Dietrich Krusche Der Fisch im Sand Erzählungen
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Dietrich Krusche Der Fisch im Sand Erzählungen
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littera scripta manet
Landung in M. Auf ein Kommando hin stehen die Kinder auf. Genug Licht, um im Hintergrund eine Art Altar zu sehen. Ein Bild mit Himmelblau und Rosenrot darauf, in zwei Blechbüchsen rechts und links davon Räucherstäbchen, die meisten schon abgebrannt. Ruß liegt ausgeflockt, dünner Rauch zieht schräg vor das Bild, weg vom Altar und verliert sich im Licht. Das kommt von der Seite, aus schmalen Fenstern in dicken Mauern, Lichtscharten, streift den Raum dunkel-hell. Der Boden staubig, an den Tischbeinen laufen Kerben hoch, die frischesten Narben im Holz sind noch gelb. Die Luft, die draußen feucht gewesen ist, ist klebrig drinnen. Das Bedürfnis, die Finger zu spreizen. Der Rauch, ins Lichtmuster aufgelöst, erreicht die Kehle. Sindermann schließt hinter uns die Tür. Das Kommando der Kindergärtnerin zu singen, habe ich wohl überhört. Eine Nonne. Sie steht mit dem Rücken zur Wand, nur das Gesicht löst sich von der Mauer, weißlich und kahl. Der Mund fest geschlossen. Kann sein, da ist gar kein Kommando zum Singen gewesen, und die Kinder singen von selbst. Ihre Lippen sind gewölbt, die Augen zu Kreisen geweitet, es sieht aus, als sängen sie auch mit den Augen. Drei Münder stehen in jedem Gesicht, singen und saugen. Uns singen sie an. Ein Rückzug ist ausgeschlossen, ehe das Lied nicht zuende ist.
Hinter uns Sindermann, der Verläßliche. Er hat am Flugfeld gewartet. Als die Maschine, stundenlang verspätet, landet, ist er zur Stelle gewesen. Sindermann wie eh und je. Er hat uns durch den Zoll geholfen, er kennt den Paßoffizier. Er trägt den Koffer, sein Wagen wartet. Er weiß, was er uns zuallererst zeigen will. Er hat uns hergebracht. In der Nähe des Flugfelds auf einem Hügel steht eine Kirche. Der Chor und Teile des Mittelschiffs sind alt. omas, der spät Bekehrte, soll auf einer seiner Reisen bis hierher gekommen sein. Die berühmte omaskirche in M. Der Hügel scheint, je näher wir kommen, desto höher. Die Stufen verlieren sich zwischen Kakteen und abgedorrten Agaven. Die Hügelkuppe ist vom Einstieg unten nicht sichtbar. Der Wagen hält hinter einem Ochsenkarren. Der Ochse ist ausgeschirrt und liegt im Schatten einer Pinie. Der Ochsentreiber lehnt am Wagenrad. Er sieht uns an, aber als wir ihm in die Augen sehen, hat er nichts im Blick. Die Vorfreude Sindermanns, uns die Kirche zu zeigen, ist größer als unsere Neugier. Was sollen wir auf dem Berg? Evelyn, während sie eine Fußspitze aus dem Wagen setzt, beklagt, im Reisekostüm zu sein. In der Maschine ist es kühl gewesen, so kühl, daß auch das Kostüm zu leicht war, und jetzt –. Ich sage, sie könne ja unten beim Wagen bleiben, während Sindermann und ich –. Aber das will sie nicht. Wir haben, was sie unterwegs tragen solle, vor dem Abflug besprochen, und ich habe ihr geraten, einen Kompromiß zu schließen zwischen Zweckmäßigkeit und Eleganz, da wir ins Tropische flogen, nicht das Kostüm anzuziehen, sondern für den Flug eine Wolljacke anzuziehen über ein leichtes Kleid, die Jacke läßt sich dann ausziehn nach der Landung. Aber: Ach was –. Wir halten an jeder Kehre der Treppe, sehen voraus und zurück. Die Sonne scheint schon schräg in den Hang. Aber es
wird nicht kühler. Ich habe in der Maschine zum kalten Büffet einen Cocktail getrunken und dann noch zwei. Mir ist schwindlig und schlecht. Evelyn hat mir wortreich abgeredet, einen Cocktail während des Flugs zu trinken, und als ich den zweiten trank, kein Wort mehr gesagt. Jetzt fragt sie, ob mir nicht gut sei, beugt sich vor, um mein Gesicht zu sehen. Ich sehe nach der anderen Seite: Ach was –. Plötzlich sind wir oben. Keine Kakteen und keine Agaven mehr, nur Steine, einzeln und in Haufen, und ein paar Steingebäude. Eins davon bezeichnet Sindermann als die Kirche. Aber Stein ist Stein, was soll man schon sehn! Die Kirchentür ist verschlossen. Ich habe, wenn schon nichts zu sehen ist, wenigstens auf Schatten gehofft. Evelyn kämpft mit dem Kleben ihrer Haare im Gesicht, dem Kleben der Bluse auf dem Rücken, dem Kleben des Rocks zwischen den Beinen. Nur Sindermann ist trocken und offenbar kühl. Er ist an das Klima gewöhnt. Außerdem ist er, wie Sindermann immer ist: unverdrossen, nicht abzubringen von seinem Ziel. Jahrelang, immer wieder hat er geschrieben, wir sollten doch kommen, und jetzt will er uns, gleich nach der Ankunft die Kirche zeigen, die berühmte omaskirche in M., sein ganzer Stolz, er ist Archäologe, sonst gibts hier, sagt er, nichts Sehenswertes. Er geht, um den Kirchenschlüssel zu holen. Wir trotten hinter ihm her, um nicht allein gelassen zu sein vor der Tür. Auch zwei weitere Gebäude sind verschlossen. Erst die Tür des vierten und letzten, des kleinsten auf dem Hügel, gibt nach. Sindermann, offenbar selbst überrascht, fällt beinah mit der Tür ins Haus. Es ist düster drinnen, eine Weile bleibt er verschwunden. Als er wiederkommt, bringt er nicht den Schlüssel zur Kirche mit, sondern winkt uns herein. Wir vergessen die Kirche gleich und drängen voran. Ich will im Schatten meine Übelkeit loswerden und Evelyn in der Kühle das Kleben ihres Kostüms. Wir
zwängen uns gleichzeitig durch die Tür, prallen im Inneren auseinander: wir stehen einer Schar von Kindern gegenüber. Sindermann schließt hinter uns die Tür. Es ist gar nicht nötig gewesen, daß die Nonne ein Kommando zum Singen gibt. Die Kinder singen, als sie uns sehen, von selbst. Sie singen uns an. Sie singen sich mit geweiteten Mündern, gerundeten Augen immer näher an uns heran. Singen sich an uns fest. Sie besingen unsere Haut, unsere Haarfarbe, unsere Augen. Sie ersingen sich meine Krawattennadel, die Bügelfalte meiner Hose, Evelyns Brosche, das Plisseegefältel ihrer Bluse, die Ringe an ihren Händen, die Strumpfglätte der Beine. Singend Zeile um Zeile betasten sie, nehmen in Besitz. Weder meine Manschettenknöpfe bleiben unentdeckt, noch Evelyns Augenwimpern und Lippenrot. Sie singen sich in uns ein … Plötzlich sind wir gekommen wie alles Unbegreifliche. Und eigentlich sind wir gar nicht durch die Tür gekommen, sondern aus dem Rosenrot und Himmelsblau im Bilderrahmen zwischen den Räucherkerzen auf dem Altar: Himmelspaar, jung und weiß! Sie singen aus Leibeskräften. Eins der Kinder schielt, zwei haben die Krätze, eins hat eine Narbe auf der Backe, die über den Hals herab bis unter das Hemd läuft. Aber keins ist gehindert am Singen. Die Hände, die eben noch gegrabscht, Haare gerauft, Krätze und Läuseschorf gekratzt haben, hängen still. Die Münder und Augen werden nicht satt vom Singen: In das Waisenhaus des Klosters ist von dort, wohin die Nonnen beten, ein Paar gekommen, jung und weiß. Während des Flugs haben wir von Kindern gesprochen. Nicht anders als sonst schon oft – nur daß der Motorenlärm zu lauterem Sprechen zwingt. Als die Landung näher kommt, haben wir schneller gesprochen, das hat zu einer Verschärfung des Tons geführt. Wenn wir immer schneller sprechen, dann nicht deshalb, weil vor der Landung noch etwas Besonderes, bisher
noch nicht Gesagtes unbedingt noch zu sagen ist. Nur das übliche Pensum ist abzuleisten, Grund zu Erregung besteht nicht. Etwas Neues gibts nicht zu sagen. Was der eine auch nur irgend sagen kann, hat irgendwann einmal schon der andre gesagt. Denn was das Kinderkriegen angeht, hat nie das »Ob« infrage gestanden, sondern immer nur das »Wann«, und Gespräche dieser Art haben immer nur dazu gedient, daß der eine – oder der andere – Argumente vorbrachte für das »Später!«. Anlässe zu den Gesprächen finden sich immer. Während des Flugs ist Sindermann der Anlaß gewesen, der uns am Ort der Landung erwartet. Seit er bei der Hochzeitszeremonie hinter uns gestanden hat als Zeuge und Bürge, hatte er immer wieder gefragt: »Wie stehts?«, hat er, seit er in M. ist, geschrieben, regelmäßig: »Ists bald soweit?!« Sobald wir gelandet sind, wird er, noch auf dem Flugfeld fragen: »Na, immer noch keine Kinder?!« Später oder Jetzt? Die Standpunkte haben wir oft miteinander getauscht. Allerdings ist es, während des Flugs nicht aus der Luft gegriffen, daß Evelyn in der letzten Zeit das »Später« für sich beansprucht hat und ich bestanden habe auf dem »Jetzt«. Womit ich durchaus nicht sagen will, daß dieser Standpunkt nun ein für allemal meiner und ihrer der andre ist. Im Gegenteil, wenn ich sage: »Wozu sich was vormachen?!«, meine ich sie wie mich. Was heißt da »noch nicht«?! Gemeint ist doch längst »nicht mehr«! Willkommen in der gemeinsamen Schäbigkeit: Wir haben ja beide noch nie gewollt, bloß geredet haben wir – so wie jetzt! Wozu auch Kinder? Aber sich gegenseitig – über Jahre – vormachen, daß man unbedingt eins will? Grund zu gegenseitigen Vorwürfen besteht nicht. Eher zu Heiterkeit. Ein Flug über größere Entfernungen erzeugt die Euphorie des Entdeckens – und wenns das Entdecken ist eigener Schäbigkeit. Gemein?! Ich lüge, du lügst – wer lügt? Wer hält was nicht mehr aus? Was ist zum
Heulen? Worüber wird geheult? … Als wir landen, als die Maschine ausrollt und die Türe aufgeht in die flimmernde Hitze, als Sindermann da ist und noch auf dem Flugfeld fragt: »Na, immer noch keine Kinder?«, da reicht die Fassung schon wieder dazu, daß Evelyn ihm einen Kuß auf die Backe gibt und – mit vielsagendem Blick auf mich – sagen kann: »Aber bald!« Die Kinder singen. Sie besingen das strahlende Paar. Jedes der Kinder ersingt es für sich. Jedes sieht sich schon hochgenommen und auf die Stirn geküßt, sieht sich angenommen als Kind des strahlenden Paars, aufgenommen in alle Herrlichkeit, von der die Nonnen erzählen. Sie singen, um uns die Arme zu öffnen … Hinter uns, groß, knochig und zuverlässig steht Sindermann.
Beim Wirt zu Gast Die Wände des Hotels sind dünn, und das Essen ist mager. Der Weg zum Strand läuft über einen Abhang, wo Gräben gezogen, Zement gemischt und Rohre eingesenkt werden. Man drängt sich zwischen den Arbeitern durch und stört. Dann kommt man durch Gassen, die rechtwinklig aneinanderstoßen, sieht sich von Ecke zu Ecke geschubst, und wenn man aus dem Gewinkel freikommt, ist man am Strand: auf dem schmalen Streifen zwischen Wasser und Häuserfront ist es schwer, einen Platz zu finden. Gern würden wir, da wir der Ruhe und Sammlung wegen gekommen sind, die Zeit und alles vergessend im Sande die Glieder strecken. Aber da sind zu viele Glieder und zu wenig Sand, als daß man die seinen noch froh dazulegen könnte. Gehen wir mittags oder, zum zweitenmal, gegen Abend zurück, wartet das Hotel, ein kastenförmiger Bau, in dem sich der Lärm in der Horizontalen wie in der Vertikalen frei entfaltet. Das Essen ist mager. Dazu kommt, daß die Vorderfronten aller Zimmer aus Schiebetüren bestehen und die Schiebetüren aus Glas und daß jedes Stockwerk vor den Zimmertüren eine Terrasse hat, die Gelegenheit bietet, im Schreiten hin und her all die Zimmer am Weg zu betrachten und zu verfolgen, wie sich das, was sich etwa darin tut, von einem Vorbeigehn zum andern entwickelt. Von dieser Gelegenheit wird von den Mitgästen reichlich Gebrauch gemacht.
Vom Inneren eines der Zimmer aus gesehen, ist die Lage so, daß man zwar Vorhänge hat, die sich zuziehen lassen, daß man aber der Hitze wegen die Schiebetüren möglichst weit offenhalten muß, und daß der Wind die Vorhänge immer wieder auseinanderbläst – besonders dann, wenn man am wenigsten in die Sicht der Öffentlichkeit geraten will. Daher hat es sich als das Beste erwiesen, die Vorhänge gar nicht erst vorzuziehn. So entgeht man am sichersten der Versuchung, sich in Situationen zu begeben, in denen man Nichtgesehenwerden gewohnt ist. Allerdings macht es Schwierigkeiten, beim Ausziehen, Anziehen, Lesen, Mittagsschlaf, Briefeschreiben, Melonenessen mit aufmerksamen Blicken Dritter zu rechnen – und dann möglichst nicht mehr damit zu rechnen! Natürlich ist eine solche Anpassung an die Umstände möglich. Aber sie bedarf einer beträchtlichen inneren Sammlung, die sich etwa darin erweisen müßte, daß man, ganz dem Melonenessen hingegeben, die Mundwinkel auseinanderzerrend so weit man kann, die Zähne ins rote Melonenfleisch schlagend, nicht stutzt, stockt und erstarrt, wenn man sich plötzlich dabei betrachtet sieht, sinnend betrachtet von einem Menschen in Sonntagsstaat. Dann nicht das Bedürfnis zu haben aufzuspringen, wegzulaufen oder gar die Melonenscheibe zu schleudern in Richtung des Zuschauers im Sonntagsstaat, sondern weiterzuessen so, wie eine Melone nun einmal gegessen sein will, darauf käme es an! Zum Erwerb solcher Sammlung, solch innerer Eigenschwere kann ein kräftiges Essen beitragen. Das Hotelessen besteht morgens aus Reis, Fischsuppe mit Eierstich und getrockneten Algen, mittags aus Reis und Fisch (gedünstet oder gekocht), abends aus Reis und Fisch (gebraten und roh) und Beilagen bestehend aus getrockneten Algen, einer Eissiggurke, einem Blatt Petersilie und zwei Würfeln eingelegtem Kürbis – dazu natürlich Tee. Der Tee ist vorzüglich und grün. Wir trinken viel Tee. Aber grü-
ner Tee ist ein Getränk des Status quo: abends bedauern wir, daß er nicht müde macht (die Terrasse ist die ganze Nacht beleuchtet), morgens (nach wirrem Schlaf), daß er nicht frisch macht. Allmählich überzieht sich die Haut mit einer Art Juckreiz, das Kratzbedürfnis unter den Fingernägeln wächst. Wahrscheinlich trägt zu unserer Lage bei, daß wir das einzige junge Paar sind im Hotel, die anderen Gäste sind alt oder kinderreich oder einzeln. Der Wirt haust mittendrin. In einem Raum, der kein Fenster hat, in dem Tag und Nacht das Licht brennt, dessen Tür ständig offensteht, hat er einen Tisch und einen Stuhl. Dort sitzt er, die Arme aufgestützt. Und wenn man ihn sieht, zum erstenmal und immer wieder, bleibt man stehen, denn er sitzt, als seien die Wände seines Hotels meterdick, das Essen eine unaufhörliche Mast: reglos und fett. Vor diesem Raum ist die eke mit Radio und Telephon, der Verkaufsstand von Süßigkeiten, Filmen und Souvenirs, ist der Verabredungsplatz der Hotelgäste, Trubelzentrum. Der Wirt überläßt die Bedienung der Gäste seinem Assistenten, einem mädchenhaften Jungen ohne Spur eines Barts, glost still aus dem Hintergrund, lächelt mild, und wenn er einmal zur eke kommt, den Bauch vor sich hertragend, die Hände in die Seiten gestemmt, den Kopf nach vorn gereckt, so daß man hinter den struppigen Brauen die Augen nicht sieht, ists nur, um seiner Wirtschafterin, einem jungenhaften Mädchen ohne Ausbuchtung der Hüften, Anweisungen zu geben. Wo er schläft, ist uns eine Frage gewesen, bis ich ihn eines Morgens, als ich noch zeitiger aufgewacht bin als sonst, bei einem Spaziergang auf der Terrasse in dem Zimmer neben dem unseren habe liegen sehen. An den folgenden Tagen habe ich ihn jeweils in einem anderen Zimmer schlafend gefunden. Offenbar schläft er immer in dem Zimmer, das gerade frei ist, schläft abwechselnd alle Zimmer durch, alle Zimmer
sind seine Zimmer, alle Gäste sind Gäste im Zimmer des Wirts – so hat er auch schon in unserem Zimmer gelegen, auf den bloßen Matten, eingewickelt in seinen Yukata, auf dem Rükken, die Beine gespreizt, man sieht hinter seinem Bauch den Kopf nicht. Längst haben wir uns vorgenommen, das Hotel zu verlassen. Wir wollen Wände, die dicht sind, wollen essen, was schwer macht, wollen zur Sammlung kommen … Aber eine Stadt verläßt man leicht, ein Dorf schon schwerer, eine Insel vorzeitig zu verlassen, ist eine Tat. Wir bestehen zu sehr aus gereizter Haut, um zu Taten fähig zu sein. Nur ausweichen können wir, wenigstens für einen Abend. Es gibt ein Teehaus auf der Insel, einen Pavillon in Pagodenform, abseits von den Fischerhäusern gelegen, am Rande eines Buschwalddickichts, das Naturschutzgebiet ist. Schon an dem Tag, an dem wirs entdeckten, haben wir uns vorgenommen hinzugehen. Aber dann verstauchte ich mir den Fuß, und dann regnete es am Abend. Wir haben begonnen, von dem Teehaus zu träumen … Wir sind auf die Insel gekommen, um zusammen in Ruhe zu sein, und weil wir uns im Hotel nicht zusammenfinden können, ist das Teehaus am anderen Ende der Insel zum Ort unserer Gemeinsamkeit geworden. Immer öfter sehen wir von der Hotelterrasse hinüber … Am ersten Tag, an dem ich wieder laufen kann und es abends nicht regnet, lassen wir das Hotelessen hinter uns und machen uns auf, um im Teehaus zu essen. Wir erwarten nichts Besonderes. Vielleicht gibts belegte Brote zum Tee, Käse oder gar Wurst. Der Gedanke, es könne Rührei mit Speck geben, läßt uns schnell gehn. Die Pagode hat drei Stockwerke. In zweien davon brennt ein schwaches Licht, im untersten und dem ganz oben. Am liebsten säßen wir oben bei Spiegelei, Käse oder Wurst (oder wenigstens fetten Kuchen). Man kann
die Wellen hören und vom Buschwald her Zikadengeschrill oder Käuzchenruf, Laute der Stille. So sitzend könnten wir bereden, wie’s möglich geworden ist, daß es ist, wie es ist. Natürlich, das Hotel ist schuld, der Lärm, das Essen. Aber ist das alles? So dünnhäutig sind wir schon geworden gegeneinander, daß schon der Blick des anderen einen Juckreiz auslöst auf der Haut. An Berührung ist nicht zu denken. Jeder Anruf, Blinzelwink, Fingerzeig des andern löst nur das Bedürfnis aus, sich zu kratzen. Das Nebeneinanderliegen nachts, die endlosen Einschlafversuche, einer im Dunstkreis des andern, sind unerträglich geworden … Im obersten Stockwerk der Teehaus-Pagode sitzend, könnten wir uns besinnen, was außer dem Hotel noch schuld ist – welche Konsequenzen zu ziehen sind für die Zeit nach dem Verlassen der Insel. Beim Betreten des Teehauses ergibt sichs, daß in dem Geschoß zu ebener Erde nur wenig Raum ist für Gäste: ein offener Küchenplatz, eine breite eke davor, ein einziger niedriger Steintisch – da sitzt schon jemand. Wir gehen gleich weiter nach oben. Aber das Zimmer unter dem Dach bietet uns noch weniger. Es ist wie die Hotelzimmer mattenbelegt und rötlich düster beleuchtet. Bettzeug liegt da, Matratzen sind ausgebreitet ohne ersichtliche Ordnung, manche halb übereinander, die Laken zerrauft, die Kopfrollen verstreut, es riecht nach Schweiß – auch ohne daß wir einander ansehen, spüren wir das Jucken auf der Haut … Der Abstieg über die schmale Treppe fällt schwer. Unten an dem einzigen Tisch sitzt der Wirt des Hotels. Wir tasten uns über die Stufen hinunter so leise wie möglich. Aber das erweist sich als umsonst. Zwischen Treppe und Tür steht der Hotelwirt, beugt sich, so tief es sein Bauch erlaubt, breitet sich, so weit seine Arme reichen, fängt uns für seinen Tisch. Dabei wäre er auch ohne uns nicht allein
gewesen: Der mädchenhafte Junge, das jungenhafte Mädchen leisten Gesellschaft. Uns an den Tisch des Wirts setzend, tauchen wir ein in den Dunst einer enormen Barbecue. In die Steinplatte ist ein Eisenrost eingelassen, ein Holzkohlenfeuer glüht darunter, Holzteller stehen da, doppelt und dreifach belegt: Schwein und Rind, Ente und Huhn, Krautblätter, Artischocken, Tomaten, Zwiebeln, Sellerie, Kartoffeln, Bierflaschen, schon geöffnet, stehen da. Der Wirt läßt die Zahl der Flaschen, noch während wir uns zurechtsetzen, verdoppeln. Seine Hände, die wir nur wie ausgestopft auf dem Tisch in dem Raum hinter der Hoteltheke haben liegen sehen, sind hellauf lebendig und überall: Bier gießend, Eisenstäbchen spießend in Stücke vom Schwein, Scheiben vom Rind, Entenbrust, Hühnerbein, pressend, rollend, rotes Fleisch, weißes Fleisch wendend auf dem Rost, bis das rote Fleisch weiß und das weiße rot ist, rostrot, stechend in Kohlblätter, Tomaten und halbierte Kartoffeln wälzend, sie in Zellophanpapier wickelnd; aber vor allem nehmen sie sich des Fleisches an. Das schrumpft und krümmt sich, die Stücke, lang oder dick oder ausladend sonst, kommen zischend und spritzend in Eßform, vom Wirt behandelt auf den reinen Genuß hin. Und dazwischen in Qualm und Dunst, während das Fett sprüht, der Tomatensaft tropft, findet er noch Zeit, dem Mädchenhaften, dem Jungenhaften rechts und links von ihm abwechselnd oder auch beiden zugleich, die Hand auf die Schenkel zu legen. Beim ersten Schluck haben wir gezögert, danach noch eine ganze Weile auf dem Sprung gesessen. Aber das ständige Nachgießen des Wirts, sein Weitvoraustrinken, hat festhaltende Wirkung. Der Qualm, da für fünf gebraten wird, hat sich verdichtet. Sonderbarerweise brennt er nicht in den Augen. Ganz unbehindert sehen wir auf das Fleisch. Wenn ein Stück davon,
vom Wirt am Spieß gereicht, herankommt, schließen die Augen sich wie von selbst. Die Zähne nehmen es ab. Während sie es noch halten, bis es mundreif gekühlt ist, tasten die Lippen schon vor. Dann nimmt es die Zunge. Der Gaumen gibt Widerstand zum Drücken und schmeckt mit. Ein Stück wie das andere schmilzt uns im Mund: Rind, Ente, Huhn und Schwein. Wenn man dem Wirt während er reihum füttert, inmitten der Qualmwolke hantieren sieht, scheint es, als werde er immer noch dicker – als esse er uns, die er füttert, in sich hinein. Das ist nicht schmerzhaft. Weich zwischen Huhn und Schwein. Malmendes Zungenreiben, befeuchtetes Gleiten, wohlig pressende Enge. Wir essen das Fleisch, und das Fleisch ißt uns. Schlucken und Geschlucktwerden. Es gleitet, und wir gleiten. Einfahrt mit Ente und Sellerie, Tomate, Kartoffeln und Rind. Das Bier, an den Lippen schäumend, umspült die Fahrt. Das Jungenhafte, das Mädchenhafte gehen mit ein. Immer wieder weist der Wirt, sie betastend, auf ihre Vorzüge hin, die Schenkel und Lenden. Auf die Dauer läßt sich Zustimmung nicht versagen. Geeint im Fleische des Wirts. Weder Täuschung noch Überraschung ists, als sich eine Hand auf meinen Arm legt, meine Hand auf eine Hüfte. Der Gedanke an den Raum unterm Dach ist nicht unangenehm.
Die Hose Ich komme immer als einer der letzten. Nadaradja holt mich mit dem großen bunten Schirm beim Wagen ab, leuchtet mit der Taschenlampe all die Pfützen an, in die ich treten könnte, stolpert hinter mir die Verandatreppe hinauf und versucht dann, den Schirm so schnell zuzuklappen, daß er mir auch noch die Tür aufmachen kann. Er gibt sich Mühe, Nadaradja, wie mit mir so mit jedem, und trotzdem ist er immer noch der letzte aller Diener. An jedem Abend nehme ich mir vor, etwas für ihn zu tun. Aber dann geht die Tür vor mir auf und ich vergesse es wieder: ich bin im Klub. Zwischen den Holzsäulen unter der weißgetünchten Saaldecke steht in Schwaden verschiedenen Blaus der Rauch von Zigarren, Pfeifen und Zigaretten. Würfel rollen über grünes Tuch, und Karten aus symmetrisch gespreizten Fächern gezogen fallen zu anderen, die schon daliegen auf den runden niedrigen Tischen. Auf kleinen Schemeln daneben stehen die Aschenbecher, die Gläser und Flaschen, und aus der Ecke rechts im Hintergrund kommt das Klick-Klack des Tischtennisballs. Sonst ist nichts zu hören, nur dieses regelmäßige Geräusch des hin und her geschlagenen Balls – bis er in einem allzuheftigen Schmetterschlag unter einen der Tische verschlagen wird und beim Suchen und Hervorholen Unruhe entsteht. Draußen prasselt der Abendregen auf Palmenfächer, Bananenstauden und Agaven, probieren die Zikaden ihr Nachtgeräusch, warten dar-
auf, daß der Regen aufhört; und Schlangen gleiten unter den Büschen. Aber hier drinnen steht reglos der Rauch, und nur das trockene Klick-Klack des Tischtennisballs ist zu hören. Ich sehe mich um nach Dick. Er ist der einzige Fremde außer mir und er sitzt immer an einem anderen Tisch, das ist sein Prinzip. Denn der Klub ist die Welt, und die Welt, sagt er, ist in Gegensätzen auseinandergefaltet: Nationalisten und Kommunisten, Budhisten und Hindus, Einheimische und Zugereiste. Dick ist Engländer und hält es mit allen. Wenn ich durch den Saal gehe und nach ihm Ausschau halte, sind die Gruppen nicht zu sehen, sind die Fronten aufgelöst im Alltag des Zeitvertreibs: Das Lächeln der Gewinner, das Murmeln der Verlierer, das sind Rollen, die ständig wechseln. Das Zahlengekritzel auf den Schreibtafeln, das Zählen der Würfelaugen ist unparteiisch, und alle Hände vollführen die gleiche Trinkbewegung, ob es Tee ist, was getrunken wird, Whisky oder Gin, Bier oder der spärlich destillierte, scharf riechende Arrak. Aber ein kleines Steinchen nur, ins glatte Wasser geworfen, und schon laufen nach allen Seiten die Wellen … Paß auf, sagt Dick, heute ist was los! Er sagt es halblaut zwischen zwei Würfelrunden. Wirklich? Nichts ist zu sehen, kein Köpfezusammenstecken, Hinausgehen zum Stehkonvent auf der Veranda. Aber auf Dick ist Verlaß. Er ist niemals auf dieser oder jener Seite, er ist immer zwischen allen, und er spürt es immer zuerst, wenn Fronten sich bilden. Ach was, sage ich, um ihn zu reizen, du hast dich getäuscht. Ich spiele noch nicht mit, warte, bis einer am Tisch »hundert« ruft und Dick, der Buchführer, ein neues Spiel ansagt. Sonntag, sagt er leise, Nationalfeiertag. Heute ist Donnerstag. Ich sage dir: heute, morgen, übermorgen ist was los!
Er hat französisch gesprochen, und Perera, der Führer der Nationalisten, hebt mißtrauisch den Kopf. Wieso? flüstere ich zurück, was denn? Aber Nick hat keine Zeit, will auch gar nicht gleich antworten. Das Spiel ist zuendegegangen, und er verteilt die Würfel, jeder am Tisch bekommt einen, wer die höchste Zahl wirft, beginnt das neue. Ich werfe sechs, Perera wirft sechs. Wir werfen noch einmal, ich drei, er fünf, er beginnt. Nationalfeiertag, also wird Perera eine Gruppe führen. Aber wer die andere? Eine Gegengruppe muß sein! Wahrscheinlich die Kommunisten, und alle übrigen werden sich hüben oder drüben einreihen in die Fronten. Aber worum solls gehn? Nein, das ist gleichgültig, wenn nur etwas geschieht! Und wirklich, jetzt seh ichs auch: die Nationalisten, in ihren weißen fußlangen Gewändern (Nachthemden, sagt Dick) beginnen sich schon zu sammeln, haben schon die Mehrheit an allen Tischen um Pereras Tisch, den Mittelpunkt. Ballung, unauffällig noch, aber unverkennbar. Der Klub beginnt zu leben. Dann werden auch die ersten Stellkonvente in der Vorhalle abgehalten. Immer nur wenige stehen auf einmal zusammen, der eine kommt, der andere geht. Die Formation der Weißen festigt sich. Vorläufig agieren nur sie, die andern wissen noch nicht, wogegen sie stehen sollen. Perera, lang und hager, mit fahrigen Handbewegungen die Würfel greifend, hält den Kopf in die Höhe: zu ihm her laufen die Fäden. Ein uralter Feiertag, berichtet Dick. Er ist für kurz bei einem der Stehkonvente draußen gewesen. Es geht dabei, sagt er auf Französisch, um das Licht! Er sieht mich von der Seite an. Ach ja, wirklich? Eben, sagt Dick und rollt mit seinen kurzfingrigen Händen die Würfel zu sich her: Man zieht an dem Tag seine besten Kleider an, um recht strahlend zu sein, und die Diener – er
macht eine Pause, um das Ergebnis seines Wurfs zu zählen, zählt auf Englisch langsam und deutlich Perera, der ungeduldig wird, ins Gesicht, spricht dann murmelnd auf Französisch weiter: – und die Diener, sagt er, bekommen an diesem Tag neue Kleider geschenkt, Hemd oder Hose. Ich denke, setzt er nach einer Weile hinzu, es wird eine Hose sein diesmal. Wieder ein Blick zu mir, kurz und triumphierend, weil er in einem so frühen Stadium der Entwicklung schon alles weiß, ruft dann nach einer Runde Bier für alle am Tisch. Sonst ist er sparsam, aber wenn Fronten sich bilden, so daß er darüberstehn kann, ist seine große Stunde. Es ist nun auch für mich nicht mehr schwer, mir den Fortgang der Dinge zu denken. Man wird eine Hose kaufen, einen Diener auswählen, dem sie geschenkt werden soll. Nur die Nationalisten werden es tun, denn es ist ihr Feiertag, sie werden das Geld sammeln, und der Diener wird den Beweis ihrer sozialen Gesinnung noch jahrelang zur Schau tragen. Zugleich hat man einer uralten Tradition zu neuer Geltung verholfen, gezeigt, wie modern Tradition sein kann … Und die andern? Ja, was werden die andern tun? Nun, mögen sie sehen, wo sie ohne Hose bleiben! So gehts, wenn man die uralten Feiertage der Nation nicht ehrt! Nur eine Kleinigkeit ist von Dick noch zu erfragen: Welcher der Diener die Hose denn nun bekommen soll. Aber wenn mans recht bedenkt, beantwortet sich die Frage selbst: der ärmste natürlich, der niedrigste, der letzte – damit die Menschlichkeit um so heller leuchtet am Tage des Lichts. So muß es sein, und als wir vor dem Aufbruch in der Vorhalle stehen und Nadaradja im Hintergrund darauf wartet, uns mit der Taschenlampe zum Wagen zu leuchten, da geht Dick plötzlich auf ihn zu, klopft ihm auf die Schulter und sagt: Na du, Radja des
Nada, du König des Nichts, du könntest wirklich wieder mal eine neue Hose brauchen! Der weicht zurück, erschrocken, weil einer seiner Herren Notiz von ihm genommen hat, und knipst verwirrt die Taschenlampe an und aus. Am nächsten Abend hat sich die Gegenseite formiert. Es ist, wie erwartet, die Front der Kommunisten, und Ortega, ihr Anführer, hält den Kopf jetzt genauso hoch wie Perera. Ich bin früher gekommen als gewöhnlich und trotzdem komme ich als letzter. Es sieht anders aus im Saal als sonst. Man sitzt nicht verteilt an den Tischen, sondern alles ballt sich am Ende des Raums bei der Tischtennisplatte. Hüben und drüben, auf jeder Seite der Platte steht eine Partei. Tischtennisspiel erregt sonst keinerlei Aufmerksamkeit, aber heute, obgleich die Spieler miserabel sind, bleibt die Ballung um die Platte. Zwei unbedeutende, sehr junge Klubmitglieder spielen mit dümmlich verlegenem Lächeln im Gesicht. Sie handhaben die Schläger wie Tamburine, und die Bälle kommen nicht geschossen, scharf und flach, sondern hüpfen hoch wie in einem Kinderspiel, wo man »hopp« sagt und »bums«. Die beiden sind auch gar nicht die eigentlichen Akteure. Sie sind nur Puppen, die ein Schein- und Schattenspiel ausführen. Die eigentlichen Widersacher sitzen reglos in zwei Stühlen, die man hüben und drüben aufgestellt hat, und sehen zu: Perera und Ortega. In den Spielpausen fixieren sie einander über die Platte hinweg. Hinter ihnen drängen sich ihre Anhänger, dicht geschart. Dick ist Schiedsrichter. Es geht ums Ganze. Dabei muß es ganz harmlos begonnen haben: die beiden Randmitglieder des Klubs haben spielen wollen, haben (sie sind ja noch neu) vielleicht sogar vergessen, daß sie verschiedenen Lagern angehören, daß ihr Spiel an einem Tag wie diesem unvermeidlich weltweite Konsequenzen haben muß. Alle anderen haben daran
gedacht, und so kämpfen hier und heute Kommunisten gegen Nationale, und es geht um die Welt. Der Nationale, von seinem fußlangen Kleid behindert, verliert. Ortega springt auf, schüttelt seinem eigenen siegreichen Schattenspieler die Hand und geht zu einem Tisch, der in der Mitte des Saales steht. Jetzt hat er einen Vorteil, den gilt es auszunützen. Und wirklich, Perera, unterlegen im Tischtennisspiel, folgt ihm. Man setzt sich zusammen, bestellt Tee und tritt in Verhandlungen ein. Während sich die anderen verstreuen, die Diener im Saal hin- und herlaufen, um all den Bestellungen nachzukommen, beginnen Dick und ich eins unserer regelmäßig ausgetragenen Matchs. Wir sind, darüber gibt es keinen Zweifel, die beiden besten Tischtennisspieler im Klub. Aber niemand sieht uns zu. Schade, sagt Dick, jetzt habens auch die andern geschafft! Er scheint mit dem Ausgang des Schattenspiels gar nicht zufrieden zu sein. Ortega und seine Leute, meinst du? frage ich, um seine Meinung zur neuen Lage zu hören. Er prüft die Höhe des Netzes. Ortega, sagt er, hat gleich nach seiner Ankunft heute verlangt, an der Hosensache beteiligt zu werden; Perera hat nein gesagt, das komme nicht infrage, die Hose sei eine rein nationale Angelegenheit und gehe nur ihn etwas an. Aber jetzt, sagt Dick, hat Ortegas Mann gewonnen, und Perera wird nachgeben müssen, schade um den schönen Streit! Wie von Dick vorhergesagt, geschieht es. Perera muß der Gegenseite zugestehen, sich auch an der Hose beteiligen zu können. Danach sitzt er mißmutig vor seinem Glas Bier, das er nach dem Verhandlungstee bestellt hat, und sagt kein Wort. Ortega spricht um so mehr. Er tut so, als rede er nur zu denen, die mit ihm am Tisch sitzen, aber er spricht so laut, daß alle im Saal ihn hören können:
Das sei ja auch, sagt er, eine Selbstverständlichkeit, daß alle sich hier zusammentäten, Frage der Menschlichkeit, der Menschenfreundlichkeit, und in diesen Dingen müsse man einig sein! Besonders seine Partei, fährt er fort, sei zu jedem Opfer bereit. Und wenn deine Leute, sagt er schließlich zu Perera, nicht soviel aufbringen können, dann zahlen wir gerne die größere Hälfte, oder auch alles. – oder auch alles! – das ist zu viel für Perera: Die Kommunisten, ruft er in den Saal, sollten froh sein, wenn sie überhaupt etwas beisteuern dürften. Alle Einzelheiten, die Hose betreffend, bestimme nach wie vor seine Partei! Moment, sagt Dick und hört auf zu spielen, es geht weiter! Bleib, sage ich, spiel zuende! Die einigen sich schon! Bleibt ohnehin nur ein Ausweg: jeder zahlt die Hälfte. Wozu das eater! Dick legt den Schläger weg, kommt um die Platte herum und legt mir die Hand auf den Arm: Lieber Freund, sagt er, man kann nichts einfacher machen als es ist. Und die Welt ist schwierig! Er ist erleichtert, daß die Schwierigkeiten ihren Fortgang nehmen. Denn auch angenommen, sagt er, man einigt sich darauf, daß jeder die Hälfte bezahlt, bleiben Schwierigkeiten noch immer genug. Zum Beispiel, sagt er, und läßt meinen Arm los, die Farbe der Hose. Eben, er wendet sich von mir ab und dem Saal zu, spricht so laut, daß alle ihn hören können: die Farbe! Und wirklich, erst jetzt, nachdem man sich wohl oder übel zusammengetan hat zum Kauf, entfaltet sich die ganze Problematik der Hose. Man diskutiert an allen Tischen. Würfel und Karten werden beiseitegeschoben. Der Alltag des Zeitvertreibs ruht. Gemurmel steigt auf wie dunkler Rauch, und ab und zu, wenn eine Stimme laut wird, eine andre dagegenschreit, flackern die hellen Flammen und stieben die Funken. Dick geht
von einem Tisch zum andern, und seine Backen sind aufgeblasen wie die Flügel eines Blasebalgs. Die Erregung hält für den Rest des Abends an. Sie ist noch im Aufheulen der Motoren, als die Wagen mit großem Licht die weißgekalkte Front des Klubhauses abtasten und in die Palmallee einbiegen, die zurückführt zur Stadt. Alles in Ordnung, ruft Dick mir schon von weitem zu, als er mir, seine dicken roten Hände reibend, am nächsten Tag an die Tür entgegenkommt, Einigung ist nicht abzusehn! Die Farbe, sagt er, wie ich gesagt habe, da liegts! Und es ist auch, setzt er flüsternd hinzu, schon etwas geschehen, ich weiß nur nicht was. Damit geht er in großen, entschlossenen Schritten in den Saal zurück, setzt sich an einen Tisch, aber nur für kurz, läuft dann zum nächsten. Sonnabend. Der Abend vor der Schlacht. Man will einem Diener eine Hose schenken, und auch, daß es der armseligste Diener sein muß, steht fest, Nadaradja. Aber sonst steht nichts fest, nicht einmal die Farbe der Hose … Der letzte Abend ist ganz anders als der vorletzte. Das Gemurmel und Schreien hat sich gelegt, es ist fast still. Man spielt wieder mit den Karten und Würfeln. Aber die Ansagen und Spielergebnisse werden nicht wie sonst laut ausgerufen, sondern nur geflüstert. Die Tischtennisplatte steht verlassen. Die Weihe des Abends davor. Bei dem Wurfbrett mit der aufgemalten Zielscheibe, nach der man mit gefiederten Pfeilen wirft, stehen vor einem Halbkreis ihrer Anhänger die beiden Vorkämpfer Perera und Ortega: beide sind sie lang und hager und die Haut spannt sich über ihren Backenknochen. Wie Zwillingsbrüder sehen sie aus, nur daß Perera die Nationaltracht trägt. Sie sprechen über Belanglosigkeiten, die Dauer des Monsunregens, die Aussichten für die Reisernte, die Wirtschaft und Politik des Landes. Das
eigentliche Problem, die Frage, die allein von Bedeutung ist, die Farbe der Hose, bleibt unerwähnt. Die Anhänger rings im Kreis sind still, hören zu, wie die beiden achtlos mit Worten spielen. Nur wenn sie ab und zu nach langen Pausen nach der Scheibe werfen, ist es mehr als Spiel: dann dringt mit dumpfem Aufprall die Pfeilspitze tief ins Holz und beißt sich darin fest. Sie werfen zu heftig. Der Gegenspieler, der die Pfeile herausziehen muß, um sie dann selber zu werfen, muß rütteln und zerren an den Bolzen, eh sie sich lösen. Und dann wirft er genauso heftig. Der Mitte der Scheibe kommt keiner der Würfe nahe. Man kann den Eindruck haben, als werde in Sachen der Hose nichts mehr geschehn, als hielten die widersprüchlichen Meinungen sich gegenseitig in Schach, als seien alle Möglichkeiten zum Handeln erstickt. Aber Dick, sei’s daß er Blicke aufgefangen, Gesten gedeutet oder den Doppelsinn harmlos klingender Worte begriffen hat, findet heraus, daß die HosenAngelegenheit durchaus nicht stillsteht: Ganz wie zu erwarten war, sagt er, als er mich an der Bar wieder trifft: Jede Seite hat eine Hose gekauft! Was? sage ich, zwei? Na, da wird er sich freun, Nadaradja! Ach was, sagt er, darum gehts nicht. Stell dir vor: eine Hose ist rot, die andere weiß! Ist das nicht fabelhaft? So kann keiner die Hose des anderen akzeptieren. Ist das nicht exemplarisch aussichtslos?! So ist die Welt. Was soll das? sage ich. Dann eben eine andere Farbe! Ich hab da eine gelbe Leinenhose liegen, früher mal getragen, aber sonst wie neu – Du meinst damit –? fragt er mit vorgestrecktem Kopf und seine Finger trommeln auf den Bartisch. Einen Kompromißvorschlag, sage ich, gelb wird ja wohl akzeptabel sein. So käme Nadaradja wenigstens zu einer Hose.
Untersteh dich, sagt er. Du und ich, wir sind Fremde hier, wir halten uns raus hier, hörst du! Da zeigt sich mal wieder dein mangelnder Sinn für Realität. Aber dafür kannst du nichts, das liegt euch im Blut. Ich gehe auf die Veranda hinaus. Es regnet noch und es ist kühl. Als meine Zigarette brennt, rufe ich nach Nadaradja. Er denkt, ich wolle schon wegfahren, und kommt mit Taschenlampe und Schirm. Er bleibt vor mir stehen und wartet. Ich schüttle den Kopf und setze mich auf die Ballustrade. Er wartet. Das Prasseln des Regens auf dem Wellblechdach über uns wird allmählich leiser, und das Tropfen ist zu hören des Wassers, das vom Dachvorsprung in die Pfützen fällt. Da steht er, um den es geht, und weiß von nichts. Rauchst du eigentlich? frage ich und halte ihm die Schachtel hin. Er rührt sich nicht. Es ist albern, ihm Zigaretten anzubieten. In dieser Welt ist er Schirmboy, und der Schirm-Diener nimmt keine Zigaretten, ob er raucht, steht nicht in Frage. Da müßte man zuerst das Klubhaus anzünden. Wenn alles in Asche liegt, kann man wieder fragen. Nadaradja steht mit hängenden Schultern, die Zehen der breitgetretenen Füße nach innen gedreht. Seine Hose ist zerrissen. Ich möchte ihn fragen, wie alt er ist; aber obgleich er offenbar älter ist als die anderen Diener des Klubs, ist er immer noch Schirmboy. Besser, man fragt nicht. Sein Kopf ist kahl, seine Schultern krumm. Wahrscheinlich gehört er einer Kaste an, deren Angehörige nicht höher steigen können als zum Schirmboy. Angeblich haust er in einem Verschlag neben einer Fahrradreparaturwerkstatt, in der er außerhalb der Dienstzeit im Klub mithilft. Nadaradja, der König des Nichts. Eine neue Hose ists, was er vor allem braucht.
Eine Weile später – ich sitze noch immer auf der Ballustrade und Nadaradja steht immer noch da, nur ein paar Schritte entfernter jetzt im Dunkeln – da öffnet sich die Tür zum Klubraum, und in dem Lichtstreifen, der herausfällt, kommt Dick auf mich zu. Er ist mürrisch und will nur eine Zigarette. Ein Streichholz zerbricht ihm, weil ers zu heftig anstreicht, das zweite bläst der Wind aus, erst das dritte zündet. Ich fahre, sagt er, fährst du auch? Bald. Ist was los? Nichts, alles zuende. Endlich! Haben sie sich geeinigt? Nimms wie du willst, sagt er, jedenfalls ist alles aus. Eh wir die rote nehmen, hat Perera gesagt, lieber gar keine! Und Ortega hat gesagt: Eh wir die weiße nehmen, lieber gar keine. Jetzt feiern sie Versöhnung. Dabei, setzt er bitter hinzu, hab ich ihnen geraten, noch nicht aufzugeben. Würfelt, hab ich gesagt, wer gewinnt, dessen Hose kommt dran. Würfelt, setzt ein Tischtennismatch an oder werft meinetwegen mit Pfeilen nach der komischen Scheibe! Aber sie haben nicht einmal zugehört, sondern einfach aufgegeben. Schade, sage ich, er braucht eine Hose! Wer? Dreh dich um, sage ich, da steht er. Was denn? Ohne sich umzudrehn, will er an mir vorbei zu seinem Wagen gehen. Warte, sage ich, bist du ganz sicher? Worin? Daß nicht alles nur eine Finte ist, sage ich, daß Ortega, der Fuchs, oder Perera, sein Zwillingsbruder, nicht doch noch etwas vorhaben – Aber in seinem Ärger findet er keine Antwort mehr, schnippt die halbgerauchte Zigarette blindlings davon, daß sie sprühend
in weitem Boden in die Hibiskushecke vor der Veranda fliegt. Während er zu seinem Wagen geht, läuft Nadaradja hinter ihm her, leuchtet mit der Taschenlampe seinen Weg an und spannt den Schirm über ihm auf, obgleich es gar nicht mehr regnet. Als ich gleich darauf ebenfalls fahre, frage ich Nadaradja noch, wann sein Dienst am nächsten Tag beginne. Er muß immer als erster der Diener da sein, um den Saal zu fegen und die Tischplatten zu bürsten. So zeitig bin ich beim Klub noch nie gewesen. Die Wolken sammeln sich schon für den Abendguß, aber noch scheint die Sonne und spiegelt sich auf dem Wasser, das in den Reisfeldern steht, zwischen den Halmen. Dann hören die Reisfelder auf. Schilfgras und einzelne Mangobäume kommen, Bananenstauden. Agaven und schließlich die Palmenreihen, die den Weg bis zum Klubhaus begleiten. In einem weiten Bogen mündet die Straße in die ovale Schleife der Auffahrt. Die Sache mit der Hose läuft ihrer Lösung zu. Die Kommunisten wollen lieber gar keine Hose schenken als eine weiße, und die Nationalisten lieber gar keine als eine rote. Daß die beiden Fronten sich nicht einigen können, ist die Gelegenheit für den Einzelnen, der nirgends dazugehört, den Fremden. Neben mir auf dem Beifahrersitz liegt die gelbe Hose. Ich habe erwartet, den Platz vor dem Klubhaus leer zu sehen, den Rasen so kahl wie die Fassade des Hauses. Ich werde warten, bis Nadaradja kommt. Wenn er von seinem alten verrosteten Fahrrad steigt, werde ich ihn anrufen und, während er auf der Treppe steht, mir ratlos entgegensieht, quer über den Rasen gehn, die Hose in der Hand. Kein Zeuge wird da sein, wenn die Hose ihren Besitzer wechselt. Von niemandem gesehn, wird er kein Diener sein und ich kein Mitglied des Klubs. Die Hose hat keine Klassenschranken zu übersteigen.
Hier nimm!, und die Sache bleibt zwischen Hand und Hand. Weiter ist nichts geplant… Als ich durch die letzte Kurve fahre, in die Schleife der Auffahrt einbiege, sehe ich, daß Dick sich hat täuschen lassen: Niemand hat aufgegeben, die Fronten stehen noch. Hüben und drüben: hier ballt sichs um Perera und dort sind sie um Ortega geschart. Sei’s, daß jede Seite der andern hat ein Schnippchen schlagen wollen, sei’s, daß jede nur gekommen ist, um die andere zu belauern. Alle Klubmitglieder, ich habe gar nicht gewußt, wieviel es sind – und jeder hat Partei bezogen. Die eine Front steht rechts, die andere links von der Treppe. Keine Seite weiß offenbar, was tun. Ich steige aus, gehe auf die Treppe zu, bleibe auf der untersten Stufe stehen. Weder rechts noch links ordne ich mich ein. Schweigemauern auf beiden Seiten. Auf einmal lacht einer auf, und dann benutzen auf einmal alle die Gelegenheit zu lachen, harmlos zu sein und es gemeinsam komisch zu finden, daß sie so zeitig gekommen sind. Alle quirlen durcheinander. Ortega drückt mir, was er sonst nie tut, die Hand, und Perera klopft mir auf die Schulter. Zuletzt kommt Nadaradja. Er kommt auf seinem rostigen Rad, die löchrigen Hosenbeine hochgekrempelt. Als er sieht, daß die Herren alle schon da sind, sich auf der Treppe und vor dem Eingang auf der Veranda drängen, denkt er, er sei zu spät gekommen, erschrickt und bremst heftig. Auf dem Schotter am Fuß der Treppe rutscht das Rad, er fällt hin. Die meisten haben ihn gar nicht kommen sehen, aber jetzt, als die Fahrradbremse gequietscht hat, das schleudernde, kippende Rad den Schotter scharrend beiseiteschleudert, sehen ihn alle. Halb kauernd, halb liegend, auf eine Hand gestützt, sieht er die Treppe herauf. Da haben auf einmal alle auf ihn gewartet. Obgleich er nicht später gekommen ist als sonst und sonst immer der
erste ist, ist er heute als letzter gekommen. Er kennt die Welt nicht mehr. Kommst du endlich, Kerl? Kommst du erst jetzt?! Weißt du nicht, wie spät es ist? Den ganzen Klub läßt du warten?! Gejohle, Gelächter, Geschrei. Ein großer Spaß! Wenn schon niemand gewonnen hat, will jeder wenigstens seinen Spaß. Er rappelt sich auf. Seine Hand ist aufgeschürft, seine Hose von dem einen Knie bis nach unten durchgerissen. Er wischt sich mit dem Arm über die Augen, und als dann immer noch alle da sind, das Gejohle, Geschimpfe nicht aufhören will (So einen Diener wie dich! Sieh dich mal an, wie du aussiehst! Diese Hose!), sitzt er plötzlich wieder auf seinem Rad und jagt mit quietschender Kette davon. Er kommt an diesem Tag nicht mehr und auch am nächsten und übernächsten nicht. Als ich einen der anderen Diener nach ihm frage, meint er, ihm müsse wohl seines Wegbleibens wegen gekündigt worden sein. Ein paar Tage später frage ich den Verwalter. Aber der kann sich nicht mehr erinnern.
Die große Fuhre Ich komme, und sie hören auf zu arbeiten. Sie legen die Werkzeuge, Schaufeln und Hämmer, weg, stellen die Körbe ab, in denen sie Sand und Steine schleppen, und kommen an den Weg rand. Lendenschurz, und bei den Frauen eine graubraune Tuchbahn, deren eines Ende sie als Rock um die Hüften geschlungen haben, das andere wird quer über Brust, Schulter und Rücken gezogen. Herunterhängende Hände, braun, mit grauen Innenflächen. Hellrot das Zahnfleisch in den offenen Mündern. Gaumen und Zunge bis weit hinten zu sehen, weil sie lachen – nur die Kinder stehen, die Zehen in den Sand bohrend, und lachen nicht. Ich gehe mit zusammengekniffenen Augen – die Sonne, immer noch ungewohnt grell, blendet auf der kahlgeschlagenen Fläche – an der Baustelle vorbei bis an den Rand der Hügelkuppe. Von dort aus sieht man auf das dicht bewachsene Buschtal, nur undeutlich sind zwischen Palmen und Bananenstauden die Hütten des Dorfes zu erkennen, palmwedelgedeckt, das stumpfe Braun der lehmbeworfenen Wände tritt zurück hinter die Schattierungen von Grün. Dort unten hausen sie. Wenn die Station auf dem Hügel erst steht, die Bewässerungsanlage für die Versuchsfelder, das Gewächshaus, das Wohnhaus und die Geräteschuppen, werde ich Nachbar des Dorfes sein, dann werde ich die Trommeln, die sie bei Vollmond schlagen, ganz aus der Nähe hören. Das kann noch dauern.
Bei einem plötzlichen Regenguß ist ein Stück des Fundaments für das Gewächshaus, die Glaswände, das aufklappbare Dach, abgerutscht, muß herausgebrochen und neu eingesenkt werden. Vorläufig glauben sie noch nicht, daß ich bleiben werde, halten meine Anwesenheit für zufällig und für Spaß. Erst wenn ich mit dem eigenen Wagen vorfahre, werden sie einsehen, daß es Ernst ist – das Taxi bringt mich vom Hotel immer nur bis zur Abzweigung des Wegs aus der Straße, die Steigung zur Hügelkuppe herauf ist zu groß, die Wegoberfläche zu schlecht für einen nicht geländegängigen Wagen, zu Fuß komme ich an. Als ich zum erstenmal kam, lachten sie schon von weitem, Männer und Frauen legten die Arbeit nieder, um ungehindert lachen zu können. Ich hätte mich, wenn ich ihnen kein Anlaß zum Lachen hätte sein wollen, ganz und gar wegnehmen müssen: mein von der Anstrengung des Steigens gerötetes Gesicht, das durchgeschwitzte Hemd, die vom Sonnenbrand gedörrte Nase, die ganze Unsinnigkeit meines hellhäutigen sonnengeplagten Daherkommens – zu Fuß, das Hemd aus der Hose heraushängend. Das Lachen, das mich, wenn ich oben ankomme, empfängt, wird immer fassungsloser, immer frenetischer. Sie lachen, weil ich täglich komme, weil ich, der ich doch nur zum Spaß da sein kann, alles sehen will, nach allem frage, in alles hineinrede. Banda, der Bauführer, versteht ein paar meiner Worte, ich ein paar von seinen, unser Reden überlappt sich in einer winzigen Region des Radebrechens; aber das genügt zur Verständigung in den Fragen des Fundamentbaus. – – – Gestikulierend, Laute ausstoßend, die den andern nur komisch erscheinen, stehen wir, Fuß auf Beton, und palavern. Banda wird, wenn er spricht, immer wieder von Anrufen besonders der Frauen unterbrochen, wird, soweit ich raten kann, wegen seines Verhandelns mit mir gehänselt (Gib nicht an!
oder: Tu doch nicht so, als verständest du den! oder: Was hast nu denn mit dem zu tun? Was will der denn hier?!) Meine Vermutungen in die Inselsprache hinein mögen ungenau sein. Aber deutlich ist, daß alle – außer Banda –, die da bauen an der Versuchsstation, die nach meinen Plänen gebaut wird und die ich, wenn sie einmal fertig war, leiten werde, bis ein Inselbewohner angelernt ist, meine Nachfolge anzutreten, daß alle von einem Tag zum andern glauben, ich würde nicht wiederkommen. Daß ich auf dem Hügel irgend etwas zu sagen haben könnte, erscheint unmöglich: wie könnte ich dann allein und zu Fuß und offenbar am Rande meiner Kraft in der Hitze oben ankommen! Da sind sie von all denen, die je auf der Insel das Sagen gehabt haben, anderes gewöhnt. Die Älteren erinnern sich noch an die Korkhelme, das Khaki-Braun der Kolonialoffiziere, den Holzstock an der Lederschlaufe am Handgelenk, der nicht immer nur zum Richtungweisen gebraucht worden ist: die ließen sich, wenn nötig, auf Ochsenkarren fahren oder in Sänften tragen, um nur nicht zu Fuß zu kommen, um auf jeden Fall so kühl und trocken wie möglich zu sein beim Kommandieren; und die einheimischen Herren, die alten-neuen Inseloberen, die Feudalbarone (das Diener-Wort »boy« sprechen sie so verächtlich aus wie nur je die Fremden) haben stets ein Gefolge. Wer wie ich daherkommt, ein Fremder zwar, aber ohne Zeichen der Herrschaft, ist nur überflüssig: Wozu hält der seinen bleichen Kopf unter unsere Sonne?! Einmal streckte mir einer der Arbeiter, ein besonders großer Kerl mit wulstigen Lippen, seinen Tragekorb her, bot ihn mir zur brüllenden Erheiterung seiner Mitschlepper als Kopfbedeckung an: Da nimm, damit du keinen Sonnenstich kriegst! Sie bogen sich in den Hüften, schüttelten wie in Trance die Köpfe, und eine der Arbeiterinnen, die jüngste offenbar und die einzige, die sich und die anderen
auch beim Sandschleppen zuweilen an ihre Weiblichkeit erinnert, indem sie das Schultertuch verrutschen und den Rand ihrer Brust sichtbar werden läßt, zupfte von hinten mein Hemd ein Stück weiter aus der Hose heraus. Ich rettete mich in Achselzucken, und Banda beherrschte sein Lachen so mühsam, daß sein Gesicht sich wie im Schmerz verzog. Nur die Kinder standen mit geweiteten Augen und lachten nicht. Allmählich gelingt es mir, das Lachen, das mich empfängt, zu mildern. Ich stopfe mir die Hosentaschen mit Süßigkeiten voll und die Brusttaschen meines Hemds mit Zigaretten. Die Kinder kommen mir schon von weitem entgegengelaufen, schreien beim Laufen, jedes sucht die anderen zurückzudrängen, um zuerst und am dichtesten bei mir zu stehen, sind dann aber bedächtig, ernst, feierlich, wenn ich ihnen die Süßigkeiten in die weit aufgerissenen Münder stopfe. Danach habe ich klebrige Hände, auch meine Hose hat Flecken bekommen, und ich muß mich erst einmal an dem Wasserschlauch auf der Baustelle waschen. Banda hält mir das Schlauchende. Das Wasser wird aus einer Quelle in der Nähe des Dorfes heraufgepumpt; der Wasserdruck ist ungleichmäßig, bald kommt fast nichts, bald spritzt es; indem ich mir die Hände zu waschen versuche, werde ich über und über bespritzt, ich schüttele mich, sehe mit nassem Gesicht und nassen Haaren noch kläglicher aus. Da ist das Lachen, das mich umgibt, verständlich als Schadenfreude. Lachen und Ausgelachtwerden setzt uns in Beziehung zueinander, ich weiß, was ich ihnen bin. Wenn ich dann wieder trockene Hände habe (Banda hält mir fürsorglich einen Fetzen Sacktuch her, wie sie ihn zur Dichtung von Rohranschlüssen verwenden), ziehe ich umständlich eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche, stecke mir selbst eine Zigarette in den Mund und biete dann ringsum an. Alle Männer greifen zu, alle paffen, die Mundstücke der Zigaretten färben sich rot vom Betelsaft. Beim
dritten oder vierten Mal dann meiner Zigarettenverteilung zupft mich Banda vorsichtig am Ärmel, gibt mir mehr durch Gesten der Verlegenheit als durch Worte zu verstehen, daß die Frauen, einige der Frauen, auch gern mitrauchen würden. Die Jüngste, die Muntere, die mir einen Hemdzipfel aus der Hose gezogen hat, steht dicht hinter Benda, hat sich hinter seinem Rücken in meine Nähe gebracht, hat das über die Schulter gelegte Tuch so weit beiseite gerafft, wie es, wenn es absichtslos aussehen sollte, eben noch möglich ist. Ich lache laut auf, und als ich ihr dann nicht nur eine, sondern, auf die anderen Frauen zeigend, gleiche eine ganze Handvoll Zigaretten gebe, die Männer sich umdrehen, um mitanzusehen, wie die Frauen heftig ziehend, hustend, riesige Rauchwolken ausstoßen, bin ich schon kein bloßer Gelächtergegenstand mehr, sondern Mitlacher, ja sogar Macher des Lachens … Die Heiterkeit zwischen uns wird verständnisvoll-friedlichmenschlich. Der Große mit den wulstigen Lippen klopft mir, wenn die Zigaretten an Frauen und Männer gleichmäßig verteilt sind, auf die Schulter wie einem Kind, das seine Aufgabe gut gemacht hat, ich bekomme Palmwein aus der Flasche zu kosten, Betelnüsse werden mir hergehalten, man schenkt mir ein Amulett aus Sandelholz. Die Muntere faßt Mut und läßt bald mehr, bald weniger von ihrer Brust sehn – zur Heitcrkeit aller … Nur die Kinder bleiben ernst, blicken großäugig, wenn sie jedes ein Bonbon (für mehr ist kein Platz in meiner Hosentasche) in den Mund geschoben bekommen haben, und sehen mir, wenn ich bergab und davon gehe, wie staunend nach. Dann kommt mein Wagen, ein geländegängiges und geräumiges Fahrzeug, das die Steigung zur Station auch schwer beladen noch mühelos überwinden kann. Gleich am ersten Tag danach fahre ich damit zum Einkaufen für meine große Fuhre. Denn der Tag, an dem ich zum erstenmal mit dem Wagen hin-
auffahre, soll mein Einstandstag sein, Tag des Beginns meiner Nachbarschaft zum Dorf. Drei Zentnersäcke mit Reis lade ich auf, so viele Beutel mit Currypulver, wie es Arbeiter sind, ebensoviele Schachteln Zigaretten, einen Ballon Palmwein – für die Kinder drei Kilotüten Bonbons. Ein Samstag, kurz vor Arbeitsschluß erst fahre ich hinauf, um gleich mitgehn zu können zum Festmahl im Dorf. Vollmond. Ich werde die Trommeln aus nächster Nähe hören. Feier der großen Fuhre. Was die Verständigung angeht, habe ich keine Sorgen. Ein Berg Reis spricht so eindeutig wie das Freudengeschrei darüber unmißverständlich ist. Während der Fahrt hinauf legt mein Gesicht sich probierend in die Falten mild lächelnder Brüderlichkeit. Als ich auf der Hügelkuppe neben der Baustelle halte, kommen die Kinder zwar angelaufen, bleiben aber weit abseits stehn, starren auf den neuen Wagen, auf Ladung und Fahrer, als sei mit dem Wagen auch der Mann fremd. Ich steige aus, warte, aber auch Banda würde nicht kommen, wenn ich nicht winkte. Als er vor mir steht, verbeugt er sich. Sonst haben alle, wenn ich nur am Rande der Hügelkuppe aufgetaucht bin, die Werkzeuge weggelegt; aber an diesem Tag hacken, graben, schleppen sie, ohne ein Ende zu finden. Ich greife Banda, der auch Dorfältester ist, am Arm, zeige auf den voll beladenen Wagen: Da, Reis und Curry und Palmwein für alle! Schluß mit der Arbeit für heute! Essen! Trinken! Essen! Große Freude – oder was? Banda hat sich steif gemacht, dreht sich, als ich ihn loslasse, auf der Ferse um, ruft etwas, das wie ein Kommando klingt, einen rauhen Kehllaut, wie ich ihn noch nie gehört habe, alle werfen die Werkzeuge weg, kommen angerannt, bilden einen Kreis um Banda, der sich zum Wagen hin bewegt und zwei, drei Schritte Abstand zu mir gehalten hat. Dann, ganz plötzlich, auf ein Kommando, das ich nicht gehört habe, beginnt das Öffnen, Verteilen, Leerräumen, wobei
Banda die Mengen bestimmt; alles geschieht in unbestechlicher Ordnung, aber mit einer Hast zugleich, als werde nicht angenommen, ausgeteilt, sondern geplündert. In die Körbe, in denen eben noch Sand geschleppt worden ist, fließt Reis, die Currypulvertüten verschwinden unter Faltenröcken, vier Männer heben den Palmweinballon vom Wagen, einer, von zweien dabei unterstützt und von fünfen gedeckt, schultert ihn, trägt ihn, trabend fast, in den Busch hinein und davon, sogar die Kilotüten mit den Bonbons für die Kinder werden unsichtbar, bauschen, vage ahnbar nur noch, Brusttücher auf; dann ist der Wagen geräumt, die große Fuhre geleert. Banda hat, ehe er als letzter davonläuft, noch mit der Hand herumgetastet im Wagen, unter den Sitzen, den Werkzeugkasten geöffnet, in den Spalt hinter dem Reservereifen geblickt, als fehle noch etwas, als sei, was zur Verteilung gekommen ist, nicht genug. Sein Blick hat mich gestreift, schräg, wie einen Zulieferer, der regelmäßig vorbeikommt, wie einen, der Bestelltes, Bezahltes unpünktlich und unvollständig zugestellt hat: Und das ist alles? … Kein Laut. Die Baustelle leer, die Gruben der Fundamente, die Werkzeuge kreuz und quer, hinter den letzten lautlosen Füßen ist der Busch zusammengeschlagen. Als ich noch stehe, tauchen da und dort hinter halbfertigen Mauern und aus Gräben ein paar Kinder auf, die, von der Hast der Plünderung erschreckt, sich versteckt haben. Sie kommen näher, stehen, den Finger im Mund, um mich herum. Schließlich zeigt eins auf meine Hosentasche, wo sonst immer Süßigkeiten gesteckt haben, aber da ist nichts; ich stülpe die Hosentaschen nach außen, um zu zeigen, wie leer sie sind. Das schreckt sie aber nicht ab, sie lachen und tanzen, auf mich und meine Taschen zeigend, um mich herum, bis ich einsteige, und laufen dem Wagen lachend und mit den Fingern zeigend nach, bis er in Fahrt kommt.
Die Postkarte Ich sehe die Karte und finde sie lächerlich. Sie kommt aus einem Irgendwo, mit dem ich nichts zu tun habe. Daß sie mich erreicht hat, ist ein Irrtum. Ich liege unter dem Moskitonetz auf dem Rücken. Ich will das Unbehagen loswerden, das mir noch jedesmal nach dem Mittagessen vom Magen in den Kopf steigt. Nur wenig esse ich von dem scharf gewürzten Curry-Reis, aber wie wenig ich auch esse, es ist immer zu viel. Der große Reisberg mitten auf dem Tisch lockt, die Currysoße, die in einer kleinen Schüssel danebensteht, läßt den Speichel schon laufen, ehe der erste Löffel Reis mit Soße den Mund erreicht. Der Gedanke, daß der Reis knapp ist im Lande, daß ganz in der Nähe meines Hauses die Körner gezählt werden, würde mich nicht davon abhalten, mich durch den ganzen Reisberg hindurchzuessen – schließlich helfe ich auf andere Weise als durch Reis-Verzicht. Aber die rotbraune Soße – sie bildet das ganze Repertoire des Kochs – ist heute so scharf wie gestern, und schon nach wenigen Löffeln Reis, die ich mir soßengetränkt einverleibt habe, quillt vom Magen her die lähmende Beklommenheit auf. Immer weniger Reis lade ich auf den Löffel, immer weniger Soße lasse ich darin einsickern (ganz ohne Soße ist der Reis trocken und ungenießbar), der Löffel in meiner Hand scheint zu wachsen, der Reisberg mitten auf dem Tisch in eine immer größere Ferne zu rücken. Mit einem riesigen Eßwerkzeug bewaffnet sitze ich schließlich an einem Tisch, der beladen ist mit uner-
reichbarem Essen. – Wenig später liege ich schweißüberströmt auf dem Bett auf dem Rücken. Halboffen die Augen und Ohren: das torkelnde Nachwippen des Holzrings, der das Netz spreizt, ist zu sehen, und zu hören das dünne, spitz angreifende Sirren der Moskitos. Die Karte in der Hand haltend, kann ich nur lachen über das Mißverständnis: Was habe ich damit zu tun?! Und wieviel ist dieser Postkarte wegen in Bewegung geraten! Der Briefträger ist keuchend, sein Fahrrad schiebend den Berg heraufgekommen; auf sein Klingeln hin (unverkennbar das rostig-heisere Scheppern seiner Fahrradglocke) ist Munusami, der Hausversorger, Einkäufer, Gärtner, Nachtwächter vor die Tür gelaufen: unterdrücktes Flüstern: Er schläft! Aber wenns wichtig ist?! Sollte man nicht lieber gleich …? Kupusami, der Koch, kommt dazu; Beratung zu dritt; Ist der Postmann immer noch da, oder ist jetzt der Koch des Nachbarn der Dritte in der Beratung? Die Erregung vor der Haustür steckt schließlich auch mich an: Womöglich ein Telegramm, Botschaft durchs Überseekabel gejagt, Schicksalhaftes, etwas, das über mein Bleiben hier oder nicht entscheidet – was soll mich hindern, hier zu sein? … Das Tapsen, barfüßig vor der Tür – ich richte mich auf: Komm rein! Gib her! Und dann diese Karte: Ein Nachtbild der Innenstadt: blank blitzende Wagen im Vordergrund, Schaufenster und Leuchtreklamen blinkend, wie geleckt in der Nachtbeleuchtung der Platz und die Straßen: Betonglätte der Häuser, spiegelndes Glas, bläulich schimmernder Asphalt. Stadtmaschinerie in Perfektion: reibungslos, steril. Europa mit allem, was dazugehört: Hemmungslosigkeit in Chrom und Lack, Arroganz des technischen Aufwands, grellbunte Anfeuerungen zum Kauf. Soviel Angebote, soviel Kauf-
kraft, soviel Energieverschwendung. Das alles können wir uns leisten und noch mehr! Photo in Hochglanz … Die Welt, aus der ich komme. Ihr Bild ist mir unters Moskitonetz geschoben worden … Das Lachen rollt mich auf die Seite. Die Karte fällt aus der Hand, liegt auf dem Gesicht. Die Rückseite ist schwungvoll beschrieben: Die ehemaligen Kollegen melden sich von einem Bierabend. Sie wollen mich über die Entfernung hin noch einmal ihrer bleibenden Verbundenheit versichern, mir zugleich ihre Bewunderung ausdrücken darüber, daß ich, die bessere Hälfte der Welt hinter mir lassend, in die andere gegangen bin, die finstere, die ärmliche, die erbärmliche, um sie entwickeln zu helfen. Zeig denen da nur mal, wie man eine Kanalisation baut!, schreiben sie – in Verkcnnung meiner Tätigkeit an einem Bewässerungsprojekt. Ich schiebe die Karte beiseite, daß sie in den Spalt zwischen Bett und Moskitonetz fällt. Um sie los zu sein. Der Gedanke liegt fern, sie noch einmal anzusehn, geschweige denn, sie jemand anderem hier zu zeigen … Wie die Postkarte in die Rücktasche meiner Hose zwischen Paß und Führerschein gekommen ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat Munusami sie unter dem Bett hervorgeholt, hat sie nach wie vor für wichtig gehalten und sie auf den Nachttisch gelegt. Aus Versehen muß ich sie dann –. Kann sein, ich wollte meinen Namen darauf noch einmal lesen, denn Post erreicht mich selten hier, seit Monaten ists das erstemal, und die Abende sind lang. Zu reden ist weder mit Munusami noch mit Kupusami, sie ziehen sich, wenn ich anders als im Befehlston zu ihnen rede, sie zum Beispiel frage, was man an so einem Abend der Regenzeit tun kann, rückwärtsgehend zurück, es sieht aus, als versänken sie in ihren fußlangen weißen Gewändern in den weißgetünchten Wänden des kahlen Bungalows, die
schwarzen Füße und die dunkelbraunen Gesichter sind noch eine Weile länger zu sehen. Demgegenüber bedeutet mein Name, in der Anschrift geschrieben, eine Anrede, an die man sich halten kann. Allerdings hatte ich nicht vor, die Karte zu verwenden wie Paß und Führerschein, um mich damit auszuweisen, mich darauf zu berufen: Schau her, von da komme ich, das bin ich! Ich fahre schnell durch die Finsternis, an den Lehmhütten vorbei, an Palmenwäldern, Dornendickicht, auf einer Straße, deren löchrige Asphaltdecke sich nach den Seiten hin schon auflöst in Busch und Staub, fahre mit großem Licht und mit dem Daumen während der Dorfdurchfahrten fest auf der Hupe, um all die Hühner, Schafe, Ziegen, Wasserbüffel, Männer, Frauen und Kinder zu warnen. Ich bin eingestiegen, wie ich dagesessen habe gegenüber der Wand, in der Leinenhose, dem Buschhemd, die Brieftasche mit Paß und Führerschein klemmt in der Rücktasche … Das Hotel ist wie alle anderen ehemaligen Kolonialhotels: im Stil des viktorianischen Zeitalters gebaut, Stuckfassaden, Volutenschnörkel über den Fenstern, ein Säulenportal. Der Stuck ist außen besser erhalten als innen, offenbar hat man die Außenfront mit beständigeren Kalkmischungen versorgt. Drinnen fallen ganze Rosenkörbe, ganz Puttenköpfe auf einmal von den Wänden. Alle Kellner sind alt und haben die Steife der vergangenen Epoche im Rücken. Immer noch haben sie sich nicht daran gewöhnt, daß ich nur trinke. Das Steak, das ich am ersten Abend bestellte, mußte ich nach Schneideversuchen von allen Seiten her unbewältigt zurückgehen lassen. Wenn einer der seltenen Mitgäste, ein Regierungsbeamter, ein Vertreter einer Handelsgesellschaft, ein Latifundienbesitzer, mich anspricht, antworte ich freundlich, spreche mit, auch wenn das Gespräch über die Feststellung des beiderseitigen Woher
und Wohin und Warum-Hier nicht hinauskommt. Bei gezielteren Fragen meinerseits, etwa nach der Bedeutung des Kastenwesens heute, nach den Fortschritten der Geburtenkontrolle oder den Lebensbedingungen der Arbeiter auf den Teeplantagen im Hochland (sie sind katastrophal), tritt das WeißeWand-Phänomen auf, die Gesichter scheinen sich in ihrer Ausdruckslosigkeit zu entfernen … Trotzdem bin ich hier bereit, auch mit einem Teeplantagenbesitzer freundlich zu reden. Belanglose Fragen, Antworten sind besser als das wortlose Dasitzen vor dem Whiskyglas und Hören auf das Geprassel des Abendregens: Worte, welchen Grades der Bedeutungslosigkeit auch, beschleunigen die Tropenzeit. Was der Teeplantagenbesitzer in die Wandspiegel und das beginnende Regengeräusch hinein redet, ist von keinerlei Selbstzweifeln getrübt. Da sitzt er, der Nachfolger der Kolonialherrn in der Ausbeutung seiner Landsleute, hat die Füße auf eines der zersessenen Wandsofas gelegt, beherrscht die Szene im herrschaftlichen Hotel. Nein, davon, daß es den Arbeitern auf seiner Plantage schlecht gehe, könne keine Rede sein! Daß sie in den »lines« (stallartigen Wohnverschlägen, lang aneinandergereiht unter einem Dach) unwürdig untergebracht seien, bestreitet er – im übrigen seien sie nichts anderes gewöhnt. … Sein Hemd ist aus bester Seide, die Brust-Seite bestickt, und an zwei Fingern jeder Hand trägt er Ringe, ich erkenne einen Katzenaugenrubin und einen blauen Saphir. Die Sandalen hat er von den Füßen geschüttelt und mit den kurzen rundlichen Fingern puhlt er zwischen den Zehen. Er spricht von der Bedeutung seines Landes, gleichzeitig von sich und seinesgleichen, so daß es klingt, als werde die Bedeutung seines Landes vor allem durch die Teeplantagenbesitzer repräsentiert: spricht von dem in seinem Lande entwickelten und heute in der
ganzen Welt bewunderten Prinzip der Gewaltlosigkeit: Meine Arbeiter zum Beispiel, sagte er, wären ganz unfähig, jemals Gewalt anzuwenden, sehen Sie! … Beiläufig winkte er dann dem Kellner (das »boy« ist bellend scharf), gibt seine Bestellung auf, bekommt zuerst eine Wasserschüssel gebracht, wäscht darin die Fingerspitzen seiner rechten Hand. Noch während der Waschzeremonie wird ein Tisch neben ihn hingestellt mit einer riesigen Schüssel Reis in der Mitte. Um die Reisschüssel herum werden sechs, sieben Näpfe mit verschiedenen CurrySoßen versammelt, eine Schale mit geriebener Kokosnuß, ein Teller mit Reismehlfladen. Sehen Sie, sagt er, der Reis – das ist die Quelle unserer geistigen Macht! Er schnalzt mit der Zunge und beginnt. Mit den Fingern greift er in den Reisberg hinein, drückt, läßt noch einmal los, greift wieder und knetet, was er hält, zu einem halbweichen, weißen, fast hühnereigroßen Kloß, probiert ihn noch eine Weile zwischen den Fingerspitzen, tunkt ihn dann in eine der Soßen, bis er sich vollgesogen und rötlichbraun gefärbt hat, und mit einem Schwung, der, angesetzt im Ellbogengelenk, übergeht in ein lockeres Schlenkern der Hand, nimmt er den Kloß zum Mund, läßt breit, hellrot und spiegelnd naß die Zunge sehn, drückt ihn zwischen den Zähnen hindurch an den Gaumen; beim Zurückziehn der Hand lecken die Lippen die Finger … Die Curry-Soße läuft ihm aus den Mundwinkeln. Ab und zu leckt er nach den Fingerspitzen auch den Handballen ab. Bei der immer schnelleren Folge der Eßklöße, die er in sich hineinstopft, kommt er ins Schwitzen, seine Augen bekommen, während der riesige Reisberg rasend schrumpft, einen trunkenen Glanz. Zwischen Kloß und Kloß beißt er in zerknirschende Reisfladen oder schiebt eine Handvoll Kokosflocken dazwischen. Aus den Mundwinkeln tropft es auf sein Hemd. Seine Zehen bewegen sich im Rhythmus der
kauenden Kiefer. Wie aus weiter Ferne sieht er mich aus nur halb geöffneten Augen an, sieht, wie ich ihm zusehe: Ich esse, sagt er, nie mit Besteck! Reis mit dem Besteck zu essen, ist barbarisch! Nur die eigene Hand ist sauber genug für den Reis. Sehen Sie! (Er leckt die Finger.) Wer den Reis, unseren Reis, sagt er und sieht mich von unten an, nicht mit der Hand ißt, der weiß nicht, was Reis ist, der weiß nicht (er spricht in Pausen, um nicht aus dem Schluckrhythmus zu kommen), was das für ein Land ist, der weiß nichts von seiner geistigen Macht! Als der Reisberg abgetragen ist, (drei Familien der Arbeiter in den »lines« wären satt geworden davon), fragt der in den Winkeln noch currybesoßte Mund mich so beiläufig wie er den Diener kommandiert hat: Und wo kommen Sie her? Als ich die Postkarte – was ich schon gleich bei ihrer Ankunft hätte tun sollen – zerreißen will, ist es zu spät: sie liegt, zu meiner Identifizierung benutzt, auf dem Tisch im ehemaligen Kolonialhotel.
Die Frau auf der Düne Den ganzen Weg über vom Rasthaus den Rasenhang hinunter zum Strand betrachtete er seine eigene weiße Haut. Es war zeitig am Vormittag, aber die Sonne stand schon hoch, und ihr Brennen war ungewohnt. Er strich sich mit den Fingerspitzen über die Arme und Schultern. Sie waren weißer, als er es je bemerkt hatte, und seine eigene Haut kam ihm hier in der Sonne am Strand auf einmal fremd vor. Er war eben angekommen, hatte den Wagen, der nicht einmal seiner war, im Hof in den Schatten gestellt, hatte das Zimmer nur flüchtig angesehn und dann, noch während der Aufwärter den Koffer holte, begonnen sich auszuziehn. Er hatte nur die Badehose und ein Handtuch aus dem Koffer gezogen und war zum Strand hinuntergegangen. Erst als er am Wasser stand, sah er sich um. Palmen und Sand. Eine kleine Bucht, der ein Riff vorgelagert war, nur eine schmale Durchfahrt blieb für die Boote. Draußen standen die Segel; er konnte nicht erkennen, ob die Flotte sich entfernte oder herankam. Er warf einen Blick nach dem Rasthaus hinauf, das weißgekalkt, niedrig und kahl auf einem Grashügel lag, warf das Handtuch in den Sand und ging, über die Wellen hinwegtretend, solange er konnte, ins Wasser. Es wurde rasch tiefer, und ehe er ganz eintauchte, blieb er noch einmal stehen. Die Wellen rollten über das Riff hinweg, stellten sich dann auf und brachen erst kurz vor dem Strand. Ihre Höhe war sehr verschieden, und ehe eine besonders große ihn erreichte, warf er sich vornüber und schwamm.
Er hatte sich immer für einen guten Schwimmer gehalten. Aber hier in dem fast körperwarmen Wasser hatte er Schwierigkeiten. Sein Armzug spürte kaum Widerstand, als sei das Wasser dünn, als komme er nicht voran, er zog die Arme immer schneller durch, wurde atemlos und kam aus dem Rhythmus. Er hob den Kopf aus dem Wasser, sah sich um und wunderte sich, wie weit er schon vom Ufer entfernt war. Als er sich wieder nach vorn drehte, sah er die Boote. In dichtem Rudel kamen sie durch die Lücke im Riff und herein. Dann fächerte ihre Formation sich auf, und in breiter Front ansegelnd glitten sie auf ihn zu. Die großen braunen Segel, die plumpe Rundung der Einbäume, die klatschend in die Wellen eintauchenden Ausleger – und er kam sich plötzlich bedroht vor. Er wendete und schwamm zurück. Die Boote, eine geschlossene Front, jagten ihn. Wenn er zurücksah, standen die Segel immer steiler über ihm. Der Atem ging ihm aus, und den Kopf mühsam über Wasser haltend, zappelte er mehr als er schwamm. Mit knappem Vorsprung rettete er sich ins Flache, watete, die Knie werfend, hinaus. Gleich darauf liefen knirschend die Boote auf, und Augenblicke später wimmelte es um ihn her von Gestalten, von denen er nur sah, daß sie nackt und braun waren. Sie schoben die Boote, zogen sie und schrien. Er flüchtete sich zu seinem Handtuch, das zusammengeknautscht, ein rotes Bündel im Sand lag, hockte sich daneben und starrte auf seine Füße. Er wollte nichts hören, wollte außer seinen eigenen Füßen nichts sehn. Aber auch wenn er sich die Ohren zugehalten, die Augen geschlossen hätte, wäre ihm nicht möglich gewesen, von sich abzuweisen, daß die Schreie, die ihn am lautesten umgellten, ihm galten. Er wollte nichts als mit seinen eigenen Füßen, seiner Atemlosigkeit allein gelassen sein, aber unter Gelächter und Geschrei wurde er immer wieder aufge-
fordert mitzuhelfen, den Einbaum, der ihm am nächsten war, auf den Strand heraufzuziehen. Erst Stunden waren vergangen seit der Begrüßung, die eigentlich ein Verhör gewesen war. Nun, junger Freund, hatte der beleibte Mann in dem roten Buschhemd und mit dem eckig geschliffenen Whiskyglas in der Hand gefragt, wie lange sind Sie denn schon im Lande? Zwei Tage. Im Lande. Und wie lange schon hier bei uns? Seit heute Mittag – Er hatte herumgefingert an seinem dünnwandigen glatten Glas, in das er sich Orangensaft hatte gießen lassen, und versucht, möglichst breitschultrig dazustehn vor dem Mann, dessen Geburtstag man feierte und der für die nächsten Jahre sein Vorgesetzter war, dem Leiter der Versuchsanstalt zur Verbesserung des Anbaus von Gummi. Auch die Kollegen alle waren im Buschhemd, nur er, kaum angekommen, schon eingeladen, war im klemmenden schwarzen Anzug und schwitzte. Und wann, hörte er sich gefragt, sind Sie abgeflogen zu Hause? Vor drei Tagen. Dann sind Sie, hörte er zwischen Stößen von bellendem Gelächter, sozusagen gradewegs von London in meine Geburtstagsfeier gereist! Nur er wußte nicht, worüber er lachen sollte. Und wann, fragte das dicke rote Gesicht aus einem Schwall von Gelächter heraus, wann gedenken Sie mit der Arbeit zu beginnen?! Ich habe schon –, versuchte er zu sagen und dann: aber morgen bestimmt, sagte er. Da wurde er am Arm gegriffen, und während das Gelächter im Raum immer neue Wellen schlug, wurde er hinausgeführt auf die Terrasse. Die Hand an seinem Arm preßte, er ver-
suchte, sich freizuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Über die Ballustrade hinweg zeigte ein Arm, der ein kantig geschliffenes Whiskyglas hielt in die Dunkelheit des Hofs, wo undeutlich eine Reihe von Wagen zu sehen war. Eine Stimme, deren Flüsterton er nicht in Verbindung bringen konnte mit dein dröhnenden Brüllen davor, sprach langsam und zischend scharf in sein Ohr: Sehen Sie den Wagen dort –? nein, den daneben, den kleinen! Packen Sie Ihren Koffer wieder und steigen Sie ein! Fahren Sie! Und wenn Sie angekommen sind auf dieser Insel, was weiß ich, wann, kommen Sie wieder! – wenn Sie angekommen sind, hörte er noch einmal und fühlte sich, das halbleere Glas mit Orangensaft immer noch in der Hand, die Verandatreppe hinuntergeschubst … Er knüllte das orangerote Handtuch in der Hand, preßte es, als könne er sich daran festhalten. Aber das Geschrei rings um ihn her am Strand hörte nicht auf. Es galt ihm. Er warf das Handtuch hin und stand auf. Er ging zu dem Einbaum hinüber, der noch halb im Wasser lag, drückte die Schulter gegen die vordere Strebe des Auslegers und hob, ruckte und schob, Schritt für Schritt, bis das Boot oben im Trockenen lag. Und wieder Geschrei, Gelächter, eine Hand klatschte ihm beifällig auf den Rücken. Im Weggehn hob er sein Handtuch auf. Die Schulter schmerzte, er hatte sich die Haut aufgerieben an der Strebe. Als er sich wieder aufrichtete, über das Wasser und den Strand sah, geriet auf einmal auch der Sand in eine wellenförmige Bewegung. Nur sein Handtuch, an dem er sich festhielt, bewahrte ihn vor dem Fallen. Das Brennen verbreitete sich von der Schulter aus über den ganzen Körper. Die Sonne! Er wäre am liebsten, das Handtuch über sich haltend, gelaufen.
Auf dem Dünenrand, an dem er vorbeiging, stand eine Frau. Sie hatte ihm nicht entgegengesehn. Sie hatte gradeaus vor sich hin gesehn, und er war hineingelaufen in den Blick. Fast kein Blick wars, ein Schauen bloß, weit offen und ungefähr. Er war gar nicht sicher, daß sie ihn sah. Nein, sie sah ihn nicht! Und während der paar Schritte, als er halb unter ihr, halb vor ihr vorüberging, war er von niemandem gesehn und außerhalb allen Geschreis. Er durchschritt eine Zone von Dämmerlicht und Kühle. Plötzlich war er müde. Er spürte den Blickschatten noch, als er im Rasthaus auf seinem Bett auf dem Rücken lag. Er schlief gleich ein. Er hatte nicht viel Zeit gehabt, weder zwischen dem Angebot, einen Posten in dem Institut für Gummianbau zu übernehmen, und seiner Entscheidung, noch zwischen der Mitteilung des Termins, zu dem er erwartet wurde, und seinem Abflug. Er hatte nicht viel gesehen. Als er landete, war es Nacht gewesen, während der Fahrt mit der Bahn und dann mit dem Omnibus hatte er meistens gedöst. Das Grün des Buschwalds, das als zusammenhängender Streifen am Fenster vorbeilief, hatte sich nie verändert. Die Menschen, die er traf, hatten alles getan, ihm die Ankunft zu erleichtern. Der Konsulatsbeamte, der ihn am Flughafen abholte, hatte ihm Ratschläge gegeben, die Lebensweise in den Tropen im allgemeinen und die Vorsichtsmaßnahmen der Hygiene und des Essens im besonderen betreffend. Die Kollegen im Institut hatten ihn gleich und uneingeschränkt als einen der Ihren begrüßt. Die Arbeit reizte ihn. Er hätte am liebsten sofort damit begonnen, noch am gleichen Abend. Da kam die Geburtstagsfeier dazwischen – und der Mann, dessen Geburtstag gefeiert wurde, hatte ihn nach einem kurzen Gespräch, das wie ein Verhör gewesen war, weggeschickt. Die Fahrt an die Küste war wie eine nachträgliche Verlängerung der Reise gewesen. Dabei wußte er gar nicht, wohin er noch
fuhr, denn er war ja schon angekommen. Während der Fahrt im Morgengrauen hatte er sich vorgenommen, noch am gleichen Tag wieder zurückzufahren und sich als völlig dienstbereit zu melden. Wie sehr er schon auf der Insel dazugehörte, hatte sich gezeigt, als die Fischer ihn aufgefordert hatten mitzuhelfen, ihr Boot auf den Strand zu ziehn. Geradezu angebiedert hatten sich alle mit ihm. Er war da und nun wollte er endlich in Ruhe gelassen sein! Und dann war er auf dem Rückweg vom Strand in den Blick der Frau hineingelaufen, in dem er keine Spur hinterließ … Er verschlief den Tag. Als er aufwachte, erkannte er das Zimmer des Rasthauses kaum wieder – den Knoten des geschürzten Moskitonetzes, den Blechnapf, der als Waschbecken diente, die roh behauenen Dachbalken, über denen man die Lagen der Palmwedel sah, die als Dachbelag dienten. Er fragte sich, ob die Badehose, die neben dem Bett lag, wirklich seine war und wunderte sich über die Salzkrusten auf seiner Haut. … Seine Uhr, die er aufzuziehen vergessen hatte, war stehengeblieben. Er tastete sich zu seinem Koffer, zog Hemd und Hose an und ging an den Strand. Da lagen die Boote, aber die Segel waren eingerollt, und oben auf dem Sand liegend sahen die Einbäume plump und schwer und wie unbrauchbar aus. Da waren auch die Männer, aber sie saßen reglos in kleinen Gruppen oder hockten einzeln auf ihren Fersen, rauchten oder kauten Betel, spuckten aus und starrten vor sich in den Sand. Er ging zwischen ihnen hindurch, aber keiner sah auf. Er setzte sich zwischen zwei dicht zusammenstehende Boote und sah zu, wie es dunkel wurde. Die Szenerie, die er am Morgen gesehen hatte, erkannte er nicht wieder. Die Bucht war weiter, das Riff war kaum zu sehn. Der Geruch nach Tang und feuchtem Sand, nach Teer und Fischschleim, der an den Booten klebte, war wie
der Atem eines Riesenmauls, vor dessen Zähnen er saß. An eine Abfahrt, Rückfahrt, einen Dienstantritt irgendwo war nicht zu denken. Er wußte nicht, wo er war. Das Rasthaus war groß und leer. Ein flacher Bau mit einem Mittelteil, in dem der Eßraum war, zwei Seitenflügeln, die, noch einmal geknickt, den Mittelteil in offenem Rechteck umgaben. Als er am Morgen angekommen war, hatte er gefragt, ob noch ein Zimmer frei sei. Am Abend sah er, daß er der einzige Gast war. Sobald er sich an einen der Tische im Eßraum setzte, wurden die immer gleichen Teller und Schüsseln vor ihn hingestellt – morgens, mittags, abends, es gab immer dasselbe. Curry und Reis. Was auch immer mit dem Curry gewürzt war, Gemüse, Fleisch, Fisch, alles war so scharf gewürzt, daß eins wie das andere schmeckte. Er versuchte, selbst Vorschläge zu einer Abwechslung des Essens zu machen: Geflügel, Blumenkohl, Ei, Tintenfisch, Langusten. Aber offenbar verstanden ihn weder Kellner noch Koch. Kann auch sein, er bekam all das, worum er gebeten hatte, wirklich vorgesetzt, nur in anderer Form, als er erwartet hatte — irgendein Geschmack ließ sich durch das Brennen des Curry auf Gaumen und Zunge hindurch nicht unterscheiden. Er sagte sich, daß er sich, da er nun einmal auf der Insel sei, an das Essen der Insel gewöhnen müsse, und er aß, als schmecke es ihm. Aber das Essen auf Hoffnung hin bekam ihm schlecht. Der Schlund brannte ihm jedesmal noch Stunden nach jeder Mahlzeit, der Magen krampfte sich ihm zusammen, wenn er die nächste nur von weitem sah. Er begann, schlecht zu schlafen. Das Essen, über das er der Insel nahe kommen wollte, stieß ihn zurück. Er verbrachte die meiste Zeit der Tage am Strand. Aber der Seegang war so stark, daß er nicht weit hinausschwimmen konnte. Die Brandungswellen waren bis dicht ans Ufer heran-
gerückt. Oft wurde er, wenn er schon wieder Boden unter den Füßen hatte, noch einmal hochgerissen, herumgewirbelt und über den Grund geschleift. Wenn er danach im Sand auf dem Bauch lag, mischten sich das dumpfe Klatschen, das prasselnde Schmettern der Wellen, das Sirren der windgejagten Sandkörner, das Rauschen der Palmenkronen zu einem schrillen Geräusch in seinen Ohren, das ihn schon nach kurzem Daliegen wieder auagte und zurück ins Wasser trieb. Ein ruhiges gleichmäßiges Schwimmen, sagte er sich, würde ihm helfen. Aber rhythmische Schwimmbewegungen, auch nur drei Atemzüge lang, kamen nicht zustande zwischen den Wellen. Er versuchte es immer wieder, und allmählich kam es ihm vor, als verlernt er hier auf der Insel das einzige, was er wirklich gekonnt hatte, das Schwimmen. Die Fischer fuhren des starken Seegangs wegen nicht aus. Sie teerten ihre Boote, besserten die Netze aus oder saßen reglos im Schatten. Wenn er einen ansprach, schüttelte der nur den Kopf, manche starrten ihn bloß an. Die Kinder, mit denen er zu spielen versuchte, liefen schon weg, wenn er nur in ihre Nähe kam. Er winkte, er hielt ihnen eine bunte Muschel hin, sie standen und sahen ihn an; ganz langsam, nickend immer wieder, ermunternd lächelnd ging er auf sie zu; aber ehe er ihnen die Muscheln in die Hand legen konnte, auch nur eine Spur von Zutraulichkeit einheimsen konnte dafür, liefen sie weg. Allmählich entrückten sich ihm die Bucht, die See, das Rasthaus, die Palmen, die Boote. Er war da und doch nicht da. Immer wieder setzte er sich zu einem Essen, das ihm nur Übelkeit hervorrief. Immer wieder stürzte er sich in ein Meer, das ihn nicht schwimmen ließ. Er begann an der Farbe der Sonnenuntergänge zu zweifeln. Nur die Frau, die am ersten Tag auf der Düne gestanden hatte, war als feste Erinnerung übriggeblieben. Ihr Blick, der
nichts festhielt, war das einzige auf der Insel, was ihm vertraut war. Er versuchte, sich Einzelheiten ihres Gesichts vorzustellen: hochgeschwungene Brauen, vorstehende Backenknochen, ein großer, etwas dicklippiger Mund. Und dann, sagte er sich, mußte noch etwas an ihr sein, das sie anders aussehen ließ als die andern. Danach suchte er. Wenn er an den Strand ging, durch den Bambuswald streifte, in dem verstreut die Hütten der Fischer lagen, wars nur, um die Frau wiederzusehn. Als er sie traf, sah sie aus wie die anderen Frauen auch. Trotzdem erkannte er sie, er wußte selbst nicht, woran. Sie ging mit fünfzehn, zwanzig anderen Frauen in einer Reihe. Sie gingen langsam, schwankend hintereinander, jede trug einen Korb mit Sand auf dem Kopf. Sie verschwanden zwischen den Bäumen und Hütten, kamen, Augenblicke später nur, wieder zurück, gingen auf die Düne zu, knieten hin, schaufelten die Körbe mit den Unterarmen voll, hoben sie sich im Aufstehen auf den Kopf und zogen wieder ab, eine schwankende Prozession, um die Beine schwappten die knöchellangen dunklen Röcke. Graue Leinenblusen, ein gerolltes Tuch zwischen Korb und Kopf. Eine Frau wie die andere, aber die vorletzte in der Reihe der Sandträgerinnen war sie. Er setzte sich auf den Dünenrand, so daß sie dicht an ihm vorbeigehen mußten. Beim neunten oder zehnten Mal des Vorübergehens sah sie ihn auch — das heißt, ihr Blick glitt über ihn hinweg wie über einen Stein, der im Sand lag. Diesmal gab er sich nicht zufrieden damit. Er lächelte ihr entgegen, als sie wiederkam, dann schnalzte er mit den Fingern, dann winkte er. Als der Zug der Sandträgerinnen sich auflöste, ging er ihr nach und beobachtete, in welcher der Hütten sie verschwand. Von da an blieb er ihr immer auf der Spur. Er ging ihr nach, wenn sie mit den Kindern am Strand entlang ging, sah ihr zu, wenn sie vor der Hütte den Reistopf scheuerte, und wenn sie an der Flußmündüng
die Wäsche wusch, saß er nicht weit davon auf einem Baumstumpf. Eines Abends stand sie zwischen den Fischerbooten mit dem Mann zusammen, der ihn am ersten Morgen angerufen hatte, immer wieder aufgefordert hatte mitzuhelfen, seinen Einbaum an Land zu ziehn. Er ging hin, und der Mann verstand ein paar Worte. Als die beiden zu ihrer Hütte zurückgingen, ging er mit. Der Mann winkte ihm, er solle hereinkommen. Sie setzten sich am Eingang auf Kokosmatten und rauchten. Während sie zur Tür hinaus auf den Strand und das Meer sahen, war die Frau im Hintergrund der Hütte beschäftigt. Sie hatte zwei Kinder. Das eine lernte gerade laufen, das andere war ein Säugling. Während die Frau mit dem Reistopf klapperte, dem größeren Kind zu essen gab, plärrte der Säugling. Als das Klappern des Reistopfs aufgehört hatte und der Säugling stille geworden war, drehte er sich um. Dicht hinter ihm auf der Matte, noch im Lichteinfall der Tür, hockte mit untergeschlagenen Beinen die Frau und säugte das Kind. Sie hatte die Bluse aufgeknöpft und auseinandergerafft. In die prall hängende Brust hinein drückte sie den Kopf des Kindes. Es schmatzte und biß. Die Brüste unter dem dünnen Hals waren riesengroß, und das Schmatzen des Kindes war so laut, daß es das Brandungsgeräusch übertönte. Als er aufstand, um zum Rasthaus hinüber zum Essen zu gehn, spürte er Übelkeit. Er dachte daran, noch einmal durch die Brandung hinauszuschwimmen, aber er fürchtete, er habe das Schwimmen verlernt. Am nächsten Morgen packte er seinen Koffer. Als er seine Brieftasche in die Hand bekam, öffnete er sie, nahm den Paß, den Führerschein und seine Impfkarte heraus, betrachtete sein Lichtbild, seine Unterschrift, seinen Daumenabdruck und die beglaubigen Stempel darunter. Er bezahlte seine Rechnung
und machte den Wagen fahrbereit – ohne daß er wußte, wohin auf der Insel. Eine Möglichkeit war, geradewegs zum Flugplatz zurückzufahren und die Insel, noch ehe er angekommen war, wieder zu verlassen Ehe er abfuhr, ging er noch einmal an den Strand, legte sein rotes Handtuch in den Sand und schwamm. Die Brandung war etwas schwächer als an den Tagen davor und er schwamm weiter hinaus als sonst. Dann setzte er sich neben sein Handtuch, um sich vor der Sonne trocknen zu lassen. Als er seine Arme und Schultern betrachtete, fiel ihm zum erstenmal auf, wie braun sie geworden waren. Auf dem Dünenrand schräg über ihm saß die Frau und neben ihr spielte das Kind, das eben laufen lernte. Er hatte sie, als er vom Rasthaus herunterkam, schon von weitem gesehen. Sie hatte sich, als er vorbeiging, nicht umgedreht, aber wenn er während des Schwimmens zurücksah, war es ihm vorgekommen, als blicke sie ihm nach. Vielleicht wars nur deshalb, daß er weiter hinausgeschwommen war als sonst, vielleicht war die Brandung gar nicht schwächer als an den Tagen davor. Als er, von der Sonne getrocknet, aufstand, um wegzugehn, stand oben auf der Düne auch die Frau auf und sah sich auf dem Strande um, der sonst leer war. Für einige Augenblicke vergaß sie ihr Kind. Es machte ein paar unbeholfene Schritte auf den Dünenrand zu, fiel vornüber und kollerte dann langsam den Dünenabhang hinunter. Am Fuß der Düne hatte das Wasser einen Überhang ausgespült, das Ufer fiel steil ab an dieser Stelle, und die Brandungswellen schlugen mit dumpfem Prall gegen den Sandwall. Er hatte das Kind vornüberstolpern sehen, aber nicht gerufen.
Er hatte es langsam den Abhang hinunterkollern gesehn und noch immer gewartet. Erst als es dicht vor dem Uferrand war, sprang er hin und fing es auf. Er hatte das Kind noch im Arm, als die Frau heran war. Er hielt es ihr hin. Jetzt, dachte er, Dankbarkeit oder sonstwas! Aber sie riß das Kind an sich, als hätte es in der Luft gehangen und könne fallen, als sei es erst jetzt in Gefahr, drehte sich um und lief davon. Das Handtuch schlenkernd ging er zum Rasthaus zurück, zog sich um und fuhr davon. Seit er das Entsetzen in den Augen der Frau gesehen hatte, als er ihr Kind im Arm hielt, hatte er begonnen anzukommen.
Der Fisch im Sand Manchmal fahre ich mit den Fischern hinaus. Wir hocken oben auf den Bordplanken des Einbaums, halten die Füße auf die bauchige Wölbung gesetzt oder stemmen sie gegen die Streben des Auslegers. Manchmal sind wir zu zweit, manchmal zu dritt im Boot. Die Fischer sind nackt bis auf den Lendenschurz. Sie kauern auf den Enden des Einbaums, reglos und schwarz, Galionsfiguren ihres eigenen Boots. Aber nur ein leises Zucken der Rute, und schon schnellt die Schnur herauf, der Fisch blitzt metallen über dem Graugrün der See, schießt hoch über den Horizont und wird aus dem hellen Blau von einer dunkel greifenden Hand heruntergepflückt. Ein Druck hinter die Kiemen, ein Drehen, ein Ruck, und er fällt, von der Angel gelöst, durch den schmalen Spalt in die Wölbung des Baums. Dort schlägt er noch eine Weile, schnellt umher im brackigen Bodenwasser und wird bald still. Ich habe kein Glück. Was ich fange, ist klein, bunt und ist, wenn man es mit der Hand greift, fast zugedeckt. Manchmal ist unten am Köder ein heftigeres Zucken, ein Zerren, das wie ein elektrischer Schlag in die Arme herauf schießt; aber ich reiße nicht rechtzeitig hoch, warte noch auf das nächste und wieder das nächste, noch deutlichere Signal, und was ich dann schließlich am Haken habe, ist klein und bunt, kaum Fisch zu nennen. Eine Periode besonders günstigen Monsuns hat eingesetzt, und die Fischer fahren weiter hinaus. Sie fahren am Abend und
kommen erst am Morgen, manchmal erst am Nachmittag zurück. Sie nehmen Öllampen mit, hängen große Flaschen mit Arrak und Tee in die Boote und setzen sich Filzhüte auf gegen die Kühle der Nacht. Sie fragen, ob ich nicht auch nach weiter draußen mitkommen wolle. Aber so viele Stunden kann ich es nicht aushalten auf den schmalen Borden der Einbäume. Abend für Abend kurz vor Sonnenuntergang stehe ich am Strand und sehe zu, wie die Boote zum Wasser hinuntergezogen werden, wie die Männer einen günstigen Augenblick im Rhythmus der Wellen abwarten, die Boote flottmachen, aufspringen und mit ein paar Ruderschlägen, ehe der nächste Brecher sie zurückwerfen kann, sich ins Tiefe retten. Dann werden die Schläge langsam und lang, die Boote entfernen sich und dringen in den Abenddunst ein. Draußen irgendwo werden sie auswerfen, Augen und Hände werden lauern auf das Zucken der Rute, die Arme etwas Schweres, widerstrebend Zerrendes heraufholen, und die Hände Augenblicke später ein schnellendes, im Ölfeuerlicht glänzendes, glitschig kaltes Stück Meer halten. Der Strand ist leer. Die Frauen und Kinder, die bei der Ausfahrt zugesehn haben, sind in die Palmwälder zurückgegangen, wo die Hütten stehen. Etwas später gehe ich auch. Der Bungalow, den ein Freund mir für ein paar Wochen vermietet hat, ist nicht weit, aber jenseits des Palmwaldstreifens, jenseits der Straße, schon außerhalb des Dunstes der Wasserstaubschwaden, die das Meer ausbläst. Nichts zu lesen, fremde Möbel, Abende ohne Rand. Und selbst wenn die Fischer mich mitnehmen, wenn ich weiß auf dem Einbaum hocke, bin ich nur eine Kuriosität, ein Zierstück wie die lächerlichen Fische, die ich fange. Weite flach geschwungene Buchten, eine nach der anderen. Hinter all den Buchten die gleichen Palmenwälder, in den Palmen-
wäldern die Hütten, ein Dorf hinter jeder Bucht, und zu jedem Dorf gehört eine Flotte von Booten. Wenn ich am Nachmittag am Strand entlanggehe, ist in all den Buchten – zwei oder drei nach jeder Seite kann ich erlaufen – das Gleiche zu sehen. Die Boote kommen mit vollen Segeln laufend herein, getrieben vom landwärts wehenden Monsun. Rostbraun das Segeltuch, die Ausleger schlitzen Schaum aufreißend die Wellen. Kaum zu sehen die Männer. Erst wenn der Einbaum knirschend aufläuft, werden sie sichtbar, springen ins Flache, schieben, zerren und rucken das Boot, sich mit schrillem Singsang gegenseitig ermunternd, ins Trockne. Die gefangenen Fische werden auf einen Haufen geworfen. Händler sind da, und die ganze Beute des Tags wird auf einmal versteigert. Die kleineren Fische werden gezählt, eine Waage für die großen gibt es nicht. Ich sehe zu, immer wieder. Da liegt der Fang. Noch durch die Sandschicht, die jetzt an den Fischen klebt, sieht man das Glänzen der Schuppen, den Flossenansatz, das Grätenmuster des Schwanzes. Manchmal geht einer der Männer hin und wischt mit dem Fuß die Sandschicht fort. Immer wieder sehe ich einen Händler, der nur das Beste kauft. Er hat immer das gleiche an: ein grünes Hemd und einen grünen Sarong. Er setzt sich auf den Bootsrand, kaut auf einem Stückchen Holz und starrt auf die Fische herunter, die im Sand liegen. Er kaut und wartet, sein enormes vorstehendes Gebiß zerfasert das Holz. Wenn der Fischer, dem das Boot und die Beute gehören, seine erste Forderung macht, schnaubt er nur durch die Nase, überläßt den anderen Händlern den Anfang des Feilschens. Einer bietet einen Preis, weit unter dem, den der Fischer genannt hat, und der Fischer schweigt. Ein zweiter Händler bietet etwas mehr und ein dritter noch etwas mehr, und allmählich, wenn die Angebote sich dem Preis nähern, den der Fischer erwartet, übernimmt der Fischer selbst die Rolle des
Auktionars. In hohem flachem Singsang ruft er das letzte Angebot aus, wieder und wieder, geduldig und ohne aufzusehn. Ein Händler bietet höher, der nächste noch etwas höher. Zuschauer haben sich angesammelt, Frauen, dürr und mit flachen Blicken, Kinder mit beweglichen Händen und Füßen, die abwechselnd im Sande zeichnen. Sie stehen im Kreis um die Fische, die Händler zwischen ihnen, nur der mit dem grünen Sarong sitzt oben auf dem Boot und kaut an seinem Holz. Dann, wenn keiner mehr weiterbietet, wenn der Fischer schon aufhören will, wieder und wieder das gleiche Angebot auszurufen, bietet der Grüne noch etwas mehr. Die anderen Händler sehen sich an, drehen sich um und gehen. Jetzt erst beginnt der Grüne sein Spiel. Er betrachtet die Fische noch einmal, genau, als habe er sie bisher noch gar nicht gesehen, und sagt dann, das sei ja viel zu viel Geld. Der Fischer murrt, will das, was ausgemacht ist. Der Grüne springt vom Boot, wirft den Haufen von Fischen mit dem Fuß auseinander, tritt, scheinbar aus Versehen, auf die besten Stücke und nennt ein neues Angebot. Der Fischer besteht auf seinem Preis. Nun tut der Grüne, als wolle er gehn. Weil die anderen Händler schon bei den später gekommenen Boot stehen, gibt der Fischer nach: Also gut, etwas weniger! Aber der Händler, das zerfaserte Holz am Munde, ist noch nicht zufrieden. Er beginnt zwar dem andern sein Geld umständlich auf die Hand zu zählen, aber mittendrin nimmt er alle Scheine wieder zu einem Bündel zusammen, geht ein paar Schritte fort, kommt zurück, greift willkürlich in die Scheine, gibt dem Fischer irgendeinen Teil des Bündels und zählt dann genau da weiter, wo er vorher aufgehört hat. Der Fischer protestiert, will, daß noch einmal von Anfang an gezählt wird. Aber der Grüne zählt unbeirrt weiter und zuende, steckt den Rest der Scheine in seine zerfledderte Brieftasche zurück und dreht sich zum Gehen. So schnell er kann, zählt der
Fischer nach. Es ist weniger als ausgemacht. Er ruft dem Händler nach, er solle warten. Inzwischen hat der Helfer des Grünen schon die Fische in Körbe geworfen, die Körbe an eine Tragestange gehängt und geht damit weg. Der Fischer faßt den Grünen am Hemd, widerwillig bleibt der stehen. Er läßt sich das Geld alles noch einmal zurückgeben, ruft seinem Helfer zu, er solle noch warten, die Körbe noch einmal hinstellen, zählt selbst noch einmal, tut, als wolle er dem Fischer nun wirklich alles geben, behält dann aber doch wieder ein paar Scheine zurück: Weil ich so viel Ärger mit dir gehabt habe, sagt er ihm. Das ist der Augenblick, in dem der Fischer aufgibt. Wenn er jetzt noch auf seinem Preis beharrt, werden seine Fische aus den Körben geworfen, in den Sand getreten, und er kann sie womöglich gar nicht mehr verkaufen – denn der Grüne ist, wie Samuel, der Fischer, der mich zuweilen in seinem Boot mit hinausnimmt, gesagt hat, der reichste aller Händler an der Küste. Er kauft nur das Beste, und niemand wagt, gegen ihn anzusteigern, wenn er einmal mit im Handel ist. Samuels Fisch. Ein prächtiger Fisch. In all den Tagen, an denen ich mit Samuel hinausgefahren bin, hat er niemals so einen Fisch gefangen, und auch in dem Fang der andern habe ich keinen wie diesen gesehen. Schon spät am Nachmittag, das Boot, in dem nur Samuel und sein Bruder sitzen, kommt als eins der letzten herein. Ich denke schon, sie hätten gar nichts gefangen, so langsam zerren sie das Boot über den Sand herauf. Aber dann wirft Samuel den Hut weg, dehnt sich, streckt die Arme hoch, biegt den Kopf zurück, beugt sich dann ins Boot hinein und hebt mühsam den einen Fisch heraus. Eine ganze Weile hält er ihn, ehe er ihn in den Sand wirft. Sofort laufen die Kinder zusammen, schreien spitz, stehen dann, einen Finger im Munde, und starren.
Ein paar andere Fischer kommen, spucken sich beiseitedrehend einen Strahl Betelsaft aus und starren dann auch. Frauen, Händler. Samuel geht mit schief gelegtem Kopf ein paarmal um den Fisch herum, wischt dann mit nacktem Fuß allen Sand von der Oberseite ab, streicht noch einmal über den Bauch, den Schwanz, den Kopf und beschreibt mit dem großen Zeh einen Kreis um das Auge. Er sieht sich um. Beginn der Versteigerung. Der Grüne hockt oben auf dem Bootsrand, kaut an einem Stück zerfaserten Holz. Ein Fisch! Nicht aalhaft lang, spitzschnauzig dünn, sondern mit ausbuchtendem Rücken und Bauch. Dichte, nach oben zu grau, nach dem Bauch zu weißlich werdende Schuppen, regelmäßige Muster; scharfkantige Flossen, ein breiter Schwanz. Kreisrund und groß das Auge, weit abgesetzt vom Maul, schon mitten im prallen Umriß des Leibs. Und schräg darunter, im Weiß des Bauchs, wo sie ihn getroffen haben, um ihn zu bändigen und zu fassen, eckig und rot gerandet, der Biß des Bootshakens. Die schnarrende Stimme des Grünen: Dreißig. Was auch immer Samuel zu Beginn gefordert hat, aber dreißig Rupien sind kein Preis für diesen Fisch! Die anderen Händler pressen die Lippen. Sie wagen nicht, gegen den Grünen anzusteigern, bleiben aber stehen und sehen von dem Fisch auf Samuel und wieder zurück auf den Fisch. Viel früher als sonst hat der Grüne sein Spiel begonnen. Er will ganz sicher gehen, den Fisch zu einem Spottpreis kaufen, will den andern allen, Fischern, Händlern, Frauen, wieder einmal zeigen, wer er ist. Schon spät am Nachmittag. Die anderen Händler alle, auch er, haben schon viel gekauft, genug wohl für heute. Aber da ist nun dieser Fisch. Ich sehe, wie der Grüne sich wegstützt vom
Bootsrand, schon hinunterspringen will zu seiner Beute, höre meine eigene Stimme: Vierzig. Er bleibt sitzen. Sein Gesicht ist nicht zu sehen, die Sonne steht hinter ihm. Aber er hat aufgehört zu kauen. Aus seinem eigenen Schatten heraus mustert er mich. Er kennt mich vom Sehen, weiß, daß ich in einem Bungalow jenseits der Straße wohne, in ein paar Tagen nicht mehr da sein werde. Er weiß, daß ich mit dem Fisch nichts anfangen kann. Aber ich habe ihn überboten. Alle sehen ihn an. Fünfzig, sagt er und kaut wieder auf seinem Holz. Der Kreis um den Fisch wird enger. Samuel, mit gesenktem Kopf dastehend, wagt nicht, die beiden letzten Angebote zu wiederholen. Niemand spricht, niemand flüstert auch nur. Zehen bohren sich in den Sand, und die Frau Samuels, die ganz außen steht, hält das Jüngste, das sie im Arme hat, hoch, damit es den Fisch sehen kann und was damit geschieht. Es ist sinnlos, den Grünen auszusteigern. Wenn ich weg bin, nein, schon am nächsten Morgen, wird die Ausbeutung der Fischer ihren Gang nehmen wie eh und je. Aber dieser Fisch: er gehört genausowenig dazu wie ich – Sechzig. Sonst überbietet man sich um fünfzig Cent, eine Rupie höchstens. All die aufgerissenen Augen starren auf den Grünen. Er gehört hierher. Er ist der Ausbeuter, der dazugehört. Alle kennen seine Tricks und sind machtlos dagegen. Alle wissen, daß er noch niemals ausgesteigert worden ist – Siebzig. Der Kreis, der sich eben noch zusammengezogen hat, weitet sich wieder. Der Fisch in der Mitte scheint zu wachsen. Schräge Sonnenstrahlen. Mitten im gelben Sand wird das Licht silbrigkalt reflektiert. Ein kaltes Feuer mitten im warmen Sand, an-
ziehend, abstoßend. Der Grüne reglos auf dem Boot. Sogar seine Kiefer stehen still – Achtzig, und schon nach kurzer Kaubewegung der vorstehenden Kiefer die Antwort: Neunzig. Ein Seufzen in dem Kreis. Er zieht sich wieder zusammen. So viel ist für einen Fisch noch nie geboten worden. Der Schrei eines Kindes, schrill, spitz, als ich hundert sage. Die Füße im Sand, die sich in winzigen Schritten unaufhörlich vorwärts, rückwärts bewegt haben, stehen still. Das Auge des Fisches in der Mitte … Nicht abzusehn, wo das Bieten um den Fisch noch hingehn wird. Wie in einem Schacht – ob zehn Rupien, hundert oder tausend –: am Ende des Schachts (oben oder unten?) der Fisch. Da lacht der Grüne. Ein bellendes Lachen. Springt vom Bootsrand herunter, drängt sich, die Ellbogen werfend, durch den Kreis und geht mit staksigen Schritten, bei denen sich sein Sarong jedesmal knallend spannt, davon. Der Kreis schließt sich nicht mehr. Von dort, wo die Lücke entstanden ist, bröckelt er auseinander. Die Händler, die Fischer, die Frauen, zuletzt gehen die Kinder, den Finger im Mund, sich umdrehend, starrend. Dann nur noch Samuel und ich. Er sieht mich nicht an. Er lädt mich nicht ein, wie ers bisher jedesmal getan hat, wenn er mich gesehen hat, am nächsten Tag mit ihm hinauszufahren. Auch nach seinem Fang kein Blick. Ich habe ihm den Fisch nicht nur abgekauft – ich habe ihm den Fisch von der Leine geschnitten und noch einmal selbst gefangen … Ich sage ihm, daß ich das Geld nicht bei mir habe, und daß er es morgen bekommt.
Er nickt und geht. Der leere Strand. Der Dunst überm Meer. Zwischen den plumpen Booten der fremde Fisch – Abreise am nächsten Morgen. Auch diese eine Nacht überwarte ich nur, um meine Schuld zu bezahlen.
Der Bergbungalow Schräg ziehen sich die Runsen bis zum Kamm, immer tiefer eingeschnitten, je höher hinauf; der breite Rücken steigt allmählich, und der Gipfel schließlich, fast senkrecht aufspringend, ein kantiger Block, steht kahl gegen den Himmel. So sieht es aus, wenn das Wetter klar ist, bei stetigem Monsun; in den Zwischenzeiten, wenn Wind und Regen sich verbeißen ineinander und schäumend sich wälzen, ist der Gipfel fortgenommen, und die Wolken hängen bis unter die Bergschulter herein. Dort oben, dicht unter dem Knick, steht der Bungalow. Ich habe hinauffahren wollen von dem Tage an, seit dem ich hier bin. Flach und sehr weiß mitten im Grün des Buschwalds, der hinaufreicht bis zum Kamm, steht er da mit breiter Fensterfront herunter zum Tal. Man kann dort oben bleiben tagelang, wochenlang; drei Badezimmer soll es dort geben und jedes soll gekachelt sein, in den großfenstrigen Schlafzimmern soll man schlafen können ohne Netz (die Moskitos kommen nicht so hoch hinauf), und von der Terrasse sieht man bei klarem Wetter bis ans Meer. Dort kann man sitzen, die Insel überschauen und die Sonne untergehen lassen, wie’s einem gefällt. Von den Freunden ist der eine und der andere oben gewesen. Jeder kann hinauf, man muß sich nur anmelden, wenn man über Nacht bleiben will. Ich weiß, wo man sich anmelden muß, um den Bungalow zu mieten, und nicht nur das: ich weiß, wem er früher gehört hat (dem reichsten Plantagenbesitzer des Lan-
des), ehe der Campus hier gebaut worden ist und er übergegangen ist in die Verfügungsgewalt der Universität; jetzt dient er als Gästehaus. Aber Gäste, für die eine Fahrt dort hinauf sich lohnt, kommen selten (die Verbindung der Universität mit der Außenwelt ist dürftig), und so kann jeder hinauf, der sich die Mühe macht, sich anzumelden, oder dem für einen Nachmittag und Abend oben die Anfahrt nicht zu lang und zu steil ist. Meine Zeit auf der Insel ist fast abgelaufen, und ich weiß nicht, ob den Vertrag verlängern oder nicht. Nach jeder nächtelangen Grübelei weiß ich es weniger. Die Entscheidung ist überfällig, der Kanzler hat mich für den folgenden Tag zu einer Unterredung gebeten. Bleiben oder nicht? – Beim Blick auf den Bungalow wieder vom Fenster aus, so hoch oben, daß der Hügel, auf dem mein Haus steht, zum tiefsten Unten gehört, ist es plötzlich so weit: Heute! Ich weiß, daß der Buschwald, der sich hinaufzieht an der Berglehne, dicht ist und feucht, und der Weg schmal, kurvig, steil; und DeSouza, mein Nachbar, der die Insel kennt wie keiner, hat gewarnt: Sei vorsichtig, wenns naß ist, ich sag dir! Es hat geregnet in der letzten Nacht, aber ich habe gesagt: Heute. Aber der Weg, nach dem Abbiegen von der breiteren Straße, steigt nicht, sondern fällt: Ein Dorf ehemaliger Arbeiter der Teeplantage; seit die Plantage aufgegeben ist, verdingen sie sich da und dort, so gut es geht, aber Arbeit und Lohn reichen nicht, einige sind schon abgewandert, das Dorf verfällt. Ich habe gewußt, daß es so ein Dorf gibt, aber nicht, daß es an dem Wege liegt, der zum Bungalow führt. Weiterfahren oder nicht? Kinder neben Hunden scharren in Pfützen, aufgeweicht der Straßendamm und glatt. Die Räder rutschen. Umkehren, also doch? Was will ich oben? Drei Jahre lang nicht, und heute? Aber umkehren? Scheibe herauf und herunterdrehen, die Kurbel quietscht. Ich fahre – fahre schon
nach dem Zeitplan der Vereitelung, die Zufallsmaschinerie läuft schon ab mit tödlicher Sicherheit: Als ich herumbiege um die Felsnase, steht der andere schon quer. Ich habe gehupt, genau rechtzeitig, und er hat mein Hupen gehört und gebremst, genau rechtzeitig, und der Wagen ist herumgeschwungen und steht quer. Der Weg in den Berghang ist eingekerbt an dieser Stelle: An Kühler und Heck ist zwischen Wagen und Berg keine Handbreit mehr frei. Ein alter Peugeot, der mir die Zufahrt zum Bungalow versperrt, der Wagen nur allzu genau bekannt, wie der Mann, der gleich drüben aussteigen wird: DeSouza, mein Nachbar und Ratgeber in Angelegenheiten des Lebens auf der Insel, DeSouza, der so oft schon beim Bungalow oben gewesen ist, der den Weg kennt, wie er sagt, wie den zu seinem eigenen Bett, und der gesagt hat: Sei vorsichtig, wenns naß ist, ich sag dir! Nur flüchtig, als er ausgestiegen ist, sein Blick zu mir herüber. Als habe er gewußt, daß er mir hier begegnen wird, als sei längst fällig gewesen, daß wir auf dem Weg zum BergBungalow zusammentreffen. Die Lage seines Wagens betrachtend, wiegt er den Kopf in der für ihn eigentümlichen Weise: das Kinn beschreibt dabei eine liegende Acht. Sein Kopfschütteln fasziniert mich immer wieder durch die Regelmäßigkeit der Bewegung, die Vollkommenheit der vom Kinn beschriebenen Acht, ein Kopfschütteln, das sich selbst genießt. Die Faszination seines Kopfschüttelns läßt Zeit vergehn und verhindert eine ganze Weile die Erkenntnis, daß DeSouza nicht allein zum Bungalow hinaufgefahren ist, daß er zwei Frauen – sie sitzen noch erschreckt zusammengekauert – auf dem Rücksitz hat. Dastehen, während die Frauen reglos sitzenbleiben, neben dem Wagen, das Betrachten bald der Kühlerfront, bald seines Hecks … Dastehen und allmählich sich anbahnend Bereden
der Situation. Das Hin und Her beim Sichten der Lage. Das Bücken und Zerren (die Frauen sind inzwischen ausgestiegcn mit spitzen Füßen, ratlos, wo hintreten mit den dünnen Sandalen zwischen dem nackten Fuß und dem durchweichten Lehm), das Aufschaukeln schließlich der hinteren Achsfederung mit Heben und Rucken – nach all dem ist der Bungalow längst nicht mehr da, eingetaucht in den Abend, versunken im schwarzen zikadendurchlärmten Irgendwo. Heimfahrt mit großem Licht, das Breschen schlägt für den Rückzug, die andern immer dicht hinter mir. Anhalten bei der Einmündung des Bergwegs unten in die breitere Straße, die anderen fahren vorbei. Los, kommt mit, zu mir! DeSouza winkt mit kreisendem Arm aus dem Fenster. Einkuppeln und hinterher. Das ist ohne Entscheidungsschwierigkeit getan, wenn zwei Rücklichter das einzige sind, was man sieht. DeSouza bewohnt ein Haus wie meins. Größe und Aufteilung der Räume sind identisch. Sein Haus hat zwar die Fensterfront zum Tal zu, und ich möchte die Aussicht auf den Berg und den Bungalow dicht unter dem Gipfel nicht missen – trotzdem beneide ich ihn immer wieder um sein Haus. Auch bei mir steht in der Sitzhalle eine Bambustrommel in der Ecke, beide Häuser haben einen rotgestrichenen Steinfußboden, und auch die leichten Korbmöbel sind die gleichen. Aber DeSouza bewohnt sein Haus anders, das Haus läßt sich anders von ihm bewohnen. Der Raum scheint trotz der großen Abstände zwischen den Korbsesseln dicht gefüllt. Immer andere Kupferteller, Holzschnitte hängen an den Wänden, immer andere Dämonenfratzen grinsen aus den Ecken (er kennt alle Maler, Kupferstecher, Holzschnitzer des Landes, er macht sie in Zeitschriftenartikeln und Büchern bekannt, und sie schenken ihm ihre besten Stücke); Stapel von Schallplatten scheinen im Hause zu
wandern, türmen sich immer an einer anderen Stelle, immer andersfarbige Katzen streichen einem um die Beine. Eine Sandale hier, ein Sarong dort, eine leere Tasse, die Pfeife auf der Trommel: ein Glanz von Chaos, der auf den Zimmern liegt, Chaos, das durch die offenen Fenster mit dem Buschwald in Beziehung steht, der unmittelbar jenseits der freigeschlagenen Fläche des Gartens beginnt, mit dem Schrillen der Zikaden, dem kehligen Ruf des Buschfasans, und mit dem lautlosen Gleiten der Schlangen, das man ringsum nahe ahnt. DeSouza, kahlköpfig, mit funkelnden Augen und dick (ungewiß, ob das Funkeln der Augen sich aus dem Glänzen des kahlen Schädels speist oder aus etwas hinter den Augen), ist unverheiratet, aber selten allein. Die Frauenstimmen, über die Mauer zwischen den Häusern herübertönend, geben oft einen Nachhall in meinem kahlen Haus. Dann drehe ich meinen Schallplattenspieler laut oder hole die Trommel aus der Ecke. Zuweilen verirrt sich eine seiner bunten Katzen zu mir herüber, aber sie bleibt nicht. Die beiden Frauen, mit denen DeSouza zum Bergbungalow hat hinauffahren wollen, müssen sehr verschiedenen Alters sein, die ältere wenig jünger als DeSouza selbst, die jüngere könnte deren Tochter sein. Sie haben, kaum daß sie aus dem Auto gestiegen sind, in dem sie zusammengekauert, unansehnlich gesessen haben, die Falten ihrer Saris über den Hüften glattgestrichen, sind, schon als sie über den Kiesweg zur Haustür gingen von einer prallen, selbstgewissen Stattlichkeit, eine wie die andere, das Rückgrat sichtbar zwischen kurzer Bluse und Sari-Rock, liegt in einer tiefen Kerbe mattbraun glänzenden Rückenfetts. DeSouza kümmert sich gar nicht um sie. Es ist ihm gleichgültig, ob sie vor ihm ins Haus gehen oder hinter ihm. Ich lasse ihnen den Vortritt; trotzdem: keinen Augenblick sind sie ratlos oder zögern auch nur; ein sanftes, etwas dümmliches Lächeln im Gesicht haltend, be-
dürfen sie nur flüchtiger Umschau; dann verschwinden sie schreitend, gleitend in Richtung Küche, Rumoren wird laut, und im Wiederkommen bringen sie Teller mit Fleischklößen, Teller mit einem in Blätterteig gebackenen Reis-Fleisch-Gemisch und hauchdünne in siedendem Öl geröstete Reismehlfladen. Sie stellen die Teller auf kleine Hocker, von denen es in DeSouzas Haus unzählige gibt, die Hocker in Reichweite um uns herum, dazu Gläser mit dem milchig trüben, säuerlich-hefig-salzig schmeckenden Palmwein. Den Krug mit dem Palmwein stellen sie auf einen Hocker in der Mitte des Raums, setzen sich dann in einiger Entfernung auf niedrige Stühle zwischen die Stapel von Schallplatten und Büchern. An Reismehlfladen und Nüssen knabbernd, stehen sie nur auf, um DeSouza nachzugießen. (Ich gieße mir selbst nach.) DeSouza herrscht wortlos. Offenbar wissen die Frauen so genau wie er selbst, was bei ihm im Hause zu tun ist; nicht einmal eines Winks bedarf es. Seine völlige Nichtbeachtung der Hände, die ihm den Teller herhalten und aus dem Krug Palmwein nachgießen, lassen mein heftiges, dankend abwehrendes Kopfschütteln lächerlich erscheinen. Eine Schallplatte nach der anderen auflegend, sich mit Schwung Fleischklöße in den Mund werfend, knirschend Reismehlfladen zerbeißend und die Hand mit leerem Glase ausstreckend und wegsehend dabei – so bewohnt er ein Haus, das nach allen Seiten in den Busch übergeht, bewohnt er mit dem Busch zugleich alle Teeplantagen und Dörfer, bewohnt die ganze Insel. Damit nicht genug. Wenn DeSouza mir alle neugekauften Platten vorgespielt hat, Ragas, Improvisationen auf der Sitthar, Tabla-Soli, die jüngste-beste Aufnahme von Bachs Triplekonzert oder japanische KotoMusik, legt er zuletzt immer die gleiche Platte auf: ein Spiritual, gesungen von Armstrong. Ich würde gehen auch ohne das (Spirituals müssen immer anders gesungen werden, entspre-
chend den immer anderen Formen der Unterdrückung), aber es wäre eine Kränkung DeSouzas, wenn ich davor ginge: Alles andere ist Musik, diese Platte ist er. Wenn er sie auflegt, legt er sein Herz unter die Nadel: Sometimes I feel like a motherless child … – und während die Platte läuft, immer an der gleichen Stelle, während eines Trompetensolos, sagt er immer das gleiche: Ich könnte, sagt er den Kopf wiegend (das Kinn beschreibt eine Acht), überall zu Hause sein … everywhere, everywhere, und er scheint sich immer wieder über diese seine Einsicht zu wundern, darüber, daß er sich ihrer so sicher ist, und er ist es immer wieder, wenn er die Platte hört. Wenn es so weit ist, mache ich mich bereit zum Gehen. Die wenigen Schritte von DeSouzas Haus zu meinem fallen mir jedesmal schwer, wenn ich an die kahlen Wände denke, die kahl bleiben, was ich auch immer darauf hänge. Aber wenn die Platte abgelaufen ist, sagt DeSouza kein Wort mehr (während der Musik unterhalten wir uns beiläufig über das, was wir hörei, oder auch über Gott und die Welt), begleitet er mich nur noch bis vor die Tür, nickt mir flüchtig zu und geht rasch in sein Haus zurück. Aber diesmal, noch während der letzten Takte der Musik fragt er: Und du? Bleibst du hier? Als kämen die Worte aus einer anderen Ecke des Raums … Die beiden Frauen hocken mit aufgerichteten Köpfen: Große Augen mit verschleiertem Blick. Von einer Wand grinst die Maske eines Teufelbeschwörers, die Stapel der Schallplatten scheinen im Raum zu wandern, der Busch kommt zum Fenster herein, das Zikadenschrillen ertränkt die letzten Takte des Lieds: … a long way … a long way from home … –
Wenn ich oben gewesen wäre, wenn ich zum Bungalow hinaufgelangt wäre, wenn ich es bewohnt hätte, und sei’s für eine Stunde nur, wenn ich auf der Terrasse sitzend die Insel überschaut hätte bis zum Meer hin, vielleicht wäre ich dann eingewohnt auch in meinem Haus, wäre von fetten Frauen in roten und blauen Saris umlagert, die mir scharf gewürzte Fleischklößchen und Reiswein reichen, ein Papagei säße auf meiner Schulter, und Affen turnten von der Lampe zum Bilderrahmen, königlich-chaotisch wäre ich eingewohnt auf der Insel … – oder auch anders: vielleicht fiele mir dann die Rückkehr leicht in die Welt der Städte und der Autobahnen zwischen den Städten; vielleicht hielte ich dann all die Dinge wie Reaktion, Rezession, Atommüll-Produktion und scheiternde Abrüstungsgespräche für selbstverständlich, da unvermeidlich, vielleicht wäre ich wieder von allen Zweifeln geheilt: unverdorben für die Welt katastrophal zwangsläufiger Ordnung. Wenn ich beim Bungalow oben gewesen wäre, wäre jede Entscheidung richtig, ob ich bleibe oder gehe, was immer ich tu – Was DeSouza sonst nie gesagt hat: Bleib doch noch! Aber da bin ich schon an der Tür.
Die Frau des Wohltäters Wenn der Ort eine Rolle spielt, dann nur der Entfernung wegen, die alle hier von ihrem Ausgangspunkt trennt. Die beiden Engländer sind zwei Tage vor mir eingeflogcn, auf der gleichen Route, von Süden her. Die anderen Routen sind nur von Militärmaschinen beflogen – und der kleinen Maschine des Roten Kreuzes, der jede Bergwiese zum Landen genügt: sie steht dem Arzt zur Verfügung. Man fliegt von Süden her ein gewundenes Tal entlang, das sich nach einer plötzlichen Wende zu einem Talkessel weitet. Die Maschine schwingt herum, und man treibt in die volle Sicht. Die Häuser und Tempel liegen bunt in wechselndem Grün, die Buntheit wirkt grell, wenn man aus der Ebene kommt, die mit ihrem Dunst den Augen nichts anderes zugemutet hat als Schattierungen in Grau. Das Hotel hat mir unter allzu vertraulichem Schulterklopfen ein Landsmann, ein Konsulatsbeamter, empfohlen. Es sei, sagt er, ein Hotel der dreizehnten Klasse, aber damit auch nicht schlechter als die andern am Ort. Als es sich findet, ist es nicht zu klassifizieren in seinem Hof von Jasmingeruch, mit der Holzbank an der sonnigen Mauerfront und den haarenden Pferdedecken auf feuchtem Strohsack. Das im Preise einbegriffene Essen ist nicht genießbar. Ich entweiche dem Hunger auf einen Gang durch die Stadt, bringe mir vom Markt einen Blumenkohl mit und reiche ihn in die Küche zum Kochen. Als er gebracht wird, so riesig groß, daß er herausragt über den Teller-
rand, scheint das Sattwerden in greifbarer Nähe. Aber kein Bissen davon kommt bis zum Magen: ein Blumenkohl, ohne Salz gekocht, läßt sich, wenn man die erste Rose gekostet hat, nur noch betrachten. Es ist ein Blumenkohl von wirklich seltener Pracht. So groß wie er ist, so gleichmäßig ist er gewachsen, keine Unebenheit durchbricht die weiße kugelförmig gewölbte Fläche, es ist interessant, mit der Hand über die körnig rauhe Oberseite zu streichen … Aber auch das Streicheln macht ihn nicht eßbar. – Und die anderen? Die beiden Engländer haben sich nichts weiter als Nudeln bestellt, sind eben dabei, eine mitgebrachte Gulaschbüchse zu öffnen. Der eine hält die Büchse, der andere schneidet sie mit einem dolchartigen Messer auf. Sie essen langsam und unabgelenkt. Danach sitzen sie still unter der spärlichen Wandbeleuchtung und betrachten die leeren Teller, die leere Büchse. Auf dem Weg zur Tür muß ich an ihrem Tisch vorbeigehn, und sei’s die Büchse, sei’s der Nudelteller, der jetzt leer ist – irgend etwas hält mich fest. Der eine der beiden sieht auf und nickt, ich nicke wieder, und alles ist gesagt: Sie haben meine Miene beim Kosten des Blumenkohls gesehn und die ganze Zeit, während sie Nudelteller und Gulaschbüchse leeraßen, meinen sinnlos beladenen Tisch bedauert. So haben mein voller und ihr leerer Tisch uns zusammengebracht. Mitfühlend miteinander empfinden wir wechselseitig Sattsein und Hunger. Die Getränke des Abends bestellen wir gemeinsam. Mit dem Sinken des Pegelstands in den Gläsern vertieft sich die Bekanntschaft. Da sie sich auch erst zwei Tage kennen, kommt mein Dazutreten nicht endlos zu spät. Nach drei Gläsern ist ihr Bekanntschaftsvorsprung fast eingeholt. Beide sind sie Militärs, stationiert in einer Garnison der Nachbarstadt, Funkspezialisten, verantwortlich für die Verbindung der Garnison hier am Abhang des Himalaya mit der Mutterinsel, der eine ein Veteran, der andere eben angekommen als Nachfolger
des ersten. Was sitzt ihr, frage ich, hier immer noch rum, fern der Heimat, wer braucht euch? – Wer uns braucht?! sagt der Jüngere stramm: Dieses Land lebt von den Pensionen seiner Söhne, die im Dienste gestanden haben Ihrer Majestät, der Königin! Fern der Heimat, sagt der Veteran und wiegt den Kopf: In drei Tagen flieg ich hier ab, siebzehn Stunden später bin ich in London; und wenn einer der hiesigen Rekruten, der zur Spezialausbildung in London ist, per Funk zurückgerufen wird zu seinem sterbenden Vater, ist er in siebzehn Stunden hier – aber dann, dann dauert es eine Woche, bis er in das Bergdorf gelaufen ist, wo sein Vater stirbt. – Das meine ich nicht, diese Art von Entfernung, ich meine die Ferne der Kolonialisten allemal, wo sie auch sind. Aber das verstehen sie nicht, sind nicht Kolonialisten, wollen es niemals gewesen sein, sind nur Funkspezialisten. Und du, sagen sie, verdammter Tourist, willst du ein Wohltäter sein?! – Und ihr?! – Wir trinken in der gemeinsamen Schäbigkeit der Fremden … Den Wohltäter treffen wir erst am nächsten Abend, den einzigen unter all den Fremden am Ort. Es ist Sonntag, und die Bar des Hotels hat sich mit Einheimischen gefüllt. Bauern der Umgebung. Sie wollen am Sonntag ihren Schnaps trinken an einem Ort, wo manchmal auch Fremde sind, wollen die Ärmel ihres Sonntagsstaats reiben am ekenholz, wo sich schon fremde Ellbogen gerieben haben, wollen in Berührung sein mit der Welt. Einen Schnapsabend lang. Die da stehen mit verrutschten Krawatten und geröteten Gesichtern unter Lammfellmützen, haben rauchende Katen zurückgelassen, nackte Kinder, die sich mit Hunden balgen, ihre Weiber, die sie tags nur durch den Essensdunst und nachts, wenn sie nach ihnen greifen, überhaupt nicht sehen. Die Frau des Wohltäters kommt zuerst herein. Vielleicht ist ihr Mann schon vor der Tür angesprochen worden von einem ehemaligen Pa-
tienten, vielleicht kommt sie auch immer zuerst. Als die Tür leer hinter ihr klappt, dreht sie den Kopf. Aber ihr Umsehn ist nicht so sehr nach dem, der ihr nachkommen wird, ist mehr, um ihre Halslinie schräg von der Seite zu zeigen, ihren gelben hoch aufgetürmten Haarbausch zum Zittern und Flimmern zu bringen. Sie reckt die eine Schulter vor, der Rocksaum zieht sich noch ein Stück weiter nach oben zurück. Auch falls ihr Mann wirklich gleich hinter ihr in den Raum getreten wäre, sie hätte es, obwohl sie sich umdrehte, nicht bemerkt – ihre Augen sind, seit sie zur Tür hereingekommen ist, geschlossen. Sie sieht nicht, wer ihren Auftritt sieht. Sie will’s nicht sehn. Die da stehen beim Sonntagsschnaps, die werktags Rüben graben, Jauche gießen und Schafe scheren, können nicht würdigen, was zu sehen ist, wenn sie kommt. Trotzdem ist ihr Haar getürmt, ist die Brosche ausgewählt passend zur Farbe des Haarbands, ist der Rocksaum hoch genug für alle Bars aller Hauptstädte der Welt. Verächtlich reckt sie das Kinn zu denen hin, die glotzen, die sie nicht sieht. Die Tür klappt zum zweitenmal: der Arzt. Die Frau macht die Augen auf und sieht uns. Wir sitzen an einem Tisch in der Ecke. Ihr Kinn wird sanft, der Mund verliert die Verächtlichkeit, sie senkt den Kopf. Also hat sich ihr Auftritt doch gelohnt! Nicht umsonst hat sie die Haare glänzend gebürstet, die Brosche ausgesucht, den Kleidersaum hochgenäht. Da ist jemand, der sie sehen kann, wie gesehen zu werden sich lohnt. Neben ihrem Mann, halb hinter ihm, trippelt sie zur Bar. Geduldig läßt sie’s über sich ergehn, mit ihm umdrängt zu werden von der Dankbarkeit seiner Patienten. Er wird umarmt, und ihr der Arm gepreßt. Sie lächelt. Blinde Tölpelhaftigkeit läßt sich ertragen, wenn in der Ecke jemand sitzt, der einen sieht. Der Wohltäter im Gespräch mit den Dankbaren. Wahrscheinlich gehts um Krätze und geheilte Mumps, um Kompli-
kationen der schweren Geburt und das Wohlergehen des glücklich in die Welt gezogenen Jüngsten. Vielleicht würde der Arzt am liebsten den ganzen Abend an der eke stehend verbringen, vertieft in Leutseligkeit. Aber auf die Dauer kann er sich seiner Frau nicht widersetzen. Sie sorgt dafür, daß es ihn an unseren Tisch in der Ecke zieht. Wie auch immer sie das schafft. Den Griff an seinem Ellbogen kann er kaum gespürt haben. Sie hat sich inzwischen nicht mehr nach uns umgesehn, aber die Richtung, aus der sie gesehen worden ist, hat sie nicht verloren. Als sie bei uns am Tisch sitzen, schweigt er und sie spricht. Von ihm. Von sich selbst absehend, bescheiden vor sich hinsehend auf die Tischplatte, mit unterdrückter Stimme, berichtet sie vom Wohltäter des Landes. Zehn Jahre schon. Die Zahl der Leben, die er gerettet hat, ist längst über alle Schätzbarkeit hinaus. Ein Flugzeug des Roten Kreuzes ist zu seiner Verfügung. Auf dem Wege zu Krankenlagern hat er Gewitter durchflogen, Nebelfelder unterflogen, Schneestürme überflogen. Die Maschine hat mit der Flügelspitze zuweilen die Felsen gestreift, einmal ist sie von einem Blitz getroffen worden, einmal sogar von einem Kugelblitz, Notlandungen sind die Norm. Aber immer rechtzeitig am Krankenbett, immer der Not auf der Spur. Zehn Jahre! Die Dankbarkeit des Landes füllt noch die entlegensten Täler, reicht so hoch wie die höchsten Berge des Landes … Während sie uns von ihm erzählt und von nichts als von ihm, selbst gar nicht da ist neben ihm und wenn, dann nur als Stimme, die seine Wohltaten verkündet, schaut der Mann zwischen uns hindurch zur eke oder dreht den Kopf zur Tür. Helle graugrüne Augen, die er ständig zusammenzieht, als seien sie empfindlich auch gegen das trübe Licht noch in der Bar. Ein leichtes Schielen. Die Linie seines schmalen Nasenrückens setzt sich nach oben in einer senkrechten Stirnfalte
fort. Weil er das linke Auge etwas stärker zusammenzieht als das rechte, sieht es aus, als ziele er. Weil er dabei aber schielt, sieht es aus, als ziele er, wohin er auch sieht, auf sich selbst. Sein Schielen nimmt zu, je länger seine Frau von ihm spricht. Als sie ihm einmal die Hand auf den Arm legt, steht er auf. Gleich darauf scheint der Eindruck, der Wohltäter schiele, eine Täuschung gewesen zu sein: in seinem eigenen Haus ist er großäugig, grauäugig und im übrigen blond. Er führt uns durch alle Räume, zeigt Hausrat und Zimmerschmuck. Nichts davon einheimisch-primitiv. Mit dem Flugzeug, im Wagen und mit Trägerkarawanen hat er Stück für Stück über die Berge geholt, bis zum Bergabhang ist es mit der Bahn gekommen und bis zum nächsten Hafen per Schiff: Empire-Möbel, Einzelstücke deutschen Barocks, ein Spinett aus dem Rokoko. Nur ein Gebetsteppich aus Tibet ist aufgenommen als lokales Element, flankiert durch Drucke von Rembrandt und Dürer. In einer Ecke des Sitzzimmers ohne Beziehung zu irgendwas eine Bambustrommel. Der Mann, der dem ganzen Lande wohltut und mittendrin eine landesfremde Heimat bewohnt, erweist sich auch in seinem Haus als der ganze Stolz seiner Frau. Im Hause erst recht. Während er seine Möbel nach Herkunft und kulturgeschichtlicher Bedeutung erläutert, ist sie an seiner Seite, wenn er ein Bild von der Wand nimmt, ihm zur Hand, gleitet ihm, wenn sich Gelegenheit dazu gibt, unter den Armen durch, braucht dabei den Kopf nur wenig zu senken, zeigt auf diese Weise, wie groß er und wie klein sie neben ihm ist. Sie vermeidet es nicht, daß seine Hände, die mit Zeigen und Deuten beschäftigt sind, zuweilen ihren Hals streifen oder ihren Haarbausch in Unordnung bringen. Zuweilen legt sie ihm den Arm um die Hüfte. Das stört ihn bei seinen Erklärungen, er schüttelt sie ab, das stört sie nicht. Für uns, die sie eingeladen hat, in das
Haus ihres Mannes mitzukommen (es liegt gleich hinter dem Hotel in einem großen verwilderten Garten), hat sie keinen Blick. Noch während ihr Mann mit dem Zeigen seiner Möbel beschäftigt ist, verschwindet sie für eine Weile. Als sie wiederkommt, wollen wir gehen. Als Gäste sind wir offenbar überflüssig geworden. Sie hat sich umgezogen. Ein Hausanzug jetzt. Aber der Arzt hat inzwischen jedem von uns ein Glas hingestellt und jedem zu seinem Glas eine Flasche. Wir sitzen auf grünen Polstern in dem Zimmer, in dem als einziges Möbelstück nur das Spinett steht. Wenigstens für eine Weile, für das Antrinken der Flaschen, müssen wir, jetzt dem Hausherrn zuliebe, noch bleiben. Der englische Veteran, ein Schotte mit kurzgeschorenem Haar und einem angegrauten rötlichen Schnurrbart, hebt immer wieder prüfend sein Glas. Dabei läßt es sich nicht vermeiden, daß er am Glasrand vorbei nach der Frau sieht. Der andre, sein künftiger Nachfolger, ein untersetzter Bursche aus Birmingham, kraushaarig und mit dicken Lippen, übergießt sein Glas, weil er seinen Blick nicht losbekommt von ihr. Nur der Arzt selbst hat keine Augen für seine Frau. Dabei ist es ganz offensichtlich, daß sie nur ihm zuliebe den Hausanzug angezogen hat. Vielleicht ist er tagelang unterwegs und sie ist allein zu Hause gewesen. Vielleicht hat sie den Anzug in seiner Abwesenheit neu geschneidert, hat ihn heute angezogen als Überraschung des Ankunftsabends. Aber er spricht nur immer weiter von seinen Möbeln und Bildern. Ihr bleibt, wenn er ihr schon keine Aufmerksamkeit schenkt, nichts anderes übrig, als sich sorgend um ihn zu kümmern. Immerhin ist er der Wohltäter eines ganzen Landes, und sie legt Wert darauf, daß seine Kleidung in Ordnung ist vor seinen Gästen. Sie zieht ihm den offenen Hemdkragen zurecht, muß ihm unter den
Armen durchgreifen, um an einen Knopf zu gelangen, der halb aus dem Knopfloch gerutscht ist. Sie steckt den Hemdrand in die Hose zurück, hat das, weil ihr Mann vornübergebeugt sitzt und sich bei seinen Erklärungen lebhaft bewegt, immer wieder zu tun. Zwischendurch streicht sie, wenn nichts andres zu tun ist, die Falten seines Flanellhemds glatt, streicht ihm mit schmalen leichten Fingerspitzen über die breiten Schultern, während er Erklärungen abgibt zur Bauweise des Spinetts in der Zeit des Rokoko. Sie selber hat kein Glas. Sie trinkt aus dem Glas ihres Mannes mit, und weil er sein Glas nie von selbst aus der Hand gibt, nimmt sie es sich von Zeit zu Zeit, löst es ihm aus den Fingern, behält es bei sich, bis er danach tastet, entfernt es dann jedesmal ein wenig von seiner tastenden Hand, läßt ihn zuerst ihre Schulter, ihren Arm, ihr Handgelenk zu fassen bekommen, ehe sie ihm das Glas zurückgibt. Über diesem Spiel gerät dann wieder sein Hemd in Unordnung, ihre Hände haben wieder Gelegenheit, Fürsorglichkeit zu zeigen. Zuweilen, wenn er besonders angeregt das Wesen des Empirestils erklärt, gibt sie, um ihn nicht zu stören, ihren Platz neben ihm auf, wo sie halb kniet, halb hockt, und setzt sich auf ihr Polster zurück, das schräg hinter ihm liegt. Dann sitzt sie, wie versonnen, für sich, beschäftigt mit sich selbst, mit der Haut ihres linken Beins zum Beispiel. Die Hosen ihres Hausanzugs sind nur knielang. Sie kann sich mit den Fingerspitzen von der Ferse bis zur Kniekehle streichen. Sie umfaßt ihre Fessel und probiert, wie schmal sie ist. Sie drückt gegen die lose hängende Wade, kneift sie mit zwei Fingern, sticht dann mit dem Fingernagel hinein. Sie probiert lange mit dem Fingerballen, der Oberseite des rotlackierten Nagels reibend, polierend, die Glätte der Haut. Um den Sitz ihres Hausanzugs ist sie nicht besorgt. Wenn nur ihr Mann, der Wohltäter des Landes, faltenlos dasitzt. Die Jacke locker, der Gürtel lose geschlungen. Mag sein, daß der
Jackenspalt sich vertieft, der Gürtelknoten aufgeht. Was tuts? Hingegebenheit an ihren Mann. Denn auch wenn sie mit sich selbst beschäftigt ist, sich selbst probiert, das Fleisch, die Haut, ists doch nur für ihren Mann, damit er, wenn er geruht, sie anzufassen, alles vollkommen findet. Sie ist mit sich zufrieden. Sie lächelt: so muß es sein! Denn ihr Mann ist wie keiner am Ort, ist der Mann am Ort, Wohltäter des ganzen Landes. Was sind schon der König, die Minister gegen ihn, den Krösus an Dankbarkeit, an Liebe! Wo er geht und steht, sucht man seine Hand, streichelt, küßt sie. Wohltäterhand. Verwöhnt, nur das Beste verdienend … Gäste? Ach ja, da waren ja noch Gäste. Wieso überhaupt Gäste? Heute abend? Ein unregelmäßiger Kreis. Der englische Veteran muß immer öfter sein Glas heben, trinkt immer rascher, hält das Glas immer öfter vor sich ins Licht. Sein Nachfolger trinkt in langen Schlucken, um in den Trinkpausen Muße zu haben, der Frau des Wohltäters zuzusehn: wie sie den Gürtel des Hausanzugs allmählich ganz aufgehen läßt, achtlos, während der Wohltäter spricht. Die Technik des Instrumentenbaus im allgemeinen und die Technik des Spinettbaus zur Haydnzeit im besonderen. Die Frau steht und legt im Nebenzimmer eine Schallplatte auf. Als sie zurückkommt, bringt sie aus der Zimmerecke die Bambustrommel mit, schiebt sie ihrem Mann unter die erklärend gestikulierenden Hände. Beiläufig, aus Versehen beim erstenmal, berührt seine Hand, als er sie sinken läßt, das Trommelfell. Dann wiederholt er den Trommelschlag, gedankenlos. Die Schallplatte im Nebenzimmer spielt ein Trommelsolo. Er trommelt mit … Auf einmal hat jeder von uns eine Trommel vor sich stehen und trommelt. Wo kommen bloß die Trommeln her? Was trommeln die andern? Und ich? Die Erklärungen des Arztes zum Stand der Spinettbaukunst zur Zeit Mozarts: verloren im Gedröhn. Die Frau jetzt in der Mitte des Kreises. Sie hat
alle Flaschen zu sich geholt und gießt ringsum ein. Wenn eine Hand nach dem Glas greift, hört die andere nicht auf zu trommeln. Trinken immer schneller, Trommeln immer schneller. Sie achtet darauf, daß alle gleichmäßig trinken. Die Platte läuft aus. Das Trommeln geht weiter. Jeder auf eigene Faust, aber alle im gleichen Rhythmus. Auch das Trinken. Gleichzeitig ausgestreckt die Hände mit den Gläsern. Während sie eingießt, betrachtet sie jeweils die Hand, die das Glas hält. Wenn eine zittert, lächelt sie. Sie selbst trinkt keinen Tropfen. Rings umtrommelt, gießt sie nur lächelnd nach, sitzt dann unbewegt, die Augen halb geschlossen. Da kippt ihr Mann und liegt auf der Seite. Seine Hand ist von der Trommel gerutscht. Das Trommeln hat ein Loch, hört gleich darauf ganz auf. Sie zuckt und reißt die Augen auf. Fahrige Handbewegungen nach dem hängenden Gürtel, Zusammenraffen der Jacke am Halse. Dann erst sieht sie sich um – sieht, daß es ihr Mann ist, der aus dem Kreis gekippt ist, der das Trommeln hat aufhören lassen. Mit gestreckten Gliedern daliegend schläft er. Eine Welle von Zuckungen im Gesicht der Frau. Der Mund öffnet sich breit, die Augen ziehen sich zusammen. Sie läßt Gürtel und Kragen los, wirft sich vornüber auf den Mann. Halb im Liegen, halb im Knien. Mit eingebogenen Fingern zerrt, reißt, rüttelt sie. An seinem Hemd, seinen Haaren. Ihre Brüste groß und schlaff hängend. Die Haut faltig an ihrem Bauch, Eine Art Husten, Keuchen in ihrer Kehle, das nach Beißen klingt. Beugt sich über ihn mit zurückgezogenen Lippen – Festhalten, wegziehen von dem Mann, so gut es geht. Der alte Schotte macht es am besten. Er gibt einen gleichmäßigen Brummton von sich, klopft und streichelt ihren Rücken. Der Junge aus Birmingham und ich nehmen den Mann, tragen ihn durch zwei Zimmer zu seinem Bett. Ziehen ihm die Schuhe
aus, legen ihn flach auf den Rücken. So groß und breit er ist, so schmal und weich sind seine Hände, kindlich rosa und weiß. Der Schotte kommt uns entgegen. An der Tür zu dem Zimmer vorbei, in dem die Frau immer noch hockt, zwischen umgekippten Gläsern, Flaschen, Trommeln, vornübergebeugt, mit hängenden Haaren. Rückwärts zur Haustür, die sich fast geräuschlos zuziehen läßt.
Der letzte Blick Fonzeka ist da. Ich kann mich auf ihn verlassen: er braucht mich. Er erwartet sich eine Empfehlung von mir für ein Stipendium, das ihm herunterhelfen soll von der Insel. Wenn er dann aus der Ferne zurückkommt, europagesalbt, ein Spezialist, ist er ein gemachter Mann. Er ist sogar schon zeitiger da als verabredet. Mir ists recht. Fahren wir. Ein Nachmittag ist ohnehin nicht viel Zeit für eine Teeplantage, wenn man alles sehen will, nicht nur das Panorama bewundern: die Tee-Hänge in der Berglandschaft, das Tee-Grün dunkler als der Buschwald ringsum. Wenn man dem Weg nachgehen will, den der Tee nimmt: vom Pflücken, Sortieren, Pressen, Fermentieren bis zum Trocknen, Packen und Versand. Ein Sammel-Nachmittag. Einsammeln der Details über den Tee. Über den Reis weiß ich alles. Ich habe beim Ananas-Schneiden zugesehen, habe das Pflücken der Kokosnüsse beobachtet, man muß genau hinsehn, seinen Standort ändern, um den Pflücker oben in der Krone nicht aus dem Blick zu verlieren. Wenn es nur zwanzig Bananensorten sind, deren Namen ich kenne, sind es wenige. Die Arbeit mit den großen Körben im Flußbett unten, wo die Edelsteine gewaschen werden. Denen verdankt die Insel ihren Ruhm. Nur noch die Teeplantage. Dann ist alles abgegrast, eingesammelt, eingesackt. Der Blick auf die Teeplantage ist der letzte Blick auf diese Insel. Zehn Tage noch. Man lernt nur langsam kennen. Die tropische Vegetation, na schön. In das Exotische muß man sich eingewöhnen. Damit
leben, daß die gleichen Äste eines Baums Blüten, grüne und welke Blätter haben können. Daß die Jahreszeiten fehlen. Das Klimatische: daß die Haut nicht trocken wird, daß beim Abtrocknen nach der Dusche die Schweißtropfen unauffällig die Tropfen des Brausewassers ersetzen. In all das lebt man sich ein. Das kriecht als Gewohnheit unter die Haut. Das merkt man kaum eindringen und nimmt es hin. Das sind Variationen von Leben, wie es schon vorher möglich war. Mehr Feuchtigkeit, mehr Wärme, mehr Geruch, mehr Hautgefühl, weniger Sehen. Das Hören auf die Nacht konzentriert, wenn der Zikadenlärm hämmert. Trotzdem das Gefühl: Das geht, das muß sein, das hat Notwendigkeit, so lebst du, wenn du hier lebst. Und das kann ein pralles Gefühl sein. Die Leute sind vertrackt. Über Mangel an Anhänglichkeit ist nicht zu klagen. Nur hängen sie an einem, wenn man sie nicht braucht, und wenn man sie braucht, sind sie im Busch verschwunden oder in der Feuchtigkeit oder in dem Sonnenflimmern über der Straße. Gebrauchtzuwerden ist wichtig. Trau keinem, der dich nicht braucht. Kennen brauchst du ihn nicht, nur wissen mußt du, daß du gebraucht wirst. Wie das mit dem Kennen, Wissen, überhaupt so eine Sache ist. Vielleicht ist es ein europäisches Mißverständnis, daß ein Mensch immer derselbe ist. Zuverlässigkeit? Vertrauen? Wie dem auch sei – am zuverlässigsten sind wahrscheinlich noch die Wünsche. Zum Beispiel der Wunsch Fonzekas, mit dem Stipendium nach Europa und dann hier zu Reichtum zu kommen. Dann ist da, mitten in der Fahrt zur Teeplantage, der andere plötzlich im Weg. Steht da hinter einer Kurve und der Weg ist zu. Zweifellos hat er sich, als ich um die Kurve herumkam, auch seinerseits noch bewegt, und zwar auf mich zu, aber so langsam, daß es aussah, als stehe er. Nur wenn er den äußer-
sten Rand seiner Seite gehalten hätte, wäre an ein Vorbeikommen zu denken gewesen. Aber er hielt die Mitte, ein riesiger alter, überall runder, aufgeblasen wirkender Ford – die Kollision war unvermeidlich, nur gut, daß die Kurve, aus der ich kam, so eng war, daß auch ich ganz langsam – Aberimmerhin. Das Klirren noch im Ohr, das Schrammen und Splittern. Fonzeka mit der Hand am Kopf. Aber: Nichts, sagt er, es ist nichts. Na und? Wer steigt drüben aus? Wer kommt, um sich zu entschuldigen? Stoßstange geknickt, Kotflügel eingedrückt, der Scheinwerfer in Scherben. Aber mit dem Wagenheber müßte es gehen. Ausbeulen, provisorisch und weiter. Auf die Teeplantage kann nicht verzichtet werden. Der Superintendent wartet nicht zweimal – und der Wagen muß in die Werkstatt. Als sei er in seinem Wagen festgeklebt, als müsse er mühsam die Tür aufdrücken und sich abreißen von dem Sitz, herausschälen aus dem Wageninneren. So allseits gewölbt wie der Wagen ist der Mann. Bauch, Hüften, Schultern, alles zeigt die gleich Krümmung. Ein enormer Schädel, fast kahl, dickglasige Brille, sogar die Stirn scheint mit dem gleichen Kurvenlineal gezeichnet. Was sieht man aus solchen Wölbungen heraus mit einer solchen Brille? Bitte, sage ich, in Gedanken nur daran, daß er so schnell wie möglich aus dem Weg kommt. Daher auch die Handbewegung, die nicht nur ihm, sondern vor allem seinem Wagen gilt. Pardon, sagt er, da war ich schuld, nicht wahr? Sehr dünn und quakend die Stimme, die aus all den Rundungen kommt. Aber was solls mit der Stimme? Helfen könnte er! Der Kotflügel ist aufzubiegen, am besten zu zweit, der eine zieht, der andere drückt mit dem Griff des Wagenhebers. Fonzeka hat zwei linke Hände, wie geboren zu einem white-collar-job, deswegen braucht er auch das Stipendium, deswegen mich, beim
Ausbeulen eines Kotflügels ist nicht mit ihm zu rechnen. Also der andere – zumal an seinem Wagen kaum ein Schaden zu sehen ist – Es tut mir leid, sagt er, steht vor mir und schwitzt. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn, offenbar besteht eine Beziehung zwischen der Größe eines Kopfes und den Schweißtropfen, die sich darauf bilden: die Tropfen auf seiner Stirn sind riesig. Helfen Sie wenigstens. Oh ja, sagt er, natürlich, gern. Sagts und bleibt stehen, wie er steht, riesige Schweißtropfen treibend auf der Stirn. Dann eben nicht, dann eben allein. Fahren Sie wenigstens Ihren Wagen auf die Seite, sage ich, als mein Kotflügel ausgebeult und das Rad frei ist. Die Teeplantage müßte, wenn wir uns beeilen, noch zu machen sein. Steig ein, sage ich zu Fonzeka und werfe den Wagenheber in den Kofferraum. Hoffentlich kommt der Motor – er zündet gleich. Also dann … Der andere hat seinen plustrigen Wagen auf die Seite gefahren, ist noch einmal ausgestiegen, steht jetzt statt seines Wagens selbst mitten in der Straße. Jetzt breitet er auch noch die Arme aus – Ich werde bezahlen, sagt er, ich komme für alles auf. Ja eben, da war ja noch was. Die Teeplantage hat das glatt abgedeckt. Vor lauter Gedanken an den Tee ist das ganz in den Schatten geraten. Eine komische Vorstellung hier, mitten in der prallen Sonne, wo nichts, sollte man meinen, auch nur ein bißchen von seiner Sichtbarkeit verlieren kann. Die Schadensregulierung. Daran, daß er schuld ist, konnte nie ein Zweifel bestehen. Daß er sich dazu bekennt, ist nicht mehr als recht und billig. Also, wie machen wir s?
Er steht einen Schritt vom Wagenfenster entfernt, hat die Arme wieder sinkenlassen und den Kopf leicht schräg gelegt. Ich finde Sie, sagt er, ich komme zu Ihnen. Daß ich auffindbar bin, weiß ich auch. Der einzige ortsansässige Fremde weit und breit, der Fremde vom Dienst. Was ich beruflich hier mache, ist manchmal fast belanglos gegenüber dieser übergreifenden Funktion: der Fremde zu sein, der hier wohnt. Der Fremde, an dem man beobachten kann, wie Fremden das Leben hier bekommt. Den man fragen kann, wie Fremde das Leben auf der Insel finden, der schon deswegen interessant ist, weil man alle möglichen Unterschiede an ihm studieren kann: den zwischen einheimisch und fremd, den zwischen früheren und heutigen Fremden, den zwischen Fremden, die nur touristisch durchziehn und denen, die eine Arbeit machen hier. Er braucht bloß einmal zu fragen – Ja, Moment – Aber wie finde ich ihn? Wenn er nicht kommt nämlich? Trau keinem, hat schon mein Vorgänger gesagt. Als Fremder bist du vor allem eins: eine Kuh, die man melkt – wenn man kann. Geben Sie mir, sage ich, Ihre Visitenkarte und schreiben Sie hinten drauf, daß Sie schuld sind. Er, wie sein eigenes Echo: Ich bezahle alles. Ich finde Sie. Und ich, wie finde ich Sie? Ich komme – Also doch noch einmal aussteigen – Da mischt sich Fonzeka ein. Er mischt sich, wie es seine Art ist, sehr leise ein, kaum hörbar seine Stimme, kaum spürbar seine Hand, die er mir auf den Arm legt, als ich nach dem Türgriff taste: Ich kenne ihn, sagt Fonzeka, du kannst ihm vertraun, er ist ein guter Mann. Das sagt sich leicht, besonders, wenn mans so leise sagt. Hinterher kann er sagen, er habe gar nichts gesagt. Wahrscheinlich
ist das der Trick an der Art, die hier viele so an sich haben: so sanft zu sein, so leicht, so leise, daß bei allem, was sie tun oder sagen, der Zweifel bleibt, ob da überhaupt etwas war. In ihren fußlangen weißen Gewändern wehen sie nur so daher; und dann, wenn man auf sie zählen will, wenn man sich verlassen will auf sie, sind sie nicht da. Was soll ich mit Fonzekas Geflüster? Er steht ja kaum für sich selbst, wie soll er für den andern stehn? So kommen Sie, sage ich im Aussteigen, nicht davon. Geben Sie mir Ihre Karte, schreiben Sie mir wenigstens ihre Autound Versicherungsnummer auf! Hat er auch vorher schon geschielt und ich habe es nur nicht bemerkt, oder schielt er erst jetzt? Das sich Verqueren seines Blicks hinter den dicken Gläsern steigert sich noch. Verzweiflungsvoll. Als versuche er von rechts und links etwas zusammenzubringen, was nicht zum Treffen kommt. Wie zwei Fingerspitzen, die immer wieder aneinander vorbeistoßen. Dann kann ich ja, sagt er schließlich, auch gleich bezahlen und greift nach seiner Gesäßtasche. Europäisch gekleidet, Hose und Hemd, ist er ganz anders präsent als Fonzeka, abgesehen von seiner größeren Masse: er hat auch mehr Kontur. Wenn er die Schultern wölbt, sieht er beachtlich stabil aus. Jetzt? Hier? Sie wissen ja gar nicht, was das kostet! Dreißig Rupien. Er sagt das, als habe er eine plötzliche Eingebung gehabt, zaubert sich das aus dem blauen Himmel, aus der hohlen Hand. Kotflügel, Stoßstange, Scheinwerfer –? Dreißig, sagt er. Sein Gesicht ist in Kummerfalten gelegt, seine Stimme quäkt. Dreihundert, meinen Sie wohl. Auch das wäre zu wenig. In die Wiederholung einrastend wie ein mechanisches Teil in ein anderes seine quäkende Stimme:
Dreißig. Kann sein, daß es sich hinterher herausstellt, ich habe geträumt. Kann sein, da war gar kein Unfall, kein Mann, der mir erst anbietet, alles zu zahlen, wieviel auch immer, und der mir dann dreißig Rupien geben will, nicht mehr. Aber ich bin mitten in dem Traum – Fonzeka, sage ich, bitte komm doch mal –! Er kommt, ganz langsam (wie im Traum!) geht die andere Wagentür auf und Fonzeka kommt. Es ist mehr ein Heranwehen, obgleich es mitten auf der heißen, staubigen Straße am Rande eines Reisfelds keinen Windstoß gibt, nur die Wellen vor Sonnenflimmer, wenn man den Kopf bewegt. Dann steht er neben mir, das heißt, er steht auch neben dem andern, irgendwo zwischen uns steht er, ohne einen von uns anzusehn, wie eine Pflanze, mitten auf der Straße gewachsen – es hat keinen Sinn, ich weiß. Kannst du mir, frage ich ins Leere, erklären, was der Mann da will. Als keine Antwort kommt: Gut, sage ich, dann fahren wir jetzt zusammen zur nächsten Polizeistation. Fahren Sie vor mir her! Fonzeka spricht auf einmal ganz deutlich, laut, könnte man sagen. Jedenfalls ist seine Stimme trotz Motorenlärm und Außengeräusch (alle Fenster sind offen und die Ausstellfenster nach innen gekippt) hörbar. Jetzt, wo der andere nicht dabei ist, redet er, offenbar sogar zur Sache. Vorher, als wir dastanden zu dritt mitten auf der Straße und nichts, da hätte er reden sollen. Er redet von dem andern, der in seinem plustrigen Wagen vor uns her fährt. Unaufhörlich schaukelt der Wagen von einer Seite auf die andere, als hätte er nicht Räder, sondern liefe auf Beinen, schwankt wie ein dicker Mann beim unbeholfenen Gehen –
Nicht, daß mich das, was Fonzeka vorzubringen hat, interessiert. Der Mann kann sein, wer und was er will: mich mit dreißig Rupien abspeisen zu wollen, ist eine Unverschämtheit. Nur weil er meinte, es mit einem Fremden machen zu können, am liebsten hätte er sich auf Nimmerwiedersehn gedrückt – Nein, sagt Fonzeka. Wie bitte? Nein, sagt er. Du weißt wohl nicht, was du sagst. Was geht der Mann mich noch an, der Mann sozusagen als Person? Auf der Polizeiwache wird sich sowieso alles nur der Sache nach klären, an dem Mann als Person vorbei. Das zielt dann auf den Kern: auf seine Beteiligung an dem Unfall, auf seine Schuld, auf seine Verpflichtung, seinen Namen, seine Anschrift anzugeben! Was heißt da: Er ist viel unterwegs? Was heißt, er hat keine feste Anschrift? Was heißt: Er will seine Firma nicht in die Sache hineinziehn?! Ich weiß gar nicht, sage ich, wovon du redest. Schließlich hätte er sich selbst erklären können. In kenne ihn nicht. Selbst wenn es so wäre, wie du sagst, muß er mir eine Sicherheit bieten: So und so, der bin ich, dort und dort erreichbar! Identifikation, das ists! Aber, sagt Fonzeka – Nein! Identifikation, darum hat er sich gedrückt. Aber ich, sagt Fonzeka – Was hat das mit dir zu tun? Daß du ihn kennst? Daß er weiß, daß du ihn kennst? Daß er einen, von dem er weiß, daß er ihn kennt, in meinem Wagen hat sitzen sehen?! – Sag bloß, ich hätte, weil du in meinem Wagen sitzt und weil du ihn kennst und weil er weiß, daß du ihn kennst, auf seine Identifikation verzichten sollen?! Ja.
Was auch immer er den Mann betreffend vorbringt, sein Reden läßt an Bestimmtheit nichts zu wünschen. Dann werde ich, was die Sache selbst angeht, auf der Polizei einen guten Zeugen habei. Als Fremder, sage ich, ist man auf Zeugen angewiesen. Fremder? sagt Fonzeka. Das macht keinen Unterschied. Jedenfalls einen Zeugen, sage ich. Und wann fahren wir auf die Teeplantage? Jetzt wird er, sagt Fonzeka, als wir vor der Polizeiwache halten, gar nichts bezahlen. Ich hab ja dich. Aber er ist schon im Aussteigen und sieht nicht her. Deutlichkeit ist alles. Also hören Sie gut zu, sage ich zu dem Sergeanten. Das und das ist geschehen. Der andere ist schuld, das hat er selbst gesagt. Er muß alles bezahlen. Und dieser Herr hier ist mein Zeuge … – Wollen Sie nichts zu Protokoll nehmen, Sergeant? Sitzt da, ein grobknochiger Kerl in der landesüblichen Polizeiuniform mit den kurzen Hosen, man sieht seine dürren Beine unter dem Tisch, die Füße stecken in klobigen Schuhen, in die er, um sie noch klobiger erscheinen zu lassen, dicke Wollsocken hineingezogen hat. Zwei Klumpen von Füßen an dürren Beinen – und oben ein Pferdekopf. Setzen Sie sich, sagt er. Wie bitte? Vor dem Tisch des Sergeanten zwei Bänke, senkrecht dazu gestellt. Auf der einen sitzt schon, mitten darauf, der Mann, der sich drücken wollte. Auf der anderen, ganz am entfernten Ende, noch in der Nähe zur Tür, sitzt Fonzeka. Ich setze mich auf die Seite von Fonzeka, gleich vorn am Tisch des Sergeanten. Soll ich noch einmal? Aber der Sergeant hat sich schon dem andern zugewandt. Der redet. Einzelne Worte, Satzbrocken offenbar, Eingeborenen-
sprache, die ich nicht verstehe, trotz aller Brockenhaftigkeit dem Sergeanten aber offenbar verständlich, ihm eingehend sogar – auf einmal hat er angefangen zu schreiben. Ein großes in Wachstuch gebundenes Buch mit sonderbaren Strichmustern als Vordruck. Aber er schreibt über alle vorgedruckten Linien hinweg seine Zeichen mit einer rostigen, sich immer wieder im groben Papier verhakenden Feder. Die Tinte spritzt. Was soll ein Protokoll, das so zustandekommt, erbringen? Die Wahrheit? Er schreibt und schreibt, auch als der andere nicht mehr spricht. Bin ich jetzt dran? Wird jetzt meine Aussage erinnert und zu Papier gebracht? Sind das meine Worte, die da zwischen die Tintenkleckse geraten? Was geht hier vor? Er hebt unter Schnauben den Kopf. Kein Ausdruck in seinen Augen. Die Hufe unter dem Tisch rappeln. Die Wände der Wachstube sind aus lehmbeworfenem Flechtwerk. Ein winziges Fenster hoch oben in der Wand. Das Dach palmblattgedeckt. Schwüle. Diffuses Licht. Es riecht nach Pferdestall. Was geht hier vor? Das Pferd sieht auf, glotzt: Was wollen Sie? Ist hier die Polizei? Was wollen Sie? Was fragen Sie? Ich habe mein statement gemacht. Sir, das Pferd rappelt sich hinter seinem Tisch zurecht und spricht erstaunlich deutlich in einer mir verständlichen Sprache: Sir, dieser Mann da – er zeigt auf den anderen – hat gesagt, daß er Ihnen alles bezahlen wollte, aber Sie wollten nicht – Moment – Sir, sagt das Pferd unbeirrt, dieser Mann sagt, daß er Ihnen auf der Stelle dreißig Rupien geben wollte, aber Sie wollten nicht – Und jetzt? Was ist jetzt?
Jetzt, sagt das Pferd und klappt sein Buch zu, will er Ihnen gar nichts bezahlen. So leise, gleichwohl so deutlich, wie ich es in der Sprache, die das Pferd versieht, sagen kann: Aber er ist doch schuld! Sir, sagt das Pferd mit rauher Stimme, wer schuld ist, weiß ich nicht… Ich befinde mich auf einer Insel. Die Insel liegt auf der südlichen Hemisphäre. Sie ist bevölkert. Ihre Bewohner leben von Anbau von Reis, Baumfrüchten, Gemüse, neuerdings auch von Kartoffeln (ein Anbaufortschritt, an dem ich mitgewirkt habe). Um importieren zu können, was über das Lebensnotwendige hinausgeht, werden Edelsteine exportiert, Kakao, Kopra, etwas Pfeffer und andere Gewürze, vor allem aber Tee! (Die Teeplantage werde ich nicht mehr sehen, der Tee ist verloren für mich. Diese Stelle auf meinem Bild der Insel bleibt weiß.) Die Menschen sind braun. Es ist schwer, sie zu verstehen. Das kommt daher, daß man nicht weiß, was sie denken – nein, falsch: … daß man nicht weiß, wie sie denken. Sicher ist, daß sie wie alle anderen Menschen ihre Lebenszeit mit so wenig und so leichter Arbeiter wie möglich verbringen wollen. Ein white-collar-job! Nichts prädestiniert besser dazu als ein Aufenthalt draußen. Zu so einem Aufenthalt kann ein ortsansässiger Fremder verhelfen … Sergeant, sage ich, befragen Sie meinen Zeugen! Er schnaub:. Die Füße rappeln. Dann senkt er den Kopf über das in Wachstuch gebundene Buch wie über die Futterkrippe und ist still. Wo Fonzeka. gesessen hat: das leere Ende der Bank, die offene Tür,
der Blick auf einen Ausschnitt der Insel mit einem Stück brüchigem Straßenasphalt im Hintergrund, einem Stück Hibiskushecke links, einem Stück geschottertem Hof rechts und im Vordergrund, darin der Fuß einer Bambusstaude, der Fuß eines knorrigen Baums, darum verstreut ein paar weiße Blüten (ich kenne ihren Geruch, er ist zimtig-süß), neben dem Stamm der zertrümmerte linke Kotflügel irgendeines Wagens.
Aufenthalt 1 Im falschen Zug zu sitzen. Das Springen: senkrecht, schräg, senkrecht, die Streben einer Brücke zu sehen, über die man nicht fahren sollte. Die Herbstzeitlosen in den Grashängen einer Hügelkette, die man nicht queren will. Der Aufschwung der Telegraphendrähte von Mast zu Mast, die vorauslaufen zu einer Stadt, in der anzukommen, ein Irrtum ist. Auch wenn man nicht sicher wäre, daß der Zug der falsche ist: der Gedanke schon, er könne es sein, macht mißtrauisch gegen die Bequemlichkeit, die Armlehne und Rückpolster bieten, gegen die Mitreisenden sogar, auch wenn sie so harmlos sind wie das Paar in Grau: er mit Taschentuch in der Brusttasche, makellos, sie mit Pliseegefältel unterm Kostüm und erstem Faltenmuster um die geschlossenen Augen (schläft sie?). Und dann knallt auch der Ober noch mit der Abteiltür, wird gleich wieder knallen, wenn er damit fertig ist, Kaffee, Tee und sonstwas anzubieten – danke! Dabei brauchte man nur aufzustehen, zum Wagenende zu gehen, um sich durch einen Blick auf die Stecktafel zu vergewissern. Aber man würde, indem man aufsteht, den Gang entlang geht, Schwarzes auf Weißem liest, den Zweifel, ob man im richtigen Zug sitzt, zu etwas erheben, was einer Klärung Schwarz auf Weiß bedarf. Man liefe durch den D-Zugwagengang geradewegs in die Gefahr, daß auch über eine versichernde Auskunft hinaus Zweifel
blieben. Besser, man wartet auf den Schaffner. Natürlich wird man nicht fragen: Ist das der Zug nach … ?, sondern: Wann kommt der Zug an in … ? Zweifel an der Zeit ist unbedenklich. Das Paar in Grau ist nicht zu befragen: er blickt zu selbstgewißquick, sie tut, als schlafe sie. Trotzdem könnte man fragen, könnte natürlich auch aufstehen, zur Stecktafel am Wagenende gehen – wenn das Bedürfnis nach Gewißheit, im richtigen Zug zu sitzen, größer wäre: hinreichend groß. Wenn das, was hinter der Gewißheit wartet, lohnender wäre – als eine Baustelle im Regen. (Die Tropfen, die auf die Scheibe treffen, laufen flirrend waagrecht zum hinteren Fensterrand.) »Bauleitung, Doppelpunkt« steht auf der Holztafel und dann der Name, den man schon nicht mehr lesen kann. Auf solchen Tafeln jedenfalls nicht mehr vor einer Zeile von Reihenhäusern, eins wie das andere, eine Zeile wie die andere, es gehört nachgerade Phantasie dazu, soviel Phantasielosigkeit immer noch einmal zu wiederholen. Beflissene Routineleistung eines drittklassigen Architekturbüros, das in der Flaute auf dem Baumarkt überleben will. Und die Flaute hält an. Eigentlich war immer Flaute, für ein Architektenbüro dieser Klasse jedenfalls – oder liegts am Architekten, der von Anfang an nicht verstand, mehr Wind zu machen? Von Shirocco keine Spur, nicht einmal ein zügiger Passat: Flaute routinierter Üblichkeit. Weils so gewünscht wird. Und von Anfang an keine Courage, einen Bauauftrag abzulehnen, der nichts anderes verlangt als Phantasielosigkeit! Flauten-Architekt. Insofern wäre, wenn man sicher sein könnte, daß man im falschen Zug sitzt, ein Einschnitt gemacht: wenn schon nicht im Beruf, wäre wenigstens bei der Wahl des Beförderungsmittels Extravagantes geleistet. Das Besteigen eines Zuges, der die Baustelle verfehlt, ist beinahe wie das Ablehnen eines Auftrages, der Phantasielosigkeit verlangt. Ich komme nicht an. Wo
ich geblieben bin, weiß keiner. Der Tag bleibt ein weißer Fleck. Man lebte in einer Landschaft, deren Karte noch weiße Flecken hat. Von einem weißen Fleck aus kommt man werweißwohin. Zum Beispiel könnte man dem Bauherrn, der sich mit dem Telephonhörer in der Hand fast überschlug bei der Beschreibung, wie dringlich der Architekt auf der Baustelle benötigt werde, einfach mitteilen lassen, was der Architekt getan hat, ehe er der Zug bestieg, der an der Baustelle vorbeilief: auf einem Marktplatz Blumen verkauft – wie bitte?! Blumen, ja, auf einem Marktplatz mit Dom.
2 Ein Architekt, der vom Üblichen lebt, plant seine Reisen sorgsam. Eine Sekretärin und eine Zeichenkraft wollen erhalten sein. Hingabe an die Phantasielosigkeit sichert die Existenz. So geschah auch die Abfahrt heute in aller Pünktlichkeit. Der Aufenthalt in der Stadt mit dem Marktplatz vor dem Dom war eingeplant; nicht gewollt, aber unvermeidlich. Vom Baulichen her bietet die Stadt nicht viel. Im Modernen ist sie wie alle anderen dieser mittelkleinen Städte auch – nichts, worauf ein Architekt den anderen aufmerksam macht: Du, das sieh dir mal an! Und selbst wenn – ein Architekt, der routiniert durch die Flaute stakt, hat von Anregung nichts. Originalität anderer füllt die Segel nicht. Sie bläst dran vorbei, läßt sie nur schlaffer hängen. Der Dom, na ja, von Bildern bekannt, das war schon, der steht noch so da. Anschauen schadet nichts. Die Größe vergangener Zeiten bleibt vor dem Auge, legt sich nicht auf die Seele. Das sieht man und sagt: Was die damals so alles konnten – eben damals! Hier steht man, und da steht der Turm. Die dazwischenliegenden Jahrhunderte sor-
gen für Distanz, stopfen allen Vergleich den Mund, die fragen wollen: Und du?! Daher die Vorliebe phantasieloser Architekten für Kunstgeschichte. Wie fröhlich-entspannt studiert man doch die Pfeiler, Simse, Rosetten, die Bogenfügungen, Überschneidungen, die Dach- und die Turmkonstruktion, läßt sich tragen vom Rhythmus, in dem das steigt. Irritierend ist es dann freilich, wenn mit der Geschichte des Doms auch die Erinnerung an einen Schneider aufsteigt. Handwerker der Alltäglichkeit. Da wird nichts von Höhenflug an der Wiege gesungen und auch später im Leben nichts. Gemeinsamkeit derer, die eben nur dafür sorgen, was zum Leben nötig ist: ein Rock, ein Dach überm Kopf. Bruder in der Routine, möchte man rufen … Aber der Schneider, der wollte fliegen! Der blieb nicht auf dem Boden von dem, was damals als Tatsache galt, der nähte sich Flügel und stieg auf das Kirchendach. Gestürzt und tot? Ja doch. Aber geflogen auch! Und ein Schneider wars, der da aufs Dach hinaufstieg – und sprang! Mit nichts als dünnem Stoff zwischen den Armen und dem Leib! Und du stehst hier unten, schaust von Minute zu Minute auf die Uhr, hast schon Angst davor, auch nur den Anschlußzug zu versäumen! Um dem Schneider zu entgehen, der immer noch oben auf dem Kirchendach hockt, bereit abzuspringen – nein, der immer noch springt, fliegt, wendet man sich lieber dem Markt zu, einem Blumenstand zum Beispiel, der mit Astern, Gladiolen, Chrysanthemen natürlich-betulich tröstet.
3 Zum erstenmal in der Stadt. Und doch nicht. Der Name war schon lange mehr als bloßer Klang. Ganz im Widersinn zu der Steile des Doms hing er zusammen mit dem Ausblick von der Ufermauer eines Inselhafens über einen niedrigen Küstenhorizont und das Wattenmeer. Ein Schiff fährt ab. Und das Einzige, was zwischen dem Schiff ist, auf dem gewinkt wird, und der Kai-Mauer, von der aus man dem Schiff nachsieht, ist der Name der Stadt. Das Gesicht? Ach, das hatte sich längst verändert. Zwanzig Jahre – nein, fünfundzwanzig genau. Man müßte, wollte man nach dem Gesicht suchen, planlos loten in der Erinnerung, mußte darauf hoffen, daß der Schreck des Erkennens gleichzeitig kommt mit dem Gesicht – etwa wenn eine Frau Anfang der Vierziger an den Blumenstand tritt. Nie wars das Gesicht, immer nur der Name der Stadt. Der Koffergriff war gerissen, und weil sie außer dem Koffer noch eine Schachtel gehalten hatte, eine Leinentasche und einen Strauß schon halb vertrockneter Inselblumen, war auf einmal Mangel an Händen. Weder bot er seine Hilfe an, noch war ein Dankeschön fällig. Daß er mit zugriff, ergab sich im Gedränge, das schon hastig war; das Schiff hatte Verspätung, tutete schon, obgleich noch kaum einer von denen, die abfahren wollten, hatten einsteigen können. Seine Hände waren auf einmal beteiligt, Schachtel und Hut, Koffer und Blumenstrauß, sie hatte, als der Koffergriff riß, alles fallenlassen, auch die Handtasche und die Blumen, die sie in der anderen Hand gehalten hatte. Fassungslos stand sie mit hängenden Armen und gespreizten Fingern, eine Haltung, in die sie offenbar leicht geriet. So waren Hände, die mit dem abgerissenen Koffergriff zugleich auch
die Situation erfaßten, geradezu aufgerufen. Zwischen den Beinen der Drängenden, Pardon!, Knie am Kopf, Moment! Vorsicht vor spitzen Absätzen! Meine Güte, die ollen Blumen, beinahe noch ins Wasser mit allem, endlich die Reeling, der Steg… – für sie wars offenbar eine Überraschung, daß, als das Zeug glücklich an Bord war, er auf dem Kai stand und sie bei dem Zeug und nicht umgedreht, oder sie hatte gedacht, er käme mit auf das Schiff. Irgendwie gehörten sie ja beide zu dem Gepäck, sie als die, die es fallenließ, er als der, der es aufhob. Die Funktionenteilung hatte etwas Überzeugendes gehabt: Ratlosigkeit, beinahe wie Traumschlaf, und quick-praktische Orientierung, so ergänzen sich Charaktere. Aber sie stand drüben, er hüben, und sie sahen sich ins Gesicht. Von den Gesichtern blieb nichts, auf seiner Seite blieb nur ihre Fassungslosigkeit, und bei ihr? Was kann man anderes fragen als: Wohin fahren Sie? Und auch diese Frage ist albern. Wohin sonst am Sommerende als: Nach Hause, nach …, und Tuten und Leinenwerfen, das Schiff kommt frei, und ihr Winken, während die Sicht verschwimmt und der Name der Stadt im Ohr bleibt, festgehakt beim Abschied übers Wasser hin, der keiner war und doch. Zu sehen war gerade noch, daß sie, als das Schiff schon ziemlich weit war, die Blumen zurück und ins Wasser warf, wo sie auch hingehörten, welk wie sie waren. Da schwammen sie noch, als die Mole schon leer war, und da war der Name der Stadt, immer noch, angesichts des Blumenstands wieder.
4 Die Erinnerung an das Schiff machte hilflos gegenüber der Blumenfrau. Was will sie? – aber da wars schon zu spät: Eine Nachbarin war gekommen und hatte das Weib geholt: die Schwester war krank geworden oder die Tochter, oder war schon krank gewesen und es war im Laufe des Tages schlimmer geworden, so daß die Anwesenheit des Blumenweibs am Krankenbett nötig wurde, oder die Tochter bekam ein Kind, oder es brannte. Und weil auch die Nachbarin nicht bleiben konnte, die Suppe stand auf dem Herd, war der Blumenstand herrenlos, das Geschäft, ogottogott, die Ware, das muß doch weg! Besonders die Chrysanthemen im blauen Eimer sind alt, wenn heute nicht, sind sie hin, wegen der Astern wärs nicht, die sind auch noch morgen von heute, aber die Kundschaft, wer heute bei der kauft, kauft auch morgen nicht bei mir! – und wenns nur einer wäre, der dasteht, damit das Geschäft, warum nicht — der?! Steht schon die ganze Zeit und glotzt, das Münster, als gäbs da was zu sehn, war schon immer so! Sie – ja, Sie hab ich gemeint! Astern und Chrysanthemen. Aber ich muß –. Zinnien und Nelken. Aber ich bin –. Die Chrysanthemen sind alt, die verkaufen’S bittschön zuerst! Liebe Frau – in einer Stunde – mein Zug! Aber sie pflügte schon durchs Gedränge davon, und die Nachbarin lief in der Furche hinterher … Blumenschiff – Wasserfurche – Blumen im Eimer? … Aber dann, als der erste Kunde kam und, ohne auf den Verkäufer zu sehen, auf die Astern zeigte: Frisch?, wars ganz von selbst, daß der Blick zu den Chrysanthemen ging und der Mund: Die sind von gestern, sagte – und zehn Chrysanthemen waren verkauft! Dann eine Frau, die es wissen will: Sind Sie der Blumenverkäufer? – Ich? Was? Natürlich. Wer denn sonst! Möch-
ten Sie Chrysanthemen? Sie kaufte Astern. Taktisch versagt! Schlechtes Gewissen stellte sich ein wegen ungenügender Leistung im Beruf. Lange kaufte niemand, dann, nach Astern und Nelken, gingen wieder Chrysanthemen hin … Man lebt sich ein auf dem Markt. Der Dom wirft seinen Schatten über die Körbe und Köpfe. Man sieht den Leuten entgegen und sondert aus, wer kaufen würde. Man geht auf die Gesichter ein, vertieft sich in die Kundschaft des Blumengeschäfts. Der zweite Blick – wer Blumen kauft, sieht die Blumen und den, für den er sie kauft. Blumen nicht für sich selbst, und wer sie kauft für den eigenen Tisch, sieht, wer sie da sehen soll. Blumenblick. Über den Augenblick hinaus. Wer Blumen kauft, denkt an davor und danach. Das Blumengeschäft lebt von der Erinnerung. Und je länger man dasteht, desto selbstverständlicher ist der Gedanke, daß man nur deswegen dasteht, um der Frau, die damals mit Koffer, Pappschachtel, Leinentasche und Blumenstrauß noch eben an Bord gelangt war und dann, während er noch am Kai stand, den Strauß ins Wasser geworfen hatte, Blumen zu verkaufen. Fünfundzwanzig Jahre. Wie sie aussieht, hängt ab von dem Mann, den sie bekommen hat. Wo sitzen die Falten? Angenommen, sie hat einen Mann bekommen, der weiß, wo er hingreift, wenn Koffergriffe reißen zum Beispiel, Schachteln und Taschen fallen, Blumensträuße sogar, der weiß, wie man, wenn die Welt auseinanderfällt, die Teile wieder zusammenklaubt, und dann noch dafür sorgt, daß man an Bord ist, wenn das Schiff ablegt; so zuverlässig und quick ist er, daß er Fahrpläne nie verliest, nie falsche Züge besteigt; in Pünktlichkeit besorgt er das Leben; nur daß ihm eben der Sinn fürs Besondere fehlt, die Wege ins Extravagante stehn ihm nicht offen; ein Haus, das er baut, wie das andere, pünktlich, zuverlässig, nur eben immer dasselbe! Und die Frau? In ihrer Neigung zu Fassungslosigkeit, dem Bedürfnis, alles fal-
lenzulassen? Nein, sie kommt nicht auf ihre Kosten, wenn jede Fassungslosigkeit nur immer wieder mit dem Aufheben sorgfältig Stück für Stück des Gepäcks beantwortet wird, alles Fallenlassen seinen Reiz verliert neben einem zuverlässig greifenden Mann. Was bleibt ihr anderes übrig als die Augen zuzuziehn, sich schlafend zu stellen! Falten fächern aus nach den Schläfen. Blickmüdigkeit. Wozu soll man, neben seinem Mann sitzend, aus dem Fenster sehn des fahrplanmäßig laufenden Zugs. Ja, wenn der Zug nicht der richtige wäre, wenn Hoffnung bestünde, es könne dem Mann unterlaufen sein, in den falschen zu steigen – das wäre dann etwas anders!
5 Während man so versucht, das Gesicht der Frau, um derentwillen man Blumen verkauft, zu erkennen, wird man selbst identifiziert: Ein Weibstück mit schiefem Mund, noch jung, fünfundzwanzig Jahre jünger vielleicht, gar keine Blumenkundin, eine Marktläuferin auf der Suche nach dem billigsten Ei, bleibt stehen und zieht den Mund gerade. Der an dem Stand von der?! Sie blinzelt rasch über der kurzen Nase, der hochgezogenen Oberlippe und der eingezogenen Unterlippe, ist für Augenblicke das Eichhörnchen, das überlegt. Dann gleitet der Mund zufrieden wieder ins Schiefe: Sie sind wohl der Schwiegersohn, wie? (Der was?) Da sieh einer an, sagte sie noch, und dabei bliebs. Wenn man selber nicht weiß, als wer man Blumen verkauft, ist man der Schwiegersohn des Marktweibs, sobald ein schiefer Mund einen dazu macht. Die Frau taucht nach rückwärts ins Gewoge zurück, kommt wieder mit einer weiteren Betrachterin des Schwiegersohns. Offenbar ist er zum erstenmal hier zu sehn, der Schwiegersohn. Vier äugende Augen. Die
beiden stehen so, daß sie von den anderen Marktgängern immer halb verdeckt sind, aber durch die ständig wandernden Lücken hindurch reichlich sehen. Durch Blinzeln zueinander hin bestärken sie sich gegenseitig im Sehen des Schwiegersohns. Die Krawatte, die Manschettenknöpfe, das Hemd – hat ders nötig dazustehn?! Da hat sie, da hat die Tochter der Blumenfrau, da hat sie sich was geangelt! Da hat wer, da hat er, da hat doch wahrhaftig einer wie der angebissen! Also doch noch einer, nachdem wer weiß nicht wer alles an ihr genibbelt hat! An der Schlampe! Aber das weiß, wie mans macht, wenn einer kommt, ders hat! Schnapp, zugemacht, da ist er gefangen, da hats geklingelt, und da hat das Balg einen Vater! Und da steht er! Und so ist man betrachtet als Schwiegersohn eines Marktweibs, Mann einer Schlampe, Vater eines Balgs, von dem man nicht einmal weiß, obs das eigene ist … Das beeinträchtigt nicht, wenn man Blumen verkauft. Die kaufen, haben den zweiten Blick und fragen nicht. Der Obstmann auf der einen und der Eiermann auf der anderen Seite haben nichts auszusetzen an ihrem Marktkollegen aus der Branche des Blumenhandels. Der Sohn des Obstmanns kommt, um Geld zu wechseln. Das Geschäft blüht. Astern werden verkauft und vor allem Chrysanthemen. Hoffnung besteht, daß der blaue Eimer leer wird. Die Übersicht wächst. Man kann die Preisschilder wieder zur Seite der Käufer zurückdrehn. Die schmutzigen Geldscheine sind nicht schmutzig, sondern Geld, im redlichen Blumenhandel verdient. Die Erwartung des Augenblicks, wo man zählen wird, wächst. Bierdurst. He, Junge! Der Sohn des Obstmanns holt Bier und gleich eins mit für den Ollen. Prost! Aufgenommen in die Gemeinschaft des Markts. So ists also nicht, daß man, am fremden Fleck engagiert, unbedingt fehl ist am Platze. Da steht man, verkauft, steht, wenns sein muß, sein Marktweib. Und noch allerhand mehr: Schwiegersohn, Dirnenmann, Bäl-
gervater – die Zahl der Möglichkeiten kann noch wachsen. Soll einer kommen und sagen: Aber ich kenn dich doch von früher, du bist doch –! Na, was? Rat mal! Hörst du, wie die Münzen klingeln im Pappkarton? Mein Geld! Mein Kasten, meine Blumen, mein Markt! Es ist warm, wie? Im kremple die Ärmel, und der Obstmann nebenan trinkt ein Bier, von mir spendiert. Prost Oller! Das hab ich, so hats mir gefallen, mir ausgedacht, dazu hab ich mich engagieren lassen im Vorbeigehn, im Dastehn angesichts eines mäßig bedeutenden Doms, hemdsärmlig in dünner Sonne. So werd ich noch braun im Herbst. Nelken? Bitte sehr! Oder wollen Sie nicht, wo’s doch jetzt Herbst ist, Astern, oder noch besser – für wen solls denn sein? Fürs traute Heim? Gold auf den Tisch! Chrysanthemen! Na sehen Sie! … Das bin ich. Blumenverkäufer. Oder sonstwas? Nur her mit den Angeboten! Beliebigkeit auf dem Markt. Freiheit des Gewerbes. Als die Frau, damals ein Mädchen von neunzehn-zwanzig vielleicht, die Blumen ins Wasser warf, war noch kein Zug bestiegen. Fünfundzwanzig Jahre später ein Aufenthalt auf einem Marktplatz. Umsteigen in den richtigen Zug. Die Zahl der Möglichkeiten ist groß. Jeder falsche ist richtig.
6 Wer weiß, wann der Zug wieder hält. Solange er fährt, bin ich im falschen Zug. Die Frau, die mir gegenübersitzt, könnte die Frau sein, der ich Blumen verkaufen wollte. Sie ist eingestiegen in der Stadt des Aufenthalts. Mitte vierzig? Um die Augen Falten. Während der Mann munter blickt, stellt sie sich schlafend. Er hat den Fahrplan aus der Tasche gezogen und kundig geblättert, findige Finger durch die Spalten geschickt, den Kopf geschüttelt und dann genickt. Wenn ich ihn fragen wollte,
könnte er Auskunft geben nicht nur für den Fall, daß der Zug, in dem ich sitze, der richtige ist, sondern auch für jeden anderen Fall, mit Möglichkeiten der Rückfahrt oder Querung auf die verlassene Strecke zurück. (Es ist der gleiche Fahrplan, den auch ich auf längeren Reisen benütze.) Alles klar. Er steckt den Plan weg, zieht ein Messerchen heraus, klappt es auf, blitzblank, und beginnt einen Apfel zu schälen. Die Schalen lösen sich gleichmäßig dünn, hängen in einer Spirale, die niemals reißt. (Er schält den Apfel wie ich ihn schälen würde.) Nur die Frau bietet Hoffnung. Wenn ich sie fragte den Zug betreffend, würde sie auffahren, nicht wissen, auch was sie eben noch wußte (so wie sie, als der Koffergriff riß, auch den Rest fallenließ), weder wann und wohin, noch daß sie in einem Zug sitzt. Vielleicht fände sie es dagegen, wenn ich sagte: Ich habe nämlich eben noch Blumen verkauft auf einem Marktplatz, gar nicht erstaunlich, vielleicht sind ihr Blumenverkäufer, die nachmittags im D-Zug Überland fahren, eine Alltäglichkeit, vielleicht ist das Zugfahren überhaupt etwas, das nur ihren Mann betrifft, vielleicht nimmt sie Züge so wenig ernst, daß es für sie gar keine gibt. Verzeihen Sie, waren Sie nicht einmal auf einer Insel? Schon lange her, fünfundzwanzig Jahre genau –? Und was, wenn sie »ja« sagt? Kinder? Ein andrer Beruf? Er könnte Staatsanwalt oder Wirtschaftsprüfer sein oder. Der gleiche Fahrplan, das gleiche Messerchen. Die Falten um die Augen der Frau wären die gleichen. Ich säße nicht, wo ich sitze, sondern mir gegenüber. Telegrafendrähte und durchschnittene Hügel. Aussicht, im richtigen Zug zu sitzen, besteht nicht. Man wird, indem man in einem D-Zug-Abteil seinen Platz wechselt, kein Schneider und schon gar nicht einer, der fliegt.
Das Tal der Nachtigallen
Topographie einer Freundschaft
Wenn wir abends durch den Park nach Hause gingen, die Ränder der Kieswege nur undeutlich zu sehen waren, zeigte er mir oben die Positionen und Kreise. Besonders in klaren Winternächten: kleiner Bär, Drache, Luchs und Giraffe; großer Bär, auch Wagen genannt, dessen siebenfach verlängerte Rückwand – der große Bär, der als einziger, wie wir damals lasen, des Bades im Ozean nicht teilhaftig ist; die Wega im Sternbild der Leier, der Schwan, Andromeda, die Plejaden, gejagt von Orion, dem wilden Jäger, der bei Kafka Gracchus heißt und so wenig wild ist; der rötliche Stern Aldebaran, die Zwillinge und, wenn man den Bogen durch die Sternbilder rings um den Polarstern weiter nimmt: Bootes, die Schlange, der Schütze – und am Saturnnebel vorbei zum Wassermann. Hier spätestens bekam ich Schwierigkeiten mit der Übersicht über den Himmel; ich mußte zurückfragen. Er begriff die Begrenzung meiner Merkfähigkeit in Bezug auf die Sterne nicht. Wir verloren den Weg. Hier nicht, sagte ich, dort gehts weiter. Kommen wir nicht auch hier –? fragte er zurück. Natürlich, aber auf Umwegen. Und mein Nach-Mensa-Hunger bestand auf dem kürzesten Weg. Er rieb sich mit den Knöcheln von Zeige- und Mittelfinger das Kinn und legte den Kopf schräg. Er wohnte im Internat einer Studienstiftung. Ich stellte mir sein Essen vor allem als regelmäßig vor, geordnet wie das Besteck neben dem Teller, der auf einem Tischtuch stand. Wahr-
scheinlich entsprachen die Kalorien und Vitamine einem Idealwert. Er bedauerte, daß er mir das Kreuz des Südens nicht zeigen könne. Beim Ausfüllen unserer Antragsformulare auf Gebührenerlaß hatte ich ihm über die Schulter gesehen: Vater Missionar, ältestes von sieben Kindern, geboren auf der anderen Halbkugel. Die Gemessenheit dessen, der die große Entfernung kennt. Sie wirkte ordnend noch in der Miniaturwelt griechischer Stilübung. Ich hielt es für ausgemacht, daß er Geige spielt. Wenn er die Sternbilder zeigte und sie, von einem zum andern weitergreifend, verband, spielte er mit bloßer Hand Pythagoras, die Sphärenharmonie. Der Gedanke, ihm von den Schwierigkeiten zu erzählen, die ich mit meiner Freundin hatte, kam mir nicht. Eine eingegipste Hand von ihm war nur insofern Gesprächsgegenstand, als der Gips beim Zeigen nach den Sternen der Zeigegeste ihre Leichtigkeit und Präzision nahm. Das erste Wiedersehn war so, daß ich draußen vorbeiging und er drinnen auf einem Hocker in der Nähe der Balkontür saß. Er rieb mit den Knöcheln von Zeige- und Mittelfinger das Kinn. Gehäuse eines Neubaus, so sauber wie kahl. Er sah nicht heraus. Ich machte einen Schritt über das frischangelegte Blumenbeet hinweg zum Balkonrand und zog mich am Geländer hoch: He, wohnst du hier? Er schrak auf und stieß sich dabei mit der Hand gegen das Kinn. Komm rein, sagte er zuerst, dann: Wart, ich komm raus. Er machte die Balkontür zu. Durch das Glas hindurch sahen wir uns einige Augenblicke an. Als er sich abwandte, merkte ich, daß auch ich die Augen weit aufgerissen hatte. Es dauerte lange, bis er auf die Straße herauskam. Er hatte vor drei Wochen geheiratet. Jetzt war er in der neuen Wohnung allein. Seine Frau? Bei ihren Eltern. Bei den Eltern – seit wann? – Seit wann –? – Seit heute? Seit ein paar Tagen? – Seit ein paar Tagen –? Wir gingen planlos durch die Straßen des Viertels. Er bemerkte nicht, wo er ging.
Bei den Kreuzungen hielt ich ihn am Ellbogen fest. Daß ich inzwischen zwei Jahre im Ausland gewesen war, brauchte ich nicht zu sagen, er wußte es. Ebenso wußte ich von ihm, daß er erst zwei Jahre nach mir das Studium abgeschlossen hatte. Das wußten wir über andere. Er sprach von einer wissenschaftlichen Arbeit über Euklid. Wir kamen mehrmals an der gleichen Ecke vorbei. Wenn er sich am Kinn rieb, knirschten die Bartstoppeln. Wenn er den Kopf schräg legte, tat er es ruckartig. Als feststand, daß ich ihn das, was ich ihn fragen wollte, nicht fragen würde, sagte ich: Komm mit! Ich war eingeladen bei einem anderen Studienkollegen, der inzwischen Vater von drei Kindern geworden war. Ein heller, scheunentoroffener Sommerabend. Zwischendurch war eine totale Mondfinsternis. Das älteste der Kinder wollte immer wieder aus dem Fenster sehen, auch als die Mondfinsternis schon vorbei war, und kletterte dazu über unsere ausgestreckten Beine hinweg. Hast du gewußt, daß heute eine Mondfinsternis ist? Vor drei Wochen hab ichs gewußt. Wir redeten dann zu dritt. Redeten und redeten über Wasein-Genie-ist. Er meinte, es sei ganz gleich, ob seine Werke bekannt würden: Selbst wenn sie in der Schublade oder auf dem Speicher vermodern, Genie, bleibt Genie. Ich wollte doch irgendwie die Folgen mit drin haben, und wenn sie noch so lang auf sich warten ließen. – Nein, nein, sagte er dazwischen, ein Genie ist frei! – Und was entscheidet dann über Genie oder nicht –? Das Genie, sagte er und rieb heftig an seinem Kinn, kennt die Wahrheit. Das war nach schon sehr viel Frascati secco. Wahrscheinlich sind wir zusammen gegangen. Ein Hydrant, eine Häuserfront, die unbedingt in die Georgenstraße gehört. Einmal lief eine Katze quer. Schau, ein Genie, sagte ich. Aber es kann sein, daß ich da schon allein war.
Ein weiterer Auslandsaufenthalt ließ Bambusdickicht wachsen über die Abrißstelle. Aus einem vagen Orientierungsbedürfnis schrieb ich zwei oder drei Briefe in seine Richtung. Einer kam zurück mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt«. Einmal kam ein Brief ohne Absender und innen leer (Nachporto war fällig, weil er unfrankiert war), in dessen handgeschriebener Anschrift ich ihn wiederzuerkennen glaubte. Ich hob den leeren Briefumschlag eine Weile auf, warf ihn schließlich weg, weil ich glaubte, daß nichts zu klären sei. Aber schon kurze Zeit nach meiner Rückkehr machte ich eine Tür auf und er stand davor. Ich war zu einem Vortrag in eine Nachbarstadt eingeladen worden, hatte mir, da vor der Veranstaltung noch Zeit blieb, ein Nebenzimmer zeigen lassen, wo ich mich ausruhen konnte. Ich schlief ein, erwachte erst knapp vor der Zeit. Es war dunkel geworden, und ich fand den Lichtschalter nicht, benommen wie ich war, tastete ich herum, geriet an den Türgriff, die Tür platzte auf und ich stand auf einem kahlen, grell weiß beleuchteten Korridor, der sonst ganz leer war. Mit schräg gelegtem Kopf stand er vor mir und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. Seine linke Hand ging zum Kinn; aber er hatte sich einen Bart wachsen lassen, und der war grau. Er rieb nicht mehr mit den Knöcheln von Zeige- und Mittelfinger, sondern strich mit den Fingerkuppen den Bart nach einer Seite hin. Kennst du mich noch? Wie kommst du hierher? Wie gehts? Hast du auf mich gewartet? Du siehst verschlafen aus, sagte er mit einem sich im Bart versteckenden Lächeln. Dein Bart ist grau, sagte ich. Die Zeit reichte nur zum Tausch der Telephonnummern. Nach der Veranstaltung mußte jeder zu seinem Zug. In der Woche
darauf rief ich an. Wir waren auf dem Sprung nach Italien. Eine zwei-, dreiwöchige Ferienreise. Ein Treffen war erst danach möglich – Italien? Dann besucht uns doch dort! Seine Stimme klang lärmender, hallender als sonst, als mache er sich oder sonstwem zu irgendwas Mut. Dort? Er hatte in der Toscana einen kleinen Bauernhof gekauft, verbrachte dort mit seiner Frau alle Freizeit. Wenns Euch paßt –? Kommt schon! Und nach einer Pause: Aber es ist schwer zu finden – Der Ort? Wenns weiter nichts ist – Nein, nein, redete er dazwischen, ohne eine Kartenskizze ist das nicht zu machen. Ich schick dir eine. Wir fahren morgen früh – – per express. Er legte auf. Am nächsten Morgen kurz vor unserem Aufbruch kam die Skizze. Als wir ankamen, standen mein Freund und seine Frau Arm in Arm in der Nähe des Gatters, das ihr Anwesen von der Außenwelt trennt, das Tal von der Welt. Sie sahen in eine andere Richtung, irgendwohin bergauf. Als sie uns sahen, waren sie zuerst überrascht, standen, fast wie im Schreck, an ihrer Stelle. Dann lachten sie schallend und lachend öffneten sie das Gatter. Habt ihr tatsächlich hergefunden?! Ich winkte, weil mir nichts anderes einfiel, mit dem Skizzenblatt, kam mir vor wie einer, der mit einem weißen Taschentuch winkt und nicht weiß, warum er winkt, zum Abschied, zur Ankunft oder zu beidem auf einmal.
Ihr seid die ersten, die hergefunden haben, sagten sie, immer noch lachend. Dabei haben wir schon so viele eingeladen – Aber die Skizze – Auch mit der Skizze hat noch niemand hergefunden. Hier. Ich schwenkte immer noch oder von neuem das Blatt, beim Aussteigen jetzt, und auch als wir uns alle umarmten, schwenkte ich es noch, hinter seinem Rücken und dem seiner Frau – Stimmt sie denn, die Skizze, fragte er gleich darauf und lächelte mit zusammengekniffenen Augen, während seine Fingerkuppen den Bart suchten – Wieso? Ach weißt du, sagte er, ich hab diese Skizze schon so oft gezeichnet! Ich glaube, ich zeichne sie jedesmal etwas anders – Der Weg war wirklich nicht leicht zu finden gewesen. Die letzte eindeutige Markierung war die Autobahnausfahrt. Dann all die Haupt- und Nebenstraßen, Kreuzungen, Feldwege, Privatwege, Absperrungen, die beiseitegehoben und -geschoben werden mußten. Grasüberwachsene Wege zuletzt, fast gar kein Weg mehr … Die Skizze in der Hand, während meine Frau steuerte, hatte ich niemals auch nur gezögert. Ich kannte die Exaktheit der Angaben meines Freundes in Sachen räumlicher Orientierung. Der Weg war für mich nicht zu verfehlen gewesen, selbst wenn es Nacht gewesen wäre und ich hätte die Skizze bei Sternenlicht mühsam entziffern müssen. Wie im Traum hatte ich die Richtungsentscheidungen angesagt. Kann sein, daß ich manchmal gar nicht auf die Skizze sah, sondern im Glauben an ihre Genauigkeit die Richtung bestimmte: Rechts, links, gradeaus. Na, dann kommt! Sie führten uns, strahlend beide, einander an den Händen haltend, in ihr Haus, das sie sich, ein altes toscanisches Bauern-
haus aus Stein, eben erst wohnlich gemacht hatten. Und nach dem Einzug ins Haus ein Rundgang an den Grenzen des Anwesens entlang. Von einer Eck-Zypresse zur anderen, von einer Front begrenzender Korkeichen zu einer winklig daran stoßenden anderen. Am höchsten Punkt des Anwesens entspringt eine Quelle. An seinem tiefsten Punkt (das Grundstück umfaßt den ganzen Talschluß, ja eigentlich das ganze Tal) sammelt sich das Wasser in einer Art Bassin. Dort wurde gerade gearbeitet. Angelino, der Nachbar-Bauer, der das Anwesen versorgt, wenn seine Besitzer abwesend sind, grub gerade einen Schacht in den Boden des Bassins, damit sich eine noch größere Menge Wasser dort sammeln könne. Eine Pumpe war geplant: damit wird das Wasser heraufgebracht zum Haus und zu dem Wein und den Oliven! Unser Wasser – Wenn das Wasser erst im Haus war, gab es nichts mehr, was seinen Bewohnern fehlte. Ihr Glück zu zweien war unbezweifelbar. Was immer gewesen sein mochte am Anfang ihrer Beziehung, es war aufgehoben in Harmonie. Ihr bleibt doch über Nacht –? Ich weiß nicht – Ich hatte mich dabei ertappt, daß ich auf dem Grundstück draußen, zwischen den Weinstöcken und den Olivenbäumen herumlief, als suche ich etwas. Dabei war mein Freund heiter und fürsorglich, angeregt und eingängig wie damals, als er mir die Sternbilder zeigte. Meiner Frau gefiel es in dem Tal. Sie sagte, sie hätte am liebsten ebensoein Haus irgendwo in der Nähe. Auch mir gefiel das Tal. Trotzdem fehlte mir der Grund, warum ich da war. Als wir von dem Brunnenloch zum Haus hinauf zurückgingen, sagte er: Ich erzähle dir nachher etwas.
Es wurde dämmrig, der Weg an den Büscheln blauer Iris und an den Artischockenstauden vorbei schien vielversprechend. Ich wartete über die Zeit des Dunkelwerdens (wir halfen noch beim Feuerholzholen und beim Feuermachen im Kamin) und über das Abendessen hinweg. Nichts Bestimmtes war angekündigt; aber wenig ließ sich erzählen, was keine Aufhellung bedeutete der Frage, warum ich da war – und wenn er erzählt hätte, warum er sich mit seiner Frau das Grundstück hier, gerade dieses Haus in dem abgelegenen Tal gekauft hatte, so daß man ihn, wenn man ihn hier besuchte, am genauesten antraf, an seiner Sternstelle, vorherbestimmter Ort der Konjunktion – Nach Oliven und Artischocken (ein Strauß mit blauer Iris stand neben dem Kamin), nach Bauernbrot und selbstgekeltertem Wein, den er mit dem Behagen und der Selbstgewißheit nicht nur des Wirts, sondern auch des Bauern ausschenkte, setzte er sich zurück: Es gibt so viele Nachtigallen in diesem Tal, sagte er. Es wird nicht lange dauern, dann hört ihr die erste – Dann erzählte er von Angelino, dem Nachbarn, der seine uralten Eltern bei sich wohnen hat, unverheiratet ist und in seinem und seiner Eltern Haus dreiundreißig Kisten einer Amerikanerin gestapelt hat und wie sein Eigentum bewahrt … Die Amerikanerin hatte sich auf die Annonce einer Schweizer Immobilienfirma hin eingestellt und das Nachbargrundstück Angelinos auf der anderen Seite von dessen Hof gekauft. Ein kleines Tal, wie dieses. (Nur daß es dort, sagte er, keine Nachtigallen gibt.) Dann war sie nach einer zweistündigen Inspektion und sofortiger Tätigung aller Kaufformalitäten wieder abgereist, nachdem sie Argelino eben noch tausend Dollar und die pauschale Verpflichtung, sich inzwischen um ihr Anwesen zu kümmern, zurückgelassen hatte. Er schuftete drei Jahre bei Olivenpflücken, Weinlese und Weinkeltern, verkaufte Oliven
und Wein, investierte das eingenommene Geld in Kunstdünger und eine Reihe neuer Weinstöcke. Im vierten Jahr schrieb er der Amerikanerin, deren Adresse er, auf ein Stück Pappe gekritzelt (er hatte mitten im Weinberg den Rücken krumm gemacht und sie hatte auf seinem Rücken geschrieben), aufgehoben hatte, daß die neue Ernte bevorstehe, und wann sie komme. Postwendend kam die Antwort: Bald. Sie sei gerade in der Auflösung ihres amerikanischen Haushalts begriffen, wolle demnächst ihr toscanisches Leben beginnen. Nach einem weiteren Jahr, im fünften nach dem Übergehen der tausend Dollar in die erdverkrusteten Hände Angelinos, kam ein Brief aus Amerika, der ihn aufforderte, zu kommen und beim Packen zu helfen. Dem Brief lag ein Rückflugticket Rom – San Franzisko und ein Scheck über fünfhundert Dollar bei. Angelino, der sich noch niemals mehr als fünfhundert Meter von seinem Haus entfernt hatte – es sei denn, er fuhr mit dem Omnibus in die zehn Kilometer entfernte Provinzhauptstadt, wo sich seine amtsbestimmten Tätigkeiten und ein anschließendes Kaffeetrinken auf einem Raum von etwa dreißig Metern im Quadrat abspielten, so groß etwa war der Marktplatz der Stadt, an dem das Amt, das Café und die Omnibushaltestelle lagen – flog nach San Franzisko und kam wieder. Kurz nach ihm trafen die dreiunddreißig Kisten ein. Seitdem ist wieder ein Jahr vergangen. Angelino hat nun die Nachricht erhalten, daß die Amerikanerin, der er beim Packen geholfen hat, sich ihrem Grundstück in der Toscana bis in die Schweiz genähert hat. Aber –, sagte ich, aber – Hört ihr? sagte mein Freund. Wir standen von unseren Plätzen vor dem Kamin auf und stellten uns auf den zementierten Treppenabsatz vor der Haustür, von dem aus etwa zehn Stufen in den Garten hinunterführen. Der Mond war etwa halb. Um das Haus herum stan-
den Jasminbüsche. Es hatte am Vortag und am Morgen unseres Ankunftstages geregnet. Der Jasmin duftete sehr stark. Meine Frau machte ein paar Schritte die Stufen abwärts und kam mit einem Zweig aus dem Dunkel zurück. Seit meiner Kindheit hatte ich keine Nachtigall mehr gehört. Ich hatte darauf gewartet und hätte gern etwas wiedererkannt. Aber es war nicht eine Nachtigall, sondern mehrere zugleich, die von verschiedenen Ecken und Enden des Grundstücks zu hören waren. Ich hörte keine Melodie, der ich hätte folgen können, eigentlich gar keine Nachtigall, nur Anfänge, Bruchstücke, Anklänge, Möglichkeiten von Nachtigallenliedern, von denen jedes, wenn ich es einzeln gehört hätte, auf die Sprünge geholfen hätte – Ach ja, erzählte er noch im Stehen weiter: die Mutter Angelinos! Sie ist auf der einzigen Reise, die sie je gemacht hat, einer Wallfahrt von morgens bis abends, durch ein Nachbardorf gekommen, irgendein Kaff, San Savino oder so ähnlich, in dem ihr die Gehsteige besonders schiefgetreten schienen und wo sie eine Frau mit einem heruntergetretenen, schmutzigen Unterrocksaum gesehen hat. Über dieses Kaff macht sie sich seitdem lustig und redet immer dann von dieser Frau, wenn ihr der Gedanke kommt, ihr Sohn könne heiraten. Dann wird er sicher, sagt sie, eine der Schlampen aus dem Kaff San Savino heiraten, der Dummkopf! Inzwischen ist sie fast taub. Als Angelino nach San Franzisko abflog, verstand sie nur San Savino. Und als er zurückkam und kurz nach ihm die dreiunddreißig Kisten kamen, irrte sie tagelang brabbelnd im Haus umher und schimpfte auf die Schlampe mit dem schmutzigen Unterrock. Noch jetzt inspiziert sie täglich die mit Bandeisen beschlagenen Kisten und klopft mit dem Stock daran. So ein Dummkopf, sagt sie, und schüttelt den Kopf. Und dann lacht sie: Hihihi, immer noch vernagelt, das hat er nun davon!
Eine exakte Geschichte, sagte meine Frau, die sich den Jasminzweig vors Gesicht hielt und von den vielen Nachtigallen offenbar nicht verwirrt war; zu wahrscheinlich fast, um wahr zu sein. Was denn, sagte ich: warum klärt der Mann denn seine Mutter nicht auf? Mein Freund, der Hand in Hand mit seiner Frau stand, legte den Kopf leicht schräg und seine freie Hand ging zum Bart. Obwohl er sich nicht nach mir umdrehte, sondern über die Jasminbüsche hinweg den Mond observierte, war erkennbar, daß er lächelte, spöttisch wie damals, wenn ich auf dem kürzesten Weg bestand. Was ist denn da zu erklären? Und auflachend plötzlich: Entweder die Amerikanerin kommt oder sie kommt nicht – Eine Nachtigall wäre mir lieber, sagte ich noch. Die andern lachten. Wir blieben dann noch zwei Tage. Aber die Nachtigallen wurden nicht weniger.