Atlan - König von Atlantis Nr. 460 Dorkh
Der Sklavenmarkt von Horst Hoffmann Der König von Pthor in Ketten Atlans kosm...
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Atlan - König von Atlantis Nr. 460 Dorkh
Der Sklavenmarkt von Horst Hoffmann Der König von Pthor in Ketten Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Doch Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Vorläufig können sie jedenfalls nur versuchen, jeder tödlichen Konfrontation auszuweichen und am Leben zu bleiben. Gegenwärtig befindet sich Atlan als Gefangener in Turgan, der Stadt der Händler. Auch Razamon und Grizzard, seine Gefährten, sind auf dem Weg dorthin. Der eine will den Arkoniden befreien, der andere verfolgt völlig andersgeartete Pläne. Schauplatz ihrer von dramatischen Umständen gekennzeichneten Begegnung ist DER SKLAVENMARKT …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide in Ketten. Razamon ‐ Der Pthorer kämpft sich durch die Unterwelt von Turgan. Grizzard ‐ Er gibt sein Geheimnis preis. Konterfert ‐ Ein Techno von Dorkh. Seyfft ‐ Ein Gnom. ManʹDhuʹRo ‐ Ein Götzenpriester.
1. Die Straßen der Stadt Turgan boten auf den ersten Blick ein Bild des völligen Durcheinanders. Wesen unterschiedlichster Art drängten sich auf den Plätzen, strömten aus engen Gassen, gerieten aneinander und zogen oft erst nach heftigen Wortgefechten mit ihren Lasttieren und allem, was sie nach Turgan gebracht hatten, um es dort an den Mann zu bringen, weiter. Aus der Richtung der Rampe, die gleichsam den Beginn der »Straße der Händler« bildete, kamen weitere. Ein nicht enden wollender Strom von Dorkhern, die monatelang unterwegs gewesen waren, um rechtzeitig zum Sklavenmarkt zu kommen, wälzte sich in die Stadt. Schwere Karren wurden von Chreeans oder Tarpanen gezogen, durch viel zu enge Straßen, an deren Rand die ersten Marktstände bereits aufgebaut waren. Kaufleute ließen es sich nicht nehmen, ihre Waren beim Sklavenmarkt ebenfalls feilzubieten. Oftmals war von den Häuserfassaden der Turganer kaum noch etwas zu sehen. Beim zweiten Hinsehen wurde deutlich, daß bei allem Durcheinander sehr wohl eine Ordnung in Turgan herrschte. Männer in dunklen Umhängen empfingen die Angereisten und führten die Sklavenverkäufer mit ihren Tieren und Karren an den Ständen der Kaufleute vorbei zum eigentlichen Sklavenmarkt. Kräftige Gestalten schoben die Karren, auf denen gefesselte und verhüllte Sklaven lagen, die Treppen hoch, bis sie den am höchsten
Punkt Turgans gelegenen großen Platz erreicht hatten. Die Verhüllten wiesen den Anbietern ihre Plätze zu und hielten die bereits anwesenden Dorkher zurück, die heftig gestikulierend versuchten, sich selbst soviel Platz wie möglich zu bewahren. Narren tanzten über die Straßen und den Platz und versuchten, die allerlei Kunststückchen und Ankömmlinge durch Grimassenschneiden aufzuheitern. In der Regel erreichten sie damit das Gegenteil und holten sich nicht selten blutige Nasen. Nur die Turganer wurden vorbehaltlos respektiert. Der Sklavenmarkt war eine den Dorkhern fast heilige Einrichtung und Turgan eine Stadt, um die sich seit alters her Legenden rankten. Zukahartos und Shurhaner ließen sich zwar um Platz feilschend, aber letztendlich gehorsam einweisen und begannen damit, ihre Lasten abzuladen. Die Chreeans und Tarpane wurden in besondere Unterkünfte in anderen Teilen der Stadt geführt. Auf dem Sklavenmarkt klirrten Ketten. Vermummte Sklaven wurden an dicke, in den Boden gerammte Pfähle gekettet und bekamen die Peitschen ihrer Herren zu spüren, wenn sie aufbegehrten oder sich loszureißen versuchten. An einigen Pfählen hingen drei bis fünf oft unterschiedlichste Wesen, deren Besitzer breitbeinig vor ihnen standen und darauf achteten, daß sie sich in ihrer Raserei nicht gegenseitig zerfleischten. Dann und wann warfen sie den Neuankömmlingen neugierige Blicke zu und versuchten zu erkennen, was diese anzubieten gedachten. Noch hatte der Markt nicht begonnen, hatte sich das Stadttor nicht geschlossen. Wenn die ersten potenten Käufer erschienen, mußte jeder Anbieter wissen, was die Konkurrenz zu bieten hatte, um sich darauf einstellen zu können und die eigenen Sklaven zum höchstmöglichen Preis zu verkaufen. Offiziell galt der Markt erst dann als eröffnet, wenn die Abgesandten des SCHLOSSES erschienen waren. Die als Käufer gekommenen Dorkher warteten in ihren Quartieren und ließen sich durch Diener und bestochene Turganer über das Angebot
unterrichten. Es wurde Mittag. Der Sklavenmarkt wartete. Bis auf wenige Ausnahmen waren alle zur Verfügung stehenden Plätze besetzt und die Pfähle vergeben. Schon jetzt stand fest, daß auch dieser Markt wieder ein großer Erfolg sein würde. Die Turganer, die für jeden Platz und jeden angebotenen Sklaven eine hohe Gebühr verlangten, rieben sich die Hände. In den Gasthäusern floß der Wein in Strömen. Das Schreien und Kreischen der Kaufleute im unteren Teil der Stadt erfüllte die Straßen. Khams und Kostbarkeiten aus allen Teilen des Dimensionsfahrstuhls wechselten dort schon den Besitzer. Dann, zwei Stunden nach Mittag, erschien die Flugschale am Himmel, mit der die Abgesandten des SCHLOSSES kamen. Turganer, Zukahartos, Shurhaner, Tiermenschen aus dem Horden‐ Pferch und die vielen Angehörigen anderer Rassen hielten den Atem an und blickten auf. Das Geschrei in den Straßen erstarb. Langsam senkte sich die Flugschale herab. Turganer räumten einen Platz im unteren Teil der Stadt und hatten Mühe, die Neugierigen zurückzudrängen. Ein Raunen ging durch die Menge, als die Flugschale landete und die Abgesandten des SCHLOSSES über den Rand sprangen. Sie waren nicht allein gekommen. Sie, die immer nur als Beobachter erschienen waren, zerrten einen Sklaven aus der Maschine, dessen lange helle Haare ein hartes Gesicht umrahmten, das nur zum Teil unter der Kapuze des valasaischen Umhangs hervorschaute. Händler und Turganer sahen sich fragend an. Wer ist dieser Sklave? stand es in ihren Blicken geschrieben. Noch nie zuvor waren die Abgesandten aus dem SCHLOSS selbst als Händler aufgetreten. Kam der Fremde etwa aus dem SCHLOSS? Obwohl das SCHLOSS und die SCHLOSSHERREN in letzter Zeit viel von ihrem Schrecken verloren hatten, elektrisierte dieser Gedanke. Dieser Sklave mußte etwas ganz Besonderes sein, und manche der Anbieter, die vom Sklavenmarkt herabgekommen
waren, sahen ihre Felle davonschwimmen. In Turgan herrschten eigene Gesetze. Der Markt war heilig, und die Abgesandten der HERREN wurden lediglich geduldet. Dennoch war die Scheu vor ihnen zu groß, um auf sie zuzustürmen und Fragen zu stellen. Drei Turganer in prächtigen Umhängen bahnten sich eine Gasse durch die Schaulustigen und schickten sich an, die Abgesandten zu begrüßen, wie es der Brauch war. Die drei dunkelhäutigen Männer ließen sie gar nicht erst zu Wort kommen. »Holt den Schmied!« rief einer von ihnen, während die beiden anderen den Gefangenen festhielten, der allem Anschein nach gerade aus einer Paralyse erwachte und mehr taumelte als ging. »Und ihr anderen macht Platz! Geht zurück zu euren Ständen. Der Sklavenmarkt ist eröffnet, sobald der hier«, der Dunkelhäutige drehte sich um und gab dem Sklaven einen Stoß vor die Brust, »an seinen Pfahl gekettet ist!«
* Atlan spürte die belebenden Ströme des Zellaktivators. Allmählich wich die Benommenheit. Er brauchte nicht lange, um zu begreifen, daß er mitten im Marktgedränge von Turgan gelandet war und bald einer von vielen Sklaven sein würde. Die wagguähnlichen Waffen der beiden Technos neben ihm sprachen für sich. Sie waren auf ihn gerichtet. Selbst im Vollbesitz seiner Kräfte wäre es ihm unmöglich gewesen, die Technos zu überwältigen und in der Menge unterzutauchen. Angesichts des wieder aufgebrandeten Lärms und der auf ihn gerichteten Waffen fiel es ihm schwer, klare Gedanken zu fassen. Er war in Turgan, dort, wohin ihn Heerun hatte bringen lassen wollen, damit Atlan mit ein wenig Geschick an die Abgesandten der
SCHLOSSHERREN verkauft und von ihnen ins SCHLOSS gebracht werden konnte. Nur hatte er jetzt den Eindruck, daß das Pferd von hinten aufgezäumt worden war. Nicht die Valaser hatten ihn hierhergebracht, sondern jene, an die er verkauft werden sollte. Warum hatten die Technos ihn nicht direkt ins SCHLOSS gebracht, wie es ihre Pflicht gewesen wäre? Was hatten sie mit ihm vor? Er hatte ganz und gar kein Interesse daran, an andere Dorkher verkauft zu werden, um dann irgendwo in der Gefangenschaft ganz von vorn beginnen zu müssen. Sollte alles, was er auf sich genommen hatte, umsonst gewesen sein – so nahe vor dem Ziel? Er erhielt die Antwort, als sich ein kräftiger Turganer durch die übertrieben wirkende Menge schob und einige Unterwürfigkeitsbezeichnungen vor den Technos machte. Der Turganer trug im Gegensatz zu allen anderen, die Atlan um sich herum sah, keinen Umhang. Beine, Arme und das Gesicht mit grünen Augen, den Hautfalten und dem zahnlosen breiten Mund darunter und den großen beweglichen Ohren waren unverhüllt. Der Mann trug einen ledernen Rock und ein Wams aus dickem rotbraunem Fell. »Ich bin der Schmied«, sagte er, verzog den breiten Mund und ließ die Armmuskeln spielen. »Der dort?« Er zeigte auf Atlan und nickte anerkennend. In der rechten Hand hielt er einen breiten Metallring mit einem Schloß, zu dem zweifellos die lange Kette gehörte, die über seiner Schulter hing. »Ja«, sagte Siebzaht, der Sprecher der drei Technos, knapp. »Beeile dich.« »Wie immer!« rief der Turganer und kam näher. Zinrer und Kelfyrt, die beiden anderen Technos, packten Atlans Arme fester und drückten seinen Oberkörper nach unten. Instinktiv spannte der Arkonide die Muskeln und versuchte, sich der Umklammerung zu entziehen. Siebzaht schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Laß es geschehen! mahnte der Extrasinn. Du mußt dich orientieren.
In Sklavenketten? dachte Atlan, sah aber ein, daß er durch Widerstand seine Lage nur noch schlimmer machen konnte. Eifrig machte der Schmied sich an die Arbeit. Atlan zuckte zusammen, als er das kalte Metall um seinen Hals spürte und hörte, wie das Schloß zuschnappte. Zinrer und Kelfyrt zerrten ihn wieder in die Höhe. Atlan sah, wie der Schmied die Kette von der Schulter nahm und sie in eine Öse am Ring einhängte. Wieder schnappte ein Schloß zu. »Gut gemacht!« lobte Siebzaht. »Jetzt an den Pfahl mit ihm!« Der Turganer verzog erneut den Mund und nahm das andere Ende der gut fünf Meter langen, schweren Kette. Sie spannte sich. Atlan wurde durch den plötzlichen Ruck fast von den Beinen gezogen. Die Technos traten zurück und folgten ihm in einigen Metern Abstand, nach wie vor die Lähmwaffen auf ihn gerichtet. Der Schmied zerrte ihn durch enge Straßen. Dorkher unterschiedlichsten Aussehens säumten sie und betrachteten den neuen Sklaven und seine Begleiter mit unverhohlener Neugier. Eine steile Treppe zwischen zwei mächtigen Häusern, ein Stück Straße mit Ständen der feilschenden Kaufleute, dann wieder eine Treppe. Der Schmied ließ die Kette etwas nach, als Atlan stolperte und sich die Knie unter dem Umhang aufschlug. Eine grölende Menge folgte dem Arkoniden und den Technos, bis der eigentliche Sklavenmarkt erreicht war. Atlan begriff, was Siebzaht mit den Pfählen gemeint hatte. Alle außer zweien – Atlan zählte insgesamt zehn Stück – waren besetzt. Sklaven hingen an ihren Ketten, lagen entweder wie unbeteiligt am Boden oder kämpften gegeneinander. Gerade jetzt, als der Schmied die Kette wieder spannte und Atlan mit einem Ruck nach vorne gerissen wurde, brach einer der Rasenden verwundet zusammen. Sein Herr stand dabei und blickte stolz in die Menge, als ob er beweisen wollte, wie stark und wild seine Sklaven, vornehmlich Tiermenschen aus dem Horden‐Pferch, waren. Und der Schmied führte Atlan unter Anleitung Siebzahts nicht
etwa auf einen der beiden noch freien Pfähle zu, sondern genau auf den, an den ebenfalls Tiermenschen gekettet waren und sich lauernd gegenseitig umschlichen, so weit es ihre Ketten zuließen. Die Absicht ihrer Herren war klar. Dies war der Beginn von Schaukämpfen. Die stärksten Sklaven brachten die besten Preise ein. Für die schwächeren würden sich solche Käufer finden, die zwar ganz gerne eine Kreatur aus dem Horden‐Pferch ihr eigen nennen würden, aber an einem zu wilden Geschöpf, das sie niemals würden bändigen können, nicht sonderlich interessiert waren. Die Sklavenverkäufer boten für jeden etwas. Atlan hingegen hatte wenig Lust, sich zu den Tiermenschen ketten zu lassen und um seinen Wert, vielleicht um sein Leben kämpfen zu müssen. Was er brauchte, war Ruhe, um seine Situation zu überdenken und nach einem Ausweg aus seiner Lage zu suchen. Er blieb stehen. Die Kette spannte sich. Atlan stemmte sich mit den Füßen dagegen, und diesmal war es der Schmied, der sich nicht umgesehen hatte und schon bis auf wenige Schritte an die Tiermenschen heran war, der vom Ruck fast von den Beinen gerissen wurde. Ungläubig aus den grünen Augen blickend, fuhr er herum. »Weiter!« schrie er. »Oder soll ich dir Beine machen?« Er zerrte an der Kette. Atlans Hände klammerten sich um sie. Der Schmied zog und zog, doch Atlan stand fest. Sklavenverkäufer und Turganer kamen herbei und verfolgten voller Vergnügen die ungewöhnliche Kraftprobe. Atlan begriff, daß er nur eine Chance hatte, abgesondert zu werden. Er mußte den Sklavenverkäufern ein Schauspiel bieten, daß ihnen die Lust verging, ihn zu ihren Sklaven ketten zulassen. Aus den Augenwinkeln heraus sah der Arkonide, wie die Technos näher heran kamen, die Lähmwaffen jetzt im Gürtel. Bevor Zinrer und Kelfyrt ihn packen konnten, rannte er los, auf den Schmied zu, und riß die Kette hoch. Er schwang sie wie Kinder
beim Seilspringen. Sie sirrte in der Luft, und tatsächlich machte einer der turganischen Sklaven, die als Spaßmacher nicht vom Marktgeschehen fortzudenken waren, einen gewagten Satz darüber, kam sicher auf, drehte sich im Stand und schnellte sich unter der Kette hindurch. Vielleicht wurde der Schmied dadurch zusätzlich verwirrt. Vielleicht war seine Überraschung so groß, daß sie allein genügte, ihn wie versteinert dastehen zu lassen. Atlan war heran, gab der Kette durch eine schnelle ruckhafte Handbewegung den Schwung, den sie brauchte, um sich über den Kopf des turganischen Muskelprotzes zu legen, und zog. Er achtete darauf, daß er den Schmied nicht erdrosselte. Es genügte, es so aussehen zu lassen, als sei das fast der Fall. Wie eine eiserne Schlinge legte sich die Kette um die Brust des Mannes. Atlan sprang zur Seite, als er die Technos herankommen sah, und zog. Ein kräftiger Ruck genügte. Der Schmied fiel wie ein gefällter Baum. Er schrie, die Hände an der Kette. Atlan lockerte sie nicht, sondern zog sie noch strammer, als er sich wieder auf den Schmied zu bewegte. Er zog sich regelrecht an ihn heran. »Hör auf damit!« schrie Siebzaht. »Schluß jetzt, oder ich …!« Wieder war der Narr da. Er tanzte johlend vor den Schaulustigen, die Atlan jetzt kräftig anfeuerten. Sie sollen nicht klatschen! durchfuhr es den Arkoniden. Sie sollen Angst haben! Siebzaht und Zinrer zogen die Lähmwaffen. Der Narr, ein Zwerg in einem bunten Phantasiekostüm, lachte meckernd, öffnete die Hand und ließ Dutzende von kirschgroßen bunten Kugeln über den Boden rollen, von einem begeisterten Aufschrei der Menge begleitet. Atlan sah sie heranrollen – und Siebzaht über sie ausrutschen. Danke, Freund! dachte er, nicht sicher, ob der Narr ihm bewußt zu Hilfe kam. Er achtete nicht weiter auf Zinrer, sondern sprang den Schmied an, der gerade im Begriff war, sich aufzurichten und die Kette über den Kopf zu schieben. Atlan landete auf dem
muskulösen Turganer, brachte seine Knie auf dessen Schultern und tat so, als wollte er ihn jetzt erdrosseln. Der Umhang behinderte ihn nur leicht. Der Schmied stieß ächzend die Luft aus und schrie. Auch die Menge schrie wieder, doch diesmal nicht aus Begeisterung über den Kampf. Entsetzen klang in den Stimmen. Atlan registrierte es zufrieden, aber sie sollten noch eine Zugabe erhalten. Der Schmied tat ihm leid, aber außer einigen Schrammen und dem Schrecken würde der Mann nichts davontragen. Atlan gebärdete sich wie ein Wahnsinniger. Er schrie und tobte, kniete auf dem Turganer und drückte ihm die Kette gegen die Brust. Die langen Ohren des Schmiedes zuckten. Er warf den Kopf herum und schrie um Hilfe. Atlan sah, daß Zinrer und Kelfyrt heran waren. Er hob die rechte Faust und tat so, als holte er zum Schlag auf die Hautfalten aus, die sich dort befanden, wo im Gesicht eines Menschen die Nase saß. Einer der Technos bekam seine Hand zu fassen und riß ihn zurück. Atlan wehrte sich, sprang auf, drehte sich in der Luft und stieß Zinrer zurück. Aus den Augenwinkeln heraus sah er Siebzaht mit der Lähmwaffe auf ihn zielen. Er tat so, als bemerkte er ihn nicht. Etwas Besseres konnte ihm im Augenblick nicht passieren. Paralysiert konnte er nicht zu den Tiermenschen geschafft werden, wenn den Technos etwas daran lag, ihn lebend zu verkaufen. Und nur das konnte ihre Absicht sein, die ganz bestimmt nicht im Sinn ihrer Herren war. Siebzaht schoß.
* Die Rechnung des Arkoniden war voll und ganz aufgegangen. Zwar war noch nicht viel gewonnen, aber wenigstens hatte er nicht gegen Tiermenschen zu kämpfen, von denen jeder in der Lage war, ihm mit den scharfen Klauen den Zellaktivator aus der Brust zu reißen.
Seinen Wert hatte er bewiesen. Er sah es an den bewundernden, aber auch furchterfüllten Blicken, die ihm die Dorkher zuwarfen, die nun über den Marktplatz lustwandelten, die Sklaven begutachteten und, falls sie genug Khams besaßen, mit den Anbietern feilschten. Atlan war etwa zwei Stunden paralysiert gewesen. Er saß mit dem Rücken an einen Pfahl gelehnt, an den kein anderer Sklave angekettet war. Der zweite vor kurzem noch freie Pfahl war nun ebenfalls mit Sklaven besetzt, Wesen, wie Atlan sie während seines Aufenthalts auf Dorkh noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Nur an seinem Pfahl waren noch Ringe frei, in denen die Ketten der Gefangenen eingehängt wurden. Überall priesen die Sklavenverkäufer ihre Ware lautstark an. Reiche Turganer und andere Dorkher ließen die gekauften Sklaven von Helfern abtransportieren. Die Städter verdienten sich ein paar Zers dadurch, daß sie sie zu den eigens für diesen Zweck ausgeräumten Häusern führten, in denen die Sklaven untergebracht und angekettet wurden, bis ihre neuen Herren die Stadt verließen und sie mitnahmen. Die besten Sklaven wurden jetzt verkauft. Wer später kam, hatte das Nachsehen. Atlan fiel auf, daß fast nur Turganer die Verkaufsgespräche führten. Mit Sicherheit handelten sie im Auftrag anderer und kassierten für jeden Sklaven eine gehörige Provision von ihren unbekannten Hintermännern. Nur die Technos hielten sich auffallend zurück. Immer war einer von ihnen in der Nähe, wenn potentielle Käufer Atlan begutachteten oder die Städter ihn wie alle Gefangenen zu necken und so aus der Reserve zu locken versuchten. Aber niemals zeigten sie sich alle drei zusammen. Atlan sah sie ab und zu im Eingang eines Gasthauses bei den Treppen stehen und wieder verschwinden. Was fürchteten sie, wenn sie sich solche Mühe gaben, Aufsehen zu vermeiden? Atlan wurde durch einige Narren abgelenkt, die auf ihn zu tanzten, Räder schlugen und das Marktgeschehen durch allerlei sonstige Kunststücke belebten. Zunächst achtete er nicht auf sie,
denn direkt beim nächsten Pfahl tat sich jetzt wieder etwas. Ein Käufer hatte anscheinend andere Vorstellungen vom Wert der Wesen, die ein Valaser lautstark anpries, als der Verkäufer. »Dreißig Khams für deinen Schwächling!« rief der Turganer gerade. »Mehr ist er nicht wert. Ich kann ihn höchstens als Hausdiener gebrauchen!« »Dreißig Khams?« Der Valaser, bei dem Atlan vergeblich eine Ähnlichkeit mit einem jener Wüstenbewohner zu finden versuchte, die er in Nophinen gesehen hatte, breitete in gut gespielter Verzweiflung die dünnen Arme aus und sah sich unter den Umstehenden mitleidhaschend um. »Für dieses Prachtexemplar! Die Sonne muß dir den Verstand ausgebrannt haben! Für fünfzig Khams ist dieser schreckliche Kämpfer, der seinem Herrn aufs Wort gehorcht, geschenkt! Nur wirkliche Herren verdienen einen solchen Sklaven! Die Abgesandten vom SCHLOSS haben sich schon nach ihm erkundigt, und …« »Die Abgesandten scheinen keinen Zer in den Taschen zu haben«, sagte der Turganer abfällig. »Sie kümmern sich nicht einmal um ihren eigenen Gefangenen. Es scheint, daß man im SCHLOSS nicht nur die Macht, sondern auch den Reichtum verloren hat!« Einige Shurhaner machten dem Mann warnende Zeichen, während ein Haufen von Zukahartos grimmig nickte. »Dreißig Khams, nicht mehr!« »Fünfzig, du Sohn der Dummheit! Fünfzig Khams für dieses Prachtexemplar!« Das Prachtexemplar, um das es ging, ähnelte schwach den Jiriffen, jenen känguruhähnlichen Wesen mit den menschlichen Gesichtern. Nur war es kleiner und in jeder Beziehung schmächtig. Aus dümmlichen Augen starrte es den Turganer an und gab dann und wann quiekende Laute von sich. Die Narren kamen näher. Einige von ihnen wandten sich von Atlan ab und umtanzten den Valaser. »Dreißig!«
»Fünfzig, oder gar nicht! Wenn du Fytt nicht als Sklaven willst, dann geh und sieh zu, wo du einen Dummen findest, der mit sich handeln läßt.« Der Turganer wandte sich zum Gehen. »Warte!« rief der Valaser schnell. »Ich sehe ein, daß nicht jeder von euch so wohlhabend ist, wie ich glaubte. Ich gebe ihn dir für vierzig Khams und einen Schlauch mit Wasser.« Atlan mußte unwillkürlich grinsen. Wasser war für die Valaser wertvoller als die kostbarsten Edelsteine auf Dorkh. Für einen Schlauch bezahlten sie das Doppelte der hier geforderten Summe. »Du hältst mich für sehr dumm!« brüllte der Turganer. »Ich sage dir etwas. Ich biete dir zwanzig Khams für das Tier, damit du …« »Tier?« Der Valaser erweckte den Eindruck, als stünde er kurz vor dem Herzstillstand. »Du nennst Fytt ein Tier? Oh, du Sohn einer Flahyrt und eines zukahartischen Barbaren! Du wirst …« Die Zukahartos, die der Valaser in seinem Eifer übersehen hatte, machten einige Schritte auf ihn zu, bis sie ganz dicht vor ihm standen. Der Valaser erstarrte, sah zu den stämmigen, ungemein kräftigen lederhäutigen Humanoiden auf, in Gesichter mit schmalen Augen und vorstehenden Wangenknochen. »Ich …«, begann er, aber schon waren zwei klauenbewehrte Hände an seinem Hals. »Was hast du gerade gesagt?« fragte der Savannenbewohner drohend. »Wiederhole es!« »Ich … ich habe mich versprochen. Ich meinte, daß dieser hirnlose Sohn eines Wurmes …« »Sohn eines Wurmes!« Der Turganer, schon im Gehen begriffen, fuhr herum. Einen Moment lang starrte er den Valaser nur an. Dann riß er einem gerade vorbeikommenden Shurhaner eine melonengroße Frucht aus den Händen und schleuderte sie dem nun zitternden Anbieter genau ins Gesicht. Der Valaser versuchte, sich den Brei aus den Augen zu wischen, geriet ins Taumeln und trat dabei seinem
»Prachtexemplar« so empfindlich auf die Zehen, daß dieses einen Satz in die Luft machte und schreiend im Nacken eines Zukahartos landete. Zu allem Überfluß machte nun auch der Shurhaner, dem der Turganer die Frucht entrissen hatte, seine Ansprüche geltend, und im Nu war die schönste Rauferei im Gang. Turganer kamen herbei, um die Kämpfenden voneinander zu trennen. Die kreischenden Narren mischten gehörig mit – nur einer nicht. Er war jetzt bei Atlan, und der Arkonide erkannte in ihm denjenigen wieder, der über die Kette gesprungen war, als er mit dem Schmied kämpfte, und den Technos die Kugeln unter die Stiefel gerollt hatte. Das gnomenhafte Wesen, nicht größer als einen Meter und mit langen, behaarten Armen, ließ sich vor ihm nieder und starrte ihn an. Wäre nicht das Gesicht mit den menschlichen Zügen gewesen, hätte Atlan geglaubt, einen Schimpansen vor sich zu haben. Der Gnom trug farbenprächtige, grelle Kleidung, dazu einen spitzen Hut mit breiter Krempe. Atlan richtete sich am Pfahl halb auf und zog die Knie an, bis er bequem saß. »Du bist nicht wie die anderen Sklaven«, sagte der Narr unvermittelt. »So?« Das Wesen nickte heftig und zeigte eine Reihe gelber Zähne. »Du wirst dennoch keinen Käufer finden. Die Abgesandten sind zu dumm, um dich anzupreisen, und wer dich gegen den Schmied kämpfen sah, hat Angst vor dir.« Atlan war enttäuscht. Er hatte sich etwas anderes erhofft. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, daß der Zwerg ihn bewußt unterstützt hatte. Warum? »Willst du mir helfen?« fragte er freiheraus. Was hatte er zu verlieren? Der Narr sprang auf, feixte und schnatterte wie ein Affe,
vollführte einige gewagte Sprünge, drehte sich in der Luft um die eigene Achse und kam genau vor dem Arkoniden wieder auf die Beine. Er setzte sich und sah Atlan wieder aus seinen unergründlichen, schwarzen Augen an. »Niemand wird dich kaufen«, wiederholte er. »Niemand außer uns.« Atlan glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Ihr?« Der Gnom nickte ernsthaft. »Wir, meine Freunde und ich. Wir sind sechs. Wir leben in Turgan, solange ich denken kann. Aber das wird sich … hihi … bald ändern.« Atlan verstand nichts. »Niemand wird dich kaufen. Wir verhindern es. Du gehörst schon uns. Finde dich damit ab. Wie heißt du?« »Atlan«, antwortete der Arkonide bereitwillig. Er wußte nicht, ob er angesichts der ihm gemachten Eröffnungen lachen oder weinen sollte. »Und du?« »Ich bin Seyfft. Seyfft, der Narr. Seyfft, der Gnom, über den sie alle lachen, und den sie bespucken, wenn ihnen seine Späße nicht gefallen. Nicht mehr lange, Atlan. Du wirst uns beschützen.« Atlan schüttelte den Kopf. Seyfft kreischte und schnatterte, dann machte er wieder einen Satz in die Höhe, kam mit dem Rücken zu Atlan auf und wollte davontänzeln. »Halt, warte!« Der Zwerg blieb stehen und drehte den Kopf. »Hör zu«, sagte Atlan leise. »Mir ist es egal, wer mich kauft. Du hast mir geholfen, und ich glaube, ich könnte mich an euch gewöhnen – an euch als meine Herren, meine ich.« Seyfft kam heran und beäugte Atlan mißtrauisch. »So? Könntest du das?« Atlan seufzte. Hier saß er nun, auf nichts als Hoffnungen
angewiesen, die sich vielleicht nie erfüllen würden, und war weiter davon entfernt, ins SCHLOSS zu kommen, als je zuvor. Und was tat er? Anstatt Fluchtpläne zu schmieden, unterhielt er sich mit einem offenbar schwachsinnigen Gnomen. »Bestimmt, Seyfft«, hörte er sich sagen. »Nur … es fiele mir bestimmt noch viel leichter, wenn du mir noch etwas verraten könntest.« Er hatte die Narren durch die offenen Türen der Gasthäuser und Kneipen huschen sehen. Meistens waren sie in hohem Bogen wieder herausgeflogen, aber vielleicht hatten sie diese oder jene Unterhaltung belauschen können. »Verraten? Was zum Beispiel?« »Du hast die Männer gesehen, die mich hierher brachten.« »Die angeblichen Abgesandten des SCHLOSSES?« Atlan zeigte seine Überraschung nicht. Schnell stieß er nach: »Ja, die vermeintlichen Abgesandten. Was weißt du über sie?« Seyfft kicherte. »Du bist nicht dumm, Atlan. Du wirst uns viel mehr helfen können, als wir dachten.« »Dann sag mir, was ihr wißt.« »Du bist nicht dumm«, wiederholte Seyfft. Seine Augen funkelten listig. »Also weißt du auch, daß ein Sklave keine Gegenleistung von seinem Herrn zu fordern hat.« »Noch bist du nicht mein Herr!« Wieder das Kichern. »Noch nicht, Atlan, aber sobald der Markt vorbei ist.« Seyfft sprang wie ein Frosch, bevor der Arkonide noch etwas sagen konnte, landete einige Meter weiter zwischen zwei Wesen, die aussahen wie übergroße Pinguine, und drehte sich noch einmal um. »Sie haben Angst aufzufallen«, rief er. »Dabei sind sie schon aufgefallen. Aber sie wollen dich verkaufen und den Gewinn selbst einstreichen. Dazu haben sie schon einen Turganer bestochen. Mach dir keine Sorgen, Atlan. Dich kriegt niemand außer uns!«
»Warte doch!« Aber Seyfft verschwand mit zwei, drei Sprüngen mitten im Gewühl der Dorkher. Atlan fluchte leise. Am Nachbarpfahl war es ruhiger geworden. Die Turganer hatten die Kämpfenden auseinandergetrieben und zwei Wachen beim Valaser und seinem »Prachtexemplar« zurückgelassen: Männer, die nicht vermummt waren und die lederne Waffenröcke, Brustpanzer und Helme trugen, die so geformt waren, daß ihre großen Ohren geschützt wurden. Also stimmte es, was Atlan bereits im stillen vermutet hatte. Die drei Technos, die Heeruns Karawane überfallen und ihn nach Turgan gebracht hatten, handelten hinter dem Rücken der SCHLOSSHERREN. Alle außergewöhnlichen Sklaven, so hatte Heerun versichert, würden von den Abgesandten des SCHLOSSES aufgekauft und ins SCHLOSS gebracht. Ihn hätten die Technos nicht einmal zu kaufen brauchen, und »außergewöhnlich« war er auf Dorkh bestimmt. Es wäre also ihre Pflicht gewesen, ihn ins SCHLOSS zu bringen oder zumindest nach ihrer Ankunft in Turgan in sicheren Gewahrsam zu stecken, bis sie weitere Sklaven gekauft hatten und zu ihren Herren zurückkehrten – mit ihm. Sie taten genau das Gegenteil. Atlan suchte fieberhaft nach einem Ausweg, aber es fand sich keiner, so sehr er sich auch den Kopf zermarterte. Niemand kannte ihn hier. Niemand war da, der das SCHLOSS benachrichtigen konnte. Razamon und Axton. Wo steckten sie? Waren sie auf dem Weg hierher? Lebten sie noch, und wenn ja, hatten sie eine Chance, rechtzeitig vor dem Ende des Marktes hier einzutreffen? Razamon oder Axton könnten als Käufer auftreten … Atlan sah Siebzaht und Zinrer im Eingang des Gasthauses erscheinen. Sie blieben dort und schienen auf etwas zu warten. Ein vermummter Turganer kam plötzlich auf ihn zu und blieb unmittelbar vor ihm stehen. Noch bevor er die Hand ausstreckte,
um Atlan die Kapuze vom Kopf zu reißen, wußte der Arkonide, daß er den Mann vor sich hatte, den Seyfft ihm angekündigt hatte. »So«, sagte der Turganer. »Nun wollen wir sehen, wieviel wir für dich herausschlagen können.« Atlan preßte die Zähne aufeinander und hielt dem Blick aus den grünen Augen stand. Der Turganer riß ihm den Umhang vom Leib, bis Atlan nur noch die Kleidung trug, die er von Kuashmo erhalten hatte, das langärmelige Hemd aus sandfarbenem, seidenartigem Stoff, den braunen Lederkilt und die Sandalen. »Steh auf!« Atlan gehorchte. Er achtete nicht mehr auf den Turganer, sondern konzentrierte sich auf die beiden Technos im Eingang des Gasthauses. Wo war der dritte, Kelfyrt? Erste Interessenten, unter ihnen Käufer, die schon mehrere Sklaven erworben und bestimmt noch Khams in ihren Taschen hatten, kamen herbei und umringten ihn. »Kommt alle her!« schrie der Turganer. »Bestaunt den Mann aus einer fremden Welt, die Dorkh besuchte, bevor die Große Stille einsetzte! Dieser Mann konnte sich bis vor kurzem in den Bergen im Norden verborgen halten. Er ist ein Kämpfer wie kein anderer und hat Dutzende von Bestien aus dem Horden‐Pferch getötet. Wer ihn kauft, wird keinen Feind zu fürchten haben!« Atlan glaubte, nicht richtig zu hören. Der Turganer packte seinen Arm und klopfte auf die Muskeln. »Der Meistbietende soll ihn bekommen!« schrie der Agent der Technos. »Unter tausend Khams geht nichts. Wer bietet? Tausend Khams sind gesetzt. Wer bietet mehr?« Atlan kam sich vor wie in einer schlechten Komödie. Er sah sich um. Seyfft und seine Bande hatten sich unauffällig überall zwischen den potentiellen Käufern verteilt. Immer mehr Dorkher strömten heran, um das angepriesene Wunder zu bestaunen. Bei den anderen Pfählen schrien die Anbieter lauter denn je, um ihre eigenen Sklaven
an den Mann zu bringen. Die Dorkher begannen zu feilschen. Der Turganer blieb unerbittlich. Auf die Gnomen wollte Atlan sich lieber nicht verlassen, und so hoffte er inbrünstig, daß niemand so dumm sein würde, die horrende Summe von tausend Khams für ihn zu bezahlen. Dann aber rief jemand aus dem Hintergrund: »1100 Khams für den Sklaven!« Der Turganer schien selbst überrascht zu sein. Er versuchte, den Bieter auszumachen und rieb sich die Hände. »1100 Khams für den Kämpfer? Wer bietet mehr? Schaut ihn euch genau an, die Hände, mit denen er die Tiermenschen aus dem Horden‐Pferch erwürgt hat, das helle Haar, das ihn als Bewohner der Welt Juryrn kennzeichnet, der Welt des Schreckens und der Helden!« Atlan war sicher, daß Dorkh niemals eine Welt mit Namen Juryrn heimgesucht hatte, daß es eine solche Welt überhaupt nicht gab. Aber die Worte des Turganers verfehlten ihre Wirkung nicht. Plötzlich begannen die reichen Dorkher wild draufloszubieten. Ungestümer Zorn erfaßte den Arkoniden. Alles in ihm drängte darauf, etwas zu tun. Aber die Kette war zu stark für ihn. Razamon hätte sie vielleicht sprengen können. Und selbst dann? Wohin sollte er sich wenden? Um ihn herum war eine Mauer aus Leibern. Am Nachbarpfahl standen noch immer die beiden Wachen und hatten Waffen in den Händen, die an Hellebarden erinnerten. Der Preis für den »Kämpfer von Juryrn« hatte die astronomische Höhe von 2000 Khams erreicht, als plötzlich ein Aufschrei durch die Menge ging. Atlan sah, wie Siebzaht und Zinrer schnell im Gasthaus verschwanden. Die Dorkher blickten zum Himmel auf, wo sich jetzt eine zweite Flugschale langsam auf die Stadt auf dem unteren Teil des riesigen Felsmassivs, das das eigentliche Turgan bildete, herabsenkte.
Atlan hielt den Atem an. Der Zugor landete mitten auf dem Sklavenmarkt. Die Dorkher stoben in Panik auseinander und vergaßen Atlan. Am schnellsten lief ausgerechnet der Turganer, der von den Technos vorgeschickt worden war. Und nun, als ein einzelner Techno aus dem gelandeten Zugor stieg, wußte Atlan, warum. Die drei Turganer, die auch Siebzaht, Zinrer und Kelfyrt begrüßt hatten, traten scheu auf den Techno zu, der seine Verwunderung über das Markttreiben nicht verbarg. »Ich bin Konterfert«, sagte er laut genug, daß Atlan jedes seiner Worte verstehen konnte. »Ich komme im Auftrag der SCHLOSSHERREN und sollte den Sklavenmarkt eröffnen. Wie ich sehe, ist dies schon geschehen.« Natürlich mußte er den Zugor der drei anderen gesehen haben und sich den Rest leicht zusammenreimen können. Die drei Turganer sprachen zu ihm, aber zu leise. Atlan verstand nichts von dem, was sie sagten, aber ihre Gesten verrieten ihre Verunsicherung. Dieser Konterfert, wußte Atlan, war der echte Beauftragte der SCHLOSSHERREN. Und nun blickte er zu ihm herüber. Neue Hoffnung erfüllte den Arkoniden. Der Techno kam auf ihn zu. Unmittelbar vor ihm blieb er stehen und musterte ihn lange. »Ich werde diesen Sklaven für das SCHLOSS konfiszieren«, sagte er dann mit schneidender Stimme. »Er ist Eigentum der SCHLOSSHERREN. Diejenigen, die ihn hierherbrachten, haben Verrat begangen und wollten die HERREN betrügen. Nehmt sie gefangen und diesem hier«, er deutete auf Atlans Hals, »die Ketten ab.« Eisige Stille. Niemand schien zu atmen. Die Turganer starrten den Techno wie entgeistert an und machten keine Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten. »Habt ihr nicht gehört?« fragte der Techno drohend.
»Wir haben deinen Wunsch vernommen, Konterfert«, sagte einer der Vermummten. »Aber du vergißt, daß der Sklavenmarkt unantastbar ist. Wenn du den Sklaven haben willst, dann bezahle den Preis für ihn.« »Was …!« Konterfert schien nicht fassen zu können, daß er auf Widerstand stieß. »Ihr vergeßt, wen ihr vor euch habt!« »Wir wissen es«, antwortete der Turganer. »Das Gesetz des Marktes aber steht über dem Gesetz des SCHLOSSES, und weder du noch deine Herren werden es wagen, es zu brechen. Den Sklaven bekommt jener, der den höchsten Preis bezahlen kann.« Konterfert warf Atlan noch einen Blick zu, dann machte er auf dem Absatz kehrt und schritt davon, bestieg seinen Zugor und startete ihn. Atlan unterdrückte den Impuls, ihn zurückzurufen. Es war zwecklos. Er konnte nun nur darauf hoffen, daß der Techno sich mit dem SCHLOSS in Verbindung setzte. Aber danach sah es nicht aus. Konterfert zog sich grollend zurück, ehe der Zorn der Turganer, die den Respekt vor ihm verloren hatten, sich über ihm entladen konnte. Aber er blieb in der Stadt. Niemand auf Dorkh, zumindest in Turgan, schien die Macht der SCHLOSSHERREN noch zu fürchten. Zu sehr hatten sie sich in letzter Zeit zurückgehalten. Atlan ballte die Fäuste, wollte sich auf die Turganer stürzen und sie zwingen, ihn freizugeben, als er eine Bewegung in der Nähe der Treppe gewahrte. Sein Kopf fuhr herum. Dort, wo er eben noch die Gestalt gesehen hatte, war nichts mehr. Doch er hätte schwören können, Lebo Axton gesehen zu haben, den USO‐Spezialisten im Grizzard‐Körper. Axton in Turgan! In unmittelbarer Nähe! Atlan ging zum Pfahl zurück und setzte sich wieder. Nun mußte er
warten. Wenn Axton in der Stadt war, konnte auch Razamon nicht weit sein. Der Turganer, den Siebzaht, Zinrer und Kelfyrt vorgeschickt hatten, tauchte nicht wieder auf. Dafür sprang ein anderer in die Bresche, ein gewiefter Sklavenverkäufer, der die Situation blitzschnell erfaßt hatte und nun die Gelegenheit sah, mit einem herrenlosen Sklaven das Geschäft seines Lebens zu machen. Die Dorkher kamen zurück und begannen erneut zu bieten. Atlan ignorierte sie. Er suchte den Sklavenmarkt mit seinen Blicken ab, und plötzlich erblickte er Axton wieder. Der Mann im Grizzard‐Körper war nur kurz zu sehen. Nur sein Kopf ragte für Sekunden über die Schultern einiger Shurhaner. Als Atlan ihm ein Zeichen machen wollte, war er so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Atlan verstand die Welt nicht mehr. Was war in Axton gefahren? Hatte er eigene Pläne, ihn zu befreien, wenn erst die Dunkelheit hereingebrochen war? Atlan traf die Wahrheit nur annähernd. Der Mann, den er für Lebo Axton halten mußte, hatte eigene Pläne, aber nicht zur Befreiung des Arkoniden. Er war hier, um ihn zu töten.
2. Razamon wußte nicht mehr, wie lange er nun schon durch die Höhlen irrte, entlang der stinkenden Abwässer aus Turgan, die ihm den Weg hinauf in die Stadt weisen sollten, der ihm durch die Wachen vor dem Stadttor versperrt worden war. Es war dunkel, nur einige schwach leuchtende Erzadern im Felsgestein ließen ihn nun seine Umgebung vage erkennen. Mehrere Male hatte er haltmachen und ausruhen müssen. Die
überstandenen Kämpfe hatte ihn mehr Kraft gekostet, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Razamon verspürte überdies leichte Kopfschmerzen, was er auf die Anstrengung seiner Augen zurückführte, das Dunkel zu durchdringen. Immer tiefer hinein in den Berg, immer weiter am stinkenden Rinnsal entlang. Irgendwo über ihm konnte Atlan gerade in diesem Augenblick auf Hilfe angewiesen sein. Und Lebo Axton konnte ihm diese Hilfe kaum bringen. Eher im Gegenteil. Immer noch zerbrach sich Razamon den Kopf darüber, was in Axton gefahren war. Konnten allein die Nachwirkungen seiner Erkrankung für das verantwortlich sein, was er getan hatte? Axton war geflohen, als ein Beben den Rinnensteig erschüttert hatte und Razamon einer in tödlicher Gefahr schwebenden Karawane zu Hilfe geeilt war. Es bestand kein Zweifel daran, daß Axton ihn hilflos seinem Schicksal überlassen hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, sich selbst und einige der Fremden aus eigener Kraft zu retten. Kleinigkeiten gewannen an Bedeutung, »Zufälle« wie die Lawine, die Razamon den Rückweg aus der Höhle mit den Zeichnungen der ehemaligen menschlichen Bewohner vor Dorkh abgeschnitten hatte, bis Katzenohr und ihre Horde ihn aus seinem Gefängnis befreit hatten. Grizzard hatte sich dabei höchst merkwürdig benommen. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wurde Razamon, daß Axton nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, sich selbständig zu machen. Und die unterlassene Hilfeleistung? Wollte der Terraner im Körper Grizzards, daß er, Razamon, starb? Dann war auch Atlan in tödlicher Gefahr, falls es Axton tatsächlich gelungen sein sollte, ihn zu finden. Der Gedanke daran beschleunigte Razamons Schritte. Seine Fußgelenke schmerzten vom langen Waten durch abgestandenes Wasser, das sich in vielen Felsmulden rechts und links neben dem monoton plätschernden Rinnsal angesammelt hatte. Razamon nahm
den Gestank kaum noch bewußt wahr. Es wurde wieder dunkler. Die leuchtenden Erzadern verschwanden. Razamon tastete sich an der Felswand zur Rechten entlang, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, rutschte auf glitschigen Vorsprüngen aus und richtete sich ächzend wieder auf. So ging es weiter, und mit jeder Minute, mit jeder Stunde schwand ein Teil der Hoffnung, rechtzeitig den Weg aus dem Berg und in die Händlerstadt zu finden. Immerhin ging es nun leicht aufwärts. Razamon mußte sich zwischen Felsverengungen hindurchzwängen, durch die die Abwässer aus der Stadt so hoch spritzten, daß sie ihn bis zur Brust benetzten. Doch die Sorge um Atlan und der Zorn auf Grizzard waren stärker als der Ekel. Razamon arbeitete sich vor, holte sich blutige Hände und Schrammen an den Beinen. Die Felsen gingen wieder auseinander. Aus dem Rinnsal wurde ein regelrechter unterirdischer Fluß, fast zwei Meter breit und dort, wo Razamon sich befand, dreißig Zentimeter tief. Einige Erzadern verbreiteten fahles Licht, in dem der ehemalige Berserker nun erkennen konnte, daß der »Fluß« sich teilte. Das Rinnsal, dem er gefolgt war, war nur eines von vielen. Razamon watete durch die stinkende Brühe bis zum anderen Ufer, wo eine Felsleiste weiterführte, breit genug für ihn. Die Luft wurde immer schlechter. Razamon marschierte schweigend weiter, die Zähne fest aufeinandergepreßt, bis er das Ende dieser Höhle erreichte. Über ihm befand sich ein Felskamin, durch den schwaches Licht einfiel. Schwer atmend lehnte Razamon sich an den Fels und wartete, bis er die momentane Schwäche überwunden hatte. War dies der Weg hinauf in die Stadt oder nur in eine höher gelegene Höhle, in ein neues Labyrinth? Er begann zu klettern. Der Fels bot genügend Vorsprünge, und wo seine Hände und Füße keinen Halt fanden, schob er sich mit dem
Rücken an der Innenwand des Kamins nach oben. Allmählich wurde es heller. Razamon sah nach oben und lauschte. Irgendwo tropfte Wasser auf Gestein, und der schwache Hall verriet ihm, daß er mit seinen Befürchtungen recht gehabt hatte. Eine weitere Höhle. Aber woher kam dann das Licht? War das Labyrinth unter Turgan bewohnt? Wenn ja, von wem? Razamon wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Vorsichtig kletterte er weiter und hielt jedesmal die Luft an, wenn kleine Steine nach unten purzelten und laut aufschlugen. Nichts war von oben zu hören. Nichts außer dem monotonen Tropfen. Endlich erreichte er das Ende des Kamins. Wieder wartete er, bevor er zuerst die Hände über den Rand des Felsens brachte und sich dann vorsichtig daran hochzog. Er blickte in eine große, hell erleuchtete Höhle und stieß überrascht die Luft aus, als er die brennende Ölfackel in einer in die Wand geschlagenen Halterung sah. Und das war noch nicht alles. Als Razamon sicher sein konnte, daß sich niemand außer ihm in diesem Teil des Berges befand, kletterte er ganz aus dem Kamin. Staunend sah er sich um. Überall an den Wänden stapelten sich fremdartige Gegenstände, mit denen er auf den ersten Blick nicht viel anfangen konnte. Nur eines konnte er mit Gewißheit sagen: hier lagen Kostbarkeiten! Zwischen Objekten, die sowohl technisches Gerät als auch Zierrat hätten sein können, lagerten große, verschlossene Kisten mit Besatzstücken aus Eisen und Edelsteinen. Die Höhle hatte zwei Ausgänge. Razamon sah sich bei beiden um. Nur einer führte weiter nach oben, in einen ebenfalls durch Fackeln beleuchteten Stollen. Der andere mochte irgendwo wieder dort münden, woher er gekommen war. Und immer noch zeigte sich niemand. Razamon entdeckte einen Stapel von Fackeln, nahm sich eine und zündete sie an der brennenden an. Wenigstens hatte er nun Licht,
und die hier befindlichen Gegenstände bewiesen, daß es einen Zugang zur Stadt gab. Wer sollte sich die Mühe machen, durch die Höhlen hierher zu gehen? Ein Dieb? Das war eine Möglichkeit. Vielleicht hatte der ehemalige Berserker das geheime Lager einer Diebesbande entdeckt. Dann aber sagte er sich, daß eine solche Bande in der Nähe Turgans genügend Verstecke für ihre Beute anlegen könnte, zu denen sie auf weitaus bequemerem Weg gelangen könnte und die doch sicher vor Entdeckung waren. Viel einleuchtender war, daß er sich im Warenlager eines Händlers befand, der seine Waren direkt von Turgan aus hierher brachte. Dann aber mußte der erleuchtete Stollen in die Stadt führen. Die Zeit drängte. Dennoch versuchte Razamon, eine der Kisten zu öffnen. Erst bei der dritten hatte er Erfolg. Der Deckel ließ sich hochheben. Fasziniert starrte Razamon auf die funkelnde Pracht, die sich seinen ungläubigen Blicken bot. Die Kiste war voll von Edelsteinen und Geschmeide. Wie groß mochte der Reichtum der Turganer sein? durchfuhr es Razamon. Wie viele blühende Welten hatten dafür bluten müssen, daß die Dorkher solche Schätze hatten zusammentragen können? Und dies war nur eine Höhle von vielleicht Dutzenden. Razamon gab sich einen Ruck. Er widerstand der Versuchung, einige der Schmuckstücke an sich zu nehmen, um sich diese und jene Türen auf der Suche nach Atlan öffnen zu können, falls er ihn nicht – oder nicht mehr – in Turgan fand. Niemandem war geholfen, wenn man ihn als Dieb festsetzen würde. Der Empfang auf der Rampe gab ihm eine ungefähre Vorstellung davon, wie die Turganer mit Gesetzesbrechern umgingen. Razamon klappte den Deckel wieder nach unten, packte die Fackel fester und betrat den erleuchteten, leicht ansteigenden Stollen. Die Fackeln, die in Abständen von jeweils etwa fünfzig Schritten in ihren Halterungen steckten, waren halb abgebrannt. Bevor sie
erloschen, mußten sie gegen neue ausgewechselt werden. Bis dahin verging noch einige Zeit. Wenn diejenigen, die ihre Reichtümer hierherbrachten, nur kamen, um nach den Fackeln zu sehen oder neue Schätze in Sicherheit zu bringen, hatte er nicht zu befürchten, daß er überrascht wurde. Nach Ende des Sklavenmarkts erst würden die Truhen wieder gefüllt werden. Von der Stollendecke tropfte Wasser. Das war das Geräusch, das er unten im Kamin gehört hatte. Razamon grinste. Außer seinen eigenen Schritten war nichts zu hören. Er erreichte eine Abzweigung. Der Gang teilte sich. Razamon blieb kurz stehen. Beide Wege führten nach oben. Schulterzuckend nahm er den rechten. Hier brannten keine Fackeln mehr. Er war kaum zwanzig Schritte gegangen, als sich der Stollen abrupt verbreiterte. Dann stand er in einer weiteren Höhle. Was er im Licht seiner Fackel sah, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Er hatte weitere Reichtümer erwartet. Statt dessen sah er Dutzende von Särgen, rechteckige längliche Schreine aus stabilem Holz. Nur die Deckel bestanden aus einem glasartigen Material. Razamon trat auf den erstbesten zu und hielt die Fackel ganz dicht über ihn. Durch das transparente Material konnte er die mumifizierte Leiche eines Turganers sehen. Er erschauerte und leuchtete weitere Särge ab. Überall bot sich ihm das gleiche Bild. Er entdeckte einen Durchgang zu einer anderen Höhle. Er betrat sie. Das flackernde Licht der Fackel in seiner Hand zauberte gespenstische Schatten an die zum Teil bemalten Felswände. Wieder Särge, so weit das Auge reichte. Diese Höhle war größer als die, aus der er kam, und die Bemalungen der Wände kunstgerechter. In einem Teil der Särge lagen neben den Toten Schmuckgegenstände. Die Leichen waren unterschiedlich alt. Und es ging immer weiter, immer tiefer in den Berg hinein. Razamon fragte sich, ob er überhaupt noch unter Turgan war oder sich die ganze Zeit über im Kreis bewegte. Er machte sich Vorwürfe
dafür, nicht nach der Stelle gesucht zu haben, an der die Abwässer aus der Stadt wieder zum Vorschein kamen. Aber er konnte nicht mehr zurück. Nun brannten in den Gewölben wieder Fackeln, und immer noch sah er nichts als Särge vor sich. Hier, so schien es, bestatteten die Turganer seit alters her ihre Toten, und von hier aus mußte es ebenfalls einen Weg in die Stadt geben. Razamon achtete nicht mehr auf die Särge und ignorierte die Wandbemalungen, die ihn vage an jene erinnerten, die er in den Höhlen von Cibola gesehen hatte. Unter anderen Umständen hätte er sie gründlich studiert. Er spürte den Hauch eines Geheimnisses, aber er mußte zu Atlan. Razamon gelangte in einen breiteren Stollen. Nun mehrten sich die Zeichen dafür, daß er in häufig begangene Bereiche des Labyrinths gelangte – zu häufig für seinen Geschmack. Der Boden war von einer dünnen Staubschicht bedeckt, in die die Abdrücke vieler Füße getreten waren. Es ging immer noch aufwärts. Zu lange schon. Wann endlich gelangte er ans Tageslicht? Die Ernüchterung kam plötzlich. Der Stollen endete in einer weiteren Höhle, größer als alle, die er bisher gesehen hatte. Die Wände waren bearbeitet, und nirgendwo befand sich ein Ausgang außer dem, durch den er gekommen war. Mehrere Fackeln brannten in ihren Halterungen. Wären sie und die behauenen Wände nicht gewesen, hätte Razamon sich in die Höhle über dem Felskamin zurückversetzt gefühlt. Wieder sah er Truhen und Kisten, oft übereinander gestapelt bis zur Decke. Das Gefühl, sich im Kreis zu bewegen, wurde übermächtig. Razamon fluchte laut und schleuderte in einem Anflug von Zorn die Fackel gegen eines der in die Wände gehauenen Bilder, die Turganer bei verschiedenen Tätigkeiten zeigten. Wo befand er sich? Wie lange irrte er in diesem Labyrinth herum, während Atlan in größter Gefahr schweben konnte?
Zurück? Noch einmal den Weg gehen, den er gekommen war?
Hatte er die fälsche Abzweigung genommen? »Nein!« knurrte der ehemalige Berserker. Es mußte einen anderen Weg geben, einen zweiten Zugang zu diesem Lager. Kein Händler schleppte seine Reichtümer durch die letzten Ruhestätten der Toten. Razamon begann, die Wände systematisch abzusuchen. Er konzentrierte sich auf die Bilder, fuhr ihre Umrisse mit dem Zeigefinger nach und preßte die flache Hand gegen Stellen, die ihm besonders markiert erschienen. Als er schon nahe daran war, aufzugeben, ließ ihn ein schleifendes Geräusch herumfahren, das durch Mark und Bein ging. In der ihm gegenüberliegenden Wand bildete sich eine Öffnung. Ein Felsquader, von unsichtbaren Verankerungen gehalten, schwang nach innen auf und gab den Blick frei in einen ebenfalls hellerleuchteten Raum. Zögernd ging Razamon darauf zu. Wenn er einen verborgenen Mechanismus ausgelöst und damit diese Geheimtür zum Aufschwingen gebracht hatte, so hatte er nichts davon gemerkt. Konnte es sein, daß andere, die ihn vielleicht die ganze Zeit über beobachtet hatten, dafür verantwortlich waren? Es galt, so schnell wie möglich zu Atlan zu gelangen! Razamon nahm seine Fackel wieder auf und trat durch die Tür. Und wenn er geglaubt hatte, alles gesehen zu haben, was der Berg beherbergte, so sah er sich nun getäuscht. Er wagte nicht zu atmen. Das Gewölbe, in dem er nun stand, war riesig. Öllampen brannten an den Wänden. Zwischen ihnen standen Statuen, zum Teil grausige Figuren, deren Gesichter im wechselnden Spiel der Schatten gespenstisch zu leben schienen. Wieder war kein lebendes Wesen zu sehen. Razamon hörte das Schleifen zu spät. Er fuhr herum, stieß einen Schrei aus und versuchte, sich gegen die Felstür zu stemmen, die sich wie von Geisterhand gezogen schloß. Selbst seine Kräfte richteten nichts gegen den mächtigen Quader aus.
Gegen das, was Razamon für einen einfachen Felsquader gehalten hatte. Er trat zurück, als er nur noch die Wand vor sich sah, ohne einen Spalt oder nur den geringsten Hinweis darauf, wo die Felswand endete und die »Tür« begann. Dort, wo sie sein mußte, befand sich eine riesige Götzenfigur, die in die Wand hineingearbeitet war und vom Boden bis zur Decke reichte. Die Geheimtür war nur ein kleiner Teil von ihr. Und er hatte eine solche Figur schon einmal gesehen, in jener Höhle in Cibola, in der er auch die menschlichen Skelette fand. Razamon erkannte seinen Irrtum, und es war zu spät. Er befand sich weder in einem ausgedehnten, unterhalb Turgans gelegenen Lager der reichen Händler noch in einer Gruft. Er war in einem Tempel gefangen, einem Tempel jenes Götzen mit den vier Armen und den beiden schwarzen Ringen um ihn herum. Alles, was er bisher gesehen hatte, gehörte zu diesem Tempel, die Särge ebenso wie die Reichtümer. Der ehemalige Berserker wich weiter zurück, bis er das Götzenbild in seiner ganzen Monstrosität überblicken konnte. Es nahm die gesamte Stirnwand des Tempels ein. Die vier Arme der wuchtigen Gestalt waren über der mächtigen Brust gekreuzt. Die schwarzen Ringe überkreuzten sich im spitzen Winkel. Das Götzenbild wirkte unheimlich und drohend, obwohl die Figur, die es darstellen sollte, nur vage zu erkennen war. Viel zu vage, um sie sich als reales Wesen vorstellen zu können. Und doch vergaß Razamon für einen Augenblick, weshalb er hier war und in welcher Gefahr er nun selbst möglicherweise schwebte, wenn er keinen Ausgang aus dem Gewölbe fand oder tatsächlich entdeckt worden war. Irgend jemand mußte diesen Tempel bewachen, und dieser Jemand mußte bemerkt haben, daß ein Unbefugter in das Heiligtum eingedrungen war. Die vierarmige Gestalt schien in den Ringen zu schweben, wie in der Höhle in Cibola. Und wieder fühlte Razamon sich von ihr fast
magisch in den Bann gezogen. Die Bilder, die er in Cibola gesehen hatte, wurden vor seinem geistigen Auge wieder lebendig. Vierarmige Ungeheuer, die über die Menschen von Dorkh kamen und sie mit ihren roten Strahlen in das verwandelten, was heute von ihnen geblieben war – in die Tiermenschen. Was hatte sich in der fernen Vergangenheit auf Dorkh ereignet? Wer waren diese Ungeheuer, die offensichtlich von den Priestern der Turganer als Gottheiten angebetet wurden? Razamon spürte, daß er an der Schwelle eines Geheimnisses von unüberschaubarer Bedeutung stand, aber gleichzeitig wußte er, daß es ihm hier nicht möglich sein würde, hinter dieses Geheimnis zu kommen. Hier konnte er nur verhungern und vermodern, im Angesicht des Götzen. Es mußte weitere Türen geben! Razamon sah sich um. Er ging zur nächstbesten Statue und versuchte sie zu bewegen. Was ihm einmal gelungen war, mußte nochmals möglich sein. Er vermied es, die Götzenfigur anzusehen, doch sobald er ihr den Rücken zukehrte, hatte er das Gefühl, daß sich unsichtbare Hände nach ihm ausstrecken wollten. Mehr als einmal schrak er zusammen und fuhr herum. Nichts. Nichts rührte sich. Niemand war im Gewölbe. Weiter. Die nächste Statue. Sie ließ sich ebensowenig bewegen wie die anderen. Razamon zerrte an ihrem Kopf – und erstarrte. In der Wand genau gegenüber der Götzenfigur bildete sich eine Öffnung. Wieder bewegte sich ein Steinquader und gab den Blick auf einen erleuchteten Stollen frei. Doch Razamon rannte nicht auf den sich langsam vergrößernden Spalt zu. Er hielt den Atem an, wagte sich nicht zu bewegen, versuchte zu erfassen, was da auf ihn zukam. Monotoner Gesang aus vielen Kehlen drang durch den Spalt. Eine Prozession! durchzuckte es den Berserker. Und er begriff, daß nicht er die zweite Geheimtür geöffnet hatte.
Er hatte keine Chance, durch die andere zu entkommen, bevor die Priester des vierarmigen Götzen – denn nur um solche konnte es sich bei denen handeln, die durch den Stollen kamen – das Gewölbe, ihren Tempel, erreichten. Razamon schwitzte. Wohin? Der Gesang wurde zusehends lauter. Und plötzlich wußte Razamon, was die Wandbilder in den anderen Höhlen zeigten, zumindest einige von ihnen. Er hatte es die ganze Zeit über gewußt, tief im Unterbewußtsein. Nun brach es durch. Es waren Szenen von grausamen Opferungen. Wie ein gehetztes Tier sah der Pthorer sich um. Es gab nichts, das ihn verstecken konnte, außer … Die erste Fackel, von der Hand eines Mannes gehalten, wurde im Stollen sichtbar.
3. Der Marktplatz hatte sich sichtlich geleert. Die reichen Sklavenkäufer, beziehungsweise ihre Diener, waren zum großen Teil verschwunden, und mit ihnen die besten »Stücke«. Tiermenschen aus dem Horden‐Pferch, an Wildheit nicht zu überbietende Bestien, die in Ketten zu den Sammelstellen für die zum Abtransport bereiten Sklaven geführt wurden. Atlan fragte sich, inwieweit die mysteriösen SCHLOSSHERREN über das informiert waren, was hier geschah. Sicher, Turgan und speziell der Sklavenmarkt hatten eigene Gesetze und scherten sich nicht viel um das SCHLOSS, seitdem es zu lange nicht mehr seine Macht demonstriert hatte. Die Abfertigung, die Konterfert erfahren hatte, machte das nur zu deutlich. Aber konnte es im Sinn der SCHLOSSHERREN sein, daß die Tiermenschen, die immerhin den Ungeheuern von Kalmlech auf
Pthor entsprachen, als Sklaven gehandelt wurden? Sie, die sich bereitzuhalten hatten, Dorkh zu verlassen und dafür zu sorgen, daß kein Stein mehr auf dem anderen blieb, sobald der Dimensionsfahrstuhl auf einer weiteren Welt materialisierte? Oder bedeutete das, daß man im SCHLOSS tatsächlich schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, Dorkh wieder flottzumachen? Hatten die SCHLOSSHERREN resigniert? Atlan wußte, daß sich Dorkh nicht ohne weiteres mit Pthor vergleichen ließ, trotz aller Ähnlichkeiten und Entsprechungen. Doch nicht zum erstenmal fragte er sich, wie die Herren der FESTUNG auf eine Situation wie die hier gegebene reagiert hätten. Noch zu gut erinnerte er sich an die ersten Tagen und Wochen seiner Odyssee auf Pthor. Schon das Wort »FESTUNG« hatte genügt, um Wesen aller Arten in Panik davonrennen zu lassen. Und doch mußten die SCHLOSSHERREN über die gleichen Machtmittel verfügen wie die Herren der FESTUNG vor ihrem Ende. Der Dunkle Oheim gab sie ihnen, damit sie ihren Auftrag erfüllen konnten. Wann würden sie sie einsetzen? Atlan verscheuchte diese Gedanken, die im Moment nichts einbrachten. Er mußte an sich selbst denken. Bald ging die Sonne unter. Die Käufer, die die Stadt heute noch nicht verließen, würden sich in ihre Quartiere zurückziehen und morgen erneut erscheinen. Sein »Anbieter« würde dann eine weitaus günstigere Position haben. Aber er mußte sich etwas einfallen lassen, um die Gnomen zu verscheuchen. Ihnen allein war es zu verdanken, daß er nicht längst ebenfalls in der Sammelstelle gelandet war. Mit allerlei geschickt inszenierten Zwischenfällen hatten sie jedesmal dann, wenn ein Verkauf so gut wie perfekt war, im letzten Augenblick verhindert, daß er auch zustande kam. Sie hatten alle Kauflustigen, die genug Khams besaßen, um den geforderten Preis für ihn zu bezahlen, abgeschreckt und vergrault.
Schließlich war auch sein »Herr« verschwunden, um sich in einer der vielen Kneipen, in die sich das Leben in Turgan nun zusehends verlagerte, zu betrinken. Atlan hatte gesehen, wie er Wachen etwas in die Hände gedrückt und mit ihnen geflüstert hatte. Seitdem patrouillierten sie in einigem Abstand von ihm und ließen ihn nicht aus den Augen. Was sonst an Sklaven noch nicht verkauft war, war tatsächlich keine Attraktion mehr. Die stellte er dar, und es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß jetzt schon in den Kneipen und Gasthäusern um ihn gefeilscht wurde. Seyfft und seine Kumpane hatten ihn vorerst vor einem Verkauf bewahrt – nicht Axton und nicht Razamon. Die anfängliche Erleichterung darüber, zumindest Lebo Axton in der Stadt zu wissen, war längst verflogen. Atlan war zunächst sogar froh darüber gewesen, daß Konterfert von den Turganern eine Abfuhr erhalten hatte und das Markttreiben nun schmollend von irgendeinem stillen Winkel aus beobachtete. Atlan hatte schon die Chance gesehen, freizukommen und unter weitaus günstigeren Gefangener den Bedingungen denn als Konterferts SCHLOSSHERREN gegenüberzutreten. Voller Hoffnung hatte er trotz Axtons merkwürdigem Verhalten den ganzen Nachmittag über nach ihm Ausschau gehalten, ihn auch mehrere Male entdeckt, aber es hatte den Anschein, als gäbe Axton sich größte Mühe, sich vor seinen Blicken zu verbergen. Nur selten konnte Atlan ihn für einen Augenblick sehen, aber oft genug hätte der Terraner Gelegenheit gehabt, ihm Zeichen zu machen. Ja, es wäre auch nicht aufgefallen und mit keinem Risiko für ihn verbunden gewesen, ihn anzusprechen und ihm verschlüsselt eine Botschaft zukommen zu lassen. Warum tat er es nicht? Als Atlan seinerseits versucht hatte, ihn heranzulocken, verschwand er hastig im Gewühl. Axton wollte ihm aus dem Weg gehen! Dieser Eindruck wurde immer stärker. Aber warum tauchte er dann immer wieder in seiner
Nähe auf? Worauf wartete er? Immerhin blieb ein letzter Funke Hoffnung darauf, daß Axton nur die Nacht abwarten und dann einen Befreiungsversuch wagen wollte. Es fiel jedoch immer schwerer, daran zu glauben. Sollte er dann doch versuchen, mit Konterfert Kontakt aufzunehmen? Über Seyfft und die anderen Zwerge? Sie hockten überall und ließen ihn ebensowenig aus den Augen wie die Wachen. Als es zu dämmern begann, verließen die letzten Kaufwilligen den Sklavenmarkt und begaben sich in die Kneipen, aus denen lautes Gegröle drang. Nur die Sklaven blieben zurück. Viele hingen an ihren Ketten, total erschöpft von den Kämpfen untereinander oder von den Versuchen, sich der Mißhandlungen vieler Dorkher zu entziehen, die sich einen Spaß daraus gemacht hatten, die wehrlosen Angeketteten zu quälen. Atlan hatte Mitleid mit ihnen. Den ganzen Tag über hatten sie weder zu essen noch zu trinken bekommen, und viele von ihnen mußten schon seit Tagen gehungert haben. Seyfft, den Atlan nur an seiner Kleidung von den anderen Gnomen unterscheiden konnte, machte ein paar Sätze auf ihn zu und landete direkt vor seinen Füßen. Atlan hatte sich lang ausgestreckt, den Kopf an den Pfahl gelegt. Der Zwerg sah ihn aus seinen schwarzen, unergründlichen Augen lauernd an. »Siehst du?« sagte er dann mit heller Stimme. »Wir haben nicht zugelassen, daß du an einen anderen verkauft wirst. Morgen kaufen wir dich, für einen Spottpreis.« Der Arkonide zweifelte nun kaum noch daran, daß sich auch diese Prophezeiung erfüllen würde. So sehr er darauf hoffte, Axton und vor allem Razamon würden endlich auftauchen und ihm ein eindeutiges Zeichen zukommen lassen, so dankbar war er nun für die Abwechslung. Insgeheim hatte er sich selbst über die Kunststücke der Zwerge amüsiert. »So?« fragte er also. »Dann erzählt mir mehr über euch. Vor allem
kann ich mir nicht vorstellen, daß ihr mehr als ein paar Zers besitzt.« Das schien Seyfft köstlich zu amüsieren. Er kreischte, machte einen Salto und rief zwei seiner Artgenossen herbei. »Wir haben Khams genug«, sagte er belustigt. »Mehr als du denkst. Wir haben so viele von ihnen, wie den reichen Händler inzwischen in ihren Taschen fehlen. Aber das werden sie erst merken, wenn sie aus der Stadt sind.« »Ihr habt sie euch also zusammengestohlen.« »Heute und an vielen Tagen vorher. Aber wir haben es so geschickt gemacht, daß immer der Verdacht auf andere fiel. Wir haben den Turganern lange genug gedient. Morgen werden wir frei sein und mit dir in unsere Heimat zurückkehren.« »Eure Heimat?« Der Gedanke belustigte den Arkoniden, obwohl er eher zum Weinen war. »Aha. Und wo liegt die?« Seyfft winkte mit einem der langen Arme ab. »Das brauchst du noch nicht zu wissen. Irgendwo auf Dorkh. Wir wurden vor langer Zeit von Sklavenjägern gefangen und auf dem Sklavenmarkt an die Turganer verkauft. Seitdem müssen wir für sie Spaß machen. Aber wenn du bei uns bist, brauchen wir keine Sklavenjäger mehr zu fürchten.« »Und woher willst du wissen, daß ich euch nicht bei der erstbesten Gelegenheit davonlaufe oder euch die Hälse umdrehe?« Seyfft sah ihn grinsend an. »Das tust du nicht. Das kannst du gar nicht. Du kannst niemanden umbringen – einfach so.« Atlan seufzte. Nein, selbst wenn er den Zwergen nicht bisher noch zu Dank verpflichtet wäre – den kleinen Kerlen, die ihm allmählich ans Herz zu wachsen begannen, hätte er wohl kaum ein Haar krümmen können. »Hör zu, Seyfft«, sagte er. »Ihr werdet mich vielleicht tatsächlich kaufen können, aber ich liefe euch davon. Das schwöre ich. Aber ich verspreche dir, daß ich versuchen werde, euch zu helfen, wenn ihr
mir auch einen Gefallen tut.« »Du willst feilschen?« fragte Seyfft erheitert. Er schlug einen Purzelbaum und blickte seine Kumpane beifallheischend an. »Handeln? Mit uns? Du warst zu lange auf dem Markt, Atlan.« »Ich meine, was ich sage. Ich will fort von hier.« Seyfft kicherte. »Das wollen alle Sklaven. Ich sagte dir doch, daß wir dich kaufen und mitnehmen. Mach dir also keine Sorgen und überlaß alles uns.« Einer der bewaffneten Turganer kam heran, verscheuchte die Zwerge mit der Hellebarde, was ihm und Atlan ohrenbetäubendes Gekreische einbrachte, und überzeugte sich davon, daß der Arkonide sicher angekettet war. Als er in einer der Kneipen verschwand, kamen die Gnomen zurück. »Ich will fliehen, Seyfft«, flüsterte Atlan. »Und du sagtest ja selbst, daß ich kein Sklave wie die anderen bin. Ich verspreche dir, ihr werdet nicht lange Spaß an mir haben. Aber wenn ihr mir zur Flucht verhelft, will ich versuchen, euch mitzunehmen.« Zum erstenmal sah Atlan so etwas wie Unsicherheit in Seyffts Blick. Der Zwerg sprang zu seinen Kumpanen und beriet sich leise schnatternd mit ihnen. »Und wenn wir deinen Vorschlag annähmen?« fragte er, als er wieder zurück war. »Was verlangst du von uns?« Atlan atmete auf. Weder Seyfft noch seine Artgenossen waren dumm. Seyfft mochte ein noch so guter Schauspieler sein. Er wußte, daß er nicht bluffte. »Der Abgesandte des SCHLOSSES«, sagte er leise, als eine der noch auf dem Marktgelände postierten Wachen herüberblickte. »Ihr müßt versuchen, ihn zu finden.« »Wir wissen, wo Konterfert ist«, versicherte Seyfft eifrig. »Dann wißt ihr auch, wo der Mann ist, der sich vor mir zu verstecken versucht?« »Auch das«, bestätigte der Narr.
»Dann beobachtet ihn – und Konterfert. Das ist alles, was ich von euch erbitte. Schleicht dem Mann nach und kommt zurück, wenn ihr wißt, was er in Turgan tut.« »Das wissen wir jetzt schon«, erklärte Seyfft großspurig. »Er beobachtet dich und will nicht von dir gesehen werden.« Atlan seufzte gequält. »Das weiß ich auch! Ich will wissen, was er tut, wenn er nicht hier ist, und ob er sich mit einem anderen Mann trifft.« Atlan hatte nichts zu verlieren. Er gab den Zwergen eine genaue Beschreibung Razamons. Seyfft sah ihn lange an. »Wir werden es uns überlegen«, sagte er, sprang auf, machte ein paar weite Sätze von Atlan fort und humpelte dann wie ein alter Krüppel die Treppe in die Unterstadt hinunter. Die anderen Zwerge folgten ihm auf die gleiche Weise. Zurück blieben Atlan, die übrigen Sklaven und die Wachen. Die ersten Öllampen wurden an den Fassaden der umliegenden Häuser angezündet. Dann und wann torkelten Betrunkene aus den Kneipen, um frische Luft zu schnappen oder die Sklaven zu necken. Von Lebo Axton und Razamon war nichts zu sehen. Wie einfach hätte der ehemalige USO‐Spezialist es jetzt gehabt, sich ihm zu nähern! Er brauchte doch nur ebenfalls den Betrunkenen zu mimen, wie zufällig auf ihn zuzukommen und ihm zuzuflüstern, was er plante. Razamon mußte es schaffen können, die Kette zu sprengen. Aber nichts geschah. Atlan blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Auf Seyfft. Auf Konterfert, der vielleicht ebenfalls nur die Nacht abwartete, um ihn doch noch hinter dem Rücken der Turganer loszuketten und in den Zugor zu schaffen, der irgendwo außerhalb des Stadtzentrums stand. Auf das Wunder.
*
Er konnte es nicht tun! Grizzard streifte ziellos durch die Straßen der tiefer gelegenen Stadtbezirke, die, im Gegensatz zum Sklavenmarkt, nun bei Einbruch der Dunkelheit erst richtig zum Leben erwachten. Im Licht der überall brennenden Öllampen strömten die Dorkher, die von weither gekommen waren und so schnell nicht wieder nach Turgan gelangten, durch die engen Straßen und Gassen mit ihren zahllosen Verkaufsständen. Die Händler boten lautstark ihre Waren feil, die von angeblichen Heilwassern bis hin zu Schmuckgegenständen und allerlei altem Gerümpel reichten. Es war ein buntes Bild. Die Dorkher, die entweder auf dem Sklavenmarkt ihre Geschäfte getätigt hatten und nun, vom reichlich genossenen Wein berauscht, ihre letzten Khams an den Mann bringen wollten, griffen zu. Meist kauften sie Dinge, die ihnen nicht den geringsten Nutzen brachten, allerlei wertloses Zeug, aber die Atmosphäre des Marktes verzauberte sie fast alle. An den kleinen Verkaufsständen baumelten bunte Lampions. Eine frische Brise wehte und verbreitete den Geruch von geschmorten Früchten und gebratenem Fleisch. Für Grizzard war Turgan der reinste Hexenkessel. Das Geschrei der Händler und der Angetrunkenen hallte ihm schmerzend in den Ohren. Er hatte das Gefühl, der Kopf müsse ihm platzen. Und nirgendwo fand er Ruhe. Um ihn herum drängten sich Wesen verschiedenster Art. Einige Rassen kannte er, doch hätte er nie für möglich gehalten, wie groß die Vielfalt intelligenten Lebens auf Dorkh war. Und er war zwischen ihnen, drohte von ihnen zerdrückt zu werden, wurde von ausgelassenen Dorkhern mitgeschleppt und umtanzt – er, der nicht nur hier ein Fremder war.
Er war nicht Grizzard. Diesen Namen hatte man ihm gegeben, als er in den Glaspalast eingesperrt und in Tiefschlaf gelegt wurde. Er war Upanak, ein einfacher Jäger, der brutal aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen worden war, vor sehr, sehr langer Zeit, und der niemals etwas anderes gekannt hatte als seinen Stamm und die Steppen und Wälder seiner Heimat. Und an allem war nur Razamon schuld! Ja, er hatte längst begonnen, ihn dafür zu hassen. Immer wieder blickte er sich scheu um. War Razamon bereits in der Stadt? Grizzard hatte nichts mehr außer seinem Messer und ein paar winzigen Khams, die er in der Satteltasche des gestohlenen Chreeans gefunden hatte, als er weit genug vom Rinnensteig entfernt gewesen war. Das Tier und alles, was er sonst noch bei sich trug, hatte er den Stadthütern gegeben, damit sie Razamon nicht in die Stadt ließen oder ihn ihm vom Halse hielten, falls der Pthorer trotzdem einen Weg fand, hierherzugelangen. Konnte er sich denn auf sie verlassen? In diesem Gewühl? Und Atlan! Grizzards Finger berührten das Messer im Gürtel. Er hatte versucht, sich Atlan zu nähern, aber bei jedem Blick, den dieser ihm zuwarf, hatte er geglaubt, im Boden versinken zu müssen. Seine Hoffnung, Atlan in Fesseln vor sich zu sehen, hatte sich nicht erfüllt. Atlan hing zwar an einer Kette, hatte aber beide Hände frei und einen viel zu großen Bewegungsspielraum. Beim Versuch, ihn hinter dem Rücken der Turganer umzubringen, würde er mit ziemlicher Sicherheit selbst den kürzeren ziehen. Aber er mußte es tun, wenn er seinen Körper behalten wollte! Copasallior würde nicht ewig warten. Grizzard lebte in der ständigen Angst, von einem Augenblick zum anderen wieder in den Krüppelkörper Lebo Axtons gerissen zu werden. Jeden Moment konnte es geschehen. Aber lieber wollte er sterben, als noch einmal die Qualen erdulden zu müssen, die er mit Hilfe der Magier beendet
geglaubt hatte. Nein, Copasallior würde nicht zögern, ihn zurückzuholen, falls er seinen Auftrag, Atlan zu töten, nicht bald ausführte. Er traute ihm nicht. Er traute niemandem mehr, nicht einmal sich selbst. Er hatte vor Atlan gestanden, und nicht nur die Angst vor der Stärke und der Reaktionsschnelligkeit Atlans hatten ihm kalte Schauer über den Rücken gejagt. Er hatte mit Atlan zusammen gekämpft. Er hatte den Mut und die Klugheit dieses Mannes bewundert, auch wenn er vieles von dem, was um ihn herum vorging, kaum begriff. All das konnte er nicht vergessen, als wäre es nie geschehen. Er wollte nicht zum gemeinen Mörder werden, aber er mußte es tun. Er mußte es! Konnte er denn noch zurück? Wußte Razamon nicht schon, was mit ihm los war? Spätestens, nachdem er ihn im Stich gelassen hatte? Das schlechte Gewissen, die Angst vor dem erneuten Verlust seines Körpers, die bunte, laute Hölle um ihn herum – all das machte ihm mehr und mehr zu schaffen, zerrte an seinem Verstand, trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Warum hatte Razamon ihm begegnen müssen, auf der Erde? Warum hatte er nicht in Ruhe weiterleben und dort sterben können, wohin er gehörte? Warum fand er nicht endlich Frieden? Eine Gruppe von drei Dorkhern kam auf ihn zu. Einer packte ihn am Arm und zerrte ihn lachend mit sich. Grizzard versuchte sich loszureißen, aber die Dorkher lachten nur noch lauter. Grizzard gab seinen Widerstand auf. Er ließ sich treiben. Sie zerrten ihn mit sich, und er stolperte mehr über die gepflasterten Straßen, als daß er ging. Nur nicht wieder hinauf zum Sklavenmarkt! Grizzard sah, daß die Dorkher auf eine Kneipe zusteuerten, deren Türen weit offenstanden und aus der infernalischer Lärm drang. Grizzard wollte nicht hinein. Er wollte allein sein. Aber wo konnte
er das? War es nicht die beste Lösung, seiner qualvollen Existenz ein schnelles Ende zu bereiten? In seinem Körper zu sterben, bevor Copasallior ihn durch den magischen Tunnel zurückholte, als bloßes Bewußtsein dorthin, wo der Gnomenkörper auf ihn wartete? Wieder sträubte er sich, und wieder verstanden die Dorkher dies nur als eine Einladung, ihn um so heftiger mit sich zu ziehen. Einer von ihnen packte ihn von hinten und hob ihn auf seine kräftigen, beschuppten Arme. Lachend und grölend trugen die drei ihn in die Kneipe hinein. Einer der Männer, die offensichtlich von Echsen abstammten, hielt ihn an den Schultern fest, ein anderer hatte seine Füße gepackt. Der dritte räumte einen Tisch ab und machte so Platz für ihn. Mit Schwung beförderten die Angetrunkenen Grizzard auf die massive Holzplatte. Grizzard schrie und hatte das Gefühl, immer tiefer in einen Strudel hinein gerissen zu werden, der in einem absoluten Chaos aus Lärm, Grimassen und tanzenden Lichtern endete. Aber kaum jemand nahm Notiz von ihm und seinen »Freunden«. Überall wurde auf den Tischen getanzt oder gespielt. Einiges Mobiliar war schon zu Bruch gegangen. Die Turganer, denen das Wirtshaus gehörte, schien das herzlich wenig zu bekümmern. Sie mischten heftig mit und versorgten die zusammengewürfelten Dorkher großzügig mit Wein und schäumendem Bier. Sie alle profitierten vom Markt. Der Schaden, der hier entstand, wurde durch die Erlösbeteiligung der Turganer am Umsatz auf dem Sklavenmarkt doppelt und dreifach wettgemacht. Die Echsenabkömmlinge setzten sich neben Grizzard auf den Tisch, nachdem einer von ihnen vier große Krüge mit Wein herbeigeholt hatte. »Hier!« brüllte der, der ihn in die Kneipe getragen hatte. »Du hast heute kein Glück gehabt, wie? Du schleichst herum wie einer, den
man bis auf den letzten Zer ausgeraubt hat. Trink, Freund! Niemand soll heute traurig sein, wo Harkh sein großes Geschäft gemacht hat!« Harkh, begriff Grizzard, das war er, der ihm nun den Krug hinhielt. Er wehrte ab. Dann, in einer plötzlichen Aufwallung von Trotz, griff er zu. »Na, siehst du!« Die Stimmen der Dorkher klangen wie rostiges Eisen, das aneinandergerieben wurde. Sie sprachen den auf Dorkh gebräuchlichen Dialekt. Grizzard verstand sie kaum. »Nun trinke auf Harkh und auf die, die seine Sklaven kauften!« Die Echsenabkömmlinge lachten grauenvoll. »Mögen sie mit ihnen glücklich werden!« Grizzard trank. Der Wein schmeckte süß, und die Dorkher hatten ihre Krüge bereits geleert, als er zum erstenmal absetzte. Grizzard wischte sich den Mund ab. Nein, auch der Alkohol half ihm nicht. Er fühlte sich noch miserabler als zuvor. Er wollte Frieden, Stille! Nichts anderes. »Trink aus!« befahl Harkh. »Ich … ich kann nicht …«, stammelte Grizzard unglücklich. »Du kannst!« Harkh gab seinen Begleitern ein Zeichen. Sie packten Grizzards Kopf, zogen ihn in den Nacken und zwangen ihn, den Mund zu öffnen. Harkh goß solange Wein hinein, bis Grizzard prustete und spuckte. Lachend ließen die Fremden ihn los und schlugen ihm auf den Rücken. Grizzard hatte Tränen in den Augen. Sein Hals brannte – aber er fühlte sich besser, ein wenig nur, doch der Lärm war nicht mehr so laut und das Licht nicht ganz so grell. »So gefällst du mir besser, Freund«, knarrte Harkhs Stimme. »Nun sag, warum schleichst du so durch die Straßen? Warum freust du dich nicht an diesem Tag, an dem Harkh sein großes Geschäft
gemacht hat?« Du wiederholst dich, Freund! dachte Grizzard. Er sah sich um. Was suchte er hier? Warum war er nicht auf dem Sklavenmarkt, um …? Der Gedanke daran genügte schon, um ihn gleich wieder zittern zu lassen. Harkh sah es und hatte den nächsten Krug in der Hand. Grizzard griff eifrig zu, bevor sich die Prozedur von eben wiederholen konnte. Er leerte den Krug in einem Zug, und nun fühlte er eine wohltuende Wärme in sich. Der Lärm der betrunkenen und spielenden Dorkher klang plötzlich vertraut. Alles war nun vertraut. Grizzard fühlte sich fast geborgen, wenn auch die Gedanken an Atlan und Razamon nicht gänzlich wichen. Aber vielleicht … »Sag uns, wie du heißt, Freund!« brüllte Harkh, um das Geschrei einer Gruppe vorbeiziehender Zukahartos zu übertönen. »Hat dir jemand übel mitgespielt? Wer ist es?« »Ich heiße …« »Ja?« Grizzard schluckte. Dann sagte er mit Trotz in der Stimme: »Upanak. Ich heiße Upanak. Ja, jemand versucht, mich zu töten!« Es war heraus. Grizzard fühlte sich wohler, wie von einer schweren Last befreit. Aber was hatte er von den Echsen erwartet? Daß sie ihn bestürmten, ihnen seinen Gegner zu zeigen, um mit ihm auf die Suche nach diesem zu gehen? Harkh und seine Freunde wichen zurück. »Wartet!« schrie Grizzard. »Geht nicht fort. Helft mir, ihn unschädlich zu machen, und ihr könnt ihn als Sklaven nehmen. Er ist so stark wie drei Männer zusammen und …« »Hör auf!« fuhr Harkh ihn an. »Von so etwas will ich nichts hören, nicht heute, wo Harkh sein großes Geschäft gemacht hat! Wenn dich jemand betrogen oder dir deine Khams gestohlen hätte, würden wir jetzt mit dir hinausgehen und nicht ruhen, bis wir ihn gefunden und
bestraft hätten! Aber vom Töten will ich nichts hören! Nicht heute, wo …« … Harkh sein großes Geschäft gemacht hat! Grizzard konnte es nicht mehr hören. Er kletterte vom Tisch und drängte sich zwischen Dorkhern hindurch ins Freie. Die Echsen machten keine Anstalten, ihn zurückzuhalten. An der frischen Luft spürte er erst wirklich die Wirkung des Weines. Er schwankte und mußte sich setzen. In was hatte er sich eingelassen? In was trieb er hinein? Er verspürte einen leichten Schwindel. Immerhin hatte der Alkohol es bewerkstelligt, daß die Angst, Razamon könnte irgendwo auf ihn lauern, verschwunden war. Auch der Gedanke an Atlan und seinen Auftrag schreckte ihn nicht mehr so wie vorhin noch. Dafür wurde sein Weltschmerz stärker. Er sah wieder die Stationen seiner Odyssee vor sich. Caidon‐Rov, der einsame Mann in der Feste Grool, der ihn beherbergt und die Sprache der Pthorer gelehrt hatte. Warum mußte er aus der Feste fliehen? Wie vieles wäre ihm erspart geblieben, wenn er dort geblieben wäre, zwar in Lebo Axtons schrecklichem Körper, aber ohne das Wissen um seine Vergangenheit? Das war vorbei, vorbei wie die Gefangenschaft im Axton‐Körper und dem mächtigen Porquetor‐Roboter. Selbst wenn er jahrelang in Axtons Körper gelebt hätte, wenn er bei Caidon‐Rov geblieben wäre, er hätte diese fremde Welt nie begriffen. Pthor nicht und Dorkh schon gar nicht. Grizzard stand auf und begann wieder durch Turgans Straßen zu schleichen, jetzt wieder sicherer auf den Beinen. Manchmal ging er bis zu den Treppen, die zum Sklavenmarkt hinaufführten. Dann blieb er für Sekunden stehen und rang mit sich. Es war nun Nacht, und Atlan schlief vielleicht. Wenn er sich nur vorsichtig genug anschlich, wenn die Wachen ebenfalls schliefen … Ein Stich mit dem Messer an der richtigen
Stelle, und sein Auftrag war erledigt. Aber sofort spürte er wieder, wie sich ihm die Kehle zuzuziehen drohte. Er ging zurück, wanderte voller Unrast durch die engen Straßen und blieb mehr als einmal vor den Türen der Wirtshäuser stehen. Der Wein hatte ihm die Angst genommen. Noch ein paar Krüge vielleicht, und er … Tränen standen in Grizzards Augen und rannen die bleichen Wangen hinab, als er seine Khams aus der Tasche holte und sie auf die Theke eines Weinhändlers legte, der um seinen Stand herum einige Tische aufgestellt hatte. Grizzard nahm dafür zwei Krüge in Empfang, suchte sich einen Tisch aus, an dem nur zwei ziemlich ruhige Dorkher saßen, und begann zu trinken. Und er wußte, daß er mit jedem Schluck ein Stück schlechtes Gewissen abtötete, mit jedem Schluck mehr zum Mörder wurde. Aber er spürte auch, wie neue Kraft seinen Körper zu durchfließen schien. Seinen Körper! Den Körper, den ihm niemand mehr nehmen sollte! Er trank weiter. Wieso gab es so viele Zwerge in den nächtlichen Straßen? Sie schienen überall zu sein, und es waren die Narren, die er in Atlans Nähe gesehen hatte, oben auf dem Sklavenmarkt. Beobachteten sie ihn? Folgten sie ihm etwa schon die ganze Zeit über? Als der zweite Krug geleert war, hatte er keine Zweifel mehr. Überhaupt konnte er jetzt viel klarer denken als vorhin. Ja, jetzt mußte er hinauf zum Sklavenmarkt, und diesmal würde er nicht bei den Treppen umkehren. Aber erst mußte er die Zwerge loswerden. Grizzard wartete, bis an einem der Verkaufsstände ganz in der Nähe ein Tumult ausbrach. Zwei Händler beschuldigten sich gegenseitig, sich das Geschäft mit unsauberen Mitteln zu verderben. Kurz darauf war die Prügelei im Gang. Durch den Wein übermütig gewordene Dorkher mischten tüchtig mit. Die ersten bewaffneten
Wachen erschienen. Grizzard sah, wie die Zwerge um die Kämpfenden herumtanzten und begeistert in die viel zu großen Hände klatschten. Vorsichtig stand er auf und tauchte in der Menge unter. Als er keine Zwerge mehr hinter sich sah, lief er in eine Seitenstraße. Er verspürte keinen Schwindel, im Gegenteil. So kräftig wie jetzt hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er damals, vor vielen Jahren … Er verscheuchte die Erinnerungen mit Gewalt. Grizzard umging einen Häuserblock und gelangte auf eine andere Straße, die ebenfalls zum Sklavenmarkt führte. Die Treppen. Langsam, sich immer wieder umsehend, stieg er Stufe um Stufe hinauf. Dann sah er den Sklavenmarkt vor sich, ruhig und verlassen. Seine kühnsten Hoffnungen erfüllten sich. Keine einzige Wache war zu sehen. Die unvermummten Turganer schienen sich jetzt, wo alle in die Stadt gekommenen Dorkher die Sklaven vorübergehend vergessen hatten, ebenfalls in die Kneipen begeben zu haben. Die Sklaven schliefen oder lagen total erschöpft am Boden. Grizzard hielt sich im Schatten. An einer Häuserfront entlang, an der kein Licht brannte, schlich er sich mit dem Messer in der Hand auf den Pfahl zu, an den Atlan gekettet war. Einen Augenblick stockte ihm der Atem, als er die dunkle Gestalt neben dem Pfahl auf dem Boden liegen sah. Grizzard bückte sich nach einem kleinen Stein und warf ihn direkt neben Atlan. Atlan bewegte sich nicht. Er schlief! Langsam löste sich Grizzard aus dem Schatten. Die Hand mit dem Messer zitterte. Er mußte mit aller Gewalt den Impuls unterdrücken, fortzurennen, wieder zurück in die Straßen, wo Leben um ihn herum war. Er konnte nicht zurück. Sein Körper! Immer wieder, wenn der Abscheu vor dem, was er jetzt tun würde, zu groß wurde, dachte er an ihn und an Copasallior. »Du würdest mich vielleicht verstehen, Atlan«, murmelte er.
»Dann würdest du wissen, daß ich nicht anders handeln kann. Wenn man dir deinen Körper weggenommen hätte und …« Er war unfähig, weiterzusprechen. Ein Kloß saß in seinem Hals. Er zwang sich, einen Schritt vor den anderen zu setzen, schlich sich an wie ein gemeiner Meuchelmörder, um den Mann zu töten, der dem Tod so oft ins Auge geblickt und jede Herausforderung angenommen hatte. Aber der letztlich für seine Misere verantwortlich war! Grizzards Unterbewußtsein war dabei, ihm eine Rechtfertigung für seine Tat zurechtzulegen. Atlan hatte an seiner Lage schuld! Hätte er nicht bewirkt, daß sich die Glaspaläste öffneten, wäre er, Grizzard, sich seines Elends niemals bewußt geworden! Grizzard stand vor Atlan, kniete sich langsam, jedes verräterische Geräusch vermeidend, neben den Schlafenden und hob die Hand mit dem Messer. Atlans Brust hob und senkte sich regelmäßig unter dem sandfarbenen Hemd. Atlan lag auf dem Rücken, und Grizzard hatte viel Zeit, jene Stelle auszumachen, an der das Herz des Mannes pochte, der sterben mußte, damit er leben konnte. Grizzard schloß die Augen und stieß zu.
4. Razamon konnte nur eines tun. Er huschte lautlos zu einer der Statuen, zwischen der und der Wand des Gewölbes gerade Raum genug war, daß sich ein ausgewachsener Mann hineinzwängen konnte. Alle Statuen waren etwa mannshoch und nicht sehr breit. Razamon kauerte sich so hinter das Standbild, daß es genau zwischen ihm und den Vermummten war, die in diesem Augenblick durch die Geheimtür kamen. Es war eine kleine Prozession, wie er erwartet hatte. Schwarz vermummte Gestalten, zweifellos Turganer und offensichtlich
Priester des vierarmigen Götzen, trugen allerlei Opfergaben vor sich her und blieben in einem Halbkreis vor dem Götzenbild stehen. Razamon schob vorsichtig den Kopf über die Schulter des Standbilds und zählte insgesamt zwölf Männer. Sie sangen noch immer, wenn man die unheimlich anmutende, auf‐ und abschwellende Melodie aus ihren Kehlen als Gesang bezeichnen konnte, und diese Melodie war so gehalten, daß sich die Echos scheinbar nahtlos in sie einfügten, ja, ein Teil von ihr zu sein schienen. Razamon stutzte. Echos? Sie mußten aus den Gängen kommen, die sich hinter der zweiten Geheimtür befanden. Dennoch war es unvorstellbar, daß es unterhalb Turgans so große Hohlräume gab, daß sie ein regelrechtes Echo produzieren konnten. Der Hall, ja. Das ganze Gewölbe schien unter ihm zu erzittern, aber ein Echo? Razamon gab es schnell auf, etwas begreifen zu wollen, dessen Geheimnis anscheinend nur die höchsten der Priester der vierarmigen Gottheit kannten. Diese zwölf hier vor ihm wirkten viel zu andächtig, als daß man davon ausgehen konnte, sie seien eingeweiht. Vermutlich wurde dieser Götzenkult von irgendeiner verborgenen Zentrale aus gesteuert, und die einfachen Priester erstarrten im Angesicht ihres Götzen vor Ehrfurcht. Razamon war nahe daran, sich die Hände auf die Ohren zu pressen, so eindringlich wurde der Gesang. Die Statue vor ihm erbebte ganz leicht. Dann war plötzlich Stille. Obwohl er sicher sein konnte, von den zwölf Priestern nicht entdeckt worden zu sein, war der Berserker alarmiert. Über der Schulter der Statue spähend, sah er, wie nun einer der zwölf zwei Schritte auf das Götzenbild zu machte und das, was er brachte, vorsichtig auf dem Boden ablegte. Er kniete nieder. Der Reihe nach folgten auch die anderen nun seinem Beispiel. Zwölf schwarz vermummte Turganer knieten vor dem Götzenbild,
als alle Opfergaben zu Füßen des Vierarmigen lagen. Wieder stimmten sie ihren Singsang an. Razamon konnte keine Worte verstehen, dazu waren sie viel zu sehr in die Länge gezogen. Nur eines wiederholte sich immer wieder in regelmäßigen Abständen: ManʹDhu … ManʹDhu … War dies der Name des Götzen? Razamon wagte kaum zu atmen, als die Priester – oder waren es vielleicht nur »gläubige« Turganer? – sich erhoben und sich singend und summend anschickten, das Gewölbe auf dem gleichen Weg zu verlassen, auf dem sie gekommen waren. Er duckte sich tiefer hinter die Statue. Er hatte mehr erwartet. Dies konnte nicht alles gewesen sein. Seine Vermutung, daß er fälschlicherweise Turganer, die aus der Stadt gekommen waren, um ihrem Götzen zu opfern, für Priester gehalten hatte, wurde stärker – und bestätigte sich, als die Prozession das Gewölbe kaum zur Hälfte durchquert hatte. Ein mittlerweile vertrautes Geräusch erklang, das Razamon dennoch durch Mark und Bein ging. Das Knirschen von Fels auf Fels. Die Geheimtür, durch die er selbst in diesen Tempel gekommen war, öffnete sich. Sie schwang auf, mitten zwischen den säulenartigen Beinen des Götzenbilds. Razamon wußte, wer da nun kam, bevor er den Turganer sah. Es war nicht sehr schwer, sich die Zusammenhänge zusammenzureimen. Die Turganer aus der Stadt mußten in regelmäßigen Abständen hierherkommen, um ihre Opfergaben vor dem Götzenbild abzulegen. Dann zogen sie sich zurück, wohl in dem Glauben, der Götze selbst habe ihre Geschenke genommen. Razamon wußte es besser. Er hatte gesehen, wo die Schätze landeten und sorgfältig verwahrt wurden. Die wirklichen Priester ManʹDhus lebten vielleicht seit vielen Generationen hier unten im verborgenen und holten die Opfergaben ab, wenn die Turganer verschwunden waren. Aber wenn es so war – warum erschien der einzelne Priester dann
jetzt schon? Razamon ahnte den Grund dafür, aber er versuchte, den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Aus seinem dürftigen Versteck heraus konnte er den Vermummten sehen, der nun zwischen den Beinen des Götzenbilds stand, dann ein paar Schritte in den Tempel hinein machte und beide Arme beschwörend der Decke entgegenstreckte. Hinter ihm schloß sich die Felstür. Die zwölf Turganer waren stehengeblieben und auf die Knie gefallen. Sie befanden sich links, der Priester rechts von ihm. Razamon konnte sich nicht so eng an die Statue pressen, um nicht von den Turganern oder dem Mann mit dem schwarzen Umhang und den silbernen Ketten um den Hals und über der Brust entdeckt zu werden. Er wußte, daß dies längst geschehen war. Er wußte es spätestens in dem Augenblick, in dem der Priester anklagend auf ihn deutete und den Turganern zurief: »Es ist ein Fremder im Tempel des mächtigen ManʹDhu! Dort hinter der Statue des ColumʹManʹPor! Er schlich sich hier ein, um den Tempel zu entweihen. Ergreift ihn!« Er hatte ihn die ganze Zeit über beobachtet! Razamon ballte die Fäuste. Vermutlich schon, als er die Schatzkammern und die Höhlen mit den Särgen durchstreift hatte! Die zwölf Turganer sprangen auf. Es hatte keinen Sinn mehr, sich zu verstecken. Sie sahen ihn. Entsetzen stand in ihren Blicken, dann maßloser Zorn auf den, der es gewagt hatte, in ihr Heiligtum einzudringen. Drohend kamen sie auf die Statue zu. »Ergreift ihn!« schrie der Priester. »Tod dem Tempelschänder!« kam es aus mehreren Kehlen zugleich. Die Turganer stürmten heran, griffen in ihre Umhänge und rissen blitzende Messer heraus.
* Razamon wußte, daß selbst er gegen diese Übermacht keine Chance hatte. Aber die zweite Geheimtür stand noch weit offen und führte mit Sicherheit in die Stadt. Und die Turganer waren außer sich vor Zorn. Das war seine Chance. Der Pthorer wartete, bis die ersten beiden heran waren, dann stemmte er sich mit dem Rücken gegen die Wand und stieß die Statue um. Die Anrennenden schrien auf und blieben für einen Augenblick wie erstarrt stehen. Razamon setzte alles auf eine Karte. Die Zerstörung der Statue bedeutete sein Todesurteil, wenn er den religiösen Fanatikern in die Hände fiel. Er sprang genau zwischen sie, schlug drei von ihnen zu Boden, bevor sie wieder in der Lage waren, sich zu rühren, und rannte auf die Felstür zu. Der Priester hatte seine Absicht durchschaut und erwartete ihn dort, nun ebenfalls mit einem langen spitzen Messer in der Hand. Gehetzt sah Razamon sich um. Von allen Seiten kamen die Turganer, vorsichtiger geworden, heran. Die Messer blitzten in ihren vorgestreckten Händen. Razamon handelte instinktiv, als der erste Angreifer sich mit einem durchdringenden Schrei auf ihn stürzte. Er duckte sich schnell und rannte dem Mann den Schädel in den Magen. Das Messer fuhr über ihn hinweg. Razamon umschlang den Körper des strampelnden Turganers mit beiden Armen, hielt ihn wie einen Schild vor sich und rannte auf den lauernden Priester zu. Doch wieder war dieser vorbereitet. Der Diener des ManʹDhu sprang blitzschnell zur Seite. Razamon ließ den Turganer fallen und wollte herumfahren. Mitten im Satz traf ihn etwas Hartes am Hinterkopf. Der Pthorer stieß einen röchelnden Laut aus und sah helle Punkte vor seinen Augen tanzen. Die Beine versagten ihm für Sekunden den Dienst. Er knickte in den Knien ein und fühlte sich
von starken Armen in die Höhe gerissen. Zwei Messer saßen an seiner Kehle. »Tötet ihn!« schrien die Turganer, die ihn jetzt umringten. »Bringt ihn zum mächtigen ManʹDhu und legt ihn ihm zu Füßen!« Razamon wurde über den harten Boden zum Götzenbild geschleift. Er wagte sich nicht zu bewegen. Er hatte alles riskiert und verloren. Die Spitzen der Messer ritzten seine Haut direkt unter dem Kinn. Sekunden später lag er auf dem Rücken. Die beiden Turganer, die ihn hielten, knieten neben ihm und blickten den Priester erwartungsvoll an, ohne die Messer zurückzuziehen. Ein dritter kam hinzu, kniete sich zu den beiden anderen und hob das Messer zum tödlichen Stoß. »Wartet!« rief der Priester. Der Turganer hielt ein und blickte ihn überrascht an. Der Priester kam näher und betrachtete Razamon lange. »Er hat den Tempel geschändet und große Schuld auf sich geladen«, sagte er dann. »Er hat den Tod verdient, doch ManʹDhu verlangt sein Opfer nicht.« »Aber …!« entfuhr es dem Turganer mit dem zum Stoß erhobenen Dolch. Der Priester winkte barsch ab. »Wollte der mächtige ManʹDhu den Tod des Fremden, so wäre dieser durch ihn über ihn gekommen. Daß dies nicht geschah, ist ein Zeichen ManʹDhus. Noch ist Sklavenmarkt in Turgan. Es ist der Wille des mächtigen ManʹDhu, daß dieser Mann als Sklave verkauft und der Erlös ManʹDhu dargebracht wird. Für einen Kämpfer wie diesen Fremden wird jeder Käufer einen guten Preis zu zahlen bereit sein!« Razamon glaubte, nicht richtig zu hören. Dann begriff er. Noch saßen die Messer an seinem Hals, aber die Turganer würden den Befehl ihres Priesters befolgen, so sehr es ihnen auch gegen den
Strich gehen mochte, ihn, den »Tempelschänder«, am Leben zu lassen. Und der Priester hatte nur eines im Sinn. Als Toter nützte er weder ihm noch seinem Götzen etwas. Der Priester sah die willkommene Gelegenheit, die Truhen mit weiteren Schätzen zu füllen. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, wem diese Reichtümer in den tiefer im Berg gelegenen Höhlen gehörten. »Fesselt ihn und bringt ihn zum Sklavenmarkt. Ich werde euch führen und darüber wachen, daß der Wille des ManʹDhu erfüllt wird!« Ja, dachte Razamon grimmig. Und vor allem darüber, daß du selbst und die anderen Priester, die mit Sicherheit irgendwo hier im Berg stecken und nun alles beobachten können, was hier in diesem Tempel vorgeht, nicht zu kurz kommen. Aber er hatte keinen Grund, dem Vermummten zu grollen. Im Gegenteil. Razamon wagte immer noch nicht, sich zu bewegen, aber langsam zogen die Turganer die Messer zurück. Eben noch hatte er dem sicheren Tod ins Auge geschaut, und nun sah es so aus, als bräuchte er sich keine Mühe mehr zu geben, nach Turgan, zum Sklavenmarkt zu gelangen. Der Priester würde ihm den größten Gefallen tun, den er sich denken konnte. Razamon hätte am liebsten laut aufgelacht, aber er beherrschte sich, bevor der Priester es sich doch noch anders überlegen konnte. Zwei Turganer lösten die ledernen Riemen, die ihre Gewänder zusammenhielten, von ihren Hüften und banden ihm die Hände auf den Rücken. Sie zerrten ihn in die Höhe und gaben ihm einen heftigen Stoß in den Rücken. Razamon preßte die Zähne aufeinander. Der Priester wartete, bis er an ihm vorbei war. Dann setzte auch er sich in Bewegung und blieb dicht hinter dem Atlanter. Razamon ließ alles mit sich geschehen. Er brauchte sich nicht einmal zu verstellen. Jeder an seiner Stelle hätte das Sklavendasein dem Opfertod vorgezogen, und die Turganer konnten nicht ahnen,
weshalb er wirklich hier war. Sie stießen ihn durch die Felstür in den erleuchteten Stollen. Der Priester blieb zurück. Razamon sah sich nicht um, aber er hörte, wie die Geheimtür sich schloß. Der Sklavenmarkt! Razamon wußte nicht, ob es noch Tag oder schon Nacht war – oder vielleicht schon wieder morgen. Er wußte nicht, ob sich seine Hoffnungen erfüllten und er Atlan noch in Turgan antraf. Aber er kam nun auf dem schnellsten und direktesten Weg dorthin, und das hatte ihm im Augenblick zu genügen. Später würde es ihm nicht schwerfallen, die lächerlichen Fesseln zu sprengen. Er spürte die Schläge und Tritte der Turganer nicht. In Gedanken war er schon in Turgan. Doch sein Optimismus erhielt einen Dämpfer, als er an Lebo Axton dachte. War der offenbar wahnsinnig Gewordene in Atlans Nähe? Und wenn ja, war er dort, um dem Arkoniden zu helfen oder ihn zu …? Selbst bei all dem Unverständlichen und Erschreckenden, das Axton in den letzten Tagen getan hatte, erschien Razamon der Gedanke, der sich ihm aufdrängte, absurd. Welchen Grund sollte er dazu haben? Welchen Grund hatte er gehabt, ihn im Stich zu lassen?
5. Atlan schlief nicht. Zwar hatte er sich nach dem Abzug der letzten Händler und kurz darauf der Wachen niedergelegt, um nicht unnötige Kraft zu verbrauchen, aber er war hellwach. Er hatte den vermeintlichen USO‐Spezialisten kommen sehen, hatte beobachtet, wie der Mann im Grizzard‐Körper die Treppen
zum Marktgelände heraufkam, sich scheu umblickte, versuchte, sich unauffällig im Schatten zu bewegen und ihn schließlich entdeckte. Und er sah das Messer in seiner Hand. Spätestens da wußte der Arkonide, daß er sich nicht getäuscht hatte. Dieser Mann, der sich ihm jetzt geduckt näherte, war nicht der Lebo Axton, den er kannte – oder zu kennen glaubte. Egal, welche Veränderung in der Zwischenzeit mit ihm vorgegangen war, er war nicht nach Turgan gekommen, um ihm zur Flucht zu verhelfen. Den ganzen Tag über hatte er ihn beobachtet – und erst jetzt den Mut gefunden, das zu tun, weshalb er allem Anschein nach wirklich hier war. Atlan war mehr als bestürzt. Er fand keinerlei Erklärung für Axtons Absicht, aber er hatte die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Und dieser Mann, in den und Razamon er all seine Hoffnungen gesetzt hatte, kam, um ihn zu töten – im Schlaf, wie er dachte. Er mußte annehmen, daß er schlief, wenn er sich so anschlich wie jetzt. Atlan beobachtete ihn, die Augen gerade so weit geöffnet, daß er ihn schwach sehen konnte. Annehmen, daß er schlief … Das aber konnte nur bedeuten, daß es nicht Lebo Axton war, der jetzt neben ihm stand, ihn heftig atmend anblickte und nun in die Knie ging, das Messer in der Faust. Atlan mußte sich dazu zwingen, ruhig liegen zu bleiben, regelmäßig zu atmen, weiterhin den Schlafenden zu spielen. Axton hätte gewußt, daß er einen Zellaktivator trug und deshalb ein viel geringeres Schlafbedürfnis hatte als andere Menschen. Daß er in seiner jetzigen Situation keine Sekunde an Schlaf denken würde. Wer aber war dann der Mann im Grizzard‐Körper? Im Grizzard‐Körper! Atlan fiel es unsagbar schwer, die Gedanken abzustellen, die in diesen Augenblicken durch seinen Kopf wirbelten. Er konzentrierte sich voll auf seinen Mörder, auf den Arm, der sich jetzt hob und …
Atlan rollte sich blitzschnell zur Seite, als die Faust mit dem Messer herabfuhr. Der Stoß war mit solcher Wucht geführt, daß die Klinge dem Meuchelmörder aus der Hand sprang, als sie den harten Boden traf. Atlan war auf den Beinen, bevor sein Gegner den Schock überwinden konnte. Er packte ihn von hinten und preßte ihm die Hand auf den Mund, bevor er schreien konnte. Ein Ruck ging durch den Grizzard‐Körper. Atlan legte ihm den linken Arm um den Hals und zog kräftig. Grizzards Widerstand erlosch von einem Augenblick zum anderen. Wer immer es nun war, der jetzt kraftlos in Atlans Griff hing, er hatte aufgegeben. Atlan sah sich schnell um. Die Sklaven an den Pfählen rührten sich nicht, und es sah nicht so aus, als hätte das Klirren seiner Kette turganische Wachen auf den Plan gerufen. Der Sklavenmarkt war ruhig, als wäre nichts geschehen. »Verhalte dich völlig still«, flüsterte Atlan ins Ohr seines Widersachers. »Dann geschieht dir nichts. Zwinge mich nicht, das zu tun, was du tun wolltest!« Aber der Mann im Grizzard‐Körper dachte nicht mehr daran, aufzubegehren. Atlan drehte ihn so, daß er ihm in die Augen sehen konnte. Und es waren gebrochene Blicke, die er sah. Die Blicke eines Mannes, der wußte, daß er verloren hatte – eines Mannes, der am Ende war. Atlan hatte plötzlich Mitleid mit ihm. Dennoch nahm er die Hand erst von seinem Mund, als er ihn mit sich zum Pfahl gezogen und dort zu Boden gedrückt hatte. Schnell nahm er das Messer an sich. Er hockte sich neben den anderen, sah sich noch einmal um, und packte ihn dann bei den Schultern. Erst als er ihn heftig rüttelte, schien der Mann wie aus einer tiefen Trance zu erwachen. »Du bist nicht Lebo Axton«, flüsterte der Arkonide, nachdem er völlig sicher war, daß sein Gegenüber weder schreien noch einen Fluchtversuch unternehmen würde. Und es war mehr als ein Schuß ins Blaue, als er heftiger hinzufügte: »Du bist Grizzard!« Der Mann zuckte zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde
blitzte es in seinen Augen auf. Noch einmal schien er sich gegen ein grausames Schicksal aufbäumen zu wollen, aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Er schlug die Augen nieder und die Hände vors Gesicht. »Vergib mir, Atlan!« brachte er schluchzend und zitternd hervor. Panische Angst sprach aus seinen Worten. »Töte mich nicht! Bitte töte mich nicht! Ich bin nicht Lebo Axton! Ich bin Grizzard! Ich bin Grizzard und … nein, ich bin Upanak!« »Still!« flüsterte Atlan. »Verdammt, willst du, daß uns jeder in Turgan hört?« Grizzards Worte gingen wieder in einem Schluchzen unter. Atlan hielt den bebenden Körper in beiden Armen. Wieder schossen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf, und er spürte, wie das Herz sich ihm zu verkrampfen drohte. Also doch! Was zunächst nur eine Ahnung, eine völlig phantastische Vermutung gewesen war, wurde jäh bestätigt. Dieser Mann in seinen Armen war wirklich Grizzard, nicht mehr Lebo Axton. Aber wenn das Bewußtsein Grizzards den Weg hierher gefunden und Axtons Bewußtsein aus dem Körper verdrängt hatte, wo war dann Axton jetzt? Atlan zweifelte keinen Moment daran, daß Grizzard wirklich Grizzard war und die Wahrheit sprach, aber es fiel ihm schwer, dies zu begreifen. Wie lange steckte Grizzard schon in seinem Körper, und wo war Axton? Im Nirgendwo – oder wieder in jenem Körper, in dem er seine Karriere als Kosmo‐Kriminalist begann? Wo war Razamon? Nur Grizzard konnte die Antwort geben, und Atlan ließ ihn nun reden, als die Worte aus ihm hervorsprudelten, als ob er Ewigkeiten darauf gewartet hätte, seiner gequälten Seele Luft zu machen. Nur dann und wann, wenn er zu laut wurde, unterbrach er ihn und mahnte ihn, leiser zu reden. »Ich konnte nicht mehr in Axtons Körper leben«, jammerte
Grizzard. »Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Axton mit euch zusammen den Tod finden und mein Körper für mich für alle Zeiten verloren sein könnte. Vielleicht hätte ich nicht den Mut gefunden, mich an die Magier zu wenden, wenn Axtons Körper sich nicht plötzlich verändern begonnen hätte. Alles deutete darauf hin, daß er absterben würde.« Grizzard warf Atlan einen flüchtigen Blick zu. »Du mußt mich verstehen, Atlan! Axton blieb mit dir und Razamon als Gefangener des Neffen Duuhl Larx im Rghul‐Revier zurück, und ich war auf Pthor gefangen, das sich plötzlich wieder bewegte und sich immer weiter von euch entfernte!« »Sprich leiser, ich höre ja«, flüsterte der Arkonide, darum bemüht, seine Erschütterung nicht zu zeigen. Wieder warf Grizzard ihm einen Blick zu, in dem Hoffnung auf Verständnis und Angst und Abscheu vor dem standen, das er zu tun im Begriff gewesen war. »Ich bat die Magier, mir zu helfen. Wenn jemand in der Lage sein sollte, mir meinen Körper zurückzugeben, dann sie, dachte ich. Und Copasallior erhörte meine Bitte. Zusammen mit einigen anderen Magiern schaffte er es, Axton aufzuspüren. Wie sie das bewerkstelligten, ist mir unbegreiflich. Doch ich gelangte durch einen magischen Tunnel hierher, in meinen Körper! Ich …« Grizzard wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah Atlan flehend an. »Ich mußte Copasallior dafür versprechen, dich umzubringen. Auch Razamon wollte ich aus dem Weg schaffen. Vielleicht lebt er nicht mehr.« Grizzard berichtete knapp über den Zwischenfall auf dem Rinnensteig und seine Flucht. »Ich habe die Stadtwachen bestochen. Sie sollen verhindern, daß Razamon, sollte er sich gerettet haben, in die Stadt und zum Sklavenmarkt gelangt. Das ist meine Geschichte, Atlan. Ich kann nicht von dir verlangen, daß du mich verstehst. Ich hätte dich getötet, wenn du geschlafen hättest. Ich hätte es getan! Oh, ich verdiene keine Gnade, aber bitte schenke mir das Leben. Töte mich nicht, jetzt, wo ich … wieder ich selbst bin!«
Grizzard schlug wieder die Hände vor die Augen und wimmerte leise. Atlan war nicht in der Lage, irgend etwas zu sagen. Er starrte den Unglücklichen an, von Mitleid und Bestürzung bewegt. Hier saß also Grizzard vor ihm. Atlan dachte kaum noch an den fehlgeschlagenen Mordanschlag. Er verstand Grizzard besser, als dieser glaubte. Aber was war aus Axton geworden? Die schlimmsten Befürchtungen des Terraners hatten sich erfüllt. Hatte Axton nicht in der ständigen Angst davor gelebt, den heißumkämpften neuen Körper wieder verlieren zu müssen? Hatte es nicht früher oder später dazu kommen müssen – wenn auch nicht unter solch dramatischen Umständen? Andererseits aber war Axton selbst nicht glücklich darüber gewesen, daß er sich in einem jungen, gesunden und starken Körper bewegen konnte, ein anderer sich dafür aber in seinem mißgestalten Gnomenkörper abplagen mußte. Dies hatte ihn bei aller Entschlossenheit, den Grizzard‐Körper nicht wieder zu verlassen, die ganze Zeit über beschäftigt, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Aber wie konnte der Körperaustausch über eine so gewaltige Strecke hinweg funktionieren, wie sie zwischen Dorkh und Pthor liegen mußte? Befanden sich die beiden Dimensionsfahrstühle dann in Wirklichkeit weit weniger entfernt voneinander, als Atlan bisher annehmen mußte? Befand sich Pthor am Ende in erreichbarer Nähe, vielleicht gar im gleichen Revier wie Dorkh? Ein phantastischer Gedanke schoß dem Arkoniden durch den Sinn. Gab es etwa in der Schwarzen Galaxis eine Art »Parkplatz« für funktionsunfähige Dimensionsfahrstühle? Atlan wurde aus seinen Spekulationen gerissen, als er Grizzard murmeln hörte: »Es war schrecklich, auf Lebo Axton zu stoßen. Ich spürte ihn, als
er aus meinem Körper geschleudert wurde. Für kurze Zeit waren wir eins und konnten uns sogar rein gedanklich unterhalten. Ich fühlte seinen Schmerz, wie er litt, und in diesem Augenblick war ich bereit, den Schritt rückgängig zu machen. Aber es war nicht mehr möglich. Seine Impulse wurden immer schwächer. Er hatte gewußt, daß es eines Tages geschehen mußte, und ich bin sicher, daß er die Kraft haben wird, in seinem eigenen Körper weiterzuleben, der vermutlich nicht wirklich abstarb, sondern nur damit begann, mich abzustoßen. Wahrscheinlich wäre es auch ihm bald in meinem Körper so ergangen.« »Dann ist Axton wieder auf Pthor?« »Es gab nur diesen einen Weg, den sein Bewußtsein nehmen konnte – nach Pthor in die Barriere von Oth.« Grizzard sah Atlan zum erstenmal direkt in die Augen. »Er bat mich nur darum, dir zu berichten, was inzwischen auf Pthor geschehen ist.« Und Grizzard informierte Atlan über den Halt des Dimensionsfahrstuhls im Revier des Neffen Thamum Gha, über den Auftritt dieses Neffen und über die Rolle, die die Magier nun auf Pthor spielten – über alles, was er selbst wußte. Es war kein rosiges Bild, das in Atlans Bewußtsein entstand. Den Schwarzschock hatte er selbst noch erlebt, wenn auch aus der Ferne und indirekt in Duuhl Larxens Gefangenschaft an Bord der MARSAPIEN. Die Machtübernahme der Magier hatte sich schon abgezeichnet, doch selbst mit dem Wissen um deren Fähigkeiten hätte der Arkonide sich nicht träumen lassen, wie schnell sie die Kontrolle über Pthor übernehmen würden – und wie total diese sein würde. Wortlos legte Atlan Grizzard eine Hand auf die Schulter. Wieder trafen sich die Blicke der beiden Männer. Grizzard atmete schwer. Es war ihm anzusehen, wie erleichtert er nun, nach seiner »Beichte« war – und wie sehr er sich schämte. »Ich mache dir keinen Vorwurf, Grizzard«, sagte der Arkonide mit
sanfter Stimme. Grizzard sah ihn ungläubig an. »Aber ich … wollte dich töten!« »Du wirst es nicht noch einmal versuchen, oder?« Grizzard nahm Atlans Hand und drückte sie. »Wenn ich es dir nur versprechen könnte, Atlan! Ich möchte dir helfen. Ich wollte es, als ich dich angekettet und von diesen … Verbrechern umgeben sah, die glauben, das Leben eines Menschen kaufen zu können. Ich möchte es so gerne, aber …« »Du fürchtest Copasallior.« »Ja«, sagte Grizzard mit gesenktem Kopf. »Ich kann dir jetzt nicht versprechen, daß ich nicht wieder versuchen werde …« Er schien vor seinen eigenen Gedanken zu erschrecken. »Nein, Atlan! Niemals werde ich wieder versuchen, dich zu töten. Es muß doch einen anderen Weg geben. Du bist stark und klug. Kannst du mir nicht helfen?« Traurig schüttelte der Arkonide den Kopf. »Ich fürchte, nein, Grizzard. Copasallior ist weit weg, und selbst wenn ich ihm gegenüberstünde, könnte ich nichts für dich tun. Hast du vergessen, daß er dich schickte, um mich aus dem Weg zu schaffen?« »N … nein! Natürlich nicht! Das ist es ja! Ich kann nicht mehr denken, Atlan! Es ist alles so furchtbar! Hätte ich nur die Kraft, deine Kette zu sprengen oder den Ring an deinem Hals aufzubrechen!« Atlan fröstelte es. Er hätte in diesen Augenblicken vieles dafür gegeben, Grizzard trösten zu können. Er konnte ihn nicht einmal fortschicken, um nach einer Möglichkeit zu suchen, ihm später auf die eine oder andere Art zu helfen. Er konnte ihm nicht vertrauen, bei allem Verständnis, das er für dieses gequälte Wesen aufbrachte. Er mußte ihn bei sich behalten, durfte ihn nicht aus den Augen lassen. Im Moment mochte er die Magier weniger fürchten als ihn und tatsächlich nur den einen Wunsch haben, ihn aus seiner Lage zu
befreien. In Minuten konnte sich dies ändern. Grizzard war vollkommen geistig verwirrt. Krank. Es schien, als gäbe es für sie beide keine Hoffnung mehr. Razamon wäre längst aufgetaucht, hätte er das Unglück auf dem Rinnensteig lebend überstanden. Die Stadtwachen hätten ihn kaum am Betreten der Stadt hindern können. Dennoch konnte Atlan nicht an Razamons Tod glauben. Aber er mußte sich an die Tatsachen halten. Und Tatsache war, daß noch kein Razamon in Turgan aufgetaucht war. Jetzt, im Dunkel der Nacht, hätte er eingegriffen. Aber noch war Konterfert in der Stadt. Plötzlich zuckte der Arkonide zusammen. »Dort ist er!« schrie jemand schrill. »Packt ihn!« Atlan fuhr herum, sah die dunklen Gestalten, die auf ihn und Grizzard zugeschossen kamen – und die Wachen, die im Eingang eines der Gasthäuser um den Sklavenmarkt herum erschienen.
* Die bewaffneten Turganer verschwanden lachend wieder im Gasthaus, aus dem immer noch das Gegröle der Betrunkenen und Feiernden drang. Sie hatten gesehen, wer für den Lärm verantwortlich war, und sahen offensichtlich keinen Grund zum Eingreifen. Seyfft und seine Bande genossen in Turgan tatsächlich Narrenfreiheit. Niemand schien auch nur auf den Gedanken zu kommen, daß sie den Sklaven etwas antun oder sie gar befreien könnten – ganz zu schweigen davon, daß sie selbst als Käufer auftreten könnten. Atlan konnte im letzten Augenblick verhindern, daß die Gnomen sich auf Grizzard stürzten. Er schob sich schnell vor den Bemitleidenswerten und streckte abwehrend die Hände aus.
»Hört auf!« rief er gedämpft. »Schluß mit dem Unsinn! Laßt ihn in
Ruhe!« Seyfft landete direkt vor ihm und sah ihn aus seinen listigen schwarzen Augen an. Die anderen Zwerge hockten sich hinter ihn. »Er ist uns entwischt«, erklärte Seyfft und warf Grizzard böse Blicke zu. »Wir wollten ihn nur wieder einfangen.« Atlan seufzte. »Er ist doch hier. Wozu solltet ihr ihn dann noch einfangen?« Seyfft erfaßte die Situation sofort. »Wir haben ihn also zu dir gebracht, wie wir versprachen. Und wir haben über dich gewacht. Deshalb konnten wir ihn nicht selbst bringen.« »Über mich gewacht habt ihr also«, sagte Atlan. »Ich habe es gemerkt.« Seyfft schien zu überlegen, was er von dieser Antwort zu halten habe. Konnte er nun den Umstand, daß der von Atlan Gesuchte hier war, als Pluspunkt für sich buchen oder nicht? »Er ist hier«, beharrte er. »Und wir wissen, wo der Abgesandte des SCHLOSSES sich aufhält. Wir haben den Teil unserer Abmachung gehalten. Wie ist es mit dir?« Atlan schüttelte schweigend den Kopf. Mittlerweile zweifelte er nicht mehr daran, daß die Zwerge es tatsächlich fertigbringen würden, jeden für ihn geforderten Preis zu bezahlen. Sicher hatten sie in der Dunkelheit noch manchen Dorkher bestehlen können. Wäre es da nicht besser gewesen, sich zum Schein von ihnen kaufen zu lassen und später, wenn er mit ihnen erst einmal aus Turgan heraus war, das Weite zu suchen? Wie sollte er sein Versprechen wahrmachen und sie nach einer eventuellen Flucht mitnehmen? Atlans dahingehende Überlegungen konzentrierten sich jetzt nicht mehr auf Konterfert. Jetzt blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als sich an den Techno zu wenden. Wenn dieser aus Angst vor den Turganern nicht zu ihm kam, mußte er eben ihn aufsuchen. Konterfert mußte ihn und Grizzard mit dem Zugor aus der Stadt und zum SCHLOSS bringen.
An den Zwergen aber würde er bestimmt kein Interesse haben. Es sei denn, man machte sie ihm schmackhaft. Darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen. Seyfft und seine Kumpane schienen jetzt wirklich seine letzte Hoffnung zu sein, und er mußte sie bei Laune halten. Später würde sich ein Weg finden lassen, etwas für die Zwerge zu tun. Du solltest dich von ihnen kaufen lassen! meldete sich der Extrasinn. Sie würden dich als ihren neuen Herrn ausgeben und als deine Sklaven Turgan verlassen dürfen. Ein einfacher Plan. Einmal aus der Stadt, wärst natürlich du wieder der Sklave, aber du wirst mit ihnen fertig! Das will ich nicht! dachte Atlan. Die kleinen Kerle haben mir schon geholfen und tun mir leid. Sentimentalitäten! Sie tun dir leid. Grizzard tut dir leid! Es geht um dich und um mehr! Du solltest dir leid tun! Atlan schüttelte den Kopf. »Ich stehe zu meinem Wort, Seyfft. Aber erst muß ich freikommen. Konterfert muß informiert werden. Er soll auf mich warten und sein Fahrzeug startbereit halten. Geht zu ihm und …« »Und?« Atlan fragte sich, wieso ihm der Gedanke nicht schon viel früher gekommen war. »Ihr kennt doch den Schmied.« »Natürlich«, jauchzte Seyfft. »Ich habe dir gegen ihn geholfen.« »Ich meine, ob ihr wißt, wo er wohnt, wo er jetzt ist.« »Wissen wir. Du willst, daß wir ihm die Schlüssel für dein Halsband stehlen?« »Genau das. Holt sie, solange es noch dunkel ist. Dann nehmt mir die Kette ab und führt mich zu Konterfert.« Seyfft sah Atlan lange mißtrauisch an. Grizzard saß mit dem Rücken am Pfahl und sagte kein Wort. »Sehr schön ausgedacht, Atlan«, sagte der Zwerg dann. »Aber wir trauen dir noch nicht genug. Wer garantiert uns, daß du nicht sofort fortläufst, wenn wir dich befreit haben?«
»Ich garantiere dir, daß ich euch fortlaufen werde, wenn ihr mich nicht befreit und kauft.« Wieder berieten sich die Zwerge. Offenbar waren sie nicht ganz einer Meinung, was ihr lautes Schnattern und das wütende Auf‐ und Abspringen einige Narren verriet. Seyfft beendete die Diskussion schließlich, indem er den beiden Hauptkontrahenten seine Faust auf den Schädel schlug. Mit einem Satz war er zurück. »Wir holen den Schlüssel, Atlan«, eröffnete er dem Arkoniden. »Vertrauen gegen Vertrauen. Wir werden dich vom Pfahl abketten und aber solange an der Kette führen, bis wir bei Konterfert sind und wir wissen, daß er uns mitnimmt.« Seyfft sprang drei Meter durch die Luft und landete zwischen seinen Artgenossen. Noch einmal blickte er Atlan über die Schulter an. »Wir wissen, daß der Abgesandte nicht daran denkt, uns mitzunehmen. Wir wollen auch nicht ins SCHLOSS. Wie du ihn dazu bringst, seine Meinung zu ändern und uns unterwegs abzusetzen, ist deine Sache. Du bleibst unser Gefangener, bis wir in Freiheit sind. Und glaube nicht, wir würden nicht mit dir fertig. Du kennst uns noch lange nicht. Wir gehen zum Schmied. In Kürze sind wir zurück.« »Hoffentlich«, murmelte Atlan. »Und kommt diesmal nicht wieder zu spät.« »Zu spät?« »Ach, vergiß es, Seyfft!« Atlan warf Grizzard einen kurzen Blick zu. »Los, beeilt euch.« Wie eine Schimpansenhorde entfernten sich die Zwerge mit wilden Sprüngen. Ein Dorkher, der einen nächtlichen Spaziergang über den Sklavenmarkt machen wollte, konnte nicht mehr ausweichen, als einer der Gnomen auf ihm landete und ihn unsanft wieder dorthin beförderte, von wo er gekommen war – in die Unterstadt.
Wieder herrschte Stille auf dem Sklavenmarkt. Nur einige der Angeketteten wälzten sich im Schlaf herum oder stöhnten, und aus den Wirtshäusern kam immer noch das Gegröle. Atlan fragte sich, wie viele der nach Turgan gekommenen Sklavenkäufer bei Tagesanbruch einen klaren Kopf haben würden, um weitere Geschäfte zu machen. Wie lange noch bis zum Morgen? Drei Stunden? Zwei? Atlan legte sich so auf die Seite, daß er Grizzard im Auge hatte. Grizzard war nun äußerlich ruhig, aber tief in seinem Innern mußte er einen schweren Kampf mit sich selbst austragen. Der Gedanke an seinen Körper, an Copasallior und das, was der Weltenmagier von ihm verlangte, mußte ihm unerträgliche Qualen bereiten. Über kurz oder lang mußte Grizzard über diesen seinen Konflikt zerbrechen. Atlans Mitgefühl für diesen einsamen Mann wurde noch stärker. Wenn er ihm nur helfen könnte. Dann dachte er an Razamon. Nein, der Berserker durfte, konnte nicht tot sein. Männer, die wie er von einer Gefahr in die andere kamen, starben nicht so einfach. Und Thalia? Atlan fühlte sich zwischen widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen. Einmal sah er keine Hoffnung mehr, falls Razamon tatsächlich nicht bald auftauchte, dann wieder glaubte er, daß er mit der Hilfe der Zwerge die Flucht schaffen mußte, aus eigener Kraft. Die Zweifel nagten schwer an ihm, wurden durch wilde Hoffnung abgelöst und kamen wieder. Eine Stunde verging. Dann tat sich bei den Treppen etwas. Atlan richtete sich halb auf und hockte sich neben Grizzard, der die Geräusche ebenfalls gehört hatte und voller Furcht zur Treppe starrte. Stadtwachen erschienen und führten Dorkher auf den Sklavenmarkt, die neue Sklaven an Ketten hinter sich her zerrten. Nachschub, dachte der Arkonide. Einige Nachzügler, die nicht
mehr rechtzeitig zur Eröffnung des Marktes gekommen waren oder einfach den zweiten Tag abgewartet hatten, um ihre Ware an den Mann zu bringen, wenn die Konkurrenz ihre besten Stücke verkauft hatte. Die wenigen Pfähle, an denen keine Sklaven mehr hingen, wurden neu besetzt. Die Dorkher sahen sich um, betrachteten die schlafenden Sklaven und versuchten ihren Wert zu schätzen. Atlan hielt ihrem Blick stand, als sie vor ihm standen. Ein Zukaharto spuckte ihm vor die Füße und begab sich zum nächsten Gasthaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Die anderen folgten ihm. Die neuen Sklaven umschlichen knurrend ihre Pfähle, bis ihre Ketten sich soweit verschlungen hatten, daß sie kaum noch Bewegungsfreiheit hatten. Schließlich legten sie sich nieder. »Ich … halte es nicht mehr aus!« stieß Grizzard hervor. Erst jetzt schien er zu begreifen, daß er, der als freier Mann in die Stadt gekommen war, nun auch nicht viel mehr war als ein Sklave, obwohl er keine Ketten trug. Die Magier von Oth bedrohten ihn, Atlan bedrohte ihn, die Turganer bedrohten ihn – Atlan wußte, daß der Verfolgungswahn langsam, aber sicher von ihm Besitz ergriff. Bevor er etwas sagen konnte, war wieder Kettenrasseln zu hören. Ein neuer Zug kam die Treppen zum Sklavenmarkt herauf. Atlan kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, wer da so kurz vor Sonnenaufgang noch neue Sklaven brachte. Turganer. Eine Reihe schwarz vermummter Gestalten. Aber sie sangen! »Der Kerl an der Spitze ist ein Priester«, flüsterte Grizzard. »Ich habe seinesgleichen in Turgan gesehen.« Eine Prozession zum Sklavenmarkt? Die Turganer trugen blakende Ölfackeln, so daß es schwerfiel, Einzelheiten erkennen zu können. Der Priester trug Ketten aus glitzernden Steinen und Silber um den Hals und über der Brust. Die Turganer waren nur in einfache schwarze Umhänge gekleidet. Und
zwischen ihnen, in Ketten, ging … Atlan hatte Mühe, einen Aufschrei zu unterdrücken, als er erkannte, wer der einzige Sklave war, den sie brachten. Grizzard schrie heiser auf. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu springen. »Razamon!« Atlan legte ihm schnell wieder die Hand auf den Mund. Jeder seiner Muskeln war angespannt. Sein Herz schlug heftig, und er hatte plötzlich einen trockenen Hals. Der Freund lebte! Wenn Razamon ihn und Grizzard entdeckt hatte, so zeigte er es nicht. Atlan suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, den Pthorer auf sich aufmerksam zu machen, ohne daß die Turganer es bemerkten. Sie sollten nicht vorbeiziehen! Was nützte es ihm, wenn sie Razamon an einen der anderen Pfähle ketteten? Plötzlich schrie Grizzard gellend auf, so wie nur ein Mensch in höchster Panik schrie. Er sprang auf und versuchte davonzurennen, irgendwohin zu fliehen, wo es keinen Atlan und keinen Razamon gab. Er kam nicht weit. Drei Turganer verstellen ihm den Weg und überwältigten ihn ohne große Mühe, obwohl er sich wehrte wie eine Wildkatze. Aber seine Schläge fuhren in die Luft. Grizzard war nicht mehr Herr seiner Sinne. Er schrie immer noch und versuchte sich loszureißen, als einer der Schwarzvermummten mit dem Schmied zurückkehrte, den Seyfft und seine Bande suchen sollten. Eine Handvoll Dorkher erschienen auf dem Marktgelände und lachten schallend, als nun auch Grizzard Ketten angelegt wurden. Allerdings hielten sie sich in respektvoller Entfernung vom Priester. Niemand griff ein, obwohl der Priester und seine Anhänger sich gerade einen neuen Sklaven nahmen. Atlan hielt den Atem an. Razamon sah zu ihm herüber. »Bringt sie dorthin!« befahl der Priester. Dann, als seine Anhänger Grizzard und Razamon an Atlans Pfahl ketteten, lachte er höhnisch.
»ManʹDhu wird mit mir zufrieden sein. Er wird das doppelte Opfer erhalten. Selten habe ich eine erfolgreichere Nacht erlebt!« Atlan rätselte nicht lange über die Bedeutung dieser Worte nach. Der Priester und seine Motive interessierten ihn jetzt kaum. Razamon ließ sich neben ihm zu Boden sinken, und Grizzard brach wimmernd zusammen. Und Razamon war hellwach, obwohl er den Entmutigten spielte! Nur ein einziger Blick aus seinen Augen genügte, um Atlan wissen zu lassen, daß er im Vollbesitz seiner Kräfte war. Einige der Turganer traten nach ihm. Er ließ es sich gefallen, spielte den Lammfrommen und rührte sich nicht, bis der Priester mit seiner Gefolgschaft abzog. Der Schmied grinste Atlan schadenfroh an, dann wankte er, ebenso betrunken wie die meisten Dorkher in dieser Nacht, auf die Treppe zu und verschwand ebenso wie die Schaulustigen. Razamon richtete sich auf, warf Grizzard einen finsteren Blick zu und riß sich den metallenen Halsring auf.
* Es war ein Werk von Sekunden, auch Atlan zu befreien. Razamon sprengte den Halsring des Arkoniden, als wäre er aus Plastik. Atlan rieb sich den Hals und sah sich immer wieder um. Noch blieb es ruhig. Seine Befürchtung, die neuen Sklaven könnten aufmerksam werden und nun einen Mordsspektakel beginnen, erfüllte sich zu seinem Glück nicht. Der Pfahl, an den er, Grizzard und Razamon gekettet gewesen waren, lag abseits genug. Im Halbdunkel sahen die Sklaven nur Gestalten, die sich bewegten, als ob sie einander bekämpften. Atlan machte einige entsprechende Bewegungen, um eventuelle Beobachter in diesem Glauben zu lassen. Razamon stand mit finsterem Gesicht vor Grizzard. Er zögerte. »Nimm ihm die Kette ab«, sagte Atlan leise. »Er ist nicht mehr
unser Freund Axton. Er ist Grizzard.« Razamon fuhr herum und starrte den Arkoniden einen Augenblick ungläubig an. Dann stieß er pfeifend die Luft aus. »Jetzt wird mir einiges klar.« »Ich erkläre dir alles später. Er ist vollkommen verwirrt. Er weiß nicht, was er tut, und weiß kaum noch, wer er ist. Er hat keine Schuld an dem, was er tat.« Razamon bückte sich und sprengte auch Grizzards Halsring. Grizzard zuckte nur kurz zusammen, schrie heiser auf, als er das Gesicht des Pthorers über sich sah, und rührte sich nicht vom Fleck. Dennoch behielt Razamon eine abwehrende Haltung ihm gegenüber bei. »Wir müssen von hier verschwunden sein, bevor die Sonne aufgeht«, flüsterte Atlan. »Irgendwo in Turgan hält sich ein Techno auf, der vom SCHLOSS kam, um den Sklavenmarkt zu kontrollieren und die besten Sklaven fürs SCHLOSS zu kaufen. Leider hat er sich ziemlich dumm angestellt. Er wollte mich konfiszieren und muß nun zusehen, daß er nicht einem aufgebrachten Mob von Turganern in die Arme läuft.« »Ich verstehe«, knurrte Razamon. »Wir müssen warten, bis meine … Freunde zurückkommen. Sie wissen, wo Konterfert steckt. Nur mit ihm kommen wir aus Turgan heraus.« »Du willst, daß er uns ins SCHLOSS bringt?« Atlan nickte. Er sah zur Treppe hinüber. Wo blieben Seyfft und seine Zwerge? Razamon gab keine Antwort. Noch immer starrte er Grizzard an. »Vergiß, was geschehen ist. Er bat die Magier von Pthor um Hilfe, und diese schickten ihn – sein Bewußtsein – in seinen Körper zurück. Er verdrängte Axton, mußte den Magiern aber versprechen, mich zu töten, wenn er nicht wieder in den Axton‐Körper zurückgeholt werden will. Das macht ihn krank. Er redete reichlich verwirrtes Zeug und …«
»Was und?« fragte Razamon, als Atlan eine Pause machte. Der Arkonide winkte ab. »Nichts. Mir fiel nur gerade ein, daß er noch einen Namen nannte. Ich glaube, es war … Upanak.« Razamon fuhr herum und starrte Atlan an wie einen Geist. »Was ist los?« »Upanak!« »Ja«, sagte Atlan, ohne zu begreifen, was auf einmal in den Freund gefahren war. Und auch Grizzard erwachte plötzlich aus seiner Starre, als sei der fremde Name für ihn wie für Razamon gleichermaßen ein Zauberwort gewesen. »Razamon, komm zu dir! Was ist mit Upanak? Hast du den Namen schon einmal irgendwo gehört? Wer ist Upanak?« Razamons und Grizzards Anblick ließ den Arkoniden Seyfft für den Augenblick vergessen. Was war in die beiden gefahren? Nun stand Grizzard auf, sah Razamon an und begann unverständliche Worte zu stammeln. »Vor langer Zeit«, murmelte der Pthorer. »Es muß vor langer Zeit gewesen sein. Upanak …« »Ich bin Upanak!« schrie Grizzard. Er schlug sich die Hände vor die Augen und fiel vor Razamon auf die Knie. Seine Arme schlangen sich um die Beine des Berserkers. »Ich bin Upanak! Erinnerst du dich nicht an mich? Als die große Flut über mein Land kam und die Lager unserer Sippen zerstört wurden und die furchtbaren Ungeheuer erschienen, kamst du, um uns in Sicherheit zu bringen. Wir kämpften gegeneinander, bevor du uns helfen wolltest, Razamon! Aber es war sinnlos! Die Männer in der fliegenden Schale kamen und holten mich. Sie brachten mich in ein gläsernes Haus, in einen ihrer Glaspaläste und machten mich zu dem, der ›für alle schläft‹! Zu Grizzard, Razamon! Und dir gab ich die Schuld daran, weil sie mich erst gefangennahmen, nachdem ich deinen Namen genannt hatte! Ich haßte dich dafür, Razamon! Wie ich dich haßte! Ich wollte dich töten wie Atlan! Vergib mir!«
Grizzard schluchzte hemmungslos und krallte sich an den Beinen des Atlanters fest. Razamon stand da wie zu Stein erstarrt. Kein Muskel zuckte in seinem harten Gesicht. Die schwarzen Augen waren starr in die Ferne gerichtet. Atlan spürte, wie es ihn eiskalt überlief. Dunkel dämmerte in ihm auf, daß er hier und jetzt einen Augenblick von großer Tragik und Bedeutung für Grizzard und Razamon gleichermaßen miterlebte. Grizzards nur stammelnd hervorgebrachte Schilderungen – sollten sie bedeuten, daß er Razamon auf der Erde begegnet war? Damals, als Pthor auf Atlantis materialisierte und den Untergang dieses Kontinents einleitete? Atlans Gedanken überschlugen sich. War Grizzard dann ein Mensch der Erde – ein vorzeitlicher Jäger namens Upanak? Aber dies war nicht der Augenblick für derlei Eröffnungen. Atlan sah sich um. Wo blieben die Zwerge? »Upanak«, murmelte Razamon. »Ja, jetzt erinnere ich mich.« Er bückte sich langsam, nahm Grizzards Arme und richtete den Unglücklichen auf, ohne eine Miene zu verziehen. In knappen Sätzen berichtete er Atlan von dem, was vor rund zehntausend Jahren auf der Erde geschehen war. »Ich wußte nichts davon, daß sie Upanak in die Senke der verlorenen Seelen brachten und zu Grizzard machten«, schloß er. »Ich blieb ja auf der Erde zurück. Die Technos, die ihn einfingen, waren auf der Jagd nach mir.« Erschüttert nickte Atlan. Wie oft hatte er Spekulationen über Grizzards im Dunkeln liegende Herkunft angestellt. Aber auf den Gedanken, in ihm einen vorzeitlichen nordamerikanischen Jäger vor sich zu haben, wäre er nicht einmal im Traum gekommen. Grizzard sah scheu von Razamon zu ihm herüber und wieder zurück. Atlan legte eine Hand auf seinen Arm und hatte Mühe, die Worte zu finden, die das ausdrücken konnten, was er in diesen Augenblicken empfand. »Es ist gut, Grizzard«, sagte er. »Beruhige dich. Wir werfen dir
nichts mehr vor. Du hast mehr ertragen müssen als fast jeder andere Mensch. Wir werden dir helfen, soweit es in unserer Macht steht. Das mußt du uns glauben. Aber«, wieder suchte er nach den Zwergen, »du mußt uns dabei helfen.« Zögernd nickte Grizzard, aber in seinen Augen stand die unausgesprochene Frage: Wie denn, wenn die Magier mich nach Pthor zurückholen? Atlan schluckte und fluchte leise vor sich hin. Minute um Minute verstrich, und durch Grizzards und Razamons Eröffnung war er zusätzlich verwirrt worden. Bald würde die Sonne aufgehen, und dann … »Wir warten nicht länger«, entschied der Arkonide. »Wenn die Zwerge uns nicht helfen, müssen wir selbst nach Konterfert suchen.« Weder Razamon noch Grizzard antworteten. Noch immer sahen sie sich an, und nicht nur Grizzard mochte sich nun schuldig fühlen. Atlan stieß eine weitere Verwünschung aus und packte Razamons Arm, um ihn wachzurütteln, als er plötzlich Krach bei den Treppen hörte. Seyfft erschien, gefolgt von seinen Artgenossen. Sie schnatterten aufgeregt, und Atlan fragte sich, wieso es nicht längst von Dorkhern auf dem Sklavenmarkt wimmelte? Grizzard hatte laut genug gejammert. Tatsächlich erschienen wieder ein paar angetrunkene Turganer und schleuderten Steine nach den Zwergen, mit dem einzigen Erfolg, daß sie in einem ihnen geltenden Steinhagel schnellstens das Weite suchen mußten. »Beruhige dich, Atlan«, sagte Seyfft meckernd, als er vor den Füßen des Arkoniden landete. »Es ist ein Gesetz, daß niemand etwas auf dem Sklavenmarkt zu suchen hat, ehe die Sonne aufgeht – es sei denn, er bringt neue Sklaven, und heute kommen keine mehr. Nur wir dürfen alles tun, was für andere verboten ist.« Er griff in eine Tasche seines bunten Kostüms und hielt voller Stolz einen
großen Schlüsselbund und in die Höhe. »Es war nicht leicht, den Schmied zu finden und zu bestehlen. Zuerst wurde er von einem Turganer fortgeschleppt, und dann …« Seyfft stockte, als er die Kette mit dem aufgesprengten Halsring neben Atlan am Boden liegen sah. Sein Blick wanderte hinüber zu Razamon und Grizzard, die ebenfalls frei waren. »Das … das ist gegen unsere Abmachung!« schimpfte der Zwerg. »Wir sollten euch befreien, und nicht …« Erst jetzt erkannte er Razamon. »Und das ist der Mann, den wir für dich suchen sollten, den du uns beschrieben hast! Atlan, du hast die Abmachung gebrochen! Wieso schickst du uns auf die Suche, wenn ihr euch selbst findet und befreit? Wir haben unser Leben riskiert! Der Schmied ist uns auf den Fersen, und …« »Jetzt hältst du den Mund!« fuhr Atlan ihn an. »Der Schmied ist betrunken und hat bestimmt noch nicht bemerkt, daß ihr ihn bestohlen habt. Sonst hätte er ganz Turgan alarmiert! Die Abmachung gilt, Seyfft. Bringt uns jetzt schnell zu Konterfert, und ich halte mein Versprechen!« Seyffts Zorn verrauchte nur langsam. Er ließ sich im Schneidersitz vor Atlan nieder, warf Razamon und Grizzard trotzige Blicke zu und sagte: »Wer garantiert uns denn, daß du den Abgesandten nicht auch längst selbst gefunden hast? Wir werden euch nicht führen. Wir streiken!« Atlan schlug sich in stummer Verzweiflung die Hände vors Gesicht. »Seyfft, wie soll ich Konterfert gefunden haben, wenn ich angekettet war?« »Du bist aber nicht mehr angekettet!« Atlan unterdrückte das, was er auf der Zunge hatte, und drehte sich zu den Gefährten um. »Kommt, wir suchen ihn selbst. Achtet nicht mehr auf diese
dummen Narren!« Razamon war anzusehen, was er von den Zwergen hielt und am liebsten mit ihnen getan hätte, aber auch er beherrschte sich. Er nahm Grizzard bei der Hand, nickte ihm aufmunternd zu und schaffte es, daß der ehemalige Jäger seine Beine bewegte und ihm und Atlan folgte, ohne erneut in Selbstmitleid und Entschuldigungen auszubrechen. »Wartet!« schrie Seyfft, aber Atlan hatte genug von dem makabren Spiel der Narren. Sie weckten die ganze Stadt auf. Sicher hatte Seyfft recht mit seiner Versicherung, daß niemand den Sklavenmarkt vor Anbruch des Morgens betreten durfte, aber für die Stadtwachen galt das bestimmt nicht, und irgendwann würden sie aufhören zu glauben, daß das Gezeter und Kettenrasseln nur von sich bekämpfenden Sklaven kam. Atlan hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte. Nur nicht die Treppen hinunter. Aber in welche Richtung dann? Es gab ein halbes Dutzend kleiner Gassen, die vom Sklavenmarkt abzweigten. Gerade wollte er Grizzard fragen, ob dieser bei seinen Streifzügen durch Turgan einen Hinweis darauf entdeckt hatte, wo der Techno sich befand, als die Zwerge sie mit ein paar wilden Sprüngen überholten. »So wartet doch!« krächzte Seyfft. »Wir führen euch ja! Wir führen euch!« »Ich verstehe keinen Spaß mehr, Seyfft!« knurrte Atlan. »Das weiß ich. Aber laßt uns nicht in Turgan zurück. Ihr könnt all unsere Khams haben, wenn ihr uns mitnehmt! Alles, was wir haben!« »Dann bringt uns endlich zu Konterfert!« »Sofort, Atlan. Dieser Weg!« Seyfft deutete auf eine schmale Gasse zwischen zwei Häuserfassaden, die Atlan noch gar nicht entdeckt hatte, und lief eifrig voran. Aber der Arkonide fragte sich jetzt, ob die Zwerge wirklich
wußten, wo der Abgesandte des SCHLOSSES sich aufhielt. Ihm blieb keine andere Wahl, als darauf zu vertrauen.
6. Natürlich hatten Seyffts Kumpane Konterfert nicht über Atlans Absicht informiert, im Fall einer geglückten Flucht zu ihm zu kommen und ihm so doch noch die Gelegenheit zu geben, den bemerkenswerten hellhaarigen Sklaven, wie er noch keinen Mann auf Dorkh gesehen hatte, ins SCHLOSS zu bringen. Zwar hatten sie seinen Aufenthaltsort ausfindig gemacht, eine Herberge am relativ ruhigen Stadtrand von Turgan, die vom Markttreiben und dem damit verbundenen Trubel weitestgehend verschont blieb und deren Besitzer ihn nicht nur aufnahm, als er die Khams in Konterferts Hand sah, sondern auch dafür sorgte, daß er seine Ruhe hatte, aber herangewagt an den Gesandten des SCHLOSSES hatten die Narren sich dann doch nicht. Konterfert hatte sie in der Nähe der Herberge herumtoben gesehen und wohl gemerkt, daß ihre Aufmerksamkeit ihm galt, dem aber keine besondere Bedeutung beigemessen. Ihn beschäftigte nur, wie er den hellhaarigen Sklaven doch noch in seine Gewalt bringen konnte. Er mochte nicht daran denken, was mit ihm geschah, wenn er mit leeren Händen zum SCHLOSS zurückkam. Bei Nacht zum Sklavenmarkt zu schleichen, hatte sich beim ersten Versuch als sinnlos erwiesen. Zwar hielt der Besitzer der Herberge ihm die Stadtwache vom Hals, aber mehrere Bewaffnete hatten sich um die Herberge herum postiert und bewachten alle Zugänge zum Stadtzentrum. Konterfert wäre in der Lage gewesen, sie zu lähmen, aber das verbot ihm der besondere Status der Stadt Turgan. Wie alle Technos stellte er keine Fragen nach den Motiven der SCHLOSSHERREN. Er hatte nur ihre Befehle auszuführen. Turgan
war, besonders während des Marktes, selbst für die SCHLOSSHERREN unantastbar. Er hatte sich damit abzufinden. Er wagte es nicht einmal mehr, auf dem Sklavenmarkt als Käufer aufzutreten. Konterfert wußte, daß die Händler ihn am liebsten aus der Stadt jagen würden, was wiederum ihnen nicht möglich war, wollten sie nicht den Zorn der SCHLOSSHERREN auf sich ziehen, obwohl sie diese kaum noch zu fürchten schienen. Aber niemand würde ihm auch nur den geringsten Sklaven verkaufen, und wenn er noch soviel für ihn bot. Der Hellhaarige war unerreichbar. Konterfert hätte schon jetzt, vor dem Ende des Sklavenmarkts, zum SCHLOSS zurückfliegen können. Er tat es nicht. Er mußte warten, allein deshalb, weil seine Anwesenheit, die eines Kontrolleurs, bis zum Ende des Marktes erforderlich war. So war es immer gewesen. Konterfert war gefangen in einem für ihn unverständlichen Netz aus Verflechtungen und gegenseitigen Konventionen, das er nicht verstand. Er war viel zu sehr Diener seiner Herren, um darüber nachzudenken, warum plötzlich drei seiner Art aufgetaucht waren, sich als Abgesandte des SCHLOSSES ausgaben und einen wertvollen Sklaven für sich selbst verkaufen wollten. Aus den gleichen Gründen, die ihm verboten, sich wieder in die Stadt zu begeben, war ihm eine Verfolgung der drei unmöglich gewesen. Ihre Tat stellte einen ungeheuren Frevel dar, eine Anmaßung ohnegleichen, über die er nach der Rückkehr ins SCHLOSS berichten würde. Das war, wie es nun schien, aber auch alles, was er den HERREN zu sagen hatte. Irgend etwas geschah auf Dorkh, hier und jetzt, in Turgan und überall – ja, selbst im SCHLOSS. Nichts schien mehr wie früher zu sein. Konterfert spürte es, aber er unterdrückte alle Fragen. Die Antworten konnten seine eigene Existenz in Frage stellen. So wartete er, stand vor der Herberge oder lag auf seinem harten Bett und hoffte auf eine Eingebung, von der er nur zu gut wußte,
daß sie ihm nicht kommen würde. Er befand sich auch in seinem Zimmer, als er durch den Lärm vor dem Haus aufgeschreckt wurde. Konterfert trat an eines der Fenster – allmählich begann es draußen zu dämmern – und erstarrte.
* Als das Zentrum Turgans hinter ihnen lag, hatte Atlan einen Eindruck davon bekommen, was den Turganern und ihren Gästen die Zeit zwischen zwei Markttagen bedeutete, und es hatte nicht gerade dazu beigetragen, seine Verwirrung zu lindern. Die ganze Nacht über war in den Kneipen und Gasthäusern getrunken, gespielt und gefeiert worden. In den Wirtschaften wurde die Nacht zum Tag gemacht – und nur dort, nur in den Häusern und den Teilen der Stadt, in der die Stände der kleineren Händler aufgebaut waren. Außerhalb dieses vor den Treppen zum Sklavenmarkt endenden Bezirks herrschte Totenstille. Kein einziger Turganer, kein Besucher von außerhalb war den drei Flüchtigen und den Zwergen in die Quere gekommen, bis Seyfft und seine Freunde plötzlich still wurden und sich wenig später die Umrisse der Wachen aus der Dämmerung schälten, als der Stadtrand erreicht war. Seyfft hatte schnell erklärt, daß es sich um Turganer handelte, die in besonderem Auftrag hier waren und dafür zu sorgen hatten, daß der Abgesandte des SCHLOSSES sich nicht bei Nacht und Nebel zum Sklavenmarkt schlich. Für Atlan und Razamon war es ein leichtes gewesen, die Wachen zu überwältigen. Die Turganer waren müde und blickten nur in die Richtung, in der die Herberge lag, in der Konterfert sich nach Seyffts Versicherung aufhielt. Atlan und Razamon konnten sich von hinten anschleichen und die Wachen betäuben, ohne daß sie einen Laut
von sich gaben. Die Zwerge paßten auf Grizzard auf, doch das war eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, wie sich erwies. Grizzard machte keinen Versuch, die Gelegenheit zu nützen und zu fliehen. Wie ein treuer Hund trottete der Bedauernswerte hinter Atlan und Razamon her, und es schien, als hätte er nun nur noch den Wunsch, nicht allein gelassen zu werden. Vielleicht hoffte er wirklich darauf, daß Atlan ihm helfen konnte. Vielleicht war durch die Heraufbeschwörung der fernen Vergangenheit eine neue Bindung zu Razamon entstanden, und der Haß auf den Mann, den Grizzard so lange für sein Unglück verantwortlich gemacht hatte, hatte sich in eine Art tiefe Verbundenheit umgekehrt. Atlan wollte sich nicht darauf verlassen. Im Moment mochte Grizzard sich von einer unendlich schweren Last befreit fühlen, aber bald schon würde wieder Copasallior in seinem Kopf herumspuken. Razamon war den ganzen Weg über nicht von seiner Seite gewichen. Ja, er fühlte sich verantwortlich für Grizzards grausames Schicksal, doch die finsteren Blicke, die Atlan mehr als einmal einen Schauer über den Rücken jagten, galten bestimmt nicht Grizzard, sondern dem, der wirklich Schuld hatte – an dem, was vor zehntausend Jahren auf Terra geschehen war, und an vielen anderen Schicksalen, die noch um vieles grausamer sein mochten als das des Jägers Upanak. Razamons Haß auf den Dunklen Oheim war noch stärker geworden, und wenn er nun weit ausschritt und die Hände zu Fäusten ballte, mochte er ans SCHLOSS denken und daran, daß dort Statthalter dieses mysteriösen Beherrschers der Schwarzen Galaxis saßen, Wesen, die vielleicht endlich einen brauchbaren Hinweis auf die Identität dieses Monstrums geben konnten. Atlan glaubte nicht daran. Von ihnen würde ebensowenig zu erfahren sein wie von der Herren der FESTUNG auf Pthor oder den Neffen. Das Dunkel, daß den Dunklen Oheim umgab, war schier undurchdringlich. Und es würde sich erst lichten, wenn er diesem Wesen selbst gegenüberstand. Eines Tages.
Die Straße, an deren Ende die Wachen postiert gewesen waren, endete abrupt. Zu beiden Seiten wichen die Häuserblocks auseinander. Seyfft landete neben Atlan und zog ihn am Bein. »Bleibt stehen«, flüsterte er, was schon ungewöhnlich genug für ihn war. Er deutete auf das einzelne Gebäude am Rand der Stadt, gute zweihundert Meter entfernt. »Das ist die Herberge, in der der Abgesandte sich befindet. Dort ist seine Flugmaschine.« Der Zugor war halb hinter der Herberge versteckt. Nur ein Teil des schalenförmigen Fahrzeugs war von hier aus zu sehen. Razamon stieß einen Laut der Überraschung aus. »Wozu brauchen wir Konterfert, Atlan?« fragte er leise. »Wir wissen, wie ein Zugor geflogen wird – und es ist tatsächlich ein Zugor!« Der Pthorer machte nun die gleiche Erfahrung wie Atlan schon beim Überfall von Siebzaht, Zinrer und Kelfyrt auf ihn und die Valaser. Es gab auf Dorkh Technos, die denen von Pthor vollkommen glichen, und sie benutzten die gleiche Technik. Atlan schüttelte den Kopf. »Glaubst du, der Gedanke wäre mir nicht schon gekommen? Konterfert wäre ein Trottel, wenn er die Maschine startbereit hinter dem Haus geparkt hätte. Ich bin sicher, daß er die Steuerung blockiert hat.« »Wir sollten es wenigstens versuchen«, sagte Razamon trotzig. Atlan zuckte die Schultern. Schaden konnte es nicht. Selbst falls Konterfert sie bei dem Versuch, seinen Zugor zu stehlen, überraschte – das Schlimmste, das ihnen geschehen konnte, war, daß er sie gelähmt ins SCHLOSS brachte. Aber dazu mußte es nicht kommen. Es war still bei der Herberge. Zwischen den Häusern und dem Gebäude gab es keine Deckung für die Gefährten und ihre sechs nun auffallend still gewordenen Begleiter. Sie mußten riskieren, von Konterfert bereits beobachtet zu werden, und da machte es keinen Unterschied, ob sie direkt auf die Herberge
zugingen oder versuchten, sich um sie herum an den Zugor anzuschleichen. Das Haus hatte nach allen Seiten Fenster, und Konterferts Quartier konnte hinter jedem von ihnen liegen. Atlan nickte Razamon und Grizzard zu. Sie marschierten gemeinsam los. Seyfft und seine Freunde blieben etwas zurück, was Atlan endgültige Gewißheit darüber gab, daß Konterfert keine Ahnung davon hatte, daß er sich freiwillig mit ihm ins SCHLOSS begeben wollte. Sie kamen nicht weit. Der halbe Weg zur Herberge lag gerade hinter ihnen, als sich drei kräftige Gestalten aus dem Dunkel des Eingangs lösten. »Bleibt stehen«, flüsterte Atlan. Seyfft hüpfte an seine Seite. »Das ist der Mann, dem die Herberge gehört«, flüsterte er aufgeregt. »Er hat uns schon einmal verjagt. Mit ihm ist nicht zu spaßen, Atlan.« »Und mit den beiden anderen bestimmt ebenso wenig«, murmelte der Arkonide. Er wechselte einen Blick mit Razamon. Der Berserker verstand. Atlan ging ruhig weiter, bis er vor dem stämmigen, finster dreinblickenden Turganer stand, dessen Kopf unverhüllt war und den Seyfft als den Herbergsbesitzer wiedererkannt hatte. »Was wollt ihr hier?« fragte der Mann, der auch durch sein barsches Auftreten seine Verwunderung über die seltsamen Besucher kaum verbergen konnte. »Ihr seid nicht von hier. Gehören die Plagegeister zu euch? Wenn ihr von der Stadtwache vorgeschickt seid, dann verschwindet schnell wieder, bevor wir nachhelfen müssen.« »Große Worte«, knurrte Razamon. Noch während er sprach, sprang er vor und schlug den Turganer zu Boden, wo er bewußtlos liegenblieb. Die beiden anderen schrien auf und wollten sich auf den Pthorer stürzen. Atlan war heran und betäubte einen von ihnen, während Razamon sich um den anderen kümmerte.
Seyfft und seine Bande sahen aus sicherer Entfernung zu und begannen triumphierend zu kreischen, als die drei Turganer nebeneinander am Boden lagen. »Seid still!« fuhr Razamon sie an. »Ihr weckt die ganze Stadt auf.« »Konterfert wird mit Sicherheit jetzt wissen, daß er Besuch bekommt«, sagte Atlan mit einem bösen Blick auf die Zwerge. Er beugte sich über die Bewußtlosen. »Hoffentlich schlafen sie gut. Wir konnten uns nicht lange mit ihnen aufhalten. Die Sonne geht auf, und inzwischen wird man unser Verschwinden entdeckt haben.« »Dann wird es Zeit, daß der Techno erscheint.« Atlan deutete zum Eingang der Herberge. »Dort ist er schon.« Konterfert trat ins Freie. In der rechten Hand hielt er eine Lähmwaffe. »Macht keine Dummheiten«, sagte der Gesandte des SCHLOSSES. Langsam kam er auf die Gefährten zu, die Waffe auf sie gerichtet. Wenige Meter vor Atlan blieb er stehen. Der Arkonide hob zum Zeichen seiner Friedfertigkeit beide Arme. »Hör zu, Konterfert«, sagte er, »wir sind nicht gekommen, um mit dir zu streiten. Wir begeben uns freiwillig in deine Gewalt. Bring uns ins SCHLOSS, aber schnell, denn inzwischen dürfte uns halb Turgan auf den Fersen sein.« Der Techno sah ihn durchdringend an. »Ihr seid also geflohen«, sagte er dann. »Das ist schade. Als Sklaven wärt ihr mir willkommen gewesen. So nicht. Geht zurück, oder ich muß euch paralysieren und hier liegenlassen, bis eure Verfolger euch gefunden haben.« Das kann nicht sein Ernst sein! durchfuhr es Atlan. »Konterfert, du begreifst nicht. Wir …« »Verschwindet! Wie konntest du glauben, ich würde euch als freie Männer ins SCHLOSS bringen?« Atlan verstand gar nichts mehr. Er wußte nur eines. Wenn es ihm nicht schnell gelang, den Techno umzustimmen, lag er in spätestens
einer Stunde wieder in Ketten – und Razamon und Grizzard mit ihm. »Worauf wartet ihr?« fragte der Techno und zielte auf Atlan.
* ManʹDhuʹRo entdeckte das Verschwinden seiner Gefangenen als erster. Für die Priester ManʹDhus galt das Gesetz nicht, das es verbot, vor Sonnenaufgang den Sklavenmarkt nicht zu betreten. Er war gekommen, um kurz vor Beginn des zweiten Markttages noch einige Vorbereitungen zu treffen, um seine beiden Sklaven unter optimalen Bedingungen und mit viel eindrucksvollem Beiwerk anpreisen zu können. Er hatte nur einen leeren Pfahl gefunden – und drei aufgesprengte Halsringe. Um ihn herum erwachte die Stadt. Sekundenlang stand der Priester wie erstarrt vor dem Pfahl und konnte nicht fassen, daß jemand die Kraft haben sollte, die Metallringe aufzubrechen. Dann schrie er laut nach den Wachen. Die Turganer kannten seine Stimme. Fenster wurden hell. Überall wurden Öllampen angezündet. Männer und Frauen steckten ihre verhüllten Köpfe aus ihren Fenstern und verschwanden wieder, um gleich darauf auf dem Marktplatz zu erscheinen. Und ManʹDhuʹRo konnte sich nicht beruhigen. »Kommt alle her!« schrie er. »Sklaven sind geflohen! Meine Sklaven! Jene, die dem mächtigen ManʹDhu geweiht waren! Wachen herbei! Kommt alle!« Immer mehr Dorkher strömten herbei und bildeten einen Kreis um ManʹDhuʹRo und den Pfahl mit den drei am Boden liegenden Ketten. Die Standfestesten der Käufer kamen aus den Wirtschaften, mehr schwankend als gehend, doch die frische Luft schien die Wirkung des Alkohols schnell zu neutralisieren. Turganer, verhüllte
Gestalten und die Hellebarden tragenden Stadtwachen bahnten sich ihren Weg. ManʹDhuʹRo rührte sich nicht von der Stelle, bis er den Hauptmann der Stadtwache sah, der ihn respektvoll grüßte und sich dann über die Ketten beugte. Er hob einen Halsring auf und schüttelte fassungslos den Kopf. »Sie sind nicht geflohen, Diener des ManʹDhu. Jemand hat sie befreit!« »Ein Verräter ist unter uns!« schrie jemand aus der Menge. ManʹDhuʹRo konnte nicht wissen, über welche Kräfte Razamon verfügte, da der Pthorer beim Kampf im Tempel nicht dazu gekommen war, sie voll zu entfalten. Es konnte also nur diese eine Erklärung geben. Kein Sklave war stark genug, um die Halsringe selbst aufzubrechen. »Jemand hat sie befreit!« wiederholte der Priester mit lauter Stimme und theatralischer Geste die Worte des Hauptmanns. »Jemand, der über die technischen Mittel dazu verfügt. Ist der Schmied aus seinem Rausch erwacht?« Der Gesuchte erschien zwischen den Umstehenden. »Du!« rief ManʹDhuʹRo. »Hast du die Gefangenen befreit?« Der Priester wußte ganz gut, daß dies nicht der Fall sein konnte. Aber es galt, die Turganer nun schnell mit Haß zu erfüllen, um sie dann auf die richtige Fährte hetzen zu können. ManʹDhuʹRo erkannte die Chance, die sich ihm bot. Er konnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Er duldete keine andere Macht als die des Götzen, und die Abgesandten des SCHLOSSES waren ihm jedesmal ein Dorn im Auge, wenn sie in Turgan erschienen. Für ihn galt das unausgesprochene Gesetz nicht, daß die Gesandten unbehelligt bleiben mußten, solange sie in der Stadt weilten. »Nein!« protestierte der Schmied heftig. »Hätte ich es getan, dann wären die Halsringe nicht aufgesprengt, sondern einfach aufgeschlossen worden.« Er griff in eine Tasche, um den Schlüsselbund herauszuziehen,
und zuckte zusammen. Bevor die Turganer merkten, daß er bestohlen worden war, zog der Priester ihre Aufmerksamkeit wieder ganz auf sich. Seine Hände waren beschwörend in die Höhe gestreckt. »Dann gibt es nur einen, der den Frevel begangen haben kann. Ihr kennt ihn alle. Es ist der Gesandte des SCHLOSSES, der unsere Gastfreundschaft auf schändliche Weise mißbraucht hat! Nur er kann über die Mittel verfügen, um dies zu tun.« Wieder deutete er auf die Ringe. Natürlich verfügte jeder Handwerker in Turgan über Werkzeuge, doch die Turganer hüteten sich, einen entsprechenden Einwand zu bringen. Die Priester des ManʹDhu waren gefürchtet, und niemand hatte ein Interesse daran, sich selbst in Verdacht zu bringen. Jeder war froh darüber, von ManʹDhuʹRo selbst einen Sündenbock geliefert zu bekommen. »Worauf warten wir dann?« schrie einer der Vermummten. »Ich weiß, wo er sich verbirgt! Beeilen wir uns, bevor er mit den Sklaven entkommen kann!« ManʹDhuʹRo schüttelte die Fäuste. Einige Besonnene versuchten, die aufgebrachte Menge zu beruhigen, aber der Priester verstand es, durch die Beschwörung des Götzen die Gemüter noch weiter zu erhitzen. Die Turganer waren nicht nur entsetzt über die Entweihung ihres Marktes, sie fürchteten vor allem die Strafe ManʹDhus, wenn sie ihm nicht den Übeltäter präsentierten, wie ManʹDhuʹRo es verlangte. »Führe uns!« forderte der Priester den Vermummten auf, der sich am lautesten ereiferte und angegeben hatte, Konterferts Versteck zu kennen. »Hauptmann, du kommst mit all deinen Männern mit!« Unter lautem Gebrüll verließen die Dorkher das Marktgelände und folgten dem Priester und den Wachen in die Gasse hinein, die zu den äußeren Stadtbezirken führte. Weitere Turganer kamen aus ihren Häusern gelaufen und schlossen sich ihnen an. Ein Strom von fäusteschüttelnden,
schreienden und fluchenden Wesen unterschiedlichster Herkunft schob sich durch die Straßen, und ihre Schreie »Tod den Frevlern!« hallten von den Mauern wider …
* Atlan sah dem Techno fest in die Augen. Razamon und Grizzard bewegten sich nicht von der Stelle. Sie hätten Konterfert überwältigen können. Einen von ihnen konnte er lähmen. Bevor er dazu kam, den zweiten Schuß abzugeben, hätten sie ihn gepackt. Doch was nützte ihnen Konterfert, wenn er sich weigerte, den Zugor zu starten? Und nun war aus der Ferne, vom Stadtzentrum aus, der Lärm der Verfolger zu hören. Die Flucht war entdeckt, und ein aufgepeitschter Mob auf den Fersen der »Sklaven«. Auch Konterfert hörte das Geschrei. »Sie kommen«, sagte er tonlos. »Ich werde euch an sie übergeben.« Atlan überlegte fieberhaft. Natürlich! Konterfert konnte das Risiko nicht eingehen, Fremde ins SCHLOSS zu bringen, die von sich aus dorthin wollten. Deshalb weigerte er sich. Atlan dachte an die Sicherungsanlagen um die FESTUNG herum, und sein Ansinnen mußte dem Versuch gleichkommen, auf einfachste Art und Weise all die Barrieren zu umgehen, die zweifellos auch um das SCHLOSS herum existierten. Wenn er aber Konterfert eine glaubhafte Motivation bieten konnte … Er glaubte schon, die rettende Idee zu haben, als ihm Seyfft einen Strich durch die Rechnung machte. So schnell, daß das menschliche Auge Mühe hatte, überhaupt eine Bewegung zu erkennen, war der Zwerg in der Luft und landete genau auf der Brust des Gesandten. Niemand hatte mit diesem Überraschungsangriff gerechnet, Atlan am wenigsten.
Seyfft mußte seinen ganzen Mut zusammengenommen haben, getrieben von der Angst, nun doch bis zu seinem Lebensende in Turgan bleiben und für die Städter den Narren spielen zu müssen – wenn ihm und seinen Freunden nun nicht Schlimmeres drohte. Konterfert reagierte viel zu langsam. Er taumelte zurück und fiel der Länge nach hin. Seyfft riß ihm den Lähmstrahler aus der Hand und brachte sich mit zwei Sätzen in Sicherheit. Er richtete den Strahler auf Atlan. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?« entfuhr es dem Arkoniden. »Du machst alles noch schlimmer! Gib die Waffe her!« Konterfert kam auf die Beine und machte Anstalten, sich auf den Zwerg zu stürzen. Atlan hielt den Atem an. Wenn Seyfft jetzt schoß und ihn lähmte, war alles aus! »Zurück!« kreischte der Narr. »Stell dich zu den anderen! Ich spaße nicht!« Konterfert blieb tatsächlich stehen, schätzte seine Chancen ab und sah wohl ein, daß Seyfft sehr genau wußte, wie die Waffe zu bedienen war. Mit versteinerter Miene stellte er sich neben Atlan. »So ist es gut!« lobte Seyfft. Wieder das meckernde Lachen. »Also fliegen wir los. Du bekommst den Strahler, wenn wir in Sicherheit sind, Atlan. Ich traue euch nicht. Los, steigt in die Flugschale!« »Seyfft!« Atlan hob beschwörend die Hände. »Sei vernünftig. Konterfert wird uns nicht aus Turgan herausbringen, wenn du ihn bedrohst!« Das Geschrei der Verfolger wurde lauter. Atlan wurde von Zorn gepackt. Sollten die Zwerge ihm im letzten Augenblick alles verderben? »Seyfft! Ich halte mein Versprechen, aber entweder fliehen wir alle oder keiner von uns. Gib mir die Waffe!« »Nein! Konterfert denkt nicht daran, uns mitzunehmen! Ich weiß es!«
»Er wird es tun!« »Er tut es nicht, wenn ich ihn nicht zwinge!« Da platzte dem Arkoniden der Kragen. »Dann schau hinter dich! Der Priester ist schon heran! Es ist aus, du Dummkopf!« Seyfft fiel auf den uralten Trick herein, drehte sich erschreckt um und sah gerade noch Atlans Faust heranschießen, als er erkannte, daß er hereingelegt worden war. Atlan entriß Seyfft den Strahler, sah, daß die anderen Zwerge entsetzt zurückwichen, und ging zurück zu Konterfert. Er reichte ihm die Waffe. Ungläubig starrte der Techno auf Atlans Hand. »Nun bringe uns ins SCHLOSS, Konterfert. Wir sind keine Sklaven. Du solltest es nicht wissen, doch nun bleibt mir nichts anderes übrig, als unsere wahre Identität preiszugeben. Wir sind Gesandte des Dunklen Oheims.« Der Techno zuckte zusammen. Er starrte Atlan an, ohne die dargebotene Waffe wieder an sich zu nehmen. »Verdammt, macht schnell!« drängte Razamon. »Sie sind gleich da!« Atlans Herz schlug heftig. Warum zeigte Konterfert keine Reaktion? Schluckte er den Bluff? Ganz plötzlich war Atlan die Botschaft eingefallen, die Chirmor Flog ihm einst für Duuhl Larx mitgegeben hatte, und deren Sinn angeblich nur die Vertrauten des Dunklen Oheims – vorzugsweise seine Neffen – durchschauen konnten. Der Bluff erschien ihm nun als einzige Möglichkeit, Konterfert doch noch dazu zu bringen sie mit dem Zugor aus der Stadt zu schaffen – und ins SCHLOSS. Als der Techno dennoch zögerte, sagte Atlan scheinbar widerstrebend: »Wir sind gekommen, um deinen Herren Grüße aus dem Kreis des immerwährenden Lebens zu bestellen.« Grüße aus dem Kreis des immerwährenden Lebens. Dies war die
Botschaft an Duuhl Larx gewesen. Aber sagten diese Worte Konterfert etwas? Der Techno begriff vermutlich gar nichts. Das war ihm anzusehen. Aber seine zur Schau getragene Selbstsicherheit schwand. Die Worte wirkten, obwohl Konterfert mit Sicherheit nichts mit ihnen anfangen konnte. Aber wenn die drei Männer vor ihm nun wirklich Gesandte des Dunklen Oheims waren und er verhinderte, daß sie ihre Mission erfüllen konnten …? Konterfert trug einen Kampf mit sich selbst aus. Die Verfolger mußten jeden Moment auftauchen. Atlans Augen tränten vor Erregung. Da endlich nahm Konterfert seine Waffe an sich, steckte sie in den Gurt und nickte. »Kommt!« sagte er nur. »Ihr drei! Die Zwerge bleiben hier!« »Sie kommen mit!« bestimmte Atlan, schon im Laufen. »Wir setzen sie außerhalb Turgans ab. Sie sind Eingeweihte und haben ebenfalls eine Aufgabe im Auftrag des Dunklen Oheims zu erfüllen.« Konterfert gab keine Anwort. Seyfft war mittlerweile wieder auf den Beinen und sprang mit seinen fünf Artgenossen hinter den Männern her. Der Priester des vierarmigen Götzen und die Turganer kamen mit ohrenbetäubendem Geschrei aus der Straße. »Dort sind sie!« schrie ManʹDhuʹRo. »Haltet sie auf! Keiner von ihnen darf entkommen!« Konterfert erreichte den Zugor als erster. Razamon packte Grizzard und schob ihn über den Rand der Flugschale. Atlan sprang in den Zugor und mußte den sechs Zwergen ausweichen, die regelrecht über ihn hinwegflogen, im Innern des Zugors aufkamen und sich sofort flach auf den Boden legten, als wollten sie sich dort festkrallen, um nicht wieder aus der Maschine geworfen zu werden. Konterfert hantierte an den Kontrollen. Die Turganer waren auf wenige Dutzend Meter heran.
»Deine Waffe!« Atlan mußte sich fast die Lungen aus dem Leib schreien, um sich verständlich zu machen. »Gib mir den Strahler!« Konterfert warf ihn ihm zu. Atlan fing ihn auf und kniete sich hinter den Rand der Flugschale. Erste Steine flogen. Der Priester stürmte heran und ruderte mit den Armen durch die Luft wie ein Besessener. Atlan zielte nur kurz und löste die Waffe aus.
* ManʹDhuʹRo war nicht mehr er selbst. Beim Anblick der Gejagten war der Haß auf den Techno, der für ihn das SCHLOSS und die SCHLOSSHERREN symbolisierte, die ihre Macht über die ManʹDhus stellten, übermächtig geworden. Er schrie, rannte auf den Zugor zu und verfluchte den Verräter und die, die ihm gefolgt waren. Wenige Meter vor der Maschine, als er schon zum Sprung ansetzte, traf ihn der Strahl aus der Lähmwaffe. Seine Beine versagten ihm den Dienst. ManʹDhuʹRo hatte für einen Augenblick das Gefühl, in absoluter Schwerelosigkeit zu schweben. Dann sank er zu Boden, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren; gelähmt, aber nicht bewußtlos. Er müßte mitansehen, wie die Turganer und alle anderen Dorkher, die ihm gefolgt waren, wie erstarrt stehenblieben und erschreckt zurückwichen. Er hörte, wie die Maschine des Gesandten aufheulte. Er wollte schreien, die Turganer weiter voranpeitschen, aber er hatte keine Stimme mehr. Die Flugschale hob vom Boden ab und schoß schräg in die Luft. Und erst jetzt überwanden die Turganer ihren Schock und stürmten wieder los, aber es war viel zu spät! Ohnmächtige Wut drohte ManʹDhuʹRos Verstand zu ersticken. Er
verfluchte die Frevler, die den Götzen und vor allem ihn und die anderen Priester um weiteren Reichtum gebracht hatten. Er verfluchte die Turganer, die zu lange gezögert hatten. Er verfluchte die SCHLOSSHERREN, die auch er nicht kannte, und die ihm eine neue Niederlage beigebracht hatten. Die Turganer und die anderen Dorkher aber kehrten mit geballten Fäusten und hängenden Köpfen in die Stadt zurück. Der Sklavenmarkt war beendet – zum erstenmal in seiner langen Geschichte wurde er vorzeitig abgebrochen. Es gab nicht wenige, die darin ein Omen sahen. Den Sklavenmarkt hatte es gegeben, solange die heute lebenden Dorkher sich zurückerinnern konnten. Niemals war er gestört worden. Er war heilig und unantastbar gewesen. Für die Turganer war es, als wäre ein Stück ihrer Welt abgebröckelt. Dinge, deren Natur sich ihrem begrenzten Wissen entzogen, schienen in Bewegung zu geraten – in Turgan und überall auf Dorkh.
7. Die hohen Felsen, auf denen Turgan errichtet worden war, verschwanden in der Ferne, als die Sonne ihre ersten Strahlen über den Dimensionsfahrstuhl schickte. Konterfert stand mit unbewegter Miene hinter der Steuersäule der Flugschale, die er, was Atlan kaum noch erstaunte, tatsächlich »Zugor« nannte. Die beiden ungleichen Männer hatten nur wenige Worte gewechselt, nachdem sie in letzter Sekunde aus Turgan entkommen waren. Nun trat Atlan wieder an die Seite des Technos. Grizzard lag mit geschlossenen Augen neben Razamon, der Atlan durch einen Blick zu verstehen gab, daß er sich weiterhin um den Jäger kümmern würde.
Aber da war noch etwas anderes im Blick des Pthorers, etwas, das Atlan beunruhigte. Razamons Miene war finster, und er konnte seine innere Unruhe nicht völlig verbergen. Mit Unbehagen dachte Atlan an jene Zeit zurück, in der Razamon seine furchtbaren Anfälle bekommen hatte. Doch das war vorbei. Oder? Der Arkonide legte die Hand auf Konterferts Arm und deutete auf die sechs Zwerge, die nun dicht aneinandergekauert ganz hinten im Zugor hockten und vor Angst zitterten. »Du kannst den Zugor jetzt landen, Konterfert«, sagte Atlan. »Wir setzen sie ab.« Der Techno gab keine Antwort. Atlans geheimnisvolle Andeutungen mochten ihm im Kopf herumspuken. Atlan hoffte, daß er sie direkt zum SCHLOSS bringen würde, aber mehr war von ihm nicht zu verlangen. Konterfert hatte resigniert. Aber er gehorchte. Langsam senkte sich der Zugor auf eine grasbewachsene Ebene herab. Atlan ging zu den Zwergen und hockte sich vor sie hin. »Ihr seht, ich halte mein Versprechen. Wo bleibt dein Mut, Seyfft? Du wirst ihn brauchen, wenn du dir mit deinen Freunden hier eine neue Heimat suchen willst.« »Du … du kommst nicht mit uns?« »Davon war nie die Rede, Seyfft. Ich versprach euch, euch aus Turgan herauszuschaffen, und das Versprechen hielt ich.« »Aber wir sind allein zu schwach, um sicher leben zu können!« kreischte der Gnom entsetzt. »Sie werden uns wieder fangen und zu Sklaven machen, wenn sie uns nicht vorher töten!« »Ihr seid nicht dumm, Seyfft. Ihr werdet lernen müssen, euch eurer Haut zu wehren. Es gibt hier viele Verstecke für euch. Weicht allen Fremden aus.« Die schwarzen Augen des Wesens sahen ihn traurig an. Atlan seufzte. »Hör zu, Seyfft. Selbst wenn ich mit euch käme, würde ich euch
eines Tages verlassen müssen, und ihr wärt wieder allein, aber daran gewöhnt, verteidigt zu werden und somit hilflos. Aber ihr wollt euch doch …« »Was ist?« fragte Seyfft schnell. »Warum redest du nicht weiter? Hast duʹs dir doch anders überlegt?« »Ich … äh … nun, Seyfft, ich überlege mir gerade, ob deine Freunde nur Freunde sind, oder ob sich auch ein paar Freundinnen darunter befinden?« »Du meinst unsere Frauen?« Seyfft schlug zwei Zwergen mit der flachen Hand auf den Kopf. »Die beiden hier sind Frauen.« »Oh«, sagte Seyfft. »Wir sind nicht wie ihr. Sicher gehörst du auch zu der Art von Wesen, deren Frauen anders aussehen als die Männer. Bei uns ist das nicht der Fall. Aber die beiden sind Frauen. Warum?« Atlan versuchte, einen Unterschied zwischen diesen und den anderen Zwergen zu erkennen. Es gab keinen, zumindest nicht, solange sie ihre Narrenkostüme trugen. Frag doch nicht so dumm! dachte der Arkonide. Laut sagte er: »Siehst du, ihr werdet euch fortpflanzen, und wenn eure Urenkel von euren großen Taten erzählen, bin ich längst vergessen. Also seid vernünftig und lernt, euch selbst zu schützen.« Seyfft sah ihn lange an. »Wahrscheinlich hast du recht, Atlan«, sagte er schließlich. »Sicher sogar.« Er richtete sich zur halben Größe auf, spähte vorsichtig über den Rand des Zugors und atmete sichtlich auf, als er den Boden immer näher kommen sah. Als die Flugschale aufsetzte, stand er hochaufgerichtet zwischen seinen Artgenossen und verkündete lautstark: »Du hast recht, Atlan! Unsere Enkelkinder sollen sich ihrer Großeltern nicht schämen müssen! Wir werden uns schon durchschlagen, und vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Dann werden es Hunderte von uns sein, die dich willkommen heißen!«
»Hunderte?« »Oh, das geht bei uns schnell, Atlan. Jeyffa, Laffy und ich werden uns gleich einen passenden Ort suchen und damit beginnen, uns …« »Schon gut, schon gut!« Atlan winkte schmunzelnd ab. »Ich glaube euch. Und nun seht zu, daß ihr verschwindet, bevor unser Freund«, Atlan setzte eine geheimnisträchtige Miene auf und deutete über die Schulter auf Konterfert, der ungeduldig an der Steuersäule des Zugors stand, »es sich noch anders überlegt und euch als Sklaven mit ins SCHLOSS nimmt.« »Nein!« schrien alle sechs Zwerge zugleich und sprangen in die Freiheit. Als der Zugor wieder abhob, blieben sie stehen und winkten, bis die Maschine außer Sichtweite war. Mit gemischten Gefühlen drehte Atlan sich um und begegnete Konterferts mißtrauischen Blicken. Er hoffte für die kleinen Frechdachse, daß sie wirklich einen Platz fanden, an dem sie in Ruhe und Frieden leben konnten. Aber sie würden es schwer haben. Atlan trat wieder neben Konterfert. Der Techno sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Das waren Beauftragte des Dunklen Oheims?« fragte er. Atlan nickte ernst. »Es freut mich, daß du daran zweifelst. Das ist gut so. Niemand soll zu früh erkennen, wer sie wirklich sind. Jeder, dem sie begegnen, wird sie für harmlose Narren halten. In Wirklichkeit aber …« Atlan beließ es bei der Andeutung. Sollte Konterfert sich selbst den Kopf zerbrechen. Je unsicherer er war, desto schneller würde er seine ihm unheimlichen Passagiere zum SCHLOSS bringen, wo sich andere um sie kümmern konnten. Zum SCHLOSS … Das Ziel lag nun greifbar nahe. Aber was erwartete sie dort? Atlan verscheuchte die Gedanken. Er versuchte es zumindest, aber das Gefühl zunehmender Beklemmung ließ sich nicht einfach
ignorieren. »Was wird aus den drei Technos, die sich als Abgesandte des SCHLOSSES ausgaben?« fragte er und fügte schnell hinzu: »Die mich paralysierten, bevor ich Gelegenheit hatte, mich ihnen zu erkennen zu geben.« »Sie verstecken sich vermutlich noch in Turgan«, antwortete Konterfert. »Ich werde den SCHLOSSHERREN über sie berichten, und sie werden ihre verdiente Strafe erhalten. Dies ist nicht meine Sache.« Atlan kehrte zu Razamon und Grizzard zurück und legte sich neben sie auf einige Decken. Finster starrte er vor sich hin. Seyfft und seine Freunde waren ebenso vergessen wie der Sklavenmarkt und die Turganer. Das SCHLOSS … Die SCHLOSSHERREN … Duuhl Larx hatte Atlan, Razamon und Grizzard – zu diesem Zeitpunkt noch Lebo Axton – nach Dorkh bringen lassen, um den Dimensionsfahrstuhl wieder flottzumachen. Nur wenn ihnen das gelang, durften sie darauf hoffen, irgendwie wieder in den Weltraum zu gelangen, wo sich selbst in der Gefangenschaft des Neffen viel eher eine Möglichkeit zur Flucht und zur Rückkehr nach Pthor ergeben sollte als hier. Aber durften sie ein Instrument der Vernichtung wiederherstellen, damit es wieder Tod und Verderben über unzählige Welten bringen konnte? Atlan wurde von Zweifeln geplagt. Er schob sie vor sich her. Wer konnte wissen, welche Möglichkeiten sich ihm und den Freunden im SCHLOSS boten? Vielleicht lebten die SCHLOSSHERREN gar nicht mehr. Vielleicht konnte er die Ordnung wiederherstellen und gleichzeitig die Verhältnisse auf Dorkh und im SCHLOSS in seinem Sinne manipulieren. Dorkh als Waffe gegen den Dunklen Oheim? Razamon riß den Arkoniden aus seinen Gedanken. »Du versuchst dir etwas vorzustellen, das garantiert anders sein wird als in deinen kühnsten Phantasien«, warnte der Pthorer. »Wir
sollten uns keine Illusionen machen.« Atlan nickte schweigend. »Außerdem können wir noch nicht absolut sicher sein, daß Konterfert uns tatsächlich auf direktem Weg zum SCHLOSS bringt«, fügte Razamon leiser hinzu. »Er wird es tun«, murmelte Atlan. »Oder wir lähmen ihn mit seiner Waffe und warten, bis jemand erscheint, der durch sein Fernbleiben alarmiert wurde.« Der Flug ging weiter. Über Dorkh wurde es Tag. Und es mußte einen Weg geben, einerseits Duuhl Larxʹ Forderung zu erfüllen und somit den Weg zur zweifelhaften Freiheit offenzuhalten, andererseits aber Dorkh nicht für Larx und den Dunklen Oheim zu reaktivieren, sondern gegen sie! Die Entscheidung stand bevor. Razamons Zweifel waren unbegründet. Konterfert steuerte den Zugor direkt auf das noch ferne SCHLOSS zu.
ENDE Weiter geht es in Atlan Band 461 von Konig von Atlantis mit: Mord im Land der Magier von Marianne Sydow