Achim Hiltrop präsentiert
Folge 10: Das Versprechen des Flaschengeists "Meine Güte", stöhnte Archibald Moore, "ist das ...
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Achim Hiltrop präsentiert
Folge 10: Das Versprechen des Flaschengeists "Meine Güte", stöhnte Archibald Moore, "ist das wieder ein Gedränge in diesem Jahr!" "Haben Sie jemals einen Jahrmarkt in London erlebt, zu dem niemand gekommen ist?", schmunzelte Colin Mirth. Die beiden Polizeibeamten befanden sich dort, wo die Menschenmassen sich an diesem naßkalten Septembertag am dichtesten drängten: mitten zwischen den zwanzigtausend Kirmesbesuchern der Barnet Fair im Norden von London. Dicht an dicht standen Imbißbuden neben improvisierten Bars, Verkaufsständen und Losbuden. Marktschreier priesen Obst, Gemüse und Süßwaren an und übertrafen sich gegenseitig an Aufdringlichkeit und Lautstärke. Es gab Zelte, in denen man gegen muskelbepackte Männer aus den fernsten Kolonien boxen konnte, und solche, in denen bärtige Frauen und ähnliche Launen der Natur zur Schau gestellt wurden. Es roch nach gebratenem Fleisch, Schweiß und Erbrochenem. Und es stank nach Pferdemist. Wie viele Veranstaltungen ihrer Art war auch die Barnet Fair ursprünglich aus einem Viehmarkt hervorgegangen. Zwischen den Zelten und Wagen, in denen die Grundbedürfnisse der Kirmesbesucher auf die eine oder andere Art befriedigt wurden, standen auch immer wieder Händler mit Pferden, Eseln, Maultieren und Ponies. Dort wurden Gebisse abgeklopft, Hufeisen angepaßt, Tiere gestriegelt und Dung fortgeschaufelt. "Als ich noch ein kleiner Junge war, gab es mitten in der Stadt die Bartholomäuskirmes", sagte Archibald mit Nostalgie in der Stimme, "aber dann hat man den Marktplatz von Smithfield komplett umgebaut, und die Kirmes mußte weichen. Ich weiß gar nicht, was daraus geworden ist." "Was halten Sie von einer Partie Dosenwerfen?", fragte Colin und zeigte mit dem Daumen auf ein kleines Zelt, in dem eine aufgeschwemmte Zigeunerin Blechdosen aufeinanderstapelte und die beiden Polizisten mit einem zahnlosen Grinsen zu sich winkte. "Nein, danke", winkte Archibald ab. "Der Verlierer zahlt den Abend im Red Lion." "Wir sind im Dienst, Colin!" Colin seufzte und steckte die Hände in die Manteltaschen. Er schenkte der Zigeunerin ein bedauerndes Lächeln. "Dann eben nicht." Sein Kollege hatte natürlich recht. Sie waren nicht zum Vergnügen hier. Die lokale Polizeidienststelle hatte wie in jedem Jahr alle Hände voll damit zu tun, die Betrunkenen auf der Kirmes unter Kontrolle zu halten, denn eine Schlägerei konnte in diesem Gedränge leicht ausarten und zu einer Massenpanik führen. Leider bedeutete die Kirmessaison auch immer ein Fest für die Taschendiebe der gesamten Region, so daß die hiesige Polizei in den benachbarten Revieren um Amtshilfe gebeten hatte. Inspector Pryce von der Metropolitan Police hatte vier Sergeants zur Barnet Fair abkommandiert, darunter auch Archibald Moore und Colin Mirth.
Colin Mirth "Diese Zigeunerin da war ja vielleicht häßlich", bemerkte Archibald, als sie außer Hörweite waren. "Irgendwie erinnerte sie mich an—" Er verstummte abrupt, als die Person, an die er gerade gedacht hatte, just in diesem Moment aus der brodelnden Menschenmenge vor ihnen auftauchte. "Mein lieber Sergeant Mirth", schnarrte Florence Worthington so laut, daß ein in der Nähe tätiger Marktschreier verstummte und sich zu ihr umdrehte, "wie geht es Ihnen?" Colin rang nach Worten. "Guten Tag, Mrs. Worthington", sagte er höflich, "was führt Sie denn hierher?" "Ach wissen Sie, ich wollte mich mal unter das gemeine Volk mischen", sagte Mrs. Worthington und zog dabei mißbilligende Blicke von einigen vorbeidrängelnden Kirmesbesuchern auf sich, denen sie im Weg stand. "Im Sommer waren wir in Wimbledon, Gwendolen und ich. Da gab es ein ganz reizendes kleines Tennisturnier. Entzückend, sage ich Ihnen! Die Veranstalter sprachen davon, daß sie das vielleicht im nächsten Jahr wiederholen wollen." "Was Sie nicht sagen." Archibald unterdrückte ein Gähnen. "Tja, und heute bin ich hier. Das ist sozusagen das Kontrastprogramm, wenn Sie verstehen was ich meine, Sergeant." Mrs. Worthington kicherte glucksend. "Ist das nicht erstaunlich, was für ein Volk hier unterwegs ist?" "Passen Sie nur auf Ihre Geldbörse auf", ermahnte sie Colin und machte Anstalten, weiter zu gehen, "hier geben sich auch immer die Taschendiebe von halb England ein Stelldichein." "Oh, danke für die Warnung", zwitscherte Mrs. Worthington. "Sie haben recht, Sergeant Mirth, man kann nicht vorsichtig genug sein. Vor allem, wenn man so viel Geld mit sich herumträgt wie ich." Archibald und Colin atmeten hörbar ein. "Wir müssen jetzt weiter", sagte Colin schnell, "es war nett, mit Ihnen geplaudert zu haben. Angenehmen Aufenthalt noch!" "Ja, aber – Sergeant Mirth..." Colin zog Archibald am Ärmel mit sich und tauchte in Sekundenschnelle wieder in das Gewimmel der Menschen ein. "Das war aber nicht sehr klug von Mrs. Worthington", brummte Archibald, "ihre letzte Bemerkung war Musik in den Ohren von Taschendieben." "Ich weiß", entgegnete Colin, "deshalb schlagen wir ja jetzt einen Haken. Ich gehe jede Wette ein, daß—" Er hatte noch nicht ausgesprochen, als er in einiger Entfernung plötzlich Florence Worthingtons schrille Stimme hörte. "Hilfe! Räuber!" "Ah, ja." Colin grinste. "Wußte ich's doch." Er und Archibald hatten sich im Halbkreis um Mrs. Worthington herumbewegt und befanden sich nun beinahe am Rand der vorbeiströmenden Menschenmassen. Und ganz offensichtlich hatte Colin richtig kalkuliert, denn er sah schon von weitem, daß ganz in ihrer Nähe jemand gegen den Strom ankämpfte und sich brutal einen Weg durch die Passanten bahnte. "Er kommt genau hierher", stellte Archibald überrascht fest. "Hätte ich an seiner Stelle auch getan", kommentierte Colin achselzuckend. Der Dieb brach in dem Moment aus der Menschenmenge hervor, in der Archibald seinen Revolver aus der Manteltasche zog und auf ihn anlegte. Der junge Mann blieb wie angewurzelt stehen und ließ erschrocken Mrs. Worthingtons Handtasche fallen. Colin fing die Tasche auf, ehe ein anderer Gauner die Gelegenheit ausnutzen konnte. "Im Namen ihrer Majestät, Königin Victoria: Sie sind verhaftet", sagte Archibald zufrieden. * Seite 2
Colin Mirth "Die arme Mrs. Worthington war ganz schön erleichtert, was? Ich bin sicher, jetzt haben Sie bei ihr einen Stein im Brett, Colin", grinste Archibald, während sie zwei Stunden später an einer der Imbißbuden Sandwiches aßen. "Hören Sie bloß auf damit", grollte Colin. Er hatte die letzten Versuche der neureichen und eingebildeten Dame, ihn mit ihrer häßlichen und strohdummen Tochter Gwendolen zu verkuppeln, noch nicht vergessen. Archibald erinnerte sich auch noch bestens an die Dreistigkeit, welche die beiden Frauen an den Tag gelegt hatten, und machte sich einen Spaß daraus, Colin damit aufzuziehen. "Ich frage mich ja schon die ganze Zeit, was Mrs. Worthington hier mit so viel Geld wollte", grübelte Archibald. "Ein Pferd für ihre Tochter Gwendolen kaufen, schätze ich. Wir sind auf einem Pferdemarkt, Archie." Colin kaute lustlos auf seinem faden Gurkensandwich herum. "Ja schon, aber... was soll das für ein Pferd sein, das das Gewicht von Gwendolen tragen kann?", feixte Archibald. "Und überhaupt, was werden die Leute sagen? 'Sieh mal, da kommt ein Pferd mit zwei Hintern...'" Colin kaute schweigend zu Ende, während Archibald über seinen eigenen Witz lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. "Archie", sagte Colin vorwurfsvoll, nachdem sein Kollege sich wieder beruhigt hatte, "über das Aussehen anderer Menschen kann ich nicht lachen. Niemand hat sich selbst gemacht." "Na schön, na schön", räumte Archibald widerstrebend ein, "natürlich, niemand hat sich selbst gemacht. Aber Sie müssen zugeben, daß die Worthingtons insgesamt eher eine Laune der Natur darstellen als die Krone der Schöpfung." Colin verzog das Gesicht. "Archie, Leute mit Ihrer Einstellung sind schuld daran, daß solche Etablissements wie das da existieren", sagte er spöttisch und deutete auf ein großes Zelt ganz in der Nähe. Am Eingang des Zeltes stand eine große Tafel, auf der mit großen bunten Buchstaben diverse Mißgeburten als sensationelle Attraktionen angepriesen wurden. Archibald zwirbelte seinen Schnäuzer und trat näher an das Plakat heran. "Na, was haben wir denn hier? Eine Dame ohne Unterleib... einen chinesischen Zwerg... einen afrikanischen Riesen... eine bärtige Jungfrau..." Colin trat neben ihn und sah ihm skeptisch über die Schulter. "Die haben 'Unterleib' falsch geschrieben." "'Tom Normans Kuriositätenkabinett'", las Archibald laut. "Lassen Sie uns doch 'reingehen. Wir treffen bestimmt auf Mrs. Worthington." "Archie", sagte Colin gedehnt. Archibald lachte laut los und klopfte Colin jovial auf die Schulter. "Ich nehme Sie doch bloß die ganze Zeit auf den Arm, mein Freund! Kommen Sie, wir drehen noch eine Runde, dann sind wir fertig für heute." Colin wollte gerade etwas darauf entgegnen, als ihm jemand ein Flugblatt in die Hand drückte. Er warf einen kurzen Blick darauf – und erstarrte mitten in der Bewegung. "Ist was nicht in Ordnung?", fragte Archibald besorgt. Dann schmunzelte er, als ihm eine passende Textstelle einfiel. "'Was steht in den Papieren, daß Ihr Euch so gar entfärbt?'" "Henry V., zweiter Akt, zweite Szene", entgegnete Colin zerstreut und reichte ihm das Papier. "Sehen Sie selbst." "'Professor Heinrich Nothdurft, der Meister der Magier aus München'", las Archibald vor, "na und?" Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich kannte mal einen Heinrich Nothdurft, der als Geisterjäger für den deutschen Kaiser unterwegs war. Wir sind uns vor einigen Jahren auf der Reise von Indien nach Afrika begegnet." Seite 3
Colin Mirth "Ein alter Kollege also?", fragte Archibald amüsiert. "Nun, wo ist das Problem? Sie arbeiten halt heute bei der Polizei, und er... nun ja... auf dem Rummelplatz. Wie das Leben so spielt..." "Das ist noch nicht alles", sagte Colin finster und zeigte auf den verschnörkelten imd gemusterten Rahmen, der den Werbetext umgab. Das chaotisch anmutende Muster bestand beim genaueren Hinsehen eindeutig aus fremdartigen Schriftzeichen. Und diese Schrift war es, die Colin so beunruhigt hatte. Archibald runzelte die Stirn. "Ist das etwa das, was ich befürchte?" Colin nickte ernst. "Schauen wir doch mal, wo der Professor sein Zelt hat." * Die hölzernen Stuhlreihen im Zelt des Professors waren fast völlig leer, als Colin und Archibald eintraten. Wenige Augenblicke später änderte sich dies jedoch schlagartig, als ein gewaltiger Wolkenbruch einsetzte und sich enorme Wassermassen über die Besucher der Barnet Fair ergossen. Dutzende von Amüsierlustigen suchten im Zelt des Zauberers Zuflucht vor dem Regen und bezahlten dafür auch gerne Eintritt. Als beinahe alle Stühle besetzt waren und der Regen so laut auf das Zeltdach trommelte, daß man das Stimmengewirr im Inneren kaum noch vernehmen konnte, läutete hinter dem Vorhang, der den Zuschauerraum von der improvisierten Bühne trennte, eine Glocke. "Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kinder", rief eine laute Frauenstimme, "es ist mir eine besondere Ehre, Ihnen den Meister aller Magier vorstellen zu dürfen: Professor Heinrich Nothdurft!" Höflicher Applaus war zu hören, als ein gutaussehender Mann von etwa vierzig Jahren die Bühne betrat. Nothdurft hatte langes, silbergraues Haar, das ihm in Locken auf die Schulter fiel und zusammen mit dem gepflegten Bart sein von der Sonne gebräuntes Gesicht einrahmte. Er trug einen dunkelblauen Umhang, der mit allerlei mystischen Symbolen bestickt war. Colin erkannte entsetzt, daß es sich hierbei um Schriftzeichen aus den Zaubersprüchen des Euridicus handelte, und daß der sogenannte 'Meister aller Magier' in der Tat der frühere Geisterjäger des Kaisers von Deutschland war. Er atmete tief ein und zwang sich, ruhig neben Archibald sitzen zu bleiben. "Hochverehrtes Publikum", sagte Nothdurft in stark akzentuiertem Englisch, "es ist mir ein großes Vergnügen, heute bei Ihnen zu sein. In der nächsten halben Stunde werden wir die Grenzen der Physik und des Vorstellbaren erkunden... und überschreiten!" Er machte eine dramatische Pause, in der wieder applaudiert wurde. "Und dann", sagte er mit Verschwörermiene, "werden Sie etwas erleben, was Sie zuvor noch nie erlebt haben!" Colin und Archibald wechselten einen besorgten Blick. Archibald hob fragend die Augenbrauen. Zu Colins großer Erleichterung bestand die erste Viertelstunde des Programms aus simplen Illusionen. Routiniert führte Professor Nothdurft Kartentricks vor, er ließ Taschentücher verschwinden und wieder aus dem Nichts erscheinen und war sich noch nicht einmal zu schade dafür, ein weißes Kaninchen aus seinem Zylinder zu zaubern. Colins Anspannung ließ allmählich nach, als er sah, auf welches Niveau sein früherer Kollege inzwischen herabgesunken sein mußte, wenn er sich mit derart billigen Mätzchen seinen Lebensunterhalt verdiente. Die vollmundigen Versprechungen, mit denen er sein Programm eingeleitet hatte, waren offenbar lediglich reißerische Rhetorik gewesen.
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Colin Mirth Gut so, dachte Colin. Für einen bangen Moment hatte er befürchtet, Nothdurft hätte die Geheimnisse des Euridicus für niedere Zwecke mißbraucht. Er nahm sich aber trotzdem vor, nach der Vorstellung ein paar Worte mit dem Professor zu wechseln und ihm die leichtfertige Verwendung der magischen Symbole auszureden. Wie leicht solches Wissen in falsche Hände gelangen konnte, hatte er ja selbst bei seiner Schwester Emily mit ansehehen müssen... "Jetzt aber", donnerte Nothdurfts Stimme durch das Zelt, so daß Colin aus seinen Überlegungen hochschreckte, "habe ich Sie lange genug warten lassen, verehrtes Publikum. Jetzt sollen Sie sehen, warum man mich den Meister der Magier nennt!" Colin verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Hatte er sich etwa getäuscht? "Jetzt wird es gleich spannend", flüsterte Archibald. "Das will ich nicht hoffen", erwiderte Colin leise. "Ist in diesem Zelt vielleicht jemand, der in letzter Zeit einen geliebten Menschen verloren hat?", dröhnte Nothdurft beschwörerisch. Zögernd hoben drei Leute im Publikum die Hände. "Oh nein", stöhnte Colin. "Ist darunter jemand, dem der Sensenmann einen Freund oder Verwandten geraubt hat, ohne daß er Gelegenheit hatte, sich gebührend zu verabschieden?" Lediglich die Hand einer jungen Frau blieb zitternd oben, die beiden anderen Kandidaten senkten die Hände wieder. Der Professor bat die Frau zu sich auf die Bühne. Es wurde totenstill im Zelt, als sie seiner Einladung Folge leistete und auf einem hölzernen Klappstuhl neben dem Zauberer Platz nahm. Professor Nothdurft sah ihr tief in die Augen. "Wie heißen Sie, mein Kind?" "Betty Haines", sagte sie mit brüchiger Stimme. "Darf ich fragen, wen Sie vor kurzem verloren haben, Miss Haines?" "Meinen Verlobten", sagte sie so leise, daß man sie kaum verstehen konnte, "Edwin Landry." "Zunächst möchte ich Ihnen im Namen aller Anwesenden mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem schmerzlichen Verlust aussprechen. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, wie schmerzhaft so ein Abschied ist. Aber heute abend können wir für einige kostbaren Augenblicke die Zeit zurückdrehen! Ich kann Ihnen jetzt und hier die Möglichkeit geben, noch einmal mit Mister Landry Kontakt aufzunehmen, Miss Haines", sagte Nothdurft, "wenn Sie es wünschen." "Das ist doch eine abgesprochene Sache", flüsterte Archibald entrüstet, "die beiden stecken doch bestimmt unter einer Decke, und das Ganze ist wieder nur ein billiger Trick!" Colin schüttelte den Kopf. "Kommt Ihnen der Name Edwin Landry denn gar nicht bekannt vor, Archie?" Archibald stutzte und legte die Stirn in Falten. Dann traf ihn die Erleuchtung wie ein Blitz. "Edwin Landry! Das war doch eines der Opfer von diesem verrückten Mediziner, der neulich..." "Ja, leider", Colin nickte ernst, "und ich habe ein sehr ungutes Gefühl—" Die Zuschauer in der Reihe vor ihnen drehten sich zu ihnen um. "Geht das auch leiser?", krächzte eine ältere Dame. "Entschuldigung", murmelte Archibald. "Das will ich wohl meinen! Man versteht diese Frau ja ohnehin so schlecht, guter Mann!" Sie wandte sich brüsk wieder von ihm ab und starrte nach vorne. Colin hielt gespannt den Atem an.
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Colin Mirth "Geist!", rief Professor Nothdurft so laut, daß sein Publikum unwillkürlich zusammenzuckte, "Geist von Edwin Landry, ich rufe dich! Wenn du mich hören kannst, dann antworte!" Nichts geschah. In der nun folgenden Stille hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Die einzigen Laute, die Colin tatsächlich hörte, waren jedoch das leise Schluchzen von Miss Haines und ein beinahe unhörbares Flüstern. Colin riß die Augen auf. Was er da hörte, war... Er beugte sich ein wenig vor, um besser sehen zu können. Tatsächlich, Professor Nothdurft bewegte fast unmerklich die Lippen – und zitierte den berüchtigten Dritten Zauber des Euridicus! Plötzlich wurde es dunkel im Zelt. Irgendwo wurde jemand ohnmächtig, und einige Frauen kreischten ängstlich. Ihre Proteste wurden jedoch übertönt von einem mächtigen Donnerschlag, der seinen Ursprung im Inneren des Zeltes zu haben schien. Unmittelbar über der Bühne erschien aus dem Nichts ein fahles grünes Leuchten. Im gleichen Moment hatte Colin das Gefühl, seine Brust würde explodieren – die gläserne Phiole, die er an einer Kette um den Hals trug, war plötzlich eiskalt und schwer wie Blei geworden. Der Dritte Zauber des Euridicus war so mächtig, daß selbst Abdul in seiner Flasche zu toben begann und sich davon angezogen kühlte. Colin legte beruhigend die Hand auf die Phiole, und das Wüten des Flaschengeistes ließ ein wenig nach. Das fahle grüne Leuchten hatte inzwischen die Form eines menschlichen Gesichts angenommen, und ein langgezogener, klagender Schrei war zu hören. Colin zweifelte nicht daran, daß dies der Todesschrei von Edwin Landry war, der im Jenseits in alle Ewigkeit nachhallte. "Edwin!" Miss Haines streckte schluchzend die Hände nach dem geisterhaften Abbild ihres verlorenen Geliebten aus. Ein unmenschliches Röcheln, welches entfernt wie ein stark verzerrtes "Betty!" klang, ließ Colin das Blut in den Adern gefrieren. Nothdurft flüsterte noch immer unentwegt seinen Zauberspruch, und Abduls Phiole schien daraufhin rhythmisch zu pulsieren und stetig schwerer zu werden. Schon fühlte Colin, wie die Glieder der silbernen Kette, an der das Fläschchen hing, sich in sein Fleisch gruben. Wenn die Kette riß... wenn die Phiole zu Boden fiel, wenn sie gar zerbrach und ihren Inhalt hier preisgab... Nicht auszudenken! Colin schüttelte unmerklich den Kopf und begann seinerseits, die Formeln des Euridicus zu rezitieren, um den Zauber des Professors zu brechen. "Was passiert da?", fragte Archibald nervös und deutete auf das Spektakel, das sich ihnen bot, doch Colin ignorierte ihn völlig. Konzentriert betete er den Fünften Zauberspruch des Euridicus herunter, um Abdul wieder unter Kontrolle zu bekommen. Zwar gelang ihm dies auch nach einigen bangen Momenten – doch in der gleichen Sekunde, in der Abduls Phiole wieder ihren Normalzustand erreicht hatte, verlosch das grüne Leuchten im Zelt, und die geisterhafte Erscheinung des toten Mister Landry verschwand so schnell, wie sie erschienen war, im Nichts. Was von ihm blieb war ein letzter markerschütternder Schrei, der noch etliche schreckliche Sekunden lang nachhallte. Dann brach die Hölle los. Betty Haines fiel in Ohnmacht, rutschte von ihrem Stuhl und konnte nur knapp von Professor Nothdurft aufgefangen werden. Das Publikum sprang schreiend auf – teils, um in panischer Angst in Richtung Ausgang zu stürzen, teils aber auch, um dem Professor frenetischen Beifall zu spenden.
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Colin Mirth Colin blieb inmitten des chaotischen Treibens ruhig sitzen. Er atmete schwer und war schweißgebadet. Er konnte noch immer fühlen, wie unruhig Abdul in seiner Phiole war. "Geht es Ihnen gut? Stimmt etwas nicht?", fragte Archibald besorgt. "Mir geht es blendend, danke", log Colin. "Lassen Sie uns ein paar Worte mit dem Professor wechseln." * Als die letzten Zuschauer das Zelt verlassen hatten und die am Boden zerstörte Miss Haines von ihren Begleitern aus dem Zelt geführt worden war, traten Colin und Archibald an den Bühnenrand heran, wo sich Professor Nothdurft mit seiner Assistentin unterhielt. "Guten Abend, Herr Professor", sprach Colin ihn auf Deutsch an. Der Zauberkünstler drehte sich überrascht zu ihm um. "Guten Abend. Kennen wir uns?" "Wir sind uns einmal begegnet, vor einigen Jahren. Colin Mirth." Colin streckte die Hand aus. "Natürlich... Commander Mirth, richtig?" Das Gesicht des Professors hellte sich auf. "Sergeant Mirth", korrigierte er ihn, "ich wurde zu Scotland Yard versetzt. Darf ich Ihnen meinen Kollegen vorstellen, Sergeant Moore." Professor Nothdurft wechselte mühelos die Sprache. "Sehr erfreut, Sergeant." "Gleichfalls", erwiderte Archibald steif. "Das hier ist Charlotte", stellte der Professor seine Assistentin vor. Er gab ihr einige knappe Anweisungen auf Deutsch, die Colin nicht verstand, und schickte sie fort. Sie verschwand ohne ein Wort. "Wie ich sehe, sind Sie auch nicht mehr in unserer früheren Branche tätig, Herr Professor", konstatierte Colin nüchtern. "Das sehen Sie richtig", sagte Nothdurft und seufzte theatralisch. "Der Kaiser war leider der Auffassung, es gebe keine übernatürlichen Phänomene mehr in seinem Reich, welche es sich zu ergründen lohnte." "Das kommt mir sehr bekannt vor." Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Aber man hat Ihnen nichts Besseres angeboten als... als das hier?" Nothdurft runzelte die Stirn. "Was meinen Sie damit?" "Ich meine", Colin zog das zerknitterte Flugblatt aus der Manteltasche, "daß Sie die geheimen Formeln des Euridicus zu nichts Besserem zu verwenden wissen, als auf einer Kirmes den Betrunkenen das Geld aus der Tasche zu ziehen!" Das Gesicht des Professors verfinsterte sich. "Erstens", grollte er, "können außer uns beiden nur eine Handvoll Leute auf der ganzen Welt diese Schriftzeichen entziffern. Und zweitens – ja, Sie haben recht, Sergeant. Na und? Wen kümmert es? Euridicus ist lange tot." "Sie können ihn ja herbeizaubern", bemerkte Archibald säuerlich, "fragen wir ihn doch selbst!" "Ich habe mich nicht strafbar gemacht", konterte Nothdurft, "Sie haben mir gar nichts zu sagen! Und ich lasse mir von Ihresgleichen keine Moralpredigt halten!" "Wir können Sie als persona non grata des Landes verweisen lassen", erwiderte Archibald eisig, "Sie glauben gar nicht, wie schnell das geht, Herr Professor." "Ist Ihnen denn völlig entgangen, was Sie der armen Miss Haines vorhin angetan haben?", fragte Colin. Nothdurft zuckte gleichgültig mit den Achseln. "Sie wollte ihren verstorbenen Verlobten noch einmal sehen und hat ihren Willen bekommen." Seite 7
Colin Mirth "Der Verlobte von Miss Haines ist einem grausamen Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen, Herr Professor", rief Archibald wütend, "das war zufällig unser letzter Fall!" "Und woher hätte ich das wissen sollen, Sergeant?", fragte Nothdurft unschuldig. "Darum geht es ja gerade", sagte Colin nachdrücklich, "Sie können einen enormen Schaden anrichten – bei den Lebenden und bei den Toten – wenn Sie die Formeln des Euridicus leichtfertig anwenden! Die Verantwortung, die mit der Kenntnis über diese Zaubersprüche einhergeht, ist –" Der Professor deutete grimmig auf den Ausgang. "Es war sehr erfrischend, mit Ihnen zu plaudern, Gentlemen. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muß die nächste Vorstellung vorbereiten." * Ehe Archibald Moore in sein kleines Apartment zurückkehrte, begleitete er noch Colin nach Hause. Archibald spürte, auch ohne übernatürliche Wahrnehmungsfähigkeiten zu besitzen, daß seinen Freund und Kollegen die Ereignisse des Nachmittags auf der Barnet Fair schwer zu schaffen machten. Sie ließen sich in den bequemen Sesseln in Colins Wohnzimmer nieder. Colin entkorkte die gläserne Phiole, welche er stets bei sich trug, und eine leuchtende blaue Wolke stieg auf und nahm die Gestalt eines blauhäutigen, kahlköpfigen Mannes an. "Guten Abend, Abdul", sagte Colin müde. "Guten Abend, Efendi. Guten Abend, Sergeant Moore." Der Flaschengeist verneigte sich höflich. "Darf ich mich erkundigen, was heute nachmittag vor sich gegangen ist? Ich spürte eine starke Erschütterung der..." "Jemand war so unvorsichtig, einige der Formeln des Euridicus aufzusagen", klärte Colin ihn auf. Abduls Gesicht wurde lang. "Einfach so?" Colin seufzte schwer. "Ich konnte es nicht vereiteln. Ich habe mit dem Fünften Zauber des Euridicus gekontert, um das Schlimmste zu verhindern." "Die Beschwichtigungsformel, mit der die Geister an ihren jeweiligen Herkunftsort zurückverbannt werden", rezitierte Abdul, "eine gute Wahl, Efendi." Mit diesem Zauberspruch war der Flaschengeist in seiner Phiole ruhiggestellt und vor den Geisterbeschwörungen des anderen Magiers beschützt worden. Wohin der andere Geist, dem die Beschwörung eigentlich gegolten hatte, zurückgewünscht worden war, darüber konnte auch Abdul nur Vermutungen anstellen. "Du kennst dich auch mit diesen Zauberformeln aus?", fragte Archibald überrascht. Er war bisher davon ausgegangen, daß das Wissen um diese archaischen Formeln ein Privileg einiger weniger Geisterjäger war. Abdul baute sich stolz zu seiner vollen Größe von rund acht Fuß auf und stemmte die Hände in die Hüften. "Sergeant Moore, ich war nicht immer ein Flaschengeist. Ich war einst ein Mensch, wie Ihr und mein Efendi. Und damals war ich der größte Magier des vorderen Orients, müßt Ihr wissen." "Wie interessant", bemerkte Archibald fasziniert. "Wann war das ungefähr?" "Das war... nach Eurer Zeitrechnung...", Abdul stutzte und kratzte sich nachdenklich am Kinn, "etwa..." "Das tut doch jetzt überhaupt nichts zur Sache", unterbrach Colin ihn unwirsch. "Sehr wohl, Efendi", beeilte Abdul sich zu sagen. "Viel wichtiger ist doch die Antwort auf die Frage, wie wir Professor Nothdurft Einhalt gebieten", fuhr Colin fort. "Mit gutem Zureden allein ist es offenbar nicht getan." "Wer, bitte, ist Professor Nothdurft?", erkundigte sich Abdul kleinlaut. Seite 8
Colin Mirth Colin sagte es ihm. "Ich verstehe", murmelte der Flaschengeist. "Nun, meine Unterstützung ist Euch in jedem Fall sicher, Efendi. Ganz gleich, wie Ihr Euch entscheidet." "Ich weiß, Abdul. Danke." "Der Diensteifer eines Flaschengeists", bemerkte Archibald spöttisch. "Treue bis in den Tod, hmm?" Abdul musterte ihn verwirrt. "Selbstverständlich, Sergeant Moore. So besagt es mein Gelübde gegenüber meinem Efendi. Habt Ihr etwas Anderes erwartet?" "Da du ein Geist bist, Abdul, bist du doch nach menschlichem Ermessen schon tot", gab Archibald zu bedenken. Abduls Blick ging in weite Ferne. "Es gibt Endgültigeres als das, was Ihr als 'den Tod' kennt, Sergeant Moore." "Um noch einmal auf Professor Nothdurft zu sprechen zu kommen", sagte Colin säuerlich, "hat jemand vielleicht einen konstruktiven Vorschlag, wie wir die Sache angehen können?" "Das wird schwierig", sagte Archibald nach einer Weile. "Rein rechtlich können wir ihm nichts anhaben. Er hat, wie er sehr richtig konstatierte, nichts verbrochen. Er mag gegen ein ungeschriebenes Gesetz Ihrer Zunft verstoßen haben, mein Freund, aber das genügt nicht für einen Termin in Old Bailey." "Mit Worten war der Professor nicht zu überzeugen", wiederholte Colin düster, "also müssen wir deutlicher werden. 'Der Worte sind genug gewechselt, laßt mich auch endlich Taten sehen'." Archibald runzelte die Stirn. "Shakespeare?", fragte er zaghaft. "Goethe", erwiderte Colin knapp. "Ein weiteres Problem ist, daß heute der letzte Tag der Barnet Fair war", gab Archibald zu bedenken. "Weiß der Himmel, wo wir den Professor als nächstes wiedersehen. Vielleicht ist er schon wieder auf dem Weg nach München!" Abdul griff nach dem Flugblatt des Professors, das auf dem Wohnzimmertisch lag, und studierte es eingehend. "Efendi, habt Ihr gesehen, daß hier auch eine Adresse in London angegeben ist, an der dieser Professor auch abseits des Jahrmarktes anzutreffen ist?" Colin sprang auf und riß ihm das Papier aus der Hand. "Wo?" * Das Panopticon lag nicht weit vom Piccadilly Circus in einer kleinen Seitenstraße zwischen einer Pfandleihe und einem heruntergekommenen Pub. Das Gebäude selbst hatte auch schon bessere Zeiten gesehen; einst hatte es sich um ein renommiertes Theater gehandelt, welches aber im immer härter werdenden Konkurrenzkampf im West End nicht mehr hatte mithalten können. Es war am späten Nachmittag des nächsten Tages, als Colin Mirth und Archibald Moore das Etablissement, in welchem Professor Nothdurft auftrat, erreichten. Schon von Weitem hörten sie die lautstarken Ankündigungen des Aufreißers, der auf einem kleinen Podest vor dem Panopticon stand und für die Show warb. "Sehen Sie 'Hairy Mary', die Königin des Urwalds!", brüllte er mit sich überschlagender Stimme. "Romano, den rumänischen Riesen! Li Feng, der kleinste Mensch der Welt! Und Professor Nothdurft, den berühmten Hofzauberer des deutschen Kaisers!" "Hier sind wir richtig", bemerkte Colin trocken. "Merkwürdig", brummte Archibald, "ich dachte immer, der kleinste Mensch der Welt sei dieser Tom Thumb." Seite 9
Colin Mirth "Tom wer?", fragte Colin verblüfft. "General Tom Thumb. Der Kleinwüchsige, der in den Vierzigern und Fünfzigern bei P. T. Barnum auftrat – oder besser, vorgeführt wurde", erklärte Archibald ihm. "Wenn ich mich recht entsinne, war er nur fünfundzwanzig Zoll groß." Colin nickte. Als er 1863 in den Vereinigten Staaten von Amerika angekommen war, war die Hochzeit von Tom Thumb und Lavinia Warren das Tagesgespräch in New York gewesen. "Ach ja, ich erinnere mich. Nun, entweder ist der Chinese hier noch kleiner, oder das Panopticon wirbt einfach gerne mit Superlativen." Sie lösten Eintrittskarten und betraten einen abgedunkelten Vorraum. Gläserne Vitrinen mit schauerlichen Exponaten säumten die Wände. In großen und kleinen Glasgefäßen lagerten menschliche Organe, Körperteile und Embryos, welche ausnahmslos grauenhaft entstellt waren, in Formaldehyd. Archibald zupfte Colin am Ärmel. "Das ist ja grauenhaft", flüsterte er entsetzt. "Da kann ich Ihnen nur zustimmen." "Ich frage mich, wo diese ganzen Ausstellungsstücke herkommen", wunderte sich Archibald, "dieses Skelett von dem Baby mit den zwei Köpfen da gehört doch eigentlich eher in ein naturkundliches Museum als in ein solches Etablissement." "Gewiß." Colin schmunzelte. "Vorausgesetzt, es ist authentisch." "Authentisch", echote sein Kollege leise, "wollen Sie damit sagen... Sie meinen, daß... ach so!" Archibald begann, die gruseligen Exponate mit anderen Augen zu sehen. Er überwand seinen Ekel und sah genauer hin. "Das ist ja aus Wachs", flüsterte er Colin zu. "Was Sie nicht sagen." Colin deutete auf die Tür am anderen Ende des Raums, durch welche die anderen Zuschauer hindurchgingen. "Ich glaube, wir müssen da entlang. Die Show fängt gleich an." * Die erste Attraktion des Kuriositätenkabinetts war eine weitere Enttäuschung. 'Hairy Mary', die als behaarte Jungfrau aus den Tiefen des afrikanischen Urwalds angepriesen worden war, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als ein dressiertes Oran-UtangWeibchen, dem man ein Kostüm aus Palmenblättern angezogen hatte. Daß Li Feng der kleinste Mensch der Welt war, durfte ebenfalls bezweifelt werden. Es handelte sich um einen Chinesen, der zwar kleinwüchsig war, aber mit seinen knapp fünfunddreißig Zoll den berühmten Tom Thumb noch um ein ganzes Stück überragte. Trotzdem gab es für beide Auftritte höflichen Applaus vom Publikum – teils, weil der Ansager recht amüsante Geschichten über 'Hairy Mary' und Li Feng zu erzählen wußte, teils aber auch aufgrund der kleinen Kunststücke, welche von den beiden auf der Bühne vorgeführt wurden. Romano, der rumänische Riese war hingegen in der Tat eine beeindruckende Erscheinung. Der Mann, der kein Wort Englisch sprach, war gut und gerne acht Fuß groß. Der Ansager gab eine abenteuerliche Erzählung zum Besten, in der die beschwerliche Reise des Riesen von Transsylvanien nach London geschildert wurde. Romano war ein gutmütiger Kerl, dem es auch nichts ausmachte, sich auf der Bühne bis auf die Unterwäsche zu entkleiden – um das Gerücht zu widerlegen, es handelte sich bei ihm um einen Stelzenläufer. "Die erste echte Attraktion in dieser Show", raunte Archibald Colin zu. "Wenn nur die Geschichten, die dieser Mensch dort erzählt, nicht so haarsträubend absurd wären", gab Colin flüsternd zurück. Als nächstes trat ein zahnloser Greis mit einem entsetzlich deformiertem Unterkiefer auf, dessen Vorführung daraus bestand, sich verschiedene Gegenstände – vom rohen Seite 10
Colin Mirth Hühnerei über einen Apfel bis hin zu einem Wecker und letztlich einer lebendigen Maus – in den Mund zu stecken und sie anschließend unversehrt wieder hervor zu holen. Das Publikum johlte. Colin verdrehte mitleidig die Augen. "Nun aber zum Höhepunkt der Show", rief der Ansager, als sich der zerschlissene rote Vorhang wieder geschlossen hatte, "dem Hofzauberer des Kaisers von Deutschland! Begrüßen Sie mit mir den hochverehrten Herrn Professor Heinrich Nothdurft!" Der Vorhang wurde geöffnet, und der Professor und seine Assistentin Charlotte betraten die Bühne. Sie wurden vom Publikum mit frenetischem Beifall empfangen. Colin und Archibald wechselten einen Blick – offenbar erfreute sich Nothdurft bereits einer gewissen Berühmtheit unter den Stammgästen. Der Professor wiederholte sein Programm, welches er bereits auf dem Jahrmarkt aufgeführt hatte, in allen Einzelheiten. Colin ließ die Darbietung der routiniert vorgeführten kleinen Zauberkunststückchen gelassen über sich ergehen. Als sich Nothdurft dann zu dem brisanteren Teil seiner Vorstellung kam, gab Colin Archibald das vereinbarte Zeichen und schlich sich heimlich aus dem Zuschauerraum. Er hatte genug gesehen, und sein Entschluß stand unverrückbar fest. * Als Heinrich Nothdurft zwanzig Minuten später die Tür seiner Umkleidekabine öffnete, wurde er bereits erwartet. "Guten Abend, Herr Professor", sagte Colin leise. Nothdurft blieb wie angewurzelt stehen, so daß seine Assistentin, welche ihm gefolgt war, unsanft gegen seinen Rücken prallte. "Was zum Teufel machen Sie denn hier, Mister Mirth?", rief er ungehalten. "Und wie sind Sie hier hereingekommen?" Colin zuckte mit den Achseln und streckte dem Professor seine silberne Dienstmarke entgegen. "Das hier öffnet manche Türen in dieser Stadt, Herr Professor. Und der Hausmeister dieses Theaters war sehr hilfsbereit." Nothdurft wechselte ein paar Worte auf deutsch mit seiner Assistentin, die Colin nicht verstand. Die junge Frau nickte eifrig und verschwand; der Professor zog die Tür hinter ihr ins Schloß und drehte den Schlüssel herum. "Nun gut, Mister Mirth", sagte er dann, "wir sind allein. Sagen Sie mir, was Sie zu sagen haben, und lassen Sie mich anschließend in Ruhe, ja?" Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Entgegen Ihrer Auffassung haben Sie sich sehr wohl strafbar gemacht, Herr Professor. Ich könnte Sie jetzt verhaften." "Machen Sie sich nicht lächerlich", spottete Nothdurft, "wie lautet die Anklage?" "Die offizielle Formulierung lautet 'Störung der Totenruhe', Herr Professor. Volkstümlich ausgedrückt handelt es sich um Leichenschändung." Nothdurft lachte meckernd. "Ich weiß, worauf Sie anspielen. Soweit ich informiert bin, handelt das Gesetz, von dem Sie sprechen, aber von Greueltaten, die Geisteskranke an Leichen von Verstorbenen begehen. Unerlaubtes Exhumieren zum Beispiel, um sich an den Toten zu vergehen." "Was Sie tun, unterscheidet sich davon nur in der Wahl der Mittel", erwiderte Colin schroff. Der Professor schüttelte den Kopf. "Ich möchte sehen, wie Sie die Richter in Old Bailey davon überzeugen wollen, daß ich die Geister von Verstorbenen gegen ihren Willen herbeirufen kann. Diese Narren dort draußen verstehen doch nichts von den unaussprechlichen Geheimnissen, von denen Sie und ich wissen, Mister Mirth!"
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Colin Mirth "Das kann man ändern", drohte Colin. "Zeugen gibt es immerhin genug, und wenn das nicht reicht, werde ich Sie zwingen, den Richtern eine Kostprobe Ihres Könnens zu geben." Nothdurft war für einen kleinen Moment verunsichert. Dann aber hatte er sich wieder unter Kontrolle. "Sie würden die Geheimnisse des Euridicus niemals öffentlich machen, Mister Mirth. Was wollen Sie wirklich?" Colin seufzte. "Ich gebe Ihnen eine Chance, das Land zu verlassen, um der Strafverfolgung von Scotland Yard zu entgehen. Morgen um diese Zeit will ich Sie auf einem Schiff nach Frankreich sehen." Nothdurft reckte trotzig das Kinn vor. "Und wenn ich das nicht tue?" "Dann gäbe es noch eine Alternative, die Ihnen allerdings noch weniger behagen dürfte", sagte Colin langsam. "Und die wäre?" Colin trat einen Schritt näher. "Sie dürfen die Formeln des Euridicus nie wieder aus niederen Beweggründen verwenden, Herr Professor. Am Besten wäre es, wenn Sie sie ganz vergessen würden." Nothdurft lachte nur. "Sie glauben, ich könnte die Formeln einfach so vergessen?" "Wir könnten Ihnen dabei ein wenig nachhelfen, wenn nötig". Colin lächelte vielsagend. Der Professor zog die Stirn kraus. "Wen meinen Sie mit 'wir'?" "Oh, ich vergaß, Ihnen meinen Assistenten vorzustellen..." Colin zog die gläserne Phiole hervor und entkorkte sie. "Darf ich vorstellen, Herr Professor – dies ist Abdul." Eine leuchtende blaue Wolke quoll aus der Flasche hervor und nahm rasch die vertraute Gestalt des bärtigen, kahlköpfigen Flaschengeistes an. "Ihr wünscht, Efendi?" Wenn den Professor die Erscheinung beeindruckt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Nothdurft betrachtete Abdul mit mildem Interesse. "Abdul kann in Ihre Gedanken eindringen und Ihr Gedächtnis vollständig löschen, wenn ich es ihm befehle", stellte Colin sachlich fest. "Nicht wahr, Abdul?" Der blaue Geist verneigte sich. "Wenn Ihr es wünscht, Efendi." "Dann sollte ich möglichst alles in meiner Macht stehende tun, damit Sie diesen Befehl nicht geben, Mister Mirth", rekapitulierte der Professor, "habe ich Sie da richtig verstanden?" "Präzise." Colin nickte knapp. "Ausgezeichnet." Nothdurft klatschte in die Hände. Im nächsten Augenblick öffnete sich eine Geheimtür in der Wand hinter Colin, die ihm bislang verborgen geblieben war, und die Assistentin des Professors warf sich wie eine Raubkatze auf Colin. Mit einem derben Fluch auf den Lippen ging Colin zu Boden. Er schlug hart mit der Schulter auf und spürte einen stechenden Schmerz, als sein linker Arm auskugelte und taub wurde. Ehe er sich wieder aufrappeln konnte, war Charlotte bereits wieder über ihm. Das Letzte, was er sah, war eine bunt verzierte Blumenvase, die sich seinem Gesicht mit sehr großer Geschwindigkeit näherte, dann wurde es dunkel um ihn. * Abdul kniete ratlos neben Colin. Sein Meister hatte ihm keine Anweisungen gegeben, ehe er das Bewußtsein verloren hatte. Was sollte er nur tun? Er vermutete, daß sein Meister sich bei dem Kampf mit der Assistentin des Schwarzmagiers eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Er brauchte gewiß Seite 12
Colin Mirth umgehend ärztliche Hilfe. Doch wenn er Colin hilflos hier bei dem Professor und seiner Assistentin zurückließ, würden sie seinen Meister bestimmt töten! "Geh in deine Flasche zurück, Abdul", rief Nothdurft, "um dich kümmere ich mich später!" Abdul schüttelte den Kopf. "Ich nehme nur von meinem Meister Befehle entgegen." "Mister Mirth ist so gut wie tot", entgegnete der Professor barsch, "ich bin dein neuer Meister!" "Es tut mir sehr leid, aber das kann ich nicht akzeptieren", widersprach der Flaschengeist höflich. Abdul steckte in einer Zwickmühle: sein Meister hatte ihm keine Anweisungen gegeben und ihm auch nicht erlaubt, auf eigene Iniative hin tätig zu werden. Nun lag Colin vielleicht im Sterben – aber wie konnte er fortan ausgerechnet denen gehorchen, die den besten Meister, den er je gehabt hatte, auf dem Gewissen hatten? Wenn er sich jetzt in seine Flasche zurückzog, konnte Colin möglicherweise sterben, und wer immer der Nächste war, der ihn herbeirief, war vielleicht sein neuer Meister... Angst und Wut brodelten in ihm. "Ich gehe nicht in die Flasche zurück." Nothdurft zuckte gleichgültig mit den Achseln. "Ganz wie du willst." Er breitete die Arme über Colins reglosem Körper aus und räusperte sich. Abdul beschlich ein ungutes Gefühl. "Sesem horda, mormor horda", rief der Professor plötzlich, "merleb nergum, merleb horda nergum!" Der Flaschengeist hörte entsetzt zu, wie Heinrich Nothdurft des Elften Zauber des Euridicus aufsagte. Die Temperatur in der Umkleidekabine schien um einige Grade zu sinken, und es wurde merklich dunkler im Raum. Ein unheilvolles Glühen umgab plötzlich Colins Körper. Abdul geriet in Panik. Den Elften Zauber über ein lebendiges Wesen auszusprechen, konnte nur eines bedeuten: der Professor würde als nächstes den Zwölften Zauber des Euridicus aufsagen, welcher das Tor ins Jenseits aufstieß und alle Geister in der näheren Umgebung mit sich in die gefürchtete "Große Leere" ziehen würde – und alle Sterblichen, die unter dem Bann des Elften Zaubers lagen! Colin Mirth, sein Meister, schwebte in Lebensgefahr. "Du solltest dir das mit deiner Flasche noch einmal überlegen, Abdul", bemerkte Nothdurft mit einem spöttischen Grinsen. "Ich bleibe", sagte Abdul. Mit einem Mal überkam ihn eine unendliche Gelassenheit. Er wußte jetzt genau, was er zu tun hatte. Er hatte einen Schwur zu erfüllen. Und explizite Anweisungen hierfür brauchte er nicht. "Eodum rahaan", donnerte Nothdurft gebieterisch die ersten Worte des Zwölften Zaubers. Die Sache hat nur einen Haken, dachte Abdul. "Eodum rahaan miszil nahaemeb, devupota yazraain takoris galaemeb", fuhr der Professor fort. "Eodum rahaan galgalex tewikur." Die Zimmerdecke wurde für einen Moment lang opak, dann erschien über ihnen eine kreisrunde, dunkle Öffnung, aus welcher dichte Rauchschwaden hervorquollen. Flammenzungen schossen aus dem gähnenden Schlund hervor, und ein dumpfes Donnergrollen ließ das ganze Haus in den Grundfesten erzittern. Colins Körper wurde von unsichtbaren Kräften emporgehoben. Auch der Flaschengeist fühlte einen unwiderstehlichen Drang, zur Zimmerdecke hinauf zu schweben, aber er kämpfte tapfer gegen den Impuls an. Seite 13
Colin Mirth Abdul räusperte sich. "Mordik navaeen", sagte er dann laut und deutlich, "mordik navaeen mirnok katai." Der Professor verstummte überrascht mitten im Satz und sah Abdul mit großen Augen an. Die unheilbringende Pforte kollabierte in Sekundenschnelle, da Nothdurft den Zwölften Zauber noch nicht komplett aufgesagt hatte. "Du kennst die Zaubersprüche des Euridicus?", fragte Nothdurft verblüfft. "Ich war nicht immer ein Flaschengeist", erwiderte Abdul lapidar. "Du solltest—" Abdul ließ ihn nicht ausreden. "Mordik navaeen, mordik navaeen mirnok katai", wiederholte er geduldig. Er hatte den Fünften Zauber des Euridicus seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt. Nun aber war dies der einzige Weg, den Elften Zauber zu bekämpfen, der Colin gefangen hielt. Diese magische Formel verbannte alle Geistererscheinungen dorthin zurück, woher sie gekommen waren – und dies schloß den unnatürlichen Zustand ein, in dem sich Colin befand. "Katai elben marnik, katai eledor mordik." "Nein!", rief Nothdurft, "tu das nicht!" Zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte Abdul Tränen in seine Augen steigen, als er sah, daß die Wirkung des Elften Zaubers von seinem Meister abfiel. Colin blinzelte, als er sanft zu Boden sank. Dann schlug er plötzlich die Augen auf. Mit heiserer Stimme vollendete Abdul die Formel. "Mordik navaeen mirnok katai, katai katai marnik katai." * Colin wurde bleich, als er Abduls Worte hörte und die Bedeutung der Situation erfaßte. "Nein!" Doch es war bereits zu spät. Die Worte des Sechsten Zaubers des Euridicus, von einem Geist ausgesprochen, hatten die Wirkung eines Selbstzerstörungsmechanismus. Abduls Gestalt begann zu verblassen. "Lebt wohl, Efendi", flüsterte Abdul. Dann, ohne Vorwarnung, stürzte er sich mit einem unmenschlichen Schrei auf den Professor und seine Assistentin und flog durch die Körper der beiden Menschen hindurch. Nur ein winziger blauer Funken blieb danach noch von ihm übrig, der dann noch einmal hell aufleuchtete und schließlich verlosch. Der Flaschengeist hatte sein Versprechen gehalten. Colin sprang auf und wünschte sich gleich, er hätte es nicht getan. Sein Kopf dröhnte, und ihm war schwindlig. Zudem strahlte seine linke Schulter höllische Schmerzen in seinen gesamten Körper aus. Schwer atmend blieb er stehen. Er musterte den Professor feindselig. "Was haben Sie getan?", fragte er mit erstickter Stimme. Der Professor sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. Es vergingen einige Minuten, bis Colin bemerkte, daß der Professor und seine Assistentin den gleichen dumpfen Gesichtsausdruck trugen. Und zu seiner Überraschung bewegten sie sich um keinen Zoll. Es schien fast so, als habe der mentale Kontakt mit dem sich auflösenden Flaschengeist ihre Identitäten völlig ausgelöscht. Jeglicher Wille, jede Erinnerung war ihnen genommen worden. Colin schleppte sich an ihnen vorbei zur Tür und trat auf den Korridor hinaus. Dort brach er zusammen. *
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Colin Mirth Ob Stunden oder nur Sekunden vergangen waren, bis er wieder erwachte, vermochte er nicht zu sagen. Archibald kniete neben ihm und sah sehr besorgt aus. "Was haben Sie denn mit den beiden gemacht?", fragte er vorwurfsvoll und zeigte mit dem Daumen auf den Professor und seine Assistentin. "Ich dachte, wir hatten uns darauf geeinigt, daß er nur einen Teil seines Gedächtnisses verlieren sollte!" Colin hielt ihm wortlos die leere Phiole hin, die einst Abdul beherbergt hatte. Archibald runzelte die Stirn. Dann begriff er, was geschehen sein mußte. "Sie meinen, Abdul hat...?" Colin nickte stumm. "Und jetzt ist er...?" Colin nickte erneut. Dann stand er langsam auf. Behutsam rückte er seine Krawatte gerade, dann strich er seinen Gehrock glatt und atmete tief durch. Archibald wußte nicht, was er sagen sollte. "Es tut mir sehr leid", sagte er hilflos. "Wir hätten vielleicht doch zusammenbleiben sollen." Colin ignorierte den Einwand. "Wir beide", sagte er mit stockender Stimme, "gehen jetzt in den Red Lion. Und dort, mein lieber Archie, werden wir uns königlich betrinken." Archibald schluckte hart. "Auf... auf abwesende Freunde!" Als Colin nickte, bemerkte er, wie sehr er zitterte. "Ja", sagte er leise, "auf abwesende Freunde."
Demnächst: "Wahnsinn" (# 1 von 2)
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