Leslie Charteris
Der ›Heilige‹
und Mr. Teal
Kriminalroman
Signum Taschenbücher
Umschlagentwurf: Karlheinz Weber ...
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Leslie Charteris
Der ›Heilige‹
und Mr. Teal
Kriminalroman
Signum Taschenbücher
Umschlagentwurf: Karlheinz Weber
Deutsch von Ilse Adolph
Originaltitel: The Saint and Mr. Teal
© Signum Verlag, Gütersloh
Gesamtherstellung Mohn & Co GmbH, Gütersloh
Buch Nr. 7123
Printed in Germany
In einem Hotel am Montparnasse. Ein Mann namens Jones, der schnell reich werden will, schießt auf Brian Quell, weil Binks Gold machen kann – was Chefinspektor Teal nicht einmal ahnt. Tex Goldman, ein harter Junge aus St. Louis, kommt nach London und erschreckt die Stadt mit einer tolldreisten Serie unglaublich rücksichtsloser Raubüberfälle, denen Scotland Yard machtlos gegenübersteht. Die Kajüte einer Luxusjacht, nachts, weit draußen in der Bucht, und die schöne Laura Berwick ist dem Rauschgift- und Mädchenhändler Abdul Osman ausgeliefert. Und dann greift der ›Heilige‹ ein, und wer ihn kennt, der weiß: die Herrschaften haben sich alle verrechnet… Aber wer kennt den ›Heiligen‹ nicht, den beliebtesten, seltsamsten Helden der angelsächsischen Kriminalliteratur! Beweis: Weltauflage aller Werke von Leslie Charteris 36 Millionen!
Erster Teil DER GOLDSTANDARD
I
Simon Templar landete in England, als die Nachricht von Brian Quells Ermordung auf den Straßen ausgeschrien wurde. Er las den kurzen Bericht über die Bluttat in einer Abendzeitung, die er in Newhaven kaufte, aber der Bericht fügte dem, was er bereits wußte, kaum etwas Neues hinzu. Brian Quell starb in Paris, und zwar im Suff – was er sich vermutlich selber auch ausgebeten haben würde, hätte man ihn um seine Meinung gefragt, denn er war mit seinem ganzen unnützen Wesen völlig in den Vergnügungen der leichtlebigen Seinestadt aufgegangen. Er war ein Prophet, der nicht nur in seinem eigenen Land und bei seinen engsten Anverwandten nichts galt, sondern auch im duldsamen Kreis seiner Bekannten, die ihm halfen, sein Geld auszugeben, wenn er welches besaß; und sich bemühten, ihm sowenig wie möglich zu leihen, wenn er pleite war – was an etwa dreihundert Tagen pro Jahr zutraf. Er war vor zehn Jahren als Kunststudent nach Paris gekommen, hatte jedoch längst jegliche über Atelierfeste und wallendes Langhaar hinausgehenden künstlerischen Ansprüche aufgesteckt. Wahrscheinlich war er nicht eigentlich lasterhaft; aber das Leben auf dem linken Seineufer ist wie ein heimtückisches Gift, ein unwiderstehlicher Zauber für ein Temperament wie das seine, und es war sehr leicht, im Strom mitzuschwimmen in jenen Tagen, bevor die Raubgier der patrons auf dem Montmartre die Pioniere unter den Touristen über den Fluß trieb. Man kannte ihn und weigerte sich charmant, seine Schecks einzulösen: im Dome, in der Rotonde, im Select und in den zahllosen boites-de-nuit, die um diese unangreifbaren Institutionen herum aus dem Boden schießen,
sich der schwindelerregenden Beliebtheit einer einzigen kurzen Saison erfreuen und ebenso plötzlich wieder der Vergessenheit anheimfallen. Brian Quell hatte sie alle bis zur Neige genossen. Und er starb. In der Abendzeitung stand nicht, daß er betrunken war. Aber Simon Templar wußte es, denn er war der letzte, der Brian Quell lebendig gesehen hatte. Er hörte den Schuß, als er sich gerade die Schuhe ausgezogen hatte, um sich dem hinzugeben, was von der Nachtruhe noch übriggeblieben war in dem unauffälligen kleinen Hotel in der Nähe der Gare du Montparnasse, das er sich zu seiner Zufluchtsstätte in Paris erkoren hatte. Sein Zimmer lag im ersten Stock mit einem Fenster zum schachtartigen Hinterhof, und durch dieses Fenster hörte er den scharfen Knall des Abschusses. Der Instinkt seines Berufs ließ ihn ohne einen Augenblick des Nachdenkens zum nächsten Lichtschalter springen und die Lampe ausknipsen, und auf Socken tappte er zum Fenster zurück. Inzwischen war ihm klargeworden, daß die Schüsse nicht unmittelbar mit ihm zu tun haben konnten, denn die Schüsse, die einen töten, sind die, die man nicht hört. Aber wenn es Simon Templars Art gewesen wäre, sich stets nur um seinen eigenen Kram zu kümmern, hatte man niemals irgendwelche Geschichten über ihn schreiben können. Er schwang sich über die niedrige Brüstung und spazierte leise über das flache Betondach, das das Erdgeschoß-Oberlicht umgab. Nur ein Fenster in seinem Stockwerk war erleuchtet, und dieses Fenster zog ihn so unvermeidlich an, wie es eine Motte angezogen haben würde. Und als er darauf zuging, bemerkte er, daß es außer seinem eigenen das einzige im Hof war, das man nicht fest gegen jegliches frische Lüftchen verschlossen hatte. (Frische Luft führt, wie jedermann weiß, beim schlafenden Franzosen zu den schlimmsten Folgen.) Und dann ging das Licht aus.
Simon gelangte an die dunkle Öffnung und hielt inne. Er hörte einen keuchenden Fluch, und dann gurgelte eine heisere Stimme die erstaunlichste Ansprache, die er jemals von den Lippen eines Sterbenden vernommen hatte. »Das issaber gar nich’ nett!« Ohne Verzug kletterte Simon Templar ins Zimmer. Er tastete sich zur Tür durch und knipste das Licht an, und nun erst merkte er, daß der Betrunkene im Sterben lag. Brian lag lang hingestreckt mitten auf dem Fußboden und stützte sich wackelig auf einen Ellenbogen. Auf dem Teppich neben ihm war eine Blutpfütze, und sein schmuddliges Hemd war auf der Brust rot gefärbt. Er starrte Simon benommen an. »Das issaber gar nich’ nett!« wiederholte er. Simon ließ sich neben dem Mann auf ein Knie nieder. Mit einem Blick sah er, daß Brian Quell nur noch wenige Minuten zu leben hatte, aber was so erstaunlich war: Quell wußte nicht, daß er verletzt war. Der Schock hatte ihn ganz und gar nicht nüchtern gemacht. Der Sprit, der ihm aus dem Hals dunstete, wirkte als Betäubungsmittel, und die Dämpfe in seinem Hirn hatten seine Sinne derart verwirrt, daß er solch einen Tatbestand einfach nicht mehr begriff. »Wissen Sie, wer es war?« fragte Simon sachte. Quell schüttelte den Kopf. »K-keine Ahn’n. Nie in mei’m Leb’n gesehen. Sagt, er heißt Jones. Blöder Name, was? Jones… Unner hat gesagt, Binky kann Gold machen!« »Wo haben Sie ihn getroffen, alter Junge? Können Sie mir sagen, wie er aussah?« »Weiß nich. Bin überall gewesen. Überall, wo was zu trinken gib’. Mann mittem blöden Gesicht. Nie vorher gesehen. Blöder Jones.« Der Sterbende wackelte ernst mit dem Kopf. »Und er hat was getan, das war gar nich’ nett. Wollte mich erschießen!
Issaber gar nich’ nett!« Quell kicherte vor sich hin. »Und er sagt, Binks kann Gold machen. Na, das is komisch, was?« Simon sah sich im Zimmer um. Keine Spur deutete auf den Mann namens Jones hin – nur ein Aschenbecher, der frisch ausgeleert worden war. Offensichtlich war der Mörder lange genug geblieben, um alle Beweise für seinen Besuch zu beseitigen; und ebenso offensichtlich war sein Opfer vorübergehend bewußtlos gewesen, so daß der Mörder geglaubt hatte, Quell sei bereits tot. Neben der Tür war ein Telefon, und einen Augenblick lang sah Simon zu ihm hin und überlegte, ob es wohl seine Pflicht sei, Hilfe herbeizurufen. Was er am allerwenigsten wünschte, war eine Unterredung mit einem Polizisten, und mochte er auch der argloseste der Welt sein, aber diese Erwägung wäre ihm keine Sekunde lang erwägenswert erschienen, hätte er nicht gewußt, daß alle Ärzte Frankreichs nichts mehr hätten ausrichten können bei dem Mann, der in seinen Armen starb und es nicht wußte. »Warum hat Jones versucht, Sie zu erschießen?« fragte er, und Brian Quell griente ihn mit leerem Blick an. »Weil er gesagt hat, Binks kann…« Die Wiederholung erstickte in der Kehle des Mannes. Seine Augen wanderten blöde über Simons Gesicht; dann weiteten sie sich: Zum ersten- und letztenmal ging ihm atemberaubend die Wahrheit auf, nur eine grauenhafte, stumme Sekunde lang vor dem Ende… Simon las den Namen des Toten von dem Schneideretikett auf der Innenseite seiner Brusttasche ab und ging leise in sein Zimmer zurück. Die anderen Fenster um den Hof herum hüllten sich weiterhin in Dunkelheit. Falls sonst noch jemand den Schuß gehört hatte, mußte er ihn wohl einem vorbeifahrenden Taxi zugeschrieben haben, aber es besteht ein Unterschied zwischen dem Husten eines Automotors und dem
Knall einer Pistole, den das geübte Ohr niemals überhört. Wäre Simon Templar dieser feine Unterschied nicht so sehr vertraut gewesen, hätte man vielleicht einen Meisterstreich in die Annalen des Verbrechens eingeschrieben, unter dem Europa von einem Ende zum anderen erbebt wäre – aber so weit in die Zukunft sehen konnte Simon Templar in dieser Nacht nicht. Er reiste früh am nächsten Morgen von Paris ab. Es war unwahrscheinlich, daß man den Mord vor dem Nachmittag entdecken würde, denn es gehörte zu den unumstößlichen Leitsätzen im Quartier, daß frühes Aufstehen ein rein spießbürgerlicher Manierismus sei, und französische Hoteliers spüren bedauernswerterweise nicht den erhabenen Drang, ihrer Klientel die Lebensform zu diktieren. Simon Templar war selten Zeuge eines gewaltsamen Todes gewesen, bei dem sein Gewissen so rein war, und doch wußte er, daß es töricht gewesen wäre, zu bleiben. Es gehörte zu den Schattenseiten seines Ruhms, daß er nicht mehr Chancen besaß, einen gutinformierten Polizisten zu überzeugen, daß er ein gesetzestreuer Bürger sei, als er Aussichten hatte, zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt zu werden. Also kehrte er nach England zurück, wo er weniger beliebt war als irgendwo sonst in Europa. Wenn es stimmt, daß es einen dunklen Drang gibt, der den Mörder an den Ort der Tat zurücktreibt, dann muß es eine unendlich wirksamere Macht gewesen sein, die Simon Templar über den Kanal auf den Schauplatz von mehr leichtherzigen Vergehen trieb, als Scotland Yard jemals zuvor vom außer Rand und Band geratenen Sinn für Humor irgendeines anderen Gesetzlosen zugemutet worden waren. Es war so viele Jahre noch nicht her, da erstmals die Idee in ihm Gestalt gewann, sein Lebenswerk darin zu sehen, daß er in den Augen der Öffentlichkeit zu so etwas wie einer Institution wurde, und doch war in diesem kurzen Zeitraum sein Dossier
im Archiv von Scotland Yard zu einer heiteren Saga der Gesetzlosigkeit angeschwollen, die Chefinspektor Claud Eustace Teal sprachlos machte, wenn er nur daran dachte. Die lachhafte kleine Zeichnung eines Strichmännchens mit Heiligenschein, diese unverschämte Unterschrift, mit der Simon Templar all seine Verbrechen abzeichnete, hatte die Angst vor dem ›Heiligen‹ bis in die letzten Außenposten der Unterwelt um sich greifen lassen und rüde das geruhsame Wiederkäuen all jener hochberühmten Angehörigen des CID gestört, die sich bis dahin begnügt hatten, ihre Beschäftigung als Gesetzeshüter dadurch zu rechtfertigen, daß sie sich in dem altehrwürdigen Sport vervollkommneten, arglose Ladeninhaber dazu zu verführen, daß sie ihnen eine Minute nach der gesetzmäßig für solche Transaktionen vorgesehenen Zeit eine Tafel Schokolade verkauften. Den »Robin Hood der modernen Kriminalgeschichte« nannte man ihn in den Schlagzeilen und pries seine Tugenden in denselben Artikeln, in denen der CID verhöhnt wurde, weil es immer noch nicht gelungen war, ihn zur Strecke zu bringen – was wieder einmal beweist, was Zeitungen für die Demokratie zu leisten vermögen. Es war zu einem festen Bestandteil des Weltgeschehens geworden. Er war das Symbol für eine Rache, die schnell und ohne Erbarmen zuschlug, für einen fröhlichen Trotz gegenüber allem Langweiligen, allem Tagtäglichen. »Es ist nicht meine Schuld«, erklärte Chefinspektor Teal düster in einer Unterredung mit dem ihm vorgesetzten Kriminalrat. »Wir sind nicht in der Klasse, in der der ›Heilige‹ operiert, und eines Tages werden wir’s wohl zugeben müssen. Wenn England eine Republik wäre, sollten wir ihn zum Diktator machen und uns schlafen legen.« Der Kriminalrat runzelte die Stirn. Er war einer der letzten Überlebenden aus der alten militärischen Schule von Polizeihäuptlingen, ein tapferer Soldat von lauterem Charakter.
Aber er litt unter dem Nachteil, daß er von berufsmäßigen Gesetzesbrechern erwartete, sie würden sich ebenso gefügig zur Bestrafung einstellen wie die Gelegenheitssünder, mit denen er in Pondicherry umzugehen gewohnt war. »Vor etwa zwei Monaten«, sagte er, »erklärten Sie mir, daß die Verhaftung des ›Heiligen‹ nur noch Stunden auf sich warten lassen werde. Es hatte etwas mit illegalen Diamanten zu tun, stimmt’s?« »Stimmt«, erwiderte Teal grimmig. Er würde den Zwischenfall wohl kaum jemals vergessen. Und seine Vorgesetzten offenbar auch nicht. Kunstschütze Perrigo war der Angeklagte in dem Fall, und die Polizei hatte sich durchaus seiner versichert. Mißlich war nur, daß der ›Heilige‹ sich Perrigo vorher vorgeknöpft hatte. Perrigo war ordnungsgemäß gehängt worden an dem Morgen, an dem diese Unterredung stattfand, aber von seinen illegalen Diamanten hatte man nie wieder etwas gehört. »Es hätte möglich sein müssen, Anklage gegen ihn zu erheben«, beharrte der Kriminalrat, während er nervös an seinem eisengrauen Schnurrbart zupfte. Er mißbilligte Teals Haltung ganz und gar, aber der füllige Detektiv war ein wichtiger Mann. »Es wäre vielleicht möglich, wenn es keine Rechtsanwälte gäbe«, sagte Teal. »Wenn ich in den Zeugenstand träte und von illegalen Diamanten zu reden anfinge, würde man mich mit Gebrüll aus dem Gerichtssaal verjagen. Wir wissen, daß die Diamanten existierten, aber wer beweist das den Geschworenen? Frankie Hormer hätte ein paar Worte darüber sagen können, aber Perrigo schaffte ihn aus dem Weg. Perrigo hätte was sagen können, hat es aber nicht – und jetzt ist er tot. Und der ›Heilige‹ ist mit ihnen aus England entwischt, und damit ist die Sache erledigt. Wenn ich ihn morgen in die Finger bekäme, hätte ich absolut keine Aussicht zu beweisen,
daß er jemals irgendwelche illegale Diamanten besaß; eher könnte ich dem Papst Bigamie nachweisen. Wir könnten ihn kriegen wegen Behinderung und tätlicher Beleidigung der Polizei bei Ausübung ihrer Pflichten, aber was, um Himmels willen, soll es uns nützen, den ›Heiligen‹ wegen solcher Kinkerlitzchen vor den Kadi zu zerren? Die Zeitungsmacher in der Fleet Street würden uns auslachen, wie sie uns seit Jahren schon nicht mehr ausgelacht haben.« »Sind Sie genau unterrichtet über seinen letzten Auftritt in Deutschland?« »Ja. Und gerade gestern wurde uns durchgegeben, daß die deutsche Polizei es nicht eilig habe, Anklage zu erheben. Irgendein hohes Tier war in die Geschichte verwickelt. Damit konnte ich nicht rechnen, aber ich habe gewettet, daß der ›Heilige‹ schleunigst nach England zurückkommen und darauf warten würde, daß man versucht, ihn aus seinem eigenen Land ausgeliefert zu bekommen, damit er ihnen eine lange Nase drehen kann – den Scherz hat er sich schon einmal mit mir erlaubt.« Der Kriminalrat schnaubte verächtlich. »Und wenn er zurückkäme, würden Sie wohl noch wünschen, daß ich mich an die Spitze eines Begrüßungskomitees setze, wie?« meinte er beißend. »Ich habe alles getan, was ein Kriminalbeamter unter den gegebenen Umständen tun kann, Sir«, sagte Teal. »Wenn der ›Heilige‹ heute nachmittag zurückkäme und ich begegnete ihm auf der Schwelle dieses Gebäudes, bliebe mir nichts anderes übrig, als guten Tag zu ihm zu sagen. Sie kennen die Gesetze so gut wie ich. Wir können ihn fragen, ob seine Auslandsreise zufriedenstellend verlaufen sei und wie der Rheumatismus seiner Tante sich gemacht habe, seit er zuletzt von ihr vernommen – beileibe nichts Peinlicheres als das. Hier braucht
man keine Detektive mehr. Hypnotiseure braucht man und Gesundbeter.« Der Kriminalrat spielte mit einem Bleistift. »Wenn der ›Heilige‹ zurückkäme, würde ich ganz gewiß einige Änderungen in unserer Arbeitsmethode erwarten«, bemerkte er mit deutlicher Spitze. Und dann schnurrte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Er nahm den Hörer ab und reichte ihn dann Teal hinüber. »Für Sie, Inspektor«, sagte er kurz. Teal hielt den Hörer ans Ohr. »Der ›Heilige‹ ist wieder in England«, schepperte die Stimme in der Leitung. »Aus Newhaven wird berichtet, daß ein Mann, der nach der Beschreibung Simon Templar sein muß, heute nachmittag mit der Isle of Sheppy eingetroffen ist. Er wurde danach in einem Hotel in der Stadt aufgespürt…« »Reden Sie nicht wie eine viertklassige Zeitung mit mir!« knurrte Teal. »Was haben Sie mit ihm gemacht?« »Auf Anweisung des Chefs der Grafschaftspolizei wurde er festgenommen, und man wartet jetzt darauf, was London sagt.« Teal legte den Hörer behutsam auf die Gabel zurück. »Tja, Sir, der ›Heilige‹ ist zurückgekommen«, sagte er verdrießlich.
II
Der Kriminalrat setzte sich nicht an die Spitze eines nach Newhaven entsandten Begrüßungskomitees. Teal fuhr allein, mit gemischten Gefühlen. Ihm war gegenwärtig, daß der ›Heilige‹ ihm kurz vor dem Verlassen Englands einen Packen Auskünfte geschenkt hatte, mit deren Hilfe er mehrere Fälle hatte bereinigen können, über die man sich beim CID seit vielen Monaten vergeblich den Kopf zerbrochen hatte. Ihm war ebenfalls gegenwärtig, daß der ›Heilige‹ ihm zuvor mit der abgefeimtesten Form von Erpressung gedroht hatte, die man sich bei einem Polizeibeamten denken kann. Aber Chefinspektor Teal hatte es längst aufgegeben zu versuchen, die vielen Widersprüche miteinander zu versöhnen, die in der endlosen Fehde mit diesem Mann auf getaucht waren, der in irgendeinem anderen Lebensbereich vielleicht sein bester Freund gewesen wäre. Er fand Simon Templar, als dieser friedlich auf dem schmalen Bett einer Zelle auf der Polizeiwache von Newhaven schlummerte. Der ›Heilige‹ setzte sich gemächlich auf, als der Kriminalbeamte eintrat, und lächelte ihm fröhlich zu. »Claud Eustace persönlich, beim Tamtam von Taramtamtam! Dachte ich mir, daß ich Ihnen begegnen würde.« Simon betrachtete den Detektiv nachdenklich. »Und ich glaube, Sie haben zugenommen«, sagte er. Teal grub seine Zähne in ein stark benutztes Stück Kaugummi. »Wozu sind Sie zurückgekommen?« fragte er knapp. Während der Fahrt hatte er den Kurs des Verhörs genau festgelegt. Er hatte sich vorgenommen, bestimmt,
zurückhaltend, distanziert, vollkommen höflich und doch unüberhörbar warnend zu sprechen. Er würde sich auf keinen Blödsinn mehr einlassen. Solange der ›Heilige‹ sich zu benehmen versprach, würde man ihm keine Hindernisse in den Weg legen. Sollte er jedoch irgendwelche zukünftigen Missetaten ausbrüten… Die amtliche Warnung würde dergestalt, daß und so weiter… Und nun entglitt bereits in den ersten dreißig Sekunden nach seinem Eintritt in die Zelle, in dem ersten Satz, den er von sich gab, die sichere Beherrschung der Situation, die er von Anfang an an sich hatte reißen wollen, deutlich spürbar seinem Griff. So war es immer gewesen. Teal schlug vor, und der ›Heilige‹ schlug aus. Es war etwas in der frechen Selbstsicherheit dieses Taugenichts von einem Freibeuter, das verlockte den Detektiv zu Mißgriffen, die er sich hinterher nie erklären konnte. »Wenn Sie’s denn unbedingt wissen wollen, alter Tümmler«, sagte der ›Heilige‹, »ich bin zurückgekommen, um ein paar Zigaretten zu kaufen. Meine Stammarke ist in Frankreich nicht zu kriegen, und falls Sie schon mal eine Woche unter Maryland gelitten haben…« Teal nahm auf der Koje Platz. »Sie verließen England vor zwei Monaten einigermaßen Hals über Kopf, hm?« »So kann man es wohl nennen«, meinte der ›Heilige‹ nachdenklich. »Wissen Sie, mir war nach einem richtigen ausgiebigen Bummel zumute, und Sie kennen mich ja: entschlußfreudig und ungestüm. Auf und davon bin ich.« »Schade, daß Sie nicht weggeblieben sind.« Die Augen des ›Heiligen‹ sahen ihn spöttisch unter den dunklen, geraden Brauen an. »Teal, das ist aber nicht sehr freundlich! Ich muß schon sagen, da habe ich einen besseren Empfang erwartet. Gerade eben hatte ich mir überlegt, wie bestürzt mein Rechtsanwalt
sein wird, wenn er davon hört. Der gute Kerl – er ist schrecklich empfindlich in diesen Dingen. Wenn einer seiner angesehenen und geschätzten Klienten in sein Heimatland zurückkehrt und man läßt ihn keine zweihundert Schritt landeinwärts reisen, bevor ein plattfüßiges Schutzmännchen ihn aus keinem ersichtlichen Grund ins nächste Pritschenhaus zerrt.« »Nun hören Sie mal einen Moment zu«, unterbrach Teal ihn schroff. »Ich bin nicht hergekommen, um ulkige Ansprachen mit Ihnen auszutauschen. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, was Scotland Yard Ihnen zu sagen hat: daß Sie gut daran tun, sich nun, nach Ihrer Rückkehr, gesittet aufzuführen. Sie können gehen, sobald ich hier mit Ihnen fertig bin, aber falls Sie auf freiem Fuß bleiben möchten, werden Sie sich meine Ratschläge anhören.« »Werde ich?« »Es steht Ihnen frei.« Der Detektiv stürzte sich eine halbe Stunde vor dem geplanten Zeitpunkt in seine große Rede, aber er war, Donner noch eins, bitter entschlossen, in einem Stück damit zu Ende zu kommen. Ganz und gar erstaunlich war das: Selbst nach zwei Monaten vergleichsweiser Ruhe, deren er sich während der Abwesenheit des ›Heiligen‹ erfreut hatte, schmeckte die Galle manch einer Niederlage noch genauso bitter auf der Zunge wie eh und je. Vielleicht tat er einen hellsichtigen Blick in die Zukunft, einen Blick, der geboren wurde aus dem tiefsten Dunkel seines Unterbewußtseins, das ihn ahnen ließ, daß er ebensogut einen Sonnenfleck wegen seines verderblichen Einflusses auf die Wetterlage hätte auszanken können. Die höflich lächelnde Gelassenheit des schlanken Mannes ihm gegenüber zerfetzte die Ränder seiner Nerven mit dem ganzen aufgehäuften Arsenal alter Assoziationen. »Ich mache keine Vorschläge«, sagte Teal knapp. »Ich prophezeie.«
Der ›Heilige‹ erkannte seine Autorität mit einem geringfügigen Hochzucken einer Augenbraue an – und doch war der listige Spott dieses winzigen Mienenspiels unbeschreiblich. »Ah?« »Ich sage Ihnen: Nehmen Sie sich in acht! Wir haben uns eine Menge von Ihnen bieten lassen. Sie haben Glück gehabt. Sie haben sich sogar einmal Straffreiheit verdient. Man hätte meinen sollen, daß es Ihnen genügen müsse, sich danach mit Anstand zurückzuziehen. Sie waren anderer Ansicht. Aber solch ein Glück begegnet einem nicht zweimal im Leben. Sie haben sich den Boden rundum tüchtig heiß gemacht, als Sie auf und davon gingen, und sie brauchen ja nicht zu glauben, daß er abgekühlt ist, nur weil Sie mal kurz in Urlaub waren. Damit will ich nicht sagen, daß er nicht ein bißchen abkühlen könnte, falls Sie einen langen Urlaub nähmen. Wir sind nicht auf weiteren Ärger für Sie aus.« »Eine herrliche Zeit bricht an«, säuselte der ›Heilige‹. »Teal, gleich fang’ ich an zu weinen.« »Bei Ihnen sollte es doch kaum was zu beweinen geben«, meinte der Detektiv bissig. »Der kleine Langfinger, der immer noch einen Fünf-Pfund-Job landet, der hat eine gewisse Entschuldigung. Er hat keine Chance, sich zur Ruhe zu setzen. Sie aber dürften inzwischen einen hübschen Berg eingeheimst haben.« »Etwa eine Viertelmillion Pfund Sterling«, sagte der ›Heilige‹ bescheiden. »Ich gebe zu, es klingt nach ner Menge. Aber denken Sie nur an Rockefeller. Der könnte jeden Tag soviel ausgeben.« »Sie sind ganz schön zum Zug gekommen. Ich will mich nicht beschweren. Sie haben mir manchen Gefallen erwiesen, und der Chef ist bereit, das zu Ihren Gunsten anzuschlagen. Warum lassen Sie also das Spiel nicht mal ruhen?«
Die spöttischen blauen Augen betrachteten Teal die ganze Zeit, während er sprach. Ihr Ausdruck war geradezu von engelhafter Unschuld – nur der spitzfindigste Kritiker oder der überdrehteste Minderwertigkeitskomplex hätten an ihrer beflissenen Nüchternheit etwas auszusetzen gefunden. Das Gesicht des ›Heiligen‹ war das eines Theologiestudenten, der hingerissen Weisheit von den Lippen eines Erzbischofs schlürft. Aber dennoch und trotz der anregenden Frische seines Minzgummis spürte Claud Eustace Teal, wie sein Mund trocken zu werden begann. Er hatte das lähmende Gefühl der Albernheit, das einen Mann befällt, der in der Hoffnung, eine gänzlich danebengeratene Stegreifrede zu retten, einen Witz zu erzählen begonnen hat und etwa in der Mitte feststellt, daß man nicht darüber lachen wird. Seine eigenen Ohren wanden sich schmerzlich unter der gräßlichen Schalheit der Platitüden, die ihm unerklärlicherweise aus dem Mund träufelten. Seine Stimme klang wie das Blöken eines Schafes, das sich in der Wildnis verirrt hat. Er wünschte, er hätte jemand anders nach Newhaven geschickt. »Ich bin auf das Schlimmste vorbereitet«, sagte der ›Heilige‹. »Verschweigen Sie mir nichts! Worauf wollen Sie hinaus? Will die Regierung mir eine Pension und einen Sitz im Oberhaus bieten, wenn ich mich zur Ruhe setze?« »Kaum. Sie bietet Ihnen zehn Jahre freie Unterkunft und Verpflegung, wenn Sie’s nicht tun. Ich möchte nicht, daß Sie sich irgendwelchen Illusionen hingeben. Falls Sie glauben, Sie könnten…« Simon winkte ab. »Wenn Sie nicht aufpassen, werden Sie sich wiederholen, Claud«, murmelte er. »Lassen Sie mich sagen, was Sie sagen wollen. Solange ich mich wie ein richtiger kleiner Gentleman aufführe und jede Woche zur Sonntagsschule gehe, werden die
Herren mich in Frieden lassen. Aber falls mir irgendeiner meiner ungezogenen Einfälle wieder in den Sinn kommen sollte – falls also etwa jemand sozusagen stirbt, während ich in der Nähe bin, oder irgendein trübhirniger Polizist ein Paket illegaler Diamanten aus den Augen verliert und mir die Schuld zuzuschieben versucht –, dann wird es der Ehrgeiz eines jeden Schutzmännchens in ganz England sein, mich schnurstracks in die Old Bailey zu schleifen. Die überaus duldsame Polizei dieses großen Landes wird ihr möglichstes tun. Großbritannien ist erwacht. Das große Weltreich, in dem die Sonne nie untergeht…« »Schluß mit dem Quatsch!« kläffte der Detektiv. Es war nicht seine Absicht gewesen zu kläffen. Er hatte mit schneidendem, lähmendem Bariton sprechen wollen, mit einer Stimme, aus der Macht und Entschlossenheit klang. Irgend etwas klappte nicht mit seinen Stimmbändern im entscheidenden Augenblick. Er funkelte den ›Heiligen‹ grimmig an. »Ich würde gerne Ihre Meinung erfahren«, sagte er. Simon Templar stand auf. Einhundertfünfundachtzig Stahlzentimeter erhoben sich da, das war ein träges Entrollen ungezwungener Kraft und kämpferischer Vitalität, von den kantigen breiten Schultern bis in die Zehen hinab. Das lebhafte, braungebrannte Kavaliersgesicht lächelte auf Teal hinunter. »Möchten Sie das wirklich, Claud?« »Deshalb bin ich hier.« »Wenn Sie es also unbedingt wissen wollen – diese Rede, die Sie da eben gehalten haben, würde den allergrößten Eindruck auf einer Versammlung des Mütterverbandes hinterlassen.« Der ›Heilige‹ breitete die Arme aus. »Ich sehe es geradezu vor mir, wie die freundlichen, runzeligen Gesichter in der
strahlenden Morgendämmerung neuer Hoffnung aufleuchten, wie die müden Seelen erneut zur Schönheit erwachen.« »Ist das alles, was Sie zu sagen haben?« »Fast, Claud. Sehen Sie, Ihr Vorschlag lockt mich nicht. Selbst wenn die Pension und die Erhebung in den Adelsstand eingeschlossen gewesen wären, wäre ich wohl kaum darauf eingegangen. Das Leben würde so langweilig werden. Ich kann nicht erwarten, daß Sie meinen Standpunkt verstehen, aber da haben Sie ihn.« Unter dem Blitzen der ihn absuchenden sehr hellen blauen Augen erhob Teal sich ebenfalls. In dem Spott dieser Augen war etwas, was er nie verstanden hatte und vielleicht nie verstehen würde. Und gegen dieses Etwas, das er nicht begriff, biß er in grimmiger Streitlust die Zähne aufeinander. »Na schön«, knurrte er. »Es wird Ihnen leid tun!« »Das bezweifle ich«, erwiderte der ›Heilige‹. Auf der Rückfahrt nach London dachte Teal an viele weitere brillante Ansprachen, die er hätte halten können, aber er hatte keine von ihnen gehalten. Er kehrte in einer Laune wie aus unverdünnter Säure nach Scotland Yard zurück, und die sarkastischen Randbemerkungen des Kriminalrats waren nicht dazu angetan, diese Laune zu versüßen. »Wenn ich ehrlich sein soll, Sir, habe ich nie etwas anderes erwartet«, sagte Teal mit ernstem Gesicht. »Der ›Heilige‹ liegt außerhalb unseres Hoheitsgebietes, und das war immer schon so. Ich habe nie gedacht, irgend jemand könnte mich überzeugen, daß es diesen Geschichtenbuchrabauken gibt, der sich aus reinem Spaß an der Freude ins Verbrechen stürzt, aber in diesem Fall triffts zu. Ich habe mich gründlich mit Templar ausgesprochen – schon des öfteren – privat. Die nackte Tatsache ist die, daß er das Spiel mit ein paar hochgestochenen Ideen von Gerechtigkeit außerhalb der Gesetze spielt und mit einer Menge überflüssiger Energie, die er irgendwie loswerden
muß. Wenn wir einen Psychologen auf ihn ansetzten«, erklärte der Detektiv, der Freud gelesen hatte, »würden wir vermutlich erfahren, daß er unter einem allmächtigen Komplex leidet. Er muß das Gesetz brechen, weil es das Gesetz ist. Erklären Sie den Kirchgang für ungesetzlich, und er wird auf der Stelle Erweckungsprediger werden.« Der Kriminalrat nahm die Darstellung mit seinem charakteristischen Schnaufen hin. »Ich glaube kaum, daß der Innenminister dieser Maßnahme zur Einschränkung der Tätigkeit des ›Heiligen‹ zustimmen wird«, sagte er. »Da also aus diesem interessanten Vorschlag wohl nichts wird, sind Sie mir persönlich für Templars Benehmen verantwortlich.« Es war ein unbefriedigender Tag für Mr. Teal unter jedem auch nur denkbaren Blickwinkel, denn gerade wollte er sich an diesem Abend vor Verlassen von Scotland Yard den Hut aufsetzen, da wurde ihm ein Bericht gebracht, bei dessen Lektüre ihm die babyblauen Augen vor schierem ungläubigem Ekel groß und größer wurden. Er las den Schreibmaschinentext dreimal, bevor er ihm in all seinen Bedeutungen und Nebenbedeutungen klar wurde, und dann griff er nach dem Telefon und ließ sich mit der verantwortlichen Abteilung verbinden. »Warum, zum Teufel, haben Sie mir den Bericht nicht schon vorher geschickt?« fragte er hitzig. »Wir haben ihn selbst erst vor einer halben Stunde erhalten«, erwiderte der Angestellte. »Sie kennen ja diese Polizei auf dem Lande.« Chefinspektor Claud Eustace Teal knallte den Hörer in die Gabel und behielt seine Meinung von der Polizei auf dem Lande für sich. Er kannte sie allerdings. Die Eifersucht, die zwischen den Kriminalämtern in der Provinz und Scotland Yard besteht, ist jedem vertraut, der auch nur entfernt mit der
Aufdeckung von Verbrechen zu tun hat; alles in allem durfte Teal sich glücklich schätzen, daß das betreffende Provinzamt sich dazu herabgelassen hatte, sich überhaupt aus eigenem Antrieb mit ihm in Verbindung zu setzen, anstatt ihm zuzumuten, daß er die letzten Nachrichten aus den Abendzeitungen erfuhr. Er blieb noch eine weitere Stunde in seinem winzigen Dienstzimmer sitzen und starrte auf die Botschaft, die dem Tag den allerletzten Sonnenstrahl geraubt hatte. Sie meldete ihm, daß ein gewisser Mr. Wolseley Lormer am hellichten Tag in seinem Büro in Southend von einem Eindringling, den er nicht einmal zu sehen bekam, überfallen und um fast zweitausend Pfund erleichtert worden war. An diesem Nachmittag. Es wäre in keiner Hinsicht ein besonders bemerkenswertes Vergehen gewesen, hätte nicht der Hausmeister, der die Gewalttat entdeckte, außerdem ein ungelenkes Strichmännchen mit Heiligenschein entdeckt, das an die Außentür von Mr. Lormers Zimmerflucht gemalt worden war. Und die eine unumstößliche Tatsache, die der Chefinspektor der ihm zugeleiteten Information hinzufügen konnte, war diese: Zu der Zeit, da der Raubüberfall stattfand, saß der ›Heilige‹ sicher hinter Schloß und Riegel im Polizeigefängnis von Newhaven – und unterhielt sich mit Mr. Teal.
III
Einer der Reize Londons – ein Reiz, der es von moderneren, wissenschaftlich geplanten Städten unterscheidet – liegt in der großen Zahl wunderlicher unwissenschaftlicher Wohnstätten, die der Kundschafter entdeckt, der sich nur wenige hundert Meter von den breiten, zweckmäßigen Durchfahrtsstraßen verliert und in die Geheimnisse schäbiger Gassen und wenig versprechender Höfe eindringt. In einem Abschnitt der jüngeren Geschichte der Stadt muß es zahlreiche abenteuerlustige Seelen gegeben haben, die den Drang verspürten, der schleichenden Entwicklung moderner dampfgeheizter Wohnungen zu entgehen, die mit euklidischer Exaktheit geplant werden und jeder persönlichen Note geometrisch bar sind. Wo auch immer ein paar Räume mit einem exzentrischen Eingang zusammengefaßt und behaglich gemacht werden konnten, wurde ein Heim hergerichtet, das später, als solches Wohnen die große Mode wurde, der Originalität ihrer Schöpfer atemberaubende Zinsen eintrug. Mit seinem unfehlbaren Instinkt für solche Dinge hatte Simon Templar schon wenige Stunden nach seinem Wiedereintreffen in London genau solch ein ideales Heim aufgetan. Seine alte Feste in der Berkeley Street, die er bereits vor Jahren mit all dem kostspieligen Zubehör versehen hatte, das ein Raubritter des zwanzigsten Jahrhunderts braucht, war kurz vor seiner eiligen Auslandsreise Mittelpunkt unmäßiger amtlicher Neugierde geworden. Sie konnte keine genialen Geheimnisse mehr verbergen vor der wißbegierigen Feindseligkeit Scotland Yards; und dem ›Heiligen‹ war nach einem Tapetenwechsel zumute. Er fand die passende
Abwechslung in einer ruhigen Sackgasse, die vom unteren Ende von Queen’s Gate wegführte, dieser prachtvollen, baumgesäumten Straße, die das vollkommene Gegenstück zum pariserischsten Boulevard darstellte, wären nur ihre Taxis und Bewohner weniger altertümlich und von Motten zerfressen. Die Heimstatt seiner Wahl lag, genau gesagt, in einem Remisenhof, der sich wie der Querbalken des T am Ende der Sackgasse entlangzog, aber ein früherer Mieter hatte es unternommen, Achtbarkeit und Ansehen mit einer Garage im Haus zu verbinden, und zu diesem Zweck eine Haustür und Fenster in die Mauer brechen lassen, die die Sackgasse abschloß, so daß des ›Heiligen‹ neue Wohnung, wenn man’s recht betrachtete, ein schmucker kleiner zweigeschossiger Cottage mit Blickrichtung genau zwischen den Häusern hindurch war, während das Garagen- und ModischRemisenhafte sich direkt im rückwärtigen Teil verbarg. Das Haus entsprach geradezu ideal den exzentrischen Bedürfnissen und strategischen Erfordernissen des ›Heiligen‹, und bereits achtundvierzig Stunden nachdem er es gefunden hatte, hielt er seinen Einzug. Er überwachte gerade persönlich das Auspacken irgendeines komplizierten elektrischen Gerätes, als Mr. Teal ihn am dritten Tag zu Hause antraf. Er hatte seinen Adressenwechsel nicht bekanntgemacht, und Mr. Teal hatte einige Zeit gebraucht, um ihn aufzuspüren, aber des ›Heiligen‹ Gruß und Willkommen waren die biedere Herzlichkeit selber. »Machen Sie sich’s bequem, Claud«, murmelte er. »Im Wohnzimmer liegt ein frisches Paket Kaugummi, und ich bin in zwei Minuten für Sie da.« Holzwolle von der Hose stäubend, gesellte er sich pünktlich zwei Minuten später zu dem Detektiv, und nichts in seinem Verhalten deutete darauf hin, daß er irgendwelche Unannehmlichkeiten erwartete. Als er eintrat, saß Teal mit vor
den Bauch gehaltener Melone da und betrachtete verdrießlich ein ungeöffnetes Päckchen Wrighley’s-3-Star, das geruhsam mitten auf dem Tisch hockte. »Ich bin nur gekommen«, sagte der Detektiv, »um Ihnen zu sagen, daß mir Ihr Alibi gefallen hat.« »Das war sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte der ›Heilige‹ mit Würde. »Was wissen Sie von Lormer?« Simon zündete sich eine Zigarette an. »Nichts – außer daß er ein Hehler ist, ein gelegentlicher Erpresser und ein allgemein infiziertes Exemplar der Spezies Mensch. Er ist ein ziemlich kleiner Fisch, aber sehr ekelhaft. Warum?« Teal überging die Frage. Er wälzte einen Klumpen Gummi im Mund herum und betrachtete dann den ›Heiligen‹ mit überraschend forschenden Augen. »An Ihrem Alibi ist nicht zu rütteln«, sagte er, »aber ich hoffe immer noch, mehr über Ihre Freunde zu erfahren. Sie haben mit vieren zusammengearbeitet, stimmt’s? Ich habe mich oft gefragt, wie die vier es geschafft haben, sich so schnell zu bessern.« Der ›Heilige‹ lächelte sanft. »Immer noch die gute alte Bandentheorie, hm?« fragte er mit seiner schleppenden Stimme. »Wenn ich Ihre scherzhafte Art nicht so gut kennen würde, Claud, wäre ich jetzt beleidigt. Es ist kein Kompliment. Es fällt Ihnen offenbar schwer zu glauben, daß sich so viele bemerkenswerte Eigenschaften auf einen Geburtsschein konzentrieren, aber im Laufe der Zeit gewöhnen Sie sich vielleicht noch an den Gedanken. Ich war ein richtiges Wunderkind. Von dem Tag an, da ich meiner Aufpaßtante das Korsett stahl…« »Falls Sie die alte Bande zusammentrommeln sollten oder sich eine neue suchen«, sagte Teal mit Nachdruck, »werden
wir im Nu bestens darüber im Bilde sein. Wie steht es übrigens mit dem Mädchen, das bei Ihnen war – Miß Holm, hieß sie nicht so? Was ist ihr Alibi?« »Braucht sie eins? Das wird sich wohl einrichten lassen.« »Wird wohl. Sie ist am Tag bevor wir sie in Newhaven antrafen, in Croydon gelandet. Ich habe es gerade erst erfahren. Lormer hat den Mann, der ihn zusammenschlug und seinen Safe ausräumte, keinen Augenblick lang gesehen. Angenommen also, es war überhaupt kein Mann…« »Ich glaube, da sind Sie auf dem Holzweg«, unterbrach der ›Heilige‹ ihn freundlich. »Schließlich muß sich sogar ein Defektiv-Detektiv an Wahrscheinlichkeiten halten. Früher, vor all diesem vulgären öffentlichen Aufsehen, konnte ich mein Warenzeichen auf jeden echten Artikel kritzeln, aber Sie müssen zugeben, daß die Zeiten sich geändert haben. Nun, da jeder Holzkopf auf den Britischen Inseln weiß, wer ich bin, ist es da wahrscheinlich, daß ich – sollte ich an ein Verbrechen denken – überall Heiligenmännchen hinmale? Meinen Sie wirklich, Sie könnten die Geschworenen dahin bringen, daß sie das glauben? Ich habe einen gewissen Ruf, Claud. Ich mag erzböse und abgefeimt sein, aber ich bin nicht dämlich. Es ist offensichtlich, daß irgendein niedriger Gauner versucht, mir sein Zeug in die Schuhe zu schieben.« Teal stemmte sich gewichtig aus seinem Sessel hoch. »An das Argument habe ich auch schon gedacht«, sagte er; und dann unvermittelt: »Was wird Ihre nächste Arbeit sein?« »Ich weiß es noch nicht«, erwiderte der ›Heilige‹ kühl. »In jedem Fall jedoch eine ganz tolle Sache. Ich könnte mal wieder ein paar gute Schlagzeilen gebrauchen.« Teal seufzte, und Simon betrachtete ihn nachdenklich. »Ich nehme an, meine Abenteuer trüben Ihr Verhältnis zu Ihrem Chef, hm? Ist es das, was Sie sagen wollen?« Der Detektiv nickte.
»Sie machen es uns sehr schwer«, sagte er. Er hätte noch eine Menge mehr sagen können. Der Stolz verbarg es störrisch hinter seiner amtlichen Zurückhaltung, aber der nüchterne Blick, mit dem er den ›Heiligen‹ bedachte, kam einem Eingeständnis so nahe, wie er sich ihm zu nähern wagte. Es war nicht seine Art, irgend jemanden um einen Gefallen zu bitten. »Ich werde sehen, was sich machen läßt«, sagte der ›Heilige‹. Er brachte Teal höflich zur Tür, und als er sie öffnete, sah er eine schlanke, blonde junge Dame die Straße herunter auf sie zukommen. Teal blickte ihr mit zusammengekniffenen, ausdruckslosen Augen entgegen. Die junge Dame traf vor der Tür ein und lächelte ihm charmant zu. »Guten Morgen«, sagte sie. »Guten Morgen«, erwiderte Teal ätzend. Er rückte seine Melone gerade und ging barsch an ihr vorbei; und Simon Templar schloß die Haustür und nahm das Mädchen in beide Arme. »Pat, liebster Liebling«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, das Leben hat wieder ganz von vorne angefangen. Du bist da, und Claud Eustace kommt alle paar Tage zu einem kleinen Schwatz vorbei… Wenn wir jetzt nur noch jemanden zum Ermorden finden könnten, dann wäre alles in allerschönster Ordnung!« Patricia Holm ging ins Wohnzimmer durch und nahm ihren Hut ab. Sie bediente sich aus Simons Zigarettenetui und betrachtete ihn mit einem leichten Lächeln. »Könnte Teal nicht mal Schonzeit haben? Ich werde nie vergessen, wie das war, als wir uns aus England absetzten. Gehaßt habe ich dich, Junge – wie du ihn da geködert hast!« »Es ist ein rauher Sport«, erwiderte der ›Heilige‹ ruhig. »Aber diesmal habe ich ihn nicht geködert – noch nicht. Das
Blöde ist, daß Clauds Chef ihn persönlich für unsere genialen Einfälle verantwortlich macht. Das war ein wahrer Geistesblitz von dir – Lormer auszurauben, sobald du hörtest, daß ich im Knast saß, aber das Alibi wird ein zweites Mal nicht funktionieren. Und Teal ist gerade dabei, einen richtigen Rechtsfall aus uns zu machen. Er will nun mal prozessieren, also werden wir sehr vorsichtig sein müssen. Auf keinen Fall werden wir jemanden in aller Öffentlichkeit ermorden…« Als der ›Heilige‹ an diesem Nachmittag das Haus verließ, trug er einen auffallend großen weißen Umschlag in der Hand. An der Ecke der Sackgasse manikürte sich ein großer dicker Kerl mit viel Geduld und einem Taschenmesser die Fingernägel. Simon steckte seinen Umschlag unter den Augen des Beobachters in den Kasten und ließ es anschließend geschehen, daß man ihn auf einem harmlosen Einkaufsbummel durchs West End beschattete. Spät am Abend dieses Tages erhielt ein gewisser Mr. Ronald Nilder, dessen Agentur für Varietekünstler nicht über jeden Verdacht erhaben war, einen kurzen Brief in einem großen weißen Umschlag. In dem Brief hieß es schlicht und einfach, daß er bis Ende der Woche dem Schauspieler-Waisenhaus eine fünfstellige Summe als Spende zukommen lassen möge, da ansonsten seine Verwandten leicht einen unersetzlichen Verlust würden zu beklagen haben; und dieser Text war mit dem Signum des ›Heiligen‹ unterzeichnet. Mr. Nilder, ein von Gemeinsinn durchdrungener Staatsbürger, rief sogleich die Polizei an. Chefinspektor Teal suchte ihn auf und hatte hinterher eine weitere Unterredung mit dem Kriminalrat. »Templar hat gestern einen großen weißen Umschlag in den Kasten geworfen«, sagte er, »aber wir können nicht beweisen, daß es der war, den Nilder erhalten hat. Falls ich mich nicht ganz und gar in dem ›Heiligen‹ irre, wird Nilder in den
nächsten paar Tagen eine weitere Nachricht empfangen, und vielleicht ertappen wir Templar dann auf frischer Tat.« Seine Diagnose der heiligmäßigen Psychologie erwies sich als noch schlauer, als er ahnte. An den nächsten beiden Tagen hatte Simon alle Hände voll zu tun, der behaglichen Einrichtung seines Hauses eine Auswahl elektrischer Apparate eigener Erfindung hinzuzufügen. Diese Apparate waren von einer Sorte, die er nie in der Ausstattung und unter dem Zubehör eines normalen Heimes gesucht hätte, aber sie schienen ihm von außerordentlicher Wichtigkeit für seine Sicherheit und den Frieden seines Gemüts. Er bediente sich keiner Handwerker, denn Handwerker neigen nicht weniger zum Klatsch als irgendwelche anderen Leute, und der Typ von Installationen, der des ›Heiligen‹ Spezialität war, hätte für jedermann eine reiche Quelle der Unterhaltung abgegeben. Also arbeitete der ›Heilige‹ mit seiner unerschöpflichen Energie allein, und er befand die geleistete Arbeit für gut, als nach beendetem Werk ohne sehr gründliches Durchsuchen keine Anzeichen für irgendwelche Geschäftigkeit zu sehen waren. Der Aufpasser am Ende der Sackgasse manikürte seine Nägel ohne Pause und machte manch einen erfrischenden Spaziergang auf den Fersen des ›Heiligen‹, sooft Simon ausging. Simon taufte ihn Fido und fand sich mit ihm ab als einem bleibenden Charakteristikum der Landschaft. Die Woche war fast um, als Simon mit einem auffallend großen weißen Umschlag, der dem ersten sehr ähnlich war, vors Haus trat. Und der Detektiv in Zivil, der ganz genaue Anweisungen hatte, ließ sein Taschenmesser zuschnappen und trat einen Schritt vor, als der ›Heilige‹ mit ihm auf gleicher Höhe war. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte er steif. »Dürfte ich mal eben den Umschlag sehen?«
Der ›Heilige‹ starrte ihn an. »Und wer sind Sie?« »Kriminalpolizei«, erwiderte der Mann mit fester Stimme. »Warum tragen Sie denn dann solch einen seltsamen Schlips?« fragte der ›Heilige‹. Er gestattete es, daß man ihm den Umschlag aus der Hand nahm. Er war an Mr. Ronald Nilder adressiert, und der Kriminalbeamte riß ihn auf. Er stieß auf eine biegsame Schallplatte, und zu seinem nicht ganz geringen Erstaunen trug das Etikett in der Mitte den Namen Chefinspektor Teals. »Sie kommen wohl am besten mit«, sagte der Kriminalbeamte. Mit einem Taxi fuhren sie zur Polizeiwache Walton Street; und dort wurde nach einigem Warten ein Grammophon herbeigeschafft und die Platte bedächtig auf den Teller gelegt. Der Detektiv, der Revierinspektor, der diensttuende Oberwachtmeister und zwei Wachtmeister scharten sich um den Apparat, um zu lauschen. Chefinspektor Teal war bereits angerufen worden, und den Telefonhörer hatte man zur Übertragung dicht neben den Plattenspieler gelegt. Jemand setzte das Werk in Gang und senkte die Nadel in die Rille. »Guten Abend zusammen«, sagte die Schallplatte mit schnarrender Stimme. »Hier spricht Chefinspektor Claud Eustace Teal von Scotland Yard. Das Thema meines heutigen Vortrags lautet: ›Wie man Verbrecher auf frischer Tat ertappt‹. Es ist dies ein Thema, bei dem meine Erfahrung einzigartig sein dürfte. Von dem Tag an, da ich Reißzahn-Jack fing, bis zu dem Tag, da ich den ›Heiligen‹ festnahm, war meine Laufbahn eine einzige Serie historischer Triumphe. Obwohl ich seit Jahren an offenen Beinen, Ekzemen, Karbunkeln, überflüssigem Haar und Ballenentzündungen leide.« Simon erstattete Patricia auf seine drastisch-bildhafte Art Bericht von dem Zwischenfall, als er sie zum Mittagessen traf.
»Es hatte nichts mit Teal-Ködern zu tun«, behauptete er beharrlich. »Es war eine gute Tat – ein kleiner Liebesdienst. Denn ist es etwa recht, daß Claud sich ermuntert fühlte, seine Nase in meine Privatkorrespondenz zu stecken? Wenn wir ihn so weiter Amok laufen lassen, könnte er eines Tages zu weit gehen. Wir haben ihn zu seinem eigenen Nutzen warnend abgeschreckt.« Sie feierten angemessen, und die Nacht war weit vorgeschritten, als sie zu einem hübschen Teller Speck und Ei nach Hause zurückkehrten und den Tag für beendet erklärten. Simon bezahlte das Taxi in Queen’s Gate, und nebeneinander gingen sie auf den Cottage zu. Der Aufpasser an der Ecke war verschwunden – der ›Heilige‹ hatte auch nicht damit gerechnet, daß Teal ihn zum Ausharren drängen werde, nachdem die selbstgemachte Schallplatte abgespielt worden war. Es war erst solch kurze Zeit seit der Installierung der Sicherheitsvorrichtungen verstrichen, daß Simon überhaupt noch nicht begonnen hatte, mit Resultaten zu rechnen – die Geräte waren für rastlosere Tage gedacht, deren der ›Heilige‹ sich schon bald zu erfreuen hoffte, wenn seine Rückkehr weiteren Kreisen bekannt wurde und lauter weitere schlechte Gewissen sich fragten, ob ihr unterirdischer Fleiß nicht vielleicht bessere Früchte tragen würde, wenn man Simon Templar aus dem Katalog von Risiken entfernte, gegen die einen keine Versicherungsgesellschaft versicherte. Er hatte den Haustürschlüssel schon in der Hand, da fiel ihm erst ein, daß das letzte Produkt seines auf Selbstverteidigung gerichteten Erfindersinns nun voll in Betrieb war. Recht beiläufig schob er eine kleine Metallklappe unter dem Türklopfer hoch, und dann wurde sein Gesicht gespannt und hart. Eine winzige Glühbirne, die unter der Klappe im Holz saß, leuchtete rot.
Simon ließ die Klappe darüberfallen und zog Patricia beiseite. »Wir haben Besuch gehabt«, sagte er. »Hätte ich nicht gedacht, daß der Spaß so bald schon beginnen sollte.« Ob der Besucher das Haus schon wieder verlassen hatte, war nicht angezeigt. Sicher war nur eins – daß irgend jemand oder irgend etwas die Sperre der Alarmvorrichtungen passiert hatte, mit denen jede Tür und jedes Fenster im Haus von Simon versehen worden war. Der Besucher konnte schon wieder gegangen sein, aber Simon war nicht geneigt, darum zu wetten. Er stand ein gutes Stück neben der Haustür im Schutz des massiven Mauerwerks aus Backsteinen, während er mit ausgestrecktem Arm den Schlüssel lautlos ins Schloß schob. Immer noch in Deckung, stieß er die Tür sachte auf und tastete hinter dem Rahmen nach dem Lichtschalter. Eine Flamme zuckte; dann knallte es ohrenbetäubend. Und dann leuchtete das Licht auf, und Simon stürzte in die Diele. Er hörte Fußgetrappel und das Zuschlagen einer Tür und raste durch die Küche zum Hinterausgang, der in den Remisenhof führte. Als er die Tür aufriß, sah er gerade noch eine davonrennende Gestalt, die sich auf den Rücksitz eines offenen Wagens schwang, der bereits auf die Straße zujagte, und ein zweiter Schuß dröhnte herüber, bevor der Wagen aus der schmalen Einfahrt herausbog. Die Kugel klatschte weitab vom Ziel in die Mauer. Simon griente versonnen und ging zu Patricia Holm zurück. »Einen Pistolenschützen gibt es in London, der ziemlich leicht die Nerven verliert, worüber wir uns nicht beklagen wollen«, meinte er. »Aber ich möchte doch wissen, wer es war.« Seltsamerweise hatte er den Mann namens Jones fast vergessen, der Brian Quell in jener Nacht in Paris so etwas ganz und gar nicht Nettes angetan hatte.
IV
Weitere Demonstrationen der Mißbilligung fanden an dem Abend nicht statt, wenn auch der ›Heilige‹ ganz besondere Sorgfalt auf die Einstellung seiner Apparate verwendete, bevor er sich zu Bett legte, und mit einem gespitzten Ohr schlief. Spät erst kam er am nächsten Morgen zum Frühstück herunter, und da sah er sich einem blitzenden kleinen Messingzylinder gegenüber, der mitten auf seinem Teller thronte. Einen Augenblick lang starrte er ihn verdutzt an, und dann lachte er. »Ein Andenken?« murmelte er, und Patricia nickte. »Ich hab’ es in der Diele gefunden, und ich dachte mir, du hättest es vielleicht gern für dein Museum.« Simon breitete vergnügt seine Serviette aus. »Noch mehr ›Waffen, mit denen ich nicht umgebracht wurde‹?« meinte er. »Davon dürfte es inzwischen einen ganzen Kabinenkoffer voll geben.« Er wollte nach der Patronenhülse greifen, zog aber dann die Hand wieder zurück. »Moment – wie hast du das Ding aufgehoben?« »Hm – wie? Ich weiß nicht. Ich…« »Du kannst dich bestimmt erinnern. Denk einen Augenblick nach. Ich möchte, daß du mir genau zeigst, wie du sie aufgehoben hast, wie du damit umgegangen bist – alles, was mit ihr passiert ist, angefangen bei dem Augenblick, da du sie auf dem Teppich liegen sahst, bis zu dem Augenblick, da sie hier auf den Teller gelangte… Nein, rühr sie nicht noch einmal an. Zeig es mir mit deiner Zigarette.« Das Mädchen nahm die Zigarette der Länge nach zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Mehr habe ich nicht getan«, sagte sie. »Ich hatte den Teller in der anderen Hand und brachte beides sofort hierher. Warum willst du das wissen?« »Weil alle schlauen Gauner zwar Handschuhe tragen, wenn sie Geldschränke knacken, aber nur sehr wenige, wenn sie eine Pistole laden.« Simon nahm die Hülse vorsichtig mit seinem Taschentuch auf, rieb sorgfältig den Boden ab, wo das Mädchen sie angefaßt hatte, und ließ sie in eine leere Streichholzschachtel fallen. »Dank deinem wählerischen Umgang mit diesem Emil besitzen wir hier vermutlich ein paar vortreffliche Fingerabdrücke eines lausigen Schützen – und man kann nie wissen, wann die uns noch mal gelegen kommen.« Er wandte sich seinen brutzelnden Speckeiern zu mit dem herzhaften Appetit eines Mannes, der wie ein Kind geschlafen hat und wie ein Löwe aufgewacht ist. Patricia ließ ihn in aller Ruhe essen und die Morgenzeitungen durchfliegen. Welche Pläne und Theorien auch immer seine ausschweifende Einbildungskraft beschäftigen mochten, er würde sich niemals vor dem von ihm für geeignet befundenen Zeitpunkt darüber auslassen; und sie hütete sich wohl vor dem Versuch, irgend etwas aus ihm herauszulocken, bevor er den Zustand des Fastens zufriedenstellend beendet hatte. Er rührte gerade seine zweite Tasse Kaffee um, da störte ihn das Klingeln des Telefons mitten in der Lektüre einer faszinierenden Darstellung der Unterkleidung eines weiblichen Mount-Everest-Teams. Er machte den Arm lang, griff nach dem Hörer und gab furchtlos zu, daß er Simon Templar sei. »Es geht Ihnen hoffentlich gut«, sagte das Telefon. Der ›Heilige‹ zog die Augenbrauen hoch und angelte nach einer Zigarette.
»Ich bin in bester Form, schönen Dank«, sagte er. »Und wie geht es Ihnen? Und da wir schon einmal dabei sind – wer sind Sie?« Ein tiefes Lachen erreichte ihn vom anderen Ende der Leitung. »Solange Sie sich nicht in meine Angelegenheiten mischen, braucht Sie das nicht zu kümmern. Es tut mir leid, daß Ihnen gestern abend ein solch unangenehmer Schock widerfahren mußte, aber wenn mein Abgesandter nicht den Kopf verloren hätte, hätten Sie überhaupt nichts gespürt. Andererseits sollte seine Dummheit Sie eigentlich dazu ermuntern, eine freundliche Warnung nicht in den Wind zu schlagen.« »Das ist sehr gütig von Ihnen«, sagte der ›Heilige‹ nachdenklich. »Aber ich habe schon jemanden, der darauf achtet, daß meine Socken gelüftet werden, und ich passe stets gut auf, daß ich mir die Füße nicht naß mache.« »Ich spreche von gefährlicheren Dingen als Schnupfen und Husten, Mr. Templar.« Simons Blick fiel auf das aufgeschlagene Morgenblatt, in dem er gelesen hatte. Zwei Spalten von den intimen Details der Bergsteigerinnenkluft entfernt entdeckte er eine Überschrift, die ihm vorher entgangen war, und blitzartig fuhr ihm der Keim einer Erleuchtung durch den Kopf. »Wieder eine Drohung des ›Heiligen‹«, lautete die Schlagzeile der Spalte. Groß und schwarz war sie gedruckt, und darunter stand ein Bericht über den Brief, den Mr. Ronald Nilder erhalten hatte. Patricia betrachtete ihn in gespannter Erwartung, aber er bedeutete ihr mit einer Handbewegung zu schweigen. »Du meine Zeit! Sind Sie solch ein gefährlicher Mann – Mr. Jones?« Eine lange Pause trat ein, und um die Lippen des ›Heiligen‹ zuckte ein schwaches Lächeln. Es war ein Schuß aufs Geratewohl gewesen; aber so arbeitete der Verstand des
›Heiligen‹ – sauste über das alltäglich Offensichtliche hinaus zum phantastischen Fernliegenden, das stets so prachtvoll das Richtige war. »Ich gratuliere.« Die Stimme am Telefon klang nur ein ganz wenig gepreßt. »Wieviel hat Quell Ihnen erzählt?« »Eine Menge«, sagte der ›Heilige‹ leise. »Es tut mir leid, daß Ihnen ein solch unangenehmer Schock widerfahren mußte, aber wenn Sie den Kopf nicht verloren hätten.« Er hörte den Apparat am anderen Ende knacken und schob das Telefon von sich weg. »Wer war das?« fragte Patricia. »Jemand, der fast so schnell denken kann wie ich«, erwiderte der ›Heilige‹ mit der Bewunderung eines Künstlers für einen anderen. »Wir kennen ihn nur als Mr. Jones – als den Mann, der Brian Quell erschossen hat. Und einer seiner Genossen war es, der gestern abend hier die Ruhe störte.« Die vergnügten blauen Augen richteten sich mit dieser schwertstählernen Eindringlichkeit auf sie, die ihr seit langem vertraut war. »Soll ich dir von ihm erzählen? Er ist ein ziemlich schlauer Kerl. Er hat herausgefunden, daß ich in der Nacht in dem Hotel war – in Quells Stockwerk, seinem Fenster fast genau gegenüber. Aber das wußte er nicht, bevor er zur Tat schritt – sonst hätte er sich vielleicht noch etwas Schlaueres einfallen lassen. Wie er dahintergekommen ist, weiß ich nicht. Vielleicht hat er zufällig meinen Namen im Gästebuch gesehen, oder vielleicht ist er sogar zurückgekommen und hat vor Quells Tür gehorcht – in dem Fall würde er nachgeforscht haben, wer es gewesen sein konnte. Aber als er dann nach England zurückkehrte, hörte er mehr von mir.« »Wie?« »Durch den Bericht von deinem wackeren Überfall auf Wolseley Lormer. Bruder Jones beschloß, kein Risiko
einzugehen – daher der Auftritt gestern abend. Und heute morgen gab es noch eine Dosis für ihn.« Simon zeigte auf die Schlagzeilen, die er durchflogen hatte. Während Patricia sie rasch überlas, blieb sein Blick an einem Namen in einem Artikel daneben hängen, und er stand halb vom Stuhl auf. »Und das!« Sein Finger stach auf die Nachricht ein. »Pat – der Kerl kann wahrhaftig fix denken!« Er las den Artikel noch einmal. UNIVERSITÄTSPROFESSOR VERMISST Birmingham, Donnerstag. Gedächtnisschwund wird als Ursache für das geheimnisvolle Verschwinden des Professors der Chemie Dr. Sylvester Quell angenommen, der seit vierundzwanzig Stunden vermißt wird. Die Haushälterin des Professors, Mrs. E. I. Lane, erklärte dem Berichterstatter der Daily Express, daß Dr. Quell sein Haus am Mittwoch wie üblich um 10.30 Uhr verlassen habe, um sich in seinen Hörsaal zu begeben. Dort ist er nicht eingetroffen, und seitdem hat man nicht wieder von ihm gehört. »Der Professor war sehr bestürzt über den plötzlichen Tod seines Bruders«, sagte Mrs. Lane. »Er sprach sehr wenig darüber, aber ich weiß, daß er ihn erschüttert hat.« Dr. Quell gilt als eine der führenden Kapazitäten auf dem Gebiet der Metallurgie. Simon sprang vom Stuhl hoch und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Überleg dir die Geschichte unterm Blickwinkel unseres Kameraden Jones. Er weiß, daß ich etwas wissen kann – er kennt meinen Ruf –, und er weiß, daß ich der Mann bin, der den Riecher in seinen Kram stecken würde, ohne der Polizei
auch nur ein Wort davon zu sagen. Also sagt er sich, daß es besser sei, mich aus dem Weg zu schaffen. Ein schlauer Kerl, Pat – aber ein ganz kleines bißchen zu schlau. Ein richtiger Zünftiger hätte mich hops gehen lassen und den Mund gehalten. Wenn es das erstemal schiefgegangen wäre, hätte er es noch einmal versucht – und immer noch den Mund gehalten. Aber statt dessen mußte dieser Kerl Jones mich anrufen und mich benachrichtigen. Glaub mir, Pat, der Zünftige tut so was nur in Büchern. Es sei denn… « »Es sei denn?« drängte das Mädchen. Der ›Heilige‹ nahm seine Zigarette wieder vom Rand des Aschenbechers und ließ sich mit einem langsamen Lachen in seinen Sessel zurückfallen. »Hm! Wenn es etwas gibt, was gefährlicher ist, als ein bißchen zu schlau zu sein, dann dies: es ein bißchen zu voreilig von einem anderen zu behaupten. Da ist ganz offensichtlich eine energische Blutrache gegen die Familie Quell im Gang, und da man mir angeraten hat, mich herauszuhalten, muß ich mich selbstverständlich einmischen.« »Aber nicht heute, wenn’s recht ist«, erwiderte das Mädchen seelenruhig. »Ich habe gestern Marion Lestrange in der Bond Street getroffen, und ich habe ihr versprochen, heute abend zu einem Cocktail vorbeizukommen.« Simon sah sie an. »Um die Zeit wird es wohl passieren«, sagte er. »Wundere dich nicht, wenn du meine melodische Stimme am Telefon hörst.« »Was hast du vor?« fragte sie, und der ›Heilige‹ lächelte. »Fast gar nichts«, antwortete er. Er hielt sie den Rest des Nachmittags in gespannter Erwartung, während er zahllose Zigaretten rauchte und versuchte, eine logische Geschichte zusammenzubauen aus den Fetzen unzusammenhängender Äußerungen, die Brian
Quell vor seinem Tode dahergeplappert hatte. Es handelte sich um einen Mann namens Binks, der Gold machen konnte…Aber nichts Sinnvolles wollte sich daraus folgern lassen. Dr. Sylvester Quell hatte sich vielleicht interessiert gezeigt – und er war verschwunden. Der ›Heilige‹ kam über seinen ursprünglichen Einfall nicht hinaus. Beim Tee erstattete er Patricia Holm Bericht, und was er ihr erzählte, setzte sie in Erstaunen. Er entwickelt eine Theorie, die jeder andere zögernd als eine bloße Vermutung und eine wahnwitzige dazu vorgetragen hätte, mit solch lebhafter Überzeugungskraft, daß ihre Zweifel ins Wanken gerieten und in den ersten fünf Minuten zusammenbrachen. Und danach lauschte sie ihm mit etwas rascher pochendem Herz, hilflos gefangen von der einfachen Kühnheit seiner Idee. Als er sie schließlich um ihre Meinung fragte, wußte sie, daß es nur eine Antwort gab. »Würdest du nicht sagen, der Versuch lohnte sich, meine alte Pat? Wir können uns nur irren – und falls wir uns irren, kostet es uns keinen roten Cent. Wenn wir aber recht haben…« »Ich werde dasein.« Als sie um sechs Uhr das Haus verließ, wußte sie, daß sie, sollte Simons Theorie zutreffen, am Rande eines Abenteuers standen, das die Menagerie von filetierten jungen Männern und modisch-geistreichen jungen Frauen, bei deren Bewirtung sie der Gastgeberin zu helfen versprochen hatte, das Wundern gelehrt hätte. Sie hätte vielleicht sogar eine sehr viel weniger kostbare Zuhörerschaft überwältigt, wäre Patricia geneigt gewesen, darüber zu reden. Aber Patricia machte sich nichts aus Zuhörern – eine Haltung, die die drastischste Antithese zu Simon Templars Einstellung darstellte, die man sich denken konnte. Ganz gewiß würde keins der berühmten oder doch fast berühmten Wundertiere, mit denen Marion Lestrange einmal im Monat ihre Räume bevölkerte, geglaubt haben, daß die
junge Dame, die so teilnahmsvoll ihren öden Autobiographien lauschte, die Komplicin des bekanntesten Freibeuters der Gegenwart war. Die Cocktailparty plätscherte dahin auf einer zähflüssigen Flut aus gemischten Weingeistereien, mechanisch vorgetragenen Komplimenten, Klatsch aus zweiter Hand, abgestandener Kritik, Lispeln, Bärten, pubertärer Philosophie und persönlichen Fürwörtern. Patricia war mit der Hälfte ihrer Aufmerksamkeit dabei, während sich die andere Hälfte vergeblich fragte, warum die Ichbezogenheit, die beim ›Heiligen‹ so herrlich und so bezaubernd war, bei der sie umgebenden gemischten Menschheit so schwülstig und leer wirkte, daß es einen ekelte. Sie sah, wie die Zeiger ihrer Armbanduhr auf sieben zukrochen und weiter auf sieben Uhr dreißig, und überlegte, ob der ›Heilige‹ sich vielleicht doch geirrt hatte. Es war zehn vor acht, als die Gastgeberin zu ihr kam und ihr mitteilte, daß sie am Telefon verlangt werde. »Bist du es, Pat?« fragte die Stimme des ›Heiligen‹. »Hör zu. Ich habe den erstaunlichsten Dusel gehabt. Kann ich dir jetzt nicht erzählen. Kannst du da weg?« Patricia spürte, wie es ihr kalt den Rücken heraufkam. »Ja – ich kann jetzt kommen. Wo bist du?« »Im ›May Fair‹. Spring in ein Taxi und braus los. Ich warte auf dich in der Halle.« Mit einem Gefühl, das zwischen Furcht und Erleichterung schwebte, zog sie sich den Mantel an und setzte den Hut auf. Die Unterbrechung war so präzise eingetroffen, wie der ›Heilige‹ sie vorausgesagt hatte, und das hatte etwas geradezu Unheimliches. Und das halbe Dutzend nackter und nichts erläuternder Sätze, das aus dem Hörer gekommen war, bewies ohne jeden Zweifel, daß das siedende Geheimnis kurz vor einer Explosion stand, die niemand anders außer Simon
Templar sich mit Fleiß aus der Nähe ansehen würde. Als sie die Treppe hinunterlief, fuhren ihre Finger über die unsichtbaren Umrisse von etwas Hartem, Kantigem, das sicher unter ihrer Achsel festgeschnallt war, und der finstere Kontakt schenkte ihr das alte Selbstvertrauen vergangener gefährlicher Tage wieder. Ein Taxi kam am Rinnstein entlanggekrochen, als sie auf den Cavendish Square hinaustrat, und sie winkte es herbei und stieg ein. Der Wagen fuhr mit einem Ruck an, und nun merkte sie, daß die Scheiben geschwärzt und gegen Beschädigung von innen durch ein dichtgeknüpftes Netz aus Stahldraht gesichert waren. Sie beugte sich vor und tastete im Dunkeln nach dem Türgriff. Ihre Finger fanden nur eine glatte Metallplatte an der Stelle, an der der Griff hätte sein sollen; und sie wußte, daß der Mann, der sich Jones nannte, wahrhaftig so schnell dachte und so tüchtig und gründlich arbeitete, wie der ›Heilige‹ es in seiner Diagnose vorausgesagt hatte.
V
Es war kurz vor sieben, als der ›Heilige‹ den Motor seines Wagens anspringen ließ und gemächlich in östlicher Richtung durch den Hydepark rollte. Er war von innigem Vertrauen auf seine Kalkulation von Zeitplänen beseelt, und seine Berechnung von Mr. Jones’ Programmablauf war geradezu unheimlich exakt. Er hielt an der Südwestecke des Cavendish Square an, von wo aus er gerade eben die Tür des Lestrangeschen Hauses sehen konnte, und bereitete sich auf ein angemessenes Ausharren vor. Er hatte gerade seine dritte Zigarette zu Ende geraucht, da schwenkte ein nagelneues Taxi in den Platz ein und schlich im Schneckentempo an der Tür vorbei, die er beobachtete. Es erreichte die Nordostecke, beschleunigte das Tempo auf der Ost- und Südseite und bummelte dann wieder nach Norden hinauf. Der ›Heilige‹ beugte sich über eine Zeitung, als es an ihm vorbeifuhr; und als er wieder aufblickte, glitzerte das Blau in seinen Augen hart wie Saphire. Patricia stand in der Haustür; und er wußte, daß Mr. Jones ohne jeden Zweifel fix handelte. Simon saß da und sah zu, wie das Mädchen das Taxi heranwinkte und einstieg. Der Wagen fuhr blitzschnell an; und Simon drückte auf den Anlasser und klemmte sich mit dem großen silbernen Hirondel dahinter. Das Taxi bog nach Norden ab und tauchte in den Verkehrsstrom auf der Marylebone Road ein. Es fuhr ein überraschendes Tempo für ein Fahrzeug seines Typs, und der ›Heilige‹ war froh, daß er den Anspruch erheben durfte, schneller zu sein als fast jeder andere auf der Straße. Mehr als
einmal rettete ihn nur die explosive Beschleunigung seiner leisen hundert Pferdestärken davor, daß er sich in einem Knäuel langsam dahinkriechenden Verkehrs festfuhr, was seinem Vorhaben unwiderruflich das Genick gebrochen hätte. Er klammerte sich an das hintere Nummernschild des Taxis wie ein ausgehungerter Blutegel, schlängelte sich ihm hinterher, vorbei an Bussen, Lastwagen und Personenwagen jeder Größe und jeden Typs, immer weiter nach Westen auf der Hauptverkehrsstraße und dann an der Kreuzung Baker Street rechts ab. Jedem Schwenker, jedem Abbiegen seiner nichtsahnenden Beute folgte er so getreulich, als steuere er lediglich einen Anhänger, der mit einem unsichtbaren Stahlseil an den Wagen vor ihm gekuppelt war. Es war dies die einzige Methode, ganz sicher zu gehen, daß nicht irgendein geringfügiger Unfall ihn einklemmte und abhängte, während das Taxi um eine Ecke bog und für immer verschwand; und der ›Heilige‹ konzentrierte sich darauf mit einer eiskalten Ausschließlichkeit der Zielsetzung, die jeden anderen Gedanken aus seinem Kopf verbannte, und er fuhr unter Benutzung sämtlicher Kniffe, die er kannte, und mit der unerbittlichen Entschlossenheit, seinen Kühler auf einem Punkt im Raum festgenagelt zu halten, der genau dreißig Zentimeter hinter dem Achtersteven des Taxis lag. Er lief laufend Gefahr, daß der Fahrer des Taxis auf seine napfschneckenartige Anhänglichkeit aufmerksam wurde, aber das war ein Risiko, das außer acht gelassen werden mußte. Zum Glück wurde es nun rasch dunkel nach einem trüben, regnerischen Nachmittag; in einer rasch dichter werdenden Dämmerung jagten sie über die Finchley Road, und als sie an der U-Bahn-Station Swiss Cottage vorbeirasten, nahm der ›Heilige‹ die erste Chance der Verfolgungsjagd wahr: er fiel ein gutes Stück zurück, schaltete seine Scheinwerfer ein, sauste von neuem hinter dem Taxi her und erfaßte nach dreißig
atemlosen Sekunden das rote Glühwurmauge seines Schlußlichts. Dieser Kunstgriff war sehr wohl angetan, irgendwelchen möglichen Argwohn zu zerstreuen; und die Scheinwerfer eines Wagens ähneln denen aller anderen Wagen sehr, wenn sich die unterscheidenden Merkmale der Karosserie hinter zwei lichtstarken Strahlenbündeln verbergen. Bis jetzt hatte die Prozession ihn über vertraute Straßen geführt, aber eine geringe Weile nachdem er seine Scheinwerfer angeknipst hatte, wußte er nicht mehr, wo sie waren. Sein Orientierungssinn ließ ihn zwar vermuten, daß sie sich irgendwo östlich der Finchley Road befanden und in nördlicher Richtung fuhren, aber dann wirbelte das Taxi vor ihm um eine Kurve nach der anderen, bis die Nadel auf seinem gedachten Kompaß nur noch so kreiselte und ihm die Straßennamen, die er dann und wann aus den Augenwinkeln erwischte, völlig unbekannt vorkamen. Schließlich fuhren sie eine Allee entlang, deren große Häuser ein gutes Stück von der Straße zurück lagen, und das Taxi vor ihm wurde langsamer. Von intuitivem Begreifen geleitet, hielt der ›Heilige‹ sein Tempo bei und schoß an ihm vorbei. Er beobachtete das Taxi in seinem Rückspiegel und sah, daß es etwa zwanzig Meter hinter ihm in ein in eine hohe Mauer eingelassenes Gartentor einbog. Simon bog scharf um die nächste Ecke und bremste hart. In einer Sekunde war er aus seinem Wagen heraus und ging eilig zu der Einfahrt zurück, in der das Taxi verschwunden war. Er schlenderte gemächlich an dem offenen Tor vorbei und prägte sich das Gelände so genau ein, wie er es mit einem einzigen forschenden Blick unter der schräggezogenen Krempe seines Hutes hervor vermochte. Das Haus war ein wuchtig düsteres dreistöckiges Bauwerk im pompösesten gregorianischen Stil; es erinnerte an einen dicken Erzdechanten, der mit rhinozeroshafter Seelenstärke einen
Leberanfall erträgt. Und das einzige Licht, das auf der Vorderseite zu sehen war, rührte von einer blaßrosa Birne, die unter dem kahlen Säulenvorbau hing wie eine einsame Pflaume in einem Obstgarten, den die Pflücker abgeerntet haben. Der vernachlässigte Vorgarten war gesprenkelt von den Schatten einiger Lorbeerbüsche und ungepflegter Blumenrabatten. Von dem Taxi war nichts zu sehen; aber ein schwacher Lichtschimmer war hinter einem Gebüsch an der rechten Hausseite auszumachen. Der gemächliche Schritt des ›Heiligen‹ verlangsamte sich allmählich und kam dann zum Stillstand. Schließlich war Mr. Jones der Mann, dem er zu begegnen wünschte, und dies schien Mr. Jones’ Hauptquartier zu sein, und das Nachtleben in diesem Teil Hampsteads hatte keine rivalisierende Attraktion zu bieten. Die leitende Idee duldete keine Konkurrenz; und ein aufmerksamer Blick die Straße hinauf und hinunter verriet ihm, daß keine anderen Abendbummler in der Nähe waren, die bemerken würden, was vor sich ging. Simon schob die Hände in die Hosentasche und griente sanft zu den Sternen auf. »Also los«, murmelte er. Die dichten Schatten im Garten verschluckten ihn wie einen Geist. Er hörte das schwache Schaltgeräusch eines Wagens, als er sich an einem Lorbeergesträuch vorbeidrückte und vorsichtig am Grasrand des Weges entlangstapfte, der ums Haus herum zu der Ecke führte, in der er das Licht gesehen hatte; und er bog gerade rechtzeitig um die Ecke des Hauses, um zu sehen, wie das Heck des Taxis durch die Tür der Garage glitt, die neben Mr. Jones’ Villa errichtet worden war. Simon hielt abermals inne und stand wie eine Statue da, während er zuguckte, wie eine dunkle Gestalt mit knirschenden Schritten aus dem Dunkeln auftauchte und die Tür hinter dem Taxi schloß – von innen. Er mutmaßte, daß eine direkte Verbindung
aus der Garage ins Haus bestand, aber er hörte einen schweren Riegel kratzend in die Fassung gleiten, als er näher heranging, um sich selbst zu überzeugen. Der ›Heilige‹ schlich sich an der Garage vorbei hinters Haus und wartete. Nach einer Weile sah er zwei parallele Schlitze Licht an den Rändern eines zugezogenen Vorhangs im ersten Stock hervorblinken: sie waren kaum mehr als haarfeine Linien nahezu unsichtbarer Helle, die sich in die Schwärze der Mauer eingruben, aber sie genügten, um ihm die Auskunft zu geben, die er benötigte. Zu ebener Erde, ihm fast genau gegenüber, erkannte er eine zweite Tür – offensichtlich ein Kücheneingang für Dienerschaft, Lieferanten und Polizisten, die zehn Minuten übrig hatten und sich auf einen Flirt mit Köchinnen verstanden. Er ging darauf zu und tastete sie vorsichtig mit den Fingern ab. Ein sanfter Druck hier und da zeigte ihm an, daß sie nicht verriegelt war, und er fühlte in seiner Tasche nach einem schlanken Bund von Nachschlüsseln. Beim dritten Versuch drehten sich die schweren Platten zügig zurück, und Simon steckte die Schlüssel wieder ein und drückte die Tür Millimeter um Millimeter auf, während er die Klinge seines Taschenmessers gegen die Stelle drückte, an der sie zuerst würde durchschlüpfen können. Sobald die Klinge in den Spalt glitt, hielt er mit dem Aufschieben der Tür inne und fuhr mit dem Messer in der winzigen Öffnung auf und nieder. Ganz unten an der Tür stieß das Messer auf einen Widerstand; und der ›Heilige‹ schnippte mit einer geschickten Drehung und einem unhörbaren Seufzer der Genugtuung die Alarmvorrichtung beiseite und trat ein. Mit dem Rücken zur Tür auf der Matte stehend, steckte er das Messer weg und löste eine winzige Taschenlampe aus der Klemme in seiner Brusttasche. Die Lampe war nicht länger als ein Füllfederhalter, und ein Stück Silberpapier mit einem zwei
Millimeter großen Loch darin war über die Birne geklebt, so daß der ausgesandte Lichtstrahl nadeldünn war. Eine dreizöllige Ellipse konzentrierten Lichts huschte die Wand an seiner Seite entlang und rundete sich zu einem perfekten Kreis, als sie auf einer Tür zur Ruhe kam, die der Tür, durch die er eingetreten war, genau gegenüberlag. Simon Templars Erfahrung als Einbrecher war recht beschränkt. Bei den seltenen Gelegenheiten, da er sich auf ungesetzliche Weise in die Häuser seiner Opfer eingelassen hatte, war es fast stets mehr um Auskünfte als um Beute gegangen. Und er machte sich an die Erforschung der Wohnstatt des Mannes namens Jones mit dem unverdorbenen Eifer und Genuß eines Mannes, für den das Verbrechen noch ein Abenteuer war. Die eine Hand immer noch leicht in der Seitentasche seiner Jacke, öffnete er lautlos die gegenüberliegende Tür und schlüpfte in eine große, schwach beleuchtete Mitteldiele. Eine breite Marmortreppe führte an den Wänden der Diele hoch, kletterte von Galerie zu Galerie die drei Stockwerke des Hauses hinauf, bis sie sich nicht mehr abhob von der großen schwarzen Leere hoch oben, wo wahrscheinlich ein gemaltes Glasfenster als Oberlicht ins Dach eingelassen war. Alles um Simon her war in Totenstille gehüllt, und die Atmosphäre hatte die nackte Feuchtheit von Luft, die schon seit Monaten nicht mehr geatmet worden ist. Alles, was er berührte, hinterließ einen dünnen Schmutzfilm an seinen Fingern, und als er mit seiner Lampe eins der Zimmer im Erdgeschoß ableuchtete, stellte er fest, daß es leer und verfallen war; die Farbe blätterte von den Wänden, und Spinnweben schmückten einen ungeheuer schäbigen vergoldeten Kronleuchter. »Für diesen einen Zweck gemietet«, diagnostizierte er. »Das Erdgeschoß kommt natürlich nicht in Frage – nicht für entführte Gefangene.«
Er flitzte die Treppe hinauf, ohne daß seine federleichten Kreppsohlenschuhe auch nur das geringste Geräusch machten. Ein Streifen billigen Teppichs war als Läufer unordentlich auf der Galerie ausgelegt, von der aus man in die Zimmer des ersten Stockwerks gelangte; und der ›Heilige‹ ging leise auf ihm von Tür zu Tür und horchte. Dann hörte er in überraschender Deutlichkeit eine Stimme, die er erkannte. »Sie haben nichts zu befürchten, Miß Holm, solange sie sich gut aufführen. Es tut mir leid, daß ich mir die Freiheit nehmen mußte, Sie zu entführen, aber Ihnen sind zweifellos ein paar Gründe bekannt, warum ich die Neugierde Ihres Freundes dämpfen muß.« Er hörte die ruhige Antwort des Mädchens: »Sie hätten ganz gewiß eine weniger umständliche Methode, Selbstmord zu begehen, erfinden können.« Das tiefgetönte Lachen des Mannes antwortete ihr. Vielleicht konnte nur der ›Heilige‹ den eisernen Kern rücksichtsloser Drohung heraushören, der die Obertöne seiner vollkehligen guten Laune härtete. »Ich bin froh, daß Sie nicht hysterisch sind.« Eine kurze Pause. »Falls es irgend etwas innerhalb vernünftiger Grenzen gibt, was Sie haben möchten, werden Sie hoffentlich darum bitten. Haben Sie Hunger?« »Danke«, erwiderte das Mädchen kühl. »Ich hätte gern ein paar Würstchen, ein wenig Kartoffeln und eine Tasse Kaffee.« Simon schoß die Galerie entlang und stieß die nächstbeste Tür auf. Durch den Spalt, den er offenließ, sah er einen untersetzten grauhaarigen Mann aus dem Zimmer nebenan treten, die Tür hinter sich verschließen und die Treppe hinuntergehen. Als der Mann sich zu dem Schlüssel herabbeugte, prägte sich dem ›Heiligen‹ wie eine Fotografie ein dunkles, großflächiges, glattrasiertes Gesicht ein. Dann sah
er nur noch den breiten gutgeschneiderten Rücken treppabwärts seinem Blick entschwinden. Die Schritte des Mannes verklangen; und Simon kehrte zum Treppenabsatz zurück. Er stand vor der Tür zu Patricias Zimmer und klopfte sachte mit den Fingernägeln an das Holz. »Hallo, Pat!« Ihr Kleid raschelte im Zimmer. »Flinke Arbeit, Junge. Wie hast du das geschafft?« »Kinderleicht. Alles in Ordnung?« »Klar.« »Wie sieht das Fenster aus?« »Eine Art Käfig davor – ich komme nicht ans Glas heran. Das Taxi war genauso. Da ist eine Liege und zwei Korbstühle. Der Tisch ist sehr niedrig – die Beine würden nicht durch das Gitter bis an die Scheiben reichen. Er hat an alles gedacht. Waschschüssel und Wasserkrug auf dem Boden – ein paar Handtücher – Zigaretten…« »Was ist aus dem Taxifahrer geworden?« »Das war Mr. Jones.« Der ›Heilige‹ holte nachdenklich Atem. »Hui! Und was für ein Alleingänger!… Kannst du noch ein bißchen warten? Ich würde gerne noch den übrigen Bau erkunden, bevor ich anfange, Ärger zu machen.« »Mach nur, alter Junge. Mir geht’s bestens.« »Hast du deine Pistole noch?« »Klar.« »Bis dann, Mädchen. – « Der ›Heilige‹ ging auf Zehenspitzen die Galerie entlang und schnürte die nächste Treppe hinauf.
VI Kein Licht brannte auf der oberen Galerie, aber ein trübes Zwielicht schimmerte von den unteren Lampen herauf und gestattete dem ›Heiligen‹, sich so schnell vorwärts zu bewegen, wie er wollte. Mit der schlanken Taschenlampe in der Hand ging er in dem oberen Stockwerk von Tür zu Tür, drückte mit unsäglicher Vorsicht auf die Klinken und suchte die Zimmer mit dem tanzenden Strahl seiner Leuchte ab. Das erste, in das er hineinsah, war einfach, aber behaglich als Schlafzimmer möbliert. Es war offensichtlich bewohnt, denn das Bett war nicht gemacht worden, seit zuletzt jemand darin geschlafen hatte, und ein Rasierpinsel mit einer Krone aus getrocknetem Seifenschaum stand auf dem Kaminsims. Das zweite Zimmer war ebenfalls ein Schlafzimmer, ordentlicher hergerichtet als das erste, aber ein unter dem Kopfkissen hervorschauender seidener Schlafanzug bewies, daß es ebenfalls benutzt wurde. Die Tür des dritten Zimmers war verschlossen, und Simon griff abermals nach seinen Nachschlüsseln. Das Schloß war von derselben Sorte wie das an der Hintertür, durch die er das Haus betreten hatte – eine von diesen wichtigtuerischen nutzlosen Vorrichtungen, die jeder Einbrecher mit einer krummen Nadel öffnen kann –, und nach knapp zwei Sekunden schnappte es auf. Simon öffnete die Tür um einen Spalt und stellte fest, daß das Zimmer dunkel war. Er ging dreist hinein und vierteilte den Raum mit seinem auf- und abhuschenden Lichtstift. Die fliegende Leuchtscheibe tanzte über die Wände, hielt plötzlich inne und ergoß sich als unregelmäßige Pfütze über die regungslose Gestalt eines Mannes, der auf dem Boden lag, als schlafe er. Aber der ›Heilige‹ wußte, daß er tot war.
Er kniete nieder und stellte eine rasche Untersuchung an. Der Mann war seit etwa achtundvierzig Stunden tot – eine Wunde war nicht zu sehen, aber als Simon sein Gesicht dicht an den Mund des Toten heranbrachte, roch er den nicht zu mißdeutenden Geruch von Blausäure. Als er wieder aufstand, schlug er unabsichtlich das Jackenrevers des Mannes um, und da sah er das dünne silberne Abzeichen darunter – den silbernen Windhund der königlichen Kuriere. Der ›Heilige‹ stand sehr langsam wieder auf. Das Wasser war tiefer, als er jemals erwartet hatte, und eine eigentümliche Erschütterung durchfuhr ihn. Dieses schlanke silberne Abzeichen hatte das Abenteuer mit einem Schlag aus einem mehr oder weniger gewöhnlichen, wenn auch immer noch geheimnisvollen kriminellen Problem in eine Intrige verwandelt, die wer weiß wohin führen konnte. Als er das Zimmer verließ, hörte er den Mann namens Jones wieder die Treppe heraufkommen. Er äugte über die Brüstung und sah, daß der Mann ein Tablett trug – die Versorgung schien in diesem Hause außerordentlich empfehlenswert zu sein, wenn auch nichts sonst auf dieses Prädikat Anspruch erheben konnte. Simon glitt lautlos die Galerie entlang. Er öffnete noch zwei weitere Zimmer, die beide leer waren; dann hielt er vor dem nächsten inne und entdeckte einen dünnen Lichtstreifen unter der Tür. Er stand ein paar Sekunden lang still da und horchte. Er hörte ein gelegentliches Klirren von Glas oder Metall und das Geschlurfe von Pantoffeln auf dem Teppich; aber Stimmen vernahm er nicht. Nahezu mechanisch drückte er auf die Klinke, und er erlebte eine der größten Überraschungen seines Lebens, als er spürte, daß die Tür sich öffnete. Der ›Heilige‹ erstarrte zu einem regungslosen Standbild, und ein trockenes elektrisches Kitzeln huschte ihm über die Haut.
Wie die Tür da unter seiner leichten Berührung nachgab, das zerfetzte die Fundamente unter seiner nebelhaften Theorie über den Bewohner des Zimmers. Innerhalb von vier Sekunden fand, betrachtete und verabschiedete sein Verstand eine ganze Serie möglicher Erklärungen, die sich alle in erster Linie durch ihre Nutzlosigkeit auszeichneten. In der fünften Sekunde prägte sich dieser letzte Umstand unausweichlich seinem Hirn ein, und er gab es sich selbst gegenüber mit einem schiefen Achselzucken und der Dezimalstelle eines Lächelns zu. Theorien mochten am rechten Ort durchaus angebracht sein, aber er war auf der Suche nach unwiderlegbarem Wissen ins Haus des Mannes namens Jones gekommen, und ein Teilstück dieses unwiderlegbaren Wissens harrte seiner Aufmerksamkeit in diesem Zimmer. Ihm blieb nur noch, hineinzugehen und sich vorzustellen – und das war genau das, um dessentwillen er einen ruhigen Abend bei sich zu Hause geopfert hatte. Er spähte in die Diele hinunter. Unten rührte sich nichts, und es war auch nichts zu hören. Ein, zwei Augenblicke lang konnte er vielleicht das Feld als allein ihm gehörig betrachten – wenn er sich nur schnell und lautlos seiner bemächtigte. Die Tür des erleuchteten Zimmers öffnete sich unter dem steten Drängen seiner Finger Zentimeter um Zentimeter weiter, während seine Nerven angespannt waren, um der Bewegung beim ersten schwachen Ansatz eines Quietschens Einhalt zu gebieten. Allmählich wurde der Streifen zwischen Tür und Pfosten breit genug, daß er einen Teil des Zimmers sehen konnte. Ein bizarres Gewirr von Metall und Glas war im Durcheinander mit zahllosen Strängen und Knäueln von Draht überall auf dem Stück Boden, das er sehen konnte, aufgehäuft wie der Abfallberg eines dieser alptraumhaften Laboratorien der Zukunft, die man in jedem Science-Fiction-Heft sehen kann. Der unwissenschaftliche Verstand des ›Heiligen‹ nahm nichts weiter auf als den reinen visuellen Eindruck – ein
scheinbar zielloses und zweckloses Konglomerat aus polierten Metallscheiben und schimmernden Kristallröhren, die sich ineinander verschlangen wie die Plastik eines Futuristen, die das erste Kontaktnehmen zweier Freistilringer zeigt. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Arbeitstisch aus Holz und Porzellan mit Ständern und Regalen voller Glasgefäße und bunter Mixturen in Flaschen darüber. Es war die phantastischste Ansammlung unverständlicher Apparate, die Simon Templar jemals gesehen hatte; und doch schien das Ganze auf lachhaft konventionelle Weise seinen Brennpunkt in dem leitenden Verstand des schlanken weißhaarigen Mannes zu haben, der in schmutzigem weißem Kittel mit dem Rücken zu der offenen Tür an dem Arbeitstisch stand. Simon trat sehr leise in das Zimmer und schloß die Tür lautlos hinter sich. Da stand er dann, Rücken gegen die Tür gelehnt, die rechte Hand behaglich um den Knauf seiner Pistole in der Tasche, und räusperte sich entschuldigend. »Guten Abend«, sagte er. Der Mann am Tisch fuhr mit einem Ruck herum. Er hatte ein sanftes Gesicht, und auf der Spitze seiner langen fleischigen Nase saß schräg nach vorn gekippt ein dicker goldgefaßter Kneifer, und seine Reaktion erfolgte in einer Form, die der ›Heilige‹ am allerwenigsten erwartet hatte. »Was, zum Teufel, wollen Sie hier?« herrschte er ihn an. Zu sagen, der ›Heilige‹ sei überrascht gewesen, bedeutet ganz und gar nichts. Die Wirkung auf sein Gemüt war ziemlich dieselbe, wie wenn der betagte Wissenschaftler einen schrillen Kriegsschrei ausgestoßen und Karrenräder über seine Reagenzgläser gerollt hätte. Selbst in dieser Zeit der Rede- und Gedankenfreiheit erschien ihm die Begrüßung auf einzigartige Weise ungewöhnlich. Wenn man sich mit beträchtlicher Mühe und ohne ins Gewicht fallende Hoffnung auf eine Belohnung ans Aufspüren eines entführten Professors gemacht hat – wenn
man im Verlauf der Pirsch mit ein paar Kugeln von der Fährte gescheucht werden sollte und sich nicht scheuchen ließ und es im Sinne der guten Sache für nötig befunden hat, sich dem Vorwurf gemeinen Einbruchs auszusetzen –, dann dürfte man wahrhaftig berechtigt sein, einen einigermaßen herzlichen Empfang vom Gegenstand der Rettungsexpedition zu erwarten. Schon einmal zuvor war der ›Heilige‹ in recht ähnlichen Umständen ziemlich genauso begrüßt worden, und die Erinnerung an das Abenteuer war noch sehr lebendig in ihm. Sie ließ ihn das unwillkürliche Hochzucken der Augenbrauen bremsen; und als er dann eine Antwort fand, klang seine Stimme vollkommen natürlich und unbewegt. Nur ein Ohr, das darauf aus war, hätte die Degenspitzen gespürt, die aus seinen beiläufigen Silben hervorstachen. »Ich wollte nur einmal nachfragen, wie es Ihnen geht, Doktor Quell.« »Hm! Warum können Sie mich nicht in Ruhe lassen? Wie soll ich irgendwelche Arbeit getan kriegen, wenn man mich alle zehn Minuten mit absurden Fragen belästigt?« Der alte Mann gestikulierte seinen Widerwillen mit dem ganzen Körper, von den Füßen bis in die Stirn, und der Kneifer auf seiner Nase zitterte vor Entrüstung. »Wofür halten Sie mich – für einen faulen Schuljungen? Hm? Verdammt noch mal, haben Sie denn selbst nichts zu tun?« »Wissen Sie, Professor, wir möchten nicht, daß Sie uns zusammenklappen«, erwiderte der ›Heilige‹ begütigend. »Wenn Sie sich bitte hin und wieder ausruhen möchten…« »Ich habe in der vergangenen Nacht sieben Stunden geschlafen. Ich bin nicht krank. Und wie sollte ich hiermit rechtzeitig fertig werden, wenn ich den ganzen Tag im Bett läge? Glauben Sie, es würde von selbst fertig? Hm?«
Simon nahm sein Zigarettenetui aus der Tasche und hielt auf eine passend geformte Metallkuppel zu, um sich darauf niederzulassen. »Dennoch, Professor, falls es Ihnen nichts ausmacht…« Der alte Mann sprang mit einem Kläffen auf ihn zu. Simon zog sich eiligst zurück; und der Professor funkelte ihn schwer atmend an. »Verdammt! Wenn Sie schon Selbstmord begehen wollen, müssen Sie es dann unbedingt hier erledigen?« »Selbstmord?« wiederholte der ›Heilige‹ unsicher. »Ich hatte nicht…« »Puh!« quakte der Professor. Er griff nach einem losen Ende Draht und warf es auf die Kuppel, auf die Simon sich hatte setzen wollen. Einen Augenblick lang knisterten und sprühten heiße blaue Flammen, und dann hatte der Draht aufgehört, einem Draht auch nur entfernt zu gleichen. Er rieselte in Gestalt einiger glühender Tropfen an der Kuppel herab; und Simon wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mit einem gewissen Maß an Bereitwilligkeit kehrte er in den freien Raum in Türnähe zurück. »Vielen Dank, Professor«, sagte er. »Haben Sie noch mehr solcher Feuerwerkseffekte auf Lager?« »Bah!« krächzte der Professor beleidigt. Er kehrte an seinen Tisch zurück und wischte sich die Hände an einem Lappen ab, ganz wie ein wohltätiges Mitglied der feinen Gesellschaft, das die Verunreinigung eines Nachmittags bei den Armen entfernt. »Möchten Sie sonst noch etwas wissen?« bellte er. Und der ›Heilige‹ nahm sich zusammen für den Pfeil, den er ins Blaue abschießen mußte. »Wann sehen wir denn nun das erste Gold?«
Der Professor schien am Rande eines Ausbruchs, neben dem die vorhergehende Demonstration zu höflicher Teetischkonversation verblassen würde. Und dann beherrschte er sich mit gewaltiger Anstrengung. Er antwortete dem ›Heiligen‹ mit der gräßlich gezwungenen Zurückhaltung einer vernarrten Mutter, die Interesse zeigt für die Altklugheiten des Wunderkindes konkurrierender Eltern und dabei denkt, was für ein abscheuliches kleines Biest es doch sei. »Wenn Sie Ihre Augen aufmachen können. Wenn Sie sich eine Brille beschaffen können, die so stark ist, daß Sie Ihnen Dinge zeigt, die ein bißchen kleiner sind als ein Heuschober. Oder sonst, wenn Sie eine bessere Methode als meine erfinden und Gold aus dem Hahn über die Badewanne laufen lassen können. Dann!« Der alte Mann schlurfte zu einem Schrank hinüber und riß die Tür auf. »Da! Schauen Sie noch einmal hin! Versuchen Sie, es zu sehen! Borgen Sie sich ein Mikroskop, wenn es sein muß! Aber, bei allen Heiligen, junger Mann« – die bebende Stimme verlor etwas von ihrer Beherrschung und kletterte zwei schrille Töne höher –, »bei allen Heiligen, geben Sie gefälligst nie wieder solch idiotisches Zeug in meinem Labor von sich!« Simon starrte in den Schrank. Er hatte nie davon geträumt, daß er einmal Reichtum dieses Ausmaßes in konkreter Form konzentriert vor seinen Augen sehen würde. Vom Boden bis unter die Decke war der Schrank damit vollgestapelt – mit großen backsteinförmigen gelben Barren, die das Lampenlicht als ein einziger aufsteigender Block goldener Glätte widerspiegelten wie der wahr gewordene Traum eines Geizigen. Der Anblick machte ihn benommen. Es mußte Metall im Werte von über einer Million Pfund sein, das da achtlos in die hohe rechteckige Höhlung in der Wand gepackt worden war. Und in seinem Gedächtnis blitzte der Satz hin und her, den der sterbende junge Wüstling
in Paris sinnlos plappernd mehrmals wiederholt hatte: »Er sagt, Binks kann Gold machen…« Die überschnappende Stimme des Professors drang durch eine Art Nebel zu ihm durch. »Na? Können Sie es sehen? Haben Sie endlich Ihre Augen gefunden? Hm? Sind Sie nun allmählich zufrieden?« Simon hatte Mühe, seine Zunge wieder in Gang zu bringen. »Natürlich, das ist… eh… sehr zufriedenstellend, Doktor Quell, aber… « »Sehr zufriedenstellend. Das will ich meinen!« Der Professor schnaubte. »Einen halben Zentner pro Stunde. Sehr zufriedenstellend. Ha! Sie sind ein Narr – jawohl, das sind Sie, verdammt! Wenn der Rest des Geheimdienstes so schwachköpfig ist wie Sie, dann weiß ich nicht, warum dieses Land sich überhaupt einen Geheimdienst hält.« Der ›Heilige‹ stand sehr still da. Aber ihm war zumute, als sei eine Lichtbombe in seinem Innern explodiert. Das Geheimnis enthüllte sich vor seinen Augen mit einer Plötzlichkeit, die man nur mit einer Explosion vergleichen konnte. Die losgelösten Stücke wirbelten herum wie Flugzeuge im Strahl eines Suchscheinwerfers und formierten sich leuchtend mit einer geradezu unheimlichen Präzision. Alles fand seinen Platz: der Mord an Brian Quell, der königliche Kurier, der tot in einem Zimmer im selben Stockwerk lag, der Mann, der Gold machen konnte… der Mann namens »Binks« – ein seltsamer Spitzname, der solch einem hochbegabten und reizbaren alten Magier da von seinem liederlichen jungen Bruder gegeben worden war! Und dann diese sarkastische Bezugnahme auf den Geheimdienst: ein Einfall, der der Genialität dieses Mr. Jones würdig war – so viel einfacher, so viel klüger und wirksamer als die auf der Hand liegende und abgedroschene Alternative des Drohens und Folterns… Am allererstaunlichsten der Beweis, daß der
wesentliche Angelpunkt zutraf: Sylvester Quell – »Binks« – konnte tatsächlich Gold machen. Er hatte produziert – zentnerweise. Er produzierte weiter. Simon hörte ihn mit derselben überschnappenden Klagestimme weiter nörgeln. »Ich weiß nicht, warum ich hierhergekommen bin. Ich hätte viel besser in meinem eigenen Labor arbeiten können. Sich um mich kümmern, eh? Mit Ihrer Intelligenz können Sie nicht mal auf sich selbst aufpassen. Was glauben Sie wohl, was Sie nützen? Warum hauen Sie nicht ab und lassen mich arbeiten? Sie sind schlimmer als dieser andere Kerl mit seinen blöden Fragen und Tertianertests. Glaubt der vielleicht, ich weiß nicht, was echtes Gold ist, wenn ich es selbst mache?« Dem ›Heiligen‹ war alles vollkommen klar. Nur eine Frage blieb noch offen: wie er vorgehen sollte. Er hatte nun sehr wenig Zeit übrig für Auseinandersetzungen und Diskussionen – Flucht aus dem Haus war zu einem alles andere überschattenden Anliegen seines Lebens geworden, war wichtiger und entscheidender geworden, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Seine Hand glitt in die Tasche zurück, sein Daumen suchte den Sicherungsflügel seiner Pistole und schob ihn sanft zurück. Unter den geraden dunklen Augenbrauen richteten sich die blauen Augen des ›Heiligen‹ wie Speerspitzen auf Quell. »Natürlich nicht, Professor. Aber was die schriftliche Niederlegung des Verfahrens, Ihre Notizen angeht… « Er hatte seine Aufmerksamkeit so ausschließlich auf den Wissenschaftler gerichtet, daß die Bewegung der Tür hinter ihm seinem Ohr entging. Der Knall einer auf kurze Entfernung abgefeuerten Pistole hieb und stach ihm ins Trommelfell, und die Kugel fetzte durch seine Jacke. Er aber blieb unverletzt – es ist viel leichter, mit einer Pistole danebenzuschießen, als der unerfahrene Mensch annimmt, und vielleicht hatte Mr. Jones in
seiner Hast am Abzug geruckt. Der ›Heilige‹ warf sich herum und feuerte aus der Tasche, – seine Nerven waren ruhiger, und er traf, was er treffen wollte – die Pistole in der Hand des massigen Mannes. Die Waffe fiel zu Boden, und Simon trat näher. »Ganz still!« Rasende Wut verzerrte das Gesicht des Mannes. Hinter sich hörte Simon Quells schrilles Gejammer. »Was hat das zu bedeuten, Sir? Eh? Verdammt…« Der ›Heilige‹ lächelte. »Man hat Sie angeführt, Professor. Unser Freund gehört nicht mehr dem Geheimdienst an…« »Als Sie!« unterbrach ihn der schwere Mann mit bösartigem Knurren. Er hatte die Fäuste geballt, und sein Mund zuckte mörderisch – nur die Pistole des ›Heiligen‹ nagelte ihn fest, wo er stand. »Der hier ist einer von den Männern, vor denen ich Sie gewarnt habe, Professor – er will Ihnen Ihr Geheimnis stehlen – das ist es, was dies hier zu bedeuten hat! Der verdammte Verräter! Wenn ich nur erst an ihn herankönnte… Du meine Güte, warum tun Sie denn nichts? Er ist wahrscheinlich einer von der Bande, die Ihren Bruder umgebracht hat…« »Schluß damit!« Wie der Blitz fuhr die Stimme des ›Heiligen‹ durch das Zimmer; aber er merkte es einen Sekundenbruchteil zu spät, worauf das verzweifelte Geplapper des schweren Mannes hinführte. Quell sprang ihn mit einer Art Aufschluchzen plötzlich an, bevor er Zeit hatte, sich umzudrehen. Die knochige Hand des Professors rang mit dem Gelenk der Hand, die die Pistole hielt, und vom Haß besessene Klauen krallten sich in seinen Hals. Simon taumelte zur Seite unter dem berserkerhaften Anprall des Professors, und sein Ziel auf den Mann namens Jones war hoffnungslos dahin. Sie wankten in
der Ecke. Quells hysterisches Atmen zischte und keuchte dem ›Heiligen‹ gräßlich in die Ohren; und über die Schulter des Wahnwitzigen hinweg sah er, wie Jones sich bückte und mit der linken Hand nach der hingefallenen Pistole griff. Der ›Heilige‹ sah den sicheren und unerbittlichen Tod seinen Weg kreuzen wie ein vorbeisausender Schnellzug. Unter grimmiger Anspannung all seiner Muskeln schüttelte er den Professor ab und schleuderte ihn wie eine Lumpenpuppe durchs Zimmer. Quells furchtbarer Aufschrei klang in Simons Ohren wider, als er auf die Pistole zusprang und sie einen Zentimeter vor den zugreifenden Fingern des untersetzten Mannes mit dem Fuß wegtrat. Die Pistole knallte laut gegen ein Stück Metall auf der anderen Seite des Zimmers, und Simon packte den schweren Mann bei dem einen Revers seiner Jacke und riß ihn herum. Die Pistole des ›Heiligen‹ rammte sich zwischen die Rippen des schweren Mannes mit einer brutalen Kraft, die den anderen zusammenzucken ließ. »Das machen Sie mir nicht noch mal!« Simons Flüstern drang dem Mann mit einer arktischen Zärtlichkeit ins Ohr, die mit hundert Megaphonen ihren Sinn nicht hätte deutlicher machen können. Es klang eine zupackende Rauheit daraus, die nur ein Narr mißverstehen konnte. Und Mr. Jones war kein Narr. Er stand zu Stein erstarrt da; aber der Schweiß stand ihm in glitzernden Perlen auf der Stirn. Der ›Heilige‹ blickte blitzschnell zur Seite und sah, was Mr. Jones bereits gesehen hatte. Sylvester Quell saß auf dem Fußboden mit dem Rücken zu dem kuppelförmigen Apparat, der dem ›Heiligen‹ vorgeführt worden war. Eine Hand ruhte noch, gleichsam krampfartig angezogen, genauso auf der Kuppel, wie er sie unwillkürlich ausgestreckt hatte, um sich zu retten, als der wahnwitzige
Befreiungsstoß des ›Heiligen‹ ihn gegen die Maschine hatte zurücktaumeln lassen; aber die Hand war steif und seltsam geschwärzt. Das hochgebogene Gesicht des Professors war zu einem häßlichen Grinsen verzerrt… Während Simon noch hinschaute, rutschte der Kopf zur Seite und kippte auf die Schulter hinunter.
VII
Ein Zucken spannte das Gesicht des Mannes, der sich Jones nannte. Seine Augenbrauen waren an der Nasenwurzel zusammengezogen und strafften sich aufwärts an den Außenecken; die Augen darunter waren geschwollen und blutunterlaufen. »Sie haben ihn umgebracht!« schnarrte er. »Leider«, sagte der ›Heilige‹. »Ein unglückseliges Ergebnis meiner Selbstverteidigung – für die ausschließlich Sie verantwortlich sind.« »Es wird Ihnen Mühe machen, das zu beweisen!« Das sanfteste Lächeln des ›Heiligen‹ zupfte eine Sekunde lang an seinen schmalgezogenen Lippen. »Ich weiß nicht, ob ich es versuchen werde.« Er packte den schweren Mann plötzlich bei der Schulter und riß ihn wieder halb herum, trieb ihn dann zur Tür zurück. »Vorwärts, Genosse!« »Wohin wollen Sie?« »Nach unten. Eine mir nahestehende junge Dame wartet unten; sie könnte Platzangst kriegen, und sie ist wohl lange genug für einen Tag eingesperrt gewesen. Und falls sie die Würste nicht alle essen konnte, finde ich vielleicht für eine von ihnen eine neue Heimat.« Stufe um Stufe gingen sie die Treppe hinunter in einer Art Tangostil, der jedem humorvoll erschienen wäre, der die tödliche Spannung, die darin lag, nicht gemerkt hätte. Aber Simon Templar ließ es auf nichts mehr ankommen. Sein Finger war auf jedem Fuß des Weges straff um den Abzug gekrümmt, und der schwere Mann hielt mit ihm in einer Stille Schritt, die
vor boshafter Wachsamkeit prickelte. Sie gelangten an die Tür des unteren Zimmers, und der ›Heilige‹ blieb stehen. »Schließen Sie auf!« Der schwere Mann gehorchte; er drehte das Schloß mit einem Schlüssel, den er aus seiner Hosentasche holte. Simon trat die Tür weiter auf. »Hier geht’s ‘raus, Pat.« Er wartete auf dem Treppenabsatz, während das Mädchen aus dem Zimmer kam, ließ dabei den Blick keine Sekunde lang von der giftigen Regungslosigkeit des schweren Mannes. Patricia legte die Hand flüchtig auf seinen Arm, und er lächelte. »Simon – dann warst du es also nicht, den ich gehört habe…« »Der Schrei?« Simon umschlang sie mit einem Arm und hielt sie einen Augenblick lang so. »Nanu! Hast du gedacht, meine Stimme ist so scheußlich, liebes Herz? Nein, aber Bruder Jones war es auch nicht, und das ist schade.« »Wer war es dann aber?« »Doktor Quell. Pat, ich bin auf eine Sache gestoßen, die ist dicker, als ich erwartet hatte, und die Dinge sind nicht besonders gut gelaufen. Dieses eine Mal in unserem Leben wird Claud Eustace uns nützlich sein. Früher einmal hätten wir uns vielleicht allein herangemacht; aber ich habe ja wohl versprochen, vorsichtig zu sein.« Er betrachtete seinen Gefangenen. »Ich hätte gern Ihr Telefon«, sagte er. Der schwere Mann zögerte, und Simon bohrte ihm die Pistole zwischen die Rippen. »Na, los! Verdauungsstörungen können Sie hinterher haben.« Simon ließ das Mädchen los. »Und da fällt mir wieder ein: Falls du eins von diesen Würstchen übriggelassen hast… « Stufe um Stufe stiegen sie in die Diele hinunter, und der ›Heilige‹ benutzte seine freie Hand, um sich auf eine Weise zu verpflegen, die in den besten Kreisen nur selten praktiziert
wird. Das Telefon war in der Diele; es stand auf einem kleinen Tischchen neben der Haustür; und Simon gab Patricia seine Kanone und ging kauend darauf zu. Er schob einen Sessel vor die Tür und ließ sich darin nieder. Die Wählscheibe schnurrte und knackte. »Hallo?… Ich hätte gern mit Chefinspektor Teal gesprochen… Jawohl – und mit keinem anderen. Hier ist Simon Templar. Und ein bißchen fix!« Der schwere Mann trat mit gelbem Gesicht und fuchtelnden Händen ein Stück näher. Und augenblicklich nahm der Finger des Mädchens Druckpunkt. Es war eine kaum wahrnehmbare Bewegung; aber Mr. Jones sah sie, und ihre ruhige Absichtlichkeit war bedeutsamer für ihn als alles andere, was ihm in den Sinn gekommen war, seit die Pistole die Hand gewechselt hatte. Er hielt jäh inne, und der ›Heilige‹ griente. »Hallo. Sind Sie das, Claud?… Hm, ich brauche Sie… Ja, zum erstenmal in meinem Leben werde ich mich freuen, Sie zu sehen… Ich kann Sie schlecht am Telefon aufklären, aber ich verspreche Ihnen, es wird die Reise wert sein. Jede Menge Leichen in diesem Haus, und… Ah, ja, die werde ich Ihnen wohl besorgen können. Moment!« Er klappte eine Hand über den Hörer und blickte über den Tisch. »Wo sind wir hier, Jones?« »Das finden Sie mal besser selbst heraus«, entgegnete der schwere Mann widerspenstig. »Klar.« Das Lächeln des ›Heiligen‹ war engelhaft. »Ich find’ es heraus! Ich geh zur nächsten Straßenecke und gucke. Und bevor ich gehe, kicke ich Sie einmal in der Diele herum – nur um zu sehen, ob meine Beine noch funktionieren.« Er kam gemächlich hinter dem Tisch vor, und ihre Blicke begegneten sich.
»Wir sind hier in der Meadowbrook Road zweihundertacht«, sagte der Mann grimmig. »Herzlichen Dank.« Simon setzte sich wieder in den Sessel und nahm den Hörer auf. »Zwei-null-acht, Meadowbrook Road, Hampstead – ich werde Sie erwarten… Okay, Eustace.« Er erhob sich. »Und nun wollen wir wieder ein bißchen Treppen steigen«, sagte er munter. Er übernahm die Pistole wieder und führte die Gesellschaft treppaufwärts. Die Arbeit mußte erledigt werden, und sein Telefonanruf bei Chefinspektor Teal hatte seinem Handeln eine Zeitgrenze gesetzt, die nicht geändert werden konnte. Es lagen Welten zwischen diesem verlassenen Haus und dem Hotel in Paris, in dem Brian Quell gestorben war, und doch wußte Simon, daß er Zeuge war beim Schlußstück einer zusammenhängenden Kette von Ereignissen, die mit der unerforschlichen Gefühllosigkeit einer griechischen Tragödie abgerollt waren. Das Schicksal hatte ihn wieder und wieder in die Geschichte hineingeworfen, als sei es entschlossen, auch nicht die geringste Möglichkeit eines Versagens bei dem Kettenglied, das seinen Namen trug, unterlaufen zu lassen, – und es war ihm bestimmt, daß er das Ende der Geschichte auf seine Weise schreiben würde. Die Laboratoriumstür oben im Haus stand weit offen. Simon stieß den schweren Mann in den Raum und blieb hart hinter ihm. Patricia Holm trat als letzte ein. Sie sah den Professor zurückgelehnt an der Maschine kauern, das Gesicht immer noch zu der grausigen Grimasse verzerrt, die der Todeskampf im Hochspannungsstrom in seine Züge geprägt hatte, und sie biß sich auf die Lippen. Aber sie sagte nichts. Ihr fragender Blick suchte das Gesicht des ›Heiligen‹ ab, das wie in braunen Granit gehauen aussah; und Simon setzte sich ein Stück nach
rückwärts von seinem Gefangenen ab und verschloß die Tür hinter sich. »Wir haben nicht viel Zeit, Jones«, erklärte er ruhig; und der schwere Mann fletschte die Zähne. »Das ist Ihre Schuld.« »Zweifellos. Aber so ist’s nun mal. Chefinspektor Teal ist unterwegs, und wir haben ein paar Dinge zu erledigen, bevor er eintrifft. Ehe wir jedoch anfangen – darf ich Ihnen gratulieren?« »Ich will keine Gratulationen.« »Macht nichts, aber Sie haben sie verdient.« Der ›Heilige‹ angelte mit der linken Hand nach seinem Zigarettenetui. Vollkommen natürlich entnahm er ihm eine Zigarette und zündete sie an, und dabei warf er rasch und unauffällig einen Blick auf seine Armbanduhr. Sein Gehirn arbeitete wie ein Taxameter, kalkulierte Kilometer und Minuten. »Ich glaube, ich habe alles richtig aufgereiht, aber Sie dürfen mich verbessern, wenn ich irgendwo fehlgehe. Irgendwie – wie, das wollen wir mal beiseite lassen – haben Sie erfahren, daß Doktor Quell soeben ein vollkommen solides Verfahren zur Umwandlung von Metallen fertig entwickelt hatte. In geringem Umfang hat man es bereits früher bewerkstelligt, aber die Kosten des Verfahrens ließen es als einen Weg zum raschen Reichwerden nicht in Frage kommen. Quell hatte mit völlig neuen Methoden gearbeitet, die zu einer finanziell vollkommen sicheren Sache führten.« »Sie müssen eine lange Unterhaltung mit ihm gehabt haben«, meinte der schwere Mann spöttisch. »Habe ich, ja… Aber wie dem auch sei, Ihr nächstes Ziel war, sich des Verfahrens zu bemächtigen. Sie sind wirklich ein interessanter Mann, Jones – Sie arbeiten auf solch originelle Weise. Der gewöhnliche Schurke hätte versucht, den Professor gefangenzusetzen und zu foltern. Sie aber dachten sich
subtilere Methoden aus. Sie hörten von Quells Bruder, einem nichtsnutzigen Müßiggänger, der immer betrunken und meistens bankrott war. Sie fuhren nach Paris und versuchten, sich mit ihm zu verbünden, da sie sich sagten, daß er das Vertrauen seines Bruders würde gewinnen können, was vielleicht sonst niemand vermochte. Aber Brian Quell war nicht ganz ohne Aufrichtigkeit, und damit hatten Sie nicht gerechnet. Er schlug Ihr Ansinnen aus – und dann wußte er zuviel. Sie konnten nicht riskieren, daß er sich an Sie erinnerte, wenn er wieder nüchtern wurde. Also erschossen Sie ihn. Ich war da. Ein lausiger Schuß, Jones – genau wie der, den Sie vorhin auf mich abgefeuert haben, oder wie der andere gestern abend. Umgang mit Pistolen ist eine Gabe, Brüderchen, die Sie nicht besitzen.« Der schwere Mann sagte nichts. »Sie wußten, daß ich etwas von Brian Quells Ermordung wußte, also versuchten Sie, mich zu erwischen. Dieses Gerede von einem ›Abgesandten‹ war Quatsch – Sie spielten die Hand allein, denn Sie wußten, daß es auf der ganzen Welt keinen Gauner gibt, dem man bei einem solch dicken Ding trauen kann.« Der ›Heilige‹ hielt keinen Augenblick inne in seiner Analyse, aber sein Blick heftete sich wie festgenietet auf das Gesicht des Gefangenen, und er hätte sofort gemerkt, wenn einer seiner Pfeile ins Blaue sein Ziel verfehlte. Nicht die geringste Veränderung des Ausdrucks antwortete ihm, und er wußte, daß er recht hatte. Jones war allein. »Übrigens – hätten Sie was dagegen, mir genau zu erzählen, wie Sie erfuhren, daß irgend etwas in Paris schiefgegangen war?« »Wenn Sie es wissen wollen – ich glaubte, etwas draußen auf dem Korridor gehört zu haben, und ich ging hinaus, um mich zu vergewissern. Die Tür fiel hinter mir im Durchzug zu – sie hatte eins von diesen Sicherheitsschlössern. Ich mußte davor
stehenbleiben und horchen. Dann kam tatsächlich jemand den Gang entlang…« »Und Sie mußten verduften.« Simon nickte. »Aber ich glaube nicht, daß Sie mich heute morgen angerufen haben, nur um herauszufinden, wieviel ich gehört hatte. Was Sie wirklich wollten – Sie wollten meine Stimme hören, damit Sie sie nachmachen konnten.« »Das hat er tadellos gemacht«, sagte Patricia. »Sehen Sie, Jones? Wenn Sie Ihr Glück schon nicht als Kunstschütze machen konnten, hätten Sie vielleicht einen glänzenden Bauchredner abgegeben. Aber das wollten Sie nicht. War Ihnen nicht gut genug. Sie wollten der geniale Verbrecher sein, und da kam das Stroh ‘raus. Mein guter alter Knilch, dachten Sie denn wirklich, wir hätten noch nie von dem Taxiwitz gehört? Glaubten Sie tatsächlich, die arme kleine Patricia mit all ihrer sündigen Erfahrung würde auf den Trick hereinfallen? Jones, das war dumm von Ihnen – über alle Maßen und verhängnisvoll dumm. Wir haben Sie mit Ihrem kleinen Scherz weitermachen lassen, weil es uns so am leichtesten schien, Ihrem wunderschönen Schnurrbart recht nahe zu kommen. Wenn Sie uns Ihre Adresse genannt hätten, bevor Sie heute morgen abhängten, wäre uns die Mühe erspart geblieben, aber so…« »Und? Worauf wollen Sie hinaus?« fragte der schwere Mann mit kratzender Stimme. »Ich rekapituliere nur mal eben«, erwiderte der ›Heilige‹ gleichmütig, »damit Sie wissen, wie wir hierhergekommen sind. Und ich fand diesen königlichen Kurier in dem anderen Zimmer – das war die erste Bestätigung für das, wogegen wir anzugehen hatten. Irgend jemand, der Gold macht, hat den Geheimdienst jahraus, jahrein dabei sitzen: Eines Tages könnte die Entdeckung echt sein, und die erste Nachricht davon würde die internationale Börse zum Durchdrehen bringen. Es würde
die furchtbarste Panik der Geschichte ausbrechen, also muß jede Regierung schärfstens aufpassen. Dieser königliche Kurier hatte die Nachricht – Ihr Glück, daß Sie ihn erwischt haben.« Der schwere Mann schwieg, aber sein Gesicht war fahl und teigig. »Zwei Morde, Jones, die einzig und allein das Werk Ihrer Hände waren«, fuhr der ›Heilige‹ fort. »Und dann – der Professor. Zufällig, natürlich – ein Unfall. Aber ein sehr großes Pech. Denn es bedeutet, daß Sie der einzige Überlebende sind, der dieses ungeheuerliche Geheimnis kennt.« Simon sah weg. Aber er war sich nicht bewußt, was er anschaute. Alle seine geistigen Fähigkeiten konzentrierten sich auf die Züge, die immer noch fest in der Umgrenzung seines Blickfeldes standen; mit jedem seiner Sinne lag er auf der Lauer nach der Antwort auf die Frage, die er unmöglich stellen konnte. Dies eine mußte er wissen, bevor er irgend etwas anderes unternehmen konnte, und es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er bluffte, wie er schon einmal geblufft hatte: ohne das geringste Beben in der Stimme, ohne ein Zucken der Augenlider. Und das Ausdrucksvollste im Ausdruck des schweren Mannes war, daß er sich nicht änderte. Ohne das mindeste Anzeichen von Überraschung nahm der schwere Mann die beiläufige Feststellung des ›Heiligen‹ in seinen Wissensvorrat auf. Sie bedeutete ihm nicht mehr als ein weiterer überflüssiger Schlag auf den Kopf eines Nagels, der bereits tief genug eingetrieben war. Er blickte den ›Heiligen‹ finster an, und er blickte die Pistole in der Hand des ›Heiligen‹ finster an, beides ohne eine Bewegung, die über das mechanische Anfeuchten der Lippen hinausging. Auf eins nur war er aus: auf eine Chance zum Kampf – eine Chance, die grenzenlos
unwahrscheinlich schien. Und der ›Heilige‹ klopfte die Asche von seiner Zigarette und sah abermals den schweren Mann an. »Ich habe fast alles aus Doktor Quell herausgeholt, bevor Sie uns störten«, sagte er, und sein Tonfall machte aus der Versicherung absolute Gewißheit. »Es war sehr schlau von Ihnen, Quell das Verfahren Stück um Stück zu entlocken – und sehr nützlich, daß Sie genügend wissenschaftliche Kenntnisse besitzen, um es zu verstehen. Ich nehme an, daß Quells Dienstzeit ohnehin mehr oder weniger abgelaufen war – Sie hätten sich seiner entledigt, auch wenn es zu keinem Unfall gekommen wäre. Eine recht verläßliche, kluge Maßnahme für einen genialen Verbrecher, Jones, aber eben doch einen Strich zu gefährlich, wenn ein Sandkorn wie ich ins Getriebe gerät.« »Fassen Sie sich kurz«, knurrte der schwere Mann. »Was wollen Sie noch? Das Gold ist da…« »Ja, das Gold ist ganz gewiß da«, erwiderte der ›Heilige‹ ungerührt, »und in etwa zehn Minuten wird die Polizei hier sein und es anglotzen. Daran wird sich leider nichts ändern lassen. Ich würde auch gern schnell reich werden, aber heute abend ist mir klargeworden, daß es bei Verfolgung dieses Ziels einen Weg gibt, der für jedermann einfach zu gefährlich ist. Und Ihnen ist das nicht klar, Jones – da liegt der Hund begraben. Also können wir kein Risiko eingehen.« »Nein?« »Nein.« Simon blickte den schweren Mann mit Augen an, die sehr klar waren und hart wie polierte Feuersteine. »Nämlich dieses Geheimnis, das ist einfach zu groß, als daß man es von Ihnen allein aufbewahren lassen könnte. Da steckt zuviel Dynamit drin. Und doch kann die Polizei nicht die Bohne ausrichten. Sie ist durch das Gesetz gebunden, und vielleicht können Sie so eben der Mordanklage entwischen. Ich weiß nicht recht, wie die Beweise für die Geschworenen aussehen würden; und natürlich ist mein Ruf ziemlich angeschmuddelt,
und Sie sind vielleicht Parlamentsabgeordneter, das weiß ich ja nicht… Können Sie mir noch folgen, Jones? Die Polizei könnte Sie nicht zur Herausgabe Ihres Geheimnisses zwingen…« »Und Sie auch nicht!« »Ganz wie Sie wollen. Ich versuche es übrigens auch gar nicht. Aber bei meinem Ruf wäre es sehr übel für mich, wenn ich Sie erschösse. Andererseits könnte es natürlich noch einen Unfall geben – bevor die Polizei eintrifft.« Der Mann namens Jones stand mit lose herabhängenden Armen da und blickte den ›Heiligen‹ unverwandt an. In den letzten paar Minuten war er mit einemmal sehr still geworden: Das Knurren war aus seiner Stimme gewichen, und geblieben war statt dessen ein gezügelter Ton ingrimmigen Fragens. Das Kinn hatte er fest auf die mächtige Brust hinabgesenkt, und unter den dichten schwarzen Brauen richteten sich seine Augen mit der steinernen Helle braunen Marmors auf den ›Heiligen‹. Er zog unvermittelt seine muskulösen Schultern zusammen – das war die einzige Bewegung, die er machte. »Ist das eine Drohung?« fragte er. »Nein.« Simon war ebenso ruhig. »Ein Versprechen. Wenn die Polizei eintrifft, wird sie feststellen, daß es noch einen Unfall gegeben hat – Sie werden ebenfalls über die Maschine da gestolpert sein, Jones.«
VIII
Kaum war das letzte Wort heraus, da sprang der schwere Mann auf ihn zu. Simon wußte, daß das kommen würde – er war bereit, er wartete darauf. Anders konnte es gar nicht weitergehen, und er war darauf vorbereitet gewesen, seit man ihm eine Frage beantwortet hatte. Er hatte sich vorgenommen, nach der Rückkehr ins Laboratorium unter gar keinen Umständen noch einmal zu schießen, aber er riß seine Pistole vor Jones’ besessenem Zugriff zur Seite und warf sie geschickt Patricia zu. Sie fing sie in Kniehöhe auf; und der ›Heilige‹ duckte unter den Armen des schweren Mannes hindurch und rammte ihn gegen die Tür. Einen Augenblick lang standen sie unter Anspannung aller Kräfte von Angesicht zu Angesicht gegeneinandergestemmt, dann holte der ›Heilige‹ tief Atem und drehte sich halb über die Schulter um. »Nicht schießen, Pat!« sagte er. »Geh in die Ecke, und bleib aus dem Weg. Die Pistole ist für dich, damit du hier herauskommst, wenn’s danebengeht.« Der schwere Mann stieß sich mit einem mächtigen Ruck von der Tür ab und schleuderte den ›Heiligen‹ mit der ganzen Stoßkraft seines größeren Körpergewichts zurück. Er schüttelte den Griff des ›Heiligen‹ mit einer krampfhaften Anspannung seiner Arme ab – Simon spürte, wie die Muskeln des Mannes hart schwollen, bevor sie seinen Griff sprengten, und er wußte, daß es keine leichte Sache war, auf die er sich da einließ. Die Macht des gegnerischen Ansturms trieb ihn bis auf einen Meter an die tödliche Stahlkuppel heran, – dann fand er sein Gleichgewicht wieder und bremste den Mann mit ein paar kurzen Trockenen in die Magengrube, die in ihr Ziel bumsten
wie Dampfkolben in einen Sandsack. Jones ächzte, fiel auf die Hacken zurück und nahm die Hände zur Deckung herunter, und der ›Heilige‹ schoß eine züngelnde Linke auf das ungedeckte Kinn ab. Der Mann nahm sie mit der Seite der Kinnlade – absichtlich – und schnappte nach der fliegenden Faust, als der Schlag landete. Seine Finger umschlossen sie wie eiserne Klampen und drehten sie mit tückischem Ruck. Er besaß jede Unze der Kraft, auf die seine Statur schließen ließ, und er war am ganzen Körper hart wie Teak – der ›Heilige‹ hatte das gespürt, als er die beiden malmenden Schläge landete, bei denen die meisten Männer in der Mitte durchgebrochen wären. Mehr noch: er hing einer Kampfmethode an, die sich nichts vormachen ließ: Keinen Augenblick lang gab er dem ›Heiligen‹ eine Chance, aus dem Handgemenge einen Boxkampf zu machen. Simon wich der Kuppel aus und stieß ein Knie hoch, aber der schwere Mann bog sich zurück. Der linke Arm des ›Heiligen‹ steckte in einem peinigenden Klammergriff, und er wurde abermals unbarmherzig in Richtung auf die Kuppel herumgerenkt. Die Hebelkraft des Griffes zwang ihn in die Knie; dann streckte er mit raschem, mächtigem Stoß die Beine, holte mit der rechten Faust aus und landete einen krachenden Treffer im Nacken des Mannes. Der Mann hustete und sackte auf Hände und Knie hinunter; und Simon riß sein Handgelenk aus dem Klammergriff und warf sich auf ihn. Sie wälzten sich auf dem Boden, und der ›Heilige‹ versuchte, die Zehen des Mannes zu fassen zu bekommen. Eine der Fußsohlen des schweren Mannes geriet ihm in die Hand, und er riß sie hoch und bog sie über mit einer brutalen Zielstrebigkeit, die seinem Opfer den Atem verschlug. Aber dem schweren Mann war auch hiermit nicht beizukommen – der Griff tat ihm nur ein paar Sekunden weh, dann schüttelte er
ihn ab mit einem mächtigen Strampeln des ganzen Körpers, das den ›Heiligen‹ aufs Gesicht schlagen ließ. Augenblicklich suchten die Beine des schweren Mannes nach einem Griff um Hals und Schultern des ›Heiligen‹, und seine Hände umklammerten wieder das Handgelenk. Simon hörte seine Muskeln knirschen, als er sich gegen den Rückwärtsdruck stemmte, der seinen Arm allmählich streckte. Wenn der Arm einmal gerade war, würde er sich, mit dem Ellenbogen auf dem Knie des schweren Mannes, wie ein hochfrequent aufgeladener Aal winden müssen, wollte er davonkommen, ehe ihm der Knochen wie trockenes Holz zersplitterte. Er wehrte sich verzweifelt, aber er wußte, daß er sich mit nur einem Arm gegen zwei des schweren Mannes wehrte, und er spürte, wie er Zentimeter um Zentimeter nachgab. Mit der freien Hand suchte er krallend nach einem Nervenzentrum unter einem der Oberschenkel, die seinen Brustkasten einzwängten: er fand eins und sah, wie der schwere Mann zusammenzuckte, aber das unbarmherzige Strecken seines Armes ging weiter. In dem letzten verzweifelten Augenblick, der ihm blieb, kämpfte er darum, den Nußknackergriff um seinen Oberkörper zu sprengen. Ein Schuh des schweren Mannes rutschte vom Fuß, als er daran zog, und mit triumphierendem Auflachen setzte er alle Kraft in einen zweiten Zehenreißer. Der Mann schrie und schlug aus, und Simon war frei. Als er sich auf allen vieren aufrichtete, wälzte der andere sich weg. Gleichzeitig sprangen sie auf und umkreisten einander schweratmend. »Schönen Dank für den Kampf«, sagte der ›Heilige‹ knapp. »Ich habe mir noch nie etwas aus kaltblütigem Umbringen gemacht.« Statt einer Antwort kam der schwere Mann wie ein angreifender Stier von den Zehen hoch; aber er war kaum eine Handspanne vorgestürzt, da prallte er gegen den blitzschnellen Ansturm des ›Heiligen‹. Wieder knallten diese rammenden
Fäuste gegen die empfindliche Stelle knapp unter dem Brustbein des Mannes. Jones suchte einen Ansatz für einen Würgegriff, aber das Trommeln eiserner Knöchel gegen sein Sonnengeflecht zwang ihn, zurückzutaumeln und die Magengrube mit den Ellenbogen zu decken. Sein Mund öffnete sich unter dem Protest der gelähmten Lunge, und sein Gesicht wurde weiß und aufgedunsen. Simon trieb ihn gegen die Tür zurück und hielt vorsichtig auf Distanz. Er wußte, daß der schwere Mann heftig angeschlagen war, aber seine Hilflosigkeit sah ihm ein wenig zu realistisch aus… Der ›Heilige‹ schlug mit der Rechten eine Finte in Richtung Kopf, und eine Sekunde später umschlang der schwere Mann ihn mit seinen Bärenarmen in einem wilden Ansturm, der ihn fast den Boden unter den Füßen verlieren ließ. In einem besessen kämpfenden Knäuel näherten sie sich wieder der schimmernden Kuppel. Simon blickte über seine Schulter und sah sie etwa einen Meter hinter sich mit ihrer spiegelblanken Oberfläche, die silbern um die schwarz verkohlte Hand des Professors blitzte. Der Draht, den er darauf hatte schmelzen sehen, hatte Streifenspuren aus hingeschmiertem Metall auf der gebogenen Seite hinterlassen – wie der Schleim einer phantastischen Schnecke sahen sie aus. Der ›Heilige‹ erspähte sie in einem Augenblick fotografisch lebhaften Sehens, in dem sich auch die winzigsten Einzelheiten dieses teuflischen Apparats für immer seinem Gedächtnis einprägten. Zehntausende von Volt mußten unsichtbar durch diesen Teil des Geheimprozesses pulsieren, Hunderte von Ampere sengender Vernichtung darauf warten, ein jedes Ding mörderisch zu verbrennen, das mit ihm unter dem Knistern blauer Flammen und dem Zischen unerträglicher Hitze, das er einmal gesehen und ein zweites Mal gehört hatte, zu nahe in Berührung kam. Seine Schuhe schlitterten über den Fußboden, während er mit übermenschlicher Anstrengung
gegen die Stoßkraft ankämpfte, die ihn rückwärts dem sicheren Tod entgegendrängte. Das Gesicht des schweren Mannes war von einem teuflischen Grinsen aufgespalten, und er hörte Patricia aufschreien… Dann stolperte er mit einer Ferse über die ausgestreckten Beine des Professors und verlor das Gleichgewicht. Er verwandte all seine Kraft im Fallen auf eine irrwitzige Drehung des Körpers und sah die Kuppel eine Handspanne entfernt neben sich aufragen. Der Fall drückte ihm fast die Luft ab, und blindlings kämpfte er sich zur anderen Seite durch. Plötzlich griffen seine Hände Luft, und er hörte Patricia abermals rufen. Der betäubende Knall eines Schusses krachte ihm in die Ohren, als er sich auf einen Ellenbogen überrollte und halb aufrichtete. Patricia hatte ihr Ziel verfehlt, und der schwere Mann versuchte, sich der Pistole zu bemächtigen. Simon kroch hoch und stürzte vor. In dem Augenblick sah der schwere Mann seine eigene Pistole in der Ecke liegen, in die der ›Heilige‹ sie gekickt hatte, und schoß darauf zu. Simon umklammerte ihn mit einem einzigen Schwung von hinten und preßte dem schweren Mann die Arme bei den Ellenbogen an den Körper: aber der schwere Mann hatte die Pistole. Der ›Heilige‹ sah, wie sie sich langsam drehte zu einem Schuß nach hinten, der irgendwo treffen mußte. Blitzschnell griff er nach dem sich biegenden Handgelenk, bekam es zu fassen, riß es hoch, als der Finger am Abzug sich spannte, und der Schuß klatschte in den Fußboden. Simon warf sein linkes Bein vor, so daß es das Standbein des schweren Mannes kreuzte. Die Stahlkuppel war nun einen knappen Meter entfernt zu seiner Linken. Er wuchtete den Mann zur Seite, bog ihn über den Hebel, den sein Oberschenkel abgab, sprang dann zurück… Der Schrei des Mannes hallte in seinen Ohren wider, als er wegtaumelte. Abermals stach die augenversengende blaue Flamme ihm in die Augen und wurde dann plötzlich orange.
Der schwere Mann war mit der Schulter auf die Kuppel aufgeschlagen, und seine Jacke brannte: der Gestank sengender Wolle stach dem ›Heiligen‹ in die Nase, und der Knall von rauchschwachem Schießpulver sang ihm durch den Kopf, als der galvanische Strom den toten Finger an den Abzug zucken ließ und ihn dort steif zu einem letzten ziellosen Schuß festhielt. »Und seinen richtigen Namen wissen wir immer noch nicht«, murmelte der ›Heilige‹. Er wischte sich mit seinem Taschentuch über die Stirn und sah Patricia mit einem schiefgezogenen Lächeln an. Patricia streichelte sachte ihr Handgelenk, wo der zermalmende Griff des schweren Mannes es umklammert hatte. Sie sah den ›Heiligen‹ mit einem blassen Gesicht an, das immer noch hoffnungslos verwirrt war. »Deine Schuld«, sagte sie. »Ich weiß.« Die Augen des ›Heiligen‹ blitzten spöttisch auf in ihrem unerforschlichen Blau, und diesen Spott begriff sie nicht. »Weißt du, wenn man sich einmal zu solch einer Sache wie Bruder Jones’ Abgang entschlossen hat, dann ist es das beste, sie schnell zu erledigen. Und Claud Eustace wird bald hiersein. Aber du kannst es mir glauben, Pat: Noch nie habe ich jemanden so ungern umgebracht – und es hat noch nie jemanden gegeben, der meinem Seelenfrieden so gefährlich geworden wäre, hätte ich ihn leben lassen. Falls du irgendeine Entschuldigung brauchst: Er hatte zwei vorsätzliche Morde auf dem Gewissen und einen weiteren, für den er vorsätzlich verantwortlich war, also hat er nur bekommen, was ihm zustand.« Sie wartete allein im Zimmer des Todes, während der ›Heilige‹ über den Treppenabsatz in ein anderes Zimmer verschwand. Der ›Heilige‹ brauchte ein paar Minuten, um den Schaden zu heilen, den der Kampf seiner makellosen Eleganz
zugefügt hatte, aber als er mit der Reparatur fertig war, war kaum noch eine Spur davon zu sehen – nichts weiter als eine geringfügige Unordnung, deren Ursache eine kleine Balgerei leichtester Ordnung gewesen sein konnte. Er benutzte Haarund Kleiderbürste des Toten und umwickelte seine Hand mit einem Taschentuch, bevor er irgend etwas anfaßte. Alles legte er wieder ganz genauso auf den Ankleidetisch, wie er es vorgefunden hatte, und er kehrte mit einem munteren Lächeln zu dem Mädchen zurück. »Und jetzt schnell Hausputz, Pat. Ich glaube nicht, daß wir noch viel Zeit haben.« Mit scharfem, beflissenem Blick suchte er den Boden ab. Zwei Patronenhülsen hob er aus verschiedenen Ecken auf, in die sie bei dem Handgemenge gerollt waren. Er identifizierte sie als Produkt seiner eigenen Pistole, denn er hatte seine ganze Munition mit einer Kerbe am Boden gezeichnet. Er steckte die beiden Hülsen in die Tasche,; die anderen, Zeugen der Schüsse, die Jones abgefeuert hatte, ließ er liegen, wo sie lagen, und fügte noch das Souvenir hinzu, das am Morgen vom Frühstückstisch in die Streichholzschachtel gewandert war. Noch einmal durchforschte er das Zimmer nach irgendwelchen weiteren Anhaltspunkten, die er vielleicht übersehen haben konnte, und war zufrieden. Er legte Patricia die Hand auf die Schulter. »Gehen wir«, sagte er. Sie gingen in die Diele hinunter. Simon ließ sie abermals allein zurück, während er sich in den Garten begab. Seine Pistole und die Hülsen, die er aufgehoben hatte, vergrub er tief in einem verwilderten Blumenbeet; und er riß einen Büschel Unkraut aus und pflanzte ihn so ein, daß er die Spuren frisch umgewühlter Erde unter sich verbarg.
»Willst du mich denn überhaupt nie wissen lassen, was du vorhast?« fragte Patricia, als er zurückkam; und der ›Heilige‹ nahm sie beim Arm und führte sie zu einem Sessel. »Mädchen, ist dir denn nicht klar, daß ich soeben einen Mord begangen habe? Und die Zeiten sind nicht mehr so, wie sie einmal waren. Ich habe weit größere Sachen gekannt, bei denen mit Leichtigkeit davonzukommen war, bevor Claud Eustace es sich so absolut und auf Leben und Tod in den Kopf gesetzt hat, meinen Skalp an seinen Gürtel zu hängen; aber die Zeiten sind, wie gesagt, vorbei. Wir hätten ausreißen und das Geheimnis sich selber aufklären lassen können, aber den Gedanken hielt ich nicht für sehr aufregend. Ich weiß gern von Anfang an, woran wir sind. So, und nun werde ich mich hinsetzen und einen Nachruf auf den Mann, der sich Jones nannte, dichten – dieser Abend ist ein einziges Fest des Geistes.« Er schob sie sanft in einen Sessel und setzte sich in einen anderen. Ein Umschlag und ein Bleistift kamen aus seiner Tasche, und in vollkommener Ruhe und Losgelöstheit, als gelte es, in seinem eigenen Zimmer zu Hause ein paar freie Minuten zu vertändeln, machte sich der ganz und gar erstaunliche ›Heilige‹ an den ersten Vers. Gerade hatte er jedoch den Reim des zweiten gefunden, da hörten sie beide einen Wagen die Auffahrt heraufkommen. Schritte knirschten auf dem Kies, und schwere Stiefel kratzten über die Steinplatten vor der Haustür. Das volltönende Klappen eines kurz angeschlagenen Messingklopfers hallte im Haus wider. Simon öffnete die Tür. »Claud Eustace persönlich!« murmelte er freundlich. »Es scheinen mir Jahre vergangen, seit ich Sie das letztemal gesehen habe, Claud. Und wie geht’s dem einwärts wachsenden Zehnagel?« Er blickte an der Körpermasse des Kriminalbeamten vorbei zu den vier anderen Männern hin, die
sich und ihr Zubehör aus dem Polizeiwagen ausluden und auf den Eingang zuhielten. »Hatte ich mir so ziemlich gedacht, daß Sie Gesellschaft mitbringen würden, mein Lieber, aber ich weiß nicht, ob der Kaviar ganz reichen wird.« Der Detektiv trat an ihm vorbei in die Diele, und die anderen Männer folgten ihm. Sie waren von unterschiedlicher Gestalt und Größe, von geringer Anziehung auf das andere Geschlecht, aber von deutlicher Tüchtigkeit auf ihre wenig redselige Art. Sie ballten sich zu einem Klumpen auf der Matte und warteten geduldig auf Befehle. Mr. Teal blickte den ›Heiligen‹ einigermaßen finster an. Sein rundes rosa Gesicht war erhitzter als gewöhnlich, und seine babyblauen Augen waren zu bloßen Schlitzen zusammengefältelt, durch die Nadelspitzen roter Gefahrenlichter wie auseinandersprühende Holzglut blitzten. Er wußte, daß es riskant gewesen war, überhaupt zu diesem Haus hinauszufahren, und der Trupp, den er mitgebracht hatte, multiplizierte sein potentielles Bedauern um mehr Faktoren, als ihm auszudenken lieb war. Falls dies einer der Streiche des ›Heiligen‹ war, würde er Chefinspektor Teal sein Leben lang verfolgen. Ganz Scotland Yard würde sich krank lachen – jetzt noch lief Gekicher um wegen des Schallplattenzwischenfalls –, und das Schnaufen des Kriminalrats würde ihm so lange zusetzen, bis ihm der Sinn nach nichts anderem als einem ruhigen Plätzchen zum Sterben stand. Und doch war ihm keine Wahl geblieben. Wenn man ihm von einem Mord berichtete, hatte er hinzugehen und sich die Sache anzuschauen, und seine privaten Zweifel zählten nicht. »Na?« bellte er. »Ganz gut«, erwiderte der ›Heilige‹. »Ich sehe, Sie haben die Mordkommission mitgebracht.« Teal nickte knapp. »Aus dem, was Sie mir erzählt haben, entnahm ich, daß ein Mord begangen wurde. Trifft das zu?«
»Ja, wahrhaftig, das Haus enthält ein paar Leichen«, gab der ›Heilige‹ freimütig zu. »Ja, man könnte sagen, es hat einen großen Start als Leichenschauhaus gehabt. Falls es Sie interessiert…« »Wo sind diese Leichen?« Simon gestikulierte eindrucksvoll himmelwärts. »Oben – wenigstens, was die sterbliche Hülle betrifft, Eustace.« »Wir gehen sie uns ansehen.« Teal gab dem stummen Trupp knapp seine Anweisungen. Einer der Männer wurde in der Halle zurückgelassen, und Patricia blieb bei ihm. Die anderen, darunter ein Fingerabdruckexperte mit einem kleinen schwarzen Köfferchen und ein Fotograf, der einen Apparat und einen zusammengeklappten Dreifuß schleppte, schlossen sich Teal an. Zusammen begaben sie sich auf einen Rundgang, der jeden von Abschnitt zu Abschnitt ungläubiger starren ließ, bis die letzte Enthüllung ihnen die Augäpfel vortrieb, als seien sie Zuschauer beim Finale eines Grand-Guignol-Schauerdramas, das vor ihrer Nase Wirklichkeit geworden war.
IX
Chefinspektor Teal zappelte mit seinen pummeligen Fingern über seine Knie und betrachtete nüchtern forschend das Gesicht des ›Heiligen‹, während er verdaute, was er vernommen hatte. »Und danach ließen Sie also zu, daß dieser Mann namens Jones Miß Holm entführte, damit Sie ihm folgen und herausfinden konnten, wo er wohnte?« murmelte er; und der ›Heilige‹ nickte. »So ungefähr. Können Sie mich darum tadeln? Dieser Kerl Jones war offensichtlich eine Gefahr für die Allgemeinheit, über die wir dringend Näheres erfahren mußten, und dies war der einzige Weg. Ich hatte zu dem Zeitpunkt nicht die blasseste Idee, was sein Gewerbe sein könnte, aber ich sagte mir, daß alles, was vorsätzlichen Mord mit in sein Programm einschloß, der Erkundung wert sei. Apropos Erkundung, Claud Eustace – falls Sie wissen möchten, wie die ganz links im dritten Bild in den Folies Bergère heißt.« »Umpf!« unterbrach ihn der Detektiv schroff. »Ich möchte ganz genau von Ihnen wissen, was passiert ist, als Sie hier eintrafen.« »Hm, na ja, natürlich mußte ich in das Haus einbrechen. Ich ging in den ersten Stock hinauf und hörte Jones mit Miß Holm reden in dem Zimmer, in das er sie gebracht hatte. Ich versteckte mich in einem anderen Zimmer, als er herauskam, um etwas zu essen zu holen, dann ging ich hin und sprach mit Miß Holm durch die Tür – Bruder Jot hatte nicht vergessen, abzuschließen. Wir tauschten einige muntere Bemerkungen aus über das Wetter und die Aussicht bei den Kricket
Weltmeisterschaften, und dann erforschte ich weiter. Unterwegs fand ich den königlichen Kurier. Dann kam Jones wieder nach oben, und ich ging eine Weile in Deckung, vorsichtshalber, sozusagen. Nach einer Zeit war ich das Herumstehen satt, und ich machte mich auf die Suche nach ihm. Ich gelangte außen an seine Laboratoriumstür und horchte. Dabei hörte ich, was darin vorging. Jones war gerade dabei, aus Quell herauszulocken, was wie die letzten Einzelheiten des Prozesses klang – meine wissenschaftlichen Kenntnisse sind gleich Null, aber Jones schien recht zufrieden damit.« »Können Sie sich an irgend etwas erinnern, was Sie gehört haben?« »An absolut nichts, was irgendeinen Sinn ergibt – ausgenommen die hervorstechende Angelegenheit des Goldes. Quell hat tatsächlich Gold gemacht, da besteht überhaupt kein Zweifel. Sie können es sich selber ansehen. Soweit ich verstand, hat Jones dem alten Mann etwas davon vorgefaselt, daß es gelte, England davor zu retten, daß es vom Goldstandard abging – indem man riesige Mengen von dem Zeug herstellte unter Aufsicht des Geheimdienstes und es in aller Stille auf eine Weise ablud, die neues Leben in die Bank von England bringen würde –, und Quell, der sich vermutlich weit weniger auf Verbrechen und Verbrecher verstand als auf die Angewohnheiten von Elektronen und Atomen, ist darauf wie ein zahmes Täubchen hereingefallen. Jedenfalls war Jones sehr zufrieden.« »Und dann?« »Dann gab es einen schrecklichen Schrei. In meinem Leben habe ich noch nicht so einen Schrei gehört! Ich stürzte ins Zimmer – die Tür war nicht verschlossen – und sah den Professor in den letzten Zuckungen neben dieser Maschine. Jones mußte ihn kaltblütig darauf geschubst haben. Der alte
Mann hatte ihm alles erzählt, was er zu wissen wünschte, und außerdem eine Menge Probegold für ihn hergestellt, und Jones hatte weiter keine Verwendung mehr für ihn. Jones hörte mich hereinkommen, fuhr herum, zückte seine Pistole. Er stolperte über die Beine des Professors und streckte die Hand aus, um sich zu retten – dann sah er, daß seine Hand die Maschine berühren würde, und zog sie zurück. Er kippte mit der Schulter dagegen und verbrannte so doch noch. Ich nehme an, daß die Spannung seine Muskeln zittern ließ wie bei diesen Elektrisierapparaten: ein paar Sekunden lang hat er noch weiter im Zimmer herumgeschossen.« Teal wandte sich zu dem Fingerabdruckexperten um, der an dem Laboratoriumstisch fleißig bei der Arbeit war. »Sind Sie mit den Hülsen fertig?« fragte er. »Im Moment, Sir.« Simon zog die Augenbrauen hoch. »Was soll das werden?« »Ich weiß nicht, ob Sie daran gedacht haben, Handschuhe zu tragen, wenn Sie Ihre Pistole laden«, erwiderte der Detektiv freundlich; und der ›Heilige‹ lächelte nicht. Er ließ es zu, daß der Experte auf einem eigens dafür vorgesehenen Block Abdrücke von seinen Fingerspitzen herstellte, und wartete, während der Mann sie durch ein Vergrößerungsglas anschielte und sie mit den Abdrücken verglich, die er auf den abgeschossenen Patronenhülsen herauspräpariert hatte. Teal trat neben den Mann und stand da mit einer Art gebirgehaften Gelassenheit, die nicht gerade zu dem Überzeugendsten gehörte, das der ›Heilige‹ in seinem Leben gesehen hatte. »Keine Ähnlichkeit, Sir«, verkündete der Experte schließlich, und ein Schimmer schieren Unglaubens lief über das runde Gesicht des Kriminalbeamten. »Sind Sie sicher?«
»Vollkommen klar, Sir. Die Abdrücke sind von völlig unterschiedlichem Typ. Sie können es selber sehen. Die Abdrücke auf den Hülsen sind Spiralen, und die Abdrücke dieses Herrn… « »Nennen Sie ihn nicht ›diesen Herrn‹!« fuhr der Detektiv ihn an. »Das hier ist Simon Templar, bekannt als ›der Heilige‹ und das wissen Sie ganz genau!« »Warum versuchen Sie’s nicht mit Jones’ Fingerabdrücken?« schlug der ›Heilige‹ sachte vor. »Scheint mir einfacher, als automatisch mich zu verdächtigen. Ich habe Ihnen doch gesagt – ich hab’ mit der Geschichte nichts zu tun. Darum habe ich Sie ja hergeholt.« Teal betrachtete nachdenklich die beiden verrenkten Leichen. Der Fotograf war mit seiner Arbeit fertig und verstaute gerade die belichteten Platten in seinem Köfferchen. Der Detektiv machte einen Schritt vorwärts. »Ich würde mich an Ihrer Stelle sehr vorsehen«, murmelte der ›Heilige‹. »Es wäre scheußlich, wenn Ihnen ein Unfall zustieße, und ich glaube, das Ding hat immer noch Saft.« Vorsichtig durchforschten sie den Raum. Simon entdeckte eine Ansammlung von Schaltern und kippte sie um. Eine wahrscheinlich aussehende Zuleitung wurde von einem der Männer unterbrochen, der zu dem Zweck Gummihandschuhe überstreifte. Schließlich näherten sie sich abermals der Kuppel, und einer der Männer warf aus verschiedenen Richtungen Drahtstücke darauf. Nichts passierte, und so kniete Teal nieder und versuchte, dem Toten die Pistole aus der Hand zu winden. Er blieb am Leben, aber zwei weitere Männer waren nötig, um den ungeheuren Klammergriff der toten Finger zu lösen. Teal richtete sich auf und holte das Magazin heraus. »Zwei Schuß hier drin.« Er schnippte die Sperre zurück. »Einer im Lauf… Wir haben vier Hülsen aufgelesen, und vier Schuß sind in diesem Zimmer abgefeuert worden.« Teal wälzte
die Zahlen in seinem Gehirn, als hasse er sie. Der Ärger zeigte sich in seinem Gesicht; und Simon Templar atmete milde auf. Dies war das einzige Risiko gewesen, das er hatte eingehen müssen – wären mehr Patronen in Jones’ Pistole gewesen, hätte er einen härteren Stand gehabt, aber sieben waren eine mögliche Ladung. »Glück gehabt«, sagte Teal giftig. Er drehte die Pistole in der Hand um, und plötzlich straffte er sich. »Was ist das?« Er zeigte auf einen dünnen silbernen Kratzer auf dem schwarzblauen Stahl, und Simon sah sich die Narbe zusammen mit den anderen Detektiven an. »Sieht aus, als ob irgendwas da getroffen hat«, sagte einer von den Leuten. »Das kann man wohl sagen«, knurrte Teal. Er kroch auf Händen und Knien im Zimmer umher und untersuchte die Kugeleinschläge, die man bereits entdeckt hatte. Einer davon beschäftigte ihn mächtig lange, und er rief einen von den anderen Leuten heran. Die beiden unterhielten sich mit leiser Stimme, und dann erhob Teal sich wieder und klopfte sich den Staub von den Knien. Er sah wieder den ›Heiligen‹ an. »Der Einschlag da stammt von einem Querschläger«, sagte er, »und er kann von Jones’ Pistole abgeprallt sein.« »Um die Ecke geschossen und sich selber getroffen?« fragte der ›Heilige‹ mit sanft schleppender Stimme. »Wissen Sie, Sie sind ein Genie – oder vielmehr Jones muß eins gewesen sein. Das ist eine Erfindung, auf die man seit Jahren wartet. Verdammt nützlich in einer bösen Klemme, Claud – man zielt in eine Richtung, und die Kugel kommt zurück und triff den Mann, der hinter einem steht… «
»Ich glaube nicht, daß es so war«, erwiderte der Kriminalbeamte kurzatmig. »Was für eine Pistole tragen Sie bei sich?« Der ›Heilige‹ spreizte die Hände. »Sie wissen doch, daß ich keinen Waffenschein habe.« »Ganz gleich. Wir werden Sie kurz abklopfen.« Der ›Heilige‹ zuckte resigniert die Achseln und hielt die Arme vom Körper ab. Teal durchsuchte ihn zweimal gründlich und fand nichts. Er wandte sich an den dritten Mann. »Machen Sie sich heran und holen alle Kugeln heraus. An den Markierungen, die der gezogene Lauf hinterläßt, werden wir feststellen können, ob sie alle aus derselben Pistole abgefeuert worden sind.« Ein Rieseln wie von eiskaltem Wasser schauerte Simon Templar den Rücken hinunter. Das war die eine Möglichkeit, die er übersehen hatte – der eine Einfall, den er dem pummeligen Kriminalbeamten nicht zugetraut hätte. Er hatte nicht einmal angenommen, daß Teals Argwohn so hart arbeiten würde. Diese Schallplatte mußte tiefer getroffen haben, als er vorausgesehen hatte – vielleicht sogar tiefer, als es ihm je wünschenswert erschienen war. Sie mußte wie etwas gewirkt haben, das boshaft Salz in eine alte und hartnäckig offene Wunde rieb, wenn sie eine Feindseligkeit entfacht hatte, die so außerordentlich weit ging bei dem Versuch, Schuld da festzunageln, wo allem Anschein nach die reinste Unschuld war. Aber der ›Heilige‹ zwang sich zu einem sorglosen Achselzucken. Die geringste Spur von Betroffenheit wäre verhängnisvoll gewesen. Noch nie in seinem Leben hatte er mit solcher Intensität geschauspielert wie in diesem Moment, da er seine durch nichts zu erschütternde Miene recht gelangweilten Protests aufrechterhielt. Er wußte, daß Teal ihn mit Luchsaugen beobachtete. Sein ziemlich weicher Mund war
zu einem dünnen Strich zusammengepreßt, der auf einen Strich Boshaftigkeit hindeutete, den man bei ihm nicht erwartet hätte. »Ich kann nichts daran ändern, wenn Sie Zeit damit verschwenden müssen, sich verdammt lächerlich zu machen«, sagte der ›Heilige‹ müde. »Wenn da ein Kratzer an der Kanone ist, dann wahrscheinlich, weil Jones mit ihr irgendwo gegengeschlagen ist. Wenn da ein Querschläger festzustellen ist, dann ist es wahrscheinlich einer, der von irgendeinem der Apparate zurückgesprungen ist – hier steht jede Menge massives Metall herum, und ich habe Ihnen ja gesagt, wie Jones um sich geballert hat, als der Strom ihn erwischte. Warum müssen Sie versuchen, mir was anzuhängen?« »Nur weil ich neugierig bin«, erwiderte der Detektiv unbeugsam. »Sie haben sich oft genug lustig über uns gemacht, also werden Sie gewiß nichts dagegen haben, daß wir uns zur Abwechslung einmal einen Spaß auf Ihre Kosten erlauben.« Simon holte sein Zigarettenetui hervor. »Muß ich mich als verhaftet betrachten – läuft es darauf hinaus?« »Noch nicht«, erwiderte Teal, und ein unbestimmbar drohender Ton stach aus der Antwort heraus. »Nein? Hm, es interessiert mich eben doch. Es ist dies das erstemal in meinem Leben, daß ich mich wie ein achtbarer Bürger betragen und Ihnen Ihre Chance gegeben habe, wie es sich gehört; und ich bin froh, daß ich nun weiß, welchen Gebrauch Sie davon machen. So etwas Idiotisches wird mir bestimmt nie wieder einfallen.« Teal streifte die Verpackung von einem neuen Päckchen Kaugummi. »Ich hoffe, Sie werden noch einmal Gelegenheit dazu haben«, sagte er grimmig. »Aber dies hier sieht wie ein Fall aus, der Sie auf andere Art interessiert haben müßte, und ich
würde kaum meine Pflicht tun, wenn ich mich auf den Anschein verließe.« Simon blickte ihn an. »Sie irren«, sagte er sachlich. »Ich will Ihnen mal was sagen, Teal. Als ich den Kerl namens Jones sterben sah, fuhr mir das alles wie der Blitz durch den Kopf. Bevor er Quell umbrachte – bevor ich zur Tür hereinkam –, hatte ich genug gehört, um zu wissen, was vorging. Ich wußte, daß ich ihn hätte gefangennehmen und das Verfahren für mich hätte ausbeuten lassen können – daß ich soviel Reichtum hätte haben können, wie mein Herz begehrte. Sie wissen ja, was man mit ein bißchen gutem Zureden erreichen kann. Ich hätte ihn aus diesem Haus herausholen und alles so hinterlassen können, wie es war – Quell und der königliche Kurier wären vielleicht erst nach Wochen gefunden worden, und nichts in der Welt hätte darauf hingedeutet, daß ich jemals in der Nähe war. Ich hätte tatsächlich das tun können, was Jones Quell weiszumachen versuchte. Ich hätte Gold produzieren können, bis mein Guthaben in der Bank von England die Sensation des Jahrhunderts gewesen wäre. Ich hätte die gute Fee spielen können in einem Ausmaß, das mich für alle Zeiten vor Ihren wohlgemeinten Verfolgungen geschützt hätte. Mit einem einzigen Scheck hätte ich die Staatsschulden tilgen können – mein Geschenk an Großbritannien. Mit viel Liebe und tausend Küssen vom ›Heiligen‹. Überlegen Sie sich das mal! Ich hätte meinen Preis selber bestimmen können. Vielleicht wäre ich Diktator geworden – und dann wären die Gesetze dieser rammdösigen Gesellschaft vielleicht ein bißchen sinnvoller geworden. Ganz gewiß hätten Sie mein Leben lang nicht mehr gewagt, mich anzurühren – es hätte Revolution gegeben, wenn sie es nur versucht hätten. Simon Templar – der Mann, der die Einkommensteuer abschaffte. Mein Gott, Teal, ich glaube
nicht, daß jemals ein Mensch solch ein Wunder erträumt und dann auch noch zum Zugreifen nahe vor sich gesehen hat!« »Und?« Teal kaute geruhsam, aber sein Blick ruhte auf dem Gesicht des ›Heiligen‹ mit einer schwerfälligen Aufmerksamkeit, die vorher nicht darin gelegen hatte. Irgend etwas in der Darlegung des ›Heiligen‹ heischte den Respekt, den er nur sehr unwillig zollte – er wurde ihm gegen seinen Willen entlockt. Simons ernste Aufrichtigkeit war schlechthin unwiderstehlich. »Sie wissen, was geschah. Ich ließ die Idee fahren. Und ich will es Ihnen nicht verhehlen, Claud: Wenn Jones nicht umgekommen wäre, hätte ich ihn umgebracht. Da haben Sie’s. Sie können es zu meiner Belastung verwenden, falls Sie möchten, denn diesmal habe ich nicht das geringste auf dem Gewissen – dieses eine Mal nicht.« »Warum haben Sie die Idee fahren lassen?« fragte Teal. Simon nahm die Zigarette aus dem Mund und antwortete mit äußerster Offenheit, die einfach nichts anderes als die reine Wahrheit sein konnte: »Das Leben wäre ein verdammtes Stück zu langweilig geworden!« Teal kratzte sich am Kinn und starrte auf die Zehenkappe seines linken Schuhs. Sein Kollege war mit dem Kugelnausbuddeln fertig: er legte die Kugeln in eine Streichholzschachtel, stand dann da und hörte mit den anderen zu. »Sie kennen mich, Claud«, sagte der ›Heilige‹. »Ich geriet in Versuchung – in Gedanken – diese ein, zwei Sekunden lang, als ich zusah, wie Jones starb und seine Kugeln um mich her einschlugen. Und dann sah ich, was für ein tödlicher Frost sich ausgebreitet hätte. Keine Gefahr mehr, kein Risiko mehr, keine Duelle mit Scotland Yard mehr – nichts mehr von ihren sehr vergnüglichen Widerworten und Ihrem verdammten
Amtsgebaren wie heute abend. Claud, ich wäre vor Langeweile gestorben. Also gab ich Ihnen Ihre Chance. Ich ließ alles so, wie es war, und rief Sie sofort an. Es bestand keine Notwendigkeit, aber ich tat es. Jones hatte sich selber umgebracht, also hatte ich nichts zu befürchten. Ich habe nicht einmal ein Gramm Gold angerührt – alles ist da, damit Sie’s abtransportieren können, und falls die Familie Quell ausgestorben ist, wird es wohl an die Regierung gehen, und mir wird man nicht mal die Einkommensteuer ‘runtersetzen. Aber natürlich-armselige Dummwürstchen, die Ihr seid, müßt Ihr Blut schwitzen und versuchen, mich bei dem einen Mal, da ich unschuldig bin, zum Mörder zu machen! Sie, Sie Streber – falls ich irgend etwas zu vertuschen gehabt hätte…« »Schade, daß Sie Jones nicht retten und doch das tun konnten, was Ihnen eingefallen war«, sagte Teal, und der Tonfall war so deutlich ein anderer, daß der ›Heilige‹ lächelte. »Es wäre vielleicht von Nutzen für unser Land gewesen.« Simon zog an seiner Zigarette und ließ die Schultern sinken. »Warum sollte ich mir darum den Kopf zerbrechen? Das Land hat seine Rettung selber in der Hand. Wenn eine Nation, die sich immerzu ihrer überaus großen Gescheitheit brüstet, eine Sammlung von Ausschankgesetzen, Sittenrichtern, kirchlichen Verordnungen, Wettbestimmungen und eine Einfältigkeit nach der anderen einsteckt, die ihr von einem Schwarm Unsinn schwätzender alter Jungfern und pickeliger Heuchler aufgezwungen wird, und sich nicht entschließen kann, den ganzen Kram abzuschaffen und ein bißchen frische Luft und gesunden Menschenverstand ins Leben hereinzulassen – wenn man weiter nichts fertigbringt, als über Dinge verdattert zu sein, über die bereits ein Säugling in der Wiege seine eigene Meinung hat –, wie, zum Teufel, kann man dann hoffen, größere Probleme zu lösen? Und warum sollte ich mir wohl ein Bein ausreißen und dafür sorgen, daß die Leute
selber nicht zu denken brauchen? So, und jetzt entschließen Sie sich bitte endlich, ob Sie mich verhaften wollen oder nicht, denn wenn nicht, dann möchte ich jetzt gern nach Hause und zu Bett gehen.« »Gut«, sagte Teal. »Sie können gehen.« Der ›Heilige‹ hielt ihm die Hand hin. »Danke schön«, sagte er. »Und entschuldigen Sie bitte die Schallplatte. Vielleicht kommen wir in Zukunft besser miteinander aus – wenn wir beide sehr brav sind.« »Das muß ich bei Ihnen erst sehen«, erwiderte Teal; aber er lächelte. Simon bahnte sich durch die Gruppe der wartenden Männer hindurch einen Weg zur Tür. Am Fuß der Treppe trat ihm der Detektiv, der bei Patricia zurückgelassen worden war, entgegen. Teal beugte sich über das Geländer der Galerie und rief: »In Ordnung, Peters. Mr. Templar und Miß Holm können gehen.« Simon öffnete die Haustür und drehte sich noch einmal um, um dem Detektiv heiter zum Abschied zuzuwinken. Sie gingen zum geparkten Wagen des ›Heiligen‹ hinaus, und Simon zündete sich eine neue Zigarette an und wartete schweigend, während der Motor warmlief. Schließlich ließ er die Kupplung los, und sie glitten nach Süden davon, heimwärts. »Hat es geklappt?« fragte Patricia. »Gerade eben«, erwiderte der ›Heilige‹. »Aber an so einem Seidenfaden möchte ich die nächsten paar Jahre nicht wieder hängen. Einen entscheidenden Beweis hatte ich übersehen, und Teal hat daran gedacht. Ich mußte blitzschnell überlegen und um mein Leben spielen. Aber ich habe den Beweis im Hinausgehen erwischt, und ohne ihn werden sie mir niemals den Prozeß machen können. Und weißt du was, Pat? Zum Schluß hat Teal mir tatsächlich geglaubt.« »Was hast du ihm erzählt?«
»Fast, aber auch wirklich fast die ganze Wahrheit«, erwiderte der ›Heilige‹ und summte eine lange Weile vor sich hin. Er fuhr auf einem Umweg nach Hause, der sie über die Westminsterbrücke führte. Mitten auf der Brücke griff er in die Tasche und schleuderte etwas weit über die Brüstung hinaus. Es war eine kleine Schachtel, die schwer wog und rappelte.
In einem Zimmer bei Scotland Yard stülpte ein verdutzter Kriminalwachtmeister schon zum zweitenmal die Taschen seines Mantels um. »Ich hätte schwören können, daß ich die Streichholzschachtel mit diesen Kugeln in die Tasche gesteckt habe, Sir«, sagte er. »Ich muß sie wohl auf dem Tisch gelassen haben oder irgendwo da herum. Soll ich zurückfahren und sie holen?« »Lassen Sie nur«, erwiderte Teal. »Wir brauchen sie nicht.«
Zweiter Teil DER MANN AUS ST. LOUIS
I
Ein gewisser Mr. Peabody, den seine Frau Udschi-Wudschi nannte, war kein Narr. Das sagte er selbst, sooft sich Gelegenheit dazu bot; und er mußte es ja wissen. Er war ein kleiner und ziemlich dürrer Kerl mit wässerigen Augen, einem melancholischen Walroßschnurrbart und unerschütterlichem Vertrauen auf die Tüchtigkeit der Polizei und die Wohlgegründetheit seiner Versicherung – welch letztere Eigenschaften hinreichend eine seiner Abneigungen erklären, die man bei einem anderen als schiere, unverdünnte Dummheit bezeichnet hätte. Mr. Peabody wird nämlich hiermit mittels Druckerschwärze unsterblich gemacht und aus dem einzigen und ausreichenden Grund, weil er der Besitzer eines Juweliergeschäfts in der Regent Street war, in das in einer Augustnacht die Grünkreuzbande einbrach. Das spezifische Temperament, das Schicksal und die allgemeine Udschi-Wudschiheit Mr. Peabodys interessieren uns ganz und gar nicht; aber dieser Einbruch in seinen Laden war der Anfang einer nicht geringen Aufregung. Mr. Peabodys Abneigung führte dazu, daß er seine erlesensten Artikel im Fenster ausstellte – und sie dort ließ, damit die vorübergehende Menge ihre Augen daran weide. Er hielt nichts von der düsteren Verborgenheit der Safes und Tresore: dieses Schicksal bestimmte er nur dem gängigen Durchschnitt seines Angebots, dem gewöhnlicheren Schmuck und Zierat. Seine Glanzstücke prangten unverwandt hinter der Scheibe auf samtbeschlagenen Borten, von keusch verborgenen Lämpchen angestrahlt. Ein Akt vorsätzlicher
verbrecherischer Dummheit in den Augen fast eines jeden außer Mr. Peabody. In den Augen der Grünkreuzbrüder ein Akt vollendeter Nächstenliebe. Es war ein sehr guter Einbruch unter dem Blickwinkel des desinteressierten Kenners – durchgeführt mit der ganzen perfektioniert glatten Technik, auf die die Grünkreuzbrüder mit Recht stolz waren. Der Anschlag war keins von diesen Schmeiß-ein-und-nimm-was-du-kriegen-kannst-Dingern aufs Geratewohl, sondern ein kleines Meisterstück, bei dem jede Einzelheit geplant und geprobt worden war, bis man garantieren konnte, daß die erste und einzige öffentliche Aufführung mit der störungsfreien Präzision einer Kugel in den ihr vorherbestimmten Geschichtsabschnitt schlüpfte. Mr. Peabodys Handelsplatz war lediglich wegen der bereits genannten seltsamen Abneigung oder auch Neigung als erster von einer Liste Dutzender weiterer Kandidaten in Angriff genommen worden, und jedes Stück, das eingesackt werden sollte, war bereits im voraus mit einem Preis versehen und an den Mann gebracht worden. Joe Corrigan fuhr den Wagen; Clem Enright schmiß den Ziegelstein, und Ted Orping, Spezialist auf seinem Gebiet, stand mit dem Sack bereit. Innerhalb von vier Sekunden – wie Ted Orping es vorher mit seiner Stoppuhr berechnet hatte – verschwand eine Kollektion fein ausgewählter Schmuckware, für die jeder Hehler mit Freuden zweitausend Pfund in bar auf den Tisch gelegt hätte, aus Mr. Peabodys zertrümmertem Schaufenster mit der Fixigkeit eines Rudels Kaninchen, das sich beim Herannahen eines Zauberers mit einem leeren Zylinder aus dem Staub macht. Ein Bruttohonorar von fünfhundert Pfund pro Kopf der Beteiligten – wenn man es so betrachten wollte. Schnell verdientes Geld, denn in der festlichen Nacht rollte die Vorstellung glatt in der anberaumten Zeitspanne ab.
Es war Punkt zwei Uhr morgens, als Clem Enrights Ziegelstein durch Mr. Peabodys Schaufensterscheibe flog, und das Klirren ließ einen Wachtmeister zusammenfahren, der etwa zwanzig Meter entfernt gemächlich seine Runde machte. Ted Orpings Hände flogen mit blitzartiger Genauigkeit durchs Fenster hin und her, während der Polizist an seiner Trillerpfeife fummelte und schwerfällig die ersten paar Schritte auf sie zurannte. Bevor das Gesetz die halbe Entfernung hinter sich gebracht hatte, war der Job erledigt, und die beiden Grünkreuz-Experten warfen sich in den Wagen, der augenblicklich davonsprang und mit rasch anwachsendem Tempo auf den Oxfort Circus zuhielt. Der gestohlene Wagen flitzte über die verlassen daliegende Kreuzung, als weit hinter ihm der erste schrille Alarm durch die Nacht jaulte. »Gute Arbeit«, sagte Ted Orping, wobei er seinen eigenen Anteil an dem Triumph nicht weniger im Auge hatte als den der anderen. Er machte es sich in seiner Ecke bequem und zog an der Krempe seines Hutes – ein breitschultriger, vor der Zeit alter junger Mann von achtundzwanzig Jahren mit einem kantigen Kinn und zwei tiefen Falten, die von der Nase an dem schmalen Mund vorbei abwärts führten. Er war eins der ersten Beispiele für einen Gaunertyp, der in England noch neu und fremd war: ein Typ, der auf dem amerikanischen Halbstarken gründete, seine Grundausbildung im Kino erhielt und die feinere Erziehung aus den von F. W. Woolworth importierten kruden Räuberpistolen bezog – ein Typ, der so gewiß und erbarmungslos wie das Schicksal in die friedlichen, gentlemanhaften Pfade des altweltlichen Verbrechens einbrach. Schon wenige Jahre später sollte sein Typ nicht mehr seltsam und fremdartig erscheinen; aber in jenen Tagen war er eine Neuheit und wurde von seinen Satelliten respektiert und gefürchtet. Er hatte es verstanden, die transatlantische
Kaltblütigkeit und Kampflust so gut nachzuahmen, daß ihm das Bewußtsein, eine Rolle zu spielen, längst abhanden gekommen war. Die Rolle war Natur geworden: er hatte diesen drohenden Gang, eine Schwäche für auffallende Kleidung, den Willen zur Macht; und er sagte »Ach ja?« mit genau der richtigen Schattierung von Geringschätzung und Zuschlagbereitschaft. »Leichtes Pflücken«, sagte Clem Enright. Er versuchte, Ted Orpings Art nachzuäffen, aber es fehlte ihm das rechte Äußere dazu. Er war im Londoner Osten als Schleichdieb geboren und aufgewachsen und hatte das blasse spitze Gesicht und die unruhigen Augen seiner Abkunft. War er allein und nüchtern, war all sein Sinnen und Trachten darauf gerichtet, nicht aufzufallen, aber im Schutz von Ted Orpings massiver Bravade wuchs ihm der Mut. Er lehnte sich ebenfalls in seine Ecke zurück und brachte eine zerdrückte Packung Zigaretten zum Vorschein. »Glimmer?« Ted Orping blickte an seiner Nase hinunter. »Rauchst du etwa immer noch die Dinger?« Er riß Clem die Packung aus den Fingern und warf sie zum Wagen hinaus. Dann holte er ein Walzgoldetui aus der Tasche und drückte es Clem Enright unter einem schwarzgeränderten Daumennagel zwischen die Rippen. »Nimm ein halbes Dutzend!« Clem bediente sich und riß ein Streichholz an. Sie ließen sich wieder zurücksinken und atmeten mit gekünsteltem Genuß den Qualm billigen türkischen Tabaks aus. Beide hätten insgeheim lieber die gelben Ziernägel geraucht, an die sie gewöhnt waren, aber Ted Orping bestand auf ihrem gehobenen Status. Plötzlich beugte er sich vor und hieb dem Fahrer auf die Schulter.
»Ah, Joe! Könntest allmählich auf Kurs Ost gehen. Die Streife ist heute nacht nicht hinter uns her.« Der Fahrer nickte. Sie jagten am Westrand des Regent’s Park entlang, und im Rückspiegel waren keine Scheinwerfer zu sehen. »Und sachte mit dem Gas«, fuhr Ted Joe an. »Du willst ja wohl nicht wegen zu schnellen Fahrens angehalten werden!« Der Wagen schlitterte so scharf um eine Kurve, daß Ted Orping auf seinen Sitz zurückflog, und hielt das Tempo bei. Sie fuhren nach Osten, schwenkten dann wieder nach Süden ein. Ted Orping blickte finster. Er wollte, daß all seine Kumpel ihn als den Boß anerkannten, als den großen Macker, dessen Wort Gesetz war – dem man prompt und unbedingt gehorchte. Joe Corrigan schien sich mit dieser Vorstellung nicht anfreunden zu wollen. Und er hatte ebenfalls breite Schultern – und graue irische Augen, die so leicht nicht zuckten. Vielleicht zu unabhängig, dachte Ted Orping. Joe Corrigan war es gewesen, der darauf bestanden hatte, daß sie vor dem Job in eine Kneipe gingen und sich stärkten, und der seinen Willen gegen Ted Orpings Einspruch durchgesetzt hatte. Wenn Joe sich da mal nicht zuviel herausnahm… Ted strich mit der Hand nachdenklich über die harte Wölbung an seiner Hüfte. Vor vier oder fünf Jahren hätte Joe Corrigans unabhängiger Sinn Ted niemals zu Gedanken an einen Mord gereizt, aber man hatte ihn inzwischen gelehrt, daß man mit einem Kerl, der sich zuviel herausnahm, nicht viel Federlesens machte. Der Wagen schwenkte heftig nach links und dann wieder nach rechts. Sie brummten eine Straße mit düsteren Häusern am Ostrand des Parks hinunter. Hier und da war ein Fenster in einem oberen Stockwerk erleuchtet, aber Fußgänger waren nicht zu sehen – nur ein anderer langnasiger silbergrauer
schwerer Sportwagen war mit halbem Licht und Gesicht zu ihnen am Rinnstein geparkt. Und plötzlich zogen die Bremsen mit kreischender Macht an und schleuderten die beiden Männer auf dem Rücksitz nach vorn. Sie schlitterten an den Rinnstein heran und hielten knappe zehn Meter vor dem Kühler des silbergrauen Wagens. Ted Orping fluchte und rückte noch weiter vor. Seine breite Hand packte den Fahrer bei der Schulter. »Was zum Teufel…« Er sackte zurück, als der Fahrer sich umdrehte, und der Mund blieb ihm offenstehen. Nebeneinander saßen die beiden Grünkreuzbuben da und starrten in das Gesicht des Mannes in dem schweren Ledermantel, der von Joe Corrigan getragen worden war, als sie aufbrachen. Das Gesicht war schmal und sonnenbraun, klar geschnitten und tollkühn und aufreizend verwegen in seinen lebhaften Zügen, und die erstaunlichen hellen und spöttischen blauen Augen darin blitzten wie Kristallsplitter. Eine Kühle, eine Unverschämtheit, eine kämpferische Unnachgiebigkeit – da blieb ihnen die Spucke weg. Es war das gefährlichst drohende Gesicht, das irgendeiner von ihnen je gesehen hatte. Aber es war nicht Joe Corrigans Gesicht. »Die Spritztour ist zu Ende«, sagte das Gesicht leutselig. »Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht und Sie haben sich nicht den Schnupfen geholt. Und vielen Dank für den Job – er gehörte zu den besten, denen zuzusehen mir bisher vergönnt war. Sie beide sollten Ihre Liebhaberei zu Ihrem Beruf machen – Sie dürften Erfolg haben.« Ted Orping befeuchtete sich die Lippen. »Wer sind Sie?« fragte er. Der Fahrer lächelte. Es war ein wohlwollendes, geradezu engelhaftes Lächeln, das die elfenbeinweißen Zähne ein wenig hervorblitzen ließ; und doch hatte es absolut nichts
Beruhigendes an sich. Es war ebenso randvoll von tödlicher Drohung wie die runde hohle Schnauze der Pistole, die in der Hand des Fahrers über die Rücklehne des Sitzes hochglitt. Ted Orping hatte diese Sorte Lächeln im Kino gesehen, und er wußte Bescheid. »Ich bin der ›Heilige‹«, sagte der Fahrer sanft. »Wie ich sehe, haben Sie von mir gehört. Vielleicht haben Sie geglaubt, ich hätte mich vom Geschäft zurückgezogen. Nun, das muß dann wohl ein Irrtum gewesen sein. Tut mir leid wegen Joe, aber er hatte so ‘ne Art Unfall, als er aus dieser Kneipe kam. Sah so aus, als ob Ihnen auf ‘mal der Fahrer fehlte, aber ich wollte Sie einfach nicht enttäuschen – also setzte ich mich auf seinen Platz. Sie dürfen ruhig die Hände im Schoß halten, Ted – macht mich ganz nervös, wenn ich sie nicht sehen kann.« Die Mündung der Pistole bewegte sich ein wenig, so daß Ted Orping nun genau in den Lauf hineinschaute. Seine Hände ließen davon ab, sich nach hinten zu verirren, und lagen still. Der ›Heilige‹ griff mit seinem langen Arm über die Lehne auf den Boden zu Ted Orpings Füßen hinunter und hob den Schnappsack auf. Verständig und abschätzend wog er ihn vor den Nasen der beiden in der Hand. »Hübsche Beute – wie Sie ja selber bereits sagten«, murmelte er. »Hätte ich selber nicht besser machen können. Aber ich glaube, sie ist viel zuviel Geld wert für euch zwei Jungs allein. Vielleicht möchten Sie eine weitere Stufe auf der Leiter des Lebens erklimmen und sich das Zigarrenrauchen angewöhnen – und Zigarren, Ted, brauchen einen kräftigen Magen, wenn man nicht an sie gewöhnt ist. Also werde ich den Zaster für euch verwalten. Grüßen Sie Joe und die übrige Bande von mir, – und wenn Sie wieder so ein Gerücht hören, daß ich mich zurückgezogen habe, wissen Sie, was Sie antworten. Und ich hoffe, Sie werden es sagen. Allzu weit verbreitet kann die Kunde nicht sein…«
Ted Orping wurde lebendig – grimmig und verzweifelt. Vielleicht spornte ihn der Anblick des in den Händen des spottenden Raubritters verschwindenden harterworbenen Reichtums zu dem Wagnis an, vielleicht mußte er sich selber beweisen, daß er vor keinem Mann, der eine Pistole trug, Angst hatte; oder vielleicht handelte er auch nur aus der Notwendigkeit, sich Clem Enrights Respekt zu erhalten. Was auch immer der Beweggrund gewesen sein mochte – er nahm seine Chance in einem Aufflammen schieren animalischen Mutes wahr. Er warf sich aus seinem Sitz nach vorne und schnappte nach der Pistole in der Hand des ›Heiligen‹. Und der ›Heilige‹ drückte ab. Es gab keinen Knall – nur ein scharfes flüssiges Zischen. Ein schimmernder Salmiakgeiststrahl sprang wie ein Bleistift aus poliertem Glas aus der Mündung der Pistole und traf Ted Orping genau an der Nasenwurzel. Vom Aufschlagpunkt aus versprühte er über das Gesicht, versengte ihm die Augen mit seinem schmerzhaften Brennen und füllte ihm die Lungen mit stechenden, erstickenden Dämpfen. Orping fiel japsend zurück, und Simon Templar öffnete die Tür. Er trat auf den Gehsteig hinaus, und seine Pistole hielt die beiden Männer immer noch in Schach. Clem Enright duckte sich. »Tschüs, Clem«, sagte der ›Heilige‹ freundlich. Er lief zu dem anderen Wagen hinüber. Der Motor schnurrte ruhig vor sich hin, als er ankam, und er schwang sich behende auf den Sitz neben dem Mädchen, das wartend hinter dem Steuer saß. Der Wagen scherte aus und huschte knapp an den Vorderrädern des bewegungslosen Räuberautos vorbei; und der ›Heilige‹ drehte sich um und winkte im Vorbeifahren den beiden machtlosen Männern zum Abschied zu.
Dann ließ er sich lachend zurücksinken und zündete sich eine Zigarette an. »Ist dir auch schon einmal aufgefallen, daß die einfachste Idee gewöhnlich die beste ist?« fragte er. »Zum Beispiel dieser alte Wasserpistolentrick; könnte irgend etwas primitiver und gleichzeitig gescheiter und schöner sein? Pat – unsere Technik ist noch nicht vollkommen. Wir müssen einen Trick entdecken, den der Geruch der Arche noch frisch und saftig umduftet; damit könnten wir die ganze Welt aufräumen.« Patricia Holm steuerte den schweren Hirondel um die nächste Ecke, und der Wind verfing sich in ihrem blonden Haar, als sie den Kopf wandte, um ihm zuzulächeln. »Simon«, sagte sie gelassen, »du hast kein Gewissen.« »Nicht die Bohne«, sagte Simon Templar. Er trug seinen Abendanzug unter dem Ledermantel, und Joe Corrigans Mütze wanderte in eine Tasche im Wagen. Eine halbe Stunde später schlenderten sie in den Frühstücksklub, um das Ereignis der Nacht mit einem Teller Speckeier und einer letzten Runde um die winzige Tanzfläche zu feiern. Und jedem zufälligen Beobachter, der den ›Heiligen‹ sah, wie er sich heiter einen Weg durch die Ansammlung eleganter Müßiggänger bahnte, hier und da mit einem Bekannten ein paar Worte wechselte, dem Oberkellner den Schlips geraderückte und schließlich eine Portion der weltberühmten Spezialität des Klubs restlos vernichtete, wäre es schwergefallen zu glauben, daß Polizei und Unterwelt ihn als den gefährlichsten Mann in England kannten – oder daß er noch vor wenigen Minuten den überzeugenden Beweis geliefert hatte, daß ihm nichts von seinem Geschick abhanden gekommen war. Es amüsierte Simon Templar, für einen dieser eleganten Müßiggänger gehalten zu werden, so wie es ihn amüsierte, in anderen und nicht weniger exklusiven Kreisen als ein
vollkommen anderer bekannt zu sein. Er sollte ein großes Maß an Vergnügen aus der Tatsache beziehen, daß er einem gewissen Herrn aus St. Louis als das ernsthafteste Hindernis bei einem wohlvorbereiteten Unternehmen galt, das gerade zur Reife gedieh.
II
Die Stadt St. Louis war nicht sonderlich stolz auf Tex Goldman. Man kannte ihn als einen Mann, der in fünf berüchtigten Fällen aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden mußte, dem eine erlesene Sammlung von Richtern und Polizeihäuptlingen aus der Hand fraß und der jeden ihm nötig erscheinenden Griff in die Kasse des »Protektions«-Fonds tun konnte, dessen Gelder er selbst eintrieb. Er nahm den dritten Platz auf der Stadtliste der Volksfeinde ein, und er machte kein Geheimnis aus seinem Bestreben, eine noch höhere Position sein eigen zu nennen, aber vor etwa neun Monaten hatte ein unglückseliger Zwischenfall ihn gezwungen, einen längeren Urlaub anzutreten. Tex Goldman hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einer widerspenstigen Gruppe von Besitzern chinesischer Wäschereien das rechte Gefühl für ihre Pflichten einzubleuen, und im Laufe des Unternehmens hatte eine seiner Kugeln den Anführer eines mächtigen Geheimbundes mitten ins Herz getroffen. Noch bevor es Nacht wurde, trommelte es Rache auf den Kriegsgongs; und Tex Goldman, der gar kein Feigling war, befolgte den Rat seiner Freunde und verließ um seiner Gesundheit willen St, Louis. Er machte sich nach New York auf, aber das Heimweh plagte ihn. Er war gewohnt, als ganz großer Kerl zu gelten, nun aber stellte er fest, daß Manhattan ihn als Kleinstadt-Halbstarken einstufte. Wenn sich die Insel zu irgendeiner anderen Einschätzung bequemte, dann lief sie darauf hinaus, daß man ihm nahelegte, hübsch aufzupassen und nicht so einen großen Bogen zu spucken. Die »große nasse Straße« hatte ihre eigenen Kaiser, die nicht zu einer Förderung der Konkurrenz neigten.
Wäre er ein kleinerer Kerl gewesen, hätte er wahrscheinlich Quartier für sein Schießeisen in der Leibwache irgendeines Broadway-Zaren gefunden, – wäre er größer gewesen, hätte er vielleicht selbst ein kleines Königreich aufgebaut; aber Tex Goldman rangierte in jenen Tagen haargenau zwischen diesen beiden nützlichen Extremen und war demnach nicht gefragt. Außerdem hatte man ihm gesteckt, daß die Hackebeilchenmänner der chinesischen Geheimgesellschaft ihm hart auf den Fersen seien. Kies hatte er genügend in der Tasche, und aus Gründen, die nur ihm bekannt sind, begann er an einen Urlaub in der Alten Welt zu denken. Er kam nach England, sah sich um und sann auf Geschäfte. Er war ein großer, ins Fett gehender Mensch, ein bißchen dünn obenauf, mit runden blauen Wangen und kalten schwarzen Augen. Ein Totmacher von Natur und aus Erfahrung, von dem authentischen Zuschnitt, den Ted Orping nachzuahmen versuchte. Er trug einen gelben Mantel mit Gürtel und einen dicken Brillanten auf der Krawatte; und wenn er eins wußte, dann dies: wie man für solch schmückendes Beiwerk zahlte, ohne sich darum in ehrlicher Arbeit zu erschöpfen. Er erkundete London und nannte es »weich«. »Ein Mann, der nicht zimperlich ist, kann hier ein Vermögen auflesen«, sagte er. »Aber die Sache muß organisiert werden. Was nützen so ein paar landstreichende Vögel, die noch kaum das eine Ende der Kanone vom anderen unterscheiden können? Kindereien – weiter nichts. Und sogar sie haben der Polizei schon einen mächtigen Schreck eingejagt. Jetzt brauchen sie nur noch eins: sie müssen zusammengezogen werden von einem Mann, der sich in der Sache auskennt, und der Kerl heißt Tex Goldman.« Er sagte das zu Mr. Ronald Nilder, der kein sehr willfähriger Zuhörer war.
»Das haut hier bei uns nicht hin«, sagte Mr. Nilder. »Hinter Morden sind sie in diesem Land scharf her, und bei dicken Dingern können Sie die Polizei nicht bestechen.« »Das muß ich erst noch sehen«, erwiderte Tex Goldman. Er drückte seine halbgerauchte Zigarre aus und zündete sich eine neue an. Tex Goldman rauchte nie mehr als eine halbe Zigarre, und er zahlte zwei Dollar für eine jede. »Ich kann die Schutzmännchen nicht bestechen, hm? Wollen Sie mir etwa erzählen, daß kein Polizist sich jemals die Hand hat salben lassen? O ja, die Londoner Polizei ist großartig – sie ist nicht mal menschlich… Unsinn, Nilder. Man kann jeden bestechen, wenn man nur genug vorzeigt. Gehaltskürzungen bei der Polizei führen zu Männern, die Geld brauchen, und sie hegen einen gewissen Groll, der ihr Gewissen beschwichtigt.« Mr. Nilder saß auf der Kante eines Stuhls und ließ den Griff seines Regenschirms kreiseln. Er war ein wohlgenährter, geckig gekleideter Mann mit dicht beieinanderstehenden Augen und einer schlappen Unterlippe. Tex Goldman wußte, was er war, verachtete ihn aus vollem Herzen und hatte die Absicht, Gebrauch von ihm zu machen. »Gefällt mir nicht, Mr. Goldman.« »Sie werden nicht gefragt, ob es Ihnen gefällt oder nicht gefällt«, sagte der Mann aus St. Louis unumwunden. »Sie haben nichts weiter zu tun, als Befehle entgegenzunehmen und Ihren Anteil zu kassieren, und Ihre Gefühle können Sie wegpacken, wo sie hingehören. Sie haben eine schicke kleine Motorjacht, und Sie haben Verbindungen auf der anderen Seite des Grabens. Sie werden jetzt ganz brav sein und die Kanonen ganz nach Befehl für mich ‘rübergondeln und überhaupt alles mit Ihrem Bötchen machen, was ich Ihnen auftrage – und Sie und ich, wir werden feinstens zusammen passen. Andernfalls könnte Scotland Yard etwas von Ihrem Lasterring zu Ohren kommen.«
Mr. Nilder zuckte leicht zusammen. Es mißfiel ihm, wenn man sein Unternehmen so offenherzig beim Namen nannte. Die Varieteagentur »Cosmolit«, die ihm unterstand, war eine florierende Organisation, die Varietekünstlerinnen nach allen Teilen Europas und Südamerikas vermittelte. Häufig waren die betreffenden Varietes und Kabaretts nicht ganz so künstlerisch, wie man hätte wünschen sollen, aber da die Mädchen, die sich dort hinbegaben, keine Anverwandten hatten, gab es keine peinlichen Nachforschungen. Mr. Nilder wurde von keinen moralischen Skrupeln geplagt. Er war ein schlichter Geschäftsmann, der nicht anders als ein Grünkrämer oder Metzger einen immerwährenden Bedarf deckte; und sein einziger Lebenszweck war, der Aufmerksamkeit der Polizei zu entgehen. Der »Variete«-Trick war bereits fast zu Ende genutzt, aber Mr. Ronald Nilder kannte noch andere und weniger augenfällige Kanäle. »Es bedeutet Gefängnis, wenn wir geschnappt werden, Mr. Goldman«, sagte er. »Es bedeutet Gefängnis, wenn man Sie bei anderen Sachen schnappt«, entgegnete Goldman bedeutungsvoll. »Aber keine Bange – ich werde keine Schießerei von Ihnen verlangen. Sie werden nichts weiter tun, als diese Schießeisen ‘ranzuschaffen, und sie fangen Montag an.« Er schälte ein Dutzend Zehnpfundscheine aus einem dicken Packen heraus und schob sie verächtlich über den Tisch. Nilder hob sie auf, faltete sie nervös zusammen und steckte sie in die Tasche. Er wußte, daß Goldman ihn herumkommandieren konnte, wie es ihm beliebte – er hatte Angst vor dem großen schweren Mann aus St. Louis, Angst vor seinen kalten schwarzen Augen und der tiefen befehlsgewohnten Stimme und am meisten Angst vor dem, was der Mann aus St. Louis der Polizei erzählen konnte. Er war nicht glücklich. Gewalttätigkeit war nicht sein Ressort – nicht einmal dann,
wenn er aktiv nicht daran teilnahm und trotzdem großzügig bezahlt wurde. Er erhob sich und nahm seinen Hut. »Gut, Mr. Goldman. Ich gehe dann.« »Moment noch.« Tex Goldman stand aus seinem Sessel auf, trat auf den kleineren Mann zu. Er nahm Nilder beim Jackenaufschlag, ganz sachte, aber seine kalten schwarzen Augen bohrten sich dem anderen wie gezinkte Eisen ins Hirn. »Davon zu reden, daß man gewisse Dinge den Schutzmännchen erzählen will, das klingt nicht sehr hübsch zwischen Freunden, Nilder. Wollen wir also sagen, daß ich es nur für den Fall erwähnte, daß Sie vielleicht nicht Vernunft annehmen wollten. Sie werden nicht hingehen und sich selber auch so was in den Kopf setzen. Sie spielen mit, und ich spiele mit. Aber wenn Sie vielleicht mal glauben sollten, es würde sich lohnen, zur Polizei zu gehen und zu singen…« Es klang nicht so, als wolle er den Satz beenden. Und als Ronald Nilder ging, klang ihm diese genau gezielte halbe Drohung im Ohr, und die Erinnerung an Tex Goldmans grausamen Blick stand ihm vor Augen. Die Unterredung fand in Tex Goldmans Wohnung statt. Tex Goldman hatte seinen Londoner Aufenthalt in einem Hotel im Westend begonnen, dann aber, als er sich zu längerem Bleiben entschloß, eine eigene Wohnung in einem teuren modernen Block in der Nähe der Baker Street bezogen. Es war die nächste Entsprechung, die er zu dem amerikanischen Vorbild finden konnte, an das er gewöhnt war, und sie sagte ihm alles in allem zu. Die Miete war ungeheuer, aber die Wohnung hatte den Vorzug, daß sie auf dem ersten Stock lag und einen Notausgang besaß, der zu einer in eine schmutzige Seitenstraße mündenden Passage hinunterführte.
Es war acht Uhr, als Nilder ging. Goldman legte gemächlich seinen neuen Abendanzug an, setzte einen weißen Panama auf und begab sich in den elegantesten Teil des Westends. Er speiste ohne Hast im Berkeley und besuchte dann einen Nachtklub, der noch auf die Invasion der Theaterschlußgäste wartete. Es war dort ein Mädchen, das kam an seinen Tisch – er hatte die Kleine hier regelmäßig angetroffen. Tex Goldman bestellte Sekt. »Du bist ganz bestimmt zu gut für das hier, Baby«, sagte er. »Warum gönnst du dir keine Ruhe?« Er fragte das nicht zum erstenmal, und sie gab ihm mehr oder weniger dieselbe Antwort, die sie ihm schon einigemal zuvor gegeben hatte. »Würde ich in Ihrer Wohnung viel Ruhe haben?« Tex Goldman grinste und trennte sich von einer weiteren halbgerauchten Zigarre. Er wußte, was er wollte, wußte, wie man es sich beschaffte, und besaß eine unerschöpfliche Geduld in bestimmten Richtungen. Es war zwei Uhr durch, als er den Klub verließ – und das Mädchen – und mit einem Taxi in die Baker Street zurückkehrte. In seiner Wohnung vertauschte er seine Abendkleidung gegen einen seidenen Hausmantel, nahm Kragen und Krawatte ab und machte es sich mit einer Abendzeitung in einem Sessel bequem. Eine halbe Stunde später schlug seine Klingel an, und er ging zur Tür, um zu öffnen. Ein rotäugiger Ted Orping stand draußen und sah trotz seiner knalligen Ausstaffierung recht zerzaust aus, und ein wenig hinter ihm stand Clem Enright. »Na?« Daß es Ärger gegeben hatte, war in jedem von Ted Orpings Gesichtszügen zu lesen, und Clem Enrights Spitzbubenmiene bestätigte es, aber Tex Goldman verriet keine Bewegung. Er ließ die Grünkreuzbuben passieren, schloß die Tür hinter ihnen
und folgte ihnen ins Wohnzimmer. Clem Enright saß verlegen auf der Kante eines Stuhls, während Ted Orping sich in seinen Sessel warf, Arme und Beine von sich streckte und den Hut aufbehielt. Ted Orping war natürlich der Sprecher. »Boß – wir sind überfallen worden.« Goldman schätzte gelassen die Länge seines Zigarrenstummels. »Wie?« »Corrigan war schuld. Joe sagte, er müßte einen trinken, ehe wir an die Arbeit gingen, und fuhr uns zu Sam Harps Kneipe. Sam ist es ganz Wurst, wie spät es ist, solange er wach ist. Wir tranken ein paar und kommen also wieder ‘raus – Clem und ich zuerst, Joe hinterher. Jedenfalls dachten wir, es ist Joe. Wir stiegen in den Wagen ein und fuhren los. Wir konnten nur den Rücken sehen von dem, den wir für Joe hielten, hinterm Steuer, und wir fuhren die Regent Street ‘runter und zu Peabodys Laden. Erledigten den Job glatt, genau wie geplant, und sprangen zurück ins Auto. Ein Schutzmann war in der Nähe, auf seiner Runde. Aber der kam nicht ‘ran. Wir sind um den Regent’s Park ‘rumgefahren, und dann bremste dieser Kerl auf einmal und hält den Wagen an. Ich dachte immer noch, es ist Joe. Ich frage ihn, was das Ganze soll, und da dreht er sich um. Und es ist gar nicht Joe.« »Wer war’s?« »Der ›Heilige‹.« Ted sah Goldman grimmig an und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Er hat uns mit ‘ner Pistole festgebrummt und den Sack an sich genommen. Ich bin auf ihn losgegangen, da spritzte mir aus seiner Pistole Salmiakgeist ins Gesicht. Er hatte ein anderes Auto für seine Flucht fertig dastehen. Ich war eine Viertelstunde lang blind. Clem mußte mich hierherfahren.« Tex Goldman war die Zigarre ausgegangen. Er zerfetzte sie und warf sie in den Papierkorb.
»Wo ist Corrigan?« »Keine Ahnung. Wir sind sofort hierhergekommen. Wir konnten ja nichts machen.« Goldman setzte sich. Seine kantigen Stummelfinger trommelten auf der Armlehne seines Sessels, während seine zusammengekniffenen schwarzen Augen auf Ted Orpings Gesicht geheftet blieben. »Wir sind nicht hier, damit man uns überfällt«, sagte er. »Wir sind hier, um zu holen, was wir kriegen können. ‘ran – keine Panne – und weg. Und niemand kommt uns dazwischen. Keine Polizei, keine ›Heiligen‹, gar keiner. Irgend jemand, der sich einmischt – nun, der hat einfach Pech gehabt. Ihr habt Pistolen. Die sind zum Schießen da! Wo ich herkomme, da schießt man schnell und oft. Spart Ärger.« »Klar.« Die schwarzen Augen schwenkten zu Enright hinüber. »Haben Sie eine Pistole, Enright?« »N-nein, Sir.« Goldman zog eine Schublade auf und holte eine schwere blauschwarze Pistole und eine Schachtel Munition heraus. Er warf eins nach dem anderen quer durchs Zimmer dem kleinen Spitzgesicht zu. »Jetzt haben Sie eine, und die habe ich Ihnen nicht zur Verzierung gegeben. Bei dieser Sache können wir keine Kneifer und Querköpfe gebrauchen. Wer nicht spurt, ist nur an einem Ort sicher. Das gilt für jeden – kapiert?« »J-ja, Sir.« Clem Enright drehte die Pistole in der Hand, wog sie, umgriff versuchsweise mit den Fingern den Knauf. Mit schimmernden Augen verstaute er sie samt der Schachtel Munition widerstrebend in seiner Tasche. »Ich benutze Sie, Mr. Goldman«, sagte er.
Das Schnurren des Haustürsummers unterbrach sie scharf und schlug dringlich noch mehrere Male hinteinander an. Tex Goldman klappte den Deckel einer Zigarrenkiste hoch. »Sehen Sie nach, wer da ist, Ted.« Orping flegelte sich hoch und ging hinaus. Er öffnete die Wohnungstür, und Joe Corrigan kam unverzüglich ins Wohnzimmer geplatzt. Ted Orping folgte ihm. Corrigans Haar war durcheinander, seine Krawatte lose und schief; und sein Anzug sah aus, als habe man ihn rückwärts durch eine Hecke gezerrt. Er blieb heftig atmend in der Nähe der Tür stehen und blickte von einem zum anderen. Goldman betrachtete ihn mit Abscheu. »Was soll das heißen – so hierherzukommen?« fragte er barsch. »Wollen Sie vielleicht der ganzen Welt mitteilen, daß ich für gewöhnlich um drei Uhr morgens eine Bande Landstreicher bei mir zu Gast habe?« »Verzeihung«, erwiderte Corrigan gleichgültig. »Ich dachte mir, es ist das beste, wenn ich gleich herkomme und Ihnen erzähle, was passiert ist.« »Das meiste habe ich schon gehört. Was war mit Ihnen los?« Corrigan rieb die Handflächen an seinen Hosenbeinen. »Wir sind zu Sam Harps Kneipe gefahren, und ich kam als letzter wieder ‘raus. Ted wollte eilig weg, und ich blieb zurück, um für die letzte Runde zu bezahlen. Zwischen Sams Privatzimmer und der Tür an der Seite ist ein dunkler Korridor, und als ich ‘rauskam, schnappt mich einer von hinten. Ich weiß nicht, wer das war, aber sie waren zu zweit, und sie hatten ein Taschentuch mit Chloroform drin. Ich war sozusagen gleich weg. Als ich wieder wach wurde, lag ich auf einem Haufen Ziegelsteine aufm Bauplatz gleich neben Sams Kneipe.« »Was hat Harp dazu gesagt?«
»Er wußte von nichts. Sagt, er hat die Tür verriegelt, nachdem er uns ‘reinließ, und konnte nicht feststellen, daß sie mit Gewalt geöffnet worden war.« »Haben Sie irgendeine Ahnung, wer der andere Kerl war – abgesehen vom ›Heiligen‹?« »Keine Ahnung, Mr. Goldman. Ich hab’ keinen von den beiden sprechen hören…« Corrigan erstarb die Stimme. Die kalten schwarzen Augen Tex Goldmans bohrten sich ihm, zu bösartigen Nadelspitzen zusammengekniffen, mit solch unversöhnlicher Grausamkeit ins Gesicht, daß ihn das schiere Grauen ankam. Ted Orping richtete sich mit einem Ruck auf – mit einem jähen, drohenden Ruck. Clem Enright trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, und der Mund stand ihm in stupider Verblüffung weit offen. Tex Goldman bedeutete ihnen mit einer leichten Bewegung seiner Zigarre, sich zu bezähmen. »Sie schienen nicht überrascht, ‘als ich den ›Heiligen‹ erwähnte, Corrigan«, sagte Goldman seidenglatt. »Wer hat Ihnen erzählt, daß er es war?« »Ich weiß nicht… Niemand hat es mir erzählt, Mr. Goldman. I-ich nehme an…« »Sie Schuft!« Goldman trat mit überraschender Plötzlichkeit in Aktion, blitzschnell und wütend. Er stand aus dem Sessel auf und trat knapp vor den Iren. Seine Augen ließen keine Sekunde lang vom Gesicht des anderen ab. Mit der einen Hand packte er den Mann beim Kragen, mit der anderen fuhr er schlangengleich in Corrigans Taschen, in eine nach der anderen. Aus einer Hosentasche kam die Hand mit einem Packen neuer Pfundnoten heraus. Goldman stieß Corrigan zurück. Ted Orping packte ihn von hinten, als der Ire die Fäuste ballte.
»Du schäbiger, hinterhältiger Hund! Du hast uns also an den ›Heiligen‹ verkauft!« Goldman zerriß die Scheine in winzige Fetzen und verstreute sie über den Fußboden. »‘raus mit dir!« »Hören Sie zu, Goldman. – Ich habe nicht…« »‘raus!« Ted Orping renkte den Mann herum und stieß ihn zur Tür. Corrigans Augen flammten auf, und er kam einen Schritt ins Zimmer zurück. Orping fuhr mit der Hand an die Hüfte. Da machte Joe Corrigan auf dem Absatz kehrt und verließ die Wohnung. Tex Goldman sah Orping unverwandt an. Eine Frage lag in Ted Orpings Blick, eine andere in Tex Goldmans. Clem Enright, der in seiner Ecke vorübergehend vergessen worden war, trat abermals im Sitzen mit offenem Mund von einem Fuß auf den anderen. »Für Verräter gibt’s nur eins«, sagte Goldman. Ted Orping nickte. Er zuckte die Achseln mit dem kaltblütigen Begreifen, das man ihn gelehrt hatte, und zog die Krempe seines Hutes herunter. Ohne ein Wort ging er hinaus. Er holte Joe Corrigan auf der Straße ein. »Gehst du ein Stück mit, Joe?« »Hau ab!« knurrte Corrigan mürrisch. »Ich will nichts mit dir zu tun haben.« Ted nahm ihn beim Arm. »Ach, komm schon, Joe. Du verstehst den Boß nicht. Er ist ein großartiger Kerl, aber natürlich muß er mißtrauisch sein. Du mußt zugeben, was du gesagt hast, hat sehr merkwürdig geklungen. Ich habe mich nur auf seine Seite gestellt, damit ich ein gutes Wort für dich einlegen kann, wenn er sich wieder beruhigt hat.«
»Ich hab’ niemanden verraten«, sagte Corrigan. »Ich hab’ heute morgen im Autobus ‘nem Geck die Brieftasche gefilzt, und da waren die Scheine drin.« »Na klar, Joe. Das hätte er auch denken sollen. Ich verstehe.« Von der Kreuzung Marylebone Road gingen sie die Baker Street hinauf. Fast am Ende, ein paar Schritte vom Regent’s Park entfernt, führte Orping den anderen zur Rechten in eine nur schwach beleuchtete Seitengasse. Sie gingen die Gasse ein Stück hinunter, dann blieb Corrigan stehen. »Was soll das?« fragte er trotzig. »Hier wollen wir doch gar nicht hergehen.« Ted Orping sah sich nach allen Seiten um. »Gut«, nickte er. »Wofür?« »Um dir zu verpassen, was du verdient hast, du Hund!« Er feuerte dreimal, bevor Joe Corrigan etwas sagen konnte.
III
Simon Templar kehrte ein paar Tage später aus Amsterdam zurück. Schmuckstücke, die zuweilen seinen Weg kreuzten, setzte er nie in England um – dafür war der ›Heilige‹ zu bekannt, und Vorsicht am rechten Platz war immer noch eine seiner stärksten Seiten. Er reiste auf allerhand Umwegen, denn seine Ortsveränderungen waren stets Gegenstand hingebungsvollsten Interesses für die wachsamen Kräfte bei Scotland Yard. Zu der eben erwähnten Reise brauchte er fast eine Woche, aber sie brachte ihm dreitausend Pfund. Reue im Hinblick auf Mr. Peabody befiel ihn nicht. Die Versicherungsgesellschaft würde für den größten Teil des Schadens, vielleicht sogar für den ganzen, aufkommen, und Mr. Peabody hatte es zweifellos nicht besser verdient. Was die Versicherungsgesellschaft betraf, so glaubte Simon nicht, daß der Schlag ihr Kapital bis in die Grundfesten erschüttern werde. In einem irregeleiteten Augenblick altruistischen Eifers hatte er einmal versucht, sein Leben zu versichern, und festgestellt, daß die Versicherungsgesellschaft, solange er es unterließ, Flugzeuge zu fliegen, in den Tropen zu reisen, zur Marine oder zum Militär zu gehen, Löwenbändiger oder Klettermaxe zu werden, kurz: irgend etwas zu unternehmen, wobei durch einen auch nur entfernt denklichen Zufall das Leben eines einigermaßen gesunden und intelligenten Mannes in Gefahr geraten könnte, daß unter all diesen Vorbehalten die Versicherungsgesellschaft mit Freuden seine Prämien entgegennehmen würde. Seine Ansicht von Versicherungen war, daß sie aufgeblasene Organisationen seien, die mit Entzücken von jedermann Geld annahmen bei einem Risiko,
das unter jedem Blickwinkel, den menschliche Einfallskraft ersinnen konnte, ausgeschaltet worden war. Sie waren jagdbares Wild, was ihn betraf, und sein Gewissen war noch dickhäutiger als sonst bei ihrem seltenen Mißgeschick. Aber er kehrte in ein London zurück, in dem die Versicherungsgesellschaften bekümmerter waren, als man das seit Jahren von ihnen hätte sagen können. Patricia Holm holte ihn am Haymarket ab, wo der Flughafenbus ihn nach einer ereignislosen Reise von Ostende auslud. Eins der ersten Dinge, die er sah, war ein grellrotes Verkaufsplakat einer Abendzeitung mit der Schlagzeile »Wieder Banküberfall«; aber er war nicht auf der Stelle davon beeindruckt. Sie schlenderten auf einen Cocktail zu Oddenino, und sie eröffnete ihm die Neuigkeit ziemlich plötzlich. »Joe Corrigan hat’s erwischt«, sagte sie. Simon zog die Augenbrauen hoch. Er las den Zeitungsausschnitt, den sie ihm gab, und rauchte eine Zigarette. »Armer Teufel!… Aber so was Dummes! Er hätte nicht zurückgehen sollen – und ich dachte, er wäre wenigstens schlau genug, sich eine gute Geschichte auszudenken. Goldman muß ihn irgendwie zum Stolpern gebracht haben… Tex hat Köpfchen!« In dem Zeitungsausschnitt wurde lediglich das Auffinden der Leiche und ihre Identifizierung geschildert. Corrigan war ein Mann mit zweifelhaftem Umgang und einigen Vorstrafen, und die Polizei glaubte zuverlässig, den Täter bald festnehmen zu können. »Ich bin vorgestern Claud Eustace am Piccadilly begegnet«, sagte Patricia. »Er hat mir so gut wie gestanden, daß nicht die geringsten Aussichten beständen, den Mann zu fassen.« »Wohl kaum damit zu rechnen, daß der Nachtportier in Tex’ Block den Mann auf dem Foto erkennt«, meinte der ›Heilige‹
nachdenklich. »Das Bild ist nicht besonders schmeichelhaft für Joe. Und die ganze Grünkreuzbande würde ihr Alibi haben. Tex kann es selber getan haben – oder sonst Ted Orping. Bruder Clem kann ich mir schlecht als kaltblütigen Totmacher vorstellen.« »Ein paar merkwürdig aussehende Knaben hängen neuerdings am Manson Place herum«, berichtete Patricia; und die Brauen des ›Heiligen‹ gingen abermals in Schrägstellung – gefährlich in Schrägstellung. »Ärger?« »Nein. Aber ich bin lieber nicht spätabends erst nach Hause gekommen.« Simon schlürfte seinen Bronx und betrachtete die bacchanalische Schlachtordnung der Mixbecher und Gläser auf dem bunten Glas hinter der Bar. »Anzunehmen, daß die Lage ruhig sein würde. Tex gehört nicht zu den Leuten, die Energie auf Nebenbeschäftigungen verschwenden, wenn große Dinger zu drehen sind. Nun, da ich wieder zu Hause bin, wird South Kensington vielleicht ungesund. Horrido, Pat – würdest du nicht auch gern die Gesichter der Revierwachtmeister sehen, wenn Tex sich daranmacht, SW sieben mir zuliebe mit Maschinenpistolen abzustreichen?« Es war typisch für ihn, daß er die drohende Gefahr mit einer leichtherzigen Bemerkung abtat; dennoch wußte er besser als irgend jemand sonst, welch große Gefahr noch anderen in London außer ihm selbst drohte – anderen, die einen weit begründeteren Anspruch als er darauf hatten, das Ziel üppiger Munitionsverschwendung zu sein. Der ›Heilige‹ hatte sich nie etwas daraus gemacht, sicher zu leben; aber da waren andere, die weniger leichtsinnig mit ihrem Leben umgingen. Bei Beendigung des Abendessens wußte er eine Menge mehr. Die Ereignisse hatten sich überstürzt in London, während er verreist war, und hinter allem entdeckte er die lenkende Hand
des Mannes aus St. Louis. Es sah so aus, als habe Goldman nach dem Fiasko der Peabody-Plünderung alles darangesetzt, das Vertrauen seiner Gefolgsleute zu restaurieren. Er arbeitete schnell und erbarmungslos gründlich – es war ein verzweifelter Durchstoß zur Macht im Zeichen plötzlich zuschlagenden Todes. Am Tag nach dem Überfall auf Peabodys Laden war ein weiteres Juweliergeschäft in der Bond Street erfolgreich angeschlagen worden, und noch in derselben Nacht wurde ein Tresor in der Nähe der Tottenham Court Road aufgesprengt und halb ausgeleert, während maskierte Männer eine kleine Menschenansammlung mit ihren Revolvern in Schach hielten und den Abzug des Einsteigtrupps deckten, bevor die Polizei auf dem Schauplatz eintraf. In diesen beiden Fällen waren die Opfer eher umsichtig als heldenhaft. Anders verhielt es sich in der Battersea-Filiale der Metropolitan Bank, in die dieselben Männer am folgenden Tag um die Mittagszeit bewaffnet eindrangen. Ein Kassierer versuchte, nach einer Pistole unter dem Schalter zu greifen, und wurde auf der Stelle erschossen. Die Bande entkam mit über zweitausend Pfund in bar. Während man in amtlichen Kreisen noch ganz mit dieser Gewalttat beschäftigt war, wurde eine Bank in Edmonton auf ähnliche Weise überfallen, aber die Angestellten, denen die Mahnung des Mordes in der Metropolitan Bank noch frisch im Gedächtnis war, leisteten keinen Widerstand. Konferenzen wurden abgehalten und Speziaireserven bewaffneter Männer in Zivil abgestellt, um so viele anfällige Punkte wie möglich zu decken. Aber die Polizei wurde abermals hintergangen. Am nächsten Tag führte ein Übermaß an Zuversicht auf seiten der verantwortlichen Geschäftsleitung dazu, daß ein Personenwagen mit den Wochenlohntüten für ein halbes Dutzend Nebenstellen einer Volksbibliothek eine Bank in der City verließ. Er wurde beim ersten Halt abgefangen, der
Bote mit einem Sandsack niedergeschlagen und fünfzehnhundert Pfund in bar gestohlen. Ein Verkehrsschutzmann sah den Zwischenfall und versuchte, den Wagen der Banditen auf dem Trittbrett eines abkommandierten Taxis zu verfolgen. Er wurde von den Flüchtigen heruntergeschossen, aber man rechnete damit, daß er mit dem Leben davonkommen würde. Die Geschichte wuchs sich zu einer ununterbrochenen Folge unverschämter Räuberei aus, die den Atem benahm. »Wir sind dabei, ihnen Angst einzujagen«, sagte Tex Goldman. »Das ist die einzig richtige Methode. Zuschlagen und immer wieder zuschlagen. Keine Zeit zum Nachdenken lassen. In ein, zwei Monaten werden sie um Gnade betteln.« »Jede Wette«, sagte Orping. Er war automatisch Goldmans persönlicher Adjutant geworden und behauptete sich dank seiner eigenen Dreistigkeit in dieser Stellung. Er war es, der den Kassierer der Metropolitan Bank erschossen hatte – innerhalb einer Woche war er zu einem eingefleischten Totmacher mit zwei Kerben an seiner Pistole und der Prahlerei des Erfahrenen geworden. »Schläger« Tope, der den Polizisten niedergeknallt hatte, bekleidete hinter ihm einen mäßigen zweiten Platz. Ted Orping nahm einen guten Schluck Brandy aus einer silbernen Taschenflasche. Auch den Trick hatte er inzwischen erlernt, und er machte häufigen Gebrauch davon. Alkohol trieb seine Tollkühnheit auf einen Punkt, an dem ein Mord nichts mehr bedeutete. »Der Kerl, dem ich noch mal begegnen möchte, ist der ›Heilige‹«, sagte er. »Du kriegst schon noch deine Chance«, sagte Goldman. »Wir wissen mehr, sobald er nach Hause kommt. Ich möchte ihm selber auch begegnen.«
Vielleicht hätte es ihn gefreut – vielleicht aber auch nicht –, zu wissen, daß Simon Templar diesen Wunsch aufs ausdrücklichste mit ihm teilte. Was den ›Heiligen‹ betraf, so kam die erwünschte Gelegenheit mit einer Promptheit seines Weges, für die er nur einer Kette von Zufällen danken konnte. An dem Abend, an dem einige der bereits erwähnten Begebenheiten dem ›Heiligen‹ berichtet wurden, hatten er und Patricia in einem ihrer Stammrestaurants in der Beak Street gespeist – in einem kleinen spanischen Eßlokal, in dem das Essen gut und billig war und die Kundschaft weder elegant noch pseudokünstlerisch. Eine Weile nach elf Uhr verließen sie das Haus und schlenderten durch die Seitenstraßen in Richtung Shaftesbury Avenue mit dem undeutlichen Vorsatz, irgendwo noch eine Tasse Kaffee zu trinken und sich dann auf den Heimweg zu machen. Gerade bogen sie um eine Ecke, da sah Simon den Mann aus St. Louis in einer Tür auftauchen. Wie der Blitz packte Simon Patricia beim Arm und riß sie in die schmale Gasse zurück, aus der sie herausgekommen waren. Er lehnte sich gegen die Wand und beugte sich, den breiten Rücken dem revolverharten Yankee zugewandt, über sie. »Tex persönlich«, sagte er. »Tu so, als ob du dir die Nase pudertest – hol deinen Spiegel heraus!« Sein Bestreben, Tex Goldman noch einmal zu begegnen, schloß einen Zeitpunkt und einen Ort nach seiner Wahl mit sorgfältig geprüften Umständen und auf Hochglanz poliertem Schlachtplan ein – und nicht ein zufälliges Zusammentreffen in einer Nebenstraße, das zu kaum mehr als einer Bekanntmachung seiner Rückkehr führen würde. Im Spiegel des Mädchens sah er Goldman in ein Taxi einsteigen und davonfahren. Patricia sah den Revolverhelden zum erstenmal.
»Das ist der Knabe, der den ganzen Aufruhr anzettelt. Und ich möchte doch gerne wissen, was er heute abend hier in der Gegend sucht!« Sie gingen weiter, und Simon betrachtete forschend die Tür, die die neue Gefahr für den Frieden Londons ausgeblasen hatte. Ein kleines beleuchtetes Schild über dem Sturz wies sie als den Eingang zum Baytree-Club aus. Die Tür war offen, aber es war nichts weiter zu sehen als ein kurzer Gang, der zu einer Treppe führte, hinter der hervor man den gedämpften Klang von Musik hören konnte. Es schien sich um eine dieser Stätten verstohlenen Vergnügens zu handeln, die man bei Tageslicht kaum wahrnimmt, die aber urplötzlich anziehend werden, sobald die Neonlichter aufwachen und die unscheinbare Straße draußen sich in freundlichem Halbdunkel versteckt. Der ›Heilige‹ stand auf dem Gehsteig gegenüber mit einer schräg im Mund hängenden Zigarette und betrachtete das Lokal in nachdenklichem Schweigen. Ein Personenwagen bog in die Straße ein und hielt vor dem Eingang, um zwei Männer zu entladen, die den Korridor hinunter- und die Treppe hinaufgingen. »Wie wär’s mit einem bißchen Nachtleben, Pat?« forschte der ›Heilige‹! Die Aussicht auf Nichtsnutzigkeit blickte ihm aus den Augen. Es konnte sich alles oder nichts daraus entwickeln, ganz wie das Schicksal es wollte, aber er hätte nun einmal gerne mehr gewußt über den Ort, an dem Tex Goldman sich der Zerstreuung hingab. Sie nickte. »Okay, alter Junge!« Sie überquerten gerade die Straße, da wurde den scharfen Ohren des ›Heiligen‹ bewußt, daß die Musik im Klub aufgehört hatte zu spielen. Daran war nichts Bemerkenswertes,
denn selbst die unermüdlichste Kapelle muß hin und wieder einen Augenblick pausieren, damit ihre Mitglieder sich die Lunge massieren und gurgeln können. Und doch verhielt der ›Heilige‹ den Schritt. Irgendwie brachte er das Verstummen mit der Ankunft der beiden Männer in Verbindung, die gerade hineingegangen waren – und der eigentümlichen Tatsache, daß ihr Wagen immer noch vor der Tür stand, wo Parken nicht erlaubt war. Vielleicht hatte ihn der Anblick des vor wenigen Augenblicken aus demselben Haus getretenen Tex Goldman ungebührlich argwöhnisch gemacht. Er zog sich, Patricia beim Arm fassend, diagonal die Straße entlang zurück. Er glaubte, die gedämpften Geräusche irgendeiner Bewegung im Innern des Klubs zu hören – eines Stimmengewirrs, das sehr viel mehr war als das übliche Konversationsgeplapper zwischen zwei Tänzen. Und dann hörte er eilige Schritte die Treppe herunterkommen. Er steuerte Patricia in den nächsten Hauseingang, als sei er nichts weiter als ein harmloser junger Bürger der Stadt, der seine Freundin vom Kino nach Hause bringt, und machte abermals unauffällig von ihrem Taschenspiegel Gebrauch. Er sah, wie die beiden Männer aus der Tür herausstürzten und sich in ihren Wagen warfen, und bevor sie verschwunden waren, hatte er festgestellt, daß die untere Hälfte ihres Gesichts von ihrem weißen Abendschal verdeckt war. Der Wagen fuhr an und brauste an ihnen vorbei die Straße hinunter. Weitere Schritte polterten die Treppe herunter, und Simon wandte den Kopf und sah den Besitzer des ersten Fußpaars den Gehsteig erreichen. Es war ein wahnsinnig dreinschauender junger Mensch, dem die Fliege lose auf der Hemdbrust baumelte, und er schrie »Polizei!« mit einer Stimme, die in der ganzen Straße widerhallte. Wenige Sekunden später traf Verstärkung ein und stieß denselben
Schrei aus. Ein paar blaßgesichtige Mädchen drängten sich hinter den anführenden Männern durch die Tür. Simon blickte dem davonschießenden Wagen nach. Er konnte gerade noch das Schlußlicht sehen, als er um die nächste Ecke bog, und seine Hand flog zur Hüfte… Und blieb da. Seine andere Hand folgte nach und legte sich auf die andere Hüfte. Mit hinter die Unterarme zurückgestreifter Jacke schlenderte er gemächlich zu dem von einer Panik ergriffenen Menschenknäuel auf dem Gehsteig hinüber. Eine Polizistenpfeife schrillte irgendwo in der Nähe. Es wäre ihm vielleicht gelungen, einigen Schaden am Wagen der Banditen anzurichten, aber die amtliche Beachtung seines taktischen Manövers hätte leicht peinlicher werden können, als der Schaden rechtfertigte. Er hielt es noch nicht für an der Zeit, daß er das Gesetz selbst in die Hand nahm. Der wahnsinnig dreinschauende Mensch bestätigte seine Vermutung. »Mit vorgehaltener Pistole, die Brüder – muß die Bande gewesen sein, die all die Banken überfallen hat. All unser Geld haben sie uns abgenommen und den Mädchen den Schmuck. Wir konnten nichts machen, sonst wäre vielleicht einem der Mädchen was zugestoßen. Ha! Wachtmeister…« Ein Polizist war rennend aufgetaucht, und der junge Mensch mischte sich unter die ihm entgegendrängende Menge. Simon löste sich von der Gruppe und kehrte zu Patricia zurück. »Wir bleiben ein bißchen hier«, sagte er. »Ich mache jede Wette, Claud Eustace wird kommen.« Seine Diagnose traf zu. Die schnatternde Menge zockelte allmählich wieder in den Klub zurück, um ihre Aussagen zu machen, und zwei Kriminalbeamte in Zivil trafen aus der Marlborough Street ein. Nach einer Weile bog ein weiteres Taxi in die Straße ein und entließ eine vertraute pummelige Gestalt. Simon trat dem Mann entgegen.
»Nanu, Claud!« murmelte er munter. »Ist das nicht ein bißchen spät, sich in Ihrem fortgeschrittenen Alter ans Tanzen zu machen? Oder hat jemand versucht, nach neun Uhr eine Schachtel Pralinen zu kaufen?« Der Detektiv betrachtete ihn mit recht gespannter Müdigkeit. »Was machen Sie hier, ›Heiliger‹?« »Kleines Luftschnappen nach dem Abendessen, Claud. Damit die Magensäfte ihr Ozon kriegen. Ich war zufällig in der Nähe, als der Spaß anfing.« »Haben Sie die Männer gesehen?« Simon nickte. »Ja. Aber sie waren natürlich halb maskiert. Ich habe die Nummer des Autos; aber der Wagen sah neu aus, also war er wohl geklaut.« Teal rieb sich das Kinn. »Falls Sie warten können, bis ich hier fertig bin, würde ich mich gerne mit Ihnen unterhalten.« »Okay. Wir spazieren zu Sandy und schnüffeln ein bißchen am Kaffee. Da können wir uns treffen.« Der ›Heilige‹ nahm Patricia beim Arm, und sie schlenderten zur Oxenden Street. Drei viertel Stunden später kam Chefinspektor Teal herein und nahm an der Theke Platz. »Haben Sie was Nützliches herausbekommen?« fragte der ›Heilige‹. »Nichts«, erwiderte Teal kurz. »Die Männer hatten einen Schal vor dem Gesicht, ganz wie Sie sagten. Sie waren beide in Abendkleidung, also scheiden Sie aus.« Simon seufzte. »Diese Grille in Ihrem Schädel, die kann einfach das Grillen nicht sein lassen«, protestierte er. »Können Sie sich nichts Besseres einfallen lassen als das?« »Sie waren eine Woche außer Landes, ja?«
»Ja. Während der Zeit habe ich gutes Bier getrunken und Umgang mit einigen stämmigen Festländern gepflogen. Beim Geheimdienst muß man Überstunden gemacht haben.« »Ich hatte Sie nicht ernstlich in Verdacht.« Teal rührte drei Würfel Zucker in seiner Tasse um. »Diese Sorte von Mord en gros ist nicht ganz Ihr Fach, hab’ ich recht? Ein unglückseliger Bankangestellter und einer unserer eigenen uniformierten Leute innerhalb einer Woche niedergeschossen – und nicht den geringsten harten Beweis. Das kann einem schon das Blut zum Kochen bringen!« Das runde Gesicht des Detektivs war ungewöhnlich hohl in der Wangengegend. Die Fehlschläge der letzten hektischen Tage begannen seine gewichtige Zuversicht anzunagen. »Wir haben all unsere Stammkunden verhört«, sagte er. »Die Grünkreuzler sind der Kern, das wissen wir, aber bisher ist es ihnen gelungen, mit einem System von Alibis zu operieren, das uns jedesmal abblitzen läßt. Die meisten von ihnen haben es plötzlich, seit der Ärger angefangen hat, zu einer Menge Geld gebracht, dessen Herkunft sie nicht erklären können, aber das ist kein Verbrechen. Vorige Tage haben wir uns einen ihrer besten Leute hereingeholt – ein Kerl namens Orping. Er hat den amerikanischen Gangster lebensecht gespielt. Unter uns: Wir haben ihm ein bißchen zugesetzt – Sie wissen, was sich da machen läßt –, aber wir haben nichts aus ihm herausschütteln können. Dieser amerikanische Stil, den Orping sich angewöhnt hat, gefällt mir gar nicht. Sieht häßlich aus.« »Haben Sie irgendeine Ahnung, wo die Beute umgesetzt wird?« »Leider nicht. Ich glaube nicht, daß sie überhaupt in England umgesetzt wird.« Simon Templar lächelte inwendig, aber er hielt seine Bemerkung zurück.
»Wer ist der große Häuptling?« fragte er. Und der Detektiv zuckte finster die Achseln. »Wenn wir das wüßten, wäre der Ärger praktisch erledigt. Gerüchte gehen um, daß es sich um irgendeinen Yankee handelt, und alle gemeldeten Ausländer sind beobachtet worden, aber viel haben wir nicht erfahren. Wer immer er ist, er hat seine Leute stramm unterm Daumen. So viel Verschwiegenheit ist mir noch nie begegnet. Was man sich erzählt, ist, daß Corrigan dazugehörte und zu plaudern drohte, und was ihm zustieß, hat jedem anderen, der vielleicht was von sich gegeben hätte, einen heillosen Schrecken eingejagt.« Der ›Heilige‹ steckte die Hände in die Tasche und betrachtete den Detektiv mit einem milden Anflug von Spott. »Sie müssen gewünscht haben, ich wäre wieder in Aktion, Claud. Es macht mir Vergnügen zu denken, daß Sie sich vielleicht eingestanden haben: die Schreckensherrschaft des ›Heiligen‹, die war eigentlich so übel nicht.« Mr. Teal trank seinen Kaffee aus und entblößte ein Plättchen Kaugummi. Seine babyblauen Augen sahen den ›Heiligen‹ mit gewissem Ernst von oben bis unten an. »Wenn Sie nur so vernünftig wären und aus den Zeitungen herausblieben und dem Kriminalrat ersparten, seine sarkastischen Bemerkungen an mir auszuprobieren«, sagte er, »dann hätte ich nichts dagegen, wenn Sie eine Weile in Aktion träten. Im Gegenteil: Sie können Dinge unternehmen, die wir offiziell nicht unternehmen können. Wir versuchen, Sondervollmachten zu bekommen, aber Sie wissen, was das wahrscheinlich bedeutet. Es kann Monate dauern – und jeden Tag werden Menschen getötet werden, während wir machtlos sind. Man muß Pistolen mit Pistolen, Töten mit Töten, Schrecken mit Schrecken bekämpfen.« Sie trennten sich, nachdem sie vereinbart hatten, in drei Tagen zusammen zu Mittag zu speisen, und das war der
freundschaftlichste Abschied, den sie seit Monaten voneinander genommen hatten. Er amüsierte Simon mächtig, der Gedanke, daß das Auftauchen eines gemeinsamen Gegners einen gezeichneten Gesetzlosen vielleicht fast zur Persona grata beim Gesetz werden ließ, und das nur, weil er beim Töten mehr Unterscheidung und Urteilskraft walten ließ. Patricia und der ›Heilige‹ fuhren keck mit einem Taxi zum Manson Place zurück. Am offenen Ende der Sackgasse fummelte ein Mann an seinem Motorrad herum: Simon sah ihn aufblicken, als das Taxi vorbeifuhr, und sagte sich, daß Tex Goldman in Kürze interessante Nachrichten erhalten würde. Seltsamerweise fiel ihm nicht ein, daß ein scharfes Augenpaar in dem Wagen, der die »Uberfaller« zum BaytreeClub brachte und wieder abtransportierte, ihn vielleicht bemerkt hatte, als er ein paar Häuser vom Schauplatz des Verbrechens entfernt in einer Tür stand. Er bezahlte das Taxi und stieg vorsichtig die paar Stufen zum Eingang seines gegenwärtigen Heimes hinauf. Der Mann an der Ecke murkste immer noch an seinem Motorrad herum. Simon schob das Metallplättchen unter dem Türklopfer zur Seite und sah sich genau die darunter verborgene elektrische Signalbirne an, um sich zu vergewissern, daß niemand in seiner Abwesenheit das Haus betreten hatte, bevor er Patricia winkte, nachzukommen. Er behielt die rechte Hand in der Tasche, während er die Tür aufschloß und Patricia eintreten ließ, und seine Augen ließen keine Sekunde vom aufmerksamen Beobachten der Straße ab; aber diese Vorsichtsmaßnahmen waren eine reine Routineangelegenheit. Er rechnete nicht mit sofortigen Unannehmlichkeiten. »Recht schade, daß ich diesen Grünkreuzbuben verraten habe, wer ich bin«, sagte er.
Mehrere Briefe erwarteten ihn, und er saß auf dem Tisch im Wohnzimmer und las sie, während Patricia Holm in die Küche ging, um ihm eine Flasche Bier zu holen. Sie kam mit einem Tablett zurück. Er hörte, wie sie es absetzte, und dann hörte er ein Klirren. »Laß nur – das alte Glas«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Macht doch nichts. Wir können jederzeit bei Woolworth einbrechen und uns ein paar neue besorgen. Schmeiß sie alle kaputt, wenn du möchtest.« »Simon – ich habe nicht…« Der ›Heilige‹ nahm den Blick von dem Brief, den er gerade las. Ein Motorrad mit abgesägtem Auspuffrohr fuhr donnernd davon. Er sah das zerschmetterte Fenster und den schimmernden Metallzylinder, der auf dem Fußboden lag, und er wurde blitzartig lebendig. Die Macht seines Ansturms schleuderte das Mädchen zerschrammt und völlig benommen auf das schwere Sofa, und im nächsten Augenblick warf sich der ›Heilige‹ mit seinem ganzen Gewicht auf die Rückenlehne. Das wuchtige, ledergepolsterte Möbel kippte unter dem Aufprall um, so daß sie beide geschützt dahinterlagen. Einen weiteren Sekundenbruchteil später betäubte sie der Donner einer Explosion, und die Luft war angefüllt vom Heulen herumfetzenden Metalls.
IV
Patricia Holm blickte von ihrem Kreuzworträtsel auf. »Ein Wort für ›Behälter‹ mit vier Buchstaben, Simon. Letzter Buchstabe ›e‹.« »Hüte«, schlug der ›Heilige‹ vor. Das Mädchen sah ihn drohend an. »Wieso – ›Hüte‹? Ich habe gesagt…« »H, t, U, H-t, E«, beharrte der ›Heilige‹ polypig. »Hüte. Mit ‘nem Schnuhem im ber Nabe.« Sie frühstückten in der Küche, denn das Wohnzimmer war unbewohnbar. Ein Abgesandter einer Dekorateurfirma, bei der der ›Heilige‹ angerufen hatte, kam gegen elf Uhr vorbei und sah sich das Tohuwabohu an. »Es sieht aus, als habe es hier eine Explosion gegeben, Sir«, sagte er. »Irrtum«, erwiderte der ›Heilige‹. »Ein Mann ist hier hereingekommen und hat sich auf eine Stecknadel gesetzt, nachdem er irrtümlicherweise statt Zucker Backpulver auf seine Stachelbeeren gestreut hatte. Wir suchen immer noch nach ihm.« Es wurde ihm versichert, daß die Firma sich daranmachen werde, den Schaden so schnell wie möglich zu beheben, und der ›Heilige‹ badete und kleidete sich mit unveränderter Fröhlichkeit an. Jeder philosophisch veranlagte Mensch in seiner Lage hätte an diesem Morgen Grund zur Fröhlichkeit gefunden, denn es war ein Wunder, daß der ›Heilige‹ noch lebte. Hätte der Pampelmusenfachmann die Länge seiner Zündschnur nicht falsch kalkuliert, wäre ein gar häßliches Quetschmus das Ende aller ›Heiligen‹-Geschichten geworden.
Chefinspektor Teal persönlich kam später vorbei. Er hatte den Bericht des Explosionsexperten, der vom Yard geschickt worden war, um sich den Schaden anzusehen. Die Bombe war ein selbstgemachtes Ding von der Marmeladendosensorte gewesen, aber sie hätte darum nicht weniger wirkungsvoll sein können. Die erlesene Sammlung abgebrochener Nägel und Schrottfetzen, mit der sie gefüttert gewesen war, hatte Wände und Decke schrapnellartig durchsiebt und die Polsterung, die dem ›Heiligen‹ und Patricia das Leben gerettet hatte, zu Streifen zerschlitzt. »Ich möchte gern wissen, warum sie sich wohl um Sie gekümmert haben«, meinte Teal. »Von der Beleidigung meines Ruhms einmal abgesehen«, erwiderte der ›Heilige‹ mit seiner schleppenden Stimme. »… vielleicht hat jemand mitgehört, als Sie mir gestern abend Ihren Vorschlag machten. Oder einer von der Bande hat einen Pik auf mich – Schläger Tope ist Grünkreuzknabe, und vielleicht erinnern Sie sich, daß ich einmal einen Wortwechsel mit ihm hatte. Aber nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen, Claud – die Reihe wird schon noch an Sie kommen.« Teal wälzte mit bedächtigem Ernst seinen Kaugummi aus einem Mundwinkel in den anderen. »Sie haben sich nicht etwa schon eingemischt, hm?« fragte er, und der ›Heilige‹ lächelte. »Ich mische mich nie ein, Claud. Das wissen Sie doch.« »Na schön. Ich würde jedenfalls an Ihrer Stelle umziehen«, sagte der Detektiv. Simon stand an dem zerschmetterten Fenster, nachdem Teal gegangen war, und schaute die Straße hinunter. Der Motorradfahrer war nicht mehr in Sicht, und es war unwahrscheinlich, daß er noch einmal wiederkommen würde. Die Menschenmenge, die nach der Explosion in der Nacht zuvor die Straße angefüllt hatte, hatte sich satt gesehen und
verlaufen, und an diesem Morgen hatten sich keine neugierigen Zu- und Hinschauer eingefunden. London hatte das Attentat auf den ›Heiligen‹ mit beträchtlicher Gelassenheit aufgenommen. Keine verdächtigen Herumstreifer verunzierten das Blickfeld, das der ›Heilige‹ ins Auge faßte, aber Simon Templar gab sich keinen Täuschungen hin. »Clauds Vorschlag mag einiges für sich haben, was dich betrifft, Pat«, sagte er. »Ted Orping wird’s noch mal versuchen oder auch einer von den anderen.« »Wie lange soll dies denn noch weitergehen?« fragte Patricia. »Bis Tex Goldman der ganz große weiße Häuptling von London ist – oder Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung, die Schlagzeilen auf der ersten Seite kriegt«, erwiderte der ›Heilige‹. »Tex glaubt ersteres, ich letzteres.« Sie hakte sich bei ihm ein. Ihre Fröhlichkeit überraschte ihn nicht vollkommen. »Hui, Junge, ist das aufregend!« »Du bist ein ganz böses kleines Mädchen«, sagte der ›Heilige‹ mit ernster Miene. »Und wenn dich jemand so reden hört, wird man dich bei den Ohren aus dem Christlichen Verein junger Mädchen hinauswerfen… Aber glaube ja nicht, daß London ein zweites Chikago werden wird. Es kommen keine Banden hierher. Das Ganze ist nur ein wilder Plan, aus Tex Goldmans Kopf entsprungen, aber es wird noch eine Menge muntere Musik geben, bevor die Schwellung abklingt.« Das Interesse der allgemeinen Öffentlichkeit an Simon Templars Geschick manifestierte sich begeisterter in den Spalten der Presse als in persönlicher Anteilnahme. Auf der Suche nach neuen Schlagzeilen, die mit der London bedrohenden Bande in Zusammenhang standen, stürzten sich die geplagten Redakteure entzückt auf das Bombenattentat – mit einem stummen Dankgebet angesichts der Tatsache, daß der Zeitpunkt ihnen erlaubte, einen angemessen auffallenden
Platz zu finden, ehe die Überlandausgaben zu Bett gingen. Morgenzeitungen leiden, verglichen mit ihren abendlichen Brüdern, unter einem tragischen Nachteil, denn sie können nicht zu jeder Tageszeit Sonderblätter hinausjagen, um mit einer Exklusivstory als erste beim Leser zu landen. Dies war eins von den Ereignissen, um derentwillen sie lebten. Die Paschas der Fleet Street teilten die Ansicht des ›Heiligen‹, daß keine ernsthafte Welle chikagoesker Gesetzlosigkeit unterwegs sei, aber das genügt nicht ganz, um einen erfahrenen Nachrichtenredakteur zu bremsen. Fleet Street griff gierig nach der gegenwärtigen Orgie des Gewaltverbrechens – denn so sah die Sache für die Öffentlichkeit aus –, griff danach mit beiden Händen. Das Davonkommen des ›Heiligen‹ bekam seine Schlagzeilen auf der ersten Seite aller großen, im ganzen Land verbreiteten Tageszeitungen, und in den Artikeln wurde selbstverständlich des wesentlichen Umstandes Erwähnung getan, daß Simon Templar den Angriff überlebt hatte. Dieser Umstand war Gegenstand einer wütenden Konferenz in der Nähe der Baker Street. »Schicken Sie mich ihm mit der Pistole auf den Leib, Boß«, sagte Ted Orping. »Ich hol ihn mir für Sie.« »M-m, du würdest ihn holen, wie du ihn das letztemal geholt hast«, erwiderte Tex Goldman sauer. »Du bist nichts weiter als ein Anfänger, und wie ich höre, hat der Kerl schon mit ‘ner Pistole gefuchtelt, als du noch nicht entwöhnt warst. Besonders hübsch bist du ja nicht, aber trotzdem bist du lebendig nützlicher als tot.« Orping blickte den anderen finster an. Er hatte fast eine passend kampflustige Entgegnung ausgedacht, da legte Goldman die Zigarre weg und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu schweigen.
»Zu Hause in Saint Louis hatten wir unsere Methode, wenn ein Kerl weggeräumt werden mußte. Ich werd’ sie euch verraten. Wir suchten uns ‘ne leere Wohnung oder auch nur ein Zimmer, irgendwas mitm Fenster drin, aus dem man seine Tür sehen konnte. Und dann hockten sich zwei von uns oder vielleicht auch nur einer in das Fenster, und es wurde aufgepaßt, bis er ‘rauskam. Die Leute hatten ein Maschinengewehr, und es war ihnen ganz gleich, wie lange sie warteten. Einmal mußte er ‘rauskommen, und dann erwischte es ihn.« »Wie sollen wir an ein Maschinengewehr kommen?« fragte Orping skeptisch. »Richtig – können wir nicht; noch nicht«, erwiderte Goldman. »Aber eine Flinte müßte zu besorgen sein, oder? Und fast jedes zweite Haus in der Straße ist eine Privatpension, hab’ ich recht? Wir erwischen ihn – vielleicht morgen.« Die simple Durchführbarkeit der Idee ergriff langsam von Ted Orping Besitz. Er nickte. »Mach’ ich«, sagte er. »Machst du nicht«, entgegnete Tex Goldman unbewegt. »Mit einem Gewehr, da braucht man einen Kerl, der schießen kann. Tope kann schießen, und ich brauche dich für einen anderen Job.« Außerordentlicherweise war dies die volle Wahrheit. Während des Krieges fand Schläger Tope sich zufolge allgemeiner Wehrpflicht plötzlich und zwangsläufig in der Armee wieder, und es gelang ihm tatsächlich, fast sechs Monate außerhalb der Militärgefängnisse zuzubringen, die ihm ihre Pforten ebenso bereitwillig und automatisch öffneten wie die Zivilgefängnisse, mit denen er so vertraut war. Das einzige Lob in seinem Führungsbuch bezog sich darauf, daß er seine Schießlehrgänge mit Glanz und Gloria absolviert hatte. Es war eine einigermaßen überraschende Fertigkeit bei einem Mann
seines Schlages, aber gute Schützen werden tausendmal öfter geboren als gemacht. Schläger Tope hatte einfach die Begabung, und Tex Goldman wählte ihn kompromißlos für den zweiten Angriff aus. Er erschien an diesen Nachmittag am Manson Place und trug einen schmuddeligen schwarzen Anzug und ebensolchen Hut und einen eindrucksvollen Bart. In dem vierten Haus, das er mit einem Versuch bedachte, ergatterte er ein zur Straße liegendes Wohnschlafzimmer mit prächtiger Aussicht auf Simon Templars Haustür. Er nannte sich Schwarz, reiste für ein Leipziger Verlagshaus und sprach so schlechtes Englisch, daß sein heimatlicher Hoxton-Akzent aus dem dichten Gestrüpp anderer Akzente, mit denen er seine gutturale Sprechweise durchsetzte, nicht herauszuhören war. Er erklärte, daß er ein Zimmer für nur zwei Tage benötige und Hotels verabscheue. Zu seinem Pech entledigte er sich in der privaten Sphäre seines Zimmers seines Bartes, bevor er sich an diesem Abend zu Bett legte. Simon Templar, der hinter zugezogener Gardine die Straße mit einem Feldstecher absuchte, sah ihn durchs Fenster und wußte, was er zu erwarten hatte. »Tex verschwendet keine Zeit«, sagte er. Seine Antwort auf die drohende Gefahr verlangte zwei seltsame Gegenstände, von denen zumindest einer nicht zu den gewöhnlichen käuflichen Artikeln gehörte; aber den ganzen Tag über schon stand ein geschlossener Wagen in der Nähe seiner Hintertür im Remisenhof, und er wußte, daß es nicht einfach sein würde, das Haus zu verlassen, um seine Einkäufe zu tätigen. Er rief in einem Hotel an und bei einer Möbeltransportfirma, und um halb fünf hielt ein Möbelwagen vor seiner Vordertür, und zwei Männer in grünen Schürzen stiegen aus und klingelten. Sie wurden eingelassen; und ein paar Minuten
später kamen sie mit einem großen Schrankkoffer wieder heraus. Der Schrankkoffer wurde in den Möbelwagen geladen und eine halbe Stunde später in dem Hotel abgeliefert. Simon trat in seinem Zimmer aus ihm heraus, ging unbemerkt die Treppe hinunter und wurde alsbald von neuem in sein Zimmer geführt. Dank seiner bemerkenswerten Kenntnisse im Hinblick auf entlegene Märkte hatte er seine Einkäufe in bemerkenswert kurzer Zeit erledigt. Um halb elf am nächsten Morgen fuhr ein anderer Lieferwagen vor dem Haus des ›Heiligen‹ vor, und diesmal luden die Männer eine große Kiste aus und trugen sie hinein. Eine halbe Stunde später kamen sie wieder mit ihr heraus; und Schläger Tope, der an seinem Fenster hockte, bemerkte nicht, daß sie beim Heraustragen ebenso schwer schien wie beim Hineintragen. Er stahl sich ein paar Minuten von seinem Posten weg, um Tex Goldman anzurufen. »Templar scheint auszuziehen«, sagte er. »Er hat einiges Gepäck weggeschickt und eine Kiste.« »Dachte ich mir«, erwiderte Goldman mit Genugtuung. »Geh ans Fenster zurück und paß auf, daß du ihn nicht verpaßt!« Ein Wagen stand vor der Tür des Hauses, in dem Schläger Tope sich eingemietet hatte, und wartete auf seinen Anteil an der Flucht, auf die Tope sich begeben würde, sobald er seinen Auftrag erledigt hatte. Die Pensionswirtin kam nach dem Mittagessen in sein Zimmer, und er zahlte und murmelte etwas von »heute abend abreisen«. So konnte er sich, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, zu jeder ihm passenden Zeit davonmachen, und seine Aufgabe erschien ihm leicht. Der schnelle Wagen war nur für den Fall herangezogen worden, daß es zu unvorhergesehenen Zwischenfällen kam.
Und es kam allerdings zu einem Zwischenfall, und er war ganz gewiß unvorhergesehen. Wenig später kam Clem Enright in einem neuen braunkarierten Anzug und Melone und brachte eine Nachricht. »Boß sagt, du mußt ihn vor acht Uhr erwischen, und es ist ihm ganz egal, wie du das machst.« »Ich erwisch’ ihn, wenn’s möglich ist«, knurrte Tope. Clem Enright fand ihn uninteressiert an einer Unterhaltung über das Thema »richtige Männer wie du und ich, die machen keine halben Sachen«, und verabschiedete sich eingeschnappt schon nach ein paar Minuten. Ein schäbiger Müßiggänger klopfte seine Pfeife an der Stoßstange des Wagens aus, als Enright auf die Straße trat, aber Clem achtete nicht auf ihn. Schläger Tope hatte ihn nicht bemerkt, obwohl er schon eine halbe Stunde dort herumlungerte. Simon brauchte die Straße nur ein paar Minuten für sich allein, um zu tun, was er tun mußte, aber er brauchte all die Zeit, um die paar Minuten zu bekommen. Er hatte das Haus in der Kiste verlassen, in der er zurückgekehrt war, aber einer seiner Einkäufe war mit ihm hineingegangen und nicht wieder herausgekommen. Patricia war zurückgeblieben, um sich darum zu kümmern. Der schäbige Müßiggänger schlurfte eine Viertelstunde nachdem Enright gegangen war, aus der Sackgasse heraus; und nach weiteren drei viertel Stunden und allerhand Umwegen wurde wieder Simon Templar aus ihm. Als Simon Templar rief er Chefinspektor Teal an. »Wenn Sie ein bißchen Zeit übrig haben, Claud, würden Sie sich vielleicht gern den Mann holen, der auf Ihren Wachtmeister geschossen hat. Er ist hier am Manson Place abgestiegen, und sein gegenwärtiger Auftrag ist, mich zu ermorden.« »Wo ungefähr ist er?« fragte der Detektiv begierig, und Simon griente in die Sprechmuschel.
»Um wieviel Uhr gehen jetzt die Laternen an? Gegen halb acht, was?… Hm, kommen Sie doch um den Strich zum Queen’s Gate hinaus, ja? Halten Sie sich an der Ecke Manson Place auf und passen Sie gut auf – es wird aufregend!« Schläger Tope hatte einen langweiligen Nachmittag. Er saß da an seinem Fenster mit dem geladenen Gewehr auf dem Knie, und seine Augen klebten an der grünen Tür, aus der, wie er glaubte, sein Ziel auftauchen würde. Die Dämmerung senkte sich hernieder, und er hielt immer noch Ausschau, und ein Lampenanzünder machte seine Runde in der Sackgasse, um die Tatsache zu bestätigen, daß die Zeitgrenze näher rückte, die Tex Goldman ihm gesteckt hatte. Und dann, genau um halb acht, wurde ein Fenster im Erdgeschoß von Simon Templars Haus plötzlich zu einem Lichtrechteck. Schläger Tope beugte sich vor. Er konnte deutlich in das Zimmer hineinsehen, das nach einem Eßzimmer aussah. An einem Ende des Tisches entdeckte er Kopf und Schultern eines Mannes in einem grauen Anzug, der sich mit dem Rücken zum Fenster in ein Buch vertieft zu haben schien. Schläger Tope wandte sich zur Seite und nahm den Kolben des Gewehrs langsam an die rechte Wange. Es klopfte an der Tür seines Zimmers. Er zuckte zusammen, obwohl er wußte, daß die Tür verriegelt war. »Wer ist da?« knurrte er. »Ein Herr mit dem Namen Smith hat angerufen, Mr. Schwarz«, sagte die Pensionswirtin. »Er hat mich gebeten, Sie zu fragen, wann Mr. Brown ausgeht.« Es war eine verabredete Nachricht, und sie zeigte, daß Tex Goldman ungeduldig wurde. Schläger Tope fletschte die Zähne. »Sagen Sie ihm, er geht jetzt aus.«
Er horchte, bis die Schritte der Frau in der Diele verklungen waren, dann schmiegte er den Gewehrkolben erneut an die Wange. Sorgsam zielte er, bis das Korn genau die Kimme spaltete und einen Punkt ein klein wenig unterhalb der Stelle deckte, an der das linke Schulterblatt des ›Heiligen‹ hätte sein sollen. Sein Zeigefinger nahm Druckpunkt… drückte ab… Flupp! Er konnte das dunkle Loch sehen, das seine Kugel hinterließ, und sein Ziel kippte vornüber. Trotzdem feuerte er noch zwei weitere Schüsse, um auch ganz sicher zu gehen – noch einen ins Herz und einen in den Nacken. Dann schraubte er blitzschnell den Schalldämpfer ab, klappte das Gewehr an dem Mittelscharnier zusammen und verstaute es in einer unauffälligen schwarzen Reisetasche. Er schob den Türriegel zurück und ging zu dem wartenden Wagen hinaus. Der Motor sprang augenblicklich an. Chefinspektor Teal sah arglos zu, wie der Wagen in Queen’s Gate einbog, und dann stellte er fest, daß Simon Templar neben ihm stand. »Nun?« fragte der Detektiv. »Das war Schläger Tope«, sagte der ›Heilige‹ beiläufig und zeigte mit dem Daumen auf den davoneilenden Wagen. »Er hat mich gerade ermordet.« »Was soll das heißen – hat Sie gerade ermordet?« fragte der Detektiv barsch. »Warum haben Sie nicht… « »Es soll heißen, daß er glaubt, er habe. Wenn Sie’s genau wissen wollen: er hat drei Kugeln in eine Schneiderpuppe gepumpt, die einen alten Anzug von mir trug, und die Puppe kippte aus den Latschen, als Pat an einem Strick zog. So ein Pech für Schläger Tope!« Teal blickte zum Haus des ›Heiligen‹ hinunter und sah drei splitterige Sterne in der Scheibe des erleuchteten Fensters. Er sah aus, als wolle er etwas sagen, aber er sagte es nicht. Er kam
nicht dazu. Das Krachen einer Explosion traf seine linke Gesichtshälfte wie ein Schlag, und er fuhr herum. Weniger als hundert Meter Queen’s Gate hinunter sah er den Wagen, mit dem der bärtige Mann davongefahren war, wild von einer Straßenseite zur anderen kurven, und die eine Seite schien völlig zerschmettert und lose herunterzuhängen. Der Wagen sprang über den Bordstein, überquerte den Gehsteig und sauste mit einem zweiten Krachen gegen ein Geländer, das unter dem Anprall wie Binsen zusammenknickte. Passanten liefen auf das Wrack zu, aber Teal blieb stehen, wo er stand. Seine babyblauen Augen wandten sich wieder dem ›Heiligen‹ zu. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er. Simon holte sein Zigarettenetui hervor. Seine Augen blickten nicht weniger ruhig als Teals – vielleicht noch ruhiger –, und er schüttelte langsam den Kopf, wie in großem Kummer. »Ich erkläre es mir so, Claud«, sagte er. »Es wird sich gewiß herausstellen, daß er irgendeinen Sprengkörper an Bord hatte für den Fall, daß die Flinte versagte. Der muß Kurzschluß gekriegt haben, oder was weiß ich, und losgegangen sein. Schreckliches Pech für ihn!«
V
Simon brachte Patricia in das Hotel zurück, in dem er eine Suite belegt hatte. Sie begaben sich dorthin mit dem tröstlichen Gefühl, daß niemand ihnen folgte, da in diesem Augenblick niemand verfügbar war, der ihnen hätte folgen können, und sie tranken einen Cocktail in der Bar in dem Bewußtsein, daß es schieres Pech sein müßte, würde irgendeiner von den Gottlosen sie zufällig dort antreffen. Vorübergehend verschwanden sie für Tex Goldmans Nachrichtennetz in der großen weiten Welt. Dieses Hotel war kein anderes als das »Dorchester«, und der ›Heilige‹ hatte zwei kleine, aber luxuriöse Zimmer mit Bad und Blick auf den Hydepark genommen. Sie empfahlen sich ihm durch die Tatsache, daß ihnen keine anderen Gebäude gegenüberlagen, aus denen man Schüsse hätte abgeben können; und obwohl sie pro Tag zwölf Pfund kosteten, fühlte Simon sich nicht bekümmert durch den Gedanken an das, was die Sonntagabendprediger gleich nebenan am Marble Arch über seine Verschwendungssucht hätten sagen können, wäre sie ihnen bekannt gewesen. Die Unterkunft tat diesem Instinkt in ihm Genüge, der von allem das Beste verlangte, ohne Rücksicht auf den Preis; und er trug sich nicht mit der Absicht, selbst dafür zu bezahlen. »Es ist ein faszinierender Gedanke«, sagte der ›Heilige‹, während er an einem Kartoffelchip knabberte, »daß in diesem großen England weit über vierzig Millionen Menschenseelen leben. Wenn jede einzelne Seele mir Sixpence gäbe, würde keine das Sümmchen wirklich vermissen, und ich wäre Millionär.«
»Dann mach dich schon mal ans Sammeln«, sagte Patricia. »Es würde wohl leider zu lange dauern«, erwiderte der ›Heilige‹ bedauernd. »Besonders wenn wir über den Tweed nach Norden vordringen. Nein – wir werden uns mit dem durchschlagen müssen, was wir zu Klumpen geballt bei ein paar wenigen Leuten einsammeln können. Was mich daran erinnert, daß es wohl schon drei Monate her sein muß, seit wir das letztemal an Mr. Nilder gedacht haben.« Es traf durchaus zu, daß Simon Templars Gedächtnis dieser stutzerhafte Widerling fast vollkommen entglitten war. Vor drei Monaten hatte er ihm per Post den höflichen Fingerzeig gegeben, daß eine Spende von rund zehntausend Pfund an das Schauspieler-Waisenhaus angebracht sei, aber das war mehr eine auf Mr. Teal hinzielende spöttische Geste als ein Vorschlag ernsthaften Zuschnitts gewesen. Die anderen aufregenden Dinge, die um jene Zeit geschehen waren, hatten den Gedanken aus seinem Kopf vertrieben, aber nun kehrte er aus heiterem Himmel zurück. Er sagte sich, daß ihm eine Abwechslung in Form eines kurzen Zwischenspiels bei seinem recht unentwegten Krieg mit Tex Goldman guttun würde. Gewöhnlicher Bandenkrieg war schließlich nicht sein eigentliches Fach. Zwar verschaffte er ihm ein definitives Lebensinteresse und jede Menge Jubel und Trubel, aber auf die Dauer war er doch eine schwere Kost. Simon Templar brauchte auch seinen Anteil an den leichteren Dingen des Lebens. Niemand wußte besser als der ›Heilige‹, daß Scotland Yard durchaus fähig war, mit den gängigen und offenen Formen von Gesetzesüberschreitungen fertig zu werden. Bei seinen verschiedenen Auseinandersetzungen mit der Tex-GoldmanBande hatte der ›Heilige‹ wenig mehr getan, als irgendein Detektiv mit ungetrübter Denkbegabung hätte tun können, der ebenso verantwortungsfrei gegenüber den schwerfällig
phantasielosen Oberen war, die fürstliche Gehälter dafür beziehen, daß sie mit ihrem Bürokratismus und ihrem Getue einen vollkommen einfachen Vorgang behindern, nämlich die Gottlosigkeit aufzustöbern und ihr eins auf die Nase zu hauen. Seine aus freien Stücken übernommene Mission kümmerte sich sehr viel mehr um diese häßlichen Verschlingungen der Gottlosigkeit, die nur sehr selten überhaupt zur Kenntnis Scotland Yards gelangen – und die, falls sie sich doch einmal dieser kurzsichtigen Kenntnis nähern, sich gewöhnlich als so peinlich genau gesetzlich erweisen, daß man »von Amts wegen« nichts dagegen ausrichten kann. Mr. Nilders Beruf fiel ziemlich genau in diese Kategorie. Zu diesem Zeitpunkt wußte Simon Templar nur wenig über ihn. Ein Hinweis hatte ihn durch einen dieser geheimnisvollen Kanäle erreicht, durch den solche Hinweise an sein Ohr gelangten. Es war ein Hinweis, der Scotland Yard überhaupt nichts bedeutet hätte, aber dem ›Heiligen‹ öffnete er den Ausblick auf fesselnde Spekulationen, mit denen er sich, wie er wußte, eines Tages eingehender würde beschäftigen müssen. Vor drei Monaten hatte er sich des Hinweises blindlings zu einem schnell erledigten Zweck bedient, aber nun schien ihm die Zeit reif für eine eingehendere Erkundung. »Wir sollten eigentlich ein bißchen mehr über Ronald wissen«, sagte der ›Heilige‹. Es war ganz natürlich für ihn, daß er sich dergestalt einer solchen verhältnismäßig unerheblichen Angelegenheit zuwandte, obwohl man ihm in den letzten beiden Tagen zweimal nach dem Leben getrachtet hatte und die Grünkreuzler auch jetzt noch London mit ihrem Mordauftrag nach ihm durchkämmten. Eine große Anzahl wohlgenährter Männer nahm ihre wöchentliche Entlohnung für die Suche nach den Grünkreuzknaben entgegen, aber er war an der Ausschüttung nicht beteiligt.
Fest steht, daß Mr. Ronald Nilder London am nächsten Morgen verließ – allein und am Steuer eines bescheidenen zwei Jahre alten Buicks: das Äußerste, was er sich an Augenfälligkeit auf der Straße gestattete. Ebenso fest steht, daß Simon Templar mitfuhr – obwohl Mr. Nilder das nicht wußte. Die Vorbereitung erfolgreicher Freibeuterunternehmen auf die oben erwähnten Angehörigen der Gottlosen erfordert ausgedehnte Kenntnisse der Gewohnheiten des Opfers. Das eigentliche Auf-die-Nase-Hauen ist sehr aufregend und unterhaltsam anzusehen, aber obwohl es diese Höhepunkte der Freibeuterei sind, die der Chronist mit der größten Glückseligkeit festhält, so ist es doch aufs langweiligste wahr, daß es diese Höhepunkte nicht geben würde, gäbe es nicht die weniger unterhaltsamen Perioden der Vorbereitung. Man muß die Spitze des Eiffelturms erklimmen, wenn man sich hinunterstürzen will, und der Fahrstuhl funktioniert oft nicht. Simon hielt den Tag für einen hübschen Tag für eine Ausfahrt. London hatte seinen kurzen Sommer, und der ›Heilige‹ verspürte fast so etwas wie Freundlichkeit gegenüber Mr. Nilder, als der verstaubte Buick nach dem mühsamen Hinkriechen durch Gewimmel und Gestank des innerstädtischen Verkehrs hinter Kingston die Fahrt beschleunigte und ihn eilig in die klareren Lüfte Surreys entführte. Und der ›Heilige‹ empfand die Rolle als leicht, die er da als die hintere Hälfte eines losen Tandems spielte, das auf kürzestem Wege auf Bursledon zueilte. Mr. Nilder kannte den Wagen des ›Heiligen‹ nicht, und er kannte auch den ›Heiligen‹ nicht; und Simon gab sich keine besonders große Mühe, sich zu verstecken. Schließlich ist nichts sehr Überraschendes daran, wenn zwei Automobilisten mit etwa gleicher Geschwindigkeit demselben Ziel zustreben, und dem ›Heiligen‹ war an diesem Morgen nicht verstohlen zumute.
Mit fünfzig Meter Zwischenabstand fuhren sie in Bursledon ein, und Mr. Nilders Wagen bog scharf nach rechts in eine schmale Straße ein, die auf der Rückseite einer ganzen Reihe von Schiffswerften entlangführte, die hier den Fluß säumt. Simon fuhr weiter über die Brücke, parkte den Wagen am Straßenrand und kehrte zu Fuß zurück. Er stand mitten auf der Brücke, stützte die Ellenbogen auf die Brüstung und blickte auf die Hausboote und allerhand andere Wasserfahrzeuge hinunter, die auf dem Fluß vertäut waren. Der Mischgeruch von Farbe und Teer und Seewasser wehte ihm mit der schwülen Brise in die Nase, und hin und wieder hörte er anfallartiges Hämmern auf einer der Werften zu seiner Rechten. Mit einiger Wehmut gedachte er jener fernen und vielleicht besseren Tage, da er sich die Freiheit genommen hatte, lauwarme tropische Gewässer unter den schwellenden weißen Segeln eines Schoners zu überqueren und seine Raubüberfälle auf die Gottlosen unter dem wechselnden Himmel verbotener Perlengründe ausgefochten worden waren. Mit einemmal beneidete er die Männer, die er zurückgelassen hatte – böse und andere. Und einen Augenblick der Erinnerung lang war er des Herumfetzens in den schmierigen Straßen der Stadt, die ihn nun schon so lange festhielt, überdrüssig. Und dann sah er ein Ruderboot vom Ufer abstoßen, und hinten in dem Ruderboot saß Mr. Ronald Nilder. Simons Zigarette kippte hellwach hoch, und der Blick der scharfen blauen Augen schweifte über das Wasser. Schon wenige Augenblicke später hatte er das Ziel des Ruderbootes ausgemacht – eine schnittige weiße, etwa zwanzig Meter lange Motorjacht, die träge in der Strommitte an ihrer Vertäuung schaukelte. Sie sah schnell aus – schneller als alles andre in Sicht –, und gleichzeitig hatte sie eine recht hübsche Breite, die sie ohne Zweifel seetüchtig machte.
Der ›Heilige‹ löste sich von der Brüstung und schlenderte den Weg entlang, den Nilders Wagen eingeschlagen hatte. Bei seinem Gang durch die Werften erwischte er immer wieder einen flüchtigen Blick auf die Jacht, und diese Blicke zeigten ihm Ronald Nilders Fortschritt in einer Serie aufschlußreicher Schnappschüsse. Er sah, wie das Dingi längsseits ging und der Mann an den Riemen es hielt, während Nilder an Bord kletterte. Dann sah er Nilder in der Kajüte verschwinden und den Bootsmann das Dingi hinten anbinden. Dann, wie der Bootsmann über das Kajütendach nach vorn ging und sich in den Ruderstand hinunterließ. Dann, wie Nilder neben dem Mann wieder auftauchte, nachdem er den grauen Homburg mit einer weißen Schiffermütze vertauscht hatte, und selbst jetzt nicht sehr seemännisch aussah… Bei diesem letzten Blick lehnte der ›Heilige‹ am Bug eines alten Motorbootes genau auf der Höhe der »Seevogel« – er war dicht genug heran, um den auf eine blitzweiße Rettungsboje gemalten Namen lesen zu können. Ein backenbärtiger alter Seebär war ein paar Schritte entfernt mit den ausgefransten Enden eines Taus beschäftigt; Simon sah zu ihm hin, bis er aufblickte, und zeigte dann andeutungsweise zu der »Seevogel« hinüber. »Hübsches Schiffchen«, sagte er. Der alte Seebär blickte übers Wasser und spuckte aus. »Nicht übel, Sir, wenn einem die Sorte gefällt. Ich für mein Teil, Sir, ich möchte in dem Ding nicht tot aufgefunden werden.« »Geht nichts über ein Segel, hm?« murmelte der ›Heilige‹ mitfühlend. »Jau«, erwiderte der alte Seebär und spuckte gefühlvoll. »Da sagen Sie was. Die Zitterdinger, die sind vielleicht ganz richtig für feine Damen in feinem Zeug; aber ich sage, ich ziehe allemal ein Männerboot vor, jawohl.«
Simon hob den Kopf. Die »Seevogel« hatte die Leinen losgeworfen und glitt zügig in den Ärmelkanal hinaus. Der Mann, der das Boot gerudert hatte, hielt das Steuer, und Ronald Nilder stand mit den Händen in der Tasche an Deck und schaute wohlwollend zu der Brücke zurück. »Wie dem auch sei«, meinte Simon. »Die sieht mir danach aus, als ob sie gegen einigen Seegang angehen könnte.« »Na ja, nach Frankreich kommt sie schon«, räumte der Seebär widerwillig ein. »Der Herr, dem sie gehört, macht oft ‘rüber. Sagt, er sieht sich ab und zu gern ein Kasino von innen an.« Der ›Heilige‹ holte eine Packung Zigaretten hervor und ließ den Blick beiläufig auf der Werft herumwandern. Neben der Wand eines Bootshauses sah er die Umrisse eines Wagens unter einer wasserdichten Plane, und er erkannte die Nummer auf dem hervorschauenden Schild wieder. »Sieht so aus, als sei er heute dahin unterwegs«, sagt er, auf den Buick deutend. »Sollte mich gar nicht wundern«, sagte sein Auskunftsmann, während er die angebotene Zigarette aus der Packung zog. »Lang kann er aber wohl nicht bleiben, denn er ist morgen wieder zurück, hat er gesagt.« Simon nickte nachdenklich und lehnte sich gegen das Motorboot zurück. »Sie haben nicht vielleicht ein kleines Motorboot zu vermieten, oder?« Die verächtliche Haltung des alten Seebären gegenüber Maschinenkraft erfuhr eine rapide Wandlung, als er feststellte, daß der ›Heilige‹ eine völlige persönliche Gleichgültigkeit gegenüber den Vorzügen des Segels zutage treten ließ. Jawohl, er hatte ein Motorboot. Es war, so ließ er durchblicken, ein solch außergewöhnliches Motorboot, daß es in keine allgemeine Brandmarkung maschinenbewegter Seefahrzeuge
eingeschlossen werden konnte. Es konnte für einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr und vermutlich auch ein Jahrhundert gechartert werden; und es gehörte einem Herrn, der Rennpferde besaß, die immer gewannen, wenn er sagte, daß sie gewinnen würden, was selbstverständlich seine vorzüglichen Eigenschaften – die vorzüglichen Eigenschaften des Motorbootes – auf eine Höhe hoben, die die absolute Vollkommenheit noch überragte. Simon sah es sich an, fand es passend und verabredete, daß er am nächsten Morgen damit hinausfahren werde. »Ich möchte nur ‘n bißchen herumschwimmen und vielleicht ein wenig angeln«, sagte er. Er fuhr zu dem Gasthaus in Warsash hinunter und rief Patricia an. »Ronald ist los, um die Spielkasinos unsicher zu machen, und ich kaufe mir jetzt ein Stück Schnur und bieg’ eine Nadel krumm«, sagte er. »Vielleicht grüßen wir uns mit ›Schiff ahoi!‹ um sieben Glasen.« Mit mächtiger Anstrengung, die man nur seiner niemals wankenden Treue zu seinem Pflichtbewußtsein zuschreiben kann, brachte er es fertig, am nächsten Morgen um sechs Uhr zu frühstücken und um sieben Uhr mit einigermaßen zünftig aussehender Ausrüstung am Liegeplatz des Bootes anzutreten. Er tuckerte zum Solent hinunter und kreuzte mit einer Zigarette im Mund und einer mit einem Köder versehenen Leine über der Bordwand vor der Hamblemündung hin und her. Überdies fing er einen Fisch, was die Intelligenz der Floßler in seiner Einschätzung beträchtlich absinken ließ. Und während er dies tat, gebar er einen Gedanken. Hier laufen während der Saison jeden Tag Boote ein und aus, und kein Mensch kümmert sich darum. Es ist nicht die kürzeste Überfahrt zur französischen Küste, aber für jemanden mit Ladung an Bord mußte sie ihre Vorteile haben.
Neun Uhr war es, als er die Bugwelle der »Seevogel« den Solent herauf auf sich zukommen sah, und daran merkte er, daß Ronald Nilders Bötchen in der Tat ein fixes Bötchen war. Es machte über zwanzig Knoten, und dem ›Heiligen‹ blieb daher sehr wenig Zeit für die Vorbereitung der Szene, die er zu inszenieren gedachte. Er ließ seine Leine auf Grund und schaltete den müßig tuckernden Motor aus. Er war unmittelbar auf dem Kurs der »Seevogel«, als sie auf die Flußmündung zuhielt, und als sie auf Rufweite heran war, stand er auf, fuchtelte heftig mit den Armen und schrie etwas von Maschinenschaden, schrie es verzweifelt. Es war durchaus möglich, daß Nilder seine Signale nicht beachten und um ihn herumfahren würde; aber das Glück war an diesem Tag auf seiten des ›Heiligen‹. Er sah die Bugwelle der Jacht zusammenfallen und das Wasser am Heck weiß aufschäumen, als die Schrauben sich rückwärts zu drehen begannen. Die Jacht manövrierte geschickt längsseits, und sie rollten nebeneinander in der leichten Dünung. »Es tut mir schrecklich leid, daß ich Sie bemühen muß«, sagte der ›Heilige‹, »aber mein Motor spielt nicht mehr mit, und ich habe keine Riemen oder sonst was.« »Wo wollen Sie hin?« fragte Nilder. Er stand im Cockpit, die Mütze schiefgezogen, was er offensichtlich für verwegen hielt. »Nach Bursledon«, erwiderte der ›Heilige‹. »Aber ich nehme an, irgend jemand würde mich abschleppen können von dem nächsten Halteplatz aus, den Sie ansteuern.« »Wir fahren selber nach Bursledon. Wir nehmen Sie ins Schlepp.« Auf eine Kopfbewegung Nilders hin ging der Rudergänger nach achtern und warf eine Leine aus. Er schien die Gesamtbesatzung der »Seevogel« zu sein, und aus näherer Entfernung gesehen, schien ihm in auffallendem Maß jene
einnehmende Güte zu fehlen, die man in den Zügen der Verwalter von Waisenhäusern findet. Simon machte die Leine fest, und Nilder beugte sich über die Reling. »Kommen Sie doch hier herauf«, schlug er leutselig vor. »Wenn Sie da unten bleiben, werden Sie bestimmt ziemlich naß werden.« Simon hatte in der Tat von Anfang an vorgehabt, irgendwie an Bord zu gehen, aber mit solch einer prompten Einladung hatte er nicht gerechnet. Recht vorsichtig kletterte er in den Ruderstand hinüber, während ein winziges Fragezeichen ihm durch den Kopf tanzte. Es war an sich eine vollkommen normale Einladung, aber falls Nilder ein ganz klein wenig mehr Scharfsinn offenbaren sollte, als der ›Heilige‹ ihm zuschrieb… Und dann wehte ihm die Morgenbrise den Geruch von Ronald Nilders Atem zu, und Simon stellte fest, daß der Mann mehr als nur ein wenig betrunken war. »Welch ein Zufall, daß wir uns schon so rasch wiederbegegnen, was?« bemerkte Nilder plötzlich, als die Jacht wieder die Fahrt aufnahm und die Einmannbesatzung das Ruder ergriff. »Ich habe Sie gestern vorzüglich in meinem Rückspiegel betrachten können.« Seine engstehenden Augen waren mit diesem eigentümlich starren Blick sanften Besäuseltseins auf den ›Heiligen‹ gerichtet, und Simon begriff blitzartig, daß Ronald Nilder sich zu genau dem Stadium der Berauschung hochgeölt hatte, in dem man sich eines Schwungs und einer genialischen Geisteskraft bewußt war, die kein anderer wahrnimmt und von denen man selber nicht wußte, daß man sie besaß. Simon erwiderte den Blick des Mannes kühl. Als er an diesem Morgen aufbrach, hatte er nichts Verzweifeltes im Sinn gehabt, aber er war stets bereit, seinen Stil den Umständen anzupassen. Ronald Nilder machte so wahnwitzig und unnötig
auf die schlaue Tour, daß er eine passende Entgegnung mehr als verdiente. »Hm, ja – seltsam, nicht?« murmelte der ›Heilige‹. Er klopfte dem Rudergänger sachte auf die Schulter, und der Mann drehte sich halb um. In dieser Haltung bot sich seine Kinnspitze den Fäusten des ›Heiligen‹ als ein Ziel an, das außer acht zu lassen landläufige Höflichkeit verbot. Simon zeigte sich erkenntlich – anmutig, akkurat und mit einem explosiven Freiwerden von Energie, das den Rudergänger mit den Fußballen von den Planken löste, bevor er zusammensackte. »Prächtiges Wetter, nicht?« murmelte der ›Heilige‹, die Unterhaltung fortsetzend. Er warf das Ruder hart über, so daß die »Seevogel« sich nach Steuerbord überlegte und fast auf der Bordwand drehte. Simon richtete sie zügig wieder auf und ließ sie nach Süden laufen, von der Flußmündung weg. Seine Augen wandten sich Nilders Gesicht mit der blau blitzenden Herausforderung zu, die zu seinem tollkühnen Lächeln paßte. Auf solchen Augenblicken des großartig Unerwarteten gründete die Größe des ›Heiligen‹. Als er Ronald Nilder nun ansah, stellte er fest, daß die besäuselte Courage, die den Mann dazu verleitet hatte, solch einen unbekümmert unberechenbaren Stier bei den Hörnern zu packen, verpufft war wie die Luft aus einem gepiekten Autoreifen. Geradezu panische Furcht stand Ronald Nilder im Gesicht, und ungeschickt versuchte er, die Pistole zu ziehen. Simon nahm sie ihm recht gutmütig ab und warf sie über Bord. »Auch das ist nämlich ein Fehler, Ronald«, sagte der ›Heilige‹ gelassen. »Achtbare Jachtfahrer zücken keine Pistolen, wenn ihre Crew angegriffen wird. Sie werden
lediglich blaurot um die Schläfen und sagen: ›Was, zum Teufel, mein Herr, hat diese Gewalttätigkeit zu bedeuten?‹« Nilder starrte ihn mit weißem Gesicht an, und der ›Heilige‹ kuppelte den Motor aus und ließ die »Seevogel« treiben. »Und nun, da die Zuhörerschaft schläft, Ronald«, sagte er, »will ich Ihnen ein Geheimnis verraten. Als ich hier draußen herumhockte und darauf hoffte, daß irgendein junger Fisch, der noch nicht von meinem Ruf gehört hatte, an einem meiner Würmer Gefallen finden würde, dachte ich so bei mir: was für ein nützlicher Stützpunkt dies hier doch sein würde für einen Mann, der keine Reklame für seine Ladung machen möchte.« Er sah, wie Nilder sich ein wenig zusammenkauerte, und lächelte nicht. »Mehrere Mädchen werden es wohl inzwischen bedauern, daß sie sich von Ihnen zu einem Jachtausflug haben einladen lassen. Aber was bringen Sie jetzt auf der Rückreise mit, Ronald? – Das ist es, was mir Kummer macht.« Nilder leckte sich die Lippen und gab keine Antwort. Dann umklammerte eine Hand wie aus Stahl seinen Arm, und ein braunes Gesicht, aus dem alle Freundlichkeit verschwunden war, blickte in seins hinunter. »Sollen wir mal nachsehen?« fragte der ›Heilige‹. Er schob Nilder durch die Tür, die in die Kajüte achtern führte. Zwei Proviantkörbe standen auf dem Tisch, und der ›Heilige‹ betrachtete sie gedankenvoll. Das war natürlich die einfachste Methode, irgendeine nicht zu unmäßige Ladung an Land zu bringen. »Sekt und Kaviarbrötchen?« näselte der ›Heilige‹. »Genau, was der Arzt mir verordnet hat.« Er stieß Nilder auf eine der Sofakojen und schlug den Deckel von einem der Körbe zurück. Ihm war nicht ganz klar, was er zu finden erwartete, aber es war ganz gewiß nicht das, was er sah. Er betrachtete es
schweigend mehrere Sekunden lang, und dann öffnete er den anderen Korb. Der Inhalt war derselbe. »Maschinengewehre also, hm?« sagte er unbewegt. »Dachte ich mir schon, daß die bald an der Reihe wären. Und seit wann kennen Sie Tex Goldman?« Nilder gab immer noch keine Antwort. Ohne ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, trug Simon die Körbe einen nach dem anderen an Deck und warf sie über Bord in den tiefsten Grund des Solent. Dann kehrte er zurück und hob Nilder beim Kragen vom Sofa hoch. »Ich habe Sie etwas gefragt, Sie schäbiger schielender Schuft«, sagte der ›Heilige‹. »Seit wann kennen Sie Tex Goldman?« Nilder schüttelte den Kopf in einer stummen Travestie der Widerborstigkeit. Und die Faust des ›Heiligen‹ krachte ihm zwischen die Zähne und prellte ihn gegen das Schott zurück. »Wenn Sie jetzt nicht reden, werden sie monatelang nicht lächeln«, sagte der ›Heilige‹ gleichmütig. »Es wird einfach zu sehr schmerzen. Sie mißfallen mir, und ich verabscheue Ihr Gewerbe. Seit wann kennen Sie Tex Goldman?« Nilder wischte sich über die blutenden Lippen. »Ich kenn’ ihn nicht, damit Sie’s wissen. Was haben Sie für ein Recht…« Aber drei Minuten später redete er mit Freuden. »Ich kannte ihn vor sechs Jahren, bevor er nach Amerika ging. Damals hat er Drachen steigen lassen – faule Schecks unterzeichnet. Er fand was über ein Mädchen heraus, dem ich – dem ich Arbeit besorgt hatte. Sie war erst fünfzehn, aber wie konnte ich das wissen? Es war nicht meine Schuld… er wurde deportiert. Als er dann zurückkam, zwang er mich, ihm zu helfen. Es war Erpressung. Ich wollte es nicht tun – « »Das ist ungefähr alles, was ich wissen möchte«, sagte der ›Heilige‹. »Wie viele Reisen haben Sie bisher gemacht?«
»Dies ist die erste – ich schwöre es Ihnen!« Simon stieß ihn in die Ecke zurück. »Schluß, Ronald. Ihre Stimme wird mir widerlich.« Er ging hinaus, suchte und fand den kleinen vollgepackten Maschinenraum und füllte das Öl aus dem Auffangbecken unter dem Motor bis auf den letzten Tropfen in einen leeren Kanister um. In mehreren Gängen goß er es über Bord, ohne daß Nilder es sah, und kehrte dann in die Kajüte zurück. »Ich nehme an, Sie werden das Land so schnell wie möglich verlassen. Falls Sie zum Reisen ermutigt werden müssen, darf ich Ihnen vielleicht folgendes sagen: Sollte ich Sie jemals wiedersehen, wird der Rest Ihrer Reiserei inmitten von Blumen hinter zwei schwarzen Pferden stattfinden. Sie werden keine Klage führen über diese kleine Überfahrt, bevor Sie verduften, denn sollte man mich verhaften, würde mir schrecklich gesprächig zumute sein.« »Dafür werden Sie büßen, Sie dreckiger Hund!« knurrte Nilder in rasender Wut. »Goldman wird ein Wörtchen mit Ihnen zu reden haben…« »Würde mich nicht wundern«, erwiderte der ›Heilige‹ verächtlich. »Tex hat den Mumm dazu – der Ihnen fehlt.« Er kletterte zur Achtertür aus der Kajüte heraus und zog sein eigenes Motorboot heran. Dreißig Sekunden später schäumte er flußaufwärts nach Bursledon zurück, während die »Seevogel« auf der ablaufenden Ebbe weiter in den Solent hinaustrieb.
VI
In weiteren zwanzig Minuten war er wieder in Warsash, und als er vor dem Gasthaus aus dem Wagen stieg, erhaschte er einen Blick auf die »Seevogel«, die gerade in diesem Moment drehte, um den Hamble hinaufzurauschen. Während er noch zusah, fiel die Bugwelle in sich zusammen, die Jacht drehte sich, trieb. Simon griente stillvergnügt vor sich hin und ging ins Speisezimmer. Er zuckte anerkennend mit den Nasenflügeln, als ihm der Duft knusprig gebratenen Specks entgegenwehte. Drei Stunden in der frischen Seeluft nach der flüchtigen Mahlzeit, die er um sechs Uhr in der Frühe geschluckt hatte, und dazu ein gewisses Maß nützlicher körperlicher Betätigung hatten seinen Appetit aufs gründlichste wieder den normalen morgendlichen Proportionen zugeführt. »Bringen Sie mir zwei Spiegeleier, furchtbar viel Speck und mindestens einen Liter Kaffee«, sagte er zu der Kellnerin, die ihm an diesem Morgen schon einmal ein Frühstück vorgesetzt hatte. »Danach werde ich in der Lage sein, mich drei weiteren Spiegeleiern, einem Pfund Pilzen und neuen Speckmengen zu widmen. Gehen Sie und sagen Sie Bescheid, daß man das Schwein schlachtet, Gladys.« Während wenigstens ein Teil seiner Bestellung erledigt wurde, ging er zum Telefon und rief Pat zum zweitenmal an. »‘n Morgen, Liebling«, sagte er. »So spät noch auf?« »Ich war zu Bett«, erwiderte das Mädchen. »Ich auch«, murmelte der ›Heilige‹ munter. »Aber nicht lange. Ich glaube nicht, daß dieses Frühaufstehen gesund ist – die Aussicht darauf nimmt der Nacht davor fast all ihren Reiz,
und ich trinke einfach nicht gerne meinen Morgentee bei Mondschein.« »Wie hat’s mit dem Angeln geklappt?« »Ganz hübsch.« Simon sah sich zur Vorsicht um, aber es war niemand in Hörweite. »Als ich seiner zum letztenmal ansichtig wurde, war Bruder Ronald gerade dabei, eine Menge Ärger zu kriegen. Ich habe seinem Motor sämtliches Öl abgezapft, und wenn er nicht daran gedacht hat, die Lager mit dem Produkt seines eigenen Transpirierens zu schmieren, wird sich alles so festgerannt haben, daß er Tage braucht, um wieder flott zu werden. Die ›Seevogel‹ wird fürs erste keine weiteren Reisen mehr unternehmen.« Patricia lachte leise. »Wann kommst du nach Hause, Junge?« »Hm – heute ist Freitag, ja? Wenn mir recht ist, sind wir mit Claud Eustace Teal zum Mittagessen verabredet. Ich treffe dich um halb eins im ›Burton‹.« Er kehrte zu seinem zweiten Frühstück in dem befriedigenden Bewußtsein zurück, daß etwa um die gleiche Zeit eine andere und sehr andersartige Unterhaltung auf der Leitung nach London geführt werden mußte, und er irrte sich nicht. Ronald Nilder hielt es nicht für nutzbringend, sich bei Einzelheiten aufzuhalten. »Der ›Heilige‹ hat mich im Solent abgefangen, Goldman. Er hat nicht gesagt, daß er es sei, aber es kann niemand anders gewesen sein. Er hat die Maschinenpistolen über Bord geworfen und mich zusammengeschlagen.« Tex Goldman besaß die Gabe, keine Zeit mit nutzlosen unanständigen Ausdrücken zu verschwenden. »Kommen Sie so schnell wie möglich zurück«, sagte er grimmig. »Ich hab’ hier was für den ›Heiligen‹ vorbereitet!« Simon Templar jedoch besaß eine ebenso wertvolle Gabe, die ihm schon oft gute Dienste geleistet hatte. An diesem
Freitagmorgen arbeitete sie mit Hochdruck. Er hatte eine sehr klare Vorstellung von Tex Goldmans Psychologie – weshalb er über Leatherhead und Epsom nach London zurückfuhr und Ted Orping am Ende der Portsmouth Road vergeblich auf ihn wartete. Es war ein oder zwei Minuten vor halb eins, als er den Eingang des Landsdown House durchschritt, aber Patricia wartete bereits auf ihn. Der ›Heilige‹ bestellte Cocktails und erzählte ihr ausführlich von seiner morgendlichen Eskapade. »Wenn du den Umweg gefahren bist, wird Nilder wohl ungefähr gleichzeitig wieder in London gewesen sein«, sagte sie, und Simon lächelte. »Ich bezweifle es, meine alte Liebe«, sagte er ruhig. »Ich habe mein Taschenmesser in seine beiden Hinterreifen gebohrt und, weil es Glück bringt, auch gleich noch in den Ersatzreifen. Also kann er entweder auf jemanden gewartet haben, der den Schaden reparierte, oder in einen Zug gestiegen sein, der nicht vor einer weiteren Stunde eintreffen wird. Dadurch wird ihm die Zeit ein bißchen knapp, um den Bootszug für die Zwei-Uhr-Fähre nach Boulogne noch zu erwischen, also muß er entweder versuchen, den um vier über Dover-Calais zu schnappen, oder auf den um acht Uhr zwanzig nach Dieppe oder auf den um neun Uhr über Le Havre warten – meine Vertrautheit mit diesen Fahrplänen ist bemerkenswert«, meinte der ›Heilige‹ bescheiden. »In jedem Fall wird er zunächst seine Bank aufsuchen müssen, und das ist alles, was mich interessiert.« Das Mädchen betrachtete ihn verwundert. »Ich kann mich an eine Zeit erinnern, da wäre er nicht so leicht davongekommen«, sagte sie. Simon lehnte sich mit lang ausgestreckten Beinen zurück und sah dem Zigarettenrauch nach, der sich zur Decke hochkräuselte.
»Ich weiß. Aber zu der Zeit dachten wir nicht so geschäftlich, und die Einkommensteuer betrug nicht fünfundzwanzig Prozent. Und außerdem kam die Betätigung des großen Claud Eustace ihrem Ziel nicht ganz so nahe. Nein, Pat – im Lebensherbst wendet sich die Einbildungskraft des jungen Mannes, der vor dir sitzt, subtileren Gedanken zu, darunter genialen Methoden, wie er andere die schmutzige Arbeit erledigen lassen kann. Und ich glaube, mir ist ein weit, weit eleganterer Weg eingefallen.« Und dann blickte er sich um und sah Chefinspektor Teals ovale Körpermasse durch die Bar auf sie zurollen. Er stand auf und bestellte neue Martinis. »Na, dann erzählen Sie mal«, murmelte er. »Nicht viel zu erzählen«, erwiderte der Kriminalbeamte schläfrig, während er sich in einen Sessel sinken ließ. »Wir sind noch bei der Arbeit, und wir werden unseren Mann bald haben. Sie haben von dem Raubüberfall auf der U-Bahn in der vergangenen Nacht gehört, oder?« Simon schüttelte den Kopf. »Ich habe noch keine Morgenzeitung gesehen.« »Sie haben drei Leute verwundet, die Brüder, und sind mit über dreitausend Pfund in bar entkommen – den Einnahmen von drei Stationen. Das ist es ja, was die Sache so kompliziert macht. Die ganze Zeit halten sie uns am Raten. Mit Juwelierläden geht’s los. Wir bewachen sie – da machen sie sich über Banken her. Also bewachen wir die Banken, und sie nehmen sich Nachtklubs vor. Und jetzt ist die Untergrundbahn an der Reihe. Wir können unmöglich jede Stelle in London bewachen, an der große Geldsummen zu finden sind, und das wissen sie.« »Keine weiteren Anhaltspunkte?«
»Wir verfolgen mehrere Spuren«, erwiderte der Detektiv mit der ausweichenden Unbestimmtheit seines Berufs, aber Simon Templar ließ sich nicht beeindrucken. »Wie ich die Geschichte sehe«, sagte er, »besteht Ihre Schwierigkeit darin, daß Sie den Mann an der Spitze einheimsen müssen, der all diese schlauen Einfälle ausbrütet. Es hat keinen Zweck, hier und da einen der Grünkreuzknaben aufzugreifen – die können Sie jederzeit auf die gewöhnliche Weise im Auge behalten, und nur dieser unbekannte Kerl, der sie an der Leine hat, der macht aus ihnen zur Zeit gefährliche Leute.« Teal nickte. »So ungefähr sieht’s aus.« »Und falls Sie diesen unbekannten Kerl fänden, würde er sich vermutlich als so unbekannt erweisen, daß man mit sämtlichem Beweismaterial, das man gegen ihn hat, nicht einmal eine Mücke hängen könnte.« »Das ist oft der Ärger«, sagte Teal düster. »Aber anders können wir einfach nicht vorgehen.« »Essen wir was«, sagte der ›Heilige‹ aufmunternd. Während des ganzen Mittagessens spielte er den perfekten Gastgeber in strikter Ergebenheit gegenüber einer Etikette, die Patricia nicht begriff. Er sprach über Pferderennen, Bier, Flugzeuge, Theater, Politik, Zündkerzen, Reform der Männerkleidung und Krebs – über alles, das nicht auf ein Thema zusteuern konnte, mit dem er das Zartgefühl des Detektivs verletzt hätte. Ganz besonders vermied er es, noch irgend etwas über die Grünkreuzbande oder ihren unbekannten Anführer zu sagen, und öfter als einmal betrachtete Teal ihn von der Seite mit einer Art gereizter Verdutztheit. Es sah dem ›Heiligen‹ ganz und gar nicht ähnlich, Dinge, die möglicherweise schmerzhaft waren, der Unterhaltung fernzuhalten, und das Symptom gab Mr. Teal ein ganz leicht unbehagliches Gefühl.
Um zwei Uhr entschuldigte er sich mit dem geknurrten Hinweis auf dienstliche Angelegenheiten, und Simon begleitete ihn zur Tür. Teal drehte seine Melone in den Händen und sah ihn verschlafen an. »Sie behalten etwas für sich«, sagte er unumwunden. »Ich kann Sie nicht dazu zwingen, es mir zu erzählen, wenn Sie nicht möchten, aber Sie sehen doch wohl ein, daß diese Schießereien weitergehen werden, bis wir den Mann gefaßt haben, der dahintersteckt.« »Ah ja, bevor ich es vergesse«, sagte der ›Heilige‹. »Können Sie mir die Namen all der Leute geben, auf die geschossen wurde, seit die Mode anfing – den Polizisten eingeschlossen?« Er schrieb die Namen, die Teal ihm angab, auf einen alten Briefumschlag und winkte dem Kriminalbeamten vergnügt zum Abschied zu, ohne irgend etwas zur Antwort auf die in Teals Feststellung enthaltene Frage zu sagen – was Mr. Teal erst aufging, als er schon die halbe Berkeley Street hinter sich gebracht hatte. Simon kehrte zu Patricia zurück, und seine Augen blickten fröhlich und gefährlich. »Und jetzt wird flinkstens gearbeitet«, sagte er. »London stinkt mir, wir brauchen Ferien. Würdest du nicht gern ein Schiff beim Schopf fassen und aufs große weite Meer hinausfahren?« »Aber was machen wir jetzt?« fragte sie; und der ›Heilige‹ zog in neckendem Geheimnisvolltun die Augenbrauen hoch. »Punkt eins auf der Tagesordnung: ein Wörtchen mit Clem Enright reden. Gott sei Dank hat Corrigan mir anvertraut, wo er herumhängt, wenn er nichts tut – sonst wäre es vielleicht schwierig geworden.« Er hatte Glück und fand Clem Enright beim dritten Versuch in einer Kneipe in der Nähe von Charing Cross, aber er machte kein Aufhebens um die Entdeckung. Genauer gesagt: Clem
Enright wußte nicht einmal, daß die Entdeckung stattgefunden hatte. Früher hatte Clem die Stehbierhallen der Kneipen heimgesucht, in denen er zu trinken pflegte, aber in jüngster Zeit hatte er unter Ted Orpings gönnerhafter Anleitung gelernt, vollkommen unbefangen zum Restauranteingang hineinzuspazieren. Clem ging mit mehr Geld um, als er jemals zuvor in seinem Leben besessen hatte, und in der Benommenheit seines neuerworbenen Überflusses war er ein guter Schüler. Er saß hinter einem Whisky-Soda – »Nur Landstreicher trinken Bier«, behauptete Ted immer wieder –, den steifen Hut keck über ein Ohr gezogen, was eine Nachahmung von Ted Orpings nonchalanter Verwegenheit sein sollte, und lauschte einer Vorlesung seines Helden. »Protektion«, sagte Ted Orping eindrucksvoll. »Darauf steuern wir zu. Protektion, jawohl.« »Ich dachte, das hätte was mit Politik zu tun«, meinte Clem benommen. - »Quatsch, du Blödmann«, knurrte Ted verächtlich, »Protektion wie sie das in Amerika machen. Nie davon gehört? Das geht so man sagt zu einem Kerl: ›Sie haben hier ein großes Unternehmen, und Sie wissen nie, ob eine Bande Sie nicht mal überfallen oder eine Bombe hinschmeißen kann. Sie bezahlen uns für unsere Protektion, und wir schützen Sie und passen auf, daß Ihnen nichts passiert‹.« »Aber ich dachte, wir machen die Überfälle«, sagte Clem. Ted Orping seufzte und spuckte einen Faden Tabak zwischen den Zähnen aus. »Natürlich, du Bumskopf. Damit zeigen wir ihnen, was passieren könnte, wenn sie nicht bezahlen. Dann, wenn sie alle Angst haben, gehen wir zu ihnen und reden von Protektion.
Wir kriegen genausoviel Geld, und wir brauchen nicht so schwer zu arbeiten.« »Klingt ganz gut«, sagte Clem. Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und versuchte, seine Grimasse zu verstecken. Er hatte sich nie etwas aus Whisky gemacht und würde sich nie etwas daraus machen, aber er war doppelt so teuer wie Bier, und ein eleganter Herr nahm immer das Beste. Sie waren nun elegante Herren – Ted Orping hatte es gesagt. Sie besaßen Zigarettenetuis, ließen sich die Nägel maniküren und wechselten zweimal wöchentlich das Hemd. »Das ist eine ganz große Sache«, sagte Ted, sich vertraulich zur Seite beugend. »Das wird wachsen und wachsen und wachsen – da gibt es gar keine Grenzen. Und wir sind von Anfang an dabei, wie die Kerle, die als erste Autos und Radios gemacht haben. Und was sind die heute? Guck sie dir an!« »Marconi«, warf Clem wagemutig ein, »Austin, Morris, Henry Ford…« »Millionäre«, sagte Ted. »Das sind sie. Und warum? Weil sie die ersten waren. Genau wie wir. Und wir können auch Millionäre werden. Hat Tex dir nicht erzählt, wie die Kerle in Chikago leben? Schlafen in Seidenlaken, an jedem Finger einen Richter und den Oberbürgermeister zum Festessen von goldenen Tellern. So wird es uns eines Tages gehen. Trink noch einen.« Er ging zur Theke, um die Gläser erneut auffüllen zu lassen, und kehrte in die Ecke zurück, in der sie saßen. Eine Schankmamsell begann zu jammern: »Polizeistunde, meine Herren!«, und Ted streckte ihr frech die Zunge heraus. »Und das lassen wir uns auch nicht gefallen«, sagte er. »Wir trinken das Zeug bei uns zu Hause in den eigenen vier Wänden, und da kann keiner sagen: ›Polizeistunde, meine Herren!‹ Mensch, ja, und wir stehen uns besser hier in England, denn hier gibt es keinen dritten Grad.«
»Was ist das?« fragte Clem. »Hm, wenn sie dich schnappen, behandeln sie dich nicht freundlich wie hier. Sie fragen dich nicht einfach ein paar Fragen, auf die du keine Antwort zu geben brauchst, und sperren dich dann ein, bis du morgens vor den Kadi kommst – nee! Was sie da machen, die schleppen dich in eitlen Raum, vielleicht fünf oder sechs verdammt massige Bullen, und dann bringen sie dich zum Reden – ob du nun was weißt oder nicht.« Enright sah ihn blöde an. »Wie machen sie das?« »Die kennen sich aus«, sagte Ted Orping. »Die lassen nichts unversucht, um ein Geständnis aus dir ‘rauszuwringen. Lassen dich ohne Wasser sitzen, hauen auf dir herum, schlagen dich mit einem Gummiknüppel, bohren dir die Zähne ‘runter mit ‘m Zahnarztbohrer – jede Art von Folter, die ihnen nur einfällt. Da muß man verdammt hart sein, um das Maul zu halten, wenn sie so was mit einem machen.« Clem Enright erschauerte, als Orping sich noch über weitere Methoden der Überredung verbreitete, von denen er gelesen hatte. Clem hielt sich nicht für hart – nicht in dem Sinn. In seiner Straßenbengeljugend waren ihm oft genug von größeren Lümmeln die Arme nach hinten gedreht worden, so daß er wußte, was akuter körperlicher Schmerz war, und er war auf keine dieser quälenderen Verfeinerungen erpicht. »Polizeistunde, meine Herren«, rief das Schankmädchen abermals, und ein hemdsärmeliger Zapfer fiel in den Refrain ein, während er die Gläser von den Tischen einsammelte; sang ihn mit der ganzen gehässigen Genugtuung, die Kneipenangestellte zu empfinden scheinen, wenn sie zur Befolgung dieses schwachköpfigen Gesetzes auffordern. »Komm«, sagte Ted schließlich. »Gehn wir!«
Er stellte sein Glas trotzig auf den Kopf und verließ, Clem hinter sich, mit Angebergang das Lokal. Auf dem Bürgersteig blieben sie stehen. »Wo gehst du hin?« fragte Ted. » Ich hab’ ‘ne Verabredung mit ‘ner Puppe.« Er hatte am Tag zuvor mehrere Stunden in einem Kino zugebracht und ein paar neue Wörter gelernt. »Ich geh’ zum Schießstand und übe ein bißchen Schießen«, sagte Enfight. »Okay«, sagte Ted mit Gefühl. »Man kann gar nicht genug üben, aber laß dir ja nicht merken, daß du selber eine Kanone hast. Bis heute abend.« Sie trennten sich vor der Kneipe, und Clem Enright ging langsam und ein bißchen wackelig die Villiers Street hinunter. Er war sich stets seiner minderen Härte bewußt in Ted Orpings Gegenwart, der zwei Männer getötet und mehrere andere verwundet hatte. Das Gewicht der Pistole in seiner Hosentasche erfüllte ihn nur sehr gelegentlich mit dem Gefühl, ein echter Desperado zu sein – ansonsten schien sie ihm seine Sachen aufzutreiben wie ein gewilderter Fasan, und der kalte Schweiß brach ihm oft genug aus, denn oft genug rechnete er damit, im nächsten Augenblick eine schwere Hand auf seiner Schulter zu spüren und vertraute Worte freundlich gemurmelt an seinem Ohr zu hören. In letzter Zeit hatte er eine Menge Geld für Munition auf dem Schießstand ausgegeben und einmal ein Vierundzwanzigerziel auf zwölf Schritte getroffen. Sie glaubten nicht, die anderen, daß er das Zeug dazu hatte, hart zu sein – das war der Ärger. Er war ein guter Mann für den Ziegelstein bei einem Schaufenstereinbruch, und er fuhr nicht schlecht, auch wenn es kitzlig wurde, aber sie betrachteten ihn nicht als einen Mann, der bei irgendeiner Gewalttat die Initiative ergreifen würde. Und das nagte an ihm. Er war so gut wie jeder andere, aber sie hatten ihn nie eine
wichtige Rolle bei irgendeinem Überfall spielen lassen. Das erschien ihm ungerecht, und in seinen Tagträumen lebte er dem Ruhm des Augenblicks entgegen, da er das Recht auf Gleichheit von ihnen fordern würde kraft der Abschußkerbe an seiner eigenen Pistole. Manchmal hörte er in Gedanken das gräßliche Grunzen des Polizisten, den Schläger Tope niedergeschossen hatte, und sah ihn vor sich, wie er sich den Bauch hielt und wie ein wundes Kaninchen ausschlug. Und dann brach ihm abermals der kalte Schweiß aus… Er verschloß die Augen vor dem Bild und versuchte, auf andere Art daran zu denken. Er sah seine eigenen Augen hinter Kimme und Korn, seinen eigenen Finger, der sich ruhig und erbarmungslos um den Abzughahn krümmte, die Pistole, die er hielt, als sei sie in einen Schraubstock gespannt – er hatte eine Menge einschlägiger Literatur gelesen und wußte, wie man es machte. Dann der scharfe Knall des Abschusses, das Rucken des Laufes, der Stolz und das Selbstvertrauen… »He, Sie!« Die schroffe Stimme, die es unmittelbar auf sein Ohr abgesehen zu haben schien, ließ ihn zusammenfahren. Mit lachhaft pumpendem Herz drehte er sich um. Er war fast genau vor dem Schießstand unten an der Villiers Street, und er hatte das Herannahen des Wagens nicht gehört, der leise die Straße entlanggeglitten war und so dicht neben ihm gehalten hatte, daß das Trittbrett sein Hosenbein streifte. Der Mann am Steuer hatte ein hartes, sonnenbraunes Gesicht, das ihm irgendwie bekannt vorkam, aber die dunkle Schildpattbrille auf der Nase und die unangezündete Zigarre im Mund beruhigten ihn. Überdies sprach der Mann mit starkem amerikanischem Akzent. »Steig ein. Goldman braucht dich – schnell!«
Clem beugte sich vor, öffnete die Tür. Die Hoffnung, die nimmer geschlafen hatte in seinem schmächtigen Busen, hüpfte hoch und klopfte wie wild. »‘ne Ahnung, was es sein kann?« »Nicht genau, aber ich weiß, es wird geschossen dabei. Schießeisen eingesteckt?… Brav, mein Junge. Los geht’s.« Clem Enright lehnte sich zurück und gab sich ganz der Betrachtung der rosigen Morgendämmerung seiner Apotheose hin. Endlich war sie also gekommen, die Chance, die er so innig herbeigewünscht hatte. Sie folgte so genau der Spur seiner Tagträume, daß er fast glaubte, er träume immer noch. Wenn nun nur noch das Glück auf seiner Seite war – wenn das plötzliche Zittern, das seine Glieder befallen hatte, sich verlor und er so kühl und besonnen blieb wie in seinen Träumen… Er achtete nicht darauf, welchen Weg sie einschlugen, und verschwendete keinen weiteren Blick oder Gedanken an den Mann, der ihn fuhr. Wieder und wieder durchlebte er im Geist Dutzende von Schießereien, bei denen er der einzige überlebende Held war. Und dann – ihm schienen nur wenige Minuten vergangen – gewahrte er, daß der Wagen gehalten hatte und der Motor ausgeschaltet worden war. Sie befanden sich in einer der schmalen Nebenstraßen in Chelsea – er erkannte den Bezirk an den Läden, die er am Ende der Straße gegenüber in der King’s Road sehen konnte. »Was ist los?« fragte er. »Das ist das Haus nicht!« »Geheime Sonderbefehlsstelle«, sagte der Fahrer mit einem unzusammenhängenden Lächeln. »Hier warst du noch nicht.« Clem Enright schwoll die Brust, als er seinem Führer durch die Haustür und einen engen Korridor und dann eine lange Treppe hinauf folgte. Geheime Sonderbefehlsstelle! Keine Ahnung hatte er gehabt, daß so etwas überhaupt existierte. Bestimmt war Ted Orping noch nie hier gewesen. Und er war der Erkorene, den man für einen Auftrag ausgewählt hatte, der
außerordentlich wichtig sein mußte. Urplötzlich erfuhr seine Meinung von Ted Orping einen katastrophalen Umschlag. Er bemitleidete ihn geradezu. Netter Kerl, dieser Ted, aber ein bißchen sehr von sich überzeugt. Tat gern so, als sei er wichtiger als er, Clem. Jede Menge Muskeln, das ist wahr, aber man brauchte mehr als das. Köpfchen. Charakter… Sie durchquerten eine winzige Diele und gelangten in ein geräumiges Atelier, das hoch bis unters Dach reichte. Es war unmöglich, aus dem Raum hinauszuschauen, denn alles Licht stammte aus zwei Oberlichtern hoch oben zwischen den Dachsparren. Und dann hörte Clem das nicht zu mißdeutende Klicken eines Türschlosses und fuhr herum. Sein Führer lehnte an der Tür und war gerade dabei, den Schlüssel abzuziehen und in die Tasche zu stecken. Während Enright ihn noch fasziniert angaffte, warf er die Zigarre weg und nahm die leicht gefärbte Brille ab, die ihn so wirksam getarnt hatte. »Für was könnten Sie wohl Modell stehen, Clem?« fragte der ›Heilige‹ im Plauderton. »Ajax, dem Blitz die Stirn bietend?«
VII
Enright kauerte sich gegen einen Diwan zurück, und die Augen weiteten sich ihm, als würden sie von zwei Motorpumpen aufgeblasen. »Was soll das?« krächzte er. »Es geht mir nur um Worte«, erwiderte der ›Heilige‹ umgänglich. »Worte, Worte, Worte – wie der Schwan vom Avon seinen Kumpanen zu erklären pflegte, wenn Ann Hathaway einen ihrer verhagelten Tage hatte.« Er holte sein Zigarettenetui hervor und entnahm ihm eine Zigarette, schlenderte dabei durchs Zimmer, Clem Enright mit seinem ruhigen Blick unverwandt und ausdruckslos ansehend. Etwas Furchterregendes lag für den kleinen Londoner in diesem nicht locker lassenden, leidenschaftslosen Blick. In einem Aufblitzen unaussprechlicher Angst dachte Clem an seine Pistole und griff danach; und sein Magen schien sich in Wasser zu verwandeln, als er feststellte, daß sie nicht mehr an seiner Hüfte war. Simon zog sie aus seiner eigenen Tasche. »Ich hab’ sie mir geborgt, Clem«, erklärte er ungezwungen. »Sie haben keinen Waffenschein dafür, und das ist ein schweres Vergehen. Außerdem hätten Sie die Tapete ritzen können, wenn Sie daneben geschossen hätten.« Er stand nun genau vor Enright, und die Kante des Sofas war unmittelbar hinter den Kniekehlen des Mannes. Simon versetzte ihm einen sachten Schubs, und der schmächtige Kerl setzte sich plumpsend hin. »Jetzt können wir uns unterhalten«, sagte der ›Heilige‹.
Er zündete umständlich seine Zigarette an, während Clem mit furchtsam blinzelnden Augen zu ihm aufsah. Und dann heftete sich dieser sehr klare, ausdruckslose Blick wieder auf Enrights Gesicht. »Diese Sache, die ihr da betreibt, Clem, mit der ist heute Schluß«, sagte der ›Heilige‹ ruhig. »Ich mache heute Schluß mit euch. Was Sie nun betrifft, so bleibt nur noch die Frage, ob ich Sie der Polizei übergeben oder laufen lassen soll.« »Ich habe nie was getan, Meister«, jammerte Enright. »Ich bin ein ehrlicher Mann.« »Ein ehrlicher Mann sind Sie ganz gewiß nicht«, erwiderte der ›Heilige‹ ungerührt. »Aber ich habe Sie nicht hierhergebracht, um das mit Ihnen zu diskutieren. Ich habe Sie hierhergebracht, weil da etwas ist, von dem ich möchte, daß Sie es täten, und interessant ist nur, wie lange es dauern wird, Sie dazu zu überreden. Haben Sie schon mal vom dritten Grad gehört?« Enright zuckte zurück, und sein Gesicht wurde weiß. »Das können Sie nicht mit mir machen!« kläffte er. »Das nicht… « »Wir können es versuchen«, erwiderte der ›Heilige‹ milde. Er öffnete einen Wandschrank und legte auf den Tisch: einen Totschläger, ein Stück Gummischlauch, eine große Pinzette und ein Instrument, das sehr nach einer Daumenschraube aussah, in Wirklichkeit aber nur ein Büchsenöffner war. Jedes Teil wog er zunächst in der Hand, prüfte es nachdenklich und gab Enright dabei reichlich Gelegenheit, sich die Anwendung lebhaft vorzustellen. Dann wandte er sich dem bebenden Mann zu. »Die Wohnung unter uns steht leer«, bemerkte er freundlich, »Sie können also soviel erzählen, wie Sie wollen, und so laut schreien, wie es Ihnen gefällt. Was darf ich Ihnen als erstes antun?«
Enright schluckte einen Kloß hinunter, der ihm in der Kehle stak. Die anregende Wirkung des Whiskys, den er getrunken hatte, war vollkommen verschwunden, und er befand sich nun in dem Stadium, in dem der geringste widrige Anlaß genügte, um ihn in Tränen ausbrechen zu lassen. Niemand konnte ihn leiden, und er würde gefoltert werden, bis er den Mund aufmachte. »Sie würden mich umbringen«, sagte er heiser. »Joe Corrigan hat gesungen, und sie haben ihn umgebracht.« »Niemand wird Sie umbringen, wenn Sie sich benehmen«, sagte der ›Heilige‹. »Sie können sich hier verstecken, bis die Bande auseinandergesprengt ist, und ich schaffe Sie außer Landes, falls Sie ins Ausland gehen möchten. Außerdem werde ich der Polizei nichts von Ihnen sagen, und Sie können all Ihr Geld behalten.« Clem versuchte, mit der Zunge seine Mundhöhle zu befeuchten, die plötzlich wüstentrocken geworden war. All seine Träume von Ruhm waren dahin, und doch kam es ihm vor, als habe er Glück gehabt. Da war dieses Etwas in den Augen des ›Heiligen‹, das ihn begreifen ließ, daß Ted Orpings schaurige Darstellung zu Märchen verblaßte neben dem, was dieser schlanke Mann mit der sanften Stimme zu tun imstande war. »Was wollen Sie wissen?« »Wieviel haben Sie von Goldman gekriegt?« »Fünfzig Pfund die Woche und Zulagen, wenn wir was extra Gutes gemacht haben.« »Wieviel hat Ted gekriegt?« »Weiß ich nicht, Chef. Vielleicht ein bißchen mehr – er hat mehr gemacht, als sie mich machen lassen haben.« »Ist es Ihnen nie aufgefallen, daß sehr viel mehr Geld als das bei dem heraussprang, was Sie betrieben?«
»Goldman hat gesagt, er hebt es besser für uns auf, Chef. Wir hatten satt zum Ausgeben, und er hat gesagt, was ein falscher Fehler ist, das wäre, wenn wir alles auf ‘n Kopf hauen, wenn wir’s haben, und dann nichts haben für schlechte Tage. Er hat gesagt, man muß Kapital haben, damit man auf den richtigen Job warten kann, anstatt irgendwas Hals über Kopf machen zu müssen.« Simon nickte. »Wo hat Goldman dieses Geld?« »In einem Safe in seinem Schlafzimmer, in der Wand. Einen Teil von dem Geld jedenfalls. Ich hab’ gesehen, daß er mal Geld für mich ‘rausgeholt hat, und er war voll Zaster.« Der ›Heilige‹ strich sich das Haar glatt und zeigte auf ein Telefon, das auf einem kleinen Tischchen neben dem Sofa stand. »Und jetzt ist da noch eine Kleinigkeit, die Sie für mich erledigen können«, sagte er. »Kennen Sie einen Mann namens Ronald Nilder?« »Ja – ich hab’ ihn mal gesehen.« »Sie können ihn anrufen und sagen, was ich Ihnen sage.« Enright sah das Telefon an und dann wieder den ›Heiligen‹. »Sie vergessen auch wirklich Ihr Versprechen nicht, Chef? Ehrlich nicht?« »Ehrlich nicht«, sagte der ›Heilige‹ feierlich. Mr. Ronald Nilder war gerade mit dem Packen seines dritten Koffers fertig, als das Telefon in seinem Schlafzimmer läutete. Ein paar Minuten lang hielt er es für das beste, es unbeantwortet läuten zu lassen, aber dann diktierte seine listige Schläue den kühneren Kurs. Er nahm den Hörer ab. »Hallo«, sagte eine Stimme. »Ist Nilder da?« »Mister Nilder am Apparat«, erwiderte er geziert. »Goldman möchte gerne wissen, warum Sie nicht zu ihm ‘rumkommen, wie Sie gesagt haben. Er sagt, Sie sollen sich
sofort mit ihm vor der Mark-Lane-Station treffen. Es ist dringend.« Nilder überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Gut. Wer spricht da?« »Hier Enright«, antwortete die Stimme. »Machen Sie los – beeilen Sie sich. Wenn Goldman noch nicht da ist, sollen Sie warten. Wiederhören.« Nilder legte den Hörer in die Gabel und ging mit langen Schritten im Zimmer auf und ab. Er hatte vor, den Zug um acht Uhr zwanzig über Newhaven zu nehmen, also blieb ihm ausreichend Zeit für das Zusammentreffen. Schließlich hatte Goldman keine Veranlassung zu argwöhnen, er habe irgend etwas verraten. Es war eben einfach nur Pech, daß der ›Heilige‹ ihn geschnappt hatte – dasselbe war schon anderen passiert, ohne daß man ihre Lauterkeit in Zweifel gezogen hätte. Er hatte seinen Maschinisten als Zeugen für seine Geschichte. Er kannte Enrights Namen und hatte seine Stimme erkannt, nachdem der Name ihm genannt worden war – eine Falle lag nicht vor. Es konnte ihm nichts passieren, wenn er sich anhörte, was Goldman zu sagen hatte – vielleicht schlug es sogar günstig für seine eigene Flucht aus –, während ein Aus-dem-Weg-Gehen sofort Verdacht erregen würde. Und er begann sich bereits ein wenig der panischen Kopflosigkeit zu schämen, die dazu geführt hatte, daß er all sein Geld von der Bank abhob und seine Koffer packte, um London in aller Eile zu verlassen. So überlegte Ronald Nilder – genauso, wie der ›Heilige‹ es sich gedacht hatte –, und fünf Minuten später verließ er seine Wohnung. Aber für den Fall, daß doch vielleicht etwas schiefgehen sollte, nahm er seine pralle Brieftasche aus der Jacke und versteckte sie hinter einer Bücherreihe – es hätte sich sehr gelohnt, an diesem Nachmittag in seine Tasche zu greifen.
Er mußte lange warten an der Mark-Lane-Station, aber darum können wir uns jetzt noch nicht kümmern. Es war halb fünf, als Simon Templar über die Feuerleiter draußen vor Tex Goldmans Wohnung eintraf und sich durch das Badezimmerfenster Zutritt verschaffte. Ein Anruf aus der nächsten Telefonzelle hatte ihn vergewissert, daß Goldman nicht zu Hause war, und der ›Heilige‹ hatte sich äußerlich nicht unbeträchtlich verändert. Er trug einen blauen Arbeitsanzug über seinen Sachen und eine lederne Werkzeugtasche in der Hand – in solcher Kluft und Ausstaffierung erregte man gewiß weniger Aufsehen auf einer Feuerleiter als in einem hellgrauen Fresko aus dem Hause Anderson & Sheppard. Aber die Pistole, die er Clem Enright abgenommen hatte, war in seiner Hosentasche, und sie war voll geladen. Simon Templar ging ans Aufräumen, und Pannen kamen nicht in Frage. Tex Goldman kam um fünf Uhr nach Hause. Er kam mit einem Mädchen – dem Mädchen, das in dem Nachtklub seine Gesellschafterin gewesen war. Dieses Mädchen war ein recht hübsches Kind mit blondem Haar, das ein wenig zu sehr leuchtete, um natürlich sein zu können, und großen ernsten Augen. Sie hing an Tex Goldmans Arm. Es war dies der Besuch in seiner Wohnung, auf den er so lange hingearbeitet hatte, und wie es dann schließlich geklappt hatte, damit hätte er vor einer Woche nicht gerechnet. »Eine wunderschöne Wohnung«, sagte die junge Dame. »Nicht schlecht«, sagte Tex Goldman. »Eins fehlte nur – und jetzt ist es da.« Sie setzte sich aufs Sofa. Er setzte sich auf die Lehne und blickte zu ihr hinunter. »Mensch, Kindchen«, sagte er, »wenn du mir noch vor einer Woche gesagt hättest, daß ich das fertigbrächte – ich wäre vor Lachen geplatzt. Muß wohl der alte Tag sein!« »Mir ist es ganz gleich, was es ist.«
»Ich mache nicht viel her. Mein ganzes Leben lang bin ich ein Rowdy gewesen. So bin ich aufgewachsen. Ich bin aus der Gosse gekommen – aber ich bin herausgekommen. Zu Hause in St. Louis nennen sie mich einen Harten. Ich habe eine Menge Männer getötet, aber das hat irgendwie nichts zu bedeuten. So arbeitet man eben in meinem Fach – läßt den anderen Kerl springen, ehe er einen selber springen läßt. Aber ich habe noch nie einen Kumpel betrogen oder verraten und nie eine Pistole aus reiner Mordlust getragen. Ich spiele jetzt nicht Besserung, nein – ich werde wohl genauso weitermachen, bis es mich erwischt.« Sie nahm eine parfümierte Zigarette aus einem Lackkästchen und sah vor sich hin. »Ich bin auch nicht gerade ein artiges kleines Schulmädchen«, sagte sie ruhig. »Ich bin herumgekommen. Ich mag Töten nicht – keine von den Sachen, die du machst. Ich möchte nicht herumsitzen und warten müssen, bis jemand daherkommt und dasselbe mit dir macht. Ich glaube, ich würde es nicht überleben. Auf einmal kommt mir alles irgendwie anders vor. Es bleibt mir keine Wahl. Ich möchte nur, daß du gut zu mir bist und ehrlich.« »Verlaß dich drauf, Kind. Ich bin noch nie verknallt gewesen, darum kann ich all diese hübschen Sachen nicht so sagen, die du vielleicht hören möchtest. Aber ich bleib’ dir treu.« »Immer?« »Wenn ich dir jemals weglaufen sollte, darfst du mich mit meiner eigenen Pistole bremsen.« In diesem Augenblick geschah es, daß Tex Goldmans Kopf getroffen wurde. Der Schlag betäubte ihn nicht. Das sollte er nicht. Aber er spürte das ekelhafte scharfe Krachen eines am Haaransatz auftreffenden Pistolenknaufes, und sein Gehirn schien davon im Schädel ins Schaukeln zu geraten, so daß ein paar
Sekunden lang das Licht vor seinen Augen verlöschte und er in ein benommenes schwarzes Meer mit wirbelnden roten Funken darin eintauchte. Er kippte vornüber, streckte die Hände aus und fand am Tisch Halt. Er hörte das Mädchen neben sich aufschreien, und dann riß jemand an seiner Hüfte, bevor sein Verstand wieder zusammenhängend funktionierte. Als er selber in die Tasche griff, war seine Pistole verschwunden. Er drehte sich langsam um und sah, wie der Zeigefinger eines großen Mannes in Grau mit der Waffe jonglierte. »Tag, Tex.« Goldman reckte sich unter dem peinigenden Lächeln des großgewachsenen Mannes wackelig auf. »Was, zum Teufel…« »Bitte nicht fluchen, Tex«, sagte der ›Heilige‹. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen einen kleinen Deu geben mußte, aber ich hielt das für sicherer. Sie sind einer von diesen Kerlen, die nicht so leicht die Hände hochnehmen, und wenn Sie versucht hätten, sich mit mir zu schießen, bis nur einer noch übrigblieb, hätten die Vögelchen in den anderen Wohnungen vielleicht allesamt einen Herzklaps gekriegt.« Goldman kniff die Augen zusammen, bis nur noch die Pupillen zu sehen waren, und sie funkelten wie zwei eiskalte Achatsplitter. »Mister Simon Templar?« »Richtig. Und im Begriff, Ihnen das Handwerk zu legen. England kommt ohne Ihre Sorte von Verbrechern aus. Möglich, daß Amerika uns eine Menge zu zeigen hat, aber was Sie da mitgebracht haben, das wollen wir nicht sehen. Es verstört all die lieben alten Damen, die die Gesetze machen.« Der ›Heilige‹ lächelte nicht. »Zu viele Männer sind getötet worden, seit Sie Ihr Geschäft betreiben. Ich bin gekommen, um Sie zu töten, Tex.«
Das Mädchen griff nach Tex Goldmans Hand und starrte den ›Heiligen‹ mit großen, erbarmenswürdigen Augen an. »Das dürfen Sie nicht«, schluchzte sie. »Das können Sie nicht. Wir haben heute gerade erst geheiratet…« Kein Muskel bewegte sich im Gesicht des ›Heiligen‹. »Und das Mädchen dazu«, sagte er. »Aus einem anderen Grund. Es erwischt Sie zusammen.« Sie wich gegen Tex Goldmans Schulter zurück, und das nackte Entsetzen gesellte sich zu der Tragödie in ihren Augen. »Warum wollen Sie mich töten?« flüsterte sie. »Ich habe nichts getan. Ich habe nie jemanden getötet… Aber es ist mir gleich! Es ist mir gleich! Ich liebe ihn. Nun machen Sie schon, Sie Feigling…« »Lassen wir das!« Tex Goldmans Stimme durchschnitt sehr ruhig und ohne ein Zittern die ihre. »Lassen wir das, was Sie glauben, daß sie getan hätte, Templar. Ich glaube, bei ihr irren Sie sich. Da gibt es nichts. Sie können nicht eine Frau verzischen. Mich haben Sie, das ist wahr. Geben Sie mir, was mir zusteht. Aber lassen Sie das Kind zuerst abziehen. Ich nehm’ es für uns beide entgegen.« Er sah den ›Heiligen‹ bewegungslos an. Das war der Stil. Man nahm es hin, wenn man an der Reihe war. Man winselte nicht. Man wurde nicht feige. Und dann sah er, daß der ›Heilige‹ lächelte. »Schönen Dank, Tex«, sagte der ›Heilige‹. »Sie haben Mumm. Darum werden Sie wohl davonkommen.«
VIII
Goldman verstand kein Wort. »Ich habe gesagt, daß ich hierhergekommen sei, um Sie zu töten«, sagte der ›Heilige‹. »Das stimmt ungefähr – jedenfalls ist es einer der Gründe. Dann hörte ich Ihre Unterhaltung. Und ich wurde nachdenklich. Das Mädchen sagte mir, daß Sie heute geheiratet hätten. Den Rest habe ich in Szene gesetzt, um mir selber zu beweisen, ob man sich wirklich auf Sie verlassen kann, und mir scheint, man kann. Es bricht mir das Herz, aber nun werde ich wohl heimfahren müssen, ohne Sie umgebracht zu haben. Selbst ich kann einem Menschen die Flitterwochen nicht verderben… Eigentlich ist es ein reizender Gedanke, Tex – daß Sie vielleicht doch noch eines Tages ein weißhaariger alter Papa sein werden und mit einem Dutzend Kinderchen auf den Knien am Kamin sitzen und Märchen erzählen vom Rotkäppchen und dem Wolf und den sieben Geißlein und vom bösen Onkel Al.« Goldman schöpfte tief Atem, aber er sagte nichts. Der kalte Wind des Todes war zu dicht an ihm vorbeigeweht, und wenn einem diese klamme Zugluft noch in der Kehle steckt, hat man sehr wenig zu sagen. »Aber daß ich Ihnen das Handwerk legen will, dabei muß ich bleiben«, sagte der ›Heilige‹, und seine blauen Augen wurden beim Sprechen wieder hart und fest wie Stahl. »Dies Handwerk mißfällt uns – es macht das Leben einfach ein bißchen zu mühselig. Ich habe Ihren Safe bereits heute nachmittag ausgeräumt, und das werden Sie wohl sehr entmutigend finden.«
Er zeigte auf die offene Schlafzimmertür, durch die er eingetreten war. Mit einem vorübergehenden Lächeln griff er in seine Jackentasche und zog ein halbes Dutzend großer Geldscheine hervor und warf sie auf das Sofa. »Das hier gebe ich Ihnen zurück als Hochzeitsgeschenk. Sie möchten schließlich nicht bankrott in St. Louis ankommen.« Goldman befeuchtete seine Lippen. »Immer noch beim Ausrauben der Räuber, was?« »Immer noch beim Ausrauben der Räuber. Alles dies hier wird unter die armen Teufel verteilt werden, auf die im Verlauf Ihrer Kampagne geschossen wurde, ausgenommen die Summe, die ich selber behalte. Ich nehme mir einen beträchtlich größeren Anteil, denn auf mich ist die ganze Zeit geschossen worden. Sie sehen es nie mehr wieder, Tex.« Die Stimme des ›Heiligen‹ klang grimmig und nachdrücklich. »Sie werden mich nicht einmal über die Klinge springen lassen, bevor Sie abhauen, denn Sie wissen nicht, wo ich mich aufhalte, und sie werden keine Zeit haben, mich zu suchen. Sie besteigen um acht Uhr zwanzig einen Zug nach Frankreich, und Sie können Ihre Überfahrt Richtung Amerika in Cherbourg buchen. Sie brauchen es Ted Orping und all den Jungens nicht zu erzählen, aber das werden Sie tun – genau das. Denn: um zehn Uhr heute abend – ob ich nun lebe oder tot bin – geht eine Nachricht an Inspektor Teal von Scotland Yard, in der er genauestens von dem Ausweisungsbefehl unterrichtet wird, der immer noch gilt – gegen William Gold, alias Tex Goldman, vor sechs Jahren schäbiger Räuberschuft. Da wird es Ihnen schwerfallen, ins Land zurückzuschlüpfen.« Tex Goldman starrte ihn an.
»Wie haben Sie das ‘rausgekriegt?«
»Genosse Nilder hat es mir erzählt«, erwiderte der ›Heilige‹ ungezwungen. »Er bricht schon bei leichtem Schütteln in Stücke.« Goldman bleckte die Zähne. »Hätte ich mir denken können. Dieser lausige, hinterhältige, betrügerische… « »Ich würde an Ihrer Stelle sehr streng mit ihm reden«, sagte der ›Heilige‹ sehr sanft. »Wenn mich nicht alles täuscht, wird er noch vorbeikommen, um Ihnen von seinen Schwierigkeiten zu berichten, bevor Sie abreisen… Und jetzt muß ich gehen. Ich wünsche Ihnen fröhliche Flitterwochen – und grüßen Sie mir die Jungens in St. Louis. Leben Sie wohl, schöne Frau.« Er zog sich elegant zur Tür zurück und ging hinaus. Einen Augenblick später flitzte er die Treppe hinunter. An der Straßenecke trat er von hinten an Mr. Teal heran. »Nun, was gibt’s?« fragte der Detektiv. »Ich habe Ihre Nachricht erhalten und bin sofort gekommen, aber warum all die Geheimnistuerei?« »Ich möchte mich nicht zu früh festlegen«, erwiderte der ›Heilige‹, »aber ich glaube, es steht uns einiger Spaß bevor. Ein gewisser Herr ist sehr ärgerlich.« »Wen meinen Sie?« Der ›Heilige‹ lächelte verschlossen. Er packte Teal beim Arm und steuerte ihn in eine günstig gelegene Teestube, wo er einen Tisch in der Nähe des Fensters wählte, von dem aus er den Eingang des Wohnblocks, in dem Tex Goldmans Wohnung lag, im Auge behalten konnte. Sie saßen dort zwei Stunden, und Mr. Teal wurde ungeduldig. »Wenn Sie mir nicht mehr zeigen können als einen Teller Buttertoast«, sagte er, »muß ich gehen. Ich habe zu arbeiten. Was haben Sie vor?«
»Gehen Sie noch nicht, Claud«, sagte der ›Heilige‹. »Ich habe heute mehr gearbeitet als Sie in der ganzen vergangenen Woche. Ich habe aufgeräumt. Jetzt passiert was.« Das war fünf Minuten nachdem er Ted Orping in dem Eingang, den er beobachtete, hatte verschwinden sehen. Tex Goldman öffnete selber. »Was ist los, Ted?« fragte er knapp. Er war ungeduldig, aber er wollte es Orping nicht merken lassen. Im Schlafzimmer warteten drei Koffer fertig gepackt auf seine Abreise. »Der Überfall aufs Autobusdepot heute abend, Boß…« »Verschoben – bis auf weiteres.« Ted Orping zog die Augenbrauen hoch. »Warum das denn, Boß?« »Das ist Kinderei – darum. Reine Zeitverschwendung. Risiko für nichts und wieder nichts.« Goldman klopfte ihm auf die Schulter. »Ich will dir sagen, warum wir die Sache ausfallen lassen, Ted. Ich hab’ mir da etwas ausgedacht, da wirst du dich an den Kopf fassen und fragen, wieso du jemals deine Zeit damit verschwendet hast, eine Bank auszuräumen. Es ist etwas so Großes, daß dir das Wasser im Mund zusammenlaufen wird, bis du dir einen Eimer um den Hals binden mußt. Und es ist narrensicher. Eine ganz große Razzia – und Schluß. Bei der werden zehntausend für jeden ‘rausspringen, der nicht weich wird, Zigarre?« Orping machte große Augen. »Was ist das für ‘ne Sache, Boß?« »Kann ich dir jetzt nicht sagen.« Goldman sah sich um. Er senkte die Stimme. »Wir haben einen unter uns, der petzt – und ich habe so ein Gefühl, daß ich sagen könnte, wer es ist. Nichts ist sicher, wenn einer unter uns ist, der singt.« Orpings Mund wurde hart. Er biß die Spitze seiner Zigarre ab und spuckte sie ins Feuer.
»Den will ich sehen!« Die Wohnungstürglocke schlug abermals an. Goldmans kalte Augen bohrten sich in Teds wie die einer Statue. Er ließ die Worte aus dem Mundwinkel fallen, bösartig. »Laß ihn rein!« Orping ging zur Tür. Es war Ronald Nilder – ohne Hut, mit aschgrauem Gesicht und wabbelndem Kinn. In der zitternden rechten Hand hielt er einen schmuddeligen Papierfetzen. Er stürzte halb durchs Zimmer auf Goldman zu und stand dann da mit geballten Fäusten, und sein teigiges Gesicht zuckte. »Was soll das bedeuten?« schrie er geradezu. »Sagen Sie mir, was das zu bedeuten hat, verdammt noch mal!« »Was was zu bedeuten hat?« fragte Goldman kalt. Nilder hielt ihm den Papierfetzen hin. Ohne Eile strich Goldman ihn glatt und las, was darauf geschrieben stand. Kommen Sie zu mir, bevor Sie mit all Ihrem Geld ins Ausland gehen. T. G. »Ich habe mein ganzes Geld von der Bank abgehoben«, plapperte Nilder derweil. »Ich habe es in meine Brieftasche gesteckt. Als Sie mich telefonisch zur Mark-Lane-Station bestellten, habe ich die Brieftasche hinter einer Buchreihe in meiner Wohnung versteckt. Ich habe eine Stunde gewartet. Als ich zurückkam, war die Tür gewaltsam geöffnet worden, und meine Brieftasche war leer. Der Zettel da, das war alles, was noch drin war. Was soll das heißen – mir all mein Geld zu stehlen, Sie…« Mit drei gemächlichen Bewegungen zerriß Goldman den Zettel und ließ die Stücke in den Papierkorb rieseln. Dann blickte er Nilder erneut an, und solch eine unerbittliche
Boshaftigkeit lag in seinem Blick, daß das Plappern des anderen in gewürgtem Schweigen erstarb. »Ich habe Ihnen nicht ausrichten lassen, mich an der Mark Lane-Station zu treffen«, sagte er. »Ich habe diesen Zettel nicht geschrieben, und von Ihrem Geld weiß ich überhaupt nichts. Und nun erzählen Sie mir, warum Sie bei dem ›Heiligen‹ gesungen haben.« Nilders Mund schien noch weißer zu werden. Er holte Atem in zwei raschen entsetzten Japsern. Der Mund hing ihm offen in der gräßlichen Schlaffheit der Angst. »Sie brauchen nicht zu antworten«, sagte Goldman mit demselben langsamen, eingefrorenen Gift in der Stimme. »Ich kann es Ihnen vom Gesicht ablesen. Sie haben geplaudert, weil Sie feige sind. Er hat Ihnen einmal kurz aufs Handgelenk geklopft, da sind Sie umgefallen. Das sieht so einem Hund wie Ihnen ähnlich. Und dann kommen Sie her mit so einem lilienfüßigen, goldgefaßten Alibi und hoffen, daß ich es schlucke. Was glauben Sie eigentlich, was wir hier haben – einen Kindergarten? Was soll ich denn jetzt machen? – Ihnen um den Hals fallen und Sie abküssen? Sie Wanze!« »Ich hab’s nicht getan«, geiferte Nilder heiser. »Sehen Sie mich nicht so an, Goldman. Ich würde Sie nicht verraten. Ich würde Sie nicht im Stich lassen, ich kann alles erklären, jawohl! Hören Sie nur zu…« »‘raus!« fuhr Goldman ihn an mit einem plötzlichen Zischen eisiger Grausamkeit. »Gehen Sie mir aus den Augen – oder ich zermatsche Ihnen Ihr Heulgesicht zu Gelee!« Nilder wich unter halbersticktem Schlucken zurück. Noch nie in seinem Leben war ihm solch erbittertes Übelwollen aus den Augen eines Menschen entgegengeflammt. »Schlagen Sie mich nicht«, jammerte er. »Schlagen Sie mich nicht. Ich habe nichts gesagt. Ich würde Sie doch nicht hintergehen, Hören Sie doch, Goldman…«
Ted Orping packte ihn beim Kragen und stieß ihn zur Tür. »Hast du nicht gehört, was der Boß gesagt hat?« knurrte er. »‘raus!« Mr. Ronald Nilder überlegte nicht mehr. Er stürzte zur Tür hinaus, immer noch zitternd vom Anblick dessen, was er in Goldmans Augen gesehen hatte. Ted Orping hörte, wie die Wohnungstür sich hinter ihm schloß. Er sah den Mann aus St. Louis an. »Nehm’ ich ihn in Behandlung, Boß?« Tex Goldman zündete seine Zigarre an, bevor er antwortete. Es war lange her, seit er das letztemal Genugtuung beim Fällen eines Todesurteils empfunden hatte. In seinem Geschäft war das Töten lediglich eine Nützlichkeitserwägung – man tötete ohne Haß, oft sogar mit Bedauern. Aber diesmal war ein rachsüchtiger Gerechtigkeitssinn am Werk. »Ja«, sagte er. »Leg ihn um!« Simon Templar sah Nilder blindlings von dem Wohnblock weglaufen, stand auf und warf eine halbe Krone auf seine Rechnung. Teal verließ hinter ihm die Teestube. Als sie auf den Bürgersteig hinaustraten, kam Ted Orping aus dem Haus und setzte sich auf die Fährte des Leiters der Varieteagentur »Cosmolite«. »Was kommt jetzt?« fragte Teal. »Etwas Gutes, Schnelles«, erwiderte der ›Heilige‹, »oder ich tauge nichts als Psychologe.« Mit Teal zusammen schloß er sich der Prozession der beiden an. Plötzlich blieb Nilder stehen und winkte ein Taxi heran, das vorbeigekrochen kam. Orping fuhr herum und starrte noch gerade rechtzeitig in ein Schaufenster, um nicht entdeckt zu werden. Sobald Nilder eingestiegen war, flitzte Orping über die Straße und kletterte in ein anderes Taxi. Simon zog seinen Hut in die Stirn und spurtete, den Detektiv hinter sich
herzerrend, auf den nächsten Taxenstand zu. Völlig außer Atem ließen sie sich in die Polster fallen. »Das Nachmachespiel«, sagte der ›Heilige‹ geradezu vergnügt. Die drei Taxi fuhren eilig hintereinander die Marylebone Road hinunter, pflügten sich zum Portland Place durch, überquerten die Oxford Street und rollten die Regent Street entlang. Eine Runde auf dem Karussell des Piccadilly Circus, und sie bogen in die Jermyn Street ein. Simon beugte sich vor und sagte durch das Mikrofon zum Fahrer: »Jetzt langsam.« Das Taxi vor ihnen bremste, und sie saßen dahinter fest. Der ›Heilige‹ lehnte sich weit zurück, damit man ihn nicht entdeckte, und sah, wie Ted Orping den Fahrer bezahlte und zu Fuß weiterging. Das Taxi vor ihnen fuhr wieder an, und sie folgten ihm langsam. Simon sah Nilders Rücken im Eingang des eleganten Wohnblocks, in dem er wohnte: Orping holte ihn in der Tür ein und packte ihn beim Arm. Der ›Heilige‹ konnte nur raten, was dabei gesagt wurde, aber die beiden Männer entschwanden zusammen seinem Blick. Simon ließ das Taxi anhalten, und sie stiegen aus. Er führte Teal auf die andere Straßenseite. »Jetzt werden wir noch einmal warten müssen«, sagte er, »aber nicht lange.« Er zündete eine Zigarette an, obwohl er nicht damit rechnete, zu mehr als ein paar Zügen zu kommen. Plötzlich hob er mit einem Ruck den Kopf. »Haben Sie das gehört?« Es hatte geklungen, als habe weit weg der Auspuff eines Autos zweimal rasch hintereinander geknallt; aber er wußte, daß es kein knallender Auspuff gewesen war.
Dann sah er Ted Orping aus dem Haus herauskommen und ging augenblicklich quer über die Straße auf ihn zu. »Auf ein Wort, Ted«, sagte der ›Heilige‹ leutselig. »Haben Sie dafür gesorgt, daß Ronald auch wirklich nichts erzählen kann?« Der andere starrte ihn offenen Mundes in kopfloser, geradezu abergläubischer Angst an. Und dann drehte er sich mit einem sabbernden Schlucken um und rannte los. Simon rannte schneller. Als Orping sich umdrehte, sah er ihn nur einen Schritt hinter sich locker ausgreifen, und er langte nach seiner Pistole. Aber er hatte zu spät daran gedacht. Simon schloß die Füße zusammen, hechtete und warf sich mit aller Wucht auf ihn. Er drehte Orping das rechte Handgelenk zwischen die Schulterblätter hinauf und drückte ihm ein Knie ins Kreuz. »Lassen Sie mich hoch«, wimmerte Orping. »Sie können mich nicht einfach wegen nichts festhalten!« »Nur wegen vorsätzlichen Mordes«, sagte der ›Heilige‹ salbungsvoll und blickte Chefinspektor Teal entgegen, der gewichtig über die Straße auf sie zumarschiert kam.
Dritter Teil DIE TODESSTRAFE
I
Am Morgen des zweiundzwanzigsten Novembers um acht Uhr wurde Galbraith Stride gehängt. Die Männer kamen herein und banden ihm die Hände zusammen und führten ihn in den engen weißgetünchten Schuppen, der das letzte sein sollte, was er von der Welt zu sehen bekam. Sehr schnell ging er, wie ein Mann, der entschlossen ist, eine unangenehme Verabredung so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Sie stellten ihn auf das mit Kreide aufgemalte T in der Mitte der Falltür und zogen ihm die weiße Kapuze über seinen kahlen Kopf und die blassen, geängstigten Augen, bis von seinem Gesicht nur noch der schmale zuckende Mund unter dem kleinen grauen Schnurrbart zu sehen war. Sie legten ihm den Strick so um den Hals, daß sich der Knoten genau unter seinem linken Ohr befand; und der Scharfrichter trat an den Hebel zurück, der ihn in die Ewigkeit befördern würde. Man fragte ihn, ob er noch etwas zu sagen wünsche, bevor die höchste Strafe des Gesetzes ihn ereilte, und seine Zungenspitze glitt einmal flink über diese zuckenden Lippen. »Machen Sie schon!« sagte er; und so ließen sie ihn fallen. Alles dies passierte, nachdem mancherlei anderes geschehen war und eine Dame dem ›Heiligen‹ für seine Hilfe gedankt hatte.
II
Laura Berwick trat ungefragt, uneingeladen und ohne förmliche Vorstellung ins Leben des ›Heiligen‹ – was genau das war, was man von ihr erwartet hätte. Sie hatte braunes Haar, braune Augen und ein Kinn, das sich vor keinen Drachen fürchtete – nicht einmal vor solch einem berüchtigten und wenig beliebten Gesetzlosen wie dem ›Heiligen‹. Und was Simon Templar betraf, so hätte eine jede junge Dame mit ihrem Gesicht und ihrer Figur an einem jeden Tag der Woche ungefragt, uneingeladen und ohne förmliche Vorstellung in sein Leben treten können; er wäre voll des Lobes gewesen angesichts des Wohlwollens der Vorsehung, die ihn mit Überraschungen dieser Güte versorgte. Es war ihm vergönnt, diese Wertschätzung ihrer körperlichen Vollkommenheit schon in den allerersten Minuten ihres ersten Zusammentreffens vorzunehmen – was in diesem Fall eine wesentlich wohlanständigere Feststellung ist, als es zu sein scheint. Simon Templar hatte London verlassen. Die Wanderlust, die ihn nie lange rasten ließ, hatte ihn abermals mit Träumen von wilden Abenteuerfahrten erfüllt nach einer außergewöhnlich kurzen Ruhepause in der großen Stadt an der Themse, die ihm so sehr Heimat war wie irgendein anderer Ort auf der Welt. Zum Teil, weil seine Ruhepause so außergewöhnlich wenig Ruhe enthalten hatte. In ein paar Monaten hatte London sein Leben mit solch einer überreichlichen Fülle von Aufregungen aufgeladen, daß er beschlossen hatte, die Flügel erneut zu breiten, ehe das hohe Niveau der Gesetzlosigkeit und Unruhe zu sinken begann. Das Haus, das er sich gleich nach seiner Rückkehr gesucht hatte, war immer noch in den Händen des
Innenarchitekten, der sich abmühte, den Schaden zu beheben, der nur durch die Explosion eines kräftigen Sprengkörpers in einem kleinen Raum angerichtet werden kann, und nachdem Simon sich den Fortgang der Instandsetzungsarbeiten angesehen hatte, hatte er beschlossen, den Mietvertrag zu kündigen und für den Rest seines Aufenthalts Quartier im »Dorchester« zu beziehen. Ein kostspieliger Luxus, aber ein Luxus, den er für verdient erachtete. Oder falls er ihn bisher nicht verdient hatte, würde es ihm zweifellos bis zu seiner Abreise noch gelingen… Und dann – da dies in dem denkwürdigen Jahr geschah, als die Sonne auf England schien – kletterte das Thermometer erneut über den Dreißigerstrich, und nachdem das zwei Tage lang angehalten hatte, riß der ›Heilige‹ sich Rock und Schlips vom Leib und wünschte sich ans Ende der Welt. Die Scilly-Inseln liegen nicht ganz am Ende der Welt; aber Simon Templar begab sich dorthin, weil er einen Brief erhielt, der ihm in aller Unschuld etwas berichtete, das er einfach nicht außer acht lassen konnte. »Wir haben ungefähr die übliche Anzahl von Besuchern für diese Jahreszeit«, schrieb Mr. Smithson Smith. »Sie verschwinden wieder wie gewöhnlich, und St. Marys macht immer noch einen leeren Eindruck… Die Sallonian lief neulich bei Nebel auf Grund, aber bei der nächsten Flut haben sie sie rasch wieder flott gekriegt… Ein paar Franzosen wurden geschnappt, als sie ihre Hummernreusen innerhalb der Drei Meilen-Zone einholten. Sie mußten 80 Pfund Strafe zahlen… Ein paar feine Jachten haben drüben vor Tresco Anker geworfen – eine gehört einem Ägypter namens Abdul Osman. Ich habe schon überlegt, ob er wohl der Mann ist, von dem ich einmal gehört habe, als ich in Assuan war…« Sechs Seiten Lokalklatsch und allgemeine Erinnerungen von der Sorte, wie sie Mr. Smithson Smith dreimal jährlich in die
Feder flossen, umfaßte der Brief. Der ›Heilige‹ und er hatten sich vor vielen Jahren bei einer Auseinandersetzung um ein Kamel in der Nähe von Ismailia kennengelernt; und Simon Templar, der kein großer Briefschreiber vor dem Herrn war, antwortete in ähnlich unbestimmten Abständen. Aber der Name Abdul Osman war ihm nicht fremd, und er hegte keine Zweifel im Hinblick auf das, was er für ihn bedeutete. Es zwinkerte in seinen Augen, als er mit der Lektüre des Briefes fertig war. »Wir fahren nach den Scillies, wohin es die Seepapageien zur Brutzeit zieht«, erklärte er mit versonnener Stimme, und Patricia Holm betrachtete ihn ein wenig reserviert. »Ich bin kein Seepapagei«, sagte sie. »Wir fahren trotzdem hin«, sagte der ›Heilige‹. Es mag leichtfertig klingen festzustellen, daß Laura Berwick ohne Zweifel ertrunken wäre, hätte der ›Heilige‹ den dunklen Instinkt der Seepapageien nicht in gewissem Maße in sich selber verspürt, aber es ist nichts als die reine Wahrheit. Sie segelte viel zu hart am Wind – und zwar wortwörtlich, nicht bildlich. Simon Templar hatte es sofort gesehen und sich gefragt, ob es wohl schiere Kühnheit oder unverdünnte Dummheit sei. Er hockte oben auf einer einigermaßen glatten Felskante, sonnte sich in der erhabenen Leere völliger Entspanntheit und dachte an nichts Bestimmtes. Das kühle Wasser des Atlantiks zischte und gurgelte gut vier Meter unter ihm zwischen den dicken Steinen und bot dem metallenen Blaßblau des Himmels Widerpart mit einer intensiven durchsichtigen Bläue, die es an Üppigkeit ohne weiteres mit dem Mittelmeer aufnehmen konnte. Er hatte vor ein paar Minuten darin gebadet und gespürt, wie die ihm vom Anmarschweg verbliebene klebrige Hitze unter dem eisigen Anprall zerschmolz – hatte es mit einer Dankbarkeit gespürt, die an den tiefsten Grund körperlichen Wohlbehagens rührte;
war dann zu seinem Felsvorsprung hinaufgeklettert, um sich von der Sonne trocknen zu lassen. Und aus träge halbgeschlossenen Augen beobachtete er das weiße Segelboot, das auf der Dünung tanzte. Zu hart am Wind – viel zu hart. Es geschah dann alles wie der Blitz: mit einer Plötzlichkeit, die jeder erfahrene Segler kennt und zu vermeiden trachtet. Die Brise war verwirrend, schlug sechs Kompaßstriche um in starken Böen, die kleine weiße Schaumfetzen von den Kämmen der gewichtig einherrollenden Wellen rissen. Das Mädchen stand auf und versuchte, irgend etwas vorne im Boot zu greifen; dabei hielt es die Pinne mit einer Hand und beugte sich weit vor. Der Wind drehte sich noch einen weiteren Strich und fuhr heftig ins flappende Segelzeug, und das Großsegel sauste mit scharfem Knall herum. Der Baum schien das Mädchen am Kopf zu treffen, und es ging platschend über Bord. Simon stand auf und wartete, daß das Mädchen auftauche und zum Boot zurückschwimme; aber es kam nicht wieder hoch. Die nun folgende Rettungsaktion war keine besonders großartige. Das Segelboot befand sich nur etwa dreißig Meter vom Ufer entfernt, und der ›Heilige‹ war ein guter Schwimmer. In wenigen Augenblicken hatte er die junge Dame gefunden und schleppte sie zum Boot ab. Die böige Brise war kurzatmig verpufft, und es war daher recht einfach. Simon gelang es, sie an Bord zu heben und die Schot zu lockern, bevor der Wind von neuem blies. Dann rührte sich das Mädchen wieder unter Husten und Würgen, und der ›Heilige‹ rutschte schleunigst wieder außenbords. Das Mädchen rieb sich zärtlich den Kopf an einer Seite; und dann öffnete es die Augen und sah sein sonnenbraunes Gesicht über einem Paar brauner Unterarme, die über das Dollbord gehakt waren, vom Rand des Bootes herunterlächeln.
»Was ist passiert?« fragte die junge Dame benommen. »Das Segel ist Ihnen umgeschlagen«, erwiderte leidenschaftslos der ›Heilige‹. »Schlechte Arbeit – und bei einem richtigen Wind nicht angeraten.« Es war offensichtlich, daß die Kraft zu übelnehmender Kritik fürs erste aus ihr herausgebumst und -gewaschen worden war – ein aufschlußreiches Symptom, dessen geplagte Ehemänner sich mit Nutzen erinnern könnten, wenn sie mit ihrem Gespons die Ferien an der See verbringen. »Wo sind Sie hergekommen?« »Von einem Felsen«, sagte der ›Heilige‹. Sie hustete und würgte abermals unter allerhand Grimassen. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich muß spucken«, sagte sie. Der ›Heilige‹ entschuldigte sie. Sie tat es gegen den Wind, weshalb es nicht sehr erfolgreich verlief. Simon betrachtete sie betrübt. »Ein neuer Sport für Sie, nicht?« sagte er milde. »Einmal muß man schließlich anfangen«, erwiderte sie trotzig. »Einer der Männer hat mir ein paar Lektionen gegeben, und ich dachte mir, versuchst du’s mal allein. Niemand brauchte das Boot, also habe ich es mir genommen.« »Es gibt nur einen Polizisten auf den Scilly-Inseln«, murmelte der ›Heilige‹. »Wenn Sie sich also ein bißchen unsichtbar machen, erwischt er Sie vielleicht nicht.« »Oh, ich habe das Boot nicht gestohlen. Es gehört zu der Jacht.« Simon zog die Augenbrauen hoch. »Haben Sie eine Jacht?« »Sie gehört meinem Stiefvater. Die Claudette. Wir liegen drüben vor Tresco.« Der schwarze Strich der Augenbrauen schien noch härter zu werden. »In der Nähe von Abdul Osmans?«
»Ja – aber woher wußten Sie das?« »Eine Art Buschtelegraf«, erwiderte der ›Heilige‹. »Es ist erstaunlich, wie schnell Neuigkeiten in diesen abgelegenen Gegenden die Runde machen.« Während eines Teils dieser Unterhaltung geschah es, daß er Gelegenheit fand, die künstlerischen Proportionen ihres Körpers ins Auge zu fassen, denn sie trug nichts weiter als einen von diesen Badeanzügen, die hauptsächlich aus Eingängen für die kostbaren ultravioletten Strahlen bestehen. »Haben Sie vor zu bleiben, wo Sie jetzt sind?« fragte sie schließlich, und der ›Heilige‹ lächelte. »Nicht bis in alle Ewigkeit«, sagte er. »Aber meine Badeausstattung ist noch fortschrittlicher als Ihre. Falls Sie jedoch eine Minute hier warten möchten, schwimm’ ich zurück und hole mir was zum Anziehen.« Er ließ sich ins Wasser rutschen, ohne auf die Annahme seines Vorschlags zu warten, und hielt auf die Felsen zu, eine klare Linie ins Wasser schneidend. Auf dem Rücken schwimmend, kehrte er zurück, und Hemd, Hose und Schuhe hielt er zusammengebündelt mit einer Hand hoch im Trockenen. »Ich bin ohne Schamgefühl geboren worden«, sagte er, während er das Bündel hinten ins Boot hob. »Aber wenn Ihnen genierlich ist, möchten Sie vielleicht nach vorne gehen und mit den Fischen reden, während ich mich Ihres Handtuchs bediene.« »Sie haben mir wohl das Leben gerettet«, sagte die junge Dame, mit größter Konzentration den vollkommen blankgefegten Horizont betrachtend, während das Boot unter ihren Füßen schaukelte, weil er sich an Bord stemmte. »Mache ich kostenlos«, sagte der ›Heilige‹. Er trocknete sich blitzschnell mit dem Handtuch ab und zog seine Hose an. Dann machte er sich dran, das Segelboot
herumzuholen und auf geraden Kurs zurück nach Tresco zu bringen. Das Mädchen drehte sich um und verfolgte neidisch seine leichten, zwanglosen Manöver. Er handhabte das Boot mit völlig mühelosem Selbstvertrauen, und er setzte sich ans Ruder und lächelte ihr abermals aus diesem recht unbekümmerten braunen Gesicht zu. Sie sah herausfordernde blaue Augen, in denen ein stets bereites Spötteln blitzte, harte Muskeln, die unter der Haut spielten, die wie aus braunem Satin war, und sie spürte das Format eines Mannes, der keinen Respekt vor höflichen Konventionen hatte. Sie wußte, daß der feindselige Anflug in ihrer Haltung, der sie infiziert hatte, auf nichts anderem gründete als auf ihrem eigenen Gefühl, daß sie sich töricht benommen hatte, und sie wußte, daß er wußte, daß sie es wußte. »Ich sag’s nicht weiter«, sagte er, und seine Worte paßten sich ihren Gedanken auf solch unheimliche Weise an, daß sie ihn noch eine ganze Weile länger stumm anblicken mußte. »Mein Stiefvater möchte vielleicht wissen, wo ich Sie eingefangen habe«, sagte sie dann. »Das ist wahr«, gab Simon zu, und mehr sagte er nicht, bis er an der recht übermäßig großartig aussehenden Jacht, die im New-Grimsby-Kanal vor Anker lag, elegant längsseits gegangen war. Er machte das Boot am Fallreep fest und half dem Mädchen heraus. Einer der Deckmatrosen hatte ihre Ankunft bemerkt, und ein Herr in mittleren Jahren und weiten Flanellhosen wartete auf sie oben an Deck. Er trug eine Seglermütze und eine blaue Seemannsjacke mit der Miene eines nicht ganz zu bestimmenden Unbehagens – als warte er jeden Augenblick darauf, daß irgendein ungezogener Straßenlümmel häßliche Bemerkungen über seine Ansprüche auf diese Uniform machen könnte.
»Wo warst du, Laura?« begehrte er unnötigerweise zu wissen. »Mit dem Boot unterwegs«, erwiderte das Mädchen nicht minder unnützerweise, aber mit einer schelmischen Genugtuung. Der Mann drehte sich mit gleichsam zurückhaltender Ungehaltenheit nach dem ›Heiligen‹ um, als sei seine Anwesenheit als absichtliches Hindernis ein paar deutlichen Worten vorgeschoben worden, die ihm nun dringend angebracht schienen. »Dieser Held hat mir soeben das Leben gerettet«, sagte Laura, die nun ebenfalls den ›Heiligen‹ ansah. »Held, das ist mein Stiefvater, Mister Stride.« »Ah!« bemerkte Mr. Stride klug. »Hm-m.« Seine Augen nahmen sich das Äußere des ›Heiligen‹ mit zweifelndem Ausdruck vor – es waren kleine Augen von recht überraschender Schärfe, wenn sie einen ansahen. Simon trug sein Hemd immer noch auf sehr lässige Art – er hatte es über die Schultern geworfen und die Ärmel lose unter dem Kinn verschlungen –, und er sah vollkommen schimpflich und hergelaufen aus, und es war absolut nicht zu übersehen, daß es ihm Spaß machte. Mr. Stride griff zögernd nach der Brieftasche. »Ich bin über Bord gebumst worden«, sagte das Mädchen. »Ich habe irgendwas Dummes mit dem Segel angestellt, und da hat mich der Baum am Kopf getroffen…« »Das hätte jedem passieren können«, sagte der ›Heilige‹ leichthin – er war in seinem ganzen Leben noch nicht rot geworden beim Lügen. »Ein plötzlicher Windstoß kann einem Boot mächtig zu schaffen machen, und davon gibt es hier mehr, als einem lieb sein kann.« »Ha!« sagte Mr. Stride. Seine scharfen Augen betrachteten die schlanke, auf Haltung bedachte Gestalt des ›Heiligen‹
nachdenklich einmal von oben bis unten; aber beim Klang der Stimme des ›Heiligen‹ hatte er die Brieftasche losgelassen, als sei die ihm glühend heiß geworden zwischen den Fingern. »Ha!« sagte Mr. Stride. Er zupfte an seinem grauen Schnurrbart. »Ein großes Glück, daß Sie den Unfall gesehen haben, Mr…« Simon überhörte elegant die Aufforderung, seinen Namen einzusetzen. »Wir wollten gerade zu Mittag essen, Mr «, sagte Stride, erneut den Köder baumeln lassend. »Möchten Sie nicht bleiben?« »Sehr liebenswürdig von Ihnen«, murmelte der ›Heilige‹ und konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß Mr. Stride herzlicher gewesen wäre, hätte er die Einladung ausgeschlagen. Mit gelassener Gleichgültigkeit gegenüber den Gefühlen seines Gastgebers, die man hätte ungezogen nennen müssen, wären sie auch nur einen Strich weniger durchsichtig arglos gewesen, machte er sich daran, sein Hemd anzuziehen; und dabei warf er einen Blick auf die anderen Schiffe, die im Umkreis von hundert Metern um die Claudette herum vor Anker lagen. Da waren zwei französische Fischkutter, breite seetüchtige Boote mit hohem Bug und niedrigem Heck, die von ihrem großen rostroten Segel locker im Wind gehalten wurden. Dahinter wiegte sich eine prächtige, zweihundert Tonnen große Dieseljacht mit feingeschwungenem Klipperbug. Simon konnte den aufgemalten Namen drüben lesen – Luxor. Neben dem Ruderhaus sah er einen Mann, der einen Feldstecher angesetzt hatte, und er wußte, daß die Claudette der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit war. »Herrliches Schiff«, sagte Stride, wie eine Katze schnurrend.
»Herrlich«, pflichtete der ›Heilige‹ bei. »Man muß recht erfolgreich sein, um solch ein Schiff zu besitzen – oder auch nur ein Schiff wie Ihres, Mr. Stride.« Der andere warf dem nicht aus der Ruhe zu bringenden jungen Mann neben sich einen seiner überraschend scharfen Blicke zu. »Hm-m«, stimmte er mechanisch zu, aber die Notwendigkeit, eine passende Erweiterung seiner Antwort zu finden, wurde ihm erspart durch die Ankunft eines weißjackigen Stewards mit einem Tablett voll Gläsern, dem das folgte, was der Rest der Bordgäste zu sein schien. Dieser Rest umfaßte einen jungen Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit einem angenehmen Gesicht und einem fleißig unterdrückten Kräuseln im blonden Haar und einen geschniegelten, finsteren Mann undefinierbaren Alters, dessen Jacke sehr eng in der Taille anlag und dessen Haar sich ohne Scham zu makellosen Wellen ordnete, die die Natur ohne jede Hilfe schwerlich so symmetrisch angelegt haben konnte. Der Name des blonden jungen Mannes war Toby Halidom, und seine besorgte Frage, ob Laura Berwick sich auch wirklich vollkommen von den Auswirkungen ihres Abenteuers erholt habe, schien zufriedenstellend den Verlobungsring zu erklären, der an ihrem Finger glänzte, nachdem sie sich zurechtgemacht und zum Mittagessen umgezogen hatte. Der geschniegelte, finster dreinblickende Mensch wurde als Mr. Almido, Mr. Strides Privatsekretär, vorgestellt. Er sprach sehr wenig, und wenn er sprach, tat er es mit einem lispelnden Akzent, der gewiß ebensowenig englisch wie sein Anzug war. Mr. Stride trank seinen Cocktail schweigend und führte die Tischgesellschaft recht unvermittelt unter Deck. Sein Mangel an festlicher Freundlichkeit und Fröhlichkeit – ein bemerkenswerter Mangel bei einem Mann, dessen Stieftochter soeben vor einem wässerigen Grab bewahrt worden war – hielt
durch die halbe Mahlzeit voll an, aber der ›Heilige‹ ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Und dann begann er – nicht weniger überraschend für jeden, der begonnen hatte, seine Schweigsamkeit hinzunehmen –, langsam aufzutauen. So sehr taute er nun auf, daß er zu dem Zeitpunkt, da der Nachtisch aufgetragen wurde, sich geradezu leutselig nach den Plänen des ›Heiligen‹ erkundigte. »Bleiben Sie lange hier?« fragte er. »Wahrscheinlich so lange, bis ich keine Lust mehr habe, Vitamin D zu stapeln«, antwortete der ›Heilige‹. »Ich habe keine Pläne.« »Ich dachte immer, Südfrankreich sei die von Sonnenbadern bevorzugte Feriengegend«, meinte Mr. Stride mit einem aufgesetzten Interesse, in dem nur ein Ohr, das darauf aus war, die verhüllte Spitze hätte entdecken können. »Wenn mir am Sonnenbad läge, würde ich mich wohl eher dorthin begeben, anstatt mich auf die Unsicherheit des britischen Klimas einzulassen. Das wäre gewiß klüger.« »Ah, aber selbst dort zwingen sie einen, was anzuziehen«, sagte der ›Heilige‹, um keine Antwort verlegen. »Es ärgert mich jedesmal, wenn ich mich in der Badewanne sehe – man sieht aus, als trüge man eine lachhaft durchsichtige weiße Hose. Hier kann ich ein hübsches Stück Küste ganz für mich allein finden und mir von oben bis unten dieselbe schöne Farbe zulegen.« Mr. Toby Halidom, der sich durch seine Krawatte als ehemaliger Schüler von Harrow auswies, schaute leicht schockiert drein; aber Mr. Stride zeigte sich unbewegt. Zusammen mit Laura Berwick begleitete er den ›Heiligen‹ an Deck zurück, nachdem Simon sich gleich nach dem Kaffee empfohlen hatte. Einer von den Leuten, sagte er, werde Mr. Hm-m Ha in dem Motorboot nach St. Mary’s zurückbringen; und während das Boot herumgebracht wurde, blickte Simon
noch einmal zu der Luxor hinüber. Ein Seemann stand an Deck und schaute zu ihnen herüber, und als Simon in Sicht kam, drehte der Mann sich um und sprach durch eine Luke mit jemandem unter Deck. Eine Sekunde später kam der Mann, der den ›Heiligen‹ zuvor schon beobachtet hatte, den Niedergang herauf und richtete erneut das Fernglas auf ihn. »Ich hoffe, Sie noch recht oft wiederzusehen«, sagte Mr. Stride oben am Fallreep. »Kommen Sie uns besuchen, sooft Sie mögen.« »Mit Vergnügen«, murmelte der ›Heilige‹ nicht weniger höflich; und dann sagte er mit solch glattem Übergang, daß die Wirkung wie die eines Pistolenschusses war: »Ich wußte gar nicht, daß Abdul Osman kurzsichtig ist.« Galbraith Stride wurde weiß, als sei seinem Gesicht das Blut mit einer Vakuumpumpe abgezapft worden. »Kennen Sie Mr. Osman?« fragte er mit Anstrengung. »Ziemlich gut«, erwiderte der ›Heilige‹ beiläufig. »Ich habe ihn vor fünf Jahren auf beiden Wangen gezeichnet, und es muß ihn einen schrecklichen Haufen Geld für kosmetische Operationen gekostet haben, sein Gesicht wieder in Ordnung zu bringen. Wenn mir das jemand angetan hätte, brauchte ich nicht zweimal durch einen Feldstecher zu gucken, um mich zu vergewissern, wer mir da über den Weg gelaufen ist.« »Sehr interessant«, sagte Galbraith Stride langsam. »Sehr interessant.« Er hielt dem ›Heiligen‹ die Hand hin. »Hm. Auf Wiedersehen, Mr. – eh – hm-m…« »Templar«, sagte der ›Heilige‹. »Simon Templar. Und vielen Dank für das Mittagessen.« Er schüttelte die ihm hingehaltene Hand herzlich und kletterte in das Boot hinunter; und er war so vergnügt, daß er am liebsten den ganzen Weg nach St. Mary’s zurück gesungen hätte.
III
»Falls das«, sagte Patricia Holm, »etwa wieder einmal eine deiner berühmten Etüden in feinem Takt sein sollte…« »Aber was soll es wohl sonst gewesen sein?« protestierte der ›Heilige‹. »Wenn ich mich nicht eines außerordentlichen Taktes befleißigt hätte, wäre ich nicht zum Mittagessen eingeladen worden; und das hätte bedeutet, daß ich mir ein Aufgebot an Kaviar, Hummermayonnaise und trockenem Champagner hätte entgehen lassen, dem niemand, der gehörige Hochachtung vor seinem Magen besitzt, widerstehen konnte, ganz zu schweigen von den selbsterworbenen Kenntnissen in der Geographie des Strideschen Luxusbootes…« »Und um die Abendessenszeit«, sagte Patricia, »wird sie fünfzig Seemeilen von hier weg sein und die Luxor hart hinterher…« Simon schüttelte den Kopf. »Nein – oder ich müßte mich in Abdul Osman irren. Die Chirurgen mögen sein Gesicht neu modelliert haben, aber er trägt Narben in seinem Innern, die er nie vergessen wird… Ich hätte auf jeden Fall irgendwann Bekanntschaft mit Laura schließen müssen, und dieser kleine Unfall machte es mir so wunderbar leicht.« »Ich dachte, wir seien hierhergekommen, um Ferien zu machen«, sagte Patricia; und der ›Heilige‹ griente und machte sich auf die Suche nach Mr. Smithson Smith. Mr. Smithson Smith war der Geschäftsführer des »Tregarthen«, eines der drei Hotels, mit denen die Insel St. Mary’s versehen ist. Simon Templar, dessen Geschmack im Hinblick auf Hotels durch nichts weniger Üppiges als Paläste
vom Schlage des »Dorchester« zufriedenzustellen war und, falls man ihm damit nicht dienen konnte, gewöhnlich ins andere Extrem fiel, hatte eine Einladung, im »Tregarthen« abzusteigen, ausgeschlagen und sich in einem Haus im Dorf einquartiert, wo man ihm zur besten Hausmannskost sein eigenes Wohnzimmer dazugab, und das alles zu einem Wochenpreis, für den er im »Dorchester« fünf Minuten lang eine Mansarde hätte bewohnen dürfen. Im »Tregarthen« jedoch konnte er sich ein Blondes vom Faß zapfen lassen, und das war eins von den Dingen, nach denen ihn im Augenblick verlangte. Das andere, nach dem er aus war, war noch ein bißchen mehr Lokalklatsch, und damit würde Mr. Smithson Smith ihn ebenfalls versorgen können. Als er um halb vier den Schankraum betrat, war er von nur einem Menschen besetzt: von Mr. Smithson Smith selber, der neben einem offenen Fenster Rechnungen schrieb. »Na – guten Tag, Templar. Und was darf’s sein?« »Einen halben Liter, wenn ich bitten darf«, murmelte der ›Heilige‹, während er sich in einen Sessel sinken ließ. »Möglicherweise zwei halbe Liter, wenn mein Durst anhält. Und einen für Sie, falls Ihnen danach zumute ist.« Mr. Smithson Smith verschwand hinter den Schanktisch und kehrte mit einem randvollen Glas zurück. Er entschuldigte sich, daß er nicht an der Durstlöschübung teilnahm. »Ich warte lieber bis zum Abend, wenn’s recht ist«, sagte er mit einem Lächeln. »Was haben Sie heute gemacht?« Er war ein dünner, stiller Mensch mit sandgrauem Haar, einem schmalen Schnurrbart und einer außergewöhnlich sanften Stimme, und es war seltsam, daß er nur einer von vielen Männern auf den Inseln war, die sich in den romantischen Städten des Mittleren Ostens besser auskannten als in der Hauptstadt ihres eigenen Landes. Dieser
merkwürdige Umstand war Simon bereits bei seinem ersten Besuch im »Tregarthen« aufgefallen, und nachfolgende Besuche hatten den Eindruck bestätigt. Dort auf den einsamen Felsen, die vierzig Meilen vor Land’s End aus dem Meer hervorbrechen, wo man damit rechnen würde, Menschen anzutreffen, die kaum etwas anderes von der Außenwelt gesehen haben als die anderen Felseninseln um ihr eigenes Eiland herum, fand man statt dessen einfache Männer, in deren Erinnerung die Straßen von Damaskus und Bagdad namentlich vorkamen. Und wenn immer Erinnerungen dieser Art aufklangen, steuerte Mr. Smithson Smith die seinigen bei – mit einem abwesenden Blick in den Augen und demselben abwesenden Klang in dieser sehr sanften Stimme, als sehe er in seinen Träumen die Wüsten Arabiens lebhafter vor sich als die blaue Bucht vor seinem Fenster. »Damals, als ich in Kapernaum war…« hatte Simon ihn sagen hören und dabei gespürt, daß zumindest für diesen Mann die besten Tage in der Vergangenheit lagen. Der Krieg war es natürlich gewesen, der Männer aus jedem verschlafenen Dörfchen in England herausgeholt und mit den seltsamsten, fernsten und fremdartigsten Orten hatte vertraut werden lassen und sie dann mit ihren Erinnerungen wieder in dieselben verschlafenen kleinen Dörfer entließ; aber dieser stille Mann besaß eine mystische Empfindsamkeit, ein intensives Gefühl für Poesie, das recht verdutzt um den Ausdruck rang, den er ihm nicht geben konnte, und eine eigentümliche Verehrung ließ seine Erinnerungen verträumter erscheinen als die der meisten anderen. »Ich bin drüben vor Tresco gewesen«, sagte der ›Heilige‹, als er schließlich von seinem Bier aufsah. »Ah. Haben Sie die Jachten gesehen – sind sie noch da?« Simon nickte. »Es ist mir sogar gelungen, auf einer von ihnen ein Mittagessen zu nassauern.«
»Auf Abdul Osmans?« »Nein – auf Galbraith Strides. Ich habe Osman allerdings gesehen. Ist aber eine lange Reise für ihn, die ganze Strecke bis hierher!« Er wußte, daß er den anderen nur ein ganz klein wenig zu ermuntern brauchte, damit er in die Vergangenheit stieg; und seine Erwartungen gründeten auf wohldurchdachten psychologischen Überlegungen. Mr. Smithson Smith setzte sich und nahm eine Zigarette an. »Ich schrieb Ihnen wohl schon in meinem Brief, daß ich glaubte, ich habe seinen Namen schon einmal gehört. Gestern habe ich noch darüber nachgedacht, und da fiel mir die Geschichte wieder ein. Er hat St. Mary’s nicht besucht – falls doch, habe ich ihn wohl jedenfalls nicht gesehen –, aber ich müßte diesen Abdul Osman eigentlich erkennen, falls es sich um denselben Mann handelt, denn er hatte Brandmale auf beiden Wangen.« Der ›Heilige‹ zog in unschuldsvoller Überraschung die Augenbrauen hoch. »Wirklich?« Der andere nickte. »Eine tolle Geschichte – man könnte geradezu ein Buch daraus machen. Ein Engländer hat die Male eingebrannt – jedenfalls ging das Gerücht, daß es ein Engländer gewesen sei, obwohl man ihn nie geschnappt hat. Dieser Abdul Osman soll das Monopol in allerlei häßlichen Branchen im Orient gehabt haben – Bordelle und Spielhöllen und Rauschgifthandel, lauter Sachen der Art. Ob es wahr ist, weiß ich nicht, aber das hat man mir erzählt. Er hatte jedenfalls eine Prachtvilla in Kairo, also muß er eine Menge Geld gescheffelt haben. Ich erinnere mich noch genau, was passierte. Es war die Sensation von Kairo zu der Zeit… Ich hoffe, ich langweile Sie nicht?« Mr. Smithson Smith hegte eine eigenartige Furcht, langweilig zu sein, als glaube er, irgendwelche weltliche Unruhe auf
seiten seiner Zuhörer könne den zerbrechlichen Zauber der Dinge, an die er sich erinnerte, zerstören. »Absolut nicht«, sagte der ›Heilige‹. »Was passierte?« »Hm, dieser Abdul Osman ist offenbar eines Nachts verschwunden. Eigentlich sollte er von Alexandria nach Kairo zurückfahren, allein mit seinem Chauffeur. Es war ein herrliches Auto, das er da hatte, ich habe es oft an Shepherd’s Hotel vorbeifahren sehen. Nun, er kam nicht, als man ihn erwartete – er kam nicht an, und als er nach drei oder vier Stunden immer noch nicht kam und auch keine Nachricht geschickt hatte, was ihn aufgehalten habe, begann man sich in seinem Hause Sorgen zu machen und ging auf die Suche. Sie fuhren den ganzen Weg bis Alexandria, ohne ihm zu begegnen, und als sie zu dem Haus kamen, wo er sich aufgehalten hatte, sagte man ihnen, daß er acht Stunden zuvor abgefahren sei. Da gingen sie zur Polizei, und eine zweite Suchaktion begann. Keine Spur von ihm wurde gefunden.« Zwei junge Männer in offenem weißem Hemd und Flanellhosen kamen herein und setzten sich an einen Tisch. Mr. Smithson Smith entschuldigte sich und ging, ihre Bestellung entgegenzunehmen, und während er den Zapfhahn betätigte, zündete der ›Heilige‹ sich eine Zigarette an und betrachtete sie desinteressiert. Es waren ruhige, sehr achtbare junge Männer; aber ihre Gesichter waren blaß und die von den aufgerollten Ärmeln entblößten Arme weiß oberhalb der Ellenbogen. »Nun«, sagte Mr. Smithson Smith, zu seinem Sessel zurückkehrend, »sie suchten die halbe Nacht nach ihm, aber er schien sich zu Luft aufgelöst zu haben. Natürlich war es nicht leicht, im Dunkeln wirklich gründlich zu suchen, darum versuchte man es am anderen Morgen noch einmal. Und da fanden sie ihn. Sein Wagen stand auf der Straße – man fand Reifenspuren, die anzeigten, daß er ein mächtiges Stück in die
Wüste hineingefahren und dann wieder zurückgebracht worden war; und draußen in der Wüste, wo er gewendet worden war, fand man die Reste eines Feuers. Der Chauffeur kam gerade wieder zu Bewußtsein – er hatte eins über den Schädel gekriegt und war gefesselt und geknebelt worden –, und hinten im Wagen lag Abdul Osman mit diesen Brandmalen auf beiden Wangen. Wer immer sie angebracht hatte, hatte sie mit einem rotglühenden Eisen bis fast auf den Knochen eingebrannt; es war ein arabisches Wort, und es bedeutete genau das, was dieser Mann war.« »Tüchtige Arbeit«, murmelte der ›Heilige‹ und schob sein Glas vor, damit man es ihm erneut fülle. »Anzunehmen.« Mr. Smithson Smith brachte einen weiteren halben Liter heran und nahm seinen Platz wieder ein. »Und der einzige Anhaltspunkt, den man hatte, war eine Art Zeichnung, die auf die Seite von Osmans wunderschönem Auto gepinselt worden war – die Farbe war noch frisch, als man es fand. Es war eine Figur aus geraden Strichen mit rundem Kopf, wie Kinder sie an die Wände kritzeln, nur schwebte ein Kreis darüber wie ein Heiligenschein auf diesen mittelalterlichen Kirchenbildern. Ich habe mir oft vergeblich überlegt, was das wohl zu bedeuten haben sollte. Ein Bild Abdul Osmans konnte es kaum sein, denn er hatte kein Anrecht auf einen Heiligenschein. Vielleicht sollte es ein Bild des Mannes sein, der es getan hatte.« »Wäre möglich«, murmelte der ›Heilige‹. Einer der achtbaren jungen Männer stand auf und verließ den Schankraum: absichtslos sah Simon ihm nach, wie er langsam den abschüssigen Pfad zum Tor hinunterging. »Ja«, sagte Mr. Smithson Smith nachdenklich… »Und mir fällt ein, ich habe noch ein andermal von ihm gehört. Das war in Beirut. Ein Freund von mir lernte dort ein Mädchen in einem Tanzlokal kennen – es war die Sorte Tanzlokal, die in
England überhaupt nicht erlaubt wäre. Das Mädchen erzählte ihm eine Geschichte über Abdul Osman – ich glaube nicht, daß ich irgend jemandem die Einzelheiten schildern möchte, aber falls es stimmte, dann könnte man ihn kaum schwärzer malen, als er gemalt worden ist. Um genau zu sein: ich habe diese Geschichte einem Mann erzählt, den ich auf der Überfahrt nach Marseille auf dem Schiff kennenlernte, – er hatte gerade seine Dienstzeit bei der ägyptischen Polizei beendet, und er sagte, die Geschichte stimme wahrscheinlich. Es war… « »Hoppla«, sagte der ›Heilige‹. »Der Kerl scheint hingefallen zu sein.« Der achtbare junge Mann, der hinausgegangen war, war gestolpert, als er auf die Straße hinunterstieg, und lag nun lang im Staub vor dem Tor. Er hielt sich ein Fußgelenk, und das Gesicht hatte er schmerzverzerrt zu der Veranda zurückgewandt. Mr. Smithson Smith schaute hinaus, drehte sich dann zu dem Gefährten des achtbaren jungen Mannes um. »Ihr Freund hat sich, glaube ich, verletzt«, sagte er. »Sieht so aus, als habe er sich den Knöchel verstaucht.« Der achtbare junge Mann kam zu ihrem Tisch herüber und schaute hinaus. »Ich werde mal nachsehen«, sagte er. Simon sah ihm nach und zog nachdenklich an seiner Zigarette. »Die beiden wohnen hier im Hotel?« fragte er. »Ja«, erwiderte Mr. Smithson Smith, die Augen dem zugewandt, was sich da unten tat. »Sie wohnen hier.« »Sind sie schon lange hier?« Die Frage kam vollkommen beiläufig. »Etwa vierzehn Tage«, sagte Mr. Smithson Smith. »Ich weiß nicht viel von ihnen. Sie sind den größten Teil des Tages draußen – ich glaube, sie gehen schwimmen, aber wenn man
sich den Korb ansieht, den sie mitnehmen, könnte man meinen, sie brauchten so viele Handtücher, wie man braucht, um ein ganzes Regiment abzutrocknen.« »Sie sind nicht sehr braun«, sagte der ›Heilige‹ leise – fast so, als spreche er mit sich selber. Mechanisch griff er nach seinem Glas – und setzte es wieder ab. Der junge Mann mit dem verletzten Knöchel kam zurück, mühsam humpelnd und auf den Arm seines Begleiters gestützt. »So was Dummes, nicht?« sagte er, und Mr. Smithson Smith nickte recht besorgt. »Möchten Sie, daß ich den Arzt rufe?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Ich bade den Fuß nur ein bißchen in kaltem Wasser und lege ihn eine Weile hoch. Ich glaube nicht, daß es etwas Ernstes ist.« Die dreibeinige Gruppe ging ins Hotel durch, und Simon setzte sich wieder und zündete eine neue Zigarette an. Mr. Smithson Smith setzte mit seiner sanften Stimme seine Erzählung fort, aber der ›Heilige‹ hörte kaum zu. Die Erzählung bildete nichts weiter als einen Unterstrom von Geräuschen für seine Sinne, einen beruhigenden Hintergrund für seine Gedanken. In einem Leben wie dem des ›Heiligen‹ verlängert man die Existenz von einem Tag auf den anderen durch nichts anderes als eine ununterbrochene Wachsamkeit, durch dieses niemals schlafende Funktionieren eines Systems von Fragezeichen im Kopf, das sich niemals zufriedengibt mit den offensichtlichen, auf der Hand liegenden Erklärungen, die das stumpfe Bewußtsein des Durchschnittsmenschen passieren. Für den ›Heiligen‹ war alles, das auch nur irgendwie vom Alltäglichen abwich, ein rotes Licht, das auf mögliche Gefahren hinwies und daher auf keinen Fall als eine harmlose Überspanntheit abgetan werden durfte. Mochte sich der Alarm in neun von zehn Fällen als falsch erweisen, er konnte dennoch
nicht außer acht gelassen werden. Und es schien seltsam, daß zwei sehr achtbare junge Männer dadurch aufgefallen waren, daß sie einen übergroßen Korb mit Handtüchern bei sich trugen; und seltsam war es auch, daß sie vierzehn Tage lang jeden Tag gebadet haben sollten und trotzdem noch kalkig weiß waren wie jemand, der schon seit Jahren den muffigen Schutz der Kleider nicht abgeschüttelt hat… Und der forschende Argwohn des ›Heiligen‹ brach in plötzlicher, blitzartiger Erleuchtung durch, und mit einem Ruck war er aus seinem Sessel hoch. In Sekundenschnelle durchquerte er den Schankraum in Richtung auf die Tür, durch die die beiden achtbaren jungen Männer verschwunden waren, und Mr. Smithson Smith, den dieser unvermittelte Aufbruch so verblüffte, daß ihm die Luft wegblieb, bemerkte in einem geradezu unheimlichen Augenblick der Verwirrung, daß die Füße des ›Heiligen‹ vollkommen geräuschlos über den Fußboden setzten. Wie der Angriff eines Leoparden sah es aus: geschmeidig, kraftvoll, ohne einen Laut; und dann hatte Simon Templar die Hand auf der Klinke, riß die Tür auf, und der junge Mann, der dem Verletzten geholfen hatte, stolperte und fiel fast in den Raum. »Kommen Sie ‘rein, Bruderherz«, sagte der ›Heilige‹ gutgelaunt. »Kommen Sie herein und trinken sie einen.« Der junge Mann wurde rot im Gesicht, und sein Mund öffnete sich zu einem verdrückten Lächeln. »Ver-verzeihen Sie«, stotterte er. »Ich muß gestolpert sein oder…« Ein dünnes Lächeln schnitt sich in die Mundwinkel des ›Heiligen‹. »Bestimmt, Bruderherz.« »Ich – ich trinke einen Whisky-Soda.« »Sie trinken Bier!« Der ›Heilige‹ holte sein eigenes Glas vom Tisch und hielt es ihm hin. Er stand knapp einen Meter vor dem anderen, auf den Zehen, unbestimmbar gefährlich.
»Trinken Sie das«, sagte er, und der junge Mann wurde weiß. »Ich-ich…« Simons freie Hand traf, zur Faust geballt, seinen Mund und ließ ihn zurücktaumeln. »Dafür schicke ich Ihnen die Polizei«, drohte der junge Mann, und der ›Heilige‹ lächelte abermals. »Holen Sie ihn – es gibt nur einen davon hier. Aber fragen Sie zuerst Abdul, was er von der Idee hält, Sie könnten sich sonst unbeliebt machen. Und jetzt scheren Sie sich zum Teufel – und wenn Ihnen Ihre Schönheit lieb ist: verderben Sie mir nicht wieder mein Bier!« Er packte den achtbaren jungen Mann beim Ohr und warf ihn elegant und kraftvoll zum Schankraum hinaus, dann wandte er sich zu dem völlig entsetzten Mr. Smithson Smith um. Der Gang der Ereignisse war mit solch heftiger Plötzlichkeit und so völlig unverständlich über den Geschäftsführer hereingebrochen, daß er verzeihlicherweise verdutzt war; aber nun sah er seine Pflicht wieder klar vor Augen. »Aber, aber, Templar!« sagte er, und seine sanfte Stimme bebte. »Sie können sich hier unmöglich so aufführen. Ich werde mich bei meinen Gästen entschuldigen müssen. Sie werden wohl diese Bar verlassen müssen…« Simon nahm ihn gelassen beim Arm und zeigte auf sein Glas. Eine Fliege kroch an der Innenseite des halbgeleerten Bierglases herunter, das er gerade wieder auf den Tisch zurückgestellt hatte. Sie ließ sich Zeit bei ihrer Reise, unverschämt, wie Fliegen nun einmal sind: vielleicht war ihr Durst nicht sehr erheblich, oder aber sie war in einer Familie aufgewachsen, in der man peinlich genau auf gute Manieren achtete. Sie reiste in kurzen kleinen Etappen abwärts, machte einmal Pause, um sich die Hände zu waschen, und einmal, um die Füße aneinander zu reiben – beides in einer vornehmen Ekstase der Vorfreude. Mr. Smithson Smith folgte ihr mit den
Augen, weil sie das einzige Bewegliche in der Richtung war, die der ›Heilige‹ angezeigt hatte, und es sonst nichts zu betrachten gab. Aber es erschien ihm doch als ein außerordentlich triviales Schauspiel, und er drehte unruhig seinen Arm unter dem Griff des ›Heiligen‹. Aber Simon Templar zeigte immer noch auf das Glas, und es war etwas unerhört Dynamisches in der Unbeweglichkeit seines ausgestreckten Fingers. Mr. Smithson Smith wandte den Blick nicht ab, und er sah die Fliege die Bieroberfläche erreichen. Sie blickte sich vorsichtig um und tauchte ihren Rüssel zierlich in die Flüssigkeit. In den nun folgenden drei oder vier Sekunden war sie ohne jede Bewegung. Und dann schlug sie ohne jeden Kampf in einem schlaffen Purzelbaum um und schwamm still auf dem Rücken, die Beine steif hochgestreckt…
IV
Mr. Smithson Smith zwackte mit den Augen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Arm lockerte sich nur langsam, als koste es ihn eine bewußte Anstrengung, die unwillkürliche Zusammenziehung der Muskeln zu lösen. Er wußte selber nicht, warum das Miniaturdrama, dessen Aufführung er soeben erlebt hatte, solche Wirkung auf ihn hatte. Vielleicht war es die absolute Stille, in der es abgerollt war; vielleicht auch das unerklärliche Schweigen des Mannes neben ihm. Jedenfalls schien er in den letzten paar Sekunden zu atmen vergessen zu haben, und als das Drama zu Ende war, dehnte er die Brust in einem unhörbaren Aufseufzen. Dann sprach der ›Heilige‹ wieder, und seine Stimme schnitt dem anderen scharf ins Ohr, so hart war der Kontrast zu der Stille. »Sagen Sie mir ja nicht, Ihr Bier ist so stark!« Der Geschäftsführer starrte ihn an. »Meinen Sie – Sie meinen, es war mit einem Rauschmittel versetzt?« »Nicht weniger als das und vielleicht etwas mehr. Das werden wir bald sehen.« Mit nicht zu erschütternder Ruhe fischte der ›Heilige‹ die Fliege mit einem Streichholz aus dem Bier und legte sie zum Abkühlen in den Aschenbecher. »Aber irgendwie glaube ich nicht, daß es auf plötzlichen Tod hinauslaufen sollte – den halten sie wahrscheinlich für zu gut für mich.« »Aber – aber – verdammt noch mal!« Mr. Smithson Smith war eigentümlich verwirrt unter seiner instinktiven Ungläubigkeit. »Wollen Sie denn sagen, daß Mr. Trape…«
»Heißt er so?« Der ›Heilige‹ war so kühl wie ein Eisbarren. »Ich kann Ihnen nicht viel über ihn sagen, aber eins kann ich Ihnen sagen. Mein lieber Freund« – er legte dem Geschäftsführer einen Augenblick lang die Hand auf die Schulter –, »kann man von Ihnen erwarten, daß Sie für die Moral eines jeden geradestehen, der in Ihrem Hotel absteigt? Können Sie Referenzen von jedem verlangen, der um ein Zimmer bittet? Natürlich nicht. Sie müssen sie für das nehmen, für das sie sich selber ausgeben, und solange sie sich gesittet aufführen, verlangt keiner von Ihnen, daß Sie sie fragen, ob ihre Fingerabdrücke bei Scotland Yard registriert sind. Nein – irgendwo mußten sie eben absteigen, und Sie haben Pech gehabt.« Der Geschäftsführer zog die Stirn in Falten. »Wenn das stimmt, was Sie sagen, Templar, werde ich sie auffordern müssen, ihr Zimmer zu räumen«, sagte er, und der ›Heilige‹ mußte lachen. »Das Zimmer haben Sie jetzt, alter Junge. Aber ob sie auch Geld zurückgelassen haben, um die Rechnung zu bezahlen, das steht auf einem anderen Blatt.« Er saß auf dem Tisch und warf hin und wieder einen Blick auf die Fliege, die immer noch nicht wieder bei Bewußtsein war. Der Gedanke, daß sie tot sein könne, machte ihm Schwierigkeiten – obgleich natürlich eine Droge, die ein Mensch überstehen würde, ein Insekt durchaus töten könnte. Aber seine Aufschlüsselung von Abdul Osmans Charakter paßte nicht zu solch einer glatten, sauberen Lösung. Die glühenden Eisen, die ihre Beleidigung dem Gesicht des Ägypters eingebrannt hatten, schrien nach einer sehr viel unsaubereren Art der Rache – Abdul Osman würde nie vergessen, und er würde sich nicht so leicht zufriedengeben, wenn seine Chance gekommen war. Warum aber dann die Droge? Und warum überhaupt die Anwesenheit dieser beiden
sehr achtbaren jungen Männer, die nach Mr. Smithson Smiths Angabe seit vierzehn Tagen im Hotel wohnten? Es war wohl kaum wahrscheinlich, daß Abdul Osman die Gabe geisterbeschwörender Hellseherei besaß, mit der Romanschriftsteller gerne den »geheimnisvollen Orient« belehnen. Und dennoch… Plötzlich entdeckte er eine schlanke Gestalt in weiten blauen Hosen, die vom Hafen zum Hotel heraufkam, und winkte ihr vergnügt vom Fenster aus zu. Er befand sich in diesem Stadium der Verdutztheit, in dem er gerne laut dachte, und er hätte sich keinen besseren Zuhörer wünschen können. Aber während er auf ihre Ankunft vor der Veranda wartete, fiel ihm als bemerkenswert auf, daß er die beiden achtbaren jungen Männer nicht eiligst zum Hafen hatte davonhasten sehen, so wie er die junge Dame in entgegengesetzter Richtung herankommen sah. »Hören Sie zu, Templar«, begann Mr. Smithson Smith bekümmert; aber der ›Heilige‹ unterbrach ihn mit einem engelhaft freundlichen Lächeln. »Entschuldigen Sie bitte – ich bin gleich wieder da.« Er ging hinaus und holte Patricia am Tor ab. »Wie wäre es mit einer Tasse Tee, Junge?« fragte sie, und dann öffnete ihr seine elektrisierende Fröhlichkeit die Augen, und sie hielt inne. »Setz dich – es kommt eine Konferenz, aber da wir keine Politiker sind, können wir den Termin nicht für nächstes Jahr auf der anderen Seite der Welt festsetzen.« Der ›Heilige‹ öffnete das Tor, setzte sich auf die Stufen und zog sie zu sich herunter. »Pat, ein sehr achtbar aussehender junger Mann hat soeben einen Schlaftrunk in mein Bier gemischt.« »Ach, du meine Güte – du hast ihn doch nicht etwa getrunken, oder?« Der ›Heilige‹ lachte.
»Ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil: ich habe dem sehr achtbar aussehenden jungen Mann namens Trape aufs Gesicht geklopft, damit er nur Bescheid weiß, und ihn aus dem Schankraum herausgeworfen – zu Mr. Smiths verzeihlicher Entrüstung. Aber ich glaube, er beginnt zu begreifen – wahrscheinlich mehr, als er sollte. Ich habe eine Bemerkung über Abdul Osman fallen lassen, während ich mich mit Mr. Trape unterhielt, und die Bemerkung muß Smith nachdenklich gestimmt haben… Ich will dir erzählen, wie es passiert ist. Ich trank mein Bier, und da kamen diese beiden harmlos aussehenden Vögel herein. Sie bestellten Limonade oder so etwas, und dann ging einer von ihnen hinaus. Er ging den Fußweg hinunter, stolperte genau hier, wo wir jetzt sitzen, und verstauchte sich dem Anschein nach den Knöchel. Ich sah, wie es passierte, und Smith rief den anderen jungen Mann ans Fenster. In dem Augenblick hat er es natürlich gemacht. Er brauchte einen Vorwand, um an unseren Tisch zu kommen, während wir beide zum Fenster hinausschauten, damit er das Zeug in mein Bier schütten konnte. Daher die ganze Falle – und sie war verdammt geschickt gestellt. Ich habe die Sache erst durchschaut, nachdem der verwundete Krieger ins Hotel zurück und auf sein Zimmer gebracht worden war, und auch dann nur, weil ich von Natur mißtrauisch bin. Ich erzähle dir später, was mir seltsam vorkam – das ist jetzt nicht wichtig. Aber urplötzlich wurde mir klar, daß etwas in meinem Bier war, das vorher nicht darin gewesen war, und daß Mr. Trape vielleicht vor der Tür horchte, um festzustellen, was passieren würde. Ich öffnete die Tür, und da stand er. Also hieb ich ihm die Zähne ein. Ende der Episode.« »Aber was steckte dahinter?« »Das ist genau das, was ich herausfinden möchte, und zwar schnell.« Er sprach so rasch, daß es ihr nicht leicht fiel, Tatsachen und Schlußfolgerungen aus dem Dahinstürmen der
lebhaften Sätze aufzunehmen. »Ich möchte rekonstruieren, was vielleicht passiert wäre, wenn ich das Bier getrunken hätte. Zeig mir die Löcher, wenn du sie siehst.« »Schieß los.« »Gut. Ich trinke das Bier. Ich sehe beduselt aus. Smith äußert sich besorgt und beunruhigt. Trape hört es und spaziert unschuldsvoll herein – wahrscheinlich, um sich Kognak für seinen verletzten Kumpel geben zu lassen. Dem Anschein nach bin ich inzwischen ohnmächtig geworden. Kaltes Wasser, Schüssel, Federn, Riechsalz – alles wird ausprobiert und erweist sich als wirkungslos. Smith geht, um den Arzt zu holen, und läßt mich mit Trape allein. Woraufhin ich in aller Eile abtransportiert werde…« »Aber was passiert, wenn Smith zurückkommt?« »Richtig… Hm, ganz einfach. Trape kehrt zu dem verdutzten Smith zurück und erklärt, ich sei wieder zu mir gekommen und gegangen. Vielleicht sah ich einen Mann vorbeigehen, mit dem ich wegen eines Hundes sprechen wollte, oder so etwas Ähnliches. Entschuldigungen, Dankabstattung und so weiter. Und wohin bringen sie mich? Antwort: natürlich auf die Luxor – Abdul hat mich die ganze Zeit, als ich an Strides Deck stand, mit dem Feldstecher beobachtet. Soweit stimmt alles, bis…« »Aber da sind überall Löcher!« wandte sie ein. »Angenommen, jemand hat gesehen, daß man dich abschleppte?« Die scharfen blauen Augen blitzten den Weg hinauf und hinunter. »Abdul ist schlau – der vergißt nicht viel. Da der Eselskarren – kaum zwei Meter entfernt. Trape hat ihn wahrscheinlich eigens meinetwegen gemietet. Er konnte außerdem eine große Kiste bereitstehen haben – und so werden junge Kartoffeln aus mir. Zum Hafen hinunter, ins Boot, ganz ohne Eile. Wenn ich einmal auf dem Karren war, konnte er mich ein paar Stunden darauf stehen lassen, falls das
Schlafmittel gut war. Und selbst wenn man mich definitiv vermissen würde, wäre sein Alibi kaum angreifbar gewesen. Ich will nicht sagen, daß gar kein Risiko vorhanden gewesen sei, aber es wäre zu machen gewesen. Und Abdul ist genau der Mann, von dem man es erwarten würde. Was ich wissen möchte, ist dies: Was werden sie nun wohl vorhaben, nachdem ich das Bier nicht getrunken habe? Diese beiden Vögel sind schon seit vierzehn Tagen hier, also sind sie wegen eines andren Jobs abgesetzt worden. Haben sie den Job erledigt, und können sie sich nun davonmachen? Sie werden wohl Abdul zu Rate ziehen müssen, und Abdul hält nichts von Pfuscherei. Ich habe sie nicht aus dem Hotel kommen sehen, allerdings könnten sie sich auch hinten ums Städtchen herum zurück zum Boot schlagen.« Er versuchte immer noch, seine Gedanken laut Gestalt annehmen zu lassen, aber in Wirklichkeit eilten sie seiner Stimme weit voraus. Und in diesem Augenblick kam ihm eine neue Erleuchtung. Seine Finger umklammerten Patricias Handgelenk. »Organisation – das ist es! Herrje! Ich bin heute so langsam wie die Dorfmusik!« In Sekundenschnelle war er hoch und lief in den Schankraum zurück. Er betrat ihn vom Weg her, als Mr. Smithson Smith von der anderen Seite hereinkam. »Was werden Sie denn nun tun im Hinblick auf all diese Unannehmlichkeiten?« fragte ihn der ›Heilige‹, und der Geschäftsführer stemmte die Arme in die Seite. »Hm, ich habe gerade mit dem jungen Burschen gesprochen, der sich den Enkel verstaucht hat…« Der ›Heilige‹ bedachte ihn mit einem flinken, dünnen Lächeln. »Dachte ich mir. Und falls Sie nicht zu ihm gegangen wären, hätte er Sie rufen lassen. Unterdessen stoßen weitere
Außerordentlichkeiten meinem Bier zu. Erst ein Schlaftrunk – dann wachsen ihm Beine!« Mr. Smithson Smith blickte recht verdattert auf den Tisch hinunter. Die Fliege ruhte immer noch im Aschenbecher; alle Aufregungen prallten an ihrer starren Ohnmacht ab. Aber das Glas Bier, aus dem Vergessen über sie hergekommen war, war verschwunden. »Vielleicht war jemand hier und hat es weggenommen«, begann Mr. Smithson Smith benommen, und Simon zeigte die Zähne. »Ganz bestimmt ist jemand hier gewesen und hat das Bier weggenommen – das können Sie in die Familienbibel schreiben. Dieser verstauchte Knöchel konnte ein zweites Mal Helfershelfer spielen. Haben Sie von sich aus nach dem Kerl gesehen?« »Nein, er hat mich darum gebeten…« »Und Sie mußten natürlich gehen. Organisation – ich wußte es ja. Was hat er gesagt?« »Er sagte, sein Freund habe ihm erzählt, was sich zugetragen habe, und er verstehe es einfach nicht. Er wollte wissen, ob ich sie auffordern würde, das Hotel zu verlassen.« »Haben Sie irgend etwas von dem versetzten Bier erwähnt?« »Nein.« »Oder von Fliegen?« »Nein.« »Dann scheiden Sie aus«, sagte der ›Heilige‹ ziemlich erleichtert. »Wenn die beiden glauben, Sie wüßten nichts, werden sie sich Ihretwegen keine Sorgen machen. Was haben Sie geantwortet?« »Ich habe gesagt, daß ich mir die Angelegenheit überlegen müsse.« »Das«, sagte der ›Heilige‹ grimmig, »kann nichts schaden, solange Sie sie sich nicht zu tiefgehend überlegen.«
Mr. Smithson Smith sah ihn an. Die Ereignisse, deren Zeuge er gewesen war, und dieses schnellfeuernde Kreuzverhör hatten den Mann mit der sanften Stimme durch und durch verwirrt, ohne jedoch die Grundlagen seiner praktischen Denkweise zu erschüttern. »Hören Sie zu, Templar«, sagte er ohne Umschweife. »Ich weiß nicht, was für ein Spiel Sie oder die beiden jungen Männer da spielen, aber ich bin hier in einer verantwortungsvollen Stellung. Ich kann nicht den Ruf des Hotels aufs Spiel setzen. Falls nicht einer von Ihnen es vorzieht, mir eine zufriedenstellende Erklärung zu geben, werde ich wohl dem Wachtmeister soviel erzählen müssen, wie ich weiß, und die ganze Angelegenheit ihm überlassen.« Simon überlegte einen Augenblick; und dann nickte er. »Das ist ganz zweifellos Ihre Pflicht, und es wird wohl unter jedem Gesichtspunkt das beste sein. Darf ich Trape oben in seinem Zimmer aufsuchen und sehen, ob er mit mir reden will? Ich weiß nicht, ob er eine Entschuldigung annehmen wird, aber falls er sich bereit findet, könnten wir vielleicht einen kleinen Skandal ersparen.« Er wußte, daß er einen recht unfairen Vorteil ausnutzte, aber den Einfall mußte er einfach verwirklichen. Der Köder war verlockend; und Mr. Smithson Smith, dem die Interessen seiner Arbeitgeber am Herzen lagen und der keine Vorstellung davon hatte, in welche Abgründe der Doppelzüngigkeit Simon Templar wenn nötig hinabsteigen konnte, konnte das Angebot kaum ausschlagen. Simon erhielt die Erlaubnis und die Nummer des Zimmers, in das die beiden achtbar aussehenden jungen Männer sich teilten, und stieg treppaufwärts mit soviel Trost, wie sich aus dem Wissen ziehen ließ, daß seine Opfer sich wohl kaum bei der Hotelleitung beschweren würden, sollte ihm die Durchführung seines Planes gelingen. Erwischte man ihn jedoch frühzeitig, würde er bei den leitenden Mächten
dieses achtbaren Hotels noch zehnmal unbeliebter sein, als er es schon war, aber der ›Heilige‹ war von einem unerschütterlichen Vertrauen in seine Schutzengel beseelt. Er klopfte an die Tür und trat ein, mit dem Zeigefinger in eklatanter Unwahrhaftigkeit die Hosentasche ausbeulend. Die achtbar aussehenden jungen Männer waren beide im Zimmer. »Nehmen Sie die Hände hoch und denken Sie nicht einmal ans Schreien«, sagte er freundlich. »Die Zimmermädchen würden nur hysterische Anfälle bekommen.« Einen Augenblick lang waren die beiden jungen Männer sprachlos. »Entschuldigen Sie, daß ich so spät erst gekommen bin«, fuhr Simon in demselben freundlichen Tonfall fort. »Ich hätte schon längst hier sein sollen, aber Ihre Organisation war so perfekt, daß ich eine Weile brauchte, um mich zurechtzufinden. Ich gratuliere Ihnen zu der raffinierten Beseitigung des einen Beweisstückes – des verpanschten Glases Bier. Ich sehe, daß Sie Abdul von unserem Mißverständnis keine Mitteilung gemacht haben. Das war zweifellos klug von Ihnen – er hätte nicht sehr viel Anteilnahme für Sie aufgebracht, und Sie hatten Zeit genug, noch einmal an mich heranzugehen.« Ihre Gesichter bestätigten seine Ansicht. Und dann rückte Mr. Trape, der ihm am nächsten stand, mit bösartig zur Seite gedrehtem Kopf zwei Schritte näher. »Warum auch nicht, Templar?« meinte er. »Sie würden es wohl kaum riskieren, hier zu schießen.« »Vielleicht haben Sie recht, Eric«, gab der ›Heilige‹ mit überraschender Sanftmut zu und nahm die Hand aus der leeren Tasche. »Aber vielleicht ist es auch gar nicht nötig – wenn man an den Beweis unter der Decke denkt.« Er blickte beim Sprechen kurz nach oben, und es war nur zu menschlich, daß Mr. Trape dem zwingenden Blick mit den
Augen folgte. Er blickte ebenfalls nach oben, und dabei legte er sein Kinn in einem Winkel zurecht, der nicht günstiger hätte sein können. Simons Faust schoß zu dem einladenden Ziel hinauf und traf es mit knappem, munterem Aufklatschen… Der ›Heilige‹ arbeitete lange genug in der Branche, um zu wissen, daß sich ein vernünftiger Mensch, dem es um seine Gesundheit zu tun ist, nicht einmal auf eine bescheidene Überlegenheit der Kräfte von zwei zu eins zu seinen Ungunsten gerne einläßt, und in diesem Augenblick fühlte er sich mehr zur Eile gedrängt als heroisch. Mr. Trape sank schlaff auf den Teppich, bevor seinem Genossen dämmerte, daß er die Fahne allein würde hochhalten müssen, und dann war es für solche Dämmerung ein bißchen spät. Der zweite achtbar aussehende junge Mann schickte sich gerade erst an, vom Bett hochzukrabbeln, da stürzte sich der ›Heilige‹ mit einem mächtigen Satz auf ihn, packte ihn mit unwiderstehlichem Klammergriff bei den Schultern und stieß ihn mit dem Gesicht nach unten aufs Kopfkissen zurück; dann traf ihn Simons Faust in kühler, erbarmungsloser Berechnung kurz und trocken im Genick. Der ›Heilige‹ stieg gefaßt vom Bett und strich sich das Haar glatt. Der zweite achtbar aussehende junge Mann würde sich ein paar Minuten lang von der Wirkung dieses Schlages nicht erholen; aber es war der angriffslustige Mr. Trape, den Simon sich automatisch für sein Experiment aussuchte. Unter dem Bett lag ein großer grober Sack und ein Strick – Simon hätte nicht besser folgern können, wie man ihn hatte abtransportieren wollen, wäre er wie der Detektiv im Kriminalroman von Anfang an im Bilde gewesen –, und in Sekundenschnelle hatte er Mr. Trape in den Sack gepackt und den Sack verschnürt. Dann ging er zum Fenster und schaute hinaus. Das Fenster lag nicht sehr hoch über dem kleinen Garten hinter dem Hotel, das an einen Hang gebaut war, und
Simon kippte Mr. Trape ohne viel Umstände hinaus. Das war das größte Risiko, aber ein forschender Blick vor dem Hinauskippen beruhigte ihn: die Landschaft enthielt allem Anschein nach keine Zuschauer. Dann sprang er hinterher und ging zu Patricia zurück. »Wir wollen den Esel ein bißchen bewegen«, sagte er. Der eingesackte Mr. Trape wurde auf den Karren geladen, und sie zockelten bereits gemächlich zum Hafen hinunter, bevor Patricia die unvermeidliche Frage stellte. »Ich bringe Abdul einen Besucher«, antwortete der ›Heilige‹ vergnügt. »Er erwartet einen, und warum soll man ihn enttäuschen? Falls du noch einen Grund brauchst, kannst du die Tat meiner nie endenden Neigung, die Gottlosen zu verbittern, zuschreiben. Das ist die einzige Berufung, die ich kenne… Du bleibst am besten hier zurück – ich rechne damit, daß die Seebande die Landoperateure nicht kennt, aber deinetwegen würden die Brüder an Bord ganz bestimmt lästige Fragen stellen.« Das Mädchen blieb zurück, und Simon führte den Esel auf die Mole hinunter. Einen sehr kleinen Augenblick lang überlegte er, ob er den Tender auch finden würde, der auf ihn wartete; und dann sah er ein schimmerndes weißes Rennboot, das unten an einer zum Wasser hinunterführenden Treppe festgemacht war. Die Besatzung war dunkelhäutig, und eine rote Flagge mit dem eingewebten Namen Luxor zerstreute die letzten Zweifel. Simon lud den Sack auf die Schulter und stieg dreist die Stufen hinunter. »Hier ist er«, sagte er. Keiner von der Besatzung zog auch nur eine Augenbraue hoch. Simon ließ seine Last in das Boot plumpsen, sah zu, wie der Motor angeworfen wurde, und ging in geradezu qualvollem lautlosem Lachen über die Mole zurück.
V
Es war dies eine schlichte Geste von der Art gewesen, der Simon Templar nie widerstehen konnte, und sie schenkte ihm genau dieselbe unergründlich ursprüngliche Genugtuung, die ein Lausbube empfindet, der seinen Daumen an die Nasenspitze legt und die Finger hochstreckt. Es war eine innere Läuterung, die an den tiefen Brunnen aller unverdorbenen menschlichen Seligkeit rührte. Und wenn er auch noch Zeuge der Aufnahme seines Scherzes hätte sein können, wäre sein Vergnügen sicherlich ekstatischer gewesen, als seinem Wohlbefinden guttat. Abdul Osman kam persönlich an Deck, um das Heißen des Sackes zu beaufsichtigen, und das höhnische Grinsen in seinem Gesicht erhöhte seine Schönheit nicht. Mr. Trape kam um diese Zeit allmählich wieder zu sich, und der Sack wand sich kräftig zu einer Begleitmusik aus heiseren Grunzern und unverständlichen Worten. »Er muß einen Kopf aus Eisen haben, dieser Engländer«, murmelte Osman. »Er hätte eigentlich ein paar Stunden schlafen müssen.« Es fiel ihm ein, daß ein Mann von solcher Konstitution der Folter länger würde widerstehen können, und angesichts dieser Aussicht lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er hob den Fuß und kickte den Sack kaltblütig, und der Sack kläffte bei jedem Tritt. »Bevor Sie sterben, werden Sie noch viel mehr Grund zum Schreien haben«, sagte Osman schadenfroh. »In die Kajüte mit ihm!«
Rauhe Fäuste zerrten den Sack unter Deck, und Abdul Osman ging hinterher. In der Kajüte wurde der Sack aufgeschnitten, und der Sturm brach los. Osman – das muß bedacht werden – hatte noch nie auch nur für anziehend häßlich gegolten. Er war ein kleiner spitzbäuchiger Kerl mit einem speckigen, bleichen Gesicht und schwarzem Haar, das in lauter kleinen Locken seinen Kopf bedeckte. Wenn er nicht zuhörte, erzählte man sich, daß ein beträchtlicher Teil seines Stammbaums so schwarz wie sein Haar gewesen sei, und er hatte auch eine breitgequetschte Nase und einen Gelbton im Weiß seiner Schweinsaugen, was beides diese Theorie stützte. Ein kurzgestutzter schwarzer Schnurrbart schwang sich in breitem Bogen über den dicken vorgestülpten Lippen und verlieh seinem Gesicht selbst in Ruhestellung einen ekelhaften Ausdruck sinnlicher Bestialität. Und sein Wutausbruch, als er Mr. Trape aus dem Sack auftauchen sah, machte ihn zu einer Kreatur, bei der jeder menschliche Vergleich versagte. Am meisten ähnelte sein Gesicht noch dem Fett einer aufgedunsenen bösartigen Schnecke. Seine Augen verschwanden fast ganz in den Wülsten ungesund aussehenden Fetts, die sich um sie herum falteten. Scharf umrissene hellrote Flecken erschienen und brannten auf seinen Wangen: die Ränder der Hautverpflanzungsoperationen, die Simon Templars Brandmale ausgelöscht hatten; die übrige Kinnlade war gelb und grau gefleckt. Aus seinem verzerrten Mund floß ein Strom schriller Flüche, die gräßlich anzuhören waren. Aber sein Zorn war nicht etwa rein verbal. Er trat Trape abermals und kickte und schlug die Männer, die den Sack gebracht hatten, bis sie aus der Kajüte flohen. Und mit der dauerhaftesten und konzentriertesten Boshaftigkeit trat er dann seinen Sekretär, der überhaupt nichts mit dem Vorgang zu tun gehabt hatte.
Aber das war nichts Ungewöhnliches. Mr. Clements war da, um mit Füßen getreten zu werden. Er wurde mit Füßen getreten, sooft etwas schiefging, und ebenso unparteiisch, wenn alles im Lot war. Abdul Osman trat ihn, schlug ihn und spuckte ihm ins Gesicht; und sein Sekretär duckte sich. Seine zitternde Unterwürfigkeit hatte etwas Häßliches. »Schwein!« zischte Osman den aschblonden Mann mit den zusammenzuckenden grauen Augen an. Seine tiefliegenden Augen spiegelten funkelnd das rachsüchtige Vergnügen wider, das seine Sinne beruhigte, wenn er Demütigung auf diese hingekauerte Travestie eines Mannes häufte. Selbst bei diesem Wutanfall war die Empfindung Balsam für seine unbeherrschten Nerven – vielleicht war es genau das, was schließlich der Flut seiner entfesselten Grausamkeit Einhalt gebot und ihn allmählich wieder Vernunft annehmen ließ. Denn dieses kriechende dienernde Ding, das einmal ein Mann gewesen war, war das am dauerhaftesten schmeichelnde Monument für Abdul Osmans Eitelkeit. Simon Templar als hilfloser Gefangener würde ihn vielleicht ersetzen, aber bis zu dem Tag, da Osman seinem höchsten Triumph ins Gesicht spucken würde, galt ihm Clements’ Erniedrigung als sein größter Erfolg. Weniger hastig und mit zehnfacher Bosheit packte Osman seinen Sekretär bei der Nase und zwang ihn in die Knie. Er betrachtete ihn einen Augenblick verächtlich, dann trat er ihm ins Gesicht, daß er der Länge nach auf den Boden kippte. »Steh auf, Schwein!« Clements gehorchte. »Sieh mich an!« Der Weiße hob langsam den Kopf. Abdul Osman sah die roten Funken vergeblichen Hasses wie glühende Kohlen tief in seinen Augen brennen und lachte.
»Du weißt doch wohl, daß ich mich immer räche, oder?« Sein fast perfektes Englisch hatte einen zischelnden Akzent, als habe eine Schlange gesprochen. »Welch ein Unglück, daß meine irregeleiteten Eltern mich in eine englische Schule geschickt haben! Vielleicht unangenehm für mich – aber unendlich dauerhafter bedauernswert für dich! Damals war ich ein dreckiger Nigger, eh? Und dir war es ein toller Witz, mich zu demütigen. Bestimmt erinnerst du dich der Zeit mit Genugtuung, was, Clements?« Der Mann antwortete nicht. »Schade, daß du die Nadel ausprobieren mußtest – um festzustellen, daß du ohne die Nadel nicht mehr leben konntest. Und daß du dich dann dieser Indiskretion schuldig machtest, die dich mir schließlich ganz auslieferte… Du warst früher einmal so stark und so gesund, hm? So stolz und mutig! Du hättest dich nie von mir schlagen lassen. Du würdest mich geschlagen haben – so!« Mit der flachen Hand schlug er dem anderen ins Gesicht – links, rechts. »Du würdest mich gerne wieder einmal schlagen, wie? Aber leider ist es ganz sicher, daß du deinen Rücken für meine kleine Peitsche frei machen müßtest. Wunderbar, wie der Hunger nach der Nadel und das Spiel meiner kleinen Peitsche deine Lebensgeister gezähmt haben.« Nun spielte er mit dem Mann, berauschte seine grause Eitelkeit an der sadistischen Wiederholung einer Szene, die er schon Hunderte Male gespielt hatte und nie leid geworden war. »Bah! Ich habe dich so zermalmt, daß du nicht einmal mehr den Mut aufbringst, dich zu töten und so dem Elend ein Ende zu machen. Du gehörst mir, mit Leib und Seele – der Abgott der Schule kriecht vor dem dreckigen Nigger. Macht die Überlegung Ihnen keine Freude, Clements?« Er beobachtete den stummen Mann, und ein schlauer Ausdruck trat in seine langsame
Boshaftigkeit. »Sie brauchen die Nadel jetzt ungefähr wieder, hab’ ich recht? Es macht mir nichts aus, Sie warten zu lassen. Es wird Sie amüsieren, vor mir kriechen zu müssen, mir die Stiefel zu lecken, zu betteln, zu winseln, zu seibern – hab’ ich recht, Clements?« Der Sekretär leckte sich die Lippen. Eine Sekunde lang sah es aus, als würden die in ihm glimmenden Feuer schließlich doch noch zu einer Antwort aufflammen, und Osman wartete voller Hoffnung darauf. Und dann waren Stimmen und Schritte an Deck zu hören, Schuhe klapperten den Niedergang herunter, und die Tür wurde von einem schneidig uniformierten arabischen Matrosen geöffnet, um einen Besucher einzulassen. Der Besucher war Galbraith Stride. »Haben Sie ihn?« fragte er heiser. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, und sie rührten nicht alle von der Hitze des Tages her. Osmans wulstige Lippen kräuselten sich, als er Stride erblickte. »Nein«, erwiderte er kurz. »Ein Dummkopf hat Pfuscharbeit geleistet. Ich habe keine Zeit für Dummköpfe.« Stride wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es geht mir an die Nerven, Osman. Er war auf der Claudette, hat zugegeben, daß er ist, wer er ist – wer weiß, was er sich jetzt einfallen läßt? Ich sage Ihnen…« »Sie können mir alles sagen, was Sie mir sagen wollen – in ein paar Minuten«, unterbrach Osman ihn verbindlich. »Ich habe zuerst noch etwas anderes zu erledigen, falls Sie mich entschuldigen wollen.« Er wandte sich an den Matrosen. »Ali, schick Trape zu mir.« Der Araber legte die Hand an die Stirn und verschwand, und Osman stieß seinen Sekretär mit dem Ellenbogen beiseite und bediente sich aus einem ziselierten messingnen Zigarettenkästchen, das auf dem Tisch stand. Seine ganze
Selbstbeherrschung war zurückgekehrt, und irgendwie wirkte seine gewichtige Ruhe unmenschlicher als seine rasende Wut. Sehr schnell kam der Matrose mit Trape zurück. Osman sah ihm ein paar Sekunden lang voll ins Gesicht, dann wiederholte er: »Ich habe keine Zeit für Dummköpfe!« Harry Trape war mürrisch und geängstigt. Gewalttätigkeiten waren ihm nicht neu – er war dreimal hinter Gittern gewesen, und einmal wäre er mit der neunschwänzigen Katze ausgepeitscht worden, wenn der Arzt nicht gesagt hätte, daß er zu schwach sei, um die Bestrafung zu überstehen. Klein Harry hegte einen Groll: er war nicht nur vom ›Heiligen‹ bewußtlos geschlagen und in einen muffigen Sack gesteckt worden, auch der Mann, dem er zu dienen versucht hatte, hatte ihn unwissentlich und wissentlich böse getreten, und er glaubte, daß er allen Grund habe, sich zu beschweren. Er war mit dem festen Vorsatz, seine Beschwerde vorzubringen, in die Kajüte gekommen, aber die schlangengleiche Regungslosigkeit des Blickes, der sich unverwandt auf sein Gesicht heftete, machte ihn stumm und erfüllte ihn mit eigentümlichen Entsetzen. »Sie sind ein Dummkopf, Trape«, sagte Osman geradezu wohlwollend, »und ich benötige Ihre Dienste wohl nicht weiter. Ali wird sie mit dem Rennboot nach St. Mary’s zurückbringen. Sie werden Ihr Zimmer im ›Tregarthen‹ aufgeben, ein Paket aus allem Kokain machen, das sie haben, und es an die übliche Adresse schicken, und dann werden Sie mit Ihrem Freund und Ihrem Gepäck zu dem Boot zurückkehren, das Sie unverzüglich nach Penzance bringen wird. Ihr Geld wird in London auf Sie warten. Sie können gehen.« Rasch verließ er die Kajüte. Der Matrose wollte ihm gerade folgen, aber Osman bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu bleiben.
»Es wird nicht wirklich notwendig sein, nach Penzance zu fahren, Ali«, meinte er mit Bedacht; und der Mann nickte und ging hinaus. Stride starrte den Ägypter mit seinen blutunterlaufenen Augen an. »Mein Gott – Sie sind ein kaltblütiger Kerl!« stieß er fast tonlos hervor. Osman lachte krächzend vor sich hin. »Aber nein, doch nicht kaltblütig, mein lieber Stride! Das sollten Sie eigentlich wissen. Absolut nicht. Aber vor einem toten Dummkopf bin ich sicher, und ich halte eine Menge von Sicherheit. Aber ich bin nicht kaltblütig. Manchmal brennt mein Fleisch wie Feuer – habe ich Ihnen das nicht erzählt?« Galbraith Stride erschauerte, ohne daß er sich dagegen hätte wehren können, denn er wußte, was Osman meinte. »Deswegen komme ich«, sagte er wackelig. »Ah! Haben Sie Ihren Entschluß gefaßt?« Stride nickte. Er setzte sich an den Tisch und bediente sich mit nervösen Fingern aus dem Zigarettenkästchen. Der Sekretär stand, von beiden nicht beachtet, im Hintergrund. Es war ein seltsamer Treffpunkt für eine Friedenskonferenz, aber das war genau das, was es war – und hier wurde auch das Entsetzen verständlich, das Galbraith Stride an diesem Nachmittag auf dem sonnigen Deck seiner Jacht heimgesucht hatte, das Entsetzen, das ihn aus zwei verwegenen Augen angeblickt hatte, die so blau waren wie das Meer. Diese Männer waren beide Machthaber in einer Unterwelt häßlicher Machenschaften, wenn auch in ihrem persönlichen Umgang miteinander kein Zweifel darüber bestand, wer die dominierende Figur war. Während Abdul Osmans Lasterfühler von Schanghai bis Konstantinopel reichten, erstreckten sich Galbraith Strides von London nach Süden bis an den Rand der Adria und nach Westen über den Atlantik nach Rio.
Wenn man Abdul Osman betrachtete, fiel einem genau diese Art von Befehlsgewalt ein, aber nichts an Galbraith Stride verriet die Wahrheit. Und doch war es wahr. Mit der rastlosen List und Tücke, die er aus der Feigheit seines untauglichen Äußeren speiste, hatte Stride dieses unterirdische Reich aufgebaut und hielt er es zusammen – ohne daß seine Stieftochter davon wußte, ohne daß die Polizei davon wußte, ja ohne daß auch nur die kleinen Fürsten seines widerlichen Reiches davon wußten, die nur über diesen schweigsamen Ramon Almido mit ihm in Verbindung traten, der als sein Sekretär fungierte. Und mit dem Anwachsen ihrer beiden Machtbereiche war es nun zu dieser Konferenz gekommen, aus der einer als der Oberste hervorgehen mußte. Abdul Osmans unersättliche Machtgier diktierte die Konferenz, denn Stride hätte sich mit seinen Grenzen zufriedengegeben. Und mit dieser Einsicht hatte Abdul Osman gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen die weitere Einsicht gewonnen, daß er Herr über Stride war, daß er beim Aushandeln der Bedingungen nicht großzügig zu sein brauchte. Der Anblick von Strides Unbehagen weckte Osmans Stolz noch mehr. »Zu welch anderem Schluß wir doch gekommen wären, hätten wir uns nicht beide gleichzeitig einfallen lassen, die gleichen Briefe bei unserem Notar zu hinterlegen!« sagte Osman nachdenklich. »Wenn ich mir das überlege: wenn einer von uns stirbt, würde er der Polizei Anweisungen hinterlassen, sorgfältig das Alibi des anderen zu prüfen! Ein recht dramatisches Handicap, hm?« Stride befeuchtete seine Lippen. »Das ist der einzige Punkt des Abkommens, den Sie eingehalten haben«, sagte er. »Sonst? Ich habe Sie gerade zugeben hören, daß von Ihren Leuten hier Kokain angelandet worden ist.«
»Ich war so frei, unser Übereinkommen für eine ausgemachte Sache zu halten«, sagte Osman ölig. Dann wurde seine Stimme schroffer. »Stride, es gibt nur einen Ausweg für Sie. Während der vergangenen zwei Jahre haben meine Leute beständig Beweismaterial gegen Sie gesammelt – Beweismaterial, das sich als hinreißende Lektüre für Ihre Freunde bei Scotland Yard erweisen würde. Das ist die Möglichkeit, auf die Sie nicht vorbereitet waren, und Sie können mir nicht dieselbe Falle stellen: dazu ist es nun zu spät. In einem Monat kann dieses Beweismaterial so vervollständigt werden, daß man Sie damit ganz gewiß für den Rest Ihres Lebens ins Zuchthaus schicken kann. Wissen Sie, es war nämlich für mich viel einfacher als für die Polizei – die Polizei wußte nicht, wen sie zu verdächtigen hatte, während ich es wußte und nur die Beweise zu beschaffen brauchte.« Stride hörte alles das nicht zum erstenmal, und er gab nicht weiter acht. »Und somit«, fuhr Osman fort, »mache ich Ihnen das vortreffliche Angebot Ihrer Freiheit; und Ihre Gegenleistung besteht darin, daß Sie sich von Ihren Geschäften zurückziehen und ich Miß Laura heirate.« Stride fuhr hoch. »Das ist nicht das, was Sie gesagt haben!« platzte er heraus. »Sie sagten, falls ich – falls ich Ihnen Laura gäbe – würden Sie sich aus der Türkei zurückziehen und…« »Ich habe es mir anders überlegt«, erwiderte Osman gelassen. »Warum sollte ich etwas anbieten? Ich war dumm. Ich halte alle Karten in der Hand. Ich bin das Verhandeln satt. Sobald dieser Simon Templar an Bord ist, wünsche ich auszulaufen – das Jahr schreitet fort, und ich kann Ihre Winter einfach nicht vertragen. Warum soll ich Konzessionen machen?« Er spuckte – genau auf den kostbaren Teppich, seinem Besucher einen Daumenbreit vor die blanken Schuhspitzen. »Stride, es war
dumm von Ihnen, sich persönlich mit mir in Verbindung zu setzen. Wären Sie über Ihren schlauen Mister Almido an mich herangetreten, hätte ich vielleicht einigen Respekt vor Ihnen gehabt. Sie sehen nicht wichtig genug aus – Sie zeigen mir zu deutlich, wer von uns beiden seinen Kopf durchsetzen wird.« Er sprach knapp, und – was bei ihm seltsam war – mit einem deutlichen Mangel an sichtbarer Einbildung, der seinen Worten tödlichen Nachdruck verlieh. Und Stride wußte, daß Osman nichts als die Wahrheit sagte. Aber dennoch – wenn gewisse Dinge nicht geschehen wären… »Sie haben Angst vor dem ›Heiligen‹, Stride«, sagte Osman, die Gedanken des anderen lesend. »Sie haben vielleicht noch mehr Angst vor ihm als vor dem Gefängnis. Sie wußten nicht, daß er Sie kannte, aber nun, da Sie es wissen, wollen Sie nichts mehr als weglaufen und sich irgendwo verstecken, wo er Sie nicht finden kann. Nun, Sie können gehen. Ich würde Ihnen nicht im Wege stehen, mein lieber Stride.« Der andere gab keine Antwort. Irgend etwas im innersten Kern seiner Widerstandskraft war geborsten – etwas, das nur ein Psychologe hätte verstehen können, der mit seiner Denkweise vertraut war und mit der geradezu abergläubischen Furcht, die der Name des ›Heiligen‹ immer noch vielen Gewissen einflößen konnte. Hingekauert, wie zusammengebrochen, saß er da; und Osman lachte abermals vor sich hin, als er ihn ansah. »Ich erwarte bis zehn Uhr heute abend ein Schreiben mit der Nachricht, daß Sie einverstanden sind. Sie werden es durch persönlichen Boten herüberschicken – und wer wäre wohl besser als Überbringer geeignet als Miß Laura?« Galbraith Stride stand auf und ging ohne ein Wort hinaus.
VI
Simon Templar sah den kleinen Harry Trape und seinen Freund ihre Koffer zum Kai hinuntertragen und nahm an, daß sie die Sallonian benutzen wollten, die laut Fahrplan um 4.15 Uhr zum Festland hinüberfuhr. Er beobachtete ihren Abstieg einigermaßen wehmütig von dem Berghang, an dem er sich erging, denn er hatte den Eindruck, daß sie viel zu glimpflich davongekommen seien. Er konnte nicht wissen, daß Abdul Osman selber beschlossen hatte, ihrer Existenz ein Ende zu machen, gemäß einer durch und durch orientalischen Rechtsauffassung, nach der auf Versagen die Todesstrafe stand. Hätte er es jedoch gewußt, wäre die Situation seinem Sinn für Humor noch vergnüglicher erschienen als die Erinnerung an seinen jüngsten Umgang mit Klein Harry. Gleichzeitig löste ihr Abzug zumindest ein Problem, denn er ersparte Mr. Smithson Smith weitere ängstliche Sorge um den guten Namen seines Hotels. Es war sechs Uhr durch, als er ins Dorf zurückkam, denn die Lösung des Rätsels um den überladenen Handtuchkorb hatte ihm plötzlich gedämmert, und in der Hoffnung, weitere Beweise zu finden, hatte er sich aufgemacht, um verschiedene wahrscheinlich aussehende Stellen an der Küste zu erforschen. Die Expedition hatte nichts erbracht, aber er blieb überzeugt, daß seine Vermutung zutraf. »Es war eine geniale Methode, Rauschgift zu schmuggeln«, sagte er zu Patricia. »Niemand hier denkt an irgend etwas von der Art – wenn sie ein fremdes Schiff herumstreichen sehen, haben sie höchstens einen Verdacht: daß es sich wieder einmal um einen französischen Raubfischer handelt, der seine
Hummernreusen in verbotenem Gewässer auswirft; und wenn das Boot nur luxuriös genug aussieht, haben sie überhaupt keinen Verdacht. Die Seemannschaft würde das Zeug also in Säcken irgendwo zwischen den Felsen absetzen, und Castor und Pollux würden es, ohne Aufsehen zu erregen, nach und nach in ihrem Korb nach Hause holen. Dann packen sie es in einen Koffer und nehmen es mit ihrem Gepäck nach Penzance hinüber, wo sie nicht einmal ein Zollbeamter fragt, ob sie eine Flasche Parfüm bei sich haben. Und das machen Sie wahrscheinlich in diesem Augenblick grade. Ich wünsche, wir hätten sie ekelhafter verabschieden können!« Er war viel zu weit weg gewesen, als daß er sich in den Abzug der beiden hätte einmischen können, und der Gedanke, den Polizeichef von Penzance telegrafisch zu benachrichtigen, lag ihm nicht. Simon Templar hatte keine hohe Meinung von Polizisten, schon gar nicht von solchen in der Provinz. Und außerdem war er mit einer gewichtigeren Entscheidung beschäftigt als der über das Schicksal zweier unbedeutender Zwischenträger. Als er von der Rettungsbootstation weiterging, nahm sein Plan in seiner Vorstellung immer festere Formen an; und sie wollten gerade im »Holgate« einkehren, dem Hotel am anderen Ende des Dorfes, da wurden seine Überlegungen von einer Gestalt in Uniform unterbrochen, die vor ihm auf dem Fußweg auftauchte. »Ich suche schon nach Ihnen, Sir«, sagte das Gesetz. Das Gesetz wurde auf den Scilly-Inseln von einem einzigen Wachtmeister namens Hancock, einem pensionierten Coldstream-Gardisten, vertreten, dem sein Rang als eine sehr leere Ehre vorgekommen sein mußte, denn es gab keine gemeinen Polizisten, die ihn grüßen mußten. In Notzeiten konnte er eine unter den Inselbewohnern rekrutierte achtköpfige Sondertruppe zur Hilfe rufen, aber normalerweise
gab es nichts, was hätte bewirken können, daß ihm seine Stellung zu Kopf stieg. Und auch deutete nichts darauf hin, daß er jemals an dieser Krankheit gelitten hatte – ein Umstand, der ihn zu einem der wenigen Gesetzesbeamten machte, die Simon sogar als menschlich hatte betrachten können. Mehr noch: der ›Heilige‹ mochte ihn leiden. Simon hatte Bier mit ihm getrunken, seine Angel geliehen und damit geangelt und so oft einen leutseligen Gruß mit ihm getauscht, daß die Bekanntschaft Gefahr lief, zu einer historischen im Leben des ›Heiligen‹ zu werden. »Was gibt’s denn, Wachtmeister?« fragte der ›Heilige‹ fröhlich. »Hat jemand gesehen, daß ich Bananenschalen auf die Straße geworfen oder dem Bürgermeister eine Fratze geschnitten habe?« »Nein, nicht so was. Ich möchte gerne wissen, was oben im ›Tregarthen‹ vorgegangen ist.« »Mr. Smith hat mit Ihnen gesprochen, ja?« »Ja, er kam herunter und hat mir davon berichtet. Ich bin hingegangen und wollte mich mit den beiden jungen Männern unterhalten, aber sie hatten gerade ihre Rechnung bezahlt und waren schon weg. Dann habe ich nach Ihnen gesucht.« Simon bot ihm eine Zigarette an. »Was hat Smith Ihnen erzählt?« »Hm, Sir, er hat mir erzählt, Sie hätten gerade ein Glas Bier unten im Schankraum getrunken, und da hätte einer von diesen Burschen Ihnen was ins Bier getan und Sie hätten ihm auf die Nase gehauen. Dann kam einer von ihnen herunter und schmiß das Bier weg, also gab es keinen Beweis, nur eine Fliege, die Smith nicht finden konnte. Und Smith sagt, Sie hätten etwas gesagt von Abdul Osman, und er glaubt, das könne ein Mann sein, der mit seiner Jacht drüben vor Tresco liegt.«
Das freundliche Gesicht des Wachtmeisters war ganz verwirrter Ernst, was man ihm nicht verübeln konnte. Solche Sachen gab es einfach auf seiner wohlgeführten Insel nicht. Simon zündete seine Zigarette an und dachte einen Augenblick lang nach. Abdul Osman war ein zu großer Fisch für das Netz einer aus einem einzigen Mann bestehenden Polizeistreitmacht, und das einzige Ergebnis irgendeiner Einmischung aus diesen amtlichen Kreisen würde höchstwahrscheinlich das unglückselige Ableben eines außerordentlich liebenswürdigen Wachtmeisters sein – einer Seltenheit, die nach Simons entschiedener Ansicht dem Lande erhalten bleiben sollte. Außerdem erinnerte er sich an eine Geschichte, die der Wachtmeister ihm bei ihrer ersten Begegnung erzählt hatte – eine solch ausschweifend unglaubliche Geschichte, daß sie die wildesten Phantasieflüge eines jeden Romanciers bei weitem überstieg. Ein ehemaliger Inhaber des Wachtmeisteramtes verhaftete einmal einen Mann und brachte ihn zum Dorfgefängnis, wo er feststellte, daß er die Schlüssel nicht bei sich hatte. »Warten Sie hier – ich hol’ eben die Schlüssel«, sagte der würdige Bewahrer des Rechts streng; und danach ward der Bösewicht nicht mehr gesehen. Zwar war Simon überzeugt, daß Wachtmeister Hancock einer solchen Prachtleistung unfähig wäre, aber sein Vertrauen erstreckte sich nicht auch auf die Fähigkeit eines Dorfgefängnisses, Abdul Osman drinnen und seine Schiffsladung von Satelliten draußen zu halten. »Das ist ziemlich genau das, was passiert ist, Wachtmeister«, sagte er ungezwungen. »Ich nehme an, daß sie vorhatten, das Hotel auszurauben und mit dem Nachmittagsboot abzuhauen. Smith trank nicht, also konnten sie ihn nicht dopen, aber wenn ich aus dem Weg gewesen wäre, hätten sie zu zweit nur noch einen Gegner gehabt, und dessen Chancen wären gering
gewesen. Sie wohnten seit vierzehn Tagen in dem Hotel, um das Gelände zu erkunden. Mir fiel zufällig auf, was sie mit meinem Bier angestellt hatten.« »Aber was war da mit Abdul Osman?« »Ich glaube, da hat Smith nicht ganz richtig gehört. Er war gerade dabei, mir eine Geschichte über einen Mann mit diesem Namen zu erzählen, darum hat er wohl daran gedacht, als ich diesem Kerl das Gesicht kitzelte, drohte er mir, er werde zur Polizei gehen, und darauf sagte ich: ›Fragen Sie Ihren Kumpan aber erst, was er davon hält!‹ Smith muß’ wohl geglaubt haben, ich hätte gesagt: ›Fragen Sie Abdul‹.« Der Wachtmeister schaute finster drein. »Und sie kitzeln ihm nur das Gesicht und lassen ihn dann laufen! Wenn Sie doch nur mich gerufen hätten…« »Aber Smith hat sich doch an Sie gewandt.« »O ja – nachdem sie abgezogen waren. Ich mußte drüben am anderen Ende der Insel mit einem Mann wegen seiner Steuern reden, und als Smith mich fand, war es zu spät. Ich kann nicht überall gleichzeitig sein.« Der ›Heilige‹ griente teilnahmsvoll. »Macht ja nichts. Kommen Sie herein und ersäufen Sie Ihren Kummer.« »Hm, Sir, gegen ein Gläschen werde ich wohl nichts einwenden können. Ich glaube, im Augenblick bin ich nicht im Dienst.« Sie gingen in den Schankraum, wo der Mann hinter dem Tresen gerade bei seiner Abendrasur war – eine Eigenart des Mannes, die dem ›Heiligen‹ schon mehrfach aufgefallen war und die ihm als die nahezu perfekte Illustration der Philosophie von der Vergeblichkeit jeglicher Mühe erschien. Sie trugen ihre Gläser zu einem Tisch am Fenster, das über den Hafen hinausblickte. Die zum Ort gehörenden Boote kamen eins nach dem andren an ihre Liegeplätze mit ihrer
Ladung von Ferienanglern. Simon betrachtete sie forschend, wenn sie einliefen. »Wem gehört das Boot, das da gerade hereinkommt?« fragte er; und der Wachtmeister schaute hinaus. »Welches, das vorderste? Das gehört Harry Barret. Er ist ein guter Bootsführer, falls Sie für einen Tag hinausfahren möchten.« »Nein – das andere – das jetzt gerade da um die Ecke der Ratteninsel kommt.« Der Wachtmeister kniff die Augen zusammen. »Das kenn’ ich nicht, Sir.« Er drehte sich um. »John, wie heißt das Boot da draußen an der Pier?« Der Barhüter kam herunter und blickte hinaus. »Das? Gehört dem lahmen Frankie, das da – die ›Seepapagei‹. Hat er sich selber gebaut.« Simon beobachtete das Boot, bis es festgemacht hatte, und prägte sich den Liegeplatz genau ein. Widerstrebend ließ er den Gedanken an Barrets schnittige Jolle fallen – er würde alle Hände voll zu tun haben, wenn er sich des Bootes bediente, das er zu borgen beabsichtigte, und mochte die »Seepapagei« auch nach klassischen Maßstäben zu breit für ihre Länge sein: sie sah ein wenig bequemer aus als Einer für einen beschäftigten Mann. Und während er noch seine Wahl traf, notierte er sich den Namen des lahmen Frankie für eine höchst anonyme Belohnung; denn die Verpflichtungen, die der ›Heilige‹ sich auf ungesetzlichem Wege zuzog, blieben niemals unbezahlt. Aber keine seiner Absichten war zu diesem Zeitpunkt öffentliches Eigentum. Er spazierte mit Patricia zu ihrem bescheidenen Abendessen zurück, da es dunkel zu werden begann. Ihr Mahl wurde gerade aufgetragen. »Ihre Eier sind wundervoll verloren, Mrs. Nance«, bemerkte er beifällig und ließ sich auf seinem Stuhl nieder, als sich die
Tür hinter dieser vortrefflichen Pensionswirtin schloß. »Pat, Liebste, du mußt mir guten Appetit wünschen, denn ich habe eine Menge zu leisten mit den Vitaminen.« Sie hatte ihm bisher nicht mit der Frage kommen wollen, aber nun sah sie ihn resigniert an. »Wir wollten Ferien machen«, erinnerte sie ihn. »Weiß ich doch«, sagte der ›Heilige‹. »Und daran hat sich nichts geändert. Wir sind unterwegs nach dem Süden, wo die Sonne scheint und der Wein reichlich fließt und morgen auch noch ein Tag ist. Aber wir haben diesen Umweg wegen eines dunklen Gefühls gemacht, und das dunkle Gefühl hat mich nicht getrogen. Eine kleine Arbeit ist zu erledigen.« Er leerte seinen Teller, ohne ein weiteres Wort zu sagen, goß sich eine Tasse Kaffee ein und zündete sich eine Zigarette an. Dann sagte er: »Über die Todesstrafe wird mehr Unsinn geredet als sonst was, und die Sentimentalisten, die Bittgesuche um Strafaufschub bei fast jedem Mörder organisieren, der verurteilt wird, sind wahrscheinlich weniger bösartig als die herkömmlicheren Menschenbeglücker. Mord ist, auf jeden Fall in England, das zufälligste aller Verbrechen. Ein Menschenleben ist solch ein zerbrechlich Ding, es ist so rasch ausgepustet; und Dutzende von angesehenen Männern ohne einen einzigen Gedanken an ein Verbrechen im Kopf haben eine Sekunde lang die Beherrschung über sich selber verloren und sind dann zu der lähmenden und unwiderruflichen Einsicht erwacht, daß sie einen Mord begangen haben und die Strafe der Tod ist. Es gibt vorsätzliche Morde; aber es gibt andere Verbrechen, die nicht weniger vorsätzlich und nicht weniger verdammenswürdig sind. Der Rauschgifthändler, der Menschenhändler, der Erpresser – kein einziger von ihnen könnte sich je darauf berufen, daß er in unbeherrschbarer Leidenschaft gehandelt habe oder der Versuchung des
Augenblicks erlegen sei oder es getan habe, weil seine Frau und seine Kinder sonst verhungert wären. All diese Verbrechen sind viel zu vorsätzlich – erfordern zuviel Kapital, zuviel Vorbedacht, zuviel Zeit von Beginn bis zur vollständigen Erledigung. Und alle zerstören Menschenleben weniger barmherzig als eine plötzliche Kugel. Warum macht die Todesstrafe gerade da halt, wo sie haltmacht? So wollen wir eben unsere Gerechtigkeit haben, und auch jetzt noch glaube ich, daß die alten Zeiten sich gelohnt haben.« Er saß da und rauchte, bis es dunkel wurde. Und dann schaute er auf seine Uhr, stand auf und streckte sich mit einem vergnügten Lächeln. »Pat, ich muß gehen. Wünsch mir Glück!« Sie küßte ihn rasch, und weg war er – mit dem chevaleresken Winken, das sie so gut kannte. Mit ihm ging der alte alterslose ›Heilige‹, dieser kämpfende Troubadour. Und sie war glücklich: weil er ihr so zuwinkte, weil er so war. Ihre Empfindung wurde von Galbraith Stride nicht geteilt. Es war etwas in das Leben dieses Erfolgsmenschen getreten, wogegen anzukämpfen ihm wunderlicherweise die Kraft fehlte, etwas, das ihm ein um so grausigeres Entsetzen eingejagt hatte, da es das einzige war, worauf er sich nie vorbereitet hatte. Es marschierte unerbittlich wie eine Maschine. Es machte ihm jeden klaren Gedanken unmöglich, erfüllte ihn mit einem Gefühl körperlicher Machtlosigkeit, als habe ihn ein wütendes Fieber über Nacht geschwächt, und ließ ihn mit der Vorahnung der Niederlage gegen eine lähmende Angst ankämpfen. Und dieses Etwas war der Name des ›Heiligen‹. Er war sehr schweigsam während des Essens an diesem Abend. Er wußte, daß Abdul Osman ihn mit einer Leichtigkeit geschlagen und zermalmt hatte, die geradezu phantastisch lachhaft schien, und diese Einsicht zwang ihn hypnotisch in
eine Art gräßlichen Alptraum. Und doch wußte er gleichzeitig, daß er vielleicht dennoch gekämpft hätte, zu all den Listen seiner Doppelzüngigkeit Zuflucht genommen hätte, mit denen er die Macht errungen hatte, die ihm nun entrissen wurde, wären nicht diese Worte gewesen, die ihm am frühen Nachmittag niederschmetternd und betäubend in die Ohren gefahren waren. Er war eine von diesen seltsamen psychischen Mißgeburten, ein Verbrecher in den Klauen einer Einbildungskraft, die an Besessenheit grenzte; und als Osman ihm eröffnete, daß der ›Heilige‹ immer noch frei umherlief, war ein bis zum äußersten belastetes Bollwerk an der Grenze seines Verstandes nach innen eingebrochen. Er kämpfte immer noch um alles, was er aus der Katastrophe zu retten hoffte, aber es war ein dumpfer, störrischer Kampf ohne jede Lebendigkeit. Um neun Uhr ließ er Laura Berwick rufen. Ihr junger, schlanker Körper war von ganz besonderer Schönheit in der schwarzen Abendrobe, die sie trug. Um Galbraith Stride Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: die Reue stach ihn flüchtig, als er sie erblickte. »Meine Liebe, ich möchte, daß du mit dieser Nachricht zu Mister Osman hinüberfährst. Das Schreiben ist sehr wichtig, und es würde mich sehr beruhigen, wenn du es persönlich überbringen würdest.« Er hatte getrunken, aber der Whisky, der aus seinem Atem roch, ließ seine Stimme zwar belegt klingen, hatte ihn aber nicht betrunken gemacht. Er diente dazu, diesen Anflug von Reue im Keim zu ersticken, bevor er Zeit fand, die Gefahr zu vergessen, in der er selber schwebte. »Könnte nicht einer von der Mannschaft das besorgen?« fragte sie mit einiger Verwunderung.
»Leider nicht«, sagte er. »Nämlich – weil – hm, das werde ich dir später erklären können. Eine geschäftliche Angelegenheit. Von entscheidender Wichtigkeit.« »Und Mister Almido?« »Mister Almido«, sagte Stride, »ist ein Dummkopf. Unter uns: ich traue ihm nicht. Merkwürdige Geschichten sind in letzter Zeit mit meinen Konten passiert. Nein, meine Liebe, den Gefallen mußt du mir tun. Ich würde selber fahren, nur – fühle ich mich nicht ganz wohl. Du kannst das Motorboot nehmen.« Er sah sie mit den starren, glasigen Augen leichter Trunkenheit an – das war leicht auszumachen –, aber da war noch etwas anderes außer Alkohol in seinem Blick, und das ängstigte sie. Die entschuldigende Begründung für sein Ansinnen, sie persönlich hinüberzuschicken, schien absurd; und doch schien es ebenso absurd, irgend etwas Ernsthaftes dahinter zu vermuten. Sie war Stride zugetan, freilich auf rein konventionelle Art – hauptsächlich, weil er der einzige Verwandte war, den sie seit ihrem sechsten Lebensjahr hatte. Sie wußte nicht, was für Geschäfte er betrieb, und auf seine zurückhaltend-betuliche Art war er gut zu ihr gewesen. »Gut – ich mache es für dich. Wann soll ich fahren?« »Sofort.« Er drückte ihr den versiegelten Umschlag in die Hand, sie spürte, daß seine Hand heiß und klebrig war. »Fahr gleich los, ja?« »Schön«, sagte sie – und fragte sich vergeblich, als sie zur Tür ging, warum das Wort ohne eine Spur der künstlichen Fröhlichkeit, die sie hatte hineinlegen wollen, in ihren Ohren widerklang. Er saß am Tisch, schielte ihr nach mit demselben glasigen Blick; und sie ging an Deck und suchte Toby Halidom. »Papa möchte, daß ich mit einem Brief zur Luxor hinüberfahre«, sagte sie, und er war natürlich verdutzt.
»Warum fährt denn nicht einer von der Mannschaft – oder dieser Spaniole, sein Sekretär mit der Dauerwelle von Marcel?« »Ich weiß es nicht, Toby.« Draußen unter den Sternen kamen ihr diese unbestimmten Eindrücke, die sie in der Kajüte empfangen hatte, noch absurder vor. »Er war recht merkwürdig, aber es schien ihm sehr viel daran zu liegen, also habe ich gesagt, ich mache es.« »Wahrscheinlich wieder einmal seine Leber«, meinte Toby. »Trotzdem müßte er eigentlich wissen, daß man dich um diese Zeit nicht mit Besorgungen zu einem Reptil wie dem da drüben schicken sollte. Ich komme besser mit, Mädchen – ich möchte nicht, daß du allein zu dem häßlichen Bastard gehst.« Sie waren beide Abdul Osman bereits einmal zuvor während ihres Aufenthalts begegnet, und Laura wußte, daß ihr Verlobter ihren instinktiven Abscheu geteilt hatte. Sie war froh, daß er sich spontan erboten hatte, sie zu begleiten. »Es wäre mir sehr lieb, wenn du mitkämst, Toby.« Galbraith Stride hörte das Motorboot von der Bordwand wegtuckern und horchte ihm nach, bis das Geräusch sich verlor. Dann ging er zur Wand und drückte auf einen Klingelknopf in der Holzverkleidung. Alsbald erschien mit finsterer Miene Mister Almido. »Wir fahren um zehn Uhr ab«, sagte Stride, und sein Sekretär war verzeihlicherweise überrascht. »Aber Sir, ich dachte…« »Was Sie dachten, ist uninteressant«, unterbrach Stride ihn mit belegter Stimme. »Sagen Sie dem Kapitän Bescheid.« Almido zog sich zurück; und Stride stand auf und begann, mit langen Schritten in der Kajüte auf und ab zu gehen. Die Würfel waren gefallen. Er hatte zugunsten Abdul Osmans abgedankt. Er hatte seine Freiheit gerettet – vielleicht konnte er sich sogar vor dem ›Heiligen‹ retten. Die Reaktion ergriff
allmählich Besitz von ihm wie ein starkes Rauschgift, befeuerte ihn mit fieberhafter Heiterkeit und brannte eine unnatürliche Helligkeit in den glasigen Glanz seiner Augen. Er spürte keine Gewissensbisse. Laura Berwick war nicht sein Fleisch und Blut – das wäre seine einzige Entschuldigung gewesen, hätte er sich die Mühe gemacht, eine vorzubringen. Der Gedanke an ihr Schicksal hatte aufgehört, ihn zu bekümmern. Es zählte nicht, verglichen mit seiner eigenen Sicherheit. Eine kleine Weile lang bedauerte er sogar die Kleinmütigkeit seiner Unterwerfung: er fragte sich, ob eine Karte wie Laura nicht zu sehr viel besserem Effekt hätte ausgespielt werden können… Es war dies nur eine weitere Wendung in dem unwägbaren Faden, der sich zu spinnen begonnen hatte, als an diesem Morgen der Segelbaum des Dingis der Clandette über Laura Berwicks Kopf hinweggesaust war, aber die Wendung dauerte nicht lange an. Denn das Schicksal hatte sich in der Maske des Namens, den Galbraith Stride mehr fürchtete als irgendeinen anderen Namen auf der Welt, voll in den Gang der Handlung in dieser Nacht eingeschaltet. Die Kajüte hatte zwei Türen. Die eine führte in einen winzigen Vorraum, aus dem eine breite Treppe an Deck kletterte und ein Gang zu den anderen Kabinen und den Mannschaftsunterkünften im Vorschiff führte; die andere öffnete sich in Strides eigene Kabine. Bei seinem rastlosen Aufundabgehen in der Kajüte hatte Stride gerade den Rücken der zweiten Tür zugekehrt, da hörte er ein scharfes Zischen und einen Aufprall hinter sich. Mit einem Ruck fuhr er herum, nervös und entsetzt; und dann sah er, woher das Geräusch gerührt hatte, und sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Aus dem polierten Holz der Tür ragte ein langes Messer mit schlanker Klinge und kunstvoll geschnitztem Elfenbeingriff; es
zitterte noch von der Wucht des Aufpralls, die es eingetrieben hatte. Die Lungen schienen ihm schmerzhaft an den Innenwänden seiner Brust festzufrieren, und eine dörrende Trockenheit kroch ihm in die Kehle und erfüllte ihn mit der Vorahnung, daß aus dem Schrei, der knapp unterhalb des Brustbeins um Befreiung rang, bestenfalls ein krächzendes Flüstern würde werden können. Die Hand, die seine Pistole aus der Tasche zog, zitterte so heftig, daß er die Pistole fast fallen ließ. Das plötzliche Auftauchen dieses bebenden Messers war unheimlich, übernatürlich. Die gegenüberliegende Tür war die ganze Zeit über geschlossen gewesen: er war auf sie zugegangen, als es passierte. Die Bullaugen und das Oberlicht waren ebenfalls geschlossen. Nach dem Winkel zu urteilen, in dem es aus der Tür ragte, hätte es haarscharf an seinem Gesicht vorbeisausen müssen, aber er hatte es nicht gesehen. Wäre er in der Lage gewesen, zusammenhängend zu denken, wäre ihm die Erklärung vielleicht in wenigen Augenblicken eingefallen, aber in der Lage war er nicht. Ihm fiel nicht ein, daß man vielleicht die Tür hinter ihm geöffnet, das Messer hineingetrieben und die Tür blitzschnell und lautlos wieder geschlossen hatte, und zwar mit genau der Absicht, die auch erreicht worden war: seine Aufmerksamkeit abzulenken. Was zweifellos sehr dumm von Mister Galbraith Stride war. Angefüllt von der düsteren Vorahnung, daß ein zweiter Angriff unverzüglich dem ersten erfolglosen folgen müsse, und zitternd vor kalter Angst, die seinen Magen in Wasser verwandelte, zog er sich langsam und wackelig auf die Tür hin zurück, in der das Messer stak, das Gesicht in der Richtung, aus der ihm seiner Meinung nach die Gefahr drohte. Seltsamerweise dachte er nur an eins – daß Abdul Osman beschlossen hatte, es nicht darauf ankommen zu lassen, daß er, Stride, den Handel vielleicht bereute, und daher einen seiner
Leute geschickt hatte, damit er heimlich diese Möglichkeit ausschalte. Hätte er an irgend etwas anderes gedacht, wäre dieser Schrei, der aus ihm herauswollte, möglicherweise nicht unterdrückt worden. Zurück… zurück… drei Schritte, vier Schritte… Und dann sah er plötzlich zu beiden Seiten die Schotten und merkte mit einem unheimlichen, kitzelnden Entsetzen, daß er tatsächlich durch sie hindurchschritt – daß die Tür, die seinen Rücken hätte stützen sollen, lautlos hinter ihm geöffnet worden war und er rückwärts über die Schwelle trat. Er öffnete den Mund zu einem Aufschrei, drehte den Kopf dabei; aber der Schrei rasselte tonlos in seiner Kehle. Ein brauner, hemdsärmeliger Arm hakte sich von hinten um seinen Kopf und würgte ihn in der Ellenbogenbeuge, während Finger wie Stahlklampen sein Handgelenk knapp hinter der Pistole umspannten. Sein Kopf wurde nach hinten gezerrt, so daß er in ein umgedrehtes Paar blauer Augen sah, die so klar und kalt wie zwei Aquamarine waren; und dann hörte er die Stimme des Eindringlings an seinem Ohr. »Kommen Sie mit, Galbraith, wir wollen Besuche machen«, sagte die Stimme, und dann schwanden ihm die Sinne.
VII
Abdul Osman hatte ebenfalls getrunken, aber bei ihm war es geradezu ein festlicher Ritus gewesen. Er hatte einen Abendanzug angelegt, dazu einen roten Tarbusch; und sein dicker weicher Bauch, der sich unterhalb der schneeweißen Hemdbrust wölbte, gab ihm das Aussehen einer wabbeligen Pyramide auf Beinen: als habe man einen aufgeblähten Frosch in europäische Kleidung gesteckt. Sein breites bleiches Gesicht war frisch rasiert und wirkte leicht fettig ums Kinn. Obgleich er westliche, von den besten Londoner Schneidern gefertigte Anzüge trug, war die Kajüte seiner Jacht, in der er nun umherging, ausschließlich in orientalischem Stil eingerichtet, dem einzigen, in dem er sich wirklich wohl fühlte. Die Teppiche auf dem Boden waren aus Buchara und Schiras und praktisch unbezahlbar, die Tische Elfenbein mit Einlegearbeiten aus Perlmutt, die Diwane niedrig, mit dunkelseidenen Brokaten und über und über mit Kissen bedeckt. Selbst die prosaischen Bullaugen waren von gestickten Vorhängen eingefaßt und mit Eisengittern versehen, und das weiche Licht aus verborgenen Lampen ließ die Winkel voller Schatten. In seinem Abendanzug und der weißen gestärkten Hemdbrust paßte Osman sich in diese Umgebung mit paradoxer Wirkung ein: wie ein glühender Anhänger der Nacktkultur, der sich an seinen Strohhut und seinen Kneifer klammert; aber es war ihm nicht gegeben, diesen Stilbruch zu bemerken. Er putzte sich gerade vor dem Spiegel, in der einen Hand ein halbgeleertes Glas, mit der anderen eine nicht wahrzunehmende Falte in seinem Querbinder glattstreichend,
eine dünne ovale Zigarette qualmend zwischen den Lippen, da hörte er das näher kommende Tuckern eines Motorbootes. Er horchte in regungsloser Erwartung und hörte, wie der Motor ausgeschaltet wurde. Dann Stimmen. Dann klopfte der arabische Matrose Ali an und öffnete die Tür, und Laura Berwick stand vor der Schwelle. Abdul Osman sah sie in dem Spiegel, von dem er sich nicht weggerührt hatte, und ein, zwei Sekunden lang bewegte er sich auch jetzt noch nicht. In seinen Adern raste das plötzliche konkrete Wissen um seinen Triumph. Kaltblütig? Seine Mundwinkel hoben sich, so daß die Haut um die Augen sich kräuselte. Bei ihrer allerersten Begegnung hatte die Berührung ihrer Hand ihn mit einer Begierde erfüllt, die wie ein tosender Schmelzofen brannte, und nun, da er ihr herrlich gebildetes Gesicht und ihre wundervollen Schultern sich blaßschimmernd in der dunklen Türöffnung abzeichnen sah, jagte sein Herz flüssige Flammen durch seinen Körper. Er wandte sich langsam um, griff mit einem Arm zu einer weiten, grandiosen Gebärde aus. »Sie sind also gekommen – meine schöne weiße Rose!« Laura Berwick lächelte zaghaft. Der Raum war angefüllt von dem eigentümlich trockenen, erstickenden Duft von Sandelholz. Alles in ihr wich angewidert zurück vor dem üppigen exotischen Halbdunkel. Es erschien ihr ungesund, atembeklemmend, durchsetzt von einer Aura schaurig geheimer Befriedigung, wie der schlaffe, schwammige Körper des Mannes, der sie mit den Augen verschlang. Sie war froh, daß Toby mitgekommen war – seine klare spartanische Sauberkeit wirkte desinfizierend. »Mister Stride hat mich gebeten, Ihnen diesen Brief zu überbringen«, sagte sie. Er streckte die Hand aus und nahm den Brief, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden. Ohne Eile riß er den Umschlag
auf – er enthielt nichts weiter als ein weißes Blatt Papier. Bedächtig riß er es in vier Stücke und legte die Stücke auf einen Tisch. »Vielleicht«, sagte er, »ist es wesentlicher, daß der Brief Sie gebracht hat.« Nun erst sah er Toby Halidom, und sein Gesichtsausdruck schlug um. »Was wollen Sie hier?« fragte er kalt. Der junge Mann war leicht betroffen. »Ich bin mit Miß Berwick herübergetuckert«, sagte er. »Dachte mir, sie hätte vielleicht ganz gerne Begleitung.« »Sie können gehen.« In Osmans Stimme war eine ätzende, schleppende Schärfe, die zu leidenschaftslos war, um unhöflich zu klingen. Halidom war verblüfft und wurde stutzig angesichts der halb herausgespürten Drohung. »Ich habe Mister Halidom gebeten, mich zu begleiten«, sagte Laura und gab sich Mühe, eine plötzliche Beklemmung aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Wir werden zusammen zurückfahren.« »Hat – hm – Ihr Stiefvater das angeregt?« »Nein. Toby ist eben mitgekommen.« »Ach!« Osman lachte leise – ein fast unhörbares Lachen, das Laura erschauern ließ, ohne daß sie wußte, warum. »Ach!« Er wandte sich ab – eine Bewegung, die seiner zeitweiligen Bewegungslosigkeit mit solch jäher Kraft folgte, daß sie etwas tückisch Unheimliches an sich hatte. »Ach!« Der Witz schien ihn zu amüsieren. Er schlenderte weiter in den Raum hinein, die qualmende Zigarette zwischen den Fingern, und drehte sich an einer Stelle wieder um, an der er bei dem schwachen Licht fast ganz im Dunkeln stand. Die Zigarette glühte wie ein heißer Rubin vor dem grauen Fleck seiner Hemdbrust – die beiden konnten nicht sehen, daß seine dicken Finger auf
Klingelknöpfe drückten, zu deren Beantwortung sich jederzeit Männer bereit hielten. »Wie außerordentlich romantisch, mein lieber Halidom! Der perfekte fahrende Ritter!« Eine stumpfe Röte flog Toby Halidom unter dem höhnischen Lachen an. Irgend etwas in der Atmosphäre dieser Unterhaltung ging ihm trotz der gesunden Phantasielosigkeit seiner Instinkte unter die Haut. »Hm, Laura, dann gehen wir wohl besser wieder«, sagte er und hörte den gespannten Unterton in seiner gespielten Unbekümmertheit. Osmans gespenstisches Lachen flüsterte erneut aus dem Schatten herüber, aber er sagte nichts. Halidom wandte sich unvermittelt zur Tür um, öffnete sie und blieb wie angewurzelt stehen. Drei Männer von Osmans Besatzung verstellten mit gelassenem Gesicht den Ausgang. Toby drehte sich mit geballten Fäusten zu dem Ägypter um. »Was soll das bedeuten, Osman?« fragte er unumwunden. Abdul wechselte seine Stellung um ein paar Zentimeter, so daß sich nun sein breites fleischiges Gesicht wie eine körperliche Maske des Bösen unter einer der rosenfarbenen Lichtkugeln abhob. »Es soll bedeuten, Halidom, daß Laura hierbleibt bei mir – und Sie nicht.« »Sie verdammter Nigger…« Halidom stürzte sich wie ein junger Tiger auf die Maske, aber sofort wurde er abgefangen. Sehnige braune Arme umklammerten seine Arme von hinten, drehten und hielten sie mit fachmännischem Griff. Osman trat langsam näher. »Haben Sie etwas gesagt, Halidom?« »Ich habe Sie einen verdammten Nigger genannt«, gab Toby trotzig zurück. »Sie haben mich genau verstanden. Soll ich es noch einmal sagen?«
»Nur los!« Osmans Stimme klang geschmeidig, aber seine Fäuste bebten. Sein Gesicht war totenblaß geworden bis auf die eingenarbten roten Ringe auf den Wangen. Toby schluckte und warf den Kopf zurück. »Sie verdammter schleimiger…« Osmans Faust hieb ihm das letzte Wort zwischen die Zähne zurück. »Wenn Sie Ihre guten Manieren nicht vergessen hätten, Halidom, wäre Ihr Schicksal vielleicht anders verlaufen«, sagte er; und es war nicht zu übersehen, daß er sich nur vorübergehend beherrschte, und zwar mit einer Willensanstrengung, die ihm den Schweiß in dicken Perlen auf die weiße Stirn trieb. »Aber dieses eine Wort, das benutzt man nicht. Jemand anders hat es vor vielen Jahren benutzt – vielleicht möchten Sie ihn sehen?« Er sprach mit Ali schnurrend arabisch, und der Mann verschwand. Halidom wehrte sich wie ein Besessener. »Das tun Sie nicht ungestraft, Sie ekelhaftes Schwein…« »Nein?« Osman schlug ihn abermals, und dann, nach einem kurzen Innehalten, spuckte er ihm mit Bedacht ins Gesicht. Laura schrie und stürzte vor, aber einer der Männer hielt sie sofort fest. Osman schlenderte zu ihr hinüber und faßte ihr mit seiner aufgedunsenen Hand unters Kinn. »Sie sind auch ein Hitzkopf, meine Liebe, ja? Oh, um so interessanter, um so interessanter. Ich bin gut im Abrichten von Hitzköpfen. Ich werde Ihnen gleich einen von meinen gezähmten zeigen. Sie werden erleben, wie ich Halidom auf dieselbe Weise zähme – und Sie auch!« Er schaute sich um: die Matrosen kamen gerade mit seinem Sekretär zurück. Clements war in erbarmungswürdigem Zustand – Osman hatte ihm den ganzen Tag über die Nadel
ferngehalten, wie er es ihm angedroht hatte, und das seibernde Geschöpf, das in den Raum torkelte, ließ sogar Halidom das Blut gefrieren. Der Mann fiel vor Osman auf die Knie, stöhnte und jammerte und sabberte unverständliches Zeug; und Osman packte ihn bei den Haaren und zerrte ihn hoch. »Sehen Sie das, Halidom? Das ist ein Mann, der die Angewohnheit hatte, mich einen dreckigen Nigger zu nennen. Einstmals war er genau wie Sie – stark, aufrecht, unverschämt. Er fürchtete sich vor nichts und verachtete mich, weil ich nicht auch so ein dummer Engländer wie er war. Aber eines Tages machte ihn dann jemand mit der Nadel bekannt – mit dem kleinen Stich, der für eine geringe Weile solchen Mut und solche Schlauheit verleiht. Haben Sie es jemals ausprobiert, Halidom? Sie haben nicht einmal daran gedacht! Sie hatten viel zuviel mit Ihrem Kricketspielen zu tun und damit, daß man Sie einen feinen Kerl nannte, weil sie gut spielten. Aber Sie werden es noch probieren. Oh, nein, vielleicht nicht freiwillig – aber die Wirkungen werden ganz dieselben sein. Sie werden sich groß, stark, klug und wie ein feiner Kerl vorkommen, bis der Rausch nachläßt, und dann werden Sie sich sehr müde fühlen. Dann werde ich Ihnen ein bißchen mehr geben, und wieder werden Sie sich großartig und stark vorkommen. Und so werden wir weitermachen; Sie werden jedesmal ein bißchen mehr haben wollen, aber ich gebe Ihnen gerade nur die richtige Menge, bis Sie« – in plötzlicher Wildheit schüttelte er Clements an dem Haarschopf, den er immer noch in der Hand hielt – »bis Sie größer und stärker denn je sind – ein feinerer Kerl, als Sie jemals waren – wie dieser hier!« Er stieß den Mann von sich, aber Clements kroch zurück. Sobald er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte,
umklammerte er Osmans Hand, küßte sie, umschmeichelte sie mit bebender, ekelerregender Verworfenheit. »Das wird Ihnen sehr gefallen, Halidom, meinen Sie nicht?« Toby starrte Clements mit ungläubigem Widerwillen an; der Magen drehte sich ihm um. »Sie Dreckschwein…« »Ich habe herausgefunden, Halidom«, sagte Osman, ihn ruhig ansehend, »daß die Nadel ein vortreffliches Hilfsmittel bei der Zähmung von Leuten Ihres Schlages darstellt. Aber meine kleine Peitsche trägt auch ihr gut Teil bei – besonders zu Anfang, wenn es zu Augenblicken offener Aufsässigkeit kommt. Möchten Sie die auch gerne sehen?« Er drückte auf eine verborgene Feder, und ein Feld der Wandtäfelung sprang auf. Clements schoß darauf zu, als er den Wandschrank erblickte, aber Osman stieß den ausgelaugten Mann nur leicht mit der Hand zurück, und er schlug lang hin. In dem geöffneten Schrank sah man zwei Injektionsspritzen in blitzenden Nickelhaltern und daneben eine Reihe kleiner Glasampullen. Aber Osman ließ sie außer acht. Er nahm eine kurze Lederpeitsche heraus, die unten so dick war, daß man kaum sehen konnte, wo sie sich mit dem Griff verband, und zum Ende hin, an dem sich ein kleiner harter Knoten befand, spitz zulief. »Ein vorzügliches Instrument«, sagte Osman. »Es hat mitgeholfen, dem Mann, den sie vor sich sehen, den rechten Respekt einzuflößen.« Er ließ die Peitschenschnur nachdenklich durch seine Finger gleiten und blickte zu der vor seinen Füßen kriechenden Kreatur hinunter. Irgend etwas im Anblick seines letzten Triumphes, dieser vollkommenen Verkörperung der Erniedrigung, schien den Faden seiner schadenfrohen Selbstbeherrschung zum Zerreißen zu bringen. Die dicken Lippen zuckten zurück wie bei einem Wolf, und er sprang auf
Halidom zu und hieb ihm zwei Schläge ins Gesicht; dann drehte er sich um und zerrte Clements abermals hoch und drückte ihn mit seiner Hand, die den Hals des anderen umwürgte, gegen die Wand. »Sieh sie dir an, Clements!« schrie er. »Sieh sie dir an!« Er zwang das bleiche Gesicht des Mannes zu Toby und Laura herum. »Kannst du sie sehen – oder dürstet es dich zu sehr nach der Nadel? Sie sind weiß – weiß – von der Farbe, auf die du so stolz warst! Und du schämst dich nicht, wie? Ich habe dich oft genug vor meinen Schwarzen ausgepeitscht – daran hast du dich gewöhnt; aber was hältst du davon, wenn deine eigenen Leute mal sähen, wohin du gesunken bist? Sieh sie dir an – hörst du nicht? Ein weißer Mann und ein weißes Mädchen – sie starren dich an – sie verachten dich; und nicht einmal das gibt dir genug Selbstachtung zurück! Nicht einmal jetzt wehrst du dich! Bah!« Er trat einen Schritt zurück und ließ die Peitsche auf die dünnen Schultern des Mannes zischen, und dann ging er wieder dicht an Halidom heran. »Und so etwas«, sagte er heiser, »so etwas wird auch aus Ihnen werden, Halidom.« So gewaltig war seine Erregung, daß ihm der Speichel an den Mundwinkeln herausfloß und die Finger zuckten. Toby sah ihm in die Augen. »Das tun Sie nicht ungestraft«, sagte er so ruhig, wie er es vermochte. »Stride weiß, daß wir hier sind, und sobald er anfängt, sich Lauras wegen Sorgen zu machen…« Abdul Osman lachte schroff. »Mein lieber Halidom, Sie irren sich. Stride hat mir Laura zugeschickt – zum Bleiben! Sie hat er nicht geschickt, aber ich glaube, Ihr Verschwinden wird ihn erleichtern – wenn Sie zurückgeblieben wären, hätte er vielleicht nicht gewußt, was er
mit Ihnen anfangen sollte. Er ist gerade dabei, alles zur Abreise klarzumachen.« »Das glaube ich nicht!« rief das Mädchen. »Toby, das kann nicht wahr sein! Er lügt…« Osman sah sie an. »Es ist mir ganz gleich, was Sie glauben«, sagte er seidenglatt. »Sie werden sich schon noch überzeugen.« »Es ist gelogen!« protestierte sie abermals, aber Furcht hielt frostig ihr Herz umfaßt. »Er würde sofort zur Polizei gehen…« »Zur Polizei?« Osmans unheimliches heiseres Lachen flüsterte durch den Raum. »Die Polizei würde sich ungemein freuen über seinen Besuch. Sie kleiner Dummkopf! Wußten Sie nicht, wo all sein Geld herkam? Wußten Sie nicht, daß er sein ganzes Leben lang nichts anderes getrieben hat als Mädchen- und Rauschgifthandel – daß ich genug Beweismaterial in Händen halte, um ihn auf zwanzig Jahre hinter Schloß und Riegel zu schicken? Sie, meine liebe Laura, sind der Preis für seine Freiheit; Sie und – hm – sein Rückzug von allen seinen Geschäften. Ein Preis, den er mit Freuden angeboten hat und den ich mit Entzücken annahm.« Sie konnte nicht klar denken, konnte den ganzen abscheulichen Sinn dessen, was er sagte, nicht begreifen. Sie konnte es nicht glauben. Aber nach der Art zu urteilen, in der er es sagte, war es entweder wahr, oder er war verrückt. Und weder die eine noch die andere Möglichkeit ließ ihnen auch nur den Schimmer einer Hoffnung. Aber sie erinnerte sich an den eigentümlichen Ausdruck in Galbraith Strides Augen, als er darauf bestand, daß sie diesen Brief persönlich überbringe, und sie erstarrte vor Furcht angesichts dieser unaussprechlichen Erklärung. An ihrer Seite wehrte Toby Halidom sich erneut in blind wütender Machtlosigkeit; und Osman sah ihn abermals an.
»Ich werde schon bald mit Ihrer Behandlung beginnen, mein Freund«, sagte er, und dann wandte er sich wieder an Ali. »Bring ihn weg und fessele ihn gut – ich werde klingeln, wenn ich ihn wieder zu sehen wünsche.« Bevor er auch nur ein Wort erwidern konnte, wurde Halidom aus der Kajüte gezerrt. Das wilde, jammervolle Aufschluchzen des Mädchens klang ihm in den Ohren wider. Rauhe braune Fäuste zwängten ihn durch einen engen Gang, banden ihn an Händen und Füßen und warfen ihn in eine übelriechende dunkle Kabine. Er hörte, wie die Tür von außen verriegelt wurde, und war allein mit einer Verzweiflung, die er sich nie hätte vorstellen können: einer Verzweiflung, in der er von Vorstellungen heimgesucht wurde, die an schieren Wahnsinn grenzten. Nur noch eine Hoffnung blieb ihm – eine Hoffnung, die so gering war, daß keine Hoffnung zu haben fast weniger zerknirschend gewesen wäre. Man hatte sich nicht damit aufgehalten, ihn zu durchsuchen, und er hatte ein Taschenmesser in der Tasche. Falls er es greifen und den Strick um seine Handgelenke damit zerschneiden konnte… blieb immer noch die Tür – und die Mannschaft, deren Absperrung es unbewaffnet zu durchbrechen galt… Aber er versuchte, an das Messer heranzukommen, während ihm seltsam nutzlose Tränen unter den Lidern brannten. Laura Berwick glaubte, sie müsse den Verstand verlieren. Der letzte der dunkelhäutigen Matrosen hatte sie losgelassen und war mit Toby hinausgegangen – niemand befand sich nun noch in der Kajüte, nur sie selber und Abdul Osman und dieses gespenstische Relikt eines Mannes, das in der Ecke kauerte und jede von Osmans Bewegungen mit haßerfüllten Glubschaugen verfolgte. Osman schien seine Anwesenheit überhaupt nicht zu bemerken – vielleicht hatte er sich so daran gewöhnt, diese von ihm selber erschaffene Kreatur um sich zu haben, daß er sie nicht mehr beachtete, als er einen Hund
beachtet hätte. Oder vielleicht schlummerte auch in dem häßlichen Abgrund seiner Seele die fortzeugende Absicht, für das Mädchen und den geschlagenen Sklaven Demütigung auf Demütigung zu häufen. Er näherte sich ihr mit unsteten Schritten, Unbeschreibliches lauerte in seinen glitzernden Augen, und sie wich vor ihm zurück wie vor einer Schlange, bis sie die Wand in ihrem Rücken spürte und nicht weiter zurückweichen konnte. »Komm, meine schöne weiße Rose!« Er streckte die Arme nach ihr aus. Sie versuchte, dem Klauengriff der Hände zur Seite zu entschlüpfen; und sie wandte vor schierem Entsetzen den Blick, soweit es ging, von dem aufgedunsenen, geilen Gesicht ab. Aber er bekam ihren Arm zu fassen und hielt ihn mit einer Kraft, die ihre eigene überstieg. Ohne daß sie sich hätte wehren können, zog er sie in seine heiße Umarmung – sie spürte die scheußliche Weichheit seines Schwammbauches, der sich an ihren jungen festen Körper drängte, und sie erschauerte, bis Dunst vor ihren Augen schwamm. Sie konnte es nicht mehr ertragen. Ihre Sinne taumelten, und alle Kraft schien aus ihr gewichen… Und dann, als seine gierigen Lippen ihr Gesicht fanden, versank sie endlich in mitleidige Bewußtlosigkeit; und sie hörte den Schuß, der ihn niederstreckte, nur als einen verschwommenen Teil ihres Traumes.
VIII
Simon Templar knallte die Tür der Rumpelkammer vorne im Boot zu, drehte den Schlüssel um und brach ihn im Schloß ab. Er hörte ein wildes Durcheinander von Schreien, und lautes Geplapper in einer ihm unverständlichen Sprache brach hinter ihm los. Und er griente sachte vor sich hin. Soweit er das bei seiner blitzschnellen Erkundung hatte ausmachen können, war praktisch die gesamte Besatzung der Luxor vorne in dem Logis versammelt; er hatte die Luke über den Köpfen der Leute bereits zugeklappt und verkeilt, und sie würden mindestens eine Stunde für ihren Ausbruch brauchen. Es war der Augenblick für eine Geschwindigkeit des Handelns, die höchstens noch von der Behendigkeit überboten werden konnte, mit der das Komitee zum Schutz der öffentlichen Moral weitere zu unterdrückende Laster entdeckte – der Augenblick für diese Geschwindigkeit der Entscheidung und des Eingreifens, die dem ›Heiligen‹ keiner nachmachte. Jetzt, da die Stille des Schiffes noch frisch verwundet war von dem scharfen Knall eines einzelnen Schusses, wurden Beratungen und allgemeine Betrachtungen von zweitrangiger Wichtigkeit. Er lief den Gang entlang auf die zweite Tür zu, unter der er einen Lichtstreifen gesehen hatte; sie wurde aufgerissen, als er davor ankam, und ein olivenhäutiger Mann in Uniform und aufgeknöpftem Hemd starrte ihm aus kaum mehr als einer Handspanne Entfernung ins Gesicht. In der Kabine hinter ihm waren zwei weitere Männer, dem Anschein nach ebenfalls Offiziere, um einen mit Karten bestreuten Tisch zu Säulen erstarrt. Eine scharfkantige halbe Sekunde lang hielt diese
absolute Unbeweglichkeit an, und dann krachte Simon Templars Faust dem Mann ins Gesicht und ließ ihn zurücktaumeln. Eine Sekunde später war diese Tür ebenfalls verschlossen und der Schlüssel abgebrochen. Simon hatte nur einen weiteren Gefahrenpunkt ausgespäht, und der lag ein paar Schritte weiter den Gang hinunter. Als er die Tür öffnete, sah er, daß sich hier die Kombüse befand, und das Licht, das er gesehen hatte, wurde erklärt durch einen kohlschwarzen Kanojungen, der hier seelenruhig Kartoffeln schälte und dazu eins seiner seltsamen Liedchen summte. Der Gesang erstarb in unvermitteltem Moll, als der Kanojunge mit rollenden Augen zu ihm aufschaute: Simon salutierte vergnügt und drehte den dritten Schlüssel auf der sicheren Seite der Tür herum. Dann ging er nach achtern zur Kajüte; und auf dem Weg sah er eine Tür, die wie betrunken in ihren verstümmelten Angeln offenhing. Toby Halidom war gerade dabei, Lauras Kopf auf seinen Arm zu betten, und dabei babbelte er albernes, unzusammenhängendes Zeug. Die andere Hand richtete die Pistole, mit der Osman getötet worden war, auf die offene Tür, und eine Sekunde lang fühlte Simon sich seinem Tode näher, als er ihm in seinen jungen Jahren zu treten wünschte. »Weg damit, Sie Esel!« sagte er, und dann erkannte Toby ihn und ließ die Pistole langsam sinken. »Was machen Sie denn hier?« »Sie aus der Klemme holen«, erwiderte der ›Heilige‹ munter. »Keine Sorge – noch wird sich die Mannschaft nicht einmischen. Ich habe sie gerade eingesperrt, damit sie keine Dummheiten macht.« Sein Blick schweifte über den Raum hin – über Abdul Osmans Leiche, die auf dem Rücken ausgestreckt dalag, halb unter dem Tisch, an dem er sich festgeklammert hatte, so daß
er ihn im Fallen mitriß – über den langsam größer werdenden roten Fleck auf seiner weißen Hemdbrust; über den bewußtlosen Galbraith Stride; über den versklavten Sekretär Clements, der regungslos auf einem der Diwane saß, das Gesicht in den Händen verborgen, die leere Injektionsspritze neben sich, wo sie auf den dunklen Teppich gefallen war… Er streckte die Hand aus und nahm Halidom die Pistole aus den Fingern, die keinen Widerstand leisteten. »Mir ist es gleich, wenn man mich dafür hängt!« sagte der junge Mann hysterisch. »Er hat genau das verdient, was er bekommen hat!« Simon zog sehr langsam die Augenbrauen hoch. »Wenn man Sie dafür hängt?« fragte er. »Ja. Sie können mit mir machen, was sie wollen. Ich habe ihn getötet – das Schwein. Ich habe ihn erschossen…« Das Lächeln des ›Heiligen‹, dieses Witzeln der Lippen, das so fröhlich sein konnte, so spöttisch, so heiter-gelassen, so eisig-unverschämt, so zum Wahnsinn treibend engelhaft, ganz wie seine Stimmung es wollte – nun spielte es mit einer seltenen Sanftheit um seinen Mund, die ihn verwandelte. Ein eigentümlicher Ausdruck, ein zärtlicher geradezu, trat in das klar gemeißelte, tollkühne Freibeutergesicht. »Sie hängen, Toby?« sagte er leise. »Das werden sie wohl nicht tun.« Der junge Mann hörte ihn kaum. Denn in diesem Moment schlug Laura die Augen auf, in denen noch das ganze Entsetzen ihrer letzten bewußten Sekunde wohnte, und sah das Gesicht des jungen Mannes, der sich über sie beugte. Ein eigentümliches, leises, würgendes Schluchzen. »Toby!« Sie klammerte sich an ihn, zog sich an seiner Schulter hinauf, die Augen weit aufgerissen angesichts der Alpträume, die noch nicht weichen wollten. Und dann erblickte sie Osman und sank zurück. »Toby! Hast du ihn…«
»Es ist alles gut, Liebling«, sagte Halidom rauh. »Der macht uns keinen Ärger mehr.« Dann tippte der ›Heilige‹ ihnen beiden auf die Schulter. »Sie brauchen wohl nicht hierzubleiben«, sagte er ruhig. Er führte sie ans offene Deck, hinaus an die Nachtluft, die kühl war und frisch und angefüllt von der immerwährenden Lieblichkeit des Meeres. Das Motorboot, mit dem sie gekommen waren, war immer noch unten am Fallreep festgemacht; aber nun war die »Seepapagei« dahinter vertäut. Die beiden Männer halfen dem Mädchen in das Motorboot hinunter; und Simon setzte sich vorne aufs Deck und blickte nach achtern zu den Sitzen, auf denen die anderen beiden sich niedergelassen hatten. Ein Streichholz flammte vor seiner Zigarette auf. »Würden Sie mir nun bitte zuhören?« fragte er in demselben ruhigen Tonfall. »Ich weiß, was Sie heute nacht durchgemacht haben, denn ich habe während der meisten Zeit zugehört. Da war einiges, das ich herausfinden mußte, bevor ich handeln konnte, und als ich dann zum Eingreifen kam, gab es nicht viel zu tun für mich. Ich habe getan, was ich tun konnte, und niemand wird Sie daran hindern, zur Claudette zurückzukehren.« Die Hand mit der Zigarette zeigte leicht zur Bordwand der Luxor. »Ein Mann ist heute nacht hier getötet worden. Ich habe nie eingesehen, warum man den Namen eines üblen Kerls mit Honig bestreichen soll, nur weil der Kerl tot ist. Toby hat ganz recht: er hat genau das verdient – vielleicht mehr. Er war ein Mann, der sein Geld Penny um Penny aus dem Ruin und der Erniedrigung von mehr Menschenleben herausgewrungen hat, als Sie sich vorstellen können. Er war ein Mann, durch dessen Tod die Welt ein bißchen sauberer wird. Aber in den Augen des Gesetzes wurde er ermordet. In den Augen des Gesetzes
war er ein Staatsbürger, der jedes Recht zum Leben hatte; der von allen anderen Staatsbürgern bezahlte Polizisten hätte herbeirufen können, damit sie ihn schützten, wäre er bedroht worden; der so lange in den Augen des Gesetzes unschuldig war, bis seine Verbrechen gemäß den trödelnden Regeln der Beweisfindung von einem ganzen Aufgebot Unsinn schwätzender Rechtler zwölf verwirrten Halbnarren bewiesen worden wären. Und der Mann, der ihn tötete, wird laut Gesetz zum Tode verurteilt werden.« Der ›Heilige‹ hielt einen Augenblick inne. Dann sagte er: »Dieser Mann war Galbraith Stride.« Sie starrten ihn an, gespannt, aufmerksam und bewegungslos. »Ich weiß, was Sie gedacht haben, Toby«, sagte der ›Heilige‹. »Sie sind in die Kajüte gestürzt, zum Mord entschlossen, und da sahen sie den toten Osman und Laura mit der Pistole in der Nähe ihrer Hand. Im Augenblick konnten Sie nichts anderes denken, als daß sie geschossen hatte, und so legten Sie mir gegenüber ein ziemlich närrisches und sehr prachtvolles Geständnis ab in dem Bestreben, Laura zu entlasten. Wenn ich irgendwelche Orden zu vergeben hätte, kriegten sie einen. Aber ganz bei Sinnen können Sie nicht gewesen sein, sonst hätten Sie doch fragen müssen, was Stride da machte oder wie Laura an die Pistole gekommen war… Laura, ich möchte es Ihnen nicht noch schwerer machen, aber eins müssen Sie noch wissen. Alles, was Osman Ihnen erzählt hat, war Wort für Wort wahr. Galbraith Stride war genauso ein Mann wie Osman. Vielleicht hat er nie eine solche Macht des Bösen besessen, aber dann nur, weil er nicht groß genug war. Ein besserer Mensch war er ganz gewiß nicht. Ihr Gewerbe war dasselbe, und sie trafen sich hier, um ihre Reiche zu teilen. Osman gewann die Teilung, denn er war einen Strich skrupelloser, und Stride schickte Sie zu ihm hin als Teil des Handels. Sicherlich möchten Sie glauben, daß Stride im letzten
Augenblick von der Reue gepackt wurde und herüberkam, um Sie zu retten zu versuchen; aber selbst das stimmt leider nicht. Er hat Osman aus einem viel, viel ekelhafteren Grund getötet, von dem die Polizei schon sehr bald hören wird.« Trotz der Dunkelheit konnte er die Augen der beiden sehen, die sich fest auf ihn richteten. Laura Berwick sprach für sie beide. »Wer sind Sie?« fragte sie, und Simon schwieg nur eine Sekunde. »Ich bin Simon Templar, bekannt als der ›Heilige‹ – Sie haben vielleicht schon von mir gehört. Ich bin mein eigenes Gesetz, und ich habe viele Männer verurteilt, die geringere Pestbeulen als Abdul Osman oder Galbraith Stride waren… Oh, ich weiß, was Sie denken. Auch die Polizei wird das eine Zeitlang annehmen. Ich bin heute abend hierhergekommen, um Abdul Osman zu töten, aber ich war nicht schnell genug.« Er stand auf und schwang sich leichtfüßig aufs Fallreep zurück. Mit geschickten Fingern machte er die Leine los und warf sie in das Boot; und ohne ein weiteres Wort kletterte er an Deck und ging in die Kajüte zurück.
Man überführte und verurteilte Galbraith Stride wegen des Mordes an Abdul Osman am 1. November, etwas mehr als einen Monat nach den hier mitgeteilten Ereignissen und nach einem Prozeß, der vier Tage dauerte. Eins der Dokumente, das eine beträchtliche Rolle bei der Urteilsfindung durch die Geschworenen spielte, war ein versiegelter Brief, der bei der gerichtlichen Untersuchung von einem Londoner Notar vorgelegt wurde. Er war in Abdul Osmans schwerer, auseinandergezogener Schönschrift adressiert: »An den Untersuchungsrichter, auszuhändigen im
Falle meines Todes unter verdächtigen Umständen innerhalb der nächsten drei Monate.« Der Brief enthielt einen umfassenden Überblick über Galbraith Strides ungesetzliche Betätigung, der der Polizei die Augen öffnete. Die Liste war mit der Maschine geschrieben, der letzte Absatz jedoch in Osmans Handschrift. Dies wurde geschrieben in Erwartung eines Treffens zwischen mir und Stride, bei dem unsere jeweiligen Einflußsphären begrenzt und gegenseitig anerkannt werden sollen. Sollte mir während dieser Konferenz irgendein ›Unfall‹ zustoßen, wird daher ohne Zweifel Galbraith Stride der Verantwortliche sein, von dem ich nichts anderes erwarte, als daß er unsere Übereinkunft verletzt, wie er bisher jedes Abkommen verletzt hat, das er je schloß. (gez.) Abdul Osman Die Verteidigung unternahm einen wackeren Versuch, ihren Fall zu retten, indem sie viel Aufhebens von dem Umstand machte, daß der berüchtigte Simon Templar zur Zeit der Tat nicht nur in der Gegend, sondern sogar an Bord der Luxor war; aber der Richter wies prompt alle Fragen zurück, die nicht unmittelbar mit dem Mord zu tun hatten. »Die Polizei«, sagte er, »hat Galbraith Strides dieses Mordes bezichtigt, und es geht nicht an, daß zu diesem Zeitpunkt andere mögliche Mörder herangezogen werden. Wir sind hier, um zu beschließen, ob der Gefangene Galbraith Stride schuldig oder nicht schuldig ist; und falls er sich schließlich als unschuldig erweisen sollte, wird es an der Polizei sein, gegebenenfalls neue Anklage zu erheben.« Es wurde außerdem – ein wenig inkonsequent – von seiten der Verteidigung versucht, den Angeklagten als reuigen Helden darzustellen, der herbeieilte, um seine Stieftochter vor ihrem Schicksal zu retten. Die Anklage hatte zwei Tage das
Wort, und dies geschah, als die Position der Krone rapide unangreifbar wurde. Und dann wurde Clements hereingerufen, und das war das Ende. Er war ein gänzlich anderer Mann als das winselnde Wrack, das all die Würdelosigkeiten erduldet hatte, die Osmans verzerrter Verstand für ihn nur hatte erdenken können. Von Osmans Tod an hatte er freien Zugang zu dem Kokainvorrat in dem Geheimschrank in der Kajüte gehabt, und er hatte ausgiebig davon Gebrauch gemacht, um sich in dem Normalzustand zu halten, in den er ohne Hilfe des Rauschgifts nie wieder würde zurückkehren können, und das Vorhandensein dieses Vorrats geheimgehalten, bis der Fall ans Festland verwiesen wurde und er sich in richtige Behandlung begeben konnte. Aber es gab keine Behandlung, die ihm die Lebensflamme zurückzugeben vermochte, und der Polizeiarzt machte kein Hehl daraus. »Wirklich, Clements, wenn mir jemand gesagt hätte, daß man solch einen Widerstand gegen das Zeug entwickeln kann, wie Sie ihn entwickelt haben, so daß man Ihre Dosis braucht, um normal zu bleiben, und sich trotzdem nicht umbringt – ich hätte es nicht geglaubt. Sie müssen die Konstitution eines Ochsen gehabt haben, bevor Sie anfingen mit dieser – dieser…« »Torheit?« fragte Clements mit dem Aufzucken einer Empfindung in den verlebten Zügen. »Ja, ich war ziemlich stark – früher einmal.« »Es gibt keine Kur für Ihr Leiden«, sagte der Arzt unumwunden, denn er war noch jung, und manches von dem, was er in seiner Praxis sah, tat ihm weh. Aber Clements lächelte nur. Er wußte, daß das Gift, das man ihm sechsmal täglich einpumpte, damit er ein Mensch blieb, ihn in wenigen Wochen töten würde, aber viel länger hätte es
mit ihm ohnehin nicht mehr gedauert. Und er mußte noch eins erledigen, bevor er starb. Mit ruhigen Nerven trat er in den Zeugenstand, den Kopf erhoben, Kokainglanz in den Augen. Die Nadel, die der junge Arzt eine halbe Stunde vorher in seinen Arm gerammt hatte, hatte das bewirkt; aber das fiel nicht auf. Natürlich wußte man jedoch, daß er rauschgiftsüchtig war – er erzählte dem Gericht die ganze Geschichte seiner Beziehungen zu Abdul Osman, ohne sich selber zu schonen. Die Verteidigung erinnerte sich daran, als die Reihe an ihr war, ihn als Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen. »Angesichts dieser Qualen, die Sie von Hand des Toten erlitten«, begann der Verteidiger, »… ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß Sie ihn umbringen möchten?« »Oft«, erwiderte Clements ruhig. »Aber damit hätte ich mir den Nachschub an Kokain abgeschnitten.« »Wäre es demnach nicht durchaus denkbar«, fuhr der Verteidiger in überredendem Tonfall fort, »daß Sie, falls Sie ihn ermordet hätten, ganz besonders darauf bedacht gewesen wären, der Polizei unter keinen Umständen in die Hände zu fallen?« Eine Sekunde lang blitzten die Augen des Zeugen auf. »Da fragen Sie lieber den Arzt«, sagte er. »Er wird Ihnen sagen, daß ich in ein paar Monaten wahrscheinlich ohnehin tot bin. Warum sollte ich die letzten Tage meines Lebens damit verschwenden, Ihnen hier Lügen aufzutischen? Es wäre für mich gänzlich gleichgültig, ob Sie mich zum Tode verurteilten oder nicht.« Der Verteidiger zog seine Notizen zu Rate. »Sie kannten Galbraith Stride nicht vorher?« »Nein.« Dann erfolgte der Versuch, den Mord als eine Tat zur Verteidigung der Ehre des Mädchens darzustellen.
»Ich habe dem Gericht bereits erzählt«, sagte Clements mit dieser schrecklich nachsichtigen Ruhe eines Mannes, dem Zeit nichts mehr bedeutet, einer Ruhe, die ihn irgendwie nicht in Frage kommen ließ für eine Zurechtweisung, die sofort auf jeden anderen Zeugen heruntergerauscht wäre, der versucht hätte, im Zeugenstand eine Rede zu halten. »Ich habe dem Gericht bereits erzählt, daß diese Möglichkeit absolut ausscheidet. Miß Berwick war ohnmächtig geworden; und während der Zeit, da sie angegriffen wurde, beschäftigte mich nichts anderes, als die Verwirrung auszunutzen, um mich an Osmans Kokainvorrat heranzumachen. Dafür kann ich keine Entschuldigung vorbringen – niemand, dem dieses gierige Verlangen erspart geblieben ist, kann begreifen, in welchem Maße es alle anderen Überlegungen zunichte macht, bis es gestillt ist. Wenn mir die Spritze vorenthalten wurde, war ich kein Mensch – ich war ein hungriges Tier. Ich ging zu dem Schrank und setzte mir eine Spritze und wartete sitzend, bis die Wirkung eintrat. Als ich aufblickte, stand Galbraith Stride da. Er hatte eine Pistole in der Hand und schien getrunken zu haben. Er sagte: ›Moment, Osman. Sie ist mehr wert als das. Ich müßte ja verrückt sein, wenn ich es zulasse, daß Sie sie nehmen und mich außerdem loswerden. Sie können noch einmal wählen. Sie nehmen sie, und wir einigen uns anders über die Teilung.‹ Osman geriet in Wut und versuchte, ihn zu schlagen. Stride drückte ab, und Osman brach zusammen. Ich glaubte, Stride wolle noch einmal schießen, also griff ich nach der nächstbesten Waffe – einer Messingvase – und schlug damit nach ihm. Viel Kraft hatte ich nicht, aber zum Glück traf ich ihn am Kinn, und er verlor das Bewußtsein.« »Und Sie waren es, der nach St. Mary’s hinüberfuhr und Wachtmeister Hancock von dem in Kenntnis setzte, was vorgefallen war?« »Ja.«
»Aus eigenem Antrieb?« »Voll und ganz.« »Ich könnte mir denken, daß Templar sagte: ›Passen Sie auf – Osman ist tot, und es ist nicht nötig, daß wir Ärger kriegen. Fahren wir also zu Wachtmeister Hancock hinüber und erzählen ihm, daß Stride der Täter war.‹« »Das ist absurd!« »Sie erinnern sich an die Aussage, die Stride machte, als er von Wachtmeister Hancock festgenommen wurde?« »Einigermaßen.« »Sie werden sich vielleicht daran erinnern, daß Stride beschrieb, wie er in seiner Kajüte auf der Claudette von diesem Mann namens Templar angegriffen wurde, und an die bedeutsame Erwähnung eines Messers, das in die Tür geworfen worden sein sollte. Haben Sie Wachtmeister Hancocks Aussage hier vor diesem Gericht gehört, daß er die Tür in der Kajüte der Claudette untersucht und bestätigt gefunden habe, daß ein Messer tief in sie hineingetrieben worden war?« »Ja.« »Wie erklären Sie sich das?« »Offen gestanden – ich würde sagen, daß ein Mann wie Stride durchaus an mögliche Zwischenfälle gedacht haben könnte, und dann dürfte es ihm ein leichtes gewesen sein, die Kerbe anzubringen, um seiner Aussage Beweiskraft zu geben.« Dies war offensichtlich der Punkt, in dem der Anklage die Beweisführung auf überaus schwachen Füßen zu stehen schien. Simon wurde vor Schluß des Verfahrens erneut in den Zeugenstand gerufen und seine Aussage abermals geprüft. »Sie haben zugegeben, daß Sie an dem fraglichen Abend zu der Luxor hinausfuhren mit der Absicht, Osman zu überfallen?« »Ich habe es nie abgestritten«, sagte der ›Heilige‹.
»Warum haben Sie denn, da Sie so sehr darauf bedacht waren, das Gesetz selber in die Hand zu nehmen, Ihre Aufmerksamkeit auf den Ermordeten beschränkt?« »Weil ich von ihm gehört hatte und von Stride nicht. Mister Smithson Smith hat mich über Osman ins Bild gesetzt – das ist bereits zu Protokoll gegeben worden.« »Und Sie«, sagte der Verteidiger mit wohlerwogener Ironie, »wurden augenblicklich von solch einer Leidenschaft für die Gerechtigkeit ergriffen, daß Sie nicht schlafen konnten, bevor Sie das Ungeheuer, als das Osman Ihnen dargestellt worden war, geprügelt hatten?« »Ich sagte mir, daß es ein rechter Spaß werden müßte«, erwiderte der ›Heilige‹ mit vollkommen ernstem Gesicht. »Es ist vermutet worden, daß Sie der Mann waren, der Osman vor fünf Jahren gebrannt hat – war das auch als ein richtiger Spaß gedacht?« – »Ich bin dem Mann nie zuvor begegnet.« »Sie haben Galbraith Stride sagen hören, daß Sie ihm erzählt hätten, Sie wären ihm begegnet?« »Er muß verrückt sein«, erwiderte der ›Heilige‹ – eine Antwort, die ihm eine drei Minuten lange Zurechtweisung des gelehrten Richters eintrug. In seinem Schlußwort gab der Anwalt der Krone zu bedenken, daß die Schwierigkeit vielleicht so groß nicht war, wie sie zu sein schien. »In diesem Prozeß«, sagte er, »herrscht bedenkenswerter Mangel an Übereinstimmung nur zwischen den Aussagen Mr. Clements’ und Mr. Templars einerseits und der von dem Angeklagten vorgetragenen Darstellung andererseits. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß es der Verteidigung in keiner Weise gelungen ist, die Glaubwürdigkeit dieser beiden Zeugen zu erschüttern, und wenn Sie beim Zurückweisen der Aussage des Angeklagten sich erinnern, daß sie in keinem
einzigen Punkt von irgendeinem anderen Zeugen bestätigt wird und daß Sie, falls Sie diese Aussage nicht als die phantasievolle Erfindung eines Mannes zurückweisen, der verzweifelt lügt, um seinen Kopf zu retten, nur eine andere Möglichkeit haben, nämlich die Aussagen aller anderen Zeugen als nichts Geringeres als die vorsätzliche Absprache, einen Unschuldigen an den Galgen zu bringen, zu betrachten – dann, meine Damen und Herren, gibt es meiner bescheidenen Meinung nach nur einen Schluß, den ein vernünftiger Mensch ziehen kann.« Die Geschworenen blieben drei Stunden weg; aber für die Reporter auf der dichtbesetzten Pressetribüne stand die Entscheidung fest. Galbraith Strides Fingerabdrücke waren an der Pistole gefunden worden, und das schien den Fall zu besiegeln. Also befand man ihn für schuldig, wie wir bereits wissen; und die Wärter mußten ihn stützen, als der Richter das schwarze Barett aufsetzte.
IX
Drei Wochen später brachte der Briefträger auf seiner Frühmorgenrunde Toby Halidom einen Brief. Er war wach, um ihn selber in Empfang zu nehmen; denn in der Nacht zuvor war die Geschichte, soweit sie ihn betraf, schleppend in ihre unerträgliche letzte Runde gegangen. Es war das Ende eines dreiwöchigen grausamen Wartens gewesen – drei Wochen, in denen die Züge der Qual, die sich in das Gesicht, das er liebte, eingegraben hatten, auch seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeätzt wurden. Nicht, daß sie beide auch nur die geringste Zuneigung verspürten zu dem Mann, der diesen abscheulichen Handel mit Abdul Osman geschlossen hatte und nun auf die letzte, unwiderrufliche Vorladung durch das Gesetz wartete; Galbraith Stride hatte sich selber dieser Zuneigung begeben. Aber sie hatten ihn persönlich gekannt, an seinem Tisch gegessen, ihn gehen und reden sehen als ein menschliches Wesen ihrer eigenen Art und nicht als das unpersönliche, deformierte Museumsstück in einem Glaskasten, das die Gerichtswissenschaft bereits aus ihm zu machen begann, und man hätte sie wohl schwerlich selber menschlich nennen können, wären sie nicht immer wieder im Schlafen und Wachen von dem unaufhaltsamen Vormarsch des Gesetzes wie von einem Alptraum heimgesucht worden. Und diese vergangene Nacht war die letzte und schlimmste von allen gewesen. Um Mitternacht hatte Toby zugesehen, wie Laura von einem gütigen, verständigen Arzt mit einem Schlaftrunk zu Bett geschickt wurde, der ihr den Schlaf bringen sollte, den sie sonst nicht gefunden hätte, und er war in seine
Junggesellenwohnung zurückgekehrt, um sich an Nachtruhe zu holen, was sich holen ließ. All ihre Leiden waren durch seine Anteilnahme auch seine gewesen; er hatte erlebt, wie sie im Gerichtssaal von glubschäugigen Vampiren angestarrt wurde, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wußten, als sich an dem kostenlosen Schauspiel zu weiden, das ihre schwere Prüfung ihnen bot – hatte mit neuentdecktem Ekel die Sensationsmeldungen in der Presse gelesen, die sich unvermeidlicherweise um den Prozeß rankten, und die Fotograf en gesehen, die sich wie eine Meute Hunde auf sie stürzten, wenn sie den Gerichtssaal verließ. Er hatte einen niedergeschlagen, der allzu dreist wurde, und das hatte ihm einige Erleichterung verschafft. Aber der Rest der Last war geblieben, und das Fragen war ihm nicht gerade leichter gemacht worden durch die plötzliche Unzulänglichkeit des einen Mannes, der ihm vielleicht hätte helfen können. Simon Templar war so schwer zu fassen gewesen wie ein Gespenst; ein paar Tage nach dem Prozeß berichtete ihm Chefinspektor Teal, der wegen einiger Akten zu ihm gekommen war, daß der ›Heilige‹ ins Ausland gereist sei. Toby hatte unruhig bis sechs Uhr geschlafen, war dann unausgeruht aufgestanden. Er machte sich eine Tasse Tee und ging rastlos in seinem kleinen Wohnzimmer auf und ab. Das Klopfen des Briefträgers an der Wohnungstür kam als Erleichterung: alles, was ihm ein paar Minuten Zerstreuung brachte, war ihm willkommen. Er ging hinaus und fand diesen einen Brief. Er trug eine spanische Marke und war in Barcelona abgestempelt. Mein lieber Toby, ich weiß, daß Sie allerhand Unfreundliches von mir gedacht haben, seit es während des Galbraith-Stride-Prozesses so widerspenstig unmöglich wurde, an mich heranzutreten. Ob Sie wohl verstehen, daß ich nur getan habe, was ich für das
beste hielt, und überzeugt bin, daß auch Sie fortan einsehen: es war das beste für Sie beide? Sie werden sich erinnern, daß Sie mir bei unserem letzten Zusammentreffen (nach den Polizeiverhören) erzählten, was sie bedrückte, und daß ich Sie nur aufs allerunbestimmteste beruhigen konnte. Ich wollte Sie nicht zu sehr belasten. Denn nicht alle sind dazu geboren, Richter und Scharfrichter aus eigener Vollmacht zu sein, und was Sie nicht wußten, konnten Sie selbst bei stärkster Verlockung nicht enthüllen. Wir kamen überein, daß es besser sei, wenn Sie nichts wüßten, bis alles vorbei war, und daß Laura es nie erfahren dürfe. Nun, diese Zeit ist fast gekommen, und sie wurde sehr viel näher gebracht durch ein Telegramm, das ich heute morgen erhielt und das den letzten Grund beseitigte, aus dem ich hätte schweigen können. Clements ist tot. Und er, Toby, war der Mann, der Abdul Osman getötet hat. Ich weiß genau, was Sie gedacht haben. Dieses Geständnis in der Kajüte – als Sie mir weismachten, Sie hätten geschossen – war nicht ganz so töricht, wie ich Sie glauben zu machen versuchte, und vielleicht haben Sie es nie ganz geglaubt. Vielleicht gibt es sogar jetzt noch Augenblicke, in denen Ihnen Zweifel kommen… Sie konnten Laura natürlich nicht fragen. Nun, den Schatten kann ich von eurem jungen Leben nehmen. Und dann gab es Augenblicke, da Sie glaubten, ich hätte es getan. Aber obwohl es nicht nötig war – ich setzte Berge auf Ihre Loyalität, die es verhinderte, daß Sie auch nur irgend etwas in dieser Richtung andeuteten, als Sie im Zeugenstand brieten. Sie deuteten es sich so: Galbraith Stride verkaufte Laura, und ich rettete sie, und sollte ich auch mit einem Meineid in die Hölle fahren, sie waren – so sagten sie sich – durch eine Schuld an mich gebunden, die sie zu schweigen hieß. Und nun,
Toby, müssen Sie sich als ein ebenso großartiger Kerl im Gedanken an den armen Kerl zeigen, der vorige Tage starb. Folgendermaßen hat es sich zugetragen. Ich traf auf der Claudette in dem Augenblick ein, als Sie und Laura von der anderen Seite ablegten. Ich hörte Ihr Boot davonschnurren, dachte mir jedoch zu dem Zeitpunkt nichts weiter dabei. Ich war gleichzeitig hinter Galbraith Stride und Abdul Osman her. Sie wissen genau, wer ich bin und was ich im Namen dessen getan habe, was ich für Gerechtigkeit halte. Ich war zu dem Schluß gekommen, daß sowohl Osman als auch Stride viel zu gemein und widerwärtig waren, um noch länger leben zu dürfen. Ich habe Menschen getötet – viele Menschen – es bedeutete für mich auch nicht annähernd dasselbe, das es für Sie bedeutet hätte. Ich hatte vor, die beiden auf der »Seepapagei« zu entführen, sie mit einer halben Tonne Blei als Ballast zusammenzubinden und dann in aller Stille draußen vor Round Island ins Meer zu werfen, wo das Wasser vierzig Faden tief ist und sie in der Grundsee hätten schaukeln können, bis die Hummern mit ihnen fertig waren. Stümpern hätte es nicht gegeben und kein Aufsehen, und ein Prachtstück von einem Alibi hätte drüben in St. Mary’s auf mich gewartet, hätten sich nicht ausgerechnet in dieser Nacht noch andere Dinge getan, die meine Pläne gründlich durcheinanderbrachten. Ich hievte Stride an Bord der Luxor und flitzte übers Schiff, um herauszufinden, wo die Mannschaft sich aufhielt, damit ich wußte, aus welcher Richtung ich Unannehmlichkeiten erwarten mußte, wenn es zu welchen kommen sollte. Dann lief ich zur Kajüte zurück, hob das Oberlicht einen Spalt an, um einen Blick hineinzuwerfen, und sah, was da unten im Gange war, Toby, ich mußte einfach zuschauen. Nennen Sie es krankhafte Faszination oder was immer Sie wollen: da unten ging etwas vor, worüber ich mehr herausfinden mußte. Das
meiste hörte ich mit – und bedenken Sie bitte, daß ich jederzeit hätte eingreifen können, sobald die Sache sich anschickte, wirklich übel zu werden. Vielleicht hätte ich Ihnen einiges von dem, was geschah, ersparen können, aber meine berufsmäßige Neugierde mußte die Szene so weit abrollen lassen, wie ich es eben wagte. Osman sagte die Wahrheit, was den Handel mit Stride anging – das war mir sofort klar. Erinnern Sie sich, daß der zerrissene Brief, den man in der Kajüte fand – der Brief, mit dem Laura geschickt worden war –, nichts weiter als ein weißes Blatt Papier war? War das nicht schon ein ausreichender Beweis? Sie sahen den Brief später erst; aber ich blickte Osman genau über die Schulter und sah ihn in dem Augenblick, da er ihn öffnete. Sie wissen, was bis zu dem Augenblick passierte, da man Sie aus der Kajüte schleppte. Dann probierte Abdul seine seltsamen Liebeskünste an Laura aus, wie man Ihnen berichtet hat. Der einzige andere Anwesende war Clements – der Mann, den Abdul vergaß – der Mann, den alle immerzu vergaßen. Und Clements, der von wahnwitzigem Verlangen nach der Nadel gepeinigt war, an die Abdul ihn gewöhnt hatte – den ganzen Tag über war sie ihm vorenthalten worden, wie er hinterher aussagte: einfach aus einer dieser bösartigen Folterlaunen heraus, die Abduls freundliche Einbildungskraft ohne Unterlaß hervorbrachte, Clements’ ganzes Sinnen und Trachten war einzig und allein darauf gerichtet, sich die konfuse Situation zunutze zu machen und sich aus dem Schrank zu bedienen, in dem das Zeug aufgestapelt war. Ich sah ihn wie einen Wahnsinnigen darauf zutaumeln, und damit schien mir mein Stichwort gegeben. Ich griff endlich ein. Ich war unbewaffnet aufgebrochen – jüngst erworbenes Berüchtigtsein hat mich vorsichtig gemacht: ich möchte mich lieber nicht im Meilenumkreis einer Pistole erwischen lassen –,
aber Stride hatte eine Kanone bei sich, als ich ihn gefangennahm, und ich hatte sie in eine Tasche gesteckt, die nicht für schnelles Ziehen entworfen worden war, nachdem ich einige Sekunden überlegt hatte, ob ich sie ins Meer werfen sollte. Nun brauchte ich sie dringend, und ich wollte sie gerade mit der einen Hand herauszerren, während ich mit der anderen das Oberlicht hochhielt, da begann Clements mit seiner großen Szene. Er hatte die Hände in dem Schrank, und da lag eine Pistole. Er stieß daran, hob sie dann auf – weiß der Himmel, warum. Und dann blickte er sich um. Laura war gerade ohnmächtig geworden, und Abdul befingerte sie. Ich sagte Ihnen, daß ich mein eigener Richter und meine eigene Jury von Geschworenen gewesen sei; aber es gibt Dinge, über die zu Gericht zu sitzen auch ich mir nicht anmaße. Sie werden vielleicht sagen, daß Clements allen Grund hatte, Osman zu hassen, daß er vielleicht sogar gewußt hat, daß Osmans Tod, mochte er ihn kosten, was er wollte, für ihn das Ende einer Sklaverei bedeutete, die schlimmer war als irgendein Henker. Sie können auch sagen, daß Osmans Vorführung an diesem Abend vor Ihren Augen seinen Haß zu einer lodernden Flamme entfachte, die nicht einmal die Befürchtung, seines Rauschgiftes beraubt zu werden, zu löschen vermochte. Oder vielleicht möchten Sie auch annehmen, Toby, daß selbst in diesem menschlichen Wrack, das Osman aus ihm gemacht hatte, noch ein Funken des Mannes glühte, der Clements zuvor gewesen war; ein Funken, der zu einem schwachen Feuer neuen Mutes erwachte angesichts dieser letzten brutalen Demütigung, deren Zeuge Sie waren, ein Funken, der selbst in seiner hoffnungslosen Seele die Schmach jener abscheulichsten Gewalttätigkeit spürte, die er mit ansehen mußte. Sie werden annehmen, was
Sie annehmen möchten, und ich ebenso. Ich werde Ihnen nur erzählen, was ich sah. Clements drehte sich um, die Pistole in der Hand. Sein Gesicht war unter der Lampe, und es trug den Ausdruck – ich kann nicht sagen: des Hasses oder der rasenden Wut – den Ausdruck plötzlichen Friedens, der Verzückung geradezu. Er trat auf Abdul Osman zu und schoß ihn ins Herz und stand ganz ruhig da und sah zu, wie er zusammensackte, und dann ließ er die Pistole fallen – sie fiel zufällig in Lauras Nähe – und ging zurück an den Schrank. Und ich muß sagen, er taumelte nicht zurück wie ein verhungerndes Tier: so hatte er sich dem Schrank beim ersten Male genähert. Er ging ganz langsam, ganz ruhig, obwohl ich sehen konnte, daß jeder seiner Nerven wie ein weißglühender Draht schmerzte in seiner Gier nach jenem Gift. Nun, es sah danach aus, als ob nun die polizeiliche Untersuchung folgen müsse, und ich wollte nicht, daß irgendeiner von uns an Ort und Stelle hineingezogen wurde, zumal nun, von dem Schuß aufgeschreckt, die Mannschaft herbeistürzen würde. Ich raste durch die Gänge und sperrte sie gründlich ein, nachdem ich das Oberlicht ganz aufgewuchtet und Galbraith in voller Schönheit hatte hinunterplumpsen lassen, um ihn aus dem Weg zu schaffen – er schlief immer noch friedlich von dem Hieb, den ich ihm aufs Kinn versetzt hatte, und es war unwahrscheinlich, daß er in der nächsten Zeit Ärger machte. Ich brachte Sie und Laura zu Ihrem Motorboot hinunter und kehrte dann um – übrigens müssen Sie ein ganz schön kräftiger Vogel sein, wenn Sie erst einmal richtig wach werden: die Angeln der Tür, die Sie aufgebrochen hatten, sahen aus wie nach einem Erdbeben. Ich mußte immer noch weiterdenken mit einer Geschwindigkeit, von der ich beinahe Gehirnfieber bekam, denn wenn man Alibis, die nicht vorbereitet worden
sind, in sechzig Sekunden austüfteln muß, bleibt einem keine Zeit fürs Dichten. Alles, was ich Ihnen in dem Boot da unten sagte, kam schnurstracks aus meinem Kopf, ohne Kaffee und Eiskompressen; und dann ließ ich Sie allein und ging in die Kajüte zurück, um die Szene so zurechtzurücken, daß sie stimmte. Gleich im ersten Moment nämlich hatte ich bereits beschlossen, daß Clements für das, was er getan hatte, nicht baumeln würde, wenn ich es eben vermeiden konnte. Abdul hatte es sich selber zuzuschreiben, und Abdul hatte das bekommen, was ihn ohnehin ereilt hätte und was ihm zukam. Clements hatte lediglich eine Schuld beglichen: zehn Jahre lebenden Tod. Und schließlich, Toby, war es Clements, der tatsächlich ihr Mädchen rettete. Ich hatte diesen Ausdruck in seinem Gesicht gesehen, als er Osman erschoß, diesen Ausdruck, den ich Ihnen wohl nie werde beschreiben können und den ich darum besser in dieser Geschichte ausspare und Ihnen überlasse, damit Sie ihn in Ihrem Herzen sehen, falls Sie können. Ein sehr viel passenderes Opfer schien mir zur Hand: Galbraith Stride, den es ebenfalls in dieser Nacht ereilt hätte. Die einzige Frage war, ob ich Clements genügend zur Vernunft bringen konnte, damit er begriff. Das Gift hatte zu wirken begonnen, als ich zurückkam, und er war mehr oder weniger normal. Und sehr ruhig war er auch. Er benutzte praktisch dieselben Worte wie Sie. »Soll man mich nur hängen«, sagte er, »mir ist es ziemlich gleich.« Ich packte ihn bei den Schultern, und ob Sie es glauben oder nicht: er konnte mir in die Augen sehen. »Man wird Sie nicht hängen«, sagte ich. »Man wird Galbraith Stride hängen.« »Mir ist es gleich, was passiert«, sagte Clements. »Es tut mir nicht leid, daß ich Osman getötet habe. Sehen Sie mich? Ich
bin nur einer von denen, die er ruiniert hat. Es gibt Tausende andere. Ich habe sie gesehen. Sie haben das nicht durchgemacht, und Sie wissen nicht, was es heißt.« »Vielleicht doch«, sagte ich. »Aber Galbraith Stride, der ist genauso einer wie er.« Und ich erzählte ihm, daß ich vorgehabt hätte, Stride in jener Nacht ebenfalls zu töten, und wer ich war. Dann begriff er. »Ich habe in keinem Fäll noch lange zu leben«, sagte er. »Aber ich möchte doch noch erleben, daß dieses Werk vollbracht wird.« Er wollte Stride auf der Stelle erschießen und die Schuld für beide auf sich nehmen, aber ich sagte ihm, daß es einen besseren Weg gebe. Es schien ihm ziemlich gleichgültig, aber ich wollte mir einfach vorstellen können, daß dieser arme Teufel den Rest seines Lebens in der Freiheit, die er seit zehn Jahren nicht mehr gekannt hatte, anständig hinter sich brachte. Ich redete zwanzig Minuten lang auf ihn ein und entwickelte ihm die Geschichte, die wir erzählen wollten, und er war fix dabei. Dann brach die Mannschaft die Tür des Logis im Vorschiff auf und kam brüllend in die Kajüte gestürzt, und zu meinem Glück war Clements hübsch geläufig im Arabischen und tischte ihnen die Fakten so auf, wie wir es verabredet hatten. Und so erzählten wir also unsere Geschichten, wie Sie sie gehört haben; und Galbraith Stride wird an dem Tag gehängt werden, an dem Sie diesen Brief erhalten. Ich kann Ihnen gegenüber keine Entschuldigung vorbringen. Vorsätzlich und mit unendlicher vorausbedachter böser Absicht habe ich es so eingerichtet, daß Ihr zukünftiger Schwiegerstiefvater zum Galgen verurteilt wurde; und nichts, was auch immer geschieht, kann mich dazu bringen, daß es mir leid tut. Es war eine gerechte Sache nach meiner Ansicht von Gerechtigkeit, die ich auch weiterhin vertreten werde; sie
speist sich aus einem Gesetz, das größer ist als alle von Menschen gemachten Gesetze. Aber Ihnen ist beigebracht worden, diese von Menschen gemachten Gesetze zu achten; also wird dieser Brief Ihnen dazu verhelfen, Ihr Gewissen zu entlasten. Manches davon haben Sie natürlich geahnt, und es steht Ihnen frei, nun so viel davon weiterzusagen, wie Sie mögen. Clements ist für Ihre Gerechtigkeit nicht mehr erreichbar, aber Chefinspektor Teal würde nichts mehr behagen als eine Gelegenheit, seine Bluthunde mit den Taschen voller Auslieferungsbefehle auf meine Fährte zu hetzen. Sie würden mich natürlich nicht fangen, aber der Versuch könnte ihnen eine Menge arglosen Spaß bereiten. Falls es Sie interessiert, was Clements späterhin noch gedacht hat, möchten Sie vielleicht vernehmen, was ich als letztes von ihm hörte. Ich bekam einen Brief, den er geschrieben haben mußte, als er wußte, daß der Sand fast verronnen war. Nur eine Zeile stand in dem Brief. »Mögen Sie blühen und gedeihen!« Ein gutes Stück melodramatischer, als ein englischer Gentleman sein sollte, mögen Sie vielleicht sagen, Toby. Aber er war aus Abgründen zurückgekehrt, in die Sie hoffentlich nie schauen müssen – vor denen er Sie, selbst wenn ich in jener Nacht nicht an Bord gewesen wäre, gerettet hätte. Sie werden über ihn richten und beschließen, was es für Sie zu tun gilt, je nachdem, wie Sie diesen Abschied beurteilen. Es ist Ihr gutes Recht, selber diese Entscheidung zu treffen. Falls diese Entscheidung so ausfällt, wie ich es glaube, sehen wir uns vielleicht noch einmal wieder. Mit den allerbesten Grüßen, Simon Templar Toby Halidom zündete eine Zigarette an und las den Brief noch einmal Wort für Wort. Irgendwie nahm er ihm eine entsetzliche Last von der Seele, schenkte ihm ein großes Aufatmen der Erleichterung durch die umfassende Aufklärung,
die er enthielt. Und während er las, spielte ein eigentümliches leichtes Lächeln um seine Lippen, das jeden Lehrer in Harrow außerordentlich überrascht hätte. Er legte den Brief auf den leeren Feuerrost und sah zu, wie die Blätter aufflammten und sich krümmten und verkohlten. »Mögen Sie blühen und gedeihen«… Und mit einemmal war ihm leicht und klar ums Herz, und er trat ans offene Fenster und beugte sich über die Brüstung und blickte in die blaugraue Morgendämmerung dieses 22. November hinaus. Irgendwo schlug eine Uhr die achte Stunde.