Viola Larsen
Klagelied
aus dem Jenseits
Irrlicht Band 008
Irgend etwas war geschehen! Lilla spürte es, ohne zu w...
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Viola Larsen
Klagelied
aus dem Jenseits
Irrlicht Band 008
Irgend etwas war geschehen! Lilla spürte es, ohne zu wissen, was es war. Sie wußte, daß es etwas Schreckliches sein mußte. Das Atmen fiel ihr schwer. Ein dumpfes Stöhnen kam von ihren Lippen. Vor ihren Augen drehten sich dunkle Nebel. Lilla glaubte, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden…
Lilla Warren hatte einen schrecklichen Traum: Sie saß in einem ihr fremden Zimmer am Flügel und spielte ihre geliebte Romanze in Moll, als plötzlich Blut aus den Tasten quoll und sich in häßlichen Flecken ausbreitete. Sogar die Noten, die neben ihr lagen, waren von Blutbefleckt. Da hörte Lilla plötzlich ein unheimliches Knarren hinter sich. Sie spürte, wie sie vor Angst zu zittern begann. Zögernd drehte sie den Kopf und sah zur Tür. Doch sie war verschlossen. Aber dann weiteten sich Lillas Augen vor Entsetzen, denn in dem Spiegel, der hinter ihr an der Wand hing, tauchte die dunkle, gespenstisch wirkende Gestalt eines Mannes auf. Lilla sah ein bleiches Gesicht und seltsam starre ausdruckslose Augen, bei deren Anblick es ihr eiskalt über den Rücken rann. Wer war das? Der Fremde sah aus, als sei er einem finsteren Grab entstiegen… Das unheimliche Bild im Spiegel bewegte sich nicht. Aber als Lillas Blick auf die Kerze fiel, die der alte Mann in der einen Hand hielt, griff sie sich an den Hals. Die Flamme der Kerze flackerte! Also mußte auch dieses unheimliche Wesen aus Fleisch und Blut sein! Ihre Lippen öffneten sich zu einem Schrei. Doch sie meinte, daß kein Laut aus ihrem Mund kam. Das düstere Bild im Spiegel verschwand. Dann aber hörte Lilla einen gellenden Schreckensschrei… Sie erwachte mit wild klopfendem Herzen. Hatte sie selbst geschrien? Oder hatte sie diesen Schrei vom Garten her gehört? Angespannt lauschend lag sie da. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Ihre Sinne konzentrierten sich allein auf den Schrei, der sie geweckt haben mußte.
Die Angst hielt ihr Herz wie mit Eisenklammem umschlossen. Doch die Erinnerung an das schreckliche Traumbild war wie ein Nebelhauch verflogen. Allmählich wurde ihr Herzschlag ruhiger. Ihre Lider sanken über die Augen, und sie schlummerte ein. Sie sah nicht, wie der Nachtwind die weißen Gardinen blähte und sie wie tanzende Geisterwesen vor den Fenstern schwebten. Sie sah die bizarren Schatten nicht mehr, die das Mondlicht auf den Fußboden ihres Zimmers zeichnete. Als der Tag heraufdämmerte, erwachte Lilla. Sie fühlte sich seltsam zerschlagen und benommen. Auch drückte ihr eine unerklärliche Unruhe die Brust zusammen. Doch sie wußte nicht, warum das so war. Der seltsame Traum war in ihrem Bewußtsein ausgelöscht. Die Unruhe aber wollte nicht vergehen. Dabei geschah zunächst nichts, das ihr diese Unruhe bestätigte. Es war ein Tag wie jeder andere. Lilla frühstückte sehr früh und war, wie meistens, allein. Ihr Vater, der Colonel, lebte noch nach der inneren Zeituhr von früher, als er noch in Indien für die britische Krone seinen Dienst in der Kolonie des Commonwealth getan hatte. Er stand viel später auf. Gleich nach dem Frühstück ging Lilla in ihren geliebten Garten. Dort gelang es ihr, sich von der unerklärlichen Nervosität abzulenken – bis die schreckliche Angst sie plötzlich wieder überfiel… Das unheimliche Grauen beschlich Lilla, als sie gerade die ersten Radieschen erntete. Sie spürte, wie ihre Nackenhaare sich sträubten und ihre Arme eine Gänsehaut bekamen. Sie fror. Es war, als streife sie eisige Kälte. Lilla blinzelte in die Sonne, die strahlend wie selten über dem schottischen Hochmoor stand. Ein warmer Wind wehte. Es war einer jener seltenen Frühlingstage, die Lilla so sehr liebte.
War da nicht Hufgetrappel? Lilla runzelte die Stirn und horchte. Es klang, als zögen mehrere Pferde einen schweren Gegenstand. Vielleicht eine Kutsche? Täuschte sie sich, oder hörte sie auch das Quietschen und Rumpeln von Rädern? Lilla wischte die Erdkrumen von ihren Händen. Sie fror immer noch entsetzlich, und sie verstand das nicht. Ich werde einen Schnupfen bekommen, dachte sie. Wahrscheinlich bin ich gestern zu lange im Garten gewesen. Sie seufzte. Die Radieschen sahen so hübsch aus, ihre runden, roten Köpfchen schienen Lilla anzulachen. Warum kam Tobias wie ein Verrückter vom Haus her gerannt? Er winkte und tat furchtbar wichtig. Doch das tat Tobias immer. Er war das Faktotum auf dem verlotterten alten Herrensitz des Colonels Christopher Warren, und er benahm sich, als sei Warren-House noch der feudalherrschaftliche Besitz von einst. »Was gibt es denn?« rief Lilla hinüber. Irgendwie war sie erleichtert, daß er kam, daß sie nicht länger allein war. »Besuch!« schrie Tobias. »Es ist Besuch für den Colonel gekommen.« Atemlos blieb er vor Lilla stehen. »Ein sehr vornehmer Herr!« »Was du nicht sagst!« staunte Lilla. Ihr Vater bekam so gut wie nie Besuch. Er behauptete immer, daß er von der Welt schon vergessen und deshalb so gut wie tot sei. »Vielleicht mit Pferden und einer Kutsche?« fragte Lilla. »So ist es«, bestätigte Tobias. Er war ein dünner alter Mann mit Streichholzbeinen und einem roten Bart. »Woher wissen Sie das, Miss Lilla?« »Ich habe es gehört.« »Hier? Hinter dem Haus? Da hört man doch nie, was an der Auffahrt passiert.«
»Es passiert ja auch nie etwas«, antwortete Lilla ungeduldig. »Ist es plötzlich so kalt geworden, oder bilde ich mir das nur ein?« »Kalt?« Tobias riß die wasserblauen Augen auf. »Es ist warm, Miss Lilla. Ich schwitze. Und der Colonel hat vorhin zu mir gesagt, es sei beinahe so heiß wie in Indien.« Lilla seufzte. Wenn ihr Vater von Indien anfing, verlor er sich meist in fürchterlich langweiligen Erinnerungen, die sie alle schon auswendig kannte. »Wer ist gekommen?« fragte sie. »Exzellenz von Litzenberg.« »Wer?« »Sagt Ihnen der Name nichts?« Lilla schüttelte den Kopf. »Noch nie gehört. Komisch.« Sie grübelte. »Papas ehemalige Freunde aus der Kolonialzeit kenne ich doch alle aus seinen Erzählungen. Das weiß ich genau.« »Er kennt den Herrn ja auch gar nicht.« »Nein?« Die Sache wurde immer rätselhafter. »Vielleicht ist es jemand, der Geld will«, entschied Lilla. »Das glaube ich nicht!« beharrte Tobias. »So sieht er nicht aus.« »Da kann man sich täuschen«, behauptete Lilla, die in dieser Hinsicht reichlich trübe Erfahrungen gesammelt hatte, seit Warren-House immer mehr heruntergekommen war. Die Pension ihres Vaters reichte kaum für das Existenzminimum, und leider mußte man außerdem noch eine Menge bezahlen. »Sie sollen jedenfalls ins Haus kommen, hat der Colonel gesagt, und Sie sollen sich manierlich aufführen.« »Unerhört!« Lilla war ärgerlich. »Hat er das etwa vor diesem Herrn gesagt?«
»Nein, natürlich nicht‹«, beschwichtigte Toby. »Er ist mit mir vor die Tür gekommen und hat es mir leise gesagt. Der Herr möchte Sie sprechen. Das habe ich jedenfalls mitbekommen.« Es paßte Lilla überhaupt nicht, daß sie sich fein machen sollte, um einen Herrn zu empfangen, den sie nicht kannte und von dem sie noch nie etwas gehört hatte. Sie sammelte die Radieschen ein. »Schade. Ich bin nicht sehr weit gekommen«, meinte sie betrübt. »Morgen ist auch noch ein Tag, Miss Lilla!« tröstete Tobias. Er hing sehr an der jungen Herrin von Warren-House, obwohl er ihrer verstorbenen Mutter einmal mit großem Mißtrauen begegnet war. Sie war schließlich eine Polin gewesen! Und Tobias war ein Hochländer, für den die Welt hinter dem schottischen Hochland aufhörte. Dabei sah Lilla ihrer Mutter sehr ähnlich, und das irritierte ihn manchmal. Sie war so ganz und gar keine Warren! Alle Warrens waren groß, hochaufgeschossen, hager und dürr, blond, blauäugig, und sie hatten Pferdezähne, das war sozusagen ihr Markenzeichen, genauso wie der rotkarierte Tartan, den sie trugen. Lilla war nur mittelgroß. Sie war zwar schlank, doch wohlgerundet, sie hatte schwarzes Haar und schwarze Augen. Ihre Zähne waren wie weiße Perlen. Auch war sie nicht lässig und kühl in ihrem Wesen, wie die Warrens es waren, sondern temperamentvoll, lebhaft und manchmal etwas unberechenbar. Sie ist eben eine Waslewskaja, pflegte der Colonel zu seufzen, wenn seine Tochter ihn wieder einmal in Erstaunen versetzte. Lillas Mutter war eine polnische Gräfin gewesen. Jana Waslewskaja. Ein lebensgroßes Gemälde von ihr hing in der Halle, und jedesmal, wenn Lilla es ansah, glaubte sie, in einen Spiegel zu blicken, so ähnlich war sie der Mutter.
»Warum machen Sie ein so komisches Gesicht, Miß Lilla?« fragte Tobias verwundert. »Ich weiß nicht«, antwortete Lilla und rieb sich fröstelnd über die Arme. »Tobias – ich habe Angst.« »Wovor?« »Ich kann es nicht erklären…« Nun war Lilla kein Mädchen, das immer ängstlich war. Sie war sogar recht resolut und couragiert. Das hatte sie zweifellos von den Warrens. Sie fürchtete weder ein wildgewordenes Pferd, ein Unwetter noch sonstige Dinge. Tobias blieb der Mund offen. »Verstehe ich nicht.« »Ich auch nicht«, seufzte Lilla. »Sie sollten den Colonel trotzdem nicht warten lassen.« »Ist ja gut! Ich gehe schon!« versicherte Lilla. Sie tat die Radieschen in einen Korb und eilte leichtfüßig zwischen den verwilderten Gartenbeeten auf das Herrenhaus zu. Es war nicht Lillas Schuld, daß der Garten so verwildert aussah. Sie konnte einfach nicht überall Ordnung halten, und Personal konnten sie sich schon lange nicht mehr leisten. Die Sonne lag auf dem alten Haus, das Lillas Heimat war und das sie liebte, auch wenn es heruntergekommen aussah. Das Dach war schadhaft, der Rauchabzug des Kamins funktionierte nicht mehr richtig, die Regenrinne war löchrig und die Fassade abgeblättert. Lilla schlüpfte durch die Hintertür des großen Hauses. Sie brachte die Radieschen in die rußschwarze Küche. Der Küchentisch wackelte. Er hatte ein lockeres Bein, und Lilla hatte Tobias schon mehrmals gebeten, das in Ordnung zu bringen. Ich werde es selbst machen, beschloß sie, als die Radieschen durcheinander kullerten. Es war nicht etwa so, daß Tobias arbeitsscheu gewesen wäre. Im Gegenteil, er werkelte vom frühen Morgen bis in die späte
Nacht herum. Nur wurde er eben nie fertig, weil es zuviel Arbeit war, die er zu bewältigen hatte. Lilla eilte auf den dunklen Korridor hinaus. Das Tageslicht fiel nur gedämpft durch die bunten Scheiben, weil mächtige Bäume davorstanden. Lilla preßte das Gesicht an eine der Scheiben, von der aus sie die Auffahrt überblicken konnte, und das unheimliche Gefühl der Angst verstärkte sich. Da stand eine prächtige Kutsche, ein Diener in pompöser Livree hielt vier aufgeputzte Rappen am Zügel. Lilla schüttelte den Kopf. Ein komischer Gast mußte das sein! Wer reiste denn heutzutage noch mit einer so altmodischen Kutsche? Natürlich war es im Hochland immer noch üblich, mit Pferd und Wagen zu fahren, aber die meisten benutzten doch Autos. Lilla wurde neugierig. Wenn sie nur nicht so abscheuliches Herzklopfen gehabt und nicht so gefroren hätte! Sie lief über die Wendeltreppe in ihr Stübchen hinauf. Manierlich sollte sie sich machen, hatte der Vater befohlen. Er hatte gut reden! Lilla riß die Türen ihres Kleiderschranks auf. Der alte Schrank war gewaltig, der Inhalt aber mager. Für teure Garderoben reichten ihre bescheidenen Mittel einfach nicht, und wozu hätte sie feine Kleider gebraucht? Das Leben, das sie auf Warren-House führten, war schlicht und arbeitsam. Am liebsten lief Lilla in Hosen herum. Da hatte sie wenigstens Bewegungsfreiheit. Nur sonntags, wenn sie mit dem Vater zur Kirche im Moordorf fuhr, trug sie ein Kleid. Weil sie jetzt so jämmerlich fror, zog Lilla das blaue Samtkleid mit den langen, weiten Ärmeln an. Ein weißer Spitzenkragen umschmeichelte ihren schlanken Hals. Sie ordnete die langen, schwarzen Haare und band sie im Nacken mit einem blauen Samtband zusammen.
Lilla warf noch einen letzten Blick in den Spiegel, betrachtete sich kritisch und beschloß, das Medaillon ihrer Mutter umzulegen. Das sah dann wenigstens ein bißchen vornehm aus. Trotzdem, dachte sie, als sie sich auf den Weg zur Halle machte, eine perfekte englische Lady wird nie aus mir! »Da bist du ja endlich!« empfing der Vater sie ungeduldig. Er saß in seinem Lehnstuhl am Kamin. In Warren-House war es sogar im Sommer kalt. Tobias hatte tüchtig eingeheizt. Doch Lilla hatte den Eindruck, als flackere das Feuer merkwürdig düster und verströme keine Wärme. »Tut mir leid, ich war im Garten«, entschuldigte sie sich. Der Colonel schien in guter Stimmung zu sein. So kannte Lilla den Vater gar nicht. Meist war er verdrossen, trauerte längst vergangenen Zeiten nach, haderte mit der Welt und seinem Schicksal. »Darf ich dir Exzellenz Litzenberg vorstellen, Lilla?« fragte der Colonel. Du meine Güte, dachte Lilla, der sieht ja aus, als sei er aus einem vergangenen Jahrhundert herübergekommen? Sie machte einen artigen Knicks vor dem Gast ihres Vaters. Seltsam sah er aus. Er paßte in seiner ganzen Aufmachung und auch in seinem Gehabe zu der alten Kutsche, die in der Auffahrt stand. Exzellenz von Litzenberg war ein großer Mann. Er trug einen feierlichen dunklen Anzug, schwarz, hochgeschlossen war der Rock, ohne weiße Krause oder Blende. Sein Haar war weiß und ziemlich strähnig. Sein Gesicht war furchterregend bleich und finster, auch als sein dünnlippiger Mund sich zu einem Lächeln verzog. Es sieht nicht wie ein Lächeln aus, dachte Lilla erschrocken, sondern wie eine Grimasse. Vor diesem Mann kann man sich fürchten.
»Es ist mir eine Ehre, Miss Warren.« Seine Stimme klang kühl und monoton. Lilla wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Ihr war es absolut keine Ehre! Und überhaupt war dieser Mann ihr unheimlich. Sie begriff nicht, warum ihr Vater so erfreut über den Besuch zu sein schien. »Setz dich doch, Kind«, ermunterte er Lilla. »Setz dich zu uns. Wir haben wichtige Dinge mit dir zu besprechen.« Ein Käufer für Warren-House, schoß es Lilla durch den Kopf. Der Colonel hatte schon manchmal mit dem Gedanken gespielt, seinen Besitz zu verkaufen, um sich mit dem Erlös ein angenehmes Leben in Aberdeen oder Edinburgh zu machen. Doch davon wollte Lilla nichts wissen. Sie liebte WarrenHouse. Sie wollte um nichts in der Welt von hier fort. »Exzellenz ist als Brautwerber gekommen«, eröffnete der Colonel der Tochter. »Als… was?« stotterte Lilla, die glaubte, sich verhört zu haben. »Lord Percy Richmond bittet um Ihre Hand, Miss Warren«, sagte Litzenberg und seine Stimme schnarrte wieder unangenehm in Lillas Ohren. »Was!« rief sie temperamentvoll. »Den kenne ich ja gar nicht!« »Du wirst ihn kennenlernen«, versicherte der Colonel, der ganz beglückt über die Aussicht schien, daß aus seiner Tochter eine Lady Richmond wurde. »Ich denke nicht daran, zu heiraten!« begehrte Lilla auf. »Ich habe in Warren-House eine Menge zu tun. Wie soll das hier denn gehen ohne mich? Und überhaupt, ich will es nicht! Ich heirate doch nicht einen Mann, von dem ich nicht mal weiß, wie er aussieht.«
»Oh, Lord Percy ist ein stattlicher Mann, der sich sehr wohl sehen lassen kann«, sagte Litzenberg. Sein ungewöhnlich bleiches Gesicht blieb starr und ausdruckslos. Eine seltsame Kälte schien von ihm auszugehen und Lilla meinte wieder einen eisigen Schauer über den Rücken rinnen zu spüren. »Und Richmond ist ein fantastischer Besitz«, fügte der Colonel begeistert hinzu. »Das ist mir egal!« brauste Lilla auf. »Vater, ich verstehe dich nicht. Warum eilt es denn auf einmal so, mich loszuwerden?« »Ich will dich nicht loswerden!« erwiderte der Colonel. »Ich will nur dein Bestes.« »Und woher willst du wissen, daß diese Heirat mein Bestes ist?« fragte sie trotzig. »Weil dir nichts Besseres geboten werden wird, Kind!« versicherte der Colonel. »Ich bin da anderer Ansicht«, wehrte Lilla entschieden ab. »Nichts gegen den Lord und nichts gegen Richmond, aber ich bin gegen eine so überstürzte Heirat.« »Die Hochzeit wird auf Schloß Richmond schon vorbereitet«, erklärte Litzenberg und verzog sein Gesicht wieder zu dieser Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte. »Nein!« stieß Lilla außer sich hervor. »Niemals! Ich gehe nicht von hier fort. Und schon gar nicht nach Richmond. Wo ist das überhaupt?« »Ungefähr zwei Tagesreisen von hier, im äußersten Norden«, gab Litzenberg Auskunft. »Mit einer Kutsche vielleicht«, meinte Lilla spöttisch. »Mit einem Auto schafft man es bestimmt in der Hälfte der Zeit.« »Richmond war früher einmal ein regierendes HochlandHaus«, wurde sie von Litzenberg belehrt. Auch das beeindruckte sie nicht im geringsten.
Der Colonel hingegen wirkte entzückt. »Ich erinnere mich noch gut an jene Zeiten!« rief er fast schwärmerisch. »Die Richmonds regierten ihren Besitz wie Könige.« »Und wenn sie wie Kaiser regiert hätten, ich will nicht!« beharrte Lilla. Der Colonel rettete sich in väterliche Autorität, um sein widerspenstiges Töchterchen zur Räson zu bringen. »Ob du magst, oder nicht – ich befehle es dir!« »Ja. Nur bin ich nicht einer von deinen Rekruten, die du früher herumkommandieren konntest«, widersprach Lilla wütend. »Außerdem bin ich volljährig. Du kannst mich zu dieser Heirat nicht zwingen.« »Merkst du eigentlich nicht, wie unhöflich du bist, Lilla?« regte der Colonel sich auf. »Das tut mir leid«, erklärte sie, obwohl es ihr überhaupt nicht leid tat. Sie wollte den Colonel jedoch nicht blamieren. Sie wandte sich an Litzenberg. »Vielen Dank für Ihren Besuch, Exzellenz. Richten Sie Lord Richmond aus, daß es mir eine Ehre sei, ich seinen Antrag aber leider nicht annehmen kann.« Sie stand auf. »Dann kann ich jetzt wohl gehen?« Auch Litzenberg erhob sich. Hochaufgerichtet und düster stand er vor Lilla. Sein Blick zwang sie, ihn anzusehen. Was hatte dieser Mensch für unheimliche, stechende Augen? Panische Angst erfaßte Lilla. Ihr Herz raste. Die eisige Kälte überkam sie wieder. Graue Schleier legten sich plötzlich über ihre Augen. Das Gesicht des seltsamen Gastes verschwamm. Dann begann sich alles rings um sie zu drehen. Lilla merkte nicht mehr, wie sie mit einem Seufzer zu Boden sank. Eine Ohnmacht hatte ihr Denken ausgelöscht. Als Lilla wieder zu sich kam, war der unheimliche Gast verschwunden. »Wo – wo ist er?« stammelte sie.
»Fort«, beruhigte sie der Colonel. »Er ist gegangen, als du in Ohnmacht gefallen bist.« Lilla lag auf dem weichen Teppich vor dem Kamin. Das Feuer prasselte und verströmte wieder Wärme. »Ich habe so schrecklich gefroren, Papa. Ich habe mich überhaupt recht elend gefühlt.« Sie hob vorsichtig den Kopf. »Er ist wirklich fort? Was war das nur für eine kuriose Geschichte?« Der Colonel machte ein besorgtes Gesicht. »Tut mir leid, wenn du dich so sehr erschreckt hast, Kleines.« »Ist schon gut.« Es war Lilla peinlich, daß sie ohnmächtig geworden war. »Vielleicht steckt irgendwas in mir? Ein Schnupfen oder ein Fieber?« Sie wollte aufstehen, fühlte sich aber merkwürdig schwach. Der Colonel führte sie zu einem tiefen Ledersessel. In diesem Augenblick riß Tobias die Tür auf. Und er stieß verstört hervor: »Sie sind weg!« »Wer?« fragte der Colonel streng. »Die Kutsche, der Diener, die Pferde«, stammelte der alte Mann. »Nun ja, unser Gast ist abgefahren. Leider konnte ich ihn nicht zur Tür begleiten, weil Lilla ohnmächtig geworden war.« »Nein, so ist es nicht gewesen, Sir! Ich stand doch neben dem Portal. Ich habe die altmodische Kutsche betrachtet. Aus der Halle ist niemand herausgekommen. Das hätte ich doch sehen müssen!« »Exzellenz Litzenberg hat den Raum durch diese Tür hier verlassen!« rief der Colonel und deutete auf die hohe Flügeltür, die in die Halle führte. »Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.« »Dann hätte ich ihn… doch auch sehen… müssen?« stammelte Tobias.
»Du wirst wieder einmal mit offenen Augen geträumt haben«, knurrte der Colonel. Tobias überhörte die Beleidigung. Es ging jetzt um wichtigere Dinge. »Eben waren sie noch da. Kutsche, Pferde, Diener. Und dann waren sie weg.« Er machte eine hilflose Geste mit beiden Händen. »Es war wie ein Spuk.« Jetzt wurde es Lilla zu bunt. So ungereimt ihr die ganze Sache vorkam, sie fühlte sich wieder besser, und so schnell ließ sie sich nicht einschüchtern. »Vielleicht hast du nur einen Moment nicht hingesehen«, versuchte sie die mysteriöse Geschichte aufzuklären. »Und in der Zwischenzeit ist die Kutsche losgefahren!« »Ausgeschlossen, Miss Lilla! Ich bin ein alter Mann, ja. Doch ich habe gesunde Augen und verrückt bin ich auch nicht!« Der Colonel seufzte. »Schon gut. Rege dich nicht auf. Die Sache ist erledigt. Sei es wie es sei, unser Gast ist fort.« »Ja, und dem Himmel sei Dank«, flüsterte Lilla. Tobias brummte, daß er seine fünf Sinne noch alle beieinander habe, und verließ den Raum. Der Colonel schenkte einen Whisky ein und leerte sein Glas in einem Zug. »Lilla – du hast das vorhin doch nicht ernst gemeint?« »Was, Papa?« »Daß ich dich los sein will?« »O doch!« versicherte sie lebhaft. »Mir ist das wirklich so vorgekommen. Es war ungerecht von mir. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Ich war so furchtbar aufgebracht, weißt du. Und mir war ganz komisch. Ich habe auch Angst gehabt«, gab sie offen zu. »Richtig Angst. Dabei kenne ich sonst gar keine Angst.« »Ja, du bist ein tapferer, kleiner Kamerad«, bestätigte der Colonel liebevoll. Es lag ihm nicht, Gefühlsregungen zu
zeigen. Doch jetzt zog er sein Töchterchen in die Arme und gab ihr einen Kuß. Das machte Lilla mißtrauisch. Diese ungewohnte Zärtlichkeit alarmierte sie. »Du denkst doch nicht etwa im Ernst daran, daß ich diesen Lord Richmond heiraten soll?« Seine Miene wurde sehr ernst. Er sah zu dem Gemälde seiner so jung verstorbenen Frau hinüber. »Schon um ihretwillen will ich, daß du es tust, Lilla.« »Was hat Mama damit zu tun?« unterbrach Lilla ihn erregt. »Sie wollte, daß du einmal glücklich wirst.« »Mit Lord Richmond?« »Mit einem Mann, der deiner würdig ist!« »Du kennst den Lord doch auch nicht!« »Seine Familie bürgt dafür, daß er ein Edelmann ist.« »In jeder Familie gibt es schwarze Schafe!« sagte Lilla. »Dieser Brautwerber – er war mir irgendwie unheimlich. Dir nicht auch?« »Exzellenz Litzenberg?« fragte der Colonel überrascht. »Aber, Kind!« »Schon der Name ist so merkwürdig. Der klingt ganz und gar nicht schottisch.« »Natürlich nicht«, bestätigte der Colonel. »Seine Vorfahren stammen aus einer preußischen Linie, wie er mir sagte.« »Auch der Titel ist sonderbar – Exzellenz!« »Excellency!« übersetzte der Colonel und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich habe das Geld für dein Internat zum Fenster hinausgeworden. Du weißt doch, was ein Excellency ist?« »Ein Titel, der Botschaftern und Gesandten zusteht«, sagte Lilla. »Ist dieser Litzenberg denn ein Botschafter oder Gesandter?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, daß die Richmonds ihren Besitz, und es ist ein riesiges Besitztum, wie regierende Fürsten verwaltet haben.« »Vor hundert Jahren oder mehr.« Der Colonel machte eine unwillige Handbewegung. »Jedenfalls hatten sie das Recht, den Titel zu vergeben. Exzellenz Litzenberg war ihr Gesandter am preußischen Hof.« »Vor hundert Jahren?« fragte Lilla wieder. »Dann war es eben sein Vater, oder sein Großvater!« Lilla schüttelte sich. »Papa, mit diesem Menschen will ich nie mehr etwas zu tun haben. Ein Grund mehr für mich, Richmond für alle Zeiten fertig zu bleiben.« »Das – das geht nicht, Lilla«, murmelte der Colonel. »Ich habe Exzellenz mein Wort gegeben, daß du unverzüglich nach Richmond aufbrechen wirst.« »Was?« Lilla schrie beinahe. »Wann hast du das getan?« »Als er sich verabschiedete. Ich habe ihm mein Wort als Offizier gegeben, daß du sofort nach Richmond reisen wirst, Lilla.« Lilla wurde blaß. »Papa, das ist ja – ich finde keinen Ausdruck dafür…« »Es ist keinesfalls so schlimm, wie du es dir jetzt vorstellst, Kind«, versuchte der Colonel einzulenken. »Da ist noch etwas. Ich rede nicht gern darüber. Dennoch – ich werde nicht jünger.« Lilla reagierte sofort mißtrauisch. »Fühlst du dich nicht wohl, Papa? Hast du es wieder mit deinem Herzen?« »Jedenfalls möchte ich, daß du versorgt bist«, wich er aus. »Wenn mir heute etwas zustoßen sollte – was soll dann aus dir werden? Warren-House ist keine Bleibe für dich! Oder willst du hier eine alte Jungfer werden? Deine Mutter würde mir das nie verzeihen. Sie war eine so heitere, lebenslustige Frau, und ich habe sie sehr geliebt.«
Es muß schlimm um ihn stehen, dachte Lilla erschrocken, wenn er so gefühlsselig wird. Der Colonel nahm ihre Hände und hielt sie fest. »Ich will dir nichts vormachen, Kind. Ich fühle mich wirklich nicht gut. Wollen wir einen Kompromiß schließen? Du fährst nach Richmond und siehst dir die Sache an. Damit ist nichts entschieden. Du kannst jederzeit zurückkommen. Und ich gehe dafür morgen zum Doktor und lasse mich untersuchen? Einverstanden?« Lilla überlegte schnell, daß dies sicher der einfachste Weg war, den Vater zum Arzt zu bringen. Er lehnte das sonst immer ab. »Also gut, einverstanden, Papa.« »Tobias soll dich begleiten.« »Nein! Er bleibt bei dir. Wie willst du allein zurechtkommen?« Das wußte der Colonel auch nicht. »Die Reise ist ziemlich weit«, meinte er. »Bin ich aus Zucker? Ich fahre allein.« Damit war alles entschieden. Und danach ging alles furchtbar schnell. Tobias half beim Kofferpacken. Viel zu packen gab es ohnehin nicht. Die alte Reisekutsche wurde angeschirrt. Tobias war so verstört, als schicke der Colonel seine Tochter geradewegs in die Hölle. Lilla, die mit Pferden und Wagen umgehen konnte, scheute die Reise nicht, sie war nur in Sorge um den Vater. Als er sie umarmte und küßte, liefen ihr Tränen über die Wangen. »Bis bald, Papa!« rief sie. Sie sah noch einmal zurück. Er stand in der Tür, merkwürdig klein und gebeugt. Und sie hatte plötzlich das Gefühl, daß sie ihn nie mehr wiedersehen würde… Lilla machte die recht beschwerliche und weite Reise wirklich nichts aus. Es war auch nicht ungewohnt für sie, allein unterwegs zu sein. Wenn in Aberdeen oder Edinburgh
irgendwelche wichtigen Dinge zu erledigen waren, tat sie es auch allein. Allerdings war das doch etwas anderes, als diese Reise! Nach Richmond! Zu einer Hochzeit, die schon vorbereitet wurde, aber natürlich nie stattfinden würde. Wenn ich erst dort bin, nahm sich Lilla vor, stelle ich die Sache klar, drehe mich auf dem Absatz um und fahre wieder zurück. Das Wetter war herrlich, so mild und schön wie selten in einem schottischen Frühling. Zunächst lief alles erfreulich glatt. Mit kleineren Schwierigkeiten und Pannen, wie einem falschen Wegweiser oder einem holpernden Wagenrad, wurde Lilla fertig. Die erste Nacht fand sie Unterkunft in einem Gasthof, in dem auch die Pferde gut betreut wurden. Der Wirt war so freundlich, ihr einen Abkürzungsweg nach Richmond zu erklären. »Da ist doch diese neue Straße, Miss«, erläuterte er. »Sie kürzen damit ab und sparen eine Menge Zeit!« Exzellenz Litzenberg schien von dieser Straße noch nichts gehört zu haben. »Wenn die Pferde sich ranhalten«, meinte der Wirt, als Lilla sich verabschiedete, »sind Sie heute abend da.« Warum machte er nur eine so betretene Miene, als er das sagte? »Gefällt Ihnen Richmond nicht?« fragte Lilla rundheraus. Der Mann lachte verlegen. »Man hört dies und das, Miss.« »Was, zum Beispiel?« Lilla ließ nicht locker. »Nun, es soll nicht zum besten auf Richmond bestellt sein.« Aha. Sie hatte ja gleich geahnt, daß die Sache einen Haken hatte. Rätselhaft war ihr auch, wieso der Lord ausgerechnet sie als Braut wollte. »Mit dem Land oder mit den Leuten?« hakte sie nach.
Der Wirt zuckte die Schulter. »Sie überzeugen sich besser selbst davon, Miss.« Lilla verabschiedete sich und ließ die Pferde in den sonnengoldenen Frühlingsmorgen über dem schottischen Hochmoor hineintraben. Unter diesem strahlenden Himmel war kaum Raum für düstere Gedanken. Lilla schüttelte alle Beklommenheit von sich ab. Natürlich machte sie sich immer noch Sorgen um ihren Vater. Auch der Gedanke an die bevorstehende Unterredung mit Lord Richmond war nicht erheiternd. Lilla war fest entschlossen, unverzüglich die Heimreise anzutreten, sobald sie mit ihm gesprochen hatte. Der Wirt hatte recht. Die neue Straße führte geradewegs nach Richmond. Gegen Mittag tauchten schon die ersten Wegweiser auf, die den Namen Richmond führten. So neu war die Straße jedoch nicht mehr. Sie wies erhebliche Schlaglöcher auf. Lilla hatte Mühe, ihre Kutsche sicher zu lenken, denn einen Radbruch wollte sie in dieser einsamen Gegend nicht riskieren. Der Himmel bewölkte sich plötzlich. Die Sonne verschwand hinter dichten Wolken und schlagartig veränderte die Landschaft ihr Gesicht. Ein kühler Wind kam auf. Erstaunt und etwas beklommen stellte Lilla fest, daß die Wälder und Moore, die ihr soeben noch freundlich vorgekommen waren, nun düster und unheimlich wirkten. Tapfer kämpfte sie gegen die Angst an, die in ihr aufsteigen wollte. Angst war ein schlechter Wegbegleiter! Sie stutzte. Hinter einer Wegtafel mit der Inschrift Richmond standen verrottete Grenzpfähle. Lilla runzelte die Stirn. Das waren wohl Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten? Hatten die Richmonds vielleicht einmal Wegzoll erhoben? Die Pferde wollten nicht weiter.
»Was ist denn los?« fragte Lilla. »Gefällt es euch hier nicht? Mir auch nicht! Aber wir müssen weiter! Je schneller wir da sind, desto schneller können wir wieder zurück. Hüa! Auf geht’s.« Nur zögernd passierten die Pferde die Grenzpfähle. Lilla holte tief Luft, denn was nun kam, war ganz dazu angetan, auch einen furchtlosen Menschen das Gruseln zu lehren – düstere Wälder, verlassene Gehöfte, brachliegende Felder, Moore, verfallene Hütten. Und nirgendwo eine lebendige Menschenseele. Die Straße hörte auf. Nur ein schmaler holpriger Pfad schlängelte sich durch die Landschaft. Der Wind wurde stärker. Sein Heulen war schaurig. Es wurde allmählich dunkel. Dann kam Nebel auf. Lilla trieb die Pferde an. Wenn es nur diesen einzigen Weg gab, der durch Richmond führte, dann mußte diese Straße irgendwo zum Haus der Richmonds führen. Sie wollte gern vor dem völligen Einbruch der Dunkelheit ihr Ziel erreichen. Endlich wurde der Weg breiter, Häuser tauchten auf, Straßen. Doch was war das für eine Geisterstadt! Kein Mensch war zu sehen. Nur Schatten, leere Fensterhöhlen und dieser unheimliche Wind. Die Laternen an den Straßen brannten nicht. Der Nebel wallte immer dichter. Lilla atmete auf, als sie in der Ferne deutlich Lichter erkennen konnte. »Vorwärts!« ermunterte sie die Pferde. »Jetzt haben wir es bald geschafft!« Richmond-Castle lag etwas außerhalb auf einem Hügel mitten im Moor.
*
Sicher war 4er Nebel schuld daran, daß Lilla die Einfahrt nicht gleich fand. Sie kutschierte erst einmal um das Schloß herum, stellte fest, daß es so verwahrlost aussah wie Warren-House, und überlegte beinahe amüsiert, was ihr Vater wohl dazu sagen würde? Warren-House war wenigstens anheimelnd und freundlich. Richmond-Castle wirkte jedoch trutzig, abstoßend und unfreundlich auf Lilla. Bei der zweiten Runde entdeckte sie die Öffnung in der Schloßmauer und manövrierte die Pferde hindurch, was gar nicht so einfach war, weil die Lichter, die im Haus brannten, nicht genügend Helligkeit in den Nebel warfen. Vor der breiten Freitreppe hielten die Pferde schnaubend an. »Brav!« lobte Lilla. »Das habt ihr fein gemacht! Jetzt könnt ihr in einem warmen Stall ausruhen, und morgen geht es wieder nach Warren-House.« Sie sprang vom Kutschbock und eilte die breite Freitreppe hinauf, deren Stufen ausgetreten und zum Teil zerbröckelt waren. An dem klobigen Portal hing ein bronzener Türklopfer in Format eines Schlangenkopfes. Lilla setzte ihn in Bewegung. Wartete. Nichts rührte sich. Sie probierte es noch einmal. Dumpf klang das Klopfen durch die Stille. Es fiel Lilla auf, daß kein Wind mehr wehte. Sie fuhr zurück, als das Portal geöffnet wurde: sie hatte niemanden kommen hören. »Wir geben nichts, und bei uns gibt es auch kein Nachtquartier für herumstreunende Bettler und Vagabunden«, quäkte eine unangenehm hohe Fistelstimme. Sie gehörte einem dicken, glatzköpfigen Mann in Dienerlivree. »Ich bin kein Bettler«, erklärte Lilla. »Ich bin Lilla Warren, die Tochter von Colonel Warren, und die Braut von Lord
Percy Richmond!« Sie warf den Kopf in den Nacken und blickte den Mann kühl an. Der Glatzkopf riß die Augen auf, die wie wasserblaue Glasknöpfe aussahen. Er starrte Lilla verblüfft an, zögerte, entschied schließlich: »Dann kommen Sie herein.« Lilla schüttelte über diesen merkwürdigen Empfang den Kopf. Der Glatzkopf ließ sie neben dem Portal stehen. »Warten Sie hier!« Er schlurfte auf Filzpantoffeln davon. Also deshalb habe ich ihn nicht kommen hören, dachte Lilla. Sie sah sich in der Halle um, und ein ehrfürchtiger Schauer überrieselte sie. An den steinernen Wänden hingen neben verblaßten Fahnen, Helme mit Federbüschen und reich verzierte Degen. Kerzen brannten in hohen Bronzekandelabern und warfen zitternde Schatten in den hochgewölbten Raum, auf die breite Treppe und in die sternenförmig von der Halle abzweigenden Flure. Die Mosaikfliesen des Fußbodens bildeten ein Sternenornament, das strahlenförmig dem Mittelpunkt zustrebte, der wie ein Mond aussah. In diesem Augenblick begriff Lilla die Begeisterung ihres Vaters: Wahrscheinlich kannte der Colonel Richmond-Castle aus früheren glanzvollen Zeiten, und sein Entzücken kam ihr nun verständlich vor. Der Glatzkopf schlurfte aus einem der Flure. »Sie sollen hereinkommen.« Besonders freundlich war diese Aufforderung nicht gerade. »Meine Pferde haben einen weiten Weg hinter sich. Sie stehen draußen im kalten Nebel«, erklärte Lilla ärgerlich. »Ich wünsche, daß sie sofort versorgt werden.« »Später«, entschied der Glatzkopf. Lilla folgte ihm recht ungehalten durch einen der Flure, der endlos wirkte.
Eine Tür tat sich auf, die in einen großen Saal führte, dessen Mittelpunkt ein flackerndes Kaminfeuer bildete. Um den Kamin gruppierten sich tiefe Sessel. Die Gruppe war vor einem Kandelaberkranz von Kerzen erhellt. Der übrige Raum lag im Dunkeln. Angenehme Wärme empfing Lilla. Ihre Augen brauchten einige Sekunden, bis sie sich an das helle Licht gewöhnt hatten. Dann unterschied sie Gestalten und Gesichter, die von dem Widerschein des Kaminfeuers und den Kerzen angestrahlt wurden. Es kam ihr alles beklemmend unwirklich vor. »Willkommen in Richmond-Castle«, sagte eine metallisch klingende Frauenstimme. Aus einem der Sessel erhob sich eine schlanke, braunhaarige junge Frau. »Ich bin Georgia Richmond.« Eine merkwürdige Beklemmung schnürte Lilla die Kehle zusammen. Sie brachte kein Wort heraus. Sie hätte auch nicht gewußt, was sie hätte sagen sollen. Die Frau wirkte kalt von Kopf bis Fuß. Das lag an dem metallischen Schimmer des Seidenkleides, das sie trug. Sie stellte mit einer Handbewegung vor: »Meine Schwester Anna.« Das Mädchen sah wie ein Kind aus und saß in einem Rollstuhl dicht am Kamin. Es hatte blondes Haar, wunderschöne blaue Augen und lächelte Lilla freundlich zu. Lilla war dankbar für dieses freundliche Lächeln und erwiderte es. »Timothy haben Sie ja schon kennengelernt.« Georgia deutete auf den Glatzkopf, der sich unterwürfig verneigte. »Er ist unser Butler.« »Bitte, meine Pferde stehen draußen in der Kälte. Kann ich sie in den Stall bringen und versorgen?« »Sind Sie allein gekommen?« fragte die Frau verwundert.
»Mein Vater hat es sehr bedauert, daß er mich nicht begleiten konnte«, erklärte Lilla rasch. »Leider fühlt er sich gesundheitlich nicht wohl.« »Wie bedauerlich.« Die Frau sagte das in völlig gleichgültigem Ton. »Sicher haben Sie aber doch Diener bei sich?« »Diener?« Lilla schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben nur einen Diener, und der mußte bleiben, um meinen Vater zu betreuen. Darf ich zuerst die Pferde versorgen?« Georgia Richmond wandte sich an den Butler. »Laß die Pferde versorgen. Und kümmere dich um das Gepäck.« »Es ist nicht viel Gepäck«, versicherte Lilla rasch. »Ich habe nur einen kleinen Koffer und zwei Reisetaschen mitgebracht.« Timothy verschwand. Lilla atmete erleichtert auf. Georgia Richmond deutete auf die Sitzgruppe am Kamin. »Nehmen Sie Platz. Es gibt gleich Abendessen. Wünschen Sie vorher schon eine kleine Erfrischung?« »Nein, vielen Dank. Ich kann gerne warten«, versicherte Lilla bescheiden, und sie setzte sich in den Sessel neben das freundliche Mädchen, das ihr sofort sympathisch war. »Leider ist Percy nicht da«, sagte Georgia kühl. »Er ist zur Jagd. Er wird bedauern, daß er zu Ihrem Empfang nicht anwesend war.« Sie sagte das etwas spöttisch, als sei sie der Ansicht, ihr Bruder bedaure das keineswegs. »Wir wissen nicht, wann er zurückkommen wird. Heute, morgen oder übermorgen, das steht in den Sternen, wenn Percy erst einmal das Jagdfieber gepackt hat.« Lilla erschrak. Lord Richmond war nicht hier, und es war nicht gewiß, wann er zurückkam! Dann mußte sie in Richmond-Castle bleiben und auf ihn warten? Sie wollte doch so schnell wie möglich nach Warren-House zurück! Sie überlegte fieberhaft, ob sie ihr Anliegen auch Georgia vortragen konnte?
In ihr Grübeln hinein fragte Georgia: »Sie behaupten, Percys Braut zu sein?« Lilla war froh darüber, daß die Sache so schnell zur Sprache kam. Sie faßte sich ein Herz und erklärte rundheraus: »Tatsache ist, daß ich Lord Richmond gar nicht heiraten will.« Georgia starrte sie an. Auch Anna wandte keinen Blick von ihr. »Es war der Wunsch meines Vaters, daß ich die Werbung Lord Richmond annehme.« »Werbung?« fragte Georgia schrill. »Was für eine Werbung?« »Nun, die Werbung, die der Abgesandte Lord Richmonds bei meinem Vater vorgebracht hat«, antwortete Lilla fest, obwohl sie sich immer unbehaglicher fühlte. »Unglaublich!« hauchte Georgia kopfschüttelnd. »Und wann soll dieser Abgesandte meines Bruders Ihren Herrn Vater aufgesucht haben?« »Gestern«, antwortete Lilla. »Gestern vormittag. Ich habe mich gleich auf den Weg gemacht, weil mein Vater sein Wort als Offizier gegeben hat, daß ich unverzüglich nach Richmond aufbreche.« Timothy kam zurück und meldete, daß die Pferde versorgt worden seien. »Die Kutsche haben wir in der Remise untergestellt, Mylady«, wandte er sich an Georgia. »Das Gepäck wurde auf das Zimmer gebracht.« »Danke, Timothy.« Georgia verlor keine Sekunde die Haltung. Sie ist wirklich eine perfekte Lady, stellte Lilla insgeheim bewundernd fest, obwohl ihr die ältere Schwester Lord Richmonds unsympathisch war. Die Kerze, die Timothy trug, warf ihren Widerschein auf ein Gemälde, das an der Breitwand gegenüber dem Kamin hing. »Das ist er ja!« rief Lilla erleichtert und deutete auf das Gemälde. »Ich meine, da ist der Brautwerber Lord Richmonds,
der bei meinem Vater im Namen des Lords um meine Hand angehalten hat.« Georgia, Anna und Timothy, alle drei wandten wie auf ein Kommando die Köpfe zu dem Gemälde hin und starrten es an. Eine spannungsgeladene Stille breitete sich aus, in der das Prasseln des Kaminfeuers unheimlich und laut wirkte. Georgia räusperte sich schließlich und fragte gedehnt: »Sie behaupten, der Mann auf jenem Gemälde sei der Brautwerber, der bei Ihrem Herrn Vater im Namen meines Bruders vorgesprochen hat?« »Ja«, antwortete Lilla ungeduldig. »Das ist er. Ich erkenne ihn wieder. Das ist Exzellenz von Litzenberg.« »Das stimmt«, sagte Anna verblüfft. »So heißt er.« »Trotzdem müssen Sie sich irren«, murmelte Georgia. Dann rief sie mit schriller Stimme: »Dieser Mann ist schon seit hundert Jahren tot.«
*
Da war wieder die eisige Klammer der Angst. Lilla zuckte zusammen. Die Kälte war wieder da, die sie erschauern machte. Sie fror entsetzlich. Es war wie Schüttelfrost. Ihre Händen wurden steif. Eine Gänsehaut lief über ihre Arme und ihren Rücken hinunter. Alle redeten auf einmal durcheinander. Was sie sagten, klang aufgeregt und verwirrt. Lilla verstand kein Wort, denn sie war in ihrer Angst wie taub. Erst als Georgia das Wort unmittelbar an sie richtete, kam Lilla zu sich. »Miss Warren – das alles muß ein Irrtum sein!«
»Ein Irrtum?« Lilla schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann beschwören, daß Exzellenz Litzenberg gestern nach WarrenHouse gekommen ist. Ich habe auch seine Kutsche gesehen, ziemlich altmodisch, wie ich zugeben muß, aber recht pompös. Sie wurde von vier Rappen gezogen, und der Kutscher trug eine vornehme Livree.« Lilla wußte nicht, was sie von all dem halten sollte. Wollte man sie belügen, sie täuschen? Wenn es nicht so war, wie erklärte es sich dann, daß ein angeblich längst Verstorbener bei ihrem Vater gewesen war? »Exzellenz Litzenberg fuhr immer die Kutsche mit den vier Rappen!« stieß Timothy aufgeregt hervor. »Ach, mischen Sie sich nicht ein!« fuhr Georgia ihm ärgerlich über den Mund. »Miss Warren«, sie wandte sich wieder Lilla zu, »Sie müssen einer Halluzination zum Opfer gefallen sein.« »Halluzination?« Lilla schüttelte den Kopf. »Man sagt zwar, daß ich eine rege Phantasie habe. Aber mein Vater? Niemals! Er ist ein nüchterner Mann. Er hat selbst mit dem Brautwerber gesprochen. Das können Sie mir glauben.« Sie unterdrückte das Zittern, das plötzlich in ihr aufstieg. Wenn dieser Mann tot war, dann mußte ja sein… Geist in Warren-House erschienen sein! Aber an so etwas wollte sie nicht glauben. Und diesen Gedanken wollte sie schon gar nicht aussprechen. Georgia machte einen verstörten und ratlosen Eindruck. »Zu dumm, daß Percy nicht da ist«, murmelte sie. Anna sagte rasch: »Jedenfalls sind Sie jetzt hier, Lilla. Ich darf doch Lilla zu Ihnen sagen?« »Gern«, antwortete Lilla. Sie freute sich, daß wenigstens dieses gelähmte Mädchen im Rollstuhl ihr freundlich entgegenkam, und nicht an ihren Worten zweifelte. Sie reichten sich die Hände. Lilla betrachtete Anna. Sie wirkte so zart und zerbrechlich, so jung.
»Ich bin achtzehn«, sagte Anna, die Lillas Blick bemerkt hatte. »Ich sehe viel jünger aus.« Sie seufzte. »Das kommt daher, daß ich immer in diesem Rollstuhl sitzen muß. Ich bin irgendwann in meiner Entwicklung stehengeblieben. So sagt Percy immer. Ich…« »Die Sache ist die«, erklärte da plötzlich Georgia, »daß wir eine ganz andere Braut erwarten.« »Eine – eine andere… Braut?« stotterte Lilla. Timothy starrte Lilla aus seinen wasserblauen Augen angstvoll an. Er schlotterte an allen Gliedern. »Es ist nämlich so«, fuhr Georgia hastig fort, »daß Percy sich dazu entschlossen hat, Lady Mary Winterhill zu heiraten.« »Gezwungenermaßen«, warf Anna ein. »Lady Winterhill«, erläuterte sie Lilla mit unverblümter Offenheit, »ist eine Millionenerbin.« Sie seufzte. »Leider ist Percy auf die Mitgift dringend angewiesen. Es ist nicht zum besten bestellt um Richmond.« »Wir sind bankrott«, fügte Georgia hinzu und warf ihrer jüngeren Schwester einen wütenden Blick zu. »Wenn du schon die Karten auf den Tisch legen willst, Anna, dann können wir das auch richtig tun, damit Miss Warren klarsieht.« »Ich kenne das«, versicherte Lilla. »Mir brauchen Sie bestimmt nichts vorzumachen. Um Warren-House steht es auch schlecht«, gestand sie ehrlich. »Wir sind auf die Offizierspension meines Vaters angewiesen, und die ist recht knapp. Warren-House wirft schon lange nichts mehr ab. Früher war das einmal anders. Nach einigen Mißernten, nach Hagelschlag und Hochwasser waren die Felder verwüstet, und das ging hintereinander einige Jahre lang so. Ich war zu jener Zeit im Internat und habe nichts davon mitbekommen. Erst als ich nach Hause kam, erfuhr ich es.« Sie zuckte mit den Schultern. »Da war es’ aus mit meinen Zukunftsträumen.«
»Zukunftsträume?« fragte Anna interessiert. »Es muß herrlich sein, welche zu haben. Ich hatte nie welche, weil ich ja an meinem Leben doch nichts ändern kann. Was haben Sie geträumt?« »Einmal eine berühmte Pianistin zu werden«, antwortete Lilla traurig. »Ich wollte Musik studieren. Ich glaube, Papa hätte seinen letzten Penny hergegeben, um mir das Studium zu ermöglichen. Doch ich wollte das nicht. Ich bin auf WarrenHouse geblieben. Dort gibt es genug für mich zu tun.« Anna sah sie bewundernd an. »Es muß herrlich sein, ein Talent zu haben.« »Das habe ich von meiner Mutter geerbt. Sie war eine berühmte Pianistin. Jana Waslewskaja…« »Klingt polnisch?« unterbrach Anna sie lebhaft. »Ja. Meine Mutter war eine polnische Gräfin. Sie gab überall auf der Welt Konzerte. Sogar einmal in Indien, als der Prince of Wales dort zu Besuch war. Da hat sie auch meinen Vater kennengelernt, und die beiden haben sich unsterblich ineinander verliebt.« »Wie romantisch!« flüsterte Anna träumerisch. »Und sie sind glücklich geworden?« Lilla zögerte. »Das weiß ich nicht. Ich meine, daß ich das nicht beurteilen kann. Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt. Ich habe keine Erinnerung an sie. Ich kenne sie nur aus den Schilderungen meines Vaters, und er spricht immer sehr liebevoll von ihr. Manchmal bezweifle ich aber, ob sie sich in Warren-House wohlgefühlt hat. Sie hat schließlich um ihrer Liebe willen auf ihre Karriere verzichtet.« »Sind Sie in Indien geboren, Lilla?« fragte Anna. »Nein. Auf Warren-House.« Lilla wunderte sich im stillen darüber, daß sie von ihrer Familie erzählte. Sonst war sie Fremden gegenüber eher verschlossen. Doch Anna war ihr sehr sympathisch.
»In jedem Fall müssen wir abwarten, bis Percy zurück ist«, sagte Georgia und schüttelte den Kopf. »Diese Geschichte ist zu mysteriös.« »Meine Familiengeschichte?« fragte Lilla überrascht. »Nein, das meine ich nicht«, erwiderte Georgia. »Ich meine – diese Sache mit Litzenberg!« Sie flüsterte den Namen nur, als fürchte sie sich davor, ihn laut auszusprechen. Lilla täuschte sich nicht. In Georgias Augen flackerte Angst. Wovor hatte sie Angst? Vor einem Mann, der schon hundert Jahre tot war? Timothy fragte, ob er das Abendbrot auftragen lassen könne. »Ja, natürlich«, antwortete Georgia. Doch sie wirkte seltsam starr. »Miss Warren wird hungrig sein. Was mich betrifft, mir ist der Appetit gründlich vergangen.« »Wegen Litzenberg?« fragte Anna und lachte. »Komisch, ich glaube, ich bin hier die einzige, die sich nicht vor ihm fürchtet.« »Fürchtet man ihn denn auf Richmond-Castle?« fragte Lilla gepreßt. Georgia sah sie an. »Manchmal«, antwortete sie. »Nur manchmal – meine Liebe.« Sie sprach leise und abgehackt. Sie gingen in den Speisesaal hinüber, der sich an die Wohnhalle anschloß. Das Erdgeschoß von Richmond-Castle schien aus einer Flucht saalartiger Räume zu bestehen, die alle mit verschwenderischer Pracht ausgestattet waren. Lilla fühlte sich wie in ein Königsschloß versetzt, und irgendwie kam ihr noch immer alles wie ein beklemmender Traum vor, aus dem sie jeden Augenblick erwachen müßte. Das Essen war reichlich und gut. Lilla war hungrig. Sie hatte schließlich seit Mittag nichts mehr zu sich genommen. »Ich habe Rast bei den Grenzpfählen gemacht«, erzählte sie. »Bei den Grenzpfählen?« fragte Georgia sichtlich erschrocken.
»Ja, sie standen hinter der Wegtafel von Richmond«, antwortete Lilla. »Allerdings sahen sie verrottet aus und stehen ziemlich nutzlos in der Landschaft herum, finde ich.« Lilla rann plötzlich ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie an die schrecklich düstere Landschaft dachte, durch die sie gefahren war. Aber sie saß jetzt in einem prächtigen Saal, in dem ein Feuer im Kamin brannte. Sie wollte sich nicht mit solchen Erinnerungen quälen. Ihre Situation war schon schwierig genug. Georgia tauschte einen raschen Blick mit Anna. Eine Schüssel klirrte, weil Timothy sie beinahe fallen ließ. »Ist denn etwas mit diesen Grenzpfählen?« fragte Lilla verwundert, denn die Reaktion der anderen entging ihr nicht. »Wie man es nimmt«, wich Georgia aus. »Sie sind nämlich gar nicht da«, platzte Anna heraus. »Was?« staunte Lilla. »Oh, ich weiß genau, daß ich sie gesehen habe. Ich habe, mir noch überlegt, ob die Richmonds früher vielleicht einmal Wegezoll verlangt haben, wenn jemand die Grenze überqueren wollte.« Timothy räusperte sich nervös. Georgia lenkte ab: »Wir können morgen alles bereden, wenn Sie sich erst einmal ausgeschlafen haben, Miss Warren.« »Warum sagst du nicht auch Lilla zu ihr?« fragte Anna. Georgia zuckte zusammen, und lächelte dann etwas verkrampft. »Es ist wahr. Warum eigentlich nicht? Also gut, Lilla. Ich heiße Georgia, das wissen Sie ja inzwischen.« »Ja, Georgia.« Lilla fühlte sich jetzt etwas besser. Sie war gesättigt, und ihre Lebensgeister kehrten zurück. Deshalb kam sie auch wieder zum Thema. »Sie erwähnten vorhin, daß ich auf Lord Richmond warten müsse, Georgia: Nun ich kann nicht warten. Um ehrlich zu sein, ich mache mir große Sorgen um meinen Vater. Es ging ihm nicht gut, als ich ihn verlassen habe.«
»Sie wollen uns so rasch wieder verlassen, Lilla?« fragte Anna enttäuscht. »Ich bin so froh, daß endlich mal jemand da ist, mit dem man richtig reden kann.« Georgia warf ihrer jüngeren Schwester einen tadelnden Blick zu. »Natürlich wollen wir Sie nicht aufhalten, Lilla. Andererseits – ich sähe es wirklich gern, wenn Sie die Sache mit Percy besprechen«, fügte sie unsicher hinzu. Diese Unsicherheit paßt nicht zu ihrer sonst so kühlen Art, dachte Lilla. Sie sagte rasch: »Es ist doch alles schon geklärt. Die Werbung des Lords bei meinem Vater muß auf einem Irrtum oder einem Mißverständnis beruhen. Das wird sich bestimmt irgendwann ganz harmlos aufklären. Die richtige Braut wird eintreffen, und damit hat alles seine Ordnung. Ich möchte morgen in aller Frühe nach Warren-House zurück!« schloß sie aufatmend. Eigentlich war sie froh über diese Wendung. Sie legte nicht den mindesten Wert darauf, Lord Percy Richmond kennenzulernen. »Sie dürfen nicht fort, bevor Sie uns nicht etwas auf dem Flügel vorgespielt haben!« rief Anna bittend. »Ich liebe Musik. Ich habe mir immer gewünscht, einmal selbst ein Instrument zu spielen. Leider hat es sich nie ergeben.« »Gern«, versprach Lilla, und sie dachte, daß es auf eine halbe Stunde wirklich nicht ankam. »Gibt es ein Klavier auf Richmond-Castle?« »Einen Flügel, und er steht in Ihrem Zimmer«, antwortete Georgia. »Das heißt – ich meine das Zimmer, das wir für Lady Winterhill vorbereitet haben.« »Das ist doch ganz egal!« rief Anna lebhaft. »Heute schläft Lilla darin, und ich freue mich, daß sie uns etwas auf dem Flügel vorspielt.«
Timothy dirigierte die Diener, die abservierten. Alle trugen dunkelblaue Livreen, die reich mit Silbertressen verziert waren. Lilla fiel ein, daß der Kutscher von Exzellenz Litzenbergs seltsamer Karosse auch eine solche Livree getragen hatte. Aber sie behielt es für sich. Sie sagte nichts. Sie hatte das Gefühl, daß es besser war, an diesem heiklen Thema nicht mehr zu rühren. Georgia hob die Tafel auf. Sie erklärte, daß sie müde sei und sich zurückziehen wolle. »Und für dich ist es auch Zeit«, wandte sie sich an Anna. »Ich bin noch nicht müde!« protestierte die Schwester. »Ich will noch mit Lilla plaudern.« »Also gut«, gab Georgia nach. »Du kannst Lilla auf ihr Zimmer begleiten, Anna. Aber halte dich nicht zu lange auf, werde Lilla nicht lästig. Sie wird von der langen Reise sicher müde sein.« »Nicht im geringsten«, versicherte Lilla, die sich nach dem ausgezeichneten Essen wieder frisch fühlte. Auch die Angst war vergangen, und sie fror nicht mehr. »Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Georgia.« »Bedanken Sie sich bei Exzellenz«, meinte Anna und kicherte. Georgia fuhr herum und sah ihre Schwester so zornig an, daß Lilla erschrak. »Laß diesen albernen Unfug«, rief Georgia. »Manchmal benimmst du dich wirklich wie ein ungezogenes Kind, Anna!« Dann verabschiedete sie sich von Lilla und wünschte eine angenehme Nachtruhe.
*
Anna atmete auf, als Georgia gegangen war. »Manchmal fällt sie mir furchtbar auf die Nerven. Es ist nicht nett von mir, daß ich das sage, ich weiß. Nur ist es leider wahr. Sie behandelt mich immer wie ein Kind. Dabei bin ich doch erwachsen! In meinem Alter sind die meisten Mädchen schon verheiratet.« »Georgia meint es sicher nicht böse«, sagte Lilla. »Mag sein, aber mich ärgert es!« regte sich Anna auf. »Percy ist viel netter zu mir«, fuhr sie fort. »Er ist überhaupt furchtbar nett. Wenn er nicht mein Bruder wäre, könnte ich mich glatt in ihn verlieben!« »Wollen wir jetzt auf mein Zimmer gehen?« fragte Lilla, die sich über Lord Richmond nicht gern unterhalten wollte. Sie schob Annas Rollstuhl aus dem Speisesaal. »Ich kann das auch selbst machen«, meinte Anna stolz. »Ich kann meinen Rollstuhl selbst lenken. Das ist sehr gut, denn sonst bin ich immer auf andere angewiesen. Aber es ist nett, wenn Sie mich fahren, Lilla. Ich mag Sie nämlich.« »Ich mag Sie auch, Anna«, versicherte Lilla. Der Flur, durch den sie kamen, war düster und nahm kein Ende. Er wurde nur spärlich von vereinzelten Kerzen in bronzenen Wandarmen erhellt. Endlich erreichten sie Lillas Zimmer. Lilla öffnete die Tür, und Anna lenkte ihren Rollstuhl geschickt über die Schwelle. »Der Kerzenhalter steht auf der Konsole gleich links neben der Tür«, sagte sie zu Lilla. »Die Zündhölzer liegen daneben.« Im selben Augenblick, als das Licht der Kerzen den dunklen Raum erhellte, hatte Lilla das beklemmende Gefühl, dieses Zimmer zu kennen, schon einmal hiergewesen zu sein. Das war natürlich vollkommen ausgeschlossen, und deshalb ängstigte sie sich sehr.
»Nun? Wie gefällt es Ihnen?« fragte Anna erwartungsvoll. »Es ist ein schönes Zimmer, nicht wahr?« Das war es wirklich. Der Raum war groß und behaglich ausgestattet. Dunkelblaue Samtgardinen hingen vor den hohen Fenstern. Das Bett stand etwas erhöht in einem Alkoven und wurde von einem blaßblauen Brokathimmel überspannt. Tiefe, weiche Teppiche bedeckten das glänzende Parkett. Beherrscht wurde der ganze Raum jedoch von dem kostbaren Flügel, der einladend offen stand, so daß Lilla sich am liebsten gleich auf das mit blauem Samt bezogene Bänkchen gesetzt und zu spielen angefangen hätte. Sogar Noten lagen bereit. An der Wand hinter dem Flügel hing ein altertümlicher ovaler Spiegel in einem kostbaren Rahmen. Wieder beschlich Lilla das unheimliche Gefühl, dies alles zu kennen. Sie schüttelte die Beklemmung von sich ab. Auf keinen Fall wollte sie Anna erschrecken und durch eine unbedachte Äußerung deren Argwohn wecken. Anna war ein sehr sensibles Mädchen. Wahrscheinlich war sie durch ihr Leiden so empfindsam geworden. »Sie werden mir etwas vorspielen?« fragte Anna erwartungsvoll. »Morgen«, versprach Lilla. »Jetzt ist es schon zu spät. Wir könnten Georgia stören.« Anna schüttelte den Kopf. »Georgia schläft im Obergeschoß. Sie hört bestimmt nichts!« Ein unbestimmtes Gefühl warnte Lilla davor, sich an den Flügel zu setzen und die Tasten anzurühren. »Ich möchte mich erst allein einspielen«, meinte sie. »Jedes Instrument ist anders. Man muß es ausprobieren, um damit vertraut zu werden. Ich möchte Sie durch meinen Vortrag nicht enttäuschen, Anna.« Sie lächelte das Mädchen an. »Also dann morgen.« Anna nickte. »Sie können sich aber ruhig heute abend noch einspielen, wenn Sie nicht zu müde
dazu sind, Lilla. Wie gesagt, es stört niemanden. Ich schlafe drei Korridore weiter, und die Dienerschaft hat ihren eigenen Trakt in einem Seitenbau.« »Schaffen Sie es denn allein hinüber?« fragte Lilla besorgt. »Natürlich«, versicherte Anna heiter. Sie deutete auf ein Foto, das in einem breiten Silberrahmen auf einem zierlichen Tischchen stand. »Das ist sie!« »Wer?« Anna schnitt eine Grimasse. »Mary. Lady Winterhill.« »Lord Richmonds Braut?« »Ja, und ich finde sie gräßlich!« rief Anna. »Freiwillig hätte Percy sie niemals genommen. Deshalb hat er es mit der Hochzeit auch nicht eilig! Aber es muß sein! Sonst ist Richmond verloren. Wir können nicht einmal mehr die Grundsteuern bezahlen…« »Davon kann ich auch ein Lied singen«, stimmte Lilla lebhaft zu. »Wir werden in Warren-House von den Steuern noch aufgefressen. Dabei haben wir schon viel Grund und Boden verkauft.« »Das hat Percy auch versucht. Aber er hat niemanden gefunden, der unser Land haben wollte«, gestand Anna kläglich. Wieder mußte Lilla an das Land denken, durch das sie gefahren war, nachdem sie die Grenzpfähle passiert hatte. Eine Landschaft, die einen das Gruseln lehren konnte. Da war es verständlich, daß niemand ein Stück davon kaufen wollte. Es hat ausgesehen wir ein Land des Todes, ging es ihr durch den Kopf, und dabei rann es ihr wieder eiskalt über den Rücken. Doch sofort zwang sie sich, solche Gedanken abzuwehren. Es war nicht gut, sich davon beherrschen zu lassen. »Ja, reich müßte man sein.« Anna seufzte. »Dann müßte Percy auch diese Person nicht heiraten! Mary ist nämlich
wirklich gräßlich«, vertraute sie Lilla mit gedämpfter Stimme an. »Das ist auch der Grund dafür, daß sie keinen Mann kriegt und trotz ihres vielen Geldes eine alte Jungfer werden müßte, wenn Percy ihre Mitgift nicht so notwendig brauchen würde.« »So häßlich sieht sie nicht aus«, wunderte sich Lilla. Sie verabschiedeten sich mit einem herzlichen Händedruck. Lilla blieb noch unter der Tür stehen, bis Anna mit ihrem Rollstuhl den Korridor entlanggefahren war und in der sternförmigen Vorhalle verschwand. Leise machte sie dann die Tür zu. Und im gleichen Augenblick befiel sie die unerklärliche Beklemmung wieder. Sie sah sich um. Sie war sich ganz sicher, noch niemals zuvor diesen Raum betreten zu haben, und dennoch wußte sie, daß sie schon einmal hiergewesen war. Wie war das möglich? Sie fand keine Erklärung dafür. Wie still es auf einmal war. Der eigene Atem klang ihr überlaut in den Ohren. Lilla kam sich unendlich allein und verlassen vor. Es schliefen also nur drei Menschen in diesem riesigen Schloß, wenn die Dienerschaft ihre Räume in einem Seitenbau hatte? Hier waren nur Georgia, Anna und sie selbst. Ein angenehmes Gefühl war das nicht. Sonderbar, dachte Lilla, ich bin doch an Einsamkeit gewöhnt, einsamer als auf Warren-House kann es eigentlich nirgendwo sein. Wir wohnen auch nur zu dritt in dem riesigen Haus. Doch noch nie habe ich mich auf Warren-House so geängstigt und mich so verloren und allein gefühlt wie hier. Sie sah nach der Tür. Diese hatte weder einen Riegel noch steckte ein Schlüssel im Schloß. Die Angst schien ihr Herz wie mit Eisenklammern zusammenzupressen. Lilla schüttelte heftig den Kopf. Was ist nur mit mir los? dachte sie. Das ist nicht ungewöhnlich in so alten und etwas heruntergekommenen
Herrenhäusern und Schlössern. Auch auf Warren-House gab es keine Riegel mehr an den Türen, die funktionierten, und kaum eines der zahlreichen Zimmer war abzuschließen, weil entweder die Schlösser kaputt waren oder weil man irgendwann die Schlüssel verloren hatte. Lillas Gepäck stand neben dem großen alten Schrank. Ein wenig dürftig, dachte Lilla, verbeulter alter Koffer, den ich schon im Internat hatte. und zwei geflickte Reisetaschen! Sie packte nur das Notwendigste aus. Sie ertappte sich dabei, daß sie immer wieder innehielt und horchte. Nur nicht durchdrehen, befahl sie sich, nicht die Nerven verlieren, dazu besteht überhaupt kein Grund! Eine kleine Tapetentür neben dem Schrank, die Lilla nur zufällig entdeckte, weil sie mit dem Ellbogen beim Auspacken ihres Nachtzeugs dagegen stieß, führte sie in ein sehr gut ausgestattetes Badezimmer. Wenigstens gab es fließendes Wasser auf Richmond-Castle. Lilla erfrischte sich, fand es angenehm, endlich den Reisestaub loszuwerden. Sie schlüpfte in ihr langes weißes Nachtkleid. Eigentlich fühlte sie ich jetzt ganz behaglich. Sie fragte sich, wie man in einem so herrlichen Himmelbett wohl schlief? Doch sie brachte es nicht fertig, schon zu Bett zu gehen. Sie war viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Und sie wurde auch von dem Flügel wie magnetisch angezogen! Es war ein herrliches Instrument aus edlem Holz. Hoffentlich ist es nicht verstimmt, dachte Lilla. Und dann fror sie plötzlich wieder. Woher kam diese Kälte, die wie lähmend in ihre Glieder kroch? War ein Fenster offen? Doch die schweren Vorhänge hingen unbeweglich. Es muß an diesem alten Gemäuer liegen, sagte sich Lilla. Ich werde jetzt auf dem schönen Instrument spielen. Das wird mich von meinen dummen Gedanken ablenken.
Es gibt keine unerklärliche Kälte, keine Schatten, die drohen. Und morgen bin ich wieder auf dem Weg nach Warren-House. Es ist zwar auch recht düster, aber gefürchtet habe ich mich dort nie. Sie rückte sich das Samtbänkchen zurecht, rieb ihre Hände gegeneinander, damit sie warm wurden, und probierte vorsichtig einen Akkord. Es klang wundervoll. Der Flügel war nicht verstimmt, auch wenn er schon lange ungenutzt hier stand. Das war erstaunlich. Lilla warf einen Blick auf die Noten. Sie waren handgeschrieben und schwer zu entziffern. Wer hatte diese Noten entworfen. War es ein fröhliches oder ein wehmütiges Musikstück? Lillas Gedanken wurden ausgelöscht, als sie die Finger auf die Tasten legte und zu spielen begann.
* Zuerst spielte sie einige Tonleitern, um ihre Handgelenke zu lockern. Sie fügte ein paar schwierige Fingerübungen an. Der edle Klang des Instruments verzauberte sie. Alle Ängste fielen von ihr ab. Sie fühlte sich frei und leicht. Sie vergaß, daß sie nicht in Warren-House, sondern auf Richmond-Castle war. Sie vergaß alles, so erging es ihr immer, wenn sie an einem Flügel saß und spielte. Ihre Empfindungen verschmolzen mit den Tönen. Sie sah nicht auf die Tasten. Sie spielte mit geschlossenen Augen. Doch plötzlich wurde Lilla aus ihrer Versunkenheit gerissen. Irgend etwas war geschehen. Sie spürte es, ohne zu wissen,
was es war. Und sie wußte, daß es etwas Schreckliches sein mußte. Sie wagte nicht, die Augen zu öffnen, um dieses Grauen, das ins Zimmer gekommen war, nicht sehen zu müssen. Das Atmen fiel ihr schwer. Und dann zuckte ein Gedanke durch ihren Kopf. Ich habe dies schon einmal erlebt! Wann ist es gewesen? Und was ist geschehen? Noch ruhten ihre Hände auf den Tasten des Flügels. Aber sie spürte jetzt etwas Feuchtes, Klebriges an ihren Fingern. Da öffnete sie die Augen. Sie mußte ihre Finger… Ein gurgelnder Laut kam von ihren Lippen, als sie das Entsetzliche sah. Sie hatte Blut an den Händen. Überall sah sie Blut. Auf den Tasten, auf den Noten! Es quoll aus dem Flügel! Ihre Hände griffen unwillkürlich zu dem weiten Rock ihres Nachthemdes. Sie wollte das Blut abwischen. Aber es ging nicht. Sie sah, daß es an ihren Fingern blieb – das Nachthemd war nun auch besudelt. Lilla preßte angstvoll die Augen zusammen. Sie konnte dieses Grauenvolle nicht länger sehen! Es mußte ein schrecklicher Alptraum sein, aus dem sie gleich erwachen würde. Vorsichtig hob sie die Lider. Doch das Blut war nicht fort! Es war überall. Jetzt sah sie es auch auf dem Boden, dem Bett, dem Teppich. Lilla saß wie erstarrt vor Grauen. »Das kann doch nicht sein. Nein!« flüsterte sie tonlos vor sich hin. »Nein, ich muß träumen.« Ihr Atem ging keuchend. Sie rang nach Luft. Dann wollte sie aufspringen. »Ich muß diesem entsetzlichen Spuk entfliehen«, sagte sie laut vor sich hin. Ja, das war es – ein Spuk! So mußte es sein.
Lilla wollte sich erheben. Aber sie war wie gelähmt. Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren! Das Grauenvolle hatte sie gelähmt. Ein dumpfes Stöhnen kam von ihren Lippen. Vor ihren Augen drehten sich dunkle Nebel. Immer schneller! Lilla glaubte, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Da ließ ein Geräusch sie plötzlich aufhorchen. Ihr Blick wurde wieder klar. Was war das eben gewesen? Da hörte sie es wieder. Ein leises Knarren. Eine Tür? War jemand ins Zimmer gekommen? Lilla nahm die Hände von den Tasten. Dabei stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß nirgends mehr der winzigste Blutfleck zu sehen war. Wie durch Zauberhand waren die grauenvollen roten Flecken verschwunden. Lilla drehte sich zur Tür um. Doch es war niemand da! Die Tür war geschlossen. Was hatte dann dieses unheimliche Knarren verursacht? In diesem Moment sah sie hinter sich im alten Spiegel eine Bewegung. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie eine dunkle Männergestalt darin erblickte. Wie schrecklich sah dieser Fremde aus! Wirres Haar umgab ein totenbleiches Gesicht. Irgend etwas Drohendes schien von dem Mann auszugehen. Seine Augen blickten seltsam kalt und starr, so als sähen sie durch Lilla hindurch. Der Mann trug einen altmodischen dunklen Anzug, der staubig wirkte oder wie mit Schimmel bedeckt. Kam er aus einem feuchten Gewölbe. Da spürte Lilla auch einen kalten, nach Moder riechenden Lufthauch, der sie frösteln ließ. Es roch nach altem feuchtem Stein, und die schauerliche Kälte schien wie mit Spinnenfingern nach Lilla zu greifen.
Barmherziger Himmel, was ist das? dachte sie entsetzt. Es ist, als ob etwas aus Grabestiefe auf mich zukommt. Die Gestalt im Spiegel bewegte sich jetzt nicht mehr. Reglos stand der Unheimliche da und sah Lilla an. Nur die Kerze, die er in einer Hand hielt, flackerte unruhig. Es schien Lilla, als sei eine Ewigkeit vergangen, bis plötzlich ein weiteres Geräusch sie zusammenzucken ließ. Es hatte sich angehört, als habe Glas geklirrt. Sie drehte sich langsam um, und da sah sie, wie die dunkle Männergestalt aus dem Spiegel stieg. Entsetzt schlug sie die Hände vor die Augen. Sie konnte dieses Grauenvolle nicht länger sehen. »Nein, nein!« keuchte sie. »Ich will…« Sie brach ab, als eine Hand ihre Schulter berührte. »Miß Lilla«, sagte eine Stimme, die seltsam hohl klang. Lilla riß die Augen auf. Die Stimme hatte sie schon einmal gehört. Ja, und er stand tatsächlich vor ihr. Exzellenz von Litzenberg… »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, Miss Lilla.« Seine dünnen Lippen verzogen sich zu der lächelnden Grimasse. »Beruhigen Sie sich bitte. Ich komme als Freund zu Ihnen. Es wird Ihnen nichts geschehen.« Lilla zitterte wie Espenlaub. Sie konnte dieses Spukwesen nur stumm ansehen. »Allerdings habe ich eine traurige Botschaft für sie, und es betrübt mich zutiefst, daß ich der Übermittler sein muß.« Es lag wie ein Bann über Lilla. Doch sie konnte wieder reden. Die Stimme gehorchte ihr wieder. Mit aller Kraft riß sie sich zusammen, fragte spöttisch: »Steigen Sie immer aus Spiegeln, Exzellenz?« »Nicht immer, Miss Lilla. Nein, immer nicht. Manchmal steige ich aus einer Kutsche, die von vier Rappen gezogen wird.«
»Wie auf Warren-House?« Lilla spürte jetzt mehr Zorn als Furcht. »Sie sagen es, Miss Lilla, so ist es. Auf Richmond-Castle allerdings, so muß ich gestehen, steige ich aus Spiegeln.« Er seufzte. »Man hat zuweilen keine Wahl.« Wieder dieses starre Lächeln. »Immerhin, es ist recht angenehm, finde ich. Manche sind gezwungen, aus Gräbern zu steigen. Ich finde den Spiegel amüsanter.« »Ein sonderbares Vergnügen, Exzellenz!« höhnte Lilla. Er zuckte die Schultern. »Man gewöhnt sich daran, Miss Lilla. Und man wird bescheiden. Hundert Jahre sind eine lange Zeit.« »Hundert Jahre?« »Und noch sieben mehr. Hundert sieben genau, ja. Doch das ist eine andere Geschichte, mit der ich Sie nicht langweilen möchte.« Seine Miene verdüsterte sich. »Zu meiner Botschaft, die ich für Sie habe…« Er schien zu zögern. Starr blickte, er Lilla an. Das Schweigen bedrückte sie. »So reden Sie doch endlich!« bat sie. »Der Colonel, Ihr armer Vater, – fein, großartiger Mann, und so tapfer, so furchtlos…« »Was ist mit Papa?« unterbrach ihn Lilla erregt. »Was ist mit ihm?« »Furchtlos und tapfer, wie er gelebt hat, ging er in den Tod.« »In – den – Tod?« stammelte Lilla. »Es geschah, kurz nachdem Sie Warren-House verlassen hatten. Der Tod kam sanft zu ihm, wie ein guter Freund, den er im Grunde seines Herzens schon lange erwartet hatte. Er führte ihn mit sich fort.« »Wohin?« schrie Lilla verstört. »In die Ewigkeit«, antwortete Exzellenz von Litzenberg.
»Das glaube ich nicht!« fuhr Lilla auf. »Nein, das glaube ich nicht.« »Mein liebes Kind, es ist die Wahrheit. Ich wandele ständig zwischen der Welt und dem Jenseits hin und her, weil ich in meinem Grab keine Ruhe finde. Sie können mir glauben was ich Ihnen sagte. Ihr Vater ist im Reich der Schatten.« Lilla stand wie erstarrt vor Entsetzen. Aber ihr Vater war doch nicht krank gewesen. »Es war das Herz«, sagte Litzenberg, als habe er ihre Gedanken gelesen. Das klang so unerbittlich, so grausam endgültig. Und dennoch wollte Lilla es nicht glauben. »Morgen, wenn ich nach Warren-House zurückfahre, werde ich wissen, daß er noch lebt!« sagte sie mehr zu sich selbst. Woher kam ihr der Mut, ihm zu widersprechen? Sie hatte grauenvolle Angst. Entsetzen schüttelte sie, und dennoch wuchsen ihr Mut und Kraft. »Wenn ich die ganze Nacht durch fahre…« »Sie werden Richmond-Castle nicht verlassen!« »Doch, Exzellenz. Das werde ich tun. Morgen in aller Frühe.« »Schade, daß Sie so starrköpfig sind. Es wäre eine viel bessere Verständigung möglich, wenn Sie etwas mehr Einsicht zeigen wollten.« »Einsicht?« Lilla schüttelte heftig den Kopf. »Sie haben mich schon einmal genarrt, Exzellenz. Ich glaube Ihnen kein Wort. So wenig wie Lord Richmond mich zur Frau will, so sicher glaube ich, daß mein Vater noch lebt.« »Warten Sie es ab«, antwortete Exzellenz von Litzenberg düster. »Bis Ihre Hochzeitsglocken läuten…« »Hochzeitsglocken? Das wird nie geschehen.« »Sie werden Lord Richmonds Frau!« »Niemals! Er ist mit Lady Winterhill verlobt.«
»Sie wird Richmond-Castle nie erreichen, glauben Sie mir…« »Außerdem kenne ich Lord Richmond nicht, und ich liebe ihn nicht!« fuhr Lilla fort. »Das sind keine Argumente«, erwiderte Litzenberg streng. »Sie werden ihn lieben, so stark und leidenschaftlich, daß Sie nichts auf dieser irdischen Welt mehr ersehnen, als seine Frau zu werden.« Lilla wollte auffahren. »Sie haben mich schon einmal getäuscht«, begann sie. »Sie…« Doch da spürte sie, wie die seltsame Kälte aus dem Raum wich. Die Gestalt vor ihr verblaßte und war dann ganz verschwunden. Lilla starrte fassungslos auf die Stelle, an der eben noch Seine Exzellenz von Litzenberg gestanden hatte. Ein Besucher aus dem Jenseits. Lillas Herz hämmerte. Sie sah zu dem Spiegel hinüber. Das Kristallglas warf nur das Bild einer Kerze zurück, die auf der Konsole brannte. Alles war wie zuvor. Nichts Außergewöhnliches war festzustellen. Das Blut war verschwunden. Die Tasten schimmerten rein und elfenbeinweiß. Auch die Noten waren nicht mehr blutbefleckt, ihr Kleid, der Teppich – keine Spur von. Blut mehr. Entweder ich werde verrückt, dachte Lilla, oder ich habe das alles nur geträumt. Eine tiefe Müdigkeit überkam sie und eine Trauer, die ihr Herz so sehr erfüllte, daß sie kaum mehr atmen konnte. Sie flüchtete in das große Bett unter dem blaßblauen Brokatbaldachin, und schon nach wenigen Atemzügen war sie fest eingeschlafen.
*
Ein lautes Hupsignal weckte Lilla am nächsten Morgen. Ein Automobil! Sie fuhr wie elektrisiert in die Höhe und lief auf bloßen Füßen zum Fenster. Sie schob die schweren Samtvorhänge zur Seite. An der Auffahrt war ein Auto vorgefahren. Es war ein herrlicher Wagen! Lilla seufzte verzückt. Der Schlag wurde geöffnet. Der Mann, der am Steuer gesessen hatte, stieg aus. Lillas Herzschlag stockte ein, zwei Sekunden lang und begann dann zu rasen. Was war das für ein Mann! Ein blonder nordischer Gott, breitschultrig und schmalhüftig. Er hatte blaue Augen und trug einen verwegenen Wangenbart. Timothy kam die Freitreppe herunter und tat furchtbar wichtig und aufgeregt. Zwei Diener folgten ihm auf dem Fuß. Sie luden Jagdbeute aus dem Wagen. Der blonde Mann half einer Dame aus dem Wagen. Sie war rothaarig, wirkte kapriziös und war mit erlesener Eleganz gekleidet. Lilla machte ein finsteres Gesicht. Wer war denn das? Den tiefen Verneigungen der Diener nach mußte der Mann wohl Lord Percy sein. Doch wer war diese Frau? Sie hakte sich bei ihm unter, lächelte ihn strahlend an und redete pausenlos auf ihn ein. Das war ja eine hübsche Überraschung am frühen Morgen. Andererseits, so sagte Lilla sich, was ging sie das an? Ärgerlich stellte sie fest, daß ihr die Anwesenheit dieser rothaarigen Person keineswegs gleichgültig war. Sie warf einen Blick auf ihre kleine Medaillon-Uhr, ein Erbstück ihrer Mama, und erschrak.
Es war nicht zu glauben. Sie war doch sonst eine leidenschaftliche Frühaufsteherin. Doch nun hatte sie bis in den Morgen hinein geschlafen. Es war kurz vor elf. An Exzellenz Litzenberg dachte sie erst wieder, als sie sich, fertig angekleidet an den Flügel setzen wollte, um noch ein wenig zu üben, bevor sie Anna etwas vorspielte. Als ihre Hände die Tasten berührten, war die Erinnerung an das schreckliche Erlebnis der vergangenen Nacht plötzlich wieder in ihr lebendig, und ihr Herz klopfte bang und schwer. Wie war das nur geschehen? Sie versuchte, sich genau an alles zu erinnern. Doch gelang es ihr nur, Bruchstücke der unheimlichen nächtlichen Begegnung festzuhalten. Da war der Spiegel, und sie wußte noch, daß dieser Spuk aus dem Rahmen gestiegen war. Die Tasten sahen jetzt weiß aus, und sie glaubte doch zu wissen, daß in der Nacht alles mit Blut befleckt gewesen war. Es mußte eine Täuschung gewesen sein. Wahrscheinlich hatte sie alles nur geträumt. Leider gelang es ihr nicht, sich an Litzenbergs Worte zu erinnern. Sie hatte nur noch das Empfinden, daß er ihr etwas Wichtiges und sehr Trauriges mitgeteilt hatte. Etwas wie Trotz stieg in ihr auf. War Richmond-Castle ein Spukschloß? Nun, sie war entschlossen, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen! Lilla setzte sich an den Flügel und spielte. Sie spielte Tonleiter und Triller. Sie spielte ihre geliebte Romanze in Moll. Doch nichts geschah. Danach war sie überzeugt davon, daß sie in der vergangenen Nacht nur besonders lebhaft geträumt hatte. Sie vergaß alle Bedenken und machte sich auf den Weg in die Halle. Sie war hungrig, und irgendwo würde es wohl ein Frühstück geben. Als sie durch den düsteren Flur ging, hörte sie in der Vorhalle Stimmen. Es ging laut und lebhaft zu. Sie erkannte die
Stimmen Georgias und Annas. Die sonore Männerstimme mußte wohl Lord Percy gehören. Was da ständig dazwischen zwitscherte und zwar mit einem ausgesprochen fremden Akzent, war mit Sicherheit diese rothaarige Person. Lilla erreichte die sternförmige Vorhalle mit den verblaßten Fahnen, den Helmbüschen und Degen an den steinernen Wänden. »Da ist sie ja!« rief Anna und deutete auf ihre neue Freundin. Alle drehten die Köpfe zu Lilla hin, der das Blut ins Gesicht schoß, weil sie auf einmal in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gerückt war. Schlagartig verstummten die Stimmen, und es war bedrückend still. In diese Stille, hinein sagte Lord Percy: »Das ist also Miss Warren?« »Die falsche Braut!« rief seine Begleiterin und kicherte. Du bist ja auch nicht die richtige Braut, dachte Lilla wütend. Lord Percy kam ihr einige Schritte entgegen. »Georgia hat mir schon alles berichtet. Ich bedaure das Mißverständnis, das Sie zu der weiten und sicherlich beschwerlichen Reise veranlaßt hat.« Was er sagte, klang höflich und verbindlich. Er verzog keine Miene dabei. Wenigstens lächeln könnte er, dachte Lilla. Sie riß sich zusammen. »Ja, es ist alles etwas sonderbar. Ich bin froh, daß Sie da sind, dann können wir gleich über alles reden. Ich möchte nämlich so schnell wie möglich nach Hause zurück.« »Das ist verständlich. Wenn ich Sie in mein Arbeitszimmer bitten darf?« Lord Percy schritt voraus, einen der langen Korridore entlang. Lilla hatte gerade noch Zeit, Anna und Georgia zu begrüßen. »Das ist Giselle«, stellte Georgia in ihrer hochmütigen, unbeteiligten Art vor.
Keines der Zimmer, das Lilla bisher auf Richmond-Castle gesehen hatte, war klein. Aber das Arbeitszimmer des Schloßherrn war der reinste Rittersaal! Darin mußte man sich ganz verloren vorkommen! Lilla erschauerte. »Bitte, nehmen Sie Platz, Miss Warren!« Konnte dieser Mann nicht lächeln? Lilla sank auf einen steiflehnigen gotischen Sessel. »Wenn ich Sie recht verstanden habe, Miss Warren, wollen Sie also unverzüglich die Rückreise antreten?« »So ist es, Mylord«, bestätigte Lilla, obwohl sie sich jetzt nicht mehr darüber im klaren war, ob sie wirklich so schnell fortwollte? Lord Percy übte eine starke Anziehungskraft auf sie aus. »Es war sehr freundlich von Ihnen, hierher zu kommen.« Immer noch kein Lächeln! Trotz seiner hellen Haare und Augen wirkte Lord Percy ausgesprochen finster. Nun, er hat ja auch nichts zu lachen, dachte Lilla bei sich. Er muß eine ungeliebte Frau heiraten, um seinen Besitz zu retten, und bevor die andere kommt, muß er diese rothaarige Person loswerden. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken! »Natürlich möchte ich Sie nicht aufhalten, Miss Warren. Doch erlauben Sie mir, eine Bitte auszusprechen: Anna ist so glücklich darüber, eine Freundin gefunden zu haben. Wollen Sie ihr zuliebe nicht noch ein paar Tage als Gast hierbleiben? Sie hat so wenig Freude, das arme Kind.« »Anna ist kein Kind mehr, Mylord!« Er sah sie überrascht an. »Ach ja, das vergessen wir immer wieder.« »Das sollten Sie aber nicht tun, Mylord. Es kränkt Anna, und ich kann das gut verstehen. Sie ist sehr sensibel und daher sehr verwundbar. Ich habe sie richtig liebgewonnen.« »Dann bleiben Sie also?«
Es klopfte. Die Tür wurde heftig aufgestoßen. Der Butler kam herein. »Ein Bote von Winterhill, Mylord. Er brachte diesen Brief.« Der Brief war versiegelt. Lord Percy brach das Siegel mit großer Ungeduld auf. Er zog den Brief heraus, und seine Miene wurde noch finsterer, als er das Schreiben las. Lilla beobachtete ihn fasziniert. »Lady Mary!« rief er. »Sie ist bereits auf dem Weg nach Richmond!« Ach, du liebe Güte, dachte Lilla. Sie stand auf. »Dann möchte ich auf keinen Fall länger stören, Mylord. Ich werde sofort abreisen.« »Kommt nicht in Frage!« Seine herrische Stimme hielt sie zurück. »Sie bleiben hier!« »Ist das ein Befehl, Mylord?« fragte Lilla zornig. »Nein – nein, natürlich nicht«, verbesserte er rasch und wechselte wieder zu einem verbindlicheren Ton über. »Verstehen Sie es als Bitte. Um. Annas Willen. Sie ist Lady Mary nicht sehr zugetan. Sicher wäre es gut, wenn Sie helfen würden, die ersten Tage zu überbrücken. Ich schätze, Lady Mary wird gegen Abend hier eintreffen.« Lilla seufzte. Anna tat ihr leid. Tobias kam bestimmt ein paar Tage allein zurecht, und ihr Vater rechnete nicht mit ihrer schnellen Rückkehr, es war sonderbar, daß bei dem Gedanken an ihren Vater wieder eine tiefe Traurigkeit ihr Herz erfüllte. »Also gut, ich bleibe. Wenigstens bis morgen«, schränkte sie eilig ein, denn auf keinen Fall wollte sie sich festlegen. »Danke, Miss Warren. Sie werden mir eine große Hilfe sein. Ich stehe tief in Ihrer Schuld!« Den Brief hielt er in der Hand, während er mit Lilla durch den langen Korridor in die Vorhalle zurückging. Der Butler eilte neben ihnen her. Lord Percy erteilte ihm seine Weisungen für den Empfang seiner Braut.
»Das Zimmer der Lady ist nicht frei!« jammerte Timothy. »Wo sollen wir sie denn einquartieren?« Lilla bot sofort an. »Ich kann in ein anderes Zimmer wechseln.« »Nein«, entschied der Lord, »Sie bleiben, wo Sie sind, Miss Warren!« Das klang schon wieder wie ein Befehl, und das gefiel Lilla gar nicht. Er wandte sich an den Butler. »Laß für Lady Winterhill die Gästesuite im linken Seitenflügel vorbereiten, Timothy.«
*
Die Vorhalle war leer. »Die Damen haben sich zurückgezogen«, stellte Lord Percy fest. »Wahrscheinlich finden wir sie in der Wohnhalle.« Sie fanden nur Giselle, die am Kaminfeuer saß und Gebäck knabberte. »Georgia fährt Anna ein wenig spazieren«, plapperte sie. »Der Morgen ist so wunderschön. Man muß das bißchen Sonne ausnutzen. Vielleicht kommt gegen Abend wieder Nebel auf.« Sie redete unaufhörlich. »Magst du ein Stück Konfekt, Liebling?« »Mary kommt!« erklärte er finster. Diese zwei Worte Lord Percys wirkten wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel. Giselle blieb buchstäblich der Bissen im Mund stecken. Lilla wollte sich zurückziehen. Doch Lord Percy gebot ihr durch einen herrischen Wink zu bleiben. Giselle stieß einen Wutschrei aus und sprang auf. »Mary kommt? Jetzt schon? Ich denke, die Hochzeit wurde verschoben? Warum hast du mir kein Wort davon gesagt? Du denkst, du kannst mich vor vollendete Tatsachen stellen?« Sie
lachte schrill. »War nicht die Rede davon, daß ich in das Gelbe Haus ziehen werde, wenn Mary kommt? Wolltest du es nicht vorher in Ordnung bringen lassen? Nichts ist geschehen. Und sie kommt!« »Ich habe selbst keine Ahnung davon gehabt. Der Brief wurde mir eben durch Boten überbracht.« »Fein hast du dir das ausgedacht. Du denkst, ich ergreife die Flucht? Irrtum, mein Lieber, ich bleibe! Keine zehn Pferde kriegen mich von Richmond-Castle fort…« Hörte es denn keiner? Lilla hörte es genau. Es war ein merkwürdiges Geräusch, wie klirrendes Glas. Sie wandte unwillkürlich den Kopf. Eine der Seitentüren der Halle war mit Spiegelglas verkleidet. Vor Schreck stockte ihr der Atem, als sie sah, wer aus dem Spiegel stieg – Exzellenz von Litzenberg. Er ging mit steifen Schritten quer durch die Wohnhalle. Ein eisiger Hauch streifte Lilla, als er an ihr vorbeikam. Weder Lord Percy noch Giselle schienen ihn zu sehen. Panische Angst packte Lilla, und sie fror wieder bis ins Mark. Hören konnte sie immer noch nichts. Sie entnahm nur den wütenden Gesten Giselles und dem zornigen Gebaren Lord Percys, daß zwischen den beiden ein heftiger Streit entbrannt war. Litzenberg stellte sich hinter Lord Percy. Lilla wollte dem Lord eine Warnung zurufen, aber es kam kein Ton über ihre Lippen. Sie stand wie gelähmt, unfähig die geringste Bewegung zu tun. Mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen sah sie, wie die Spukgestalt die schwere Kristallvase ergriff, die auf dem Tisch stand, an dem Lord Percy lehnte. Er riß die Vase hoch und schleuderte sie wie ein Wurfgeschoß nach Giselle. Mit einer ungeheurer Anstrengung kämpfte Lilla sich von ihrer Erstarrung los. Sie sprang vor und riß Giselle zur Seite.
Die Vase krachte gegen die Wand und zerbarst klirrend auf den Marmorfliesen, genau an der Stelle, an der Giselle eben noch gestanden hatte. »Umbringen!« hörte Lilla. Sie hörte wieder! »Du willst mich umbringen?« kreischte Giselle. Lord Percy war totenblaß geworden. Litzenberg war verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Giselle brach in Tränen aus. Ein hysterischer Weinkrampf schüttelte sie. »Ich hätte wissen müssen, daß du zu allem fähig bist. Du hast mich in falschen Hoffnungen gewiegt, um mir desto sicherer den Garaus zu machen! Man weiß doch, wie ihr Richmonds seit Jahrhunderten mit Leuten umgeht, die euch im Wege stehen!« »Giselle!« rief Lord Percy beschwörend. »Rede keinen solchen Unsinn! Ich habe die Vase nicht nach dir geworfen. Ich habe es nicht getan! Ich schwöre es dir!« »Du hast schon ganz andere Dinge geschworen und nicht gehalten!« tobte Giselle. »Jedes Mittel ist euch Richmonds recht! Gift! Dolch! Kugeln! Warum nicht mal eine Vase? Hätte nach einem Unfall ausgesehen, wie? Keine Sorge, ich verschwinde. Mein Leben ist mir lieber als deine Villa.« Sie wandte sich ab und rannte aus der Halle. »Es tut mir leid, Miss Warren!« Lord Percy war totenblaß. »Ich habe es nicht getan. Ich finde keine Erklärung dafür. Die Vase kann doch nicht von allein durch die Luft geflogen sein?« »Nein. Ich weiß, daß Sie es nicht getan haben.« Lilla zögerte. »Es war – es war Exzellenz Litzenberg«, sagte sie dann. »Schon wieder?« Lord Percy biß sich auf die Lippen, als habe er durch diesen Ausruf zuviel verraten. Er fügte rasch hinzu: »Unser Hausgespenst geht manchmal etwas respektlos mit uns um.« »Mademoiselle Giselle hätte tot sein können«, sagte Lilla.
»Ja«, murmelte Lord Percy. »Das ist wahr.« Dann raffte er sich auf. »Ich muß mich um ihre Abreise kümmern. Um Pferde und Wagen.« Er wirkte verstört. »Sie entschuldigen.« Die große Eingangstür öffnete sich. Georgia schob Annas Rollstuhl in die Halle. »Es trübt sich schon wieder ein!« berichtete Anna enttäuscht. »Über dem Moor braut sich der Nebel zusammen.« »Was ist denn hier passiert?« fragte Georgia, als sie die Scherben sah. »Die – die Vase ist… heruntergefallen«, stotterte Lilla. »Ach, wirklich?« Georgia fixierte sie scharf. »Sie stand doch dort drüben auf dem Tisch.« »Vielleicht war es wieder Litzenberg?« mutmaßte Anna und kicherte. »In letzter Zeit ist er ziemlich oft da.« Georgia warf ihrer Schwester einen warnenden Blick zu. »Rede keinen Unsinn, Anna. Mit solchen Dingen spaßt man nicht.« »Ich spaße nicht!« verteidigte sich Anna. »Es ist doch wahr, daß er uns in den vergangenen Wochen wiederholt böse Streiche gespielt hat! Ich erinnere dich nur an das Feuer in der Gelben Villa! Und an…« »Genug«, unterbrach Georgia sie scharf. Sie wandte sich an Lilla. »Sie hatten noch kein Frühstück. Das bedauere ich. Timothy soll Ihnen sofort Tee und Toast servieren.« Sie läutete. »Und hören Sie nicht auf Anna. Sie redet oft ungereimtes Zeug.« »Ich bilde mir immer meine eigene Meinung, Georgia«, sagte Lilla, die merkte, daß Anna mit den Tränen kämpfte. Timothy kam nicht. »Wo steckt er denn?« regte sich Georgia auf.
»Er wird mit Mademoiselle Giselles Abreise beschäftigt sein«, antwortete Lilla. Sie konnte nicht verhindern, daß etwas wie Genugtuung in ihrer Stimme mitklang. »Womit?« rief Georgia. Anna rief erleichtert: »Giselle reist ab?« »Ja, weil Lady Mary kommt«, antwortete Lilla. »Mary?« Georgia zwinkerte nervös. »Sie wollte doch erst in zwei Wochen eintreffen? Dann muß ich mich sofort um ihren Empfang kümmern.« »Lord Percy hat schon Weisungen gegeben«, sagte Lilla. »Soweit ich unterrichtet bin, soll der Butler die Gästesuite im linken Seitenflügel für Lady Winterhill vorbereiten.« »Sie sind erstaunlich gut unterrichtet«, bemerkte Georgia spitz. »Keine halbe Stunde kann man aus diesem Haus fort, und schon steht alles auf dem Kopf.« Georgia verließ in großer Hast die Halle. Anna wischte sich verstohlen über die Augen. »Warum weinen Sie denn?« rief Lilla erschrocken. »Weil Mary kommt«, schluchzte Anna. »Dann ist alles aus. Sie wird mir Percy wegnehmen. Er ist der einzige Mensch, der gut zu mir ist. Georgia ist immer so kalt. Sie versteht mich überhaupt nicht. Sie tut nur so, als sei sie besorgt um mich. In Wahrheit bin ich ihr lästig.« Das Mädchen tat Lilla in der Seele leid. »So schlimm wird es bestimmt nicht werden«, versuchte sie Anna zu beruhigen. »Lord Percy heiratet schließlich nicht aus Liebe. Es ist eine Vernunftehe. Ich bin sicher, daß er Sie nicht vernachlässigen wird, Anna.« »Da kennen Sie Mary schlecht!« »Die kenne ich gar nicht!« Lilla seufzte. »Und ich glaube, ich möchte sie auch gar nicht kennenlernen.« »Sie wollen fort!« fragte Anna erschrocken. »Das dürfen Sie nicht tun, Lilla. Bitte, lassen Sie mich jetzt nicht allein!« Sie
war ganz verzweifelt. »Ich kann ja verstehen, daß es Ihnen auf Richmond nicht gefällt. Wer bleibt schon gerne – in einem Spukhaus?« »Es ist also ein Spukhaus?« fragte Lilla ruhig. »Sie haben Exzellenz ja höchstpersönlich kennengelernt.« Anna seufzte. »Zur Zeit macht er uns das Leben zur Hölle. Ich bin sicher, er hat auch das Feuer in der Gelben Villa gelegt. Und wissen Sie, warum?« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Er mochte Giselle nicht leiden. Er hat auf jede Weise versucht, sie aus dem Haus zu treiben! Sie ist ziemlich hartnäckig gewesen. Dabei war ja klar, daß sie eines Tages verschwinden muß, spätestens, wenn Mary kommt. Ich weiß nicht, warum er sich solche Mühe gemacht hat, sie hinauszugraulen.« Ihre Stirn runzelte sich. »Allerdings hat Percy vorgehabt, ihr die Gelbe Villa einzurichten. Dann wäre sie auch nach seiner Hochzeit in seiner Nähe geblieben, und er hätte ein trautes Liebesnest gehabt.« Sie lachte boshaft. »Nun hat unser Gespenst ihm alles zunichte gemacht. Die Gelbe Villa ist ausgebrannt.« »Gehört die Villa zum Schloß?« fragte Lilla interessiert. »Sie war schon immer das Liebesnest der Lords von Richmond! Sie müssen nämlich wissen, daß wir eine ziemlich verruchte Sippe sind. Eigentlich hat Mary Mut, weil sie in diese Sippe heiratet. Giselle sollte froh sein, daß sie aus der Sache heraus ist. Auf die Dauer hätte es ihr in der Villa doch nicht gefallen. Sie ist ein anderes Leben gewöhnt.« »Was für eines?« »Sie war Tänzerin. Percy hat sie von einer Reise nach Paris mitgebracht. Wie ein Souvenir.« Anna kicherte. »Das war ungefähr vor einem halben Jahr. Nun, jetzt ist er sie wieder los.«
Von draußen her drang das Geräusch rumpelnder Räder und Pferdetrappeln. »Da zieht sie hin«, meinte Anna. »Und kehrt hoffentlich nicht wieder. Sie hat sich nicht einmal verabschiedet. Das sieht ihr ähnlich. Sie hat keine guten Manieren.« Kurz darauf kam der Butler und meldete, daß der Lunch serviert sei. Lilla schob Annas Rollstuhl in den Speisesaal hinüber, der ihr jetzt noch größer und unpersönlicher vorkam als im Kerzenschimmer am Vorabend. Das Tageslicht fiel grau durch die Fenster herein. Georgia und Lord Percy hatten schon Platz genommen. »Es braut sich wieder ein dicker Nebel zusammen«, sagte Georgia besorgt. »Hoffentlich hat Giselle eine gute Reise!« »Der Kutscher wird sie sicher zur Bahnstation bringen. Er kennt den Weg auch im Nebel«, entgegnete Lord Percy ungerührt. Für einen Mann, der eben von seiner Geliebten Abschied genommen hat, bewahrt er eine erstaunliche Haltung, fand Lilla. Dann widmete sie sich ihrem Essen. Ihr Hunger war groß. Die Unterhaltung der Geschwister hörte sie nur halb mit. Ein heiteres Gespräch war es nicht. Befürchteten die Richmonds etwa, daß Giselle zurückkommen könnte? »Dann haben wir immer noch Litzenberg«, sagte Anna. »Er wird schon mit ihr fertig werden.« Niemand lachte. Georgia bestand darauf, daß Anna sich nach dem Lunch ausruhte, obwohl diese behauptete, nicht müde zu sein. »Ich bin lieber mit Lilla zusammen.« »Später«, meinte Georgia. »Sei nicht so eigensinnig, Anna. Du brauchst deine Ruhe!« »Ich möchte gern einmal nach meinen Pferden sehen«, sagte Lilla rasch.
»Die sind bestens versorgt und untergebracht, Miss Warren«, versicherte ihr Lord Percy. »Ich habe mich vorhin selbst davon überzeugt.« »Das war sehr freundlich von Ihnen, Mylord. Ich möchte trotzdem einmal nach ihnen sehen.« »Ziehen Sie sich etwas über, Lilla«, warnte Anna. »Es ist kalt draußen, und die Stallungen liegen auf der anderen Seite des Schloßhofs.« Lilla lief in ihr Zimmer. Sie irrte sich beinahe in der Tür und dachte, daß dieses alte Schloß wie ein düsteres Labyrinth war. Sie zog ihren Mantel über und verließ das Haus. Sie hoffte, daß sie in der frischen Luft wieder einen klaren Kopf bekommen würde.
*
Der Nebel lag wie ein dichtes Tuch über dem Land. Wie unheimliche Geisterschleier, dachte Lilla, als sie über den Schloßhof lief. Die Luft war kalt und feucht. Ein unangenehmer Nieselregen fiel, der wie mit feinen Nadeln in die Haut stach. In den Stallungen war es warm, hier roch es gut nach Heu und Pferden. Der Stallbursche war ein freundlicher Junge, der Lilla versicherte, daß es ihren Pferden gut ging. »Sie waren ziemlich mitgenommen gestern. Hatten wohl einen weiten Weg hinter sich. Inzwischen haben sie sich erholt.« Lilla streichelte die beiden braven Tiere. »Ruht euch aus! Morgen geht es wieder nach Hause!« Es war sonderbar, sie traute ihren eigenen Worten nicht so recht. »Oder übermorgen«, fügte sie hinzu.
»Bei diesem Nebel?« fragte der Stallbursche. Er kannte sich mit dem Wetter in der Umgebung von Richmond aus. »Wenn das so weitergeht, sieht man morgen die Hand nicht mehr vor Augen.« Lilla erschrak. Damit hatte sie nicht gerechnet. Das war ein Hindernis, das sie nicht bedacht hatte. Bei ihrer Abreise von Warren-House war es Frühling gewesen. In Richmond kam wohl noch einmal der Winter zurück? »Das ist jeden Frühling so«, erklärte ihr der Stallbursche. »Manchmal dauert es nur ein paar Tage. Es hat aber auch schon Wochen gedauert!« Wochen! Lilla war entsetzt. Hoffentlich hatte dieser Litzenberg den Nebel nicht zusammengebraut, um sie auf Richmond-Castle gefangenzusetzen. Das war natürlich Unsinn! Was hatte ein Gespenst mit dem Nebel zu tun? Immerhin, Richmond-Castle war ein Spukhaus. Anna hatte es ihr eingestanden. Sie konnte jetzt nicht ins Schloß zurück. Sie wäre sie wie eine Gefangene vorgekommen. Ein tüchtiger Fußmarsch, so dachte sie, wird mir mein seelisches Gleichgewicht wiedergeben. Es ist seit gestern einfach zuviel passiert, und ich bin noch nicht dazu gekommen, es richtig einzuordnen. Sie schritt rasch aus. Von der trutzigen Schloßmauer führte ein Fußpfad in einen kleinen Wald, dessen Bäume verkrüppelt waren, weil der ständige Wind ihnen keine Ruhe in ihrem Wachstum gelassen hatte. Und plötzlich fragte sich Lilla in einer seltsamen Gedankenverbindung, ob es Anna ähnlich ergangen war? Hatte sie ihr Leiden schon mit auf die Welt gebracht, oder war ein Schicksalswind über sie hingebraust, der sie in den Rollstuhl gezwungen hatte? Sie kam an einem See vorbei, der wie ein tückisches Auge aus dem Nebel glitzerte. Ein Geräusch erschreckte sie, ließ sie
zusammenzucken. Nun werde aber nicht kindisch, befahl sie sich: Da knackte ein Ast, das ist alles! Der Weg wurde etwas breiter und wies Fahrspuren auf. Es waren keine Spuren, die Kutschenräder hinterließen. Das Automobil, schoß es Lilla durch den Kopf. Hier ist Lord Percy mit seinem Wagen gefahren. Die Spuren hörten plötzlich auf. Der Nebel wickelte sich wie ein schmutziges graues Tuch um Lillas Füße. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre gestolpert, weil sie tatsächlich das Gefühl hatte, daß Nebelschwaden ihre Füße fesselten. Sieh nicht hin, befahl sie sich. Kopf hoch, Lilla, wer wird denn auch auf den Boden starren, nur um ein paar Reifenspuren zu sehen? Sie hob den Blick und erschrak. Sie stand vor der Gelben Villa.
*
Die Mauern ragten gespenstisch aus dem Nebel. Früher möchte das Haus einmal ockergelb gewesen sein. Jetzt wies es eine fahle Tönung auf. Der Verputz war abgeblättert. Doch die reiche, kunstvolle Steinverzierung war noch gut erhalten. Erschreckend waren die leeren Fensterhöhlen. Sie starrten Lilla wie tote Augen an. Das Liebesnest der Lords von Richmond, dachte Lilla schaudernd. Es sieht wenig einladend aus. Die Tür stand weit offen. Der Wind mochte sie aufgestoßen haben. Da war er wieder, dieser unheimliche Wind, der Lilla schon hinter den Grenzpfählen Richmonds empfangen hatte. Er sauste und heulte durch den Nebel.
Lilla stand wie unter einem geheimen Zwang. Sie wollte es eigentlich nicht. Sie wollte nicht in dieses Haus gehen. Ihre Vernunft gebot ihr, sich schleunigst auf den Rückweg zu machen. Der Nebel wurde immer dichter, der Wind trieb die Nebelschwaden zusammen. Lilla war zwar sicher, sich nicht weit vom Schloß entfernt zu haben. Sie hatte aber nicht auf die Zeit geachtet. Sie war in ihre Gedanken versponnen gewesen. Sie zögerte. Dann tat sie es doch: sie ging durch die offene Tür. Brandgeruch schlug ihr entgegen. Lilla rümpfte die Nase. Von einem Liebesnest erwartete man Rosen- und Veilchendüfte. Hier stank es nach Rauch, Asche, verkohlten Balken, gemischt mit feuchtem Modergeruch. Die Nebelschwaden hingen wie schlaffe Gardinen vor den Fenstern, deren Glas durch die Hitze des Feuers zersprungen war. Sie trat auf Glassplitter. Eine unbegreifliche Neugier trieb Lilla vorwärts. Der Wind, der durch die Fensterhöhlen fuhr, stieß die nächste Tür für sie auf. Ein Boudoir mußte das mal gewesen sein. Reinstes Rokoko, wie Lilla aus den spärlichen Überresten verkohlter Möbelstücke sah. Ein kleines Sofa war noch gut erhalten. Es stand auf zierlichen, verschnörkelten Goldfüßen, und darüber hing ein ovaler Spiegel. Lilla zuckte zurück, als sie den Spiegel sah. Eine Stimme in ihr drängte sie zur Flucht. Sie ahnte, daß jeden Augenblick wieder etwas Unheimliches geschehen konnte. Und da sah sie auch schon die düstere Gestalt mit dem bleichen Gesicht. Und dann trat Exzellenz Litzenberg aus dem Spiegel heraus, wie aus einer Tür. »Da sind Sie ja endlich«, brummte er. »Ich wartete schon auf Sie.«
Lilla stand reglos und starrte den seltsamen Spuk nur an. Angst und Kälte griffen wieder mit ihren Spinnenfingern nach ihr. Sie wollte schreien und brachte keinen Ton heraus. Sie wollte fortlaufen und konnte sich nicht von der Stelle rühren. »Warum haben Sie das getan?« fragte Litzenberg und seine Augen funkelten Lilla böse an. »Warum haben Sie diese Person gerettet?« »Giselle?« flüsterte Lilla. »Wenn ich das nicht getan hätte, dann hätten Sie das Mädchen umgebracht.« »Und jetzt werde ich eine Menge Scherereien mit ihr haben, um sie von Richmond-Castle fernzuhalten. Dieses törichte Ding bildet sich tatsächlich ein, ein Lord Richmond würde sie heiraten.« »Vielleicht liebt sie ihn?« sagte Lilla. »Keine Spur. Sie will nur eine Lady werden.« »Das ist natürlich etwas anderes«, murmelte Lilla. »Trotzdem ist das kein Grund, jemanden umzubringen.« Der Mann lachte wie über einen Witz. Nur war sein Lachen so grausig, daß Lilla das Blut zu Eis erstarrte. Er lachte lautlos und höhnisch. Sein Gesicht war eine verzerrte Grimasse. »Pfuschen Sie mir nicht weiter ins Handwerk, Miss Lilla! Sonst ist es aus mit unserer Freundschaft!« »Freundschaft?« ächzte Lilla. »Es ist gefährlich, mich zum Feind zu haben.« Daran zweifelte Lilla nicht. Sie raffte ihren ganzen Mut zusammen. »Haben Sie den Nebel gemacht, Exzellenz?« fragte sie. »Ich kann keinen Nebel machen.« Das erleichterte Lilla. »Ich möchte nämlich so bald wie möglich nach Warren-House zurück.« »Heim?« Jetzt grinste er diabolisch. »Sie haben keine Heimat mehr, Miss Lilla.«
Sie wurde nun wütend. Es war eine unbewußte Reaktion auf ihre Angst. »Sie werden es doch wohl nicht wagen, auch in Warren-House ein Feuer anzuzünden wie in dieser Villa hier?« »Das ist nicht notwendig, diese Mühe kann ich mir sparen.« Er sagte das so bestimmt, daß Lilla in ihrer lebhaften Phantasie Warren-House schon in Schutt und Asche sinken sah. »Und was die Villa betrifft, so hat das Feuer sie gereinigt«, fügte er hinzu. »Es hat sie zerstört!« sagte Lilla zornig. »Diese schönen alten Möbel. Alles verbrannt und verkohlt. Ein Jammer ist das!« »Es gibt größeren Jammer.« Er sah auf einmal furchtbar müde aus. Doch Lilla war weit entfernt davon, Mitleid mit ihm zu haben. »Hundertsieben Jahre sind eine lange Zeit. Ich möchte endlich meine Ruhe haben«, hörte sie ihn sagen. »Die werden Sie nie finden, wenn Sie weiterhin Menschen umbringen und Häuser anzünden«, rief Lilla. Er kam drohend auf sie zu. Sie wollte unwillkürlich zurückweichen und merkte, daß sie nicht von der Stelle kam. Ihre Füße waren wie festgenagelt. Es war schrecklich. Sie wollte um Hilfe rufen. Doch nur ein Röcheln kam aus ihrer Kehle. Da hörte sie Schritte. Eine Stimme, die ihren Namen rief: »Lilla! Miss Lilla! Sind Sie hier?« »Ja!« schrie Lilla, unendlich erleichtert, weil sie ihre Stimme wieder in der Gewalt hatte. »Hier bin ich!« Unter der Tür erschien Lord Percy. Er packte Lilla am Arm und zog sie aus dem Boudoir. »Kommen Sie von diesem Spiegel weg!« schrie er sie an. »Sie haben doch schon gemerkt, was passieren kann.« »Schreien Sie mich nicht so an!« Lilla war mit ihrer Beherrschung am Ende und brach in Tränen aus. »Tut mir leid«, entschuldigte sich Lord Percy. Ex atmete schwer, als sei er sehr rasch gelaufen. »Entschuldigen Sie, ich
wollte Sie nicht anschreien. Ich habe nur furchtbare Angst um Sie gehabt.« »Schon gut.« Lilla seufzte und kämpfte gegen ihre Tränen an. »Ich heule sonst nicht so schnell«, versicherte sie. »Diesmal hat er mich zu sehr erschreckt.« »Litzenberg?« »Wer sonst?« »Sie hätten nicht hierher gehen dürfen!« »Ich wollte nur ein bißchen frische Luft schnappen!« »In der Gelben Villa!« Er zog sie mit sich aus dem Haus. »Anna hat Sie vermißt. Sie wollte Sie zum Tee holen und merkte, daß Ihr Zimmer leer war. Wir haben im Stall nachgesehen, und der Stallbursche sagte uns, daß Sie den Waldweg eingeschlagen hätten. Er hat es zufällig beobachtet. Ich bin sofort hierher gelaufen.« »Danke.« Lilla wischte sich die Tränen ab. Jetzt war ihr schon ein bißchen wohler. »Wo ist der Wind?« fragte sie dann überrascht. »Wind?« Lord Percy schüttelte erstaunt den Kopf. »Es war vollkommen windstill.« »Nein. Als ich herkam, wehte ein heftiger Wind.« Er seufzte. »Litzenbergs Hexenwerk«, brummte er dann. »Aber Nebel kann er nicht machen, hat er mir gesagt.« »Ein schwacher Trost, finde ich.« »Nein!« rief Lilla. »Dann kann er mich wenigstens nicht durch Nebel aufhalten. Sobald es aufklärt, fahre ich wieder nach Hause.« »Wollen Sie das wirklich?« fragte. Lord Percy ehrlich bestürzt. Warum lag ihm nur soviel daran, daß sie blieb? »Es ist Annas wegen«, erklärte er rasch. »Ich bin so froh darüber, daß sie endlich eine Freundin gefunden hat! Sie ist ein bedauernswertes Menschenkind.«
Ein abenteuerlicher Gedanke schoß Lilla durch den Kopf. Sie fragte: »Annas Leiden – es ist doch hoffentlich nicht auch Litzenbergs Schuld?« »Nein! Nein!« rief Lord Percy. »Damit hat er nichts zu tun. Wir wollen ihm nicht Dinge anlasten, die er nicht getan hat.« Der Lord von Richmond war sichtlich bestrebt, sein Hausgespenst ungerecht zu behandeln. Fürchtete er sich vielleicht davor, dessen Zorn herauszufordern? Lilla sah ihn an. »Was ist der Grund für Annas Leiden?« »Unsere arme Mutter war kurz vor Annas Geburt schwer krank. Sie starb bald danach. Anna hat ihr Leiden mit auf die Welt gebracht. Sie ist nie gesund gewesen. Sie hat nie herumtollen und spielen können wie andere Kinder. Georgia hat sozusagen Mutterstelle an ihr vertreten, und sie tut das heute noch. Das Verhältnis zwischen Hanna und Georgia ist etwas gespannt. Manchmal denke ich, Georgia fürchtet, daß sie durch die Verantwortung, die sie für Anna trägt, ihr eigenes Leben versäumt. Das macht sie oft unduldsam und ungerecht Anna gegenüber.« »Ich verstehe.« Lilla dachte nach. »Kann Anna denn nicht geholfen werden?« Lord Percy schüttelte traurig den Kopf. »Wir haben alles versucht. Wir waren bei den besten Ärzten. Es hat ein Vermögen verschlungen, und es ist nichts dabei herausgekommen.« Lilla seufzte. »Man müßte es immer wieder versuchen, denke ich«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Anna wehrt sich gegen Ärzte und neue Behandlungsmethoden. Sie hat in dieser Hinsicht schon zuviel mitgemacht.« Lilla glaubte es gern. Während sie so sprachen, gingen sie den Pfad entlang, der an dem See vorbei nach Richmond-Castle zurückführte. Der
Nebel dämpfte das Tageslicht. Trotz der frühen Stunde breitete sich eine fahle Dämmerung aus. Lillas Gedanken kehrten zu Litzenberg zurück. »Ich kann mir nicht helfen, irgendwie tut er mir leid.« »Litzenberg?« rief Lord Percy fassungslos. »Ja«, antwortete Lilla fest. »Es muß doch schrecklich sein, über hundert Jahre herumgeistern zu müssen. Der Mann ist müde geworden. Er sucht einen Weg, der zu einer Erlösung führt, und irgendwie muß das mit mir zusammenhängen. Hätte er mich sonst von Warren-House hierher geschickt?« Sie grübelte. »Wir müssen die Zusammenhänge finden. Was wissen Sie über ihn?« »Nicht viel«, gab Lord Percy zu. »Nur das, was in der Familienchronik steht. Er war zu seiner Zeit ein einflußreicher und gefährlicher Mann. Zweifellos war er ein fähiger Kopf, beinahe ein Genie. Aber es war ihm jedes Mittel recht, um seine Ziele zu erreichen. Auf ein paar Morde mehr oder weniger kam es dabei nicht an. Allerdings tat er alles für die Richmonds. Er war ihnen treu ergeben. Damals erfreute sich Richmond eines nie versiegenden Reichtums, freilich zu Lasten der Bauern, der Bürger und der Armen. Litzenberg war erbarmungslos. Unter seiner Knute haben die Menschen das Lachen verloren. Die Angst regierte – zum Nutzen der Richmonds, wie ich zugeben muß.« »Ein Grund mehr, finde ich«, unterbrach Lilla ihn temperamentvoll, »daß die Richmonds ihm jetzt helfen, die ewige Ruhe zu finden.« »Ewige… Ruhe?« stotterte Lord Percy und blieb überrascht stehen. »Daran habe ich noch nie gedacht! Glauben Sie denn, daß wir ihn dann los werden?« »Aus Vergnügen spukt er sicher nicht herum!« »Damit können Sie recht haben, Miss Lilla.« Lord Percy dachte angestrengt nach. »Jetzt fällt mir auf, daß er lange Ruhe
gegeben hat. Bis auf gelegentliche Ärgernisse, die nicht weiter schlimm waren, hat er uns nicht belästigt. Jahrelang nicht.« »Und wann ist er wieder in Aktion getreten?« fragte Lilla. »Das überlege ich gerade. Ja – seit die Frage meiner Heirat akut wurde!« »Dann hangt es mit Ihrer Heirat zusammen!« entschied Lilla. »Damit sind wir schon ein Stück weiter. Er hat mich nach Richmond geholt, damit ich Ihre Frau werde. Vielleicht verspricht er sich etwas davon? Wenn er das tut, hat es einen bestimmten Grund. Den müssen wir herausfinden.« »Das ist ausgeschlossen«, bedauerte Lord Percy. »Die Familienchronik verrät nichts darüber, Sie ist auch nur lückenhaft geführt. Von Litzenbergs Untaten wurde nichts davon erwähnt.« Lilla fröstelte. »Der Nebel ist kalt und feucht. Ich hole mir nicht gerne einen Schnupfen. Wir sollten weitergehen.« Die Gegend kam ihr jetzt auch sehr unheimlich vor. Doch sicher war daran der Nebel schuld, der alles verzerrte und veränderte. »Haben Sie keine Angst vor ihm?« fragte Lord Percy interessiert. »O doch«, gestand Lilla. »Ich habe sogar furchtbare Angst vor ihm. Es wird mir jedes Mal ganz elend, wenn er auftaucht. Ich friere dann entsetzlich. Das Blut erstarrt mir in den Adern. So spüre ich es jedenfalls…« »So ähnlich geht es mir auch«, gab Lord Percy zu. »Ich habe das noch niemandem gestanden, schon um Georgia und Anna nicht zu ängstigen.« »Anna fürchtet ihn nicht«, sagte Lilla. »Erstaunlicherweise – nein«, bestätigte Lord Percy. »Dafür fürchtet ihn Georgia um so mehr.« »Und wenn er jetzt einen Fehler nach dem anderen macht, wird er seine Chance verderben, und Sie werden ihn nie los!« rief Lilla.
»Fehler? Wie meinen Sie das?« »Das ist doch ganz einfach: Wenn er weiter tötet, Häuser anzündet und sonstige Dinge treibt, wird er nie seine Ruhe finden. Er strebt sein Ziel mit falschen Mitteln an. Mittel, die er früher angewandt hat. Er ist unklug. Nur glaube ich, daß es nichts nützt, vernünftig mit ihm zu reden.« Lord Percy staunte. »Sie haben viel Mut, Miss Lilla.« »Den habe ich von meinem Vater geerbt, obwohl ich sonst eine Waslewskaja und absolut keine Warren bin. Wir müssen versuchen, ihm Einhalt zu gebieten. Das ist unsere einzige Chance! Wir müssen herausfinden, was er als nächste Untat plant.« »Und wie wollen wir das herausfinden?« fragte Lord Percy verständnislos. Sie hatten inzwischen den Schloßhof von Richmond-Castle erreicht. Im Schutz der wehrhaften, trutzigen Mauern, die den Hof umgaben, fühlte Lilla sich wohler. »Wir müssen nur logisch nachdenken«, erklärte sie. »Angenommen, es geht wirklich um Ihre Heirat… Er wird versuchen, jede andere auszuschalten, damit ich Ihre Frau werde. Bei Mademoiselle Giselle ist ihm das schon geglückt. Wenn ich nicht eingegriffen hätte, er hätte sie umgebracht! Was wird sein nächster Schachzug sein?« Sie starrten sich an. Die Antwort kam ihnen gleichzeitig, und sie war ungeheuerlich. »Mary!« riefen sie wie aus einem Munde.
*
Sie nahmen das Auto.
Ein Vergnügen war die Fahrt nicht. Der Nebel war dicht. Er versperrte die Sicht, und inzwischen wurde es auch dunkel. »Keine Sorge«, beruhigte Lord Percy. »Ich kenne die Strecke sehr genau.« »Sie sind ganz sicher, daß Lady Mary aus dieser Richtung kommt?« »Eine andere Straße, die von Winterhill nach Richmond führt, gibt es nicht.« Sie kamen an verlassenen Dörfern und verfallenen Gehöften vorbei, die schemenhaft und gespenstisch aus dem Nebel auftauchten und wieder darin verschwanden. »Warum ist nur alles so verlassen?« fragte Lilla betroffen. »Das ist mir schon auf meiner Fahrt nach Richmond aufgefallen. Nirgendwo ein lebendes Wesen, nicht mal eine streunende Katze oder ein Hund.« »Das hat sich allmählich so entwickelt«, antwortete Lord Percy leise. »Ich meine, seit – nun ja, seit es mit Richmond abwärts geht. Die Leute fanden keine Arbeit mehr. Einige Katastrophenjahre kamen hinzu. Jahre, in denen Hochwasser und Hagelschlag die Ernten vernichteten. Die Leute zogen fort. Zuerst die jungen, die mehr Unternehmungsgeist hatten, später folgten ihnen die alten.« »Und Sie haben nichts unternommen, um die Menschen in Richmond zurückzuhalten?« fragte Lilla verständnislos. »Ich meine, Sie haben nichts getan, um ihnen zu helfen? Um die Verhältnisse zu ändern, um neue Arbeitsplätze zu schaffen und bessere Lebensbedingungen herzustellen?« Er schwieg. Seine Miene war wieder finster. Nach einer Weile meinte er: »Es lag mir nichts daran.« »Es lag Ihnen nichts daran?« rief Lilla. »Ja, wo gibt es denn so etwas?« »In Richmond«, antwortete, er spöttisch.
Seine Ironie kam bei Lilla nicht an. Sie war empört. »Ist Ihnen nie die Idee gekommen, sich etwas einfallen zu lassen?« »Nie!« beteuerte er spöttisch. »Ich hatte anderes zu tun.« »Und was, zum Beispiel?« »Oh, eine ganze Menge. Die Jagd. Die Fischerei. Reisen. Und dergleichen mehr.« »Dergleichen mehr wird auch nichts Rechtes sein!« murmelte Lilla. »Nichts gegen die Jagd und das Fischen, und schon gar nichts gegen das Reisen. Doch das füllt einen nicht aus!« »Mich schon!« knurrte er. »Dann tun Sie mir leid!« rief Lilla. »Es ist ein trauriges Leben, das Sie führen. Und jetzt sehen Sie keine andere Rettung als eine Heirat mit einer reichen, ungeliebten Frau?« Sie schüttelte den Kopf. »Die arme Lady Mary tut mir leid. Sie wird todunglücklich mit Ihnen werden.« »Jetzt gehen Sie zu weit. Finden Sie nicht auch?« »Ich werde von jetzt an schweigen…« Das schien ihm auch nicht zu passen. Sie fuhren schweigend weiter. Vorübergehend lichtete der Nebel sich etwas. Doch was Lilla erblickte, war eher furchteinflößend. Sie fuhren zwischen hohen Bergwänden hindurch. »Die Kohlebergwerke von Richmond«, erklärte Lord Percy kurz. »Kohle gibt es hier?« »Ja. Und Kupfer und Zinn. Sogar Silber.« Lilla verschlug es die Sprache. Da lagen Reichtümer buchstäblich am Wegrand, und seine Lordschaft hielt es nicht für nötig, sich danach zu bücken und sie aufzuheben. Es lag ihm nichts daran! Er hatte anderes zu tun! Was war dies für ein Mensch. »Ihnen fehlt ein Litzenberg!« entfuhr es ihr. »Er hätte in das Durcheinander schon Ordnung gebracht und dafür gesorgt, daß
Richmond wieder eine gesunde, blühende und reiche Grafschaft wird.« »Sie scheinen ja ganz vernarrt in dieses Gespenst zu sein!« konterte Lord Percy ironisch. »Sie vergessen nur, daß er in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich war.« »Vielleicht lag es an der Zeit, in der er gelebt hat?« meinte Lilla. »Man redet immer von der guten alten Zeit! Aber so gut war die gar nicht, finde ich.« Sie verstummte. Wahrscheinlich verstand er überhaupt nicht, was sie meinte. Der Nebel schloß sich wieder dichter zusammen. Die Dunkelheit kroch von den Bergen ins Tal. Die Scheinwerfer des Wagens stießen wie helle Pfeile in die schmutzigen Nebeltücher. Lilla wurde es recht beklommen zumute. Nicht, daß sie Lord Percys, Fahrkünsten mißtraut hätte. Das war es nicht! Er fuhr sicher und zügig, und er kannte die Strecke wirklich gut. Es fiel ihr nur wieder ein, warum sie unterwegs waren! Wenn sie nun zu spät kamen? Wenn Lady Mary auf ihrer Reise schon etwas zugestoßen war? Wenn Litzenberg sein grausiges Werk schon vollbracht hatte? »Sie müßte uns längst entgegenkommen«, murmelte Lord Percy, als habe er Lillas Gedanken, ihre unausgesprochenen Ängste und Befürchtungen erraten. »In ihrem Brief schrieb sie, daß sie dem Boten in Kürze nachfolgen werde. Er war zu Pferd und konnte Abkürzungen nehmen. Deshalb war er so zeitig da. Dennoch – sie müßte auch hier sein!« er wirkte beunruhigt. »Vielleicht wurde sie auf Winterhill noch aufgehalten?« meinte Lilla. »Wenn sie nur die Richmond-Grenze noch nicht passiert hat!« »Die Grenze?« stieß Lilla aufgeschreckt hervor. »Hat das etwas mit den Grenzpfählen zu tun, die ich gesehen habe, als
ich nach Richmond kam? Anna hat behauptet, daß es die gar nicht gibt.« »Es gibt sie auch nicht! Früher hat es sie einmal gegeben.« »Zu Litzenbergs Zeiten?« »Sie sagen es«, antwortete Lord Percy bedrückt. »Er hat Wege- und Warenzoll erhoben.« »Dachte ich es mir doch!« sagte Lilla vor sich hin. »Natürlich ist das längst vorbei. Die Grenzpfähle gibt es nicht mehr. Nur – manchmal werden sie gesehen. Und zwar immer dann, wenn Litzenberg in irgendeiner Weise sein Unwesen treibt.« »Das könnte bedeuten, daß er die Grenzen markiert, die Grenzen seines Machtbereichs. Nur in diesem Gebiet kann er als Geist erscheinen…« »Wieso war es ihm dann möglich, bei Ihnen in WarrenHouse zu erscheinen?« Lilla überlegte. »Das war etwas anderes«, entschied sie. »Er hat sich auf Warren-House gezeigt, wenn wir es so ausdrücken wollen. Aber er hat nichts Schlimmes getan!« »Das könnte bedeuten«, folgerte Lord Percy, »daß er außerhalb der Grenzen seines ›Machtbereichs‹, also der Grenzen von Richmond, nicht in der Lage ist, jemandem ein Leid zuzufügen?« »So ungefähr«, stimmte Lilla zu. Sie atmete erleichtert auf. Wenn es sich so verhielt, war er auch nicht in der Lage, Warren-House anzuzünden oder sonst ein Unglück anzurichten. Im Moment, als sie dies dachte, quietschten die Bremsen. Lord Percy stieß einen erstickten Schrei aus. Der Wagen legte sich auf die Seite. Lilla; wurde nach vorn geschleudert. Sie stieß mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe und verlor für Sekunden die Besinnung.
Ais sie die Augen wieder öffnete, sah sie Lord Percys erschrockenes Gesicht über sich. »Ist Ihnen etwas passiert, Miss Lilla?« fragte er angstvoll. »Was war… denn los?« brachte sie mühsam hervor. Er konnte vor Entsetzen nicht sprechen. »Ein Abgrund. Mitten in der Straße. Sieht wie ein Erdrutsch aus. Um ein Haar wären wir hineingestürzt.« Er atmete auf. »Ein Auto hat glücklicherweise Bremsen. Kein Kutscher der Welt hätte in der Dunkelheit den Abgrund so rechtzeitig erkannt, daß es ihm noch gelungen wäre, die Pferde zum Stehen zubringen.« »Nebel kann er nicht machen«, murmelte Lilla, die völlig durcheinander war. »Doch vielleicht kann er eine Straße auseinanderreißen?« »Litzenberg?« Lord Percy starrte sie an. »Sie sagen es«, hauchte Lilian. Lord Percy hatte den Arm um sie gelegt, um sie zu stützen. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, und das war, wie sie erstaunt feststellte, ein wundervolles Gefühl. Ein süßer Schauer überrann sie. So geborgen hatte sie sich noch nie in ihrem ganzen Leben gefühlt. Wie schön, dachte sie, wie wunderschön, oh, so soll es bleiben bis an das Ende aller Zeiten. »Lichter!« rief Lord Percy. »Da kommen uns Lichter durch den Nebel entgegen.« Seine Stimme kippte beinahe über. »Das muß Mary sein!« Er sprang aus dem Wagen. »Wir müssen sie warnen! Sonst rast sie mitten in ihr Unglück hinein!« Die Lichter waren noch ziemlich fern, fand Lilla, die aus ihren süßen Träumen gerissen wurde. Doch der Nebel konnte täuschen. Sie näherten sich auch rasch und schwankten hin und her. »Mary kommt mit ihrer Kutsche und den Pferden!« Er keuchte vor Aufregung. »Hier, Miss Lilla, hier dieser rote Hebel, ziehen sie ihn rauf und runter, schnell.«
»Und was passiert dann?« schrie sie. »Die Scheinwerfer gehen an und aus. Sie blenden auf und ab! Das muß der Kutscher sehen. Wenn Mary selbst kutschiert, sieht sie es sicher! Schnell! Ziehen Sie den Hebel!« »Ich tue es ja schon!«
*
Es war fast unheimlich. Die Scheinwerfer strahlten hell auf, dann wurde es dunkel, dann strahlten sie wieder auf. Lord Percy zog seine Jacke aus. Er kletterte über einige Felsbrocken, stellte sich vor den Abgrund und schwenkte seine Jacke hin und her. Mut hat er, dachte Lilla bewundernd. Sie zitterte bei der Vorstellung, daß die sich rasch nähernden Pferde ihn in den Abgrund stoßen oder mit sich reißen könnten, falls es dem Kutscher nicht rechtzeitig gelang, sie zum Stehen zu bringen. Sie drückte den roten Hebel, bis ihr die Finger schmerzten. »H-a-l-t!« tönte eine helle, energische Frauenstimme durch den Nebel. »Brrr! Bleibt stehen! – Brrr! Gut so, ja.« Sekundenlang war es still. Dann fragte die Stimme: »Percy? Ja, um Himmels willen, was machst du denn da?«
*
Lady Mary war gerettet! »Verzeihen Sie, Exzellenz!« murmelte Lilla. »Es paßt Ihnen vermutlich nicht. Doch geschah es nur zu Ihrem Besten!« Sie hörte auf, den roten Hebel zu betätigen. Das Licht des
Scheinwerfers ließ die Finsternis nur noch unheimlicher werden. Lilla tastete über ihre Stirn, die ziemlich weh tat. Die Schwellung wurde immer stärker. Lady Mary und Lord Percy hielten sich außerhalb des Scheinwerferlichts im Dunkeln auf. Was hatten die beiden nur so lange miteinander zu bereden? Lilla konnte kein Wort verstehen, so sehr sie auch die Ohren spitzte. Das gleiche Gefühl beschlich sie wieder, das sie beim Anblick Giselles heimgesucht hatte. Das war doch nicht etwa Eifersucht? Lächerlich! Wie hätte sie wegen Lord Percy eifersüchtig sein können, da sie ihn doch gar nicht liebte? Nanu? Was war denn das? Lillas Augen versuchten die Dunkelheit zu durchbohren. Tatsächlich: Lord Percy umarmte Lady Mary, und sie küßte ihn. Es war eine unverhohlene Zärtlichkeit in ihren Gesten zu erkennen. Endlich kam der Lord zurück. Wo blieb die Lady? Lord Percy riß den Schlag auf. »Tut mir leid, daß es eine Weile gedauert hat, Miss Lilla.« »Oh, das macht nichts.« Er wirkte merkwürdig niedergeschlagen. Warum eigentlich? Er hatte doch allen Grund, sich als Held zu fühlen. Er hatte seiner zukünftigen Gemahlin das Leben gerettet! »Mary und ich, wir kennen uns seit unseren Kindertagen«, sagte er. Lilla interessierte das nicht im geringsten. Sie wollte überhaupt nichts von Lady Mary hören. Doch Lord Percy redete unentwegt weiter von ihr, während er mit viel Geschick das Auto aus der gefährlichen Lage manövrierte und wendete. »Mary sperrt drüben die Straße ab. Wir müssen das Gleiche tun, damit nicht doch noch ein Unglück geschieht, obwohl hier so gut wie nie jemand durchkommt. Mary ist wirklich eine
patente Person. Sie schafft das schon. Ich weiß, daß Anna sie nicht leiden kann, und wahrscheinlich hat meine kleine Schwester nicht besonders nett von Mary gesprochen. Sie übertreibt manchmal wirklich ein wenig. Natürlich ist Mary keine Schönheit. Doch sie hat ein goldenes Herz. Seit dem Tod ihrer Eltern verwaltet sie Winterhill wie ein Mann.« »Und wie schafft sie es, nach Richmond zu kommen? Ich meine, wo die Straße nicht passierbar ist?« Lilla konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme spöttisch klang. »Sie kommt nicht nach Richmond.« Lillas Herz machte einen kleinen Freudensprung. »Lady Mary kommt nicht nach Richmond?« wiederholte sie fassungslos. Lord Percy räusperte sich. »Es ist so, daß – nun, wir haben einander nie etwas vorgemacht. Dafür sind wir zu gute Freunde, Mary und ich. Sie weiß, daß ich sie nur aus – na, sagen wir wirtschaftlichen Überlegungen heraus gebeten habe, meine Frau zu werden. Erst war sie damit einverstanden.« »Inzwischen hat sie es sich anders überlegt?« »Sie hat einen anderen Mann lieben gelernt.« Lilla begriff es nicht so schnell. »Soll das… heißt, daß – «, stammelte sie. »Ja! Sie wollte nur nach Richmond kommen, um mir zu sagen, daß unsere Heirat nie stattfinden wird, weil sie sich entschlossen hat, den anderen zu nehmen. Er ist der Verwalter ihrer Güter, ein tüchtiger Mann. Er hätte die Leitung von Winterhill behalten, wenn sie Lady Richmond geworden wäre.« Er zuckte die Schultern. »Nun, so arrangiert es sich noch einfacher. Mary heiratet ihn und bleibt auf Winterhill.« Lilla seufzte tief. »Dann hätte das Gespenst ganz umsonst gemordet! Es hätte Lady Mary umgebracht. Es wäre überhaupt nicht notwendig gewesen, weil sie ja nur gekommen wäre, um die Heirat abzusagen. Exzellenz macht einen verhängnisvollen
Fehler nach dem andern. Wäre ich nicht gewesen, hätte er zwei sinnlose Morde auf dem Gewissen!« »Ich bezweifle, ob er es Ihnen danken wird.« »Das bezweifle ich allerdings auch«, gestand Lilla. Der Rest der Fahrt verlief in Schweigen. Lord Percy hing seinen Gedanken nach. Ist er im Geist schon auf der Suche nach einer anderen, reichen Braut? überlegte Lilla. Sie war auf einmal sehr müde. Ich fühle mich, als wäre ich auch hundertsieben Jahre tot. Sie gähnte verstohlen. Dieser Tag war aufregend und anstrengend gewesen, und sie hatte seit dem Lunch keinen Bissen mehr zu sich genommen. Die Lichter von Richmond-Castle tauchten aus dem Nebel auf. »Wir sind da!« sagte Lord Percy erleichtert. »Ich bin froh, daß ich Sie heil zurückgebracht habe, Miss Lilla.« Er fürchtet sich also auch vor Exzellenz von Litzenbergs Rache! dachte Lilla.
*
Auf Richmond-Castle wurden sie schon ungeduldig und besorgt erwartet. Anna weinte vor Erleichterung, als sie Lilla sah. »Wir warten seit Stunden! Ich habe furchtbare Angst um Sie gehabt.« Georgia sagte: »Ich konnte es kaum noch aushalten. Ich verging vor Angst.« Es war erstaunlich, fand Lilla, daß die kühle, gelassene Lady das zugab. Die Angst mußte Georgia ziemlich zugesetzt haben. Sie war blaß und lachte nervös. »Außerdem ist Mary immer noch nicht eingetroffen.«
Lilla sah Lord Percy an. Er gab sich einen Ruck und erklärte kurz, was geschehen war. »Mary und ich werden nicht heiraten«, schloß er, und man merkte ihm nicht an, was dabei in ihm vorging. Er bewahrte eine tadellose Haltung. »Ach? Und wo nimmst du jetzt die nächste reiche Frau her, Percy?« fragte Georgia. Anna jubelte. Er lächelte matt und strich ihr über das Haar. »Du bist entsetzlich eifersüchtig, mein Kleines! Du mußt dir das abgewöhnen. Irgendwann werde ich doch heiraten.« »Fällt denn keinem von euch etwas auf?« fragte Georgia. »Ich bin inzwischen auch nicht untätig gewesen, was unser Gespenst betrifft!« Lilla sah es zuerst. Die Spiegeltür war mit einem schwarzen Tuch verhängt. »Eine gute Idee, nicht wahr?« triumphierte Georgia. »Ich wundere mich, daß wir nicht schon früher darauf gekommen sind. Ich habe mit Timothy zusammen sämtliche Spiegel im ganzen Schloß mit schwarzen Tüchern zugehängt. Es war eine schwere Arbeit. Ich hatte ja keine Ahnung, wieviele Spiegeltüren, Spiegelwände, und Rahmenspiegel es auf Richmond-Castle gibt!« »Hoffentlich hast du keinen vergessen!« murmelte Lord Percy düster, und auf seiner Stirn stand eine steile Falte. Lilla erschrak. Der schwarz verhängte Spiegel entsetzte sie. Es sieht aus, dachte sie, als herrsche Trauer auf RichmondCastle, als sei der Tod eines teuren Dahingeschiedenen zu beklagen. Anna beobachtete Lilla. »Ihnen gefällt das nicht?« fragte sie. »Es sieht so traurig aus«, antwortete Lilla, der eine unerklärliche Unruhe das Herz zusammenschnürte. Eine unbestimmte Vorahnung beschlich sie.
»Doch ist es sicher eine gute Idee!« bekräftigte sie tapfer. »Ich meine – was Ihr Hausgespenst betrifft!« »Vielleicht sind wir ihn jetzt los!« sagte Anna. »Sie sind so schweigsam, Lilla. Sagen Sie doch etwas!« »Ich habe Angst«, sagte Lilla.
*
Auch der Spiegel in Lillas Zimmer war schwarz verhängt. Es entsetzte sie, als sie es sah. Andererseits war es eine gewisse Beruhigung, obwohl sie nicht ganz sicher war, ob die schwarzen Tücher den Geist daran hindern konnten, aus den Spiegeln zu steigen. Georgia und Lord Percy saßen noch in der Wohnhalle, um die neue Lage zu bereden, nämlich, wie es ohne Lady Marys Mitgift auf Richmond weitergehen sollte. Lilla bezweifelte, daß bei dieser Unterredung etwas herauskam. Dabei lag die Lösung greifbar nahe im wörtlichsten Sinne! Man brauchte nur an die Kohlebergwerke, an die Erzminen zu denken, die zu der Grafschaft Richmond gehörten. Sie war sicher, daß auch die seit Jahren brachliegenden Felder wieder nutzbar gemacht werden konnten. Wenn Lord Percy nur versucht hätte, diese Dinge in Angriff zu nehmen! Doch es lag ihm ja nichts daran! Er hatte anderes zu tun. Es enttäuschte Lilla, daß er ein solcher Snob war. Es lohnt sich nicht, ernsthafte Gedanken an ihn zu verschwenden, sagte sie sich vernünftig. Nur leider kam sie mit ihren Gedanken trotzdem nicht von ihm los. Auch das Bangen in ihrem Herzen konnte sie nicht von sich abschütteln. Sie gab sich die größte Mühe, doch es gelang ihr
nicht. Am liebsten hätte sie sich an den Flügel gesetzt, um die widerstreitenden Empfindungen, die sie erfüllten, in Tönen aufzulösen. Doch das wagte sie nicht! Wer mochte wissen, was geschah, wenn sie zu spielen begann? Sie hatte ihr Erlebnis vom Vorabend noch in schrecklicher Erinnerung, wenn sie sich auch an Litzenbergs Worte nicht mehr erinnern konnte. Irgend etwas hatte sie in ihrem Gedächtnis ausgelöscht. Lilla gähnte und schlüpfte in das herrliche Himmelbett unter dem blaßblauen Brokatbaldachin. Sie streckte sich aus und kuschelte sich wohlig in die weiche Decke. Sekunden später war sie tief und fest eingeschlafen. Sie schlief traumlos bis in den nächsten Morgen hinein. Ein Klopfen an der Tür weckte sie auf. »Miss Warren? Tut mir leid, wenn ich Sie stören muß!« Das war der Butler Timothy. Lilla fuhr auf. »Ist es schon sehr spät?« »Erst acht Uhr vorbei, Miß Warren. Ich hätte Sie nicht so früh geweckt. Doch da ist jemand, der Sie unbedingt sprechen will!« »Mich?« rief Lilla. Sie runzelte die Stirn. Wer konnte sie um diese Zeit sprechen wollen? »Wer ist es denn?« fragte sie aufgeregt. Doch der Butler war schon gegangen. Lilla sprang aus dem Bett und lief ins Badezimmer hinüber. So schnell war sie schon lange nicht mehr mit ihrer Morgentoilette fertig geworden! Dann eilte sie den langen Korridor hinunter. In der Vorhalle wartete ein Mann. Und Lilla erkannte ihn sofort. Es war Tobias, der gute alte Tobias, und er sah furchtbar unglücklich aus. »Tobias!« rief Lilla bestürzt und freudig zugleich. »Oh, hat Papa doch keine Ruhe gehabt und dich hierher geschickt?«
Er sah sie an – und da wußte sie, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte. Tobias’ wasserblaue Augen waren von einer unendlichen Trauer erfüllt. Tränen rannen ihm über die runzligen Wangen. »Ich bin so schnell es ging geritten, Miss Lilla«, berichtete er. »Der Doktor hat mir ein Pferd geborgt.« »Der Doktor?« stammelte Lilla. »Er war in Warren-House? Steht es so schlimm um Papa, daß er den Doktor rufen mußte?« »Ich habe den Doktor gerufen, Miss Warren.« »Das war sehr vernünftig. Hat… hat Papa denn wieder eine Herzattacke gehabt?« »Er hat sich jedenfalls sehr aufgeregt, als diese Herren gekommen sind… kurz nachdem Sie fortgefahren waren, Miss Lilla.« »Was für Herren?« Tobias kämpfte gegen seine Tränen. »Die Gläubiger. Wegen der Steuern sind sie gekommen, und wegen anderer Rechnungen, die nicht bezahlt waren. Kurz, sie haben WarrenHouse – also sie haben es dem Colonel fortgenommen. Gepfändet haben sie es, und der ganze Besitz soll unter den Hammer kommen.« Lilla wurde es schwarz vor Augen. Wie hatte das Gespenst in der Gelben Villa zu ihr gesagt? Die Mühe, Warren-House abzubrennen, könne er sich sparen, sie habe keine Heimat mehr. So war das also. Sie atmete tief durch. »Eigentlich war es zu erwarten, daß es eines Tages so kommen würde«, murmelte sie niedergedrückt. »Papa hat es gewußt. Ich habe ja keinen Einblick in alles gehabt. Deshalb wollte er unbedingt, daß ich nach Richmond fahre. Deshalb bestand er darauf, daß ich gut versorgt bin.« Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Nun, dann ist eben nichts zu ändern. Papa wird darüber hinwegkommen… und ich
auch. Wir können in Aberdeen oder Glasgow bescheiden leben und dich nehmen wir mit.« »Da ist noch etwas. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll. Der Colonel – diese Aufregung! Das war wohl zuviel für ihn. Als die Herren fort waren, hat der Colonel uns einen Whisky eingeschenkt. ›Trinken wir einen Whisky zusammen, Tobias‹ hat er gesagt. Und dann hat er gesagt: 1 ›Wenn alles vorbei ist, reitest du zu Lilla. Der Doktor soll dir ein Pferd borgen. Du reitest nach Richmond, sofort. Alles andere können der Doktor und der Pfarrer erledigen. Wieso der Pfarrer, Sir? habe ich gefragt. Er hat nur gelächelt. Da habe ich es mit der Angst zu tun bekommen, und ich bin losgerannt und habe den Doktor geholt.« Er stockte und konnte vor Erregung nicht mehr reden. »Weiter, Tobias«, bat Lilla mit unheimlicher Ruhe. Wie hatte der düstere Geist in der Gelben Villa zu ihr gesagt? Der Tod ist wie ein sanfter Freund zu ihm gekommen oder so ähnlich. »Als wir nach Warren-House gekommen sind, der Doktor und ich, da – wir sind zu spät gekommen, Miss Lilla. Der Colonel – « »Er war tot«, vollendete Lilla leise. Der Schmerz, der sie erfüllte, war zu heftig, zu qualvoll – sie konnte nicht weinen. Ihr Gesicht war wie versteinert. »Armer Papa«, flüsterte sie. »Und ich bin nicht bei dir gewesen!« Sie hatte Lord Percy nicht kommen hören. Auch Tobias hatte es nicht bemerkt. »Miss Lilla«, sagte Lord Percy tief bewegt. »Verzeihen Sie, daß ich alles mit angehört habe.« Er ging auf sie zu und streckte ihr beide Hände entgegen. »Ich fühle mit Ihnen. Darf ich Ihnen meine aufrichtige Anteilnahme aussprechen?« »Danke, Mylord«, flüsterte Lilla. »Es ist selbstverständlich, daß Sie auf Richmond-Castle bleiben werden. Betrachten Sie dieses Haus als – als Ihre
Heimat. Sie sollen zur Ruhe kommen, um nichts überstürzt zu entscheiden, was Ihre Zukunft betrifft. Auch für Ihren Diener ist Platz auf Richmond-Castle. Er soll willkommen sein.« . »Das – das kann ich nicht annehmen, Mylord«, erwiderte Lilla. »Ihr Angebot ist sehr großzügig, und ich danke Ihnen dafür. Doch annehmen kann ich es nicht.« »Wo wollen Sie denn hin, Miss Lilla?« fragte Tobias unglücklich. »Wir können nicht nach Warren-House zurück. Man wird uns höchstens erlauben, die persönlichen Dinge mitzunehmen. Alles andere – es gehört Ihnen nicht mehr.« Lilla war sehr blaß. Doch sie verhielt sich tapfer. »Wir müssen uns eben etwas einfallen lassen. Irgendwie muß es weitergehen.« »Und wie wäre es – . wenn Sie sich zum Beispiel dazu entschließen könnten, Anna in Musik zu unterrichten, Miss Lilla?« fragte Lord Percy rasch. »Meine Schwester wünscht es sich schon lange, ein Instrument spielen zu lernen. Sie würden Anna – und mir einen großen Dienst erweisen.« »Was mich betrifft, Mylord«, sagte Tobias hastig, denn ihm graute davor, nach Warren-House zurückzukehren, das nun fremden Leuten gehörte, »ich kann mich überall nützlich machen. Ich bin das Arbeiten gewohnt. Ich werde mir meinen Unterhalt schon verdienen.« »Nehmen Sie meinen Vorschlag an, Miss Lilla?« fragte Lord Percy leise. »Denken Sie doch daran, wie sehr wir Sie auf Richmond-Castle brauchen. Sie sind schließlich die Einzige, die mit Exzellenz umzugehen weiß.« »Er hat es gewußt«, murmelte Lilla. »Dieser Mann aus dem Jenseits hat alles gewußt. Er hat es mir gesagt. Jetzt weiß ich es wieder. In meiner ersten Nacht auf Richmond-Castle. Doch ich konnte mich an seine Worte nicht mehr erinnern. Ich habe mir eingeredet, daß alles nur ein lebhafter Traum gewesen sei.« Sie
fühlte sich so verlassen ohne ihren Vater. Und plötzlich brachen sich die Tränen ihre Bahn. Die Trauer überwältigte sie. Sie war stärker als sie. Lord Percy zog sie sanft in seine Arme, und Lilla weinte sich an seiner Schulter aus.
*
Georgia war außer sich, als sie hörte, was für ein Angebot ihr Bruder Lilla gemacht hat. Timothy, der es gehört hatte, berichtete es ihr sofort. Noch während Lilla sich um Tobias kümmerte, und dafür sorgte, daß der erschöpfte Mann etwas zu essen bekam, und sich erst einmal ausschlafen konnte, kam es zwischen Georgia und Percy zu einer heftigen Auseinandersetzung? »Miss Warren soll auf Richmond-Castle bleiben?« tobte Georgia. »Bist du von allen guten Geistern verlassen, Percy? Wie stellst du dir das vor? Eine Musiklehrerin für Anna und ein zusätzlicher Diener! Wovon willst du das bezahlen? Wir selbst haben kaum etwas zu essen…« »Du übertreibst schlimmer als Anna!« brauste Lord Percy auf. »Wir sind noch immer satt geworden. Es wird sich ein Ausweg finden!« »Ohne Marys Mitgift?« höhnte Georgia. »Das war unsere letzte Rettung. Du bist ein Narr, daß du sie einfach aufgegeben hast! Es ist deine Schuld! Du hast dich überhaupt nicht um sie gekümmert. Kein Wunder, daß sich der Herr Verwalter das Goldfischlein geschnappt hat, während du mit dieser Französin…« »Was hat denn das mit Miss Warren zu tun?« unterbrach Lord Percy seine zeternde Schwester wütend. »Anna…«
Georgia fiel ihm ins Wort. »Anna! Anna! Du denkst immer nur an sie! Ich bin dir vollkommen egal. Du bedauerst sie! Ihr gehört dein ganzes Mitgefühl! Daß ich an meinem Leben vorbeilaufe, interessiert dich überhaupt nicht.« »Natürlich bedauere ich das. Aber auch dies hat nichts mit Miss Warren zu tun!« Lord Percy verschloß sich, wie immer, wenn er zornig war. Er war dann von einer nicht zu überbietenden Arroganz, und das machte Georgia noch rasender. »Ich dulde es nicht, daß diese Person im Haus bleibt!« schrie sie. »Noch ist Richmond-Castle mein Haus«, stellte Lord Percy eiskalt richtig. »Du hast kein Recht, mir Vorschriften zu machen, Georgia.« Sie starrte ihn verblüfft an. In diesem Ton hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Sie begriff schlagartig, daß hier mehr im Spiel war, als er zugab. Es ging nicht allein um Anna. Er mußte sich in diese Lilla verliebt haben. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Da war sie froh, daß diese Französin aus dem Haus war. Und jetzt fing Percy die nächste Affäre an, statt sich nach einem reichen Mädchen umzusehen, wo ihm schon Mary davongelaufen war. »Niemals!« stieß sie hervor. »Was – niemals?« fragte Lord Percy. »Niemals lasse ich es zu, daß sie deine Frau wird!« »Wer?« fragte er ehrlich verblüfft. »Miss Warren! Lilla! Darum geht es doch, oder? Für eine Liebelei gibt sich dieses Mädchen nicht her! Dafür ist sie nicht der Typ. Wenn du sie erobern willst, dann nur mit Brautkranz und mit Ehereif am Finger!« Sie lachte hysterisch. »Dabei ist sie genauso arm wie wir! Das ist ein Witz! Das lasse ich nicht zu! Das werde ich zu verhindern wissen!«
Percy hörte ihr gar nicht mehr zu. Nachdenklich sah er vor sich hin. Georgia hatte ihm die Augen geöffnet. War er wirklich in Lilla verliebt? Er wußte es nicht. Er hatte noch nicht darüber nachgedacht. Sie war ihm sympathisch, gewiß. Er hatte am vergangenen Tag große Angst um sie ausgestanden, und er war ihr dankbar für ihre Hilfe gewesen, Mary vor einem Unglück zu bewahren. Jetzt fragte er sich, ob es vielleicht wirklich mehr als Sympathie war, was er für sie empfand. »Du wirst mich kennenlernen!« tobte Georgia immer noch. Sie war derart in Rage, daß sie sich selbst nicht mehr kannte. »Wenn du durch eine Heirat Geld ins Haus bringst, habe ich die Chance, von hier fortzugehen, um einen Mann kennenzulernen, was mir hier nie möglich ist. Ich will ein eigenes Leben anfangen, um nicht als alte Jungfer auf Richmond-Castle dahinzuwelken. Oh, ich hasse dieses Schloß! Dieses Gespensterhaus und Exzellenz von Litzenberg. Dieses scheußliche Gespenst.« Als sie diesen gefürchteten Namen ausstieß, zuckte Lord Percy zusammen. »Komm zur Vernunft, Georgia!« befahl er scharf. Wenn sie sich tatsächlich in ihrem unberechenbaren Zorn dazu hinreißen ließ, Lilla aus dem Haus zu treiben, bedeutete das möglicherweise nichts anderes, als daß sie sich selbst in tödliche Gefahr brachte. »Ich verstehe deine Probleme, und ich werde mir etwas einfallen lassen, um sie zu lösen. Doch unternimm nichts gegen Lilla!« »Unternimm nichts gegen Lilla!« wiederholte Georgia höhnisch. »Du wirst dich wundern, Percy. Du wirst dich wundern!« Ehe er noch ein Wort sagen konnte, war Georgia hinausgerauscht, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. »Georgia!« rief Lord Percy beschwörend. Doch sie hörte ihn nicht mehr. Sie rannte davon – in ihr Unglück hinein.
Lord Percy traute den verhängten Spiegeln nicht. Vermutlich war Exzellenz durchaus in der Lage, trotzdem wieder in Erscheinung zu treten. Es bedeutete nicht viel, daß er während der vergangenen Nacht Ruhe gegeben hatte. Er hatte sich noch nie an die mitternächtliche Geisterstunde gehalten. Er tauchte auf, wann immer es ihm paßte. Natürlich war die Situation fatal! Lord Percy machte sich nichts vor. Seine Gläubiger hatte er mit Marys Mitgift vertröstet. Sobald es bekannt wurde, daß die Heirat geplatzt war, zog sich die Schlinge zu. Dann stand er mit Anna und Georgia vor dem Nichts. Es ist ein trauriges Leben, das sie führen, meinte er plötzlich Lillas Stimme zu hören. Recht hat sie, dachte er zornig. Doch sein Zorn richtete sich gegen sich selbst. Ich bin dreiunddreißig Jahre alt, sagte er sich, und ich habe mein Leben lang noch nichts Vernünftiges getan. Das Wort Arbeit kenne ich nur dem Namen nach. Wenn es eine Entschuldigung für mich gibt, dann ist es die, daß ich es nie anders gekannt habe. Alle Richmonds vor mir, seit Exzellenz von Lichtenbergs Zeiten, waren solche Nichtstuer und Müßiggänger wie ich. Deshalb ist es mit der Grafschaft bergab gegangen. Zum Abschied hatte Mary zu ihm gesagt: »Wenn du finanzielle Hilfe brauchst, du kannst auf mich zählen. Aber nur, wenn du die Ärmel aufkrempelst, und etwas unternimmst, Percy! Tue es endlich. Es ist ein Jammer um Richmond und um dich!« Sie hatte ihn dann freundschaftlich umarmt und geküßt. Es wurde ihm siedendheiß, als er an ihren Vorschlag dachte. Und wenn er es nun tat? Wenn er die Ärmel hochkrempelte und sich in die Arbeit stürzte? So ausweglos war das alles doch gar nicht. Wenn Mary ihm half, die dringendsten Schulden zu
begleichen, konnte er Zeit gewinnen, um alles zu planen! Dann fing ein neues Leben an auf Richmond-Castle. Er öffnete seinen Schreibtisch, in dem er Papiere vergraben hatte, die ihm nur lästig gewesen waren. Er mußte erst einmal einen Überblick gewinnen. Kopfüber stürzte er sich in die Arbeit. Erst nach einer geraumen Weile merkte er, daß ihm die ungewohnte Tätigkeit Spaß machte. Es war wie ein Abenteuer, das er siegreich bestehen mußte. Wollte er nicht untergehen. Kräfte wuchsen ihm, von denen er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Er steckte schön mitten drin in seinem Abenteuer, und er war entschlossen, es zu einem guten Ende zu bringen. Was Sie fertiggebracht haben, Exzellenz, dachte er, das werde ich auch schaffen, und zwar ohne die Mittel, die Sie seinerzeit angewandt haben! Verwundert hob er den Kopf. Er hatte geglaubt, ein Lachen zu hören, ein leises, etwas spöttisches Lachen. Wer hatte da wohl eben gelacht? Ein Gespenst?
*
Die Mahlzeit verlief in tiefem Schweigen. Lilla war zu sehr in die Trauer um ihren Vater versunken, um auch nur einen Bissen hinunterzubringen. Sie mußte ständig mit den Tränen kämpfen. Anna, die zwar überglücklich darüber war, daß Lilla auf Richmond bleiben sollte, nahm zu herzlich Anteil an Lillas Schmerz. Georgia indessen brütete finster vor sich hin. Sie nahm kaum etwas zu sich und schob ihren Teller schließlich angewidert zur Seite.
Sie hatte Lilla, wie es die Höflichkeit forderte, ihr Beileid ausgesprochen, jedoch in einer so kalten und unbeteiligten Art, daß es Lilla lieber gewesen wäre, sie hätte nichts gesagt. Die Diener trugen das Essen wieder ab. Der Butler runzelte nachdenklich die Stirn. Es lag Unheil in der Luft! Er war von Kindesbeinen an auf Richmond-Castle. Er kannte sich aus, er wußte Bescheid! Wenn die Atmosphäre derart gespannt war, passierte mit Sicherheit etwas Schreckliches. In seiner Verwirrung und dumpfen Vorahnung hatte er übersehen, die Fenster im Speisesaal zu öffnen, wie es nach jeder Mahlzeit üblich war. Georgia haßte es, wenn der Essensgeruch im Zimmer blieb. In ihrer gereizten Verfassung regte sein Versäumnis sie erst recht auf. »Alle Fenster sind zu!« Sie sprang wütend auf und riß die Fenster im Speisesaal auf. Dann lief sie in die Wohnhalle hinüber und öffnete auch dort die Fenster. »Das gibt Zugluft!« Anna seufzte. »Und davon kriegt sie dann einen Schnupfen!« Lilla schob Annas Rollstuhl in die Wohnhalle hinüber. »Ich habe gedacht, wir könnten nach dem Lunch ein wenig an die frische Luft gehen. Doch das Wetter ist zu schlecht.« Der Nebel quoll in die weit geöffneten Fenster herein. »Es nieselt auch«, stellte Anna fest und fröstelte. »Dieser Nieselregen ist abscheulich. Es ist der Nebel, der herunterkommt, sagt Percy immer. Wenn er nur herunterkäme! Diese Tage ohne Sonne sind schlimm. Man kommt sich dann auf Richmond-Castle wie in einem Kerker vor.« Trotz ihres Schmerzes versuchte Lilla, das arme gelähmte Mädchen ein wenig abzulenken. »Wir könnten eine Partie Schach spielen.«
»Lieber Mau-Mau«, machte Anna einen Gegenvorschlag. »Dabei muß man nicht soviel denken, und es ist amüsanter. Wir sind doch wirklich traurig genug. Oder ist es Ihnen nicht recht, Lilla?« Georgia ging wie eine gereizte Tigerin hin und her. »Spielst du mit uns, Georgia?« fragte Anna. »Ich habe andere Sorgen!« antwortete Georgia barsch. Das Kaminfeuer wurde von der feuchten Luft bedrängt, die zu den offenen Fenstern hereinströmte, und flackerte unruhig. Ein eigenartiges Gefühl, beschlich Lilla. Was war das nur? Sie hatte Angst. Dieses Gefühl der Furcht war stärker als die Trauer, die sie erfüllte. Sie begann zu frieren. Die Vorzeichen waren eigentlich untrüglich. Doch Lilla beachtete es noch nicht. War da nicht wieder dieser schreckliche Wind? Sie hörte ihn ganz deutlich, dieses hohle Sausen, das den Nebel in Wallung brachte. Georgia stand vor der schwarz verhängten Kristallspiegeltür. Sie zündete sich gereizt und nervös eine Zigarette an. Der Wind blies das Streichholz aus, als er jäh durch die Fenster fuhr. Eine Tür schlug zu. Die Fenster im Speisesaal klirrten. Der Luftzug blähte die Gardinen auf. Er fuhr durch die Wohnhalle in die Flammen des Kaminfeuers und löschte sie aus. Er warf ein Tischchen um, Porzellan zerbrach, ein Stuhl kippte, und dann – Lilla sah es mit vor Schreck weit geöffneten Augen – riß der Wind das Tuch von dem Kristallspiegel, der die Seitentür verkleidete. Die Tür bewegte sich. Oder täuschte sich Lilla? War es der Spiegel, der sich bewegte? Sie unterdrückte einen Aufschrei. Aus der Tür trat – Exzellenz von Litzenberg, und er grinste so höhnisch, daß Lilla das Blut in den Adern erstarrte.
Niemand außer ihr beachtete ihn. Anna war mit den Karten beschäftigt und meinte nur ärgerlich: »Mach doch die Fenster zu, Georgia, lieber soll es nach Essen riechen, als daß der Wind das Porzellan zerschlägt.« Georgia rührte sich nicht von der Stellt. Nein, es war keine Täuschung – der schwere Kristallspiegel bewegte sich. Er schwankte – er würde auf Georgia stürzen. Lilla wollte sie warnen, wollte sie anschreien, doch nur ein Krächzen kam aus ihrer Kehle. Sie sah Georgia schon unter den Scherben des Spiegels begraben – als Litzenberg Georgia einen heftigen Stoß versetzte, Sie stolperte und fiel zur Seite. Der Spiegel stürzte dicht neben ihr krachend zu Boden. Anna schrie vor Schreck laut auf. Lilla lief zu Georgia hin, die wie ohnmächtig auf der Erde lag. Litzenberg war verschwunden. »Georgia!« rief Lilla. »Um Himmels willen – ist Ihnen etwas geschehen?« Timothy stürzte herein. Er hatte das Getöse gehört. Er rannte von Fenster zu Fenster und schloß die schweren Flügel. Der Wind beruhigte sich so plötzlich, wie er gekommen war. Dann herrschte Totenstille. Georgia richtete sich mühsam auf, ohne jedoch Lillas Hilfe in Anspruch zu nehmen. »Das war Litzenberg«, flüsterte sie haßerfüllt. »Tun Sie Exzellenz nicht unrecht, Georgia«, rief Lilla. »Wenn er Sie nicht zur Seite gestoßen hätte, wäre der Spiegel auf Sie gestürzt.« »Soll ich mich vielleicht noch bei ihm bedanken?« Georgia lachte schrill. Ihr Haar, ihr Kleid, alles war in Unordnung geraten, sie sah auf einmal gar nicht mehr so gepflegt und gelassen aus wie sonst.
»Exzellenz war da und ich habe ihn nicht gesehen?« rief Anna enttäuscht. Timothy bekreuzigte sich. Er hatte eine panische Angst vor dem Gespenst, obwohl dieses ihm noch nie etwas getan hatte. »Keine Stunde bleibe ich länger in diesem Spukhaus«, schrie Georgia außer sich. »Ich halte das nicht mehr aus!« »Wo willst du denn hin?« fragte Anna verblüfft. »Egal wohin – nur fort von Richmond-Castle!« Georgia lief zur Tür. Unter jedem ihrer Schritte knirschten die Scherben des Kristallspiegels. »Ich glaube, sie meint es ernst!« rief Anna. »Sie will wirklich fort von Richmond-Castle.« Timothy begann, die Scherben zusammenzuräumen. »Vielleicht sollten Sie sich erst um das Kaminfeuer kümmern«, schlug Lilla vor. »Der Wind hat die Flammen erstickt. Es wird schnell kalt werden.« »Sehr wohl, Miss Warren.« Der Butler machte sich an die Arbeit. »Sie haben recht, Lilla, ich – friere schon – schrecklich«, stammelte Anna. »War er wirklich da? Ich meine – Sie haben Exzellenz gesehen? Er hat Georgia das Leben gerettet?« Lilla nickte. Warum hat er das getan, überlegte sie. Wollte er keinen weiteren Mord auf sein Gewissen laden? Wollte er Georgia vielleicht nur einen Schrecken einjagen, um sie von Richmond-Castle fortzutreiben? Und Georgia verließ Richmond-Castle noch in der gleichen Stunde. »Auf Nimmerwiedersehen!« sagte sie zu Lord, Percy, den sie in seinem Arbeitszimmer aufsuchte. »Das war der letzte Streich, den dieses Gespenst mir gespielt hat.« »Und wo willst du hin?« fragte Lord Percy so verblüfft wie zuvor Anna.
»Mein mütterliches Erbteil liegt noch auf der Bank in Aberdeen«, antwortete Georgia kühl. Sie hatte sich jetzt wieder in der Gewalt. Sie war eisern entschlossen, die Flucht aus dem Spukhaus zu ergreifen. »Tut mir leid, du mußt sehen, wie du mit Anna zurechtkommst. Du hast ja jetzt Miss Warren! Ich habe mehr als genug von diesem alten Schloß, in dem man von Gespenstern bedroht wird und seines Lebens nicht sicher ist!« »Was willst du tun?« rief Lord Percy nun doch bestürzt. »Keine Ahnung. Es wird mir schon etwas einfallen! Mein Erbe ist nicht groß, aber es wird für eine Weile reichen.« Sie streifte ihre Handschuhe über. »Natürlich bleibe ich nicht in Aberdeen. Ich will fort aus Schottland. Nach Rom oder Madrid oder Malaga, egal wohin – wenn ich nur aus diesem gräßlichen Nebel fortkomme.« »Dann bleibt mir wohl nichts anderes, als dir eine gute Reise zu wünschen, Georgia.« »Freundlicherweise könntest du mir noch die Kutsche und die Pferde zur Verfügung stellen«, antwortete sie spöttisch. »Wenn wir uns beeilen, erreiche ich den Fünf-Uhr-Zug nach Aberdeen.« »Willst du dich nicht von Anna verabschieden?« »Nein. Sie ist bei Miss Warren gut aufgehoben!« erklärte Georgia. »Ach ja – und wenn er wiederkommt, dann grüße Exzellenz von mir!«
*
Der Geist Exzellenz von Litzenbergs kam die nächsten Tage und Wochen nicht wieder. Lord Percy hatte keine Gelegenheit, ihm Georgias höhnische Abschiedsgrüße auszurichten.
Und er hätte es wohl auch nicht getan, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Er hatte anderes und Wichtigeres zu tun. Lord Percys Arbeitseifer war ungeheuer. Er entwickelte ein beachtliches Organisationstalent, und Mary Winterhill zögerte nicht, ihm finanziell tatkräftig unter die Arme zu greifen. »Damit Richmond wieder die blühende Grafschaft wird, die es früher einmal gewesen ist!« erklärte sie dazu. Der Nebel verflüchtigte sich, und endlich hielt der Frühling auch im hohen Norden Einzug. Nach einem Gespräch mit Lord Percy erteilte Lilla die Anweisung, daß die schwarzen Tücher von den Spiegeln abgenommen wurden. »Es ist kein wirksamer Schutz gegen Exzellenz«, meinte sie. Doch obwohl das Gespenst von Richmond-Castle die Möglichkeit gehabt hätte, aus Spiegeln herabzusteigen – es geschah nichts. Manchmal hatte Lilla jedoch das beklemmende Gefühl, daß die Ruhe nur trügerisch und mit einer Stille vor dem Sturm vergleichbar war. Exzellenz von Litzenberg, dessen war sie sicher, bereitete einen neuen Auftritt vor. Manchmal hatte Lilla Heimweh nach Warren-House. Doch ließ sie sich nichts davon anmerken. Anna war so glücklich, daß Lilla nun, wie sie hoffte, für immer auf Richmond bleiben würde. Nach Georgias spektakulären Fortgang ergab es sich ganz von selbst, daß Lilla die Zügel der Hauswirtschaft ergriff, und sie verstand es, sich Autorität zu verschaffen, ohne unangenehm und rechthaberisch wie Georgia zu werden. Die Trauer um ihren Vater verdunkelte für Lilla die sonnigen Frühlingstage. Sie konnte es immer noch nicht fassen, daß er sie allein gelassen hatte.
Glücklicherweise hatte sie so viel zu tun, daß ihr keine Zeit blieb, ihrer Trauer nachzuhängen. Ein frischer Wind wehte durch das alte Schloß. Lilla zögerte auch nicht, einiges zu verändern, und Lord Percy ließ ihr vollkommen freie Hand. Das geborgte Pferd des Doktors, mit dem der alte Tobias nach Richmond gekommen war, ließ Lord Percy durch einen jungen Burschen zurückbringen. Lilla sehnte sich danach, einmal das Grab ihres Vaters zu besuchen. Doch sie wagte es nicht, Lord Percy um Urlaub zu bitten, weil sie Anna nicht allein lassen wollte. Das gelähmte Mädchen war nun, wo Georgia fort war, so ganz und gar auf sie angewiesen. So oft sie Zeit erübrigen konnte, saß Lilla mit Anna zusammen an dem Flügel in ihrem Zimmer – und nie wiederholte sich das schreckliche Geschehen, das Lilla in der Nacht ihrer Ankunft auf Richmond-Castle in Angst und Schrecken versetzt hatte. Lord Percy verhielt sich ihr gegenüber äußerst zurückhaltend. Wenn er sich in manchen Dingen ihren Rat erbat und viele geschäftliche Angelegenheiten mit ihr besprach, ergab sich daraus nie die Vertrautheit, die Lilla insgeheim ersehnte. Sie machte sich nichts mehr vor: Sie hatte sich in den jungen Lord von Richmond verliebt, und genau wie Exzellenz es ihr prophezeit hatte, ersehnte sie sich nichts mehr, als daß Lord Percy sie in seine Arme nehmen würde. Leider geschah nichts, das sie auch nur zu bescheidenen Hoffnungen berechtigte. Lord Percy ging ganz in seiner Arbeit auf. Er schien kein anderes Ziel mehr vor Augen zu haben, als Richmonds Wohlergehen. Eines war erstaunlich, und es fiel nicht nur Lilla auf. Seit Lord Percy arbeitete, war er lange nicht mehr so mürrisch wie früher. Er fand hin und wieder ein Lächeln, und nicht selten scherzte er sogar.
»Das kommt sicher daher, daß er früher unzufrieden gewesen ist«, sagte Anna einmal zu Lilla. »Das ewige Nichtstun hat ihm keinen Spaß mehr gemacht, und er hatte immer so schlimme Sorgen.« Nun, die hatte er immer noch! So schnell konnte man das Blatt nicht wenden. Zu lange war nichts geschehen. Die vielen Jahre, in denen Richmond dem Verfall preisgegeben gewesen war, ließen sich nicht in wenigen Wochen aufholen. Immer wieder sah er sich neuen Schwierigkeiten gegenüber, mußte er mit unerwarteten Widerständen kämpfen. Doch sein Eifer erlahmte nicht. Mit Marys tatkräftiger Unterstützung gelang es ihm, wieder Arbeitskräfte nach Richmond zu holen, und nach einer Weile war die Grafschaft nicht mehr so öde, wie zu der Zeit, als Lilla eingetroffen war. Viele Hände regten sich, um Verfallenes aufzurichten, Neues zu schaffen. Es sprach sich bald herum, daß jeder, der arbeitswillig war, in Richmond eine Chance hatte. Auch die Arbeit in den Kohle- und Erzgruben wurde wieder aufgenommen. Erste zaghafte Erfolge stellten sich ein. Von Georgia trafen während dieser Zeit zwei Kartengrüße ein. Eine Karte kam aus London, und sie schrieb, daß sie die Absicht habe, sich nach Amerika einzuschiffen. Die zweite Karte kam aus New York. Georgia teilte mit, daß sie eine Ehe schließen werde, die ihre Erwartungen erfülle. Wer von Adel ist, schrieb sie, hat die Wahl zwischen den Reichen und Mächtigen. Nun, ich habe gewählt. Ich habe meinen Entschluß nicht bereut, Schottland zu verlassen. Um nichts in der Welt möchte ich noch einmal zurück nach Richmond-Castle. Sagt Exzellenz meinen verbindlichen Dank dafür, daß er mich aus dem Spukhaus getrieben hat. Inzwischen war es Sommer geworden.
Es war warm. Die Sonne schien jeden Tag, als wolle auch sie dazu beitragen, daß Lord Percys tapferes Werk gelang. Das Korn auf den Feldern stand hoch, die Früchte reiften. Es war ein gesegnetes Jahr. Manchmal dachte Lilla, daß alles, was sie bei ihrer Ankunft erlebt hatte, nur ein böser Traum gewesen war, und sie begann zu hoffen, daß der Geist Exzellenz von Litzenbergs nie mehr in Erscheinung treten würde. Doch sie sollte sich irren… Lord Percy war unterwegs, um mit seiner Bank in Aberdeen neue Kreditbedingungen auszuhandeln. Er wollte erst in einigen Tagen zurückkommen, weil er fürchtete, daß die Verhandlungen schwierig sein und sich länger hinziehen würden. Es war sehr heiß. Anna litt unter der Hitze. »Da ist mir beinahe der Nebel lieber«, seufzte sie. »Und wenn der Nebel wallt, jammerst du nach Sonnenschein!« Lilla lachte. Sie hatten sich längst auf das schwesterliche »Du« verständigt. Es war an diesem Tag drückend und schwül. Lilla befürchtete, daß sich ein Unwetter zusammenzog. Sie beobachtete Anna mit heimlicher Besorgnis, hütete sich jedoch davor, Mitleid zu zeigen. Sie war manchmal sogar recht energisch mit Anna, bestand darauf, daß diese die ärztlichen Verordnungen strikt einhielt, täglich gymnastische Übungen machte und ihre Medizin einnahm. Georgia war in dieser Hinsicht, wie sie bald merkte, etwas nachlässig gewesen. »Sie hat eben nie Zeit dazu gehabt«, meinte Anna entschuldigend. Lilla nahm sich die Zeit! Und allmählich zeigten sich erste Erfolge ihrer Bemühungen. Anna hatte mehr Appetit, sie schlief besser, und sie war auch in der Lage, sich für kurze Zeit
auf ihren Beinen zu halten. Nur mit den Gehversuchen haperte es noch. Anna verlor auch schnell den Mut. Sie gab auf, ehe sie es recht versucht hatte. Nach dem Lunch wollten die beiden Mädchen an diesem Tag ein wenig an die frische Luft. »Bei dieser Hitze?« stöhnte Anna. »Im Haus ist es auch nicht viel besser«, behauptete Lilla. Sie wurden, als sie das Schloß gerade verlassen wollten, von Timothy aufgehalten. »Da sind ein paar Frauen, Miss Warren. Sie wollen wissen, ob sie zur Ernte Arbeit auf Richmond finden könnten?« Lord Percy hatte keine ausdrücklichen Weisungen hinterlassen. Lilla mußte allein entscheiden. Allerdings konnte sie der Zustimmung des Schloßherrn ziemlich sicher sein. »Ich werde mit den Frauen reden. Anna – fährst du schon voraus? Ich komme gleich nach?« Anna war nicht begeistert, fügte sich jedoch. Lilla verhandelte im Schloßhof mit den Frauen. Anna wartete eine Weile vor der Auffahrt. In der prallen Sonne war es unerträglich. Der Himmel hatte sich grellblau gefärbt. Wir werden heute bestimmt noch ein Gewitter kriegen, dachte Anna. Sie setzte ihren Rollstuhl in Bewegung. Sie hatte plötzlich eine Idee! Lilla sollte sich wundern, wie selbständig sie schon geworden war. Seit langem zog es sie wie magisch zu der Gelben Villa hinüber. Aber Lilla war nie bereit gewesen, mit ihr zu kommen. »Was willst du denn in dem ausgebrannten Gemäuer?« fragte sie jedesmal ungehalten. »An der Gelben Villa ist wirklich nichts besonderes mehr.« Genau davon wollte Anna sich selbst überzeugen.
Der Weg war zunächst eben und machte ihr keinerlei Schwierigkeiten. In dem Wäldchen mit seinen verkrüppelten Bäumen war es wenigstens schattig. Anna drehte hastig an den Rädern ihres Rollstuhls. In rascher Fahrt ging es voran. Sie hatte schon so viel von der Gelben Villa gehört, daß sie vor Neugier darauf brannte, das geheimnisvolle Haus endlich mit eigenen Augen zu sehen. Ein dumpfes Grollen war in der Luft. Die Sonne schien noch, doch ihr Glanz wurde fahl, und dicke Wolken zogen am Himmel auf. Anna störte das wenig. Sie genoß ihre neue Selbständigkeit. Georgia hatte ihr nie erlaubt, den Rollstuhl außerhalb des Hauses selbst zu steuern. Es war herrlich! Und die großen Räder mit den dicken Gummireifen rollten wie von selbst. Anna merkte nicht, daß der Weg etwas abschüssig wurde. Wind kam auf. Er kam von hinten und trieb den Rollstuhl noch mehr an. Erst jubelte Anna. Doch dann erfaßte sie eisiger Schrecken. Zwischen den Schilfgräsern, zwischen Sand und Morast glitzerte wie ein tückisches Auge der morastige See. Die Frösche quakten, und dieses Quaken klang unheimlich in Annas Ohren. Sie hatte auf einmal furchtbare Angst und bereute, daß sie sich allein so weit fortgewagt hatte. Und Lilla wußte nicht einmal, wohin sie gefahren war. Der erste fahle Blitz zuckte auf. Anna versuchte, den Rollstuhl anzuhalten. Die Bremsen funktionierten nicht wie gewohnt, weil die Räder zu tief im Sand steckten, aber sie rollten unentwegt weiter. Verzweifelt versuchte Anna, dem Rollstuhl eine andere Richtung zu geben. Doch auch die Steuerung versagte, obwohl Anna sonst sehr gut damit umgehen konnte. Sie gehorchte ihr einfach nicht. Das glitzernde, tiefe Tümpelloch kam näher und näher. Der Rollstuhl fuhr darauf zu und Anna konnte nichts dagegen tun.
Panik erfaßte das gelähmte Mädchen. Anna war völlig hilflos. Sie schrie nach Lilla. Doch der Wind trug ihre Stimme in eine ganz andere Richtung. Selbst wenn Lilla schon nach mir sucht, sie wird mich hier nicht vermuten, dachte Anna, während der Rollstuhl auf den gefährlichen, tiefen Tümpel zurollte.
*
Lilla wurde mit den Frauen rasch handelseinig. Sie stellten annehmbare Bedingungen. »Wir sind froh, daß wir wieder daheim sind«, sagte eine alte Bäuerin, und sie strahlte über ihr runzeliges Gesicht. »Es ist kein Leben mehr gewesen hier. Doch in der Fremde sind wir nie heimisch geworden. Als wir gehört haben, daß es in Richmond wieder aufwärts geht, sind wir gleich zurückgekommen.« »Unsere Männer arbeiten in den Gruben«, berichtete eine der jungen Frauen. »Sie hatten Arbeit in Glasgow, doch als sie hörten, daß es in Richmond wieder Arbeit gibt, waren sie nicht mehr zu halten.« »Da ist noch etwas«, meinte die Alte. »Nicht, daß wir uns fürchten, denn er hat uns nie Böses getan. Doch ein wenig unheimlich ist es schon.« Sie dämpfte ihr Stimme. »Exzellenz? Spukt er noch herum?« »Schon eine ganze Weile nicht mehr«, antwortete Lilla. »Wollen wir hoffen, daß er seinen Frieden gefunden hat.« Die Alte wiegte den Kopf. »Ob er den jemals findet, nach all dem, was er verbrochen hat?« »Einmal ist jede Schuld gesühnt«, meinte Lilla. »Er spukt seit einhundertsieben Jahren. Das ist eine lange Zeit.«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Vieles, was er getan hat, mag zu seiner Zeit kein Verbrechen gewesen sein. Er hat die Armen geschunden, er hat Zölle und Steuern erbarmungslos eintreiben lassen, und wer ihm im Weg stand, den hat er auf seine Weise abgeräumt!« . Sie machte eine bezeichnende Geste, indem sie sich mit der flachen Hand über den Hals fuhr. »Man mag sagen, er hat das alles für die Richmonds getan. Nur diese eine Sache, die hatte mit den Richmonds nichts zu tun. Da hat er aus schierer Eifersucht gemordet, und er hat das arme Mädchen auf grausame Weise umgebracht.« Lilla horchte auf. »Davon weiß ich nichts. Es interessiert mich. Was war das für ein Mädchen?« »Eine junge Polin. Eine Musikantin«, antwortete die alte Bäuerin zögernd. Sie redete offensichtlich nicht gern über diese Geschichte. Sie flüsterte nur noch. »Glaube schon, daß Sie nichts davon wissen, Miss. Die kennen nur die Alten noch, aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Es ist ja alles vertuscht worden, seinerzeit, denn für diesen Mord wäre Exzellenz an den Galgen gekommen! Das Mädchen war Musiklehrerin bei den Richmonds. Er hat sich in sie verliebt, obwohl er gut und gern ihr Vater hätte sein können. Doch die junge polnische Lady, sie soll hinreißend schön gewesen sein, verliebte sich in den jungen Lord von Richmond. Die beiden hatten eine heimliche Affäre…« »In der Gelben Villa«, ergänzte Lilla, als die Alte verstummte. »Sie sagen es, Miss. Ja, in der Gelben Villa. Die ist schon zu alten Zeiten das heimliche Liebesnest der Grafen Richmond gewesen, wenn sie ihrer Ehefrauen überdrüssig waren, was meist schnell der Fall gewesen ist. Sie haben reiche Frauen geheiratet, ohne daß Liebe im Spiel war.«
Sie unterbrach sich kurz. Dann fuhr sie fort: »Der junge Lord ließ seiner schönen, polnischen Geliebten sogar einen Flügel in die Gelbe Villa bringen. Exzellenz versuchte alles, um die Idylle zu zerstören. Er war von einer Leidenschaft erfaßt worden, die wie ein Feuer in ihm brannte. Dieses Feuer hat ihm den Verstand geraubt. Als er mit seinen Bemühungen nicht zum Ziel kam, wurde er rasend vor Eifersucht. Und eines Nachts, als die junge Polin allein war und auf dem Flügel spielte…« Sie brach abermals ab und verstummte, als scheue sie sich davor, weiterzusprechen. Die jungen Frauen machten auch betretene Gesichter und bedeuteten der Alten, doch den Mund zu halten. »Bitte, sagen Sie mir, was geschehen ist«, bat Lilla. »Es ist sehr wichtig für mich, das zu erfahren. Ich – ich bin auch polnischer Abstammung«, gestand sie zögernd. »Meine Mutter war Polin. Und ich bin auch Musiklehrerin auf RichmondCastle.« Die Alte wurde blaß und schlug ein hastiges Kreuz. »Wenn das so ist, Miss – dann – ja, dann müssen Sie wissen, was damals in der Gelben Villa geschah. Damit Sie auf der Hut sind.« Sie beugte sich ein wenig vor und flüsterte Lilla zu: »Sie soll eine sehr traurige Melodie gespielt haben, eine Romanze, wie man sich erzählt. Plötzlich sah sie in dem ovalen Spiegel, der über dem Flügel hing, wie die Tür sich bewegte und Exzellenz von Litzenberg eintrat. Er soll versucht haben, sie zu umarmen, und als sie sich widersetzte, hat er mit einem Dolch auf sie eingestochen, bis sie blutüberströmt über den Tasten des Flügels zusammenbrach.« Die Sonne verschwand. Gespenstische Dämmerung breitete sich aus.
Es sind nur Wolken aufgezogen, sagte sich Lilla, ein Unwetter wird kommen. Der Wind, der über das Moor wehte, war kalt. Es fröstelte sie. »Komm, Mutter«, sagten die jungen Frauen. »Du redest zuviel. Du hast die Miss erschreckt.« »Danke«,sagte Lilla zu der Alten. »Danke, daß Sie es mir gesagt haben.« Auf einmal stand sie allein. Die Frauen eilten davon, bevor das Unwetter losbrach. Lilla fühlte sich furchtbar elend. Die Geschichte, die ihr die Alte erzählt hatte, wühlte sie zutiefst auf. Angst stieg in ihr hoch. Ein unerklärliches Bangen und eine grausame Unruhe packten sie. Ich muß mich zusammennehmen, befahl sie sich. Ich muß zu Anna. Ich habe sie viel zu lange warten lassen. Sie wird schon ungeduldig sein. Der Wind wurde stärker, und am Himmel zogen schwarze Wolken auf. Lilla lief aus dem Schloßhof. Die Auffahrt war leer. Der Rollstuhl war verschwunden! Panik packte sie. Wo war Anna? Sie rief nach ihr. »Anna! A-n-n-a!« Keine Antwort. Sie überlegte fieberhaft, wohin das Mädchen sich gewandt haben könnte. Und plötzlich, es war wie eine Eingebung, dachte sie: Anna ist zur Gelben Villa gefahren!
*
Lilla rannte los. In dem kleinen Wald mit den verkrüppelten Bäumen war es unheimlich still. Der Wind heulte Lilla höhnisch ins Gesicht.
Sie schrie nach Anna. Immer wieder rief sie ihren Namen. »Anna! Anna!« Erste, fahle Blitze zuckten auf. In der Ferne grollte Donner. Das Unwetter zog rasch näher. Lilla klopfte das Herz bis in den Hals hinauf. Sie lief, so schnell ihre Beine sie trugen. Und plötzlich, als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt und den Tümpel fast erreicht hatte, sah sie den Rollstuhl. Sie sah Anna, die verzweifelt kämpfte, um den Stuhl auf dem abschüssigen Weg zu stoppen oder die Richtung der Räder zu ändern. Es war wie in einem furchtbaren Alptraum. Lilla hatte das schreckliche Gefühl, daß ihre Füße trotz aller Anstrengung einfach nicht vorwärts kamen. Sie wollte schreien. Doch sie brachte keinen Laut über die Lippen. Ein greller Blitz. Ein krachender Donnerschlag. Die Erde bebte, als wollte sie sich auftun. Und plötzlich, mitten aus dem zuckenden Widerschein des Blitzes, aus dem Tosen des Donners löste sich eine düstere Gestalt. Exzellenz, dachte Lilla, und eine grenzenlose Erleichterung überkam sie. Er wird Anna helfen! Er muß es tun! Exzellenz, schrie sie in stummem Flehen. Helfen Sie! Helfen Sie Anna! Kein Ton kam aus ihrer Kehle. Und dennoch schien Litzenberg sie zu hören, denn er wandte langsam den Kopf zu ihr hin. Er sah verändert aus, unendlich müde und traurig. Das teuflische Grinsen war verschwunden. Er rührte sich nicht von der Stelle – und dennoch, Lilla sah es mit eigenen Augen, wie die Räder des Rollstuhls plötzlich zur Seite drehten und allen Gesetzen der Schwerkraft zum Hohn hügelan rollten, der Gelben Villa zu.
Auf einmal konnte sie sich wieder bewegen. Sie lief, und sie kam vorwärts. Sie rannte, bis sie zu der Stelle kam, an der Exzellenz regungslos verharrte. »Danke«, stammelte sie. »Danke, Exzellenz. Sie haben Anna das Leben gerettet!« Tränen rannen ihr über die Wangen. Er sah sie an, und in seinen Augen stand alles Leid dieser Welt geschrieben. »Werden Sie glücklich, Lilla«, sagte er leise. »Leben Sie wohl.« Seine Gestalt löste sich auf. Es war sonderbar. Sonst war er immer einfach verschwunden. Jetzt sah Lilla ganz deutlich, wie er sich zurückzog. Es war, als löse er sich in unzähligen, flimmernden Lichtpünktchen auf, die vor ihren Augen auf und ab tanzten, immer noch die düstere Gestalt bildend, bis sie schwächer wurden, erloschen. Eine unendliche Traurigkeit erfüllte Lillas Herz. Sie weinte, und das Herz wollte ihr brechen vor Weh und Schmerz. Sie glaubte, daß eine Ewigkeit verging, bis sie Annas Stimme hörte. »Lilla! Lilla, hier bin ich! Hier bei der Gelben Villa!« Sturm kam auf. Er fiel Lilla in den Rücken und trieb sie vorwärts. Zitternd erreichte sie Anna. »Es war schrecklich«, stammelte das Mädchen, und die Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Ich habe dich rufen hören, aber ich konnte dir nicht antworten. Der Rollstuhl – der Tümpel – ich habe eine wahnsinnige Angst gehabt…« »Es ist jetzt alles gut, Kleines«, tröstete Lilla. »Beruhige dich doch.« »Auf einmal – ich kann es nicht erklären – ich war wie erstaunt. Ich konnte nichts mehr tun. Der Rollstuhl schob sich wie von selbst den Hügel hinauf! Oh, Lilla! Ich habe den Tod so nahe vor Augen gehabt und plötzlich – war ich gerettet – « Der Himmel öffnete seine Schleusen. Der Regen prasselte auf sie nieder.
Lilla schob den Rollstuhl über die Schwelle des Hauses. »Hier sind wir in Sicherheit«, sagte sie. »Hier können wir das Unwetter abwarten.« Der Sturm fegte durch die zerbrochenen Fenster in das ausgebrannte Haus und peitschte den Regen herein. Lilla schob den Rollstuhl weiter. In dem Boudoir, so erinnerte sie sich, war nur ein kleines Fenster. Vielleicht fanden sie dort mehr Schutz? Wie damals, als sie hier gewesen war, roch es nach Brand und Asche in dem kleinen Raum. Lillas erster Blick galt dem ovalen Spiegel, und sie zuckte zurück. Er hing noch an der Wand, wie damals. Doch er war blind. Es war, als sei das Leben aus ihm gewichen. Das Kristall war wie tot. Anna weinte in Lillas Armen. Das Mädchen war völlig verstört. Lilla versuchte, Anna zu beruhigen. »Dieses Unwetter kann nicht ewig dauern. Wenn es vorbei ist, fahren wir ins Schloß zurück. Ich koche dir einen heißen Tee und packe dich in dein warmes Bett. Du wirst schlafen und vergessen, und morgen wird bestimmt wieder die Sonne scheinen.« Allmählich beruhigte sich Anna. Doch sie zitterte immer noch wie Espenlaub und klammerte sich ängstlich an Lilla. Das Unwetter tobte sich aus. Der Regen rauschte in dichten Wasserschleiern herab. Nach einer Weile, als das Schlimmste vorbei schien, sagte Lilla: »Ich werde nachsehen, ob wir bald zurück können, Anna.« »Laß mich nicht allein!« flehte Anna, »Bitte, bleib hier!« »Nur einen Augenblick, Anna! Ich bin gleich wieder da!« Lilla lief zur Tür und zuckte zurück. Das Erdreich war aufgeweicht, der Sand fortgeschwemmt, und der morastige Grund tauchte an die Oberfläche. Das Moor, dachte Lilla entsetzt. Wir kommen nie mehr mit eigener Kraft zum Schloß zurück. Ihr Herz hämmerte wie
rasend. Brodelnd und gurgelnd stiegen Wasserblasen aus der aufgewühlten Erde. Lilla flüchtete in das Boudoir zurück. Sie zwang sich mit aller Gewalt zur Ruhe. »Es wird noch eine Weile dauern. Wir sind hier sicher aufgehoben. Wenn wir durch diesen Regen gehen, werden wir bis auf die Haut naß.« Anna sah sie an und flüsterte: »Das Moor, nicht wahr? Das Moor ist gekommen. Manchmal, wenn starke Wetter niedergehen, wird es lebendig. Oh, Lilla! Das Moor wird uns verschlingen!« »Es hat anderes zu tun!« Lilla zwang sich zu einem unbefangenen Ton. »Es verschlingt Sand, Steine und Geröll. Doch es wird zurückgehen, und wir werden von hier fort können.« Sie glaubte selbst nicht an das, was sie sagte. Anna weinte still vor sich hin. Lilla suchte fieberhaft nach einem rettenden Ausweg. Aber ihre Gedanken irrten im Kreis herum. Durch den tiefen Morast konnten sie mit dem Rollstuhl nicht zurück. Sie bezweifelte, ob sie es allein geschafft und ob der schwankende Grund sie getragen hätte. Anna konnte nicht aus eigener Kraft gehen, und tragen konnte sie sie nicht. Sie ging wieder hinaus und versuchte zu ergründen, ob hinter dem Haus eine Möglichkeit war, hügelan zu entkommen. Der Abhang war steil. Es war unmöglich, hier einen Rollstuhl hinauf zuschieben. »Gib es auf, Lilla«, sagte Anna, als sie zurückkam. »Wir sind hier gefangen. Wir kommen nie mehr hier hinaus! Und ich bin schuld daran!« »Niemand ist schuld«, widersprach Lilla fest. »Du hast versucht, dich selbständig zu machen, und das war gut und richtig so. Es wird schon alles einen Sinn haben. Wir dürfen
nicht verzweifeln. Wir müssen warten, bis eine Rettung kommt.« Die Zeit verrann unendlich langsam. Das Gewitter verzog sich. Doch der Regen ließ nicht nach. Alimählich wurde es dunkel. Anna war vor Erschöpfung eingeschlafen. Lilla saß still bei dem gelähmten Mädchen. Was hat das nun alles für einen Sinn, fragte sie sich. Was für Zusammenhänge bestehen, die wir nicht zu erkennen vermögen? Sie wußte, daß sie das Gespenst nie mehr wiedersehen würde. Es hätte uns vielleicht heraushelfen können, dachte sie, so wie es Georgia gerettet und Anna geholfen hat. Verzweiflung überkam sie. Es hatte sich alles, wie es schien, zum Guten gefügt. Sollte dies nun das Ende sein? Ein furchtbares, grauenvolles Ende? Es war draußen schon stockfinster, und sie hatte die Hoffnung aufgegeben. Sie war nur dankbar dafür, daß Anna schlief, und daß sie nichts von diesen Schrecknissen miterlebte. Da hörte sie plötzlich ihren Namen. »Lilla! Lilla!« Es war keine Täuschung. Jemand rief ihren Namen. Und sie kannte die Stimme. Es war Lord Percy. Sie rannte zur Tür und gab Antwort. »Hier sind wir. In der Gelben Villa.« Als er vor ihr stand, begriff sie es nicht. Sie war halb von Sinnen von durchlittener Not und Erleichterung. Er war mit Laternen und mit einigen kräftigen Burschen über den Hügel gekommen. »Ich denke – Sie sind in – Aberdeen«, stammelte Lilla. »Da war ein Spiegel, weißt du?« sagte Lord Percy. »In dem nüchternen Konferenzzimmer der Bank hing ein Spiegel an der Wand. Und während der Verhandlung sah ich in dem Spiegel…«
»Litzenberg?« »Ja!« bestätigte Lord Percy. »Er machte mir so verzweifelte und nachdrückliche Zeichen aufzubrechen, ihm zu folgen, daß ich die Verhandlung abbrach und zurückkehrte.« »Aber das kann doch nicht jetzt erst gewesen sein?« meinte Lilla. »Gestern«, antwortete Lord Percy ernst. »Es war gestern um die Mittagszeit. So lange habe ich gebraucht, um nach Richmond zu kommen.« »Er hat schon immer im voraus gewußt, was geschehen wird«, flüsterte Lilla. Lord Percy zog sie in seine Arme und küßte sie mit inniger Zärtlichkeit. »Ich glaube, er hat auch dies gewußt«, sagte er. »Ich liebe dich, Lilla. Willst du meine Frau werden?« »Ja«, hauchte sie, überwältigt von Seligkeit. »Ja, das will ich, Liebster…«
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Über den Hügel brachten Lord Percy und seine Helfer Anna und Lilla in Sicherheit. Das Unwetter hatte keinen nennenswerten Schaden angerichtet. Nur eines war seltsam: Das Moor hinter dem verkrüppelten Wald ging nicht mehr zurück, es breitete sich weiter aus, und es verschlang die Gelbe Villa Stück um Stück, bis kein Stein mehr davon zu sehen war. Die Hochzeitsglocken läuteten für Lilla und Lord Percy. Sie wurden ein glückliches Paar. Anna war geborgen in der Harmonie einer Familie. Bald erfüllten fröhliches Lachen und Trippeln kleiner Kinderfüße das alte Schloß.
Manchmal saß Lilla bei Tobias in dessen Stübchen, und sie gedachten vergangener Zeiten und redeten von Warren-House und waren dankbar dafür, daß sie eine neue Heimat gefunden hatten. Lord Percy und Lilla waren einander in aufrichtiger Liebe zugetan. Sie fanden in ihrer Liebe Glück und Erfüllung. Die Grafschaft erblühte zu neuem Leben, und nie wieder erschien der düstere Geist Exzellenz von Litzenbergs auf Richmond-Castle.
ENDE