Franco Solo
Der lautlose Tod
s&c by ab
Ein Mann taumelt tödlich verletzt in ein New Yorker Polizeirevier. Ehe er stir...
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Franco Solo
Der lautlose Tod
s&c by ab
Ein Mann taumelt tödlich verletzt in ein New Yorker Polizeirevier. Ehe er stirbt, kann er nur noch ein paar französische Worte hervorwürgen. Von da an stoßen alle Nachforschungen, die diesen brutalen Mord betreffen, auf erbitterten Widerstand. COUNTER MOB betraut Franco Solo mit dem Fall. Daß die Mafia ihre Hände bei dem Mord im Spiel hat, weiß man inzwischen. Doch so sehr Franco Solo sich bemüht – auch seine Recherchen treffen überall auf eine Mauer eisigen Schweigens. Als er schließlich die erste brandheiße Spur findet und von einem Mädchen den Tip erhält, der ihm eisige Schauer über den Rücken rinnen läßt, ist es schon zu spät. Der LAUTLOSE TOD war schneller als er, und vier Menschen müssen sterben, ohne daß Franco ihnen irgendwie helfen kann … Verlag: Pabel Erscheinungsjahr: 1979
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Als es an die Tür des Wachlokals klopfte, zögernd und gar nicht so, wie man üblicherweise an eine Tür klopft, hatte Robert Swayne elf Stunden Dienst als Desk Sergeant hinter sich. Seit drei Stunden war er allein und rackerte sich auf der alten Schreibmaschine mit den Berichten über das ab, was vorgefallen war, und das war allerhand gewesen: vier Schlägereien, mehr als ein halbes Dutzend Trunkenheitsdelikte, ein Mädchen mit aufgeschlitzten Pulsadern, die gewohnten Unfälle, zweimal Brandalarm … das schäbige alte Mädchen mit dem leeren Schlaftablettenröhrchen war erschienen, das sich jedesmal gegen Ende des Monats damit ein Krankenhausbett verschaffen wollte, und schließlich hatte ein Streifenwagen noch einen zitternden Fixer abgeladen, den sie von einem Brückenpfeiler geholt hatten. Robert Swayne hatte die Nase voll. Er war hundemüde, die Augen brannten ihm von der trockenen Luft der überheizten Wachstube, und er hatte eine trockene Kehle von all den Zigaretten, deren Stummel im randvollen Aschenbecher verglosten. Er sehnte nichts so herbei wie das Ende dieser zweiten Schicht, die er für Pete Williams übernommen hatte. Er sehnte sich nach seinem alten Dodge, der in einer Seitenstraße parkte, und nach den quietschenden Federn seiner ausgeleierten Bettcouch daheim, er wartete feindselig auf das Schrillen des Telefons und sah mißmutig auf die Zeiger der großen Uhr an der Wand … und da klopfte es an die Tür. Sergeant Swayne ruckte mit dem Kopf herum und ließ den rechten Zeigefinger über dem kleinen »e« schweben, das er gerade tippen wollte. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Kaum ein Mensch hatte bisher an diese Tür geklopft. Einige hatten die Klinke zaghaft heruntergedrückt, sich draußen erst einmal geräuspert oder gehustet. Andere hatten gegen die Tür getreten, waren hereingetaumelt, gestolpert, hineingestoßen worden. Swayne erinnerte sich an einen Alten, der auf allen Vieren hereingekrochen war, und ein junger Stier hatte das Türschloß zertrümmert, weil er glaubte, sein Mädchen triebe es hier mit 2
einem der Cops. Aber angeklopft hatte kaum einer … Gespannt wartete Swayne auf die Wiederholung, aber sie kam nicht. Stattdessen schabte draußen etwas an der Tür entlang, ein unterdrückter Laut, wie ein Seufzen, und dann schien etwas Schweres zu Boden zu fallen. Mit einem Ruck sprang der Sergeant auf und stieß seinen Stuhl zurück. Er fegte einen Stapel von Anzeigenformularen vom Tisch, als er über die knarrenden Dielen zur Tür hastete und sie aufriß. Er blickte direkt in die weit offenen Augen des Mannes, der vor ihm lag. Der Mann hatte die Augen offen, aber es war kaum noch Leben darin. Ein leichter Schleier hatte sich schon über die Pupillen gezogen, das Gesicht war maskenhaft, verzerrt von dem Krampf, der den ganzen Körper hochbog. Immer stärker wurde das Zittern der aufgestützten Arme. Die Lippen bewegten sich, Schaumbläschen bildeten sich in den Mundwinkeln … Der Sergeant beugte sich zu ihm. Er gewahrte dabei die Blutlache, die sich unter dem Körper beängstigend schnell vergrößerte, die gekrümmten Finger, die sich in das harte PVC des Fußbodens graben wollten – und ehe Robert Swayne dazu kam, irgend etwas zu tun, brach ein Blutschwall aus dem Mund des Mannes. Seine Arme gaben nach, und er schlug mit dem Schädel, mit den Schultern, mit dem ganzen Oberkörper auf den Boden. »Hey, Sie!« flüsterte Swayne. Er kniete neben dem Mann nieder und wollte ihm die Hände unter den Kopf legen, das Gesicht herumdrehen, den Blick des Sterbenden noch einmal gewinnen. Aber der Mann wurde auf einmal ganz schlaff, irgend etwas entwich, verließ ihn, vielleicht der letzte Funken Lebenskraft, vielleicht das Leben selbst, die Seele oder auch nur ein krampfhaft zurückbehaltener Atemzug der zerrissenen Lungen. Er streckte sich, wurde merklich länger, seine Füße berührten die gegenüberliegende Wand, und er war tot. 3
Sergeant Swayne fühlte nach dem Puls, gewohnheitsmäßig; er schlug nicht mehr. Er suchte nach einer Verletzung, sah jetzt erst den aufgeschlitzten Stoff des Jacketts auf dem Rücken des Toten, der halb auf der Seite lag, und die glänzende Nässe, die sich kaum von dem dunklen Gewebe abhob und doch der deutlichste Hinweis darauf war, was den Mann vom Leben zum Tod gebracht hatte: Ein Messerstich von hinten, vielleicht sogar zwei, tief hinein in den Oberkörper, wahrscheinlich abgeglitten vom Schulterblatt und dann in die Lungen gefahren, oder ins Herz … Der Sergeant stand mühsam auf und lehnte sich für einen Moment an den Türrahmen. Er wußte, was er jetzt zu tun hatte. Ein Todesfall im Precinct erforderte unter allen Umständen die Untersuchung durch eine andere, neutrale Polizeidienststelle. Eine genaue, eingehende Untersuchung mit Sachverständigen der Mordkommission, eine lange Untersuchung, die ihm den Dienstschluß in unerreichbare Fernen zu rücken schien. Er drehte sich um, tat zwei, drei tappende, müde Schritte ins Wachlokal hinein, langte über den Tisch nach dem Telefon und wählte die Nummer, die er seit langem auswendig kannte. *
»Der nächste Fall«, sagte Captain McElroy und gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. »Das ist der … Moment …« Er blätterte in den Papieren, die ihm durch ein paar Rückfragen durcheinandergeraten waren, »hier hab’ ich’s – der unbekannte Tote vom 124. Precinct heute nacht. Manning hat die Untersuchung geleitet. Bitte, Lieutenant!« Aus dem Kreis der Polizeibeamten, die sich zu dieser allmorgendlichen Routinebesprechung im Konferenzsaal des Headquarters versammelt hatten, erhob sich ein langer, magerer 4
Mann mit dünnem, blondem Haar und vorspringendem Adamsapfel. Er holte ein paar zerknitterte Notizzettel aus der Jackentasche und räusperte sich. »Benachrichtigung über Draht um 01.25 Uhr durch den diensthabenden Desk Sergeant vom 124., Robert Swayne. Nach seinen Angaben hat der Tote gegen 01.10 an die Tür geklopft.« Kichern. Irritiert sah sich der Lieutenant in der Runde um, bis er seinen Mißgriff bemerkte und sich korrigierte: »Also, der Mann, der dann starb, zehn nach eins. Als Swayne zur Tür ging, um nachzuschauen – auf das Klopfen hin geschah nämlich weiter nichts – lag der Mann vor ihm auf dem Boden und starb, ehe eine Hilfeleistung eingeleitet werden konnte. Todesursache nach Auskunft des Arztes zwei mit großer Kraft geführte Messerstiche in den Rücken. Keine Tatwaffe vorhanden, keine sonstigen Spuren, bislang keine Verdächtigen.« »Weiter!« Lieutenant Manning hatte offenbar gehofft, mit dieser etwas mageren Darbietung genug zur allgemeinen Information beigetragen zu haben. Achselzuckend studierte er einen zweiten Notizzettel und begann aufs neue: »Die Identität des Toten ging mit hinreichender Wahrscheinlichkeit aus seinen Papieren hervor, die er bei sich trug. Es handelte sich um den französischen Staatsbürger Pierre Lemoine, gebürtig aus … Chev … Chevreuil, wohnhaft seit anderthalb Jahren hier in New York, Hotel Crystal, von Beruf … Commissionair.« »Ein französischer Polizist?« fragte ein dicker Sergeant, der sich dabei schwerfällig auf seinem Stuhl herumdrehen mußte. Der Lieutenant blickte ihn ratlos und etwas unsicher an. Captain McElroy schüttelte den Kopf. »Nicht Commissaire, Patterson, soweit ich verstanden habe, sondern Commissionaire. Ich glaube, das ist so etwas wie ein Handelsvertreter oder Makler. Hab’ ich recht?« Niemand widersprach. 5
»Na, also,« fuhr Manning mit sichtlichem Widerwillen fort, »soweit ist der Fall also klar. Unser 124. Precinct ist objektiv unbeteiligt. Ich meine, wir spielen keine Rolle im Tathergang. Das war’s ja wohl, was ich festzustellen hatte.« »Das würde Ihnen so gefallen«, konterte der Captain boshaft. »Nichts da, mein Lieber. Ich weiß schon, vor welchem Rattenschwanz von Komplikationen Sie sich drücken wollen, aber da gibt es nichts: Das ist Ihr Fall. Außerdem ist sonst niemand frei, die Sache zu verfolgen. Kümmern Sie sich also weiter um diesen Pierre Leroux …« »Lemoine.« »Na, schön, Lemoine. Sie wissen ja, wie man’s macht. Und geben Sie Nachricht an die Ausländerbehörde, ans Konsulat, an seine Familie, an seine Firma … was weiß ich!« Lieutenant Manning faltete seine Papiere zusammen und steckte sie ein. »Familie ist nicht,« sagte er. »Ich hab’ mich schon in dem Hotel erkundigt. Hin und wieder mal ’n nettes Mädchen aus der besseren Preisklasse, sagen sie … nicht mal Liebesbriefe aus Paris.« »Das erspart Ihnen eine Dienstreise an die Seine,« gab der Captain sarkastisch zurück. »Trotzdem – zwei Messerstiche, nachts im 124. Bezirk? Ich würde den netten Mädchen auf der Spur bleiben. Sie können gegen meine Nase sagen, was Sie wollen, aber zwei Messerstiche, kein Raub … da steckt mehr dahinter!« »Ich habe überhaupt nichts gegen Ihre Nase,« murrte der Lieutenant. »Wenn mich etwas an diesem Fall stört, ist es nur die Tatsache, daß ich nicht französisch spreche.« »Wenn’s weiter nichts ist,« lachte McElroy, »die Leute, mit denen dieser Ledoux hier verkehrt hat, sprechen bestimmt unsere Landessprache!« 6
»Lemoine,« korrigierte der Lieutenant müde. »Na, gut. Mache ich mich eben auf die Socken.« *
Als er zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden das Hotel ›Crystal‹ betrat, gefiel es ihm noch weniger. Aus Kunststoff, Plexiglas und Beton kann man sicher recht hübsche Sachen herstellen. Aber wenn der Zahn der Zeit allzusehr daran nagt, sieht das noch übler aus als ungepflegtes Holz, blindes Glas oder Messing mit Grünspan. An diesem Hotel hatte nicht nur der Zahn der Zeit genagt, sondern jeder der vielen Gäste war offensichtlich bestrebt gewesen, die moderne Innenarchitektur so schnell wie möglich zu ruinieren. Unzählige Brandflecken von ausgetretenen Zigaretten auf dem PVC-Boden, zerkratzte Verkleidungen und verschmutzte Wandpaneele ließen kaum einen anderen Schluß zu. Umso mehr wunderte sich Lieutenant Manning, daß Pierre Lemoine es hier anderthalb Jahre lang ausgehalten hatte. Der Portier hob eine Augenbraue. Die andere blieb dabei vollkommen unbewegt. Er mußte das lange geübt haben. Bei Manning verfehlte die Nummer jede Wirkung. »Dieser Lemoine,« begann er und lehnte sich mit dem Ellbogen bequem auf die Theke, »ich will ja die Sache verdammt nicht zu meinem Hobby machen … aber ich möchte sein Zimmer noch einmal sehen!« Der Portier hob die Schultern. »Wegen mir … aber ich kann mir nicht vorstellen, was Sie davon haben. Seit zwei Stunden ist es wieder vermietet. An einen Club texanischer Hausfrauen, der sich in dieser großen, schönen Stadt ein paar aufregende Tage machen will. Legen Sie sich ruhig mit denen an.« 7
»Wer hat das Zimmer freigegeben?« fragte Manning mit aufsteigender Wut. »Wenn ein Hotelgast abreist, ob nach Cincinnati, in den Himmel oder in die Hölle, wird sein Zimmer eben frei. Und beschlagnahmt war es ja nicht. Oder?« Manning schluckte. »Wo sind seine Sachen?« Der Portier hob die Schultern. »Das Zimmermädchen hat sie im Beisein des Etagenboys in die vorhandenen Koffer gepackt und irgendwo aufbewahrt.« »Ich will sie sehen!« »Sicher, gern. Aber wenn Sie irgendwelche Papiere suchen, dann können Sie’s genauso gut auch sein lassen. Hier ist ein Verzeichnis seiner Hemden, Hosen und Socken. Was anderes war nicht da. Nicht mal ’ne Briefmarke.« »Aber das gibt es nicht! Ein internationaler Handelsagent kann nicht ohne Papiere leben!« »Vielleicht hatte er die in seinem Büro in Washington.« »Was? Damit rücken Sie erst jetzt heraus?« »Sie haben mich ja nicht gefragt. Er ist jede Woche ein paarmal hingeflogen, und immer mit ’nem dicken Aktenkoffer. Der fehlt übrigens auf dieser Liste.« »Die Adresse!« sagte Manning mit halb geschlossenen Augen. »Die Adresse Pierre Lemoines in Washington!« Der Portier kramte in seiner Schublade und schob ihm eine Visitenkarte über den Tisch. Manning steckte sie ein, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte. »Jetzt können Sie den Fall abgeben, nicht wahr?« fragte der Portier listig. Manning nickte. »Dann sagen Sie Ihrem Nachfolger aber auch, daß sich Tonio Sculturi heute in aller Frühe schon für Lemoine interessiert hat.« 8
»Wer ist das?« Manning machte sich kaum die Mühe, die Augenlider zu heben. »Tonio hat früher bei den Buchmachern hier in der Gegend abkassiert, bis er befördert wurde. Jetzt ist er wohl so etwas wie ein z. b. V.« »Kassiert? Z. b. V.?« »Zur besonderen Verwendung. Hauptsächlich im Kreditgewerbe. Ich habe gehört, daß er säumige Schuldner mit seinem Messer überzeugt, daß es besser ist, irgendwoher Geld aufzutreiben und zu zahlen.« »Ich verstehe kein Wort!« »Dann leihen Sie sich Ihre Piepen wohl direkt bei der Federal Reserve Bank, wie?« »Also … Mafia?« Jetzt war Mannings Stimme fast ein bißchen heiser. Der Portier nickte. »Ich habe nichts gesagt. Außerdem kennt ihn hier doch jeder, und alle wissen, daß er zur Familie gehört. Dachte nur, daß es für Sie ein Hinweis sein könnte …« »Das ist es«, nickte der Lieutenant. »Das ist es, verdammt nochmal!« Er schob sich den Hut in den Nacken und wandte sich mit schweren Schritten zum Gehen. Als er aus der einigermaßen kühlen Hotelhalle auf die Straße trat, war es dort nicht wärmer als immer um diese Jahreszeit. Aber dem Lieutenant kam es vor, als wäre eine Hitzewelle über New York zusammengeschlagen. Und außerdem war ihm flau im Magen … * Von der Menschenmenge, die sich aus dem soeben eingefahrenen U-Bahn-Zug ergoß und den Rolltreppen zustrebte, löste sich ein junger, sportlich aussehender Mann mit 9
leicht getönter Haut und dunklem, vollem Haar. Er verlangsamte seine Schritte, so daß er fast von selbst hinter den anderen zurückblieb. Aber er war hier nicht etwa fremd. Wie es schien, kannte er sich sogar besonders gut aus. Er ging, als der Bahnsteig leer geworden war, auf eine Stahltür nahe der Tunnelwand zu, kümmerte sich überhaupt nicht um das Schild, das nur dienstlichen Zutritt erlaubte, sondern schloß mit einem simplen Vierkant auf und verschwand in dem Raum dahinter. Die abgestandene Luft nahm ihm fast den Atem. Er sah die Wand mit den bunten Leuchtzeichen und Signallämpchen und Anzeigegeräten. Dann erst nahm er den Mann wahr, der im matten Schein einer abgedunkelten Bürolampe an einem der Schaltpulte saß. »Hübsch haben Sie’s hier, Colonel!« murmelte er sarkastisch. Der grauhaarige Offizier in Zivil hob die Hand und wies auf einen zweiten Stuhl. »Setzen Sie sich, Franco. Erstaunlich, wie viele Gelegenheiten zu einem unbeobachteten, ungestörten Gespräch es immer noch mitten in New York gibt. Seit sie diese Strecke automatisiert haben, wird der Raum überhaupt nicht mehr benutzt. Man muß nur darauf kommen.« »Was anscheinend eine Spezialität von Ihnen ist!« nickte Franco Solo und setzte sich, wobei er die Bügelfalte seiner perlgrauen Hose hochzog, ehe er die Beine übereinanderschlug. »Pierre Lemoine«, fuhr Colonel Warner ohne jede Überleitung fort, »französischer Handelsmakler, wohnhaft hier im Hotel Crystal, mit Büro in Washington, wurde durch zwei Messerstiche vor dem 124. Revier in der vorvorigen Nacht ermordet. Lieutenant Manning, der die Untersuchung aufgehalst bekam, machte einen FBI-Fall daraus, nicht ohne anzumerken, daß vermutlich die Mafia mit drinsteckt. Kennen Sie Tonio Sculturi?« »Kleine Ratte. Eintreiber und Mädchenschreck.« 10
»Ja. Das haben auch unsere Erkundigungen ergeben. Da aber hier wirklich nichts weiter zu holen war, hat sich FBI Washington der Sache angenommen. Sie haben nur herausgefunden, daß Lemoine die Sache eines gewissen Bernard Laval vertritt. Dann mußte der FBI-Sachbearbeiter dringend verreisen, sehr weit weg übrigens, wegen eines Todesfalls in der Familie. Der Beamte, der mit ihm zusammenarbeitete, wurde gleichzeitig leider überfahren und liegt mit schwerer Gehirnerschütterung und etlichen Knochenbrüchen im Krankenhaus.« »Welch ein Zufall.« »Es kommt noch besser. Dieser Laval hat irgendeine brisante Sache erfunden, die er in den USA zum Patent anmelden will. Oder muß, um sie zu schützen.« »Was für eine Sache?« »Wissen wir nicht. In Frankreich ist das Ding oder was es auch immer ist, patentiert und sofort vom Staat übernommen worden. Unsere Regierung hat sich erkundigt, ist aber an Laval verwiesen worden.« »Wie das, wenn die Erfindung in Frankreich gewissermaßen Staatseigentum ist?« »Sie sagen es, Franco: in Frankreich. Vermutlich hat ihm der französische Staat die außereuropäischen Verwertungsrechte überlassen, um Geld zu sparen, oder weil die Erfindung sowieso in der Luft liegt. Keine Ahnung. Ist auch nicht so wichtig. Counter Mob hat von ziemlich hoher Stelle den Hinweis erhalten, daß es von grundsätzlichem Interesse für die USA ist, Laval seine Erfindung hier patentieren zu lassen.« »Und was soll Counter Mob dazu tun?« »Monsieur Laval samt einem Modell seiner Erfindung sicher und unbehelligt bis zu einem der hier zuständigen Patentämter bringen.« 11
»Ein Modell auch?« »Das muß wohl sein. Hier ist Lavals Telefonnummer in Paris. Übernehmen Sie das bitte, Franco.« Verwundert schüttelte Franco Solo den Kopf. Sein Blick ging über die Streckentafel dieses U-Bahnabschnitts, wo die Lichtpunkte der fahrenden Züge entlangglitten und die Signale rot und grün aufleuchteten und wieder erloschen. Colonel Warner war aufgestanden. »Vielleicht sollte ich Ihnen sagen, daß Sie es nicht mit dem ersten Versuch Lavals zu tun haben, seine Erfindung hier vorzuführen. Das Originalmodell seines … Apparates, oder wie man es bezeichnen will, sandte er per Luftfracht herüber. Er folgte mit der nächsten Concorde, konnte die Sendung aber hier nicht in Empfang nehmen. Jemand hatte die Kiste wohl gestohlen und beim unbefugten Öffnen einen Mechanismus der Selbstzerstörung ausgelöst. An dem fraglichen Tag ist nämlich ein Schuppen auf dem Gelände der Luftfrachtspedition explodiert, und die Leiche, die man in den Trümmern fand, konnte bis jetzt noch nicht identifiziert werden.« »Es war aber nicht die Erfindung selbst, die den Schuppen hochgehen ließ?« Warner hob vielsagend die Schultern. »Laval unternahm einen zweiten Versuch mit einer Attrappe. Diesmal per Schiffsfracht. Der Dampfer ist nie in New York angekommen. Ein paar Leute wollen ihn weitab von seiner Route mit Kurs auf Panama gesehen haben, und seitdem ist er verschollen.« »Dann bin ich also für den dritten Versuch zuständig?« Auch Franco Solo erhob sich. Warner schüttelte den Kopf. »Den vierten, Franco. Den dritten hat ein gewisser Alfredo Meyer unternommen. Fremdenlegionär, Fluchthelfer am Eisernen Vorhang, CIA-Mann in Bangkok – eine fähige, wenn auch sehr schillernde Persönlichkeit. Er wollte es ganz schlau 12
machen und wählte den Weg hintenherum, über Teheran, Bombay, Hongkong und Hawai. Dort fand man ihn an den Füßen in einer Palme aufgehängt.« »Und das … Ding?« »Lavals Selbstzerstörungseinrichtung hat wohl auch dabei funktioniert. Am selben Tag flog eine Strandvilla in Dahu in die Luft. Man erzählt sich, daß sich dort ein paar Leute eingenistet hatten, die sich für Handelsgeschäften außerhalb der Zwölfmeilenzone interessierten. Seien Sie also ein bißchen auf der Hut, Franco.« »Was habe ich zu meiner Unterstützung? Die siebte US-Flotte, oder einen von unseren neueren Forschungssatelliten?« Warner grinste ihn an. »So etwas haben Sie doch noch nie gebraucht. Warten Sie, ehe Sie dieses hübsche Plätzchen verlassen, bis ich einen kleinen Vorsprung habe, ja? Bye, Franco!« Mit einer gewandten Drehung war der Colonel bei der Tür. Auch er verfügte offensichtlich über einen passenden Vierkant. Lautlos öffnete sich der stählerne Auslaß und schloß sich hinter ihm. Franco Solo blickte noch einmal zu den geisterhaften Signalen der Anzeigentafel. Ein Zug näherte sich gerade dem Times Square, und tatsächlich vermeinte Franco Solo das Dröhnen und Vibrieren durch die dicken Betonmauern hindurch zu spüren. Als der Zug draußen hielt, kam ihm die Gelegenheit, sich unter die Leute zu mischen, günstig vor, und so verließ auch er das Versteck. *
Es war Rush hour, und er drückte sich an die gekachelte Wand, um vom Strom der Menschenmenge nicht mitgerissen zu 13
werden. Mit einemmal spürte er eine Bewegung an seiner Seite. Er vermeinte eine tastende Hand zu bemerken, einen Taschendieb vielleicht, oder einen Burschen, der auf diese Weise bei ihm Anschluß suchte … sein angewinkelter Unterarm zuckte herab, und jemand konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Franco Solo drehte den Kopf langsam zur Seite. Er blickte in das schmerzverzerrte Gesicht Tonio Sculturis. »Na, Tonio?« murmelte er aus dem Mundwinkel. »Verdammt! Du hast mir das Handgelenk gebrochen!« Franco schüttelte nachsichtig den Kopf. »Oh, nein, Tonio. Morgen ist das wieder gut. Ich hab’s nur nicht gern, wenn man mir von der Seite kommt. Das weißt du doch, nicht wahr?« »Mann! Jemand hat mich geschubst! Ich wollte dir doch nur … guten Tag sagen!« »Guten Tag, Tonio. Sonst noch was?« Der kleine Schwarzhaarige wand sich ein bißchen. Die Unterhaltung lief anders, als er sich das vorgestellt hatte. »Wie’s so geht, Solo! Wir haben uns mächtig lange nicht gesehen, nicht wahr? Was machst du?« »Ich bin bei der Subway angestellt und paß auf, daß keine Züge wegkommen, wenn du in der Nähe bist!« spottete Franco. Ärgerlich schüttelte Tonio Sculturi den Kopf. »Quatsch nicht so dumm! Ich hab gehört, du machst jetzt in Geschäften? Import, wie?« »Wie’s kommt …« antwortete Franco gedehnt und plötzlich hellhörig. »Willst du einsteigen? Was kannst du anlegen?« Sculturi kniff die Augen zusammen. »Da soll eine gute Sache mit Frankreich laufen«, sagte er geradeheraus. »Ich kenne ein paar Leute, die das Geschäft gern 14
übernehmen würden.« »Ich auch!« Sculturi ließ sich nicht ablenken. »Hundert dicke Riesen.« »Zuzüglich Luxussteuer, wie?« »Auch das.« Sculturi schien ungerührt. Wahrscheinlich konnte er sein Angebot noch erhöhen, aber Franco Solo hatte keine Lust zu sehen, wie hoch. Ein Expreßzug fuhr ein, die Türen öffneten sich fauchend. Franco legte dem Kleinen den Arm um die Schultern und spazierte mit ihm zur Bahnsteigkante. »Hast du Kleingeld dabei?« »Ich … was? Wofür?« »Schwarzfahren kostet Strafe«, sagte Franco Solo sanft. Er schob den verdutzten Mafioso in den Wagen, der vor ihnen hielt. Die Tür schloß sich, und Franco konnte gerade noch seine Hand zurückziehen, die Tonio Sculturi fast in die Arme von zwei stämmigen Kontrolleuren gestoßen hatte. Grollend und polternd fuhr der Zug an. Sculturi schlug mit beiden Fäusten gegen das Fenster. Franco sah noch, wie die beiden uniformierten Hünen zugriffen und ihn von der Tür wegzogen. Dann flitzten die hell erleuchteten Fenster immer schneller an ihm vorüber, bis die Schlußlichter im Tunnel verschwanden. Der warme Luftwirbel ließ ein paar Papierfetzen auf den Geleisen tanzen. Franco wandte sich ab. Trotz des leisen Lächelns, das um seine Lippen spielte, hatte er gar keine frohen Gedanken, als er mit der Rolltreppe hinauf ans Tageslicht fuhr. Wieso wußte die Gegenseite schon von seinem Auftrag, ehe er ihn selbst bekommen hatte? War er mit Colonel Warner zusammen beobachtet worden, und hatten sie einfach ihre Schlüsse daraus gezogen? Unmöglich war das nicht. Aus scheinbar unbemerkten Zusammenkünften zwischen ihm und dem Colonel war schon ein paarmal für die amerikanische Mafia 15
allerhand schwerer Ärger entstanden. Oder gab es weiter oben eine undichte Stelle? Auch das war nicht auszuschließen. Franco Solo machte sich keine falschen Vorstellungen von der Integrität des Regierungs- und Polizeiapparats. Vielleicht spielte sogar die hohe Politik mit, und jemand benutzte die Mafia nur als Werkzeug – oder glaubte sie benutzen zu können. So etwas war schon öfter vorgekommen. Als er an der Ampel stand und in die Sonne blinzelte, hatte er den einzig richtigen Schluß aus der Begegnung mit Tonio Sculturi schon gezogen: Er war wieder einmal allein. Es würde gut sein, auf jede Hilfe zu verzichten und grundsätzlich jedem zu mißtrauen. Darin hatte er Übung. Und merkwürdigerweise fühlte er sich in dieser Lage auch am sichersten … Er überquerte die Straße und bog in die 47th Street ein. Auf der linken Seite öffnete sich nach einem paar Dutzend Schritten das einladende Portal des Edison Hotels, und Franco schritt mit größter Selbstverständlichkeit hindurch und in die Halle hinein. Fast wäre er über einen hochgetürmten Haufen von Koffern und Reisetaschen gestolpert, der rings um eine Plastikpalme aufgebaut war und die bunten Anhänger einer sehr exotischen Fluglinie trug. »Zur Hölle!« fuhr er einen Hoteldiener an, der unbewegt an einen Pfeiler gelehnt stand. »Demnächst binden sie hier noch ihre Kamele an, wie? Wo ist das internationale Telefon?« »Geradeaus, halblinks, dann rechts!« »Thanks!« Franco nahm einen umgefallenen Golfsack mit einem lässigen Sprung und bewegte sich zwischen den Hotelgästen und Passanten hindurch in der angegebenen Richtung. Tatsächlich gelangte er, ohne daß sich ihm weitere Hindernisse in den Weg stellten, zum Counter der Telefonzentrale. »Hallo«, grüßte er freundlich und schob die Karte über den 16
Tisch, »diese Nummer bitte, in Paris!« Das ältere Mädchen musterte erst die Karte und dann ihn. »Da drüben ist es jetzt aber schon ziemlich spät«, sagte sie mißbilligend. »Ich weiß. Trotzdem, bitte!« Achselzuckend gab sie sich ans Wählen. »Apparat drei«, murmelte sie und wies mit dem Hörer auf eine Telefonzelle an der Wand. Franco schob sich hinein und nahm ab. Es prasselte in der Muschel, als müßte das TransatlantikGespräch bei den Azoren ungefähr ein schweres Gewitter durchqueren. Dann kam ein schnelles, abgehacktes Tüttüttüttüt. Das war unverkennbar schon Paris. Schließlich ein normales Freizeichen, und dann eine entfernte Stimme. »Mister Laval?« fragte Franco. »Laval à Paris, oui. Qui parle?« »Franco Solo in New York. Ich habe eben den Auftrag erhalten, Sie und ein Modell Ihrer Erfindung zu einem hiesigen Patentamt zu geleiten. Können Sie das bestätigen?« »Wie ist Ihr Name, Monsieur?« »Franco Solo.« »Und man hat Ihnen meine Telefonnummer gegeben?« »Um genau zu sein: Ihre Visitenkarte.« »Gut. Das scheint in Ordnung. Sie haben den Auftrag übernommen?« »Selbstverständlich. Wenn Sie wollen, komme ich hinüber nach Paris, um alles zu besprechen und in die Wege zu leiten.« »Warum?« »Nun – ich hörte, daß Sie schon gewisse Schwierigkeiten hatten!« »Aber nicht in Paris! Hören Sie – wir machen das anders. Ich muß mich überzeugen, daß ich Ihnen vertrauen kann. Ich 17
schicke Ihnen Claire. Sie kommt mit der nächsten Maschine. Morgen früh um zehn ist sie in New York. Besprechen Sie alles mit Claire.« »Wer ist Claire?« »Meine Tochter natürlich.« »Und wo treffe ich sie?« »Auf dem Flughafen, naturellement! Warten Sie in der VIPLounge der Air France. Und rufen Sie mich wieder an, d’accord?« »Okay«, sagte Franco, und schon hatte der Franzose eingehängt. Langeweile wollte er anscheinend nicht aufkommen lassen. Ob die Tochter schon wußte, daß sie die Nacht in einer mäßig komfortablen Maschine über dem Atlantik verbringen würde? »Siebzehn Dollar fünfzig«, sagte das ältliche Mädchen und gab ihm Lavals Karte zurück. »Oder geht das auf die Zimmerrechnung?« »Nein, ich zahle gleich«, wehrte Franco Solo ab, ehe sie darauf kommen würde, daß er gar kein Zimmer im ›Edison‹ hatte. »Haben Sie wohl einen Flugplan, sister?« »Wohin wollen Sie denn? Nach Paris?« »Nein«, schüttelte Franco den Kopf. »Sie kommt hierher. Mit der ersten Maschine morgen früh.« »Heaven«, seufzte die Telefonistin, »Entfernungen spielen keine Rolle, wie? Schwebt sie mit der Air France ein?« »Ja.« »Null neun zweiundfünfzig.« »Gott segne Sie, sister«, dankte Franco voller Heiterkeit und winkte ihr noch einmal zu. »Ha!« machte sie und schob sich ein halbes Päckchen Kaugummi in den Mund. »Berufen Sie’s nicht, Mister. Wir 18
haben eine ganze Delegation aus Abu Dabi im Haus!« *
Die Ungewißheit, wieviel die Gegenseite schon wußte und was sie vorhatte, machte ihn unruhig. Er mußte sie zumindest verlocken, noch weiter aus ihrer Reserve herauszukommen, mußte den entsprechenden Mitgliedern der ›Familie‹ ein bißchen auf der Nase herumtanzen. Die riesige Kuckucksuhr über dem »Wienerwald« wollte ihn anlocken, aber er widerstand und ging langsam weiter bis zum ›Morosco‹, wo er eine kleine Bar mit einem ganz gepflegten Imbißraum kannte. Eigentlich war es für ein Abendessen noch zu früh, aber Franco Solo hatte Appetit auf die Scampi bolognese, die es hier vom Grill gab – und er wurde nicht enttäuscht, als er in einer kleinen, dunklen Nische Platz genommen hatte und serviert bekam. Dazu bestellte er sich einen leichten roten Falerner, der hier tatsächlich in original italienischen Abfüllungen zu haben war … zu einem sündhaften Preis, aber Franco hatte eine dunkle Ahnung, als würde er in den nächsten Tagen kaum dazu kommen, original italienischen Falerner zu genießen. Er trank ihn in Ruhe und mit kleinen Schlucken, saß dabei bequem zurückgelehnt in dem weichen Sessel – und dennoch beschäftigten sich seine Gedanken unablässig mit dem Problem, das ihm Warner wieder einmal auf den Tisch gelegt hatte. Unmöglich, mit so geringen Kenntnissen von den Absichten der Gegenseite einen Plan aufzustellen. Und was ihm Warner über seine unglückseligen Vorgänger in diesem Job erzählt hatte, nahm ihm alle Lust, aufs Geratewohl mit Claire Laval morgen früh loszuziehen. Franco war sich klar darüber, daß er mehr wissen mußte. 19
Und dann kam ihm plötzlich eine Idee. Auf den ersten Blick schien sie aberwitzig. Bei näherer Prüfung war sie es nicht mehr. In der gegenwärtigen Situation konnte er es sich leisten, der New Yorker Mafia bis zur Grenze des Zumutbaren auf der Nase herumzutanzen – sie brauchten ihn. Nur über ihn konnten sie an Laval und seine rätselhafte Höllenmaschine herankommen … Franco zahlte, trat hinaus auf die quirlig belebte Straße und ging die paar Hundert Yards bis zum »Coliseo«. Unübersehbar glitzerte ihm die Jugendstilfassade mit ihren Lichteffekten entgegen. Sie war zwar keineswegs aus den Zwanziger Jahren, das ganze Haus stammte aus den Sechzigern, aber die Inneneinrichtung hielt, was das Äußere andeuten wollte. Hier war der abendliche Stammsitz der Mafia-Oberen, der eigentlichen Familie. Warner hatte ihn gewarnt. Franco gab seinen Hut an der Garderobe ab und war froh, das Ding und damit etwas von seiner unbequemen Verkleidung loszusein. Auf den Stufen des großen Restaurants hielt er inne und ließ den Blick herumgehen. Ein alter, kitschiger Film hätte das hier sehr vorteilhaft als Kulisse brauchen können: die von unten beleuchtete Tanzfläche, die Tische ringsum, die Nischen und Logen, – nicht einmal die Palmen fehlten. Was die altmodisch gekleidete Band hier produzierte, reichte aus der Tango-Zeit nicht weit über Benny Goodman hinaus. Mit amüsiertem Lächeln ließ er sich einen kleinen Tisch nicht weit von der Tanzfläche geben. Er war auch ziemlich nahe an der großen Loge, wo Antonelli mit seinem ganzen Clan saß. »Wirklich rührend«, dachte Franco, »eine hübsche Familie! Mit dem Oberhaupt, den einflußreichen Verwandten, den jungen Leuten, die sich auch einmal amüsieren sollen.« Der Kellner stellte irgendein abenteuerlich aussehendes Getränk vor ihn hin. Unter der Bezeichnung »Hauscocktail« stand er auf der pompösen Karte ganz oben. Aber Franco schob das Glas achtlos ein Stück zur Seite. Sein Plan nahm langsam 20
Formen an. Genau genommen die noch recht jugendlichen Formen von Florence Antonelli, der Enkelin des Alten. Im Kreis ihrer Lieben hatte sie wohl gerade das Dessert beendet. Uninteressiert rührte sie mit einem silbernen Sektquirl im Champagnerglas und blickte durch Großvater, Vater und alle Onkels hindurch in den Saal. »Schau doch mal her!« dachte Franco und fixierte sie. Ob er nun tatsächlich mediale Fähigkeiten besaß oder nicht – nach einer kurzen Weile traf ihn der Blick des jungen Mädchens, und sie erkannte ihn. Franco merkte es an dem leichten Zucken, das über ihr hübsches Gesicht lief. Die Band legte gerade wieder mit einem Tango los. ›A media luz‹ hieß er. Franco hatte es irgendwann gehört und behalten. Der Tango schien ihm günstig. Er stand auf, ging zur Loge hinüber und die zwei Stufen hinauf. Erst als er sich vor Florence Antonelli verbeugte, blickte der Alte auf. Natürlich erkannte auch er den Mann, der zu den am meisten von der ganzen Mafia gehaßten gehörte. Antonelli kniff die Augen zusammen, und das mächtige, zerfurchte Gesicht auf dem kurzen Hals färbte sich dunkelrot. »Darf ich bitten?« lächelte Franco und deutete eine Verbeugung gegen den Alten an. Florence schien das Atmen eingestellt zu haben. Die Musik spielte, aber in dieser Loge herrschte auf einmal völlige Stille. »Sie erlauben?« fragte Franco, nun direkt gegen Antonelli gewandt. Und dann geschah so etwas wie ein Wunder. Langsam, sehr beherrscht, sagte der dicke, alte Mafioso: »Der junge Mann möchte mit dir tanzen, Florence!« Unsicher, als hätte sie nicht recht gehört, erhob sich Florence. Ihre Hand, die Franco galant nahm, war feucht. Aber schon als sie die Stufen hinunterschritt, hatte sie sich wohl wieder gefangen, und als Franco ihr auf der Tanzfläche ganz nach alter Art den Arm um die Taille legte, gab sie wie selbstverständlich 21
nach. Er dirigierte sie in die Mitte des gläsernen Parketts. Viel war noch nicht los, sie hatten Platz genug. »Franco … Solo, nicht wahr?« fragte sie. Franco nickte fröhlich. »In der Tat. Ich dachte mir schon, daß ich hier nicht ganz unbekannt bin. Sie tanzen zauberhaft, Florence!« Für eine Sekunde ging ihr das Kompliment ein. Dann bildete sich eine kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen. »Sie müssen verrückt sein, Franco!« »Weil ich mit Ihnen tanze? Ganz im Gegenteil – ich finde das eine sehr vernünftig und natürliche Reaktion. Ich sah Sie, ließ meinen Cocktail stehen und bat Sie um diesen Tango!« Er drückte sie etwas stärker an sich und glitt mit ihr in langgezogenen Wechselschritten über die freie Fläche. »Das meine ich nicht«, sagte sie, als sie bei der abschließenden Drehung für einen Moment in seinem Arm lag. »Sondern?« »Das wissen Sie ganz genau, Franco! Bei uns wird über nichts anderes als über diesen Laval geredet.« »Nun, ja«, gab Franco zurück und führte sie in eine etwas komplizierte Tanzfigur, die sie aber perfekt beherrschte. »Laval ist ja auch wirklich ein sehr interessanter Mann.« Der Tango war zu Ende. Sie blieben stehen, und Florence blickte ihn etwas fassungslos an. »Das meine ich ja gerade! Sie nehmen auf die leichte Schulter, was Ihnen vermutlich in den nächsten Tagen den Hals brechen wird!« Franco hob die Schultern. »Ole Guapa,« sagte er. »Mein Lieblingstango, von Amadeo Malando. Mögen Sie?« 22
Florence nickte, und es sah beinahe aus, als hätte sie Tränen in den Augen. »Darf ich schließen, daß Ihre … Leute es nicht ausgesprochen gut mit mir meinen, was diesen Laval und meine Beziehungen zu ihm betrifft?« »Ach«, sagte sie unterdrückt, »Sie sind doch verrückt, Franco! Daß Sie bei meinen … Leuten, wie Sie sagen, nicht gerade Persona grata sind, wissen Sie wohl. Sie haben ja auch einiges dafür getan. Aber diesmal geht es wirklich nicht um Sie, Franco.« »Sondern?« »Um Lavals … Maschine. Dieses Ding! Es ist lebensnotwendig. Wer es besitzt, hat alle Macht. Verstehen Sie?« »Ungefähr ja. Obwohl ich mir unter ›alle Macht‹ nichts Rechtes vorstellen kann.« »Ich auch nicht«, sagte sie ehrlich. »Aber es muß wohl so sein. Um es zu bekommen, gibt es keine Begrenzung der Mittel.« »Bei Ihren Leuten?« »Natürlich. Wo sonst? Ich weiß nicht einmal, ob ich Ihnen das sagen darf. Aber …« »Aber …?« Sie schenkte ihm einen eigentümlichen Blick und lehnte sich für einen kurzen Augenblick in seinen Arm. Er spürte ihre straffe Haut durch den dünnen Seidenchiffon ihrer Bluse und ihre Wärme. Mit einem verwehenden Akkord endete der Tango, und sogleich löste sich Florence wieder von ihm. »Ich glaube, mehr kann ich Großvater nicht zumuten,« sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns, und Franco brachte sie wieder zu der Loge. Antonelli blickte ihnen aufmerksam entgegen und rollte eine dicke, schwarze Zigarre zwischen den wulstigen Lippen. Mit einer formvollendeten Verbeugung 23
verabschiedete sich Franco von seiner schönen, jungen Partnerin und wollte gehen. »He, Solo!« Auf dem Absatz schwang er herum. Antonelli hatte die Zigarre aus dem Mund genommen und deutete damit auf ihn. »Ja?« »Gelegentlich kriege ich noch zehn Bucks von Ihnen, Solo!« »Warum?« »Sculturi hat sie zahlen müssen, wegen Schwarzfahrens.« »Ziehen Sie’s ihm vom Wochenlohn ab, Antonelli,« riet Franco. »Wer sich so dämlich anstellt, muß bestraft werden!« Er nickte Florence noch einmal zu, die sich plötzlich fröstelnd ihre Stola um die Schultern zog, und verschwand zwischen den Paaren, die zum nächsten Tango wie zu einer gymnastischen Vorführung antraten. Die Band begann wieder, diesmal mit ›La Cumparsita‹. Franco mochte Tangos, nicht erst, seit sie wieder so sehr in Mode gekommen waren. Ein Tango war für ihn der eleganteste, bei aller Disziplin der beschwingteste Tanz. Er fragte sich allerdings, ob er nicht gerade jetzt vielleicht seinen letzten getanzt hatte. * Als sich Franco am nächsten Morgen von seinem Frühstück erhob, war er sich völlig klar darüber, daß seine Gegner schon auf den Beinen waren, um ihn zu beobachten. Von seinem Telefongespräch mit Claire Laval konnten sie noch nichts wissen. Also blieb ihnen nichts übrig, als jeden seiner Schritte zu registrieren … Als er aus der Hoteltür trat, erblickte er schräg gegenüber einen beigefarbenen, braun abgesetzten Fairlane mit Tonio 24
Sculturi am Steuer. Vermutlich sollte der arme Kerl seine gestrige Scharte wieder auswetzen. Franco bedauerte ihn zutiefst. Gemächlich schlenderte er über die Fahrbahnen, wartete am Mittelstreifen und tat so, als nähme er Sculturis weit aufgerissene Augen gar nicht wahr. Dabei leuchteten sie fast wie zwei aufgeblendete Spotlights über die belebte Avenue. Franco nutzte eine Lücke im Verkehr und erreichte Sculturis Fahrzeug genau auf der Höhe des linken Hinterrads. Er bückte sich, wobei er sorgsam die Bügelfalten seiner Hose hochzog, schraubte ruhig das Ventil aus dem Reifen und hörte die Luft befriedigt herauszischen. Die Wagentür klappte. Mit einem Sprung war Sculturi heraus. »He! He! Was machst du denn da?« schrie er aufgeregt. Achselzuckend umrundete Franco das Heck, beugte sich zum rechten Hinterreifen und schraubte auch hier das Ventil heraus. Sculturi war ihm gefolgt und starrte ihn ungläubig an. Franco lächelte. »Ich weiß, du würdest mich jetzt am liebsten umlegen, auf offener Straße,« sagte er genußvoll. »Aber gerade das darfst du nicht! Sie haben es dir streng untersagt. Hast du Telefon im Wagen?« Sculturi nickte verblüfft. Franco hatte es ohnehin an der langen Spezialantenne bemerkt. »Das ist im Augenblick vollkommen unnütz,« sagte er, griff an den federnden Teleskopstab und knickte ihn mit einer Handbewegung ab. Sculturi hatte die Hände zu Fäusten geballt. Seine Lippen zitterten. »Poli … Polizei!« knirschte er endlich. »Ich hol die Polizei, Solo! Weißgott, das tue ich!« »Haha,« sagte Franco Solo tiefernst, »da muß ich ja fast lachen! Seit wann kümmert sich die New Yorker Polizei wieder um Sachbeschädigungen und groben Unfug? Laß dieses 25
schrottreife Cremetöpfchen stehen. Da drüben fährt ein Bus – fahr zu Antonelli und sag ihm, ich hätte deine Begleitung abgelehnt! Aber stopf dir vorher eine neue Ausgabe von ›Life‹ hinten in die Hose!« »Warum?« fragte Sculturi dümmlich. »Weil er dir vermutlich den Hintern versohlen wird, Bürschchen! Bye!« Franco drehte sich um, war mit ein paar Sprüngen an einem vorüberfahrenden Bus, sprang auf und entschwand den haßerfüllten Augen des Mannes. An der nächsten Ecke sprang er jedoch schon wieder ab, schlüpfte in ein startbereites Taxi und programmierte den Fahrer mit kurzen Worten auf den Internationalen Flughafen. Vielleicht war Sculturi wirklich alles gewesen, was sie an Verfolgern im Augenblick auf ihn angesetzt hatten. Aber Franco Solo machte sich nicht die Illusion, seine Gegner damit abgeschüttelt zu haben. In gewisser Beziehung war der Apparat der Mafia fast so gut wie der des Staates. Er funktionierte möglicherweise nicht ganz so technisch perfekt, aber umso zuverlässiger. Mafiosi arbeiteten im allgemeinen weniger wegen des Geldes und eventueller Beförderung, als vielmehr mit Rücksicht auf ihr persönliches Wohlergehen und oft genug ihr Überleben. Am Flughafen genau wie auf den größeren Bahnhöfen würde irgend jemand mit Franco Solos Beschreibung in der Tasche stehen und die Augen offenhalten. Und all diese Jemande waren ganz gewiß nicht von der Polizei … »Zum Air France-Terminal, Ankunft Ausland,« sagte er, als der Taxifahrer vor den Abbiegespuren das Tempo zurücknahm. Der Wagen glitt den geschwungenen Zubringer hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, bis er vor der richtigen Rampe mit rupfender Bremse zum Stehen kam. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, hinüber zu den Japan Air Lines zu fahren und sich von dort aus erst wieder einsatzbereit 26
zu melden?« fragte Franco und drückte ihm ein Scheinchen mehr in die Hand. Der Fahrer warf einen Blick darauf und nickte. »Unter diesen Umständen – klar!« Es war ein schwacher Versuch, jemanden irrezuführen, der den Funkverkehr der Taxis abhörte und sich für Leute interessierte, die Gäste aus Frankreich abholen wollten. Mehr nicht. Gerade als Franco die Halle betrat, meldeten die Lautsprecher die Ankunft der Maschine aus Paris. Franco bummelte hinüber zum Zoll. Wie Claire wohl aussehen würde? Sie hatten kein Erkennungszeichen verabredet, sollten sich in der VIP-Lounge treffen. Aber Franco war doch neugierig und wettete mit sich, daß er das Mädchen schon hier am Ausgang erkennen würde. Hatte er richtig getippt, mußte sie ihn ja dann zur VIP-Lounge führen. Natürlich dauerte die Abfertigung wieder eine halbe Ewigkeit. Franco war ganz sicher, daß die Haupt-Schmuggelroute von Paris in die USA nicht durch diese zollamtlichen Abfertigungsschalter führte, aber die Zöllner schienen das nicht wahrhaben zu wollen. Sie kramten im Gepäck der Fluggäste, als wären der französischen Republik sämtliche Kreuze der Ehrenlegion abhanden gekommen. Langsam nur, einer nach dem anderen, passierten die größtenteils übernächtigten Passagiere die Paßkontrolle, an deren Stelle ein halbes Dutzend Erzengel mit feurigen Schwertern auch nicht feindseliger gewirkt hätten. Dann endlich durften sie amerikanischen Inlandsboden betreten. Die Geschäftsleute ließ Franco völlig außer acht, ebenso die Paare und die älteren Frauen: Was sich unter Dreißig auf ihn zubewegte, waren zwei typische Mannequins mit nachlässig aufgesteckten Haaren und dicken Wollstrümpfen an den mageren Beinen, eine strahlende Ordensschwester, eine bebrillte 27
Jung-Managerin aus der Mode- oder Kosmetikbranche und eine Angestellte der Air France in Zivil, aber mit der blauen Luftreisetasche umgehängt. Nichts mehr? Die Mannschaft schlenderte durch die Kontrolle, wies gelangweilt die Ausweise vor … der Captain mit seinen vier Streifen, der Co-Pilot, der Bordingenieur und der Navigator, gefolgt von den Stewards und den Bord-Hostessen. Franco runzelte die Stirn. Er sah sich nach der jungen Nonne um, hatte für einen Moment den abenteuerlichen Verdacht, Claire Laval hätte diese Verkleidung gewählt – aber die Schwester wurde gerade von drei hiesigen Benediktinerinnen fröhlich in Empfang genommen und schied damit aus. Achselzuckend machte sich Franco auf den Weg zur VIP-Lounge. Der Raum mit den tiefen Ledersesseln und der leeren, kleinen Bar schien unbenutzt. Nur eine zierliche, schwarzhaarige Hosteß lehnte an einem Tischchen mit bunten Flugprospekten und zog sich die Lippen vor einem Taschenspiegelchen nach. Sie klappte das Etui zu, verstaute es in ihrer kleinen Handtasche, fuhr sich noch einmal mit der Zungenspitze über die Lippen und … »Monsieur Solo?« fragte sie. »Ja,« nickte Franco. »Ich bin hier verabredet mit einer jungen Dame aus Paris.« »Natürlich. Ich weiß. Das bin ich.« Endlich ging Franco ein Licht auf. Jetzt bemerkte er auch, daß die Uniform eine Nummer zu groß war, daß die junge Frau dazu völlig unpassende Schuhe trug. »Claire Laval?« Sie sprühte vor guter Laune, als sie nickte. »Es muß ja nicht jeder gleich wissen, daß ich angekommen bin, nicht wahr?« sagte sie, und ihre Stimme klang dabei ein ganz klein wenig belegt – nicht mehr, als daß es ziemlich sexy wirkte und eine leichte Ahnung von Gauloise Filtre und 28
Dubonnet zu später Stunde aufkommen ließ. »Wie sind Sie durch die Paßkontrolle gekommen?« fragte Franco verdutzt. Sie lachte. Sehr pariserisch. »Oh, ich habe den Paß von Mariléne genommen, und die Stewardeß ist mit meinem durchgegangen. Bei welcher Frau stimmt schon noch der Paß mit der Wirklichkeit überein?« Zwischen Franco Solos Brauen bildete sich eine Falte. »Und … Mariléne … sie spielt hier Ihre Rolle?« Vergnügt nickte Claire. »Ich glaube, mit viel Vergnügen. Sie wird in einem richtigen Luxushotel wohnen, n’est-ce pas? Sightseeing machen, Shopping, so wie ich, wenn ich sie wäre!« Franco vermochte ihre Zuversicht nicht zu teilen. »Sie blicken mich so ernst an, Monsieur Solo?« »Ja. Ich fürchte, diese Mariléne wird Schwierigkeiten bekommen.« »Warum? Mit wem?« »Mit den Leuten, die hinter der Erfindung Ihres Vaters und auch hinter Ihnen her sind. Ich bin ziemlich sicher, daß sie die Passagierlisten aller ankommenden Flugzeuge aus Übersee kontrollieren. Und wenn darin nun Ihr Name auftaucht …« »Oh … können sie das?« »Ich vermute, ja,« nickte Franco. »Wenn Sie unter Ihrem richtigen Namen hier angekommen wären, hätte ich einiges für Ihre Sicherheit tun können. Um Mariléne kann ich mich nicht kümmern.« »Das … tut mir leid,« sagte Claire erschrocken. »Man muß sie vielleicht warnen?« »Wenn es noch nicht zu spät ist. Wie heißt sie?« »Mariléne Dufour. Aber sie wird sich als Claire Laval im Hotel eintragen!« 29
»Richtig. Und in welchem?« »Waldorf-Astoria, natürlich!« Franco sah auf die Uhr. »Sie kann dort in frühestens einer Stunde eintreffen. Dann werden wir mit ihr telefonieren. Aber ehe wir hier weitermachen, sagen Sie mir bitte erst einmal, was das für eine Maschine ist, die Ihr Vater hier zum Patent anmelden lassen will! Ich habe noch nicht die geringste Ahnung, außer daß es etwas sehr Wichtiges sein muß, um das sich die halbe Welt streitet!« Claire blickte ihn einen Moment prüfend an. »Ursprünglich hat mein Vater mit niederfrequenten Strahlen experimentiert, die er zur Unkrautbekämpfung verwenden wollte. Schwingungen so um die 12 Hertz, wenn Sie wissen, was damit gemeint ist?« »Ich denke, so etwas wie ein unhörbar tiefer Ton?« »Richtig. Und als bei einem Experiment einige seiner Mitarbeiter plötzlich zusammenbrachen und gerade noch wieder ins Leben zurückgerufen werden konnten, stellte er fest, daß diese Schwingungen sehr gefährlich für Lebewesen sind.« »Aber davon habe ich schon einmal gehört!« »Möglich. In England hat man damit auch schon experimentiert, und ein paar Leute sind dabei umgekommen. Deshalb haben Sie’s dann auch wieder sein lassen. Die Strahlung war nämlich nicht zu bündeln oder zu richten. Die Leute hinter der Maschine wurden genauso getroffen wie die im Ziel.« »Weiter!« »Nun – mein Vater hat diese Schwierigkeiten beseitigt.« »Ach?« »Ja. Er hat eine Methode gefunden, Schall so zu polarisieren, wie man Lichtschwingungen polarisieren kann. Wir sind jetzt so 30
weit, daß wir eine Ratte aus einem ganzen Rudel heraus töten können, ohne daß den anderen etwas passiert.« »Aber nicht nur Ratten, nehme ich an?« Claire schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht nur Ratten. Auch – beispielsweise – Elefanten.« Sie sah ihn eindringlich an, und er verstand augenblicklich. »Dann ist mir alles klar. Ich wollte, wir hätten die verdammte Kiste schon beim Bundespatentamt in Washington!« seufzte er. Claire schüttelte den Kopf. »Das ist keine Kiste mehr. Wir haben in letzter Zeit den Apparat weiterentwickelt. Er hat jetzt nur noch ungefähre Koffergröße.« »Deshalb wird er nicht einfacher herzutransportieren sein.« »Aber …« Claire sah sich suchend um, »er ist doch schon hier! Ich habe ihn der Einfachheit halber gleich mitgebracht. Das Gepäck der Stewardessen wird doch nie kontrolliert!« *
Als Franco den Schock etwas überwunden hatte, sah auch er sich vorsichtig um. »Wo … ist diese … Höllenmaschine?« flüsterte er. Der ganze Raum war leer, nichts ließ auf verborgene Abhörmikrophone schließen, aber unwillkürlich dämpfte er seine Stimme. »Der Koffer? Ich habe ihn hinter der Tür stehenlassen!« Sie löste sich von dem Counter, an dem sie immer noch gelehnt hatte, ging mit schnellen Schritten auf ihren pfenniggroßen Absätzen durch den Raum zur Tür und kam mit einem schwarzen Koffer zurück. Reichlich unbekümmert, wie es schien, stellte sie ihn vor Franco Solos Füßen ab. Er betrachtete 31
ihn mißtrauisch. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, wollte sie ihn beruhigen. »Ehe man ihn nicht an eine Stromversorgung anschließt, kann er gar nicht arbeiten! Und außerdem habe ich die Hauptsicherung herausgenommen und in meine Tasche gesteckt! Selbst wenn jemand den Koffer findet und versucht, Radio Luxemburg damit zu empfangen, wird nichts geschehen!« Sie kicherte. Franco schüttelte langsam den Kopf. »Das ist auch nicht meine Hauptsorge. Aber soviel ich weiß, sind wegen dieses Dings schon mindestens vier Menschen ermordet worden, ein paar Unbeteiligte nicht gerechnet!« »Ja,« gab sie zögernd zu, »das stimmt. Was machen wir jetzt?« »Nach Ihrem Plan sollten Sie wohl mit dem Koffer in das hiesige Vertragshotel der Air France-Hostessen fahren, nicht wahr? Vielleicht wäre das tatsächlich … still!« Draußen kam das helle Jaulen einer Sirene schnell näher, und dann sah Franco auch schon einen Wagen mit flackerndem Rotlicht am Fenster vorbeirasen. Ein zweiter folgte dichtauf. »Was ist das?« fragte Claire naiv. »Polizei. Aber keine gewöhnlichen Streifenwagen. Sieht mehr nach Mordkommission aus. Ich möchte mich vergewissern!« Claire erschrak. Es stand ihr ausgezeichnet. »Können Sie sich eine Weile mit diesem Koffer in der Damentoilette verstecken? Da sind Sie verhältnismäßig sicher! Wenn ich zurückkomme, pfeife ich!« »Was denn?« fragte sie verdattert. »Ah – irgend etwas. Die Marseillaise!« Er schob sie zur Tür und in die Richtung des Ladies’ Powder Room, dann hastete er den Gang hinunter, fand einen Ausgang und sah das flackernde Rotlicht auf einem der Plätze für Kurzparker, gar nicht weit entfernt. Mit ein paar Sprüngen war er über die Fahrbahn, wand 32
sich zwischen den Wagen hindurch und stoppte, als er auf gleicher Höhe mit dem Einsatzwagen, zwei Parkreihen weiter links, war. Tatsächlich handelte es sich um eine Mordkommission. Jemand im weißen Kittel beugte sich zu Boden, andere Beamte standen vorerst noch untätig umher. Dann richtete sich der Weißkittel auf … »Zuverlässig Exitus,« sagte er und zog sich ein Paar durchsichtige Wegwerfhandschuhe von den Fingern. »Mehrere Messerstiche in die Herzgegend, starke innere Blutungen, abgesehen von dem, was hier schon herausgeflossen ist. Die Obduktion wird weitere Einzelheiten ergeben, aber das genügt wohl!« Der Leiter der Mordkommission gab dem Fotografen ein Zeichen, und das Blitzlicht flammte aus verschiedenen Richtungen auf. Erst als die Aufnahmen im Kasten waren, gingen die Untersuchungen weiter. Franco duckte sich, konnte aber jedes Wort verstehen. »Handtasche,« sagte ein Beamter. »Ich seh mal nach. Da ist der Paß. Französisch. Claire Laval. Aus Paris … und hier das Flugticket. Warten Sie mal, das ist von heute! Sie muß gerade erst angekommen sein, Chef! Armes Kind, kaum hier und schon tot!« »Geben Sie mal her, ehe Sie anfangen zu weinen!« Franco vernahm sogar das Rascheln der Papiere. Sein Herz schlug bis in den Hals hinauf. Seine schlimmsten Ahnungen hatten sich soeben erfüllt. Die Stewardeß war nicht einmal bis ins Hotel gekommen. »Da klebt noch ein Gepäckschein im Ticket. Ist irgendwas hier gefunden worden? Koffer, eine Reisetasche?« Ganz langsam zog sich Franco zurück. Es wäre mehr als unangenehm gewesen, wenn ihn die Polizisten bei der Suche 33
nach dem Gepäck hier aufgestöbert hätten. »… zur Zollabfertigung und fragen dort nach! Und Sie zum Air France-Büro, die müssen noch die Unterlagen auf dem Tisch haben! Beeilung, wenn ich bitten darf! Und wenn Sie zufällig jemandem mit Blut auf dem Hemd begegnen, bringen Sie ihn her! Ganz gleich, wer er ist und ob er wirklich Nasenbluten hat!« »Worauf tippen Sie, Chef?« fragte einer. »Raubmord?« »Das werden wir besser wissen, wenn wir den Koffer gefunden haben oder zumindest in Erfahrung bringen, wer diese Claire Laval ist, und was sie bei sich hatte. Sie muß sich verzweifelt gewehrt haben. Da ist auch versuchtes Kidnapping drin, das schief gegangen ist!« Jetzt war Franco so weit entfernt, daß er sich wieder aufrichten und schneller weitergehen konnte. Wie es aussah, war die Falle über ihnen schneller zugeschnappt, als er befürchtet hatte. Die Mafia mußte über neue, bislang unbekannte Verbindungen auf dem Flughafen verfügen. Er erreichte unangefochten die verlassene VIP-Lounge und den Gang zu den Toiletten. Die ersten Takte der Marseillaise konnte er noch, und er pfiff sie. Zögernd ging eine der Türen auf, und Claire Laval drückte sich mit dem Koffer durch den Spalt. Jetzt stand Angst in ihren Augen. »Ist … etwas …?« Franco nickte und nahm ihr erst einmal den Koffer ab. »Mariléne. Draußen auf dem Parkplatz.« »Sie ist doch nicht … tot?« »Doch. Sie hat zu hoch gespielt, ohne es zu wissen.« Ein Zittern lief durch Claires schlanken Körper. Franco legte beruhigend den Arm um ihre Schultern. »Sie konnten es auch nicht ahnen, Claire. Ihr Plan war im 34
Grund ganz gut. Nur kennen Sie sich eben mit den hiesigen Verhältnissen noch nicht aus!« »Schrecklich!« hauchte sie. Franco drückte noch ein bißchen fester zu, und sie schmiegte sich an ihn. »Aber, warum hat man sie getötet?« »Ich denke, daß man ihr den Koffer abnehmen wollte, oder sie kidnappen. Angeblich soll sie sich sehr gewehrt haben. Was für einen Koffer hatte sie bei sich?« »Den selben. Aber mit meinen Sachen. Wir wollten irgendwann tauschen.« Claire zuckte zusammen. »Ich habe ja noch ihre Reisetasche! Mit all ihrem Eigentum!« »Darum können wir uns jetzt keine Gedanken machen. Am besten stellen wir sie in der VIP-Lounge auf den Tisch. Da findet sie jemand von der Air France und leitet sie an die richtige Adresse weiter! Kommen Sie, Claire. Langsam wird der Boden hier ein bißchen heiß!« Sie holte die Reisetasche der toten Stewardeß und deponierte sie auf einem Tisch neben dem Ausgang. Dann sah sie Franco fragend an. »Können wir denn nicht die nächste Maschine nach Washington nehmen, Monsieur Solo?« »Erst einmal sollten Sie nicht länger Monsieur Solo zu mir sagen. Das ist so ungewohnt, und ich weiß nie sofort, wer damit gemeint ist, Claire!« Sie zögerte, dann nickte sie. »Ich heiße Franco. Zweitens fürchte ich, daß die Gangster inzwischen festgestellt haben, daß sie die Falsche erwischt haben. Also werden sie nach Ihnen, nach uns beiden suchen und die Abflüge kontrollieren.« »Dann sitzen wir also in der Falle?« fragte Claire, auf einmal sehr sachlich. »Sieht so aus.« 35
»Hm.« »Hier jedenfalls können wir nicht bleiben. Hören Sie!« Ein melodischer Gongschlag zitterte aus den Lautsprechern, und dann wurde eine weitere Maschine aus Paris angekündigt. »Vielleicht können wir …« meinte sie zaghaft. »Mit dem Strom der ankommenden Passagiere hinausschwimmen, wie?« In Francos Stimme war ziemlich viel Sarkasmus. »Wenn unsere Gegner irgend etwas überwachen, dann die Maschinen aus Paris.« »Stimmt auch wieder.« Unentschlossen standen sie in der Halle. Die ersten Leute, die nicht viel Gepäck gehabt hatten, kamen. Und dann berührte Claire sacht Francos Arm. »Da!« Auch Franco Solo sah den Mann im Krankenfahrstuhl, der als erster herausgerollt wurde, und er begriff. »Wollen Sie den armen Kerl aus dem Fahrstuhlwerfen?« »Sicher nicht, Franco. Aber auf den wartet draußen doch sicher eine Ambulanz. Und dies ist ebenso sicher nicht der einzige Krankenstuhl. Ich glaube, ich habe hinten am Counter noch einen stehen sehen, zusammengefaltet. Schnell!« Sie zog ihn mit sich fort, aus der gestikulierenden und schwatzenden Menge heraus, mit der sich die Halle auf einmal füllte. Neben dem Counter eines unbenutzten Abflugschalters stand wirklich ein Faltfahrstuhl. Mit ein paar geschickten Griffen klappte sie ihn auseinander. »Schnell, hinein!« Franco setzte sich vorsichtig in das Ding aus Chrom und Plastik. Claire drückte ihm den schweren Koffer auf den Schoß, hatte auf einmal auch eine Wolldecke in der Hand, breitete sie fürsorglich über ihn, fast bis über die Ohren. 36
»Machen Sie ein leidendes Gesicht!« befahl sie, trat hinter ihn und löste die Feststellbremse. »Sehen Sie den anderen Kranken?« Franco blinzelte umher. »Natürlich. Er scheint noch auf sein Gepäck zu warten. Die Stewardeß, die ihn hergeschoben hat, ist auch nicht mehr da!« »Fabelhaft,« sagte Claire und schob ihn im Sturmschritt durch die Halle. »Pardon,« murmelte sie, als sie beinahe einen alten Mann überfuhr, und »Excusez!«, als ein Liebespaar vor ihren Rädern auseinanderstob. Die Glastür rumpelte zur Seite. Mit der größten Selbstverständlichkeit steuerte Claire einen Ambulanzwagen an, der mit offener rückwärtiger Tür und herabgelassenem Einstieg wartete. Der Fahrer tippte an seine Mütze. »Mr. Van Bloch?« fragte er. »Ja«, antwortete Claire. »Schnell! Es geht ihm nicht gut! Helfen Sie mir?« »Fahren Sie ihn einfach auf die Klappe!« Der Driver schob mit, dann betätigte er einen kleinen Hebel, und der Fahrstuhl wurde angehoben, bis er auf dem Niveau des Innenraums war. Claire schob ihn hinein und ließ die Arretierung einschnappen. Der Fahrer schloß die Tür und stieg vorn ein. Er drehte den Zündschlüssel und schob das Verbindungsfensterchen auf. »Ist es sehr eilig? Ich meine, wegen Rotlicht!« »Nein«, entschied Claire. »Das ist nicht nötig, wenn Sie vorsichtig fahren, möglichst ohne viel Erschütterung!« »Mach ich!« Das Fensterchen wurde wieder geschlossen, und leicht in den Federn wiegend setzte sich der Ambulanzwagen in Bewegung. 37
»Haben Sie eine Ahnung, wohin die Reise geht?« murmelte Franco Solo unter seiner Decke. Claire lächelte. »Ich konnte ihn ja schlecht fragen, nicht wahr? Ich hoffe nur, es ist die ungefähre Richtung nach Washington!« »Schauen Sie mal nach hinten hinaus, ob uns jemand folgt!« Claire wandte sich folgsam um. »Ich schätze unser Gefolge auf ein halbes Hundert Wagen. Yellow Cabs, Rabbits und Cadillacs. Wie sieht ein MafiaWagen aus?« »Wie einer, der es auf uns abgesehen hat.« »Wenn Sie damit eingebaute Schnellfeuerkanonen und Raketenwerfer meinen, wie bei James Bond, so etwas scheint nicht dabei zu sein.« »Hoffen wir’s!« sagte Franco schwach. Allmählich wurde ihm unter der Decke und der Last des Koffers mit der Höllenmaschine heiß. *
Franco sah auf seine Uhr. Sie fuhren schon über eine Stunde. Der Verkehr war schwächer geworden. Längst waren sie durch Queens hindurch und nach Norden in Richtung auf die Bay abgebogen. Langsam wurde es ländlich. Und dann wurde der Wagen sacht abgebremst, ging in eine enge Kurve und neigte sich, als führe er eine steile Auffahrt hinauf. »Wo sind wir?« Claire spähte durch den schmalen Schlitz klaren Fensterglases in der Milchglasscheibe. »Sieht irgendwie vornehm aus. Alte Bäume, Rasen. Vielleicht 38
eine Privatklinik?« Sanft kam der Wagen zum Stehen. Der Fahrer stieg aus, öffnete die rückwärtige Tür und half Claire, den Fahrstuhl wieder auf die Plattform zu ziehen. Die Hydraulik senkte ihn, und dann knirschten die Räder auf hartem, weißem Kies. »Quittieren Sie mir die Fuhre?« fragte der Fahrer. Claire nickte, nahm den Kugelschreiber und schrieb irgend etwas auf den Block, den ihr der Mann vorhielt. Sie suchte in der Tasche ihres Stewardessen-Kostüms, fand ein paar Münzen und drückte sie ihm in die Hand. »Thanks! Nötig wär’s nicht!« »Ich krieg’s wieder!« tröstete sie ihn. Grinsend stieg er ein und startete die gebogene Auffahrt hinunter. Franco sah ihm nur kurz nach. Dann ließ er den Blick zum Portal des großen, weißen Hauses gehen, vor dem sie ihn abgestellt hatten. Er hielt sich die Hand vor den Mund, konnte aber ein leises prustendes Lachen nicht unterdrücken. »Was lachen Sie?« fragte Claire verstört. »Kennen Sie das hier?« »Dem Namen nach,« nickte Franco. »Das Pelham-WinstonInstitute!« »Na, schön! Und was wird hier gemacht?« »Im Pelham-Winston-Institut küren sie mit Affendrüsen und Stierhoden-Extrakten an älteren Ölscheichs und anderen wohlhabenden Leuten herum.« »Ach, so!« Claire hatte sofort begriffen. »Wegen der … Manneskraft, wie?« »Ja,« kicherte Franco. »Dieser Van Bloch, den ich hier vertrete, scheint es ziemlich nötig zu haben, daß man ihn per Rollstuhl herbringen muß! Ich jedenfalls komme mir außerordentlich fehlgeleitet vor!« 39
Claire betrachtete ihn sinnend. »Trotzdem – hinein müssen wir wenigstens. Es würde auffallen, wenn ein Patient schon durch den Anblick der Klinik geheilt aus dem Rollstuhl aufstehen würde!« Entschlossen nahm sie den Griff in beide Hände und schob den Stuhl zu der kleinen Auffahrrampe neben der Treppe. Die Glastüren glitten vor ihnen lautlos auseinander. In der Halle, die von leiser Hintergrundmusik und dem Duft üppig wuchernder Blattpflanzen erfüllt war, kam ihnen eine freundlich lächelnde Schwester entgegengeglitten. »Hallo,« grüßte sie, »wir haben Sie schon erwartet! Hatten Sie einen angenehmen Flug, Mister Van Bloch?« Franco nickte matt. »Am besten bringen wir Sie gleich hinauf in Ihr Zimmer. Die Formalitäten können wir dann nachher erledigen, und die Aufnahmeuntersuchung ist von Doktor Brewster für morgen früh festgesetzt worden!« Sie nickte Claire freundlich zu, wandte sich um und ging voraus zum Lift. Claire blieb nichts anderes übrig, als Franco hinter ihr herzuschieben. Offenbar gehörte der Krankentransport nicht zu den Pflichten dieses weißen Engels. Im zweiten Stock wurden sie einen langen Gang entlanggewinkt. Sie kamen an einem Wintergarten vorbei, in dem ein paar Patienten saßen und sich die Zeit vertrieben – vom äußeren Ansehen her alles Männer, denen man einen gewissen Bedarf an Affendrüsen und Stierhoden schon zutrauen konnte. »214,« sagte die Schwester und hielt die Tür einladend auf. »Hier werden Sie wohnen, Mister Van Bloch. Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Wenn Sie noch etwas brauchen, rufen Sie mich unter 311 an.« »Uff,« sagte Franco, als sich die Tür hinter dem antiseptisch wirkenden Weib geschlossen hatte. Er warf die Decke von sich, 40
hob den Koffer auf den Boden und sprang mit einem Satz aus dem Rollstuhl. Das leichte Gefährt rollte klappernd durchs Zimmer und prallte gegen einen gläsernen Couchtisch, auf dem eine Schale mit ziemlich synthetisch aussehendem Obst klirrte. »Wir müssen hier so schnell wie möglich weg,« stieß er hervor. »Natürlich,« nickte Claire. »Ehe die Ihnen mit ihren Affendrüsen zuleiberücken …« »Blödsinn. Einer von den Lustgereisten im Wintergarten könnte mich erkennen. Bis vor einiger Zeit war er einer der prominenten Mafiosi von Newark, und ich habe ihm einmal schrecklich auf die Zehen getreten!« Zwischen Claires Brauen erschien eine Falte. »Der Dicke mit den stechenden, dunklen Augen? Weißhaarig? Er trug einen brokatenen Schlafrock?« »Ja. Wie kommen Sie auf den?« »Er schien sehr interessiert an uns. Mehr an Ihnen als an mir. Das fällt einem schließlich auf!« sagte Claire ohne jede falsche Bescheidenheit. »Tatsächlich? Valerino ist dafür bekannt, daß er ein Gedächtnis wie ein Elefant hat. Er vergißt nichts. Verdammt, wie kommen wir jetzt hier heraus?« »Wo sind wir überhaupt?« fragte Claire unschuldig. Franco lachte ärgerlich. »Am Long Island Sound. Prominentengegend. Das bedeutet: Weit und breit kein Taxi, von Bahnhöfen ganz zu schweigen.« Claire trat ans Fenster und blickte hinab. »Da unten steht allerhand Fahrbares herum.« Franco trat neben sie. »Der Station-Waggon gefällt mir.« »Hm. Er sieht einigermaßen widerstandsfähig aus. Ist er 41
schnell?« »Schnelligkeit,« sagte Franco etwas wehmütig, »spielt auf amerikanischen Autobahnen ohnehin keine Rolle, wenn man Wert darauf legt, nicht aufzufallen. Wir nehmen ihn. Allerdings brauchen wir andere Nummernschilder.« Er musterte seine voraussichtliche Mittäterin. »Und Sie fallen in der Uniform auch zu sehr auf. Der nächste Flugplatz ist immerhin eine gute Stunde entfernt.« »In Hemd und Höschen bin ich nicht unauffälliger,« gab sie zu bedenken. »Bestimmt nicht. Aber vielleicht könnten Sie hier irgendwo eine Schwesterntracht auftreiben?« Seufzend nickte Claire. »Ich bin schon völlig in Ihre verbrecherischen Praktiken integriert, wie? Warten Sie, ich will sehen, was sich machen läßt.« Sie ging hinaus und ließ Franco mit dem Koffer zurück. Er hatte große Lust, ihn wenigstens einmal aufzumachen. Aber dann dachte er an die Sicherungen, die in die früheren Modelle eingebaut gewesen waren, und ließ den Plan fallen. Stattdessen ging er noch einmal zum Fenster und musterte die Gegend. Der Klinikparkplatz lag völlig verlassen da. Fast hätte er mit sich selbst gewettet, daß der Station-Waggon nicht einmal abgeschlossen war, daß vielleicht sogar der Zündschlüssel steckte. Ein Tor, das eventuell verschlossen war, hatte es auf dem Herweg auch nicht gegeben. Die Flucht mußte relativ einfach sein, wenn sie erst im Wagen saßen … Leise ging die Tür auf. Ein schmales, dunkelhaariges Mädchen in blauem Kittel mit blauem Kopftuch kam herein und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Etwas anderes war nicht ohne Aufsehen zu kriegen.« »Es steht Ihnen zauberhaft!« »Das schien der alte Mafioso auch zu denken. Wir müssen 42
verschwinden, ehe er länger über die Verwandlung einer Stewardeß in eine Küchenhilfe nachsinnt. Drei Türen weiter und von dem Wintergarten nicht einzusehen ist eine Treppe. Gehen wir?« Franco nahm den Koffer und folgte ihr auf den Gang. Leise schloß er die Tür hinter sich. Als er sich wieder zum Korridor wandte, starrte er in die stechenden Augen des alten Valerino. »Na?« sagte er leise, »ein neuer Gast? Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?« »Nicht, daß ich wüßte,« antwortete Franco und versuchte, seine Stimme zu verstellen. Er sah, wie Claire im Rücken des alten Mannes eine Blumenvase mit beiden Händen hochhob. Fragend sah sie ihn an, und er nickte unmerklich. Der Alte hob den Kopf, aber zu spät. Claire schlug zu. Kurz und trocken. Die Vase ging nicht einmal zu Bruch, aber Franco mußte den Koffer fahren lassen und den Bewußtlosen auffangen. Ruhig stellte Claire die Vase wieder auf den Tisch. Dann öffnete sie die Tür zu 214. »Hier ist gerade wieder freigeworden,« sagte sie. »Legen Sie ihn aufs Bett!« Franco schaffte den schlaffen Körper ins Zimmer und deponierte ihn in dem Bett, das eigentlich ihm selbst zugedacht worden war. Dann beeilte er sich, wieder hinauszukommen und den Koffer aufzunehmen. »Sie sind ein Schatz, Claire,« sagte er. *
Sie waren unangefochten die Treppe hinunter und im Erdgeschoß aus dem Haus herausgekommen. Sichernd blickte Franco in die Runde, dann ging er zu dem Station-Waggon 43
hinüber. Claire folgte ihm und sah sich dabei ein paarmal um. Aber nicht einmal an den Fenstern des großen Klinikgebäudes zeigte sich jemand. Wie selbstverständlich drückte Franco auf den Knopf am Türschloß des Wagens. »Na?« fragte Claire leise. »Jetzt habe ich doch tatsächlich meinen Schlüssel vergessen!« flachste Franco. Er holte etwas aus der Jackentasche, das Claire nicht genau erkennen konnte, führte das Ding in das Türschloß ein, bewegte es vorsichtig ein paarmal vor und zurück und schloß auf. Achtlos warf er das Ding dann weg. Es schepperte auf dem Asphalt wie billiges Plastik. »He …« »Nicht mehr zu gebrauchen, wenn man es einmal benutzt hat,« erklärte Franco, hob den Koffer auf den Rücksitz und half ihr in den hohen Wagen. »Und womit wollen Sie starten?« fragte sie interessiert. Statt einer Antwort fingerte Franco unter dem Armaturenbrett herum. Ohne hinzusehen riß er ein paar Drähte heraus und zwirbelte sie zusammen. Schon bei der ersten Berührung kam der Motor. »Machen Sie das öfter so?« fragte Claire. Sie stemmte ihre Füße auf den Boden und legte die Hand auf einen solide aussehenden Haltegriff. »Wenn es nötig ist,« antwortete Franco achselzuckend, legte den Rückwärtsgang ein und kurvte aus der Parklücke. Dann kurbelte er das Steuer herum. Die Reifen mahlten auf dem weißen Kies, und der Wagen rollte die Auffahrt hinunter. Außer einem Mann, der am anderen Ende der großen Wiese auf eine Harke gestützt stand, war noch immer niemand zu sehen. Die ganze Umgebung atmete Stille und Frieden. Wenn der alte Mafioso oben in seinem Bett erwachte, würde sich das ändern. Unten, an der Einmündung des Parkswegs auf der Straße, 44
zögerte Franco nur kurz. Dann lenkte er nach rechts und gab Gas, daß die Reifen pfiffen. »Sie wollen doch mit diesem auffälligen Wagen nicht nach Washington?« »Ganz sicher nicht. Ich weiß nicht, wie fest Sie dem Valerino aufs Haupt geklopft haben, aber in spätestens einer halben Stunde ist der wieder auf dem Damm und schlägt Alarm. Sehr weit kommen wir dann mit diesem Wagen nicht.« »Ist denn die Mafia so mächtig, daß sie Straßensperren errichten und Autos stoppen kann?« Franco bremste vor einem Stop-Schild sanft ab. Der Weg mündete hier auf eine größere Straße. Wegweiser zeigten nach rechts und nach links. Franco entzifferte die Straßennummern, dachte kurz nach und bog nach links ein. Er überholte einen Truck, der gemächlich dahindonnerte, und als das helle Band der breiten Straße wieder leer vor ihnen lag, schaltete er in den vierten Gang und lehnte sich zurück. »So mächtig ist die Mafia sicher nicht,« antwortete er dann. »Aber sie hat leider einige Verbindungen, unter anderem auch zu den Polizeidienststellen, die sie bei Bedarf nutzt. Und wir dürfen nicht vergessen, daß wir diesen Wagen gestohlen haben, dem Gesetz nach.« »Wir?« Franco nickte. »Allerdings, ma chère. Sie haben keine Einwände erhoben und sind mir nicht in den Arm gefallen. Das macht Sie voll mitschuldig.« »Womit müssen wir also rechnen?« »Daß dieser Wagen als gestohlen gemeldet wird. Mit dem Zusatz, wir hätten Gewalt gegen Personen und Sachen angewendet. Die Polizei, die nur dies und nichts Näheres erfährt, wird daraufhin einige Mittel einsetzen, um uns 45
einzufangen.« »Dann kommen wir ins Gefängnis!« »Wahrscheinlich,« nickte Franco gleichmütig. »Und der Koffer?« »Der Koffer kommt in eine Asservatenkammer.« »Und da ist er sicher?« Franco schüttelte amüsiert den Kopf. »Absolut nicht. Die Asservatenkammer einer Polizeidienststelle hier auf dem Land ist kein Tresor. Es wäre für unsere Gegner leicht, ihn da herauszuholen, während wir übers Wochenende in unseren Zellen schmachten und darauf warten, daß ein Richter sich unserer Sache in aller Ruhe annimmt.« »Aber das wäre ja schrecklich!« stellte Claire stirnrunzelnd fest. »Sicher. Deshalb will ich es auch gar nicht erst dazu kommen lassen.« Er mußte herunterschalten, weil sie durch einen kleinen Ort fuhren, dessen einzige Straße von einer bürgernahen Verwaltung mit Schildern und Warntafeln vollgestellt worden war. An weniger ruhigen Tagen mußte es schwer sein, hier durchzufahren ohne zu hupen, zu blinken, jemanden zu überholen, Kinder zu gefährden, Schulwege zu mißachten und außerdem noch auf Willies Hotel, das Drive-in der Bank und einen Schnellimbiß Aufmerksamkeit zu wenden. »Wir machen uns mit einem alten indianischen Trick aus dem Staub. Wenn unsere roten Brüder verfolgt wurden, sprangen sie in den nächsten Bach und patschten im Wasser flußabwärts, bis auch die Suchhunde die Lust verloren, an den Ufern entlangzuschnüffeln.« »Wir werden nasse Füße bekommen, fürchte ich,« sagte Claire und betrachtete nachdenklich ihre leichten Schuhe und die hauchdünnen Perlons. 46
»Ich meinte das nur bildlich. Wir werden nicht durchs nächste Gewässer waten, sondern mit einem Schiff das Weite suchen. Ein Stück weiter oben am Sound befindet sich die Akademie der Handelsmarine. Ich kenne einen der Ausbilder dort, und er wird mir etwas Passendes aus seiner Flotte leihen, denke ich. Damit fahren wir über den Sound, und wenn wir auf der anderen Seite an Land gehen, haben unsere Verfolger hoffentlich unsere Spur verloren.« »Gute Idee. Aber wie geht’s dann weiter, Captain?« »Weiß ich noch nicht. Am sympathischsten wäre mir, wenn wir nach Connecticut hinüberwechselten. In Hartford könnten wir uns eine Maschine chartern und direkt nach Washington fliegen …« Die Reifen sangen auf der glatten, geraden Betonstraße. Nur selten kam ihnen ein Wagen entgegen. Der Station-Waggon fraß Meile um Meile. Aber genauso stetig rückten die Uhrzeiger vor und wuchs die Wahrscheinlichkeit, daß sich jemand auf ihre Spur setzen würde. »Können wir nicht noch etwas schneller fahren?« fragte Claire unruhig. Franco lächelte. »Ich weiß nicht genau, wie das in Frankreich ist. Aber in Amerika bauen wir Autos, die zu den schnellsten der Welt zählen, und um die ganze Sache wieder etwas ungefährlicher zu machen, schreiben wir Geschwindigkeiten vor, die jedem Kaninchen eine Chance geben, zu entkommen. Natürlich könnten wir schneller fahren. Aber dann würde sich der nächste beschäftigungslose Dorfpolizist auf seine Harley schwingen, uns mit Rotlicht und Sirene stoppen und nach den Papieren fragen. Und dann … siehe oben! Wir haben nämlich keine.« »Aha!« erwiderte Claire, und es war deutlich zu merken, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika bei der Französin einen Minuspunkt bekamen. Trotzdem nahm sie noch einen weiteren Anlauf: 47
»Aber in der Television sieht man doch immer, wie hier flüchtende Gangster mit irrem Tempo über enge Paßstraßen jagen und …« Franco winkte ab. »In der Television siegt auch alle halbe Stunde immer das Gute. Die Wirklichkeit ist oft etwas zeitraubender.« Franco kurbelte die Seitenscheibe herunter, denn Claire hatte sich nach einer kurzen Denkpause eine ziemlich kräftig riechende Zigarette angesteckt. Von draußen kam frische Luft herein, die deutlich nach Wasser roch. Nach Seewasser … und etwas faulendem Tang und Karbolineum und Dieseltreibstoff. »Sind wir da?« Franco nickte, schaltete in den dritten Gang herunter und bog von der Straße ab. Jetzt sahen sie auch die weite Wasserfläche. Vor ihnen erhoben sich am Ufer die langgestreckten Gebäude der Marineakademie mit allerlei Masten, flatternden Fahnen und Anlegeplätzen. »Ich setze Sie am Portal ab und verstecke den Wagen dann irgendwo in einer Halle oder zwischen den Büschen. Passen Sie derweil gut auf den Koffer auf!« »Ha!« sagte Claire nur. Franco Solo zog den Wagen bis vor die Freitreppe des Hauptgebäudes und hielt. »Bis gleich!« Claire nickte ihm zu, nahm den Koffer und ging in die Halle, als gehörte sie zum Stammpersonal. Franco setzte den Wagen zögernd wieder in Bewegung. Ein bißchen kannte er sich von früher her auf dem Gelände aus, aber er hatte natürlich keine Ahnung, wo er einen freien Platz finden würde. Die Parkflächen boten zwar genug Gelegenheiten, aber hier würde jeder, der seine Augen herumgehen ließ, das auffällige Fahrzeug sofort finden. In einiger Entfernung erspähte er einen Hangar mit offenem Tor. Langsam rollte er dorthin. Zwei Mariners standen am Eingang und rauchten. Franco hielt direkt neben ihnen und beugte sich aus dem Fenster. 48
»Das hier ist der Wagen,« sagte er, als wäre er angekündigt. »Wohin soll er in der Halle?« Die Beiden sahen sich an. »Weißt du etwas von einem Wagen?« »Keine Ahnung. Sind Sie sicher, Mister, daß Sie hier richtig sind?« Franco hatte die große Ziffer auf der weiß gestrichenen Seitenwand des Hangars gesehen. »Hangar sieben,« sagte er mit Bestimmtheit. »Das ist doch dieser hier, nicht wahr?« »Hangar sieben stimmt. Stellen Sie ihn irgendwo hin. Platz ist genug da.« »Thanks!« nickte Franco und fuhr den Station Waggon in die Halle hinein, in der nur ein Kajütkreuzer aufgebockt stand. Er rangierte ihn zur Seite, so daß man ihn von draußen nicht sehen konnte, ließ den Schlüssel stecken und stieg aus. Als er an den beiden Sailors vorbeikam, die da noch in der selben Stellung gegen den Torpfosten lehnten, nickte er ihnen nur freundlich zu. Er ging zum Hauptgebäude hinüber, tippte gegen die gläserne Schwingtür und betrat die Halle. Von Claire war nichts zu sehen. *
»Suchen Sie jemanden, Sir?« fragte ein Junge mit Bürstenhaarschnitt und dunkelblauer Kluft. »Eine junge Frau mit einem Koffer. Sie muß vor ein paar Minuten hier hereingekommen sein!« »Hier, in diese Halle, Sir?« 49
»Zumindest habe ich sie hier vor dem Eingang abgesetzt und hineingehen sehen,« beharrte Franco. Der Junge runzelte die Stirn. »Dies ist die Akademie der Handelsmarine, Sir,« sagte er zögernd. »Und eine junge Frau mit einem Koffer wäre mir sicher aufgefallen, wenn sie hereingekommen wäre. Hier kommen nämlich kaum junge Frauen mit Koffern herein, Sir!« lächelte er. Franco wurde es unbehaglich, nicht so sehr wegen Claire – die besaß offenbar Qualitäten und Fähigkeiten, die ihr niemand auf den ersten Blick zutrauen würde. Aber sie trug einen Koffer, hinter dem die halbe westliche Welt herwar. Suchend blickte er in die Gänge hinein, die von der Halle abzweigten. Sie waren leer. Aber dann sah er in einiger Entfernung etwas, das ihm die Haare sträubte. Aus einer Nische des Ganges lugte die Kante des Koffers, scheinbar herrenlos dort abgestellt! Franco drehte sich auf dem Absatz herum und lief mit langen Schritten den Gang hinunter, wollte anhalten, glitt auf dem glatten Linoleum aus und rutschte, griff haltesuchend an die etwas vorspringende Kante der Wand und prallte gegen Claire. »Oh …« sagte sie erschrocken. »Claire! Was machen Sie hier?« Für einen Moment hatte er sie in den Armen gehalten, dicht an sich gepreßt. Jetzt trat er mit einer entschuldigenden Gebärde einen Schritt zurück. Dabei stieß er gegen den Koffer. »Ich dachte schon, dieses Ding hier …« Claire schüttelte den Kopf. »Was Sie nur denken! Ich habe nur einmal telefoniert.« Franco riß die Augen auf. »Sie haben telefoniert? Mit wem denn, um Himmelswillen? Sie kennen doch keinen Menschen hier?« Jetzt druckste Claire herum, kam aber dann zu einem 50
Entschluß. Sie hob den Kopf und blickte ihm gerade in die Augen. »Glauben Sie mir, Franco … es ist alles in Ordnung! Aber ich kann Ihnen jetzt noch nicht sagen, mit wem ich telefoniert habe. Es geschah auf Anordnung meines Vaters!« Franco schwieg einen Augenblick verwirrt. Bis jetzt hatte er geglaubt, die Fäden allein in der Hand zu halten, aber wenn dieses französische Küken anfing, sich selbständig zu machen und auf eigene Faust Krieg zu führen … »Ich hoffe nur, es berührt nicht meine Aufgabe, Sie mit diesem Koffer nach Washington zu bringen!« Sie schüttelte den Kopf, daß ihr dunkles Haar flog. »Ganz bestimmt nicht, Franco! Seien Sie unbesorgt! Ich pfusche Ihnen schon nicht in Ihr Handwerk!« »Hoffentlich,« murmelte Franco. Der Junge mit dem Bürstenhaarschnitt war unterdessen herangekommen. »Ist das die Lady, Sir, die Sie suchen? Ah – da ist ja auch ein Koffer!« freute er sich. »Ich möchte mit Mr. McWilliams sprechen,« sagte Franco. »Es ist dringend!« »Mr. McWilliams? Hoffentlich ist er im Haus, Sir. Wenn Sie bitte mit nach vorn kommen wollen, werde ich ihn suchen! Darf ich Ihnen den Koffer abnehmen, Sir?« »Nein,« entgegnete Franco schnell. »Nicht nötig, danke sehr.« Sie gingen hinter dem marineblauen Burschen her in die Halle zurück, wo er sich hinter sein Desk pflanzte und auf einer elektronischen Rufanlage Klavier zu spielen begann. Endlich blickte er mit leuchtenden Augen auf. »Mr. McWilliams wird in ein paar Sekunden hiersein, Sir. Wollen Sie einen Augenblick dort drüben Platz nehmen?« Er wies auf ein paar ausladende Kunstledersessel unter einer grobblättrigen Philodendron. Franco nahm Claire beim Ellbogen 51
und dirigierte sie zu der Sitzgruppe. »McWilliams ist der Bootsverleiher?« fragte Claire belustigt. Das geheimnisvolle Telefongespräch schien ihr irgendwie Auftrieb gegeben zu haben. Franco nickte. »Da kommt er!« Die Treppe herunter kam ein elastisch wirkender älterer Mann von tadellos schlanker Figur, braungebrannt und mit grauem Haar, das an den Schläfen und der auffälligen Stirnlocke schon ins Weißliche spielte. Er lachte übers ganze Gesicht, als er Franco erblickte, lief beinahe quer durch die Halle und schüttelte ihm beide Hände. »Welche Freude, dich einmal wiederzusehen, Junge!« sagte er. Dann ging sein Blick zu Claire und dem Koffer. »Und wen bringst du da mit? Sollen wir sie hier anmustern, die Kleine? Einen Steuermann aus ihr machen, oder gar einen Kapitän für kleine Fahrt?« Er strahlte das Mädchen an, und sie strahlte zurück. Sie konnte nicht anders. Dieser alte Seefahrer erschien ihr genau als das, was junge Mädchen mit den mannigfachen Beschwerden des Marinelebens versöhnt … »Das könnte dir so passen,« gab Franco leise zurück. »Im Gegenteil: Du könntest bei uns anheuern, wenn du ein Schiff mitbringst und ein paar Stunden Zeit. Im Ernst, John, wir sind in Schwierigkeiten und möchten über den Sound.« »Schwierigkeiten?« dröhnte McWilliams. »Was habt ihr angestellt, Söhnchen?« »Still, John. Es ist soweit nichts Ungesetzliches, auch weiß mein oberster Dienstherr Bescheid, aber ich darf kein Aufsehen erregen. Dieses Mädchen muß samt seinem Koffer an ein bestimmtes Ziel, und einflußreiche Kreise dieses schönen Landes sind dagegen. Kannst du uns helfen?« McWilliams kniff die Augen zusammen. »Du meinst mit Recht, daß euch übers Wasser keiner verfolgt, wie? Und drüben? Kommst du da weiter?« 52
»Darum mache ich mir jetzt noch keine Sorgen. Einstweilen bin ich froh, daß wir die Strecke vom Flugplatz bis hierher geschafft haben. – Und wenn du uns ein bißchen weiterhelfen kannst, kommen wir schon zurecht.« »Hm … laß mich überlegen …« »In Hangar 7 steht übrigens ein Station Waggon, in dem wir hergekommen sind. Es wäre gut, wenn er eine Weile da stehenbleiben könnte.« McWilliams blickte ihn schräg an. »Gestohlen?« »Na, sagen wir entliehen.« »Gut. Wir werden ihn erst morgen finden. Und was die Kreuzfahrt auf dem Sound betrifft, so kann ich euch leider nur einen Fischerkahn mit Diesel anbieten. Er ist langsam und dreckig dazu, aber ihr könnt damit fahren, wohin ihr wollt, und ihn dann einfach liegenlassen.« »Ausgezeichnet,« stimmte Franco Solo zu. »Das wird weniger Aufsehen erregen, als wenn wir mit einer schnellen Yacht und viel Besatzung herumkreuzen würden. Wie kriegst du das Schiff wieder zurück?« McWilliams grinste. »Ich lasse es morgen suchen. Die Jungs können sich ein bißchen damit amüsieren, Abdrift und Strömung zu berechnen und ein Boot wiederfinden, das sich leider losgerissen hat! So etwas zählt bei uns zur Ausbildung in praktischer Seemannschaft. Wollt ihr noch bei uns essen, oder habt ihr’s eilig?« »Wir haben’s eilig, John!« McWilliams nahm Franco beim Arm. »Dann kommt. In zwei Stunden wird es draußen dunkel, dann könnt ihr schon so gut wie in Sicherheit sein.« Er führte sie durchs Haus zu einem rückwärtigen Ausgang, durch gepflegte 53
Anlagen zu einem der Liegeplätze. An seinem Ende lag ein ausgedientes, ziemlich verkommen aussehendes Fischerboot, das McWilliams an der Kette heranzog. Er half Claire, an Bord zu gehen, wobei sie den Koffer nicht aus der Hand ließ. Franco sprang hinterher. »Der Schlüssel steckt, die Tanks sind voll. Vielleicht findet ihr irgendwo auch noch eine Büchse Bohnen mit Rindfleisch und eine halbe Buddel Rum!« »Thanks, John!« sagte Franco und blickte sich auf dem alten Kahn um. »Ich melde mich, wenn wir mit dieser Sache fertig sind!« »Schon gut, Junge«, sagte McWilliams. Dann aber beugte er sich noch einmal vor zu Franco Solo, wobei er sich mit einer Hand an einem Poller hielt. »Nur, damit ich mich darauf einstellen kann, Junge. Wer ist eigentlich hinter euch her?« fragte er leise. »Mafia,« antwortete Franco ebenso zurückhaltend. McWilliams nickte. »Natürlich!« murmelte er. »Hätte mir’s ja denken können. Gute Fahrt! Und viel Glück, Lady!« »Danke,« sagte Claire. »Sie … kommen nicht mit?« »Leider nicht,« lachte McWilliams. »Hab noch in dieser verdammten Akademie zu tun! So long!« Franco hatte die Vorwärmung des alten Diesels gedrückt und startete nun den Motor. Aus einer Öffnung am Heck pufften ein paar schwarze Rauchwölkchen und unter der blechernen Abdeckung mittschiffs begann der Motor mit nagelndem Geräusch zu pochen. McWilliams löste die Kette und warf sie rasselnd an Deck. Noch einmal winkte er, als Franco den Gashebel nach vorn schob und das Ruder herumlegte. Das Boot drehte vom Landesteg ab und bewegte sich langsam auf das offene Wasser zu. 54
Claire holte das Kopftuch aus der Manteltasche und band es sich über die Haare. Dann musterte sie ihre neue Umgebung. »Als ich das letzte Mal mit einem Schiff gefahren bin, hatten die eine Menge Seekarten und einen Kompaß und ein Log und ein Lot und …« »… Radar, Funk und Tanzmusik, nehme ich an,« vollendete Franco. »Ich glaube, ja. Hier gibt es davon ziemlich wenig, wie?« »Genau genommen überhaupt nichts. Aber man muß sich schon sehr dämlich anstellen, um aus diesem Sound heraus auf den Atlantik zu geraten. Wir steuern einfach Nord-nord-ost, irgendwo kommen wir dann schon ans Ufer.« Claire ließ die beruhigenden Worte eine Weile auf sich wirken. »Und Sie wissen, wo Nordnordost ist?« Franco band das Ruder mit einer zerfaserten, alten Leine fest. »Ungefähr, ja. Wann gibt es Abendessen?« Claire bekam einen Hustenanfall und hörte damit erst auf, als ihr Franco kräftig auf den schmalen Rücken klopfte. Sie schluckte noch ein paarmal und sagte: »Das Tagesmenü können wir sofort servieren. Spezialitäten vom Grill dauern ungefähr zwanzig Minuten.« »Und was ist das Tagesmenü?« Claire bückte sich und hob eine Dose auf, die im leichten Schaukeln des Bootes herumrollte. »Baked Beans,« las sie vom Etikett. »Der Himmel mag wissen, was das ist, aber das wird es wohl geben!« *
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Antonelli lag nur scheinbar gelassen in seinem Sessel hinter dem Schreibtisch. Die kurzen Rauchwolken, die er in engen Abständen aus seiner Zigarre paffte, ließen mehr auf einen Vulkan in voller Tätigkeit schließen. Ein großes Glas, eine Karaffe mit Wein und eine Flasche Mineralwasser standen unberührt auf einem silbernen Tablett vor ihm. Auf der anderen Seite des Tisches, der wie ein altertümliches, hölzernes Bollwerk wirkte, saßen zwei seiner Gorillas in gerader Haltung auf unbequemen Stühlen. Sculturi hatte sich gar auf einen viel zu kleinen Hocker gekauert, und nur der hagere Benito stand am Fenster und ließ immer wieder den Spitzenstoff der teuren Gardine durch seine schlanken Finger rieseln. Endlich wurde das lastende Schweigen durch die leise knarrende Tür unterbrochen. Einer der hohen Flügel schwang auf, und Florence trat, mit einer zusammengerollten Landkarte in der Hand ein. »Diese ist es, Großvater. Sie lag versehentlich unter den Plänen für die neuen Verladerampen!« Das Mädchen schien sich durch die gespannte Atmosphäre in dem großen, dunklen Arbeitszimmer nicht berührt zu fühlen. Sie trat in die Mitte des Raums und entrollte die große Karte auf dem Teppich. Antonelli stieß die Zigarre in den Aschenbecher, wuchtete sich aus dem Sessel hoch und stapfte hinüber zu der Karte. Er fingerte in der Westentasche nach seiner Brille, befestigte sie umständlich auf der fleischigen, roten Nase und starrte auf das Gewirr von Linien und Flächen hinab. Er schnalzte mit den Fingern. Sofort kamen die drei Männer herbei. Auch Benito löste sich vom Fenster und schlenderte mit eckigen Bewegungen durch den Raum, bis er fast auf den Kartenrand trat. Antonelli streckte schweigend die Hand aus. Tonio Sculturi verstand. Er wieselte zu einer großen Porzellanvase hinüber, in der allerlei Stöcke und Schirme standen, und brachte ihm einen Zeigestock. 56
Ein Knurren war der erste Laut, den der alte Mafioso vernehmen ließ … »Hier,« begann er und tippte mit dem Stock auf den Flughafen New York international, »ist sie angekommen. Das steht fest. Hier habt ihr Idioten euch von der Stewardeß aufs Kreuz legen lassen und das falsche Mädchen umgelegt. Und von hier ist die kleine Laval dann abgehauen!« Er blickte böse in die Runde. Benito hob entschuldigend die Arme, die anderen senkten die Köpfe. Antonelli stützte sich auf den Zeigestock, der sich dabei leicht durchbog, und sah finster auf die Karte hinab. »Auf diesem verdammten Airport gab es dann einen ziemlichen Wirbel, als Van Bloch nach seinem Krankenwagen verlangte, der ohne ihn davongefahren war. Ausgerechnet Van Bloch! Was wäre wohl gewesen, wenn nicht Van Bloch, unser lieber Freund und Geschäftspartner aus Paris, sondern irgendein namenloser Impotenzler aus Birmingham oder München da angekommen wäre?« Antonelli stampfte mit dem Stock wütend auf, und die Spitze stieß ein Loch in die Landkarte. Er achtete nicht darauf. »Und was wäre gewesen, wenn nicht ausgerechnet unser armer, alter Valerino diesen Solo und das Weib im Pelham-WinstonInstitut entdeckt und uns benachrichtigt hätte? He?« »Aber das mußte sich doch zwangsläufig so ergeben, denn das Pelham-Winston-Institute ist doch …« »Quatsch!« fuhr Antonelli auf. »Was uns bisher geholfen hat, ist eine geradezu unglaubwürdige Folge von Zufällen! Wohin wir kommen, wenn wir auf euch angewiesen sind, sehe ich ja! Solo ist samt Koffer und Claire verschwunden!« »Na, verschwunden würde ich nicht sagen, Boß,« wandte Benito ein und strich sich durch sein volles, tiefschwarzes Haar. »Wir haben die Zufahrtsstraßen nach New York sofort von der Polizei überwachen lassen. Dank meiner ausgezeichneten Beziehungen zur County Police …« »… ist Solo entwischt! Jawohl! Bisher wissen wir nur, wo er 57
sich nicht aufhält, nämlich in New York!« »Aber das ist doch auch schon etwas!« protestierte Benito. Er hockte sich nieder und zog einen Halbkreis um den Long Island Sound. »Südlich und westlich dieser Linie kann er nicht sein.« »Das hast du schön gesagt!« hakte Antonelli ironisch ein. »Bleibt nur noch der Rest der Welt!« Florence war an den Kartenrand getreten und sah nachdenklich auf das Gebiet hinab, von dem ihr Großvater einen beträchtlichen Teil als seinen Herrschaftsbereich beanspruchte. »Genau genommen,« hörte sie sich plötzlich fast gegen ihren Willen sagen, »sitzt er ja auf einer Insel.« Antonelli blickte seine Enkelin aufmerksam an. Er hatte sie stets als eine hübsche Zugabe des Himmels zu seinem beschwerlichen Erdenwallen angesehen und versucht, sie aus seinen Geschäften herauszuhalten. Das war lange Zeit gutgegangen, aber dann hatte Florence eines Tages darauf bestanden, ihre Ausbildung auch anzuwenden, und zwar im Familienunternehmen und gegen entsprechende Bezahlung. Antonelli hatte nachgegeben und sie sukzessive in seine legalen Tätigkeiten eingeführt. Was er daneben für die Mafia tat, wußte sie zwar in großen Zügen, aber es blieb zwischen ihnen unausgesprochen. Erst seit Franco Solo aufgetaucht war, nahm Florence auch wachsenden Anteil an diesem Zweig des umfangreichen Betriebes – still und irgendwie selbstverständlich, aber dabei mit einem Durchsetzungsvermögen, das den harten, alten Burschen heimlich erstaunte. »Wenn du es so siehst – natürlich. Aber diese Insel hat zahllose Übergänge zum Festland, sozusagen.« Florence schüttelte den Kopf. »Die meisten kommen nicht in Betracht. Nach Westen und Süden hat ihm Benito den Weg verlegt … sagt er. Nach Osten – was sollte Solo in Nassau und Suffolk? Er will nach 58
Washington! Bleibt noch der Weg nach Norden.« Sie nahm ihrem Großvater den Zeigestock aus der Hand und fuhr die ganze nördliche Küstenlinie von Long Island entlang. »Wenn er über den Sound geht, gelangt er in einen anderen Bundesstaat, über dessen Polizei Benito keine Macht hat. Und von dort aus kann er unbehelligt nach Washington starten - womit er will. Per Bus, Bahn, Flugzeug oder auf einem Eselskarren, wenn er will.« »Entschuldige, Florence,« fuhr Benito auf, »ganz unbehelligt doch wohl nicht! Die ›Familie‹ ist schließlich auch in Connecticut ganz gut vertreten!« Florence schickte ihm einen sarkastischen Blick über die Karte, die zu ihren Füßen ausgebreitet lag zu. Dann blickte sie auf ihre kleine Armbanduhr aus Platin, um deren Zifferblatt zahllose kleine Diamanten funkelten und gleißten, als das Licht der Stehlampe darauffiel. »Das bezweifele ich nicht, Benito,« sagte sie. »Aber bis jetzt weiß noch niemand dort etwas, und wie ich Franco Solo einschätze, ist er seit ein paar Stunden drauf und dran, die Küste von Connecticut zu erreichen.« Benito fuhr sich wieder mit der Hand durchs Haar. »Aber wie soll ich denn diese ganze Küste überwachen lassen? Die Nationalgarde kann ich leider nicht für unsere Zwecke einspannen!« Antonelli stampfte mit dem Fuß auf. »Heilige Madonna, warum plagst du mich mit solchen Idioten!« schrie er unbeherrscht. »Tu etwas, Benito! Nachdem Florence dir gesagt hat, wo du diesen Solo und das Mädchen und den Koffer finden kannst, setz dich gefälligst in Bewegung! Telefoniere, flieg hin, nimm Kontakte auf! Laß die beiden suchen, meinetwegen von der Polizei, wegen Rauschgiftschmuggel, Mädchenhandel oder Verrat von Atomgeheimnissen! Das ist doch ganz egal! Hauptsache, wir finden sie! Und wenn sie nur für eine halbe Stunde eingesperrt 59
werden – es muß uns genügen, um ihnen diesen verfluchten Koffer abzunehmen! Was stehst du noch hier herum?« Er setzte sich schwerfällig in Bewegung, sein Gesicht war dunkelrot geworden. Er stampfte über die Karte auf Benito zu. Das Papier zerknitterte und riß, und dieses Geräusch schien den finsteren Benito aus seiner Erstarrung zu lösen. Er wandte sich ruckartig auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Zimmer., In Florences Augen flackerten tausend kleine Lichter, als sie Tonio Sculturi den Zeigestock zuwarf und ihren Großvater beim Arm nahm. »Komm,« sagte sie leise. »Wenn man ihn einmal in Bewegung gebracht hat, arbeitet er meist auch ganz ordentlich weiter. Du hast dir einen Schluck verdient, und mir ist die Kehle auch trocken geworden!« Sie führte ihn zu seinem Sessel hinter dem Schreibtisch und gab einem der Gorillas ein Zeichen. Der stürzte eilfertig vor, entkorkte die Rotweinflasche und schenkte Antonelli ein. Er gab einen genau bemessenen Teil Mineralwasser hinzu, und als Florence auf seinen fragenden Blick nickte, holte er von der Anrichte ein zweites Glas und goß es ihr voll. »Danke,« sagte sie, »ihr könnt gehen.« Mit dem Glas in der Hand nahm sie auf der Schreibtischkante Platz. »Übrigens glaube ich, daß es nicht richtig war, die Überwachung des Flughafens einzustellen,« bemerkte sie. »Warum?« fragte Antonelli und paffte an einer neuen Zigarre, die er gerade angezündet hatte. »Laval ist ein Erfinder und will seinem Kind, dieser Maschine, hier weiterhelfen. Vielleicht ist das Ding wirklich in dem Koffer, den die Tochter hier herumschleppt. Für eine kurze Zeit hat Laval es seiner Tochter vielleicht anvertraut, um den Überraschungseffekt auf unserer Seite zu nutzen. Aber er läßt es bestimmt nicht lange allein, und vor dem Bundes-Patentamt in Washington wird er persönlich auftreten. Darauf halte ich jede 60
Wette. Er wird herüberkommen!« Antonelli nickte. »Das habe ich mir auch schon überlegt. Aber wir können nicht jede Fluglinie kontrollieren, die von Europa aus New York anfliegt. Seine Tochter hat er mit der Concorde der Air France geschickt, weil es sehr schnell gehen mußte. Er aber hat Zeit. Nichts hindert ihn daran, nach Frankfurt zu fliegen und mit der Lufthansa herzukommen, oder von Schiphol aus mit der KLM. Er könnte es sich sogar leisten, von London als Zwischendeckspassagier mit Laker zu fliegen. Wenn er wirklich kommt, müssen wir abwarten, was er hier macht.« Florence nahm einen Schluck des dunkelroten Weins. »Und wenn Claire Lavals Koffer eine Finte ist, und Laval selber das eigentliche Modell mitbringt?« Antonelli hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Dann müssen wir auch das hinnehmen. Unsere Leute haben natürlich in Washington eine letzte Sicherung eingebaut. Wir können nur hoffen, daß sie funktioniert. Lieber wäre mir natürlich, wenn wir New Yorker den Erfolg verbuchen könnten. Wir haben eine ganze Weile nicht viel für die ›Familie‹ tun können.« »Ja …« sagte Florence, aber es war ein merkwürdiges Zögern in ihrer Zustimmung. *
Das gleichmäßige Tuckern und Pochen des Diesels hatte einschläfernd gewirkt, und Claire, die mit angezogenen Knien und verschränkten Armen auf dem Vorderdeck kauerte, war mitunter für ein paar Minuten eingenickt. Aber wenn der Bug durch eine Welle schnitt, wie sie der warme Wind über den 61
Sound laufen ließ, kam Spritzwasser über und weckte sie immer wieder auf. Hinter ihnen zog das Kielwasser eine gerade, schimmernde Bahn im Licht des hellen Nachthimmels. Franco Solo lehnte neben dem Ruder am Dollbord und korrigierte nur selten den Kurs. Da er lediglich nach den Sternen navigieren konnte, kam es auf die genaue Richtung auch nicht an. »Irgendwann,« sagte Claire auf einmal, »müßten wir ja Lichter sehen. Oder die dunkle Linie einer Küste. Sind Sie sicher, Franco, daß wir nicht längst auf dem Atlantik sind und nach ein paar Wochen wieder in Frankreich festmachen werden?« »Ganz sicher,« sagte Franco. »Außerdem sehe ich die Lichter schon. Ein bißchen Steuerbord voraus. Es könnte eine Fabrik sein, die nachts arbeitet. Oder eine Raffinerie.« Claire gab sich Mühe und erkannte die hellen Punkte schließlich auch. »Aber Sie wissen nicht, wozu diese Fabrik gehört?« »Nein. So gut kenne ich mich hier nicht aus. Ich komme von der Westküste und gebe hier nur gelegentliche Gastspiele. Aber wenn wir an Land gehen, werden wir’s sehen.« Claire hatte geglaubt, noch eine halbe Stunde aushalten zu müssen, aber zwei Stunden vergingen, ehe sie Einzelheiten an Land erkennen konnten und so nahe herangekommen waren, daß sie sich für einen Landeplatz entscheiden mußten. »Wir fahren noch näher heran und dann an der Küste entlang, bis wir irgendeinen verlassenen Steg finden. Da wir nicht einmal wissen, ob wir auf Stamford oder Bridgeport zusteuern, sollten wir auch nicht gerade mit großen Gepränge in einen Hafen einlaufen, denke ich.« »Okay,« sagte Claire, und sie bemühte sich, dem Wort jeden französischen Akzent zu nehmen. »Wenn uns jemand fragt – wer sind wir eigentlich, und wo kommen wir her?« »Oh,« lachte Franco, »da gibt es viele Möglichkeiten. 62
Juristisch kommt es nur darauf an, daß wir die Fahrt in gegenseitigem Einverständnis unternommen haben. Andernfalls wäre das nämlich Kidnapping, weil wir eine Staatsgrenze überschritten haben. Ein Liebespaar auf Mondscheinpartie wäre sicher die schönste Erklärung, nicht wahr?« »Dazu fehlt uns leider noch ein bißchen mehr als der Mondschein,« gab Claire trocken zurück. »Aber erzählen Sie nur irgend etwas; ich bestätige dann schon alles. Man wird uns ja nicht getrennt vernehmen?« »Vernehmen? Wozu denn das?« »Ich habe mal einen amerikanischen Film im Fernsehen gesehen, da hat ein wütender Vater die Polizei hinter seiner Tochter und ihrem Freund hergehetzt. Mit einem erfundenen Vorwand, um sie verhaften zu lassen. Und prompt wurden die beiden eingesperrt und einzeln zur Vernehmung gebracht.« »Ihr Fernsehen scheint auch nicht viel besser als unseres,« knurrte Franco. Er hatte das Ruder herumgelegt, und jetzt fuhren sie am Ufer entlang, an dem sie in der ersten, grauen Morgendämmerung hohe Bäume und dichtes Buschwerk erkennen konnten. Die Lichter, die sie die ganze Zeit über gesehen hatten, lagen nun vor ihnen. »Wir sollten so nahe wie möglich an die Stadt heranfahren, denn es ist kein Vergnügen, den schweren Koffer durch unwegsames Gelände zu …« Franco kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Mit einem knirschenden Krach lief das Boot auf. Der plötzliche Ruck schleuderte Franco Solo gegen die Motorenabdeckung. Claire wäre beinahe nach vorn ins Wasser gerutscht, hätte sie nicht instinktiv nach dem kleinen Mast gegriffen und sich festgehalten. Das Boot hing fest und zitterte, weil der Diesel weiterlief. Franco rappelte sich hoch und strich sich über die geprellte Rippe. »Alles in Ordnung, Claire?« fragte er besorgt. »Wenn der Koffer noch an Bord ist?« 63
»Ja. Aber wir sind aufgelaufen. Schweinerei!« Franco griff nach dem Motorschalter und stellte den Diesel ab. Langsam schwang das Heck herum, und im Bootsboden knirschte und splitterte etwas unheilverkündend. »Hört sich nach einer Felsnadel an, auf der wir sitzen. Der Kahn wird bald absaufen.« Claire schwang sich vom Vorderdeck herunter und stand nun neben ihm. »Damit mußten wir rechnen, nicht wahr?« stellte sie nüchtern fest. »Wenn man bei Nacht vor unbekannten Küsten herumkreuzt. Aber wie kommen wir an Land? Schwimmen?« »Natürlich. Ist der Koffer wasserdicht?« »Nein. Wir hatten den Apparat in Plastikfolie eingeschweißt, aber die mußte ich öffnen, als ich die Sicherungen entfernt habe. Wasser darf auf keinen Fall eindringen.« »Ich könnte schwimmen und Sie huckepack nehmen, und sie müßten den Koffer auf Ihrem Kopf balancieren.« »Und nach zwei, drei Metern lägen wir alle im Wasser – Sie, ich und der Koffer.« »Dann müssen wir ein Rettungsfloß für das teure Stück bauen. Lassen Sie sehen, was wir dafür haben!« Franco sah sich suchend um. »Blasen Sie diese alte Luftmatratze auf. Zwei von den drei Kammern sind wohl noch dicht. Ich mache ein paar Bretter von der Verschalung los, damit sie nicht in der Mitte unter dem Gewicht des Koffers durchsackt!« Claire zerrte die stinkende Luftmatratze hervor, wischte mit dem Handballen über die Ventile und gab sich daran, sie aufzublasen. Derweil mühte sich Franco, einige der Planken zu lösen. Mit einem Schraubenschlüssel, den er als Hebel benutzte, hatte er schließlich Erfolg. Das alte Holz splitterte und brach aus den Schraubverbindungen. 64
»Das muß reichen. Wie sieht’s bei Ihnen aus, Claire?« »Zwei Kammern habe ich aufgeblasen. Die dritte ist leck.« »Geben Sie her!« Franco legte die Planken nebeneinander ins Wasser und breitete die Luftmatratze darauf aus. Als er den Koffer versuchsweise über Bord hob und auf das Floß stellte, blieb er trocken. Aber er holte ihn ins Boot zurück. »Halten Sie das Floß fest!« Er zog sich die Jacke aus und stieg aus der Hose. Die Schuhe band er mit den Schnürsenkeln zusammen, und aus dem Hemd rollte er eine Wurst. »Was soll der Striptease?« fragte Claire. »Wenn wir an Land nicht als arme Schiffbrüchige auftreten wollen, müssen wir halbwegs trockene Sachen anhaben. Ziehen Sie aus, was Sie entbehren können, Claire! Wir legen die Sachen oben auf den Koffer!« Sie starrte ihn aus großen Augen an. »Dann müssen Sie so lange das Floß halten!« Langsam knöpfte sie das blaue Anstaltskleid auf, das sie immer noch trug, schlüpfte heraus und legte es zusammen. Sie packte ihre Schuhe hinein, dann zauderte sie. Schließlich stieß sie beide Daumen unter den Gummizug ihres kleinen Slips. »Ob Sie sich nun herumdrehen oder nicht … ich hasse es, mit einer nassen Hose herumzulaufen!« sagte sie trotzig und streifte sich das Höschen herunter. »Sie haben noch die Strümpfe an,« erinnerte er sie. »Das macht nichts. Die trocknen an den Beinen. Los, ins Wasser!« Vorsichtig setzte sie sich aufs Dollbord, schwang die Beine herum und ließ sich ins Wasser gleiten. Es ging ihr bis knapp unters Kinn. 65
»Passen Sie auf! Der Grund ist voll scharfer Steine!« sagte sie bibbernd. Franco stellte den Koffer aufs Floß, legte ihre Sachen oben darauf und ging so vorsichtig wie möglich von Bord. Er fand Grund, strauchelte und bekam Claires nackte Schulter zu fassen, als er nach einem Halt suchte. »He,« sagte sie, »nicht so stürmisch! Ich hatte ja keine Ahnung, daß die Sache so sexy werden würde! Nehmen Sie das Floß!« Sie stieß sich vom Grund ab, legte sich auf die Seite und schwamm mit ruhigen, langen Zügen los. Franco packte die Luftmatratze und begann mit den Füßen zu paddeln. Das Wasser war warm und fast ohne Wellen. Vor ihm war Claires Kopf auf der silberglänzenden Fläche, und er folgte ihm als Richtpunkt auf dem Weg zur Küste. * »Haben Sie noch immer keinen Grund?« fragte er, als er schon die Zweige erkennen konnte, die ins Wasser hingen. »Aber sicher!« gab sie zurück. »Ich hocke hier im seichten Wasser, weil ich mich nicht erkälten will!« Franco hielt mit Paddeln inne und ließ die Beine herabsinken und kam auf Sandboden. Die letzten Meter ging er durchs Wasser und schob das Floß vor sich her, bis es ebenfalls nahe am Ufer auf Grund scharrte. »Nehmen Sie die Sachen, ich komme mit dem Koffer nach!« Claire nickte und erhob sich. Ein bißchen Tang hing ihr über die Schulter, und ihr Büstenhalter war im Wasser durchsichtig geworden. Als sie sich bückte, um die Kleider aufzunehmen, streiften ihre nassen Haare Francos Gesicht. Dann patschte sie zum Ufer und stieg hinauf. »Nicht einmal ein paar Büsche, hinter denen man sich 66
umziehen kann,« maulte sie. »Ist hier Nacktbaden eigentlich erlaubt?« »Keine Ahnung,« sagte Franco. »Sie können ja einen Polizisten fragen, wenn hier einer auftaucht!« Er nahm den Koffer und zog sich ebenfalls auf die leicht abfallende Wiese hinauf. »Das Handtuch, bitte!« Claire stand völlig unbefangen in der Morgendämmerung auf der Wiese und schüttelte ihr Haar, daß die Tropfen flogen. »Tut mir leid,« antwortete Franco, »die Wäscherei hat wieder nicht pünktlich geliefert!« »Ich würde den Leuten kündigen!« meinte Claire, zerrte aus der Tasche ihres Kleiderbündels das Kopftuch und begann, sich abzufrottieren. Franco streifte sich die Nässe flüchtig von der Haut und stieg in seinen Anzug. Als er sich herumdrehte, war auch Claire schon wieder angezogen. »Da drüben scheint eine Straße zu sein.« »Aber wir können doch nicht als Hitchhiker weitermachen!« »Sicher nicht. Aber die Straße führt irgendwohin. Wir folgen ihr, und wenn jemand kommt, verschwinden wir im Graben!« Einträchtig setzten sie sich in Bewegung. Das Gras war taufeucht, aber das machte ihnen nun auch nichts mehr aus. »Sie fühlen sich auch hier noch nicht ganz sicher, Franco?« fragte Claire auf einmal. »Die Geschichte von Ihrem Fernsehvater, der seine Tochter unter einem Vorwand von der Polizei kassieren ließ, hat mir zu denken gegeben. Dazu wären unsere Gegner durchaus fähig. Verbindungen nach Connecticut haben sie in reichem Maße. Wir müssen vorsichtig bleiben. Haben Sie eigentlich einen Paß?« Claire schlug mit der Hand auf die Tasche ihres blauen Anstaltskleids. 67
»Paß und Scheckbuch habe ich gerettet. Ansonsten habe ich nicht einmal eine Zahnbürste als Gepäck.« Sie erreichten die Straße, die nichts weiter war als ein Asphaltband zwischen den Wiesen. Aber es gab einen genügend tiefen Graben, der außerdem auch noch trocken schien. »Welche Richtung, Pfadfinder?« fragte Claire. Franco deutete nach rechts. »Immer dem Lichtschein nach.« Er schulterte den Koffer, und im Gleichschritt zogen sie los. Nach einer halben Meile wurde das Gelände hügeliger, und von beiden Seiten rückten kleine Waldstücke und buschbestandenes Brachland heran. Franco atmete auf. »Ist was?« »Nein. Aber so ohne jede Deckung habe ich mich nicht sehr wohlgefühlt. Hier kann man leichter untertauchen.« »Reden wir nicht mehr vom Tauchen,« sagte Claire. »An verschiedenen Stellen bin ich noch immer nicht ganz trocken!« Die Straße zog sich um eine Waldecke. Plötzlich streckte Franco den Arm aus und stoppte das Mädchen, das interessiert zu den Baumwipfeln emporgeschaut hatte, in denen ein paar Elstern lärmten. »Still!« Eine quäkende Stimme kam durch den jungen Morgen, unterbrochen von kurzen Pfeiftönen. Claire lauschte nur einen Moment. Dann reagierte sie wie ein Tier auf der Flucht: Sie federte vom Asphalt der Straße weg ins Gebüsch hinein. Dabei bemaß sie ihren Sprung auch noch so genau, daß sie auf einem weichen Moospolster lautlos aufkam. Franco folgte ihr mit den Augen. Dann nahm er den Koffer auf und tat zwei, drei lange Schritte von der Straße und tauchte 68
ebenfalls im dichten Unterholz weg. »Ein Radio-Car, nicht wahr?« raunte Claire. Franco nickte. »Bleib hier bei dem Koffer. Ich schleiche mich an und erkunde, ob sie einen bestimmten Grund haben, hier vor Sonnenaufgang herumzustehen!« Claire legte ihre Hand auf den Koffer und hockte sich daneben. Franco teilte die Zweige vor sich und arbeitete sich geräuschlos vor. Er konnte im Wald die Biegung der Straße abschneiden und sah den Streifenwagen, ehe er selbst bemerkt werden konnte. Halb kriechend und halb laufend kam er so nahe heran, daß er die Stimme aus dem Lautsprecher klar und deutlich vernahm. Die beiden Patrolman hatten das Seitenfenster heruntergedreht, weil sie es wohl vor lauter Zigarettenrauch nicht aushalten konnten. Offenbar wurde gerade eine längere Durchsage wiederholt. Franco lauschte einer ziemlich genauen Beschreibung seiner selbst und des Mädchens. Er knirschte mit den Zähnen, als auch der Koffer erwähnt wurde. »Und weswegen werden die beiden Hübschen gesucht, sagst du?« fragte der junge Beamte, der das Mikrophon vor dem Mund hatte. »Landesverrat,« quäkte die Stimme, »Diebstahl geheimen Materials, das für das Verteidigungsministerium bestimmt ist. Paßt auf, diese verdammten Kommunisten sind wahrscheinlich bewaffnet. Bei Antreffen sofort festnehmen und Meldung an die Zentrale!« »Verstanden,« sagte der Polizist und klemmte das Mikro in die Halterung. Er steckte sich eine neue Zigarette an und warf das Streichholz achtlos aus dem Fenster. »Was schlägst du vor, Joe?« fragte er und spuckte hinter dem Streichholz her. »Sollen wir zurückfahren, den Uferweg entlang?« 69
»Wird das beste sein,« gab sein Kollege zu und startete den Motor. Er setzte ein Stück zurück, wo er auf der Wiese wenden konnte, und dann brummte der Wagen los. Vielleicht war es noch nicht hell genug, daß sie das gestrandete Boot entdeckten. Aber wenn sie Glück hatten, fanden sie es per Zufall, möglicherweise wenn der Scheinwerfer ihres Wagens in einer Kurve über die Wasserfläche strich. Dann konnte es nur noch Minuten dauern, bis die Polizei der ganzen Gegend wußte, wer hier an Land gegangen war. Franco wandte sich um und hastete durch die Büsche, daß ihm die Zweige ins Gesicht peitschten. »Na?« fragte Claire. Franco ließ sich neben ihr zu Boden fallen. »Eine perfekte Beschreibung von uns ist eben durch den Polizeifunk gekommen,« berichtete er. »Der böse Fernsehvater hat genauso reagiert, wie wir fürchteten. Angeblich haben wir geheimes Material des Pentagon gestohlen. Das verfehlt seine Wirkung bei den Cops nie. Bald werden sie hier wie die Hornissen herumschwirren.« »Und was machen wir?« »Wir schlagen uns bis zum nächsten Ort durch. Da besorge ich uns einen Wagen und andere Kleidung. Möglicherweise müssen wir für einen Tag untertauchen und uns verstecken, bis die erste Aufregung abgeklungen ist.« »Dann können Sie doch gleich einen Wohnwagen stehlen,« empfahl Claire einfach. Franco lachte. »Gestohlen wird jetzt nichts mehr. Damit würden wir es unseren Verfolgern zu einfach machen. Kommen Sie!« Claire ließ sich auf die Füße helfen, ihre Hände waren kalt. Franco nahm wieder den Koffer und führte sie quer durch den Wald. Als sie das schützende Dickicht der Bäume verließen und auf freies Gelände kamen, sahen sie vor sich das Areal einer Fabrik. Es mußte so etwas wie eine Raffinerie sein. Silbern angestrichene Tanks lagen im gleißenden Scheinwerferlicht, und 70
Rohrleitungen wanden sich in dicken Bündeln über das Gelände. »Hübsch,« sagte Franco. Claire wandte ihm ihr blasses Gesicht zu. »Finden Sie?« fragte sie gedehnt. »Ich meine den Parkplatz außerhalb des Drahtzauns,« erklärte Franco. »Er steht voll schöner Autos!« »Aber wir wollten doch nicht mehr stehlen!« »Im Prinzip nicht. Aber die Ortschaft da hinten ist so klein, daß jemand, der ein Auto kauft, sofort das Tagesgespräch der ganzen Gegend ist. Ich werde mir einen von diesen Wagen da vorn ausleihen und zur nächsten größeren Stadt fahren. Da gibt es sicher einen Gebrauchtwagenhändler, der nicht viel herumerzählt, daß er ein Geschäft gemacht hat.« »Na, schön. Und was mache ich so lange?« »Sie passen hier fein auf unseren Koffer auf.« »Das scheint neuerdings meine Hauptbeschäftigung zu sein.« »Ja. Bauen Sie sich eine hübsche, kleine Burg aus Zweigen und Ästen! Das größte, was an Tieren hier umherläuft, dürften Hasen sein. Menschen tauchen in diesem Wald höchstens am Wochenende auf. Wenn es Sie beruhigt, können Sie sich ja noch einen kräftigen Knüppel vom Baum brechen. Ich komme so schnell wie möglich wieder!« »Das sind vielleicht Kriegsanleitungen, Mann!« sagte Claire. »Läßt ein unbewaffnetes Mädchen schutzlos im tiefen Wald allein und sucht sein Vergnügen auf fremden Parkplätzen und in großen Städten!« »So long, schutzloses Mädchen!« gab Franco grinsend zurück und verschwand. Claire brach ein paar Zweige ab und häufte sie über den Koffer, damit seine blinkenden Beschläge nicht zu auffällig waren. Dann nestelte sie ihre Zigarettenpackung aus der Brusttasche des blauen Kleides, stellte fest, daß die schwarzen 71
Stengel trocken geblieben waren, und steckte sich einen an, nachdem sie eine Weile gelauscht hatte. Vom Morgenwind sanft abgetrieben, schwebten die Rauchwölkchen durchs Unterholz. Sie bog einige Äste zur Seite und blickte hinüber zum Parkplatz der Raffinerie. War Franco noch unterwegs, oder schon abgefahren? Auf der weiten Fläche bewegte sich keine Menschenseele. Die Nachtschicht dauerte noch an, und für die Angestellten war es noch zu früh. Aber dann erkannte sie Franco. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Wahrscheinlich hatte er einen Graben benutzt, um sich anzuschleichen. Jetzt spazierte er aufrecht und mit schlenkernden Armen über die Zufahrt, bog in die erste Wagenreihe ein und stellte sich gegen einen blauen Ford. Was er da tat, konnte Claire so wenig erkennen wie irgend jemand anders. Aber auf einmal öffnete er die Wagentür, stieg ein und zog sie hinter sich ins Schloß. Wenig später kam ein blaues Rauchkringelchen aus dem Auspuff. Der Wagen wurde sanft zurückgesetzt, rangierte aus der Reihe und rollte zur Ausfahrt. Claire merkte jetzt erst, daß sie während des ganzen Manövers ihre Fingernägel fest in den Daumenballen gekniffen hatte. Aufatmend entspannte sie sich und stand auf. Aber noch hatte Franco nicht freie Fahrt. Da, wo die Straße von der Raffinerie auf die Landstraße mündete, stoppte er. Claire sah die roten Bremslichter aufglühen. Von links näherte sich der Streifenwagen der Polizei, ohne übermäßige Eile und ohne Rotlicht. Franco ließ ihn passieren und wartete noch einen Moment, um Abstand zu gewinnen. Dann lenkte er auf die Landstraße und fuhr gemächlich hinter dem Polizeifahrzeug her der kleinen Ortschaft entgegen … Claire mußte leise lachen, als sie sich endlich umdrehte und sich neben dem Koffer auf das weiche Moos sinken ließ. Sie drückte die Zigarette auf dem feuchten Waldboden aus und streckte sich. Eine gute Stunde würde sie jetzt hoffentlich keine 72
weiteren Aufregungen erleben, dachte sie und schloß die Augen. *
Franco Solo hatte, wie er glaubte, unwahrscheinliches Glück gehabt. Der Streifenwagen war in der kleinen Ortschaft hinter der Raffinerie nach links abgebogen und hatte ihm die Straße bis nach Stamford freigegeben. In Stamford hatte Franco den gestohlenen blauen Ford auf den riesigen Parkplatz eines Supermarkt rangiert, dann war er zur Haltestelle der GreyhoundBusse geschlendert, hatte dort – als wäre er gerade erst angekommen – ein Taxi genommen und sich zum größten Gebrauchtwagenhändler vor der Stadt fahren lassen. Und hier war ihm der ideale Wagen in die Augen gefallen: ein Kombi für den Softeis-Verkauf. Zwar konnte man das Kühlaggregat nicht mehr gebrauchen, und auch der Eisspender war kaputt, aber der Motor lief rund und kräftig, und die Reifen konnten sich noch jeder Kontrolle stellen. Binnen einer Viertelstunde war Franco Solo rechtsmäßiger Eigentümer des Gefährts, er hatte aufgetankt, Öl und Wasser nachgefüllt und die Windschutzscheibe saubergewischt … Geruhsam steuerte er den Wagen zurück. Niemand würde ein flüchtiges Pärchen, das wegen Diebstahl nationaler Geheimnisse verfolgt wurde, in einem so auffälligen Wagen vermuten. Die Tarnung war ausgezeichnet, so lange sie unerkannt blieben. In dem Fall, daß sie allerdings entdeckt und in eine Fahndung aufgenommen würden, mußten sie den Kombi sofort loswerden. Aber soweit war es ja noch nicht. Zur Linken tauchte die Raffinerie auf. Irgend jemand aus der Nachtschicht würde da jetzt fluchend vor dem leeren Platz stehen, auf dem er seinen blauen Ford geparkt hatte. Ein paar Wagen kamen nämlich gerade von dem Gelände 73
heruntergefahren. Franco murmelte ein »Sorry!« und hob entschuldigend die Schultern – das hatte leider sein müssen, aber außer einer geringfügigen Unbequemlichkeit würde der Besitzer des blauen Ford keinen Schaden haben. Ehe Franco mit seinem Soft-Eis-Wagen in den Wald abbog, sah er sich nach allen Seiten um. Dann rumpelte er zwischen den Bäumen hindurch, so weit wie es ging. Er stellte den Motor ab, stieß die Wagentür auf und sah sich Claire gegenüber. Sie ließ den schweren Knüppel hinter sich verschwinden, den sie sicherheitshalber mitgebracht hatte. »Erst dachte ich, es wäre ein Polizeiwagen,« sagte sie, ein bißchen atemlos. »Dann sah ich, daß es ein Soft-Eis-Wagen war, und ich dachte, daß sich der Verkäufer mit seiner Freundin vielleicht ein paar schöne Minuten im tiefen Wald machen wollte. Und als dann nur einer drinnensaß … wie um Himmelswillen sind Sie auf gerade diese Idee gekommen?« »Niemand wird uns in einem solchen Wagen vermuten. Holen Sie den Koffer; hinten sind ein paar eingebaute Behälter, in denen wir ihn sicher verstauen können.« Claire verschwand im Gebüsch und kam mit dem kostbaren Gepäckstück zurück. Franco öffnete die Heckklappe und brachte den Koffer in einem angeschraubten Kanister unter, der früher vermutlich die Eisvorräte enthalten hatte. »Sehen Sie mal, was ich gefunden habe!« frohlockte er und brachte ein Paket zutage, in Plastik eingeschweißt. »Frisch aus der Reinigung! Jetzt werden Sie endlich das blaue Kleid los, das schon durch sämtliche Fahndungsersuchen geistert!« »Das bedeutet mal wieder Striptease,« sagte Claire. »Langsam bekomme ich Übung! Geben Sie her!« Was sie da auseinanderfaltete, war ein hübscher weißer Anzug mit dem Emblem der Soft-Eis-Firma auf der Brust. Claire knöpfte das Anstaltskleid auf und stieg heraus. Für einen Moment präsentierte sie sich den Elstern, Eichhörnchen und 74
Franco Solo in modisch knappem BH und Spitzenslip, dann zog sie sich den Anzug über und alle Reißverschlüsse zu. Sie steckte Paß und Scheckbuch zu sich und stieß mit dem Fuß verächtlich gegen das blaue Kleid am Boden. »Wohin mit dem Lumpen?« »Zusammenrollen, mitnehmen und irgendwo in einen Fluß werfen.« »Einverstanden. Modisch ließ es sowieso sehr viel zu wünschen übrig. In den letzten vierundzwanzig Stunden habe ich an Uniformen schon einiges verbraucht. Es wird Zeit, daß ich wieder ein anständiges Kleid auf den Körper bekomme!« »In Newhaven können Sie einkaufen gehen.« »Wo liegt das?« »Nordwestlich von hier. Wir können den Highway schnell erreichen, er führt direkt dahin, und in einer Stadt von knapp 150000 Einwohnern sollte es möglich sein, samt dem Koffer unterzutauchen, bis wir eine Fluggelegenheit nach Washington finden.« »Wieso gerade dort?« »In Newhaven ist allerhand Flugzeugindustrie, und da fällt es weniger auf, wenn jemand am Himmel herumkurvt.« »Dann wollen wir auch nicht länger säumen, sonst kommt noch jemand hierher, und dann müssen wir tatsächlich das verliebte Soft-Eis-Pärchen spielen!« Sie stieg ein, und Franco Solo ließ sich hinters Steuer gleiten. »So unangenehm wäre mir das übrigens nicht,« bemerkte er. »Aber vielleicht wird es ja später noch einmal dazu kommen.« Vorsichtig rangierte er rückwärts. Als er auf die Straße zurückstoßen wollte, kam ein Sattelschlepper dahergefegt, und im Vorbeidonnern ließ er seine Sirene brüllen. »Der hat sich auch einen Vers auf die Situation gemacht,« grinste Franco, gab Gas und startete in die entgegengesetzte 75
Richtung. »Hoffentlich nicht den richtigen,« gab Claire zu bedenken. Sie blickte auf die Uhr. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, bei der nächsten Telefonzelle zu halten? Ich müßte noch einmal anrufen!« »Allmählich gehen mir Ihre geheimnisvollen Anrufe auf die Nerven,« sagte Franco offen. »Wen müssen Sie da auf dem Laufenden halten? Giscard d’Estaing?« »Ich werde fragen, ob ich Sie einweihen darf,« versprach sie. »Nur muß es wirklich bald sein, denn ich kann nur zu bestimmten Zeiten anrufen!« »Okay, okay,« begütigte Franco. Sie wischten durch ein paar kleinere Ortschaften, und als wieder eine Ansammlung von Häusern vor ihnen auftauchte, bremste Franco ab und ließ den Wagen vor der einzigen öffentlichen Telefonzelle ausrollen. »Beeilen Sie sich!« bat er. Claire nickte und verschwand in der Zelle. Franco sah, wie sie wählte, und er glaubte, die Nummer erkannt zu haben. Für alle Fälle merkte er sie sich und außerdem, daß es die Vorwahl nach New York gewesen war … Claire kam zurück. »Alles okay?« fragte Franco, aber sie schüttelte mißmutig den Kopf. »Keine Verbindung. Ich muß es in Newhaven noch einmal versuchen. Glauben Sie, daß man am Telefon abgehört werden kann?« Franco startete mit durchdrehenden Rädern. »Natürlich kann man abgehört werden. Es kommt darauf an, wen Sie angewählt haben.« »Da war so ein komisches Knacken im Hörer und dann ein 76
Geräusch, als hörte jemand in einem großen Raum zu!« »Haben Sie sich denn gemeldet? Mit Ihrem Namen, meine ich?« »Nein. Natürlich nicht.« »Dann besteht auch keine Gefahr.« Die Straße schwang in einem weiten Bogen herum, und die Auffahrt auf den Highway kam in Sicht. Plötzlich fuhr Claire zusammen und preßte die Hand gegen ihren Mund. Genau vor der Einfahrt zum Highway stand ein Patrolcar mit müde kreisendem Rotlicht. Einer der Streifenpolizisten war ausgestiegen und blickte ihnen mit zusammengekniffenen Augen entgegen. *
Der Kellner brachte die Vorspeisen: eine Pasta für Antonelli, Melone geeist mit hauchdünn geschnittenem Schinken für Florence und viel geräucherten Lachs mit Sahnemeerrettich für den finsteren Benito. Tonio Sculturi und die beiden Bodyguards begnügten sich mit irgendwelchen Pastetchen, zu denen sie scheu eine große Flasche Ketchup verlangten. Antonelli hatte seinen engeren Kreis ins Trader’s Vic im Plaza eingeladen – kein gutes Zeichen für den Gang seiner Geschäfte. Je schlechter seine Laune war, umso teurer wurden die Restaurants, in denen er tagte … »Telefon für Mr. Nudo!« sagte ein Girl, das sich durch die Tischreihen schlängelte. »Telefon für Mr. Nudo!« Sculturi stieß Benito an. »Telefon für dich!« Benito, der seinen Familiennamen so gut wie möglich zu 77
vergessen suchte, zuckte zusammen. Er hob die Hand und schnickte mit den Fingern. »Das bin ich! Können Sie’s herbringen?« »Mr. Nudo?« fragte das Girl noch einmal genüßlich. »Okay, ich hol den Apparat!« Die Tische an der Fensterseite, von denen sich Antonelli natürlich einen hatte reservieren lassen, verfügten über eine Telefonsteckdose. Das Girl brachte einen weißen Apparat und stöpselte ihn ein. Dann reichte sie Benito den Hörer. »Bitte, Mr. Nudo!« sagte sie und hielt ein Kichern zurück. Benito knurrte und riß den Hörer ans Ohr. »Benito hier …« Antonelli, der von allem kaum Notiz genommen hatte, aß seine Pasta in Ruhe. Erst als er die Gabel niederlegte, warf er einen Blick auf seine goldene Armbanduhr und einen zweiten auf Benito, der noch kein weiteres Wort gesagt hatte. Augenblicklich nickte der, und beendete das Gespräch ziemlich schnell. Er legte den Hörer auf und schob den Apparat ein bißchen zur Seite. Aber das genügte dem Alten nicht. Er winkte das Girl herbei. »Schaffen Sie das Ding da fort!« befahl er. Dann rückte er sein Glas weiter nach rechts, schob den Teller vor und ließ sich von Sculturi den Aschenbecher reichen. »So,« sagte er, als er es endlich auf dem Tisch wieder gemütlich hatte, »was war also, Benito?« Benito strich sich durchs Haar. »Gute Nachrichten, glaube ich. Unsere Freunde in Stamford haben Spuren gefunden.« Antonelli hob die buschigen Augenbrauen. »Ich meine, die Polizei dort oben,« verbesserte sich Benito. »Aber das kommt ja glücklicherweise aufs selbe heraus. Die beiden sind da an Land gegangen, nachdem ihr alter Fischerkahn auf ein Riff gelaufen ist. Sie haben sich dann in 78
einem Wäldchen versteckt, und in der Nähe wurden frische Reifenspuren gefunden. Es ist anzunehmen, daß sie sich einen Wagen besorgt haben.« Er hielt den Kopf stolz nach oben, als hätte er den Fall damit gelöst. »Weiter!« grollte Antonelli. Aber weiter ging es einstweilen nicht, weil die Teller gewechselt wurden. Antonelli biß auf seiner Zigarre herum, daß sich die Wangenmuskeln spannten. Endlich waren sie wieder unter sich. »Unsere Freunde haben natürlich sofort alle gestohlenen Fahrzeuge aufgelistet und zur Fahndung aufgeschrieben. Unter anderem kommen in Betracht ein blauer Ford, ein Rabbit in Grün, ein älterer Oldsmobile, ein heller Fairlane …« »Benito,« unterbrach ihn Florence leise, und dabei legte sie ihm die Hand auf den Arm, »ich glaube nicht, daß der Boß an der Kriminalstatistik von Stamford interessiert ist. Wo sind Franco Solo und die Laval?« Benito fiel ein bißchen in sich zusammen. »Das, das wissen sie noch nicht. Sie sind gerade dabei, auch die Neu- und Gebrauchtwagenhändler abzuklappern, denn es ist ja auch durchaus möglich, daß sich Solo einen Wagen gekauft statt geklaut hat!« »Dieses Stamford scheint ein Nest von Intelligenzlern zu sein!« spottete Antonelli. Der Kellner erschien und brach beinahe unter einem Turm von Platten mit Warmhaltehauben zusammen. Ehe er gefährlich ins Wanken geriet, stellte er sie auf einem Nachbartisch ab und begann zu servieren. Antonelli verfolgte jede Bewegung argwöhnisch, als er zuerst seine Calamaris bekam und einen Salat in echtem Olivenöl und dazu noch eine Portion gebackene Austern – er speiste in nationaler Nostalgie und war höchst mißtrauisch gegenüber der Küche, die sich immerhin auf amerikanischem Böden befand und bestimmt nicht viel Ahnung von der einzig wahren Zubereitung dieser 79
Köstlichkeiten hatte. Florence nahm anmutig eine Schale mit Spargelspitzen in Yoghurt und ein luftiges Omelette entgegen. Benito hatte sich für einen ganzen gebackenen Karpfen entschieden, während die anderen wieder einmütig bei Steaks und Pommes frites blieben. Gerade als alles arrangiert war und Antonelli den Wein einschenken ließ, kam das Girl wieder. In ihren Augen irrlichterte es, als sie rief: »Telefon für Mr. Nudo! Mr. Nudo, Telefon!« »Ich sprenge diesen Laden in die Luft!« knirschte Benito. Aber das Girl versöhnte ihn, indem es den Telefonapparat zum Vorschein brachte und einstöpselte. »Für Sie. Mr. Nudo!« sagte sie und streifte ihn sanft mit der vorgeschobenen Hüfte. Benito riß den Hörer an sich und lauschte. »Sehr gut,« sagte er dann. »Das dürfte euch ja wohl auf die Sprünge helfen! Danke!« Antonelli hatte mit einer Grimasse stummer Verzweiflung zu essen begonnen und fragte mit vollem Mund: »Noch was?« »Allerdings. Sie haben das Kleid von der Laval gefunden. Sie hat es offenbar von einer Brücke werfen wollen, aber es ist auf der Straße liegengeblieben, leuchtend blau, das Anstaltskleid, das sie im Institut gestohlen hatte.« »Was hat sie denn dann jetzt an?« fragte Sculturi lüstern. Antonelli griff nach dem Streichholzbriefchen und warf es ihm an den Kopf. »Halt die Klappe, wenn du keine besseren Einfälle hast,« sagte er. »Wo haben sie das Kleid gefunden?« »Auf dem Highway 95, sagten sie.« Antonelli hatte schon wieder den Mund voll und gab Sculturi ein Zeichen. Mühsam kaute er und würgte den Bissen herunter. 80
»Geh zum Wagen und hol den Autoatlas! Beeil dich!« Sculturi hastete davon. Florence nahm einen Schluck Wein und wischte sich die Lippen mit der Serviette. »Daß der 95 von Stamford aus nach Norden führt, sich hinter Waterbury teilt und als 91 direkt nach Kanada hinauf weitergeht, kann ich dir auch ohne Atlas verraten,« sagte sie. Antonelli tätschelte ihre Hand. »Hat es doch Zweck gehabt, daß ich dich auf so teure Schulen geschickt habe!« frotzelte er gutmütig. »Aber ich glaube nicht, daß Solo nach Kanada will. Die nähere Umgebung dürfte ihn mehr reizen, vor allem, wenn sie über Flugplätze verfügt!« »Na, schön. Du kennst ihn besser als ich,« nickte Florence. Tonio Sculturi kam mit dem Autoatlas, etwas außer Atem und mit roten Flecken auf den schlecht rasierten Wangen. »Warum hast du nicht den Aufzug genommen?« fragte Benito sanft. Sculturi erwog einen Moment, ihm das schwere Buch auf den Schädel zu schlagen, ließ es dann aber sein. Antonelli, der inzwischen seinen Appetit auf die Spezialitäten seines Heimatlandes gestillt hatte, schob Teller und Gläser klirrend zusammen und schlug den Atlas auf. »Hier!« sagte er triumphierend, »da haben wir’s schon! Solo hat also den Highway 95 von Stamford aus nach Norden genommen. Da kommt er zunächst nach Bridgeport. Was ist in Bridgeport los?« »Nichts,« sagte Sculturi. »Absolut nichts. Mich haben sie da mal aus einer Bar herausgeworfen.« »Na,« wandte Florence ein, »in Bridgeport gibt es immerhin drei Colleges und ein Zirkusmuseum, habe ich gelernt!« Antonelli tätschelte wieder ihren Arm. »Aus der College-Zeit ist Franco Solo heraus, und fürs Zirkusmuseum dürfte er noch nicht reif sein. Obwohl ich ihn da gern hinter starken Gittern und Panzerglas hätte. Also weiter! 81
Newhaven!« »Moment mal!« sagte Benito, »da klingelt es bei mir! Sie meinten, er würde nach einem leistungsfähigen Flugplatz suchen?« »Sicher. Das würde jeder in seiner Lage, der auch nur ein bißchen Verstand hat!« »In Newhaven ist in der Beziehung allerhand los. Hubschrauberfabrikation, Flugindustrie mit eigenen Plätzen für die Erprobung und so etwas, habe ich gehört. Das könnte ihn locken!« »Na, also! Ruf sofort die Leute dort an! Gib ihnen die Beschreibung der beiden durch! Die aus Stamford sollen die Liste der gestohlenen und verkauften Wagen hinterlegen! Bringe die dortige Polizei auf Trab. Sie sollen nicht vergessen, daß es sich um einen äußerst schweren Fall von Landesverrat handelt! Atomgeheimnisse!« Dabei schlug er auf den Tisch, daß ein älteres Paar am Nebentisch erschrocken zusammenfuhr. Benito griff folgsam nach dem Telefonhörer, während sich Antonelli befriedigt in seinem Sessel zurücklehnte. »Wenn man den Burschen genügend Feuer unter dem Hintern macht, kommen die Dinge ganz schön ans Laufen. Ich bin zuversichtlich, daß wir ihn kriegen, ehe er sich mit dem französischen Weib und dem Koffer in die Luft erhebt! Jetzt will ich flambierte Himbeeren! Was nimmst du als Dessert, Florence?« Sie ließ den Blick über die Karte gehen. »Am liebsten hätte ich ein ganz einfaches Soft-Eis,« sagte sie. »Vielleicht mit etwas Schokolade und Grand Marnier und gehackten Pistazien.« *
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»Da steht schon wieder ein Patrolcar,« sagte Claire aufgeregt. »Wenn er sich so benimmt wie der vorhin an der Auffahrt, haben wir nichts zu befürchten,« gab Franco zurück. Er behielt den Polizisten genau im Auge: Der Mann stand neben dem Wagen und hatte sich das Mikro herausgeben lassen, sprach eifrig hinein und verfolgte dabei den Verkehr auf dem Highway. Für einen Moment ruhten seine Augen auch auf dem auffälligen Soft-Eis-Kombi, dann glitten sie weiter zu einem Truck, der offensichtlich überladen war und mit einer tiefschwarzen Dieselwolke daherqualmte. Schon waren sie vorbei … »Ist das hier immer so?« fragte Claire. Franco nickte gleichmütig. »Sie stehen überall. Und hinzu kommen noch Motorradstreifen. Deshalb traut sich auch kaum jemand, das Geschwindigkeitslimit zu überschreiten. Man tritt mal ein bißchen mehr aufs Gas, und schon kommen sie von hinten, stellen ihre scheußlichen Sirenen an und das Rotlicht und stoppen einen am Straßenrand und machen sich einen Spaß daraus, eilige Leute so lange wie möglich aufzuhalten!« Er hatte sich ordentlich in Zorn geredet, und Claire betrachtete ihn amüsiert. »Das scheint Ihnen schon oft genug passiert zu sein!« »Leider, ja. Manchmal hat man’s eben wirklich eilig!« Er trat sanft auf die Bremse und ordnete sich nach rechts ein. Die Schilder wiesen auf die Abfahrt nach Newhaven. »Wieder ein Stück geschafft, wie?« Franco nickte. »Ich wünschte nur, wir hätten diesen verdammten Landstrich schon hinter und unter uns.« »Aber bisher ist doch alles wunderbar glatt gegangen?« »Freilich. Aber … na, lassen wir das. Jetzt suchen wir uns ein 83
Motel und verstecken uns für eine Weile. Als Sie das letztemal die Augen aufschlugen, war es vermutlich in Paris?« »Ich habe ein bißchen in dem Wäldchen geschlafen. Aber viel war es nicht.« Franco erspähte ein Holiday Inn zur Rechten. »Der Laden ist groß genug, um nicht aufzufallen. Okay?« »Mit den hiesigen Hotels kenne ich mich nicht aus. Sorgen Sie für ein Kissen unter meinem Kopf, und ich folge Ihnen, wohin Sie wollen!« Claire gähnte ungeniert. Als der Wagen vor der überdachten Einfahrt zum Stehen kam, fragte Franco zögernd: »Haben Sie etwas gegen ein … Doppelzimmer? Ich … ich meine wirklich nur … aus Sicherheitsgründen!« Fast wäre er dabei rot geworden. Claire verzog den Mund. »Umständlicher hat mir noch niemand klargemacht, daß er mit mir unter eine Decke will,« meinte sie. »Tun Sie, was Sie für richtig halten. Ich bin sowieso todmüde … um die Dinge einmal beim Namen zu nennen!« Franco Solo ging hinein, mietete ein Zimmer, bekam den Schlüssel mit der Zimmernummer und fuhr den Wagen mit dem Mädchen, das schon fast schlief, hinter das Gebäude. Er rangierte ihn rückwärts vor den Eingang des Apartments und rüttelte Claire an der Schulter wach. »Wir sind zu Hause, Mädchen,« sagte er. »Das Bett ist gemacht!« Sie taumelte hoch und ließ sich mit fast geschlossenen Augen hineinführen. Zielsicher fand sie das große Bett in der Nische. Sie ließ sich darauffallen, streifte die Schuhe ab und rollte sich in die Decke. Franco betrachtete sie, wie sie augenblicklich tief und regelmäßig zu atmen begann. Bestimmt hat sie mehr geleistet, als man erwarten konnte, dachte Franco. Er ging hinaus und schloß leise die Tür. ›Ein Kaffee wäre jetzt nicht 84
schlecht,‹ führte er seine Gedanken fort. Immerhin hatte er, während das Mädchen schlief, keine Zeit zu verlieren, wenn sie den kleinen Vorsprung vor ihren Verfolgern halten wollten. Langsam schlenderte er um das Haus herum. Als er sich dem vorderen Eingang näherte, um in die Cafeteria zu gelangen, bemerkte er den Polizeiwagen. Diesmal war es kein Patrolcar, sondern ein ziviles Fahrzeug. Unverkennbar jedoch durch die lange Spezialantenne und ein aufsteckbares Rotlicht, das vorn am Armaturenbrett hing. Augenblicklich schaltete etwas in Francos Solo auf Alarm. Er ging ins Haus und drückte sich gleich hinter dem Portal rechts an die Wand. Mit drei, vier langen Schritten war er hinter der spanischen Wand, die eine kleine Garderobe verbarg. Außerdem deckte ihn hier eine wuchernde Palme. Er hatte den Blick zum Counter frei. Zwei Kriminalbeamte standen da. Sie hatten dem Mädchen am Empfang eine Liste vorgelegt. »… ein Pärchen. Oder ein Mann allein oder eine junge Frau. Mit einem Koffer. Entweder in einem blauen Ford oder einem hellen Fairlane oder einem Oldsmobile älterer Bauart. Wenn sie in einem neuen Wagen gekommen sind, kann es ein grüner Rabbit sein, oder ein 79er Thunderbird. Möglicherweise reisen sie auch in einem gebrauchten Wagen. In dem Fall kommen in Betracht …« beteten sie ihren Spruch herunter. Langsam schob sich Franco zu der Schwingtür, die in die Wirtschaftsräume führte. Sie hatten ihn eingeholt. Aber noch hatten sie wohl kein Bild von ihm oder Claire. Sie suchten nur nach dem Wagen. Den Wagen mußte er fortbringen. So schnell wie möglich! Franco lief durch ein leeres Büro und fand durch die Spülküche in einen Gang zur Rückseite des Hotels. Klangen da hinter ihm schon Stimmen auf? Er kam ins Freie und stürzte vor. Bis zu ihrem Soft-Eis-Kombi waren es nicht mehr als zwei Dutzend Schritte. Im Laufen zerrte er den Wagenschlüssel hervor, stieß ihn zielsicher ins Schloß und riß die Tür auf, als in dem Hinterausgang ein Mann in Hut 85
und Mantel auftauchte. Glücklicherweise blickte er nach der falschen Seite. Franco verhielt sich ganz ruhig. Der Mann schüttelte den Kopf und wandte sich ins Haus zurück. In diesem Augenblick startete Franco den Motor mit eingelegtem Gang und ließ ihn einen Sprung zurück machen. Der erste krachte ins Getriebe und riß den Kombi nach vorn und auf den Kiesweg, daß die kleinen Steinchen spritzten. Noch war niemand im Rückspiegel zu sehen. Franco schleuderte mit dem Kombi um die Ecke, das ausbrechende Heck schlug gegen eine hölzerne Einfriedung. Ohne die Geschwindigkeit zu vermindern, sah Franco ruckartig nach links. Er erkannte, daß er es vor dem nächsten heranbrausenden Sattelschlepper noch gerade schaffen konnte und schoß auf die Straße. Die Reifen kreischten, als er auf die Fahrspur einlenkte, und hinter ihm dröhnte das Horn des Trucks wütend auf – aber da schaltete Franco schon hoch und gab Vollgas, schaltete noch einmal und zog davon. Die Fahrbahnen teilten sich. Rechts ging es auf die Umgehungsstraße, halblinks sperrte eine gelbe Ampel gerade die Stadteinfahrt. Franco schoß über die Kreuzung, als der Querverkehr startete. Ein Fußgänger, der schon mit einem Bein auf der Straße war, zuckte zurück, griff haltsuchend nach seiner Begleiterin, beide kamen ins Straucheln und fielen übereinander. Franco sah es gerade noch im Spiegel, ehe er den Wagen in die nächste Seitenstraße hineinzwang und augenblicklich das Tempo mäßigte. Jetzt glaubte er sich so weit in Sicherheit, daß er vernünftig und unauffällig fahren konnte. Er kam an einem kleinen Park vorbei, passierte ein großes, repräsentatives Gebäude, auf dem die amerikanische Bundesflagge wehte, und bremste höflich an der nächsten Kreuzung, um eine schwarze Kindergärtnerin mit einem Dutzend feingemachter kleiner Mädchen passieren zu lassen. Und dann erspähte er den Riesenbau des Taft Hotel. Er fuhr darauf zu und fand die Einfahrt zu einer Tiefgarage, genau wie 86
er es sich gewünscht hatte, stoppte an der Schranke, kurbelte die Seitenscheibe herunter und nahm sich ein Ticket. Er sah die Schranke vor sich hochgehen, ließ den Kombi mit eingeschalteten Scheinwerfern die Rampe hinunterrollen und parkte ihn aufatmend in einer leeren Bucht, weit hinten in der Halle und hinter einem klotzigen Stützpfeiler. Als er den Motor abgestellt hatte, knackte es noch ein paarmal unter der Haube. Franco stieg aus und öffnete die Rückklappe. Er nahm den Koffer aus dem Blechkasten und verschloß alles wieder sorgfältig. Dann spazierte er mit hallenden Schritten durch die mäßig besetzte Tiefgarage zum Ausgang, über dem in roter Leuchtschrift »IN« geschrieben stand. Er kam in einen kahlen Flur, der zu ausgedehnten Waschräumen und einem kleinen Schwimmbad führte. In einem Spiegel sah er sich, und er mußte zugeben, daß er nicht gerade wie jemand aussah, den der Portier mit ausgebreiteten Armen empfangen würde. Suchend blickte er sich um. Tatsächlich gab es einen Automaten für Herrenoberhemden und einen Schuhputzautomaten – ein Bügelautomat für Anzüge, die auf einem alten Fischerboot und im Wald gelitten hatten, fehlte leider. Aber Franco brachte sich mit den verfügbaren Mitteln und in einem Waschraum schnell so weit in Ordnung, daß er ohne Aufsehen ein Zimmer verlangen konnte, nahm den Koffer wieder in die Hand und fuhr mit dem Lift in die Halle hinauf. »Ein Single,« verlangte er am Counter. Dabei legte er einen Paß auf den Tisch, der zwar sein Bild trug, aber einen völlig anderen Namen – und der trotzdem echt war. »278, Mr. Rutherford,« sagte der Clerk. »Haben Sie Gepäck?« Franco wies auf den Koffer. »Ich bezahle gleich für eine Woche im voraus,« bestimmte er. Der Clerk schrieb eine Rechnung aus, tippte auf die Klingel für die Kassiererin, und als Franco bezahlt hatte, machte er sogar Miene, hinter seinem Tresen hervorzukommen. 87
»Thanks,« wehrte Franco ab, »ich schaffe das schon.« Er drückte ihm einen Dollar für die angedeutete Hilfsbereitschaft in die Hand und ging zum Lift. Im zweiten Stock fand er sein Zimmer unweit der Nottreppe, und das gefiel ihm. Es unterschied sich nicht im geringsten Detail von Millionen anderer Hotelzimmer der westlichen Welt, aber auch das fand Francos Wohlwollen. Er stellte den Koffer in den Schrank und zog den Schlüssel ab; er steckte den Schlüssel in einen Briefumschlag aus der Schreibmappe, die auf dem Tisch lag, adressierte ihn an Mr. Rutherford in Zimmer 278, klebte ihn zu und ließ ihn auf dem Nachttisch liegen – eine der sichersten Methoden, das Personal vom Herumstöbern abzuhalten. Dann blickte er nachdenklich aus dem Fenster und hinunter auf die große Kreuzung. Schräg gegenüber lag die Bingham Hall, nach rechts dehnte sich das Publik Green. Das alles fand er sehr gut, aber die Unruhe, die ihn gepackt hatte, überlagerte alle anderen Gefühle. Franco Solo ging zum Telefon und suchte sich im Buch die Nummer des Holiday Inn heraus. Als sich dort das Mädchen vom Empfang meldete, verlangte er Apartment 17. Das Freizeichen kam, er ließ es lange läuten. Schlief Claire so fest? Oder …? Behutsam legte er den Hörer wieder auf. Wenn er sich alle Fakten zusammenreimte, brauchte er nicht lange zu raten, was geschehen war. *
Das ›Holiday Inn‹ lag friedlich im hellen Mittagssonnenschein. Franco stieg aus dem Taxi und ging vorsichtig am Haupthaus vorbei nach hinten. Er sah die weißgestrichene Palisade, die er 88
mit dem Soft-Eis-Kombi ramponiert hatte, und stellte fest, daß dabei auch noch ein Busch etwas gelitten hatte. Apartment 17 war verschlossen und leer – die zurückgezogenen Gardinen gaben den Blick in das große Zimmer und in die kleine Küche frei. Nur das Bad … Entschlossen steckte Franco den Schlüssel ins Sicherheitsschloß und öffnete. Mit angehaltenem Atem wartete er einen Moment, aber sie hatten niemanden zurückgelassen, der ihn abfangen sollte. Irgendwo mochte schon eine Falle für ihn vorbereitet sein. Aber offensichtlich nicht hier. Mit ein paar Schritten war er im Bad. Leer. Claire hatte nicht einmal Gelegenheit gefunden, sich zu waschen oder zu duschen. Auch die Zahnputzbecher standen da noch in ihren Zellophanumhüllungen, und die kleinen Seifenstückchen waren nicht ausgepackt. Ordentlich hingen die frischen Handtücher auf den Stangen. Die Bettdecke war zusammengeknüllt, das Laken zerdrückt. Franco beugte sich nieder und betrachtete den Fußboden. Da waren allerlei Abdrücke, aber einen Kampf schien es nicht gegeben zu haben. Kein Wunder, wenn zwei Polizisten ein schlaftrunkenes Mädchen aus dem Bett verhaften! Aber da konnte Franco ein paar merkwürdige Schnörkel erkennen. Er drehte sich herum und sah nun deutlicher, was ein Damenabsatz auf den Boden geschrieben hatte: ein P und ein o und so etwas wie ein l. »Police« schreibt sich französisch genauso wie englisch, überlegte Franco. Immerhin war das eine Nachricht, die sich verwerten ließ. Claire hatte ihm hinterlassen, wo sie zu finden war. »Ha!« sagte eine weibliche Stimme von der Tür her. »Da sind Sie ja!« »Natürlich bin ich da,« knurrte Franco und stand auf. »Immerhin habe ich dieses Apartment ja gemietet!« 89
Und während er das gelassen aussprach, betrachtete er die junge Frau, die unentschlossen im Türrahmen stand. Offenbar wußte sie nicht, wie sie seine eventuelle Gefährlichkeit einzuschätzen hatte. Daß er keine Waffe trug, schien sie etwas zu beruhigen. »Wenn ich gewußt hätte, daß Sie mir die Bullen ins Haus locken, hätte ich Ihnen das Zimmer nie gegeben!« »Das ahnte ich ja selber nicht,« gab Franco zurück. »Nun rufen Sie schon nach der Polizei, damit sie mich auch noch kassiert! Wissen Sie überhaupt, wen Sie vor sich haben?« Sie maß ihn mit einem abschätzenden Blick. »Die Rede war von Staatsverbrechen. Atomkram und so. Was habt ihr denn angestellt?« »Sie werden es nicht glauben – gar nichts. Wir sind im Besitz eines ganz simplen, technischen Verfahrens, das überhaupt nichts mit Atomtechnik zu tun hat. Jemand versucht uns das abzujagen und hat die Polizei für seine Zwecke eingespannt.« »Ach? Das kann man machen?« Franco gestattete sich ein Lächeln. »Natürlich. Man erstattet Anzeige wegen Landesverrat, dann werden die Beschuldigten erst einmal gesucht, und wenn man sie findet, sperrt man sie ein.« »Aber doch nicht ohne ordentliches Gerichtsverfahren!« fuhr sie auf. Franco schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber das kommt dann später.« »Und in der Zwischenzeit?« »Ja. Da können die merkwürdigsten Sachen passieren.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Hören Sie,« sagte sie, »ich will mit alledem nichts zu tun haben. Vor zwei Jahren ist mein Bruder hier auf offener Straße zusammengeschlagen worden, ohne daß jemand einen Finger 90
für ihn gerührt hätte. Die Streifenwagen rollten ganz gemächlich heran, als er schon mit einem Halswirbelbruch im Straßengraben lag. Von den Tätern gibt es noch heute angeblich keine Spur, obwohl die halbe Stadt weiß, was da gespielt wurde.« »Tut mir leid,« murmelte Franco Solo. Sie schüttelte den Kopf. »Das braucht Ihnen nicht leid zu tun, denn vermutlich haben Sie selber genug am Hals. Verschwinden Sie hier, und schicken Sie mir gelegentlich von irgendwoher den Schlüssel. Ich habe Sie nicht mehr gesehen.« Franco nickte. »Das ist ein guter Vorschlag. Noch zwei Fragen: Das waren echte Polizeibeamte, die meine Partnerin mitgenommen haben?« Die Hotelpächterin nickte. »Ja, die kenne ich. Ed Striker und Paul Cox.« »Gibt es hier einen ordentlichen Rechtsanwalt, der sich zutraut, gegen die Polizei aufzutreten?« »Einen Rechtsanwalt?« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Und ob! Gehen Sie zu Jerry Richards, gleich drüben in der Chapel Street. 165 ist die Hausnummer. Mit dem werden Sie Ihre Freude haben!« »Thanks,« sagte Franco. Sie gab ihm den Weg frei. Er zog hinter sich die Tür ins Schloß und wollte gehen. »Moment noch,« zischte die Frau. »Ja?« »Gehen Sie hier hinten herum. In der Cafeteria sitzt ein Cop, den sie als Aufpasser zurückgelassen haben.« »Sie sind eine Klasse-Frau,« lachte Franco. »Ihnen schreibe ich mal!« Damit teilte er die dichten Wacholderbüsche, unter denen sich ein kaum erkennbarer Pfad verlor, und verschwand.
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»Wenn Sie wüßten, wer mir alles die Bude einrennt, seit ich mal mit Erfolg gegen die herrschende Oberschicht dieser hübschen Stadt aufgetreten bin,« seufzte der Anwalt. Jerry Richards war jung, von den leicht angegrauten Schläfen abgesehen, braungebrannt und durchtrainiert. Zu grauen Flanellhosen trug er ein buntes Hemd und eine Wildlederweste. Mit einem Sheriffstern auf der Brust hätte er jeden Western um eine ganze Klasse verschönt. Er lag hinter seinem blank polierten Schreibtisch in einem fellbespannten Schaukelstuhl und musterte Franco Solo aus kühlen, graublauen Augen. »Wie soll ich wissen, daß die abenteuerliche Geschichte, die Sie mir da auftischen, auch verläßlich ist? Man hat schon ein paarmal versucht, mich hereinzulegen. Ganz offen gesagt!« »Dann machen wir es doch auf die einfache Tour. Verzichten wir auf Klage wegen Freiheitsberaubung und die Drohung mit dem französischen Konsul – ich beauftrage Sie einfach mit der Wahrnehmung der Interessen von Mademoiselle Claire Laval. Dazu gehört doch wohl, daß Sie Kontakt mit Ihrer Mandantin aufnehmen. Dann können Sie gleich nachprüfen, ob ich die Wahrheit gesagt habe, ohne Gefahr für Ihr Image!« Richards nickte. »Das klingt schon vernünftiger. Dann habe ich es auch nicht mit Ihnen und Ihrer schleierhaften Identität zu tun, sondern mit einer existenten Person, an die ich mich halten kann.« Er drückte eine Taste und beugte sich über das Sprechgerät. »Peggy, eine Prozeßvollmacht für eine Miß Claire Laval. Und die Vorausrechnung!« »Das ist in ein paar Minuten gemacht,« sagte er. »Aber ich kann ja schon einmal anfangen zu arbeiten!« Er holte sich das Telefon heran und wählte. »Die Kriminalabteilung der 92
Staatsanwaltschaft!« erläuterte er. »Hallo, Jerry Richards hier. Gebt mir bitte mal Ed Striker!« Und wieder zu Franco Solo: »Ed Striker ist ganz in Ordnung. Wir haben dasselbe Handicap im Golf, und er ist ein verdammt guter Segler! Hallo, Ed? Hier ist Jerry …. ja, hier auch! Bei dem Wetter, Mann! So wie neulich, was? Haha! Hör mal, Ed, ihr habt da vorhin im Holiday Inn ein Mädchen eingefangen. Claire Laval. Ist das richtig? – Ich habe Prozeßvollmacht für sie. Wann kann ich sie besuchen? – Was? Ihr habt sie … wo gibt’s denn sowas? Und wo ist sie jetzt?« Jerry Richards lauschte angespannt in den Hörer, und sein Gesicht wurde dabei immer finsterer. »Okay,« sagte er schließlich kurz. »Das war’s ja denn wohl erst mal. Ich melde mich wieder!« Er knallte den Hörer auf die Gabel. Peggy, seine rundliche Sekretärin kam herein und wedelte mit zwei Formularen. Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Verschwinde, Süße,« sagte er. »Ich hab’s mir anders überlegt. Ich erklär’s dir später!« Und als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, schwenkte er auf dem Drehsessel zu Franco Solo herum. »Sie haben Glück, Mister, daß Sie an mich geraten sind und ich mit Ed Striker gesprochen habe. Aber Sie haben verdammtes Pech, weil Ihr Mädchen verschwunden ist.« Er stützte seinen Kopf in beide Fäuste und starrte ihn an. »Sie muß bei der Polizei ganz gewaltig auf den Putz gehauen haben, und da haben sie sie laufenlassen. Natürlich mit Auflagen, daß sie die Stadt nicht verlassen dürfte und so. Den Paß haben sie ihr auch abgenommen.« »Hoffentlich haben sie ihr wenigstens das Scheckbuch gelassen!« »Ich denke schon. Aber dann muß eine ziemliche Schweinerei passiert sein. Sie sagten, daß Claire Laval hier in der Gegend außer Ihnen keinen Menschen kennt?« 93
»Das ist richtig.« »Und doch ist sie vor dem Headquarters in einen Wagen gestiegen, der offenbar auf sie gewartet hat, und davongefahren.« »Sind Sie sicher, daß sie freiwillig eingestiegen ist?« Der Anwalt biß sich auf die Lippen. »Ich war nicht dabei, und die Polizei hat sich nicht näher dazu geäußert. Aber Sie können sicher sein: Wenn da eine Panne passiert ist, ich meine, wenn das Mädchen entführt wurde, dann werden Sie das von der Polizei niemals bestätigt bekommen. Kidnapping vor der Haustür! Daß ich nicht lache!« Franco Solo stand auf. »Ich glaube, Sie sollten jetzt das Mädchen mit der Rechnung doch wieder hereinrufen,« sagte er. Der Anwalt blieb sitzen und blickte ihn von unten herauf nachdenklich an. »Hören Sie … irgendwo ist da eine leise Stimme, die mir rät, in diese merkwürdige Sache doch noch einzusteigen. Entführung, oder Geiselnahme, wenn wir es einmal so nennen wollen, gehört zu den Sachen, gegen die ich allergisch bin.« »Hören Sie nicht auf solche Einflüsterungen, Mr. Richards,« riet Franco. »Ich habe Ihnen vorhin schon angedeutet, daß dies ein Fall ist, der über Ihre Möglichkeiten – und über das Maß Ihrer vertretbaren Gefährdung hinausgeht. Halten Sie mich meinetwegen für einen Angeber und Aufschneider, aber ich bin schon einige Zeit in diesem Job und weiß, wann ich jemanden mit hineinziehen darf und wann nicht. Was bin ich Ihnen schuldig?« »Nichts, verdammt nochmal!« schrie Richards. »Ich kann doch kein Geld von Ihnen dafür nehmen, daß ich aus der Sache aussteige!« »Dann nehmen Sie’s für einen letzten guten Tip. Wer ist hier der dicke Macher von der Mafia?« 94
»Den Tip kriegen Sie auch noch gratis. Walter Memphis heißt der große Pate von Newhaven. Er hat ein Büro am Broadway und im selben Haus ein Penthouse. Die Nummer weiß ich nicht, aber das Schild seines Getreidehandels können Sie kaum übersehen. Aber seien Sie vorsichtig! Walter ist prominentes Mitglied der Demokratischen Partei, sitzt in allen möglichen Ausschüssen und Bürgervereinigungen und gilt als wohltätig bei allen, die ihn noch nicht anders kennengelernt haben.« »Sie haben mir sehr viel weitergeholfen,« dankte Franco Solo. »So long!« Als er durchs Vorzimmer ging, blickte ihn die mollige Peggy verwundert an. »Sie haben den Chef aber ganz schön auf die Palme gebracht!« sagte sie. Franco lächelte. »Meinen Sie? Dann warten Sie erstmal die Abendnachrichten ab!« *
Er konnte in die Büros hineinsehen, die in dem alten, hohen Haus auch bei hellem Tag Neonlicht brauchten. Falls Walter Memphis wirklich nur mit Getreide handelte, mußten schon allerhand Körner durch seine fleißigen Hände rieseln, um den ganzen Stab in zwei Stockwerken auf Trab zu halten. Franco Solo beugte sich etwas mehr auf seinem Stuhl in der kleinen Cafeteria zurück und hatte nun auch den Blick auf das Chefbüro frei. Es unterschied sich von den anderen zunächst dadurch, daß die Fenster Gardinen hatten, und dann brannte statt der Neonröhren ein Kronleuchter, der nicht ganz so grelles Licht verströmte. Walter Memphis selbst war natürlich von hier unten nicht zu erkennen, aber Franco hatte ihn vor einer halben Stunde 95
in einem Mercedes vorfahren und ins Haus hineingehen sehen und war sicher, daß er jetzt dort oben seinen Geschäften nachging. An sich hatte er sich vorgenommen, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten, aber es hielt ihn nicht mehr. Wenn er an Claire Laval dachte, stieg in seinem Inneren die weiße Flamme kalter Wut hoch. Er zahlte seinen Kaffee und schlenderte hinüber. An dem Pförtner in seinem altertümlichen Glaskasten kam er ohne weiteres vorbei. Er hatte sich mit einem schnellen Blick die Firmen gemerkt, die in den anderen Stockwerken residierten, und sagte nachlässig: »Zu Heintz & Wonderland, bitte!« »Vierter Stock. Soll ich Sie anmelden?« »Nicht nötig,« wehrte Franco ab. »Ich werde erwartet.« Er trat in den Lift und drückte den Knopf für den vierten Stock, und als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, auch gleich noch den obersten. Leise summend setzte sich die Kabine in Bewegung, stoppte kurz im Vierten und fuhr weiter. Als sich oben die Tür öffnete, stand Franco in einem Treppenhaus, das noch weiter hinaufführte. Achselzuckend machte er sich an den Aufstieg, aber auf halber Höhe des nächsten Stockwerks hielt ihn ein schmiedeeisernes Gitter auf, das quer zur Treppe geschlossen war. »Hallo!« sagte er, gewiß, daß ihn mindestens ein Mikrophon hören, wenn nicht eine Fernsehkamera sehen würde. »Wie geht’s hier denn weiter?« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als sich ein Teil der Wandverkleidung zur Seite schob und ein vierschrötiger Bursche auf die Treppe heraustrat. »Wohin soll’s denn weitergehen?« fragte er mit dem Blick eines Schlachters, den man zu einem Kalb gerufen hat. Franco 96
lächelte ihn unschuldig an. »Ich bin der Neue,« sagte er einfach. »Mr. Memphis will mich sehen. Allerdings …« Er blickte auf seine Armbanduhr, »ich habe mich ein bißchen verfrüht. Aber besser als zu spät, nicht wahr?« Der Bursche verzog keine Miene. Anscheinend hatte er eine verborgene Sperre gelöst. Er klappte das Gitter hoch und vertrat Franco den Weg. »Streck mal schön die Ärmchen in die Luft!« forderte er ihn auf. Franco gehorchte, und dann fuhren die Pranken des Wächters blitzschnell an seinem Körper auf und nieder und tasteten ihn nach Waffen ab. »Sauber scheinst du ja zu sein. Meinetwegen kannst du hinaufgehen. Flower ist oben, aber laß dir nicht den Kopf verdrehen. Mr. Memphis ist da sehr empfindlich!« »Den Kopf verdrehen?« fragte Franco mit dem bäurischen Charme eines Landbewohners aus dem tiefsten Connecticut. »Warum denn? Ich hab doch schon eine Freundin zu Haus!« »Wirst ja sehen! Nun los! Ich muß wieder zumachen!« Hinter ihm krachte das Gitter in die Halterung, und Franco stieg die restlichen Treppenstufen hinauf. Er klingelte. Drinnen schlug ein Mehrklang-Gong melodisch an. Und dann ging die Tür auf … Das Mädchen hätte jeder Striptease-Bühne zur Zierde gereicht. Kurvenreich gebaut, mit langem Blondhaar, Nerzwimpern und furchtlos aufgetragenem Make up blickte sie ihm entgegen. Aber das Aufregendste an ihr war zweifellos die Tatsache, daß sie ein Baby-Doll trug, aus rosa Perlon mit aufwendigem Spitzenbesatz, und dieses Baby-Doll endete knapp unter dem prallen Pop. »Hallo,« sagte sie. Mancher hätte die heisere Stimme für besonders sexy gehalten, aber Franco war sicher, daß sie ein 97
Produkt von viel rauchigem Whisky und noch mehr Zigaretten in langen, nicht gerade dienstfreien Nächten war. »Hallo,« stotterte Franco und spielte den Jungen, der nicht weiß, wohin mit den Händen. »Ich … vielleicht komme ich etwas zu früh? Ich meine, Mr. Memphis …« »Ja?« fragte sie und schwang ein wenig auf der linken Ferse herum, daß sie besser ins Licht der hinter ihr stehenden Lampe geriet. »Kommen Sie doch herein! Walters Freunde sind auch meine Freunde! Tun Sie sich keinen Zwang an!« Franco klapperte mit den Lidern. Er trat näher und drängte sich an ihr vorbei – er mußte sich an ihr vorbeidrängen, denn sie wich keinen Zentimeter zurück. Es ließ sich nicht vermeiden, daß er dabei ihre herausfordernd vorgestreckte Vorderfront streifte. »Wenn Sie … ich meine, vielleicht wollen Sie sich lieber erst etwas anziehen, Miß?« sagte er mit belegter Stimme. Sie kicherte und drehte sich, daß ihr Baby-Doll in kreisende Bewegung geriet und hochflatterte. »Warum sollte ich?« fragte sie und schloß die Tür. »Gefalle ich Ihnen so nicht?« »Na,« sagte Franco, plötzlich mit normaler Stimme, »es geht!« Und damit schnellte er in einem gewaltigen Satz vor und über sie her. Sie wollte noch eine abwehrende Bewegung machen, aber da wurde sie schon von den Füßen gerissen. Im Fallen sah sie den fremden Mann auf einmal riesengroß vor sich, sie schlug mit dem Kopf auf den weichen Flokati-Teppich und wollte schreien, sie spürte harte Hände an ihrem Hals, die ihr jede Luft nahmen, und dann versank alles für sie in roten Wogen und schwarzen Wolken. Franco Solo stand auf, und strich sich das Jackett glatt. Auf einmal sah Flower gar nicht mehr wie eine aufreizende schöne Blume aus, sondern eher wie ein verwelktes Blatt. Ihr rot geschminkter Mund stand offen, das Baby-Doll war bis über den 98
Bauch hochgerutscht, und ihre wächserne Haut hatte einen fettigen Glanz bekommen. Franco zögerte, aber dann gab er sich einen Ruck. Er packte sie am Arm, schob ihr die andere Hand unter die Achsel und brachte sie so fast mühelos hoch. Er zog ihren Arm über seine Schulter, nahm sie auf den Rücken und trat in das angrenzende große Wohnzimmer. Es schien ihm nicht der geeignete Ort, um das Mädchen aufzubewahren, deshalb ging er weiter. Er fand das Bad und ließ sie in die leere Wanne gleiten. Darin legte er sie auf den Bauch, fand im Wandschrank eine Rolle Heftpflaster und fesselte damit ihre Füße und die Handgelenke auf dem Rücken und klebte ihr zum Schluß noch einen breiten Klebestreifen über den Mund. Als er sein Werk beendet hatte und sich aufrichtete, öffnete sie die Augen und funkelte ihn mit unbeschreiblicher Wut an. Sie begann mit den Beinen zu strampeln, aber nur so lange, bis sie sich die Zehen übel an den vergoldeten Wasserhähnen stieß. Schreien konnte sie nicht, aber der Zorn füllte ihre Augen mit Tränen. Franco schüttelte sanft den Kopf. »Ganz ruhig bleiben, Flower,« mahnte er. »Ich will ja nur ein paar Worte ungestört mit Walter Memphis wechseln. Dann darfst du vielleicht wieder aus der Wanne heraus.« Sie warf sich hin und her, daß die Badewanne dröhnte. »Wenn du nicht still bist, lasse ich kaltes Wasser ein und tu noch ein paar Eiswürfel dazu!« Er machte Miene, das Ventil aufzudrehen, da wirkte die Drohung, und sie wurde still. »Na, also!« nickte Franco und ging hinaus ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch aus hellgelbem Marmor stand ein halbvolles Likörglas und eine Flasche. Die Zigarette im OnyxAschenbecher hatte sich inzwischen selber zu Ende geraucht. Auf dem Plattenteller lag eine LP von Lake. Franco stellte sie an und drehte den Lautstärkeregler leise, so daß er hören konnte, wenn sich etwas an der Wohnungstür tat. 99
Er spazierte in die kleine Küche hinein. Sie war perfekt eingerichtet, machte aber nicht den Eindruck, als würde sie entsprechend genutzt. Als er den Kühlschrank aufmachte, stand er einem kleinen Lager erlesener Delikatessen gegenüber. Nach kurzem Besinnen nahm er sich ein Stück Gorgonzola heraus, Butter und ein paar Crackers. Ein Messer fand er in der Anrichte, und dann bereitete er sich einen kleinen, aber sehr appetitlichen Imbiß zu, den er an der Tür lehnend verzehrte. Gern hätte er einen Schluck Wein dazu getrunken, zumal in einem Flaschenregal in der Küche die edelsten Gewächse lagen. Aber er wußte, daß dieser Tag noch lange nicht zu Ende war, und daß er wahrscheinlich sein ganzes Reaktionsvermögen brauchen würde. Er schob den letzten Cracker in den Mund, als sich draußen jemand räusperte. Gleichzeitig lief die Platte aus. Ein Schlüssel wurde ins Türschloß geschoben. Franco hoffte, daß Walter Memphis allein eintreten würde. Der Aufzug, in dem ihn das Mädchen begrüßt hatte, schien darauf hinzudeuten. Aber Franco war auch bereit, es mit zwei Leuten aufzunehmen … er brauchte nur an Claire zu denken. *
»Hallo, Flower-Baby!« rief Memphis gutgelaunt und blieb in der offenen Tür stehen. Der Plattenspieler brummte, in der Küche schaltete sich der Kühlschrank knackend ein. Franco vernahm ein Schnaufen und hielt den Atem an. »Flower-Baby, wo bist du?« fragte Memphis etwa so, wie man nach einer Katze sucht. Und dann kam aus dem Bad plötzlich ein wütendes Wummern … »Was ist denn, Flower?« fragte Memphis irritiert und ließ die Wohnungstür hinter sich ins Schloß fallen. 100
»Nichts, was Sie beunruhigen müßte, Walter!« sagte Franco und trat aus seinem Versteck vor. »Bitte – lassen Sie die Hände so, wie sie jetzt sind. Ich möchte überhaupt, daß Sie sich ruhig verhalten. Gehen Sie langsam vor mir her, und setzen Sie sich auf die Couch. Legen Sie beide Arme seitwärts auf die Lehnen und die Füße auf den Tisch!« Während er sprach, war er dicht hinter den Mafia-Boß getreten. Mit seinen Worten dirigierte er ihn genau in die Position, in der er ihn haben wollte. Als Walter Memphis endlich saß und Franco wieder in sein Gesichtsfeld trat, riß der Mafioso die Augen auf. Sein Gegner hielt nicht einmal eine Waffe in den Händen! Es zuckte ihm in den Füßen, die auf dem Marmortisch lagen, aber ein Stirnrunzeln Franco Solos ließ ihn den Reflex schnell unterdrücken. »Wo ist Flower?« fragte Memphis, und dicke Schweißperlen traten auf seine Stirn. Die etwas zusammengekrümmte Haltung, in der er auf der Couch lag, ließ seinen Bauch über den Hosenbund treten, und der Hals wurde vom Hemdkragen eingeschnürt. »Was haben Sie mit dem Mädchen gemacht? Und wer sind Sie überhaupt?« »Franco Solo,« verbeugte sich Franco leicht. »Ich nehme an, daß Ihnen der Name ein Begriff ist.« Walter Memphis schnappte nach Luft, »Dem Mädchen ist nichts passiert. Sie liegt in der Badewanne.« »Ich … ich sage kein Wort, wenn Sie ihr etwas angetan haben!« »Ach, was!« wehrte Franco Solo ab. »Diese Mädchenblüte mag Ihr Geschmack sein, Memphis … lassen Sie uns zur Sache kommen. Wo ist Claire Laval?« Memphis wollte sich dummstellen, aber er gab es auf, als er Franco Solos Blick begegnete. »Ich … weiß es nicht. Ehrlich!« 101
Franco kniff die Lippen zusammen und schwieg. »Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüßte, Solo. Glauben Sie mir!« »Reden Sie!« Memphis hob die Achseln. »Kann ich nicht die Füße vom Tisch nehmen? Das ist sehr … unbequem!« »Nein!« kam es schneidend von Franco Solo. »Und die Hände bleiben auf der Couchlehne! Los!« Walter Memphis schnaufte. »Wir … also wir wurden unterrichtet, daß Sie und Claire vielleicht hier auftauchen würden. Deshalb veranlaß ten wir eine polizeiliche Fahndung, die ja auch teilweise … ich meine, das Mädchen wurde geschnappt.« »Die Polizisten rissen sie aus dem Bett und schleiften sie auf die Wache. Wieso wurde sie so schnell wieder entlassen?« Memphis wiegte den Kopf hin und her. »Nun …« »Okay. Sie haben der Polizei einen leisen Wink gegeben. Weiter!« »Zwei Leute, die aus New York gekommen waren, nahmen sie vor dem Headquarters in Empfang.« »Wer waren die beiden?« »Ich weiß es nicht. Sie waren angekündigt worden, sie wiesen sich aus – das genügte uns.« »Wer hat sie angekündigt? Antonelli?« »Nicht … direkt. Benito Nudo leitet die Aktion, glaube ich.« »Was wissen Sie noch? Wohin sollte Claire Laval gebracht werden?« »Keine Ahnung, Solo. Sie wissen doch, daß man immer nur soviel erfährt, wie man braucht! Überhaupt … Sie kennen sich 102
doch ganz gut bei uns aus, nicht wahr?« Memphis schien plötzlich aufzuleben. Franco nahm den neuen Unterton in seiner Stimme wahr. Versonnen blickte er auf das Bild in dem großen Rahmen über der Couch. »Was meinen Sie damit?« »Nun,« grinste Memphis, »ich wundere mich sowieso schon die ganze Zeit, wie Sie sich die Sache hier weiter vorgestellt haben! Für Sie gibt es doch überhaupt keine Chance! Selbst wenn Sie mich umlegen, kommen Sie aus diesem Bau nicht mehr lebend heraus!« Im Rücken Franco Solos entstand ein leiser, knirschender Laut, als würde eine Schublade aufgezogen. Etwas an dem Bild über der Couch schien ihn sehr zu interessieren. Er wandte keinen Blick davon. »An Ihrer Stelle würde ich mir darum keine Sorgen machen. Einstweilen sitzen Sie tiefer in der Tinte als ich, und ich glaube nicht, daß sich daran bald etwas ändern wird.« »Haha!« sagte Memphis, und sein Bauch hüpfte vor Vergnügen. Etwas knackte im Zimmer. Walter Memphis’ fleischiges Gesicht spannte sich plötzlich. In dem Augenblick, da er die Augen instinktiv zukniff, warf sich Franco Solo seitwärts aus dem Sessel. Hinter ihm krachte ein Schuß. Zugleich stieß Memphis einen schrillen Schrei aus, seine Stimme überschlug sich. Franco Solo hatte sich nicht die Zeit genommen, aus der Rolle wieder auf die Füße zu kommen. Er schnellte wie ein Fisch herum, nahm den Kopf zwischen die Schultern und landete mit einem neuen Salto genau auf dem Mädchen, das neben dem Sideboard kauerte und die Pistole noch in den gefesselten Händen hielt. Zum zweiten Mal an diesem ereignisreichen Tag ging Flower zu Boden. Aber diesmal schlug sie mit dem Blondkopf gegen den Türrahmen und verdrehte noch im Umkippen die Augen nach oben. »Tut mir leid, Memphis,« sagte Franco und stand auf. 103
»Aber ich mag es nicht, wenn während der Vernehmung in meinem Rücken herumgeballert wird. Hat es Sie erwischt?« Walter Memphis saß kreidebleich da und hielt sich den Kopf mit beiden Händen, Blut lief zwischen seinen Fingern hervor. Franco bog ihm die Hand zur Seite. »Lassen Sie sehen!« Es war ein Streifschuß, der allerdings eine tiefe Furche in die Haut über dem Wangenknochen gezogen hatte. »Daran werden Sie nicht sterben,« stellte Franco Solo knapp fest. »Nehmen Sie einstweilen Ihr Taschentuch, und pressen Sie’s gegen die Wunde. Ich nehme Ihre Pistole, damit nicht noch mehr Unfälle passieren!« Gewandt griff er dem Mafioso in die Tasche und zog einen Revolver heraus. »Haben Sie noch mehr von dem Zeug bei sich?« Memphis schüttelte vorsichtig den Kopf. »Na, schön!« Franco ging hinüber ins Bad und ließ eine Schüssel voll kaltes Wasser laufen. Dann trat er neben das Mädchen und neigte die Schale, so daß ein steter dünner Wasserstrahl über ihren Kopf und die Schultern plätscherte. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis sie aufwachte und hochfahren wollte. »Oh,« wimmerte sie, »mein Kopf! Was … was ist … Sie Teufel!« »Sie haben Ihren Freund beinahe erschossen,« sagte Franco. »Wenn Sie vernünftig sind, mache ich Ihnen die Fesseln los, damit Sie ihn verbinden können. Sonst verblutet er noch da drüben auf der Couch, und Sie kommen an den Galgen, FlowerBaby!« Mit schreckgeweiteten Augen sah sie zu Walter Memphis hinüber. Dann streckte sie Franco Solo zaghaft ihre Handgelenke hin. Er riß den Klebestreifen ab. 104
»Die Füße können Sie selber befreien!« Sie bückte sich vorsichtig und löste die Fessel. Noch immer trug sie nicht mehr als das durchsichtige Baby-Doll, nur war es jetzt auch noch an der Seite aufgerissen. Franco hockte sich auf die Sessellehne und ließ den Revolver spielerisch um den ausgestreckten Zeigefinger wirbeln. »Wo das Verbandszeug ist, wissen Sie ja!« Flower-Baby verschwand im Bad und kam bald darauf wieder. Jetzt hatte sie endlich einen Bademantel übergeworfen und trug die frisch gefüllte Wasserschüssel und Verbandmaterial herbei. Fürsorglich wie eine Mutter desinfizierte sie die Wunde und legte ein Verbandpäckchen darauf, das sie mit etlichen Klebestreifen befestigte. »Das genügt wohl,« meinte Franco Solo. »Wir wollen weitermachen!« »Weiter?« Walter Memphis bewegte vorsichtig den Kopf, bis er Franco Solo im Blickfeld hatte. »Was haben Sie denn noch mit uns vor? Reicht das hier nicht?« »Ich habe ja nicht geschossen,« gab Franco achselzuckend zurück. Er zog das Magazin aus dem Revolver und zählte nach. Bis auf den einen Schuß war es voll geladen. »Fangen wir mit dem gemütlichen Teil an!« Flower wurde leichenblaß. *
Als Antonelli vom Schreibtisch aufstand, weil er sich vor dem Abendessen noch den wohltätigen Händen seines Masseurs anvertrauen wollte, machte auch Florence Schluß. Sie räumte den kleinen Tisch aus poliertem Kirschholz, an dem sie ihren Teil der Arbeit erledigte, sorgsam auf, schichtete die Papiere 105
aufeinander und gab in der Telefonvermittlung Nachricht, daß sie in ihrem Apartment zu erreichen wäre. Dann fuhr sie hinauf zu ihrer eigenen, kleinen Wohnung, die sich zwischen dem Stockwerk ihres Großvaters und den Geschäftsräumen im ersten und zweiten Stock befanden. Sie schloß nachdrücklich und mit einem leichten Aufatmen die Tür hinter sich. Ihre Privatpost lag noch auf dem Tischchen in der Diele. Sie blätterte sie flüchtig durch und legte den kleinen Stapel wieder hin. Im Spiegel sah sie sich einer schlanken, jungen Frau gegenüber, die mit perfekter Frisur und vollendetem Make up zum unauffälligen Kostüm ziemlich genau dem Typ einer amerikanischen Selfmade-woman entsprach. Nur die unübersehbaren Zeichen der Ermüdung, der Abspannung nach einem langen Tag störten sie. Aber das ließ sich ändern … Als sie sich im angenehm temperierten und mit allerlei Zusätzen angereicherten Badewasser ausstreckte, wollte sie den kleinen Farbfernseher anstellen, der auf einem Hocker neben der Wanne stand. Aber da ging das Telefon. Es schnarrte oder schrillte keineswegs, sondern meldete sich mit einem Gong. Trotzdem wirkte es in diesem Augenblick störend. Florence runzelte die Stirn und überlegte, ob sie überhaupt abheben sollte. Dann, als der Gong zum viertenmal anschlug, siegte die Neugier. »Ja?« fragte sie. Es rauschte im Hörer, und aus dem Rauschen zirpten einige Freizeichen und andere Signale, die sich in die Fernverbindung geschlichen hatten. »Florence?« »Ja doch! Wer spricht?« fragte sie ungeduldig und gleichzeitig erregt, weil ihr die Stimme, die nur ihren Namen gesagt hatte, bekannt vorkam. »Franco Solo. Störe ich?« »Hm. Eigentlich nicht. Wollen Sie wieder mit mir tanzen?« »Sehr gern. Paßt es Ihnen morgen abend?« 106
»Ich glaube schon.« »Ausgezeichnet. Es kann allerdings etwas später werden.« »Warum? Von wo sprechen Sie?« »Ach – mir ist da leider eine Klientin abhanden gekommen. Jetzt sitze ich bei Walter Memphis in Newhaven.« Florence hätte sich beinahe verschluckt. »Bei … Walter Memphis?« »Ja,« sagte Franco Solo bekümmert, »seine Freundin Flower hat ihn gerade frisch verbunden, aber das alles bringt mich nicht weiter. Er sagt, er könne mir nicht helfen, Claire Laval wiederzufinden. Benito Nudo hätte die Sache in der Hand.« Die goldene Digitaluhr auf der Konsole ließ die nächste Minute aufleuchten. »Sind Sie noch da, Florence?« Sie gab sich einen Ruck und atmete tief durch. »Ja. Franco Solo – Sie sind der frechste Bursche, der mir jemals in die Quere gekommen ist. Die Sache mit der kleinen Laval stimmt übrigens, Benito hat sie. Aber wenn Sie denken, daß Sie uns mit Walter Memphis und seiner Mieze erpressen können … wieso mußte er übrigens verbunden werden? Was hat er?« »Oh, nur einen etwas tieferen Kratzer am Kopf. Nichts besonderes.« »Na, schön. Lassen Sie sich jedenfalls gesagt sein, daß Walter Memphis für uns kein Äquivalent für Claire Laval ist.« »Nein? Ich dachte, er wäre ein alter Freund Antonellis.« Florence setzte sich energisch in der Wanne auf, so daß Schaum und Wasser überschwappten. »Haben Sie eigentlich noch immer nicht begriffen, worum es in diesem Fall geht? Hat man Ihnen das nicht gesagt, Solo?« »Nun, vermutlich um Mord, wie meistens. Nur eben in 107
größerem Maßstab. Unter diesen Umständen finde ich es allerdings verständlich, daß ihr sogar euren Statthalter in Newhaven opfern wollt.« »Von Opfern kann gar keine Rede sein. Was soll das? Es gibt nur eine einzige Sache, gegen die wir das Mädchen austauschen: den Koffer. Das wissen Sie!« »Vielleicht. Vorläufig habe ich ihn noch, und ich habe ihn sicher. Ich werde mir die Sache überlegen und rufe dann wieder an. Im übrigen bleibt es doch bei morgen abend? Bye, Florence!« Er hatte aufgelegt. Florence blieb für einen Moment der Atem weg. Dann warf sie den Hörer auf die Gabel und patschte mit der freien Hand ins Wasser, daß es bis zur Decke spritzte. Dazu stieß sie einen Schrei aus, wie er zum letzten Mal gehört worden war, als man Queen Elizabeth I gewisse Einzelheiten über Maria Stuart beibrachte. Das Echo brach sich in dem gekachelten Raum, und leise klirrten die Flacons und die Gläser in ihren silbernen Halterungen. *
»Sorry,« sagte Franco Solo und warf dem Telefon einen nachdenklichen Blick zu. »Ich habe euch in New York als Tauschobjekt für Claire Laval angeboten, aber Antonelli scheint nicht interessiert. Seine hübsche Enkelin deutete an, es wäre ihnen ziemlich egal, ob ihr in diesem Fall drauf geht.« »Das ist nicht wahr!« brach es aus Walter Memphis hervor. Flower klammerte sich ängstlich an ihren alternden Freund. Die verschmierte Wimperntusche gab ihrem Gesicht ein eulenhaftes Aussehen. »Doch. So ähnlich drückte sie sich aus.« 108
»Dieses eiskalte Biest!« schluckte Flower. Franco hob die Schultern. »So geht’s nun einmal bei der Mafia zu,« sagte er. »Und Sie sind nicht einen Deut besser!« zischte Flower. »Sie wollen Wehrlose umbringen! Ich bin unschuldig! Ich habe nie etwas getan, was …« »Wer redet von Umbringen?« fragte Franco Solo freundlich. »Ich gehöre nicht zur Mafia, falls Sie das noch nicht wissen. Nur … der Dicke da hat gedroht, ich würde dieses Haus nicht lebend verlassen. Deshalb muß ich ein wenig für die Sicherheit auf meinem Heimweg sorgen. Ich hoffe sogar, es spricht sich herum, wie human und nett ich das anstelle! Bleibt sitzen, verdammt nochmal!« Flower, die aufstehen wollte, sank wieder auf die Couch zurück. Walter Memphis machte einen demoralisierten Eindruck. Beide blickten verwundert hinter Franco Solo her, der aus der Anrichte zwei große Wassergläser nahm, dann zur Hausbar ging, zwei Flaschen Champagner aus dem Kühlschrank holte und eine ganze Flasche französischen Cognac. »Es wäre natürlich einfacher, wenn ich euch beiden eins über den Schädel gäbe und die Telefon- und Alarmleitungen aus den Wänden risse. Aber irgendwie tut ihr mir leid. Ich weiß selber nicht, warum, denn in Wirklichkeit seid ihr ja zwei ganz miese Kröten.« Es knallte, als der erste Champagnerpfropfen aus der Flasche flog, und dann knallte es noch einmal beim zweiten. Auf den geöffneten Flaschen bildeten sich kleine Schaumkronen; der Champagner war gut temperiert. Franco Solo machte auch die Cognacflasche auf. »Ihr werdet jetzt ein paar ordentliche Drinks nehmen. Vielleicht macht euch das alles sogar Spaß. Abgesehen von dem Kater, den ihr morgen früh haben werdet. Aber es gibt unangenehmere Methoden, jemanden außer Gefecht zu setzen. 109
Übrigens solltet ihr während der kleinen Party nicht vergessen, daß ich einen geladenen Revolver in der Hand habe!« Er schenkte die Wassergläser zu einem Drittel voll Cognac und füllte mit Champagner auf. »Cheers!« sagte er und schob ihnen die Gläser hin. »Trinkt das aus, aber schnell!« Flowers Augen hingen gierig an dem gelbbräunlichen Drink, aber ehe sie die Hand ausstreckte, sah sie Walter Memphis fragend an. Der nickte ihr schicksalsergeben zu. Gemeinsam führten sie die Gläser zum Mund und schluckten. »Austrinken!« mahnte Franco. Flower mußte husten, aber auch sie gehorchte. Franco füllte sofort die selbe teuflische Mischung nach und nickte ihnen freundlich zu. »Ich kann nicht mehr!« stöhnte Flower. »Aber sicher kannst du!« fuhr Franco sie hart an, und so verschwand auch der Inhalt dieser beiden Gläser. In Walter Memphis Gesicht stieg heftige Röte, und Flower stieß mehrmals auf. Ungerührt schenkte Franco wieder ein. »Kann … kann ich eine Ziherette hahaben?« stotterte Flower. Franco schob ihr das Päckchen zu. Sie nahm sich eine heraus, aber mit dem Feuerzeug hatte sie schon Schwierigkeiten. Es dauerte eine Weile, bis sie Zigarette und Flamme zusammenbrachte. »Zeit, noch ein Gläschen zu trinken,« meinte Franco und machte den dritten Drink fertig. Diesmal war es schon mehr Cognac – der Champagner brauchte nur dafür zu sorgen, daß ihnen der starke Alkohol schneller ins Blut und in den Kopf ging. Walter Memphis trank einen langen Schluck. Er schien ihn schon gar nicht mehr zu spüren. »Sssolo,« sagte er mit schwerer Zunge, »eine Frage! Warum brings … bringst du uns nicht um?« Er kippte den Rest und hielt 110
Franco das Glas auffordernd, wenn auch schwankend hin. Franco goß ihm freundlich ein. Flower kippte langsam zur Seite und wollte einschlafen, aber Memphis stieß sie an. »Ich hab Sssolo was gefragt, Flower-Baby,« stammelte er. Franco betrachtete die beiden. »Es lohnt nicht,« antwortete Franco kalt. »Schaut euch doch mal im Spiegel an! Du bist sowieso schon fertig, Memphis. Wenn du zwei Treppen steigst, kriegst du kaum noch Atem. Dabei mußt du immer auf dem Posten sein, mußt den starken Mann markieren und Vitalität mimen. Du mußt in euren dreckigen Geschäft Erfolg haben, sonst sägen sie dich nämlich ab. Und was das bedeutet, kannst du dir ausrechnen. In der Familie gibt es ein paar alte Männer, Memphis – aber keine kranken und schwachen, sondern nur mächtige alte Männer. Zu denen wirst du sicher nicht gehören. Ziemlich bald wird ein Jüngerer kommen, der hier in Newhaven die erste Geige spielen möchte, und dann hast du nicht mehr lange Freude am Leben. Warum sollte ich mir die Finger schmutzig machen, Memphis?« Walter Memphis trank. Dann hielt er das Glas lange mit der Hand umkrampft, und Franco fürchtete schon, er würde es zerdrücken. Aber ganz langsam ließ er es los, und es kollerte auf den Boden. Franco wußte genau, daß Memphis es schon nicht mehr aufheben konnte, deshalb bückte er sich danach, und er schenkte es gleich noch einmal voll, diesmal fast mit purem Cognac. Die Flasche war leer. »Leer?« fragte Memphis. »Hol noch eine!« Und als Franco zur Hausbar ging, brabbelte Memphis, kaum verständlich: »Mit mir … dadas hat noch … Zeit! Sie … kommen noch nicht! Cheers!« Er trank das Glas in einem Zug halb leer, dann griff er Flower ins strähnige Blondhaar, zog ihren Kopf zurück und setzte das Glas an ihre Lippen. »Trink, Baby!« Halb bewußtlos schluckte sie. Der Cognac rann ihr aus den 111
Mundwinkeln und über das Kinn. Als sie zu würgen begann, ließ er von ihr ab. »Ich glaube sogar, sie sind schon da!« sagte Franco. »Da fummelt jemand an der Tür herum, Memphis!« Der Türgong schlug an, gleich ein paarmal. Memphis machte eine wegwerfende Handbewegung. »Stell das ab, stell alles ab!« »Wo denn?« Walter Memphis bekam die Hand mit Mühe hoch und wies auf eine übertapezierte Klappe in der Wand neben der Tür. Als Franco sie öffnete, sah er die Schalter und Kontrollampen einer ausgeklügelten Alarmanlage. Ein roter Schalter stand auf »ON«. Er legte ihn um. Augenblicklich erloschen all die bunten Lämpchen. Jetzt wurde heftig an die Tür gepocht. Memphis schüttelte den Kopf und versuchte vergeblich, die Flasche zu erwischen. Als er sich zu weit vorbeugte, kippte er um und schlug mit dem Kopf auf die gelbe Marmorplatte des Tisches. Franco ging zur Tür und zog sie auf. Vor ihm stand der Wächter, der ihm das Gitter geöffnet hatte. »Was ist denn hier los?« fragte er und schnüffelte in der alkoholgeschwängerten Atmosphäre. »Weiß auch nicht,« antwortete Franco Solo. »Plötzlich hatten sie anscheinend genug!« »Aber der Chef blutet ja!« Der Wächter trat instinktiv ein paar Schritte in den Raum hinein. Mit einer gewandten Drehung war Franco hinter ihm, er holte aus und ließ seine verschränkten Hände auf den Stiernacken des Mannes herabsausen. Der brach mit einem gurgelnden Laut zusammen und streckte sich auf dem weichen Flokati. Franco bückte sich, durchsuchte den Mann schnell und zog ihm einen großen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Die schwere Pistole ließ er ihm, ebenso den 112
Schlagring und was er sonst noch bei sich trug. Mit einem letzten, abschiednehmenden Blick ging Franco Solo zur Tür. Der Schnapsdunst fing an ihm auf den Magen zu schlagen. Angewidert wandte er sich ab und zog die Tür des Apartments hinter sich zu. Das Gitter auf halber Höhe der Treppe war geschlossen, aber Franco fand schnell den Schlüssel, der die Verriegelung öffnete. Hinter sich schloß er sie wieder, dann stieg er in den Lift und fuhr hinunter. Der alte Pförtner war in eine Rennzeitschrift vertieft und erwiderte seinen Gruß, ohne aufzublicken. An der nächsten Ecke stand ein Abfallbehälter. Franco ließ den schweren Schlüsselbund hineinfallen und machte die Klappe nachdrücklich zu. *
Das Freizeichen im Hörer tutete. Franco wartete voll Geduld. Endlich ein Knacken, und dann eine Stimme, heiser, offensichtlich verzerrt oder verstellt. »Ja? Wer spricht, bitte?« »Franco Solo.« Franco hörte am anderen Ende ein heftiges Atmen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Andere wieder sprechen konnte. »Woher haben Sie meine Nummer? Wie geht es Claire? Von wo sprechen Sie?« »Wenn ich der Reihe nach antworten darf, Mr. Laval – Ihre Nummer habe ich Claire abgeguckt, als sie unterwegs versuchte, Sie zu erreichen. Wie es Claire geht, weiß ich nicht, denn man hat sie heute mittag entführt. Und ich spreche aus einer Telefonzelle irgendwo in Connecticut.« 113
»Man hat Claire entführt?« »Ja. Mafiosi aus New York haben sie gekidnappt und wollen sie nur gegen den Koffer wieder herausgeben. Deshalb rufe ich Sie an, Mr. Laval. Das ist eine Frage, die nur Sie entscheiden können.« Laval überlegte. »Der Koffer … ist noch in Sicherheit?« »Ja, ich denke schon. Ich habe ihn versteckt. Aber die Gegenseite weiß, daß ich ihn habe. Man wird nun natürlich auf mich Jagd machen. Aber das soll nicht Ihre Sorge sein!« »Das klingt alles etwas verwirrend für mich, Monsieur Solo. Connecticut, wo ist das? Können Sie zu mir nach New York kommen? Oder kann ich Sie irgendwo treffen?« »Damit würden Sie sich selber nur in Gefahr begeben. Sagen Sie mir, ob ich den Koffer im Austausch gegen Ihre Tochter anbieten kann. Ich will dann natürlich versuchen, Claire herauszuhauen und gleichzeitig den Koffer zu retten, aber ich kann nicht für den Erfolg garantieren. Daher meine Frage.« »Monsieur Solo, das ist eine sehr schwierige Frage, wenn man die näheren Umstände nicht beurteilen kann! Ich meine, wir sollten das alles erst gründlich überlegen! Sagen Sie mir einen Treffpunkt, und ich werde versuchen, so schnell wie möglich dorthin zu kommen. Sogar bei Nacht. Wenn Sie es für nötig halten, verkleide ich mich und klebe mir einen Bart an!« »Verdammt, nein! Ich habe schon Mühe genug, unerkannt zu bleiben. Die Polizei mehrerer Bundesstaaten ist hinter mir her, dazu die Mafia – langsam reicht es mir! Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag: Überlegen Sie den Fall in Ruhe. Ich rufe Sie gegen Mitternacht wieder an!« Laval zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich um diese Zeit noch … ich müßte mich mit ein paar Leuten beraten, und ob ich die jetzt noch erreiche?« 114
»Haben Sie etwa an die große Glocke gehängt, daß Sie nach New York gekommen sind? Oder gelten Sie als offizieller Staatsbesuch?« »Nein, das nicht. Aber ich hatte mich mit zwei hiesigen Fachkollegen in Verbindung gesetzt, und als die erfuhren, in welcher Lage ich mich befinde … also, da sind immer ein paar Männer in der Nähe, die mich beschützen sollen.« »Was für Männer? Polizei?« »Nein, ich glaube nicht. Jedenfalls tragen sie keine Uniformen. Vielleicht ist es eine Spezialtruppe? Gibt es so etwas bei Ihnen?« Franco seufzte. »Ich vermute, Sie haben das FBI auf dem Hals. Dann ist es sowieso illusorisch, daß wir uns treffen. Lassen wir’s dabei, daß ich Sie um Mitternacht noch einmal anrufe. A bientôt, Monsieur Laval!« Resigniert hängte Franco ein. Von Laval hatte er erwartet, daß der sich etwas geschickter anstellen würde. FBI-Schutz ist manchmal nicht von der Hand zu weisen, aber wenn es um dunkle Geschäfte und Menschenhandel mit der Mafia geht, sollte man sich andere Bundesgenossen suchen – sofern man die ganze Sache nicht lieber allein erledigt. Von seiner Telefonzelle an der Christ Church konnte er Walter Memphis’ Haus am Broadway gegenüber sehen. Gerade, als er die Zelle verlassen wollte, kam ein schwarzer Lincoln den Broadway heruntergesaust und hielt vor Walter Memphis’ Gangsterburg. Alle Türen gingen gleichzeitig auf, und unter den vier Männern, die herausstürzten, erkannte Franco zu seiner Überraschung Benito Nudo und Tonio Sculturi. Sie überließen es dem Fahrer, die Wagentüren wieder zu schließen und sich einen geeigneten Parkplatz zu suchen, und drangen ins Haus vor. »Florence ist ein tüchtiges Mädchen,« murmelte Franco. »Ich 115
hätte nicht gedacht, daß sie so schnell schalten würde – und erst recht nicht, daß es Benito so schnell schaffen könnte. Er muß eine Privatmaschine genommen haben. Seit wann verfügt Antonelli über einen Jet?« Daß man auch kleine Jets in New York jederzeit chartern und damit von Teterboro Airport in die Luft gehen kann, vergaß Franco Solo … Lächelnd steckte er noch eine Münze in den Telefonapparat und wählte die Alarmnummer der Polizei. Als sich dort jemand meldete, sagte er: »Einbruch mit Überfall, Broadway 117 bei Walter Memphis, oben in der Privatwohnung. Dringend! Zu den Tätern gehört ein schwarzer Lincoln, der vor dem Haus 115 parkt. Der Fahrer sitzt noch drin! Beeilt euch!« Damit hängte er wieder ein. Er trat aus der Zelle und spazierte den Broadway hinunter zu dem Coffee Shop, in dem er schon auf den richtigen Moment gewartet hatte, Walter Memphis aufs Kreuz zu legen. Jetzt schien er in der Tat gekommen … *
Die Bedienung schob ihm das Tablett mit Kaffee und Sahne und Zucker hin und kassierte gleich. Franco hatte seinen Fensterplatz wieder bekommen und damit einen schönen Ausblick auf das Bürohaus gegenüber. Er brauchte auch nicht lange zu warten, daß Leben in die Szene kommen würde … Anscheinend hatte man bei der Polizei seinen Anruf ernstgenommen, oder man wartete auch nur auf einen guten Vorwand, beim Boß der Mafia von Newhaven einmal hereinzuschauen. Jedenfalls kamen die Streifenwagen von beiden Seiten den Broadway heruntergeschossen, mit zuckendem Rotlicht und jaulenden Sirenen, als gelte es, ein Volksfest zu eröffnen. Mit kreischenden Reifen bogen sie vor 116
117 auf den Bürgersteig ein und rangierten vor den Hauseingang. Polizisten und Beamte in Zivil, aber alle mit gezogenen Pistolen, sprangen heraus und ins Haus hinein. »Heaven, was ist denn da drüben los?« wunderte sich das Coffee-Girl. »Wissen Sie nicht, wer da wohnt?« fragte Franco anzüglich zurück. Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Niemand besonderes, glaube ich. Einer kommt immer mit so einem langen europäischen Schlitten an, und der alte Heintz soll es mit minderjährigen Mädchen treiben. Aber deshalb kommt doch nicht gleich die Polizei mit Rotlicht und Sirene!« »Deshalb sicher nicht,« stimmte Franco zu. Er rückte noch näher ans Fenster, damit er hinauf bis zum Penthouse blicken konnte. Und dann ging auch schon das Schauspiel los: Oben zerbarst eine der großen Panoramascheiben. Die Splitter regneten bis auf die Straße herab. Zwei, drei Schüsse knallten. Noch eine Scheibe ging zu Bruch. Franco sah, wie sich eine Balkontür öffnete. Vorsichtig drückte sich eine dunkle Gestalt, in der er Tonio Sculturi zu erkennen glaubte, heraus. Er hastete am Balkongitter entlang, schwang sich da, wo das Dach zu Ende war, hinüber und balancierte auf der breiten Dachabdeckung nach hinten, wo er wohl eine Feuerleiter vermutete. Von links kam noch ein Streifenwagen und stellte sich vor dem Lincoln quer. Zwei Polizisten stiegen aus und schlenderten von beiden Seiten zu dem Lincoln. Während sich der eine mit der Dienstpistole in der Faust durchs offene Beifahrerfenster lehnte, klopfte der andere höflich an die Fahrertür, dann trat er zurück. Zögernd wurde die Tür von innen auf gestoßen. Ein Mann stieg aus, die Hände in Schulterhöhe gehoben. »Das muß ich mir mal näher ansehen,« sagte Franco, stand auf und ging hinaus. Im Augenblick schien es nicht ratsam, das Haus no. 117 zu betreten, aber er kam ungehindert über die Straße und in das Nachbarhaus hinein. Dort ging er durch die 117
Halle, in der glücklicherweise der Pförtner fehlte. Er fand einen rückwärtigen Ausgang, der auf einen Garagenhof führte, die Tür war offen, und er konnte den Hof betreten. Als er nach oben blickte, erkannte er die Gestalt, die silhouettengleich mit der Feuertreppe von no. 117 verschmolz und vorsichtig abwärts strebte. An der Mauer standen die üblichen Mülltonnen. Katzenartig sprang Franco darauf, griff nach der Mauerkante, fand sie ohne die häßlichen einzementierten Glassplitter und konnte sich hochziehen. Er verzichtete darauf, in den Hof hinunterzuspringen, und sah Tonio Sculturi zu, wie der sich langsam abwärtshangelte. Der helle Abendhimmel gab genügend Licht, um jede seiner Bewegungen kontrollieren zu können. Als Sculturi noch etwa zwei Yards über ihm war, rief ihn Franco Solo an: »Hey, Sculturi!« Augenblicklich erstarrte der Kletterer. »Ich sitze hier auf der Mauer. Franco Solo.« Sculturi sah über die Schulter schräg zu ihm herunter. »Ich habe Walter Memphis’ Revolver in der Hand, Sculturi. Mit seinen original Fingerabdrücken auf jeder Patrone. Wenn ich Sie da jetzt herunterhole, wird jeder Sachverständige beschwören, daß Memphis Sie abgeknallt hat.« »Dann tun Sie’s doch!« zischte Sculturi. »Nein. Ich habe noch etwas anderes mit Ihnen vor, Sculturi. Springen Sie hier auf die Mauer. Wenn sich die Aufregung ein bißchen gelegt hat, können wir durch das Nebenhaus entkommen. Los!« Sculturi zögerte. Da knallte es hoch über ihnen noch einmal, und ein Schrei, der nur langsam verebbte, füllte den engen Schacht zwischen den Häusern. »Achtung! Ich komme!« 118
Sculturi hangelte sich aus dem runden Schutzgeländer der Feuerleiter heraus. Einen Augenblick stand er frei, dann sprang er. Leider hatte er seinen Sprung in der Dunkelheit schlecht bemessen. Er kam nur mit einem Fuß auf, rutschte ab und prallte mit dem Bauch auf die Mauerkante. Franco griff zu, erwischte ihn am Arm und zog ihn mit Schwung zu sich hoch. Aber Sculturi war alles andere als ein Akrobat. Er schwankte, strauchelte und wollte sich an Franco Solo festkrallen. »Da hinunter! Spring!« sagte Franco und gab ihm einen Stoß vor die Brust. Sculturi drehte sich um sich selbst und warf die Arme in die Luft. Schon im Sturz stieß er sich ab und sprang. Er kam unten im Hof auf, riß aber eine der Mülltonnen mit sich, die scheppernd über den Betonboden rollte. »Idiot!« zischte Franco und duckte sich. Er federte von der Mauer. Als er sich unten aus der Hocke erhob, hatte er Sculturi am Kragen. »Schnell! Du hast ja die ganze Gegend aufgeweckt!« schimpfte er. Sculturi konnte gar nicht so flink die Beine voreinandersetzen, wie ihn Franco über den Hof und ins Haus hinein zog. Da war eine Tür, die wohl zum Heizungskeller führte, und sie war offen. Warme Luft und Öldunst waberte ihnen entgegen, als sie hintereinander die Steinstufen hinabrannten. Franco sah zur Linken eine Nische, in der die Sicherungskästen und Stromzähler für das ganze Haus untergebracht waren, und zog Tonio Sculturi hinein. »Von hier aus können wir’s wenigstens dunkel machen, wenn uns jemand aufstöbert,« meinte er befriedigt. »Mann, Solo … ich kann nicht mehr!« stöhnte Sculturi. »Mein Fuß! Ich glaube, ich hab mir den Knöchel gebrochen!« »Quatsch! Dann hättest du viel lauter gebrüllt! Erzähle! Wie war’s da oben?« Sculturi starrte ihn an. Langsam ging ihm ein Licht auf. 119
»Ha … haben wir dir den ganzen Schlamassel zu verdanken, Solo?« »Du sollst erzählen! Ihr seid mit einem Flugzeug gekommen?« Sculturi nickte. »Florence hat uns verdammt viel Dampf unter den Hintern gemacht. So schnell bin ich noch nie aus N’York weggekommen. Hier wartete schon der Wagen, und wir kamen glatt bis oben vor die Tür.« »Dafür hatte ich gesorgt,« gab Franco zu. »Weiter!« »Aber dann fing der Mist schon an zu stinken. Keiner machte auf, und Benito ließ die beiden anderen die Tür aufbrechen. Im Zimmer lagen Memphis und sein Girl und sein Leibwächter herum, ohne einen Muckser, und wir dachten schon, sie wären alle tot, als die Bullen aufkreuzten. Natürlich sah die aufgebrochene Tür nicht gut aus, aber was noch viel schlimmer war – Benito verlor die Nerven und fing eine Schießerei an.« »Darauf hatte ich gehofft!« grinste Franco. Sculturi riß die Augen auf. »So? Na, ich hab mich verdrückt, so lange es noch ging. Und dann bin ich dir in die Arme gelaufen! Muß ein Unglückstag sein, heute.« »Ganz im Gegenteil, Sculturi. Eure Maschine wartet noch auf dem Flugplatz?« »Natürlich.« »Du nimmst dir jetzt ein Taxi und fährst hinaus. Dann fliegst du nach New York zurück und gehst zu Antonelli.« »Muß das sein?« Sculturis Stimme war auf einmal belegt. »Ja. Es sei denn, du willst freiwillig deinem Freund Benito und den beiden Gun-Men Gesellschaft in der Zelle leisten.« Sculturi schüttelte sich. »Dann schon lieber Antonelli. Aber du hast doch dabei noch 120
etwas in der Hinterhand, Solo?« »Natürlich. Du richtest ihm etwas von mir aus.« »Schieß los!« »Sag ihm, er kann den Koffer haben. Im Austausch gegen Claire Laval. Ich rufe ihn morgen früh um sieben Uhr an, und dann können wir die Einzelheiten der Übergabe vereinbaren.« »Aha? Und … wenn der Boß nun nicht will?« »Wart’s ab! Du sagst ihm außerdem, daß er gut daran tut, auf den Handel einzugehen. Ich habe nämlich den Koffer, und er weiß, was für eine höllische Waffe darin ist. Geht er um sieben Uhr nicht auf meine Vorschläge ein, dann läuft er ab acht Uhr in jeder Minute Gefahr, daß ich ihn mit dem Ding in die Luft blase und in seine sämtlichen Atome zerlege. Kannst du das behalten, Sculturi?« Sculturi nickte, tief beeindruckt. »Gut. Dann wartest du jetzt hier. Ich schaue vorn einmal nach, ob die Luft langsam wieder rein ist, und besorge dir ein Taxi.« »Wir … wir haben doch noch den Lincoln!« »Das bildest du dir aber auch nur ein. Den Wagen samt Fahrer hat die Polizei inzwischen einkassiert. Also warte hier!« *
Als die roten Rücklichter des Taxis, das Tonio Sculturi zum Flugplatz brachte, am Ende des Broadways von Newhaven verschwanden, atmete Franco Solo auf. Nichts auf der breiten Straße deutete darauf hin, daß die Polizei hier einen recht wirkungsvollen Schlag gegen einige Mafiosi geführt hatte. Franco spazierte ein wenig herum und vergewisserte sich, daß er weder beobachtet noch verfolgt wurde. Dann schlug er die 121
Richtung zu seinem Hotel ein, wo man ihn als Mr. Rutherford kannte und in Zimmer 278 der Koffer stand, um den sich alles in diesem Fall drehte. Der Clerk händigte ihm den Schlüssel aus. »Post für mich gekommen?« fragte Franco wie ein Handelsreisender. Der Clerk griff ins Fach und gab ihm ein paar Umschläge, die lediglich Prospekte und Anpreisungen der lokalen Geschäfte und Vergnügungsstätten enthielten. Trotzdem nahm sie Franco dankend entgegen und steckte sie in die Rocktasche. In seinem Zimmer lag der Umschlag mit dem Schrankschlüssel noch so, wie er ihn zurückgelassen hatte, und im Schrank stand der Koffer unberührt. Franco bestellte sich eine halbe Flasche kalifornischen Rosé und ein Mineralwasser und wartete, bis das Zimmermädchen beides gebracht hatte. Dann wählte er die Nummer, unter der Laval in New York zu erreichen war, unbekümmert darum, daß es längst noch nicht Mitternacht war. »Ja?« kam es zögernd aus dem Hörer. »Monsieur Laval?« »Ja, sicher. Sie wollten mich um Mitternacht anrufen?« »Eigentlich schon. Aber die Dinge sind schneller in Fluß geraten als ich dachte. Wollen Sie mich immer noch treffen? Im Augenblick wäre wenig Gefahr!« »Ich … das kommt etwas überraschend, Monsieur Solo. Wir sind noch, wir beraten gerade noch über den Fall!« »Sie und Ihre FBI-Freunde, nicht wahr?« »Ja, so ist es. Moment – hier möchte Sie einer der Herren sprechen!« Stirnrunzelnd hörte Franco, wie in New York der Telefonhörer wechselte, und eine harte, abgehackt sprechende Stimme sagte unvermittelt: 122
»Solo, geben Sie Ihr Spiel auf! Das ist ein Befehl, verstehen Sie?« Franco blieb ein paar Sekunden still. Dann fragte er vorsichtig: »Bitte – wer spricht denn da überhaupt?« »Cobson, FBI. Sie machen sich strafbar, Solo, wenn Sie sich weiter in unsere Sache einmischen. Ich gebe Ihnen den guten Rat: Bringen Sie den Koffer her, und überlassen Sie uns den Rest. Wir sind für so etwas da.« »Das merkt ihr aber verdammt spät,« stellte Franco trocken fest. »Aber ich will gern mit mir über den Koffer reden lassen. In dem Moment, wo Sie mir Claire Laval lebend bringen, können Sie ihn haben!« Der FBI-Mann schnaubte wütend. »Vergessen Sie nicht, Solo, daß Ihnen das Girl abhanden gekommen ist! Nicht uns!« »Weil sich Ihre hiesigen Kollegen von der Polizei vor den Wagen der Mafia spannen ließen,« gab Franco Solo wirkungsvoll zurück. Jetzt war es an Cobson, einen Moment still zu sein und Atem zu holen. »Solo – das alles ist jetzt keine Privatsache mehr,« begann er aufs neue, diesmal in beschwörendem Ton. »Kidnapping fällt einwandfrei in die FBI-Zuständigkeit. Wir verfolgen die Sache auf höchste Weisung!« »Dann verfolgt mal schön und grüßt mir den Präsidenten! Kann ich nochmal mit Laval sprechen?« »Nein!« »Sehen Sie, Cobson,« sagte Franco Solo milde, »das ist es, warum ich mich so ungern mit Leuten eures Schlages einlasse und lieber allein arbeite. Ich habe es nicht gern, wenn man unfreundlich zu mir ist. Bye, G-Man!« Er legte auf, ehe die Gegenseite auf den Gedanken kommen konnte, den Weg des Telefongesprächs mit Erfolg 123
zurückzugehen. Dann schenkte er sich sein Glas halb und halb voll und trank einen Schluck, den er zwischen Zunge und Gaumen genießerisch kostete. Für ein kalifornisches Gewächs war er nicht übel, eigentlich sogar recht freundlich. Trotzdem wurde Franco Solo nicht gerade von Frohsinn übermannt, als er seine Lage überdachte. Wie so oft schon stand er wieder einmal ganz allein. Die örtliche Polizei würde ihm nicht glauben, daß er ihnen drei gesuchte Mafiosi ans Messer geliefert hatte, und wenn sie es glaubte, würde sie darauf pfeifen. Mit dem FBI hatte er es auch wieder einmal verdorben. Und gegenüber seinen Feinden hatte er zwar ein wertvolles Pfand, aber den Koffer mußte er herausgeben, wenn er Claire Lavals Leben retten wollte. Er drehte sich auf seinem Sessel herum und blickte in den Spiegel an der Wand. »Das ist die alte Frage,« sagte er zu sich selbst, »ob man nämlich einen Menschen opfern soll, um eine Waffe, mit der Hunderte getötet werden können, nicht in die Hände der Gegenseite fallen zu lassen. Ich möchte wissen, was einerseits ein General, andererseits vielleicht ein Bischof und drittens der Mann dazu sagen würde, der dieses Mädchen gern hat.« Er nahm sein Glas und stand auf. Immer noch dem Spiegel und damit seinem Ebenbild zugewandt, fuhr er fort: »Dem General wäre wahrscheinlich die Waffe wichtiger, denn auf diese Art werden Kriege geführt und Siege erhofft. Der Bischof … was würde der Bischof sagen? Verdammt, ich kenne keinen Bischof. Pfarrer Clemens in Santa Anna würde vermutlich den Koffer ausliefern und alle Strafen des Himmels und der Hölle auf dem Empfänger herabwünschen, in gehöriger Lautstärke und mit Worten, die sogar schon echte Mafiosi haben in sich gehen lassen!« Er trank noch einen Schluck und zwinkerte sich zu. »Und der Mann, der Claire so gut leiden mag? Was macht der?« Franco trank das Glas leer und stellte es auf den Tisch. »Er versucht, die Burschen trotz allem übers Ohr zu hauen. Und 124
wenn das Ohr dabei zum Teufel geht, ist es ihm auch egal,« murmelte er. Er zog sich aus, stellte den Wecker seiner Armbanduhr, verschloß die Tür, sprang ins Bett und zog die leichte Decke über sich. »Bitte anschnallen, nicht mehr rauchen und die Rückenlehne Ihrer Sitze wieder senkrecht stellen. Der Pilot wird versuchen zu landen,« sagte er und grinste sich in den Schlaf. *
Präzise um sieben Uhr in der Frühe ließ Franco Solo das Telefon bei Antonelli läuten. Schon nach dem ersten Klingeln hatte er den alten Mafia-Boß am Draht. »Solo,« sagte Antonelli mit gefährlich leiser Stimme, »allein die Stunde, zu der Sie anrufen, ist eine Unverschämtheit.« »Early to bed and early to rise makes a man healthy, wealthy and wise!« zitierte Franco ungerührt aus den weichen Kissen seines Hotelbetts heraus. Er meinte fast zu hören, wie Antonelli vor Zorn sprühte. »Ich bin healthy, wealthy und wise genug, um mir solche verdammten Sprüche von Ihnen zu verbitten!« schrie Antonelli. »Entschuldigen Sie, Antonelli,« gab Franco bei. »Ich dachte, es eilt. Hat Ihnen Sculturi meine Botschaft ausgerichtet?« Antonellis wütendes Schnaufen ließ ihn mit Recht befürchten, daß er damit nur neues Öl ins Feuer gegossen hatte. »Diesen Sculturi beschäftigen Sie wohl neuerdings als Ihren Hofnarren, Solo? Ja – er hat’s mir erzählt.« »Lebt er noch?« fragte Franco trocken. »Quatsch! Warum sollte er nicht mehr leben? Hören Sie zu, Solo: Ich bin mit dem Vorschlag einverstanden. Sie bringen den 125
Koffer und kriegen das Mädchen.« »In Ordnung. Bis auf die Reihenfolge: erst Claire, dann den Koffer. Etwas anderes erlauben meine Grundsätze für Geschäfte mit der Familie leider nicht.« »Und ich lasse mir nicht von Ihnen vorschreiben, wie ich auf Erpressungen reagiere!« »Wer hier wen erpreßt, dürfte wohl noch die Frage sein. Lassen Sie mich einen Vorschlag machen, Antonelli!« »Vorschläge können Sie mir stundenlang machen!« »Wenn Sie den Highway 95 nach Newhaven nehmen, kommen Sie etwa fünf Meilen vor der Stadt an einer Farm vorbei, die links vom Highway liegt. Sie wird offenbar nicht mehr bewirtschaftet. Von dieser Farm führt ein landwirtschaftlicher Weg nach Nordosten. Unter einer großen, alten Eibe kreuzt er sich mit einem anderen Weg. Das Gelände ist meilenweit gut einzusehen. Ich werde unter der alten Eibe sitzen, mit dem Koffer. Sie oder einer Ihrer Leute kommt mit Claire von der Farm her. Dann tauschen wir aus. Da ich zu Fuß sein werde, haben Sie mit dem Koffer vom Farmhaus einen guten Vorsprung.« »Wieso sind Sie zu Fuß?« »Weil ich mich von einem Taxi hinbringen lasse, Antonelli. Der Soft-Eis-Wagen wird immer noch gesucht. Ich habe keine Lust, mir für das Geschäft einen neuen Wagen zu kaufen, und ein gestohlener bedeutet zuviel Risiko. Außerdem will ich Ihnen beweisen, daß ich Ihnen mit den Bedingungen des Handels entgegenkomme.« »Und wie wollen Sie mit dem Mädchen da wieder fortkommen?« »Ich hoffe, Sie bestellen uns ein Taxi, wenn Sie weit genug weg sind.« »Haha! Halten Sie mich für einen englischen Sportsman?« 126
»Sie sind ein Gangster, Antonelli. Aber der Teufel mag wissen, wieso ich für Sie immer noch einen Rest von Vertrauen in Ihre Gaunerehre habe!« »Das war hart, Solo. Aber ich schluck’s. Ihr Plan scheint vernünftig. Wann soll das alles stattfinden?« »High noon. Punkt zwölf heute mittag.« »Warum nicht früher? Wir wollen mit dem Ding immerhin noch bis nach Washington, und das Patentamt macht um halb fünf zu.« »Gut. Wann also?« »Gleich. Sagen wir um zehn?« »Einverstanden. So long, Antonelli!« »Ja. Bis nachher!« *
Da er das Telephon einmal zur Hand hatte, bestellte sich Franco Solo auch gleich ein üppiges Frühstück aufs Zimmer und rief den Flughafen an, um sich einen kleinen Hubschrauber als Lufttaxi zu reservieren. Der letzte Anruf, den er vorhatte, mußte zeitlich anders placiert werden. Er warf die Decke von sich und ging ins Bad. Als er frisch und angekleidet wieder herauskam, klopfte es auch schon an die Tür, und das Frühstück kam. Das Zimmermädchen schleppte ein umfängliches Tablett ins Zimmer und begann auf dem Tisch aufzubauen, was Franco in richtiger Einschätzung seines Appetits und der schlechten Aussichten auf die nächste Mahlzeit bestellt hatte: Fruchtsaft in einer großen Glaskaraffe und eine Kanne Kaffee, auf einem Rechaud eine Silberplatte mit Ham and eggs und gegrillten Würstchen, Blätterteigbrötchen mit Butter und Ahornsirup, Cottage cheese und geräucherten 127
Thunfisch. »War’s das?« fragte das kesse Girl und sortierte die nötigen Bestecke dazu. »Das kann ich erst sagen, wenn ich damit fertig bin. Eventuell muß ich Sie dann noch einmal bemühen,« gab Franco ebenso zurück. Sie glitzerte ihn an. »Tun Sie das, Sir. Es freut uns immer, wenn ein Gast die vielfältigen Möglichkeiten unseres Hauses in Anspruch nimmt!« Mit einem sehr europäisch wirkenden Knicks wollte sie sich verabschieden. »Moment mal,« stoppte Franco sie, »das bringt mich auf eine Idee! Könnte ich wohl eine Zeitung haben? Von heute früh, hier aus Newhaven?« »Andere gibt es bei uns gar nicht. Ich bring sie!« Wie ein Wirbelwind war sie gleich wieder da. »Stehen hübsche Sachen drin!« pries sie das Presseprodukt und fuhr zum Zimmer hinaus wie die Hexe auf dem Besen. Franco faltete die Zeitung auseinander. Er brauchte nicht lange zu suchen, bis er den Artikel fand, der ihn vor allen anderen interessierte. Während er seine Ham and eggs verspeiste, las er den vierspaltig aufgemachten Bericht über den dreisten Überfall auf Walter B. Memphis, den ehrenwerten Getreidehändler vom Newhaven-Broadway. Die ganze Schuld lag, wenn man dieser Zeitung glauben konnte, bei den üblen New Yorker Gangstern, die angeblich Walter Memphis sogar mit einem Streifschuß am Kopf verletzt und bei ihm wie bei seiner Sekretärin eine tiefe Bewußtlosigkeit bewirkt hatten. Der Reporter ließ gegen Ende seines rührenden Berichts durchblicken, daß wohl Konkurrenzneid New Yorker Geschäftspartner bei der Sache eine Rolle gespielt habe. Er lobte die örtliche Polizei, die aufgrund ihrer stets aktuellen und zuverlässigen Informationen das Schlimmste hatte verhindern können. Schmunzelnd legte Franco Solo die Zeitung weg und widmete 128
sich der zweiten Hälfte seines Frühstücks. Genau so einen Bericht hatte er erwartet … Er blickte auf die Uhr. Es wurde Zeit für den letzten Anruf, für die genaue Inszenierung des vorletzten Akts. Als er Lavals Nummer gewählt hatte, dauerte es eine ganze Weile, bis der Franzose an den Apparat kam. Zur Begrüßung gähnte er laut. Er schien noch geschlafen zu haben. »Sie schon wieder?« fragte er, offensichtlich ganz im Banne seiner Umgebung. »Natürlich,« gab Franco patzig zurück. »Einer muß ja die Arbeit tun, während Sie im Schoß des FBI des süßen Schlummers pflegen. Geben Sie mir mal Cobson!« Franco hörte, wie Laval mit dem FBI-Beamten leise sprach, dann meldete sich Cobson. »Haben Sie sich die Sache überlegt, Solo?« »Ich tue nichts anderes, als über Ihre Probleme nachzudenken. Sie können sich den Koffer holen, Cobson. Wenn Sie sich genau an meine Anweisungen halten – Sie brauchen ja niemandem zu verraten, daß sie von mir kommen – dann kann nichts schiefgehen.« »Ihre Anweisungen, Solo?« »Ja, denn dies ist mein Spiel. Ich schaffe bei der Gelegenheit Claire Laval wieder herbei, und ihr kriegt den verdammten Koffer.« Cobson überlegte nur kurz. »Schießen Sie los!« »Sperren Sie den Highway 95 ab 10.15 Uhr auf halbem Weg zwischen Bridgeport und Newhaven sowie im Norden am Abzweig nach Waterbury. Desgleichen die westlich davon verlaufende Straße auf gleicher Höhe und die Nebenstraßen, die in das dadurch bestimmte Gebiet hineinführen. Vermutlich in Richtung New York, aber vielleicht auch mit Ziel Hartford oder 129
Albany wird ein Wagen mit New Yorker Kennzeichen den Koffer an Bord haben.« Cobson schien eine Karte zur Hand zu haben, denn Franco hörte, wie er die Angaben langsam wiederholte. »Sollen wir nicht gleich auch noch Kanada den Krieg erklären und die Grenze nach Mexiko schließen?« fragte Cobson sarkastisch zurück. »Wissen Sie, wie viele Straßen das sind?« »Sieben.« »Und wieviel Uhr es jetzt ist?« »Achtuhrachtundfünfzig. Wenn Sie noch lange herumreden, wird es Achtuhrneunundfünfzig. Ich denke, der FBI kann alles?« »Natürlich. Nur nicht so schnell!« »Unsinn! Es gibt überall lokale Polizei, der gegenüber Sie weisungsberechtigt sind. Eine Beschreibung des Koffers und seines Inhalts haben sie innerhalb von fünf Minuten über das Telexnetz durchgegeben. Heaven, muß ich Ihnen erst Ihr Handwerk beibringen?« »Das wäre nicht schlecht, wenn Sie etwas davon verstünden. 10.15 sagten Sie?« »Ja. Und keine Minute früher in Erscheinung treten, sonst können Sie gleich den Grabstein für Claire Laval mitbringen!« »Ich möchte gar zu gern wissen, was für eine Teufelei Sie da in Szene gesetzt haben, Solo!« »Das erzähle ich Ihnen hinterher. Kann ich mich auf Sie verlassen?« »Sie können, Freundchen. Wir vom FBI sind ja verpflichtet, allen Schwachen und Bedrängten zu Hilfe zu eilen. Sehen wir uns?« »Vielleicht. An sich sollte Ihnen der Anblick des Koffers genügen.« 130
»Dieser verdammte Koffer macht mich langsam rasend. Na, schön. Bis später dann!« Franco legte auf, nahm den Koffer aus dem Schrank, fuhr mit dem Lift hinunter und gab seinen Schlüssel ab. »Sie bleiben noch, Sir?« »Das läßt sich noch nicht sagen. Auf jeden Fall ist das Zimmer ja bezahlt, nicht wahr?« »Selbstverständlich, Sir!« nickte der Clerk. »Darf ich Ihnen ein Taxi rufen?« »Ja, bitte!« Franco trug den Koffer durch die Halle und hinaus in den Sonnenschein. Ein Yellow Cab fuhr vor. »Na, wohin?« fragte der Fahrer in seiner menschenfreundlichen Art. »Ich wette, zum Bahnhof!« »Verloren,« sagte Franco und stellte den Koffer auf den Rücksitz, »ich muß zum Flugplatz!« »Aha? Zu welchem Abflug denn?« »Lufttaxi. Hubschrauberlandeplatz.« * Der Hubschrauberpilot war ein junger und unternehmungslustig wirkender Bursche, der auflebte, als er etwas anderes zu ahnen begann als einen der üblichen Zubringerflüge nach Hartford oder New York. Er breitete eine genaue Karte des Gebiets aus und strich sie glatt. »Wohin soll’s gehen? Hundert Meilen im Umkreis kenne ich mich ganz gut aus, was Landemöglichkeiten auf freiem Feld oder in den Vorgärten netter Mädchen betrifft!« Franco Solo tippte auf die Stelle, die er für sein Unternehmen ausgesucht hatte. 131
»Hierhin.« »Melrose Farm? Da wohnt aber niemand mehr.« »Umso besser. Außerdem will ich nicht auf die Farm, sondern eine Meile nördlich davon. Da steht eine alte Eibe mitten im Feld …« »Darf ich Sie daneben absetzen? Oder muß es direkt auf dem Baum sein?« Der Junge grinste. »Daneben genügt. Wie lange können Sie mit Ihrer Tankfüllung in der Luft bleiben?« »Wenn ich Sie dahingeflogen habe, noch eine gute Stunde. Warum?« »Ich möchte, daß Sie mich absetzen und dann in einiger Entfernung zu meiner Verfügung bleiben. Ich muß eventuell ziemlich schnell abgeholt werden, zusammen mit einer jungen Dame, die ich da erwarte.« In den Augen des Piloten glomm Mißtrauen auf. »Die Sache ist doch sauber?« fragte er vorsichtig. »Ich meine, weil das eine etwas ungewöhnliche Art zu reisen ist.« »Vollkommen sauber,« bestätigte Franco Solo. »Möglicherweise bekommen Sie hinterher noch eine Belobigung vom FBI oder vom französischen Botschafter oder vom Gouverneur. Versprechen kann ich das allerdings nicht, weil ich mit den Leuten nur sehr locker zusammenhänge. Haben Sie eine Leuchtpistole an Bord?« »Nein. Aber ich kann mir eine ausleihen. Was wollen Sie schießen?« »Na, Kaninchen bestimmt nicht.« »Ich meine, welche Farbe? Ich muß ja auch die Munition dazu holen. Falls Sie mich damit herbeiholen wollen, würde ich rote Leuchtkugeln besorgen. Es wird diesig werden.« »Einverstanden. Beschaffen Sie mir so ein Ding und ein paar rote Kugeln. Wo steht Ihre Mühle?« 132
»Da drüben, der Bell. Gehen Sie schon hin, ich komme nach!« Der junge Mann steckte den Scheck in die Brusttasche seines Overalls. Franco nahm den Koffer auf und hing hinaus auf die Betonpiste. Vom Sound her wehte eine frische Brise, aber wenn der Pilot recht hatte, würde sie gegen Mittag einschlafen. Ein Privat-Jet schwebte ein und landete. Vor dem Abfertigungsgebäude ließ eine alte Fokker Friendship ihre Propeller kreisen. »So, hier hab ich das Ding. Können Sie damit umgehen?« Franco Solo nahm die Leuchtpistole entgegen. »Sicher. Nehmen Sie den Koffer?« Der Pilot verstaute den Koffer hinter den Sitzen. »Zerbrechlich?« »Nein. Höchstens ein bißchen stoßempfindlich.« »Dann schnalle ich ihn lieber fest. Sie können von der anderen Seite einsteigen!« Als sie nebeneinander im Cockpit saßen, ließ der Pilot den Motor an, und nachdem er die Warmlaufzeit nach der Uhr kontrolliert hatte, schaltete er den Rotor zu. Über ihnen begannen die langen Blätter zu kreisen und zu flappen. »Wir werden ungefähr um zehn vor zehn dort sein. Reicht das?« »Das kommt genau hin. Sie steigen dann sofort wieder auf und schweben ein paar Meilen weit weg. Sie können ja über irgendeiner Kreuzung Verkehrsüberwachung spielen! Kriegen Sie übrigens den Polizeifunk mit Ihrem Gerät?« Wieder musterte ihn der junge Mann prüfend. »Hm … wenn Sie’s nicht weitersagen: ja. Welchen Kanal brauchen Sie denn?« »Keine Ahnung. Ich habe mir ein paar Straßensperren bestellt. Dafür werden die wohl eine andere Welle benutzen als für die 133
Routinemeldungen.« »425 vermutlich. Im Augenblick brauche ich den Funk aber noch für den Tower.« »Ich habe Zeit.« Der Pilot meldete sich bei der Airport Control und gab seine Absicht bekannt, zu starten. Die Freigabe kam, nachdem ein Tankwagen vom Vorfeld gescheucht worden war. Der Rotor begann zu donnern. Das Vibrieren nahm zu, und dann ging der Hubschrauber wie ein Fahrstuhl in die Höhe. »Ich fliege hintenrum,« erklärte der Junge am Knüppel. »Über der City ist Sperrgebiet, und zum Sound hin gibt’s zu viele Böen.« Der Hubschrauber neigte sich und gewann an horizontaler Geschwindigkeit. Sie überflogen den Highway, auf dem die Autos wie kleine, schwarze Insekten einherkrochen. Ob auch schon Polizeistreifen unterwegs waren, konnte Franco Solo nicht entscheiden – zumindest fuhren sie ohne Rotlicht und als privat getarnte Fahrzeuge. »Mich geht’s ja nichts an,« meinte der Pilot plötzlich. »Aber wenn ich Ihnen noch irgendwie helfen kann, würde ich’s tun. Falls Sie mir ein bißchen mehr über diesen merkwürdigen Auftrag erzählen könnten!« Die Wißbegier stand ihm in den Augen geschrieben, Franco konnte ihn gut verstehen. »Da ist nicht viel zu berichten. Ich bin bei der alten Eibe mit jemandem verabredet, der mir eine junge Dame zuführt. Die nehme ich mit zurück, und dafür lasse ich diesen Koffer da. Eine Art … Tauschgeschäft!« »Aha? Und das muß … bei der alten Eibe auf der Melrose Farm stattfinden?« Die Ironie in den Worten des Piloten war nicht zu überhören. »Sicher, mein Junge. Meine Geschäftspartner und ich … wir trauen uns nicht besonders und möchten gewiß sein, daß keiner 134
gegen die Verabredung eine Kompanie der Nationalgarde oder eine geladene Kanone mitbringt.« »So etwas hab ich mal im Fernsehen gesehen. Aber da war das ein Krimi, ich glaube sogar, mit der Mafia im Hintergrund.« Franco Solo wiegte den Kopf. »Das Fernsehen,« sagte er. »Die lassen sich die unglaublichsten Sachen einfallen! Ist das da vorn schon die Melrose Farm?« »Ja. Und da ist auch Ihre Rendezvous-Eibe. Ich gehe hinunter!« Die Zweige des mächtigen, alten Baums rauschten auf, als der Rotorwind sie peitschte, und vom Boden erhob sich eine Staubwolke. Der Helikopter setzte sanft auf. »Denken Sie dran, daß ich nur eine Stunde Reserve habe. Wenn es länger dauert, muß ich irgendwohin und nachtanken.« »Es wird schnell gehen.« »Und wenn Sie mich holen, schießen Sie senkrecht nach oben. Ich werde nördlich von hier kreisen. Darf man mich von hier aus sehen?« »Das wird nicht zu umgehen sein. Geben Sie mir den Koffer!« Der Pilot reichte den Koffer heraus und warf Franco Solo die Leuchtpistole nach. Dann knallte er die Kabinentür zu und stieg in einem noch mächtigeren Staubwirbel wieder hoch. »Verdammter Dreckspatz!« schimpfte Franco und rieb sich den Staub aus den Augen. Der Wind trieb die gelbbraune Wolke aus Sand und vertrockneter Ackerkrume davon. Weit und breit war noch niemand zu sehen, und auch bei der Farm rührte sich nichts. Franco Solo ging die paar Schritte zur Wegkreuzung, die von der Eibe beschattet wurde, stellte den Koffer ab und setzte sich ins Gras, mit Blick zur Farm hinüber. Die Uhr zeigte acht Minuten vor zehn …
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*
Um Zehnuhrdrei erschien ein Wagen zwischen den Gebäuden der verlassenen Farm und rollte langsam auf den Feldweg, der zu Franco Solos Stellung führte. Franco stand auf, damit man ihn sehen konnte. Die Sonne blendete in der Windschutzscheibe. Er konnte nicht erkennen, wie viele Personen in dem schwarzen Fairlane saßen. Zögernd kam der Wagen heran. Dann, vielleicht hundert Yards von der alten Eibe entfernt, stoppte er. Verwundert bemerkte Franco Solo, wie er rückwärts rollte, aber dann erkannte er, daß der Fahrer nur eine Stelle nutzte, die zum Wenden günstig war. Der Fairlane stieß zurück aufs Feld, fuhr vor, so daß der Kühler wieder zur Farm zeigte. Dann leuchteten die Rückfahrscheinwerfer matt im Sonnenschein auf, und der Fairlane schob sich rückwärts an den Treffpunkt heran. Franco Solo hätte fast laut gelacht – da, wo er stand und wo sich die Feldwege kreuzten, war eine viel bessere Gelegenheit, den Wagen umzudrehen, aber der Fahrer wollte anscheinend ganz sicher gehen, oder er hatte Angst. »Antonelli fährt die Karre bestimmt nicht,« murmelte Franco Solo. »Ich tippe auf Sculturi. Natürlich muß es Sculturi sein. Der Alte wird ihn losgeschickt haben, damit er seine letzten Pannen wieder ausgleicht. Auf der anderen Seite – ich hätte Sculturi nicht geschickt. Ich nicht … na, egal!« Der Fairlane stoppte, noch zehn Yards entfernt. Der Motor lief weiter. Franco hob den Arm, zeigte auf den Koffer zu seinen Füßen und winkte. Die Fahrertür wurde geöffnet. Tatsächlich schwang Tonio Sculturi die Beine ins Freie und drehte sich nach Franco Solo um. »Hallo, Solo! Das Mädchen steigt jetzt aus und geht ein Stück 136
zur Seite aufs Feld. Dann gehst du zur anderen Seite genauso weit weg. Ich hole den Koffer. Wenn ich ihn im Wagen habe, könnt ihr Wiedersehen feiern. Klar?« »Meinetwegen. Fangt an!« Sculturi sprach in den Wagen hinein. Dann öffnete sich die rechte Wagentür, und Claire Laval stieg aus. Einen Augenblick stand sie wie geblendet in der Sonne. Dann winkte sie Franco Solo matt zu und ging langsam aufs Feld hinaus. Franco bewegte sich zur anderen Seite aus dem Schatten der Eibe hinaus. Er blickte immer wieder über die Schultern zurück. Als er sah, daß Claire stehengeblieben war, stoppte auch er. »Okay!« rief Sculturi. »Bleibt da stehen!« Er ließ die Wagentüren offen und wieselte über den Feldweg zur Kreuzung. Eilfertig bückte er sich, riß den Koffer hoch und warf sich zurück. Ganz offensichtlich war er mehr als nervös. Immerhin hatte er Franco Solo bisher auch nur in Situationen kennengelernt, die ihm nicht viel Gutes gebracht hatten. Franco Solo sah, wie Sculturi den Koffer auf den Rücksitz legte, sich aufrichtete und noch einmal zu ihm herüber blickte. »Schönen Gruß von Florence!« rief er höhnisch. Dann ließ er sich hinters Steuer fallen, zog die Türen zu und gab Gas. Claire setzte sich in Bewegung, aber Franco machte keine Miene, ihr entgegenzukommen. Stattdessen zog er die Leuchtpistole, lud sie mit einem roten Stern und stieß sie senkrecht in die Luft. Es machte nur »Plopp!«, und die rote Leuchtkugel zischte in den diesigen Himmel voller Staub und Sonnenglast. Sicherheitshalber lud er sofort nach und schoß auch die zweite rote Kugel noch hoch. »Wozu das Feuerwerk?« fragte Claire atemlos, als sie bei ihm ankam und ihm beinahe um den Hals gefallen wäre. Franco Solo fing sie ab und lud für alle Fälle noch einmal die Pistole – aber da hörte er schon das charakteristische Geräusch des Helikopters aus der Ferne. 137
»Nehmen Sie’s meinetwegen als Begrüßung. Wir Amerikaner sind manchmal so überschwenglich. In Wirklichkeit hole ich uns damit nur unser Lufttaxi herbei. Wie war’s bei der Mafia, Claire?« Sie machte eine resignierende Handbewegung. »Erzähl ich Ihnen später, Franco. Wir müssen dringend etwas unternehmen, sonst gibt es eine Katastrophe.« »Wieso?« »Ich habe meinen Gastgebern erklären müssen, wie die Maschine funktioniert, und sie haben auch aus mir herausgepreßt, daß die Sicherungen fehlen. Da es handelsübliche Werte sind, haben sie sich welche besorgt, und sobald sie den Koffer in Händen haben und an die nächste Steckdose anschließen, ist der Apparat funktionsbereit.« Franco blickte hinüber, wo Sculturi gerade mit dem Wagen in den Hof der Melrose-Farm einschwenkte. »Wie viele Leute sind da drüben?« »Sculturi, Antonelli, ein Elektronik-Fachmann, von dem ich nicht genau weiß, ob er zur Mafia gehört, und zwei Pistolenmänner. Das sind übrigens die übelsten. Hirnlose Affen!« »Nun, ich habe auch vorgesorgt. Wenn der Wagen versucht, aus diesem Planquadrat herauszukommen, wird er von der Polizei gestoppt, und zwar auf allen Straßen.« Claire lachte bitter auf. »Das muß Antonelli wohl geahnt haben. Sie wollen gar nicht gleich wieder fort.« »Mir hat er gesagt, sie müßten heute noch nach Washington!« »So? Was ich mitbekommen habe, ist, daß sie ein paar Stunden warten wollten. Antonelli meinte, selbst wenn Sie alle Straßen sperren lassen würden, dann könnte die Sperre nicht über den halben Tag aufrecht erhalten werden, ohne daß der 138
Verkehr in halb Connecticut zusammenbräche. So lange wollen sie warten. Bis die Polizei abzieht!« Der Helikopter stand nun genau über ihnen und der alten Eibe. Franco blickte hinauf und winkte dem Piloten zu. Langsam senkte sich der Hubschrauber herab. »Der Pilot hat Polizeifunk an Bord oder kann sein Gerät zumindest darauf einstellen. Dann nehmen wir Verbindung mit den Leuten von den Straßensperren auf!« schrie Franco der jungen Französin ins Ohr. Sanft setzte die Maschine neben ihnen auf. Geduckt liefen sie zum Einstieg. Claire, die immer noch den ehemals weißen Soft-Eis-Anzug trug, kroch hinter die Sitze. Als sich Franco neben dem Piloten angeschnallt hatte, reichte der ihm das Kopfhörer-Mikrophon-Set, und Franco zog es sich über den Kopf. Sogleich hatte er die Stimme des jungen Mannes im Ohr. »Die gefällt mir aber schon viel besser als der Koffer!« flachste der Pilot. »Wohin jetzt?« »Erst mal hoch!« Unter ihnen verschwand die rauschende Eibe in einem Strudel sich nach allen Seiten fortwälzender Staubwolken. »Da haben Sie aber allerhand aufgeboten, Mister!« sagte der Pilot plötzlich. »Sehen Sie mal – sie kommen von allen Seiten!« Franco blickte hinab. Da lag im ebenen, weiten Land die verlassene Melrose-Farm. Und auf allen Wegen, die auf diesen Punkt zuführten, schoben sich Polizeifahrzeuge heran, alle mit blinkenden roten Alarmlichtern! »Verdammt!« stieß Franco hervor, »das ist gegen die Verabredung! Die sollten die Straßen sperren, aber nicht angreifen! Das kann das größte Unglück geben! Claire – haben Sie bemerkt, ob es auf der Farm noch elektrischen Strom gibt?« »Das war das erste, was sie ausprobiert haben!« schrie sie durch das Donnern des Triebwerks hindurch. 139
»Alles funktioniert noch!« »Können wir Verbindung aufnehmen?« fragte Franco. Der Pilot beugte sich vor und drehte am Kanalschalter seines Funkgeräts. Im Hörer vernahm Franco Solo die merkwürdigsten Pfeiftöne und Sprachfetzen. »Das hier müßte die Einsatzwelle sein. Fragen Sie mal!« »… Position erreicht!« kam es herauf. Franco räusperte sich. »Hallo, hier spricht Franco Solo aus dem Hubschrauber über euch. Wer hat die Einsatzleitung? Bitte melden! Wenn möglich, geben Sie mir Cobson vom FBI!« Einen Moment war verblüffte Stille auf der Welle des Polizeifunks. Dann piepte es, und jemand sagte: »Rufen Sie Alpha l! Ich wiederhole: Alpha l!« »Danke! Alpha l, bitte kommen für Franco Solo!« Jetzt antwortete ein Rufzeichen in ganz anderer Tonlage. »Alpha l, Cobson. Was wollen Sie, Solo?« »Oh, heaven, das frage ich Sie! Wir hatten Straßensperren vereinbart, und Sie machen einen Feldzug daraus! Stoppen Sie sofort alle Fahrzeuge, Cobson! Die Lage hat sich geändert! Wenn Antonelli merkt, daß Sie ihn angreifen, wird er den Apparat benutzen!« »Ich denke, der ist nicht gebrauchsfertig?« »Das wäre er nicht, wenn er in einem Auto läge, das auf offener Straße angehalten wird. Aber auf der Farm gibt es elektrischen Strom. Sie haben sich die fehlenden Sicherungen besorgt und können vermutlich mit dem Ding umgehen!« »Schweinerei!« »So würde ich es auch nennen. Wo sind Sie?« »In dem großen, grauen Lieferwagen mit der ausgefahrenen Rundum-Antenne.« »Ich meine, in welchem Teil dieses schönen Landes? Von hier 140
oben übersehe ich ein paar Dutzend Quadratmeilen!« »Ich fahre von Süden auf Melrose-Farm zu. Sie haben uns ja mit Ihrem Helikopter überhaupt erst den Weg gewiesen, Solo!« Wütend riß sich Franco Solo die Kopfhörer ab. Er beugte sich zur Seite und blickte auf die staubige Ebene hinab. Die Polizeifahrzeuge waren zum Stehen gekommen. Bis auf eines, das weiter auf die Farm zu fuhr. Er setzte sich die Kopfhörer wieder auf. »Alpha l von Solo, dringend!« »Cobson hier. Was ist?« »Ein Wagen hat nicht angehalten.« »Ja, ich habe es auch gemerkt. Vermutlich ist sein Funkgerät ausgefallen. Ich kann ihn nicht erreichen.« »Wenn er nicht anhält, wird er der erste sein, der drauf geht! Ich versuche, ihn mit einer roten Leuchtkugel anzuhalten!« Franco Solo legte dem Piloten die Hand auf die Schulter und wies auf den Wagen, der langsam durch den Staub kroch, und nach unten. Der Hubschrauber senkte sich schräg hinab. Franco öffnete die Kabinentür. Der Wind riß ihn fast vom Sitz und fegte ihm die Hand mit der Leuchtpistole nach hinten. Als er die Waffe in beide Hände nahm, konnte er sie richten. Aber die Leuchtkugel wurde ebenfalls abgelenkt, als sie aus dem Lauf zischte. Sie landete neben dem Wagen statt davor. In fieberhafter Eile lud Franco nach. Das war seine letzte rote Patrone, die er in den Aufstecklauf schob. Sorgsam zielte er, während der Pilot den Helikopter vor dem weiterfahrenden Wagen zurückzog. Diesmal saß die rote Leuchtspur genau. Aber der Fahrer des Polizeifahrzeugs kümmerte sich nicht darum. Claire beugte sich vor. »Weg hier! Wenn sie den Apparat auf diesen Wagen richten, kriegen wir etwas ab! Die Streuung der Strahlen ist auf diese 141
Entfernung zu groß!« schrie sie. Franco stieß den Piloten in die Seite und hielt ihm den nach oben gerichteten Daumen vors Gesicht. Das Donnern des Triebwerks schwoll mächtig an, und sie wurden augenblicklich hochgerissen. Unbeirrt kroch der auffällig bemalte Streifenwagen auf die Farm zu. Antonelli und seine Leute mußten ihn längst gesehen haben. Und dann war auf einmal ein seltsamer Ton in der Luft, der alles andere überdeckte – weniger ein Ton, allenfalls ein unglaublich tiefer Ton, mehr das körperliche Empfinden einer Schwingung … *
»Das ist es!« schrie Claire und biß sich auf die weißen Knöchel ihrer Hand. »Sie haben es eingeschaltet!« »Verdammt!« knurrte der Pilot, »was soll das? So etwas habe ich noch nie erlebt! Ich kann den Vogel ja kaum halten!« Die Schallwellen, die den Hubschrauber trafen, wirkten wie mächtige Faustschläge. »Sehen Sie! Da unten!« Claire hatte Franco an der Schulter gepackt und stieß ihn zum Fenster. Der Anblick, der sich ihnen bot, war unheimlich. Über die Erde liefen Wellen. Von der Farm ausgehend und sich fächerförmig verbreiternd. Der Boden ähnelte einer See mit langer Dünung … Die Wellen erreichten das Polizeifahrzeug. Ob der Fahrer nun endlich bremste, oder ob die mächtigen Luftwellen dagegenbrandeten und es aufhielten, konnte man von oben nicht erkennen. Aber dann lösten sich auf einmal kurz nacheinander die beiden vorderen Kotflügel und wirbelten davon. Die 142
Kühlerhaube flog auf, wurde aus ihren Scharnieren gedreht und wirbelte ebenfalls in die Luft. Die Scheiben barsten. Das Vorderteil des schweren Wagens hob sich ein bißchen an, sackte in die Federung zurück, wurde wieder angehoben, jetzt schon höher, und fiel herunter, daß die Stoßstange in den Sand stieß – der dritte Anprall komprimierter Luft schleuderte den Wagen hoch, packte ihn von der flachen Unterseite und stellte ihn krachend aufs Heck. Für eine Sekunde stand das Auto wie ein bizarres Denkmal aufrecht da. Die Türen flogen auf und flatterten. Zwei kleine, dunkle Gestalten wurden ins Freie gerissen und flogen haltlos mit Armen und Beinen rudernd davon. Dann kippte der Wagen, krachte aufs Dach. Die Seitenholme brachen, und endlich waren wohl auch die Benzinleitungen gebrochen oder der ganze Tank geborsten: Die typische dunkelrote Feuerwolke wuchs über den Trümmern empor, und ein zusätzlicher Stoß zusammengeballter Luft traf den Hubschrauber, der gefährlich schwankte. Mit einem Mal hörte das grauenvolle Vibrieren der ganzen Atmosphäre auf. »Wir müssen hinunter, die beiden Polizisten da wegholen!« »Zwecklos,« schüttelte Claire den Kopf. »Die waren schon tot, als sie aus dem Wagen flogen. Sie hatten keinen heilen Knochen mehr im Körper, die Blutgefäße waren zerrissen und alle inneren Organe zerstört. Ich kenne unsere Versuchsergebnisse! Wer in die Schallstrahlung gerät, ist verloren!« »Ich lande,« erklärte der junge Pilot. »Ich kann nicht mehr!« Er schlug mit dem Hubschrauber einen Bogen und senkte ihn hinab. Hart setzte er ihn auf, er schaltete den Rotor ab und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Auf seiner Stirn stand der helle Schweiß. »Mit diesem … Höllenbaß will ich nichts zu tun haben,« stieß er hervor. »Was sind das für Strahlen?« Nur der Motor des Hubschraubers brummte noch im Leerlauf. 143
»Das sind keine Strahlen,« erklärte Claire. »Schallschwingungen, ungefähr zwölf Hertz. Unhörbar tiefe Baßtöne, polarisiert und dadurch gerichtet und zugleich verstärkt.« »Das ist teuflisch!« »Ich habe es eben auch zum ersten Mal in seinen fürchterlichen Auswirkungen praktisch erlebt,« gestand sie. »Grauenvoll …« »Und diese Waffe ist jetzt in den Händen von … Gangstern?« Claire nickte stumm. »Wieso verstehen Sie überhaupt etwas davon?« »Mein Vater hat das Gerät in Frankreich entwickelt. Ursprünglich wollte er ein Gerät zur Infraschall-Desinfektion und für die Schädlingsbekämpfung bauen. Bei den Versuchen stellte sich eine viel weitergehende Wirkung heraus. Wir haben das Gerät dann sofort patentrechtlich schützen lassen. Der Staat hat es übernommen und darauf gedrängt, daß es auch im Ausland geschützt werden sollte. Aus den Lizenzgebühren des Auslandes sollten wir unseren Verkaufspreis erhalten. In den wichtigsten Industrienationen ist das auch gelungen. Nur hier, in den USA hat die Mafia versucht, das Gerät an sich zu bringen. Drei Versuche, es dem Bundespatentamt vorzuführen und Schutzrechte zu erlangen, scheiterten bisher. Dies ist der vierte …« Der Pilot hatte seinen Arm auf die Rücklehne gelegt und das Kinn darauf gestützt. »Ich hätte das ja auch ein bißchen anders angefangen,« meinte er. »Per Flugzeug nach Washington, Geleitschutz durch ein Dutzend Abfangjäger, und vom Flugplatz zum Patentamt die Panzerfahrzeuge der US-Reserve-Bank aus Fort Knox!« »Vielleicht werden Sie ja nochmal Präsident der Vereinigten Staaten,« gab Franco Solo sarkastisch zurück. 144
»Dann können Sie solche Sachen machen. Aber für diesen Fall hier kommt es allemal zu spät. Was ist das für ein Gepiepe?« »Das Rufzeichen auf der Polizeiwelle. Vielleicht wollen die mit Ihnen wieder Kontakt aufnehmen?« Franco stülpte sich die Kopfhörer über. »… Solo, bitte kommen! Franco Solo für Alpha l, Cobson!« »Hier Franco Solo.« »Haben Sie das mit angesehen, Solo?« Cobson schien immer noch erschüttert und zugleich etwas ratlos. »Das war ja eine Riesenschweinerei! Wer hätte denn gedacht, daß sie das Ding tatsächlich in Gang bringen?« »Ich.« »Ja, ich weiß. Sie sagten es schon. Aber ich werde die verdammte Bande da ausräuchern. Ich habe Laval herbeordert. Er wird in einem Hubschrauber von New York herbeigeflogen und kann uns sicher sagen, was für Gegenmaßnahmen oder welchen Schutz man gegen die Strahlen ergreifen kann. Bis dahin bleibt die Farm eingeschlossen. Belagert aus sicherem Abstand. Keiner darf sich dem Gangsternest nähern. Das gilt auch für Sie, Solo!« »Ich fürchte, diesen Krieg verlieren Sie, wenn Sie es so anfangen, Cobson.« »Ich habe Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt, sondern eine Anweisung gegeben. Halten Sie sich daran, und sagen Sie das auch dem Bürschchen mit dem großen Ventilator, den Sie sich da gemietet haben! Ende!« Kopfschüttelnd nahm Franco Solo die Hörer ab. »Cobson hat’s anscheinend mit den Nerven. Er spielt verrückt. Gibt es ein Gegenmittel, Claire?« »Gegen Verrückte?« »Nein, gegen Ihre Höllenmaschine, wie unser Freund hier sagte!« 145
»Theoretisch ja. Da es sich um polarisierte Schallwellen handelt, könnte man ein gleiches Gerät entgegenwirken lassen. Was allerdings passiert, wenn die Schallstöße miteinander interferieren, kann ich mir nicht recht vorstellen. Ein Tornado dürfte dagegen harmlos sein. Ich nehme an, es entstehen dabei auch noch luftelektrische Störungen. Blitze und vielleicht sogar Magnetfeldveränderungen.« »Sie haben es also noch nicht ausprobiert?« »Um Himmelswillen, nein. Vater und ich haben einmal angefangen, die Reaktionen durchzurechnen. Aber angesichts der Größenordnungen, in die wir gerieten, haben wir damit aufgehört.« »Eine andere Frage: Gibt es denn überhaupt schon mehrere solcher Generatoren?« mischte sich der Pilot ein. Claire nickte. »Ja. Unser Plan sah sogar vor, daß mein Vater ein zweites Gerät mit herüberbringen sollte. Falls ich mit Franco Solo nicht durchkäme, sollte er es unter FBI-Schutz versuchen in Washington anzumelden und vorzuführen.« »Wer hat den Plan ausgeheckt, Claire?« »Soviel ich weiß, ein Sicherheitsberater der Botschaft.« »Den hätte ich jetzt gern hier,« murmelte Franco. *
»Was gibt es jetzt?« fragte Claire. Franco hatte seinen Anschnallgurt gelöst und schob die Kabinentür auf. »Ich will aussteigen. So, wie Cobson das plant, geht es nicht. Wenn er mit seiner Streitmacht anrückt, zerfetzen die ihm einen Wagen nach dem anderen in der Luft. Sie sitzen am längeren Hebel, und den muß man ihnen abnehmen.« 146
»Sie wollen allein?« fragte der Pilot. Franco nickte. »Natürlich. Sie fliegen mit diesem Mädchen zurück und tanken auf. Schaffen Sie es notfalls von hier nonstop nach Washington?« »Ja. Wenn ich Luftlinie fliegen kann.« »Gut. Kommen Sie mit vollen Tanks so schnell wie möglich wieder her. Schauen Sie sich aber die Gegend vor der Landung genau an. Möglicherweise hat sie sich etwas verändert.« Er stieg aus dem Hubschrauber. Als er sich umwandte, um dem Piloten noch etwas zu sagen, streckte ihm Claire die Beine entgegen. »Hilf mir ’raus,« forderte sie. »Wieso?« »Weil ich hierbleibe und mitmache.« »Aber auf keinen Fall!« »Und doch! Du bist ein unvernünftiger und waghalsiger und hochnäsiger Kerl, Franco Solo!« sagte sie und fiel vor Erregung ins Französische und duzte ihn. »Du willst da hinüber und mit den Leuten von der Mafia kämpfen und ihnen den Apparat abnehmen. Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie das Ding funktioniert und wie gefährlich es ist! Ich aber kenne mich aus mit der Maschine, und anschleichen kann ich mich auch, denn ich bin lange genug mit meinem Vater in Guyana auf die Jagd gegangen. Außerdem lasse ich mich jetzt nicht abschieben, wo die Sache ihrem Höhepunkt zustrebt, denn ich bin verantwortlich für den Apparat und …« »Ooooh! Ooooh!« machte Franco verzweifelt und hielt sich den Kopf mit beiden Händen. »Wie willst du denn in diesem weißen Anzug über die Ebene kriechen, ohne daß sie dich wie eine Wildente abknallen?« Claire blickte an sich herunter. »Das ist richtig,« sagte sie ruhig. »Aber der Pilot kann ja mit 147
mir tauschen. Er hat ungefähr die gleiche Größe, und sein Overall ist grau! Tun Sie das?« Sie funkelte den Piloten aus ihren dunklen Augen an. Der öffnete den Mund und schloß ihn wieder. »Na, gut. Ziehen Sie das Ding aus. Sie werden ja wohl. noch was drunter anhaben. Ich zieh mich dann hinter dem Hubschrauber um, denn eigentlich hatte ich mir geschworen, in diesem Fall keinen dritten Striptease zu veranstalten. Aber das muß nun wohl doch so sein – beeilen Sie sich gefälligst, junger Mann!« Verwirrt gurtete sich der Junge los und stieg aus seinem Overall. Claire fing ihn auf und schlüpfte unter dem Helikopterschwanz hindurch. Es war Franco Solo ein Rätsel, wieso sie sich da weniger beobachtet glaubte, denn der dünne Metallkörper verbarg nichts von ihrem Auftritt, als sie aus dem weißen Soft-Eis-Anzug in den Overall umstieg. »Hier!« sagte sie triumphierend und schwenkte den Anzug. »Wenn Sie den haben wollen, junger Mann? Ihren Overall gebe ich Ihnen zurück, wenn alles vorüber ist!« »Danke,« schüttelte der Pilot den Kopf, »ich komme schon in Jeans und Pullover nach Haus. Was ist nun – soll ich allein fliegen?« »Natürlich. Oder wollen Sie so etwas wie eben noch einmal heraufbeschwören?« fragte Franco zurück. »Lieber nicht. Also volltanken und wieder herkommen! Okay. Stellen Sie sich da drüben unter den Baum. Es gibt Staub!« Franco Solo zog Claire an der Hand vom Hubschrauber weg, der zu dröhnen und donnern begann und dann gleich hochstieg. »Duck dich!« befahl Franco Solo und drückte das Mädchen in eine Ackerfurche. »Wenn sie uns nicht mehr sehen, denken sie vielleicht, wir wären abgeflogen, um uns in Sicherheit zu bringen. Dann haben wir eine bessere Chance, an die Farm 148
heranzukommen, ohne gleich mit Baßbegleitung ins Jenseits geblasen zu werden!« »Sollen wir also durch diese Furche robben?« »Nein. Weiter rechts zieht sich ein Graben durchs Feld. Darin haben wir bessere Deckung. Los!« Auf Knien und Ellbogen schob er sich vorwärts. Mit gesenktem Kopf teilte er das wuchernde, staubüberkrustete Unkraut. Vielleicht zehn, zwölf Yards mußte er so überwinden, ehe er sich in den Graben rutschen lassen konnte. Er blickte zurück und sah Claire auf die selbe Weise herankommen. Er half ihr in den Graben hinein. »Hier genügt es, wenn wir geduckt vorgehen. Antonelli wird nicht gerade auf dem Dach sitzen und nach uns suchen …« »Ich nehme eher an, er verbarrikadiert sich mit seinen Leuten im Hof. Für einen Ausbruch ist er zu dumm.« »Wie kommst du darauf?« Sie kicherte. »Sogar sein Elektronikfachmann ist nicht darauf gekommen, daß man mit einem simplen Spannungswandler den Apparat auch an eine Autobatterie anschließen kann. Die Anschlüsse sind vorgesehen. Zwar würde es die Batterie höchstens eine halbe Stunde mitmachen, aber das wäre ja genug!« »Hoffentlich merkt er es nicht noch!« »Der nicht! Der versteht zwar einiges von Modulen und Mikroprozessoren, aber mit mehr als 1,5 Volt kann er nichts anfangen. Soviel habe ich schon aus ihm herausgekriegt.« »Dann wollen wir mal weiter vorgehen. Komm!« Sie schlichen gebückt durch den trockenen Graben und kamen der Farm immer näher. Einmal mußten sie unter einem elektrischen Weidezaun hindurch, dann kamen sie an eine sumpfige Stelle und mußten dorniges Gestrüpp überwinden. Auf einmal war wieder Hubschraubergeräusch in der Luft. 149
»Ist das unser Vogel schon wieder?« »So schnell kann er nicht auftanken und zurückkommen. Ich nehme eher an, es ist der New Yorker Polizeihelikopter, der deinen Vater bringt.« Vorsichtig lugten sie über den Grabenrand. Von Südwesten her kam im Sonnendunst so etwas wie eine Libelle geflogen und ging tiefer. Ein Lichtstrahl blitzte gleißend in der verglasten Kanzel auf, und dann verhüllte die obligate Staubwolke den Landevorgang. Franco Solo nahm den Revolver heraus, den er Walter Memphis’ Flower-Baby abgenommen hatte, und überprüfte ihn. »Für mich hast du nichts zum Schießen dabei?« fragte Claire. »Leider nicht. Deshalb hältst du dich strikt hinter mir, wenn wir die Farm stürmen, klar?« »Mein Held als Kugelfang!« Ehe Franco Solo antworten konnte, vernahm er ein klirrendes, berstendes Geräusch. Vorsichtig blickte er zur Farm hinüber. Antonellis Leute waren dabei, eines der Fenster im Wohnhaus von innen her einzuschlagen. Claire zog sich neben ihm auf den Grabenrand. Ihre Augen gingen von der Farm hinüber zu der Stelle, wo der Helikopter gelandet war, und dann stieß sie einen Schreckenslaut aus. »Das ist genau die Richtung!« »Zum Hubschrauber?« Claire nickte heftig. »Aber dahin reicht das Ding doch sicher nicht! Auf die Entfernung ist die Streuung viel zu groß!« »Man kann den Schallstrahl bündeln und ganz eng fokussieren. Ich habe das dem Elektronik-Burschen nicht gesagt, aber wenn man lange genug herumprobiert, kommt man als Fachmann natürlich auf die Möglichkeit. Und wozu sollten sie sonst das Fenster einschlagen, wenn sie nicht in diese Richtung 150
abstrahlen wollen?« »Zum Teufel! Und wir können deinen Vater und Cobson nicht einmal warnen!« Claire dachte nach. »Wenn mein Vater dort eingetroffen ist, dann hat er sicher erkannt, daß sie in viel zu geringer Entfernung von der Farm ihr Lager aufgeschlagen haben. Hoffentlich machen sie sich noch rechtzeitig davon!« Franco sah, wie ein kleiner, silbrig glänzender Gegenstand im Fenster erschien. »Ist es das?« »Ja. Das ist der Schallkopf.« Hammerschläge klangen herüber. »Sie werden einen Haken einschlagen, um ihn daran aufzuhängen. In der Hand halten kann man ihn nicht, wenn er in Betrieb ist. Wir haben die Schwingungen noch nicht so weit dämpfen können, daß nicht Körpergewebe dabei zu Schaden kommt.« Franco sah, wie der Schallgeber im offenen Fenster aufgehängt und ausgerichtet wurde. »Ich fürchte, gleich geht’s los!« mahnte er. »Sind wir hier sicher?« »Bestimmt. Wenn es unangenehm wird, brauchen wir uns nur in den Graben zu ducken. Polarisierte Schallwellen verhalten sich anders als normale, die sich überallhin ausbreiten.« Mit einem Schlag begann die Luft wieder zu vibrieren. Der Effekt war diesmal geringer als beim ersten Mal. Franco führte es auf die engere Bündelung der Schallwellen zurück. Aber dort hinten, wo der Hubschrauber niedergegangen war, wirkten sie sich umso verheerender aus. Franco und Claire konnten nicht in allen Einzelheiten erkennen, was geschah – aber sie sahen große herumwirbelnde Splitter der Cockpitverglasung in der Sonne 151
aufblitzen. Metalltrümmer tanzten über der Landestelle, und auch hier blühte plötzlich ein Feuerball auf, als der Tank explodierte. Der Knall wehte Sekunden später herüber an ihr Ohr. Die unheimlichen Vibrationen ließen nach. Ein paar dumpfe Schläge zeigten an, daß noch irgend etwas in den brennenden Hubschraubertrümmern explodierte, sonst war da nur noch das leise Rascheln der hohen Gräser im steten Wind. »Ich nehme an, das sollte noch so ein Warnschuß sein. Um dem FBI die Möglichkeiten zu demonstrieren, über die Antonelli jetzt zu verfügen glaubt.« »Glaubt?« fragte Claire ironisch zurück. »Er hat sie! Und er weiß sie verdammt gut zu gebrauchen!« »Aber nicht mehr lange. Es wird Zeit, daß ihm jemand das Handwerk legt, sonst nimmt hier eine nationale Katastrophe ihren Anfang. Komm!« Er zog das Mädchen mit sich, den Graben zurück. »Willst du aufgeben, Franco?« »Im Gegenteil. Jetzt nehmen wir die Sache richtig in die Hand!« »Bin gespannt, wie!« »Wir schneiden ihm den Strom ab. Mir kommt es jetzt nicht mehr auf einen Black-out in Connecticut und den umliegenden Bundesstaaten an.« »Ich verstehe dich noch immer nicht!« Er hielt inne, faßte sie bei den Schultern und drehte sie herum. »Das da ist die Hochspannungsleitung, die unter anderem auch die Melrose-Farm mit Strom versorgt. Das Trafohäuschen steht neben der Scheune.« »Ja. Und?« »Vor deiner Nase zieht sich ein elektrischer Weidezaun über 152
diesen Graben. Zwanzig Meter von dem blanken, dünnen Draht müssen genügen. Den montiere ich ab. Wenn ich ihn über die Hochspannungsleitung werfe, gibt es einen Kurzschluß … verstehst du?« Sie grinste ihn an. »Die einfachste Art, Antonelli den Strom abzuschalten.« »Behalte du die Farm im Auge und sage mir Bescheid, wenn sie die tödliche Waffe auf mich richten!« Er zog sich aus dem Graben heraus und machte sich an dem locker gespannten Draht zu schaffen. Es war nicht einfach, einen Anfang zu finden. Schließlich warf er sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Draht und lockerte ihn dadurch so weit, daß er den Revolverlauf als Hebel benutzen konnte. Als er mit aller Kraft drehte, riß der Draht und schnellte wie eine Schlange ins Feld hinein. Jetzt war es einfach, ihn von den Isolatoren zu reißen und zu einem großen Ring aufzuwickeln. »Komm zurück! Das reicht!« rief Claire. Franco war der selben Meinung. Er zwirbelte den Draht vor der letzten Befestigung, bis er abriß, und hastete zum Graben zurück. »Sie haben den Apparat von dem Fenster weggeräumt.« »Wohin?« Claire deutete stumm auf das Farmhaus. Die rückwärtige Tür, die in ihre Richtung zeigte, war jetzt offen. Was sich dahinter im Dunkel verbarg, konnte man nicht sehen. Höchstens ahnen … »Du meinst, sie wollen uns als Ziel nehmen?« »Wahrscheinlich ist es immerhin. Du hast dich auffällig genug benommen, und daß du mit dem Draht nicht gerade Blumenbinden willst, können sie sich ausrechnen!« »Ich brauche noch einen schweren Stein!« »Schwere Steine kommen hier nicht vor. Aber ich habe mir schon gedacht, daß du so etwas brauchst, und ein bißchen herumgesucht. Das hier ist das Einzige, was ich dir anbieten 153
kann!« Sie gab ihm einen verrosteten Eggenzinken. »Aber der ist genau richtig. Claire, du bist eine brauchbare Person!« »Das fand Antonelli auch, nachdem er mich genug unter Druck gesetzt hatte. Na, wir zahlen’s ihm jetzt heim, wie?« »Darauf kannst du dich verlassen!« Franco Solo hatte das Metallstück am Ende des Drahtes befestigt. »Schnell! Ich meine, ich hätte eben den Schallstrahler in der Tür aufblinken gesehen!« In Claires Stimme klang Angst. »Wenn sie ihn erst ausgerichtet haben, ist es zu spät!« »Aber ich kann nicht aus diesem Graben heraus werfen! Ich muß einen Anlauf haben!« »Dann lenke ich sie ab! Warte!« Sie riß ganze Büschel des trockenen Grases und verdorrtes Unkraut aus. Dann lief sie ein Stück den Graben entlang, schichtete alles auf dem Grabenrand auf, leckte an ihrem Zeigefinger, streckte ihn prüfend in die Luft und nickte befriedigt. Sie zog ihr Feuerzeug aus der Tasche des Overalls, ließ die Flamme aufspringen und hielt sie an ihr Brennmaterial. Ein dünner Rauchfaden kräuselte sich empor. Dann leckten kleine Flämmchen hoch, sie breiteten sich aus, sprangen auf das dürre Feld über und fraßen sich weiter. »Jetzt los!« rief Claire. »Das Feuerchen wird sie ein paar Minuten aus dem Konzept bringen!« Franco sprang aus dem Graben und lief, den Drahtring über dem Arm, ins Feld hinaus. Was sich da an stabilen Masten über Land spannte, war keine der großen Hochspannungsleitungen. Franco schätzte sie auf 10 kVA. Entsprechend niedrig hingen die Drähte. Er legte den Drahtring nieder, faßte das Ende mit dem Eggenzahn und überprüfte in aller Ruhe, ob sich der Draht nicht verwirrt hatte. Dann ging er ein paar Schritte zurück. Die einzelnen Schlingen hoben sich sauber voneinander und 154
glitzerten in der Sonne. Er nahm einen kurzen Anlauf, holte mächtig aus und ließ das Metallstück hochfliegen. Es sirrte in die Luft hinein und zog den Draht nach sich. Kritisch verfolgte Franco die Kurve, die er beschrieb, mit den Augen. Auf dem Höhepunkt angelangt, senkte sich der Draht nach der anderen Seite. Das freie Ende peitschte Franco beinahe ins Gesicht. Er sprang zurück – keine Sekunde zu früh. Hoch über ihm legte sich der blanke Draht über alle fünf Freileitungen. Es blitzte und zischte. An vier Stellen zugleich sprühten bläuliche Funken auf. Der dünne Draht begann zu glühen und wölbte sich, ehe er riß. Es roch nach Ozon und verbranntem Metall. »Na, also!« sagte Franco Solo befriedigt. *
Im Laufen zog er den Revolver. Neben dem Graben stand Claire und hielt sich die Hand über die Augen. »Das war ein feines Feuerwerk,« sagte sie. »Aber ich mache es auch nicht schlecht, nicht wahr?« Es war schon eine kleine Feuerwalze, die sich vom Wind getrieben auf Melrose Farm zuwälzte. Dichte Rauchschwaden wölkten auf und wurden vom Wind durcheinandergewirbelt. »Fein gemacht!« lobte Franco. »Nehmen wir die Festung im Sturm?« »Natürlich!« »Bleib hinter mir! Und halte den Atem an, wenn’s soweit ist!« Franco Solo rannte über den verbrannten Boden genau auf die niedere Flammenwand zu. Der Wind trieb den Qualm vor ihm her. Im Haus mußten sie jetzt schon zu husten anfangen und sich die Tränen aus den Augen wischen, schätzte er. Als er in die Flammen hinein- und durch das Feuer sprang, waberte ihm eine 155
heiße Lohe an den Beinen empor. Hinter sich hörte er Claire in ganz schlimmen französischen Ausdrücken schimpfen. Dann waren sie hindurch. Aus vollem Lauf rannte Franco Solo ins Dunkel der offenen Hintertür des Farmhauses hinein. Mit einem Sprung war er über den Koffer hinweg, der im Wege stand. Der Mann, der noch damit beschäftigt war, das Kabel aufzurollen, nahm ihn nur kurz wahr. Dann explodierte die Faust Franco Solos, die noch den Revolver hielt, und schickte ihn zu Boden in eine augenblickliche Bewußtlosigkeit hinein. Qualm verdeckte für einen Moment die Türöffnung. Claire tauchte daraus auf wie eine Hexe in der Walpurgisnacht. »Den Koffer! Schnell, und zurück aufs Feld!« rief Franco. Vor ihm huschte ein Schemen durchs Dunkel, etwas blitzte auf, und eine Kugel pfiff dicht an seinem Kopf vorbei, ehe sie in die Wand schlug. Er zielte nur flüchtig und zog durch. Statt des Gegners hatte er anscheinend Zerbrechliches getroffen – es klirrte, und Scherben klingelten zu Boden. Als er noch einen Schritt vortrat, stieß er gegen einen Balken, der schräg von der Decke herunterhing. Er griff danach und zog mit aller Kraft. Knackend löste sich das Holz aus dem alten Mauerwerk und brach herunter. Steine polterten nach, und dann schien oben etwas völlig aus den Fugen zu geraten: Bretter kamen plötzlich herab und ganze Estrichbrocken, eine Last trockenes Stroh rutschte nach und begrub Franco Solo beinahe unter sich. Schließlich gab wohl auch noch ein Tragbalken des Dachgerüsts nach, denn immer mehr Ziegel polterten rechts und links zu Boden und zersplitterten. »Fertig!« gellte Claires Stimme. »Zurück, Franco! Das stürzt doch gleich alles ein!« Vor ihm schien sich noch jemand durch die Trümmer kämpfen zu wollen. Franco hörte keuchenden Atem, dann einen unterdrückten Schrei und eine bekannte Stimme, die ein heiseres »Help!« ausstieß. Er griff ins Dunkel, bekam Stoff zu fassen und 156
zerrte. Allmählich drang der Qualm auch in seine Lungen. Er wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, als er sich zurückwandte. Sein Fuß strauchelte zwischen den Balken und Mauerbrocken, wurde eingeklemmt, schmerzte, als er ihn mit Gewalt herauszog. Der Mann, den er gepackt hatte, taumelte hinter ihm her. Zwischen den schweren, schwärzlichen Rauchwolken glommen rote Flammen auf. Das Feuer hatte Melrose Farm erreicht. Von Claire war schon nichts mehr zu sehen. Blindlings stürzte Franco Solo vor. Hinter ihm ein angstvolles Wimmern. Der Stoff in seiner Faust riß. »Verdammt nochmal – hierher!« schrie Franco Solo. Er faßte nach und hatte einen Arm zwischen den Fingern. Sengend heiß fuhr ihm etwas Glühendes über die Hüfte. Für einen Moment wurde es heller um ihn, und er konnte einen Atemzug reiner Luft schnappen. Er befand sich längst außerhalb des Hauses. »Franco!« Claires Stimme gab ihm ungefähr die Richtung. Zugleich hörte er das Flappen und Dröhnen des Hubschraubers. Der Rotor fegte den Rauch zur Seite. Claire stand auf dem schwarz verfärbten Feld, den Koffer zwischen den Beinen und winkte den Hubschrauber herab. Franco Solo hört hinter sich Sculturi abwechselnd fluchen und Bruchstücke von Gebeten hervorstoßen. Er ließ ihn aber nicht los, zerrte ihn geduckt mit sich, bis er über die Kufen des Helikopters stolperte … »Beeilt euch!« rief ihnen der Pilot entgegen. »Die Luft wird schon ziemlich dünn über dem Feuer! Wenn die Farm erst brennt!« Franco Solo stieß Sculturi in den Hubschrauber hinein. Drinnen nahm ihn Claire in Empfang und verstaute ihn neben sich auf dem Notsitz. Mit einem kräftigen Schwung zog sich auch Franco Solo hinein. Im Abheben schloß er die Kabinentür. »Washington?« fragte der Pilot kurz. Franco nickte. Unter ihnen schoß eine Flammensäule aus der alten Scheune. 157
Franco Solo langte nach den Kopfhörern. »Alpha l für Franco Solo!« sagte er. »Cobson,« meldete sich der FBI-Beamte. »Alles in Ordnung bei Ihnen?« »Soweit ja. Beinahe hätte es uns alle erwischt. Aber Laval …« »Ihr könnt euch jetzt Antonelli und seine Bodyguards holen,« unterbrach ihn Franco. »Wir haben die Maschine abgestellt und herausgeholt. Richten Sie Monsieur Laval aus, wir wären nach Washington unterwegs. Er kann ja nachkommen!« »He, Solo …« »Ja, das wollte ich Ihnen noch sagen, Cobson: Wenn Sie irgendeinen direkten heißen Draht zur Luftüberwachung haben, lassen Sie uns die Flugstrecke freihalten. Neulich sollen wieder ein paar Boden-Luft-Raketen abhanden gekommen sein. Ich möchte nicht, daß uns die Mafia zum Schluß noch damit vom Himmel holt!« Damit nahm er sich die Kopfhörer ab und knipste den Schalter des Funkgeräts auf »OFF«. *
Sie hatten den halben Flug schon hinter sich, als Claire den apathisch dahockenden Sculturi rüttelte. Er schrak hoch und blickte ihr verwirrt ins Gesicht. Franco Solo drehte sich vom Copilotensitz herum. »Da war die Rede von einer letzten Sicherung, die in Washington von der Mafia vorbereitet worden sein soll,« sagte Claire. »Ich habe deutlich gehört, wie sich Antonelli und Florence darüber unterhielten. Was ist das für eine Sicherung, Sculturi?« 158
Sculturis Augenlider flatterten. Franco Solo blickte ihn durchbohrend an. »Sculturi,« sagte er, »als Sie mich auf dem Subway-Bahnsteig anmachen wollten, hätte ich Sie eigentlich schon mit dem Kopf voran in die nächste Abfalltonne stecken sollen. Ich habe immer wieder Geduld mit Ihnen gehabt und Sie sogar aus Walter Memphis’ Hinterhof herausgeholt. Ich weiß nicht, wie Claire darüber denkt, aber für meinen Teil könnte ich gewisse Dinge vergessen, wenn Sie jetzt den Mund aufmachen würden!« Sculturi bewegte ein paarmal die Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen. Claire zog ein völlig zerquetschtes Zigarettenpäckchen aus der Overall-Tasche, steckte sich einen verbogenen Glimmstengel an und gab Sculturi den letzten. Als sie brannten, sog der Mafioso den Rauch tief ein. Es schien ihn zu beleben … »Sie haben da einen Wagen stehen,« keuchte er, »direkt vor dem US-Patentamt. Wenn ihr kommt, wollen sie euch mit Betäubungsgewehren erledigen und sich den Koffer schnappen.« »Das ist einigermaßen stümperhaft aufgezogen,« schüttelte Franco Solo den Kopf. Sein Haar war angesengt, und quer über die linke Wange zog sich ein rot unterlaufener Streifen. »Modelle zur Patentanmeldung werden im Smithsonian Institute gesammelt und nicht im Patentamt. Das dürfte ein Gangster wissen, der sich für solche Unternehmungen interessiert. Im übrigen werden wir die Brüder vorher wegräumen lassen. Wie komme ich über Funk ins Telefonnetz von Washington?« fragte er den Piloten. Der dachte nach. »Vielleicht über Baltimore Control. Ich muß mich sowieso gleich bei denen erkundigen, ob die Strecke frei ist!« Er widmete sich seinem Funkgerät, sprach lange ins Mikrophon und brauchte offenbar seinen ganzen Charme, um am anderen Ende jemand zu überreden. Schließlich nickte er Franco Solo zu, der stöpselte seine Kopfhörer in die Buchse und meldete sich. »Sie wollten eine Verbindung mit FBI Washington?« 159
»Ja, bitte.« »Augenblick!« Durch welche Antennen, Relais und Drähte der Strom jetzt lief, konnte sich Franco Solo nicht recht vorstellen, aber die Elektroniker der Luftüberwachung schafften es irgendwie. Es tutete wie im Telefon, und dann meldete sich die FBI-Zentrale der Bundeshauptstadt. »Franco Solo hier. Wir befinden uns im Anflug auf Washington und haben das Modell einer wichtigen Erfindung an Bord. Soeben habe ich erfahren, daß auch in Washington ein Überfall auf unseren Transport vorbereitet ist …« »Stop mal, Bruder,« sagte die FBI-Stimme. »Franco Solo?« »Ja.« »Seit einer halben Stunde kommt nichts anderes als Ihre Story über unsere Fernschreiber. Die Kollegen aus New York telexten uns immer neue, interessante Details herüber. Besonders der Kollege Cobson reibt sich die wunden Zehen, auf denen Sie ihm herumgetrampelt haben.« »Mag sein. Es ging nicht anders.« »Das müssen Sie mit ihm ausmachen. Was können wir tun, damit uns hier nicht dasselbe passiert?« »Vor dem Bundespatentamt soll ein Wagen mit Leuten stehen, die über Betäubungsgewehre verfügen. Damit wollen sie uns ans Leder.« »Kann ich gut verstehen, falls es sich um Mafiosi handelt. Sollen wir uns mal mit denen beschäftigen?« »Wäre wünschenswert.« »Okay. Wann kommen Sie hier an, und wo wollen Sie heruntergehen?« »Soweit ich mich erinnere, ist direkt vor dem Original Smithsonian House eine hübsche, gepflegte Wiese.« 160
»Die Verwaltung der öffentlichen Parks und Gärten wird Sie auf ihre Heugabeln spießen, wenn Sie das wagen!« »Es ist der sicherste und kürzeste Weg, um unser Modell abzuliefern. Hören Sie: Von meinen Vorgängern, die das versucht haben, ist einer in die Luft geflogen, der zweite mit einem Schiff verschwunden und der dritte mit dem Kopf nach unten in einer Palme aufgehängt worden, bis er tot war. Ein französischer Handelsmakler hat dran glauben müssen, irrtümlich zwar, wie sich herausgestellt hat, denn er hatte einen ganz anderen Koffer aus Frankreich bei sich …« »Moment mal! Reden Sie von Pierre Lemoine?« »Ja.« »Weil uns dieser Fall hier ebenfalls auf den Nägeln brennt, zum Teufel!« »Lassen Sie ihn brennen. Wir können das nachher in Ruhe besprechen, sobald wir diesen verfluchten Koffer los sind. Geht das klar?« FBI Washington knurrte in den Hörer. »Okay. Kommt ’runter! Wir machen inzwischen die Straße sauber und ziehen die Flaggen auf!« *
»Es handelt sich um dieses Objekt?« fragte der Beamte etwas indigniert. Er ließ seinen Blick von dem mittlerweile ziemlich ramponiert aussehenden Koffer zu den beiden Antragstellern wandern, von denen die eine im verschmierten Overall direkt aus der Werkstatt zu kommen schien und der andere sichtlich auf dem Weg hierher gelitten hatte. »Sie sind der … Erfinder?« »Oh, nein!« versicherte Franco Solo und sah zu, wie der Zeitstempel auf die Empfangspapiere gedrückt wurde und zwei 161
Angestellte den Koffer zum Tresorraum schafften. »Der Erfinder ist auf dem Weg hierher und wird bereits im Bundespatentamt erwartet. Wir haben nur ein wenig beim Transport des Modells geholfen.« Der Beamte kniff die Lippen zusammen. »Na, schön. Sind Sie sicher, daß es den Transport gut überstanden hat? Ich meine, daß es auch funktioniert?« »Doch,« sagte Franco Solo und übergab Claire die Papiere. »Vorhin hat es noch funktioniert. Man muß natürlich ein bißchen vorsichtig damit umgehen. Aber das wird Ihnen der Erfinder schon erklären!« Damit drehte er sich freundlich nickend um, legte Claire den Arm um die Schultern, und sie gingen hinaus. Über der großen Rasenfläche vor dem Smithsonian Institute lag der warme Schein der spätnachmittäglichen Sonne von Washington. »Was machen wir mit dem angebrochenen Tag?« fragte Claire. »Ich war eigentlich heute abend in New York zum Tanzen verabredet,« sagte Franco Solo. »Aber ich fürchte, daß meine Bekannte nach allem, was ich heute angestellt habe, nicht mehr recht dazu aufgelegt ist.« Durch den dünnen Stoff des Overalls hindurch spürte er die warme Haut ihrer glatten Schulter. »Tanzen,« meinte sie, »könnte man doch eigentlich auch in Washington.« Franco Solo blickte an seinem verbrannten und zerrissenen Anzug herunter und an ihrem geliehenen Overall herauf. Als er bei ihren dunklen Augen ankam, grinste er. »Wir sollten es zumindest versuchen.« ENDE
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