wagen, in dem eingebauten Spezialfach, liegt eine Akte über Ashton. Darin befindet sich eine Liste seiner Autos – Seite fünf, glaube ich. Spring damit zur Garage rüber und schau nach, was fehlt. Dann geh zu dem Mann am Tor und frag ihn, wann Ashton und Benson abgefahren sind.« Ich ging derweil in Ashtons Bibliothek. Auf dem Schreibtisch lagen zwei Briefumschläge; einer an Penny adressiert, der andere an mich. Ich nahm den für mich bestimmten Brief und brach das Siegel auf. Was darin geschrieben stand, hätte jedem anderen rätselhaft scheinen müssen; für mich waren die wenigen Sätze jedoch kristallklar: Mein lieber Malcolm, du bist viel zu intelligent, um nicht gemerkt zu haben, worauf ich in unseren letzten Gesprächen hinauswollte. Gewiß ist dir das französische Sprichwort bekannt: Celui qui a trouve un bon gendre à gagné un fils; mais celui qui en a rencontré un mauvais 64
a perdu une fille. Heirate Penny mit meinem Segen und mach sie glücklich – aber sei, um ihretwillen, ein schlechter Schwiegersohn. Herzlichst George Ashton Schwer ließ ich mich in den Sessel fallen. In meiner Magengrube breitete sich ein übles Gefühl aus, denn nun wußte ich, daß wir unseren Job vermasselt hatten. Ich griff zum Telefon und wählte Ogilvies Nummer.
11. Kapitel
I
ch beschönigte nichts. »Unsere Tauben sind ausgeflogen«, platzte ich heraus. »Was?« schrie er ungläubig. »Alle?« »Die beiden Täuberiche.« Schweigen im Draht. Dann fand Ogilvie langsam die Sprache wieder. »Mein Fehler, fürchte ich. Wenn ich Ihnen doch nur gestern schon die Leute zur Verfügung gestellt hätte. Sind Sie ganz sicher?« »Er hat mir sogar einen Abschiedsbrief hinterlassen.« Ich las ihm alles vor. Ogilvie übersetzte sich den französischen Satz: »›Wer einen guten Schwiegersohn findet, hat einen Sohn gewonnen, wer aber an einen schlechten gerät, verliert eine Tochter.‹ Was zum Teufel soll denn das bedeuten?« Ich sagte: »Wahrscheinlich mein Fehler, daß er die Fliege gemacht hat. Gestern abend lag er mir noch einmal damit in den Ohren, Penny zu heiraten, und ich gab ihm wieder einen Korb. Da er es also nicht 65
schaffte, das Mädchen aus seinem Umfeld zu entfernen, hat er sich selbst entfernt. So jedenfalls sehe ich die Lage. Und wenn Sie vor diesem Hintergrund den Brief lesen, wird das auch deutlich.« »Hmm. Welchen Eindruck machte er gestern abend?« »Eine wandelnde Katastrophe.« »Wieviel Vorsprung haben die beiden?« Ich führte mir die wenigen bekannten Details vor Augen und verglich sie mit den Uhrzeiten. »Bei Benson weiß ich es nicht, aber bei Ashton würde ich maximal fünfzehn Stunden sagen. Vielleicht erfahre ich in den nächsten Minuten mehr.« »Aber genau wissen wir nicht, ob Ashton abgehauen ist«, sagte Ogilvie sachlich. »Er kann auch entführt worden sein. Der Brief an Sie kann eine Fälschung sein. Natürlich ist die Lage so oder so ernst.« »Ich glaube nicht, daß er unfreiwillig verschwunden ist. Und der Brief ist zu präzise auf mich gemünzt. Außerdem ist das Haus viel zu gut bewacht.« »Allerdings«, Ogilvie kannte wohl die Hintergründe gut genug, um sich diese Bemerkung leisten zu können. »Wie nimmt das Mädchen die Sache auf?« »Penny weiß noch nichts. Ashton hat auch für Penny einen Brief hinterlassen, den ich allerdings nicht geöffnet habe – das muß sie selbst tun. Ich halte Sie auf dem laufenden.« »Glauben Sie, daß sie Ihnen sagt, was drinsteht?« »Ja. Es ist komisch, Sir, aber ausgerechnet gestern abend machte ich ihr einen Heiratsantrag – und sie akzeptierte. Sie wollte es Ashton sagen, als sie heimkam – aber wie sie erklärte, war er da schon zu Bett gegangen. Ich glaube allerdings, daß er da schon weg war. Hätte er noch ein paar Stunden abgewartet, hätte er sich wahrscheinlich nicht entschlossen zu verschwinden.« »Ja«, sagte Ogilvie nachdenklich. »Aber geben Sie sich nicht selbst die Schuld.« Larry kam in den Raum, während Ogilvie fortfuhr: »Haben Sie sich dem Mädchen gegenüber enttarnt?« »Nein.« 66
Ogilvie schwieg kurz. »Sie nehmen Ihre Pflichten sehr ernst, Malcolm, nicht wahr?« »Ich versuch's jedenfalls. Bleiben Sie mal am Apparat.« Ich sah Larry an. »Nun?« »Es fehlt ein Aston Martin, und Ashton ist zusammen mit Benson gestern abend gegen halb neun fortgefahren und nicht mehr zurückgekehrt.« Der Aston Martin war Pennys Auto. Ich sagte zu Ogilvie: »Wir verfügen nunmehr über eine ziemlich präzise Zeitangabe: 20.30 Uhr, gestern. Als Fahrzeug kommt ein Leihwagen in Frage.« Er brauchte lange, um das zu verdauen. »Was ist der nächste Schritt?« fragte ich. »Es gibt wohl einigen Ärger«, sagte er, nur wenig beunruhigt. »Aber damit werde ich schon fertig. Auf jeden Fall müssen Sie jetzt das Haus durchsuchen, und zwar mit einem Läusekamm allerfeinster Sorte. Halten Sie vor allem nach Hinweisen auf ein mögliches Fluchtziel Ausschau. Dinge, mit denen Sie nichts anzufangen wissen, bringen Sie zur Auswertung hierher.« »Damit«, sagte ich, »geht natürlich bei Penny die Tarnung flöten. Ich kann nicht das Haus auf den Kopf stellen, ohne ihr eine plausible Erklärung zu liefern.« »Das ist mir klar.« »Bleiben Sie am Apparat.« Ich wandte mich an Larry. »Mach dich ans Funkgerät. Ich brauche alle unsere Leute, so schnell wie's geht.« »Auch die Dienstfreien?« »Alle Mann hoch. Und geh ans Tor – damit Sie reinkönnen.« Ehe ich mein Gespräch mit Ogilvie wieder aufnahm, machte ich mir ein paar trübsinnige Blitzgedanken über die Erklärung, mit der ich Penny nun empfangen mußte. Das war schon ein peinliches Geständnis, das ich da meiner frisch anverlobten Braut zu liefern hatte, und irgendwo beschlich mich das unbestimmte Gefühl, daß unser Verhältnis von Stund an nicht mehr von gleicher Qualität sein könnte. Doch für den Augenblick verdrängte ich das. »Schalten wir die Polizei ein?« fragte ich Ogilvie. Fast konnte ich Ogilvies Gehirnwindungen beim Nachdenken knac67
ken hören. Schließlich befand er: »Nicht in diesem Stadium. Das muß ich erst mal die Treppe hochschieben – zwecks verbindlicher Klärung höheren Orts. Bei der Polizei ist die Geheimhaltung nicht gewährleistet, den Bullen gucken zu viele Reporter auf die Finger. Wie lange bleiben Sie schätzungsweise draußen?« »Schwer zu sagen. Das Haus ist groß, und allein von hier aus sehe ich schon einen Safe. Falls wir keine Schlüssel finden, müssen wir wohl besondere Maßnahmen ergreifen. Ich melde mich in einer Stunde wieder. Bis dahin fällt mir bestimmt irgendwas ein.« »Ich kann nicht eine ganze Stunde lang auf der Sache sitzenbleiben. Sollten Sie in fünfzehn Minuten Ihren Blick gen London richten, so werden Sie dort aus dem Regierungsviertel von Whitehall die Flammen himmelwärts lodern sehen. Versuchen Sie Ihr Bestes. Guten Tag.« Ich legte auf, betrachtete gedankenschwer den an Penny adressierten Brief, dann ging ich zum Safe hinüber. Das Ding besaß ein Kombinationsschloß, und die Tür öffnete sich nicht, als ich den Griff drehte. Ich ging zum Schreibtisch zurück und suchte oberflächlich die Schubladen durch, fand aber auf die Schnelle nichts Nützliches. Vor dem Haus hielt ein Wagen. Ich vermutete Penny und ging hinaus. Es war einer von meinen Männern, Peter Michaelis. Mit einem Fragezeichen im Gesicht kam er auf mich zu. »Halten Sie sich in der Nähe«, sagte ich. Michaelis hatte Larry vom Tor herauf mitgebracht – für ihn hatte ich den Auftrag, anhand der Ashton-Akte alle möglichen Anlaufpunkte Ashtons anzurufen: »Büro, Betriebe, Mitarbeiter, jede verfügbare Anschrift. Wenn Ashton irgendwo auftaucht, soll er sich unverzüglich hier melden. Es wird zwar nichts bringen, aber auslassen dürfen wir's auch nicht.« Ein Aston Martin kam die Zufahrt hoch. Nun hieß es, sich zusammenzureißen. »Nimm das Telefon in der Halle«, sagte ich zu Larry. »Die Bibliothek wird jetzt gebraucht.« Larry ging zum Haus, und Pennys Wagen bremste hart vor mir. Sie stolperte heraus, warf einen unsicheren Blick auf Michaelis und stürzte sich in meine Arme. 68
»Ich werde verfolgt!« schrie sie und zeigte auf den Wagen, der hinter ihr die Zufahrt hochkam. »Er ist mir durchs Tor gefolgt!« »Keine Angst«, sagte ich, als auch Brent anhielt. »Ich kenne den Mann.« »Was ist hier los?« fragte sie nun fordernd. »Was sind das für Männer?« Die Stimme blieb ihr weg. »Was ist mit Daddy passiert?« »Soviel ich weiß, geht es ihm gut.« Ich nahm sie beim Arm und führte sie ins Haus. »Komm bitte mit.« Als sie Larry in der Halle telefonieren sah, blieb sie stehen, beschleunigte dann aber ihren Schritt. Wir gingen in die Bibliothek, und ich nahm den Brief vom Schreibtisch. »Lies das erst mal.« Sie sah mich immer noch zweifelnd an, bis ihr Blick auf die Briefaufschrift fiel. »Das ist ja von Daddy!« Sie riß den Umschlag auf. Sie las, und tiefe Falten gruben sich in ihr Gesicht, das alle Farbe verlor. »Aber … ich verstehe das nicht … Ich …« Wortlos reichte sie mir den Brief. Sie trat ans Fenster und starrte hinaus. Ich beobachtete sie einen Augenblick, dann machte ich mich ans Lesen. Meine liebste Penny, aus Gründen, die ich Dir nicht mitteilen kann, muß ich mich für eine gewisse Zeit entfernen. Es sind keine ehrenrührigen Gründe, auch habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen, wenngleich Unterstellungen dieser Art auftauchen mögen. Alle meine Angelegenheiten befinden sich in bester Ordnung, und finanzielle Ungelegenheiten dürften Dir durch meine Abwesenheit nicht entstehen. Alle notwendigen Vorkehrungen sind getroffen worden. Benötigst Du juristischen Beistand, so wende Dich an Mr. Veasey vom Anwaltsbüro Michelmore, Veasey und Templeton. In finanziellen Angelegenheiten wird Dir Mr. Howard von Howard & Page zur Verfügung stehen. Sie alle sind mit Instruktionen für jeden Notfall versehen. Ich kann jetzt noch nicht sagen, wie lange meine Abwesenheit dauern wird. Du würdest mir einen großen Dienst erweisen, wenn 69
Du Abstand von jedem Versuch unternähmest, nach mir zu suchen. Vor allem möchte ich nicht, wenn das vermieden werden kann, daß die Polizei in die Sache hineingezogen wird. Ich versichere Dir noch einmal, daß die Gründe für meine überraschende Abreise rein persönlicher und privater Natur sind. Zustoßen kann mir nichts, denn mein alter Freund Benson wird sich um mich kümmern. Die größte Gewissensberuhigung wäre es für mich, wenn Du Malcolm heiratest, sobald sich das praktisch einrichten läßt. Ich weiß, daß Du ihn liebst und daß es sein ehrlicher Wunsch ist, Dich zu heiraten, und ich empfinde eine hohe Achtung für die Intelligenz und den Charakter des Mannes, den Du Dir ausgewählt hast. Bitte, laß die Dinge, die unserer armen Gillian zugestoßen sind, nicht Deinen Heiratsplänen im Wege stehen, und, bitte, gib die Hochzeit in der Times bekannt. Ich bin zutiefst überzeugt, daß Ihr beide sehr glücklich miteinander sein werdet, und ich bin ebenso überzeugt, daß Gillian sich bei Euch in guter Obhut befindet. Verzeih mir die Plötzlichkeit meiner Abreise, aber es geschieht nur im besten Interesse von uns allen. Es grüßt Dich Dein liebender Vater
George.
Penny stand immer noch am Fenster. »Es tut mir alles so leid, Penny«, sagte ich. »Aber ich begreife es nicht!« rief sie verzweifelt. »O Malcolm, was ist nur mit Daddy geschehen?« Sie warf sich in meine Arme; ich hielt sie fest. »Ich weiß es nicht aber wir werden es herausfinden.« Eine Weile war es ganz still; dann jedoch, als dicht hintereinander zwei Wagen vorfuhren, riß sie sich von mir los. Sie starrte auf die Männer, die sich inzwischen vor dem Fenster versammelt hatten. »Malcolm, was sind das für Leute? Hast du die Polizei gerufen? Daddy hat es doch verboten!« »Nein, ich habe der Polizei nichts mitgeteilt«, sagte ich ruhig. »Komm, 70
setz dich zu mir. Ich muß dir viel erzählen.« Sie sah mich voller Fragen und Zweifel an, zögerte, setzte sich aber dann doch in den Sessel hinterm Schreibtisch. Ich zögerte auch, weil ich nicht wußte, wo ich anfangen sollte. Aber schließlich hielt ich es für das Beste, ihr reinen Wein einzuschenken. »Ich arbeite für die Firma McCulloch und Ross, und was die Tätigkeit dieser Firma anbetrifft, habe ich auch nicht gelogen. Die Firma beschäftigt sich mit allen von mir genannten Dingen, und sogar sehr erfolgreich. Unsere Kunden sind höchst zufrieden – und mit Recht, in Anbetracht der Steuergelder, die zur Finanzierung unserer Firma ausgeworfen werden.« »Was soll das eigentlich alles?« »McCulloch und Ross ist eine Tarnfirma. Dahinter verbirgt sich eine Art geheimzuhaltender Regierungsstelle, die sich vorwiegend mit wirtschaftlichen und industriellen Fragen befaßt – sofern dieselben in Belange der Staatssicherheit hineinreichen.« »Staatssicherheit! Soll das heißen, daß du ein Geheimagent bist? Ein Spion?« Ich lachte und hob die Hände. »Aber doch kein Spion! Diese romantischen Typen mit ihren 00-Nummern und ihrer Vollmacht zum Töten haben nichts mit uns zu tun. Und wir nichts mit solchem Unfug!« »Aber du hast hinter meinem Vater hergeschnüffelt wie ein ordinärer Spion!« Zorn flammte in ihr auf. »Und ich – war ich nur ein Mittel zum Zweck? Hast du dich nur an mich rangemacht, um besser hinter ihm herspionieren zu können?« Da verlor ich mein Lächeln. Jetzt waren wir am wunden Punkt. »Um Himmels willen, nie! Bis gestern habe ich keine verdammte Ahnung gehabt, was dein Vater ist, und ich weiß auch heute nicht viel mehr. Glaub mir doch, daß ich nur durch Zufall in die ganze Sache reingeschlittert bin!« Nichts als Unglauben und Verachtung in ihrem Gesicht: »Und in was, bitte, bist du da reingeschlittert?« »Das kann ich dir nicht sagen, weil ich es selber nicht weiß.« Wie betäubt schüttelte sie den Kopf. »Diese Männer hier in der Hal71
le und diese Männer draußen – gehören sie zu deiner … Regierungsdienststelle?« »Ja.« »Dann möchte ich den Vorgesetzten sprechen.« Sie erhob sich. »Dem möchte ich meine Meinung sagen. Ich weiß, daß Daddy unter Druck stand. Und nun weiß ich auch, wer diesen Druck ausübte!« Ich sagte: »Zum ersten Punkt – du sprichst bereits mit dem Vorgesetzten. Zum zweiten Punkt – du irrst dich.« Das warf sie in den Sessel zurück. »Du bist der Chef?« »Richtig.« »Und du weißt nicht, was du tust?« Sie lachte hysterisch. »Ich weiß schon, was ich tue, aber ich weiß nicht, warum. Es gibt so etwas wie eine Hierarchie der Verantwortungsebenen, Penny – Rädchen innerhalb von Rädchen. Laß dir bitte erklären, wie ich da hineingeraten bin.« Und ich erklärte es ihr. Alles. Rückhaltlos. Ich berichtete ihr von Nellie und den Codefarben, von Ogilvie und Lord Cregar. Ich erzählte ihr verdammt viel mehr als erlaubt war. Zum Teufel mit dem Staatssicherheitsgesetz. Sie hörte sich alles bis zum letzten Wort an, und schließlich sagte sie nachdenklich: »Sehr vertrauensvoll sind deine Leute nicht, oder?« »Sie arbeiten auch nicht in der Vertrauensbranche, Penny.« Ich zündete mir eine Zigarette an. »Der Druck auf deinen Vater ging nicht von uns aus. Wir haben auch keine Säure gespritzt. Erst danach sind wir in die Sache eingestiegen. Und mein Auftrag war, deinen Vater zu bewachen und zu beschützen – deinen Vater, dich und Gillian, und falls notwendig, auch Benson.« Ich trat ans Fenster und schaute zu den Fahrzeugen hinaus. »Bis jetzt hab' ich keine besonders gute Arbeit geleistet.« »Es ist nicht deine Schuld, daß Daddy weggegangen ist.« Ihre Worte hingen schwer in der Luft, sie schien ihren Vater nun in einem ganz anderen Licht zu sehen. »Daß er weggelaufen ist.« Ich drehte mich nach ihr um. »Laste ihm nichts an, wenn du nicht weißt, was es sein könnte.« 72
Ihre Stimme war ernst: »Ich möchte nur wissen, ob er immer noch will, daß ich dich heirate – falls er wüßte, was ich jetzt weiß.« »Ich werde ihn fragen, sobald ich ihn eingeholt habe«, sagte ich grimmig. »Du willst ihn doch nicht etwa verfolgen?« Sie nahm den Brief auf. »Er schreibt …« »Ich weiß, was er schreibt. Ich weiß auch, daß er von meinen Leuten als äußerst wichtig eingestuft wird, und es ist möglich, daß er sich ahnungslos in große Gefahr begibt. Und ich habe immer noch meinen Beruf.« »Aber er will nicht, daß …« »Was er will oder nicht will, ist jetzt unwichtig«, sagte ich ungeduldig. Ich nahm ihr den Brief ab und überflog ihn noch einmal. »Er sagt, du sollst nicht nach ihm suchen. Okay, tust du auch nicht. Ich suche. Er sagt: keine Polizei. Wird gemacht: die Polizei bleibt draußen. Er schreibt: ›Zustoßen kann mir nichts, denn mein alter Freund Benson wird sich um mich kümmern.‹ Mein Gott, Penny – weißt du, wie alt Benson ist? Benson geht hart auf die fünfundsechzig zu, schätze ich. Der kann doch kaum noch auf sich selbst aufpassen, geschweige denn auf andere!« Sie fing an zu weinen. Sie schluchzte nicht und schrie auch nicht, die Tränen quollen ihr nur still aus den Augen und liefen ihr über die Wangen. Sie weinte stumm und hilflos und zitterte, als wäre ihr plötzlich sehr kalt. Ich legte meinen Arm um sie, und mit einem wilden Griff klammerte sie sich an mir fest. Das ist wohl das Schlimmste, das Menschen zustoßen kann – wenn eine warme und heile Welt plötzlich auseinanderbricht. Aus der größeren, böseren Welt draußen schien plötzlich ein eisiger Wind durch die gemütlichen, holzgetäfelten Wände in die Bibliothek zu dringen. »Ach, Malcolm, was soll ich nur tun?« Ich sagte sehr ruhig: »Du mußt tun, was du jetzt für richtig hältst. Wenn du Vertrauen zu mir hast, wirst du mir helfen, Vater zu finden. Ich würde dir nie – und könnte dir nie – einen Vorwurf machen, wenn du ablehnst. Ich war nicht offen zu dir; ich hätte dir gestern alles über mich sagen müssen«. 73
»Du hattest deine Anweisungen.« »Eine billige Ausrede«, sagte ich. »Jeder Nazi hat sich darauf berufen.« »Malcolm, mach dir nicht alles selbst noch schwerer, als es ohnehin schon ist.« Sie schob meine Arme beiseite und ging ans Fenster. »Worauf warten deine Leute?« Ich holte tief Atem. »Auf deine Entscheidung. Ich will das Haus durchsuchen lassen, aber das kann ich nur mit deiner Zustimmung.« Sie kam zum Schreibtisch zurück und las noch einmal den Brief ihres Vaters. Ich sagte: »Er hat auch mir geschrieben.« Ich zog den Brief aus der Tasche. »Lies, wenn du magst.« Sie las ihn aufmerksam, dann, als sie ihn mir zurückgab, sagte sie tonlos: »Deine Männer sollen hereinkommen.«
12. Kapitel
W
ir fanden eine Reihe überraschender Dinge im Haus, aber nichts, das uns viel nützte, wenigstens im Augenblick nicht. Im Keller entdeckten wir eine bemerkenswert gut ausgestattete Werkstatt und ein weit über Amateurniveau stehendes Chemielabor. Da stand auch ein kleiner Computer mit diversen Input- und Output-Programmierern und einem XY-Zeichengerät. Auf dem Zeichengerät stand noch eine unter Computerkontrolle gezeichnete Skizze; es schien sich um das Aufbauschema eines komplizierten Moleküls zu handeln und ergab für mich keinen Sinn, aber ich bin ja auch kein Experte. Für kompliziertere Probleme, die die Kapazität des Computers überforderten, gab es ein Modem und einen Akustischen Kuppler, so daß das kleine Kerlchen dann als Datenstation geschaltet werden konnte, das den Computer über normales Postkabel nutzte. Auf einer Werkbank in der Werkstatt befand sich ein noch im Kon74
struktionszustand befindliches Dingsbums. Soviel wurde mir immerhin klar: Was immer das Ding ausführen sollte, es würde computergesteuert vor sich gehen, denn nicht weniger als fünfzehn in einen Schaltkreis integrierte mikroelektronische Chips waren darin eingebaut, und das darf wohl als eine beachtliche Menge Computer-Power bezeichnet werden. Eingebaut waren ein Laser, eine Kathodenstrahlen-Röhre, jede Menge Labor-Glasware und noch eine Handvoll mir undurchschaubarer Trickgeräte. Ich knipste keinen Schalter und zog auch keine Hebel – sie waren samt und sonders unetikettiert –, weil meine Neugier darauf, was dann passieren könnte, nicht gar so vordringlich war. Aber ich fragte Larry: »Machen Ashtons Firmen auch in Elektronik oder Computertechnik?« »Nein, nur Chemie und Plastikformen«, meinte er. »Allerdings könnten etliche chemische Prozesse computergesteuert sein.« Ich brummte sachverständig und ließ das gesamte Kellergeschoß versiegeln. Die Eierköpfe aus unserer Dienststelle würden sich das ansehen müssen, ich hatte jedenfalls nicht die Absicht, mir hier die Finger oder edlere Teile zu verbrennen. Penny kannte die Kombination für den Safe in der Bibliothek, aber ich ahnte bereits, daß wir darin nichts finden würden, was uns weiterführen könnte, und damit behielt ich auch recht. Ein bißchen Geld lag im Safe, nicht einmal fünfzig Pfund, in Anbetracht der Ashtonschen Einkommensverhältnisse dürftig – wahrscheinlich ein Bündelchen Bares für Notfälle. Auf mehrere Kontobücher verschwendete ich einige Zeit, bis ich dahinterkam, daß sie sich auf die laufenden Kosten für Haushalt, Stall und Autos bezogen. Alles recht ordentlich. Ein Stapel Bilanzrechnungen trug den Briefkopf der Steuerberatungsfirma Howard & Page. Ein schneller Blick auf die Summen unterm Strich ergab, daß Ashton sich trotz der Konjunkturtalsohle bei bester wirtschaftlicher Gesundheit befand. Und das war dann auch schon alles. Mehr gaben indessen Ashtons private Räumlichkeiten her. Er bewohnte eine Suite, bestehend aus Schlafzimmer, Bad, Ankleideraum 75
und Wohnzimmer, auch alles peinlich sauber. Er schien einigermaßen spartanisch zu leben; von dem Firlefanz, den ein Mann so im Laufe seines Lebens um sich herum sammelt, war hier nur wenig vorhanden. Überhaupt nichts fand sich in den Anzugtaschen in den Kleiderschränken. Wer immer für Ashton den Kammerdiener spielte – Benson wahrscheinlich –, er durfte seiner Zunft als Vorbild gelten. Ein beträchtlicher Aufwand an Wändeabklopfen ließ uns dann jedoch an eine Wandverkleidung geraten, die, zur Seite geschoben – wozu freilich das Anknipsen bestimmter Lampen in allen vier Räumen notwendig war, um so eine elektronische Sperre zu lösen – eine Panzerplatten-Tür freigab. Diese Beschreibung der Sicherungsmechanik mag den Eindruck erwecken, daß wir die Entdeckung einem glücklichen Zufall verdankten. Aber mit Glück hatte das nichts zu tun. Meine Jungs waren eben Meister ihres Fachs. Leider nicht meisterlich genug, um die Panzertür auch öffnen zu können. Mit Hilfe eines Bandmaßes stellte Simpson allerhand architektonische Berechnungen an, und danach wußten wir wenigstens, daß sich hinter der Tür nicht lediglich ein Safe befand, sondern ein leibhaftiger Tresorraum. Ein Mann, der sich sein heimliches Spielzimmer mit einer solchen Tür zusperrt, würde gewiß auch noch andere Vorkehrungen treffen, dachte ich. Fußboden, Wände und Decke mußten aus Stahlbeton sein, und die ganze Schachtel dürfte selbst leer ein erkleckliches Gewicht ausüben. Da die Konstruktion sich im ersten Stock befand, mußten also auch entsprechende Stützen geschaffen worden sein. Ich merkte mir Ashtons Architekten für einen Besuch vor. Wir zeigten Penny die Geheimtür, und Penny war so überrascht wie wir alle. Sie hatte nicht einmal etwas davon geahnt. All das will nicht besagen, daß ich selbst das ganze Haus durchschnüffelte und eigenhändig jede Wand abklopfte. Ich überließ das den Jungs und überprüfte nur die Ergebnisse, wenn es welche vorzuzeigen gab. Ich überwachte die Durchsuchung der Bibliothek in Pennys Gegenwart, anschließend setzte ich mich mit Penny zusammen, denn ich nahm an, daß sie mehr über ihren Vater zu erzählen wußte als sonst jemand. 76
»Benson«, sagte ich, »wie lange hast du Benson gekannt?« Sie machte ein erstauntes Gesicht. »Aber Benson war immer schon da.« »Immer ist ein dehnbarer Begriff. Wie lange ist immer?« »Immer heißt immer, Malcolm. Ich kann mich nicht erinnern, daß Benson einmal nicht dagewesen wäre.« »So lange? Fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre?« Penny lächelte. »Viel länger. Er war schon bei Daddy, bevor ich zur Welt kam.« »Immer ist eine lange Zeit«, bestätigte ich. »Er spielt die Rolle des Familienfaktotums sehr gut, das muß ich zugeben. Aber er ist doch wohl mehr als das, nicht wahr?« Sie runzelte die Stirn. »Das läßt sich schwer einschätzen. Wenn ein Mann so lange wie Benson bei einer Familie lebt, betrachtet man ihn eher als Freund denn als Diener.« »Geht das soweit, daß dein Vater eine Flasche Whisky mit ihm köpft?« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »So geschehen am Sonntagabend. War Benson immer schon der persönliche Diener deines Vaters?« Sie rechnete nach. »1961 zogen wir in dieses Haus ein; ich war damals zwölf. Benson zog mit ein – als Vaters Diener und Mann für alles. Davor hatten wir ein Haus in Slough; nur ein kleines Haus, nicht so großartig wie dieses hier. Da arbeitete Benson in einer Fabrik meines Vaters, aber er kam oft zu Besuch, mindestens einmal die Woche.« Sie lächelte. »Benson war uns der liebste Besuch. Er brachte uns immer Süßigkeiten mit – das waren verbotene Früchte für uns, denn Daddy sah das nicht so gern. Benson schmuggelte sie uns ins Haus.« »Was machte Benson in der Fabrik?« »Ich weiß es nicht. Ich war damals noch ein kleines Mädchen.« »Wann starb deine Mutter, Penny?« »Da war ich vier.« Das muß der schwerste Schlag für Ashton gewesen sein – er mußte allein zwei kleine Töchter großziehen. Aber er hatte es gut gemacht. Er machte überhaupt alles gut. Fast alles. »Weißt du, wie dein Vater an77
gefangen hat?« fragte ich. »Ich meine, wie baute er sich sein Unternehmen auf? Hat er zum Beispiel Geld geerbt?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Von seiner Jugend hat Daddy nie viel erzählt, aber daß er nichts geerbt hat, weiß ich – er wuchs als Waise in einem Heim für Findelkinder auf. Im Krieg lernte er meinen Großvater kennen, und die beiden bauten sich zusammen eine Firma auf. Sie hatten beide damals nicht viel Geld, das hat mir Großvater noch kurz vor seinem Tod erzählt. Großvater sagte, aller Erfolg sei nur Vaters Köpfchen zu verdanken.« »Was war er in der Armee?« fragte ich nebenbei. »Nur ein einfacher Soldat.« Das allerdings war erstaunlich. Ashton mußte doch, als er bei Kriegsende entlassen wurde, sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig gewesen sein – und da sollte es ein Mann von seiner Tatkraft und seinem Charakter nicht weitergebracht haben? Ashtons Wehrakte würde einen Blick wert sein. »Trug dein Vater eine Waffe?« Sie mißverstand mich: »Er ist manchmal auf die Jagd gegangen, aber nicht oft.« »Ich dachte nicht an ein Jagdgewehr, sondern eher an einen Revolver oder eine Pistole.« »Um Gottes willen, nein! So ein Ding hat er nie besessen!« »Weißt du das genau?« »Natürlich weiß ich das genau.« »Von dem Tresorraum im ersten Stock hast du auch nichts gewußt.« Sie schwieg und biß sich auf die Lippe. »Du glaubst, er ist bewaffnet?« fragte sie schließlich. Die Antwort blieb mir erspart, denn Larry steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Kann ich dich mal sprechen, Malcolm?« Ich ging zu ihm hinaus in die Halle. Er sagte: »Gillian Ashtons Zimmer sind sauber, nichts von Belang. Ich hab' ihre Tagebücher geprüft; sie scheint das typische, stille Leben einer Tochter der oberen Mittelklasse geführt zu haben – Theater, Ballett, Oper und so weiter. Liest auch eine Menge.« 78
»Keine Affären?« »Nichts Aufregendes. Ein paar Männernamen tauchen nacheinander auf und verschwinden schließlich wieder.« Er grinste: »Keine geheimnisvollen Andeutungen hinter Anfangsbuchstaben von Namen. Nichts dergleichen.« »Und Pennys Zimmer?« Larry schoß mir einen schrägen Blick zu. »Aber ich denke …« »Ist mir egal, was du denkst«, sagte ich gelassen. »Los, an die Arbeit.« »Okay.« Er ging wieder, und ich sagte mir, daß Jung Larry doch wohl noch allerhand zu lernen hätte. Ich wollte eben wieder in die Bibliothek, als Michaelis durch die Halle kam. »Na«, sagte ich, »noch was gefunden?« »Für uns ist es nichts«, sagte er. »Aber im Dachgeschoß steht ein irres Ding – die größte Modell-Eisenbahnanlage, die ich je im Leben gesehen habe.« »Eine Spielzeug-Eisenbahn?« rief ich ungläubig. »Eine phantastische Anlage, etwas für leidenschaftliche Liebhaber«, sagte er. »Ich steh' selber auf solchen Dingern, aber so was hab' ich echt noch nie gesehen. Da sind mindestens anderthalb Kilometer HO-SpurSchienen verlegt – ein richtiges Spinnennetz. Da muß einer schon verdammt ausgefuchste Schaltpläne aufstellen, damit das alles immer seinen sanften Lauf hat.« Das hätte ich Ashton im Traum nicht zugetraut, aber da es mit den anstehenden Problemen nichts zu tun hatte, schob ich Ashtons spätpubertäre Kinderspielerei beiseite. »Wo ist Jack Brent?« fragte ich. »Er kümmert sich um die Außengebäude – die Garagen und die Stallungen.« »Sagen Sie ihm, ich möchte ihn sprechen, sobald er fertig ist.« Ich ging in die Bibliothek, und mir fiel ein, daß mal wieder ein Anruf bei Ogilvie fällig wäre. Ich hatte mich zwar pünktlich alle Stunde gemeldet, aber jedesmal war er außer Haus gewesen, und ich hatte meine Lageberichte bei Harrison hinterlassen. Ich streckte eben meine Hand nach der Wählscheibe aus, als das Telefon klingelte. 79
Es war Ogilvie. »Was haben Sie gefunden?« fragte er ohne Umschweife. »Wir sind auf einen verdammt großen Tresor gestoßen«, meldete ich. »Kein Safe, sondern ein ausgewachsener Bank-Tresorraum. Wir brauchen Experten zum Öffnen, und die brauchen wahrscheinlich eine Woche.« »Eine Woche? Sie spinnen, Verehrter. Die Experten sind in einer Stunde bei Ihnen. Was sonst?« »Ich brauche auch ein ganzes Seminar von Eierköpfen. Für die gibt's einen Keller voll wissenschaftlichen Krams zu bestaunen. Und dann schicken Sie mir freundlicherweise auch einen Computer-Fachmann.« Nun kam der gemütliche Teil: »Und sicher haben Sie auch einen Experten für Spielzeug-Eisenbahnen zur Hand.« »Was soll das denn?« bellte er. »Ashton hat eine Modelleisenbahn in seinem Dachstübchen. Gesehen hab' ich sie nicht, aber es soll ein echtes Monstrum sein.« »Das ist wohl nicht der rechte Zeitpunkt für alberne Späße«, sagte Ogilvie bissig. »Was sonst?« »Alles mögliche. Aber nichts Brauchbares.« »Halten Sie die Augen offen«, sagte er scharf. »Das gibt's doch nicht, daß ein Mann fünfzehn Jahre lang in einem Haus lebt und nichts von seiner Persönlichkeit abgefärbt hat. Es muß ein Hinweis auf sein Fluchtziel zu finden sein.« Er dachte nach. »Ich brauche Sie jetzt in der Zentrale. Betrauen Sie einen Ihrer Männer mit der Oberleitung.« »Ich schlage Gregory vor«, sagte ich. »Und sobald ich ein paar dringende Fragen geklärt habe, komme ich zurück. In etwa zwei Stunden.« Ich legte auf und meinte zu Penny: »Ende der bezahlten Freizeit, Liebling. Der Boß hat Sehnsucht nach mir.« Sie sagte: »Als du vorhin von Daddy sprachst, hast du Waffen erwähnt. Was meintest du damit?« »Er ist bewaffnet«, sagte ich. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, aber da an diesem Tag soviel Unerwartetes vorgefallen war, mochte sie meiner Behauptung nicht widersprechen. »Und du wirst ihn finden?« 80
»Wir werden ihn schon finden. Sorge macht mir nur, daß vielleicht auch andere nach ihm suchen und ihn eher finden könnten. Und das Verteufelte ist, daß wir nichts Genaues wissen.« Brent unterbrach uns. »Sie wollten mich sprechen?« Ich ging mit ihm in die Halle, und während ich mir die Jacke auszog, erkundigte ich mich, ob er noch etwas gefunden hätte. Er verneinte, und ich schnallte mir das Schulterhalfter ab und gab es ihm. »Vielleicht brauchen Sie es.« Ich wartete, bis er es sich angeschnallt hatte, dann führte ich ihn in die Bibliothek. »Penny«, sagte ich, »das ist Jack Brent, dein Schutzengel von nun an. Er bleibt dir auf den Fersen, auf Schritt und Tritt, außer wenn du aufs Klo oder ins Schlafzimmer willst – aber auch da schaut er zuvor nach dem Rechten.« Penny sah mich an, als hätte ich einen Scherz gemacht. »Meinst du das im Ernst?« »Du wirst wohl auch ein Zimmer für Jack bereitstellen müssen – er wird hier wohnen, solange du hier wohnst. Brent, machen Sie sich mit den Einbruchssicherungen im Haus vertraut, und vergewissern Sie sich, daß die verdammten Dinger funktionieren.« Er nickte. »Tut mir leid, Miß Ashton, aber ich muß tun, was man mir sagt.« »Schon wieder einer, der seine Befehle auszuführen hat«, sagte Penny spitz, auf ihren Wangen glühten rote Zornflecken auf. »Meinst du das wirklich ernst, daß dieser Mann mir auf Schritt und Tritt folgen soll?« »Falls dir deine zarte Schulmädchenhaut lieb ist.« Vielleicht ging ich etwas zu brutal vor; meine Worte trafen sie hart. Sie wurde sehr bleich. »Mein Gott, Malcolm. Was ist mein Vater?« »Ich weiß es nicht, Penny. Aber ich werde es aus Ogilvie herauswringen, und wenn es das letzte ist, was ich in diesem Job tue.« Jack Brent bedachte mich mit einem Blick, als würde das wirklich meine letzte Heldentat sein. Nun ja, den Boß in den Schwitzkasten zu nehmen, wird in keinem Unternehmen als sicherer Weg zu Aufstieg und Pension empfohlen. Ich sagte: »Ich habe noch einiges zu erledigen. Bevor ich fahre, schau ich noch mal bei dir vorbei, Penny.« 81
Ich begab mich nun in Bensons Wohntrakt, wo Gregory und Simpson bei der Arbeit waren, Benson war weit weniger bescheiden eingerichtet, als es bei einem dienstbaren Geist zu vermuten gewesen wäre; er verfügte immerhin über eine Dreizimmer-Suite, die nun von meinen beiden Männern gründlichst auf den Kopf gestellt wurde – ich hatte ihnen eingeschärft, daß ich gerade an Benson besonders interessiert wäre. »Bringt's was?« fragte ich. »Nicht viel«, brummte Gregory. »Aber schauen Sie sich das hier an.« Er zeigte auf ein Ölkännchen. »Wird eigens für die Pflege von Pistolenmechanismen empfohlen. Außerdem haben wir eine Patrone gefunden – die war unters Bett und in einen Spalt vor der Wand gerollt.« Die Patrone hatte 9-mm-Parabellum-Kaliber, sehr beliebt hei Armee und Polizei. »Daß er bewaffnet ist, wissen wir«, sagte ich. »Nun wissen wir auch, womit. Nicht, daß uns das sehr viel weiterhelfen würde. Sonst noch was?« »Bis jetzt nicht.« Ich unterrichtete Gregory über den jüngsten Stand der Dinge und übertrug ihm meine Befugnisse, dann machte ich bei den übrigen Leuten meines Teams die Runde, immer in der Hoffnung, Ogilvie doch noch etwas Handfestes mitbringen zu können. Auf dem Dachboden traf ich zwei von meinen Jungs beim unbekümmert fröhlichen Spiel mit Ashtons Modelleisenbahn an. »Herrgott!« rief ich aus. »Ihr habt wohl 'ne Macke – wir sind zum Arbeiten hier!« Michaelis grinste nur. »Sie glauben gar nicht, was das für eine anstrengende Arbeit ist! Wenn Sie das Haus gründlich durchsucht haben wollen, dann müssen wir uns auch jede Lokomotive, jeden Personen- und Güterwagen von innen anschauen. Und da gibt es nur eine Möglichkeit – wir müssen sie Zug um Zug hier zu diesem Zentralbahnhof dirigieren.« Ich sah mir das gigantische System an und mußte ihm leider recht geben. Vielleicht gibt es auf internationalen Modellbau-Ausstellungen kompliziertere Systeme zu besichtigen – aber da habe ich meine Zweifel. Ich stand vor einer Riesenanlage mit etwa zehn verschiedenen Höhenniveaus und einem Gewirr von Kreuzungen und Abzweigungen, 82
das einfach atemberaubend war. Gesteuert wurde das gesamte Netz von einem Schaltpunkt aus, das stark an das Cockpit einer Concorde erinnerte. Michaelis schien sich schon eingearbeitet zu haben – vielleicht steckte ein knospendes Genie in ihm. »Wie groß ist denn der Fuhrpark?« »Bis jetzt haben wir uns etwa dreihundert Fahrzeuge angeschaut«, sagte er, »schätzungsweise ein Viertel des rollenden Materials. Zum Glück ist eine automatische An- und Abkupplungsanlage vorhanden. Sehen Sie diese Güterwagen dort drüben?« Er zeigte auf eine Stelle etwa sieben Meter tief im Inneren des Spinnennetzes. »An die kämen wir nie ran, ohne die ganze Anlage auseinanderzubrechen. Also schicken wir eine Lokomotive hin, um die Waggons rauszuholen. Passen Sie mal auf.« Er knipste diverse Schalter an, und eine gut zwölf Zentimeter lange Lokomotive rollte in das Abstellgleis und koppelte sich mit leichtem Klicken an. Langsam, im Rückwärtsgang, setzte sich der Zug in Bewegung. Michaelis lächelte selig wie ein sattes Kind. »Nun erhebt sich das Problem – wie kriegen wir den Zug von dort nach hier?« Mein Gott, dachte ich mir, was unsereins nicht alles im Rahmen der Pflichterfüllung durchmachen muß! Ich schnaubte mißvergnügt, überließ die Herren ihrer aufreibenden Beschäftigung und machte mich auf die Suche nach Penny, um mich zu verabschieden. Jemand meinte, sie sei wohl in ihrem Schlafzimmer. Ich klopfte höflich, und sie empfing mich so wutentbrannt, wie ich sie noch nie gesehen hatte. »Herein!« zischte sie und warf die Tür krachend hinter mir ins Schloß. »Wer hat sich erlaubt, mein Zimmer zu durchsuchen?« »Nur ruhig Blut«, sagte ich. »Das ganze Haus wird durchsucht.« »Etwa auf deine Anweisung?« »Allerdings.« »Nicht zu fassen! Das hätte ich dir nicht zugetraut. Du hast schon recht, wenn du behauptest, daß Leute wie du nicht in der Vertrauensbranche tätig sind. Gestern abend fragst du mich, ob ich deine Frau werden will, und kaum vierundzwanzig Stunden später zeigst du mir 83
auch schon, wieviel Vertrauen du zu mir hast! Was für ein Mann bist du nur, daß du fremde Menschen alle meine Sachen anfassen läßt?« »Es geht doch hier nicht um Vertrauen«, sagte ich. »Ich tu meinen Job, wie ich das gelernt habe.« »Ja – buchstabengetreu!« Ihr Ton war ebenso sarkastisch wie geringschätzig. »Aber das sind nicht die Buchstaben, die ich zu lesen gewohnt bin. Und ich habe auch nicht die Absicht, mich daran zu gewöhnen.« Damit hatten wir unseren ersten Ehekrach. Die Funken sprühten so heftig, daß ich schließlich vor Wut kochend aus dem Haus stürmte und in meinen Wagen sprang. Meine aufkreischenden Reifen hinterließen allerhand Gummi auf der Ausfahrt, und ich erreichte mein Büro in Rekordzeit; ich konnte von Glück sagen, daß die Polizei mich nicht wegen Geschwindigkeitsüberschreitung anhielt. Ich war also nicht gerade bester Laune, als ich vor Ogilvie stand. Er fragte sofort: »Noch was gefunden?« Ich warf ihm die Patrone auf den Tisch. »Benson läuft mit einem Ding rum, aus dem man so was abfeuert.« »Schon gut, Malcolm«, sagte er. »Fangen wir am Anfang an.« Wir setzten uns hin, und ich erzählte ihm haargenau, was alles vorgefallen war, dann diskutierten wir, was das alles zu bedeuten haben könnte. Genauer gesagt: Ogilvie diskutierte, denn ich wußte zuwenig von Ashton, um die Spreu vom Weizen scheiden zu können. Irgendwann sagte ich: »Es ist unübersehbar, daß Ashton seine Vorkehrungen schon seit langem getroffen hat. Er hat Penny mitgeteilt, daß sein Anwalt und sein Finanzberater voll instruiert sind. Das kann er unmöglich an einem einzigen Tag erledigt haben. Ich will nicht behaupten, daß er mit einem Säureattentat gerechnet hat, aber auf Flucht war er jedenfalls vorbereitet. Irgend jemand muß ihm jetzt Feuer unterm Hintern gemacht haben.« Dazu gab Ogilvie keinen Kommentar ab. Aber er sagte: »Wie Ihnen vielleicht bekannt ist oder auch nicht –, befaßt sich ein Koordinationsausschuß mit dem Ausbügeln von Kompetenzüberschreitungen zwischen Organisationen wie der unsrigen und ähnlichen Dienststellen.« »Ich wußte es nicht, aber es scheint mir recht vernünftig.« 84
»Heute nachmittag fand eine Sondersitzung dieses Ausschusses statt, und ich mußte sehr deutlich, sehr viel und sehr schnell reden. Ich stieß auf heftige Opposition.« »Lord Cregar?« Ogilvies Brauen hoben sich. »Wie haben Sie ihn identifiziert?« »Er läßt sich so gern für Zeitungen fotografieren«, sagte ich sarkastisch. »Nun ja. Ist Ihnen die Vorgeschichte dieser Dienststelle bekannt?« »Nicht genau.« Er beugte sich vor und bildete mit seinen Fingern ein spitzes Zelt. »Wir Briten legen im Umgang mit geheimdienstlicher und Staatssicherheits-Tätigkeit ein merkwürdiges Verhalten an den Tag. Im Lauf der Jahre haben wir uns den Ruf besonderer Tüchtigkeit auf diesem Gebiet erworben – Tüchtigkeit und Feingefühl. So lautet jedenfalls die Einschätzung der amerikanischen und der russischen Konkurrenz. Eine irrige Einschätzung, natürlich. Denn was da für Feingefühl gehalten wird, rührt lediglich daher, daß bei uns die rechte Hand nur selten weiß, was die linke tut.« Er förderte ein Etui zutage und bot mir eine Zigarette an. »Die Politiker sind von einer Heidenangst vor jeder zentralisierten GeheimdienstOrganisation besessen; sie empfinden starken Widerwillen gegen monolithische Gebilde wie CIA oder KGB, weil sie beobachtet haben, was geschehen kann, wenn solche Organisationen sich zuviel Macht aneignen. Daher wird in England die Geheimdienstarbeit nach dem klassischen Prinzip von Teilen und Herrschen in mehrere, relativ kleine Gruppierungen aufgesplittert.« Er ließ sich von mir Feuer geben. »Das hat freilich auch seine Nachteile. Was ist die Folge? Dilettantismus, Rivalität zwischen Dienststellen, überlappende Tätigkeit. Es entstehen bürokratische Imperien und Privatarmeen, die Zusammenarbeit und der freie Fluß der Informationen trocknen aus – eine ganze Litanei von läßlichen Sünden. Das alles macht meinen Job so verdammt mühselig.« Er sprach mit einer Mischung von Bitterkeit und Resignation. »Ich kann es mir vorstellen«, sagte ich. 85
»Anfang der fünfziger Jahre wurden die Gefahren der Industriespionage erkennbar. Daß eine Firma der anderen die Produktionsgeheimnisse wegstiehlt, kümmerte uns dabei weniger, auch heute noch nicht, solange dabei die Belange der Staatssicherheit unberührt bleiben. Das Problem liegt indessen darin, daß unsere Freunde im Osten keine Privatfirmen haben. Somit ist jede Industriespionage aus dieser Richtung ipso facto staatlich gesteuert. Und das durften wir nicht dulden. Daher wurde in unserer unnachahmlich britischen Manier eine neue Dienststelle eingerichtet. Diese Dienststelle.« »Ich weiß, was wir treiben. Aber wie es dazu kam, wußte ich nicht.« Ogilvie zog an seiner Zigarette. »Hier stoßen wir nun auf einen entscheidenden Punkt. Um Doppelarbeit zu vermeiden, mußten andere Dienststellen einen beträchtlichen Teil ihrer Interessengebiete an uns übertragen. Einige gingen dabei ihrer Existenzgrundlage verlustig und wurden aufgelöst. Das waren freilich ohnehin nur kleine Fische. Aber diese Maßnahmen erzeugten Eifersucht und böses Blut, das in verwässerter Form immer noch im ganzen System kreist. Und so erbten wir auch das Problem Ashton.« »Von wem haben wir denn Ashton?« fragte ich. »Von der Dienststelle von Lord Cregar.« Ogilvie beugte sich vor. »Heute nachmittag hat sich der Minister auf unsere Seite gestellt. Ashton ist nach wie vor unser Bier, und wir müssen ihn finden. Da Sie nach wie vor als der eingeschleuste Mann gelten, bedeutet das: Sie müssen ihn finden. Jede notwendige Unterstützung steht Ihnen zur Verfügung.« »Einverstanden«, sagte ich. »Ich brauche die Befugnis zur Benutzung des Purpurcode.« Ogilvie schüttelte den Kopf. »Das nun gerade nicht.« Aber da brannte leider bei mir eine Sicherung durch: »Herrgott noch mal! Wie soll ich denn nach einem Mann fahnden, wenn ich nichts von ihm weiß? Draußen in Marlow ist mir soeben eine beherzigenswerte Lektion zum Thema Vertrauen erteilt worden, die mir immer noch sauer im Magen liegt, und dieser Job hat inzwischen genug Unheil in meinem Privatleben angerichtet. Also – entweder vertrauen Sie mir nun oder nicht. 86
Entweder krieg' ich den Purpurcode, oder Sie haben morgen früh Punkt neun Uhr meine Kündigung auf dem Schreibtisch.« Nun war er betrübt. »Ich mußte Sie bereits einmal auffordern, Malcolm, Ihre unverschämte Art zu unterlassen. Erstens wäre das Okay nicht in dieser kurzen Zeit zu erwirken, und selbst dann würden Sie nicht finden, was Sie suchen. Ashton läuft nämlich unter Code Schwarz. Und dafür ließe sich ein Okay allenfalls im Laufe von drei Monaten herbeiführen – wenn überhaupt.« Code Schwarz – das klang nach dem Ende des Regenbogens, und Ashton war dann wohl das Schüsselchen Gold, das nach alter Märchenweisheit dort stehen soll. Schweigen breitete sich aus. Ich brach das Schweigen schließlich mit den schicksalsschwangeren Worten: »Tja, das wär's denn wohl. Dann begebe ich mich also in mein Kontor, um die Kündigung zu tippen.« »Benehmen Sie sich nicht wie ein halbstarker Narr!« fauchte Ogilvie. Er trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch. Ich wartete. Da kam vielleicht noch etwas. »Ich habe mich zu einem Entschluß durchgerungen«, verkündete er schließlich. »Wenn es rauskommt, kostet es mich meine Stellung. Warten Sie hier.« Er stand auf und verschwand durch eine unauffällige Tür hinter seinem Schreibtisch. Ich mußte lange warten und überlegte, was ich da eigentlich angestellt hatte. Mir war klar, daß meine Karriere auf dem Spiel stand. Sei's drum – mit meinem finanziellen Hintergrund konnte ich mir das leisten. Ob ich genauso gehandelt hätte, wenn ich lediglich auf mein Gehalt angewiesen wäre, weiß ich allerdings nicht. Und Ogilvie hatte ich nun auch in irgend etwas hineingeritten, das mir vielleicht später leid tun würde. Schade, ich mochte ihn ganz gut leiden. Endlich ging die Tür wieder auf, und er sagte: »Kommen Sie mal rein.« Ich folgte ihm in einen kleinen Raum, in dem eins von den bei uns allgegenwärtigen Computer-Terminals stand. »Ich«, sagte er, »habe die Berechtigung für Code Schwarz. Die Ashton-Daten sind im Anmarsch. Bleiben Sie hier sitzen, und Sie erfahren, was Sie wissen müssen. Der Computer merkt ja nicht, wer die Knöpfe drückt.« Er sah auf die Uhr. »Ich komme in zwei Stunden zurück.« 87
Ich fühlte mich etwas gedämpft. »In Ordnung, Sir.« »Sie geben mir Ihr Wort«, sagte er. »Sie spazieren mir gefälligst nicht nach Gutdünken im Schwarzen Code herum. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie sich auf Ashton konzentrieren – und nur auf Asthon. Denn unter Code Schwarz gibt es Dinge, die Sie besser nie kennenlernen – um Ihrer eigenen Gewissensruhe willen.« Ich sagte: »Sie brauchen sich ja nur neben mich zu setzen.« Er lächelte: »Haben Sie mir nicht eben eine mittellange Rede über Vertrauen gehalten? Entweder vertraue ich Ihnen oder nicht.« »Sie haben mein Wort.« Er nickte kurz und schloß die Tür hinter sich. Ich starrte Nellie an, und Nellie starrte mich mit ihrem leuchtendgrünen Fragezeichen an, und dann blickte ich mich in dem Kämmerchen um. Links neben dem Terminal stand ein kleiner Plotter, wie ich ihn ähnlich schon in Ashtons Keller gesehen hatte, rechts daneben ein Line-Drucker. Ich ließ mich vor der Tastatur nieder und überlegte. Wenn Ashton so wichtig war, wie es den Anschein hatte, und wenn er bereits vor Einrichtung dieser Dienststelle als interessanter Fall gegolten hatte, dann mußten Nellies Eingeweide viele laufende Kilometer an Daten über diesen Mann bergen. Und daß Ogilvie mir zwei volle Stunden zugestand, bekräftigte nur diese Vermutung. Also war mein nächster Schritt klar. Ich schaltete den Ausdrucker ein und tippte: Output über Printer. Aber das war nicht in Nellies Sinn. Sie stürzte sich in einen Anfall von verbaler Diarrhoe und blitzte mir entgegen: Printer Output negativ unter Code Schwarz. Achtung: Keine schriftlichen Aufzeichnungen anfertigen unter Code Schwarz. Achtung: Keine Tonband-Aufzeichnungen anfertigen unter Code Schwarz. Achtung: Keine fotomechanischen Aufzeichnungen anfertigen unter Code Schwarz. Ich gab einen leidvollen Seufzer von mir und schaltete den Printer wieder ab. 88
Wie man mit Nellie zu jonglieren hat, habe ich bereits beschrieben, das kann ich also hier aussparen. Zu ergänzen ist jedoch, daß Nellie äußerst entgegenkommend ist: läuft sie schnell, kann man ihr eine bedächtigere Gangart vorschreiben; produziert sie Unwichtiges, läßt sie sich beschleunigen. Man kann in ihrem Datenreich auch kreuz und quer umherstreifen und somit, zum Beispiel auf vergessene oder vernachlässigte Details, noch einmal zurückschalten. Ich hatte viele Kreuz- und Quergänge zu machen, als ich mich nun in Ashtons Leben vertiefte. Es war ein sehr datenreiches Leben.
13. Kapitel
A
lexander Dimitrowitsch, 1919 in der kleinen Stadt Tesevo-Netylsky, nördlich von Nowgorod geboren, war armer, aber ehrbarer Leute Kind. Die Mutter war Volksschullehrerin, der Vater unterrichtete ältere Knaben in Mathematik und verwandten Fächern. In Rußland war Revolution, und ob die Weißen oder die Roten siegen würden, war 1919 noch nicht entschieden. Fremde Armeen – britische, französische und amerikanische, standen auf russischem Boden, und um ein Haar wäre auch der kleine Alexander den Wogen des Krieges, die das Land überfluteten, zum Opfer gefallen. Ein älterer Bruder und zwei Schwestern kamen in den Wirren des Krieges, die auch die Familie Chelyuskin beutelten, ums Leben. Auf welche Weise, ging aus den Aufzeichnungen nicht hervor. Schließlich, 1923, kam die Familie – nun nur noch Vater, Mutter und Alexander – in Aprelevka, in der Nähe von Moskau, zur Ruhe. Da Alexander ein Nachkömmling war und seine Mutter anscheinend keine Kinder mehr zur Welt brachte, wuchs er nun als Einzelkind auf. Der Vater fand wieder eine Stellung als Mathematiklehrer, und die kleine Familie durfte sich einer gewissen Existenzsicherheit erfreuen. 89
Wenn Dimitri Iwanowitsch Chelyuskin auch Mathematiker war, so brachte er dennoch keine eigenschöpferischen Arbeiten hervor. Seine Lebensrolle beschränkte sich darauf, kleinen Jungen die Anfangsgründe der Mathematik, Algebra und Geometrie beizubringen, und das tat er mit Pauken, einer sarkastischen Zunge und einer schlagfertigen Hand. Immerhin fiel ihm auf, daß er seinem kleinen Alexander nie etwas zweimal erklären mußte. Als er eines Tages auch noch feststellte, daß er gleich von vornherein auf alle Erklärungen verzichten konnte, weil der Junge nämlich nur noch unbeantwortbare Fragen stellte, da ging sogar ihm auf, daß er ein Wunderkind im Haus hatte. Damals war Alexander zehn Jahre alt. Alexander spielte auch hervorragend Schach. Er trat in den Schachklub von Aprelevka ein, wo ihm bald auch kein älteres Mitglied mehr gewachsen war. Chelyuskin sonnte sich bereits in dem Gedanken, einen zukünftigen Großmeister gezeugt zu haben, was ja in Rußland eine hohe Ehre ist. Ein gewisser Suslow, Schachklubmitglied, sah das freilich anders. Suslow überredete den Alten, einem Freund im Moskauer Erziehungsministerium zu schreiben. Briefe und Monate gingen dahin, bis Alexander schließlich nach einer Reihe für andere zermürbender, von dem Wunderkind jedoch spielend bestandener Examen im bislang unerhörten Alter von zwölf Jahren und zehn Monaten an ein Moskauer Gymnasium zugelassen wurde. Ob auch die Tatsache, daß Suslow bis zum aufsehenerregenden Auftauchen Alexanders der unbestrittene Schachmeister von Aprelevka gewesen war, etwas damit zu tun hatte, ist nicht bekannt. Suslow hinterließ jedenfalls nichts weiter Zitierenswertes für die Nachwelt, gewann jedoch, nunmehr ungefährdet, im nächsten Jahr wieder die Klubmeisterschaft. In der westlichen Welt verpönen die Linken alles Elitäre, in Rußland wird es von den Kommunisten gehätschelt. Fällt irgendwo ein helles Bürschlein auf, wird es unverzüglich in eine Spezialschule gesteckt, und seine grauen Zellen werden auf Hochleistung getrimmt. Mit dem sorglosen Kinderleben ist es für einen Eliteschüler dann allerdings vorbei; er kann nicht mehr, wie bisher, leichten Schrittes durch die Schulstunden schweben, dieweil seine minderbegabten Klassenge90
nossen schwerschuftend hinterdreinhinken. Auch Alexander Chelyuskin mußte sich einem schweißtreibenden Ausbildungsprogramm unterwerfen. Aber Alexander war begeistert. Er hatte den Kopf, der sich ins Abstruse und scheinbar Unlösbare verliebt und verbeißt; die reine Mathematik wurde sein Lebenselexier. Nun ist Mathematik in ihrer absoluten Form ein Spiel für Erwachsene und muß nicht unbedingt einen Bezug zur realen physikalischen Welt haben. Der reine Mathematiker befaßt sich mit dem Begriff der Zahl in ihrer abstraktesten Form, und für unseren Alexander waren Abstraktionen jahrelang die liebsten Kinderspiele. Eine Arbeit, die er mit sechzehn schrieb, trägt den Titel: »Beiträge zum Verhältnis zwischen Mathieuschen Funktionen und Weierstraßschen Ellipsenfunktionen.« Die Arbeit bestand aus drei Absätzen schriftlichen Textes und zehn Seiten mathematischer Formeln, und sie wurde wohlwollend aufgenommen. Die nächste Arbeit, im folgenden Jahr, lenkte das Auge des großen Peter Kapitza auf ihn und führte zur zweiten Wende in Alexanders Leben. Man schrieb 1936, und Kapitza war die strahlende Hoffnung der russischen Physik. Kapitza, in Kronstadt geboren, in Kronstadt und Petrograd, wie es damals hieß, ausgebildet, schlug 1925 einen Haken, der für einen Russen jener Zeit ungewöhnlich ist. Er ging nach Cambridge, der damals in Physik führenden Universität der Welt. Er stieg dort zum Forschungsassistenten auf – und zwar am Cavendish-Laboratorium unter Rutherford. 1929 erwarb er die Mitgliedschaft in der ›Royal Society‹, in den folgenden Jahren so ziemlich alle erreichbaren wissenschaftlichen Ehren außer dem Nobelpreis, der ihm auch nur knapp entging. 1936 kehrte Kapitza nach Rußland zurück, angeblich zu einem Studienaufenthalt, aber er verließ Rußland nie mehr wieder. Dem Vernehmen nach soll Stalin vor ihm den Eisernen Vorhang heruntergelassen haben. Das also war der Mann, der wohl den größten Einfluß auf Alexander Chelyuskin ausübte. Vielleicht lag es an Alexanders Jugend, vielleicht fühlte Kapitza sich durch Alexander an eigene geistige Wundertaten im Alter von siebzehn Jahren erinnert. Wie auch immer, er wies dem 91
jungen Alexander die Wege vom Spielplatz der abstrakten Mathematik hinaus zu den handfesten Problemen der wissenschaftlichen Welt, die der Lösung harrten – er führte ihn in die theoretische Physik ein. Physik ist eine Experimentalwissenschaft, oft sind Physiker auch gute Mechaniker und zeichnen sich durch abgebrochene Fingernägel aus, weil sie ständig irgendwelche Geräte und Versuchsanordnungen zusammenbasteln. Doch einige gibt es, sehr wenige, die nur denken. Sie sitzen da, starren in die Dimensionen von Zeit und Raum, und Tafel nebst Kreide sind ihre Lieblingsinstrumente. Dann, nach etlichen Stunden, Tagen oder auch Jahren des Nachdenkens, regen sie dann schüchtern ein Experiment an. Das Reich der theoretischen Physik ist die Gesamtheit des Universums, und es gab und gibt zu jeder Zeit nur einige wenige große Geister in dieser Disziplin. Einer hieß Alexander Chelyuskin. Unter Kapitza studierte er Magnetismus und Tieftemperatur-Physik, dann wandte er die Quantentheorie auf das frühe Forschungswerk von Kammerlingh Onnes an, leistete auch richtungsweisende Beiträge zur Phase II des flüssigen Heliums und eröffnete damit das Feld der Supraleitfähigkeit. Aber das war nur ein Teil all jener Dinge, über die Chelyuskin sich Gedanken machte. Seine Arbeit war erstaunlich weitgespannt und verschiedenartig. Die Zahl seiner Veröffentlichungen stieg. Er ließ indessen nicht immer alles drucken, was er sich ausdachte, denn er gehörte zu den Leuten, die ihre Arbeiten erst säuberlich ordnen und rundum ausfeilen, ehe sie sich damit der Öffentlichkeit stellen. Auszüge aus seinen wissenschaftlichen Forschungstagebüchern jener Zeit lassen immerhin erkennen, daß er die kosmologischen Theorien eines Fred Hoyle, die in den fünfziger und sechziger Jahren Aufsehen erregten, damals bereits vorweggedacht hatte. Andere, in seinen privaten Aufzeichnungen vorgefundene Arbeiten befaßten sich auch schon mit der Natur katalytischer Vorgänge und – in Umrissen – mit einer Anwendung dieser Gedanken auf den organischen Bereich der Enzyme. 1941 kam auch für Rußland der Krieg; das Gehirn jedoch, das sich der Staat so aufwendig herangezüchtet hatte, galt als viel zu wertvoll, 92
um es der Gefahr einer Gewehrkugel auszusetzen. Zu keiner Zeit bekam Chelyuskin Pulverdampf zu riechen und Schlachtgetümmel zu hören. Fast den ganzen Krieg saß er, denkend, weit hinten im Ural ab. Zu den vielen Dingen, über die er sich Gedanken machte, gehörten auch die Feinstrukturen von Metallen. Von der daraus resultierenden Verbesserung der russischen Panzerrüstung wurde weltweit Notiz genommen. Im März 1945 erhielt Chelyuskin den Besuch eines hohen Beamten. Es wurde ihm mitgeteilt, er habe nunmehr vorrangig der Atomstruktur einiger seltener Metalle seine Aufmerksamkeit zu schenken. Stalin war soeben von der Konferenz von Jalta zurückgekehrt, wo er von der Existenz einer Atombombe erfahren hatte. In dem unmittelbar auf das Kriegsende folgenden Zeitabschnitt befiel Chelyuskin eine wachsende Frustration – hauptsächlich, weil er auch jetzt noch gehalten war, sich der Rüstungsforschung zu widmen. Aber er hatte einfach die Nase voll davon und verlangsamte bewußt sein produktives Denken. Jedoch, ein Gehirn läßt sich nicht abschalten, und so wandte sich Chelyuskins Hirn nun Gebieten zu, die mit Physik nichts mehr zu tun hatten – der Soziologie, zum Beispiel. Mit einem Wort: Er dachte nun nicht mehr über Dinge nach, sondern über Menschen. Er betrachtete die Welt ringsum, und was er sah, gefiel ihm wenig. Es war die Zeit, da Stalin ein ausgedehntes post mortem über die im Krieg begangenen Fehler abhielt. Russen, die aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten, ließ Stalin nicht einmal die Zeit, sich zu schneuzen, ehe sie sich in Sibirien wiederfanden, und Hunderte ehemaliger Offiziere verschwanden unter mysteriösen Umständen von der Bildfläche. Chelyuskin gelangte zu der Ansicht, daß fortwährende Abführkuren für die Gesellschaft so schädlich sind wie für den Körper; er wußte auch, daß die erschreckenden Niederlagen bei Kriegsbeginn zum großen Teil auf die berühmt-berüchtigten Säuberungen im Offizierskorps von 1936 zurückzuführen waren. Und dennoch war ein Ende dieser Politik nicht abzusehen. Chelyuskin entschloß sich also, aus moralischen Gründen, die 93
Atomforschung nicht weiterzutreiben; auch war er nicht gewillt, einem Mann wie Stalin solche Waffen in die Hand zu geben. Allerdings war er auch gleichermaßen entschlossen, nicht – wie manche seiner Kollegen – in einem Zwangsarbeiterlager zu enden. Und damit stand er vor einem Dilemma. Er löste es auf eine für ihn typische Weise: wissenschaftlich simpel und sauber in der Methodik. Er tötete sich. Er brauchte drei Monate, um seinen Tod zu planen, und er ging dabei ohne Rücksicht auf Verluste vor. Er benötigte den Körper eines gleichaltrigen Mannes mit gleichartigen Körpermerkmalen. Kompliziert war dabei allerdings: Er benötigte den Körper bereits vor dessen Ableben, damit noch gewisse chirurgische und zahntechnische Veränderungen vorgenommen werden konnten; Veränderungen, denen auch noch ein gewisser Alterungsprozeß ermöglicht werden mußte, und dergleichen läßt sich nicht nachträglich manipulieren. Bei einem Besuch in Aprelevka fand er, was er brauchte. Ein gleichaltriger Jugendfreund litt an Leukämie, sein Überleben schien zweifelhaft. Chelyuskin besuchte den Freund im Krankenhaus und plauderte mit ihm, erst allgemein, dann direkter, was gefährlicher war, über Politik. Chelyuskin hatte Glück. Der Freund teilte seine Ansichten. Das ermutigte ihn zu der entscheidenden Frage: Würde er, der Freund, im Endstadium seiner Krankheit, ihm, Chelyuskin, seinen Körper schenken? Aus den Aufzeichnungen geht der Name des Freundes nicht hervor, aber ein tapferer Mann muß er gewiß gewesen sein. Chelyuskin setzte seine Beziehungen ein und bewerkstelligte die Verlegung des Kranken in ein anderes Hospital, wo er sich der Komplizenschaft eines Arztes versichert hatte. Papiere gingen verloren, Akteneintragungen wurden gefälscht, die Bürokratie hinters Licht geführt, kunstvoll eine Demonstration amtlicher Untüchtigkeit inszeniert – die schließlich damit endete, daß Chelyuskins Freund für die Umwelt verstorben war. Dann mußte sich der arme Mann – wenn auch unter chirurgischen und aseptischen Bedingungen – ein Bein brechen lassen und auch allerhand Zahnklempner-Arbeit erdulden. Die Bruchstelle im Bein 94
stimmte nun mit einem ähnlichen Knochenbruch-Bild bei Chelyuskin überein, die Zahnstruktur präzise dem Gebißbild Chelyuskins. Nachdem der Beinbruch verheilt war, brauchte Chelyuskin nur noch den Tod seines Freundes abzuwarten. Inzwischen hatte Chelyuskin durch Untergrundkanäle Kontakt zum britischen Geheimdienst aufgenommen und um politisches Asyl gebeten. Wir waren nur zu erfreut, seinen Wünschen entgegenzukommen. Und da es nicht immer ein guter Propagandagag ist, übergelaufene russische Wissenschaftler vor aller Welt wie eine Fahne zu schwenken, stand auch seinem Wunsch nach Geheimhaltung nichts im Weg. Das Notwendige wurde veranlaßt. Nun aber hatte es Chelyuskins Freund auf einmal nicht mehr so eilig mit dem Sterben. Eine Zeitlang verbesserte sich sein Gesundheitszustand sogar merklich, was meine Herren Chefs als ziemlich ärgerlich empfunden haben dürften. Ob es auch Chelyuskin beunruhigte, möchte ich bezweifeln. Chelyuskin ging wie gewohnt seiner Arbeit nach, nahm in der üblichen Weise an den Sitzungen unzähliger Komitees teil, die einen der entnervendsten Aspekte seines Lebens darstellten, und machte überhaupt tapfer weiter. Allerdings bemerkten seine Freunde nun häufiger, daß er sich offenbar in der Wodkaflasche zu ersäufen trachtete. Sieben Monate später nahm die wissenschaftliche Welt der Sowjetunion mit großer Trauer vom Ableben ihres geschätzten Kollegen und Akademiemitglieds A. D. Chelyuskin Kenntnis. Ums Leben kam Chelyuskin bei einem kurzen Erholungsurlaub in seiner Datscha, als dieselbe Feuer fing und restlos niederbrannte. Es fand eine polizeiliche Untersuchung nebst Leichenschau statt, und hinter vorgehaltener Hand erzählten die Kollegen, Chelyuskin habe betrunken im Bett geraucht, und die im Haushalt vorhandenen Wodkabestände hätten das Feuer nur noch genährt. Das war eine Story, die jedermann überzeugte. Einen Monat später schlüpfte Chelyuskin über die iranische Grenze. Drei Tage darauf befand er sich in Teheran und bereits am folgenden Tag landete er, dank freundlicher Mitwirkung des Luftwaffen-Transportkommandos, auf dem RAF-Flughafen Northolt in England. Ein 95
sorgsam ausgewähltes Empfangskomitee hieß das Genie willkommen, das sich nun im reifen Alter von achtundzwanzig Jahren befand. Er hatte noch viel vor sich. Auf höherer Ebene wunderte man sich freilich über die Jugend des berühmten Wissenschaftlers. Offenbar bedachte man zuwenig, daß abstraktes schöpferisches Denken ähnlich wie Fußball ein Spiel für junge Menschen ist, daß auch Einstein seine Relativitätstheorie bereits mit neunzehn veröffentlicht hatte. Selbst Politiker schienen sich nicht erinnern zu wollen, daß Pitt bereits mit vierundzwanzig englischer Premierminister war. Noch seltsamer, ja verwirrend, mußte Chelyuskins Haltung wirken. Er erklärte, daß er ein russischer Patriot und kein Verräter sei, und daß er nicht beabsichtige, irgendwelche Geheimnisse, atomare oder sonstige, zu enthüllen. Er habe Rußland verlassen, um nicht in der Atomwissenschaft arbeiten zu müssen, erklärte Chelyuskin; gäbe er nun sein Wissen preis, so käme das einem Verrat gleich. Gespräche über die Atomtheorie waren von Stund an tabu. Das Befremden wuchs, man übte Druck aus, erkannte aber höheren Orts doch schnell, daß dieser Mann weder zu biegen noch zu brechen war. Auf stärkeren Druck reagierte er nur um so halsstarriger. Schließlich weigerte er sich, überhaupt seine Arbeit zu diskutieren. Als letztes Mittel drohte man ihm, die Flucht bekanntzugeben, aber auch da zuckte er nur die Achseln. Und sagte: Selbstverständlich stünde es den Briten frei, so zu handeln, er freilich finde, es sei ihrer unwürdig. Höheren Orts änderte man nun die Taktik. Er wurde gefragt, was er zu tun gedenke. Wünschte er zum Beispiel ein Laboratorium zu seiner Verfügung? Doch inzwischen stand Chelyuskin den Briten und ihren Motiven schon mißtrauisch gegenüber. Meiner Meinung nach war es natürlich naiv von ihm gewesen, eine andere Behandlung zu erwarten, aber Naivität ist ja bei einem Genie verhältnismäßig normal. Chelyuskin empfand es indessen wohl auch als frustrierend, daß er es nie mit Wissenschaftlern zu tun bekam, die auf seiner Wellenlänge dachten, sondern stets nur mit den berechnenden Machtmaklern von Whitehall. Das gegenseitige Nichtverstehen war total. 96
Das angebotene Laboratorium lehnte er rundheraus ab. Chelyuskin sah deutlich die Gefahr, ein intellektuelles Gefängnis gegen ein anderes einzutauschen. Auf die Frage, was er denn nun überhaupt wolle, gab er eine bemerkenswerte Antwort: »Ich möchte wie ein ganz normaler Mensch leben. Ich möchte in das Meer des westlichen Kapitalismus hinabtauchen und mich darin verlieren.« Höheren Orts zuckte man die Achseln und gab auf. Wer kennt sich schon mit diesen komischen Ausländern aus? Und immerhin: Wenn wir schon nicht von dem Gehirn dieses Mannes profitieren – die Russen haben nun auch nichts mehr davon, und das ist schon viel wert. Man könnte ihn ja weiterhin unter Beobachtung halten; vielleicht warf er in der Zukunft doch noch eine Dividende ab … So bekam Chelyuskin schließlich doch, was er sich immer gewünscht hatte. Bei einem Verkehrsunfall in der britischen Besatzungszone Deutschlands war ein Pionier ums Leben gekommen, ein einfacher Soldat namens George Ashton, der in einem Waisenhaus aufgewachsen und siebenundzwanzig Jahre alt geworden war, unverheiratet und weder von Verwandtschaft noch Familie betrauert. Chelyuskin wurde nach Deutschland geflogen, in eine britische Soldatenuniform gesteckt und auf dem Land- und Seeweg wieder nach England gebracht, natürlich stets unter diskreter Beobachtung. Er wurde durch ein Entlassungslager geschleust, wo ihm ein Sergeant einen billigen Zivilanzug, eine kleine Summe ausstehenden Soldes und einen Händedruck verabfolgte. Er bekam auch ein Überbrückungsgeld in Höhe von zweitausend Pfund. Ehe er auf die freie Wildbahn entlassen wurde, verlangte und bekam er jedoch auch noch etwas anderes. Im Rahmen seines wissenschaftlichen Studiums hatte er als junger Mann Englisch gelernt, und das konnte er auch fließend lesen; englisch zu sprechen, hatte er jedoch nie Gelegenheit gehabt – was vielleicht ein Vorteil war, denn in dem sechsmonatigen Intensivkurs für Umgangsenglisch, durch den er jetzt gepeitscht wurde, brauchte er nun wenigstens keine schlechten Sprachgewohnheiten loszuwerden. Die Lehrer statteten ihn mit dem kulti97
vierten Akzent aus, den man in den Horne Counties spricht, in den Grafschaften rund um London, und damit versehen zog er los, um in der kapitalistischen Welt zu schwimmen oder unterzugehen. Zweitausend Pfund klingt heute nicht nach viel Geld, aber 1947 war es doch ein griffiges Häufchen. Nichtsdestoweniger sah George Ashton klar, daß er sparsam mit seinem Reichtum umgehen mußte; den größeren Teil legte er daher auf einem Konto fest, dieweil er die fremde, neue Welt erforschte. Er war nun nicht mehr der hochgeehrte Mann mit Auto und Datscha, er mußte sich einen Lebensunterhalt suchen. Stellenangebote, die schriftliche Referenzen verlangten, kamen aus Mangel an Zeugnissen und ähnlichen Papieren nicht in Frage. Eine verzwickte Situation. Er fand schließlich Arbeit als Buchhalter in der Lagerabteilung eines kleinen technischen Betriebs in Luton. Damals in der Vor-Computer-Zeit, als die Bücher noch wie in der nicht so guten alten Dickens-Welt mit der Hand geführt wurden, addierte ein guter Buchhalter die dreistelligen Zahlenreihen von Pfunden, Shillingen und Pence noch mit einem einzigen kurzen Blick. Aber gute Buchhalter waren immer schon selten, und Ashtons Chef sparte denn auch nicht mit Lob – Ashton war eben einer von jenen Eierköpfen, die allem Volksglauben zum Trotz auch das kleine Einmaleins beherrschen. Er fand seine Arbeit lächerlich leicht, wenn auch monoton, immerhin ließ sie ihm viel Zeit zum Nachdenken. Buchhalter Ashton freundete sich mit einem etwa fünfzigjährigen Werkmeister namens John Franklin an, mit dem er schließlich regelmäßig nach Feierabend ein Bier trinken ging. Eines Sonntags, zum Mittagessen bei den Franklins eingeladen, lernte er auch die Frau des Werkmeisters und deren Tochter kennen. Mary Franklin war fünfundzwanzig und, da ihr Verlobter in den letzten Kriegstagen über Dortmund abgeschossen worden war, noch unverheiratet. Während all dieser Zeit stand Ashton unter Beobachtung. Falls er es wahrnahm, ließ er sich nichts anmerken. Da für die Köpfe höheren Orts von vornherein jedermann interessant war, der mit Ashton Umgang hatte, gerieten auch die Franklins zum Durchleuchtungsobjekt. 98
Ermittelt wurde dabei freilich nichts als die Wahrheit, nämlich, daß Jack Franklin ein tüchtiger Handwerker mit Köpfchen bis in die Fingerspitzen war, seine Frau Jane ein Hausmütterchen und Mary ein stilles Mädchen, das allmählich die Tragödie ihrer ersten Liebe verkraftete. Sechs Monate nach dem ersten gemeinsamen Sonntagsbraten kündigten Ashton und Franklin bei ihrer Firma, um sich selbständig zu machen. Ashton warf 1.500 Pfund und sein Gehirn in das Unternehmen, Franklin trug fünfhundert Pfund und seine fleißigen Hände bei. Damit gründeten sie eine Produktion für Plastikwaren. Franklin baute die Spritzformen und die notwendigen, relativ simplen Maschinen dafür, Ashton kümmerte sich um die Entwürfe und den Verkauf. Das Kleinunternehmen schlug sich eine Zeitlang ohne nennenswerten Erfolg durch, bis Ashton, unzufrieden mit dem von einem großen Chemiekonzern bezogenen Basismaterial, sich hinsetzte und eine eigene Mischung entwickelte, die er sich patentieren ließ. Dann gründeten die beiden Partner eine weitere Firma, die das Zeug fabrizierte – und von da an waren sie keine armen Leute mehr. Ashton heiratete Mary Franklin, und ich möchte wetten, daß auch ein Angehöriger von dieser oder jener Regierungsstelle unauffällig an der Hochzeit teilnahm. Ein Jahr später brachte Mary ein Mädchen zur Welt, das auf den schönen, rätselhaften Namen Penelope getauft wurde, zwei Jahre später ein weiteres Mädchen, das den schon viel englischeren Namen Gillian erhielt. Nach der dritten Geburt starb Mary Ashton im Wochenbett, das Baby mit ihr. Das war 1953. Ashton führte ein unauffälliges Leben in einem kleinen Vorstadthaus in Slough. Klubs oder Unternehmerverbänden trat er nicht bei, und auch aus der Landes- wie auch der Lokalpolitik hielt er sich heraus – allerdings machte er regelmäßig von seinem Wahlrecht Gebrauch. Seine ganze Zeit widmete er dem Betrieb und der Familie; der Feierabend gehörte den beiden Töchtern, die tagsüber von einer Kinderfrau betreut wurden. Den Aufzeichnungen zufolge war Ashton ein vorbildlicher Vater. Um 1953 muß er seine alten Notizbücher zur Hand genommen und 99
wieder mit dem ganz großen Nachdenken begonnen haben. Als Chelyuskin hatte er von seinen Arbeiten über die Natur von Katalysatoren keine Zeile veröffentlicht; ich nehme an, daß er es nunmehr für an der Zeit – und für risikolos – hielt, sich diesem Gebiet zuzuwenden. Katalysatoren sind Substanzen, die chemische Reaktionen zwischen anderen Substanzen beschleunigen, oft um das Hundertfache. Katalysatoren werden in der chemischen, vornehmlich in der petrochemischen Industrie eingesetzt. Ashton machte höchst einträglichen Gebrauch von seinem Wissen. Er entwickelte eine Reihe von neuen, für Spezialzwecke notwendigen Katalysatoren. Einige produzierte und vertrieb er selbst, für andere vergab er Lizenzen. Alle wurden patentiert, und das Geld klingelte ganz hübsch in seiner Kasse. Allem Anschein nach hielt sich der seltsame Fisch aus der Fremde gut in den kapitalistischen Gewässern. 1960 kaufte er das gegenwärtig von ihm bewohnte Haus, und nach fünfzehn Monaten umfänglicher innenarchitektonischer Umbauten zog er mit seiner Familie ein. Danach ereignete sich wieder lange Zeit nichts Auffälliges, außer daß er wohl damals schon die Möglichkeiten für eine Erdölförderung in der Nordsee voraussah, 1970 einen weiteren Fabrikationsbetrieb gründete, sich weitere Entwicklungen patentieren ließ und noch reicher wurde. Außerdem wandte er sein Interesse jenen natürlichen Katalysatoren zu, die heute als Enzyme bekannt sind, und vermutlich nahmen nun die einst umrißhaften diesbezüglichen Theorien in seinen alten Notiz- und Tagebüchern deutlichere Gestalt an. Die Daten aus der Zeit nach 1962 erwiesen sich als dürftig und eher zufällig. Ich erkannte auch den Grund: Höheren Orts hatte man das Interesse an ihm verloren. Fürderhin existierte Ashton sozusagen nur noch als Merkzettel in einer Wiedervorlage-Akte mit der Bitte um jährliche Überprüfung. Erst als ich mit meiner eher versehentlichen Anfrage die Glocken zum Läuten brachte, war dort oben wieder jemand aufgewacht. Soweit das Leben George Ashtons, ehemals Alexander Dimitrowitsch Chelyuskin meines zukünftigen Schwiegervaters. 100
14. Kapitel
W
as ich hier über Ashton-Chelyuskin niedergelegt habe, ist lediglich eine Zusammenfassung der Computerdaten, angereichert durch ein paar bescheidene Vermutungen, die hier – um ein abgerundetes Bild zu liefern – als Verbindungsglieder dienen. Hätte ich den Printer benützen dürfen, wäre wohl ausreichend Material für ein Buch vom Umfang einer Familienbibel da hervorgetickert; denn für die Schilderung eines Menschenlebens in allen seinen Einzelheiten bedarf es einer Papierschlange von beträchtlicher Länge. Ich denke aber doch, die wesentlichen Tatsachen vermittelt zu haben. Als ich mich durch den ganzen Wust hindurchgearbeitet hatte, brummte mir der Kopf. Zweieinhalb Stunden lang nur auf eine Kathodenstrahlen-Mattscheibe zu starren, tut den Augen nicht gut; ich hatte auch viel geraucht, die Luft in der Computerkammer war zum Schneiden. Ich empfand es fast als Erlösung, als ich nun wieder in Ogilvies Büro trat. Ogilvie saß an seinem Schreibtisch und las in einem Buch. Er blickte hoch und lächelte. »Sie sehen aus, als brauchten Sie dringend einen Drink.« »Den könnte ich wirklich jetzt vertragen«, bestätigte ich. Ogilvie trat an einen Wandschrank und holte eine Flasche Whisky und zwei Gläser hervor, einem kleinen Einbaukühlschrank entnahm er einen Krug Eiswasser. Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Komfort. »Nun, was halten Sie von der Geschichte?« »Ashton ist ein Teufelskerl. Ich bin richtig stolz, ihn zu kennen.« »Sonst noch was?« »Eine Tatsache scheint mir so verdammt selbstverständlich, daß sie vielleicht übersehen wurde.« 101
»Das bezweifle ich«, sagte Ogilvie und reichte mir ein Glas. »Die Daten sind längst von vielen tüchtigen Leuten durchgearbeitet worden.« Ich goß mir Wasser in den Whisky und setzte mich. »Alles, was es über Ashton gibt, steckt im Computer. Richtig?« »Richtig. Alles, was uns bekannt ist.« »Eben. Ich habe mir Ashtons Arbeit einigermaßen detailliert angesehen. Alles spielt sich auf dem Gebiet der angewandten Wissenschaft ab – der Technologie, wenn Sie so wollen. Alles, was er mit diesen Katalysatoren angestellt hat, geht auf frühere, unveröffentlichte Arbeiten zurück. Grundlegend neu ist nichts. Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege.« »Sie liegen schon richtig, sofern Sie nicht vergessen, daß nur ein Mann von Ashtons Kapazitäten diese Leistungen zustande bringen konnte. Wir haben Fotokopien von Ashtons wissenschaftlichen Aufzeichnungen unseren hervorragendsten Chemikern vorgelegt, und das einhellige Urteil lautet: vom theoretischen Standpunkt ausgezeichnet – aber was soll's? Ashton wußte das alles auszuwerten und ist dadurch ein reicher Mann geworden. Aber im großen und ganzen mögen Sie recht haben: ausschließlich Weiterführung von früheren Arbeiten – selbst das spätere Interesse an Enzymen.« Ich nickte. »Nun war aber Chelyuskin ein Theoretiker. Die Frage lautet also: Hat er tatsächlich aufgehört zu theoretisieren? Und falls nicht, worüber zum Teufel hat er sich dann seine Gedanken gemacht? Ich begreife schon, warum Sie den verdammten Tresor geknackt haben wollen.« »Sie sind nicht dumm«, sagte Ogilvie. »Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Richtig – man kann einem Mann das Denken nicht abgewöhnen. Aber worüber er nachdenkt, läßt sich schwer erraten. Atomtheorie kommt jedenfalls nicht in Frage.« »Wieso nicht?« »Wir wissen, was er liest. Wir kennen die Zeitschriften, die er abonniert hat, die Bücher, die er kauft. Wir wissen, daß er sich auf keinem Gebiet der Wissenschaft Literatur besorgt. Ausnahme: die katalytische Chemie. Und kein Mensch denkt in einem Vakuum vor sich 102
hin. Die Atomtheorie hat seit Ashtons Flucht aus Rußland gewaltige Fortschritte gemacht. Wer da eigenständige Arbeit produzieren will, tut sich schwer, den Vorsprung vor der forschenden Masse zu halten. Da muß man an Seminaren teilnehmen, und so weiter. Aber das tat Ashton nicht.« Ogilvie schmeckte seinen Whisky ab. »Was hätten Sie an Ashtons Stelle getan – und mit seinem Kopf?« »Zuerst kümmere ich mich ums überleben«, sagte ich. »Dann suche ich mir eine Nische in der Welt und kümmere mich um Sicherheit. Sobald auch das erreicht ist, fange ich vielleicht wieder an zu denken – zu theoretisieren.« »Worüber? Während Sie ums Überleben kämpften, ist die wissenschaftliche Welt an Ihnen vorbeigerauscht. Sie haben den Anschluß verpaßt. Und Sie wagen auch nicht, wieder Anschluß zu bekommen. Also – worüber denken Sie nach?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich langsam. »Mit seinem Kopf würde ich vielleicht über Dinge nachdenken, die andere übersehen haben. Ein neues Gebiet.« »Tja«, meinte Ogilvie sinnend, »das wirft Fragen auf, nicht wahr?« Eine Zeitlang saßen wir schweigend da. Es war spät geworden. Am Sommerhimmel über der Stadt verdämmerte das Licht. Und ich war müde. Ich schlürfte genüßlich meinen Whisky und dachte über Ashton nach. Schließlich fragte Ogilvie: »Haben Sie denn nun in den Daten einen Hinweis entdeckt, wohin Ashton gegangen sein könnte?« »In die Augen springt mir da nichts. Ich möchte alles erst einmal überschlafen. Geben wir meinem Unterbewußtsein eine Chance.« Ich trank meinen Whisky aus. »Welche Rolle spielt Cregar eigentlich in der Geschichte?« »Es waren Cregars Leute, an die sich Ashton mit seinen Ausreiseplänen zuerst gewandt hat – Cregar flog damals selbst nach Rußland, um Ashton herauszuholen. Natürlich war Cregar damals noch jünger und auch längst nicht Lord Cregar – nur ein ehrenwerter Parlamentsabgeordneter namens James Pallton. Heute ist er Chef seiner Dienststelle.« Der Name Pallton war mir bei den Daten untergekommen, allerdings 103
hatte ich ihn nicht mit Lord Cregar identifiziert. Ich sagte: »Cregar hat die Sache von Anfang an falsch angefaßt. Er hat Ashton mit dem Zartgefühl einer FünfzigPenny-Hure behandelt. Erst Drohungen, dann Bestechungsangebote. Den Charakter Ashtons hat er nie begriffen. Da mußten sich Ashton einfach die Haare sträuben.« Ogilvie nickte. »Das spielt auch bei Cregars Ressentiments mit. Er glaubte immer, Ashton wieder für sich einfangen zu können. Deshalb war er schon damals sauer, als uns die Ashton-Akte übertragen wurde. Und deshalb will er unbedingt auch heute wieder mitmischen.« »Was ist denn bis jetzt zur Fahndung nach Ashton unternommen worden?« »Das übliche. Die Special Brunch überwacht alle See- und Flughäfen und überprüft alle Passagierlisten der letzten vierundzwanzig Stunden. Setzen Sie sich morgen deswegen mit Scotland Yard in Verbindung.« »Wird gemacht. Und ich rolle die Sache derweil vom anderen Ende her auf. Aber eins möchte ich immer noch wissen.« »Nämlich?« »Wer hat Ashton diese Angst eingejagt? Und wer hat die verdammte Säure gespritzt?«
Ich war übermüdet, aber schlafen konnte ich in dieser Nacht trotzdem nicht. Ruhelos wälzte ich mich im Bett, und Penny ging mir auch nicht aus dem Kopf. Was sie mir über ihren Vater berichtet hatte, bewies klar, daß sie von dem Ashton-Larvenstadium, als er noch Chelyuskin hieß, keine blasse Ahnung hatte. Ihre Auskünfte über Ashtons Jugend stimmten nur für den in Deutschland ums Leben gekommenen Pioniersoldaten. Was sollte nun aus mir und Penny werden? Ich hatte mich am Nachmittag verdammt wenig gefühlvoll benommen. Pennys Zimmer hatte durchsucht werden müssen, das war klar, aber ich hätte es selbst tun sollen und in ihrer Anwesenheit. Ich konnte es ihr nicht übelnehmen, 104
daß sie die Nerven verloren hatte. Wie war das einzurenken? Ich fühlte mich ziemlich mies. Es mußte für Penny wie nach einem Einbruch gewesen sein: Der Verlust von Gegenständen schmerzt die Bestohlenen weit weniger als das Eindringen Fremder in das Herz ihres Lebenskreises, in die eigenen und von der eigenen Persönlichkeit durchdrungenen vier Wände. Der Gedanke, daß fremde Hände die intimsten Geheimnisse befingert, Schubladen durchwühlt, Türen zum privatesten Lebensbereich geöffnet haben – all dies wirkt zutiefst erschütternd. Ich wußte es, und ich hätte es bei Penny, gerade bei Penny, bedenken müssen. Ich setzte mich im Bett auf, sah auf die Uhr und griff zum Telefon. Es war spät, aber ich mußte mit ihr sprechen. Mary Cope meldete sich. »Hier ist Malcolm Jaggard«, sagte ich. »Verbinden Sie mich bitte mit Miß Ashton.« »Einen Augenblick bitte, Sir«, sagte sie. Es dauerte nicht lange. »Miß Ashton ist nicht daheim, Sir.« Eine Spur Nervosität schwang in ihrer Stimme mit. Sie hatte wohl Angst, daß ich ihr nicht glaubte. Ich glaubte es ihr tatsächlich nicht. Aber da war nun mal nichts zu machen. Es war schon früh am Morgen, als ich endlich einschlief.
Fast den ganzen Vormittag verbrachte ich bei Scotland Yard mit einem höheren Kriminalbeamten. Ich hatte wenig Hoffnung, er auch nicht, aber wir taten, was die Vorschriften vorschrieben. Seine Männer mühten sich fleißig, trotzdem liefen die Berichte nur kleckerweise ein. Tausende fliegen täglich vom Flughafen Heathrow ab, und das ist nur einer von vielen Startplätzen für Auslandsreisen. »Ashton und Benson«, sagte er mißmutig und hakte einen Namen ab. »Fast so schlimm wie Smith und Robinson. Warum tragen Leute, die uns interessieren, niemals Namen wie Beckenbauer oder Springinsbett?« Sechs Bensons und vier Ashtons waren von Heathrow abgeflogen. 105
Die Hälfte der Bensons konnten wir abhaken, weil sie dem falschen Geschlecht angehörten, und die Ashtons waren eine vierköpfige Familie. Aber zwei Bensons mußten wir nachspüren: einer reiste nach Paris und der andere nach New York. Ich begab mich ans Telefon. Heathrow mag ja schön groß sein, aber es ist nur einer von zahlreichen Flugplätzen, und der normale Mensch ahnt gar nicht, wie viele es in England gibt. Und dann die Seehäfen, mit denen die Insel England überreich gesegnet ist. Ein zähledriges Stück Fleißarbeit stand uns bevor, und Aussicht hatten wir dabei nur auf neue Ungewißheiten. Philosophisch meinte der Kripomann: »Und dann besteht immer noch die Möglichkeit, daß sie unter falschem Namen reisen. Einen falschen Paß beschafft sich jeder leicht.« »Vielleicht sind sie auch gar nicht ausgereist«, gab ich zu bedenken. »Sagen Sie Ihren Jungs, sie sollen die Augen offenhalten.« Ich aß in der Yard-Kantine zu Mittag und fuhr dann, einen Nachmittag voller Plackerei vor Augen, wieder ins Büro. Um drei rief Ogilvie an. »Der Tresor wird in Kürze geöffnet. Ich möchte, daß Sie dabei sind.« Da die Fahrt nach Marlow immer noch wesentlich kurzweiliger war als das Studium von Passagierlisten, sagte ich gerne zu. »Ich habe Ihnen dazu folgende Anweisung zu erteilen«, fuhr Ogilvie fort, »die ich peinlich genau befolgt wissen möchte. Bei der Öffnung der Tür werden nur Sie anwesend sein und der Leiter der SafeknackerMannschaft. Niemand sonst. Verstanden?« »Verstanden.« »Anschließend weisen Sie den Mann aus dem Raum. Sie untersuchen den Inhalt allein. Sollten Sie transportfähiges Material vorfinden, so bringen Sie es unter Bewachung hierher. Andernfalls verschließen Sie die Tür, wobei Sie freundlichst dafür Sorge tragen, daß sie sich für uns wieder ohne große Mühe öffnen läßt.« »Wie lange sind Sie im Büro erreichbar?« »Die ganze Nacht, falls nötig.« Damit hängte er ein. So oft wie ich nun schon nach Marlow und zum Ashton-Haus gefahren war, mußte ich eigentlich schon meine eigenen Spurrillen auf 106
der Landstraße haben. Simpson schob Torwache und ließ mich ein. Ich fuhr zum Haus hinauf; in der Vorhalle traf ich auf Gregory. »Was Brauchbares gefunden?« Er zuckte die Achseln. »Nicht die Bohne.« Penny sei im Krankenhaus, erfuhr ich von ihm, mitsamt ihrem Schatten Jack Brent. Ich ging in Ashtons Räume hinauf und fand dort die Safeknacker bei der Arbeit. Wo die Dienststelle ihre Experten unterbringt, wenn sie nicht gebraucht werden, weiß ich nicht, aber bei Bedarf sind sie immer prompt zur Stelle. Den Obersafeknacker hatte ich schon früher einmal unter dem Namen Frank Lillywhite kennengelernt. »Tag, Frank«, sagte ich, »wie lange brauchst du noch?« »Eine Stunde«, brummte er. »Oder zwei.« Er machte irgend etwas Kompliziertes mit dem Werkzeug, das er in der Hand hielt. »Oder drei.« »Oder vier«, grinste ich. »Macht der Kasten Schwierigkeiten?« »Schwierig sind die Dinger immer. Das ist ein VierundzwanzigStunden-Safe, kann ich dir nur sagen.« Ich war neugierig. »Was meinst du damit?« Lillywhite genehmigte sich eine Pause, und ein Untergebener machte sich ans Werk. »Die Hersteller von Safes und Tresoren«, dozierte Frank, »verkaufen weniger Sicherheit als vielmehr Zeit. Knacken kannst du jedes Safe, der Hersteller gibt dir nur eine Garantie über die Zeit, die man normalerweise zum Knacken braucht. Dieser Otto hält sich schätzungsweise vierundzwanzig Stunden – ich schaff's mit Glück vielleicht in zwanzig. Das schwierige ist, daß wir die Sicherheitsfallen austricksen müssen.« »Was für Sicherheitsfallen?« »Ein falscher Handgriff, und zwölf große Stangen aus Wolframstahl schießen um die Tür hervor. Dann kann nur noch der verdammte Hersteller selbst den Otto knacken.« »Warum holen wir dann nicht gleich den Hersteller?« Lillywhite seufzte, erklärte es mir aber geduldig. »Dann müßten wir den ganzen Tresor rausreißen und zur Fabrik transportieren. Dort steht ein Büchsenöffner, der verdammte tausend Tonnen stark ist. Natürlich wäre der Tresor danach nicht mehr zu gebrauchen.« 107
Ich stellte mir die schreckenerregende Notwendigkeit vor, den ganzen Tresor herauszubrechen. »Von dem Haus wäre dann wohl nicht mehr viel zu gebrauchen. Aber ich frag' lieber nichts mehr. Mach die Tür nicht ohne mich auf.« »Meldung erhalten und verstanden.« Im Keller traf ich auf zwei gebildet aussehende Herren, die Ashtons Computerbasteleien bestaunten. Die beiden führten ein angeregtes Gespräch – falls man den Austausch von Formelsätzen auf Technokratenchinesisch so nennen kann –, von dem ich kein Wort verstand. Ich stand eine Zeitlang dumm herum, wurde aber auch dadurch nicht klüger. Ein dritter Mann packte Bandkassetten in einen Karton, offenbar, um sie abzutransportieren. »Was haben Sie da?« fragte ich. Er zeigte auf den kleinen Computer. »Programm- und Datenbänder für dieses Ding da. Wir holen sie zur Analyse ins Labor.« »Ich hoffe, Sie fertigen vorher eine Liste an. Sie müssen Miß Ashton eine Quittung darüber ausstellen.« Er sah mich groß an, und ich sagte scharf: »Hören Sie mal, wir sind keine Diebe und keine Einbrecher. Wir arbeiten hier überhaupt nur dank der freundlichen Genehmigung von Miß Ashton.« Als ich den Keller verließ, hob er die Kassetten wieder aus der Schachtel und stapelte sie auf den Tisch. Anderthalb Stunden später holte Gregory mich aus Ashtons Bibliothek. »Der Tresor wird in fünfzehn Minuten geöffnet.« »Na, dann gehen wir mal nach oben«, sagte ich. Und dann stand ich in der Halle auch schon vor Lord Cregar. Er hatte sich einen Mann von Schwergewichtsboxer-Statur mitgebracht. Cregar strahlte energisch und bitter, doch seine Heiterkeit, wenn auch nicht seine Energie, verflüchtigte sich augenblicklich, als er mich sah. »Ach, Mr. Jaggard!« sagte er. »Die Sache ist ja ganz schön verpatzt worden.« Ich zuckte die Achseln. »Es ist alles viel schneller gelaufen, als wir dachten.« »Zweifelsohne. Wie ich höre, soll heute nachmittag hier ein Tresor geöffnet werden. Ist es schon soweit?« Ich staunte, woher er seine Informationen bezog. »Nein«, sagte ich. »Gut. Dann bin ich noch rechtzeitig gekommen.« 108
Ich sagte: »Ist das dahingehend zu verstehen, daß Sie bei der Öffnung zugegen sein wollen?« »Allerdings.« »Bedaure«, sagte ich. »Aber das muß ich mir erst durch den Kopf gehen lassen.« Er sah mich bedächtig an. »Wissen Sie, wer ich bin?« »Allerdings, Mylord.« »Also gut«, sagte er. »Dann tätigen Sie mal fix Ihren Telefonanruf.« Ich nickte Gregory zu und verzog mich mit ihm wieder in die Bibliothek. »Da brauch ich gar nicht erst anzurufen. Ogilvies Anweisung ist eindeutig – und von Cregar hat er dabei nichts gesagt.« »Den langen Lulatsch bei Cregar kenn ich«, sagte Gregory. »Er heißt Martin. Mit dem ist schlecht Kirschen essen. Vielleicht fragst du doch erst bei Ogilvie nach.« »Nein. Er hat erklärt, was ich zu tun habe, und das mach ich auch.« »Und wenn Cregar es sich nicht gefallen läßt? Eine Prügelei mit einem Parlamentsabgeordneten dürfte ein übles Nachspiel haben.« Ich lächelte. »Dazu wird es wohl nicht kommen. Also bringen wir Seiner Lordschaft schonend die schlechte Nachricht bei.« Wir gingen wieder in die Halle, aber Cregar und Martin waren schon verschwunden. »Die sind schon oben«, sagte Gregory. »Komm mit!« rief ich. Wir rannten die Treppen hoch und fanden die beiden in Ashtons Wohnzimmer. Cregar trat bereits ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Mylord«, erklärte ich förmlich, »ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, daß für Ihre Gegenwart bei der Öffnung des Tresors keine Genehmigung vorliegt.« Cregar sprangen fast die Augen aus dem Kopf. »Hat Ogilvie das gesagt?« »Ich habe nicht mit Ogilvie gesprochen. Ich folge meinen Anweisungen.« »Da nehmen Sie allerhand auf sich«, befand er. Ich drehte mich nach Lillywhite um. »Wie lange brauchst du noch, Frank?« »Zehn Minuten.« 109
»Arbeit einstellen. Und fangt erst wieder an, wenn ich grünes Licht gebe.« Ich wandte mich wieder an Cregar. »Falls Sie selbst mit Mr. Ogilvie zu sprechen wünschen, steht Ihnen das Telefon hier oder unten in der Bibliothek zur Verfügung.« Nun lächelte Cregar tatsächlich. »Sie scheinen also zu wissen, wann man die Verantwortung weiterreichen muß. Recht so. Es ist gewiß vorteilhafter, wenn ich selbst mit Ogilvie spreche. Ich werde mich des Telefons in der Bibliothek bedienen.« »Zeigen Sie Seiner Lordschaft, wo es steht«, sagte ich zu Gregory, und die drei gingen. Lillywhite sagte: »Was soll der Quatsch?« »Kleiner Kompetenzkrach«, sagte ich. »Mit kleinen Leuten wie unsereins hat das nichts zu tun. Du kannst weitermachen, Frank. Der Tresor muß auf jeden Fall geöffnet werden.« Er machte sich wieder an die Arbeit, und ich schlenderte ans Fenster und sah zur Auffahrt hinunter. Nach einer Weile kamen Cregar und Martin aus dem Haus, setzten sich in einen Wagen und fuhren davon. Und da stand auch schon Gregory neben mir: »Cregar war ziemlich sauer, als er aus der Bibliothek kam«, meinte er. »Ogilvie will Sie sprechen.« Ich hob den Hörer von dem Apparat neben Ashtons Bett auf. »Hier ist Jaggard.« Ogilvie sprach schnell: »Cregar darf unter gar keinen Umständen erfahren, was in dem Tresor steckt. Lassen Sie sich auch nicht überfahren, wenn er Ihnen gegenüber seine Stellung ausspielen will. Die Sache geht ihn nichts an.« »Keine Sorge«, sagte ich. »Er ist schon weg.« »Gut. Wann macht ihr auf?« »Noch fünf Minuten.« »Halten Sie mich auf dem laufenden.« Und damit hängte er ein. Gregory hielt mir eine Packung Zigaretten hin, und wir rauchten, dieweil Lillywhite und seine beiden Assistenten zum letzten Sturm auf die Stahltür ansetzten. Schließlich war ein scharfes Klicken zu hören, und Lillywhite sagte: »Na bitte.« 110
Ich erhob mich. »Also, meine Herren. Alles verläßt den Raum bis auf Frank.« Ich wartete ab, bis alle draußen waren, dann ging ich an den Tresor. »Nun mach mal schön.« »Okay.« Frank legte seine Hand auf einen Hebel, den er herabzog. Nichts geschah. »Da haben wir's.« »Du meinst, das Ding ist jetzt offen?« »Na klar. Schau mal.« Er zog, und die Tür öffnete sich schwerfällig. Sie war fast dreißig Zentimeter dick. »Stopp«, sagte ich hastig. »Die Tür kann nun also leicht geschlossen und auch wieder geöffnet werden?« »Sicher. Jetzt ist nichts mehr dabei.« »Mehr will ich nicht wissen. Tut mir leid, Frank, aber ich muß jetzt auch dich hinausbitten.« Er lächelte schief. »Wenn nicht einmal ein Parlaments-Lord sehen darf, was drin ist, dann ist es auch bestimmt nichts für Frank Lillywhite.« Er ging und schloß dramatisch die Zimmertür. Ich öffnete den Tresor.
15. Kapitel
O
gilvie schnappte nach Luft. »Leer!« »Leer wie das Loch der berühmten Kirchenmäuse«, sagte ich. »Abgesehen von einer feinen Staubschicht auf dem Boden.« »Und Sie haben auch etwaige Schubladen oder Geheimfächer untersucht?« »Es gibt weder Laden noch Fächer. Das Ding ist einfach ein hohler Würfel. Ich bin nicht einmal hineingestiegen. Ich hab' nur meinen Kopf reingesteckt und mich umgeschaut. Dann machte ich die Tür zu und ließ sie wieder abschließen. Ich hielt es für geraten, alles so zu las111
sen, wie ich es vorfand – falls Sie noch eine Untersuchung durch Gerichtsspezialisten durchführen lassen wollen. Aber ich wette, daß das Ding seit fünfzehn Jahren – seit es eingebaut wurde – nie benützt wurde.« »Also, Menschenskind, wissen Sie …« Ogilvie suchte nach Worten. Aber er dachte heftig nach. Ich trat ans Fenster und sah auf die leere Straße hinunter. Es war schon spät, und der Strom der melonenbehüteten Herren längst aus der Londoner City abgeflossen. Kein anderes Stadtviertel auf der Welt sieht wohl um diese Stunde so leer aus. Ogilvie dachte laut vor sich hin. »Und davon wissen nur Sie, der Leiter der Schlosserabteilung und nun auch ich.« Ich drehte mich um. »Nicht einmal Ihr Oberschränker weiß es. Ich schickte Lillywhite aus dem Zimmer, ehe ich den Tresor öffnete.« »Also nur Sie und ich. Verdammt.« Er fluchte so explosiv, daß ich mich erkundigte: »Was ist denn los'?« »Ein Rohrkrepierer! Cregar glaubt mir doch kein Wort, wenn ich ihm die Wahrheit über diesen verdammten Tresor sage. Nun wünsch ich mir doch, er wär dabeigewesen.« Mir war's egal, was Cregar glaubte oder nicht glaubte. Ich zog einen Zettel aus meiner Brieftasche, entfaltete ihn und legte ihn Ogilvie auf den Schreibtisch. »Hier ist die neue Kombination, wenn Sie mal wieder den Tresor öffnen wollen. Lillywhite hat das Schloß neu eingestellt.« »Ist dies das einzige Exemplar?« »Lillywhite dürfte es 'sich auch aufgeschrieben haben.« Ogilvie wackelte mit dem Kopf. »Die Sache muß wohl überlegt werden. Inzwischen wollen Sie bitte weiter nach Ashton und Benson fahnden. Und vergessen Sie nicht, daß die beiden sich getrennt haben könnten. Irgendwelche Fortschritte?« »Nur durch Negativauslese, falls Sie das Fortschritt nennen wollen.« »Nun gut«, sagte Ogilvie müde. »Machen Sie weiter.« Ich hatte schon meine Hand auf dem Türknopf, als er noch einmal fragte: »Malcolm?« »Ja?« »Nehmen Sie sich vor Cregar in acht. Als Feind ist er unangenehm.« 112
»Ich führe keinen Krieg gegen Cregar«, sagte ich. »Ich hab' nichts mit ihm zu tun. Was zwischen Ihnen und ihm steht, ist mir zu hoch.« »Ihre Widersetzlichkeit heute nachmittag – das hat ihm sehr mißfallen.« »Er ließ sich nichts anmerken. Er war recht freundlich.« »Das ist seine Art. Wenn er Ihnen freundlich auf den Rücken klopft, sucht er nur eine Stelle für sein Messer.« »Ich hab' nichts mit ihm zu schaffen«, wiederholte ich. »Mag sein«, sagte Ogilvie. »Aber möglicherweise ist Cregar da anderer Ansicht.«
Danach passierte eine Zeitlang nichts. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei verliefen im Sand, wenn auch an allen Ausreisepunkten Beamte weiterhin die Augen offen hielten – für den Fall, daß unser seltsames Freundespaar doch noch einen Versuch wagen sollte. Auch Honnister hatte nichts zu bieten. Als ich zum dritten Mal bei ihm vorsprach, sagte er unwirsch: »Sie brauchen uns nicht mehr anzurufen – wir rufen Sie an, wenn sich etwas ergibt.« Zweieinhalb Tage brachte ich damit zu, Wort für Wort in dem Haufen von Papierkram durchzustudieren, den Gregory aus dem AshtonHaus verschleppt hatte – Terminkalender, Geschäftskalender, Buchhaltungsunterlagen, Briefe und dergleichen. Ermittlungen, die ich aufgrund dieses Materials veranlaßte, erbrachten nichts Verwertbares. Auch eine Durchsuchung aller Ashton-Betriebe ergab keine Spur. Eine Woche nach Ashtons Verschwinden halbierte die Dienststelle das mir zur Verfügung stehende Team. Ich behielt Jack Brent als Schutz für Penny, und Michaelis paßte auf Gillian auf; damit blieben mir noch zwei Mann für die Beinarbeit. Auch ich selbst lief mir die Füße wund, täglich etwa sechzehn Stunden, und je mehr ich lief, desto weniger kam ich von der Stelle. Larry Goodwin saß wieder an seinem Schreibtisch über osteuropäischen Zeitschriften; sein Ausflug in die große Welt des Abenteuers hatte ein schnelles Ende gefunden. Die Eierköpfe wußten ebenfalls wenig zu vermelden. Aus den Com113
puterbändern ging nichts Aufsehenerregendes hervor, allenfalls, daß die Programme sehr klug entwickelt worden waren, aber die Programmzwecke erwiesen sich als durchaus alltäglich. Der Prototyp des Dingsbums, an dem Ashton herumgebastelt hatte, erzeugte zwar eine Flut von Vermutungen, jedoch nur eine dürftige Essenz von Gewißheit. Die Experten einigten sich darauf, daß es sich um eine Versuchsanordnung zur synthetischen Herstellung von Insulin handeln müsse, sehr genial und durchaus patentwürdig, aber doch immer noch in einem frühen Entwicklungsstadium. Mir half das wenig. Am Tag nach der Tresoröffnung hatte ich Penny angerufen. »Willst du mir mitteilen, wo du Daddy gefunden hast?« fragte sie. »Nein. Damit kann ich leider nicht dienen.« »Dann haben wir wohl nicht viel miteinander zu bereden, Malcolm«, sagte sie und legte auf, ehe ich noch ein Wort loswerden konnte. In diesem Augenblick wußte ich wirklich nicht mehr, ob wir noch als Verlobte grüßen konnten oder nicht. Von da an erfuhr ich nur noch durch Brent, was Penny trieb. Sie hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen, fuhr aber jetzt lieber mit dem Wagen als mit dem Zug zwischen Marlow und London hin und her. Brent war ihr Beifahrer. Penny schien gegen seine ständige Gegenwart nichts einzuwenden zu haben und teilte ihm stets rechtzeitig ihr Fahrziel mit. Brent genoß seinen Job und fand, Penny sei ein sehr nettes Mädchen. Und sie wisse wahrscheinlich auch nicht, daß er bewaffnet sei. Von mir spräche sie nie, leider nein. Gillian wurde in die Spezial-Augenklinik in Moorfields verlegt, und ich stattete ihr einen Besuch ab. Ich sprach zuerst mit Michaelis, dann mit ihrem Arzt, einem Dr. Jarvis. »Sie muß immer noch ihren Verband tragen«, sagte Dr. Jarvis. »Später wird sie sich wohl einer kosmetischen Operation unterziehen müssen, aber soweit sind wir noch nicht. Wir haben vorläufig genug mit den Augen zu tun.« »Wie stehen die Chancen, Herr Doktor?« Er drückte sich vorsichtig aus: »Möglicherweise besteht Aussicht, die Sehfähigkeit des linken Auges bis zu einem gewissen Grade wiederherzustellen. Aber für das rechte Auge habe ich keinerlei Hoffnung.« 114
Er sah mich mahnend an. »Miß Ashton weiß es noch nicht. Bitte sagen Sie es ihr nicht.« »Natürlich nicht. Weiß Miß Ashton, daß ihr Vater – nun sagen wir: auf Reisen ist?« »Ja. Aber das erleichtert meine Arbeit keineswegs. Miß Ashton leidet unter starken Depressionen. Und ich muß Ihnen sagen, wir haben schon genug Probleme, ohne uns auch noch um die Depressionen dieser Patientin kümmern zu müssen. Ich halte es übrigens für wenig rücksichtsvoll von dem Vater, sich ausgerechnet jetzt auf eine Geschäftsreise zu begeben.« Nun wußte ich wenigstens, was Penny ihrer Schwester erzählt hatte. Vielleicht war es tatsächlich so besser für sie, als ihr um die Ohren zu schlagen, daß Daddy sich verdünnisiert hatte. »Vielleicht kann ich Miß Gillian ein wenig aufheitern«, sagte ich. »Wenn Sie's schaffen«, sagte Dr. Jarvis voller Mitgefühl, »das würde ihr schon sehr helfen.« Gillian lag flach auf dem Rücken ohne Kissen und auch ohne Gesicht, denn ihr Kopf war bandagiert wie Claude Rains in dem Film Der Unsichtbare. Die Krankenschwester sagte ihr freundlich, daß ich anwesend sei, und ließ uns allein. Ich verlor kein Wort über die Ereignisse, die Gillian ins Krankenhaus gebracht hatten, und stellte auch keine Fragen. Honnister war ein besserer Ausfrager als ich und hatte sie gewiß schon bis zum Überdruß ausgequetscht. Ich hielt mich an Belanglosigkeiten und erzählte ihr ein paar komische Geschichten aus den Morgenzeitungen. Das nahm sie dankbar auf. »Die Zeitungslektüre fehlt mir sehr«, sagte sie. »Penny kommt jeden Tag und liest mir die Zeitungen vor.« Das hatte mir auch Brent schon erzählt. »Ich weiß«, sagte ich. »Stimmt etwas nicht zwischen Penny und Ihnen?« »Was soll da nicht stimmen?« sagte ich leichthin. »Hat Penny gesagt, es stimmt was nicht?« »Das nicht. Aber sie spricht nicht mehr von Ihnen. Und als ich nach Ihnen fragte, sagte sie mir, sie hätte Sie nicht gesehen.« »Wir haben beide sehr viel Arbeit«, sagte ich. 115
»So wird's wohl sein«, meinte Gillian. »Aber wie sie es sagte …« Ich wechselte das Thema, und wir plauderten noch etwas, und ich glaube, als ich ging, fühlte sie sich ein wenig besser. Michaelis langweilte sich mit seinem Wachauftrag, und das konnte ich ihm nachfühlen. Für das Krankenhauspersonal war er nur ein Schutzmann, der ein tragisches Unfallopfer zu hüten hatte. Er saß den ganzen Tag auf einem Stuhl vor dem Krankenzimmer und schlug sich die Zeit mit Krimis und Magazinen tot. »Nachmittags lese ich Miß Ashton immer etwas vor«, sagte er. »Das ist nett von Ihnen«, sagte ich. Er zuckte die Achseln. »Gibt ja sonst nichts zu tun. Bei diesem Job hat man viel Zeit zum Nachdenken. Ich hab' übrigens eine Menge über die Modelleisenbahn auf Ashtons Dachboden nachgedacht. Ich hab' noch nie im Leben so was Gigantisches gesehen. Ashton muß natürlich ein Fahrplan-Typ gewesen sein.« »Was heißt denn das?« »Unter Modellfans gibt es die verschiedensten Typen. Da sind die Landschaftstypen, die wollen das Drum und Dran in allen Einzelheiten naturgetreu nachbauen. Dazu gehör' ich, zum Beispiel. Dann sind da die Techniktypen, die wollen ihr Spielzeug bis aufs letzte Detail exakt haben. Das ist übrigens teuer. Und dann kenn' ich einen Typ, der hat sich haarklein den Paddington-Bahnhof nachgebaut. Dem geht's darum, die Züge sekundengenau wie auf dem echten Fahrplan vom Paddington-Bahnhof aus- und einfahren zu lassen. Das ist auch so ein Fahrplan-Typ wie Ashton. Der einzige Unterschied ist, daß Ashton sein Spielchen im Riesenmaßstab getrieben hat.« Es soll ja tatsächlich Leute geben, die ihre Hobbys mit irrem Fanatismus betreiben. Ashton hatte ich das nicht zugetraut. Aber ich hatte ja auch nicht gewußt, daß Michaelis ebenfalls ein Modellbau-Fan war. Ich sagte: »In was für einem Riesenmaßstab?« »Irrsinnig riesig. Ich hab' da einen Stapel Kursbücher gefunden, da bin ich fast ausgeflippt. Ashton konnte so ziemlich das gesamte englische Eisenbahnsystem nachschalten – natürlich nicht auf einmal, aber sektorenweise. Anscheinend hatte er sich auf Vorkriegs-Fahrplä116
ne spezialisiert; er besaß die Kursbücher von alten Privatgesellschaften wie LMS oder Great Western oder LNER. Das alles nachzuplanen, ist natürlich eine Heidenarbeit – wissen Sie, wie er das geschafft hat?« Michaelis sah mich so erwartungsvoll an, daß ich »wie denn?« sagte. »Er hat sich Mikroprozessoren in sein Schaltwerk eingebaut, diese Minicomputer, wissen Sie. Da konnte er dann die Fahrpläne einfüttern.« Das hörte sich wieder typisch nach Ashton an sehr tüchtig, technisch und wirtschaftlich. Aber das brachte mich auch nicht auf seine Spur. »Bleiben Sie lieber mit Ihren Gedanken bei Ihrem Auftrag«, mahnte ich Michaelis. »Damit dem Mädchen nicht noch einmal was Schlimmes passiert.« Zwei Wochen nach Ashtons Flucht rief Honnister mich an. Ohne Einleitung sagte er: »Wir haben eine Spur zu unserem Mann.« »Gut. Wann heben Sie ihn aus?« Ich wollte unbedingt dabeisein. »überhaupt nicht«, sagte Honnister. »Gehört leider nicht zu meinem Gebiet. Ein Londoner. Scotland Yard klingelt heute abend bei ihm, ein Inspektor Crammond, der im übrigen Ihren Anruf erwartet.« »Ich rufe ihn an. Wie heißt denn der Säure-Heini, und wie sind Sie ihm auf die Spur gekommen?« »Peter Mayberry, fünfundvierzig bis fünfzig Jahre alt, wohnhaft in Finsbury. Und das ist auch schon alles, was ich weiß. Crammond geht bei seinen Ermittlungen auch erst von diesen Angaben aus. Mayberry hatte sich den Wagen für das fragliche Wochenende gemietet – nicht von einem großen Autoverleiher, sondern bei einer Garage in Slough. Die Kollegen dort sind durch eine reine Routinebefragung draufgekommen. Sie stellten dem Garagenchef ein paar Fragen, und der war gleich sauer und erzählte, in dem Auto hätte jemand auf dem Rücksitz Batteriesäure verspritzt. Da sind wir natürlich hellhörig geworden.« »Glauben Sie, daß Mayberry der echte Name ist?« »Der Trottel hat tatsächlich seinen richtigen Namen angegeben«, sagte Honnister. »Er mußte ja auch seinen Führerschein vorweisen; Profis machen das anders. Jedenfalls weiß ich von Crammond, daß es unter der angegebenen Adresse einen Peter Mayberry gibt.« 117
»Ich rufe Crammond sofort an«, sagte ich. »Und vielen Dank auch, Charlie. Das haben Sie gut gemacht.« »Sie können mir danken«, seine Stimme war todernst, »indem Sie dem Schweinehund hart auf die Füße treten.« Ich wollte schon auflegen, da hörte ich ihn noch sagen: »Was von Ashton gesehen, in letzter Zeit?« Das klang recht unschuldig und kam auch nicht unerwartet, aber ich glaubte Honnister inzwischen besser zu kennen; mit Kleinstadtklatsch gab der sich nicht ab. »Nicht viel«, sagte ich. »Warum?« »Ich hab' mir nur gedacht, es könnte ihn vielleicht auch interessieren – diese Sache mit Peter Mayberry. Aber wenn ich anrufe, heißt es immer, er ist außer Haus, und ein Beamter vom Streifendienst hat mir auch erzählt, es gingen komische Sachen im Haus vor – viel Hin und Her und Kommen und Gehen.« »Ich glaube, Ashton ist auf Geschäftsreise. Aber was im Haus vorgeht – ich war in der letzten Zeit nicht mehr da.« »Nun ja, das ist eben Ihre Version, und dabei werden Sie wohl auch bleiben«, meinte er. »Wer bringt es den Ashton-Mädels bei – Sie oder ich?« »Ich sag's ihnen. Nachdem ich mir Mayberry vorgeknöpft habe.« »In Ordnung. Wenn Sie wieder in der Gegend sind, schauen Sie mal rein. Wir können ja auch in der Post noch mal einen heben. Wird mich sehr interessieren, was Sie mir zu erzählen haben.« Er legte auf, und ich grinste mir eins. Natürlich interessierte ihn das. Da tat sich Seltsames in seinem Sprengel, und er kam nicht dahinter – das mußte ihn schon arg jucken. Ich ließ mich mit Scotland Yard verbinden und bekam auch bald Inspektor Crammond an den Apparat. »Ach ja, Mr. Jaggard – wegen des Säureattentats. Richtig. Also, ich suche Mayberry heute abend auf. Wie wir von seiner Hauswirtin erfuhren, kommt er nie vor 18.30 Uhr heim. Ich schlag' vor, Sie holen mich hier um 18 Uhr ab.« »Einverstanden.« »Eine Frage noch, Mr. Jaggard – wer ist in diesem Fall federführend – Sie oder wir?« 118
»Das hängt von Mayberrys Aussage ab«, erklärte ich vorsichtig. »Das Säureattentat als solches ist eine Strafsache, und insofern gehört der Mann Ihnen. Allerdings spielen hier andere Dinge mit, über die ich im Augenblick nichts sagen darf. Deshalb möchten wir ihn, bevor offiziell Anzeige erstattet wird, ausführlicher vernehmen. Inoffiziell, natürlich.« »Ich verstehe«, sagte Crammond. »Ich halte es immer für gut, solche Fragen vorweg zu klären. Bis um sechs, Mr. Jaggard.« Es war richtig von Crammond, so umsichtig vorzugehen. Die Polizei fühlt sich nie besonders wohl, wenn sie mit unsereinem zu tun kriegt. Polizeibeamte wissen, daß manches, was wir tun, bei Anlegung strenger Maßstäbe als gesetzeswidrig betrachtet werden müßte, und es geht ihnen gegen den Strich, ein Auge zuzudrücken. Außerdem halten sie sich gern für die einzigen Profis in der Branche und schauen auf uns immer ein bißchen als Amateure herab – und ihrer Meinung nach werden sie nicht dafür bezahlt, Amateuren beim Paragraphen-Verbiegen zu helfen. Ich rief Ogilvie an und gab ihm Bescheid. Aber er sagte nur: »Warten wir ab, was dabei herauskommt.« Crammond war ein mittelgroßer, wohlbeleibter Mann von unauffälliger Erscheinung, was ja für einen Zivilbeamten durchaus günstig ist. Wir fuhren in seinem Wagen nach Finsbury hinaus – mit noch einem uniformierten Beamten auf dem Rücksitz – und Crammond berichtete mir, was er wußte. »Ich begann mit Ermittlungen gegen Mayberry aufgrund eines Hinweises von Honnister. Das war heute morgen, und Mayberry war nicht zu Hause. Er wohnt im Obergeschoß eines älteren Hauses, das vor kurzem in Einzimmer-Appartements aufgeteilt worden ist. Die Hauswirtin beschreibt ihn als stillen Typ – wohl eine Art Bücherwurm.« »Verheiratet?« »Nein. Junggeselle, wie sie meint. Er arbeitet bei einer Firma in der City. Genaues weiß die gute Frau aber nicht.« »Klingt aber nicht sehr nach Säureattentäter.« »Er ist vorbestraft«, sagte Crammond. »Schon besser.« 119
»Warten Sie ab. Eine Vorstrafe wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, mehr nicht. Ich habe mir die Akte kommen lassen; wenn er auch für schuldig befunden wurde – es hätte eigentlich nie Anklage gegen ihn erhoben werden dürfen. Bei einem dieser Demonstrationsmärsche in Aldermaston vor ein paar Jahren geriet er in eine Schlägerei und wurde mit etlichen anderen eingelocht.« »Ein Protestier also«, sagte ich nachdenklich. »Amateur oder Profi?« »Amateur, würde ich sagen. Auf unserer Liste notorischer Aufwiegler steht er nicht, und davon abgesehen, hat er wohl dafür auch den falschen Beruf – er ist nicht mobil genug. Aber die von Honnisters Zeugin abgegebene Beschreibung paßt auf ihn. Wir werden sehen. Wer stellt die Fragen?« »Sie«, sagte ich. »Ich halte mich im Hintergrund. Er soll mich ruhig für einen Kripomann halten.« Mayberry war noch nicht da, die Hauswirtin bat uns in ihr Wohnzimmer. Sie platzte fast vor Neugier. »Hat Mr. Mayberry was Schlimmes angestellt?« »Wir brauchen seine Hilfe bei einer Ermittlung«, erklärte Crammond höflich. »Ist er ein angenehmer Mieter, Mrs. Jackson?« »Er zahlt die Miete pünktlich, und er ist still – das nenne ich einen angenehmen Mieter.« »Wohnt er schon lange bei Ihnen?« »Fünf Jahre – oder sind es schon sechs?« Nach längerem Nachdenken entschied sie sich für sechs. »Geht er irgendwelchen Hobbys nach? Was macht er denn so in seiner Freizeit?« »Er liest unheimlich viel. Ewig hat er die Nase in einem Buch. Und fromm ist er auch, geht jeden Sonntag zweimal zur Kirche.« Ich sah schwarz. Das hörte sich immer weniger nach unserem Täter an. »War er auch am vorletzten Wochenende in der Kirche?« »Höchstwahrscheinlich«, sagte Mrs. Jackson. »Aber an dem Wochenende war ich nicht hier.« Sie legte den Kopf schief. »Ich glaube, da kommt er.« 120
Draußen schlurften Schritte über den Flur und dann die Treppe hoch. Wir ließen Mayberry Zeit, bis er in seiner Wohnung war, dann gingen wir ihm nach. Auf dem ersten Treppenabsatz wies Crammond den Polizisten an: »Sie warten vor der Tür, Shaw. Wenn er abhauen will, schnappen Sie ihn sich. Ich halt's zwar nicht für wahrscheinlich, aber wenn's wirklich ein Säurespritzer ist, kann er gefährlich sein.« Ich stand hinter Crammond, als er nun an die Tür klopfte. Ich bemerkte, daß Shaw sich eng an die Wand drückte, so daß Mayberry ihn bei geöffneter Tür nicht wahrnehmen konnte. Es macht immer wieder Spaß, Profis am Werk zu sehen. Mayberry war ein Mann Ende vierzig, ziemlich blaß, wie einer, der nicht gut zu essen bekommt. Die Augen lagen ihm tief im Schädel. »Mr. Peter Mayberry?« »Ja, bitte?« »Polizei«, sagte Crammond freundlich. »Wir glauben, daß Sie uns vielleicht helfen können. Dürfen wir nähertreten?« Mayberry hatte eine Hand um den Türrand liegen. Ich sah, daß seine Knöchel weiß wurden. »Wie soll ich Ihnen helfen können?« »Indem Sie uns ein paar Fragen beantworten. Dürfen wir eintreten?« »Wenn's sein muß.« Er hielt die Tür auf. Die Wohnung machte nicht viel her; ein durchgetretener Teppich, billige Lindenholzmöbel, aber alles sauber und aufgeräumt. An der Wand ein Regal mit vierzig, fünfzig Büchern – kein Wunder, daß Mrs. Jackson, die allenfalls einen Schmöker im Jahr bewältigte, ihren Mieter für einen Bücherwurm hielt. Ich ließ meinen Blick über die Titel streifen. Viel Religiöses, mit strenggläubigem Akzent übrigens, eine Sammlung von Umweltschutzschriften, ein paar Pamphlete der Freunde der Erde, der Rest Romane, alles Klassiker, keine moderne Literatur, das meiste in Taschenbuchausgaben. Bilder hingen nicht in diesem Zimmer, nur ein mit Klebstreifen an der Wand befestigtes Poster. Es stellte die Erde vom Weltraum aus gesehen dar, ein Satellitenfoto. Darunter lief eine Druckzeile: »Ich bin alles, was ihr habt, gebt acht auf mich.« 121
Crammond stellte die erste Frage: »Darf ich mal Ihren Führerschein sehen, Mr. Mayberry?« »Ich besitze keinen Wagen.« »Danach habe ich nicht gefragt«, sagte Crammond. »Den Führerschein, bitte.« Mayberry hatte sich die Jacke ausgezogen und sie über einen Stuhl gehängt. Er bückte sich, holte die Brieftasche aus der Innentasche, zog den Führerschein hervor und reichte ihn Crammond, der das Dokument nun mit ernstem Schweigen betrachtete. Schließlich sagte Crammond lobend: »Sauber. Keine Eintragungen.« Er reichte es mir. »Ich fahre immer vorsichtig«, sagte Mayberry. »Gewiß. Gewiß. Fahren Sie viel?« »Ich hab' doch schon gesagt – ich habe keinen Wagen.« »Und ich hab's auch gehört. Fahren Sie viel?« »Kaum. Worum geht's eigentlich?« »Wann sind Sie zum letztenmal Auto gefahren?« »Hören Sie«, sagte Mayberry, »falls da jemand behauptet, ich hätte einen Unfall gebaut, dann muß er sich irren. Ich hatte noch nie einen Unfall.« Er wirkte reichlich nervös, aber das sind viele, auch Unschuldige, wenn sie es mit der Staatsautorität zu tun bekommen. Unverschämt sind meist nur die Schurken. Ich legte den Führerschein auf den Tisch und nahm ein Buch auf, in dem Mayberry wohl zuletzt gelesen hatte. Es handelte von sogenannter alternativer Technologie, aufgeschlagen war es bei einem Kapitel, das Rezepte zur Gewinnung von Methangas aus Dünger anbot. In einem Londoner Stadtviertel wie Finsbury schien dergleichen freilich nicht so recht am Platze zu sein. Crammond sagte: »Wann sind Sie zuletzt Auto gefahren?« »Ach, ich weiß nicht – vor ein paar Monaten.« »Wessen Wagen?« »Das weiß ich auch nicht mehr. Es ist so lange her.« »Wessen Wagen fahren Sie gewöhnlich?« 122
Es entstand eine Pause. Mayberry versuchte nun wohl, erst einmal hinter den Sinn dieser Fragen zu kommen. »Ich fahre gewöhnlich nicht.« Er fing an zu schwitzen. »Haben Sie schon einmal einen Wagen gemietet?« »Das habe ich.« Mayberry schluckte. »Ja, gemietet habe ich schon mal einen Wagen.« »Kürzlich?« »Nein.« »Nehmen wir an, ich würde nun behaupten, Sie hätten am vorletzten Wochenende in Slough ein Auto gemietet – was würden Sie dazu sagen?« »Ich würde sagen, da irren Sie sich«, sagte Mayberry trotzig. »Sicher, das würden Sie sagen«, meinte Crammond. »Aber würde ich mich da wohl geirrt haben?« Mayberrys Schultern strafften sich. »Allerdings«, sagte er frech. »Wo waren Sie an jenem Wochenende?« »Hier. Wie gewöhnlich. Da können Sie Mrs. Jackson fragen, die Hauswirtin.« Crammond sah ihn einen Augenblick lang schweigend an. »Aber Mrs. Jackson war doch an dem Wochenende gar nicht hier, oder? Sie verbrachten also das ganze Wochenende zu Hause. In diesem Zimmer? Sind Sie gar nicht ausgegangen?« »Nein.« »überhaupt nicht? Auch nicht zur Kirche wie gewöhnlich?« Mayberry wirkte jetzt auf mich, als franste er an den Rändern aus. »Ich hab' mich nicht wohl gefühlt«, murmelte er. »Wann haben Sie zum letztenmal einen Sonntagsgottesdienst versäumt, Mr. Mayberry?« »Ich kann mich nicht erinnern.« »Können Sie jemanden beibringen, der Ihre Anwesenheit in diesem Zimmer während dieses ganzen Sonntags bezeugt?« »Wie soll ich das? Ich bin doch nicht ausgegangen.« »Haben Sie denn nichts gegessen'?« »Ich hab' mich nicht wohl gefühlt, ich sag's Ihnen doch! Ich hatte keinen Hunger.« 123
»Wie war's mit dem Samstag? Sind Sie da ausgegangen?« »Nein.« »Und an dem Samstag haben Sie auch nichts gegessen?« Mayberry schob nervös seine Füße hin und her. Dieses Trommelfeuer von Fragen ging ihm an die Nerven. »Ich habe ein paar Äpfel gegessen.« »Sie haben also Äpfel gegessen«, stellte Crammond fest. »Wo und wann haben Sie die Äpfel gekauft?« »Freitag nachmittag. Im Supermarkt.« Crammond bohrte nicht weiter. Er sagte: »Mr. Mayberry, ich möchte die Unterstellung wagen, daß alles, was Sie bis jetzt erzählt haben, ein Haufen Lügen ist. Ich möchte weiterhin die Unterstellung wagen, daß Sie Samstag vormittag mit der Eisenbahn nach Slough gefahren sind, wo Sie in der Joliffe-Garage einen Chrysler Sceptre mieteten. Mr. Joliffe ist übrigens sehr ungehalten wegen des Säureschadens, der auf dem Rücksitz des Autos entstanden ist. Wo haben Sie die Säure gekauft?« »Ich habe keine Säure gekauft.« »Aber das Auto haben Sie gemietet.« »Nein.« »Wie erklären Sie sich dann die Tatsache, daß Name und Adresse auf dem Mietvertrag von einem Führerschein stammen – von diesem Führerschein –«, Crammond nahm ihn vom Tisch und wedelte damit unter Mayberrys Nase, »der Ihren Namen und Ihre Anschrift trug?« »Ich habe keine Erklärung dafür. Ich brauche das auch nicht zu erklären. Da muß sich jemand für mich ausgegeben haben.« »Warum sollte sich jemand ausgerechnet für Sie ausgeben, Mr. Mayberry?« »Wie soll ich das wissen?« »Das dürfte wohl niemand wissen«, bemerkte Crammond. »Wie dem auch sei, die Sache läßt sich ja schnell klären. Wir besitzen Fingerabdrücke aus dem Wagen, und die können leicht mit den Ihrigen verglichen werden. Ich bin überzeugt, daß Sie nichts dagegen einzuwenden haben, sich mit uns zur Wache zu begeben und uns Ihre Fingerabdrücke zur Verfügung zu stellen, Sir.« 124
Das war das erste Mal, daß ich von Fingerabdrücken hörte, wahrscheinlich bluffte Crammond. Mayberry sagte: »Ich … Ich komme nicht mit. Nicht zur Wache.« »Ich verstehe«, sagte Crammond milde. »Ich gehe doch wohl recht in der Annahme, Mr. Mayberry, daß Sie sich als einen um das Gemeinwohl besorgten Mitbürger betrachten?« »So sehr wie jeder andere.« »Aber Sie weigern sich, uns zur Wache zu begleiten.« »Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir«, sagte Mayberry. »Ich fühle mich nicht wohl. Ich wollte eben zu Bett gehen, als Sie kamen.« »Ach so, das ist der wahre Grund.« »Ich möchte jetzt, daß Sie gehen, sonst werde ich …« Mayberry brach ab. »Die Polizei rufen?« fragte Crammond ironisch. »Wann sind Sie zum erstenmal Miß Ashton begegnet?« »Nie«, sagte Mayberry schnell. Zu schnell. »Aber sie ist Ihnen bekannt.« Mayberry machte einen Schritt rückwärts und stieß dabei fast den Tisch um. Das Buch fiel zu Boden. »Ich kenne niemanden dieses Namens.« »Vielleicht nicht persönlich – aber Sie haben von ihr gehört.« Ich bückte mich und hob das Buch auf. Ein Flugblatt war aus den Seiten herausgefallen. Mein Blick fiel darauf, ehe ich das Buch wieder auf den Tisch legte. Mayberry wiederholte: »Ich kenne niemanden dieses Namens.« Bei der Druckschrift handelte es sich um einen Parlamentsbericht, herausgegeben von der Staatsdruckerei. Unter dem königlichen Wappen stand als Überschrift: »Bericht des Arbeitsausschusses über experimentelle Manipulationen in der genetischen Zusammensetzung von Mikroorganismen.« Nun setzte sich plötzlich eine ganze Reihe von Tatsachen, die bislang nichts miteinander zu tun gehabt hatten, zu einem überschaubaren Bild zusammen: Mayberrys orthodoxer Bibelglaube, seine Umweltschutz-Interessen und Penny Ashtons Forschungsarbeit. Ich sag125
te: »Mr. Mayberry, was halten Sie eigentlich vom Zustand der heutigen biologischen Forschung?« Crammond, der eben den Mund zu einer weiteren Frage öffnete, starrte verblüfft zu mir herüber. Mayberry warf den Kopf herum und sah mich an. »Der ist schlecht«, sagte er. »Sehr schlecht.« »Wieso?« »Die Biologen brechen die Gesetze Gottes«, sagte er. »Sie besudeln das Leben selbst!« »Wieso?« »Sie paaren, was verschieden ist – und schaffen Monster!« Mayberrys Stimme hob sich. »Und Gott sprach: ›Die Erde bringe hervor lebendige Tiere, ein jegliches nach seiner Art.‹ Ja, das hat er gesagt: Nach seiner Art! ›Vieh, Gewürm und Tiere auf Erden, ein jegliches nach seiner Art.‹ Nach seiner Art! So steht es gleich auf der ersten Seite der Heiligen Schrift.« Crammond glotzte mich immer noch völlig verdutzt an, dann sah er wieder zu Mayberry hin: »Ich bin nicht ganz sicher, ob ich verstanden habe, was Sie da meinen, Sir.« Aber Mayberry war jetzt entrückt: »Und Gott sprach zu Noah: ›Von den Vögeln nach ihrer Art‹ – nach ihrer Art! ›Von dem Vieh nach seiner Art‹ – nach seiner Art! ›Und von allem Gewürm auf Erden nach seiner Art‹ – nach seiner Art! ›Und von den allen soll je ein Paar zu dir hineingehen, daß sie sollen leben bleiben‹ … Sie ist gottlos! Sie will Gottes eigene Geschöpfe verderben, wie sie geschrieben stehen in der Heiligen Schrift!« Ob Crammond kapierte, was Mayberry da von sich gab, schien mir zweifelhaft. Aber ich begriff jetzt. Ich sagte: »Wie denn?« »Sie will auseinanderbrechen den Samen, den Gott geschaffen, und eine Art vermischen mit der anderen Art. Und so erschafft sie damit Monstren, Schimären und Scheusale!« Es fiel mir nicht ganz leicht, meine Stimme unter Gewalt zu behalten. »Ich nehme an, mit ›sie‹ ist Frau Dr. Penelope Ashton gemeint?« Crammond warf seinen Kopf herum, und Mayberry, immer noch vom biblischen Zorn erfüllt, sagte gedankenlos: »Unter anderen.« 126
»Wie zum Beispiel Professor Lumsden«, unterstellte ich. »Ihr Hexenmeister bei diesem Teufelswerk!« »Wenn Sie der Ansicht sind, daß sie Unrechtes tat, warum haben Sie dann nicht mal mit ihr gesprochen? Vielleicht hätten Sie sie bekehren können.« »Nicht einmal ihre Stimme soll mein Ohr besudeln!« Ich sagte: »Steht aber nicht auch in der Bibel, daß Gott dem Adam die Herrschaft gab über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht? Vielleicht ist sie doch im Recht?« »Auch der Teufel kann die Bibel lesen!« sagte Mayberry und wandte sich ab von mir. Mir war kotzübel. Crammond wachte aus seiner Bestürzung auf. »Mr. Mayberry, geben Sie damit zu, einer Frau mit Namen Ashton Säure ins Gesicht geschleudert zu haben?« In Mayberrys Augen flackerte der Blick eines gejagten Tieres: ihm war nun klar, daß ihm zuviel über die Zunge gesprudelt war. »Das habe ich nicht gesagt.« »Sie haben genug gesagt.« Crammond sah mich an. »Ich glaube, es reicht aus, um ihn mitzunehmen.« Ich nickte. Zu Mayberry sagte ich: »Sie sind ein frommer Mann. Sie gehen jeden Sonntag zur Kirche. Zweimal sogar, wie ich erfahren habe. Halten Sie es für christlich, Mr. Mayberry, einer jungen Frau Batteriesäure ins Gesicht zu schleudern?« »Vor Ihnen habe ich meine Taten nicht zu verantworten«, sagte Mayberry. »Zu verantworten habe ich mich nur vor Gott.« Crammond nickte ernst. »Trotzdem, irgend jemand hat doch auch gesagt: ›Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.‹ Ich fürchte, Sie werden wohl mit uns kommen müssen, Mr. Mayberry.« »Gott möge Ihnen helfen«, sagte ich. »Sie haben nämlich das falsche Mädchen erwischt. Die Säure haben Sie in das Gesicht von Dr. Ashtons Schwester gespritzt. Und die kam gerade von der heiligen Messe.« Mayberry starrte mich an. Von seiner Verantwortung vor Gott hatte er noch mit hochmütiger Miene gesprochen. Aber nun brach sein Gesicht auseinander, der blanke Horror kroch ihm in die Augen. »Die fal127
sche … falsche …« Plötzlich befiel ihn konvulsivisches Zucken, und er schrie, als steckte er am Spieß. »O Gott!« sagte Crammond, und Shaw stürzte in das Zimmer Mayberry klappte zusammen und brabbelte mit leiser, monotoner Stimme eine endlose Folge von Obszönitäten vor sich hin. Crammond schwitzte. »Der ist nicht fürs Kittchen«, sagte er. »Der landet in Broadmoor, so wahr ich hier stehe. Wollen Sie noch was aus ihm herausholen?« »Nein«, sagte ich. »Jetzt nicht.« Crammond hatte einen Befehl für Shaw: »Rufen Sie einen Krankenwagen. Sagen Sie, daß es sich um einen Anfall von religiösem Wahnsinn handelt. Die Leute sollen eine Zwangsjacke mitbringen.«
16. Kapitel
A
ls wir Mayberry endlich im Krankenwagen hatten, war Ogilvie schon aus dem Büro gegangen. Ich hatte keine Lust, ihn zu Hause anzurufen, aber ich versuchte mit Penny zu telefonieren, um ihr von Mayberry zu berichten. Wieder meldete sich Mary Cope, die mir wieder einmal sagte, Penny sei nicht zu Hause. Aber diesmal bohrte ich weiter, und so erfuhr ich immerhin, daß Penny nach Oxford gefahren sei, zu einem Universitätsvortrag, und erst spät am Abend heimkäme. Als ich auflegte, war ich einigermaßen zufrieden, weil ich nicht ganz so kühl abgewimmelt worden war wie hei meinem letzten Versuch. Am nächsten Morgen rief ich, noch bevor ich zu Ogilvie ging, Crammond an. »Gibt's was Neues über Mayberry?« »Er liegt im King's College Hospital, auf einer Privatstation, und wird bewacht.« »Geht es ihm schon besser?« »Nicht so, daß man's merken könnte. Wenn Sie mich fragen – der 128
hat einen kompletten Nervenzusammenbruch. Aber ich bin schließlich kein Arzt.« »Aber ich muß dringend noch einmal mit ihm reden.« »Da werden Sie sich an einem ganzen Regiment von Ärzten vorbeikämpfen müssen«, warnte Crammond. »Mayberry leidet offenbar an allem, was es überhaupt gibt, von eingewachsenen Zehennägeln bis zu Psychoceramica.« »Was zum Teufel ist denn das?« »So heißt das, wenn man einen Sprung in der Schüssel hat«, sagte Crammond säuerlich. »Die Meisen-Quacksalber haben ihn völlig isoliert.« Ich dankte Crammond für seine Hilfe und machte mich auf den Weg zu Ogilvie. Während ich ihm von Mayberry erzählte, hätte man mit den Wandlungen seiner Gesichtszüge vortrefflich einen Lehrfilm über die Eskalation der Perplexität illustrieren können. »Sind Sie sicher, daß Mayberry uns nicht für dumm verkaufen will?« Ich schüttelte den Kopf. »Der hat echt eine Macke. Der Psychiater wird ihn für uns ausweiden.« »Für den Augenblick kaufe ich Ihnen das ab.« Kopfschüttelnd fuhr er fort. »Aber für mich ist die Psychiatrie keine exakte Wissenschaft. Ist Ihnen bei Prozessen noch nie aufgefallen, daß es für jedes psychiatrische Gutachten der Verteidigung ein Gegengutachten der Anklage gibt – und umgekehrt? Selbst wenn Mayberry als ein über jeden Zweifel erhabener Fall von religiösem Wahnsinn begutachtet wird, bedürfen noch viele Fragen der Klärung.« »Ich weiß. Warum hatte er es ausgerechnet auf Penny abgesehen oder auf das Mädchen, das er für Penny hielt? Handelte er aus eigenem Antrieb, oder wurde er in die Richtung gelenkt und gestoßen? Ich kümmere mich darum, daß er, sobald er vernehmungsfähig ist, auseinandergenommen wird. Aber vor dem ganz großen Fragezeichen scheinen Sie wohl doch zu kneifen.« Ogilvie kniff nicht. Er gab nur ein gequältes Gebrumm von sich. Dann zählte er mir an den Fingern vor: »Nehmen wir an, Mayberry ist 129
ein Verrückter; und nehmen wir weiter an, er wurde nicht gesteuert, und daß er Penelope mehr oder weniger zufällig aus den Reihen der Genetiker ausgewählt hat – wo stehen wir dann da? In einer Sackgasse, wenn ich das richtig sehe. Oder?« »Allerdings.« Ich kleidete das Fragezeichen in Worte: »Warum ist dann Ashton wirklich getürmt?« Es war wirklich eine ganz neue Art von Kopfschmerzen, die da jetzt in meinem Schädel aufzog.
Ich hielt es schließlich doch nicht für eine glückliche Idee, mit Penny einfach nur zu sprechen. Was ich ihr zu berichten hatte, eignete sich nicht für ein Telefongespräch. Ehe ich zur Universität fuhr, rief allerdings Honnister an. Er ging augenblicklich in die Luft. »Das falsche Mädchen!« schrie er. »Dieser idiotische Bastard von einem Stümper hat das falsche Mädchen erwischt!« Er brach in einen Schwall von Unflätigkeiten aus. »Ich wollte dir nur Bescheid geben. Ich halte dich weiter auf dem laufenden.« Ich fuhr zur Uni und wollte mich eben beim Pförtner erkundigen, als ich am Ende eines Ganges Jack Brent stehen sah. Ich ging zu ihm. »Probleme?« »Kein Stück.« »Wo ist Penny Ashton?« Er zeigte mit dem Daumen auf eine Tür. »Bei ihrem Boß. Das da ist Lumsdens Büro.« Ich nickte und ging hinein. Penny und der Professor sahen in ihren weißen Kitteln äußerst professionell aus, so wie die Typen, die in den Fernseh-Werbespots die feine Zahnpasta verkaufen. Sie saßen an einem Schreibtisch, tranken Kaffee und studierten Papier, das nach Computerausdrucken aussah. Lumsden war beträchtlich jünger, als ich es mir vorgestellt hatte, nicht einmal so alt wie ich; Pionierarbeit an den Fronten der Wissenschaften fordert junge Hirne und junge Hände. Penny 130
hob den Kopf und sah mir entgegen; Erstaunen breitete sich auf ihren Zügen aus, dann, plötzlich, wurde ihr Gesicht fast ausdruckslos, nur ein paar Muskeln strafften sich, fest preßte sie die Lippen aufeinander. Ich sagte: »Guten Morgen, Dr. Ashton – Professor Lumsden. Könnte ich dich kurz sprechen, Penny?« »Bitte«, sagte sie kühl. Ich warf einen Blick auf Lumsden. »Verzeihung, aber es ist dienstlich. Wenn du mir freundlicherweise dein Büro zur Verfügung stellen würdest?« »Falls es wirklich dienstlich ist.« Penny musterte mich mißtrauisch. »Allerdings«, sagte ich. Ich konnte genauso kühl sein wie sie. Sie entschuldigte sich bei Lumsden. Wir traten auf den Gang hinaus, wo ich Brent anwies, in der Nähe zu bleiben, dann folgte ich Penny über einen anderen Flur in ihr Arbeitszimmer. Ich sah mich um und sagte: »Wo steht denn dein Mikroskop?« Sie lächelte nicht. »Wir arbeiten an Dingen, die man durch Mikroskope nicht sehen kann. Also, was willst du? Hast du Daddy gefunden?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir haben den Mann, der die Säure gespritzt hat.« »Ach.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch. »Wer ist es?« »Er heißt Peter Mayberry. Schon mal von ihm gehört?« Sie überlegte einen Augenblick. »Nein. Ich glaube nicht. Was macht er?« »Ein Angestellter in der City. Und ein religiös Wahnsinniger.« »Ein religiös Wahnsinniger?« Verwundert zog sie die Stirn in Falten. »Was hat das mit Gillian zu tun? Sie gehört der anglikanischen Kirche an – und das wäre wohl die letzte Kirche, die man des religiösen Wahns bezichtigen könnte.« Ich setzte mich nun auch. »Du mußt dich jetzt zusammenreißen, Penny. Die Säure war nicht für Gillian bestimmt. Das Attentat galt dir.« »Mir!« Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. Sie schüttelte den Kopf, als höre sie schlecht. »Was hast du gesagt? Ich …?« »Ja. Bist du ganz sicher, daß du von diesem Mann noch nie gehört hast?« 131
Sie überging meine Frage. »Aber ein Mann mit religiösem Wahn … Warum sollte so einer …« Sie würgte an ihren Worten. »Wieso ich?« »Offenbar glaubte er, daß du Gott ins Handwerk pfuschst.« »Was?« meinte sie. Und dann: »Was heißt ›er glaubte‹ – lebt er nicht mehr?« »Doch, doch. Bloß glaubt er jetzt nicht mehr viel. Er ist völlig ausgeflippt.« Sie schüttelte den Kopf. »Es sind in der Tat immer wieder Einwände gegen unsere Arbeit vorgebracht worden, aber das waren Einwände wissenschaftlicher Art. Paul Berg, Brenner, Singer und etliche andere haben heftige Bedenken geäußert, weil wir …« Plötzlich schien sie zu begreifen. »O mein Gott! Die arme Gillian …!« Einen Augenblick lang saß sie völlig starr mit verkrampften Händen da, dann fing sie an zu zittern, bebte am ganzen Körper. Sie stöhnte und brach über ihrem Schreibtisch zusammen, wie ein Kissen legte sich ihr Haar über ihre Arme. Ihre Schultern zuckten, sie schluchzte heftig. Ich entdeckte ein Handwaschbecken in einer Ecke, fand auch ein Glas und wollte ihr zu trinken geben, aber ich mußte warten, bis der erste Schock vorüber war. Nach und nach ebbte das Schluchzen ab. Ich legte ihr meinen Arm um die Schulter. »Komm«, sagte ich leise, »trink einen Schluck.« Sie hob das verweinte Gesicht. »Die arme Gillian! Bestimmt wäre ihr nie etwas zugestoßen, wenn ich nicht …« »Ganz ruhig«, sprach ich auf sie ein. »Sag so was nicht. Trink doch endlich etwas.« Sie würgte ein paar Schlucke hinunter. »Ach, Malcolm, was soll ich denn nur jetzt tun?« »Tun? Zu tun gibt's da nichts. Jetzt gibt's nur eins – weitermachen wie immer.« »O nein! Wie könnte ich das?« Ich versuchte, ihr zu helfen. »Du kannst dich doch nicht für das, was Gillian zugestoßen ist, schuldig fühlen! Das zerreißt dich doch! Du bist doch nicht verantwortlich für die Tat eines Geistesgestörten!« »Ich wünschte nur, es wäre mir passiert!« 132
»Nein, das wünschst du dir nicht!« Ich wurde jetzt scharf. »Sag das nie wieder!« »Aber wie soll ich es Gillian erklären?« »Gar nicht. Allenfalls, wenn sie über den Berg ist. Und am besten nicht einmal dann.« Sie fing wieder an zu heulen. »Penny, reiß dich zusammen, ich brauche deine Hilfe.« »Was kann ich denn tun?« »Zuerst kannst du dich mal frisch machen«, sagte ich. »Dann kannst du Lumsden hereinbitten; ich muß euch beiden ein paar Fragen stellen.« Sie schniefte ein wenig, dann wollte sie wissen: »Was für Fragen?« »Das erfährst du schon, wenn Lumsden hier ist. Ich möcht's nicht gern zweimal durchgehen müssen. Warum dein Vater weggegangen ist, wissen wir noch immer nicht. Anscheinend hat das Säureattentat seinen Entschluß ausgelöst, deshalb müssen wir soviel wie möglich darüber in Erfahrung bringen.« Sie trat ans Waschbecken und machte sich frisch. Als sie sich einigermaßen vorzeigbar fühlte, rief sie Lumsden an. Ich sagte noch zu ihr: »Mir wär's am liebsten, wenn wir in Lumsdens Gegenwart nicht von deinem Vater sprächen.« Darauf antwortete sie nichts, sie nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz. Lumsdens Blick fiel sofort auf Pennys rotgeweinte Augen, auf ihr blasses Gesicht. »Was ist denn hier passiert? Wer sind Sie überhaupt?« »Mein Name ist Malcolm Jaggard, ich bin so etwas wie ein Polizeibeamter, Herr Professor.« Und damit er nicht auf die Idee käme, nach meiner Marke zu fragen, schob ich schnell nach: »Außerdem bin ich Pennys Verlobter.« Penny widersprach nicht, aber Lumsden zeigte sich erstaunt. »Ach, ich wußte gar nicht …« »Noch nicht sehr lange«, sagte ich. »Sie wissen natürlich von dem Säureattentat auf Pennys Schwester.« »Ja. Eine entsetzliche Sache.« Ich begann nun, von Mayberry zu erzählen, und sein Gesicht zog sich immer finsterer zusammen. 133
»Schlimm. Schlimm. Schlimm«, meinte er. »Penny, ich empfinde mit Ihnen.« Sie nickte stumm. »Nun möchte ich gern wissen«, kam ich zur Sache, »ob Sie oder Ihre Mitarbeiter Drohungen erhalten haben. Anonyme Briefe, Anrufe und so weiter.« Er zuckte die Achseln. »Ein paar Irre gibt es immer. Wir ignorieren solche Leute.« »Vielleicht ein Fehler«, sagte ich. »Ich wüßte gern mehr darüber. Bewahren Sie solche Briefe auf? Wenn ja, möchte ich sie haben.« »Nein«, bedauerte er. »Die wandern bei uns in den Papierkorb. Sehen Sie, Mr. … äh … Inspektor …« »Mister.« »Nun, Mr. Jaggard, die meisten anonymen Briefe enthalten gar keine Drohungen. Nur dummes Geschwätz, sonst nichts.« »Geschwätz worüber?« »Ach, über eingebildete Verstöße gegen Gottes Schöpfungswillen. Lauter Bibelzitate, meistens aus der Genesis. Die üblichen Spinnereien.« Ich fragte Penny: »Hast du auch solche Briefe bekommen?« »Ein paar«, sagte sie ruhig. »Aber keine Drohungen. Ich habe sie weggeworfen.« »Auch Anrufe? Von Männern, die am Telefon schwer atmen?« »Da war ein Mann … Vor sechs Monaten rief er zum erstenmal an. Aber nach vier Wochen hörte das wieder auf.« »Was sagte er?« »Wie Lummy geschildert hat – das übliche.« »Bist du hier angerufen worden oder zu Hause?« »Hier. Meine Privatnummer steht nicht im Telefonbuch.« »Sie haben beide«, ich sprach jetzt Lumsden an, »mehrfach dieselbe Formulierung benutzt: ›das Übliche‹. Was genau ist ›das Übliche‹?« »Nun, wenn man bedenkt, woran wir hier arbeiten …« Er hob vieldeutig die Hände. Wir standen noch immer. Ich sagte: »Setzen wir uns doch, Herr Professor, und dann beschreiben Sie mir bitte einmal genau, woran Sie 134
hier arbeiten – das heißt, soviel Sie mir ohne Verletzung der Geheimhaltungsvorschriften verraten dürfen.« »Geheimhaltungsvorschriften? Davon kann keine Rede sein – nicht bei uns.« »Wenn es so ist, bestehen wohl kaum Bedenken, mich aufzuklären.« »Nein. Eigentlich nicht.« Aber Zweifel hatte er doch. Er setzte sich. Er schwieg eine Zeitlang. Er sammelte seine Gedanken, und ich wußte auch, was in ihm vorging. Er suchte nach den für ihn ungewohnten schlichten Worten, um einem ungebildeten Dorftrottel hochkomplizierte wissenschaftliche Zusammenhänge klarzumachen. Ich sagte: »Worte, die aus drei Silben bestehen, kapier ich leidlich. Auch viersilbige noch, langsame und deutliche Aussprache vorausgesetzt. Darf ich Ihnen auf die Sprünge helfen? Vererbung basiert auf dem Chromosom. Im Chromosom steckt eine Säure namens DNA. Dann gibt es da noch ein Ding namens Gen, das ist der ultimative Faktor und etwas ganz Eigenartiges – bestimmte Gene produzieren die verschiedenartigen chemischen Substanzen, welche der Organismus benötigt. Die Gene kann man sich so vorstellen – wie Perlen auf einer Spiralfeder: die Spiralfeder ist das DNA-Molekül. Das ist jedenfalls das Bild, das ich mir davon mache. Allerdings, von diesem Punkt an verlauf' ich mich im Wald. Von hier aus müssen Sie mich an die Hand nehmen.« Lumsden lächelte. »Nicht übel, Mr. Jaggard. Gar nicht mal so übel.« Und nun begann er zu erklären, zuerst zögernd, dann immer flüssiger. Er holte weit aus, und ich mußte ihn ein paarmal unterbrechen, um ihn wieder aufs Thema zu bringen. Manchmal mußte ich ihn auch bitten, Passagen, die mir zu hoch waren, in schlichteren Worten zu wiederholen. Dabei waren die Grundprinzipien ganz simpel, aber ich begriff doch, daß die Umsetzung der Theorie in die Laboratoriumspraxis so einfach nicht war. Und dies war des Pudels Kern: Ein DNA-Strang enthält mehrere tausend Gene. Und jedes Gen hat seinen bestimmten Job. Zum Beispiel, den Ausstoß von Cholinesterase zu steuern – eine Substanz, welche die elektrische Spannung des Nervensystems reguliert. Von solchen Substanzen gibt es Tausende, und jede hängt von ihrem eigenen Gen 135
ab. Nun hat der Molekularbiologe gewisse Enzyme entdeckt, mit deren Hilfe man einen DNA-Strang in kurze Längsstücke zerschneiden kann – und andere Enzyme, welche diese kurzen Längsstücke wieder zusammenschweißen können. Man hat ferner entdeckt, daß man ein DNA-Stück einem Bakteriophagus aufschweißen kann – das ist ein winziger Organismus, dem das Durchdringen von Zellwänden gelingt. Steckt dann der Bakteriophagus in der Zelle, kann man die Gene wieder abkuppeln – und dem DNA der Gastgeber-Zelle einverleiben. Wenn man sich das so vorstellt, sieht es ganz einfach aus, und Lumsden war auch ganz begeistert von seinem Thema. »Sie sehen also, Mr. Jaggard, diese Gene, die man da in eine fremde Zelle einschleust, müssen nicht unbedingt vom selben Tier stammen. Hier, in unserem Laboratorium, haben wir Bakterienkulturen, die genetisches Material von Mäusen enthalten. Nun ist eine Bakterie eine Bakterie und eine Maus ist ein Säugetier, aber unsere kleinen Kerlchen sind teils Bakterie und teils Säugetier.« »Und sie brechen den Samen auf, und sie paaren eine Art mit der anderen Art und erschaffen Schimären«, sinnierte ich. »Nun ja, meinetwegen könnten Sie es so umschreiben«, lächelte Lumsden nachsichtig. »Nicht ich hab' das so umschrieben«, sagte ich. »Das sind Mayberrys Worte.« Aber zu diesem Zeitpunkt kapierte ich es immer noch nicht richtig. »Und wozu soll das nun alles gut sein?« wollte ich endlich wissen. Lumsden sah mich ein wenig mißmutig an, als hätte er es mit einem Begriffsstutzigen zu tun – der ich wahrscheinlich im Moment auch war. Aber Penny kam zu Hilfe: »Lummy, erklär's ihm doch am Rhizobium.« Lumsdens Stirn glättete sich wieder. »Ach ja, das ist ein gutes Beispiel.« Der junge Professor nahm einen längeren Anlauf. Pflanzen, erläuterte er, brauchen Stickstoff für ihr Wachstum. Die Luft enthält zu 78 Prozent Stickstoff. Aber die Pflanzen können es so, wie es ist, nicht aus der Luft gewinnen. Aufnehmen können sie es nur in Gestalt von Nitrat. Nitrate werden bei uns zum Beispiel mit dem Kunstdünger ausge136
streut. Aber es gibt auch Pflanzen, vor allem Hülsenfrüchte – wie Erbsen, Bohnen und so weiter –, die in ihren Wurzeln eine Bakterie namens Rhizobium beherbergen. Dieser Organismus besitzt die Fähigkeit, den Stickstoff der Luft so umzuwandeln, daß er von der Pflanze verarbeitet werden kann. »Jetzt kommt's«, kündigte Lumsden an. »Alle Pflanzen beherbergen in ihren Wurzeln Bakterien. Aber einige dieser Bakterien sind etwas ganz Besonderes. Stellen wir uns vor, wir nehmen eine Rhizobiumbakterie und isolieren das Gen, das diese Stickstoffumwandlungsfähigkeit steuert. Wir haben also das Gen, und nun übertragen wir es auf eine Bakterie, die für Weizen typisch ist. Wenn sich jetzt diese neue Züchtung ohne Schmälerung ihrer Eigenschaften weitervererbt, dann erzielen wir auf diesem Wege eine Art von Weizen, der sich selber düngt. Ich finde, daß wir dann damit, in unserer Epoche der Lebensmittelverknappung auf der ganzen Welt, etwas sehr Positives geschaffen haben.« Das begriff ich. Aber Penny sagte: »Das Ganze kann sich jedoch gefährlich auswirken. Man muß nämlich verdammt genau aufpassen, daß man auch das richtige Gen erwischt. Denn es gibt Rhizobiumgene, die Tumor erzeugen. Gerät man an ein solches Gen, dann geht die ganze Weizenernte der Welt an Krebs kaputt.« »Ja«, sagte Lumsden, »wir müssen unserer Sache sehr sicher sein, ehe wir unsere im Laboratorium umgewandelten Gene auf die Welt loslassen. Kürzlich hat es gerade zu diesem Thema einen Riesenstreit gegeben.« Er stand auf. »Nun, Mr. Jaggard, wissen Sie nun alles, was Sie brauchen?« »Ich glaube schon«, sagte ich. »Nur, ob es mir was nützt, weiß ich immer noch nicht genau. Vielen Dank für die Zeit, die Sie mir geopfert haben, Herr Professor.« Er lächelte. »Wenn Sie weitere Nachhilfestunden brauchen, fragen Sie am besten Penny.« Er warf ihr einen mitfühlen den Blick zu. »Ich schlage vor, Penny, Sie nehmen sich den heutigen Tag frei. Sie haben einen argen Schock hinter sich. Sie sehen nicht so aus, als ob Sie sich besonders wohl fühlten.« Sie zitterte ein wenig. »Ich werde einfach nicht mit dem Gedanken 137
fertig, daß es auf der Welt Menschen gibt, die anderen Menschen so unvorstellbar Böses antun können.« »Ich bringe dich nach Hause«, sagte ich leise. »Jack Brent kann mit deinem Wagen hinter uns herfahren.« Sie widersprach nicht, und ich wandte mich noch einmal an Lumsden. »Ich möchte Ihnen raten, Herr Professor, in Zukunft alle anonymen Briefe – egal, wie irrwitzig oder harmlos – der Polizei zu übergeben. Und auch alle einschlägigen Telefonanrufe sollten gemeldet werden.« »Ich sehe es jetzt ein«, sagte er. »Ich kümmere mich darum.« Immerhin konnte ich Penny wieder einmal nach Hause bringen.
17. Kapitel
M
ein Verhältnis zu Penny besserte sich nun leidlich, aber vom Heiraten sprachen wir nicht mehr. Das Entsetzen über Mayberrys Irrtum hatte bei Penny ein tiefgreifendes Trauma hinterlassen. Ich hielt mich unaufdringlich an ihrer Seite und versuchte, so gut es ging, die Sprünge in ihrem Selbstvertrauen zu kitten, und von da an besorgte die Zeit, die wir zusammen verbrachten, den Rest. Professor Lumsden überzeugte derweil Penny, die Arbeit nicht aufzugeben; und so spielte ihr Leben sich im Dreieck ab – zwischen Haus, Arbeit und irgendeinem Krankenhaus, in dem Gillian sich jeweils befand. Mayberry wurde gründlich verhört, nicht nur durch eine Reihe von Psychiatern, sondern auch von Mansell, unserem tüchtigen Verhörspezialisten, der mit seiner leisen Stimme sogar die Vögel aus den Bäumen locken konnte. Aber alle kamen zu demselben Schluß: Mayberry war tatsächlich, was er zu sein schien – ein Geistesgestörter. »Und ein Feigling ist er wohl auch«, meinte Mansell. »Zuerst hatte er es auf Lumsden abgesehen, aber dann überlegte er sich, daß er mit einer Frau leichter fertig werden würde.« 138
»Und wieso hat er sich ausgerechnet Lumsdens Verein ausgesucht?« »Das lag nahe. Erstens ist Lumsden ein bekannter Mann. Anders als die meisten Wissenschaftler verschließt Lumsden sich nicht vor Journalisten, also geht sein Name oft durch die Presse. Zweitens hält er mit seinen Projekten nicht hinterm Berg. Sucht man also nach einem Genetiker, liegt einem Lumsdens Name sofort auf der Zunge.« Die Mayberry-Spur war eine Sackgasse. Und damit erhob sich die Frage, die Ogilvie und ich so gefürchtet hatten: Wenn das Säureattentat nur ein zufälliger Willkürakt war – warum trieb es dann Ashton in den Untergrund? Irgendwie ergab das doch keinen Sinn. Nachdem Mayberry ausgequetscht war, konnten Pennys und Gillians Bewacher abgezogen werden. Auch meine Jungs bekamen andere Aufträge zugeteilt. Ogilvie verfügte ohnehin nicht über viel Personal. Das Sonderdezernat Ashton wurde auf einen einzigen Mann reduziert, und der war ich. Viel Zeit ging dafür drauf, Namens- und andere Verwechslungen zu klären. Ashtons Schlupfloch war bestens getarnt. Keine heiße Spur. So gingen Wochen und Monate dahin. Gillian wurde aus diversen Krankenhäusern entlassen und immer wieder neuen Spezialisten anvertraut; schließlich durfte sie ganz zu Hause leben – mit einem Viertel der normalen Sehkraft. Penny plante eine Reise nach Amerika mit ihr; in einer bestimmten Klinik für kosmetische Chirurgie sollte vielleicht ihr verwüstetes Gesicht wiederhergestellt werden. Einmal, ich hatte Penny zu einem Abendessen überredet, fragte sie mich: »Was hast du eigentlich in Daddys großem Tresor gefunden?« Das war das erste Mal, daß sie wieder Interesse zeigte. »Nichts«, sagte ich. »Du lügst!« Ein Hauch von Verärgerung klang in ihrer Stimme. »Ich habe dich nie belogen, Penny«, sagte ich beherrscht. »Nicht ein einziges Mal. Unterlassungssünden mag ich begangen haben, aber keine willentlichen Sünden. Ich mag mich der suppressio veri schuldig gemacht haben, keineswegs aber der suggestio falsi.« »Du gibst ganz schön an mit deiner Gymnasialbildung«, sagte sie 139
spitz, lächelte aber dabei; ihr Zorn war verrauscht. »Komisch. Warum baut sich Daddy solch ein Ding und benutzt es dann nicht? Vielleicht hat er es mal benutzt, fand es aber dann zu mühsam.« »Soweit wir feststellen konnten, wurde der Tresor nie benutzt. Da war nichts als abgestandene Luft drin und ein bißchen Staub. Mein Boß ist höchst verblüfft.« »Ach, Malcolm, wenn ich nur wüßte, warum Daddy verschwunden ist! Jetzt sind es schon drei Monate.« Ich sprach die in solchen Fällen anzubringenden Trostworte und lenkte Penny ab. Schließlich sagte sie: »Erinnerst du dich, wie du mir erklärt hast, was du tatsächlich treibst? Damals hast du auch Lord Cregar erwähnt.« »Ja, das stimmt.« »Dieser Lord Cregar hat Professor Lumsden einen Besuch abgestattet.« »Ach ja?« Das weckte mein Interesse. »Weswegen?« »Lummy hat's mir nicht gesagt«, schüttelte sie den Kopf. »Etwa wegen Mayberry?« »Aber nein. Das erste Mal kam er, noch bevor du uns von Mayberry erzählt hast.« Sie legte die Stirn in Falten. »Zwei oder drei Tage nach der Öffnung des Tresors.« »Nicht zwei oder drei Wochen danach?« »Nein, nein – nur Tage später. Wer ist Lord Cregar?« »Er bekleidet ein ziemlich hohes Regierungsamt, glaube ich.« Ich hätte ihr auch sagen können, daß Lord Cregar vor einem Vierteljahrhundert ihren Vater aus Rußland herausgeschmuggelt hat, aber das ließ ich lieber. Hätte Ashton seine Töchter über seine russische Vergangenheit aufklären wollen, dann hätte er es gewiß längst getan. Mir stand es nicht zu, die Katze aus dem Sack zu lassen. Außerdem durfte ich ja auch nichts ausplaudern, was unter Code Schwarz begraben lag; das hätte für Ogilvie und mich nur gefährlich enden können, vielleicht sogar für Penny selbst. Und offiziell wußte ich ja nichts. Trotzdem, merkwürdig war es schon, daß Cregar sich, noch ehe wir auf Mayberry gestoßen waren, zu Lumsden begeben hatte. 140
Verlief da etwa ein Draht zwischen Ashton und Lumsden – einmal abgesehen von Penny –, über den zu stolpern wir versäumt hatten? Ich fing den Blick eines vorüberstrebenden Kellners auf und bat um die Rechnung. Ich trank meinen Kaffee aus und sagte zu Penny: »Komm, laß uns heimfahren und Gillian Gesellschaft leisten.«
Ogilvie rief mich am nächsten Morgen in sein Büro. Er zog ein Foto aus einem Umschlag und warf es mir quer über den Schreibtisch zu. »Wer ist das?« Der Mann auf dem Foto trug einen dicken Mantel und eine runde Pelzmütze mit hochgeklappten Ohrenschützern. Wo immer das Foto geknipst worden war – dortzulande schneite es. Helle Streifen verliefen über das offensichtlich mit einem Langzeitauslöser aufgenommene Bild. Ich sagte: »Das ist George Ashton.« »Nein, ist er nicht«, sagte Ogilvie. »Der Mann heißt Fjodor Koslow und lebt in Stockholm. Der Mann hat auch einen Diener, einen ältlichen Schlägertypen namens Howell Williams.« Ein zweites Foto flatterte mir über den Tisch zu. Ein Blick genügte. »Erzählen Sie mir keine Märchen. Das ist doch Benson! Woher kommen die Fotos?« »Ich wünsche, daß Sie uns Gewißheit verschaffen.« Ogilvie förderte nun einen ganzen Stapel Fotos zutage und fächerte sie aus. »Wie Sie wissen, besaßen wir nur ein paar schlechte Bilder von Ashton und gar keins von Benson. Sie, Malcolm, können als einziger in unserer Dienststelle die beiden identifizieren.« Jedes Foto zeigte entweder Ashton oder Benson, nur auf zwei Bildern standen sie zusammen. »Identifizierung positiv«, sagte ich. »Ashton und Benson.« Ogilvie zeigte sich äußerst zufrieden. »Einige der uns verbundenen Dienststellen sind kooperativ, andere nicht«, erläuterte er. »Ich hatte die Fotos, die wir von Ashton besaßen, in Umlauf gesetzt. Die neuen 141
Aufnahmen stammen von einem Stockholmer Mann namens Henty. Er scheint ganz geschickt mit der Kamera umgehen zu können.« »Sehr geschickt sogar.« Die Fotos waren nicht gestellt – Schnappschüsse – und sehr scharf. »Ich will nur hoffen, daß er umsichtig genug vorgegangen ist. Zu blöd, wenn uns die beiden nun wieder durch die Lappen gingen.« »Sie fahren also jetzt nach Stockholm und knüpfen an, wo Henty aufgehört hat. Henty hat Anweisung, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.« Ich sah durchs Fenster zum trüben Londoner Himmel hinauf und schüttelte mich. Um diese Jahreszeit war ich auf Stockholm nicht scharf. »Soll ich Kontakt mit Ashton aufnehmen? Ihm von Mayberry erzählen und ihn überreden, zum heimischen Herd zurückzueilen?« Ogilvie überlegte sich das. »Nein«, verkündete er schließlich. »Er sitzt mir dort zu nah an Rußland. Es könnte ihn erschrecken, daß der britische Geheimdienst sich immer noch für ihn interessiert. So sehr erschrecken, daß er sich in Dummheiten stürzt. Er hatte schon vor dreißig Jahren keine hohe Meinung von uns, und die dürfte sich in der Zwischenzeit kaum gebessert haben. Nein, Sie beschatten ihn lediglich und versuchen herauszukriegen, was er treibt.« Ich nahm den Zettel mit Hentys Stockholmer Adresse und Telefonnummer an mich. Dann sagte ich: »Können Sie sich irgendeine Verbindung zwischen Lumsden und Cregar vorstellen?« Dann erzählte ich ihm, was ich durch Penny wußte. Ogilvie starrte zur Decke hoch. »Von Zeit zu Zeit dringt Hintertreppengeflüster an mein Ohr. Es mag eine Verbindung geben, aber mit Ashton hat das nichts zu tun. Es kann einfach nichts mit ihm zu tun haben.« Ogilvies scheinbare Faszination für Elektroinstallationen unter Bürozimmerdecken verflog und er richtete seinen Blick wieder auf mich. »Malcolm, allmählich wissen Sie mir zuviel – mehr, als Ihnen guttut. Nichtsdestotrotz will ich Sie bei Laune halten – es handelt sich ja auch nur, wie gesagt, um Dienstbotengeschwätz. Als diese Dienststelle eingerichtet wurde, verlor Cregar ein starkes Stück seines Zuständigkeitskuchens an uns. Die Folge: sein bisheriges Informationsgeschäft 142
schrumpfte auf die Größe eines geheimdienstlichen Tante-Emma-Ladens zusammen. Weitere Folge: Er versuchte, sich in anderer Richtung ein neues Imperium aufzubauen. Wie man hört, soll er sich heftig auf die C&B-Branche geschmissen haben. Das könnte sein Interesse an Lumsden erklären.« Und wie es das erklärte! Chemische und biologische Kriegführung und Lumsdens Forschungsgebiet paßten wie die Faust aufs Auge. »Ist er auch immer noch in Sachen Staatssicherheit unterwegs?« »Nein, er hat ja einen Regierungs-Job. Er schafft Kontakte zwischen dem Ministerium und den Wissenschaftlern. Natürlich kümmert er sich, dank seiner Erfahrung, auch wohl etwas um die sicherheitstechnische Seite dieses Problemkreises.« Ich konnte mir Cregar gut vorstellen, wie er sich, vielleicht gerade in diesem Augenblick, mit glückseligem Lächeln am Anblick einer einstmals harmlosen Mikrobe ergötzte, die nun dank genetischer Manipulation für Krieg und Zerstörung gerüstet war. »Hat er etwas mit den Leuten von Porton Down zu tun?« »Das Verteidigungsministerium ist eben dabei, Porton Down zu schließen. Wo Cregar seine Spielchen mit Leben und Tod treibt, entzieht sich meiner Kenntnis. In der Mikrobiologie geht's nun mal nicht wie in der Atomforschung zu. Da braucht man keinen Teilchenbeschleuniger, der eine Milliarde kostet, und auch kein Kraftwerk, das Strom für eine mittelgroße Stadt liefern könnte. In der Mikrobiologie halten sich Forschungsanlagen und Kosten in Grenzen. Cregar könnte durchaus ein Dutzend Laboratorien weit übers Land verstreut betreiben. Wie auch immer – er spricht nicht darüber. Jedenfalls nicht mit mir.« Ich überlegte noch immer, versuchte eine Beziehung zu Ashton herzustellen, aber es wollte mir nichts einfallen. Es blieb nur Penny, und das sagte ich auch. Woraufhin Ogilvie mich fragte: »Hat Cregar denn auch mit ihr gesprochen?« »Das nicht.« »Ich sag's Ihnen ja, mit Ashton kann das nichts zu tun haben. Also viel Spaß in Schweden.« 143
Aber ich war noch nicht fertig. »Ich muß erst mehr über Benson wissen. Seine Daten stecken wahrscheinlich auch unter Code Schwarz.« Ogilvie bedachte mich mit einem langen, kummervollen Blick, dann stand er wortlos auf und verzog sich in die Kammer hinter seinem Schreibtisch. Als er wieder auftauchte, winkte er ab. »Sie müssen sich irren. Über Benson gibt's nichts. Nicht einmal unter Code Grün.« »Aber ich habe ihn doch selbst schon bis Code Purpur durch den Computer verfolgt!« sagte ich. »Da muß jemand an unserer Nellie herumgefummelt haben!« Ogilvies Lippen wurden schmal. »Höchst unwahrscheinlich«, sagte er brüsk. »Wie unwahrscheinlich?« »Ein Computer läßt sich nicht zum Meineid bestechen. Das schaffen allenfalls hochqualifizierte Fachleute.« »Fachleute gibt's zum Schweinefüttern – und die käuflichen sind auch längst im Dutzend billiger.« Ogilvie fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Zögernd sagte er: »Wir sind nicht als einzige Dienststelle diesem Computer angeschlossen. Seit Jahren dränge ich auf einen eigenen Computer für uns, bislang ohne Erfolg. Irgendeine andere Dienststelle …« Er brach ab und setzte sich. »Wer bestimmt, welches Material in die Datei eingegeben – und welches entfernt wird?« »Einmal im Monat tritt ein Koordinationsausschuß zusammen. Ohne dessen Genehmigung ist niemand zu Veränderungen im Datenmaterial befugt.« »Jemand hat Benson hinausverändert«, sagte ich. »Oder die BensonDaten sind, was noch wahrscheinlicher ist, neuerdings gesperrt. Jede Wette, daß uns da irgend jemand ein winziges Unterprogrämmchen eingeschmuggelt hat: ›Wenn einer kommt und nach Benson fragt, antwortest du: hier – ortsunbekannt.‹« »Nun, darum werde ich mich kümmern müssen«, sagte Ogilvie. »Auf der nächsten Ausschußsitzung, am kommenden Freitag, schlage 144
ich Krach.« Er zeigte mit dem Finger auf mich: »Aber Sie wissen nichts davon! Und jetzt hauen Sie endlich ab nach Schweden.« Ich stand auf, blieb aber an der Tür noch einmal stehen. »Ich hinterlasse Ihnen eine Handvoll Stoff zum Nachdenken. In den Fall Ashton bin ich hineingeraten, weil ich Nellie nach Ashton befragte. Bereits zwei Stunden später wurde ich hier in Ihrem Zimmer von Cregar und Ihnen in die Mangel genommen. Ist Cregar mit der Sache auf Sie zugekommen?« »Ja.« »Nach nur zwei Stunden? Wie konnte er wissen, wer sich da nach Ashton erkundigte, wenn nicht durch einen Tip vom Computer? Nach dem Kerl, der Nellie verführt hat, brauchen Sie wohl kaum weit zu suchen.« Ich ließ einen in tiefes Nachdenken versunkenen Mr. Ogilvie an seinem Schreibtisch zurück.
18. Kapitel
U
m diese Jahreszeit ist es in Stockholm trübe und kalt. Während meines ganzen Aufenthalts in Schweden hörte es nicht zu schneien auf. Es schneite meistens nicht sehr stark, aber ununterbrochen senkte sich aus bleigrauen Wolken, als wäre ein nicht gar so lieber Gott da oben ständig mit einem riesigen Mehlsieb zugange, feines weißes Pulver aufs Land. Ich mietete mich im Grand ein, wo wenigstens einigermaßen gut geheizt war. Dann brachte ich meinen Anruf bei Henty hinter mich und danach schaute ich durchs Fenster über den zugefrorenen Strömmen hinweg zum Königlichen Schloß hinüber. Unser alter König Edward VII. soll seinen Buckingham-Palast scheußlich gefunden und immer nur diese verdammte Fabrik genannt haben; ob er sich auch mal über das Stockholmer Schloß äußerte, ist nicht verbrieft, aber 145
zumindest an diesem Nachmittag sah auch das wie eine satanische Manufaktur aus. Die Schwäne stapften voller Unbehagen übers Eis, kuschelten sich wärmesuchend aneinander. Ein Schwan stand auf einer Eisscholle und driftete auf Riddarfjärden zu; ich sah ihm nach, bis ich ihn unter der Strömm-Brücke aus den Augen verlor. Trotz der Zentralheizung war mir plötzlich kalt. Schweden wirkt im Winter nun mal so auf mich. Henty kam, und wir tauschten unsere Legitimationen aus.»Normalerweise haben wir mit Ihrem Verein wenig zutun«, sagte er, als er mir meinen Ausweis zurückgab. Seinem Akzent nach mußte er früher einmal in den Kolonien gelebt haben. »Wir sind auch nur selten außerhalb der Landesgrenzen aktiv«, sagte ich. »Wir betreiben hauptsächlich Spionageabwehr. Nur diesmal liegt der Fall ein wenig anders. Bringen Sie mich zu George Ashton, und ich spendiere Ihnen einen Kasten Foster's.« Henty blinzelte überrascht. »Ein prima Bier. Aber woher wissen Sie, daß ich Australier bin? Seit zwanzig Jahren war ich nicht mehr drüben, da müßte ich doch inzwischen den Akzent verloren haben.« Ich grinste. »Sie haben ganz gut Englisch gelernt. Wo ist Ashton?« Er trat ans Fenster und zeigte auf den königlichen Palast. »Dahinter. Auf der anderen Seite. In der Gamla Stan.« Gamla Stan – die Altstadt. Ein Gewirr enger Gassen zwischen alten Gebäuden – in Stockholm ist es ›in‹, dort zu wohnen. Die Postanschrift des königlichen Palastes lautet Gamla Stan Nr. 1. Ich fragte: »Wie fanden Sie ihn?« »London schickte mir eines Tages ein paar verwackelte Fotos, und wie das Leben so spielt, läuft mir der Typ gleich am selben Tag in die Arme. Einfach so.« Er zuckte die Achseln. »Zufall.« »Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeitsrechnung mußten wir ja irgendwann mal Glück haben«, merkte ich an. »Seine Wohnung liegt in einer Seitenstraße der Västerlänggatan. Er gibt sich als Russe aus und nennt sich Fjodor Koslow – was ein Fehler ist.« 146
»Wieso?« »Dadurch fällt er auf. So sehr, daß ich mich selber ans Fotografieren gemacht habe. Sein Russisch klingt irgendwie komisch. Nicht natürlich.« In dreißig Auslandsjahren mochte Ashtons Russisch tatsächlich ein wenig rostig geworden sein; es soll ja Leute geben, die ihre Muttersprache völlig verlernen. »Und Benson?« fragte ich. »Wohnt er mit ihm zusammen?« »Benson? Heißt der andere so? Hier nennt er sich Williams. Ein älterer Mann, sieht nach Schläger aus. Engländer ist er auf jeden Fall.« »Wie kann ich mir die beiden einmal ansehen?« Henty zuckte die Achseln. »Gehen Sie in die Gamla Stan und stellen Sie sich in der Nähe der Wohnung auf und warten Sie, bis sie rausoder reinkommen.« »So geht's nicht«, schüttelte ich den Kopf. »Die beiden kennen mich, und ich will nicht gesehen werden. Was haben Sie hier für einen Status, Mr. Henty?« »Eigentlich gar keinen. Ich bin Teilhaber einer Import-Export-Firma. Ich habe einen Draht zur Botschaft, aber nur für Notfälle. Die Diplomaten hier schätzen unsereins nicht besonders. Sie haben ständig Angst, wir könnten Ärger machen.« »Da mögen die Herren sogar recht haben«, sagte ich trocken. »Mit wem in der Botschaft kann ich mich in Verbindung setzen?« »Mit einem Zweiten Botschaftssekretär namens Cutler. Ein Trottel mit einer Bonbonnase.« Mr. Henty schien zumindest in seinem Nebenberuf nicht recht glücklich zu sein. »Welche Hilfskräfte stehen Ihnen hier – von der Botschaft abgesehen – zur Verfügung?« »Hilfskräfte?« Henty grinste. »Was es hier an Hilfskräften gibt, sehen Sie vor sich stehen – mich! Ich habe nur einen Observierungsauftrag, keine Handlungsbefugnis.« »Dann bleibt uns eben doch nur die Botschaft.« Er hustete. »Wer ist eigentlich dieser Ashton?« Ich sah ihn so lange schweigend an, bis er sagte: »Na ja, wenn das so ist …« 147
»So ist es doch immer. Oder?« »Scheint so«, meinte er verzagt. »Ich möchte wirklich nur mal gern wissen, warum ich das tue, was ich immer tue.« Ich blickte auf meine Uhr. »Es bleibt uns gerade noch Zeit, Cutler aufzusuchen. Sie ermitteln in der Zwischenzeit den Standort von Ashton und Benson. Meldung an mich, entweder hierher oder in die Botschaft. Eins ist wichtig – erschrecken Sie mir die beiden nicht.« »Okay – aber bei Cutler springt bestimmt nicht viel für Sie heraus.« Ich lächelte: »Ich möchte weder Ihnen noch Cutler raten, darauf zu wetten.« Die Botschaft liegt in der Skarpogatan, und unter Cutler stellte sich ein großer, schlanker, blonder Mann etwa meines Alters vor, sehr englisch, äußerst höflich und äußerst distanziert – offenbar nahmen ganz andere und ungemein wichtige Dinge, von denen sich ein Nichtdiplomat keinerlei Vorstellungen macht, seinen Geist völlig in Anspruch. Dieser Mini-Metternich erinnerte mich penetrant an einen Ladenschwengel in einem snobistischen Londoner Geschäft. Als ich ihm meine Karte reichte – die ganz besondere –, bekam er schmale Lippen und sagte kühl: »Ganz offensichtlich befinden Sie sich hier etwas außerhalb Ihres Reviers, Mr. Jaggard. Was können wir für Sie tun?« Es klang, als sei er fest überzeugt, unmöglich etwas für mich tun zu können. Ich sagte liebenswürdig: »Uns ist ein Stück Eigentum abhanden gekommen, und wir möchten es gern wiederhaben – mit Ihrer Hilfe. Aber Takt ist das Motto.« Ich weihte ihn, ohne schmückendes Beiwerk, in die Vorgänge um Ashton und Benson ein. Als ich damit durch war, zeigte sich eine Spur von Verblüffung auf seinem Gesicht. »Aber ich vermag nicht einzusehen, wieso …« Er fing noch einmal an. »Schauen Sie, Mr. Jaggard. Wenn dieser Mann den Entschluß faßt, mit seinem Diener England zu verlassen, um sich in Schweden unter einem angenommenen Namen niederzulassen, dann sehe ich für uns wirklich keine Möglichkeit zum Eingreifen. Ich glaube nicht, daß es nach schwedischem Gesetz als Verbrechen gilt, einen fremden Namen anzunehmen, in England ist es das auf keinen Fall. Also, was wünschen Sie genau?« 148
»Ich brauche ein paar Leute«, sagte ich. »Ich will Ashton observieren lassen. Ich möchte wissen, was er tut und weshalb.« »Kommt überhaupt nicht in Frage«, beschied Cutler. »Für Polizistenarbeit dieser Art haben wir keine Leute. Aufgrund der mir dargelegten Fakten ist mir auch unerfindlich, welches Interesse Sie an diesem Mann haben dürften.« »Mehr zu erfahren, sind Sie nicht befugt«, sagte ich unumwunden. »Also hören Sie auf mich – das ist ein ganz heißes Ding.« »Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht folgen«, befand er kühl. »Sind Sie allen Ernstes der Ansicht, wir springen sofort los, wenn ein Fremder von der Straße hereinkommt und uns eine höchst unwahrscheinliche Geschichte auftischt?« Ich zeigte auf meine Karte, die noch immer auf der Schreibtischunterlage vor ihm lag. »Trotz dieser?« »Trotz dieser«, bestätigte er, und meinte natürlich gerade deswegen. »Leute wie Sie versetzen mich immer wieder in Erstaunen. Sie halten sich alle miteinander für James Bonds. Nun, ich habe nicht die Absicht, in einem hochkolorierten Film mitzuspielen, selbst wenn Sie es wollten.« Ich hatte wenig Lust, mich mit ihm herumzustreiten. »Darf ich Ihr Telefon benutzen?« Er schoß mir einen finsteren Blick zu und dachte sich angestrengt einen Ablehnungsgrund aus. »Ich bezahle Ihnen das Gespräch.« »Nicht nötig«, sagte er schnippisch und schob mir das Telefon über den Schreibtisch. Einer von unseren Eierköpfen hat mich einmal nach der größten Maschine der Welt gefragt. Nach mehreren unzutreffenden Antworten mußte ich aufgeben, und da verkündete er mir dann seines Rätsels Lösung: »Das internationale Telefonnetz. Es gibt 450 Millionen Telefonanschlüsse in der Welt, und davon sind 250 Millionen durch das Direktwahlsystem unmittelbar miteinander verbunden, ohne Fräulein vom Amt.« Mögen wir auch manchmal über Pannen im Ortsnetz meckern in kaum sechzig Sekunden hatte ich Ogilvie an der Strippe. Ich sagte: »Wir haben Ashton. Aber nun erhebt sich eine kleine 149
Schwierigkeit. Es steht mir nur ein einziger Henty zur Verfügung, und ich selbst kann ja so nah nicht rangehen.« »Okay. Kontakten Sie die Botschaft und fordern Sie Unterstützung an. Observierung muß durchgeführt werden. Halten Sie selbst sich unbedingt im Hintergrund.« »Ich befinde mich in der Botschaft. Unterstützung Fehlanzeige.« »Wie heißt der Hemmschuh?« »Cutler – Zweiter Sekretär.« »Bleiben Sie am Apparat.« Papiergeraschel aus dem fernen London kam über den Draht. Schließlich wieder Ogilvies Stimme: »In höchstens einer halben Stunde ist der Hemmschuh weggesprengt. Lassen Sie sich um Gottes willen Ashton nicht mehr durch die Lappen gehen.« »Keine Sorge.« Ich legte auf, erhob mich und steckte meinen Dienstausweis wieder ein. »Ich wohne im Grand. Sie können mich dort erreichen.« »Unter den obwaltenden Umständen sehe ich einen Anlaß dafür kaum gegeben«, meinte Cutler reserviert. Ich lächelte den Herrn Zweiten Sekretär freundlich an. »Das kommt noch.« Plötzlich hatte ich die Nase voll von ihm. »Es sei denn, Sie verspüren das dringende Bedürfnis, die nächsten zehn Jahre in Samoa Büroklammern zu zählen.« Im Hotel fand ich eine knappe Mitteilung Hentys vor: »Erwarte Sie im Moderna Museet in der Skeppsholmen.« Ich schnappte mir ein Taxi und war fünf Minuten später im Museum. Henty stand, mit frostblauer Nase, die Hände tief in den Manteltaschen, vor dem Haupteingang. Mit einer Kopfbewegung wies er zum Museumsgebäude hin. »Ihr Mann macht auf Kultur.« Jetzt galt es, umsichtig vorzugehen. »Ist Benson bei ihm?« »Ashton ist allein.« »Gut. Gehen Sie rein, schauen Sie, wo er steht, und kommen Sie wieder her.« Henty verschwand im Eingang, sichtlich froh, sich aufwärmen zu dürfen. Nach fünf Minuten war er zurück. »Er bestaunt Picassos der 150
Blauen Periode.« Henty reichte mir einen Lageplan der Ausstellungssäle und kreuzte die Picasso-Galerie an. Ich bewegte mich vorsichtig durch das Museum, in dem sich an diesem kalten Winternachmittag nur wenige Besucher aufhielten, was beklagenswert war, weil ich so nicht in der Menge untertauchen konnte. Andererseits bot sich ein unbehinderter Blick durch die weiten Säle. Ich nahm mein Taschentuch zur Hand, um bei Bedarf mein Gesicht darin verstecken zu können, spähte um die Ecke und sah Ashton in der Ferne. Er hatte sich in den Anblick eines Gemäldes vertieft, und als er sich umwandte, um zum nächsten Bild weiterzuschreiten, bot er mir sein Gesicht dar. Zu meiner Erleichterung war es tatsächlich Ashton. Zu ärgerlich, wenn ich Cutler umsonst zur Schnecke gemacht hätte.
19. Kapitel
A
ber Cutler hüpfte von Stund an wie ein aufgeschreckter Frosch. Bereits sechzig Minuten später, als ich meine durchfrorenen Knochen in einem heißen Bad auftaute und wohlig mein Mitleid für den weiterhin auf Ashton angesetzten Henty genoß, klingelte das Telefon und meldete Cutlers Eintreffen in der Hotelhalle. Cutler hatte auch zwei Herren mitgebracht, die er mir als Mr. Askrigg und Mr. Debenham vorstellte. Er entschuldigte sich nicht für seine frühere Haltung, und wir verloren auch beide kein Wort mehr darüber. Er hüllte sich überhaupt während der ganzen Zeit unserer Bekanntschaft in eine wohlerzogen-kühle Mißbilligung, aber damit konnte ich mich leicht abfinden, solange er tat, was ihm aufgetragen wurde, und solange er es flink tat, und in dieser Hinsicht hatte ich dann auch keine Klagen. Der Haken war nur, daß er und seine Leute sich als entsetzliche Dilettanten aufführten. 151
Wir kamen ohne Umschweife zur Sache. Ich umriß die Lage, und Askrigg meinte: »Um zwei Männer rund um die Uhr zu observieren, braucht man sechs Leute.« »Mindestens«, gab ich zu. »Und dabei fallen ich und Henty auch noch fürs Observieren aus: mich kennen Ashton und Benson, und Henty hat jetzt genug geleistet. Er hat Ashton für uns aufgestöbert und sich seitdem den Arsch abgefroren. Ich ziehe Henty erst einmal zurück, damit er sich erholen kann und als Reserve zur Verfügung steht.« »Sechs Leute?« sagte Cutler zweifelnd. »Nun, vielleicht kriegen wir noch ein paar Hilfskräfte zusammen. Worauf richten wir unser Augenmerk?« »Ich will alles über die beiden wissen. Wohin sie gehen, was sie essen, was sie sich anschauen, ob sie nach festem Tagesplan leben; was geschieht, falls sie von diesem Plan abgehen. Wem sie schreiben – einfach alles.« »Ein bißchen viel Getue um einen verhältnismäßig mittelklassigen Industriellen, will mir scheinen.« Cutler rümpfte die Nase. Ich grinste ihn an und zitierte: »Die Gründe zu erfragen, das ist eure Sache nicht – nur zu kämpfen und zu sterben, das ist eure Pflicht … Und Sterben ist übrigens durchaus drin, die beiden Burschen tragen Waffen.« Daraufhin breitete sich Schweigen aus, und ein leichtes Nervenzucken befiel den feinen Mr. Cutler. Nach seinen Spielregeln schlossen Diplomatie und Waffengewalt einander aus. Ich sagte: »Noch eins. Ich möchte mir Ashtons Wohnung gern einmal von innen ansehen. Wir müssen also Ashtons Stundenplan ausbaldowern, damit wir uns den günstigsten Zeitpunkt aussuchen können.« »Ein Einbruch!« ließ Cutler sich mit hohler Stimme vernehmen. »In solche Vorgänge darf die Botschaft unter gar keinen Umständen verwickelt werden!« »Wird sie auch nicht«, sagte ich ungeduldig. »Überlassen Sie das mir. Alsdann, stellen wir einen Einsatzplan auf …« 152
Von diesem Augenblick wurden Ashton und Benson auf Schritt und Tritt überwacht, jedes Kommen und Gehen zu Protokoll genommen; ein ebenso ermüdendes wie frustrierendes Unterfangen wie meist in solchen Fällen. Denn die beiden Männer führten ein durchaus vorbildliches Leben. Ashton spielte den müßiggängerischen Gentleman, der sich ganz dem Besuch von Museen und Kunstgalerien, Theater- und Kinovorstellungen widmet; viel Zeit verbrachte er auch in Buchhandlungen, wo er ziemlich viel Geld ausgab, sowohl für Romane als auch für die unterschiedlichsten Sachbücher, darunter zahlreiche Biographien. Er kaufte Bücher in den verschiedensten Sprachen, vornehmlich in Englisch, Deutsch und Russisch. Ansonsten tat er nichts, was auch nur annähernd als Arbeit zu bezeichnen gewesen wäre. Wirklich verblüffend. Benson mimte derweil den perfekten Diener. Er besorgte die Einkäufe für den Haushalt, machte Gänge zur Wäscherei, zur Reinigung, kochte wohl gelegentlich auch, wenn Ashton nicht zum Essen ausging. Benson hatte auch bereits eine Stammkneipe, die er drei- oder viermal in der Woche frequentierte, eine ölstuga, die sich übrigens durch ein einigermaßen intelligentes Publikum auszeichnete. Schachspieler tagten jedenfalls dort. Benson ließ sich immer mal wieder auf ein Spielchen nieder, ging aber stets verhältnismäßig früh nach Hause. Aber keiner von beiden schrieb oder empfing Briefe. Keiner von beiden schien Bekanntschaften zu pflegen, die über den Rahmen des Alltäglichen hinausgingen. Keiner von beiden tat Außergewöhnliches – mit einer Ausnahme: daß sie sich überhaupt in Stockholm befanden, war außergewöhnlich. Zu Beginn der dritten Woche, als uns der tägliche Stundenplan der beiden Müßiggänger übersichtlich genug erschien, brach ich mit Henty in die Wohnung ein. Ashton saß derweil in einem Kino, und Benson zog mit einem halben Liter Carlsberg-Bier neben sich seine Bobby-Fisher-Masche ab, somit stand uns mindestens eine halbe Stunde Zeit zur Verfügung. Wir durchkämmten die Wohnung bis auf die letzte Ritze und fanden nicht sehr viel. 153
Unser Hauptgewinn war Ashtons Paß – vor drei Jahren in Israel auf den Namen Fjodor Antonowitsch Koslow, geboren 1914 in Odessa, ausgestellt. Ich fotografierte jede einzelne Seite, auch die leeren, und legte ihn wieder dorthin, wo ich ihn entdeckt hatte. Als zusätzlicher Trostpreis fiel uns dann noch das Eintragungsblatt eines leeren Scheckbuchs zu. Ashton schien recht großzügig mit seinem Geld umzugehen, seine privaten Spesen beliefen sich auf fast fünfhundert Pfund die Woche. Das Telefon klingelte. Henty hob ab und sagte vorsichtig: »Vilket nummer vill ni ha?« Es folgte eine Pause, dann meinte Henty »Okay« und legte auf. »Benson verläßt die Kneipe«, sagte er dann. »Er kommt nach Hause.« Ich blickte mich im Zimmer um. »Haben wir alles wieder in Ordnung gebracht?« »Ich glaube schon.« »Dann nichts wie weg.« Wir verließen das Haus und warteten in Hentys Wagen, bis wir Benson kommen sahen. Wir überzeugten uns noch, daß ihm beim Betreten des Hauses nichts zustieß und daß sein Schatten ihm auftragsgemäß folgte, dann fuhren wir davon.
Früh am nächsten Morgen übergab ich Cutler die belichteten Filme und bestellte einen Satz Negative nebst einem doppelten Satz Abzüge. Ich bekam die Ware nach einer Stunde und verbrachte die Zeit bis zu dem bei Ogilvie vorangemeldeten Anruf mit der Überprüfung der Fotos. Die Voranmeldung war nötig, weil Ogilvie sich erst noch einen Zerhacker besorgen mußte, der dem Zerhacker in der Botschaft entsprach. Ich faßte die Lage kurz zusammen und sagte dann: »Mit einem Erfolg ist nur zu rechnen, wenn sich endlich einmal etwas Außergewöhnliches ereignet und da ist zur Zeit leider nichts in Sicht. Bis jetzt haben 154
wir nur den israelischen Paß. Von dem wüßte ich gern, ob er koscher ist. Ich schick Ihnen die Fotos mit dem Botschaftskurier.« »Vor drei Jahren ausgestellt, sagten Sie?« »Richtig. Etwa um die Zeit, als hier ein Bankkonto auf den Namen Koslow eröffnet wurde. Die Anmietung der Wohnung erfolgte ein Jahr später, ebenfalls auf den Namen Koslow. Die Wohnung war untervermietet bis vor etwa vier Monaten – da zog dann Ashton ein. Unser Freund hat also alles sorgsam vorbereitet. Ich habe die Belege im Scheckbuch über einen Zeitraum von zwei Monaten überprüft. Daß Ashton jeden Penny umdreht, kann man nicht sagen.« »Wie verhält er sich? Ich meine psychologisch?« »Ich habe ihn nur dreimal gesehen, und auch da jedesmal nur aus der Ferne.« Ich überlegte einen Augenblick. »Meinem Eindruck nach wirkt er viel entspannter als zuletzt in England – längst nicht mehr so unter Streß.« Mehr gab's nicht zu berichten. »Was unternehmen wir als nächstes?« »Weitermachen«, sagte Ogilvie kurz und bündig. Ich seufzte. »Aber das kann wochenlang so weitergehen! Monate! Soll ich mir Ashton nicht doch mal privat vorknöpfen? Ich müßte mich dabei keineswegs enttarnen. Ich könnte mich bei einer internationalen Wirtschaftskonferenz akkreditieren lassen, die nächste Woche hier stattfindet.« »Lassen Sie das«, meinte Ogilvie. »Ashton ist mir zu clever. Observieren Sie weiter. Irgendwas wird sich schon ergeben.« Hoffen und Harren macht manchen zum Narren, hätte ich ihm gern gesagt, tat ich aber nicht. Ich sagte nur: »Also, dann geb ich jetzt mal die Negative und die Abzüge in die Diplomatenpost.« Wieder vergingen zwei Wochen, und nichts passierte. Ashton lebte weiter scheinbar unbeschwert in den Tag, eifrig mit Nichtstun beschäftigt. Ich bekam ihn ein weiteres Mal zu Gesicht, diesmal zu ausführlicherer Betrachtung, und wieder hatte ich den Eindruck, daß er sich auf eine linkische Art und Weise köstlich amüsierte. Vermutlich genoß er die ersten sorgenfreien Ferien seines Lebens, ohne die komplexen Unternehmungen, die er sich aufgebaut hatte. Benson bummel155
te allmorgendlich über die Märkte und durch die Lädchen der Gamla Stan und betrieb genüßlich, ohne jeden Penny umdrehen zu müssen, die Einkäufe für die gewiß alles andere als frugalen Mahlzeiten seines Herrn. Wir konnten uns inzwischen auch schon ein genaues Bild vom Feinschmecker-Speisezettel des Ashtonschen Haushalts machen – was uns aber auch nicht weiterhalf. Henty ging derweil seinen eigenen, geheimnisvollen Geschäften nach, in die ich freilich meine Nase nicht hineinsteckte. Daß er sich irgendwie auf dem Gebiet militärischer Geheimdienste tummelte, wußte ich allerdings, denn er fuhr auf eine Woche nordwärts nach Lappland, wo die schwedische Armee ihre Wintermanöver veranstaltete; nach der Rückkehr traf ich ihn kurz, und er erzählte von einem längeren Bericht, den er habe schreiben müssen. Vier Tage später suchte er mich mit einer beunruhigenden Meldung auf: »Wissen Sie eigentlich, daß sich noch ein anderer Verein auf unserem Sportplatz tummelt?« Ich starrte ihn an: »Was soll das heißen?« »Ich bin ein neugieriger Mensch, wissen Sie. Gestern abend in meiner unausgefüllten Freizeit, juckte es mich plötzlich. Ich wollte mich eigentlich nur vergewissern, ob Cutlers Buben nicht die Schule schwänzen. Und was sehe ich da? Ashton spaziert durch die Stadt – und führt eine ganze Polonäse an. In Ashtons Fußstapfen wandelt unser Mann, und in dessen Fußstapfen ein Unbekannter.« Ich hatte ein paar Fragen auf der Zunge, aber Henty hob die Hand. »Daraufhin machte ich mich auf die Suche nach Benson – und siehe da: dieselbe Show.« »Davon hat Cutler nichts gesagt.« »Das merkt der doch nie!« meinte Henty geringschätzig. »Und seine Buben auch nicht. Lauter Sonntagsjäger.« Ich stellte die heikle Frage: »Wer?« Henty hob die Schultern. »Wenn ich dreimal raten darf – der schwedische Geheimdienst. Die Jungs sind gut. Ein Mann mit russischem Namen ist immer interessant; wird dieser Mann observiert, doppelt interessant. Inzwischen dürften die Schweden wohl Kontakt mit der britischen Botschaft aufgenommen haben.« 156
»Verdammt«, sagte ich. »Am besten erzählen wir Cutler nichts davon, sonst kriegt er sofort wieder diplomatische Schweißausbrüche. Ich glaube, jetzt kommt der Punkt, wo wir einsteigen müssen.« Am nächsten Tag waren wir bereits auf dem Posten, noch ehe Ashton das Haus zu seinem Morgenspaziergang verließ. Ashton tauchte auf – und das erste Glied der Polonäse hängte sich an ihn an, unser Mr. Askrigg. Henty gab mir einen Rippenstoß und wies mit dem Kinn auf einen Spaziergänger, der in respektvollem Abstand die Spur aufnahm. »Da kommt unser Joker. Ich folge ihm auf der anderen Seite, und Sie bewegen sich parallel und halten uns beide im Auge.« Henty war ein echter Profi. Ich gab mir alle Mühe, gleichzeitig ihn und den Mann, dem er folgte, im Blick zu halten, aber die meiste Zeit machte Henty sich unsichtbar – obwohl er wußte, daß ich da war. Er tauchte mal hier, mal da auf, ging mal auf Distanz, schloß dann wieder auf, verschwand in Ladentüren, erschien an plötzlich unerwarteten Stellen und tat überhaupt alles, um gar nicht da zu sein. Zwei- oder dreimal promenierte er sogar vor dem Mann, den er beschattete. Ashton widmete diesen Vormittag offenbar wieder einmal der Literatur. Er suchte nacheinander zwei Buchhandlungen auf, wo er jedesmal eine Dreiviertelstunde zubrachte, dann zog er sich in ein Cafe zurück, um bei Kaffee und Gebäck seine Beute zu inspizieren. Und nun wurde es komisch. Das Café lag an einer Straßenecke. Vor der Tür wartete demütig Askrigg, dieweil sich auf der Ecke schräg gegenüber sein Schatten mit heftigem Fußaufstampfen warmzuhalten mühte, wobei er auffälligunauffällig eine Geschäftsauslage betrachtete. Die dritte Ecke wurde von Henty gehalten, der sich ähnlichem Zeitvertreib hingab, und ich okkupierte die vierte. Meine Postenstellung bezog ihre pikante Note aus der Natur des Schaufensterinhalts, dem ich meine intensive, wenn auch nicht ungeteilte Aufmerksamkeit angedeihen lassen mußte. Henty – immerhin – stand vor einem Fotogeschäft mit teuren Kameras in der Auslage. Mein Laden jedoch pries eine reichhaltige Kollektion von jenen typisch schwedischen Modeschöpfungen an, die in aller Welt unter der irreführenden Bezeichnung Intimwäsche berühmt sind. 157
Endlich beehrte uns Ashton – freilich ahnungslos – wieder mit seinem Erscheinen, die Polonäse formierte sich von neuem. Und da Ashton nichts vom Erlebnishunger seiner Verfolger ahnte, ließ er sich auch nichts Besseres einfallen, als uns zum Ausgangspunkt seiner Wanderung zurückzuführen, wenn auch, was wir gewiß alle mit einem kurzen Anflug dankbarer Spannung registrierten, auf einem Umweg über den Vasabron. Aber unterm Strich war die gesamte Unternehmung ein Reinfall. Da, plötzlich, brachen bessere Zeiten an. Der fremde Spielkamerad in unserem Reigen trat in einen Tabakladen. Ich folgte ihm. Ich kaufte mir eine Packung Zigaretten. Ich hörte den Mann ins Telefon sprechen. Er sprach mit gedämpfter Stimme; verstehen konnte ich nicht, was er sagte, aber es klang weder nach Schwedisch noch Englisch. Der Mann verließ den Laden und ging weiter die Straße entlang. Ich folgte ihm auf der anderen Straßenseite. Nach hundert Schritten überquerte er die Fahrbahn, woraufhin auch ich den Bürgersteig wechselte. Aber nun spazierte der Kerl in Gegenrichtung wieder die Straße zurück. Was er da trieb, war ein wie er wohl hoffte – unauffälliger Patrouillengang vor Ashtons Haus. Fünfzehn Minuten später ereignete sich dann das, worauf wir gewartet hatten: seine Ablösung erschien. Die beiden Männer standen ein paar Augenblicke beieinander; sie plauderten gelassen, Atemwolken stiegen aus ihren Mündern hoch und verflüchtigten sich in der kalten Luft. Dann setzte sich mein Objekt strammen Schrittes in Bewegung. Ich folgte. Hinter einer Straßenecke gegenüber der Rückfront des königlichen Palastes verschwand er. Ich schloß auf. Als ich ihn wieder im Blick hatte, verhandelte er mit einem Taxifahrer. Ich versuchte eben, mir zusammenzureimen, wie man einem Taxifahrer auf schwedisch: »Folgen Sie diesem Wagen!« sagt, als neben mir Henty mit seinem Wagen anrollte. Ich sprang hinein, und Henty meinte zufrieden: »Ich hab' schon damit gerechnet. Ich glaube, wir alle haben für heute vom Zufußlatschen die Schnauze voll.« Ich sagte ja bereits, daß er ein Vollprofi war. Wir folgten dem Wagen durch ganz Stockholm, was nicht besonders 158
schwierig und auch nicht übermäßig zeitraubend war. Das Taxi hielt vor einem größeren Gebäude, unser Mann entlohnte den Taxifahrer und entschwand im Eingang. Henty rauschte vorbei, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. »Eine schöne Bescherung!« sagte er ausdrucksvoll. Ich drehte mich auf dem Beifahrersitz um und schaute zurück. »Wieso? Was ist das für ein Gebäude?« »Die verdammte russische Botschaft!«
20. Kapitel
A
uf meinen Bericht hin erwartete ich zwar allerhand Reaktionen, aber keinen leibhaftigen Ogilvie. Um drei Uhr nachmittags hatte ich ihn angerufen, kurz vor Mitternacht stand er in meinem Zimmer, und vier Herren vom Amt bezogen Posten im Hotel. Ogilvie quetschte mich aus, und am Schluß sagte ich: »Heute abend habe ich zusammen mit Henty den Mann, der Benson folgte, unter die Lupe genommen. Der Mann fuhr schließlich zu einer Wohnung in Upplandsgatan. Bei der Überprüfung stellte sich heraus, daß er Handelsattaché bei der russischen Botschaft ist.« Ogilvie war ungewöhnlich nervös und unentschlossen. Er schritt im Zimmer auf und ab wie ein Tiger im Käfig, die Hände auf dem Rücken, und ließ sich dann in einen Sessel fallen. »Verdammter Mist!« explodierte er. »Diesmal weiß ich wirklich nicht, wie ich entscheiden soll!« Ich wartete eine Weile stumm, aber Ogilvie ließ sich nicht weiter aus, also fragte ich schüchtern: »Wo liegt denn der Hase im Pfeffer?« »Es ist so: Ashton wollte uns nicht liefern, was wir von ihm wollten, nachdem wir ihn aus Rußland herausgeschleust hatten. Gewiß, er hat viel geleistet, aber doch nur auf rein kommerzieller Ebene. Den großen Genieblitz ist er uns schuldig geblieben. Warum sollten wir uns 159
nun also Sorgen um ihn machen, wenn er in Stockholm den dummen Jungen spielen will und dabei die Aufmerksamkeit der Russen auf sich zieht?« Bei kühler Betrachtung war die Frage angebracht. Ich ließ Ogilvie weiterreden. »Wenn's nach mir ginge, würde ich ihn sausen lassen. Sollen die Russen ihn doch haben! Nur: erstens weiß ich nicht, warum er abgehauen ist – und das Ärgste dabei ist, daß es sich womöglich um einen ziemlich lächerlichen Grund handelt. Was mich da juckt, ist wahrscheinlich eine rein intellektuelle Neugierde meinerseits, und der Steuerzahler sollte das eigentlich nicht finanzieren müssen. Unser Unternehmen kostet nämlich einen ganz schönen Batzen Geld.« Er ging immer noch auf und ab. »Und zweitens krieg ich diesen leeren Tresor einfach nicht aus dem Kopf. Warum hat Ashton sich das Ding angeschafft, wenn er es dann doch nicht benützt? Haben Sie sich darüber schon einmal Gedanken gemacht?« »Ja. Aber weit bin ich damit nicht gekommen.« Ogilvie seufzte. »In den letzten Monaten mußte ich so viele AshtonAkten lesen, daß ich fast schon einen Silberblick habe. Immer wieder habe ich versucht, Ashtons Gedankengänge nachzuvollziehen. Wußten Sie eigentlich, daß der Vorschlag, die Daten eines toten englischen Soldaten zu übernehmen, von ihm selbst kam?« »Nein. Ich hab' das immer für einen Einfall von Cregar gehalten.« »Es war Chelyuskins Idee. Beim Aktenstudium kam ich dahinter, daß er trickst wie ein Taschenspieler. Überlegen Sie nur mal, wie er aus Rußland entkommen ist! Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, daß der leere Tresor auch so eine Täuschung ist.« »Eine teure«, sagte ich. »Das kümmert Ashton wenig – er schwimmt im Geld. Wenn er etwas versteckt hat, dann woanders.« Es war zum Verzweifeln. »Aber warum hat er dann den Tresor überhaupt eingebaut?« »Um jedem, der ihn öffnen würde, zu zeigen, daß dies das Ende der Fahnenstange ist. Daß es keine Geheimnisse gibt. Wie gesagt: ein Täuscher.« 160
»Bißchen schrullig, das alles«, sagte ich. Ich war müde; es war spät, und ich hatte den ganzen Tag schwer geschuftet. Zu Fuß die eisglatten Straßen von Stockholm abzuklappern, war nicht gerade das, was ich mir unter Vergnügen vorstellte, und ich vermochte mit Ogilvies Ausführungen über Ashton einfach nicht mehr mitzuhalten. Ich versuchte, ihn wieder zur Sache zu bringen. Also sagte ich: »Was machen wir jetzt mit Ashton?« Er war der Boß, er mußte entscheiden. »Wie sind die Russen darauf gekommen, daß Ashton hier ist?« »Keine Ahnung.« Ich zuckte die Achseln. »Ich vermute, daß sie von einem verschwenderischen Landsmann, der Moskau unbekannt ist, Wind bekamen und daraufhin beschlossen, ihn unter die Lupe zu nehmen. Zu ihrer Überraschung stellten sie dann fest, daß sich auch der britische Geheimdienst heftig für ihn interessiert. Da mußten sie ja wach werden.« »Oder: mißtrauisch, wie sie nun mal sind, könnten sie routinemäßig die britische Botschaft überwacht haben und durch die ungewöhnlichen Aktivitäten Cutlers und seiner Gehilfen, die ja nicht gerade die Hellsten sind, aufmerksam geworden sein.« Ogilvie zuckte die Achseln. »Ich glaube, es ist jetzt unwichtig, wie sie es herausgefunden haben. Zur Stunde sind sie an einen gewissen Koslow geraten, haben aber, glaube ich, den Übergang zu Ashton bisher nicht gefunden – und sicherlich nicht zu Chelyuskin.« »So ungefähr. Auf Chelyuskin kommen die nie. Wer schaltet schon um dreißig Jahre zurück?« »Die Akten der Russen gehen noch viel weiter zurück, und Chelyuskins Fingerabdrücke sind bestimmt noch vorhanden. Falls sie dann einen Vergleich mit Koslows Abdrücken vornehmen, merken sie auch, daß es nicht Chelyuskin war, der bei dem Brand ums Leben kam. Das werden sie dann alles hochinteressant finden.« »Aber ist das alles wahrscheinlich?« »Ich weiß nicht.« Er blickte finster zu mir herüber; ich glaube aber kaum, daß er mich sah, eher schaute er durch mich hindurch. »Der israelische Paß wirkt ziemlich überzeugend«, sagte Ogilvie, »aber leider wurde er vor drei Jahren gestohlen. Der echte Koslow ist Professor für 161
Sprachwissenschaften an der Universität Tel Aviv. Zur Zeit entziffert er dort aramäische Schriftrollen.« »Wissen die Israelis über die beiden Koslows Bescheid? Das wäre heikel.« »Kaum«, sagte er abwesend. Dann schüttelte er irritiert den Kopf. »Sie halten nicht viel von meinen Theorien über Ashton, stimmt's?« »Nicht viel.« Sein finsterer Blick vertiefte sich. »Ich auch nicht«, gab er zu. »Wir tappen noch ziemlich im dunkeln. Nun gut. Wir können zweierlei tun. Wir können uns zurückziehen und Ashton seinem Schicksal überlassen – oder wir holen ihn raus.« Ogilvie schaute mich erwartungsvoll an. Ich sagte: »Das ist eine politische Entscheidung, die mir nicht zusteht. Ich hab' jedoch einige Kommentare abzugeben. Erstens: Wenn die Russen sich jetzt für Ashton interessieren, sind wir daran schuld, und ich behaupte, daß wir deshalb auch eine gewisse Verantwortung für ihn haben. Und zuletzt – soweit ich Ashton kenne, ist er mir sympathisch, und so Gott will, werde ich auch seine Tochter heiraten. Ich habe also einen persönlichen Grund, ihm aus der Klemme zu helfen. Einen Grund, der nichts mit Mutmaßungen über Ashtons wundersame Gehirnakrobatik zu tun hat.« Ogilvie nickte schüchtern. »Das kann ich Ihnen nicht übelnehmen. Damit bleibt also die Entscheidung bei mir. Falls Ashton wirklich etwas in seinem Besitz hat und wir überlassen ihn den Russen, begehe ich einen unverzeihlichen Fehler. Hauen wir ihn aber heraus – womit wir sicher einen internationalen Aufruhr riskieren wegen unserer in diesem Fall unvermeidlichen Methoden – und er hat dann doch nichts, habe ich ebenfalls einen großen Fehler gemacht. Der erste Fehler wäre freilich größer als der zweite. Also lautet die Antwort: Wir ziehen ihn an Land. Und damit ist die Entscheidung gefallen. Vielen Dank.«
162
21. Kapitel
O
gilvie hatte Brent, Gregory und Michaelis mitgebracht und – zu meiner Überraschung – auch Larry Goodwin. Larry machte einen aufgekratzten Eindruck, weil er nun nicht nur wieder einmal seinem Schreibtisch entronnen war, sondern auch noch im Ausland war. Wir hielten frühmorgens Kriegsrat, um die Einzelheiten der Operation zu besprechen. Vorher hatte ich Ogilvie noch einmal bedrängt: »Warum gehe ich nicht einfach hin und erzähle Ashton, daß sich die Russen für ihn interessieren? Darauf muß er doch reagieren.« »Aber in welcher Richtung?« fragte Ogilvie zurück. »Wenn er nur einen Moment das Gefühl hat, daß der britische Geheimdienst ihn beeinflussen will, kommt er am Ende noch auf die Idee, heim zu Mütterchen Rußland zu kehren. Heimweh soll ja eine russische Neurose sein.« »Auch nach dreißig Jahren noch?« Ogilvie zuckte die Schultern. »Russen sind eigenartige Menschen. Haben Sie wirklich alle Konsequenzen zu Ende gedacht? Ashton könnte sofort falsche Schlüsse ziehen. Nein, ich möchte eine solche Explosion nicht riskieren. Es muß auch anders gehen.« Ogilvie führte die Diskussion auf den Kern zurück, umriß das Problem und schaute erwartungsvoll in die Runde. Nach einer längeren, allgemeinen Denkpause meinte Gregory: »Ehe wir irgendwas unternehmen, müssen wir die Russen von ihm abbringen.« »Ist wirklich damit zu rechnen, daß er sich nach Rußland absetzt?« fragte Brent. »Nicht, wenn wir vorsichtig sind«, versicherte er. »Aber die Möglichkeit besteht. Ich kann mir vorstellen, daß er sogar Angst vor den Russen hat, wenn er weiß, daß sie ihn beobachten.« 163
»Wie gut sind die Russen hier?« fragte Brent mich. »Gar nicht schlecht«, sagte ich. »Verdammt viel besser als Cutlers Leute.« »Dann ist es unwahrscheinlich, daß sie einen Fehler machen«, sagte er düster. »Ich dachte nur, wenn er wüßte, daß die Russen hinter ihm her sind, würde er vielleicht auskneifen. Dann bekämen wir die Möglichkeit für ein Verwirrspiel.« Ogilvie sagte: »Ich habe das bereits mit Malcolm besprochen. Wir haben uns dagegen entschieden.« »Moment mal«, wandte ich mich an Larry. »Wie gut sprichst du Russisch?« »Nicht schlecht«, sagte er bescheiden. »Nicht schlecht ist zuwenig«, warnte ich. »Du wirst womöglich einem gebürtigen Russen etwas vormachen müssen.« Er wußte nicht, daß Ashton Russe ist. Er grinste. »Welcher Dialekt gefällig?« Ogilvie schaltete sich ein. »Ich verstehe«, sagte er nachdenklich. »Wenn die Russen keinen Fehler machen, machen wir einen für sie. Das ist die Idee!« Wir entwickelten die Idee weiter. Michaelis gab zu bedenken: »Da muß aber noch allerhand Hintergrundarbeit geleistet werden. Wenn wir Ashton gegen seinen Willen heimholen, brauchen wir Transportmöglichkeiten, ein sturmfreies Haus und für alle Fälle einen Arzt.« Das löste lange Diskussionen aus, in deren Verlauf Pläne konkretisiert und Rollen verteilt wurden. Entführung ist ein kompliziertes Geschäft. »Was ist mit Benson?« fragte Gregory. »Gilt die Aktion auch für ihn?« »Das wäre das Beste«, sagte Ogilvie. »Ich fange an, mich für Benson zu interessieren. Hauptziel aber ist Ashton. Wenn wir uns je zwischen Ashton und Benson entscheiden müssen – wird Benson fallengelassen.« Er wandte sich an Michaelis. »Wie lange brauchen Sie für die Vorbereitungen?« »Wenn wir uns für Plan drei entscheiden, brauchen wir kein Haus, 164
und den geschlossenen Wagen kann ich innerhalb einer Stunde mieten. Aber für das Boot muß ich erst nach Helsingborg oder Malmö fahren, und das dauert an die drei Tage.« »Wie lange braucht man für die Überquerung der dänischen Meerenge?« »Keine Stunde; da kann man fast drüber spucken. Aber in Dänemark muß dann ein Empfangskomitee auf die Beine gestellt werden.« »Das übernehme ich.« Ogilvie stand auf und sagte zum Abschluß: »Drei Tage also und kein Wort an Cutler!«
Drei Tage später begann planmäßig die Operation. Die Lage in der Gamla Stan war schon fast lächerlich: Zwei von Cutlers Leuten schlugen ihre Zeit in Antiquitätengeschäften tot, wo sie tagaus, tagein auf Ashton und Benson warteten – ohne zu wissen, daß sie von ein paar Russen beobachtet wurden, die wiederum nicht wußten, daß wir sie beobachteten. Eine echte Peter-Sellers-Komödie. Unsere Leute führten sämtlich Mini-Walkie-Talkies bei sich, mit der strikten Anweisung, sich nur, wenn unbedingt nötig, zu melden. Wir wollten nicht gerade die Schweden mit der Nase draufstoßen, daß eine Untergrundoperation im Gange war; würden auch sie noch mitmischen, dann wären in diesen engen Straßen so viele Geheimagenten unterwegs, daß für Touristen kein Platz mehr zum Durchkommen bliebe. Ich saß in meinem Wagen, der strategisch so plaziert war, daß ich die Brücken von der Gamla Stan zur Innenstadt überwachen konnte. Ogilvie hockte in seinem Hotelzimmer beim Telefon. Um 10.30 Uhr rührte sich was im Sender. »Bluebird zwei. Redbird geht auf der Västerlänggatan nordwärts.« Ashton kam also in meine Richtung. Ich drehte mich im Sitz um und hielt Ausschau. Er bog um die Ecke und ging die Straße am Königspalast entlang. Nur drei Meter von ihm entfernt schritt er rasch dahin. Ich beobachtete ihn, bis er über die Norrbro nach der Helgeandsholmen abbog, dann startete 165
ich den Wagen. Vor mir sah ich Larry aus einer Parklücke stoßen und langsam in Richtung Norrbro rollen. Seine Aufgabe war es, sich vor Ashton zu halten. Ich folgte dahinter, überholte Ashton, der nun bereits seinen Kometenschweif hinter sich herzog, überquerte die Norrbro und nahm ein paar Abbiegungen um den Gustav-Adolfs-Torg, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Ich sah, wie Gregory seinen Parkplatz verließ, um Platz für Larry zu machen; es war wichtig, daß Larry zur rechten Zeit am richtigen Ort war. Michaelis hielt weiter westlich einen Parkplatz für den Fall frei, daß Ashton über den Vasabron in die Stadt ging. Ich schaltete den Sender ein und sagte zu Michaelis: »Sie können sich zurückziehen.« Damit war meine Aufgabe zunächst erledigt. Jetzt hing alles von Larry ab. Ich fuhr die kurze Strecke zum Grandhotel, parkte und ging in Ogilvies Zimmer. Ogilvie war unter seiner betont ruhigen Schale nervös. Nach ein paar Minuten Unterhaltung sagte er plötzlich: »Glauben Sie, Goodwin ist der Sache gewachsen? Viel Erfahrung hat er nicht.« »Und er wird auch nie Erfahrung haben, wenn er keine Chance bekommt«, grinste ich. »Er wird's schon schmeißen. Gleich wird er seine gefeierte Imitation eines unerfahrenen KGB-Mannes zum besten geben. So gesehen ist seine Unerfahrenheit ein Vorzug.« Die Zeit verstrich. Um 12.30 Uhr ließ Ogilvie sich ein Smörgasbord aufs Zimmer kommen. »Wir können genausogut essen. Wenn's richtig losgeht, leben Sie sowieso nur noch von der Hand in den Mund.« Um fünf vor eins klingelte das Telefon. Ogilvie gab mir ein Mithörgerät, bevor er den Hörer abnahm. Es war Brent, der sagte: »Redbird speist gerade in der Oper – ich auch. Und die anderen ebenfalls. Er sieht leicht mitgenommen aus.« »Wie ist Goodwins erste Kontaktaufnahme abgelaufen?« »Redbird ging in die Buchhandlung an der Ecke vom Nybroplan. Goodwin stellte sich neben ihn, stieß sich das Schienbein an einem Regal an, fluchte entsetzlich auf russisch, und Redbird zuckte zusammen. Dann zog sich Larry wie vereinbart zurück.« 166
»Was weiter?« »Redbird spazierte noch eine Weile herum und kam schließlich hierher. Ich beobachtete noch, wie er Platz nahm, und gab dann Larry Bescheid. Larry setzte sich an einen Tisch direkt vor Redbird, der prompt nervös wurde, als er ihn wiedersah. Larry fing sofort Krach mit einem Kellner an – auf schwedisch, aber mit grausigem russischem Akzent. Und alles sehr laut. Redbird fühlt sich zunehmend unwohl.« »Wie reagieren die Kollegen von den anderen Fakultäten?« »Die echten Russen schauen ziemlich blöd aus der Wäsche. Und Cutlers Knabe … Moment mal.« Nach einer Pause kicherte Brent. »Cutlers Knabe steuert soeben die Telefone an. Bestimmt will er Meldung machen, daß die Russen eingetroffen sind. Ich werde ihm jetzt wohl diesen Apparat überlassen müssen.« »Bleiben Sie am Ball«, sagte Ogilvie. »Bleiben Sie hinter Ashton.« Er legte auf und sah mich an. »Es geht los.« »Alles bereit«, sagte ich beruhigend. Ich nahm den Hörer und wies die Hotelvermittlung an, meine Gespräche in Ogilvies Zimmer zu schalten. Es dauerte nicht lange. Das Telefon klingelte, und ich antwortete. Cutler sagte: »Jaggard, es könnte sich eine wichtige Entwicklung anbahnen.« »Ach«, sagte ich ernst. »Was für eine denn?« »Mein Mann bei Ashton scheint der Meinung zu sein, daß sich die Russen interessieren.« »Für Ashton?« »Genau.« »Ach nein. Das ist schlecht. Wo befindet Ashton sich jetzt?« »Er speist in der Oper. Soll ich einen Mann auf den Russen ansetzen? Es könnte an der Zeit sein.« Ogilvie, der sich das Mithörgerät ans Ohr hielt, schüttelte heftig den Kopf. Ich grinste und sagte: »Da bin ich anderer Meinung. Ich würde sogar vorschlagen, daß Sie alle Ihre Männer so schnell wie möglich abziehen. Oder sollen etwa die Russen erfahren, daß Sie hinter Ashton her sind?« 167
»Um Gottes willen nein!« rief Cutler schnell. »Die Botschaft darf nicht hineingezogen werden. Ich werde sofort das Nötige veranlassen.« Er legte auf, sichtlich erleichtert. Ogilvie stöhnte. »Mann, ist das ein Idiot. Ohne ihn sind wir besser bedient.« »Er klärt immerhin die Lage«, sagte ich und zog mir meine Jacke an. »Ich geh rüber in die Gamla Stan zur Einleitung von Akt zwei. Wenn Larry seine Sache gut macht, muß Ashton jetzt Wirkung zeigen.« Und nach einer Pause: »Ich würde es nun doch vorziehen, mit Ashton zu reden.« »Ich weiß«, sagte Ogilvie finster. »Aber Ihre Wünsche zählen hier nicht. Weitermachen, Malcolm.«
Also machte ich weiter. Ich fuhr in die Gamla Stan und traf Henty in einem Barrestaurant in der Västerlänggatan, bei Hering und Aquavit. Er hatte die Wohnung beobachtet, also fragte ich ihn: »Wo ist Benson?« »Sicher zu Hause. Sein Russe steht noch vor der Tür, aber Cutlers Knabe ist auf und davon. Vielleicht hat Benson ihn abgeschüttelt.« »Nein. Cutler spielt nicht mehr mit.« Ich erklärte, was passiert war. Henty grinste. »Dann wird sich wohl bald etwas ergeben.« Er trank sein Bier aus und stand auf. »Ich schau lieber, daß ich wieder aufs Spielfeld komme.« »Ich komme mit.« Als wir gingen, sagte ich: »Sie sind unser Schweden-Experte. Angenommen, Ashton zeigt Wirkung – was kann er dann unternehmen, um abzuhauen?« »Er kann ein Flugzeug nehmen von Bromma oder Arlanda aus, je nachdem, wohin er will. Oder die Eisenbahn. Einen Wagen hat er ja nicht.« »Ist uns jedenfalls nicht bekannt. Er könnte aber auch auf ein Schiff steigen, oder?« Henty schüttelte den Kopf. »Um diese Jahreszeit kaum. Viel Eis in der Ostsee dieses Jahr – der Saltsjön war heute morgen zugefroren, das wirft 168
alle Fahrpläne über den Haufen. Ich würde es an Ashtons Stelle nicht riskieren; auf einem Schiff sitzt man leicht ein paar Stunden fest.« Der Sender in meinem Ohr wurde munter. »Bluebird zwei. Redbird vom Palast Richtung Västerlänggatan unterwegs, ziemlich schnell.« Bluebird zwei war Brent. Ich sagte zu Henty: »Er kommt. Sie gehen vor, peilen ihn an und klemmen sich hinter den verdammten Russen. Ashton darf mich nicht sehen.« Er ging schnell davon, während ich an den Schaufenstern entlang schlenderte. Schließlich wurde mir geflüstert, daß Ashton wohlbehalten zu Hause angelangt sei, und da begegnete mir auch schon Henty mit Larry Goodwin. Beide grinsten, und Henty meinte: »Ashton ist in Teufels Küche.« »Was ist denn passiert?« »Ich folgte Ashton von der Oper her – sehr auffällig. Er versuchte, mich abzuschütteln; ist ihm auch zweimal gelungen. Aber Brent konnte mich immer wieder auf die richtige Spur lotsen.« Henty kicherte. »Ashton kam in ziemlichem Tempo die Västerlänggatan entlang, Goodwin ihm immer eisern knapp auf den Fersen. Er rannte in seinen Hauseingang wie ein Kaninchen ins Loch.« »Haben Sie mit ihm gesprochen, Larry?« »Ja, am Schluß rief ich: ›Grasch daninn Ashton – ostanovites!‹ Damit er stehenbleibt. Aber da ist er nur noch schneller gerannt.« Ich lächelte. Ich hatte so meine Zweifel, daß Ashton sich mit Wohlgefallen auf russisch als Bürger ansprechen ließ, und dann auch noch mit seinem englischen Namen. »Jetzt hängt jedenfalls alles von Ashton ab. Ich glaube aber nicht, daß sich vor heute abend noch was tut. Larry, gehen Sie doch noch einmal los und drehen Sie gut sichtbar vor Ashtons Wohnung ein paar Runden. So ganz zufällig – lassen Sie sich in unregelmäßigen Abständen sehen.« Ich besprach alles noch einmal mit Henty, überprüfte auch, ob jeder auf seinem Posten stand und die Russen unter Aufsicht waren, dann erstattete ich Ogilvie telefonisch Bericht. 169
Larry kam etwa eine Stunde später zurück. »Einer von diesen verdammten Russen hat mich angequatscht«, meldete er. »Er wollte unbedingt wissen, was ich da um Gottes willen treibe.« »Auf russisch?« »Ja. Ich stellte ihm dieselbe Frage, und er verwies mich an einen Genossen Latiew in der russischen Botschaft. Darauf gab ich mich ungehalten und meinte, daß über Latiew auch noch andere Leute stünden, und wenn Latiew das nicht wüßte, wäre er noch dümmer, als man bislang in Moskau angenommen hätte. Dann sagte ich, daß ich keine Zeit zu vergeuden hätte, und verschwand.« »Gar nicht schlecht«, lobte ich. »Das wird den Genossen Latiew eine Weile beschäftigen. Irgendeine Reaktion in der Wohnung?« »Ein Vorhang hat sich bewegt.« »Okay. Wenn Ashton jetzt reagiert, darf er dich nicht schon wieder sehen, damit er nicht mehr als unbedingt nötig in Panik gerät. Übernimm jetzt Gregorys Wagen. Frag ihn, wie die Lage ist, und schick ihn zu mir.«
Ein langes Warten begann. Es schneite beständig, und als es dunkel wurde, trieb naßkalter Nebel von den Riddarfjärden über die Gamla Stan, trübte die Straßenlaternen und damit die Sicht. Ich schlug die Zeit tot, indem ich mir ständig alle möglichen Fluchtwege Ashtons vor Augen hielt, und stellte mir auch immer wieder die Frage, ob mein Zufallsplan wirklich hieb- und stichfest sei. Mit Henty waren wir sechs, eigentlich ausreichend, um die Russen aus dem Spiel zu halten und trotzdem Ashton auf den Fersen zu bleiben, wo immer er auch hinginge. Als der Nebel dichter wurde, überlegte ich, ob wir Ashton nicht einfach hier und jetzt hoppnehmen sollten. Aber selbst unter günstigen Bedingungen ist eine Entführung mitten in einer Großstadt kein Kinderspiel, aber aufs Improvisieren darf man sich aber nicht einmal dann verlassen. Nein, es war schon besser, sich stur an den Plan zu halten und Ashton erst einmal zu isolieren. 170
Es geschah um zehn vor neun. Gregory meldete, daß Ashton und Benson auf der Lilla Nygatan in Richtung Süden unterwegs seien, beide mit Reisetaschen. Michaelis schaltete sich ein, sagte, die beiden Russen seien ebenfalls unterwegs. Ich führte mir den Verlauf der Gamla Stan vor Augen und kam zu dem Schluß, daß unsere Zielobjekte sich zum Taxistand beim Centralbron bewegen müßten. Also dirigierte ich die Wagen in südlicher Richtung, um die Verfolgung aufzunehmen. Stockholms Hauptbahnhof liegt auf der anderen Seite des Centralbron, im Stadtkern. Dann befahl ich Michaelis und Henty, unsere Kraftprotze, die Russen außer Gefecht zu setzen. Sie versicherten, im Nebel sei es kein Problem, den Iwans Schädelbrummen bis zum nächsten Morgen beizubringen. Aber von da an wurde die Sache konfus. Ashton und Benson setzten sich am Taxistand in zwei verschiedene Wagen. Benson fuhr über den Centralbron in Richtung Bahnhof, Ashton in genau entgegengesetzter Richtung nach Södermalm. Larry folgte Benson und Brent Ashton. Ich tummelte mich und verteilte den Rest des Teams über den Bahnhof, was mir unter diesen Umständen noch als die beste Möglichkeit erschien. Am Bahnhof angelangt, blieb ich im Wagen und schickte Henty auf die Suche nach Larry. Er kam auch prompt mit Larry zurück, der zu mir in den Wagen stieg und sagte: »Benson hat zwei Tickets nach Göteborg gekauft.« Sie wollten also nach Westen, was ich mit Erleichterung aufnahm: besser nach Westen als nach Osten. »Wann fährt der Zug?« fragte ich. Larry sah auf seine Uhr. »In gut einer halben Stunde. Ich hab' Fahrkarten für uns vier gekauft – einen Fahrplan hab' ich auch.« Ich studierte den Fahrplan und dachte laut vor mich hin. »Erste Station – Södertälje; nächste – Eskilstuna. Richtig.« Ich gab Gregory und Henty Fahrkarten. »Ihr beiden steigt in den Zug; observiert Ashton und Benson und berichtet per Funk. Ständig in Reichweite bleiben.« Sie verschwanden in den Bahnhof, und Larry fragte: »Was nun?« »Wir zwei machen erst mal gar nichts.« Ich wandte mich an Michae171
lis. »Kundschaften Sie im Bahnhof aus, ob Ashton irgendwo auftaucht. Vergewissern Sie sich, daß er auch tatsächlich im Zug sitzt, wenn der abfährt, und kommen Sie dann zurück.« Er ging, und ich wartete ungeduldig auf Meldung von Brent. In dem Moment kam Gregorys Stimme über Funk. »Wir sind im Zug – Redbird zwei gesichtet –, aber keine Spur von Redbird eins.« Wir hatten Ashton verloren. »Bleiben Sie dran.« Die Zeit tickte. Fünf Minuten vor Abfahrt wurde ich unruhig. Was war mit Ashton los? Zwei Minuten vor Abfahrt meldete sich Brent. »Ich habe ihn verloren«, sagte er tonlos. »Wohin ist er?« »Er ist querfeldein abgehauen über die Inseln Södermalm – Langholmen – Kungsholmen; und hier ist er mir dann entwischt. Die Generalrichtung schien mir Kungsholmen, also sitz ich jetzt hier.« »Wir haben ihn nicht gesehen, und im Zug sitzt er bis jetzt auch nicht. Benson aber; mit zwei Fahrkarten nach Göteborg.« »Wann ist die Abfahrt?« Ich sah Michaelis auf den Wagen zukommen. Er schüttelte den Kopf. Ich sagte: »Der Zug ist weg – und Ashton war nicht drin.« »Ach du lieber Gott! Was jetzt?« »Uns bleibt nur eins – Benson nicht aus den Augen verlieren und beten. Besorgen Sie sich auch einen Fahrplan und überprüfen Sie die Haltezeiten des Zuges. Sie und Michaelis übernehmen die erste Station – das ist Södertälje. Kontrollieren Sie mit Gregory und Henty den Zug und geben Sie Nachricht, falls Benson aussteigt. Geben Sie auch Ogilvie Bescheid. In der Zwischenzeit fahre ich mit Larry zum nächsten Halt nach Eskilstuna – dort das gleiche. So arbeiten wir uns die Strecke entlang, bis der Zug in Göteborg ankommt oder sonstwas passiert. Verstanden?« »Okay.« »Ständiger Kontakt mit Ogilvie ist jetzt sehr wichtig, weil er uns alle im Auge behalten kann. Ich rufe ihn jetzt an.« Ogilvie war absolut nicht erfreut, aber er sagte nicht viel – noch nicht. Ich schilderte ihm meinen Einsatzplan, und er stöhnte nur. 172
»Machen Sie weiter – und halten Sie mich auf dem laufenden.« Ich ging zum Wagen, ließ mich auf dem Beifahrersitz nieder und sagte zu Larry: »Fahr nach Eskilstuna – schneller als die Eisenbahn.«
22. Kapitel
V
on Stockholm nach Eskilstuna sind es hundert Kilometer. Die ersten vierzig sind normale Autobahn, und wir kamen ziemlich schnell voran, aber danach kam Landstraße mit Gegenverkehr, und wir verloren Tempo. Es war sehr dunkel – eine mondlose Nacht –, aber auch mit Mond wäre es nicht heller gewesen, da es ständig stark schneite. Wie alle modernen schwedischen Autos war auch unseres für dieses Wetter gut ausgerüstet. Wir hatten Spikes an den Reifen, Wischer an den Scheinwerfern, aber trotzdem erreichten wir kaum einen Schnitt von siebzig Stundenkilometern, und das war für diese Witterung sogar noch zu schnell. Weder Larry noch ich konnten als Rallyefahrer durchgehen, und ich befürchtete deshalb stark, den Zug zu verpassen. Nach der Karte hatte der Zug jedoch zum Glück eine ungleich längere Strecke zu bewältigen, der Schienenweg beschrieb einen großen Bogen. Außerdem mußte der Zug in Södertälje halten. Nach einer Stunde ließ ich Larry an einer Tankstelle halten. Während er auftankte, rief ich Ogilvie an. Als ich zum Wagen zurückkehrte, konnte ich wieder lächeln. Larry fragte: »Gute Nachrichten?« »Die besten. Ich übernehme jetzt das Steuer.« Ich sagte:»Ashton hat versucht, uns auszutricksen. Als Brent ihn verlor, war er nicht etwa zum Stockholmer Bahnhof unterwegs. Er ist mit dem Taxi zum Bahnhof Södertälje gefahren und dort erst in den Zug gestiegen. Jetzt haben wir sie wieder beide.« 173
Somit war ich bester Dinge, als wir vor dem Bahnhof Eskilstuna ankamen und den Zug dort auf dem Bahnsteig stehen sahen. Ich schaltete den Funk an und sagte: »Irgendwelche Bluebirds da? Bluebirds, melden!« Eine Stimme drang in mein Ohr. »Redbird und Freund sind ausgestiegen.« »Was soll denn um Gottes willen das nun schon wieder bedeuten?« Henty fragte: »Was soll ich tun?« »Springen Sie aus dem verdammten Zug und kommen Sie her. Wir stehen vor dem Bahnhof.« Während ich noch sprach, setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Ich war nicht sicher, ob Henty den Absprung noch geschafft hatte. Aber da rannte er auch schon auf unseren Wagen zu. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter. »Steigen Sie ein und erzählen Sie mir, was da verdammt noch mal passiert ist.« Henty setzte sich auf den Rücksitz. »Der Zug hielt an, in so einem verdammten Nest, das Akers-Stychebruk heißt, und fragen Sie mich bitte nicht, warum. Nichts passierte, bis der Zug wieder anfuhr, dann sprangen Ashton und Benson ab. Gregory rannte hinterher, für mich war es aber zu spät – und er rannte verdammt schnell.« Ich nahm die Straßenkarte zur Hand. »Akers-Stychebruk! Das ist nicht mal eingezeichnet! Haben Sie Ogilvie Bericht erstattet?« »Nein. Wollte ich gerade, als Sie sich meldeten.« »Dann werd' ich's wohl tun müssen.« Ich ging in den Bahnhof und suchte mir ein Telefon. Ogilvie mußte diagonal an der Decke hängen, so gereizt war er. »Was zum Teufel ist da los? Soeben ruft Gregory mich aus einem gottverlassenen Nest an. Er hat sich den Knöchel gebrochen oder verstaucht und Ashton verloren. Er glaubt, sie befinden sich in einem Ort, der Strängnäs heißt.« Strängnäs lag längst hinter uns; wir waren darum herumgefahren. Ich sagte: »In einer Stunde können wir dort sein.« »In einer Stunde ist es vielleicht schon zu spät«, fuhr er mich an. »Aber machen Sie weiter.« Ich rannte zum Wagen zurück. »Bewegung, Larry! Vorwärts, Kameraden, wir müssen zurück!« Er rutschte auf den Fahrersitz, und ich 174
hatte die Tür noch nicht zu, als er schon losbrauste. Ich drehte mich nach Henty um: »Kennen Sie Strängnäs?« Er schnippte mit den Fingern. »Natürlich! Von Akers-Stychebruk führt eine Nebenstrecke nach Strängnäs – keine Passagierzüge, nur ab und zu der Räsibuss.« »Was ist das?« »Ein Schienenbus mit Dieselantrieb.« »Sie sagen, eine Nebenstrecke – soll das heißen, die Eisenbahn endet in Strängnäs?« »Sie muß, sonst landet sie im Mälar-See.« »Also Endstation.« »Für die Eisenbahn, aber nicht für Autos. Eine Straße führt über die Inseln zum Nordufer das Mälar-Sees. Aber es ist spät; in der Nacht wird man wohl kaum einen Wagen mieten können.« »Gut«, sagte ich. »Aber gib trotzdem Gas, Larry.« Ich starrte auf die Straße, die sich aus der Dunkelheit zu entrollen schien, während die Wischerblätter mit hypnotischem Takt den Schnee von der Windschutzscheibe stießen. Das Fernlicht strahlte heller, als Larry auch die Scheinwerferwischer in Gang setzte. »Was gibt's sonst noch in Strängnäs?« »Da ist nicht viel los«, sagte Henty. »Etwa zwölftausend Einwohner; ein bißchen Industrie – Pharmazeutik, Penicillin, Röntgenplatten – und so Sachen. Garnisonsstadt für ein Ausbildungsregiment, Hauptquartier des Armeebereichs Ost.« Plötzlich fand er Strängnäs doch interessant: »Hat Ashton Verbindung zur Armee?« »Nein«, sagte ich. Henty gab nicht nach. »Sie würden's mir doch sagen? Militär ist meine Branche – und ich habe Ihnen bis jetzt auch immer geholfen.« »Da besteht wirklich keine Verbindung«, sagte ich. »Ashtons Interessen liegen nicht im Militärbereich, und meine auch nicht. Wir wildern bestimmt nicht in Ihrem Revier.« Damit schien er sich zufriedenzugeben. »Man wird ja wohl noch fragen dürfen.« Wir fuhren nicht den ganzen Weg nach Akers-Stychebruk zurück; 175
Ashton war uns jetzt wichtiger als Gregorys Knöchel. Wir erreichten die Vororte von Strängnäs und rollten durch schneebedeckte Straßen langsam in Richtung Seeufer und Stadtmitte. Nach etlichen Schleifen um das Stadtzentrum wußten wir, daß es nur ein einziges Hotel gab – also hielten wir gegenüber diesem Hotel Rogge an und schickten Henty hinein. Nach fünf Minuten kam er zurück und sagte: »Sie sind beide da – eingetragen unter den Namen Ashton und Williams.« »Eine Kehrtwendung«, sagte ich. »Er benutzt wieder seinen eigenen Paß. Koslow ist ihm wohl plötzlich zu heiß geworden.« »Ich habe Zimmer für uns drei bestellt.« »Nein; nur Sie bleiben hier, Henty. Ich fahre mit Larry weiter, um Gregory zu suchen. Außerdem rufe ich Ogilvie an, damit er Brent und Michaelis auftreibt. Die beiden können dann die bestellten Betten übernehmen. Wir sind auf jeden Fall morgen früh um sechs wieder hier. Ich wünsche Posten im und vor dem Hotel. Wo befinden sich Ashton und Benson jetzt?« »Im Restaurant sitzen sie nicht«, sagte Henty. »Im Bett, wahrscheinlich.« »Tja, die Herren sind wohl doch etwas alt fürs Räuber-und-Gendarm-Spiel«, sagte ich nachdenklich. »Und wenn ich's mir genau überlege – ich eigentlich auch schon.«
23. Kapitel
G
regory wartete klugerweise am Bahnhof in Akers-Stychebruck darauf, daß er abgeholt würde. Er war starr vor Kälte, müde, und der Knöchel tat ihm höllisch weh, also nahmen wir uns alle ein Hotelzimmer. Um fünf Uhr am nächsten Morgen befand ich mich mit Larry bereits wieder auf dem Weg nach Strängnäs, Gregory durfte aus176
schlafen, ich hatte ihn nach Stockholm zurückbeordert. Mit seinem kaputten Knöchel hätte er uns nicht viel genutzt, und er konnte sich immerhin rühmen, daß wir Ashton und Benson dank seines Einsatzes wieder im Visier hatten. Kurz vor sechs parkte ich beim Hotel Rogge um die Ecke, Punkt sechs meldete ich mich über Funk. »Hallo«, sagte ich heiter. »Bluebirds schon wach?« Henty brummte in meinem Ohr: »Sie gehen mir auf den Wecker mit Ihrer verdammten Morgenfröhlichkeit.« »Sind die anderen beiden angekommen?« »Ja; um zwei Uhr in der Nacht. Sie schlafen noch.« »Und Redbird und sein Freund?« »Alles unter einem Dach. Ich hab' mich vergewissert – sie schlafen noch.« Er machte eine Pause. »Würd' ich übrigens auch gern dürfen.« »Kommen Sie heraus. Wir stehen gleich um die Ecke auf der –« ich reckte mir den Hals nach einem Straßenschild aus – »auf der Källgatan.« Er sagte nichts, aber das Summen erstarb, und ich schaltete ab. Er ließ sich eine Viertelstunde Zeit, die ich mit Larry verplauderte. Viel gab es jetzt nicht mehr zu besprechen, wir hatten das Thema wohl schon zu Tode geritten. Henty kam frisch rasiert und sah recht annehmbar aus, wenn auch noch etwas wirr. »Morgen«, sagte er barsch, als er zu uns einstieg. Ich reichte ihm eine Thermosflasche nach hinten. »Morgenstund hat Gold im Mund.« Er schraubte den Deckel auf und schnupperte anerkennend. »Ah, schottischer Kaffee!« Er goß sich den Becher voll und war einen Moment ruhig, bevor er sagte: »Schon besser. Was liegt an?« »Wann gibt es Frühstück'?« »Keine Ahnung. Würde sagen, ab sieben – vielleicht halb acht. Bei diesen Hotels auf dem Land ist das immer verschieden.« »Ich möchte, daß ihr drei im Frühstücksraum sitzt, sobald geöffnet wird. Sie an einem, Michaelis und Brent an einem anderen Tisch. Ihr unterhaltet euch miteinander, und einer von euch liefert mir über 177
Funk, sobald Ashton und Benson zum Frühstück erscheinen, sozusagen eine Reportage wie bei einem Fußballspiel. Ich möchte haargenau wissen, wie Ashton sich verhält und wie er reagiert.« »Das können wir schon machen«, sagte Henty. »Aber ich versteh nicht ganz, was das soll.« Ich erklärte es ihm. »Während des Frühstücks schicke ich Larry rein, damit er noch einmal seine Russen-Nummer abzieht.« »Gott! Da bekommt Ashton doch einen Herzinfarkt!« »Wir müssen die beiden unter Druck halten«, sagte ich. »Sie dürfen keine Zeit haben, sich einen Wagen zu mieten, und ich will sie recht früh aus der Stadt treiben. Wo steckt der Lieferwagen, den Michaelis gefahren hat?« Henty zeigte über die dunkle Straße. »Auf dem Hotelparkplatz.« »Prima. Michaelis soll fahrbereit drin sitzen, wenn Ashton aufbricht. Vor acht muß alles erledigt sein. Jetzt geht rein und weckt die schlafenden Schönheiten auf.« Als Henty weg war, musterte Larry mich neugierig. »Ich weiß, daß Sie sich immer außer Sicht gehalten haben«, sagte er. »Aber wenn das alles je aufkommt, wird Ihnen die Ashton-Familie nicht mehr besonders freundschaftlich gegenüberstehen.« »Ich weiß«, sagte ich kurz. »Aber Ogilvie will nun mal, daß es so läuft. Und ich paß verdammt gut auf, daß ich außer Sicht bleibe. Nicht wegen Ogilvie, sondern aus eigenem Interesse. Penny würde es mir in tausend Jahren nicht verzeihen.« Die Zeit verging, und wir machten nach und nach die Thermosflasche leer. Strängnäs erwachte, langsam kam Leben in die Straßen, ein paar Passanten glotzten uns neugierig an. Da es möglicherweise komisch aussieht, wenn Männer so früh am Morgen in einem geparkten Auto sitzen, ließ ich Larry zum Hotelparkplatz fahren, der lag ein wenig abseits der Straße. Ab sieben Uhr dreißig wurde im Hotel Frühstück serviert. Jack Brent gab über Funk eine präzise Beschreibung seines Frühstücks durch: Honig, gekochte Eier, Käse, Kaffee und viel Drum und Dran. Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Er tat das absichtlich, der Bastard. 178
Als ich nicht reagierte, wurde es ihm langweilig, und er schaltete ab. Um sieben Uhr fünfzig meldete er sich wieder: »Sie kommen – Ashton und Benson. Setzen sich soeben – zwei Tische weiter. Benson schaut finster, aber Ashton scheint guter Dinge.« Daß Brent funkte, war ihm nicht anzumerken – es sah aus, als führe er eine angeregte Unterhaltung mit Michaelis, aber das Mikrophon unter seinem Krawattenknoten übertrug jedes Wort. Das Mikrophon lieferte eine eigenartig leblose Übermittlung; keine Hintergrundgeräusche, kein Klappern von Besteck oder Kaffeetassen, nur Brents Stimme und, verstärkt, sein heftiges Atmen. Selbst sein Flüstern kam glasklar über den Äther. Ich lauschte seiner Reportage, und mir wurde immer unbehaglicher. Nicht wegen Ashton, der laut Brent einen recht unbefangenen Eindruck machte; sondern wegen meiner Rolle in dieser Scharade. Ich hätte viel darum gegeben, einfach ins Hotel Rogge hineingehen und mich an Ashtons Tisch setzen zu dürfen, um ein Gespräch unter Männern zu führen. Ich war fest davon überzeugt, daß ich ihn zur Heimreise nach England bewegen könnte. Aber Ogilvie wollte es anders, weil unsere Tarnung nicht auffliegen durfte. Deprimiert, aber pflichtbewußt sagte ich zu Larry: »Okay! Geh rein, frühstücken.« Er stieg aus und ging ins Hotel. Brent berichtete: »Ashton hat sich soeben noch eine Tasse Kaffee eingegossen. Der Appetit ist ihm jedenfalls nicht vergangen, soviel steht fest. Ho! Ho! Larry Goodwin kommt eben durch die Tür. Ashton hat ihn noch nicht gesehen, auch Benson noch nicht. Larry spricht mit der Kellnerin an der Tür. Gott, wie er sein Schwedisch massakriert – ich kann's bis hierher hören. Jetzt hört auch Ashton ihn. Er dreht sich um. Ich kann Ashtons Gesicht nicht sehen. Jetzt dreht er sich zu Benson und stößt ihn an. Ashton ist weiß wie die Wand. Die Kellnerin führt Larry an einen Tisch. Larry kommt an Ashtons Tisch vorbei – dreht sich nach ihm um und spricht ihn an. Ashton hat seine Kaffeetasse umgestoßen. Benson schaut verdammt böse; wenn Blicke morden könnten, läg' Larry jetzt auf dem Parkett. Benson sieht ja schon in seinen besten Augenblicken nicht gerade wie ein Ölporträt aus – aber wenn Sie ihn jetzt sähen … Ashton will aufstehen und gehen. Benson hält ihn zurück.« 179
Ich schaltete mein Gerät auf den anderen Kanal, und Brents Stimme verstummte abrupt. Ich sagte: »Henty, Schluß mit dem Frühstück! Gehen Sie vors Hotel. Michaelis, Sie ebenfalls – stellen Sie sich mit dem Wagen hinter das Hotel.« Ich startete, verließ den Hotelparkplatz, fuhr ein Stück die Källgatan hoch und parkte mit Blick auf den Haupteingang des Hotels. Als ich wieder zu Brent umschaltete, berichtete er soeben: »… sieht ziemlich mitgenommen aus, und Benson redet auf ihn ein. Hat wohl Mühe, sich zusammenzureißen. Ich hätte eher das Gegenteil erwartet, da Benson doch nur Ashtons Bediensteter ist. Aber so wirkt es jedenfalls von hier aus: Ashton will abhauen, doch Benson hält ihn zurück. Larry macht nicht viel – ißt nur sein Frühstück –, schaut aber immer wieder zu Ashton hinüber und lächelt. Ich glaube, Ashton ist fast am Ende seiner Kräfte. Ich muß jetzt aufhören, weil Michaelis geht und es verdammt blöd aussieht, wenn ich hier plötzlich Selbstgespräche führe.« Das Summen im Gerät verstummte. Ich schaltete zu Larry. »Larry, wenn Ashton und Benson gehen, folgst du ihnen mit Brent.« Henty kam aus dem Hotel und überquerte die Straße. Dann kam Michaelis und ging zum Parkplatz, wo er aus meinem Blickfeld verschwand. Zehn Minuten später tauchten Ashton und Benson im Hoteleingang auf, jeder mit einer Reisetasche. Sie traten auf den Bürgersteig, und Ashton schaute unsicher die Straße auf und ab. Er sprach auf Benson ein, der den Kopf schüttelte, und es sah aus, als wären sie sich nicht einig. Hinter ihnen erschien Larry im Hoteleingang. Ich kommandierte: »Larry, sag etwas zu Ashton. Sag ihm, er soll dir folgen. Wenn er einverstanden ist, bringst du ihn nach hinten zum Lieferwagen.« »Und Benson?« »Den auch – wenn's geht.« Ashton sah, daß Larry ihn beobachtete, und zog Benson am Arm. Benson nickte, und sie gingen weiter, hielten jedoch auf Larrys Zuruf an. Larry eilte zu ihnen und fing zu sprechen an, unterdessen kam auch Brent aus dem Hotel und stellte sich in der Nähe auf. 180
Ich hörte die einseitige Unterhaltung. Larry sprach schnell russisch, und Ashton nickte zweimal, aber Benson brachte Einwände vor, die er jeweils kopfschüttelnd bekräftigte, und versuchte auch immer wieder, Ashton wegzuziehen. Schließlich schaffte er es, und die beiden ließen Larry stehen. Sie kamen geradewegs auf mich zu. Ich duckte mich. Vom Wagenboden aus fragte ich bei Larry an: »Was war?« »Ashton wäre beinahe mitgekommen, aber Benson hat es verpatzt.« »Hat Benson Russisch gesprochen?« »Nein, Englisch; aber er verstand mein Russisch gut.« »Wo sind sie jetzt?« »Sie gehen die Straße rauf – sind ungefähr dreißig Meter hinter deinem Wagen.« Ich richtete mich wieder auf. Im Spiegel sah ich Ashton und Benson schnell in Richtung Bahnhof gehen. Danach wurde alles noch unangenehmer für sie, da wir sie ja förmlich aus der Stadt trieben. Am Bahnhof stießen sie auf Brent. Und als sie im Stadtzentrum untertauchen wollten, standen sie wieder Larry und Henty gegenüber. Bald wurde ihnen klar, daß sie es mit einem feindseligen Quartett zu tun hatten. Wie sie sich auch drehten und wanden, sie wurden unwiderstehlich immer weiter zum Stadtrand hin abgedrängt. Und die ganze Zeit dirigierte ich diesen bizarren Reigen und ließ sie tanzen wie die Puppen. Ich fand mich zum Kotzen. Zuletzt verlagerte sich die Treibjagd an die Landstraße Stockholm – Eskilstuna, die sie im Laufschritt überquerten. Ein Auto, das mit heulender Hupe dahinraste, überfuhr Benson um ein Haar. Jenseits der Straße standen keine Häuser mehr – nur noch Tannen, so weit das Auge reichte. Ich zog Michaelis zurück, um den Lieferwagen zu holen, und schickte die anderen drei in den Wald. Ich stellte mein Auto neben der Landstraße ab und folgte ihnen. Es sah so aus, als wäre die Jagd bald vorüber – es gibt nichts Einsameres als die Wälder Schwedens. Für Männer im gesetzten Alter bewegten Ashton und Benson sich in dem schwierigen Gelände erstaunlich flink. Ashton hatte mir ja bereits seine Fitneß bewiesen, aber bei Benson hätte ich eine solche Kondition nicht vermutet, immerhin war er ein paar Jahre älter als Ashton. Zwi181
schen den Bäumen war die Sicht sehr schlecht, und die beiden schlugen ständig Haken. Zweimal verloren wir sie aus den Augen: das erste Mal fanden wir sie nur durch Zufall wieder, beim zweiten Mal brachten uns nur ihre Taschen, die sie fortgeworfen hatten, wieder auf die Spur. Ich hielt mich immer noch im Hintergrund und gab meine Anweisungen nur über Funk. Als wir etwa drei Kilometer tief im Wald waren, gestaltete sich das Vorwärtskommen immer schwieriger. Wo der Boden nicht vom Schnee oder vom Eis spiegelglatt war, rutschten wir auf glitschigen Tannennadeln aus. Es ging bergauf und bergab, nicht steil, aber die Steigungen genügten, um uns außer Atem zu bringen. Einmal machte ich Pause. Ich vernahm Brents Stimme im Ohr: »Was war das jetzt?« »Was?« »Horchen Sie!« Ich lauschte und versuchte, meinen keuchenden Atem zu zügeln. Da hörte ich es auch schon: Schüsse in einiger Entfernung. Offenbar aus der Tiefe des Waldes vor uns. »Sind da Leute auf der Jagd?« fragte Larry. »Mit einem Maschinengewehr?« fragte Brent ungläubig zurück. »Ruhe!« kommandierte ich. »Habt ihr Ashton im Blickfeld?« »Vor mir liegt ein kleines Tal«, meldete Henty. »Wenig Bäume. Ich kann beide sehen, Ashton und Benson – Entfernung etwa vierhundert Meter.« »Schön und gut, aber wo sind Sie?« »Gehen Sie geradeaus weiter«, sagte Henty. »Es ist ein langes Tal – nicht zu verfehlen.« »Vorwärts«, sagte ich. Da fielen wieder Schüsse, diesmal unregelmäßiges Einzelfeuer. Maschinengewehre, wie Brent vermutet hatte, waren das nicht. Es hörte sich eher an wie die Ballerei beim Finale eines Westerns, und ich fragte mich, was da im Gange sei. Jäger ballerten jedenfalls nicht so wild drauflos. Ich hastete einen Bergkamm hoch, von wo aus ich nun auch das Tal überblicken konnte. Henty hatte recht; der Baumbestand war hier spärlich, dafür aber der Schnee höher. In einiger Entfernung machte 182
ich Ashton und Benson aus, wie sie sich langsam fortbewegten; vielleicht behinderte sie der Schnee, aber wahrscheinlicher noch hatte die Flucht nun ihre letzten Kraftreserven erschöpft. Henty befand sich bereits unten auf der Talsohle, Brent und Larry schnitten vom Abhang her unseren Opfern den Weg ab. Wieder Schüsse. Diesmal tatsächlich Maschinengewehre. Dann harte Schläge, kurz darauf dumpfe Explosionen. Eine Rauchwolke wehte über die Bäume am anderen Ende des Tales. Henty war stehengeblieben. Er winkte mir zu und sagte über Funk: »Ich weiß, was das ist. Ein Truppenübungsplatz. Manöver.« »Mit scharfer Munition?« »Hört sich so an. Das eben waren Granatwerfer.« Ich rannte los, rutschte und stürzte den Berg hinab. Unten waren Brent und Larry nur noch fünfzig Meter von Ashton entfernt und näherten sich ihm schnell. Ashton schlug einen Haken, und ich schrie: »Brent – Larry stehenbleiben!« Sie zögerten einen Augenblick, setzten dann aber doch, vom Jagdfieber gepackt, weiter nach. Ich rief noch einmal: »Stehenbleiben. Hetzt ihn nicht ins Gewehrfeuer.« Nun hielten sie endlich an. Ich rannte weiter. Ich mußte jetzt mit Ashton sprechen, egal, was Ogilvie meinte. Das war ein böses Spiel. Jetzt mußte Schluß gemacht werden. Ashton kletterte den jenseitigen Abhang hoch, zu den Bäumen auf dem Kamm empor, kam aber nur noch langsam voran. Benson war nirgends zu sehen. Ich rannte, bis mir fast die Brust zersprang, und hielt auf Ashton zu. Endlich war ich nah genug hinter ihm. Ich rief: »Ashton! George Ashton! Halt!« Er drehte sich im Laufen um und schaute zu mir zurück. Wieder setzte heftiges MG- und Granatwerfer-Feuer ein. Ich riß mir den Pelz vom Leib und warf ihn zur Seite, damit er mich erkennen konnte. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Er stieg noch ein paar Meter höher, dann hielt er an und sah mir entgegen. Brent und Larry stellten sich rechts und links von mir auf. Ich wollte eben noch einmal rufen, als ein einzelner Schuß fiel, diesmal aus ziemlicher Nähe. Ashton stolperte vornüber. Ich stand nur 183
noch zehn Meter von ihm entfernt. Ich hörte ihn keuchen. Dann fiel noch ein Schuß, er wirbelte herum, stürzte und rollte den Hang herab auf mich zu. Vor meinen Füßen blieb er liegen. Henty hatte mich überholt; ich sah die Pistole in seiner Faust. Ich beugte mich über Ashton. Er hustete. Blut rann ihm aus dem Mundwinkel. In seinen Augen stand immer noch Überraschung. »Mal … colm … was …« Ich sagte: »Ganz ruhig, George.« Ich schob meine Hand unter seinen Mantel. Da war es warm und feucht. Er kramte in seiner Tasche und sagte: »Der … der …« Er hob mir die Faust vors Gesicht. »Die … die …« Dann fiel er hintenüber, mit weit offenen Augen starrte er verwundert in den Himmel. Eine Schneeflocke fiel ihm auf den linken Augapfel, er zwinkerte nicht. In der Ferne dröhnten Granaten und Maschinengewehre ratterten, in nächster Nähe krachten wieder einzelne Schüsse. Ich sah auf Ashton hinab und fluchte leise. Brent kam mit knirschenden Schritten durch den Schnee. »Tot?« Ich nahm meine Hand unter seinem Mantel hervor und starrte auf das Blut. Dann rieb ich meine Hand im Schnee sauber. »Fühlen Sie ihm den Puls«, sagte ich. Ich stand auf, während Brent sich niederkniete, und mußte an das schreckliche Durcheinander denken, das wir – ich – aus dieser Operation gemacht hatten. Um Ashton verfärbte sich der Schnee rot. Brent schaute zu mir hoch. »Er ist tot. Nach dem Blutverlust zu urteilen, muß es die Aorta erwischt haben. Deshalb ging's auch so schnell.« Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so miserabel gefühlt. Wir hatten Ashton ins Schußfeld gejagt wie die Treiber das Wild. Eine gräßliche Dummheit. Ich fühlte mich nicht besonders menschlich in diesem Moment. Henty kam den Hang herunter, die Pistole lässig in der rechten Hand. »Ich hab' ihn erwischt«, sagte er nüchtern. Ich konnte noch das Pulver riechen, als er näher kam. »Wen erwischt, verdammt noch mal?« »Benson.« 184
Ich starrte ihn an. »Sie haben Benson erschossen?« Er schaute überrascht. »Aber er hat doch Ashton erschossen, oder nicht?« Jetzt wußte ich nicht mehr, woran ich war. »Er?« »Natürlich. Ich hab's gesehen.« Henty schaute den Hang hinauf. »Sie konnten es vielleicht aus diesem Winkel nicht sehen – aber ich.« Ich konnte es immer noch nicht fassen. »Benson hat Ashton erschossen!« »Beinahe hätte er mich erschossen«, sagte Henty. »Er versuchte es jedenfalls, als ich mich dort oben zeigte. Und wenn jemand auf mich anlegt, schieß ich zurück.« Ich war nie auf die Idee gekommen, Henty zu fragen, ob er bewaffnet sei. Unser Team war auf Ogilvies Anweisung nicht bewaffnet, aber Henty unterstand einer anderen Dienststelle. Ich starrte ihn immer noch an, als plötzlich von oben ein mahlendes Rasseln ertönte. Über den Bergkamm schob ein Panzer seine Nase und rollte ins Tal herunter. Diese Nase war eine 105-mm-Schnellfeuerkanone. Der Panzerturm drehte sich, faßte uns ins Visier und ließ wenig Hemmungen erkennen, im nächsten Augenblick von seiner Feuerkraft Gebrauch zu machen, wenngleich auch das Maschinengewehr im Turm dieses Centurion sich durchaus kostensparender unseres Häufleins annehmen konnte. Als der Panzer endlich anhielt, ließ ich mich neben Ashtons Leichnam auf die Knie nieder. Der Turm öffnete sich und ein Kopf tauchte auf. Der Offizier schob sich die Schutzbrille in die Stirn und musterte uns mäßig erstaunt. Henty machte eine Bewegung; der Offizier fuhr ihn an: »Halt!« Mit einem Seufzer warf Henty seine Pistole seitwärts in den Schnee. Ich zwang Ashtons geballte Faust auf, um zu sehen, was er in seinem letzten Augenblick aus der Tasche gezogen hatte. Es war ein zerknittertes Fahrplanblatt für die Strecke Stockholm – Göteborg.
185
24. Kapitel
I
ch weiß nicht, wie heiß es auf höheren Ebenen herging, aber die Schweden begegneten mir stets nur – mit eisiger Höflichkeit. Ich dachte damals nicht viel darüber nach, sonst hätte ich diese coole Korrektheit sicher als äußerst beängstigend empfunden. Aber ich war zu dieser Zeit innerlich tot, mein Hirn wie eine gefrorene Masse. Für die Schweden stellte sich der Sachverhalt folgendermaßen dar: Zwei tote und vier lebende Männer waren auf einem Armeegelände gefunden worden. Einer der Toten hatte zwei Pässe in den Taschen, einen gestohlenen und einen echten: der andere Tote drei, und die waren allesamt gefälscht. Die Pässe der vier Lebenden waren echt. Es wurde behauptet, daß der eine Tote den anderen erschossen habe und dafür von einem der Lebenden getötet worden sei – von einem Australier, der in Schweden lebte und arbeitete. Und keinen Waffenschein besaß. Ziemlich verwirrend. Ogilvie war nicht in die Sache verwickelt, logischerweise, ebensowenig Michaelis und Gregory. Michaelis hatte mit dem Lieferwagen auf der Straße gewartet, aber als eine Infanterieeinheit in voller Schlachtordnung aus dem Wald hervorbrach und systematisch anfing, meinen Wagen auseinanderzunehmen, zog er sich taktvoll zurück. Er fuhr nach Strängnäs, um Ogilvie anzurufen, der ihn nach Stockholm zurückbeorderte. Und nach dem, was Ogilvie sich von der Botschaft anhören mußte, entschied er sich dafür, daß ihm das Klima von London mehr zusagte als die Kälte in Stockholm. Diese drei also flogen noch am Abend nach London heim, und Cutler meinte: »Ich hab's ja gleich gesagt.« Wir vier wurden indessen zur Kaserne in Strängnäs gebracht, dem Hauptquartier des Königlichen Södermanland-Regiments und des Ar186
meebereichs Ost. Dort wurden wir durchsucht, und der Anblick unserer Funkausrüstung weckte Verwunderung. Die Folgerungen fielen entsprechend aus. Man behandelte uns nicht schlecht; wir bekamen zu essen, und wenn es sich bei unserer Verpflegung um die üblichen Armeerationen handelte, dann ist die schwedische Armee der britischen um einiges voraus. Sprechen durften wir jedoch nicht miteinander; eine Anweisung, der zwei stämmige Schweden mit Maschinenpistolen deutlich Nachdruck verliehen. Danach wurde ich in einen leeren Raum geführt, und ich wappnete mich für ein hochnotpeinliches Verhör. Aber dann kam ein Mann in Zivil, der zuerst einmal die Militärs zur Minna machte. Das war jedenfalls mein Eindruck, den ich dem Gebrüll im Büro nebenan entnahm. Darauf erschien ein Oberst und ein zweiter Zivilist; sie betrachteten mich von Kopf bis Fuß und verschwanden wieder wortlos. Daraufhin wurde mir eine Zelle zugewiesen, wo ich die folgenden drei Wochen verbrachte, abgesehen von einer Stunde Hofgang täglich. Während dieser Zeit bekam ich meine Kollegen nicht zu Gesicht, und kein Schwede sagte mir auch nur »Guten Tag«. Eigentlich hätte ich mich ganz schön einsam fühlen müssen. Fühlte ich mich aber nicht. Ich fühlte überhaupt nichts. Eines Morgens um drei wurde ich geweckt, in einen Waschraum geführt und angewiesen, mich zu duschen. Als ich wieder herauskam, fand ich meine Zivilkleidung vor – die Armeekluft, die ich bisher angehabt hatte, war verschwunden. Ich zog mich an, überprüfte meine Brieftasche, stellte fest, daß alles da war, und legte meine Uhr an. Nur meinen Paß und das Funkgerät bekam ich nicht wieder ausgehändigt. Man führte mich über einen dunklen und schneebedeckten Exerzierplatz in ein Büro, wo mich ein Mann in Zivilkleidung erwartete. Er stellte sich als Hauptmann Morelius vor, hatte wache Augen und in einem Halfter unter seiner Jacke eine Pistole. »Sie kommen mit mir«, sagte er. Wir gingen wieder hinaus, zu einem Volvo mit Chauffeur, und Hauptmann Morelius sprach kein einziges Wort mehr, bis wir uns drei Stunden später auf dem Vorfeld des Flughafens Arlanda befan187
den. Dort deutete er auf eine Trident der British Airways und sagte: »Ihr Flugzeug, Mr. Jaggard. Sie zweifeln wohl nicht daran, daß Sie in Schweden nicht mehr erwünscht sind.« Das war alles. Wir gingen zur Gangway, und Hauptmann Morelius übergab einem Steward ein Ticket, demzufolge mir ein Platz in der Ersten Klasse zustand. Zwanzig Minuten später waren wir in der Luft. Der Steward gab sich äußerst zuvorkommend, er hielt mich wohl für einen VIP, und ich genoß den ersten Drink nach fast einem Monat. Als wir in Heathrow landeten, war mir nicht ganz klar, wie ich ohne Paß durchkommen sollte; auf umständliche Diskussionen hatte ich absolut keine Lust. Aber da stand Ogilvie, und wir umgingen Paßkontrolle und Zoll. In seinem Wagen fragte er schließlich: »Alles in Ordnung, Malcolm?« »Ja«, sagte ich. Und nach einer Pause: »Es tut mir leid.« »Machen Sie sich keine Sorgen«, meinte er. »Die Erklärungen heben wir uns für später auf.« Auf dem Weg in die Stadt redete er über alles mögliche, nur nicht über den Vorfall in Schweden. Er erzählte mir das Neueste aus Politik, Film, Funk, Fernsehen und Show. Als er vor meiner Wohnung anhielt, sagte er: »Schlafen Sie gut. Ich seh Sie dann morgen in meinem Büro.« Ich stieg aus. »Moment mal! Wie geht es Penny?« »Recht gut, glaub ich. Sie ist in Schottland.« »Weiß sie Bescheid'?« Er nickte und zog einen Zeitungsabschnitt aus seiner Brieftasche. »Das dürfen Sie behalten«, sagte er, legte den Gang ein und fuhr davon. Ich ging hinauf in meine Wohnung und fühlte mich fremd, stand da und schaute herum, bis ich merkte, daß ich den Zeitungsausschnitt immer noch in der Hand hielt. Er stammte aus der Times und lautete: »Tödlicher Unfall in Schweden. Zwei Engländer, George Ashton (56) und Howard Greatorex Benson (64), kamen gestern in der Nähe von Strängnäs in Schweden ums Leben. Bei einer Wanderung über ein Manövergelände der schwedischen 188
Armee. Die beiden Engländer fielen einer Granatenexplosion zum Opfer und waren sofort tot. Wie ein Sprecher der schwedischen Armee erklärte, sei das Gebiet vorschriftsmäßig abgesperrt und alle Zufahrtsstraßen ordnungsgemäß beschildert gewesen. Die Durchführung von Manövern mit scharfer Munition werde stets rechtzeitig in den Lokalzeitungen und im Radio angekündigt.« Der Ausschnitt trug das Datum vom fünften Tag nach Ashtons und Bensons Tod.
25. Kapitel
A
ls ich mein Büro betrat, saß Larry Goodwin an seinem Schreibtisch, las die Prawda und sah so aus, als wäre er nie weggewesen. Er schaute auf. »Hallo, Malcolm.« Er lächelte nicht, ich auch nicht. Wir wußten beide, daß es keinen Grund zum Lächeln gab. »Seit wann bist du zurück?« »Seit drei Tagen – einen Tag nach Jack Brent.« »Henty?« Er schüttelte den Kopf. »Hab' ihn nicht gesehen.« »Wie haben sie dich behandelt?« »Nicht schlecht. Ich fühlte mich allerdings etwas isoliert.« »Hat Ogilvie dich schon ausgefragt?« Larry zog eine Grimasse. »Ausgequetscht wie eine Zitrone hat er mich. Ich fühl mich immer noch ausgelaugt. Jetzt bist du dran.« Ich nickte, nahm das Telefon und meldete mich bei Ogilvies Sekretärin. Dann setzte ich mich hin, um mir meine Zukunft auszumalen, konnte aber vor lauter Nebel nichts erkennen. Larry sagte: »Jemand hat gerade noch an den richtigen Fäden gezogen. Ich sag' dir, ich hatte nicht gerade Lust auf einen längeren Aufenthalt hinter den mit Recht so benannten Schwedischen Gardinen. Die hätten uns am liebsten in 189
die schwedische Ausführung von Sibirien geschickt – in den zugefrorenen Norden.« »Ja«, sagte ich zerstreut. Ich fragte mich, was die Schweden wohl im Austausch für unsere Entlassung und ihr Stillschweigen verlangt hatten. Zwanzig Minuten später rief Ogilvie mich zu sich. »Setzen Sie sich, Malcolm.« Er beugte sich zu seiner Sprechanlage. »Für den Rest des Vormittags bitte keine Gespräche mehr«, sagte er unheilverkündend, dann schaute er mich an. »Ich fürchte, wir haben eine Menge zu bereden. Wie geht es Ihnen?« Ich hatte das Gefühl, daß es ihn wirklich interessierte, also sagte ich: »Etwas erschöpft.« »War die Behandlung durch die Schweden ordnungsgemäß?« »Keine Beschwerden.« »Gut. Kommen wir auf den Kern. Wer hat Ashton umgebracht?« »Selbst habe ich es nicht gesehen. Als es passierte, dachte ich, ein paar Kugeln von den Schweden hätten ihn erwischt – es wurde viel geschossen. Dann erfuhr ich von Henty, Benson habe Ashton erschossen.« »Aber Sie haben nicht gesehen, wie er ihn erschoß.« »Nein.« Ogilvie nickte. »Das stimmt mit Goodwins und Brents Aussagen überein. Und wer hat nun eigentlich Benson umgebracht?« »Henty behauptet, er sei es gewesen. Er will gesehen haben, wie Benson auf Ashton schoß. Daraufhin habe er seine Pistole gezogen und sich hinter Benson hergemacht. Benson befand sich zu diesem Zeitpunkt offensichtlich auf dem Hügel zwischen den Bäumen. Henty sagte, Benson habe auch auf ihn geschossen, daraufhin habe er zurückgefeuert und Benson tödlich getroffen. Ich wußte nicht einmal, daß Henty bewaffnet war.« »Haben Sie sich schon mal überlegt, warum Benson Ashton umgebracht haben könnte? Für einen langjährigen Bediensteten nicht gerade die übliche Art, mit seinem Herrn zu verfahren.« Ein unguter Gedanke kam mir in den Sinn: In den weniger guten alten englischen Detektivromanen war immer der Butler der Mörder. 190
Ich sagte: »Ich kann mir einen Grund vorstellen. Aber der hat nichts mit Bensons Stellung als Diener zu tun.« »Also?« »Henty kam rechts von mir den Abhang herauf, Brent und Goodwin von der linken Seite. Ashton befand sich dicht oberhalb von mir – aber vom Hang oben wurde ich durch einen Felsen verdeckt. Ich sah Benson nicht – und er hat mich wohl auch nicht gesehen. Er sah nur Larry, und Larry hatte, wie Sie sich erinnern, einen Russen gespielt. Als Ashton nun stehenblieb, sich umdrehte und den Anschein erweckte, abwärts zu steigen – da hat Benson ihn erschossen.« »Um zu verhindern, daß er den Russen in die Hände fällt. Verstehe.« »Damit wäre Benson allerdings mehr als nur ein Familienfaktotum gewesen.« »Möglich«, meinte Ogilvie. »Aber ich habe mich ausführlich mit dem Lebenslauf von Howard Greatorex Benson befaßt. Der Mann ist so sauber, wie man nur sein kann. Geboren 1912 in Exeter als Sohn eines Rechtsanwalts. Volksschulbildung. Schafft zum Bedauern seines Vaters den Einstieg in die Universität nicht. Büroangestellter bei einer Firma in Plymouth, Abteilungsleiter. Einberufung 1940, Feldwebel bei einer Versorgungseinheit – er war der ideale Typ des Quartiermeisters. Entlassung 1946, Bürovorsteher bei Ashton. Dann ist er leider dem sogenannten Peter-Prinzip zum Opfer gefallen: tüchtig, so lange die Firma klein ist, bei Expansion überfordert. Erinnern Sie sich: Er hat es nie weiter als bis zum Feldwebel gebracht – ein Mann, der nur kleine Brötchen backen kann. Also macht Ashton ihn zum Mädchen für alles, was seinen Neigungen und Fähigkeiten wohl auch durchaus entsprach. Da wurden keine großen Ansprüche an ihn gestellt, und er hatte trotzdem das schöne Gefühl, gebraucht zu werden. Für Ashton dürfte sich das wohl rentiert haben. Wie finden Sie das alles?« »Stammt das aus dem Computer?« »Nein. Unser Hirn hat immer noch Kopfschmerzen. Es erzählt mir neuerdings, daß Benson sich überhaupt nicht in der Datenbank befinden kann.« 191
»Das ist falsch«, sagte ich tonlos. »Er tauchte plötzlich auf, als ich Nellie fragte.« Ogilvie schaute mich zweifelnd an, sagte aber dann: »Und was halten Sie nun von meiner Geschichte?« »Jedenfalls kein Hinweis, weshalb er Ashton umgebracht haben könnte. Allerdings auch kein Hinweis darauf, wozu er überhaupt ein Schießeisen besessen haben könnte. Hatte er wenigstens einen Waffenschein?« »Nein.« »Ist die Pistole untersucht worden?« Ogilvie zuckte die Achseln. »Die liegt bei den Schweden.« Er überlegte eine Weile, dann schlug er ein Notizbuch auf und zog die Kappe von seinem Füllhalter. »Ich wollte diesen Punkt vorweg geklärt haben. Aber nun erzählen Sie mir der Reihe nach, wie sich alles abgespielt hat – von dem Zeitpunkt an, als Ashton und Benson ihre Wohnung in Stockholm verließen.« Das dauerte den Rest des Vormittags. Um dreiviertel eins schraubte Ogilvie seinen Federhalter wieder zu. »Das wär's wohl. Sie können jetzt nach Hause gehen.« »Ich bin vom Dienst suspendiert?« Er sah mich unter seinen tiefhängenden Augenbrauen an.»Es gibt da einige Leute, die das wohl gern sähen. Andere befürworten eine Versetzung auf die Äußeren Hebriden, wo Sie sich der Abwehr von Industriespionage betreffend die Produktion von Harris-Tweed widmen könnten; es ist da an eine Dauerstellung von etwa zwanzig Jahren gedacht. Haben Sie einen Schimmer von den Problemen, die unser Unternehmen verursacht hat?« »Kann ich mir gut vorstellen.« Er schnaubte. »Wirklich? Denken Sie nur einmal daran, was allein schon die Schweden empfunden haben dürften, als wir anfingen, starken Druck auf sie auszuüben! Das ging bis ins Kabinett hinauf, und die Herren Minister zeigten sich nicht gerade beglückt. Das Wort Stümperei ist gefallen.« Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er hob die Hand. 192
»Nein, Sie sind nicht suspendiert. Sie haben auf meine Anweisung gehandelt, und unter den gegebenen Umständen konnten Sie nicht anders vorgehen. Niemand mußte damit rechnen, daß Benson auf Ashton schießt. Wenn einer über die Klinge springen muß, dann allenfalls ich, als Leiter der Dienststelle. Allerdings, im Augenblick steht diese Dienststelle unter starkem Druck. Für Morgen früh, elf Uhr, ist eine Konferenz des Koordinationsausschusses anberaumt. Ihr Erscheinen ist erwünscht. Also gehen Sie jetzt und kommen Sie morgen um viertel nach zehn zu mir, ausgeruht, aufgefrischt und auf Unannehmlichkeiten gefaßt. Verstanden?« »Ja.« »übrigens wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie dem Ausschuß nicht erzählten, daß Ihnen die Ashton-Daten aus dem Schwarzen Code bekannt sind. Mein Problembedarf ist gedeckt.« Ich stand auf. »In Ordnung, aber eins möchte ich gern noch wissen – was ist mit den Leichen geschehen?« »Ashton und Benson? Vor zwei Wochen nach England überführt. Die Beerdigung fand in Marlow statt, beide liegen im dortigen Friedhof nebeneinander.« »Wie hat Penny es aufgenommen?« »Wie erwartet. Beide Töchter schwer betroffen. Ich selbst war natürlich nicht dort, aber man hat mich über die Umstände informiert. Ich ließ Miß Ashton Bescheid geben, Sie befänden sich in Amerika, kämen aber bald zurück. Ich hielt das für ratsam.« Ratsam und taktvoll. »Danke«, sagte ich. »Und nun gehen Sie und bereiten Sie sich auf morgen vor.« Als ich an der Tür stand, fügte er noch hinzu: »Eins noch, Malcolm, egal, wie die Konferenz verläuft – Sie sollen wissen, daß im Fall Ashton noch etliches im dunkeln liegt; aber ich werde da Licht hineinbringen. Langsam wächst in mir ein Zorn.« Auf dem Heimweg dachte ich, daß ein Ogilvie im Zorn sicher erschreckend sein müsse.
193
Während hinter verschlossenen Türen die Konferenz ablief, hatte ich im Vorzimmer viel Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen. Es war bereits 12.15 Uhr, als ein Bürodiener mich hineinbat. Ich betrat einen großen, hohen Saal, der auf einen Innenhof irgendwo in Westminster mündete. Um einen langen Tisch aus echtem Walnußholz hatten sich wohlgekleidete und wohlgenährte Herren in mehr als mittlerem Alter versammelt. Auf den ersten Blick hätte es sich da durchaus um die Jahresversammlung des Aufsichtsrats einer Bank in der City handeln können, wenn nicht dank der Uniform eines Kommandanten der Stadtpolizei und der roten Kragenspiegel eines Obersten aus dem Generalstab für ein paar Farbtupfer gesorgt gewesen wäre. Ogilvie drehte sich um, als ich hereinkam, und wies auf einen leeren Stuhl neben sich. Den Vorsitz führte ein Minister, mit dessen Politik ich nicht einverstanden und von dessen Persönlichkeit ich nicht überzeugt war. Ein Umfaller, ein Stehaufmännchen, so war er mir immer vorgekommen. Heute morgen jedoch – keine Spur von Wankelmut. Er leitete die Konferenz wie ein Regimentsspieß. Er sagte: »Mr. Jaggard, wir behandeln soeben die kürzlich in Schweden erfolgte Operation, an der Sie beteiligt waren. Nun sind wir dabei auf einige Meinungsverschiedenheiten gestoßen. Mr. Ogilvie hat daher vorgeschlagen, Sie persönlich zu unseren Fragen zu hören.« Ich nickte, aber der Oberst schnaubte: »Meinungsverschiedenheiten! Das ist wohl etwas gelinde ausgedrückt!« »Mit Mr. Jaggard hat das nichts zu tun, Oberst Morton«, sagte der Minister. »Ach nein?« Morton wandte sich direkt an mich. »Ist Ihnen bewußt, junger Mann, daß ich durch Sie meinen besten Mann in Skandinavien verloren habe? Seine Tarnung ist völlig aufgeflogen.« Kein Zweifel: dieser Morton war Hentys Chef. Der Minister klopfte mit seinem Bleistift auf den Tisch, und Morton gab Ruhe. »Unsere Fragen sind sehr einfach, und wir erwarten ebenso präzise und unzweideutige Antworten. Ist das klar?« »Ja.« 194
»Gut. Wer tötete Ashton?« »Ich habe nicht gesehen, wer ihn erschossen hat. Henty teilte mir mit, es sei Benson gewesen.« Weiter unten am Tisch entstand Unruhe. »Aber Sie wissen es nicht genau. Lediglich aus zweiter Hand!« Ich drehte mich um und erblickte Lord Cregar. »Richtig. Es besteht jedoch kein Grund, Hentys Aussage zu bezweifeln. Er machte mir unmittelbar nach dem Vorfall Mitteilung.« »Nachdem er Benson getötet hatte?« »Genau.« Cregar schaute mich aufmerksam an und lächelte dünn.»Nun, Sie kannten Benson, und ich nehme an, Sie haben sich mit ihm befaßt. Können Sie mir auch nur einen einzigen Grund nennen, warum Benson den Mann, dem er dreißig Jahre treu ergeben gedient hatte, umgebracht haben soll?« »Ich kenne keinen vernünftigen Grund«, sagte ich. Seine Lippe verzog sich verächtlich. »Irgendeinen unvernünftigen Grund?« Ogilvie sagte sauer: »Mr. Jaggard ist nicht hier, um dümmliche Fragen zu beantworten.« Der Minister sagte scharf: »Wir kommen nur weiter, wenn wir bei einfachen Fragen bleiben, wie ich bereits vorschlug.« »Wie Sie meinen«, sagte Cregar. »Hier eine einfache Frage. Warum haben Sie Henty befohlen, Benson umzubringen?« »Habe ich nicht«, sagte ich. »ich wußte nicht einmal, daß er bewaffnet war. Wir anderen waren es auf Anweisung von Mr. Ogilvie jedenfalls nicht. Henty untersteht einer anderen Dienststelle.« Oberst Morton mischte sich ein: »Wollen Sie damit sagen, daß Henty aus eigener Initiative handelte?« »Ja. Es spielte sich alles innerhalb von, sagen wir, zwanzig Sekunden ab. Zu dem Zeitpunkt, als Benson erschossen wurde, versuchte ich gerade, Ashton zu helfen.« Morton beugte sich vor. »Nun denken Sie einmal gut nach, Mr. Jaggard. Es ist eigentlich nicht die Art meiner Männer, unbekümmert 195
Leichen in der Landschaft zu verstreuen. Welchen Grund gab Henty für das Erschießen von Benson an?« »Notwehr. Er sagt, daß Benson auf ihn geschossen habe, also schoß er zurück.« Oberst Morton lehnte sich zurück und schien zufrieden, aber Cregar warf in die Runde: »Dieser Benson scheint mir mehr und mehr ganz und gar wider seinen Charakter gehandelt zu haben. Da haben wir nun einen alten, in Ehren ergrauten Pensionär – und der führt sich plötzlich auf wie Billy the Kid. Äußerst unglaublich, wenn Sie mich fragen.« »Und ich habe hier eine Patrone«, sagte Ogilvie, zog ein Geschoß aus der Westentasche und setzte es so hart auf die Tischplatte auf, daß ein vernehmliches Klicken ertönte. »Kaliber 9-mm-Parabellum. Fundort: Bensons Schlafzimmer in Marlow. Es dürfte zu der Pistole passen, die bei Bensons Leiche lag. Außerdem wissen wir, daß die Kugel in Ashtons Leiche ebenfalls aus Bensons Pistole abgefeuert worden ist. Das haben uns die Schweden mitgeteilt.« »Na bitte«, sagte Cregar. »Alles, was Sie wissen, beruht auf Mitteilungen der Schweden. Was kann man wirklich damit anfangen?« »Wollen Sie damit etwa unterstellen, daß Ashton nicht von Benson getötet worden ist?« fragte Morton, deutliche Säuernis in der Stimme. »Ich betrachte es als äußerst unwahrscheinlich«, sagte Cregar. »Ich stelle doch keine Männer ein, die so blöd sind, mich anzulügen«, sagte Morton, nun mit diamantenschneidender Schärfe. »Henty sagt, er hat gesehen, daß Benson Ashton tötete, und das glaube ich ihm. Und dem widerspricht auch keine bisherige Aussage.« »Es sei denn«, ließ Ogilvie sich mit ungläubiger Stimme vernehmen, »Lord Cregar wünscht zu unterstellen, daß nicht nur meine Dienststelle, sondern auch Oberst Mortons Department sowie die schwedische Armee sich zu einer Verschwörung zusammengefunden haben, um Benson den Tod Ashtons in die Schuhe zu schieben und damit den wahren Mörder zu decken.« Der uniformierte Kommandant lachte schallend, und Cregars Mondgesicht lief rot an. »Aber ich muß doch sehr bitten!« gab Cregar zurück. 196
»Ich versuche lediglich, einem verdammt mysteriösen Sachverhalt auf den Grund zu kommen. Welches Motiv hätte Benson denn nur haben können, Ashton zu erschießen?« »Er befindet sich leider nicht in unserer Mitte, um Rede und Antwort zu stehen«, bemerkte der Minister eisig. »Ich schlage vor, wir beenden hiermit die Haarspalterei und wenden uns wieder Mr. Jaggard zu.« Der Kommandant beugte sich vor und sprach mich über Ogilvie hinweg an: »Ich bin Pearson von der Special Branch. Diese schwedische Operation ist nicht mein Bier, aber ich bin aus beruflichen Gründen interessiert. Wenn ich recht verstehe, wollte Mr. Ogilvie Ashton nicht merken lassen, daß der britische Geheimdienst sich um ihn kümmerte. Können Sie uns erklären, warum?« Das war verzwickt, weil ich ja offiziell nicht wußte, wer Ashton wirklich war. Ich sagte: »Darf ich vorschlagen, diese Frage an Mr. Ogilvie zu richten.« »Allerdings«, beschied der Minister. »Hier werden Vorgänge berührt, die zu kennen Mr. Jaggard nicht befugt ist.« »In Ordnung«, sagte Pearson. »Aber gleichzeitig wollte Ogilvie diesen Ashton aus Schweden herausschaffen, weil die Russen aufmerksam geworden waren, also machte er Ashton den Boden unter den Füßen heiß, indem er einen vorgeblichen Russen auf ihn ansetzte – um Ashton aus Schweden ›herauszusprengen‹, wie Mr. Ogilvie es selbst formulierte. Wenn dem so ist, dann verstehe ich die Notwendigkeit dieses Entführungsversuchs in Strängnäs nicht. Aus welchem Grund wurde dieser Versuch unternommen?« Ich erklärte es ihm: »Die beiden Flüchtigen kauften Fahrkarten von Stockholm nach Göteborg. Dagegen war nichts einzuwenden. Ich wollte die beiden lediglich im Auge behalten – um das endgültige Reiseziel zu ermitteln, falls sie in Göteborg ein Schiff bestiegen hätten. Das Wichtigere war immer noch, sie von den in Schweden aktiven Russen wegzubringen. Aber als sie uns nun entwischten und nach Strängnäs umstiegen, komplizierte sich die Lage. Eine diskrete Observierungsoperation war nun nicht mehr am Platze. Verstärkte Maßnahmen wurden erforderlich. Wie Mr. Ogilvie sie dann auch anordnete.« 197
»Aha«, sagte Pearson. »Das hatte ich mißverstanden.« »Ich hatte da auch etwas mißverstanden«, hakte Cregar wieder ein. »Ist das alles so zu verstehen, daß die Ihnen erteilten Anweisungen eine Enttarnung Ihrer Person gegenüber Ashton ausschließen sollten?« »Genau.« »Nun habe ich jedoch erfahren, daß Sie sich trotzdem zu erkennen gaben. Von Mr. Ogilvie wurden wir heute morgen dahingehend unterrichtet, daß Sie sich Ashton absichtlich gezeigt haben. Und nur als er Sie sah, machte er Anstalten umzukehren. Ist das soweit richtig?« »Richtig.« »Also haben Sie sich einem Befehl widersetzt.« Ich sagte nichts, weil das keine Frage war, aber er fuhr mich an: »Ist das nun eine Zuwiderhandlung oder nicht?« »Ja.« »Nun gut. Sie geben es zu. Nun, mit allem Respekt vor Oberst Mortons Vertrauen in die Ehrlichkeit seiner Leute ich gebe mich nicht mit dieser etwas unklaren Aussage, daß Benson Ashton erschossen hat, zufrieden. Es bleibt die Tatsache bestehen, daß Ashton von jemandem erschossen wurde, und es ist sehr wahrscheinlich, daß er erschossen wurde, weil er sich umdrehte. Mit anderen Worten, er starb, weil Sie dem Befehl, sich nicht zu enttarnen, zuwiderhandelten.« Seine Stimme war scharf. »Warum haben Sie dem Befehl zuwidergehandelt?« Ich kochte vor Wut, hielt aber meine Stimme noch unter Kontrolle. »Es ging doch nicht darum, Ashton umzubringen, sondern darum, ihn lebendig herauszuholen. Zum fraglichen Zeitpunkt war er gerade im Begriff, sich in höchste Lebensgefahr zu begeben. In dem Teil des Waldes, auf den er zuging, wurde heftig geschossen – Maschinengewehre, Granaten und Gewehre. Was genau los war, wußte ich jedoch nicht. Es schien unerläßlich, ihn zu stoppen. Und er hielt auch an. Und er wollte auch umkehren. Daß er in diesem Augenblick von Benson erschossen wurde, war ein völliger Schock für mich.« »Aber Sie wissen doch gar nicht, ob er tatsächlich von Benson erschossen wurde«, protestierte Cregar. 198
Der Minister klopfte mit seinem Bleistift auf den Tisch. »Das haben wir bereits durchgekaut, Lord Cregar.« »Wie Sie meinen.« Cregar schaute mich an und meinte sanft: »Sind Sie nicht auch der Ansicht, daß Ihrer Leitung dieser ganzen Operation schon von Anfang an, sagen wir, mangelnder Sachverstand zugrunde lag?« Ogilvie wurde böse. »Mr. Jaggard handelte auf meine direkte Anweisung. Kritik an meinen Leuten steht Ihnen absolut nicht zu. Richten Sie Ihre Kritik an mich, Sir.« »Wenn Sie es so wünschen«, sagte Cregar. »Schon von Anfang an war ich dagegen, Mr. Jaggard in diesem Fall einzusetzen und die ganzen …« »Nicht daß ich wüßte«, gab Ogilvie zurück. Cregar überhörte ihn. »… alles, was seitdem passiert ist, bestätigt meine damalige Meinung. Jaggard ließ zu, daß Ashton zu einem Zeitpunkt vor seiner Nase verschwand, als er ungehinderten Zugang zu Ashtons Haus hatte. Nur dadurch entstand die Notwendigkeit für die schwedische Operation, die er dann auch noch verpfuschte, und zwar total, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, weil Ashton nämlich jetzt tot ist. Und Sie behaupten immer noch, Jaggard habe stets aufgrund Ihrer direkten Anweisungen gehandelt – haben Sie nicht eben selbst gehört, daß er zugibt, Ihren Befehlen zuwidergehandelt zu haben?« »Mr. Jaggard hat in einer kritischen Situation eigene Initiative ergriffen.« »Und das Ergebnis, bitte schön? Ashton ist tot!« schloß Cregar vernichtend. »Sie haben mir die Initiative dieses Mannes bereits früher ausführlich erläutert. Das hat mich schon damals nicht sehr beeindruckt und jetzt noch viel weniger.« »Genug«, sagte der Minister kühl. »Das reicht jetzt. Noch irgendwelche Fragen an Mr. Jaggard? Fragen, die klar und einleuchtend sind, wenn ich bitten darf.« Niemand rührte sich, also verkündete er: »Gut, Mr. Jaggard. Das ist alles.« Ogilvie sagte mit einem gewissen Unterton: »Warten Sie draußen auf mich.« 199
Als ich zur Tür ging, hörte ich Cregar noch sagen: »Das ist also das Ende des Falles Ashton – nach dreißig langen Jahren. Ein Fehlschlag, soviel steht fest; die in ihn gesetzten Erwartungen hat er nie erfüllt. Ich schlage vor, wir lassen es dabei bewenden und wenden uns Produktiverem zu. Ich bin der Meinung …« Was Cregar meinte, erfuhr ich nicht mehr. Ich schloß die Tür.
Die Sitzung endete zwanzig Minuten später. Ogilvie steckte den Kopf ins Vorzimmer. »Gehen wir essen«, schlug er vor. Was geschehen war, schien ihn nicht allzusehr zu bedrücken, aber viel Emotion hatte er nie gezeigt. Als wir über die Whitehall gingen, sagte er: »Nun, was halten Sie davon?« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ich glaube, Cregar mag mich nicht.« »Haben Sie gehört, was er sagte, als Sie gingen?« »Irgendwas, daß der Fall Ashton erledigt sei, oder?« »Ja. Ashton sei beerdigt und der Fall Ashton auch. Womit er sich irrt, müssen Sie wissen.« »Wieso?« »Weil Sie von jetzt an voll am Fall Ashton arbeiten werden, und zwar so lange, bis alles restlos geklärt ist.« Er machte eine Pause und sagte dann nachdenklich: »Bin gespannt, was wir finden.«
26. Kapitel
N
ach allem, was auf der Sitzung vorgefallen war, kam Ogilvies Entscheidung völlig überraschend. Ich hatte bereits mit meinem Rausschmiß gerechnet, hatte meinen Spezialausweis schon durch den 200
Reißwolf wandern sehen. Eine Herabstufung oder eine Beförderung aufs Abstellgleis schienen mir noch der positivste Ausgang. Ogilvies Anspielung auf eine Versetzung nach den Hebriden war mir durchaus nicht als Scherz vorgekommen. Daß er nun weitermachen und mich dabei wieder einsetzen wollte, verblüffte mich. Ich fragte mich, wie er das wohl dem Minister beibringen wollte. Er sagte es mir: »Der Minister erfährt davon kein verdammtes Sterbenswort.« Er lächelte mich frostig an. »Institutionen wie unsere zeichnen sich durch gewisse Vorteile aus. Wir verfügen über Möglichkeiten, geheimdienstliche Tätigkeit auch tatsächlich ganz geheimzuhalten.« Dieses Gespräch fand freilich erst hinter verschlossener Bürotür statt. Beim Essen war unser Geplauder, nachdem Ogilvie erst einmal seine Bombe losgelassen hatte – mit Rücksicht auf eventuelle Mithörer nur höchst unverfänglichen Pfaden gefolgt. Nun jedoch, im Büro, kam er ohne Umschweife zur Sache. »Was ich vorhabe, mag unethisch sein und möglicherweise sogar unerlaubt«, sagte er. »Aber in diesem Fall fühle ich mich durchaus im Recht.« »Wieso?« fragte ich ebenso offen. Wenn ich schon zum Komplizen wurde, wollte ich auch die wahren Absichten kennen. »Weil da jemand falsch spielt. Diese Dienststelle ist irregeführt und betrogen worden. Von wem diese Irreführung ausgegangen ist, sollen Sie nun herausfinden – es könnte Ashton selbst gewesen sein, nach allem, was wir wissen. Ich möchte aber dahinterkommen, wer das alles organisiert hat und warum.« »Warum beauftragen Sie ausgerechnet mich damit? Wie Cregar bereits deutlich gemacht hat, bin ich doch ein Stümper.« Ogilvie hob die Augenbrauen. »Sie glauben aber auch alles. Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen und ich bin der einzige, der hier zählt. Ich entscheide mich aus mehreren Gründen für Sie. Erstens erwartet man von Ihnen bestimmt keine weiteren Schritte in diesem Fall. Zweitens verfügen Sie immer noch über Zugang zur Familie Ashton. Drittens setze ich mein vollstes Vertrauen in Sie.« 201
Ich stand auf und trat ans Fenster. Ein paar Tauben trieben ihre Liebesspiele auf dem Fensterbrett, flogen jedoch davon, als ich näher kam. Ich drehte mich um und sagte: »Für den dritten Punkt bin ich Ihnen dankbar, aber nicht so glücklich über den zweiten. Wie Sie wissen, stecke ich fast nur durch Zufall im Fall Ashton, und mein Privatleben ist dadurch von Anfang an zu einem unerträglichen Chaos geworden. Ich habe soeben einen Mann in den Tod gehetzt, und nun erwarten Sie, daß ich gegenüber seinen Töchtern den lieben Freund der Familie spiele.« »Penelope Ashton weiß nicht, daß Sie mit Ashtons Tod auch nur das Geringste zu tun haben. Dafür ist gesorgt worden.« »Darum geht es nicht, und das wissen Sie auch«, sagte ich scharf. »Sie, sind viel zu intelligent, um nicht zu verstehen, was ich meine. Sie verlangen, daß ich mit der Frau, die ich heiraten will, ein Leben der Lüge lebe – falls sie mich überhaupt noch will.« »Ich weiß das Dilemma zu würdigen«, behauptete Ogilvie ruhig. »Das dürfen Sie mir glauben. Indessen …« »Und sagen Sie mir jetzt bloß nicht, ich soll das alles aus reinem Pflichtgefühl gegenüber unserer Dienststelle tun! Ich hoffe, daß es für mich auch noch höhere Verpflichtungen gibt.« Ogilvie schnörkelte seine Augenbrauen hoch. »Das Vaterland vielleicht?« »Weit höhere.« »Ich kenne diese Theorien. E. M. Forster hat sie einmal formuliert – wenn ich einmal vor der Entscheidung stehe, mein Vaterland oder meinen Freund verraten zu müssen, hoffe ich, soviel Mumm aufzubringen, mein Vaterland verraten zu können. Oder so ähnlich. Das meinen Sie doch, oder?« »Es ist mir nicht bewußt, daß Vaterlandsverrat in den hier abgesteckten Rahmen fällt«, sagte ich steif. »Ach, ich weiß nicht«, sagte Ogilvie nachdenklich. »Es gibt viele Arten von Verrat. Eine Unterlassung kann ebensogut Verrat bedeuten wie Handeln. Das gilt vor allem für Menschen, die sich ihre Arbeit 202
selbst gewählt haben. Wenn Sie sehen, daß ein Mann eine Brücke betritt, von der Sie wissen, daß sie baufällig ist, und Sie warnen ihn nicht, und er stürzt in den Tod, dann haben Sie sich laut Gesetz zumindest der Tötung durch Unterlassen schuldig gemacht. So ähnlich verhält es sich mit dem Verrat.« »Das ist doch alles Blabla«, sagte ich kalt. »Sie sprechen von Landesverrat, wo ich nur ein Gezänk zwischen Dienststellen sehe – hei dem Ihr Selbstgefühl einen Knacks abgekriegt hat. Sie hassen Cregar mindestens genauso heftig wie er Sie.« Ogilvie schaute auf. »Wie kommen Sie denn nur auf Cregar? Oder wissen Sie da was Genaueres?« »Er hat doch von Anfang an versucht, seine Nase in unsere Sachen reinzustecken, oder etwa nicht?« »Wenn das alles ist«, sagte Ogilvie müde. »Dieser Schweinehund ist nun mal so gebaut – ein typischer Punktesammler; er muß halt ständig sein übermäßig aufgeblasenes Ego befriedigen. Ich würde aber daraus keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Er stand da und schaute mich an. »Aber Ihre Meinung über mich stimmt mich kummervoll. Ich dachte, ich hätte Besseres verdient.« »Ach, du liebes Gottchen!« rief ich aus. »Das tut mir aber leid. Und so hab' ich's auch nicht gemeint. Es ist nur, weil mich die Sache mit Penny so durcheinanderbringt. Allein bei dem Gedanken, mit ihr reden zu müssen – sie anzulügen –, dreht sich mir schon der Magen um.« »Unglücklicherweise bringt das der Job so mit sich. Wir sind professionelle Lügner, Sie genauso wie ich. Wir machen aller Welt vor, daß wir für McCulloch und Ross arbeiten, Wirtschafts- und Industrieberatung, und schon das ist gelogen. Ja, glauben Sie denn, meine Frau und meine Kinder wüßten, was ich wirklich treibe? Jede Minute, jeden Tag belüge ich sie – schon allein durch meine Existenz. Penny Ashton weiß wenigstens, was Sie sind.« »Nicht alles«, sagte ich bitter. »An Ashtons Tod trifft Sie keine Schuld.« Ich wurde laut: »Nein? Ich hab' ihn dahin getrieben.« 203
»Aber Sie haben ihn nicht getötet. Wer war's?« »Benson, verdammt noch mal!« Auch Ogilvie hob die Stimme und schrie: »Dann finden Sie endlich heraus, warum, Herrgott noch mal! Nicht für mich oder für sich selbst. Ihr Mädchen hat das ganze Leben mit einem Mann unter einem Dach verbracht, der möglicherweise der Mörder ihres Vaters ist! Finden Sie heraus, warum er es getan hat – vielleicht tun Sie es sogar für sie!« Wir hielten plötzlich beide inne, es war ganz still im Zimmer. Ich sagte ruhig: »Sie haben es mal wieder geschafft.« Er setzte sich. »Sie sind schwer zu überzeugen. Wollen Sie damit sagen, daß Sie nun überzeugt sind?« »Ich glaube, ja.« Er seufzte. »Dann setzen Sie sich hin und hören Sie mir zu.« Das tat ich nun auch, und er sagte: »Sie werden ab sofort als in Ungnade gefallen gelten. Alle Welt erwartet das so, auch der Minister. Es ist eine Art Degradierung vorgesehen, deshalb setze ich Sie nunmehr als Kurier ein. Das verschafft Ihnen die Freiheit, sich nach eigenem Ermessen im Land bewegen zu können, sogar außer Landes.« Er lächelte. »Allerdings würde ich gegen etwaige Reisen nach Schweden Bedenken anmelden.« Gewiß doch. Hauptmann Morelius würde sich ungewöhnlich gesprächig geben und unter Umständen sogar soweit gehen, drei aufeinanderfolgende Sätze von sich zu geben. Und ich wußte auch schon, was er sagen würde. »Wir beide dürften wohl vorhin einen ziemlichen Lärm veranstaltet haben, fürchte ich«, meinte Ogilvie. »Als hätten wir richtig Krach gehabt. Nun, das mag einer ansonsten langweiligen und nicht gerade überzeugenden Geschichte eine gewisse Glaubwürdigkeit verleihen. Wie Geheimdienste das so an sich haben – Neuigkeiten sprechen sich immer schnell herum. Seitens Ihrer Kollegen müssen Sie nun allerdings mit einigen hämischen Kommentaren rechnen. Verkraften Sie das?« Ich zuckte die Achseln. »Ich habe mir nie viel daraus gemacht, was andere von mir denken.« 204
»Allerdings«, stimmte er zu. »Cregar stellte das bereits beim ersten Zusammentreffen mit Ihnen fest. Gut, Sie haben völlig freie Hand bei diesem Job. Tun Sie, was Sie für richtig halten, aber es ist ein Alleingang. Immerhin werde ich Ihnen alle Unterstützung, die mir bei unserem Personalmangel möglich ist, zukommen lassen. Sie erstatten nur mir Bericht und sonst niemandem.« Er öffnete eine Schublade und entnahm ihr eine schmale Akte. »Was Penny Ashton angeht, so habe ich Ihnen bei ihr eine Basis geschaffen, die Ihnen eventuell eine Hilfe sein wird. Miß Ashton denkt, daß Sie die letzten Wochen in Amerika verbrachten. Ich hoffe, Sie haben keine Ansichtskarten aus Schweden verschickt.« »Nein.« »Ausgezeichnet. Miß Ashton ist mit dem gebotenen Takt dahingehend unterrichtet worden, daß Sie mit einem mysteriösen Auftrag unterwegs wären, und es sei Ihnen verboten zu schreiben. Das wird Miß Ashton nach allem, was sie über Ihre Arbeit zu wissen glaubt, auch plausibel erscheinen. Allerdings hat die Dienststelle Sie vom Ableben Mr. Ashtons unterrichtet und Sie schickten ihr daraufhin dieses Telegramm.« Er reichte mir einen Papierstreifen über den Schreibtisch; ein Original-Formular der amerikanischen Telegraphen-Gesellschaft Western Union, abgeschickt in Los Angeles. Der Inhalt bestand aus den üblichen Phrasen, erfüllte aber seinen Zweck. Ogilvie sagte: »Selbstverständlich haben Sie auch für Kränze zur Beerdigung gesorgt, und zwar durch ein Blumengeschäft in Los Angeles über Interflora. Die Quittung des Blumengeschäfts befindet sich in dieser Mappe zusammen mit anderen Kleinigkeiten, die man so von einer Auslandsreise mitbringt und bei sich behält. Unter anderem Theaterkarten aus Los Angeles, diverse Rechnungen, Zündhölzer aus Hotels und so weiter. Leeren Sie mal Ihre Taschen aus.« Diese Aufforderung überraschte mich, und ich zögerte. »Los«, sagte er. »Kippen Sie alles auf den Tisch.« Ich räumte meine Taschen leer. Während ich die Brieftasche hervorzog, machte Ogilvie sich über mein Kleingeld her. »Sehen Sie«, rief er triumphierend und hielt eine Münze hoch. »Eine schwedische Krone 205
zwischen englischem Geld! Das hätte schlimm ausgehen können. Ich wette, Sie haben auch in Ihrer Brieftasche noch schwedischen Kram. Schmeißen Sie's weg.« Er hatte recht. Da war eine Barrechnung aus dem Grandhotel, die noch für mein Spesenkonto bestimmt war, sowie eine Devisen-Umrechnungstabelle, die ich angefertigt hatte, um mit den Launen des fallenden Pfundes gegenüber der schwedischen Krone Schritt halten zu können. Ich tauschte diese Tabelle gegen eine amerikanische ein und sagte: »Sie müssen sich aber meiner Entscheidung schon sehr sicher gewesen sein.« »Ziemlich sicher«, bestätigte Ogilvie trocken. »Sie sind gestern aus den Staaten zurückgekehrt. Hier Ihr Flugticket – das können Sie mal irgendwo offen herumliegen lassen. Penny Ashton kommt, soweit ich informiert bin, morgen aus Schottland zurück. Kleidung haben Sie in Schweden nicht gekauft?« »Nein.« »In dem kleinen Koffer dort befinden sich Hemden und Socken. Auch ein paar Packungen Zigaretten. Alles echt amerikanisch. Nun gehen Sie in Ihr Büro und lassen Sie Ihren Kopf hübsch traurig hängen. Sie sind soeben durch den Fleischwolf gedreht worden und fühlen sich auch danach. Harrison wird Sie wohl in einer Stunde zu sich rufen. Versuchen Sie nicht, irgendwie Punkte zu sammeln; lassen Sie ihm seinen kleinen Triumph. Nicht vergessen – Sie sind ein gebrochener Mann, Malcolm! Und nun viel Glück.« Und so ging ich in mein Büro zurück und ließ mich hinter meinem Schreibtisch nieder. Larry raschelte mit Papier und mied meinen Blick, sagte aber: »Wie ich höre, warst du heute den ganzen Vormittag bei den hohen Tieren.« »Ja«, sagte ich kurz. »War Cregar auch da?« »Ja.« »War's schlimm?« »Das dürfte wohl kaum ein Geheimnis bleiben«, sagte ich bedrückt. »Mich bist du jetzt endlich los.« 206
»Ach.« Larry schwieg einen Moment, blätterte eine Seite um und sagte dann: »Das tut mir leid, Malcolm. Es war nicht deine Schuld.« »Einer muß ja den Kopf hinhalten.« »Hmm. Nein, ich meine, es tut mir leid wegen dir und Penny. Das wird ja nun wohl kompliziert.« Ich lächelte ihn an. »Danke, Larry. Ich glaube, ich werde das Kind schon schaukeln.« Ogilvie behielt mit seiner Prognose recht. Innerhalb der folgenden Stunde rief Harrison mich in sein Büro. Ich gab mir Mühe, einen belämmerten Eindruck zu machen; diesmal nannte ich ihn nicht Joe und ich setzte mich auch nicht einfach hin. Und er ließ mich tatsächlich stehen. »Wie ich von Ogilvie erfahre, verlassen Sie diese Dienststelle.« »Das habe ich auch erfahren.« »Sie haben sich morgen bei Mr. Kerr zu melden.« Schadenfreude glimmte in seinen Augen. Er war ja immer schon der Meinung gewesen, daß ich viel zu große Brötchen gebacken hätte – und nun wurde ich zum Laufburschen degradiert – Hochmut kommt vor dem Fall. »Sie müssen wissen, das ist wirklich alles sehr schwierig«, sagte er gereizt. »Es tut mir leid, aber ich muß Sie bitten, Ihren Schreibtisch zu räumen. Für Ihren Nachfolger natürlich.« »Natürlich«, sagte ich tonlos. »Wird gemacht.« »Dann ist ja alles in Ordnung.« Er machte eine Pause. Einen kurzen Moment dachte ich, er würde mir noch eine Predigt halten, mir sagen, wie ich mich bessern könnte, aber er verabschiedete mich nur: »Sie können jetzt gehen, Jaggard.« Ich ging und räumte meinen Schreibtisch aus.
207
27. Kapitel
A
m nächsten Morgen meldete ich mich bei Kerr, einem von mehreren Abteilungsleitern des Hauses, aber Kerrs Abteilung machte als einzige wirklich Umsatz, da sie, unter anderm, den legalen Teil von McCulloch und Ross darstellte: den Teil, von dem die Öffentlichkeit wußte. Kerrs Abteilung erzielte sogar beträchtliche Gewinne, und das gehörte sich wohl auch so – bei all den Hintergrundinformationen, die Kerr aus den anderen Abteilungen der Dienststelle bezog. Kerr betrieb freilich auch diverse Nebengeschäftchen, so zum Beispiel den Kurierdienst – den Laufburschenstall. Er kam mir irgendwie hilflos vor, offenbar wußte er nicht genau, wie er mich behandeln sollte. »Ach ja – Jaggard. Ich glaube, ich habe hier etwas für Sie.« Er reichte mir einen dicken Umschlag mit großen Siegeln. »Wie ich gehört habe, wissen Sie schon, wo das abgeliefert werden soll. Es sieht so aus, als würde die Ablieferung eine Zeitlang dauern. Sie werden also wohl eine Weile unterwegs sein.« »Genau.« »Verstehe«, sagte er tonlos. »Brauchen Sie einen Schreibplatz – ein Büro?« »Wohl kaum.« »Da bin ich froh. Wir haben so wenig Platz.« Er lächelte. »Schön, daß Sie … äh … bei uns sind«, versicherte er verlegen. Ich weiß nicht, was Ogilvie ihm erzählt hatte, aber meine korrekte Haltung verblüffte ihn. Im Wagen öffnete ich den Umschlag. Ich fand tausend Pfund in gebrauchten Fünferscheinen. Das war sehr aufmerksam von Ogilvie, aber vorläufig sah ich bei dieser Operation, falls alles glatt ging, keine Spesen voraus. Ich legte das Geld in das Spezialfach unter meinem 208
Beifahrersitz und fuhr zur Polizeistation in Marlow, wo ich nach Honnister fragte. »Jetzt waren Sie aber lange nicht mehr hier«, sagte er fast anklagend. »Ich habe immer wieder versucht, Sie zu erreichen.« »Ich war ein paar Wochen in den Staaten. Was wollten Sie denn von mir?« »Ach, nur zum Ratschen«, sagte er unbestimmt. »Sie müssen gerade weggewesen sein, als Ashton und Benson in Schweden ums Leben kamen.« »Ja, aber man hat mich informiert.« »Komische Sache, Ashton haut einfach ab.« In seinen Augen blitzte es. »Und dann wird er abgemurkst. Das macht einen schon stutzig.« Ich zog eine Packung Zigaretten heraus und bot ihm eine an. »Stutzig? Inwiefern?« »Also, da rackert sich ein Mann wie Ashton sein Leben lang ab, und wie er gerade anfängt, sich ein bißchen was mit seinem Geld zu leisten, fällt er plötzlich tot um.« Er schaute die Packung in meiner Hand an. »Nein, ich mag diese amerikanischen Sargnägel nicht. Die Amis nehmen guten Virginiatabak, mischen ihn mit türkischem, dann rösten und beizen sie das ganze Zeugs und bestrahlen es solange mit UVLampen, bis es nach nichts mehr schmeckt.« Ich zuckte die Achseln. »Wir müssen alle mal sterben. Davor können auch Sie sich nicht drücken, das hat nicht einmal Howard Hughes geschafft.« »Waren Sie schon bei Penelope Ashton?« »Noch nicht.« Ich zündete mir eine Zigarette an, obwohl sie mir auch nicht schmeckte. »Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Wie ich höre, soll sie heute zurückkommen. Wenn nicht, besuch' ich wenigstens Gillian.« »Sie kann wieder sehen«, sagte Honnister. »Aber nur unscharf. Ich habe mit Crammond gesprochen. Er sagt, Mayberry kommt nicht vor Gericht. Unzurechnungsfähig.« »Ja, das hab' ich auch gehört.« Honnister warf einen Seitenblick auf den Wachtmeister am zweiten 209
Schreibtisch. »Gehen wir auf einen Schoppen in die Kneipe«, schlug er vor. Ich war sehr einverstanden damit; offenbar hatte er Vertrauliches mit mir zu besprechen, und ich war ja auch nicht mehr auf dem laufenden. Auf halbem Weg zum Pub sagte er: »Sie sind doch nicht nur gekommen, um mit mir über alte Zeiten zu tratschen. Hinter wem sind Sie diesmal her?« Ich sagte: »Als wir mit unseren Ermittlungen begannen, konzentrierten wir uns auf Ashton und nahmen Benson nicht so genau unter die Lupe, obwohl ich allerdings auch einmal kurz daran dachte, er könnte die Säure geworfen haben.« »Nicht gerade die feinste Art des in Ehren ergrauten Butlers.« Den Herrn des Hauses zu durchlöchern auch nicht – aber das sagte ich nicht laut. »Haben Sie ihn überprüft?« Wir machten uns an der Theke breit. »Ein bißchen. Aber es reichte, um ihn auszuklammern.« Honnister sagte zum Wirt hinüber: »Hi, Monte; einen großen Scotch und eine Halbe.« »Geht auf mich«, sagte ich. »Schon gut – ich habe auch ein Spesenkonto.« Ich lächelte. »Ich auch.« Ich zahlte die Drinks, und wir trugen sie zu einem Tisch – zufällig derselbe Tisch, an dem ich Penny den Heiratsantrag gemacht hatte; eine Ewigkeit schien seitdem vergangen zu sein. Es war noch früh, kurz vor Mittag, und es war leer im Pub. »Ich habe inzwischen ein gewisses Interesse an Benson entwickelt«, sagte ich. Honnister steckte seine Nase ins Bierglas. Als er es absetzte, um Luft zu schnappen, sagte er: »Es müssen sich ein paar eigenartige Dinge in der Familie Ashton zugetragen haben. Aber das erzähl ich Ihnen nur, wenn Sie mir auch was erzählen. Eine Hand wäscht die andere.« »Ich erzähl Ihnen alles, was ich erzählen darf.« Er stöhnte auf. »Dafür kann ich mir nichts kaufen.« Er hob seine Hand. »Okay, ich weiß schon, Ihre Lippen sind versiegelt und so. Und ich bin auch nur ein wichtigtuerischer Landbulle, der nicht weiß, wo's lang geht – aber sagen Sie mir wenigstens eins: ist Ashton entführt worden?« Ich lächelte über Honnisters Selbstbeschreibung. »Nein, er ist aus 210
freien Stücken weggegangen. Er hatte sogar gebeten, die Polizei aus der Sache herauszuhalten.« »Also hatte er Grund zu der Annahme, wir könnten uns einmischen. Sehr interessant. Und Benson ging mit ihm. Was wollen Sie über ihn wissen?« »Alles, was ich bis jetzt noch nicht weiß. Ich stochere immer noch mit der Stange im Nebel.« »Junggeselle – nie verheiratet. Arbeitete seit ewigen Zeiten für Ashton – Butler, Diener, Handlanger, Chauffeur und so weiter. Alter, als er starb, vierundsechzig, falls man der Times glauben darf.« »Irgendwelche Angehörigen – Brüder oder Schwestern?« »Oberhaupt keine.« Honnister grinste mich an. »Ich hab' mich gleich auf die Socken gemacht, als ich dieses Artikelchen in der Times las. Mein Neugierzentrum lief auf Hochtouren. Also: Benson hatte etwas Geld, etwa fünfzehntausend in bar; das hat er alles dem Dr.-BarnardoKnabenwaisenhaus vermacht.« »Noch was?« fragte ich deprimiert. »Waren Sie im Krieg?« fragte Honnister unvermittelt. »Nein.« »Haben Sie schon mal Leichen von Leuten gesehen, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind?« »Etliche.« »Ich auch, beruflich. Ich habe auch schon Bomben- und Granatenopfer gesehen. Viel läßt sich da nicht mehr erkennen, vor allem dann nicht, wenn die Leichen zu allem Überfluß auch schon vom Pathologen auseinandergeschnipselt worden sind. Aber wenn Sie mich fragen, dann hat Ashton zwei Schüsse in den Rücken und Benson einen Kopfschuß von vorn abgekriegt. Bei einer Granatenexplosion erwischt – daß ich nicht lache!« »Sie haben die Leichen gesehen!« »Ich hab' mir das sozusagen amtlich angemaßt. Ich war in der hiesigen Leichenhalle. Ich sag' ja, mein Neugierdezentrum rotierte.« »Charlie, behalten Sie das um Gottes willen für sich! Oder Sie kommen in Teufels Küche. Und das meine ich wörtlich.« 211
»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß ich Geheimnisse aller Art, en gros und en detail, in bewunderungswürdiger Weise für mich behalten kann«, meinte er gleichmütig. »Schweden gehört sowieso nicht zu meinem Revier, also kann ich auch nichts damit anfangen. Falls die beiden überhaupt in Schweden umgebracht wurden«, fügte er hinzu. »Sie sind in Schweden ums Leben gekommen«, sagte ich. »Das stimmt schon. Und es ist auch auf einem schwedischen Truppenübungsplatz während eines Manövers passiert.« Ich machte eine Pause. »Möglicherweise ist die Sache in der Times nicht ganz exakt dargestellt worden.« »Wer's glaubt«, sagte Honnister spitz. Ich zuckte die Achseln. »Hat sonst noch jemand hier die Leichen gesehen?« »Nicht, daß ich wüßte. Die Särge kamen versiegelt und mit den Totenscheinen versehen hier an. Die hat wahrscheinlich einer von den dressierten Ärzten aus eurer Dienststelle unterschrieben. Und erzählen Sie mir jetzt bloß nichts vom Berufsethos der Ärzte! Aber, was soll's, die beiden sind ja jetzt unter der Erde.« »Noch irgendwas über Benson?« »Kaum. Er schob eine ruhige Kugel. Eine Zeitlang besuchte er regelmäßig eine Frau in Slough, aber das gab er vor fünf Jahren auf.« »Wie heißt die Frau?« »Das bringt Sie nicht viel weiter«, sagte er. »Die Frau ist vor anderthalb Jahren an Krebs gestorben. Benson übernahm die Rechnungen, als sie in einem Privatkrankenhaus behandelt wurde – wegen der alten Zeiten, vermute ich. Sonst gibt's nichts zu erzählen. Er war ein Junggeselle vom alten Schlag, ohne auffällige Kennzeichen. Außer einem.« »Und zwar?« »Sein Gesicht. Er muß irgendwann mal unwahrscheinlich eins in die Schnauze gekriegt haben. Nicht die Natur hatte ihn so geschaffen, Bensons Gesicht war Menschenwerk.« »Ja«, sagte ich. Ich hatte es verdammt satt, im Kreis herumzulaufen. Ich dachte über alles nach und beschloß, daß es wohl das beste sei, mich einmal mit Bensons Armeekarriere zu befassen, aber da war ich auch nicht besonders zuversichtlich. 212
»Noch ein Glas?« »Nein, danke, Charlie. Ich will noch zu den Ashtons.« »Grüßen Sie von mir«, sagte er.
Ich fuhr zum Haus, und zu meiner Überraschung lief ich Michaelis in die Arme, der eben fortfahren wollte. Unterm Arm trug er einen Ordner, der ungefähr so groß wie zwei Bibeln war. »Was zum Teufel treiben Sie denn hier?« »Ich spiele mit der Eisenhahn«, grinste er. »Sie wissen doch, daß ich mich dafür interessiere, und Miß Ashton hat mir erlaubt, in der Dachkammer herumzustöbern, wann immer ich Lust habe. Wirklich eine faszinierende Anlage.« Warum soll ein Agent der Spionageabwehr nicht auf Modelleisenbahnen stehen? Ich zeigte auf das große Buch. »Was ist denn das?« »Das ist wirklich interessant«, sagte er. »Ich zeig's Ihnen.« Er legte das Buch auf die Kühlerhaube meines Wagens. Auf dem Lederumschlag stand in Goldbuchstaben ›LMS‹. »Das sind Fahrpläne der alten LMS – der ›London, Midland und Schottland Eisenbahn‹, aus der Zeit vor der Verstaatlichung. Im Klartext: die Eisenbahn wurde 1939 verstaatlicht, und alle Züge fuhren damals unter Dampf.« Er schlug das Buch auf, und ich sah endlose Spalten voller Zahlen. »Ashton hat die LMS-Fahrpläne vervielfältigt, aber ich habe bis jetzt noch nicht herausgefunden, aus welchem Jahr sie stammen. Deshalb nehme ich sie jetzt mit nach Hause, um sie mit ein paar alten ›Bradshaws-Kursbüchern‹, die ich noch besitze, zu vergleichen. Ashtons System da oben in der Dachkammer ist allerdings im Modellbau nicht üblich. Was er sich da zusammengebastelt hat, kann sich unsereins natürlich nie leisten. Ich hab' Ihnen ja schon von den Mikroprozessoren erzählt, die er programmieren kann. Diese Zahlen hier liefern die für das Steuerpult nötigen Schaltungen, um Teile der LMS-Fahrpläne nachzuvollziehen. Von Ashton sind auch noch ähnliche Kursbücher anderer Eisenbahngesellschaften aus der Vorkriegszeit vorhanden – zum Beispiel für die 213
›London and North Eastern‹, für die ›Great Western‹ und so weiter. Es ist wirklich irre.« »Allerdings«, fand ich auch. »Und von welcher Miß Ashton haben Sie die Genehmigung?« »Von Gillian. Im Krankenhaus hab' ich mich oft mit ihr unterhalten, zuerst nur über ihren Vater, aber dann kamen wir so von einem aufs andere. Sie war einsam, müssen Sie wissen, wie sie so einbandagiert dalag. Ich hab' ihr aus Büchern vorgelesen und aus Zeitungen, und dann hab' ich natürlich auch von der Modelleisenbahn gesprochen, und als sie merkte, daß das mein Hobby ist, hat sie gesagt, ich dürfe zum Spielen kommen.« »Also so ist das.« »Gillian ist ein sehr nettes Mädchen«, sagte er. »Wir verstehen uns sehr gut.« Er machte eine Pause. »Ich bin übrigens nicht immer nur auf dem Dachboden.« Auf einmal sah ich Michaelis in anderem Licht. Mir fiel ein, daß er unverheiratet war wie ich – und wenn es bei uns beiden klappte, dann sprach ich wohl in diesem Augenblick mit meinem zukünftigen Schwager. »Ist Gillian jetzt zu Hause?« »Ja – und sie erwartet Penny zum Mittagessen.« Er schlug den Deckel des Ordners zu. »Ich habe hintenrum erfahren, was Ihnen passiert ist. Das ist eine Schande. Wer, verdammt noch mal, hätte das denn wissen sollen, daß …« Ich unterbrach ihn. »Je weniger darüber gesprochen wird, desto besser, auch privat. Reden Sie überhaupt nicht darüber, nie. Damit auch nicht durch Zufall irgendwas rauskommt.« Ich schaute auf die Uhr. »Wenn Sie sich mit Gillian so gut verstehen, warum bleiben Sie dann nicht zum Essen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte Penny nicht gerne begegnen, also habe ich mir eine Entschuldigung ausgedacht. Sie müssen verstehen, Penny hat Gillian nichts von uns erzählt – von unserer Dienststelle, meine ich. Gillian weiß also davon nichts, und das macht alles viel leichter. Aber seit wir aus Schweden zurück sind, habe ich Penny noch nicht gesehen, und ich hab' nicht den Mumm, ihr gegenüberzutreten – nach allem, was 214
passiert ist. Ich hab' so ein irres Gefühl, als könnte sie vielleicht Gedanken lesen.« »Na ja«, gab ich ihm recht. »Das ist alles verdammt schwierig.« »Sagen Sie mal«, wollte er wissen, »Sie stecken ja nun noch tiefer in der ganzen Geschichte drin als ich – was haben Sie denn eigentlich dabei für ein Gefühl?« »So ein ähnliches wie Sie. Vielleicht noch schlimmer. Tja, also dann geh' ich jetzt mal rein zu Gillian. Bis bald.« »Ja«, sagte Michaelis. »Das hoffe ich.«
28. Kapitel
I
ch hatte schon ganz vergessen, daß Gillian nicht mehr sehr ansehnlich war. Aber nun traf mich ihr entsetzlicher Anblick mit voller Wucht. Runzeln und Narben entstellten ihr hübsches Gesicht, das rechte Augenlid hing fast ganz herab. In den ersten Minuten stand eine peinliche Verlegenheit zwischen uns – peinlich auch, weil ich ihr mein Beileid zum Tod ihres Vaters aussprechen mußte. Aber noch mehr Kraft kostete es mich, mit dieser grausigen Verunstaltung eines lieben Mädchenantlitzes fertig zu werden. Ich hoffte nur, daß sie mir nicht von den Augen ablas, was in mir vorging. Aber sie machte es mir leicht. Sie schenkte mir einen Scotch ein und nahm sich selbst einen Sherry. Über den Tod ihres Vaters sprach sie nur wenig, abgesehen von einem Ausdruck bestürzter Trauer und absoluter Fassungslosigkeit vor seinen Motiven. »Was soll ich dazu sagen? Da gibt es nichts zu sagen – außer, daß es mir unendlich weh tut, und daß ich nicht weiß, woran ich bin.« Immerhin war sie soweit, daß sie über ihr eigenes Geschick sprechen konnte. »Vielleicht sieht nach einer kosmetischen Operation schon alles anders aus. Der beste Spezialist für solche Fälle soll in Amerika ar215
beiten, habe ich gehört. Penny will mich auf jeden Fall zu ihm schicken. Tja, eine Schönheit bin ich im Augenblick nicht gerade, und ausgehen tu' ich zur Zeit auch nicht viel …« Sie lächelte schief. »Ich habe Sie draußen mit Peter Michaelis sprechen sehen. Kennen Sie ihn gut?« »Ich bin ihm im Krankenhaus begegnet«, sagte ich vorsichtig. »Ja, natürlich.« Sie lächelte wieder, und ein Schimmer Glück funkelte in ihrem heilen Auge. »Man stellt sich ja Polizisten eigentlich nie als normale Menschen vor – nur so als Schatten, die im Fernsehen vorbeihuschen und Leute verhaften. Peter ist wirklich sehr nett.« Ich gab ihr recht, daß Polizisten sich gewiß manchmal im mitmenschlichen Umgang schwertäten. »Vorhin hat er mir von Mayberry erzählt. Wie es scheint, ist der Mann ziemlich geisteskrank. Und Penny hat mir das von … nun ja, von dieser Verwechslung gesagt.« »Also wissen Sie Bescheid.« »Penny erzählte es mir erst, als ich schon ein paar Tage zu Hause war. Ich glaube, es war richtig so. Ich hätte es sonst wirklich kaum verkraftet. Aber wie schrecklich muß das alles auch für Penny sein. Es bedurfte allerhand Überredung, bis sie soweit war, weiterhin mit Professor Lumsden zu arbeiten.« »Ich bin sehr froh, daß Sie das geschafft haben.« Gillian schaute mich eindringlich an. »Zwischen Ihnen und Penny stimmt etwas nicht, oder? Ich glaube, sie leidet sehr darunter. Was ist passiert, Malcolm?« »Ich weiß nicht, ob es wirklich nur mit mir zu tun hat«, sagte ich. »Ich glaube viel eher, daß es mit dem, was Ihnen passiert ist, zusammenhängt. Und mit dem Tod Ihres Vaters natürlich.« »Nein, nein«, sagte sie nachdenklich. »Sie scheint Sie da irgendwie einzubeziehen, aber ich weiß nicht, warum. Sie will nicht darüber sprechen, und das ist sonst nicht ihre Art.« Sie schaute zum Fenster hin. Ein Wagen näherte sich. »Da kommt sie. Sie bleiben doch zum Essen?« »Gerne.« Ich war erfreut, als ich merkte, daß Penny sich freute, mich zu sehen. 216
»Oh, Malcolm!« rief sie und lief auf mich zu. Wir trafen uns auf halbem Weg mitten im Zimmer, ich nahm sie in die Arme und küßte sie. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie tief mich der Tod deines Vaters betroffen hat.« Sie schaute hinter mich, wo Gillian saß, und sagte ruhig: »Darüber möchte ich mit dir nachher sprechen.« Ich nickte. »Wie du willst.« »Einen Sherry!« sagte sie. »Einen Sherry oder ich sterbe. Lummy und ich haben uns heute vormittag den Hals heiser geredet.« Beim Mittagessen plauderten wir freundlich und mieden heikle Themen. Wir besprachen Gillians Reise in die Staaten, und Penny wollte von meinen Erfahrungen dort hören. »Man hat mir gesagt, wo du warst«, sagte sie vieldeutig. Später sagte sie: »Gillian und ich haben beschlossen, das Haus zu verkaufen. Für uns beide ist es viel zu groß, wir möchten lieber in eine passende Wohnung in der Stadt ziehen. Gillian hat es dann auch näher zu den Theatern und den Konzerten und ich nicht mehr so weit zum Labor.« »Das hört sich vernünftig an«, sagte ich. »Wann zieht ihr um?« »Ich fahre zuerst mit Gillian nach Amerika«, erklärte sie. »Vorher suchen wir uns hier die schönsten Sachen aus, und den Rest lassen wir versteigern – die Antiquitäten bei Sotheby und den Rest gleich hier im Haus. Aber zu der Zeit sind wir dann schon in den Staaten. Ich könnte es nicht ertragen mitanzusehen, wie alles unter den Hammer kommt. Ich vermute also, daß die Auktion in ungefähr drei Wochen stattfindet. Heute nachmittag treffe ich die letzten Vorbereitungen dafür.« Und damit wäre natürlich auch Feierabend für Michaelis' Spielchen und Späßchen mit der Modelleisenbahn. Ich fragte mich, ob er wohl auch mitsteigern wollte. Nach dem Essen sagte Gillian, sie sei müde, und ging auf ihr Zimmer; ich glaube allerdings eher, daß sie uns allein lassen wollte. Ich saß mit Penny bei einer Kanne Kaffee vor dem offenen Kamin, und es war mir klar, daß eine ernste Aussprache bevorstand. »Malcolm«, begann sie, »sag mir die Wahrheit über Daddy!« 217
»Die Wahrheit!« sagte ich und bot ihr eine von meinen amerikanischen Zigaretten an. »Die Wahrheit werden wir wohl nie genau erfahren.« »Ist er wirklich so gestorben, wie man sagt? Du mußt es doch wissen, bei deinem Job. Auch wenn du zu der Zeit in Amerika warst. Du hast doch den Fall bearbeitet.« »Ich weiß nur, daß er auf einen schwedischen Truppenübungsplatz geriet, wo mit scharfer Munition geschossen wurde.« »Und das ist die Wahrheit?« sagte sie ernst. »Du würdest mich doch nicht belügen, Malcolm …« »Das ist die Wahrheit.« Leider nicht die ganze, Jaggard, du Bastard, du! Sie starrte eine Weile in die Flammen. »Ich versteh' das nicht«, sagte sie dann. »Ich versteh überhaupt nichts mehr. Was wollte er denn überhaupt in Schweden?« »Allem Anschein nach nichts Besonderes. Ich kann mir das sogar irgendwie vorstellen. Er lebte friedlich in Stockholm mit Benson, der sich um ihn kümmerte. Er las viel und ging gelegentlich ins Konzert. Ein ruhiges und friedliches Leben.« »Woher weißt du das?« »Die Dienststelle ist der Sache natürlich nachgegangen.« »Natürlich«, sagte sie tonlos. »Ich fahre nach Schweden. Ich muß selbst dahinterkommen. Kommst du mit?« Das war eine harte Frage! Ich konnte mir lebhaft das Gesicht des Herrn Oberst des Königlich Södermanlandschen Regiments ausmalen, wenn ich noch mal in Strängnäs herumschnüffelte. Es gehörte auch nicht viel Phantasie dazu, sich die kalten grauen Augen des Hauptmanns Morelius von der schwedischen Abwehr vorzustellen. »Das wird nicht so leicht gehen«, sagte ich. »Ich bin erst vor kurzem versetzt worden und kann nicht mehr so frei über meine Zeit verfügen.« »Versetzt? Von deiner Dienststelle weg?« »Nein, nur innerhalb der Dienststelle, aber es kann sein, daß ich jetzt stärker an den Schreibtisch gebunden bin. Hör zu, Penny. Was hältst 218
du davon, wenn ich ein Gespräch zwischen dir und meinem Chef arrangiere? Er kann dir alles sagen, was man über den Aufenthalt deines Vaters in Schweden weiß.« Soll er ihr doch alle diese verdammten Lügen auftischen, dachte ich grimmig. Sie dachte darüber nach und sagte: »In Ordnung. Aber das bedeutet nicht, daß ich nicht trotzdem noch nach Schweden fahre.« »Ich bringe dich auf jeden Fall mit ihm zusammen.« Ich stand auf, um uns Kaffee nachzuschenken. »Penny, was ist mit uns los? Ich will dich immer noch heiraten, aber jedesmal, wenn ich das Thema auch nur berühre, weichst du aus. Ich liebe dich wirklich sehr, aber es wird jetzt verdammt frustrierend. Willst du nicht mehr?« Sie weinte. »Ach, Malcolm, es tut mir so leid; wirklich. Alles geht plötzlich drunter und drüber. Erst Gillian, dann Vater und jetzt du. Ich fange auf einmal an, alle Leute, die ich kenne, genau zu betrachten und mich zu fragen, ob auch alles stimmt, was ich von ihnen zu wissen glaube. Mit diesen Augen schaue ich sogar Lummy an – ich glaube, er macht sich allmählich Sorgen um mich. Er hält mich schon fast für paranoid.« »Für mich war's auch nicht leicht«, sagte ich. »Ich wollte doch nie etwas mit dem Fall Ashton zu tun haben.« »Der Fall Ashton«, wiederholte sie. »So nennt man das also? Das macht alles so unmenschlich, findest du nicht? Wenn erst einmal ein Fall daraus geworden ist, kann man so schön verdrängen, daß es sich um einen Menschen aus Fleisch und Blut handelt – weil ja so ein Fall hauptsächlich aus Listen oder Papierkram und Akten besteht. Wie würdest du dich als ›Fall Jaggard‹ fühlen?« »Nicht gut«, sagte ich trist. Penny nahm meine Hand. »Malcolm, du mußt mir Zeit lassen. Ich glaube – nein – ich weiß, daß ich dich liebe, aber ich bin immer noch so durcheinander; und ich weiß auch nicht, ob ich das so richtig gut finde, was du aus deinem Leben so machst. Das wäre auch noch etwas, worüber man nachdenken müßte.« »Mein Gott!« sagte ich. »Das hört sich ja an, als würde ich jeden Morgen ein Baby zum Frühstück fressen. Dabei bin ich nur ein lang219
weiliger Angestellter der Spionageabwehr, der auf Industrie spezialisiert ist und aufpassen soll, daß nicht zu viele Geheimnisse geklaut werden.« »Sind damit auch Waffen gemeint?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Das ist nicht unser Bier – ebensowenig wie die neuesten Wirkstoffe in der Zahnpasta. Aber wenn ein Ingenieurbüro ein paar Millionen in eine Entwicklung gestopft hat, dann wollen wir eben verhindern, daß irgendwelche Ausländer sich alles unter den Nagel reißen, groß damit herauskommen und uns damit Konkurrenz machen. Und nicht zu vergessen – die Ausländer im Osten werden vom Staat unterstützt.« »Aber es gibt doch Patente, oder?« »Patente wechseln leicht den Besitzer. Die wirklich großen Sachen werden nicht patentiert, vor allem in der Elektronik nicht. Wenn du ein neues Elektronikteil herstellst, das die Arbeit von elftausend Transistoren ersetzt, kann der Gegner das Ding zwar unters Mikroskop legen und sehen, was du gemacht hast, aber wie du es fertiggebracht hast, das ist etwas anderes, und unsere Jungs verraten das auch nicht. Und sie sind auch längst nicht mehr so blöd, aller Welt die Gebrauchsanweisung in einer Patentschrift auf die Nase zu binden.« »Ich verstehe«, sagte sie. »Aber das bedeutet, daß du eigentlich auch nichts anderes als ein Polizist bist.« »Meistens«, sagte ich. »Unser Problem ist, daß der Diebstahl von Informationen als solcher in unserem Land nicht strafbar ist. Angenommen, ich stehle aus deinem Labor ein Blatt Papier, und angenommen, ich werde erwischt. Ich würde für schuldig befunden werden, ein Blatt Papier gestohlen zu haben, das einen Penny wert ist, und dementsprechend fiele die Strafe aus. Die Tatsache, daß auf diesem Papier eine Formel steht, die eine Million wert ist, zählt nicht.« Ihre Stimme hob sich. »Aber das ist doch albern!« »Finde ich ja auch«, sagte ich. »Willst du mal etwas wirklich Albernes hören? Vor ein paar Jahren wurde ein Typ dabei erwischt, wie er ein Telefon anzapfte. Aber anzuklagen war er lediglich des Diebstahls von Elektrizität, Eigentum der Oberpostdirektion. Wert: etwa ein mil220
lionstel Watt.« Penny lachte, und ich sagte: »Trotzdem, das ist mein Job, und mir kommt er so fürchterlich nicht vor.« »Mir auch nicht, jetzt, wo du es erklärt hast. Aber was hat Daddy damit zu tun?« »Es ist dir vielleicht nicht klar, was für ein wichtiger Mann dein Vater war. Die Katalysatoren, die er entwickelte, veränderten die Ölindustrie von Grund auf; ein enormer Gewinn für die Wirtschaft unseres Landes. Verschwindet nun ein solcher Mann unerwartet, so wollen wir wissen, ob irgend jemand Druck auf ihn ausgeübt hat und warum. Wenn er natürlich nur vor seinem giftigen Eheweib davonrennt, dann ist das seine Sache, und wir kümmern uns nicht weiter darum. Das ist übrigens auch schon passiert.« »Und zu welchem Schluß bist du nun bei Daddy gekommen'?« »Zuerst haben wir alles mit dem Überfall auf Gillian in Verbindung gebracht, aber das war eine Sackgasse; wir wissen, daß Mayberry ein Einzelgänger war. Es sieht so aus, als hätte dein Vater friedlich vor sich hin gelebt und sich offensichtlich einen ausgedehnten Urlaub geleistet. Und dagegen war überhaupt nichts einzuwenden.« »Nein«, sagte Penny. »Wir leben ja noch nicht in einem Polizeistaat. Was wird jetzt weiter unternommen?« Ich zuckte die Achseln. »Der Klub der Oberhäupter hat beschlossen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.« »Ich verstehe.« Sie starrte lange ins Feuer und schüttelte dann den Kopf. »Aber du wirst mir trotzdem noch Zeit lassen müssen, Malcolm. Laß mich erst nach Amerika fahren. Ich möchte einmal weg von hier und nachdenken. Ich möchte …« Ich hob die Hand. »Kapiert – keine weiteren Argumente. Themawechsel. Was hast du in Schottland gemacht?« Ich war verdammt froh über den Themenwechsel; ich hätte sonst noch allzu nah an die Wahrheit geraten können. »Ach, das war nichts Besonderes. Ich hab' da als Beraterin beim Wiederaufbau eines Labors mitgeholfen. Es gab ein paar Schwierigkeiten, da sie nur bis P 3 gehen wollten und ich P 4 für erforderlich halte. Heute morgen hatte ich sogar mit Lumsden Streit deswegen – er meint, ich wäre da ein bißchen … nun, paranoid.« 221
»Ich kann dir nicht ganz folgen«, sagte ich. »Was ist P 3? Ganz zu schweigen von P 4.« »Ach ja – ich war so sehr daran gewöhnt, diese Dinge hier immer mit Daddy zu besprechen, daß ich nun ganz vergessen habe, daß du ja ein Laie bist.« Sie schaute mich zweifelnd an. »Es ist aber etwas ziemlich Technisches«, warnte sie mich. »Das macht nichts. Ich hab' ja auch einen technischen Job.« »Am besten fange ich ganz von vorne an«, meinte sie. »Ein amerikanischer Genetiker namens Paul Berg …« Offenbar spielte sich dieser Berg als der große Warner in der Wissenschaft auf. Er ging davon aus, daß die Genetiker heutzutage fast genauso an den Genen herumbastelten wie in den zwanziger und dreißiger Jahren die Physiker an den Atomen – und womöglich seien die damit heraufbeschworenen Gefahren jetzt noch bedrohlicher als damals. Und Paul Berg hatte auch deutlich den Finger auf den wundesten Punkt gelegt. Das Lieblings-Versuchstierchen in der genetischen Forschung scheint eine Bakterie namens escherichia coli zu sein – der wohl am meisten untersuchte Organismus überhaupt. Vom E. coli weiß man mehr als über irgendein anderes Lebewesen. Es lag also nahe, dieses Wesen für genetische Experimente herzunehmen. »Einen Haken gibt es allerdings dabei«, erklärte Penny. »Die E. coli ist eine natürliche Bewohnerin des menschlichen Darms, und ich spreche dabei nicht von einem Tierchen oder zweien – ich meine Millionen. Fängt man also an, mit E. coli herumzuspielen, so kann das sehr gefährlich enden.« »Zum Beispiel?« fragte ich. »Erinnerst du dich an Lummys Beispiel von der Genübertragung beim Rhizobium, um hochwertigeres Getreide herzustellen? Ich sagte damals, man müsse sich immer vor der Gefahr hüten, dabei ein gefährlicheres Gen zu übertragen. Nun führ dir folgendes vor Augen. Angenommen, du verbindest – zufällig oder absichtlich das E. coli mit einem Gen, das für das männliche Hormon Testosteron typisch ist. Und weiter angenommen, diese E.-coli-Kette entweicht aus dem La222
bor und gerät unter die Bevölkerung. Diese E. coli könnten sich dann auch im Darmtrakt von Frauen einnisten. Plötzlich bekämen die Frauen Bärte und keine Kinder mehr.« »0 Gott!« sagte ich. »Eine Katastrophe.« »Berg und einige seiner sachverständigen Freunde veranstalteten 1975 eine internationale Konferenz in Asilomar in Kalifornien. Es kamen viele bedeutende Genetiker, aber Einmütigkeit war nur mühsam zu erzielen. Erst nach langen, harten Debatten wurde ein Konzept zur Kontrolle biologischer Experimente erarbeitet. Danach sollten gefährliche Experimente so lange unterbleiben, bis ein E.-coli-Stamm herausgezüchtet sei, der erstens außerhalb von Laborbedingungen lebensunfähig sei, und zweitens auch nicht in der Lage, sich im menschlichen Darm festzusetzen. Ferner wurde die Forderung aufgestellt, daß die Überlebensrate dieser neuen Kultur eins auf tausend Millionen nicht überschreiten dürfe.« Ich lächelte. »Das hört sich an, als hätte man dann ja doch das Problem in den Griff bekommen.« »Nicht ganz«, sagte Penny ruhig, »wenn man die gigantischen Massen der E. coli bedenkt. Immerhin, ein brauchbares Ergebnis. Ich finde jedenfalls, daß dies die wichtigste Konferenz in der Geschichte der Wissenschaft war. Zum erstenmal waren Wissenschaftler zusammengekommen, um sich eine Selbstkontrolle aufzuerlegen, ohne daß dadurch die Forschung eingeschränkt worden wäre. Gewiß stand uns dabei allen das schlechte Vorbild der Atomphysiker vor Augen.« Ich sagte langsam: »Die erste, nach einem Plan erfundene Kreatur … Eine beängstigende Vorstellung.« »In gewisser Weise aber wir erfinden doch schon seit langem Geschöpfe nach unserer Vorstellung. Du nimmst doch wohl nicht an, daß die moderne Milchkuh so, wie sie ist, von der Natur geschaffen wurde?« »Mag sein, aber ich sehe da trotzdem einen qualitativen Unterschied, ob man die Entwicklung nun lenkt oder aber handgreiflich umleitet.« »Da hast du recht«, sagte sie. »Früher oder später wird irgendein Quacksalber oder ein Abiturient mit einer schlauen Idee auftauchen, 223
ohne sich die Zeit zu nehmen, über die Konsequenzen nachzudenken. Eines Tages wird uns ein schrecklicher Fehler unterlaufen – jedoch nicht, wenn ich es verhindern kann. Und damit sind wir bei meiner Reise nach Schottland.« »Wieso?« »Was ich eben beschrieben habe, ist biologische Beschränkung. Es gibt indessen auch eine physische Beschränkung, um das Entweichen von Bazillen zu verhindern. Unsere Labors sind in Gruppen von P 1 bis P 4 eingeteilt. P 1 ist das übliche mikrobiologische Labor; P 4 ist das andere Extrem. Da steht dann das ganze Labor unter negativem Luftdruck – mit Luftschleusen, Duschen, drinnen und draußen, Kleiderwechsel, Spezialdruckanzügen – und solchen Sachen.« »Und mit deinen Empfehlungen bekommst du in Schottland Ärger?« »Da wird auf einmal ein P-2-Labor höher eingestuft. Im Hinblick auf das, was man dort vorhat, halte ich jedoch P 4 für erforderlich. Aber man will eben nur bis P 3 gehen. Das Problem ist, daß ein P-4-Labor entsetzlich teuer ist, nicht nur beim Bau, sondern auch im Unterhalt.« »Bestehen da keine festen Regelungen?« »Nicht auf diesem Gebiet; es ist alles so neu. Würde man dort mit anerkannten Pathogenen arbeiten, läge der Fall anders – dafür gibt es Regelungen. Aber es soll mit der guten alten E. coli gearbeitet werden, einer harmlosen Bakterie. Du hast im Moment ungefähr einige hundert Millionen in deinem Darmtrakt. Sie bleiben auch durchaus lieb und harmlos – bis ein Dummkopf das falsche Gen überträgt.« Sie seufzte. »Aber wir haben nur Richtlinien und keine Gesetze.« »Hört sich ähnlich wie bei meinem Job an – nicht genug Gesetze.« Sie stimmte mir bekümmert zu, und wir sprachen über andere Dinge. Kurz bevor ich ging, sagte sie: »Malcolm, du mußt wissen, daß ich deine Geduld und deine Rücksicht sehr zu schätzen weiß. Ich will mich nicht als die geheimnisvolle Frau aufspielen, und normalerweise habe ich auch keine Angst vor Entscheidungen – aber die Ereignisse der letzten Zeit haben mich einfach überwältigt.« »Keine Sorge«, sagte ich gelassen. »Ich kann warten.« 224
»Und dann ist da auch noch Gillian. Es hört sich vielleicht blöd an, aber ich habe mir schon, bevor das alles passiert ist, Sorgen um sie gemacht. Sie hat nie besonders auf Männer gewirkt, und es sah immer schon so aus, als müßte sie eine alte Jungfer werden; was schade wäre, sie könnte nämlich einen Mann sicher sehr glücklich machen. Aber jetzt, mit diesem Gesicht …« Sie schüttelte den Kopf. »Auch darüber würde ich mir keine grauen Haare wachsen lassen. Michaelis hat ein Auge auf sie geworfen.« Ich lachte. »Mit etwas Glück wirst du bald nicht nur einen, sondern sogar zwei Spione in der Familie haben.« Mit dieser Überraschung ließ ich sie allein.
29. Kapitel
W
ie das mit dem englischen Wochenende so ist, konnte ich bis Montag im Kriegsministerium nichts erreichen. Ein potentieller Eroberer wäre gut beraten, seine Invasion für die Zeit ab Freitag nachmittag sechzehn Uhr anzusetzen – da wär's ein Spaziergang. Schließlich also füllte ich am Eingang das notwendige Formular aus und wurde von einem Amtsdiener erst einmal zum falschen Büro geführt. Nach zwei weiteren Anläufen fand ich dann endlich den Mann, den ich brauchte, einen ältlichen Major namens Gardner, der auf seinem Hintern saß und die Pensionierung abwartete. Er hörte mich an und betrachtete mich mit kummergewohnten Augen. »Ist Ihnen klar, daß der Krieg bereits seit dreißig Jahren aus ist?« Ich hasse Leute, die mir selbstverständliche Fragen stellen. »Soviel ist auch mir bekannt, ich bestehe trotzdem auf den gewünschten Auskünften.« Aufseufzend zog er ein Blatt Papier heran und nahm einen Kugelschreiber in die Hand. »Das wird nicht leicht sein. Wissen Sie, wie vie225
le Millionen Männer damals in der Armee dienten? Nun brauch ich noch die Namen.« »Die hab' ich Ihnen doch schon genannt.« Ich verstand allmählich, warum Gardner es trotz seiner grauen Haare nie weiter als bis zum Major gebracht hatte. »George Ashton, Pionier, entlassen am 4. Januar 1947.« »In London?« »Wahrscheinlich.« »Dürfte in ›Earl's Court‹ gewesen sein. Dort wurden damals die Entlassungen durchgeführt. Und der andere?« »Howard Greatorex Benson, Feldwebel bei einer Versorgungseinheit. Wo er entlassen wurde, ist mir unbekannt.« »Und mehr wissen Sie von diesen Männern nicht?« »Das ist alles.« Gardner legte seinen Stift nieder und schaute mich mürrisch an. »Gut, ich werde eine Nachforschung veranlassen. Am besten, Sie geben mir Ihre Adresse oder eine Telefonnummer, wo ich Sie erreichen kann.« Er schnaufte kummervoll. »Es wird etwa einen Monat dauern, würde ich sagen.« »Das reicht nicht. Ich brauche die Auskünfte sehr viel schneller.« Er hob matt die Hand. »So viele Akten«, sagte er schwach. »Millionen.« »Haben Sie denn kein System?« »System? Oh, ja; wir haben ein System – wenn's funktioniert.« Ich ging ihm ein bißchen um den Bart, und mit einer Kombination aus Süßholzraspeln, zufälligem Fallenlassen von Namen und unausgesprochenen Drohungen schaffte ich es immerhin, ihn aus seinem Stuhl hochzubringen. Als er endlich auf den Beinen stand, schaute er mich wie eine Eule an und sagte: »Sie glauben doch wohl nicht, daß wir hier fünf Millionen Armeeakten aufbewahren, oder?« Ich lächelte. »Nehmen wir Ihren Wagen oder meinen?« Vier Stunden später hatte ich, was ich wollte. Da dachte ich noch, ich hätte Glück. Später, freilich, mußte ich feststellen, daß Glück hier nicht im Spiel war – vielmehr ein bereits vor dreißig Jahren ausgeheckter Plan. 226
Wir machten uns zuerst über die Akten aus dem ›Earl's Court‹, der jetzt eine Ausstellungshalle für Autos und Boote ist, damals aber eine riesige Schleuse, wo Soldaten wieder in Zivilisten verwandelt wurden. Dort tauschten sie damals ihre Uniform gegen Zivilkleidung – Unterwäsche, Hemd, Socken, Schuhe, Anzug, Mantel; nicht zu vergessen der unvermeidliche Filzhut der vierziger Jahre. Dann bestand da auch noch so etwas wie eine Bank, die zwar kein Geld einnahm, aber Millionen zum Schalterfenster hinauswarf: für jeden Soldaten eine klingelnde Handvoll Dank des Vaterlands aus der königlichen Münzprägeanstalt. Zu Spitzenzeiten wurden in ›Earl's Court‹ täglich fünftausend Männer abgefertigt, aber Anfang 1947 waren es nur noch zweitausend. Die Akten für den 4. Januar waren verhältnismäßig dünn; da waren nur 1897 Männer abgefertigt worden – ein milder Tag. Ärgerlicherweise waren die Listen nicht alphabetisch angelegt, sondern nach den Soldbuch-Nummern, was bedeutete, daß wir uns jede Seite und jeden Namen einzeln anschauen mußten. »Wie war doch noch gleich der Name?« fragte Gardner. »Ashton.« »Ashton«, murmelte er, als er auf Seite eins anfing. »Ashton … Ashton Ashton.« Er mußte sich den Namen immer wieder vorsagen, mehr als die Auffassungsgabe eines zurückgebliebenen Fünfjährigen hatte er nicht zu bieten. Ich nahm derweil einen anderen Ordner. In dem las ich wie von der Tafel auf einem Kriegerdenkmal, nur mit dem Unterschied, daß hier die Namen der Überlebenden standen; eine lange Liste angelsächsischer Namen, gewürzt mit einigen eigenartigen ausländischen, und das Ganze war fast noch langwieriger und langweiliger als die Überprüfung der Passagierlisten von Heathrow. Nach einer halben Stunde sagte Gardner: »Wie war der Name noch mal?« Ich seufzte. »Ashton. George Ashton.« »Nein – der andere.« »Benson, Howard Greatorex.« »Den hab' ich«, sagte Gardner desinteressiert. 227
»Benson!« Ich trat an die andere Tischseite und lehnte mich über Gardners Schulter. Kein Zweifel, sein Zeigefinger ruhte unter Bensons Namen, und auch die übrigen Angaben stimmten. Der Feldwebel H. G. Benson war am selben Tag und am selben Ort wie der Pionier G. Ashton entlassen worden. Ich hätte nie gedacht, daß es solche Zufälle gibt. »Das nenn' ich Glück«, sagte Gardner selbstgefällig. »Mit der Armeenummer finden wir nun auch leicht die Wehrakte.« »Wir haben Ashton noch nicht«, sagte ich. Wir beugten uns wieder über die Listen. Ashton tauchte eine Dreiviertelstunde später auf. Gardner kritzelte etwas auf einen Zettel und entfernte sich auf seine schlafwandlerische Art, um die Suche nach der Akte zu veranlassen. Ich sortierte derweil unsere Fundstücke. Ich versuchte mir auszurechnen, nach welcher Formel der Wahrscheinlichkeitsrechnung für zwei Soldaten aus der riesigen Armee Britanniens Chancen bestanden, am selben Tag und Ort entlassen zu werden, aber die Aufgabe war mir zu schwierig – ich kam mit den vielen Nullen nicht zurecht, also gab ich es auf. Oder war es zu abwegig, bei zwei solchen Männern, die dann anschließend auch noch ein Vierteljahrhundert lang als Herr und Diener zusammenlebten, einen Zufall anzunehmen? Wenn es aber kein Zufall war, dann mußte daran gedreht worden sein. Aber wer hatte das so gedreht? Ich zermarterte mir immer noch das Gehirn, als Gardner – inzwischen war eine Stunde vergangen mit den Wehrakten zurückkam. Doch als ich die Akten nun mitnehmen wollte, klammerte er sich daran, als wollte ich seine Kinder entführen. Letztlich gab er sie mir dann doch gegen Quittung heraus, und ich fuhr triumphierend davon. Zu Hause studierte ich nun sorgfältig die Akten, wobei ich mich freilich weniger um Ashton kümmerte, da er ja nichts mit dem Ashton, den ich kannte, zu tun hatte. Dafür befaßte ich mich um so inniger mit Benson. Sein Lebenslauf entsprach genau Ogilvies Schilderung. 1940 Einberufung in die Armee, nach der Grundausbildung Versetzung zum Nachschub, anfangs ziemlich rasche Beförderung – Gefreiter, Unteroffizier, schließlich Feldwebel, was er dann allerdings bis Kriegsende 228
blieb. Keine Einsätze im Ausland, Tätigkeit stets nur im Versorgungsbereich, und nach den schriftlichen Kommentaren seiner Vorgesetzten war er recht tüchtig, wenn auch ein paar Beschwerden über mangelnde Initiative und Verantwortungsbereitschaft vermerkt waren. Nicht viele, aber ausreichend, um weitere Beförderungen auszuschließen. Aus dem Soldbuch ergab sich, daß er unverheiratet war, aber seine Mutter finanziell unterstützte. Die Zahlungen hörten 1943 mit ihrem Tod auf. Zwischen diesem Zeitpunkt und seiner Entlassung wuchsen Bensons Ersparnisse beträchtlich an. Wer einen Teil des Armeesoldes auf die Seite legen konnte, mußte wohl ein recht sorgloses Leben führen. Bensons medizinische Befunde lasen sich ähnlich langweilig. Die alltäglichen Leiden, die einen Mann so im Laufe der Jahre befallen: ein paar Zähne gezogen, zweimal Krankenhaus; einmal wegen Grippe und dann noch einmal, als ihm eine 12,5-cm-Granate auf den linken Fuß fiel. Glücklicherweise war die Granate entschärft. Bei der letzten Eintragung jedoch merkte ich auf. Da klagte Benson über Schmerzen im linken Arm, die als Rheumaschmerzen diagnostiziert wurden, und er wurde auch entsprechend behandelt. Zu dieser Zeit war Benson 33. Dieser Rheumatismusbefund mutete eigenartig an, Benson hatte doch für einen Soldaten in Kriegszeiten ein angenehmes Quartier. Für ihn fanden keine Märsche durch strömenden Regen statt, kein Herumplanschen im Schlamm; er saß tagsüber in einer geschützten Schreibstube und schlief jede Nacht in einem warmen Bett. Offensichtlich fand der zuständige Stabsarzt es nicht minder seltsam, daß die Behandlung nicht wirkte. So hatte er dann mit andersfarbiger Tinte ein Fragezeichen über der ursprünglichen Rheumadiagnose angebracht und darunter gekritzelt: »Schlage Kardiogramm vor.« Dieser Zusatz trug das Datum vom 18. Dezember 1946. Ich nahm mir wieder die Grundakte vor. Darin stieß ich auf eine weitere Merkwürdigkeit. Bensons direkter Vorgesetzter hatte als letzte Eintragung vermerkt: »Vorgeschlagener Entlassungstermin – 21. März 1947.« Und darunter stand in anderer Handschrift: »Genehmigt!« Nebst unleserlicher Unterschrift. 229
Ich lehnte mich zurück. Ich fragte mich folgendes: Bensons Entlassung war für März 1947 vorgeschlagen und bestätigt; tatsächlich erfolgte sie jedoch drei Monate früher. Warum? Ich schaute mir noch einmal den ärztlichen Befund durch, dann rief ich Tom Packer an. Bei Tom Packer hatte alles angefangen, bei ihm war ich Penny zum erstenmal begegnet. Nun rief ich ihn an, weil er Arzt war. Wenn er mir nicht erklären konnte, was ich wissen wollte, so konnte er mir sicher jemanden nennen, der Bescheid wußte. Nach einem kurzen Austausch von Höflichkeiten sagte ich: »Tom, ich brauche einen kleinen kostenlosen ärztlichen Rat von dir.« Er kicherte. »Du und ganz England. Um was geht's?« »Angenommen, ein Mann jammert über Schmerzen im linken Arm. Wie würde deine Diagnose lauten?« »Guter Gott, das kann alles mögliche sein. Hast du solche Schmerzen?« »Es ist nur eine hypothetische Frage.« »Verstehe. Könnte Rheuma sein. Was ist denn das hypothetische Alter dieses hypothetischen Knaben?« »Dreiunddreißig.« »Dann ist Rheuma unwahrscheinlich, falls er ein normales zivilisiertes Leben führt. Wohlgemerkt, unwahrscheinlich, jedoch nicht unmöglich. Sagte er ›Schmerzen‹ oder ›Beschwerden‹?« Ich schaute im Arztbefund nach. »Er sagte eigentlich ›Beschwerden‹.« »Hmm. Das nützt mir nicht viel. Ärzte untersuchen normalerweise echte Patienten, nicht von dir erfundene.« Ich sagte: »Angenommen, der Mann wird auf Rheuma behandelt und die Mittel wirken nicht; daraufhin würde ihm von einem Arzt ein Kardiogramm verordnet. Was hältst du davon?« »Wie lang wurde der Mann auf Rheuma behandelt?« »Moment!« Ich schaute nach. »Drei Monate.« »Ich würde sagen, der Arzt soll sich einen anderen Beruf suchen. Willst du mir im Ernst erzählen, daß er drei Monate brauchte, um die klassischen Symptome einer Ischaemie zu erkennen?« 230
»Was ist das?« »Ein Herzleiden – Angina Pectoris.« Plötzlich ging es mir besser. »Wie lange lebt man mit so was?« »Schwer abzuschätzen – sehr schwer. Falls er drei Monate lang diese Schmerzen im Arm hatte, falls sie von einer Ischaemie herrührten, und falls er nicht auf Herz behandelt wurde, dann müßte er sich bald in einem bedenklichen Zustand befinden. Die Überlebenschancen hängen in solchen Fällen davon ab, wie der Mann vorher gelebt hat, ob er viel geraucht hat, ob er viel körperliche Bewegung hatte oder eine sitzende Beschäftigung.« Ich stellte mir den Feldwebel Benson in einer Nachschub-Schreibstube vor. »Sagen wir, er sitzt viel. Nehmen wir mal an, er raucht.« »Dann würde es mich nicht überraschen, wenn er eines Morgens plötzlich mit einem Herzinfarkt tot umfällt. Es handelt sich doch wohl hoffentlich um niemanden, den ich kenne?« »Niemand, den du kennst«, versicherte ich. »Aber der Fall ist nicht ganz so hypothetisch. Es gab einen solchen Mann 1946. Gestorben ist er vor etwa einem Monat. Was hältst du davon?« »Wirklich überraschend. Natürlich sind Ärzte keine Propheten, und es können die unmöglichsten Sachen passieren. Aber ich hätte es nicht für wahrscheinlich gehalten, daß er so alt wird.« »Ich auch nicht«, sagte ich. »Vielen Dank für deine Bemühungen, Tom.« »Ich schick dir die Rechnung«, versprach er und legte auf. Ich drückte auf die Gabel, rief Penny an und fragte nach Bensons Arzt. Penny tat erstaunt, gab mir aber Namen und Nummer, und ich sagte, mein Chef wünschte, daß ich vor meiner Versetzung noch ein paar lose Enden verbinde. »Es handelt sich nur um eine endgültige Identifizierung.« Der Arzt hieß Hutchins und gab sich zurückhaltend. »Medizinische Unterlagen sind vertraulich, wie Sie wissen, Mr. Jaggard.« »Sie sollen mir auch keine Geheimnisse preisgeben, Dr. Hutchins«, sagte ich. »Der Mann ist bereits tot. Ich will lediglich wissen, wann Benson seinen letzten Herzanfall hatte.« »Herzanfall!« wiederholte er verwundert. »Darüber kann ich Ihnen 231
unbedenklich Auskunft geben. Ein Arzt verrät kein Geheimnis, wenn er sagt, daß ein Mensch völlig gesund ist. Bensons Herz fehlte absolut nichts; dem ging es besser als meinem eigenen, und ich bin viel jünger. Munter wie ein Fisch im Wasser war dieser Benson.« »Vielen Dank, Doktor«, sagte ich erfreut. »Mehr wollte ich nicht wissen.« Als ich den Hörer auflegte, war ich recht zufrieden mit mir. Ich lehnte mich zurück und zählte alle Punkte zusammen. Tatsache: Ein Feldwebel Benson leidet Ende 1946 an einer Herzkrankheit. Sein Zustand ist, laut Tom Packer, so ernst, daß niemand seinen plötzlichen Tod für ein Wunder halten würde. Hypothese: Ein Feldwebel Benson stirbt kurz nach dem 18. Dezember 1946 und noch vor dem 4. Januar 1947 an seinem Herzleiden. Tatsache: Benson wird am 4. Januar im ›Earl's Court‹ als Zivilist entlassen und weist in der Folgezeit keine Spuren eines Herzleidens auf. Hypothese: Ein Zivilist Benson wird als Ersatz für einen Feldwebel Benson untergeschoben, genauso wie Chelyuskin als Ersatz für den Pionier Ashton untergeschoben wurde. Das Verfahren ist dasselbe, es findet am selben Tag und Ort statt, also ist die Möglichkeit eines Zusammenhangs gegeben, zumal Benson für den Rest seines Lebens bei Ashton in Diensten steht. Schlußfolgerung: Da die angewandten Methoden identisch sind, scheinen beide Austauschverfahren denselben geistigen Vater zu haben. Nun hatte Ogilvie mir aber erzählt, daß die Unterschiebeidee von Chelyuskin selbst stammte. War auch Benson ein Russe? Waren etwa zwei Männer herausgeschmuggelt worden? Es paßte alles ganz hübsch zusammen. Aber damit wußte ich immer noch nicht, wer Benson wirklich war. Und warum er Ashton erschossen hatte.
232
30. Kapitel
O
gilvie war recht zufrieden mit allem, obwohl es uns in der Frage, warum Benson Ashton erschossen hatte, nicht weiterbrachte. Immerhin, die Verbindung war gefunden. Und Ogilvie äußerte Zuversicht darüber, daß wir – oder genauer: ich – bei ausreichend intensiver und geduldiger Ermittlungsarbeit auch hinter die Wahrheit kommen müßten. Und damit trug er mir weitere Nachforschungen nach Sergeant Bensons Leben vor der Einberufung auf. Ogilvie gehört zu jenen Leuten, die außer einem Gürtel auch noch Hosenträger anlegen. Die nächste Zeit brachte ich im Westen des Landes zu. In Exeter blätterte ich in alten Schulakten, in Plymouth in nicht ganz so alten Stellenvermittlungslisten. In Bensons Schule fand ich ein vergilbtes Klassenfoto mit Benson in der dritten Reihe: zumindest war ich sicher, daß es Benson war. Aber mit dem vom Leben noch ungeformten Gesicht eines Dreizehnjährigen, der feierlich in die Kamera glotzte, konnte ich nicht viel anfangen. Irgendwann in den folgenden Jahren mußten sich Bensons Züge stark verändert haben. Von einem älteren Benson gab es in Plymouth keine Fotos, aber ich trieb ein paar Leute auf, die ihn noch vor dem Krieg gekannt hatten. Ein übler Zeitgenosse sei er nicht gewesen, meinten sie, relativ tüchtig im Beruf, aber nicht sehr ehrgeizig. Soweit entsprach alles den Unterlagen. Nein, nach dem Krieg war er nicht mehr heimgekehrt; er hatte keine Familie, und daher, so nahm man an, zog ihn auch nichts in die Heimat zurück. Das nahm alles viel Zeit in Anspruch, und ich kam erst wieder nach London, als Penny und Gillian nach Amerika abreisten. Ich brachte die Schwestern selbst nach Heathrow, und an der Flughafen-Bar stießen wir noch einmal auf eine erfolgreiche Operation an. »Wie lange 233
bleibt ihr fort?« fragte ich Gillian. Sie trug einen breitkrempigen Strohhut mit einem Schleier davor und eine große, dunkle Brille darunter: Tarnung mit Stil. »Ich weiß es nicht; das hängt von der Operation ab.« Sie tat, als ob sie sich grauste, und lachte dabei: »Ich freu mich nicht gerade darauf. Aber Penny fliegt nächste Woche schon wieder zurück.« Penny sagte: »Ich möchte nur sehen, daß Gillian gut untergebracht ist, und mich vergewissern, daß alles in Ordnung ist, dann komme ich zurück. Lummy will mit mir nach Schottland fahren.« »Also hast du seine Sorglosigkeit schon zum Wanken gebracht.« »Vielleicht«, sagte sie unverbindlich. »Hast du dich schon um die Auktion gekümmert?« »Sie findet am Mittwoch statt – Vorbesichtigung am Dienstag. Wir haben übrigens auch schon eine Wohnung in der Stadt.« Sie nahm ein Notizbuch und schrieb die Adresse auf. »Da findest du mich, sobald ich zurückkomme. Falls ich nicht in Schottland bin.« Gillian entschuldigte sich und verschwand im Waschraum. Ich nahm die Gelegenheit wahr: »Wie bist du mit Ogilvie zu Rande gekommen?« Ich hatte wie besprochen das Treffen mit Ogilvie arrangiert. Begeistert war er nicht gewesen, aber ich hatte ihn gezwungen. Penny runzelte die Stirn. »Ganz gut. Er erzählte mir ungefähr dasselbe wie du. Aber da war etwas …« »Was denn?« »Ich weiß nicht. Als ob man in einen großen Saal hineinredet. Man erwartet ein Echo und ist überrascht, wenn es ausbleibt. Irgend etwas schien zu fehlen, wenn Ogilvie sprach. Besser kann ich es nicht erklären.« Penny hatte recht – da fehlte verdammt viel. Ihre psychischen Antennen funktionierten gut. Das Unterbewußtsein sagte ihr deutlich, daß etwas nicht in Ordnung war, aber für Beweise fehlten ihr die Fakten. Ogilvie und ich wußten, daß etwas faul war, da wir über mehr Fakten verfügten, aber tun konnten wir im Moment auch nichts. Ich begleitete die Schwestern bis zur Abflughalle und fuhr dann nach Hause, um eine genaue Tabelle mit allen bekannten Daten zum 234
Fall Ashton aufzustellen. Ich zog Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Personen und den gesicherten Fakten, die für Hypothesen geltenden Linien strichelte ich. Die ganze blöde Übung brachte mich keinen Schritt von der Stelle. Aber gleichzeitig rührte sich doch etwas in meinem Hirn. Vielleicht war das Zeichnen der Tabelle mit den Verbindungslinien schuld daran, jedenfalls drängte in mir etwas an die Oberfläche: Offensichtlich fing der kleine Mann in meinem Hinterkopf an, sich im Schlaf zu drehen. Ich quasselte auf ihn ein, aber er wollte einfach nicht aufwachen. Vielleicht mußte ich noch warten, bis seine Zeit gekommen war. Am Dienstag fuhr ich nach Marlow zum Ashton-Haus, wo die Vorbesichtigung stattfand. Es wimmelte von hartgesottenen Händlern und hoffnungsvollen Harmlosen, die auf einen Gelegenheitskauf aus waren, aber nicht viel fanden, da die besten Sachen in der Londoner Wohnung oder bei Sotheby standen. Es war aber immer noch genug da, die ganze Habe aus fünfzehn Jahren glücklichen Familienlebens. Ich verstand gut, warum Penny nicht dabeisein wollte. Mich hatte weder ein Kaufinteresse noch indiskrete Neugierde nach Marlow geführt. Wir waren nach wie vor der Ansicht, daß Ashton etwas versteckt haben mußte, und wenn wir bisher nichts gefunden hatten, hieß das keineswegs, daß es nicht da war. Mit ›wir‹ meine ich eigentlich nur Ogilvie, da ich in diesem Punkt mit ihm nicht übereinstimmte. Aber es war nicht auszuschließen, daß er doch noch recht behielt. Vielleicht bezeugten irgendwelche verdächtig aussehenden Figuren übermäßiges Interesse. Natürlich war das auch wieder ein ebenso hoffnungsloses Unterfangen wie das Tabellenzeichnen, da ja auch der normale Antiquitätenhändler meist einen gehetzten und verdächtigen Eindruck macht. Gleich am Vormittag lief mir Mary Cope über den Weg. »Hallo, Mary!« sagte ich. »Immer noch wacker auf dem Posten?« »Ich soll im Haus bleiben, bis es verkauft ist. Ich habe auch immer noch oben meine Wohnung.« Sie nahm die Ansammlung von Neugierigen, die die Besitzstücke der Ashtons untersuchten, in Augenschein. 235
»Es ist eine Schande, Sir, wirklich. Früher war alles so wunderbar … früher.« Sie war den Tränen nahe. Ich sagte: »Ja, schade, Mary, aber so ist es nun mal im Leben. Liegen schon Angebote für das Haus vor?« »Nicht, daß ich wüßte, Sir.« »Was haben Sie vor, wenn es verkauft ist?« »Ich soll nach London kommen, sobald Miß Penny und Miß Gillian aus Amerika zurück sind. Ich glaube nicht, daß London mir gefällt. Aber vielleicht gewöhne ich mich doch daran.« »Ganz bestimmt, Mary.« Sie schaute zu mir hoch. »Wenn ich nur wüßte, was Gott veranlaßt hat, einer Familie wie den Ashtons so etwas zustoßen zu lassen. Man kann sich doch wirklich keine besseren Menschen vorstellen, Sir.« Gott hat damit nichts zu tun, dachte ich finster; was den Ashtons widerfuhr, war Menschenwerk. Aber auf eine so schlichte Glaubensfrage wußte ich keine Antwort. »Es ist ja nicht nur wegen Mr. Ashton«, sagte Mary nachdenklich. »Auch Benson fehlt mir sehr. Ein so lustiger Mensch – immer zu Späßen aufgelegt; nie hat er einer Menschenseele Böses angetan. Er brachte uns immer alle zum Lachen, Sir. Ich darf gar nicht daran denken, daß er und Mr. Ashton so schrecklich sterben mußten, und noch dazu in einem fremden Land.« »Hat Benson auch über sich selbst gesprochen, Mary?« »Über sich selbst, Sir? Wie meinen Sie das?« »Hat er je Anekdoten, Geschichten über seine Jugend oder Soldatenzeit erzählt?« Sie dachte nach und schüttelte den Kopf. »Nein. Benson lebte in der Gegenwart. Er machte Witze über Politiker, oder wenn er was in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen hatte. Ein richtiger Komiker war das, Sir. Dauernd fiel ihm etwas Lustiges ein. Ich sagte ja immer, er müßte zum Theater gehen, aber er meinte, dafür wäre er zu alt.« Ein richtiger Komiker! Was für eine Grabrede auf einen Mann, der als letzten makabren Scherz seinen Herrn erschoß! Ich sagte: »Jetzt passen Sie aber lieber auf, Mary, sonst stehlen die Leute Ihnen noch die Löffel.« 236
Sie lachte. »Nicht gut möglich, Sir. Der Auktionator hat überall Aufpasser aufgestellt.« Sie zögerte. »Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich kann in meiner Wohnung ein Kännchen aufgießen.« Ich lächelte. »Nein, danke, Mary. Ich werde heute morgen wohl nicht lange bleiben.«
Auch am nächsten Tag, zur Versteigerung, war ich wieder da, warum, wußte ich selber nicht. Vielleicht trieb mich das Gefühl, daß mit der Auflösung des Inventars auch die Wahrheit über den Fall Ashton verlorenginge – womöglich für immer. Zu meiner Überraschung war auch Michaelis gekommen. Ich entdeckte ihn erst am Spätnachmittag, und da auch nur, weil er mich in die Rippen stieß. Der Auktionator war soeben bei einem besonders edlen Stück angelangt, also zogen wir uns in Ashtons Bibliothek zurück, die schon fast völlig geräumt war. »Wie schade«, sagte er. »Ich bin schon froh, daß Gillian das alles nicht mitkriegt. Haben Sie schon Nachricht von den beiden?« »Nein.« »Ich auch nicht«, sagte er nachdenklich. »Ich hab' Gillian geschrieben, aber bis jetzt hat sie mir nicht geantwortet.« »Sie ist doch erst vier Tage weg«, bemerkte ich sanft. »So prompt war die Post nicht einmal in ihren besten Zeiten.« Er grinste und wirkte dabei eigenartig schüchtern. »Wahrscheinlich finden Sie, daß ich mich verdammt lächerlich mache.« »Keineswegs«, sagte ich. »Jedenfalls nicht mehr als ich. Viel Glück.« »Sehen Sie eine Chance für mich?« »Warum denn nicht? Es spricht alles für Sie, also lassen Sie den Kopf nicht hängen. Was treiben Sie hier eigentlich?« »Diese Modelleisenbahn geht mir nicht aus dem Kopf. Ich dachte mir, ich könnte vielleicht auch bei der Auktion bieten, das heißt, falls sie in Teilstücke aufgelöst wird – was allerdings damit vergleichbar wäre, die Mona Lisa in Streifen zu schneiden und quadratzentimeter237
weise zu verkaufen. Aber sie wird nicht aufgelöst, und ich habe keine Chance. Lucas Hartmann ist hier.« »Wer ist das?« »In der Welt der Modelleisenbahnen kennt ihn jeder. Er ist ziemlich reich.« »Und Sie glauben, er wird sie kaufen, wie sie dasteht?« »Sicher. Er ist schon oben unterm Dach und ergötzt sich daran.« »Wieviel wird die Anlage Ihrer Ansicht nach bringen?« fragte ich neugierig. Michaelis zuckte die Achseln. »Kaum zu sagen. So was findet man nicht alle Tage – bei all dem Zubehör und der ganzen Sonderausstattung läßt sich ein Preis schwer nennen.« »Schätzen Sie mal drauflos.« »Also, das Schienennetz, das rollende Material und das normale Kontrollsystem, das könnte alles zusammen neu vielleicht fünfzehntausend Pfund kosten, also würde ich sagen zwischen sieben- und zehntausend Pfund bei einer Auktion. Bei den zusätzlichen Einbauten ist ein Preis schwer zu nennen. Ich würde sagen, noch einmal soviel.« »Also zwischen fünfzehn- und zwanzigtausend Pfund.« »In der Gegend. Natürlich kann der Auktionator einen Mindestpreis festsetzen. Aber Sie werden schon sehen, Hartmann reißt sie sich unter den Nagel. Er wird alles überbieten.« »Nun ja«, meinte ich verständnisvoll. »Damit kommt die Anlage doch wenigstens in sachverständige Hände.« »Ein schwacher Trost«, sagte Michaelis sauer. »Mich hat das verdammte Ding am Ende fast noch umgebracht.« »Was meinen Sie damit?« »Nun, diese Fahrpläne, von denen ich Ihnen erzählte, habe – ich hab' Ihnen doch mal einen gezeigt.« »Von der ›London-, Midland- und Schottland-Bahn‹, wenn ich mich recht erinnere.« »Genau. Ich verglich sie mit alten Kursbüchern, und es kam nichts dabei heraus. Ich ging sogar bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu238
rück, und es brachte nichts. Das Schaltsystem scheint doch nichts mit normalen Zugfahrplänen zu tun zu haben.« »Nicht einmal da, wo die Pläne genau bezeichnet sind – ›LMS‹ und so weiter«, sagte ich langsam. »Sie stimmen in keinem Punkt überein«, sagte Michaelis. »Das schafft mich.« Ich sah Ashtons Faust vor mir, wie sie den Fahrplan Stockholm – Göteborg umklammerte, und es durchfuhr mich wie ein Blitz. »Mein Gott!« Michaelis starrte mich an. »Was ist passiert?« »Kommen Sie. Wir müssen mit diesem verdammten Auktionator sprechen.« Ich stürzte mich in die überfüllte Halle, wo der Auktionator am unteren Treppenabsatz ein tragbares Pult aufgestellt hatte; während ich mich durch die Menschenmenge drängte, zog ich eine Visitenkarte aus der Brieftasche. Michaelis, hinter mir, sagte: »Warum so eilig?« Ich stützte mich gegen die Wand und kritzelte ein paar Worte auf die Karte. »Kann ich jetzt nicht erklären.« Ich schob ihm die Karte hin. »Sehen Sie zu, daß der Auktionator die Karte bekommt.« Michaelis zuckte die Achseln, kämpfte sich aber tapfer zum Pult durch und gab die Karte einem Auktionsgehilfen. Ich ging die Treppe hoch und stellte mich so, daß ich gut zu sehen war. Der Auktionator war eben dabei, ein ›Crown-Derby‹-Speiseservice für achtzehn Personen hochzusteigern; er nahm die Karte, die man ihm unter die Nase schob, drehte sie um, schaute zu mir herauf, nickte und machte dann ungerührt weiter mit seinem Sermon. Michaelis kam zurück. »Was ist denn eigentlich los?« »Wir müssen den Verkauf der Eisenbahn verhindern.« »Dafür bin ich auch«, sagte er. »Aber was haben denn Sie für ein Interesse daran?« Der Hammer des Auktionators knallte aufs Pult. »Verkauft!« »Zu kompliziert. Kann ich jetzt nicht erklären.« Der Auktionator hatte an seinen Assistenten übergeben und kam auf die Treppe zu. 239
Als er bei uns stand, sagte er: »Was kann ich für Sie tun – äh« – er schaute auf die Karte – »Mr. Jaggard.« »Ich vertrete Penelope und Gillian Ashton. Die Modelleisenbahn auf dem Dachboden darf nicht verkauft werden.« Er runzelte die Stirn. »Das ist mir neu.« Ich sagte: »Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?« Er nickte und deutete nach oben. Wir gingen in eines der Schlafzimmer. »Sie sagen, Sie vertreten die Ashtons?« »Ganz richtig.« »Besitzen Sie eine Vollmacht?« »Ich habe nichts dabei. Aber ich kann Ihnen eine Vollmacht ausstellen, falls Sie das brauchen.« »Und Sie unterschreiben?« »Ja.« Er schüttelte den Kopf. »Bedaure, Mr. Jaggard, das genügt mir nicht. Ich bin von Penelope Ashton beauftragt, die gesamte Einrichtung dieses Hauses zu verkaufen. Ohne Miß Ashtons Einverständnis kann ich nicht umdisponieren. Es sei denn, Sie könnten mir einen Brief von Miß Ashton vorlegen.« »Ich kann Miß Ashton auf die Schnelle nicht erreichen. Sie befindet sich in Amerika.« »Dann kann ich leider nichts machen.« Irgendwas in meinem Gesicht veranlaßte ihn noch hinzuzufügen: »Mr. Jaggard, ich kenne Sie nicht. Ich bin Geschäftsmann und habe den Auftrag, diese Auktion durchzuführen. Ich kann mich da nicht nach jedem Hinz und Kunz richten. So läßt sich mein Geschäft nicht führen. Außerdem ist die Eisenbahn der Leckerbissen der Auktion. Die Presse interessiert sich sehr dafür; das gibt so nette Artikelchen.« »Was schlagen Sie dann vor? Würden Sie eine Anweisung von Miß Ashtons Anwalt akzeptieren?« »Von ihrem Anwalt? Ja, allerdings.« Er runzelte verblüfft die Stirn. »Aber mir kommt das alles höchst eigenartig vor. Ich gewinne den Eindruck, als wüßte Miß Ashton nichts von Ihrer Intervention, als wollten Sie das auf Ihre eigene Kappe nehmen. Aber auf eine schriftliche An240
weisung von Miß Ashtons Anwalt hin bin ich natürlich bereit, die Eisenbahn zu streichen.« »Vielen Dank«, sagte ich. »Ich setze mich sofort mit dem Anwalt in Verbindung. Wie hoch ist übrigens der Mindestpreis angesetzt?« Er tat beleidigt. »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Und nun wollen Sie mich freundlichst entschuldigen. Es kommen wichtige Stücke an die Reihe, die ich selbst versteigern muß.« Er wandte sich zum Gehen, und ich sagte verzweifelt: »Können Sie mir denn wenigstens verraten, wann die Eisenbahn dran ist?« »Es geht rasch voran.« Er schaute auf die Uhr. »Ich würde sagen, etwa gegen drei Uhr am Nachmittag.« Er ging. »Ein Telefon«, sagte ich. »Ein Königreich für ein Telefon.« »In Ashtons Schlafzimmer nebenan steht eins.« Michaelis schaute mich verwundert an. »Ihr plötzliches Interesse an Modelleisenbahnen kommt mir nicht ganz geheuer vor.« Plötzlich fiel mir etwas ein: »Wo sind die Schaltpläne?« »Im Dachraum. Auf einem Regal unter der Kontrollkonsole. Etwa ein Dutzend.« »Gehen Sie schnell auf den Dachboden. Passen Sie auf die Eisenbahn auf, und vor allem auf die Pläne. Es darf nichts verändert werden. Notieren Sie jeden, der sich besonders dafür interessiert.« Ich lief in Ashtons Schlafzimmer und stürzte mich aufs Telefon. Aber zum erstenmal ließ Ogilvie mich im Stich; er war nicht in seinem Büro, niemand wußte, wo er steckte und wann er zurückkam. Auch zu Hause war er nicht. Ich ließ ausrichten, er solle mich so schnell wie möglich bei den Ashtons anrufen. Aber damit fingen meine Transaktionen erst richtig an. Mr. Veasey von Michelmore, Veasey und Tempelton befand sich in Wales und verhandelte mit einem ebenso betuchten wie bettlägrigen Mandanten. Der Bürovorsteher konnte in der Sache nichts entscheiden und Mr. Veaseys Partner auch nicht. Sie meinten nur, sie würden Veasey telefonisch zu erreichen versuchen, und damit hatte ich mich zufriedenzugeben. Meine Hoffnungen auf Erfolg hielten sich in Grenzen – Veasey kannte mich nicht, und ich war auch gewiß nicht das, was er für eine vertrauenswürdige Person 241
hielt. Ich stieg auf den Dachboden, wo Michaelis schon wieder mit der Eisenbahn beschäftigt war. Ein paar Jungen tollten herum, ein Sicherheitsbeamter scheuchte sie fort. »Irgendwelche Verdachtspersonen?« fragte ich. »Nur Hartmann. Er studiert seit heute vormittag diese Tabellen.« Er nickte zum Steuerpult hin. »Da steht er.« Hartmann war ein breitschultriger Mann, wirkte aber trotzdem hager, er hatte einen weißen Haarschopf und ein nußbraunes Runzelgesicht. Wäre Einstein ein amerikanischer Geschäftsmann gewesen, hätte er vielleicht Hartmann ähnlich gesehen. Im Augenblick brütete er mit zerfurchter Stirn über einem Schaltplan. »Wissen Sie genau, daß das Hartmann ist?« fragte ich Michaelis. »Aber sicher. Ich hab' ihn vor drei Jahren bei einer ModelleisenbahnAusstellung gesehen. Zum Teufel, was haben Sie wirklich vor, Malcolm?« Ich schaute auf das Schienennetz. »Sie sind der Experte, Michaelis. Gibt es außer den Plänen noch andere Besonderheiten?« Auch Michaelis blickte über das Gewirr von Geleisen. »Mir scheint die Anzahl von Nebengleisen und Verschiebebahnhöfen außergewöhnlich groß.« »Ja«, sagte ich nachdenklich. »Natürlich.« »Aber wieso?« wunderte Michaelis sich. »Ashton war ein gerissener Hund«, sagte ich. »Er wollte etwas verstecken, also legte er es uns direkt unter die Nase. Haben Sie eine Ahnung, wie ein Computer funktioniert?« »Nur ungenau.« »Angenommen, man gibt einem Computer ein, daß A = 5 ist. Das bedeutet für ihn, die Zahl 5 für A zu nehmen. Nun geben Sie folgendes ein: C = A plus B. Das bedeutet für den Computer, die Ziffer A zu nehmen, zur Ziffer B zu addieren und für das Resultat C zu nehmen.« Ich wies auf die Eisenbahn. »Und ich glaube, daß dieser Mordsapparat genauso arbeitet.« Michaelis staunte. »Ein mechanischer Computer!« »Ja. Und die Fahrpläne sind die Computerprogramme, mit denen 242
Ashton arbeitete – der Himmel weiß wozu. Können Sie mir sagen, wieviel verschiedene Speicherprogramme das System hat?« »Ich würde sagen: zehn.« »Falsch. Ich komme auf dreiundsechzig.« »Himmel! Ich hab' mich doch viel mehr damit befaßt als Sie!« »Nein, ich habe recht! Zehn für die Zahlen von 0 bis 9; sechsundzwanzig für die Buchstaben des Alphabets und der Rest für mathematische Zeichen und Satzzeichen. Womöglich kann dieses verdammte Ding auch noch englisch sprechen.« »Ich glaube, Sie sind verrückt«, sagte Michaelis. »Als Ashton starb, konnte er nicht mehr sprechen, aber er versuchte mir etwas mitzuteilen. Er zog etwas aus der Tasche und gab es mir. Einen Zugfahrplan.« »Reichlich mager«, meinte Michaelis. »Larry hatte auch einen Fahrplan.« »Aber warum sollte ein Mann in seiner letzten Stunde versuchen, mir einen Fahrplan zu geben? Ich glaube, er wollte mir damit etwas mitteilen.« »Ich versteh' immerhin, warum Sie den Verkauf verhindern wollen«, meinte Michaelis. »Das ist eine irre Idee. Aber vielleicht haben Sie sogar recht.« »Leider seh' ich im Augenblick wenig Aussicht auf Erfolg«, sagte ich traurig. »Das Anwaltsbüro der Ashtons macht nicht mit, und Ogilvie ist verlorengegangen. Ich versuch' trotzdem noch mal mein Glück.« Ich setzte mich wieder ans Telefon und rief überall an, wo ich Ogilvie vermuten konnte – in seinen Klubs, in dem Restaurant, in das er mich einmal geführt hatte, dann wieder im Büro und noch einmal bei ihm zu Hause. Kein Ogilvie. Um halb drei suchte Michaelis mich auf. »Es geht jetzt mit der Versteigerung der Eisenbahn los. Was nun?« »Noch mal telefonieren.« Ich rief den Direktor meiner Bank an. »Und was kann ich heute nachmittag für Sie tun, Mr. Jaggard?« erkundigte er sich freundlich. »Ich werde gleich einen ziemlich hohen Scheck ausstellen. Es wird 243
nicht ausreichend Deckung vorhanden sein; weder auf meinem Girokonto noch auf meinem Festgeldkonto. Aber ich möchte nicht, daß der Scheck platzt.« »Verstehe. Um welchen Betrag handelt es sich?« »Etwa zwanzigtausend Pfund. Vielleicht sogar fünfundzwanzigtausend. Das weiß ich noch nicht genau.« »Viel Geld, Mr. Jaggard.« »Sie kennen meine Finanzlage und Sie wissen, daß ich das Defizit decken kann, nicht gleich, aber in ein paar Wochen.« »Was Sie also brauchen, wäre ein Überbrückungskredit für, sagen wir, einen Monat.« »Genau.« »Ich sehe da kein Problem. Wir werden den Scheck annehmen. Aber versuchen Sie, den Betrag niedrig zu halten. Und kommen Sie morgen zu uns – wir brauchen noch Ihre Unterschrift.« »Vielen Dank.« Ich legte den Hörer zurück. Wenn ich mit der Eisenbahn auf dem Holzweg war, stand ich mit einem prächtigen Minus im Regen. Ich konnte Ogilvie ja schlecht zumuten, mir aus der Spesenkasse ein hochentwickeltes Spielzeug zu kaufen; und der einzige, der dann etwas davon hätte, wäre Michaelis. Ich ging in die Halle, wo sich um das Podium eine kleine Gruppe versammelt hatte und einem Mann lauschte. Michaelis flüsterte mir zu: »Soeben ist Hempson von der Modelleisenbahn-Revue eingetroffen, um eine aufmunternde Rede zu halten – das soll wohl den Preis in die Höhe treiben.« Hempson hörte sich folgendermaßen an: »Herzstück des Systems ist die bemerkenswerteste Konsole, die ich je gesehen habe, mit einem Nonplusultra an modernster Technik ausgestattet. Genau das macht diese Anlage so einmalig in ihrer Art. Ich wünsche von ganzem Herzen, daß die Anlage als ganze Einheit verkauft wird. Nicht auszudenken, wenn dieses Exemplar auseinandergerissen würde. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!« Beifälliges Raunen umfächelte ihn, als er sich vom Podium wieder zu den gewöhnlich Sterblichen herabbegab. Ich sah, daß auch Hart244
mann zustimmend nickte. Nun stieg der Auktionator aufs Podium und hob den Hammer. »Meine Damen und Herren: Sie haben soeben die Ausführungen von Mr. Hempson vernommen, der ein anerkannter Experte ist. Seinen Worten habe ich nichts hinzuzufügen. Ich darf Sie also nun um das erste Gebot für die komplette Anlage bitten. Normalerweise werden die Auktionsstücke ja vorher vorgeführt, aber selbst in diesem großen Haus findet sich kein geeigneter Raum, um das Objekt und die große Anzahl von Interessenten gleichzeitig unterzubringen. Sie hatten jedoch alle die Möglichkeit, dieses hervorragende Beispiel der Modellbaukunst in Augenschein zu nehmen. Auf dem Tisch dort drüben haben wir eine Auswahl aus dem rollenden Material aufgebaut.« Er hob seinen Hammer. »Nun, was wird geboten für die komplette Anlage? Wir beginnen bei zwanzigtausend Pfund.« Ein Seufzen ging durch den Raum. »Aber ich darf doch wohl bitten, meine Herrschaften!« gurrte der Auktionator verführerisch. »Sie haben doch alle Mr. Hempsons Ausführungen vernommen. Wer bietet zwanzigtausend? Niemand? Wer bietet achtzehntausend?« Auch darauf stieg niemand ein. Langsam ging das Angebot auf achttausend herunter. »Achttausend geboten – wer bietet neun? Acht-fünf geboten – vielen Dank mein Herr –, wer bietet neun? Neun geboten – wer bietet zehn?« Michaelis sagte: »Jetzt steigen die Händler ein, aber sie haben keine große Chance. Hartmann wird sie alle ausstechen.« Hartmann stand bewegungslos da. Die Gebote kletterten fünfhunderterweise bis auf fünfzehntausend, dann schien es nicht mehr weiterzugehen. »Fünfzehn geboten! Fünfzehn geboten!« leierte der Auktionator. »Wer bietet mehr?« Hartmann schnippte die Finger. »Sechzehn geboten!« verkündete der Auktionator. »Sechzehntausend Pfund. Wer bietet mehr?« Die Händler waren schon auf der Strecke geblieben. Ich hob den Finger. »Siebzehn geboten. Wer bietet mehr? Achtzehn geboten. Und neunzehn. Und zwanzig. Ich habe ein Gebot von zwanzigtausend! Wer bie245
tet mehr?« Wachsende Unruhe breitete sich aus, während Hartmann und ich unser Duell ausfochten. Bei fünfundzwanzigtausend zögerte er zum erstenmal und bot nur fünfhundert mehr. Da wußte ich, daß ich ihn hatte. Ich hob einen Finger, und der Auktionator sagte: »Sechsundzwanzigeinhalb! Wer bietet mehr … siebenundzwanzig, vielen Dank, mein Herr – achtundzwanzig geboten.« So ging es weiter. Bei dreißig verlor Hartmann die Nerven und gab auf. Der Auktionator sagte: »Bietet jemand mehr als einunddreißig? Zum ersten!« Rrrumms. »Zum zweiten!« Rrrumms. »Verkauft an Mr. Jaggard für einunddreißigtausend Pfund.« Rrrumms! Nun war ich der stolze Besitzer einer Eisenbahn. Wenn's auch nicht die Staatsbahn war, so brachte sie vielleicht doch mehr Gewinn. »Nun frage ich mich nur, ob Ogilvie so viel Kohle in seiner bescheidenen Kriegskasse hat«, sagte ich zu Michaelis. Hartmann stand plötzlich vor mir. »Sie müssen ja einen Narren an dem Ding gefressen haben, Sir!« »Ich fürchte auch«, sagte ich. »Ob Sie wohl die Freundlichkeit hätten, mich die Anlage irgendwann einmal studieren zu lassen? Ich interessiere mich ganz besonders für diese Schaltpläne.« »Bedaure«, sagte ich. »Leider habe ich nur in fremdem Auftrag mitgesteigert. Selbstverständlich bin ich gern bereit, dem Besitzer Ihren Wunsch zu übermitteln. Die Entscheidung liegt bei ihm.« Er nickte. »Meinen verbindlichsten Dank, Sir.« Dann umringten mich die Presseleute, die unverschämterweise wissen wollten, welcher normale Mensch soviel Geld für ein Spielzeug hinblättert. Mary Cope eilte zu meiner Rettung herbei. »Sie werden am Telefon verlangt, Mr. Jaggard.« Ich flüchtete in Ashtons Bibliothek. Es war Ogilvie: »Wie ich höre, wollten Sie mich sprechen.« »Ja«, sagte ich und wünschte sehr, er hätte eine halbe Stunde früher angerufen. »Die Dienststelle steht bei mir mit einunddreißigtausend Pfund plus Zinsen und Gebühren in der Kreide.« »Wie bitte?« 246
»Mr. Ogilvie, ich beglückwünsche Sie zum vielbeneideten Erwerb einer Spielzeug-Eisenbahn!« Was er daraufhin sagte, ist für den Druck nicht geeignet.
31. Kapitel
I
ch traf Ogilvie am Abend in seiner Privatwohnung. Die Begrüßung fiel kühl aus und wenig herzlich. Neugierig schaute er auf den großen Ordner, den ich unter dem Arm trug. Er führte mich in sein Arbeitszimmer. Ich warf den Ordner auf seinen Schreibtisch und setzte mich. Ogilvie wärmte sich vor dem Kaminfeuer die Rockschöße und sagte: »Haben Sie wirklich einunddreißigtausend Pfund für ein albernes Spielzeug auf den Kopf gehauen?« »Ja«, lächelte ich fröhlich. »Das habe ich.« »Sie sind völlig übergeschnappt«, sagte er. »Und wenn Sie glauben, die Dienststelle erstattet Ihnen auch nur einen Penny, fresse ich ernsthaft den berühmten Besen, den der Volksmund sonst so leichtfertig in demselben führt. Keine verdammte Modelleisenbahn kann soviel wert sein.« »Ein Amerikaner mit dem Namen Hartmann fand sie immerhin dreißigtausend Pfund wert. Das ist nämlich der Betrag, den er dafür geboten hat. Sie haben ja leider die Anlage nie gesehen. Das ist kein Spielzeug, das man für sein Kind zu Weihnachten kauft, im Wohnzimmer auf dem Teppich vor dem Kamin aufbaut und dann zuschaut, wie es puff-puff-puff im Kreis herumfährt. Hier handelt es sich um ein irres Monsterding.« »Mir ist völlig egal, wie groß und komplex es ist. Wo, zum Teufel, soll ich denn das Ding im Haushaltsplan der Dienststelle unterbringen? Die Buchhaltung und die Rechnungsstelle verlangen eine zweckbezogene Rechtfertigung für derartige Ausgaben! Und wie, bitte schön, 247
kommen Sie darauf, daß die Dienststelle das Ding überhaupt haben will!« »Weil es genau das beinhaltet, wonach wir schon so lange suchen. Das Ding ist ein Computer.« Ich klopfte auf den Ordner. »Und das sind die dazugehörigen Programme. Das heißt, das ist hier nur ein Programm von vielen. Es existieren noch elf weitere, die ich in den Bürotresoren verstaut habe.« Ich schilderte ihm, wie Michaelis vergeblich versucht hatte, sich in den Tabellen zurechtzufinden, und wie ich durch Zufall auf den Zusammenhang mit dem Fahrplan in Ashtons Hand gekommen war. »Die Benutzung von Computern ist heutzutage für einen Theoretiker eine Selbstverständlichkeit. Ashton war jedoch davon überzeugt, daß wir alle Computerunterlagen und -programme untersuchen würden. Also baute er sich einen eigenen Computer, den er beinahe narrensicher tarnen konnte.« »Die unglaublichste Idee, die mir je untergekommen ist!« sagte Ogilvie. »Michaelis ist der Eisenbahnexperte. Was meint er?« »Er meint, ich sei verrückt.« »Da ist was dran.« Ogilvie ging im Zimmer auf und ab. »Ich will Ihnen sagen, was ich davon halte. Wenn Sie recht haben, dann ist das Ding billig für den Preis. Und die Dienststelle zahlt. Wenn aber nicht, dann sitzen Sie mit Ihren einunddreißigtausend im Keller.« »Plus Zinsen.« Ich zuckte die Achseln. »Ich habe mir die Suppe eingebrockt, also löffle ich sie auch aus.« »Ich lasse morgen die Computerexperten kommen.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Und wo sollen wir das Ding unterbringen? Wenn ich es in den Büros der Dienststelle aufbauen lasse, beschleunige ich damit meinen vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand. Falls der Minister Wind davon bekommt, muß er mich für senil halten – zweite Kindheit und so.« »Das Ding braucht viel Platz. Am besten mieten wir eine Lagerhalle.« »Ich werde das veranlassen. Sie dürfen sich dann weiter darum kümmern. Wo steht das Ding im Moment?« 248
»Noch bei den Ashtons auf dem Dachboden. Michaelis hat sich über Nacht damit eingeschlossen.« »Und spielt begeistert puff-puff-puff, vermute ich.« Ogilvie schüttelte den Kopf, verwundert über die Dinge, die seine Leute so anstellten. Er kam zu mir an den Schreibtisch und klopfte auf die Schaltpläne. »Und nun erklären Sie mir endlich einmal, was das alles ist.«
Das Auseinandernehmen der Eisenbahn und der Wiederaufbau in einer Lagerhalle im Süden von London nahm vier Tage in Anspruch. Die Computerleute fanden meine Idee lustig und amüsierten sich kindlich – auf meine Kosten, immer noch –, aber sie leisteten gute Arbeit. Ogilvie teilte mir Michaelis als Assistenten zu. Ein Modelleisenbahn-Techniker war bislang in der Dienststelle nie gebraucht worden, und somit sah Michaelis sich plötzlich zum Rang eines Experten erster Klasse befördert. Das gefiel ihm. Der Chef des Computerteams war ein Systemanalytiker und hieß Harrington. Er nahm seine Arbeit ernster als die anderen; aber auch das bedeutete nur halbernst. Harrington baute in der Lagerhalle ein Computerterminal auf, das er über Postleitungen an ein zentrales Elektronengehirn anschloß – jedoch nicht an das Monstrum Nellie, sondern an einen normalen Leasing-Computer in der Stadt. Und dann waren wir soweit. Ungefähr zu dieser Zeit bekam ich einen Brief von Penny. Sie schrieb, daß Gillian bereits die erste Hautverpflanzung hinter sich hätte, und daß es ihr gut ginge. Sie selbst, Penny, würde nicht so schnell zurückkommen; Lumsden sei der Ansicht, sie solle die Gelegenheit nutzen, einem Seminar der Berkeley-Universität in Kalifornien teilzunehmen; also sei mit ihr nicht vor einer Woche oder zehn Tagen zu rechnen. Ich zeigte Michaelis den Brief, und er sagte, Gillian hätte auch ihm noch kurz vor der Operation geschrieben. »Da scheint sie ein bißchen schwermütig gewesen zu sein.« 249
»Machen Sie sich mal keine Sorgen. Wahrscheinlich sind ihr vor der Operation die Nerven ein bißchen ins Flattern geraten.« Das Jucken in meinem Hinterkopf ließ immer noch nicht nach; folglich hatten die verborgenen Zusammenhänge wohl doch nichts mit der Eisenbahn zu tun. Das kleine Männchen saß aufrecht im Bett und rieb sich die Augen, war aber noch nicht ganz wach. Ich mußte unbedingt mit Penny reden. Ich wurde den Gedanken nicht los, daß irgendeine Äußerung von ihr das Jucken ausgelöst hatte. Aus diesem und auch aus vielen anderen Gründen tat es mir leid, daß sie nicht nach Hause kam. Eines Morgens um zehn schlug Harrington die LNER-Fahrpläne auf. »Die ersten Seiten befassen sich mit der Standortwahl für die Lokomotiven und das rollende Material«, erläuterte er. »Also versuchen wir mal, das vorschriftsmäßig hinzukriegen. Das ist schon blöd genug, ohne daß wir auch noch unsere mitgebrachten Pannen einbauen.« Es dauerte eine Stunde, bis alles am richtigen Platz stand – überprüft und wieder überprüft war. Harrington sagte: »Die Seiten 11 bis 23 befassen sich mit der Anlage der Steuerkonsolen. Wenn an Ihrer Idee irgendwas dran sein soll, müssen wir diese Roms bis zum Gehtnichtmehr analysieren.« »Was bitte ist ein Rom?« »Ein Read-only-Memory, falls Ihnen das etwas sagt. Ihr Herr Michaelis nennt sie Mikroprozessoren – diese Reihen von aufgesteckten Kästchen hier. Wie erkläre ich Ihnen das? Vorprogrammierte Elektronikteilchen – und wir werden nun analysieren müssen, worauf sie programmiert sind. Also, probieren wir's mal.« Harrington fing nun an, Zahlen aufzusagen, einer seiner Jünger drückte dann jeweils Knöpfe und Schalter. Als er durch war, fing er wieder von vorn an, und ein anderer Jünger überprüfte, was zuvor der andere gemacht hatte. Er entdeckte drei Fehler. »Verstehen Sie jetzt, was ich meine?« fragte Harrington. »Ein einziger Hammer, und das ganze Programm ist im Eimer.« »Sind Sie jetzt betriebsbereit?« »Ich glaube, ja – für die erste Phase.« Er legte seine Hand auf den 250
Ordner. »Das hier sind über zweihundert Seiten. Falls das Ding wirklich ein Computer ist, und falls das, was drin steckt, tatsächlich ein Programm darstellt, dann müßte nach einer Weile das Ganze zu einem sinnvollen Abschluß gebracht werden können. Und anschließend müßten wir dann das Konsölchen für die nächste Phase des Programms neu justieren. Das alles aber braucht seine Zeit!« »Es wird noch länger dauern, wenn wir nicht endlich anfangen«, sagte ich bissig. Harrington grinste und beugte sich über einen Schalter, knipste ihn an. Und schon kam Bewegung in das System. Züge rasten dahin, zwanzig, dreißig gleichzeitig. Manche schneller, manche langsamer; einmal sah ich eine Karambolage voraus, als zwei Züge wie irre auf die gleiche Kreuzung zuschossen; aber da verlangsamte der eine plötzlich seine Fahrt gerade um soviel, daß der andere passieren konnte, beschleunigte dann aber sofort wieder. Die bisher verlassenen Nebengleise und Rangierbahnhöfe füllten sich Zug um Zug. Mit ameisenfleißiger Betriebsamkeit schoben die Lokomotiven ihre Waggons herein, koppelten ab und ratterten dann wieder anderen Zielen entgegen. Vor allem ein Rangierbahnhof zog mich immer wieder in seinen Bann: Züge liefen ein, Züge starteten – aber dazwischen wurden die jeweiligen Zugzusammensetzungen aufgelöst und nach sicherlich sinnvollen, mir aber immer noch rätselhaften Prinzipien wieder neu formiert. Harrington stöhnte auf. »Das ist ja entsetzlich, was hier vor sich geht! Es tut sich zuviel auf einmal. Falls das ein Computer ist, arbeitet er jedenfalls nicht digital, auf die herkömmliche Art. Er arbeitet parallel. Das wird eine Heidenarbeit, ihn zu analysieren.« Fast zwei Stunden lief die Anlage auf Hochtouren. Züge jagten hin und her, Waggons wurden hierhin und dorthin verschoben, zeitweise abgestellt, scheinbar zufällig wieder abgeholt. Ich fand es verdammt monoton, aber Michaelis jubilierte, und sogar Harrington brachte jetzt einiges Interesse dafür auf. Dann hielt alles an. Harrington sagte: »Ich brauche hier oben eine Videokamera.« Er deutete zur Decke hoch. »Ich möchte jeden Verschiebebahnhof ein251
zeln aufnehmen und auch auf Film festhalten. Und zwar in Farbe, weil ich glaube, daß Farben hier eine Rolle spielen. Und ich möchte die Filme später auch mit Zeitlupen-Geschwindigkeit ablaufen lassen können. Können Sie mir die notwendige Ausrüstung beschaffen?« »Morgen früh haben Sie Ihre Kamera«, versprach ich. »Aber was halten Sie bis jetzt von der Eisenbahn?« »Ein geniales Spielzeug. Vielleicht steckt tatsächlich mehr dahinter«, sagte er unverbindlich. »Wir haben noch viel Arbeit vor uns.« Ich verbrachte nicht die ganze Zeit in der Lagerhalle. Erst drei Tage später, als Harrington mich anrief, ging ich wieder hin. Er saß an einem Arbeitstisch, neben ihm ein Videorecorder und ein Bildschirm. »Vielleicht haben wir schon was.« Er deutete auf eine Reihe von Miniwaggons auf dem Tisch. »Es gibt tatsächlich einen Zahlencode.« Ich verstand nicht, was er meinte, und gestand es ihm auch. Er lächelte. »Ich will damit sagen, daß Sie recht hatten. Diese Eisenbahn ist tatsächlich ein Computer. Ich habe Grund zu der Annahme, daß alle Waggons mit roten Symbolen ein Digit, eine Computerziffer, darstellen.« Er hob einen Tankwagen mit roter Essoschrift an der Seite hoch. »Dieser zum Beispiel, glaube ich, steht für eine Null.« Er stellte den Tankwagen wieder hin. Ich zählte die Wagen; es waren neun, aber einer trug nichts Rotes. »Müßten es nicht zehn sein?« »Acht«, sagte er. »Diese Anlage arbeitet nach dem Achter-, nicht nach dem Dezimalsystem. Das macht aber nichts – viele Computer arbeiten intern nach dem Achtersystem.« Er nahm einen kleinen schwarzen Wagen. »Und dieser kleine Bursche da stellt, wie ich glaube, ein Oktalkomma dar, das Gegenstück zu einem Dezimalpunkt.« »Also, ich bin überwältigt! Kann ich Ogilvie davon unterrichten?« Harrington seufzte. »Lieber nicht – noch nicht. Wir haben noch nicht zufriedenstellend herausgefunden, welche Wagen welchen Ziffern entsprechen. Abgesehen davon gibt es insgesamt dreiundsechzig Waggontypen; ich nehme an, daß einige davon Buchstaben bedeuten – so daß das System ebenso mit Zahlen wie mit Ziffern arbeiten kann. Das Entschlüsseln dürfte schwierig sein. Lassen Sie mich Ihnen einmal vorführen, was ich meine.« 252
Er schaltete den Videorecorder und den Bildschirm ein und drückte dann einen Knopf. Auf dem Bildschirm tauchte ein leerer Verschiebebahnhof auf, von oben gesehen. Ein Zug kam ins Bild. Die Lokomotive hielt an, koppelte ab und tuckerte davon. Ein zweiter Zug kam, das gleiche geschah. Nach etlichen Wiederholungen war der Bahnhof fast voll belegt. Harrington drückte auf einen Knopf und hielt das Bild an. »Dieser Rangierbahnhof sieht ungefähr so aus wie ein Dutzend anderer in der Anlage – alle auf den gleichen Zweck ausgerichtet: ein Maximum von achtzig Waggons aufzunehmen. Nun werden Sie feststellen, daß sich unter den jetzt versammelten Waggons keine roten Ziffernträger befinden. Kein einziger.« Er deutete mit seinem Stift in den Waggonpark. »Aber diese blauen Waggons stehen in ziemlich regelmäßigen Abständen.« »Und das sagt Ihnen etwas?« Harrington lehnte sich zurück. »In der üblichen Computersprache – die in ihren Ohren Chinesisch ist – würde ich formulieren, daß wir es hier mit einem alphamerischen Ziffernstrang von einer Maximalkapazität von achtzig Ziffern zu tun haben, und die blauen Waggons stehen für die Trennung zwischen den Wörtern.« Er tippte mit dem Finger gegen den Bildschirm. »Es steckt etwas dahinter, wir wissen nur noch nicht, was.« Ich beugte mich vor und zählte die blauen Waggons; es waren dreizehn. »Dreizehn Wörter«, sagte ich. »Vierzehn«, korrigierte Harrington. »Am Ende braucht kein blauer Waggon zu stehen. Nun stehen noch zwölf weitere Rangierbahnhöfe dieser Art zur Verfügung, so daß unser System in der Lage ist, etwa hundertsechzig Wörter zur gleichen Zeit auszudrücken, ungefähr eine halbe Seite Schreibmaschinenschrift. Ich weiß, das ergibt nichts, aber es treten ja, wenn die Anlage in Betrieb ist, ständig Veränderungen, neue Zusammenstellungen ein – ganz so, wie man beim Schreiben immer wieder eine neue Seite in die Schreibmaschine spannt.« Er lächelte. »Ich weiß nicht, wer dieses komische Ding entworfen hat, aber es könnte etwas ganz Neues sein.« 253
»Also muß man jetzt nur noch herausfinden, welcher Waggon welchem Buchstaben entspricht.« »Nur!« sagte Harrington nüchtern. Er nahm ein dickes Bündel Farbfotos in die Hand. »Wir haben aufgenommen, wie sich jeweils die Ketten bilden, und wir haben da einen Herrn am Computer, der daraus statistische Analysen herstellt. Vorläufig jammert er noch über entsetzliche Kopfschmerzen. Aber wir kriegen das schon hin, es handelt sich ja hier um ein Dechiffrierungsproblem wie jedes andere. Egal, ich wollte Sie nur wissen lassen, daß Ihre abwegige Idee letztlich wohl doch richtig ist.« »Danke«, sagte ich, und mir war gleich um einunddreißigtausend Pfund leichter ums Herz. Plus Zinsen.
Zwei Tage später rief mich Harrington wieder an. »Wir haben die Ziffern entschlüsselt«, sagte er. »Wir sind jetzt bei den mathematischen Formeln. Aber die Sache mit dem Alphabet ist eine Sackgasse. Die statistische Aufteilung der Buchstaben stimmt weder mit Englisch noch mit Französisch, Deutsch, Spanisch und Italienisch überein. Soweit sind wir immerhin schon. Aber es ist komisch – es gibt einfach zu viele Buchstaben.« Das gab mir zu denken. »Versuchen Sie's mal mit Russisch; das russische Alphabet hat zweiunddreißig Buchstaben.« Und der Mann, der die Eisenbahn entworfen hat, war ein Russe, aber das sagte ich Harrington nicht. »Das ist eine Idee. Ich rufe Sie wieder an.« Vier Stunden später rief er mich an. »Es ist tatsächlich Russisch«, sagte er. »Aber nun brauchen wir einen Sprachwissenschaftler; im Russischen sind wir nicht so gut.« »Dann geb' ich jetzt Ogilvie Bescheid. Wir kommen in einer Stunde.« Und ich ging zu Ogilvie. Er sah mich nur ungläubig an: 254
»Wollen Sie mir weismachen, daß diese verdammte Modelleisenbahn Russisch spricht?« Ich grinste. »Warum nicht? Sie wurde von einem Russen erbaut.« »Sie bringen hier die unmöglichsten Sachen an«, beschwerte er sich. »Nicht ich«, sagte ich nüchtern. »Ashton. Und nun könnten Sie mit einer Überweisung von fünfunddreißigtausend Pfund auf mein Konto einen Bankdirektor in der City zum glücklichsten Menschen Londons machen.« Ogilvies Augen verengten sich. »Sie haben doch nur einunddreißigtausend gezahlt.« »Dem Ochsen, der da drischt, soll man nicht das Maul verbieten«, zitierte ich. »Es war ein riskantes Unternehmen – meinen Gewinn habe ich redlich verdient.« Er nickte. »Sicher. Aber es würde in den Büchern ziemlich komisch aussehen – fünfunddreißigtausend Pfund für eine Modelleisenbahn an Mr. Jaggard bezahlt.« »Warum nennen Sie das Kind nicht beim richtigen Namen? Eine Computeranlage.« Seine Braue hob sich. »In der Tat. Nun, schauen wir uns dieses unglaubliche Ding mal an.« Wir holten Larry Goodwin zum Übersetzen und fuhren zur Lagerhalle. Mir fiel sofort auf, daß die Anlage nicht in Betrieb war, und ich fragte Harrington nach dem Grund. »Nicht nötig«, meinte er freudestrahlend. »Wir haben die Zeichen nun entschlüsselt und in einen Computer gespeichert – wo sie ja in Wirklichkeit auch hingehören. Wir haben natürlich nicht das ganze Programm überspielt, sondern nur einen kleinen Teil. Alles einzuspeisen wäre schlicht unmöglich.« Ich starrte ihn an. »Wieso?« »Nun, nicht ganz unmöglich. Aber sehen Sie.« Er schlug die LNERSchaltpläne auf und blätterte sie durch. »Nehmen Sie nur einmal diese fünf Seiten. Hier handelt es sich um ständig wiederkehrende Schleifen. Um das alles zu übertragen, brauchen wir schätzungsweise sechs Tage, bei ununterbrochener Tag- und Nachtarbeit. Für das gesamte Programm müßten wir mit mindestens anderthalb Monaten rech255
nen – und das LNER-Programm ist noch eins von den kleineren. Alle zwölf Programme einzuspeisen, ist in einer Zeit unter zwei Jahren effektiv unmöglich.« Er schlug das Buch mit den Schaltplänen wieder zu. »Ich glaube, daß die Programme ursprünglich in einem und für einen echten Computer entwickelt und dann auf diese Anlage übertragen wurden. Fragen Sie mich nicht, warum. Nun ja, wir haben das System jetzt wieder in einen Computer gefüttert, wodurch wir die Möglichkeit haben, mit Elektronengeschwindigkeit zu arbeiten und nicht mit der Gangart einer Spielzeuglokomotive.« Ogilvie erkundigte sich: »Welchen Computer benutzen Sie?« »Einen Leasing-Computer in der Stadt.« Ogilvie schaute mich an. »Das geht nicht. Ich möchte, daß alles wieder aus dem Computer herausgenommen wird. Wir arbeiten mit unserem eigenen Gerät.« »Das würde ich nicht tun«, warf ich ein. »Ich trau' Nellie nicht. Sie hat auch Benson verloren.« Harrington konnte nicht wissen, wovon wir sprachen, aber er ahnte doch ungefähr, worum es ging. »Das ist kein Problem.« Er deutete auf die Eisenbahn. »Für eine Modelleisenbahn ist das Ding ja ganz schön ausgefuchst, aber für einen Computer doch ziemlich simpel. Da gibt es nichts, was man nicht in den Hewlett-Packard-Schreibtischcomputer übertragen könnte, den ich in meinem Büro stehen habe. Ich brauche nur einen Printer für die russischen Schriftzeichen und vielleicht eine entsprechende Tastatur.« »Das scheint mir eine sehr günstige Lösung zu sein«, fand Ogilvie. Er schaute sich die Eisenbahn an. »Sie haben recht; die Anlage ist kompliziert. Und jetzt zeigen Sie mir bitte, wie sie funktioniert.« Harrington lächelte. »Ich dachte mir schon, daß Sie das fragen. Können Sie Russisch?« Ogilvie zeigte auf Larry. »Wir haben einen Übersetzer.« »ich werde das Programm von Anfang an durchgehen; es ist richtig eingestellt. Ich möchte, daß Sie sich auf den Rangierbahnhof dort konzentrieren. Sobald er belegt ist, können Sie alles ablesen, da ich jeden 256
Waggon mit seinem entsprechenden Zeichen versehen habe. Ich werde das Ganze dann rechtzeitig anhalten.« Er schaltete ein, und die Züge rasten umher, der Rangierbahnhof füllte sich. Harrington stoppte. »Das wär's.« Ogilvie beugte sich vor und schaute. »Nun, Goodwin? Was bedeutet es?« Harrington reichte Larry ein Opernglas. »Das werden Sie gut brauchen können.« Larry richtete das Glas auf die Züge. Seine Lippen bewegten sich, aber er sagte nichts. »Nun?« fragte Ogilvie ungeduldig. »Soweit ich das sehen kann, heißt es etwa: ›Erste Annäherung unter Verwendung der toroidalen Legendre-Funktion der ersten Phase‹.« »Mich laust der Affe«, sagte Ogilvie. Später im Büro sagte ich: »Sie wollen also die Eisenbahn nicht benutzen.« »Lieber nicht. Was soll's auch?« meinte Ogilvie. »Wir haben keine zwei Jahre Zeit, um herauszufinden, wozu das Ganze gut sein soll.« »Was haben Sie damit vor? Laut Harrington ist es doch ein recht einfältiger Computer. Und ohne die Fahrpläne – die Programme – ist das Ding lediglich ein überkandideltes Spielzeug für einen reichen Mann.« »Ich weiß wirklich noch nicht, was ich damit anfangen soll«, meinte Ogilvie. »Ich muß es mir noch überlegen.« »Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte ich. »Schenken Sie Michaelis das Ding. Er ist als erster dahintergekommen, daß die Fahrpläne eine Irreführung sind. Das Geschenk würde ihn selig machen.«
257
32. Kapitel
H
arrington nahm die Programme auf Band, um damit seinen eigenen Computer zu füttern, und der Schriftgeber mit den kyrillischen Zeichen spuckte jede Menge russischen Text und internationale Ziffern aus. Als Larry sich ans Übersetzen machte, erwies sich das Ergebnis als überraschend uninformativ – knappe Erläuterungen dessen, was der Computer gerade tat, aber nicht, warum er es tat. Ich meine das so: Wenn man zum Beispiel eine Strickanleitung liest und da steht ›zwei rechts, eine links‹, dann geht daraus längst noch nicht hervor, ob man einen Gürtel für einen Zwerg strickt oder eine Pullover für einen bulligen Rugbyspieler. Und das ist nicht einmal ein sehr treffender Vergleich, denn wenn man strickt, weiß man wenigstens, daß man strickt, während jedoch ein Computerprogramm alles mögliche, von einer Analyse der Häufigkeit der Verwendung des Konjunktivs in Shakespeares Titus Andronicus bis zur Berechnung der Flugbahn einer Rakete zum Pluto sein kann. Es gab zu viele Möglichkeiten, und deshalb ließen wir schließlich ein Regiment Spezialisten aufmarschieren. Mir war das alles viel zu hoch, und deshalb zog ich mich zurück. Ich hatte anderes im Kopf, und das Wichtigste darunter war ein Anruf von Penny, die mir ihre Flugnummer und ihre Ankunftszeit in Heathrow durchgab. Plötzlich ging es mir viel besser, denn das bedeutete ja, daß sie von mir abgeholt werden wollte, und das hätte sie sicher nicht gewollt, wenn sie sich nicht für mich entschieden hätte. Penny war müde, als sie endlich vor mir stand. Sie hatte einen Flug von Los Angeles nach New York, ein paar Stunden Aufenthalt bei Gillian und einen Atlantik-Flug hinter sich. Die Zeitverschiebung machte ihr zu schaffen, Magen und Drüsen funktionierten schon seit neun Stunden nicht mehr. Ich brachte sie in ein Hotel, wo ich ein Zimmer 258
für sie bestellt hatte; sie war dankbar dafür, denn nach einer leeren Wohnung mit leerem Kühlschrank war ihr jetzt nicht zumute. Bevor sie sich zurückzog, trank ich noch Kaffee mit ihr, und sie erzählte mir, daß Gillian die Operation gut überstanden habe, und ob ich das nicht auch an Michaelis weitergeben könne. Sie lächelte. »Gillian möchte gern, daß er es erfährt.« Ich grinste. »Wir dürfen der Hochzeit von zwei Menschen, die es ehrlich miteinander meinen, nichts in den Weg legen.« Sie sprach kurz über das, was sie in Kalifornien gemacht hatte, und über einen Besuch in der Medizinischen Fakultät der Harvard-Universität. »Sie kommen mit dem PV 40 gut voran«, sagte sie. »Was soll das sein?« »Ein Virus – für Menschen harmlos.« Sie lachte. »Ich vergesse immer wieder, daß du mit der Materie ja nicht vertraut bist.« Ich sagte ihr von der Modelleisenbahn nichts, obwohl sie es irgendwann natürlich doch erfahren mußte. Aber wir konnten einfach das Wissen, das man vielleicht noch darin entdecken würde, nicht preisgeben, wenngleich die rechtliche Lage nicht gerade eindeutig war. Die Dienststelle hatte das Ding zwar gekauft, aber ob darin enthaltene Informationen unter das Urheberrechtsgesetz fielen oder nicht, war eine Frage, die sicher noch auf Jahre die Anwälte sowohl in Atem als auch bei Honorar und Brot halten würde. Wie auch immer – das war Ogilvies Entscheidung. Aber Penny hatte eben etwas gesagt, das plötzlich das kleine Männchen in meinem Hinterkopf aus dem Bett riß und wie am Spieß schreien ließ. Ich sagte: »Du hast sicher mit deinem Vater viel über deine Arbeit gesprochen?« »Ständig«, bestätigte sie. »Aber dein Forschungsgebiet fiel doch gar nicht in den Interessenkreis eines Mannes, der sich in erster Linie mit Katalysatoren beschäftigte«, sagte ich beiläufig. »Verstand er denn auch davon etwas?« »Ziemlich viel sogar«, sagte Penny, »Daddy interessierte sich einfach für alles. Ein- oder zweimal machte er sogar Vorschläge, und Lummy war sehr überrascht, als sie sich unter Laborbedingungen als effektvoll 259
erwiesen.« Sie trank ihren Kaffee aus. »Ich muß jetzt ins Bett. Ich hin hundemüde.« Ich brachte sie zum Lift, küßte sie, bevor sie nach oben entschwand, und hastete ins Büro. Ogilvie war nicht da, also ging ich zu Harrington, der äußerst gereizt und mürrisch war. »Der Mann, der dieses Programm zusammengeschustert hat, war entweder ziemlich verrückt oder ein Genie. Wie man's auch dreht und wendet – einen Sinn ergibt das alles nicht.« Harrington wußte nichts von Ashton, und ich konnte ihm da auch nicht weiterhelfen. Ich sagte ihm nur: »Daß es ein Verrückter gewesen sein soll, können Sie vergessen. Wie beurteilen Sie die Programme als Ganzes?« »Als Ganzes?« Er runzelte die Stirn. »Nun, es scheint da zwei Gruppen zu geben – eine Fünfergruppe und eine Siebenergruppe. Die Siebenergruppe ist die spätere.« »Woraus ergibt sich das?« »Als wir die Siebenergruppe durch den Computer laufen ließen, kam als letztes ein Datum heraus. Die Fünfergruppe wirkt völlig unzusammenhängend, bei der Siebenergruppe scheint das jedoch anders zu sein. Da ergeben sich Zusammenhänge. Da folgen alle Programme dem gleichen komischen mathematischen System.« Ich überlegte ein paar Minuten und stellte ein paar Berechnungen an. »Lassen Sie mich einmal raten. Das erste Programm der Siebenergruppe beginnt ungefähr 1971 und reicht wahrscheinlich bis vor sechs Monaten.« »Nicht schlecht«, sagte Harrington. »Sie wissen anscheinend etwas, das ich nicht weiß.« »Ja«, sagte ich. »So sieht es aus.« Ogilvie hatte sich inzwischen wieder in seinem Büro eingefunden. Er sah mir interessiert entgegen. »Sie machen ein Gesicht wie eine Katze, die soeben den Kanarienvogel vernascht hat. Warum so selbstzufrieden?« Ich grinste und setzte mich. »Können Sie sich erinnern, wie wir einmal spätabends zusammensaßen und herauszufinden versuchten, wor260
an Ashton gearbeitet haben könnte? Wir waren uns einig, daß er immer noch theoretisierte, wußten aber nicht, worüber.« »Ich erinnere mich«, sagte Ogilvie. »Und ich weiß es immer noch nicht. Was soll's – Harrington auch nicht, und er arbeitet an des Pudels Kern.« »Sie sagten damals, Ashton würde gewiß nicht auf dem Gebiet der Atomwissenschaft arbeiten, weil er da den Anschluß verloren hätte.« »Er hatte überall den Anschluß verloren, außer auf dem Gebiet der katalytischen Chemie, und auch da arbeitete er hauptsächlich seine alten Ideen auf – nichts Neues.« »Das stimmt nicht«, sagte ich tonlos. »Ich wüßte nicht, wo er am Ball geblieben sein könnte. Wir kennen die Bücher, die er kaufte und las, und daraus ergaben sich keinerlei Hinweise.« Ich blieb ganz ruhig: »Und was ist mit den Büchern, die Penny kaufte?« Ogilvie wurde nervös. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Ehe Penny in die Staaten fuhr, machte sie eine Bemerkung, deren Sinn mir erst jetzt aufgegangen ist. Wir sprachen über einige Schwierigkeiten bei ihrer Arbeit, und das meiste davon war mir zu hoch. Wir saßen gerade bei ihr zu Hause, und sie sagte, sie sei so sehr daran gewöhnt, in diesem Raum mit ihrem Vater zu reden, daß sie völlig vergessen hätte, daß ich nur Laie sei.« »Was besagen will, daß Ashton keiner war?« »Genau. Gerade jetzt ging es wieder darum, und diesmal hat's gehakt. Ich habe eben mit Harrington gesprochen, und er sagte mir, es gäbe eine Siebenergruppe von zusammenhängenden Programmen. Ich versuchte zu erraten, aus welcher Zeit sie stammten, und traf gleich beim erstenmal ins Schwarze. Der Beginn der Siebenergruppe fällt in die Zeit, als Penny ihr Examen in Genetik machte. Ich glaube nun, daß Ashton auch selbst neben seiner Tochter her Genetik studierte. Heute morgen nun erzählt Penny mir, Ashton hätte manchmal Vorschläge gemacht, von denen selbst Lumsden sehr überrascht gewesen sei. Dieser Lumsden, unter dem Penny arbeitet, ist einer der führenden Män261
ner auf diesem Gebiet. Alles, was Lumsden wußte und was sie selbst dazulernte, konnte Penny also Ashton vermitteln. Sie las die entsprechenden Zeitschriften – und somit las auch Ashton sie; sie nahm an Seminaren teil und besuchte andere Labors – und gab alles an Ashton weiter. Womöglich hat sie es unbewußt getan, einfach froh darüber, sich über ihre Arbeit aussprechen zu können. So aber lebte Ashton mitten in einer der interessantesten wissenschaftlichen Entwicklungen unseres Jahrhunderts, wobei ich keineswegs die Atomphysik bagatellisieren will. Was also ist wahrscheinlicher, als daß ein Mann wie Ashton über Genetik theoretisiert?« »Das klingt überzeugend. Aber was fangen wir nun damit an?« »Penny muß natürlich hergeholt werden.« Ogilvie schüttelte den Kopf. »Nichts überstürzen. Bei dieser Entscheidung bin ich überfordert. Das Problem ist doch, daß sie Ashtons Tochter ist. Miß Ashton ist intelligent genug, dann auch auf die Anschlußfragen zu kommen: etwa warum ihr Vater es für notwendig hielt, die Dinge, die er trieb, so geheimzuhalten. Und damit würde sich, wie die Amerikaner sagen, eine Büchse Würmer öffnen – was hieße: seine Vorgeschichte, und wie und warum er starb. Ich bezweifle, daß unser Herr Minister Gefallen daran fände, wenn eine wütende Frau sein Büro belagerte oder, noch schlimmer, mit Reportern spräche. Nein, in dieser Frage muß der Minister selbst entscheiden.« »Möglicherweise wird es schwerfallen, dergleichen unter den Teppich zu kehren«, gab ich zu bedenken. »Wer spricht denn davon?« regte er sich auf. »Ich bin nur dafür, taktvoll vorzugehen. Überlassen Sie das lieber mir. Sie haben ihr doch noch nichts gesagt, oder?« »Nein.« »Gut. Saubere Arbeit, Malcolm. Man wird das nicht vergessen, wenn die Zeit gekommen ist.« Ich war nicht auf Prämien aus, und ich hatte auch das ungute Gefühl, daß Ogilvie es nicht ganz ehrlich mit mir meinte. Es war das erste Mal, daß ich so empfand. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Am darauffolgenden Nachmittag wollte ich Penny, wie verabredet, 262
in der Universität abholen. Als ich über den Korridor auf ihr Büro zuging, öffnete sich die Tür zu Lumsdens Büro, und Cregar trat heraus. Um nicht mit ihm zusammenzustoßen, mußte ich einen Schritt zur Seite machen. Er schaute mich verdutzt an: »Was machen Sie denn hier?« Abgesehen davon, daß es ihn nichts anging, war ich auch noch sauer, weil er mich auf der Ausschußsitzung so heruntergeputzt hatte. Ich war drauf und dran, ihm mit irgendeiner Frechheit zu antworten. Aber dann sagte ich doch ganz brav: »Nur ein privater Besuch.« »Das ist keine Antwort.« »Das liegt wahrscheinlich daran, daß mir weder die Frage paßt, noch die Art, wie sie gestellt wird.« Er war etwas verblüfft. »Es ist Ihnen doch hoffentlich klar, daß der Fall Ashton abgeschlossen ist?« »Es ist mir klar.« »Dann muß ich Sie nochmals fragen – was tun Sie hier?« Ich sagte demonstrativ: »Das wäre ja noch schöner, wenn ich Sie erst um Erlaubnis fragen müßte, ob ich meine Verlobte besuchen darf!« »Ach so!« sagte er unsicher. »Das war mir entfallen.« Ich glaube wirklich, daß er es vergessen hatte. Etwas in seinen Augen veränderte sich; statt Gefechtsbereitschaft schimmerte da nunmehr Berechnung. »Verzeihen Sie höflichst. Sie heiraten Dr. Ashton, nicht wahr?« In diesem Moment war ich zwar nicht sehr überzeugt davon, aber Schadenfreude gönnte ich Cregar nun doch nicht. »Allerdings.« »So. Ja. Natürlich. Wann feiern wir denn Hochzeit?« »Ich hoffe, bald.« »Aha. Ja.« Er senkte die Stimme. »Aber vergessen Sie nicht – es ist äußerst unerwünscht, daß Miß Ashton erfährt, was in Schweden vorgefallen ist.« »Unter den eingetretenen Umständen wäre ich der letzte, der es ihr erzählt«, sagte ich bitter. »Gewiß. Ein bedauernswerter Vorfall. Ich hoffe, Sie akzeptieren meine Entschuldigung für das Mißverständnis vorhin. Und ich hoffe, Sie nehmen auch meine Glückwünsche zu Ihrer baldigen Eheschließung an.« 263
»Natürlich. Vielen Dank.« »Und nun entschuldigen Sie mich bitte.« Er drehte sich um und ging wieder in Lumsdens Büro zurück. Als ich weiter den Korridor entlangging, kreisten meine Gedanken um Cregars Vermutung, daß meine Anwesenheit in der Universität mit dem Fall Ashton zusammenhängen könnte. Angenommen, er hatte wirklich vergessen, daß ich Penny heiraten wollte welchen Zusammenhang gab es dann? Ich begleitete Penny zu Fortnum, wo sie ihre leere Speisekammer auffüllte. Die meisten Einkäufe ließ sie sich liefern, nahm aber genug für ein einfaches Abendessen zu zweit mit. Als wir dann später am Abend in ihrer neuen Wohnung unser Süppchen löffelten, sagte sie: »Ich fahre übrigens morgen nach Schottland.« »Mit Lumsden?« »Er hat zu tun und kann nicht mit. Meine Amerikareise hat unseren Zeitplan etwas durcheinandergebracht.« »Wann bist du wieder zurück?« »Länger als eine Woche wird es wohl nicht dauern. Warum?« »Nächsten Dienstag läuft im Haymarket ein neues Stück an, das ich gern mit dir gesehen hätte. Alec Guinness spielt mit. Soll ich Karten bestellen?« Sie überlegte kurz. »Bis dahin hin ich wieder da. Ja, das wäre schön. Ich war schon Gott weiß wie lange nicht mehr im Theater.« »Gibt's immer noch Ärger in Schottland?« »Nicht eigentlich Ärger. Nur eine Meinungsverschiedenheit.« Nach dem Essen, als sie Kaffee kochte, sagte sie: »Ich weiß, daß du keinen Brandy magst. In dem Schrank dort steht eine Flasche Scotch.« Ich lächelte. »Das ist sehr aufmerksam von dir.« »Aber ich nehme einen Brandy.« Ich schenkte die Drinks ein und trug sie zum Kaffeetisch. Sie brachte den Kaffee herein, und wir saßen zusammen auf dem kleinen Sofa. »Wann möchtest du, daß wir heiraten, Malcolm?« Das war die Nacht, in der Pennys neuer Teppich allerhand Kaffee264
flecken abbekam; es war die Nacht, als wir zum erstenmal miteinander ins Bett gingen. Es hatte ja nun auch wirklich lange genug gedauert.
33. Kapitel
D
er Rest der Woche verging ziemlich langsam. Penny fuhr nach Schottland, und ich bestellte Karten fürs Haymarket-Theater. Außerdem erkundigte ich mich noch, wie man eine Hochzeit veranstaltet, denn darin hatte ich noch keine Erfahrung. Es ging mir sehr gut. Ogilvie war unzugänglich. Die nächsten paar Tage suchte er sein Büro nur selten auf, und war er anwesend, wollte er mich nicht sehen. Nur einmal erkundigte er sich, wie weit ich mit den Nachforschungen über Benson gekommen sei, gab aber keinen Kommentar ab, als ich sagte, daß ich festsäße. Danach weigerte er sich wieder zweimal, mich zu empfangen. Das bereitete mir einige Kopfschmerzen. Ich erkundigte mich bei Harrington, ob schon irgendwelche Genetikexperten gekommen wären – aber ich fragte ihn nicht direkt, sondern auf behutsamen Umwegen. Nein, es arbeiteten keine neuen Spezialisten an dem Projekt und auch keine Biologen. Das bereitete mir ebenfalls Sorgen, und ich fragte mich abermals, warum Ogilvie sich so rar machte. Harringtons Laune verschlechterte sich zusehends. »Wissen Sie, was ich entdeckt habe?« stellte er mir die rhetorische Frage. »Dieser Witzbold arbeitete mit den Hamiltonschen Quarternionen!« Wie er es sagte, klang es nach einem schändlichen Bubenstück. »Ist das was Schlimmes?« Er starrte mich nur an. »Niemand – ich wiederhole: niemand – hat seit 1915, als die Tenson-Analyse erfunden wurde, je wieder die Hamiltonschen Quarternionen benützt! Das ist, als schuftet man mit Pickel und Schaufel, wo Bulldozer zur Verfügung stehen.« 265
Ich zuckte die Achseln. »Wenn er tatsächlich diese Hamilton-Dingsbums benützt hat, muß er einen triftigen Grund dafür gehabt haben.« Harrington starrte wütend eine Karte aus dem Computerprogramm an. »Dann möchte ich auch verdammt noch mal gern den Grund dafür wissen.« Er vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Ich auch, nur daß ich vor dem Problem stand, nicht zu wissen, was ich tun sollte. Benson war ein toter Punkt – ich sah einfach keinen Weg, an ihn heranzukommen. Und Ogilvie schien jedes Interesse verloren zu haben. Da ich mir in Kerrs Abteilung nicht die Finger verbrennen wollte, brachte ich viel Zeit in meiner Wohnung mit Lesen zu. Und mit Warten auf Dienstag. Am Wochenende rief ich bei Penny in der Hoffnung an, daß sie schon zurück sei, aber niemand hob ab. Ich verbrachte ein ödes Wochenende, und am Montagmorgen rief ich Lumsden an und fragte, ob er von Penny gehört hätte. »Am Dienstag habe ich mit ihr gesprochen«, sagte er. »Sie hoffte, bis zum Wochenende wieder in London zu sein.« »War sie aber nicht.« »Nun, vielleicht kommt sie morgen. Falls sie herkommt, soll ich ihr etwas ausrichten?« »Eigentlich nicht. Sagen Sie ihr nur, daß ich sie morgen abend um sieben zu Hause erwarte.« »Ich werd's bestellen«, versprach Lumsden. Ich ging ins Büro, fühlte mich matt und unzufrieden und war sehr froh, Ogilvie am Lift zu treffen. Während wir nach oben fuhren, fragte ich rundheraus: »Warum haben Sie Harrington keinen Genetiker zugeteilt?« »Die Lage wird noch überprüft«, verkündete er freundlich. »Ich glaube, das genügt nicht.« Er sah mich von der Seite an. »Ich muß Sie ja wohl nicht erinnern, daß Sie hier nicht die Politik bestimmen«, sagte er spitz. Versöhnlicher fügte er allerdings hinzu: »Tatsache ist, daß man einen gewissen Druck auf uns ausübt.« Ich versuchte mich in Diplomatie: »Druck? Von wem – und warum?« 266
»Man hat mir nahegelegt, die Computerprogramme einer anderen Dienststelle zu übergeben.« »Noch vor der Auswertung?« Er nickte. »Der Druck ist ziemlich heftig. Aber der Minister muß der Anfrage erst noch zustimmen.« »Wer, zum Teufel, sollte …?« Ich schwieg und erinnerte mich an eine Bemerkung, die Ogilvie einmal fallengelassen hatte. »Doch nicht schon wieder Cregar?« »Wie kommen Sie darauf …« Er machte eine Pause und dachte noch einmal nach. »Ja, Cregar. Ein zäher Bursche, nicht wahr?« »Zum Teufel!« schnappte ich ein. »Sie wissen doch wohl, was er damit vorhat. Sagten Sie nicht selbst, er beschäftige sich mit bakteriologischer Kriegführung? Wenn da irgend etwas Brauchbares dran ist, verheimlicht er es und wertet es für sich aus.« Der Lift hielt an, und jemand stieg ein. Ogilvie sagte: »Ich glaube nicht, daß wir das noch weiter besprechen sollten.« Als wir unser Stockwerk erreichten, machte er sich flink davon.
Am Dienstagabend um sieben stand ich vor Pennys Tür und klingelte. Niemand öffnete. Dann saß ich noch über eine Stunde in meinem Wagen vor dem Haus, aber sie kam nicht. Sie hatte mich versetzt, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ich ging nicht in die Show, sondern nach Hause, ich war sehr unglücklich und deprimiert. Ich glaube, schon zu diesem Zeitpunkt hatte ich so ein Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte. Am nächsten Morgen, zu menschlicher Zeit, rief ich Lumsden wieder an. Anfangs beantwortete er meine Fragen noch recht freundlich, aber dann wurde ich ihm wohl lästig. Nein, Penny war noch nicht zurückgekehrt. Nein, er hatte seit Dienstag nicht mit ihr gesprochen. Nein, das war keineswegs ungewöhnlich; es konnte durchaus sein, daß die Arbeit sich schwieriger gestaltete als erwartet. »Können Sie mir ihre Telefonnummer in Schottland geben?« fragte ich. Am ande267
ren Ende der Leitung wurde es still, dann hörte ich Lumsden sagen: »Äh … nein – ich glaube, das geht nicht.« »Wieso, haben Sie die Nummer nicht?« »Ich habe sie schon, aber ich fürchte, sie ist für Sie nicht verfügbar.« Ich überging das, merkte es mir aber. »Können Sie sie wenigstens anrufen und ihr etwas ausrichten?« Lumsden machte wieder eine Pause und sagte dann widerwillig: »Das ließe sich machen. Was soll ich ausrichten?« »Ich brauche auch eine Antwort. Fragen Sie bitte, wo sie die Briefe ihres Vaters hingetan hat. Ich muß das wissen.« Das konnte natürlich auch völlig bedeutungslos sein. »Meinetwegen«, sagte er. »Ich werde es weitergeben.« »Aber sofort«, beharrte ich. »Ich warte hier auf Ihren Rückruf.« Ich gab ihm meine Nummer. Bei der Durchsicht meiner Post fand ich eine Abholkarte vom Paketdienst; der Zusteller hatte mich nicht angetroffen. Das Paket war in Paddington abzuholen. Ich legte den Abschnitt in meine Brieftasche. Es dauerte fast eine Stunde, bis Lumsden zurückrief. »Miß Ashton sagt, sie weiß nicht genau, was für Briefe Sie meinen.« »Wirklich? Eigenartig. Wie klang ihre Stimme?« »Ich habe nicht direkt mit ihr gesprochen; sie war über den Nebenstellenapparat nicht erreichbar. Aber man hat es ihr ausgerichtet.« Ich sagte: »Es wäre mir sehr daran gelegen, daß Sie noch einmal anrufen und diesmal persönlich mit ihr sprechen. Ich …« Er unterbrach mich. »Kommt überhaupt nicht in Frage! Ich habe nicht die Zeit, den Laufburschen für Sie zu spielen!« Es klickte, er hatte aufgelegt. Ich saß noch eine Viertelstunde da und fragte mich, ob ich vielleicht einem Phantom nachjagte. Dann fuhr ich nach Paddington zu meinem Paket und war ziemlich enttäuscht, als es mein eigener Koffer war. Hauptmann Morelius hatte sich ganz schön Zeit gelassen, mir meine Sachen aus Schweden nachzuschicken. Ich stellte den Koffer in den Kofferraum meines Wagens und öffnete ihn. Zu fehlen schien nichts, obwohl man das nach so langer Zeit nicht mehr so genau sagen 268
konnte. Sicher war jedenfalls, daß der schwedische Geheimdienst jedes Stück mit dem Mikroskop untersucht hatte. Aber da fiel mir etwas ein. Ich ging zurück in den Bahnhof und rief bei den Ashtons an. Mary Cope war am Telefon, und ich sagte: »Hier ist Malcolm Jaggard. Wie geht es Ihnen, Mary?« »Sehr gut, Sir.« »Ist irgend etwas aus Schweden angekommen? Koffer oder etwas Ähnliches?« »Ja, Sir. Am Montag sind zwei Koffer gekommen. Ich hab' versucht, Miß Penny zu erreichen, weil ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll, aber sie war nicht zu Hause – ich meine, in der Wohnung in London.« »Was haben Sie mit den Koffern gemacht?« »Ich hab' sie in die Abstellkammer gestellt.« »Ich komme sofort, Mary. In der Zwischenzeit lassen Sie bitte niemanden in die Nähe.«
Auf dem Weg nach Marlow geriet ich in Verkehrsstaus, und auf der Umgehungsstraße von Hammersmith riß mir fast der Geduldsfaden, aber dann waren die Straßen frei, und ich konnte auf der M 4 durchrasen. Die Tore zur Auffahrt standen offen. Mary Cope mußte ja auch nicht beschützt werden. Auf mein Klingeln öffnete sie die Tür, und ich fragte sofort: »Hat schon jemand nach diesen Koffern gefragt?« »Aber nein, Sir.« »Wo stehen sie?« »Ich zeig's Ihnen.« Sie führte mich die Haupttreppe nach oben, dann noch einen Treppenabsatz weiter und über einen Gang. Das Haus war kahl und leer, und unsere Schritte hallten. Sie öffnete eine Tür. »Ich habe sie hier hochgebracht, damit sie nicht im Weg stehen.« Ich schaute die zwei Koffer an, die in der Mitte des leeren Raumes standen, dann drehte ich mich zu Mary Cope um und lächelte zufrie269
den. »Sie können mir gratulieren, Mary. Penny und ich werden heiraten.« »Oh, da wünsch' ich Ihnen aber alles Gute«, sagte sie. »Somit brauchen Sie vielleicht doch nicht in London zu wohnen. Wahrscheinlich werden wir uns irgendwo auf dem Land ein Haus suchen. Nicht so groß wie dieses hier, aber immerhin.« »Wollen Sie denn, daß ich bleibe?« »Aber natürlich«, sagte ich. »Jetzt würde ich mir aber gerne die Sachen hier allein anschauen. Macht es ihnen etwas aus?« Sie schaute mich etwas zweifelnd an, überwand sich dann aber doch. In diesem Hause waren schon so viele eigenartige Dinge passiert, daß es auf eine Merkwürdigkeit mehr oder weniger nicht mehr ankam. Sie nickte und schloß die Tür hinter sich. Beide Koffer waren verschlossen. Im Schlösserknacken bin ich geübt, nur die Schnappschlösser mußte ich mit dem Taschenmesser aufbrechen. Der erste Koffer enthielt Ashtons Sachen – die wenigen, die er auf seiner Flucht aus Stockholm bei sich geführt oder getragen hatte; der Mantel, die Jacke und das Hemd waren beschädigt – Einschußlöcher –, aber Blutspuren waren nicht zu sehen. Alles gereinigt; Schweden halten viel von Reinlichkeit. Mich interessierte vor allem Bensons Koffer. In diesem EineinhalbKubikmeter-Behältnis befand sich nun alles, was von Howard Greatorex Benson übriggeblieben war – und wenn ich darunter nichts Belangvolles entdeckte, würde der Fall Ashton wohl nie richtig geklärt werden. Ich leerte den Koffer und breitete alles auf dem Boden aus. Mantel, Anzug, Pelzmütze, Unterwäsche, Hemd, Socken, Schuhe – all das, worin er gestorben war. Die Pelzmütze hatte hinten ein Loch so groß wie meine Faust. Ich überprüfte alles genauestens – es war mir klar, daß Morelius das auch schon getan hatte –, fand aber nichts; keinen Mikrofilm, wie sie in Kriminalromanen so gern vorkommen, keine Geheimtaschen in der Kleidung, absolut nichts Außergewöhnliches. In der Brieftasche steckte eine Handvoll schwedischer Münzen und ein dünnes Bündel Geldscheine. Außerdem einige Briefmarken, eng270
lische und schwedische Zeitungsausschnitte, beides Buchbesprechungen in Englisch sowie eine handgeschriebene Einkaufsliste; nicht nach meinem Geschmack, abgesehen vom geräucherten Lachs, den Biskuits und dem Pulverkaffee, aber auch das half mir im Endeffekt nicht weiter. Ich wollte die Brieftasche schon beiseite legen, als ich einen Riß im seidenen Innenfutter entdeckte. Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich der Riß als Schnitt, wahrscheinlich von einer Rasierklinge. Hauptmann Morelius hatte aber auch nichts ausgelassen. Ich steckte meinen Finger zwischen Futter und Leder und stieß auf ein Stück Papier. Vorsichtig zog ich es heraus und trat mit meinem Fund ans Fenster. Es war ein nicht adressiertes Empfehlungsschreiben für Notfälle: Überbringer dieses Schreibens ist Mr. Howard Greatorex Benson. Sollten Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit bestehen, so wird gebeten, vor dem Ergreifen wie auch immer gearteter Maßnahmen mit dem Unterzeichner dieses Briefes Verbindung aufzunehmen. An den Brief war ein paßbildartiges Foto von Benson geheftet, auf dem er viel jünger aussah, als ich ihn in Erinnerung hatte, aber schon mit dem zerschundenen Gesicht und der Narbe an der Wange. Vermutlich war er damals Anfang dreißig gewesen. Das bestätigte auch das Datum des Schreibens: 4. Januar 1947. Am Fuß des Briefes standen eine Adresse und eine Telefonnummer; als Adresse war eine Straße in Mayfair angegeben, und die Nummer war noch in der alten Manier geschrieben, wie es vor der technischen Umstellung des Londoner Fernsprechnetzes üblich war: mit Buchstaben vor den Ziffern. Die Unterschrift lautete: James Pallson. Das Jucken in meinem Hinterkopf hatte sich jetzt beruhigt, mein Puzzle war fast komplett. Wenn auch noch ein paar kleine Stücke fehlten, so ließ sich doch das Bild schon erkennen, und was ich da erkannte, wollte mir gar nicht gefallen. Ich überflog den Brief noch einmal und fragte mich, was Morelius wohl damit hatte anfangen können, dann steckte ich ihn in meine Brieftasche und ging nach unten. 271
Ich rief Ogilvie an, aber er war wieder einmal nicht da, also verabschiedete ich mich von Mary Cope und fuhr nach London zurück, wo ich sofort in die Universität ging. In der Annahme, daß Lumsden mich eventuell nicht sehen wollte, umging ich den Portier, steuerte geradewegs Lumsdens Büro an und trat ein, ohne anzuklopfen. Er sah hoch und runzelte verärgert die Stirn. »Was, zum Teufel … also so laß ich nicht mit mir umspringen!« »Nur ganz kurz, Professor.« »Hören« fuhr er mich an. »Ich habe zu arbeiten und absolut nicht die Zeit, den postillon d'amour zu spielen!« Ich stürzte an seinen Schreibtisch und schob ihm das Telefon hin. »Rufen Sie Penny an.« »Das werde ich nicht tun!« Er hob die Karte auf, die ich auf den Tisch geworfen hatte und sagte: »Verstehe. Doch kein einfacher Polizist. Aber ich wüßte nicht, was das ändern sollte.« »Wo ist dieses Labor?« »In Schottland.« »Wo in Schottland?« »Ich bin nicht befugt, Ihnen das bekanntzugeben.« »Wem untersteht es?« Er zuckte die Achseln. »Einem Regierungsamt, glaube ich.« »Was wird dort gemacht?« »Das weiß ich wirklich nicht. Es hat irgend etwas mit Ackerbau zu tun, hat man mir gesagt.« »Wer hat Ihnen das gesagt?« »Das kann ich nicht sagen.« »Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?« Einen kurzen Augenblick trafen sich unsere Blicke, aber er wich sofort irritiert aus. »Diesen Blödsinn mit der Landwirtschaft glauben Sie doch wohl selber nicht oder? Das paßt auch gar nicht zu Ihrem zurückhaltenden Verhalten. Was kann an einem landwirtschaftlichen Forschungsprojekt schon so geheim sein? Cregar hat Ihnen gesagt, daß es sich um Landwirtschaft handelt, und Sie haben es akzeptiert, Ihrem Gewissen zuliebe, aber geglaubt haben Sie es nie. So naiv sind Sie doch nicht.« 272
»Überlassen Sie mein Gewissen mir!« fuhr er mich an. »Bitte. Was macht Penny dort?« »Sie hilft bei allgemeinen technischen Problemen.« »Einrichtung eines Labors zur Bearbeitung von Pathogenen«, deutete ich an. »In dieser Richtung.« »Weiß sie, daß Cregar dahintersteckt?« »Sie haben Cregar ins Spiel gebracht, nicht ich.« »Was hat Cregar unternommen, um Sie rumzukriegen? Hat er ihnen angedroht, die Forschungszuschüsse zu streichen? Oder gab es da einen hinterfotzigen Brief von einem Minister mit etwa derselben Bedeutung? Arbeiten Sie mit Cregar zusammen oder …« Ich betrachtete ihn eine Weile stumm. »Ist ja auch nicht so wichtig – aber wußte Penny davon, daß Cregar dahintersteckt?« »Nein«, sagte er unwirsch. »Und sie wußte auch nicht, für welche Zwecke das Labor bestimmt ist, schöpfte aber langsam Verdacht. Sie hatte deshalb bereits eine Auseinandersetzung mit Ihnen.« »Sie scheinen ja alles zu wissen«, meinte Lumsden müde und zuckte die Achseln. »Fast alles, was Sie da sagen, stimmt.« »Wo ist Penny?« fragte ich. Er schaute mich überrascht an. »Im Labor. Ich dachte, das wäre inzwischen klar.« »Penny machte sich Sorgen um die dortigen Sicherheitsbestimmungen, stimmt's?« »Sie hat das zu emotional gesehen, und Cregar drängte Carter sehr. Er wollte Resultate sehen.« »Wer ist Carter?« »Der Leiter des Forschungsprojektes.« Ich deutete auf das Telefon. »Ich wette hundert zu eins, daß es Ihnen nicht möglich sein wird, mit ihr zu sprechen.« Er zögerte lange, bis er den Hörer nahm und anfing zu wählen. Wenn er sich auch sonst sehr pingelig gab – mit der Geheimhaltung nahm er es letzten Endes doch nicht so genau. Während er wählte, beobachtete ich seinen Finger und 273
merkte mir die Nummer. »Hier spricht Professor Lumsden, verbinden Sie mich bitte mit Dr. Ashton. Ja, ich warte.« Er legte die Hand vor die Hörermuschel. »Jetzt wird zu Miß Ashton durchgestellt. Sie soll in ihrem Zimmer sein.« »Darauf würde ich nicht wetten.« Lumsden mußte lange warten, dann sagte er plötzlich: »Ja? … verstehe … auf dem Festland. Richten Sie ihr aus, sie soll mich anrufen, sobald sie zurück ist. Ich bin in meinem Büro.« Er legte den Hörer zurück und sagte dumpf: »Man sagt, sie sei auf dem Festland.« »Also liegt es auf einer Insel.« »Ja.« Er schaute auf, und in seinen Augen war ein gequälter Ausdruck. »Es könnte doch sein, daß es stimmt.« »Absolut nicht«, sagte ich. »Irgend etwas ist passiert da oben. Sie wollten sich ja mit Ihrem Gewissen befassen; ich gebe Ihnen jetzt Gelegenheit dazu. Schönen Tag noch, Professor Lumsden.«
Ich marschierte in Ogilvies Vorzimmer, sagte zu seiner Sekretärin: »Ist der Boß da?« Und raste durch, ohne die Antwort abzuwarten. Für mich gab es jetzt keine geschlossenen Türen mehr. Ogilvie war ebenso verärgert wie Lumsden, als ich in sein Büro platzte. »Ich habe Sie nicht hergebeten«, stellte er kühl fest. »Ich weiß jetzt, wer Benson ist«, sagte ich. »Er arbeitete für Cregar.« Ogilvies Augen öffneten sich weit. »Das glaube ich nicht.« Ich warf ihm das Schreiben zu. »Hier haben Sie's mit Brief und Siegel. Dieser Zettel wurde am 4. Januar 1947 geschrieben, an Bensons Entlassungstag, und die Unterschrift stammt vom ehrenwerten Mr. James Pallson, dem jetzigen Lord Cregar. Aber mit Ehre hat das alles bei Gott nicht viel zu tun. Als Ashton und Benson nach Schweden abhauten und Cregar sich seinen Scheinheiligenschein aufsetzte – da wußte er die ganze Zeit über, wo die beiden waren. Menschenskind, muß sich der Schweinehund eins ins Fäustchen gelacht haben!« 274
Ogilvie schüttelte den Kopf. »Aber das ist doch einfach unglaublich.« »Was soll daran so unglaublich sein? Dieser Brief beweist, daß Benson die ganzen letzten dreißig Jahre in Cregars Diensten stand. Wenn Sie mich fragen – Cregar hat doch noch sein Geschäft mit Ashton gemacht. Ashton durfte tun, was er wollte, im Kapitalismus schwimmen oder untergehen, aber unter einer Bedingung: Er mußte sich einen Wachhund gefallen lassen – Benson. Und als dann die Umorganisation erfolgte und Cregar nicht mehr für Ashton verantwortlich war, da hat er es für gut befunden, Ihnen Benson zu unterschlagen. Das erklärt auch, warum Benson so plötzlich aus dem Computer verschwunden war.« Ogilvie atmete tief ein. »Es paßt alles zusammen«, gab er zu. »Aber vieles bleibt immer noch ungeklärt.« »Diesen lächerlichen Rest erfahren Sie von Cregar«, sagte ich wütend. »Vorausgesetzt, Sie beeilen sich und kriegen ihn noch einmal zu fassen, bevor ich ihm das Fell abziehe und an die nächste Scheunentür nagle.« »Lassen Sie die Finger von Cregar«, befahl er brüsk. »Den übernehme ich.« »Verdammt; Sie verstehen mich nicht! Penny Ashton ist verschwunden, und Cregar hat etwas damit zu tun. Da müssen schon andere als Sie kommen, um mich von Cregar fernzuhalten.« »Was soll das alles?« sagte er verwirrt. Ich erzählte es ihm und sagte dann: »Wissen Sie, wo das Forschungsinstitut liegt?« »Nein.« Ich nahm die Karte aus meiner Brieftasche und warf sie auf den Tisch. »Eine Telefonnummer. Die Post will darüber keine Auskunft geben. Eine Geheimnummer. Unternehmen Sie was.« Er starrte auf die Karte, hob sie aber nicht auf. Dann sagte er langsam: »Also, ich weiß nicht …« Ich fuhr dazwischen. »Ich weiß aber etwas! Dieser Brief reicht aus, um Cregar zu ruinieren, aber so lange kann ich nicht warten. Versu275
chen Sie jetzt nicht, mich aufzuhalten. Geben Sie mir nur alles, was ich brauche, und ich liefere Ihnen mehr als diesen Brief – ich serviere Ihnen Cregars Haupt auf einem silbernen Tablett. Aber ich bin nicht gewillt, untätig herumzustehen.« Er schaute mich nachdenklich an, dann nahm er den Telefonhörer und die Karte. Fünf Minuten später sagte er zwei Worte: »Cladach Duillich.«
34. Kapitel
C
ladach Duillich ist schwer zu erreichen. Es gehört zu den SommerInseln, ein unwirtlicher Haufen von Felsen in der North-MinchBucht, in der Gegend von Ross und Cromarty. Bei den Leuten jedoch, die mit dem biologischen Tod gern Russisches Roulette spielen, scheint die Gegend sich großer Beliebtheit zu erfreuen, Sechs Meilen südlich von Cladach Duillich liegt die Insel Gruinard, unbewohnt und unbewohnbar. 1942 ist den Jungs von der biologischen Kriegführung dort ein kleiner Fehler unterlaufen, und seitdem ist Gruinard mit Milzbrand verseucht – auf hundert Jahre. Kein Wunder, daß die Schotten für diese Art von Dummheit, die ihnen aus dem Süden droht, wenig Sympathie empfinden. Ich flog bis Dalcross, dem Flughafen bei Inverness, wo ich mir dann einen Leihwagen nahm, um durch die Weiten Schottlands nach Ullapool an der Spitze des Loch Broom zu fahren. Es war ein schöner Tag; die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und grandios breitete sich die Landschaft aus – was mich ziemlich kalt ließ, da ich versuchte, auf einer Straße, die selbst von Schotten bereits als schmal, Klasse 1 (mit Ausweichbuchten) eingestuft wurde, schnell zu fahren. Ich fühlte mit erschütternder Gewißheit, daß mir die Zeit unter den Fingern zerrann. 276
Es war schon spät, als ich Ullapool erreichte. Cladach Duillich lag zwölf Meilen entfernt in der Bucht draußen; mit einem Fischerboot mußte die Überfahrt hin und zurück in vier Stunden zu schaffen sein. Ich verhandelte mit mehreren Fischern, aber um diese Zeit war niemand mehr bereit hinauszufahren. Es war eine Stunde vor Sonnenuntergang, Wolken ballten sich im Westen zusammen, ein eisiger Wind blies durch den schmalen Meeresarm und wühlte das Wasser auf, das sich inzwischen grau verfärbt hatte. Ein Mann namens Robbie Ferguson versprach mir immerhin, mich, falls das Wetter es zuließe, am nächsten Morgen um acht Uhr zur Insel zu bringen. Da die Urlaubszeit noch nicht begonnen hatte, fand ich leicht in einem Pub ein Zimmer. Am Abend saß ich an der Theke und hörte mir den Dorfklatsch an, machte ab und zu eine Bemerkung, nicht oft, aber häufig genug, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Ich gedachte nämlich, hier eine kleine Fragestunde über Cladach Duillich abzuhalten. Es war deutlich spürbar, daß die wachsende Flut des schottischen Nationalismus gerade hier in den West Highlands starke Wellen schlug. Die Männer im Pub sprachen von englischen Großgrundbesitzern in Schottland, die nie in Schottland lebten, vom schottischen Öl und vom Doppelspiel der Schottischen Arbeiterpartei und immer mit einem leicht belustigten und ziemlich müden Zynismus, als hätten sie längst jedes Vertrauen in die Versprechungen der Politiker verloren. Viel sagte ich dazu nicht, gerade genug, um die Gespräche übers Fischen und das Wetter zu würzen, aber wäre ich nur im entferntesten an Westminster und den Regierungsgeschäften beteiligt gewesen, hätte ich mich zu Tode fürchten müssen. Ullapool schien von London noch weiter entfernt als Kalgoorlie in Australien. Ich trank mein Bier aus und stieg auf Scotch um, wobei ich den Wirt fragte, welchen er mir empfehle. Der Mann neben mir drehte sich um. »Der Talisker ist nicht schlecht«, meinte er. Der Mann war groß, etwas gebeugt, Mitte fünfzig, mit einem zerfurchten Gesicht und einem weichen Mund, wie man es oft im Hochland sieht. Er sprach auch den weichen West-Hochlandakzent. »Dann probier' ich den. Trinken Sie einen mit?« 277
Er schaute mich eine Weile an, dann lächelte er. »Warum eigentlich nicht? Sie sind aus dem Süden, hab' ich recht? Für Leute von Ihrem Schlag sind Sie aber früh dran.« Ich bestellte zwei große ›Talisker‹. »Von was für einem Schlag bin ich denn?« »Tourist, vielleicht?« »Kein Tourist – Journalist.« »Ach ja? Welche Zeitung?« »Jede, die mich druckt. Ich bin Freiberufler. Können Sie mir irgend etwas über die Insel Gruinard sagen?« Er lachte laut auf und schüttelte den Kopf. »Och, nicht schon wieder! Jedes Jahr kommt einer und fragt nach Gruinard; die Insel des Todes, wie die das nennen. Das ist doch alles schon längst geschrieben, Mann; bis zum Gehtnichtmehr. Dabei kommt doch nichts mehr raus.« Ich zuckte die Achseln. »Eine gute Geschichte ist für einen, der sie noch nicht kennt, immer eine gute Geschichte. Eine neue Generation wächst heran, und die glaubt, daß 1939 in grauer Vorzeit liegt. Ich hab' schon Jugendliche erlebt, die Hitler für einen britischen General halten. Aber vielleicht haben Sie recht. Gibt es sonst noch was Interessantes hier in der Gegend?« »Was kann eine englische Zeitung schon an Ullapool interessant finden? Nicht mal Öl haben wir hier, das gibt es nur an der Ostküste.« Er schaute nachdenklich in sein Whiskyglas. »Aber da ist dieser Hubschrauber, der kommt und geht, und niemand weiß, warum. Interessiert Sie das vielleicht?« »Eventuell«, sagte ich. »Der Hubschrauber einer Ölfirma?« »Könnte sein, könnte sein. Aber er landet immer nur auf einer von den Inseln da draußen. Hab' ich selbst gesehen.« »Welche Insel?« »Draußen in der Bucht – Cladach Duillich. Nur ein winziger Felsen, nicht viel drauf. Öl gibt's da bestimmt nicht. Ein paar Gebäude haben sie hingestellt, aber keinen Bohrturm.« »Wer hat Gebäude hingestellt?« »Es heißt, die Regierung hätte die Insel von einem englischen Lord 278
gemietet. Wattie Stevenson ist mal mit seinem Boot rübergefahren, nur so aus Langeweile und um ihnen Hilfe anzubieten, falls es mal Probleme gibt. Aber sie haben ihn nicht mal einen Fuß auf die Insel setzen lassen. Keine freundlichen Nachbarn.« »An was für Probleme hatte Ihre Freund da gedacht?« »Das Wetter! Die Winterstürme sind hier sehr schlimm. Es heißt, die Wellen gehen dann über Cladach Duillich. Daher hat es auch seinen Namen.« »Das versteh' ich nicht.« »Ah, Sie sprechen kein Gälisch! Vor langer Zeit lebte in Coigach ein Fischer, dessen Boot ist bei einem Sturm auf der anderen Seite der Inseln da draußen untergegangen. Er schwamm und schwamm und kam endlich an Land und dachte, er wäre gerettet. Aber er wurde wieder weggespült, der arme Mann, weil er auf Cladach Duillich gelandet war. Das Wasser fegte richtig drüber. Cladach Duillich heißt soviel wie Traurige Küste.« Wenn meine Vermutungen stimmten, war der Name vielleicht – leider – nicht einmal unpassend. »Kommen die Leute von Cladach Duillich auch hier rüber aufs Festland?« »Nie. Ich habe noch keinen gesehen. Sie fliegen immer nur mit ihrem Hubschrauber in Richtung Süden weg, und niemand weiß, wohin sie fliegen und woher sie kommen. Keinen Pfennig geben die in Ullapool aus. Und geheimniskrämerische Leute sind das. Es gibt nur einen Anlegeplatz auf Cladach Duillich, und da haben sie auch ganz groß stehen, was einem bei unbefugtem Betreten alles passiert.« Sein Glas war leer, und ich fragte mich, wann er den Whisky hinuntergekippt haben könnte. Vielleicht, als ich einmal mit den Augen zwinkerte. Ich sagte: »Trinken Sie noch einen, Mr. … äh …« »Sie trinken jetzt einen mit mir.« Er gab dem Wirt ein Zeichen. »Mein Name ist Archie Ferguson, und mein Bruder ist der Mann, der Sie morgen früh nach Cladach Duillich bringt.« Er grinste höhnisch über mein offensichtliches Unbehagen und fügte hinzu: »Aber ich bezweifle, daß Sie dort Fuß fassen werden.« 279
»Ich bin Malcolm Jaggard«, sagte ich. »Und ich glaube, ich werd's doch.« »Malcolm ist ein alter schottischer Name«, sagte Ferguson. »Ich trinke auf Ihren Erfolg. In jedem Fall. Was immer Sie vorhaben.« »Diese Insel hat etwas Seltsames an sich«, sagte ich. »Glauben Sie, daß ein zweites Gruinard daraus wird?« Fergusons Gesichtsausdruck veränderte sich, und einen kurzen Augenblick blitzte aus ihm der Zorn des Allmächtigen. »Das würde ich denen nicht raten«, meinte er ernst. »Wenn wir erfahren, daß es so kommen soll, setzen wir ihnen den roten Hahn aufs Dach!« Ich verdaute das alles zusammen mit meinem Abendessen und führte dann ein Telefongespräch – mit Cladach Duillich. Eine Stimme sagte: »Was kann ich für Sie tun'?« »Ich würde gerne mit Dr. Ashton sprechen. Mein Name ist Malcolm Jaggard.« »Einen Moment. Ich schau mal hoch, ob sie zu erreichen ist.« Vier Minuten lang blieb es still im Draht, dann sagte eine andere Stimme: »Tut mir leid, Mr. Jaggard, aber ich erfahre soeben, daß Dr. Ashton aufs Festland gefahren und noch nicht zurück ist.« »Wo aufs Festland?« Eine Pause, dann: »Von wo aus sprechen Sie, Mr. Jaggard?« »Von London, warum?« Er antwortete mir nicht. »Miß Ashton ist nach Ullapool – der nächsten großen Stadt hier. Sie sagte, sie wollte sich mal die Füße vertreten; wo wir sind, gibt's nämlich dafür nicht so viel Platz. Und sie wollte auch ein paar Sachen einkaufen. Darf ich fragen, wie Sie zu unserer Nummer kommen?« »Dr. Ashton hat sie mir gegeben. Wann erwarten Sie sie zurück?« »Ach, das weiß ich nicht. Der Himmel hat sich überzogen, also wird sie wohl kaum vor morgen früh zurückkommen. Dann können Sie mit ihr sprechen.« »Wo würde sie denn in Ullapool übernachten?« »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, Mr. Jaggard. Aber sie wird morgen wohl mit dem Boot zurückkommen.« 280
»Verstehe. Darf ich fragen, mit wem ich spreche?« »Ich bin Dr. Carter.« »Vielen Dank, Dr. Carter. Ich rufe morgen wieder an.« Als ich den Hörer aus der Hand legte, war mir klar, daß hier irgend jemand log – und Archie Ferguson war es bestimmt nicht. Aber um sicherzugehen, stellte ich mich an die Theke, wo er gerade mit Robbie, seinem Bruder, sprach. »Entschuldigung, wenn ich mich einmische.« »Keine Ursache«, sagte Ferguson. »Ich bespreche gerade mit Robbie Ihre Chancen, morgen nach Cladach Duillich zu kommen.« Ich schaute Robbie an. »Bestehen da Zweifel?« »Vielleicht kommt Sturm auf«, sagte er. »Das Barometer fällt. Haben Sie einen starken Magen, Mr. Jaggard?« »Ziemlich stark.« Archie Ferguson lachte. »Hoffentlich aus Gußeisen.« Ich sagte: »Die Leute auf Cladach Duillich sagen auch, daß das Wetter schlechter wird.« Archie hob die Augenbrauen. »Sie haben mit Cladach Duillich gesprochen! Wie denn?« »Telefoniert – wie sonst?« »He«, sagte Robbie. »Sie haben also doch die Leitung legen lassen.« Er schüttelte den Kopf. »Furchtbar teuer.« »Angeblich soll heute eine Frau von Cladach Duillich rübergekommen sein – hier nach Ullapool. Sie ist etwa einssiebzig groß und hat dunkles Haar, ist etwa …« Robbie unterbrach. »Womit soll sie denn gekommen sein?« »Mit dem Boot.« »Ausgeschlossen«, versicherte er. »Auf Cladach Duillich gibt es kein Boot.« »Wissen Sie das genau?« »Na klar. Ich fahr' doch fast täglich zweimal vorbei. Sie können's mir glauben – die haben kein Boot.« Ich wollte sichergehen. »Nun, nehmen wir trotzdem mal an, sie sei gekommen. Wo würde sie in Ullapool wohnen?« 281
»Ullapool ist nicht gerade groß«, sagte Archie. »Falls sie überhaupt da ist, werden wir das gleich haben. Wie heißt die Dame?« »Ashton. Penelope Ashton.« »Nur die Ruhe, Mr. Jaggard. In einer Stunde wissen Sie's.« Er lächelte seinen Bruder fröhlich an. »Findest du nicht auch, daß es hier ziemlich stark nach Romantik riecht, Robbie?«
35. Kapitel
E
ine steife Brise pfiff mir um die Ohren, als ich am nächsten Morgen am Pier stand. Der Himmel war schiefergrau und auch das Meer; der Wind peitschte kleine Schaumkronen hoch. Unten an der Mauer schaukelte wenig vertrauenerweckend Robbie Fergusons Boot, und die alten Autoreifen, die als Fender dienten, knirschten jedesmal, wenn das Boot an die Mauer gedrückt wurde. Es sah viel zu gebrechlich aus, um an einem solchen Tag hinausfahren zu können, aber Robbie schien da keine Bedenken zu haben. Er nahm die Haube vom Motor und drehte an einer Kurbel. Archie Ferguson, neben mir, sagte: »Sie meinen also, daß die junge Frau noch in Cladach Duillich ist?« »Genau.« Er zog seinen Mantel enger. »Vielleicht ist das da drüben doch kein Regierungsprojekt«, überlegte er. »Könnte da nicht eine von diesen komischen Sekten leben, die neuerdings aus Amerika herüberkommen? Moonies oder so was Ähnliches? Ich hab' da schon die eigenartigsten Sachen gehört.« »Nein. So was ist es nicht.« Ich schaute auf die Uhr. »Mr. Ferguson, würden Sie mir einen Gefallen tun?« »Wenn ich kann.« Ich schätzte die Zeit ab. »Falls ich in acht Stunden nicht zurück bin – 282
also bis heute nachmittag um vier –, dann holen Sie die Polizei und lassen mich suchen.« Er brauchte eine Zeit, um seine Gedanken zu Ende zu denken. »Kein Problem. Aber was ist, wenn Robbie ohne Sie zurückkommt?« »Auch dann. Es könnte sein, daß sie Robbie täuschen und ihm sagen, ich hätte mich entschlossen zu bleiben. Dann lügen sie, aber er soll trotzdem hierher zurückkommen und Alarm schlagen.« Unten lief sich der Diesel warm, schön gleichmäßig rund. Archie sagte: »Wissen Sie, Malcolm Jaggard, irgendwie hab' ich das Gefühl, daß Sie doch kein Journalist sind.« Ich nahm eine Karte aus meiner Brieftasche und gab sie ihm. »Falls ich nicht zurückkomme, rufen Sie diese Nummer an. Verlangen Sie einen Mann namens Ogilvie und erzählen Sie ihm alles.« Er studierte die Karte. »McCulloch und Ross und Ogilvie. Hört sich an, als hätten wir Schotten schon die City von London übernommen.« Er schaute hoch. »Aber nach einem Finanzmann sehen Sie noch weniger aus. Dann schon eher Journalist. Was geht draußen in Cladach Duillich wirklich vor?« »Darüber haben wir doch bereits letzte Nacht gesprochen«, sagte ich. »Und Sie haben dabei von Anzünden gesprochen.« Plötzlich wirkte er bedrückt. »Würde die Regierung tatsächlich so was noch mal machen?« »Die Regierung – das sind auch nur Menschen. Und es gibt Menschen, die so was immer wieder tun.« »Und die anderen müssen dafür bezahlen.« Er schaute mich fest an. »Malcolm Jaggard, wenn Sie zurückkommen, werden wir beide einiges zu bereden haben. Und den Burschen auf Cladach Duillich können Sie ausrichten, daß wir ihnen den roten Hahn aufs Dach setzen, wenn Sie nicht zurückkommen. Feuer ist ein gutes Reinigungsmittel.« »Halten Sie sich da raus«, sagte ich. »Das ist dann Sache der Polizei.« »Seien Sie doch nicht dumm, Mann. Geht die Polizei gegen die Regierung vor? Bei mir liegt das in besseren Händen.« Er schaute zum Boot hinab. »Ab mit Ihnen! Robbie wartet schon. Und ich hau' auch ab. Ich hab' mit ein paar Freunden was zu besprechen.« 283
Ich kletterte die Eisenleiter hinunter, die vom Wasser und Tang rutschig war, und versuchte meinen Sprung so ins Boot zu zielen, daß ich die Schwankungen im Wasser ausgleichen konnte. Ich stellte mich ungeschickt an, aber Robbies starker Arm bewahrte mich davor, der Länge nach ins Boot zu fallen. Er musterte mich von Kopf bis Fuß und schüttelte den Kopf. »So erfrieren Sie mir noch, Mr. Jaggard.« Er stöberte in einem Kasten und zog eine Seemannsjacke heraus. »Das hält warm, und das –« Er reichte mir eine Hose und einen Anorak, beides wasserdicht. »Das hält trocken.« Als ich mich wetterfest gemacht hatte, sagte er: »Und nun setzen Sie sich mal getrost hin.« Er stiefelte zum Bug. Dieser Mann bewegte sich in diesem schwankenden Boot so leicht wie andere Leute auf asphaltiertem Bürgersteig. Er löste das Halteseil, kam zurück, und es schien ihn nicht zu stören, daß der Bug einen riesigen Bogen beschrieb. Als er am Motor vorbeikam, schaltete er mit dem Stiefel einen Hebel um und legte dann geschickt das Heckseil ab. Der Motor hämmerte nun heftiger, und wir bewegten uns von der Kaimauer weg. Robbie stand mit der Steuerpinne zwischen den Knien da und wickelte das Heckseil ordentlich auf. Wir nahmen Kurs aufs offene Meer. Der Wind frischte auf, und die Wellen türmten sich höher, als wir weiter hinausfuhren. Es blies aus Nordwest, und wir fuhren genau in diese Richtung. Immer, wenn der Bug ins Wasser tauchte, sprühten Ladungen von Gischt achtern übers Deck, und ich war froh über die wasserfeste Kleidung. Trotzdem sah es so aus, als wäre ich bis zu unserer Ankunft völlig durchnäßt. Robbie setzte sich und hielt das Steuer mit einem Fuß unter Kontrolle. »Die Coigach-Küste«, sagte er und deutete irgendwohin ins Graue. Ich ging vor einer Ladung Gischt in Deckung. »Was ist Ihr Bruder für ein Mensch?« »Archie?« Robbie dachte ein wenig nach und zuckte dann die Achseln. »Er ist mein Bruder.« »Würden Sie ihn als Hitzkopf bezeichnen?« »Archie ein Hitzkopf!« Robbie lachte. »Mensch, Archie ist kalt wie 284
ein Eisberg. Ich bin in der Familie der Leichtfuß, der immer die Risiken eingeht. Archie – bevor der etwas unternimmt, wägt er erst zehnmal alles ab. Warum fragen Sie?« »Er sagte mir, was er tun würde, wenn ich nicht von Cladach Duillich zurückkäme.« »Eines ist bei meinem Bruder sicher – was er sagt, das tut er auch. Zuverlässig wie der Tod und die Steuern.« Das war beruhigend. Ich wußte zwar nicht, was mir in Cladach Duillich bevorstand, aber daß ich nicht zu einer Spazierfahrt aufgebrochen war, wußte ich genau. Einen zuverlässigen Rückhalt zu haben, gab mir ein sicheres Gefühl. Ich sagte: »Für den Fall, daß ich auf diesem verdammten Felsen verlorengehe – schlucken Sie, was man Ihnen erzählt. Fahren Sie zurück und gehen Sie sofort zu Ihrem Bruder.« Er schaute mich neugierig an. »Rechnen Sie damit, daß Sie verlorengehen?« »Überraschen würde es mich nicht.« Er wischte sich Gischt aus dem Gesicht. »Ich kapier zwar nicht, was das alles soll, aber Archie scheint Sie zu mögen, und das genügt mir. Er ist der Denker in der Familie.« Es war eine lange Fahrt quer durch die Annat Bay zu den Sommer-Inseln. Die Wellen kamen kurz und steil und überschlugen sich rollend, was unser Boot ständig in Korkenzieher-Bewegungen hielt, die einen seekrank machten. Robbie schaute mich an und grinste. »Wir unterhalten uns besser; das lenkt Sie von Ihrem Bauch ab. Schauen Sie, da ist Carn nan Sgeir und dahinter Eilean Dubh. Das heißt soviel wie Schwarze Insel.« »Und wo liegt Cladach Duillich?« »Weiter weg. Auf der anderen Seite von Eilean Dubh. Wir haben noch ein ganzes Stück vor uns.« »Warum haben die auf Cladach Duillich eigentlich kein Boot? Wenn ich auf einer Insel lebe, ist das doch das erste, was ich mir zulege?« Robbie kicherte. »Das sehen Sie schon, wenn wir dort sind – aber ich sag's Ihnen sowieso, allein schon, damit wir weiter reden. Also – auf Cladach Duillich kann man nur an einer einzigen Stelle anlegen, und auch die ist noch riskant. Cladach Duillich bietet nirgendwo Schutz 285
für Boot oder Besatzung. Man kann da nicht einfach festmachen wie in Ullapool. Bei Sturm zerschellt dort jedes Boot an den Felsen. Ich werde übrigens nicht auf Cladach Duillich auf Sie warten.« »So? Wo dann?« »Draußen. In Reichweite. An Land gehen mehr Boote kaputt als auf See. Ich werd' ein bißchen fischen in der Zeit.« Ich blickte über die aufgewühlte See. »Bei diesem Wetter?« »Och, das bin ich gewöhnt. Sie geben mir eine Zeit an, und ich bin pünktlich wieder da.« »Ich möchte zwei Stunden an Land bleiben.« »Gut. Zwei Stunden«, sagte er. »Noch was zu dem Boot, das die in Cladach Duillich nicht haben. Als diese Leute zum erstenmal kamen, da hatten sie eins. Aber es zerschellte. Und wieder eins, und auch das zerschellte. Beim dritten Mal kapierten sie es endlich. Dann dachten sie, wenn sie es mit an Land nehmen, könnte nichts passieren. Aber es ist auf Cladach Duillich verdammt mühsam, ein Boot an Land zu ziehen. Es gibt nämlich keinen Strand. Also montierten sie einen Kran, wie man sie auf Schiffen hat. So konnten sie das Boot direkt aus dem Wasser auf den Felsen heben. Aber eines Nachts kam eine Welle und riß das Boot mitsamt dem Kran weg. Danach gaben sie es auf.« »Hört sich nach einem grausigen Fleckchen Erde an.« »Ist es auch – bei schlechtem Wetter. Heute ist es ja nicht so schlimm.« Ich blickte über die wildbewegte See und fragte mich, was Robbie wohl unter schlechtem Wetter verstand. »Da ist es – Cladach Duillich.« Es war genauso, wie Archie Ferguson es beschrieben hatte – ein winziges Stück Felsen. Rings herum ragten Klippen, nicht hoch, aber steil; und unter ihnen schäumte weiß das Wasser. Vor der Insel erhob sich eine Reihe von Felsen wie schwarze Klauen: Cladach Duillich. Als wir näher kamen, sagte Robbie: »Sehen Sie diese Schlucht dort? Am unteren Ende legen wir an.« Ein tiefer Einschnitt spaltete die Klippe vorn, und darunter schien das Meer ruhiger – vergleichsweise natürlich. Robbie riß das Steuer herum, um einem Felsen auszuweichen, der knapp einen Meter neben der Bootswand vorbeiglitt, dann riß er es zur anderen Seite, um 286
der nächsten Klippe zu entgehen. Er grinste. »In solchen Momenten kann man nur hoffen, daß einen der Motor nicht im Stich läßt. Am besten, Sie gehen jetzt ganz nach vorne – Sie werden rüberspringen müssen, und lange kann ich das Boot dort nicht halten.« Ich erreichte stolpernd den Bug, als Robbie auch schon das Boot vor die Schlucht steuerte. Die Kluft im Felsen wirkte nun breiter als aus der Ferne, und darunter befand sich eine Betonplattform. Robbie nahm Gas weg, der Motor tuckerte jetzt nur noch langsam. Wie Robbie bei dem starken Seegang und den Gegenströmungen das Boot so hineinbrachte, daß der Bug den Beton nur so sanft wie eine Feder berührte, das war schon ein Kunststück. Auf sein Kommando sprang ich über Bord und watete durch das hier nur noch seichte Wasser. Im Tang rutschten die Füße unter mir weg. Als ich festen Halt gewonnen hatte und mich umdrehen konnte, war das Boot schon dreißig Meter von der Küste entfernt und bewegte sich schnell aufs Meer hinaus. Robbie winkte, ich winkte zurück, und dann war er auch schon wieder vollauf damit beschäftigt, sein Boot zwischen den Klippen hindurchzusteuern. Ich schaute mich um. Als erstes erblickte ich die von Archie Ferguson erwähnte Warntafel – ein verwittertes Schild; die Farbe blätterte ab, doch die Schrift war noch leserlich. Staatsdomäne. Anlegen gesetzlich streng verboten. Wer das verbot und nach welchem Gesetz, stand nicht dabei. Ich folgte dem schmalen Weg, der von der Betonplatte aus die Schlucht hinaufführte. Es ging steil bergan zu einem kümmerlich bewachsenen Plateau hinauf, auf dem ein paar Gebäude standen – niedrige Betonbauten, die mich, weil sie fensterlos waren, an Bunker erinnerten. Vielleicht konnte man nur so auf Cladach Duillich überleben. Zu ausführlicher Besichtigung reichte die Zeit nicht, denn schon eilte ein Mann auf mich zu. »Können Sie nicht lesen?« rief er barsch. »Seh' ich aus wie ein Analphabet?« »Dann verschwinden Sie.« »Das Zeitalter der Wunder ist längst vorbei, mein Freund! Und auf dem Wasser zu gehen, ist nicht mehr modern. Das Boot ist leider weg.« 287
»Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben. Was wollen Sie?« »Ich möchte mit Dr. Carter sprechen.« Das verblüffte ihn; ich sah ihm an, wie er angestrengt nach dachte. Er war stämmig, hatte harte Augen und einen ausgeprägten Unterkiefer. Er sagte: »Worüber wollen Sie mit Dr. Carter sprechen?« »Wenn Carter findet, daß Sie das etwas angeht, wird er es Ihnen sicher mitteilen«, sagte ich freundlich. Das gefiel ihm zwar nicht, aber unternehmen konnte er dagegen auch nicht viel. »Wer sind Sie?« »Auch das geht Sie nichts an, mein Freund. Gehen wir zu Carter.« »Nein«, sagte er ruppig. »Sie warten hier.« Ich schaute ihn unfreundlich an. »Ich denke nicht daran. Ich bin durch und durch naß und möchte mich trocknen.« Ich schaute zu den Häusern. »Die sehen genauso unfreundlich aus, wie Sie sich benehmen, aber ich wette, daß es drinnen warm und trocken ist. Bringen Sie mich endlich zu Carter.« Sein Problem war, daß er weder mich noch meine Stellung kannte, aber ich benahm mich ganz so, als hätte ich jedes Recht, mich hier aufzuhalten und den großen Zampano zu markieren. Ich hatte ihn richtig eingeschätzt; jetzt gab er auf. »Meinetwegen. Folgen Sie mir. Sie gehen zu Carter, aber sonst nirgendwohin.«
36. Kapitel
A
uf dem Weg zu den Gebäuden schaute ich mich auf Cladach Duillich um. Die Insel war nicht sehr groß – etwa einen Kilometer lang und einen halben breit. Vegetation bot der Felsen kaum. Alles, was sich hier festklammern konnte, war salzbeständiger Strandhafer, der in den Spalten wuchs, in denen sich etwas Erde angesammelt hatte, und sogar der Löwenzahn war verhutzelt und kränklich. Den See288
vögeln, die in Schwärmen über uns kreisten, schien das Eiland jedoch zu gefallen; die Felsen waren ganz weiß von ihrer Losung. Drei Gebäude, die alle gleich aussahen, waren durch Gänge miteinander verbunden. Die ebene Fläche daneben mußte der Hubschrauberlandeplatz sein. Wir bogen um die Ecke eines Gebäudes, wo sich ein Eingang befand. Hier mußte ich warten, bis sich eine zweite Tür öffnete. Ich blickte zurück und stellte fest, daß ich soeben eine Luftschleuse passiert hatte. Wir machten eine scharfe Rechtswendung und gelangten in einen Raum, wo ein bebrillter Glatzkopf im weißen Kittel an einem Schreibtisch saß und auf einem Block schrieb. Er runzelte die Stirn, als er meiner ansichtig wurde, und wollte von meinem Begleiter wissen: »Was gibt's, Max?« »Den hab' ich aufgelesen, wie er mutterseelenallein da unten rummarschierte. Er sagt, er will Sie sprechen.« Carter wandte sich mir zu: »Wer sind Sie?« Ich warf einen flüchtigen Seitenblick auf Max und sagte freundlich: »Wer ich bin, ist nur für Ihre Ohren bestimmt, Dr. Carter.« Carter stöhnte. »Bin ich hier im Kino? In Ordnung, Max. Ich kümmere mich um den Burschen.« Max nickte und verschwand, und ich zog den Anorak aus. »Es macht Ihnen hoffentlich nichts aus, wenn ich das Zeug ablege«, sagte ich, als ich nun auch anfing, meine wasserfesten Hosen abzustreifen. »Zu warm für drinnen.« Carter klopfte mit dem Stift auf den Schreibtisch. »Zur Sache. Wer sind Sie und was wollen Sie?« Ich warf die Hose zur Seite und setzte mich. »Ich heiße Malcolm Jaggard. Ich bin gekommen, um Dr. Ashton zu sprechen.« »Haben Sie nicht gestern abend angerufen? Ich sagte Ihnen doch, daß sie nicht hier ist – sie ist auf dem Festland.« »Ich habe ein gutes Gedächtnis«, teilte ich ihm mit. »Sie sagten auch, Dr. Ashton sei heute morgen zurück. Also bin ich gekommen, um sie hier zu sehen.« »Bei diesem Wetter kann sie nicht herüberkommen, das sehen Sie doch selbst.« 289
»Wieso nicht? Ich bin ja auch hier.« »Dr. Ashton jedenfalls nicht. Sie ist noch in Ullapool.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht in Ullapool. Und sie war auch letzte Nacht nicht dort.« Sein Gesicht wandelte sich deutlich zum Schlechtwettergebiet. »Hören Sie, gestern behaupteten Sie, aus London anzurufen.« »Tatsächlich? Das muß die Macht der Gewohnheit gewesen sein«, meinte ich verbindlich. »Ist das so wichtig, von wo aus ich angerufen habe?« »Äh … nein.« Carter setzte sich aufrecht. »Nun, Sie dürften eigentlich nicht hier sein. Diese Anlage ist, sagen wir mal, streng geheim. Wenn es herauskommt, daß Sie hier sind, könnten Sie Schwierigkeiten kriegen. Und ich natürlich auch. Also muß ich Sie nun bitten, sich wieder zu entfernen.« »Erst will ich Penny Ashton sehen. Sie muß hier sein. Ist das nicht komisch? Ich bin, wo ich nicht sein darf, und sie ist nicht, wo sie sein müßte. Wie erklären Sie sich das eigentlich?« »Ihnen brauche ich überhaupt nichts zu erklären!« »Sie werden viel erklären müssen, Dr. Carter, falls Penny Ashton nicht auf der Stelle erscheint. Wie ist sie nach Ullapool gekommen?« »Mit dem Boot natürlich.« »Diese Insel verfügt über kein Boot. Alle Transporte erfolgen mit dem Hubschrauber.« Seine Zunge fuhr über die Lippen. »Sie entwickeln ein äußerst ungesundes Interesse an dieser Insel, Mr. Jaggard. Ich warne Sie. Das könnte gefährlich werden.« »Wollen Sie mir drohen, Dr. Carter?« »Jedes Vorhaben, sich einem verbotenen Ort zu nähern, ihn zu besichtigen oder zu betreten, das zum Nachteil der Staatssicherheit gereicht, oder –« »Sie brauchen mir nicht das ganze Amtsgeheimnisgesetz aufzusagen«, fuhr ich ihn an. »Das kenne ich wahrscheinlich besser als Sie.« »Ich könnte Sie einsperren lassen«, sagte er. »Ich brauche dazu nicht einmal einen Haftbefehl.« 290
»Für einen einfachen Wissenschaftler kennen Sie das Gesetz aber verdammt gut«, bemerkte ich. »Aber dann wissen Sie sicher auch, daß sich im Fall einer Festnahme automatisch der Staatsanwalt einschaltet.« Ich lehnte mich zurück. »Ich bezweifle, daß Ihre Vorgesetzten das Verschwinden von Penny Ashton so gut finden. Ich sagte Ihnen ja bereits, Sie werden viel zu erklären haben, Dr. Carter.« »Aber nicht Ihnen«, befand er und legte seine Hand aufs Telefon. »Ich hoffe, Sie geben jetzt Anweisung, Dr. Ashton vorzuführen.« Hinter mir sagte eine Stimme kühl und belustigt: »Aber Dr. Carter kann sie nicht hierher bringen lassen.« Ich drehte den Kopf und sah Cregar neben Max in der Tür stehen. Cregar sagte: »Doktor, ich muß Sie bitten, mir für kurze Zeit Ihr Büro zur Verfügung zu stellen. Max, kümmere dich um Mr. Jaggard.« Carter war sichtlich erleichtert und machte sich aus dem Staub. Max kam zu mir herüber und durchsuchte mich mit flinken geübten Bewegungen. »Kein Schießeisen.« »Nein?« sagte Cregar. »Nun, das läßt sich notfalls berichtigen. Was passiert, wenn ein Bewaffneter in eine Anlage der Regierung eindringt, Max?« »Er könnte erschossen werden«, sagte Max ungerührt. »Gut möglich, aber das würde eine Untersuchung nach sich ziehen, die in diesem Fall nicht erwünscht ist. Andere Vorschläge?« »Es gibt eine Menge Klippen in dieser Gegend«, sagte Max. »Und das Meer ist weit.« Auf diese Art von Unterhaltung konnte ich jetzt gut verzichten. Ich sagte: »Wo ist Penny Ashton?« »Ach, sie ist schon hier – insofern hatten Sie gar nicht so unrecht. Sie bekommen sie gleich zu sehen.« Cregar machte eine Handbewegung, als wolle er ein unbedeutendes Problem auf die Seite schieben. »Sie sind ein zäher Bursche. Ich neige fast dazu, Sie zu bewundern. Von Ihrem Kaliber könnte ich gut ein paar Leute in meiner Organisation gebrauchen. So wie es aussieht, weiß ich gar nicht so recht, was ich mit Ihnen anfangen soll.« »Sie wären gut beraten, die Liste Ihrer Straftaten nicht noch zu ver291
längern«, sagte ich. »Was immer Sie mir antun, tun Sie gleichzeitig sich selbst an. Wir haben jetzt eine Beziehung zwischen Ihnen und Benson ermittelt. Es würde mich nicht überraschen, wenn der Minister inzwischen Bescheid wüßte.« Seine Mundwinkel senkten sich. »Inwiefern könnte ich mit Benson in einer wie auch immer gearteten Beziehung gestanden haben? Dafür dürfte es doch wohl kaum Beweise geben?« »Es existiert ein Brief, datiert vom 4. Januar 1947, den Benson bei sich trug und den Ihre Unterschrift schmückt.« »Ein Brief?« fragte Cregar verblüfft zurück. Er schaute durch mich durch in eine ferne Vergangenheit. Seine Augen verrieten, daß er begriffen hatte. »Wollen Sie behaupten, daß Benson nach dreißig Jahren immer noch diesen Brief mit sich herumtrug?« »Er hatte ihn wahrscheinlich längst vergessen – genau wie Sie«, sagte ich. »Der Brief steckte im Futter seiner Brieftasche.« »Eine braune, kalbslederne Brieftasche mit rotem Seidenfutter?« Ich nickte, und Cregar seufzte. »Diese Brieftasche habe ich Benson vor dreißig Jahren geschenkt. Da habe ich mir wohl selbst ein Bein gestellt.« Er senkte den Kopf und studierte offensichtlich die Leberflecken auf seinem Handrücken. »Wo ist der Brief?« fragte er tonlos. »Das Original? Oder die zwanzig Kopien, die Ogilvie wahrscheinlich bereits hergestellt hat?« »Verstehe«, sagte er ruhig und hob den Kopf. »Woran dachten Sie als erstes, als Sie den Brief sahen?« »Ich wußte immer schon, daß eine Verbindung zwischen Ihnen und Ashton bestehen mußte, schließlich haben Sie Ashton aus Rußland herausgeholt. Nun lag eben auch eine Verbindung zu Benson vor. Ich mußte an all die Merkwürdigkeiten denken, die passiert sind. Zum Beispiel, warum ein Gentleman ein Schießeisen trägt. Und warum Sie es für so abwegig hielten, daß Benson Ashton erschossen hatte. Es war schwer zu glauben, daß er auch nach dreißig Jahren noch für Sie arbeitete. Aber die Umstände zwangen mir diese Vermutung auf.« Cregar lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schlug die Beine über292
einander. »Benson war einmal ein guter Mann, bevor die Deutschen ihn faßten.« Er machte eine Pause. »Natürlich hieß er damals nicht Benson. Er hieß Jimmy Carlisle und war während des Krieges mein Kamerad beim britischen Geheimdienst. Aber er lebte und starb als Benson. Er wurde im Jahre vierundvierzig bei einer Razzia der Gestapo gefaßt und nach Sachsenhausen gebracht, wo er bis zum Kriegsende blieb. Aus dieser Zeit stammten auch die gebrochene Nase und die brutalen Gesichtszüge. Er ist damals mit Knüppeln fast erschlagen worden. Ich würde sagen, sie schlugen ihm das Hirn aus dem Kopf danach war er ein anderer Mensch.« Er stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Nach dem Krieg war Benson ein gebrochener Mann. Er hatte keine Familie – Vater, Mutter und Schwester starben bei einem Luftangriff – und besaß außer seiner Versehrtenrente kein Einkommen. Er war völlig durcheinander, und Verdienstmöglichkeiten boten sich ihm kaum. Für unsere Art von Arbeit war er nicht mehr einsatzfähig, aber 1947 war meine Position wieder so stark, daß ich ihm helfen konnte. Ich hatte damals mit Chelyuskins schlechten Launen zu kämpfen, also bot ich Benson an, ein bißchen auf Chelyuskin aufzupassen – den späteren Ashton. Es war ein einträglicher Posten, und er war mir von Herzen dankbar. Das bedeutete für ihn, daß noch nicht alles aus war, daß er noch eine Aufgabe erfüllen konnte.« Cregar zog eine Packung Zigaretten heraus. »Interessiert Sie eine Geschichte aus alter Zeit?« Er hielt mir die Packung hin. Ich nahm eine Zigarette. »Sehr«, versicherte ich. »Nun gut. Wir machten ihn zu Benson, als wir Chelyuskin zu Ashton machten, das ging in einem Aufwaschen. Dann hing er eine Weile herum. Als Ashton sich eine Existenz aufbaute, bekam Benson dort einen Job im Büro, und später wurde er dann Ashtons Mädchen für alles.« »Und Ashton wußte, wer er war?« »Aber ja. Benson war der Preis, den Ashton für seine Freiheit zahlen mußte. Ich wußte, daß ein Mann von seinem Kaliber sich auf die Dauer nicht damit zufriedengeben würde, in der Industrie herumzuspielen. Ich wollte ihn deshalb ständig im Auge behalten.« Er lächelte. 293
»Benson hat auf seine alten Tage noch mal Schwein gehabt. Von uns bekam er ein Gehalt, und Ashton bezahlte ihn auch.« Cregar beugte sich vor und hielt mir sein Feuerzeug unter die Nase. »Bei der Umorganisation, als ich Ashton an Ogilvie verlor, unterschlug ich Benson. Ich bezahlte Bensons Honorar sogar aus meiner eigenen Tasche. Keine nennenswerte Summe. Eine Gehaltserhöhung fand nicht statt, und die hohe Inflationsrate machte mir Benson sogar verdammt billig. Es sollte eine Investition für die Zukunft sein. Irgendwann mußte es sich rentieren.« Ich sagte: »Wußten Sie, daß sich Ashton mit Genetik befaßte?« »Natürlich. Benson kam sofort dahinter, als Ashton damit anfing. Es war ja Bensons Aufgabe, stets zu wissen, was Ashton trieb. Keine schwierige Übung, da er sich fast immer im Haus aufhielt. Es war ein unglaublicher Glücksfall, daß Ashton sich für Genetik interessierte, ich meine – weil ich nach der Reorganisation selbst mit dem Bereich Biologie zu tun bekam, wie Sie wohl schon bemerkt haben.« »Ogilvie sagte es mir.« »Ogilvie scheint Ihnen viel zuviel erzählt zu haben. Ihren Äußerungen zufolge muß er Material unter Code Schwarz für Sie abgespult haben. Äußerst unartig vom kleinen Ogilvie – das wird er eines Tages noch bereuen. Zum Glück konnte ich eine Sperre in den Computer einbauen, um Benson abzudecken. Aber wie es scheint, war das nicht ausreichend.« Er hielt unvermittelt inne und starrte mich an. »Nun fange ich auch schon an, Ihnen zuviel zu erzählen. Sie haben tatsächlich ein sehr einnehmendes Wesen.« »Ich bin ein guter Zuhörer.« »Und ich gerate mit zunehmendem Alter ins Schwätzen, ein arger Fehler in unserem Beruf.« Er blickte angewidert auf seine halbgerauchte Zigarette, drückte sie aus und legte seine Hände flach auf den Tisch. »Ich weiß nicht recht, was ich mit Ihnen machen soll, junger Mann. Ihre Eröffnung, daß Ogilvie diesen Brief besitzt, verkompliziert die Situation.« »Allerdings. Von dieser Position aus kann er Sie mit einem Volltreffer abschießen«, stimmte ich bei. »Der Minister dürfte wenig erfreut 294
sein. Ich fürchte, Sie haben sich damit selbst in den Ruhestand katapultiert.« »Äußerst treffend formuliert. Trotzdem, es wird sich ein Ausweg finden. Schließlich bin ich schon mit anderen Schwierigkeiten fertig geworden. Warum sollte ich diesmal versagen? Man muß sich nur klare Gedanken über die Schwächen der Menschen machen.« Er klatschte in die Hände. »Und genau das werde ich auf der Stelle tun. Bring ihn irgendwo unter, wo er gut aufgehoben ist, Max.« Ich ignorierte die Hand auf meiner Schulter. »Was ist mit Penny Ashton?« »Sie bekommen sie zu sehen, wenn es mir in den Kram paßt.« Wütend wollte ich nach ihm ausholen, aber dem festen Griff von Max war nicht zu entkommen. Er lehnte sich über mich. »Keine Mätzchen«, sagte er. »Ich hab' ein Schießeisen. Man sieht es nicht, aber es ist da.« Also stand ich auf und ging mit ihm. Er führte mich aus dem Büro und einen Korridor entlang. Da das Gebäude fensterlos war, kam ich mir vor wie in einem U-Boot; bis auf das Vibrieren eines Generators herrschte Stille. Hinter einer Trennscheibe am Ende des Ganges bewegte sich ein Mann – er trug einen Overall, der ihn total einschloß, und auf dem Kopf eine Haube. Max hielt an und öffnete eine schwere Türe. »Da rein«, sagte er barsch. Er warf die Tür zu und ließ mich, da er sich nicht darum kümmerte, Licht einzuschalten, in völliger Dunkelheit. Ich versuchte, mein Gefängnis zu erforschen und kam bald zu dem Schluß, daß ich in einem, wenn auch unbenützten Kühlraum auf Eis gelegt worden war. Die Wände waren dick und solide, ebenso die Tür, und mir schwanden schnell alle Zweifel, daß ohne den guten Willen eines Menschenfreundes in der Außenwelt hier kein Entweichen möglich war. Ich setzte mich in einer Ecke auf den Boden und überdachte alles noch mal von vorn. Es schien mir sehr weise, daß ich Cregar von dem Brief erzählt hatte. Bis dahin hatte er sich nämlich hauptsächlich mit Plänen beschäftigt, mich möglichst unauffällig zur Leiche zu machen; daß Ogilvie 295
den Brief besaß, wirkte nun jedoch – hoffentlich – als Notbremse. Aber was für ein rücksichtsloser Schweinehund er doch war! Ich weiß nicht, was Menschen wie Cregar treibt, aber es scheinen ziemlich viele von seiner Sorte in der Welt herumzulaufen, freilich auch viele Carters, die immer bereit sind, ihnen zu helfen. Irgendwo auf der Welt lebt ja auch der Chemiker, der genüßlich ein Petroleumderivat mit einem Palmenölderivat mischt, um Naphthensäure-Palmetat, besser bekannt unter dem Namen Napalm, herzustellen. Das ist eine starke geistige Leistung und erfordert ein hohes Maß an technischem Können, aber warum ein Mensch sein Hirn für solcherlei benützt, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Dieser Chemiker wird zweifelsohne von einem amerikanischen Cregar gesteuert, dessen Motive mir freilich genauso unverständlich sind. Und ganz oben stehen dann die Politiker, die die höchste Verantwortung haben. Deren Motiv, immerhin, ist ziemlich klar: die unbarmherzige Gier nach Macht. Warum jedoch so viele andere willens sind, Handlangerdienste zu leisten – wenn schon etwas geleistet werden muß –, übersteigt meine Vorstellungskraft. Aber wem soll man da die Schuld geben? Den Lumsdens, die wissen, was läuft, sich aber blind stellen? Oder uns selbst, die wir es nicht wissen, uns aber auch keine Mühe geben, es herauszufinden? Manchmal glaube ich, die Welt ist ein großer Ameisenhaufen, der emsig Ameisenvertilgungsmittel herstellt. Ich saß lange in diesem schwarzen Raum eingesperrt. Das einzige Licht kam von den Leuchtzeigern meiner Uhr, da konnte ich immerhin zusehen, wie die Stunden verstrichen. Die Dunkelheit erzeugte Beklemmung, Platzangst kam über mich und andere nie gekannte Ängste. Ich stand auf, tastete mich an der Wand entlang, immer wieder im Raum herum; das war auch eine Art von Übung. Zu hören war nichts, außer meinen eigenen Bewegungen, und eine neue Furcht überkam mich. Was, wenn Cladach Duillich nun verlassen wurde – evakuiert? Ich würde in diesem Raum bleiben, und das Fleisch würde mir von den Knochen faulen. Ich stellte meine Rundgänge ein, setzte mich wieder in die Ecke. Danach muß ich wohl eingeschlafen sein, genau weiß ich es nicht mehr 296
mein Bewußtsein hat jene Stunden schon ziemlich verdrängt. Aber als die Tür geöffnet wurde und grelles Licht hereinfiel, war ich wach. Ich hielt mir die Hände vor die Augen. Cregar stand in der Tür. Er spielte zynisch Mißbilligung und sagte: »Aber! Aber! Du hast ihm kein Licht gelassen, Max!« »Muß ich wohl vergessen haben«, sagte Max gleichgültig. Das Licht kam von den Neonröhren draußen an der Decke des Ganges. Ich stand auf und ging zur Tür. »Der Teufel soll dich holen«, sagte ich zu Max. Er trat einen Schritt zurück und hob die Hand mit der Pistole. Cregar sagte: »Beruhigen Sie sich, es ist nicht absichtlich geschehen.« Er sah, wie ich auf die Pistole schaute. »Nur eine sanfte Warnung, damit Sie sich nicht zu Dummheiten hinreißen lassen. Sie wollen doch das Mädchen besuchen, nicht wahr? Nun, Sie können es jetzt sehen. Kommen Sie mit.« Wir gingen nebeneinander den Korridor entlang, Max hinter uns. Cregar sagte im Plauderton: »Von denen, die hier arbeiten, werden Sie nichts sehen, weil ich die Herrschaften umquartiert habe. Sie wissen ja, wie Wissenschaftler sind – Nerven wie Spinnweben. Der Anblick von Pistolen macht sie nervös.« Ich sagte nichts; wir gingen weiter. »Wie ich Ogilvie auf meine Seite kriege, weiß ich jetzt. Kein Problem. Aber dann bleiben immer noch Sie übrig. Nachdem wir Dr. Ashton unseren Besuch abgestattet haben, werden wir wohl ein kleines Gespräch von Mann zu Mann führen müssen.« Er hielt vor einer Tür an. »Hier, bitte!« sagte er und ließ mich vorbeigehen. Es war ein eigenartiger Raum. Eine Wand bestand fast ganz aus Glas, hinter der lag ein weiteres Zimmer. Zuerst erkannte ich überhaupt nicht, was ich da sah, aber dann sagte Cregar: »Da ist Dr. Ashton.« Er deutete auf ein Bett hinter der Glaswand. Penny lag in diesem Bett und schien zu schlafen. Das Gesicht war blaß und verzerrt, Penny sah aus wie eine alte Frau. Krankenhausgerät umstellte das Bett, auch zwei Tropfbehälter; einer enthielt offensichtlich Transfusionsblut. »Um Gottes willen! Was ist geschehen?« rief ich. 297
Cregar sagte, fast entschuldigend: »Wir hatten hier … äh … einen Unfall in der vergangenen Woche, von dem Dr. Ashton mitbetroffen wurde. Ich fürchte, es geht ihr ziemlich schlecht. Sie liegt seit zwei Tagen im Koma.« Er nahm ein Mikrophon und drehte einen Schalter. »Dr. Ashton, können Sie mich hören?« Seine Stimme kam verstärkt und verzerrt über den Lautsprecher im anderen Zimmer. Penny rührte sich nicht. Ich sagte barsch: »Was hat sie?« »Schwer zu sagen. Etwas, das vorher noch niemand hatte. Etwas Neues. Carter versucht, es herauszufinden, bislang ohne viel Erfolg.« Ich war beängstigt und wütend zugleich. Beängstigt wegen Penny und wütend auf Cregar. »Das kommt von dem, was Sie hier zusammengebraut haben, nicht wahr? Etwas, das außer Kontrolle geraten ist, weil Sie zu knauserig waren, ein P-4-Labor einrichten zu lassen, wie Penny es verlangte!« »Sieh mal einer an – Dr. Ashton plaudert Dienstgeheimnisse aus«, tadelte Cregar. »Das ist natürlich kein richtiges Krankenzimmer, nur einer unserer Laborräume. Aber sie mußte ja irgendwo untergebracht werden, wo sie sicher ist.« »Nicht sicher in Pennys Sinn«, sagte ich bitter. »Sicher in Ihrem Sinn, Cregar!« »Selbstredend«, sagte Cregar. »Was immer sie hat, wir können nicht zulassen, daß es sich ausbreitet. Carter hält es für äußerst infektiös.« »Ist Carter ein Arzt?« »Nein, er hat seinen Doktor in Biologie, nicht in Medizin, aber er ist ein sehr tüchtiger Mann. Miß Ashton genießt die allerbeste Versorgung. Wie Sie sehen, nehmen wir eine komplette Blut- und Glukosetransfusion vor.« Ich stellte mich vor ihn: »Miß Ashton gehört in ein Krankenhaus! Diese Improvisiererei bringt doch nichts, und das wissen Sie auch genau. Wenn sie stirbt, haben Sie einen Mord zu verantworten – genau wie Carter und jeder andere hier!« »Da mögen Sie recht haben«, meinte er ungerührt. »Mit dem Kran298
kenhaus, meine ich. Aber in einem Krankenhaus ist es schwierig, den Vorfall weiterhin geheimzuhalten.« Seine Stimme klang schwach und sachlich. »Ich habe mich immer meiner Fähigkeiten als Problemlöser gerühmt – hier allerdings bin ich jetzt ratlos.« »Zum Teufel mit Ihrer Geheimhaltung!« »Ein ketzerisches Wort aus dem Munde eines Mannes in Ihrem Beruf.« Cregar wich zurück, als er meinen Gesichtsausdruck sah, und machte eine Bewegung zu Max hin, der warnend die Pistole hob. »Miß Ashton genießt die beste Versorgung, die wir ihr bieten können. Dr. Carter nimmt seine Pflichten äußerst ernst.« »Carter mißbraucht sie als Versuchskaninchen, und Sie wissen das verdammt gut. Sie muß auf der Stelle in ein Krankenhaus gebracht werden – am besten nach Porton. Die Wissenschaftler dort verstehen sich auf den Umgang mit hochgefährlichen Pathogenen.« »Sie haben hier überhaupt keine Forderungen zu stellen«, sagte Cregar. »Kommen Sie.« Er drehte sich um und ging. Ich schaute Penny noch ein letztes Mal an und folgte ihm mit Max auf den Fersen. Er ging über den Korridor und öffnete eine Türe auf der anderen Seite. Wir betraten einen kleinen Vorraum; Cregar wartete, bis Max die Türe nach außen geschlossen hatte, ehe er weiterging. »Und ob wir Vorsichtsmaßnahmen treffen, auch wenn Sie da anders informiert worden sind«, sagte er. »Dies ist eine Luftschleuse. Das Labor dort drüben steht unter niedrigem Luftdruck. Wissen Sie, warum?« »Falls es eine undichte Stelle gibt, kann die Luft rein, aber nicht raus.« Er nickte zufrieden, als hätte ich soeben ein Examen bestanden, dann öffnete er die innere Türe. Durch die Druckveränderung knackte es in meinen Ohren. »Das ist Carters eigenes Labor. Ich möchte es Ihnen gern zeigen.« »Warum?« »Das werden Sie gleich sehen.« Wir machten einen Rundgang, und man hätte Cregar jetzt glatt für einen Frühstücksdirektor in einer dieser Vorführfabriken halten können, wo einem nur die Dinge gezeigt werden, auf die man stolz sein kann, dieweil die miesen versteckt wer299
den. »Hier haben wir eine Zentrifuge. Wie Sie sehen, befindet sie sich in einem luftdichten Gehäuse, somit kann nichts entweichen, während sie in Betrieb ist. Vor allem keine Mikroben. Die Luft bleibt keimfrei.« Wir gingen weiter, und er deutete auf eine Reihe von Glasschränken. »Die Zuchtkästen mit je einem Objektträger, und jeder Objektträger ist wiederum für sich isoliert. Auch hier kann nichts raus.« »Irgendwas ist aber irgendwo rausgekommen.« Er ignorierte das. »Die Schränke können als Ganzes bewegt werden; bei Bedarf auch lediglich der Inhalt, ohne daß die Kulturen auch nur mit der Laborluft in Berührung kommen.« Ich schaute in einen Schrank und betrachtete die kreisförmig gewachsenen Kulturen auf einem Objektträger. »Um welchen Organismus handelt es sich da?« »Escherichia coli, glaube ich. Carters Lieblinge.« »Die genetisch schwächste Art.« Cregar hob die Augenbrauen. »Für einen Laien scheinen Sie gut informiert zu sein. Ich habe keine Ahnung; das ist Carters Angelegenheit. Ich bin nicht der Experte.« Ich schaute ihm ins Gesicht. »Was soll das eigentlich alles?« »Ich versuche Ihnen vorzuführen, daß wir alle Vorsichtsmaßnahmen treffen. Was Dr. Ashton passiert ist, war reiner Zufall – mit einer Wahrscheinlichkeitsrate von eins zu einer Million. Es liegt mir sehr daran, daß Sie das glauben.« »Hätten Sie auf Miß Ashton gehört, wäre es nicht passiert. Aber ich glaube Ihnen«, sagte ich. »Ich glaube Ihnen, daß keine Absicht dahintersteckt. Warum liegt Ihnen soviel daran, mich zu überzeugen?« »Mit Ogilvie kann ich eine Einigung erzielen«, sagte er. »Ich verliere zwar dabei einige Vorteile, aber nicht alle. Nun geht es nur noch um Sie.« »Haben Sie mit Ogilvie gesprochen?« »Ja.« Ein mieses Gefühl überkam mich. Wenn sich Ogilvie wirklich von Cregar herumkriegen ließ, dann würde ich nie wieder mit Ogilvie arbeiten können. Ich beherrschte mich jedoch und erkundigte mich: »Und was ist mit mir?« 300
»Die Lage ist so: Ich kann mit Ogilvie ins Geschäft kommen, aber das Geschäft platzt, wenn Ihnen etwas zustößt. Er war immer schon so zimperlich. Das heißt also, ich muß Ihr Wohlbefinden gewährleisten – und gerade das bereitet mir ein Problem.« »Wie wollen Sie mir den Mund verbieten, ohne mich umzubringen?« »Genau. Sie sind mir ähnlich – wir bohren immer den Dingen bis auf den Grund. Als Sie im Fall Ashton auftauchten, ließ ich Sie genauestens überprüfen. Zu meiner Überraschung ergab sich da keine Handhabe, an der Sie zu packen gewesen wären, keine Sünde, die man hätte ausnützen können. Sie scheinen eine Rarität zu sein – ein unbescholtener Mensch.« »Von Ihnen lasse ich mir kein Kompliment machen, verdammt noch mal!« »Ich versichere Ihnen, das war nicht als Kompliment gemeint. Es war ein blödes Ärgernis. Ich wollte etwas gegen Sie in der Hand haben, um Sie eliminieren zu können. Aber das war einfach nichts. Also muß ich etwas anderes finden. Ich glaube auch, daß ich es jetzt gefunden habe.« »Und?« »Ich werde zwar einige weitere Vorteile, die ich mir im Laufe der Jahre verschafft habe, aufgeben müssen, aber die meisten behalte ich immer noch. Ich biete Ihnen die junge Dame im Labor nebenan gegen Ihr Schweigen.« Ich schaute ihn angewidert an. Hatte er nicht gesagt, daß die Lösung von Problemen im Studium der Schwächen anderer zu finden sei? Meinen schwachen Punkt hatte er nun gefunden. »Sobald Sie zusagen, kommt das Mädchen in das Krankenhaus, wo sie selbstverständlich entsprechend behandelt wird. Ihr Vorschlag, Miß Ashton nach Porton zu bringen, scheint mir in der Tat die beste Lösung. Ich würde das also dann veranlassen.« Ich sagte: »Welche Garantie haben Sie denn, daß ich nicht rede, wenn es ihr wieder besser geht? Sicher haben Sie auch dieses Problem doch schon gelöst.« 301
»Allerdings. In Carters Büro liegt ein Dokument. Sie müßten es unterschreiben. Sagen wir: ein umsichtig formuliertes Dokument, das auszutüfteln meine ganze Geschicklichkeit erfordert hat. Ein literarisches Prachtstück.« »Der Inhalt?« »Sie werden schon sehen. Sie sind also einverstanden?« »Ich muß es erst lesen.« Cregar lächelte. »Natürlich dürfen Sie es lesen. Aber Sie werden bestimmt unterschreiben. Sie haben einfach keine andere Wahl – Ihre Unterschrift gegen das Leben Ihrer zukünftigen Frau.« »Sie sind wirklich zum Kotzen«, sagte ich. Plötzlich klingelte das Telefon. Cregar runzelte die Stirn und sagte zu Max: »Heben Sie ab.« Er streckte die Hand aus. »Ich nehme solange die Pistole. Ich trau' ihm doch noch nicht ganz.« Max überließ ihm die Waffe und ging ans andere Ende des Labors. Cregar nahm seine Verhandlung wieder auf: »Papperlapapp – ist mir doch egal, was Sie von mir halten – solange ich kriege, was ich will.« »Also zeigen Sie schon Ihr famoses Dokument her.« »Wir warten auf Max.« Max sprach einsilbig und leise, dann legte er auf und kam zurück. »Carter hat Schwierigkeiten. Boote legen an. Er meint, so an die zwanzig.« Cregar runzelte die Stirn. »Wer, zum Teufel, kann das sein?« »Carter vermutet, Fischer vom Festland.« »Verdammtes schottisches Bauerngesindel. Geh und scheuch sie weg, Max. Jag ihnen mit dem Staatssicherheitsgesetz Angst ein. Schau, daß du sie irgendwie loskriegst. Droh ihnen mit der Polizei, wenn's sein muß.« »Nur drohen – oder soll ich tatsächlich die Bullen rufen?« fragte Max. »Alarmiere ruhig die Polizei, wenn du's für nötig hältst.« Max nickte zu mir her. »Halten Sie das für klug?« »Laß dir wegen Jaggard keine grauen Haare wachsen«, sagte Cregar. »Wir haben eine Absprache getroffen.« Als Max ging, wandte er sich zu mir. »Stecken Sie vielleicht dahinter?« 302
»Ich? Wieso sollen die sich für mich ins Zeug legen? Wahrscheinlich haben die Fischer Wind davon bekommen, was hier getrieben wird – und in Erinnerung an Gruinard beschlossen, eventuellen Wiederholungen vorzubeugen.« »Analphabetenpack!« murmelte er. »Max gibt ihnen Saures, verlassen Sie sich darauf!« »Ich wünsche, daß Penny auf dein schnellsten Weg ins Krankenhaus kommt«, sagte ich. »Wie kommen wir hier weg?« »Wenn wir telefonieren, ist in zwei Stunden der Hubschrauber hier.« »Dann rufen Sie endlich an.« Er schaute auf den Boden, rieb sich das Kinn und überlegte. Das war der Augenblick, in dem ich ihm die Faust so wuchtig in den Bauch rammte, daß er fürs erste außer Gefecht war. Ein Schuß löste sich aus der Waffe, prallte von der Wand ab; Glas zerschellte, als die Pistole zu Boden fiel. Ich packte Cregar beim Handgelenk, als er sich nach der Pistole bückte, und verpaßte ihm mit der Handkante einen Genickschlag. Er sackte zu Boden. Als er sich schmerzverzerrt aufrappelte, hielt ich die Pistole. Er starrte die Waffe an, dann hob er den Blick zu mir: »Jaggard, das bringt doch nichts!« »Mir vielleicht nicht, aber Sie bringt's ins Gefängnis.« »Romantischer Narr«, sagte er. »Wie ist die Nummer für den Hubschrauber?« Er schüttelte den Kopf. »Sie haben keine verdammte Ahnung, wie das bei der Regierung funktioniert. Ich komm' nie ins Gefängnis, aber Ihnen wird der Boden noch so heiß unter den Füßen werden, daß Sie sich wünschen, nie etwas von Ashton oder mir gehört zu haben.« »Es widerspricht meinem Charakter, alte Männer zu schlagen, aber ich prügele Sie grün und blau, wenn Sie mir nicht sofort die Nummer geben.« Er schaute mich starr an, dann brach er in ein komisch blubberndes Jammern aus. »0 Gott! 0 Gott! Schauen Sie nur, was Sie da angerichtet haben!« Seine Hand zitterte, als er auf die Wand deutete. 303
Ich schaute, achtete aber darauf, hinter ihm zu bleiben. Ich sah nichts. »Sie haben sich auch schon mal bessere Tricks einfallen lassen, Mylord. Was soll da zu sehen sein?« »Die Glasschränke! Zwei sind kaputt.« Er wirbelte auf mich zu. »Ich mache, daß ich wegkomme!« In blinder Hast, ohne Rücksicht auf die Pistole, wollte er sich an mir vorbeischieben. Ich hielt ihn fest, aber seine Panik verlieh ihm tierische Kräfte, und er schaffte es bis zur Tür. Ich stürzte ihm nach, packte die Pistole am Lauf und schlug ihm den Kolben über den Schädel. Cregar fiel um wie ein Sack Mehl. Ich schleifte ihn von der Tür weg, dann ließ ich ihn liegen, um mir den Schaden anzuschauen. An den Glasschränken waren zwei Scheiben kaputt, Scherben von Objektträgern lagen zerschmettert am Boden – mitsamt ihren Bakterienkulturen. Die Tür zum Labor wurde aufgerissen. Ich wirbelte herum. Da stand Archie Ferguson. »Sie hatten recht, Mr. Jaggard«, sagte er. »Das ist wieder so ein verdammtes Gruinard.« »Raus hier!« schrie ich. »Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, verschwinden Sie!« Er schaute mich fassungslos an. Ich deutete auf die Glaswand des Zimmers. »Gehen Sie in den Nebenraum. Ich spreche dort mit Ihnen. Los, Mann!« Die Tür wurde zugeworfen.
37. Kapitel
A
ls ich das Mikrophon nahm, zitterte ich so sehr, daß ich meine Hand kaum unter Kontrolle halten konnte. Ich drückte auf den Sprechknopf und hörte ein Klicken. »Können Sie mich hören, Archie?« Ferguson auf der anderen Seite der Scheibe nickte. Sein Mund bewegte sich, aber ich konnte nichts hören. »Vor Ihnen steht ein Mikrophon«, sagte ich. 304
Er schaute sich um und nahm es in die Hand. »Was ist hier passiert, Malcolm?« »Dieser Laden ist verdammt gefährlich. Warnen Sie Ihre Leute davor, die Labors zu betreten – vor allem dieses hier und das gegenüber, auf der anderen Seite des Korridors. Machen Sie das sofort.« »Ich stelle Wachen an den Türen auf.« Er ließ das Mikrophon fallen und rannte hinaus. Ich ging zu Cregar hinüber, der in einer unmöglichen Stellung dalag und heiser röchelte, und ich legte ihn bequemer hin; er atmete nun leichter, schien aber so schnell nicht zu Bewußtsein zu kommen. »Mr. Jaggard – sind Sie da?« Ich ging an die Glaswand zurück. Nun stand Archie mit Robbie Ferguson und einem dritten Mann, der mir als Wattie Stevenson vorgestellt wurde, im Nebenraum. Wattie Stevenson war der größte Mann, der mir je vor Augen gekommen war. Archie sagte: »Es sieht ganz aus, als hätten Sie hier Probleme. Befindet sich die Dame, nach der Sie suchen, auf der anderen Seite des Korridors?« »Ja. Sie waren aber nicht bei ihr, oder?« »Nein. Ich hab' sie nur durch solch eine Scheibe gesehen.« »Gut. Gehen Sie da nicht rein. Wie groß ist Ihre Armee? Ich hab' was von zwanzig Booten gehört.« »Wer hat Ihnen denn das erzählt? Es sind nur sechs.« »Irgendwelche Schwierigkeiten?« »Nur eine kleine. Einer hat sich den Kiefer gebrochen.« »Wie viele Leute leben auf der Insel hier?« »Nicht so viele, wie ich vermutet hatte. Etwa ein Dutzend.« Ogilvie hatte recht gehabt. Man braucht zum Betrieb eines Forschungslabors nicht viel Personal, etwa ein halbes Dutzend Forscher nebst Assistenten und Hauspersonal und Gerätespüler. »Sperren Sie alle ein. Ich übernehme die Verantwortung.« Archie schaute mich neugierig an. »Und wie, bitte schön, kommen Sie zu dieser Verantwortung'?« Ich zog meine Dienstkarte heraus und hielt sie an die Scheibe. Er hob die Schultern: »Das sagt mir nicht viel, aber für mich sieht das amtlich genug aus.« 305
»Es schützt Sie vor der Anschuldigung, unbefugt in Regierungseigentum eingedrungen zu sein. Sie haben auf meine Anweisung hin gehandelt, und damit sind Sie befugt. Auch, und falls Ihnen einer über den Weg läuft, der Max heißt – mit dem brauchen Sie nicht zimperlich umzugehen.« Robbie Ferguson lachte. »Das ist doch der mit dem gebrochenen Kiefer! Wattie hat ihm eins draufgegeben.« »Och, ich hab' ihn höchstens mal angetippt«, sagte Wattie. »Der Mann hat ja einen Glaskiefer.« »Wattie hat seit den letzten Highland-Spielen den Meistertitel im Hammerwerfen«, grinste Archie. »Haben Sie noch was für uns zu tun?« »Haben Sie Ogilvie angerufen?« »Er wußte schon alles.« Ich nickte. Cregar hatte ja behauptet, mit ihm verhandelt zu haben. »Rufen Sie ihn noch einmal an und stellen Sie mir dann das Gespräch auf diesen Apparat hier durch. Sie finden schon irgendwo eine Telefonzentrale.« »Können Sie nicht herauskommen?« »Nein. Sie können aber mithören, wenn ich spreche.« Hinter mir wurde ein Stöhnen hörbar. Ich drehte mich um. Cregar rührte sich. Ich sagte: »Sagen Sie Ihren Männern vor den Labortüren, daß es genauso wichtig ist, daß auch niemand herauskommt. Sogar noch wichtiger. Vermutlich haben diese Leute hier ein paar Schießeisen im Haus. Bringen Sie die Waffen an sich und machen Sie im Notfall davon Gebrauch.« Archie legte sich eine ernste Miene zu: »Ist es so ernst?« »Weiß ich nicht«, sagte ich müde. »Ich treffe nur Vorsichtsmaßnahmen. Los, machen Sie schon!« Ich ging wieder zu Cregar zurück, half ihm, sich aufzurichten und setzte ihn auf einen Stuhl, wo er aber gleich wieder schlaff zusammensackte. Er war noch immer benommen und stand unter einem tiefen Schock; für die harten Geschäfte war er eben doch schon zu alt. Ich sagte: »Cregar, können Sie mich hören?« Er faselte vor sich hin, ich tätschelte ihm die Wange. »Können Sie mich hören?« 306
»Ja«, flüsterte er. »Versuchen Sie nicht abzuhauen. Vor der Tür steht ein Mann mit Schießbefehl. Haben Sie mich verstanden?« Er schaute mich mit glasigen Augen an und nickte. »Macht nichts«, murmelte er. »Ich bin sowieso tot. Und Sie auch.« »Wir sterben alle mal in hundert Jahren.« Ich schaute mir noch einmal die Kulturen auf den zerbrochenen Objektträgern an. Das Zeug sah zwar harmlos aus, aber ich hütete mich, es zu berühren. Penny hatte mir einmal die Vorsichtsmaßnahmen beschrieben, mit denen man das Entweichen von gefährlichen Organismen aus Labors verhindert, und laut Penny war dieses Labor für Carters Experimente nicht sicher genug. Die Kulturen konnte normale E. coli sein – dann wären sie völlig harmlos. Handelte es sich aber um manipulierte E. coli-Kulturen, dann waren sie in nicht abzuschätzendem Maß gefährlich. Cregar war kein Wissenschaftler, aber er wußte, was Carter trieb, und die zerbrochenen Schalen ängstigten ihn zu Tode. Von jetzt an durfte nichts mehr riskiert werden, und ich hoffte nur, daß keine Bakterien entkommen waren, als Archie die Türe geöffnet hatte. Ich nahm es nicht an – das Labor stand unter niedrigem Druck, und Archie war ja auch gleich wieder von mir hinausgeschickt worden.
Zwanzig Minuten später hatte ich Ogilvie am Telefon. Ich verschwendete keine Zeit mit Höflichkeiten und beantwortete auch die Fragen nicht, mit denen er mich bombardierte. Ich sagte: »Dies ist ein Katastrophenfall, also passen Sie gut auf. Haben Sie etwas zum Schreiben da?« »Ich nehm's auf Band.« Ich hörte ein Klicken. »Cregars Labor in Cladach Duillich ist ein Chaos. Wir haben hier einen Infektionsfall sowie zwei Eventualfälle. Der Organismus, der das verursacht hat, ist neu in der Medizin, wahrscheinlich künstlich erzeugt, und auf jeden Fall hochgradig infektiös. Ich weiß nicht, ob sol307
che Infektionen tödlich sind, aber es ist gut möglich. Sie müssen sofort Alarm schlagen. Lumsden, Pennys Chef, ist der geeignete Mann. Sagen Sie ihm, daß für drei Personen eine Einweisung unter P-4-Bedingungen – ich wiederhole: unter P-4-Bedingungen – erforderlich ist. Sagen Sie ihm, daß ich Porton Down vorschlage, aber vielleicht weiß er etwas Besseres.« »Wird sofort erledigt«, sagte Ogilvie. »Wer sind die drei?« »Der ernste Fall ist Penny Ashton.« Ich hörte ihn schwer ausatmen. »Oh, Gott! Das tut mir leid, Malcolm.« Ich fuhr fort: »Die Eventualfälle sind Cregar und ich.« »Guter Gott!« rief Ogilvie. »Was ist bloß da oben vorgefallen?« Ich ging nicht darauf ein. »Es gibt einen Hubschrauberlandeplatz hier auf Cladach Duillich. Lumsden soll also sofort den Hubschrauber nehmen. Sagen Sie ihm, daß er es hier mit einem Dr. Carter zu tun haben wird. Dieser Carter hat zusammengebraut, was jetzt hier frei herumschwirrt.« »Verstanden.« »Dann machen Sie schnell. Ich glaube, Penny stirbt«, sagte ich niedergeschlagen.
38. Kapitel
C
regar und ich waren in einer komischen Lage. Wir haßten uns bis aufs Messer und waren auf unabsehbare Zeit zusammengesperrt. Die nächsten Stunden konnten unangenehm werden, aber ich versuchte, sie so angenehm wie möglich zu gestalten. Archie Ferguson kam zurück, kurz nachdem ich mit Ogilvie gesprochen hatte, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war furchterregend. Er sah aus, wie ein Prophet aus dem Alten Testament nach der Nieder308
schrift eines donnergrollenden Bibelkapitels ausgesehen haben mag. »Mögen ihre Seelen für immer in der Hölle schmoren!« brach es aus ihm heraus. »Machen Sie's nicht so dramatisch«, sagte ich. »Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.« Ogilvie hatte mein Telefongespräch auf Band genommen, das brachte mich auf eine Idee. »Schauen Sie mal, ob hier ein Tonband aufzutreiben ist. Ich brauche eins.« Archie beruhigte sich langsam. »Mal sehen, was sich tun läßt.« »Und wir brauchen auch etwas zum Essen, aber Sie können uns nur einmal Nahrung hereingeben. Einmal nur. Sie machen folgendes. Sie öffnen die äußere Türe des Labors und stellen die Sachen dort auf den Boden. Sagen Sie mir, wenn Sie die Türe wieder geschlossen haben, dann komme ich heraus und hole es mir. Wir können das deshalb nur einmal machen, weil ich keine Verseuchung durch die Luftschleusen riskieren will. Also, geben Sie uns bitte genug für drei Mahlzeiten. Versuchen Sie auch, Thermosflaschen für Kaffee zu finden.« Ferguson schaute über mich hinweg. »Ist das der Cregar, von dem Sie gesprochen haben?« »Ja.« »Der bekommt von mir nichts.« »Sie tun, was ich sage!« befahl ich streng. »Wir essen beide oder überhaupt nicht.« Er schnaufte tief, nickte aber, bevor er das Mikrophon aus der Hand legte und wegging. Nach einer halben Stunde kam er zurück. »Ihr Essen steht drinnen. Wir haben sogar etwas Besseres als Thermosflaschen gefunden. Eine Kaffeemaschine, damit können Sie sich selbst soviel Kaffee machen, wie Sie wollen.« »Danke.« Mir fiel noch etwas ein. »Archie, hier in diesem Labor ist der Luftdruck niedriger als draußen; dazu braucht man Pumpen, und Pumpen bedeuten Elektrizität. Ein Mann soll den Generator von nun an ständig überwachen; er darf nicht plötzlich aufhören zu arbeiten, weder durch Defekt noch durch Treibstoffmangel. Können Sie sich darum kümmern?« »Der Generator wird weiterlaufen bis zum Jüngsten Tag.« Ich ging 309
in die Luftschleuse und holte das Essen – einen Berg Sandwiches, die Kaffeemaschine sowie einen kleinen batteriebetriebenen Kassettenrecorder. Ich legte alles auf den Tisch neben das Telefon. Cregar war apathisch; er schaute auf die Brote, aber ohne Interesse. Aus dem Hahn an einem Labortisch ließ ich Wasser in die Kaffeemaschine laufen und schaltete sie ein. Cregar nahm Kaffee, essen wollte er nichts. Vorsichtig setzte ich das Tonband in Betrieb – Cregar sollte sich selbst überführen. Deshalb sagte ich: »Wir haben noch eine Menge zu bereden.« »Wirklich?« murmelte er desinteressiert. »Sowieso alles egal.« »Noch sind Sie nicht tot. Und Sie sterben auch nicht, wenn Ogilvie alles erledigt, was ich ihm aufgetragen habe. Wann hat Benson von Ashtons Interesse an der Genetik erfahren?« Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Muß 1971 gewesen sein. Er merkte, daß Ashton mit dem Mädchen mitstudierte und anfing, auch selbständig in dieser Richtung zu arbeiten, normalerweise an den Wochenenden – viel Formelkram und Rechnerei. Benson versuchte, sich das anzuschauen, aber Ashton sperrte es immer weg.« Cregar dachte nach. »Ashton mochte mich nie leiden. Ich habe mich oft gefragt, ob er wußte, was ich tat.« Er machte eine Handbewegung zum Labor hin. »Ich meine das hier. Eigentlich wurde nämlich alles geheimgehalten, aber ein Mann mit Geld findet immer Mittel und Wege, alles zu erfahren.« Er zuckte die Achseln. »Jedenfalls paßte er verdammt gut auf, daß Benson kein Auge auf seine Arbeit werfen konnte.« »Dieser leere Tresor muß für Sie ein ganz schöner Schock gewesen sein.« Er nickte. »Benson wußte von dem Tresor, aber er kam nie ran. Und als Ogilvie mir sagte, daß er leer sei, glaubte ich ihm kein Wort. Erst als er mir anbot, den Tresor von einem meiner Gerichtssachverständigen untersuchen zu lassen, akzeptierte ich die Tatsache.« Er schaute auf. »Sie sind ein kluger Mensch. An die Eisenbahn habe ich nie gedacht. Hätte ich aber tun sollen. Es war ja eigentlich nicht Ashtons Art, mit einer Modelleisenbahn zu spielen.« Jetzt, wo Cregar einmal angefangen hatte zu reden, sprudelte es nur 310
so aus ihm heraus. Er sah wohl keinen Grund mehr, den Mund zu halten. Für ihn war das jetzt vielleicht so etwas wie ein Geständnis auf dem Totenbett. Ich sagte: »Was ich nicht verstehe, ist nur, wie Sie Mayberrys Säureüberfall arrangiert haben – und warum. Das war doch völlig sinnlos.« »Es war auch sinnlos«, sagte Cregar. »Ich hatte nichts damit zu tun. Ich wußte nicht einmal, daß Mayberry überhaupt existierte, bis die Polizei ihn erwischte. Erinnern Sie sich – als Sie vor dem Koordinationsausschuß erschienen, machte Ogilvie eine Bemerkung des Inhalts, Sie hätten Ashton aus Stockholm hinausgesprengt? Nun, ich habe ihn aus England hinausgesprengt.« »Wie?« Er zuckte die Achseln. »Günstige Gelegenheit in Kombination mit geschickter Planung. Ich wollte schon lange einmal bei Ashton herumstöbern. Ich wollte ihn aus dem Haus haben, um an seinen Tresor heranzukommen. Ich dachte mir, was immer er plante, müßte nun weit genug fortgeschritten sein. Ich hatte längst alles vorbereitet – die Wohnung gemietet, das Bankkonto in Stockholm eröffnet, den israelischen Paß besorgt und so weiter. Nun fehlte nur noch ein Auslöser. Da kam mir dieser wahnsinnige Mayberry gerade recht. Diesen Vorfall nutzte ich, um Ashton durch Benson in Panik zu versetzen, von Drohungen gegen das andere Mädchen zu sprechen, was weiß ich. Benson sagte Ashton, daß meine Dienststelle solche Vorfälle nicht länger verantworten könne, daß wir aber bereit wären, ihm zu helfen, wenn er England verlasse, und daß ein sicheres Versteck für ihn zur Verfügung stünde, was ja auch stimmte. Und nach alldem war dann der Tresor leer.« »Aber warum hat Benson Ashton getötet?« »Der Befehl bestand seit dreißig Jahren«, sagte Cregar einfach. »Ashton durfte auf keinen Fall zu den Russen zurück. Falls Gefahr bestand, daß er den Russen in die Hände fiele, hatte Benson den Befehl, ihn umzubringen. Benson hatte durchaus Grund anzunehmen, daß Sie Russen sind.« 311
»Gott!« sagte ich. »Was war dieser Benson für ein Mensch, daß er Ashton töten konnte, nachdem er dreißig Jahre mit ihm verbracht hatte?« Cregar grinste mich an. »Er fühlte sich mir gegenüber zu Dank verpflichtet, vermute ich. Und zu persönlicher Loyalität.« Ich erinnerte mich an meine Überlegungen in dem dunklen Raum und fragte aus Neugierde: »Warum haben Sie das alles getan, Cregar?« Er schaute mich überrascht an. »Ein Mann muß doch ein Zeichen setzen in der Welt.« Ich fröstelte. Danach wollte ich nicht mehr viel von ihm wissen, aber das Eis war gebrochen und Cregar redete unaufhaltsam. Ich war froh, als endlich das Telefon klingelte. Es war Ogilvie. »Ein Hubschrauber mit einem Ärzteteam steht bereits zur Verfügung. Lumsden bestätigt Ihren Vorschlag mit Porton. Er hat schon das Nötige veranlaßt.« Er machte eine Pause. »Er möchte sich auch bei Ihnen entschuldigen – ich weiß nicht, warum.« »Aber ich. Danken Sie ihm in meinem Namen. Wann trifft der Hubschrauber ein?« »Zur Stunde wird das Ärzteteam zusammengestellt. Ich schätze, in sechs Stunden. Wie geht es Miß Ashton?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich bitter. »Ich kann nicht zu ihr. Sie liegt im Koma. Das können Sie Lumsden auch erzählen.« Ogilvie wollte noch etwas sagen, aber ich legte auf. Mir war jetzt nicht nach Gesprächen. Eine halbe Stunde später klingelte das Telefon wieder, und Archie Ferguson war dran. »Da ruft ein gewisser Starkie an, der einen gewissen Carter sprechen will. Soll ich ihn durchstellen?« »Lassen Sie mich mit Starkie reden.« Es knackte in der Muschel, und eine tiefe Stimme sagte: »Hier ist Richard Starkie. Spreche ich mit Dr. Carter?« »Hier ist Malcolm Jaggard. Wer sind Sie?« »Ich bin Arzt und rufe aus Porton Down an. Sind Sie einer der Infizierten?« »Ja.« 312
»Zeigen sich schon irgendwelche Symptome?« »Noch nicht.« »Wenn Carter das Zeug hergestellt hat, wird er wohl am besten darüber Bescheid wissen. Ich brauche einige Auskünfte.« »In Ordnung«, sagte ich. »Falls er Sie nicht ausreichend informiert, lassen Sie es mich wissen. Bleiben Sie in der Leitung. Archie?« »Ja.« »Lassen Sie die beiden reden. Aber Sie wissen, was Sie zu tun haben, falls Carter erst zur Kooperation überredet werden muß.«
Sie holten uns sieben Stunden später, wir wurden wie die Raumfahrer in Plastikanzüge mit integrierten Sauerstoffsystemen gekleidet. Sie legten uns in luftdichte Plastikumhüllungen, schalteten die Luftzufuhr ein und versiegelten das Ganze. Wir hielten in der Luftschleuse an, und die Umhüllungen wie auch die Helfer wurden in eine Flüssigkeit getaucht, dann erst wurden wir zum Hubschrauber hinausgetragen, wo Penny bereits in ihrer Umhüllung eingebettet dalag. Sie war immer noch ohne Bewußtsein.
39. Kapitel
E
inen Monat später fühlte ich mich schon wieder munter. Starkie hatte mir soeben einen Sauberkeitsbefund ausgehändigt. »Drei Wochen lang haben wir nun jede verdammte E.-coli-Bakterie, die von Ihnen ausgeschieden wurde, untersucht, und alle sind normal. Ich weiß wirklich nicht, warum Sie immer noch hier herumliegen wollen. Halten Sie unseren Laden vielleicht für ein Obdachlosenasyl?« So freundlich war er nicht immer gewesen. Am Anfang war ich in 313
einen keimfreien Raum gelegt worden, und zwei Wochen lang rührte keine menschliche Hand mich an. Alles wurde ferngesteuert. Später erfuhr ich, daß ein Team von dreißig Ärzten und Schwestern allein nur mit mir beschäftigt gewesen sei. Auch Penny war nun über den Berg. Für sie war offensichtlich die gesamte Medizinerschaft des britischen Königreichs mobilisiert worden, plus Kapazitäten aus Amerika, vom Kontinent und sogar aus Australien. Die Bakterie, die Penny erwischt hatte, gehörte nicht zu meiner Schmarotzerfamilie; es handelte sich um ein gefährliches Biest, das die medizinische Welt in arge Verwirrung stürzte. Obwohl es schließlich gelang, Penny zu heilen, mußte doch gewährleistet sein, daß die Bakterie auch restlos vernichtet war. Deshalb durfte ich auch einen Monat früher als Penny Abschied von Porton Down nehmen. Starkie sagte mir einmal ganz sachlich: »Wäre Penny auch nur einen Tag länger dieser Minimalbehandlung in Cladach Duillich ausgeliefert gewesen, hätten wir es wohl nicht mehr geschafft.« Ich habe übrigens nie erfahren können, was aus diesem Carter geworden ist. Als ich wieder aufstehen durfte, noch vor meiner offiziellen Entlassung, besuchte ich Penny. Küssen war noch verboten oder auch nur anfassen, aber wir durften uns immerhin durch eine Trennscheibe unterhalten. Es schien ihr recht gutzugehen. Ich erzählte ihr, was passiert war, aber natürlich längst nicht alles. Dafür wäre später noch genug Zeit. »Ich möchte, daß du verdammt schnell hier herauskommst. Ich möchte dich heiraten.« Sie strahlte. »Ja, Malcolm.« »Wegen diesem blöden Starkie kann ich noch keinen Termin festlegen«, beschwerte ich mich. »Ich habe den Eindruck, er will dich für immer hierbehalten, um unaufhörlich deine wundervollen Innereien studieren zu können.« »Was würdest du von einer Doppelhochzeit halten?« fragte sie. »Gillian hat aus New York geschrieben. Peter Michaelis ist rübergeflogen und hat ihr einen Antrag gemacht. Sie lag gerade im Bett und hatte ein Stück Haut von ihrem linken Arm frisch auf der rechten Wange und war rundum einbandagiert, als er ihr den Antrag machte. Sie fand das lustig.« 314
»Humor hat sie wirklich!« »Da haben wir ja gar nicht mehr so viel Zeit! Wir müssen endlich aus dem Krankenhaus raus. Sind dir vier Monate zu lange?« »Viel zu lange«, sagte ich schnell. »Aber ich warte.« Ich fragte niemanden nach Cregars Befinden, weil es mich nicht interessierte. An meinem letzten Tag in der Isolierstation besuchte Ogilvie mich mit der obligatorischen Tüte Trauben im Arm. Ich empfing ihn etwas reserviert. Er erkundigte sich nach meinem Befinden, und ich verwies ihn an Starkie, dann meinte er: »Wir haben die Tonbandkassette erhalten, nachdem sie entseucht worden ist. Cregar wird sich da nicht rauswinden können.« Ich sagte: »Hatten Sie inzwischen Erfolg mit Ashtons Computerprogrammen?« »Phantastisch! Man hatte ja immer schon vermutet, daß Ashton ein Genie war. Aber nun ist es bewiesen.« »Wieso?« Ogilvie kratzte sich am Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann. Ich bin kein Wissenschaftler. Aber es scheint, daß Ashton auf dem Gebiet der Genetik leistete, was Einstein für die Physik geschaffen hat. Er analysierte das DNA-Molekül theoretisch und stellte eine Reihe ziemlich komplizierter Gleichungen auf. Damit kann man genau voraussagen, welches Gen wohin geht und warum und welche genetischen Zusammenstellungen möglich sind und welche nicht. Ein überraschender Durchbruch; die Genetik verfügt nunmehr über feste mathematische Grundlagen.« »Das wird Lumsden wohl sehr glücklich machen«, sagte ich. Ogilvie aß eine Traube. »Er weiß es nicht. Es ist noch geheim. Veröffentlicht ist noch nichts.« »Warum nicht?« »Der Minister scheint der Ansicht zu sein … nun, es gibt gewisse Gründe, warum noch nichts veröffentlicht wurde. Sagt jedenfalls der Minister.« Das betrübte mich. Diese verdammten Politiker mit ihren verdamm315
ten Gründen machen mich immer ganz krank. Dieser Minister war auch so ein Cregar. Er hatte etwas gefunden, was seiner Macht förderlich war, und nun wollte er darauf sitzenbleiben. Ogilvie nahm noch eine Traube. »Ich habe Starkie gefragt, wann Sie rauskommen, aber er kann es noch nicht sagen. Sobald Sie fit sind, habe ich einen neuen Job für Sie. Wie Sie wissen, geht Kerr in zwei Jahren in Pension. Ich möchte Sie für diesen Job vorschlagen.« Kerr war Ogilvies Stellvertreter. Er lächelte. »In sieben Jahren, wenn ich in den Ruhestand trete, können Sie vielleicht die Dienststelle übernehmen.« »Raus!« sagte ich barsch. Er war nicht der Typ, dem man leicht Überraschungen ansieht, aber in diesem Fall bildeten seine gelegentlich mit künstlerischer Ausdruckskraft hochgezogenen Brauen zwei erschrockene Fragezeichen. »Was haben Sie da gesagt?« »Sie haben mich schon verstanden. Verschwinden Sie. Sie können diesen Job nehmen und den von Kerr dazu und ihn sich sonstwo hinstecken. Das verlängerte Rückgrat des Herrn Ministers, falls er überhaupt ein solches besitzt, wäre zum Beispiel ein geeigneter Platz dafür.« »Was, zum Teufel, ist in Sie gefahren?« »Das will ich Ihnen sagen«, sagte ich. »Sie wollten mit Cregar ein Geschäft machen.« »Wer hat das gesagt?« »Cregar.« »Und das glauben Sie? Der Mann lügt doch, wenn er nur den Mund aufmacht.« »Ja, ich glaube ihm. Weil es zu diesem Zeitpunkt für ihn keinen Grund zum Lügen gab. Er hat Ihnen doch ein Geschäft vorgeschlagen oder etwa nicht?« »Nun, wir haben miteinander geredet – ja.« Ich nickte. »Und eben aus diesem Grund kriegen Sie mich nicht mehr rum. Ich habe diese ewigen Lügen und Ausflüchte satt; ich kann diesen als Patriotismus bemäntelten Egoismus nicht mehr ertragen. Es über316
kam mich, als Cregar sagte, ich sei ein ehrlicher Mann, nicht, um mir ein Kompliment zu machen, sondern, um mich zu korrumpieren. Damals wurde mir klar, daß er unrecht hatte. Wie könnte ein ehrlicher Mann tun, was ich Ashton angetan habe?« »Sie sind da wohl etwas überempfindlich«, sagte Ogilvie steif. »Ich bin empfindlich, weil ich ein Mensch mit Empfindungen bin und kein verdammter Roboter«, gab ich zurück. »Und jetzt können Sie Ihre verdammten Trauben nehmen und die Tür von außen zumachen.« Er ging ziemlich geknickt von dannen.
40. Kapitel
U
nd alle waren glücklich bis an ihr Lebensende. Der eine Held heiratete das erste Mädchen, der andere Held das zweite Mädchen, und sie zogen aus der armen Holzfällerhütte in den Ostflügel des Königspalastes. Aber das hier ist kein Märchen. An dem Tag, als Penny aus dem Krankenhaus entlassen wurde, machte ich mit ihr und Peter Michaelis einen Ausflug ins Westend, wo wir ziemlich alkoholisiert und lustig wurden. Als Gillian dann aus New York zurückkam, machten wir noch so einen Ausflug mit ähnlichem Ausgang. Dieser amerikanische Schönheitschirurg muß ein Genie sein, denn Gillian sah jetzt besser aus als vor ihrem Unfall. Das freute mich sehr für Peter. Man konnte von weitem schon richtig den Klang der Hochzeitsglocken hören. Penny und Gillian liefen ganz London ab, um die besten Geschäfte für Kleider und Wäsche für die Aussteuer aufzustöbern, während ich ein Haus ausfindig machte. Ich zeigte es Penny, sie ver317
liebte sich sofort, und ich legte eine Anzahlung auf den Tisch. Es war alles sehr schön. Zehn Tage vor der Hochzeit mußte ich noch einmal zu Starkie gehen. Er hörte sich an, was ich ihm erzählte, runzelte die Stirn und führte mich in ein Labor, wo ich mich einer Reihe von Tests unterziehen mußte. Er bestellte mich für die darauffolgende Woche zu einem zweiten Besuch. An dem Tag, als ich wieder hinging, las ich in der Times von Cregars Tod. Der Nachruf war ekelerregend. Ein treuer Diener des Staates, der seinem Land viele Jahre diente, ohne je an sich selbst zu denken, für die junge Generation ein nachahmenswertes Vorbild. Ich warf die Zeitung aus dem Zugfenster, und im selben Moment tat es mir auch schon leid; mit solchen Sachen wird die Umwelt verschmutzt. Starkie gab sich sehr ernst, ich wußte es sofort: »Schlechte Nachrichten, oder?« »Ja«, sagte er geradeheraus. »Es ist Krebs.« Das war ein Schlag, aber ich hatte es fast schon befürchtet. »Wie lange habe ich noch?« Er zuckte die Achseln. »Sechs Monate bis ein Jahr, würde ich sagen. Könnte auch mehr sein. Aber nicht viel.« Ich trat ans Fenster und schaute hinaus. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich da sah. »Cregar ist tot«, sagte ich. »Dasselbe?« »Ja.« »Wie?« Starkie seufzte. »Carter, dieser verdammte Idiot, hat seine Experimente auf Biegen oder Brechen betrieben. Er spaltete DNA-Moleküle auf, koppelte sie mit E. coli und wartete ab, was passierte. Nun ist das an sich keine schlechte Technik – vorausgesetzt, man weiß, was man tut, und trifft die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen.« »Er hat Vorsichtsmaßnahmen getroffen«, sagte ich. »Das Zeug ist durch meine eigene verdammte Dummheit entwichen.« »Das stimmt nicht«, erwiderte Starkie. »Cregar hat ihn unter Druck gesetzt – er wollte schnelle Ergebnisse sehen. Er konnte nicht abwar318
ten, bis genetisch geschwächte E. coli aus den Staaten geschickt wurden, deshalb manipulierte er die normalen. Und die verfügen über keinerlei biologische Bremsen. Das Zeug marschierte Ihnen sofort in den Darm und breitete sich dort fröhlich aus.« »Und verursachte Krebs?« »Ich versuche, es mal so einfach wie möglich zu erklären«, sagte Starkie. »Wir gehen davon aus, daß sich in den genetischen Anlagen jeder normalen Zelle auch solche Gene befinden, die tumorbildende chemische Substanzen erzeugen. Normalerweise werden sie jedoch durch andere Gene zurückgedrängt. Geht man nun aber wie Carter nach der Holzhacker-Methode vor, um kurze DNA mit E. coli zusammenzubringen, dann besteht die Gefahr, daß ein Tumorgen ohne das entsprechende Antigen hineingerät. Genau das ist bei Ihnen passiert. Das E. coli in Ihrem Darm hat tumorbildende Substanzen erzeugt.« »Aber Sie sagten doch, die E. coli, die aus mir herauskamen, seien normal«, widersprach ich. »So sah es auch zuerst aus. Mit das Schwierigste bei diesen Experimenten ist die reinrassige Züchtung einer neuen Kultur. Die Biester sind so unbeständig. Dieser Stamm fing auch prompt an, sich zu normalen E. coli zurückzuentwickeln. Nur leider hatte er sich aber zuvor schon lange genug in Ihrem Darm aufgehalten, um den Schaden anzurichten.« »Ich habe verstanden.« Mutlosigkeit überkam mich plötzlich. »Und was ist mit Penny?« »Miß Ashton ist in Ordnung. Das war eine völlig andere Bakterie. Da sind wir ganz sicher.« »Vielen Dank, Dr. Starkie. Sie waren sehr ehrlich, und ich weiß das zu schätzen. Was geschieht als nächstes?« Er rieb sich das Kinn. »Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich Sie anrufen lassen – nach dem, was mit Cregar passiert ist. Es handelt sich hier um eine Art von Krebs, mit der wir bisher noch nie zu tun hatten; diese spezielle Form ist jedenfalls in der Literatur nicht erwähnt. Cregar starb schnell, aber das mag an seinem Alter gelegen ha319
ben. Ältere Zellstrukturen sind nun mal anfälliger für Krebs. Ich glaube, Sie haben eine größere Chance.« Aber nicht sehr viel größer, dachte ich. Starkie sprach gedämpft und gleichmäßig, wie Ärzte es oft tun, wenn sie nur nach und nach mit den schlechten Nachrichten herausrücken wollen. Er kritzelte etwas auf einen Zettel. »Gehen Sie zu diesem Mann. Er ist sehr tüchtig und kennt Ihren Fall bereits. Er wird Ihnen wahrscheinlich Mittel zur Eindämmung des Tumors geben, möglicherweise läßt er Sie auch bestrahlen.« Er machte eine Pause. »Und regeln Sie Ihre Angelegenheiten.« Ich dankte ihm nochmals, nahm die Adresse und fuhr nach London, wo mich gleich noch mal schlechte Nachrichten erwarteten. Dann erzählte ich Penny alles. Ich brauchte ihr Starkies Ausführungen nicht erst zu wiederholen. Sie kapierte sofort. Schließlich war es ihr Fachgebiet. Ich sagte: »Natürlich fällt die Hochzeit jetzt flach.« »Aber nein, Malcolm!« Und schon hatten wir wieder Krach. Immerhin blieb ich der Sieger. Ich sagte: »Mir macht es nichts aus, mit dir in Sünde zu leben. Leb mit mir und sei meine heitere Geliebte. Ich kenne da einen Ort im Süden von Irland, wo die Berge grün sind und das Meer blau, wenn die Sonne drauf scheint, was sie sehr oft tut, und wo das Meer grün ist, wenn es bewölkt ist und die Wellen vom Atlantik hereinkommen. Sechs Monate könnte ich dort aushalten, wenn du bei mir bist.« Wir fuhren sofort nach Irland, sobald Peter und Gillian geheiratet hatten. Die Hochzeit war nicht gerade das fröhliche Fest, das man sich so wünscht; die Männer waren geknickt, und die Frauen vergossen ein Tränchen, aber es mußte durchgestanden werden. Einmal dachte ich auch an Selbstmord; aber dann wurde mir klar, daß ich noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte, nämlich den Fall Ashton so ehrlich wie möglich aufzuschreiben und nichts auszulassen und natürlich auch meine eigenen Fehler nicht zu beschönigen; ich bin weiß Gott nicht gerade stolz auf die Rolle, die ich selbst in diesem Fall gespielt habe. Penny hat das Manuskript gelesen, stellenweise hat sie sich amüsiert, ein paar Stellen haben sie erschüttert. Sie hat übrigens alles für mich getippt. 320
Wir leben hier ganz einfach, abgesehen von der medizinischen Betreuung durch einen Arzt und den drei Krankenschwestern, auf denen Penny bestand. Der Arzt ist ein sanfter, junger Amerikaner, der schlecht Schach spielt, und die Schwestern sind hübsch, was Penny aber nichts ausmacht. Es hilft natürlich, wenn man eine wohlhabende Erbin zur Geliebten hat. In den ersten Monaten fuhr ich alle zwei Wochen nach Dublin, wo noch an mir herumgedoktert und ein Haufen Atome in mich hineingeschossen wurde. Aber das habe ich inzwischen abgestellt, weil es doch nichts bringt. Die Zeit wird jetzt knapp. Diese Schilderung und auch mein Leben gehen ihrem Ende zu. Ich habe beim Schreiben durchaus die Möglichkeit einer Veröffentlichung ins Auge gefaßt – schon weil ich finde, daß die Öffentlichkeit wissen soll, was alles in ihrem Namen geschieht. Aber auch, weil Ashtons Arbeit über Genetik immer noch nicht veröffentlicht worden ist. Es wäre schade, wenn diese Arbeit, die in den richtigen Händen so viel Gutes bewirken könnte, unterschlagen oder vielleicht sogar von einem anderen Cregar mißbraucht würde. Es gibt viele Cregars höheren Orts. Ob eine Veröffentlichung möglich ist, weiß ich allerdings nicht. Der Zorn des Establishments kann gewaltig sein, die Unterdrückungsinstrumente mächtig und fein. Trotzdem, ich habe mit Penny, damit diese Worte nicht untergehen, die notwendigen Schritte vorausgeplant. Ein weiser einbeiniger Amerikaner sagte einmal, in Anlehnung an einen Seehelden: »Wir haben den Feind gesehen, und das sind wir selbst.« Gott steh uns allen bei, wenn er recht hat.
321