Aus dem Amerikanischen übertragen von Tony Westermayr Herausgegeben von Dr. Herbert W. Franke Made in Germany • 1782 • ...
81 downloads
843 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Aus dem Amerikanischen übertragen von Tony Westermayr Herausgegeben von Dr. Herbert W. Franke Made in Germany • 1782 • 1. Auflage -1110 © der Originalausgabe 1979, 1980 by Frederik Pohl © der deutschsprachigen Ausgabe 1982 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagillustration: Oliviero Berni/Agt. Schlück, Garbsen Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Verlagsnummer: 23392 Lektorat: Peter Wilfert • Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3442-23392-5
2 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
1 Der Tag, an dem sie Reverend H. Hornswell Hake holten, war sein neununddreißigster Geburtstag. Jessie Tunman, seine Sekretärin, hatte ihm einen Kuchen gebacken. Weil sie ihn gernhatte, standen nur zwei Kerzen drauf. Weil sie eben Jessie war, hatte sie ihm den Kuchen mit finsterer Miene hingestellt. »Das ist sehr lieb von Ihnen, Jessie«, sagte er und starrte auf den Kokosüberzug, den er nicht mochte. »Ja, ja. Essen Sie ihn lieber schnell, weil die für neun Uhr Bestellten schon aus ihrem Wägelchen steigen. Blasen Sie die Kerzen nicht aus?« Er tat es vor ihren Augen. »Also, dann alles Gute zum Geburtstag, Horny. Ich weiß, Sie mögen lieber Schokolade, aber davon bekommt man Mitesser.« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging und machte die Tür hinter sich zu. Natürlich hatte sie ihn ausgezogen bis auf die Turnhose erwischt, wie er vor dem Spiegel die Hanteln stemmte. Seitdem er damit aufgehört hatte, fror er heftig; er legte die Hanteln rasch weg, zog die Hose an, stieg mit den Socken in die geschnürten Stiefel und begann sein Hemd zuzuknöpfen, von dem das große Narbengeflecht unter seiner linken Brustwarze verdeckt wurde. Als die ersten Ratsuchenden erschienen, saß er an seinem Schreibtisch und sah wieder so aus, wie man sich einen Geistlichen der Unitarier-Kirche vorstellte. Noch eine Ehe im Eimer, wenn er sie nicht zu retten vermochte. Das war eine Verantwortung, die er schon vor langer Zeit übernommen hatte, als er im Priesterseminar die Gelübde ablegte. Aber es wurde mit der Zeit nicht leichter. Er begrüßte die jungen Leute, bot Geburtstagskuchen an und richtete sich darauf ein, noch einmal ihre Klagen und Anschuldigungen zu hören. Hake nahm alle seine Pflichten als Geistlicher ernst, vor allem die Lebensberatung. Und von allen Formen der Problemlösung und Unterstützung, die seine Gemeinde von ihm verlangte, fielen
3 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
ehebezogene am schwersten, und sie verlangten die meiste Anstrengung. Die Leute kamen zu ihm zur Eheberatung, strahlend, mit jugendlich-überlegenem Anstrich, um ihr verwundbares, entsetztes Innenleben zu verbergen, und sie kamen später wieder, die meisten mit dem gequälten Ausdruck von Zorn und Magenschmerzen, der zur Scheidungsberatung gehörte. Er gab stets sein Bestes. »Ich liebe dich doch wirklich, Alys!« schrie Ted Brant wütend. Hake sah Alys höflich an. Sie reagierte nicht. Sie starrte mit zusammengepreßten Lippen in eine Ecke. Hake unterdrückte ein Seufzen und blieb stumm. Das war eine Hälfte der Beratung: den Mund zu halten, darauf zu warten, daß die Heiratswilligen oder Scheidungssüchtigen aussprachen, was sie wirklich dachten. Er hatte kalte Füße. Er griff verstohlen hinunter und zog die Wolldecke zurecht, die er um die Beine gewickelt hatte. Ein Klopfen an der Tür machte der dramatischen Szene ein Ende. Jessie Tunman steckte den Kopf herein. »Tut mir leid«, sagte sie drängend, »aber das schien wichtig zu sein.« Sie legte einen Zettel auf den Abstelltisch und schloß die Tür, nachdem sie die jungen Leute angelächelt hatte, um zu zeigen, daß sie nicht wirklich störte. Horny streifte die Wolldecke ab und tappte hinüber, um die Notiz zu lesen: ›Einer vom Finanzamt will Sie sofort sprechen.‹ »O Gott«, sagte er. Sein Gewissen war so rein wie das der meisten Menschen, also nicht übermäßig rein. Nicht, daß er mit einem echten Problem rechnete, aber er war es gewöhnt, vor Nicht-Problemen zu stehen, die sich als langwierige Ärgernisse zu entpuppen pflegten. Zu den Annehmlichkeiten des geistlichen Berufs gehörte es, daß so vieles von dem, wofür die Menschen Geld ausgaben, von der Steuer abgesetzt werden durfte: das Haus, das größer war, als ein alleinstehender Mann es eigentlich brauchte, was aber seine Berechtigung hatte dadurch, daß so viele Räume für kirchliche Zwecke – wie Beratung und Partys mit
4 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Wein und Käse – verwendet wurden; die gelegentlichen Reisen, die er so gerne unternahm, fast immer zu Seminaren, Kirchentagungen und Lehrgängen. Aber das Schlechte an dem Guten war, daß man, wenn man so viel abziehen durfte, viel Zeit dafür aufwenden mußte, es auch zu begründen. Ted Brant sah ihn jetzt mit dem Ausdruck eines Menschen an, der das Gefühl hat, beleidigt sein zu dürfen. »Ich dachte, bei dieser Besprechung geht es um den Zerfall unserer Ehe.« »So ist es, Ted, so ist es. Die Unterbrechung tut mir leid. Trotzdem kommt sie zu einem günstigen Zeitpunkt«, meinte er. »Ich möchte, daß ihr versucht, unter acht Augen über ein paar von den Dingen zu reden, die wir besprochen haben. Ich werde das Zimmer also für zehn Minuten verlassen. Wenn ihr nicht wißt, was ihr sagen sollt, tja, Alys, dann könnten Sie ja näher auf Ihre Meinung zum gemeinsamen Kochen eingehen. Das war ein sinnvolles Argument, das Sie gebracht haben, wie eine schmutzige Küche auf Sie wirkt. Für Gefühle darf man sich nie entschuldigen.« Er zeigte auf Weinkaraffe und Kaffeemaschine. »Bedienen Sie sich. Und nehmen Sie noch ein Stück Kuchen.« Im Vorzimmer kurbelte Jessie am Abziehapparat und zählte mit: schhhhlick, schhhhlick, schhhhlick. Sie unterbrach ihre Arbeit kurz und sagte: »Er wartet in seinem Wagen auf Sie, Horny.« »In seinem Wagen?« »Er ist ein komischer Kerl, Horny. Mir gefällt er nicht. Und hören Sie, die Heizung funktioniert schon wieder nicht. Ich bin unten gewesen und habe auf Methan geschaltet, aber es ist kein Druck da.« »Der Kohlenmann hat gesagt, er kommt heute.« »Er kommt immer erst am späten Nachmittag. Bis dahin sind wir Eiszapfen. Ich muß den Heizlüfter nehmen.«
5 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Hake stöhnte. Die Energierationierung erschwerte das Leben, wenn der Winter sich, wie dieses Jahr, bis Ende März ausdehnte. Die Stromfirma hatte in die Leitung eine plombierte Sicherung eingebaut. Sie sollte unter dreißig Ampere nicht durchbrennen, aber so genau waren die Sicherungen nicht. Wenn wirklich eine ausfiel, mußten sie warten, bis die Firma einen Mechaniker schickte. Kurz danach erschien dann ein Polizist mit einer Anzeige wegen Stromanzapfens. »Wenn es sein muß, muß es sein«, sagte Hake. »Aber machen Sie ein paar Lampen aus. Und gehen Sie ins Arbeitszimmer, und stellen Sie den Heizkörper ab. Da ist ohnehin genug animalische Wärme.« »Ich störe die jungen Leute ungern«, gab sie tugendhaft zurück. »Na sicher.« Sie sagte die Wahrheit. Sie horchte lieber an der Tür. Er streifte einen Pullover über und trat hinaus auf die Veranda. Der Wind kam direkt vom Atlantik und blies ihm Gischt und Nieselregen ins Gesicht. Das Pfarrhaus war hundertfünfzig Jahre alt und stammte noch aus der Blütezeit von Long Branch, als Präsidenten im Sommer hingekommen waren, um Seeluft zu schnuppern (und dort zu sterben: zwei von ihnen). Diese Zeit war vorbei. Die Schnitzereien an der Holzveranda verfaulten, und der Baufonds schien nie Schritt zu halten mit der Notwendigkeit, die Doppelfenster und Dachziegel zu ersetzen, die jeder Sturm kostete. Der Reihe nach war es ein Sommerhaus für eine reiche Familie aus Philadelphia, ein Bordell, eine Flüsterkneipe, ein Sterbeheim für alte Leute, die örtliche Zweigstelle des Ku-Klux-Klan und acht- oder zehnmal eine Pension gewesen – oder es hatte leergestanden. In der letzten Zeit meist das. Die Kirche hatte es bei einer dieser Gelegenheiten gekauft, weil es billig gewesen war. Hake legte die Hand auf die Schiene des Stuhllifts, der seit seiner Wiedergeburt vor zwei Jahren nicht mehr verwendet wurde, und umklammerte sein Halstuch, während er nach
6 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
seinem Besucher Ausschau hielt. Zwischen den Erdhaufen der Straßenarbeiten, die schon chronisch geworden zu sein schienen, war es nicht leicht, alle Autos zu erkennen. Aber dann sah er es. Kein Irrtum möglich. An einem Straßenzug, wo vereinzelt Dreiradfahrzeuge und Mini-Volkswagen standen, war es der einzige Buick. Noch dazu viertürig. Und benzinbetrieben. Und der Motor lief. Horny Hake war jähzornig. Das hatte er in dem freien und unverblümten Kibbuz gelernt, wo er seine Kindheit verbracht hatte; wenn man dort nicht brüllte, sobald man wütend war, wurde man gar nicht zur Kenntnis genommen. Er sprang die Stufen hinunter, riß die verschwenderisch schwere Tür auf, beugte sich hinein und fauchte: »Energieferkel! Stellen Sie den gottverdammten Motor ab!« Der Mann am Lenkrad warf eine Zigarette fort und drehte ihm verblüfft das Gesicht zu. »Ah, Reverend Hake?« »Klar bin ich Reverend Hake, wer Sie auch sein mögen, und was soll der Quatsch mit meiner Steuererklärung?« Er zitterte, halb vor Kälte, halb vor Wut. »Und stellen Sie endlich den Motor ab!« »Äh, ja, Sir. Natürlich.« Der Mann drehte den Zündschlüssel herum und begann mit einer Hand das Fenster hochzukurbeln, während er mit der anderen die offene Tür auf Hornys Seite zu erreichen versuchte. »Bitte, steigen Sie ein, Sir. Es tut mir sehr e l id, daß ich den Motor habe laufen lassen, aber bei diesem Wetter -« Hake schob sich gereizt hinein und schloß die Tür. »Na gut. Was ist mit meiner Steuer?« Der junge Mann mühte sich, eine Brieftasche hinten aus der Hose zu ziehen, und brachte eine Karte zum Vorschein. »Mein Ausweis, Sir.« Darauf stand:
7 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
T. DONAL CORRY Verwaltungsassistent Senator Nicholson Bainbridge Watson »Ich dachte, Sie sind vom Finanzamt«, sagte Hake argwöhnisch, während er die Karte in den Händen drehte. Sie war schön bedruckt und bestand offenkundig aus jungfräulichem Leinenpapier. Auch eine Ferkelei! »Nein, Sir. Diese Behauptung ist jetzt, äh, ungültig.« »Soll heißen, Sie haben gelogen?« »Soll heißen, Sir, daß es sich um eine Frage der nationalen Sicherheit handelt. Ich wollte nicht Gefahr laufen, Ihrer Mitarbeiterin, Miß Tunman, oder Ihren Ratsuchenden eine delikate Angelegenheit mitzuteilen.« Horny drehte sich auf dem Polstersitz herum und starrte Corry an. Er begann zunächst ganz ruhig, wurde am Ende aber laut: »Soll das heißen, Sie sind hierhergekommen, haben die Luft mit Ihrem Riesenkasten verpestet, mich aus einer Beratung geholt, meine Sekretärin erschreckt, der ich nicht genug bezahlen kann, um mir eine Feindschaft mit ihr leisten zu können, mich fast ins Grab gebracht, weil ich an eine Steuerprüfung dachte, und Sie wollten mir eigentlich nur mitteilen, daß irgendein Senator herkommen und mit mir sprechen will?« Corry schnitt eine Grimasse. »Ja, Sir. Ich meine, so ungefähr, Reverend Hake, nur ist der, äh, Senator eigentlich auch nicht beteiligt. Auch das ist ungültig. Und er kommt auch gar nicht her. Sie fahren hin.« »Ich kann nicht einfach wegfahren und -« »Doch, Sie können, Reverend«, sagte der Mann mit Nachdruck. »Ich habe hier Ihre Reisepapiere. Acht Uhr fünfzehn nach Newark, Metroliner nach Washington, in Maryland aussteigen, wie angegeben – Sie werden um Viertel nach eins an Ihrem Ziel sein, spätestens um zwei ist die Instruktion abgeschlossen. Adieu, Reverend Hake.« Und bis Horny sich umsah, stand er
8 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
wieder im Freien, der Luftverpester von Achtzylindermotor war angesprungen, und der Wagen brauste mit einem verbotenen Wendemanöver davon. »Sind wir in Schwierigkeiten, Horny?« fragte Jessie Tunman besorgt. »Ich glaube nicht. Ich meine, das wird wohl nur das Übliche sein«, erwiderte er, aus seiner Versunkenheit auftauchend. »Na, das ist gut, weil wir schon Schwierigkeiten genug haben. Ich habe eben Radio gehört. Im Ashbury Park sind Unruhen, die Müllmänner sind eben in den Streik getreten, so daß das Methan rationiert wird, wenn man sich bis morgen nicht einigt.« »Du lieber Gott.« »Und ich kriege es hier immer noch nicht warm, und Sie gehen besser rein, weil ich vorhin die beiden habe schreien hören.« Hake schüttelte traurig den Kopf; die Eheprobleme seiner Pfarrkinder hatte er beinahe vergessen. Sie waren aber viel lohnender als seine eigenen und weniger verwirrend. Er wurde munterer, als er das Zimmer wieder betrat. »Also«, sagte er, »was haben Sie entschieden?« Ted Brant schaute sich im Zimmer um und sagte: »Ich bin wohl derjenige, der es Ihnen sagen muß. Alys will unbedingt die Scheidung.« Das war ein Schlag; Horny hatte gehofft, sie miteinander versöhnt zu haben. Seine Stimme klang zornig, als er sagte: »Es tut mir sehr leid, das zu hören, Alys. Sind Sie sicher? Ich halte die Ehe natürlich nicht für ein unauflösbares Sakrament, aber nach meinen Beobachtungen wiederholen Leute, die sich scheiden lassen, fast immer dieselbe Art von Ehe mit einem neuen Partner. Nicht besser, nicht schlimmer.« »Ich bin sicher, daß es das ist, was ich will, Horny«, sagte Alys. Die geröteten Augen und die verwischte Schminke verrieten, daß sie geweint hatte. Aber jetzt wirkte sie gefaßt.
9 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Liegt es an Ted?« »O nein.« »An Walter?« »Nein. Auch nicht an Sue-Ellen. Sie sind alle prima. Nur nicht für mich. Sie werden mit jemand anderem glücklicher sein, Horny.« Walter Sturgis sah sie an. Die Tränen liefen ihm aus den Augen. Er atmete schwer. »Oh, Horny«, klagte er. »Ich hätte nie gedacht, daß das ein solches Ende nimmt. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich Alys kennenlernte. Ted machte uns bekannt. Sie waren frisch verheiratet, nur sie beide. Ich hatte Ted immer gemocht, war aber nie auf den Gedanken einer Multiehe mit ihm gekommen, bis ich Alys kennenlernte, so hübsch, so anders. Und als SueEllen auftauchte, paßten wir alle zusammen. Wir machten am Tag, nachdem wir uns kennengelernt hatten, einen Heiratsantrag.« »Eigentlich war es ungefähr zwei Wochen nach unserem Kennenlernen, Liebling«, sagte Sue-Ellen stockend. Auch sie hatte geweint. »Nein, Schatz, das war, nachdem du und ich uns kennengelernt hatten. Ich meine, nachdem wir beide Ted und Alys trafen. Horny«, sagte er verzweifelt, »wenn Alys es sich nicht anders überlegt, weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich finde nie mehr eine Frau wie sie. Und ich bin sicher, daß ich da auch für Ted und Sue-Ellen spreche.« Lange, nachdem sie gegangen waren, saß Horny in der zunehmenden Dunkelheit und fragte sich, wo er versagt hatte. Aber lag es wirklich an ihm? War da nicht etwas in der grundlegend zermalmenden, grim migen Gräßlichkeit der Welt, das noch mehr gesellschaftliche Gefüge als Ehen zerstörte? Die Streiks und die Raubüberfälle, die Arbeitslosigkeit und Inflation, das unfaßbare Verschwinden von frischem Obst aus den Läden im Sommer und der Weihnachtsbäume im Dezember, die verwir-
10 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
renden und auf Dauer peinsamen Ortsveränderungen, die in jedermanns Leben die Hauptsache geworden waren – lag nicht dort die Ursache, statt in seinem Versagen? Aber gescheitert schien doch er zu sein. Das war beinahe ein angenehmer Gedanke. Zumindest ein nützlicher. Er war lange genug Geistlicher, um zu erkennen, daß jede Schuldeinsicht ein möglicher Einstieg für ein Predigtthema war. Er griff nach dem Mikrofon, drückte auf die Taste und begann zu diktieren, bevor er bemerkte, daß das rote Betriebslämpchen nicht brannte. Gleichzeitig öffnete Jessie Tunman die Tür, ohne anzuklopfen. »Horny! Haben Sie das Heizgerät eingeschaltet?« Er blickte schuldbewußt hinunter, und da war es. Es glühte nicht gerade, war aber warm und knackte leise. »Muß ich wohl getan haben.« »Na, diesmal haben Sie’s geschafft. Wir haben die Eingangssicherung hinausgejagt.« »Das tut mir leid, Jessie. Na ja, der Kohlenmann wird bald kommen -« »Aber dann läuft die Lüftung nicht, weil sie keinen Strom hat, nicht? Sie werden von Glück sagen können, wenn die Leitungen nicht einfrieren, Horny, und was mich angeht, ich bekomme eine Erkältung. Ich muß heimgehen.« »Aber das Kirchenblatt -« »Das lasse ich morgen durchlaufen, Horny.« »Meine Predigt! Ich habe noch nicht einmal angefangen, sie zu diktieren!« »Die können Sie morgen diktieren, Horny. Ich tippe sie Ihnen.« »Ich kann nicht, ich muß – ich habe morgen etwas anderes zu tun.« Sie sah ihn forschend an.
11 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Na«, sagte sie und blies ihre grauen Backen auf, »wenn Sie am Sonntagvormittag hinaufsteigen, können Sie ja vielleicht ein paar Kartenkunststücke vorführen. Ich muß jetzt gehen, sonst werde ich krank, und dann bin ich morgen auch nicht da.« Er sah ihr zu, als sie ihre Steppdaunenjacke zuzog und ihre silberne Sicherheits-Spiralbrosche von der Bluse an die Jacke steckte. Als sie ging, kam jemand an die Tür, und einen Augenblick lang hatte Horny große Hoffnungen – der Mann vom E-Werk? Vielleicht der Kohlenmann, vielleicht beide zugleich? Aber es war nur der Polizist mit der Anzeige wegen Energieferkelei. »Das ist Ihre fünfte Übertretung, Reverend«, sagte er grinsend und blies auf seine roten Hände. »Vielleicht sollte ich gleich ein paar Vordrucke dalassen, die Sie einfach ausfüllen, dann spar’ ich mir das nächstemal den Weg.« Horny starrte ihn an, einen großen, stämmigen Mann mit Schwulenknoten an der Schulter seines Uniformrocks, Lederarmband am Handgelenk, dazwischen die amerikanische Flagge. Er gehörte nicht zu den Leuten, mit denen Horny Hake sich auf Diskussionen einließ. Hundert Antworten lagen ihm auf der Zunge, aber was herauskam, war: »Vielen Dank, Sergeant. Scheußlich, das Wetter, nicht?«
12 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
2 Er schaffte es nur mit Mühe, die Bushaltestelle am Bretterweg bis 8.15 Uhr zu erreichen, aber der Bus hatte Verspätung. Bis dieser daherkam, hatte der Reverend zehn Minuten ungeschützt im bitterkalten Wind ausharren müssen, der nie nachließ. Der erste Teil des Tandems war schon voll. Horny fand einen Sitzplatz im zweiten Bus, aber das hieß, neben dem HolzgasGenerator zu sitzen, der alt und undicht war und jedesmal, wenn der Fahrer vom Gas ging, Rauch in den Bus pustete. Horny hätte vielleicht geschlafen, wenn nicht seine Predigt für den folgenden Vormittag gewesen wäre. Sinnlos, das aufzuschieben. Er nahm den Deckel von seiner verbeulten Reiseschreibmaschine, balancierte sie auf dem Knie und begann zu tippen: ›In jedem Menschen das Liebenswerte finden.‹ Immerhin ein Anfang. Wenn man es genau nahm, hatte jeder Mensch etwas Liebenswertes an sich. Jessie Tunman? Sie arbeitete fleißig. Ohne die Jessie Tunmans würde die Welt zusammenbrechen. Der Kohlenmann? Tag für Tag bei jedem Wetter unterwegs, damit alle es warm hatten. Sergeant Moncozzi – bei Sergeant Moncozzi fiel ihm nichts ein. Sein Gedankengang war unterbrochen, eine Minute lang irrten seine Gedanken in alle Richtungen ab. Er ixte aus, was er geschrieben hatte, und tippte eine neue Überschrift: ›Wenn nicht Liebe, dann Toleranz.‹ »Entschuldigen Sie«, sagte die Dame neben ihm, »sind Sie Schriftsteller?« Er sah zu ihr hinauf. Sie war in Matawan zugestiegen, eine hochgewachsene, magere Frau, die angriffslustig einen altmodischen Ehering am Finger trug. Das Haar war von unnatürlich gelber Farbe, das Gesicht so stark geschminkt, daß sich darunter Falten verbergen mußten. »Eigentlich nicht«, sagte er. »Das dachte ich mir auch«, fuhr sie fort. »Wenn Sie ein richtiger Schriftsteller wären, würden Sie schreiben, statt nur aufs Papier zu starren.«
13 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Er nickte und schaute wieder zum Fenster hinaus. Der TandemBus knarrte die lange Steigung der Edison-Brücke hinauf. Der Motor ächzte und knallte, um vierzig Kilometer in der Stunde zu schaffen. Wo es flach war, ging das ja, aber bei mehr als drei Prozent Steigung wurde es mühsam. Unten war der Fluß verstopft von aufbrechendem Eis, das vermischt war mit einem Gewirr von Wasserpestpflanzen aus dem Norden. Ein Schlepper versuchte beharrlich, eine Bahn für eine Reihe von Kohlekähnen aufzubrechen, die stromaufwärts fuhren. »Als ich jung war, gab’s da nur Öltanker«, sagte die Frau und beugte sich an Horny vorbei, um zum Fenster hinauszuschauen. Sie wischte einen Kreis an der Scheibe frei und starrte finster auf die Siedlungen. »Dutzende. Ganz große. Und alle voll. Und Raffinerien, bei denen oben die Flammen herausloderten, weil das ungenutzte Gas verbrannt wurde. Ungenutztes Gas, junger Mann! Sie haben nicht einmal versucht, es zu nutzen. Ach, ich sage Ihnen, 1970 war das noch eine schöne Zeit.« Wenn nicht Liebe, dann Toleranz. Horny strapazierte seine Toleranz auf das äußerste und sagte: »Es muß ja wohl etwas geben, wo die Leute wohnen können.« »Leute? Wer redet von Leuten? Ich meine, wo ist das Öl denn jetzt, junger Mann? Die Kommunisten haben alles, was die Juden uns noch übriggelassen haben. Ohne die hätten wir wieder schöne Zeiten.« »Tja, Madam -« »Sie wissen, daß ich recht habe, nicht? Und die vielen Verbrechen und die Verschmutzung!« Sie sank auf ihren Sitz zurück, den Hals verdreht, um Horny triumphierend anzustarren. »Verbrechen? Ich weiß nicht, was das Verbrechen damit zu tun hat.« »Ist doch sonnenklar! Die vielen jungen Leute, die alle nichts zu tun haben! Wenn sie ihre Autos hätten, könnten sie mit Mädchen und Bierdosen herumfahren, und wer würde glücklicher
14 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
sein? Oh, ich erinnere mich an die Zeiten, bis die Juden uns alles verdorben haben.« Horny Hake unterdrückte den aufsteigenden Jähzorn. Sie meinte natürlich die Vergeltungsangriffe der Israeli gegen die Arabische Liga, die Kommando- und Luftangriffe, die alle großen Ölfelder im Nahen Osten gesprengt, den Feuersturm von Abu Dabu und tausend kleinere, aber verheerende Brände verursacht hatten. »Ich bin nicht Ihrer Meinung, Madam. Israel hat um sein Überleben gekämpft.« »Und das meine ruiniert! Und die Luftverschmutzung! Wissen Sie, daß sie die Schadstoffe in der Luft um sieben Komma zwei Prozent gesteigert haben? Und das nur aus Gemeinheit.« »Um ihr Leben zu retten, Madam! Es waren nicht die arabischen Armeen, die Israel gefährlich wurden. Das haben sie sechsmal bewiesen. Es war das arabische Erdöl, das arabische Geld!« Sie sah ihn an, als ihr langsam ein Licht aufging, und rümpfte die Nase. »Sind Sie Jude?« fragte sie. »Das dachte ich mir!« Hake schluckte die Antwort hinunter und drehte den Kopf aufgebracht wieder zum Fenster. Dann klappte er den Deckel über die Schreibmaschine, schob sie unter den Sitz, schloß die Augen, verschränkte die Finger und begann seine isometrischen Übungen auszuführen, um sich abzuregen. Das Problem bei der Frage war, daß die Antwort kompliziert ausfiel, und er fand sie nicht so sympathisch, daß er sie ihr gegeben hätte. Hake hielt sich nicht für einen Juden – er war ja auch keiner, aber es war vielschichtiger, das Ganze. Er hielt sich auch nicht für einen Geistlichen, jedenfalls nicht für einen Geistlichen, wie er ihn sich damals als Kind vorgestellt hatte. Wenn er überlegte, wie sein Leben sich in den vergangenen zwei Jahren verändert hatte, wußte er selbst nicht so recht, wer er war. Außer, daß er er selbst war. Körperlich mochte er ein neuer
15 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Mensch sein, aber innerlich war er der alte Horny Hake, jener mit den begrenzten Möglichkeiten, ohne großes Glück bei den Frauen, finanziell nicht übermäßig erfolgreich; vielleicht nicht einmal besonders klug, wenigstens im Vergleich mit den aufgeweckten jungen Leuten, die jetzt aus den Seminaren kamen; aber trotzdem Mittelpunkt seines eigenen, persönlichen Universums. Die erste Erinnerung, die Horny Hake an sein erstes Leben hatte, war die, daß er hastig und nicht sehr rücksichtsvoll durch die Weizenfelder am Kibbuz seiner Eltern getragen wurde. Die Sprühanlagen liefen, und der säuerliche Weizengeruch hing lastend in der feuchten, schwülen Luft. Er war damals vielleicht drei Jahre alt gewesen und hätte schon längst ins Bett gehört. Er wurde mit einem Aufschrei wach. Irgend etwas hatte ihn erschreckt. Es erschreckte ihn weiter: knirschende, dröhnende Stöße, ungeheuer laut, weinende, schreiende Menschen. Er wußte nicht, was das war. Der kleine Horny wußte zwar genau, wie Raketenfeuer klang, weil er die Kibbuz -Miliz jede Woche in den brachliegenden Feldern hatte üben hören. Das jetzt war aber etwas anderes. Er konnte diese erschreckenden Ausbrüche nicht mit dem geordneten, langsamen Feuer der Übungen vereinbaren. Er hatte auch die Menschen nicht vor Todesqual und Angst kreischen hören, wenn Raketen explodierten. Er begann zu weinen. »Psst, Bilmouachira«, sagte die Person, die ihn trug, barsch, angstvoll; eine Männerstimme. Nicht die seines Vaters. Als er erkannte, daß weder seine Mutter noch sein Vater dabei, daß er und der unbekannte Mann ganz allein waren, hörte er auf zu weinen. Es war zu grauenhaft für Tränen. Mit drei Jahren war er noch klein genug, um wie ein Baby behandelt zu werden, und zu alt, um das noch zu mögen. Außerdem mißfiel ihm die Umgebung; es war unangenehm heiß, aber der Sprühregen war klamm und kalt. »Runter, Magboretl« schrie er, aber der Mann, der ihn trug, setzte ihn nicht ab, er preßte eine schmutzige, beschwielte Hand, die nach Fett und Salz roch, auf Hornys Mund. Horny erkannte die Hand. Es war der alte Achmet, der palästinensische
16 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Elektriker, der die Melkmaschinen im Kibbuz bediente und auf Horny aufpaßte, wenn seine Eltern übers Wochenende nach Haifa oder Tel Aviv flogen. Eigentlich hätte Hornys Leben nun vorbei sein müssen, weil die PLO-Kommandos sie in der Zange hatten. Was sie rettete, war eine Ablenkung. Horny erinnerte sich sein ganzes Leben lang daran, an eine Flammensäule, die bis zum Himmel zu reichen schien. Er brachte sie, als er größer wurde, mit dem Feuersturm von Abu Dabu durcheinander, als die Israelis ihre atomare HLadung in die Ölfelder geworfen hatten, denen die Araber ihre Macht verdankten. Das konnte natürlich nicht sein. Was am Rand des Kibbuz explodiert war, mochten wohl die Benzinpumpen für die Traktoren gewesen sein. Aber die PLO-Freischärler waren so lange damit beschäftigt, daß sein Leben gerettet wurde. Horny sah seinen Vater nie wieder. Keiner von der männlichen Miliz im Kibbuz Meir überlebte den ersten Angriff. Hornys Mutter blieb am Leben, war aber zu schwer verletzt, um das Landleben fortführen zu können. Sie nahm das Kind und kehrte nach Amerika zurück, lebte noch lange genug, um einen Witwer mit fünf Kindern zu heiraten und ihm Hornys Halbschwester zu gebären. Es war das Beste, was sie für ihren Sohn tun konnte. Er wuchs in dieser Familie in Fair Haven, New Jersey, auf, gut versorgt und ausgebildet. Das war im letzten arabisch-jüdischen Krieg gewesen, dem vierten nach Jom Kippur, dem zweiten nach der Hai-Bucht, dem, der alles entschied. Horny, der danach aufwuchs, war abwechselnd entschlossen gewesen, zurückzukehren und Israel wieder aufzubauen (aber Israel kam ohne ihn gut zurecht), oder seinem neuen Land als ein Ingenieur für Thermodynamik zu helfen, der in der Lage war, die Probleme zu lösen, die durch die Beseitigung der Ölreserven entstanden waren. Es kam anders. Vielleicht wäre es wirklich so geko mmen, wenn er nicht einen Großteil seiner Jugend im Rollstuhl hätte verbringen müssen. Aber nach zwei Jahren Studium am Massachusetts Institute for Technology begann er einzusehen, daß die Technologie nicht mit
17 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
der Art von Problemen fertigzuwerden schien, die andere Leute ihm anvertrauten: Der körperbehinderte junge Mann war eine Anlaufstelle für alle möglichen vertraulichen Dinge und stellte fest, daß ihm das gefiel. Er wechselte die Schule und sein Ziel. Der nächste Schritt war das Priesterseminar, am Ende war er Pfarrer der Unitarier-Kirche. Er hatte nicht geheiratet. Nicht, weil er in einem Rollstuhl saß; o nein, eine ganze Reihe von jungen Frauen hatte deutlich klargemacht, das würde sie nicht aufhalten. Im Seminar hatte er einem Seelenklempner ein Dutzend Stunden zu je fünfzig Minuten bezahlt, um unter anderem herauszufinden, woran das lag. Er war nicht sicher, daß sich das Geld gelohnt hatte. Es schien etwas mit Stolz zu tun zu haben. Aber warum so viel Stolz? Er hatte erfahren, daß er voll ungelöster Konflikte steckte. Er haßte die Araber, die seinen Vater und zuletzt auch seine Mutter getötet hatten. Aber der Mann, der ihn im Weizen versteckte und sein Leben rettete, war auch ein Araber, den er liebte. Er war aufgezogen worden als Jude, als ein nichtreligiöser Jude freilich, aber in einer Atmosphäre, durchsättigt von Dreideln und Chanukka-Kerzen. Doch seine beiden Eltern waren als Protestanten geboren worden, die eine Seite lutheranisch, die andere methodistisch. Sie hatten eine besondere Vorliebe für das Kibbuzleben gehabt und waren in den aufregenden Jahren, als die Kibbuzim der zweiten Generation alle in die Städte strömten und die agroindustriellen Siedlungen Leute brauchten, als Freiwillige aufgenommen worden. So wurde er Geistlicher einer Unitarier-Kirche in Long Branch, New Jersey, zwischen einer Pizzeria und einem Parkplatz, und alles in allem war er sehr damit zufrieden, jedenfalls bis zu der letzten Herzoperation vor zwei Jahren, die alles auf den Kopf gestellt hatte. Jetzt wußte er nicht mehr so recht, was er wirklich wollte. Was ihm mißfiel, war klar genug. Er verabscheute Verbrechen und Schmutz und Armut und Gemeinheit, vor allem aber bigotte Menschen wie die Frau neben ihm. Er schwieg auf dem ganzen Weg nach Newark, wo er ausstieg, während der Busfahrer mit
18 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
der Flinte im Arm an der Tür stand, bis alle Fahrgäste sicher im Depot waren, gerade rechtzeitig, um den Metroliner nach Washington zu besteigen. Der Metroliner war ein Ketten-Vierer-Bus mit Pilot, Ko-Pilot, Stewardeß und Schaffner. Von außen glänzte er und sah aus wie neu. Im Inneren erwies er sich als nicht ganz so neu. Zum einen waren in Hornys Teil des Fahrzeugs drei der Fenster nicht zu schließen. Zum zweiten folgte ihm die Frau aus dem LongBranch-Bus an Bord, offenkundig darauf erpicht, das Gespräch wiederaufzunehmen. Auf den ersten zwanzig Meilen versuchte Hake sich schlafend zu stellen, aber das fiel schwer. Es war nicht nur das Fenster hinter ihm offen, aus irgendeinem Grund war auch die Klimaanlage voll in Betrieb, so daß ihn jedesmal, wenn er sich zurücklehnte und die Augen schloß, ein eisiger Zugwind an der Schläfe streifte. Beim Pausenstop am Howard-Johnson’s-Lokal außerhalb von Philadelphia stieg er aus, ging auf die Toilette, kam heraus und blieb stehen, um mit düsterer Miene auf den PhiladelphiaSchlackenberg zu starren, bis der Pilot ungeduldig hupte. Er sprang im letzten Augenblick hinein, unmittelbar gefolgt von einem Mädchen im Drillich-Overall. Sie lächelte ihn überraschend einladend an. Das Lächeln verschwand, als er sich vorne hinsetzte, zu einer dicken Negerin, die einen Rosenkranz durch ihre Finger gleiten ließ. Das Mädchen zögerte, dann ging sie zum nächsten freien Platz zurück, und Hake schlief dankbar ein. Er wurde lange Zeit später wach, als ihm bewußt wurde, daß jemand in sein Ohr zischelte. » – Sie zu stören, aber es ist wichtig. Würden Sie mit mir nach hinten in die Toilette kommen, bitte?« Er setzte sich plötzlich auf und schaute sich um, dumpf vom Schlaf, eher gereizt. Seine schwarze Nachbarin war fort. Auf ihrem Platz saß eine Puertorikanerin, im einen Arm ein Baby, in der anderen Hand eine Ausgabe von ›El Diario‹.
19 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Die Stimme war von hinten gekommen; er drehte den Kopf und begegnete dem Blick des Mädchens im Overall. »Umdrehen«, zischte sie. »Nicht mich ansehen.« Verwirrt gehorchte er. Ihr Flüstern erreichte sein Ohr. »Ich glaube, Sie werden beobachtet, und ich will keinen Ärger. Ich gehe also zur Toilette zurück. Darauf achtet kaum jemand. Die auf der linken Seite; der Sitz ist zerbrochen, und sie wird selten benützt. Kommen Sie?« Hake schluckte hinunter, was er sagen wollte. »Wo sind wir?« fragte er. »Ungefähr eine halbe Stunde vor Washington. Komm schon, Tiger, ich tu’ dir nichts.« »Ich muß bald aussteigen«, sagte Hake. »Ich meine, ich fahre nicht ganz bis Washington -« »Kommst du jetzt mit und hörst auf mit dem Quatsch? Also, ich gehe jetzt zur Toilette. Warte eine Minute. Dann stehst du auf, schlenderst nach hinten und kommst einfach rein. Ich lasse die Tür unverriegelt. Platz ist genug, das hab’ ich schon festgestellt.« »Lady«, sagte Hake, »ich weiß zwar nicht genau, was hier gespielt wird, aber bitte lassen Sie mich in Ruhe.« »Esel!« »Bedaure.« Sie zischte zornig: »Du weißt nicht mal, warum ich möchte, daß du mit nach hinten kommst, oder?« Er stutzte erstaunt. »Nein? Tja, dann eben nicht.« »Also komm. Es ist wichtig.« Sie stand auf, drehte sich im Mittelgang herum und starrte ihn finster an, dann ging sie nach hinten. Keiner der anderen Fahrgäste achtete darauf. Man war
20 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
im Endzustand des Massenverkehrs, wo man schlief oder sich in irgend etwas vertiefte oder wie gelähmt war. Einen Augenblick lang überlegte Horny Hake ernsthaft, ihr nachzugehen, nur für den Fall, daß es interessant werden mochte. Sie sah wirklich recht gut aus, war Jahre jünger als er, aber nicht so jung, daß es peinlich gewesen wäre. Es bestand kaum Gefahr, daß sie ihm die Kehle durchschneiden oder ihn mit einer übertragbaren Krankheit anstecken wollte. Er hatte nicht viel zu verlieren, dessen war er sicher, aber in eben diesem Augenblick wurde der Bus abgebremst. Der Fahrer beugte sich herüber und rief, die Augen auf die Straße gerichtet: »Hier ist Ihre Haltestelle!« Wäre interessant gewesen; hätte es versuchen sollen, dachte Hake, aber so geht es mir immer im Leben. Als er ausstieg, an einer Privateinfahrt mit dem Schild ›Lo-Wate Abfüll-GmbH‹, schaute er sich um und sah das Mädchen eilig aus der Toilette kommen. Sie starrte ihn unmutig und aufgebracht an. Hake öffnete den vorher zugeklebten Umschlag und las die Anweisung noch einmal durch, um sich zu vergewissern: »An der Einfahrt zur Lo-Wate Abfüll-GmbH aussteigen. Zu Fuß 400m zum Eingang ›Besucher‹. Der Sekretärin den Namen nennen und sich an ihre Hinweise halten.« Klar genug. Der Bau mit der Aufschrift ›Besucher – Marktforschung – Verkauf‹ war zweistöckig, efeubewachsen, ein Überbleibsel aus der Zeit der Dezentralisation in den sechziger und siebziger Jahren, aber gut erhalten. Die Sekretärin war ein junger Mann, der zuhörte, als er seinen Namen nannte, und ihn fragte: »Darf ich Ihre Marschpapiere sehen?« Er machte sich nicht die Mühe, sie zu lesen, sondern schob sie verkehrt unter eine Birne mit Schirm, die bläulich leuchtete. Was der junge Mann sah, konnte Horny nicht erkennen, aber offenbar genügte es. »Der Herr, mit dem Sie einen Termin haben, wird Sie in
21 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
ungefähr zehn Minuten empfangen«, sagte er. »Bitte, nehmen Sie Platz.« Es dauerte nach Hakes Uhr fast genau zehn Minuten. Der Sekretär war so freundlich gewesen, ihn die Toilette am Warteraum benützen zu lassen – im Bus hatte er es nicht gewagt, obwohl es durch die Worte des Mädchens eher dringend geworden war. Dann winkte ihm der Sekretär. »Der Herr, mit dem Sie einen Termin haben, ist jetzt frei. Diese Dame begleitet Sie hin. Bitte, halten Sie sich an folgende Regeln: Gehen Sie zehn Schritte hinter Ihrer Begleitung. Blicken Sie in keine Büros. Geben Sie Kameras, Filme, Mikrofone oder Tonbandaufzeichnungsgeräte hier ab. Wenn Sie unentwickelte Filme oder Magnetband bei sich tragen, werden diese unbrauchbar.« »Ich habe nichts dergleichen bei mir«, sagte Hake. Der junge Mann nickte ohne Überraschung. Hake dachte nach und erinnerte sich an die halbminütige Pause im Vestibül bei der Ankunft, als er auf das Öffnen der automatischen Türen gewartet hatte; kein Zweifel, daß er bei dieser Gelegenheit auf Metallspuren überprüft worden war. Seine Begleitung war eine kleine alte Dame mit mütterlichem Lächeln, die langsam dahinschlurfte und mit dünner, durchdringender Stimme rief: »Person ohne Freigabe unterwegs! Person ohne Freigabe unterwegs!« Hake blickte nicht in die Büros, weil er das unbehagliche Gefühl hatte, hier gehe etwas vor, bei dem viel auf dem Spiel stehe, und es sei besser, sich an die Anweisungen zu halten. Aber er war sich bewußt, daß Papier raschelte und Wanddiagramme umgedreht wurden, sobald er an den Türen vorbeiging. Es erstaunte ihn nicht, daß die ›Lo-Wate Abfüll-GmbH‹ irgendeine Art staatlicher Einrichtung war. Selbst wenn er das nicht erwartet hätte, wäre der Wortlaut der Anweisungen Hinweis genug gewesen.
22 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Alle Wände waren nackt, abgesehen von Ventilatoren, die aber auch versteckte Überwachungsanlagen sein mochten; cremefarbener Anstrich auf Staatskosten; nirgends Fenster erkennbar. Hake fragte sich, wie die Außenseite des Gebäudes beschaffen sein mochte. Dort hatte es doch gewiß Fenster gegeben? Aber vielleicht nur falsche. Die mütterliche Frau erreichte ihr Ziel – eine geschlossene Tür mit dem Rahmen für ein Namensschild. Aber statt des Namens gab es nur eine Nummer: ›T 34‹. Die Führerin verglich sie sorgfältig mit einer Karte, die sie in der Hand hielt, klopfte zweimal und wartete. Als die Tür aufging, wandte die Frau den Blick ab und starrte an die Decke. »Der Herr, mit dem der Herr einen Termin hatte, ist hier«, sagte sie. Hake trat ein und drückte dem Herrn die Hand, ließ sich einen Sessel und eine Zigarette anbieten und wartete. Der Herr setzte sich in einen dickgepolsterten Ledersessel hinter einem Stahlschreibtisch ohne Schubladen und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Er war klein, schmal und stark behaart; nicht nur eine Waspro-Frisur, die in alle Richtungen auseinanderstand, sondern auch ein ungepflegter Bart und Koteletten. Er wirkte nicht wie ein Mann, der beschlossen hat, sich lange Haare und einen Bart wachsen zu lassen, sondern wie jemand, der zu irgendeinem weit zurückliegenden Zeitpunkt einfach aufgehört hatte, gegen den Haarwuchs noch länger etwas zu unternehmen. Er trug Khaki und einen ArmyUniformrock ohne Abzeichen über einem blauen Arbeitshemd mit offenem Kragen. An seinem Gürtel hing eine 9 mm-Pistole im Halfter. »Ich nehme an, Sie fragen sich, was Sie hier zu suchen haben, Horny«, sagte er. Horny stieß den Atem aus. »Da haben Sie völlig recht, Mr. -« Der Mann winkte ab.
23 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Mein Name tut nichts zur Sache. Ich nehme an, Sie sind schon dahintergekommen, daß es sich hier um eine verrückte Geheimoperation handelt. Wenn nicht, sind Sie ziemlich begriffsstutzig. Wir teilen Leuten wie Ihnen also keine echten Namen mit, aber Sie können mich -« Er unterbrach sich und bog die Ecke eines Schriftstücks auf seinem Schreibtisch um. »Ah ja. Sie können mich Griesgram nennen. Oder Knicker.« »Griesgram?« »Fragen Sie mich nicht, warum, ich entscheide das nicht. Also, das erste, was wir zu tun haben, ist, Sie wieder in den aktiven Dienst zu berufen. Bitte, stehen Sie auf, und sprechen Sie den Eid nach.« »He! He, warten Sie mal! Ich bin neununddreißig Jahre alt und kann nicht mehr eingezogen werden; außerdem bin ich Geistlicher.« »O ja, gewiß, das sind Sie. Sie sind aber auch auf dem College im Reserveoffizierskorps gewesen, nicht?« »Das ist doch lächerlich. Ich war nicht wirklich dabei. Ich saß im Rollstuhl. Das war nur so ein Gag, es gab zusätzliche Punkte « »Aber Sie haben den Eid geleistet und sich mit Ihrer Unterschrift auf zwanzig Jahre verpflichtet. Daran hat sich nichts geändert, oder? Also, stehen Sie auf.« »Nein«, sagte Horny, dem das alles viel zu schnell ging. »Ich meine, können Sie mir nicht vorher verraten, worum es überhaupt geht? Das wird wohl mit der CIA zu tun haben, aber « »Ach, Horny, Sie sind aber lästig. Passen Sie auf. Die CIA ist vor Jahren aufgelöst worden, nach den Skandalen. Wußten Sie das nicht? Es gibt sie nicht mehr. Was wir hier haben, ist nur ein Team. Mit einer Aufgabe.« »Und was soll dann ich -?«
24 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Der Mann stand auf und wirkte plötzlich viel größer. Er sagte tonlos: »Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder Sie leisten den Eid oder gehen wegen Wehrdienstverweigerung ins Gefängnis. Das sind zwar nur fünf Jahre, aber es werden harte Jahre sein, Hake, sehr harte Jahre. Und dann fällt uns noch etwas anderes ein.« Horny Hake brauchte ungefähr drei Sekunden, um die Alternativen abzuwägen und zu begreifen, daß es für ihn keine gab; widerwillig und mürrisch stand er auf und leistete den Eid. »Das ist schon viel besser«, meinte der Mann herzlich. »Als erstes muß ich Ihnen drei Befehle geben. Merken Sie sich die, Horny. Sie dürfen sie nicht aufschreiben, aber ich schneide die Befehle und Ihre Antworten mit – die in jedem einzelnen Fall zu lauten haben: ›Ich verstehe und werde mich daran halten.‹ Verstanden? Also, erster Befehl: Dieses Unternehmen und Ihre Beteiligung daran sind streng geheim und dürfen zu keinem Zeitpunkt mit irgend jemandem besprochen werden, ohne daß eine ausdrückliche Genehmigung von mir oder derjenigen Person vorliegt, die für den Fall, daß ich sterbe oder von meinem Platz entfernt werde, an meine Stelle tritt. Verstanden?« »Denke schon.« »Nein, das ist nicht richtig, ›Ich verstehe und werde mich daran halten.‹« »Ich verstehe und werde mich daran halten«, sagte Hake nachdenklich. »Zweiter Befehl: Die Freigabe irgendwelchen Materials mit Bezug auf dieses Unternehmen kann nur auf meine ausdrückliche schriftliche Anweisung oder die meines Nachfolgers stattfinden. Eine zeitliche Begrenzung dafür gibt es nicht. Sie sind für den Rest Ihres Lebens daran gebunden. Okay?« »Gut«, sagte Hake düster. »Falsch, ›Ich verstehe und -‹« »Ich verstehe und werde mich daran halten.«
25 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Drittens: Diese Sicherheitseinstufung gilt auch für die Tatsache, daß Sie in den aktiven Dienst zurückberufen werden. Sie dürfen niemandem davon etwas mitteilen.« »Und was soll ich meiner Kirche sagen?« fragte Hake scharf. »Sie sind sehr krank, Horny«, erklärte der Mann mitfühlend. »Sie müssen eine Weile freinehmen.« »Aber ich kann doch nicht einfach weggehen?« »Gewiß nicht. Wir stellen Ihnen einen Ersatzmann zur Verfügung. Und von Ihrem Standpunkt aus hat das gewisse Vorteile. Gehaltsmäßig werden Sie von ›Lo-Wate‹ als Berater angestellt, mit einem Jahressalär, das GS 16 entspricht – das sind, falls Sie das nicht wissen sollten, zur Zeit jährlich um die 83000 Dollar brutto. Das sind, Augenblick mal« – er zog ein Notizbuch aus der Hemdtasche – »über dreißigtausend Dollar mehr, als Sie jetzt bei Ihrer Kirche verdienen. Und wir werden auch in anderer Hinsicht gut für Sie sorgen. Das Team kümmert sich um seine Leute.« »Aber ich bin gern Pfarrer!« Schon während er das sagte, begriff er, wie bedeutungslos das war. »Warum ich?« entfuhr es ihm. »Ah«, sagte der Mann, ganz Mitgefühl, »wie viele Menschen haben diese Frage schon gestellt? Männer, die auf dem Schlachtfeld fielen. Mädchen, die vergewaltigt wurden. Kinder mit Leukämie. In Ihrem Fall ist das natürlich ein bißchen einfacher zu erklären«, fuhr er fort. »Wir haben eine Art Nachforschung nach Personen, die im aktiven Dienst tätig sind oder für unser Team reaktiviert werden könnten, angestellt. Alter nicht unter zwanzig und nicht mehr als fünfundvierzig, Herkunft Naher Osten, aber weder Jude noch Moslem. Allzu viele kann es da nicht gegeben haben, Horny. Dann gingen wir nach einer Punktebewertung vor. Das machen wir immer dann«, sagte er in vertraulichem Ton, »wenn wir praktisch nicht wissen, wen wir wollen. Wir denken uns ein paar Kriterien aus – Sprachen des östlichen Mittelmeers, Vertrautheit mit den Gebräuchen der Gegend, frei von Verpflichtungen, die es erschweren würden, für
26 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
längere Zeit mit unbekanntem Ziel zu verreisen. Solcherlei Dinge. Und Sie haben gesiegt, Horny, ganz glatt.« »Sie wollen, daß ich als Spion in den Nahen Osten gehe?« Er hüstelte. »Tja, das ist das Eigentümliche. Hier steht, daß Ihr erster Auftrag Sie nach Frankreich, Norwegen und Dänemark führt. Seltsam«, meinte er gleichmütig, »aber ab und zu gerät das System durcheinander. Es macht Spaß, sich mit Ihnen zu unterhalten, aber bevor Sie gehen, müssen Sie noch mit zwei anderen Leuten sprechen. Lassen Sie sich zu Ihrer nächsten Verabredung bringen.« Die nächste Person war eine mollige und sehr hübsche Frau, die unvermittelt fragte: »Wieviel wissen Sie von Geschichte?« »Tja -« »Ich meine nicht die Römer und die Herzöge von Burgund, ich meine die letzten Jahrzehnte. Als Beispiel: Warum hat es in den vergangenen zwanzig Jahren keinen Schießkrieg gegeben?« Nun, die Antwort darauf kannte er. Niemand brachte mehr den Mut für einen Schießkrieg auf, nicht seit den kurzen, heftigen Blutbädern, die innerhalb von zwei Jahrzehnten zwanzig kleine Länder zermürbt und besudelt hatten. Zum einen war er schlecht fürs Geschäft. Das Öl heulte vor Qual auf, als die Israelis die arabischen Felder zerstörten. Der Stahl kreischte unter dem Druck der Preiskontrollen. Die Banken jammerten über Währungsvorschriften. »Ich würde sagen«, begann er bedächtig, »es liegt daran -« »Daß es zu gefährlich ist«, fiel sie ein. »Niemand gewinnt noch einen Krieg – wenn der Gegner weiß, daß ein Krieg im Gange ist.« »Wie bitte?« »Es gibt zwei Arten, ein Rennen zu gewinnen, Hake. Die eine besteht darin, den Gegner mit roher Gewalt zu schlagen, die
27 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
andere darin, ihm ein Bein zu stellen. Das machen sie mit uns. Warum, glauben Sie, herrscht in diesem Land eine solche Energieknappheit?« »Na ja, weil die Vorräte der Welt zu Ende -« »Weil man unsere Zahlungsbilanz manipuliert, Hake. Die Mark ist schon drei Dollar wert, haben Sie das gewußt? Und was ist mit dem Verbrechen?« »Mit dem Verbrechen?« »Von Verbrechen haben Sie doch gehört, oder? In keiner Großstadt Amerikas kann man noch ungefährdet durch die Straßen laufen. Selbst unsere Autostraßen sind nicht sicher, in jedem Bundesstaat gibt es Busräuber. Wissen Sie, warum es weder für Gold noch gute Worte Avokados gibt? Weil irgend jemand – irgend jemand – mit Absicht Schädlinge eingeführt hat, denen die Ernte zum Opfer fiel.« »Ich glaube, beim Verbrechen haben Sie etwas übersprungen«, sagte Horny. »Da bin ich nicht ganz mitgekommen.« »Ist doch ganz deutlich, Hake! Irgend jemand fördert diese Gesetzlosigkeit. Billige spanische und algerische Pornostreifen, die zeigen, wie Räuber und Diebe über die Mädchen herfallen. Sie wirken primitiv, aber wie raffiniert ist das gemacht! Krieg, das sind nicht nur Bomben und Raketen, mein Junge. Das ist, dem anderen weh zu tun, wo man kann. Und wenn du ihm auch noch so weh tun kannst, daß er nichts zu beweisen vermag, na, dann hast du schon was gut. Und das machen sie mit uns, Hake. Da, sehen Sie sich das an.« Sie schob eine Kassette in ein Sichtgerät. Horny starrte nachdenklich auf den Bildschirm. Es hatte schon vor langer Zeit begonnen, lange vor den Großen Kriegen. Die friedliebenden Briten waren schon im 19. Jahrhundert in diesem unmoralischen Gegenstück zum Krieg Wegbereiter gewesen: Sie hatten eine gute Methode gefunden, Widerstand bei unterdrückten Bevölkerungen zu verhindern, indem sie dafür sorgten, daß sie im Opiumrausch der Wirklichkeit entflohen. Amerika selbst
28 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
hatte Zigaretten und Coca-Cola in die ganze Welt exportiert. Nun wurde das der MAZ zufolge zur staatlichen Politik, und William James drehte sich im Grabe um. China überflutete die Sowjetunion mit Comecon-Wodka zum halben Marktpreis. Das war keine Waffe. Niemand starb. Aber zwanzig Prozent der Stahlarbeiter von Magnitogorsk blieben im Durchschnitt an jedem Arbeitstag den Fabriken fern, weil sie verkatert waren. Tokio überschwemmte die Marianen mit billigen Sukijaki-Nudeln von hoher Qualität und erinnerte die Wähler an ihre Herkunft kurz vor der Volksabstimmung, die zur Wiedervereinigung der Inseln mit Japan führte. Während der Londoner Wasserknappheit kurz vor Fertigstellung der ›Raib von Schottland‹-Wasserwerke liefen irische Nationalisten herum und drehten alle Hydranten auf, während versteckte Sympathisanten ihre Wasserhähne laufen ließen. Das hatte eine solche Wirkung, daß palästinensische Flüchtlinge, für diese Gelegenheit beschnitten und ausgebildet, es in Haifa nachmachten, mit dem Erfolg, daß mehr als 8000 Hektar Orangenhaine wegen Wassermangels zugrunde gingen. Inzwischen waren solche Praktiken an der Tagesordnung und liefen streng im geheimen ab. Alle taten es, niemand sprach davon. Horny Hake war entsetzt. Sofort, als er begriff, was ihm da vorgeführt wurde, platzte er heraus: »Aber das ist doch bestialisch! Angeblich gibt es doch keine Kriege mehr!« Die Frau deckte das Gerät zu und seufzte. »Gehen Sie durch diese Tür da. Dort ist jemand, der Sie unter die Lupe nehmen möchte.« Der Jemand erwies sich als ein rotblonder junger Mann mit Brille, der Hake ein wenig ähnlich sah. »Jim Jackson«, sagte er, während er aufstand. »Ich bin Ihr Ersatz.« »Ersatz wofür?« fragte Hake scharf.
29 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Sie legen ein Sabbatjahr ein«, sagte Jackson und beobachtete nachdenklich Hakes Gesichtsausdruck. »Richtiger Ausdruck?« »Sabbatjahr? Das ist der Urlaub eines Geistlichen. Ich dachte, ich bin krank.« »Ach, Mist«, sagte Jackson verärgert. »Haben die das schon wieder geändert? Na ja, jedenfalls übernehme ich für Sie, während Sie aktiven Dienst tun.« Hake sah ihn eifersüchtig an. »Sind Sie Geistlicher?« »Ich bin, was man mir aufträgt«, erwiderte Jackson achselzukkend. »Sie sagen ›Du bist ein Finanzchef‹ oder ›Du bist ein Fernsehproduzent‹, und ich mache das. Sie würden staunen, wie leicht das ist, wenn man Chef ist. Ist ein anderer Chef, wird es schwieriger, aber ich komme durch. Manchmal baue ich Mist, aber gewöhnlich fällt das keinem auf.« Hake war entsetzt. »Ein Geistlicher hat eine schwere Aufgabe. Wie sollten Sie eine Gemeinde übernehmen können?« »Ach, das wird schon gehen«, meinte Jackson. »Man hat mich darauf hingewiesen, daß es zu dem Einsatz kommen könnte, deshalb bin ich letzten Sonntag in eine Kirche gegangen. Sieht nicht so schwierig aus. Ich habe mir von dort einen Stapel hektographierter Predigten mitgenommen, die mir auf jeden Fall über die ersten Wochen hinweghelfen werden. Allerdings war das eine Baptistenkirche«, fuhr er fort, »und soviel ich weiß, Kongregationalist. Oder etwas Ähnliches. Da wird es wohl Unterschiede in der Lehre geben, aber ich schaffe das schon. Ich habe mir bereits Bücher aus der Bibliothek geholt: alte, aber gute Sachen wie ›On Being A Woman‹ und Bände von Janov und Perls. Was machen Sie sonst noch?« »Beratung«, erwiderte Hake sofort. »Die Predigt ist im Vergleich dazu gar nichts. Alle Gemeindemitglieder können jederzeit zu mir kommen, mit allen ihren Problemen.«
30 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Und die lösen Sie?« »Tja«, sagte Hake, »nein, ich löse sie nicht immer. Das ist eine Art strukturell altmodischer Methode, die Dinge zu betrachten. Man kann den Menschen keine Lösungen aufzwingen. Sie müssen sie selbst hervorbringen.« »Und wie bringen Sie sie dazu?« »Ich höre zu«, erwiderte Hake prompt. »Ich lasse sie reden, und wenn sie zu der Stelle kommen, wo der Schmerz sitzt, frage ich sie, was sie ihrer Meinung nach dagegen tun könnten. Es gibt natürlich auch Mißerfolge, aber meistens erkennen sie, was sie tun müssen.« Jackson nickte ohne Überraschung. »So habe ich das auch gemacht, als ich Richter war«, meinte er. »Die beiden Anwälte in mein Zimmer geholt und sie aufgefordert, mir nicht die Zeit zu stehlen, sondern mir zu sagen, was ich nach ihrer wahren Meinung tun sollte. Sie sagten es mir fast immer. Ich habe den Job sehr ungern aufgegeben, wenn ich ehrlich sein soll.« Bis die kleine alte Dame zurückkam, um Hake in die wahre Welt zurückzuführen, hatte er sich mit der Tatsache abgefunden, daß dieses Hirngespinst sich in die Wirklichkeit hineingedrängt hatte. Unfaßbar, aber er sollte Spion in einem Krieg werden, von dem er nicht einmal gewußt hatte, daß er im Gange war. Wahnsinn! dachte er, während er den Warnschreien der Dame durch den Flur folgte und während die Bürotüren der Reihe nach zufielen und vor seinem starren Blick geradeaus Geheimnisse eilig weggeräumt wurden. Wahnsinn! Er wartete am Straßenrand auf den Bus. Es war totaler Wahnsinn, aber interessant; Hake ertappte sich dabei, daß er das als eine Art Irrsinnstrip hinnahm. Zumindest eine Zeitlang würde er sich keine Sorgen darum machen müssen, ob die Überlastsicherung durchbrannte, würde er nicht gezwungen sein, sich mit Jessie Tunmans Temperamentsausbrüchen abzugeben.
31 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Und das zusätzliche Geld kam sehr gelegen. Hake wurde nicht überbezahlt. Wie die meisten Geistlichen hatte er im Lauf der Jahre nebenher eine ganze Reihe anderer Berufe ausgeübt – Zeitschriftenabos verkauft und Examensarbeiten für andere in der Schule geschrieben, als er noch im Rollstuhl gesessen hatte; später war er einen Sommer lang Berater in einem Ferienlager für straffällige Jungen gewesen, und im Jahr danach hatte er sogar den kleinen wasserstoffbetriebenen Lastwagen gesteuert, der Reinigungsmittel auf die Heliostaten des örtlichen Sonnenkraftwerks spritzte. Es gab für den Nebenberuf eines Geistlichen strenge Regeln. Er sollte entweder würdig oder unauffällig sein. Kein Gemeindemitglied wollte seinen Seelenhirten dabei sehen, wie er im Supermarkt Dosensuppen auspackte. Spion zu sein, mochte nicht als würdig gelten, war aber garantiert unauffällig. Freilich blieb die Frage nach Recht und Unrecht. Sie war schwer zu klären. Hake behalf sich damit, daß er sie zunächst einmal wegschob. Er sah keinen Ausweg, als zu tun, was man ihm auftrug – im Vertrauen darauf, daß jeder, der ihm später Missetaten vorwarf, und wenn es sein eigenes Gewissen war, das als zeitweilige Verirrung in einem sonst nicht allzu schlechten Leben verzeihen würde. Und als Wahnsinn betrachtet – das heißt, als eine Art straffreien Urlaubs von der ärgerlichen Welt der objektiven Wirklichkeit – , war es auf jeden Fall aufregend genug, ja beinahe vergnüglich. Alles war möglich. Er sagte sich mit einem kleinen Erregungskitzel, daß er mit dem Unerwarteten rechnen mußte… und so wunderte er sich nicht einmal, als statt des Omnibusses ein dreirädriger Reparatur-Lastwagen der Telefongesellschaft mit verklingendem Heulen vor ihm zum Stehen kam. Er war selbst dann nicht verblüfft, als die Doppeltür aufging und vier maskierte Personen freigab. Zwei davon zielten mit Pistolen auf ihn, während die anderen heraussprangen, ihn packten und hineinstießen. In dem Kastenwagen gab es keine Fenster, aber Hake hätte ohnehin nicht hinaussehen können. Er mußte sich auf eine Reihe von nur annähernd eben verlaufenden Werkzeugkästen und
32 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Ersatzteilkisten legen. Er durfte nicht aufstehen, bis das Fahrzeug hielt und die Männer, jetzt höflich und nicht mehr gewalttätig, ihn in ein ganz normal aussehendes MaisonetteHaus im altmodischen Ranchstil von vor sechzig Jahren führten. Es erstaunte ihn nicht, als er das Mädchen unter der Tür erkannte. Sie war hochgewachsen, schlank und wirklich sehr hübsch, wenn man sich an ein paar sonderbaren Eigenheiten des Verhaltens nicht störte; sie war nämlich die junge Dame, die ihn im Bus angesprochen hatte. Sie schoben ihn umher wie eine Gliederpuppe und sprachen von ihm, als sei er nicht dabei. »Durchsuchen«, sagte das Mädchen. Ein Mann hielt ihn fest, während der andere geschickt seine Taschen ausleerte. Das Festhalten war nicht notwendig. Horny hatte nicht die Absicht, sich zu wehren, solange die beiden anderen Männer noch immer die Pistolen auf ihn gerichtet hielten. »Gebt mir seine Sachen«, sagte sie. »Lauter Kram, Lee.« »Trotzdem her damit.« Sie füllte ihre gewölbten Hände mit dem Zeug aus seinen Taschen. Es war nicht sehr eindrucksvoll. Brieftasche, Rückfahrschein für den Metroliner, Schlüssel mit einer Hasenpfote, Anzeige wegen Energieabzapfung, die zusammengefalteten Blätter, die seine Predigt hätten enthalten sollen »He«, sagte er. »Wo ist meine Schreibmaschine?« Das Mädchen sah wütend einen der Männer an. Dieser sagte zögernd: »Die haben wir wohl im Lastwagen gelassen.« »Holen! In die Küche damit! Du behältst ihn im Auge, Richy!« Der Mann mit der größeren Schußwaffe stieß ihn mit dem Gesicht nach unten auf ein durchgesessenes Sofa, während das Mädchen und die beiden anderen Männer das Zimmer verließen. Das Sofa roch nach einer Benützung von Generationen, und als Hake das Gesicht wegdrehen wollte, warnte Richy: »Versuch’s bloß nicht, Freund.«
33 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich versuche gar nichts.« Hake hielt sein Gesicht störrisch weggedreht. Nun konnte er das Zimmer studieren, obwohl es nicht viel zu sehen gab. Es war dunkel, weil man das Panoramafenster schon vor langer Zeit zuerst mit durchsichtigem, dann mit undurchsichtigem Kunststoff beklebt hatte, um Heizungskosten zu sparen. Ihm genügte das immer noch nicht, denn seitdem er sich nicht mehr bewegte, fror er. Im schwachen Lichtschein von zwei Kerzen unternahm Hake den Versuch, sich Richys Gesicht einzuprägen. Ein völlig normales Gesicht, noch jung, mit rotbraunem Bart. Er fragte sich, ob er es bei einer Gegenüberstellung vor der Polizei wiedererkennen würde, und dann, ob er überhaupt am Leben bleiben mochte, um das zu versuchen. Zwar konnte ihn nichts mehr überraschen, aber noch genug erschrecken, und das hier begann ihm Angst zu machen. »Bring ihn rein«, rief das Mädchen. »Klar, Lee. Aufstehen, du.« Horny ließ sich in die Küche stoßen. Es war dort heller als im anderen Raum, aber es roch eher noch schlimmer, so, als hätte der Geist längst dahingegangener Müllschlucker schmierige Reste hinterlassen, die im Abfluß verfaulten. Das Mädchen saß auf der Kante eines Küchentischs aus Chrom und Plastik. »So, Reverend H. Hornswell Hake«, sagte sie, »wollen Sie uns jetzt verraten, wer Sie wirklich sind?« Diesmal war er überrascht. »Der bin ich aber«, wandte er ein. Sie schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Sie ein Geistlicher? Mann! Die schwächste Tarnung, die ich je gesehen habe.« Sie stocherte mit dem Finger in dem Durcheinander auf dem Tisch herum: seine Papiere und seine Schreibmaschine, aufgeklappt, die Walze herausgenommen, das Farbband meterweise aufgerollt – vielleicht waren sie auf der Suche nach Mikrofilmen? »Sehen Sie sich den Führerschein an. Vor drei
34 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Tagen ausgestellt. Ganz amateurhaft. Jeder wüßte, daß man ihn ein, zwei Jahre zurückdatieren muß, damit die Fälschung nicht so auffällt.« »Aber da mußte er erneuert werden. Ehrlich, das bin ich. Horny Hake. Ich bin Geistlicher der Unitarier-Kirche in Long Branch, New Jersey. Schon seit Jahren.« Richy stieß ihn mit der Waffe auf einen Stuhl aus Alurohren. »Von Jo -Jos hast du wohl noch nie was gehört«, sagte er verächtlich. »Jo-Jos?« »Oder Hula-Hoops. Weißt nicht mal, was das ist, oder?« »Aber sicher. Das weiß doch jeder.« »Und du weißt besser Bescheid über sie als andere Leute, weil du Spielzeugkonstrukteur bist, nicht? Mach uns nichts vor, Hake, oder wie du sonst heißt. Was wir wissen wollen, ist: Was für Spielzeug exportierst du jetzt eigentlich?« Hake saß da und blinzelte sie an, stumm, weil ihm keine Antwort einfiel, von der er überzeugt gewesen wäre, daß er sie geben sollte. Außer: »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Lee seufzte und griff ein. »Fangen Sie doch einfach damit an, daß Sie zugeben, Spie lzeugkonstrukteur zu sein, ja? Das wäre sogar sehr klug, nicht wahr?« meinte sie hilfreich. »Wenn Sie nicht wenigstens das zugeben, erregen Sie Neugier, die manche Leute zu der Vermutung veranlassen könnte, es ginge um Sicherheitsfragen.« »Aber ich bin keiner! Ich bin Geistlicher!« »O Gott, Hake, Sie machen es einem wirklich schwer.« Sie blickte mürrisch auf den größeren der beiden Bewaffneten, der an der Tür stand und die Hand mit der 32er-Automatik auffällig baumeln ließ. Am Lauf war ein langes Rohr angeschraubt, bei dem es sich wohl um einen Schalldämpfer handelte. Auch das war auffällig und in hohem Maß unangenehm dazu.
35 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Soll ich es bei ihm versuchen?« brummte der Mann. »Jetzt noch nicht. Nur, wenn er so weitermacht. Hören Sie, Hake«, sagte sie, »ich sehe, daß Sie auf dem Gebiet noch ein Neuling sind. Das verdammte Team, da wird nicht richtig instruiert. Lassen Sie sich die Regeln erklären, ja?« »Würden Sie mir auch verraten, was das für ein Gebiet ist?« »Spielen Sie nicht den Klugscheißer. Das sieht so aus. Wir haben Sie entführt, verstoßen also offenkundig gegen das Gesetz. Was das Gesetz angeht, ist bei Ihnen alles in Ordnung, aber Sie wollen nicht gekidnappt bleiben. Kommen Sie soweit mit? Das ist die erste Sinnebene dessen, was hier vorgeht. Auf der zweiten wollen wir einmal unterstellen, Sie wären wirklich ein gewöhnlicher Spielzeugko nstrukteur -« »Bin ich aber nicht!« »Ach, halten Sie doch den Mund, ja? Lassen Sie mich ausreden. Sagen wir, Sie sind ein Spielzeugkonstrukteur und haben von der Lo-Wate Abfüll-GmbH, alias das Team, noch nie etwas gehört. Warum, glauben Sie, haben wir Sie entführt? Sie könnten argwöhnen, wir sind von Mattel oder, sagen wir, Sears Roebuck oder so. Schlichte, simple alte Industriespionage, wissen Sie, um Ihre neuen Entwürfe zu kriegen. Ein bißchen gröber als die meisten, aber immer noch etwas Kommerzielles, nicht? Nun, in einem solchen Fall müßten Sie sich auf eine ganz bestimmte Weise verhalten. Sie sollten mit uns zusammenarbeiten. Warum? Weil Ihr Chef von Ihnen nicht erwartet, daß Sie um Himmels willen Ihr Leben aufs Spiel setzen, nur um einen neuen Jo-Jo-Entwurf zu schützen, selbst wenn Sie damit rechnen, daß Sie davon hundert Millionen Stück in die Sowjetunion liefern können. Soweit verstanden? Es gibt eine Grenze für das, was Sie hinnehmen sollten, nur um die neue Herbstkollektion vor der Konkurrenz geheimzuhalten.« »Das mag schon so sein, aber -« »Nein, Hake, noch kein ›Aber‹. Das gilt, wenn Sie wirklich nur ein Spielzeugkonstrukteur sind. Begeben wir uns jetzt auf die
36 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
dritte Ebene. Unterstellen wir, daß Sie ein Spielzeugfachmann sind, der in Wirklichkeit für die Geheimleute arbeitet. Sagen wir, Sie wissen, daß diese Jo-Jos einen Unterschall-Pfeifton enthalten, der die Menschen wahnsinnig macht, wenn ihre Kinder damit spielen. Nichts Tödliches, nur soviel, daß sie verkrampft und gereizt sind. Sagen wir, Sie sind dahintergekommen, daß die Hula-Reifen für Erwachsene mehr Bandscheibenvorfälle und Rückgratschmerzen hervorrufen werden, als die sowjetische Wirtschaft verkraften kann – nur mal für den Augenblick, ja? Was tun Sie dann? Na, Sie verhalten sich genauso, wie Sie es auf der zweiten Ebene tun würden, weil wir nicht erfahren sollen, daß Sie nicht bloß ein gewöhnlicher Spielzeugkonstrukteur sind. Was Sie auf beiden Ebenen nicht tun, ist, uns in dem Punkt zu belügen, was Sie für einen Beruf haben, weil wir das nämlich schon wissen. Deshalb haben wir Sie hergebracht«, erläuterte sie. »Aber ich bin immer noch auf der ersten Ebene. Ich bin Geistlicher.« »Was für ein Quatsch«, sagte sie verächtlich. »Als nächstes werden Sie mir noch weismachen wollen, Sie wären zur TeamZentrale nur gegangen, um sich ein Diätcola zu holen.« »Tja«, sagte er verlegen und verstummte. »Sehen Sie? Keine Antwort. Sie können nicht einmal überzeugend lügen. Da hat man Sie wirklich ganz schlecht instruiert.« Hake mußte zugeben, daß er ihr keine Antwort liefern konnte. Aber er gab ihr im stillen recht. Nur schade, daß niemand ihm erklärt hatte, wie man sich in einem solchen Fall verhielt. Wo blieben die Giftkapseln in den falschen Zähnen oder das geheime Funkgerät, das die Zentrale verständigte und hundert Agenten veranlaßte, sich einzuschleichen, um ihn zu retten? Das Mädchen wartete auf eine Antwort. Er sagte verzweifelt: »Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist die Wahrheit. Die Papiere, die Sie haben, zeigen, was ist. Ich bin ein Unitarier-Geistlicher, Punkt.«
37 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Nein, Hake«, sagte sie zornig, »nicht Punkt. Was hätte ein Pfarrer dort zu suchen, wo wir Sie aufgelesen haben?« »Tja, hm«, sagte er vorsichtig, »ja, ich bin gebeten worden, hinzukommen.« »Um über Spielzeug für Rußland zu reden!« »Nein. Niemand hat ein Wort von Spielzeug gesagt.« »Weshalb waren Sie dann dort?« »Mein Gott, glauben Sie nicht, daß ich das auch gern wüßte? Man sagte nur, man brauche jemanden, der aus dem Nahen Osten stammt und nicht vermißt wird, wenn irgend etwas schief -« Verspätet preßte er die Lippen zusammen. Seine Bewacher sahen einander an. »Naher Osten?« »Ist nicht das erstemal, daß der Gewährsmann schiefliegt.« »Du glaubst -?« »Das ist vielleicht gar nicht der Spielzeugmann«, erklärte der mit der 32er Pistole. Das Mädchen nickte langsam. »Vielleicht sind wir in etwas ganz anderes hineingeraten.« »Dann wird es vielleicht Zeit für Phase zwei«, meinte der Pistolenträger. »Ja. Passen Sie auf, Hake«, sagte sie und wandte sich ihm wieder zu. »Das ändert die Sachlage, nicht? Ich glaube, wir haben gewissermaßen einen Fehler gemacht. Kommen Sie, trinken Sie eine Tasse Kaffee, während wir uns überlegen, wie es weitergehen soll.« Er griff mürrisch nach der Tasse. Die vier zogen sich in das andere Zimmer zurück und flüsterten miteinander; von Zeit zu Zeit blickten sie durch die Tür zu ihm hinüber. Er konnte nicht hören, was sie sagten. Es schien auch keine Rolle zu spielen. Mochten sie konspirieren; es gab nichts, was er dagegen tun
38 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
konnte, außer es geschehen zu lassen. Nicht einmal der Kaffee war besonders gut, wenn auch nicht so schlecht wie seine prekäre Lage. Diese Leute schienen keine sonderlich tüchtigen Entführer oder Spione oder was immer zu sein, aber wieviel Erfahrung brauchte man, um den Abzug einer Pistole durchz uziehen? Er trank wieder einen Schluck Kaffee. Als er zum drittenmal die Tasse an die Lippen hob, fiel ihm verspätet ein, daß es nicht klug sein mochte, etwas zu trinken, nur weil es flüssig war. Gift, Wahrheitsserum, k.o.-Tropfen – aber das kam zwei Schlucke zu spät. Die Tasse fiel ihm aus der Hand, und sein Kopf sank auf den Schreibmaschinenkoffer. Als er aufwachte, lag die Schreibmaschine auf seinem Schoß, und von den anderen war keiner zu sehen. Er saß wieder im Metroliner, auf dem Rückweg nach Newark. Auf der anderen Seite des Mittelgangs starrten ihn zwei winzig kleine ältere Damen an. »Er wird nüchtern«, sagte eine von ihnen mit lauter Stimme. Ebenso laut antwortete die andere: »Widerlich! Wenn ich seine Frau wäre, hätte ich ihm nicht in den Bus geholfen, sondern einfach dort verkommen lassen. Das hätte er verdient.«
39 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
3 Die Predigt am nächsten Vormittag tat große Wirkung. »So lebendig und belehrend«, sagte die Vorsitzende der Gemeinde, während sie heftig seine Hand schüttelte. Er brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß sie ihn genau dieselbe Predigt vor zwei Jahren hatte halten hören, Wort für Wort. Den Kopf hatte er auch nicht dafür, weil der einzige Kopf, den er besaß, schmerzhaft dröhnte. Was in dem Kaffee gewesen war, hatte ihm den ausgewachsensten Kater seines Lebens verschafft, und das ohne durchzechte Nacht als Rechtfertigung. Mußte Wahrheitsdroge gewesen sein, entschied er. Sie hätten ihn nicht gehen lassen, wenn sie nicht ganz sicher gewesen wären, daß er ihnen nichts Bedeutsames verschwieg. Wenn man es genau bedachte, hatte er ihnen gar nichts Belangvolles sagen können. Die Kaffeestunde nach dem Gottesdienst war pure Qual, aber nicht zu umgehen. Er hörte nicht immer, was man zu ihm sagte, aber die Reflexe sprangen ein: »Sie haben mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben, Horny.« »Freut mich sehr, daß sie Ihnen gefallen hat.« Und inzwischen betrachtete sein Verstand zwischen den Schmerzstößen die Welt ringsum in einem neuen Licht. Das Spiel, an dem teilzunehmen das Team von ihm verlangte – war es überall um ihn im Gange? Die verfilzten Wasserlilien auf allen Flüssen: War das nur eine abnorme Naturerscheinung, oder betrieben andere Nationen dieses Spiel gegen die seine? »Horny, der Methanbrenner streikt schon wieder.« »Freut mich sehr, daß es Ihnen gefallen hat.« Er dachte an die vielen Stromausfälle in den letzten Jahren. Defekte Hauptschalter, überbeanspruchte Transformatoren? Oder half da jemand nach? Er erinnerte sich an die Dutzende kleiner Pandemien von Husten und Durchfall, an die Streiks, die Arbeitsniederlegungen. An die unglaublich genauen Gerüchte über Korruption höheren Orts und an perverse Orgien der Mächtigen, die das halbe Land seinen gewählten Amtsträgern
40 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
entfremdet hatte. Allen! Wie viele kamen durch Zufall zustande? Wie viele beruhten auf strategischer Berechnung, angestellt in Moskau oder Peking oder sogar in Ottawa? »Horny, ich möchte Ihnen im Namen aller danken. Wir haben beschlossen, es mit der Ehe noch einmal zu versuchen.« »Freut mich sehr, daß es Ihnen – oh, Alys! Was sagten Sie?« »Ich sagte, Sie haben uns dazu gebracht, daß wir es noch einmal versuchen wollen, Horny.« »Das ist aber wirklich schön, ja.« Als sie gehen wollte, hielt er sie zurück; sie war eine der Aufgewecktesten in der Gemeinde, mit Doktorgrad in Geschichte, war ihm eingefallen. »Alys«, sagte er, »wie würden Sie es anstellen, sich über einige Ereignisse der letzten Zeit zu informieren?« »Was für Ereignisse der letzten Zeit, Horny?« »Tja – ich weiß nicht genau, wie ich sie beschreiben soll.« Er überlegte kurz, dann sagte er: »Ich habe den Eindruck, daß alles gewissermaßen, Sie wissen schon, in den letzten Jahren alles gewissermaßen, na, Sie wissen schon, schiefgegangen ist. Etwa die Wasserlilien, die in allen Städten im Norden die Wasserzufuhr verstopfen. Wo kommen sie her?« »Ich glaube, zuerst sind sie in Jugoslawien aufgetaucht«, meinte sie hilfreich. »Oder war das Irland?« »Dergleichen jedenfalls. Wenn ich eine Liste von, sagen wir, dreißig Punkten darüber aufstellen würde, was jetzt vorgeht und das, äh, das die Lebensqualität zu schädigen scheint, wie müßte ich es anstellen, um herauszufinden, wo es angefangen hat, welche Art von Wechselbeziehung es gibt und so weiter?« Sie spitzte die Lippen und wehrte zwei andere Gemeindemitglieder ab, die herandrängten. »Ich nehme an, Sie wollen für eine Predigt recherchieren.« »So ungefähr«, log er.
41 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Das dachte ich mir.« Sie nickte. »Tja, für den Anfang gibt es den Zeitschriftenkatalog für Leser. Und ›Aktuelle Themen‹. Dann könnten Sie sich noch die ›New York Times‹-Mikrofilme mit Sachregister ansehen. Ich fürchte, für einen Teil des Materials müßten Sie nach New York fahren. Außer -« Sie sah ihn prüfend an. »Außer, Sie möchten, daß ich Ihnen behilflich bin.« »Würden Sie das tun? Da wäre ich Ihnen wirklich dankbar.« »Aber sicher, Horny«, sagte sie und drückte unwillkürlich seinen Arm. »Ich komme morgen vorbei und bespreche das mit Ihnen. Sie sind zu uns allen so gut gewesen, ich könnte Ihnen überhaupt nichts verweigern.« Sie beugte sich vor und küßte ihn auf die Wange, bevor sie sich abwandte. Es hat beinahe den Anschein, daß die Kopfschmerzen nachlassen, dachte Hake dankbar. Er nahm nicht an, daß Knicker dergleichen billigen würde, wollte aber herausfinden, was vorging. Das mochte sogar gelingen, wenn er eine ausgebildete Rechercheurin zur Verfügung hatte. Auf den Eingangsstufen der Kirche hielt ihn ein grauhaariger Mann auf, den er nicht recht unterzubringen wußte, und sagte: »Reverend Hake, kann ich Sie kurz sprechen?« »Freut mich sehr, daß Ihnen die Predigt gefallen hat.« »Äh, hm, ja. Aber darüber wollte ich nicht mit Ihnen sprechen. Sehen Sie, ich bin bei ›Haustiere und Blumen International‹. Wir erweitern unseren Aktionsbereich hier in New Jersey. Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben, aber wir haben das alte FortMonmouth-Gelände in Eatontown erworben und möchten gern eine verantwortliche hiesige Vertretung in unserem DistriktsDirektorium bei solchen Dingen. Könnten Sie ein Direktoramt übernehmen?« »Direktoramt? Tut mir leid, Mr. -« »Haversford, Reverend Hake. Allen T. Haversford.«
42 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Also, für das Angebot bin ich Ihnen dankbar. Sagten Sie, Haustiere und Blumen? Ich fürchte, ich verstehe nicht viel von Haustieren und Blumen. Und meine Zeit -« »Fachwissen ist da nicht erforderlich, Reverend Hake. Es handelt sich um eine Frage des Gemeinwohls. Wir legen Wert auf Ihren Beitrag, damit wir helfen können, die gemeinsame Last zu tragen.« »Ja, das sehe ich schon ein, aber ich bin sehr -« »Ich weiß, Ihre Zeit ist sehr wertvoll, aber Sie könnten da überaus nützliche Dienste leisten. Und ein kleines Honorar fällt natürlich auch an. Zehntausend Dollar. Aber das Entscheidende ist: Ich bin sicher, Sie könnten uns sehr helfen, wie wir Ihrer Kirche. Bitte sagen Sie ja.« »Zehntausend Dollar im Jahr!« »O nein. Das Honorar beträgt zehntausend Dollar je Sitzung. In jedem Quartal findet eine reguläre Sitzung statt – manchmal gibt es auch Sondersitzungen, versteht sich, wenn rasch eine Entscheidung getroffen werden muß, aber sie sind in der Regel ganz kurz. Sie machen das? Recht herzlichen Dank, Reverend. Die anderen Direktoren werden sehr erfreut sein.« Horny starrte Haversford nach. Sein Kopf vergaß zu schmerzen. Vierzigtausend Dollar im Jahr, gering gerechnet. Und Dienst an der Allgemeinheit noch dazu! Als er zum Pfarrhaus ging, überlegte er, was er mit vierzigtausend Dollar im Jahr zusätzlich anfangen konnte, dann entdeckte er die Familie Brant-Sturgis. Walter Sturgis kurbelte am Kompressor seines HolzvergaserKastenwagens, während die beiden Frauen steif im Wageninneren saßen, mit roten Augen oder strahlend und sadistisch fröhlich, je nach der persönlichen Eigenart, Streßerscheinungen zu zeigen. Ted Brant stand am Randstein und funkelte ihn böse an. Das brachte die Kopfschmerzen beinahe zurück. Hake hatte vorübergehend vergessen, wie eifersüchtig Ted war.
43 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Horny hatte es sich zur wichtigsten Grundregel gemacht, sexuelle Verwicklungen innerhalb seiner Gemeinde oder bei anderen Leuten, mit denen er beruflich zu tun hatte, zu vermeiden. Wenn man bedachte, daß Hakes Vierundzwanzigstundentag sechs Stunden Schlaf und achtzehn Stunden in Berührung mit irgendeinem Mitglied der Gemeinde vorsah – oder mit einer Person, die aus ebensolchen Gründen ausschied, wie die Frau eines anderen Geistlichen in der Regionalvereinigung oder seine Kolleginnen im Komitee für das Recht auf Abtreibung –, bedeutete das, daß er sexuellen Beziehungen praktisch ganz entsagte. Es war nicht so, daß er das gewollt hätte. Manchmal glaubte er sogar, er könne es nicht aushalten. Aber er wußte, wie es anderen Pfarrern ergangen war, die gewagt hatten, von dieser goldenen Regel abzuweichen. Er war der einzige Junggeselle im Bezirk Monmouth, der nie ein Treffen des Ökumenischen Singles-Klubs versäumte – und der jedesmal allein von dort zurückkam, meistens, nachdem alle gegangen waren, weil er die Stühle aufeinandergestellt und die Aschenbecher geleert hatte, um für die nächsten Benutzer Ordnung zu schaffen. Die einzigen romantischen Zwischenspiele seines Lebens fanden in den Urlaubswochen statt. Und davon gab es nicht genug. Bei weitem nicht. Aber das letzte, was er übernehmen wollte, war irgendein Maß an Verantwortung für den wahrscheinlichen Zusammenbruch der wackeligen Brant-Sturgis-Ehe. Bevor er sich an diesem Abend schlafen legte, hatte er sorgfältig eine Liste von Themen getippt, bei denen Alys für ihn recherchieren sollte, und den Umschlag auf Jessie Tunmans Schreibtisch gelegt, einen Zettel daran geheftet, auf dem lediglich stand: ›A. geb. – ISN.‹ Jessie war nicht schrecklich klug oder tüchtig, und sie redete sehr viel. Aber sie wußte, was er mit ›Alys geben – interessiert Sie nicht‹ meinte, und würde sich daran halten. Am nächsten Morgen vergaß er Brant gab. Er war eingeschlafen, immer noch ausgefallen war, und Licht in den Augen und das
jedoch beinahe, daß es Alys als der Strom im Pfarrhaus was ihn weckte, war grelles knarrende Summen seines
44 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Elektroheizgeräts am Bett. Als er in den Keller hinunterging, um nachzusehen, betätigte sich der Mann vom E-Werk am Zähler. »Neue Sicherung?« fragte Hake. Der Mann hob den Kopf und grinste neidisch. »Nein, verdammt, Reverend – entschuldigen Sie. Die Sicherung nehme ich raus. Wissen Sie gar nichts?« »Was soll ich wissen?« »Na, das hat sich bei Ihnen erledigt. Sie kriegen offenbar einen eigenen Generator, und wir nehmen zeitweilig bei Ihnen ab, so daß Sie der Rationierung nicht mehr unterliegen.« »Einen was?« »Ihren neuen Generator. Ein Windgenerator, der oben aufs Dach kommt. Müßte heute geliefert werden, glaube ich – jedenfalls ist heute der Eilauftrag gekommen. Sie können also bis zur Höchstleistung Strom entnehmen, und das sind sechshundert Ampere, wie es da steht.« »Ich weiß nichts von einem Windgenerator.« »Tja, so ist das eben manchmal«, meinte der Mann mitfühlend. »Ihre Frau sagte, sie hätte einen Brief bekommen.« Hake unterdrückte das Bedürfnis, klarzumachen, daß Jessie Tunman nicht seine Frau war, und machte sich auf die Suche nach dem Brief. Er trug den Briefkopf ›Fonds für KlerikerZusammenarbeit‹ und lautete: ›Lieber Reverend Hake, es freut uns, Ihnen mitteilen zu können, daß unser Verwaltungsrat Ihrer Kirche eine Schenkung zu dem Zweck zugesprochen hat, in Ihrem Pfarrhaus eine Stromerzeugungsanlage einzubauen. Dementsprechend haben wir ein Wind-Dach-Gerät, Typ (x) A 40 mit den erforderlichen Montageteilen und elektrischen Anschlüssen bestellt und die Firma William S. Murfree & Co. in Belmar gebeten, die Anlage
45 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
anzubringen. Wenn wir Ihrer Kirche auf irgendeine sonstige Art zu Diensten sein können, lassen Sie uns das bitte wissen.‹ Unterschrieben war der Brief mit einem Krakel, aber Hake brauchte den Namen nicht lesen zu können, um zu wissen, woher das Ganze kam. Man sorgte gut für ihn, wie versprochen. Ein Gedanke tauchte auf. Ein Generator. Man wollte ihn zuverlässig mit Strom versorgt wissen. Also verbrachte er die nächste halbe Stunde damit, im Büro und Schlafzimmer herumzuschnüffeln, auf der Suche nach Wanzen. Er fand keine. Das warf ihn in seinen Überlegungen zurück. Es war eine Ernüchterung, beinahe eine Enttäuschung, denn wenn man ihn abhörte, lieferte man ihm automatisch ein Kommunikationsmittel. Er wollte es haben. Das hieß nicht, daß er sich auch schon entschlossen hatte, es zu benützen. Er dachte immer noch darüber nach, aber er wollte die Möglichkeit haben. Der Gedanke nagte an ihm, daß er seine Entführung eigentlich melden sollte. Wenn er eine Wanze hätte finden können, wäre es leicht gewesen, einfach hinzugehen und laut zu sagen: »He, Knicker! Ich bin entführt worden. Jemand hat meine Tarnung durchschaut. Rufen Sie mich bei Gelegenheit an, ja? Wir unterhalten uns beim Mittagessen drüber.« Aber er hatte keine Wanze gefunden, und das war verwirrend. Wenn das Team ihn nicht mit Strom nur deshalb versorgte, um alles überwachen zu können, was er tat, dann war vielleicht seine ganze Einstellung falsch. Vielleicht waren sie wirklich gütig und wollten ihn beschützen, und es kam ihnen nur darauf an, dem Neuling zusätzliche Vergünstigungen zu verschaffen. Vielleicht durfte er seinen negativen Gefühlen nicht trauen. Jetzt, wo er Wärme genug hatte, wurde das Wetter mild. Als er seinen Morgenlauf machte, eine Meile den Strand entlang zum Landungssteg und wieder zurück, keuchte und schwitzte er, und als er auf dem Plankenweg heraufkam, sah er Alys Brants dreirädrigen Wagen schief vor dem Pfarrhaus stehen. Er trieb
46 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
sich fünf Minuten lang hinter dem Geländer herum, bis sie herauskam und davonfuhr, und bis dahin war er durchgefroren und tropfnaß. Immerhin – was für einen Sinn sollten Vorrechte haben, wenn man sie nicht nützte? Er zog den Trainingsanzug aus und warf ihn unbekümmert in die Wasch- und Trockenmaschine, in der Hoffnung, daß sie noch wußte, wie es ging, und leistete sich eine langdauernde heiße Dusche. Kein Zweifel, Energieverschwendung tat einem gut. Er machte sich fröhlich über die Morgenpost her, erledigte sie in einer halben Stunde, brachte seine Spesenabrechnung auf den neuesten Stand, schrieb eine Heiratsfeier für zwei junge Mitglieder seiner Gemeinde (›Ich, Arthur, nehme dich, James, solange die Liebe anhält -‹), rief alle kranken Pfarrkinder an und versprach zweien davon, sie zu besuchen, und hatte vor dem Mittagslauf sogar noch zwanzig Minuten Zeit für die Hanteln. Sein Trainingsanzug war frisch und trocken, aber er brauchte ihn nicht; er zog Turnhose und Trikot mit der Aufschrift ›Mich lieben heißt Gott lieben‹ an und lief den Strand entlang. Auf dem Rückweg tauchte wieder Alys’ Wagen auf und schlängelte sich zwischen den Erdhaufen hindurch zu seinem Haus. »Verdammt«, sagte Hake. Er glaubte nicht, daß sie ihn gesehen hatte, änderte die Richtung und joggte die breiten Straßen zu seiner Kirche hinauf. An Wochentagen betrieb der Beirat einen Kindergarten, um die kirchlichen Eintragungen voll zu nutzen, und der Parkplatz, der auch als Spielplatz diente, war überfüllt mit ein Meter hohen menschlichen Wesen und größeren, verkrampften Lehrerinnen, die zur Musik eines batteriebetriebenen Kassettenrekorders umherhüpften. »Hallo, hallo«, rief Hake und huschte an ihnen vorbei ins Haus. Wie erwartet, hatte niemand die Stühle für das MUS-WUSTreffen an diesem Abend aufgestellt. Normalerweise wäre das ein Ärgernis gewesen, aber heute war es eine gute Gelegenheit, an die zwanzig Minuten zu überstehen, während Alys einsah, daß er nicht ins Pfarrhaus kommen würde, und davonfuhr.
47 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Er schob die Stühle nachdenklich zu einem Kreis zusammen. Die Beratungstätigkeit lief nicht so gut wie früher. Oder anders. Als er im Rollstuhl gewesen war, hatten ihm die Frauen, die zu ihm kamen, alles mögliche erzählt – ihre Orgasmen aufgezählt, ihre Vorlieben mit klinischer Genauigkeit erläutert. Sie taten es immer noch, aber sie saßen aufrechter und lächelten öfter, wenn sie es taten. Es war eine Art Empfänglichkeit in der Luft, die es bei den Frauen vorher nicht gegeben hatte. Und manchmal wirkten die Männer jetzt, nun, unruhig. Wie Ted Brant. Vielleicht war das Amt als Geistlicher ein Fehler. Vielleicht war auch die Operation, die ihn vom Rollstuhl befreit hatte, ein Fehler gewesen. Sie schien bei der Eheberatung zu stören. Aber er konnte die Operation nicht ungeschehen machen, und wie sollte er ungeschehen machen, daß er Pfarrer war? Mit neununddreißig Jahren wechselte man nicht so leicht den Beruf. Aber das tat er in Wirklichkeit. Vom Geistlichen zum Spion. Es war nicht etwas, das er jemals vorgehabt hätte. Er hatte das gewiß nicht gesucht. Aber er konnte nicht bestreiten, daß es Spaß zu machen schien, im Geheimmilieu mitzutun… Die Kinder kamen von ihrer Mittagspause zurück, und das hieß, daß die Kirche für die nächsten beiden Stunden nicht mehr bewohnbar sein würde. Hake richtete den letzten Stuhl gerade und machte sich auf den Weg. Dabei blieb er am Kummerkasten stehen und dachte nach. Hatte er ihn gestern nach dem Gottesdienst geöffnet? Er zog den Schlüssel heraus und schloß auf; ja, da war etwas. Eine Büroklammer. Ein Spendenumschlag – warum konnten die Leute sich nicht merken, daß sie die den Kirchendienern geben sollten? Eine Bemerkung, an den Rand des Programms gekritzelt: ›Bekommen wir keine Gitarrenmusik mehr zu hören?‹ Und ein Umschlag mit der Aufschrift: ›Re. H. Hornswell Hake Von seinen Freunden bei der Telefonfirma Maryland Persönlich‹ Die Tür zum großen Versammlungsraum ging auf, und Hake drehte sich um, den Umschlag in der Hand, bereit, das
48 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
unerlaubte Eindringen von Vierjährigen abzuwehren. Aber es waren nicht die Kleinen aus dem Kindergarten, es war Alys Brant. Sie schritt so rasch auf ihn zu, daß ihr grüner Rock weit ausschwang, und sagte: »Dachte mir schon, daß ich Sie hier finde, Horny. Da sind Sie. Ist es das, was Sie haben wollten?« Hake stopfte den Umschlag in seine Tasche und griff nach einem Bündel Fotokopien von elektronischen Lichtsatz Ausdrucken. Er brauchte einen Augenblick, um seine Gedanken von seinen Freunden bei der Telefonfirma zu lösen und sich mit der Neugier zu befassen, von der er angenommen hatte, daß Alys sie würde befriedigen können. Die Meldungen schienen sich mit auf Grund gelaufenen Öltankern und explodierenden Getreidesilos zu befassen. Sie entsprachen ganz und gar nicht dem, was er haben wollte, aber seine Ausbildung als Geistlicher veranlaßte ihn, das mit den Worten auszudrücken: »Die sind ganz in Ordnung, Alys.« »Sie wirken nicht erfreut.« »O doch! Ich freue mich sehr. Aber eigentlich – tja, ich kann damit nicht viel anfangen. Ich hatte eher, nun ja, Bücher erhofft.« »Bücher?« Er nickte, dann zögerte er. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen sehr verständlich erklärt habe, was ich möchte. Haben Sie nicht den Eindruck, daß die Lebensqualität in den letzten Jahren immer schlechter geworden ist? Ich bin freilich älter als Sie -« Silbernes Lachen. »Sie sind nicht alt, Horny, nicht mit dem Körper!« »Doch, das bin ich, Alys, aber Ihnen muß es auch aufgefallen sein. So viele Dinge passieren – nicht nur Tanker, die Strände verschmutzen. Alles. Und ich dachte, das müßte auch anderen aufgefallen sein, die vielleicht Bücher darüber geschrieben haben.«
49 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Bücher?« »Oder vielleicht eine Fernsehsendung?« Er machte eine Pause und suchte nach dem richtigen Weg. Es schien nicht klug zu sein, irgend etwas zu sagen, das Knicker als Bruch der Sicherheitsvorschriften auslegen mochte, also konnte er nicht hergehen und ihr sagen, er wolle wissen, wie lange Nationen schon versuchten, einander ein Bein zu stellen. »Daß nichts zu funktionieren scheint«, fuhr er schließlich fort. »Drogenmißbrauch und Jugendkriminalität. Nie genug Energie, und nie wird etwas unternommen. Mehr Moskitos, als es je gegeben hat. Alle diese Dinge.« Sie meinte nachdenklich: »Hm, ja, da gibt es sicher etwas. Aber Bücher? Wissen Sie, Horny, sie sind beinahe veraltet. Trotzdem - Sie wollen eigentlich schmökern, nicht? Und dazu müssen wir Sie in eine ordentliche Bibliothek führen.« Sie zog einen Kalender aus der Tasche und blätterte. »Mittwoch«, entschied sie. »Ich wollte ohnehin nach New York – vielleicht eine Vormittagsvorstellung im Theater, irgendwo schön zu Mittag essen -« »Also wirklich, Alys, ich möchte Ihnen nicht solche Mühe machen.« »Unsinn. Ich nehme den Wagen. Hole Sie am Pfarrhaus ab – wann? Acht? Das wird fein. Wir haben den ganzen Vormittag Zeit für Ihre Bibliothek – und danach, wer weiß?« Sie drückte ihm herzlich die Hand und ließ ihn stehen. In Hakes Gehirn schrillten Alarmglocken. Sie war eine sehr attraktive Frau, aber nach den Regeln gehörte sie zu einer geschützten Art. Von Ted ganz zu schweigen. Erst jetzt fiel ihm der Brief von seinen Telefonfreunden aus Maryland wieder ein. Darin stand: ›Lieber Rev. Hake, wir möchten Ihnen zwei Fragen stellen: Warum haben Sie nicht gemeldet, was wir getan haben?
50 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Warum haben Sie sich bereit erklärt, Leuten weh zu tun, die Sie nicht einmal kennen? Bitte, versuchen Sie auf die Antworten zu kommen. Eines Tages werde ich Sie danach fragen.‹ Keine Unterschrift. Er faltete das Blatt zusammen, überlegte und zerriß es in kleine Fetzen, betrat die Herrentoilette und spülte sie hinunter, ohne die verblüfften Blicke von zwei kleinen Jungen aus dem Kindergarten zu beachten. Es waren gute Fragen. Man brauchte ihn nicht aufzufordern, sie zu überdenken. Er fragte sich das selbst schon die ganze Zeit. In den nachfolgenden sechsunddreißig Stunden wurde die Anzeige wegen Energievergeudung zurückgezogen, und Hake wurde wach, um festzustellen, daß der Straßenverkehr über die Uferstraße umgeleitet wurde, solange man die Straße vor dem Pfarrhaus instand setzte – nach sechs Jahren Schlaglöchern und Umwegen! An einen Zufall war nicht mehr zu glauben. Jemand hielt die Hand über ihn, und das sehr wirkungsvoll. Die Fragen seiner weiland Entführer waren einer Beantwortung nicht nähergerückt, sowenig wie die hundert anderen Fragen, die wie Moskitos in seinem Gehirn umhersummten. Er hatte keine Antworten. Er konnte die Fragen bei jedem Gedanken nahebei brummen hören, während er Beratungsdienst leistete, während er Jessie diktierte, während er zwischen einem weiteren langen Gespräch mit der Raumpflegerin über das Schrubben der Damentoilette und seinem wöchentlichen Gespräch mit dem Vorsitzenden der Gruppe ›Gesellschaftliches‹ rasch ein schon kaltes Stück Pizza im Arbeitszimmer verschlang. Ab und zu griffen die Moskitos an und stachen zu, dann juckte die Stelle eine Zeitlang arg. Während der übrigen Zeit verdrängte er die Fragen. Erstaunlicherweise war ›Gesellschaftliches‹ in fünf Minuten fertig, und Hake hatte eine ganze Stunde ohne Termine vor sich.
51 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Aufgelaufene Korrespondenz? Die Predigt der nächsten Woche? Er ging die Möglichkeiten durch und entschied sich für Besuchsdienst. Zwei seiner Schäflein lagen im Medizentrum Monmouth, einer in der Geriatrie, die andere im Mütterheim, und die Besuche waren überfällig. Neben der Beratung hielt Hake Krankenbesuche mit für das Nützlichste von allem, was er tat, besonders bei den alten und einsamen Kranken, zu denen sonst niemand kam. Es war etwas ganz anderes als Probleme lösen, wie bei der Beratung, oder moralische Anleitung, wie bei seiner wöchentlichen Predigt. Die Kranken und Alten brauchten keine Anleitung mehr. Für sie gab es kein Ziel mehr. Und sie waren über den Punkt hinaus, wo Probleme gelöst werden mußten, weil das einzige Problem, vor dem sie noch standen, von keinem Menschen mehr zu lösen war. Rachel Neidlinger, sein Fall im Mütterheim, stand im Begriff, dem neugeborenen Rocco die Brust zu geben, und brauchte keinen Trost. Zwei Stockwerke höher freute sich die alte Gertrude Mengel ungemein, Gesellschaft zu bekommen. Sie zeigte es natürlich auf die Weise, daß sie die Klagen einer ganzen Woche gegen die Stationsschwester hervorsprudelte und mit ihren winzigen Venen prahlte, in die der Doktor mit der Kanüle so schlecht hineinkam. Hake widmete ihr die angemessenen zwanzig Minuten, um mit ihr über ihre Symptome und ihre Hoffnungen zu sprechen, die beide in erster Linie auf Einbildung beruhten. Als er aufstand, sagte sie: »Reverend? Ich habe eine Postkarte von Sylvia bekommen.« »Das ist großartig, Gertrude. Wie geht es ihr?« »Sie schreibt, sie hätte Arbeit und macht Wasserstoff.« Die wenigen alten Wimpern zuckten, um nahe Tränen anzukündigen. »Aber ich glaube, sie ist wieder bei diesen Halunken.« Hake stöhnte innerlich. Die siebzigjährige Gertrude hatte seit dem Tod ihrer Eltern versucht, ihrer fünfundfünfzig Jahre alten Schwester eine Mutter zu sein. Das war so, als wolle man ein Porzellanei in einem Nest ausbrüten, und Sylvia wollte nicht einmal im Nest bleiben.
52 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich bin sicher, es geht ihr gut. Sie nimmt doch, äh, nichts mehr, oder?« »Wer weiß das?« sagte Gertrude bitter. »Sehen Sie sich an, wo sie ist. Was für ein Ort kann Al Hawani schon sein?« Hake betrachtete die Ansichtskarte: eine Moschee mit Goldkuppel, überragt von einem hundert Meter hohen Fernsehturm, dahinter blaues Wasser. Sylvia hatte ihr ganzes Leben lang ihre eigene Hegira, ihren Kreuzgang gemacht und war der Leidenschaft der Gegenkultur vom East Village und Amsterdam nach Korfu und Nepal gefolgt. Sie hatte spät angefangen und niemals aufgeholt. Und würde nie aufholen. »Kein schlechter Aufenthalt, Gertrude«, konnte Hake ihr versichern. »Ein arabisches Land? Für ein jüdisches Mädchen?« »Sie ist kein Mädchen mehr, Gertrude. Außerdem gibt es da viele Menschen, die keine Araber sind. Das war jahrelang beinahe eine Geisterstadt, als das Erdöl verschwunden war, dann ließen sich alle möglichen Leute dort nieder.« Gertrude nickte entschieden. »Ich weiß schon, was für Leute – Landstreicher«, sagte sie. Widerspruch hatte keinen Zweck, obwohl Hake bei seinem Schinken-Tomaten-Salatblatt-Sandwich unten im Restaurant die ganze Zeit über beruhigende Dinge nachdachte, die er hätte sagen können. Es aber nicht getan hatte, weil es sinnlos war; sie wollte das nicht hören. Der eigentliche Lohn dafür, daß man ein Geistlicher war und sich sorgte und seiner Herde die eigenen Erkenntnisse zugutekommen ließ, war der, daß sie die Hälfte der Zeit davon gar nichts wissen wollte. Trotzdem hatte er sich bemüht und fühlte sich mit jener Hälfte seines Verstandes, die nicht mit den summenden Fragen beschäftigt war, tugendhaft. Dem Schwarm gesellte sich eine neue Frage hinzu, die aber eher willkommen zu sein schien: Sie war nur intellektuell interessant, keine Sorge. Was hatte
53 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Gertrude damit gemeint, daß ihre Schwester Arbeit bei der Herstellung von Wasserstoff bekäme? Hake wußte vage, wo der Wasserstoff herkam, und Al Hawani schien in der richtigen Ecke zu liegen, aber bei Einzelheiten war er sich keineswegs sicher. Seine eigenen Erlebnisse mit der Energie-Generation waren vom Theoretischen weit entfernt. Als die Israeli mit ihren atomaren H-Ladungen die Erdölreserven im Nahen Osten zerstört hatten, war nicht das ganze Öl verbrannt worden. Aber das noch nicht Heraufgepumpte war in hohem Maße radioaktiv. Wenn die Hippies in Kuwait oder sonstwo jetzt Wasserstoff dadurch herstellten, daß sie dieses Öl verbrannten, setzten sie in der Luft radioaktive Isotope frei. Niemand hatte nach Hakes Wissen das schon einmal öffentlich erklärt, aber Hake war jetzt durchaus bereit, zu glauben, es gebe sehr vieles, das öffentlich nicht ausgesprochen wurde. Wenn es jemals einen achtbaren Grund dafür gegeben hatte, dann mußte es dieser sein. Es konnte keinen anderen Grund geben, Treibstoff zurückzuweisen, der in keiner Weise die Umwelt verschmutzte, wenn man nur zum Fenster hinauszublikken brauchte, um zu sehen, wie übel die Umwelt zugerichtet worden war. Und es war ja nicht so, als würden die Vereinigten Staaten Treibstoff nicht einführen. Die mexikanischen und chinesischen Quellen spülten noch immer zehn Millionen Barrel am Tag in amerikanische Raffinerien, auch wenn ihre Preise jedes Maß zu übersteigen begannen. Vor allem, weil ihre Preise jedes Maß zu übersteigen begannen. Aber machten die Hippies es wirklich so? Er hatte irgendwo etwas von Solarkraft gehört. Es kam darauf an, die Sonnenenergie mit Spiegeln oder Linsen aufzufangen, Meerwasser salzfrei zu sieden, das H2 O aufzuspalten, den Wasserstoff flüssig zu gefrieren und in Behälter zu pumpen. Das Ganze war natürlich komplizierter, als es den Anschein hatte. Das Sonnenlicht auf einen Boiler oder einen Destillierapparat zu lenken, hieß immer noch, die Spiegel mit Motoren auszustatten, um dem Lauf der Sonne am Himmel zu folgen; hieß, sie sauberzuhalten; hieß, einen Ort zu finden, wo es viel Sonne und viel Wasser und viel billiges Land gab – und einen Tiefwasserhafen oder eine Pipeline,
54 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
um das FH2O dorthin zu befördern, wo es von Nutzen war. Al Hawani schien der richtige Ort dafür zu sein. Bis er sich das alles hatte durch den Kopf gehen lassen, war er zum Pfarrhaus zurückgejoggt, wo Jessie ihn mit Neuigkeiten erwartete. »Ein Mr. Haversford hat angerufen«, teilte sie mit. Ihre Augen funkelten vor Neugier. »Er bittet Sie, zu einer Sondersitzung des Direktoriums von ›Haustiere und Blumen International‹ zu kommen.« »Danke, Jessie«, sagte er, aber sie folgte ihm in seine eigenen Räume. Sie blieb unter der Tür stehen und sah ihm zu, als er die Jacke aus- und das Trikot über den Kopf zog. Das gehörte zu ihren Gewohnheiten, die ihm am meisten mißfielen. »Ich wußte nicht, daß Sie im Direktorium von HBI sind«, erklärte sie. »Das kam ganz zufällig.« Er entschuldigte sich wieder einmal bei ihr, statt ihr zu sagen, daß sie in seinen Privaträumen nichts zu suchen hatte. Aber das konnte er gar nicht tun, weil es, strenggenommen, nicht stimmte; die Spitzen ihrer empfindsamen Schuhe berührten gerade erst die Schwelle. Er hatte einen Einfall. »Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte er. »Rufen Sie Alys Brant für mich an und sagen Sie ihr, daß ich nicht mit ihr zu der Bibliothek fahren kann, weil ich zu dieser Sitzung muß.« »Es wäre ihr lieber, wenn Sie selbst anriefen«, meinte sie. »Das weiß ich, aber bitte, Jessie.« »Hm.« Widerstrebend ging sie, tauchte aber rasch wieder auf. »Sie sagt, in Ordnung, statt dessen dann nächsten Mittwoch um dieselbe Zeit.« Tja. »Na gut«, sagte er. Da würde man weitersehen müssen. Inzwischen hatte er seine Hanteln herausgeholt und mit seinen Übungen angefangen. Er wünschte sich, daß Jessie verschwinden und Alys Brant gleich mitnehmen möge.
55 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Jessie tat es nicht. Sie sah ihm kurze Zeit stumm bei seinen Kniebeugen und Streckübungen zu, dann seufzte sie. »Sie sind eigentlich ein Glückspilz, Horny«, sagte sie. »Ich weiß«, keuchte er und wandte sich von ihr ab, während er sich seitwärts hin- und herbog. Es war ihm schon unbehaglich genug, wenn sie zuschaute. Persönliche Bemerkungen verschlimmerten das nur noch. Persönliche Dinge schienen bei einer Frau mit allen Eigenheiten einer pensionierten Beamtin, die sie ja auch war, ganz und gar nicht zu passen. »Ich habe besonderes Glück, Sie als Sekretärin zu haben«, fiel ihm endlich noch ein, aber da war sie schon fort. Hatte er wirklich so viel Glück? Aber ja, sicher, dachte er und spannte alle Bauchmuskeln an, während er sich im Spiegel betrachtete. Für jemanden, der zwei Jahre vorher am Rand des Grabes gestanden hatte, der bestenfalls mit einem eintönigen und vermutlich ziemlich kurzen Leben im Rollstuhl hatte rechnen dürfen, tat sich allerhand Interessantes auf. Nicht, daß er nicht vorher schon sehr vom Glück begünstigt gewesen wäre. Er hatte schließlich die Kriege seiner Kindheit überlebt, und selbst im Rollstuhl hatte es Schönes gegeben. Viele helfende Hände streckten sich nach einem Jugendlichen aus, der Waise und Vertriebener und Behinderter war: Stipendien, Zuschüsse, ärztliche Versorgung, Beratung. Es gab auch viele Mädchen, die bereit waren, sich nach ihm zu strecken. Der magere, hochgewachsene Junge im Rollstuhl fand Anklang. Mehr noch. Er war keine Bedrohung. »Ich fahr’ im Aufzug mit dir mit, Horny, komm, gib mir deine Bücher.« »Horny, laß dir ins Auto helfen.« »Warum kommst du abends nicht rüber, dann fragen wir uns gegenseitig ab?« Hake war unschuldig geblieben, bis er zwanzig war, wenigstens technisch gesehen, aber nicht, weil es an attraktiven und netten Personen gefehlt hätte, die bereit gewesen waren, ihm mehr als die Hälfte des Weges entgegenz ukommen. Was ihm seine Jungfräulichkeit ganz oder doch
56 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
halbwegs bewahrt hatte, war etwas in ihm selbst. Er wollte kein Mitleid. Und er spürte es bei allen Avancen, die man ihm machte. Er konnte sich nicht an eine Zeit erinnern, zu der er nicht krank gewesen wäre. Als er bei jeder Anstrengung blau wurde, war er erst vier Jahre alt gewesen. Die erste Operation am offenen Herzen fand statt, als er sieben Jahre alt war, und erwies sich als Katastrophe; sie führte fast unmittelbar zur zweiten, die ihm das Leben rettete, das Herz aber nicht kräftigte. Bis er heranwuchs, war die Prognose für eine weitere Operation nicht mehr so riskant, aber der junge Hake wollte das einfach nicht noch einmal durchmachen. Das Risiko. Die Schmerzen. Ein Schmerz, der durch Betäubungsmittel nicht beseitigt werden konnte, nicht durch Hypnose, selbst mit beidem zusammen nur eben so halb. Nein. Keine Operationen mehr. So war er in seinem Rollstuhl hingefahren, um seine Diplome in Psychologie und Sozialwissenschaft in Empfang zu nehmen. Im Priesterseminar erhielt er sein Doktorat, nachdem er zwei Jahre lang zu den Vorlesungen teilweise hatte getragen werden müssen – es war eine alte und arme Schule, und man hatte es sich nicht leisten können, den Vorschriften für Behinderte zu entsprechen. Aber er bekam es. Und danach ein Pfarramt, das er zu jedermanns Zufriedenheit verwaltete, bis er, inzwischen Mitte Dreißig, wieder blau zu werden begann – und die dritte Operation klappte nicht nur, sie holte ihn auch endgültig aus dem Rollstuhl heraus. O ja, er hatte wirklich Glück! Ein ganzes neues Leben, als er am wenigsten damit gerechnet hatte. Aber verwirrend war es doch. Allen T. Haversford empfing ihn persönlich am Tor zum alten Fort Monmouth, ganz strahlendes Lächeln. Haversford hatte das Gesicht einer Spielzeug-Bulldogge. Es schien für seinen Kopf zu klein zu sein, und die dünne Franklin D. Roosevelt-Tenorstimme, die zwischen den schlaffen Hautlappen rund um den Mund herausdrang, erweckte den Eindruck, als sei er eine Bulldogge, die Helium atmete. »So freundlich von Ihnen, Reverend Hake«, tönte er schrill. »Wir haben einen kleinen Imbiß für unseren Verwaltungsrat
57 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
vorbereitet, aber den gibt’s erst in einer halben Stunde. Lassen Sie sich herumführen.« Das Fort war vor Jahrzehnten eingemottet worden, erwachte jedoch zu neuem Leben. Hake hatte Gerüchte über Bauvorhaben gehört, erhielt jetzt aber zum erstenmal Gelegenheit, zu sehen, was vorging. Eine ganze Menge. Löffelbagger und Bulldozer hoben ein kompliziertes Grabengeflecht aus, und ein MischbetonLastwagen füllte sie mit Beton, so rasch, wie sie gegraben wurden. »Sie machen wirklich Fortschritte«, sagte er. »Allerdings, allerdings! Das werden unsere Fischtanks«, sang Haversford jovial. »Salzwasser, Süßwasser. Groß und klein. Wir werden hier die größte Fischzucht an der Ostküste haben. Zierfische, tropische Fische, sogar Eßfische für diejenigen, die ihre eigenen Teiche anlegen wollen. Und das hier werden die Hundezwinger, und dort entstehen die Brutgehege. Das ist beinahe ein geschlossenes Öko -System, Reverend Hake. Wir holen uns lebendes Vieh; dann werden wir unser eigenes Schlachthaus haben, Sie können es nicht sehen, weil wir mit dem Bau noch nicht begonnen haben, und wir werden das Futter für fast alle Tiere selbst zubereiten. Nichts wird im Abfall landen, kann ich Ihnen versichern. Fleisch und Kornfutter für die Hunde, Tilapiafische für die Katzen – wir züchten den Großteil selbst -. Für die Fische getrocknete und pulverisierte Eingeweide.« Er zwinkerte. »Wir werden sogar die, äh, Abwässer nutzen, Reverend. Ja, Dung hat viel Nährwert. Ein Teil wird getrocknet, verarbeitet und ans Vieh verfüttert. Ein anderer – dazu gehören die Ausscheidungen von Besuchern und Personal – wird gesintert und gefiltert, und wir ziehen Algen darauf; Algen ernähren Garnelen, Garnelen ernähren Fische. Und die flüssigen Abwässer kommen in unser Wasserkultur-System.« »Das hört sich wirklich effizient an, Mr. Haversford.« »Gewiß, gewiß. Ist es auch. Hier drüben« – er führte Hake zu einer stabilen Plastikkuppel – »unser erstes Gewächshaus. Treten Sie in diese Kammer, ja, danke, und lassen Sie mich die
58 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Außentür schließen, so. Schließlich wollen wir keine Wärme vergeuden.« Es war in der Halbkugel unbehaglich warm. Hake öffnete seinen Kragen, während er sich umschaute. Reihen von erhöht angebrachten Kästen mit Schößlingen, letztere schon dreißig Zentimeter hoch und mit Blättern, einige sogar schon mit Blüten. Er erkannte keine der Blumen; das konnten doch gewiß keine Trichterwinden sein und das hier keine Sonnenblumen. Haversford zwickte stolz das Ende einer Zigarre ab, während er verfolgte, wie Hake sich umschaute. »Hier gibt es keine Energieverschwendung«, prahlte er. »Das ist alles Sonnenenergie. Kein Brennstoff wird verbrannt, abgesehen von einer winzigen Menge für die Beleuchtung. Und sogar die hoffen wir mit der Zeit selbst erzeugen zu können, wenn wir die Genehmigung für eine fotoelektrische Anlage im Straßenbelag erhalten.« »Sie leisten gute Arbeit«, sagte Hake und sah zu, als der andere die Zigarre anzündete. Seltsamerweise schienen einige der Blumen in nächster Nähe sich seinem Feuerzeug zuzuwenden. »Nein, nein, nein! Nicht ›Sie‹, Reverend Hake, bitte! ›Wir‹! Sie gehören ganz und gar dazu, wissen Sie. Also, hier wird es Orchideen geben, dazu ein paar tropische Zierpflanzen, die Luftfeuchtigkeit und Wärme mögen. Und ein paar Versuchsso rten – wir werden hier viel kreuzen und entwickeln.« »Diejenigen, aus denen nichts wird, verfüttern Sie wohl an Kaninchen oder dergleichen, und diese wieder an die Tiere?« »Was? Kaninchen? Aber das ist ja eine ausgezeichnete Idee, Reverend Hake! Das lasse ich von unseren Technikern sofort überprüfen. Sehen Sie, ich wußte doch, daß Sie uns von großem Nutzen sein würden. Und jetzt, glaube ich, ist es Zeit, daß wir uns den anderen zu unserem Arbeitsessen anschließen…« Die ›anderen‹ waren sieben Personen, zwei Abteilungsleiter von HBI, und die fünf anderen Verwaltungsräte wie Hake. Die meisten Namen verstand er nicht, und er hatte die meisten auch noch nie gesehen. Einen erkannte er. Der Farbige mit dem fast
59 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
völlig kahlen Kopf gehörte zum Verwaltungsrat des Vereins der Pächter. Aber wer war der andere, jüngere Neger in den Jeans mit den abgetrennten Beinen und den Holzperlen? Oder das sehr junge Mädchen mit langen blonden Haaren? Und wie viele waren im Verwaltungsrat, weil das Team ihnen das Geld zuschanzte? Haversford nahm seinen Platz an der Schmalseite des langen Tisches ein – Tischdecke aus Leinen, Servietten aus Leinen, Kristall und Silberbestecke. Auf jedem Teller stand ein Pokal mit frischen Früchten – »Von unseren eigenen Obstgärten in South Carolina«, erläuterte Haversford – , aber was Hake vor allem interessierte, war, was unter dem Pokal lag. Es war ein Briefumschlag mit seinem Namen. Er enthielt einen Scheck. Als er hineinguckte, durchfuhr es ihn wie von einem elektrischen Schlag. Sie hatten keine Witze gemacht. Zum Essen gab es kalten Braten und Salate, und als es vorbei war und der Kaffee serviert wurde, klopfte Haversford mit seinem Löffel an das Wasserglas. »Ich möchte Ihnen allen dafür danken, daß Sie so kurzfristig gekommen sind«, sagte er. »In dieser Sondersitzung sind nur zwei Punkte zu behandeln. Als erstes wollen wir unseren neuen Verwaltungsrat, Reverend Hake, willkommen heißen, was Sie, wie ich sehen konnte, schon alle getan haben. Zweitens muß über den Vorschlag unseres PR-Ausschusses im Hinblick auf die Krallenaffen entschieden werden. Miß de la Padua?« Die dunkelhaarige, athletisch gebaute Frau links von ihm stand auf und ging zu einem Sideboard. Sie zog das Tuch von einem hohen Käfig, griff hinein und hob einen winzigen wolligen Affen heraus. »Wie die meisten von Ihnen sich erinnern werden«, fuhr Haversford fort, »sprachen wir bei unserer letzten Sitzung von Plänen, unsere Exporte von einigen Tierarten zu steigern, eingeschlossen die Krallenaffen, indem wir eine Gruppe junger Leute auswählen, die ins Ausland gehen und anderen Kindern in verschiedenen Ländern Geschenkexemplare überreichen sollen. Vorbehaltlich Ihrer Zustimmung« – geheimnisvollerweise
60 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
zwinkerte er Hake dabei an -»vorbehaltlich der Zustimmung von Ihnen allen ist ein Programm ausgearbeitet worden. Die Gruppe von Kindern wird aus Schülern der hiesigen Mittel- und Oberschule bestehen, ausgewählt auf Empfehlung ihrer Lehrer. Sie werden drei Wochen im Ausland verbringen und in Frankreich, Deutschland und Dänemark unterwegs sein. Während dieser Zeit werden sie Schulen und Jugendgruppen in neun Städten zweiundzwanzig Paar Krallenaffen überreichen. Miß de la Padua besitzt einen genauen Reiseplan und die Gelder dafür. Sie wird gern alle Fragen beantworten. Und leiten wird die Gruppe – und ich hoffe sehr, Sie werden zustimmen? – unser Reverend Hake.« »Was?« Haversford nickte strahlend. »Ja, gewiß, gewiß, Reverend«, tönte er schrill. »Das Budget sieht natürlich eine angemessene Entschädigung vor. Ich weiß, das ist viel verlangt -« »Aber – aber ich kann nicht, Mr. Haversford. Ich meine, ich habe Verpflichtungen meiner Gemeinde gegenüber -« »Das versteht sich. Wir sind uns alle darüber klar. Aber wenn Sie einem alten Griesgram glauben wollen, werden Sie sicher feststellen, daß die Gemeinde Sie für diese kurze Zeitspanne entbehren kann. Darf ich um die Abstimmung bitten?« Das Ja war einstimmig, bis auf Hake, der sich nicht rechtzeitig faßte, um die Hand heben zu können. ›Ein alter Griesgram‹ ausgerechnet! Blieb ihm eine andere Wahl? Wenn das der alte Griesgram der Lo -Wate Abfüll-GmbH war, vermutlich nicht. »Aber ich sollte doch gar nicht nach Deutschland«, sagte er. Allerdings hörte niemand auf ihn.
61 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
4 Es waren einunddreißig Kinder, und sie füllten den ganzen Gelb-Linksabschnitt des Flugzeugs, zu zweit und zu viert nebeneinander. Die Lufthansa-Stewardessen gingen zwischen den Sitzreihen hin und her, überprüften die Gurte und vergewisserten sich, daß in jeder Tasche Tüten für die Luftkrankheit steckten. Horny Hake und Alys Brant, seine Führungskollegin, folgten ihnen. »Sie verstehen es wirklich mit Kindern«, sagte Alys bewundernd, als er aufs Geratewohl zwei oder drei unbekannte Köpfe tätschelte. »Ich möchte mich auch so gut auf sie einstellen können wie Sie.« Dann zog sie sich auf ihren Platz vorne im Abteil zurück, während Hake sich fragte, weshalb eine Frau, die nicht glaubte, sich gut auf Kinder einstellen zu können, alles unternommen hatte, um seine Begleiterin zu werden. Bis er auf seinem eigenen Platz saß und die Maschine in der Luft war, hatte er sich mit der Tatsache vertraut gemacht, daß das wohl eine sehr problematische Reise werden würde. Er verfiel auf eine Zuflucht seiner Kindheit: die Stunden zählen, bis es vorbei war. Neunzehn Tage. Das machte 456 Stunden. Einschließlich der Fahrt von und nach Long Branch vielleicht 470. Er hatte das Pfarrhaus – er schaute auf die Uhr – vor fast fünf Stunden verlassen, von der Quälerei jetzt also etwas mehr als ein Hundertstel hinter sich. In ungefähr einer Stunde würde es ein Neunzigstel sein. Bis sie ihr Hotel in Frankfurt erreichten, schon fast ein Vierzigstel oder mehr, und bis zur Schlafenszeit »Father Hake?« Er zuckte mit den Lidern und wandte sich vom Fenster ab. »Mrs. Brant winkt Ihnen, Father«, flüsterte die Stewardeß. Ihr flachsblondes Haar streifte seine Wange. »Keine Sorge, dazu können Sie Ihren Platz schon verlassen.« Vorne am Gang stand schon Alys, eine Hand auf der Schulter eines Zwölfjährigen, und lächelte Hake mitfühlend an.
62 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Jimmy Kenkel«, sagte sie vertraulich. »Er hat sich umgedreht und Martin hier eins auf die Nase gegeben. Wenn Sie die Stewardeß fragen, besorgt sie Ihnen vermutlich Eis.« Aus Martins Nase strömte Blut. Die normalen Fluggäste, die das Pech hatten, in Gelb-Links zu sitzen, gepflegte, hochgewachsene deutsche Geschäftsleute und wache japanische Touristen, flüsterten miteinander. Hake riß sein Taschentuch heraus und preßte es auf das Gesicht des Jungen, während er sich gegen den steilen Steigflugwinkel der Maschine stemmte und den Blick der Stewardeß zu erhaschen versuchte. Bis er sich umschaute, war Alys verschwunden. Bis die Stewardeß das Eis brachte, hatte die Blutung aufgehört, und bis das Anschnall-Schild erlosch, hatte Martin sich bereits gerächt, indem er den Becher mit schmelzendem Eis über Jimmys Kopf goß. Das reichte. Hake ließ seine Schutzbefohlenen im Stich und marschierte zur Bar, um etwas zu trinken. »Zwei Seelen, ein Gedanke, Horny?« fragte Alys heiter und unterbrach ihr Gespräch mit einem schlanken Mann in Uniform, der einen blonden, gewichsten Schnauzbart trug. Hake sah sie mißvergnügt an. »Der Junge ist wieder in Ordnung, falls es Sie interessiert. Aber nur der Himmel weiß, was sie jetzt anstellen werden, seit sie aufstehen und sich frei bewegen können.« »Sehen Sie, wir denken doch das gleiche. Ich habe Heinrich hier eben gefragt, ob man in unserem Abteil nicht einfach das Schild ›Bitte anschnallen‹ ständig leuchten lassen könnte.« »Ja, das wäre gut. Aber es geht nicht.« Der Mann streckte die Hand aus. »Heinrich Scholl, Father«, sagte er. »Ich bin der Chefsteward.« »Ich bin kein Priester, nur ein Geistlicher der Unitarier-Kirche«, sagte Hake gereizt, aber er ließ sich auf Kosten der Fluglinie einen Whisky mit Wasser geben. Die Kinder hatten noch nicht bemerkt, daß sie die Gurte öffnen durften, und die Stewardessen gingen zwischen ihnen herum, verteilten Cola und Orangensaft,
63 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Würfelspiele und Puzzles. Hake wagte aufzuatmen. Er war vor dem Alter von zehn Jahren Zehntausende von Kilometern geflogen, aber seither kaum wieder. Ihm war alles neu, von dem Schrägflügel vor dem Fenster mit der seltsamen Keilspitze bis zu der Bar-Stewardeß oben ohne, die Getränke mixte. Die Riesenhaftigkeit des Flugzeugs verblüffte ihn. Er hatte die Größe der Interkontinental-Düsenmaschinen nie ganz erfaßt. Mehr als tausend Menschen in einer riesigen Wurst aus Stahl fegten über das Meer. »Aber ich sehe nicht ein, warum wir die haben müssen«, sagte er. »Diese Jets, meine ich. Was für eine Energieverschwendung!« »Verschwendung?« gab der Chefsteward höflich zurück. »Aber das trifft nicht zu, Mr. Hake. Wir brauchen sie allein schon für die Post, warum sie also nicht mit Passagieren füllen?« »Aber wenn die Energie so knapp -«, begann Hake und dachte an ungeheizte Tage in Long Branch und an die Tonnen fossilen Treibstoffs, die jeder dieser gewaltigen Motoren an der Tragfläche verschleuderte. Der Chefsteward sagte freundlich: »Das ist alles sorgfältig geplant, kann ich Ihnen versichern, Mr. Hake. Lufttransport ist eine lebenswichtige Dienstleistung. Wir befördern wertvolle medizinische Güter, Diplomatenpost, alle Arten von strategisch wichtigem Material. Diese Maschine hier hat erst, Augenblick, erst im vorigen Jahr Masernimpfstoff von Köln nach Neu-Guinea gebracht. Es kann auch im Jahr davor gewesen sein.« Und seither? fragte sich Hake. Doch laut sagte er nur: »Zugegeben, aber warum so viele? Ich meine, muß denn jede unbedeutende kleine Gesellschaft auf der Welt unter eigener Flagge fliegen?« »Unbedeutend?« wiederholte der Chefsteward mit bebendem Schnauzer. »Ach, ich meine natürlich nicht die Lufthansa. Ich meine sie alle. Kleine Länder, von denen Sie noch nicht einmal etwas gehört haben. Ich sehe sie bei Long Branch zur Landung ansetzen, afrikanische Fluglinien und lateinamerikanische
64 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Fluglinien und weiß-der-Himmel was noch für Fluglinien. Könnte nicht etwa Amerika Air France oder Aeroflot, oder was immer, benützen, statt die ganze Zeit mit eigenen Maschinen zu fliegen?« Alys lachte und schob ihr Glas nach vorn, um nachfüllen zu lassen. »Ach, Horny! Damit man auf dem Weg über den Atlantik mit unserer Post weiß-Gott-was anfängt? Sie sind so naiv!« Der Chefsteward nickte steif und sagte: »Es war sehr interessant, mit Ihnen zu sprechen, Mr. Hake, aber jetzt muß ich mich um meine Pflichten kümmern. Die Flugbegleiterinnen müssen das Abendessen servieren.« »Sie sollten es ihm vielleicht nachmachen, Horny«, sagte Alys und blickte an seiner Schulter vorbei. Zehn von den Kindern standen vor den Toiletten an, und ein paar von den Jungen rauften schon wieder miteinander. »Schwer für sie«, meinte sie mitleidig, »aber Raufereien unter Jungen sind Männersache, nicht?« Auch Raufereien zwischen Jungen und Mädchen erwiesen sich als Männersache, ebenso, wie Hake herausbekam, einige der unerfreulicheren Fragen des Gebiets, das er als rein weiblich bezeichnet hätte. Die kleine Brenda kam zu ihm und flüsterte: »Reverend Hake, ich habe meine Privathygiene.« Er beugte sich näher zu ihr und balancierte das Tablett, das halb leergegessen war. »Was?« »Mein Freund ist hier«, sagte sie und wurde rot. »Von welchem Freund redest du?« fragte er scharf, dann huschte Alys vorbei und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Das arme kleine Ding möchte eine Damenbinde«, sagte sie. »Machen Sie ihr klar, daß sie in den Waschräumen sind.« »Sie sind in den Waschräumen, Brenda«, sagte er.
65 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Das Mädchen nickte. »Manche Mädchen sagen dazu ›mein Freund‹. Ich nenne das ›meine Privathygiene‹, weil das auf dem Beutel im Waschraum in der Schule steht.« »Dann geh in den Waschraum«, sagte Hake und klopfte ihr behutsam auf die Schulter. Er sah Alys an. »Wieso ich?« »Natürlich, weil Sie der Vater-Ersatz sind. Ich bin nur eine Art älteres Mädchen«, erklärte sie mitfühlend. »Tja. Ich glaube, das wird ein langer Flug werden. Ich will sehen, ob ich ein bißchen schlafen kann.« »Ich auch«, sagte Hake hoffnungsvoll und überließ sein Tablett einer nicht mehr lächelnden Stewardeß. Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Während des ganzen Fünfstundenfluges unterdrückten Hake und die Stewardessen beginnende Unruhen. Wenigstens konnte ich sie zum Teil auseinanderhalten, dachte Hake, als es auf das Ende zuging: Jimmy und Martin und Brenda; die schwarze Heidi und die kleine blonde Tiffany; Michael, Mickey und Mike; der große, sanfte, buddhaähnliche zwölfjährige Sam-Wang; die drei ältesten Mädchen, alle aus dem kleinen, religiösen Provinznest Ocean Grove. Sie sahen sich alle erstaunlich ähnlich, trugen Keilfrisuren und mißbilligten Lippenstift und Lidschatten, aber verwandt waren sie nicht miteinander. Eine hieß Grace, die andere Pru, und die kleinste und kräftigste und bösartigste der drei hieß Demeter. Demeter war diejenige, die den jüngsten Buben eins aufs Gesäß gab, wenn sie sich über erwachsene Fluggäste hinwegstreckten, um einander zu packen. Demeter und Grace petzten bei den Lufthansa-Stewardessen, als drei von den Mittelschülern in der Toilette rauchten. Demeter und Pru bestachen die kleineren Kinder mit den Würfelspielen, brav zu sein. Wie schön wäre alles gewesen, wenn die drei aus Ocean Grove das alles getan hätten, um Hake zu helfen, statt ihn für ihre eigenen Missetaten weichzuklopfen: mit den Vertretern in der Bar der Ersten Klasse Alkoholisches zu trinken; mit den männlichen Stewards geheime Rendezvous auszumachen. Bei alledem schlief Alys wie ein Baby,
66 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
den Kopf auf der Schulter des türkischen Offiziers neben ihr. Aber Hake schlief nicht, sowenig wie die Stewardessen. Elf Stunden vorbei, noch vierhundertneunundfünfzig. Es würde eine lange Reise werden. Sie trafen um zwei Uhr morgens Ortszeit auf dem riesigen, hallenden Flughafen in Frankfurt am Main ein. Der schlechteste Zeitpunkt überhaupt: Wegen der Zeitdifferenz waren die Kinder eigentlich noch nicht bettreif; aber sie würden um neun Uhr an diesem Vormittag auf den Beinen sein und einer Kinderhalle Krallenaffen übergeben müssen. Hake behielt die Kinder in der Transithalle im Zaum, während Alys hübsch gähnte und die Zimmerverteilung durchging. Auf irgendeine Weise brachte Hake sie alle durch den Zoll und in die Abflughalle. Es gab natürlich keine Sessel, aber auf irgendeine Art verhinderte er, daß sie einander umbrachten, bis eine Stunde später der angekündigte Omnibus kam, bis der Fahrer eintraf und sich auf deutsch wütend beschwerte, bis er klarzumachen vermochte, daß er seit zwei Stunden auf dem Parkplatz stand und wartete. Auf irgendeine Weise brachte Hake sie in ihre Zimmer in dem schönen neuen Hotel und auch das Gepäck annähernd in die richtigen Räume. »Ich habe Sie zu Mickey und Sam-Wang gelegt«, sagte Alys und gab ihm die Schlüssel. »Sam schnarcht. Und Mickeys Mutter sagt, er näßt ins Bett, wenn er während der Nacht nicht mindestens zweimal geweckt wird, also – jedenfalls habe ich die Zimmerverteilung für Sie abgeschlossen, Horny«, meinte sie tugendhaft. »Jetzt werde ich mich wohl besser auch hinlegen. Das war ein langer Tag. Ach, ich mußte ein Zimmer extra nehmen. Es wäre nicht gerecht den Kindern gegenüber, irgendeines zu mir zu legen, ich bin so unruhig. Da könnte es die ganze Nacht nicht schlafen.« Er sah ihr nach, wie sie graziös in einen der freiliegenden Tropfenlifts stieg, dann seufzte er, unterschrieb die restlichen Anmeldekarten, zählte die Pässe und ging zu seinem eigenen Zimmer.
67 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Er fand das Bett so behaglich, daß er eine Weile dalag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und die Aussicht auf den Schlaf genoß, bevor er sich ihm überließ. Sam-Wangs Schnarchen verschmolz mit dem Summen der Klimaanlage und dem fernen Gedudel irgendeines Fernsehapparats. Wenigstens war seine Tugend nicht in Gefahr geraten – nein, nicht sosehr seine Tugend als sein Gefühl professioneller Moral; mit Alys zusammen von einem europäischen Hotel zum anderen zu ziehen, hätte durchaus reizvoll sein können, wenn er nicht ihr Eheberater gewesen wäre. Aber wenn sie es nicht auf seinen Körper abgesehen hatte, weshalb war sie hier? Und wenn er schon damit anfing, weshalb war er hier? Es gab für ihn nicht den geringsten Zweifel, daß die Lo-Wate Abfüll-GmbH, oder wie die Spionfabrik sich sonst nennen mochte, hinter allem stand. Soviel stand fest. Aber hinter was waren die Leute nun eigentlich her? Wenn man einen neuen Agenten in Westeuropa einsetzte, sollte man ihm da nicht wenigstens mitteilen, worum es ging? Waren die Krallenaffen Geheimkuriere? Würde Griesgram mit Trenchcoat und Schlapphut aus irgendeinem regenverhangenen Hauseingang auftauchen und ihm die Papiere überreichen? Und wenn ja, was würden die Papiere enthalten? Betrieb man wirklich so einen Geheimdienst? Ohne Zweifel würde ihm zur rechten Zeit alles mitgeteilt werden. Er nahm die Arme herunter, drehte sich herum, vergrub das Gesicht im Kissen, schloß die Augen Und öffnete sie wieder. Er hatte vergessen, Mickey auf den Topf zu setzen. Es wäre sehr leichtgefallen, es auch weiter zu vergessen, aber Vertrauen war Vertrauen. Hake stemmte sich aus dem Bett, stieß die Arme in die Ärmel des Morgenrocks und brachte den halb schlafenden Zehnjährigen dazu, ins Badezimmer zu gehen. Unter Schwierigkeiten steuerte er ihn vom Bidet zum richtigen Ort, wurde dann aber für seine Mühen belohnt und brachte den immer noch nicht wachen Jungen zurück ins Bett… worauf schrill das Telefon läutete.
68 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Hake fluchte und griff hastig nach dem Hörer. Eine Stimme gellte ihm ins Ohr: »Wo, zum Teufel, sind meine Krallenaffen?« »Krallenaffen? Wer ist denn da?« fragte Hake heiser flüsternd; Sam-Wang hatte zu schnarchen aufgehört, und Mickey schaukelte mißmutig im Bett. »Jasper Medina. Kommen Sie gefälligst herunter, Hake, und erklären Sie mir, wo die Affen sind. Ich bin an den Aufzügen.« Und er legte auf. Verärgert trug Hake seine Sachen ins Bad und zog sich wieder an. Während er sich kämmte, funkelte er sein Spiegelbild böse an. Das gesunde Gesicht eines Menschen, der sich viel im Freien aufhielt, hatte jetzt Ringe unter den Augen, und dabei fing die Reise erst an! Er verließ das Zimmer so leise, wie er konnte, und wartete darauf, daß die gläserne Liftkugel heraufkam. In der Halle wartete ein hochgewachsener, schlanker Mann mit kahlem Kopf und weißem Bart, der an einer Maiskolbenpfeife kaute. »Hake? Wie wollen Sie diesen Murks erklären? Was heißt das, Sie wissen nicht, wovon ich rede? Mit Ihnen kommen zweiundzwanzig Paar Goldlöwen-Krallenaffen, beste Zucht, und wo sind sie? Meine Leute suchen diese Nacht ganz Frankfurt danach ab!« »Wer sind Sie?« »Sie hören wohl nicht zu, wie? Ich bin Medina, von der Niederlassung Paris. HBI. Das sind meine Mitarbeiter.« Er zeigte auf vier Männer, die sich um die Wandtelefone drängten; zwei im Gespräch, die beiden anderen daneben. »Sven, Dieter, Carlos, Mario. Wir sollen eigentlich bei Ihrem Unternehmen behilflich sein.« »Hilfe kann ich allerdings gebrauchen«, sagte Hake inbrünstig und taute auf. »Diese Kinder -« »Kinder? O nein, Hake, mit den Kindern haben wir nichts zu tun. Wir kümmern uns für Sie um die Krallenaffen, wenn Sie uns
69 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
verraten, wo die sind. Aber nicht um die Kinder. Wenn Sie jetzt die Güte – Augenblick. Was ist, Dieter?« Einer der Männer kam strahlend auf sie zu. »Jasper«, sagte er – er sprach es ›Yosper‹ aus – »wir haben die Affen gefunden. Sie sind bei der Zookontrolle und alle wohlauf.« »Ah.« Medina paffte an seiner Pfeife und lächelte breit. »Also dann, Hake«, sagte er und hielt ihm die Hand hin, »dann brauchen wir hier keine Zeit mehr zu verschwenden, was? Schlafen Sie sich richtig aus. Wir treffen uns zum Frühstück.« Richtig ausschlafen… Bis der Glasaufzug ihn zu seiner Etage hinaufgebracht hatte, schlief er fast schon, aber er zwang sich, Mickey noch einmal auf die Schüssel zu setzen. Dann ließ er seine Sachen auf den Boden fallen, kroch ins Bett und knipste die Lampe neben seinem Kissen aus. Aber selbst mit geschlossenen Augen nahm er wahr, daß das Licht nicht erloschen war. Als er sie öffnete, sah er, warum. Draußen war heller Tag. Neunzehn Tage im bezaubernden Europa! Nur gut, daß ich das von Anfang an nicht geglaubt habe, dachte Hake; wenigstens blieb ihm eine Enttäuschung erspart. Kathedralen, Museen, herrliche Flußlandschaften, Burgen – sie sahen den Kölner Dom durch ein Busfenster, der Rhein war ein grünlichgrauer Streifen zwischen Wolkenfetzen. In Kopenhagen mußte ein ganzer Nachmittag abgesagt werden, weil das Tivoli zu Reparaturen geschlossen war, nachdem unversöhnliche friesische Nationalisten die Hälfte in die Luft gesprengt hatten – eine gute Sache, jedenfalls theoretisch, weil Hake die Ruhe brauchte; aber in der Praxis lief es darauf hinaus, daß er zusätzlich sechs Stunden lang auf die Kinder aufpassen mußte. In Oslo waren die Schulen wegen eines Lehrerstreiks geschlossen. Hakes Schützlinge mußten ihre Krallenaffen einem Schulleiter mit rotgeränderten
70 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Augen übergeben, der fünf Minuten von den rund um die Uhr laufenden Verhandlungen freinahm. Nach dem ersten Morgen in Frankfurt, als Hake zu Alys’ Zimmer gegangen war, um sie durch Klopfen zu wecken – und vor ihrer Tür die gepflegten braunen Stiefel eines türkischen Majors gefunden hatte –, rechnete Hake nicht mehr damit, daß Alys einen Anschlag auf seine Tugend unternehmen würde. Sie brauchte es nicht zu tun. Es gab genug andere Zielscheiben. Wenn sie nach seinem Fleisch hungerte und dürstete, verbarg sie das geschickt. Sie brachte mehr Zeit mit dem alten, kahlen, halb blinden Jasper Medina zu als mit Hake. Allerdings brachte sie mehr Zeit mit Hake als mit jeder anderen Person zu, wenn man gerecht sein wollte. Vor allem im Vergleich mit den Kindern. Jasper – oder ›Yosper‹ – war ein Rätsel. Da er zur Kundenabteilung von HBI in Europa gehörte, folgte daraus wie die Nacht dem Tag, daß er ein Spion sein mußte. Aber er offerierte keine geheimen Pläne, gab keine Anweisungen; als Hake in seiner Gegenwart den Namen ›Griesgram‹ erwähnte, lachte der alte Mann brüchig und sagte: »Griesgram? Dafür halten Sie mich? Ich will Ihnen etwas sagen, mein Junge: Ich bin genau das, was Sie in vierzig Jahren sein werden – nur besser«, fügte er rechtschaffen hinzu, »weil ich den Herrn als meinen Erlöser anerkenne und Sie nicht.« Aber er war immer da, er und seine vier stummen Helfer. Die Krallenaffen bekamen alle vier Stunden ihre Weintrauben und Mehlwürmer; wo die Sonne es erlaubte, durften sie ab und zu einen Nachmittag im Freien verbringen; sie wurden gebürstet und gepflegt und nach Läusen abgesucht. Die Krallenaffen hatten Aufsicht genug. Die Kinder hatten Horny Hake. Bis sie Kopenhagen erreichten, war Hake der Meinung, daß er auf jedes Weh gestoßen sein mußte, das des jungen männlichen – oder auch weiblichen – Fleisches Erbteil war, vor allem des weiblichen: Schnitt- und Schürfwunden, Geschmolle und Geniese, Ohnmachts- und Fieberanfälle. (126 Stunden
71 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
überstanden, blieben noch 344 – mehr als ein Viertel geschafft.) Bis man nach Oslo kam, war es zumeist Fieber und Geniese. Nichts Ernstes, aber es hielt Hake fast jede Nacht wach. Alys schlief sorglos bis zum Frühstück durch und erklärte, durch Hakes lange Erfahrung als Berater sei er um soviel besser für Nachtdienst geeignet, daß es eigentlich keinen Sinn habe, sie zu wecken – »wäre Ihnen nur im Weg, Horny«. Und die Krallenaffen-Wärter ließen sich natürlich nicht mit hineinziehen. Ihr Dasein war ziemlich angenehm geworden, weil bei jedem Halt die Zahl der Wollaffen schrumpfte. Aber sie weigerten sich standhaft, mit den Kindern zu tun zu bekommen; eine Art von halbmenschlichen Primaten zu versorgen, war alles, wozu sie sich vertraglich verpflichtet hatten. Sven und Dieter, Mario und Carlos – weshalb fiel es Hake stets schwer, sie auseinanderzuhalten? Sie waren in Größe, Körpergewicht und Haarfarbe völlig verschieden. Es hing damit zusammen, wie sie ihre Haare trugen, in einer Art Ponyfrisur nach König Heinrich V. und an der Kleidung: stets die gleichen hellblauen Jacken und dunkelblauen Hosen. Aber es steckte mehr dahinter. Sie schienen deckungsgleich zu reden und zu denken. Hake hatte oft den Eindruck, daß da nur eine einzige Person sprach, manchmal mit einem deutschen Akzent, manchmal mit einem spanischen, aber mit nur einem Gemüt dahinter. »Yosper sagt, wir müssen früh ins Bett, morgen Flug um sechs Uhr.« »Yosper rät, dieses Wasser nicht zu trinken, vorigen Monat PLO-Terroristen Säure in Speichersee geschüttet.« Hake kam es so vor, als stecke nur Yospers Gehirn dahinter. Und alle diese Dinge ergaben Sinn, sehr viel Sinn, wenn sie wirklich disziplinierte Spione auf der Gehaltsliste von ›Haustiere und Blumen International alias Lo-Wate alias die Sturmtruppen des lauen Krieges‹ waren. Aber waren sie das? Hake konnte keine sicheren Zeichen erkennen. Keine unerklärte Abwesenheit vom Dienst. Keine Geheimtreffen. Nicht einmal vielsagende Blicke zwischen ihnen oder angefangene und unvollendete Sätze.
72 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Wenn sie Spione waren, wann würden sie dann mit dem Spionieren anfangen? Mehr als einmal hatte Hake sich vorgenommen, Yosper zu stellen und die Wahrheit zu fordern. Wie diese auch aussehen mochte. Aber er hatte sich nicht ganz dazu entschließen können, sondern nur zu Anspielungen. Aber Yosper ging nie auf sie ein. Es lag nicht daran, daß Yosper kein gesprächiger Mensch gewesen wäre. Er unterhielt sich gern. Er wurde nie müde, Hake und Alys klarzumachen, daß die Städte, die sie durcheilten, in jeder Beziehung ihren amerikanischen Gegenstücken unterlegen seien – nicht gerechnet hier und dort ein Lokal, wo es ein anständiges Smorgasbord oder einen guten Jägertopf gab. Und er wurde nie müde, ihnen zu erklären, weshalb Unitarier sich nicht religiös nennen sollten; Yosper gehörte der Kirche Gottes an, zweimal geboren, ganz erlöst und zutiefst davon überzeugt, daß die Zeit kommen mußte, wo er neben dem Thron saß, während Hake und Alys und ein paar Milliarden andere ihr Versagen an einem viel schlimmeren Ort tief bereuen würden. Aber er sprach über nichts, was mit Spionage zu tun hatte. Und er half bei den Kindern nicht mit, und von den zwei Fehlern konnte Hake den zweiten am wenigsten ertragen. An der Dreiviertelmarke waren sie in München. Die Niesanfälle der Kinder erreichten einen Höhepunkt, und Hake selbst begann die Belastung zu spüren. Er war erschöpfter als je seit den Tagen im Rollstuhl, und unglücklich mit der Art, wie seine Eingeweide sich gebärdeten. Aber es gab eine unerwartete Freude. Yosper hatte veranlaßt, daß eine amerikanische Schule in München ihnen die Kinder für ein ganzes Wochenende abnahm. So hatten die Erwachsenen die Pension für sich allein und achtundvierzig Stunden Zeit, sie zu genießen. Der Genuß wäre größer gewesen, dachte Hake, wenn sein Bauch sich nicht angefühlt hätte, als wäre er weit über sein Fassungsvermögen hinaus mit Pfefferschoten und schimmeligem Essiggemüse vollgestopft worden. Er hatte keine große Lust, sich die Stadt anzusehen. Immerhin… dreihundertsechzig Stunden
73 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
vorbei, nur noch hundertzehn zu überstehen. Und bis Montag morgen keine Kinder. Die Pension erwies sich als das oberste Stockwerk eines verdreckten kleinen Bürogebäudes in einer Seitenstraße bei der Kreuzung zweier großer Durchgangsstraßen. Von außen sah sie nicht besonders aus, aber sie war sauber und für Hake, der fünfzehn Tage lang grollend die Energiekosten von Düsentreibstoff, Schnellaufzügen und Hotelsaunas nachgerechnet hatte, eine tröstliche Abwechslung von der Energieferkelei. Es machte ihm nichts aus, daß die Zimmer rund um einen Luftschacht gebaut waren oder daß es keine Gepäckträger gab. Es störte ihn nicht einmal, daß er neben seinen eigenen Koffern auch noch die von Alys tragen mußte. »Es tut mir schrecklich leid, Horny, aber ich habe einfach nicht die Kraft dazu.« Er erwähnte nicht, daß es ihm nicht anders ging. Das Abendessen trug den Namen ›Was es gerade gibt‹, gekocht vom Besitzer, serviert von seiner Ehefrau. Zu Hakes Überraschung erschien auch Alys. Offenbar waren ihr türkische Majore, SAS-Kopiloten und norwegische Empfangschefs ausgegangen. Sie verbrachte den Nachmittag in ihrem Zimmer, tauchte aber, blaß und trotz dem huldvoll, am oberen Ende des Eßtisches auf. Als sie nach ihrem Löffel griff, wurde sie unterbrochen von Yosper, der mit der Gabel an sein Glas schlug. »Yosper spricht immer das Tischgebet«, sagte Sven – oder Dieter – mit finsterer Miene. »Versteht sich«, erklärte Yosper, ebenfalls finster blickend, und senkte den Kopf. »O Herr, wir danken Dir demütig für Deine Gaben und diese Speisen. Segne sie nach Deinem Sinn und mach uns wahrhaft dankbar für das, was wir empfangen. Amen.« Als sich die fünf finsteren Mienen aufhellten, sagte Mario – oder Carlos: »Ein guter Brauch, nicht? Wie Pascals Wette. Wenn Gott zuhört, ist Er erfreut. Wenn nicht, kann es nichts schaden.« »Nicht ehrfurchtslos sein«, sagte Yosper, aber mit Milde. »Pascal war ein Betrüger. Man sollte Gottes Geboten nicht
74 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
gehorchen, um seinen Hals zu retten. Man sollte gehorchen, weil man weiß, daß Gott existiert, und das beweist einem das tägliche Wunder des Lebens.« Alys hüstelte und wechselte das Thema. »Horny, ich bin nicht den ganzen Tag untätig gewesen«, sagte sie zuckersüß und gab ihm zwei Zeitungen und eine Zeitschrift. »Die lagen in meinem Zimmer. Ich habe sie alle durchgeackert und das angekreuzt, was Sie interessiert.« Yosper blickte sie über den vollen Suppenteller hinweg an. »Woher wissen Sie, was ihn interessiert?« »Ach, das ist eine Art Recherche, die ich für ihn mache«, sagte sie lebhaft. »Er hat sich sehr für das interessiert, was er die zunehmende Verschlechterung des Lebens nennt – Sie wissen schon, all das, was uns zermürbt – Horny, ist etwas nicht in Ordnung?« »Doch«, sagte er, und noch einmal, überzeugender: »Doch, doch. Nur zu. Ich habe nur gerade an etwas gedacht.« Woran er gedacht hatte, war, daß, wenn Yosper Griesgram Meldung erstattete, er sicherlich berichten würde, daß Hake ohne Genehmigung ein wenig herumstocherte. Aber der zweite Gedanke war: Warum nicht? Man hatte ihm nicht befohlen, nicht neugierig zu sein. Und zu den Dingen, auf die er neugierig war, gehörte, wie Yosper reagieren würde. Überhaupt nicht, stellte sich heraus. Yosper griff nach der Serviette auf seinem Schoß, legte sie auf den Tisch und winkte ab, als die Besitzerin von der Anrichte einen vollen Teller herüberbrachte: »Wissen Sie was«, sagte er, »ich glaube, das ist doch nicht das, was ich jetzt möchte. Was meinen Sie, Dieter? Wollen wir’s im Hofbräuhaus versuchen?« »Gute Idee, Yosper«, sagte Dieter begeistert – oder auch Carlos; und alle anderen stimmten zu. »Sollen wir auch mitkommen?« fragte Alys dumpf. »Nein. Es würde Ihnen nicht gefallen.«
75 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Sind Sie sicher?« Er legte den Kopf schief und blickte sie an. Mit seinem Bart und dem kahlen Kopf sieht er bald selbst wie ein Krallenaffe aus, dachte Hake. »Da gibt es, äh, Privatzusammenkünfte. Aber«, fuhr er listig fort, »das Essen ist erstaunlich. Würste, das können Sie sich nicht vorstellen. Große Krüge Bier. Und Schweinefleisch! Schweinebraten, rosig und weiß, mit Rotkohl und Kartoffelklößen, und viel dicke, fette Sauce -« Alys ließ den Löffel fallen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie und floh. Yosper grinste Hake an. »Sie scheint den Appetit verloren zu haben.« »Ja. Wissen Sie, Yosper«, sagte Hake, »ich fühle mich selbst nicht so besonders. Ich glaube, ich verzichte auf das Abendessen und lege mich früh schlafen…« Wenigstens war ihm nicht bis zum Erbrechen übel. Dankbar immerhin dafür, legte er die Kette an seiner Zimmertür vor und schlug die Zeitungen auf, die Alys ihm gegeben hatte: eine ›Times‹ aus London, eine zwei Tage alte ›Daily American‹ aus Rom und die internationale Ausgabe von ›Newsweek‹. Außer Lesestoff hatte er noch einen geheimen Schatz: zwei Minifläschchen Whisky-Sour von einem der Flüge, bei dem er keine Zeit gehabt hatte, sie zu trinken. Grog ist gut für Erkältungen, sagte er sich. Wer wollte behaupten, daß das nicht auch für WhiskySour galt? Der Whisky floß hinunter. Und blieb erstaunlicherweise unten. Hake fühlte sich danach – nun, nicht besser, aber wenigstens anders. Die anregende Wirkung des Whiskys beeinflußte die Mattigkeit von der Erkältung immerhin so, daß eine Veränderung eintrat. Er blätterte die Zeitungen durch, eher aus Pflichtgefühl als aus Interesse:
76 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Die Steuer auf flüssigen Wasserstoff wurde um fünfzig Prozent erhöht, ›um Forschungsvorhaben zu finanzieren, durch die Amerika innerhalb der nächsten dreißig Jahre treibstoffunabhängig wird‹. Der irre Mörder, der zweiundzwanzig Frauen in Chicago mit Molotowcocktails getötet hatte, weil sie Stimmungsringe trugen, war gefaßt worden und hatte erklärt, Gott hätte ihm den Auftrag dazu erteilt. International Harvester hatte seinen zehntausendsten Kampfpanzer Modell XII vom Fließband direkt zum UNO-Verschrottungsgelände in Detroit geliefert. Der Präsident verkündete, daß die Produktionsrate zu Verhandlungszwecken den Bedürfnissen der bevorstehenden Abrüstungsgespräche nicht entspreche, und kündigte eine Sonderanleihe an, um fünftausend zusätzliche hochmoderne Kampfflugzeuge zu finanzieren, die innerhalb der nächsten fünf Jahre gebaut und verschrottet werden sollten. (Er erwähnte ferner, daß die Einkommensteuer erhöht werden müsse, um die Anleihe zu bezahlen.) Die Mikrowellen-Empfänger in Texas hatten wegen ausgedehnter Schäden an den Van-Allen-Gürteln zehn Tage abgeschaltet werden müssen; als Folge davon erlebte Louisiana seinen schwersten Frühlingsblizzard, und fast ganz Oklahoma, Texas und Neu-Mexiko w aren ohne Strom. Eine ganz normale Woche in Amerika. Alys hatte auch Nachrichten aus Europa angestrichen, aber Hake hatte keine Lust, sie zu lesen. Er hatte in den vergangenen fünfzehn Tagen genug Schmutz und Elend gesehen, um zu dem Schluß zu kommen, daß es den Europäern in Wahrheit nicht wesentlich besser ging als den Leuten in Long Branch, New Jersey, was die Lebensqualität anbelangte. Und außerdem schien auch die Qualität seines eigenen Lebens im Augenblick nicht sehr gut zu sein. Die Whisky-Sours waren vielleicht ein Fehler gewesen. Schwindlig stand er auf und besah sich im Spiegel. Er fühlte sich wirklich krank. Krank zu sein, erschreckte Hake auf eine Weise, die jemand, der Zeit seines Lebens gesund gewesen war, kaum verstehen mochte. Er betrachtete seine Zunge (einigermaßen rosig), seine Augen (wenn man es genau
77 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
nahm, eigentlich nicht sehr gerötet) und wünschte sich etwas, mit dem er seine Temperatur hätte messen können. Vielleicht brauchte er eigentlich nur ein bißchen mehr Schlaf und auf jeden Fall viel mehr Bewegung. Er hatte seine Hanteln nicht mitnehmen können. Er betrachtete seinen Bauch und forschte nach den Spuren von Fettansatz, untersuchte seinen Rücken. Nichts zu sehen – noch nicht. Aber er hatte auf dieser Reise zwei Wochen Jogging und ein Dutzend Judostunden versäumt, und wie lange konnte er das durchhalten, ohne die Folgen zu spüren? Er beschloß, mindestens eines der Mädchen aus Ocean Grove zu mindestens einem Tischtennis-Match am nächsten Morgen zu verlocken. Aber am Morgen war er nicht in der Verfassung dazu, selbst wenn nicht Sonntag gewesen wäre und die Mädchen sich nicht in der amerikanischen Schule aufgehalten oder nicht in irgendeiner bedauernswerten Kirche Unruhe gestiftet hätten. Er badete, rasierte sich, zog sich an und verließ auf unsicheren Beinen die Pension, um einen Drugstore zu suchen. Bei drei Häuserblocks kam er an zweien vorbei. Beide waren geschlo ssen, aber nun wußte er wenigstens, wie das hier hieß. Er sprach einen älteren Mann an, der sich in einem Hauseingang sonnte, und fragte: »Bitte, wo ist eine Apotheke?« Er mußte es zweimal wiederholen, bevor er Antwort bekam. Die Worte waren nicht sehr hilfreich, aber der ausgestreckte Zeigefinger war es. Die Apothekerin war eine junge Frau, die ihre roten Haare in Ringellöckchen trug. Sie sprach kein Englisch, kein Hebräisch und auch keinen der arabischen Dialekte, mit denen Hake sich abmühte. Wären die Kibbuzim in ihren Gebräuchen nicht so streng gewesen, dann hätte er wenigstens ein bißchen Jiddisch gekonnt und es bei ihr ausprobieren können. Aber alles, worauf er sich stützen konnte, war Einfallsreichtum. Nachdem er vieroder fünfmal gescheitert war, kam er auf den Gedanken, auffällig in die Hand zu husten und pantomimisch das Trinken aus einer Flasche anzudeuten.
78 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ja, ja!« rief die Apothekerin erleuchtet und holte ihm etwas aus einem Regal. Hake starrte das Etikett dumpf an. Natürlich stand da alles auf deutsch. ›Antihistamin-Wirkung‹ war noch ganz verständlich, aber was war ein ›Hustentherapeutikum‹? Die Namen der Bestandteile waren leichter zu verstehen. Die Wissenschaft hat eine Universalsprache, und durch Hinzufügen und Weglassen einiger Buchstaben konnte er manches von dem, was die Flasche enthielt, erkennen. Der Haken dabei war, daß Hake nichts von Pharmazie verstand. Gegen welche Erkrankungen sollten Natriumzitrat und Ammoniumchlorid gut sein? Bei den Mengen fühlte er sich sicherer. ›Erwachsene‹ war ihm klar (wenn auch nur deshalb, weil daneben ›Kinder‹ stand). Und ›1 bis 2 Teelöffel alle 3 bis 4 Stunden‹ konnte er ebenfalls verstehen. Während er noch zögerte, betrat eine hochgewachsene Frau mit breitrandigem Hut die Apotheke und begann sich nachdenklich Kosmetika anzusehen. Hake übte den ganzen Rest seiner Deutschkenntnisse drei- oder viermal, dann ging er hin zu ihr, um sich helfen zu lassen. »Bitte, gnädige Frau«, sagte er. »Sprechen Sie Englisch?« Sie drehte sich um und sah ihn an. Das Gesicht unter dem breitrandigen Hut war eines, das er das letzte Mal in einer Küche in Maryland gesehen hatte. Auch wenn die Apotheken so nntags geschlossen zu sein schienen, die Lokale waren es nicht. Sie fanden ein Straßencafé, kühler, als Hake es lieb war, aber um diese Zeit von anderen Leuten wenigstens gemieden, und die Frau bestellte für sie beide große Glaspokale mit Bier, in das ein Schuß Himbeersaft hineinkam. Hake trank einen Schluck ›Hustentherapeutikum‹ aus der Flasche, den er auf ›i-2 Teelöffel‹ schätzte, und spülte mit Bier nach. Die Kälte tat seinem Gaumen gut, der Geschmack weniger. Das war nicht das, was sein Körper verlangte, und der
79 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Druck in seinem Bauch nahm zu. Es kam ihm vor, als wolle er aufstoßen, aber das wagte er nicht. »Wissen Sie, junge Dame«, sagte er, »ich könnte Sie festnehmen lassen.« »Hier nicht, Hake.« »Kidnapping ist ganz gewiß eine Straftat, bei der ausgeliefert wird.« »Straftat? Aber Sie haben doch gar keine Anzeige erstattet, Hake, oder?« »Es gibt keine Verjährung für Kidnapping.« »Ach, Quatsch, Hake, hören Sie auf mit dem Juristengefasel. Das paßt nicht zu Ihnen. Reden wir von Tatsachen, etwa davon, daß Sie nicht zur Polizei gegangen sind. Haben Sie über die Gründe dafür nachgedacht?« »Den Grund dafür weiß ich. Ich, äh, ich wußte nicht, wo ich Sie anzeigen sollte.« »Soll das heißen, Sie hatten sich schon den Geheimen verpflichtet und wußten, daß Sie die normale Polizei nicht behelligen sollten«, erwiderte sie bitter. »Stimmt’s? Und Sie hatten Angst davor, es den Geheimen zu sagen, weil Sie nicht wußten, was geschehen würde.« Er hielt den Mund. Er wollte vor ihr nicht zugeben, daß er einfach nicht gewußt hatte, wie er sich mit dem Team in Verbindung setzen sollte. Außerdem stand für ihn fest, daß er dieser Frau überhaupt nichts sagen oder auch nur mit ihr sprechen sollte. Wer wußte denn, ob nicht der Kellner, der beiläufig einem verirrten Zeitungsblatt einen Fußtritt gab oder das halbwüchsige Mädchen im Hotpants-Anzug, das die Straße entlangradelte, irgendwo irgend jemandem von diesem Zusammentreffen berichten würde? Unter anderen Umständen wäre er gern viel mit ihr zusammen gewesen. Ob im Overall oder im geblümten Frühlingskleid mit breitrandigem Hut, sie war eine auffallende Frau. Sie war
80 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
mindestens so groß wie Hake, und schlanker, als es ihm sonst als schön vorgekommen wäre – wenn es bei irgendeiner ihrer Begegnungen je eine Rolle gespielt hätte, ob sie schön war oder nicht. Sie gab in vieler Hinsicht Rätsel auf. Ein Beispiel: Wie kurios, einen altmodischen Ehering aus Gold zu tragen! Er hatte keinen mehr gesehen seit… er wußte gar nicht mehr, wann er das letzte Mal einen gesehen hatte. »Ich habe nicht viel Zeit, Hake«, sagte sie streng, »und viel zu sagen. Wir haben Sie überprüft, wissen Sie. Sie sind ein anständiger Mensch. Sie sind gut zu den anderen, ein Idealist. Wenn Sie eine streunende Katze finden, suchen Sie ein Plätzchen dafür. Sie arbeiten neunzig Stunden in der Woche in einem miesen Job für Sklavenlohn. Was hat man also mit Ihnen gemacht, um Sie in einen Killer zu verwandeln?« »Killer!« »Wie würden Sie das nennen? Sie sind nah genug daran, Killer zu sein, und Sie fangen eben erst bei ihnen an. Wer weiß, was man von Ihnen noch verlangen wird? Als Sie den Auftrag übernommen haben, müssen Sie doch gewußt haben, was das bedeutet.« Er konnte dieser jungen, schönen, zornigen Frau nicht eingestehen, daß er nicht nur nicht wußte, was die Tätigkeit bedeutete, sondern noch nicht einmal genau herausgefunden hatte, worum es dabei ging. Er sagte heiser: »Ich habe mein eigenes Moralgefühl, Lady.« »Das haben Sie, ja, und trotzdem tun Sie Dinge, von denen ich weiß, daß Sie wissen, wie sie dagegen verstoßen. Warum?« Er erkannte erleichtert, daß das eine rhetorische Frage war und sie ihm die Antwort abnehmen wollte. Dieses Gespräch weiterzuführen, fiel ihm immer schwerer. Und seine Ohren störten ihn. Er schien ein fernes Dröhnen zu hören. Er versuchte sich trotz der zunehmenden Gewißheit, daß er kränker war, als er gedacht hatte, auf ihre Worte zu konzentrieren.
81 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Sie sagte traurig: »Warum? Mein Gott, wieviel Zeit wir aufgewendet haben, um darauf eine Antwort zu finden. Was verwandelt Menschen wie Sie? Geld? Aber auf Geld können Sie es nicht abgesehen haben, sonst wären Sie doch nicht ausgerechnet Geistlicher. Patriotismus? Sie sind nicht einmal in Amerika geboren. Vielleicht irgendeine Psychose, weil Sie fast Ihr ganzes Leben lang ein Krüppel gewesen sind und die Mädchen nichts von Ihnen wissen wollten?« »Die Mädchen waren sehr oft bereit, meine körperlichen Probleme zu übersehen«, sagte Hake mit Würde. »Ersparen Sie mir die Geschichte Ihrer Jugendfummeleien, Hake. Ich weiß, das ist es auch nicht. Oder sollte es nicht sein. Wir haben Sie auch in dieser Hinsicht überprüft. Aber was bleibt dann? Weshalb drehen Sie sich um hundertachtzig Grad? Sie sind vorher einer, der alles gibt, der jedem hilft, so gut er nur kann, und werden ein ganz übler Unruhestifter, einer, der Elend verbreitet und im Geheimdienst arbeitet. Es gibt nur eine Antwort! Hake, was wissen Sie von Hypnose?« »Hypnose ?« »Sie wiederholen immer, was ich sage, aber die richtige Einstellung ist das nicht, wissen Sie. Ja, ich habe ›Hypnose‹ gesagt. Für den Fall, daß Sie das nicht wissen, zeigen Sie alle Anzeichen: Trancelogik, Duldung von Unstimmigkeiten, sogar Unempfindlichkeit gegen Schmerz. Jedenfalls auf seelischem Gebiet; sie würden Qualen erleiden bei der Sorte von Menschen, mit denen Sie zu tun haben, wenn da nicht etwas wäre, das Sie davor bewahrt. Sogar hypnotisierter Wahn! Sie haben Hinweise aufgenommen, die ein Mensch, der nicht im Trancezustand ist, gar nicht beachten würde. Sie haben von uns Hinweise aufgenommen, nachdem wir Sie entführt hatten. Deshalb haben Sie uns nicht angezeigt, wissen Sie.« »Ach, hören Sie doch auf. Kein Mensch hat mich hypnotisiert.« »Woher wollen Sie denn das wissen? Wenn Sie einen posthypnotischen Befehl erhalten hätten, es zu vergessen?«
82 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Er schüttelte störrisch den Kopf. »Ja, sicher«, sagte sie verächtlich. »Sie wissen es natürlich, weil Sie Sie sind, nicht? Aber wie erklären Sie sich, daß Sie bei denen unterschrieben haben, wenn Sie nicht hypnotisiert worden sind?« Ich kann es nicht, dachte er, aber laut sagte er: »Ich brauche Ihnen gar nichts zu erklären. Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind – außer, daß Sie Lee heißen und verheiratet sind.« Sie sah ihn unter der Hutkrempe hervor nachdenklich an. Hake konnte ihre Augen nicht richtig sehen, und das brachte ihn aus der Fassung. Nun ja, alles an ihr brachte ihn aus der Fassung. »Ich muß mal«, sagte er knapp. Er fühlte sich ganz und gar nicht wohl, und hier in diesem schmutzigen, kühlen Straßencafé im Freien zu sitzen – in München gab es einen Streik der Müllabfuhr, und die Gehsteige waren verunreinigt von altem, stinkendem Abfall – besserte seinen Zustand nicht. Und das Dröhnen in der Ferne wurde immer lauter und kam näher. Als er zurückkam, hatte der Ober zwei neue Berliner Weiße gebracht. Lee hatte ihren Hut abgenommen. Sie sah ohne ihn viel jünger und hübscher aus und wirkte verlassen. Sie hätte unter den richtigen Umständen sehr verführerisch wirken können. Aber die waren nicht gegeben. Hake erkannte betroffen, daß er das erste Glas ganz ausgetrunken hatte. Der Sirup am Boden war so süß, daß er den frischen Biergeschmack ersehnte, aber sein Magen signalisierte, daß er sich über eine bestimmte Grenze hinaus nicht würde malträtieren lassen. »Was die Frage angeht, wer ich bin, Hake«, sagte sie düster, »habe ich mich Ihnen gegenüber ja schon enttarnt, nicht? Mein Name ist also Leota Pauket. Ich war graduierte Studentin am – egal, wo. Jedenfalls bin ich das nicht mehr. Meine Dissertation ist nicht angenommen worden, und damit hat das alles angefangen.« »Ich hoffe, Sie erzählen mir, wovon Sie reden.«
83 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Darauf können Sie sich verlassen, Hake. Vielleicht mehr, als Sie wissen wollen.« Sie trank einen großen Schluck Bier und starrte auf die abfallübersäte Straße hinaus. »Ich bin eine Ute.« »Sie sehen gar nicht indianisch aus.« »Sparen Sie sich die Witze, Hake. Ich bin Utilitaristin. Während des Studiums gehörte ich dem Jeremy-Bentham-Klub an. Sie wissen schon: ›Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen‹ und so weiter. Es war ein kleiner Verein, wir waren nur zu sechst. Aber wir standen uns näher als Geschw ister. Ich habe, seit ich da eingestiegen bin, mit ein paar ziemlich üblen Typen zu tun, Hake. Es gibt auch auf der anderen Seite miese Leute, so schlimm wie die Ihren, und ich kann mir meine Verbündeten nicht immer aussuchen. Aber am College waren das feine Menschen, alle graduierte Studenten, alle Wirtschaft oder Soziologie. Allesamt charakterlich vollkommen in Ordnung. Mein Doktorvater war eine Frau, unsere Fakultätsberaterin, und sie hat mir den Titel für die Doktorarbeit empfohlen: ›Kovarianten und Korrelate: Eine Untersuchung der Beziehung zwischen der Verschlechterung des nichtmonetären Standards von Lebensfaktoren und abnehmender internationaler Spannungen‹. Sie hat mir geholfen – « »He!« Hake richtete sich auf. »Kann ich davon ein Exemplar bekommen?« »Von meiner Dissertation? Stellen Sie sich nicht dumm, Hake. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich sie nie fertiggeschrieben habe. Trotzdem«, fügte sie angenehm berührt hinzu, »irgendwo muß ich den Entwurf noch haben. Ich könnte vielleicht ein Exemplar finden, wenn Sie es wirklich lesen wollen.« »Das möchte ich. Unbedingt. Ich habe selbst versucht, dergleichen in Erfahrung zu bringen.« »Hm.« Sie trank wieder einen Schluck Bier und sah ihn über den Pokalrand hinweg an. »Vielleicht besteht bei Ihnen doch noch Hoffnung, Hake. Egal. Sie ist diejenige, die uns auf die Spur Ihrer Geheimdienstfreunde gebracht hat. Sie sagte, es sei ausgeschlossen, daß alle diese Dinge ganz zufällig einträten. Da
84 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
müsse etwas dahinterstecken. Je mehr ich bohrte, desto überzeugter wurde ich, daß sie recht hatte. Dann entließ man sie. Sie wurde von staatlichen Zuschüssen bezahlt. Und der Zuschuß wurde gestrichen. Der Mann, der an ihre Stelle trat, wies meine ganze Arbeit zurück. Und der neue Fakultätsberater für den JBK empfahl uns, den Verein aufzulösen. Das taten wir dann auch – öffentlich. Und gingen in den Untergrund. Das ist«, sagte sie, an den Fingern abzählend, »ein, zwei, drei Jahre her.« Hake nickte, den Blick auf ihre Finger gerichtet. »Es fiel nicht schwer, unsere Fakten nachzuweisen: Die Vereinigten Staaten sabotierten bewußt andere Länder. Es war nicht einmal schwer, herauszufinden, welche Behörde das betrieb – wir hatten Unterstützung. Dann tauchte die Frage auf: Was tun wir dagegen? Wir überlegten uns, ob wir an die Öffentlichkeit treten sollten, Fernsehen, Presse, alles. Aber wir entschieden uns dagegen. Was würden wir erreichen? Eine Zehntage-Sensation in den Schlagzeilen, dann würde alles wieder in Vergessenheit geraten. Nur zu drucken, was diese Leute tun, legitimiert das; sie sind in Washington gewesen und haben die Denkmäler für die Watergate-Märtyrer gesehen. Wir beschlossen, das Feuer mit Feuer zu bekämpfen – Hake? Was ist denn mit Ihnen?« Er zeigte auf ihren Ring. »Jetzt weiß ich, wo ich Sie das erstemal gesehen habe. Sie waren die alte Dame im Bus.« »Natürlich war ich die. Ich sagte doch, wir mußten Sie überprüfen.« »Aber woher wußten Sie, wo ich sein würde?« Sie wirkte verlegen. »Ich habe schon erwähnt, daß wir Unterstützung hatten.« »Was für Unterstützung?« Es fiel ihm immer schwerer, dem Gespräch zu folgen oder auch nur aufrecht auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. Das Dröhnen war jetzt sehr nah, und er sah unten an der breiten Straße einen heranmarschierenden Zug von Demonstranten in weißen Gewändern mit spitzen Zaubererhü-
85 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
ten. Er konnte deren Transparente nicht lesen, aber sie schienen immer wieder dasselbe zu schreien: »Gastarbeiter raus! Gastarbeiter raus!« »Geht Sie nichts an«, sagte sie laut, um das Geschrei der Demonstranten zu übertönen. »Hören Sie davon auf, Hake. Ich versuche Ihnen zu erklären – Hake! Was machen Sie?« »Ich glaube, ich werde ohnmächtig«, erwiderte er und wurde es. Was weiter geschah, war für Hake ganz undeutlich. Er ging kurze Zeit auf seinen Beinen, dann verlor er wieder das Bewußtsein. Einmal befand er sich in einem Zimmer, das er nicht wiedererkannte, und in dem sich Leota und ein Mann, den er nicht kannte und der auf irgendeine Weise orientalisch aussah, über ihn beugten. Sie sprachen über ihn: »Sie sind kein Arzt, Subirama. Er ist zu krank für Ihren Unsinn!« »Psst, psst, Leota, das ist nur etwas, das die Schmerzen lindert, ein bißchen Akupunktur, das senkt das Fieber – « »Ich halte nichts von Akupunktur«, sagte Hake, aber dann bemerkte er, daß das schon lange danach war, und er sich an einem anderen Ort befand, offenbar in einem Lazarettflugzeug. Eine Negerin in Schwesterntracht starrte ihn sonderbar an. »Das ist nicht Akupunktur, Schatz«, sagte sie beruhigend, »sondern nur eine kleine Spritze, damit Sie sich besser fühlen – « Und als er wieder wach wurde, lag er in einem richtigen Krankenhaus. Und es mußte zu Hause in New Jersey sein, weil der Arzt, der seinen Puls fühlte, Sam Cousins war, dessen Tochter in Hakes eigener Kirche geheiratet hatte. Hakes Kehle war schrecklich ausgetrocknet. Er krächzte: »Was – was ist passiert, Sam?« Der Arzt ließ sein Handgelenk sinken und wirkte erfreut.
86 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Da sind Sie ja, Horny. Schön, Sie wiederzuhaben. Pfleger, geben Sie mir ein Glas Wasser.« Während Hake gierig die erlaubten drei Schlucke trank, sagte der Arzt: »Sie sind sehr krank gewesen, wissen Sie. So, das war jetzt genug Wasser. Sie kriegen später mehr.« Hake sah dem Glas sehnsüchtig nach. »Krank wovon?« »Tja, das ist das Problem, Horny. Irgendein neuer Virus. Die Kinder erwischten ihn auch alle, und Alys ebenso. Aber Kinder haben nicht so schwer darunter zu leiden. Alte Leute auch nicht. Ganz arg erwischt es nur die Gesunden mitten in der Blüte des Lebens, wie Sie.« Er stand auf. »Ich komme später wieder, Horny, und in ein, zwei Tagen dürfen Sie hier raus. Aber im Augenblick«, sagte er mit einem Nicken zum Pfleger, »keine Besuche.« »Ja, Doktor«, sagte der Pfleger, schloß die Tür hinter ihm und drehte sich nach Hake um, und Hake sah sich den bärtigen, schlanken Mann genauer an, der ganz in Weiß war. Es war beinahe keine Überraschung. »Hallo, Griesgram«, sagte er. »Nicht so laut«, sagte der Geheimdienstler. »Im Zimmer sind keine Wanzen, aber wer weiß, wer draußen über den Flur geht?« Er zog Zeitungen aus der Nachttisch-Schublade. »Die wollte ich Ihnen geben und Sie wissen lassen, daß wir an Sie denken. Das Team hat einen neuen Auftrag für Sie, sobald Sie wieder ganz gesund sind.« »Neuer Auftrag? Mensch, Griesgram, ich habe noch nicht einmal den ersten erledigt. Weshalb einen neuen, wenn ich den ersten verpatzt habe, weil ich krank geworden bin?« Der Spion lächelte und faltete die Zeitung auseinander. Mehrere Meldungen waren rot eingekreist: NEUER VIRUS VERRINGERT PRODUKTION UM 40% IN SCHWEDISCHEN FABRIKEN
87 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
stand in der ›New York Times‹, und DÄNEN BAUCHWEH, DEUTSCHE HUSTEN in der ›Daily News‹ unter einem Bild langer Menschenschlangen vor einer öffentlichen Toilette in Frankfurt. »Wie kommen Sie darauf, Sie hätten etwas verpatzt?« fragte Griesgram.
88 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
5 Jeder Pfarrer hat einen Beichtvater – ein Rabbi einen anderen Rabbi, sogar ein protestantischer Geistlicher einen Vorgesetzten im Kirchenregiment. H. Hornswell Hake hatte niemanden. Er war Unitarier, mit seinem Kommando so allein wie ein Schiffskapitän auf hoher See. Den Gedanken, mit seinen Problemen die Kirchenleitung zu belasten, hätte er, falls er ihm überhaupt gekommen wäre, als lächerlich empfunden. So hatte er ohne Ehefrau oder Dauergeliebte, ohne Eltern, sogar ohne wirklich enge Freunde (wie er besorgt erkannte) niemanden, mit dem er reden konnte. Und er hätte reden wollen, mein Gott, und wie! Es ist keine leichte Sache für einen Menschen, entdecken zu müssen, daß er einen halben Kontinent angesteckt hat. Das nagte an ihm. Hakes Lebensplan war ihm selbst nicht klar, aber bestimmte Teile davon standen fest. Vor allem bestand sein Ziel darin, die Menschen nicht krank, sondern gesund zu machen. Beim Jogging, bei der Gymnastik, beim Hantelstemmen dachte er unablässig an Deutsche und Dänen, die mit tränenden Augen herumliefen und niesten. Wenn er im Bett lag, sah er sich als Bazillenträger in kontinentalem Maßstab. Er lag auch viel. Die Seuche, die Hake in Westeuropa verbreitet hatte, war, was das Team einen Drei-X-Stamm nannte. Das hieß lediglich: Die Rückfallquote war so hoch, daß der Durchschnittsdulder damit rechnen konnte, daß Fieber, Durchfall und Elend sich dreimal hintereinander einstellten. Hake erhielt die beste ärztliche Pflege und erlitt fünf Rückschläge. Wochen vergingen, bevor er wieder dienstfähig war. Nicht, daß er untätig oder allein gewesen wäre. Wenn er einen Rückfall erlitt, waren Alys Brant, Jessie Tunman und ein halbes Dutzend andere mit Suppe und Sorge zur Stelle; wenn er aufstehen und außerhalb des Bettes bleiben konnte, erschien Jessie mit Sorgen wegen der Teppichkrise und der nächsten Finanzbesprechung, sein Jugendbeauftragter mit Plänen für die Mittsommer-Zauber-Wohltätigkeitsvorstellung und Sorgen darüber, welche Teenager welche Drogen nahmen, Alys Brant
89 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
mit ihrem eigenen unvermeidbaren Selbst. Alys hatte nur einen leichten Anflug der Krankheit durchgemacht, aber das genügte, um starkes Mitgefühl für Hakes Anfälle in ihr hervorzurufen, und das war mehr Mitleid, als Hake verkraften konnte. Er hielt sie sich vom Hals, indem er sie in Bibliotheken schickte, und bis er wieder so gesund war, daß er zu einer Predigt am Sonntagvo rmittag in die Kirche zurückkehren konnte, hatte er entschieden, was er tun wollte. Wie viele Pfarrer vor ihm wollte er seine Schwierigkeiten an der Gemeinde auslassen. Es war heiß geworden. Hake ging vor dem Gottesdienst langsam zur Kirche hinüber und achtete darauf, daß er nicht ins Schwitzen oder Keuchen geriet – er wollte nicht mehr von der Smogluft einatmen, als unbedingt nötig war, vor allem mit den besonderen Beigaben der Pizzeria neben der Kirche. Bei dieser Art von Wetter joggte er entweder bei Tagesanbruch, wenn es noch kühl war, oder er unterließ das Laufen ganz. Er sperrte die Kirchentür auf, öffnete sie weit und klemmte sie fest. Es war eine alte und kleine Kirche. Hakes Stimmung hob sich, als er hineinging, den abgewetzten Läufer betrachtete und die Namensschilder für die Gemeinde ordnete. An der Decke blätterte schon wieder der Putz ab. Hake zog die Brauen zusammen. Das Team war großzügig darin gewesen, ihm Luxus für den Eigengebrauch zu verschaffen – Windgenerator, neue Büroeinrichtung, wunderbar funktionierende sanitäre Anlagen im Badezimmer, sogar eine renovierte Küche, obwohl Junggeselle Hake fast nie eine Mahlzeit kochte. Es wurde Zeit, daß man von dem Geld etwas in die Kirche steckte. Vielleicht ein neuer Bodenbelag, damit man auf die Feste zur Beschaffung von Geld für Teppiche verzichten konnte. Wenn er das nächste Mal mit Griesgram sprach – aber wann würde das sein? Und vielleicht – vielleicht würde es nach der heutigen Predigt kein Geld von Griesgram mehr geben. Das war zwar schade, aber immerhin besser, als mit Schuldgefühlen leben zu müssen. »Wie die meisten von euch wissen«, begann er, »habe ich vorigen Monat einige Wochen in Europa verbracht, und das hat mich veranlaßt, über die Welt nachzudenken. Manches von dem,
90 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
was ich mir denke, gefällt mir nicht. Ich sehe mir die Welt an und entdecke eine gewissermaßen verrückte Menschheit, für die der Weg zum Sieg nicht darin besteht, schneller zu laufen als der andere, sondern ihm ein Bein zu stellen. Das ist kein richtiger Krieg, aber auch kein Friede, und für alle wird die Lebensqualität vermindert, sowohl für uns selbst, wie für den Rest der Welt.« Wegen des warmen Frühlingswetters befanden sich nur ungefähr fünfunddreißig Menschen in der Kirche, im Schneidersitz auf dem Boden, an Sackkissen gelehnt oder angemessen aufrecht sitzend auf den Bänken an den Seitenwänden. Sie hörten alle aufmerksam zu – oder, wenn nicht aufmerksam, so doch mit jenem höflichen Ausdruck passiver Hinnahme, den er von dieser Kanzel aus an den meisten Sonntagvormittagen seines Lebens gesehen hatte. »Ein Teil davon findet auf wirtschaftlichem Gebiet statt«, sagte er. »Wir nehmen uns gegenseitig die Währungen vor, machen beim Pfund auf Baisse und spekulieren mit der Mark; werfen Gold auf den Markt, wenn der Dollar weich wird, und kaufen es auf, wenn die Russen oder die Südafrikaner oder Inder verkaufen. Ein Teil betrifft den Handel. Wir verkaufen Weizen unter dem Selbstkostenpreis an Länder, die uns Fernsehgeräte unter ihrem Selbstkostenpreis liefern. Und ein Teil« – er zögerte und blickte auf den Text, den er niedergeschrieben hatte, suchte nach dem Mut, darüber hinauszugehen – »ein Teil ist psychologischer Natur. Wir haben die Spanier dafür gerügt, daß sie den Basken nicht die Freiheit gegeben haben, und wir stoßen den Rest der Welt vor den Kopf, weil man wagt, unseren Umgang mit den Navajos zu kritisieren.« Die Blicke trübten sich jetzt, wie er es vorausgesehen hatte, aber störrisch fuhr er fort, Statistiken anzuführen und politische Linien zu erläutern. Selbst Ted Brant, der an einem Kissensack lehnte, einen Arm besitzergreifend um Alys’ Schulter gelegt, die andere Hand auf Sue-Ellens Knie, wirkte nicht mehr feindselig, sondern nur noch gelangweilt, während Alys zu jedem Punkt nickte. Das hatte aber mit Einverständnis eigentlich nichts zu tun. Sie bestätigte nur den Gebrauch, den Hake von den Informationen machte, die sie ihm geliefert hatte. Hake verlängerte die Aufzählung: Hilfe für Überläufer, Unterstützung
91 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
für Dissidenten, Störsender, Weitergabe von Luftverschmutzung – »diese tausend Meter hohen Schornsteine verhindern, daß unsere Luft verschmutzt wird«, sagte er, »sie schleudern den Schmutz aber so hoch hinauf, daß er auf London und Kopenhagen herunterfällt.« Allen Haversfords Blick wirkte nicht mehr getrübt. Der Direktor von HBI lauschte mit voller, wenn auch neutraler Aufmerksamkeit, und ebenso, erstaunlicherweise, Jessie Tunman. Hake kam auf die Moral seiner Geschichte zu sprechen. »Ich bin zu der Ansicht gelangt, daß es nicht genügt, nicht im Krieg zu sein«, erklärte er. »Wir brauchen mehr. Wir brauchen Toleranz und Anteilnahme. Wir müssen denjenigen, die anderer Meinung sind als wir, unterstellen, daß sie sich vielleicht irren mögen, aber keine Verbrecher sind. Wir müssen Vielgestaltigkeit akzeptieren und Individualität fördern. Wir müssen den Argwohn als Grundhaltung aufgeben und uns von vorsorglichen Schlägen ebenso abwenden wie von Rachegefühlen. Und wir müssen in uns selbst die Lösungen für die Probleme finden, die wir hervorrufen, statt zu versuchen, unsere Zustände vergleichsweise dadurch zu verbessern, daß wir die von anderen vergleichsweise verschlechtern. Und nun«, sagte er, »werden uns Ellie Fratkin und Bill Meecham mit einem ihrer wunderschönen Cello und Klavierduette unterhalten.« Zu den Klängen von Schubert – vielleicht war es auch Kabalewski, er hatte seine Noten verlegt, und wenn Bill und Ellie spielten, klangen alle Stücke nahezu gleich – saß er auf dem Podium und blickte auf seine Gemeinde hinunter. Soweit Hake eine Familie hatte, war sie das. Er kannte die Menschen von außen bis innen – innerlich am besten, wie er z.B. seinen Adoptivonkel Phil nicht als den Steuerfahnder mit eisigem Blick kannte, sondern als den rülpsenden und freundlichen Betrunkenen, der bei einem seiner Krankenhausbesuche mit einer Babypuppe erschienen war, die weinen und Pipi machten konnte, um sie als Gesundungsgeschenk zu überreichen, weil er vergessen hatte, welchen Geschlechts das Stiefkind seiner Schwägerin war. Der stille Teddy Cantrell, der wie ein Buddha
92 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
dasaß und mit der Musik im Takt nickte, würde immer der tränenreiche Möchtegern-Selbstmörder bleiben, der, als seine Frau ihn verließ, Hakes Arbeitszimmer mit einer Starterpistole in Brand geschossen hatte. Die beiden schwulen Tonys, das beständigste und würdevollste Paar in der Kirche, Schulter an Schulter an der Wand lehnend, hatten ihm schluchzend die Herzen ausgeschüttet, während sie den Entschluß faßten, sich zu offenbaren. Wie viele von ihnen hatte er mit dem, was er mitzuteilen hatte, wirklich erreicht? Und als der Kaffee gebracht wurde und die Gemeindemitglieder umherwanderten, hörte er sich die Kommentare an. »Wirklich erhebend«, sagte der große Tony, und der dickere, jüngere meinte: »Sie tun mir immer gut, Horny.« Jessie Tunman: »Wenn Sie nur bei anderen Dingen auch so vorurteilslos wären, Horny.« Elinor Fratkin, die ihm sofort, als sie ihn allein erwischte, ins Ohr zischte: »Ich schäme mich so, Horny! Wie kann ich William gegenübertreten, wenn Sie nicht erwähnt haben, daß, was wir gespielt haben, seine eigene Transkription der Bach-Partita war?« Die gebrechliche alte Gertrude Mengel, am Stock auf ihn zuwankend: »Oh, Reverend Hake, wenn nur meine Schwester Sie hören könnte! Das hätte sie von den Drogen vielleicht ferngehalten.« Alys Brant, ganz nah bei ihm, während Ted ihre Hand umklammerte und entschlossen ins Leere starrte: »Wunderbar, wie Sie das alles zusammengefügt haben. Wann fahren wir nach New York, um die Recherchen abzuschließen?« Teddy Cantrell: »Sie haben uns viel Stoff zum Nachdenken gegeben.« Und gleich hinter diesem Allen Haversford mit verschleiertem Blick, während er Hake steif die Hand schüttelte: »Das kann man wirklich sagen, und ich möchte ausführlich mit Ihnen darüber sprechen, Reverend Hake, aber nicht jetzt.« Klang das nach einer Drohung? Oder wenigstens nach einer Warnung? So oder so, es war praktisch der einzige Hinweis darauf, daß irgend jemand wirklich zugehört hatte. Hake ging in sein Haus zurück, verbrachte den Tag damit, an Predigten zu feilen und Berichte für die regelmäßige Verwaltungsratssitzung am Montag zusammenzustellen, sah eine Weile fern und beschloß, früh ins Bett zu gehen; als er an diesem Abend die
93 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Spülung seiner Toilette betätigte, sprach sie mit Griesgrams Stimme zu ihm. Das Wesen der Komödie ist das ungereimte Durchkreuzen von Erwartungen. Hake sah sein Leben eine komische Wende nehmen. Entführt von einem Mädchen, das versucht hatte, ihn in eine Toilette zu locken. Komisch! Die echten Schußwaffen nahmen von der Komik nichts fort, sie ließen lediglich schwarzen Humor daraus entstehen. Westeuropa in ein wirtschaftliches Beben zu niesen, was konnte ulkiger sein? Und nun Geheimbefehle neuerlich durch eine Toilette zu erhalten, das war zum Brüllen komisch – jedenfalls dann, als die Verblüffung überwunden war. Wenn man die Apparatur selbst betrachtete, hatte sie nichts sonderlich Komisches an sich. Gedrungen, massiv und in heidekrautblauer Keramik beinahe majestätisch, sah sie aus wie ein grandios konstruiertes Gerät, dazu bestimmt, die exkretorischen Nebenprodukte eines Menschen so unauffällig und rasch von der betreffenden Person zu entfernen, wie man sich das nur wünschen konnte. Und nicht mehr. Das tat sie auch, aber eben noch mehr. Der Boden des Spültanks war zehn Zentimeter dick. Was immer sich darin befinden mochte, wurde durch die fugenlos geformte Keramik verborgen, aber die Stimme drang aus einem handflächengroßen Metallgitter unter dem Kasten. Der Druckhebel war aus nachgiebigem schwarzen Kunststoff, reizvoll geriffelt. Er sah nicht danach aus, als könne er Hakes Daumenabdruck erkennen, aber er tat es. Hake unternahm fasziniert Versuche. Mit dem Finger spülen, mit der Faust, und nichts rührte sich – außer, daß das Wasser in der Schüssel still spülte und abfloß. Mit dem Daumen spülen, wozu die Konstruktion einlud, und er hatte die Verbindung mit Griesgram hergestellt. Es war nur sein eigener Daumen, der das zuwege brachte. Er bewies das mit der entgegenkommenden – wenn auch ein wenig unsicheren – Jessie Tunman am nächsten Vormittag, als er sie unter einem Vorwand in das neue Badezimmer lockte: »Spülen
94 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Sie mal für mich, ja? Ich will feststellen, ob ich das hier draußen hören kann.« Sie tat es, skeptisch grinsend und ein wenig nervös, und er konnte es nicht hören – weder das rauschende Wasser noch Griesgrams aufgezeichnete Stimme. Nur Jessie selbst. »Wir sind ja groß herausgekommen, Horny. Und jetzt« – schon auf der Flucht – »muß ich unbedingt weiter Briefe tippen.« Es traf nicht ganz zu, daß sein Leben eine komische Wende nahm, denn komisch war es schon seit geraumer Zeit gewesen. Er hätte die schlaffen Jahrzehnte im Rollstuhl nicht durchhalten können, wenn er nicht die humorvolle Seite gesehen hätte. Geiler junger Mann, liebevoll gepflegt von den glattgliedrigen Mädchen, um die Sportler ihn beneideten, Football-Trainer, der nicht allein das ganze Spielfeld entlangwanken konnte, religiöser Führer, der auch nicht für einen Augenblick die Möglichkeit der Existenz eines übernatürlichen Gottes – oder auch irgendeiner anderen Art – erwogen hatte. Seelenberater, der bei dreihundert Pfarrkindern Sünden und Versuchungen linderte, die zu erleben er selbst nie Gelegenheit gehabt hatte. O ja! Schon komisch. So komisch wie das, worüber man lachen muß, damit man nicht weint. Genauso komisch und komisch genau auf dieselbe Art wie das, was nun in seinem Leben geschah. Von einem WC angesprochen zu werden, war lachhaft, aber das galt für einen Großteil der Lebensgeschichte von Horny Hake. Was sein WC zu ihm sagte, war: »Horny! Wenn Sie nicht allein sind, spülen Sie sofort noch einmal!« Es gab eine kurze Pause, während der das WC sich mutmaßlich darüber vergewisserte, daß es nicht sofort noch einmal gespült werden würde, dann sagte Griesgrams Stimme in umgänglicherem Ton: »Sie hätten ja auch mit eigentümlichen Gebräuchen beschäftigt sein können, von denen wir nichts wissen, alter Freund. Wenn es so ist, dann betätigen Sie sich in einem anderen Klo. Wenn Sie in diesem hier den Hebel drücken, erhalten Sie alle Nachrichten von mir übermittelt, die sich
95 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
angesammelt haben mögen. Tun Sie das mindestens dreimal am Tag – wenn Sie aufstehen, am späten Nachmittag, kurz bevor Sie schlafen gehen. Falls keine Nachrichten vorhanden oder diese abgespielt sind, hören Sie den Kammerton a. Das heißt, Sie können antworten oder eine Nachricht für mich hinterlassen, wenn Sie eine haben.« Es trat eine Pause ein, aber da Hake keinen Kammerton a hörte, nahm er an, daß Griesgram seine Gedanken sammelte. Als das WC weitersprach, klang die Stimme klar und fest: »Hier also die Anweisungen für Sie, Hake. Erstens: Kräftigen Sie weiterhin Ihren Körper. Zweitens: Melden Sie sich morgen nachmittag zu einer ärztlichen Untersuchung bei HBI – gehen Sie einfach hin, man weiß dort schon, was zu tun ist. Drittens: Spülen Sie dreimal am Tag. Ob Sie müssen oder nicht. Und, ach ja, das mit der Predigt war klug, aber übertreiben Sie es nicht. Es ist in Ordnung, wenn Ihre Gemeinde Sie für einen schwachköpfigen Liberalen hält, aber gehen Sie nicht so weit, sich das selbst einzureden. Wir sind derzeit hochzufrieden mit Ihnen, Hake. In Ihrem Beförderungspaket ist ein hübscher kleiner Bericht. Verderben Sie ihn nicht.« Die Toilette gab den Kammerton von sich und wurde wieder zu einem normalen WC. Als Hake am nächsten Tag nach Eatontown fuhr, nahm er seine Gedanken unter die Lupe und fand dort, wo sein Moralgefühl sein sollte, lediglich ein Vakuum. Griesgram war so sicher, daß seine Anweisungen befolgt werden würden und seine Sache eine gerechte war. Konnte es sein, daß das zutraf? Aber gewiß konnte es doch nicht recht sein, Leute krank zu machen, die keinem Menschen etwas getan hatten. Aber gewiß konnte ein Mann wie Griesgram nicht so selbstsicher und trotzdem so völlig im Unrecht sein, wie es den Anschein hatte. Aber gewiß – es gab zu viele Gewißheiten, und Hake empfand in Wirklichkeit keine als solche. Wie war es möglich, daß alle Menschen auf der Welt absolut davon überzeugt zu sein schienen, daß sie im Recht
96 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
waren, wenn sie alle verschiedener Meinung waren und Hake dergleichen ganz und gar nicht empfand? Vie lleicht war es richtiger, sich dem Eigeninteresse anzuvertrauen? Hakes Eigeninteresse schien bei Griesgram zu liegen: Freisteller von Gesetzen, Beschaffer neuer Badezimmer, Ausgleicher des Finanzbudgets. Wenn er bei Griesgram blieb, würde er ohne Zweifel recht hübsche Sonderleistungen erwarten können. Er würde vielleicht nicht mehr in dieser Sorte von stinkendem, rauchendem Holzvergaser-Taxi herumfahren müssen, wenn er das Haus verließ. Elektroauto, Schwungradantrieb, sogar ein Benzin-Buick, wie der Mann ih n gefahren hatte, der ihn erstmals zu diesem Unternehmen geholt hatte, sie lagen alle in seiner Reichweite. Bei HBI traf er nicht auf Allen Haversford, sondern nur auf eine hübsche junge Krankenschwester, die seine Meßwerte nahm, sich abwandte, während er sich auszog und in einen Leinenkittel schlüpfte, ihn durch und durch röntgte, ihm drei schmerzlose Sprayspritzen gab (wofür? Welche Seuche würde er jetzt verbreiten, und wo?), ihn sowohl mit den Augen wie mit dem unterschriebenen Bericht, von dem er Fotoko pien bekam, für gesund erklärte und gehen ließ. Nachdem er ihr die Hand gedrückt hatte und schon auf dem Weg zum Tor war, ging Hake plötzlich ein Licht auf: Der alte Horny war geil! Und er hatte eine Einladung erhalten und sie ausgeschlagen. Da so viele Frauen, denen er begegnete, einer geschützten Art angehörten, also nicht angerührt werden durften, und da so viel von seinem Erwachsenendasein unter Umständen ablief, bei denen der Sex etwas Abstraktes blieb, wußte Hake, daß er jämmerlich weltfremd war. Kein anderer Mann in New Jersey hätte dieses Sprechzimmer verlassen, ohne es zu versuchen, vor allem bei der Art von Ermunterung, die er ohne Zweifel hatte beobachten können. Das mußte gründlich überdacht werden. Er verdrängte die nachmittägliche Sitzung mit der Schulverwaltung aus seinen Gedanken, überquerte die Bundesstraße 35 und bestellte sich im Lokal eines klimatisierten Motels ein Bier.
97 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Das gehörte alles zusammen, sagte er sich. Wofür hielt er sich eigentlich, für einen Heiligen? Weshalb sollten ihm nicht ein paar Laster zustehen? Weshalb lief er vor Alys Brant davon, und warum sollte er sich von Griesgram sein Leben nicht erleichtern lassen? Er trank noch ein Bier und noch eins. Da er bei bester Gesundheit war, machten ihn drei Gläser Bier nicht betrunken, aber sie beraubten ihn des Zeitgefühls. Als er sich entschlossen hatte, umzukehren und bei der glatten, jungen Krankenschwester festzustellen, ob sie so interessiert war, wie er geglaubt hatte, entdeckte er, daß es sieben Uhr vorbei war. Die Tore hatte man geschlossen. Er hatte nicht nur die Sitzung in der Schule verpaßt, sondern nicht einmal Zeit dafür gehabt, heimzufahren und seine Nachmittagsspülung vorzunehmen, bevor er zur Mittsommer-Zauberschau hinüberging. Sehr schade, dachte Horny, als er auf die Straße hinausschritt und ein Taxi herbeiwinkte. Aber morgen war auch noch ein Tag, da würde sie auch noch da sein. Die Mittsommer-Zauberschau war das große Geldbeschaffungsfest der Kirche. Sie fand statt in einem alten Kino an einem Verkehrskreisel bei Long Branch. In energiereichen Zeiten hatte das Filmtheater Zuschauer von den Häusern in der Innenstadt weggelockt, Jugendliche mit ihren Stelldichein-Partnern, junge Ehepaare mit ihren Kindern, Senioren, die wieder einen Tag totzuschlagen hatten. Nun floß der Strom in die Städte zurück, und die Autokunden waren vertröpfelt. Das Kino hielt sich mit Wiederaufführungen klassischer Streifen für einen Dollar pro Kopf über Wasser, ab und zu gab es ein Konzert. Nichts anderes lockte genug Leute an, die ausreichten, daß man die Kosten bezahlen konnte, die das Filmtheater am Leben erhielten. Meistens genügte sogar auch das nicht, so daß der Geschäftsführer hochbegeistert davon war, es einmal im Jahr für den Abend an die Unitarier-Kirche vermieten zu können. Hake kam in dem Augenblick an, als der Zauberkünstler, »Der Unglaubliche Art«, sein Gerät aufbaute. Alys Brant sah Hake durch den Mittelgang gehen und wedelte mit den Fingern einer Hand. Das war alles, was sie schwenken konnte; sie war in einem von Arts Illusionsgeräten festgeschnallt
98 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
und übte, die zersägte Frau zu sein. Ihre Hände waren auf der Brust gekreuzt, um möglichst weit von der kreischenden, heulenden Kreissäge entfernt zu sein, die ihren Bauch zu zerteilen schien. Als »Der Unglaubliche Art« sah, wen sie begrüßte, schaltete er die Säge ab, kippte sie hoch und von ihr fort und begann sie herauszuziehen. »Hallo, Horny!« rief er. »Helfen Sie mir, das Ding hinter den Vorhang zu schaffen!« Art war dafür gebaut, ein Zauberer zu sein oder wie ein solcher auszusehen: 1.90 m groß, 65 Kilogramm, schmales Gesicht, durchdringende Augen. Er trug seine blonden Haare in wallenden General-Custer-Wellen, Voll- und Schnurrbart desgleichen; er sah aus wie ein magerer, skandinavischer Teufel und hatte eine Stimme ausgebildet, eine Oktave unter der von Mephisto. Dürr wie ein Gespenst, war er erstaunlich kräftig. Das Requisit wog soviel wie ein Klavier, und obwohl es auf Rollen lief, keuchte Hake, bis sie es außer Sichtweite geschoben hatten, während »Der Unglaubliche Art« unfaßbarerweise nicht einmal schwitzte. »Das mach’ ich sehr ungern allein, Horny«, meinte er, schlang die langen Arme um ein Ende und zog es noch zehn Zentimeter weiter weg. »Jetzt bin ich wohl soweit.« Alys kam zurück, gewagt gekleidet in durchsichtigem HaremOberteil und Pluderhose. »Bei der Säge muß ich immer Pipi machen«, gestand sie. Sie trug unter dem dünnen Bolero keinen Büstenhalter, sah Hake – und wohl auch kein Höschen, obwohl es da kaum Gewißheit gab, so, wie der Gazestoff sie umkleidete. Die Vorstellung war gleichzeitig erregend und beunruhigend für ihn. Seine Drüsen hatten sich noch nicht damit abgefunden, bei der Krankenschwester leer ausgegangen zu sein, und als Alys bewundernd mit der einen Hand seine Brustmuskeln und mit der anderen seinen M. latissimus dorsi betastete, regte sich neue Hoffnung in ihnen. Die Signale der Frau waren aufreizend widersprüchlich. Hake bildete in seinem Inneren Sätze wie: Wenn du so wild auf Horny bist, Honey, wo warst du denn in Europa? Aber gerechterweise gab er vor sich selbst zu, daß seine Signale ihr gegenüber ebenso widersprüchlich und undeutlich
99 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
gewesen sein mußten, weil seine Triebe und Hemmungen sie verwirrten. Er entkam, als das Theater sich zu füllen begann, sah sich dabei unterstützt von der Tatsache, daß unter den ersten Eintreffenden die drei anderen Angehörigen von Alys’ Familie waren: Ted Brant gereizt; Walter Sturgis sorgenvoll; Sue-Ellen vorwurfsvoll. Hake suchte sich einen Platz in der ersten Reihe, so weit von ihnen entfernt, wie es ging. Es wäre besser gewesen, natürlich und Argwohn zerstreuend neben ihnen zu sitzen, aber dem fühlte er sich nicht gewachsen. Die Vorführung des »Unglaublichen Art« umfaßte alle Standardnummern, an die Hake sich aus sämtlichen Zauberauftritten seines Lebens erinnern konnte, vo n verschwundenen Billardkugeln bis zum Hervorholen von lebendigen Tauben aus Alys’ Mieder, nachdem er sie zersägt hatte. Das Publikum bestand halb aus Kindern, halb aus Erwachsenen, die freiwillig bereit waren, einen Abend lang wieder kindlich zu sein. Die Leute nahmen alles begierig auf, wie schon immer. Sechstausend Dollar an Eintrittsgeldern waren in die Kirchenkasse geflossen, alle amüsierten sich großartig, und Hake gestattete sich Empfindungen des Wohlergehens. Aus diesem Grund war er unachtsam, und als »Der Unglaubliche Art« für eine letzte und großartigste Vorführung Freiwillige auf die Bühne zu rufen begann, ließ Hake sich vom Strom mitreißen. »Und nun«, rief der Magier dröhnend, »zu einer letzten Darbietung der unglaublichen Kunst des ›Unglaublichen Art‹! Ich werde ein Experiment mit Hypnose versuchen! Ich habe hier dreißig Freiwillige, aufs Geratewohl ausgesucht. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, dem Publikum zu erklären: Ist irgend jemand von Ihnen in irgendeiner Weise dahingehend vorbereitet, eingeübt oder unterwiesen worden, was er hier oben tun soll?« Alle dreißig Köpfe verneinten, darunter auch der von Hake. »Dann möchte ich, daß Sie alle die Köpfe hängen lassen, das Kinn auf der Brust. Schließen Sie die Augen. Sie werden schläfrig. Ihre Augen sind geschlossen, und Sie fühlen sich
100 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
schläfrig. Ich werde von fünf an rückwärts zählen, und wenn ich ›null‹ sage, schlafen Sie: Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Null.« Hake war nicht sicher, ob er sich schläfrig fühlte, aber sein Zustand schien doch ein behaglicher zu sein. Er hörte ein Schlurfen auf der Bühne und guckte durch einen Augenschlitz. Art trieb unauffällig ein halbes Dutzend Freiwillige ins Publikum zurück. Offenbar hatten sie die Köpfe gehoben und gezeigt, daß sie wach waren. »So, nun zu den anderen«, brummte Art. »Halten Sie die Augen geschlossen, aber heben Sie die Köpfe. Öffnen Sie die Augen nicht, bis ich sage ›aufmachen‹. In diesem Moment werden Sie deutlich wahrnehmen, was vorgeht, sich aber an nichts erinnern können, sobald Sie die Bühne verlassen haben. Also, aufmachen.« So sehr unterscheidet sich die Hypnose vom Rest des Lebens gar nicht, dachte Hake. Er fühlte sich nicht verwandelt, hob aber gehorsam den Arm, ging in die Hocke, vollführte einen kleinen Tanz. Es fiel ebenso leicht, zu tun, was man ihm sagte, als sich gegen den Zwang durchzusetzen. Warum es also nicht tun? Trotzdem war es merkwürdig. Er versuchte sich zu erinnern, wie die Hypnose gewirkt hatte, damals im Krankenhaus, als sein ganzer Brustkorb nach den Operationen schmerzentflammt gewesen war. Nicht auffällig. Eigentlich war da gar nichts gewesen, außer, daß der Schmerz ein bißchen weniger wichtig erschienen war, nachdem die Narkoseärztin ihre Handbewegungen vollführt hatte. Es war… eigenartig. So tat er weiterhin, was »Der Unglaubliche Art« ihm befahl, zusammen mit den anderen, die auf der Bühne noch geblieben waren, Geist und Sinne geöffnet, um dieses neue Erlebnis zu erfassen, bis Art sie zu walzertanzenden Paaren zusammentat. Das empfand Hake aus irgendeinem Grund als bedrohlich. Er geriet aus dem Takt, und Art schickte ihn mit einer Handbewegung von der Bühne. Von den ursprünglich dreißig Personen blieben nur sechs bis zum Ende. Aus irgendeinem Grund war Hake nicht erstaunt, Alys darunter zu finden.
101 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Bei der Party danach ließ »Der Unglaubliche Art« für einige Kinder Spielkarten durch seine Hände rauschen. Hake, der ein volles Glas in der Hand hatte, ging langsam hinüber. »Ich bin noch nie auf diese Weise hypnotisiert worden«, meinte er, immer noch bemüht, seine Empfindungen dazu zu analysieren. »Dann sind Sie es auch nicht gewesen«, sagte Art, klopfte auf das Kartenpäckchen und schnellte alle vier Asse in die Hände eines zehnjährigen Mädchens. »Nein? Aber – aber ich habe mich dabei ertappt, daß ich bestimmte Dinge getan habe, ohne wirklich bestimmen zu können.« »So?« Art fächerte die Karten auseinander und zeigte zweiundfünfzig Karten, säuberlich nach Farbe und Reihenfolge geordnet, dann steckte er sie ein. »Ich weiß nicht, was Sie getan haben«, gestand er. »Ich habe die Vorführung schon hundertmal gemacht. Wenn ich genug Leute auf die Bühne bringe, tun ein paar alles, was ich verlange. Der Rest entgleitet mir.« Hinter Hake sagte Jessie Tunman triumphierend: »Dann ist es also nur ein Trick!« »Wenn Sie meinen, Jessie.« »Der Unglaubliche Art« grinste hinter der blonden Haarmaske wie ein Tiger. »Aber damit meinen Sie wohl: Wenn ich es mache, ist es ein Trick, bei anderen Wissenschaft, wie?« »Die Erscheinung der Hypnose ist in der psychologischen Literatur eindeutig begründet«, erklärte sie steif. »Es gibt einen Punkt, an dem Skepsis nur noch die Weigerung verrät, das Beweismaterial zu akzeptieren, Mr. Art.« »Jetzt sprechen Sie von fliegenden Untertassen«, sagte er. Sie hatten dieses Streitgespräch schon früher geführt. »Sie wollen mir weismachen, daß bei all den dokumentierten Sichtungen nur ein voreingenommener Blödmann behaupten würde, es gibt sie nicht, ja?«
102 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Nein. Ich wollte Ihnen gar nichts weismachen, Mr. Art. Es kümmert mich nicht, woran Sie glauben oder nicht glauben. Aber es gibt Dinge, die Ihr vielgerühmter Rationalismus einfach nicht erklären kann. Die UFOlogie hat das in den sechziger Jahren durchgemacht. Einer behauptete, die UFOs seien Wetterballons, ein anderer erklärte sie zu Meteoriten. Die Leute quatschten daher, was ihnen gerade einfiel, um nur ja nicht die Realität von Besuchern aus einer anderen Gegend des Alls zugeben zu müssen. Windhosen, der Planet Venus, ja sogar Sumpfgas! Niemand vermochte sich den schlichten Tatsachen zu stellen.« »Und was sind die Tatsachen, liebe Jessie?« fragte An sanft. Sie starrte ihn finster an. »Sie rauben mir den Nerv!« »Nein, im Ernst, ich will es wirklich wissen.« »Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte sie. »Aber es ist ganz einfach. Nach dem Gesetz, das Sherlock Holmes aufgestellt hat. ›Wenn man das Unmögliche eliminiert hat, muß die Erklärung, die noch übrigbleibt, die richtige sein, gleichgültig, wie unwahrscheinlich sie sein mag.‹ Sie mögen vielleicht glauben, daß fünfzigtausend zuverlässige Beobachter allesamt verrückt oder Lügner sind. Ich halte das für unmöglich.« Hake stellte sein Glas ab. »War nett, die Unterhaltung mit Ihnen«, sagte er und ergriff die Flucht. Er wollte an dem Streit nicht beteiligt sein, und außerdem schien die Party sich ohnehin aufzulösen. Eine Familie, die in Elberon wohnte, bot an, ihn bis zum Pfarrhaus mitzunehmen. Er zwängte sich auf den Rücksitz ihres zweitürigen Schwungrad-Fahrzeugs, einen schlafenden Dreijährigen auf dem Schoß, während das rotierende Schwungrad durch den Boden seine Fußsohlen kitzelte. Als er sein Schlafzimmer betrat, hörte er ein Geräusch im Bad. Das WC gab ein leises Wimmern von sich und ließ Wasser. Er erriet zutreffend, daß es Aufmerksamkeit verlangte, und spülte sofort. Augenblicklich knurrte eine Stimme: »Bleiben Sie,
103 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
wo Sie sind, Hake!« Eine Sekunde verging, dann fauchte dieselbe Stimme, Griesgrams Stimme, im Klang ein wenig verändert, so daß er begriff, daß das nicht eine Aufzeichnung, sondern der Mann direkt war: »Verdammt noch mal, Hake! Sie haben sich am Nachmittag nicht gemeldet!« »Tut mir leid, Griesgram. Ich war beschäftigt.« »So beschäftigt sind Sie nie wieder, Hake, verstanden! Also, ich wünsche, daß Sie morgen in New York erscheinen, zwei Uhr nachmittags.« »Aber – ich habe Termine -« »Jetzt nicht mehr. Sagen Sie sie ab. Merken Sie sich diese Adresse, und kommen Sie hin.« Griesgram buchstabierte einen Namen, der nach einer Bühnenbesetzungs-Agentur in den WestVierzigern klang, und meldete sich ab. Nachdenklich benützte Hake das WC zu einem anderen Zweck und zog die Schultern hoch. Wie beim »Unglaublichen Art« erschien es ebenso leicht, dem Befehl zu gehorchen, als sich dagegen aufzulehnen. Er zog Schlafanzug und Morgenrock an und ging hinaus ins Büro, um sich Alys’ Rufnummer zu holen. Zu seiner Überraschung brannte Licht. Jessie Tunman war da und kritzelte eifrig in ihr Steno-Notizbuch. »Oh, hallo, Horny. Ich wollte Sie nicht stören.« »Haben Sie nicht getan. Das geht schon in Ordnung.« Er suchte die Nummer von Brant-Sturgis heraus und berührte die Sensortasten. Es wurde sofort abgenommen, und zwar von Alys. »Hallo, Alys. Hier Horny Hake. Mir ist eben eingefallen, daß ich morgen frei habe. Ich weiß, es ist knapp, aber möchten Sie mit mir die Bibliothek aufsuchen? Ja? Das ist fein, Alys. Also gut, ich bin bis neun Uhr fertig. Vielen Dank.« Er legte auf, erfreut über seine Schlauheit. Wenn er Alys vorschob, würde niemand meinen, er wolle aus einem geheimen Grund in die Stadt; allenfalls würde man seinen geheimen Grund als ganz und gar
104 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
nicht geheim ansehen. Zu Jessie sagte er wohlwollend: »Sie arbeiten aber lange, was?« »Ich wollte mir nur ein paar Dinge notieren, die ich morgen erledigen muß, Horny. Und um die Wahrheit zu sagen, seit wir die Klimaanlage haben und alles – tja, ich bin gerne hier. In meinem Zimmer ist es ziemlich heiß.« Jessie wohnte in einem ehemaligen Strandmotel, das mehr oder weniger zu EinzimmerAppartements umgebaut worden war. Der eine bedeutsame Vorteil war der, daß die Miete nicht hoch war. »Horny? Ich wollte nicht lauschen, aber fahren Sie morgen zur Bibliothek nach New York?« »Ja. Ich habe mir das schon seit zwei Monaten vorgenommen und eben beschlossen, es zu tun.« »Kann ich mitkommen? Es gibt da -« Sie zögerte. »Ich weiß, Sie glauben nicht daran, aber es gibt neues Material über die UFOs, und das möchte ich mir ansehen. Ich bin Ihnen nicht im Weg.« »Also, ich habe Sie gerne dabei, Jessie«, sagte Hake, »aber es ist nicht mein Wagen.« »Ach, ich bin sicher, Alys macht das nichts aus. Ich glaube sogar, sie wird um eine Anstandsdame froh sein«, erklärte sie schelmisch, »damit Ted und Walter sich keine Sorgen machen, wissen Sie. Das ist wunderbar, Horny! Ich gehe gleich nach Hause, damit ich mich früh schlafen legen und alles erledigen kann, bevor wir fahren.« Wie sich herausstellte, hatte Alys überhaupt nichts dagegen oder sagte es jedenfalls, und während der ganzen Fahrt nach New York besetzte Jessie züchtig den Schwiegermuttersitz im Fond des kleinen Holzvergasers. Es war eine Fahrt von zwei Stunden. Der kleine Dreiradler fuhr kaum mehr als Schrittempo, wenn er die langen Steigungen vor den Brücken und gelegentlich einen Berg zu überwinden hatte. Aber im Flachen tuckerte er mit fast hundert dahin, bergab wurde die Geschwindigkeit sogar
105 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
beängstigend. Als sie das Gefälle zum Lincoln-Tunnel hinunterheulten und Alys zwischen den Gelenkbussen und langen Lastzügen, die dahinkrochen, heraus- und hineinfuhr, war Hake froh, daß sie fast schon am Ziel waren, und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, das Glück möge ihnen noch einige Minuten treu sein. Es war auf der ganzen Strecke drückend heiß und rauchig gewesen, der Tunnel selbst erwies sich als Gaskammer. »Fenster hochkurbeln«, befahl Alys mit erstickter Stimme, aber das nützte nichts. Bis sie ins Freie kamen, auch wenn es die Luft der Innenstadt von Manhattan war, pochte Hakes Schädel, und Alys’ Fahrweise war noch kapriziöser geworden. Sie fuhren zum Village, stellten das Dreiradauto in dem dreistöckigen Parkhaus rings um das Bogentor auf dem Washington Square ab und gingen zu Fuß zur Bibliothek hinüber. Es war verdammt heiß. An diesem Tag lief in New York ein Drama ab. Beim Anziehen hatte Hake im Fernsehen die Nachrichten verfolgt und Aufnahmen eines Tank-Lastzugs aus Great Kills gesehen, dessen Fahrer mit entzündeter Davylampe am Abfüllschlauch seines Benzintankers stand und das Rockefeller-Center als Geisel für die Rückgabe von Staten Island an den Bundesstaat New Jersey nahm. Umringt von Scharfschützen der Polizei, die nicht zu schießen wagten, schwindlig im Gasgemisch, das um das Drahtgitter seiner Kerze wogte, hatte der Mann zwanzig entsetzte Gefangene mit seinen Worttiraden ebenso überschüttet wie die Millionen Zuschauer, die über die Parabol-Mikrofone des Sendernetzes mithörten. Hake atmete die heiße, kohlenstoffreiche Luft mit flachen Atemzügen ein, spürte, wie der Asphalt an seinen Sohlen klebte, ging um Hundekot und andere Dreckklumpen herum und begriff, warum der Mann die Beherrschung verloren hatte, warum tausend Stadtbewohner im Jahr vergewaltigten, kreuzigten, aus dem Fenster sprangen oder sich anzündeten. Hier war eine Umwelt, die jeden zum Wahnsinn treiben mußte, erst recht bei solchem Wetter. Und als sie durch die Doppel-Drehtüren der Bibliothek das Innere des Gebäudes betraten, gelangten sie in trockenen,
106 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
schönen Frühling: ein Raum, fünf Stockwerke hoch und in idealer Weise klimatisiert. »Energieferkel«, fauchte Hake, aber Alys legte die Hand auf seinen Arm. »Es ist nicht nur für die Menschen, Hornylein, es ist für die vielen Computer hier, die versagen würden, wenn die Luft nicht genau den Anforderungen entsprechen würde. Kommen Sie, hier melden wir uns an, dann kriegen wir ein Terminal.« Die Bibliothek stellte noch mehr zur Verfügung. Sie bekamen ein Zimmer für sich, auf drei Seiten Glas, mit dem Blick aus dem dritten Stock auf den fünfstöckigen Innenhof, mit bequemen Sesseln, einem Schreibtisch, Aschenbechern, einer Thermosflasche voll Eiswasser… und mit dem einen, das alles erst zur Realität machte: ein Computer-Datensichtgerät. Alys begleitete Jessie Tunman zu ihrem eigenen Kämmerchen, ein paar Türen entfernt, kam zurück und schloß die Tür. »Jetzt hab’ ich Sie, Horny«, sagte sie und berührte seine Wange mit der Innenhand, ging an ihm vorbei und setzte sich an das Terminal. Geschickt tastete sie ihre Registernummer nach der Karte ein, die sie bei der Anmeldung erhalten hatte, und eine Reihe von Codesignalen dazu. »Ich habe zunächst einmal einen Index-Suchbefehl eingegeben, Horny, bezogen auf drei beliebige von sechs oder mehr Themen. Sie müssen mir sagen, was Sie haben wollen. Wußten Sie, daß Sie sehr sexy sind, Horny?« Hake wollte zuerst fragen, was sie anfangs gemeint hatte, und schaltete hastig auf das zweite um. »Alys«, sagte er, »bitte, denken Sie daran, daß ich sowohl Ihr Eheberater wie auch, so hoffe ich, Ihr Freund bin.« »Ach, das tue ich, Horny, das tue ich. Also, wir müssen dem Computer Begriffe eingeben, Themen, die Sie interessieren. Zum Beispiel«, sie tippte auf die Tasten »ein paar von den Dingen, die Sie in Ihrer Predigt erwähnt haben, so etwa.« Auf dem Bildschirm erschienen die Worte:
107 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
1. Große Streiks. 2. Exotische Pflanzen- und Tierschädlinge. 3. Währungsmanipulationen. »Verstehen Sie?« fragte sie. »Was noch?« »Ich könnte das besser beantworten, wenn ich wüßte, was Sie machen.« »Entschuldigen Sie, Horny, ich dachte, das hätte ich alles erklärt. Bei der Zauberschau waren Sie wirklich süß.« »Bitte, Alys.« »Nein, wirklich, es regt einen wirklich an, hypnotisiert zu werden, nicht? Damals im College haben wir alle die Psychologiekurse nur belegt, um uns anzuregen. Horny, was wir für Spaß hatten, einander zu hypnotisieren!… Ach, Sie wollen hier weiterkommen, ja? Nun, ganz einfach. Sobald wir die Suche nach sechs oder acht Themen programmieren, wählt der Computer bei jedem ein paar Hauptquellen aus – sagen wir, eine Zeitungsmeldung über den Busstreik in London oder den der Polizei in New York und etwas über die Wasserlilien, von denen Sie sprachen, und so weiter. Dann sucht er nach Werken, die Quellen aus beliebigen drei der Themen zitieren. Wenn Sie entdecken, daß jemand ein Buch geschrieben hat, das Material über drei der Themen enthält, für die Sie sich interessieren, spricht sehr vieles dafür, daß Sie auch das Buch interessieren wird, nicht? Komisch. Als wir in Europa waren, hat bei mir alles abgeschaltet, weil Sie den lieben Papi für die Kinder gemacht haben. Wußten Sie das?« Verlegen lachend sagte Hake: »Bleiben wir bei einem Thema, ja? Mich interessieren auch Modetorheiten, die Leute vom Arbeiten abhalten. Wie drückt man das aus?« Er dachte natürlich an die Hula-Hoops, und als sie einen Allgemeinbegriff für das und für Terrorismus und für verschmutzte Städte und die Vernichtung von Rohstoffen und Zerstörung der Natur und zwei oder drei andere Dinge gefunden hatten, tippte Alys den Ausführungsbefehl ein. Sie sahen, wie das Sichtgerät Buchtitel
108 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
auf dem Bildschirm entstehen ließ, ganz schnell, wie ein Reißverschluß, Zeile für Zeile: ›AAF-Untersuchungen, global, Monographie, U.S. Govt. Prntg. Offc. AAAS-Symposium zum gesellschaftlichen Wandel, Am. Acdy. Berat. Wiss. Protokolle. Aar und die Schrecklichen der Erde, der, von E.T. Gründemeister, Köln. Abartig und zerstörerisch, Erinnerungen, von C. Franklin Monscutter, New York. Abwertung der Vernunft, von William Reichsleder, ›New York Times‹ Sonn. Magaz. XCIV, 22, S. 83-88. Abzug aus der Umwelt -‹ »Das ist nichts«, sagte Alys, beugte sich vor und drückte eine Taste, die den schnellen Aufmarsch der Titel auf dem Bildschirm beendete. »Bei der Geschwindigkeit sitzen wir bis zum Winter und sind immer noch bei ›A‹. Ich mag männliche Männer, Horny, deshalb sind mir Walter und Ted manchmal einfach zuviel, sie sind so lieb.« »Alys, verdammt!« »Ich möchte ja nur, daß Sie das wissen. Wir machen also folgendes: Als erstes lasse ich alle fremdsprachlichen Fundstellen weg. Das hätte mir gleich einfallen müssen. Dann soll er nach Fundstellen für fünf Kategorien suchen, statt für drei, was meinen Sie?« »Der Fachmann sind Sie«, sagte Hake. »Was würde geschehen, wenn Sie für alle, na, alle neun programmieren?« »Warum nicht?« Sie betätigte die Tastatur und lehnte sich zurück. Nichts rührte sich. »Sollten Sie keinen Startbefehl geben?« fragte er nach einer Pause. »Das habe ich schon getan, Horny. Er sucht in der Sekunde vielleicht tausend Titel ab, um das eine zu finden, das alles
109 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
enthält, was Sie suchen. Sehr viele können das nicht sein, wissen Sie. Sie sind jetzt ganz anders als in Europa.« »Mein Gott, Alys«, sagte er, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Aber das war nicht sehr lohnend. Sie saßen eine ganze Weile, ohne daß dort etwas aufgetaucht wäre. »Ich habe eine Freundin«, sagte Alys versonnen, »die nicht weit von hier eine Wohnung hat. Ich habe einen Schlüssel. Im Kühlschrank ist immer etwas, oder ich könnte irgendwo Salate und eine Flasche Wein mitnehmen -« »Ich habe keinen Hunger. Hören Sie, angenommen, wir finden doch etwas. Was mache ich dann? Lese ich das ganze Buch hier?« »Wenn Sie wollen, Horny. Oder, wenn Sie eine Hartkopie wollen, gibt es da drüben an dem schwarzen Ding einen Wählschalter, und Sie bekommen Mikrofilm -Kopien. Oder Sie können den Band selbst im Verle ihverkehr bestellen. Es dauert ungefähr eine Woche, bis man es bekommt. Ich bin wirklich enttäuscht.« »Tja«, sagte er, »es ist nicht so, daß ich Sie nicht mag, Alys, aber-« Sie lachte herzlich. »Oh, Horny! Ich meinte, daß wir gar nichts geliefert bekommen. Ich gehe auf sechs Punkte zurück, vielleicht führt das zu einer Zahl, die zu bewältigen ist.« So war es. Acht Bücher, ungefähr fünfzehn Magazin- und Zeitschriftenartikel – und genau das, was er suchte. Die Dissertation eines Doktorkandidaten in Politikwissenschaft mit dem Titel ›Der Mechanismus versteckter Macht‹. Eine JohnsHopkins-Konferenz über ›Äußere Einflüsse auf die Entwicklung der Nation‹. Und drei oder vier Aufsätze und Monographien, die sich exakt mit Hakes Themen befaßten. »Was ich wirklich brauche, ist einer von diesen Computern für mich allein«, sagte er, als er den wachsenden Stapel von
110 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Mikrofilm -Karten sah. »Das dauert ein Jahr, bis ich das gelesen habe.« Alys lehnte sich zurück, reckte sich und gähnte anmutig, den Handrücken vor dem Mund. Hake wandte den Blick von der tief ausgeschnittenen Trachtenbluse mit den weißen Bändern ab und erinnerte sich rechtzeitig, daß er auf die Uhr sehen mußte. In fünfundvierzig Minuten mußte er bei Griesgram sein. Wie sollte er Alys loswerden? Es war günstig, daß sich ihm die Frage auf diese Weise stellte, weil ihm das die Notwendigkeit ersparte, zu überlegen, ob er sie wirklich loswerden wollte. Wein, Salate und eine kleine Wohnung, das klang wirklich sehr angenehm. »Ach Mist«, sagte Alys gereizt und ließ die Arme sinken. »Da kommt Jessie.« Hake sprang auf. »Nur herein mit Ihnen«, sagte er und überraschte Jessie mit seiner Herzlichkeit. »Alys hat mir gezeigt, wie man mit dem Ding umgeht und war wirklich großartig, das muß ich schon sagen. Wie kommen Sie zurecht, Jessie? Brauchen Sie Hilfe? Ich bin sicher, Alys gibt Ihnen ein paar Hinweise. Was mich angeht, ich muß noch ein paar Besorgungen erledigen. Wie wär’s, wenn wir uns hier um, Augenblick, sagen wir halb vier wieder treffen würden? Dann entkommen wir dem ärgsten Verkehr…« Das Gebäude war fünfzig Stockwerke hoch, umgeben von kleineren; der Aufzug war ein Expreß und ratterte nicht. Am Eingang zur Büroflucht stand: ›Seskyn-Porterous Bühnenagentur Durch diese Türen gehen die Stars von morgen‹ Im Wartezimmer gab es Plätze für zwanzig Personen. Alle waren besetzt. Ein Dutzend weiterer möglicher Stars von morgen stand herum, hübsche Tänzerinnen und bärtige Folk-Sänger, nervöse Komiker und viele andere Leute, die gar nicht wie
111 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Bühnenkünstler aussahen. Hake brauchte nicht zu warten. Er wurde sofort in ein Eck-Bürozimmer mit riesigen Tafelglasscheiben geführt. Griesgram saß an einem winzigen, leeren Schreibtisch mit Glasplatte, die Hände vor sich gefaltet. Er stand auf und tauschte stumm einen Händedruck, den bärtigen Kopf schüttelnd, als Hake ihn begrüßte. »Augenblick«, sagte er, ging zu den Fenstern und schaltete eine seltsames kleines Summergerät ein, das an jedem Fenster uneinheitlich klirrte, und knipste ein Radiogerät hinter seinem Schreibtisch an. Gerade laut genug, um über der KlassikRockmusik noch gehört zu werden, sagte er: »Sie sind pünktlich, und das ist gut. Ihr Untersuchungsergebnis ist gekommen. Spitze. Sie sind in so guter Verfassung, wie Sie es nur sein können. Was meinen Sie? Sind Sie wieder für einen Einsatz bereit?« »Tja« sagte Hake, »ich weiß nicht recht -« »Natürlich nicht. Ich habe Ihnen ja noch nichts gesagt. Ich möchte Ihnen etwas vorlesen.« Er sperrte eine der SchreibtischSchubladen auf und öffnete einen zugeklebten Umschlag, dem er ein einzelnes Blatt entnahm. »Betrifft: H. Hornswell Hake«, las er vor. »Bla-bla-bla, Gesundheitszustand ausgezeichnet, blabla, hier: ›Der Betreffende hat lobenswerte Initiative und Wendigkeit bewiesen. Er wird bei der Ausübung seines Dienstes hervorragend beurteilt und bei erster Gelegenheit zur Beförderung empfohlen.‹« Er ließ das Blatt in einen Papierkorb aus Metall fallen und sah zu, wie es plötzlich in Flammen aufging und verbrannte. Er zerteilte die Asche und fragte: »Was meinen Sie dazu, Hake?« »Ich meine, daß ich Ihnen danke. Was bedeutet das mit einer Beförderung?« »Was gesagt wird. Sie tun gute Arbeit, wir belohnen Sie. Ganz einfach. Wünschen Sie irgend etwas?« »Hm – neue Teppiche für die Kirche«, sagte Hake, in seinem Gedächtnis nachforschend. »Vielleicht einen kleinen Wagen.
112 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Und, ja, ich hätte gern einen eigenen Computer-Terminal, wenn das nicht zu -« »Den Computer vergessen Sie«, sagte Griesgram. »Jedenfalls vorerst. Auto, in Ordnung. Teppiche, klar.« Er machte sich auf der Innenfläche seiner Hand eine Notiz. Hake verdrehte den Hals und sah, daß die ganze linke Innenhand mit rätselhaften Krakeln bedeckt war. »Jedenfalls brauchen Sie das alles nicht gleich«, erklärte er. »Die Kirche schließt in zwei Wochen den Sommer über.« Er stellte keine Frage; er wußte es. »Ich sorge dafür, daß die Teppiche bis zum 1. September geliefert werden. Den Wagen beschaffen Sie selbst. Was Sie wollen. Ich sorge für die Bezahlung. Aber im Augenblick treten Sie einen Urlaub auf einer Ferienranch an.« »So? Warum?« »Weil Ihnen das beruflich zusteht«, erwiderte Griesgram. »In Wahrheit werden Sie nicht am Schwimmbecken liegen und die geschiedenen Damen anmachen. Das ist Grundausbildung für künftige Einsätze. Wird Ihnen gefallen, Sie sind ja ein Gesundheitsfanatiker. Sie melden sich am Montag in einer Woche in Fort Stockton, Texas, für drei Wochen. Bringen Sie Jeans, Shorts und Wanderkleidung mit. Nehmen Sie mit, was Sie wollen, damit es glaubhaft aussieht, aber Krawatten oder Tanzschuhe werden Sie kaum brauchen. Irgendwelche Fragen?« »Tja -« Griesgram stand auf. »Gut, daß Sie keine Fragen haben«, sagte er, »weil ich in zwei Minuten den nächsten Termin habe. Achten Sie bei Ihrer Post auf Fahrkarten und Reisehinweise – und sorgen Sie dafür, Überraschung zu zeigen, wenn Sie erfahren, daß Sie die Reise gewonnen haben. Inzwischen – Herrgott noch mal!« Vor den Fenstern ertönte ein gedämpftes Donnergrollen, das düsterer klang als das Rattern der Summer. Griesgram sprang hin, um hinauszusehen, Hake unmittelbar hinter sich. Im Nordosten, ein Dutzend Straßen entfernt, segelten winzige,
113 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
schwarze Punkte durch die Luft, gefolgt von einer quellenden Wolke schwarzen Rauches, die durchzuckt war von Flammen. »Mensch«, sagte Hake. Einige von den schwarzen Objekten sahen aus wie Menschen! Griesgram starrte ihn mit verengten Augen an, dann beruhigte er sich. Er nahm die Hand von seiner Pistole am Gürtel, wo sie sofort hingezuckt war, und sagte: »Sehen Sie, womit wir es zu tun haben? Das war bestimmt der Kerl mit dem Tanklastzug. Er war einer von den Neu-Dorp-Irredentisten. Und das war Geld aus Madrid, mit dem sie operieren konnten, wissen Sie. Wir machen die Saukerle fertig, wenn der Ulmenkäfer, den Haversford hat, in ihr – na, lassen wir das. Merken Sie sich, was Sie eben gesehen haben. Das stärkt Ihren Kampfgeist mehr als fünfzig Vorträge unter dem Draht.« Neu-Dorp-Irredentisten? Ulmenkäfer in Spanien? ›Unter dem Draht?‹ Aber bevor Hake nach irgendeinem dieser rätselhaften Dinge fragen konnte, stand er wieder im Vorzimmer und bahnte sich den Weg zwischen den Sternchen und Steptänzern hindurch; alle Fragen ungestellt; vor allem die Hauptfrage, die da lautete: Was hat den Tankzug-Fahrer dazu gebracht?
114 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
6 Als Hake in Fort Stockton aus dem Langsam-Jet stieg, überfiel ihn sofort die Hitze. Er schwitzte, bevor er die Leiter ganz hinuntergestiegen war, keuchte, als er die zwanzig Meter vom Flugzeug zu der Öffnung im Zaun mit dem Schild ›Tor 1‹ zurücklegte. (Ein Tor 2 gab es nicht.) Er wurde in Empfang genommen von einer jungen Schwarzen – schwarz, was die Herkunft anging, nicht die Hautfarbe, eine Art helles Beige. Es wurden keine Erkennungssignale ausgetauscht. Sie ist offenkundig mit Beschreibung und Fotografie versorgt worden, vielleicht auch mit Fingerabdrücken, genetischem Code und Netzhautmuster, dachte Hake. Außerdem war zu berücksichtigen, daß niemand sonst aus der Maschine stieg. Sie kam ohne Zögern auf ihn zu und sagte: »Sie sind Hornswell Hake, und ich bin Deena Fairless. Gehen wir zum Flugzeug.« Er ging ebenfalls ohne Zögern mit. Sie fragte nicht, ob er Gepäck aufgegeben hatte. Sie wußte, daß das nicht der Fall war. Er hatte Anweisung erhalten, nur Toilettenzeug und persönliche Dinge nicht über vier Kilogramm mitzunehmen, und sie ging davon aus, daß er sich daran gehalten hatte. Fairless zeigte auf den Beifahrersitz eines Geräts, das wie ein altes Elektro-Golf-Fahrzeug aussah, setzte sich ans Steuer und fuhr los, bevor Hake sich noch richtig zurechtgesetzt hatte. Es gab kein Dach. Die Fahrt zum Ende einer Ersatzstartbahn, wo ein kleines Flugzeug auf sie wartete, dauerte nur zwei Minuten, aber das war lang genug, um Hake an einen Sonnenstich denken zu lassen. Er folgte der Frau über eine einziehbare Leiter in etwas, das er als eine Art altes Militärflugzeug erkannte; er wußte nicht genug, um Modell oder Funktion bestimmen zu können, aber es schien sich um eines der Senkrechtstarter-Kampfflugzeuge für den Einsatz gegen Aufständische zu handeln; sie waren in den alten Buschkriegen beliebt gewesen. Hakes Führerin erwies sich auch als seine Pilotin. Sie überprüfte Hakes Anschnallgurt, sprach kurz ins Mikrofon, nahm mit einer gedruckten Liste einen Startcheck von einer halben Minute vor und zog die Maschine steil hoch. Die Rollbahn wurde überhaupt nicht gebraucht. Es war ein brutaler Start in einem
115 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
brutalen Flugzeug, und Hake wußte, daß der Treibstoff, der sie in die Luft hob, ausgereicht hätte, um sein Pfarrhaus den ganzen Winter hindurch zu beheizen. Es blieb ihm im Hals stecken. Er beugte sich hinüber und schrie der Pilotin ins Ohr: »Ist das nicht eine furchtbare Treibstoffvergeudung?« Sie sah ihn ein wenig erstaunt an. »Sie meinen den Senkrechtstarter? Kommt darauf an, wie man das betrachtet, Hake!« brüllte sie. »Das sind die Maschinen, die wir haben!« »Aber ein leichteres Flugzeug -« »Geschenkt, Hake!« schrie sie gutmütig. »Ich wußte sofort, daß Sie ein gewissenhafter Typ sind, als ich Sie sah, aber mit den Zahlen haben Sie sich nicht beschäftigt. Wieviel Energie kostet es Ihrer Meinung nach, ein Flugzeug zu bauen? Nicht raten. Ich sage es Ihnen. Ungefähr eine Viertelmillion Kilowattstunden. Wenn wir das hier verschrotten und ein kleines beschaffen, ist das so, als würden wir 38.000 Liter Treibstoff wegschütten. Außerdem braucht man ab und zu, was die Maschine einem bieten kann«, fügte sie vage hinzu. »Und jetzt halten Sie den Mund, und lassen Sie mich fliegen.« Es war deutlich, daß Deena Fairless keine Unterhaltung wünschte, also fragte Hake auch gar nicht, wohin sie flogen. Er wußte, daß es nach Südwesten ging. Fairless hatte nichts dazu gesagt, aber Hake konnte die Richtung nach dem Sonnenstand ziemlich genau bestimmen. Sie flogen niedrig, unter zehntausend Fuß, und die Aufwinde von den trockenen Mesas schüttelten sie mit ihren Turbulenzen immer wieder durch. Fairless redete nicht, jedenfalls nicht mit Hake. Sie bewegte immer wieder die Lippen am Mikro; er konnte nicht hören, was gesprochen wurde, maß den Worten aber genug Bedeutung bei, um auf Konversation zu verzichten. Erst als sie über eine Bergkette flogen, beugte sie sich herüber und sagte: »Haben Sie viele Plomben im Gebiß, Hake?« »Nein, nicht sehr viele.«
116 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ein Glück für Sie«, sagte sie und schaute hinaus. »Da ist der Draht.« Da war etwas zu sehen. Er konnte es nicht identifizieren, war nicht einmal sicher, ob er wirklich sah, was da vor ihm lag. Es sah aus wie bleistiftdünne Suchscheinwerferstrahlen, die an- und ausgingen und Farbtöne erkennen ließen, einer rot, zwei bläulichgrün. Die Strahlen waren sehr schwach, abgesehen von hohen Stellen, wo sie auf dünne Schleierwolken stießen, und selbst dort waren sie nur Sekundenbruchteile lang zu bemerken. Als sie den Berg hinter sich ließen, sah er auf der anderen Seite etwas abfallen, das nach einer gekippten Ebene von Maschendraht aussah. Aber er erhaschte den Blick nur ganz kurz, dann sanken sie auf einen kurzen Landestreifen mit schwarzem Belag neben einer Reihe von Gebäuden nieder. Auf dem Dach eines langen, niedrigen Schuppens waren die Wörter ›HAS-TA-VA-RANCH‹ aufgemalt. Er sah eine Reihe kleiner und einfach wirkender Motelhäuschen, eine Umzäunung, an deren Ende sich Pferde drängten, ein paar Ställe. Die Pferde hoben nicht einmal die Köpfe, als das Flugzeug heulend auf der Landebahn zum Stillstand kam. Sie waren die einzigen sichtbaren Anzeichen dafür, daß es sich hier um etwas anderes handelte, als um ein Touristenziel, das dem Konkurs entgegenwankte. »Willkommen in Ihrem neuen Zuhause«, sagte Deena Fairless, während sie die Gurte öffnete und Hebel betätigte. »Es wird Ihnen hier sehr gefallen.« Hake gefiel es nicht. Es war ihm auch nicht verhaßt; er hatte keine Zeit für solche Gefühle. Und keine Energie. Um 4.45 Uhr aufstehen, vor dem Frühstück ein Zweihundertmeterlauf um die Träger des Drahtfeldes über den Köpfen herum. Zehn Minuten, um auf die Toilette zu gehen, dann wieder hinaus. Manchmal zu einer Stunde Nahkampf-Unterricht, wobei man einander in den hügeligen Sand oder ins Büffelgras warf – das Büffelgras war weicher, aber ab und zu verbarg sich eine Schlange darin.
117 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Manchmal zu Gymnastik. Manchmal zur Taucherausbildung, üben, wie man die Maske säuberte, üben, einander die Masken wegzureißen – das waren die schönen Zeiten, weil das die einzige Gelegenheit war, bei der sie ein Vollbad bekamen, aber wieder auch nicht so schön, weil das Wasser nie gewechselt wurde. Dann eine halbe Stunde Ruhepause mit ruhigerer Beschäftigung: lernen, Abhörgeräte einzusetzen; lernen, wie man dahinterkam, daß sie gegen einen selbst eingesetzt wurden. Ausrüstung reparieren. Kampfgeist – immer und immer wieder Kampfgeist. Dann Mittagessen, zwanzig Minuten. Anschließend ging es weiter. Immer weiter. Hake hatte ein Dutzend Mikrofilm Karten in die Tasche mit seiner persönlichen Habe gepackt, erfuhr aber nie, ob es hier ein Lesegerät gab, weil er nie die Zeit fand, danach zu fragen. Hakes Kollegen waren drei Dutzend Personen, die meisten davon Neulinge wie er, ein paar Altgediente, die man vor einer Versetzung zurückgeholt hatte, ein Querschnitt durch die Menschheit. Spanisch sprechende Jungen, eine langbeinige hübsche Blondine aus Kalifornien, ein älterer farbiger Professor, eine Nonne. Sie waren alle in derselben Baracke untergebracht, auf der Leeseite einer Düne unter dem Draht. Sie hielten alle auf irgendeine Weise Schritt. Das einzige, was sie gemeinsam zu haben schienen, war, daß sie wenig gemeinsam hatten – über den Zweck ihres Hierseins hinaus, freilich. Wenn Hake sich eines Morgens in seinem Pendlerbus umgesehen und sie alle bemerkt hätte, wären sie ihm als ganz normale Busladung durchschnittlicher Amerikaner erschienen. Die Gruppe veränderte sie. Manche kamen, manche gingen. Die Blondine aus San Diego verschwand zu Hakes Bedauern als erste, aber ein, zwei Tage später erschien eine Brünette aus New Orleans zusammen mit zwei älteren Japanerinnen aus Hawaii. Bestand hatten nur die Lehrer: ein einbeiniger junger Mann für Überwachung und ›Entwanzen‹, ein sehniger, bissiger älterer Mann für Nahkampf von Mann gegen Mann und körperliche Ertüchtigung, Deena Fairless für Tauchen und Instrumenteninstandsetzung. Bei den Vorträgen zur Hebung des Kampfgeistes wechselten sie sich ab. In den ersten zehn
118 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Tagen Unter dem Draht tat Hake nie etwas zweimal, und kein Tag ging zu Ende, ohne daß er nicht augenblicklich erschöpft eingeschlafen wäre, ohne Rücksicht auf Hunger, Schmerzen, Jucken oder das zeitweilige irre Sirren des Drahts über ihren Köpfen. Er war, wie sich ergab, nicht länger auf der Has-Ta-Va-Ranch geblieben, als man brauchte, um in einen Lastwagen zu steigen und unter dem Energie-Antennengitter, das er von der Luft aus gesehen hatte, eine halbe Meile dahinzuholpern. Bis er abgesetzt worden war und sich daran machte, zwei Garnituren Unterwäsche, zehn Paar Socken und die festesten Wanderstiefel in Empfang zu nehmen, die er je an den Füßen gehabt hatte, war ihm klargeworden, was er gesehen hatte und weshalb er hier war. Das Ausbildungslager lag versteckt unter dem MikrowellenEmpfänger, der einen Großteil von drei Bundesstaaten mit Strom versorgte. Die Energie kam aus dem Weltraum. Zweiundzwanzigtausend Meilen senkrecht über dem Äquator hing ein magnetoplasmadynamischer Generator in einer erdsynchronen Umlaufbahn, saugte aus dem Plasma elektrische Energie und verwandelte sie in Mikrowellen, um fünf Gigawatt zum Ok-TexMex-Gitter hinabzustrahlen. Der Haken bei einer ›stationären‹ Umlaufbahn ist der, daß er nur direkt über irgendeinem Punkt am Äquator stationär sein kann, weshalb das Antennengitter nach Süden gekippt sein mußte; daher der Berghang. Auf 30° nördlicher Länge brauchte die Schräglage nicht extrem zu sein. Und als wertvolle Zugabe gab es das riesige Gelände unter dem Draht, das gegen Inspektion aus der Luft oder durch Satelliten wenn nicht immun, so doch geschützt war. Einen Teil davon benützte man dazu, Vieh weiden zu lassen oder die BüffelKreuzung, die mehr aushielt und rascher wuchs, an deren süßliches Fleisch mit seinem Hautgout man sich allerdings gewöhnen mußte. Ein anderer Teil wurde – wenigstens manchmal – für bewässerte Feldfrüchte genutzt – Soja, Mohrenhirse, Luzerne. (Aber nicht dieses Jahr, weil der Grundwasserspiegel sank.) Und ein anderer Teil stand Griesgrams Leuten zur Verfügung, zu den Zwecken, zu denen man
119 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Hake hergebracht hatte. Ok-Tex-Mex war nicht das einzige Riesengitter, das MPD-Energie herunterholte, damit amerikanische Toaster Brotscheiben hochschnellten und amerikanische Häuser Licht hatten. SCALAZ am Gila-Fluß war noch größer. Drei oder vier andere waren gleich groß, und das neue im Golf von Mexiko vor Kap Sable war viel größer (wenn es nicht gerade von Tropenstürmen zerfetzt wurde). Aber Ok-Tex-Mex verfügte über einen besonderen Vorteil. Es war weit entfernt von allem, wo sich mehr Menschen aufhielten als auf einer Ferienranch. Dafür gab es Gründe. Dieser Teil von Texas, südlich des PermzeitBeckens, hatte nie viel von dem aufzuweisen gehabt, das irgendeinen Menschen dazu bewegen konnte, sich dort aufhalten zu wollen, jedenfalls über dem Boden, und was sich darunter befunden hatte, war längst in die Tanks amerikanischer Autos gepumpt und verbrannt worden. Unter dem Draht zu sein, war gar nicht so schlimm, sobald man sich an ein paar Dinge gewöhnt hatte. Der Draht selbst war nicht ein übliches Schneegitter. Er war dreihundert Quadratkilometer Dipol-Elemente, jedes mit seinem eigenen Filter, Galliumarsenid-Schottky-Barriere-Diodengleichrichter und Überbrückungskondensator. Nahm man sie alle zusammen, so sollten sie mit etwa achtzig Prozent Leistung Mikrowellen mit geringer Dichte aufnehmen und 10000 Volt Wechselstrom in das Stromnetz Ok-Tex-Mex spucken können. Die Anlage war zu acht Prozent für Sonnenlicht durchlässig, für Regen zu hundert Prozent – wenn es jemals regnete. Außerdem war sie heiß und laut. Das meiste von den achtzehn Prozent Schwund verwandelte sich in Wärme und wurde unschädlich in die Luft von Texas abgestrahlt. Der Rest war in der Hauptsache ein dumpfes, schwaches Summen, wie von einem Transformator einer Spielzeug-Eisenbahn am ganzen Himmel ausgebreitet. Unter dem Draht zu leben, hieß, daß man dort, wo der Draht nah an den Boden herankam, die Strahlung wie von einem Toasterglühdraht über dem Kopf spürte; wo er hoch war, saugte die Konvektion Bodenwinde an; und immer brummte er einen an. Er tat auch noch andere Dinge. Die Trägerstützen behinderten das Fortkommen. Und dann gab es noch das kleine Problem mit der
120 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Mikrowellen-Energie selbst. Es sprach einiges dafür, daß sie die DNA schädigte. Das darunter weidende Vieh wurde zu Schlacht-, nicht zu Züchtungszwecken verwendet; es wurde diskutiert darüber, welche Art von Nachkommen das geben würde. (Und die Menschen im Lager darunter? Niemand schien darüber sprechen zu wollen.) Der Satellitensender war permanent eingepeilt auf einen Winkelreflektor in der Mitte des Antennengitters. Zu neunundneunzig Prozent der Zeit blieb er darauf eingestellt, oder nicht weiter davon abweichend, als der Draht verkraften konnte. Die durchschnittliche Energiedichte des Strahles war angenehm gering. Leider blieb sie das nicht immer. Atmosphärisches wirkte darauf ein. Die Grenzfläche zwischen Luftschichten wirkte linsenartig. In der einen Richtung gebündelt, breitete der Strahl sich über eine größere Fläche aus, als das Antennengitter aufnahm, und ein Teil der Energie ging verloren. In einer anderen gebündelt, nahm die Energiedichte zu. Dann fielen Zahnplomben ins Gewicht. Bei einem dichten Strahl war die Folge der ärgste Zahnschmerz, den man sich vorstellen konnte. Dagegen bot die Leitung des Ausbildungslagers Aspirin oder auch Zahnziehen ohne Narkose, wenn gewünscht, und nichts sonst. (Das Gute daran war, daß die schlimmsten Verdichtungen im Strahl selten länger als ein, zwei Stunden Bestand hatten. Das reichte nur dazu, einen Duldenden für eine Weile um den Verstand zu bringen. Nicht dazu, seine Ausbildung zu unterbrechen.) Was von Hakes Rekonvaleszenten-Schwäche übriggeblieben sein mochte, wurde ihm herausgeschwitzt durch Laufen, Kniebeugen und Nahkampf von Mann gegen Mann, eine Auswahldisziplin, die Judo, La Savate, Umgang mit Totschläger und Messer und die schmutzigeren Versionen von Massenschlägereien am Samstagabend zu umfassen schien. Das war aber nicht schlimm. Hake besaß seinen kräftigen Männerkörper noch nicht lange genug, um ihn für selbstverständlich zu halten, und wenn er die reizende Dame aus Louisiana durch die Luft schleuderte und einen der Professoren zu Boden warf, das Knie auf seiner Kehle, zwei Sekunden, nachdem sie ihn von hinten
121 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
angesprungen hatten, hörte er sich vor Vergnügen knurren. Es gab Unterricht, wie man mit Vaseline und in allen Drugstores käuflichen Zutaten knetbaren Sprengstoff herstellte, und Anleitung zur Anwendung von Bluebox- und BlackboxÜberdeckung von Telekommunikations-Netzen. Auch das war nicht schlecht. Das Technologische war faszinierend für den MITAbgänger, der seit Jahren nicht mehr an diese Dinge gedacht hatte. Sie übten mit einer großen Auswahl elektronischer Kameras und Mikrofone, und jeder von den Rekruten benützte die Ausrüstung der Reihe nach dazu, die anderen zu bespitzeln. Den Vogel schoß die Nonne mit einer zweiminütigen Aufzeichnung eines der Halbwüchsigen ab, der hinter Palmlilien masturbierte, aufgenommen durch ein Zielfernrohr. Hake war beeindruckt. Nicht so sehr von der technischen Geschicklichkeit der Nonne als von Tigritos Energie. Hake schien am Ende des Tages nicht mehr die Energie zu besitzen, um an Sex zu denken. (Jedenfalls nicht in der ersten Woche, aber Tigrito war immerhin schon vier Wochen hier.) Wenn Hake an Sex dachte, oder wenn er seine Gedanken überhaupt in irgendeine andere Richtung abirren ließ, als sich zu ermahnen, in die Gesichtsmaske zu spucken und sich die Bezeichnungen aller Bauteile des Richtmikrofons zu merken, geschah das nur während der PropagandaStunden. Im kargen Gras ausgestreckt, während die Sonne durch das Drahtgitter loderte, hörten sie Deena oder Fortnum oder Captain Stelzfuß immer wieder davon reden, weshalb sie hier waren: »Die Vereinigten Staaten sind bedroht wie nie zuvor in ihrer Geschichte« – Stelzbein trommelte mit den Fingern einer Hand auf sein ausgestrecktes Kunstbein, während die Worte monoton aus ihm heraustönten, als sei er selbst ein Tonband – »und zwar von einer Welt, in der unsere rechtmäßigen Abwehrstreitkräfte durch Bürokratie und internationale Vereinbarungen blockiert werden; irgendwelche Fragen? Gut.« Es gab keine Fragen. Es gab Standpunktunterschiede, gewiß, aber Hake empfand nicht das Bedürfnis, sie auszusprechen, und außerdem lag vor ihm Mary Jean ausgestreckt, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und er genoß, was er sah.
122 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Oder: »Nach der Verfassung und den Gesetzen unseres Landes« – das war der alte Fortnum, der aufstand, wenn er zu ihnen sprach, und eine stramme Haltung der anderen verlangte – »haben wir den Auftrag, die Segnungen der Demokratie für uns und unsere Nachwelt zu sichern, und das kann uns nur gelingen, wenn unsere Nation Stärke und Sicherheit besitzt; irgendwelche Fragen?« Auch für Fortnum gab es keine Fragen. Er war der einzige von den Ausbildern, der die Gewohnheit hatte, für Vergehen Strafdienst zuzudiktieren. Ihn auf sich aufmerksam zu machen, war bereits ein Vergehen. Deena Fairless war die einzige, die Hakes Aufmerksamkeit als Rednerin auf sich zog. Zum einen saß oder stand sie nicht, sondern ging zwischen ihnen herum und stieß sie manchmal mit der Schuhspitze an, wenn die Mittagswärme nach dem Essen diesen oder jenen dösen ließ. Zum anderen sprach sie über interessantere Dinge. »Durch Präsidentenbefehl sind wir auf verdeckte, nichttödliche Einsätze nur auf ausländischem Boden beschränkt. Merken Sie sich die drei Dinge: verdeckt, nichttödlich, Ausland. Also, wenn es keine Fragen gibt« – sie machte kaum eine Pause, aber auch hier gab es keine Fragen – »will ich einiges von dem erklären, was Sie hier gesehen haben.« Und so kam Hake dahinter, daß die Ausbildung von Agenten nur eine der Aufgaben der Institution war. Es gab einen Forschungs- und Entwicklungs-Untergrund – buchstäblich unter dem Boden, in den Hang tief hineingebaut – in ein paar Meilen Entfernung, und von dort kamen Gegenstände wie die IR-Brillen und die Schaumboote. Es gab eine Stelle, die verharmlosend ›lnformationsbeschaffung‹ hieß. Keiner von ihnen dürfe dorthin jemals gehen. Dafür sprach auch wenig, weil das Gebäude von scharfen Hunden bewacht wurde. Deena Fairless verriet nicht, von wem dort Informationen ›beschafft‹ wurden, aber die Auszubildenden gelangten zu einer eigenen Meinung, und wenn einer von ihnen von der ›Anderen Seite‹ gefaßt werden sollte, konnte er damit rechnen, daß er an irgendeinem anderen Punkt der Erde ebenfalls ›befragt‹ werden würde. Es gab sogar eine
123 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
kleine Autorengruppe – sie war in der Has-Ta-Va-Ranch selbst untergebracht –, wo man Texte zur psychologischen Kriegführung herstellte. Und wenn Gott gütig war, durften sie Filme sehen. Sie sahen bemerkenswerte Triumphe der Organisation in der Vergangenheit, die Fälschungsoperationen, durch welche die Bank von England zu Fall gebracht worden war, und die Preisabsprachen, die zehntausend Reispflanzer in Indien, auf den Philippinen und in Indochina ruiniert hatten. Das sei nur ein winziger Bruchteil der erfolgreichen Unternehmungen, wie man ihnen zu verstehen gab. Diese seien die aufgedeckten, wo die Andere Seite, oder noch häufiger die Anderen Seiten, wußten, was geschehen war. Es gebe noch größere Projekte, die nie entdeckt worden seien. Und dies, so begriffen sie, weil man es ihnen Tag für Tag mit unerbittlicher Beharrlichkeit eintrichterte, sei das Allerhöchste: etwas zu tun, das irgendeinen anderen Teil der Welt im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten schwächte, ohne daß man dabei ertappt wurde. Und gleichzeitig taten natürlich die Anderen Seiten den Vereinigten Staaten an, was sie ihnen nur antun konnten. Die Wasserlilien, die jeden langsam strömenden Fluß im Nordosten erstickten, die Revolte von Eigenheimbesitzern in Florida, die ihre Rasenflächen nicht mehr gemäht hatten, der Landarbeiterstreik in Kalifornien und der Dienst nach Vorschrift der Fernfahrer, die dafür gesorgt hatten, daß frisches Gemüse auf den Feldern und in Lagerhäusern verfault war, während die Verbraucher das Dreifache für Dosenware bezahlten – all das hatte man auf ausländische Eingriffe zurückgeführt. Sie gab es auch jetzt. Hake konnte sehen, daß selbst unter der Mikrowellen-Antenne das karge Gras braun wurde und verdorrte. Die Andere Seite betreibe wieder Wolkenklau, hieß es, schieße Bromidrauch in die großen Kumuluswolken über dem Pazifik und stehle ihren Regen, bevor dieser Amerika erreichen könne. Vielleicht hätten Hakes Mikrofilme ihm sagen können, wann das Spiel begonnen hatte, wenn ihm Zeit geblieben wäre, sie zu
124 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
lesen. Sosehr er sich auch abmühte, in die Zukunft zu blicken, er konnte nicht erkennen, wo das alles enden würde. Selbst im südwestlichen Texas wurde es um zwei Uhr morgens kalt. Erstaunlich kalt, gemein kalt. Über ihnen funkelten die zehntausend Sterne von Texas durch den stöhnenden Maschendraht, und der Nordwind, der am Antennengeflecht zupfte, ließ Hake gleichzeitig erstarren. Und Tigrito und Mary Jean und Schwester Floriana und den beiden Damen aus Hawaii ging es noch schlechter als Hake, weil sie nicht in New Jersey aufgewachsen waren. Deena Fairless schien sich einigermaßen behaglich zu fühlen, aber sie war es auch gewesen, die sie um Mitternacht zu dieser Übung alle aus dem Bett geholt hatte. Sie hatte Zeit gehabt, sich auf den Nachtmarsch vorzubereiten – einschließlich Wollsocken und Thermounterwäsche, dessen war Hake sicher. Mary Jean, die an derselben dreieckigen Stütze lehnte wie Hake, schob sich näher heran. Er hielt das nicht für Zuneigung. Sie war weit weg von Louisiana. Was sie suchte, war Wärme. Trotzdem warf er einen Blick auf Deena. Sie sagte nur: »Wachbleiben, das ist alles.« Aber Hake hatte keine Probleme mit dem Schlaf, sondern ihm ging es um etwas anderes: Deena hatte einen der wahrhaft gro ßartigen erotischen Träume der letzten Zeit unterbrochen, als sie mit der Taschenlampe hereingekommen war und ihn durch Verdrehen der großen Zehe geweckt hatte. Er war noch immer nicht ganz darüber hinweg. Mary Jean roch ganz gewiß nicht wie eine Traumfrau – eher wie eine wirkliche, die angestrengt gearbeitet und nicht genügend gebadet hatte –, aber irgendeine Synapse, Zelle oder Prozedur in seinem Gehirn erkannte unbeirrbar ein Yin für sein Yang, und die wirkliche Person, die an seiner Schulter döste, verschmolz mit jener aus dem Traum, den er so widerstrebend aufgegeben hatte. »Wachbleiben, sage ich!«
125 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Verzeihung, Deena«, entschuldigte sich Mary Jean und schob sich höher. »Wann geht es los?« »Wenn die Luft rein ist.« »Wann wird die rein sein?« »Wenn Tiger zurückkommt und uns das sagt.« Deena zögerte, dann erlaubte sie: »Geht herum, wenn ihr wollt. Aber seid leise.« Sie befanden sich in einem ausgetrockneten Flußbett, das vor ihnen eine scharfe Biegung machte; gut geschützt vor Beobachtung, wie der singende Draht über ihnen gut vor dem Belauschtwerden schützte. An dieser Stelle befand sich die Antenne mindestens zwanzig Meter über ihnen, aber Hake konnte sie als funkelndes Geflecht von scharlachroten Spinnfäden sehen, schwach, aber klar, dort, wo sie die Pulsstöße der RadarWinkelreflektoren zurückspiegelte. Es war eigentlich sogar erstaunlich, wieviel er bei Sternenlicht sehen konnte, seitdem seine Augen zwei Stunden Zeit gehabt hatten, sich daran zu gewöhnen. Deena Fairless schraubte ein Behältnis auf, das nach einer riesengroßen Tube Zahnpasta aussah, und schmierte einen Klecks auf ihren Finger. »Was ist das?« fragte Beth Hwa, die im Schneidersitz dasaß, hochaufgerichtet und wach. »Das schieben wir einer Kuh in den Hintern«, gab Deena zurück. Es trat die Art von Schweigen ein, die auf einen völlig verpufften Witz zu folgen pflegt, bis Deena sagte: »Keine Witze. Das ist heute nacht unsere Aufgabe. Wir schleichen uns an die Büffelherde heran, suchen uns die Färsen heraus und schmieren davon etwas auf ihre, entschuldigt den medizinischen Ausdruck, Geschlechtsteile. Ich meine nicht den After, sondern die Vagina. Aber wenn ihr euch nicht auskennt, müßt ihr es bei beidem machen.« Das Schweigen dehnte sich und unterlag einer Veränderung; nun war es das Schweigen einer Gruppe von Personen, die sich
126 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
fragen, ob ihnen jemand einen gemeinen Streich spielt. Deena lachte leise. »Das ist eine Simulation«, erklärte sie. »Steht für ein echtes Unternehmen, von dem ihr, bevor ihr hier weggeht, vielleicht noch etwas hört, vielleicht auch nicht.« »Schönes Unternehmen«, fauchte Schwester Floriana. »Nun, von dem Teil sind Sie befreit«, sagte Deena. »Sie werden unsere Späherin sein.« »Ich lasse mich nicht befreien«, erklärte die Nonne gereizt. »Ich sage nur, daß ich das widerlich finde.« »Sicher. Aber eines Tages werden Sie mir dafür dankbar sein. Überhaupt wird die Zeit kommen, in der ihr alle an die schönen Tage Unter dem Draht denkt und sagt – halt!« Ein einzelner Stein rollte die Böschung herunter, gefolgt von Tigrito, der von seinem Erkundungsgang zurückkam. »Nirgends Cowboys zu sehen«, meldete er. »He, Mann, laß mir auch was von der Wärme.« Er setzte sich auf der anderen Seite zu Mary Jean und legte den Arm um sie. »Was ist mit der Herde? Haben Sie die gefunden?« »Na klar, Mann. Schön verschlafen, ungefähr ‘ne halbe Meile von hier.« »Dann gehen wir. Sie auch, Tiger. Auf die Beine, Mary Jean, und von jetzt an kein Wort mehr. Tiger geht voraus, ich komme am Ende. Wenn er die Herde sieht, bleibt er stehen, und ihr nehmt alle eine Handvoll von der Schmiere und fangt an.« »Woher wissen wir, daß es eine Färse ist? Was ist das überhaupt?« »Wenn ihr das nicht auseinanderkennt, macht ihr es einfach bei allen. Los, Tiger! Brillen auf, alle Mann!« Durch die IR-Brille sah Hake die Szene verwandelt. Am Hang war Restwärme, so daß sie über matt leuchtendes Gestein gingen. Tigrito vor ihm, das waren helle Hände und der Kopf an
127 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
einem viel dunkleren Rumpf, und der Draht über ihnen war ein Gewirr greller Punkte, über denen die Sterne verblaßten. Er konnte nicht einmal die roten und blaugrünen Laserstrahlen mit ihr sehen, und als er den Blick abwandte, brauchte er einige Zeit, um sich an die relative Dunkelheit zu gewöhnen. Es war ein langes, anstrengendes Schleichen bergab, dann ging es noch mühsamer bergauf. Dort waren die Kuppen einer Bergkette abgeschnitten worden, um Platz für die Antenne zu schaffen, und der Draht befand sich höchstens drei Meter über dem Boden. Sie gingen alle gebückt und halb geduckt über den Kamm und richteten sich erst wieder auf, als sie in dem Geröll hinabrutschten, das die Bulldozer auf der anderen Seite hinuntergeschoben hatten. Es hieß, es müsse nicht den Tod bedeuten, wenn man die Antenne berühre. Keiner von ihnen wollte es aber ausprobieren. Die drei-Achtel-Büffel-fünf-Achtel-Rinder-Züchtungs-Herde ruhte friedlich unten am Hang, ohne Interesse für die Menschen, die auf sie zuschlichen. Die Dreifünfer, wie man sie nannte, wurden neben Milch und Fleisch auf Dummheit hin gezüchtet, und die Kreuzung war ein voller Erfolg gewesen. Was sie gerne fraßen, waren die Yucca-Blüten – der Grund dafür, hatte Hake erfahren, daß die Yucca auch ›Büffelgras‹ hieß –, und bei dieser Kost wuchsen sie innerhalb von drei Jahren zur Schlachtreife heran. Deena versammelte ihre Truppe um sich, quetschte jedem der Reihe nach eine klebrige, fette Flüssigkeit in beide Handflächen und winkte sie in Richtung Herde. Sie stiegen auf dem rutschigen, unebenen Boden hinunter. Hake rutschte aus und fiel hin, und als er sich aufraffte, hörte er Tigrito winseln: »He, Mann! Sie waren aber vorher nicht da!« Grelles Licht flutete in die IR-Brillen – es stammte von Deena und zeigte einen Mann in Jeans mit Stetson, der ein Gewehr auf Tigrito gerichtet hielt. »Hab’ ich euch«, rief der Mann. »Ihr seid verhaftet, alle miteinander, hebt die Pfoten hoch!«
128 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
In Hakes Schädel flammte mörderische Wut auf. Der Saukerl hatte eine Schußwaffe. Wenn Hake selbst eine gehabt hätte – er dachte den Gedanken nicht zu Ende, aber seine Finger krümmten sich um einen nicht vorhandenen Abzug. Und er war darin nicht der einzige. Tigrito ging, während er weiterjammerte, langsam auf den Mann zu, und hinter dem Cowboy griff Schwester Floriana nach seiner Kehle. Nicht leise genug; der Mann hörte etwas und wollte sich umdrehen, da sprang Tigrito ihn an und riß ihn zu Boden. Die Waffe flog davon, Tigritos Hand hob und senkte sich. Es war vorüber. Tigrito schob sich auf die Knie, den großen Stein noch in der Hand, mit dem er auf den Kopf des Mannes eingeschlagen hatte. »Hab’ ich den Hund umgebracht?« fragte er scharf. Deena beugte sich mit der Lampe über den Cowboy. »Bis jetzt jedenfalls noch nicht. Verdammt. Also, los jetzt! Schwester, Sie bleiben hier und behalten ihn im Auge. Die anderen, ran an die Kühe!« Was Hake von dem Ganzen am längsten im Gedächtnis blieb, war eine verblüffende Tatsache: Er war bereit gewesen, den Cowboy umzubringen. Hätte man ihm die Frage vorher in der Theorie gestellt, er hätte die Möglichkeit mit Nachdruck bestritten. Lächerlich. Er hatte keinen Grund. Er hatte nichts gegen den Mann. Bei der Sache ging es eigentlich um nichts. Er war ganz gewiß kein Killer. Aber in dem Augenblick selbst hätte er abgedrückt, das wußte er, wenn er eine Waffe dabeigehabt hätte. Der Mann war tatsächlich nicht gestorben. Sie hatten sich ihrer absurden Aufgabe entledigt, dem Vieh das Zeug unter die Schwänze zu schmieren, und sich dann abgewechselt, um den Bewußtlosen den weiten Weg Unter dem Draht zurück zum Lager zu tragen. Soviel Hake wußte, war er immer noch am Leben; jedenfalls war er es noch gewesen, als der Lastwagen von Has-
129 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Ta-Va ihn mit Gehirnerschütterung und wahrscheinlichem Schädelbruch, aber lebend, abtransportiert hatte. Sie alle sahen einander in der Baracke an, Hände, Gesichter und Kleidung mit grüner Anstrichfarbe verschmiert – erst im Licht erkannten sie, was Deena ihnen in die Hände geschmiert hatte. Als Hake für die Dreiviertelstunde vor dem Wecken ins Bett fiel, dachte er, daß es Nachwirkungen geben könnte. Außerdem dachte er, er wüßte, was an den Mienen seiner Kameraden so seltsam gewesen war. Sie hatten beinahe alle miteinander gegrinst. Aber am Morgen, als Fortnum sie im Dämmerlicht antreten ließ, fiel kein Wort über den Vorfall. Sie liefen ihre Meile, verschlangen ihr Frühstück, brachten eine Stunde auf dem Hinderniskurs zu und traten zu Deenas Unterricht in ComputerAnzapfung an. Nach zehn Minuten Pauken der Namen für die Teile der Maschine konnte Hake es nicht länger aushalten. »Deena«, fragte er, »wie geht es dem Mann?« Sie legte zwischen ›Bit‹ und ›Byte‹ eine Pause ein und sah ih n nachdenklich an. »Der wird schon wieder«, sagte sie schließlich. »Sind wir in Schwierigkeiten?« »Ihr seid immer in Schwierigkeiten, bis ihr hier herauskommt«, antwortete sie. »Keine besonderen Probleme, mit denen das Team nicht fertig wird. Das ist schon öfter vorgekommen.« Die ganze Gruppe wußte, was geschehen war, und einer von den Zurückgebliebenen hob die Hand. »Deena, was, zum Teufel, habt ihr da draußen eigentlich gemacht?« Deena schaute auf die Uhr. »Hm – paßt auf. Stelzbein ist mit dem Flugzeug fo rt, Fortnum holt Nachschub, und ich muß einen Bericht schreiben. Ich lasse euch für, mal sehen, neunzig Minuten allein. Aber damit ihr eure Zeit nicht vergeudet, bekommt ihr zwei Aufgaben gestellt. Für die Sieger gibt es Preise. Erstens: Stellt mal fest, ob ihr
130 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
herausfinden könnt, wozu das gestern nacht gut war. Zweitens soll jeder von euch sich ein Unternehmen für das Amt ausdenken. Ihr werdet beurteilt nach Originalität, praktischer Verwendbarkeit und Wirksamkeit, und damit ihr wißt, daß es gerecht zugeht, überlasse ich Fortnum die Entscheidung.« »Wie kommen wir dahinter, was die Übung zu bedeuten hatte?« fragte Beth Hwa. »Das ist euer Problem«, meinte Deena freundlich. »Was gibt es zu gewinnen?« fragte Hake. »Ganz einfach. Jeder außer dem Sieger in jeder Kategorie bekommt Strafdienst aufgebrummt. Tschüss. Ihr habt noch achtundachtzig Minuten Zeit.« Sie waren mitten am Tag noch nie sich selbst überlassen gewesen und wußten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Ein Dutzend ging langsam zum Tauchbecken, auch Hake, und die meisten der sechs, die bei der Übung gewesen waren. Die Gründe hatten mit den Problemen nichts zu tun. Es war eine Methode, die restliche Farbe loszuwerden, und auch eine, den nicht ausgeschlafenen Teil ihrer Gehirne zu wecken, der mehr als alles andere ins Bett zu kriechen verlangte. Sie zogen sich bis auf die Allzweck-Unterwäsche aus und tauchten in das lauwarme, verdreckte Wasser. Das Raten begann. »Vielleicht haben wir geübt, wie man, ich weiß nicht, Kavallerie oder so etwas lahmgelegt. Wie mit Schlafmitteln.« »Mensch! Was für Kavallerie?« »Na ja – vielleicht Rennpferde. Manchmal bekommt man doch Schmerzmittel mit einem Einlauf, oder?« »Oder es sollte irgendein Gift sein, um irgendwo die Fleischversorgung zu unterbinden.«
131 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Na hör mal, Beth! Glauben Sie, das Team schickt Leute herum, die zehn oder zwanzig Millionen Kuhärsche massieren? Augenblick, wartet mal. Vielleicht wäre es bei einem echten Einsatz keine Farbe, sondern – ich weiß nicht. Honig? Und er lockt Fliegen an, und sie verbreiten Seuchen?« Ausgefallene Ideen. Die Gruppe schien eine ganze Menge davon hervorzubringen. Während Hake ausgestreckt in der Sonne lag, ohne Schatten unter dem Draht, war sein erschöpftes Gehirn der Aufgabe nicht gewachsen, herauszufinden, ob irgendeiner der Einfälle ausgefallener war als Dinge, von denen er schon wußte, daß das Team sie getan hatte. Mary Jean, die neben ihm saß, beugte sich herüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Hast du bessere Ideen?« Er schüttelte den Kopf. »Dann sollten wir vielleicht mit der zweiten Aufgabe anfangen. Ich meine, sich einen richtigen Einsatz einfallen zu lassen. Warte mal, ich hab’ Papier dabei.« Während sie in ihrer Schultertasche kramte, ließ Hake sich zurücksinken und schloß die Augen, ließ das Gespräch über sich hinweggehen. Manches von dem, was wir vergangene Nacht als Erklärung für den Einsatz vermutet haben, mag für Projektvorschläge geeignet sein, dachte er. Sie sind immer noch eifrig dabei – so, als fasse jeder einzelne das als persönliche Herausforderung auf. Wieso sind sie plötzlich so blutdürstig geworden? »- irgendeine ätzende Säure, damit sie eine Massenflucht -« »- verstopfen, bis sie sich aufblähen und sterben -« »- riecht für die Bullen schlecht, oder, he, vielleicht wollen die Bullen wegen der grünen Farbe nicht mehr!« »Nein, warte mal, Tigrito! Anders rum. Angenommen, das ist irgendein chemischer Stoff, der sich nachteilig auf die Paarung auswirkt. Daß der Bulle vielleicht seine, äh, Erektion verliert.« Die Frau aus Hawaii setzte sich auf. »Bessere Idee!« rief sie. »Warum das an Bullen verschwenden? Damit versuche ich es bei der anderen Aufgabe: irgendein chemischer Stoff, den man den Frauen gibt, ich weiß nicht,
132 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
vielleicht in ihr Essen tut, der sie sterilisiert. Oder für Männer abstoßend macht.« »Oder es braucht gar kein chemischer Stoff zu sein, Beth«, sagte der farbige Professor. »Die Modeindustrie subventionieren, damit sie wieder die Tournüre bringt oder den Maxirock oder so etwas.« »Oder noch besser! Wie wär’s, wenn man eine Rückkehr zur Religion auslöst und alle Frauen dazu bringt, daß sie Nonnen werden?« Der Professor sagte nachdenklich: »Das hat es sogar schon einmal gegeben, wißt ihr, damals im Mittelalter. So viele Leute legten das Keuschheitsgelübde ab, daß die französischen Könige sich Sorgen machten, so sehr gingen die Geburtenzahlen zurück. Nur würde das ziemlich lange dauern, bis es wirkt – zwanzig oder dreißig Jahre, bis es wirklich ins Gewicht fällt, und wer weiß, wie die Welt bis dahin aussieht? – Ah, hallo, Schwester, wir haben eben von Nonnen geredet -« Schwester Floriana setzte sich mit zufriedener Miene. »Ich habe gehört, worüber ihr gesprochen habt.« Ihr sonst strenges Gesicht verriet auffällig gute Laune. »Okay, Schwester«, sagte Tigrito. »Bei Ihnen läuft was. Und was? Sind Sie drauf gekommen, was wir gestern nacht getrieben haben?« »Nein«, sagte sie heiter, »ich bin nicht ›draufgekommen‹, ich weiß es. Ihr seid alle abgezogen und habt mich mit dem Computer alleingelassen. Ich habe ihm den Entsperr-Befehl gegeben und ihn beauftragt, Team-Projekte zu suchen, die mit dem Genitalbereich von großen Säugetieren zu tun haben.« »Ah was, Schwester! Wie haben Sie denn das fertiggebracht?« »Na ja, ich habe eine Adressierungsmatrix aus den Genitalien großer Säugetiere, chemischen oder biologischen Sto ffen, TeamProjekten -« »Nein, nein! Ich meine den Entsperr-Befehl.«
133 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Sie lächelte strahlend. »Ich beobachte sie, Tigrito. Sie tippt das Datum des Monats ein, plus 2, und dann ihren eigenen Nachnamen. Dann ist er betriebsbereit. Ich habe es genauso gemacht. Er brauchte eine Weile zum Suchen, dann lieferte er Pferdetripper.« »Pferdetripper?« »In den siebziger Jahren gab es in Amerika eine richtige Epidemie. Jetzt hat man einen neuen Stamm gefunden, der bei allen großen Säugetieren ansteckend und gegen Antibio tika resistent ist. Wir werden irgendwann wohl Zuchtkühe infizieren, damit sie Deckbullen anstecken, und wir können dadurch ein Viehzuchtprogramm kaputtmachen. Irgendwo. Ich schätze Argentinien. Vielleicht auch England oder Australien? Irgendwo. Jedenfalls hab’ ich alles aufgeschrieben«, fuhr sie fort, »den Zeitstempel drauf gedrückt, es auf Deenas Schreibtisch gelegt und aus.« Sie faltete die Hände im Schoß und schaute sich strahlend in der Runde um. Aber Hake hörte schon nicht mehr zu. In seinem Gehirn war eine Assoziationskette entstanden. Nonnen. Klöster. Menschen, die zu religiösen Orden strömten. Eine Bewegung zurück zur Religion. Er begann mit dem Bleistiftstummel, den Mary Jean ihm gegeben hatte, hastig zu kritzeln: ›Religiöse Führer wie Sun Mjung Moon, indische Gurus, Schwarze Moslems und andere haben in Amerika Menschen in bedeutsamer Zahl auf wirksame Weise aus dem Arbeitsprozeß herausgeholt. Vorschlag: charismatische Religionsführer benennen und einschätzen. Wo sie wirksam werden können, sie finanziell unterstützen oder -‹ Er zog gerade noch rechtzeitig die Füße weg, um zu verhindern, daß Tigrito auf sie trat, als er um das Tauchbecken herumlief und vor ihm stehenblieb. Der Junge grinste Mary Jean an. »He, machen wir da weiter, wo wir aufgehört haben«, sagte er und ließ sich zwischen ihnen auf den Boden fallen. Hake machte instinktiv Platz, als der Junge Mary Jean in die Arme nahm. »Paß bloß auf«, sagte Hake gereizt.
134 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»O Mann! Das tu’ ich, die ganze Zeit schon, und jetzt will ich kneten und reiben und – Scheiße!« Er stürzte Hake in den Schoß, als Mary Jeans Ellenbogen, nicht mehr als zwanzig Zentimeter unterwegs, ihn genau unter den Rippen traf. Hake stieß ihn weg. »Zieh ab, Tigrito«, sagte Mary Jean. »Genau«, sagte Hake. Der Junge funkelte ihn böse an, sprang auf und stellte sich in Positur. »Das kann die sagen, aber nicht du, du Dreckskerl«, erklärte er und ging auf Hake zu. Hake war inzwischen ebenfalls auf den Beinen, die Arme automatisch in Ringerhaltung, aber er trat einen halben Schritt zurück. Es ist eigentlich nicht mein Kampf, sagte er sich. Wenn er jemanden betrifft, dann Mary Jean, die sehr gut allein zurechtkommt. »Feig ist er auch noch«, höhnte Tigrito und täuschte einen Fußtritt in Hakes Bauch an. Hake hatte vor Tigrito als Gegner ungeheuren Respekt. Beim Nahkampftraining war er ihm ein halbes dutzendmal unterlegen. Aber der Teil seines Gehirns, der abschätzte und abwog, war jetzt nicht in Aktion. Als Tigritos Fuß hochzuckte, wich Hake aus und packte ihn; als Tigrito nach hinten umkippte, griff er nach Hakes Armen und riß ihn über seinen Kopf durch die Luft; Hake warf sich im Flug herum und traf den Jungen mit dem Knie am Kinn. Nach zehn Sekunden war alles vorbei. Hake kniete auf dem Brustkorb des Jungen und zog seinen Kopf hoch, um ihn auf den Waschbeton zu knallen. »Du lieber Gott«, ertönte Deenas Stimme hinter ihm. »Da läßt man euch ein paar Minuten allein, und was passiert? Sofort aufhören, Killer! Der Kampf ist vorbei. Ihr habt heute nacht alle Strafdienst.«
135 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Als Hake um Mitternacht endlich in sein Bett kam, war er so erschöpft, daß von Schlaf keine Rede sein konnte. Er warf sich eine Zeitlang herum, dann stolperte er in die Kantine, um seine obligatorischen Ansichtskarten zu schreiben. Eine für Jessie Tunman, das Bild einer Schlucht am Pecos: ›Wunderschön hier, viel Erholung, wir sehen uns bald.‹ Eine für das Schwarze Brett in der Kirche: ›Ihr fehlt mir alle, ich werde aber voller Energie für das Kirchenjahr zurückkommen‹; das war das Bild einer Herde von Drei-Fünfer-Züchtungen, vorwärtsgetrieben von einem Cowboy im Hubschrauber. Sie sollten jeder in der Woche drei Ansichtskarten abschicken, aber Hake hatte sich gewehrt und eine geringere Zahl durchgesetzt. Er hatte keine drei Menschen, denen er Karten schicken konnte. Abgesehen von der Kirche, hatte er kaum jemanden. Er kroch zu seinem Bett zurück und fragte sich, was die Kirche an diesem Tag von ihrem rauflustigen Pfarrer gehalten hätte; Schlägerei mit einem Barrio -Jungen. Alys wäre vielleicht hocherfreut gewesen. Und es wäre sehr schön, Alys auf diese oder jene Weise zu ergötzen, dachte er, während er sich zornig hin- und herwarf und ihm Mary Jeans zierliches Schnarchen zwei Kojen weiter im Bewußtsein sehr deutlich war. Er zählte nach. Er war jetzt elf Tage Unter dem Draht. Es schien viel länger zu sein. Er war nicht mehr genau derselbe Mensch, der von Newark aus nach Westen geflogen war. Er wußte ganz und gar nicht, was für ein Mensch er war, aber der alte Reverend Hake hätte sich nicht wegen einer Frau geprügelt. Und der zwölfte und dreizehnte und vierzehnte Tag kamen und gingen, und alles, was außerhalb von Texas lag, rückte aus seinem Denken immer weiter fort. Die Menschen, auf die es ankam, waren Deena und Tigrito und Beth Hwa und Schwester Floriana und Stelzbein und Mary Jean, vor allem Mary Jean. Am fünfzehnten Tag küßten sie sich hinter der Baracke. Geredet wurde nichts. Er ging einfach mit ihr hinter das Gebäude. Als sie sich umdrehte, packten seine Hände zu. Drei oder vier Minuten lang wühlten ihre Zungen im Mund des anderen, dann ließ er sie los, und sie eilten zum Unterricht über ›ChemStoffe, Gebrauch von‹.
136 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Hakes Drüsen waren entflammt, und es fiel ihm nicht leicht, sich auf Stelzbeins monotone Stimme zu konzentrieren. Als Hake sich des argwöhnischen Funkelns aus den Augen des jungen Mannes bewußt wurde, setzte er sich auf und versuchte Mary Jean (gar nicht zu reden von Alys und Leota und der Krankenschwester von HBI) aus seinen Gedanken zu verbannen. »Ihr habt also diese Stoffe«, sagte Stelzbein und starrte Hake an, während er auf seinem Kunstbein herumtrommelte, »und ihr werdet damit umgehen können, wenn ihr hier fortgeht; irgendwelche Fragen? Gut.« Zum Glück unterdrückte ein anderer ein Gähnen, so daß Stelzbeins Zornfunkeln abgelenkt wurde. Hake hörte zu und versuchte das, was der Lehrer sagte, mit dem in Einklang zu bringen, was ihm als Evangelium verkündet worden war. Die Satzung des Teams erlaubte das Töten von Menschen nicht. Alle Ausbilder hatten das betont. Andere Lebensformen waren jedoch nicht geschützt, und Stelzbein schien ihnen Ausrottungswegweiser zu liefern. »Ihr nehmt den Stoff V 12«, sagte er monoton, »zusammen mit dem Stoff V 34 und kippt das in einen Teich; irgendwelche Fragen? Gut. Am nächsten Tag habt ihr eine Lösung von O-Äthyl S-Diäthylaminoäthylmethyphosphothiolat, das ihr Stoff VM nennt; irgendwelche Fragen? Diese Mengen sind berechnet für den Durchschnitts-Dorfteich von 360000 Liter und erzielen eine Konzentration von null Komma zwei Teilen pro Million, und das tötet Fische und Frösche und kleine Säugetiere; irgendwelche Fragen?« Er sah sie herausfordernd an, auf sein Bein trommelnd. »Gut. Die Konzentration nimmt mit der Zeit zu«, fuhr er fort, »und nach dem ersten Tag ist sie auch für größere Säugetiere giftig.« Er stand mühsam auf und hinkte zur Tafel. »Das ist für das, was ihr Wasserstreuung nennt«, sagte er und begann etwas zu zeichnen, das aussah wie eine Bowlingkugel, auf beiden Seiten mit Grifflöchern. »Und das hier«, sagte er, »ist das Schema der kleinen Wesen in der Suppe. Kommt einzeln her, und seht euch das an.« Als Hake an die Reihe kam, sah er ein halbes Dutzend kleine Kügelchen in einer gläsernen Petrischale.
137 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Er mußte die Augen zusammenkneifen, um sie zu sehen; sie hatten einen Durchmesser von nicht mehr als einem Millimeter. Er konnte überhaupt keine Löcher sehen. »Das sind die Kügelchen für Ihre Feder- oder Luftdruck-Geräte wie den Bulgarenschirm oder den Peru-Schreiber. Die Kügelchen sind Platin. Jedes von den kleinen Löchern« – er zeigte auf die Zeichnung an der Tafel – »nimmt zwei Zehntel eines Mikroliters ChemStoff auf, was man da eben reintun will. Möchte jemand raten, was es ist?« Tigrito wedelte mit der Hand. »Arsen?« meinte er. Stelzbein funkelte ihn verächtlich an. »Arsen! Man braucht schon mal hundert Milligramm, wenn man mit Arsen irgendwas anfangen will; Sie machen zwei Stunden Latrinendienst wegen Blödheit. Nein. Es gibt drei Stoffe, die man da reintun kann: Man kann was Biologisches nehmen, also Erreger. Oder Plutonium 239, aber dann sind eure Kügelchen mit einem Strahlungsmesser leicht zu finden. Das Beste ist ein Nervengift in phosphatgepufferter Gelatine; irgendwelche Fragen?« »Wie bringt man jemanden dazu, daß er das schluckt?« fragte Beth Hwa unsicher. »Sie kriegen auch zwei Stunden. Wer hat was von Schlucken gesagt?« Stelzbein griff unter den Tisch und holte etwas heraus, das aussah wie ein ganz gewöhnlicher bunter Damenschirm. »Das ist der Bulgarenschirm, Im Schaft ist eine Federpistole untergebracht. Ihr steckt das Kügelchen rein, spannt die Feder, zielt auf das, äh, das Objekt und drückt auf den Knopf. Wenn ihr das, äh, Tier mit dem Schirm pufft, während ihr auf den Knopf drückt, spürt es nur das Puffen vom Schirm. Oder hier«, fuhr er fort und bückte sich, um nach einem großen Kugelschreiber zu greifen, »hier der Peruschreiber. Gasbetrieben. Ihr schiebt eine ganz normale Kohlensäurekapsel hinein. Er hat nicht die Reichweite wie ein Schirm. Und er geht auch nicht
138 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
durch, na, Kleidung, wenn ihr nicht eine Doppelladung nehmt, und dann wird es lauter. Das Durchschnitts-, äh, -Objekt stirbt erst nach vier oder fünf Tagen, weil das Zeug aus dem Kügelchen ins Blut muß. Ihr seid also längst wieder fort. Der Nachteil ist der, daß man damit keinen schnell stoppen kann; irgendwelche Fragen?« Hake hob die Hand. »Ich dachte, die Satzung des Teams läßt das Töten von Menschen nicht zu?« »Sie kriegen auch zwei Stunden. Wer hat was von Menschen gesagt?« »Sie sagten, es geht durch Kleidung.« »Wie eine Pferdedecke, habe ich gemeint«, erklärte der Ausbilder. »Oder Pelz. Aber das heißt nicht«, fuhr er düster fort, »daß die Andere Seite so etwas nicht gegen euch verwenden würde. Die Bulgaren haben den Schirm erfunden und ihn nicht gegen Dackel benützt. Sie bleiben noch da, Hake. Für Sie hab’ ich neben dem Latrinendienst noch was anderes zu tun. Irgendwelche Fragen?« Aber selbst das ›andere‹ verging, und am sechzehnten Tag wurde die ganze Mannschaft beauftragt, Entlaubungsmittel auf die Weiden zu sprühen – die Tiere knabberten das Büffelgras so kurz ab, daß man ab und zu die nicht eßbaren Pflanzen vernichten mußte, damit das Büffelgras wieder nachwachsen konnte. Bis sie zurückkamen, hatte Hake sein sexuelles Problem ebenso gelöst wie Mary Jean das ihre. Als sie an diesem Abend ihr Essen hinunterschlangen, saßen sie aneinandergepreßt auf der Holzbank. Deena war belustigt, Schwester Floriana tolerant, Tigrito sauer. Und Beth Hwa, die stille, nicht mehr junge Ehefrau eines Avocado -Züchters in Hilo, fing Mary Jean auf dem Weg aus der Kantine ab und gab ihr etwas. Mary Jean zeigte es Hake grinsend; es war eine Pillenschachtel. »Für den Fall, daß sie uns ausgehen«, erklärte sie.
139 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Der Rest der drei Wochen begann erfreulicher auszusehen. Aber am siebzehnten Tag teilte Fortnum mit, der Aufsichtsausschuß des Kongresses käme zur jährlichen Inspektion, und sie hätten sich alle zusammenzureißen. An diesem Abend veränderte sich alles. Stelzbein schickte sie mit der Mitteilung ins Bett, daß es für den morgigen Tag einen Sondereinsatz gebe, und am Morgen erklärte er, worum es ging: »Das ist kein, ich wiederhole, kein Übungseinsatz«, stellte er im Singsang fest. »Das ist echt. Ihr bekommt Vollausrüstung für einen längeren Aufenthalt im Freien, und teilzunehmen hat der ganze Lehrgang. Fünf von euch fliegen nach Del Rio, die anderen werden mit dem Lastwagen zum Big-Bend-Nationalpark gefahren. Wir gehen auf Wetback-Jagd!« »Wetback?« »Mensch, ja, Tigrito! Sie sollten doch wissen, was ein Wetback ist. Es kommen zu viele Mexikaner her und nehmen uns die Arbeit weg, wissen Sie? Und wir müssen das verhindern.« »Augenblick mal«, sagte Hake. »Ich dachte, die Direktive des Präsidenten beschränkt uns auf Aktionen außerhalb der Vereinigten Staaten.« »Scheiße, Mann. Die kommen doch von außerhalb, oder? Sie bringen es beim Team nie zu was, wenn Sie dauernd mit Ihren Skrupeln daherkommen. Wir gehen runter zur Grenze und freunden uns mit den Wetbacks an. Dann verfolgen wir die Spur zurück, wo sie reinkommen, und vorwärts, wo sie hingehen. Wer sich gut hält von euch, wird wahrscheinlich nach St. Louis und Chicago oder sogar nach New York geschickt, um rauszukriegen, wo sie da hingehen. Es wird nicht direkt gegen sie vorgegangen, das ist Sache der Einwanderungsbehörde. Wir machen sie nur ausfindig und beschaffen die Beweise. Das ist schöner Dienst. Also reißt euch am Riemen.« Zehn Minuten zum Packen. Sie sahen einander an, und Tigrito verkündete, er werde nach Chi gehen, und wenn er dafür ein
140 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
paar umlegen müßte, Schwester Floriana argwöhnte, das diene alles nur dem Zweck, sie wegzuschaffen, während der Kongreßausschuß hier alles besichtige, und Hake und Mary versuchten ihre Chancen zu berechnen, im selben Lastwagen zu landen. Oder im Flugzeug. Aber Hake erlebte die Wunder des WetbackLebens in den Großstädten schließlich doch nicht. Gerade als die Lastautos losfahren wollten, wurde er herausgeholt und zum Büro des Lagerleiters geschickt. Dort, auf dem Balkon im ersten Stock des Hauptgebäudes der Has-Ta-Va-Ranch, saß in einem Korbsessel der bärtige, unruhige Griesgram, die Pistole am Gürtel, und sprach in ein Flüsterphon. »Sie habe ich hier nicht erwartet«, meinte Hake. »Freilich nicht«, sagte Griesgram und stellte das Flüsterphon weg. »Sie fliegen wieder nach Europa.« »So? Wieso denn? Was soll ich diesmal verbreiten? Lepra?« Griesgram sah ihn nachdenklich an. »Lepra? O nein, Hake, das würde nichts nützen. Viel zu schwer, jemanden anzustecken. Und die Inkubationszeit viel zu lang. Was Sie vorigen Monat gemacht haben, das war das Richtige. Wußten Sie, daß die Ausfallzeiten deutscher Arbeiter in dem Monat um achtzig Prozent gestiegen sind? Und unsere Labors haben natürlich eben einen echten Durchbruch bei der Immunisierung bekanntgegeben«, fuhr er fort. »Wir haben jetzt schon Stoff für sechzig Millionen Impfungen. Wir verkaufen ihn auf der ganzen Welt und holen für die Zahlungsbilanz ganz schön was rein. Aber das war erst Ihr erster Auftrag, Hake. Man konnte von Ihnen noch nicht erwarten, daß Sie unabhängig etwas leisten. Nein. Aber jetzt glauben wir, daß Sie groß einsteigen können, und Ihr Religionsvorschlag hat mir sehr gefallen.« Hake brauchte einen Augenblick, um sich an das Projekt zu erinnern, dessen Entwurf er kurz vor seinem Kampf mit Tigrito am Tauchbecken hingekritzelt hatte. Er hatte den Vorschlag abgegeben und nichts mehr gehört.
141 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich – ich hatte nicht angenommen, daß jemand darauf achtet.« »Menschenskind, doch, Hake! Eine faszinierende Idee. Wenn wir einen europäischen Sun Mjung Moon finden könnten oder selbst einen brauchbaren Messiastyp, na, wir würden ihn rückhaltlos unterstützen. In Europa entstehen die ganze Zeit neue Sekten. Entscheidend ist jemand, der genug persönliches Charisma besitzt, um gut anzukommen. Haben Sie sich überlegt, worauf wir da achten sollten?« »Hm – um ganz ehrlich zu sein«, sagte Hake, der sich für das Thema zu erwärmen begann, »ich habe weiter darüber nachgedacht. Es wäre gut, jemanden zu finden, der besonders gut bei Industriearbeitern ankommt. Oder bei Bergarbeitern.« »Genau, Hake!« »Ich würde natürlich Recherchiermöglichkeiten brauchen, um Bekehrungsreligionen zu finden -« »Sicher, aber nicht jetzt. Sie haben keine Zeit dazu. Sie müssen draußen an der Fernstraße in zwei Stunden in einen Bus steigen. Dann fliegen Sie nach Capri.« »Capri? Was, zum Teufel, habe ich auf Capri zu suchen?« »Das steht im Befehl«, erklärte Griesgram. »Sie werden abgeholt. Dort wird man Ihnen sagen, warum Sie ausgerechnet dorthin mußten.« »Aber – meine Bücher für die Recherchen! Die brauche ich. Und was zum Anziehen für eine Reise nach Italien.« »Dafür ist gesorgt, Hake. In Long Branch packt jemand jetzt gerade einen Koffer für Sie – wir haben einen Brief mit Ihrer Unterschrift an Ihre Haushälterin geschickt, wissen Sie. Die Sachen warten schon auf Sie, wenn Sie ankommen.« »Aber meine Kirche erwartet mich nächste Woche zurück. Und was ist mit dem Rest des Lehrgangs hier?«
142 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»In einer Woche werden Sie wahrscheinlich dort sein«, sagte Griesgram. »Spätestens in zwei oder drei. Und was den Lehrgang angeht – na, den haben Sie eben bestanden.«
143 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
7 Bus nach Odessa, Propmaschine nach Dallas-Fort Worth, Jet nach Rom (wo Hake auf dem Rücksitz eines Mopeds neunzig Minuten hin- und zurückraste, um einen Koffer abzuholen), Jet zum Flughafen Capodichino, Einschienenbahn zur Bucht, Luftkissenfahrzeug nach Capri. Hake hatte die Has-Ta-Va-Ranch um zwei Uhr nachmittags verlassen. Vierzehn Stunden und acht Zeitzonen später hüpfte er über die Bucht. Laut Ortszeit war es Mittag, seine innere Uhr kam überhaupt nicht damit zurecht. Er wußte nur, daß er sehr, sehr müde war. Außerdem war er sehr nahe daran, seekrank zu werden. Er hatte nicht damit gerechnet, daß eine Fahrt mit dem Luftkissenfahrzeug so unruhig sein würde. Jeder Wellenkamm krachte wuchtig an den Boden des Fahrzeugs, und seinem Unwohlsein wurde nicht dadurch aufgeholfen, daß das Luftkissen-Terminal bei der Landung nach verfaulendem Fisch stank. Wie versprochen, wurde er abgeholt. Eine junge Frau mit schwarzer Rüschenbluse und schwarzer Cordsamthose, über den Knien abgeschnitten, zwängte sich an den Möchtegern-Führern und den Verkäufern von Capriglocken vorbei und sagte: »Father Hake? Ja? Geben Sie mir, bitte, Ihren Gepäckschein. Wir treffen uns am Parkplatz.« Ihre Stimme kam Hake bekannt vor, auch ihre Pagenfrisur, aber in seinem wackeligen Zustand konnte er sie nicht identifizieren. Als sie auf dem Parkplatz erschien, geschah das in einem dreirädrigen Elektroflitzer, der oben offen war, und jede Gesprächsneigung wurde durch den Verkehrslärm erstickt. Capri war heiß. Dampfend heiß und rauchig heiß. Der Fischgeruch stammte von Zehntausenden kleiner Jungfische, die mit dem Bauch nach oben in der Bucht trieben oder an den Strand geschwemmt wurden, und er begleitete sie während der ganzen Fahrt eine steile Bergstraße hinauf. Oben auf einer Klippe erreichten sie schließlich ein rosarot verputztes Hotel, und es roch weniger nach Fisch und mehr nach Öl.
144 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Die Frau ging mit Hake durch die Halle in einen Aufzug und verbot ihm das Reden, bis sie den vierten Stock erreichten. Ein Chinesenpaar kam gerade aus einem Zimmer dem Lift gegenüber und hatte offenbar Schwierigkeiten mit dem Schloß. Die Frau sprang ihnen bei, schloß sorgfältig ab, rüttelte am Türknopf, gab den Schlüssel zurück und ließ sich danken, dann führte sie Hake in das benachbarte Zimmer. »Ruhen Sie sich aus, Father Hake«, riet sie. »Ich hole Sie am Morgen ab.« Sie gab ihm seinen Schlüssel und schloß die Tür hinter sich. Hake stand in einem Zimmer, das etwa so groß war wie seine Pfarrveranda in Long Branch, lang genug für zwei normale Zimmer und einen Balkon, der sich der italienischen Sonne entgegenreckte. Verschwendung! Das war mehr Luxus, als ihn Hake jemals gewöhnt gewesen war. Er verspürte einen kleinen Stich an dem Ort, wo er sein soziales Gewissen verwahrte, während ein anderer Teil seines Gewissens ihm erklärte, er solle sich nun wirklich ernsthaft mit Bekehrungsreligionen befassen. Er stellte aber auch fest, daß es nicht schwerfiel, sich einzureden, ein Mensch hätte nach mehr als zwei Wochen Unter dem Draht Anspruch auf ein wenig Bequemlichkeit. Er zog die Schuhe aus und erkundete das Zimmer. Das Bett war oval und lag unter einer roten Samtdecke mit Quasten. Als Hake sich auf die Bettkante setzte, um sich die Beine zu reiben, erfuhr sein Gesäß keinen Widerstand. Ein Wasserbett! Sein Hinterteil versank auf Knöchelhöhe, unter den Knien hatte er ein hartes Brett, und die wogende Flüssigkeit ließ ihn minutenlang auf- und abtanzen. Neben dem Bett befand sich etwas, das nach dem Instrumentenbrett eines Flugzeugs aussah: Knöpfe, Skalen, Schalter. Manches war deutlich. Die aufgehende Sonne verhieß Beleuchtung. Die stilisierten Figuren von Zimmermädchen und Kellner bedeuteten Service. Die Fernsteuerung war für den Fernsehapparat gedacht. Anderes blieb Hake noch verborgen. Aber das hatte Zeit. Er schaltete das Fernsehgerät ein und ließ sich auf das wogende Bett zurücksinken, das nach der heißen Fahrt vom Hafen angenehm kühl war.
145 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
In diesem Augenblick gingen Lampen und Fernseher aus. Nicht nur in seinem Zimmer. Das Leuchtschild mit Flüssigkristallen über dem Spiegelbecken war ebenso erloschen wie die goldene Heiztafel über seinem Balkon, die sogar mitten am Tag unbekümmert eingeschaltet gewesen war. Es hatte einen Stromausfall gegeben. Da Stromausfälle in Hakes Alltagsleben so selbstverständlich waren, begann er sofort aufzuzählen, welche Probleme das aufwerfen mochte. Heizungsausfall, kein Problem. Ausfall von Leselampen – nun, abgesehen von der Tatsache, daß es draußen taghell war, brauchte er unbedingt Schlaf. Ausfall der Klimaanlage? Vielleicht würde das ein Problem werden. Er öffnete die Glastüren zum Balkon, nur für alle Fälle. Lifte, Fernsehen, Telefon – das betraf ihn im Augenblick alles nicht. Im Grunde gab es also gar kein Problem. Das schien eher eine vom Himmel geschickte Ermahnung zu sein, versäumten Schlaf nachzuholen. Er entkleidete sich, zog die Tagesdecke und die dünne Sommerdecke zurück und war nach wenigen Augenblikken auf dem herrlich kühlen und bebenden Bett ohne Bewußtsein. Er wurde von einer zornigen italienischen Stimme geweckt, die ihn anschrie, und entdeckte auf der Stelle, daß die Kühle nicht mehr herrlich war. Es war mitten in der Nacht. Das Licht brannte, in seinem Zimmer und draußen. Die Stimme drang aus dem Fernsehgerät, das sich zusammen mit Licht und Klimaanlage eingeschaltet hatte. Der Wind draußen war kühl geworden, durch die Klimaanlage wurde es noch kühler. Hake fror richtiggehend. Er tastete nach dem Knopf für die Lautstärke des Apparats und stellte ihn leiser; die Stimme des Italieners in dem Werbespot, der wutentbrannt zu sein schien, weil seine Ehefrau auf die Pasta die falsche Sorte Käse getan hatte, verklang zu einem zornigen Wimmern. Hake zerbrach sich den Kopf mit seiner Uhr – die am Bett half natürlich nicht mehr – und kam zu dem Schluß, daß er rund um
146 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
die Uhr geschlafen hatte. Es schien ungefähr zwei Uhr morgens Ortszeit zu sein. Er fühlte sich nicht ausgeruht, aber wach, und, viel schlimmer noch, völlig durchgefroren. Es gelang ihm, die Klimaanlage abzuschalten und das Fenster zu schließen, dann kletterte er wieder ins Bett, die dünne Decke und die steife Tagesdecke über sich gezogen. Es genügte nicht. Das Wasser unter ihm saugte die Wärme ab, und im Zimmer war keine Heizung. Kein Wunder. Wer hätte erwartet, daß er auf Capri im Sommer Zentralheizung brauchen würde? Er sagte sich, daß seine Körperwärme das Bett bald behaglich machen würde, und versuchte, um sich abzulenken, dahinterzukommen, was auf dem Bildschirm vorging. Man schien direkte Werbung auszustrahlen: Käse, Wein, dann ein Sportauto, dann die Nationallo tterie; ein Deodorant, ein Aphrodisiakum (oder vielleicht auch nur ein Parfüm, aber die Wölbung in der kurzen Hose des gutaussehenden männlichen Modells war deutlich genug) und dann einen offenbar behördlich verordneten Propagandaspot. Man sah einen italienischen Jugendlichen, deutlich auf dem Trip. Eine traurige Baritonstimme fragte im Off: »Ecco, guaio perché fare cosi?« Der Jugendliche zog die Schultern hoch und kicherte. Die Überblendung zeigte eine große Weinkellerei. In dem Gewölbe kippten Plastik-Weinfässer majestätisch von einem Förderband, während sich am anderen Ende des Gewölbes eine Verladerampe mit einem abgestellten, leeren Lastwagen befand. Die Kamera erfaßte einen vereinsamten Gabelstapler mitten im Gewölbe. Hake konnte die traurige italienische Sprecherstimme nicht verstehen, aber die Botschaft war deutlich genug. Der Gabelstapler-Fahrer war nicht auf dem Posten. Der Wein wurde nicht verladen. Die Schlußfolgerung, daß der fehlende Fahrer der drogenbetäubte Jugendliche sein mußte, bestätigte sich sofort, als der Schnitt auf den nächsten Morgen erfolgte. Der junge Mann, nun nicht mehr im Drogenrausch, sondern reumütig, stand demütig neben einem weißhaarigen Mann mit Klemmbrett. Hake erkannte den Mann sofort, ihn oder sein Double. Er hatte ihn hundertmal im amerikanischen Fernsehen beobachtet, wenn er mit der Brille auf seinen Schreibtisch klopfte, während er von Magentabletten bis zu Hämorrhoidensalbe alles verkaufte. Am
147 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Ende des Spots hatte der Staplerfahrer – verlorener Sohn, zurückgekehrt – den Rückstand aufgeholt, die Lastwagen waren beladen und rumpelten davon, und das Förderband transportierte wieder eine endlose Folge von Fässern heran. »Marijuana si – PCP no«, sagte der väterliche Bariton, während die Worte auf dem Bildschirm erschienen. Ganz interessant, aber Hake fror immer noch. Seine Körperwärme war den Anforderungen nicht gewachsen, die zwölfhundert Liter kaltes Wasser mit ihrem Hitzeentzug an sie stellten. Er war immer noch erschöpft, fand sich aber damit ab, daß er nicht wieder würde einschlafen können, falls nicht etwas geschah. Er stand auf und zog sich an. Mit der Zeit war ihm nicht mehr so kalt, aber seine Schläfrigkeit ließ nicht nach. Und jedesmal, wenn er sich auf das Bett legte, konnte er sogar durch Kleidung, Bett- und Tagesdecke spüren, wie die Wärme aus ihm heraus- und ins Wasser überging. Es hatte keinen Sinn. Er machte Licht und öffnete sein Gepäck. Die kleine Schultertasche, die er von Unter dem Draht mitgebracht hatte, enthielt einen Pullover, aber da weder das Kleidungsstück noch er seit dem letzten Tragen gewaschen worden waren, verspürte er keine große Neigung, es anzuziehen. In dem Koffer, den Griesgrams Gehilfin in Long Branch gepackt hatte, befand sich gar nichts, jedenfalls fast nichts, was er anziehen konnte. Die Team-Bedienstete hatte eine so vollständige Garderobe für Capri gepackt, wie Hakes Kleiderschränke das zuließen, aber leider nicht gewußt, daß sich seine Maße verändert hatten. Ohne Zweifel war es Hakes eigene Schuld, weil er nicht weggeworfen hatte, was er nicht mehr tragen konnte. Aber die kurzen Hosen, Trikots und Sportjacken, die ihm als 65 Kilo -Schwächling im Rollstuhl gute Dienste geleistet hatten, paßten ihm nicht mehr, und die wenigen neueren Kleidungsstücke wärmten nicht. Immerhin, solange er auf den Beinen und in Bewegung war, fror er nicht. Und solange er wach war, konnte er ruhig auch etwas unternehmen.
148 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Zu den anderen Dingen, die er von Unter dem Draht mitgebracht hatte, gehörten seine Mikrofilme – muffig, an den Kanten verbeult, aber ohne Zweifel noch immer verwendbar, wenn er ein Gerät finden konnte, mit dem sie zu lesen waren. Gab es im Fernsehgerät einen Mikrofilm -Abtaster? So war es. Die oben auf dem Gerät eingedruckte Anleitung war leider in italienisch abgefaßt, aber der Mechanismus sah ganz einfach aus. Hake kam dahinter, daß der Fernsehapparat viel ausgeklügelter war als alles, was er in Long Branch gesehen hatte. Es gab auch etwas mit der Bezeichnung ›Solo per persone mature – Film interattivo‹. Dafür schien es ein eigenes Steuerkästchen zu geben, aber damit war nichts zu erreichen, bis er bemerkte, daß etwas in den Münzschlitz daneben gesteckt werden mußte. Er hatte genau die richtige Größe für ein Cinquanta lire-Stück, und sofort, als Hake die Münze hineingeschoben hatte, verschwand die laufende Sendung und wurde ersetzt durch ein außerordentlich gutaussehendes orientalisches Mädchen, das in der Haltung der Nackten Maja dalag. Von der Technik her war das Gerät erstaunlich. Durch Herumprobieren stellte Hake fest, daß er mit dem Steuerkästchen eine ganze Reihe von nackten Frauen und auch Männern betrachten konnte, daß eine andere Steuertaste es ihm ermöglichte, die Gestalt zu drehen und jeden gewünschten Körperteil von näher und ferner zu besichtigen, und daß er sogar zwei Gestalten zusammenführen und umeinander herum manipulieren konnte. Während er herauszufinden versuchte, ob das Bild sie nun wirklich in Berührung oder fotografisch nur übereinanderkopiert zeigte, war die erkaufte Zeit abgelaufen, und der Bildschirm wurde dunkel. Das war interessant gewesen und auch ein wenig beunruhigend. Hake stand auf und befaßte sich mit den übrigen Einrichtungen des Zimmers. Unter dem Fernseher gab es etwas mit dem Namen ›Servizicx, das sich als kleiner Kühlschrank und Bar erwies, gefüllt mit Whisky, Wein, Fruchtsäften und Bier. Er überlegte kurz, ob er sich so betrinken sollte, daß er die fehlende Zentralheizung ausgleichen und wieder einschlafen konnte, aber
149 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
da konnte man sich eine Lungenentzündung holen. Immerhin, ein Bier war keine schlechte Idee. Er nahm es mit und besichtigte das Badezimmer. Der Toilettensitz vibrierte auf Befehl, wie er feststellte. Die Duschdüse pulsierte, ebenso der Sprühknopf im Bidet, stellte er fest. Hinter einer Schiebetafel bei der Tür gab es eine Kaffeemaschine und einen Brötchenwärmer, und als er sich auf die Kante des immer noch kalten Bettes setzte, um eine Tasse heißen Kaffee zu trinken, stieß er irgendwo dagegen und kam dahinter, daß man auch das Bett in rhythmisches Wogen versetzen konnte, wenn man einen Schalter betätigte. Ein sehr erfindungsreiches Zimmer. Es war aber keines, in dem man allein sein sollte. Alles rief nach Gesellschaft, und Hake hatte keine. Schlimmer noch, eines der Mädchen im Fernsehapparat hatte ihn an Mary Jean erinnert. Er hing Tagträumen nach, in denen Mary Jean in einem ›film interactive‹ auftrat, dann Alys und Leota, und er begriff, daß er vor einem Problem stand. Es war eines, das sich den meisten Männern stellte, bei manchen sogar sehr oft, aber Hake, der im Rollstuhl aufgewachsen war, hatte gelernt, dieses Problem zu sublimieren und zu unterdrücken, aber der neue Hake, der muskulöse Hake der Hanteln und ZweiMeilen-Läufe, der auf Aktion eingestellte Hake von Unter dem Draht, dieser Hake war ein anderer Mensch. Dieser Hake wollte eine andere Lösung, aber sie war nicht in Sicht. Er schüttete den restlichen Kaffee weg, zog sich an und verließ das Zimmer. Der lange, stille Flur war leer, die Deckenbeleuchtung aus Wirtschaftlichkeit gedämpft. Es herrschte ein muffiger, naßkalter Geruch, an den er sich nicht erinnern konnte, und an der Tür der Chinesen bemerkte er einen großen halbkreisförmigen Wasserfleck, den er bisher übersehen hatte. Keine sehr gute Hotelleitung, dachte er; ob jemand in der Halle war? Vielleicht gab es eine rund um die Uhr geöffnete Cafeteria, wo man etwas zu essen bekommen konnte.
150 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Auch die Halle war gedämpft beleuchtet und still, aber es gelang ihm, den Empfangschef lange genug zu wecken und Geld wechseln zu lassen. Aus den Verkaufsautomaten holte er Schokolade, einen ›Daily American‹ aus Rom und sogar eine Tageszeitung in Arabisch, die in Neapel erschien. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück. Er rief sich ins Gedächtnis, daß er nicht zum Vergnügen auf Capri war, zog die Decken vom Bett und verbrachte die nächste Stunde auf dem Boden damit, zu lesen und Schokolade zu essen. Nach ungefähr einer Stunde fuhr er wieder zur Halle hinunter, um sich Fünfziglire-Stücke geben zu lassen, und schlief endlich bei Licht am Boden ein. Um zehn Uhr weckte ihn der Türsummer. Im Zimmer war es jetzt unerträglich heiß, seine Knochen schmerzten vom harten Fußboden, aber er öffnete die Tür. Er dachte an das Mädchen, das ihn am Hafen abgeholt hatte, aber sie war es nicht. Sie war ein Mann. »Mario?« fragte er. Der junge Mann feixte. »Ja, natürlich Mario«, erwiderte er. »Aber als Signorina haben Sie mich nicht erkannt, wie? Wir dürfen nicht oft zusammen gesehen werden, wissen Sie – Hake! Was fällt Ihnen ein?« »Was? Ach, Sie meinen, wie das Zimmer aussieht. Tja, es gab einen Stromausfall, und ich bin auf dem Bett beinahe erfroren.« Marios Brauen stiegen hoch. Er schaltete die Klimaanlage ein und sagte: »Warum haben Sie die Bettheizung nicht benützt? Was für eine Heizung? Oh, Hake, Sie sind so ahnungslos! Da, der Schalter hier an der Seite. Sie stellen ihn auf die gewünschte Temperatur ein. Fünfunddreißig Grad, wenn Sie wollen, oder sogar noch höher.« »Ach, verdammt.« Jetzt, seit es erklärt worden war, erschien es ganz naheliegend. Er stellte vierzig Grad ein und versprach
151 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
sich wenigstens ein hübsches warmes Schläfchen. Als er sich aufrichtete, kam Mario mit einem Gegenstand auf ihn zu, der einem kompliziert gearbeiteten Armband aus Silberfiligran glich. »He, wofür ist das?« Mario ließ es um sein Handgelenk zuschnappen. »Damit Sie das Bett hier mit jemanden nach eigener Wahl oder auch gar nicht teilen können«, meinte er aufgeräumt. »Ein Sexualwunsch-Band? Ich habe noch nie eines gesehen.« »Ein Brauch hier«, erklärte Mario. »Wenn Sie das tragen, heißt das, Sie wünschen nicht, daß jemand mit sexuellen Wünschen an Sie herantritt. Ich trage auch eines. Ohne das wären Sie sehr in Anspruch genommen, und Sie müßten vielleicht Ihre Pflichten vernachlässigen. Sie werden feststellen, daß solche Armbänder auf Capri ziemlich selten sind, denn wozu fährt man sonst hierher?« »Tja -«, sagte Hake. »Ach, keine Sorge. Außer Dienst können Sie es abnehmen. Also, wollen Sie sich duschen und anziehen?« »Denke schon. Ach ja, hören Sie«, meinte Hake. »Ich habe meine Zeit nicht vergeudet. Ich konnte mir gestern nacht noch zwei Zeitungen beschaffen und habe alle Meldungen über Religion durchgearbeitet.« »Sehr lobenswert, Hake«, sagte Mario mit einem Blick auf seine Uhr. »Es war nicht ungeheuer viel, aber ein Glückszufall war dabei. Ich habe im, wie heißt das – ›Corriere Islamica di Napoli‹ einen Leitartikel über eine interessante Jugendsekte gefunden. Da gibt es einen Mann in Taormina -« »Ausgezeichnet, Hake, aber bitte, Ihre Dusche. Wir müssen uns beeilen. Sie werden natürlich Kaffee wollen? Dann können Sie mir davon erzählen. Aber das Taxi wartet, und meine Spesenabrechnung – nun, Sie wissen, wie das mit den Spesen ist.«
152 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Hake wußte es in Wirklichkeit nicht. Er hatte vom Team nie ein Spesenkonto eingeräumt bekommen. Aber wenn Mario andeuten wollte, daß man seine Spesenabrechnung überprüfen würde, dann fand Hake es sonderbar, daß sie mit dem Taxi bis nach Anacapri fuhren und in einem Straßencafé den Morgenkaffee tranken, obwohl sie an fünfundzwanzig ähnlichen Lokalen vorbeigekommen waren, und daß sie anschließend mit einem anderen Taxi den ganzen Weg zurückfuhren zu einem Restaurant, das eine Straße von Hakes Hotel entfernt war, um das Mittagessen einzunehmen, das Mario nach seiner Behauptung Punkt zwölf Uhr haben mußte. Hake hatte den Eindruck, daß Mario kein sehr tüchtiger Geheimagent war. Eher miserabel. Der Mario von München und dem Rest der Reise zur Grippeverbreitung war gedämpft und unterwürfig gewesen; der hier glich eher einem Sanitärvertreter auf Urlaub. Und als das Essen kam, stocherte Mario darin nur herum. Er interessierte sich offenkundig viel mehr für die fast nackten Tänzerinnen bei ihrem Auftritt, als für das Essen. Er teilte seine Zeit so ein, daß er sie anstarrte, wenn sie ihre Bauernröcke auszogen und darunter nicht viel trugen, und er abwechselnd Hake anstieß und aufgeregt in sein Gesicht blickte. Hake fühlte sich entschieden unbehaglich. Mario hatte sich ganz ähnlich verhalten auf der Terrasse in Anacapri, wo Barmädchen in Bikinis ihnen Cappuccino serviert hatten. Weder dort noch hier schien er sich sonderlich für die islamische Jugendsekte zu interessieren, über die Hake sich aus der Zeitung in arabischer Sprache und durch ein paar diskrete Fragen an den libanesischen Nachtportier im Hotel informiert hatte. Hake erschien das Ganze als schreckliche Zeitverschwendung, und es wurde auch nicht besser. Nach dem Essen, von dem Mario kaum etwas zu sich genommen hatte, sagte er: »Also, vielleicht ist es ganz gut, wenn Sie sich heute nachmittag ausruhen. Wir treffen uns zum Abendessen, dann machen wir unsere Pläne für morgen.«
153 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Was für Pläne? Hören Sie, Mario, ich bin in einem ganz bestimmten Auftrag hier, und Griesgram sagte, es sei überaus wichtig.« »Ah, Griesgram«, sagte Mario achselzuckend. Er zog eine Nagelschere aus der Tasche, verlangte die Rechnung und begann seine schon perfekten Fingernägel zu maniküren. »Was wissen die in der Zentrale von uns im Außendienst? Sie halten sich sehr gut, Hake. Es besteht kein Bedürfnis, das Amt durch Ihren Fleiß beeindrucken zu wollen. Bei unserer Arbeit kommt es stets darauf an, mit präzisem Wissen vorzugehen, nach einem Plan. Schnelligkeit? Ja, manchmal. Aber immer Vorsicht und Präzision.« »Aber -« »Psst!« Mario wies auf den Kellner, der erschien, um die Kreditkarte abzuholen. »Haben Sie die Güte, dieses Gespräch auf einen besser geeigneten Zeitpunkt zu verschieben«, sagte er kalt. Dann ließ er seine Serviette fallen – mit Absicht, wie es Hake erschien – und bückte sich, um sie aufzuheben. Unter dem Tisch war deutlich ein schwaches Zischen zu hören. Die Beleuchtung erlosch, und Mario setzte sich auf und rieb seine Finger. Hake riß die Augen auf. »Mario! Was, zum Teufel, haben Sie gemacht?« »Ich warne Sie noch einmal, Hake, nicht hier! Hat man Ihnen in Texas gar nichts beigebracht?« fauchte Mario wütend. Sie blieben zornig und stumm sitzen, bis der Kellner zurückkam und verlegen Rechnung und Kreditkarte wiederbrachte. Hake verstand zwar kein Wort, aber der Sinn war unverkennbar. Infolge dieser völlig unvorhersehbaren Störung könne der Computer die Kreditkarte nicht durchschleusen. Mario hob wohlwollend die Hand. »Capisco«, sagte er. »Va bene. Ecco – duecento, trecento, trecento cinquanta, e basta. Ciao.«
154 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Grazie, grazie«, sagte der Kellner und umklammerte dankbar das Bündel Lirescheine. Auf dem Rückweg zum Hotel, in der überfüllten Straße, sagte Mario: »Ja, natürlich war ich das. Warum, glauben Sie, habe ich diesen Tisch ausgesucht? Darunter befand sich eine Steckdose für den Staubsauger. Hat man Ihnen nicht beigebracht, daß es die Kleinigkeiten sind, die sich addieren?« »Und gestern nacht im Hotel, waren Sie das auch?« »Versteht sich, Hake. Sowohl der Strom wie die Überschwemmung. Ich habe das Schloß an der Zimmertür nicht einrasten lassen, und als ich mich von Ihnen verabschiedet hatte, drehte ich dort die Hähne auf, nur ein bißchen, im Abfluß einen Waschlappen. Hat man Ihnen dergleichen nicht beigebracht?« »Du guter Gott, nein.« Hake dachte kurz nach. Am Hoteleingang sagte er: »Wissen Sie, ich finde das alles ziemlich blöd. Sie ärgern die Leute nur. Sie richten nicht wirklichen Schaden an.« »Aha! Und das ist Ihrer Mühen nicht würdig, Sie Meisterspion aus Amerika? Wie schade! Aber genau das müssen wir tun, im kleinen wie im großen! Das brennende Streichholz im Briefkasten. Der abgenommene Telefonhörer. Die Notbremse in einer Tram zur Stoßzeit. Alles ganz winzig, aber zusammen ganz groß!« »Aber ich verstehe nicht -« »Aber, aber, aber«, sagte Mario. »Immer ein ›aber‹! Ich habe keine Zeit, Ihnen diese einfachen Dinge zu erklären, Hake. Ich habe viel zu tun. Gehen Sie hinein. Schwimmen Sie, lernen Sie ein paar Signorinas kennen – Sie können Ihr Armband abnehmen, dann werden Sie schon sehen. Und wir treffen uns heute abend zum Essen – und« – er zwinkerte – »vielleicht habe ich eine Überraschung für Sie. Gehen Sie jetzt, ich möchte in Ihrem Hotel nicht zu oft gesehen werden.«
155 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Aber als sie sich später wieder trafen, hatte Marios Stimmung erneut umgeschlagen. Er lenkte den Dreirad-Fiat-Idro wutentbrannt durch die engen Straßen von Capri. Nach zehn Minuten fragte Hake: »Wollen Sie mir vielleicht verraten, weshalb Sie so zornig sind?« »Zornig? Ich bin nicht zornig«, fauchte Mario über dem Lärm des Windes. Dann wurde er aber doch ruhiger. »Na ja, vielleicht. Ich habe eine traurige Nachricht erhalten. Dieter ist im Gefängnis.« »Das ist sehr bedauerlich«, sagte Hake, obwohl er innerlich nicht berührt war. »Weshalb denn?« »Wegen des üblichen, versteht sich. Weil er seine Pflicht getan hat.« Mario fuhr einige Minuten lang stumm dahin, dann hellte sich sein Gesicht erstaunlicherweise auf. Hake schaute sich mit großen Augen um, weil er wissen wollte, woran das lag. Sie fuhren durch einen Olivenhain, wo Trupps von äthiopischen Arbeitern Bäume fällten, sie stapelten und verbrannten. Der Rauch wehte unliebsam über die Straße. Es war ohnehin ein heißer Abend; die Dampfwolken aus dem Auspuff des Fiats lösten sich in der Luft fast sofort auf, und die Arbeiter waren schweißnaß. Aber Mario schien erfreut zu sein. »Wenigstens manche Dinge laufen gut«, meinte er dunkel. »Jetzt passen Sie auf, wir sind fast da.« Ihr Ziel erwies sich als Terrassen-Trattoria am Rand einer steilen Schlucht. Sie fuhren durch einen efeubewachsenen Torbogen. Das Lokal hieß ›La Morte del Pescatore‹. Mario warf einem Parkwächter die Schlüssel des Fiat zu und ging voran zwischen Tischen und Kellnern zu einer Mauernische über der Klippe. Und dort saß Yosper und strahlte sie an. »Hallo, Hake!« sagte er und stand von seinem Essen auf, mit dem er nicht gewartet hatte. »So sehen wir uns also wieder. Sind Sie überrascht?«
156 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Hake setzte sich und faltete die Serviette auf dem Schoß auseinander, bevor er antwortete. Er hatte Yosper das letzte Mal zusammen mit Mario und Dieter in München gesehen, als sie begleitet wurden von den beiden anderen jungen Kerlen, und keiner hatte durch ein Wort oder einen Wink auf seine Annäherungsversuche im Hinblick auf das Team reagiert. »Eigentlich nicht«, sagte er schließlich. »Natürlich nicht«, bestätigte Yosper herzlich. »Ich wußte, es war Ihnen klar, daß wir zu dem Verein in Deutschland gehörten.« »Warum haben Sie dann nichts gesagt?« »Ach, kommen Sie, Hake! Hat man Ihnen in Texas nichts beigebracht? Alle Informationen erhält nur einer, der sie jeweils braucht, das ist ein Grundsatz. Sie brauchten das nicht zu wissen; Sie kamen gut ohne aus. Und Freigabe ist immer untunlich, wenn dadurch ein Einsatz gefährdet werden könnte. Das wäre der Fall gewesen; wer hätte voraussagen können, was Sie sich in den Kopf gesetzt hätten? Alles, was Sie taten, hatte eben den Sinn, daß Sie ein schlichter Gottesmann waren, der in Europa das Werk des Herrn verrichtete. Was hätten Sie für eine bessere Tarnung haben können, als selbst daran zu glauben?« Er hob die Hand, um Hake zuvorzukommen. »Und dann war das ja auch Ihr erster Übungseinsatz«, sagte er. »Den ersten machen wir alle blind. Auch das ist ein Grundsatz. Sie können keine Sonderbehandlung verlangen, was, Horny?« »Kann Dieter sie verlangen?« warf Mario dumpf ein. »Ach, Mario, bitte. Sie wissen, daß man sich um Dieter kümmern wird. Ein paar Tage, höchstens ein, zwei Wochen – und wir holen ihn heraus. Tun wir das nicht immer?« »Wir kommen auch nicht immer in ein neapolitanisches Gefängnis«, erwiderte Mario mürrisch. »Genug jetzt.« Es blieb kurze Zeit still, dann fuhr Yosper fröhlich fort: »Also, da ich schon so weit voraus bin, warum
157 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
bestellt ihr nicht alle beide? Es gibt hier wunderbare Meeresfrüchte. Allerdings natürlich nicht von hier.« Nach einer kurzen Pause begann Mario methodisch, die teuersten Sachen auf der Karte zu bestellen. Er erwiderte Yospers Blick nicht, aber der alte Mann wirkte lediglich belustigt. Hake entschied sich für ›Fritto miste‹ und Salat, weil er bei dieser Hitze seinen Magen nicht belasten wollte. Als der Kellner gegangen war, sagte er: »Kann man hier sprechen?« »Das haben wir schon getan, nicht? Keine Sorge. Mario wird es uns sagen, wenn jemand mit einem Mikro auf uns zielt.« »Dann lassen Sie sich sagen, was ich für unser Projekt getan habe. Ich habe Mario erzählt, daß ich gestern nacht ein paar interessante Hinweise in den Zeitungen gefunden habe. Heute nachmittag war ich in der Amerika-Bibliothek und recherchierte ein bißchen. Es gibt nützliches Material. Das Interessanteste ist eine neue islamische Sekte, die eine Rückkehr zur Reinheit predigt, kein Verkehr mit Ungläubigen, ein Mann darf vier Ehefrauen haben, Scheidung auf der Stelle – für Männer, versteht sich – und alles übrige. Wie Machmud selbst. Das ist nicht hier auf Capri, sondern vor allem in Taormina, aber es gibt auch ein Zentrum in einer Stadt namens Benevento. Nach der Landkarte ist das oben in den Bergen, nicht weit von Neapel.« Yosper nickte verständnisvoll und wischte seine Salsa verde mit einem Stück Brot auf. »Ja, das klingt vielversprechend«, gab er zu. »Es hört sich genau nach dem an, was ich eigentlich suchen soll«, verbesserte Hake. »Oder beinahe. Ich bin nicht sicher, ob Griesgram wollte, daß ich mich mit dem Islam einlasse. Ich hatte den Eindruck, daß er eher an eine fundamentalistische Christensekte dachte – was ist denn?« Yosper hatte das Brot weggelegt und starrte ihn finster an. »Ich will keine Blasphemie hören«, zischte er.
158 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Wieso Blasphemie? Das ist mein Auftrag, Yosper. Er sieht vor -« »Ihr Auftrag interessiert mich einen Dreck, Hake! Sie werden nicht das Wort Gottes lästern. Bleiben Sie bei Ihren Mohammedanern, wen kümmern die falschen Idole von denen? Wagen Sie sich aber nicht an den Erlöser!« »Augenblick mal, Yosper. Was glauben Sie eigentlich, daß ich hier mache?« »Sie halten sich an Befehle!« »An wessen Befehle?« gab Hake hitzig zurück. »An Ihre? An die von Griesgram? Oder soll ich mir kindischen Schabernack wie Mario einfallen lassen, Sicherungen demolieren und Briefkästen anzünden?« »Sie haben auszuführen, was Ihnen der leitende Beamte aufträgt, und das bin in diesem Fall ich.« »Aber dieser Auftrag -« Hake verstummte, als der Kellner kam, der einen kleinen Wagen mit einer Spirituslampe unter einer großen Chromschüssel heranrollte. Bis der Kellner Marios ›Fettucine Alfredo‹ zubereitet hatte, war Hake wieder zur Besinnung gekommen. »Also gut«, sagte er. »Wie wär’s damit? Was ist, wenn ich einen christlichen Wiedererweckungsprediger finde, der für Abstinenz eintritt, um den Bevölkerungszuwachs zu stoppen? Ich weiß, das würde langsam gehen, aber -« Mario gluckste. »In Italien?« »Ja, in Italien. Oder sonstwo. Vielleicht nicht Abstinenz, sondern Geburtenkontrolle oder sogar Homosexualität -« Mario lachte nicht mehr. »Das ist nicht komisch.« »Das soll es auch nicht sein.«
159 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Dann ist es komisch«, gab Mario zurück. »Sogar grotesk. Nicht die Homosexualität, sondern Ihre bigotte, veraltete Einstellung zur Liebe unter Männern.« Er hatte zu essen aufgehört. Sein Gesicht verriet Feindseligkeit und Wut. Yosper ging dazwischen. »Ihr zwei hört auf, euch zu streiten!« befahl er. »Eßt gefälligst!« Und nach einer kurzen Pause begann er mit Mario eine Unterhaltung auf italienisch. Hake aß stumm und sah beide Tischgenossen nicht an. Es schien ihnen nichts auszumachen. Ihr Gespräch schien sich um das Essen zu drehen, den Wein, die Modelle, die im Restaurant herumgingen und Pelze, Schmuck und Badeanzüge vorführten – über alles mögliche, das Hake nicht einschloß. Es war ganz ähnlich wie in Deutschland, und Hake bekam ein schlechtes Gefühl. Was ging hier vor? Wieder einmal ergaben die Dinge keinen Sinn. Der Auftrag, der in Texas größten Vorrang gehabt hatte, schien auf Capri überhaupt nichts zu bedeuten. Was schleppte er diesmal mit? Was hatte er überhaupt in Italien zu suchen? Er paßte nicht in dieses teure Restaurant, das gefüllt war mit den müßigen Reichen oder den reichen Bestochenen: Ex-Ölscheichs im Burnus, schwarze amerikanische Drogenkönige, Slumbesitzer aus Kalkutta und osteuropäische Filmstars. Hake hatte nicht geahnt, daß es so viel Geld auf der Welt gab. Marios Fettucine kosteten soviel wie ein Wocheneinkauf im A & P-Supermarkt in Long Branch, und die Flasche Chateau Laffite, die er dazu trank, hätte eine beträchtliche Anzahlung auf einen Neuanstrich des Kirchenvorbaus ergeben. Hake war abgestumpft gegenüber der Energieferkelei, wenn er an das viele Kerosin dachte, das er für das Team hatte verbrennen lassen, aber das hier! Das beleuchtete Schild vor dem Restaurant allein hätte sein Heizgerät wochenlang laufen lassen. Und es war nicht einmal geschmackvoll. Die Flüssigkeitskristalle zeigten einen Römer in Bauernkleidung, der einem großen Fisch auszuweichen versuchte: Der
160 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Fisch zuckte nach dem Gesicht des Mannes, der Kopf des Mannes schnellte davon, und so ging das immer hin und her. Yosper beugte sich vor und sagte: »Schlechte Laune?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Hinter dem Schild verbirgt sich eine Geschichte, wissen Sie.« »Das dachte ich mir«, sagte Hake. »Ach, hören Sie doch auf, ja? Wir müssen zusammenarbeiten. Machen wir es uns leicht.« Hake zog die Schultern in die Höhe. »Was für eine Geschichte?« »Hm. Tja, einer der römischen Kaiser lebte hier in der Gegend und ging an diesen Klippen spazieren. Eines Tages stieg ein Fischer vom Strand herauf, um seinem Kaiser den Fisch zu schenken, den er eben gefangen hatte. Es war kein sonderlicher Erfolg. Der Kaiser war sauer, weil er erschreckt worden war, und befahl seinem Leibwächter, das Gesicht des Mannes mit dem Fisch einzureiben.« »Scheint ein übler Kerl gewesen zu sein«, meinte Hake. »Das ist noch bescheiden ausgedrückt. Es war Tiberius. Er ist derjenige, der unseren Herrn ans Kreuz schlagen ließ oder jedenfalls Pontius Pilatus eingesetzt hat, der dafür sorgte. Es kommt noch mehr. Der Fischer war nicht sehr besonnen, und als der Leibwächter ihn aufstehen ließ, mußte er noch einmal den Mund aufmachen. Er sagte: ›Na, ich bin froh, daß ich Euch den Fisch und nicht das andere schenken wollte, das ich gefangen habe.‹ ›Zeig her, was er noch gefangen hat‹, sagte Tiberius; der Leibwächter machte den Sack auf, und es war ein Riesenkrebs. Tiberius ließ dem Mann noch eine Massage damit verabreichen, und der Fischer starb daran.« »Hübsche Gegend«, sagte Hake. »Hat ihre Vorteile«, meinte Yosper und betrachtete zwei Modelle, die Unterwäsche vorführten. »Ich hoffe, Sie haben
161 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
darauf geachtet. Also? Wie wär’s mit einer Nachspeise? Hier gibt es großartige Crepes suzette.« »Warum nicht?« sagte Hake. Aber das war nicht die eigentliche Frage; die lautete vielmehr: Warum ? Und wie? Was hatte dieses alberne Theater für einen Sinn, und woher kam das Geld? Besonders wenn er an Marios Bemerkungen zu seiner Spesenabrechnung dachte – was konnte die hohe Rechnung rechtfertigen, die sie hier auflaufen ließen? Und immer weiter erhöhten – bis die Nacht zu Ende ging, hatte es den Anschein. Weder Yosper noch Mario schienen gehen zu wollen. Als sie die Crepes gegessen hatten, schlug Mario Kognak für alle vor; nach dem Kognak bestand Yosper auf Zitroneneis, ›damit der Gaumen frei wird‹. Und dann machten sie sich ans Trinken. Gegen Mitternacht traten die Kellner ab und wurden ersetzt durch Barmädchen, bei jeder Runde eine andere, allesamt hübsch, und es hatte eine Art Vorstellung gegeben. Die Komiker waren in erster Linie Zeitverschwendung gewesen, weil sie in einem Dutzend Sprachen parlieren mußten, aber die StripteaseTänzerinnen waren schöne Frauen, eine ganze UNOVollversammlung in allen Farben und Rassentypen, ebenso die Modelle, Hostessen und Callgirls, die ständig herumgingen. Hake entschied unter Vorbehalt, daß seine Vermutung über Marios Neigungen falsch gewesen war, wenn er danach ging, wie Marios Aufmerksamkeit mit jedem neuen Mädchen wieder aufflammte. Hake begann aber das Interesse zu verlieren. Er hatte es nicht nur satt, in diesem Lokal zu sitzen, er hatte auch genug von Mario selbst. Der junge Mann fühlte sich verpflichtet, auf jede Berühmtheit oder berüchtigte Person, die er erkannte, hinzuweisen: »Das ist das Mädchen, das voriges Jahr in Stratford die Julia gespielt hat.« »Da ist Muqtab al Horash; seinem Vater gehörten dreißig Öllizenzen. Er kommt her, um frisch von den Modellen Sachen für seinen Harem zu kaufen. Ab und zu erwirbt er auch ein Modell.«
162 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Da ist der Präsident der französischen Deputiertenkammer -« Hake hatte das Gefühl, dazu verurteilt zu sein, sein Leben in diesem farbenprächtigen, lärmenden Raum zu verbringen, den er satt hatte, mit Mario, den er satt hatte, und vor allem mit Yosper, der ihm völlig zuwider war. Der Mann hörte einfach nicht auf, zu reden. Und er war auch nicht der übliche Langweiler, der weiterschwätzt, egal, ob Gesichter ausdruckslos bleiben oder Augen hierhin und dorthin zucken, um nach einem Fluchtweg zu suchen; Yosper verlangte volle Aufmerksamkeit und erzwang sie. »Was ist los, Hake? Schlafen Sie ein? Ich sagte schon, das ist Italien. Das Motto des Landes lautet: Niente épossibile, mapossiamo tutto. Alles ist ungesetzlich, aber wenn du das Geld hast, kannst du tun, was du willst. Schöner Dienst, was, Mario? Und wir haben weiß Gott ein Recht -« Aber worauf? Auf diese endlose Qual, sich in einem zottigen Veloursessel zu winden, während wunderschöne Frauen immer wieder Getränke brachten, die er gar nicht wollte? Hake hatte das München-Gefühl, die Überzeugung, daß nach einem Drehbuch gespielt wurde, an dem er nicht mitgeschrieben hatte und in dem er seinen Text nicht kannte. In Deutschland war das Gefühl ungewiß und nur gelegentlich aufgetreten – bis diese Frau, wie hieß sie, Leota, aufgetaucht war und alles hatte konkret werden lassen. Hier war Wirklichkeit genug, aber er wußte nicht, was vorging. Yosper war wieder bei Kaiser Tiberius und wurde streitsüchtig. Es lag nicht am Alkohol. Er hatte zu jedem Kognak drei kleine Flaschen Perrier getrunken, hatte Hake beobachtet, aber er begann sich bei seinem Thema zu erhitzen. Oder bei den Themen. Bei allen. »Wenn man es genau nimmt«, sagte er scharf, »hatte der alte Tiberius recht, was den Fischer anging. Das Arschloch hatte keine Veranlassung, in ein gesperrtes Gebiet einzudringen, oder? Ohne Disziplin kann man keine Macht ausüben. Ohne ein bißchen, man könnte sagen, Grausamkeit kann man keine Disziplin durchsetzen. Sehen Sie sich die Geschichte an. Vor
163 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
allem hier, wo sich alles abgespielt hat. Als die Christen und die Türken um diesen Teil der Welt Seeschlachten ausfochten, gaben sie sich nicht mit Barmherzigkeit ab. Fiel ein Christ den Türken in die Hände, dann steckten sie ihn mit dem Arsch auf einen spitzen Pfahl am Ruder, damit der Steuermann Gesellschaft hatte. Umgekehrt machten die Christen es mit den Türken genauso. Und wissen Sie, diese armen, gepfählten Kerle lachten und spaßten mit den Steuerleuten, während sie starben. Das nenne ich großen Kampfgeist.« Mario stand schwankend auf. »Entschuldigen Sie mich«, sagte er und ging zur Toilette. Yoster lachte. »Braver Junge«, sagte er, »aber ab und zu hat er ein bißchen Schwierigkeiten mit der Realität. Ein Symptom der Zeiten. Wir kriegen alle beigebracht, daß es unrecht ist, irgend jemandem weh zu tun. Und daran hapert es heute, wenn Sie mich fragen.« »Woran es heute nacht hapert, ist, daß mich das hier ankotzt«, sagte Hake verwegen. »Können wir nicht gehen?« Yosper nickte zustimmend und bestellte noch eine Runde. »Sie sind ungeduldig«, sagte er. »Das ist soviel wie eifrig, und das ist eine gute Sache. Aber Sie müssen lernen, Hake, daß es manchmal das beste ist, einfach dazusitzen und zu warten. Es gibt immer einen Grund, wissen Sie. Vielleicht kennen wir ihn nicht, aber er ist da.« »Sprechen Sie von Gott oder von Griesgram?« »Von beiden, Hake. Mehr noch. Ich rede von der Pflicht. Meine Familie ist pflichtorientiert. Darauf bilde ich mir am meisten ein. Wir haben unsere Rechnungen bezahlt. Mein Papa ist in Verdun ins Gas geraten, wußten Sie das? Das hat ihn ausgebrannt. Danach brauchte er zwölf Jahre, bis er Mama ein Kind verpassen konnte und ich zur Welt kam. Aber er schaffte es. Ich bin auf Papa sehr stolz. Nein, hören Sie mir zu, Hake, was ich sage, ist wichtig. Es ist die Pflicht. Das bedeutet, man muß seine
164 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Schulden bezahlen, wenn sie fällig sind. Vielleicht ein römisches Kurzschwert im Bauch oder ein englischer Armbrustpfeil bei Crécy. Geschmolzenes Blei. Fallgruben mit spitzen Bambusstangen. Flammenwerfer. Sie würden staunen, wieviel Fett aus einem Menschenkörper rauskommt. Na, als man nach dem Feuersturm die Luftschutzkeller in Dresden aufmachte, lag eine zweieinhalb Zentimeter hohe Talgschicht auf dem Boden, überall.« »Oder vielleicht auch in einer Kneipe auf der Insel Capri sitzen und jemandem zuhören, der erreichen will, daß sich einem der Magen umdreht«, fauchte Hake. Yosper grinste anerkennend. »Richtig verstanden, Hake. Das ist Pflicht. Tun, was einem gesagt wird.« Er blieb stumm, während die Cocktailkellnerin ihre neuen Getränke brachte. Hinter ihr erschien eine andere Frau, schlank und gebräunt, die allerlei Stimmungsschmuck und sonst nicht viel trug. »Sprechen Sie Englisch?« fragte sie. Als Yosper nickte, gab sie jedem eine Karte und führte dann anmutig ihre Waren vor. Sie war interessanter als die Dinge, die sie zu verkaufen hatte; sie stammten aus einem beliebigen Sex-Shop in Amerika. Ehering, Scheidungsring, Ring für offene Ehe; eine ›Versuch es‹Stimmungsnadel in Form eines Häschenkopfes, die Augen geweitet, wenn der Träger zur Verfügung stand, zusammengekniffen, wenn nicht; Vasektomie-Nadel, Laparoskopie-Halsband, Befruchtungszeit-Anhänger; Schwulen-Schulterknoten und SMLederarmbänder. Es gab nur wenige sexuelle Interessen, für die man sich aus dieser Auswahl nicht ausrüsten konnte. Sie zeigte alles, bevor sie mit einem Lächeln und dem Hauch eines vertrauten Parfüms ging. »›Spalduccis Bottega‹«, las Yosper von der Karte ab. »Werk des Teufels, die Läden, aber ich muß zugeben, daß das Mädchen selbst von einem besseren Schöpfer zu sein scheint. Oh, ich bin kein bigotter Kerl, Hake. Ich kann Verlockung zu den Sünden des
165 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Fleisches verstehen. Stand Unser Herr nicht selbst auf dem Berg, während der Teufel ihm alle Schätze der Erde anbot? Und Er geriet in Versuchung. Und -« Er verstummte, richtete sich kerzengerade auf und starrte über die Tische hinweg. Mario eilte auf sie zu, schloß Knöpfe und Reißverschlüsse, mit erregtem Gesicht. Sofort, als er in Hörweite kam, rief er etwas auf italienisch und tippte auf sein Silberarmband; Yosper stellte in derselben Sprache eine scharfe Frage, und die beiden hetzten zum Ausgang. Hake saß da und schaute ihnen nach. Als sie verschwunden waren, drehte er seine Karte um. Auf die Rückseite war mit Bleistift geschrieben: ›Treffen wir uns Blaue Grotte Morgen 08.00 Uhr.‹ Es war nicht mehr, als zu erwarten gewesen war, nachdem er gesehen hatte, daß das Modell das Mädchen aus München und Maryland gewesen war, Leota Pauket. Es wurde drei Uhr, bis er in sein Hotel zurückkam. Yosper und Mario, die mit grimmigen Gesichtern stumm neben ihm saßen, weigerten sich, Fragen zu beantworten, und befahlen ihm kurz, in seinem Hotel zu bleiben, bis man ihn rufe. Er brauche keine Antworten, jedenfalls nicht von ihnen. Und er blieb nicht im Hotel. Er stellte den Wecker und war um sechs Uhr auf dem Weg zum Hafen. Die einzigen Worte, über die Hake verfügte, um seine Absichten klarzumachen, waren ›Blaue Grotte‹ und ›quanto costa‹. Sie würden genügen müssen. Es fiel nicht schwer, den richtigen Kai zu finden. Alle Kais waren richtig. Wo er auch hinblickte, gab es Schilder in allen Sprachen, die Touristen zur Blauen Grotte drängten. Die Probleme waren das Wetter, naß und grau, und die Tageszeit, viel zu früh für den normalen Bootsführer auf
166 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Capri, um schon auf einen Kunden zu warten. Die großen Küstenboote waren noch mit Persennings zugedeckt und verlassen. Weiter draußen am Steg gab es eine große Anzahl kleinerer Boote, angetrieben durch die gespeicherte kinetische Energie von Schwungrädern; an einigen arbeiteten Leute, aber keines schien schon fahrbereit zu sein. Wenn der Signore nur eine Stunde warten wollte, vielleicht zwei… Wenn der Signore seine Wünsche nur zurückstellen wollte, bis die Ausflugsbusse kämen… Aber Hake wagte nicht zu warten. Wenn Leota ihn allein sprechen wollte, würde sie fort sein, bis das Gedränge begann. Es erforderte Zeit und Geduld. Aber Sergio empfahl Emmanuele, der es für möglich hielt, daß Francesco behilflich sein könnte, der Hake zu Luigi steuerte, und am Ende der Liste hatte Ugo eben sein Schwungrad ausgekuppelt. Sie fuhren los. Das rautenförmige Boot surrte an der Küste entlang. Die Brandung schäumte wenige hundert Meter links von ihnen an die Felsen. Das flache Schwungrad mittschiffs war nicht allein die Energiequelle für die Schraube. Es diente auch als eine Art Stabilisationskreisel und glich einen Teil der Stampf- und Schlingerbewegungen aus. Das war nicht unbedingt ideal, wie Hake so fort erkannte, als die ersten Spritzer über das Süll kamen. Bis sie zu den steilen Felsen um die Grotte hineinsteuerten, war er durchtränkt von Salzwasser und einer ziemlich großen Menge schwimmenden Öls. Ugo erklärte mit Zeichen und Gesten, daß sie, da die einzige Zufahrt vom Meer hineinführte, das Motorboot an einer Boje verankern und in das Schlauchboot übersetzen würden, das sie mitgeschleppt hatten. »Nein, Ugo, nicht so schnell«, sagte Hake und begann seinerseits zu gestikulieren. Als der Bootsmann begriff, was Hake wollte, erfaßte ihn die Wut des Neapolitaners. Hake brauchte kein Wort Italienisch zu verstehen, um sowohl die Prämissen als auch die Konklusion seines Syllogismus genau zu verstehen. Hauptprämisse: den Wellengang und die Strömungen am Höhleneingang genau zu
167 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
berechnen und einzuschätzen, erforderte alles an Können und Geschicklichkeit eines meisterhaften Bootsführers wie ihm. Nebenprämisse: Der Turista besaß eindeutig nicht einmal die Fähigkeit, Seife aus einer Badewanne zu navigieren. Konklusion: Das Beste, was bei diesem irrsinnigen Vorschlag herauskommen könne, sei, daß er Honorar, Trinkgeld und ein außerordentlich wertvolles Schlauchboot verlieren werde. Das Schlimmste sei, daß man ihn wegen vorbedachten Mordes verurteilen werde. Und das Ganze käme überhaupt nicht in Frage. Aber das Geld entschied. Hake überreichte genug Lire, um zu vereinbaren, daß der Bootsführer ihn in einer Stunde zurückerwarten würde, und stieg in das Schlauchboot. Das Schlauchboot hatte keinen Tiefgang und war daher schwer zu steuern. Hake besaß keine Geschicklichkeit, so daß die Einfahrt in die Höhle zu einer Sache brutaler Gewalt und Beharrlichkeit wurde. Auf einem winzigen Felssims in Höhlennähe sonnten zwei schlanke junge Männer ihre schon dunkelgebräunten Körper, und Hakes Plackerei fand unter ihren amüsierten und interessierten Blicken statt. Unmittelbar unter ihnen tanzte ein starkes, kleines Wasserstoff-Außenborderboot vor Anker. Hake wünschte sich, das Boot ausborgen zu können, sah aber keine Möglichkeit dazu. Außerdem war er schon festgelegt. Die Felskanten des niedrigen Höhleneingangs sahen sehr scharf aus. Hake vermied ein Leck und verlor beinahe ein Paddel. Er holte das Paddel zurück, beurteilte eine Welle falsch und hieb die Schläfe gegen die niedrige Höhlendecke. Aber dann war er hindurchgelangt… und schwebte im leeren Raum. Von außen hatte die Grotte weder blau noch einladend ausgesehen, aber das Innere war überwältigend. Die Sonne, die durch den winzigen Eingang hereindrang, tat das unter Wasser. Bis sie das Höhleninnere erleuchtete, waren alle warmen Wellenlängen unter Wasser festgehalten worden, und was in der Grotte leuchtete, war reines Himmelsblau. Mehr. Das Licht blieb ganz unter der Oberfläche. Öllachen bezeichneten die Grenzfläche zwischen Luft und Wasser, aber wo kein Öl war, schien sich unter Hakes Boot nichts zu befinden: Er schwebte im blauen
168 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Raum, auf den Kopf gestellt, ohne Orientierung – und verzaubert. Außerdem war er allein. Das war an sich keine Überraschung, für die Touristenboote war es noch viel zu früh. Aber es war schon nach acht Uhr. Das Boot zu finden und mit dem Eigentümer zu streiten, hatte länger als wünschenswert gedauert, und wo blieb Leota? Eine Schnur von Luftbläschen, die von der Höhlenöffnung hereinkam, gab ihm Antwort. Darunter bewegte sich etwas Blasses, Waberndes, das ein großer Fisch sein mochte, dann einer Seejungfrau ähnelte und schließlich Leota wurde, Sauerstoffzylinder auf den Rücken geschnallt, Atemmaske vor dem Gesicht. Sie glitt durch das erhellte Wasser herauf und tauchte wenige Meter von ihm entfernt auf. Sie nahm die Tauchermaske ab und blieb kurze Zeit, wo sie war, während sie ihn betrachtete, dann schwamm sie heran und hielt sich am Schlauchboot fest. »Hallo, Hake«, keuchte sie; ihre Stimme klang winzig in dem riesigen, nassen Raum. Hake blickte beinahe verlegen auf sie hinunter. Abgesehen von den Gurten für die Atemtanks trug die Frau sehr wenig – la minia, hieß das – ein grellbuntes, dreieckiges Stück Stoff unter ihrem Nabel, von dünnen Schnüren festgehalten, und darüber nichts. »So, kommen Sie doch rein, Herrgott noch mal«, sagte er. »Sie werden ganz naß und ölig.« »Steigen Sie rein, los!« Er beugte sich nach Steuerbord, während sie an Backbord einstieg, und sie schafften es, ohne umzukippen. Sie sahen einander kurze Zeit stumm an, bevor er mit scharfer Stimme fragte: »Was machen Sie in Italien?« Sie warf ihr Haar zurück und wischte sich Öl aus dem Gesicht. »Auf jeden Fall Besseres als Sie. Ich hätte nie gedacht, daß Sie Drogen unter die Leute bringen.«
169 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Drogen?« Aber während er es sagte, wußte er schon, daß er an ihren Worten nicht zweifelte. »Richtig, Hake. Das treibt Ihr Verein. Ich bin bereit, zu glauben, daß Sie es nicht gewußt haben, weil ich Ihnen das nun gar nicht zutraue«, räumte sie ein. »Aber es ist so.« Sie drehte kurz den Kopf und warf einen Blick auf den leeren Höhleneingang. »Ich habe zehn Minuten Zeit, nicht mehr«, fügte sie hinzu. »Sie bleiben noch eine Weile hier, und ich verschwinde wieder. Versuchen Sie nicht, mir zu folgen, Hake. Ich habe Freunde -« »Ach, Herrgott noch mal. Hören Sie, alles der Reihe nach. Sind Sie sicher mit den Drogen?« »Verdammt sicher«, erwiderte sie. »Die italienische Polizei hat gestern einen Ihrer Jungs kassiert. Man hielt ihn in der Galleria in Neapel an, mit einer ganzen Tasche voll fotokopierten Anleitungen für die Herstellung von Engelsstaub.« »Ich habe noch nie etwas von Engelsstaub gehört.« »Was man päi-tschäi-päi nennt. PCP. Eine alte Droge, kommt ungefähr alle zwanzig Jahre wieder – wenn eine neue Generation heranwächst, die nicht weiß, was das einem antun kann. Ein, zwei Spritzen können einen geistig für immer kippen. Die Sache ist die, man kann den Stoff kinderleicht herstellen. Jeder Oberschüler kann ihn in Mamas Küche erzeugen, wenn er die Anleitung dazu hat. Euer Mann verkaufte das Rezept an sämtliche Ragazzi in Neapel – bis einer ihn bei den Bullen verpfiff.« Sie trieben an die Wand der Höhle. Hake paddelte sie ungeschickt ein paar Meter weg, während Leota belustigt zusah. Er sagte störrisch: »Ich möchte Sie keine Lügnerin nennen, aber ich dachte nicht, daß die, äh, die Gruppe, mit der ich zu tun habe, so etwas tun würde. Woher wissen Sie, daß diese Person für uns gearbeitet hat?« »Ach, das weiß ich. Wer, glauben Sie, hat die italienischen Rauschgiftfahnder veranlaßt, den Jungen in der Galleria zu postieren? Wollen Sie Einzelheiten wissen?« Sie lehnte sich an
170 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
ihre Sauerstoffzylinder und berichtete: »Dietrich Nederkoorn, stammt aus einem kleinen Fischerdorf in Holland, desertierte vor drei Jahren aus der holländischen Armee, arbeitete seither bei lauter krummen Dingen für Ihre Leute. Ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Schwul. Beatle-Frisur. Blaue Augen, schwarze Haare, Sommersprossen, mittelgroß.« »Ja«, sagte Hake gedehnt. »Ich habe ihn in Deutschland gesehen. Aber weshalb sollten wir so etwas tun?« »Was ich Sie die ganze Zeit frage, Hake. Ich meine nicht, warum sie das tun, sondern Sie. Für die Saukerle, denen Sie zuarbeiten, ist das natürlich maßgeschneidert. Sehr kosteneffektiv. Wie der Biß in den Apfel vom Baum der Erkenntnis. Wenn man das einmal ausgelöst hat, läuft es von selbst. Inzwischen muß es eine Million von den Flugblättern in Italien geben. Wenn Nederkoorn nicht ein solches Arschloch wäre, säße er jetzt auch nicht im Knast. Die Sache lief schon. Die italienischen Rauschgiftfahnder haben nicht die geringste Chance, alle die Flugblätter und alle Abzüge, die davon gemacht werden, in die Hände zu bekommen. Damit ist eine ganze Generation italienischer Jugendlicher beim Teufel. Tausende, vielleicht Millionen, werden im Drogenrausch zur Arbeit erscheinen, angetörnt von etwas, das sie vor zwei Wochen genommen haben – wenn sie überhaupt kommen. Das ist ein großer Erfolg, Hake. Der Staat startet eine Großkampagne dagegen, Programme für Schulversammlungen, Fernsehspots, Rock-Stars, die durch das ganze Land ziehen und sich dagegen aussprechen – was alles nichts nützen wird«, sagte sie bitter. »Was für ein menschliches Wesen tut so etwas?« »Wenn ich Ihnen das nur sagen könnte«, meinte Hake unglücklich. Nun, einen Teil hätte er ihr sagen können. Die Besessenheit, die Mario und die anderen dazu trieb, ihre kleinen Schikanen mit Stromstörungen und Mini-Überschwemmungen auszuüben, genügte, um zu erklären, weshalb Dieter nicht hatte aufhören können. Aber – »Aber ich weiß nicht, was ich dabei mache«, sagte er. »Alles, was ich getan habe, ist, herumzusitzen.«
171 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Sie starrte ihn an. »Sie wußten nichts davon. O Gott, Hake, der Grund, weshalb man Sie hier herübergebracht hat, war der, mich zu schnappen.« »Ich habe nie ein Wort gesagt.« »Nein, Hake«, meinte sie ohne Zorn. »Ich bin überzeugt davon. Sonst wäre ich nicht hier. Sie sind dumm, ja, aber nicht hinterlistig. Sie brauchen es nicht zu sein. Ihr Stimmgabelchen hat das schon erledigt.« »Was, zum Teufel, ist ein Stimmgabelchen?« »Sie tragen es, Hake.« Sie zeigte auf sein silbernes Armband. »Funktioniert wie eine Art Polygraph. Mißt Ihren Puls und den Blutdruck. Sie brauchen nur zu warten, bis Sie bei dem Ding Boing gemacht haben, und dann zu sehen, wer das hervorgerufen hatte. Also ich. Ich wußte, daß sie ganz nah waren. Sie konnten sich ausrechnen, daß ich in einem von drei oder vier Lokalen auf Capri arbeiten mußte, und man brauchte Sie nur der Reihe nach hineinzusetzen, bis ich auftauchte. Oh, Hake«, sagte sie und lächelte sogar, »sehen Sie doch nicht so schuldbewußt drein. Sie hätten mich früher oder später ja doch erwischt.« Hake starrte auf den Judas an seinem Arm, der im diffusen Licht eisig blau schimmerte. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ja. Hm. Hören Sie, viel können sie mir nicht antun. Ich bin auf italienischem Gebiet. Ich habe hier nichts gegen das Gesetz getan, oder jedenfalls nicht viel. Außerdem habe ich den Italienern geholfen, Nederkoorn zu finden.« »Ich glaube, ich habe nicht so sehr schuldbewußt als einfach dumm dreingesehen«, sagte Hake. »Was werden Sie jetzt tun?« Ihre Miene wurde undurchdringlich. »Soviel vertraue ich Ihnen nun doch nicht, Hake.« Dann fügte sie hinzu: »Es gibt eigentlich nicht allzuviel, was ich tun kann.
172 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Ich bin enttarnt, hier und jetzt. Ich ziehe weiter. Es gibt andere, die bleiben und weitermachen -« Sie zögerte, schaute auf die Uhr und sagte rascher: »Und deshalb wollte ich Sie sprechen. Schließen Sie sich an?« »Wo soll ich mich anschließen?« »Auf der Seite der Guten. Was, zum Teufel, glauben Sie denn? Sie können viel Gemeines gutmachen, wenn Sie den Nerv haben, sich jetzt aufzulehnen.« Hake schlug mit der flachen Hand auf das Wasser, daß das Mädchen bespritzt wurde und erschrak. Er sagte wutentbrannt: »Himmel Herrgott noch einmal, Leota! Woher weiß ich, daß Ihre unsinnigen Spiele besser sind als die der anderen? Das Ganze ist doch einfach abscheulich.« »Dann sorgen Sie dafür, daß es nicht noch schlimmer kommt. Los, Hake! Ich erwarte nicht, daß Sie mir jetzt in die Arme fallen. Ich möchte nur, daß Sie darüber nachdenken. Ich muß fort, aber ich lasse Ihnen Zeit. Die ganze Nacht. Ich rufe Sie morgen früh in Ihrem Hotel an. Sehr früh. Ich bin sicher, daß Ihre Gespräche abgehört werden, also sage ich nichts. Sie reden. Sagen Sie hallo. Sagen Sie es einmal, wenn es ›Ja‹ heißen soll, zweimal, wenn ›Nein‹ – dreimal, wenn Sie ›Vielleicht‹ meinen. Das ist ungefähr das, was ich von Ihnen erwarte«, fügte sie gereizt hinzu. »Dann setze ich mich in Verbindung. Überlassen Sie die Methode mir. Und noch etwas, Hake: Versuchen Sie nicht, eine Falle zu stellen oder so. Ich bin nicht allein, und die anderen Leute auf meiner Seite packen schärfer zu als ich.« Sie griff nach ihrer Maske, zögerte aber noch. »Außer Sie wollen jetzt gleich ja sagen?« fragte sie. Er antwortete nicht, weil vom Höhleneingang her ein Geräusch wie von einer kleinen Schnellfeuer-Spielzeugpistole zu hören war. Sie drehten sich beide um. Das kleine wasserstoffgetriebene Außenborderboot kam durch die Öffnung hereingehüpft und schoß dann geradewegs auf sie zu. Es schien im Blau zu schweben.
173 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Hake packte ein Paddel. Er kannte die beiden Männer nicht, die auf sie zukamen, aber es sprach viel dafür, daß sie für Yosper arbeiteten. »Weg hier, Leota!« rief er. »Ich sehe, ob ich sie hinhalten kann -« Aber sie schüttelte den Kopf. »Oh, Hake«, sagte sie traurig, »nein, die sind nicht von Ihnen. Das ist etwas viel Schlimmeres.« Hake hielt das Paddel wie einen Knüppel, aber es war erkennbar, daß es nicht viel nützen würde. Die beiden Männer waren nicht sehr groß und gewiß nicht beeindruckend angezogen. Wie Leota trugen sie minimi. Aber im Gegensatz zu Leota trugen sie Schußwaffen. Der eine am Motor hatte eine Pistole, der andere ein Schnellfeuergewehr, genau auf Hake gerichtet. Jetzt war deutlich, daß es die beiden Männer gewesen waren, die draußen auf dem Sims gelegen hatten; mehr noch, sie kamen ihm entfernt bekannt vor – wie jemand, den er schon einmal irgendwo gesehen hatte, einander sehr ähnlich. »Legen Sie das Paddel weg, Hake«, sagte Leota. »Das wollte ich nun ganz und gar nicht.« Die beiden Männer glichen einander nicht nur, sie waren beinahe identisch. Sie mußten Zwillinge sein: zierliche, dunkelhäutige Körper, nicht größer als einssechzig, lange, glatte, schwarze Haare, gepflegte, kurze Bärte, schwarze Augen. Unter der Persenning konnte Hake sie auf den Schalensitzen zu beiden Seiten des knatternden Außenborders sehen. Leota war auf der einen Seite auf dem Süllrand hingelagert. Zwei wohlhabende orientalische Herren, die es sich zusammen mit einem hübschen Mädchen auf dem Mittelmeer gutgehen ließen: Das Schauspiel konnte keine Aufmerksamkeit erregen. Er hörte das erste der Ausflugsschiffe mit heulenden Doppel-Schwungrädern eintreffen, aber einer der Männer hatte den Fuß auf Hakes Hals gestellt. »Nur ruhig, Freund«, sagte er und grinste kurz. »Nicht aufsetzen. Da werden nur die netten Leute alle umgebracht.«
174 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Tun Sie, was sie sagen, Horny«, riet Leota. Hake antwortete nicht. Er konnte es gar nicht, mit dem Fuß auf seiner Luftröhre. Und was gab es auch schon zu sagen? Sie hopsten zwanzig Minuten oder länger über die sanfte Dünung. Dann wurde das Maschinengewehrknattern des Motors langsamer, einer der Männer wickelte ein Tuch um Hakes Augen, Hake bekam einen Tritt ins Kreuz, die Persenning wurde von ihm weggezogen, und man stieß ihn eine Strickleiter hinauf. »An Deck bleiben, Schatz«, sagte einer der Männer mit seiner hohen Stimme, der jeder Akzent fehlte – wohl zu Leota, nahm Hake an. Dann stießen sie ihn, er in der Mitte, durch eine Tür und einen steilen Niedergang hinunter. Er hörte eine Tür hinter sich zufallen, und einer der Männer sagte: »Sie können die Binde jetzt abnehmen. Und sich hinsetzen.« Hake wickelte das Tuch von seinem Gesicht und blinzelte sie an. Er befand sich in einem niedrigen Raum. An beiden Enden waren Kojen, an der Wand eine Truhe mit Polster unter einer Luke, die von einem Metalldeckel verschlossen war. Es gab kaum genug Platz für alle drei. Er setzte sich auf die Truhe, weniger, weil es ihm befohlen worden war, sondern weil er dadurch am ehesten Distanz zu ihnen fand. Aber einer von ihnen zerrte Klappstühle unter einer Koje heraus, und sie zogen sie an beiden Seiten heran und setzten sich ihm gegenüber. Dann fiel ihm ein, wo er sie oder einen von ihnen schon einmal gesehen hatte. »München! Als ich krank war. Ich hielt Sie für einen Arzt.« »Ja, Hake, das war ich. Ich bin Subirama Reddi«, sagte der Mann links von ihm, »und das ist mein Bruder Rama. Sie können uns daran unterscheiden, daß ich Linkshänder bin und mein Bruder Rechtshänder. Wir finden das nützlich. Außerdem hat Rama eine Narbe über dem Auge, sehen Sie? Die hat er von einem Amerikaner in Papeete, und sie macht ihn böse.« »O nein, nicht böse«, sagte Rama kopfschüttelnd. »Wir werden sehr gut miteinander auskommen, Hake, vorausgesetzt, Sie tun genau das, was wir sagen. Andernfalls -« Er zog die Schultern
175 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
hoch, mit einem Ausdruck, der irgendwo zwischen Lächeln und Schmollen lag. Sie sprachen perfekt englisch, Umgangssprache und rasch, wenn auch manchmal absonderlich. Es traf nicht ganz zu, daß sie keinen Akzent hatten. Der war vorhanden, aber nicht zuzuordnen. Für Hake hörten sie sich ein wenig wie Engländer an, aber ein Brite hätte sie wohl als Amerikaner empfunden – so, als kämen sie von irgendwo mitten aus dem Atlantik oder vielleicht aus Yale. Ihre Stimmen klangen so hoch und rein wie die von Solotenören in einem Knabenchor, allerdings war nicht kindlich, was sie sagten. »Was Sie tun müssen«, fuhr Rama Reddi fort, »ist, uns rasch und vollständig die Namen aller Agenten zu verraten, mit denen Sie zusammengearbeitet haben, und was Sie von den Unternehmungen Ihrer Organisation wissen.« Das würde keine erfreuliche Zeit werden, begriff Hake. Und alles war unsinnig, weil er so wenig wußte. Er wandte sich an Rama und begann: »Es ist nicht viel, was ich Ihnen sagen kann « Das nächste Wort wurde ihm aus dem Mund gerissen, als Subiramas Faust sein Ohr traf. Hake drehte sich wütend zu ihm herum, und Ramas Faust traf ihn an der anderen Seite. Subirama schob seinen Stuhl ein Stück zurück und nahm die Pistole, die er in der freien Hand gehalten hatte, in die andere. Er sprach rasch auf seinen Bruder ein, der nickte und eine Schnur holte. Während Rama Reddi Hake die Hände fesselte, sagte Subirama: »Ihr Amerikaner verlaßt euch sehr auf eure Größe und Körperkraft. Ich glaube eigentlich nicht, daß Sie gegen einen von uns im Nahkampf obsiegen würden, geschweige denn gegen uns zwei. Aber ich glaube, Sie könnten etwas versuchen, das uns zwingen würde, Sie zu töten. Deshalb wollen wir die Versuchung beseitigen.« Er wartete, bis sein Bruder mit Hakes Händen fertig war, dann hieb er Hake die Faust in den Magen. »Also«, sagte er im Gesprächston, »wir fangen mit den Namen der Personen an, zu denen Sie in Italien bisher Verbindung aufgenommen haben.«
176 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Bis sie mit ihm fertig waren, hatte Hake ihnen alles erzählt, was sie wissen wollten. Nach den ersten Minuten versuchte er nicht mehr, sich zu wehren. Solange sie sich darauf beschränkten, ihn zu prügeln, mochte er überleben und sich sogar wieder erholen, aber sie machten ihm klar, es werde ihn, wenn er ihnen etwas vorenthalte, seine Fingernägel, seine Augen und sein Leben kosten, in dieser Reihenfolge. Er nannte ihnen Namen, von denen er nicht gewußt hatte, daß er sich an sie erinnerte. Alle vier Gehilfen von Yosper. Alle Teilnehmer seines Lehrgangs Unter dem Draht. Er gab sogar eine Beschreibung der Frau, die ihn zu seinem ersten Gespräch bei der Lo-Wate Abfüll-GmbH geführt hatte, und des Hirten, von dem er zum Flughafenbus gefahren worden war. Er konnte nicht beurteilen, was davon sie interessierte. Wenn irgendein Name oder Erlebnis sie veranlaßte, mehr wissen zu wollen, begriff er nicht, warum. Weshalb Interesse für die Frau eines Avocado -Züchters in Hilo? Aber nach Beth Hwa befragten sie ihn endlos. Er sagte ihnen, was er wußte, alles, was er wußte, manche Dinge vier- oder fünfmal. Dann durfte er sich ausruhen. Hake hielt das nicht für Rücksichtnahme. Es lag wohl daran, daß ihre Fäuste sie schmerzten. Ich hätte größeren Widerstand geleistet, sagte er sich, wenn ich gewußt hätte, wofür. Aber das Gespräch mit Leota hatte ihn erneut erschüttert: Wie kam er eigentlich dazu, für das Team zu arbeiten? Warum hatte er ein völlig behagliches, persönlich befriedigendes und gesellschaftlich belangvolles Leben als Geistlicher in New Jersey aufgegeben, um sich an diesen verzweifelten, unerwachsenen Spielen zu beteiligen? Er legte sich in eine der Kojen, hungrig, erschöpft, von Übelkeit und Schmerzen gequält. Er konnte nicht glauben, daß Schlaf möglich sein würde, so hämmerte es in seinem Schädel. Dann erwachte er, Leota saß neben ihm auf der Koje, und er begriff, daß er doch geschlafen hatte. »Das sind Aspirintabletten, nehmen Sie«, sagte sie. Er schob sie weg und sich hoch. In seinem Kopf arbeitete ein Hammerwerk.
177 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Hauen Sie ab«, fauchte er. »Das ist die Masche mit dem brutalen und dem guten Bullen, ja? Kenne ich aus dem Fernsehen.« »Ach, Hake! Sie sind so schrecklich ahnungslos. Die beiden sind brutal, so brutal, daß sie Sie wohl umbringen werden. Und ich bin gut. Meistens«, verbesserte sie sich und hielt ihm die Tabletten hin. Sie stützte seinen Kopf mit dem Arm, während er Wasser nachtrank, um sie zu schlucken, und sagte: »Sie sehen furchtbar aus.« Er antwortete nicht. Er blieb kurz auf der Bettkante sitzen, dann wankte er in das winzige WC und schloß die Tür hinter sich. Im Spiegel sah er noch schlimmer aus, als er sich fühlte. Sein Gesicht war vom Kinn bis zum Haaransatz aufgedunsen; seine Augen waren halb zugeschwollen, seine Ohren dröhnten. Er bespritzte sich mit kaltem Wasser, aber als er versuchte, sein Gesicht mit einem Handtuchzipfel zu trocknen, war das zu schmerzhaft. Er bewegte versuchsweise Lippen und Backenmuskeln. Er konnte reden und vielleicht auch kauen, aber es würde geraume Zeit dauern, bis das wieder Spaß machte. Als er herauskam, war Leota fort, tauchte aber gleich wieder mit einem Tablett auf. Sie schloß die Tür hinter sich, und Hake konnte hören, wie sie von draußen abgesperrt wurde. »Ihre Freunde sorgen sehr gut für mich«, meinte er bitter. »Das sind keine Freunde von mir, sondern nur Verbündete. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich das alles nicht wollte.« Sie stellte das Tablett ab und setzte sich zu ihm. »Ich habe Ihnen Suppe gebracht. Nach dem Essen habe ich einen Eisbeutel für Ihr Gesicht.« Er konnte sich nicht zu einem Dankeschön überwinden. Statt dessen gab er einen Knurrlaut von sich und ließ zu, daß sie ihm ein paar Löffel von der dicken Suppe einflößte. Das Schwanken des Bootes kippte ihm jedesmal die Hälfte in den Schoß. Er nahm ihr Löffel und die Schüssel weg. Die Suppe war Minestrone, nur lauwarm, aber ganz gut, und er hatte Heißhunger. Er leerte die Schüssel, während sie redete.
178 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich bin für die Reddis nicht verantwortlich. Manchmal arbeiten wir zusammen, sicher. Aber sie sind Söldner. Sie töten auch. Sie tun alles, wofür man sie bezahlt. Und sie machen mir Angst.« »Wofür haben Sie den beiden etwas bezahlt?« »Ich nicht, Hake. Wir bezahlen sie nicht. Sie arbeiten für -« Sie zögerte und blickte zur Tür. »Egal, für wen sie arbeiten«, sagte sie, aber auf ihren nackten Oberschenkel unter dem Saum des kurzen Frotté-Bademantels malte sie das Wort ›Argentinien‹ »Ihre eigenen Leute haben sie von Zeit zu Zeit angeheuert, vermute ich. Im Augenblick ist es ein anderer Auftraggeber. Was spielt das für eine Rolle? Aber wenn meine Gruppe Hilfe braucht, leisten sie sie manchmal. Wenn sie nicht den Leibwächter Ihres Freundes Dieter ausgeschaltet hätten, wäre er nie festgenommen worden. Mit ihrer Hilfe haben wir Ihre Leute also daran gehindert, Halbwüchsige umzubringen.« »Und wie haben sie den Leibwächter ausgeschaltet?« Sie zuckte zusammen. »Er war auch ein Söldner. Was spielt das für eine Rolle?« »Sie sagen das sehr oft«, gab er zurück. »Für mich spielt es eine.« »Für mich auch«, sagte sie traurig. »Aber was ist schlimmer, Horny? Was für Menschen verbreiten Giftdrogen?« Er griff nach dem Eisbeutel und legte ihn vorsichtig auf seinen Unterkiefer. Sein Kopf dröhnte immer noch, aber der Hammertakt war langsamer und nicht mehr so schmetternd. »Nun ja«, sagte er, »ich will Ihnen zugeben, daß auf beiden Seiten Fehler gemacht werden. Nur aus Neugier: Was dachten Sie, daß in der Grotte passieren würde?« »Ich dachte, ich wollte versuchen, Sie auf unsere Seite zu ziehen«, sagte sie schlicht. »Lachen Sie nicht.« »Mein Gott! Was habe ich wohl zu lachen?«
179 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»So ist es aber. Ich wollte mit Ihnen sprechen. Die Reddis sollten einfach draußen bleiben und mich warnen, wenn Ihre Leute auftauchten, oder falls – entschuldigen Sie, Horny – falls Sie versucht hätten, mich ans Messer zu liefern oder was-weißich.« »Hm.« Hake wechselte mit dem Eisbeutel nachdenklich von der rechten auf die linke Wange. Was sie sagte, ergab Sinn, änderte aber nichts daran, daß er drei Stunden lang mißhandelt worden war und jetzt gefangengehalten wurde, mit Zukunftsaussichten, die man bestenfalls als nicht rosig bezeichnen konnte. »Ich weiß jetzt wohl, wie einem unbeteiligten Außenstehenden zumute ist«, sagte er gröllend. »Unbeteiligt?« Leota schloß den Mund, um die nächsten Worte zu unterdrücken, dann sagte sie mit Bedacht: »Ich würde Sie nicht gerade unbeteiligt nennen, Horny.« »Na gut, ich habe Fehler gemacht.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Sie wissen in Wirklichkeit gar nicht, was vorgeht, wie? Sie glauben, das wäre alles Zufall gewesen.« »War es nicht so?« »So zufällig wie eine Lenkrakete. Ihre Leute gehen jedesmal auf die Halsschlagader los.« »Nein, das ist unsinnig, Leota. Ich bin oft genug mit ihnen zusammengewesen, um das zu wissen. Sie sind der untüchtigste, tölpelhafteste Haufen -« »Wenn Sie nur recht hätten!« »Na hören Sie. Man hat auch mich nur durch Zufall gekapert. Ohne Grund.« »Soll heißen, Sie kennen den Grund nicht. Es hat einen gegeben, glauben Sie mir. Man hat Sie vermutlich monatelang überwacht, bevor Sie geholt worden sind. Jemand hat Sie als brauchbar erkannt -«
180 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ausgeschlossen! Wer denn?« »Ich weiß nicht, wer. Aber irgend jemand. Ich weiß, wie sie vorgehen. Zuerst haben sie Ihre Akten gezogen, dann eine gründliche Überprüfung angestellt. Sie müssen einen guten Eindruck gehabt haben, aber man brauchte Gewißheit. Also wurden Sie geholt. Sie hätten erwidern können, man möge sich zum Teufel scheren -« »Das ging doch nicht. Ich war in der Armeereserve. Sie haben mich einfach wieder in den aktiven Dienst berufen.« »O doch, das hätten Sie tun können, Horny. Sie hätten jederzeit nein sagen können. Was hätten sie tun können? Vor Gericht gehen? Aber Sie haben es nicht getan. Sie hatten die erste Prüfung bestanden, und man erteilte Ihnen einen hinterhältigen Auftrag, um Sie zu erproben. Sehen Sie mich nicht so an, Horny, so war es. Das hätte ein zweijähriges Kind tun können, vermutlich besser als Sie. Aber Sie haben es getan, also auch diese Prüfung bestanden, und als Sie dahinterkamen, worum es eigentlich ging, wieder eine. Sie haben sie nicht verpfiffen.« »Ich konnte doch nicht!« Sie senkte den Blick. »Hm, nein, Sie konnten nicht, Horny, weil Sie wahrscheinlich nicht so lange am Leben geblieben wären, um zu einem Reporter zu kommen. Dafür hätte jemand gesorgt. Die Person, die Sie ausgesucht hat, wird Sie im Auge behalten haben. Aber das wußten Sie nicht, Horny. Sie haben es nicht einmal versucht; also wieder bestanden. Nächste Stufe: Man schickt Sie in ein Ausbildungslager. Sie bestanden in glänzender Form. Man schickt Sie hierher, damit Sie mich ans Messer liefern. Erzählen Sie mir nicht wieder, Sie hätten nichts davon gewußt. Wenn Sie nachgedacht hätten, wäre Ihnen das klargeworden. Manche Zufälle können keine Zufälle sein. Als Sie mich gesehen haben, hätten Sie argwöhnisch werden müssen.« »Aber da war es schon zu spät.«
181 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Lange Pause. »Ja«, sagte sie und begann zu weinen. »Es ist viel zu spät«, stieß sie hervor. Es dauerte eine Weile, bis ihm ein Licht aufging. Als Leota ihn wieder alleingelassen hatte, saß Hake auf der Kojenkante und starrte auf das rotkarierte Bettzeug gegenüber. Er sah es nicht. Sein Verstand und sein ganzer Körper befanden sich in Wartestellung. Es war beinahe eine Art Lähmung. In all den langen Jahren im Rollstuhl hatte er über sein eigenes Schicksal nie so wenig zu bestimmen gehabt wie jetzt. Falls er über sein Schicksal jemals wirklich hatte selbst bestimmen können. Alles, was Leota sagte, klang wahr. Er war einem Weg gefolgt, von dem er nicht glauben konnte, daß er ihn selbst gewählt hatte. Passiv. Gehorsam. Sogar eifrig. Ein williger Komplice von Leuten, die er verachtete, mit Dingen beschäftigt, die er verabscheute. Hake wußte nicht mehr genau, wer er war. Der Raufbold, dem der Kampf mit Tigrito höllische Freude gemacht hatte, war eine Person, in der er sich nicht wiedererkennen konnte. Es war in der kleinen Kabine mörderisch, drückend heiß, und durch die geschlossenen Bullaugen kam keine Luft herein. Wenigstens hatte das Hämmern in seinem mißhandelten Schädel nachgelassen. Es war sogar erträglich; Leotas Aspirin hatte gewirkt. Oder die Folgen der Mißhandlungen waren im Vergleich mit der Bedeutung dessen, was sie gesagt hatte, in seinem Bewußtsein geschrumpft. Hake ließ den Gedanken aufkommen, daß dieser muffige, dampfige Raum das Letzte sein mochte, was er je lebend sehen würde, und sah ihn sich deshalb genauer an. Er war nicht gerade erschreckend, aber lähmend. Wieder konnte er nicht erkennen, wo er sein Leben in den Griff zu bekommen vermochte, wieder gab es nichts, was er tun konnte, um etwas zu ändern.
182 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Als Leota gegangen war, auf drei harte Schläge an die Tür hin, hatte sie Schüssel, Tablett, Löffel und sogar Eisbeutel mitgenommen. Wenn sie wenigstens ein Tischmesser hiergelassen hätte. Aber es gab nichts. In der Kabine befand sich nichts, was nicht entweder festgemacht oder harmlos gewesen wäre. Er wischte den Schweiß von seinem Gesicht, stand auf, zog das Hemd und die Schuhe aus und schwitzte noch immer. Er konnte nicht einmal erkennen, ob es Tag oder Nacht war. Die Befragung und die Schläge waren ihm endlos erschienen, hatten vielleicht aber nur ein, zwei Stunden gedauert; der kurze Schlaf konnte sich über Minuten oder über eine unbestimmbare Zeit erstreckt haben. Durch die Lukendeckel über den Bullaugen drang kein Licht. Er wußte nicht einmal, ob das kleine Schiff fuhr oder irgendwo vor Anker lag. Er warf seine Hose auf eine der anderen Kojen und streckte sich aus. Die völlige Hilflosigkeit seiner Lage hatte etwas beinahe Befriedigendes. Da es überhaupt nichts gab, was er tun konnte, war ihm erlaubt, nichts zu tun. Selbst das gedämpfte Hämmern in seinem Kopf, die Empfindlichkeit seines Gesichts und die Schmerzen im Bauch wurden zu Erscheinungen, die man lediglich zu beobachten brauchte. Er war beinahe im Frieden mit sich selbst, während er döste, einen Arm unter dem Kopf, und stellte belustigt fest, daß seine Impotenz sich nicht auf sein ganzes Sein erstreckte. Die ganze Zeit mit Leota über war er sich ihrer runden, gebräunten Beine und des schwachen weiblichen Geruchs bewußt gewesen, der von ihr ausging. Er nahm ihn auch jetzt wahr, und das, zusammen vielleicht mit dem Schaukeln des Bootes und möglicherweise einer unbekannten Eigenheit des neuen Hakes, wirkte zusammen, so daß er unbedingt Liebe machen wollte. Und als Leota nach einer Zeit wieder hereinkam, einen frischen Eisbeutel, Wasser und Aspirin brachte, die Tür hinter ihr abgesperrt wurde und sie sich auf den Kojenrand setzte, griff er nach ihr. Verblüfft sagte sie: »Heeyyyy -« Und, als sie ihre Lippen von seinen löste: »Laß mich wenigstens das Glas wegstellen.« Es war, als liebe man im Traum, mühelos, ohne Hast und voll Gewißheit, und er wunderte sich nicht darüber, daß sie so bereit war wie er.
183 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Als sie sich voneinander lösten, fuhr er mit dem Finger über die Konturen ihrer linken Hüfte und sagte: »Weißt du, ich habe das eigentlich nicht erwartet, aber ich bin schrecklich froh darüber.« Ihre Augen waren nur Zentimeter auseinander, und sie blickte unverwandt in die seinen, dann küßte sie ihn, schüttelte den Kopf, setzte sich auf und schaute auf die Uhr. »Nimm dein Aspirin, dann reden wir«, sagte sie. »Ich habe noch fünfundzwanzig Minuten Zeit, dich umzudrehen.« »Umzudrehen?« fragte er und schluckte gehorsam. »Dich zu einem Doppelagenten zu machen, Horny«, sagte sie. Er schob sich zum Kojenrand und setzte sich zu ihr. Er streifte mit den Lippen nachdenklich ihre nackte Schulter. »O ja«, sagte er. »Mein kleines Problem.« »Es ist eigentlich unser Problem, Horny. Aber das ist das Angebot, das sie dir machen. Wenn du für sie arbeitest, lassen sie dich laufen. Sie haben einen Plan. Sie nehmen dich als Geisel – sie tauschen dich gegen jemanden aus, den das Team in Texas versteckt hält. Frag mich nicht, wer das ist, ich weiß es nicht.« Hake sagte bedächtig: »Ich weiß eigentlich gar nicht, wie hoch mich das Team einschätzt.« »Nun, um ganz offen zu sein, Horny, nach Meinung der Zwillinge nicht übermäßig hoch«, erwiderte sie. »Sie lassen sich herunterhandeln – immer vorausgesetzt, versteht sich, daß du mitarbeitest. Sonst gilt das Angebot nicht. Vielleicht gibt es dann für mich auch keines«, fügte sie hinzu. »Wenn sie dich, äh, beseitigen, werden sie mich wohl kaum als mögliche Mordzeugin herumlaufen lassen wollen.« Das war ein neuer und für Hake unwillkommener Gedanke. Er legte den Arm um ihre warmen, noch feuchten Hüften, aber sie blieb starr. »Wir müssen also reden, Horny. Ich glaube nicht, daß es für dich eine moralische Frage geben muß. Ich glaube nicht, daß du
184 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
einem Haufen von zerstörerischen Irren gegenüber loyal sein mußt. Es ist nur allein das PCP, oder daß man die Hälfte der Discjockeys in Europa besticht, damit sie Narko-Musik spielen, oder das Pfund durch Fälschungen schädigt oder die Computernetze anderer manipuliert. Oder Seuchen verbreitet oder Insektenschädlinge oder Allergie erregende Pflanzen oder -« »Das von der Narkomusik wußte ich nicht«, sagte Hake. »Und was heißt das mit den Computern?« »Das geschieht die ganze Zeit, Horny. Was glaubst du, wie sie dich finanzieren? Oder auch sich?« fügte sie aufrichtig hinzu. »Ich behaupte nicht, daß mir richtig gefällt, wie meine Seite vorgeht. Sie bespitzeln dich, wir bespitzeln dich. Sie übertölpeln dich, ich übertölple dich.« »Wie du es machst, gefällt mir besser«, meinte er. »Was heißt, ihr bespitzelt mich? Seid ihr so dahintergekommen, daß ich zum Team fuhr?« »Gewiß. Wir haben nicht die Mittel, die das Team besitzt«, sagte sie bitter, »aber wir tun, was wir können. Ich habe eine alte Schulfreundin, die – nein, lassen wir das. Wir haben keine Zeit. Ich muß dich dazu überreden, daß du übertrittst.« »Ach«, sagte Hake, »ich dachte, das wüßtest du schon. Ich bin umgedreht.« Sie sah ihn an. »Bist du sicher?« »Sicher?« Er lachte. »Sicher ist für mich nur, daß ich es wirklich satt habe, benützt zu werden. Aber ich bin bereit, es auf deine Art zu versuchen.« Sie betrachtete ihn prüfend, dann schüttelte sie den Kopf. »Na gut«, sagte sie. »Jetzt können wir nur noch hoffen, daß die Reddis es sich nicht anders überlegen. Und« – sie warf einen Blick auf ihre Uhr – »wir haben immer noch zwanzig Minuten.«
185 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Er zog sie an sich, hatte sie aber mißverstanden. Sie wehrte sich. »Warte doch, Horny. Jetzt ist es an der Zeit, daß ich dir eine Frage stelle.« »Was für eine Frage?« »Diejenige, die ich stellen wollte, wie ich schon gesagt habe: Warum hast du das alles getan?« Er sagte mürrisch: »Ich dachte, das hätten wir alles schon besprochen. Ich weiß es nicht.« »Aber ich vielleicht. Ich habe eine Theorie. Lach nicht -« Er war vom Lachen weit entfernt. »Ich muß ganz von vorne anfangen. Was weißt du von Hypnose?« Hake zog den Arm zurück und sagte: »Leota, ich bin kein ungeduldiger Mensch, aber wenn du etwas zu sagen hast, dann komm bitte zur Sache.« »Das ist sie. Du wirkst hypnotisiert. Begreifst du, was ich sage? Du tust alles das, was dir jemand vorschreibt. Du bist leicht empfänglich. Wie jemand in einem hypnotischen Trancez ustand.« »Ach, Mensch«, sagte er gereizt, »man kann mich nicht so hypnotisieren, daß ich Dinge tue, die ich andernfalls nicht tun würde – das steht fest. Jeder weiß das.« »So? Woher weißt du es? Hast du dich ausführlich mit Hypnose befaßt?« »Nein, aber -« »Aber du tust ganz so, als wäre das der Fall. Ich will keine Reflexe, Horny. Denk darüber nach.« »Tja -« Er dachte kurz nach, dann sagte er vorsichtig: »Ich gebe zu, daß ich nicht ganz begreife, was ich in den letzten zwei Monaten gemacht habe. Ich habe mir den Kopf darüber
186 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
zerbrochen. Ich bin rasch genug auf alles eingegangen, was sie vorgeschlagen haben – wie du schon sagtest.« »Ich meine das nicht als Kritik, Horny. Ganz im Gegenteil. Du konntest nicht widerstehen, wenn du hypnotisiert worden bist.« Er sah sie an. »Wie kannst du dir da sicher sein?« »Na ja, nicht sehr sicher«, räumte sie ein. »Aber es ergibt doch Sinn, oder? Gibt es irgendeine andere Erklärung dafür? Du kannst das nicht einmal Reflex-Patriotismus nennen. Du bist auch auf mich eingegangen, als ich verlangt habe, du sollst mich nicht erwähnen.« Er sah mit einem Anflug von Hoffnung auf. »Aber – das war gegen das Team!« Leota schüttelte den Kopf. »Männer! Das ist die männliche Überheblichkeit. Du glaubst lieber, daß du aus freiem Willen ein Mistkerl bist als ein hilfloses Werkzeug. Aber in Wahrheit ist das ein starker Hinweis auf den Trancezustand. Man nennt das Toleranz der Unstimmigkeiten. Es bedeutet, daß du so handelst, als wären einander widersprechende Dinge beide richtig oder beide wahr.« »Das ist doch alles Unsinn«, protestierte er. »Man könnte mich nicht hypnotisieren, ohne daß ich mich daran erinnere.« »Woher weißt du das?« »Ich weiß es nicht, aber -« »Es könnte ein posthypnotischer Befehl gewesen sein, das zu vergessen«, sagte sie. »Oder du hast überhaupt nichts davon gemerkt. Man könnte dir heimlich eine Droge gegeben haben. Dir ein Tonband unter das Kissen praktiziert haben. Ich weiß es nicht. Für mich steht nur fest -« Sie wurde unterbrochen, als jemand die Tür aufsperrte. Der Reddi mit der Narbe über dem Auge schaute herein, die rechte Hand auf einem Pistolenhalfter. Er lächelte.
187 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ah, ich sehe, Sie machen gute Fortschritte, Schätzchen«, meinte er, als Leota nach ihrem Bademantel griff und ihn vor ihren Körper hielt. Sie sagte kalt: »Wir haben uns geeinigt, Rama. Jetzt ist es an Ihnen, einen Austausch vorzubereiten.« »Verstehe«, sagte er und betrachtete sie belustigt. »Ja, vielleicht ist etwas zu machen. Wenn mein Bruder zurückkommt, unterhalten wir uns weiter. Aber woher wissen wir, daß Reverend Hake uns gegenüber sein Wort hält?« Weder Hake noch Leota antworteten; es gab keine naheliegende Antwort darauf. Der Inder nickte. »Ja, das ist eine Schwierigkeit. Nun, ich hätte gedacht, Sie möchten vielleicht an Deck kommen, meine Liebe, aber vielleicht bleiben Sie lieber hier?« Er lächelte – es war beinahe ein freundliches Lächeln, auf jeden Fall ein tolerantes, wie Hake erstaunt entdeckte – und schloß die Tür hinter sich. Hake und Leota sahen einander an. »Ah, zu dem, was er gesagt hat«, meinte Hake. »Wie, meinst du, werden Sie sicherstellen, daß ich mich an die Abmachung halte?« »Ich habe keine Ahnung, Horny, außer, daß es vermutlich etwas sein wird, das dir gar nicht gefällt. Das Einfachste wäre, dich umzubringen, wenn du es nicht tust. Wenn das Team jemanden einsetzen kann, der an dich herankommt, sobald es sein muß, und wenn ich es kann, darf man sich darauf verlassen, daß die Reddis es auch können. Oder es könnte etwas viel Schlimmeres sein.« »Nämlich?« »Das Schlimmste, was dir einfällt«, sagte sie zornig. »Oder noch schlimmer, das Schlimmste, was einem von denen einfällt. Dich drogensüchtig machen? Dir eine tödliche Krankheit einimpfen, damit sie dich mit dem Gegenmittel versorgen können? Ich weiß es nicht. Es wird ihnen etwas einfallen.«
188 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Die Zukunft nahm für Hake ausgesprochen zweifelhafte Züge an. »Aber vielleicht wird es gar nicht so schlimm«, fügte sie hinzu, um ihn zu beruhigen. »Du kannst ohnehin nichts dagegen tun, oder? Was es auch sein mag, es ist immer noch besser, als in der Bucht von Neapel an den Strand gespült zu werden.« »Wieso Neapel? Ich dachte, wir sind vor Capri.« »Da mußt du sie selber fragen. Als ich das letzte Mal oben war, hatten wir an einem Industriekai festgemacht. Wenn du horchst, kannst du Güterzüge fahren hören.« Er lauschte, während er wieder den Arm um sie legte, vernahm aber nichts, was er hätte unterscheiden können. »Tja«, sagte er, »es sieht so aus, als hätten wir noch Zeit -« »Warte mal, Horny.« Sie lauschte immer noch mit verwirrtem Gesichtsausdruck. An Deck waren leichte, schnelle Schritte zu hören, dann kam ein Klatschen. Sie stand auf und zog das Strandkleid über den Kopf. »Da geht etwas vor«, sagte sie und öffnete die Tür einen Spalt. Draußen war niemand. »Ich schaue mich um. Du bleibst besser hier.« »Nein, ich komme auch mit.« »Dann bleib hinter mir.« Sie ging zur Decktür, die ganz aufgeschoben war, und schaute sich um. Hake kam hinter ihr heran und blickte über ihre Schulter. Ihr Boot war an alten Holzpfählen festgemacht, dahinter war eine Kaiwand zu erkennen. Schmieriges Wasser plätscherte ans Holz, und hinter der Wand waren riesige, rundgewölbte Tanks zu sehen. Es war Nacht, aber die Tanks waren hell beleuchtet, und ringsum und dazwischen sah Hake Gestalten vorsichtig näherschleichen. Von den beiden Reddis war nichts zu sehen.
189 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»O Gott!« flüsterte sie. »Deine Leute scheinen hinter dir her zu sein. Oder eher hinter den Reddis und mir. Rama muß sie gesehen haben und verduftet sein.« »Was wird mit dir geschehen?« fragte Hake scharf. »Bestimmt nichts Gutes«, sagte sie sorgenvoll. »Horny, ich verschwinde. Du bleibst. Dir passiert nichts. Halt sie auf, wenn du kannst.« Sie lief in die Kabine und kam wieder heraus, schnallte hastig die Taucherausrüstung um. »Warte doch«, stieß er hervor. »Ich will dich wiedersehen.« Sie stutzte kurz und sah ihn an. »Ach, Horny«, sagte sie, »du bist so verdammt naiv.« Sie küßte ihn hart und kurz, dann ließ sie sich über den Süllrand auf der anderen Seite hinuntergleiten. Minuten später, als der erste der anschleichenden Männer die kurze Gangway erreicht hatte, kam Hake mit erhobenen Händen aus der Kabine. »Ich bin es!« rief er. »Gott sei Dank, daß ihr da seid! Sie sind in der Richtung davon, erst vor fünf Minuten – wenn ihr euch beeilt, erwischt ihr sie noch.« Und er zeigte auf die Kaianlagen, auf die nächstgelegene, dunkelste Stelle.
190 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
8 Yosper genoß die Sache besonders. Er besetzte das kleine Schiff wie ein Pirat, schickte seine Leute in alle Richtungen, übernahm selbst das Achterdeck und stolzierte dort auf und ab. Er vernachlässigte die Vorrechte des Kaperers nicht. Er fand in der Achterkabine drei gut gekühlte Flaschen Piper-Heidsieck und teilte sie mit Hake, während sie die Suche leiteten. Die Jagd an Land erbrachte nichts. Dietrich, frisch aus einem neapolitanischen Gefängnis zurück, meldete, daß niemand zu sehen sei; er hatte die angeheuerten Kriminellen paarweise aufgeteilt und sie fortgeschickt, und die Jagdbeute war entkommen. Ich bin froh, dachte Hake; jedenfalls in einem Fall von dreien. Aber Yospers schlaue alte Augen waren auf ihn gerichtet. »Sehen Sie nicht so zufrieden drein«, sagte er. »Sie haben eine Menge zu erklären. Wissen Sie, was wir tun mußten, um Sie hier rauszuholen? Als erstes mußten wir Sie finden. Wir spürten den Bootsmann auf, entdeckten einen Zeugen im Ausflugsschiff vor der Grotte. Dann mußten wir Washington bitten, Spähsatellitenfotos zu liefern, damit wir verfolgen konnten, wohin dieses Schiff fuhr. Schließlich mußten wir noch ein halbes Dutzend Schläger anwerben, damit wir hier anrücken konnten.« »Es tut mir leid, daß Sie meinetwegen so viel Mühe hatten.« »Na klar. Dietz! Gehen Sie hinunter, und helfen Sie Mario, das Schiff zu durchsuchen, dann feiern wir alle.« Hake hörte nicht zu. Er dachte nach. Das Schlimmste daran, jemandem sein Leben zu verdanken, war, daß es schwer wurde, unhöflich zu ihm zu sein. Aber wie lange? Eine Woche? Na ja, auf jeden Fall zwei oder drei Tage. Mindestens länger, als jetzt gut für ihn war, wo er dringend die Berechtigung wünschte, Yosper zum Teufel zu schicken, und sie nicht hatte. Der Mann war ein arroganter Esel und bewies das immer wieder. »- jetzt zurückgeben.« Hake wurde wach.
191 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Was?« »Sie können uns das Armband jetzt ruhig zurückgeben«, wiederholte Yosper und zeigte auf den Silberschmuck an Hakes Handgelenk. »Wir brauchen es nicht mehr an Ihnen. Seinen Zweck hat es erfüllt. Wir wußten, daß Sie zu ihr gehen würden, nachdem wir sie im ›Pescatore‹ nicht erwischt hatten. Deshalb hielten wir Sie unter Beobachtung. Sie sind keine drei Meter gegangen, ohne überwacht zu sein. Aber das Boot war eine Überraschung, und bis wir Ihnen folgen konnten, sind Sie außer Reichweite gewesen.« Hake öffnete stumm das Armband und überreichte es, als Mario und Dieter von unten heraufkamen. Der Italiener brachte eine flache Metallkassette mit. Sie wirkten beide sorgenvoll. Yosper raffte sich auf. »Schon entschärft«, sagte Mario schweratmend. Er gab die Kassette an Yosper weiter, der vorsichtig danach griff. »Ja«, sagte er. »Damit wäre das Schiff leicht in die Luft zu sprengen gewesen. Und dann -« Er blickte hinüber zu den kugelförmigen Tanks, die nur Meter entfernt waren. Hake sah erstaunt, daß der alte Mann grinste. »Fünfzigtausend Kubiktonnen flüssiger Wasserstoff!« stieß er hervor. »Mann! Das wäre eine Explosion gewesen! Sehen Sie jetzt, mit was für Leuten sich Ihre Freundin abgibt, Hake?« »Aber raffiniert«, sagte Dieter. »Ein Ding von uns.« Yosper zog die Brauen zusammen, dann schüttelte er den Kopf. »Ein ausgekochtes Paar. Sie haben recht. Wenn die Spaghettis Trümmer davon gefunden hätten, wären wir beschuldigt worden, dann hätten wir alle in der Tinte gesessen. Sie müssen es sich geholt haben, als wir die Sache in der Nordsee gemacht haben.« Hake setzte sich auf. »He! Heißt das, daß sie für Sie gearbeitet haben?« »Nicht mehr. Sie nehmen ihre Arbeit zu ernst, Hake. Töten verstößt gegen unsere Grundsätze«, erklärte er tugendhaft,
192 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»außer unter ganz besonderen Umständen. Aber ihnen gefällt es. Sie können von Glück sagen, daß Sie noch am Leben sind. Wenn Sie die anwerben und keine Toten wollen, müssen Sie das extra bezahlen. Können Sie sich das vorstellen?« »Ich verstehe euch alle miteinander nicht«, sagte Hake. »Weil wir Söldner verwenden? Na, werden Sie mal erwachsen, ja? Bringen Sie Mittel und Zweck nicht durcheinander. Wir tun, was recht ist. Die Reddis sind nur Werkzeuge, die wir verwenden, wenn es sein muß. Sie brauchen eine Pistole nicht zu fragen, ob sie an die Demokratie glaubt. Sie wollen nur wissen, daß es kracht, wenn Sie abdrücken.« Er gab Mario die Kassette zurück. »Früher war uns das klar«, fuhr er streng und verständnisvoll fort. »Ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie jetzt durcheinander sind. Wie sollen Sie alles geben, was in Ihnen steckt, wenn Sie hören, wir dürfen nie eine Bombe werfen oder eine Rakete abschießen oder einem Gegner die Kniescheibe zertrümmern oder eine Brücke in die Luft sprengen? Aber das sind die Regeln. Wir machen sie nicht. Wir tun nur, was uns aufgetragen wird – und wir verwenden, was wir müssen, um es zu schaffen.« Hake lehnte sich zurück und ließ die Worte über sich hinweggehen. Yospers Moralvorstellungen gehen mich nichts an, sagte er sich. Er hatte andere Sorgen und wußte ganz und gar nicht, wie er damit fertigwerden sollte oder was dabei herauskommen würde. Er betrachtete Mario und Dieter, die dem Alten hingerissen zuhörten. Genauso, als hätten sie das alles noch nie gehört, genauso, als lohne es sich wirklich, das zu hören, immer wieder. Es war höchst eigenartig, daß alle Leute, die er kennenlernte – Yosper, Dieter, Mario, Leota, sogar Jessie Tunman, sogar die Reddis – sich so gaben, als seien sie ihrer Rolle in der Welt und der gerechtfertigten Notwendigkeit, sie weiterzuspielen, ganz sicher. Bei ihm war das ganz anders. Und Yosper faselte weiter: » – alte Zeit bei den Vereinten Nationen, Me-ensch! Wir wußten, mit wem wir es zu tun hatten. Wußten auch, wie man sie behandeln mußte. Man brauchte bloß einen rumänischen Botschaftsangehörigen mit einem Negerjungen ins Bett zu
193 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
bringen und ihm die Fotos zu zeigen, schon machte er mit. Oder einen russischen Codefachmann heroinsüchtig machen und ihn mit Stoff versorgen. Die Welt war damals viel einfacher, und wenn ihr meine Meinung hören wollt, besser. Wir taten das Werk Gottes und wußten es auch. Das tun wir natürlich immer noch, aber manchmal – na ja«, sagte er zwinkernd, »Sie haben es satt, mir zuzuhören, nicht wahr? Und die Beulen an Ihrem Schädel tun vermutlich auch nicht besonders wohl. Hunger werden Sie auch kriegen. Dietz, Sie lassen das Ding verschwinden« – er wies mit dem Kinn auf die Bombe – »und Sie, Mario, bringen den Wagen. Der Champagner ist weg, und es wird Zeit, daß wir essen.« Die Fragen in Hakes Gehirn wollten allesamt in den Vordergrund und prallten immer wieder gegeneinander. Wie ernst sollte er beispielsweise seine Abmachung mit den Reddis nehmen, sich ›umdrehen‹ zu lassen? Sie hatten ihn nicht eigentlich freigelassen; er war befreit worden. Aber sie mochten trotzdem ihre Methoden haben, Mitarbeit zu erzwingen. Und bevor er sich damit noch richtig auseinandergesetzt hatte, von einer Lösung ganz zu schweigen, tauchte eine andere Frage auf: War Leota wirklich entwischt, und wo befand sie sich jetzt? Und als das weggeschoben war: Was ist mit dem Team-Projekt, Erweckungsreligionen zu fördern? Was war, um Himmels willen, mit seiner Kirche? Kam sie ohne ihn aus? Wieviel Wahrheit verbarg sich hinter Leotas irrer Vermutung, er sei hypnotisiert worden? Und dann wieder das Kopfzerbrechen, ob Leota in Sicherheit war. Der Vorteil eines Schädels voll ungeklärter Gedanken und Probleme war der, daß sie ihn von Yospers endlosem Geschwätz ablenkten, das weiterging, als sie zwischen den riesigen Doppelwand-Kugeln dahingingen, das lauter wurde, als sie zwischen den stampfenden Kompressoren einbogen, die den Wasserstoff in flüssigem Zustand hielten, das kurz unterbrochen wurde, als sie an den gewaltigen Heißluft-Schächten standen, die 150 Grad heiße Abwärme in die schon schwüle italienische Luft donnernd hinausbliesen – es bestand die Gefahr, daß einer
194 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
der nicht sehr aufmerksamen Geländewächter etwas hörte –, und das wieder auf volle Touren in dem Cadillac kam, den Mario mit kraftvollen Bewegungen durch den Hafen steuerte, hinauf durch ein Gewirr steiler, enger Straßen und auf den Parkplatz eines großen Hotels auf dem Vomero. Hake wurden zwanzig Minuten zugestanden, damit er sich saubermachen, Wasser auf seine Blutergüsse tun und sich aus dem Gepäck, das Mario entgegenkommend von Capri mitgebracht hatte, neu einkleiden konnte. Danach wiederholte sich die Nacht vorher im ›La Morte del Pescatore‹. Sie hatten wieder den besten Tisch des Hauses, mit Blick auf die Bucht und den Kratergipfel des Vesuv, der von roten, weißen und grünen Scheinwerfern aus einer Entfernung von zwölf Meilen angestrahlt wurde. Yosper sagte: »Kalb, Hake. Wenn Sie keinen Fisch mögen, nehmen Sie Kalb, das einzige Fleisch, von dem die Italiener etwas verstehen, aber davon sehr viel.« Die Tabletten, die Hake von Leota bekommen hatte, wirkten längst nicht mehr. Sein Unterkiefer und der Bauch fühlten sich an, als sei eine Viehherde darübergetrampelt. Er war erschöpft – es war ein Schock für ihn gewesen, festzustellen, daß es, als sie das Hotel erreichten, erst neun Uhr war – und hatte das Gefühl, daß er leichtes Fieber bekam. Aber das Ärgste war Yospers Stimme. Der alte Mann führte ein ausführliches Gespräch mit dem Ober darüber, welcher Anteil Parmesankäse für sein ›Scallopine alia Vomero cordon bleu‹ richtig sei, und mit dem Weinkellner darüber, ob der Lacrima-Christi-Wein wirklich von den Weingärten am Vesuv stammte oder etwas sei, das ihre Bottigliera an diesem Nachmittag aus Trester und Salzsäure zusammengebraut hatte. Hake bestellte wahllos und wollte nichts anderes, als das hinter sich zu bringen und ins Bett zu gehen – und sobald wie möglich zurückzureisen nach Long Branch, New Jersey. Als Yosper ihm eine Spezialität des Hauses empfehlen wollte, fauchte er: »Egal was! Mir gleich! Ich bin nicht hergekommen, um das Geld des Steuerzahlers in Kneipen auszugeben!«
195 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Yosper starrte ihn prüfend an und schickte den Kellner fort. Als dieser gegangen war, sagte der alte Mann: »Hake, zwei Dinge, die Sie sich merken sollten. Erstens: Sie reden nicht davon, daß Sie für den Staat tätig sind, wenn jemand zuhört, den Sie nicht kennen. Zweitens: Das kostet den Steuerzahler keinen Cent. Jedenfalls nicht den unsrigen. Dieter, wen nehmen wir diesmal aus?« »Ich wollte meine Barclay-Kreditkarte einsetzen«, sagte der Holländer. »Geht an KLM.« Yosper nickte grinsend. »Damit wird die Fluggesellschaft belastet. Sie schreibt das auf ein Sonderkonto ›Nicht überprüfbare Gelder für den holländischen Geheimdienst‹. Uns können sie das nie nachweisen. Mal sehen, auf Capri haben wir, glaube ich, die Banco di MilanoKarte benützt. Das geht über das italienische Wasserkraftsyndikat an den Luftwaffen-Geheimdienst des Landes. Wenn man mit den Computern umgehen kann, bekommt man alles, was man will – und der Gegner bezahlt dafür! Essen Sie also kräftig, mein Junge. Jede Lira, die Sie ausgeben, nimmt der anderen Seite eine weg.« Er machte eine Pause und sagte zu Dietrich: »Dabei fällt mir ein: Prüfen Sie die andere Sache nach.« Der junge Mann nickte und entfernte sich, als der Kellner mit Tellern voll rohem Gemüse und Antipasto zurückkam. Knirschenden Stangensellerie und Palmenherzen zu kauen, erwies sich für Hake als Pein. Die Hälfte seiner Backenzähne wackelte und protestierte gegen die Kraft seiner Kiefer. Er aß mürrisch, beharrlich, während er auf die Bucht hinausblickte. Mit den Lichtergirlanden der Kreuzfahrtschiffe an den Kais, den Autos im Hafen, den fernen Villen am Portici- und Torre del Greco -Strand war sie zugleich wunderschön und schrecklich – eine so entsetzliche Energieverschwendung, daß Hake nicht begreifen konnte, weshalb sie geduldet wurde und aus welchem Grund sie nicht den Untergang der italienischen Wirtschaft bedeutete. Gewiß, auf dem Land ging es noch viel strenger zu als in New Jersey, das war ihm bekannt, aber um so unmorali-
196 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
scher diese ungeheure Vergeudung. Die Welt, in der er lebte, hatte etwas sehr Krankhaftes an sich. Und wenn die Heiler oder die Leute, die glaubten, sie sorgten für die Heilung, alle wie Yosper waren, welche Aussicht bestand dann auch nur auf ein Überleben? Der alte Mann hielt wieder einen Vortrag über die Religion. Es sei Gottes Plan für die Welt, erklärte er, daß die Rechtschaffenen überlebten und eroberten; die Worte prallten verwirrend mit Hakes inneren Überlegungen zusammen. Dann fuhr Hake bei einem Satz von Yosper hoch und sagte scharf: »Wie war das?« »Sie sollten aufpassen«, erklärte Mario vorwurfsvoll. »Yosper ist ein großer Mann und hat Ihnen das Leben gerettet.« Der alte Mann tätschelte nachsichtig Marios Arm. »Ich habe nur gesagt, daß ich von Darwin nichts halte.« Hake riß die Augen auf. Das war genauso, als hätte er behauptet, die Erde sei eine Scheibe. »Aber – aber Sie haben doch eben erklärt, nach Ihrer Meinung sollte der Tauglichste überleben.« »Ich habe gesagt, der Rechtschaffene, Hake, aber ich gebe zu, daß es dasselbe ist. Gott gibt uns die Kraft, Seinen Willen zu tun. Aber mit Ihrem Darwin hat das nichts zu tun. Es verstößt gegen die Bibel, also ist es falsch, aus. Und«, fügte er hinzu und erwärmte sich für sein Thema, »wenn Sie sich das Gesamtbild mit Verstand ansehen, werden Sie erkennen, daß es auch gegen die Wissenschaft verstößt. Gegen die wahre, Hake. Gegen die des gesunden Menschenverstandes. Darwin, das ergibt einfach keinen Sinn. Um Himmels willen, machen Sie doch die Augen auf, und sehen Sie sich die herrliche Welt an, in der wir leben. Zitteraale. Kolibris. Wüstensamen, die klug genug sind, nicht auf einen Schauer zu reagieren, aber bei richtigem Regen zu sprießen – wollen Sie mir weismachen, das sei alles durch Zufall gekommen? Nein, mein Lieber. Ihr Mister Darwin hat einfach keine Ahnung. Sehen Sie sich bloß Ihr eigenes Auge an. Ihr Mister Darwin sagt, irgendeine Kaulquappe vor sechzehn Milliarden Jahren hätte mit Schuppen auf der Haut angefangen,
197 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
die auf Licht reagierten, ist das richtig? Und ich soll glauben, daß sie die ganze Zeit hindurch einfach immer wieder versucht hat, diese Schuppen in etwas zu verwandeln, das ein Buch lesen oder einen Fernseh-Bildschirm beobachten kann, das sich mit den auf herrlichste Weise gebauten Muskeln und Nerven drehen kann, die man je gesehen hat, das weint und vergrößert und – na, Ihre Wissenschaftler können nicht einmal eine Maschine konstruieren, die so empfindlich ist wie das menschliche Auge. Und ich soll Ihnen abnehmen, daß das alles durch Zufall geschehen ist, angefangen bei den Schuppen irgendeines Fisches? Das ist so irrsinnig wie – warten Sie.« Dieter war zurückgekommen, gefolgt von einem Kellner, der einen Telefonapparat brachte. Während der Apparat angeschlo ssen wurde, flüsterte der Holländer Yosper etwas ins Ohr. »Aha«, sagte Yosper zufrieden. »Also, hören wir auf mit der Geschichte, unserem Freund wird sie unbehaglich. Ich glaube, der Wein hat jetzt lange genug atmen können, der Kellner soll einschenken.« Hake schüttelte ungläubig den Kopf. Aber was hatte das alles für einen Zweck? Sein Huhn Marsala kam; er wartete ungeduldig, bis der Kellner es vor seinen Augen entbeint hatte, dann aß er hastig. »Ich will keine Nachspeise«, sagte er, als er fertig war, während die anderen noch das Beste von ihren Mahlzeiten genossen. »Ich glaube, ich lege mich schlafen.« »Sicher«, sagte Yosper gastfreundlich. »Sie haben einen schweren Tag hinter sich. Aber das mit morgen wollen wir noch klarstellen. Sie fliegen um acht Uhr früh zum Leonardo da Vinci. Wenn Sie dort ankommen, fahren Sie zum Depot in Rom, wo Sie Ihre Sachen bekommen haben. Man wird Ihnen die richtigen Papiere und Tickets geben. Ich glaube, die Maschine fliegt um zwei Uhr nach New York – morgen nacht werden Sie in Ihrem eigenen Bett schlafen –, aber das wird für Sie alles erledigt. Lassen Sie sich um sechs Uhr wecken. Mario holt Sie um halb sieben ab und bringt Sie zum Flugplatz.«
198 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich lasse Ihnen Kaffee hinaufschicken, bevor wir fahren«, meinte Mario freundlich. »Falls Sie vor Ihrem Flug sonst noch etwas wollen, können wir das nachholen, wenn Sie in Capodochino eingecheckt sind.« Hake stand da und hörte zu. Er bewegte unbehaglich die Schultern. Seine Instinkte wollten etwas mitteilen, das sein Mund nur widerwillig aussprach. Schließlich stieß er hervor: »Ich möchte mich noch bedanken. Bei Ihnen allen. Sie haben mir aus der Klemme geholfen.« »Das stand Ihnen auch zu, mein Lieber. Sie sind uns eine große Hilfe gewesen. Ihre Freundin und die Asiaten waren ein großes Ärgernis, und jetzt ist das erledigt.« »Aber sie sind doch entwischt!« »Die Asiaten, ja. Aber das ist gar nicht schlimm, Hake. Sie sind ein unerfreuliches Paar, und sie zu fangen, ist so schwer, wie Klapperschlangen mit einem Netz zu erwischen. Außerdem ist das bei ihnen nichts Persönliches, mein lieber Junge. Ich wollte sie nicht bestrafen. Man bestraft keine Bombe, nur um sicherzugehen, daß sie einen nicht in die Luft sprengt.« Sie lächelten ihn alle an, während Yosper noch aß und die Jungen sich zurücklehnten und Händchen hielten. Hake wartete auf die Ergänzung. Sie kam nicht. Er sagte mit gepreßter Stimme: »Das Mädchen ist auch entkommen?« »Nicht weit, mein Freund«, sagte Yosper heiter. »Was heißt das?« Yosper seufzte. »Na, mal sehen, ob wir das feststellen können«, sagte er und nahm den Telefonhörer ab. Er sprach ein paar Sätze in einer Sprache, die Hake nicht kannte, und legte strahlend wieder auf. »Sie ist im Regina Coeli, Hake. Sie wird eine Weile aus dem Verkehr gezogen sein.« »Im Gefängnis? Aber weshalb denn? Sie hat hier doch gegen kein Gesetz verstoßen!«
199 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Yosper schüttelte glucksend den Kopf. »Sie hat gegen das grundlegendste Gesetz verstoßen. Sehen Sie, ihr kleiner Verein von Amateuren treibt dieselben Dinge wie wir, nur sind sie nicht so gut. Sie hatte gefälschte Ausweise und Kreditkarten. Aber als wir sie im ›Pescatore‹ aufgespürt hatten und der liebe Mario sich ihr Zimmer vornahm – na, da wußten wir, was sie benützte. Der Rest war einfach. Wir haben sie mit ihren Kreditkarten hochgehen lassen. Sie kam bis Rom, und dort wurde sie wegen Gebrauchs falscher Kreditkarten festgenommen. Sie ist pleite, Hake. Man wird sie auf dem Sklavenmarkt von Rom versteigern, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Es dauert lange, bis sie uns wieder belästigt.« Einundzwanzig Stunden später sprang Hake auf der Trastevere-Seite der Ponte Sant’Angelo aus einem Taxi. Er hatte seine Zeit in Rom nicht vergeudet. Die Ausbildung Unter dem Draht und die praktischen Fähigkeiten, die er sich in den letzten Tagen erworben hatte, waren alle zur Anwendung gekommen. Aus dem sicheren Depot des Teams in Rom hatte er seinen neuen Paß und die Rückfahrkarte nach Amerika geholt, dazu ein paar Ausrüstungsgegenstände, die er an Ort und Stelle verlangt hatte – darunter Tinte und Papier, um sein Ticket umzuschreiben, und die Kreditkarten, um ein paar Dinge außerhalb des Gängigen zu finanzieren. Den Rest des Tages hatte er dafür aufgewendet, in Erfahrung zu bringen, was er wissen mußte. Er legte Spazierstock und ›Ranzen‹ auf den Gehsteig unter dem hochragenden Schichtkuchen von Hadrians Grabmal und bezahlte mit Bedacht den Fahrer, wobei er Münzen nach Lautstärke und Tonhöhe verabfolgte. Als die Worte verklangen und die Stimme wieder zu einem normalen Tenor wurde, wandte er sich ab, griff nach seinen Sachen und ging zur Brüstung bei der Brücke. Der Tiber war an dieser Stelle ein sich sanft dahinschlängelnder Fluß zwischen grasbewachsenen Ufern, er verbreiterte sich hier zu einer tiefen Stelle, strömte dort rasch und schmal. Er sah nicht künstlich aus. Er sah aus, als hätte es ihn immer schon gegeben.
200 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Siete pescatore?« Hake hatte den römischen Polizisten nicht herankommen hören. »Pesce«, wiederholte der Mann und deutete mit seinem Elektro-Schlagstock eine Angelrute an. »Fiisch? Sie fischen? Haben Schein?« »Ach so«, sagte Hake. »Nein, ich will nicht angeln. Nicht fischen. Nur schauen. Voyeur.« »Ah paural« sagte der Polizist mitfühlend und berührte Hake an der Schulter, bevor er weiterging. Hake lehnte sich lässig an das Geländer und wartete, bis der Polizist verschwunden war. Es stimmte, was er gesagt hatte. Es gab Angler auf der Ponte Sant’Angelo, die Haken in den unter der Brücke durchfließenden Strom hielten, selbst um diese Tageszeit. Und im Fluß selbst peitschten ältere Frauen in hüfthohen Watstiefeln das flache Wasser mit Fliegenruten. Hake konnte nicht erkennen, ob sie etwas fingen, aber er wünschte ihnen Glück, weil sie das von ihm ablenkte. Er ging rasch zwanzig Meter weit auf die Brücke hinaus. Dort befand sich, wie auf der Karte des Depots verzeichnet, ein Eisendeckel im Gehsteig. Er benützte den Spazierstock als Stemmeisen, hob den Deckel heraus und starrte hinein. Es war völlig dunkel dort, der Gestank war groß. Auch das war zu erwarten gewesen. Er warf den Rucksack hinein und hörte ihn wenige Meter darunter auf Betonboden fallen; er folgte, stieg eine glitschige Metallleiter hinunter und zog den Deckel über sich wieder an die Stelle, wo er hingehörte. Der Gestank wurde unerträglich, es gab nicht den kleinsten Lichtschimmer. Er befand sich in der größten und ältesten Kloake von Rom. War der Tiber verseucht? Va benel Zubetonieren. Sollte er seine Aufgabe erfüllen! Und jetzt war der Fluß in Wahrheit eine Kloake. Er strömte unter einem grasbewachsenen, gärtnerisch gepflegten Parklandstreifen, darüber strömte ein neuer künstlicher Fluß, damit die Stadtpläne und Brücken gerechtfertigt blieben. Die Abfallbeseitigung hatte Nutzen davon. Den Erfordernissen des
201 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Ästhetischen wurde Rechnung getragen. Und la cloaca maxima nuova floß unbehindert zum Meer. Unbehindert? Ja, vielleicht, aber nicht unbehindernd. Der Gestank lag mindestens eine Größenordnung über allem Gräßlichen, das Hake in seinem Leben jemals begegnet war. Hastig tastete er auf dem schleimigen Beton herum, bis er den Rucksack fand, entdeckte die Schnur und riß sie auf. Es gab ein lautes Zischen, wie ein Reifen, der urplötzlich die Luft verliert, dann entfaltete sich das Ding. Nach zehn Sekunden hatte es Bug und Heck ausgebildet und sich zu einem Kajak ausgedehnt. Hake kramte herum und fand, was er suchte. Im Bootsinneren lag ein Plastiksack, der Stablampe, ein klappbares Paddel und eine Atemmaske enthielt. Als Hake die Maske aufgesetzt hatte, tat er den ersten tiefen Atemzug, seitdem er hier heruntergestiegen war. Die Luft war erträglich. Gerade noch. Es war, als stehe man auf der windabgewandten Seite eines schlechtgeführten Schlachthofes, während man vorher in verfaulendem Fleisch gestanden hatte. Er knipste die Lampe an und schaute sich um. Das Tiberwasser sah nicht schlecht aus. Gegenstände schwammen darin, und der Gestank war unbestreitbar, aber es sah tatsächlich nur kühl und naß aus – bis er die Lampe auf Armlänge hinaushielt und das ölige Schillern sah. Die Decke war ein Stahlgerüst, das an einigen Stellen verputzt war, aber der Putz blätterte überall ab. Der Fluß darunter strömte schneller, als es den Anschein gehabt hatte. Als Hake im Faltboot saß, stellte er fest, daß das Paddeln große Mühe machte. Es wäre klug gewesen, sich flußaufwärts seinem Ziel entgegentragen zu lassen, begriff er. So klug war er nicht gewesen. Mit jedem Schlag kam er einen Meter vorwärts, und während er das Paddel hob, nahm ihn die Strömung dreißig Zentimeter mit. Als Komplikation kam hinzu, daß er von Zeit zu Zeit die Seite wechseln mußte, und noch wichtiger war, daß er vorsichtig zu sein hatte; er wollte nicht, daß die Kloake in das Paddelboot überschwappte, weil der Geruch ihn dort, wo er hinwollte, sofort verraten hätte. Trotzdem konnte er ein gewisses Maß an
202 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Herabträufeln nicht vermeiden. Binnen einer Minute fing er an zu schwitzen, nach zwei oder drei Minuten keuchte er. Wenn an Leotas Gerede von Hypnose wirklich etwas dran ist, dachte er grimmig, könnte ich jetzt von dem Trancezustand etwas gebrauchen. Irgend etwas – egal was, um nicht an den Gestank und die Hitze und die Erschöpfung denken zu müssen, die seine schon überanstrengten Muskeln marterte. Er hatte damit gerechnet, daß er zehn Minuten brauchen würde, um die vierhundert Meter den unterirdischen Tiber hinaufzupaddeln. Es dauerte aber eine halbe Stunde, und bis er den Anlegeplatz fand, den er suchte, war er verausgabt. Gestank hin, Gestank her, er zog die Maske herunter, um mehr Luft zu bekommen. Aber er war da. Er befand sich unter dem großen Pavillon, den man über den Fluß gebaut hatte, für Musik und Tanz und andere Verwendungsmöglichkeiten. Und wenn seine Informationen richtig waren, befand sich Leota irgendwo über ihm. Die Tür war verschlossen, aber wieder bewährte sich die Ausbildung Unter dem Draht. Er war nach einer Minute durch und stand in einem Betonschacht mit Eisentreppe. Nachdem er sechs kurze Treppenabsätze hinaufgestiegen war, fand er eine Tür, öffnete sie rasch und zwängte sich hindurch. Er stand in einem runden, nicht sehr großen Raum, der wie ein chirurgischer Hörsaal wirkte. Der Mittelpunkt war eine Art Vertiefung, wie eine Konzerthalle, hergerichtet für ein PopKonzert. Sie war umgeben von kreisrunden Sitzreihen übereinander; und aus irgendeinem Grund erinnerte ihn das an etwas. Aber vertraut kam es ihm nicht vor. Im Orchestergraben (oder was man dafür halten konnte) gab es hölzerne Sockel, mit Tüchern verdeckt, wie Löwenbändiger sie benützten, aber sie waren nicht besetzt. Er hatte es knapp angehen lassen, doch die Versteigerung hatte noch nicht angefangen. Ein paar Dutzend Personen gingen im Graben herum, andere saßen auf den Bänken des Amphitheaters. Kellner in weißen Jacketts und Kellnerinnen mit winzigen Cocktailröckchen gingen mit Tabletts voll Wein- und Orangensaftgläsern zwischen ihnen herum.
203 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Niemand hatte ihn bemerkt, als er hereingekommen war. Er griff wahllos nach einem Glas und erkannte, was die Nicht-Erinnerung ihm hatte sagen wollen, während er den Geschmack des Safts spürte. Es sah hier genauso aus, wie er sich Shakespeares Globe-Theater vorgestellt hatte. Eine Frau im langen Kleid mit angesteckter Blume kam heran. »Il programma, Signore?« Er ließ sich das Programm geben, dankte ihr und überreichte, als sie zu warten schien, hundert Lire als Trinkgeld. Sie sah ihn merkwürdig an, und er wandte sich ab, als brauche er unbedingt etwas, wo er sein Saftglas abstellen konnte. Die Hälfte der Menschen schienen Geschäftsleute aus dem Westen zu sein, männliche und weibliche. Die anderen trugen Burnusse, ein paar Daschikis, und Hake hörte Satzfetzen in alten, vertrauten Sprachen. Er lauschte nicht. Er kam sich fehl am Platze vor und legte größten Wert darauf, nicht aufzufallen. Die Sonnenbrille verdeckte seine beiden Veilchen, aber die Blutergüsse an seinem Gesicht waren immer noch deutlich erkennbar, und er nahm wahr, daß er ein wenig nach Kloake roch. Er war außerdem jünger als fast alle anderen Männer hier und weit billiger gekleidet. Es würde nicht leicht sein, in dieser Gruppe aus dem Rahmen zu fallen, so bunt war sie zusammengesetzt. Die Scheichs waren nicht alle Araber und vermutlich auch keine Scheichs. Hake erkannte Beduinen und Türken ebenso wie die vertrauten Palästinenser und Libanesen seiner Kindheit. Manche waren schwarz und mit gröberen Zügen ausgestattet als alle anderen – vielleicht Sudanesen oder was auch immer, die Geld besaßen. Das war das gemeinsame Merkmal bei allen, ob sie Burnusse trugen oder offene Sporthemden, oder wie die Frau, die Hake auf französisch anfuhr, als er sie anstieß, einen Hosenanzug in Samt. Manche waren schlechter gekleidet als Hake. Aber sie hatten eine Ausstrahlung, die verriet, daß sie, wenn das wirklich der Fall war, es so wünschten, und sie sahen allesamt wie Leute aus, die sich holten, was sie wollten. Hake griff wieder nach einem Glas – diesmal achtete er darauf, daß es Wein war und kein Fruchtsaft – und zog sich an den Rand der Bühne zurück, um das Programm zu studieren. Es war
204 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
eigentlich kein Programm, sondern eher ein Katalog. Ein weicher, mattierter Umschlag enthielt eine vierseitige, säuberlich fotokopierte Liste der fünfzehn verschuldeten Kreditbetrüger, die an diesem Abend verkauft werden sollten. Er hatte ein Exemplar in italienischer Sprache genommen, vielleicht war das der Grund dafür, weshalb die Programmverkäuferin ihn so sonderbar angesehen hatte. Leotas Name stand nicht auf der Liste. Natürlich nicht. Er suchte gründlich und entschied, daß ›Joanna Sailtops, signorina die 26 anni, degli Stati Uniti, L 2 265000‹ Leota sein mußte. Und wenn die Zahl von über zwei Millionen Lire ihren Kaufpreis bezeichnete, lag das durchaus innerhalb der Grenzen der Kreditkarten, die er gefälscht hatte. Sonst schien das Programm nichts Nützliches zu enthalten, aber es gab eine Anleitung in acht Sprachen, inklusive Franz ösisch und Deutsch und Japanisch, aber auch in Englisch und Arabisch. Die Verkaufsbedingungen. Der Vertrag entsprach den italienischen Gesetzen, was zumindest hieß, daß Leota irgendwo in Italien bleiben würde, bis er ablief; außerhalb Italien wurde er automatisch ungültig. Jede dieser Personen hatte Kreditbetrug gestanden und als Ersatz für eine Gefängnisstrafe Vertragsdienst akzeptiert. Der Verkaufserlös sollte die erlittenen Verluste ausgleichen und Anleihen finanzieren; ein Prozentsatz wurde abgezogen, um die staatlichen Kosten zu decken, die Prozeß und Versteigerung machten. Jede Person war gegen weitere Schäden gesichert. Jede war an diesem Nachmittag ärztlich untersucht worden, und die Unterlagen würden aufbewahrt werden; eine zweite Untersuchung würde stattfinden, sobald eine Dienstzeit beendet war, und wenn dauerhafter Schaden angerichtet worden sein sollte, hatte die betroffene Person das Recht, Schadensersatz ebenso einzuklagen wie den Käufer gerichtlich zu belangen. Es war nicht direkt Sklaverei, gestand Hake sich ein, aber nahe dran, sehr nahe dran. Er hob den Kopf. Es tat sich etwas. Die Kaufwilligen, die sich gesetzt hatten, verließen ihre Plätze und kamen zur Bühne hinunter. Er sah auch gleich, warum. Angestellte in weißen
205 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Kellner-Jacketts führten eine Reihe von Personen herein, die dünne Umhänge und il minimi trugen. Sie waren die Auktionso bjekte. Und als fünfte kam Leota herein. Die Bekleidung, die in der Blauen Grotte als ein wenig ausgefallen, wenn auch sehr attraktiv erschienen war, empfand Hake hier als schrecklich dürftig. Hake gefiel es nicht, wie die anderen Kunden Leota ansahen. Sie betrachteten sie freilich nicht alle, aber selbst die Tatsache, daß die anderen vierzehn Objekte Aufmerksamkeit erweckten, manche eine sehr viel größere als Leota, erschien ihm entwürdigend. Er zwängte sich an einer Kellnerin und einem zierlichen, dunkelhäutigen Mann mit Käppi und maßgeschneidertem Shorts-Anzug vorbei, um zu ihr zu gelangen. Ihre Augen wurden groß. »Hake! Nichts wie raus hier!« Er schüttelte den Kopf. »Ich hole dich hier raus. Ich bezahle deine Rechnung – « »Verschwinde!« zischte sie und schaute sich hastig um. Auf dem zugedeckten Podest neben ihr führte einer der Angestellten die Muskeln eines halbwüchsigen Bauernjungen vor, in dessen Hals Macho-Kiemen eingeritzt waren. Nur der Araber im ShortsAnzug beobachtete sie. Und er lächelte. Die Tatsache, daß Leota einen Freund hatte, machte sie nur interessanter, begriff Hake zornig. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Du kannst dir das nicht leisten. Und ich komme schon zurecht. Wenn du etwas tun willst, um zu helfen, dann denk an das, was wir auf dem Schiff gesprochen haben.« »Daran denke ich. Aber ich kaufe dich frei, Leota. Ich habe das, äh, das Geld.« »Idiot! Nimm falsche Kreditkarten, und du landest auch hier oben. Horny, du kannst so dumm sein. Was glaubst du, wie lange es dauert, bis deine Freundchen hinter mir her sind, wenn ich hier mit dir fortgehe?« Während er auf eine Antwort zu kommen versuchte, fügte sie hinzu: »Es sind ja nur dreißig Tage oder so. Sie bieten tagewei-
206 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
se, und ich sollte am Tag sechzig- bis siebzigtausend Lire wert sein.« Sie warf einen Blick auf den Saudi, der näher heranschlenderte und ihre Figur betrachtete. »Und jetzt verschwinde! Ich – ich bin dir dankbar für den Versuch, Horny, aber ich brauche deine Hilfe nicht. Ich bin viel sicherer, wenn irgendein Pastafabrikant mich eine Weile mit nach Hause nimmt, bis Gras über die Sache gewachsen ist.« »Entschuldigen Sie«, sagte der Saudi höflich und beugte sich an Hake vorbei nach vorn, um Leota ins Gesicht zu starren. Hake spürte, daß er zitterte. Der Gedanke, daß Leota verkauft werden sollte in – in das, was praktisch Prostitution war, wie irgendein Teenager aus Minneapolis, den sich ein Zuhälter vom Times Square unter den Nagel riß, zerrte an Nerven, von denen er nicht gewußt hatte, daß er sie besaß. Er war sich einer ungewohnten Regung zwischen den Beinen bewußt. Es war keine bildliche Sache, sondern eine körperliche Tatsache, so, als reagierten seine Hoden auf die Bedrohung seiner Mannbarkeit, indem sie wegzuschlüpfen versuchten. Und gleichzeitig fühlte er den starken Drang, den Araber niederzuschlagen. Dies alles war für Hake so erstaunlich wie unerfreulich, weil er sich nie als noblen Fechter für die Weiblichkeit gekannt hatte. Ich bin ein gottverdammter Anachronismus, sagte eine Stimme in ihm, ich gehöre an den Hof nach Aquitanien. Und ganz unabhängig davon spannte ein anderer Teil seines Gehirns – oder vielleicht ein Stück von Horny Hake, das gar nichts mit seinem Gehirn zu tun hatte – die Muskeln an, betätigte die Sehnen und Gelenke, die den Saudi wegstießen, Leota am Arm packten und sie davonzogen, zum Ausgang, wo ein Mitarbeiter nach einem Telefon griff, während drei andere drohend auf ihn zukamen. Zwei packten Hakes Arme, der dritte schüttelte drohend die Faust und schrie etwas auf italienisch. Von hinten traf etwas Hakes Schulter; er drehte den Hals und sah, daß es der Saudi war, die schmalen Lippen unter der Adlernase schmollend, das Offiziersstöckchen aus Elfenbein erhoben, um ein zweites Mal zuzuschlagen. Einer der Wärter trat diplomatisch zwischen sie. Der Araber wich zurück und unterließ den Hieb, um
207 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
nicht berührt zu werden, während er in vornehmstem OxfordEnglisch sagte: »Dieser gewöhnliche Mensch – hatte die Unverschämtheit – über mich herzufallen.« »Stimmt gar nicht!« Der Wärter verdrehte ihm den Arm, aber Hake fauchte: »Er lügt! Ich habe ihn höchstens weggeschoben!« »Ich schlage vor«, sagte der Araber schrill, »daß wir es den Behörden überlassen, mit diesem Gangster fertigzuwerden.« Und erst jetzt sah Hake, daß hinter den Angestellten zwei Carabinien aufgetaucht waren. Einer von ihnen, den Hake schon einmal gesehen zu haben glaubte, sprach traurig und bedächtig auf italienisch, während die Angestellten nickten. »Er sagt«, dolmetschte der andere Polizist, »daß Sie schon gestanden haben, sexuell abartig zu sein. Bestreiten Sie es? Schämen Sie sich! Ein Voyeur! Und Sie dringen hier unbefugt ein und beleidigen unseren Gast, Scheich Hassabou.« Hakes schrumpfende Vernunft besaß noch genug Macht, um ihn zu veranlassen, daß er mit ruhiger Stimme sagte: »Ich sehe schon, daß sich hier ein Mißverständnis eingeschlichen hat.« Aber gleichzeitig bäumte sich die Unvernunft gegen die nachlassende Beherrschung auf. Der Araber hob nachdenklich wieder sein Stöckchen. Hake hätte bei ruhiger Überlegung vielleicht erkannt, wie wenig dafür sprach, daß der Araber noch einmal zuschlagen wollte. Weshalb auch? Das Recht war auf seiner Seite, zusammen mit der Majestät des Gesetzes. Der analytische Hake war aber nicht beteiligt. Der Drüsen-Hake und der vom Männlichkeitswahn erfaßte Hake und der verhexte Aquitanier Hake waren in der Übermacht und überwältigten den vernünftigen. Er stieß die Arme des Polizisten weg. Erschrocken schlug der Saudi mit seinem Stöckchen zu, während seine andere Hand instinktiv zum Griff des Zierdolches in seinem Gürtel zuckte. Und natürlich hätte der Araber ohne jede Frage ihn nicht dazu benützt, um zu töten. Und als Hake instinktiv nach dem Dolch griff und ihn erstaunt plötzlich in der Hand hatte, hätte er ihn auch nicht zum Töten verwendet. Aber der denkende Hake
208 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
wußte das erste nicht, der denkende Araber, Polizei und Angestellte wußten nicht das zweite, und schlagartig war Hake das Abbild des rasenden Perversen, mit einem Mordwerkzeug in der Hand. »Oh, Horny!« rief klagend Leotas Stimme. »Hättest du doch gehört auf -« Und sie stürzten alle vor und hieben ihn zu Boden.
209 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
9 »Als ich auf die Weiber noch so wild war wie Sie«, sagte Yosper und ließ den Whisky in seinem Glas kreisen, während sie auf Hakes Flugzeug warteten, »war ich so hornblöd wie Sie, oder nein, nicht ganz so blöd, aber auch blöd. Ich hätte mich bei jeder dummen, dreckigen, hübschen Muschi umbringen mögen, die ein Bein auf meinen Stöpsel hob, genau wie Sie. Natürlich hab’ ich es nicht getan. Ich war schon damals nicht ganz bekloppt. Aber ich wäre fähig dazu gewesen, ja.« Und es war, als spielten sie immer wieder dieselben Szenen. Die Kulisse sah ein wenig anders aus; sie saßen in der Dachbar des Flughafens von Rom, statt in einem Restaurant auf dem Vomero oder in einem Nachtklub von Capri oder in einer Pension in München. Aber die Schauspieler waren dieselben und spielten die alten Rollen. Nur die eine Nebenfigur, Hake selbst, war anders geschminkt: Er trug einen Kompressenverband über dem linken Ohr, damit die Nähte dort hielten. Der Rest – die Veilchen, der blau und grün glänzende Unterkiefer, die steifen, unsicheren Bewegungen – entsprach der Schrift auf einem Staffeleiplakat, ›Einige Zeit später‹, was er verkörperte. Aber das Stück war eine Reprise, Yospers Monolog, belauscht vom Chor, dem tapferen Mario, dem liebevollen Dieter, sogar dem lachenden Carlos, der eben von irgendwo eingeflogen war, um sich Yosper zu weiß-Gott-was anzuschließen. »- gibt natürlich ein paar Typen, die ich persönlich nicht mal mit einem geliehenen, äh, Ding anrühren würde. Jetzt nicht mehr. Nicht mal, als ich sehr viel jünger war als Sie, Hake, und fast so dumm. Haben Sie sie gepimpert?« Hake funkelte ihn mit fast zugeschwollenen Augen an. Der alte Mann wedelte mit der Hand. »Sie haben es wohl getan, und Sie haben ihre Cojones dahin gebracht, wo Ihr Gehirn hingehört. Eine üble, dumme Sache, Hake, aber das ist schon besseren Männern als Ihnen passiert, und ich nehme Ihnen das nicht übel. Sie kommen praktisch ungeschoren davon. Ein paar Schmerzen und Stiche nicht mitgezählt, versteht sich. Die Polizei hat die Anschuldigung fallenlassen, ganz in Ordnung. Sie hatte ihren Spaß schon
210 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
gehabt, als Sie auf dem Weg zur Questura in die Mangel genommen wurden. Es steht also nichts in den Akten und wird auch nichts hineinkommen, wenn Sie den Scheich nicht ärger in Wut gebracht haben, als ich annehme. Aber das bezweifle ich, weil er fort ist. Also – kein Bericht und kein Problem! Die Jungs und ich werden nichts sagen. Und – Mann! Sie können bei einer Wirtshausschlägerei mitmischen, Hake, wissen Sie das? Sieben gegen einen, und Sie marschieren einfach drauflos! Hätte ich nicht von Ihnen gedacht.« »Hören Sie jetzt auf«, sagte Hake klar vernehmlich. Yosper war, in voller Fahrt, aus der Fassung gebracht. »Was?« »Ich sagte, Sie sollen einmal aufhören. Bitte«, fügte er pro forma hinzu. »Ich will wissen, was mit Leota geschehen ist.« »Na, sie ist fort, Hake. Der Scheich von Arabien ist zu seinem Wüstenzelt irgendwo im Sahel oder sonstwo zurückgekehrt, und natürlich hat er sie mitgenommen, damit sie ihm gibt, was er haben will. Wissen Sie«, sagte er bedächtig, »nach allem, was man hört, wollen diese Scheichs ja die ausgefallensten Sachen. Nur schade, daß Sie sie nicht irgendwann mal fragen können, Hake. Wär’ interessant, was zu lernen, nicht?« »Yosper, Sie gottverdammter – « Die drei jungen Männer am Tisch verlagerten ein wenig das Gewicht, ohne Drohung oder Zorn, setzten sich einfach in ›Bereitschaft‹. Yosper hob die Hand. »Hake tut doch gar nichts, oder, Hake? Nein. Sie sollten den Namen Gottes nicht mißbrauchen. Aber Er hat so viel Verständnis wie ich, und Er weiß, daß Sie nur stocksauer sind.« Er schwieg einen Augenblick und sah Hake mit scharfen blauen Augen an, die erstaunlicherweise etwas verrieten, das Hake nur als Mitgefühl bezeichnen konnte. »Kommen Sie drüber weg, Junge«, sagte er. »Sie werden sie nie wiedersehen. Hören Sie. Alles spricht dafür, daß sie dabei sehr gut wegkommt. Der alte Scheich Hassabou gibt seinen Damen Smaragde und Rubine –
211 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
vielleicht auch ein paar Narben, mag sein. Regen Sie sich nicht auf, alter Freund.« »Natürlich rege ich mich nicht auf«, sagte Hake bitter. »Wozu auch? Ich habe nur einem Mädchen das Leben kaputtgemacht und mich an Drogenhandel beteiligt und -« »Nur die Ruhe, mein Junge. Dafür gibt es wichtige Gründe.« »Ich kann nicht erwarten, zu hören, was der wichtige Grund dafür ist, Kinder süchtig zu machen«, fauchte Hake. »Hake«, sagte Yosper gütig, »Rauschgift ist gar nicht so schlecht. Ich hab’ das erlebt. Schon mal von Haight-Ashbury gehört?« Hake zog die Schultern hoch. »Irgendwo in Kalifornien. Lange her.« »Ich war dabei«, erklärte Yosper stolz. »Alles Liebe und Teilen und Drogen, und keiner kam zu Schaden. Nicht besonders. Das hielt natürlich nicht. Die Reichen gingen nach Napoma, wir anderen versuchten es im East Village, in den Höhlen auf Kreta und in Khatmandu. Ich war überall dabei, mein Junge, und danke meinem Herrn Erlöser, daß ich es nicht noch einmal machen muß.« Er starrte ins Leere, und seine Lippen bewegten sich, als schmecke er etwas Feines ab. »Guter Stoff in Nepal«, sagte er schließlich, »aber das verstößt gegen Gottes Gebote. Jetzt treiben sie sich alle um den Persischen Golf herum, alte Knacker wie ich, die nichts gelernt haben, und junge Leute, die sich noch nicht auskennen.« »Yosper, warum vergeuden Sie Ihre Zeit mit ihm?« knurrte Carlos. »Die ist nicht verschwendet«, sagte Yosper ernsthaft. »Der Junge ist in Ordnung. Er hat nur ein paar falsche Vorstellungen, übers Rauschgift etwa. Wenn man es richtig betrachtet, tun wir den jungen Leuten hier sogar einen Gefallen.«
212 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Uns auch.« Dieter grinste. »Wir verdienen mit dem PCP noch mehr als vom Verkauf der Ku-Klux-Klan-Hemden in Deutschland.« »Aber die jungen Leute haben das meiste davon«, meinte Yosper beharrlich. »Rauschgift macht Männer aus den Jungen, und es bringt einem allerhand übers einfache Leben bei. Na«, sagte er ernsthaft, »ohne die Zeit in Haight und Khatmandu wär’ ich nicht halb so ehrlich und aufrichtig und mitfühlend.«
213 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
10 Hake flog in viel vornehmerem Stil in die Vereinigten Staaten zurück, als er sie verlassen hatte. Er saß im Abteil der Ersten Klasse im Trans-Pam-Jumbo, eingelegt in Weine, mit Kissen verwöhnt, und der Platz neben ihm war bezahlt und leer. Die Stewardess machte ein kleines Bett für ihn zurecht. Das Team belohnte seine Leute. Aber Hake fragte sich, wie er es dem Team am besten heimzahlen konnte. Er begann darüber nachzudenken, während der Jet in den gelbgrauen tyrrhenischen Himmel hinaufschoß und der ölverseuchte Strand von Ostia zurückblieb. Er schlief nicht, auch dann nicht, als eine der Stewardessen ihm heiße Milch brachte und eine andere sich zu ihm setzte, um den armen bandagierten Kopf des Mannes zu streicheln, der von Ragazzi so brutal überfallen worden war. Er wünschte sich, in Ruhe gelassen zu werden. Er war damit beschäftigt, Pläne zu schmieden. Am Kennedy-Flughafen eilte der Chefsteward zum Flugsteig, um mit den Zollbeamten zu sprechen, und eine Stewardess brachte ihm einen Rollstuhl. Er kam an die Spitze der Schlange, und als er die Einwanderungsbehörde hinter sich hatte, wartete ein Trans-Pam-Kurier, um Reverend Hake zu seiner wartenden Limousine zu bringen. Hake nahm wahr, was vorging. Zum Teil nur dies, daß Yosper dem Chefsteward etwas ins Ohr geflüstert hatte – das Leben des armen Mannes sei in Gefahr, eines Raubüberfalls im Schatten des Kolosseums wegen. Aber da war noch mehr. Die unsichtbare Umarmung des Teams ließ ihn nicht frei. Einer von Yospers Leuten hatte sogar voraustelefoniert. Es war zehn Uhr abends, bis das Auto Long Branch erreichte, aber Jessie Tunman war vorgewarnt und wartete. Sie blickte in sein zerschlagenes Gesicht. »Oh, Horny! Es hieß, Sie brauchen vielleicht einen Rollstuhl, aber ich dachte, wir könnten Ihren Gehapparat verwenden. Sie können sich auf meinen Arm stützen – «
214 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich kann gehen, Jessie.« Er winkte den Fahrer weiter – mochte das Team ihm ein Trinkgeld geben, wenn es das war, worauf er wartete. Sie schnalzte verzweifelt mit der Zunge. »Sie sehen wirklich schrecklich aus, Horny.« »Sehr nett, daß Sie mir das sagen, Jessie.« Er bewies seine Gehfähigkeit, indem er mühsam an ihr vorbei ins Haus humpelte. Aus all den Stichen und Sengschmerzen waren dumpfe Qualen und Steifheiten geworden, und das Gehen machte keine Freude. Er wollte nicht darüber reden. Er wußte, daß sie ihm gefolgt war, ließ die Reisetasche fallen und sagte über die Schulter: »Und in den nächsten Tagen will ich niemanden sehen außer Ihnen.« »Na, das kann ich Ihnen nicht verdenken, Horny.« »Außer daß ich morgen früh als erstes einen IBM-Mann sehen will und einen Autohändler«, sagte er. »Ach ja, weil ich gerade davon spreche, einen Teppichverkäufer. Und übermorgen möchte ich früh nach Washington fliegen.« »Sie meinen den Metroliner, nicht?« »Einen Flug meine ich. In einem Flugzeug. Und jetzt nehme ich ein heißes Bad und gehe ins Bett. Gute Nacht, Jessie.« Sofort, als sie das Haus verlassen hatte, gluckenhaft und aufgeregt, um zweimal zurückzukommen und ihm zu sagen, sie hätte einen Topf Hühnersuppe auf den Herd gestellt und sie sei nicht sicher, ob sie alle diese Leute herbeiholen könnte, aber sie werde ihr Bestes tun, erst als das alles vorbei war, kippte Hake seine Reisetasche aufs Bett. Er warf die gebrauchte Wäsche (ein Teil davon noch von den Wochen Unter dem Draht) in den Wäschekorb und zögerte angesichts der übrigen Dinge. Nachschlüssel, Würgeschlinge, Stromprüfer. Fernmeldecodes und Bluebox-Stimmpfeife. Ganz unten die Magnetbänder und Mikrofilme, die ihm »Der Unglaubliche Art« vor so langer Zeit gegeben hatte, und für sie sah er keine unmittelbare Verwendung. Bei den anderen Dingen – ja, ohne Zweifel. Er war noch
215 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
nicht sicher, welchen Gebrauch er davon machen würde, aber das würde sich schon ergeben. Er zog sich aus und hinkte zum großen Spiegel an der Badezimmertür. Er sah verheerend aus. Das alte Narbengeflecht an der linken Brustkorbseite, wo man die Rippen mit einer Art Wagenheber gespreizt und wieder gespreizt hatte, verschwand beinahe unter den neuen, umfangreicheren Spuren. Der ganze Körper war mit grüngrauen Blutergüssen übersät. An beiden Augen trug er dunkle Veilchen. Unter dem Heftpflaster waren die zerquetschten Nasenflügel dunkelrot, der Verband am Ohr war blutgetränkt. Er betrachtete sich prüfend und nickte. Niemand, der Unter dem Draht ausgebildet worden war, hätte es gründlicher machen können. Blieb abzuwarten, was er dagegen unternehmen würde. Er ließ heißes Wasser in Mengen in die Badewanne fließen und spülte versuchsweise seine Toilette, während er wartete, bis die Wanne voll war. Sie sagte nichts zu ihm, die Schüssel, nicht einmal Guten Abend. Offenbar hatte er heute frei. Hake ließ sich in die dampfende Wanne gleiten, so zerschlagen und sorgenvoll, daß er beinahe Frieden empfand. In seinem Kopf lagerte ein fester, genau umrissener Klumpen kalter Wut. Es war nicht nur hilfloser Zorn, vermischt mit Enttäuschung; jetzt nicht mehr. Das hatte sich verwandelt, und die Verwandlung hatte stattgefunden, als Yosper und seine Jungs ihn durch die oberflächliche Paßkontrolle in Rom geführt hatten. Sie waren in militärischer Formation dahingegangen, Yosper rechts von ihm, Dieter links; Carlos ein paar Schritte dahinter, Mario als Nachhut; genauso, als patrouillierten sie in einer gefährlichen Gegend, und als Yosper dem Flugabfertiger jovial zuwinkte und Hake an ihm vorbei in die wartende Maschine führte, blieb er stehen und sagte mit echtem Gefühl: »Sie sind ein feiner Kerl, Hake.« Er tätschelte verlegen Hakes Schulter, dann verbesserte er sich: »Zu stur, verdammt. Das bringt Sie noch mal in Schwierigkeiten, mein Junge, und zwar in echte, denken Sie an mich. Aber Sie haben allerhand Mumm. Ich möchte Ihnen sagen, daß ich Sie zur Beförderung vorschlage. Und das nächste Mal,
216 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
wenn ich einen Auftrag habe, bei dem Sie helfen können, werde ich Sie namentlich verlangen.« »Danke«, sagte Hake, und in diesem Augenblick traf er seinen Entschluß. In seiner Badewanne dachte er, während er die grünen Meerjungfrauen auf dem Plastik-Duschvorhang betrachtete, über die Mittel und Wege nach. Sie verzeihen dir alles, dachte er, solange du den Auftrag ausführst. Noch mehr, wenn du den Mumm zeigst, daß du ab und zu was Eigenes treibst. Leota hatte völlig recht gehabt; man bereitete ihn auf eine ganz große Sache vor, und allem Anschein nach war man der Ansicht, daß er sich großartig hielt. Nun gut. Er würde das Vertrauen annehmen. Er würde ihre irren Macho-Spiele mitmachen und alles tun, um noch mehr Vertrauen zu ernten. Es war eine gute Sache, Vertrauen zu haben, weil man ohne das nicht die Macht besaß, zu verraten. Diesmal war der Empfang in der Lo-Wate Abfüll-GmbH von einem schlanken, älteren Orientalen statt von dem damaligen Türsteher besetzt, aber er sah Hake ebenso angewidert an. »Haben Sie einen Termin?« fragte er, so, als stehe schon fest, daß das nicht der Fall sein konnte. »Ich bin Reverend H. Hornswell Hake, möchte sofort Griesgram sprechen und brauche keinen. Sagen Sie ihm, daß ich da bin.« Hake setzte sich und schlug eine Zeitschrift auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Er hatte keine Zweifel daran, daß er am Empfang vorbeikommen würde. Wenn sein Name oder die Spuren der Mißhandlungen an seinem Gesicht nicht Ausweis genug waren, würde es seine Arroganz sein. Hake war durchaus nicht sicher, ob diese Arroganz alle Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Team beseitigen würde, aber sie war im Augenblick sein bestes Werkzeug. Und außerdem machte sie ihm Spaß.
217 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Als er endlich in das Büro geführt wurde, an das er sich erinnerte, starrte ihn Griesgram finster an. »Sie haben mich aus einer Planungssitzung geholt«, fauchte er. »Mann, Sie haben noch viel zu lernen. Sie kommen niemals ohne Befehl hierher, verstanden!« »Ich habe verstanden und werde mich daran halten«, sagte Hake und nickte, »vorausgesetzt, Sie lassen den Quatsch weg. Erteilen Sie mir keine Aufträge mehr, bei denen ich mich nicht auskenne. Überhaupt keine mehr. Sonst mache ich eine Menge Schwierigkeiten. Haben Sie das verstanden?« »Hören Sie mal – « »Noch nicht. Zuerst sehen Sie sich mein Gesicht an. Ich gebe zu, daß die Hälfte meine Schuld ist, aber die andere Hälfte nicht. Ich habe diese Spuren davongetragen, weil das Team mich im Stich gelassen hat. Das wird nicht wieder vorkommen, und verhindern tun wir das, indem ich vollständig eingeweiht werde, bevor ich für Sie auch nur einen Finger krumm mache. Mehr noch. Ich werde das Recht haben, anzunehmen oder abzulehnen, je nachdem.« Er verstummte und lehnte sich zurück. »Ich hoffe, Sie haben verstanden und werden sich daran halten«, sagte er gelassen. Griesgram einer Hand unsicher in plötzlich die
funkelte kurze Zeit grimmig vor sich hin, fuhr mit durch seinen dichten Bart, während die andere der Nähe seiner Pistole herumstrich. Dann zog er Schultern hoch und atmete tief ein.
»Vielleicht hat Jasper Medina recht bei Ihnen«, meinte er. »Kommt darauf an, was er sagt.« »Er sagt, Sie wären viel hartgesottener, als Sie aussehen«, erwiderte Griesgram nachdenklich. »Tja, vielleicht ist es das, was wir brauchen. Aber das heißt nicht, daß Sie so etwas noch einmal machen können. Einmal, vielleicht. Noch einmal, und Sie sind erledigt, Hake, im Ernst!«
218 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich habe verstanden und werde mich daran halten«, sagte Hake, »vorausgesetzt, irgendein Trottel tut nicht etwas, das mir keine Wahl läßt. Also, weshalb ich hier bin. Ich habe ein paar Sachen für mich bestellt – ein Auto, ein Computer-Terminal, Diverses für die Kirche – « »Computer? Ausgeschlossen, Hake. Außenagenten Stufe drei haben keinen Anspruch auf eigene Computer-Terminals. Wissen Sie überhaupt, was die kosten?« »Belasten Sie KLM damit.« »Kein Computer! Es geht nicht nur um das Geld. Sie fallen zu sehr auf. Nein.« Hake zog die Brauen zusammen, dann beschloß er, darüber hinwegzugehen. Wenn er zu dem Schluß kommen sollte, daß er wirklich einen brauchte, würde er ihn sich so oder so beschaffen und mit den Fähigkeiten, die er Unter dem Draht erworben hatte, dafür sorgen, daß er ihn auch bezahlen konnte. »Dann noch ein letzter Punkt: Ich wünsche, daß das Team mir hilft, Leota Pauket aus dem Harem dieses Scheichs herauszuholen.« Griesgram grinste. »Da sind Sie zu weit gegangen. Wenn Sie in seine oder ihre Nähe kommen, sind Sie tot, Hake.« »Aber ich bin schuld daran, daß sie dort ist.« »Na sicher sind Sie das. Aber was hat das damit zu tun? Nein, ausgeschlossen. Scheich Hassabou ist ein wichtiger Verbindungsmann und darf nicht gefährdet werden. Übertreiben Sie es nicht, Hake. Abgesehen von Jasper Medinas Empfehlung spricht für Sie eigentlich nur, daß Sie es erleichtert haben, diese Verbindung herzustellen. Sie hatten das nicht so geplant, aber wir hatten Glück.« »Er? Wozu soll er gut sein? Das ist ein ausgelaugter alter Ölscheich, der nur noch Geld hat, sonst nichts.«
219 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Griesgram schüttelte den Kopf. »So weit können Sie mich nicht bringen. Ich will Ihnen soviel anvertrauen: Das Team hat ein wichtiges Ziel, und wir brauchten jemanden, der uns dabei hilft. Das ist er. Als Medina sich mit ihm in Verbindung setzte, damit er die Anzeige gegen Sie zurückzog, gab das Gelegenheit, andere Themen zu besprechen – und sie kamen zur Sprache. Aus, Hake. Ihre anderen Spielsachen können Sie haben.« »Aber Leota – « »Hören Sie auf damit, Hake! Wir haben keinen Anlaß, dieser Frau irgendeine Gefälligkeit zu erweisen. Ich will Ihnen was sagen«, meinte er ein wenig nachgiebiger. »Sie hat dort nur dreißig Tage abzudienen. Dann sehe ich weiter. Vielleicht können wir das löschen, was gegen sie vorliegt.« Hake sah plötzlich vor sich, wie Leota reagieren würde, wenn er ihr sagte, daß das Team anbot, zu löschen, was gegen sie vorlag. Immerhin, er hatte mehr erfahren, als er bei seiner Ankunft gewußt hatte, und das meiste, womit er wirklich hatte rechnen können, waren ein paar Informationsbrocken gewesen. »Ich warte, Hake.« Man konnte es auch zu weit treiben. Widerwillig sagte Hake: »Ich habe verstanden und werde mich daran halten, aber – « »Kein Aber. Kein Wort mehr«, sagte Griesgram. »Adieu, Hake.« Als Hake nach Long Branch zurückkam, stand sein neues Auto am Randstein. Es war ein Tata-Dreiradfahrzeug, wasserstoffgetrieben, und Jessie Tunman trat auf die Veranda hinaus, um es sich anzusehen. »Warum gelb?« fragte sie naserümpfend. »Das war gerade auf Lager«, gab Hake zurück. Sie schüttelte mißbilligend den Kopf.
220 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Nach all Ihrem Gerede über Energieferkelei«, sagte sie. »Und während die Zahlungsbilanz mit den neuen WasserstoffImporten immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät – na, ist ja Ihr Leben. Sind Sie jetzt fähig, dienstlich etwas zu erledigen, Horny?« »Was meinen Sie?« »Nun, ein paar Leute wollen Sie sprechen.« »Keine Beratung, bis mein Gesicht verheilt ist.« »Gut, aber Alys’ Ehemänner haben angerufen, jeder zweimal.« »Ich will nichts davon wissen.« »Und die Windmühle macht manchmal einen furchtbaren Krach, Horny. Ich habe die Firma dreimal angerufen, aber man unternimmt nichts.« »Sagen Sie den Leuten, wenn sie heute nicht sofort einen Mann herschicken, reiße ich das Ding ab und kaufe anderswo eine neue Anlage.« »Horny!« »Sagen Sie ihnen das. Jetzt mache ich mit meinem neuen Wagen eine Spritztour.« »Fahren Sie ihn bei guter Gesundheit«, sagte sie und zog die Nase hoch. Das steht noch keineswegs fest, dachte er und zuckte zusammen, als er auf das fremdartige Gaspedal trat, Kupplung und Bremse bediente und ihm unbekannte Muskeln schmerzten. Aber das war keine Vergnügungsfahrt. Sie konnte für sein Leben sogar sehr wichtig sein. In Griesgrams Büro war Hake der Gedanke gekommen, daß es sehr leicht sein würde, zuviel zu riskieren, und zwar mit möglicherweise sehr unerfreulichen Folgen. Auf der anderen Seite gab es einen Weg, die Karten zu verbessern, die er bekommen hatte. Worauf er es jetzt abgesehen hatte, war ein neuer verdeckter Trumpf. Er fuhr deshalb zum Ashbury Park hinunter und hielt unterwegs am
221 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Discountladen, um einen neuen Kassettenrecorder und Bänder zu kaufen. Der Strand war natürlich belagert von Badelustigen, aber auf den Steinmolen standen nur wenige Brandungsfischer; es gab im schlammigen Atlantik vor New Jersey nicht mehr viel zu fangen. Mühsam kletterte Hake an ihnen vorbei die Felsen hinauf zu einer Stelle, wo Wind und Brandung und Entfernung seine Stimme einhüllten. Er setzte sich, steckte eine neue Kassette in das Gerät und begann zu sprechen. »Mein Name ist H. Hornswell Hake, Pastor der Unitarierkirche in Long Branch. Eine Spionage- und Sabotage-Organisation mit dem Namen ›Das Team‹ setzte sich am 16. März erstmals mit mir in Verbindung, indem sich eine Person, die wohl dem Team angehörte, meiner Sekretärin als Steuerfahnder und mir als Senatsmitarbeiter vorstellte und mir auftrug, mich zum aktiven Dienst zurückzumelden…« Am vierten Tag nach seiner Rückkehr sah Hake nicht viel besser aus, aber die Schmerzen ließen ein wenig nach. In gewisser Beziehung waren die Mißhandlungen ein Vorteil. Sie hatten Jessie Tunmans Bereitschaft geweckt, ihm alle Menschen vom Hals zu halten, obwohl sie ihr Erstaunen bekundete, daß er immer wieder Ausreden erfand, um das Haus zu verlassen: zum Supermarkt; eine Morgenzeitung holen; einen Brief aufgeben; seinen neuen Wagen spazierenfahren. »Das kann ich alles für Sie übernehmen, Horny«, wandte sie ein, »mit Ausnahme des blöden Wagens mit seiner gelben Farbe. Der ist ohnehin Energieverschwendung.« Als er erwiderte, er brauche die Bewegung oder die frische Luft, gab sie auf, unzufrieden und unversöhnt. Es kam aber nicht darauf an. Er mußte hinaus, um zu tun, was getan werden mußte.
222 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Und als er endlich beim zwanzigsten Versuch, jeder von einer anderen Telefonzelle aus, den Ungla ublichen Art zu Hause erreichte, rief er: »Gott sei Dank!« »Wer ist denn da? Horny? Was gibt es?« »Nichts, Art – das heißt, es ist kompliziert. Sind Sie allein im Haus? Gut. Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen.« Er schaffte es sogar in drei. Die Kassetten, die er im Ashbury Park besprochen hatte, brannten ihm Löcher in die Taschen. Das Haus des Unglaublichen Art war von der Straße aus fast unsichtbar, auch noch, wenn man zum Eingang ging, denn Art hatte es in einen Hang hineingebaut. Neben der Tür befand sich ein Betonguß in Form eines Zaubererhutes, und als Hake auf den Klingelknopf drückte, leuchtete dieser auf und krächzte: »Wer wagt es, in die Heilige Höhle des Unglaublichen Art einzudringen?« Hake brauchte nicht zu antworten. Die Tür stand offen, bevor die Tonbandaufzeichnung abgelaufen war, und Arts schmales Gesicht unter den blonden Haaren blickte ihm sorgenvoll entgegen. »Mein Gott, Horny«, sagte er. »Ich hatte einen Unfall«, erwiderte Hake. »Ich habe mir schon überlegt, ob ich Karten drucken lassen und nur noch verteilen soll.« »Ich hätte nie gedacht, daß Sie in Ihrem Alter noch mit Schlägereien anfangen. Wie wär’s mit einer Tasse Tee?« »Vielleicht später.« Hake ging an Art vorbei ins Haus und schloß die Tür. Er griff in sein Hemd und zog das zugeklebte Päckchen mit Tonbandkassetten heraus; er hatte nicht beobachtet werden wollen, daß er sie ins Haus trug. »Ich muß Sie um einen großen Gefallen bitten, Art.« Der Zauberkünstler schob die Lippen vor und blickte auf das Päckchen. »Ich wette, das sind keine selbstgebackenen Kekse.«
223 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich möchte, daß Sie das für mich aufheben. An einem wirklich sicheren Ort. Wenn Sie hören, daß ich tot bin, oder wenn ich innerhalb von dreißig Tagen nicht wiederkomme und sie zurückverlange, dann machen Sie das Päckchen auf und spielen Sie die Kassetten ab. Und bitte sagen Sie zu keinem Menschen etwas davon, nicht einmal, daß Sie mich gesehen haben.« »O Mann.« Art setzte sich und zupfte an seinem blonden Bart. Er starrte das Päckchen an, ohne danach zu greifen. »Horny, worauf haben Sie sich eingelassen?« »Das kann ich Ihnen einfach nicht sagen, Art. Selbstverständlich«, fügte er steif hinzu, »wenn Sie Sorge haben, daß es Schwierigkeiten -« »Es sind nicht die Schwierigkeiten, Horny, es ist die Neugier.« Der Zauberkünstler beugte sich vor und nahm Hake das Päckchen aus der Hand. Er schüttelte es, lauschte daran und warf es von Hand zu Hand, während er Hake ins Gesicht starrte. »Wissen Sie, Sie sind ein Amateur, wenn es ums Päckchenmachen geht«, meinte er. »Ich könnte das aufmachen, wieder einwickeln, und Sie würden nie etwas merken.« »Bitte, tun Sie es nicht, Art.« Der andere nickte. »Eine Frage. Warum ich?« »Weil ich Ihnen vertraue. Und auch deshalb, weil Sie oft im Fernsehen und im Funk auftreten. Sie wissen, was Sie mit den Kassetten anfangen müssen, wenn es darauf ankommt. Ich sollte Ihnen noch sagen, daß es vielleicht nicht -« Er zögerte. Er hatte sagen wollen, es werde nicht leicht sein, aber seine Aufrichtigkeit zwang ihn dazu, ›ungefährlich‹ zu sagen. Art pfiff nachdenklich durch die Zähne. Er stand auf und ging im Zimmer herum, während er mit dem Päckchen jonglierte. »Was ist mit dem Tee?« fragte er über die Schulter. »Gut, aber lassen Sie sie, bitte, nicht fallen.«
224 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Art stellte den Teekessel auf den Herd, drehte sich um und zeigte leere Hände vor. »Was fallen lassen?« fragte er grinsend. »Wo – « »Da, wo sie eine Weile sicher sind. Ich finde noch einen besseren Platz, aber nicht einmal Sie werden wissen, wo sie sind. Sind Sie sicher, daß Sie mir auch nicht den winzigsten Hinweis geben können?« »Ganz sicher, Art. Und ich bin leider noch nicht fertig. Ich muß jemanden finden, und ich hoffe, daß Sie mir mit Ihrem Computer helfen können.« »Oh?« »Es ist eine Frau. Sie heißt Leota Pauket. P-A-U-K-E-T.« »Aha. Natürlich können Sie mir nicht viel über sie sagen.« »Tja, das letzte Mal, als ich sie sah, war sie in Rom, aber sie ist Amerikanerin. Irgendwo aus dem Mittelwesten, glaube ich.« »Ausgezeichnet, Horny«, Art dachte eine Weile nach. »So, wie ich es sehe, haben Sie zwei Möglichkeiten: Zuerst könnten wir es mit Teilnehmern in Telefonbüchern versuchen. Ich kann ein Suchprogramm bei allen Vermittlungsämtern im Mittelwesten veranlassen. Ein Telefonbuch fünfzehn Sekunden, vielleicht zweitausend Bände. Sie könnten in einem Tag durch sein. Das würde nichts kosten, also ein großer Vorteil – Auskünfte dieser Art sind kostenlos. Aber es klappt nicht, wenn sie kein Telefon hat.« »Und die andere Methode?« »Schon schwerer. Sie müssen in die Datenspeicher der Sozialversicherung oder des Statistischen Bundesamts hinein, etwas in der Art. Das kann ich nicht machen, aber ich habe ein paar raffinierte Freunde. Sie helfen vielleicht mit.« »Was das angeht, so könnte vielleicht ich das übernehmen«, sagte Hake vorsichtig.
225 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Sie können was?« »Tut mir leid, Art«, meinte Hake bedauernd, »aber das gehört zu den Dingen, über die ich nicht reden kann. Egal. Ich bin nicht sicher, daß sie irgendwo in der Nähe von Amerika ist. Zuletzt habe ich von ihr gehört, daß sie zum Gefolge eines Scheichs namens Hassabou gehören soll.« Arts Miene hellte sich auf. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Da brauchen Sie nur den Prominentendienst – kommen Sie, das mache ich gleich.« Hake folgte ihm in einen anderen Raum, wo Art sich vor seinen Computer-Terminal setzte, einen Augenblick lang rasch tippte und sich dann zurücklehnte. »Wieviel wollen Sie sehen?« fragte er. »Da, setzen Sie sich hin. Bremsen Sie mit dem Ding da ab, wenn es Ihnen zu schnell geht.« So war es auch; das Gerät schnellte eine Zeile nach der anderen auf den Bildschirm, viel mehr an Informationen, als er gebrauchen konnte. Der Scheich hieß Scheich Badawei Al-Nadim Abd Hassabou, und jedes Handbuch über die Reichen und Prominenten wußte etwas über ihn zu sagen. Das Vermögen des Scheichs wurde auf über dreihundert Millionen Dollar geschätzt, ohne gemeinsamen Familienbesitz. Der Scheich war zu Hause in Rom, Wad Madani, Beverly Hills, Edinburgh, Abu Magnah oder auf seiner Jacht – je nach Jahreszeit und Laune des Scheichs. Die Hauptinteressen des Scheichs schienen die drei ›S‹ zu betreffen: Sex, Surfen und Sportwagen. Die Familie des Scheichs hatte wie die Familien der meisten Öl-Araber den Persischen Golf längst verlassen, besaß nicht länger die wertlosen Öllizenzen, hatte ihr Geld in argentin ischer Viehzucht und Grundstücken und Gebäuden in Chicago angelegt, sah aber keinen Anlaß, in diesen Gegenden viel Zeit zu verbringen, da ihm die Fleischtöpfe von Europa und Kalifornien wesentlich mehr Lebensfreude boten. Der Scheich war einundfünfzig Jahre alt, aber von erstaunlich guter Gesundheit. Hake fand sich mit dieser Wahrheit verdüstert ab. Der Mann im Versteigerungsraum hatte sich offenkundig in Form gehalten. Die Informationen stammten aus Klatschspalten, Finanzberichten und verschiedenen Who is Who-Bänden. Nirgends war
226 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
erwähnt, daß der Scheich etwas erworben hatte, das Leota Pauket hieß. Hake hatte auch nicht damit gerechnet. Er lehnte sich zurück. »Genug«, sagte er. »Erfährt man da auch, wo er sich im Augenblick aufhält?« »Moment.« Art gab Befehle ein, und das Gerät schrieb: ›Derzeit in Abu Magnah.‹ »Abu Magnah?« Hake versuchte sich zu erinnern, wo der Ort lag, und war nicht imstande dazu. Art holte einen alten Atlas herbei und suchte Abu Magnah. Es war nicht verzeichnet. Art mußte sich bei den Informationsdiensten von drei arabischen Konsulaten, beim Nationalen Geographischen Verein und bei der Kartographie-Abteilung der hiesigen Bücherei erkundigen, bis er es finden konnte. Ausgerüstet mit Länge und Breite, machte Hake ein Kreuz auf die Karte und betrachtete es. Genau in der Mitte des Empty Quarter. Hunderte Meilen von allem entfernt, was großstädtischer gewesen wäre als eine Schafherde. Hassabou hatte gern seine Ruhe. »Wollen Sie jetzt die Tasse Tee, Horny? Möchten Sie mir nicht vielleicht doch erzählen, worum es geht?« »Tja – sie ist ein Mädchen, das ich kenne, Art. Ich mache mir Sorgen um sie.« »Das kann ich mir denken.« »Sie meinen, weil sie im Harem von dem Kerl ist? Ja, sicher.« Er grinste plötzlich. »Manchmal meine ich, ich hätte jemanden heiraten sollen wie Jessie – jünger, versteht sich –, als ich noch im Rollstuhl gesessen bin. Dann hätte ich vielleicht nicht diese Probleme.« Er schaute sich im Zimmer um und versuchte herauszufinden, wo Art die Kassetten versteckt hatte. Dann sagte er verlegen: »Art, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin -« »Warum macht Ihnen das Kopfzerbrechen? Sie können mir sonst auch nicht mehr sagen, nicht?« Der Zauberkünstler lächelte, aber sein Lächeln verschwand, als er sagte: »Hören Sie mal, Horny. Sie haben irgend was mit Spio nage zu tun, nicht?«
227 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Würde das etwas verändern, Art?« »Nicht in der Hinsicht, ob ich mache, was Sie wollen, nein. Doch in anderer.« Art zögerte. »Nichts für ungut, Horny«, sagte er, »aber Spione sind armselige Figuren. Sie sind nicht nur unmoralisch, sondern auch unfähig.« »Ach, ich weiß nicht, ob ich Ihnen da ganz recht geben -« »Ich rede nicht von Ihnen persönlich, Horny. Ich meine das ganze Geschäft. Ich will eine kleine Probe mit Ihnen machen. Nennen Sie mir drei Fälle, in denen irgendein Land in der Moderne durch Spionage etwas gewonnen hat.« »Ist das Ihr Ernst? Na, kommen Sie, Art. Ich könnte Hunderte nennen.« »So? Na gut. Nur zu.« Hake zog die Brauen zusammen. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Na ja, ich habe mich für Spionage nie sonderlich interessiert…« »Gut, dann nenne ich ein paar Beispiele, um Ihnen zu helfen. Wie ist es etwa mit dem Zweiten Weltkrieg? Russische Spione haben Stalin mitgeteilt, wann Hitler angreifen würde. Der britische Geheimdienst erfuhr, daß eine Panzerdivison nach Arnheim verlegt worden war, kurz bevor man absprang. Die Briten knackten den Luftwaffen-Code, so daß sie die Angriffsziele vierundzwanzig Stunden vorher kannten. Die Amerikaner knackten den Code der Japaner, so daß sie drei Tage vorher von dem geplanten Angriff auf Pearl Harbor wußten -« »Na bitte!« Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Durchaus nicht. Nicht einer hat die Information auch genutzt. Manchmal glaubte man einfach nicht daran, wie Hitler und Stalin und Montgomery. Manchmal glaubte man es zwar, befürchtete aber, seine Quellen bloßzulegen, wenn man entsprechend handelte. Deshalb wurden die Amerikaner in Pearl Harbor niedergemacht, und deshalb ließ Churchill Coventry brennen.
228 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Dann sagen Sie mir doch, wo der Nutzen von Spionen überhaupt sein soll, Horny.« »Es muß aber doch auch andere Beispiele geben.« »Wenn Sie auf recht viele stoßen, sagen Sie mir noch Bescheid, ja? Und da rede ich nur von direkter Spionage. Wenn es um das Geheimdienstmilieu geht, zum Beispiel, den einen ausländischen Politiker umbringen und gegen den anderen eine Revolution anzetteln, sieht es sogar noch schlimmer aus.« Horny schoß das Blut ins Gesicht; er wechselte das Thema. Sie kamen zu nah an seinen Privatbereich heran. »Sie setzen mich immer wieder in Erstaunen, Art«, sagte er. »Ich wußte gar nicht, daß Sie sich für Spionage interessieren.« »Ich interessiere mich für jede menschliche Erfahrung«, erwiderte der Zauberer ernsthaft. »Vor allem, wenn Freunde von mir betroffen sind.« »Ich weiß das wirklich zu schätzen«, sagte Hake verlegen, »aber -« »Aber Sie können nicht darüber reden. Gut. Schon bekannt. Hatten Sie Gelegenheit, sich die Sachen anzusehen, die ich Ihnen vor ungefähr zwei Monaten gegeben habe?« »Was für Sachen? Ach so«, sagte Hake, als ihm die Mikrofilme und Kassetten einfielen, die er über die halbe Welt mitgeschleppt hatte. »Sie meinen über Hypnose. Nein, tut mir leid. Ich bin einfach noch nicht dazu gekommen.« »Das glaube ich gern«, meinte Art und grinste. »Macht nichts. Es sind Kopien, lassen Sie sich Zeit. Noch Tee?« Es war noch hell, aber nicht mehr so lange, daß Jessie nicht auffallen mußte, wie lange er fortgewesen war. Sobald ihm nur die Wahl blieb, log Hake nicht gern. Er beschloß, statt dessen eine irreführende und unvollständige Wahrheit zu präsentieren, indem er bei seiner Kirche vorbeifuhr. Dabei ging es nicht nur
229 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
um die Ausrede. Die Kirche war Horny wichtig, war nahezu sein ganzes Dasein. Er fühlte sich dort geborgen, und das tat gut. An einem heißen Julinachmittag war die Kirche natürlich leer. Das Gras mußte gemäht werden, und die Fenster waren staubig, aber in der Pizzeria nebenan war so viel los, daß die ganze Straße belebt wirkte. Autos heulten ins Drive-In und wieder hinaus, Dutzende waren geparkt – in vielen Paare, in einem ein Vogelkundler oder jedenfalls jemand, der alles in seiner Umgebung, Hake eingeschlossen, durch ein Fernglas beobachtete. Hake fuhr vorsichtig zwischen den unberechenbaren Jungendlichen hindurch auf den Parkplatz der Kirche. Zwischen seinem Auto und dem Eingang blieb er alle zwei, drei Schritte stehen, um leere Cola-Kartons und Pizza-Pappschalen aufzuheben. Nach den würzigen Düften der Pizzeria roch das Innere der Kirche stark nach Moder und Staub, aber es sah gut aus. Die Erste Unitarier-Kirche von Long Branch hatte jetzt einen neuen Knubbelteppich in Grün und Gold, mit einem Muster, das verschütteten Wein schluckte und Zigarrettenbrandflecken verbarg. Die Baufirma schwor Stein und Bein, daß es nun nicht mehr zum Dach hereinregnen würde. Das Team belohnte also weiterhin ihn und die Seinen. Er ließ sich steif und gequält in dem zerfetzten Ledersessel in seinem Arbeitszimmer nieder und begann Notizen für den Ausschuß ›Bauten und Gelände‹ zu machen: 1. 2. 3. 4. 5.
Rasen mähen. Bew. Verschm. d. Pizz. (lohnend?) Nach dem nächsten Regen Dach prüfen. Teppichgarant, in Schließf.? Pflanzen gegossen? Rasen? Sträucher?
Er hatte eine Liste von fünfzehn Punkten, als er fertig war, und weitere zehn für den Ausschuß ›Dekoration und Sonderveranstaltungen‹. Immerhin konnte er die Listen Jessie geben, um zu zeigen, wo er gewesen war. Mehr oder weniger zufrieden stand Hake auf, um durch die Kirche zu wandern. Alles war in
230 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Ordnung. Die vertrauten Räume waren aufgeräumt, wenn auch staubig. Der große Versammlungssaal war es natürlich nicht. ›Gesellschaftliche Veranstaltungen‹ hatte dort wieder getagt. Während er die Stühle zurechtschob und Aschenbecher leerte, hörte er auf dem Parkplatz ein grelles Hupen. Er unterbrach seine Arbeit und zog die Brauen zusammen. Gab es in der Umgebung noch einen Tata? Oder ein zweites Auto mit einer so gereizten, unwirschen Hupe. Er beeilte sich und sperrte beim Hinausgehen die Tür ab. Da stand sein Tata, Kristallkuppel und helle gelbe Lackierung. Aber als er einstieg, sah er am Lenkrad einen Zettel: ›Unsere Abmachung gilt noch. Steigen Sie sofort aus.‹ Die Nachricht war nicht unterschrieben, doch das brauchte auch nicht zu sein. Es war natürlich einer der Reddi-Brüder gewesen. Er saß einen Augenblick lang wie gelähmt da, dann kam ihm zum Bewußtsein, ›sofort‹ mochte wirklich ›sofort‹ bedeuten. Er schob sich unter der Glaskuppel heraus und trat ein paar Schritte zurück, auf der Suche nach einer Person, mit der er über dieses unerwartete Problem sprechen konnte. Aus dem Wagen drang ein schwaches Zischen, fast wie das einer kleinen Klapperschlange. Hake hatte Unter dem Draht etwas gelernt. Er warf sich platt auf den Bauch. Es gab einen Schwall weißen Feuers und einen Knall wie von einer Riesenpeitsche. Das zertrümmerte Kanzeldach flog in die Luft, die gelbe Karosserie des Tata bog sich nach außen und begann zu brennen. Es war keine sehr große Explosion. Der Wasserstoff bestand zum größten Teil aus fester Lösung in Metall und verbrannte eher, als daß er in die Luft flog, aber es genügte, um das Fahrzeug zu zerstören, und es wäre gewiß genug gewesen, um auch Hake zu töten, hätte er im Wagen gesessen.
231 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Als er mit Polizei und Feuerwehr fertig war und die Abschleppfirma das Wrack abgeholt hatte, begleitete ihn einer der Polizisten zur Tür. Er brauchte das nicht, er war nicht verletzt, aber er war sehr froh darüber, abgesehen von dem Gerede des Polizisten darüber, wie gefährlich heutzutage die WasserstoffAutos seien, verglichen mit den guten alten Benzinkutschen. »Hat es viele solche, äh, Unfälle gegeben?« »Nein. Aber das leuchtet doch ein.« An seiner Tür bedankte sich Hake bei dem Polizisten und ging zu seinem Schlafzimmer. Zu seiner Überraschung war Jessie Tunman da. Sie saß in seinem kleinen Privat-Wohnzimmer, das nicht der Raum war, den er für seine Beratungen benützte, und betrachtete den Ausrüstungskasten, den er von Unter dem Draht mitgebracht hatte. »Das ist mein Privatbesitz!« Sie sah blinzelnd zu ihm auf, verblüfft, aber selbstsicher. »Was ist denn mit Ihnen passiert, du lieber Gott?« »Mein Auto ist in die Luft geflogen«, sagte er. »Totalschaden.« »Na, den Scheck für die Versicherung habe ich abgeschickt, also sind Sie wohl gedeckt. Die Dinger sind gefährlich, wissen Sie.« »Danke, Jessie, aber es wäre mir lieb, wenn Sie meine Sachen nicht anrühren würden«, erklärte er. Sie nickte gleichgültig. »Hier hat sich wirklich allerhand verändert, Horny. Das Auto fliegt in die Luft. Sie werden grün und blau geschlagen. Die vielen neuen Sachen – « »Und hier kommt noch etwas Neues. Bitte, betreten Sie meinen Teil des Hauses nicht mehr, wenn ich nicht da bin.« Sie stand auf und klappte die mageren Beine auseinander. Sie war größer als er, schien aber zu ihm aufzusehen.
232 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Das ist übrigens auch neu«, meinte sie. »Vor sechs Monaten hätten Sie mit mir noch nicht so geredet.« Als die Tür sich hinter ihr schloß, überlegte Hake, ob er aufstehen und sie abschließen sollte. Das schien zu anzüglich zu sein, jedenfalls, bis sie außer Hörweite war. Er brauchte Jessie nicht, um zu wissen, wie sehr er sich verändert hatte. Er war sich über die vielen Punkte im klaren, in denen der jetzige H. Hornswell Hake, Dr. theol., mit demjenigen, für den zu arbeiten sie erst vor einigen Jahren gekommen war, keinerlei Ähnlichkeit mehr hatte. Er zog die Schuhe aus, auch das Hemd, und fühlte sich wenigstens etwas kühler. Er kam auf den Gedanken, daß er es leicht so kühl haben konnte, wie er es wollte. Warum keine Klimaanlage, bei dem neuen Dispens? Das Team würde sie bezahlen, wenn er sie bestellte, und der Dach-Windgenerator, dessen unaufhörlich ratschendes Heulen wieder lästig wurde, konnte Klimaanlagen für zehn solche Häuser nebenher betreiben. Wenn er das wollte. Wenn er mit der Energie so zu aasen gedachte. Wenn er sich wirklich so sehr verändert hatte. Er seufzte, schob das Einbruchswerkzeug auf der Kommode nach hinten, und da lagen die vernachlässigten Tonbänder und Mikrofilme von Art. Na, warum nicht. Er hatte nichts Dringenderes zu tun. Das Problem war nur, daß es so viele waren. Aber sie waren alle beschriftet, und ein Exemplar mit der Bezeichnung ›Kurze Einführung in die Grundzüge‹ schien der richtige Anfang zu sein. Es war eine Videokassette. Sehr einfach. Er schob sie in den Recorder des Fernsehapparates am Bett und lehnte sich ans Kissen. Es schien ein Dia-Vortrag für Erstsemester zu sein, aber sein Interesse hielt während der ganzen Vorführung an.
233 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Wenn man jemand mit einer Nadel sticht, rechnet man damit, daß ihm das weh tut. Wenn es ihm nicht weh tut oder wenn er behauptet, es schmerze nicht, widerspricht sein Verhalten dem Erwarteten. Falls man neugierig ist, versucht man zu begreifen, warum er sich so verhält, und wenn man die Gründe kennt, ist das Verhalten nicht mehr widersprüchlich. Es entspricht jetzt dem, was man erwartet. Wenn Harry durch ein Zimmer läuft, in dem er deutlich ein Hindernis erkennen kann, gehen wir davon aus, daß er diesem ausweichen wird, um nicht darüberzufallen. Wenn Jacqueline den Versuch unternimmt, ihre geballte Faust zu öffnen, erwarten wir, daß ihr das gelingt. Wenn Wilma sich nicht mehr an die Haarfarbe ihrer Kindergärtnerin erinnern kann, rechnen wir damit, daß die Erinnerung verloren bleibt. Und wenn alle diese Vermutungen sich als unrichtig erweisen, fragen wir nach dem Grund. Ist Harry blind und Jacqueline gelähmt und hat jemand Wilma eben ein Farbfoto aus ihrer Kindergartenzeit gezeigt? Sagen wir einmal nein. Sagen wir statt dessen, wir kommen dahinter, daß jemand allen diesen Leuten vorgeschlagen hat, sich wie beschrieben zu verhalten. Nun sind wir auf der Spur zu einer Lösung dieser Rätsel, und wir erfahren, daß die Lösung einen Namen hat. Man nennt sie ›Hypnose‹. Und es gibt eine Theorie. Hake entdeckte sogar, daß es jede Menge Theorien gab, bis hin zu der von Franz Anton Mesmer im Jahr 1775. Mesmer war Arzt und glaubte einen Weg gefunden zu haben, manche Krankheiten ohne Heilmittel oder Messer heilen zu können – angesichts des damaligen Standes der Medizin eine sehr gute Methode. Sie beruhte auf dem, was er ›tierischen Magnetismus‹ oder ›Magnetismus animalis‹ nannte. Wenn er mit seinen Händen in Kopfnähe eines Kandidaten bestimmte geheimnisvolle Bewegungen machte und der Person dann befahl, bestimmte Dinge zu tun, führte der Mensch sie aus. Selbst dann, wenn sie sehr seltsam waren. Selbst dann, wenn er den Befehl
234 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
erhielt, gesund zu werden. Selbst dann, wenn man meinen mochte, sie wären normalerweise unmöglich. Er konnte den Personen befehlen, starr zu werden, und sie wurden steif wie ein Brett. Er konnte ihnen befehlen, keinen Schmerz zu spüren. Dann konnte er sie zwicken, stoßen, ihnen sogar Brandwunden zufügen. Dies alles wurde klug dargestellt und schien objektiv der Wahrheit zu entsprechen. Die Patienten sagten, es sei wahr. Beobachter sagten, es sei wahr. Dr. Mesmer selbst erklärte, es sei wahr. Dann begann er zu erklären, warum er wisse, warum es wahr sei. Er sagte, es gäbe ein magnetisches Fluid um – er ließ sogar zu, daß es ›Mesmer-Fluidum‹ genannt wurde –, das alles umgibt, und das Hindurchgehen der Hände durch das Fluidum lagere es um, verändere den Zustand des animalischen Magnetismus bei der betreffenden Person und rufe so die beschriebenen Wirkungen hervor. Da beging er seinen Fehler, weil Wissenschaftler sich auf die Suche nach dem Fluidum machten. Es gibt keines. Ablehnungen und Einwände kamen zuhauf, über zweihundert Jahre lang, aber wie man es auch nennen mochte, es bewirkte genau das, was Mesmer behauptet hatte. Sogar noch mehr. Menschen ließen sich unter hypnotischen Befehlen, keine Schmerzen zu spüren, die Zähne plombieren, und standen lächelnd und dankbar vom Behandlungsstuhl auf. Frauen bekamen Kinder ohne irgendein anderes Narkosemittel und lachten und plauderten während der Entbindung. Es gab freilich ein paar Absonderlichkeiten. Als die elektronische Technologie in die Medizin eindrang, berichteten Experimentatoren von erstaunlichen Ergebnissen. Wenn sie das elektrische Potential der betroffenen Nerven maßen, schwirrten diese Nerven, gleichgültig, wie wohl der Kandidat sich zu fühlen behauptete. Und wenn man die Person zum automatischen Schreiben bewog, mochte sein Mund sagen: ›Mensch, nein, das tut nicht weh‹, aber seine Hand kritzelte: ›Lügner.‹
235 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Und das ist ja alles sehr interessant, dachte Hake, als die Aufzeichnung zu Ende war, aber was hat es zu bedeuten? Wenn es mit seinem Verhalten oder mit dem von Leota oder des Teams zusammenhing, konnte er die Verbindung nicht entdecken. Er spürte, daß seine Füße kalt wurden. Er zog seine Hausschuhe an und schlurfte ins Bad, um sich ein Glas Pulverkaffee zu machen. Während er darauf wartete, daß das Wasser heiß aus dem Hahn lief, betrachtete er sich im Spiegel, nahm zerstreut wahr, daß die Nase beinahe wieder menschlich aussah und die blauen Flecke verblaßten, hörte halb auf das Surren des Ventilators und das schüchterne Gurgeln des Klos, den Kopf voll Gedanken über Hypnose. Er wußte über das Thema jetzt mehr, als er je hatte wissen wollen, aber nicht das, was die Welt für ihn geraderücken würde. Vielleicht suchte er an der falschen Stelle? Vielleicht hätte er ›Trilby‹ lesen sollen, statt sich Arts Bänder anzuhören? Verspätet bemerkte er, daß das Wasser im WC noch immer lief. Nicht nur das, es rauschte und gurgelte immer stärker. »Ach, Mist«, sagte er laut. Er hatte vergessen, sich nach Mitteilungen zu erkundigen. Er drückte den Daumen auf die Meßriffelung des Spülhebels, und Griesgrams Stimme fauchte hämisch: »Sie sitzen also schon wieder in der Tinte, wie, Hake? Vielleicht ist Ihnen das eine Lehre. Sie geben sich mit gefährlichen Leuten ab, und im Augenblick kann ich nicht viel Team-Schutz für Sie abstellen. Bleiben Sie also in Deckung. Halten Sie sich an die Heiden, die Sie Ihre Gemeinde nennen. Reden Sie vom nordamerikanischen Kranich und der Heiligkeit zwischenmenschlicher Beziehungen, und halten Sie sich fern von den harten Sachen, verstanden? Das ist ein Befehl. Wissen Sie noch, was Sie sagen sollen, wenn ich Ihnen einen Befehl erteile?« Ein kleiner Pfeifton, dann nur noch das leise Rauschen des Tonbandes, wartend. Hake erinnerte sich.
236 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich habe verstanden und werde mich daran halten«, sagte er widerstrebend. Einen Augenblick später verstummte das Rauschen, und das WC war nur noch ein WC. Nachdenklich benützte Hake es für den Zweck, dem es eigentlich diente. Das Team setzte sich erstaunlich rasch mit ihm in Verbindung; er wurde schärfer überwacht, als er angenommen hatte. Die Sprengung des Wagens hatte natürlich Aufsehen erregt. Dergleichen konnte nicht unbeachtet bleiben. Aber trotzdem – woher wußte man so schnell Bescheid? Er wusch sich die Hände, ging in sein Schlafzimmer zurück, und Alys Brant sagte zuckersüß: »Hallo, Horny, hoffentlich sind Sie froh, mich zu sehen.« Hake blieb wie angewurzelt stehen. Alys lag auf seinem Bett, die Beine züchtig angezogen. Sie hatte eine neue Frisur und sah reizvoll aus; sie wirkte lieb und zutraulich. Trotzdem! »Was, zum Teufel, machen Sie hier?« »Bitte, nicht zornig sein, Horny. Schatz. Ich muß irgendwo unterkommen. Nur für ein, zwei Nächte, bis ich zu meiner Tante gehen kann.« »Alys«, sagte er, »um Himmels willen! Wissen Sie denn nicht, daß Ted und Walter mir jetzt schon unterstellen, ich hätte Sie ihnen weggenommen?« »Ach, die«, erwiderte sie achselzuckend und reckte sich. »Die kommen schon darüber hinweg. Sie, Horny, haben nichts damit zu tun. Ich habe schon vor langem beschlossen, sie zu verlassen. Ich muß einfach frei sein – guter Gott, das wissen Sie ja alle. Sie haben uns zugehört, als wir uns beschwerten und aufregten und immer wieder bei Ihnen herumjammerten. Jetzt bin ich ausgezogen. Ich habe bei – einer Bekannten gewohnt. Das geht aber auch nicht mehr, also bin ich hierhergekommen. Ich weiß einfach nichts anderes, Horny.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage, Alys!«
237 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Niemand erfährt ein Sterbenswörtchen. Außer vielleicht Jessie. Aber sie hält ganz zu Ihnen. Horny, haben Sie irgend etwas zu essen? Ich laufe seit Stunden herum und schleppe das Gepäck da.« Sie blickte auf eine Reisetasche und eine PlastikEinkaufstüte neben Hakes Kommode. »Nicht viel, was? Alles, was ich besitze.« Zornig ging Hake hinüber und warf ein Unterhemd über das Einbruchswerkzeug. »Die Sachen hab’ ich schon gesehen«, erklärte Alys. »Und ich habe Ihnen im Badezimmer zugehört, während Sie Pipi machen wollten. Sie haben mit jemandem gesprochen. Und ich wollte Sie schon lange fragen, was Sie mit der lieben Leota Pauket machen. Das hat mit Spionage zu tun, nicht, Horny? Möchten Sie mir alles erzählen, während wir essen?« Er setzte sich auf die Kante des Sessels und betrachtete sie. Die Frau war voller Überraschungen. »Woher kennen Sie Leota Pauket?« »Bin mit ihr zur Schule gegangen. Ich hatte sie seit Jahren nicht gesehen – und vorigen Frühling prallte ich mit ihr auf der Straße zusammen. Übrigens genau vor dem Pfarrhaus hier. Wir tranken etwas miteinander, sie wollte wissen, was bei mir so lief. Na ja, wir hatten gerade eine von diesen langen, blöden Sitzungen mit Ihnen hinter uns, ich erzählte ihr alles, und sie schien fasziniert zu sein. Sie wollte alles über Sie hören. Wissen Sie noch, was für ein furchtbares Wetter wir hatten, kurz bevor wir mit den Kindern nach Europa geflogen sind?« Hake nickte. »Als Sie zur Beratung hier waren.« Die Erinnerung fiel nicht schwer; das war die Sitzung gewesen, aus der ihn der Ruf des Teams herausgeholt hatte. »Ja, da war das.« »Sie haben nichts zu mir gesagt.«
238 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Also wirklich, Horny! Weshalb denn? Ich hatte keine Ahnung, daß Sie sie kannten – war damals wohl auch noch nicht der Fall. Aber in München war sie die Frau, die Sie in die Pension zurückbrachte. Sie trug eine Perücke, aber es war Leota. Sofort, als sie mich aus dem Lift steigen sah, huschte sie hinaus. Und dann bekam ich eine schriftliche Mitteilung von ihr. Richtig geheim, alles. ›Bitte, erwähn’ mich nie. Ich erkläre dir alles, wenn wir uns sehen. Es ist wichtig.‹ Oder so ungefähr.« Horny Hake starrte eine Weile nachdenklich vor sich hin. Das erklärte wenigstens, wie Leota in dem Bus nach Washington aufgetaucht war. Sie mußte sofort gewußt haben, daß er eingezogen wurde. Aber das änderte nichts an dem, was jetzt Wirklichkeit war. »Ohne Rücksicht auf alle diese Dinge, Alys. Sie haben hier nichts zu suchen. Was wird, wenn Ihre Ehemänner dahinterkommen?« »Wir müssen eben dafür sorgen, daß sie nichts erfahren, oder, Horny? Ich meine, Sie scheinen sehr verschwiegen zu sein. Ich bewundere Sie, wirklich.« Er ächzte. »Alys, ich gebe Ihnen mein Wort, Sie lassen sich da auf Dinge ein, die Sie nicht verkraften. Gibt es irgendeine Möglichkeit, daß ich glauben könnte, Sie vergessen das alles?« Sie schüttelte den Kopf. »N-n.« »Das ist kein Spiel! Woher, glauben Sie, habe ich diese Beulen? Da werden Menschen umgebracht!« »Das klingt aber wirklich interessant, Horny.« »Die Gespräche in diesem Zimmer könnten abgehört werden. Wenn Griesgram dahinterkommt, daß Sie beteiligt sind, weiß ich nicht, was er tun wird.«
239 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Griesgram? Den Namen habe ich noch nicht gehört.« Sie stand auf. »Kommen Sie, wir gehen in die Küche und kochen uns was, und während wir essen, können Sie ganz vorne anfangen und mir alles erzählen. Sie können sich Zeit lassen. Wir haben die ganze Nacht vor uns.«
240 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
11 Hake erwachte aus einem tiefen und traumerfüllten Schlaf und schaffte es auf einen Schlag. In dem Sekundenbruchteil zwischen der Erkenntnis, daß er wach war, und dem Aufschlagen der Augen kam ihm ein zusammenfassender Erinnerungsblitz. Er betraf alles. Er enthielt, daß er Alys in seinem Zimmer gefunden, mit ihr geredet, mit ihr gegessen hatte, mit ihr, was zu der Zeit als logische und unvermeidliche Folge erschien, ins Bett gegangen war – und er wußte sogar auf der Stelle, was und wer ihn geweckt hatte. Die Gestalt an seinem Bett, groß, mager und stumm, war Jessie Tunman. Ihre Augen glitzerten, und sie rüttelte lautlos an seiner Schulter. Sie blickte verächtlich auf die nackte, schlafende Gestalt von Alys Brant und zog sich an die Tür zurück. Hake zog seinen Morgenmantel an und folgte ihr. Er zischte wütend: »Sie haben kein Recht, in mein Zimmer zu kommen!« »Die? Die ist mir egal.« Das Glitzern in ihren Augen war Triumph. »Befehl von Griesgram. Ziehen Sie sich an, und kommen Sie ins Büro.« Er erstarrte, den Gürtel des Morgenmantels nur halb zugezogen. »Was wissen Sie von Griesgram?« fuhr er sie an. »Tun Sie’s.« Er hatte diesen Ton noch nie von ihr gehört; eine Seniorin, die hämisch auf den vorlauten Jungen reagiert. Sie blieb nicht länger, um irgend etwas zu erklären. Sie drehte sich um und marschierte durch den Flur. Sogar die Art, wie sie ging, wirkte selbstzufrieden. Natürlich, dachte er. Jessie war diejenige! Sie hatte ihn von Anfang an als Kandidaten ausgekundschaftet. Ihre frühere Laufbahn war beim Staat gewesen. Sie hatte bei der Bewerbung nicht gelogen, sondern nur verschwiegen, für welche Behörde sie tätig gewesen war. Und ohne Zweifel hatte sie ihn gründlich beobachtet, während sie seine Predigten getippt und seine Post
241 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
abgelegt hatte, nach winzigen Hinweisen beurteilend (ob er die Leberwurst auf Roggenbrot schmierte oder den Käse in eine aufgebackene Semmel legte), wie er sich im Außendienst halten würde. Er hatte kein Privatleben gehabt! Jessie, die ihn für das Team unter die Lupe nahm. Alys, die ihrer alten Schulfreundin Leota berichtete. Er hätte ebensogut in einem KaufhausSchaufenster leben können. Alys lag behaglich zusammengerollt in der Ecke seines Bettes, ohne sonderliche Raumansprüche zu stellen, wie vorher. Ihre Augen waren geschlossen. Für Hake gab es keinen Zweifel, daß sie dahinter hellwach war. In weniger als fünf Minuten rasiert und geduscht, zog er sich an, ohne etwas zu ihr zu sagen. Es war günstig für sie beide, daß sie übereinstimmend so taten, als schlafe sie noch. Bei ihr, weil sie an dieser Szene nicht beteiligt zu sein brauchte, bei ihm, weil er nicht genau wußte, was er zu ihr sagen sollte. Jedenfalls nicht, bis er erfuhr, was Jessie ihm zu sagen hatte. Vermutlich nicht einmal dann, obwohl es keinen Zweifel gab, daß er trotzdem irgend etwas würde sagen müssen. Im Büro hatte Jessie das Heizgerät eingeschaltet, weil der Morgen feucht und klamm war, und sie hatte auch den Kollationiertisch abgeräumt. Sie legte Gegenstände hin, die Hake schon einmal gesehen hatte, aber nicht hier: eine SofortbildKamera, eine Schachtel mit verschiedenen Vordrucken, Tintengläser, Stempelkissen. Einer der Ausbilder hatte die Sachen beim Lehrgang Unter dem Draht vorgeführt. Es war sonderbar, sich Jessie dort vorzustellen, zweifellos viele Jahre vor ihm. Sie hob den Kopf. »Man kann Sie ruhig aufnehmen«, meinte sie. »Werden Sie mir sagen, warum?« »Natürlich, Horny, aber jetzt halten Sie mal still. Nein, nicht da. Gehen Sie von Ihrem Diplom weg. Ich will an der Wand nichts retuschieren müssen – dort.« Jessies kleine Kamera klickte, und einen Augenblick später kurbelte sie ein halbes Dutzend Paßfotos heraus. »Die Blutergüsse sieht man«, sagte sie krit isch. »Läßt
242 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
sich nicht ändern. Jetzt bei mir.« Sie suchte nach einer anderen leeren Wand, fand sie und gab ihm den Apparat. »Hab’ Sie schön getäuscht, nicht?« meinte sie. Hake erfaßte sie mit dem Sucher und wartete, bis ihr Gesichtsausdruck den Gipfel an Selbstgefälligkeit erreichte, bevor er knipste. »Tja«, sagte er, »wenn ich richtig nachgedacht hätte, wäre ich dahintergekommen, daß Sie diejenige gewesen sind, die mich rekrutiert hat. Ich wußte, daß Sie für den Staat gearbeitet haben.« Sie nahm ihm die Kamera ab und seufzte, während sie die Bilder betrachtete. »Wir leben in einer Kultur, die nur auf Jugend ausgerichtet ist, Horny. Vor sechs Jahren bin ich in den Ruhestand geschickt worden – natürlich verläßt man das Team in Wirklichkeit nie. Darauf werden Sie noch kommen. Aber man versetzte mich in den nichtaktiven Dienst, bis auf den einen oder anderen Auftrag. Etwa den, Sie unter die Lupe zu nehmen.« Während sie redete, beschnitt sie die Bildränder. »Man hat uns das Zeitalter der Erleuchtung versprochen, wissen Sie, wenn wir beweisen, daß wir würdig sind – aber es scheint lange auf sich warten zu lassen.« Traurig kramte sie in Umschlägen mit Formularen herum. Dann hellte sich ihre Miene auf. Ihre gute Laune war nicht auf Dauer zu unterdrücken. »Jedenfalls habe ich noch einen großen Einsatz in mir! Und den machen wir.« »Wir?« »Sie und ich, Horny – und andere. Das ist eine ganz große Sache. Ich habe meine Befehle durch Kurier erhalten, heute früh sechs Uhr.« Sie war ja so zufrieden mit sich. Während sie schnitt und klebte und stempelte, war jede Bewegung so sicher und überlegt wie beim Kurbeln des Vervielfältigungsapparates. Sie grinste von Zeit zu Zeit, das war ganz untypisch für sie.
243 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Lassen Sie sich die Haare schneiden, Horny«, riet sie. »Die Aufnahmen sind alle viel zu ähnlich, das überzeugt nicht.« Sie gluckste versonnen. »Bei dem ersten verdeckten Einsatz, auf den ich geschickt wurde, gab man mir ein Bild der falschen Frau«, sagte sie. »Griesgram war damals mein Führungsoffizier, noch neu im Beruf, und baute Mist. Noch dazu eine große Sache. Eigentlich so ähnlich wie Ihr Einsatz in Deutschland, wissen Sie«, fuhr sie fort und sah ihn über ihre Brille hinweg an. »Ich wurde gegen einen Kerl in Südamerika eingesetzt. Wir wollten ihn in Schwierigkeiten mit seiner Frau bringen, und ich hatte die Aufgabe, ihm etwas für sie mitzugeben, das ihr nicht so gut gefiel…« Sie biß ein Stück Magnetband ab und rieb das Ende glatt, während sie vor sich hin lächelte. »Hatten Sie Schwierigkeiten?« »Na klar doch! Als ich zurückkam, dauerte es sechs Monate, bis ich wieder gesund war.« »Ich meine, weil Sie das falsche Bild hatten.« »O nein. Um ganz ehrlich zu sein, ich glaube, auf mein Gesicht achtete er gar nicht. Freilich ist nicht alles Spaß und Gaudi, Horny«, fügte sie ernsthaft hinzu. »Je früher Sie das begreifen, desto besser für Sie. Die neue Sache könnte die ganze Zahlungsbilanz wieder ins Lot bringen. Aber es ist herrlich, wieder lebendig zu sein!« Und das ist etwas, das wir gemeinsam haben, dachte Hake; er war in seinem Rollstuhl so tot gewesen wie die alte Jessie, und dieses neue Leben mit seinen Wachstumsqualen war eine unverdiente Wiedergeburt. Sie sah plötzlich auf, die Brauen zusammengezogen, in der alten Rolle. »Aber passen Sie bloß auf, Horny. Das Team macht sich ein wenig Sorgen um Sie, wissen Sie. Kann es den Leuten nicht verdenken. Sich mit dieser Frau einzulassen, den Wagen von Terroristen in die Luft gesprengt – Ach, verschwinden Sie lieber von hier, solange das noch geht, Horny. Lassen Sie Gras über
244 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
die Dinge wachsen. Sie werden mir einmal dankbar dafür sein. In diesem Kaff sind Sie verkümmert. Hier unterschreiben«, fügte sie hinzu und gab ihm einen Führerschein aus Illinois auf den Namen › William E. Penn‹. Sie sagte: »Das sind Sie bei diesem Einsatz. Üben Sie die Unterschrift erst ein paarmal, damit sie überall gleich aussieht.« »Wo überall?« »Auf allen Ausweisen, Sie Schafskopf! Paß. Sozialversicherungskarte. Kreditkarten. Visen für Ägypten und Al Hawani. Dann gehen Sie essen. Bis Sie gefrühstückt haben, bin ich mit Ihren Papieren fertig, und mit den meinen auch. Bevor Sie gehen, öffnen Sie den Kirchensafe. Ich kann die Sachen nicht mehr mit in meine Wohnung nehmen – und Sie wollen doch nicht, daß ich sie hier liegen lasse, damit jeder sie sehen kann, oder?« Sie griff nach anderen Formularen und sagte: »Und schicken Sie das Mädchen fort.« Er dachte an Al Hawani. War das nicht der Ort, den Gertrude Mengel im Krankenhaus erwähnt hatte? Aber er brauste auf. Sie wehrte ab. »Das hat nichts mit Ihrem Sexualleben zu tun – auch wenn Sie sich da schön verrennen. Das ist ein Befehl.« »Warum?« fragte er scharf. »Damit Sie ungestört Ihr WC spülen können. Inzwischen sollten auf dem Tonband Anweisungen für Sie vorliegen.« Er brauchte Alys nicht fortzuschicken. Sie war nirgends zu sehen. Er vergewisserte sich, indem er in alle Schränke und hinter jede Tür blickte, aber sie war fort. Offenkundig durch den Hinterausgang. Es war aber keine Dauerlösung; ihr Gepäck war noch da. Alys gedachte wiederzukommen, und es war klar, daß sie nicht daran zweifelte, eingelassen zu werden. Sie hatte auch am
245 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Abend vorher keine Zweifel gekannt und recht damit gehabt; woher, fragte Hake sich erbost, woher kommt es, daß alle anderen Menschen auf der Welt ganz genau wissen, was sie von dir wollen, und daß du es ihnen auch zugestehen wirst? Er fand keine Antwort darauf, also tat er, was Jessie von ihm verlangt hatte, in dem Wissen, daß er es tun würde. Er zog sich in sein Badezimmer zurück, legte den Daumen auf den Hebel und spülte. »Na, Hake«, sagte Griesgrams griesgrämige Stimme aus dem versteckten Lautsprecher unter dem Spülkasten, »in Long Branch wird Ihnen der Boden unter den Füßen doch ein bißchen heiß, wie? Na gut. Sie reisen in drei Tagen. Wir haben für Ihren Ersatzmann gesorgt, derselbe wie beim letztenmal, und Jessie Tunman wird Sie mit Papieren versorgen. Notieren Sie sich das. Am Freitag fliegen Sie mit der Tunman nach Ägypten. Erkunden Sie die Einrichtung in Al Hawani, die auf der Karte vermerkt ist. Dann fahren Sie weiter nach Al Hawani City. Dort bewerben Sie sich um einen Posten bei ›Al Hawani Hydro-Treibstoffe‹, und zwar am 23. um 15.00 Uhr. Sobald Sie eingestellt sind, fangen Sie mit der Arbeit an; Ihre Sprachkenntnisse sichern Ihren Vorrang. Sie werden dann weitere Anweisungen erhalten…« Es trat eine lange Pause ein. »Ich warte«, sagte die Tonbandstimme. Hake erklärte rasch: »Ich habe verstanden und werde mich daran halten.« Das Band schaltete sich ab, und im Badezimmer wurde es still. Das war nach wie vor eine gefährlich alberne Art und Weise, eine Geheimorganisation zu betreiben, aber die Befehle für ihn waren klar. Al Hawani. Und Leota würde nicht mehr als ungefähr tausend Meilen entfernt sein. Der Tag schleppte sich dahin. Seine Gedanken waren auf der anderen Seite des Ozeans, aber es gelang ihm, die Runde
246 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
durchzustehen: der Zweimeilenlauf, die Hanteln, zusammen mit Jessie Korrespondenz erledigen (ihre Augen vor Freude glitzernd, mit dem Bleistift nachhinkend, während sie sein Diktat aufnahm, aber trotzdem darauf bestand, daß sie ihre normalen Pflichten weiter erfüllten, bis es abzureisen galt). Sie ging früh nach Hause. »Bin heute früh vorzeitig aufgestanden, Horny. Ich muß dringend Schlaf nachholen.« Er zog rasch den Trainingsanzug; an und joggte die restliche Meile im verblassenden Tageslicht am Strand. Al Hawani HydroTreibstoffe. Die Zahlungsbilanz. Was für Zahlungen gingen schon nach Al Hawani? Für Wasserstoff, nur kleine Beträge. Stärker fiel Wasserstoff nicht ins Gewicht. Gewiß, es hatte eine Zeit gegeben, in der ein Strom von Gold in den Nahen Osten geflossen war, Al Hawani eingeschlossen. Aber dafür war das Öl in umgekehrter Richtung geströmt. Als die Israelis die Ölfelder sprengten und aus Kratern von einer halben Meile Durchmesser Feuer lodern ließen, hörte der Ölstrom auf. Nicht ganz. Es blieb aber nur ein Rinnsal. Die Ölscheichs waren also dahin gegangen, wo ihre Schweizer Konten waren, und der Rest, der den Feuersturm überstanden hatte, wurde jetzt betrieben von denjenigen, die an Ort und Stelle geblieben waren – manchmal von ganz eigenartigen Leuten. Nicht genug, um einen Einfluß auf irgendeine Zahlungsbilanz zu haben. Und an wen sollte man bezahlen? Erdöl war der einzige Grund überhaupt für die Existenz von Städten und Staaten wie Al Hawani, Abu Dabu und Kuwait gewesen. Als der Grund ausfiel, starben die Städte. Die Nomaden wurden wieder Nomaden. Die Gebäude standen noch, die Hotels und Museen und Konzertsäle und Krankenhäuser. Aber es gab keine Arbeitsplätze, oder? Hake versuchte sich an die Ansichtskarten zu erinnern, die er gesehen hatte. Auf eine blühende Metropole deutete da nichts hin. Ein paar Touristen, damit die Hotels sich mühsam am Leben erhielten. Und gewiß, im Lauf der Jahre waren Einwanderer an den Persischen Golf gekommen – junge Leute wie Gertrude Mangels Schwester –, die man früher einmal ›Hippies‹ genannt hatte, oder politische Flüchtlinge, Schriftsteller, Menschen, die
247 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
keinen festen Beruf hatten, aber fast überall bestehen konnten, wo das Leben nicht viel kostete. Al Hawani hatte ein wenig Ähnlichkeit mit dem Paris der zwanziger Jahre und viel mit den griechischen Inseln in den sechziger Jahren. Ein Teil Greenwich Village, ein Teil Haight-Ashbury. Und wenn es ihnen auf irgendeine Weise gelang, ein paar Dollar herauszuquetschen, indem sie an die wohlhabenderen Länder flüssigen Wasserstoff verkauften, den sie hergestellt hatten, wer wollte ihnen das neiden? Bis Hake am Strand zurücktrabte, war es dunkel geworden. Im Licht der Straßenlaternen sah er Alys Brant, die neugierig in ein Auto starrte, das nicht weit von seiner Haustür parkte. Die Scheinwerfer des Autos flammten auf, und es surrte heulend davon, als er herankam. Alys begrüßte ihn, indem sie ihm eine große Tüte Lebensmittel in die Hand drückte. »Magst du Huhn à la orange, Horny? Und du hast doch einen Schnellkochtopf, oder? Eine große Pfanne geht auch.« »Ich dachte, du kochst nicht gern«, meinte er. »Ich will mir meine Unterkunft verdienen.« Sie nahm ihm den Schlüssel aus der Hand, sperrte die Tür auf und ging vor ihm hinein. »Nur für kurze Zeit, weißt du, Horny. Und ich bin dir wirklich schrecklich dankbar, daß du mich aufnimmst.« Er sollte sie wirklich ein für allemal aus seinem Leben streichen. Aber der Schaden war schon angerichtet. Außerdem würde er in wenigen Tagen zu einem neuen Einsatz unterwegs sein. Außerdem – außerdem, gestand Hake sich ein, war der Gedanke, sich wieder von einer anderen Person bekochen zu lassen, nicht ohne Reiz. Er verschob das Gespräch und ging unter die Dusche. Das heiße Wasser war angenehm. Das WC war nur ein WC, ohne sein Leben erneut zu komplizieren. Und bis er sich wieder angezogen hatte, war Alys mit dem Essen fertig. Mit gerötetem Gesicht und breitem Lächeln bat sie ihn an den Tisch. Auf dem Küchentisch standen Kerzen und eine Flasche Weißwein.
248 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Willst du nicht wissen, was ich heute gemacht habe, Horny?« Er säbelte in das Huhn hinein, das in einer suppigen, dicken Sauce lag. »Denke schon.« »Aber sicher. Ich habe den ganzen Nachmittag in einem Reisebüro verbracht und mir Prospekte von der Südsee angesehen. Tahiti! Bora-Bora! Klingt das nicht zauberhaft? Wie schmeckt dir das Huhn?« »Sehr gut«, log Hake galant. Wenigstens war das gedünstete Gemüse genießbar. »Ich dachte, du gehst zu deiner Tante?« »Ach, die ist so langweilig wie Ted und Walter. Sie würde mir nur dauernd erklären, daß ich zu meinen Männern gehöre. Ich brauche nicht nach New Haven zu gehen, um mir das anzuhören. Aber ich bin dir wenigstens nicht mehr im Weg, bis du nach Kairo fliegst.« Hake ließ die Gabel fallen. »Woher weißt du, daß ich nach Kairo fliege, verdammt noch mal?« »Die Tickets waren in deiner Tasche, als ich deinen Mantel weggehängt habe, Liebster. Ist das alles, was du ißt? Ich habe keine Nachspeise gemacht, aber wir könnten noch ein Glas Wein trinken…« Hake sagte gepreßt: »Die Flugscheine gehören einem Freund von mir, dem alten Bill Penn. Wir sind, äh, miteinander auf die Priesterschule gegangen.« »Der Paß war auch dabei, Schatz, und zwar mit deinem Bild.« Sie lächelte verzeihend. »Ich will nicht darüber sprechen«, sagte er. Er beugte sich entschlossen über seinen Teller. Sie aßen rasch, und nachdem Alys das Geschirr abgeräumt hatte, blieb sie hinter ihm stehen, die Finger auf seinen Nackenmuskeln.
249 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Der arme Horny«, sagte sie, »ganz verspannt. Du bist wie Eisen.« Es stimmte. Er konnte die Anspannung in Schultern und Armen, quer über der Brust, sogar im Bauch spüren. Alle Muskeln, die er seit der Zeit im Rollstuhl mühsam entwickelt hatte, wandten sich jetzt gegen ihn. »Ich könnte das alles wegbringen«, sagte sie leise. »Bin nicht in der Stimmung.« »Dummerchen! Ich meinte nicht Sex – obwohl das auch immer gut ist. Und ich bin einfach nicht stark genug, dich zu massieren, wenn du so bist.« Sie knetete sehr ansprechend seine Schultern, hörte nun aber auf und ließ die Hände auf ihm liegen. »Nein, wir entspannen dich nur, Horny. Wir entspannen alle deine Muskeln. Du wirst ganz entspannt sein, und wir fangen mit deinen Füßen an. Du fühlst, wie deine Füße ganz erschlaffen, und -« Er fuhr hoch. »Was machst du da?« »Ich versuche dich zu entspannen, Horny«, sagte sie liebevoll. »Das habe ich auf dem College gelernt. Es ist eigentlich gar keine Hypnose, nur eine Art Suggestion. Fühlst du, wie deine Zehen sich entspannen? Und deine Fußsohlen werden auch ganz schlaff und entspannt, und deine Knöchel -« »Ich will nicht hypnotisiert werden!« Sie ließ ihn los und setzte sich wieder an den Tisch. »Also gut, Schatz«, sagte sie. »Versuchen wir etwas anderes. Vielleicht solltest du dich einmal ganz aussprechen. Erzähl mir, was dich so verkrampft.« Hake leerte sein Glas, griff nach der Flasche und zog die Hand plötzlich zurück. »Ich will keinen Wein mehr. Ich will Kaffee.« »Da verkrampfst du dich nur noch mehr, Horny.«
250 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich muß angespannt sein! Und du verschwindest hier spätestens morgen früh.« »Wie du meinst, Liebling«, sagte sie, während sie Wasser für seinen Kaffee heißmachte. »Also, wenn das unsere letzte gemeinsame Nacht ist, soll sie schön werden, nicht? Möchtest du dir meine Reiseprospekte ansehen?« »Bestimmt nicht«, erwiderte er. »Nein, die Reisen anderer Leute sind nie besonders interessant, nicht?« Sie goß Kaffee ein und brachte ihm die Tasse. Entschlossen, Konversation zu machen, sagte sie: »Kommt Art heute abend vorbei?« »Nein.« »Oh. Er ist gute Gesellschaft für dich, Horny. Du solltest wirklich mehr Freunde haben.« Als er darauf nicht einging, versuchte sie es noch einmal. »Glaubst du an Teleportation, Horny?« »O Gott. Das höre ich schon oft genug von Jessie.« »Es ist aber gar zu komisch. Ich sehe immer wieder denselben Mann. Er war heute früh draußen, und als ich vom Supermarkt zurückkam, saß er auf einer Bank, und jetzt vor dem Haus sah ich ihn in einem Wagen, als ich auf dich gewartet habe. Das wäre aber gar nicht gegangen, Horny. Er hatte einfach nicht die Zeit, von einem Ort zum anderen zu kommen.« »Wahrscheinlich hast du nicht darauf geachtet. Wozu auch?« »Doch, doch. Ich kann dir sogar sagen, wie er aussah. Wie ein Inder oder Pakistani. Jung. Recht gutaussehend, in gewisser Beziehung -« Hake stellte die Tasse hin. »Hatte einer von den beiden eine Narbe im Gesicht?« »Hm – kann sein. So genau hab’ ich nicht hingesehen, aber doch, ja, ich glaube schon. Was ist denn?«
251 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Bleib du hier«, sagte Horny und stand auf. »Ich will nur schnell mal hinausgucken.« Aber von den Reddi-Zwillingen war nirgends etwas zu sehen, weder vor noch hinter dem Pfarrhaus. Hake stand lange Zeit im Dunkeln auf der Veranda und beobachtete, was auf der Straße vorging. Autos, ein paar Schüler, zwei ältere Leute, die zu ihren Altersheimen wankten. Nichts, was nach einem Verschwörer aussah. Als er ins Haus zurückkam, stand Alys in seinem kleinen Wohnzimmer und sah ihn verwirrt an. »Horny! Würde es dir etwas ausmachen, mir zu verraten, was da vorgeht?« »Setz dich hin, Alys. Es macht mir etwas aus, aber ich werde es trotzdem tun.« Er ging ins Badezimmer und drehte die Dusche auf, dann schloß er die Tür hinter sich. Im Wohnzimmer setzte er sich ihr gegenüber. »Du mußt jetzt entweder das eine oder das andere tun, Alys. Du mußt mir versprechen, daß du für dich behältst, was ich erzählen werde, oder du mußt sofort gehen.« »Oh, Horny!« stieß sie hervor, offenkundig begeistert. »Verdammt noch mal! Mir ist es ernst.« »Ich verspreche es.« »Du hast in der Sonntagsschule Sport- und Kunstunterricht gegeben, nicht? Also kannst du mir helfen. Erstens war das nicht ein Mann, den du gesehen hast, sondern es waren zwei. Sie sind Zwillinge, und sie waren es, die mein Auto in die Luft gesprengt haben. Sie haben keine Hemmungen. Die meisten meiner Verletzungen stammen von ihnen, und wenn sie erfahren, was ich vorhabe, kann ich mit noch schlimmeren Dingen rechnen.« »Horny!«
252 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Zweitens«, sagte er, »deine Freundin Leota. Sie ist nicht so frei und ungebunden, wie du sie vielleicht in Erinnerung hast. Sie ist nämlich eine Sklavin.« »Eine Sklavin?« »Im Harem eines arabischen Scheichs.« »In einem Harem?« Alys’ Augen strahlten wie Sterne. »Das mag dir vielleicht romantisch vorkommen -« »Na, und wie!« »- aber es ist kein Witz. Ich werde sie retten. Du weißt, daß ich mit geheimen Dingen zu tun habe. Es ist besser für dich, wenn du nicht mehr weißt. Aber ich werde ein Risiko eingehen und von Kairo nach Al Hawani über den Palast des Scheichs reisen, um unterwegs Leota herauszuholen.« »Horny! Du bist ein schrecklicher Spießer. Wie willst du denn so etwas machen?« »Das weiß ich nicht, aber ich werde es tun. Vielleicht sogar auf legalem Wege. Hassabou hatte kein Recht, sie aus Italien fortzubringen; das war Teil des Vertrages, also verstößt er gegen das Gesetz. Jedenfalls – mache ich das. Aber ich muß vorher ein paar Papiere fälschen, und da kannst du einen Beitrag leisten. Ich bin künstlerisch nicht sehr begabt. Komm, bitte, mit mir ins Büro.« Als er den Kirchensafe öffnete, rief er über die Schulter: »Du brauchst das alles nicht zu machen. Abgesehen von den Reddis bestehen noch andere Gefahren. Du könntest in Schwierigkeiten mit den - Leuten kommen, für die ich arbeite.« »Du meinst den Staat«, sagte sie mit einem Nicken. »Sag mir eines. Warum kommst du nicht selber in Schwierigkeiten?« »Vielleicht kommt es dazu. Aber ich werde über meine Toilette mitteilen – ach, lassen wir das, Alys. Ich werde eine Nachricht hinterlassen, daß ich früher abgereist bin, weil die Reddis mein Leben bedrohen. Ich glaube, das könnte als Tarnung genügen – außerdem spielt es keine große Rolle.« Er hatte die Fälscherausrüstung herausgeholt. »Mal sehen. Ich muß das Datum des
253 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
ägyptischen Visums ändern. Ruf Trans-Pam an und buch einen Platz in der ersten Maschine nach Kairo. Sollte ich den Paß auf einen anderen Namen umschreiben? Vielleicht sollte ich das tun. Oder -« Alys griff nach seiner Hand. »Horny?« Er schaute gereizt um. »Was denn?« »Nimm mich mit.« Er war so verblüfft, daß seine Gereiztheit vergessen war. »Das ist doch unsinnig, Alys.« »Nein, gar nicht.« »Ausgeschlossen.« »Auch nicht ausgeschlossen. Wenn du für dich Papiere fälschen kannst, dann für mich auch. Und Leota ist länger meine Freundin gewesen als die deine.« »Hör auf damit, Alys. Es ist gefährlich.« Sie beugte sich schüchtern vor und legte ihre Wange an die seine. »Und aufregend ist es auch, Horny. Weißt du, was ich meine? Ich spreche vom Traum meines Lebens. Scheichs, die ihre Frauen auf stolzen Rossen entführen. Echte Männer!« »Wegschaffen werden sie die eher mit einem Wasserstoffbuggy«, fauchte er. »Und diese echten Männer tun ihren echten Frauen sonderbare Dinge an.« »Ach, Horny.« Sie bog sich zurück und sah ihn zärtlich an. »Lieber Horny, hältst du es für möglich, daß ich mit einem Mann nicht fertig werde? Verlaß dich wenigstens in dem Punkt auf mich. Für mich ist der Fall damit erledigt. Ich helfe dir bei den Papieren… nun, Horny? Mit dem Unterricht in der Sonntagsschule war das so eine Sache. Jim Tally hat Kunstunterricht gegeben.
254 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Ich war Judotrainerin. Aber wenn Jessie Tunman einen Paß fälschen kann, dann ich auch.«
255 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
12 Der ältliche ägyptische Pilot drehte sich auf seinem Sitz herum und schrie etwas. Er zeigte auf die Wüste hinunter, und obwohl Hakes rostiges Arabisch mit der Zeit wiederkam, verstand er das meiste nicht. »Steuern Sie die Maschine«, befahl Hake. Der Art, wie der Ägypter das kleine Propjet-Flugzeug steuerte, entnahm Hake, daß er seine Flugausbildung auf MiGs erhalten hatte, von sowjetischen Beratern vor dem Yom Kippur-Krieg. »Was will er uns sagen?« fragte Alys an Hakes Ohr. Hake zuckte die Achseln. »Daß der Wind ungünstig ist. Ich glaube, wegen des Zeugs da unten.« Das Empty Quarter war wahrhaftig leer: Felsenwüste, nicht einmal eine Ziegenherde oder die schwarzen Zelte eines Beduinenlagers. Aber der Boden war teilweise sonderbar gefärbt, bräunlichgrün und eigentümlich verschwommen, so, als liege Ölnebel über dem verkümmerten Gesträuch. »Wenn das Flugzeug nur ein Badezimmer hätte«, sagte Alys gereizt. Sie spielte die Rolle der gelangweilten amerikanischen Touristin außerordentlich gut: hübsch, gut gekleidet in ihrem dreiteiligen grauen Shortsanzug, ein dunkelrotes Tuch um den Hals. Für die Gegend völlig ungeeignete Kleidung, aber aus diesem Grund um so passender für jemanden, der als Tourist auftreten wollte. Ihre zappelnde Langeweile ist vermutlich nicht nur gespielt, dachte Hake. Sie betrachtete dieses Abenteuer jetzt wohl mit anderen Augen. Die Nacht zuvor im Kairoer Hotel, beide durch Erschöpfung völlig erledigt, hatte sie auf dem riesigen Bett starr neben ihm gelegen. Als er sie berühren wollte, mehr aus Mitleid als aus Lust, hatte sie sich zornig losgerissen. Er konnte ihre Bedenken begreifen. Je näher sie Abu Magnah kamen, desto stärker traten seine eigenen Bedenken in den Vordergrund. Was eine halbe
256 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Welt entfernt einfach ausgesehen hatte, wirkte aus der Nähe immer abschreckender. »Was macht der Idiot jetzt?« fragte sie scharf. Der Pilot hatte die Gurte geöffnet, die Steuerung sich selbst überlassen, und wankte auf sie zu. In ägyptischem Arabisch brüllte er: »Die Oase kommt gleich. Haben Sie die Heuschrecken gesehen?« Hake drehte den Kopf und blickte nach hinten, aber die Tragfläche verdeckte ihm die Sicht. »Schade«, meinte der Pilot grinsend. »Schnallen Sie sich jetzt an. Wenn Gott es will, beginnen wir bald mit dem Sinkflug vor der Landung.« Er kehrte an seinen Platz zurück, schaltete den Auto piloten ab, und die Maschine kippte und zog einen weiten Bogen nach links. Als das Fahrgestell rumpelnd ausgefahren wurde, sah Hake zum erstenmal Abu Magnah. Es war viel größer, als er gedacht hatte. Es sah aus wie das Symbol ineinandergreifender Ringe für die Olympischen Spiele, aber in großem Maßstab – riesige Scheiben mit Durchmessern bis zu einer Meile. Es waren Bewässerungskreise, und wo sie ineinandergriffen, gab es keine Ansammlung von Zelten und Palmen, sondern eine große Stadt. Breite Straßen schlängelten sich zwischen den bestellten Feldern dahin, waren fast ohne jeden Verkehr. Hake war der Meinung gewesen, Abu Magnah sei der private Erholungspalast von Scheich Hassabou. Es war viel größer. Mindestens fünfzig schneeweiße kuppelförmige Gebäude waren in Quadraten an Straßen angelegt; Minarette und Moscheen in Weiß und Gold und dunkleren Farben; ein weitläufiges Gebäude wie zwei aneinandergelegte Dominosteine, darauf ein Hotelname, und draußen in den Farmkreisen, umgeben von Mauern, zwei oder drei Paläste aus dem Märchenbuch mit Wasserbecken und Gärten. Alles in allem einschüchternd. Und ganz neu. Es gab wenige Bäume, weil Abu Magnah noch nicht alt genug für Bäume war, auch wenn hellgrüne Muster von Schößlingen anzeigten, wo eines Tages Fichtenwäldchen stehen würden. Ein graugrünes Muster versprach Olivenbäume. Am Rand eines riesigen Kreises nördlich der Stadt (dunkelbraune und feuchte Erde, nur schwach getönt von den ersten Spuren irgendeiner Feldfrucht) stand ein
257 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
kantiger Turm, höher als jedes Minarett. Gerüste verrieten, daß der Bau noch nicht abgeschlossen war. Dann kippte das Flugzeug weg, sank hinab, und eine Landebahn raste ihnen entgegen. Sie ließen die zufallsbestimmten Zollformalitäten über sich ergehen. Der Pilot erwartete sie am Hotel-Kleinbus. »Zahlen Sie, bitte, jetzt«, sagte er. »Nein. Warum?« fragte Hake. »Sie müssen uns noch nach Süden bringen.« »Aber wenn Sie mich hier mit Ihrer Kreditkarte bezahlen, tun Sie das in der Währung des Scheichs, die an den Schweizer Franken gebunden ist. Woher weiß ich außerdem, daß Sie nicht verschwinden, ohne zu bezahlen?« »Tja -«, sagte Hake verärgert, aber Alys Brant trat zwischen sie. »Ausgeschlossen«, sagte sie entschieden und zog Hake in den Kleinbus. »Ach, Horny«, fuhr sie seufzend fort, als sie sich niederließ, »du läßt dir von den Leuten aber auch alles gefallen. Du mußt sehr charmant sein, wie hätte ich mich sonst zu diesem verrückten Vorhaben überreden lassen?« Er nahm sich zusammen und antwortete nicht. Er biß die Zähne zusammen und schaute zum Fenster hinaus. Abgesehen von ihnen gab es nicht viel Verkehr – zu überholen war gar keiner, ausgenommen eine riesige Maschine, die wie ein Schneeräumgerät aussah, sich aber als Sandkehrmaschine erwies. Die breite Straße war gebaut wie eine Autobahn. Wenn sie nicht oft benützt wurde, dann wenigstens, sobald jemand schnell fahren wollte. Und als sie an einer der von Mauern umschlossenen Anlagen vorbeifuhren, hörte Hake, vom heißen Wind durch die offenen Fenster hereingetragen, ein Geräusch wie das Rauschen von Wasser. Ein Wasserfall? Wie lächerlich, hier mitten im Nirgendwo! Und wie eindrucksvoll. Er war umgeben von allen Anzeichen des Reichtums und der Macht, und wer war er, Hake, daß er sich
258 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
dagegen auflehnen konnte? Gar nicht zu reden von der eindrucksvollen Macht, für die er arbeitete und mit deren Eingreifen er früher oder später würde rechnen müssen. »Ahlan-wa-sahlan«, sagte der korrekt gekleidete Empfangschef und hielt ihm einen Kugelschreiber hin. »Inschallah«, erwiderte Hake höflich. Er unterschrieb die Anmeldung, mit einem Auge auf der Unterschrift in seinem Paß, um es richtig zu machen. Sie wurden zu ihren Zimmern geführt. Drei Träger beförderten ihre vier kleinen Gepäckstücke – »Ich muß noch einiges einkaufen«, flüsterte Alys im Lift –, und alle betätigten sich eifrig, öffneten und schlossen Vorhänge, probierten vergoldete Wasserhähne im Bad aus, regulierten die Klimaanlagen, bis Hake jedem eine 50-Rial-Münze gab. Er schloß die Tür hinter ihnen, blieb einen Augenblick lang nachdenklich stehen, dann begann er in Schubladen zu kramen, bis er zuerst ein Exemplar des Korans und anschließend das fand, was er suchte: ein kleines Lederbändchen mit Golddruck, das Telefonbuch von Abu Magnah. Die Schnörkelschrift war leicht zu lesen, und aus Kindheitserinnerungen stieg nach Bedarf das herauf, was er brauchte. Aber er las das eigentlich nicht. Er wußte nicht genau, wonach er suchte, und was er in erster Linie sah, war die Armseligkeit seiner Pläne, 1. nach Abu Magnah gehen, 2. Leota befreien, 3. überlegen, wie es weitergehen sollte. Selbst als strategischem Grundriß fehlte dem manches. Und taktisch… wie fing man es bei Stufe 2 an? Die Befreiung war zu Hause in Long Branch sogar möglich erschienen, so, als brauche er nur zur Ortspolizei zu gehen und eine Entführung zu melden. Aber in dieser Oasenstadt, dem alleinigen Reich von Hassabou und seinen Verwandten, war das nicht einmal eine Hoffnung. Alys kam aus dem Bad, lächelte ihn an und begann auszupakken: ihre Kosmetika in einer Reihe auf den Frisiertisch mit Spiegel, die Toilettensachen ins Bad, ihre Wäsche in die obersten Schubladen der größten Kommode. »Wenn du mir eine deiner Kreditkarten gibst«, sagte sie, »besorge ich heute nachmittag das, was ich noch brauche. Du kannst deine Sachen in die andere Kommode tun.«
259 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Richte dich nicht ein«, sagte er. »Wir werden höchstens drei Tage hier sein.« »Aber solange wir hier sind, sollten wir es auch bequem haben. Mach dir keine Sorgen, Horny. Ich habe das ganze Zeug in zwei Minuten wieder im Koffer – sobald du dir überlegt hast, was wir tun sollen, meine ich.« »Schön.« Er stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Trotz der Hitze waren die Straßen voller Menschen, ein Völkergemisch der arabischen Welt. Der eine oder andere mochte behilflich sein, nicht wahr? Ein kleines Bakschisch, geschickte Anspielungen auf alte Blutfehden – er konnte Jordanier und Jemenis sehen, sogar einen Al Haddibou-Berber ganz in Weiß. Alles, was er zu tun hatte, war, sich zu überlegen, an wen er sich wenden sollte. Seine bisherige Erfahrung als Spion und Saboteur galt hier nicht viel; sie hatte ihn zu einer Art James-BondÜberzeugung gebracht, daß irgendwo an der Straße vom Flughafen oder in der Hotelhalle ein dunkelhäutiger levantin ischer Kaufmann oder ein unterwürfiger kleiner Matrose aus Annam mitgenommen oder Feuer haben wollte, um sich als Verbündeter zu erweisen. So war es nicht gekommen. Er stand allein. »Was ist das hier?« Alys hatte ihre Sachen ausgepackt und machte sich über sein Gepäck her. Sie kramte in dem Durcheinander am Boden: Dietrich und elektronische Rückkoppler, Codebücher, der Rest von Arts Kassetten, ein Stilett. »Handwerkszeug. Laß das nur.« Sie seufzte freudig. »Du führst ein faszinierendes Leben.« Sie legte die Sachen in eine Schublade, hängte seine Hemden auf und setzte sich hin, um ihn mit lebhaften Augen anzublicken. »Mal sehen«, sagte sie. »Da du der Spionagefachmann bist, wirst du sicher einen Plan dafür ausgearbeitet haben, wie es weitergehen soll, aber nur zum Üben will ich mal sehen, ob ich dahinterkomme. Da wir uns als Touristen ausgeben, sollten wir uns auch alles ansehen. Wir
260 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
können die Umgebung unter die Lupe nehmen und so feststellen, wie wir an Leota herankommen. In der Halle gibt es sicher hübsche Ansichtskarten, vielleicht auch einen Stadtplan. Ich wette, wir können allerhand herausbekommen, wenn wir nur die Sehenswürdigkeiten besichtigen und so weiter. Und bis heute abend können wir uns dann einen Plan zurechtlegen. Hab’ ich recht?« Hake betrachtete einen Augenblick ihr unschuldiges Gesicht, dann grinste er. »Du nimmst mir das Wort aus dem Mund«, sagte er. »Gehen wir.« Wo die beiden Flügel des Hotels zusammenstießen, hatte der Architekt ein drehbares Dachrestaurant eingebaut. Sie aßen an diesem Abend dort, und während das Restaurant sich drehte, konnte Hake den Scheichspalast sehen, unter dem hellen Wüstennachthimmel rosarot und blau angestrahlt. Seit sie ihn aus nächster Nähe gesehen hatten, wirkte er noch einschüchternder… aber vielleicht bin ich einfach nur müde, dachte Hake. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Alys hatte Ansichtskarten und Stadtplan ohne Mühe gefunden. Nachdem sie zehn Minuten lang erfolglos mit dem Portier über Rundfahrten gesprochen hatten – keiner der Busse fuhr zu den richtigen Plätzen, und Hake fand keine Möglichkeit, klarzumachen, was die richtigen Plätze waren, ohne mehr zu verraten, als er wollte –, waren sie hinausgegangen und von Taxifahrern überfallen worden, die der Gedanke, einen ganzen Nachmittag für Rundfahrten bezahlt zu werden, in einen Freudentaumel versetzte. Hake suchte sich einen vertriebenen Armenier-Moslem namens Dicran aus (die Gefahr, daß man seinem Arabisch etwas anmerkte, solange er noch üben mußte, war bei dem am geringsten), und sie waren drei Stunden lang herumgefahren. Dicrans über die Schulter gesprochener Kommentar war eine Zusammenfassung dessen, was er für romantisch und fremdartig hielt – weiße Mughathir-Kamele, auf denen Polizisten saßen, Moscheen für Sunniten, Schiiten und Alewiten-Moslems, Kirchen für Drusen, Derwische und, ja, sogar für Christen. Und er war
261 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
stolz darauf gewesen, ihnen auf ihre Bitte hin den Palast von Scheich Hassabou zu zeigen. Sie fuhren die Landstraße entlang, die an den Mauern vorbeiführte, und Dicran vertraute ihnen feixend an, daß das, was nach grünen Hecken um den Harem aussah, Elektrozäune waren, ganz zu schweigen von InfrarotAlarmanlagen und bewaffneten Wächtern an allen Eingängen. Dicran hatte darauf bestanden, daß sie einen Aipursuq besuchten – Hake hatte sich eine Weile den Kopf über das Wort zerbrochen und gelacht, als er ›Supermarkt‹ erkannte –, um hiesige Gurken, Granatäpfel und Feigen zu kaufen, und sie hatten auf echtem Gras ein Picknick gemacht, dem Palast direkt gegenüber. Dicran hatte sich als eine Fundgrube an Wissen erwiesen, aber wenn man alles zusammennahm, um wieviel waren sie der Befreiung Leotas nähergerückt? Oder auch nur einem Plan dazu? Um sehr, sehr wenig. Aber hier in der Öffentlichkeit, während der Oberkellner ihnen riesige altmodische Speisekarten brachte, konnten sie ohnehin nicht darüber reden. Und es bestand ja immer noch die Aussicht, daß ihm etwas einfiel. Als der Kellner graziös davonschritt, kicherte Alys und beugte sich zu Hake vor. »Er trägt Lidschatten«, zischte sie. »Das ist Kohl, Alys. Das heißt nicht, daß er schwul ist. Sie brauchen das, um ihre Augen vor der Sonne zu schützen.« »Nachts?« Sie zwinkerte ihm zu und studierte wieder die Speisekarte. Wenigstens sie amüsierte sich, vor allem, als sie den Blick auf Hassabous rosigblauen Palast richtete und beinahe das Atmen zu vergessen schien. Es war keine Angst. Es war Erregung. Irgend etwas an dem Gedanken, daß Leota in solcher Nähe festgehalten wurde, war ein Kitzel für sie. Er hatte beinahe das Gefühl, daß sie Leota beneidete, aber als sie wieder auf die Speisekarte blickte, sagte sie nur: »Glaubst du, daß die Forelle frisch ist?«
262 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Sie war es, ebenso der persische Kaviar, mit dem sie die Mahlzeit eröffneten. Der Wein war Graves, Schloßabfüllung. Alys bestellte mit der Präzision und Überheblichkeit der erfahrenen Touristin. Hake überschlug in Gedanken die Kosten der Mahlzeit und dankte seinem allenfalls-einen-Gott, daß er nicht dafür würde bezahlen müssen. Er verstand wenigstens diesen Grund, weshalb Yosper und den anderen ihre Arbeit so gut gefiel. Es fiel schwer, daran zu denken, daß Sparsamkeit eine Tugend war, wenn man die Rechnungen nicht zu bezahlen brauchte – wenn vielmehr jede durch das komplizierte Jonglieren von Computerprogrammen und Kreditkarten ahnungslos von einem Gegner bezahlt wurde, so daß jede Ausgefallenheit ein Schlag gegen den Feind war. Wie ein Millionär zu leben, war für Hake eine neue Erfahrung, und zwar eine unmoralisch angenehme. Aber sie schrumpfte im Vergleich mit dem Lebensstil von Scheich Hassabou. Abu Magnah war nicht sein alleiniger Privatbesitz, aber der seiner Familie, jeder Quadratzentimeter davon. Ihre Paläste waren das Dutzend anderer, die verstreut um die bewässerten Flächen lagen. Aber seiner war der größte, der bedeutsamste, jener, von dem die Macht ausging. Und was für eine Macht! Er hatte eine Welt erschaffen, wo vorher nichts gewesen war als eine salzige Kamelsuhle und ein paar verkümmerte Bäume. Die Bewässerungskreise, die Abu Magnah Leben verliehen, konnten jederzeit geschaffen werden, aber vor Hassabou war niemand bereit gewesen, den Preis dafür zu entrichten. Unter Gestrüpp und Fels lag ein Meer von fossilem Wasser – etwas brackig, ja, aber kühl, für Bewässerungszwecke völlig ausreichend, sogar trinkbar, wenn man nicht zu wählerisch war. Doch es lag fast eine halbe Meile unter dem Boden. Jeder Liter, der an die Oberfläche gebracht wurde, entsprach einer Arbeit von 1236 Joule. Energieferkelei! Und das in einem viel riesigeren Maßstab, als Hake sich das je hatte träumen lassen. Der Scheich hatte die alte Oase vorgefunden, sie gekauft und das unterirdische Meer angezapft, um in der Wüste die Höfe und Paläste von Al Hawani zu schaffen, in denen er als Kind gespielt hatte. Alles, was man
263 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
dazu brauchte, war Energie. Energie kostete nur Geld. So viel Geld, daß er sich seinen eigenen Plutoniumgenerator kaufen konnte – der bald durch den neuen Solarturm im Norden der Stadt ersetzt werden sollte, hatte Dicran gesagt –, um das Wasser aus dem Meer unter dem Sand heraufzupumpen. Geld, um das Wasser zum Trinkwasser zu destillieren und es in Bewässerungskreisen in der Wüste zu verteilen, so daß die riesigen rotierenden Radien der Röhren die Wüste zum Blühen bringen konnten. Geld, um mit Schienenlastern den Marmor und den Stahl heranzuschaffen, damit der Scheich seine Paläste bauen konnte; um die Palästinenser und Saudis und Beduinen zu versorgen und unterzubringen, die seine Kreise bestellten und seine Stadt bevölkerten; um seine eigenen Muezzins zu kaufen, damit sie die Gebetsstunden ausriefen, und die Türme zu errichten, von denen aus ihre Rufe erschallten. Geld, um eine Frau zu kaufen, die er sich einbildete, und die Polizei zu bestechen, damit sie wegschaute, wenn er sie hierher entführte. Eine Frau? Vielleicht hatte er hundert? Dicrans Augenzwinkern und Feixen reichte für tausend. Und das Geld war vorhanden. Seit über einer Generation war das ganze Gold der westlichen Welt in den Nahen Osten geströmt. Erdöl wurde Kapital. Kapital erwarb Hotels und Autofabriken und Verlage und Tausende Quadratmeilen Land, teilweise Bauplätze in New York und Chicago und Tokio und London. Selbst als das Erdöl fort war, blieb das Kapital und vermehrte sich und schüttete weiter Geld in die Schatztruhen der Scheichs. Dagegen wagte Hake aufzutreten. Welche Kräfte konnte er dagegen ins Treffen führen? Es gab einige. Die Kenntnisse in Einbruch und Kampf, die er Unter dem Draht erworben hatte. Die Codes und Karten, mit denen er die Geheimkonten eines halben Dutzend großer Industriemächte anzapfen konnte. Seine eigene Entschlossenheit.
264 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Die Kräfte waren nicht ausgeglichen, aber für sein begrenztes Ziel, die Befreiung einer einzelnen Gefangenen – waren sie vielleicht ausgeglichen genug. Wenn er soviel General war, sie richtig einzusetzen. Konnte er sich nicht einen oder zwei Verbündete kaufen? Einen bestechlichen Polizisten? Einen Palästinenser, dessen Verwandte immer noch an der Westbank festsaßen? Vielleicht sogar einen von Hassabous Wächtern? Aber wie stellte man so etwas an? Und es blieben genau noch zwei Tage. Sie tranken Kaffee und Kognak auf der Dachterrasse, unmittelbar außerhalb des Drehrestaurants. Sie waren die einzigen an den Tischen um den Swimmingpool, und der Barmann hielt sie offenkundig für verrückt. Der Nachtwind war immer noch heiß. Der Sand lag körnig auf ihrer Tischplatte, so oft er sie auch abwischen mochte. Aber wenigstens konnten sie frei miteinander sprechen. Alys war nicht in der Stimmung zum Verschwörertum. »Du machst das schon, Schatz«, sagte sie, reckte sich träge und blickte auf die dunkle Wüste hinaus, »und was sagst du, Horny? Ist das nicht viel toller als Long Branch, New Jersey?« In gewisser Weise schon. In mancher Beziehung war Hake noch sehr jung, geboren erst im Rollstuhl. Aber die Dunkelheit unter den Horizontsternen empfand er eher als bedrohlich, weniger als bedrückend. Alys hob den Schwenker an ihre Lippen und riß ihn wieder weg. »Was ist los?« fragte Hake. Sie lachte. »Manches hier ist doch wie Long Branch«, erklärte sie. »In meinem Kognak schwimmt ein Käfer.«
265 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Hake wurde wach, als sich eine Stablampe auf seine Augen richtete. Eine Stimme, die zu hören er nicht erwartet hatte, sagte: »Keine Bewegung, nichts anrühren!« Eine grobe Hand tastete seinen Körper ab und schob sich unter das Kissen. Der Lichtstrahl wanderte um das Bett herum und wiederholte dasselbe bei Alys, die mit einem Ächzen aufwachte. Dann entfernte sich das Licht. Hake konnte dahinter nichts erkennen, aber die Stimme war ihm bekannt. »Hallo, Reddi«, sagte er. »Was für einer sind Sie?« Die Wandlampen flammten auf und zeigten den schlanken, braunhäutigen Mann mit der kleinen, matten Pistole, die auf sie gerichtet war. »Ich bin derjenige, der durchaus bereit ist, Sie zu töten, Hake. Es gefällt mir nicht, Ihnen über die ganze Welt nachreisen zu müssen.« »Tja«, sagte Hake, »ich wollte Ihnen die Mühe eigentlich gar nicht machen.« Er setzte sich auf und rieb seine Augen. Alys neben ihm war wach, aber stumm; sie verfolgte die Vorführung mit großem Interesse und wartete ab. Der Inder hatte die Waffe in der rechten Hand und eine Narbe über dem Auge. »Wie haben Sie mich gefunden, Rama?« fragte Hake im Gesprächston. »Es war nicht schwer zu erraten, daß Sie zu Leota kommen würden«, sagte der Inder. »Vor allem, als Sie Ihre alte Schulfreundin mitnahmen. Ich holte Sie in Kairo ein und kam mit einer Privatmaschine vor Ihnen hier an. Ich war auf dem Flugplatz, als Sie landeten.« »Ich habe Sie nicht gesehen.« Hake erwartete keine Antwort darauf und sah sich bestätigt. Er schwang die Beine über die Bettkante und fuhr fort: »Stört es Sie, wenn ich aufstehe und mir Kaffee mache, bevor wir hier weitertun? Ich habe Pulverkaffee im Bad.«
266 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ja? Und was haben Sie noch dort, Hake? Mir ist lieber, wenn Sie bleiben, wo Sie sind.« Alys bewegte sich. »Wenn aber jemand Pipi machen muß? Wie ich jetzt.« Rama Reddi betrachtete sie kurz, dann ging er zum Badezimmer. Er schaute hinein, betrat den Raum, kramte unter einem Stapel Handtücher, öffnete den Medikamentenschrank. Er verschwand nicht von der Tür, und die Waffe blieb auf sie gerichtet. »Also gut, Miß Alys Brant«, sagte er. »Denken Sie daran, daß die Waffe keinen Lärm macht und ich keinen besonderen Anlaß habe, Sie beide nicht umzubringen, da Hake es für richtig gehalten hat, meinen Bruder und mich zu betrügen, was unsere Abmachung betrifft.« »Augenblick mal«, sagte Hake. »Ich habe nicht gegen unsere Abmachung verstoßen. Wenn jemand ein Recht hat, verärgert zu sein, dann bin ich es – warum haben Sie mein Auto in die Luft gesprengt?« »Dann gilt unsere Abmachung? Sie arbeiten mit uns zusammen?« Hake rieb sein Kinn. »Tja – Helfen Sie mir, Leota aus dem Harem herauszuholen?« »Auf keinen Fall. Haben Sie nicht begriffen, daß mein Bruder und ich weder Amateure noch Patrioten sind? Wir haben dafür keinen Auftraggeber.« »Der bin ich. Ich gebe Ihnen Informationen – als erstes über den Auftrag, an dem ich jetzt arbeite. Eine große Sache. Beteiligt sind mindestens zwanzig Team-Leute -« »In Al Hawani, ja, um die Solarenergie-Anlagen durch Sabotage zu zerstören.« Reddi nickte. Er machte eine Pause und beobachtete Alys, als sie aus dem Bad kam. Sie brachte ein Glas Kaffee für Hake und hatte ein Handtuch herumgewickelt, um sich
267 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
nicht die Finger zu verbrennen. Als Reddi sich vergewissert hatte, daß das Handtuch keine Überraschungen barg, sagte er: »Dafür habe ich auch keinen Auftraggeber. Es interessiert mich nicht.« »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie davon wußten«, sagte Hake niedergeschlagen. »Aber es muß von großem Wert sein. Ich habe eine Karte – ich kann Pläne beschaffen, Sie vielleicht sogar mitnehmen. Sie könnten das doch gewiß verkaufen.« Der Inder starrte ihn ungläubig an. »Weshalb sollte ich so weit reisen, wenn ich das tun wollte? Und Auftraggeber haben wir immer noch keinen.« »Horny hat sich als Auftraggeber angeboten«, sagte Alys unvermittelt. »Unterbrechen Sie nicht, wenn Sie nicht etwas Sinnvolles zu sagen haben, Miß Brant. Wie wollte er bezahlen?« »Er kann Geld aus dem Computersystem holen. Sehr viel sogar. Nicht wahr, Horny?« »Sicher kann ich das, Reddi. Ich gebe Ihnen – hunderttausend Dollar!« Reddi ging zu einem Stuhl am Bett und setzte sich, die Waffe jetzt auf dem Schoß. »Wenigstens das ist eine neue Idee. Vielleicht lohnt es, darüber zu diskutieren.« Er schwieg kurze Zeit, dann zog er einen Umschlag aus der Tasche und warf ihn Hake hin. »Da«, sagte er. »So weit gehe ich jetzt für Sie.« Der Umschlag enthielt drei Fotografien einer Frau in Haremskleidung mit Gesichtsschleier. Es war Leota! Obwohl Hake sich bei Leota am stärksten daran erinnerte, daß sie bei jeder Begegnung eine andere Frau war, zeigte sich hier eine ganz neue Andersartigkeit. Sie trug goldene Armreifen, ein enges Oberteil und eine weite, hauchdünne Hose. Darunter schien sie seltsam gemusterte Strümpfe anzuhaben. Zwei von
268 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
den Bildern zeigten sie beim Aussteigen aus einem riesigen alten Benzin-Rolls-Royce, einmal in hitzigem Gespräch mit einem schwarzen Fahrer in Livree, der einen Dolch trug. Das dritte – Hake betrachtete es genau. Es zeigte Leota an einem Tisch mit einer anderen Frau, und hinter ihnen führte das Fenster auf eine vertraute Dächeraussicht hinaus. »Das ist ja hier im Hotel!« rief er. Reddi nickte. »Ich fand es auch amüsant, daß sie hier war, während Sie in der ganzen Stadt nach ihr gesucht haben. Ich habe das heute nachmittag aufgenommen. Sie kommt manchmal zum Tee her.« »Soll das heißen, sie kann hinaus?« »Sie dürfen nicht davon ausgehen, daß sie frei ist, Hake«, erwiderte der Inder. »Leibwächter sind immer dabei. Und das Armband an ihrem linken Arm ist ein Funkgerät. Damit kann man sie jederzeit aufspüren, und man hört ihre Gespräche ab. Allerdings habe ich zugelassen, daß sie mich sehen konnte«, fuhr er fort. »Sie ist deshalb auf der Hut, für den Fall, daß ich beschließen sollte, Ihnen dabei zu helfen.« »Der Preis beträgt hunderttausend Dollar«, sagte Hake. »Oh, mindestens«, sagte der Inder und sah Hake prüfend an. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Sie sind ein Rätsel, Hake. Seit München sind Sie sehr viel erfahrener geworden. Es entgeht Ihnen vieles, was sich aufdrängt – Sie müssen beispielsweise die Solaranlage gesehen haben, die Scheich Hassabou bauen läßt, als Sie landeten, Sie erkannten aber nicht, was Sie vor sich hatten. Sie nutzen jedoch die Einrichtungen Ihres Staates für Ihre eigenen Zwecke, und das nicht nur im kleinen. Mir macht das den Eindruck, daß Sie ein Mittel haben, ComputernetzBarrieren zu überwinden. Ich werde mit meinem Bruder sprechen müssen, aber – Ja, das wäre uns etwas wert, Hake.« Hake warf einen Blick auf Alys und wählte seine Worte mit Bedacht.
269 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Angenommen, ich könnte Ihnen sagen, wo Sie die Codewörter und -programme finden, um das Team-Computernetz anzuzapfen?« sagte er. »Angenommen, ich helfe Ihnen, sie zu, äh, stehlen?« »Sie können sie mir nicht selbst geben?« »Ich habe sie nicht, aber Yosper und Griesgram haben sie, und sie kommen nach Al Hawani.« Reddi fuhr mit der rechten Hand nachdenklich über den Lauf seiner Pistole. »Ich glaube, Sie belügen mich«, sagte er. »Nein! Warum sollte ich das tun? Besprechen Sie es mit Ihrem Bruder, wir können uns einigen.« »Oh, ich spreche mit ihm, Hake. Aber jetzt möchte ich, daß Sie sich beide mit dem Gesicht nach unten aufs Bett legen.« Hakes Nackenhaare sträubten sich. »Hören Sie, Reddi -« »Sofort.« Hake stellte das Glas hin und legte sich widerwillig zu Alys auf das Bett. Sie hörten Reddi durch das Zimmer gehen. Das Licht ging aus. Die Tür öffnete sich und klappte zu. Alys setzte sich sofort auf. »Horny, wie, zum Teufel, kommst du dazu, den Mann anzulügen? Willst du, daß man uns umbringt?« Hake atmete ein paarmal schwer und versuchte zu verdauen, daß sie beide noch am Leben waren. Er sagte: »Ich versuche es zu verhindern. Denk nach, Alys. Wenn ich ihm nun die Codewörter und Karten gebe und ihm sage, daß mein Daumenabdruck einen Übertragungskanal öffnet? Was würde er wohl tun, sobald er sie hat?« »Aber – wenn er eine Abmachung mit uns getroffen hätte -« Hake schüttelte den Kopf.
270 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Er hätte weiter nichts zu gewinnen. Er würde mit Karten und Codes abziehen – und meinen Daumen mitnehmen.« »Horny! Das würde er doch nicht tun!« »Und ob! Schlaf weiter, Alys. Wir brauchen die Erholung, weil wir das ganz alleine tun müssen.« Aber er schlief schlecht. Zweimal wurde er wach und hörte in der Ferne Sirenen und das Gebimmel von Löschzügen, und beim zweitenmal glaubte er Regen an ihr Fenster prasseln zu hören. Regen! Es war noch dunkel, und er zwang sich, die Augen geschlossen zu halten. Bis Alys ihm leise ins Ohr flüsterte: »Horny? Horny, wach auf und erzähl mir, was vorgeht.« Es war kaum hell. Sie zeigte aufs Fenster, das mit großen, öligen Tropfen aus Schwärze bedeckt zu sein schien. Die Sirenen heulten immer noch, in der Ferne schien ein Luftalarm gegeben worden zu sein. Er stand auf und ging ans Fenster. Die öligen Regentropfen waren nicht aus Wasser. Sie waren Insekten. Hunderte, an das Fenster klatschend, von wo aus sie auf die kleine Brüstung hinunterfielen. Alle Zierpflanzen am Fenster waren von ihnen bedeckt, die Blumen unsichtbar unter hundert Insektenkörpern pro Blüte, die Stengel gebogen unter der Last. »Heuschrecken«, stieß Hake hervor. »Wie scheußlich«, sagte Alys fasziniert. »Sind das dieselben, über die wir weggeflogen sind?« »Anzunehmen.« Sie stand neben ihm, vor Erregung bebend. Zum Fenster hinauszublicken, war, als schaue man in einen Schneegestöber-Briefbeschwerer, nur waren die Flocken von dunklem, bräunlichem Grün. Sie verhüllten den Blick auf die Wüste mit ihren Leibern. Hake konnte die Gebäude auf der anderen Straßenseite und undeutlich ein Minarett erkennen, das
271 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
ein paar hundert Meter entfernt war. Dahinter nichts, nur die Millionen und Milliarden Insekten. Draußen im Flur murmelten die Musiklautsprecher des Hotels in mehreren Sprachen. Hake öffnete die Tür. Alys lauschte und sagte: »Französisch. Es ist die Rede davon, daß die Hauptmasse der Heuschrecken auf dem Radarschirm ist – zwei Kilometer nördlich, mit zwanzig Kilometern in der Stunde im Anflug. Aber wenn das nicht die Hauptmasse ist, was ist es dann?« »Frag mich nicht. Im Kibbuz gab es nie Heuschrecken.«
272 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
13 Der Lautsprecher krächzte und begann von neuem, diesmal in Englisch. »Meine Damen und Herren, wir machen Sie auf den Heuschreckenschwarm aufmerksam. Sie sind für unsere Gäste in keiner Weise schädlich oder gefährlich, aber zu Ihrer eigenen Bequemlichkeit werden Sie lieber im Hotel bleiben wollen. Der Hauptschwarm ist ungefähr eine Meile entfernt und wird in fünf bis zehn Minuten hier eintreffen. Wir bedauern, daß es beim Service heute morgen Störungen geben kann, weil unser Personal gezwungen ist, das Gelände gegen die Insekten zu schützen.« »Das meine ich auch«, sagte Hake, während er zum Fenster hinausstarrte. Hinter den Tausenden, die an das Fenster klatschten, durch die dungbraune Verfärbung der Luft, konnte er unten auf den Straßen fieberhafte Geschäftigkeit sehen. Frauen strömten zu den bestellten Feldern hinaus, Netze in den Händen, die wie Fischkorbfallen und Maschendrahtzylinder aussahen, während Hydro-Lastwagen voll Männer mit schwerem Gerät sich an ihnen vorbeischlängelten. Weiter draußen war der Himmel schwarz. Dort schienen zwei Wolkenschichten zu sein, der Rost des Schwarms darunter, das Rotlavendel des Sonnenaufgangs an den Zirruswölkchen in größerer Höhe. »Oh, Horny, gehen wir hinaus und sehen uns das an!« Hake riß sich los. »Meinetwegen.« Sie zogen sich hastig an und fuhren mit dem Aufzug. Die Halle war voller Gäste, die weit früher durcheinander eilten, als es die meisten von ihnen an diesem Tag vorgehabt hatten. Bis Hake und Alys auf dem Gehsteig standen, befand sich die Sonne über dem Horizont, aber es herrschte immer noch Dämmerlicht – ein grünbräunliches Dämmerlicht, das raschelte und summte. Der Springbrunnen vor dem Eingang war schon überkrustet mit einem Überzug ertrinkender Insekten, und ein Angestellter stellte ein Elektrogebläse auf, um sie wolkenweise in einen Netzsack zu blasen. Als die beiden vom Randstein traten,
273 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
knirschten Insekten unter ihren Füßen. Alys schaute sich mit großen Augen um, hoch erregt, ohne auf die Insekten zu achten, die an ihr Gesicht klatschten und sich in ihren Haaren verfingen. »Wie aufregend!« sagte sie. »Tun sie das oft?« »Wenn sie es oft täten, gäbe es keine bestellten Felder mehr«, gab Hake zurück. »Man nennt sie ›Siebzehnjahres‹Heuschrecken, aber ich glaube, daß sie nicht einmal so oft kommen. Und unsere Zeit verrinnt.« »Horny! Du kannst doch nicht bei dem Leota herausholen wollen. Wir wissen ja nicht einmal, wo sie ist.« Hinter ihnen sagte Rama Reddi: »Sie ist im Garten am Palast.« Hake fuhr herum. »Woher wissen Sie das?« »Ach«, sagte der Inder, »es sind nicht nur ihre Bewacher, die sie elektronisch überwachen können. Wollen Sie reden oder das Unternehmen fortsetzen?« Hake zögerte. »Warum haben Sie es sich anders überlegt?« »Ich habe es mir nicht anders überlegt. Die Umstände haben sich verändert.« Reddi machte eine ausholende Geste. »Aus diesem Grund herrscht ein großes Durcheinander, und die Aussichten sind größer. Ich verspreche nichts. Aber ich habe einen Wagen. Sehen wir uns das an.« Die Luft war jetzt von Insekten erfüllt. Zur Ergänzung der stumpfen, trüben Sonne waren die Scheinwerfer des Landrover eingeschaltet, und die Lichtstrahlen zeichneten zwei Röhren Insektenkörper vor ihnen ab. Reddi fuhr vorsichtig zwischen rennenden Landarbeitern dahin und um Lastwagen am Straßenbankett herum; es war nicht weit. Sie rollten über eine Brücke, die einen rasch strömenden Fluß überspannte; unter ihnen schien ein Wasserfall zu sein – nein, kein Wasserfall; es war eine Wölbung im Fluß selbst. Und hinter der Brücke, auf
274 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
einem Feld, das einmal Gerste gewesen war und jetzt nur noch aus grünbraunen Insekten bestand, wurden schattenhafte Gestalten von großen Gebläsen umhergetrieben. An ihrer Kleidung erkannte Hake sie als Frauen; anders hätte er es nicht erkennen können, weil sie wallende Gewänder und Kopf- und Halstücher trugen – die hatta w-’aqqal –, die gegen den Wüstensand schützen sollten und gegen Heuschrecken ebenso wirksam waren. Quer auf der Straße entfernte sich eine Reihe von Männern von ihnen, hieb auf die Pflanzen ein und zwang die Heuschrecken, sich wieder in die Luft zu erheben. Hake konnte nicht erkennen, welchem Zweck das diente, bis er sah, daß die fliegenden Insekten durch die Gebläse in Netzkäfige gesaugt wurden. Es waren nicht nur die Gebläse. Hake nahm einen durchdringenden Kakerlakengeruch war: Pheromone zur Anlockung. An einer Biegung hielt Reddi an und schaltete das Licht aus. »Was ist los? Warum suchen wir Leota nicht?« »Sie ist die dritte dort in der Reihe«, sagte der Inder. »Haben Sie sie nicht gesehen? Aber ihr kleines Armband sendet noch, und mein Gerät hat sie geortet.« Er schaute sich finster um. »Es gibt jedoch Probleme.« »Was für Probleme?« fragte Hake scharf. »Sie sehen es!« Er zeigte auf die Männer quer über der Straße. »Sie haben auch Funkgeräte. Und es spricht einiges dafür, daß der Scheich ebenfalls herumläuft. Er genießt das Abenteuerliche – verdammt!« Er starrte in den Rückspiegel, dann sprang er aus dem Fahrzeug und hob warnend die Hand. Eine der Frauen kam auf sie zu. Auf Reddis Signal hin blieb sie stehen. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen, aber Hake hatte keinen Zweifel daran, wer sie war. »Sie sah uns vorbeifahren«, sagte Reddi. »Aber es ist zu gefährlich.« Er zupfte an seinem kleinen Bart und schüttelte den Kopf. »Wir fahren weiter und versuchen es später noch einmal.«
275 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Kommt nicht in Frage! Das ist die beste Gelegenheit, die wir je haben werden, Reddi!« »Es ist gar keine. Wenn keine Männer in der Nähe wären – aber sie sind da, und die Wachen passen ständig auf. Wir können sie nicht einmal ansprechen, sonst hören sie das.« »Wir können ihr das Funkgerät einfach abnehmen.« »Und was? Sie sind überall. Wenn sie dorthin schauen, wo sie sein müßte, und niemanden sehen, was werden sie tun, Hake? Sagen sie dann: ›Ach, vielleicht sehe ich schlecht, ich irre mich wohl.‹? Nein. Sie werden das nachprüfen. Dann fangen sie an zu suchen, und wenn sie suchen, finden sie uns auch. Und wenn wir sie in den Wagen nehmen, werden sie, selbst wenn wir nichts sagen, im Funk den Motor hören und sie mit den PeilOrtungsgeräten finden. Nein. Es ist unmöglich. Etwas später -« »Ich glaube nicht, daß Sie es später machen«, sagte Hake. Alys legte die Hand auf seinen Arm. »Mr. Reddi? Warum kann ich nicht ihren Platz einnehmen?« »Was?« rief Hake. »Das ist ja Wahnsinn! Du weißt nicht, was du sagst.« Sie beugte sich hinüber und küßte ihn auf die Wange. »Lieber Horny«, sagte sie, »Leota ist auch meine Freundin. Und außerdem – es klingt wirklich interessant. Wenn man es genau nimmt, haben die Männer mich immer gegenüber Leota bevorzugt, damals auf dem College, und ich glaube nicht, daß es Scheich Hassabou sehr viel ausmachen wird.« Sie sprang aus dem Wagen. Der Inder warf kurz einen Blick auf Hake, dann folgte er ihr. Hake wollte ihnen nach und hielt sich zurück; er konnte nichts mehr machen; wenn er ein Wort sagte, würde man es hören, und sie wurden alle erwischt. Er starrte mit zusammengekniffenen Augen in das Gewirr von Heuschrecken. Reddi zog eine Drahtschere heraus und schnitt das goldene Armbad auseinander. Es war weiches Metall, leicht zu entfernen, mühelos um Alys’ bereitwillig hingestreckten Arm zu biegen.
276 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Fast augenblicklich tönte eine Stimme heraus. »Was ist los, Leota?« »Nichts«, sagte Leota, das Kinn auf Alys’ Schulter. »Ich bin nur gestolpert und angestoßen.« Sie zögerte. »Ich hab’ es satt hier draußen«, klagte sie. »Ich gehe auf mein Zimmer und schlafe ein bißchen, wenn Seine Exzellenz mich nicht verlangt.« Die Stimme lachte. »Seine Exzellenz wird dich gewiß wecken, wenn er dich braucht.« Alys berührte das Armband und lächelte die anderen an. Sie formte mit den Lippen das Wort ›Verschwindet!‹, drehte sich um und ging langsam auf den in der Ferne aufragenden Palast zu. Hake starrte ihr nach, als die beiden anderen umkehrten, bis Reddi fauchte: »Augen nach vorn! Keine Aufmerksamkeit erregen! Das ist der Scheich!« Sie gingen über die Brücke zum Fluß hinunter. Auf der Wölbung im Fluß stand jemand auf einem Surfbrett und bewegte sich auf der stehenden Welle hin und her. Er blickte nicht in ihre Richtung, und Augenblicke später verbargen ihn die Heuschrecken. Nachdem Leota sich samt dünner Hose, Oberteil und allem in einen von Alys’ weiteren Anzügen gezwängt hatte, versuchte sie nun mit Alys’ Kosmetika in Alys’ Spiegel ihrem Gesicht ein zivilisierteres Aussehen zu verleihen. Rama Reddi, der auf dem Kopilotensitz hockte, beschäftigte sich mit einem Notizbuch. Was er studierte und schrieb, wollte Hake sich lieber nicht vorstellen. Der Pilot wurde offenbar von Neugier verzehrt. Er hatte die Maschine längst auf den Autopiloten umgeschaltet und versuchte mit den Passagieren ins Gespräch zu kommen. Wenigstens war er über seine Empörung hinweggekommen, in einem Heuschreckenschwarm zum Start gezwungen zu sein, aber nun wollte er sich unterhalten. »War sehr aufregend, nicht wahr, Effendi?« rief er Hake zu und sprach jede Silbe betont deutlich aus, damit Hakes Ohr sich daran gewöhnen konnte. »Aber wie schade! Diese Leute haben
277 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
keine Ahnung von Heuschrecken. Sie werden nur einige fangen. Der Rest wird weiterfliegen. Wenn es regnen würde – dann würden sie am Boden bleiben, und man könnte sie aufschaufeln. Aber ich glaube nicht daran.« Hake war wider Willen interessiert. »Warum wollen Sie, daß sie auf dem Boden bleiben?« »Warum will man essen? Sie sind erstklassiges Eiweiß. Und fast ausgerottet, wie Ihr Kranich. Diese armseligen Überreste! Als mein Vater noch lebte, schwärzten die Schwärme tagelang den Himmel, von Horizont zu Horizont. Wenn sie landeten, brachen die Äste von den Bäumen. Dann kamen die Europäer mit ihren Insektengiften, und unsere Kinder bekommen aus Eiweißmangel Skorbut.« Er hätte ewig weitergeschnattert, aber Reddi klappte sein Notizbuch zu und starrte den Piloten scharf an. »Sie halten jetzt den Mund«, sagte er. »Da. Das sind die Koordinaten, wo Sie landen. Ich begleite Sie dann, während die beiden anderen bleiben.« Als der Pilot beharrlich verständnislos blickte, fügte Reddi hinzu: »Hake, übersetzen Sie.« Hake zog die Brauen zusammen. »Warum sollen wir uns trennen? Warum fliegen wir dorthin, statt nach Al Hawani?« »Weil ich es so will.« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern richtete sich auf und schnallte sich wieder an. Über der Sitzlehne war nur der Oberteil seines Kopfes zu sehen, glänzend schwarze Haare, glatt zurückgeklatscht. Gesprächsbereitschaft zeigte er nicht an. Hake sah die Klugheit mindestens eines Teils dessen ein, was Reddi gesagt hatte – der Pilot war schon mehr ins Vertrauen gezogen worden, als sinnvoll war, eingedenk der Tatsache, daß es sich um eine streng geheime Mission handelte. Aber es gefiel Hake trotzdem nicht. Er beugte sich zu Leota hinüber. »Kennst du das mit Mohammed und dem Kamel?«
278 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Sie sah ihn an. »Er zog die Nase des Kamels in sein Zelt, und der Rest des Kamels kam nach? Ja, so ist das bei den Reddis, Horny. Ich dachte, das wäre dir schon in Italien klargeworden.« »Hm, ja, aber ich hatte keine große Wahl -« Sie grinste plötzlich; es war das erste Lächeln, das er seit ihrer Befreiung von ihr gesehen hatte. Sie küßte ihn rasch. »Ich beklage mich nicht.« Sie betupfte ihr Gesicht erneut mit einem feuchten Papiertaschentuch, seufzte und gab es auf. Als sie den Kosmetikkoffer wegräumte, sagte sie: »Ich war wirklich soweit, daß ich da wegwollte, Horny. Ein übler Kerl, der alte Scheich. Weißt du, wie er mich aus Rom herausgeschafft hat? Einer seiner Leute hielt mir ein Messer an die Kehle, als wir in Ostia wegfuhren. Er ließ mich auch glauben, daß er es benützen würde.« Das Lächeln war nun völlig verschwunden. »Hoffentlich kommt Alys zurecht«, meinte sie. »Sie sagte, sie käme mit jedem Mann zurecht, Leota.« Sie sah ihn wieder an. »Ja. Das klingt ganz nach ihr.« Der Pilot drehte den Kopf nach hinten, wieder voll Empörung. »Effendi, Sie und die Frau sollten sich angeschnallt haben«, erklärte er auf arabisch. Er wartete nicht darauf, daß sie es taten, sondern riß die Maschine in eine enge Kurve. Hake verrenkte den Körper, um auf seinem Platz zu bleiben, während er sich anschnallte, und konnte durch das winzige Fenster nur wenig erkennen: Sand und breite, leere Straßen; Dünen, dahinter das weite Meer; ein Haufen dichtgedrängter, einstöckiger Gebäude, die aussahen, als seien sie aus gebrauchten Benzinfässern errichtet worden. Sie holperten über eine unebene, schlecht gepflegte Landebahn, und der Pilot bog mit hoher Geschwindigkeit ab, um auf ein kleines Haus neben dem Kontrollturm auf Stelzen zuzurollen. Er stellte die Motoren ab und drehte sich herum.
279 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Was nun?« fragte er scharf. »Wenn Sie wollen, daß ich starte, müssen wir das in der nächsten halben Stunde tun. Das Loch hier ist für Nachtflüge nicht eingerichtet.« »Wie streng Sie es nehmen«, sagte Reddi, als ihm das verdolmetscht worden war. »Haben Sie die Güte, das Gepäck mitzubringen – alles bis auf meinen eigenen Koffer, den braunen.« Er öffnete die Tür und kletterte über die Tragfläche hinaus, warf einen verächtlichen Blick auf die Flugplatzgebäude und beachtete sie nicht mehr. Als der Pilot außer Hörweite auf der anderen Seite der Maschine war und murrend das Gepäck herauszog, sagte Reddi: »Ich verlasse Sie hier. Ich nehme die Maschine. Bitte, bezahlen Sie dem Piloten, was nötig ist, eingeschlossen noch drei Flugstunden.« »Himmel noch mal, warum denn?« fragte Hake aufgebracht. Es gelang ihm, den Zusatz zu unterdrücken, daß das schließlich sein Flugzeug sei. »Sie und Pauket fahren zur Stadt. Es gibt Omnibusse, aber vielleicht wollen Sie zu Fuß gehen. Sie brauchen nicht länger als einen Tag und können hier in der Herberge Wanderausrüstung kaufen. Das ist am besten. Erstens deshalb, weil Ihr Ziel an der Küstenstraße liegt und Sie es sich ansehen können. Zweitens wird die Zollabfertigung hier sehr viel weniger gründlich sein als am Flughafen in der Stadt, und ich nehme nicht an, daß Paukets Ausweise in guter Ordnung sind. Drittens habe ich vereinbart, meinen Bruder dort zu treffen, und es ist nicht wünschenswert, daß Sie dabei sind.« »Und viertens brauchen Sie eine Gelegenheit, sich mit ihm unter vier Augen verschwören zu können«, sagte Leota. Er warf ihr einen Blick zu. »Verdenken Sie mir das? Ich habe getan, was vereinbart war, und bin nicht bezahlt worden. Mein Bruder und ich müssen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, daß wir nicht betrogen werden.«
280 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich würde was dafür geben, zu wissen, was das für Maßnahmen sind«, sagte sie. Er schwieg einen Augenblick und sah sie an. Dann seufzte er. »Trotz unserer zeitweiligen Zusammenarbeit haben Sie sehr wenig gelernt, Miß Pauket«, sagte Reddi. »Wollen Sie, daß wir vier mit Pistolen angreifen? Das wäre sinnlos. Aber man kann viel tun. Personen, die das Team sich zuschreibt, gehören nicht dazu. Man kann Gruppen widersprüchlicher Interessen veranlassen, zusammenzuarbeiten. Hier habe ich das Sagen, und wenn es nötig ist, wird man Ihnen mitteilen, was Sie zu tun haben. Selbstverständlich hängt alles von der Entscheidung meines Bruders ab«, fügte er hinzu. »Was Sie nicht sagen, Reddi!« brauste Leota auf. »Sehr viel hängt davon ab, was wir entscheiden!« »Nein. Sehr wenig. Was für eine Wahl haben Sie?« Er wartete einen Augenblick, dann nickte er. »Also gut. Ich bin morgen abend im Crash Pad -« »Crash Pad?« »Das Hotel«, sagte Reddi ungeduldig. »Der Name ›lntercontinental‹ steht dort, aber fragen Sie, wen Sie wollen, nach dem Crash Pad, und man zeigt Ihnen den Weg. Verlangen Sie nicht meine Zimmernummer. Gehen Sie hinauf. Es wird hoch oben sein, im obersten Stockwerk, wenn ich das erreichen kann, sonst so weit oben wie möglich. Sie werden das Zimmer erkennen, weil am Türknopf ein ›Nicht stören‹-Schild hängen wird, die gegenüberliegenden Ecken nach hinten gebogen. Verstanden? Gut, dann bezahlen Sie den Piloten.« Hake sah Leota an, die nickte. Er zog die Schultern hoch und trat zu dem Piloten, als er von der Tür zurückkam, an der in mehreren Sprachen ›Zoll- und Paßkontrolle‹ stand. Sie feilschten die obligatorische Zeit, dann gingen sie zum Flugzeug zurück. Hake begann sich entschieden wohl zu fühlen. Die Wüstenluft versengte ihm Lunge und Kehle, aber es war eine gute Hitze,
281 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
vertraut aus seiner Kindheit, und Leota schien sich langsam zu erholen. Reddi stand schon ungeduldig auf der Tragfläche. »Sind Sie ganz sicher, daß der Pilot sich vollständig bezahlt weiß und keine Trinkgelder mehr erwartet?« »Das hat er verstanden«, fauchte der Pilot und fügte einen Satz auf arabisch hinzu, den Reddi nicht verstand und Hake nicht verstehen wollte. Er hatte keine Lust, vom plötzlichen Tod des Piloten zu erfahren. Die Herberge war früher wohl etwas anderes gewesen; jedenfalls war sie als solche nicht besonders. Der Vorteil war der, daß weder die verschleierte Beduinenfrau, die ihnen ihr Zimmer zeigte, noch sonst irgend jemand viel von Ausweisen zu halten schien. Sonst gab es nur wenig Positives. Zwei Feldbetten mit Militärdecken. Nackte Wände. Zwei sandzerschründete Fenster, die sich nicht öffnen ließen. Schilder in zehn Sprachen – nicht alle Texte in sämtlichen Sprachen wiedergegeben: ›Keine alkoholischen Getränke‹ nur in drei Nahostsprachen und seltsamerweise in Deutsch; ›lm Bett nicht rauchen‹ nur auf englisch. Leota griff nach einem Haufen Kleidung und ging zur Dusche. Sie blieb nur deshalb stehen, weil Hake darauf bestand, sie zuerst zu fotografieren. Er hörte das ferne, blecherne Rasseln der Röhren, als er den Rest des Inhalts von Jessies Do-ItYourself-Fälscherwerkstatt herauslegte. Paß und Visen, kein Problem; er befestigte die Fotografien und stempelte sie entsprechend. Er setzte Bleibuchstaben zusammen zu JFK-CAI und CAI-KWI, ergänzte das um Signaturen von Fluglinien und Flügen, schob die Typen zurecht und drückte sie auf ein Ticketformular. Ergebnis: ein regelrechtes Flugticket, das bewies, daß eine Millicent Anderson Selfridge von New York nach Kuwait geflogen war. Dann warf er den Flugschein selbst weg und steckte den Durchschlag zu Leotas Papieren. Der Vollständigkeit halber stellte er für sie noch eine Reihe von Kreditkarten, einen Führerschein des Bundesstaates Massachusetts, eine Blue
282 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Cross-Karte und eine Sozialversicherungskarte her. Er brauchte für alles eine Dreiviertelstunde. Und Leota war immer noch unter der Dusche, während in Abständen das Wasser gurgelte. Wozu brauchte sie so lange? Wußte sie nicht, daß der Portier vor Wut toben würde, angesichts der Wasservergeudung – falls der Portier überhaupt hinhörte. Er rieb die Karten zwischen den Händen, damit sie älter aussahen, verbog gekonnt ein paar Ecken und betrachtete das Ergebnis. Sie sahen recht gut aus für einen ersten Versuch; er hoffte nur, daß sie kritischen Beamtenblicken ebenso standhalten würden. Er hatte die unbedruckten Karten und das Werkzeug weggeräumt, sich ausgezogen und auf eines der Betten gelegt, war sogar fast schon am Einschlafen, als Leota zurückkam. Sie hatte ein Handtuch als Turban um ihre Haare gewickelt, trug Alys’ vertrauten langen Hausmantel und sonderbarerweise dicke Kniestrümpfe; als sie sich bewegte, sah er kurz einen Oberschenkel und entdeckte, daß sie darunter immer noch die gestickten Strümpfe zu tragen schien. Er sagte: »Willkommen, Millicent.« »Millicent?« Sie wirkte ruhig und distanziert, als sie die Reisetasche abstellte und sich die Haare zu frottieren begann. »Das ist dein neuer Ausweis«, sagte er, stand auf und zeigte ihr die Papiere. Sie betrachtete sie genau und sagte: »Du machst gute Arbeit, Horny. Horny? Alys muß doch irgendwo einen Fön haben. Vielleicht kannst du ihn finden. Und sag mir, was wir jetzt tun.« Hake gab sich alle Mühe, sie auf den laufenden Stand der Dinge zu bringen, wobei ihm klar wurde, daß er weniger wußte, als er wissen mußte. Leota hörte zerstreut zu, mit zurückhaltender Miene, während sie sich die Haare trocknete und bürstete und dann den Inhalt von Alys’ Gepäck zu sortieren begann. Sie stellte einige Fragen, drängte aber nicht, wenn Hakes Antworten unbefriedigend waren.
283 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Sie schien einfach durch einen Traum zu wandeln. Als sie alle Sachen von Alys auf den Betten ausgebreitet hatte – zwei lange Kleider, einige Pfund Kosmetika, sogar eine Titan-Rutil-Tiara –, sah Hake, daß ihre Augen voll Tränen standen. Er sagte verlegen: »Du hast eine ziemlich hektische Zeit hinter dir. Vielleicht sollte ich lieber zusehen, wie ich dich nach Amerika oder sonstwohin zurückbringe. Ich kann alleine mit der Sache fertigwerden.« Sie sah zu ihm auf. »Nichts kannst du, Horny.« »Tja… Ich nehme an, du machst dir Sorgen wegen Alys. Aber ich glaube, der passiert nichts. Sie war auf der Suche nach einem Abenteuer.« »Abenteuer!« platzte sie heraus. »Was weißt du von Abenteuern?« Dann beruhigte sie sich, und der eisige, distanzierte Ausdruck kehrte zurück. »Na ja, eigentlich wird Alys für dieses Leben sogar besser geeignet sein als ich«, meinte sie. »Er ist ein interessanter, alter Schweinehund, der Scheich. Sehr künstlerisch. Und sehr auf Technologie ausgerichtet. Und wenn es allzu schlimm wird, kann sie früher oder später immer noch aussteigen – sie ist in einer besseren Situation, um Hilfe zu schreien, als ich es war. Aber trotzdem -« Für Hake war das Gespräch unbehaglich. Er wollte es nicht wissen. Er wollte nicht fragen. Er spürte eine unangenehme Empfindung im Becken, die ihm nicht gefiel und die er auch gar nicht wollte – schließlich ging ihn Leotas sexuelle Betätigung nichts an, ermahnte er sich. Wie sie ihm schon einmal erklärt hatte. Er war aber doch wohl berechtigt, Mitgefühl zu verspüren. Er sagte stockend: »War es, äh, sehr schlimm?« Sie sah ihn einen Augenblick stumm an, dann sagte sie nur: »Ja.« Eine Antwort fiel ihm nicht ein, und nach einer Weile fuhr sie fort: »Oder eigentlich nein. Ich bin mir selber noch nicht klar, Horny.«
284 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Er nickte, ohne etwas zu sagen – es bedeutete nicht Verstehen, sondern Hinnahme. Er stand auf, half ihr, Alys’ Koffer neu zu packen und machte sich fertig fürs Bett, alles wortlos. Und dann, als er sein Hemd auszog, berührte Leota die dicken, breiten Striemen auf seinem Brustkorb. »Horny? Das sind deine Narben, von einer Sache, die dich fast das Leben gekostet hätte.« »Ja?« Sie ließ ihren Morgenmantel fallen. Was er für bestickte Strümpfe gehalten hatte, waren Tätowierungen in Blau, Grün und Gelb an ihren Beinen, und sie bedeckten ihren ganzen Körper; es war eine eintätowierte Explosion surrealer Farben. »Und das sind meine«, sagte sie. Vor dem Morgengrauen waren sie unterwegs; das gemietete Tragegestell auf Hakes Schultern war ihm ungewohnt. Das ›Ziel‹ lag vier Meilen entfernt an der Straße, und es würde heißer, greller Tag sein, bis sie es erreichten; noch war die Teerstraße vom Tau ein wenig glitschig, das vereinzelte Grün glitzerte. Für die Pflanzen war das die meiste Zeit des Jahres hindurch das einzige Wasser, das sie sahen. Oder brauchten. Weder Hake noch Leota sagten viel. Hake hatte zuviel Stoff zum Nachdenken – oder beschäftigte sich nicht richtig damit, weil er seine Aufmerksamkeit nicht auf eine einzelne Frage konzentrieren konnte. In seinem Kopf zuckten ein Dutzend Gedankengänge unkontrollierbar durcheinander: das Team; was die Reddis vorhatten; die großen Sandhügel auf der einen Seite, auf der anderen ab und zu ein Blick auf das Meer. Und immer und immer wieder Leota. Nichts davon wurde schlüssig, und vielleicht wollte er es gar nicht anders; in diesem Zustand belasteten sie noch am wenigsten. Als dieser Teil der Welt den Ölscheichs gehört hatte, waren sie auf den Gipfel ihres Berges von Petrodollars gestiegen und hatten nach Westen geblickt. Was sie sahen, machten sie nach:
285 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Krankenhäuser und Büchereien; Museen und prunkvolle Tagungshotels; Strände mit Jachthäfen, die jetzt leer verrotteten; Straßen, die Los Angeles gut angestanden hätten, geteilt von Grünanlagen, derer Paris sich nicht hätte zu schämen brauchen. Das Gepflanzte in den Grünanlagen war jetzt abgestorben, weil niemand das Geld aufwenden wollte, ihnen Wasser zu bringen. Aber die lange, breite, stille Autostraße erstreckte sich endlos am Meer. Sie war nicht völlig verlassen. Als es hell wurde, hatten sie sie gelegentlich mit Verkehr zu teilen. Ein Bus wie der Metroliner, an einer Kamelkolonne vorbeiwispernd – nicht wie der Metroliner, weil aus dem Auspuff nur dünner Dampf kam, der sich im Morgenlicht fast sofort auflöste. Wasserstoffantrieb. Naheliegend, von hier kam er ja. Hake war einen Augenblick lang neidisch. Und machte sich auch Sorgen, weil es Schilder an der Straße gab, die beunruhigten. Ausgebleichte, alte, in arabischer Sprache, mit Texten wie: ›Militärisches Sperrgebiet Auf der Straße bleiben Nach Eintritt der Dunkelheit keine Durchfahrt‹ Und eines auf englisch, grob hingepinselt auf ein übermaltes Hinweisschild, aber noch frisch: ›HAU AB Wenn du das lesen kannst, dann gehörst du nicht her.‹ Niemand forderte sie zum Stehenbleiben auf, niemand schien sich um sie zu kümmern, aber Hake war froh, als die Sonne heraufkam, obwohl es sofort heiß wurde. Sie marschierten stumm durch den Morgen, und mit jeder Stunde wurde die Hitze stärker. Als die Sonne direkt über ihren Köpfen stand, legten sie in den Ruinen einer alten Bushaltestelle eine Pause ein und dösten ein, zwei Stunden lang, tranken sparsam aus ihren Feldflaschen und gingen dann weiter. Einige
286 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Minuten später brach Leota das Schweigen: »Hast du über meine Frage nachgedacht?« Hake hatte über alles nachgedacht, aber vor allem über die Bedeutung von Leotas Tätowierungen. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu besinnen, was sie ihn gefragt hatte. »Du meinst, warum ich das alles mache? Du lieber Gott«, sagte er inbrünstig, »und ob!« »Und?« Er dachte kurz nach. »Wenn du meinst, ob mir bewußt ist, daß ich hypnotisiert worden bin, um Spion zu werden, nein. Ich habe über Hypnose nachgelesen, aber nichts scheint zu passen. Ich habe sogar noch Material im Gepäck.« »Aber überzeugt bist du nicht. Du glaubst nicht, daß jemand das mit dir gemacht hat. Du hältst dich lieber für einen Schurken als für einen Gimpel.« Er sah sie scharf an, aber ihre Stimme klang nicht zänkisch, nur nachdenklich. »Ich möchte viel lieber wissen, was eigentlich vorgeht«, erwiderte er. »In meinem Kopf und in meinem Leben. Egal, was dabei herauskommt. Doch es geht nicht.« Sie nickte und schwieg, den Blick auf die leere Straße gerichtet. Diese führte nun von der Küste fort, und die Dünen zwischen ihnen und dem Meer waren höher. Leota sagte etwas, so leise, daß er es bei dem heißen auflandigen Wind nicht hören konnte und sie bitten mußte, es zu wiederholen. »Ich habe gesagt, ich wäre beinahe nicht mitgegangen, als du gekommen bist, weißt du das?« »Warum denn nicht, um Himmels willen? Hat es dir denn im Harem gefallen?«
287 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Sie sah ihn rasch an – nicht zornig, bemerkte er. Sie sagte beschwichtigend: »Ich weiß nicht warum. Aber als ihr aufgetaucht seid, du und Reddi und Alys, habt ihr gewirkt wie – Invasoren. Ihr habt nicht hingehört. Ich schon, und es schien falsch zu sein, mich von euch gefangennehmen zu lassen.« »Gefangennehmen!« »Ich weiß, Horny. Ich erkläre dir, wie es in meinem Kopf zuging. Du warst beim anderen Trupp. Und ich glaubte auch nicht, daß ich hypnotisiert worden bin – nur entführt, mit einem Messer am Hals«, sagte sie bitter. »Ich weiß nicht, wie ich aus dem Harem hätte entkommen können. Aber ich habe es nicht einmal versucht.« Sie traten von der Straße, um einen der Tandembusse vorbeiheulen zu lassen, dessen Fahrgäste in der Hitze halb im Schlaf auf die beiden nicht achteten. Hake studierte kurze Zeit nachdenklich die Landkarte. »Wir haben nur noch zwei Meilen, soviel ich erkennen kann«, meinte er. »Gehen wir weiter?« »Ich habe eine bessere Idee. Wenn wir spionieren, dann mache ich das lieber nachts, und in zwei Stunden geht die Sonne unter. Gehen wir schwimmen.« »Schwimmen?« »Da oben.« Er zeigte auf die jetzt weit entfernten Dünen einige hundert Meter vor ihnen. Zwischen zwei höheren führte eine sandbedeckte Nebenstraße hindurch. »Sehen wir uns das an.« Die vierhundert Meter Küste hinter den Dünen waren einmal als Strand angelegt worden; es gab verlassene Badehütten und Umkleideräume und die Überreste von Verkaufskiosken. Und keine Menschenseele weit und breit. Sie warfen ihre Traglasten und die Kleidung in den Schatten eines ehemaligen Turmes für Rettungsschwimmer und liefen hinunter zu dem grellblauen Wasser. Es gab keine nennenswerte Brandung, nur sanfte,
288 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
kniehohe Wellen, die schräg vom Meer hereinliefen und das Wasser zu Schaum aufspritzten. Leotas bemalte Haut ließ sie wie eine Najade in der Kristallsee erscheinen, und Hake konnte spüren, wie sein ausgetrockneter Körper Flüssigkeit aufsaugte, als sie im seichten Wasser dahintrieben und tauchten. Sie schwammen nicht weit hinaus und blieben auch nicht sehr lange im Wasser, aber als sie in den länger gewordenen Schatten zurückkehrten und sich hinlegten, als ihre Körper im heißen Sand fast schlagartig trocken wurden, fühlte Hake sich hundertmal besser, und Leota schlief ein. Er ließ sie eine Stunde rasten, dann zogen sie sich an, schwangen ihre Lasten auf den Rücken und machten sich wieder auf den Weg. Die Sonne stand nun tief hinter ihnen. Bevor sie eine Meile weit gekommen waren, ging sie unter, ganz schnell und spurlos. In der einen Minute standen ihre Schatten lang und scharf umrissen vor ihnen, in der nächsten waren sie vollkommen verschwunden. Die Dunkelheit behinderte ihr Fortkommen nicht. Am Himmel schien schon ein über die Hälfte heller Mond und verbreitete genug Licht, um ihnen zu zeigen, wohin sie gehen mußten. Während die trockene Erde ihre Wärme abgab, begann der Nachtwind zum Meer hinauszuwehen, und die Temperatur sank. Sie blieben stehen, um Pullover überzuziehen, und marschierten weiter, den Mond leuchtend hell vor sich, während die Dünen das Meer der Sterne rechts von ihnen unterbrachen. Nun war niemand mehr auf der Straße, nicht einmal ein vereinzelter Bus oder Lastwagen. Aber Leota flüsterte, als sie zu sprechen begann. Sie zupfte Hakes Ärmel. »Was ist das da vorne?« Hake hatte mehr auf sie geachtet als auf die Straße, aber er sah sofort, was sie meinte. Die alte Straße hörte wenige hundert Meter vor ihnen auf. Sie schien von einer riesigen Düne verschluckt zu werden, und vor der Düne erhob sich eine Mauer aus hüfthohem Beton mit eingelassenen Scheinwerfern. Sie führte zu einer neueren, weit weniger gut gebauten Umgehungsstraße, die schräg in die Wüste hineinführte. Die Dünen auf der
289 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
alten Straße schienen nicht durch Zufall hingeraten zu sein. Sie waren betongestützt und mit Steinmauern eingefaßt. Sie waren nicht vom launischen Wind hierhergetrieben worden. Jemand hatte sie dort hingebracht. »Ich glaube, das ist es«, sagte er. »Das hier? Ich sehe aber keine Generatoranlage.« »Die muß auf der anderen Seite der Dünen sein.« Er zögerte. »Wir müssen sie erklettern. Es wäre einfacher, wenn wir unsere Rucksäcke hierlassen würden -« »Gut.« »- aber wir wollen vielleicht Aufnahmen oder sonst etwas machen, wenn wir oben sind.« Leota blieb stehen, die Tragegurte halb abgestreift. »Überleg’s dir, ja, Horny?« »Wir nehmen sie mit«, entschied er. »Aber das wird ein anstrengender Aufstieg.« So war es, anstrengender als jeder andere, den Hake in seinem Leben nach dem Rollstuhl jemals gemacht hatte. Strapaziöser noch als die mühseligen Übungen Unter dem Draht. Der Sand rutschte unter ihren Füßen weg, so daß sie fast bei jedem Schritt zurückglitten, und wo es Fels oder Beton gab, fanden sie kaum Halt. Zu Hakes Erstaunen ging es jedoch leichter, als sie sich dem Kamm näherten. Der Sand war fester und stärker verbacken, und es gab sogar zunehmend Ranken und verkümmerte Pflanzen. In der Luft hing ein Geruch, den Hake nicht erkannte. Zum Teil stammte er vom Meer, aber ein anderer Teil glich dem der Rasenfläche vor der Kirche, wenn sie bei Frühlingsanfang frisch gemäht war: der Geruch nach geschnittenem Gras und Blattlauch. Und dazu kam ein durchdringender, halb süßlicher Blumenduft, den er schon irgendwo gerochen hatte (aber wo?). Er schien von der willkürlich gewachsenen, kargen Vegetation zu kommen. Er verstand nicht, warum es diese Pflanzen gab. Sie waren für diesen wasserlosen Teil der
290 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Welt seltsam saftig. Ausgetrocknet und halb abgestorben, erschienen sie auf der Düne trotzdem unbegreiflich reichhaltig; war das eine Bepflanzung, die verhindern sollte, daß die Düne auf die Straße hinauswanderte? Dann kamen sie oben an und blickten auf die mondbeschienene See hinaus. Leota, die vom Aufstieg noch keuchte, fand so viel Atem, um zu flüstern: »Was ist das?« Hake brauchte nicht zu fragen, was sie meinte. Er hätte es auch gerne gewußt. Vierhundert Meter draußen im Meer erhob sich ein Riesenturm aus dem Wasser, gestützt von drei mondglitzernden Beinen, wie eine von H. G. Wells’ MarsKampfmaschinen. Oben trug er eine zusammengedrückte Kugel, und er leuchtete in schwülem Blutrot, wie das Innere eines erlöschenden Feuers. Es war nicht nur Licht, das ausgestrahlt wurde. Selbst oben auf der Düne konnten sie die Hitze spüren. Rund um die Stützbeine befand sich eine Ansammlung von Metallkuppeln, vom Meer überspült. An ihnen schienen Motorbarkassen befestigt zu sein. Hake stand auf, um sich besser umsehen zu können. Unter ihm bildete der Dünenhang eine riesige offene Schüssel vor dem Meer. Das konnte nicht alles Natur sein. Der Form war durch Bulldozer und Sprengungen nachgeholfen worden. Sie war eher eiförmig als kugelrund und nicht ganz regelmäßig, aber aus den Dünen war ein meilenlanger Bissen herausgeschlagen worden, mehr als zwanzig Meter hoch. Und die Meerseite der Dünen war nicht länger unfruchtbar. Sie sah aus wie ein ungepflegter Vorortsgarten. Hier und dort am Hang standen verstreut Gestrüpp und Sträucher. Hake war kein Gärtner, hätte sie aber auch dann nicht benennen können. Sie erstickten unter einem Gewirr von knotigen Ranken. Die Ranken waren überall, glänzende Blätter, im Mondlicht graugrün, eingerollte Blüten, Ranken, dünner als Draht oder dicker als Hakes Unterarm. Der Geruch nach gemähtem Gras stammte von ihnen. Er war stärker geworden und besaß ein rauchiges Aroma wie brennendes Marihuana oder Kerzen, die eben ausgeblasen worden sind.
291 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Die Logik des Ganzen sprach für sich selbst. Wie der TexasDraht abfiel, um sich dem geostationären Satelliten darzubieten, wölbte dieser Rezeptor sich dem Meer entgegen. »Das muß Solarenergie sein«, sagte Leota. Hake nickte langsam. »Natürlich. Aber wo sind die Spiegel?« »Vielleicht werden sie nachts eingezogen? Zum Sauberm achen?« Er schüttelte den Kopf. »Mag sein«, sagte er. »Aber sieh dir an, wie das alles bewachsen ist – beinahe so, als hätte es hier etwas gegeben und es sei im Stich gelassen worden.« »Das Ding da draußen sieht nicht danach aus«, gab Leota zurück. Hake zog die Schultern hoch und faßte einen Entschluß. »Eine Solarstromanlage sieht man sich am besten an, wenn sie in Betrieb ist. Ich bleibe hier, bis die Sonne aufgeht, und sehe mir an, was geschieht.« Leota drehte den Kopf und sah ihn an. »Falsch, Hake. Wir bleiben.« »Was hat das für einen Sinn? Du hast es bequemer, wenn du unten an der Straße bleibst. Und sicherer ist es wohl auch. Wenn das Ding in Betrieb ist, muß es Mannschaften geben, die Spiegel aufstellen und so weiter – einer allein kann sich leichter verstecken als zwei.« Sie antwortete nicht und zog den beheizten Schlafsack aus ihrer Traglast. »Zum Streiten ist es zu kalt«, sagte sie. »Und das Ding ist groß genug für zwei. Kommst du oder nicht?« Hake gab nach. Leota hatte recht – es war wirklich zu kalt zum Streiten, und der Schlafsack war groß genug für zwei Personen.
292 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Im Schlafsack war es gar nicht mehr kalt, sobald ihre gemeinsame Körperwärme sich ausbreitete. Sie zogen ihre Pullover aus, wanden sich aus ihren Hosen und entdeckten ohne Übergang, daß sie sich liebten. In der absoluten Stille der arabischen Küste, während der helle Mond durch die Ranken über ihren Köpfen blinzelte und ab und zu ein Stern lugte, schien das ein sehr guter Ort dafür zu sein. Sie bemerkten hinterher, daß sie hungrig waren, teilten sich zwei Tafeln Schokolade und ruhten sich dann aus, schliefen und wurden wach, ohne das eine vom anderen ganz unterscheiden zu können. Gewißheit darüber, geschlafen zu haben, hatte Hake erst, als er aufwachte, Leota verkrampft in den Armen. Sie hatte etwas gesagt. Es war ihm nicht mehr warm. Der Schlafsack war feucht und kalt, von kaltem Wasser durchtränkt, und die Stille war vorbei, verdrängt durch das ferne Stampfen einer Pumpe und durch ein glitschendes, knarrendes Geräusch wie von einem Wald im sanften Wind. Er blinzelte und sah, daß Leota aufs Meer hinausstarrte. Ihr Gesicht war von einem fremdartigen violetten Leuchten erhellt. »Das tut weh«, klagte sie und kniff die Augen zusammen. Es war fast Morgen. Mond und Sterne waren verschwunden, der Himmel war blau geworden, mit einer rosaroten Aura im Osten. Das matte, rote Leuchten oben auf dem Turm war nicht mehr zu sehen; offenbar war er während der Nacht abgekühlt, und der Aufsatz war jetzt nur noch ein schwarzes Ellipsoid, das nicht mehr strahlte. Aber am Himmel war etwas Neues. Über dem Horizont schwebte ein undeutlich umrissener dunkelroter Lichtfleck. Er war nicht hell, aber als Hake hinsah, begannen ihn seine Augen zu schmerzen. »Nicht hinsehen!« befahl er, preßte die Hand auf die Augen und spähte zwischen den Fingern hindurch. »Was ist das, Horny?« »Ich weiß es nicht. Aber ich halte es für Ultraviolett, und das macht dich blind, wenn du es zuläßt. Schau dich um, Leota.«
293 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Das Glitschen kam von den Myriaden verschlungener Ranken. Ihre eingerollten Blütenköpfe gingen auf und drehten sich dem Meer zu. Zwischen den glänzenden, grünschwarzen Blättern quollen perlweiße Blüten und bewegten sich, neue, kleiner als sein Daumennagel, und riesige alte, groß wie auf den Kopf gestellte Sonnenschirme. Alle perlweißen Kelche, winzig oder riesengroß, zeigten in dieselbe Richtung. Hake und Leota starrten einander an, dann krochen sie hastig aus dem durchnäßtenSchlaf sack und begannen sich anzuziehen. Sie achteten darauf, nicht auf das gespenstische violette Glühen zu blicken. Der Grund für die Nässe zeigte sich; unter den Ranken befand sich ein Geflecht von Plastikröhren, aus denen Wasser tröpfelte, um die Pflanzen zu bewässern. Nichts davon war Zufall. Dahinter steckten sehr viel Planung und ungeheure Arbeit. »Guter Gott«, sagte Hake plötzlich. »Ich weiß, wo ich diese Blumen schon gerochen habe. HBI hatte welche davon in Eatontown.« Aber Leota hörte nicht zu. »Schau«, sagte sie, krümmte die Finger zu einem Handteleskop und starrte aufs Meer hinaus. Die Sonne war aufgegangen, so plötzlich, wie sie am Abend vorher untergegangen war, und erschien blendend hell. Aber sie war nicht allein! Sie hatte zwei Begleiter am Himmel, den dunkelroten Leuchtfleck, jetzt vergleichsweise schwächer, aber nicht weniger qualvoll zu betrachten, und eine winzigere, grellere Sonne auf dem Metallturm. Sosehr Hake sich auch bemühte, er konnte einen gelegentlichen Seitenblick auf eine der drei Sonnen nicht vermeiden. Selbst bei geschlossenen Augen funkelten die Nachbilder grün und dunkelrot. »Die Blumen sind die Spiegel!« rief er. »Wie Purpurwinden! Aber – aber das ist ja ideal! Man braucht kaum Maschinen – nur den Turm, um Strom zu erzeugen oder Wasserstoff oder was man will. Warum ist das geheim?«
294 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Weil wir es nicht selbst haben«, gab Leota bitter zurück. »Weil unsere Freunde nicht wollen, daß unseren Freunden so etwas zugebilligt wird. Weil sie krankhafte Lügner sind. Was spielt das für eine Rolle?« Sie starrte mit zusammengekniffenen Augen zum Fuß des Turmes hinunter. »Egal«, sagte sie, »da unten arbeiten jetzt Leute. Ich bin dafür, daß wir verschwinden und sehen, ob wir den Morgenbus in die Stadt kriegen können.« Sie gingen fast blind zur Autostraße, und selbst Stunden danach, als es ihnen gelungen war, einen Omnibus anzuhalten, und sie nach dem Hotel in der Stadt suchten, das Crash Pad genannt wurde, konnte Hake die Nachbilder immer noch sehen. Jetzt waren sie blau und gelb. Sie waren in höchster Gefahr gewesen, zu erblinden, begriff er. Wenn Reddi gewußt hatte, wo die Anlage sich befand, war ihm genug bekannt gewesen, um sie auch vor dieser Gefahr zu warnen. Er hatte es vorgezogen, das nicht zu tun. Das sagte einiges aus über ihre Beziehungen zu den Reddis. Das Hotel stand in der Stadt als einziges für Durchreisende zur Verfügung. Es lag abseits der Straße in einem kleinen Park (jetzt nackt, weil unbewässert), und der Eingang befand sich hinter einem dreistöckigen Springbrunnen (jetzt trocken). Die Halle war ein zehn Stockwerke hoher Innenhof, ausgefüllt von hängenden Seilen mit goldenen Lichtern (jetzt dunkel). An einer Seite befand sich eine Säule von Außenaufzügen, von denen nur einer zu funktionieren schien. Sie benützten ihre gefälschten Pässe, um ein Zimmer zu nehmen, und stellten erleichtert fest, daß der Empfangschef sich an den beiden verschiedenen Namen nicht zu stoßen schien. Es gab keinen Pagen, der ihnen mit dem Gepäck hätte helfen können, aber da sie nur die beiden Rucksäcke hatten, war das nicht weiter schlimm. Hakes Vorstellung von Luxus hatte sich in Deutschland und auf Capri gebildet, und sie belief sich auf ein sehr großes Zimmer mit Auto-Bar. Das war eine Suite. Im Badezimmer gab es keine Seife, der Ring im Bidet verriet, daß jemand irgendwann den Zweck mißverstanden hatte. Dafür gab es aber eine eigene
295 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Küche (außer Betrieb) und einen Umkleideraum. Das Bett mochte ohne Bettzeug sein, aber dafür war es ebenfalls oval und besaß einen Durchmesser von gut drei Metern. Laken und Decken waren auf ihm gestapelt, zusammen mit einem halben Dutzend Badetüchern. Als Hake sich hinkniete, um nach den Sachen zu greifen, stellte er überrascht fest, daß es unter seinem Gewicht sanft nachgab, auf eine Weise, wie er sie noch nie erlebt hatte. »Silikonschaum«, erklärte Leota. »Wie Knetmasse. Ich habe ihn schon gesehen, aber noch nie auf einem geschlafen.« Es war klar, daß das Hotel ihnen jeden Luxus zuzugestehen bereit war, solange man nicht erwartete, daß jemand vom Personal ihn lieferte. Hake trug Handtücher ins Bad und sah sich die Küche an. Ein sonderbarer Gärungsgeruch führte ihn zum Kühlschrank, der zwei Zweiliterbehälter ausgepreßten Orangensaft enthielt, der nicht mehr frisch war; er goß das Zeug in den Abfluß und stellte fest, daß dieser verstopft war. Die beiden Fernsehapparate links und rechts neben dem Riesenbett funktionierten auch nicht, bis er hinter den Kopfteil kroch, um sie anzuschließen. Im Zimmer war seit geraumer Zeit nicht mehr abgestaubt oder gekehrt worden, aber in einem der Riesenschränke stand ein Staubsauger mit Zubehör. Hier zog Leota einen Strich. Als sie das Bett gemacht hatte, sagte sie: »Das genügt. Wir wollen schließlich nicht ewig hier wohnen. Ich habe unten in der Halle Läden gesehen – gelten von den Kreditkarten welche, daß ich mir etwas zum Anziehen kaufen kann?« »Hoffen wir’s«, entgegnete Hake grimmig, und während Leota sich wieder ausstaffierte, erkundete er die obersten drei Stockwerke des Hotels, auf der Suche nach dem ›Nicht stören‹Schild mit den umgebogenen Ecken. Es gab keines. Die Reddis waren entweder noch nicht da oder wollten nicht aufgesucht werden. Als Leota zurückkam, saß Hake auf der Bettkante und verfolgte im Fernsehen einen alten amerikanischen Detektivfilm. »Amüsierst du dich?« fragte sie.
296 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Er hob den Kopf und schaltete ab. Es war kein Verlust; er hatte die letzten zwanzig Minuten nichts von dem Film gesehen. »Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Ich bin nicht sicher, ob ich mit den Reddis Verbindung aufnehmen will. Sie sind das reine Gift.« »Und deine Freunde im Team sind besser?« »Nein, das sind sie nicht. Ich sollte mich jetzt um einen Posten bei Hydro-Treibstoffen bewerben und bin auch nicht sicher, ob ich das tun soll. Möchtest du wissen, wo ich mir sicher bin?« Sie setzte sich und wartete darauf, daß er seine Frage selbst beantwortete. »Ich bin sicher, daß mir das gefällt. Hier zu sein. Mit dir. Und ich möchte, daß das weitergeht.« Er stand auf und ging zum Fenster. Über die Schulter sagte er: »Ich bin bereit, zu tun, was richtig ist, Leota – mein Gott, ich will es. Aber ich weiß nicht mehr, was richtig ist, und jetzt verstehe ich wohl, warum Menschen aufgeben. Nehmen, was sie für sich kriegen können, und zum Teufel mit allem anderen. Und das könnten wir tun, weißt du. Wir haben unbegrenzten Kredit. Überall auf der Welt. Wir können tun, was wir wollen, solange die Kreditkarten gelten. Wir könnten heute abend nach Paris fliegen. Oder nach Rio de Janeiro. Wohin wir wollen. Wir können mit den Karten eine Million in bar kassieren und das Geld auf eine Schweizer Bank tun, damit wir, wenn sie uns jemals auf die Spur kommen sollten, richtiges Geld zur Verfügung haben.« Sie sagte nachdenklich: »Die Reddis würden das nicht zulassen, wir sind ihnen etwas schuldig. Sie würden uns finden, auch wenn deinen Freunden das nicht gelingen sollte.« »Dann geben wir den Reddis, was sie wollen. Das Team -«, sagte Hake achselzuckend. »Früher oder später würden sie uns wohl erwischen«, gab er zu. »Aber was für eine herrliche Zeit könnten wir bis dahin erleben!« »Und das möchtest du?«
297 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Leota, ich weiß nicht, was ich möchte«, sagte er langsam. »Ich weiß, was schön wäre: dich zu heiraten, dich mit nach Long Branch zu nehmen und wieder Pfarrer in meiner Kirche zu sein. Ich sehe aber keinen Weg dahin.« Sie sah ihn prüfend an, sagte jedoch nichts. »Noch besser: Wir könnten die Welt verändern. Dieser ganzen Gemeinheit ein Ende machen. Das Team bloßstellen, die Reddis aus dem Geschäft drängen und alles wieder sauber und anständig machen. Ich sehe aber auch keine Möglichkeit, das zu erreichen. Ich weiß, wie das alles eigentlich gehen soll, ich habe es in Filmen gesehen. Wir besiegen die Bösewichter, die Stadt sieht ein, daß sie auf dem falschen Weg war, ich werde der neue Sheriff, und wir leben für alle Zeiten glücklich und zufrieden. Nur geht das nicht so. Die Bösen glauben nicht, daß sie böse sind, und ich weiß nicht, wie ich sie besiegen soll. Sie ein bißchen ins Schwitzen bringen, sicher. Aber früher oder später löschen sie uns einfach aus, und alles wird wieder genauso sein wie vorher.« »Du sagst also, wir sollten es uns gutgehen lassen und das Prinzip vergessen?« »Ja«, nickte er, »darauf scheint es hinauszulaufen. Hast du eine bessere Idee?« Leota setzte sich mitten auf dem Bett kerzengerade auf, die Beine im halben Lotossitz unter sich, und sah ihn stumm an. Nach langer Zeit sagte sie: »Wenn es nur so wäre.« Hake wartete, aber sie hatte nichts hinzuzufügen. Er kam sich betrogen vor und erkannte, daß er mehr von ihr erwartet hatte. Er sagte angriffslustig: »Du gibst also auch auf!« »Sollte ich denn nicht?« Sie begann zu weinen. Hake griff nach ihr, aber sie schüttelte ihn ab. »Laß mir eine Minute Zeit«, sagte sie und trocknete sich die Augen. Sie schaute auf den hell erleuchteten Hafen hinaus und sammelte sich. »Als ich zur Schule ging«, sagte sie, »und zum erstenmal eine Vorstellung von dem bekam, was vorging, sah alles einfach aus. Wir bauten unsere kleine Gruppe auf, die Nader’s Raiders gegen internatio-
298 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
nale Schuftigkeit, und es war wirklich aufregend. Aber die ganze Gruppe ist verschwunden. Ich bin die einzige Überlebende. Ein paar wurden abgeschreckt, zwei landeten im Gefängnis, und es macht keinen Spaß mehr. Manchmal erhalte ich Hilfe von Freiwilligen. Manchmal arbeite ich mit Leuten wie den Reddis zusammen. Meistens bin ich ganz allein.« »Klingt nach einem einsamen Leben.« »Es ist ein entmutigendes Leben. Die Welt wird durch Dinge, die ich tue, nicht besser. Meistens eher noch schlimmer. Und jedesmal, wenn ich glaube, ich komme an die Wurzeln und Ursachen, erweist sich das als falsch. Wie bei der Hypnose. Ich dachte, das könnte es erklären, und wenn es so wäre, dann könnte ich vielleicht etwas tun, verstehst du? Aber so ist es nicht. Es erklärt nicht einmal, wie ich mich in Hassabous Harem verhalten habe.« Hake stand verlegen auf, um mit ihr zum Fenster hinauszublikken. Er war ziemlich sicher, daß er keine Einzelheiten darüber hören wollte, wie Leota sich in Hassabous Harem verhalten hatte. »Warum bist du nicht an die Öffentlichkeit gegangen?« fragte er. »Ach, Horny. Das war mein erster Gedanke.« »Du hast es also versucht?« »Ha! Und wie! Mein Professor für Politwissenschaft hatte eine Freundin in einer Fernsehstation in Minneapolis, und sie verschaffte uns fünf Minuten in einer Nachrichtensendung. Wir zeichneten es auf. Alles, was wir wußten oder errieten – aber es wurde nie gesendet. Und das Team kam uns auf die Spur. Der Professor verlor seinen Posten – ›Unzucht mit Abhängigen‹ – das war ich! Und ich suchte das Weite. Der Haken dabei war: Die Station wollte uns nicht glauben, und die Leute, die uns doch glaubten, riefen Washington an, um das nachzuprüfen.« Sie ging ruhelos im Zimmer herum, dann blieb sie stehen, sah ihn an und sagte: »Und warum hast du es nicht getan?«
299 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich habe natürlich daran gedacht«, erwiderte er. »Ich habe sogar Material in New Jersey zurückgelassen – eine vollständige Aufzeichnung von allem, was ich wußte, bis hin zu meiner Rückkehr aus Rom.« Er erzählte ihr von ›Haustiere und Blumen International‹ und seinen Besuchen bei Lo-Wate und vom Unglaublichen Art. Sie hörte ein wenig hoffnungsvoller zu. »Das ist wenigstens ein Versuch«, gab sie zu. »Hast du auf den Tonbandkassetten irgend etwas, das man als objektiven Beweis betrachten könnte? Nein. Na eben, das ist der springende Punkt, Horny. Allerdings«, fügte sie nachdenklich hinzu, »ist der Mann im Unterhaltungsgeschäft tätig, so daß er leichter Zugang zu den Medien findet als du oder ich. Vielleicht hört jemand darauf – vor allem, wenn es so ausgeht, wie du es ihm gesagt hast, und du umgebracht wirst oder was weiß ich.« »Das ist immerhin ein aufheiternder Gedanke.« Sie schwiegen beide kurze Zeit und dachten darüber nach. »Ich habe ihm von dir erzählt«, meinte er schließlich. »So? Was hast du gesagt?« »Na ja, nicht so sehr von dir persönlich, aber ich habe ihn wegen der Hypnose gefragt. Er versteht sehr viel davon. Er hat mir sogar Aufzeichnungen gegeben. Willst du sie dir ansehen?« »Was sollte das nützen?« »Vielleicht gar nichts, woher soll ich das wissen? Aber sonst haben wir nicht so sehr viel zu tun, oder?« Sie seufzte, lächelte und kam heran, um ihn zu küssen. »Entschuldige, Horny. Ich bin wohl immer noch ganz verkrampft. Mal sehen, ob der Apparat ein Abspielgerät hat.« Er hatte eines – in erster Linie dafür, um Porno vorzuführen, dachte Hake. Aber für Arts Kassetten und Mikrofilme war es genauso gut geeignet. Hake zog sie unten aus seinem Rucksack heraus und schob wahllos ein Ding hinein. Als erstes erschien eine Seite aus einem technischen Journal mit einer Abhandlung von zwei Verfassern über die Ähnlichkeit
300 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
zwischen Schlaf und Hypnose. Leute, die leicht eindösten, schienen im großen und ganzen auch leicht hypnotisierbar zu sein. Hake sah Leota an. Sie zog die Schultern hoch. »Ich döse nicht sehr oft«, sagte sie. »Ich sehe überhaupt nicht ein, was das mit den Dingen zu tun haben soll.« »Probieren wir etwas anderes«, schlug Hake vor und kippte den Rest des Materials auf den Boden. Darunter befand sich eine Kassette, vom Unglaublichen Art selbst aufgezeichnet. Hake schob sie in das Gerät, und Arts Stimme begann zu sprechen. »Ich weiß nicht, wieviel von dem Zeug nützlich für Sie ist, Horny«, sagte er, »aber es sieht so aus. Ich fing mit meiner eigenen Zaubernummer an. Sie erinnern sich, wie ich das gemacht habe. Ich lasse um die dreißig Leute auf die Bühne kommen und beginne mit dem Üblichen. ›Ihr werdet müde und schläfrig, schläfrig, schläfrig.‹ Die meisten verhalten sich so, als schliefen sie wirklich ein. Die, bei denen es nicht so ist, jage ich sofort von der Bühne, so daß vielleicht noch zwanzig bleiben. Dann befehle ich ihnen, sie sollten versuchen, die Arme zu heben, erkläre ihnen aber, daß sie das nicht können. Diejenigen, die nicht reagieren, weg damit. Dann bleibt ungefähr ein Dutzend. Ich mache weiter, bis ich noch rund ein halbes Dutzend habe, die einfach alles tun, was ich von ihnen verlange. Sind die nun hypnotisiert? Keine Ahnung, Horny. Ich machte mir Gedanken darüber, sah in der Literatur nach und habe unter anderem folgendes gefunden: Die wichtigsten Arbeiten sind, halt den Atem an, ›Hypnose, Suggestion und veränderte Bewußtseinszustände: Experimentelle Bewertung der neuen Kognitivund Verhaltens-Theorie und der traditionellen TrancezustandsTheorie der ›Hypnose‹ – das ist in Anführungszeichen, das Wort Hypnose, meine ich – von Barber und Wilson‹, und ›Hypnose vom Standpunkt eines Kontextualisten aus‹ von Coe und Sarbin. Lesen Sie das, wenn Sie wollen. Ich werde Ihnen sagen, was sie schreiben – oder jedenfalls, was ich verstanden habe. Der Aufsatz von Barber und Wilson handelt von einem Experiment,
301 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
das die beiden angestellt haben. Sie nahmen eine Gruppe von Freiwilligen und teilten sie in drei Teile auf. Bei einem Drittel unternahmen sie nichts; das waren die Kontrollpersonen. Ein zweites Drittel hypnotisierten sie, versetzten sie auf die altmodische Weise in den Trancezustand und suggerierten ihnen allerlei. Mit dem letzten Drittel sprachen sie nur. Sie hypnotisierten die Leute nicht. Es gab keine Trance. Sie baten sie nicht einmal, irgend etwas zu tun. Sie sagten nur Sachen wie: ›Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie das wäre, keinen Schmerz zu spüren oder sich an den ersten Schultag zu erinnern oder den Arm nicht heben zu können? Wenn Sie Lust haben, denken Sie vielleicht über diese Dinge nach.‹ Sie nennen das ›Mitdenken‹. Dann begann das Experiment. Schwere in den Armen, Gefühllosigkeit der Finger, Wasserhalluzination – ich glaube, sie probierten zehn verschiedene Dinge aus. Dann verglichen sie die Ergebnisse der drei Gruppen miteinander und stuften sie so ein, daß der höchste Wert – ›die am stärksten Hypnotisierten‹, könnte man sagen, bei 40 lag, die Totalausfälle, also gar keine Reaktion, bei null. Keine Gruppe kam auf null, überhaupt kein einzelner. Sie setzten eine Grenze bei 22 Punkten, und was sie herausfanden, sah dann so aus: Für die Gruppe der Kontrollpersonen: 55 Prozent der Beteiligten erreichten 23 oder mehr Punkte – selbst wenn es also gar keine Vorbereitung gibt, verhalten viele Menschen sich so, als wären sie trotzdem hypnotisiert. Bei der hypnotisierten Gruppe im Trancezustand: 45 Prozent erreichten 23 oder mehr Punkte. Fünfundvierzig Prozent! Weniger als die Kontrollpersonen. Und was die Wunschdenk-Gruppe angeht: Wissen Sie, wie viele 23 oder mehr Punkte erreicht haben? 100 Prozent. Alle.« Die Stimme auf dem Tonband schwieg kurze Zeit, dann fuhr sie fort: »So ist das also. Ich habe dann weitergelesen und bin auf die Arbeit von Coe und Sarbin gestoßen. Sie haben eine Theorie zur Hypnose. Sie nennen sie die ›dramaturgische‹ Sicht, das heißt, Hypnotisierte spielen eine Rolle. Sie sollten den Aufsatz lesen, aber ich möchte hier nur vorlesen, was am Ende steht.
302 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
›Wir unterstreichen die (lange übersehene) Behauptung, daß die den Fakten widersprechenden Erklärungen beim Vorgehen des Hypnotiseurs Stichworte für die Versuchsperson sind, daß ein dramatischer Ablauf bevorsteht. Die Versuchsperson kann die Stichworte als eine Einladung auffassen, an dem Miniaturdrama mitzuwirken. Wenn sie die Einladung annimmt, wird sie alle ihre Fähigkeiten einsetzen, um ihre Glaubwürdigkeit bei der Übernahme der Rolle der hypnotisierten Person zu erhöhen.‹ Haben Sie verstanden? Sie spielen eine Rolle, wie auf der Bühne. Und das, was mich veranlaßt, für möglich zu halten, daß daran etwas sei, ist, daß ich weiß, was ich mache, wenn ich auf eine Bühne gehe. Ich spiele eine Rolle. Ich bin nicht ich, der Mann, der in Rumson, New Jersey, lebt und Wellensittiche hat. Ich bin ›Der Unglaubliche Art‹. In einer Beziehung betrachtet, hypnotisiere ich mich, um mich, wie nennen sie das, den Fakten widersprechend zu verhalten. Und nicht nur ich. Alle Schauspieler. Sie stehen Abend für Abend auf der Bühne. Die Hühneraugen tun nicht weh, der Husten quält nicht, ob sie erschöpft sind oder nicht, sie gehen mit federnden Schritten – bis der Vorhang fällt und das großartige, strahlende Wesen in die Garderobe schleicht, zu den Magentabletten und der Flasche.« Er schwieg kurze Zeit, dann sagte er: »Tja, so ist das. Ich hoffe, Sie finden das Material interessant. Wenn Sie es je durchackern, kommen Sie bei mir vorbei. Wir trinken ein Glas und unterhalten uns darüber.« »Je mehr ich zu verstehen versuche, was in der Welt wirklich vorgeht, desto mehr stelle ich fest, daß ich überhaupt nichts weiß«, sagte Hake, als er aufstand, um das Gerät abzuschalten. »Zum Teufel mit dem ganzen Dreck!« Leota zog die Beine an, streckte den Rücken gerade und erwiderte seinen Blick, bis er ihn senkte. »Was soll das heißen, zum Teufel damit?«
303 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Ich meine, ich bin in dem Durcheinander untergegangen. Und ich habe keine Zeit für diese Komplikationen. Vor zwei Stunden hätte ich mich um Arbeit bewerben sollen.« »Glaubst du, ich heirate einen Dummkopf!« brauste sie auf. »Wer spricht von Heiraten?« »Du hast es getan! Erst vor ein paar Minuten. Und sogar ich habe darüber nachgedacht, aber ich habe diesen Fehler schon einmal gemacht und wiederhole ihn nicht.« Auch Hake wurde zornig. »Ich bin Hornswell Hake, Pfarrer«, fauchte er, »und tue das Beste, was ich tun kann. Ich kann nicht alles tun. Ich weiß nicht alles. Wenn Art nur hier wäre – er versteht von diesen Dingen viel mehr als ich. Wenn ich nur sehen könnte, was das Richtige und das Beste ist – aber ich kann es nicht. Wenn ich deswegen ein Dummkopf bin, muß ich eben damit leben.« Leota stand auf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Sie trat ans Fenster und sagte: »Jeder kann das Richtige tun, wenn vollkommen klar ist, was das Richtige ist. Aber woher weiß man das jemals? Man weiß es nicht und muß trotzdem handeln.« »Das ist mir bekannt.« »Dann -« »Dann mache ich wohl besser das, was ich tun soll«, sagte er. »Ich gehe also da hin, wo ich schon vor zwei Stunden sein sollte, und bewerbe mich um den Posten.« Sie starrten einander kurze Zeit an, dann löste Leota den Blickkontakt. Sie drehte sich um und starrte zum Fenster hinaus. Eine plötzliche Starre in ihrer Haltung, die Art, wie sie Kopf und Schultern hielt, erschreckte Hake. »Was ist los?« fragte er scharf. »Habe ich dir schon erzählt, wie wir Rom verlassen haben?«
304 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Was hat das mit den Dingen zu tun, von denen wir gesprochen haben?« »Hassabou wollte nicht in ein Hotel. Er nicht. Er hatte seine Jacht in Ostia. Eines Tages fuhren wir einfach segeln – und kamen nicht zurück. Als die Jacht Benghasi erreichte, brachten seine Leute mich zum Flugplatz. Mit einem Messer an meiner Kehle. Komm her und sieh dir das an.« Hake schaute zum Fenster hinaus, blickte vorbei an der grellgoldenen Moschee und den Minaretten zum Hafen. »Siehst du die Segeljacht dort draußen, die große? Das ist die ›Schwert des Islam‹. Hassabous Jacht.«
305 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
14 Eine Komplikation mehr war für Hake gar nicht mehr bedeutsam; es gab so viele, zu viele, daß es nicht mehr darauf ankam. Offenkundig war Leota noch zusätzlich in Gefahr. Hake hatte keine Möglichkeit, das Problem zu lösen, aber er konnte es lindern. Er ließ Leota so lange im Zimmer allein, bis er neue Kleidung für sie gekauft hatte. In Umhang, knöchellangem Rock und hatta w-’aqqal erstickte sie in der Mittagshitze von Al Hawani fast, aber sie war nicht zu erkennen. Sie sprachen nicht miteinander, als sie zum Einstellungsbüro der Hydroenergie-Firma schlenderten. Leota ging die traditionellen zwei Schritte hinter ihm, den Kopf bescheiden gesenkt. Hake, in Burnus und Kaftan, schwitzte beinahe so stark wie sie, wäre aber auch in jeder anderen Kleidung nicht besser dran gewesen – die Wüstenbewohner, jedenfalls die Männer, hatten längst festgestellt, daß weite, alles verhüllende Gewänder gegen die Hitze besser schützten als entblößte Haut. Und es gab kein kulturelles Verbot dagegen, daß Hake sich beim Gehen immer wieder umschaute – nach Leuten vom Team, nach denen des Scheichs, nach den Reddis, oder vielleicht nur, um die Sehenswürdigkeiten zu betrachten. Das Erstaunliche war, daß es in Al Hawani keine Wasserhydranten gab. Es gab auch keine Abwässerkanäle oder Wasserröhren, auch wenn das nicht so auffiel. Riesige ElektroTankwagen transportierten von den Destillieranlagen außerhalb der Stadt Trinkwasser zu den Brunnen der einzelnen Gebäude, und die Abwässer wurden direkt in den durstigen Boden geleitet. Bei den älteren Gebäuden gab es etwas Grün, dort, wo die Abflüsse das Wachstum anregten. Vor dreihundert Jahren war dieser ganze Teil der Welt unbewohnt gewesen, abgesehen von einem vereinzelten wandernden Stamm oder einer Handelskarawane. Dann trieben die Dürren und Hungersnöte von Zentralarabien einen Teil der Nomaden nach Süden, gerade rechtzeitig, um diese zur Stelle sein zu lassen, als Europa sich regte und nach Kolonien griff. Es gab keine nationalen Grenzen. Es gab keine Nationen, jedenfalls
306 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
nicht, bis die Briten ihnen Namen gaben und zur Erleichterung für die Beamten in Whitehall Linien auf den Landkarten zogen. Hochkommissare wie Sir Percy Cox bestimmten diesen Sandboden für Kuwait, den für Ibn Saud, und die strittigen Flächen dazwischen für niemanden oder für beide Nachbarn gemeinsam, und damit war der Fall erledigt. Dann kam das Erdöl, und die provisorischen Grenzen wurden auf einmal ungeheuer wichtig. Ein halber Zentimeter auf einer Karte hierhin oder dorthin bedeutete Einnahmen von einer Milliarde Dollar. Dann kamen die Israeli mit ihren atomaren H-Ladungen. Und niemand scherte sich mehr darum. Die Städte, die über Nacht zu Chicagos oder Pariskopien erblüht waren, wurden Geisterstädte. Abadan und Dubai, Kuwait und Basra verödeten wieder. Die prachtvollen westlichen Gebäude mit ihren Glaswänden und ewig laufenden Klimaanlagen standen leer und verfielen. Die traditionelle MoslemArchitektur, dicke Mauern mit Luftschlitzen, überlebte. Und die Wanderer aus der ganzen arabischen Welt machten sich auf den Heimweg. Oder nur auf den Weg. Geblieben war ein Mischmasch von Stämmen und Nationalitäten; dann rückten die Menschen aus dem Westen an, die Hippies und Wanderlustigen, die Enttäuschten und Unzufriedenen, die Abenteurer und die Angetörnten. Die amerikanischen Kolonien waren vor zweihundert Jahren aus solchen Leuten entstanden. Al Hawani war das Philadelphia oder Boston der neuen Grenze, primitiv, unlenksam, polyglott – und vielversprechend. Um zur sandfarbenen Verwaltung von ›Al Hawani Hydrotreibstoffe GmbH‹ zu kommen, mußten Leota und Hake die Promenade entlanggehen. Auf der einen Seite war der schmale Strand und dahinter die indigoblaue Bucht, wo die majestätische ›Schwert des Islam‹ eine Viertelmeile auf See vor Anker lag. Leota hob ihren Kopf nicht. Hake sah sich die Jacht genau an. Obwohl es sich um einen Dreimastschoner mit bunten Wimpeln im Rigg handelte, wußte er, daß sich in dem schmalen Rumpf Maschinen und genug Technologie befanden, um das Schiff vor
307 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
jedem Problem durch Winde oder Strömungen zu bewahren. Er konnte die große Kugel mit Wasserstoff sehen. Er sah auch Gestalten auf den Decks, aber es war nicht zu erkennen, um wen es sich handelte. Ob man ihn sehen konnte, war eine ganz andere Frage. Er glaubte es eigentlich nicht, jedenfalls nicht so gut, daß man ihn oder Leota unter den Kopftüchern hätte erkennen können. Aber er war doch froh, als er die Drehtür erreichte und den Wartesaal betreten konnte. Das Einstellungsbüro war fast leer. Die ältere Frau am Schalter gab ihnen Antragsformulare. Sie setzten sich an einen Plastikschreibtisch und füllten sie aus. Die Fragen auf den Vordrucken waren in vier Sprachen abgefaßt, zum Glück für Leota auch in Englisch. Hake sah seinen Stolz darin, die seinen auf arabisch zu beantworten. Er malte die fließenden Schnörkel so säuberlich wie die Beschriftung einer technischen Zeichnung. Es waren nicht sehr viele Fragen. Hake schrieb die Einzelheiten seiner fiktiven Lebensgeschichte aus dem fotokopierten Lebenslauf ab, den Jessie Tunman ihm mitgegeben hatte – wie lange war das her? Erst vier Tage! Dann drang eine Stimme aus dem Wechselsprechgerät der Empfangsdame. »Schick sie rein, Sabika.« Sie standen auf, um zum Einstellungsgespräch zu gehen. Der Personalchef war ein Mann, jung und einbeinig. Auf dem Namensschild, das auf seinem Schreibtisch stand, war ›Robling‹ zu lesen. Er sprang nach vorn, um ihnen Platz anzubieten, grinste sie an, als er seine Krücke an den Schreibtisch lehnte, und überflog die Formulare. »Fein, hier einmal zwei Amerikaner zu sehen, Bill«, sagte er, »aber was macht ihr in diesem Aufzug?« »Wir sind, äh, konvertiert«, sagte Horny Hake, nachdem er begriffen hatte, daß das ›Bill‹ sich auf den Namen in seinen Unterlagen bezog. »Aber wir sind nicht wirklich religiös«, fügte er hinzu.
308 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Geht mich nichts an«, erwiderte Robling heiter. »Ich muß nur die richtigen Leute für die Posten finden, und Sie scheinen einige Erfahrung zu haben. Hier kommen nicht so viele Leute her, die vom Wasserstoffkracken etwas verstehen.« »Mhm«, sagte Hake und leierte herunter, was auf den Papieren stand. »Das war in Island, vor drei Jahren. Dort macht man es mit Erdwärme, aber es wird wohl mit Solarenergie ganz ähnlich sein.« »Ziemlich, ja. Wir haben hier natürlich einen großen Durchgang. Die Leute kommen, arbeiten eine Zeit und sparen. Dann lassen sie es sich eine Weile gutgehen. Aber es sollte für Sie bald etwas frei sein. In zwei, drei Wochen, vielleicht -« »Nicht früher? Ich brauche wirklich jetzt Arbeit«, sagte Hake. »So ist das? Tja – im Augenblick ist nichts frei, aber wenn Sie knapp bei Kasse sind, kann ich Ihnen vielleicht aushelfen.« »Es ist nicht das Geld. Es ist nur -« Es ist nur so, daß ich bei dir arbeiten muß, damit ich für das Team alles demolieren kann; aber das konnte Hake nicht sagen. »Es ist nur so, daß ich einfach arbeiten möchte.« Der Personalchef zog die Brauen hoch; offenbar war das bei den Nichtseßhaften weniger üblich. »Na ja, das ist ein guter Zug, wenigstens bis zu einem bestimmten Punkt. Aber die einzigen freien Stellen, die wir zur Zeit haben, sind solche, wo man mit dem Besen kehren muß.« »Dann kehre ich mit dem Besen.« »Nein, nein! Sie sind überqualifiziert. Sie würden sich nicht wohl fühlen, und wenn dann etwas frei wird, gäbe es Ärger, Sie den anderen vorzuziehen. Immerhin -« Dem Mann schien ein Gedanke zu kommen, und er griff nach Leotas Fragebogen. Er überflog ihn und nickte. »Wir könnten Ihre Lady dafür auf die Lohnliste setzen. Sie ist nicht zu gut qualifiziert.« Er blickte wieder auf den Vordruck und schnalzte mit den Fingern. »Penn«,
309 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
sagte er. »Ja. Haben Sie sich draußen das Schwarze Brett angesehen? Ich glaube, da hängt eine Nachricht für Sie.« »Von wem?« sagte Hake, aus der Fassung gebracht. »Tja, das weiß ich nicht. Wir haben alle möglichen – Durchreisenden hier, und die Leute hinterlassen Nachrichten. Die für Sie ist mir nur aufgefallen, weil das doch ein berühmter Name ist. William Penn, meine ich.« Er besaß den Anstand, nicht zu lächeln. »Was meinen Sie?« Hake öffnete den Mund, aber Leota kam ihm zuvor. »Ich nehme den Job.« »Gut. Äh, Sie sagten, Sie wären nicht wirklich religiös, aber heißt das, daß Sie den Schleier abnehmen können? Wir brauchen nämlich ein Bild von Ihnen für den Werksausweis.« »Das ist in Ordnung«, sagte Leota und nahm die Kopftücher ab. »Wollen Sie das hier machen? Gut. Schatz, warum siehst du dir nicht die Tafel an und wartest draußen auf mich?« Im Warteraum war niemand als die Empfangsdame und ein magerer alter Jemenite mit gekreuzten (aber leeren) Patronengurten über seinem Hemd. Er war in ein Kreuzworträtsel in arabischer Sprache vertieft. Hake ging zu der Pinnwand hinter dem Schalter und überflog die Zettel. ›Milt und Terry, Judy und Art waren hier und sind unterwegs nach Goa.‹ ›Patty aus South Norwalk, die Mutter anrufen.‹ Für ihn gedacht war ein kleiner Briefumschlag mit dem Namen › William E. Penn‹, mit der Maschine getippt. Auf dem Blatt im Inneren stand: ›Sie sind eingeladen zu Cocktails an Bord der ›Schwert des Islam‹. Der Bootsführer sorgt für Ihren Transport, sobald Sie das erhalten.‹ Hake faltete die Nachricht zusammen, schob sie wieder in den Umschlag und hing grimmigen Gedanken nach. Was sonst auch geschehen mochte, er gedachte Leota nicht mehr auf die Jacht zurückzulassen.
310 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Er drehte sich um, als die Tür zum Personalbüro aufging. Leota stand unter der Tür. Sie blieb dort stehen, zögerte und winkte ihm. Er konnte ihren Gesichtsausdruck hinter den Tüchern nicht erkennen. Als er herankam, packte sie seinen Arm, zog ihn hinein und schloß die Tür. »Am Fotoraum vorbei gibt es noch einen Ausgang«, sagte sie. »Ich bin sicher, Mr. Robling macht es nichts aus, wenn wir ihn benützen.« Der Personalchef betrachtete sie kurz, dann zuckte er mit den Achseln. »Warum nicht?« Durch einen betonierten Gang, hinaus durch eine Metalltür, in das grelle Sonnenlicht. »Was ist denn los?« fragte Hake scharf. »Nicht stehenbleiben, Horny. Der Mann da drinnen ist einer der Reddis. Ich finde, wir sollten nicht mit ihm reden.« »Menschenskind.« Sie eilten um eine Ecke und blieben dort stehen, wo sie das Werksgebäude sehen konnten. »Wenn wir ins Hotel zurückgehen, findet er uns. Er muß uns von dort aus gefolgt sein.« Er gab ihr den Brief. »Das ist für mich hinterlassen worden.« Sie überflog die Zeilen und sagte: »Mann.« »Allerdings. Wir können wegen der Reddis nicht ins Hotel zurück, und wegen des Scheichs nicht auf die Jacht. Weißt du was, Leota? Sehr viele Möglichkeiten bleiben uns nicht.« Sie starrte durch den Schleier auf das Gebäude. Offenbar war Reddi noch im Inneren. »Horny?« sagte sie. »Ja?«
311 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Du drückst dich falsch aus. Nicht ›wir‹. Du kannst nicht ins Hotel zurück, und ich will nicht auf die Jacht. Umgekehrt besteht kein Problem.« »Was heißt ›kein Problem‹? Die Kerle sind brutal, Leota. Ich lasse dich bei denen nicht allein.« Ihre Augen waren auf ihn gerichtet, und wieder wünschte er sich, ihr Gesicht sehen zu können. Sie sagte scharf: »Ich habe es dir schon einmal gesagt, Horny, ich mache bei diesem Spielchen ›großer, starker Mann und kleine, schwache Frau‹ nicht mit. Ich hatte mit den Reddis schon zu tun, als du in New Jersey noch Gemeindebanketts veranstaltet hast. Du gehst auf die Jacht. Ruf mich im Hotel an, wenn du eine Gelegenheit hast.« »Und was, glaubst du, kannst du tun?« »Ich gehe in den Warteraum zurück und rede mit Reddi. Und du kannst mich nicht aufhalten.« Er konnte es nicht, denn sie zog ihre Röcke hoch und begann so zu laufen, daß die Rückseiten ihrer kompliziert verzierten Beine unter dem Saum wirbelten. ES gab nicht nur einen Bootsführer, sondern fünf, und sie waren bewaffnet. Wüstenaraber tragen oft Gewehre, zur Zierde, wie einen Spazierstock oder einen zusammengerollten Schirm. Hake hielt diese Gewehre nicht für Zierstücke. Er blieb auf der breiten, verlassenen Promenade stehen, aber es gab nicht mehr an Alternativen zu sehen als vorher. Er überreichte seinen Brief und stieg in das gedeckte Motorboot. Keiner der wenigen Spaziergänger auf dem Boulevard merkte auf, als das schrille Heulen des Trägheitsantriebs die Tonhöhe änderte, weil der Steuermann den Propeller zuschaltete. Zwei von den anderen Bootsleuten lösten die Leinen, und sie entfernten sich von dem kleinen Schwimmsteg. Als sie sich der Jacht näherten, wurde sie einem Schlachtschiff ähnlicher. Die Rumpfwand überragte sie mehr als sieben Meter, die Masten reichten noch viel höher. Griesgram stand an der Reling und blickte hinunter. Sein Gesicht war wie aus Granit gehauen. Hake zögerte und blickte auf die Wellen. Diese
312 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Gewässer hatten den Ruf, daß es in ihnen viele Haie gab. Aber was erwartete ihn auf der Jacht? »Bringt ihn rauf!« rief Griesgram gereizt. Einer der Männer stieß Hake mit dem Gewehrlauf an. »Sie haben sich ganz schön Zeit gelassen«, sagte er, als Hake auf gleicher Höhe war. In seinem Gesicht war nichts zu lesen, wie er so dastand, eine Hand an der Reling, offener Hemdkragen, Seglermütze, weiße Hose, Sandalen. Hinter ihm standen noch zwei Besatzungsmitglieder, zusammen mit den fünf Mann hinter ihm war das weit mehr Overkill, als Hake für notwendig gehalten hätte. Ihre Anwesenheit war eine Drohung. Aber Griesgram drohte nicht. Er rügte nicht einmal, sondern sagte nur: »Die anderen warten unten auf Sie.« Hake war noch nie auf der Jacht eines Multimillionärs gewesen. Es gab weniger Pracht und Üppigkeit, als er erwartet hatte: kein Schwimmbecken, nicht einmal ein Beilkespiel an Deck. Aber er konnte den größten Teil des Decks nicht sehen, nur einen kleinen Teil mit Liegestühlen und Sonnendächern am Heck, und das kurze Vordeck mit Winschen und Taurollen; der Hauptteil des Deckraums war über ihm unsichtbar. Im Inneren gab es keine Wandgemälde oder geschnitzte Täfelungen, und die Handläufe waren nur aus Messing. Aber sie kamen an einer offenen Tür vorbei, aus der ein Shirokko von Maschinenhitze drang, und Hake sah Röhren und Schornsteine, die scheinbar ins Unendliche hinabreichten. Die ›Schwert des Islam‹ war eine Segeljacht, aber ihre Hilfsmotoren schienen für einen Ozeandampfer auszureichen. Griesgram hatte die Wahrheit gesagt, die anderen erwarteten ihn in einem Salon, dessen Fenster zum Heck hinausgingen. Hier gab es mehr Prunk als in den Gängen – Topfpalmen, eine Wand mit Aquarien für Tropenfische, überall kostbare Kissen in den Sesseln und auf den Sofas –, aber es sah eher aus wie ein Spielzimmer als wie ein Scheichzelt. Jessie Tunman hob den Kopf von einer Rommée-Partie: »Sie kommen noch dran, Horny! Sie hatten kein Recht, mit diesem Weibsbild abzuhauen!«
313 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Hallo, Jessie.« Im Salon hielt sich ein Dutzend Menschen auf, und er erkannte die meisten – Yosper und seine Leute, der junge Lateinamerikaner Tigrito und Deena Fairless, die Ausbilderin von Unter dem Draht. Sie wirkten nicht freundlich. Yosper sprang aus einem Sessel und kam heran. Seine stahlblauen Augen starrten Hake unverwandt an. Dann lachte der alte Mann. »Sie sind immer ein Weiberknecht gewesen, Hake. Sie erinnern mich an meine Person, bevor ich Gott den Herrn – und das Team fand.« Hake nickte und setzte sich, bemüht, lässig zu wirken, während Yosper ihn prüfend betrachtete. »Wie soll es sein, Hake?« fragte der alte Mann scharf. »Tun Sie mit, oder wollen Sie weiterhin Schwierigkeiten machen?« Hake zögerte. »Kann ich aufhören, wenn ich die Sache hier abschließe?« »Ist es das, was Sie wollen? Na, das hängt nicht von mir ab«, meinte Yosper leichthin. »Aber aufhören müssen wir alle einmal, warum also nicht? Das hängt wohl davon ab, wieviel Ihr Bericht taugt und was Sie in den nächsten zwei Tagen tun werden. Wo ist Ihre Freundin?« »Leota hat nichts damit zu tun!« »Doch, Hake«, sagte der alte Mann ernsthaft, »da muß ich Ihnen widersprechen. Sie hat etwas damit zu tun, bis der alte Hassabou sich anders besinnt. Im Augenblick betrachtet er sie wohl als ein Stück Eigentum von sich, das verlegt worden ist, und er ist deswegen nicht gerade gut auf Sie zu sprechen.« »Was geht Sie denn das an, was er denkt, Herrgott noch mal?« »Überlegen Sie sich, was Sie reden, ja?« sagte Yosper. »Es geht uns viel an, Sie Schwachkopf. Hassabou hat einmal das ganze Land hier gehört. Und wenn sie pleite sind, verkauft er es uns. Sagen Sie uns jetzt, wo sie ist?«
314 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Nein!« Yosper grinste. »Das hatte ich eigentlich auch nicht erwartet, aber das ist kein Problem. Al Hawani ist ja nicht so groß. Jessie? Geben Sie uns mal die Karten, ja? Und jetzt wollen wir Ihren Bericht hören, Hake, angefangen bei der Solaranlage.« Jessie legte die Spielkarten weg und schob die Tischplatte weg, um einen Tageslichtprojektor freizulegen. Sie betätigte die Tastatur an der Tischkante, und das Gerät zeigte ein Satellitenfoto der Küste. Kartenmerkmale waren in Rot darübergelagert. Jessie sorgte für eine Nahaufnahme des Turms und des Kamms blühender Dünen, dann gab sie Hake einen Leuchtstift. »Ein bißchen weiter zurück«, sagte Hake. »Man sieht die Straßen nicht.« Grünliche Punkte flackerten und bildeten sich neu. Hake nickte. Der gedrungene, rechteckige Punkt mitten in der Bucht war der Solarturm selbst. Der halbmondförmige Strand war ein Mosaik aus Grün und Weiß, die Sonnenpflanzen waren halb geöffnet und einem Sonnenuntergang zugereckt. Die Straßen waren durch Schatten verdunkelt, aber erkennbar. »Das ist die große Wachbaracke«, sagte Hake und wies mit dem Pfeil des Leuchtanzeigers auf einen Fleck auf den Dünen. »Sie sind die ganze Nacht drinnen geblieben. Ich glaube nicht, daß sie Streifengänge machen – jedenfalls haben wir an der Straße nichts von ihnen gesehen. Von der Autostraße aus führt ein Weg hinauf. Die meiste Zeit gibt es Deckung, aber nicht viel rund um die Baracke.« »Hören Sie das, Tiger?« fragte Yosper drängend. »Das ist Ihr Job. Sie gehen an Ihren Posten. Wenn wir anfangen, unterbinden Sie jede Verständigung mit der Außenwelt und machen die Wachen kampfunfähig. Was ist mit der Strandseite der Dünen, Hake?«
315 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Sie sind vollkommen zugewachsen, bis zum Wasser hinunter. Da unten ist etwas, das wie ein Gebäude aussieht, aber ich weiß nicht, was es ist.« Er zeigte es. »Kontrollzentrum für den Turm. Weiter, Hake.« »Das ist praktisch alles, was ich sehen konnte. Ich weiß nicht, warum sie so wichtig sind – sie könnten auch Spiegel nehmen.« »Sie haben keine Ahnung, mein Lieber«, erklärte Yosper freundlich. »Bei lebenden Pflanzen haben Sie kein Problem mit der Spiegelsteuerung – die Pflanzen peilen sich selbst ein. Und halten sich auch sauber, wie Sie wissen müßten. Oder habe ich Ihre Akte nicht richtig gelesen?« »Ich habe in New Jersey einmal im Jahr Spiegel gesäubert, ja.« »Warum verstehen Sie dann von dem, was Sie sehen, nichts mehr? Was ist mit dem Turm?« »Er ist hoch und steht allein. Ein paar Boote rund herum. Keine Verbindung mit dem Land, soviel ich erkennen konnte.« »Es gibt einen Tunnel«, unterbrach ihn Yosper ungeduldig. »Weiter.« »Das ist alles. Viel konnte ich nicht sehen – abgesehen von dem dunkelroten Licht. Das verstehe ich überhaupt nicht. Es hat mir in den Augen weh getan. Es tauchte einfach am Himmel auf.« »Menschenskind, Hake, das ist ein Hologramm. Das ist das Großartige an der Sache. Hat man Ihnen in der Schule nichts beigebracht? Wenn sie die Pflanzen so züchten würden, daß sie direkt auf die Sonne zeigen, würden sie die Strahlen direkt dorthin zurückspiegeln, und was hätte das für einen Zweck? Sie züchten sie so, daß sie auf starke UV-Strahlung reagieren – nur gut, daß Sie nicht lange hingeschaut haben, weil der größte Teil der Strahlung nicht im sichtbaren Bereich ist. Dann erzeugen sie ein Spin-Flip-Laser-Hologramm auf den richtigen UV-Frequenzen und postieren es am Himmel da hin, wo sie es haben wollen, mitten zwischen Sonne und Turm. Machen Sie sich eine
316 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Zeichnung, wenn Sie Gelegenheit dazu haben, dann werden Sie sehen, daß die Rückstrahlung jedesmal genau zum Turm führen muß.« Hake starrte auf die Tischplatte und berechnete im stillen Winkel. »Aber das ist ja grandios, Yosper.« Er schüttelte den Kopf. »Verdammt noch mal! Warum sie kaputtmachen? Warum lassen wir sie nicht einfach weitermachen und Wasserstoff für uns herstellen?« Yosper war entsetzt. »Sind Sie verrückt, Hake? Wissen Sie, wie stark die Auswirkung negativer Art auf die Zahlungsbilanz ist? Wir einigen uns, ja, aber mit dem Scheich. Nachdem wir diese Hippies ausgeschaltet haben. Nachdem der Turm in die Luft geflogen ist. Nachdem die Pflanzen abgestorben sind. Wir haben einen großartigen kleinen Pilz, eigens von unseren guten Freunden in Eatontown gezüchtet. Sie haben sich stark verschulden müssen, um die Sache zu betreiben, und wenn wir mit ihnen fertig sind, müssen sie Bankrott anmelden. Dann kommt der alte Hassabou wieder an die Macht, und wir schließen einen Vertrag.« »Machen wir doch weiter«, klagte Jessie Tunman. »Hat Hake den Posten am Turm, damit er uns hineinlassen kann?« Hake funkelte sie böse an, dann gab er zu: »Hm, eigentlich nicht. Ich meine, ich bekomme einen Posten, aber erst in ein paar Wochen oder in vierzehn Tagen. Leota haben sie sofort eingestellt.« »Hake!« fuhr Yosper hoch. »Sie haben Ihren Auftrag nicht erfüllt!« »Ich kann nichts dafür. Sie sagten, ich wäre zu gut qualifiziert – wer trägt daran die Schuld? Ich habe die Tarnpersönlichkeit nicht erfunden.« »Mein Junge«, sagte Yosper, »Sie haben eben den Großteil Ihrer Verhandlungsposition verloren, wissen Sie das? Wir haben
317 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
fünf Scheißmonate dafür aufgewendet, Sie vorzubereiten, weil Sie die Sprachen sprechen und mit den Einheimischen umgehen können – und jetzt sitzen wir da!« Jessie Tunman sah auf. »Vielleicht ist es gar nicht so schlimm«, meinte sie. »Reden Sie keinen Unsinn, Jessie! Wenn wir den Turm im Sturmangriff nehmen wollten, hätten wir uns erst gar nicht mit dem großen Liebhaber hier abgegeben.« »Er ist trotzdem da. Er hat nur keinen Ausweis, um in den Turm zu kommen.« »Richtig, aber – oh«, sagte Yosper. »Verstehe, was Sie meinen. Wir brauchen ihm nur einen Ausweis zu beschaffen.« Er strahlte Hake an. »Das sollte nicht allzu schwer sein, wenn man unsere Möglichkeiten bedenkt. Haben Sie sonst noch etwas zu sagen, mein Lieber? Nein? Noch irgendwelche Fragen dazu, worum es bei dem Auftrag überhaupt geht?« »Ich habe eine. Warum müssen wir das zerstören? Warum stehlen wir nicht einfach die Pflanzen und bauen uns selbst so etwas?« Yosper schüttelte den Kopf. »Sie sollen nicht denken, Kleiner, sondern nur tun, was Ihnen aufgetragen wird. Die Pflanzen haben wir schon drei Jahre lang. Sie helfen uns nichts.« »Sicher. Die Küste sieht ganz aus wie Florida.« »Hake«, sagte der alte Mann gütig, »Miami Beach ist in Florida. Das ganze Land ist verbaut, oder haben Sie das noch nicht bemerkt? Gott hat es beliebt, diesen Saukerlen genau das zu geben, was man für eine solche Anlage braucht – Sonnenlicht, Wasser, Hafeneinrichtungen. Der Großteil der USA liegt zu weit nördlich. Selbst rund um Miami hätten Sie im Winter nur einen Ertrag von vierzig oder fünfundvierzig Prozent. Holen Sie es da rauf, wo Sie es wirklich brauchen, nach New York oder Chicago, von Boston oder Seattle oder Detroit ganz zu schweigen, und
318 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
drei, vier Monate im Jahr haben Sie überhaupt keine nennenswerte Energie.« »Yosper«, sagte Hake, »bringt Sie das nicht auf den Gedanken, Gott wollte Ihnen vielleicht etwas nahe bringen?« Der alte Mann gluckste. »Aber klar, mein Junge. Er sagt mir, daß wir die Gaben, die Er uns verliehen hat, dazu verwenden sollen, Seinen Willen zu tun. Und genau das machen wir. Wenn Gott wollte, daß der Persische Golf unsere Energie haben soll, hätte er Pittsburgh dort hingesetzt. Na ja, vielleicht könnten wir das rund um Hawaii verwenden – oder besser noch bei Okinawa oder in der Kanalzone, wenn wir sie nicht hergegeben hätten, als es nicht nötig war. Sie müssen die brauchbaren Gebiete zwischen fünfundzwanzig Grad Nord und fünfundzwanzig Grad Süd suchen, und Gottes Weisheit hat beschlossen, da nichts hinzusetzen als Wilde. Schalten Sie das Ding ab, Jessie.« Er stand auf. »Ich muß mit Griesgram und dem Scheich reden«, sagte er. »Ihr macht es euch inzwischen bequem. Sie, Hake? Ich glaube, Sie bleiben lieber in Ihrer Kajüte, bis wir Sie brauchen. Tiger zeigt sie Ihnen.« Als es dunkel wurde, bekam er zu essen. Ein kleines Negerkind mit einem Fez klopfte an die Tür und reichte ein Tablett herein. »Bismillahi r-rachmani r-rachim«, flötete der Knabe höflich. Hake bedankte sich und schloß die Tür. Die Höflichkeitsfloskel war eine Anrufung des barmherzigen und huldreichen Allah, und Hake konnte nur hoffen, daß die Besatzungsmitglieder, die den Stimmbruch schon hinter sich hatten, diese Gefühle teilten. Zu essen gab es Lammfleisch, Reis und Salat. Alles schmeckte ausgezeichnet. Hake aß ganz zufrieden. Er gewöhnte sich langsam an die Vorgangsweisen im Geheimdienstmilieu: lange Zeiten des Wartens darauf, daß etwas geschah, ohne zu wissen, was; lange Perioden des Handelns, ohne recht zu wissen, wozu. Und ab und zu hieb zur Abwechslung jemand auf ihn ein oder sprengte sein Auto in die Luft.
319 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Er hatte sich nicht nur daran gewöhnt, er war fast schon soweit, daß er es akzeptierte. Jedenfalls für seine Person. Was Leota betraf – das war wieder eine andere Sache, sehr beunruhigend. Weder Yoster noch Jessie Tunman hatten gesagt, woher sie einen Ausweis zum Nachmachen nehmen wollten, aber Hake war durchaus nicht sicher, ob sie nicht auf den Gedanken kommen würden, der von Leota könnte eine gute Vorlage sein. Niemand hatte zu ihm gesagt, daß er ein Gefangener sei, und nichts hinderte ihn daran, die Tür zu öffnen und zu den anderen zu gehen. Er wollte nicht. Sie dabei zu beobachten, wie sie ihre albernen kleinen Spionspielchen trieben, hatte keinen Reiz. Sie benahmen sich wie Wie die halbe Welt, dachte er. Sie spielten eine Rolle. Dramaturgie. ›Mitdenken‹. Wie »Der Unglaubliche Art« schon gesagt hatte: Wenn man mit offenen Augen hinsah, erklärte das so viele von den Modetorheiten, Irrsinnigkeiten, Ideen, Leidenschaften, Gemeinheiten und Widersprüchlichkeiten des menschlichen Verhaltens. Es erklärte sogar Hake selbst. Es erklärte, warum er das Spiel, ein Pfarrer zu sein, so lang betrieben hatte… und dann das Spiel des Geheimagenten… und das Spiel des Rebellen gegen die Geheimbonzen. Es erklärte, weshalb Yosper gleichzeitig den Christen und den Verbrecher spielte, weshalb Leota die Revoluzzerin und die Haremssklavin spielte, und es erklärte, wie die Welt überhaupt in diesen Schlamassel geraten war. Weil wir alle Rollenträger sind und spielen! Und wenn genügend viele von uns dasselbe Spiel betreiben, dieselbe dramaturgische Rolle übernehmen – dann wird daraus eine Massenbewegung. Eine Revolution. Ein Kult. Eine Religion. Eine Mode. Oder ein Krieg. Er stellte sein Tablett vor die Tür und legte sich wieder auf die schmale, saubere Koje. Bei dem Ganzen fehlte ein wichtiges Element. Die Ursache. Wie kamen alle diese Dinge zustande? Die Frage war falsch gestellt. Das wäre so gewesen, als hätte man gefragt, warum die Heuschrecken nach Abu Magnah
320 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
gekommen waren. Keine einzelne Heuschrecke hatte den Entschluß gefaßt, die Stadt anzugreifen; es gab keinen Plan, nicht einmal eine gemeinsame genetische Absicht. Wenn man die Ränder eines Heuschreckenschwarms untersucht, sieht man ein Gewirr einzelner Insekten, die blindlings hinausfliegen, verwirrt umkehren und sich wieder dem Schwarm anschließen. Was den Heuschreckenschwarm von einem Ort zum anderen treibt, ist die zufällige Windrichtung. Der Schwarm besitzt so wenig eigenen Willen wie eine Steppenhexe. Und er und Yosper und Leota und alle übrigen – was taten sie anderes, als alle ihre Kraft dafür aufzuwenden, Teil ihres eigenen Schwarms zu sein? Ideen und Nationen bewegten sich dorthin, wo der Zufall sie hintrieb – manchmal sogar in einen Krieg gegenseitigen Selbstmordes, wenn beide Seiten im voraus wußten, daß weder Sieger noch Verlierer etwas gewinnen konnten. Genau wie Heuschrecken Jemand klopfte an seine Tür. Hake setzte sich auf. »Ja?« rief er. Die Tür ging auf, und dort stand der Knabe, der sein Essen gebracht hatte. Er wirkte verängstigt und sagte in barbarischem Englisch: »Sir, ich habe Ihnen Tee gebracht, wenn Gott es will.« Hake griff verwirrt nach dem Tablett. »Ist gut«, sagte er freundlich, aber die Angst des Jungen wurde nicht geringer. Er drehte sich um und hetzte davon. Hake setzte sich und stellte den Tee auf den Nachttisch, aus dem Konzept gebracht. Nicht, daß das eine Rolle spielte. Keiner seiner Gedankengänge betraf das vorliegende Problem, bei dem es schlicht ums Überleben ging, für ihn und Leota. Als er die Serviette öffnete, rollte etwas auf den Boden. Er hob es auf. Es war ein goldener Doppelring.
321 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Kein Zettel, keine Nachricht, aber das brauchte er auch nicht. Auf dieser Jacht zu dieser Zeit gab es kaum mehr als eine Person mit dem Doppelring einer amerikanischen Gruppenehe. Alys war also an Bord. »Aufwachen, Mr. Hake. Eine Besprechung.« Hake wankte an die Tür und öffnete sie für Mario, der verschlafen, aber sonderbar erfreut wirkte. »Jetzt? Aber es ist noch nicht einmal fünf Uhr!« »Nicht auf der Stelle, nein, aber bald. Gleich nach der Morgenandacht des Scheichs. Es gibt jedoch eine interessante Entwicklung, die Sie vielleicht gerne sehen wollen«, fuhr er feixend fort. Hake zog halb betäubt die Schuhe an. »Was denn?« »Beeilen Sie sich, Mr. Hake. Sehen Sie selbst.« Der junge Mann führte ihn auf dem Weg, den sie gekommen waren, zurück zum Achterdeck. Eben ging die Sonne auf, und das schräg einfallende Licht warf lange Schatten über die Stadt Al Hawani und auf das Motorboot, das heranheulte. »Sie haben gefunkt, daß sie jemanden mitbringen«, sagte Mario über Hakes Schulter. »Da, sehen Sie? Sie sitzt abseits, knapp unter dem Dach.« »Leota!« »Ja, Mr. Hake, Ihre liebe Freundin, für die Sie so viel aufs Spiel gesetzt haben. Jetzt werden Sie wieder zusammen sein – oder auf jeden Fall nur noch zwanzig Meter auseinander. Ich nehme nicht an, daß Scheich Hassabou Sie in seinen Harem einladen wird.« »Wie habt ihr sie erwischt?« Mario zog die Brauen zusammen.
322 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Letztlich war es nicht schwer«, meinte er. »Sie ging ganz allein die Promenade entlang. Die Bootsleute haben sie erkannt, und sie wehrte sich nicht.« Hake beugte sich über die Reling, um zu beobachten, wie das Motorboot anlegte. Eine Frau, verschleiert und mit Kopftüchern, wartete; nur an ihren runzligen, mit Leberflecken übersäten Händen konnte Hake erkennen, daß sie sehr alt war. Als Leota an Bord kam, zuckte sie vor der alten Frau zurück, die sie zornig hineinstieß. »Mario – Mario, ich möchte mit ihr reden. Nur ganz kurz.« »Aber, Mr. Hake! Was für eine absurde Bitte! Natürlich ist das ausgeschlossen – und jetzt«, sagte der junge Mann heiter, »wenn Sie sich nicht beeilen, verpassen Sie Ihr Frühstück.« Das wirre Geschrei, das über das Wasser herüberdrang, war der Ruf des Muezzins zu den Fünfuhr-Gebeten. Unten am Landefloß knieten die Bootsleute nieder, an Deck breiteten die von höherem Rang ihre Gebetsteppiche aus und orientierten sich am eingebauten Kompaß, bevor sie dem Beispiel der anderen folgten. Hake und Mario gingen in den Speisesalon. Hake aß nichts, beteiligte sich nicht am Gespräch, ließ sich nur Kaffee geben. Sein Hirn war voller rascher Pläne, die er ebenso rasch verwarf, und als die Teamangehörigen aufstanden, um zur Besprechung zu gehen, folgte er ihnen stumm. Erst als sie an einem Waffenschrank vorbeigingen, an dem einer der bewaffneten Bootsleute Wache hielt, zögerte er. Nur eine Sekunde lang. Er konnte den Posten überwältigen, zwei von den Schnellfeuergewehren und ein Dutzend Magazine an sich reißen, Yosper niederschießen, Tiger, die Besatzung und alle. Den Harem finden. Leota bewaffnen. Zur Barkasse fliehen. Und wie groß waren die Aussichten, damit durchzukommen? Selbst im besten Fall eins zu einer Million? Irgend etwas in Hakes Erziehung hatte ihn gelehrt, alles zu riskieren, um eine Frau vor der Schändung zu bewahren… aber war Leota auch seiner Ansicht?
323 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Ein Matrose, der doch tatsächlich einen Krummsäbel trug, zog einen Vorhang aus Goldbrokat beiseite, und sie befanden sich im Privatsalon des Scheichs. Wenn Pracht unter Deck gefehlt hatte, hier gab es sie im Überfluß. Gekühltes Obst in Kristallschalen, winzige Kaffeetassen und Süßes auf Tabletts aus gehämmertem Silber, Kästen aus emaillierten Kacheln, bedeckt mit Teppichen, die nicht dazu gewebt worden waren, auf irgendeinem Boden zu liegen. Selbst die Goldbrokatvorhänge waren nicht aus Stoff; als die Jacht sich bewegte, zeigte ihr Schwingen, daß sie aus echtem Gold waren. Der Scheich war schon anwesend und saß auf einem erhöhten Platz über den anderen. Er war älter, als Hake ihn in Erinnerung hatte, und sah besser aus: olivfarbene Haut und Adlernase, die Augen in ihren schwarzen Kohl-Kreisen glitzernd. Neben ihm, fünfzehn Zentimeter tiefer sitzend, hatte Griesgram sich hoch aufgerichtet. Er wirkte ungeduldig. Die Sitzung dauerte nicht lange. Es gab nur wenig Diskussion und zu Hakes Erstaunen nicht einmal Vorwürfe. Selbst Jessie Tunman beschränkte sich darauf, ihn von Zeit zu Zeit giftig anzusehen. Griesgram erläuterte den Plan und verstummte jedesmal, wenn Hassabou sich bewegte oder sich räusperte, und nach fünfzehn Minuten war alles vorbei. Hakes Rolle war einfach. Er sollte sich mit seinem gefälschten Ausweis in der Kontrollbaracke melden und behaupten, er sei als Putzer angestellt. Nachts würde es zu spät sein, das nachzuprüfen, selbst wenn Argwohn auftauchen sollte, und bis das Personalbüro am Morgen öffnete, würde alles vorbei sein. Hake würde bei Sonnenaufgang im Turm bleiben – da bestehe eine gewisse Gefahr – räumte Griesgram widerwillig ein, aber er würde sie eben auf sich nehmen müssen. Yosper, seine Leute und andere würden mit Taucherausrüstung zum Turm kommen, wo er sie einzulassen hatte. Sie würden bewaffnet sein mit Schlafgas, Raketenwerfern und Kanistern voll Pilzsporen. Das Schlafgas sollte die Leute in der Baracke ausschalten, wenn sie durch den Tunnel unter der Bucht zurückkamen. Die Waffen waren für den Fall gedacht, daß das Gas nicht ausreichen sollte.
324 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Mit dem Pilz würden die Sonnenpflanzen zerstört werden. Ein anderer Trupp sollte die Wachbaracke auf den Dünen überfallen, und wenn alles klar sei, wolle man Kontrollbau und Turm sprengen – nachdem man zuerst alles fotografiert und die ganze Ausrüstung mitgenommen hatte, die von Interesse war. Die Jacht würde sie alle aufnehmen, und dann Niemand sagte etwas über ›dann‹, was Hake betraf. Es war, als sei sein Leben darauf programmiert worden, ein Ende zu finden, sobald der Turm zerstört wurde. Zehn Minuten, nachdem er wieder in seine Kajüte zurückgekehrt war, erschien der Zwölfjährige zitternd und brachte unaufgefordert eine Flasche Mineralwasser. »Ich bin in einer halben Stunde wieder da«, wisperte er und verschwand. Als Hake nach der Serviette griff, fand er einen winzigen Kassettenrecorder mit Kassette. Leota! Aber es war Alys’ Stimme, die er hörte. »Ganz leise drehen!« befahl sie sofort, dann sagte sie: »Horny, Leota ist mit Funk an Bord gekommen. Weiß der Himmel, wie lange es dauert, bis sie das Gerät finden, also verlier keine Zeit. Sprich an Informationen auf, soviel du kannst, leg den Recorder unter dein Kissen und geh spazieren. Dschumblatt holt ihn, wenn er deine Kajüte aufräumt. Sprich nicht mit ihm. Versuch nicht, eine von uns zu sehen.« Dann, unfaßlich, ein Kichern. »Ist das nicht toll?« Eine Stunde später war Hake wieder im Salon und gab sich Mühe, wie ein loyales Teammitglied zu wirken. Das erforderte Beherrschung. Yosper hielt hof und erklärte Jessie Tunman, daß Männer besser seien als Engel (»Der Herr hat sich als unseren Erlöser ja keinen Engel ausgesucht, oder?«), er bot Mario und Carlos eine Wette an, sie könnten nirgendwo in der Bibel einen Hinweis auf die Dreieinigkeit finden, er teilte Dieter mit, ganz im Gegensatz zu dem, was er auf mittelalterlichen religiösen Gemälden gesehen habe, wüßten weder er noch Albrecht Dürer
325 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
noch sonst irgend jemand, wie Jesu Gesicht ausgesehen habe: »Das steht genau in der Bibel, mein Sohn. Sein Gesicht war gleich dem Antlitz der Sonne. Sehen Sie blaue Augen und einen langen blonden Bart auf der Sonne?« Nachdem das geklärt war, schaute er sich nach einem anderen Jünger um, aber Hake hatte genug. Er stand auf und trat zu Tigrito an den Billardtisch. Sie waren alle in Hochstimmung, alle Drüsen arbeiteten, bereit für das Abenteuer, wie Kinder auf dem Weg nach Disneyland; selbst Jessie Tunman hatte ein gerötetes Gesicht und kicherte wie eine Halbwüchsige. Hake war in anderer Beziehung aufgeputscht. Er wußte ohne jeden Zweifel, daß die nächsten Stunden sein ganzes Leben verändern würden, und ein Teil von ihm war tief verängstigt. Als er draußen endlich etwas hörte, ließ er den Billardstock fallen und lief hin, um über die Reling zu blicken. Das Landefloß war vollgepackt mit Pinguinen. Es waren die Haremsfrauen, alle in langen, schwarzen Gewändern, die Köpfe und Gesichter verhüllt. Ungeschickt stiegen sie in das Motorboot. Eine schaute zu ihm hinauf, aber er konnte nicht erkennen, wer es war. Hinter ihm sagte Tigrito gereizt: »Los, Mann, stoßen Sie schon!« »Klar. Was geht denn da vor?« Tigrito blickte beiläufig hinunter und grinste. »Es geht auf in den Kampf, ja? Sie schicken die Frauen und Kinder ins Hotel, damit sie aus dem Weg sind. Keine Sorgen, der alte Hassabou bringt sie morgen früh wieder zurück.« »Ich hatte mir keine Sorgen gemacht«, sagte Hake und ging in den Salon zurück, um weiterzuspielen, aber das war gelogen. Er machte sich Sorgen über sehr viele Dinge, nicht zuletzt darüber, ob das Tonband, das er besprochen hatte, auch zu Leota gelangt war.
326 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
15 Hake fuhr mit dem Nachmittagsbus an der Küste zurück, stieg an dem Weg zur Wachbaracke aus, stieg die Düne hinauf und präsentierte sich den Wachen. Der Lärm des Solarturms war ungeheuer, selbst auf diese Entfernung, Brüllen von Gas und Dampf, Kreischen gemarterter Moleküle, die auseinandergerissen wurden. Der Mann mit dem Gewehr, der vo r der Baracke auf einem Klappstuhl saß, zog den Stöpsel aus dem Ohr, gähnte und kratzte sich. Er blickte interesselos auf Hakes gefälschte Ausweismarke und machte eine ordinäre Bemerkung über männliche Putzweiber. »Schade, daß du ein Mann bist«, sagte er. »Du kannst noch eine Stunde nicht hin, und wenn du eine Frau wärst, könnten wir uns die Zeit besser vertreiben.« »Nicht viele Unbefugte, die euch beschäftigten?« fragte Hake beiläufig. »Unbefugte? Weshalb sollte da jemand vorbeikommen? Wir hindern nur dumme Menschen in Booten daran, zu nah an den Turm heranzufahren. Geh, setz dich in den Schatten. Wenn der Lärm aufhört, kannst du hinuntergehen zur Kontrolle.« Hake streckte sich unter Sonnenpflanzen aus und betastete die Marke, die einmal Leota gehört hatte, beinahe gedankenleer. Er konnte nicht weit vorausplanen. Alles, was er tun konnte, war, die Befehle, die er hatte, auszuführen, bis er eine Gelegenheit sah, etwas anderes zu tun. Als die Sonne unterging, winkte ihm der Posten. Der Lärm hatte noch nicht aufgehört. Im Rezepto rraum oben auf dem Turm herrschte noch Hitze genug, und die Turbinen brüllten weiter. Während Hake im Dämmerlicht hinunterkletterte, dachte er an die Nebenbeschäftigung eines Sommers – er war noch im Rollstuhl gewesen –, als er in Teilzeitarbeit Heliostaten für die Strom- und Licht-Zentrale Jersey gereinigt hatte. Die großen Gelenkspiegel waren mit der glänzenden Seite nach unten angebracht worden, damit sie nicht verstaubten oder durch Meerwasser verunreinigt wurden. Trotzdem hatte Hake oder
327 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
sonst jemand hinausfahren und sie einmal im Monat mit Spray säubern müssen – eine Aufgabe, die nie ein Ende fand, weil der erste Abschnitt schon wieder verschmutzte, wenn man den letzten gereinigt hatte. Aber die Sonnenpflanzen säuberten sich selbst. In den Kontrollgraben zu treten, war, als besteige man die Brücke eines Schiffes. Sichtgeräte flackerten in allen Farben an einem halben Dutzend Monitorstationen und lieferten hunderterlei Daten über Temperatur, Druck und alle Zustandsarten im Ablauf. Eine Anlage prüfte die Luft, wie sie durch die winzigen Röhren auf dem Hitzerezeptor gepreßt wurde. Eine andere überwachte die expandierte Luft, die Gasturbinen drehte, um Strom zu erzeugen. Andere registrierten das Meerwasser, das man verdampfte, die Aufspaltung von Dampf in seine Elemente, den Ablauf von Abfallsole ins Meer, das Pumpen von Wasserstoff und Sauerstoff in die Verflüssigungsanlagen hinter dem Ende der Bucht. Hake wußte das, weil er wußte, wie die Anlage arbeitete, aber er konnte es nicht an Äußerlichkeiten erkennen. Er sah nur Farbengewirr und Symbole. Eine kleine dunkelhäutige Frau blickte von einem der Bildschirme auf und betrachtete kurz seinen Ausweis. »Sie sind nicht das, was wir sonst als Putzer haben«, sagte sie. »Ich brauchte den Posten. Später bekomme ich vielleicht etwas Besseres, hieß es.« »Schön, Sie hierzuhaben«, sagte sie und betrachtete Hake mit mehr Interesse als seine Marke. »Der Rest der Mannschaft wird mit dem Boot gleich kommen. Man wird Ihnen zeigen, was Sie zu tun haben.« Zwischen Kontrollbau und Turm befand sich ein langer Unterwasser-Tunnel. Der Leiter der Nachtschicht, ein ägyptischer Ingenieur namens Boutros, führte seine Leute schnell hindurch. Sie hatten den Tunnel schon hundertmal gesehen und interessierten sich nicht mehr dafür als ein Vorortsbewohner für seine
328 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Einfahrt. Aber für Hake war es etwas Besonderes. Eine halbe Meile nichts als Entfernung. Es war, als befände man sich in einem langen Geburtskanal, ein zehnminütiger Dauerlauf mit roten Lichtern in Abständen vor und hinter einem, scheinbar immer gleich, vie lleicht unendlich lang. Die Sonnenpflanzen hatten sich für die Nacht längst wieder geschlossen. Der Rezeptor nahm keine Energie mehr auf. Der Wartungstrupp konnte ungefährdet anrücken und seine Arbeit tun. Aber die Generatoren drehten sich noch, die Pumpen stampften, die Preßluft kreischte durch das Geflecht dünner Röhren. Boutros hatte für Hake Ohrstöpsel. Ohne sie wäre er taub gewesen. Der Turm war fast die ganze Zeit abgedichtet, aber dünner Sand von den Dünen und Salzgischt gerieten doch hinein. Das war Hakes Sache. Während die Facharbeiter auseinandergingen, um Hirn und Eingeweide des Systems zu überprüfen und zu reparieren, machten Hake und ein paar andere sich ans Kehren und Wischen. Als erstes kamen die Messinggeländer um den offenen Mittelschacht im jedem Stockwerk an die Reihe. Hake folgte dem Fingerzeig der Frau, die mit ihm gemeinsam arbeitete, und konnte sehen, wo er anfangen mußte. Die Handleisten an den drei untersten Etagen, von der Unterseite des Wärmeaustauschers an, waren sauber und glänzten. Was am Geländer des vierten Stockwerks wie ein plötzlicher Wechsel zu grünlichschwarzem Eisen aussah, war nur der Schmutz, den sie zu beseitigen hatten. Ganz hoch oben – fast an der Hundertmetermarke des Turms – konnte er sehen, daß die Geländer wieder hell und glänzend waren. Die Korrosion innerhalb des Turms zu säubern, war auch eine dieser endlosen Aufgaben. Dieser Teil der Arbeit war nur umständlich. Hake und seine Kollegen schabten und putzten, bis die vierte Etage fertig war, dann wurde Hake tatsächlich eine Weile zum Kehren geschickt, ehe man sich an die wichtigere Tätigkeit machte. Der Sonnenko llektor speicherte so viel Hitze, daß noch einige Stunden nach Sonnenuntergang Strom erzeugt wurde. Dann schaltete mit
329 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
einer Plötzlichkeit, die krachend wirkte, alles ab – die Pumpen, die Ventilmotoren, das Johlen und Pfeifen von Flüssigkeiten, die durch Röhren gepreßt wurden – und alle nahmen die Ohrstöpsel heraus. Eine Minute lang herrschte völlige Stille, bis die Pumpen wieder anliefen, diesmal bei geringem Druck, und Boutros auftauchte, um seine Mannschaft zu den Treppen zu schicken. Es war ein langer Aufstieg. Hundert Meter Treppen. Wenn der Generator lief und Sonnenenergie hereinströmte, schluckte die angepumpte Luft Energie, um sie in den Turbinen in Strom zu verwandeln. Gleichzeitig hinderte die fließende Luft die Röhren am Durchbrennen. Der kritische Augenblick umfaßte nur Sekunden bei vollem Betrieb. Der Rezeptor war heiß konnte theoretisch so heiß werden wie die Sonnenoberfläche, über fünfeinhalbtausend Grad Celsius; in Wirklichkeit war er nur ungefähr halb so heiß. Aber heißer als alles, dem Hake jemals begegnet war. Wenn die Pumpen versagten, würde die von den Sonnenpflanzen zurückgeworfene Hitze das empfindliche Gitter zu Schlacke verwandeln, falls die Pflanzen nicht sofort abgelenkt wurden. Jetzt war das kein Problem, weil die Sonnenpflanzen schliefen. Aber die Pumpen kühlten die Rohre für Hakes Mannschaft, damit sie den dünnen, harten Salzbelag abschaben konnten, der die Wärmeleitfähigkeit der Rohre verringerte und Energie kostete. Dazu mußten sie dort hinauf, wo der Wärmerezeptor war. Hundert Meter sind auf dem flachen Boden keine große Entfernung. Ein Olympialäufer kann sie binnen Sekunden zurücklegen. Aber hundert Meter senkrecht in die Höhe sind etwas ganz anderes. Die körperliche Anstrengung war noch das Wenigste, auch wenn Hake die oberste Plattform keuchend und zitternd erreichte. Es war schlimmer. Der Wind blies. Hake klammerte sich an dem Sicherheitsgeländer fest und hatte das Gefühl, daß ihm die Haare vom Kopf geweht wurden. Der Turm schwankte – das war nicht nur seine Einbildung; ein Baßorgeldröhnen herrschte, das er durch die Geländerrohre spüren konnte. Und obwohl die Pumpen die zweitausend Grad Hitze aus
330 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
den Rohrleitungen gespült hatten, verbrannte er sich beinahe die Finger. Der Araber neben ihm lachte, spreizte seine Finger und zeigte auf die Handschuhe, die Hake am Gürtel trug. Hake biß die Zähne zusammen. Man hätte ihn ja erinnern können. Er gestand sich aber ein, daß kein Hinweis so nützlich gewesen wäre wie diese eine zischende Berührung. Doch draußen über den Dünen purzelte Orion hinunter, dem Ende der Nacht entgegen. Kühle, trockene Luft aus der Wüste roch nach Salz, Kamelen und abgestandenem Petroleum. Als er einmal gelernt hatte, den Abgrund unter sich zu vergessen und seine Arbeit zu tun, war es durchaus nicht unangenehm, hundert Meter hoch im arabischen Nachthimmel zu stehen. Die Arbeit war nicht schwer. Da sie jede Nacht gemacht wurde, konnte sich wenig Salz bilden. Man brauchte jede drahtdünne Röhre nur einmal hin und her fest abzuwischen. Auf den Putzlappen befand sich ein chemisches Mittel. Die Mannschaft machte Pause, um Pfefferminztee und scharfen Kaffee zu trinken. Beides wurde in Eimern von unten heraufgehievt, und bis der Himmel im Osten kobaltblau wurde, waren sie fertig. Hake stieg zusammen mit den anderen hinunter, entschuldigte sich, um auf die Toilette zu gehen, und wartete dort, bis im Turm nichts mehr zu hören war. Dann guckte er hinaus. Der Großteil des Trupps war durch den Tunnel zurückgegangen, andere waren mit Booten zurückgefahren. Er glaubte nicht, daß jemand sonderlich darauf achten würde, ob er hier oder dort nicht auftauchte. Er hatte sich die Fernsehmonitoren eingeprägt, deren Kameras das Innere des Turms erfaßten, und mied diese Stellen. Er setzte sich und wartete, drei Etagen über der sanften Dünung. Er hatte klare Sicht durch ein gischtbesprühtes Fenster auf das Ufer, durch andere Fenster auf den Meerhorizont. Die Tatsache, daß er in dieser Richtung nur Wasser sehen konnte, besagte nicht, daß dort nichts war; das Team würde schon unterwegs sein. Und an Land auch. Er blickte vorsichtig über das halb im Boden eingelassene Kontrollgebäude und sah
331 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
das rosarote Dach der Wachbaracke. Tigrito und seine Gehilfen würden schon dort sein und auf die Uhren blicken. Alles sah friedlich aus, sogar das Gewirr heller Röhren, das über die östliche Landspitze hinausragte, auch die GaskondensatorAnlage und der Radarmast eines FH2 -Tankers, der darauf wartete, gefüllt zu werden. Es war Sünde, das zu zerstören. So dachte Hake, Pfarrer einer Kirche, die das Wort ›Sünde‹ nie gebrauchte, ein Mann, der ein Vierteljahrhundert lang Stromausfälle und Kälte und Schmutz von New Jersey erlebt hatte. Sauberer Wasserstoff war ein Gut. Welcher Wahnsinn trieb Griesgram und die anderen, welcher Wahnsinn die Welt? Der Himmel hinter den Landspitzen war orangerot, bereit für den Auftritt der Sonne auf der Bühne. Die Rohrleitungen der FH2 Anlage schim merten in dieser Farbe. So viele Megawattstunden durch diese Einrichtung, und alles nur in einer winzigen Bucht, auf einer Landkarte nicht vermerkt; an dieser Küste allein hundertfach nachzuahmen. Kein Wunder, daß der Kampf so heftig tobte. Es ging um ungeheure Werte. Die Pumpen stampften plötzlich, und die Fernsehkameras drehten sich hin und her. Hake sprang auf. Es war Zeit. Die Sonnen-Blumen begannen sich zu öffnen. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um viel Energie zu liefern, aber er konnte das vio lette Geisterbild entstehen sehen, auf halber Höhe am Himmel. Es legte eine Spur öligen Geglitzers auf die Meeresoberfläche Und mitten in dieser schimmernden Spur regte sich etwas. Luftbläschen. Die Eindringlinge näherten sich. Als erster kam Mario die Leiter herauf. Der Taucheranzug glänzte naß in den langen, schräg einfallenden Sonnenstrahlen; auf dem Rücken baumelte ein wasserdichter Sack. Mario sagte nichts zu Hake, sondern zog den Anzug aus und öffnete den Sack, um sein Handwerkszeug herauszuholen. Die Pumpen
332 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
brüllten jetzt mit voller Kraft, der ganze Turm vibrierte von ihrem Lärm und dem Kreischen der Gase in den Rohren. Das Unterwasser-Schleppfahrzeug stieß an die unterste Leitersprosse, und der nächste stieg herauf, der dritte und vierte. »In der Ecke bleiben!« schrie Hake Mario ins Ohr. »Ich habe einen Wandschirm zur Tür gerollt! Ihr könnt in den Tunnel, ohne daß die Kamera euch sieht!« Mario sah ihn verächtlich an, dann wiederholte er die Anweisung vor den anderen. Das war nicht nötig, nur, um zu zeigen, daß nicht Hake, sondern er hier das Sagen hatte. Er sprach in ein Funkgerät, lauschte und nickte. »Die anderen sind unterwegs«, erklärte er. »Also los!« Yospers Schlägerquartett war hier in Al Hawani wieder versammelt. Die Männer zogen hastig ihre Taucheranzüge aus und legten ihre Schätze auf das Stahldeck. Marios Ausrüstung bestand aus Nasenfiltern, Schlafgas-Kanistern, Platten von graurosarotem, knetbarem Sprengstoff. Sven (oder Carlos) hatte eigene Sachen dabei: die Kamera, um die Maschinen zu fotografieren, die Geräte, um alles zu demontieren, was interessant erschien und mitgenommen werden sollte, die Zündkapseln für Marios Sprengstoff, damit der Turm einstürzte, wenn alles geraubt worden war, das lohnend erschien. Dieter (oder Sven oder Carlos) hatte die Biodosen mit Pilzsporen. Sie sollten in das Träufel-Bewässerungssystem eingeführt werden, um die Sonnenpflanzen mit der Welke anzustecken. Carlos (oder wer es sonst war) hatte die Waffen. Bulgarenschirme und Peruschreiber mit Pfeilen in Kanülenart, die Spitzen grün; eine Berührung, und das Opfer war gelähmt, falls das Schlafgas versagen sollte. Und eine Anzahl Maschinenpistolen. Sie waren nicht nichttödlich. Jede Person, die ihr Feuerstoß von tausend Schuß in der Minute erfaßte, würde ewig schlafen, in Blut. Der zweite Trupp erschien, drei Leute. Zwei erwiesen sich als Gehilfen des Scheichs, der dritte Mann, vor Erregung ganz unruhig, war Yosper persönlich.
333 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Lief wie Kacke durch das Regenrohr«, gluckste er, als er seinen Taucheranzug abstreifte. »Sind wir fertig, Mario? Los, Hake, Sie führen!« Hake stieg die Leiter hinunter und duckte sich an der Tunne ltür, als die anderen hinter ihm herankamen. Yosper hob sich auf die Zehenspitzen, um durch das kleine Fenster zu starren, dann drehte er finster den Kopf. »Sie haben die Fernsehkameras nicht verdeckt«, beschuldigte er Hake. »Wie denn? Sie wären nur hergekommen und hätten das behoben.« Es war zutreffend, wenn auch nicht der wahre Grund, aber das Problem war für Hake damit nicht gelöst. Dieter (oder Sven) sagte heiter: »Keine Sorge. Wird gleich erledigt sein.« Er fand einen Sicherungskasten, öffnete ihn, und Augenblicke später erloschen alle mattroten Lämpchen hinter der Tür. »Wir sollten uns beeilen, Yosper«, sagte er. »Sie werden gleich nachsehen.« »Dann los!« Yosper griff nach Maschinenpistole und SchlafpfeilWaffe und begann zu laufen, gefolgt von den anderen. Hake blieb noch zurück, streifte eine Nasen-Atemmaske über und warf zwei von den Schlafgas-Kanistern hinter dem Team in die Dunkelheit. Sie hatten keine Zeit, sich umzudrehen. Er hörte die Behälter klappern, das Paff ihrer Explosion, ein paar Ächz - und Stöhnlaute, dann hinstürzende Leiber. Als er sicher war, daß sie alle für mindestens eine Stunde bewußtlos waren, stieg er die Leiter wieder hinauf, griff nach dem Plastiksprengstoff und dem gepolsterten Kasten für die Zündkapseln. Er warf sie ins Meer, zusammen mit allen Maschinenpistolen, die er finden konnte. Er stieg die Leiter noch einmal hinunter, trat hier auf einen Schenkel, dort auf ein Rückgrat, und stolperte durch den dunklen Tunnel zum Kontrollbau. Was er dort tun wollte, wußte er selbst nicht genau, aber zumindest konnte er
334 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
das Problem dem übergeben, der sich dort aufhielt. Er stolperte kurz vor dem Ende über einen Körper – wie war jemand nur so weit gekommen? – und griff nach der Türklinke. Gerade als Yospers Stimme leise, gedämpft durch eine Atemmaske, hinter ihm sagte: »Wissen Sie, Hake, ich dachte mir beinahe, Sie probieren etwas. Und jetzt machen Sie ganz langsam die Tür auf. Was Sie an Ihrem Rücken spüren, ist kein Schlafgas.« Hake erstarrte. »Sie können mir nicht verdenken, daß ich es versucht habe«, sagte er. »Falsch, mein Junge«, meinte Yosper seufzend. »Ich kann Sie umbringen, weil Sie es versucht haben.« Noch während Hake sich in Bewegung setzte, schätzte ein Teil seines Gehirns ab, was Yosper gesagt hatte: Wie sehr es zutraf und wie belanglos es doch war. Wenn er eine Wahl gehabt hatte, war sie nicht zu entdecken gewesen. Drei Wochen Unter dem Draht sind nicht viel, um die friedlichen Gewohnheiten eines ganzen Lebens zu verändern, aber es waren harte Wochen gewesen. Die Lehren hatten sich eingeprägt. Nach vorn fallen, hinten ausschlagen; herumwerfen, ein Bein packen. Hake machte es fehlerlos. Sein Absatz traf Yosper genau dort, wo er treffen sollte, und riß den alten Mann hoch. Yosper stieß einen Schrei aus, und etwas flog ratternd durch den Korridor, als Hake das Bein wegriß, das seinen rudernden Armen am nächsten war. Die Ausbildung zahlte sich aus. Die Schußwaffe war fort, sie waren im Nahkampf Mann gegen Mann, und Hake hatte alle Vorteile von Jugend und Größe und Kraft auf seiner Seite. Aber Yosper hatte dieselbe Ausbildung durchlaufen, im Lauf der Jahre mehr als einmal. Yospers hartes Knie traf Hake am Unterkiefer, riß ihm den Kopf auf dem Hals herum und die Nasenmaske ab.
335 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Auch dafür gab es ein Manöver. Nicht atmen. Den nächsten Reflexpunkt des Gegners finden, einen von dem Dutzend, wo es schnell ging, ihn kampfunfähig machen, die Maske übernehmen – Hake war das alles ganz klar, und sein Körper gab sich jede Mühe, das auch auszuführen. Yosper kam ihm zuvor. Der zerbrechliche, alte Mann hielt enorm viel aus. Er konnte gegen Hake im Kampf von Mann gegen Mann nicht gewinnen, aber das war auch nicht notwendig. Er brauchte eine Entscheidung nur hinauszuschieben, bis Hake zum Atmen gezwungen war. Hake mühte sich mit aller Kraft, nach Yospers Kehle zu greifen, dann nahm er ohne Übergang betäubt wahr, daß er am Kragen in den Kontrollraum geschleift wurde. Ich habe mein Bestes getan, dachte er klar. Aber was nützte das, wenn das Beste ungenügend gewesen war? Yosper ließ ihn fallen, und es herrschte Stille. Warum Stille? Hake versuchte abzubremsen, was sich rasend schnell um ihn drehte, um zu sehen, was vorging, aber es ging nichts vor. Niemand war hier. Die Monitoren waren unbesetzt, die Sessel leer. Er hörte das ferne Surren von Ventilatoren und das schwache Knistern der Elektronik, sonst nichts. Yosper stand über ihm, geduckt, die Waffe im Anschlag. Aber für seine Waffe schien es keine Zielscheibe zu geben, und dann sagte eine Stimme, eine vertraute Stimme, eines der Reddis: »Legen Sie das weg, Medina«, und überall im Raum standen Männer und Frauen hinter den Monitoren und Tischen auf, und jeder hatte eine Pistole in der Hand, und alle Mündungen zielten genau auf Yospers Kopf. Hake hatte das Gefühl, daß er sein halbes Leben lang auf die eine oder andere Weise Schmerzen gehabt hatte – seit März fast ununterbrochen, Tag und Nacht. Der Kampf mit Yosper hatte alles wieder aufgeweckt, was er in Rom und Capri abbekommen hatte, und seine Nase blutete wieder. Aber etwas Sanftes,
336 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Gutriechendes barg seinen Kopf und streichelte seine Schmerzen weg. Er versuchte sich zusammenzunehmen. »Hallo, Leota«, stieß er hervor. »Oh, Horny«, flüsterte sie und schaukelte ihn. Es war ein schöner Ort, wo er lag, und er verspürte wenig Neigung, sich zu bewegen, raffte sich aber doch auf und atmete tief, um die letzten Spuren Schlafgas aus dem Blut zu vertreiben. Der Raum war voller Leute; nicht nur Leota und die beiden Reddis waren da, sondern auch Robling, der Personalchef, und acht oder zehn andere. Nicht gerechnet Yosper, der mürrisch mit gespreizten Armen und Beinen an einer Wand stand, während eine der Frauen Waffen aus allen Taschen und Schlitzen zog. »Du meinst, wir haben es geschafft?« fragte er dumpf. »Bis jetzt schon«, sagte Leota und tupfte ihm das Blut an den Lippen ab. »Jemand sammelt die Opfer im Tunnel ein. Wenn wir mit der Jacht fertig werden und noch ein paar Kleinigkeiten aufklären können…« Aber in Hakes gasgeschwächtem Gehirn ging alles durcheinander. Er konzentrierte sich darauf, zu verfolgen, was sie ihm erzählte. Die Reddis hatten das meiste veranlaßt, auf irgendeine Weise unterstützt von Robling, dem Personalchef; sie hatten im Hotel einen Brand vorgetäuscht und alle Leute evakuieren lassen. In dem allgemeinen Durcheinander waren Leota und Alys befreit worden. Sie waren alle sehr erfreut über Hake, der seinen Teil offenbar in großartiger Weise geleistet hatte, auch wenn er nicht so recht hatte wissen können, worin er bestand. Aber Subirama Reddi fauchte schrill: »Wir vergeuden Zeit! Die Jacht ist noch draußen. Sie muß sofort hereingelockt werden.« Auf der anderen Seite des Raumes hellte sich das wutverzerrte Gesicht Yospers auf. Er nickte der Frau, die ihn bewachte, freundlich zu und trat ans Funkgerät. Hake konnte gerade noch dazwischentreten.
337 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Nicht Sie, Yosper«, sagte er. »Sie sind ein ausgekochter alter Knabe, und dem, was Sie sagen, traue ich nicht. Ich mache das.« »Dann los!« zischte Rama Reddi. »Schließen wir das ab, und kommen wir zur Bezahlung!« »Ganz klar«, sagte Leota. »Los, Horny, sag ihnen, daß der Kontrollraum erobert ist.« Sie drückte warnend seine Schulter. Jemand gab ihm ein Mikrofon. Er räusperte sich, schaute sich um und zog die Schultern hoch. »Griesgram?« rief er. »Scheich Hassabou? Hallo, irgend jemand? Melden, Griesgram. Wir sind hier klar und warten auf Sie.« Die Funkerin schaltete ab. »Keine Antwort geben, was sie auch sagen«, warnte sie. »Sagen Sie, Ihr Empfänger ist defekt. Sagen Sie -« Sie wurde von der Stimme Griesgrams unterbrochen, die aus dem Wandlautsprecher drang. »Sind Sie das, Hake?« rief er. »Was ist los? Wo ist Jasper Medina?« »Nicht antworten«, sagte die Funkerin scharf, aber Hake hatte gar nicht die Absicht. Sie warteten, während Griesgrams Stimme Antwort forderte und Yosper an der Wand murrte und fluchte. Leotas Hand fest in der seinen, vermochte Hake zu glauben, daß das alles Wirklichkeit war. Vernünftig, nein. Was für absurdes Theater sie spielten! Aber sein ganzes Leben war zu absurdem Theater geworden, seitdem das Team ihn in die Welt des total Absurden gezogen hatte. Es war nicht unfaßlicher, daß seine Flickschusterei Erfolg hatte, als daß Agenten und Spione überhaupt solche Spinnereien anfingen. »Jetzt noch einmal!« befahl ihm Leota. »Hol ihn herein!« Die Funkerin betätigte eine Schiebetaste, und Hake atmete tief ein.
338 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Hier Hake«, sagte er ruhig, über die schrillen Proteste der Funkwellen hinweg. »Ich kann nichts verstehen, aber Yosper hat mich angewiesen, Ihnen zu sagen, daß wir parat sind. Der Kontrollraum ist klar, ebenso der Thermalturm. Wir warten.« Eine Minute oder länger rührte sich überhaupt nichts, dann seufzte Leota. Ihr Atem kitzelte Hakes Ohr, als sie sich beide über den Radarschirm beugten. »Ich glaube, der Volltrottel tut es wirklich«, flüsterte sie. Auf dem Schirm konnten sie den grünen Umriß des Turms sehen, die Landspitzen, die Schleppkähne mit ihren Kugeltanks, die auf das FH2 warteten… und ja, sich vorsichtig um die Landspitze schiebend, der schmale, spitze Umriß von Hassabous Jacht. »Er kommt!« rief Robling triumphierend. »Okay, Turmkontro lle, an die Arbeit!« Die dunkelhäutige Frau am Hologramm-Monitor griff nach ihren Schaltern. Durch den mit starken Filtern geschützten Sehschlitz konnte Hake das violette Ziel-Hologramm über den Himmel schweben sehen. Durch die Klarglas-Oberlichtfenster auf der Dünenseite war zu erkennen, wie die Sonnenpflanzen die Richtung veränderten. Sie reagierten langsam. Es würde mindestens einige Minuten dauern, bis die genaue Einstellung erzielt war. Aber sie bewegten sich. Es ging alles sehr langsam. Die Sonnenpflanzen vermochten neunundneunzig Prozent der Sonnenstrahlung auf ein Ziel zu lenken – aber nicht schlagartig. In den nächsten Minuten würden sie sich ausrichten. Zuerst würden sie einen großen Kreis Wärme hervorrufen, dann eine Bahn, Hunderte von Metern breit, in der es unbehaglich wurde, schließlich einen Punkt, kleiner als die Rumpfseite der Jacht, wo nichts Ungeschütztes überleben konnte. Der grelle weiße Stern oben auf dem Turm wurde undeutlich und dunkel.
339 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Der einbeinige Mann und der Kontrolleiter flüsterten sorgenvoll miteinander. Das war ein kritischer Zeitpunkt. Der Hohlrezeptor war dafür gebaut, ungeheure Hitze auszuhalten. Das Gerüst ringsum nicht. Als der Punkt abirrte, trafen Tausende, dann Millionen Watt auf die polierten Fresnel-Stahlspiegel. Die Energie von zehntausend Pferden prallte auf jeden Metallstreifen. Aber die Entzerrung ging sehr rasch vorüber. Bis der TemperaturMonitor Rot anzeigte, hatte der Fleck sich ausgedehnt. Die Warnanzeige schwankte, blieb stehen, sank langsam zurück. Und die Jacht kam zum Stillstand und ankerte. Die Frau am Hologramm nickte Hake zu. »Los, Horny«, sagte Leota. »Du darfst es ihnen sagen.« »Mit Vergnügen«, erwiderte Hake grinsend, als er zu begreifen begann. Er sprach ins Mikrofon. »Griesgram! Setzen Sie Ihre Sonnenbrille auf!« Ein überraschtes Brummen aus dem Lautsprecher. Dann Stille. Dann Griesgrams Stimme, heiser und bösartig: »Hake, Ihre letzte Chance. Was, zum Teufel, geht hier vor?« »Wir peilen uns auf Sie ein, Griesgram. Sie haben genau eine Minute Zeit, das Schiff zu verlassen.« Die Jacht wurde mit jeder Sekunde heller, so, als schalteten Bühnenarbeiter auf unsichtbaren Flößen Aufheller ein. »Springen Sie auf der abgewandten Seite«, fügte Hake hinzu. »Wir zielen vielleicht nicht so gut.« Der Einbeinige blickte finster und winkte Hake hastig zu, den Sender abzuschalten. »Passen Sie auf, was Sie sagen!« fauchte er. »Sie entwischen sonst vielleicht doch noch aus dem Strahl.« Er starrte sorgenvoll zum Sehschlitz hinaus, dann begann er zu lächeln. »Ich glaube, die Gelegenheit haben sie verpaßt«, sagte er. »Das Schiff ist so gut wie versenkt.« Der Lautsprecher klirrte unter Griesgrams Stimme. »Hake, ich weiß nicht, was Sie sich einbilden, aber wenn Sie glauben, daß Sie -«
340 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Nicht glauben, Griesgram. Ist schon geschehen. Sie haben vielleicht noch dreißig Sekunden, dann dürfte Ihr Wasserstofftank explodieren.« Der Sonnenstrahl bündelte sich und wurde greller. Einzelne Arme des Strahles kippten und schwankten über das Wasser, und auf einigen Wellenkämmen erschienen hauchdünne Dampfwölkchen. »Jetzt bleiben Ihnen noch fünfzehn Sekunden.« Aus der Ecke, wo er an einen Stuhl gefesselt war, kam Yospers Stimme, erstickt vor Wut: »Hake, Sie kleiner Saukerl, Sie werden sich noch wünschen, nie geboren zu sein.« Aus dem Lautsprecher tönte ein wildes Stimmengewirr, dann wurde abgeschaltet. Selbst durch das Filterglas tat es in den Augen weh, auf das Schiff zu blicken. Am Rumpf stieg Rauch auf. Der Anstrich wurde weggesengt. Glas zersplitterte in den Bullaugen, und die bunte Wimpelreihe an den Masten flog als Asche davon. Die 90-Prozent-Bündelscheibe schrumpfte auf tausend Milliradianten, auf fünfhundert, auf dreihundert Der große Kugeltank mit flüssigem Wasserstoff auf dem Achterdeck explodierte gar nicht. Er hatte keine Zeit mehr dazu. Bevor die Hitze der Wandung so viel FH2 zum Sieden brachte, daß die Ventile zerfetzt wurden, war die 90-Prozent-Scheibe weitergeglitten und hatte sich schrumpfend auf die Rumpfseite gerichtet, knapp über der Wasserlinie. Hake konnte nicht sehen, daß das Metall glühte. Die Strahlung des Lichtpunkts übertraf die bloße Weißglut von Stahl bei weitem. Aber plötzlich rutschte ein Klumpen schmelzenden Metalls herunter und klatschte ins Meer. Eine riesige Dampfwolke stieg hoch. Das Schiff begann heftig zu schwanken und sackte ab. Hake, der am verdunkelten Fenster stand, erschrak plötzlich. »Was geschieht mit den Leuten im Wasser, wenn es sinkt?« Rohling grinste und zeigte auf den Hologramm-Monitor. Das dunkelrote Fadenkreuz stieg schon am Himmel hinauf, fort vom Schiff in die Höhe, und der Punkt dehnte sich wieder aus.
341 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Außerdem sind sie im Schatten. Es wird erst in einer halben Stunde untergehen«, meinte er. Die Frau an der Steuerkonsole fauchte: »Wird auch Zeit! Wissen Sie, was diese Kleinigkeit kostet? Wir machen fünfzehn Millionen Dollar am Tag und haben schon eine Produktionsstunde verloren -« »Ist noch billig«, sagte der Einbeinige. »Dann her mit der Kavallerie.« »Schon veranlaßt«, sagte sie. Das Fernbild erfaßte sie als erstes, aber sofort, nachdem Hakes Augen sich davon erholt hatten, auf den grellen Punkt an der Rumpfwand des untergehenden Schiffes zu starren, konnte er sie sehen: Ein Zerstörer und zwei Kanonenboote der ›Marine‹ von Al Hawani – vermutlich die gesamte Marine von Al Hawani – kamen am Horizont herauf. Weiße Bugwellen verrieten, wie schnell sie fuhren. Hake legte den Arm um Leota, die neben ihm am Fenster stand, und sagte staunend: »Wir haben es geschafft.« »Nicht ganz«, sagte Rama Reddi, eine Maschinenpistole im Arm; und von der anderen Seite des Kontrollraums her sagte sein Bruder: »So ist es, Hake. Sie müssen sich immer noch mit uns einigen.« Es war mehr im Gang, als Hake begreifen konnte. Keine neue Situation für ihn; er lebte schon seit Monaten in solchen Umständen, aber leichter wurde es durch die Gewohnheit auch nicht. Leota rettete ihn. »Versteht sich«, sagte sie und preßte seinen Arm an sich. »Horny weiß Bescheid. Wir haben versprochen, Ihnen die Codes und die Schlüssel zu geben, und das werden wir tun.« Yosper schrie geifernd auf: »Miststück! Sie legen sich mit der größten Macht der Welt an!« »Das Risiko müssen wir eben eingehen«, meinte Leota, »auch wenn Ihre Freunde im Augenblick gar nicht so gefährlich aussehen.«
342 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
So war es. Sie taten, was sie konnten, und selbst in Schlauchbooten oder sogar im Wasser schwimmend waren sie durchaus nicht wehrlos. Auf dem kleinen Bildschirm des Sichtgeräts fand ein halbes Dutzend Kämpfe gleichzeitig statt. Die Seemacht von Al Hawani war der Herausforderung gewachsen. Sie warfen Brechgas-Handgranaten auf die Teamleute im Wasser, und Motorbarkassen fischten sie einen nach dem anderen heraus; manche wehrten sich noch, andere wurden aus dem Wasser gefischt wie Millionenfischchen aus einem Bruttank. »Wir warten immer noch«, zischte Rama Reddi und meinte damit, daß sie überhaupt nicht zu warten gedachten. »Sobald wir das abgeschlossen haben«, versprach Leota. Eines der Schnellboote kam heran und lief vor ihnen auf den Strand. Eine Gruppe von schlampig aussehenden, aber sehr tüchtigen Matrosen aus Al Hawani zerrte zwei gefesselte Gestalten in den Bunker. »Jetzt geht es voran«, sagte Leota befriedigt. »Den da kenne ich« – sie berührte den verächtlich zornigen Scheich Hassabou mit ihrer Schuhspitze – »aber wer ist der andere Kerl?« »Na, das ist einer unserer führenden amerikanischen Sabotagespezialisten«, erklärte Hake. »Freut mich, daß wir uns wiedersehen, Griesgram.« Der Spion konnte nichts unternehmen. Er lag auf dem Bauch, die Hände auf den Rücken gefesselt, eine Seite des borstigen Barts vom eigenen Blut verklebt. Aber er konnte reden. »Ihr seid allesamt tot«, sagte er. »Ihr erlebt keinen Sonnenaufgang mehr.« Wenn Hake die Chancen abschätzte, war er nicht so sicher, daß Griesgram sich irrte. Gefesselt und hilflos mochte er sein, aber hinter ihm stand die ungeheure Mammutkraft des Teams, und wenn Griesgram sie für fähig hielt, alle die Zufallsgegner zu zerquetschen, konnte Hake keinen plausiblen Grund erkennen, anderer Meinung sein zu dürfen.
343 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Robling und die Hologramm-Technikerin versuchten alle Leute wegzuscheuchen, während sie sich mit der ernsten Aufgabe befaßten, den Thermalturm wieder in Betrieb zu nehmen. Die Reddis wollten nicht weggeschoben werden. Sie hatten ihre Maschinenpistolen nicht abgegeben und flüsterten miteinander in ihrer Muttersprache, ohne die anderen auch nur für Sekundenbruchteile aus den Augen zu lassen. Es würde nicht möglich sein, sie sehr lange hinzuhalten. Aber was dann? In Hakes Kopf wurde es klarer. Das half nicht weiter. Er war an einem Spiel beteiligt, dessen Regeln nie erklärt worden waren; schlimmer noch, er konnte nicht einmal unterscheiden, zu welcher Mannschaft die Spieler gehörten. Früher einmal hatte er geglaubt, sein Leben als Geistlicher sei unerträglich kompliziert. Hier in diesem fremdartig wirkenden Raum am Persischen Golf war der Komplex in die dritte Potenz erhoben, der Wirrwarr vervielfacht; eine schlichte Seele wie er konnte Freund von Feind nicht unterscheiden. Der tobende Yosper, der schimpfende Griesgram, der stumme, gefährliche Hassabou waren als Feinde leicht zu erkennen. Aber waren die Reddis Freunde? Undenkbar! Robling, Omaya, die Hologramm-Technikerin, die anderen Unbekannten? Offenbar schon. Und Leota, die ihn ermunterte, seine Abmachung mit den Reddis zu honorieren, sie war doch gewiß eine Freundin? Natürlich war sie das, versicherte Hake sich selbst entschieden, mindestens eine Freundin; aber das war das einzige ›natürlich‹, das er finden konnte. Wenigstens Leota schien genau zu wissen, was zu tun war. »Machen wir weiter«, sagte sie und lächelte die Leute von ›Hydro-Treibstoffe‹ fröhlich an. »Wird auch Zeit«, knurrte Robling, den Blick auf den Bildschirm gerichtet, wo das dunkel gleißende Hologramm am Himmel dorthin rückte, wo es hingehörte. »Ich glaube, jetzt läuft es. Was mich betrifft, können Sie Ihre privaten Angelegenheiten erledigen.« »Hier? An diesem Ort, bei so vielen Zeugen?« zischte Subirama Reddi. »Wollen Sie uns betrügen?«
344 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Abgemacht war, daß Hake Ihnen die Informationen gibt, das ist alles«, sagte Leota entschieden. »Von wann oder wo war nie die Rede.« »Aber – diese Leute sind vom Team! In einer Minute können sie alle Codes ändern, und das Ganze ist wertlos!« Leota schüttelte den Kopf. »Passen Sie auf. Sobald Sie haben, was Sie haben wollen, können Sie verschwinden. Von allen anderen geht hier eine Stunde lang niemand weg. Die Gefangenen werden ohnehin eine Weile mit keinem reden – sie werden im Gefängnis von Al Hawani sitzen, und ich glaube nicht, daß sie Besuch bekommen.« »Vierundzwanzig Stunden lang nicht«, sagte der Einbeinige grinsend. »Das kann ich versprechen.« Die Brüder sahen einander an, dann zogen sie beide die Schultern hoch. »Vierundzwanzig Stunden. Nicht weniger. In diesem Fall kann er anfangen«, sagte Rama Reddi widerstrebend. »Wie kommt es eigentlich, daß mich niemand fragt, ob ich anfangen will?« brach es aus Hake heraus. Der Zorn hatte ihn übermannt. Leota legte die Hand auf seinen Arm. »Weil wir eine Abmachung getroffen haben«, sagte sie. »Also, Horny. Alles. Erzähl ihnen sogar von deinem Daumenabdruck. Ich verspreche dir, daß auch das in Ordnung geht.« Hake atmete tief ein. Alle sahen ihn an. Dafür, daß er Mittelpunkt der Aufmerksamkeit war, schien er sehr wenig freien Willen zu besitzen und sehr wenig Zeit dazu, zu entscheiden, was er wollte. Mit den Reddis einen Tauschhandel zu machen, gehörte nicht zu den Dingen, auf die er stolz sein konnte. Einen kleinen Plan des Teams vereitelt zu haben, war ein zu kleiner Sieg, um von Dauer zu sein, und die Zukunft über diesen Augenblick hinaus sah wenig vielversprechend aus.
345 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Los, Hake!« fauchte Leota. Ihre Augen funkelten ihn an. »Ach, schon gut«, sagte er. »Also. Wir finanzieren unsere Unternehmungen dadurch, daß wir anderer Leute Bankkonten anzapfen – meistens Geheimkonten der Anderen Seite. Um den Zugang zu eröffnen, lege ich als erstes meinen Daumenabdruck als Ausweis vor. Dann gibt es Codewörter.« Er nannte Einzelheiten, gab alle Bankkonten an, die sie plünderten, zählte die Codewörter auf und verschwieg nichts, während Subirama Reddi mitschrieb und sein Bruder Fragen stellte. Schließlich hob Subirama den Kopf. »Ich glaube, wir sind uns über das Vorgehen im klaren, ja. Bleibt die Frage Ihres Daumens.« »Da helfe ich aus«, sagte Leota schnell und zog ein flaches Metallkästchen heraus. Es enthielt Kunststoff. »Drück deinen Daumen da hinein, ja, Horny?« Er zuckte die Achseln und tat es. Leota hielt den Reddis das Kästchen hin. »Davon können Sie den Daumenabdruck selbst abnehmen«, sagte sie. Subirama griff danach, studierte die Kunststoffmasse gründlich, dann nickte er seinem Bruder zu. »Die Bezahlung ist erfolgt«, sagte er. »Abgesehen von dem einstündigen Vorsprung für uns und der vierundzwanzigstündigen strikten Abgeschlossenheit für das Team.« »Dann beeilen Sie sich lieber«, knurrte Robling. »Ich möchte die Leute aus unserer Anlage forthaben. Nehmen Sie den dreien da die Knebel ab, während wir uns überlegen, was wir mit ihnen anfangen.« Als die Reddis verschwanden, begann Yosper zu wüten. »Verräter!« brüllte er. »Mein Junge, du hast das Team verraten, die U.S.A. und den Herrgott, und ich bemitleide dich, wenn wir mit dir fertig sind! Ein paar Krankheitserreger in Europa verbreiten, das war alles, wozu du getaugt hast!«
346 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Sie meinen den letzten Frühling, in dem er für Sie Krankheitsträger war?« warf Leota ein. Yosper funkelte sie ergrimmt an. »Miststück! Halt dein Maul! Der Scheich wird es dir schon zeigen, verlaß dich drauf!« »Nur, wenn er mich wieder entführen will. Das ist ein Verbrechen, und der italienische Staat wird es nicht hinnehmen.« Der Scheich, der hochmütig zuließ, daß einer der Matrosen ihm den Knebel abnahm, sagte in nicht akzentfreiem Englisch: »Mein Freund, der Justizminister, wird auf dein Gefasel nicht hören.« Er war beinahe eine komische Figur, die schwarze Farbe um seine Augen war vom Wasser verschmiert; aber seine Miene hatte nichts Komisches an sich. »Und Sie, Griesgram?« fragte Hake. »Haben Sie nichts beizusteuern?« Der Teamchef sagte mit Würde: »Es spielt keine Rolle, Hake. Sie sind erledigt. Und Al Hawani auch.« »Sie scheinen nicht zu begreifen, daß Sie eine Gefängnisstrafe vor sich haben, Griesgram«, warf Robling ein. »Wir wissen jetzt Bescheid über Sie.« »Und was soll Ihnen das nützen? Wir brauchen Ihren Turm nicht zu sprengen, um Sie aus dem Geschäft zu jagen. Wir haben den Stoff, um Ihre Pflanzen abzutöten – und eine neue Art von Sonnenpflanzen, selbst entwickelt, bei der das Mittel nicht wirkt. Glauben Sie, Sie können verhindern, daß einer unserer Hubschrauber in einer dunklen Nacht hier alles besprüht? Hören Sie doch auf!« Hake brauste auf. »Damit kommen Sie nicht durch! Ich – ich rede mit dem Präsidenten!« Griesgram lachte.
347 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Der Zwerg! Er weiß nichts davon und wird Ihnen ohnehin nicht glauben. Hinter dem Ganzen steht der Justizminister.« Hake starrte sie an: hilflose Gefangene, immer noch angriffslustig. »Wissen Sie«, sagte er verwundert, »Sie sind alle verrückt.« Das waren sie auch, es konnte keinen Zweifel geben, Verrückte, die ein verrücktes Spiel von Sabotage und Zerstörung betrieben. Sie waren ihrer Sache so sicher! Griesgram und Yosper schienen das sogar zu genießen! Hake zog sich geistig von der Umgebung zurück und versuchte, Klarheit zu finden. Gab es jemals irgendeinen Weg, diesem endlosen Zyklus von irrer Gewalt ein Ende zu machen? Undeutlich hörte er Leota zu dem Einbeinigen sagen: »Ich glaube, wir haben alles«, sah den Einbeinigen nicken und nach einem Telefon greifen. Der Einbeinige wartete, während er Yosper und Griesgram beobachtete, als wären sie Schautiere in einem Käfig, dann sprach er in die Muschel. Dann – »Alles den Mund halten!« rief er. »Hake, vielleicht wollen Sie das Gespräch übernehmen?« Er schaltete einen Lautsprecher zu. Die Stimme am anderen Ende, glucksend vor Freude, gehörte dem Unglaublichen Art. »Horny? Oh, Horny!« rief er. »Das ist einfach prima angekommen! Vor zwei Minuten hat jemand angefangen, zu stören, aber da war es schon zu spät – was?« Die Nacheilung von einer halben Sekunde hatte Hakes Worte verschluckt. Hake wiederholte sie, während er die anderen fassungslos anstarrte: »Art! Wovon reden Sie?« Eine halbe Sekunde. Dann – »Soll das heißen, Sie wissen es nicht? Aber, Horny, das ist wirklich komisch! Sie sind live übertragen worden! Sie alle! Seit einer halben Stunde, über Satellit, auf der ganzen Welt!«
348 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
16 Zum erstenmal in seiner Erinnerung hatte Hake das Gefühl, aufatmen zu können. Er lag nackt in der heilenden Sonne. Seine Augen waren geschlossen, der Kiesstrand stach nicht unangenehm den Rücken. Kalte Tropfen auf seinem Körper ließen ihn aufblicken. Leota kniete neben ihm und wand Wasser aus ihren Haaren. »Ich habe nicht geschlafen«, sagte er. Sie schüttelte die Haare in seinem Gesicht aus und lachte. »Du hast auf jeden Fall so ausgesehen, als hättest du einen wunderschönen, befriedigenden Traum gehabt.« Er konnte sie nicht direkt ansehen; die grelle Sonne am chromblauen Himmel blendete ihn. Er schob sich auf einen Ellenbogen, um sie besser zu sehen. Ließen die verschlungenen Linien an ihrem Körper in der Farbe nach, oder gewöhnte er sich nur daran? Er gewöhnte sich jedenfalls auf ganz chronische Weise an Leota, sie in der Nähe zu haben, an sie zu denken, wenn sie nicht in seiner Nähe war. Die wichtigen Stunden eines Lebens mit ihr zu teilen. »Eigentlich«, sagte er und führte einen halb verschlafenen Gedanken zu Ende, »eigentlich habe ich ja Schach gespielt.« Sie legte eine Bluse um die Schultern und sah ihn kritisch an. »Du bist ein Sonderling, Hornswell Hake«, sagte sie, »und du wirst den schlimmsten Sonnenbrand bekommen, den je ein Mensch hatte.« Gehorsam drehte er sich auf die andere Seite, um sich dort rösten zu lassen. Das Vernünftige wäre natürlich gewesen, sich anzuziehen, nach Al Hawani hineinzufahren und ihr Leben wieder aufzunehmen. Er war aber noch nicht bereit dazu. Leota auch nicht; auf ihren Vorschlag hin hatten sie das geliehene Wasserstoff-Buggy angehalten und waren zum Strand hinuntergelaufen, um zu schwimmen. Der Gedanke war lächerlich unpassend für die internationalen Gangsterspiele um höchste
349 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
Einsätze, die sie eben betrieben hatten; gerade aus diesem Grund schien er genau richtig zu sein. »Was heißt das, du hast Schach gespielt?« fragte sie drängend. »Vielleicht war es eher ein Puzzlespiel«, meinte er nachdenklich. »Ich habe Teile zusammengesetzt.« »Was für Teile?« »Tja -« Er verrenkte den Hals, um zum glühenden Himmel hinaufzublicken. »Da oben ist, zum Beispiel, dieser Satellit.« »Und? Satelliten gibt es überall.« »Aber das war der, den wir brauchten.« Zweiundzwanzigtausend Meilen senkrecht empor; er hatte die Bilder von den Monitorkameras übernommen und sie über die ganze Welt verbreitet, zusammen mit den belastenden Aussagen von Yosper und Griesgram und dem Scheich. Ein Metallstück, nicht größer als ein Klavier, doch es war da und hat funktioniert. »Ich verstehe aber nicht ganz, wieso das Teil eines Puzzlespiels sein soll -« »Und dann das ›Mitdenken‹«, sagte er und rollte sich herum, um sie trotz der Sonne wieder anzusehen. »Ich habe mir überlegt, das ist Teil einer Art Serie: Mitdenken – Hypnose – Die mystische Ekstase – Schizophrenie – Der Rausch von einer halluzinogenen Droge – das hat alles so viel Ähnlichkeit miteinander.« Leota seufzte. »Horny«, sagte sie ernsthaft, »wenn wir je heiraten wollen oder was, mußt du lernen, nicht so undeutlich zu reden. Was meinst du überhaupt?« »Entschuldige. Ich weiß es wohl selbst nicht genau, nur, daß sie alle eine Art Ablösung von der Wirklichkeit gemeinsam haben, und wenn ich wieder in Long Branch bin, will ich darüber reden. Zuerst zur Gemeinde, als Anfang. Dann zu jedem, der
350 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
zuhören will. Seit wir alle große Fernsehstars sind, kann ich vielleicht sogar Sendezeit dafür bekommen.« Sie nickte ernsthaft. Nach einer Pause betonte sie: »Du hast gesagt ›ich‹.« »Wir. Wenn du mitkommst.« »Ich versuche es vielleicht«, sagte sie vorsichtig. »Bist du sicher, daß es, na ja, gesund ist?« Er setzte sich auf und rieb sein Kinn. »Ich war meiner Sache schon sicherer«, gab er zu. Dann sagte er: »Das war das mit dem Schachspiel, der Versuch, auszurechnen, welche Züge nun kommen. Zum Beispiel, welcher Zug kommt von den Reddis, wenn sie dahinterkommen, daß wir der ganzen Welt die Information mitgeteilt haben, die an sie verkauft war? Wie sieht der nächste Zug des Teams in Al Hawani aus – kommen sie eines Nachts wieder und entlauben alle Sonnenpflanzen, nur um sich zu rächen? Wie geht ihr nächster Zug gegen mich – hängen sie mir Drogenbesitz an, um mich von der Bühne zu bringen, oder kippen sie mich in den Fluß?« »Lauter gute Fragen, Horny«, lobte sie. »Ich habe sogar ein paar Antworten. Was die Reddis angeht, besteht unser einziger Zug darin, die Augen offen zu halten. Wir haben alles ausgeplaudert, also können sie mit uns nichts mehr verdienen. Ich glaube, wir können das Spiel als Patt abhaken und es vergessen. Hoffe ich«, sagte er. »Beim Team ist es schwerer. Ich glaube, ich kenne den richtigen Zug, wenn sie mit den Sprühbehältern voll Bakterien und Pilzen die Sonnenpflanzen aus Gemeinheit vernichten. Bei HBI gibt es eine resistente Art, und ich glaube, ich habe ein Exemplar der Blume irgendwo verwahrt. Wenn nicht, weiß ich wenigstens, wo ich sie finden kann. Und der Zug, gegen persönliche Gefahren anzugehen, ist genau der, den wir ohnehin machen. An die Öffentlichkeit gehen. So viel Krach schlagen, daß sie nicht wagen, uns anzurühren.« Leota berührte seine Schulter und runzelte die Stirn.
351 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg
»Du bist heiß. Du kriegst wirklich einen schweren Sonnenbrand, wenn wir noch länger hierbleiben.« »Also, gehen wir«, sagte er, stand auf und begann sich anzuziehen. Die Sonne stand hoch am Himmel – es war noch nicht einmal Nachmittag, entdeckte er erstaunt – und wenn man alles recht betrachtete, war es eigentlich ein wirklich herrlicher Tag. Sie gingen vorsichtig auf nackten Sohlen über die spitzen Kiesel zur Straße, Hake entspannt, Leota nachdenklich. Als sie in das Wasserstoff-Buggy stiegen, sagte sie: »Das scheinen recht gute Züge zu sein. Vor allem deshalb, weil wir keine große Wahl haben. Aber hast du dir überlegt, wie das Spiel ausgehen wird?« »Das ist einfach«, sagte er und stieg hinter ihr ein, als sie sich ans Steuer schob. »Wir gewinnen.« Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. »Oder auch nicht«, fügte er hinzu. »Aber so oder so spielen wir es zu Ende, so gut wir können.«
Ende
352 Frederik Pohl – Der lautlose Krieg