Mac Kinsey Band 7
Jake Ross
Der Kurier aus dem Jenseits 1. Teil
Die glühenden Fußtritte auf der Treppe waren die er...
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Mac Kinsey Band 7
Jake Ross
Der Kurier aus dem Jenseits 1. Teil
Die glühenden Fußtritte auf der Treppe waren die erste Warnung. Die Hexenblumen vor der Tür die zweite. Aber Miriam hoffte, doch noch in ihre Wohnung zu gelangen – zu den Zaubermitteln, damit sie gewappnet war. Doch sie hatte den Boten des Bösen unterschätzt. Die Schwarzwelt hatte ihr schon den Kurier aus dem Jenseits geschickt, und der hatte seine Falle aufgestellt. Er war nicht gekommen, um sie nur zu warnen. Er wollte sie gleich mitnehmen. In die Abgründe der Schwarzwelt. Miriam war voller Unruhe. Da war etwas, sie spürte es. Es betraf sie, niemand sonst. Sie erschauerte. Das Unbekannte war grausam, unheimlich und böse. Sie hob den Kopf und schaute über das Menschengewimmel in der Berwick Street hinweg. Wie jeden Tag war Markt. Fliegende Händler und ansässige Geschäftsleute hatten ihre traditionellen Stände aufgeschlagen und ihre Waren ausgelegt. Es wurde gefeilscht und gelacht, geschimpft und geschoben. Viele Londoner kamen auf der Jagd nach einer günstigen Gelegenheit. Und viele Touristen wollten das unglaubliche Gewühl auf Londons ältestem nicht organisierten Markt mit eigenen Augen sehen. Das Unbekannte steckte irgendwo in dieser Menge. Es war ihr nahe. Es machte ihr Angst. Es war stärker als sie. Sie spürte die Macht. Der wolkenverhangene Himmel hatte eine unerklärliche Rötung angenommen. Genau über der Straße. Ausgeschlossen, dachte Miriam. Das kann nicht sein!
Ein Mann stieß gegen sie, murmelte eine Entschuldigung und folgte ihrer Blickrichtung. »Unheimlich, nicht wahr?« sagte er. »Seit zwanzig Jahren komme ich auf den Markt, aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Als hätte jemand die Wolken angezündet.« Kopfschüttelnd quetschte er sich weiter. Daß auch andere diese unheimliche Erscheinung der rötlich glühenden Wolken sahen, beruhigte Miriam keineswegs. Sie sah eigenartige Zusammenballungen. Und dann mitten drin ein schwarzes Loch wie das Tor zur Unendlichkeit. Sekunden später verschwand dieses Bild, der Himmel war wieder grau und glatt und trostlos. Er versprach, einen soliden englischen Nieselregen. Miriam fühlte sich schutzlos. Sie preßte den Einkaufskorb an sich und kehrte zu dem Haus am Ende der Berwick Street zurück, in dem sie wohnte. Sie ging immer schneller. Schließlich rannte sie. In ihrer Wohnung war sie sicher – vielleicht. Dort hatte sie ihre Zaubermittel zur Hand. Hier draußen war sie dem Unheimlichen ausgeliefert. Atemlos hastete sie ins Haus. Da –! Es war schon da. Es war vor ihr ins Haus gelangt. Auf den Holzstufen der Treppe prangten glühende Fußabdrücke. Sie spürte die grauenvolle Hitze. Und dennoch verbrannte das Holz nicht. Es waren wirklich die Abdrücke von Füßen und nicht von Schuhen. Miriam zitterte vor Entsetzen. Die glühende Spur führte hinauf, aber nicht wieder herab. In der ersten Eingebung wollte sie fliehen. Aber sie wußte, daß sie dann gar keinen Schutz mehr hatte. Sie mußte hinauf in die Wohnung, mußte versuchen, etwas zu retten.
Sie achtete ängstlich darauf, nicht die glühenden Abdrücke zu berühren. Mit wildklopfendem Herzen langte sie oben an – und erstarrte. Die Spur der Abdrücke endete auf dem schäbigen Flur. Und vor ihrer Tür lag ein Strauß fremdartiger stinkender Blumen. Hexenblumen! Die Botschaft des Todes! Ein Gruß aus der Schwarzwelt! Das Jenseits hatte ihr eine grauenvolle Nachricht übermittelt, und irgendwo lauerte der Kurier. Vielleicht wollte er sie gleich mitnehmen. In die grauenvollen Abgründe der Welt der absoluten Düsternis, aus der es keine Wiederkehr gab. Miriam schwankte zwischen Panik und wilder Auflehnung. Sie hatte geahnt, immer wieder, durch die Jahrhunderte, daß es einmal so kommen könnte. Daß die Kreaturen der Schwarzwelt darauf sinnen würden, sie eines Tages heimzusuchen und wegzuholen. Fort in das entsetzliche Reich der Verdammnis. Dazu war sie nicht bereit. Weder jetzt noch später. Sie wollte nicht. Hatte sie sich denn nicht klug aus den Machtkämpfen und dem Gezänk der Schwarzweltwesen herausgehalten? War sie nicht immer bemüht gewesen, auf dem schmalen Grat zwischen gut und böse zu bleiben? Vielleicht war es ein Fehler. Es hatte nicht an Versuchen gefehlt, sie für die eine oder andere Seite zu gewinnen, Aber sie war standhaft geblieben. So hatte sie es einst am Stein von Llanwellyn gelobt, als sie die Hexenweihe empfangen hatte. Nicht heiß noch kalt, nicht weiß noch schwarz, nicht gut noch böse!
Die damals mit ihr den feierlichen Schwur ablegten, waren längst aus ihrem Gesichtskreis verschwunden. Verschollen im Strom der Zeit. Miriam wußte, was das bedeutete. Sie hatten den Schwur gebrochen und waren verschlungen worden – von den Kerkern der christlichen Hexenjäger, vom Feuer der Scheiterhaufen, vom Wasser der Flüsse, worin sie die Hexenprobe hätten bestehen sollen. Und von den finsteren Mächten der Dämonenwelten. Es hatte keinen Unterschied gemacht, ob jene von damals Anhänger des weißen oder des schwarzen Zaubers geworden waren. Sie waren verschluckt worden. Mit Haut und Haaren. Der feierlich beschlossene Bund der Hexen von Llanwellyn hatte nicht einmal die Regierungszeit der angelsächsischen Könige überlebt. Er hatte schon zu existieren aufgehört, bevor die Normannen das Land eroberten und ihre eigenen Könige auf den Schild hoben. Neid und Mißgunst hatten ihn zerstört. Und der Griff nach der Macht. Denn viele Hexen hatten sich den Herrschern verdingt, hatten den Bann über Gegner gesprochen und getötet. Für Gold und anderen weltlichen Lohn. Die Nacht von Llanwellyn hatten sie vergessen. Die Macht des Steines hatte sie dafür ins Nichts gestoßen und dem selbstgewählten Schicksal überlassen. Miriam hatte nie jene Nacht Vergessen. Auch nicht den Schwur, der ihr auferlegte, keinem Herrn und keiner Herrin zu dienen, sich nie zu beugen, stets gerecht zu sein. Zu gewissen Zeiten war es ihr sehr schwer gefallen, diese Bedingungen zu erfüllen. Sie hatte Höhen erlebt und Tiefen und war durch manche Hölle gegangen, aber sie war standhaft geblieben.
Dafür hatte sie das lange Leben errungen. Es konnte ewig währen – wenn sie wollte. Ihre wilde Auflehnung siegte über Furcht und Panik. Sie starrte auf die Hexenblumen. Frieden zu halten, hatte sie einst gelobt. Und das Geheimnis des Steines zu bewahren. Wenn aber die Mächte der Schwarzwelt nach ihr griffen, so war es ihr gutes Recht, sich zur Wehr zu setzen. Wie ein Opfertier stillzuhalten, hatte sie nicht geschworen. Sie spannte alle Sinne an. Der unirdische strenge Gestank der Hexenblumen wirkte betäubend. Er ließ sie die düsteren Dimensionen der Schwarzwelt ahnen, aber er legte ihre alarmierten Sinne lahm. Der Kurier aus dem finsteren Jenseits war nahe, doch sie konnte die Richtung nicht bestimmen. War er in eine Nachbarwohnung eingedrungen, um sie in einem Moment der Unaufmerksamkeit leichter überrumpeln zu können? Hatte er sich Zugang zu ihrer Wohnung verschafft und lauerte dort hinter der Tür? Sie stand wie festgeschmiedet. Ihr Herz klopfte wie rasend, der Blutandrang zum Kopf ließ sie die Gegenstände doppelt und dann verschwommen sehen. Die Blumen! sagte ihre innere Stimme. Vernichte die Blumen! Das war ein guter Rat, aber wie sollte sie die Blumen vernichten? Wenn sie sie berührte, war es um sie geschehen. Sie spürte die Kraft der Zerstörung, die von ihnen ausging. Die tödliche Gefahr richtete sich nicht nur gegen sie, sondern gegen jedes Lebewesen, das die Hexenblumen anfaßte. Wenn ein Mitbewohner des Hauses vorbeikam und sie auf-
hob – nein, es dürfte nicht geschehen. Hinter einer Tür ertönte ein Röcheln. Miriam versuchte, den betäubenden Einfluß abzustreifen. Aber der Geruch wurde durchdringender und schien jeden Winkel des Treppenhauses auszufüllen. Sie wich zurück. Unten im Treppenhaus quäkte eine Kinderstimme. Sie wandte den Kopf, schaute in die Tiefe. Die glühenden Fußabdrücke auf den hölzernen Treppenstufen waren verschwunden. Ein Trick, um vorzutäuschen, das Unheimliche sei verschwunden, hätte sich zurückgezogen. Eine Falle! Und Miriam saß darin. Sie hatte sich nicht die Stellen gemerkt, an denen die glühenden Tritte gedroht hatten. Jeden Augenblick konnten sie wieder sichtbar werden. Dann verbrannten sie alles, was auf ihnen stand. Wie zäher Nebel umwallte es ihre Sinne und drohte sie völlig unwirksam zu machen oder gar abzutöten. In einer einzigen gewaltigen Anstrengung, in die sie ihre ganze Hexenkraft hineinlegte, streifte sie den Einfluß der bösen Mächte ab. Zitternd fand sie sich am Boden kauernd wieder. Die Gegenwehr hatte ihr alles abverlangt. Im ersten Moment konnte sie nicht einmal sagen, wie lange sie schon kauerte. Dann hörte sie die weinerliche Kinderstimme von unten. Also nicht lange. Aber das machte die entsetzliche Gefahr nicht geringer. Und wenn das Kind die Treppe heraufkam? Nur das nicht! schoß es Miriam durch den Kopf. Was kann das unschuldige Kind dafür?
Sie erhob sich, und dabei fiel ihr Einkaufskorb um. Geistesgegenwärtig stellte sie den Korb so vor die Blumen, daß der Strauß verborgen war – falls ein Hausbewohner vorbeikam und vielleicht meinte, er müsse sich nach den fremdartigen Blüten bücken. Miriams ganze Sorge war in diesem Augenblick, das Unheil von den Menschen fernzuhalten, die ihre Nachbarn waren. Sie durften nicht hineingezogen werden in diesen Raubzug der Finsternis. Der Korb war überhaupt die Lösung! Gedankenschnell kippte sie ihn, ergriff ihren abgetretenen Schuhabstreifer und fegte die Hexenblumen in den Henkelkorb. Der schlimme Geruch drohte sie erneut zu betäuben. Sie wehrte sich mit allen Kräften und murmelte einen Zauberspruch. In keltischer Sprache, wie sie noch in den abgelegenen Bergdörfern von Wales gesprochen wurde. Sie merkte, wie der böse Bann nachließ und an Kraft verlor. Das Kindergeplapper drang lauter an ihre Ohren. Dazu das Klatschen eines Balles, der gegen die Wand geworfen wurde. Sie hastete hinab. Sie hielt sich ganz außen an der Wand. Sofort flammten die glühenden Tritte wieder auf. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Es war doch eine Falle, sie hatte richtig vermutet. Wäre sie mitten auf den Stufen gegangen, wäre es schon um sie geschehen gewesen. Sie wußte nicht, was die Schwarzwelt für sie bereithielt. Sie hielt es für durchaus denkbar, daß der geringste Kontakt mit den glühenden Abdrücken sie verbrannte und ihre irdische Existenz beendete. Und daß der Kurier ihre Seele packte und mit sich fortriß in die schwarze Welt. Oder daß sie von der Glut des Bösen derart gezeichnet wur-
de, daß die Menschen sich von ihr abwandten und sie aus ihrer Gemeinschaft ausstießen. Oder daß sie gar auf der Stelle in ein Wesen der Schwarzwelt verwandelt wurde. Die Ballgeräusche signalisierten ihr, daß das Kind immer noch spielte. Am Geplapper erkannte sie Ginny. Die Kleine war sicher wieder ohne Aufsicht. Ginnys Mutter arbeitete in einem verrufenen Lokal am anderen Ende der Straße und brachte manchmal Männer mit, die für eine halbe Stunde blieben. Ginny wurde solange vor die Tür geschickt. Der Vater war Trinker und trieb sich lieber in Soho herum. Immerhin warf er in der Zeit nicht alles in der Wohnung durcheinander. Das passierte meist erst, wenn er nicht genügend eingeschüttet hatte und mit beginnendem Katzenjammer heimkam. Dann brüllte er und führte sich auf, und oft schlug er auch die Frau und die Kleine. Miriam schaute übers Treppengeländer, ängstlich bemüht, nicht den glühenden Abdrücken zu nahe zu kommen. Ginny verlor gerade den Ball, als er von der Wand zurücksprang und sie zu tolpatschig zufaßte.. Der Ball hüpfte auf den schmutzigen alten Fliesen und sprang auf die Treppe. Ginny setzte ihm nach. Miriam stockte der Atem! Sie wollte rufen, einen Schrei ausstoßen, doch die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Jetzt sah Ginny die glühenden Abdrücke von Fußsohlen eines zweibeinigen Wesens. Verwundert blieb sie stehen. Der Ball war jetzt ganz und gar unwichtig. Da war etwas Neues, und das interessierte sie sehr. Ihre kindliche Neugierde war geweckt. Der Ball hüpfte zweimal auf den Holzstufen und sprang
dann zurück in Richtung Haustür. Ginny verschwendete keinen Blick an ihn. Sie steckte einen Daumen in den Mund, und mit der anderen Hand fingerte sie nach dem untersten Fußabdruck. »Nicht – Ginny!« stieß Miriam mühsam hervor. Ihre Stimme krächzte wie die einer alten Hexe. Ginnys Hand zuckte zurück. Die Kleine hob den Kopf und blinzelte in das düstere Licht des Treppenhauses. »Tante Miam?« fragte sie unsicher. Miriam konnte sie noch nicht sagen. Sie bog sich auch andere Namen passend für ihre Kinderwelt zurecht. »Ginny – hol den Ball!« Miriams Stimme klang flehend. Aber dafür hatte die Kleine kein Ohr. Sie streckte den Arm aus und zeigte auf die rotglühenden Abdrücke. »Da – da!« sagte sie mit wichtigem Ernst. Miriam löste sich aus der schrecklichen Erstarrung. Nur jetzt keinen Fehler machen! Verhindern, daß die Kleine mit dem Feuer der Düsternis in Berührung kommt! dachte sie und bemühte sich, ihre Stimme ganz unbekümmert klingen zu lassen: »Das ist heiß, du verbrennst dich, das tut sehr weh. Hol den Ball.« Mit fliegenden Schritten hastete sie weiter die Treppe hinab. Es sah nicht so aus, als wollte Ginny gehorchen. Miriam kam gerade bis zum nächsten Treppenabsatz. Noch eine Treppe trennte sie von Ginny. Eine lächerliche Entfernung – und doch eine ganze Ewigkeit. Denn aus der bekritzelten Wand löste sich ein schauriges Wesen und versperrte ihr den Weg. Der Kurier aus dem Jenseits! Der Bote des Entsetzens! Er hatte sie doch überlistet. *
Wir hatten sichere Informationen, daß Peter Woods, der untote Inspektor von Scotland Yard, nicht in den Katakomben umgekommen war, wo Graf Dracula seine neue Gefolgschaft um sich geschart hatte und wo ich diese Horde des Schreckens ausgeräuchert hatte – mehr oder weniger. Ausgeräuchert traf auch nicht den Sachverhalt. Ausgeblitzt hatte ich die Bande. Mit zwei Tageslichtbomben, die mir die ›Klempnerabteilung‹ unseres Hauses zusammengebastelt hatte. Tageslicht ist für Vampire und sonstige Blutsauger tödlich. Aber bestimmt wirkungslos, falls jemand auf die verwerfliche Idee kommen sollte, sich selber so eine Bombe zusammenzuwerkeln und in das Finanzamt seines Wohnbezirkes zu werfen, wo ja auch Blutsauger sitzen sollen. Außer einem Mordsschrecken bei den Staatsdienern kommt bestimmt nichts dabei heraus. Und beim Werfer eventuell das Lustgefühl, daß er die als äußerst seßhaft verschrienen Leute bei der Behörde wenigstens einmal in Aufregung und hastiger Bewegung sieht. Unmittelbar bevor ich die beiden Bomben geworfen hatte, war mir Graf Dracula entwischt. Er hatte sich buchstäblich dünne gemacht. Und bei Woods hatte ich sogar erwartet, daß er die zwei Lichtblitze unbeschadet überstand. Denn er war am hellen Tag durch London kutschiert und hatte meine Freundin Kathleen Burke und ihre Verkäuferin Joan Masters entführt. Vorübergehend zumindest. Ich hatte die beiden Mädchen gerade noch aus den Katakomben befreien können, bevor Dracula und seine Gefolgschaft eine Blutorgie mit und an ihnen feierten. Woods jedenfalls konnte sich gefahrlos dem Tageslicht aus-
setzen. Daß ich mir das nicht bloß im Kopf zusammenreimte, bewiesen die Nachrichten. Im Stadtteil Belgravia, der eine ziemlich noble Gegend ist, war Woods zweimal gesehen und erkannt worden. Und zwar von Leuten, die bis vor wenigen Wochen noch seine Kollegen beim Yard gewesen waren. Ich konnte also ausschließen, daß es sich um die Spinnerei von nervösen Leuten handelte. Auf die Jungens vom Yard konnte man sich verlassen. Auch wenn sie mit den Zähnen geknirscht hatten, als ich ihnen dargelegt hatte, daß und warum Woods nun ein Untoter war und eine tödliche Gefahr für jeden Menschen darstellte. Aber immerhin war es in die Köpfe hineingegangen, und das war schließlich die Hauptsache. Woods war aber nicht nur untot. Er besaß darüber hinaus Vampireigenschaften. Und das war schlimm. Weil ich kein Mittel kannte, mit dem ihm beizukommen war. Drei Kugeln hatte ich ihm vermacht, als er mich in Bram Stokers ehemaligem Haus in der Hardwick Street Nr. 35 droben im Stadtteil Finsbury angegriffen hatte. Die Kugeln hatte er verdrückt wie andere Leute warme Brötchen. Die zwei Tageslichtbomben hatte er ebenfalls unbeschadet überstanden. Ich wußte nur, daß er vor Feuer Respekt hatte. Bei meinen Nahschüssen nämlich hatte sein Hemd zu glimmen begonnen, und das hatte ihn derart aufgeregt, daß mir die Zeit blieb, aus dem Haus zu türmen. Durch die verschlossene Haustür und durch eine vorgenagelte Bretterwand. Eine elegante Darbietung war es gewiß nicht gewesen. Aber ich war davongekommen, ohne daß Woods mir seine Zähne in
den Hals schlagen konnte oder sonstwie meine Gesundheit beeinträchtigt hatte. Falls ich ihm je wieder begegnete, würde er auf der Hut sein. Vor allem würde er mich nicht so dicht herankommen lassen, daß ich ihm in des Wortes wahrster Bedeutung einheizen konnte. Den Tip mit dem Feuer hatte ich an die Jungens vom Yard weitergegeben. Die Frage war nur, ob sie genug Geistesgegenwart bewiesen, ihn mit Feuer zu bombardieren. Es sah eigentlich nicht so aus. Denn zweimal hatten sie ihn in Belgravia gesichtet, und zweimal hatte es zu einem Feuerwerk nicht gereicht Was nur bewies, daß Woods nach wie vor eine Menge auf dem Kasten hatte. Wie schon zu der Zeit, als er noch ordentlicher Inspektor war. Auf der Fahrt nach Whitehall mußte ich unentwegt an den Burschen denken. Warum trieb sich Woods jetzt in Belgravia herum? Hatte er dort einen neuen Unterschlupf gefunden? Bereitete er dort einen neuen Schlag vor? Oder war es nur ein Ablenkungsmanöver? Ich hatte ihm und Dracula, seinem Meister und Fürsten aller Blutsauger, gehörig zu schaffen gemacht. Sie waren nicht gut auf mich zu sprechen. Ich konnte nicht ausschließen, daß sie etwas gegen mich einfädelten. Darum traute ich dem Braten auch nicht so recht. Vielleicht sollte ich meine ganzen Bemühungen auf Belgravia konzentrieren. Denn daß ich weiter hinter ihnen her war und daß ich speziell Woods das Handwerk legen wollte, konnten sie sich denken. Der Mann war mit seinem Inspektorenausweis vom Yard unterwegs, mit seiner Dienstwaffe – und er
verfügte inzwischen über schreckliche Eigenschaften. Und wenn ich Dracula stellen konnte, kniff ich auch nicht. Der Blutgraf war eine weit größere Gefahr. Er sammelte Gefolgsleute. Den Beweis hatte er in Finsbury geliefert. Sein erstes Heer war vernichtet – hoffentlich. Ich war überzeugt, daß er ein zweites aufstellte. Und daß ihm Woods fleißig zur Hand ging. Für Dracula hielt ich noch eine Tageslichtbombe bereit – die dritte, die zu werfen ich in Finsbury keine Gelegenheit mehr gehabt hatte. Ich hoffte, daß sie die Wirkung hatte, die ich mir versprach. Und daß er mir wirklich wieder über den Weg lief. Auch ihn wollte ich für alle Zeiten vernichtet wissen. In Whitehall angekommen, war die Unruhe immer noch nicht von mir gewichen. Deshalb rief ich Kathleen an. Sie war schon in ihrem Hauptgeschäft in Covent Garden und machte Umsatz. »Sag mal, bist du jetzt erst aus dem Bett gefallen?« erkundigte sie sich mißtrauisch. »Es geht auf den Mittag.« Das war übertrieben. Jetzt war es kurz nach neun Uhr. »Es geht immer auf den Mittag«, rechnete ich ihr vor. »Außerdem ist Morgenstund aller Laster Anfang. Wo wohnt Joan Masters?« Zunächst hörte ich nur ihr hartes Atmen. »Ich sehe den Sinn deiner Frage noch nicht, Mac, aber sie ist verlobt«, klärte sie mich dann auf. »Woran du immer gleich denkst! Woods ist aufgetaucht, und ich denke mit Schrecken daran, daß Dracula deine Verkäuferin unbedingt zu seiner Braut machen wollte. Vielleicht hat Woods wieder den Auftrag, sie einzufangen. Wie schon einmal.« »O Gott, das darf doch nicht wahr sein!« Kathleens Stimme
drückte Aufregung und Sorge aus. »Sie wohnt in Tottenham. Wir müssen ihr helfen.« »Selbstverständlich. Deshalb rufe ich ja an. Und sei du auch auf der Hut. Du bist schon einmal auf Woods hereingefallen. Er geistert in Belgravia herum. Vielleicht ist das eine Finte. Arbeitet Joan noch in deiner Filiale?« »Sicher, Mac. Sie ist eine hervorragende Kraft.« »Hol sie da weg, es wäre mir eine große Beruhigung. Nimm sie in dein Hauptgeschäft, und wenn es irgendwie geht, soll sie bei dir oder bei einer Freundin in der City schlafen und vorerst aus Tottenham wegbleiben. Und wenn euch irgend etwas nicht geheuer vorkommt, dann schlagt Alarm.« Das versprach sie, und ich war eine Winzigkeit erleichtert. Woods wurde die beiden Mädchen nicht noch einmal übertölpeln. Als ich den Hörer auflegte, sah ich einen Zettel. Er war halb unter den Apparat geschoben. Mit dem Zeigefinger fischte ich ihn hervor. Die Handschrift kannte ich. Steil, spitz und scharf – wie Barbara Hicks und ihr geschliffenes Mundwerk. Sie hatte mir den Zettel hingelegt. Der Chef wünschte mich zu sehen – Sir Horatio Merriman. Dringend. Das hatte Barbara zweimal unterstrichen. Der Chef mußte warten. Erst war noch ein Anruf bei Scotland Yard fällig. Ich mußte wissen, ob man Woods schon wieder gesehen hatte. Sir Horatio war nicht halb so gefährlich wie Woods. Außerdem wurde ich mit ihm besser fertig. Er hält nämlich große Stücke auf mich. Was ich von Woods nicht unbedingt behaupten wollte. Die Freunde vom Yard waren unheimlich nett, und Woods hatte sich weder gestern abend noch in der vergangenen Nacht gezeigt.
Ich atmete auf. Nicht, weil ich mich vor einem Treffen mit Woods gerne gedrückt hätte, sondern weil ich mich auch mal um meine andere Arbeit kümmern mußte. Schließlich arbeite ich beim Geheimdienst, und was da so anfällt, läßt sich nicht mit der linken Hand im Vorübergehen erledigen. Während der letzten Wochen hatte ich mich aber fast nur noch mit Geister- und Dämonenjagd abgegeben, sozusagen auf höheren Befehl, und auf meinem Schreibtisch hatte sich einiges angesammelt. Ich hatte den Grünen Tod gejagt. Mit einigem Erfolg, wie ich behaupten möchte. Ich hatte den ›Zirkel der Suchenden‹ gesprengt, den Meister unschädlich gemacht, der mit dem schwarzen Amulett einer italienischen Fürstin Tod und Entsetzen verbreitete, und einen Unschuldigen vor einer Anklage wegen Mordes vor dem Old Bailey bewahrt. Und ich war um ein Haar Lady Spencer zum Opfer gefallen, die nichts anderes als ein grausamer Dämon war und unter dem Keller ihres Hotels tote Seelen zuhauf sammelte. Wenn ich an den Berg von Leichen dachte, den ich da weggeräumt hatte, packte mich jetzt noch das Grauen. Dabei war das schon über eine Woche her. Ich knüllte Barbaras liebevolle Nachricht zusammen und tat sie in die große Ablage – in den Papierkorb. Dann genehmigte ich mir eine Zigarette und arbeitete die Akte ›Fettauge‹ Zubinassian durch, damit sie ans Justizministerium und ans Amt für Auswärtiges gehen konnte. Zubinassian war ein Doppelagent gewesen, er hatte für uns und für den KGB gearbeitet. Und er war dem Grünen Tod zum Opfer gefallen. Seine Überreste und die einiger anderer armer Teufel hatten wir im Schmelzofen einer Glashütte verbrennen lassen. Um sicherzugehen, daß die grünen Skelette nicht wieder zu verder-
benbringendem gespenstischem Leben erwachten. Den Bericht über diese Vorgänge hatte ich mit Sir Horatio abgesprochen. Barbara Hicks und die zweite Sekretärin vom Chef, Sheila Green, hatten ihn getippt. Barbara hatte mich dabei angesehen, als hätte ich eigenhändig den Grünen Tod erfunden und in die Welt gesetzt. Dabei war ich völlig unschuldig. Er war ein Urdämon. So jedenfalls hatte sich Miriam ausgedrückt, die Hexe aus Soho, die ich um einen guten Rat angegangen hatte. Entsprechend vorsichtig hatten wir den Bericht formuliert. Wir konnten dem Justizminister und dem Außenminister ja nicht offiziell mit einem Dämon kommen. Die hätten sich sehr gewundert. Vielleicht hätten sie uns sogar nach Blondsdale geschickt, wo es eine Anstalt für Leute mit akuten Nervenleiden gibt und solche, die allgemein nicht auf geistiger Höhe waren. Als ausbruchsicher wird Blondsdale obendrein gerühmt. Ich verspürte wenig Neigung, dies nachzuprüfen. Der Abschlußbericht war astrein und unverdächtig. Ich zeichnete ihn ab und klemmte ihn unter den Arm. Als ich ins Vorzimmer meines Chefs trat, sah mich Barbara Hicks an, als hätte ich mich am Kronschatz vergriffen und würde die Beute noch in den Taschen herumtragen. Dann zelebrierte sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Friede sei mit Ihnen!« sagte ich grinsend. »Ihr Fernschreiben hat mich soeben erreicht.« Barbara guckte verkniffen. In der entgegengesetzten Ecke des Raumes hielt sich die schwarzhaarige Sheila geistesgegenwärtig die Hand vor den Mund. Über Fernschreiben wurden derzeit in Whitehall eine Menge grimmige Witze gemacht. Exakt seit dem Tag, als die Amerikaner die Insel Grenada überfallen hatten.
Grenada gehörte nämlich zum Commonwealth, trotz seiner strammen Linksorientierung, so absurd es auch klingt. Und Staatsoberhaupt von Grenada ist unsere Queen. Als die Amerikaner mit ihren Kriegsschiffen vor der Insel auftauchten, setzte der Gouverneur ein Fernschreiben ans Außenministerium ab und schlug Alarm. Bloß hatte das Außenministerium hier in London längst eine andere Telexnummer. Entweder hatte der Gouverneur diese verlegt, oder sie war ihm nie mitgeteilt worden, was wahrscheinlicher war. Jedenfalls landete seine Alarmnachricht bei einer Plastikfabrik hier in der Stadt. Diese verständigte zwar sofort das Außenministerium, aber das reagierte erst nach vier Tagen. Seitdem wurde kräftig gespottet, und für jede Panne mußte ein fehlgeleitetes Fernschreiben herhalten. Der Karikaturist vom ›Sunday Express‹ hatte dem Außenminister gar empfohlen, den Commonwealth-Staaten wieder die bewährten Brieftauben zur Verfügung zu stellen. Die seien selbst aus den entlegensten Winkeln der Erde schneller in London als eine Telexbotschaft. Der Minister war verschnupft, wie man so hörte. Und Barbara Hicks war es auch. Weil zu ihren Aufgaben gehört, den Terminkalender vom Chef in Ordnung zu halten. Wie ein Zerberus wachte sie darüber, daß die bestellten Leute auch pünktlich zur Stelle waren. Ich wedelte ihr freundlich mit der Zubinassian-Akte zu und marschierte zu Sir Horatio hinein. Ihre vernichtenden Blicke brannten in meinem Rücken und zogen mir die Haut zwischen den Schulterblättern zusammen. »Morgen, Sir Horatio! Hier habe ich den jugendfreien und druckreifen Abschlußbericht«, sagte ich forsch, bevor er eventuell auf die Idee kam, mir einen Vortrag über Pünktlichkeit zu
halten. »So?« machte er und warf einen Blick auf die Akte, die ich ihm auf den Tisch schob. »Ja, sehr schön.« Er war nicht bei der Sache, ich spürte es mit allen Fasern. Er strich über seinen grauen Schnurrbart. Der war gepflegt, da gab es nichts zu streichen. Die Sache gefiel mir immer weniger. Wenn der Chef zum Schnurrbart griff, war das ein sicheres Zeichen dafür, daß ihm ein größeres Problem auf Seele und Magen drückte und daß er mich ausersehen hatte, ihn von diesen Beschwerden zu befreien. Jetzt rückte er auch noch die Brille zurecht. Und dann fixierte er mich. »Die Hardwick Street macht von sich reden, Mac«, sagte er in einem unüberhörbar gereizten Ton. Ich zuckte zusammen. Auf meine Eingebungen war doch Verlaß! An die Hardwick Street hatte ich keine gute Erinnerung. Sir Horatio übrigens auch nicht. Dort hatte ihn ein Ghoul attackiert, und schließlich hatte ihn auch noch Joan Masters für ein Monster gehalten. »Inwiefern, Sir? Unser Freund Dracula wird sich doch nicht wieder häuslich eingerichtet haben?« »Erwähnen Sie diesen Namen nicht mehr, Mac, ich habe noch die Nase voll!« Seine Stimme klang noch viel gereizter. »Gestern haben in der Hardwick Street Baggerarbeiten begonnen.« Bedeutungsvoll hob er die Brauen. »Das freut mich, Sir, die Gegend hat eine Sanierung dringend nötig.« Er schaute mich an, als wollte er mich auffressen. »Es ist fraglich, ob die Gegend je saniert wird. Am Spätnachmittag tat sich dort plötzlich die Erde auf, der Bagger stürzte in das Loch. Als man ihn mit viel Mühe herauszog, fanden die Arbei-
ter seltsame versteinerte Wesen. Möchten Sie mir dazu etwas sagen?« »Besser nicht, Sir. Mir schwant etwas.« »Mir auch, mir auch!« witterte er. »Das waren Ihre Lichtbomben! Diese grauenvollen Kreaturen wurden nicht Vernichtet, wie Sie gesagt haben, sie sind nur versteinert. Zum Teil hängen sie im Gestein fest…« »Ich habe gehofft, sie wären vernichtet«, korrigierte ich ihn. »Sind bei dem Zwischenfall Menschen zu Schaden gekommen?« »Zum Glück nicht, aber es hat auch so genügend Aufregung gegeben. Die Polizei hat die Baustelle abgesperrt, die Arbeiten sind bis auf weiteres eingestellt. Mac, die Dinger müssen weg! Ich habe gestern den ganzen Abend versucht, Sie zu erreichen.« Das klang ganz schön vorwurfsvoll. »Auch ein Geisterjäger hat ein Anrecht auf Privatleben, Sir. Lieber Himmel, wie stellen Sie sich vor, die versteinerten Wesen verschwinden zu lassen?« »Lassen Sie sich etwas einfallen! Fragen Sie doch diese – diese Frau aus Soho, vielleicht weiß sie ein Rezept. Und schauen Sie sich vor allem den schaurigen Ort an. Wenn ich alles richtig verstanden habe, sehen die Gestalten aus, als könnten sie jederzeit zum Leben erwachen.« Er meinte Miriam Seilers, die Hexe. Und gut reden hatte er auch. Zum Teufel, ich hatte die ganze Zeit ein dummes Gefühl gehabt. Jetzt wußte ich, warum. Gegen Dracula hatte ich nur einen Scheinsieg errungen, wie es aussah. Ich malte mir lieber nicht aus, was passierte, wenn die Schreckgestalten, die ich durch die beiden Lichtblitze vernichtet glaubte, zu gespenstischem Leben erwachten.
Solange sie versteinert blieben, bestand ja kein Anlaß zur Sorge. Aber ich wußte nicht, ob ihr jetziger Zustand ein endgültiger war oder ob Draculas satanische Kräfte ausreichten, sie mit neuem Leben zu erfüllen. Bei Woods klappte es jedenfalls. Ich war überzeugt, daß der untote Inspektor für den Fürsten der Blutsauger unterwegs war. Die brüteten etwas aus. Ich rückte die Krawatte zurecht. »Ich bin schon unterwegs, Sir. Würden Sie bitte in Erfahrung bringen, wo sich der nächstgelegene Steinbruch befindet?« »Was wollen Sie denn damit?« »Notfalls lassen wir die versteinerten Kreaturen durch einen Steinbrecher und durch ein Mahlwerk sausen und als mehlfeines Pulver aus großer Höhe über dem Meer abstreuen.« »Ideen haben Sie!« Er blickte düster. »Die muß man in Ihrem Haus schon haben.« Diese Antwort konnte ich mir nicht verkneif en. Statt sich aufzuregen, fühlte sich Sir Horatio geschmeichelt. Ich übertrieb nämlich nicht. Sobald er mir einen zwielichtigen Auftrag aufhalste, mußte ich mir pausenlos Tricks und absonderliche Maßnahmen einfallen lassen, die in keinem Agentenhandbuch aufgeführt waren. »Jedenfalls kümmern Sie sich um die steingewordenen Schreckgestalten und um sonst überhaupt nichts. Und lassen Sie sich keines dieser Wesen abschwatzen. Die Sache hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet, zwei Museen sind am Erwerb der Steinwesen interessiert.« »Ich bin entzückt«, versicherte ich. Aber meine Stimme klang alles andere als das. »Lügen Sie nicht, ich bin ein christlicher Mensch!« ermahnte mich Sir Horatio. »Sir, wir sollten vielleicht beide nicht schwindeln«, schlug ich
ihm vor, denn wenn er etwas nicht wahr, dann christlich. Das wußte ich genau. Er hüstelte und schaute in Richtung Tür. Ich verstand. Die Audienz war beendet. Aber ich konnte nicht behaupten, daß ich darüber froh war. Sir Horatio hatte mir eine riesige Verantwortung aufgebürdet. Mein Einfall mit den Lichtbomben war doch nicht so genial gewesen, scheint's. Ich verkrümelte mich ins Vorzimmer. Es roch anheimelnd nach Tee. Ich hoffte, daß eine Tasse davon für mich übrig war. Barbara Hicks legte gerade den Telefonhörer auf und schaute mich verblüfft an. Dabei hatte ich noch kein Wort gesagt. »Das verstehe ich nicht«, meinte sie murmelnd und mehr zu sich, und zu mir sagte sie: »Haben Sie Ihren Wagen in der Werkstatt, oder reisen Sie neuerdings mit Chauffeur?« »Falls Sie damit Ihrer zarten Freude Ausdruck verleihen, ich sei irgendwo gegen einen Baum gefahren, muß ich Sie enttäuschen. Mein Wägelchen schnurrt zuverlässig wie Omas Nähmaschine. Ich bin damit hergefahren. Und einen Chauffeur kann ich mir bei den Bezügen nicht leisten. Warum?« Sie musterte mich wie einen Tunichtgut, der ihrer Sittlichkeit zu nahe gekommen ist. »Weil eben Ihr Wagen vorgefahren ist. Darum.« Ich hatte keinen bestellt. Aber ich verspürte ein ungutes Gefühl. Oder hatte Sir Horatio veranlaßt, daß ich mit einem Wagen vom Service rauf zur Hardwick Street in Finsbury fuhr? Er hatte kein Sterbenswörtchen davon gesagt. Das hätte er aber, denn er kannte meine Abneigung gegen die Uraltlimousinen, die uns zur Verfügung standen. Man saß darin so sicher wie in einem Panzerschrank und genauso unbequem. »Wer hat denn angerufen?« fragte ich Barbara.
»Die Torwache. Man hat den Wagen passieren lassen.« Kathleen hatte mich schon zwei- oder dreimal abgeholt, aber sie war nie durchs Tor gekommen. Sie hatte draußen warten müssen. Einen Moment lang dachte ich, sie wäre drunten. Weil etwas mit Joan Masters war. Aber ich hatte vorhin erst mit ihr telefoniert. In der kurzen Zeit konnte sie niemals hiersein. Das war ausgeschlossen. Mit einem Griff hatte ich Barbaras Telefon in der Hand und rief den Sicherheitsposten am Tor an. »Kinsey hier. Ihr habt gerade einen Wagen hereingelassen. Angeblich für mich. Wer fährt ihn?« »Ein Mann vom Yard. Er hat sich legitimiert. Sagte, er müsse Sie holen, Kinsey. Ist was nicht in Ordnung?« Mein Magen schlug Falten, mein Blutdruck schnellte hoch. »Wie heißt er?« Erst hörte ich nur ein hartes Schnaufen. Dann sagte der Posten etwas kleinlaut: »Weiß ich nicht. Er zeigte den Ausweis, und der war echt. Da war die Sache für mich in Ordnung.« Woods! Ich war ziemlich sicher, daß der untote Inspektor diesen Streich eingefädelt hatte. Es gehörte schon eine ziemliche Portion Frechheit dazu, bis in unser Hauptquartier vorzudringen. Oder er müßte sich sehr sicher fühlen. Wollte Woods mit mir verhandeln? Im Auftrag von Dracula? Oder war das eine neue Gemeinheit der finsteren Mächte, denen er angehörte? Ahnte man, daß ich wegen der freigelegten versteinerten Kreaturen etwas unternehmen würde? Möglich, daß Woods das zu verhindern suchte. Bei ihm war ich auf, alles gefaßt. »Falls der Mann es sich anders überlegt und fortfährt, halten Sie ihn nicht auf, verstanden?« schärfte ich dem Posten ein.
»Unternehmen Sie nichts, das er als Angriff oder Bedrohung auslegen könnte.« »Ja, aber…« Ich legte auf und schnitt dem Posten das Wort ab. Hoffentlich war er klug und richtete sich nach meinen Anweisungen. Sheila Green hatte die Teekanne in der Hand, bereit, mir ein Täßchen einzugießen. Sie schaute entsetzt. Sie und Barbara hatten etliche meiner Geisterjagdberichte getippt und waren keine ahnungslosen Mädchen mehr. Sogar Barbara war sprachlos, und das wollte bei ihr eine Menge heißen. »Woods möglicherweise«, sagte ich ergrimmt. »Bewahren Sie die Ruhe und vor allem Stillschweigen, ich kümmere mich um ihn. Sheila, halten Sie mir den Tee warm.« Ich versuchte ein Lächeln, aber ich wollte schwören, daß eine ziemlich verunglückte Grimasse daraus wurde. Lebensmüde war ich nicht. Ich sprintete aus dem Vorzimmer und sauste mit dem Aufzug zu unseren Technikern hinab. Statt lange Erklärungen abzugeben, griff ich mir eine Butangasdose mit aufgeschraubtem Lötbrenner aus einem Regal und prüfte durch Schütteln, ob auch noch Inhalt vorhanden war. Das war der Fall. Genügend jedenfalls, um Woods gehörig das Fell zu verbrennen. Nur mit Feuer war er zu beeindrucken. Das wußte ich sicher. Auf Experimente konnte ich mich jetzt nicht einlassen. Zwar hatte ich schon gehört, daß man mit geweihten Silberkugeln ganz achtbare Erfolge gegen böse Geister und Dämonen erzielen konnte, aber wenn ich Miriams zaghafte Hinweise interpretierte, konnte man damit nur solchen Wesen etwas anhaben, die ihre Existenz seit Einführung des Christentums er-
langt hatten. Für die waren geweihte Silberkugeln wirksam. Möglicherweise. Ich blieb in diesem Punkt skeptisch. Denn erstens konnte man, wenn man einem Dämon gegenüberstand, nicht erst lange Ermittlungen über seinen Ursprung und sein Alter anstellen. Zweitens waren Dämonen und Kreaturen der Finsternis sehr wandlungs- und anpassungsfähig, das konnte ich mit geschlossenen Augen beschwören. Drittens war ihnen die Gefahr, die von geweihten silbernen Kugeln drohte, ohne Frage bekannt, und sie konnten sich dagegen wappnen. Denn in ihrem Bemühen, ihre Herrschaft auf die Welt der Lebenden auszudehnen und uns zu unterjochen oder auszurotten, waren sie uns an Hinterlist und schlauer Heimtücke haushoch überlegen. Und viertens mißtraute ich silbernen Kugeln einfach aus dem Grunde, weil jeder, der etwas Kleingeld übrig hatte und eine Taschenkanone besaß, sich silberne Kugeln gießen lassen konnte oder sie selber anfertigte und mit etwas Geschicklichkeit gegen fabrikmäßige Projektile auf den Patronen austauschte. Und jemand, der die Silberkugeln weihte, ließ sich auch finden. Mit anderen Worten hätten, falls es so einfach war, die Geschöpfe der Finsternis weltweit eine erdrückende Streitmacht gegen sich stehen. Für derart naiv hielt ich sie nicht. Und nicht für so leicht verwundbar. Ich will gar nicht abstreiten, daß mit Silberkugeln schon achtbare Erfolge gegen die finsteren Wesen errungen wurden und daß das auch in Zukunft möglich war. Aber das konnten logischerweise nur Einzelsiege sein. Und Zufallstreffer. Dann nämlich, wenn so ein grausiges Geschöpf unvorsichtig
war und seinen menschlichen Gegner für einen ausgemachten Idioten hielt. Oder wenn es sich um ein Geschöpf handelte, dessen Fähigkeiten nicht besonders ausgeprägt oder mangelhaft waren. Auch das gab es, glücklicherweise. Und davon hatte ich schon profitiert, das will ich nicht verschweigen. Aber ebensooft waren mir dämonische Geschöpfe auch entwischt, bevor ich sie vernichten konnte. Und ihnen in ihr Reich der Düsternis zu folgen, war mir nicht möglich. Ich verspürte dazu auch keine Neigung. Für Woods reichte hoffentlich die Gasdose aus. Ich klemmte sie mir unter den Arm und überzeugte mich, daß ich auch mein Feuerzeug in der Tasche hatte. Die schönste Gassprühdose nützte mir nichts, wenn ich keine Flamme erzeugen konnte. »Darf’s sonst noch etwas sein?« fragte mich bissig einer unserer Techniker und schielte auf die Gasdose. »Bedienen Sie sich nur, wir haben hier ja neuerdings einen Supermarkt. Jeder kommt reingelatscht und nimmt sich was aus dem Regal!« »Ja, ist mir auch schon aufgefallen«, sagte ich und lächelte ihn an, »Ihr Selbstbedienungsladen ist bestens sortiert.« Ich empfing die Ströme seiner unfreundlichen Gedanken. Er wünschte mir die Hälfte der ägyptischen Plagen an den Hals. Ich war schon auf dem Weg nach oben und konnte es ihm nicht verdenken. Mit ausgefallenen Sonderwünschen hatte ich die Jungs schon ganz schön genervt. Jene Bomben hatten sie für mich herstellen müssen, die bei der Detonation die Komponenten des Tageslichtes freisetzten. Aus den geheiligten Labors hatte ich vor geraumer Zeit außerdem eine Gießereiwerkstatt gemacht, als ich aus einem alten Henkersbeil einen König-Salomon-Spiegel zusammenge-
schmolzen hatte. Sie hatten wirklich keine Ursache, mir freundlich gesinnt zu sein. Auf ihre empfindsamen Erfinderseelen konnte ich allerdings keine Rücksicht nehmen. Zuviel stand auf dem Spiel. Ich flitzte zum Ausgang, als wollte das Gebäude hinter mir zusammenkrachen. Mir zog es die Haut zusammen, als ich sah, was für ein Wagen für mich vorgefahren war. Ein düsterer schwarzer Leichenwagen! Und als makabre Drohung hatte man einen Sarg ausgeladen und vor den Eingang gestellt. Der Deckel war einladend geöffnet. Ich bekam weiche Knie, pirschte mich aber dennoch näher. Mit fliegenden Fingern fischte ich das Feuerzeug aus der Tasche und hielt es bereit. Wenn Woods glaubte, mich auf diese Weise übertölpeln zu können, hatte er sich geschnitten. Ich wollte ihm schon den Anzug zusammenlöten, daß ihm die Zähne klapperten. Als ich in den Sarg sehen konnte, schoß eine gräßliche Gestalt daraus in die Höhe und stürzte sich auf mich. Und vom Tor her hörte ich ein satanisches Gelächter. * Miriam prallte zurück. Das Wesen war eine Ausgeburt der Scheußlichkeit. Zwar hatte es eine menschenähnliche Gestalt angenommen, aber die Hexe hatte nie eine grauenhaftere Gestalt gesehen. Die Kreatur ging auf nackten Füßen. Fingerlange Krallen wuchsen aus den Zehen. Stinkende Lumpen schlotterten um
etwas, das Gebein und Fleisch sein sollte. Auf einem gedrungenen Oberkörper mit einer Faßbrust klebte halslos ein kopfähnliches Gebilde mit abstehenden spitzen Ohren. Eine Wucherung, groß und dick wie eine Rübe, sollte die Nase darstellen. Darüber blitzten zwei eng beisammenstehende Augen. Miriam konnte den höhnischen Triumph darin erkennen. Die Fetzen, die nackten Füße, die Rübennase, alles war grau. Sogar die Augen. Die Hexe erschauerte und dachte an einen Gehenkten, wie sie früher landauf, landab an den Galgen geschaukelt hatten, bis sie irgendwann herabfielen. Wie so einer sah das Wesen aus. Unter der Rübennase zog sich eine Kerbe waagerecht durch das abstoßende Gesicht – wie mit einem Messer hineingeschnitten. Die Kerbe zuckte und klaffte weit auf. Ein rundes schwarzes Loch tat sich auf der Mund. Das Wesen hatte keine Zahne, sondern scharfe Knochenleisten. Zwischen denen schob sich eine dicke schwarze Zunge heraus. Pestilenzartiger Gestank wehte Miriam an. Und Hitze. Höllenhitze. Das Wesen verströmte sie in einem solchen Maße, daß es die Hexe verwunderte, weshalb die schlotternden Lumpen nicht schon in Flammen aufgegangen waren. Wo das dämonische Wesen aus der Wand getreten war, glühte eine Fläche in den Umrissen der Gestalt wie die Krallenfußabdrücke auf den Treppenstufen. Miriam machte eine abwehrende Geste. Das Wesen gab Geräusche wie Donnergrollen von sich. Der
Lärm dröhnte durch das Haus. Verschreckt nahm Ginny unten am Fuß der Treppe den Daumen aus dem Mund und begann zu weinen. »Lauf weg, Kleines!« rief Miriam verzweifelt. »Lauf doch! Hol den Ball! Spiel auf der Straße!« Ginny reagierte überhaupt nicht. Das Dämonengesicht verzog sich, die schwarze Zunge wurde wieder sichtbar. Mit einer schweren holpernden Stimme sagte das Wesen: »Du magst diesen kleinen Menschen, ich spüre es. Du hast dich überhaupt mit den Menschen angefreundet, Hexe. Das macht es uns leichter.« Wieder klang ein unheimliches Grollen aus der Gestalt. Miriam hatte Angst wie nie zuvor in ihrem langen Leben. Sie verlor fast den Verstand. Haltsuchend klammerte sie sich an das abgegriffene Treppengeländer. »Was willst du? Wer bist du?« Ihre Stimme war wie ein Hauch und ohne Kraft. »Likkat werde ich genannt«, grollte das Wesen. »Likkat, der Schreckliche. Der Kurier der Schwarzen Welt. Ich bin ausgesandt, dich zu holen!« »Nein, nein!« Vor Miriams Augen begann sich alles zu drehen. Sie wußte, daß sie an der Schwelle zur Ohnmacht stand. Nur das nicht, hämmerte es in ihrem Kopf! Ich muß es durchstehen, ich muß mich wehren! Die Schwarzwelt hat kein Anrecht auf mich! Niemals! »Doch, ich bin zur Stelle, und ich habe noch nie einen erfolglosen Gang in diese Welt gemacht. Ich werde dich mitnehmen, jemand wird deinen Platz einnehmen. In deiner Gestalt. Aber es wird ein Geschöpf unserer Schwarzwelt sein.« Die Schreckensgestalt tappte vorwärts und streckte die Hände nach der Hexe aus.
Pelzige graue Pranken waren es. Mit langen krummen Krallen. Zu einem Bären hätten sie besser gepaßt. Dieser plumpe Angriff und die Drohung, einem Wesen der Schwarzwelt ihre Gestalt zu verleihen und an ihre Stelle zu setzen, schleuderten Miriam in die Wirklichkeit zurück. Sie verdrängte die Furcht. Sie verbannte die drohenden Nebel der Ohnmacht. Kämpfen mußte sie. Gegen die Finsternis. Wehren mußte sie sich. Sonst versank sie auf ewige Zeiten in den Abgründen der Schwarzwelt. »Geh zum Teufel!« schleuderte sie Likkat entgegen. »Krötengift – es brenne dich! Schlangenblut – es fresse dich!« Mit den Händen machte sie beschwörende Gesten dazu. Und dann spuckte sie Likkat mitten in das Rübengesicht. Der Kurier der Schwarzwelt zuckte zurück, als sei ein Eisblock seinem heißen Körper zu nahe gekommen. Seine Rübennase quoll auf und glühte in einem unwirklichen Feuer. Seine grauen Augen sprühten Blitze. Ginny konnte nur die Hälfte von dem sehen, was geschah, aber sie vergaß vor kindlicher Verwunderung zu weinen. Dafür wurde oben im Haus eine Tür aufgerissen, eine rauhe Männerstimme wetterte wegen des Krachs. Miriam spuckte noch einmal die Schreckgestalt an. Die Hände des Schwarzweltkuriers rieben wie Irrwische auf den Augen. Die Hexe hatte gut gezielt. Dann wandte Miriam blitzschnell den Kopf. Mr. Hollings war bereits verstummt. Vom Entsetzen geschüttelt, starrte er ins Treppenhaus herab und hielt sich krampfhaft am Flurgeländer fest. »Gehen Sie hinein – schnell!« rief sie ihm zu. Hollings wankte und prallte gegen das morsche Geländer.
Einen entsetzlichen Augenblick lang befürchtete die Hexe, der Mann könnte ohnmächtig werden oder das Geländer zerbrechen und herabstürzen. Aber Hollings war besser beisammen, als es aussah. »Was – was ist das?« fragte er krächzend und mit einer gänzlich fremden Stimme. »Ein Dämon. Ein Bote aus dem Jenseits!« stieß Miriam hervor. Hollings kniff fest die Augen zu, schüttelte den Kopf, daß seine unordentlichen Haare noch mehr flogen, und brummte: »Dämon – Jenseits – Mann, muß ich aber noch besoffen sein!« Er riß die Augen weit auf. Der Kurier aus der Schwarzwelt war zwei Schritte zurückgetaumelt. Mit dem Rücken berührte er die glühende Wand. Die Lumpen gerieten nicht in Brand. Miriam sah, daß er mit dem Rücken sogar in die Wand eintauchte. Sie hoffte, wünschte, daß er sich zurückzog. Aber ihre magischen Hexenkräfte schienen nicht ausgereicht zu haben, ihn in die Flucht zu schlagen. Sie peinigten ihn nur. Und sie stachelten seine Wut an. Wieder ließ er ein Grollen ertönen. Und dann stieß er ein so gewaltiges Brüllen aus, daß Ginny fast hinfiel und Mr. Hollings mit einem einzigen gewaltigen Sprung oben in seiner Wohnung untertauchte. Likkat deckte einen pelzigen Unterarm über das monsterhafte Gesicht, schwankte vorwärts und griff suchend in der Luft herum. Miriam konnte ihm knapp ausweichen. Likkat erwischte das Holzgeländer und schloß die Krallenfinger darum. Der armdicke Handlauf zerknickte wie Stroh und löste sich zerbröselnd zwischen den Fingern auf.
Der Kurier merkte, daß er nicht sein ausersehendes Opfer gefaßt hatte, sondern unbelebte Materie. Er brüllte grauenhaft auf und wirbelte herum. Durch diese blitzschnelle Bewegung schnitt er Miriam den Weg ab, die eben die letzte Treppe hinabhasten wollte. Sie prallte gegen ihn. Genauso schnell sprang sie zurück. Likkat nahm den anderen Arm herunter und machte eine Zangenbewegung, um die Hexe zu umfassen. Aber die war schon aus seiner Reichweite. Durch die Hexenkraft hatte sich das, was Miriam ihm ins Gesicht gespuckt hatte, in etwas Beißendes, Ätzendes verwandelt. Seine Dämonenfratze kämpfte immer noch damit. Sie sonderte es ab und ließ es abtropfen. Die Rübennase glühte nur noch schwach und bildete sich auf ihr normales Maß zurück. Ich muß es noch einmal versuchen, schoß es der Hexe durch den Sinn. Es muß länger wirken! Ich brauche Zeit, um in die Wohnung zu gelangen! Ich muß ihn hinhalten! Als könnte Likkat ihre Gedanken empfangen, wirbelte er herum und kehrte ihr den Rücken zu. Ein Frohlocken erfüllte sie. Sein Gesicht war empfindlich, vielleicht sogar verwundbar. Er getraute sich nicht, es ihr länger zugewandt zu lassen. Ihre heftige Freude schlug in blankes Entsetzen um, als sie fast zu spät seine wahre Absicht erkannte. Er tappte die Treppe hinab und hinterließ neue glühende Abdrücke. Dazu lachte er grollend und schaurig. Und am Fuß der Treppe stand Ginny. Jetzt erst begriff Miriam. Der Bote der Schwarzwelt wollte sich der Kleinen bemächtigen und ein Druckmittel in die Hand bekommen. Im Haus wurden Stimmen laut. Das grollende Dröhnen und
das schaurige Gebrüll hatte die Bewohner aufgeschreckt, die auf Lärm sonst eher gleichgültiger reagierten. Dieser Krach war ihnen aber zuviel. Türen wurden aufgerissen. Dann trat lähmende Stille ein. Und dann gellten Entsetzensschreie auf. Selbst auf der Straße waren sie trotz des Betriebes draußen zu hören. Ein Mann stieß die Haustür auf und stieß gegen Ginnys Ball. Und im selben Augenblick ging die Tür zu der Wohnung auf, wo Ginny daheim war. Die Mutter der Kleinen stand mit weniger als einem Nichts am Leib im Rahmen. Hinter ihr zeigte sich ein verstörtes Männergesicht. Es war nicht das von Ginnys Vater. Die Frau stieß einen ordinären Fluch aus. Dann erst sah sie das Wesen aus einer anderen Welt. Ihre wüsten Worte endeten wie abgeschnitten. Sie wurde leichenblaß und taumelte zurück. Nur der Mann bei der Haustür erfaßte die Situation nicht. Er kam aus der Helligkeit. Im Flur war es eher düster. Seine Augen gewöhnten sich nicht so schnell an die Umstellung. Er sah nur die kleine Ginny und hörte sie aufschreien. Und dann nahm er eine Gestalt auf der Treppe wahr. Zu undeutlich, um sich dabei etwas zu denken. »Was geht denn hier vor?« fragte er scharf. »He, Kleine, nun hab dich mal nicht so – sei still!« Er kniff die Augen enger und kam näher. Dann blieb er stehen. Jetzt sah er etwas, das ihm nicht gefiel. Ginny schwieg nicht, sie schrie erbärmlich. Vielleicht reizte das den Mann. Jedenfalls machte er eine ärgerliche Handbewegung, schaute aber nur die grauenhafte Gestalt an.
»Sind Sie verrückt geworden, kleine Kinder zu Tode zu erschrecken?« knurrte er. »Nehmen Sie die alberne Maske ab, sonst lernen Sie mich kennen!« Ein grausiges Gelächter quoll aus Likkat schwarzem Mund. Er tappte die Stufen hinab. Nichts hielt ihn auf. »Mister – um Gottes willen, fliehen Sie!« rief Miriam. »Er hat keine Maske – er ist das Böse! Ein Dämon!« »Dämon? Ha, wohl alle verrückt geworden, was?« Der Mann schob Ginny beiseite. »Ich werde Ihnen zeigen, Lady, was er ist! – Dämon, so ein Schwachsinn!« »Nicht, Mister!« Miriam rief es beschwörend. »Er hat Hexenblumen vor meine Tür gestellt! Wer sie berührt, ist des Todes! Er ist aus der Wand hier getreten! Und sehen Sie doch die Stufen! Sie glühen und verbrennen doch nicht. Fort mit Ihnen – schnell!« Dem Mann kam nun doch einiges seltsam vor. Er blieb stehen. Mißtrauisch legte er den Kopf schief. »Hier wohnen nicht zufällig lauter Verrückte, he? Was ist mit den Stufen? Ich sehe nichts.« »Die Glut!« rief Miriam. Sie spürte, daß der Mann etwas plante. Seine Gedanken formten sich. »Sie meinen das komische Licht da? – He, was –?« Seine Worte endeten. Likkat hatte sich ohne erkennbare Vorbereitung abgeschnellt. Wie eine riesige magere Kröte segelte er auf den Mahn zu. Seine vorschnellenden Krallenhände zerfetzten den Mann in einem Augenblick. Hilferufe und schrille Entsetzensschreie ließen das Haus erzittern. Der Kurier des Bösen hatte gemordet. Er drehte sich um, übersät mit Blutspritzern. Gierig leckte seine schwarze Zunge
die dünnen grauen Lippen. Seine Hände hoben sich. Ginny wich vor ihm zurück. »Halt!« rief Miriam. »Nicht das Kind – nur das nicht.« Likkat lachte höhnisch. »Dein gutes Herz, was? Das stört uns schon lange. Du hilfst diesen sterblichen Seelen und weißt es nicht. Schon immer hast du das getan. Und du gibst Ratschläge. Ein Feind ist uns erstanden. Durch deine Schuld. Er kämpft gegen uns, er stellt uns nach, er droht uns mit Vernichtung. Du hast ihm geholfen. Hexe – dein Leben oder das dieses Kleinen Menschen! Wie willst du es haben?« Miriams Gedanken drehten sich wie rasend. Sie hatte geholfen? Sie wußte nicht, wann es gewesen sein sollte. Ein gutes Herz? Das hatte sie, das stimmte. Ratschläge? Die hatte sie Mac Kinsey gegeben, dem Mann mit den besonderen Fähigkeiten. Aber auch nur sehr versteckt und wenn sie genau gespürt hatte, daß er keine Vorteile für sich im Sinn hatte, sondern den Menschen helfen wollte. Bedenkenlos hatte er auch ihr geholfen. Am Beginn ihrer seltsamen Bekanntschaft. Und er hatte nicht erst gefragt, wer und was sie war. Oder hatte sich einfach abgewandt. Sie wußte, daß Kinsey gegen die Mächte des Bösen kämpfte. Sonst kannte sie keinen. Also meinte Likkat ihn. »Er wird auch dich jagen«, sagte sie. »Er wird dich vernichten.« »Du hoffst es.« Der Kurier lachte selbstgefällig, und seine Rübennase hüpfte im Takt. »Aber es wird keine Spur von mir geben. Und er wird gar nicht erst die Jagd beginnen. Wir haben eine Pakt geschlossen. In unseren Welten gibt es ganz besondere Freunde von ihm. Denen haben wir ihn versprochen.
Sie werden sich seiner annehmen. Sie werden ihn vernichten. * Die Fallen sind schon gestellt. Er wird hineintappen, und die Vampire und Untoten, die Ghouls und Schemen, die Geister und rachesuchenden Seelen werden sein Ende bejubeln. Wir haben mit dem Fürsten der Blutsauger diesen Vertrag geschlossen.« »Den werdet ihr nicht halten! Ihr haltet nie einen Pakt!« rief die Hexe. »Vielleicht doch, vielleicht nicht, wer weiß?« Likkat lachte listig. Wieder glitt seine schwarze Zunge über den Mund. »Blut schmeckt nicht übel. Komm her, Hexe! Ich befehle es. Oder ich nehme diesen kleinen Menschen mit. Aber ich komme wieder.« Miriam schloß für Sekunden die Augen. Es war zu spät, sie kam nicht an ihre Zaubermittel in der Wohnung heran. Likkat hatte den richtigen Zeitpunkt genau abgepaßt. Und mit der kleinen Ginny hatte er ein Druckmittel in der Hand, dem sie nichts entgegensetzen konnte. Wozu er fähig war, hatte er auf grausame Weise gerade gezeigt. Er verschwendete nicht einmal einen Blick an den Mann, den er buchstäblich zerfetzt hatte. »Likkat, höre mir zu!« sagte sie mit bebender Stimme. »Ich komme.« »Darauf warte ich. Ich habe mehr Geduld mit dir, als ich haben dürfte. Voran, komm her!« Miriam schloß die Augen bis auf schmale Schlitze. Sie mußte sich diesem Unhold aus dem Jenseits stellen. Daran führte kein Weg vorbei. Aber nicht zu den Bedingungen der Schwarzwelt. Zu ihren
eigenen. Der Kurier würde die Existenz ihrer Seele auslöschen, und ein Wesen jener unvorstellbaren Welt würde in ihrer Körperhülle Platz nehmen und fortan als böse Miriam Schlechtes tun. Wenn sie auf Likkats Befehl einging. Tat sie es nicht, nahm er Ginny mit sich fort und kehrte wieder. Oder er bemächtigte sich der vor Entsetzen starren Menschen dieses Hauses. Diese Gefahr mußte sie abwenden. Die zuerst. Weglocken! hämmerte es in ihrem Kopf. Du kannst es! Denke an den Hexenschwur! Die Macht ist dir gegeben! Nur hast du sie niemals angewendet! Du hast das magische Wissen der Druidenpriester mitbekommen. Setze es ein, jetzt ist die Zeit gekommen! Sie zögerte, sie dachte auch an Kinsey, den die Mächte der Schwarzwelt an die Kreaturen einer anderen jenseitigen Welt und an den Fürsten aller Blutsauger verschachert hatten. Noch hatten sie ihn nicht, wenn sie Likkat richtig verstanden hatte. Es waren erst die Fallen gestellt. Vielleicht konnte sich Kinsey selber helfen. Er hatte sich zu ihrem Erstaunen immer wieder aus bedrohlichen Situationen gerettet. Auch ohne ihr Zutun. Wenn sie vielleicht einen starken Gedankenstrom zu ihm aussandte? Er hatte jene ›Gabe‹, die nur wenigen beschieden war. Er konnte gedankliche Botschaften empfangen. Nein! Sie durfte es nicht. Likkat besaß auch diese Fähigkeit. Sie spürte, wie er förmlich darauf lauerte, ihre Botschaft aufzufangen, die nicht für ihn bestimmt war. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Likkat und die anderen Bewohner der Schwarzwelt wußten über sie und Kinsey bestens Bescheid. Sie kannten sogar ihre kleinen Geheimnisse!
Das Spüren der unvorstellbaren Macht der Schwarzwelt ließ sie noch einmal erschauern. Dann konzentrierte sie sich auf das magische Wissen, das so lange in ihr geschlummert hatte. Es war anders als die Hexenkraft – mächtiger, unheimlicher. Furchteinflößend. Aber es war nicht böse. Sie dachte an die anderen, die damals den Bund mit beschworen hatten. Die Furcht griff mit eisigen Klauen nach ihrem Herzen. Warum hatten die sich nicht aus den Kerkern retten können? Warum waren sie nicht von den Scheiterhaufen entkommen? Oder dem Schwert oder einem heimtückischen Dolch entgangen? Sie haben den Schwur gebrochen und den Bund verraten, sagte ihre innere Stimme. Sie waren nicht stark genug, sie wollten Hexen sein, aber sie waren nicht würdig! Sie wollten nur Macht und Ansehen und Reichtum und ein faules Leben! Verschwende keinen Gedanken an sie, denn sie sind längst zu Staub geworden! Sie haben den Bund vernichtet, aber seine Macht ist geblieben. Sie besteht bis ans Ende der Zeit! Wage es, habe den Mut! Ein fremder Zug war plötzlich da und ließ sie nicken. Es war nicht die Kraft der Schwarzwelt und der böse Einfluß von Likkat. Es war der uralte Druidenzauber. Er wirkte durch die Zeiten. Miriam faßte Zutrauen. Ihr wild klopfendes Herz schlug wieder langsamer, ihre Angst wurde weniger. Der alte Bund! Der Schwur in einer mondlosen Nacht, die doch so hell war, als würden tausend Lichter brennen! Der Stein auf dem Berg, und ringsum die schwarzen schweigenden Wälder!
Es war unendlich lange her, aber sie erinnerte sich, als sei es erst gestern gewesen. Und jetzt wußte sie, wo sie Zuflucht fand. Wo auch Ginny sicher war. Und wohin sie Likkat locken mußte, damit er nicht Tod und Verderben über die Bewohner dieses Hauses brachte. Der Stein von Llanwellyn war die Zuflucht! Vielleicht war dort der Druidenzauber noch so stark, daß sie Likkat sogar vernichten konnte. Oder daß es ihr zumindest gelang, ihn in die Schwarzwelt zurückzuschlagen. Und wenn es nicht der Zauber war, dann vielleicht eine der magischen Waffen, mit denen die Priester damals gegen die Unholde und Dämonen der Nacht gefochten hatten. Sie waren vergraben worden. Damit man sie vergaß wie die Dämonen auch. Aber die Dämonen waren auf dem Vormarsch, und die Waffen waren nicht zur Hand. »Stein des Bundes – Fels der Kraft«, sprach Miriam langsam und laut. Ihre Stimme füllte das Haus. Die Leute lösten sich aus der furchtbaren Erstarrung, in die sie der grauenhafte Tod des Mannes gestoßen hatte. Und Likkat zuckte wie unter Peitschenhieben zusammen. Sein Rübengesicht nahm einen wachsam-lauernden Ausdruck an, seine grauen sprühenden Augen blickten mißtrauisch und fast in der Erwartung einer überraschenden Entwicklung. Er spürte irgendwie, daß ihm die Dinge aus den Krallenhänden glitten. Er hob die Arme zum Schlag, bereit, auch die kleine Ginny in Stücke zu fetzen wie den Mann. »Du Hexenbastard!« Er brüllte schrecklich auf und wandte keinen Blick von Miriam. »Wage es nicht – sonst lasse ich es diese alle hier büßen!« Miriam ließ sich nicht bluffen. Sie spürte seine Unruhe. Sie
merkte, wie er seine Schwarzweltkräfte ganz auf sie konzentrierte. Und sie sah auch die Wirkung. Das Glühen in der Wand erlosch. Die rotglühenden Fußabdrücke verblaßten zusehends. Dann waren auch sie ausgetilgt. Nur der Mann blieb tot. Er würde auch nie wieder lebendig werden. »Likkat – ich stehe bereit«, sagte Miriam. »Ich fordere dich zum Kampf heraus!« »Du mich?« Der Kurier des Bösen lachte unsicher. »Du forderst die Schwarzwelt heraus.« »Du bist ihr Stellvertreter hier, du wirst mit mir kämpfen müssen, so ist es nun mal. Am Stein von Llanwellyn, Likkat! Vergiß es nicht!« Sie spürte die Kraft, die sie mit einem Schlag durchdrang. Es war, als würde Feuer durch ihre Adern rinnen. Kein vernichtendes Feuer, sondern das Hexenfeuer der Kraft. Sie wußte, ohne daß ihr es jemand sagte, daß sie nun unvorstellbare Dinge vollbringen konnte. Sie wünschte sich hinab zu Ginny, über der die tödlichen Krallenklauen schwebten. Und sie befand sich schon unten. Sie streckte einen Arm nach der Kleinen aus und zog sie an sich. Und Likkat konnte es nicht verhindern. Er krümmte sich nämlich und riß die Krallenhände zum Kopf. Und er hielt sich die abstehenden spitzen Ohren zu. Während schon feine Nebel Miriam und die kleine Ginny umtanzten, begriff die Hexe, daß Likkat sehr wohl den Namen Llanwellyn kannte und um seine Bedeutung wußte. Er war Gift für ihn. Aber Likkat würde kommen.
Die Nebel wurden dichter, wogten heftiger. Der Zauber übte seine Macht aus. Miriam konnte nichts mehr aufhalten. Sie hatte sich mit Ginny zur Zuflucht gewünscht. Dorthin waren sie gleich unterwegs. Sie fühlte sich befreit und erleichtert. »Am Stein von Llanwellyn sehen wir uns wieder!« rief sie Likkat zu. Er krümmte sich noch mehr und stampfte mit den nackten Füßen auf. Der Erfolg stachelte Miriam auf. Daß der uralte Zauber wirkte, war wie ein Rausch. Sie spürte ein nie gekanntes Prickeln. Visionen von Macht und Größe taten sich vor ihr auf. Und entsetzten sie. So waren die Mithexen der Verlockung erlegen und elend zugrunde gegangen. Sie hatten nicht nur die Visionen gehabt, sie hatten auch nach Macht und Größe gegriffen. Miriam löschte die Visionen aus. Aber einen Triumph konnte sie sich nicht versagen. Sie wünschte, daß der Zauber über Likkat kam und ihn hinauskatapultierte. Weg von den Menschen hier im Haus. Überhaupt hinaus aus der Stadt. Irgendwo hin! Sie dachte auch, daß es für alle besser war, wenn es ihn zurückstieß in die Schwarzwelt. Und wenn er nie wiederkehren konnte. Aber so mächtig war der alte Zauber nicht. Sie spürte, wie etwas von den unsichtbaren Pforten der Schwarzwelt zurückprallte und sich gegen sie zu richten drohte. Ihr Wunsch brachte sie in höchste Gefahr. Der Nebel, der auch schon Likkat einzuhüllen begann, zog sich zurück.
Sogar die Schwaden, die Ginny und sie umwogten, wurden dünner und drohten sich aufzulösen. Sie konzentrierte sich wieder auf den Stein von Llanwellyn und daß der Zauber sie und die Kleine sicher zur Zuflucht geleiten möge und den Kurier des Bösen hinausschleuderte in die Welt. Mit einem grausigen Schrei riß es Likkat fort. Von einem Augenblick zum anderen. Dann nahm der Nebel Miriam und Ginny auf. Weich und sanft. Und sie verspürten beide kein bißchen Angst dabei. * Mit einem Satz rückwärts rettete ich mich aus der Reichweite der entsetzlichen Gestalt, die aus dem Sarg hochschnellte. Mir blieb fast das Herz stehen. Ich bildete mir ein, schon eine Menge gesehen zu haben, was nicht von dieser Welt war. Aber ich merkte, daß ich in dieser Beziehung ein Waisenknabe war. Das Ding war nicht Ghoul noch Vampir, nicht Monster noch Untoter. Es hatte aber von all diesen Schreckgestalten etwas. Und es war flink wie der Teufel. Dazu nervte mich noch das teuflische Gelächter. Aus den Augenwinkeln sah ich Woods. Er kam aus Richtung Tor. Er war es, der dieses nervenzerfetzende Gelächter ausstieß. Im Bruchteil einer Sekunde ahnte ich Unheil. Was hatte er dort zu suchen gehabt? Ich hätte die düstere Vorstellung, daß ich gar nicht mit dem Sicherheitsposten telefoniert hatte, sondern mit Woods selber. Und daß der Bursche nur die Stimme verstellt hatte, um mich
herunterzulocken. Ich prallte gegen Widerstand und flog auf den Rücken, daß ich fürchtete, mir kämen die Wirbel einzeln zur Jacke vorne heraus. Die Stufen! An die hatte ich nicht gedacht. Sie führten zum Haupteingang hinauf und waren eine nützliche Konstruktion, aber mich brachten sie in Not. Ich kriegte kaum Luft und sah das grauenvolle Wesen herantoben. Es gab Laute von sich, bei denen mir meine spärlichen Sünden in einem Augenblick einfielen. Ich hob die Arme und machte das Kreuzzeichen. Eine Wirkung sah ich nicht. Das hatte ich fast befürchtet. Das Wesen warf sich auf mich. Ich rollte mich keuchend im allerletzten Moment beiseite und hoffte, daß sich die Kreatur das Genick brach, falls es eines hatte. Oder sonst etwas. Aber selbst mit diesem bescheidenen Wunsch war es Essig. Das Ding sah aus wie halb verfault und fast verschimmelt und rollte genau mir hinterher. Wenigstens stieß es sich zweimal kräftig den rüsselartig ausgestülpten Mund an den Stufen an. Das war es aber auch schon. Mir saß der Schreck noch in den Knochen, und die Angst kam jetzt dazu. Das Wesen war schneller als ich. Dagegen war ich eine lahme Ente. Es war im Handumdrehen heran und bekam mich am Hosenbein zu packen. Mit einem Laut, der unangenehm triumphierend in meinen Ohren klang, schnellte es hoch – und zerrte mich hinter sich her.
Ich lag auf dem Rücken und wurde über den Boden geschleift. In diesem Moment wünschte ich, daß mir die höllische Mißgeburt lieber die Hose vom Leib zog, als daß sie mich zu dem Leichenwagen schaffte oder in den Sarg stopfte. Halbnackt in Whitehall herumzuhüpfen – darüber kam ich hinweg. Das war ein Zustand, der vielleicht ein paar Minuten währte, bis ich jemand eine Ersatzhose abgeschwatzt hatte. Tot aber war ich eine ganze Ewigkeit. Vorausgesetzt, Woods und Dracula hatten nicht andere Pläne mit mir und ließen mich als Untoter meinem Chef auf die Nerven gehen. Die Hose hielt, sehr zu meinem Leidwesen. Meine Befürchtung, das schauderhafte Wesen mit dem Rüsselmaul würde mich in den Sarg einpacken, war unbegründet. Ich sah schon den schwarzen Leichenwagen auftauchen. Damit also wollten die zwei mich fortschaffen. Wenigstens hatte ich das Feuerzeug und die Gasdose nicht verloren. Ich fummelte den Lötbrenner auf und hörte das ausströmende Gas zischen. Ein lieblicheres Geräusch hatte ich selten vernommen. Ich knipste das Feuerzeug im Gasstrom an und verbrannte mir tüchtig die Finger, als eine unterarmlange Flamme aus dem Brenner schoß. Jetzt war es mir egal, wie grob der grausige Gehilfe von Woods mit mir umging. Ich hatte Feuer. Ich hielt es in der Hand. Woods sah natürlich, was ich trieb. Er blieb stehen. Sein Gesicht verzerrte sich in unbändigem Haß. Ich hatte ihn schon einmal ausgetrickst, als er mich schon sicher beim Wickel zu haben glaubte, und jetzt hatte ich ihn
wieder geschlagen. Sein Verhalten bewies mir auch, daß Feuer wirklich eine wirksame Waffe gegen ihn war. Die einzige wahrscheinlich. Er rief etwas. Seine Stimme schnappte über. Sein entsetzlicher Gehilfe fuhr herum. Die Schleifpartie über unseren Hof war nicht gerade angenehm, aber sie hatte mir Zeit gegeben, zu Atem zu kommen. Die Schmerzen ließen auch nach. Die im Kreuz jedenfalls. Die in der verbrannten Hand begannen dafür jetzt erst richtig. Aber ich war so wütend über die Hinterlist, daß ich schon auf zweihundert war, bevor ich noch ruckartig beide Beine heranriß. Ich wollte mein Hosenbein aus dem Griff des schrecklichen Wesens befreien. Bloß verkalkulierte ich mich schon wieder. Es ließ nicht los. Es wurde seitlich gegen mich gerissen, torkelte, trat mir auf die Beine – und fiel auf mich. Ich rollte mich gar nicht weg. Ich hielt ihm die heiße Gasflamme entgegen. Und es kippte mit dem häßlichen Rüsselmaul genau hinein. Im nächsten Moment dachte ich, es zerreißt mir die Trommelfelle, so kreischte das Wesen auf. Hoch, schrill, peinigend – es gab gar nicht die richtigen Worte für das Geräusch. Schneller als ein Augenzwinkern zuckte die Kreatur aus dem Flammenstrahl. Aber ich bewahrte die Ruhe und den Überblick. Ich ließ mich nicht irritieren. Ich richtete die Flamme auf den Kopf des Wesens. Sofort stank es wie brennende Dachpappe. Aber der Kopf stand nicht in Flammen. Wenigstens hatte ich die Genugtuung, daß das Wesen weg-
zuckte und das Gewicht von meinen Beinen verschwand. Die taten weh, als seien sie gebrochen. Und jetzt erst ging mir auf, wie schwer der Gehilfe von Woods überhaupt war. Größer als ich war er nicht. Aber mindestens dreimal so schwer. Ich kämpfte die Furcht nieder. Ich wußte nicht, was und wer dieser unheimliche Gegner war. Kein Mensch, das war sicher. Aber sonst nichts. Mit der Flamme wedelte ich der Gestalt hinterher. Vom Boden aus war das ein ungünstiges Vorhaben. Mir fehlte Bewegungsfreiheit und Reichweite. Ich biß die Zähne zusammen und versuchte, auf die Füße zu kommen. Woods sprintete heran. Ich hielt ihm die Flamme entgegen. Er brauchte sich nicht die Schwachheit einzubilden, er bekäme mich jetzt spielend. Mit mir hatte er jedoch gar nichts im Sinn. Nicht in diesem Moment jedenfalls. Seinem Gehilfen hatte ich gehörig die Glatze verbrannt, und dem galt seine ganze Sorge. Der Kerl – oder war es eine Sie? – schien für ihn von großem Wert zu sein. Das Ding kreischte immer noch in den höchsten Tönen. Ich kam nicht hoch. Meine Beine waren ohne Kraft und Saft. Ich beguckte sie entsetzt Sie standen nicht irgendwo unnatürlich ab. Das ließ mich hoffen, daß sie nicht gebrochen waren. Es mußte mit dem Wesen zusammenhängen, das daraufgestürzt war. Eine Macht vielleicht, die mich lähmte. Woods beugte sich über seinen Gehilfen, packte ihn und schleppte ihn wie einen Sack Kartoffeln zu dem Sarg.
Mir sprangen fast die Augen aus dem Kopf. Er stauchte die Kreatur in die schwarze Kiste, knallte den Deckel drauf und klemmte sich den Sarg mühelos unter den Arm. Ich dachte, ich spinne. Der Sarg hatte sein Gewicht, und der Gehilfe war ein schwergewichtiger Brocken, und doch jonglierte Woods damit, als hätte er eine Zigarrenkiste unter dem Arm. Er riß die Hecktür des Leichenwagens auf und stieß den Sarg hinein. Dann kam er auf meiner Seite am Fahrzeug entlang. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Er mußte vor Wut und Enttäuschung doch bald platzen. Mit der Flamme folgte ich seinen Bewegungen. Er griff mich nicht an. Er starrte nur düster her, und seine Bißmale, die ich damals schon an seinem Hals gesehen hatte, leuchteten rot und warnend. Und dann drehte es mir fast den Magen um. Ich entdeckte Blut an seinem Mund. Frisches Blut. Er hatte getrunken. Und ich wußte, wo. Am Tor. Er hatte den Sicherheitsposten überlistet. Er hatte seine Gier nach warmem Blut gestillt. »Sie sind ein ernstzunehmender Gegner, Kinsey, alles was recht ist«, sagte er langsam. »So macht es auch mehr Spaß, Sie zu jagen. Ich bin der geborene Jäger, ich werde immer auf der Lauer liegen.« »Ich werde auch nicht schlafen, solange ich Sie unterwegs weiß, Woods!« schleuderte ich ihm entgegen. »Ich werde nicht eher ruhen, bis ich Sie vernichtet habe. So gründlich, wie noch nie ein Gegner vernichtet wurde. Und Ihrem Auftraggeber können Sie dasselbe bestellen. Ich sehne die Stunde herbei, in der ich ihm gegenüberstehe.«
Er verzog den Mund zu einem grausamen Lächeln. »Bilden Sie sich auf Ihre Bomben nicht zuviel ein. Sie konnten uns nur einmal damit überraschen. Jetzt sind wir gewappnet. Es waren doch Bomben, nicht wahr? Ich hätte daran denken müssen. Nicht umsonst haben Sie eine Erfinderabteilung in Ihrem Haus hier, und nicht umsonst nennt man Sie den Spürhund vom Secret Service. Wir bekommen Sie doch noch in die Hand, Kinsey, und dann wünschen Sie, niemals geboren zu sein.« »Darauf können Sie lange warten!« keuchte ich und versuchte, meine Beine zu gebrauchen. Es klappte noch immer nicht, und Woods verzog amüsiert das Gesicht. »Das ist eine Spezialität von Nobal, damit lähmt er seine Opfer. Schade, daß er nicht Ihren ganzen Körper getroffen hat.« Er bedauerte es wahrhaftig, ich hörte es auch am Tonfall. »Nobal? Welchen armen Teufel haben Sie und Dracula zu diesem Wesen umgestaltet? Der Teufel soll Sie dafür holen!« »Nobal war schon immer so. Er ist ein Geschöpf unserer Welt und hat seine Vorzüge. Nur Feuer mag er nicht.« Das gab Woods zu. Zum Henker, der Kerl verströmte eine Sicherheit und Überheblichkeit, die mir nicht gefiel. Gerade, als hätte er noch ein dickes As im Ärmel stecken. »Sie aber auch nicht«, sagte ich ächzend und zielte mit der spärlichen Flamme auf ihn. Leider stand er viel zu weit entfernt. »Eine Schwäche, zugegeben, Kinsey. Aber ich werde auch diese noch überwinden. Und Nobal bestimmt auch. Wir erleben derzeit einen großen Lernprozeß, wir eignen uns täglich neue Fähigkeiten an. Bald sind wir mächtiger als die ganze Menschheit zusammen.« »Und Dracula ist der große Lehrmeister, oder irre ich mich?« Es war nicht nur persönliche Neugierde, die mich das fragen
ließ. Wenn Woods und seine grauenhaften Genossen wirklich immer neue Fähigkeiten erwarben, waren sie uns in der Tat bald über. Dann hatten wir nichts mehr zu bestellen. Mit einer großen Geste wies Woods meine boshaften Worte zurück. »Er ist der Fürst, er braucht nicht zu lernen. Das tun wir, seine treuen Diener.« »Bravo, Woods, ich sehe schon, Sie haben sich auch keine bessere Welt eingetauscht! Die Kleinen läßt man schuften, die Großen faulenzen. Wo ist der Unterschied?« Darauf wußte er keine Antwort. Ich hoffte nur, er dachte über meine Worte nach. Aber große Erwartungen knüpfte ich nicht daran. Er war drüben – in einer anderen Welt. Und er verbreitete hier das Böse und machte Jagd auf Beute. Er lachte glucksend und leckte sich die blutverschmierten Lippen ab. Dann ging er zum Wagenschlag und öffnete die Tür. Statt jedoch einzusteigen, wandte er sich um. Mit einem lustvollen Grinsen sagte er: »Wir erwischen Sie. Irgendwann. Sie können nicht immer wach sein, Sie haben hinten keine Augen. Und Sie brauchen nicht mehr auf Hilfe zu rechnen.« »Hilfe? Mit Ihnen werde ich allein fertig und wische Londons Straßen mit Ihren Überresten auf, wenn es überhaupt welche gibt.« Mein Zorn erbaute ihn. Er schob lässig die Hände in die Hosentaschen. Seine Jacke öffnete sich. Ich sah das Hemd mit dem Loch, das ich ihm damals bei meinen Nahschüssen hineingebrannt hatte. Er hätte es wenigstens wechseln können, dachte ich. Andererseits, wozu sollte sich ein Untoter ein neues Hemd anzie-
hen, wenn das alte ruiniert war? Untote waren nicht mehr eitel, die verfolgten andere Ziele. »Ich meine die alte Hexe aus Soho, Kinsey. Mit der sind Sie doch befreundet. Sie hat Ihnen geholfen. Hier ein Wort, dort ein Fingerzeig. Jetzt ist sie schon auf dem Weg in die Schwarzwelt, und von dort gibt es keine Wiederkehr. Wir haben mit der Schwarzwelt einen Pakt geschlossen. Die Hexe den Schwarzwesen, Sie für uns. So lautet die Abmachung. Das Weib wird uns nicht noch einmal ins Handwerk pfuschen. Und Sie werden keine Hinweise und Fingerzeige mehr erhalten. Begreifen Sie jetzt, wie sehr Sie schon am Ende sind?« »Das ist eine gottverdammte Lüge!« brüllte ich. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte ihm in einer unbeherrschten Reaktion die Gasdose an den Kopf geworfen. Aber dann war ich schutzlos, Rechtzeitig besann ich mich. Er redete von Miriam. Mir wurde bang. Ich fürchtete um sie. Von der Schwarzwelt hatte sie einmal gesprochen. Das wußte ich genau. Aber sie hatte das Thema nicht vertieft, sondern war auf andere Dinge gekommen. Und ich hatte nicht so unhöflich sein wollen, sie auszufragen. Woods verzog angewidert das Gesicht. Mein lästerlicher Fluch bereitete ihm offensichtlich körperliches Unbehagen. Ganz so lernfähig und gewappnet, wie er sich herausgestellt hatte, war er doch nicht. Er hatte starke Worte gemacht. Aber warum sollte er nicht trommeln? Das gehörte bei ihm offenbar auch zum Handwerk. »Eine Lüge, Kinsey? Wir haben kein Interesse an der Hexe. Warum sollte ich also lügen? Sie hat Ihnen geholfen, Dämonen des nachtschwarzen Reiches zu bekämpfen, zu vernichten oder zurückzuschlagen. Für jenes Reich ist sie zu einer großen Gefahr geworden. Und Sie sind sozusagen ihr verlängerter
Arm. Sind Sie so naiv, zu glauben, die Schwarzwelt würde untätig bleiben?« Er lachte böse. Dann hob er knapp die Hand. »Bis bald, Kinsey. Jedem das, was er verdient.« Jetzt stieg er ein. Ich knirschte mit den Zähnen vor Wut. Da hatte ich ihn zum Greifen nahe und konnte doch nichts ausrichten. Scotland Yard und ich suchten ihn fieberhaft, und dreist kam er mit einem Leichenwagen in Whitehall vorgefahren und brachte sogar noch einen schaurigen Gehilfen im Sarg mit. Nicht nur, daß ich mich verhöhnt fühlte – Woods gab sich, als hätte er nichts zu befürchten. Er zog die Wagentür zu. Der Anlasser surrte, dann schnurrte der Motor etwas kurzatmig an. Als sich der Leichenwagen in Bewegung setzte, rann es wie Feuer durch meine Beine. Mir blieb fast das Herz stehen. War das der Bann von Nobal? Kam jetzt die Wirkung mit voller Wucht? War ich fortan ein Krüppel, der im Rollstuhl sitzen mußte? Ich wagte die Beine nicht anzusehen. Aber meine Wut und die Versuchung waren Übermächtig. Ich schaute hin. Die Beine waren noch dran. Ich bestand in einem Stück. Vorsichtig wagte ich eine Bewegung. Ich stieß einen Freudenschrei aus. Die Beine gehorchten mir. Ich konnte sie bewegen, sie gehorchten den Befehlen. So schnell es ging, stand ich auf. Der Wagen war schon zwanzig Schritte entfernt. Ich hatte noch die brennende Gasdose in der Hand. Aber was konnte ich an dem Leichenwagen schon in Brand
stecken, wenn ich sie hinterherschleuderte? Gar nichts. Blech brennt nun einmal nicht. Und die Heckklappe war geschlossen. Ich stand torkelnd und schwankend. Der Rücken tat weh, die Beine zwickten. Woods fuhr schwungvoll eine Kurve. Die Räder schmierten Gummi auf das Pflaster des Hofes. Das Kreischen der gequälten Reifen klang fast so unangenehm wie die Geräusche des schrecklichen Nobal. Die Reifen! Verdammt, Woods war ein Untoter, aber kein Geist. Und das Auto war doch kein Geisterauto! Wozu hatte ich die Automatic im Schulterholster stecken? Blitzschnell drehte ich das Gas ab, ließ die Dose fallen, steckte das Feuerzeug ein und angelte die Pistole heraus. Noch befand sich der Leichenwagen vor dem Gebäudeflügel, in dem unser Archiv untergebracht ist. Falls ich danebenschoß, klatschten die Kugeln gegen die Mauer und winselten nicht zum Tor hinaus und in den Verkehr auf der Straße hinein. Ich ging leicht in die Knie, faßte die Waffe mit beiden Händen und zielte über den gestreckten rechten Arm. Man nennt das die Combat-Stellung. Sie erlaubt ein extrem sicheres Schießen. Weil man schon ein Nervenbündel sein muß, um einen Schuß zu verreißen. Die Räder radierten noch einmal, und dann war ich im Ziel. Ich drückte zweimal ab und zerschoß den linken Vorderreifen. Das verblüffte Gesicht von Woods wendete sich mir zu. Er saß rechts, umklammerte das Steuer und versuchte, den Leichenwagen in der Richtung zu halten. Aber das Fahrzeug brach aus. Statt vom Gaspedal zu gehen, drückte Woods noch mehr auf
die Tube. Der Leichenwagen schleuderte herum und prallte gegen das Wachhaus am Tor. Blech kreischte, in der Mauer klaffte ein Loch, Mörtelstaub quoll heraus. Und die Hecktür sprang auf. Ich rannte humpelnd los. In meinen Beinen schienen Millionen Ameisen zu ungemütlicher Betriebsamkeit erwacht zu sein. Der Leichenwagen krachte jetzt auch noch mit der gesamten linken Seite gegen die Mauer vom Wachhaus. Aber Woods kriegte ihn irgendwie frei. Er gab Gas, das Fahrzeug schoß schrillend und kreischend an der Wand entlang. Die Hecktür schlug nach hinten. Und dann purzelte der Sarg heraus und blieb auf dem Deckel liegen! Mir richtete es Sämtliche Haare auf. Nobal, das schaurige Wesen, lag in dem Sarg! Und Woods haute ab und ließ mich mit seinem Gehilfen allein. Eine Verfolgung des Leichenwagens war sinnlos. Woods raste auf die Schranke zu, durchbrach sie, daß die Splitter bis auf die Straße flogen, und tauchte im Verkehr unter. Ich hörte das wütende Hupkonzert, das er auslöste. Verbissen schaute ich auf meine Automatic. Dann steckte ich sie zurück. Mit ihr konnte ich gegen Nobal nichts ausrichten. Aber mit der Gasflamme! Ich humpelte zurück, holte die Dose und setzte sie in Betrieb. Die leise fauchende Flamme von mir weggerichtet, näherte ich mich dem Sarg. Ich hörte Stimmen, ziemlich aufgeregte, und Schritte. Aus allen Richtungen. Der unbeschreibliche Krach und meine beiden Schüsse hatten den Service alarmiert. Es geschah ja nicht alle
Tage, daß quasi mitten in der Höhle des Löwen herumgeballert wurde. »Zurückbleiben!« schrie ich, ohne den Blick vom Sarg zu nehmen. »Stehenbleiben!« befahl eine Stimme von irgendwo her. Eine andere rief erklärend: »Das ist Kinsey, der Dämonenschreck! Ich werde verrückt – was will er mit dem Sarg?« Das wußte ich selber noch nicht. Es kam auf Nobal an. Er war drinnen im schwarzen Kasten. Ich hörte ihn rumoren. Mit einem Fußstoß kippte ich den Sarg um. Der Deckel wurde von innen abgesprengt. Das grauenhafte Ding schoß in die Höhe – genau in meine Flamme hinein. Ich hörte Entsetzensschreie im Hof und aus Fenstern. Und mir gellten die Ohren wieder vom Kreischen des Wesens. Nobal hieb kraftvoll nach der Flamme. Der Luftzug wehte sie aus der Richtung. Ich ging sofort näher heran und heizte ihm ein. Er brüllte grauenhaft und duckte sich. Ich zwang ihn mit der heißen Flamme noch tiefer. Hinein in den Sarg. Und dort verbrannte ich ihn. Es war eine widerliche Arbeit. Ich konnte sie nur zu Ende bringen, weil ich mir sagte, daß Nobal kein Lebewesen in unserem Sinne war. Er war in einer anderen Welt geschaffen worden. Nur zu dem Zweck, Tod und Vernichtung und Grauen unter die Menschen zu bringen. Mitleid war fehl am Platze. Er begann mit einem Schlag zu brennen. Von Kopf bis Fuß. Als hätte er eine Metamorphose durchgemacht und bestünde nun aus leicht entflammbarem Material. Ich sah auch, wie er sich körperlich veränderte. Die Gliedmaßen lösten sich.
Blasen quollen auf und zerplatzten im Feuer. Vor dem unbeschreiblichen Gestank und dem schwarzen Qualm mußte ich zurückweichen. Aber ich blieb in der Nähe. Bereit, nachzuhelfen, falls der Auflösungsprozeß ins Stocken geriet. Die Innenauskleidung der schwarzen Kiste stand in hellen Flammen. Auch das Holz geriet jetzt in Brand. Nobal mußte längst tot sein. Oder das, was diesem Begriff gleichkam. Doch obschon er sich fast aufgelöst hatte, gellten noch immer seine Schreie aus dem Feuer. Und seine Teile bewegten sich. Gerade, als wollten sie sich noch einmal zusammenfügen. Ich atmete keuchend und dachte an Flucht. Denn ich stellte mir vor, daß er schon wieder ein anderes Wesen war, wenn er wirklich aus dem Sarg kletterte. Ein Wesen, dem auch Feuer nichts mehr anhaben konnte. Die einzelnen Teile schlugen und zuckten. Der Sarg brach auseinander. Und jetzt sah ich, daß die Flammen Nobals Überreste rasend schnell aufzehrten. Die Gliedmaßen zerfielen zu hell glühender Asche. Der Kopf folgte, diese grauenhafte Kugel ohne Haare, Ohren und Nase. Und nun verglühte der Torso. Ein Windhauch strich darüber hin, wirbelte den Rauch gegen das Archivgebäude und ließ die Aschehaufen zusammenfallen. Die Sargbretter brannten weiter, das lackierte Holz knackte. Ich drehte die Gaszufuhr ab und ließ die Schultern hängen. Es war geschafft. Nobal war vernichtet. Aber Woods war die Flucht geglückt. Und er hatte hier ein
Opfer gefunden. Ich spürte Tonnenlasten auf mir, aber ich trottete los. Hin zum Wachhaus am Tor. Von der Straße waren Passanten herzugekommen. Sie beguckten verwundert die abgebrochene Schranke und das Loch in der Mauer. Hinter mir knallten Schritte auf dem Pflaster. Kollegen eilten herzu. Sie hielten sich aber erst einmal beim verbrennenden Sarg auf. Ich hatte einen kleinen Vorsprung und stieg einfach durch das Loch in das Wachhaus. Mauersteine und Mörtelbrocken waren hereingeschleudert worden. Staub trieb noch herum. Tapetenfetzen und Pläne waren von der Wand gefetzt. Suchend schaute ich herum. Und der eine Blick genügte auch schon. Neben seinem Stuhl lag der Sicherheitsbeamte. Er war weiß, seine Haut wächsern, fast durchsichtig. Am Hals prangte ein klaffendes Bißmal. Woods hatte ihn ausgesaugt bis auf den letzten Tropfen Blut. Ich stieg schwerfällig über die Mauersteine hinweg und hob den Telefonhörer ab. Mit zitterndem Finger tippte ich Sir Horatios Nummer. Er hob ab, als hätte er auf einen Anruf nur gewartet. »Sir, Kinsey hier«, meldete ich mich. »Woods hat zugeschlagen. Hier bei uns. Der Wächter am Tor.« »Was?« Dann folgte Stille. Und dann sagte er keuchend: »Dann war das eben der Krach?« »Auch, Sir. Woods liebt makabre Spaße. Er war mit einem Leichenwagen hier und wollte mich abholen. Zur Verstärkung brachte er ein Wesen aus einer anderen Welt mit. Geschossen habe ich, wenn Sie das meinen.«
»Sind Sie in Ordnung, Mac?« Seine Sorge um mein Wohlbefinden tat mir gut. »Ich schon, Sir. Der Sicherheitsposten am Tor nicht. Woods hat ihn – also, er ist tot. Aber Woods hat Vampireigenschaften, und die pflegen auf die Opfer überzugehen. Der Tote wird möglicherweise als gefährlicher Blutsauger wiedererstehen.« »Das ist nicht wahr!« keuchte Sir Horatio in den Apparat. »Doch, Sir, ich weiß, was ich sage. Wir müssen ihn in fließendes Wasser werfen. Stellen Sie Leute dafür ab, ich brauche Hilfe. Allein schaffe ich es nicht.« »Fließendes Wasser? Wozu?« »Das vernichtet ihn. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Für Gefühle und Pietät ist jetzt kein Platz.« Ich hörte ihn stoßweise atmen. Dann sagte er: »Ich kümmere mich darum, Mac. Ich komme selber runter.« Ich legte auf, schloß die Tür von innen und hockte mich vor das Mauerloch, damit niemand hereinkroch. Was geschehen war, war schlimm genug, Es hatte auch genug Aufregung gegeben. Den wilden Spekulationen im Haus durfte nicht noch neue Nahrung geliefert werden. Eine Menge Leute hatten Nobal gesehen, das unbeschreibliche Wesen. Die Kollegen konnten nicht mehr abstreiten, daß es Dämonen gab. Nur hätte ich auf diese Art Wahrheitsbeweis für die Existenz der dunklen Mächte gerne verzichtet. Draußen kamen Kollegen. »Mac, sind Sie da drinnen?« Ich knurrte, mir war nicht nach Auskünften zumute. Zwei bückten sich und schauten herein. Sie sahen mich kauern. Das beruhigte sie offensichtlich. Die Gesichter waren noch vom Schrecken gezeichnet. In den Augen erkannte ich, daß die Männer das Grauen gesehen hat-
ten, aber noch immer nicht begreifen konnten. »Geht da besser weg«, sagte ich grob, als noch andere kamen. Minuten später erschien Sir Horatio. Ich bestimmte drei Kollegen, die mir zur Hand gehen sollten. Ich kannte sie als unerschrockene Leute. Aber die Furcht packte sie, als ich sie und den Chef hereinließ und einen Blick auf den Toten werfen ließ. »Woods hat ihn umgebracht«, sagte ich mit belegter Stimme. »Er wird als Blutsauger umgehen und selber Opfer finden. Wir schaffen ihn runter zur Themse und versenken ihn im Wasser.« »Aber ein Begräbnis…« wandte ein Kollege ein. »Vampire bekommen kein Begräbnis. Und falls doch, brechen sie ihr Grab auf. Nur Wasser vernichtet sie. Das dürfen die Angehörigen aber nie erfahren. Ich meine, sie sollen das Begräbnis haben. Was im Sarg liegt, ist unsere Sache. Der Tote muß weg. Auf der Stelle. Woods und seine Gesellen bereiten etwas vor. Wir können nicht warten, bis wir wissen, was es ist.« Sir Horatio überwand zuerst das Grauen. »Mac hat recht, also helfen Sie ihm, Gentlemen.« Mit grauen Gesichtern gingen die Kollegen, um einen Transportbehälter herbeizuschaffen. Der Chef machte eine knappe Kopfbewegung. »Was ist das für ein Feuer im Hof?« »Da habe ich den Gehilfen von Woods vernichten können, Sir. Ein gräßliches Ding, Sie werden noch in allen Ausschmückungen davon zu hören bekommen. Es hat Zuschauer gegeben.« »Das auch noch!« Seine Achseln sanken herab. »Hoffentlich können wir den Vorfall vertuschen.«
Das ging nun mich nichts an, das war allein seine Angelegenheit. »Müssen unbedingt drei Männer mit Ihnen kommen?« fragte er plötzlich. »Das sind noch mehr Zeugen und Zuschauer.« »Sir, wenn ich die Leiche in die Themse gleiten lasse, muß ich abgeschirmt werden. Was glauben Sie, was es für einen Aufruhr gibt, wenn ich dabei erwischt werde! Die Zeitungsleute stürzen sich wie die Aasgeier auf die Sache. Ich sehe schon die Schlagzeilen – Secret Service-Agent läßt Leiche in der Themse verschwinden!« Es überlief Sir Horatio eiskalt. Er schüttelte sich. »Malen Sie das nicht auch noch genüßlich aus, Mac!« sagte er ergrimmt und strich den Schnurrbart glatt, der sich gesträubt hatte. »Wissen Sie, als ich Sie noch nicht kannte und wir keine Dämonenbekämpfungsabteilung hatten, war das Leben viel beschaulicher.« »Das möchte ich bezweifeln, Sir. Darf ich Sie vielleicht an die Affäre Kim Philby erinnern, mit allem Respekt?« Sein Gesicht wurde grau. Ein sicheres Zeichen dafür, daß seine Magengeschwüre rumorten, die er angeblich mir verdankte. Jedenfalls warf er mir das zuzeiten vor. Die Affäre Kim Philby war das traurigste Kapitel des Secret Service. Philby war der Vorgänger vom Chef gewesen, er hatte die Abteilung Aufklärung Ost geleitet – und war vom russischen KGB gekauft worden. Philby hatte als oberster Boß alle Nachforschungen nach den undichten Stellen im Service unterdrückt. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Als seine Enttarnung unmittelbar bevorstand, entwischte er mit zwei Helfern nach Rußland. Die Krone und England hatten einen Skandal allererster Güte.
Natürlich begann danach das große Stühlerücken. Eine Menge Leute wurden abgesägt, und dem Vernehmen nach ging es zu jener Zeit beim Service und in etlichen Ministerien zu wie in einem Tollhaus. Ausgerechnet jene turbulente Zeit wollte mir Sir Horatio als beschauliches Leben verkaufen. Das war lächerlich. Und das begriff er auch. Jedenfalls wußte er nichts zu erwidern. Meine drei zurückkehrenden Kollegen machten eine grundsätzliche Diskussion auch unmöglich. Sie hatten einen länglichen Kunststoffbehälter aufgetrieben. Aber sie trafen keine Anstalten, den blutleeren Sicherheitsposten hineinzuschieben. »Was ist?« fragte ich. »Ich – ich kann's nicht«, gestand einer der Kollegen, und die beiden anderen nickten. »Wenn er bloß richtig tot ist, was dann?« Das war eine irrsinnige, aber doch begründete Frage. »Habt ihr nicht gesehen, was im Hof passiert ist?« Sie schüttelten wie auf Kommando den Kopf. Jetzt kam ich wiederum nicht mit. Ich nahm sie ins Gebet. Und es stellte sich heraus, daß gerade sie außer dem verbrennenden Sarg nichts gesehen hatten. Nur gehört. Das war ihnen zuwenig. Ich entschloß mich zu einer radikalen Aufklärungskampagne. Manchen Leuten mußte man mit dem Knüppel kommen und nicht bloß mit dem erhobenen Zeigefinger. »Einen Spiegel!« verlangte ich. Sir Horatio schaute irritiert, und wie die Kollegen mich anblickten, waren sie davon überzeugt, daß ich nun vollends einen Sprung in der Schüssel hatte. »Vampire spiegeln sich nicht«, klärte ich auf. »Durch den Biß
hat Woods ihn zum Vampir gemacht. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, ich weiß nur, daß es klappt – leider. Die Vampire, die ich kenne, haben aber alle schon mal in der Erde gelegen. Vielleicht findet eine Art Erweckung statt. Das wäre hier noch nicht der Fall. Wir müssen es auf einen Versuch ankommen lassen.« »He, wollen Sie eine Art Beschwörung aufführen?« knurrte mich einer der Kollegen an. Das Unbehagen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich kann mich beherrschen, ich benötige nur einen Spiegel.« Einer faßte sich ein Herz und ging, um einen Spiegel zu holen. Ich wuchtete den Sicherheitsposten vom Boden hoch und setzte ihn in seinen Stuhl. Zugegeben – ich kenne Arbeiten, die angenehmer sind. Aber hier konnte ich nicht lange herumfackeln. Ich mußte beweisen, was ich kühn behauptet hatte. Und ich durfte mich nicht zu lange damit aufhalten lassen. Woods verfolgte ein finsteres Ziel. Darum hatte er mich mit dem Leichenwagen holen wollen. Ich sollte aus dem Verkehr gezogen werden. Weswegen, das glaubte ich auch zu wissen. Wegen der versteinerten Schreckgestalten droben in Finsbury. Die schienen doch noch zu etwas nütze zu sein. Ich sollte keine Möglichkeit bekommen, die Steingestalten zu zerstören. Der Kollege kehrte mit einem Spiegel zurück. »So, jetzt gehen Sie seitlich hinter dem Toten in die Knie und schauen Sie an seinem Kopf vorbei in den Spiegel.« Ich nahm ihm diesen ab. »Wenn ich mich irre, sehen Sie zwei Gesichter – Ihres und das des Toten. Wenn nicht – das habe ich schon gesagt.« Ich hielt den Spiegel in der richtigen Position.
Der Kollege ging in die Hocke. Und prallte zurück. »Und?« fragte ich. Es war Absicht, daß meine Stimme kalt und scharf klang. »Nur ein Gesicht«, stieß er keuchend hervor. »Meines!« Die anderen wollten das natürlich überprüfen. Auch Sir Horatio. Nach dieser Demonstration verfügte ich über sehr willige Helfer. Niemand stellte mehr Fragen. Sir Horatio verließ bleich das Wachhaus. Er sah angegriffen aus. »Beschafft einen Wagen und ladet ihn ein«, wies ich die Kollegen an. »Wollen Sie uns mit ihm allein lassen?« »Bin gleich zurück«, knurrte ich. Ich hatte noch etwas zu erledigen. Ich stieg noch einmal zu unseren Technikern und Erfindern in die Labors hinab. Erstens benötigte ich einen leistungsfähigeren Flammenwerfer. Mit Woods war ich noch nicht fertig. Und er nicht mit mir. Zweitens brauchte ich einen angespitzten Pflock. Aus Eiche oder Mistel. Denn die schlimmste Arbeit kam noch. Ich mußte den getöteten Sicherheitsbeamten pfählen. Um sicherzustellen, daß er nicht als Blutsauger umging. Dann mußte ich mich um die steingewordenen Gestalten Draculas kümmern, bevor Sir Horatio explodierte. Und ich mußte zusehen, ob ich Miriam helfen konnte. Von der Schwarzwelt hatte ich keinen blassen Schimmer, aber vielleicht konnte ich gerade deshalb etwas ausrichten. Die Galle kam mir hoch. Da hatten Dracula und die Mächte der Schwarzwelt ja einen feinen Handel miteinander gemacht. Teilten uns einfach auf.
Verfügten über Miriam und mich. Das Geschäft wollte ich ihnen versalzen, soweit es in meiner Macht stand. Und wenn es das letzte im Leben war. * Das Nest war so winzig, daß es nur auf gepflegten Karten zu finden ist. Twyn-Llanan heißt es, liegt nördlich von Swansea in der Landschaft Brecon und ein paar Meilen jenseits des Black Mountain, der sich über zweitausend Fuß hoch erhebt. Das ist genau die Gegend, die im Ruf steht, der finsterste Winkel von Wales zu sein. Nicht nur der dunklen Wälder wegen. Den Leuten dort sagt man nach, auf Gesundbeter zu hören, Geister und Gespenster sehen zu können. Und angeblich verstehen sie sich auch darauf, einem Nachbarn, über den sie sich mächtig ärgern, das Vieh zu verhexen. Und jede Generation kannte mindestens ein halbes Dutzend Leute mit dem bösen Blick. Der junge Pfarrer, der vor vier Jahren das verwaiste Amt des Seelsorgers übernommen hatte, wetterte gegen diesen düsteren Aberglauben. Darum tuschelten die Bewohner von TwynLlanan nur noch hinter vorgehaltener Hand über jene Mitbürger, denen sie Umgang mit unirdischen Mächten nachsagten. Genaugenommen wurde das jedem vorgeworfen. Denn Twyn-Llanan zählte weniger als vierhundert Einwohner. Das waren überwiegend ältere Leute. Die jungen zogen fort in die Stadt, wo sie Arbeit und ein gutes Auskommen fanden oder zu finden hofften. Die Schule des Ortes war längst geschlossen. Die Kirche war heruntergekommen, weil Geld für Reparaturen fehlte. Und
der alte Friedhof oberhalb des Nestes wartete eigentlich nur noch auf die Leute von Twyn-Llanan, die man so nach und nach zu ihm hinauftrug. Diese ganzen Umstände waren so recht dazu angetan, den Ort in der Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen. In Twyn-Llanan, spottete man in den größeren Gemeinden, würden sich Fuchs und Hase ›Gute Nacht!‹ sagen, und früher hätten sich dort aus Langeweile sogar die Wölfe totgebissen. Aber ganz so stillschweigend versank der Ort nicht in den Wäldern. Das verdankte er einer Jugendherberge. Die hatte ein Lord Sutton vor zwanzig Jahren gestiftet, nachdem er mehr als die Hälfte seines Lebens damit verbracht hatte, in den Wäldern um Twyn-Llanan den sagenhaften Hexenstein zu finden. Über den Hexenstein wurde im Volksmund viel geredet. Einst sollte dort ein Heiligtum der Druiden existiert haben, der keltischen Priester der Vorzeit. Die hätten Frauen in der Kunst des Hexens unterrichtet. Später hätten die Römer dort ein Lager gehabt, weil eine warme Quelle am Hexenstein entsprang. Einer der ersten angelsächsischen Könige sollte dort mit reichen Schätzen bestattet worden sein, nachdem er sich vom Christentum abgekehrt und dem Geisterkult der Vorfahren zugewendet hatte. Jeder im Ort kannte die Geschichten, jeder erzählte sie anders und schmückte sie immer mehr aus, je öfter er sie erzählte. Den Stein aber kannte keiner. Auch Lord Sutton hatte ihn nicht gefunden. Es gab immer noch böse Zungen, die behaupteten, er hätte es auch nie auf den Stein abgesehen gehabt, sondern auf den Königsschatz.
Dazu gefragt werden konnte er nicht mehr. Er war kurz nach der Stiftung der Jugendherberge gestorben. Ihr war es zu verdanken, daß für einige Monate im Jahr lautes Treiben die Wälder um Twyn-Llanan erfüllte. Denn mit der Stiftung war die Auflage verbunden, daß weiter nach dem Hexenstein gesucht wurde. Es kamen nur Schulklassen. Das junge Volk zeigte sich kaum im Dorf. Die düstere Stimmung hielt es fern. Außerdem redeten die Leute ihren walisischen Dialekt, den Fremde ohnehin nicht verstanden, und gelegentlich war sogar so etwas wie Fremdenhaß zu spüren. Pater Milton war der einzige offizielle Besucher aus dem Dorf. Das junge Volk gab ihm das Gefühl, daß es hinter den Wäldern noch eine Welt gab und daß er nicht lebendig in Twyn-Llanan begraben war. Außerdem schätzte er hitzige Debatten. Die zettelte er immer an. Und es interessierte ihn natürlich, ob die Schüler eine Spur vom geheimnisvollen Hexenstein gefunden hatten und was sie überhaupt von der Sage hielten. Es gab auch einen inoffiziellen Besucher. Das war der alte Shawn. Er war ein gebeugter Mann, der gerne einen hob und die unheimlichsten Geschichten zu erzählen verstand. Selbst wenn er nachts durchs Dorf wanderte, erkannten ihn die Leute an seinem Schlurfen und seinem heiseren Husten. Shawn bewohnte eine kümmerliche Steinhütte, die jederzeit über ihm zusammenkrachen konnte. Wenn ihn Pater Milton anhielt, das Dach zu flicken und ein paar neue Balken einzuziehen, wehrte er ab mit der Bemerkung, er hätte lange genug gelebt, um ihn sei es nicht schade. Also blieb das Dach ungeflickt. Und es brach doch nicht her-
ab. Shawn hielt die Kirche notdürftig in Schuß. Gewissermaßen verwaltete er auch den Friedhof, denn er grub die Toten ein. Und war das Wetter ordentlich und die Zeit gekommen, ging er in die Wälder und, sammelte Kräuter, die er dann den Leuten gegen allerlei Gebrechen verordnete. Deswegen hatte er mit dem Doktor aus Ammanford schon bösen Streit gehabt. Denn er hatte ihn einen verdammten Quacksalber und Scharlatan genannt. Aber der Doktor kam nur viermal im Jahr, und die Leute gingen lieber zu Shawn. Zur Jugendherberge schlich Shawn deshalb, weil die jungen Leute immer Alkohol mitbrachten, was streng verboten war. Er drehte ihnen Zähne an, die er krepierten Hunden ausbrach und als echte Wolfszähne anpries. Dabei gab es seit hundert Jahren schon keine Wölfe mehr am Schwarzen Berg. Oder er erzählte ihnen einfach Schauergeschichten. Dann zeigten sie sich auch spendabel. Jedermann im Dorf wußte von seinem Treiben, und man wartete nur noch auf den Tag, an dem sich Shawn um den Verstand gesoffen hatte. Aber so einfältig, wie der Alte erschien, war er gar nicht. Die jungen Leute waren besser zu Fuß, die kamen weiter herum, und er fragte sie immer geschickt aus, wenn sie wieder einen Ausflug in die Umgebung gemacht hatten. Shawn hatte über Jahre hinweg Lord Sutton auf seiner Suche begleitet. Oben am Berg hatten sie eine Quelle entdeckt. Die war kalt. Die Römerquelle war sie nicht. Diese blieb ebenso verschollen wie der Hexenstein. Jetzt war Shawn zu alt, um noch wochenlang herumzustrei-
fen. Die jungen Leute in der Herberge besorgten das jetzt. Und er fragte sie aus. Geschickt, unmerklich. Er war ein alter Fuchs. Wie es aussah, gab es den Stein gar nicht. Aber Shawn glaubte daran. Und auch an die Sage, daß derjenige, der ihn fand, einen Geist zum Erscheinen zwingen konnte. Dieser Geist mußte dem Entdecker die Jugend zurückbringen. Shawn wollte gerne wieder jung sein. Schon der Mädchen wegen, die in die Jugendherberge kamen. Wenn er nachts unterwegs war, sah er, was da so lief. Das war ein anderes Leben als zu der Zeit, da er noch ein junger Hüpfer war. Damals konnte man mit einem Mädchen erst etwas anfangen, wenn man mit ihm schon verheiratet war. Shawn seufzte und schaute zum Himmel. Die Wolken trieben tief, aber nach Regen sah es nicht aus. Er griff nach dem Werkzeug, schulterte es und machte sich zum Friedhof auf. Die alte Caroline war gestorben. Jedermann im Dorf war froh, daß ihr Schandmaul endlich verstummt war. Nur Shawn dachte mit Zorn, daß sie mit Absicht gerade jetzt gestorben war, um ihn noch einmal richtig zu ärgern. Jetzt mußten nämlich die Gräber in der obersten Reihe ausgehoben werden. So hatte es Pater Milton bestimmt. Dort war der Boden hart und steinig. Es würde ein sauberes Stück Arbeit werden, um ein Loch für das böse Weib zu hacken. Shawn ging um das Dorf herum und stieg bergan. Seine morschen alten Gelenke knackten tüchtig. Am Friedhofsportal verschnaufte er erst einmal. Das uralte verrostete Gittertor war wieder aus den Angeln gefallen und lag auf dem Weg.
Shawn packte es und wuchtete es gegen die Mauer. Sollte es da stehenbleiben. Er hatte es satt, das Ding mindestens einmal in der Woche einzuhängen. Es fiel doch immer wieder heraus. Er wandte sich um und schaute über das Dorf hin. Braun lagen die bestellten Felder im Tal. Dahinter dehnten sich die dunklen Wälder. Manchmal sah Shawn in weiter Ferne über den Wäldern Flugzeuge. Bei Swansea drunten an der Küste gab es einen Flughafen. Er war nie dort gewesen, er hatte nur davon gehört. Er war überhaupt nie aus Twyn-Llanan herausgekommen. Sein Blick schweifte weiter zur Jugendherberge. Die lag am Hang gegenüber. Auch über dem Dorf wie der Friedhof. Shawn sah dort winzige Gestalten. Sie kamen auffallend schnell aus dem Wald oberhalb und rannten über die Wiese der Herberge zu, statt den Weg zu nehmen. Angespannt beobachtete er. Da mußte was passiert sein. Es war noch nicht mal Mittag, und die jungen Leute kamen schon zurück. Dabei hatten sie den ganzen Tag draußen bleiben wollen. Er war in der letzten Nacht wieder drüben gewesen und hatte Zähne gegen Alkohol getauscht. Und in Erfahrung gebracht, daß sie heute wieder durch die Wälder streiften. Shawns Blick glitt über den Wald, aus dem die Schüler gerannt waren. Dann höher – und dann zuckte er zusammen. Vom Schwarzen Berg stieg Rauch auf! Ganz oben. Von der Spitze. Höllenwetter und Knochenbruch, hatten die Schüler Unfug gestiftet und einen Waldbrand verursacht? Das war fast ausgeschlossen, denn erstens war der Wald, der den Schwarzen Berg bedeckte, grasgrün. Und zweitens hatte es gestern den ganzen Tag geregnet. Der Wald war naß, der brannte nicht.
Aber was qualmte denn so bedrohlich? Ein dumpfes Poltern und Rumoren ließ Shawn zusammenschrecken. Erst kam es direkt aus der Erde unter ihm. Dann war es hinter ihm. Auf dem Friedhof. Shawn war drauf und dran, das Werkzeug wegzuwerfen und hinab ins Dorf zu laufen. Das war ja ein wahrer Höllenlärm! Und dann noch auf dem Friedhof! Das bedeutete nichts Gutes. Aber er war neugieriger als ein Nest voll junger Elstern und reckte die Nase über die verwitterte Einfriedungsmauer. Was er sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln und an ein Erdbeben glauben. Die Erde im Friedhof hob und senkte sich, schlug richtige Wellen, brach in großen. Spalten auf und schloß sich wieder. Donnernd stürzten Grabsteine um. Einfassungen gingen zu Bruch oder ragten plötzlich senkrecht aus dem Boden wie Treibholz aus einem Wasserstrudel. Zwei, drei Gräber öffneten sich. Im Untergrund mußte die Hölle los sein, denn es drückte die Särge heraus. Oder das, was von ihnen noch vorhanden war. Shawn sprangen fast die Augen aus dem Kopf. Eine gewaltige Erdbewegung brachte zwei Skelette an die Oberfläche. Jetzt war es aus und vorbei. Shawn wollte fliehen. Aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Er stand wie festgewurzelt. Das Werkzeug schlug klirrend zu Boden. Die unheimlichen Bewegungen der Erde griffen um sich. Die Mauer hob und senkte sich wie ein steinerner Wurm. An verschiedenen Stellen brach sie. Große Lücken entstanden, schwere Feldsteine polterten her-
ab. Hinten in der Ecke, wo immer die alten Kränze hingeworfen wurden, stürzte die Mauer auf eine Länge von bestimmt zwanzig Fuß ein. Angst und Entsetzen beutelten Shawn. Jetzt spürte er, daß es auch ihn hochhob und hinabstieß. Haltsuchend griff er nach der Mauer. Das schreckliche Grollen und Rumoren unter seinen Füßen wurde eindringlicher, drohender, gefährlicher. Weg, nur weg, dachte er. Gott, was geschieht hier bloß? Die Toten stehen aus ihren Gräbern auf! Ist das das Jüngste Gericht? Ein wütender Erdstoß warf ihn halb herum und ließ ihn mit der Schulter gegen die knirschende Mauer prallen. Sein Blick ging wieder zum rauchenden Schwarzen Berg hinauf. Wie ein Vulkan, zuckte es Shawn durch den alten Kopf. Aber Vulkane gibt's bei uns nicht! Das ist Höllenspuk! Der Rauch auf dem Berg und der Totentanz auf dem Friedhof, das hat irgendwie miteinander zu tun! Das Knirschen verstärkte sich. Shawns altes Herz tat ein paar so heftige Schläge, daß der Mann fürchtete, es würde auseinanderfliegen. Ihm wurde heiß. Er spürte, daß Grauenhaftes bevorstand. Daß es gleich geschah. Und da brach auch schon das Portal zusammen. Die Steinbrocken torkelten bis zu ihm her. Einer traf ihn am Knöchel und ließ ihn aufheulen. Shawn hatte jetzt freien Blick in den anderen Teil des Friedhofes. Mit dem Portal war auch noch ein großes Stück Mauer eingestürzt. Überall hatten sich die Gräber geöffnet. Die neuen und die
uralten. Skelette, Knochenreste, Totenschädel, Sargbretter und schlichte Totenkisten waren an die Oberfläche gepreßt worden. Und jetzt tat sich wieder ein Spalt auf. Gelber Dampf quoll in die Höhe. Ein Leuchten wie von Glut drang aus der Tiefe herauf. Der Spalt klaffte breiter. Eine fürchterliche Gestalt wurde dort unten sichtbar. Sie kletterte nach oben. Wo sie die Füße auf die dampfende Erde setzte, begann der Boden zu glühen. So etwas hatte Shawn noch nie im Leben gesehen. Da kam einer mitten aus der Erde, die er aufgestoßen hatte. Das konnte nur der Teufel selber sein. Der alte Mann glaubte, sein letztes Stündlein sei gekommen. Er flog und bebte am ganzen Körper, seine paar Zähne klapperten wie im Schüttelfieber aufeinander. Der Teufel war gekommen, um ihn zu holen! Nichts anderes. Er wollte davonlaufen. Seine Beine gehorchten ihm nicht. Die fürchterliche Gestalt erreichte jetzt die Oberfläche. Mit einem abscheulichen Knirschen schloß sich der dampfende Spalt. Der gelbe Nebel puffte gewaltig hoch und löste sich auf. Wie abgeschnitten endete das drohende Grollen und Poltern in der Tiefe. Der Boden beruhigte sich. Die aufgebrochenen Gräber blieben, wie sie waren. Der Friedhof war verwüstet und bot ein Bild des Schreckens. Die grauenhafte Gestalt schaute sich suchend um. Als hätte sie etwas verloren. Plötzlich hielt sie in der Bewegung inne. Sie starrte zum Schwarzen Berg hinauf.
Und dann stampfte sie auf, daß der Boden gleich zu glühen begann. »Dieser verdammte Hexenbastard!« sagte sie mit einer seltsam hohlen Stimme, die sowohl einem Mann als auch einer Frau gehören konnte. »Den Streich soll sie mir büßen! Sie hat den Hexenstein von Llanwellyn vor mir gefunden!« Shawn war halb ohnmächtig vor Furcht. Was die Gestalt aber im Selbstgespräch sagte, kam bei ihm an. Auf dem Ohr hörte er. Was war das? Der Hexenstein? Von Llanwellyn? Er kannte kein Llanwellyn. Aber was der Hexenstein war, das wußte er. Den suchten sie alle. Er am längsten. Hieß das, der Hexenstein befand sich droben auf der Spitze vom Schwarzen Berg, weil das unheimliche Wesen angestrengt dort hinaufstarrte und derart in Zorn geriet? Wie es sich anhörte, hockte dort oben eine Hexe. Und sie hatte der unheimlichen Gestalt einen Streich gespielt. Sie hatte den Hexenstein eher gefunden. Das zündete bei Shawn. Jetzt setzte sich der Unheimliche in Bewegung. Er schritt über zerwühlte Gräber, Totenreste und Sargstücke hinweg. Jeder Tritt, den er hinterließ, glühte in einem unheimlichen roten Feuer. Klar, das war der Teufel. Allerdings hatte sich Shawn den immer anders vorgestellt. Mit mächtigen Hörnern am Kopf, mit einem Pferdefuß und mit einem langen Schwanz, den er den Sündern um die Ohren schlug, wenn er kam, sie zu holen. Daß der Teufel zu Fuß ging, paßte auch nicht so recht in seine Vorstellungen. Der Satan konnte sich doch an jeden beliebigen Ort wünschen.
Wie es aussah, ging der Unheimliche aber zu Fuß zum Schwarzen Berg hinauf. Hörner hatte er keine. Einen Pferdefuß auch nicht. Und keinen Schwanz. Nur schreckliche Krallen an den Füßen und eine dicke Rübe als Nase. Am Kopf klebten abstehende spitze Ohren. Schäbige Fetzen wehten um die Gestalt, die auf Shawn einen irgendwie vertrockneten Eindruck machte. Alles war grau. Der Körper erinnerte ihn an ein Faß, dem man Beine angesetzt hatte. Jetzt langte der Unheimliche drüben an der Mauer an. Er stieg in eine Bresche und schaute zurück. Shawn sah nur noch zwei schaurige eng beisammenstehende Augen, bevor er blitzschnell hinter die bröckelig gewordene Mauer tauchte. Er wußte nicht, ob der Unheimliche ihn gesehen hatte. Er griff nach der Kreuzhacke. Für alle Fälle. Holen ließ er sich nicht. Er wollte jung werden, wollte sein Leben noch einmal leben. Dafür schwang er gern die Kreuzhacke. Wenn es nicht anders ging, haute er sie dem Unheimlichen auch auf den grauenvollen Schädel. Nach dem Poltern und Rumoren und dem Aufruhr auf dem Friedhof war Stille eingetreten. In diese Stille drang das Geräusch eines umfallenden Steines doppelt laut. Shawn hielt ängstlich den Atem an. Seine schrundigen verhornten Hände schlossen sich fester um den Stiel der Kreuzhacke. Doch er vernahm keine näherkommenden Schritte. Das Teufelswesen schien ihn nicht bemerkt zu haben. Es war nur ein losgerüttelter Stein aus der Mauer gefallen, scheint’s.
Dennoch wartete Shawn. Seine Angst war größer als seine Neugierde. Erst als er aus dem Dorf aufgeregte Stimmen herauf schallen hörte, richtete er sich zögernd auf und schaute über die Mauer. Die Erscheinung war fort. Nein, doch nicht. Sie hatte den Friedhof verlassen und schritt durch den Buschwald bergauf. Mit einem Blick sah der alte Mann, daß die Tritte auf der umgewühlten Erde nicht mehr glühten. Aber dort oben schon, wo der Unheimliche ging. Er hatte sich schon mehr als zweihundert Schritte entfernt. Shawn deutete die gellenden Schreie aus dem Dorf richtig. Er wandte den Kopf. Die Leute hatten ebenfalls das unheimliche Poltern und Grollen gehört und sicher auch die Erdstöße gespürt, bei denen die Gräber aufgebrochen waren. Jetzt liefen sie zusammen. Sie sammelten sich am Dorfrand. Und sie schoben Pater Milton vor sich her. Sie gestikulierten und deuteten herauf. Sie hatten die grauenhafte Erscheinung entdeckt und den Rauch auf dem Schwarzen Berg. Sie ängstigten sich. Mit einer gewissen Freude dachte Shawn, daß Pater Milton nun nicht mehr den Leuten den Kopf waschen konnte wegen des Aberglaubens. Als Unsinn und unchristlichen Unfug hatte er das Gerede vom Hexenstein immer abgetan. Jetzt war es endgültig aus und vorbei damit. Der Pater konnte nicht leugnen, was er selber und mindestens hundert seiner Schäflein sahen. Shawn grinste verzerrt und richtete sich vollends auf. Sie sollten ihn sehen. Und sie sollten wissen, daß er dem Geschehen am nächsten gewesen war. Fortan würden sie ihn mit
mehr Respekt behandeln und nicht bloß als alten Säufer und komischen Kauz, der toten Hunden die Zähne ausbrach und die Toten vergrub. Die Toten! Er fluchte unterdrückt und blickte auf die Verwüstung. Er würde viele Tage brauchen, um alles wieder einzugraben. Das Loch für die böse Caroline gar nicht mitgerechnet. Aber es half wohl alles nichts, die mußte auch unter die Erde. Sonst kam ihm Pater Milton auf den Hals. Und bestimmt wieder der streitsüchtige verdammte Doktor aus Ammanford. Eiskalt rieselte es Shawn über den Rücken, als er der Höllengestalt nachschaute. Sie war jetzt schon weit oben im Buschwald. Nur die frischen Tritte glühten. Die anderen waren verlöscht. Aber wo sie durch die Büsche gegangen war, zeigte sich ein breiter Pfad. Die Büsche hatten mit einem Schlag ihre Blätter verloren. Nackt und kahl reckten sich die Zweige gen Himmel. Und das zog sich so den Hang hinauf. Hinter dem grauenhaften Höllenspuk rieselten die Blätter zu Boden. Shawn begriff, daß er nicht nur Kenntnis vom Hexenstein von Llanwellyn erlangt hatte, sondern daß auch das Grauen gekommen war. Mitten aus der Erde. Nach Twyn-Llanan. Er ließ die Kreuzhacke los und lief hinunter zum Dorf und zu den entsetzten Leuten wie noch nie in seinem Leben. * Wir waren unbeobachtet, ich legte den Toten frei und faßte mit beiden Händen den angespitzten Eichenpflock. »Geht's nicht anders?« fragte ein Kollege würgend.
Die beiden anderen sollten nach den Seiten sichern, aber sie schauten ebenfalls her. Ich hatte den Wagen selber gefahren. Wir befanden uns auf dem südlichen Themseufer zwischen London Bridge und Tower Bridge. Das ist eine Gegend zum Gotterbarmen. Hinter uns ragten verfallene Lagerhäuser auf. Wenn es hier noch Lebewesen gab, dann Ratten und ein paar streunende Katzen. Die Gegend war tot. Wer hier gelebt hatte, war längst fortgezogen. Arbeit gab's auch keine mehr. Die meisten Firmen waren pleite gegangen, ein paar, die sich über Wasser halten konnten, waren mit Mann und Maus an den Stadtrand umgesiedelt. Ärgerlich schaute ich auf den Kollegen, der sich gruselte. »Ist es Ihnen lieber, wenn er als Wiedergänger sein Unwesen treibt?« Entsetzt wehrte er ab. »Natürlich nicht! Aber aufspießen – also, ich weiß nicht!« Er hatte von nichts eine Ahnung, was Untote und Zombies, Wiedergänger und Vampire betraf. »Dann schauen Sie weg!« riet ich ihm. Er tat's aber doch nicht. Ich hob den Pflock mit beiden Händen hoch über den Kopf, visierte die Herzgegend an und stieß mit aller Kraft zu. Sir Horatio hatte vor unserer Abfahrt darauf gedrängt, daß der Sicherheitsbeamte von zwei Ärzten noch untersucht wurde. Sie hatten sich vor Grausen geschüttelt, als sie merkten, was mit dem Toten los war. Aber sie hatten auch nichts anderes attestieren können als das, was offensichtlich war – der Mann war blutleer und tot. Ihnen gegenüber hatte ich nichts von der neuen Existenz-
form als Vampir gesagt. Das ging sie nichts an. Sie sollten den Totenschein ausfüllen, damit das Ableben amtlich war. Mehr nicht. Ich hörte den Stoff der Uniformjacke knirschen, als der Pflock sich in die Brust bohrte. Und ich wußte, was jetzt geschah. Deshalb erschrak ich auch nicht übermäßig. Die Kollegen dafür um so mehr. Denn als der Eichenpflock das Herz durchbohrte, richtete sich der Tote auf. Sein Oberkörper kam mit einem Ruck hoch, ohne Zuhilfenahme der Arme. Ursache waren die dämonischen Kräfte, die Woods ihm schon eingepflanzt hatte. Jetzt öffnete der Tote auch noch die Augen. Er starrte mich mit dem Ausdruck abgrundtiefen Hasses an. Seine blutleeren Lippen klafften auseinander. Ein unirdisches Krächzen drang aus dem Mund. Die Kollegen schrien auf. Verdenken konnte ich es ihnen nicht. Ich hatte schon einmal einen Blutsauger gepfählt. Da hatte ich auch in namenlosem Entsetzen losgeschrien. Und ich hatte Reißaus genommen, als der Vampir sich ruckartig aufrichtete. Im nächsten Augenblick fiel der Sicherheitsbeamte zurück, als hätte ihn eine Axt umgeschmettert. Sein Gesicht verfiel blitzschnell, wurde grau und alt und böse. Und das war der Mann zu Lebzeiten bestimmt nicht gewesen. Hier wirkten die teuflischen Kräfte von Dracula und Konsorten. Die Haut schrumpfte, die Hände zuckten noch einmal. Dann wurden auch sie alt und schrumpelig. Ich verfolgte den schaurigen Prozeß, bis ein steinalter toter
Mann vor mir lag. Da packte ich den Kunststoffbehälter und zerrte ihn zur Anlegemauer. Es gab dort eine verwahrloste Steintreppe zur Themse hinunter. Ich ließ den Behälter die Stufen hinabgleiten und kippte ihn. Der Gepfählte fiel heraus und tauchte ins schmutzige Wasser. Schneller, als ich schauen konnte, löste sich der geschrumpfte Körper auf. Er war verschwunden, noch bevor die ausgelösten Wellen gegen die glitschigen Steinstufen klatschten. Mir fiel ein dicker Stein von der Seele. Es war noch einmal gutgegangen. In meine Erleichterung mischte sich Bedauern mit dem Mann. Dieses Schicksal hatte er nicht verdient. Eine unbändige Wut auf die dunklen Mächte packte mich. Sie hatten hier wieder ein Opfer gefunden. Schon das nächste konnte ich sein. Oder sonst jemand. Als ich die Steintreppe hochstieg, schauten mich drei graue Gesichter an, die vom blanken Entsetzen gezeichnet waren. Die Kollegen hatte es böse mitgenommen. »Fahren wir«, sagte ich knapp und merkte, wie es mir die Haut zwischen den Schulterblättern zusammenzog. Blitzschnell schaute ich in die Runde. Jetzt war etwas da. Oder jemand, der uns beobachtete. Ich wollte mein nächstes Gehalt darauf wetten. Zwischen den verfallenen Lagerhäusern und auf den Rampen rührte sich nichts. Die gähnenden Fensterhöhlen waren ebenfalls leer. Ein Motorboot surrte auf der Themse daher. Verdammt dicht an der vergammelten Anlegemauer. Mehr zufällig schaute ich hin. Der Schreck fuhr mir eisig bis ins Mark.
Im Boot stand, das Steuer in der Hand, der untote Inspektor Peter Woods. Er hob die Faust und drohte mir. »Das ist der Kerl!« stieß ich hervor. Ich angelte meine Automatic heraus, sank in Combat-Stellung und gab drei blitzschnelle Schüsse ab. Der Krach schepperte über den Fluß und wurde von der Front des Zollhauses gegenüber zurückgeworfen. Meine Kugeln galten nicht Woods. Dem hätten sie nichts ausgemacht. Ich hatte auf den Motor gezielt. Vielleicht explodierte der Apparat. Oder das Boot kriegte ein nettes Leck, und Woods kam zu einem unfreiwilligen Bad in der Dreckbrühe. Vielleicht brachte ihn das Wasser um. Ich wünschte es sehnlich. Er war schließlich ein Vampir. Und obendrein ein Untoter. Weiß der Teufel, wo meine Kugeln blieben. Ich konnte keine Wirkung erkennen. Das Boot schien nicht einmal ein Loch abbekommen zu haben. Wasser hatte ich aber auch nicht aufspritzen sehen. Woods drohte noch einmal her und lenkte dann das Boot auf die ›Belfast‹ zu, die auf unserer Seite fest vertäut lag. Ein ganzes Stück flußabwärts. Er brauste unter der ausgelegten Gangway her und kam hinter dem Schiffsrumpf außer Sicht. Ich wurde den Verdacht nicht los, daß er mich locken wollte. Daß er mich animierte, mir ein Boot zu schnappen und hinter ihm herzukurven. Ich pfiff ihm etwas. Denn ich merkte die Absicht. Er wollte mich mit allen lausigen Tricks vom Besuch der versteinerten Monstergestalten in Finsbury abhalten. Verärgert über den Mißerfolg meiner Schüsse, steckte ich die
Automatic weg. »Sind Sie wahnsinnig, Kinsey?« fauchte mich der Kollege an, der mich durch sein Zaudern und seine dauernden Einwände schon genügend genervt hatte. »Sie können doch nicht einen wildfremden Menschen unter Feuer nehmen! Also, das kann ich nicht vertuschen, das muß der Chef erfahren, so geht das nicht in unserem Laden.« »Wildfremder Mensch? Mann, Sie machen mir aber Laune! Das war der unselige Inspektor Woods. Wenn Sie seine Beschreibung ein wenig besser im Kopf hätten, wäre Ihnen das nicht entgangen. Machen Sie den Mund wieder zu, es sieht nicht gut aus!« Ich hastete zum Wagen, und es war mir jetzt völlig egal, ob die Kollegen zurückblieben und sich noch eine Weile wunderten und entsetzten oder ob sie mitkommen wollten. Ich stand unter Druck. Mir brannte die Zeit auf den Nägeln. Jede vertane Minute war ein Gewinn für meine Gegner. * Schutzsuchend klammerte sich Ginny an die Hexe. Sie war verängstigt, sie verstand nicht, wieso sie plötzlich in einem Wald stand statt daheim im Flur. Der Gummiball war auch nicht da. Außer Miriam auch keine Menschen. Aber wenigstens war auch der schreckliche Mann fort, der so seltsam ausgesehen hatte und der so böse die garstigen Krallenhände nach ihr ausgestreckt hatte. »Keine Angst, mein Kleines, ich bin ja bei dir«, sagte Miriam und nahm Ginny auf den Arm. Sie waren mit der eigenartigen Nebelzusammenballung ganz
zart gelandet. Der Nebel hatte sich zurückgezogen und an einer anderen Stelle neu geformt. Er brodelte und wallte zwischen den Bäumen und wirbelte in die Höhe, das es wie Rauch aussah. Miriam ersparte Ginny diesen Anblick. Die Kleine hätte sich nur noch mehr gefürchtet. Dann was hier geschah, blieb sogar ihr weitgehend unverständlich. Der Nebel hüllte mächtige Bäume ein, und wenn er ein Stück weiterschwebte, war der Baum verschwunden. Fort, als hätte nie einer an der Stelle gestanden. Selbst die Büsche wurden auf rätselhafte Weise aufgelöst. Und auch das Erdreich wurde verschlungen. Stück für Stück wurde ein großer schwarzer Felsen freigelegt. Miriam erschauerte. Den Felsen kannte sie. Und sie würde ihn auch nie vergessen. Es war der Hexenstein von Llanwellyn! Schwarz kam er zum Vorschein. Er wirkte aber kein bißchen düster. Er lag auf grauem Sandstein und war niemals mit diesem entstanden. Einst hatten ihn Urkräfte und die magischen Worte der Druiden an diesen Ort auf der Bergspitze getragen. Der geheimnisvolle Nebel legte in der Nähe zwei aufrechtstehende Steine frei. Sie waren unverkennbar behauen. Die Kanten waren grob, aber Menschen hatten einst Hand an sie gelegt. Seltsame Zeichen und Gesichter waren eingeritzt. Die aufrechten Steine sollten ein Tor darstellen. Das Tor für diejenigen, die damals aufgenommen wurden in den Bund der Hexen.
Wer außerhalb stand, war unwissend. Sobald er aber das Tor passierte und zum Stein trat, gehörte er zum Kreis der Wissenden. So war einst die Zeremonie gefeiert worden. Miriam erkannte alles wieder. Da war der Kreis aus Feldsteinen, der rechts und links vom Tor begann und den schwarzen Stein einschloß. Unterhalb begann die Quelle zu plätschern, mit deren warmem Wasser sie damals die Weihe empfangen hatten. Nur die Priester waren nicht da. Auch nicht die Hexen. Und es war nicht Nacht. Aber sonst vermißte Miriam nichts. Gebannt verfolgte sie das Schauspiel der Wiedererstehung von Llanwellyn. Der Nebel brodelte und wallte und wehte über den Baumwipfeln davon. Die glatte Felswand tauchte vom Erdreich, von Wurzeln und Bäumen befreit auf. Darin gähnte die Höhle, in der die Priester gelebt hatten. Der Natur, den Geistern und den freien Kräften immer nahe. Dort hatten die künftigen Hexen gefastet. Zwei Tage und zwei Nächte. Bis sie bereit waren für den Schwur. Miriam wandte sich langsam um und schaute von der Berghöhe. Ginny barg ihr Gesichtchen an ihrem Hals. Heiß rannen die Kindertränen. »Will heim«, schluchzte die Kleine. »Bald«, tröstete Miriam. »Bestimmt bald. Hast du Hunger? Ich finde Wurzeln für uns.« Die Ernährung würde ein besonderes Problem werden. Und nachts wurde es kalt, selbst wenn sie in der Höhle Zuflucht fanden.
Ginny hatte nur ein dünnes Kleidchen an. Miriam war besser ausgestattet. Sie trug ein knöchellanges Unterkleid, einen ebenso langen Wollrock, eine Bluse und darüber eine altertümliche Strickjacke. So ging sie immer aus in Soho. In diesem Aufzug kannte man sie in der Berwick Street. Hier war nicht Soho. Hier war Llanwellyn. Die Strickjacke war groß genug, darin konnte sie Ginny einwickeln und in der Nacht warm halten. Gegen den Durst war das Wasser der Quelle gut. Es war warm, aber das schadete nicht. Im Gegenteil. Es ließ sich angenehmer trinken. Miriam war zuversichtlich. Die Angst vor Likkat, dem Kurier aus dem schwarzen Jenseits, wurde sie jedoch nicht los. Sie hockte in ihrem Herzen. Der Bote des Bösen würde kommen. Irgendwann. Die Zauberkraft des Hexenbundes hatte ihn hinwegkatapultiert. Nicht zurück in die Schwarzwelt. Nur in die Welt der Menschen. Die zweifelte nicht, daß er Llanwellyn fand. Die Boten fanden immer ihr Opfer. Hier am Hexenstein war jedoch ihre Welt. Sie spürte, wie eine belebende Kraft in sie strömte. Miriam war entschlossen, mit Likkat zu kämpfen, wie sie es ihm angeboten hatte. Mit allen magischen Kräften. Mit der geballten Kraft des Zaubers. »Ist ja schon gut, Ginny«, sprach sie und strich der Kleinen übers Haar. »Hast du jemals so viele Bäume gesehen?« Ginny barg weiterhin das Gesicht an ihrem Hals. An Bäumen war sie nicht interessiert. Sie wollte überhaupt nichts sehen. Aber Miriam schon. Sie blickte in die Richtung, in der einst die paar Hütten von Llanwellyn an der Flanke des Berges gestanden hatten. Die Fa-
milien der Druiden hatten dort gelebt. Wald deckte die Stelle. Weiter drunten im Tal allerdings entdeckte sie ein Dorf. Gekrümmt wie ein Wurm wand sich eine kleine Straße von den Häusern fort durch Felder und verlor sich im Dunkel der Wälder. Die Gegend lag immer noch sehr abgeschieden. Aufgeregte Stimmen ließen Miriam neugierig werden. Die Stimmen schallten von der Bergflanke zu ihr herauf. Sie empfing Gedankenströme, die von Verwunderung und purer Neugierde bis zu größter Bestürzung und Angst reichten. Sehr viele Ströme waren es. Angestrengt schaute sie auf das Dämmerlicht unter den Bäumen. Da kamen Leute. Nein, keine Leute. Fast noch Kinder waren es. Mindestens ein Dutzend! Miriam hatte keine Erklärung dafür, woher die Kinder plötzlich kamen. Sie suchte nach den fremden Gedanken und erschrak. Die Gedanken drehten sich zum Teil um den Hexenstein! Verrat! zuckte es ihr durch den Kopf. Schändlicher Verrat! Likkat hat den Ort an die Menschen verraten! Sogar diese Kinder wissen vom Hexenstein! Die Gedanken jedoch wurden präziser, sie konnte sie besser auseinanderhalten. Likkat, der Kurier des Bösen, kam nicht darin vor. Die Kinder kannten ihn gar nicht. Sie hatten nicht einmal erwartet, hier einen schwarzen Stein zu finden. Am wenigsten aber waren sie darauf vorbereitet, eine Frau mit einem Kind auf dem Arm zu sehen. Auch der wallende Zaubernebel erschreckte sie. Sie hielten
ihn für Rauch. In einem jähen Ausbruch von Entsetzen stoben die Kinder schreiend davon und verschwanden im Dämmer des Hangwaldes. Miriam hörte noch eine Weile ihre Rufe. Danach kehrte wieder Friede ein. Die Hexe hielt die Kleine sicher und warm und trat durch das Druidentor in die Höhle. Der alte Zauber umfloß sie mit Macht. Er drang aus den Wänden, dem Boden, aus den herausgehauenen Sitzen, wo die verstorbenen Druiden in sitzender Stellung aufbewahrt worden waren. Die Toten waren zu Staub zerfallen, Miriam sah ihn matt schimmern. Vorsichtig tauchte sie die linke Hand hinein. Sofort verspürte sie eine Wärme, die ihr Mut gab und Zuversicht einflößte. Die Priester waren vergangen, ihre unvorstellbare magische Kraft wirkte jedoch noch immer. Die hatte sich im Körperstaub erhalten. Das war gut so, denn Miriam überlegte, daß der Staub eine gute Waffe gegen den schrecklichen Likkat war. Sie wollte sich indes nicht nur auf den Staub verlassen. Sie war mit Ginny hergekommen, aber sonst mit leeren Händen. Tiefer drang .sie in die schaurige Höhle ein. Irgendwo tropfte Wasser. Miriam konnte natürlich einen Zauber über Likkat sprechen und den Hexenbann gegen ihn schleudern. Nur fürchtete sie, daß das zuwenig war. Eine einzelne Hexe konnte nicht gegen ein Wesen der Schwarzwelt auf Dauer bestehen. Bestimmt ließ sich Likkat auch neue Gemeinheiten einfallen. Er hatte den Mann im Flur bedenkenlos getötet. Und er hatte
nicht gezögert, die fürchterlichen Krallen nach Ginny auszustrecken, um sie als Geisel zu nehmen. Der Kurier des Bösen würde auch hier etwas finden, um Miriam zu erpressen. Menschen zum Beispiel. Drunten im Dorf lebten sie. Oder er bemächtigte sich der Kinder, die vorhin entsetzt davongelaufen waren. Auch die würde er finden. Ein unerklärliches Gefühl trieb Miriam, sich zu beeilen. Sie ging tastend tiefer in die Höhle und beruhigte die Kleine auf ihrem Arm. Ginny fürchtete sich, es wurde immer dunkler. Wo waren die Kultgegenstände, die damals die Felswände geziert hatten? Die Zauberhölzer und Knochen, die Wurzeln und trockenen Kräuter? Nichts war davon mehr da. Miriam kam es vor, als sei die Höhle vom letzten Druiden ausgeräumt worden, damit die heiligen Gegenstände nicht in unrechte Hände fielen. Sie hielt sich nicht damit auf, nach etwas zu suchen, das offensichtlich schon vor langer Zeit fortgeschafft worden war. Sie konzentrierte sich auf jene Plätze, wo die entsetzlichen Waffen nach dem Kampf gegen die bösen Geister und Dämonen und die Götter des Bösen vergraben worden waren. Das war lange vor dem Hexenschwur gewesen. Die Plätze kannte man auch nur noch aus der Überlieferung. In der Umgebung des Steines waren sie in die Erde getan worden. Außerhalb des Steinringes, denn mit ihnen war getötet und vernichtet worden. Aber wo waren sie? Miriam erreichte jene Stelle, wo Wasser von der Decke der Höhle tropfte. Sie streckte den linken Arm aus und machte noch ein paar Schritte. Da war das Ende der Höhle! Ihre Finger berührten rauhen feuchten Fels.
Sie kehrte um. Dabei stieß ihr Fuß gegen etwas am Boden, das umfiel und mit einem eigentümlichen Klingen über den unebenen Steinboden kollerte. Sofort bückte sie sich und tastete herum. Sie bekam einen Becher zu fassen. Wie Feuer durchrieselte es sie. Sie steckte ihn in die Rocktasche und suchte weiter den Boden ab. Das tropfende Wasser fiel in ein natürliches Becken. Ihre Hand tauchte darin ein. Ein Stück weiter berührte sie Knochen. Und dann einen Schädel! Den eines Menschen. Das Dach war gespalten. Sie verstand mit einem Schlag. Der letzte Druide hatte, als er die alte Religion versinken sah, sich selbst geopfert, um die Götter und guten Geister noch einmal gnädig zu stimmen. Ein rührendes, aber sinnloses Opfer. Denn das vordringende Christentum war nicht mehr aufzuhalten gewesen. Miriam wußte, wie eine Selbstopferung stattfand. Das Opfer bereitete sich durch Fasten vor, verbrannte alle persönliche Habe und zog sich an einen verborgenen Ort in der Nähe des Heiligtums zurück. Dort weihte es seine Seele den Göttern und faßte den Krif, die furchtbarste Waffe aus der Schlacht gegen die Dämonen und bösen Götter. Der Krif war ein Beil mit drei Klingen. Nicht die Schärfe des Eisens, das nie rostete, verlieh ihm seine Kraft, sondern die Magie, die die Druiden hineinbeschworen hatten.
Das Opfer hob diesen Krif über sein Haupt und schlug zu. Schon die kleinste Verletzung mit dem Drei-Klingen-Beil brachte den Tod. Ohne einen Unterschied zwischen Lebenden und Geistern und Dämonen zu machen. In der Hand eines entschlossenen Kämpfers war der Krif eine grausame Waffe. Mit solchen Drei-Klingen-Beilen und furchtbaren Beschwörungen hatten einst die Vorfahren der Druiden die Schlacht gegen die Mächte des Bösen entschieden. Sie hatten die Vasallen des schwarzen Fürsten in die Finsternis vertrieben. Seit jener Zeit kämpften diese Mächte um die Rückeroberung der weißen Welt. Immer wieder traten sie an. Mit Einzelkämpfern oder ganzen Heerscharen. Noch war ihnen die Eroberung nicht gelungen. Aber sie sammelten Einzelsiege. Über einen Krif und seine Bedeutung wußte Miriam sehr gut Bescheid. Vor der Hexenweihe war sie zusammen mit den anderen Frauen von einem Druiden unterrichtet worden. Nach der Sage waren zwei Krifs in Llanwellyn vergraben. Das Herz pochte Miriam bis zum Hals herauf. Der Druide, dessen Gebeine sie berührt hatte, hatte sein Lebensopfer in jedem Falle nach der Hexenweihe dargebracht. Sonst hätte sie davon gewußt. Das bedeutete, er hatte einen Krif ausgegraben und in die Höhle mitgenommen. Er hatte dann seine Seele den Göttern geschenkt. Daß seine Gebeine unbestattet hier lagen, verriet, daß nach ihm niemand mehr die Höhle betreten hatte. Vielleicht, weil er der letzte Wissende gewesen war und das Geheimnis um das Heiligtum mit sich genommen hatte. Damit mußte auch der Krif irgendwo hier liegen.
Miriam fürchtete sich einerseits vor der schrecklichen Waffe, andererseits erschien sie ihr als das beste Zaubermittel gegen Likkat, den Boten. Wenn sie sie besaß, war das Kräfteverhältnis ausgewogen. Ginny schluchzte lauter. Die Dunkelheit behagte ihr überhaupt nicht. Miriam wollte gerade die Kleine absetzen, um auch die rechte Hand frei für die Suche nach dem Krif zu haben, als ein schauriges Rumoren und Poltern aus der Erde und den Felsen drang. Der Boden bebte, der Fels knirschte bedrohlich. Steine sprangen aus der Decke, ein Wasserstrahl schoß in das natürliche Becken. Ein Erdbeben, dachte Miriam und ergriff Ginny. Nur raus hier, bevor alles einstürzt! Das schreckliche Grollen wurde lauter und anhaltender. Die Hexe lief zum Ausgang. Draußen sah sie, wie sehr sich der Boden warf. Der Ring aus Felssteinen tanzte förmlich, die beiden Steine neigten sich nach rechts und links wie Schilf im Wind. Und der schwarze Hexenstein hüpfte auf dem Sandsteinuntergrund wie ein Stück Holz auf bewegtem Wasser. Miriam wurde herumgestoßen. Sie taumelte an den schwarzen Stein und fiel auf die Knie. Ginny schlang die Ärmchen fest um sie. Minutenlang hielt das Schütteln und Bocken der Erde an. Der Zaubernebel hüllte zeitweise die Hexe, das Kind und den Stein völlig ein. Dann ließ das Schaukeln der Erde nach. Schließlich hörte es ganz auf. Benommen blieb Miriam am Boden kauern. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn
das Erdbeben sie und Ginny in der Höhle getroffen hätte. Die war bestimmt eingestürzt. Sie wandte den Kopf. Die Höhle war unversehrt, wie es schien. Auch der magische Ring aus den Feldsteinen war wieder vollständig, und das Tor stand fest. Miriam begriff es nicht. Oder vielleicht doch? War das die Zaubermacht von Llanwellyn, die allem wieder die festgefügte Ordnung gab, egal, was Verwüstung stiften wollte? Sie stand auf. Dabei schlug der Rock gegen den schwarzen Stein. Der Becher in der Tasche gab einen klingenden Ton von sich. Sie holte ihn ans Tageslicht. Verblüfft betrachtete sie ihn. Sie hatte ihn schon einmal in der Hand gehalten. Früher. Den Trank des ewigen Lebens hatten sie daraus empfangen. Er war aus Silber gehämmert und grob geglättet. Für die damalige Zeit eine bewundernswerte handwerkliche Leistung. In ihn waren dieselben unbekannten Zeichen und Gesichter geritzt, wie sie auf den beiden Steinen des Tores zu sehen waren. Miriam hielt ihn in der Hand und überlegte. Als Waffe nützte er sicher nicht. Aber sie konnte Staub von den Sitznischen hineinfüllen. Dann hatte sie ein starkes Zaubermittel immer bei sich. Ginny stieß sie an und zeigte mit dem schmutzigen Zeigefinger aufgeregt in die Höhe. Miriam hob den Kopf. Der Zaubernebel hatte sich verflüchtigt, ohne daß sie es gewahr geworden war. So leise und behutsam und geschwind, wie er sie aus London hergeführt hatte, war er nun gegangen. Fasziniert schaute die Hexe auf Ginnys Zeigefinger. Kritisch begutachtete sie die ganze Hand, dann die andere.
Du lieber Himmel, was war die Kleine für ein Dreckspatz! Das viele Weinen hatte obendrein das Rotznäschen ausgeräumt und alles auf den Wagen verteilt. Eine gründliche Säuberung war nötig. Sie faßte die Kleine an der Hand und ging mit ihr die paar Schritte zu der warmen Quelle, die neu entsprungen war. Hangabwärts rumorte das Wasser. Es suchte sich eine Rinne zu bahnen und schob Laub und Äste und erstes Geröll zu Tal. Der Ursprung war ein dunkles Loch, aus dem das Wasser quoll. Ginny beugte sich darüber und schlug tolpatschig die Händchen zusammen, als sie ihr Spiegelbild erblickte. Nur beugte sie sich ein wenig zu weit vor. Im Handumdrehen stürzte sie in die Quelle und brüllte wie am Spieß. Miriam zog sie mühelos heraus. Die Kleine triefte wie ein vollgesogener Schwamm. Die Hexe fand, daß so ein überraschendes Sturzbad auch seine angenehmen Seiten hatte. Jedenfalls war der Dreck an Ginny schon mal gut eingeweicht. Kurz entschlossen zog sie die Kleine aus und rieb sie mit Wasser gründlich ab. Das Problem war, worin sie Ginny einhüllen sollte. Die zeterte immer noch. Wasser schien ihr weitgehend unbekannt zu sein. Das Kinderkleidchen, die Unterwäsche, die Söckchen, sogar die Schuhe waren pitschenaß. Miriam wrang die Sachen erst einmal aus. Dann streifte sie Ginny die Wasserperlen ab und zog ihr ihre Strickjacke über. Aber nach einer Weile bibberte die Kleine. »Kalt, Tante Miam«, beschwerte sie sich. Notgedrungen zog Miriam ihr auch noch die eigene Bluse
unter. Erst danach war Ginny zufrieden und guckte neugierig aus dem Kragen der viel zu weiten Strickjacke. Wie ein Zwerg sah sie aus, der einen zu großen Mantel gefunden und angezogen hat. Miriam hängte die Sachen der Kleinen auf die Zweige der Büsche in der Nähe der Quelle. Die Sonne kam heute nicht durch, die Wolken trieben tief. Aber ein Wind ging. In ein paar Stunden konnte er die Kleidung getrocknet haben. Plötzlich zog es der Hexe schmerzhaft das Herz zusammen. Was war nur mit den Wolken los? Sie glühten in einem unheimlichen Rot auf. Als würde hinter ihnen ein gewaltiges Feuer brennen. Genauso hatten am Morgen die Wolken über der Straße in Soho geleuchtet, daß der Passant gesagt hatte, es sähe aus, als hätte jemand sie angezündet. Mit einem leisen Schrei sprang Miriam auf. Sie spürte, daß es wieder kam – das Böse. Likkat nahte! Der Kurier aus dem Jenseits war eingetroffen. Und nun verstand sie auch, was die Erde geschüttelt und gebeutelt hatte. Es war kein Erdbeben gewesen. Es hatte die Ankunft von Likkat signalisiert. Und sie hatte dieses Zeichen nicht beachtet. Sie raffte den Rock, umklammerte den Becher und stürzte in die Höhle. Mit flatternder Hand wischte sie Staub zusammen, der von den Körpern der Druiden übriggeblieben war, und fegte ihn in den Becher. Ein leises Klingen und Singen drang aus dem Metall. Eine angenehme Wärme durchströmte ihre Hand, die den Becher hielt.
Jetzt noch den Krif, dachte sie, und ich bestehe den Kampf! Dann mag er nur kommen, mich übertölpelt er dann nicht mehr! Ginnys angstvoller Aufschrei riß sie förmlich in die Höhe. Sie stürzte aus der Höhle und erstarrte. Er war schon da! Wo er den Hang heraufgekommen war, zog sich eine Spur der Vernichtung durch den Wald. Laublose Bäume und braunes Gras markierten seinen Weg. Likkat stand nur wenige Schritte von Ginny entfernt und sandte seine lauernden Blicke in die Runde. Er mißtraute dem Platz. Er spürte die andere Macht, die sich gegen ihn stellte. Er hielt Abstand vom magischen Ring der Feldsteine. Er hatte ebenso vermieden, dem schwarzen Stein von Llanwellyn zu nahe zu kommen. Gerade, als fürchtete er, der Stein könnte sich auftun und einen vernichtenden Blitz auf ihn schleudern. Miriam erfaßte dies in einem Augenblick. Likkat spürte die Macht des Zaubers, aber er wußte nicht, von wo sie kam. Er vermutete es nur. Natürlich, es konnte nicht anders sein. Denn er war ein Unwissender. Er nahm eine Bewegung seitlich von sich wahr und warf den häßlichen Kopf mit dem Rübengesicht herum. Jetzt entdeckte er Miriam. Sein dünner Mund klaffte auf, seine schwarze Zunge quoll förmlich hervor. »Du dreckiger Hexenbastard!« brüllte er, daß der Boden bebte und Ginny vor Entsetzen auf den Po fiel und noch viel erbärmlicher als zuvor schrie. »Den Streich tränke ich dir ein! In die Erde hast du mich gehext, ich wäre fast nicht herausgekommen. Warte, das wirst du mir büßen, du hinterlistiges Weibsstück!«
Seine wilde Wut verrauchte und wich einer hämischen Genugtuung. Sein abstoßendes Gesicht verzerrte sich. Likkas tappte weiter und beugte sich über Ginny. Seine Krallenhände senkten sich, um die Kleine vom Boden hochzureißen. Miriam überlegte gar nicht erst, sie handelte instinktiv. Sie warf sich mit Riesensprüngen Likkat entgegen. Das irritierte ihn. Er ließ von Ginny ab und wandte sich der Hexe zu. Sie griff ihn an, wenn ihn nicht alles täuschte. Er lauerte auf Gedankenströme. Doch da kam nichts. Die Hexe schirmte sich ab. Plötzlich sah der Kurier der Schwarzwelt einen blinkenden Gegenstand in Miriams rechter Hand. Er stampfte auf. Sofort glühte der Boden. Dieses gerissene Weib hatte offensichtlich doch eine Waffe! Er konnte sie nicht genauer sehen. Doch mit einer Nebensächlichkeit würde die Hexe bestimmt nicht auf ihn losgehen! Er straffte seinen unproportionierten grauen Körper. Seine Rübennase blähte sich auf, seine eng beisammenstehenden Augen wurden starr. Und dann zuckte ein greller Blitz aus diesen Augen. Miriam spürte die Gefahr, bevor der Angriff folgte. Sie duckte sich im vollen Lauf. Ein Blitz zuckte über sie hinweg. Hinter ihr krachte es teuflisch. Aber sie ließ sich nicht dazu verleiten, den Kopf zu wenden. Likkats erster Angriff war fehlgeschlagen. Mit seinen Augen vermochte er zu töten. Er spielte die Kräfte der Schwarzwelt aus. Wieder wurden die grauen Augen starr. Die Rübennase quoll dick auf. Jetzt mußte der Blitz gleich kommen!
Miriam schleuderte den rechten Arm nach vorn und schüttete dem Boten des Bösen den Staub der toten Druiden mitten ins grauenhafte Gesicht. Gleichzeitig warf sie sich zu Boden. Grell schoß es aus Likkats Augen und durchdrang die Wolke von Totenstaub! * »Die Gräber haben sich aufgetan!« schrie Shawn und wedelte mit den Armen. »Ich hab's gesehen, ich stand daneben. Der Teufel ist aus der Erde gestiegen…« Die Menschen lauschten ihm, blaß und angstvoll. Pater Milton blickte auch besorgt. Aber er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als Zustimmung erkennen zu lassen. »Shawn, versündige sich nicht!« sagte er tadelnd. Aber Shawn ließ sich nicht totreden. »Was ich gesehen habe, habe ich gesehen! Er hat die Toten aus ihren Gräbern geworfen, wahrhaftig. Wer's nicht glauben will, soll hinaufgehen. Sie liegen noch genauso herum. Lieber Himmel, der Teufel selber ist nach Twyn-Llanan gekommen. Habt ihr seine Fußtritte gesehen? Sie haben geglüht wie das Höllenfeuer. Und Krallen hat er an den Füßen, also das habe ich noch nie gesehen. Und den ganzen Berg hinauf sind die Büsche und Bäume mit einem Schlag kahl geworden…« »Shawn, halt endlich den Mund!« unterbrach ihn Pater Milton schon wieder. »Wer weiß, was du gesehen hast! Vielleicht war es nur ein Erdbeben.« Aber jetzt wurde der Gottesmann von seiner eigenen Gemeinde niedergeredet. Die Leute hatten so ziemlich dasselbe beobachtet wie Shawn. Etwas anderes konnte ihnen der Pater nicht einreden.
Außerdem hatten sie auch den Rauch von der Spitze des Schwarzen Berges gesehen. Bloß das mit den Gräbern und den Toten wollten sie Shawn nicht abnehmen. Drei beherzte Männer stiegen zum Friedhof hinauf. Die Zurückbleibenden schauten ihnen ängstlich nach. Die Männer verharrten am niedergebrochenen Portal. Und dann kehrten sie um und hasteten den Berg herab, als sei der Teufel hinter ihnen her. »Pater, es stimmt!« berichtete einer keuchend. »Die Gräber sind geöffnet, Tote und Gebeine und Särge liegen nur so herum. Da ist alles verwüstet.« Die meisten Leute bekreuzigten sich. Pater Milton kniff die Lippen zusammen. Die Leute erwarteten jetzt von ihm, daß etwas unternommen wurde. Durch die kirchliche Lehre war er gehalten, an die leibhaftige Existenz des Teufels zu glauben. Für sich privat zweifelte er sehr daran, daß es ihn in leiblicher Form gab. Die Gestalt jedoch hatte er auch gesehen. Vielleicht sollte sich erst einmal die Polizei darum kümmern. Dieser Gedanke sagte ihm sehr zu. Wofür gab es schließlich die Polizei? Und falls die zu dem Schluß kam, daß doch ein teuflisches Wesen erschienen war, konnte er immer noch seine übergeordnete Kirchenbehörde informieren. »Wir werden sehen«, beruhigte er seine Gemeinde. »Wir rühren nichts an, die Polizei soll sich ein genaues Bild machen.« »Polizei?« Shawn schnappte nach Luft. »Wir haben keine Polizei.« »Der nächste Posten ist in Ammanford, ich weiß. Aber in Dywed gibt es ein Telefon, man kann sie verständigen.« »Bis dahin sind es sechs Meilen«, rechnete ein Mann dem Pa-
ter vor. »Ich habe ein Fahrrad.« Pater Milton versuchte Ruhe in die aufgeregte Schar zu bringen. »Ich fahre selber hin.« Die Leute guckten verdutzt. Daß er ein Fahrrad besaß, war allgemein bekannt. Aber drauf fahren gesehen hatte ihn noch niemand. Shawn argwöhnte, daß der Pater sich sogar vor den herausgeschleuderten Toten auf dem Friedhof ängstigte. Warum war er denn nicht mit den Männern hinaufgegangen? Er war noch ein sehr junger Pater, vielleicht lag es daran. Pater Milton wandte sich dem Dorf zu. Wie eine verschüchterte Hühnerschar, die den Habicht fürchtet, gruppierten sich die Leute um ihn. Noch bevor sie die ersten Häuser erreichten, sahen sie die Schulklasse aus der Jugendherberge vom jenseitigen Hang herabstürmen. Die Lehrer waren dabei. Und sogar Mr. Peeples, der Herbergsvater. Pater Milton hatte kein gutes Gefühl bei diesem befremdlichen Anblick. Er schritt schneller aus. In der Ortsmitte trafen die beiden Gruppen zusammen. Shawn nagte an der Unterlippe. Hoffentlich hielt das junge Volk den Mund und sagte nichts von seinem nächtlichen Besuch. Er merkte gleich, daß es um eine andere Sache ging. Er atmete auf. Und er spitzte die Ohren. Mr. Peeples machte sich zum Sprecher. Vom schnellen Lauf war sein breitflächiges Gesicht gerötet. Sein Atem ging keuchend. »Hochwürden«, japste er, »die Kinder waren auf dem Berg. Sie sagen, ihnen sei plötzliche eine Frau erschienen, die ein kleines Kind auf dem Arm hält. Und der Wald hätte gebrannt,
und wo sonst Bäume standen, sei jetzt ein schwarzer Stein zu sehen. Und sogar eine Quelle sei bei diesem Stein entsprungen. Ich denke, das geht Sie an, falls es ein Wunder…« Pater Milton spürte, daß ihm die Dinge entglitten. »Das Wort Wunder wollen wir doch ganz schnell vergessen, lieber Peeples«, sagte er. »Wer weiß, was die Kinder gesehen haben!« Ein Junge mit einem trotzigen Gesicht schob sich nach vorn. Er blies die Backen auf. Dem Pater war er bei den Besuchen schon als widerborstig aufgefallen. »Da oben ist wirklich eine Frau, das können Sie uns schon glauben, Pater«, sagte er in einem sehr aufsässigen Ton. »Und sie hat auch ein Kind dabei. Aber sie ist vielleicht gar nicht so wichtig, wie Mister Peeples tut. Den Mordsschrecken haben wir gekriegt, weil plötzlich ein schwarzer Stein zu sehen war. Die Bäume haben sich einfach aufgelöst, die Erde drum herum ist verschwunden, und dann lag er da, und die Frau stand dabei. Wenn Sie mich fragen, die hat sich über gar nichts gewundert. Vielleicht ist das der Hexenstein. Ist ja alles mächtig seltsam zugegangen.« Bevor Pater Milton ihn stoppen konnte, pflichteten die Schülerinnen und Schüler dem Jungen bei. Einige junge Gesichter zeigten noch den Ausdruck von Furcht, andere glühten vor Aufregung und Entdeckerfreude. Shawn schluckte. Der Hexenstein! Nach dem Lord Sutton immer gesucht hatte und den auch er hatte finden wollen. Zum Teufel, war das gerecht, daß die Kinder ihn entdeckt hatten? Unter Pater Miltons Gemeinde machte sich Betroffenheit breit. Das heftige Grollen hatte die Leute schon geängstigt. Die zum Berg wandernde Gestalt, die nach Shawns Worten der Teufel selber sein sollte, hatte sie in ihrem Aberglauben be-
stärkt. Und daß die Toten aus ihren Gräbern gefahren waren, hatte sie entsetzt. Jetzt hörten sie auch noch, daß der sagenumwobene Hexenstein sichtbar geworden war. Der Pater konnte ihnen erzählen, was er wollte, aber da bestand ein Zusammenhang! Die Geschehnisse kündeten vielleicht das Ende der Zeit an. Die Frauen begannen zu beten. Pater Milton erkannte glasklar an der Reaktion, was in den Köpfen vorging. Er war Realist, er sah ein, daß er den Leuten nichts mehr ausreden konnte. »Daß mir niemand auf den Berg geht!« sagte er streng. »Wir wissen nicht, was dort geschehen ist, aber es könnte uns gefährlich werden.« »Teufelswerk!« sagte ein Mann. »Es ist Teufelswerk, Pater.« Der Geistliche schaute ihn an. Der Mann verstummte. Pater Milton bahnte sich eine Gasse zu dem Pfarrhaus, das auch nicht in besserer Verfassung war als die Kirche. Im Schuppen, wo er das Brennholz stapelte, stand sein Fahrrad, das ihn nach Twyn-Llanan begleitet hatte. Er schob es heraus. Ärgerlich biß er sich auf die Lippen. Er fuhr nicht nach Dywed, das war sicher. Beide Reifen waren platt. Und Flickzeug besaß er keines. Er konnte weder die Polizei verständigen, noch Nachricht von den Geschehnissen an die Kirchenbehörde geben. Als er das begriff, stieg Angst in ihm auf. Hieß das, sie waren von der Welt abgeschnitten? Spielten sich hier wirklich teuflische Dinge ab, wie Shawn behauptete? Er war fast bereit, es zu glauben. Dann hatten die Leute doch recht mit ihrem Aberglauben,
den er ihnen nie hatte abgewöhnen können. Wenn der geheimnisvolle Hexenstein wirklich aufgetaucht war, dann handelte es sich bei der Frau gewiß nicht um eine wundersame Erscheinung, was ihm bedeutend lieber gewesen wäre. Dann war es womöglich eine Hexe! Und der Teufel war auf dem Weg, sich mit ihr da droben zu treffen! Je länger er nachdachte, desto überzeugender erschien ihm diese Erklärung. Auch wenn sich sein Verstand noch dagegen sträubte. Welche Rolle sollte aber das Kind spielen? Hatte der Teufel es mit der Hexe gezeugt, und die war nun gekommen, um den Gehörnten das Ergebnis vorzuführen? Unsinn, sagte sich Pater Milton, ich denke ja schon wie diese einfachen Leute hier! Aber dieser neue Gedanke fraß sich fest wie ein Wurm. Er hob den Kopf. Die Leute schauten schweigend herüber. Sie erwarteten, daß er etwas unternahm. Aber was? Und was war richtig? Er sah Shawn davonschleichen. Der alte Bursche hatte einen ganz sonderbaren Ausdruck im Gesicht. Der will ja auch den Teufel aus nächster Nähe gesehen haben, dachte der Geistliche. Sollte mich nicht erstaunen, wenn er darüber noch wunderlicher wird! Er schob das nutzlose Fahrrad in den Holzschuppen zurück. Beim Heraustreten fiel sein Blick auf den Stall der verstorbenen Caroline. Zu Lebzeiten war sie ein hartherziges Frauenzimmer gewesen. Vielleicht sogar ein böses Weib, wie er da und dort so gehört hatte. Aber sie hatte ihren Besitz zusammengehalten. Und sie hatte
das einzige Pferd von Twyn-Llanan im Stall stehen. Nachbarn kümmerten sich um den Gaul und das übrige Vieh, bis geregelt war, wer erbte. Nachdenklich blieb Pater Milton stehen. Eine verwegene Idee nahm langsam Gestalt in seinem Kopf an. * Der Tag konnte kein gutes Ende nehmen. Es war noch nicht einmal Mittag, und mir waren schon Dinge widerfahren, die anderen im ganzen Leben nicht zustießen. Nach Whitehall zurück stellte ich einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf. Die Gesichter meiner Mitfahrer wurden noch grauer. Ein Kollege erinnerte mich schüchtern daran, daß er seine letzte Prämie zur Lebensversicherung noch nicht bezahlt hätte. Ich knurrte ihn an und empfahl ihm, etwas risikofreudiger zu sein, und im übrigen hätte sich über meine Fahrweise noch niemand beschwert. Nicht einmal der Chef. Mit radierenden Reifen bog ich bei uns ein. Gerade wurde eine neue Schranke montiert. Ein Reparaturtrupp nahm sich des ramponierten Wachhauses an. Die Reste des Sarges waren entfernt. Wo ich Nobal vernichtet hatte, entdeckte ich nur noch eine geschwärzte Stelle auf dem Pflaster. Ich angelte den kleinen Flammenwerfer aus dem Kofferraum der Limousine und hockte schon in meinem MG, bevor die drei Kollegen aus dem Dienstwagen gekrabbelt waren. Wohin sollte ich zuerst? Das war eine Gewissensfrage. Der Chef wünschte, daß ich mich unverzüglich um die steingewordenen Monster kümmerte.
Nach dem, was Woods auf die Beine gebracht hatte, um mich von diesem Besuch abzuhalten, war es wirklich das Beste, wenn ich Sir Horatios Befahl ausführte. Aber noch dringender erschien mir, in Soho nachzusehen, was es mit den düsteren Verheißungen von Woods auf sich hatte. Ich konnte mir nicht helfen, ich glaubte dem Kerl. Gegen Miriam hatte sich etwas zusammengebraut. Etwas, das mit der geheimnisvollen Schwarzwelt zu tun hatte. Ich hoffte, daß die Hexe unversehrt war. Wenn sie Hilfe brauchte, konnte sie auf mich zählen. Gemeinsam konnten wir Dracula und Woods und die Schwarzwelt in die Pfanne hauen. Dachte ich. Außer meiner finsteren Entschlossenheit brachte ich nicht viel mit. Die dritte Lichtbombe, falls ich Dracula traf. Den Flammenwerfer, der vortrefflich gegen Kreaturen wie Nobal einzusetzen war. Und sogar gegen Woods. Aber damit war mein Sortiment auch schon erschöpft. Mit der Automatic konnte ich höchstens etwas Lärm machen. Die zählte ich darum gar nicht erst mit. Ich quetschte mich ziemlich aufdringlich durch den Verkehr. Natürlich war in der Gegend der Berwick Street in Soho alles verstopft. Ich kam nur noch im Schrittempo vorwärts. Wenigstens erwischte ich einen Parkplatz am Straßenrand. Im Sturmschritt sauste ich dem Haus zu, in dem Miriam Seilers wohnte. Mir sackte das Herz in die Magengrube, als ich die Polizeiwagen vor dem Haus erblickte. Auch ein Leichenwagen war da. Aber nicht der, mit dem Woods in Whitehall vorgefahren
war. Stadtpolizei und Beamte vom Yard wimmelten herum. Sechs Bobbies drängten Marktbesucher zurück, die die Nase ganz vorne dran haben wollten. Ein paar Gesichter der Beamten kannte ich. Und es wunderte mich, daß ich auch Leute vom Dezernat sah, das sich mit Entführungen befaßte. Ich zwängte mich durch die Menge. Ein Bobby erwischte mich am Ärmel. »Wohnen Sie hier?« fragte er höflich, aber bestimmt. Diese Prozedur kannte ich. Ich kürzte sie ab, indem ich ihm meinen Ausweis zeigte. Er ließ mich durch. Inspektor Fisher mit seiner Mordkommission arbeitete im Flur unten. Er schaute mich düster an. »Sie trifft man auch immer da, wo es nach Leiche riecht«, sagte er derb. »Ihre anzüglichen Komplimente erschüttern mich nicht«, gab ich zurück. »Kann ich mal durch?« »Was? Zu wem wollen Sie?« »Miriam Seilers. Wohnt oben. Ist eine Bekannte.« Sein Blick gefiel mir nicht. Was er dann sagte, noch viel weniger. »Ja, hat Ihnen Sir Horatio nichts bestellen lassen? Ich habe Sie angefordert.« »Sie mich? Es geschehen doch noch Wunder. Tut mir leid, ich habe von Sir Horatio nichts in dieser Richtung gehört. Vor zwei Stunden habe ich ihn zuletzt gesehen. Aber nun bin ich da. Wo drückt Sie der Stiefel?« »Diese Miriam Seilers drückt mich, Kinsey. Zum Teufel, mit der Dame scheint eine Menge nicht zu stimmen. Hier war die Hölle los, kann ich Ihnen flüstern. Mir schwirrt der Kopf! Da soll der Teufel oder ein Dämon oder ein Gespenst im Haus herumgesaust sein, das sich mit dieser Frau anlegen wollte.
Von Hexenblumen wird dauernd geredet. Sicher ist nur, daß wir einen Toten haben. Wollen Sie ihn sehen? Das Gespenst hat ihn in Stücke gerissen. Ein Dutzend Zeugen beschwört das. Wir kennen noch nicht einmal die Identität des Mannes.« »Danke, ich weiß, wie Tote aussehen können, die von Gespenstern umgebracht wurden. Was ist mit Miriam Seilers?« Mir war ganz eigenartig. Also hatte Woods nicht geprahlt mit dem Pakt, der zwischen Dracula und der Schwarzwelt zustande gekommen war. Der Kerl hatte mehr gewußt, als er mir an den Kopf geworfen hatte. Miriam war bereits etwas zugestoßen! Ich war zu spät gekommen. »Was mit der ist? Kidnapping«, sagte Fisher frostig. »Verdammt, Kinsey, ich komme mir vor wie einer, der an der Nase herumgeführt wird. Die Leute sagen, sie hätten einen Nebel oder so was gesehen, der hätte die Seilers und ein Kind und dann auch das Gespenst eingewickelt, und plötzlich seien sie alle drei verschwunden gewesen.« »Ein Kind?« Jetzt verstand ich, warum die Leute vom, Entführungsdezernat ebenfalls zur Stelle waren. »Ein Mädchen«, erklärte Fisher. »Drei Jahre alt, Ginny Bishop. Wohnt hier.« Er zeigte auf eine Tür nebenan, hinter der ich Jammern und Weinen hörte. »Mit der Mutter ist nicht viel los. Das ist so eine.« Er ließ sich über Mrs. Bishop nicht näher aus, aber ich konnte mir denken, was er meinte. Zuerst aber war Mrs. Bishop die Mutter, deren Kind verschwunden war. Unter zumindest sehr beunruhigenden Umständen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Miriam ein Kind entführt hatte. »Vielleicht hat das Gespenst die Frau und das Kind ver-
schleppt«, deutete ich eine andere Möglichkeit an. »Irrtum, Kinsey!« Fisher hob den Zeigefinger und ließ ihn verneinend vor meiner Nase wackeln. »Die Zeugenaussagen zeigen verblüffende Übereinstimmung. Die Seilers und dieser – also, dieses komische Ding hatten einen Mordskrach. Oben wohnt ein gewisser Hollings, der schnappt fast über, aber er hat Seltsames gehört. Das Gespenst wollte die Seilers mitnehmen. Sie hat es einen Dämon genannt. Ein Name ist auch gefallen. Das Ding soll Likkat oder so ähnlich heißen. Jedenfalls war die Seilers nicht bereit, mit dem Gespenst abzuhauen. Daraufhin will es sich das Kind schnappen, und da mischt sich der Mann ein, der jetzt tot ist. Der Likkat hat ihn regelrecht in Stücke gerissen. Und dann hat die Seilers dem Ding angeboten, mit ihm zu kämpfen. Am Stein von Llanwellyn würden sie sich treffen. Die Frau hat das unheimliche Ding irgendwie ausgetrickst, jedenfalls ist sie an das Kind herangekommen, bevor der Likkat es packen konnte. Und dann passierte die Sache mit dem Nebel. Also hat sie das Kind, ganz klar.« Danach sah es mir auch fast aus. Aber ich war kein Stück erleichtert. Ich wußte ja nicht, was der Likkat war. Womöglich ein Dämon aus der Schwarzwelt. Selbst wenn Miriam mit Ginny Bishop entkommen war, bedeutete es noch nicht, daß sie auch in Sicherheit war. »Stein von Llanwellyn?« fragte ich. »Kennen Sie den, Inspektor?« »Nein, aber klingt irgendwie walisisch.« In diesem Punkt stimmte ich ihm zu. »Sie erwähnten Hexenblumen. Was hat es damit auf sich?« »Sie können ja mal dran riechen, Kinsey«, schlug er vor. »Stinken wie eine Kiste toter Affen. Vor der Tür der Seilers steht ein Korb, die Blumen liegen drin. Dieser Hollings beschwört, daß die Seilers durchs Haus gerufen habe, doch um
Gottes willen die Hexenblumen nicht anzufassen. Andere Blumen haben wir nicht gefunden, also müssen es schon die in dem Korb sein. Komisches Gewächs, wenn Sie mich fragen. Ich bin Blumenliebhaber, aber solche habe ich noch nie gesehen.« »Die Blumen übernehme ich«, sagte ich spontan. »Bevor sie jemand in die Hand nimmt. Ich schätze, Miriam Seilers wußte genau, warum sie die Warnung gerufen hat.« »Für solche Dinge sind Sie ja Experte«, versetzte er etwas spitz, aber nicht die Bohne spöttisch. Mittlerweile schätzten sie auch beim Yard meine Dienste. Er hielt mich zurück, als ich nach oben wollte. Er deutete auf die Treppe. »Die Holzstufen sollen übrigens geglüht haben. An den Stellen, auf die das Ding getreten ist. Weiß der Teufel, ich glaube es sogar, obwohl wir nichts gefunden haben. Zwölf Zeugen können sich nicht irren.« »Kaum, Inspektor.« Mir schwirrte der Kopf. Das waren ja höllische Neuigkeiten, die ich da hörte. Miriam war tatsächlich mit einem Wesen aus der Schwarzwelt aneinandergeraten. Wenn alles geklappt hatte, war sie mit Ginny Bishop zum Stein von Llanwellyn unterwegs. Und der Dämon Likkat ebenfalls. Denn sie hatte ihn ja zum Kampf hinbestellt. Ein Königreich für einen Geistesblitz! Wo lag dieses Llanwellyn? Wales war groß. Eine Frau und ein Kind verloren sich darin. Fisher hatte immer noch die Hand an meinem Oberarm liegen. Er senkte sie Stimme: »Die Sache mit Woods geht uns schwer an die Nieren, glauben Sie mir. Haben Sie eine Spur von ihm?« Die Frage hatte ja kommen müssen. »Nicht direkt. Vor ein paar Stunden ist er mit einem Leichen-
wagen bei uns in Whitehall vorgefahren, er wollte mich abholen. Er ist als Untoter mindestens so tüchtig wie als Inspektor. Vor allem hat er Einfälle«, sagte ich. »Aber glauben Sie nur nicht, daß die mir gefallen.« Ich streifte Fishers Hand ab und stieg die Treppen hinauf. Vor Miriams Tür schob ein Bobby Wache. Er trat schnell heran, als ich den Korb musterte, den er ebenfalls bewachte, wie es aussah. »Vorsicht, Sir, fassen Sie ihn nicht an! Befehl, verstehen Sie?«. Ich schnupperte. Daß der Bobby nicht längst in Ohnmacht gesunken war, erschien mir wie das reine Wunder. Fisher hatte nicht übertrieben – die Hexenblumen stanken erbärmlich. Und etwas Fremdartigeres hatte ich nie gesehen. »Inspektor Fisher weiß Bescheid«, sagte ich. »Die Blumen nehme ich mit.« »Kann jeder sagen. Sir, ich habe hier eine Verantwortung.« Mein Ausweis überzeugte ihn, daß er zumindest die Verantwortung für die Hexenblumen los war. Ich griff mir den Korb und hütete mich, die Blumen zu berühren. Miriam mußte tausend gute Gründe gehabt haben, diese Warnung durchs Haus zu rufen. Für die gruseligen Vorfälle und den grausamen Mord an einem unschuldigen Mann gab es Zeugen. Ich wollte sie mir nicht anhören, Fisher hatte mich mit den wichtigsten Informationen versorgt. Der Inspektor weilte immer noch im, Flur. Ich ging ihn um eine Gefälligkeit an. Mir war da so eine Idee gekommen. »Kann ich Ihr Autotelefon benützen?« fragte ich. Er rümpfte die Nase und blickte auf die Blumen. Aber er nickte. Das war die Hauptsache. Seinen Dienstwagen kannte ich. Beim Yard fahren sie auch die alten Klapperlimousinen wie bei uns.
Sein Chauffeur paßte auf, daß das Fahrzeug unbeschädigt blieb. In Soho ist die Polizei nun mal nicht gern gesehen. Ich verständigte mich mit dem Chauffeur und angelte mir das Autotelefon. Ich rief Sir Horatio an. Auf der direkten Leitung. . »Sir, ich bin in Soho gelandet«, sagte ich und ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Miriam Seilers ist verschwunden, ein dreijähriges Mädchen wurde entführt, und ein Dämon hat bei der Sache mitgemischt. Jetzt müßte ich nur wissen, was der Stein von Llanwellyn ist und wo dieses Llanwellyn liegt. In Wales, meint Inspektor Fisher. Lassen Sie alle Beziehungen spielen, quetschen Sie Wissenschaftler und Forscher aus, befragen Sie Museen oder sonstwen, aber helfen Sie mir.« »Ich hätte es mir denken können«, ächzte er mir ins Ohr. »Wozu gebe ich Ihnen einen Befehl, wenn Sie ihn doch nicht ausführen? Ich dachte, Sie wären in Finsbury in diesem Schreckenskabinett.« »Dahin bin ich gleich unterwegs, Sir«, versicherte ich ihm treuherzig, aber seinem heftigen Schnauben entnahm ich, daß er mir nicht glaubte. »Ich mache nur noch einen kleinen Umweg über meine Wohnung. Ich habe das Gefühl, ich muß mich besser ausstaffieren. Ich rufe Sie in einer halben Stunde von dort an.« »Halbe Stunde?« wiederholte er düster. »Und in der Zeit soll ich das Rätsel lösen, das Sie mir aufgegeben haben? Wofür halten Sie mich? Hexen kann ich nicht.« »Üben, Sir, üben«, empfahl ich ihm und legte auf. Der Chauffeur hatte die Ohren ausgefahren, Er guckte mich an, als sei ich aus einer Zwangsjacke entschlüpft. Als ich ausstieg, wich er vorsichtshalber fünf Schritte zurück. Ich ließ ihn in dem Glauben, ich hätte eine Meise, und sah zu, daß ich mit dem Korb und den stinkenden Hexenblumen
fortkam. Nach Stanmore raus braucht man länger als eine halbe Stunde. Aber ich mußte die Vorgabe einhalten, die ich mir gesetzt hatte. Ich drückte auf die Tube. Wegen des Blumengestankes fuhr ich mit offenem Fenster. Es zog mir fast die Knöpfe vom Anzug, aber ich behielt dadurch einen klaren Kopf. Fünfunddreißig Minuten später sauste ich in meine Wohnung und machte mich über das Telefon her. Sir Horatios Direktnummer war besetzt. Ich zwang mich, die Ruhe zu bewahren. Und ich nützte die Zeit. Ich sichtete mein Arsenal. Viel hatte ich nicht, aber etwas mehr schon als warme Luft in der Hand. Ein paar verschrumpelte Knoblauchzehen. Das Zauberelixier von Doktor Vilion aus Balmoral. Es bestand zwar nur noch aus ein paar Tropfen, aber die konnten Gold wert sein. Ein eisernes Keltenkreuz. Es war ein Henkelkreuz, und kürzlich hatte ich erfahren, daß die Form nicht christlichen Ursprungs ist. Auch die Ägypter kannten das Henkelkreuz. Und dann war da noch der König-Salomon-Spiegel, den mir der Grüne Tod blind gemacht hatte. Den Spiegel hatte ich zu polieren versucht, aber ich hatte den Glanz nicht wieder zustande gebracht. Dennoch legte ich die schwere Eisenplatte zu meinen kümmerlichen Schätzen und räumte sie in eine Tasche. Wenn ich den Spiegel einem Dämon schon nicht vor das Gesicht halten konnte, besaß ich wenigstens eine solide Schlagwaffe, die auf jeden Schädel paßte. Ich rief wieder die Nummer des Chefs an. Jetzt war gottlob der Apparat frei. Der Chef meldete sich. Ich hörte gleich, daß
er ziemlich aufgekratzt war. »Wo Sie überall die Finger hineinstecken, Mac, das müssen Sie mir mal vormachen!« Es klang eine Spur Stolz in seiner Stimme mit. »Dieses Llanwellyn können Sie sich abschminken. Das gibt es nicht. Jedenfalls nicht als Ort. Aber es hat eine magisch-mystische Bedeutung. So soll ein keltisches Heiligtum geheißen haben. Ein Lord Sutton soll fast sein ganzes Leben lang nach diesem Platz und nach einem Hexenstein gesucht haben.« Er machte mir Laune. Ich hatte wegen seiner aufgeräumten Stimme gedacht, er hätte mir Besseres zu bieten als einen Lord Sutton, den ich nicht mal kannte. »Mac, sind Sie noch dran?« »Gerade noch. Ich sehe keinen Grund zum Jubeln. Hat man wenigstens den sanften Schimmer einer blassen Ahnung, wo dieses Heiligtum gelegen hat, Sir?« »Mehr als einen sanften Schimmer, Mac. Nördlich von Swansea. Bei einem Ort namens Twyn-Llanan. Es gibt da eine Erhebung, die Schwarzer Berg heißt. Dort in der Gegend soll das Heiligtum gestanden haben. Man hat mir eine Menge über Druiden erzählt, das waren keltische Priester. Die hatten immer eine Schar Hexen um sich versammelt und konnten eine Menge Hokuspokus machen. Aber mit Hand und Fuß.« »Ich weiß, was Druiden sind, Sir, ich löse auch Kreuzworträtsel«, erwiderte ich. Lieber Himmel, wer hatte ihm eingeredet, die Priester hätten Hokuspokus veranstaltet? Alles andere als das. Die hatten nämlich was los, davon konnten wir nur träumen. Die zauberten richtig und wurden deswegen geachtet. Nur das mit den Hexen war mir neu. Ich kann ja nicht alles wissen.
Miriam war eine Hexe. Eine sehr alte sogar. Wieso war sie ausgerechnet auf Llanwellyn gekommen, um dort mit dem Dämon Likkat zu kämpfen? War ich ihrem Geheimnis auf der Spur? Wenn sich einer zum Kampf stellt, dann sucht er Vorteile auf seine Seite zu bringen. Ein unschätzbarer Vorteil war, wenn man die Gegend kannte. Selbst wenn diese Kenntnis aus frühen Tagen stammte. Hatte Miriam einst zu den Druiden von Llanwellyn gehört? Ich hielt das für möglich, sogar für wahrscheinlich. Sonst hätte sie sich auch für einen anderen Platz entscheiden können. Der Stein von Llanwellyn! So hatten es die Zeugen in ihrem Haus vernommen. Seltsam auch, daß dieser Lord Sutton einen Hexenstein gesucht hatte. Die Dinge paßten nahtlos zusammen. Stein und Hexenstein meinten dasselbe! Ich spürte mit allen Fasern meines Herzens, daß ich den Finger auf der richtigen Taste hatte. Miriam hatte den Hexenstein von Llanwellyn gemeint. Weil sie einst dort gelebt hatte. Als Hexe. Bei den keltischen Priestern. Heutzutage gab es keine mehr. Sie konnte also nicht auf Hilfe rechnen, wenn der Dämon Likkat sie dort aufspürte. Und vermutlich hatte sie das kleine Mädchen Ginny Bishop bei sich. Eine Unterstützung war die Kleine auch nicht. Mir schwante, daß Miriam sich auf etwas eingelassen hatte, das sie nicht voll überschaute. Oder hatte sie für Likkat aus der Schwarzwelt eine höllische Überraschung bereit? Konnte sie dort den mächtigen Zauber der Druiden neu beleben?
Ich wünschte es ihr von ganzem Herzen. Himmel, wenn ich doch nur aus London weg könnte! Es juckte mich in den Fingern, nach Wales zu fahren und ihr beizustehen. Aber ich war hier festgenagelt. Draculas versteinertes Monsterkabinett war mindestens eine ebenso große Gefahr wie Likkat. Es war meine Aufgabe, mich um die Schreckensgestalten zu kümmern. Und um Woods, diesen untoten Satansbraten. * Unvorstellbare Hitze brannte über Miriams Rücken. Der Blitz aus Likkats Augen verfehlte sie nur knapp. Sie schrie vor Schmerz und Entsetzen auf und wälzte sich am Boden, weil sie glaubte, ihr Unterkleid hätte Feuer gefangen. Der grausame dämonische Bote schrie ebenfalls. Viel lauter als sie. Er riß die Krallenhände hoch und rieb wie besessen die todbringenden Augen. Der Staub der toten Druiden war hineingelangt. Er trübte Likkat nicht nur den Blick, er entfaltete auch seinen Zauber. Was Miriam bei der Berührung des Staubes als angenehm empfunden hatte, peinigte den Boten der Schwarzwelt und stachelte seine Wut an. Er brüllte und tobte, und wo er seine Krallenfüße hinsetzte, begann der Boden zu glühen. Er stolperte geblendet über den magischen Ring der Feldsteine und zerstörte ihn. Hart prallte er gegen den schwarzen Stein. Er schoß zurück, als hätte er Höllenfeuer berührt. Mit bebenden Lippen sprach Miriam die Formel. »Stein des
Bundes – Fels der Kraft, steh mir bei gegen dieses Geschöpf der Schwarzwelt! Vernichte es, wenn du es vermagst!« Der Stein vermochte es nicht. Likkat wurde zwar von unsichtbaren Kräften aus dem Steinring geschleudert, aber er kam nicht einmal zu Fall. Er rannte brüllend draußen herum und legte seine glühende Spur. Der Boden bebte, der schwarze Fels knirschte. Und Ginny lief schreiend davon vor diesem Unhold. Miriam blieb fast das Herz stehen, als Likkat plötzlich den unförmigen Kopf auf die Seite legte, als würde er lauschen. Seine Augen konnte er offensichtlich noch nicht gebrauchen. Aber seine Ohren. Und sofort rannte er los. Er orientierte sich an Ginnys durchdringender Stimme. Miriam schnellte hoch. Der Becher des ewigen Lebens war leer. Sie war waffenlos. Aber das hieß nicht, daß sie Ginny diesem grausamen Wesen überließ. Sie flog förmlich am schwarzen Stein vorbei, überholte Likkat und sprang über die Quelle. Im nächsten Augenblick hatte sie Ginny eingefangen und hielt ihr den Mund zu. Likkat torkelte noch einige Schritte voran. Dann hörte er nichts mehr, er hatte keine Orientierungshilfe. Wutschnaubend blieb er stehen. »Hexenbastard, wo bist du?« Seine Stimme grollte wie Donner. Miriam hütete sich, einen Laut von sich zu geben. Likkat streckte die furchtbaren Krallenhände aus und tastete in der Luft herum. Er schwankte näher. Vor der Quelle drehte er ab. »Ich finde dich!« brüllte er. »Ich reiße dir das Herz aus dem Leib! Stückweise werde ich dich in die Schwarzwelt schaffen.« Er blähte seine verkorkste Figur auf. Seine Rübennase schwoll
wieder an, sein tonnenförmiger Brustkorb ging in die Breite und drohte die schäbigen grauen Lumpen vollends in Fetzen zu reißen. Jetzt breitete er die Arme aus. Er richtete sie abwärts, dem Boden entgegen. Miriam wollte verzagen. Sie spürte, was er vorhatte. Er nahm Kraft auf. Kraft aus der Schwarzwelt, die ihm seine Freunde und Genossen herüberschickten. Wirkte der Zauber von Llanwellyn denn nicht mehr, daß Likkat hier beim Heiligtum diesen Frevel gegen den alten Bund begehen konnte? War der Zauber schwach geworden? Oder ganz verschwunden? Sie zog Ginny mit sich. Eine Hand ließ sie auf dem Mund der Kleinen. Wenn Likkat jetzt nur einen Ton hörte, war es um sie beide geschehen. Ein anhaltendes Grollen drang aus dem Boden. Likkat stand wie erstarrt. Er saugte die Kräfte des Bösen in sich auf. Der felsige Grund begann um ihn her zu glühen. Das unterirdische Grummeln und Rumoren wurde lauter. Miriam warf den Kopf herum und schaute zur Höhle. Schaffte sie es, noch einmal Druidenstaub zu holen? Auf Likkats Augen hatte er immerhin gewirkt. Die Quelle plätscherte lauter, das Wasser schien zu wispern, als wollte es ihr etwas erzählen. Geradezu einem Zwang folgend, tauchte die Hexe den Becher in die Quelle. Aus dem dunklen Quelloch schoß eine regelrechte Fontäne. Das Glucksen des Wassers hörte sich wie Lachen an. Miriam faßte die Kleine ganz fest und pirschte sich an Likkat heran. Der Kurier aus dem schwarzen Jenseits war in einen trance-
ähnlichen Zustand verfallen, wie es aussah. Jedenfalls nahm er Miriam nicht wahr. Geduckt bewegte sich die Hexe um ihn herum und goß mit dem Wasser einen Kreis um seine Füße. Ginny war ihr hinderlich dabei, aber Miriam ließ sie nicht los. Daß die Kleine in ihrer Angst alles verdarb, war sicher. Das Wasser drang sofort in den Boden ein. Ein dunkler Ring zeichnete sich ab. Die Glut fraß sich näher an ihn heran. Miriam wich zurück und beobachtete gebannt. Hatte sie wirklich den Quellzauber richtig verstanden, oder war sie nur einer Täuschung aufgesessen? Konnte das Wasser die sich ausbreitende Kraft des Bösen aufhalten? Sie empfand Unbehagen. Etwas störte sie. Vorsorglich wich sie mit Ginny noch weiter zurück. Plötzlich wußte sie, was ihr Angst einflößte. Es hatte nichts mit der Quelle zu tun, sondern mit dem Blick, den sie zur Höhle geworfen hatte. Dort war etwas verändert. Nur im Unterbewußtsein hatte sie es aufgenommen. Sie schaute noch einmal hin. Die beiden aufrecht stehenden Steine waren nur noch zur Hälfte vorhanden. In Kniehöhe waren sie abgesplittert. Die Trümmer lagen bis zur Höhle hin verstreut. Dicht neben dem dunklen Eingang klaffte ein schwarzes gezacktes Loch. Likkats vernichtender Blick! Der Strahl aus seinen Augen! Miriam begriff, was hinter ihr so entsetzlich gekracht hatte. Die Dämonenkraft, die der Bote mit seinem Blick abgestrahlt hatte, hatte diese Verwüstung angerichtet. Wohin hatte der zweite Blick getroffen? Etwa in die Höhle hinein? Dann war dort möglicherweise alles vernichtet. Die Gebeine des letzten Druiden! Der Krif, der dort liegen mußte, den sie
aber nicht gefunden hatte! Und der Staub der toten Priester! Oder hatte der Zauber den vernichtenden Strahl unwirksam gemacht? Likkat bewegte sich in diesem Moment. Zuerst dachte Miriam, die Übertragung der Kräfte aus der Schwarzwelt sei beendet. Aber dann merkte sie, daß etwas anderes die Ursache war. Die Glut hatte den dunklen Ring um Likkats Füße erreicht. Sie stockte. Sie konnte nicht weiter vordringen. Das Rumoren und Grollen aus der Erde endete wie abgeschnitten. Dampf stieg aus dem Boden. Die Glut kämpfte gegen das eingesickerte Wasser. Miriam richtete sich auf. Likkat legte den Kopf schief und klappte die scheußlichen Arme an den verquollenen Körper. Er müßte mich eigentlich sehen, dachte die Hexe, aber er kann's nicht. Der Zauber des Staubes wirkt! Hoffentlich sehr lange! Sie hastete mit Ginny zur Quelle und füllte den Becher neu. Dabei passierte es. Die Hand glitt vom Mund der Kleinen, und Ginny weinte sofort laut los. Sie verstand das alles nicht, sie hatte nur schreckliche Angst. Likkat wandte sich sofort in ihre Richtung. Als er sich jedoch in Bewegung setzen wollte, prallte er an etwas zurück, das unsichtbar war. Aber er gab nicht auf. Er schleuderte die Arme nach vorn und betastete das Hindernis, als handle es sich um einen gläsernen Käfig. Miriam erfaßte sofort, daß es die Zauberkraft des Quellwassers war.
Die alte Macht war also noch wirksam. Das gab ihr Mut. Sie ließ Ginny los und hastete mit dem gefüllten Becher zu Likkat. Mit einem kräftigen Schwung überschüttete sie ihn mit dem Wasser. Der kleine Schwall durchdrang mühelos das unsichtbare Hindernis. Likkat machte einen Satz in die Höhe, als wollte er in die düsteren Wolken springen. Dazu brüllte er schaurig. Eine unheimliche Verwandlung vollzog sich an ihm. Seine geblähte Gestalt schrumpfte, seine Rübennase ging auf die ursprüngliche Größe zurück. Die graue Farbe seines Körpers und seiner Lumpen wurde kräftiger und immer dunkler. Nach wenigen Augenblicken stand eine pechschwarze Gestalt da, die mit den Armen gestikulierte und ihre wilde Wut ausdrückte. Jetzt zeigte er, woher er kam. Aus der Düsternis der Schwarzwelt. Nun war er auch äußerlich so schwarz wie sein Inneres. Miriam schwankte zwischen Freude und Furcht. Likkat war nicht vernichtet. Das ängstigte sie. Aber der alte Zauber wirkte immer noch, und sie konnte ihn sogar lenken. Das beruhigte sie andererseits. Leider war er nicht stark genug, um den Kurier hinwegzufegen. Sie sammelte alle Kräfte, um noch einmal den Nebel zu beschwören, der sie und Ginny aus London hinweggeführt und Likkat davongeschleudert hatte. Er bildete sich auch. Ganz behutsam und so fein wie Spinnweben im Herbst. Doch als sie ihn auf Likkat lenkte, zerriß er. Der Kurier hatte gigantische Kräfte aufgenommen. Gegen den Zaubernebel waren sie übermächtig. Gegen das Wasser jedoch schienen sie nicht auszureichen.
Miriam hastete noch einmal zur Quelle und füllte den Becher. Sie übergoß das pechschwarze Wesen. Likkat rieb sich die Augen, als wollte er den Staub herausbefördern. Er gebärdete sich wie toll und sprang und tobte und brüllte dazu, daß der ganze Berg widerhallte. Plötzlich stieß er die Arme nach den Seiten, als wollte er das Hindernis niederreißen, das ihn festbannte. Und dann brach er wie vom Blitz gefällt zusammen. Er krümmte sich und lag fast wie eine große schwarze Kugel innerhalb des feuchten Kreises. Seine schwarze Zunge hing aus dem Mund, als wäre er erstickt. Miriam konnte es kaum fassen. Sie stand und starrte. Dann faßte sie sich ein Herz und streckte eine Hand aus. Sie spürte nichts von dem Hindernis, das Likkat an den Platz gebannt hatte. Sie berührte den Kurier. Jeden Funken Hitze war bereits aus dem Körper entwichen. Der Bote des Grauens atmete auch nicht mehr. Er war ohne Leben. Oder das, was ihn bewegt und angetrieben hatte. Die Anspannung fiel von Miriam ab. Sie atmete tief ein und fühlte sich von Tonnenlasten befreit. Die Macht des alten Bundes, den Druiden und Hexen einst geschlossen hatten, war noch wirksam, auch wenn die Priester und die Zauberinnen vergangen waren – bis auf sie. Die weißen Mächte hatten über die schwarzen gesiegt. Miriam hoffte, daß auch bald Likkats schrecklicher Körper zerfiel oder heimkehrte in die Schwarzwelt. Sie war überglücklich. War es jetzt noch erforderlich, den Krif zu suchen? Eigentlich nicht. Aber schaden konnte es nicht, wenn sie ihn an sich nahm. Vielleicht sandte die Welt der völligen Nacht
bald einen neuen Boten aus, noch schrecklicher als Likkat. Für diesen Fall war es gut, die beste Waffe zur Hand zu haben, die einst den guten Göttern und Vätern der Druiden den Sieg gebracht hatte. Sie erhob sich und schritt durch das zerstörte Tor. Sorgsam schob sie den Becher in die Rocktasche. Eine seltsame Kälte schlug ihr aus der Höhle entgegen. Hatte die vorhin schon geherrscht, und es war ihr nur nicht aufgefallen? Sie trat ein und stand nach wenigen Schritten vor einem Schuttberg, der fast bis zur Höhlendecke hinaufreichte. Likkats zweiter Todesblick war doch in die Höhle gefahren und hatte ein mächtiges Loch in die rechte Wand gesprengt. Der Schuttberg reichte bestimmt weit in die Höhle hinein. In jedem Falle waren die steinernen Sitze verschüttet. Bis zur Stelle, wo die Gebeine lagen, hatte es die Trümmer aber kaum geschleudert. Sie konnte erwarten, den Krif dort zu finden – wenn sie über den Berg hinweggekrochen war. Ein Geräusch von draußen ließ sie herumwirbeln und zum Ausgang laufen. Ihr Gefühl der Freude und des Glücks verkehrte sich ins Gegenteil. Der Atem stockte ihr, als sie das Bild erfaßte. Ein alter verschrumpelter Mann war auf dem Platz vor der Höhle erschienen. Seinem Keuchen nach war er vom Dorf durch den Wald heraufgestiegen. Er hatte einen dicken Ast gepackt, schaute lauernd und ängstlich und stocherte mit dem Prügel in Likkats schwarzem Körper herum. Der Kurier aus dem schwarzen Jenseits, den Miriam besiegt glaubte, bewegte sich und richtete sich mit einem wütenden Grunzen auf. Der feuchte Kreis war verschwunden. Die Glut-
hitze hatte doch über ihn gesiegt. Der Blick der Hexe hetzte zur Quelle. Ginny war verschwunden! Nur ihre nassen Sachen hingen noch an den Büschen. Vom Hang hinter der Quelle ertönte ein Prasseln und Knacken, und dann jammerte die kleine Ginny ganz furchtbar los. Miriam begriff. Die Kleine war zurückgewichen, als schon wieder eine Gestalt auf der Bildfläche erschien, die ihr unheimlich war. Dabei war sie über den Rand geraten und den Abhang hinabgekullert. Hoffentlich verletzte sich die Kleine nicht! Das war Miriams erste Sorge. Dann sah sie das Erschrecken des alten Mannes, als Likkat sich zur vollen Größe aufrichtete und nach dem dicken Ast schlug. Um den alten Mann hatte sie noch mehr Angst als um Ginny. »Zurück – um Gottes willen, zurück!« rief Miriam. »Fliehen Sie, Mister! Das ist ein grausames Ungeheuer! Es wird Sie töten! Fliehen Sie doch!« Der alte Mann drehte sich halb herum. Er schien nicht damit gerechnet zu haben, jemand hier anzutreffen. Er erschrak. Dann aber verzerrte sich sein Runzelgesicht vor Wut. »Haut ihr doch ab!« schrie er wie von Sinnen. »Ich weiß nicht, wer ihr seid, aber dieser Platz gehört mir! Ich habe jahrelang nach ihm gesucht. Der Stein – ah, da ist er. Und die Quelle! Ich werde wieder jung sein, immer und ewig. Hebt euch hinweg, ihr Satansgeschöpfe! Ihr könnt nur Geister sein. Und vor Geistern fürchte ich mich nicht. Verschwindet, in Gottes und der Heiligen Namen. Packt euch!« Er schlug das Kreuz gegen Miriam und den schwarzen Lik-
kat. Der Bote der Schwarzwelt erwischte den Ast und hieb ihn dem alten Mann aus der Hand. Seine Arme schnellten vor. Daneben! Miriam sah daran, daß Likkat auch nach der Umwandlung in den schwarzen Unhold das Augenlicht und die Fähigkeit, tödliche Blitze zu verschleudern, nicht zurückerlangt hatte. Der alte Mann taumelte zurück. Er verstand nicht, weshalb die Geister nicht auf das Kreuzeszeichen reagierten. Dabei erzählte man sich doch, daß sich Geister beugen mußten, sobald man das Zeichen gegen sie machte. Er schrie auf, als die schrecklichen Pranken ihn fast berührten. »Fliehen Sie doch!« rief Miriam verzweifelt. Durch die Schreie des alten Mannes konnte der schwarze Likkat genau seinen Standort bestimmen. Er machte eine leichte Drehung, schnellte sich vorwärts – und hatte den Mann zwischen den Armen. Mit einer Krallenhand packte er ihn an der Schulter, mit der anderen schlug er zu. Von oben nach unten. »Das ist mein Platz!« kreischte der alte Mann. »Er gehört mir – nur mir, nicht…« Mit einem gewaltigen Schlag trennte der schwarze Likkat den Mann der Länge nach durch. Der alte Shawn starb an dem Platz, den er so lange und sehnlichst gesucht hatte. Nicht die immerwährende Jugend hatte er gefunden, sondern den Tod. Vom Entsetzen geschüttelt, rannte Miriam los, als sie sah, wie Likkat das Herz herausriß und in den schrecklichen Mund stopfte. Er hörte die jagenden Schritte und wirbelte herum. Mit tor-
kelnden Bewegungen verlegte er Miriam den Weg. Die Hexe warf sich nach rechts, spürte die Krallenhand an der Hüfte und einen heftigen Schlag. Schon sah sie sich von Likkat gepackt. Doch dessen Krallen bekamen nur den Rockbund zu fassen. Der Stoff riß knirschend. Miriam fiel gegen den Hexenstein, stieß sich ab und floh mit einem Schrei. Ein Sprung trug sie über die Quelle. Sie schaute gehetzt hinter sich. Likkat zerfetzte in wilder Wut ihren Rock. Er stieß wüste Drohungen aus. Miriam hörte das leise Weinen von Ginny. Es kam aus dem Unterholz hangabwärts. Viel schien der Kleinen nicht zugestoßen zu sein, sonst hätte sie geschrien. Sie stoppte ihre Flucht und raffte die Kleidung des Mädchens von den Büschen. Und jetzt erst merkte sie, daß sie immer noch den Becher in der Hand hielt. Sie hatte Staub aus der Höhle holen wollen. Den Becher hatte sie nicht in die Rocktasche geschoben. Sie stand mit drei Schritten bei der Quelle und füllte den Becher. Das Wasser hatte ihr zweimal geholfen, es mußte noch einmal seine Wirkung gegen Likkat tun. Entschlossen trat sie dem tobenden Boten entgegen und beschüttete ihm mit dem Wasser. Likkat lachte grollend und bösartig. Er streifte das Wasser einfach ab! Geister, steht mir bei! schoß es Miriam durch den Kopf. Er hat Macht über den Zauber gewonnen! Er ist stärker! »Hexenbastard!« schrie Likkat. »Damit bezwingst du mich nicht mehr. Gleich ist es aus und vorbei mit dir.« Er schleuderte den letzten Rockfetzen zu Boden und zeigte auf seine Augen. »Denke nur nicht, ich wäre blind!«
Er lachte so gemein, daß es der Hexe durch und durch ging. Der furchtbare Bote plante etwas! Sie spürte das Böse, das ihn einer Aura gleich umgab. Es brandete gegen sie. Erschrocken wich sie zurück. Likkat wandte sich ab, als sei sie ihm völlig gleichgültig. Er bewegte sich, als würde ihn etwas leiten. Zielsicher schritt er dorthin, wo er den alten Mann getötet hatte. Er schwankte und torkelte nicht mehr wie gerade noch. Vom Grauen gepackt sah Miriam, was er gemeint hatte, als er sagte, sie solle nur nicht denken, er sei blind. Er holte sich Augen. Die des alten Mannes. Mit einem gellenden Entsetzensschrei floh Miriam. * Einen Teil von Ginnys Sachen hatte sie schon bei der Quelle verloren. Der Kleinen würde das kaum gefallen. Sie selber sah auch nicht aus, um unter Menschen zu gehen in ihrem langen Unterkleid. Aber bleiben konnten sie beide nicht. Likkat beherrschte den Platz. Das Wasser tat keine Wirkung mehr. Ein Zeichen dafür, wie stark die Mächte waren, die der Bote aufgenommen hatte. Nichts hielt ihn mehr auf. Er hatte neue Augen. Vielleicht konnte er mit denen sogar seine tödlichen Blitze aussenden. Aber sehen konnte er in jedem Falle wieder. Die Angst vor Likkat war wie Furien hinter Miriam her. Sie hatte gehofft, ihn besiegen zu können. Er war tot gewesen. Oder nicht? War er nur in eine Starre verfallen, um sie zu täuschen?
So mußte es sein. Oder die Mächte seiner Welt hatten, als der Wasserkreis aufgelöst war, ihn mit neuer Kraft erfüllt, damit er seinen Auftrag zu Ende führte. Die Hexe hastete den Hang hinab. Sie glitt mehr, als sie rannte. Der Grund gab nach. Sie rutschte, verlor den Halt und fiel nach hinten. Ein Busch hielt ihren Sturz auf. Grausiges Gelächter ließ sie nach oben sehen. Likkat stand am Rand des Platzes und schaute auf sie herab. Er verwandelte sich wieder. Die Schwärze seiner Gestalt verblaßte und bildete sich zu dem grauen Aussehen zurück. Bebend duckte sich Miriam in das Geröll. Sandte er jetzt seinen Todesblitz ab? Sie erwartete das Ende. Hier, bei dem alten Heiligtum und dem Stein von Llanwellyn. Sie war die letzte des Bundes. Der Blitz kam nicht. Sie richtete sich ungläubig auf. Trieb er sein grausames Spiel mit ihr, wollte er sich an ihrer Todesfurcht weiden? Oder konnte er nicht, weil er die Augen des unglücklichen alten Mannes genommen hatte? Likkat sprang über den Rand auf den Hang. Jetzt verstand sie. Mit den Menschenaugen konnte er zwar sehen, aber nicht den Blitz schleudern. Er kam, um sie zu fangen. Zu Fuß. Miriam warf sich herum. Sie gelangte aus dem losen Geröll auf Waldboden. Ginnys Weinen kam von weiter unten. Die Hexe hastete auf das dichte Unterholz zu und sah die Stelle, wo die Kleine in das Gestrüpp gefallen war. Wie eine Tigerin, die um ihr Junges kämpft, warf sich Miriam ins Unterholz. Ginny war auf der anderen Seite herausgekrabbelt und stand
in der viel zu weiten Strickjacke wie ein verlorener Zwerg da. Ein Freudenschimmer huschte über ihr schon wieder schmutziges Gesichtchen. Sie reckte Miriam die Ärmchen entgegen, von denen noch die Strickärmel fast bis zum Boden fielen. »Tut weh, Tante Miam«, schluchzte sie vorwurfsvoll. Hätte sie etwas gebrochen gehabt, wäre sie nicht dagestanden. Ein paar Dornen hatten sie gekratzt. Und wahrscheinlich war sie gegen ein paar Büsche gestoßen. Miriam faßte sie keuchend, riß sie förmlich hoch und lief mit ihr durch den Wald abwärts. »Wir spielen ein Spiel«, erklärte sie der Kleinen. »Wer zuerst unten ist.« Sie keuchte vor Anstrengung. Es gab keinen Pfad und keinen Weg. Hinter sich hörte sie eine Geröllawine rauschen. Dann prasselte ein schwerer Körper in einen Busch. Likkat war gestürzt wie sie. Sein zorniges Geschrei hallte schrecklich durch den Wald. Soll er schreien, so viel er mag, dachte die Hexe. Hauptsache, er kann keinen Blitz nach mir schleudern! Sie paßte auf, daß sie nicht ausglitt und den Vorsprung verlor, den sie gewonnen hatte. Ginny fand das Rütteln und Hopsen auf Miriams Arm nicht bekömmlich. Sie beschwerte sich mit kindlichem Unmut. »Sei schön lieb, wir gewinnen das Spiel bestimmt«, sagte Miriam keuchend. In der Seite spürte sie Stiche wie von Nadeln. Sie lief dennoch weiter. Sie wich einen gestürzten Baum aus. Ein Weg tauchte auf, aber er verlief schräg am Hang. Den konnte sie nicht nehmen. Vielleicht führte er am Dorf vorbei. Instinktiv hatte sie sich für den Ort entschieden, als sie Ginny
auf dem Hang gefunden hatte. Dort waren Menschen. Bei denen konnte sie die Kleine lassen. Und dann mußte sie sich Likkat stellen. Einen anderen Ausweg gab es nicht. Vielleicht konnte sie ihn noch vom Dorf weglocken. Bekommen würde er sie. Hoffentlich begnügte er sich mit ihr und ließ die Menschen und Ginny in Frieden. Sie hörte hinter sich oben am Waldhang das grausige Gelächter des Boten. Likkat war sich seiner Sache sicher. Er war nicht nähergekommen, aber auch nicht zurückgeblieben. Miriam hatte ihren Vorsprung mit Mühe gehalten. Sie spürte, daß sie nicht mehr lange durchhielt. Sie bekam kaum noch Atem, ihre Lungen schmerzten, die Stiche in der linken Seite wurden unerträglich. Sie glitt aus und fing sich wie durch ein Wunder, bevor sie gegen einen Baum prallte. Wenn sie stürzte, kam sie nicht mehr hoch, das ahnte sie. Ihre Beine wurden schwer wie Blei. Wie lange die Hetzjagd durch den Wald hinab währte, wußte sie nicht. Sie merkte nur, daß das Gefälle sanfter wurde und daß sich voraus zwischen den Bäumen Helligkeit zeigte. Ein Stück weiter lief sie schwankend und unsicher aus dem Wald hinaus und sah einen Streifen Land mit Büschen vor sich. Aber jenseits des Streifens begann das Dorf. Sie riß sich zusammen. »Gleich – haben wir – gewonnen!« japste sie, um Ginny ruhig zu halten. Die Kleine wollte nicht länger mitspielen, Sie zappelte und strampelte. Miriam spürte den rechten Arm kaum noch von der Anstrengung, die Kleine zu tragen. Nur die nahen Häuser hielten sie noch auf den Beinen. Sie konnte in das Dorf sehen. Menschen standen beisammen. Mitten auf der Dorfstraße.
Und ein schwarzgekleideter Mann bestieg eben ein Pferd. Ziemlich ungeschickt, wie sie meinte. Er fiel fast wieder herab. Jemand sprang herzu und stützte ihn. Er blieb oben, aber er sackte nach vorn und kam mit dem Gesicht auf den Pferdehals. Dann drehte er das Pferd herum und ritt in einem unmöglichen Trab los. Die Menschen schauten plötzlich zu ihr herauf. Sie haben mich entdeckt, dachte sie. Jetzt bekomme ich Hilfe! Aber die Leute stoben auseinander, und der Mann auf dem Pferd schlug mit der flachen Hand zu und trieb das schwerfällige Tier noch mehr an. Er ritt auf die Straße. Die führte unterhalb von Miriam vorbei aus dem Dorf heraus. Wenn sie nicht stürzte, war sie auf dem Weg, bevor der Reiter vorbei war. Sie verstand, warum die Leute so entsetzt auseinandergelaufen waren. Likkat war hinter ihr! Er hatte den Wald ebenfalls verlassen und rannte durch den Buschstreifen. Die Leute hatten ihn gesehen. Sie hatten Angst. Vor ihm. Und vor ihr. Denn die Kinder hatten ja vor ihr Reißaus genommen. Das Dorf mußte längst wissen, was da oben auf dem Schwarzen Berg geschehen war. Nämlich, daß der Stein von Llanwellyn aufgetaucht war. Auf eine Weise, die die Menschen zu Tode ängstigen mußte. Mit einer letzten Anstrengung erreichte die Hexe den Weg. Der Reiter war noch gut hundert Pferdelängen entfernt. Er sprengte auf sie zu. »Helfen Sie mir – bitte!« schrie sie ihm keuchend entgegen.
Sie reckte ihm Ginny halb entgegen. Er zügelte das Pferd nicht. Sie sah, daß er das Kreuz schlug. Dann erkannte sie in ihm einen Priester. Einen christlichen. Er war noch recht jung. Sein Gesicht war von Entsetzen gezeichnet. Miriam torkelte beiseite, als sie merkte, daß er nicht anhielt. Das schnaubende Pferd verdrehte die Augen, als es hart an ihr vorbeigaloppierte. »Hinweg mit dir, Satansweib!« hörte sie den Priester rufen. Sie weinte vor Enttäuschung und Wut. Wie dumm von dem Priester! Er hielt sie für ein Geschöpf der Hölle! Hatte er denn Ginny nicht gesehen? Die war doch sowenig eine Kreatur des Satans wie sie! Sie hörte Likkats triumphierendes Gelächter. Es jagte ihr kalte Schauder über den Rücken. Ächzend torkelte sie weiter. Sie war noch keine zwanzig Schritte weit gekommen, als sie einen Schrei hörte, der ihr Blut fast erstarren ließ. Sie blieb stehen und schaute zurück. Likkat hatte weiter talabwärts den Weg erreicht, ziemlich gleichzeitig war auch der Priester dort angekommen. Likkat hatte sich an die Zügel und das Kopfgeschrirr des Pferdes gehängt und hielt das scheuende Tier auf der Stelle fest. Mit einer Hand schaffte er das. Mit der anderen riß er den Priester herab. Und dann hieb er zu. Wie bei dem alten Mann droben am Stein von Llanwellyn. Nur ein einziges Mal. Miriam schloß die Augen, als sie den verzweifelten Schrei des jungen Priesters abreißen hörte. Sie atmete keuchend, rang nach Luft.
Weiter, hämmerte es in ihr, lauf weiter, den Priester ist nicht mehr zu helfen! Sie gehorchte der Stimme und lief wieder. Alles holte sie aus ihrem Körper heraus. Das erste Haus war zum Greifen nahe. Die Tür stand handbreit auf, ein Gesicht lugte aus dem Spalt. Sie hielt auf die Tür zu. Mit einem Knall wurde sie zugeworfen. O nein, laß es nicht wahr sein! Helft mir doch! flehte sie unhörbar. Sie rannte weiter. Da waren die anderen Häuser, die Dorfstraße lag vor ihr. Aber sie sah nur geschlossene Türen. Plötzlich erblickte sie die schäbige Kirche. Sie klammerte sich an die winzige Hoffnung, daß wenigstens die nicht verschlossen war. Ihre Schritte wurden unregelmäßiger. Ihre Kraft war aufgebraucht. Sie erreichte die Kirche und hörte ein hartes, fast regelmäßiges Klopfen in der Luft. Was war das? Sie schaute nach rechts und links – und dann zurück. Likkat hatte sich auf das Pferd geschwungen. Seine Rübennase leuchtete, seine Fetzen wehten um seine graue Gestalt. Er kam dahergaloppiert wie der Teufel, der ein paar arme Seelen günstig bekommen konnte. Miriam streckte die Hand nach der Kirchentüre aus. Die gab nach und schwang nach innen. Die Hexe setzte Ginny ab, schob sie in die Kirche und zog die Tür zu. Die Kleine weinte sofort los. Aber das war nicht zu ändern. Weglocken, diese Ausgeburt des Grauens! hämmerte es in Miriams Kopf. Er will mich, ich biete mich an! Er wird darauf
eingehen! Sie stieß sich vom Steinportal ab und hetzte weiter. Das Trommeln der Hufe wurde lauter und hämmerte im Rhythmus ihres rasenden Herzschlags. Sie warf das letzte Kleidungsstück von Ginny weg. Was sollte sie auch jetzt noch damit? Links sah sie eine Gassenmündung. Sie torkelte halb besinnungslos hinein. Sie war auf einen Feldweg geraten. Nach dreißig oder vierzig Schritten sah sie, daß er sie vom Dorf wegführte – wenn sie noch lange genug auf den Beinen bleiben konnte. Die Häuser blieben zurück. Zwei, drei Gatter versperrten Zugänge zu den Weiden. Miriam schleppte sich nur noch dahin. Sie hörte den Huf schlag und blickte hinter sich. Ihr Herz füllte sich mit Freude. Mit etwas Freude. Wenigstens war ihr geglückt, Likkat an der Kirche vorbeizulocken. Er trieb das schwere Pferd an und setzte ihr nach. Sie sah, wie die Bäume ihr Laub abwarfen, sobald er an ihnen vorbeisprengte. Vernichtung begleitete ihn. Zehn, zwölf Schritte schaffte die Hexe noch. Dann blieb sie stehen. Sie konnte nicht mehr. Es war aus. Sie wußte es. Mit bebenden Lippen sprach sie noch einmal die Beschwörung: »Stein des Bundes – Fels der Kraft, beim Gedenken der Druiden, steht mir bei, ihr Götter des weißen Reiches! Helft eurer Dienerin, die allzeit eure Gesetze geachtet hat!« Die Götter traten nicht in Erscheinung. Likkat schrie triumphierend, als er seine erbitterte Widersacherin mit gesenktem Kopf auf dem Weg stehen sah und
merkte, wie erschöpft sie war. Sie machte ihm keinen Ärger mehr mit ihrem Hexenzauber! Sie wickelte ihn nicht mehr in den Nebel und stieß ihn davon, daß er tief in der Erde landete und sich erst einen Weg nach oben bahnen mußte! Jetzt war sie sein! Er brauchte sie nur noch zu packen und mitzureißen in die Schwarzweit. Er zügelte das Pferd und verzog das Rübengesicht. Der Triumph ließ die neuen Augen blitzen und seine langen abstehenden Ohren noch mehr nach den Seiten klappen. »Das war es, Hexenbastard!« sagte er, und seine schwarze Zunge schnellte aus dem Mund. »Du bist versprochen.« Seine mißlungene Figur bog sich, seine Tonnenbrust dehnte sich. »Es war ein kurzer Aufschub. Mir entgeht keiner!« Er rutschte vom Pferderücken und tappte heran. Miriam hob den Kopf. Es schüttelte sie, als sie ihn in seiner ganzen abstoßenden Scheußlichkeit sah. Die anderen würden noch grauenhafter sein – jene, die ihn ausgesandt hatten. Wo er seine Tritte hinterließ, glühte der Boden. Die Hitze, die sein Körper verströmte, ließ Miriam zurückweichen. Er führte einen sausenden Schlag durch die Luft. Das blanke Entsetzen stand in ihren Augen. Not und Qual erfüllten ihr Herz. Sie lehnte sich noch einmal mit dem winzigen Rest ihrer Kraft auf. Da spürte sie, daß der Becher in Schwingungen geriet, den sie immer noch krampfhaft in der linken Hand hielt. Ein feines Klingen und Singen war plötzlich um sie. Sie merkte, wie es sie durchströmte. Es war wieder dieses
Prickeln. Sie starrte auf den Becher. Dann in das grausame Dämonengesicht des Kuriers aus dem Jenseits. In diesem Moment wußte sie, was sie zu tun hatte. So mühelos bekam er sie nicht. Sie ergab sich nicht kampflos. Mit einem Ruck stieß sie den Becher gegen sein Gesicht. * Die Tasche mit meiner kläglichen Ausstattung hatte ich neben mir auf dem Beifahrersitz. Hinter mir stanken die Hexenblumen zum Himmel. Ich war auf dem Weg nach Finsbury und drehte auf. Irgendwie bildete ich mir ein, die Angelegenheit mit den versteinerten Monstergestalten im Handumdrehen regeln zu können und mich dann nach Wales abzusetzen, ob es Sir Horatio paßte oder nicht. Dieses Nest Twyn-Llanan lockte mich wie der Hauptgewinn beim Lotto. Wenn ich mich allerdings mit meiner gewagten Vermutung verspekulierte und Miriam gar nicht mit dem kleinen Mädchen auf mysteriöse Weise zu diesem alten keltischen Heiligtum verschwunden war, dann sah es finster für mich aus, mild gesagt. Dann hatte ich nicht nur Inspektor Fisher und den gesamten Yard auf dem Hals, sondern auch Sir Horatio. Und das war schlimmer. Vielleicht bereitete er Barbara Hicks die Freude und riß mir den Kopf ab. Nicht dran denken, Mac, sagte ich mir, heutzutage wird keiner mehr geköpft! Das ist gegen das Gesetz!
Ich zwiebelte den MG und brauste schneller über eine Kreuzung, als der Bobby mitten darauf gucken und meine Nummer notieren konnte. Ich ging ein Stück weiter sofort mit der Geschwindigkeit herunter. Es führte zu nichts, wenn ich mich als Verkehrsrowdy aufführte. Mir waren die Nerven durchgegangen. Das war schlecht, denn ich mußte kühl bleiben. In der Gegend der Hardwick Street tauchte plötzlich eine Absperrung vor mir auf. Wie der Blitz aus heiterem Himmel! Ich wollte schon den Wagen herumreißen, als ich die Baugrube am Straßenrand sah, in die ich unweigerlich stürzte, wenn ich auswich. Überhaupt kam mir die plötzliche Absperrung der Fahrtrichtung eigenartig vor. Ich hatte doch keine Tomaten auf den Augen, ich hätte sie doch schon sehen müssen, als ich einbog. Da war die Straße aber frei gewesen. Ich bremste, aber ich hielt auf die Balken zu. Schützend hielt ich den linken Arm vor das Gesicht, damit mir die Splitter nicht die Augen zerschnitten – falls es überhaupt krachte. Es krachte nicht. Ich sauste sauber und glatt hindurch. Und da merkte ich, daß ich mich um ein Haar von einer Imagination hätte bluffen lassen. Denn als ich verdutzt in den Außenspiegel peilte, sah ich von der Sperre gar nichts mehr. Diesen Streich hatte ich Woods zu verdanken, davon war ich überzeugt. Er wollte mich unbedingt von der Ausbaggerungsstelle fernhalten. Jedes Mittel war ihm recht. Er hatte mir eine Einbildung suggeriert, und das verdammt gut, denn die Sperre hatte echt ausgesehen, alles was recht ist.
Er mußte in der Nähe stecken, er hatte meine Anfahrt beobachtet. »Jetzt erst recht, Freund!« sagte ich heiser und wünschte, ich hätte ihn in Reichweite des kleinen Flammenwerfers, den ich auch noch im Wagen mitführte. In diesem Moment war ich derart in Wut, daß ich ihn notfalls auch in der Pfeife geraucht hätte. Hauptsache, es hatte mit Feuer zu tun und war schön heiß. Er tauchte nicht auf, und er foppte mich auch nicht mit einer weiteren hundsgemeinen Überraschung. Ich erreichte ungeschoren Bram Stokers einstiges und zeitweiliges Haus. Das gruselige Gebäude, in dem mir kürzlich Woods im Sarg entgegengesaust war, war vermauert. Na ja, wenigstens etwas. Das Nachbarhaus war abgerissen, und dahinter hatte der Bagger gewühlt und zufällig in die Katakombe des Schreckens gegriffen. Das Grundstück war abgesperrt. Zwei Bobbies schauten mich wichtig an, als ich an den Bordstein fuhr und meinen Kramladen auspackte. Ein Stück weiter stand ein schwarzer Kastenwagen. Wenigstens ist es nicht der Leichenwagen, mit dem Woods seine Stadtfahrten unternimmt, dachte ich. Als ich auf die Absperrung losmarschierte, waren mir die beiden Polizisten im Weg. »Da können Sie nicht rein, Sir!« sagte einer höflich, aber bestimmt. »Ich muß.« Ich hielt den Henkelkorb mit den Hexenblumen in seine Nähe. Er schaute, als hätte ich ihn beleidigt. »Und Abfälle abladen ist erst recht verboten«, klärte er mich auf.
Ich fixierte ihn. »Haben Sie schon mal den Namen Sir Horatio Merriman gehört?« Er schaute feindselig. »Nicht nur gehört. Mann, den kenne ich sogar. Und beim Sparstrumpf meiner Großmutter, Sie haben keine Ähnlichkeit mit ihm. Also gehen Sie besser, bevor ich mich richtig über Sie ärgere. Sie stehen auch im Halteverbot.« »Was Sie nicht sagen? Und der schwarze Kastenwagen da, hat der etwa einen aufblasbaren Privatparkplatz mitgebracht? Hören Sie zu, Sir Horatio ist mein Chef, und es ist sein Herzenswunsch, daß ich mir die Versteinerungen ansehe. Sind Sie nun hinreichend im Bilde?« Sein Kollege zupfte ihn am Ärmel. »Du, ich glaube fast, das ist dieser Wunderknabe, den sie angekündigt haben«, raunte er. Ich hörte es dennoch. »Die Wunder vergessen Sie schnell wieder«, empfahl ich ihm. »Und über den Knaben reden wir mal in meinem Pub – wenn Sie einen ausgeben.« Ich zeigte meinen Ausweis, damit sie nicht vor lauter Gewissensbissen einen Knacks bekamen. Ich dachte natürlich, daß sie jetzt auftauten. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie schauten gar nicht beglückt. Weiß der Teufel, ich hatte ein sonderbares Gefühl um den Nabel herum. Argwöhnisch beguckte ich sie. Wie Untote sahen sie nicht aus. Bißmale entdeckte ich auch nicht an ihnen. Und Ghouls sahen anders aus. Vor allem rochen die. Fast so atemberaubend wie die Hexenblumen. Ich hörte, ein Hämmern von dem Grundstück her. Mir dämmerte etwas. Ich spähte über die Absperrung hinweg. Der Bagger war aus dem Trichter herausgezogen. Das zerdrückte Führerhaus ver-
riet mir, daß das schwere Fahrzeug einen ganz achtbaren Sturz getan hatte. Das Hämmern klang aus dem Trichter, dessen tiefsten Punkt ich gar nicht sehen konnte. Ich belud mich mit meiner Aussteuer und kletterte durch die Absperrung. Die beiden Polizisten kamen hinterdrein. Ihre Mienen waren mächtig unfroh. Am Rand des Trichters blieb ich verblüfft stehen. Ich hatte ja schon versucht, mir ein ungefähres Bild zu machen, aber die Wirklichkeit überstieg meine Phantasie beträchtlich. Die Gruselgestalten, die ich noch in Aktion gesehen hatte, ragten wie groteske Gebilde aus den freigelegten Felsen. Manche standen wie Zapfen heraus, andere hingen wie Tropfen fest. Manche waren fast gänzlich aus dem Fels gefahren und in dem Augenblick erstarrt, als meine beiden Tageslichtbomben zündeten. Erstarrt waren sie. Ob sie auch tot waren, wollte ich nach dem, was Woods gegen mich unternommen hatte, stark bezweifeln. Etliche dieser Wesen mit den unterschiedlichsten Körpern und Fratzen schimmerten wie trübes Kristall. Andere waren schmutzig und unansehnlich wie bemoostes Gestein. Sie waren mit Fels verhaftet, der auf mich den Eindruck machte, als sei er inwendig verglast. Ich konnte in den Raum sehen, in dem meine Freundin Kathleen und ihre Verkäuferin Joan Masters gehockt hatten, als ich durch einen Spalt im Fels den Weg zu ihnen gefunden hatte. Dracula und Woods und andere Gestalten der Finsternis waren mir gegenübergestanden. Eine erdrückende Übermacht. Aber ich hatte Kathleen und Joan herausgescheucht und war
auch selber davongekommen. Der Bagger hatte die Decke über diesem großen Raum eingedrückt, er hatte auch die deckende Erd- und Felsschicht von jenem Saal zerstört, in dem Lucy Drummond in einer schaurigen Orgie bei lebendigem Leib und vollem Bewußtsein das warme Blut ausgesaugt worden war. So hatten es Kathleen und Joan mir berichtet. Selbst dort entdeckte ich versteinerte Kreaturen des Fürsten aller Blutsauger. Eine Menge Felsen waren hinabgestürzt. Da unten befand sich ein Gewirr von Trümmern und Felsplatten und Dreckhügeln. Und genau von dort erklang das Klopfen und Hämmern. Ich stieg vorsichtig in den Trichter hinab. Die beiden Polizisten folgten mir. Sie sahen mir zu, wie ich einige der Schreckgestalten prüfte, betastete und beklopfte. Sie waren aus Stein, gar keine Frage. Ich schwenkte den Korb mit den Hexenblumen unter ihnen. Nichts! Natürlich nicht, denn die Krähen hacken sich bekanntlich gegenseitig kein Auge aus, wenn ich das mal so sagen will. Ich versuchte es mit dem Keltenkreuz. Es passierte ebenfalls nichts. Einen Tropfen von Doktor Vilions Zauberelixier opferte ich. Es war ein nutzloses Opfer. Ich probierte alles durch. Zum Schluß jagte ich sogar einen Flammenstrahl gegen diese steingewordenen Kreaturen. Sie überstanden auch das. Allerdings zerplatzten sie auch nicht. Das jedoch hatte ich erwartet, denn die Flamme war heiß, und so sprödes Material wie Stein mußte bersten, wenn es so rapide auf Hochtemperatur gebracht wurde. Wenn wir die Horrorgestalten heraus- und ablösen wollten,
mußten wir sprengen. Wir haben dafür Spezialisten, richtige Künstler. Deshalb sah ich der nächsten Zukunft zuversichtlich entgegen. Und einem soliden Steinbrecher und den Mahlwerken widerstanden die Kreaturen wohl auch nicht. Das Hämmern erklang in der Nähe. Die Polizisten wurden sehr nervös. »Zum Teufel, haben Sie etwa jemand gestattet, hier herumzuklopfen wie in einem Steinbruch voller Fossilien?« fragte ich gereizt. Sie drucksten herum. Dann sagte einer kleinlaut: »Ist ja wohl nichts dabei, oder? Er will für sein Museum ein paar von den schrecklichen Dingern haben. Zwei oder drei hat er sauber herausgelöst. Sir, er hat eine sehr großzügige Stiftung für die Waisenkasse der Londoner Polizei in Aussicht gestellt.« »So, hat er? Dann wollen wir uns den spendablen Mann mal ansehen!« Ich hätte die zwei Polizisten am liebsten gefressen. Da überlegten wir, wie wir neues Unheil verhindern konnten, und die ließen einen Eierkopf aus einem Museum herumwerkeln und ein paar von den Kreaturen aus dem Fels klopfen. Auf die Art und Weise wurden die steinernen Ungeheuer über die ganze Stadt verteilt. Ich schnellte herum, als ich ein böses, gehässiges und fast unirdisches Lachen hörte. Die zwei Polizisten wichen zurück. Sie hätten vernünftiger gehandelt, wenn sie sich von dem angeblichen Museumsmann die Zähne hätten zeigen lassen. Aber dazu war's zu spät. Keine zehn Schritte von mir stand Graf Dracula, der Fürst aller Blutsauger, und zeigte mir, wie schön lang seine Zähne waren. »Mein lieber alter Feind!« höhnte er. »Sie werden zum Ärger-
nis und zu einer Gefahr. Sie werden doch verstehen, daß ich Maßnahmen ergreifen muß. Sie gefährden meine Pläne.« Das konnte ich mir denken. Aber Verständnis hatte ich dennoch nicht. Was mich wie ein vernichtender Faustschlag traf, war die Tatsache, daß es heller Tag war. Dracula konnte sich jetzt ebenfalls am hellichten Tag herumbewegen! Wie Woods. Da konnte ich meine Bombe steckenlassen, die ich ihm zum Geschenk machen wollte. Ich konnte überhaupt einige Dinge vergessen. Er konnte seine Vasallen gegen mich aufbieten. Den blöden Spruch, daß viele Feinde auch viel Ehr' seien, konnte nur einer erfunden haben, der es nie mit mehr als einem Gegner zu schaffen gehabt hatte. Schräg hinter mir kollerten Steinbrocken die Trichterwand herab. Ich warf den Kopf herum, weil ich dachte, die Polizisten geben Fersengeld. Sie standen wie erstarrt. Wer mit einem genüßlichen Grinsen im wächsernen Gesicht die Schräge herabstapfte, war niemand anderer als der Untote Inspektor Peter Woods. Und zu allem Unglück hörte ich noch ein seltsames Stampfen und Dröhnen. Es kam aus der Gegend, aus der Dracula gekommen war. Mir sprangen fast die Knöpfe ab, als ich sah, wer da kam. Oder besser was. Zwei steinerne Horrorgestalten. Sie waren aus Stein! Das sah ich. Aber sie bewegten sich und stampften auf mich zu. Dracula lächelte dünn. »Es regelt sich alles, es ist nur eine
Frage der Zeit, nicht wahr, mein lieber alter Feind?« Er machte eine Handbewegung zur Seite und zischte zu den steinernen Monstern hin: »Ergreift ihn, und wehe euch, ihr laßt ihn entkommen!« Mir sauste das Herz hinunter. Ich saß in der Falle. Ich hatte mich auch noch freiwillig hineinbegeben. Jetzt hatten sie mich, das war gewiß! ENDE 1.TEIL
Das also war der erste Band des Zweiteilers um die Hexe Miriam und ihr großes Geheimnis. In vierzehn Tagen erscheint der zweite Band als Mac Kinsey-Gruselthriller Nr. 8. Auch den hat Jake Ross geschrieben. Der Titel lautet:
Zombie-Saat Lesen Sie hier den Anfang und lassen Sie sich faszinieren. Ich steckte in der Klemme wie noch nie im Leben. Hinter mir lauerte Peter Woods, der untote Inspektor von Scotland Yard, der in der Welt der Vampire und Wiedergänger übergewechselt war. Er trachtete nach meinem Hals. Er wollte seine Zähne hineinbohren und mir das Blut aussaugen. Vor mir wartete Graf Dracula, der Fürst aller Blutsauger, auf meine Kapitulation. Und ebenfalls auf mein Blut. Wie ich die Gebräuche in seinen Kreisen mittlerweile einschätzte, hatte auch er den heißen Wunsch, mich anzu-
zapfen. Und von der Seite näherten sich zwei versteinerte Horrorgestalten mit dröhnenden Schritten. Graf Dracula hatte ihnen den Befehl gegeben, mich zu packen. Den grausigen Anblick hielt ich fast im Kopf nicht aus. Ich wußte, daß die Wesen aus Stein waren. Ich sah, daß sie sich dennoch einwandfrei bewegten. Ich verstand es nicht. Vor Wochen hatte ich Draculas Hauptquartier im Stadtteil Finsbury aufgespürt, wo er ein Heer von grauenhaften Wesen sammelte. Er trat zur Eroberung der Welt an. London sollte der Anfang sein. Das Haus von Bram Stoker, der die gruseligen Geschichten über ihn geschrieben hatte, war ihm als der geeignete Ort erschienen, um seine Streitmacht der Finsternis zusammenzustellen. Ghouls, die schrecklichen Totenfresser, waren zu ihm gestoßen. Zombies, Wiedergänger, Untote – das ganze Pack war vertreten. Und natürlich seine Kerntruppe, die Vampire. Bloß Werwölfe hatte ich in diesem, Aufgebot des Grauens nicht entdeckt. Das wollte aber nichts besagen, daß er sie sich nicht auch Untertan gemacht hatte. Buchstäblich im letzten Moment war es mir gelungen, zwei Tageslichtbomben unter das Gesindel zu schleudern. Denn Tageslicht ist bekanntermaßen tödlich für die Kreaturen der Nacht. Meine Rechnung hatte ich ohne den Fürsten der Blutsauger gemacht. Er hatte sich verkrümelt, bevor die Bomben zündeten. Und Woods hatte die grellen Detonationsblitze überstan-
den und erfreute sich allerbester untoter Gesundheit, wovon ich einen langen Klagechor singen konnte. Die Hauptstreitmacht des Blutgrafen hatte es allerdings erwischt. Soweit die Leseprobe vom Beginn des nächsten Mac Kinsey-Grusel-Thrillers. Den Roman erhalten Sie in vierzehn Tagen. Dann ist wieder Kinsey-Time. Gruseln Sie sich schön!