Durch den beschaulichen Ort Kingsmarkham geht eine Welle der Gewalt: gegen Frauen, gegen Mißliebige jeder Art - und sog...
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Durch den beschaulichen Ort Kingsmarkham geht eine Welle der Gewalt: gegen Frauen, gegen Mißliebige jeder Art - und sogar gegen die Polizei. Zuerst verschwinden kurz nacheinander zwei junge Mädchen. Als sie nach wenigen Tagen scheinbar unbeschadet wieder zurückkehren, weigern sie sich, über ihre Erlebnisse Auskunft zu geben. Da wird ein Sittlichkeitsverbrecher aus der Haft entlassen, und sofort sind den braven Bürgern von Kingsmarkham die Zusammenhänge klar. Der Unmut gegen den ehemaligen Häftling schlägt hohe Wellen, es kommt zu Protesten und Tumulten, und eine Bürgerwehr wird gebildet, die so brutal vorgeht, daß schließlich ein Polizist ums Leben kommt. Und dann verschwindet, spurlos und geheimnisvoll, die dreijährige Sanchia, das Töchterchen eines wohlhabenden Ehepaars. Angesichts der öffentlichen Erregung fällt es Wexford und seinem Assistenten Bürden immer schwerer, Ruhe zu bewahren und jeden dieser eigenartigen Fälle mit zäher Genauigkeit und geduldigen Fragen zu durchleuchten. Denn eines ist Wexford inzwischen klar geworden: Irgendwo besteht ein Zusammenhang zwischen den Ereignissen um die drei verschwundenen Mädchen. Da wird der Vater der kleinen Sanchia ermordet aufgefunden. Und Wexford befindet sich plötzlich mitten in einem mörderischen Strudel aus Angst, Gewalt und Gefühlskälte. Erneut ist Ruth Rendell ein brillant erzählter Kriminalroman gelungen -schärfer und schonungsloser, anrührender und abgründiger denn je: ein Triumph! Ruht Rendell, auch unter dem Pseudonym Barbara Vine erfolgreich und als »Königin der Kriminalliteratur« gefeiert, ist mit ihren zahlreichen Romanen eine der ganz großen englischen Autorinnen. Dreimal schon erhielt sie den Edgar-Allan-Poe-Preis und zweimal den »Golden Dagger Award«. 1997 wurde sie mit dem »Grand Masters Award« der Crime Writers Assoc iation of America, dem renommiertesten Krimipreis überhaupt, ausgezeichnet und darüber hinaus von Königin Elizabeth II. in den Adelsstand erhoben. Ruth Rendell, die am 17. Februar 2000 ihren siebzigsten Geburtstag feiert, lebt in Suffolk.
Ruth Rendell
Das Verderben
Den »Kinderkreuzzug« nannte er es, als alles vorbei war, weil Kinder eine so große Rolle darin spielten. Doch eigentlich ging es überhaupt nicht um Kinder. Kein einziges trug körperlichen Schaden davon, keinem war etwas getan worden, keines hatte über das in seinem Alter normale Maß hinaus weinen müssen, nicht einmal das. Der erlittene seelische Schmerz, das emotionale Trauma und die psychische Schädigung - nun, das war etwas anderes. Wer weiß, welchen Eindruck ein bestimmter Anblick auf Kinder ausübt? Und wer kann sagen, welche Handlungen solche Eindrücke nach sich ziehen? Wenn überhaupt. Vielleicht sind sie ja, wie man früher glaubte, charakterbildend. Sie machen uns stark. Das Leben ist schließlich hart, und darüber sollte man sich am besten schon in jungen Jahren klarwerden. Jede Kindheit ist unglücklich, sagt Freud. Allerdings, überlegte Wexford, ist die eine unglücklicher als die andere. Diese Kinder, die Kreuzzügler, waren Zeugen. Viele meinen, man sollte nie zulassen, daß Kinder Zeugen werden. Und es gibt ja auch Gesetze, die sie vor der Ausbeutung durch die Gerichtsbarkeit schützen. Aber wer will verhindern, daß sie etwas sehen, daß sie überhaupt erst Augenzeuge werden? Seine Tochter Sylvia, die Sozialarbeiterin, sagte, nach allem, was sie schon gesehen hatte, glaube sie manchmal, alle Kinder sollten ihren Eltern gleich nach der Geburt weggenommen werden. Andererseits würde sie selbst sich mit Händen und Füßen wehren, falls irgendein übereifriger Sozialarbeiter versuchen würde, ihr ihre eigenen Kinder wegzunehmen. Die Kinder, um die es in Wexfords Fragen und Ermittlungen ging, stammten von überallher aus Kingsmarkham und 3 den umliegenden kleinen Ortschaften, aus einem Sozialwohnungsgebiet, das die Zeitungen mit ihrem derzeitigen Lieblingsausdruck als »verrufen« bezeichneten, aus dem Millionärsviertel, das bei ihnen »im Grünen« lag, und aus der Mittelschicht dazwischen. Sie trugen die Vornamen - waren gelegentlich sogar darauf getauft worden -, die in den achtziger und neunziger Jahren beliebt waren: Kaylee und Scott, Gary und Lee, Sascha und Sanchia. In einer bestimmten Klasse der St.-Peter-Grundschule in Kingsmarkham war es taktlos, nach dem Namen des Vaters zu fragen, weil die meisten Kinder nicht recht wußten, wer ihre Väter waren. Auch wenn diese Kindergeneration
mit Kartoffelchips, Pommes frites, Schokolade und Fertigmahlzeiten aufgezogen worden war, war es trotzdem die gesündeste, die das Land je besessen hatte. Hätte eins dieser Kinder jemals eine Ohrfeige verpaßt bekommen, so hätte es den Übeltäter vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezerrt. Seelische Grausamkeit war eine andere Geschichte, keiner kannte sich so recht aus mit ihr, obwohl viele sie jeden Tag zu schreiben versuchten. Das älteste Kind, für das Wexford sich interessierte, war schon fast keines mehr. Sie war sechzehn, alt genug zum Heiraten, aber nicht zum Wählen, alt genug, um von der Schule abzugehen, wenn sie sich dafür entschied, und auch ihr Elternhaus zu verlassen, wenn sie das wollte. Ihr Name war Lizzie Cromwell.
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An dem Tag, an dem Lizzie von den Toten zurückkehrte, waren Polizei, Familie und Nachbarn schon dabei, nach ihrer Leiche zu suchen. Sie bearbeiteten das offene Land zwischen Kingsmarkham und Myringham, durchkämmten die Hügel und streiften durch den Wald. Obwohl bereits April, war es kalt und naß, und es blies ein schneidender Nordostwind. Ihre Aufgabe war nicht angenehm,- keiner lachte oder machte Witze, und es wurde wenig gesprochen. Unter den Suchenden befand sich auch Lizzies Stiefvater, doch ihre Mutter war zu erschüttert, das Haus zu verlassen. Am Vorabend hatten die beiden im Fernsehen einen Aufruf durchgegeben, Lizzie möge doch wieder nach Hause kommen, und an ihren etwaigen Entführer oder Angreifer appelliert, sie freizulassen. Ihre Mutter sagte, sie sei erst sechzehn, was bereits bekannt war, und habe Lernschwierigkeiten, was noch nicht bekannt war. Ihr Stiefvater war ein gutes Stück jünger als ihre Mutter, vielleicht zehn Jahre, und sah auch sehr jung aus. Er hatte langes Haar und einen Bart und trug mehrere Ohrringe, alle im selben Ohr. Nach der Fernsehausstrahlung riefen einige Leute auf dem Polizeirevier von Kingsmarkham an und gaben ihrer Vermutung Ausdruck, Colin Crowne habe seine Stieftochter ermordet. Eine Anruferin behauptete, er habe sie auf dem Baugrundstück an der York Street vergraben, etwa eine Viertelmeile vom Muriel Camp-den Estate entfernt, einer Siedlung des sozialen Wohnungsbaus, wo die Crownes mit Lizzie wohnten. Eine andere sagte zu Sergeant Vine, sie habe Colin Crowne zu Lizzie sagen hören, er würde sie umbringen, weil sie »dumm wie Bohnenstroh« sei. 4
»Leute, die zum Fernsehen gehen und über ihre vermißten Kinder reden«, meinte eine Anruferin, die sich weigerte, ihren Namen zu nennen, »sind immer die Schuldigen. Es ist immer der Vater. Wie oft hab' ich das schon erlebt. Und wenn Sie das nicht wissen, haben Sie bei der Polizei nichts zu suchen.« Chief Inspector Wexford hielt sie für tot. Nicht weil es die anonyme Anruferin gesagt hatte, sondern weil sämtliche Indizien darauf hindeuteten. Lizzie hatte keinen Freund, war alles andere als frühreif, hatte einen niedrigen IQ und war ziemlich langsam und schüchtern. Drei Abende zuvor war sie zusammen mit ein paar Freundinnen mit dem Bus ins Kino nach Myringham gefahren, nach dem Film hatten die beiden anderen Mädchen sie aber allein nach Hause fahren lassen. Sie hatten gefragt, ob sie noch mit in die Disco käme, doch Lizzie hatte gesagt, dann würde ihre Mutter sich Sorgen machen - ihre Freundinnen glaubten, Lizzie hätte es bei der Vorstellung selbst mit der Angst bekommen -, und so hatten sie sich an der Bushaltestelle von ihr getrennt. Es war kurz vor halb neun und wurde schon dunkel. Um Viertel nach neun hätte sie zu Hause in Kingsmarkham sein müssen, aber sie kam dort nicht an. Um Mitternacht hatte ihre Mutter dann die Polizei verständigt. Wäre sie ein - nun ja, ein etwas anderes Mädchen gewesen, hätte Wexford der Angelegenheit nicht soviel Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn sie eher wie ihre Freundinnen gewesen wäre. Selbst in Gedanken zögerte er etwas bei dem Ausdruck, denn er hielt sich gern an seine eigenen Standards politischer Korrektheit, in Gedanken wie in der Rede. Er wollte es nicht auf die Spitze treiben, wollte keine lächerlichen Ausdrücke wie etwa »intellektuell herausgefordert« benutzen, aber auch nicht unsensibel sein und ein Mädchen wie Lizzie Cromwell schwachsinnig oder zurückgeblieben nennen. Abgesehen davon war sie weder das eine noch das andere, sie konnte lesen und schreiben, zumindest einigermaßen, besaß ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und war selbständig. Am hellen Tag 5
jedenfalls. Trotzdem hätte man sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht an einer abgelegenen Straße allein lassen dürfen. Aber bei welchem Mädchen hätte man das schon gedurft? Wexford hielt sie also für tot. Von irgend jemandem ermordet. Colin Crowne hatte ihm auf Anhieb nicht besonders gefallen, allerdings hatte er keinen Grund, ihn des Mordes an seiner Stieftochter zu verdächtigen. Zugegeben, ein paar Jahre vor der Heirat mit Debbie Cromwell war Crowne wegen tätlichen Angriffs auf einen Mann vor einem Pub verurteilt worden, und danach noch
einmal, weil er ein Auto entwendet und weggefahren - mit anderen Worten, gestohlen - hatte. Aber was besagte das schon? Nicht viel. Wahrscheinlicher war, daß jemand angehalten und Lizzie angeboten hatte, sie mitzunehmen. »Würde sie mit Fremden mitfahren?« hatte sich Vine bei Debbie Crowne erkundigt. »Manchmal dauert es, bis sie was kapiert«, hatte Lizzies Mutter erwidert. »Dann sagt sie ja und nein und lächelt ein bißchen - lächeln tut sie viel, sie ist ein glückliches Kind -, aber man weiß nie, ob es, na ja, angekommen ist. Stimmt's, Col?« »Ich hab' ihr gesagt, sie soll nicht mit Fremden reden«, sagte Colin Crowne. »Ich hab's ihr gesagt bis zum Geht nicht-mehr, und was tut sie? Lächelt, nickt, lächelt noch mal, und dann sagt sie was ganz was anderes, irgendwas Bescheuertes, zum Beispiel, daß die Sonne scheint, oder sie fragt, was es zum Abendbrot gibt.« »Sag nicht bescheuert, Col«, bat die Mutter, offensichtlich verletzt. »Du weißt schon, was ich meine.« Als sie drei Nächte verschwunden und der dritte Tag angebrochen war, machten sich Colin Crowne und die Nachbarn zu beiden Seiten der Crownes im Muriel Campden Estate dann auf die Suche nach Lizzie. Wexford hatte bereits mit ihren Freundinnen gesprochen und mit dem Fahrer des Busses, den sie hätte nehmen sollen, und Inspector Bürden und 6
Sergeant Vine hatten Dutzende von Autofahrern befragt, die die Straße täglich um etwa diese Uhrzeit befuhren. Als der Regen sich zu einem Wolkenbruch verstärkte, was gegen vier Uhr nachmittags geschah, blies man die Suche für diesen Tag ab, verabredete aber, sie gleich bei Tagesanbruch wieder aufzunehmen. In Begleitung von Detective Constable Lynn Fancourt fuhr Wexford in die Puck Road, um sich noch einmal mit Colin und Debbie Crowne zu unterhalten. Als die drei Straßen und die Häuserblocks auf der Grünfläche dazwischen in den sechziger Jahren zwischen dem oberen Abschnitt der York Street und der Westseite der Glebe Road auf einem offenen Grundstück, das man heute als »grüne Wiese« bezeichnen würde, gebaut worden waren, hießen sie noch York Estate. Der damalige Vorsitzende des Wohnungsbauausschusses, der in seiner Schulabschlußprüfung den Sommernachtstraum und den Sturm bearbeitet hatte und auf sein dort gewonnenes Wissen stolz war, benannte die Straßen nach Personen aus diesen zwei Shakespeare-Stücken: Oberen, Ariel und Puck. Letztere stellte für Bewohner, Polizei und örtliche Behörde seit
jeher ein Problem dar, da sie der ortsansässigen Jugend Gelegenheit bot, einen unschuldigen Namen mittels Farbsprühdose und minimaler Anstrengung in eine Obszönität zu verwandeln. Muriel Campden hatte länger als irgend jemand sonst den Vorsitz (wie es heute geschlechtsneutral heißen muß) des Bezirksrates von Kingsmarkham innegehabt, und als sie starb, wurde York Estate nach ihr benannt. Es waren Bestrebungen im Gange, auf der Grünfläche gegenüber dem Sozialamt -einem Gebäude, das kürzlich die Bezeichnung Gemeindezentrum erhalten hatte - ein Standbild von ihr zu errichten. Die eine Hälfte der Bevölkerung war dafür, die andere vehement dagegen. »Ich hätte gedacht, die Siedlung ist schon Denkmal genug«, meinte Wexford, während er das Dreieck aus gedrungenen Sechziger-Jahre-Häusern betrachtete, aus deren Mitte sechs 7
Stockwerke hoch ein Wohnsilo mit Flachdach hochragte. Die Ariel, Oberon und Puck Road wirkten wie aus porösen Schlackensteinblöcken erbaut, die die Nässe vieler regenreicher Winter aufgesaugt und dadurch einen kohlschwarzen Farbton angenommen hatten. »Paßt sehr gut zu Muriel Campden. Sie war ja eine dunkle, graue, düstere Person.« Er deutete auf das schon wieder verunstaltete Straßenschild am oberen Ende der Puck Road. »Sehen Sie sich das an. Man sollte doch meinen, es wird ihnen irgendwann langweilig.« »Schlichter Spaß für schlichte Gemüter, Sir«, sagte Lynn in dem Moment, als die Tür aufging und die Bewohnerin von Nummer 47 sie zu Nummer 45 hereinließ. Die Nachbarin, eine gewisse Sue Ridley, geleitete sie zu Debbie und Colin Crowne hinüber, die einträchtig nebeneinander auf dem Sofa saßen. Beide rauchten, und beide verfolgten gerade eine Ratesendung im Fernsehen beziehungsweise starrten auf den Bildschirm. Bei ihrem Eintreten sprang Debbie auf und kreischte: »Sie haben sie gefunden! Sie ist tot!« »Nein, nein, Mrs. Crowne, es gibt noch nichts Neues. Es hat sich noch nichts getan. Darf ich mich setzen?« »Machen Sie, was Sie wollen«, entgegnete Colin Crowne in seinem üblichen mürrischen Ton. Er steckte sich eine Zigarette an und gab seiner Frau ohne zu fragen ebenfalls eine. Die Luft in dem kleinen Raum war bereits rauchgeschwängert. Der Regen schlug unaufhörlich an die Scheiben. Auf dem Bildschirm wußte ein Quizteilnehmer auf die Frage, ob Oasis eine Stadt in Saudi-Arabien, eine
Popgruppe oder ein Kino im West End war, keine Antwort. Debbie Crowne bat ihre Nachbarin quengelnd, noch eine Tasse Tee zu machen, ach bitte, Sue, sei so gut. Wexford, der mit seinem Team bereits alle relevanten Fragen gestellt hatte, war eigentlich eher gekommen, um Mrs. Crowne zu versichern, daß getan werde, was man könne, als um weitere Auskünfte von ihr einzuholen. Er erkundigte sich aber noch einmal nach den Namen auswärtiger Verwandter 8
oder Freunde, zu denen Lizzie eventuell gegangen sein könnte. Jemand hätte jedoch ohne Zeitung, Radio und Fernsehen auf einer Insel der Äußeren Hebriden festsitzen müssen, um von Lizzies Verschwinden und der polizeilichen Suchaktion nichts mitzubekommen. Trotzdem fragte er nach. Nur um etwas zu sagen, um Debbie Crowne von ihren schrecklichen Befürchtungen abzulenken. Es klingelte gerade in dem Moment an der Tür, als Sue Ridley den Tee in vier Henkeltassen hereinbrachte, in denen noch die Teebeutel schwammen. Die Milch war bereits im Tee, Löffel gab es keine. Sie stellte die Tassen dicht nebeneinander auf dem Tisch ab und ging an die Tür, um zu öffnen. Dabei sagte sie, es sei bestimmt ihr Lebensgefährte, der vom Suchtrupp zurückkam. Ihr lauter Ausruf ließ Wexford zusammenschrecken. »Du böses Mädchen, du, wo hast du bloß gesteckt?« Alle erhoben sich, die Tür ging auf, und ein Mädchen kam mit triefenden Haaren und Kleidern herein - sie sah aus, als wäre sie gerade aus der Wanne gestiegen. Debbie Crowne schrie auf und warf schreiend die Arme um ihre Tochter, ungeachtet der klatschnassen Kleider. »Mir ist kalt, Mum«, sagte Lizzie zähneklappernd mit einem wäßrigen Lächeln. »Mir ist unheimlich kalt.« Sie war wohlbehalten wieder da, offensichtlich auch unversehrt, und alles andere zählte vorerst nicht. Wexford verabschiedete sich und wies Mike Bürden und Lynn Fancourt an, mit Lizzie zu reden, nachdem sie heiß gebadet hatte. Er selbst sollte sie am nächsten Tag und den darauffolgenden Tagen noch mehrmals befragen, weil ihre Antworten alles andere als zufriedenstellend waren. Anders ausgedrückt, sie weigerte sich - oder war außerstande - zu sagen, wo sie gewesen war. Davon erwähnte er nichts, wußte er nichts, als er - früher als gewöhnlich - um sechs Uhr sein Haus betrat, erzählte seiner Frau aber, daß Lizzie Cromwell gefunden worden war. »Das heißt, anscheinend ist sie aus eigenem Entschluß zu
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rückgekommen. Sie bringen es bestimmt um neun in den Nachrichten.« »Wo war sie denn?« fragte Dora. »Keine Ahnung. Mit irgendeinem Jüngling unterwegs, nehme ich an. So ist es doch meistens. Es hat gar nichts zu bedeuten, wenn die Eltern nicht wissen, daß es einen Knaben gibt.« »Bei uns war es wahrscheinlich genauso. Sylvia und Sheila hatten bestimmt Freunde, von denen wir gar nichts wußten, und dann noch die, von denen wir wußten. Apropos, Sylvia bringt Robin und Ben über Nacht zu uns. Neil ist irgendwo unterwegs, und sie hat ja diesen neuen Job.« »Ah ja, den Telefonnotdienst bei The Hide. Ich wußte gar nicht, daß sie da auch nachts hinmuß.« »Mir wäre lieber, sie müßte es nicht. Es ist doch viel zuviel für sie. Schließlich arbeitet sie tagsüber ja auch noch. Ich glaube kaum, daß sie ihr bei The Hide viel bezahlen.« »Ich könnte mir vorstellen«, meinte Wexford, »daß sie bei The Hide überhaupt nichts zahlen.« Er telefonierte gerade mit Bürden, als seine ältere Tochter mit den Enkelsöhnen ankam. Bürden hatte sich bei ihm gemeldet, wutentbrannt über Lizzie Cromwells Weigerung, den Mund aufzumachen. »Heißt das, sie will nicht verraten, wo sie war?« »Ich dachte schon, sie könnte gar nicht reden. Ich dachte wirklich, sie ist stumm. Na, ganz normal ist sie ja wohl auch nicht, oder?« »Sprechen kann sie«, sagte Wexford reserviert. »Ich habe sie gehört.« »Ach, ich auch - inzwischen schon.« »Und sie ist so normal wie Sie auch oder jedenfalls so normal wie die meisten Leute dort. Sie ist nur eben kein Genie.« Wexford räusperte sich. »Wie Sie und Ihresgleichen«, fügte er boshaft hinzu, denn Bürden war gerade Mitglied bei Mensa geworden, mit einem IQ von 152, wie man munkelte. »Wieso sagt sie nicht, wo sie gewesen ist?« 9 »Keine Ahnung. Aus Angst. Aus Sturheit. Will nicht, daß ihre Mum und der Ohrring-Kerl was erfahren, nehme ich an.« »Na gut, wir probieren es morgen noch mal.« Wexfords Tochter Sylvia war Sozialarbeiterin. Sie hatte als reiferes Semester noch Soziologie studiert, nachdem sie mit achtzehn geheiratet hatte. Die beiden Jungs, die aus der Küche gerannt kamen, als ihr Großvater gerade den Hörer auflegte, stammten aus dieser Ehe. Wexford begrüßte die beiden,
bewunderte ein neues Nintendo und einen Gameboy und fragte, ob ihre Mutter noch hier sei. »Die quatscht mit Gran«, sagte Ben abschätzig, als wollte er damit ein zutiefst unsoziales Benehmen geißeln. Eltern haben unter ihren Kindern immer einen Liebling, wenngleich sie, wie im Fall von Wexford, stets darauf bedacht sind, diese Vorliebe zu verbergen. Er hatte die Bevorzugung seiner jüngeren Tochter nie verhehlen können, war sich dessen voll bewußt und versuchte es daher immer wieder. Sylvia gegenüber war er überschwenglicher, versäumte es nie, ihr bei jedem Treffen einen Kuß zu geben, hörte aufmerksam zu, wenn sie ihm etwas erzählte, und tat so, als machte es ihm nichts aus, wenn sie ihm auf die Nerven ging. Denn Sylvia fehlte die charmante Art ihrer Schwester, und obwohl sie recht nett aussah, hatte sie nichts von Sheilas Schönheit. Sie war eine rechthaberische, schulmeisternde und oft aggressive Feministin mit der Gabe, ins Fettnäpfchen zu treten, eine Nörglerin und eine unbegabte Ehefrau, aber Expertin in Sachen Kindererziehung. Im übrigen hatte sie - und das wußte Wexford - das Herz auf dem rechten Fleck und ein enormes soziales Gewissen. Er traf sie am Küchentisch sitzend an, einen Becher Tee vor sich, wie sie ihrer Mutter gerade einen Vortrag über häusliche Gewalt hielt. Dora hatte offensichtlich die klassische Frage gestellt, die Sylvias Meinung nach von Ignoranz gegenüber dem ganzen Thema zeugte: »Aber wenn ihre Männer sie schlagen, warum verlassen sie sie dann nicht?« »Die Frage ist mal wieder typisch«, sagte Sylvia gerade, »für 10
eine Frau, die keine Ahnung hat, was in der Welt eigentlich vorgeht. Ihn verlassen, sagst du. Wo soll sie - sprechen wir mal nur von einer - wo soll sie denn hin? Sie ist doch abhängig von ihm, sie hat ja nichts Eigenes. Sie hat Kinder - soll sie ihre Kinder mitnehmen? Klar, er verprügelt sie, er bricht ihr die Nase und schlägt ihr die Zähne aus, aber danach sagt er jedesmal, es tut ihm leid, er wird es nie wieder tun. Sie will, daß alles normal bleibt, will die Familie nicht auseinanderreißen - ach, hallo, Dad, wie geht's?« Wexford küßte sie, sagte, alles in Ordnung, und erkundigte sich, wie die Arbeit am Krisentelefon denn ginge. »Notruf heißt das bei uns. Ich habe Mutter gerade davon erzählt. Also, es bricht einem wirklich das Herz, das alles. Und mit das Schlimmste ist die Haltung der Öffentlichkeit dazu. Es ist wirklich unglaublich, aber viele Leute finden es immer noch komisch, wenn ein Mann eine Frau schlägt. Es ist ein Witz, wie auf diesen blöden Urlaubspostkarten. Die sollten mal einige von
den Verletzungen sehen, die wir zu sehen kriegen, ein paar Narben. Und was die Polizisten anbelangt...« »Moment mal, Sylvia.« Wexfords gute Vorsätze verflüchtigten sich. »Wir haben hier in Mid-Sussex ein Programm zum Thema häusliche Gewalt, das heißt, wir behandeln es absolut nicht als Bestandteil des ehelichen Alltags, wenn Frauen zu Hause tätlich angegriffen werden.« Seine Stimme wurde lauter. »Im Moment läuft gerade ein Projekt an, mit dem wir Freunde und Nachbarn ermutigen wollen, Fälle von häuslicher Gewalt zu melden. Es heißt Hurt-Watch, und falls du davon noch nichts gehört hast, ist das ein Fehler.« »Schon gut, reg dich nicht auf. Aber du mußt zugeben, daß das alles noch recht neu ist. Das gibt es erst seit kurzem.« »Für mich hört es sich an wie die Stasi oder der KGB«, meinte Dora. »Die entfesselte Bevormundung, jeder braucht ein Kindermädchen.« »Mutter, und wenn schon, was ist dagegen einzuwenden, wenn sich ein Kindermädchen um einen kümmert? Ich hätte mir oft gewünscht, mir eins leisten zu können. Manche von
11 diesen Frauen sind vollkommen hilflos, um die hat sich nie jemand geschert, bis das mit den Frauenhäusem anfing. Und falls das noch nicht genug Beweis für den Bedarf ist: Es gibt überhaupt nicht genügend Frauenhäuser, es gibt nicht einmal annähernd genug, um den Bedarf zu decken...« Wexford ging leise aus dem Zimmer, um seine Enkel zu suchen. Die Knabenschule lag am Stadtrand von Myfleet, und am nächsten Morgen chauffierte Wexford sie dorthin, bevor er zur Arbeit fuhr. Sein Weg führte ihn durch das Flußtal der Brede, unterhalb von Savesbury Hill und am Waldrand von Framhurst Great Wood entlang. Sooft er diesen Weg fuhr, verspürte er große Dankbarkeit darüber, daß die im Vorjahr geplante Umgehungsstraße aufgrund des Regierungswechsels auf Eis gelegt worden war. Newbury war bereits fertig, aber Salisbury würde nie gebaut werden und Kingsmarkham auch nicht (wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von »nie« sprechen konnte). Es war ungewöhnlich, sich über Sparsamkeit zu freuen und erleichtert zu sein, wenn man sich etwas nicht leisten konnte, doch war dies ein seltenes Beispiel dafür. Die Gelbe Köcherfliege war gerettet, ebenso der Landkärtchenschmetterling. Man könnte sogar sagen, bestimmte Arten von Wildtieren hätten von der geplanten Umgehungsstraße profitiert, denn die Dachse hatten ihre alten Baue behalten und neue, eigens für sie konstruierte dazu bekommen, während der Schmetterling sich nun von zwei Nesselplantagen ernähren konnte statt nur von einer.
An der Stelle, an der die Umgehungsstraße anfangen sollte, hatte man schon mit den Arbeiten begonnen und den Erdboden mit Schaufelbaggern und Aushubmaschinen umgesetzt. Wie es schien, hatte niemand die Absicht, das Terrain in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, und Gras und Wildpflanzen waren über die neue Landschaft aus Erdwällen und Abhängen gewachsen, so daß diese Hügel und Täler in zukünftigen Jahren ganz natürlich wirken würden. So 12
lautete jedenfalls Wexfords Kommentar zu der seltsamen Szenerie. »Und in ein paar hundert Jahren, Grandad«, sagte Robin, »denken die Archäologen vielleicht, diese Hügel wären die Grabstätten eines alten Stammes.« »Wahrscheinlich«, meinte Wexford, »das leuchtet ein.« »Tumuli«, sagte Robin, das Wort auskostend, »so werden sie sie nennen.« »Freust du dich?« fragte Ben. »Worüber? Daß sie die Umgehungsstraße nicht gebaut haben? Ja, doch, ich freue mich sehr. Es hat mir gar nicht gepaßt, daß sie die Bäume gefällt und die Hecken rausgerissen haben. Mir haben die Straßenarbeiten nicht gefallen.« »Mir schon«, sagte Ben. »Mir haben die Bagger gefallen. Wenn ich groß bin, fahre ich Schaufelbagger, und dann grab' ich die ganze Welt um.« Es war die schönste Jahreszeit, obwohl es Anfang Mai, also in einem Monat, noch üppiger und blumenreicher wäre. Doch schon jetzt im April trugen die Bäume einen grünen und hellgelben Schleier, und im Framhurst Great Wood, der im Mai mit einem Glockenblumenteppich überzogen sein würde, zeigten sich schon Schöllkraut und Eisenhut hellgolden auf dem Waldboden. Nachdem er die beiden am Schultor abgesetzt und abgewartet hatte, bis sie ins Gebäude gebracht worden waren, fuhr er davon. Unterwegs dachte er über kindliche Vorlieben nach, über die Schönheit der Natur und die Frage, wann Kinder zum erstenmal davon berührt werden. Mädchen früher als Jungs, dachte er, Mädchen schon mit sieben, während Jungen die Landschaften, Flüsse und Hügel, den Anblick der Niederungen in der Ferne und die Wolken am hohen Himmelszelt erst weit im Teenageralter bemerken. Und doch waren die großen Naturdichter alle Männer gewesen. Natürlich hatte Sylvia vermutlich recht, und es hatte auch große Dichterinnen gegeben dazu geboren, ohne Anerkennung zu bleiben und ihre Süße an die Wüstenluft zu verschwenden. Nun, vorerst hatte er mit einem Mädchen zu reden, das sich 12
aus der Schönheit von Weideland, Dachsen und Schmetterlingen vielleicht etwas machte oder auch nicht, das jedoch recht liebenswert schien und auch dann noch zaghaft lächelte, wenn ihr Stiefvater sie ausschimpfte und sie bis auf die Haut durchnäßt war. Kein wilder Teenager, keine Rebellin. Sie saß auf dem Wohnzimmersofa in der Puck Road Nummer 45 und sah sich gerade einen Trickfilm über Dinosaurier an, der für halb so alte Kinder gedacht war und fmassic Larks hieß. Oder starrte darauf, ohne richtig hinzusehen, dachte Wexford. Nur um ihn oder Lynn Fancourt nicht ansehen zu müssen. Auf ein Nicken von Wexford hin griff Lynn nach der Fernbedienung auf dem Tisch. »Das schalten wir jetzt aus, Lizzie. Jetzt ist es Zeit zum Reden.« Während der rosafarbene Brontosaurus verblaßte und der Pterodaktylus mit dem kleinen Ichthyosaurus im Maul flimmernd verschwand, stieß Lizzie einen mißbilligenden Laut aus, eine Art schnaubenden Protest. Sie starrte weiter unverwandt auf den leeren Bildschirm. »Aus der kriegen Sie nichts raus«, sagte Debbie Crowne. »Die ist so stur, da können Sie auch gleich an die Wand hinreden. « »Wie alt bist du, Lizzie?« fragte Wexford. »Sechzehn ist sie.« Debbie ließ ihrer Tochter keine Chance zu antworten. »Im Januar ist sie sechzehn geworden.« »Wenn das so ist, Mrs. Crowne, wäre es vielleicht am besten, wenn wir uns mit Lizzie allein unterhalten.« »Was, ohne daß ich dabei bin?« »Nur bei einem Kind unter sechzehn ist es gesetzlich vorgeschrieben, daß ein Elternteil oder eine verantwortliche erwachsene Person zugegen ist.« Ohne den Kopf zu drehen, ließ sich Lizzie plötzlich vernehmen: »Ich bin kein Kind.« »Seien Sie bitte so gut, Mrs. Crowne.« »Okay, wie Sie wollen. Aber sie wird nichts sagen.« Debbie 13
Crowne schlug sich die Hand vor den Mund, als sei ihr gerade etwas eingefallen. »Und wenn sie doch was sagt, dann sagen Sie's mir, ja? Ich meine, sie hätte ja weiß Gott wo sein können, mit wer weiß wem. Man kann nie wissen, stimmt's? Ich meine, sie könnte ja auch schwanger sein.« Lizzie stieß den gleichen Laut aus wie vorhin, als man ihr Video ausgeschaltet hatte. Mit den Worten: »Brumm du nur hier rum. Ich finde, sie gehört untersucht«, ging Debbie Crowne aus dem Zimmer und machte die Tür etwas zu forsch hinter sich zu. Das Mädchen rührte sich nicht.
»Du warst drei Tage weg von zu Hause, Lizzie«, sagte Wexford. »So was hast du noch nie gemacht, stimmt s?(* Schweigen. Lizzie senkte den Kopf noch weiter nach unten, so daß ihr Gesicht vom herunterhängenden Haar völlig verdeckt war. Es war hübsches Haar, rotgolden, lang und wellig. An den Händen auf ihrem Schoß waren die Fingernägel abgebissen. »Du bist nicht allein gegangen, oder? Hat dich jemand mitgenommen, Lizzie?« Als klar war, daß sie auch diese Frage nicht beantworten würde, sagte Lynn: »Egal, was du getan hast und wohin du gegangen bist, niemand wird dich bestrafen. Hast du Angst, du kriegst Ärger? Kriegst du aber nicht.« »Niemand wird dir was tun, Lizzie«, sagte Wexford. »Wir wollen bloß wissen, wo du hingegangen bist. Wenn du weggegangen bist, weil du mit jemandem Zusammensein wolltest, den du magst, hattest du ein Recht darauf. Daran kann dich niemand hindern. Aber, weißt du, alle haben dich gesucht, die Polizei und deine Eltern und deine Freunde haben dich alle gesucht. Also haben wir jetzt auch ein Recht. Wir haben ein Recht darauf zu wissen, wo du warst.« Wieder kam das Brummen, ein langgezogener Laut wie unter Schmerzen. »Ich verstehe ja, daß du es mir vielleicht nicht sagen willst«, sagte Wexford. »Ich kann auch gehen. Dann könntest du mit Lynn allein sein. Du könntest mit Lynn reden. Hättest du das gern?« Da hob sie den Blick. Ihr Gesicht, ein recht hübsches, rund 14
liches Gesicht mit Sommersprossen auf Nase und Stirn, war ausdruckslos, ihre blaßblauen Augen starrten ins Leere. Sie befeuchtete sich die schmalen, rosaroten Lippen. Sie legte die Stirn in Falten, als konzentrierte sie sich sehr, als ginge die intellektuelle Anstrengung aber über ihre Kräfte. Dann nickte sie. Kein gewöhnliches Nicken mit mehrmaligen Auf-und-Ab-Bewegungen des Kopfes, sondern nur einmal, ruckartig, fast schroff. »Also gut.« Wexford ging aus dem Zimmer in den Flur hinaus, einen schmalen Durchgang, in dem ein Fahrrad und ein Kasten leere Flaschen standen. Er klopfte an eine Tür am anderen Ende und wurde in eine Wohnküche gebeten. Colin Crowne war nirgends zu sehen. Seine Frau saß auf einem Barhocker an der Anrichte in der Eßecke, trank Kaffee und rauchte. »Möglicherweise kann Ihre Tochter mit Detective Constable Fancourt allein eher sprechen.« »Wie Sie meinen, aber wenn sie nicht mal mit ihrer eigenen Mutter spricht
»Was würden Sie davon halten, wenn sich herausstellt, daß sie mit einem Freund zusammen war?« »War sie aber nicht«, sagte Debbie Crowne und drückte ihre Zigarette in einem Unterteller aus, »also kann ich auch nichts davon halten.« »Dann lassen Sie es mich anders formulieren. Hätte sie vielleicht Angst vor den Folgen, wenn Sie herausbekommen, daß sie mit einem Freund zusammen war?« »Hören Sie, sie hat keinen Freund. Das wüßte ich. Ich weiß immer genau, wo sie ist - jede einzelne Minute. Muß ich auch, sie ist nicht - na, Sie wissen ja, wie sie ist. Sie ist ein bißchen - also, man muß sich um sie kümmern.« »Trotzdem war sie am Samstag abend mit ihren Freundinnen allein unterwegs, und obwohl sie mit ihnen in Myringham war, haben sie sie allein nach Hause fahren lassen.« »Das hätten sie nicht dürfen. Wie oft hab' ich ihnen eingeschärft, sie sollen Lizzie nicht sich selbst überlassen. Ihnen hab' ich's gesagt und ihr auch.« 15 »Sie sind sechzehn, Mrs. Crowne, sie tun nicht immer das, was man ihnen sagt.« Nun verlegte sie sich auf ein Thema, das ihr offenbar mehr am Herzen lag. »Aber was ist, wenn sie doch schwanger ist, wie ich gesagt habe, dann muß man sie untersuchen, dann muß man sich doch um sie kümmern. Mal angenommen, er hat ihr was getan, wir wissen doch nicht, was er ihr getan hat.« »Wollen Sie damit andeuten, sie wurde vergewaltigt?« »Nein, das nicht, natürlich nicht, das wüßte ich doch.« Wenn sie also keinen Freund hat und nicht vergewaltigt wurde, wie sollte sie dann schwanger sein? Er fragte es nicht laut, sondern ging wieder ins Wohnzimmer, nicht ohne vorher anzuklopfen. Dort saß Lynn, doch das Mädchen war verschwunden. »Ich hätte sie schlecht davon abhalten können, Sir. Sie wollte nach oben in ihr Zimmer, und daran konnte ich sie ja nicht hindern.« »Nein. Für heute lassen wir es gut sein.« Im Wagen draußen fragte er, was bei dem Gespräch herausgekommen war, falls es überhaupt ein Gespräch gewesen war. »Hat sie etwas gesagt?« »Einen Haufen Lügen hat sie mir aufgetischt, Sir. Ich weiß, daß es gelogen war. Es war, als ob sie - na ja, als hätte sie begriffen, daß sie irgendwas sagen muß, damit wir sie in Ruhe lassen. Ihr Pech ist, daß sie eine ziemlich beschränkte Phantasie hat, aber sie hat's versucht.«
»Was für tolle Geschichten sind ihrer beschränkten Phantasie denn eingefallen?« »Sie hat im Regen an der Bushaltestelle gewartet. Eine Dame - so hat sie sich ausgedrückt - eine Dame kam im Auto vorbeigefahren und bot ihr an, sie mitzunehmen, doch sie lehnte ab, weil Colin ihr gesagt hatte, sie soll sich nie von Fremden im Auto mitnehmen lassen. Weil der Bus nicht kam und es in Strömen goß, ging sie in ein unbewohntes Haus mit vernagelten Fenstern das Haus mit dem Apfelbaum, nennt 16
sie es - und setzte sich dort auf den Boden, um abzuwarten, bis es aufhörte zu regnen »Ist doch nicht zu glauben!« »Was hab' ich gesagt? Ich hab's auch nicht geglaubt.« »Wie ist sie hineingekommen?« »Die Tür war nicht verschlossen. Sie hat sie aufgestoßen. Und als der Regen aufgehört hatte und sie wieder zur Bushaltestelle gehen wollte, kam sie nicht mehr heraus, weil jemand vorbeigekommen war und sie eingesperrt hatte. Sie blieb drei Tage und drei Nächte ohne Essen dort drin, konnte sich aber Wasser aus der Leitung besorgen und fand ein paar Decken, in die sie sich einwickeln konnte, um sich warmzuhalten. Dann wurde die Tür wieder aufgeschlossen, sie entkam und nahm den Bus nach Hause.« Obwohl niemand Lizzies Geschichte Glauben schenkte, lohnte es doch die Mühe, nach Myringham zu fahren und sich die Sache anzusehen. »Das müssen Sie aber doch nicht, Sir«, sagte Lynn. Damit meinte sie, es war unter seiner Würde. »Das kann ich doch machen.« »Entweder das oder wieder ab an den Schreibtisch«, meinte Wexford. Vine hatte mit den Freundinnen Hayley Lawrie und Kate Burton gesprochen, die beide behaupteten, sie hätten Lizzie bis an die Bushaltestelle gebracht. Sie hatten versprochen, sie nicht allein zu lassen, und das hatten sie doch auch nicht, nur für fünf Minuten, der Bus sollte in fünf Minuten kommen. Hayley sagte, inzwischen wünsche sie sich, sie wäre bei Lizzie geblieben, bis der Bus kam, aber Kate meinte, es sei doch egal, Lizzie wäre ja nichts passiert. Die Bushaltestelle lag gleich neben dem Kino, in dem sie gewesen waren, aber schon am Ortsrand von Myringham an der alten Straße nach Kingsmarkham. Als erstes fiel Wexford das verfallene Haus auf. Die Bushaltestelle befand sich direkt davor. Alle Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Hälfte 16 der Dachschieferplatten fehlte, und das Gartentörchen hing nur noch an einer einzigen Angel. Das Haus stand in einem überwucherten Garten, in dem das
einzig Schöne ein pink-rosa blühender Kirschbaum war. Kein Apfel, wie Lizzie gesagt hatte, sondern eine Japanische Kirsche. Die Haustür war vor etwa zwanzig Jahren in einem aggressiven dunkelgrünen Farbton gestrichen worden, und inzwischen blätterte die Farbe ab. Wexford drehte den schwarz angelaufenen Messingknopf und drückte dagegen. Dabei überlegte er, was er von Lizzie halten sollte, falls die Tür nachgab. Doch sie war verschlossen. Sie gingen hinten ums Haus. Hier hingen die Bretter an einem Fenster lose herunter, vielleicht hatte auch jemand den Versuch unternommen, sie zu entfernen. Wexford entschied kurzerhand: »Wir gehen hier hinein. Und danach lassen wir das Fenster wieder ordentlich zunageln. Tun wir dem Besitzer den Gefallen, wer immer es sein mag.« Vielleicht war Lizzie auf diesem Weg hinein- oder herausgelangt oder beides. Die Öffnung war groß genug, daß kleine oder zierliche Menschen sich durchquetschen konnten, doch für Wexford mußte Donaldson sie mit Hilfe von Werkzeugen aus dem Autokofferraum erweitern. Wexford trat über das Fensterbrett hinein, Lynn und Donaldson folgten. Drinnen war es kalt und feucht und roch modrig. Unter den abgelösten Bodenbrettern waren schwarze Löcher zu sehen, in denen teilweise Ölpfützen standen. Die meisten Möbel waren längst herausgeschafft worden, nur ein kleines schwarzes Roßhaarsofa war in dem Raum zurückgeblieben, in dem sie jetzt waren, und in dem eisernen Korb im Kamin lagen leere Chipstüten und Zigarettenkippen. Die Tapete hing in langen gekringelten Streifen von den Wänden. Abgesehen von der Küche war im Erdgeschoß nur noch ein anderes Zimmer, an dessen angeschimmelten Wänden zwei Ölbilder hingen, das eine zeigte einen Hirsch, der aus einem Teich trank, das andere ein präraffaelitisch angehauchtes Mädchen, das an einem Strand Muscheln sammelte. Decken 17
waren nirgends zu sehen. Nun blieb noch das Obergeschoß zu erforschen. Vorher wollte sich Wexford das schäbige Küchengelaß genauer ansehen. Er drehte an beiden Wasserhähnen. Aus einem kam gar nichts, aus dem anderen tröpfelte blutrotes Rostwasser. Aus dem hatte Lizzie nicht getrunken. An der hinteren Tür steckte kein Schlüssel im Schloß, und sie war nicht verriegelt. Über die Türeinfassung waren Holzlatten genagelt. Durch die Haustür war Lizzie ebenfalls nicht hereingekommen, denn sie war von innen verriegelt. Die Riegel waren verrostet und hätten sich ohne Werkzeug nicht zurückschieben lassen. »Meinen Sie, die Stufen halten, Lynn?« erkundigte sich Wexford. »Sieht aus, als hätte sich jemand mit der Spitzhacke daran zu schaffen gemacht.«
»Gerade noch, Sir.« Lynn betrachtete ihn, nicht die Treppe, etwas abschätzend, als zweifelte sie eher an seinen athletischen Fähigkeiten als an der Stabilität von Trittflächen und Setzstufen. Offensichtlich hatte man den Versuch gemacht, die Trittflächen zu erneuern, sie zu entfernen oder die ganze Konstruktion zu erweitern, und das Vorhaben dann aufgegeben, aber erst als die Treppe schon teilweise demoliert war. Wexford ließ Lynn vorausgehen, weniger aus Höflichkeit, sondern weil er wußte, daß er so, wenn er rückwärts fiel, nicht auf eine kleine, zierliche Frau fallen würde, die vermutlich keine fünfzig Kilo wog. Er trat behutsam auf, hielt sich dabei vielleicht unvorsichtigerweise an dem wackligen Geländer fest und gelangte sicher nach oben. Seine Mühe wurde durch den Anblick einer großen, grauen Decke belohnt, die über eine Art Wassertank oder dergleichen, jedenfalls einen großen, würfelförmigen Gegenstand gebreitet lag. Ansonsten waren die beiden kleinen Dachzimmer absolut leer. »Kann ja sein, daß sie sich in die eingewickelt hat«, sagte Lynn und streckte Wexford die Hand entgegen, die durch die Berührung mit der Decke feucht geworden war. »Obwohl sie ein bißchen muffig riecht.« Über ihnen war durch ein Loch im 18 fleckigen Verputz der Rand einer Dachplatte zu sehen und dahinter ein Stück blauweißer Himmel. „Vielleicht hat sie Leitungswasser im Bad getrunken«, sagte Wexford, »wenn es hier ein Bad gibt.« Er schüttelte den Kopf. „Kann schon sein, daß sie hier war, aber keine drei Tage.« „Ist das denn so wichtig, Sir?« fragte Lynn, als sie sich die gefährliche Treppe wieder hinunter wagten. »Ich meine, sie ist doch wieder da, und es fehlt ihr nichts. Geht es uns was an, wo sie gesteckt hat?« »Vielleicht nicht. Vielleicht haben Sie recht. Ich würde es eben einfach nur gern wissen.« Bürden gegenüber drückte er sich am nächsten Tag ähnlich aus, als der Inspector Einwände gegen Wexfords Interesse an so einer trivialen Sache erhob. Sie waren nicht auf dem Revier, sondern hatten sich nach der Arbeit auf ein feierabendliches Bier im Olive and Dove getroffen. »Mir scheint, ich habe heute überhaupt nicht gearbeitet«, meinte Wexford, »bloß verdammte Formulare ausgefüllt.« »Vielleicht sind wir ja drauf und dran, das Verbrechen zu besiegen.« »Sie machen Witze. Ich nehme nicht an, daß an Lizzie Cromwell eine Straftat verübt wurde oder daß sie selbst eine verübte, aber ich würde es doch gern
wissen. Drei Tage war sie weg, Mike, drei Tage und drei Nächte. In dem Haus war sie nicht - nun gut, eindeutig feststellen können wir das nur, indem wir ihre Fingerabdrücke abnehmen und das Haus mit der Lupe untersuchen, aber ich weiß, daß sie nicht dort war. Sie wäre gar nicht reingekommen, und wenn, wäre es ihr nicht gelungen, es zu verlassen und das Fenster wieder in den Zustand zu versetzen, in dem wir es vorfanden. Sie log, als sie sagte, sie hätte aus dem Wasserhahn getrunken, sie log, als sie sagte, daß sie sich in die Decke gewickelt hätte, und sie log, als sie sagte, sie sei eingesperrt und dann wieder herausgelassen worden. Sie war also überhaupt nicht dort. Ich frage mich, ob es einen Sinn hat, einen Aufruf an diese Frau zu richten, die ihr angeboten hat, sie mitzunehmen.« 19 »Das war vielleicht auch gelogen.« »Stimmt. Vielleicht.« Wexford kippte den letzten Rest seines Bieres hinunter. »Wo war sie dann?« »Bei einem Mann. Diese Dinger sind immer bei einem Mann, das wissen Sie doch. Die Tatsache, daß ihre Mutter behauptet, es gäbe keinen Freund, heißt überhaupt nichts, und wenn sie sagt, sie hätte gar keine Gelegenheit gehabt, jemanden kennenzulernen, heißt das auch nichts. Es ist völlig egal, wie ein Mädchen aussieht oder wie schlicht von Gemüt sie ist - schon gut, schauen Sie nicht so, Sie wissen, was ich meine -oder wie schüchtern und so weiter, der Fortpflanzungstrieb in diesen jungen Dingern ist dermaßen stark, daß die unwahrscheinlichsten Kandidaten zusammentreffen wie - wie Magnete.« »Ich hoffe, in dem Fall gibt es keine Fortpflanzung, obwohl ich zugebe, daß es am wahrscheinlichsten ist, daß sie mit einem Mann zusammen war, mit einem Jungen. Damit wissen wir aber immer noch nicht, wo.« »Bei ihm natürlich.« »Aha, aber da liegt doch das Problem. Wenn er in ihrem Alter ist, wohnt er aller Wahrscheinlichkeit nach noch bei seinen Eltern oder einem Elternteil und vielleicht Geschwistern. Wenn er älter ist, ist er vermutlich verheiratet oder lebt, wie man sich heute ausdrückt, >in einer Beziehung«. Die anderen Beteiligten wüßten von ihrem Verschwinden. Jemand hätte uns verständigt.« »Er hätte sie auch mit in ein Hotel nehmen können.« »Drei Tage und drei Nächte, Mike? Hat er es so üppig? Nein, ich sehe nur eine Möglichkeit: Er lebt allein, hat ein Zimmer oder eine Wohnung, und dorthin hat er sie mitgenommen. Er behielt sie die ganzen drei Tage und drei Nächte bei sich, und niemand im Haus oder in der Wohnanlage hat sie zu Gesicht
bekommen. Die Sache gefällt mir nicht so recht, ich glaube eigentlich auch nicht dran, aber wir wissen ja, was Sherlock Holmes sagte.« Bürden hatte es schon zu oft von Wexford gehört, um nicht 20
Bescheid zu wissen. »Wenn alles andere unmöglich ist, muß das, was übrigbleibt, so sein - oder so ähnlich.« Er holte noch eine Runde Getränke. Er würde es nicht sagen, jedenfalls jetzt noch nicht, aber er hatte von Lizzie Cromwell die Nase voll, die ganze Geschichte langweilte ihn. Wexford war seiner Meinung nach drauf und dran, sich schon wieder in etwas zu verrennen, bloß daß es früher, wenn er so einen Fimmel gehabt hatte, um bedeutsamere Ereignisse gegangen war. Falls Bürden jedoch hoffte, als er mit den beiden Biergläsern zum Tisch zurückkehrte, Wexford würde sich einem neuen Gesprächsthema zuwenden, wurde er enttäuscht. »Als ihre Freundinnen sie an der Bushaltestelle stehenließen, wartete sie demnach darauf, daß dieser Kerl im Auto vorbeikam, stimmt's? Aber wieso an einer Haltestelle? Wieso nicht an einem warmen und trockenen Ort wie einem Café?« »Weil sie vor ihren Freundinnen so tun mußte, als würde sie auf den Bus warten«, sagte Bürden abschließend und hoffte, damit habe es sein Bewenden. »Sie haben genug von der Sache, stimmt's? Ich weiß es, das merke ich. Nun, ich will Ihnen nicht mehr lang auf die Nerven gehen. Ich glaube, Sie haben recht mit Ihrer Erklärung, weshalb sie an der Bushaltestelle gewartet hat, aber ich will doch noch ein bißchen nachbohren. Wieso wollte sie, daß ihre Freundinnen glauben, sie wartet auf den Bus?« »Damit sie das mit dem Freund nicht rauskriegen.« »Aber warum sollen sie es nicht erfahren? Wäre sie denn nicht stolz auf einen Freund? Besonders auf einen mit Auto und eigener Wohnung? Sie hätte sich doch auf sie verlassen können. Ihrer Mutter hätten sie es bestimmt nicht verraten.« »Vielleicht ist er verheiratet.« »Dann könnte er sie nirgendwohin mitnehmen«, sagte Wexford, und obwohl Bürden auf die nächste Phase seiner Ausführungen wartete, ließ er sich nicht weiter darüber aus. »Das Hurt-Watch-Treffen ist morgen früh«, sagte er statt dessen. »Sie wissen doch? Um Punkt zehn. Southby wird auch da sein, falls ich Ihnen das noch nicht gesagt habe.« 20
Beim Gedanken auf die bevorstehende Begegnung mit dem zukünftigen stellvertretenden Chief Constable stöhnte Bürden leise auf. Operation
Safeguard, wie das Projekt ursprünglich geheißen hatte, interessierte ihn herzlich wenig. Seine persönliche Meinung war, was immer innerhalb der eigenen vier Wände vor sich ging, gehörte auch dorthin und sollte so wenig wie möglich in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzes fallen. Doch da er wußte, wie Wexford dazu stand, hielt er den Mund. Am nächsten Morgen, eine halbe Stunde vor dem geplanten Beginn der Versammlung, kam eine Frau auf dem Weg zur Arbeit ins Revier, um zu melden, sie habe Lizzie Cromwell am vergangenen Montag abend an der Bushaltestelle gesehen. Es war reiner Zufall, daß sie überhaupt mit Wexford sprechen konnte. Er kam in dem Moment mit Barry Vine am Empfang in der Eingangshalle vorbei, als sie mit dem diensthabenden Sergeant sprach. Trotzdem sagte Barry sein übliches Sprüchlein, er würde sich schon darum kümmern, es sei doch nicht nötig, daß Wexford... Daß ich mir mein hübsches Köpfchen darüber zerbreche, dachte Wexford, sagte es aber nicht laut. »Gehen wir hinauf in mein Büro«, sagte er. 21
2
Inzwischen war Freitag, und Lizzie war am Dienstag nachmittag zurückgekommen. Diese Tatsache teilte Wexford Mrs. Pauline Ward mit, überrascht, daß sie es noch nicht wußte. »Darf ich fragen, warum Sie nicht schon früher gekommen sind?« »Ich habe ihr Foto erst gestern abend gesehen. Es war in der Zeitung, in die die Krabbe eingewickelt war.« »Wie bitte?« »Hören Sie, ich habe keine Zeitung abonniert. Ich meine, keine Tageszeitung. Ich sehe mir auch keine Fernsehnachrichten an. Ich sehe fern, aber nicht die Nachrichten. Das regt mich nur auf. Wenn es nicht um Grausamkeiten in Albanien geht oder Kinder, die in einem Feuer zugrunde gehen, dann sind es erschlagene Seehundbabys. Das tu' ich mir gar nicht mehr an.« »Die Krabbe, bitte, Mrs. Ward.« Sie war Mitte Fünfzig, chic gekleidet, der Rock zwar etwas zu kurz und die Augenlider zu blau, aber ansonsten eine ansehnliche, gepflegte Frau, die in einem dunkelblauen, spiegelblank polierten Audi vorgefahren war, den sie auf dem für den zukünftigen stellvertretenden Chief Constable reservierten Parkplatz abgestellt hatte. Wenn sie - wie in diesem Moment - lächelte, waren ihre schönen, strahlendweißen Zähne zu sehen. »Ach ja, die Krabbe«, sagte sie. »Also, gestern abend nach der Arbeit fuhr ich auf dem Nachhauseweg bei dem guten Fischgeschäft in der York Street
vorbei. Ich hatte zum Abendessen Besuch eingeladen und brauchte noch eine Vorspeise, also dachte ich mir, eine Krabbe wäre doch was Feines, und 22 der Fischhändler packte sie mir in diese Zeitung ein. Es war, glaube ich, die Times. Na jedenfalls, als ich meine Krabbe auspackte und das Foto sah, fiel mir wieder ein, daß ich sie am Montag abend gesehen hatte.« »Aha. Und als Ihre Freundin kam, sprachen Sie mit ihr darüber?« »Mit ihm^, sagte Mrs. Ward. »Ein Er, es ist mein Freund.« Sie hörte sich an wie eine Frau, die sich kaum die Mühe machen würde, für einen weiblichen Gast eine Krabbe zu besorgen. »Äh, nein, habe ich nicht. Hätte ich das sollen?« »Er hätte Ihnen vielleicht gesagt, daß man Lizzie Cromwell gefunden hat. Das heißt, falls es ihn nicht auch davor graust, sich die Nachrichten anzusehen.« Pauline Ward warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Keine Ahnung. Über solche Sachen reden wir nicht.« Fast hätte sie unwillig den Kopf zurückgeworfen. »Wollen Sie das mit Montag abend denn nicht hören?« Wexford nickte. »Also gut. Ich leite im Heaven-Spent-Einkaufszentrum in Myringham den Crescent Minimarket. Samstags haben wir bis halb neun geöffnet. Als ich ging, war es zwanzig vor neun. Ich mußte noch abschließen und zu meinem Wagen gehen, und so war es schließlich schon zehn vor, als ich an der Bushaltestelle vorbeifuhr.« Wexford unterbrach sie. »Wie kommt es, daß Sie sich bei der Uhrzeit so sicher sind?« »Bin ich immer, auf die Minute genau. Ich schaue ständig auf die Uhr. Na ja, auf die Armbanduhr. Ich sah, wie spät es war, als ich aus dem Geschäft ging, und warf einen Blick auf die Digitaluhr an der Midland Bank, als ich gerade losfuhr, und die zeigte acht Uhr vierundfünfzig an. Ich dachte, das kann doch nicht sein, so spät ist es doch noch nicht, und verglich es mit meiner Armbanduhr und der Uhr im Auto - ich wußte, daß beide auf die Sekunde genau gehen -, und auf beiden war es acht Uhr neunundvierzig. Na, dachte ich, ich gehe in die Midland und sage es ihnen - was ich am Dienstag auch 22 tat. Und bis ich es zu Ende gedacht hatte, das mit der Bank, meine ich, kam ich bereits an der Bushaltestelle vorbei, an der das Mädchen stand, und dachte, armes Ding, steht da im Regen und wartet auf den Bus. Soll ich fragen, ob sie mitfahren will, dachte ich, aber dann dachte ich, lieber nicht, man kann ja nie wissen, stimmt's?«
Das war also nicht die Frau, die Lizzie angeboten hatte, sie mitzunehmen, und deren Angebot abgelehnt worden war. Aber zehn vor neun... Hatte das Mädchen tatsächlich zwanzig Minuten an der Bushaltestelle gewartet? »Sind Sie sich ganz sicher, daß es zehn vor neun war?« »Habe ich doch gesagt, oder? Ich merke mir immer die Uhrzeit. Wieso wollen Sie das alles eigentlich wissen, wo sie doch zurückgekommen ist?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mrs. Ward.« Sie stand auf. »Wollen Sie sich nicht bei mir bedanken? Ich hätte ja nicht herkommen müssen. Wäre ich auch nicht, wenn ich nicht zufällig diese Krabbe gekauft hätte.« Er brachte sie hinunter, und am Ausgang drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Sie haben da ein Problem mit Ihrer Einstellung, wissen Sie. Darum sollten Sie sich mal kümmern.« Wexford verkniff sich das Lachen, bis sie weg war. Er hatte durchaus ein Problem, aber nicht mit seiner Einstellung. Vielmehr ließ er sich in geradezu lächerlicher Weise auf diese Geschichte mit Lizzie Cromwell ein. Sie war wieder da, wie ihm von allen Seiten immer wieder versichert wurde, sie war mit einem Freund unterwegs gewesen, aber nun war sie wieder da, und nichts Schlimmes war passiert. Hatte der Freund sie zwanzig Minuten an der Bushaltestelle warten lassen? Im Regen? Vielleicht. Schon möglich. Da fiel ihm plötzlich ein -und die Vorstellung war alles andere als willkommen -, daß Lizzie, niedlich, auf kindliche Weise hübsch, nicht besonders hell im Kopf und vermutlich höchst naiv, genau die Art von Person war, die ein gewissenloser Mensch ausnutzen würde. Ging sie auf eine Art Sonderschule? Und wenn nicht, 23
warum nicht? Und wäre diese Schule überhaupt der richtige Ort, um bei ihr Selbstvertrauen und Lebenstüchtigkeit herauszubilden? Wexford bezweifelte es. Doch er beschloß, sich von Lizzie, ihren Problemen und ihrer Familie abzuwenden. Es war nicht Sache der Polizei. Polizeiressourcen und das Geld des Steuerzahlers waren darauf verschwendet worden, aber das war nichts Neues. Man mußte schon froh sein, daß kein Verbrechen stattgefunden hatte, daß es keine Toten und nicht einmal Verletzte gab, und nachdem es so gut ausgegangen war, würden manche sogar behaupten, Zeit und Ausgaben hätten sich gelohnt. Also, adieu, Lizzie Cromwell, wollen wir hoffen, daß du nicht schwanger bist. Die Hurt-Watch-Versammlung ging ohne besondere Vorkommnisse, ja sogar zufriedenstellend vonstatten. Zur Abwechslung waren sich Wexford und
Malcolm Southby einmal einig. Beide wollten häusliche Gewalt als ernstzunehmendes Verbrechen priorisieren (Southbys Ausdruck, mit dem Wexford nicht einverstanden war), und beide fanden die Idee gut, Frauen als deren Opfer mit Mobiltelefonen und Funkempfängern auszustatten. Allein ihnen das Bewußtsein zu vermitteln, daß die Polizei hinter ihnen stand, war schon ein Schritt in die richtige Richtung. »Und was ist mit den Opfern, die uns noch nie angerufen haben?« fragte Karen Malahyde. »In diesem Bereich gibt es eine Menge Heimlichtuerei, wissen Sie. Ein Großteil dieser Frauen würde fast alles tun, um nicht zugeben zu müssen, daß sie Opfer sind.« »Ich weiß nicht, was wir dagegen tun können, Sergeant Malahyde«, gab Southby zurück, der mit dem Geld der Steuerzahler recht knauserig umging, »außer jedem weiblichen Wesen im Einzugsgebiet von Kingsmarkham teure elektronische Geräte zur Verfügung zu stellen.« Sogar wenn er eine Sache unterstützte, konnte sich der zukünftige stellvertretende Chief Constable den Sarkasmus kaum verkneifen. Er führte es weiter aus. »Oh, Verzeihung, natürlich nur denen, die in einer festen Beziehung leben.« Er gackerte über seinen eigenen Witz. 24 Karen fand es nicht lustig, verzog das Gesicht aber kaum und blickte nur finster drein; dabei bemerkte sie mißbilligend, daß einige ihrer Kollegen liebedienerisch lächelten. »Das ist ja alles schön und gut, Sir.« Sie traute sich nicht recht zu sagen, das sei ja alles recht witzig, da sie wußte, daß ihr »Sir« nicht alles rechtfertigte. »Aber müssen wir nicht noch mehr tun, um herauszufinden, wo die Opfer sind? Ich meine, diejenigen, die um jeden Preis verheimlichen wollen, was mit ihnen passiert?« »Dazu haben wir doch Hurt-Watch, Karen«, sagte Wexford und erntete einen komischen Blick von Southby, weil er ihren Vornamen benutzt hatte. »Wir machen per Anzeige im Courier darauf aufmerksam und verteilen Handzettel an alle Haushalte. Ein Vertreter der Polizei - einer von uns hier - geht in Newsroom South-East auf Sendung und spricht darüber. Ich sehe im Augenblick nicht, was wir sonst noch tun können.« »Okay. Danke, Sir. Es ist nur - die ganze Geschichte nimmt momentan immer mehr zu - trotzdem, danke.« Wexford hatte sich während des einstündigen Treffens auf das Thema konzentriert, und es war ihm auch nicht schwergefallen, über Southbys witzige Bemerkung nicht zu lächeln. Sobald es vorbei war, schlich sich der Gedanke wieder ein: Apropos Heimlichtuerei, was hatte es eigentlich mit
diesem Freund auf sich, der vor Lizzies Freundinnen sowie vor ihren Eltern versteckt werden mußte, und wieso wollte sie sich jetzt nicht zu ihm bekennen? The Hide war vermutlich nicht das langweiligste und uninteressanteste Gebäude in ganz Kingsmarkham. Das Muriel-Campden-Wohnsilo war noch häßlicher, und einige Büroblocks waren trister, doch unter den größeren Häusern auf eigenem Grundstück war The Hide in der Kategorie langweiliger Häuser, die keinen zweiten Blick verdienten, ohne Konkurrenz. Daß die wenigsten dem Haus einen zweiten Blick geschenkt oder es überhaupt bemerkt hätten, war ein wesent 25 licher Gesichtspunkt gewesen, als Griselda Cooper und Lucy Angeletti beschlossen hatten, es als Zentrum und zeitweiliges Zuhause für die Opfer häuslicher Gewalt zu erwerben. Es war wichtig, daß das Haus unscheinbar wirkte, aber so, als hätte es nichts zu verbergen, langweilig, ohne unheimlich auszusehen, und von einer Düsterkeit, die keine Kommentare herausforderte. Früher hatte es die Hausnummer 12 im Kingsbrook Valley Drive getragen, doch das Schild war entfernt, ein Schild mit dem Namen »The Hide« nicht angebracht worden. Die Nummer war nicht im Telefonbuch eingetragen, nur die Notrufnummer war bekannt. In jeder Telefonzelle in Kingsmarkham, Stowerton, Pomfret und auf den Dörfern hing ein Kärtchen mit der Notrufnummer von The Hide. Allerdings stand auf der Karte nicht, wo sich das Haus befand oder wozu es diente, noch wer dort Zuflucht suchte und auch fand. Als sie mit der Arbeit beim Notruf anfing, hatte Sylvia Fairfax fast als erstes die Frage gestellt: »Wozu die Heimlichtuerei?« »In neun von zehn Fällen«, sagte Griselda Cooper, »kommen Ehemänner und Partner oder Freunde, eben die, die für den Mißbrauch verantwortlich sind, und suchen sie. Auf die Art wird es ihnen schwerer gemacht, sie zu finden. Nicht unmöglich, aber schwerer.« »Aber sie finden her?« »Manche schon. Wir hatten einen da, der ist über die Mauer gekommen. Die ist zwar drei Meter hoch und hat obendrauf Stacheldraht, aber er hat es geschafft. Danach haben wir den Stacheldraht durch Natodraht ersetzt.« Es gab einen riesengroßen Garten. Gitterwerk erhöhte die Mauern zwischen The Hide und den Hausnummern 10 und 14 im Kingsbrook Valley Drive. Abgesehen davon, daß der Rasen gemäht und die Büsche gelegentlich gestutzt wurden, war der Garten ungepflegt. Für die Kinder gab es eine
Schaukel und ein Klettergerüst, und Lucy Angeletti, die die finanziellen Mittel für The Hide auftrieb, wollte genügend Geld zu 26 sammenbringen, damit ein richtiger Spielplatz angelegt werden konnte. Die Nachbarn in Nummer 10 und 14 und auch in Nummer 8 und 16 hatten von dieser Absicht Wind bekommen und bemühten sich nun nach Kräften, der Sache einen Riegel vorzuschieben. The Hide und dessen Bewohnerinnen waren im Kingsbrook Valley Drive nicht gerade beliebt. Die Leute fanden, es stelle eine Gefahr für den Frieden in der Gegend dar und locke das Verbrechen an. Das Haus selbst, ein großer, quadratischer Kasten ohne Seitenflügel, Giebel oder Veranda war 1886 von einem Mann mit vielköpfiger Familie gebaut worden, der Kosten hatte sparen wollen. Nicht einmal das Dach war von der Straße her auszumachen, obwohl es nicht ganz flach war es lag hinter einer kahlen Backsteinmauer versteckt, die über den Fenstern im dritten Stock um das Haus verlief. Als Baumaterial waren Ziegel in einem stumpfen Rotbraun verwendet worden, und die einzige Zierde war die gelbbraune Verblendung, mit der die flachen Schiebefenster abgesetzt waren. Das Ganze wurde halb verdeckt von den im Vorgarten dominierenden Lorbeerbüschen sowie von zwei Stechpalmen, Friedhofsbäumen, deren Blätter nie abfielen, sondern mit der Zeit nur dunkler und staubiger wurden. Drinnen sah es ganz anders aus: Pastellfarben, hübsche Vorhänge und Bilder an den Wänden. Eigentlich waren es eher Plakate als Bilder. Lucy hatte die glorreiche Idee gehabt, mehrere Bögen Geschenkpapier zu kaufen, auf denen Blumenbilder, Weltkarten oder Die Dame mit dem Einhorn abgebildet waren, und sie rahmen zu lassen. Das Mobiliar stammte aus Trödelläden oder war von Sponsoren beigesteuert worden, und der Fußbodenbelag kam aus dem Teppichlager an der Stowerton Road, wo die Ware wegen Feuerschadens billig zu haben war. Ständig mangelte es an Geld. Lucy hatte schon graue Haare vor lauter Sorgen, ob sie genügend finanzielle Mittel zusammenbekäme, damit The Hide weiterexistieren konnte - obwohl ihr Haar sich vielleicht sowieso verfärbt hätte, da vorzeitiges Ergrauen bei ihr in der Familie lag. 26 Am Geldmangel lag es, daß Sylvia und Jill Lewis und Da-vina Crewe nicht dafür bezahlt wurden, daß sie am Telefon mit den Frauen sprachen, die um Hilfe und manchmal auch um Zuflucht baten. Im Idealfall hätte die Notrufnummer von einem anderen Ort aus betrieben werden sollen. Doch einen anderen Ort gab es nicht. Griselda Cooper wohnte im Haus und Lucy
Angeletti in einer Einzimmerwohnung in Stowerton. Außer den zwei Zimmerchen im Keller von Kingsbrook Valley Drive Nummer 12 besaß The Hide keine Büroräume. Die beiden Telefone, die von Jill und Davina, manchmal von Griselda und Lucy und nun auch von Sylvia betreut wurden, befanden sich in einem Raum im Obergeschoß neben Griseldas winziger Wohnung. Platz war so kostbar, daß die beiden anderen Räume auf diesem Stockwerk in möblierte Zimmer für geflohene Frauen umgewandelt worden waren, mit zwei Einzelbetten in einem und drei Betten und einem Klappbett im anderen. Ideal war es nicht, aber etwas Besseres konnten sie nicht bieten. Einen Aufzug gab es nicht. Sylvia mußte sich die drei Treppen vom Erdgeschoß hochquälen, wo sich die Wohnzimmer befanden, Gemeinschaftsraum und Fernsehzimmer, Kinderspielzimmer, Küche und Waschküche, durch den ersten und zweiten Stock, die ganz mit möblierten Zimmern und Bädern besetzt waren - der Einbau von zusätzlichen Badezimmern stand dringend an, sobald Lucy die Mittel bekam - und nach oben zu den Telefonen. Normalerweise spielten Kinder auf der Treppe. Das durften sie eigentlich nicht, auch nicht die Geländer herunterrutschen, doch wenn das Spielzimmer überfüllt war und es regnete, blieb ihnen kaum etwas anderes übrig. An zwei Abenden pro Woche, und zwar nicht immer denselben Abenden, arbeitete Sylvia von sechs Uhr bis Mitternacht in The Hide. Normalerweise war ihr Mann dann zu Hause, um sich um die beiden Söhne zu kümmern, und falls er einmal verhindert war, konnte sie sie zu ihren Eltern bringen. Sie hatte die Aufgabe teils aus sozialem Gewissensdruck 27 und dem Engagement für die Sache der Frau übernommen, teils um ein wenig aus dem Haus zu kommen. Wenn sie zu Hause war, schwiegen Neil und sie sich gegenseitig an, wandten sich nur indirekt über ihre Kinder aneinander oder stritten. Ihrer Mutter und ihrem Vater erzählte sie nie, wie es um ihre Ehe stand, sprach darüber jedoch mit Freundinnen, und Griselda Cooper wurde für sie rasch zu einer Freundin. Griseldas Schicht endete, wenn Sylvia übernahm, doch manchmal blieb sie noch eine halbe Stunde oder länger, um zu reden. Sie war gut zwölf Jahre älter als Sylvia, alleinstehend und hatte einen Liebhaber, der beneidenswert oft mit ihr ausging oder mit ihr fortfuhr, wenn sie einmal ein Wochenende frei hatte. Sylvia konnte sich den Anflug von Neid nicht verkneifen, obwohl Griselda keine Kinder hatte und nie welche haben würde. Eines Abends
erzählte sie Griselda von ihrer Ehe, daß sie und Neil sehr jung geheiratet und zu spät entdeckt hatten, daß sie überhaupt nicht zueinander paßten. »Zu spät?« fragte Griselda, die geschieden war. »Ich kann die Familie doch nicht auseinanderreißen. Eine Trennung wäre für meine Kinder verheerend.« »Das hört sich an wie das, was unsere Anruferinnen sagen. Er hat sie gerade fast umgebracht und wird es wieder tun, sie weiß es, will aber die Familie nicht auseinanderreißen.« Als das Telefon klingelte, hob Griselda ab. »Hier ist der Notruf von The Hide. Was kann ich für Sie tun?« Sie sprach im ruhigsten, wärmsten und beruhigendsten Ton, den sie zuwege brachte, also sehr ruhig, warm und beruhigend. Sylvia konnte spüren, daß es am anderen Ende der Leitung still blieb - wie so oft. Plötzlich verließ die Frauen der Mut oder sie wußten nicht, was sie sagen sollten, oder - was am schlimmsten war - der Herr des Hauses war ins Zimmer gekommen, in dem das Telefon stand. Griselda wartete. »Was kann ich für Sie tun?« wiederholte sie und sagte dann: »Wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Wollen Sie mir nicht sagen, was das Problem ist? Was Sie sagen, wird vertraulich behandelt.« 28 Nach zehn Minuten beharrlichen Wartens legte sie bedauernd auf. »Ich konnte sie atmen hören«, sagte Griselda. »Ich hörte sie seufzen. Jetzt hoffe ich bloß, daß sie wieder anruft. Das macht sie vielleicht, und dann gehst du ran.« »Was du da gesagt hast, bevor der Anruf kam«, sagte Sylvia, »von dem Mann, der die Frau fast umgebracht hat, aber sie will die Familie nicht auseinanderreißen - Neil hat mir nie ein Haar gekrümmt. Und weißt du, hier zu arbeiten und mir das alles anzuhören, von diesen Frauen zu hören, was sie alles durchgemacht haben, hat mir gutgetan. Ich meine, es hat meiner Ehe tatsächlich gutgetan.« »Mach keine Witze.« »Als ich neulich von hier nach Hause gefahren bin, es war natürlich mitten in der Nacht, und ins Bett ging - o ja, wir schlafen in einem Bett, verrückt, nicht? -, und mich neben ihn gelegt habe, er schlief schon, schlief friedlich wie ein Kind, da dachte ich, du warst immer so freundlich zu mir und sanft und geduldig, und ich habe es nie zu schätzen gewußt. Und da - habe ich den Arm um ihn geschlungen und lag neben ihm und umarmte ihn. Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan
»Ist ja gut«, sagte Griselda, »wein doch nicht. Na gut, weine nur, wenn es dir guttut.« Sie legte den Arm um Sylvia, aber nur für einen Augenblick, weil das Telefon schon wieder läutete. Einer Textildesignerin, die in Pomfret lebte und arbeitete, war der gesamte Lagerbestand gestohlen worden. Die Kollektion, bestehend aus Steppmänteln und Westen, Bettdecken und Überwürfen sowie Batikwandbehängen, Kleidern, Tischdecken und Servietten war im Keller untergebracht gewesen, der vor zwei Jahren zu einer Werkstatt umgebaut worden war. Das Kellerfenster war vergittert und die Außentür doppelt abgeschlossen, doch das Fenster des Garderobenraums, eines schrankgroßen Kabuffs mit Toilette und Mini-Waschbecken, stand offen. Wer immer durch dieses Fenster gekommen war, 29
mußte zierlich und gelenkig gewesen sein und hatte offenbar die gesamte Beute durch ebendiese Öffnung hindurch nach draußen geschafft. »Oder hat die Tür von innen entriegelt und aufgeschlossen«, sagte Inspector Bürden, »das Zeug hinausgebracht, ist dann noch einmal hinein, um die Tür zu verriegeln und abzuschließen, und durch das aufgebrochene Fenster geflüchtet.« »Ich würde es nicht schaffen«, meinte Wexford bekümmert. »Nicht einmal, wenn es doppelt so groß wäre.« Er sah Bürden skeptisch an, dessen neuer braungrauer Anzug die schlanke Figur noch betonte. »Und ich möchte mal vermuten, Sie auch nicht, Mike. Haben die dort ein Kind reingeschickt? Eine Art Oliver Twist?« »Wer weiß? Wir haben keine Fingerabdrücke gefunden außer denen der Besitzerin und ihres Lebensgefährten. Sie schätzt den Wert der verschwundenen Sachen auf fünfzigtausend Pfund.« »Ach tatsächlich? Ich dachte immer, diese Kunsthandwerker nagen am Hungertuch. Es heißt doch, die verdienen mit Putzengehen mehr Geld als mit ihrer edlen Stickerei, Keramik, Batik etcetera.« »So hoch hat sie es geschätzt. Das will aber nicht heißen, daß sie es auch dafür verkaufen kann. Übrigens, bevor ich's vergesse, wir hatten noch einen Anruf von einer Mutter, deren Tochter verlorengegangen ist.« Wexford schlug mit beiden Fäusten auf die Schreibtischplatte. »Warum sagen Sie mir das erst jetzt?« Bürden gab keine Antwort. Immer penibel auf seine äußere Erscheinung bedacht, fummelte er an seiner ebenfalls braungrauen, jedoch dezent
dunkelrot und hellblau gemusterten Krawatte herum und sah sich suchend nach einem Spiegel um. Ein winziges Exemplar hatte sonst immer zwischen Tür und Karteikasten an Wexfords gelber Wand gehangen. »Der ist weg«, sagte Wexford ungehalten. »Ich mag keine Spiegel. Ich schaue morgens zum Rasieren hinein, notge 30 drungen, und das reicht mir für den ganzen Tag. Ich bin doch kein Dressman.« »Offensichtlich nicht«, erwiderte Bürden, der inzwischen den besten Blick auf Gesicht und Hals studierte, den ihm die Glasscheibe über Wexfords ChagallDruck bot. »Ich weiß gar nicht, was mit dieser Krawatte los ist, ständig verrutscht sie.« »Meine Güte, dann nehmen Sie sie eben ab. Oder Sie machen es wie ich und tragen zwei Krawatten abwechselnd -montags, mittwochs und freitags die blaue und dienstags und donnerstags die rote, und nächste Woche dann umgekehrt. Und jetzt sagen Sie mir vielleicht endlich, was mit dem vermißten Mädchen los ist.« Bürden nahm Wexford gegenüber am Schreibtisch Platz. »Es ist wahrscheinlich gar nichts mit ihr los, Reg. Wissen Sie, daß in diesem Land mehr als vierzigtausend Teenager als vermißt gelten? Natürlich wissen Sie das. Na, jedenfalls wird die hier nicht vermißt, sie ist kein Kind mehr, sie ist achtzehn und hat sich vermutlich das gleiche geleistet wie Lizzie Cromwell.« »Und das wäre?« »Damit meine ich, sie ist mit einem Knaben abgehauen oder besucht Freunde oder ist ausgestiegen oder sonstwas.« »Was soll das heißen, 'ausgestiegen«?« »Sie studiert irgendwo. Am Wochenende kam sie hierher nach Hause, ging Samstag abend aus und wurde seither nicht mehr gesehen.« »Früher«, sagte Wexford, »hat die Universität ihren Studienanfängern untersagt, am Wochenende nach Hause oder sonstwohin zu fahren. Schade, daß sie das aufgegeben haben. Ich nehme an, ihre Mutter weiß, daß sie nicht einfach wieder an die Uni zurückgefahren ist - gab es vielleicht einen Streit in der Familie?« »Sie behauptet nein. Das Mädchen ist auch nicht zurückgefahren. Barry hat sich in ihrem Wohnheim und bei der Tutorin erkundigt.« »Wie heißt sie, und wo wohnt sie?« 30
»Sie heißt Rachel Holmes und wohnt in der Oval Road in Stowerton. Die Mutter, Mrs. Rosemary Holmes, ist geschieden und wohnt allein, wenn das Mädchen nicht da ist. Sie ist Sprechstundenhilfe bei Dr. Akande.« Sich von seinem Spiegelbild losreißend, einem geisterhaften Gesicht, das sich hinter Chagalls fliegendem Liebespaar schwach abzeichnete, begann Bürden seine Ausführungen. Rachel war am Samstag abend etwa um acht aus dem Haus gegangen, um sich mit ein paar Freunden in einem Pub zu treffen. Ihre Mutter wußte weder in welchem Pub, noch wohin Rachel danach gegangen war, vermutlich in eine Diskothek oder zu einer Freundin nach Hause. Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie vor zwei oder drei Uhr morgens zurück sein würde. »Als sie jünger war«, hatte Mrs. Holmes zu Sergeant Barry Vine gesagt, »habe ich ihr ein Handy mitgegeben, und sie hat mich angerufen und gesagt, wo sie gerade war. Das geht aber nicht mehr, wenn sie über achtzehn sind, nicht wahr? Schließlich ist sie jetzt Studentin. Was sie dort macht, weiß ich nicht, weiß nicht, wann sie dort abends nach Hause kommt. Was soll ich mir also hier Sorgen machen, wenn sie spät dran ist? Ich mache mir aber natürlich trotzdem Sorgen. Samstag nacht habe ich kein Auge zugetan.« »Sie hat uns also heute angerufen, richtig?« fragte Wexford. »Rief an und kam vorbei, um eine Vermißtenmeldung aufzugeben.« »Wieso hat sie so lange gewartet?« »Keine Ahnung. Vine hatte den Eindruck, das Mädchen ist eine von diesen aufsässigen Teenagern, die ihrer Mutter aufs Dach steigen würde, wenn sie sie als vermißt meldet, während sie bloß irgendwo ist und sich einen flotten Lenz macht.« Wexford saß einen Augenblick schweigend da. Er wollte auf keinen Fall zulassen, daß ein einzelner, nicht besonders wichtiger Fall zwanghaft wurde, überhandnahm und ihn gedanklich vereinnahmte. Doch war ihm auch bewußt, daß man 31
seinen Charakter nur schwer ändern kann, besonders in seinem Alter. So war er nun einmal, und der Versuch, eine Veränderung herbeizuführen, würde seiner Persönlichkeit möglicherweise völlig grundlos Zwang antun. »Sie haben doch nicht etwa vor, Mrs. Holmes einen Besuch abzustatten?« fragte Bürden fast spöttisch. »Barry hat die Sache im Griff.« »Ich habe vor, noch einmal bei den Crownes und Lizzie Cromwell vorbeizuschauen.« Wexford stand auf. »Wäre doch höchst interessant, wenn sie die Holmes' oder die beiden Mädchen einander kennen.«
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»Nein, die kennen wir nicht.« Debbie Crowne spuckte die Worte geradezu aus. »Die ist doch viel zu fein für uns, oder? Solche wie die wollen mit unsereins nichts zu tun haben.« Da Rachel Holmes und ihre Mutter in einem Reihenhaus in einer Nebenstraße wohnten, in einem bescheidenen Häuschen, das um einiges kleiner war als das, in dem er sich gerade befand, wunderte sich Wexford über die feine Unterscheidung, die Mrs. Crowne machte. Gleichzeitig wußte er, daß er nicht ganz ehrlich zu sich war. Es gab einen Unterschied. Rosemary Holmes war Eigentümerin ihres Hauses und übte eine Bürotätigkeit aus, Rachel ging auf die Universität. Falls sie früher zur Arbeiterschicht gehört hatte, war Mrs. Holmes inzwischen um einige Stufen höher gestiegen, während die Crownes immer noch da waren, wo sie angefangen hatten. Irgendwie mochte er diese Abstufungen nicht, wußte jedoch, daß sie eine feste Tatsache waren und nicht etwa kulturspezifisch oder - wie manche behaupteten - auf dieses Land beschränkt. »Ist Lizzie mit Rachel auf dieselbe Schule gegangen?« Kaum hatte er es gesagt, war ihm klar, daß er sich damit gewaltig vertan hatte. Lizzie warf ihm einen ihrer finsteren Blicke zu, mit hängendem Kopf, aber nervös nach oben spähenden Kaninchenaugen. Ein Ausdruck, den man normalerweise bei Kindern sah, die halb so alt waren wie sie. Ihre Mutter sagte: »Sie sagten doch, sie sind zwei Jahre auseinander. Für jemanden in ihrem Alter sind das Jahrhunderte.« »Aber Lizzie geht doch auf die Gesamtschule in Kingsmarkham«, insistierte er, »wie Rachel früher auch?« »Und noch ein paar tausend andere dazu. Außerdem ist sie 32
im Förderzweig für Lernschwache.« Debbie Crowne beäugte ihn mit dem gleichen Ausdruck wie ihre Tochter. »Das ist so ziemlich das unterste Ende.« Trotzdem mußten die beiden über mehrere Jahre hinweg an der gleichen Schule gewesen sein, vielleicht sogar über vier Jahre. War das die Verbindung? Bevor das Gespräch fortgesetzt wurde, kam Colin Crowne ins Zimmer. Wexford betrachtete ihn prüfend, während Mrs. Crowne über Lizzie sprach, ihre Befürchtungen bezüglich dessen wiederholte, was Lizzie während ihrer Abwesenheit zugestoßen sein mochte, und in verdrossenem Ton die Möglichkeit abstritt, Lizzie könnte schwanger sein. Dabei sah sie immer wieder zu ihrem Mann hinüber.
Die meisten Leute hätten Colin Crowne als gutaussehend bezeichnet. Er war groß und schlank, dunkelhaarig und dunkeläugig, mit straffen, scharfgeschnittenen Zügen. Doch die Länge seiner Haare und der Bart, vielleicht nur das Resultat einer Woche Nichtrasieren, sowie das dreifache Ohrring-Arrangement ließen ihn etwas finster aussehen. Die blasse Erscheinung seiner Frau, ihr verkniffenes Gesicht und das spröde, wirre Haar standen in einem fast grotesken Gegensatz zu dem jugendlich-sinnlichen Eindruck, den er bot. Wexford erinnerte sich wieder an ihren Auftritt im Fernsehen, wo Crowne einen redegewandten Appell um Lizzies Rückkehr durchgegeben hatte, dabei unverwandt in die Kamera gestarrt und seine Worte deutlich und scheinbar echt bewegt ausgesprochen hatte, während seine Frau danebensaß, sich auf die Lippen biß und nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte. Wenn es auch nicht stimmte, wie die Anruferin behauptet hatte, daß diejenigen, die im Fernsehen um die Rückkehr eines vermißten Kindes flehen, oft selbst am Tod dieses Kindes schuldig sind, so lag wohl doch ein Körnchen Wahrheit darin. Es hatte bereits Fälle gegeben, in denen Eltern, die später des Kindesmordes für schuldig befunden wurden, die Zuschauer mit ihren Gefühlsausbrüchen über das Verschwinden 33 dieses Kindes zu Tränen gerührt hatten. Ein derartiges Verhalten war auch nicht unbedingt scheinheilig, denn diese Leute verspürten tatsächlich Kummer, echte Emotionen und manchmal auch bittere Reue. Denn was sollte mehr weh tun und mehr Reue hervorrufen als eine Mordtat? Doch Lizzie war nicht tot, Lizzie war zurückgekommen. Wexford hatte absolut keinen Grund, Crowne die Schuld an ihrer dreitägigen Abwesenheit zuzuschieben oder ihn für irgend etwas in diesem Zusammenhang verantwortlich zu machen. Nachdem er kurz mit sich zu Rate gegangen war, beschloß er, Lizzie auf das verfallene Haus in Myringham anzusprechen. Selbst wenn sie es Lynn Fancourt im Vertrauen gesagt haben sollte, hatte sie nicht um Verschwiegenheit gebeten. Im übrigen war sie wohl nie dort gewesen. Einem Mädchen wie ihr konnte man wegen einer Lüge vielleicht keinen Vorwurf machen, doch gelogen hatte sie. Sanft wandte er sich an sie. »Lizzie, du warst gar nicht in dem Haus dort neben der Bushaltestelle, stimmt's? Du hast« - er suchte nach einem Ausdruck, den sie verstehen konnte -»der Polizistin gesagt, daß du drei Tage in dem Haus gewesen bist und dich in Decken eingewickelt hast, ja? Du hast ihr ge-
sagt, du hättest Wasser aus der Leitung getrunken, aber das hat nicht gestimmt, oder?« An der Art, wie Colin und Debbie Crowne reagierten, besser gesagt, nicht reagierten, sah er, daß ihnen die gleiche Geschichte aufgetischt worden war. Wahrscheinlich hatte Lizzie ihr Lügenmärchen nicht deswegen für sich behalten, weil sie Angst hatte, es ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zu erzählen, sondern weil sie es sich erst ausgedacht hatte, kurz bevor sie es Lynn offenbarte. Vermutlich hatte sie vor Debbie Crowne die ganze Geschichte noch einmal zum besten gegeben, nachdem er und Lynn gegangen waren. Und nun rief sie mit der allzu vehementen Entrüstung einer Lügnerin: »Doch, es hat gestimmt! Ich war wirklich dort!« »Aus den Leitungen kam kein Wasser, Lizzie. Es war dort auch sehr kalt. Eine Decke war zwar da, aber die war feucht.« 34 »Ich war aber dort!« Crowne sagte gereizt: »Na bitte, da haben Sie Ihre Antwort. Was wollen Sie denn noch?« Eine ganze Menge. Aber es wäre nutzlos und vielleicht sinnlos, weiter darauf zu bestehen. Und doch war sich Wexford plötzlich sicher, daß sie tatsächlich in dem Haus gewesen war, zwar bestimmt nicht drei Tage und Nächte, doch sie war dringewesen, sie kannte es. Sie hatte die Decke gesehen und zumindest versucht, Wasser aus der Leitung zu bekommen. War Rachel ebenfalls dort gewesen? Bürden hatte angedeutet, es sei eigentlich nicht nötig, daß Wexford in die Oval Road nach Stowerton fuhr. Hier handele es sich um einen völlig anderen Fall von Vermißtenmeldung als bei Lizzie Cromwell, da Rachel älter war, die meiste Zeit nicht zu Hause lebte und eine intelligente junge Frau war, die ihr eigenes Leben durchaus selbständig meisterte. Doch bisher hatten alle Nachforschungen nichts ergeben. Sie hatte sich bei keinem Verwandten gemeldet, und anscheinend war sie auch nicht bei Freunden untergekrochen. Ein nochmaliger Anruf bei der University of Essex ergab lediglich, daß sie zu der Vorlesung, an der sie morgens um zehn hätte teilnehmen sollen, nicht erschienen war. Inzwischen kristallisierte sich aber ein anderes Bild heraus. Rachel hatte offenbar nie die Absicht gehabt, direkt zum Pub zu fahren, sondern hatte vorher noch bei einer Freundin in Framhurst vorbeischauen wollen. Weil die Buslinie zwischen Framhurst und Stowerton eingestellt worden war, als man mit den Arbeiten an der Umgehungsstraße begonnen
hatte, war mit Caroline Strangs Mutter vereinbart worden, daß diese sie auf ihrem Nachhauseweg von der Arbeit um acht an der Kingsmarkham Road, fünf Minuten von der Oval Road entfernt, abholen würde, mit ihr Caroline in Framhurst einsammeln und die beiden Mädchen dann zum Rat & Carrot fahren würde. Vine hatte mit Mrs. Strang gesprochen und erfahren, daß sie wegen eines Verkehrsstaus ein paar Minuten nach acht am 35 Treffpunkt angekommen war, wo sie geparkt und gewartet hatte. »Immer kommen sie zu allem zu spät, diese Mädchen. Ich weiß Bescheid, ich habe selbst zwei, und ich dachte mir, ich bin lange vor Rachel dort, obwohl ich spät dran war.« Sie hatte zehn Minuten gewartet und war dann weggefahren. »Ich wäre ja zu ihr nach Hause gefahren, aber ich wußte nicht, wo sie wohnt. Die Telefonnummer habe ich, aber nicht die Adresse.« Caroline Strang vermutete, Rachel habe sich vertan und sei direkt ins Rat & Carrot gefahren. Trotzdem rief sie bei ihr zu Hause an, bevor sie loszog, bekam aber keine Antwort. Sie nahm natürlich an, daß niemand an den Apparat ging, weil Rachel auf dem Weg ins Pub und ihre Mutter aus war. Vine sprach mit den anderen drei jungen Leuten, mit denen Caroline und Rachel an jenem Abend verabredet waren. Sie sei eben nicht gekommen, sagten alle, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Sie nahmen an, Rachel habe es sich eben anders überlegt. Vine schloß daraus, daß sie tatsächlich sehr lässig umgingen mit Dingen wie Vergeßlichkeit, Unentschlossenheit oder einem Anruf, um Bescheid zu geben oder sich zu entschuldigen, wenn sich für den Abend etwas Besseres ergeben hatte. Da noch die Möglichkeit bestand, daß Rachel mit dem Bus nach Kingsmarkham gefahren war, hatte Vine mit den Busfahrern gesprochen. In den Bussen der Linie Stowerton-Kingsmarkham-Pomfret gab es keine Schaffner, dort nahmen die Fahrer das Geld in Empfang und stellten die Fahrkarten aus. Vine zeigte den Fahrern des Acht-Uhr-Zehn- und des AchtUhr-Zweiunddreißig-Busses Rachels Foto. Keiner konnte sich an sie erinnern, doch der eine sagte, er würde sich bestimmt nicht an sie erinnern, und der andere meinte, er könne sich Gesichter so schlecht merken. Dies ließ Wexford zu der Überzeugung gelangen, daß Rachel gar nicht im Bus gesessen hatte, denn sie wäre jedem Mann aufgefallen - ein außergewöhnlich attraktives 35 Mädchen mit üppigem dunklen Haar, großen schwarzen Augen und sinnlichen Zügen, vollen Lippen, einem runden Kinn und hoher, glatter Stirn,
die sie von ihrer gutaussehenden Mutter geerbt zu haben schien. Rosemary Holmes sah aus wie vierzig oder jedenfalls kaum älter. Wexford konnte sich vorstellen, daß sie oft Komplimente von Leuten bekam, die sie und ihre Tochter für Schwestern hielten. Ihr dunkles Haar war geflochten und im Nacken zum Kranz gesteckt, eine altmodische Frisur, die gut zu ihrem ovalen Gesicht paßte. Sie war sehr schlank und hatte lange, wohlgeformte Beine. Dr. Akande hielt seine Sprechstundenhilfe offensichtlich gut versteckt, dachte Wexford, denn diese Frau wäre ihm sicher aufgefallen, wenn er sie im Gesundheitszentrum gesehen hätte. In Gedanken hatte er das Crownsche Heim mit diesem hier verglichen: Ersteres war zwar recht sauber, verriet jedoch, daß sich seine Bewohner nicht sonderlich für ihre Umgebung interessierten. Rosemary Holmes' Haus dagegen war geschmackvoll, wenn auch nicht teuer eingerichtet. Sorgfältig gepflegte Zimmerpflanzen wuchsen grün und üppig in Trögen auf beiden Fensterbrettern im Wohnzimmer, auf dem Tisch stand eine große, bauchige Vase mit orangefarbenen Tulpen, und an einer Wand waren vom Boden bis zur Decke maßgefertigte Bücherregale angebracht. Die britische Landbevölkerung mochte immer noch klassenbewußt sein, doch ihrem Elitedenken und ihrem Minderwertigkeitsgefühl lag eine etwas verquere Logik zugrunde. Obwohl er wußte, daß es falsch war, konnte Wexford nicht umhin, die beiden Fälle gedanklich miteinander zu verknüpfen und sich nun einzureden, weil Lizzie nach drei Tagen und drei Nächten zurückgekommen war, würde Rachel ebenfalls zurückkommen, und zwar nach dem gleichen Zeitraum, also morgen nachmittag, Dienstag nachmittag. Er konnte Mrs. Holmes' Befürchtungen daher nicht teilen, und als sie in diesem Augenblick sagte: »Ich muß immer denken, ich sehe sie nie wieder«, fühlte er sich seltsamerweise wie im Besitz höheren Wissens, geheimer Informationen, und fände es grausam, ihr 36
diese nicht zu offenbaren. Doch so war es natürlich nicht, er wußte nichts. Es gab keinen Grund, das Verschwinden des einen Mädchens mit dem eines anderen in Verbindung zu bringen. Ihr zu sagen, alles würde gut, sie solle sich nur keine Sorgen machen, wäre rücksichtslos, herzlos, denn wer kann schon von sich behaupten, er hätte öfter recht als unrecht? »Haben Sie vor«, fragte sie ihn, »nach ihr - zu suchen? Ich meine, wie sie es manchmal im Fernsehen zeigen - so in einer Reihe - mit Stöcken? Wo sie so äh, auf die Erde schlagen?« Sie rang die Hände. Wexford verstand sehr wohl,
worauf sie hinauswollte: Das täten sie nur, wenn Grund zu der Annahme bestand, daß ihre Tochter tot war. Karen Malahyde ersparte ihm die Antwort. »Dazu ist es noch zu früh, Mrs. Holmes. Warten wir noch eine Weile ab. Rachel wird ja erst seit Samstag abend vermißt, das sind noch keine achtundvierzig Stunden.« Nach einem etwaigen Freund hatten sie sich schon erkundigt. Vine hatte danach gefragt, und nun tat Karen es ebenfalls. »Sie sagten, sie hätte im Moment keinen Freund, aber was war früher, als sie noch hier bei Ihnen wohnte und zur Schule ging?« Rosemary Holmes nannte zwei Namen, die sie anderen Polizeibeamten gegenüber bereits erwähnt habe. Falls sie ungehalten war, es wiederholen zu müssen, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie wollte unbedingt helfen und hätte klaglos alles getan, um dazu beitragen zu können, daß ihre Tochter gefunden wurde. »Und Sie, Mrs. Holmes?« Karen stellte die Frage sehr vorsichtig. »Haben Sie auch eine Beziehung?« »Ich habe einen Freund, ja. Aber Sie glauben doch wohl nicht... ?« »Im Augenblick glauben wir eigentlich überhaupt nichts«, sagte Wexford und überlegte, daß nichts weiter entfernt von der Wahrheit sein könnte als dies. »Wir stellen Fragen und werten die erhaltenen Informationen aus. Beim gegenwärtigen Stand der Ermittlungen können wir die Namen und 37 Adressen von allen Ihren Freunden und denen Ihrer Tochter gut gebrauchen, Mrs. Holmes.« Sie nannte ihnen einen Arzt mit Praxis in Flagford, mit dem sie jetzt seit etwa einem Jahr eine Beziehung habe. Sie verbrächten manchmal gemeinsam das Wochenende. Rachel, sagte sie in einem Ausbruch von Offenheit, könne ihn nicht leiden, allerdings habe sie bisher keinen der Freunde ihrer Mutter leiden können. So hoch war der gesellschaftliche Stellenwert eines Arztes, daß Wexford Dr. Michael Devonshire sofort über jeden Verdacht stellte, ihn nach rascher Selbstermahnung aber dann wieder mit einbezog. Auch ein Mann der Medizin war ein Mann, und man konnte schließlich nie wissen. »Sie gingen Samstag abend ebenfalls aus, Mrs. Holmes?« Sie errötete leicht. »Äh, ja. Darf ich fragen, woher Sie das wissen?« »Als Caroline Strang etwa fünf vor halb neun hier anrief, waren Sie nicht da.« »Michael und ich waren zum Essen gegangen. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich habe solche Schuldgefühle, weil ich unterwegs war, als - als mit Rachel weiß Gott was geschah.«
»Wußten Sie von der Vereinbarung mit Mrs. Strang?« Rosemary Holmes erwiderte etwas verlegen: »Ich wußte, daß jemand sie an der Kingsmarkham Road abholen sollte. Sie hat es mir gesagt. Ich dachte, es wäre ein - äh, einer von den Jungs, mit denen sie verabredet war.« Plötzlich brach es aus ihr heraus: »Man kann die jungen Leute doch nicht davon abhalten, oder? Man kann sie ja nicht die ganze Zeit beaufsichtigen.« Und wieder gab sie sich eine Blöße. »Wahrscheinlich ist es ja nicht wichtig, ich will nur sagen, wir haben durchaus unsere Probleme, Rachel und ich. Sie ist ein wunderbares Mädchen, wirklich ein feiner Mensch, und ich verstehe mich bestens mit ihr, aber sie sich nicht so gut mit mir. Das ist bei Leuten in ihrem Alter aber doch ganz normal, oder?« »Ganz normal, Mrs. Holmes«, sagte Karen. Als sie wieder im Wagen saßen, meinte Wexford, sie solle mit Michael Devonshire sprechen, vielleicht erwischte sie 38
ihn noch vor seiner Abendsprechstunde. »Obwohl er offenbar ein Alibi mit Rachels Mutter hat. Meinen Sie, es lohnt sich, daß wir uns das Haus in Myringham noch mal ansehen?« »Aber Rachel war doch gar nicht in Myringham, Sir.« Karen klang überrascht. »Soviel wir wissen.« »Es ist bestimmt bloß Zufall, daß Lizzie Cromwell am vorletzten Samstag als vermißt gemeldet wurde und Rachel Holmes letzten Samstag spurlos verschwand.« »Wir mögen aber keine Zufälle, richtig? Wir wissen, wenn Ereignisse aufeinander oder einem bestimmten Muster folgen, dann besteht zwischen diesen Ereignissen meist ein Zusammenhang.« Karen wirkte skeptisch. Recht hat sie, dachte Wexford, recht hat sie. Er mußte es sich aus dem Kopf schlagen, das Verschwinden der beiden Mädchen miteinander zu verknüpfen. Es hatte keinen Sinn, noch einmal zu dem verfallenen Haus zu fahren, und ebensowenig gab es eine konkrete Verbindung zwischen den Mädchen - außer der Tatsache, daß sie auf dieselbe Schule gegangen waren. Außer daß sie beide jung, hübsch, ungebunden und weiblich waren. Außer daß sie an zwei aufeinanderfolgenden Samstagen verschwunden waren... Schluß jetzt, schalt er sich, doch als er Bürden nach der Arbeit traf, schlug er für ihr feierabendliches Bier, auf das sie zweimal die Woche gingen, wenn sie es zeitlich einrichten konnten, das Rat &. Carrot vor statt des Olive and Dove.
Bürden musterte ihn argwöhnisch. »Sie ist dort aber doch nie angekommen, Rachel Holmes, meine ich. Was immer mit ihr passiert ist, hat sich in Stowerton zugetragen. Als sie auf den Bus wartete.« »Wie Lizzie Cromwell«, sagte Wexford. »Sie haben keinen Grund, die beiden miteinander in Verbindung zu bringen, absolut keinen. Wir wissen, daß Rachel nicht auf den Bus hätte warten sollen, sondern darauf, daß sie abgeholt wurde. Aber die sind ja so verschlafen, diese jungen Dinger, vergeßlich wie alte Leute. Also, wenn Lizzie Crom 39
well tot aufgefunden worden wäre und Rachel Holmes danach erst verschwunden wäre, hätte ich gesagt, Sie haben recht. Nein, das ist nur wieder mal eine von Ihren fixen Ideen. Ich dachte, das hätten Sie aufgegeben, aber Sie sind genauso schlimm wie früher.« »Kann ein Leopard aus seinem gefleckten Fell?« kam Wexfords rhetorische Frage, »oder ein Äthiopier aus seiner schwarzen Haut?« »Wenn ich das gesagt hätte, hätten Sie mich einen Rassisten genannt.« Die erste Bushaltestelle in der Nähe des Kingsbrook Valley Drive lag am östlichen Ende der High Street. Von dort waren es zu Fuß etwa zehn Minuten bis zum Rat & Carrot, einem überladenen viktorianischen Bau an der Kreuzung zwischen Kingsbrook Valley Drive und Savesbury Road. Es war zwar überwiegend eine Wohngegend, doch gab es neben dem Pub noch zwei Läden: einen kleinen Supermarkt und ein Schmuckgeschäft. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Apotheke. Inzwischen hatten alle geschlossen, und der Juwelier hatte die wertvollen Sachen aus dem Schaufenster genommen und den Metallrolladen heruntergezogen. Es war ein Viertel mit bunt zusammengewürfelten Häusern: Bungalows aus den dreißiger Jahren standen neben schon fast hochherrschaftlichen Villen, Wohnblocks aus den Siebzigern wechselten mit düsteren Bauten aus dem späten neunzehnten Jahrhundert ab. Das Rat &. Carrot war die örtliche Stammkneipe. Vor nicht allzulanger Zeit hatte das Pub noch Duke of Albany geheißen, doch da der Name von den tonangebenden Kräften für altmodisch und bedeutungslos befunden wurde, hatte es diesen neuen Namen bekommen. Diejenigen, die es umtauften, fanden ihn amüsant. Leider verpaßten ihm die Einheimischen schon nach einem halben Jahr den Spitznamen Rotten Carrot, was soviel wie »Zur vergammelten Karotte« heißt, und der blieb an ihm hängen. Offensichtlich war man bemüht, den Gästen alles zu bieten, 39
was man sich von einem Pub nur wünschen konnte, sowie darüber hinaus eine ganze Menge Extras, auf die wohl kein Mensch gekommen wäre. »Richtige« Mahlzeiten wurden im Restaurant sowie in der Bar serviert, Imbiß und Sandwiches waren den ganzen Tag über zu haben, und außerdem veranstaltete das Pub eine eigene Lotterie und verteilte Rubbellose als Preis an diejenigen, die errieten, wie viele Pints pro Tag ausgeschenkt wurden oder wieviel Geld für wohltätige Zwecke seit Weihnachten in der Bar gesammelt worden war. Dienstag und Donnerstag abends traf sich der Ratten-HardRock-Club. Kinder waren gern gesehene Gäste im Rattenkönig-Kinderzimmer, wo Orangensaft und Coke verkauft wurden, oder bei schönem Wetter draußen auf dem Spielplatz, der mit einem riesigen lila Dinosaurier, einem gigantischen Yogi-Bär, zwei Klettergerüsten und einer großen Comicfigur ausgestattet war, in deren Bauch Tischchen und Stühlchen angeordnet waren. Wie Wexford treffend bemerkte, konnte man es niemandem verübeln, wenn einem dabei völlig entging, daß der Hauptzweck einer Schankwirtschaft der Verkauf alkoholischer Getränke war. Er trat mit Bürden durch den Haupteingang unter einem Schild hindurch, auf dem die Gäste informiert wurden, daß der Wirt ein gewisser Andy Honeyman war. Zwischen Tafeln, auf denen abwechselnd für Riesenfrühstück, Volkstanzgruppen und einen Talentwettbewerb (Wer wird das nächste Spiee Girl?) geworben wurde, bahnten sich die beiden einen Weg hinein. »Hier in der Gegend möchte ich nicht wohnen«, sagte Bürden verdrossen. »Die Sommerabende müssen ja ein Alptraum sein.« »Ach, herrje«, erwiderte Wexford, während er ihre Getränke an einen Tisch trug, »mitten wir im Leben sind mit Karaok' umfangen. Das könnte Ihnen übrigens auch passieren. Das Pub an Ihrer Straße ist doch frei verpachtet. Lassen Sie bloß einen neuen Wirt kommen, und schon haben Sie aus Ihrem Wohnzimmerfenster freie Sicht auf Comicfiguren und Spiee Girls in spe, die die halbe Nacht herum trällern.«
40 Mit dem Glas in der Hand besah sich Bürden eingehend die Örtlichkeit und tat, als hätte er nichts gehört. Der Schankraum war höchst farbenfroh dekoriert. An den Wänden wechselte rot-goldene Velourtapete mit imitierter Faltwerktäfelung ab, es gab eine Reihe von Bildern mit rehäugigen Mädchen, herumtollenden Kätzchen, versonnen dreinblickenden Hunden und Bergpanoramen, und die Bestuhlung war in Schwarz und Gold gestrichen und mit blaßgelbem Polsterstoff bezogen. Das Mädchen, das herumging und
die bereits blitzsauberen Tische abwischte, trug hautenge knallrote Leggings und Ohrringe, die ihr bis aufs Schlüsselbein herunterhingen. Außer ihr und den beiden Polizeibeamten war nur noch ein bärtiger, etwa vierzigjähriger Mann im Schankraum, den sie mit Andy anredete und der auf einem Barhocker hinter dem Tresen saß und Spotting Life las. Bürden schüttelte bedächtig den Kopf, als fragte er sich, wie weit es mit der Welt schon gekommen war. »Rachel Holmes«, sagte er. »Unbegreiflich! Was hat ein Mädchen wie sie in so einer Spelunke verloren?« »Diese Frage stellen ihr wohl eine Menge Männer«, meinte Wexford ernsthaft. »Was? Ach so, ich verstehe. Richtig. Aber ehrlich, ein attraktives Mädchen aus gutem Hause, das auf die Universität geht - was sieht sie hier drin eigentlich?« »Ihre Freunde, nehme ich an. Na, nichts hat sie gesehen, weil sie gar nicht hier war. Aha, da kommt noch Kundschaft. Sehr schön. Ich muß sagen, ich sitze nicht gern allein im Pub, und Sie?« Zwei Männer waren hereingekommen, dicht gefolgt von einem Mann und einer Frau. »Um ehrlich zu sein, mir ist es lieber«, sagte Bürden. »Ich mag es gern ein bißchen stiller.« Wexford grinste, denn mit der Antwort hatte er schon gerechnet. »Da fällt mir gerade etwas ein. Mrs. Strang hatte, sich verspätet, sie kam erst ein paar Minuten nach acht zu dem vereinbarten Treffpunkt - vor dem Flag, stimmt's? -, sagen wir, frühestens um fünf nach acht. Angenommen, Rachel hatte 41 sich nicht verspätet, sondern traf Punkt acht oder sogar ein paar Minuten vor acht dort ein. Und jemand anders kam angefahren, bot ihr an, sie mitzunehmen, und sie willigte ein.« »Wieso denn? Sie wartete doch auf Mrs. Strang.« »Stimmt. Aber mir ist da etwas eingefallen...« Er unterbrach sich und rutschte etwas zurück, um eine Gruppe Frauen durchzulassen, die das Rat &. Carrot gerade durch die Schwingtüren betreten hatten. Sie waren zu viert, zwei junge und zwei im mittleren Alter, und Wexford fiel sofort auf, wie vorsichtig und ängstlich sich fast alle vier verhielten. Diejenige, die in Richtung Tresen vorausgegangen war, eine dünne, ziemlich attraktive junge Frau in Jeans und abgetragenem Pulli, deren langes Haar hinten mit einem Chiffontuch zusammengebunden war, trug eine entschlossene Miene zur Schau, als hätte sie vor dem Hereinkommen die Zähne zusammengebissen und sich geschworen, ihr Vorhaben um jeden Preis durchzuführen. Ihren ganzen Mut zusammengekratzt, dachte er.
Die anderen folgten ihr und stellten sich nebeneinander an die Theke. Die Schwarzhaarige räusperte sich, was jedoch keine Wirkung auf Honeyman hatte, der den Blick auf sein Sporting Life geheftet hielt. Es folgte eine kurze Stille, dann - Wexford hörte, wie sie den Atem einzog sagte sie in einer Tonlage, die vermutlich höher lag als ihre normale Stimme: »Wir würden gern etwas trinken. Bitte zwei Gläser Weißwein und zwei Lager and Lime.« Der Wirt klappte vernehmlich seine Zeitung zu und hob den Kopf. »Sie sind von dem Haus da oben, stimmt's?« Sie trat näher an die Theke. »Was?« »Na, von dem Haus mit den Frauen, die ihren Männern abgehauen sind. Von da kommen Sie doch.« Eine der Älteren sagte wacker: »Das ist ja eine komische Formulierung. Na, und wenn schon, was ist dabei?« »Das werd' ich Ihnen sagen, was dabei ist. Ich bedien' Sie nicht, das ist dabei.«
42 Die Schwarzhaarige war ganz blaß geworden. Wexford glaubte ihre Hand auf dem Tresen zittern zu sehen. »Das können Sie nicht machen«, sagte sie. »Aus welchem Grund denn?« »Da brauch' ich keinen Grund. Fragen Sie jeden, ob ich nicht das Recht habe, mich zu weigern, wenn ich jemanden nicht bedienen will.« »Das hat er allerdings«, murmelte Bürden. Wexford nickte. Er bezweifelte, daß die Frauen sich auf eine Auseinandersetzung einlassen würden, und er behielt recht. Sie sagten nichts mehr, sondern wandten sich um und gingen auf den Ausgang zu. »Gehen Sie lieber auf die High Street, wo Sie niemand kennt«, rief ihnen der Wirt nach. »Da werden Sie bedient, bis man rauskriegt, wo Sie herkommen.« Die Schwarzhaarige drehte sich um und rief durchdringend: »Scheißkerl!« »Sehr charmant«, sagte Honeyman, als die Tür hinter ihnen zuschwang. »Haben die Herren das gehört? Sehr damenhaft, finden Sie nicht?« Wexford stand auf und trat an den Tresen, und nachdem er noch zwei Krüge Bier bestellt hatte, gab er sich als Polizeibeamter zu erkennen und zeigte seinen Dienstausweis. Honeyman sagte etwas zu eilfertig: »Ich war doch im Recht, oder? Ich brauche keinen Grund, wenn ich jemanden nicht bedienen will.« »Sie waren im Recht, aber Sie müssen doch einen Grund gehabt haben, und ich frage mich schon die ganze Zeit, welchen.« Der Wirt schenkte die zwei Bierkrüge nach. »Die gehen aufs Haus.«
»Nein, das tun sie nicht, trotzdem danke.« Wexford zog einen Fünfpfundschein hervor und legte ihn bedächtig hin. »Wir sind hier, um Sie nach dem vermißten Mädchen zu fragen, Rachel Holmes, aber erzählen Sie mir doch zuerst mal das mit den Frauen, ja?« »Die wohnen in einem Haus am Kingsbrook Valley Drive, 43
gleich da oben an der Ecke.« Honeymans ganze Haltung hatte sich verändert, war verbindlich und schmeichlerisch geworden. Sogar seine Stimme war anders, hatte den breiten südenglischen Zungenschlag abgelegt und einen etwas gespreizten Ton angenommen. »Geschlagene Frauen sind das, wenn Sie wissen, was ich meine. Behaupten sie jedenfalls. In Wirklichkeit haben ihre Männern ihnen höchstens ein bißchen auf die Finger geklopft, wenn sie aufmüpfig waren.« »Aha, verstehe. Und wieso sind Sie auf sie sauer?« »Das will ich Ihnen sagen. Vor paar Wochen waren zwei von denen hier, und da kommt so ein armer Kerl rein und greift sich die eine und bittet sie heimzukommen. Die hat ihn mit den Kindern sitzenlassen, also, ich bitte Sie. Natürlich spurt die nicht, kann man sich ja denken, oder? Hat sie wahrscheinlich noch nie. Also wehrt sie sich und stößt ihn weg, und er fängt an, sie zu vertrimmen, war ja praktisch dazu gezwungen, und wie sich die andere einmischt und ihn mit den Fäusten traktiert, mußte ich dazwischen gehen. Raus mit euch, hab' ich gesagt - hätten Sie doch auch, oder? -, alle miteinander, und laßt euch hier nicht wieder blicken. Eigentlich tat's mir leid, ihn auch rauszuschmeißen, er schien ein recht ordentlicher Kerl. Wissen Sie was? Na ja, natürlich wissen Sie's. Wenn früher die Leute geheiratet haben, mußte die Frau versprechen, daß sie ihm gehorcht. Ein Jammer, daß man das geändert hat, wenn Sie mich fragen.« »Ich glaube nicht, daß ich Sie gefragt habe, Mr. Honeyman«, sagte Wexford unverblümt. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, Sie in irgendeiner Sache um Rat fragen zu wollen.« Er sah Honeyman blinzeln und unmerklich zusammenschrecken. »Aber Sie sollten sich einen guten Rat geben lassen: Nächstes Mal verständigen Sie uns, wenn ein recht ordentlicher Kerl in Ihrem Lokal eine Frau vertrimmt. Und jetzt möchten Sie mir vielleicht sagen, ob dieses Mädchen Ihres Wissens je hier war.« Honeymans Gesicht war tiefrot angelaufen. Er war vermutlich froh, etwas ansehen zu können, was ihn ablenkte. Er 43
starrte auf das Foto, das ihm Wexford hinhielt, und brummte dann: »Keine Ahnung, ich kann mich nicht erinnern.« Bürden, der ebenfalls an die Theke getreten war, sagte: »Soll das heißen, Sie haben sie hier Samstag abends nie mit ihren Freunden gesehen? Sieht gut aus, nicht wahr? Nicht gerade ein Gesicht, das man leicht vergißt.« »Kann sein, daß ich sie gesehen habe.« Die breite Aussprache und der schmollende Ton waren zurückgekehrt. »Vielleicht so vor zwei, drei Monaten. Sie war mit ein paar anderen Jugendlichen da - na ja, ich meine nicht direkt Jugendliche«, fügte er rasch hinzu, als ihm einfiel, was das Gesetz über den Ausschank von Alkohol an Minderjährige vorschrieb. »Die waren alle über achtzehn - und haben auch alle was Warmes gegessen.« »Aber diesen Samstag abend haben Sie sie nicht gesehen?« »Definitiv nicht.« Honeyman schüttelte den Kopf, um seiner Verneinung heftigen Ernst zu verleihen. »Sylvia arbeitet dort«, sagte Wexford, als er mit Bürden wieder draußen war und sie sich The Hide näherten. »Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das schon erzählt habe. Unter anderem macht sie Telefondienst beim Notruf. Haben Sie schon einmal eine Frau geschlagen?« »Selbstverständlich nicht«, erwiderte Bürden schockiert. »Was für eine Frage!« »Ach, ich weiß nicht. Ich auch nicht. Wußten Sie, was Barry letzthin zu mir sagte? >Alle Männer schlagen ihre Frauen irgendwann mal«, hat er gesagt. Ich war einigermaßen verblüfft.« »Mein Gott.« Bürden klang entsetzt. »Ich hoffe und vertraue doch darauf, daß wir keinen Frauenschläger im Team haben. Das wäre ja noch schöner, wo Hurt-Watch gerade in Gang gekommen ist. Übrigens, wie wollen wir die Piepser und Handys eigentlich verteilen? Daß häusliche Gewalt in allen Gesellschaftsschichten vorkommt, wissen wir ja, aber wie viele Verfahren wegen Gewalt gegen Ehefrauen und Freundinnen hat es in unserer Gegend denn gegeben? Herzlich wenige. Das heißt aber vermutlich nicht, daß die zwi 44
schengeschlechtlichen Beziehungen hier idyllischer verlaufen oder die Männer umgänglicher sind, sondern lediglich, daß die Frauen uns nicht angerufen und um Unterstützung gebeten haben.« »Wie finden wir also diejenigen, die in Gefahr sind? Wollen Sie das damit sagen? Vielleicht, indem wir die Leute konsultieren, die dieses Haus führen.« Draußen vor The Hide blieb Wexford stehen und sah zu den Fenstern hinauf, die im Erdgeschoß fast vollständig von den üppigen Lorbeergewächsen im Vorgarten verdeckt waren. Aus einem Fenster im obersten Stockwerk
musterte ihn ein weißes, von schwarzem Haar umrahmtes Gesicht, in dem er die Frau erkannte, die Andy Honeyman angeschrien hatte. »Wir müssen nach einer bestimmten Methode vorgehen. Wir können doch schlecht eine Anzeige in den Courier setzen und allen, die sich darauf melden, kostenlose Kommunikationssysteme anbieten. Wie Southby schon sagte, da würde wohl die gesamte weibliche Bevölkerung eins haben wollen.« Bürden interessierte sich offensichtlich wenig dafür. »Wo wir gerade von der weiblichen Bevölkerung sprechen«, fragte er, »was ist Ihnen vorhin eingefallen?« »Eingefallen?« »Sie sagten doch, Ihnen sei etwas eingefallen wegen Rachel, die auf Mrs. Strang wartete. Ich nehme an, Sie sind auf eine Lösung gekommen.« »Ach ja, richtig. Aber so weit würde ich nicht gehen. Ich habe mich nur gefragt, ob Rachel und Mrs. Strang sich überhaupt schon einmal begegnet sind. Ich meine, ob sie einander erkennen würden?« Bürden schien verwirrt. Er warf Wexford einen finsteren Blick zu und meinte, er ginge jetzt wohl besser nach Hause, seine Schwiegereltern seien zu Besuch da und er habe sich bereits entsetzlich verspätet. Wexford ging ebenfalls nach Hause. Burdens Bemerkungen ließen ihm keine Ruhe, während er sein Abendessen verzehrte und auch danach, als ein 45
Fernsehdokumentarfilm über die europäische Einheitswährung seine Aufmerksamkeit nicht zu fesseln vermochte. Operation Safeguard und das ergänzende Hurt-Watch-Projekt konnten nur funktionieren, wenn er und seine Mitarbeiter den Gesamtkomplex häusliche Gewalt gründlich untersuchten. Ein groteskes Bild entstand vor seinen Augen: fünfhundert Mobiltelefone und Funkrufempfänger, die alle in seinem Büro, womöglich gar auf seinem Schreibtisch landeten, und er hatte nicht die geringste Ahnung, welche Frauen nun berechtigt waren, eines zu bekommen, und welche einen Affront darin sähen, daß man ihnen etwas anbot, was im Grunde zur Verteidigung und zum Schutz gegen die Männer gedacht war, mit denen sie zusammenlebten. Und sobald diese Hürde überwunden war - wie sollte die Polizei auf einen Anruf von einem dieser Telefone aus reagieren? Zum Wohnsitz der Anruferin fahren und den Täter festnehmen. Ganz einfach. Bloß daß es meistens nicht so klar und unmißverständlich war. Sie würde sagen, sie wolle nicht, daß gegen ihn Anklage erhoben wurde, sie wolle nicht, daß er weggebracht wurde, er sei doch der Ernährer, er habe versprochen, es nie wieder zu tun, es täte ihm leid,
er schäme sich, sie hätte die Polizei nicht rufen sollen, sie sei bloß verängstigt und gekränkt gewesen und habe sich nicht mehr zu helfen gewußt, aber sie wolle doch die Familie nicht auseinanderreißen... Er mußte mit Sylvia darüber sprechen. Außerdem war da noch die Sache mit dem vermißten Mädchen, Rachel Holmes. Dora lag anscheinend recht viel an der langweiligen Fernsehsendung, also konnte er nicht abschalten. Da es abends noch bis nach acht hell blieb, ging er in den Garten hinaus, spazierte ein wenig herum und setzte sich schließlich auf dem gepflasterten Rondell, dem Mittelstück von Doras Rosengarten, auf einen der französischen Cafehausstühle, die Sheila ihnen zu Weihnachten geschenkt hatte. Die hocheleganten Dinger mit ihren blaßgrauen Metallschnörkeln, Windungen und Spiralen luden allerdings nicht gerade zum Verweilen ein. Über ihm wurde der Himmel zusehends blauer, 46 und ein rotgelber Fesselballon, der momentan wahrscheinlich Pomfret passierte, kam langsam in seine Richtung geschwebt, er konnte sehen, wie die Passagiere ihm zuwinkten. Oder jemand anderem. Wexford winkte zurück und fiel dabei fast von seinem bedrohlich schwankenden Stühlchen. Morgen war Dienstag, und am Nachmittag würde Rachel Holmes zurückkommen. Beide Mädchen hatten dieselbe Schule besucht, beide waren unter Zwanzig, beide waren -wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise attraktiv, jede war Kind einer geschiedenen Mutter, beide hatten auf den Bus gewartet, die eine auf der Rückkehr vom abendlichen Ausgehen mit Freundinnen, die andere in Erwartung eines solchen Abends. Beide waren an einem Samstag verschwunden, und zwar an aufeinanderfolgenden Samstagen. Trotzdem würde Bürden die Schlußfolgerung lächerlich finden. Wexford stellte sie jedesmal an, wenn ihm das Mädchen in den Sinn kam. Es hinderte ihn daran, sich um Rachel die Sorgen zu machen, die er sich eigentlich machen sollte. Hinderte es ihn aber auch daran, alle nur erdenklichen Schritte zu unternehmen und Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu finden? Hätte er beispielsweise Rosemary Holmes ins Fernsehen bringen sollen? Hätte er in der Gegend zwischen Stowerton und Kingsmarkham eine Suchaktion einleiten sollen? Die Frage, die er sich vielleicht stellen sollte, lautete: Hätte er es getan, wenn Lizzie Cromwell nicht vor genau einer Woche als vermißt gemeldet worden und drei Tage und drei Nächte später wieder nach Hause gekommen wäre?
Als der Ballon über ihn hinwegschwebte, kam eine leichte Brise auf, die das junge Laub zauste und einen Schauer von Blütenblättern vom Birnbaum fallen ließ. Der hübsche Stuhl war dermaßen unbequem, daß man ihn für ein Folterinstrument hätte halten können. Zwölf Stunden unter grellem Licht darauf zu sitzen und die Fragen des Inquisitors zu beantworten ... Mein Gott, dachte er. Er stand auf und ging ins Haus, fest entschlossen, gleich morgen früh mit Caroline Strangs Mutter zu sprechen. 47
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Am Dienstag nachmittag um zwei begann die Suche. Es waren zehn uniformierte Beamte, einige davon als Verstärkung vom Kriminaldezernat in Myringham, sowie sechzehn Gemeindemitglieder, alles Nachbarn und Freunde der Holmes', die sich freiwillig gemeldet hatten. Rosemary Holmes wollte mitkommen, doch Wexford riet ihr davon ab. Obwohl nichts darauf hindeutete, war er immer noch überzeugt, daß Rachel im Lauf des Nachmittags auftauchen würde, und was er am Vormittag in Framhurst erfahren hatte, bestärkte ihn noch in dieser Überzeugung. Olga Strang war Rachel noch nie begegnet, hatte nicht einmal ein Foto von ihr zu Gesicht bekommen. Die beiden Mädchen hatten sich an der Universität kennengelernt und nicht, weil sie nur fünf Meilen voneinander entfernt wohnten oder die gleiche Schule besucht hatten. Für sie war Rachel eine Fremde und umgekehrt. »Wie hätten Sie denn wissen sollen, wer sie ist?« hatte Wexford gefragt. »Sie sollten sie im Auto mitnehmen, aber wie hätten Sie sie denn erkannt?« »Sie meinen, ob sie ein gelbes Band trug und ich eine große rote Rose? Nichts dergleichen. Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht, ich war einfach dort und sie hätte auch dort sein sollen, war es aber nicht.« Mrs. Strang, eine schusselige Frau, die anscheinend nicht in der Lage war, sich länger als zwei Minuten zu konzentrieren, machte ganz den Eindruck, als ob alles in ihrer Umgebung und womöglich gar das Leben selbst sie zermürbte und ihr auf die Nerven ging. In dem Cottage, das sie mit ihrem Mann und drei Kindern bewohnte, herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander, Papiere und Kleider waren wild verstreut, auf 47 den Stühlen stapelten sich Zeitungen und Zeitschriften, benutzte Tassen und Gläser waren neben Vasen mit verwelkten Blumen abgestellt und dort vergessen worden, und ein eingeschaltetes Bügeleisen stand mit
rotglänzendem Lämpchen hochkant zwischen einem offen daliegenden Brotlaib und einem aufgerissenen Päckchen Entkalker. Sie selbst, im transparenten Morgenmantel über Bluse und Slip, hatte sich offenbar gerade ans Bügeln machen wollen, denn sie hielt ein zerknittertes rotes Stoffteil in der linken Hand, vermutlich einen Rock oder eine Hose. Ohne den Griff zu lockern, setzte sie sich auf die Tischkante, knüllte das rote Ding noch mehr zusammen und fuhr sich dabei mit der Rechten durch ihr wirr abstehendes, rotgoldenes Haar. »Ich will Sie gar nicht lang aufhalten«, sagte Wexford. »Ich sehe ja, daß Sie gleich zur Arbeit wollen.« Er konnte den Blick nicht von dem Bügeleisen losreißen, das sich ihren Musselinrüschen bedrohlich zu nähern schien, während sie nervös hin und her schaukelte. »Wußte Rachel denn, was für ein Auto Sie fahren? Und die Farbe?« »Ach, weiß ich doch nicht, das kann ich Ihnen nicht beantworten.« »Hatte Caroline sie Ihnen denn beschrieben?« »Da müssen Sie sie schon selbst fragen. Ich weiß es nicht mehr.« Plötzlich hellte sich ihre Miene auf, und sie lächelte. »Ich wußte, daß sie dunkle Haare hat. Ich hielt nach einem dunkelhaarigen Mädchen Ausschau. Und Caroline sagte auch, sie sehe sehr gut aus.« »Mrs. Strang, gleich versengen Sie sich Ihren - äh, Morgenmantel an dem Bügeleisen.« »Wirklich? Ach Gott! Danke. Caroline ist nicht da, die ist wieder im College, aber Sie können sie ja dort anrufen und sie fragen. Oder ich könnte. Ich muß jetzt den Rock bügeln, bitte entschuldigen Sie mich, ich bin schon spät dran...« Er hatte genug erfahren. Was die Frau betraf, die sie abholen sollte, so wußte Rachel von ihr nur, daß sie im mittleren Alter war und einen Wagen fuhr. Jemand war um acht aufge 48
kreuzt und hatte sie mitgenommen, und als Rachel fragte: »Mrs. Strang?« oder etwas Ähnliches, hatte diese Frau bejaht, war auf das Mißverständnis eingegangen und hatte es sich zunutze gemacht. War es die gleiche Frau, die auch Lizzie Cromwell angeboten hatte mitzufahren? Und hatte Lizzie, obwohl sie es geleugnet hatte, das Angebot angenommen? Auf diese verwegene Vermutung hin zu handeln wäre kriminell. Eine Suche mußte eingeleitet werden, und falls Rachel am darauffolgenden Tag immer noch nicht wieder aufgetaucht war, würde er Rosemary Holmes vor die Fernsehkameras stellen. Doch sie kam bestimmt nach Hause. Sie würde in der Oval Road einfach hereinspazieren. Nicht
verwirrt, auch nicht bis auf die Haut durchnäßt, sie würde einfach hereinspazieren und nach dem hysterischen Anfall ihrer Mutter schlicht fragen, was das ganze Getue solle. Oder sie tauchte an ihrer Universität auf, wo sie eine Menge Dinge würde erklären müssen. Wexford wandte sich seiner Post zu und griff als erstes nach dem Schreiben, das zuoberst auf seinem Schreibtisch lag. Wenn einen jemand in einem Brief mit Vornamen anredet und mit »Liebe Grüße« unterzeichnet, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß es sich bei dem Schreiber um einen guten Freund handelt. Der vor Wexford liegende Ausdruck einer E-Mail begann zwar mit »Lieber Reg« und endete mit »Liebe Grüße Brian«, doch hätte er Brian St. George, den Chefredakteur des Kingsmarkham Courier, nicht in diese vertrauliche Kategorie eingeordnet. Schon der Anblick des Schreibens beunruhigte ihn. In seinen bisherigen Briefen hatte sich St. George jedenfalls weder konstruktiv gezeigt, noch hatte er die Polizeistrategie auf irgendeine Weise unterstützt. Er betrachtete das Blatt erst, ohne seine Lesebrille aufzusetzen, und sah einen Augenblick lang nur glasig-verschwommene Buchstaben tanzen. Doch da er wußte, daß es nichts half, setzte er nach kurzem Zögern die Brille auf, um St. Georges Brief zu lesen. 49 Lieber Reg, Es ist mir zur Kenntnis gelangt, daß Henry Thomas Orbe, der berüchtigte Pädophile, Ende dieser Woche aus der Haft entlassen werden soll. Seine Heimatadresse ist nach wie vor Muriel Campden Estate in Kingsmarkham, und aus zuverlässiger Quelle erfuhr ich, daß er beabsichtigt, in dieses Haus zurückzukehren, das gegenwärtig von seiner Tochter und deren Lebensgefährten bewohnt wird, wenn er am 17. April das Gefängnis verläßt, in dem er während der vergangenen neun Jahre eingesessen hat. Nun leben in Muriel Campden Estate zahlreiche Familien mit kleinen Kindern, für die Orbe zweifellos eine Bedrohung darstellt. Ich habe daher die Absicht, in der nächsten Ausgabe des Courier eine Titelgeschichte herauszubringen, um interessierte Kreise von Orbes Rückkehr zu unterrichten. Sie stimmen mir gewiß zu, daß dieser Orbe ein gefährlicher Mensch ist und kein Kind sicher, solange er frei herumläuft. Ihre Meinung dazu interessiert mich sehr. Falls die Polizei von Mid-Sussex mir eine Erklärung zu Orbes gegenwärtiger Situation und vielleicht zu den
generellen Vorkehrungen bei der Freilassung von Pädophilen zukommen lassen möchte, drucke ich sie mit Vergnügen ab. Mit den allerbesten Wünschen Liebe Grüße, Brian Wexford seufzte. Ihm war nicht nur schleierhaft, was St. George dazu bewog, ihn mit Vornamen anzureden und den Brief so vertraulich zu beenden, sondern auch ein Rätsel, weshalb diesem Menschen überhaupt daran lag. Bei ihrem letzten Treffen - im Zusammenhang mit der geplanten Umgehungsstaße von Kingsmarkham hatte es eine Geiselnahme gegeben - war Wexford dem Chefredakteur des Courier gegenüber entsetzlich (aber gerechtfertigterweise) unhöflich gewesen und hatte sich dafür eine Menge Scherereien eingehandelt. Die Antwort lag auf der Hand: St. George wollte etwas von ihm. Seine Zustimmung?
50 Er beschloß kurzerhand, nicht auf das Schreiben zu reagieren. Schließlich konnte er, selbst wenn er gewollt hätte, St. George und den Courier an ihrer Mission nicht hindern. Nur durch eine einstweilige gerichtliche Verfügung wären sie davon abzuhalten. Er versuchte, sich an Orbe zu erinnern, doch fiel ihm nur das Foto eines rattengesichtigen Mannes mit fliehendem Kinn und hoher Stirn ein, das er vor langer Zeit in der Zeitung gesehen hatte. Das wollte aber nicht viel heißen. Auf diesen vergrößerten Schnappschüssen sah jeder schrecklich aus. An Orbe als Mensch hatte er überhaupt keine Erinnerung. Allerdings war das Verbrechen damals nicht in der Kingsmarkhamer Gegend begangen worden, und er hatte ihn auch nicht persönlich verhaftet. Er überlegte gerade, ob er wohl in der Lage wäre, Orbes Lebenslauf oder Akte an seinem Computer aufzurufen und den hübschen blauen Bildschirm, über den Wolken schwammen und Vögel flogen, mit nützlichen Informationen zu füllen, als Barry Vine eintrat. »Wie geht es mit der Suche nach Rachel Holmes voran?« fragte Wexford. »Nichts Neues, Sir. Aber ich wollte Ihnen was anderes sagen. Sie wissen doch, daß es wieder einen Kleiderdiebstahl gegeben hat?« »Ach ja. In der First Gear Boutique.« »Also, wir haben jemanden für alle beide, für First Gear und die Designerin. Sie hatten recht mit der Annahme, die hätten sich mit einem Kind Zutritt verschafft. Eine Art Oliver Twist, sagt sie, wie Bürden mir erzählt hat. Ich weiß zwar nicht, wie alt Oliver Twist war - ich muß zugeben, ich kenne weder das Buch noch den Film -, aber dieses Kind ist vier.« Eine Weile sagte Wexford gar nichts. Orbes Gesicht, das Gesicht, an das er sich erinnerte, tauchte wie in einem Bilderrahmen wieder in seinem Kopf auf,
und er fragte sich, was eigentlich schlimmer war - ein kleines Kind sexuell zu mißbrauchen oder ihm das Einbrechen und Stehlen beizubringen. Selbstverständlich ersteres, da gab es gar keine Frage, und doch... 51
»Soll das heißen, dieser Schurke - wie heißt der überhaupt?« »Flay. Patrick Flay. Er wohnt in der Glebe Road.« »Dieser Patrick Flay hat einen vierjährigen Jungen durch das Oberlicht geschickt und ihn angewiesen, wie er die Tür aufmachen soll?« »Nicht ganz, Sir«, sagte Vine. »Ein Mädchen. Es war seine eigene Tochter, und während es beim erstenmal ein Oberlicht war, glaube ich, daß sie beim zweitenmal zum Katzentürchen hinein ist.« »Zum Katzentürchen}« »Ja, Sir. Das ist eine Art Klapptür an Angeln, die die Katze mit dem Kopf aufstößt, um »Ich weiß, was es ist.« Wexford schüttelte eher bekümmert als ungehalten den Kopf. »Bevor die Dinger erfunden wurden, hat man ein Loch in die Tür gemacht, und es heißt, Isaac Newton hätte für seine Katze ein Loch ausgeschnitten, und als sie Junge bekam, hätte er noch mal sechs Löcher ausgeschnitten.« Vine starrte ihn verblüfft an. »Muß der bescheuert gewesen sein.« »Na ja, eigentlich nicht. Einen Genieklub wie Mensa gab es zwar damals noch nicht, aber er war genauso intelligent wie Mr. Bürden. Er war ein großer Physiker, hat unter anderem die Schwerkraft entdeckt. Aber das ist es ja selbst sehr kluge Menschen können in mancher Beziehung dämlich sein. Die Geschichte glaube ich aber nicht recht. Die habe ich Ihnen nur erzählt, um zu zeigen, daß ich weiß, was ein Katzentürchen ist. Wo ist Flay jetzt? Unten?« »Er hat seinen Anwalt verständigt, der ist unterwegs.« »Ich hoffe doch sehr, daß Sie die Kleine nicht auch hergebracht haben?« Vine sah leicht beleidigt aus. »Ich habe sie bei ihrer Mutter gelassen, Sir. Ich habe mit ihr gesprochen »Im Beisein ihrer Mutter, hoffe ich?« »Natürlich. Die Mutter behauptet, sie wüßte von nichts, 51 aber die Kleine - sie heißt Kaylee, K-A-Y-L-zwei-E - erzählte mir, ihr Daddy hätte ihr Handschuhe verpaßt und gesagt, es sei kalt und sie sollte sie unbedingt anbehalten. Sie seien rausgegangen und hinten um das Haus herum, wo ihr Daddy das Türchen gezeigt hätte, das der >Miezekatze< gehörte, ich zitiere, und er hätte gesagt, sie darf niemandem verraten, was sie
da macht, und darum wollte sie es mir auch nicht verraten. Aber danach hätte sie von ihrem Daddy ein Dracula bekommen.« »Ein WA S ?« »Eine Art Eiscreme«, sagte Vine. Sie gingen zusammen nach unten. Unterwegs erkundigte sich Wexford, ob man die verschwundenen Textilien schon gefunden hätte, was Vine verneinen mußte. Flay, ein fünfundzwanzigjähriger Mann, der sein rötliches Haar in einer Rastafrisur trug, obwohl er weiß war und nur über spärlichen Haarwuchs verfügte, saß rauchend am Tisch im Vernehmungsraum und wartete auf das Eintreffen seines Anwalts. Constable Martin Dempsey saß mit dem Rücken zur Wand auf einem Stuhl neben der Tür, den gleichmütigen Blick auf die Tischbeine gerichtet. Vine schaltete das Aufnahmegerät ein und sagte: »Chief Inspector Wexford und Sergeant Vine haben um vier Uhr zweiundfünfzig den Raum betreten. Ebenfalls anwesend sind Constable Dempsey und Patrick John Flay.« »Bevor mein Anwalt nicht hier ist, sag' ich kein Wort«, meinte Flay. Wexford gab keine Antwort. Er saß kaum eine Minute, als Lynn Fancourt den Anwalt hereinführte. Den jungen Mann hatte Wexford zwar noch nie gesehen, wußte jedoch, daß es sich um James Beamish von Praetor, Beamish &. Green in der High Street in Kingsmarkham handelte. Vine stellte seine Ankunft fest und begann Flay zu befragen, dessen verdrossene Miene sich erwartungsfroh aufgehellt hatte, sobald sein Anwalt neben ihm saß. Sein Lächeln verwandelte sich in Gelächter, als Vine ihn nach seiner Tochter fragte. »Da liegen Sie schon mal falsch. Das ist gar nicht meine, die ist von mei 52
ner Frau. Ich bin sozusagen ihr Stiefdaddy. Die war schon auf der Welt, wie wir zusammengezogen sind.« »Sie scheinen ein gutes Verhältnis zu ihr zu haben «, sagte Wexford. »Was, zu Kaylee? Klar doch. Ich liebe Kinder.« »So sehr lieben Sie Kaylee, daß Sie ihr beibringen, in anderer Leute Häuser zu gehen und deren Eigentum zu stehlen?« »Ich weiß gar nicht, von was Sie reden«, sagte Flay mit einem breiten Grinsen. »Wenn Sie das glauben, was Ihnen ein vierjähriges Gör erzählt, praktisch ein Kleinkind, dann sind Sie bescheuert. Die hat vielleicht Phantasie, die Kaylee. Was die für Geschichten erzählt, sag' ich Ihnen! Andere Leute würden es Lügen nennen. Na ja, ich nicht, ich bin ja ein toleranter Mensch, aber ein anderer würde dem Gör eine scheuern, wenn es so'n Quatsch verzapft wie Kaylee.«
»Sie haben sie also keine Handschuhe anziehen lassen und sie durch ein Oberlicht in die Garderobe des Hauses gesteckt und dann durch ein Katzen türchen in den Keller des Hauses?« Wexford war sich im klaren darüber, wie lächerlich das alles klang. Ein Außenstehender hätte die Erheiterung fast für gerechtfertigt gehalten, mit der Flay nun den Anwalt ansah und grinsend den Kopf schüttelte. »Sie haben ihr nicht beigebracht, das Fenster zu öffnen und das gestohlene Gut nach draußen zu schaffen?« »Ach woher denn. Sie machen wohl Witze!« »Kaylee wurde also nicht beigebracht, ins Haus einzusteigen und das Eigentum des Besitzers zu entwenden?« Beamish hob träge den Blick. »Mein Mandant hat Ihre Frage bereits verneint, Mr. Wexford.« Wexford überlegte, wie er seine Fragen anders formulieren könnte, als Lynn Fancourt ihm eine Nachricht hereinbrachte. Er warf nicht einmal einen Blick darauf, so sicher war er sich, daß es die Mitteilung von Rachel Holmes' Rückkehr war, sprach jedoch ins Aufnahmegerät, er werde den Raum nun verlassen, Lynn übernehme für ihn. Draußen entfaltete er den Zettel. Kein Wort über Rachel, sondern eine Nachricht 53
vom zukünftigen stellvertretenden Chief Constable, in der er gebeten wurde, ihn dringend anzurufen. Es war natürlich auch noch etwas früh für Rachels Rückkehr. Falls sie zur gleichen Zeit zurückkam wie Lizzie Cromwell damals, wäre sie nicht vor sechs in Stowerton. Von seinem Büro aus rief er sofort Southby an. »Orbe«, sagte die Stimme, die ihre abgehackten Sätze immer herausbellte. »Henry Thomas Orbe. Sagt Ihnen das was?« Wäre er auf dem laufenden gewesen, wenn St. George ihm nicht den Brief geschrieben hätte? Wexford hätte nie gedacht, daß er einmal Grund haben würde, dem Chefredakteur des Kingsmarkham Courier dankbar zu sein. »Ein Kinderschänder, Sir«, sagte er wie aus der Pistole geschossen. »Er hat neun Jahre gesessen und wird nächsten Freitag entlassen.« »Richtig.« Southby klang etwas enttäuscht. »Ich dachte mir nur, Sie sollten wissen, daß das hiesige Käseblatt eine von diesen »Geschichten im Interesse der Öffentlichkeit- herausbringen will. Am Freitag. Ich gehe davon aus, daß es ohne Zwischenfälle vonstatten geht.« Southby hatte also ebenfalls einen Brief von St. George bekommen. Ich möchte wissen, ob der mit Lieber Malcolm angefangen hat, dachte Wexford. Er
schaltete den Computer ein, und nach einigen falschen Operationen, die ziemlich beängstigende Ermahnungen auf dem Bildschirm zur Folge hatten, gelang ihm der Zugriff - verhaßte Computersprache, aber nichtsdestotrotz eine Quelle des Stolzes, wenn man den richtigen Begriff erwischt hatte - auf Henry Thomas Orbe. »Geboren am 20. Februar 1928«, las er, »in South Woodford, London El8, als dritter Sohn von George und Annie Orbe aus Churchfields, South Woodford. Besuch der Grafschaftsoberschule Buckhurst Hill bis zum Alter von sechzehn Jahren. 1949 und erneut 1952 wegen schwerer Unzucht zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten für das erste und achtzehn Monaten für das zweite Vergehen verurteilt. 1958 wegen schwerer Unzucht mit einem Minderjährigen zu einer achtjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.« 54 Von der eintönigen Wiederholung fast ebenso angewidert wie von der Erbärmlichkeit der Delikte, drückte Wexford nun die Bild-ab-Taste und stellte erneut fest, daß es funktionierte. Die Taste führte den Befehl tatsächlich wie angekündigt aus, was seiner Erfahrung nach bei Computeroperationen durchaus nicht immer der Fall war. Diesmal jedoch tat das Gerät, was er wollte, und auf dem Bildschirm erschien die letzte Seite von Orbes jämmerlichem Sündenregister. Wexford schnappte nach Luft. Vor neun Jahren war der Mann wegen Totschlags ins Gefängnis gekommen, nachdem er für seine Beteiligung an der Vergewaltigung eines zwölfjährigen Jungen mit Todesfolge ursprünglich sogar zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden war. Außer ihm waren noch zwei Männer beteiligt gewesen, von denen der eine das gleiche Strafmaß wie Orbe erhalten hatte, der andere acht Jahre. In der Akte war weder die Rede von Orbes Ehe oder Ehen noch von einer Tochter. Wexford stellte fest, daß er inzwischen ein alter Mann von über siebzig sein mußte. Ob er für Kinder noch eine Gefahr darstellte? Man müßte den Mann wohl kennen und sich viel besser mit Pädophilie auskennen als er, um diese Frage beantworten zu können. Eins stand jedoch fest: Irgend etwas stimmte nicht mit einer Gesellschaft, die so ein Monster, selbst ein mattes, gealtertes, gebrochenes Monster in eine Gemeinde entließ, in der der Anteil der kleinen Kinder größer war als irgendwo sonst in der Umgebung. Um neun wußte er, daß er sich geirrt hatte und daß Rachel Holmes' Verschwinden nicht nach dem Muster von Lizzie Cromwell ablaufen würde. Gewissensbisse plagten ihn, als wäre er schuld daran, daß sie nicht zurückgekommen war. Er war froh, von seiner Hoffnung und Überzeugung zu niemandem außer zu Bürden etwas gesagt zu haben. Auf diese Weise
würde es unter ihnen bleiben. Er versuchte, es dadurch wettzumachen, daß er vorschlug, die Suche auch nach Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen, mußte dann aber einsehen, daß 55
es unmöglich war, weil die Nacht finster und mondlos war und es heftig regnete. Vine, den er kurz vor dem Schlafengehen noch anrief, sagte ihm, er habe Patrick Flay laufenlassen müssen. Mangels ausreichender Beweise für eine Anklageerhebung war er verpflichtet, den immer noch lachenden Mann in Begleitung seines Anwalts gehen zu lassen. Wexford blieb eine Weile am Fenster neben dem Treppenaufgang stehen und sah in die Nacht hinaus. Er hatte die Angewohnheit, so hinauszustarren, wenn alles still und ruhig war, und hatte amüsiert festgestellt, daß Sylvia das ebenfalls tat. Vielleicht war das Gen der meditativen Himmelsbetrachtung erblich. Der Regen fiel unablässig wie lange silberne Nadeln in der Dunkelheit. Da fielen ihm König Lears Worte wieder ein, mit denen dieser sich dafür tadelt, dem Schicksal der Obdach- und Mittellosen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben - ihr armen Nackten, die ihr des tückischen Wetters Schläge duldet -, den Frauen, die sich hilfesuchend an Sylvia wandten, den zu Opfern gemachten Kindern wie Kaylee Flay und dem vermißten Mädchen. Aber das lag inzwischen wahrscheinlich schon tot in einem Wassergraben. Wenn es nach Sergeant Vine gegangen wäre - der im Gegensatz zu Sylvia Fairfax da nicht differenzierte -, hätten Leute wie die Flays überhaupt keine Kinder kriegen dürfen, und falls sie sie unter Umgehung des Gesetzes doch bekamen, hätten sie sie nicht aufziehen dürfen. Wozu gab es eigentlich ein staatliches Fürsorgesystem, wenn nicht, um Kinder vor Typen wie Patrick Flay zu schützen? Wozu gab es Pflegestellen und Adoptionsmöglichkeiten, wenn diese Verfahren nicht besser angewendet wurden? Als er in der Erdgeschoßwohnung in der Glebe Road ankam, die untere Hälfte eines schäbigen, heruntergekommenen Hauses, traf er Patrick Flay und Kaylees Mutter zu Hause an. Das kleine Mädchen wurde, als er mit ihr zu reden anfing, auf dem fleckigen, durchgesessenen Sofa zwischen die beiden geklemmt und hatte keine Möglichkeit zu entkommen. Die 55
Kleine war ein Mischlingskind; ihre Mutter war so hellhäutig, sommersprossig und rothaarig wie Patrick, Kaylee dagegen hatte einen dunkelbraunen Lockenkopf, dunkelbraune Augen und leicht olivfarbene Haut. Unter dem linken Auge war ein dunkler Fleck zu sehen, eine Prellung,
die letztesmal nicht dagewesen war, und Vine war sich so sicher, als hätte er den Schlag selbst niedergehen sehen, daß einer von diesen beiden sie ins Gesicht geschlagen hatte. Jackie Flay vielleicht, aber vermutlich eher Patrick, und Vine wußte auch, weshalb ihr dieser Schlag verabreicht worden war. Ein erstickendes Gefühl der Ohnmacht und Frustration hinderte ihn fast am Sprechen, und am schlimmsten, wie er Wexford später sagte, war das Bewußtsein, nichts dagegen tun zu können. »Sie können das Jugendamt verständigen«, sagte Wexford. »Es gäbe doch triftige Gründe, den Flays damit zu drohen, daß das Kind in Pflege gegeben wird. Also, was ist passiert?« »Kaylee sagte mir, es sei nichts passiert. Sie ist ein intelligentes Kind, wissen Sie. Ich meine, wirklich ein helles Köpfchen. Sie behauptet einfach, es sei alles gar nicht wahr, sie hätte es sich ausgedacht. Mit anderen Worten, genau was Flay sagte. Und dann hatte der den Nerv, zu ihr zu sagen: >Du weißt ja, was dir passiert, wenn du lügst, Kaylee!< Dabei grinste er wieder auf diese eklige Art.« »Und die Mutter?« »Die saß einfach da und hatte Schiß. Sie verstehen schon. Die sah aus, als würde sie alles sagen und tun, bloß um Flay nicht zu reizen. Wahrscheinlich hat sie die Kleine noch festgehalten, während Flay sie verhauen hat. Ich kann ihn direkt hören: >Du sagst, du warst es nicht, du warst nie da drinnen verstanden? Sonst fängst du gleich noch eine!
könnte? Bloß ein paar Stunden, bis Griselda sie um drei Uhr ablösen würde. Sie hatte natürlich zugesagt und ihre Mutter angerufen, um sie zu bitten - für den Fall, daß sie sich verspätete -, die Jungs von der Schule abzuholen, und war um elf hergekommen. 81 Als sie selbst noch klein gewesen war, etwa mit zehn, hatte sich niemand etwas dabei gedacht, sie allein aus der Schule nach Hause gehen zu lassen. Keiner hätte es für unvorsichtig gehalten, daß sie auch gleich ihre kleine Schwester mit nach Hause nahm. Aber heute hatten alle Angst, ihre Kinder auch nur fünf Minuten aus den Augen zu lassen. Und noch mehr Angst hätten sie gehabt, wenn sie heute morgen den Courier gelesen hätten, wie Sylvia, die sich die Zeitung zusammen mit einer Tasse Tee mit ins Bett genommen hatte. Vermutlich hatte es, als sie klein war, auch schon Kinderschänder gegeben und bestimmt genauso viele - die menschliche Natur ändert sich ja nicht -, doch erfuhr man damals selten davon, wogegen heutzutage hinter jedem Busch und an jeder Ecke einer zu lauern schien. Sie hängte gerade ihren Regenmantel im Korridor auf, und weil bis auf die zwei Dreijährigen auf der Treppe niemand da war, schien es naheliegend, daß sie an die Tür ging. Als sie schon die Hand am Riegel hatte, fielen ihr die Anweisungen wieder ein, die sie bei ihrer kurzen Schulung für diese Aufgabe bekommen hatte. Sei vorsichtig, wenn du die Tür aufmachst, sieh vorher durch den Spion, leg die Kette vor. Es könnte ein gewalttätiger Ehepartner oder Lebensgefährte sein, der die Frau sucht, die er tätlich angegriffen hat und die vor ihm geflüchtet ist. Also zog Sylvia die Hand zurück, legte die Kette vor, schob die kleine runde Kappe über dem Spion weg und spähte hindurch. Eine alte, sehr aufgeregt wirkende Frau war zu sehen. Sylvia hakte die Kette aus und öffnete. Die Frau hielt ihr ein Klemmbord entgegen, auf dem ein Stapel Papiere befestigt war. Es hörte sich an, als hätte sie ihren Text mühsam auswendig gelernt. »Vielleicht möchten Sie auch den Antrag der Anwohnergemeinschaft von Kingsbrook unterschreiben? Wir erheben Einspruch gegen das Wohnhaus, wo ein Kinderspielplatz geplant ist.« »Sprechen Sie von The Hide?« fragte Sylvia. »So heißt das ja wohl, ja. Aber vielleicht möchten Sie sich 81 erst einmal die Informationen durchlesen, die ich hier habe. Darin wird die ganze Situation erklärt und wieso die Anwohner von Kingsbrook so entschieden dagegen sind.«
Sylvia hatte Mühe, nicht in Lachen auszubrechen. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, atmete tief durch und sagte höflich: »Das hier ist The Hide.« »Das hier? Dieses Haus?« Die Frau klang wie vor den Kopf geschlagen. Um sich wieder zu fassen, flüchtete sie sich - wie so viele - in wirre Anschuldigungen. Die hatte sie vorher nicht eingeübt. »Woher soll man das denn wissen? Da steht doch gar kein Name und keine Hausnummer. Also, das gehört doch gesetzlich verboten, daß ein Haus keine Hausnummer hat.« »Stimmt. Ich werd's der Polizei melden«, sagte Sylvia, machte die Tür zu und brach in Gelächter aus. Sie würde es der Polizei melden, sie würde es ihrem Vater sagen, wenn sie ihn heute abend sah. Er würde sich köstlich amüsieren. Sie ging die Treppe hoch. Auf dem ersten Treppenabsatz kam ihr eine Schwarze mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau aus einem der Zimmer entgegen. Schwarze waren in Kingsmarkham und Umgebung selten, obwohl inzwischen mehr hier wohnten als noch vor einem Jahr. Sylvia überlegte, woher die Frau wohl kam und was ihr widerfahren war. Sie war groß und hatte einen majestätischen Gang; ihr geflochtenes Haar war um den Kopf gewunden und oben zu einer Krone aufgesteckt. Sylvia sagte hallo und daß es ja schon wieder regnete und ging weiter ins oberste Stockwerk. Dort saß Lucy Angeletti und sprach gerade am Telefon. Es hörte sich nicht so an, als handelte es sich um einen Krisenanruf. »Also gut, danke«, hörte sie Lucy sagen. »Wenn heute morgen jemand vorbeikommt, zeige ich den Brief, den ich gekriegt habe. Auf Wiederhören.« Sylvia sah sie fragend an. »Eine Morddrohung«, klärte Lucy sie auf. »Natürlich anonym. Du hast meine Frau. Wenn sie nicht heimkommt, bring ich dich um, du Schlampe.« 82 »Hast du da eben die Polizei angerufen? Schicken sie jemanden her?« »Aber nicht deinen Vater«, lachte Lucy. »Der ist viel zu hochrangig. Also, ich mach mich mal auf den Weg, okay? Übrigens muß jeden Moment eine neue Frau ankommen. Sie hat die Nacht auf der Polizei in Pomfret verbracht, mit ihrem Baby und einem Zweijährigen. Sie bekommt unser letztes freies Zimmer, und danach weiß ich auch nicht, was wir machen sollen. Jetzt muß ich aber rüber nach Myringham.« Vom Fenster aus sah Sylvia die Frau im Taxi ankommen. Sie wußte, daß sie dafür vom Sozialamt einen Gutschein ausgestellt bekommen hatte. Das winzige Baby lag in dem Tragegurt, den die Frau um ihre magere Brust trug, wie in ein Vogelnestchen gebettet. Das Kleinkind weinte und drückte sich die geballten Fäuste auf die Augen. Lucy kam ihr auf der Treppe draußen
entgegen und nahm den mitgebrachten Koffer vom Rücksitz des Taxis, ohne daß ihr der Fahrer dabei zu Hilfe kam. In dem Gutschein, vermutete Sylvia, war ein Trinkgeld nicht inbegriffen. Sie sah zu, wie das Taxi zwischen den strauchbestandenen Böschungen zurücksetzte und saß bereits wieder am Schreibtisch, als das Telefon anfing zu klingeln. »The Hide. Was kann ich für Sie tun?« Schweigen. Gewöhnlich war es entweder still, oder man hörte einen hastigen Redeschwall. Den meisten Frauen war der Anruf peinlich. Obwohl ohne Schuld, schämten sie sich. Schließlich beklagten sie sich bei Außenstehenden über den Mann, den sie sich als Lebenspartner ausgesucht hatten. Oft begannen sie mit Entschuldigungen für sich oder den Mann, der sie verprügelt hatte. Während das Schweigen anhielt, dachte Sylvia an die Frau, mit der sie letzthin abends gesprochen hatte, deren Mann sie mißhandelt hatte, weil er behauptete, sie sei wahnsinnig, und der damit erst aufhören wollte, wenn sie sich von ihrem Wahnsinn heilen ließe. Nachdem sie ihr Herz ausgeschüttet hatte, hatten sie nichts mehr von ihr gehört, und Sylvia hatte keine Möglichkeit zu erfahren, ob sie ihren Ratschlag, zur Polizei zu gehen, befolgt hatte. 83 Sie wiederholte: »Hier ist The Hide. Was kann ich für Sie tun?« Plötzlich fragte eine Stimme: »Ist dort vielleicht der Frauenhilfsbund?« »Nein, hier ist der Notruf von The Hide. Wir bieten den gleichen Service an wie der Frauenhilfsbund. Kann ich etwas für Sie tun?« »Was können Sie - was würden Sie denn für mich tun?« Sylvia schlug einen sehr behutsamen Ton an. »Wollen Sie mir nicht erst sagen, wo das Problem liegt? Hat Ihnen jemand weh getan?« »Es war gestern abend. Bevor er zur Arbeit ist. Im Moment ist er dort, um elf kommt er wieder, vielleicht auch schon früher. Erst dachte ich, er hätte mir den Arm gebrochen, aber ich glaube nicht. Wenn ich ihn bewegen kann, ist er doch nicht gebrochen, oder? Ich hab' überall Blutergüsse, und mein Gesicht sieht furchtbar aus.« Sylvia sah auf die Uhr. Es war fast halb elf. Sie fragte nicht, weshalb die Frau nicht schon früher angerufen hatte, warum sie so lange gewartet hatte. Sie konnte nur ahnen, was es sie an Überwindung gekostet hatte, überhaupt anzurufen, ihren Stolz und ihre Privatsphäre aufzugeben und einer Fremden zu offenbaren, wie weit es mit ihrer Ehe gekommen war.
»Am besten gehen Sie zum nächsten Revier. Sind Sie in Kingsmarkham?« Die Frau wollte ihre Adresse nicht nennen, spürte Sylvia, vernahm aber ein widerstrebendes, zustimmendes Murmeln. »Sagen Sie mir Ihren Namen?« »Lieber nicht.« »In Ordnung. Wie Sie möchten. Das macht nichts. Gehen Sie jetzt zum Polizeirevier von Kingsmarkham. Wissen Sie, wo das liegt? In der High Street, gleich oben an der Pomfret Road, gegenüber von der Tabard Road. Ich rufe dort an und sage, daß Sie kommen. Werden Sie das tun?« »Ach, ich weiß nicht...« »Ich rufe an, sobald ich aufgelegt habe, und sage ihnen, sie sollen in einer halben Stunde mit Ihnen rechnen.« 84 »Wiederhören«, sagte die Stimme unvermittelt. »Danke. Wiederhören.« Der Hörer wurde aufgelegt, das Freizeichen ertönte. Sylvia hatte keine Möglichkeit zu erfahren, ob die Anruferin ihren Rat befolgen würde, doch sie rief auf der Polizei von Kingsmarkham an, sprach mit Sergeant Camb, den sie seit ihrer Teenagerzeit kannte, und kündigte ihm die Ankunft einer Frau mit arg zugerichtetem Gesicht an, Name unbekannt. Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt, klingelte es erneut. Diesmal war es ein Mann. »Verdammte Schlampe«, sagte die Stimme. »Du frigide lesbische Kuh. Weißt du, was ich mit dir mache? Ich werd' dir...« Sylvia hielt den Hörer mit ausgestrecktem Arm von sich. Dabei bemerkte sie, daß ihre Hand zitterte, ihr ganzer Arm bebte. Lucy hatte gelacht, als sie ihr letztesmal davon erzählt hatte, und gesagt, das kenne sie schon, dieses Zittern und Beben, das hätte sie auch gehabt, aber irgendwann würde es sich legen. Sylvia würde sich an diese Anrufe schon noch gewöhnen und mit der Zeit lernen, damit umzugehen. Ein Schwall von Obszönitäten ergoß sich aus dem Hörer. Sylvia legte ihn hin und holte tief Luft. War es der Mann der Frau, die ihren Namen nicht hatte nennen wollen? War er nach Hause gekommen, während sie noch gesprochen hatte? Sylvia hoffte inständig, daß sie sich täuschte. Das war das Schlimmste an dieser Aufgabe, daß man selten, eigentlich fast nie erfuhr, wie es ausgegangen war, daß man nicht wußte, wie die nächste Phase im gefährlichen Leben der Anruferin verlief. Etwa eine halbe bis Dreiviertelstunde lang kamen keine Anrufe. Dann klingelte das Telefon. Vielleicht weil es so lange still gewesen war, kam ihr das Klingeln lauter und durchdringender vor als gewöhnlich. Ein schriller Klingelton, dann eine weiche, gebildete Stimme.
»Ich heiße Anne. Meinen Nachnamen möchte ich nicht nennen.« 85 »Schon gut«, sagte Sylvia. »Möchten Sie mir sagen, was Sie für ein Problem haben?« Zögern, dann in einem leicht verwirrten Ton: »Es ist doch immer das gleiche Problem, oder?« »Im Grunde schon, ja vielleicht. Die Details sind unterschiedlich. Normalerweise geht es um eine Frau, der man weh getan hat, aber nicht immer. Manchmal geht es nicht um körperlichen, sondern um seelischen Mißbrauch.« Ihr Lachen klang unheimlich, kalt und hohl, es war das freudloseste Lachen, das Sylvia je gehört hatte. »Oh, an dem, was mir weh tut, ist nichts Seelisches, glauben Sie mir.« »Ich würde Ihnen gerne helfen«, sagte Sylvia. Sie benutzte den Vornamen, an den sie nicht recht glaubte: »Ich würde Ihnen wirklich gern helfen, Anne. Möchten Sie mir nicht sagen, was los ist?« »Dazu müßte ich Sie sehen, ich müßte mit jemandem unter vier Augen sprechen, es ist eine lange Geschichte und würde Tage oder Wochen dauern.« Sie hielt inne, und es folgte eine Pause. Sylvia lauschte ihrem Schweigen und konnte leichte Atemgeräusche ausmachen. Dann drang ein herzzerreißender, verzweifelter Hilfeschrei, wie ihn Sylvia noch nie gehört hatte, aus dem Hörer, dünn und klagend: »Was soll ich bloß tun?« »Sind Sie in Kingsmarkham?« »Ja.« »Ist sonst noch jemand im Haus?« »Er ist im Garten. Das Baby ist bei ihm. Ich kann sie durchs Fenster sehen. O Gott, er kommt herein, ich muß jetzt aufhören, ich hätte Sie nicht anrufen sollen. Jetzt will er bestimmt wissen, mit wem ich gesprochen habe - was soll ich sagen?« »Rufen Sie wieder an, wenn Sie allein sind«, sagte Sylvia im ruhigsten Ton, den sie zuwege brachte. »Ich lege jetzt auf.« Keine Antwort. Der Hörer war aufgelegt worden. Sylvia saß über ihren Schreibtisch gebeugt, den Kopf in die Hände ge 85 stützt. Er hatte sie ziemlich mitgenommen, dieser Anruf. Es war bisher der schlimmste gewesen. Besonders erschreckend kam ihr vor, daß es eine Frau aus der Mittelschicht war - Sylvia gestand es sich widerstrebend ein -, eine
Frau, die womöglich behütet aufgewachsen war, in diesem Land, in dieser Stadt lebte und im Tonfall einer Gefangenen oder eines Folteropfers sprach. Als sie sich vorstellte, wie der Mann ins Zimmer kam, ihr den Hörer aus der Hand riß und ihr mit der freien Hand ins Gesicht schlug, überlief sie ein Schauer. Bei dieser Aufgabe brauchst du einen Drink, dachte sie manchmal, aber das ging nicht, sie wußte, wohin es führte, mitten am Tag zu trinken. Sie sagte sich, daß es außer »Anne« auch noch andere gab, um die man sich kümmern mußte, und rief sicherheitshalber noch einmal auf der Polizeistation von Kingsmarkham an, doch eine Frau mit mißhandeltem Gesicht war dort nicht angekommen. »Beschreiben Sie mir doch noch einmal das Haus«, sagte Wexford. Sie saßen in Karen Malahydes Auto. Karen chauffierte, Rachel Holmes saß neben ihr auf dem Beifahrersitz und Wexford auf dem Rücksitz. »Ich hab's Ihnen doch schon gesagt.« Eines mußte man Rachel lassen, vor der Polizei hatte sie keine Angst. »Es stand ganz für sich, drumherum waren Felder und Wälder, keine anderen Häuser, es hatte Schindeln über die ganze Vorderfront -na ja, nicht überall, nur im oberen Teil, der Rest war aus rotem Ziegelstein - und einen großen Baum im Vorgarten. Eine Kiefer, glaub' ich, vielleicht eine Waldkiefer.« »Letztes Mal haben Sie behauptet, eine Tanne, ein Weihnachtsbaum.« »Na, das ist eine Kiefer doch auch, oder? Ich weiß es nicht, ich weiß bloß, was ich gesehen hab'. Ich hab' immer wieder drüber nachgedacht, ich hab' die Augen zugemacht und versucht, es mir bildlich vorzustellen, und seh' immer eine Art Weihnachtsbaum.« Damit meinte sie, daß es sich um einen Nadelbaum han 86
delte, aber Wexford korrigierte sie nicht. Er wußte, wie leicht sie aus dem Konzept zu bringen war und dann in mürrisches Schweigen verfiel. Wenn er nur auch wüßte, wie man sie in eine heitere und mitteilungsfreudige Stimmung versetzen könnte! »Also, Rachel«, sagte er, »während Sie dort eingesperrt waren, konnten Sie sich doch denken, daß man nach Ihrer Freilassung die Polizei einschalten würde. Haben Sie darüber einmal nachgedacht?« »Manchmal dachte ich, ich werde überhaupt nicht mehr freigelassen.« »Na gut, aber Sie haben uns auch zu verstehen gegeben, daß Ihre schlimme Lage Ihnen nicht besonders viel angst gemacht hat. Während Sie bei Vicky und... äh, Jerry waren, dachten Sie doch bestimmt daran, daß die Polizei Sie
zur gegebenen Zeit darum bitten würde, Ihre Umgebung so genau wie möglich zu beschreiben. Haben Sie sich zum Beispiel gemerkt, was Sie aus den Fenstern sehen konnten?« Rachel schniefte. Sie hatte die etwas unschöne Angewohnheit zu schniefen, wo andere vielleicht die Schultern gezuckt hätten. »Die haben mir dieses Zeug gegeben, das wissen Sie doch. Sie sagten doch auch, was es war. Davon kam mein Gedächtnis ganz durcheinander. Na, jedenfalls konnte man nur Felder sehen. Mehr war da nicht, bloß meilenweit lauter Felder. « Sie fuhren von Stowerton in südlicher Richtung nach Flagford. An dieser Straße gab es nur wenige unbebaute Stellen, allerdings standen die Häuser alle weit auseinander, jedes war von seinem Nachbarn etwa eine Viertelmeile entfernt. Die Gebäude hatten unterschiedliche Baustile: Es gab Bauernhäuser und ehemalige Witwensitze, Cottages, ausgebaute Scheunen, moderne Villen und am Ortsrand von Flagford sogar ein paar oberflächlich als Herrenhäuser getarnte Wohnblocks, jedoch wenig Bungalows. Rachel machte ein verdrossenes Gesicht, was Wexford darauf zurückführte, daß sie entweder gerade an Dr. Devonshires Haus oder an dem Gesundheitszentrum vorbeifuhren, in dem er seine Praxis hatte. 87 Sich im Dorf selbst länger aufzuhalten lohnte sich nicht, denn Rachel behauptete steif und fest, daß das Haus, in das sie gebracht worden war, von freiem Feld umgeben war. Karen fuhr über Seitensträßchen und schmale Feldwege, durch den Wald und weiter ins Hügelland hinauf. Die geschwungenen sanften Hügel und die Bergregionen wurden nur von Schafen bewohnt. Weit und breit war kein Haus in Sicht. Außerdem behauptete Rachel steif und fest, daß sie nirgendwo hier in der Gegend gewesen war. »Ich hab' gesagt, Felder«, meinte sie, »Felder und Wälder, und hügelig war es auch nicht.« »Da kann man lange suchen«, sagte Karen knapp, »bis man hier in der Gegend was findet, was nicht hügelig ist.« Sie konnte Rachel nicht leiden, hatte Wexford bemerkt, und ließ sich ihre Abneigung auch anmerken, eine Haltung, die der Sache nicht unbedingt förderlich war. »Fahren Sie weiter«, sagte er. »Halten Sie sich nördlich von den Hügeln.« Südwestlich von Pomfret gelangten sie zu einem Haus, auf das Rachels Beschreibung haargenau zutraf, glaubte Wexford jedenfalls. Ein Bau dieser Art wurde gewöhnlich als Bungalow im Chalet-Stil bezeichnet, weil das Obergeschoß aus einem einzigen, direkt unter dem Dach liegenden Raum
bestand. Das Haus stand für sich an einer abgelegenen Straßenkreuzung, wobei es sich bei den Straßen lediglich um schmale Feldwege handelte. An der oberen Hälfte des Hauses waren muschelförmige Schindeln angebracht, während das untere Stockwerk aus hellroten Ziegeln gemauert war. Vor den Fensterscheiben waren Gitter, und die Haustür war ein einziger bleiverglaster Anachronismus. Im Vorgarten mit Rasen und Kiesauffahrt stand ein hoher, schöner Baum, der ungefähr die Form einer Pappel hatte und offensichtlich laubtragend war, denn er begann gerade auszuschlagen: Sein elegantes Astwerk war mit einem feinen, zartgrünen Hauch bedeckt. Vielleicht eine ursprünglich aus den Sumpfgebieten Louisianas stammende Sumpfzypresse, dachte Wexford und äußerte seine Vermutung. 88 »Ich hab' gesagt, eine Kiefer«, sagte Rachel störrisch. »Eine Kiefer oder Tanne. Einigen wir uns auf eine Konifere, ja?« / »Warum hat die dann keine - wie heißt das? Nadeln, stimmt's - warum hat die keine Nadeln?« Wexford wurde es allmählich zu dumm. »Könnte dies das Haus sein?« »Nein«, erwiderte Rachel, »es sieht total anders aus.« »Es entspricht aber Ihrer Beschreibung«, sagte Karen. »Die Haustür stimmt nicht. Ich weiß, über die Haustür hab' ich nichts gesagt, aber jetzt fällt's mir wieder ein, und die hier stimmt nicht. Der Baum stimmt nicht, und die Tür und die Schindeln haben die falsche Farbe. Und«, fügte Rachel auftrumpfend hinzu, »es lag nicht an einer Kreuzung.« Sie brachten sie nach Hause. Sie war offensichtlich erleichtert. Am Sonntag würde sie nach Colchester an die University of Essex zurückkehren und ihr Erlebnis mit Vicky und Jerry im Haus mit der Kiefer hinter sich lassen. Falls das Haus, das sie beschrieben hatte, überhaupt existierte, wie Karen auf der Rückfahrt nach Kingsmarkham bemerkte. Falls es das Haus gab. Sie hatte zwar mehr Phantasie als Lizzie Cromwell, aber nicht viel mehr. »Was ist diesen beiden Mädchen passiert, das sie uns unbedingt verheimlichen wollen?« fragte Wexford. »In Lizzies Fall offensichtlich eine Vergewaltigung.« »Das glaube ich nicht.« In Karens Blick lag eine gewisse Enttäuschung, als hätte sie ihn bis dahin für einen Mann gehalten, der eine Vergewaltigung ernst nahm, ihre Meinung nun aber leider ändern müsse. »Sie ist aber schwanger, Sir.« »Soweit wir wissen. Und wenn - man kann auch auf andere Art und Weise dazu kommen.« Wexford sah sie scharf an. »Nächstes Mal, Sergeant
Malahyde, tragen Sie Ihre Abneigung gegen das Mädchen etwas weniger deutlich zur Schau, ja? Für eine - wie Sie sicher sagen würden - emotionale Beteiligung ist in der Polizeiarbeit kein Platz.« 89 In den vergangenen zwei Jahren hatte kein Allgemeinarzt in der Region einem Patienten Rohypnol verschrieben. Und selbst wenn es der Fall gewesen wäre, hätte man den Namen des oder der Betreffenden bestimmt nicht erfahren. Sämtliche Apotheker in Kingsmarkham, Stowerton und Pomfret sagten, sie hätten das Mittel zwar vorrätig gehabt, würden es aber nicht mehr führen. Keiner hatte Belege, aber vier von ihnen bewahrten Belege dieser Art sowieso nicht auf. Während Rachel Holmes in der Landschaft herumgefahren wurde, um der Polizei bei ihren Ermittlungen zu helfen (oder sie zu behindern), stellte die Hausärztin der Crownes Lizzies Schwangerschaft offiziell fest. Genauer gesagt, Debbie Crowne und ihre Tochter behaupteten, sie habe sie offiziell festgestellt. Wexford gegenüber verweigerte die Ärztin jegliche Auskunft über ihre Patientin. Lizzie hatte einige lange Gespräche mit Lynn Fancourt geführt, für die sie inzwischen eine gewisse »Schwärmerei« entwickelt hatte. »Wenn ich erwachsen bin, möchte ich auch Polizist werden«, sagte sie - eine Bemerkung, die Lynn so mitleiderregend fand, daß dieser hartgesottenen jungen Frau fast die Tränen kamen. »Polizistin, Lizzie«, sagte sie freundlich. »Polizistin, wollte ich sagen.« »Du bist aber doch schon erwachsen, oder? Erst wenn man erwachsen ist, kann man Babys bekommen.« Schön wär's! »Wenn ich eine eigene Wohnung kriege, könnte Mum ja kommen und sich um mein Baby kümmern, solange ich meine Ausbildung zum Polizist mache ich meine, zur Polizistin. Ihn würde ich nicht in die Nähe von meinem Baby lassen, aber Mum wäre schon okay.« Lynn berichtete Wexford von Lizzies offenkundig heftiger Abneigung gegen Colin Crowne. Sie vermutete dahinter sexuellen Mißbrauch. Lizzies Schwangerschaft machte sich allmählich bemerkbar, was absurd war, wenn die Empfängnis erst vor zwei Wochen stattgefunden hatte. Doch als Lynn sie nach Colin Crowne fragte und - ermutigt durch das sichtliche 89 Vergnügen des Mädchens, sämtliche Fehler von Colin aufzuzählen, »die ganzen gemeinen Sachen«, die er sagte und tat -auf eine eventuelle sexuelle
Beziehung zwischen ihr und ihm anspielte, lachte Lizzie so ungläubig und zeigte sich so offensichtlich verblüfft über die Vorstellung, daß sie fast aufgab. Doch vielleicht waren ihre Andeutungen zu indirekt gewesen. Sie kam deutlicher zur Sache. »Dem würde ich eine reinhauen, die er so schnell nicht vergißt, wenn er mir zu nahe kommt«, sagte Lizzie aggressiver, als Lynn sie je erlebt hatte. Noch mehr als ihr beharrliches Leugnen überzeugte Lynn jedoch ihr wiederholtes Gelächter. Sie regte sich nicht im geringsten auf. Rachels Geschichte schien sie andererseits zu beunruhigen. Davon wollte sie nichts hören. Ihr Märchen von den drei Tagen und Nächten in dem verfallenen Haus hatte sie aufgegeben und behauptete statt dessen nun, sie sei überhaupt nie dort gewesen, es sei nur ein »Traum«. Es hatte sie aber auch niemand in irgendein anderes Haus mitgenommen, sondern sie war durch die Landschaft gewandert und hatte in Scheunen und unter Hecken geschlafen. Um sich vor ihm in Sicherheit zu bringen. Um sich vor Colin in Sicherheit zu bringen, der behauptet hatte, sie sei ein Schwachkopf. Immer hackte er auf ihr herum, bloß weil sie nicht besonders schlau war. »Mochtest du Jerry leiden, Lizzie?« fragte Lynn. Sie seufzte erleichtert auf, als Lizzie - abgelenkt durch ihre Abneigung gegen Colin - erwiderte: »Ich kenn' keinen Jerry. Aber Vicky war schon in Ordnung.« Es war der einzige Durchbruch, allerdings kein besonders großer. 90
7 Es war dunkel, als Thomas Orbe, allseits Tommy genannt, nach Hause in die Oberon Road zurückkehrte. Er kam zu Fuß vom Bahnhof, und weil diejenigen, die sich für seine Rückkehr interessierten, sicher waren, er würde im Taxi oder in einem Streifenwagen oder sogar in einem Gefängniswagen kommen, ging seine Ankunft unbemerkt vonstatten. Der letzte Zug brachte ihn nach Kingsmarkham, und es war kurz nach halb zwölf, als er an dem Haus klingelte, dessen Mieter er war. Bestimmt hatte er einmal einen Schlüssel besessen, der jedoch während der neun Jahre, die er im Gefängnis verbracht hatte, verlorengegangen war. Das Haus lag im Dunkeln, als sei es unbewohnt. Seine Tochter Suzanne öffnete ihm die Tür. Er trat wortlos ein, und sie machte die Tür hinter ihm zu. »Du bist älter geworden«, sagte er, als sie Licht gemacht hatte. »Denkst du vielleicht, du nicht?«
Sechs Jahre war es nun her, seit sie ihn zum letztenmal besucht hatte. Ihr behagten die Blicke nicht, die sie im Knast geerntet hatte. Alle wußten, weswegen er dort saß, und sie ließen es ihn spüren. Aber wieso sollten sie es an ihr auslassen? Sie konnte doch nichts dafür. Nun sah sie zu, wie er ins Wohnzimmer ging und aus dem Fenster schaute. Er wußte, daß aus den Fenstern des Wohnsilos etwas hing, war vorhin aber nicht stehengeblieben, um es beim Schein der einsamen Straßenlaterne und der wenigen Lichter in den Wohnungen zu betrachten. Die Straßenlaterne brannte immer noch, würde jedoch in zwanzig Minuten ausgehen. Ohne jede Gefühlsregung las er die Aufschrift auf dem Transparent. Er war 91 ziemlich gefühllos geworden und reagierte auf nichts, wollte nichts außer am Leben bleiben, obwohl er nicht hätte sagen können, weshalb er am Leben hing. Als ein Gefängnispfarrer einmal zu ihm gesagt hatte, er sei in Gefahr, seine Seele zu verlieren, hatte Tommy nur die Schultern gezuckt. Jetzt sagte er zu seiner Tochter: »Was soll das Ding?« Sie gab keine Antwort. Er konnte das Wort »Pädophile« ausmachen, und falls er zusammenfuhr, sah man es nicht. Er wandte sich vom Fenster ab und sagte: »Der Kerl da von dir, ist der noch hier?« »Das ist mein Verlobter«, sagte sie. Tommy Orbe lachte. Sein Gelächter hörte sich an wie ein Instrument, das schon lange nicht mehr benutzt worden war. Es war, als spräche er eine Sprache, die er auf dem Schoß seiner Mutter erlernt hatte, die aber seit Jahren schon von einem härteren Idiom überlagert war. In dem stillen, fast dunklen Haus hallte es ein wenig wider. »Dein Bett hab' ich hergerichtet«, sagte sie und fügte hinzu, »hinten.« »Habt euch mein Zimmer genommen, was? Du und dein Verlobter?« Das letzte Wort sprach er mit unverhohlener Verachtung aus. »Essen und trinken will ich nichts«, sagte er, als hätte sie ihn gefragt. Er nahm den Koffer, den er im Eingang abgestellt hatte, und ging nach oben, ohne zur besseren Orientierung mehr Licht zu machen. Seine Tochter wartete unten an der Treppe, bis er verschwunden war. Dann öffnete sie die Haustür und sah auf die stille, menschenleere Straße hinaus, auf die Häuserreihen, das Wohnsilo und das Transparent, das sanft im Wind flatterte. Als Schlag Mitternacht die Straßenlampen ausgingen, schloß sie die Haustür ab, verriegelte sie und legte die Kette vor. Dann ging sie ebenfalls zu Bett.
In dem geräumigen, unpraktischen, recht ansehnlichen und unvollständig modernisierten ehemaligen Pfarrhaus, in dem sie mit ihrem Mann und den beiden Söhnen wohnte, lag Syl 92 via wach und machte sich Sorgen um The Hide. Die Frau, die am Morgen (inzwischen war es gestern morgen) gekommen war, hatte mit ihren Kindern das letzte verfügbare Zimmer belegt. Was sollten sie tun, wenn die nächste Anruferin um Zuflucht bat? Wenige Stunden nach der Ankunft der Frau hatte eine andere angerufen und voller Hoffnung und Unschuld gefragt: »Kann ich vielleicht bei Ihnen wohnen? Kann ich mein Baby mitbringen?« Und als Sylvia sich genauer nach ihrem Problem erkundigt hatte, hatte sie gefragt: »Würde ich denn eine Wohnung bekommen, für mich und mein Baby?« Manche hatten derartig optimistische Erwartungen, andere beinahe gar keine. Manche wollten nur ein geduldiges Ohr, einen Menschen, dem sie sich anvertrauen konnten, während es immer wieder welche gab, die dachten, nachdem sie nun schon einmal den ersten kleinen Schritt gemacht hatten diesen riesigen, enormen, fast unmöglichen Schritt -, würde alles andere schon folgen: Man würde für eine ausreichende Unterbringung sorgen, das Gericht für sie einschalten, den Mann als Verursacher ihrer Schwierigkeiten bestrafen, verwarnen und dazu bewegen, sich so zu verhalten, wie sie es von ihm erwartet hatten, als sie sich mit ihm zusammentaten. Was wurde eigentlich aus denen, die anriefen, dann aber nicht zur Polizei oder irgendwelchen sozialen Einrichtungen gingen? Die mit dem arg zugerichteten Gesicht zum Beispiel? Und was war aus der Frau namens Anne geworden, die so schrecklich verbittert gelacht hatte, als Sylvia von seelischem Mißbrauch sprach, und die so entsetzt geklungen hatte, als sie ihren Mann aus dem Garten hereinkommen sah? Was war ihr zugestoßen, als er sie zur Rede stellte und vielleicht erfuhr, mit wem sie telefoniert hatte? Hatte er sie wieder geschlagen? Sie wieder verletzt? Und was war mit dem Baby, von dem sie gesprochen hatte? Sylvia machte sich Sorgen, sie lag die ganze Nacht wach neben dem netten, freundlichen, langweiligen Mann, den sie schon lange nicht mehr liebte. Genauso unwahrscheinlich, wie daß er die Hand gegen 92 sie erheben würde, dachte sie, war es, daß er sich in jenen interessanten, aufregenden und charmanten Liebhaber verwandelte, für den sie ihn gehalten hatte, als sie ihn heiratete. Viele von diesen brutalen Ehemännern und Partnern, »Verlobten« und Freunden waren charmante Männer - höflich,
rücksichtsvoll und geradezu reizend zu allen außer zu den Frauen, mit denen sie zusammlebten. Sylvia fragte sich, woher das wohl kam. Sie hatte ihren Vater nach seiner Meinung gefragt, als sie am Vorabend Robin und Ben abgeholt hatte. »Vielleicht, um ihr wahres Verhalten zu verschleiern«, hatte er geantwortete. »Bloß würdest du diese Erklärung psychologisch für so fragwürdig halten, daß ich es mich nicht zu sagen traue.« »Ja, das kann es nicht sein«, hatte sie in ihrer wegwerfenden Art gesagt. »Das ist lächerlich.« Und gleich darauf hatte sie sich wie so oft gewünscht, sie wäre netter zu ihm gewesen. Er bemühte sich redlich, so zu tun, als liebte er sie ebensosehr wie ihre jüngere Schwester. Sie merkte, wie er sich bemühte, was jedoch nicht dazu führte, daß sie ihm gegenüber Zärtlichkeit empfand. Sie fand, daß er Sheila nicht vorziehen sollte. Wieso tat er es? Sie liebte ihre Söhne beide gleich, sie machte zwischen ihnen keine Unterschiede, weil sie tatsächlich keinen dem anderen vorzog. Als hätte sie ihn nicht so angefahren, hatte er einfach weitergeredet. »Für nächsten Mittwoch ist ein Treffen anberaumt. Der zukünftige Stellvertretende und ich und ein paar Leute von der regionalen Kriminalpolizei und eine gewisse Griselda Cooper von The Hide. Dabei wollen wir Möglichkeiten diskutieren, wie wir die Mobiltelefone den Frauen zukommen lassen können, die sie brauchen.« Er zog sie ins Vertrauen, dachte sie, er bemühte sich darum, über Dinge zu reden, von denen er dachte, daß sie sie interessierten. »Kennst du Ms. Cooper?« Der für ihn untypische Gebrauch der Anrede »Ms.« fiel ihr 93 auf. Zweifellos um ihr zu schmeicheln. »Klar kenne ich sie«, sagte sie spitz. »Wir haben schließlich keine hundertköpfige Schar von Mitarbeiterinnen, leider.« Jetzt, als sie wach neben Neil lag, mußte sie wieder an ihre scharfe Antwort denken. Sie war zu alt, um sich so aufzuführen. Was war eigentlich mit ihr los, daß sie nicht einmal mit ihrem eigenen Mann und mit ihrem Vater auskommen konnte? Mit ihrer eigenen Mutter übrigens auch nicht. Mit Kindern kam sie großartig zurecht. Mit Armen, Benachteiligten, sozial Ausgegrenzten konnte sie ausgezeichnet umgehen. Das sagten alle. Wieso dann nicht mit ihrem freundlichen, nachsichtigen Vater? Da schoß ihr auf einmal ein so gewagter und kühner Gedanke durch den Kopf, daß sie sich im
Bett aufsetzte. Hatte sie denn nicht immer behauptet, hatte man ihr nicht in der Therapie beigebracht, daß es unter solchen Umständen angebracht war, die Dinge »auszudiskutieren«? Warum diskutierte sie es mit ihrem Vater nicht einfach aus? Sie sagte es laut vor sich hin und weckte Neil dabei fast auf. »Was ist denn los?« brummte er. »Stimmt was nicht?« Wenn sie ihm gegenüber ihre Differenzen zur Sprache brachte, endete es immer damit, daß er erwiderte, es gäbe doch gar nichts zu bereden, sie paßten nun einmal nicht zueinander, das sei alles, müßten um ihrer Söhne willen aber zusammenbleiben. Sie sah im düsteren Halbdunkel der Morgendämmerung hinüber auf seine geschlossenen Augen, die Stirnfalten, die sich nie glätteten, und beugte sich dann über ihn, um ihn sanft auf die Wange zu küssen. Er lächelte im Schlaf. Dieses Lächeln trieb ihr Tränen in die Augen, und sie dachte, wenn er schläft, liebe ich ihn immer noch. Sie legte sich wieder hin und schmiegte sich dicht an ihn. Es war ein wunderschöner Tag, seit einem Monat der erste wirklich schöne Tag. Der Himmel war blau, die Sonne schien, und jedes Grashälmchen, jedes neue Blatt, jede Frühlingsblume leuchtete, frisch genährt vom wochenlangen Regen. Wexford und Dora hatten vor, mit dem Zug auf einen Ein 94 kaufsbummel nach London zu fahren, die Bonnard-Ausstellung in der Täte Gallery zu besuchen und sich abends Sheila in der Neuinszenierung von Somerset Maughams Home and Beauty im Theatre Royal am Haymarket anzusehen. Weil das Wetter so schön war, gingen sie zu Fuß zum Bahnhof und besprachen unterwegs, ob sie gleich nach dem Vorhang gehen müßten, um den letzten Zug nach Hause zu erreichen, oder ob das Stück so früh zu Ende wäre, daß sie mit Sheila noch Zeit für ein Glas Sekt in ihrer Garderobe hätten. Bürden war in seinem Garten. Seine Frau hatte rings um ein penibel angelegtes Blumenbeet eine Buchsbaumeinfassung gepflanzt, und er mußte nun entscheiden, wie er sie stutzen wollte. Sollte er sie eckig oder spitz zulaufend schneiden? Oder jeden einzelnen kleinen Busch in eine Kugel verwandeln? Er bezweifelte, ob er zu letzterem in der Lage wäre. War es zum Schneiden denn nicht überhaupt noch viel zu früh im Jahr? Vielleicht sollte er bloß die hervorstehenden Blättchen abschnippeln. Er beschloß, die Sache zu vertagen und statt dessen den Rasen zu mähen. Im Muriel Campden Estate war das Straßenschild neu gestrichen und der Bogen im P von Puck wiederhergestellt worden. Lange würde es nicht so
bleiben, wie Hayley Lawrie zu Kate Burton sagte, während sie zu den Crownes schlenderten, wo sie Lizzie Cromwell fragen wollten, ob sie mit in das neue Einkaufszentrum in Myringham käme. Kate war gerade sechzehn geworden und wollte sich von den fünfzig Pfund, die ihr Vater, ihre Stiefmutter und ihre beiden Halbbrüder ihr geschickt hatten, ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Lizzie, die seit ihrer Entführung nicht mehr zur Schule gegangen war und auch nicht die Absicht hatte, wieder hinzugehen, meinte, sie könnte nicht mitkommen, denn sie sei schwanger und müsse ruhen. Die beiden Mädchen staunten über die Neuigkeit, staunten, waren entzückt und tief beeindruckt. Genaue Einzelheiten wurden verlangt. Wer, warum und wann? Kaum hatte Lizzie zu erzählen begonnen, als Colin Crowne ins Zimmer trat und sich unterwegs am Stummel 95 der letzten Zigarette eine neue anzündete. Er hatte Lizzie sagen hören, sie könne nicht mitkommen, und weil er sie gern loswerden wollte, meinte er, sie sei ja wohl blöde, oder was? Natürlich müsse sie mitgehen, es würde ihr guttun, schließlich sei es doch nicht mehr wie in den »alten Zeiten«. Kate, die in Colin verknallt war, warf ihm schmachtende Blicke zu, die er jedoch nicht beachtete, weil er andere Eisen im Feuer hatte. Als die Mädchen fort waren, gingen er und seine Frau - ein Status, den sie sich durch Annahme seines Nachnamens selbst verliehen hatte - ein paar Häuser weiter, um Brenda Bosworth, Mutter von drei kleinen Kindern, einen Besuch abzustatten. Die kleinen Bosworths waren mit ein paar anderen Kindern vom Estate unbeaufsichtigt im York Park beim Spielen. Colin, Debbie und Brenda Bosworth marschierten die Puck Road hinunter in die Oberon Road und klingelten an Tommy Orbes Haustür. Suzanne schob die Riegel zurück und öffnete die Tür, behielt die Kette aber vorgelegt. Dadurch stand die Tür etwa fünfzehn Zentimeter weit offen. »Wo ist er?« fragte Colin Crowne. »Was geht Sie das an?« entgegnete Suzanne. »Ist er da drin?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« »Wir wollen eine klare Antwort auf eine klare Frage.« Brenda Bosworth schob Colin mit dem Ellbogen beiseite und versuchte, hinter Suzanne einen Blick in den Hausflur zu erhaschen. »Und die Frage lautet«, rief sie theatralisch, »wo ist Thomas Orbe, der berüchtigte Pädophile?«
»Ach, verpißt euch doch alle«, sagte Suzanne und knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Unbeirrt gingen sie hinten um die Doppelhaushälfte herum, Colin vorneweg, die beiden Frauen hintendrein. Zwischen der Seitenwand und dem Zaun, der den Garten vom Nachbargrundstück trennte, befand sich ein Tor aus Maschendraht auf einem Holzrahmen. Colin stieß es auf, und sie betraten den Garten hinter dem Haus. Der bot einen verblüf 96 fenden Kontrast zu den Gärten auf beiden Seiten, die säuberlich mit Rasen und Blumenbeeten angelegt waren. Im Garten der Orbes wucherten Brennesseln, Disteln und Sauerampfer ebenso üppig wie in den benachbarten Gärten Tulpen und Goldlack. Mitten im Unkraut, an der Stelle, wo die Nachbarn auf der einen Seite ein Vogelbad aufgestellt hatten, lag ein verrostetes eisernes Bettgestell. Colin, Debbie und Brenda nahmen von all dem jedoch keine Notiz. Nachdem sie beim Vorbeigehen zum Wohnzimmerfenster, das nach vorn hinausging, hinübergespäht und gesehen hatten, daß die Vorhänge zugezogen waren, steuerten sie jetzt auf die Verandatür zu. Dahinter sahen sie Garry Wills, den Mann, den sie als Suzannes Verlobten kannten, vor dem Fernseher sitzen und einen wesentlich älteren Mann, der überhaupt nichts tat, sondern nur die gegenüberliegende Wand anstarrte. Er war klein und gedrungen, hatte ein aufgedunsenes, dickliches Gesicht und stahlgraues, erstaunlich langes, üppiges Haar. Große, dickgeäderte Hände lagen schlaff auf seinem Schoß, die Fingernägel so dick und gelb wie Hufe. Er trug graue Flanellhosen, die viel zu groß für ihn waren, und ein viel zu jugendliches, blauweiß gestreiftes T-Shirt. Debbie Crowne trommelte ans Fenster. Garry Wills wandte den Kopf und sah sie grimmig an. Der andere Mann rührte sich überhaupt nicht, sondern starrte weiter vor sich hin, selbst seine Hände blieben absolut reglos auf seinen knochigen Knien liegen. »Wir haben Sie schon gesehen, Tommy Orbe«, kreischte Debbie. »Wir wissen, daß Sie's sind.« »Wir wissen, daß Sie da drin sind«, sagte Colin, als hätte sich Orbe in einem Wandschrank versteckt. »Glauben Sie bloß nicht, Sie kommen damit durch.« Suzanne Orbes Verlobter wandte den Blick wieder auf den Bildschirm. Orbe rührte sich nicht. Er sah aus wie seine eigene Wachsfigur. Unschlüssig, wie sie sich weiter verhalten sollten, gingen Colin und Debbie Crowne und Brenda Bosworth wieder vors Haus, wo sie auf der Straße zwei Frauen be 96
gegneten, die an Besenstielen befestigte Pappschilder vor sich hertrugen. Auf dem einen stand Pädophiler hau ab, auf dem anderen Schützt unsere Kinder. Das Transparent war immer noch wie ein Gürtel rund um den Turm gespannt. Colin überredete die Frauen, sich ihm, Debbie und Brenda anzuschließen, woraufhin sie sich gemeinsam auf den Weg zum York Park machten, um ihre Kinder einzusammeln, die auf Schaukeln, Wippen und Klettergerüsten spielten, und sie unter Protestgeschrei zurück in die Oberon Road mitzunehmen. Bis auf Brenda Bosworth versammelten sich alle vor dem Haus der Orbes, um »Verbannt den Pädo« und »Rettet unsere Kinder« zur Melodie von »Men of Harlech« zu singen. Schon bald tauchten an den Fenstern der Wohnsilos Köpfe auf, und die Nachbarn kamen aus ihren Häusern, um ihre Reihen zu vergrößern. Brenda Bosworth ging in ihr Haus zurück, und rief den Kingsmarkham Courier an. Im Redaktionsbüro war niemand bis auf eine Frau, die die Kleinanzeigen annahm. Von ihr bekam Brenda Brian St. Georges Privatnummer. Brenda rief ihn an und fragte - mit einiger Verachtung für das Blatt, das bloß einmal pro Woche erschien -, wie sie die Independent Television News verständigen könne. Darum würde er sich schon kümmern, sagte St. George und warf seine Pläne, den Tag beim Gelände Jagdrennen zu verbringen, froh über den Haufen. Ein Zugunglück, das sich aufgrund einer falschen Weichenstellung auf der Strecke zwischen Bath und Bristol ereignet hatte, beherrschte an jenem Samstag auf Kosten fast aller anderer Meldungen die Presse. Fast aller, denn zur gleichen Zeit, als sich die Lokomotive des Regionalzugs in den letzten Waggon des Intercity Paddington-Bristol bohrte, ging in einem Pub in Belfast eine Bombe hoch, bei der es zwar keine Toten, aber vier Verletzte gab. Fernsehen und Rundfunk zeigten daher kaum Interesse an dem Tumult in Kingsmarkham, und obwohl Sunday Minor wie auch Mail on Sunday auf Brian St. Georges hektische Bemühungen wohlwollend reagierten, die 97 Story als großen Aufmacher zu betrachten, erschien am nächsten Tag nichts von ihm Verfaßtes auf ihren Seiten. Weil am Samstag nachmittag ein Fußballspiel von internationaler Bedeutung stattfand, das einen Fernsehsender von zwei bis fünf in Beschlag nahm, waren die meisten Bewohner der Puck, Ariel und Oberen Road ihrerseits vom Spiel in Beschlag genommen und nicht sonderlich geneigt, sich dem Feldzug von Colin und Debbie Crowne und Brenda Bosworth anzuschließen.
»Ein ziemlich müder Reinfall«, lautete der Kommentar eines friedliebenden Nachbars der Orbes, der das Crowne-Bosworthsche Treiben beobachtet und so lange er es ausgehalten hatte - dem Sprechchor gelauscht hatte. Um fünf vor zwei, also kurz bevor das Fußballspiel beginnen sollte, ging er hinüber zur York Street, wo er auf die beiden Streifenpolizisten Martin Dempsey und Lydia Wingate traf. Sie begleiteten ihn zurück in die Oberen Road und empfahlen den singenden Bannerträgern, nach Hause zu gehen. Colin Crowne stritt sich noch ein Weilchen mit ihnen herum, und die Kinder, die aus dem York Park weggebracht worden waren, jammerten, weil sie kein Mittagessen bekommen hatten, und verlangten lautstark nach Essen. Doch um Viertel nach zwei waren alle abgezogen beziehungsweise hatten sich »in ihre Behausungen zurückgezogen«, wie Constable Dempsey es ausdrückte. Er und Lydia Wingate betraten das Wohnsilo und fuhren mit dem Aufzug in den zweiten Stock hinauf, wo sie bei John und Rochelle Keenan an die Wohnungstür trommelten. Martin Dempsey verlangte von den beiden, das Transparent einzuholen. Er erwartete Widerstand, traf jedoch auf demütige Einwilligung - John Keenan hätte sich auf alles eingelassen, solange er sein Fußballspiel gucken konnte -, und als Dempsey und Wingate wieder auf dem Weg in die York Street waren, hatte Keenan Rochelle zu den Nachbarn geschickt, und gemeinsam hatten sie den Stoffstreifen mit der aufwieglerischen Aufschrift entfernt. An der Ecke warf Dempsey
98 einen Blick zurück und stellte zu seiner Überraschung und Genugtuung fest, daß es verschwunden war. Die ganze Zeit über hatte Tommy Orbe sich kein einziges Mal am Fenster oder an der Tür der Oberon Road Nummer 16 gezeigt. Um vier wagte sich Suzanne Orbe heraus und kam eine Dreiviertelstunde später mit zwei gefüllten Einkaufstüten zurück. Die Straße war wie ausgestorben, keine Menschenseele war unterwegs, weil sich alle - auch ihr Vater und ihr Verlobter - das Fußballspiel ansahen. Um sieben verließ Garry Wills das Haus allein, um wie gewohnt ins Pub zu gehen, doch anstatt das Crown and Anchor in der York Street aufzusuchen, seine Stammkneipe, hielt er es für klüger, ins etwas weiter entfernte Rat & Carrot zu gehen, wo ihn keiner kannte. In den Sonntagszeitungen wurde ausführlich über Bombenexplosion und Zugunglück berichtet. Wexford brachte sie mit der morgendlichen Tasse Tee nach oben zu seiner Frau, die nach der langen Nacht noch ein wenig liegenblieb, vergewisserte sich aber zuerst, daß nichts über Orbe darinstand.
Eine Meile entfernt, im Straßendreieck mit dem Wohnsilo in der Mitte, war noch alles ruhig. Das Transparent war verschwunden. Die Gardinen am vorderen Fenster in der Oberon Road Nummer 16 blieben zugezogen. Um zehn lag Colin Crowne noch im Bett, um seinen Rausch auszuschlafen, Ergebnis einer Zechrunde bei Brenda Bosworth und deren Liebhaber und Wohnungsgenossen Miroslav Zlatic, die bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatte. Brenda und Miroslav schliefen ebenfalls noch, so daß die beiden kleinen Jungen und das kleine Mädchen allein aufgestanden waren, sich ihr Frühstück selbst gerichtet hatten und in den York Park marschiert waren, zusammen mit zwei kleinen Keenans und drei Kindern namens Hebden aus der Ariel Road. Der Samstag war einer der vergnüglichsten Tage in Lizzie Cromwells bisherigem Leben gewesen, denn endlich war sie einmal so richtig gefeiert und bewundert worden. Hayley hatte ihr ein Eis gekauft, und Kate, nachdem sie ihnen allen von ihrem Geburtstagsgeld ein Mittagessen spendiert hatte, 99 überredete sie, einen Wodka mit schwarzer Johannisbeere zu trinken, »um sie aufzumuntern«. Jetzt, wo sie schwanger sei, müsse sie gut auf sich aufpassen, sagten die beiden. Nach mehreren verbotenen Drinks in einem Pub, das sich rühmte, nie geschlossen zu sein, gingen sie wieder in die Wohnung von Kates Mutter in der Stowerton Road, aßen Fisch mit Pommes frites und Erbsenpüree, das Kates Bruder Darryl besorgt hatte, und sahen sich das Video von L.A. Confidential an. Lizzie war erst kurz vor Mitternacht nach Hause gekommen. Sie rechnete mit Ärger, doch es kam keiner, denn wie Debbie treffend meinte: »Dafür ist es ja wohl zu spät, oder?« Und Colin sagte: »Was soll man den Brunnen zudecken, wenn das blöde Kind schon reingefallen ist.« Der nächste Tag ließ sich dann fast genausogut an, denn kurz nach zehn kamen Kate und Hayley mit einem weiteren Mädchen namens Charlotte vorbei. Diese Charlotte, abgesehen davon, daß sie über einsachtzig groß und mit ihrem roten Haar, das ihr bis auf die Taille reichte, atemberaubend schön war, kannte auch Hunderte von Jungs, darunter vier, die alle Motorräder hatten und aus Pomfret herüberkommen wollten, um sich um elf mit ihnen am Musikpavillon zu treffen. Die vier Mädchen gingen in die High Street hinunter, kauften in dem einzigen Geschäft, das sonntags geöffnet hatte, Schokoriegel und Kartoffelchips und machten sich dann auf den Weg in den Park.
Die schönen Hoffnungen wurden nicht erfüllt, weil die Jungs sich nicht blicken ließen. Lizzie, Kate, Hayley und Charlotte lungerten geraume Zeit beim Musikpavillon herum, verzehrten die Chips und die Schokoriegel und legten sich schließlich ins Gras, um Lizzies Bericht über den Ursprung ihrer Schwangerschaft zu lauschen. Jedesmal, wenn sie die Geschichte erzählte, berichtete sie den Hergang der Erlebnisse anders,- inzwischen hatte sie schon drei potentielle Kindsväter erfunden. Als Hayley dies auffiel und sie sie darauf hinwies, meinte Lizzie, sie solle sich nicht mit ihr anlegen, in ihrem Zustand dürfe sie sich nämlich nicht aufregen. 100 Als klar war, daß die Jungs nicht kommen würden, standen alle auf und zottelten zurück. Nicht den gleichen Weg wie zuvor, weil sie dann bei der High Street herauskämen, sondern über den Kinderspielplatz in dem Teil des Parks, der dem Muriel Campden Estate am nächsten lag. Ein kleiner Keenan und ein kleiner Bosworth waren auf der Schaukel, ein weiterer Bosworth und zwei Hebdens kletterten auf dem Gerüst herum, und der Rest kickte einen Ball herum. Die vier Mädchen blieben stehen, und Hayley sagte, sie würde jetzt die Rutschbahn runterrutschen, denn als Kind hätte sie es sich nie getraut. Die meisten Häuser in der Oberon Road gingen nach hinten auf den Park hinaus, doch nur von den Hausnummern 14 bis 19 konnte man den Spielplatz direkt einsehen. Als Hayley das zweite Mal herunterrutschte, sah sie an einem der oberen Fenster einen Mann stehen, der offenbar zu den Kindern auf dem Spielplatz herunterstarrte. Es war nicht die Nummer 16 und auch nicht Tommy Orbe, sondern der Mann im übernächsten Haus mit der Nummer 18, der am gestrigen Nachmittag die Polizei geholt hatte. Tony Mitchell war zwar fünfzehn Zentimeter größer als Orbe und zwanzig Jahre jünger, doch von solchen Nebensächlichkeiten ließ sich Hayley nicht beirren. Mit erhobenen Armen und Beinen sauste sie die Rutsche herunter und schrie: »Der Pädo! Der Pädo ist da oben und beobachtet uns!« Die anderen Mädchen stimmten in ihr Geschrei ein und die Kinder auch, da ihnen die Geräte, die der Spielplatz zu bieten hatte, inzwischen langweilig waren. Mit Hayley an der Spitze steuerten sie auf den Muriel Campden Estate zu, setzten sich in Trab und kreischten: »Der Pädo, der Pädo!« Sie trampelten über den Verbindungsweg zur Oberon Road, und Lizzie ihren Zustand vergessend - immer mit dabei. Neun Kinder und vier Teenager, alle aus Leibeskräften brüllend, können einen Heidenlärm veranstalten. In der Oberon Road und der Puck Road erschienen Köpfe an den Fenstern, Türen
flogen auf, und Leute traten in ihre Vorgärten heraus, um nachzusehen, was los war. »Der alte Pädo steht da an seinem Fenster und beobachtet 101 die Kinder«, keuchte Charlotte, und Lizzie rief ebenso atemlos: »Der beobachtet sie, und dann kommt er runter und schnappt sie sich!« Brenda Bosworth, die sich einen Mantel über ihr Nachthemd gezogen hatte, kam heraus, stieß einen lauten Schrei aus und packte ihren Sean, ihren Dean und ihre Kelly, preßte alle drei in mütterlicher Umarmung an sich, ließ sie aber wieder los, als Colin Crowne sämtliche Kinder in sein eigenes Haus zu treiben begann und erklärte, dort wären sie in Sicherheit, bis »etwas unternommen wird«. Er knallte die Haustür hinter ihnen zu, und dann marschierten Debbie und er zur Hausnummer 16 hinüber. Inzwischen standen John und Rochelle Keenan bereits auf dem Rasen, der das Wohnsilo umgab, wo sich ein Dutzend anderer Leute zu ihnen gesellte. Zwei junge Männer hatten sich sogar bewaffnet, der eine mit einem Bleirohr, der andere mit einem Ziegelstein. Die Pappschilder mit Pädophiler hau ab und Schützt unsere Kinder tauchten wieder auf, getragen von Joe Hebden und einem seiner Kumpel, der eigentlich vorbeigekommen war, um über einen fünfundzwanzig Jahre alten Triumph Herald zu reden, den er für zweihundert Pfund verkaufen wollte. Der Mensch mit dem Triumph Herald war nur der erste von vielen Ortsfremden, die sich mit ins Getümmel stürzten. Wie sie davon erfahren hatten, wie die Kunde sie erreicht und aufgestachelt hatte, blieb ein Rätsel. Doch zu dem Zeitpunkt, als sich die Mehrheit der Muriel-Campden-Eltern auf dem Rasen versammelt hatte - wo Brenda Bosworth sich in einer flammenden Rede über »diese Bedrohung in unserer Mitte« an sie wandte -, strömten bereits Leute aus allen Teilen von Kingsmarkham in die Ariel Road, die meisten zu Fuß, einige jedoch in Autos oder auf Motorrädern sowie eine Gruppe in einem Minibus. Tony Mitchell, der Friedensstifter, den Hayley irrtümlich für Tommy Orbe gehalten hatte, sah alles, unternahm diesmal aber nichts. Als er gestern abend draußen gewesen war und seinen Vorgarten gegossen hatte, war eine alte Frau vor 101 beigekommen, hatte ihn angespuckt und ihn einen Quisling genannt - einen Beinamen, dessen Bedeutung er aufgrund seiner jungen Jahre nicht begriffen hatte. Gefallen hatte ihm die Sache nicht, auch nicht, daß seine Nachbarin von Nummer 19 ihm den Rücken zugekehrt hatte, als er ihr einen guten Abend
gewünscht hatte. Er hatte daher beschlossen, sich bedeckt zu halten. Seiner Frau sagte er, sie solle sich da nicht einmischen, und sie versprach es ihm. Sie ging nur kurz über die Straße ins Wohnsilo, borgte sich den Camcorder ihrer Schwester Rochelle Keenan und begann von einem der oberen Fenster aus, die ganze Sache auf Videofilm aufzunehmen. In den drei Straßen drängten sich inzwischen die Autos. Leute, die über die Zufahrtsstraße von der York Street hereinfahren wollten, behielten die Hand auf der Hupe und beugten sich rufend aus den Autofenstern. Unter ihnen war auch Brian St. George, der seinen Wagen kurzerhand mitten auf der Straße stehenließ und sich zu Fuß auf den Weg in die Oberon Road machte. Die Menge auf dem Rasen jubelte Brenda Bosworth applaudierend zu, und zwei Männer kamen auf die Idee, sie auf den Schultern zur Nummer 16 zu tragen, um dort Aufstellung zu nehmen. Dort standen sie nun, flankiert von den Bannerträgern, während sich etwa hundert Leute hinter ihnen versammelten. Es ging immer noch sehr geordnet zu, die Menge sang lediglich noch einmal die Slogans, diesmal zur Melodie von »Abide With Me«, weil ein Fan von Manchester United den Vorschlag gemacht hatte und nicht etwa, weil Sonntag war. Wer den ersten Ziegelstein warf, ließ sich nicht genau feststellen. Die Ziegel lagen im Vorgarten von Oberon Road Nummer 21, dessen Bewohner an dem Tag nicht zu Hause waren, schon bereitgelegt für den Bau einer Mauer, die ihren Rasen vom Gehweg trennen und den Maschendrahtzaun ersetzen sollte. Der Maurer hatte die Steine, mit Plastikplane abgedeckt, am Freitag dort liegenlassen. John Keenan zog die Plane weg, doch ob er tatsächlich einen Ziegel aufhob, konnte niemand sagen. Jemand nahm jeden 102 falls einen und schleuderte ihn in Richtung Nummer 16. Dieser erste Stein, der dicht an Brenda Bosworths Ohr vorbeiflog, sorgte dafür, daß ihre zwei Träger sich duckten und die Bannerträger sich zurückzogen, verfehlte jedoch sein Ziel und knallte gegen die Vorderfront des Orbeschen Hauses statt durch die Fensterscheibe. Von dem Lärm bekamen alle einen Schreck, und die Menge zögerte. In dem Moment stellte ein Mann namens Carl Meeks fest, daß weniger Kinder anwesend waren, als hätten dasein sollen. Insbesondere sein eigener Sohn fehlte. Er rief aus: »Wo ist mein Scott?«, worauf John Keenan in den Aufschrei einstimmte: »Was ist mit meinem Gary passiert?«
Brenda Bosworth sprang ihren Trägern von den Schultern, vergewisserte sich mit einem raschen Blick, daß ihre Kinder ebenfalls fehlten, und kreischte: »Er hat sie! Der Pädo hat sie bei sich da drinnen!« Die kleinen Bosworths, Keenans, Hebdens und Scott Meeks waren allesamt im Haus der Crownes. Jeder von ihnen hätte ohne weiteres die Haustür aufmachen und abhauen können, doch sie zogen es vor, zu bleiben und sich damit zu verlustieren, die in der Küche entdeckten Kartoffelchips zu verdrücken und eins von Colin Crownes Pornovideos zu gucken. Colin hatte sie dort eingeschlossen, aber das wußte niemand, und Colin selbst hatte es irgendwie ganz vergessen. Er fing also auch an zu schreien, Orbe hätte die Kinder, und warf ebenfalls einen Ziegelstein. Der verfehlte sein Ziel nicht, sondern flog durch die Fensterscheibe ins Haus Nummer 16. Ein Hagel von Ziegeln folgte, und als die Ziegel aufgebraucht waren, warf die Menge mit Steinen aus den Blumenbeeten um das Wohnsilo. Im Haus der Orbes konnte man jemanden kreischen hören. Es war Suzanne, doch Linda Meeks behauptete, sie habe die Stimme ihres Sohnes Scott erkannt, Woraufhin die Menge auf das Gartentor von Nummer 16 zudrängte, es eintrat, den windigen Maschendrahtzaun niedertrampelte und sich vor der Haustür zu einem menschlichen Rammbock formierte. Die Polizei traf in dem Moment ein, als die Tür zu Bruch 103 ging. Suzanne hatte sie verständigt, als der erste Ziegelstein geworfen wurde. Sie hätte schon früher angerufen, hätte ihr Verlobter nicht erklärt, wenn ihm einer gesagt hätte, jemand, der zu ihm gehörte, würde einmal die Polizei rufen, hätte er es nicht geglaubt. Was Orbe dachte, wußte keiner. Er saß schweigend auf seinem Stuhl und tat überhaupt nichts, außer ab und zu aufzustehen und sich noch eine Tasse Tee zu machen. Zwischen neun Uhr morgens und drei Uhr nachmittags hatte er bereits fünfzehn Tassen getrunken. Die Polizei trieb die Menge auseinander und nahm John Keenan, Brenda Bosworth und Miroslav Zlatic fest, die wegen Aufwiegelung und Sachbeschädigung belangt werden würden. Ein Schreiner wurde beauftragt, die Haustür von Oberon Road Nummer 16 wieder instandzusetzen und die zertrümmerten Fenster mit Brettern zu vernageln. Sergeant Joel Fitch führte mit den Bewohnern des Hauses ein langes Gespräch über die Situation und ihre Aussichten, oder besser gesagt, er redete in Orbes Anwesenheit, doch ob Orbe zuhörte und sich dafür interessierte, stand auf einem anderen Blatt. Sollte er bleiben, wo er war, oder anderswohin gebracht werden? Und wenn
ja, wohin? Ein Polizeirevier wäre vielleicht der beste, wenn auch nur ein zeitweiliger Zufluchtsort für ihn. Aber nicht in Kingsmarkham, wo nur zwei Zellen zur Verfügung standen, in denen gegenwärtig John Keenan und Miroslav Zlatic saßen. Brenda war schon wieder entlassen worden, weil sich sonst niemand um ihre Kinder kümmern konnte. Diese Kinder und auch die kleinen Keenans und Hebdens wurden erst ein paar Stunden später entdeckt. Als Debbie und Colin und Lizzie schließlich nach Hause kamen, hatten sie sich bereits aus dem Staub gemacht, nicht ohne zuvor alles Eßbare im Haus vertilgt und die fünfhundert zollfreien Zigaretten, die Colin von einem Tagesausflug nach Frankreich mitgebracht hatte, eingesackt zu haben. Dann waren sie zum Schwimmen ans Kingsmarkhamer Wehr hinuntergegangen. Als sich die Lage wieder beruhigt hatte, trat Shirley Mitchell aus ihrem Haus auf die Grünfläche, um den Abfall aufzusam 104 mein, der im Lauf des Nachmittags dort weggeworfen worden war, und in eine Plastikmülltüte zu stecken: Chipstüten und Schokoladenpapierchen und ein paar Coladosen. Keiner hörte ihr wütendes Brummen über diese ignoranten Typen, die zu dämlich waren, ihre eigene Umwelt zu schonen. Etwas später trat ein Mann mit einem Koffer in der Hand aus der Oberon Road Nummer 16. Es war Suzanne Orbes Verlobter, der sich auf den Weg zum Bahnhof machte, um den letzten Zug nach London zu erwischen. Er hatte einen Kumpel in Balham, bei dem er wohnen konnte. Wenn sich die Situation »beruhigt« hatte, käme er vielleicht wieder zurück, sagte er zu Suzanne, doch wie die Dinge im Augenblick lagen, war ihm der Streß einfach zuviel. Wexford sah sich das Ganze im Fernsehen um zehn vor neun in den Sonntagabendnachrichten an. Ein Großteil der gefilmten Berichterstattung stammte von einem Amateurvideo, was auch erwähnt wurde, allerdings ohne Namensnennung. Er fand es nicht gerade konstruktiv, daß in der Meldung auch ein Bild von Thomas Orbe gezeigt wurde, eins von diesen Fotos aus dem Verbrecheralbum, auf denen der Abgebildete wie ein mieser, niederträchtiger Schläger aussieht. Aber natürlich war Orbe vermutlich genau das, dachte er mit einem Seufzer und hoffte, er müßte ihm nicht begegnen, fürchtete jedoch, daß es bald dazu käme. Der Anblick des Orbeschen Hauses, selbst als es bereits mit Brettern vernagelt worden war, erschütterte Dora zutiefst. So etwas wäre damals, als sie
hergezogen war und Kingsmarkham ein ruhiges, gesetzestreues, friedliches Städtchen gewesen war, undenkbar gewesen. »So gesetzestreu nun auch wieder nicht«, sagte Wexford. »Aber nicht wie heute, Reg, das mußt du doch zugeben.« »Natürlich. Und was machen wir jetzt mit diesem Kerl, diesem Orbe? Sollen wir ihn etwa bis in alle Ewigkeit einsperren?« »Wäre das nicht das Beste? Wenn ich nur an ihn denke, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.« »Das geht uns allen so«, sagte Wexford. 105 Im Muriel Campden Estate überschlugen sich die Gerüchte. Shirley Mitchell habe fünftausend Pfund für ihr Video bekommen, sie habe zehntausend Pfund bekommen, sie habe nicht mehr als fünfhundert Pfund bekommen, sie habe gar nichts bekommen. Es sei gar nicht ihr Video gewesen, das ausgestrahlt worden war, sondern ein anderes, von einem professionellen Kameramann aufgenommen, den die Keenans heimlich in ihre Wohnung gelassen hätten. Tony Mitchell habe höchstpersönlich die Filmkamera seiner Schwägerin zertrümmert, und das Ende vom Lied sei, daß er und Shirley sich trennten. Orbe habe sich die Kinder geschnappt, aber Colin Crowne hätte sie gerettet. Oder: Nur die Bosworth-Kinder seien geschnappt worden, und Miroslav Zlatic habe die Rettung bewerkstelligt. Orbe habe Selbstmord begangen oder hätte Suzanne gesagt, er beabsichtige, Selbstmord zu begehen. Weit davon entfernt, für irgend etwas belangt zu werden, solle Brenda Bosworth für eine Tapferkeitsmedaille vorgeschlagen werden. Alle diese Geschichten breiteten sich wie ein Lauffeuer aus. Wichtiger und gefährlich war jedoch eine, die ab Montag morgen die Runde machte. Bei dem Mann, den man am Vorabend um halb zehn aus der Oberon Road Nummer 16 hatte weggehen sehen, handele es sich nicht um Suzannes Verlobten, sondern um Orbe selbst. Ein Nachbar der Keenans wußte es ganz genau, weil er Garry Wills um zehn an seinem Schlafzimmerfenster hatte stehen sehen. Ein anderer älterer Mann, einer der ursprünglichen Bewohner des Muriel Campden Estate, wollte Orbe erkannt haben. Sein Gang und die Art, wie er den Koffer in der linken Hand hielt, seien wirklich ganz unverwechselbar. Wohin war er gegangen? Niemand wußte es, doch das hinderte keinen am Herumspekulieren. 105
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»In zwanzig Fahrtminuten um Kingsmarkham herum gibt es kein Haus, auf das Rachels Beschreibung zutrifft«, sagte Wexford. »Das hat sie sich ausgedacht. Aus irgendeinem Grund will sie verhindern, daß wir Vicky und Jerry finden.« »Wenn Vicky und Jerry überhaupt existieren«, meinte Bürden. »Vicky schon. Beide Mädchen bestätigen die Existenz von Vicky. Was ist also wahr und was falsch? Mit Sicherheit falsch ist, daß Lizzie erst seit zwei Wochen schwanger ist, es sind eher drei Monate. Und mit Sicherheit wahr ist, daß Rachel ihre Verabredung im Rotten Carrot einhalten wollte, durch irgend jemanden oder irgend etwas jedoch daran gehindert wurde. Beide Mädchen wurden irgendwohin gebracht, allerdings nicht unbedingt an den gleichen Ort. Wer immer Lizzie mitgenommen hat, jagte ihr gehörig Angst ein. Wenn sie etwas verriete, würden sie sie finden und sie bestrafen, so in der Art. Bei Rachel konnten sie damit aber nicht landen, also frage ich mich, ob sie eventuell etwas getan hat, während sie bei diesen Leuten war, für das sie sich schämt und von dem sie nicht will, daß es ans Licht kommt.« »Wir haben eine Chance, es herauszufinden, wenn sie noch ein Mädchen entführen.« »Das sei ferne.« »Sie sagen mir doch immer, woher solche Sachen sind«, sagte Bürden. »Ich meine, Ausdrücke, Zitate, Redewendungen. Wetten, Sie wissen nicht, woher das ist, was Sie da gerade gesagt haben.« »Woher was ist?« »Das sei ferne.« 106 »Was? Ach, ich verstehe. Na, und woher ist es?« »Paulus. Aus dem Apostel Paulus. Er sagte es andauernd in seinen Briefen.« »Woher wissen Sie das denn?« »Na ja, ich weiß es eben.« Wexford hatte damit gerechnet, daß am Samstag abend wieder ein Mädchen entführt wurde. Während er in London war und auch am nächsten Tag während der Krise im Muriel Campden Estate waren seine Gedanken immer wieder zu Rachel und Lizzie, zu Vicky und Jerry und zu dem rätselhaften Haus gewandert, und es hätte ihn überhaupt nicht gewundert, wenn er am Morgen von der Entführung eines weiteren Mädchens erfahren hätte. Doch es hatte sich nichts ereignet. Und die Frage, was nun mit Orbe geschehen sollte, überwog alle anderen Überlegungen. Im Muriel Campden Estate war alles ruhig. Miroslav Zlatic und John Keenan erschienen gerade vor dem Magistratsgericht von Kingsmarkham, doch
Wexford war klar, daß sie auf Bewährung freigelassen oder mit Strafvorbehalt verwarnt und bis zur Mittagszeit auf freien Fuß gesetzt werden würden. Was geschähe, wenn Orbe sich draußen vor der Oberon Road Nummer 16 blicken ließ? Er konnte ja nicht bis in alle Ewigkeit dort eingeschlossen bleiben. Und man konnte nie wissen, wann es so einem Unruhestifter vom Estate in den Sinn kommen würde, seine Kinder seien in Gefahr, und er daraufhin einen neuerlichen Angriff auf das Haus startete. Allmählich begann Wexford, seine Meinung zu revidieren, die Sozialwohnsiedlung unterscheide sich von ihren großstädtischen Gegenstücken und die Bewohner seien alle gesetzestreue Bürger. Andererseits - würden sich nicht die meisten Eltern von kleinen und unter zehnjährigen Kindern in Furcht und Zorn erheben, wenn ein Orbe sich unter sie mischte? Superintendent Rogers von der uniformierten Truppe hatte ihm mitgeteilt, Orbe habe bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis aus freien Stücken um Schutz gebeten. Er könnte nicht garantieren, sagte er, daß er keine Gefahr mehr dar 107 stellte. Er könnte nicht sagen, was passiere, wenn er Zugang zu Kindern hätte. Jedenfalls hatte er Spaß daran - wenn schon nichts Schlimmeres -, sie zu betrachten. Es bereitete ihm großes Vergnügen, sie zu beobachten, und er sah eigentlich nicht ein, weshalb er sich dieses Vergnügen versagen sollte. Schließlich kam dadurch niemand zu Schaden. Abgesehen von dem Jungen, der gestorben war - ein, wie er eingestand, tragischer Unfall -, behauptete Thomas Orbe, er habe nie jemandem Schaden zugefügt. Er gehörte zu jenen Pädophilen -»>PädosDu bist dumm, mit dir wird das nichts.« Und dann hat sie mich mit ihrem Auto zurückgefahren.« »Was meinte sie damit, >mit dir wird das nichts?« Was wird nichts?«
»Keine Ahnung. Hat mir niemand gesagt.« »Wie sah sie denn aus?« Er rechnete damit, daß sie »ganz normal« oder »wie eine alte Frau eben« sagte, die übliche Reaktion einer unaufmerksamen Beobachterin. Statt dessen stellte er fest, daß Lizzie in gewissem Sinn mehr wahrgenommen hatte als Rachel Holmes. »Sie hatte keine Haare«, sagte Lizzie. »Sie war kahl. Sie hatte eine Perücke auf, eine riesige, graue Perücke, aber ich hab' sie mal ohne gesehen. Da hing die Perücke an einem Ständer in ihrem Schlafzimmer, und da hab' ich ihren Kopf ohne Haare gesehen.« »Was ist bei dem Treffen herausgekommen?« »Nicht viel«, sagte Bürden. »Wann kommt schon was raus, wenn Southby das Heft in der Hand hat? Diese Griselda Cooper hat ein paar nützliche Vorschläge gemacht, wie man die Handys verteilen könnte, aber unser Stellvertretender wollte davon nichts wissen. Er hat einen Ausschuß einberufen« -Bürden verzog angewidert das Gesicht - »ich zitiere, zur Begutachtung und Revision des Kommunikationsprojekts für Opfer häuslicher Gewalt. Und wissen Sie was - ich bin mit von der Partie.« Wexford lachte. »Was ist mit der Einheit, die sie in Myringham aufbauen? Da sollen zwanzig Beamte speziell geschult werden, habe ich gehört.« »Ich bin nicht dabei«, sagte Bürden, »zu hoher Dienstgrad, Gott sei Dank, aber Karen - wir werden die nächsten drei Monate also ohne sie auskommen müssen. Irgendwelche heißen Spuren zu Vicky und Jerry?« »Lizzie Cromwell hat mir was Interessantes erzählt.« Wex 156 ford gab ihm eine kurze Beschreibung seiner morgendlichen Aktivitäten und erzählte Bürden dann von der Perücke. »Rachel sagte, Vicky kam ihr krank vor, sie hatte Husten. Also, welche Krankheit führt dazu, daß einer Frau die Haare ausgehen?« »Kreisrunder Haarausfall«, sagte Bürden wie aus der Pistole geschossen. »Ja, aber woher dann der Husten? Ist es nicht wahrscheinlicher, daß sie eine Chemotherapie hinter sich hat? Sie hat Krebs und wurde deswegen mit Chemotherapie behandelt, die, wie so oft, zu völligem Haarausfall führte.« »Vielleicht, aber ich weiß nicht, wie uns das weiterhelfen sollte. Sie können ja nicht zu Akande gehen oder ins hiesige Krankenhaus und fragen, wie viele von ihren Patienten in den letzten Wochen eine Chemotherapie bekommen haben. Beziehungsweise, fragen können Sie schon, aber Sie werden keine Antwort bekommen.«
»Wie steht's, Mike, gehen wir zum Mittagessen? Am besten in der Kantine, da geht es schneller. Und dann will ich noch einmal zu den Devenishs; vielleicht kommen Sie mit.« Die Kantine im obersten Stockwerk hatte sich in den Jahren, seit Wexford angefangen hatte, sehr gemausert. Um nicht dort essen zu müssen, hatte er früher meistens auswärts gegessen oder sich, wenn besonders viel zu tun war, Sandwiches kommen lassen und später die unterschiedlichen Arten von internationalen Gerichten zum Mitnehmen. Heute standen in der Kantine Pasta, Curry und Risotto auf der Speisekarte. »Eine traditionelle Steak-und-Nieren-Pastete sieht man heutzutage überhaupt nicht mehr«, sagte Bürden wehmütig. »Ist Ihnen das schon aufgefallen?« »Natürlich ist es mir aufgefallen. Aber das darf ich sowieso nicht essen.« Bei der Erwähnung der Diät, die er selten befolgte, mußte Wexford an seinen Arzt und an die anderen Allgemeinärzte in der Gemeinschaftspraxis denken. Mit seinem Tablett voll Tagliatelle und Salat, dazu einer winzigen Creme Caramel ge 157 seilte er sich zu Sergeant Vine, der sich einen Tisch mit Wendy Brodrick teilte. »Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« Wexford nahm Platz und erklärte dem Sergeant seine Theorie. »Ich glaube nicht, daß Sie mit diesen Ärzten viel Freude haben werden, Barry, aber es besteht doch eine Chance, schließlich ist ein kleines Kind in Gefahr.« »Ich werd's versuchen, Sir. Ich weiß nicht, ob Sie die Resultate aus dem Labor schon gesehen haben, aber die haben die Leiter aus der Garage der Devenishs untersucht und sind sich so gut wie sicher, daß sie niemand vom Fleck bewegt hat, geschweige denn rauf geklettert ist.« »Wieso sind die sich da sicher?« schaltete sich Wendy Brodrick ein. »Es ist eine nagelneue Leiter, die in Plastikhülle verpackt gekauft wurde. Devenish entfernte die Hülle und legte die Leiter einfach in der Garage auf den Boden. Man kann die Umrisse im Staub sehen, und es besteht kein Zweifel, daß sie nie bewegt wurde. Es sind nur Devenishs Fingerabdrücke dran, und zwar nur auf der obersten Sprosse.« »Genau. Diese Leiter wurde nicht benutzt, wohl aber vielleicht eine andere.« »Was, in einer gewöhnlichen Limousine transportiert? Unmöglich. Wir müssen mal sehen, was wir Moira Wingrave noch entlocken können.« Wexford wandte sich an Wendy Brodrick, die eine klebrige, graue Masse verspeiste, bei der es sich wohl um Risotto handelte. »Was haben Sie mit Orbe gemacht?«
»Ich habe ihm ein paar Sachen zusammengepackt und ihm eine Tasse Tee gemacht, und als die Luft rein war, sind wir gefahren. Mr. Southby sagte, ich sollte ihn ins Hauptquartier nach Myringham bringen.« »Haben die denn dort Platz für ihn?« »Sie haben ein Zimmer mit Bad. Ihn in eine Zelle zu stecken wäre doch nicht fair, oder? Schließlich hat er seine Schuld bezahlt.« 158 Wexford ignorierte Vines Schnauben und Burdens humorloses »Pah!« »Dann gesellt er sich also zu den übrigen hundertzehntausend rechtskräftig verurteilten Pädophilen im Lande. Immerhin sind nur vier Prozent davon im Gefängnis. Man mag gar nicht dran denken, stimmt's? Also denken wir meistens auch nicht dran. Was haben Sie gemacht? Ihn hierher gebracht und weitere Instruktionen abgewartet?« »Ich bin hintenherum gefahren, so daß er gar nicht aussteigen mußte. Mr. Southby kam gerade aus seiner Besprechung und sagte, ich soll ihn nach Myringham fahren. Äh, Sir, eigentlich sagte er, ich soll ihn so schnell wie möglich loswerden.« Wexford nickte. Das sah Southby ähnlich, im Weitergeben des Schwarzen Peters war er Experte. Überlaßt das Thema häusliche Gewalt einem Auschuß und schickt den Kindermörder ein paar Meilen weiter. »Hat man Sie gesehen, als Sie ihn herbrachten?« fragte er. »Sicher nicht. Ich war vorsichtig, und es waren auch nicht viele Leute unterwegs. Er saß auf dem Rücksitz. Abgesehen von den Leuten im Muriel Campden Estate würden ihn auch nicht viele erkennen, Sir.« Tracy Miller von dem vermißten Kind zu erzählen war ihr damals ziemlich harmlos erschienen. Erst danach, als sie nachts nicht schlafen konnte, meldeten sich bei Moira Wingrave Schuldgefühle. Die Gewissensbisse setzten ihr auch den ganzen Morgen noch zu, und beim Anblick von Stephen Devenish, der das Tor zu seiner Garagenauffahrt öffnete, verstärkten sie sich noch. Und so wußte sie, als sie die beiden Polizeibeamten in ihrer Auffahrt auf das Haus zusteuern sah, schon Bescheid. Sie waren gekommen, um ihr Vorhaltungen zu machen oder noch Schlimmeres. Es war aber weder in den Nachrichten noch in der Zeitung heute morgen etwas darüber gekommen... Sie mußte ihnen aufmachen, da half alles nichts. Den großen Polizisten erkannte sie wieder, den anderen hatte sie 158 noch nie gesehen, nahm jedoch an, daß er ebenfalls Detective war, trotz seines eleganten Anzugs im feinen Hahnentrittmuster und der dunkelgrünen
Seidenkrawatte. Sie mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht zu sagen: »Ich war's, ich hab's getan, ich habe es herumerzählt.« Doch sie schienen sich dafür überhaupt nicht zu interessieren. Sie wollten lediglich von ihr wissen, was für ein Auto sie um drei Uhr morgens aus der Devenish-Einfahrt habe kommen sehen, und das hatte sie ihnen ja schon alles erzählt, dachte sie jedenfalls. Der große, dessen Anzug nicht annähernd so schön war, sondern ausgebeult und vermutlich reinigungsbedürftig, dazu in einem Farbton, den sie immer »anzuggrau« nannte, sagte zu ihr, sie solle die Augen zumachen und versuchen, sich den Wagen noch einmal genau ins Gedächtnis zu rufen, wie er aussah, welche Farbe er hatte und wie die Person aussah, die ihn gefahren hatte. Sie fühlte sich ziemlich unbehaglich, in Gegenwart dieser beiden die Augen zu schließen. Besser gesagt, verletzlich. Es kam ihr so vor, als könnten sie viel mehr von ihr sehen, wenn sie sie nicht sehen konnte. Es war fast so, wie wenn man sich die Kleider auszöge. Die Augen fest geschlossen, lief Moira rot an. Sie konnte nichts sehen, nur Röte und kleine schwarze Flecken, doch obwohl das Auto auf dem vorgestellten Bildschirm nicht auftauchte, fielen ihr plötzlich doch zwei Dinge ein. »Ich dachte, es würde gleich den Torpfosten rammen«, sagte sie. »Fast hätte ich das Fenster aufgemacht und hinausgeschrien, sie sollen aufpassen. Ich hätte es fast getan, aber mein Mann schlief ja.« »Sie dachten also nicht, daß es jemand Fremdes war, ein Eindringling etwa?« wollte der mit der grünen Seidenkrawatte wissen. »Sie nahmen nicht an, daß es jemand war, der dort nicht hingehörte?« »Na ja, ich wußte es nicht. Ich sah, daß es ein fremdes Auto war. Ich dachte mir, vielleicht haben sie Besuch von Freunden. Obwohl sie nicht gerade viele Freunde haben.« 159 Der Große nickte. »Und was war das andere?« »Welches andere?« »Was Ihnen noch einfiel. Sie sagten, Sie erinnerten sich an zwei Dinge.« »Na, eben das. Daß ich dachte, es sei ein Freund von ihnen.« Der mit der grünen Krawatte sagte: »Wer saß im Auto?« »Nur die Person, die gefahren ist. Glaube ich jedenfalls. Den Rücksitz konnte ich nicht sehen.« »War es ein Mann oder eine Frau?« Moira versuchte es wieder mit der Augen-zu-Methode. Diesmal fiel es ihr leichter und war weniger peinlich. Vor ihr tauchte tatsächlich ein Bild auf. Sie hätte es nicht für möglich gehalten. Vielleicht lag es daran, daß sie jetzt entspannt war. Aber war es ein Mann oder eine Frau gewesen? Nur ein Um-
riß, eine Silhouette, ein Kopf ohne Gesicht. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich weiß es einfach nicht. Ich glaube, es war ein Mann, aber es hätte auch eine Frau sein können.« »War in dem Wagen eine Leiter, Mrs. Wingrave? Damit eine Leiter hineinpaßte, müßten entweder der Kofferraum oder die beiden Rückfenster offengestanden haben. Haben Sie so etwas gesehen?« Moira schüttelte den Kopf. »Das Baby war doch auf dem Rücksitz, oder? Da war doch kein Platz für die Leiter.« »Sie haben das Baby also auf dem Rücksitz gesehen?« »Weiß ich nicht.« Inzwischen war sie verstimmt. »Sie haben doch gesagt, das Baby war auf dem Rücksitz, dann muß es wohl so gewesen sein.« Sie überquerten die Straße und gingen unter den überhängenden Zweigen die Auffahrt hoch. Stephen Devenish machte ihnen auf und fragte, während er beiseite trat, um sie hereinzulassen, ob es etwas Neues über sein vermißtes Kind gebe. »Wir gehen einer Reihe von Hinweisen nach«, sagte Bürden. Er wußte, wie unbefriedigend sich das für einen schmerz 160 gebeugten Vater anhören mußte, doch was sollte er sonst sagen? Es hatte immerhin den Vorteil, daß es stimmte. Devenish, fanden er und Wexford gleichermaßen, wirkte um einiges gefaßter als Rosemary Holmes damals, als ihre Tochter verschwunden war. Selbst die Crownes waren in der gleichen Situation einer Panik näher gewesen als dieser gemessene, höfliche Mann, der sie ins Arbeitszimmer führte, wo seine Frau auf dem lederbezogenen Sofa lag, zugedeckt mit einer Autodecke. Der Raum war so sehr ein Inbegriff von Männlichkeit, streng und düster, daß Wexford sich gedacht hätte, eine Frau würde sich darin unwohl fühlen. Trotzdem hatte Fay Devenish offenbar beschlossen, hier zu entspannen und auszuruhen. »Liebling«, richtete sich ihr Mann sanft an sie, »wir haben Chief Inspector Wexford für heute nachmittag doch erwartet, nicht wahr?« Er wandte sich an Bürden. »Und Sie sind...?« »Inspector Bürden.« »Guten Tag! Wir wollen Sie nicht bedrängen, aber wir sind natürlich sehr besorgt... Meine Frau ist gestürzt. Es geht ihr aber schon besser.« Die Frau auf dem Sofa sah krank aus. Ihr Gesicht war nicht direkt weiß, sondern eher grau, und trotz der warmen Decke zitterte sie. Sie setzte sich mühsam auf, wobei sie die Decke bis unter ihr Kinn zog. Die Hände, die die
Kante umklammerten, erinnerten an die mitleiderregenden Hände eines Äffchens, das sich krampfhaft an den Gitterstäben seines Käfigs festhält. »Sie brauchen sich doch nicht aufzusetzen, Mrs. Devenish«, sagte Wexford. »Am besten ruhen Sie sich jetzt aus. Hat Ihr Arzt Sie schon untersucht?« In letzter Zeit empfahl er anscheinend allen Leuten, sich in medizinische Obhut zu begeben. Sie schüttelte erst den Kopf und nickte dann. »Aber selbstverständlich hat dich der Arzt untersucht, Liebling«, sagte Devenish, löste behutsam ihre dünnen, grauen Finger und bettete sie auf die Decke. »Versuch dich zu ent 161 spannen, so ist es gut.« Er streichelte ihre Wange und strich ihr das Haar aus der Stirn. »Du kannst dem Chief Inspector nichts sagen, was ich ihm nicht auch sagen könnte.« Wexford nickte. »Mr. Devenish, es ist völlig ausgeschlossen, daß Sanchias Entführer Ihre Leiter benutzte, um zu ihrem Fenster hinaufzusteigen. Und höchst unwahrscheinlich, daß er oder sie eine eigene Leiter mitgebracht hat. Unseren Ermittlungen zufolge ist es ebenso unwahrscheinlich, daß sich jemand von außen Zugang zu Sanchias Zimmer verschafft hat. Wer immer sie wegbrachte, hat es von innen bewerkstelligt. Nun gab es aber keinerlei Hinweise auf einen Einbruch oder auf gewaltsames Eindringen. Wer hat außer Ihnen noch einen Hausschlüssel?« »Gar niemand«, sagte Devenish. Bürden, der Mühe hatte, den Blick von Fay Devenish loszureißen, fragte: »Keine Putzfrau, Sir, kein Gärtner?« »Der Gärtner kommt nie ins Haus, und die Hausarbeit macht meine Frau selbst.« Die Überraschung auf ihren Gesichtern blieb ihm nicht verborgen, denn wie um sich zu verteidigen, fügte er hastig hinzu: »Sie wäre sicher die erste, die Ihnen erklärt, daß der Haushalt ihre Aufgabe ist, nachdem sie ja keinen Beruf hat. Es ist ihr recht so, und sie wollte auch nie eine Hilfe.« Der rechtfertigt sich zu eifrig, dachte Wexford. Was war er denn von Beruf. Generaldirektor - oder so etwas ähnliches -einer Fluggesellschaft. »Und Ihre Söhne?« Wie aufs Stichwort traten, nachdem irgendwo eine Tür geöffnet und wieder geschlossen worden war, die beiden Knaben ins Zimmer. Zaghaft blieben sie in der Tür stehen, als rechneten sie damit, dort drinnen etwas sehen zu müssen, was keiner von ihnen sehen wollte. Robert, der jüngere, sah zu seiner Mutter hinüber und schnell wieder weg. Edward, der ältere, schon so groß
wie ein ausgewachsener Mann, aber mit einem weichen, empfindsamen Kindergesicht, richtete den Blick auf Stephen Devenish und ballte plötzlich unerwar 162 tet beide Fäuste. Merkwürdig, dachte Wexford, als ob er ihn schlagen wollte. Nein, als ob er noch ein, zwei Jahre warten und ihn dann schlagen wollte. Doch Devenish lächelte die beiden wohlwollend an. Er trat auf sie zu und legte jedem einen Arm um die Schultern. »Sie haben keinen Schlüssel«, sagte er. »Groß sind sie, aber noch nicht alt genug für einen Hausschlüssel, hab' ich recht, Jungs?« Da sagte Fay Devenish zum erstenmal etwas. Bei ihrem Sturz mußte sie sich am Mund verletzt haben, denn sie lispelte. Wexford sah, daß sie beim Sprechen Mühe hatte. »Eine von den Nachbarinnen hat sie von der Schule abgeholt, und sie kamen hinten zur Küchentür herein. Tagsüber schließen wir die hintere Tür nicht ab.« »Aber nachts doch?« »Natürlich. Immer.« Es klang ungewöhnlich nachdrücklich, fast als fürchtete sie, es könnte darüber irgendein Zweifel bestehen. Die Kinder hatten sich aus den Armen ihres Vaters herausgewunden und waren aus dem Zimmer gegangen. Devenish lächelte bekümmert. »Sie werden viel zu schnell groß.« »Wenn jetzt niemand einen Schlüssel hat«, sagte Bürden, »hatte vielleicht früher jemand einen? Schlüssel kann man ja auch nachmachen lassen.« Fay Devenish drückte ihr Gesicht in das Kissen, auf dem ihr Kopf ruhte. Ihr Mann zog die Decke über ihre Schultern hoch und sagte zu den Polizeibeamten: »Ich möchte, daß meine Frau sich jetzt ausruht. Wir können ja im Wohnzimmer weiterreden.« Es mochte ihr zwar nicht gutgehen, doch ihren hohen Standard hatte sie beibehalten. In dem hübschen Zimmer war staubgewischt worden, die Möbel glänzten, und in den Vasen steckten frische Blumen. Die Luft war erfüllt vom Duft des weißen und lila Flieders, der in einer chinesischen Vase prangte. Ihre kleine Tochter war verschwunden, doch sie arrangierte immer noch die Blumen, polierte die silbernen Ziergegenstände und schüttelte die Sofakissen auf. 162 »Setzen Sie sich doch«, sagte Devenish. »Ich würde Ihnen ja gern Tee anbieten, aber wie Sie sehen, ist meine Frau kaum in der Lage, welchen zu machen.«
Und Sie können nicht? Wexford sagte es nicht laut. »Ich hatte den Eindruck, Mr. Devenish, Sie haben uns hier hereingeführt, um uns zu sagen, daß doch einmal jemand einen Schlüssel hatte. Habe ich recht?« »Ja. Mir ist das aber ziemlich - nun, ich hätte es Ihnen schon früher sagen sollen.« »Soll das heißen, daß diese Person nicht auf Ihrer Liste von Verwandten und Freunden stand?« Um die Sache herunterzuspielen, stieß Devenish ein leises, abwehrendes Lachen aus. »Ich rücke wohl besser damit raus, nicht? Sie ist eine Freundin von meiner Frau, und offen gesagt, also um wirklich ehrlich zu sein - ich kann sie nicht ausstehen. Besser gesagt, sie war ihre Freundin, aber nach einigen sehr unangenehmen Zwischenfällen - mehr brauche ich wohl nicht zu sagen habe ich schließlich »Ein Machtwort gesprochen, Mr. Devenish?« »Also, ich bitte Sie.« Zum erstenmal zeigte sich Devenish irritiert. »Ich wollte sagen, ich konnte meine Frau davon überzeugen, daß sich diese Person nicht als Freundin eignet, besonders im Umgang mit den Kindern. Damals hatten wir nur die beiden Jungs, aber trotzdem »Wie heißt sie?« fragte Bürden. Nun mußte Devenish mit der Sprache herausrücken. »Es ist eine gewisse Miss Andrews, Jane Andrews. Sie wohnt in Brighton. Die Adresse habe ich nicht, aber die steht bestimmt im Telefonbuch. Sie hatte den Schlüssel, weil sie vor ziemlich langer Zeit einmal - Robert war damals erst drei - hier gewohnt und sich um das Haus gekümmert hat, solange wir im Urlaub waren. Die Idee war natürlich von meiner Frau. Wir hatten damals eine Katze, die hat sie auch versorgt. Bald danach kam ich mit meiner Frau überein, daß es am besten wäre, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Ich verlangte meinen Schlüssel zurück, den sie mir natürlich auch gab, aber das 163 heißt ja nicht, daß sie ihn nicht hat nachmachen lassen, oder?« Wexford nickte. Er würde diese Jane Andrews zwar aufsuchen und der Sache nachgehen, allerdings interpretierte er Devenishs Einlassungen als Paranoia. Außerdem sah er den Mann nun in einem anderen Licht. Kann ein normaler Mensch mit einer gesunden Lebenseinstellung eine Freundin im Verdacht haben, sich hinterrücks Schlüssel zu seinem Haus machen zu lassen? Er wechselte abrupt das Thema. »Ich nehme doch an, Sie haben keine weiteren Drohbriefe erhalten, Mr. Devenish?« »Ach, die. Nein, das hätte ich Ihnen gesagt.«
»Nun, vorher haben Sie es uns auch nicht gesagt, Sir.« »Ich hielt sie für nicht so wichtig«, erwiderte Devenish. »Da wurden Sie wohl eines Besseren belehrt«, warf Bürden ein. »Es bedeutet doch, daß Sie einen Feind haben, nicht wahr? Glauben Sie, der Verfasser dieser Briefe wäre imstande, Sanchia zu entführen? Enthielt einer davon eine Drohung, sich an Ihnen durch ein Mitglied Ihrer Familie rächen zu wollen?« »In einigen wird angedroht, meine Frau zur Witwe und meine Kinder zu Waisen zu machen, wenn Sie das unter Rache an meiner Familie verstehen. Es stand nichts davon drin, ihnen Schaden zuzufügen.« Was für eine außergewöhnliche Terminologie, dachte Wexford, während sie hinausbegleitet wurden. Die Sätze hatten einen biblischen Ton an sich, wie aus einem Psalm. Aus einem dieser grausigen, blutrünstigen Psalmen voller Feuer und Schwefel, in denen ganze Stämme niedergemetzelt werden. Von irgendwoher weit weg hörte er eine Kuckucksuhr fünfmal schlagen. 164
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Die lose in einer Gruppe angelegten Straßen hießen alle nach geometrischen Figuren - Rhombus, Oval, Pyramid und Rectangle -, was seltsamer wirkte als Blumen- oder Mädchennamen oder die Namen von Schlachtfeldern. Den Grund dafür wußte niemand, und da die Straßen vor mehr als hundert Jahren gebaut und benannt worden waren, würde man es wahrscheinlich nie erfahren. Die Pyramid Road hatte mit Ägypten, Bergspitzen und Königsgräbern überhaupt nichts zu tun. Wie ihre Gefährtinnen war es ein armseliges, schäbiges Sträßchen mit armseligen, schäbigen Häusern ohne Vorgärten und Bäume, die ursprünglich als Quartiere für die Arbeiter in den Kalksteinbrüchen errichtet worden waren. Solche Seitenstraßen fanden sich überall in englischen Landstädtchen, doch waren sie in keinem Reiseführer und auf keiner Postkarte abgebildet. Diese hier gehörte zum Einbahnstraßensystem von Stowerton und verband einen Kreisverkehr mit der Zufahrt zur Einkaufszone. Schwerlaster dröhnten vom frühen Morgen bis nach Mitternacht hier entlang. In den Nachtstunden war die Straße wegen des Verkehrs und gegen den Willen der Anwohner hell erleuchtet, doch jetzt, am frühen Nachmittag eines sonnigen Maitags, waren die Lichter ausgeschaltet. Das Haus, in dem Trevor Ferry wohnte, war in Form und Größe zwar fast identisch mit dem von Rosemary Holmes und lag nur zwei Straßen weiter, doch bestand zwischen beiden ein himmelweiter Unterschied. Ihr Haus sah aus, als hätte sie gleich nach ihrem Einzug vor vielleicht zehn Jahren damit
begonnen, es zu verschönern und seither nicht davon abgelassen. Es war gemütlich, fast opulent, mit Büchern und 165 Blumen und Musikgeräten ausgestattet, und der beschränkte Raum war optimal genutzt. Beim Betreten von Trevor Ferrys Haus zitierte Bürden, der sich am Sonntag abend mit seiner Frau den Film angesehen hatte, im Geiste den ersten Satz aus Wer hat Angst vor Virginia Woolf »Was für ein Dreckloch!« Obwohl Ferry - wie Bürden gleich erfahren sollte - schon seit fast einem Jahr dort wohnte, waren im Wohnzimmer immer noch die Kisten und Kästen vom Umzug aus seinem früheren Haus aufgetürmt. Die wenigen Möbelstücke Kaminsessel und ein kleines Sofa mit hölzernen Armlehnen, ein Klapptisch und etliche Rattanhocker - schien er einzig und allein zu dem Zweck dort aufgestellt zu haben, möglichst viel fernsehen zu können. Um zwei Uhr nachmittags saß er vor dem Fernseher, in dem aber keine Sportsendung von internationalem Interesse lief, keine Politik, nicht einmal eine Quizsendung, sondern wo eine fröhliche junge Frau zu sehen war, die vorführte, wie man Croissants backte. Ferry sah aus wie so viele Langzeitarbeitslose: abgestumpft, ständig müde und nie so recht wissend, was er mit sich anfangen sollte. »Ich hab' nicht mehr gearbeitet, seit sie bei Seaward Air meinten, sie müßten mich »freistellen««, sagte er. »Hübscher Ausdruck, finden Sie nicht? »Wir müssen Sie freistellen«, als ob ich drum gebeten hätte, daß sie mich entlassen. Das ist jetzt schon zwei Jahre her, und wissen Sie, auf wie viele Stellen ich mich seither beworben habe? Dreihundert. Na ja, genau gesagt, dreihunderteinundzwanzig.« »Sie haben also keinen Grund, Stephen Devenish besonders zugetan zu sein?« Ferry schaltete den Fernseher in dem Moment aus, als Bürden ihn gerade darum bitten wollte. Er war relativ klein und übergewichtig, mit dem ungesunden Fett des Biertrinkers und Fast-Food-Essers. Sein Gesicht war bleich und aufgedunsen, und er befleißigte sich des unklugen Tricks vieler kahlwerdender Männer, sich lange Haarsträhnen über die nackte Platte zu kämmen, um diese zu kaschieren. Die Augen, die Bürden mit einem verwirrenden Starren fixierten, waren von 165 einem hellen Toffeebraun, das Weiße darin blutunterlaufen. Bürden, der die Antwort des Mannes zu wissen glaubte, wunderte sich, als Ferry sagte: »Wieso? Was hat er denn jetzt schon wieder getan?« Bürden zögerte. »Was glauben Sie denn, was er getan hat, Mr. Ferry?«
»Damit meine ich bloß, wem hat er denn jetzt einen Tritt gegeben? Oder - zu wem war er denn jetzt schon wieder gemein oder unbeherrscht?« »Als charmant würden Sie ihn also nicht beschreiben?« »Das kann er auch sein.« »Gegenüber Frauen?« »Also, was man heute so sexhungrig nennt, ist der nicht. Eins muß man ihm lassen, seiner Frau ist er treu ergeben. Kann schon sein, daß in ihm auch was Gutes steckt. Ich hab' Sie gefragt, was er getan hat.« »Ich weiß, Mr. Ferry«, sagte Bürden, der in diesem Ton nicht mit sich reden ließ. »Ich habe Sie schon gehört. Es geht nicht darum, was er getan hat, sondern was ihm angetan wurde.« Noch war es zu früh, das vermißte Kind Ferry oder sonstwem gegenüber zu erwähnen. »Jemand hat ihm Drohbriefe geschickt. Anonyme Briefe.« »Na, so was«, sagte Ferry und sah plötzlich viel glücklicher aus. »Und mit was drohen die ihm da?« Bürden blieb die Antwort schuldig. »Er hat eine kleine Tochter. Sie ist fast drei. Haben Sie sie schon mal gesehen?« An Ferrys Gesichtsausdruck, an seinem offenkundigen Desinteresse merkte er sofort, daß dieser Mann nichts mit der Entführung von Devenishs Kind zu tun hatte. Ferry sagte: »Seine Frau hat sie in Kingsmarkham mal mit ins Büro gebracht die haben dort ein Büro und eins in Gat-wick und noch eins in Brighton. Ich war zufällig gerade dort. Ich kann nicht behaupten, daß ich mir viel aus Kindern mache, und was Babys betrifft »Ich nehme an, Sie beziehen Arbeitslosenhilfe, Mr. Ferry?« »Ja, tu' ich, wenn das die Polizei was angeht. Und so, wie ich 166 es sehe, beziehe ich die wahrscheinlich, bis die Rente kommt. Zum Glück hat meine Frau einen Job.« Ferrys Stimme hatte einen schneidenden, sarkastischen Ton angenommen. »Zum Glück haben wir keine Kinder, keine kleinen Töchter. Sie hat wieder mit Unterrichten angefangen, als Devenish mich freigestellt« hat. Hatte natürlich keine Lust. Welche feine Dame, die im Kingsbrook Valley Drive wohnt, hätte das schon? Noch dazu muß sie auf dem Privatsektor arbeiten, was weniger Gehalt bedeutet.« »Sie erwähnten gerade Leute, zu denen Mr. Devenish unfreundlich war oder denen gegenüber er die Beherrschung verloren hat. Können Sie mir da vielleicht ein paar Namen nennen?« Ferry stieß ein hartes Lachen aus. »Das wären viel zu viele. Die Antwort ist: praktisch jeder, der mit ihm in Kontakt kam.«
Jane Andrews war gerade beim Einkaufen, doch ihre Mutter war zu Hause, eine geschwätzige und höchst redegewandte alte Dame, die Wexford innerhalb von zehn Minuten erzählt hatte, daß sie zweiundsiebzig und Witwe sei und seit vierzig Jahren in dieser viktorianischen Villa wohne (und auch beabsichtige, darin zu sterben), daß sie zwei Töchter habe, Jane und Louise, daß Louise ebenfalls verwitwet sei und Jane zweimal verheiratet und zweimal geschieden sei, ein Sachverhalt, den Mrs. Probyn darstellte, als handelte es sich um die Symptome einer lebensbedrohlichen Krankheit. »Meine Töchter haben beide kein besonders glückliches Leben geführt, Chief Inspector. Die arme Jane gehört zu diesen sogenannten Karrierefrauen, die das Eheglück den Anforderungen ihres Berufs geopfert hat. Sie macht irgendwas mit PR, was - wie mein verstorbener Gatte immer sagte - proportionale Repräsentation bedeutet, heutzutage aber soviel wie Public Relations, was immer das heißen mag.« »Hat sie schon immer bei Ihnen gewohnt?« »Du liebe Güte, nein. Eine Wohnung nach der anderen hat sie gehabt, und sozusagen einen Ehemann nach dem anderen. 167 Aber als mein Mann starb - ich bin fest überzeugt, daß sein Geisteszustand etwas labil war, der Arme -, hinterließ er ein merkwürdiges Testament.« Dies sagte Mrs. Probyn in der Manier einer altmodischen Geschichtenerzählerin, die ihrem Publikum gerade eine gar geheimnisvolle und spannende Mär zum besten geben will. Nach einer Kunstpause fuhr sie fort: »Meine Tochter Louise ist eine reiche Frau. Ihr verstorbener Mann ließ sie in überaus gesicherten Verhältnissen zurück. Wenigstens muß sie nicht arbeiten. Man könnte sagen, ihr einziges Unglück - abgesehen davon, daß sie ihn verloren hat natürlich -, ist ihre Kinderlosigkeit. So sehe ich das jedenfalls. Aber ich schweife ab. Vernünftigerweise fand mein Mann, daß er ihr nichts zu vererben brauchte, und das hätte er in bezug auf die gute Jane auch finden können, da sie sich ihre Suppe zum großen Teil selbst eingebrockt hat, muß ich schon sagen. Tja, weit gefehlt. In seinem Testament verfügte er, daß dieses Haus - das seit vierzig Jahren mein Zuhause ist - auf Jane übergeht. Ich bekam nur lebenslanges Wohnrecht. Mit anderen Worten, ich darf für die Dauer meines Erdenlebens hier wohnen, tatsächlich aber gehört es Jane. Na! Was sagen Sie jetzt?« Wexford hatte nicht die Absicht, seine Meinung darüber zu äußern, wobei seine Hauptüberlegung war, daß er es an Jane Andrews' Stelle vorgezogen hätte, weiterhin woanders zu wohnen, statt mit dieser geschwätzigen
Giftnudel zusammenzuziehen. Das Eintreffen eines Neuankömmlings ersparte ihm jedoch einen beschwichtigenden Kommentar. Zunächst dachte er, es sei ein Mann, und dieser Eindruck hielt ein paar Sekunden lang vor. Ein ziemlich feminin wirkender Mann, das schon, mit Stupsnase und vollen Lippen, mit etwa einsachtzig aber doch recht groß und auch flachbrüstig. Doch dann sah er ihre Hände und bemerkte das Fehlen eines Adamsapfels. Sie sagte etwas zu ihrer Mutter und streckte ihm dann zur Begrüßung die Hand hin. Als sie guten Tag sagte, klang ihre Stimme tief und ziemlich rauh. Mit ihren Jeans, dem weißen Hemd und den Turnschuhen war sie 168 eigentlich nicht männlicher gekleidet als andere Frauen auch, und ihr Haar war einfach modisch kurz geschnitten. Die Täuschung verflog. Er schätzte sie auf Ende Dreißig. Sie war sehr schlank und recht attraktiv. Etwas Make-up hätte nicht geschadet, denn ihre Haut war nicht besonders gut, und auf ihren Wangen saßen winzige Aknenarben. Sie hatte zwei schwere Einkaufstaschen den Hügel heraufgetragen, und ihr Gesicht glänzte vor Anstrengung. Sie setzte sie ab und ließ sich breitbeinig in einen Sessel fallen. Wexford stellte sich vor und fragte sie nach ihrer Freundschaft zu Fay Devenish. Dabei äußerte er die Vermutung, sie besitze immer noch einen Schlüssel zu Woodland Lodge. Bevor sie antwortete, legte sie ihrer Mutter nahe, sie allein zu lassen. »Sie hat ihr eigenes Wohnzimmer«, sagte sie, nachdem die alte Dame mit beleidigter Miene abgerauscht war. »Und das hier ist es nicht. In diesem großen Haus ist genug Platz, daß zwei Frauen darin wohnen können, ohne sich dauernd über den Weg zu laufen.« Sie lächelte, um die barsche Bemerkung etwas abzumildern. »Sie halten mich jetzt wahrscheinlich für gemein. Tut mir leid. Dabei bin ich selber schuld, daß ich hier eingezogen bin. Ich hätte bleiben sollen, wo ich war, oder das Angebot meiner Schwester annehmen, zu ihr zu ziehen. Sie wohnt nicht weit von hier.« Weil ihm dazu nichts einfiel, schwieg Wexford. »Was haben Sie mich gerade über Fay gefragt?« »Ich sagte, Sie sind wohl eine Freundin von ihr.« »War ich früher einmal«, sagte sie, »aber jetzt nicht mehr.« »Gab es eine Auseinandersetzung?« »Nicht zwischen ihr und mir, wenn Sie das meinen.« »Dann zwischen Ihnen und ihrem Mann?«
»Sagen wir mal so: Er hat etwas dagegen, daß sie Freundinnen hat. Er sagte, sie solle sich nicht mehr mit mir treffen und - auch keinen Kontakt mehr mit mir haben. Er ist eifersüchtig. Er ist sogar eifersüchtig auf seine eigenen Kinder. Und mehr werde ich dazu auf keinen Fall sagen.« 169 Kein Polizist, der etwas taugt, läßt sich von dieser oft geäußerten Bemerkung abwimmeln. »Wie eifersüchtig? Wollen Sie damit sagen, er kann seine Kinder nicht leiden? Was ist mit dem kleinen Mädchen?« Wexford sprach bewußt in der Gegenwartsform. »Kann er sie auch nicht leiden?« »Davon habe ich nichts gesagt. Ich sagte, er sei eifersüchtig. Im übrigen habe ich Sanchia nie gesehen. Ich weiß nur, daß es sie gibt, das ist alles. Die Jungs habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.« Wexford fiel auf, daß sie ihren Versprecher nicht bemerkt hatte. Er betrachtete sie nachdenklich. »Was ist aus dem Schlüssel geworden, Miss Andrews?« »Aus welchem Schlüssel?« »Dem Schlüssel, den Sie von den Devenishs bekamen, als Sie in ihrem Haus wohnten und sich um die Katze kümmerten. « »Das ist doch schon Jahre her.« »Etwa sieben Jahre.« Wexford beobachtete sie aufmerksam und sah, daß ein Muskel in ihrem linken Augenwinkel zu zucken begonnen hatte. Ein fast unmerkliches, leichtes Zittern, doch sie hob die Hand und faßte mit einem Finger hin, um es zu unterdrücken. »Hatten Sie irgendeinen Grund, sich den Schlüssel nachmachen zu lassen?« Zu prompt und zu entrüstet erwiderte sie: »Das wäre unredlich, und unredlich bin ich nicht. Ich möchte jetzt wirklich nicht mehr sagen über die Devenishs, wenn Sie also nichts dagegen haben »Besitzen Sie einen Wagen, Miss Andrews?« »Aber natürlich«, sagte sie. Sie klang verärgert, aber mehr noch - auch nervös? Die meisten Leute waren nervös, wenn sie von der Polizei befragt wurden. Ob schuldig oder unschuldig, sie waren auf der Hut. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie mitten in der Nacht in die Ploughman's Lane fuhr, ihr Auto in der Auffahrt von Woodland Lodge abstellte, das Haus betrat und nach oben ging, ein Kind, das sie noch nie gesehen hatte, aus dem Bett 169 chen hob und dafür sorgte, daß es nicht laut losschrie - er versuchte, es sich vorzustellen, was ihm nicht gelang. Aber noch etwas stimmte da nicht...
»Miss Andrews«, sagte er, »ich muß sagen, eines finde ich doch recht seltsam.« Er sah auf seine Uhr. »Ich vernehme Sie jetzt seit einer Viertelstunde, und Sie haben mich noch nicht gefragt, wieso, Sie haben mich nicht nach dem Grund meines Kommens gefragt. Ich finde das doch recht merkwürdig, Sie„ nicht?« Ihre Antwort kam sofort, ohne Zögern. »Ich brauchte gar nicht zu fragen. Weil das Baby der Devenishs vermißt wird, weil Sanchia vermißt wird.« »Aber woher wußten Sie das?« »Es stand doch in der Zeitung, es kam im Fernsehen.« »Nein, da irren Sie sich. Übrigens - woher wissen Sie eigentlich, daß sie Sanchia heißt, wenn Sie seit sieben Jahren keinen Kontakt mit Mrs. Devenish hatten?« Der Muskel an ihrem Auge begann wieder zu zucken. Sie schloß kurz die Augen, öffnete sie wieder und sah Wexford direkt ins Gesicht. Auf eine Art, dachte er, wie einen im gewöhnlichen gesellschaftlichen Umgang niemand ansieht. »Nun, Miss Andrews?« »Fay hat es mir natürlich gesagt. Sie rief mich an und sagte es mir.« »Sie stehen also doch miteinander in Verbindung, obwohl Sie eben etwas anderes behauptet haben?« Jane Andrews verkrampfte die Hände im Schoß. »Stephen weiß nicht, daß wir miteinander telefonieren. Früher hat sie mir immer alles erzählt. Das war Stephen absolut zuwider. Er redete ihr ein, ich sei lesbisch und - und hätte es auf sie abgesehen. Es wäre ja zum Lachen, wenn es nicht so dumm und falsch wäre. Ich war verheiratet, ich war sogar zweimal verheiratet. Hätte ich das wohl getan, wenn ich lesbisch wäre?« Während des ganzen Gesprächs war sie nicht so lebhaft gewesen wie jetzt. Ihr bleiches Gesicht hatte plötzlich Farbe be 170 kommen, und ihre Augen waren so hell, daß es aussah, als stünden Tränen darin. Auf dem Nachhauseweg machte Wexford kurz in der Ploughman's Lane halt. Das Haus, in dem Sylvia gewohnt hatte, bevor sie mit Neil und den Jungen richtig hinaus aufs Land gezogen war, lag drei Häuser weiter von Woodland Lodge, falls dieser Ausdruck überhaupt auf ein Viertel paßte, in dem die einzelnen Grundstücke etwa knapp fünfzig Meter voneinander entfernt lagen. Ihm hatte das behagliche, bescheidene Haus, eins der kleinsten in der Gegend, schon immer gefallen, mit seinen quaderförmigen Bausteinen, den
funktionalen Giebeln und dem schlichten Garten mit den wohlbedacht plazierten Bäumen. Die Leute, die es gekauft hatten, hatten eine Doppelgarage und eine verglaste Veranda anbauen lassen. Das Bauplanungsamt hatte es wohl genehmigt, vermutete er und dachte wehmütig an die frühere Schlichtheit und Großzügigkeit. Die Schönheit der Bäume hier oben hätte man nur durch Abholzen zerstören können - der Blutbuchen, deren Rotgold im Mai am schönsten erstrahlte, der blühenden Roßkastanien und der Eichen, bei denen die gelbgrünen Blätter gerade sprossen. Laburnum House hatte das Anwesen damals geheißen und den Namen anscheinend behalten. Der Goldregen, nach dem es benannt war, war noch voller Knospen, die gelben Blüten würden sich in ein paar Tagen zeigen. Er hatte Goldregen nie leiden können, seit sie die dreijährige Sylvia schnell ins Krankenhaus hatten bringen müssen, nachdem sie im Garten ihrer Großmutter eine heruntergefallene Samenkapsel gegessen hatte. Da kam ihm ein merkwürdiger Gedanke: Als Eltern waren sie damals gleich von Anfang an über das Wohl und Wehe ihres Kindes informiert worden. Innerhalb von Minuten hatten er und Dora erfahren, daß man Sylvias Magen ausgepumpt hatte, daß es ihr gutging, daß sie bald über dem Berg wäre. Die Devenishs wußten nichts über den Verbleib ihrer Tochter, ihr Wohlergehen, ihren seelischen Zustand, ja nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben war. 171 In Woodland Lodge machte ihm Edward, der ältere Junge, auf. Ohne Wexfords Frage abzuwarten, sagte er: »Meine Mutter schläft, und mein Vater ist im Garten.« »Dann gehe ich hinten herum, ich finde deinen Dad schon.« Während er über den schmalen Weg ging, der hinters Haus führte, überlegte Wexford, weshalb ein zwölfjähriger Junge so förmlich von seinen Eltern sprach, statt seine eigenen, zärtlicheren Kosenamen zu verwenden. Wie kam man eigentlich zu so einem Rasen? Der hier sah aus wie grüner, kurzrasierter Filz. Stephen Devenish stand mittendrin und war gerade dabei, die Grasnarbe um ein großes Rosenbeet herum mit einer Gartenschere zu stutzen. Heute schössen ihm wirklich seltsame Gedanken durch den Kopf, überlegte Wexford, während er auf ihn zuging, Spekulationen, nie dagewesene Vorstellungen. Wieso um alles in der Welt bekam er zum Beispiel plötzlich das Gefühl, er wäre Devenish lieber begegnet, ohne daß dieser mit einem gefährlichen Gerät bewaffnet war? Der Mann war doch charmant,
freundlich, höflich, geduldig und gesittet, oder etwa nicht? Nicht immer. Nicht, wenn er über Jane Andrews redete. Als könnte er Wexfords Gedanken lesen, kam er sofort auf sie zu sprechen, während er die bedrohliche Waffe ins Gras legte. »Ich fürchte, ich war in meiner Ausdrucksweise ein bißchen grob, als ich letzthin mit Ihnen über Miss Andrews sprach.« Er lächelte sein allgegenwärtiges, selbst unter widrigsten Umständen verfügbares Lächeln. »Sie hat es ja nur gut gemeint. Aber kein Mann sieht es gern, wenn sich eine Fremde zwischen ihn und seine Frau stellt, oder? Eine Intervenientin, nennt man es nicht so?« »Wenn es um Scheidungsfälle geht, Mr. Devenish«, erwiderte Wexford. »Es ist die weibliche Entsprechung von Ko-Re-spondent.« »Tatsächlich?« »Und was Fremde betrifft, wie Sie es nennen - die meisten Frauen haben Freundinnen, abgesehen von den Ehepaaren, die sie und ihre Partner als Freunde bezeichnen.« 172 »Wir nicht«, versetzte Devenish. »Wir haben uns beide. Wir brauchen sonst niemanden. Kommen Sie doch ins Haus.« Wexford folgte ihm. Sie gingen durch die hintere Tür in eine Art Wirtschaftsraum und von dort in eine große, gut ausgestattete, pieksaubere Küche. In der Eß- oder Frühstücksecke war für vier Personen zum Abendessen gedeckt, mit weißem Tischtuch statt der einfachen Platzdeckchen, Silberbesteck statt Messern und Gabeln mit Horngriff und mit Blumen in einer Vase. Wieder mußte er denken, wie merkwürdig es doch war, daß Fay Devenish dies alles ohne Hilfe bewerkstelligte und dazu anscheinend auch dann noch in der Lage war, wenn ihr Töchterchen vermißt wurde und sie selbst aufgewühlt und verzweifelt war und ihr Arzt ihr offensichtlich etwas zur Beruhigung gegeben und Ruhe verordnet hatte. Er wollte gerade etwas in diesem Sinne sagen, nämlich daß er ehrlich gesagt beunruhigt war, daß er gewissermaßen im dunkeln tappte, verwirrt und etwas ratlos war. Niemand wäre in dieses Haus gelangt, ohne einzubrechen, andererseits hätte aber auch niemand eine Leiter mitbringen können. Am wesentlichsten war, daß kein Fremder Sanchia hätte mitnehmen können, ohne daß die Kleine geschrien und dadurch ihre Eltern geweckt hätte. Er wollte es sagen, er war drauf und dran, es zu sagen, als Stephen Devenish plötzlich völlig unerwartet in bittere Tränen ausbrach. Er warf die Arme über den ordentlich gedeckten Tisch, ließ den Kopf sinken und fing an zu schluchzen.
Er zitterte unter Schluchzern, seine Schultern hoben und senkten sich, und seine Hände verkrampften sich ineinander. Überrascht und völlig sprachlos setzte Wexford sich ihm gegenüber hin und wartete geduldig ab. Er hätte nichts tun können, er wußte ja kaum, weshalb er überhaupt gekommen war. Vielleicht nur um diesen Mann wiederzusehen, dieses Haus wiederzusehen. Er sah sich um, betrachtete eingehend seine Umgebung. Dichtgedrängt auf den Arbeitsflächen standen Küchengeräte wie Dampfkochtopf, Reistopf und Pastamaschine. Ein Messerblock aus dunklem Hartholz enthielt 173 sieben oder acht Messer mit Horngriff. An den Wänden hingen blauweiße Porzellanteller von Royal Kopenhagen und etliche Delfter Kacheln, ein Kalender mit Ansichten vom Schottischen Hochland und eine Kuckucksuhr. Als er kürzlich hier im Haus gewesen war, hatte er sie leise in der Ferne schlagen hören. Nun sprang plötzlich ein buntbemalter Kuckuck heraus und schlug schnabelklappend sechsmal an. Beim vierten »Kuckuck« hob Stephen Devenish den Kopf. Er hatte die ganze Zeit mit den Fäusten auf den Tisch getrommelt und dabei das Pfefferfäßchen und die Blumenvase umgestoßen. Eins der Gläser fiel um und rollte auf den Boden. Wexford stand auf und füllte ein anderes mit Leitungswasser. Ruhig sagte er: »Hier, trinken Sie das« und fragte sich, wieso er es nicht über sich brachte, dem Mann die Hand auf die Schulter zu legen, wieso sein Widerwille, Devenish zu berühren, fast an Abscheu grenzte. »Ich bin ein Idiot.« Devenish richtete sich auf und nahm das Wasser. »Es hat mich überkommen. Ich muß immer wieder denken, ich sehe sie nie wieder, sie ist tot.« Sein Gesicht war trocken. Er hatte geweint, ohne Tränen zu vergießen. »Ich werde sie auf dieser Welt nie wiedersehen, das sind die Worte, die mir ständig im Kopf herumgehen.« »Man darf im Leben die Hoffnung nie aufgeben.« Die abgedroschene Redensart kam Wexford sonst eigentlich nie über die Lippen. »Ja, aber ist es das Leben? Ist es nicht wahrscheinlich eher der Tod?« Zitternd holte Devenish Luft. »Tut mir leid, daß ich die Fassung verloren habe. Wissen Sie, ich liebe mein kleines Mädchen. Ich will sie großwerden sehen.« Wexford blieb danach nicht mehr lange. Beim Verlassen der Küche kam ihm ein völlig widersinniger Gedanke: Als erstes, gleich nach dem Aufwachen, würde Fay Devenish - wie es von ihr erwartet wurde? - das zerknitterte, von Fingerabdrücken verunstaltete Tischtuch glattstreichen und den Tisch neu decken.
174 Er war zwar schon so oft spät nach Hause gekommen, daß Dora ihm keine Vorwürfe mehr machte und nicht einmal etwas sagte, doch er rechnete mit einer mißbilligenden Äußerung seiner älteren Tochter. Sylvia hatte auf dem Heimweg von ihrer Arbeit im Sozialamt von Kingsmarkham beschlossen, ihrer Mutter einen Besuch abzustatten, und nun saßen die beiden nebeneinander auf dem Sofa und tranken Wein. Doch anstatt ihm Vorhaltungen zu machen, schien ihr sehr daran gelegen, sich zu verteidigen. »Ich muß fahren, Dad, ich trinke also ganz bestimmt nur ein Glas.« Lächelnd erwiderte er: »Mein Liebes, ich kann mir nicht vorstellen, daß du absichtlich das Gesetz übertreten würdest.« Sie errötete erfreut. »Wirklich? Das ist lieb von dir.« »Wenn du kurz Zeit hast, würde ich dich gern etwas fragen, was vielleicht in den Bereich Kinderpsychologie fällt.« Dora sprang auf. »Ich mache dir nur schnell dein Abendessen in der Mikrowelle heiß, Reg.« »Nein, laß doch. Das mache ich gleich.« Er verspürte plötzlich Abneigung gegen die Vorstellung, sich von ihr bedienen zu lassen. »Setz dich«, sagte er. »Bleib hier.« Sylvia trank ihren Wein aus und stellte das Glas hin. »Ich bin keine Psychologin, Dad, ob für Kinder oder sonst was, obwohl ich sagen muß, daß man mich ständig für eine hält. Ich habe nur während des Studiums ein Seminar belegt.« »Das genügt völlig«, sagte ihr Vater. »Darwin sagte - hoffentlich kriege ich das jetzt richtig hin -: >Der Mensch verspürt instinktiv die Neigung zum Sprechen, wie wir am Gebrabbel unserer Kinder feststellen können; wohingegen kein Kind die Neigung verspürt, zu backen, zu brauen oder zu schreiben.« Jetzt sag mir mal, in welchem Alter du bei einem Kind erwarten würdest, daß es mit Sprechen anfängt.« Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung - mit anderthalb oder mit zwei? Wenn du damit richtige Wörter und Sätze meinst. Robin war schon über zwei, aber Ben hat schon gesprochen, lange bevor er zwei war. Wahrscheinlich weil sein Bruder dauernd mit ihm geredet hat.« 174 »Du hast sehr früh sprechen gelernt, Sylvia«, schaltete sich Dora ein. »Mit anderthalb konntest du schon alles sagen. Sheila war später dran.«
»Komisch, wie eine Mutter sich so was merkt. Ich nicht, mir ist es vollkommen entfallen. Was meinst du, was sind die Gründe, wenn ein Kind mit zweidreiviertel Jahren kaum spricht?« »Zweidieiviertel. Dann ist es ja fast drei.« Sylvia musterte ihn ungläubig. »Eine Hirnschädigung schließen wir aber aus, nicht?« »O ja, ganz bestimmt.« »Dann ist es vielleicht taub. Das ist durchaus möglich, aber mit zweidreiviertel hätte man so etwas heutzutage doch untersucht und herausgefunden. Es könnte natürlich auch eine emotionale Störung vorliegen. Tasneem Fowler bei uns in The Hide sagte mir, als ihr jüngerer Sohn auf die Welt kam, hörte der ältere zwei Monate auf zu sprechen.« »Vorher hat er aber gesprochen, oder?« vermutete Wexford. »Er war eifersüchtig auf den Neuankömmling, und das hat seine Sprechfähigkeit behindert.« »Wahrscheinlich. Du denkst da bestimmt an einen speziellen Fall, Dad. Aus was für einem Umfeld kommt das Kind denn?« »Mittelschicht, sagen wir, obere Mittelschicht, jede Menge Geld, schönes Zuhause, und das ist noch untertrieben, leibliche Eltern, leben zusammen, offensichtlich harmonisch, zwei ältere Brüder. Ich würde sagen, ein sehr geliebtes, sehr erwünschtes Kind.« »Das ist mir schleierhaft«, sagte Sylvia. »Irgendwo habe ich gelesen, daß Einstein erst mit drei angefangen hat zu sprechen«, meinte Dora. »Mutter, was um alles in der Welt soll das denn jetzt beweisen?« Als Sylvia gegangen war, sah er sich die Neun-Uhr-Nachrichten an und dann eine Sendung über eine neue Art von Umweltaktivisten, sogenannte Ökokrieger. Ein paar dieser 175 Leute hatten im Rahmen ihres erbitterten Kampfes gegen Genmanipulation auf einem Feld in Shropshire den Weizen ausgerissen und in Somerset einen Obstgarten vergiftet. Der Weizen war genetisch behandelt, um noch lockerluftigeres Brot zu bekommen, und die Äpfel waren rotbackiger als gewöhnlich und hatten kein Gehäuse. Als er gerade einen Querschnitt durch so einen gehäuselosen Apfel betrachtete, kam Dora herein und sagte, sie wolle morgen die Wintersachen in die Reinigung bringen und könne seinen Regenmantel nirgends finden. »Ach Gott«, sagte er, »den habe ich einem gewissen Dixon geliehen, damit er ihn sich über den Kopf zieht und sich als Kinderschänder ausgibt.«
Dora warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. »Dann hol ihn dir wieder. Den solltest du nicht verlieren, es ist ein Bur-berry.« Sie schaltete den Fernseher aus, und sie gingen zu Bett. Er hatte oft interessante Träume, aber selten Alpträume. Dieser Traum, der sich unverzüglich einstellte, versetzte ihn und Dora um viele Jahre in die Vergangenheit zurück, als sie noch jung und ihre Kinder noch sehr klein waren. Er saß bei Dora und sah bewundernd zu, wie sie ihr langes, dunkles Haar bürstete - eigentlich ein ganz gewöhnliches romantisches Klischee -, als sie sich plötzlich an ihn wandte, um ihm gelassen mitzuteilen, ihr Baby Sheila sei verschwunden, sei aus ihrem Bettchen gestohlen worden. Als sie in ihr Zimmer gekommen sei, habe sie das Bettchen leer vorgefunden. Sein Kummer und seine Verzweiflung waren grenzenlos gewesen. Er war durchs Haus gelaufen und hatte nach Sheila gerufen, hatte sie angefleht, doch zurückzukommen, war auf die Straße gerannt, hatte die ganze Stadt, die ganze Welt, aufgeweckt. Und dann kam im Traum wie so oft ein Szenenwechsel, und er befand sich plötzlich in einem Fernsehstudio, wo er von einem dämonischen Kerl - verkörpert von Peter Cushing - interviewt wurde. Er bat ihn inständig, den Entführern eine Nachricht zukommen zu lassen mit dem Angebot, 176 Sheila freizukaufen. Der Preis - und das war das Schlimmste, das absolut Schrecklichste, Beschämendste - war seine ältere Tochter Sylvia. Nehmt sie, hörte er sich sagen, und gebt mir Sheila wieder. Dann wachte er schweißgebadet und zitternd auf. Um Mitternacht stieg Lynn Fancourt, die abends mit ihrem Freund im Kino gewesen und danach im Rat &. Carrot noch etwas getrunken hatte, in ein Auto ein, das am nördlichen Ende der York Street für sie angehalten hatte. Eigentlich hatte es an der roten Ampel angehalten. Lynn tippte an die Scheibe auf der Beifahrerseite und fragte, ob sie mitfahren könne. Am Steuer saß eine Frau, die ein sehr junger Mensch als mittelalt bezeichnet hätte, und der Beifahrer war ein etwa dreißigjähriger Mann. Sie seien unterwegs nach Myringham, sagte der Mann, könnten sie aber gern in Framhurst absetzen, wenn sie das wolle. Im Lauf des Gesprächs merkte Lynn bald, daß etwas Merkwürdiges vor sich ging, aber nicht das Merkwürdige, dem sie auf der Spur war. Als der Mann den Vorschlag machte, auf dem Rastplatz an der alten Umgehungsstraße zehn Minuten haltzumachen, dachte sie schon, es ginge um Drogen, und war sich nicht sicher, wie sie reagieren sollte, falls illegale Substanzen zum Vorschein
kamen. Sollte sie sie wegen unerlaubten Drogenbesitzes festnehmen? Von ihrem Mobiltelefon aus auf dem Revier anrufen? Doch sie irrte sich. Der Wagen hielt an, und die beiden kamen zu ihr auf den Rücksitz, offensichtlich mit amourösen Absichten. Auf Lynns Abwehrtaktik hin meinte die Frau, sie habe vollstes Verständnis, am besten sollten sie wohl direkt nach Hause fahren, wo sie es sich für ihren flotten Dreier etwas bequemer machen könnten. Lynn begriff, daß sie sie für eine Prostituierte gehalten hatten, ein neues, aber durchaus nicht unbekanntes Phänomen in Kingsmarkham. Sie hatte es ganz und gar sich selbst zuzuschreiben: ans Autofenster tippen, noch dazu bei Rotlicht - es entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Die Leute waren 177 eigentlich ganz nett, freundlich und locker, und als Lynn sagte, sie hätte es sich inzwischen anders überlegt, fuhren sie sie trotzdem bis nach Framhurst und gaben ihr ihre Telefonnummer, falls sie es sich noch mal überlegen wollte. Seit über einem Jahr hatte Wexford nun schon nicht mehr die Lokalzeitung abonniert. Mit Brian St. Georges Berichterstattung über die Geiselaffäre anläßlich des Baus der Umgehungsstraße hatte ihm der Kingsmarkham Courier mehr Ärger bereitet, als jemand seiner Meinung nach am Frühstückstisch erleiden sollte. Um sich Derartiges künftig zu ersparen, hatte er die Zeitung abbestellt. Weder die Times noch der Independent könnte ihn je so in Rage versetzen, und so hielt er sich an sie. Doch seit seinem erleichterten Verzicht auf den Courier hatte sein Zeitungsverkäufer einige neue Zeitungsjungen eingestellt, die größtenteils nichts taugten. Wenn es regnete, ließen sie die Zeitungen naß werden, und wenn einmal nicht die richtige oben auf dem Stapel lag, lieferten sie aus, was ihnen gerade in die Finger kam, ob es nun eine Boulevardzeitung war oder die Financial Times. Alles andere als das, was er mit der Schrift nach oben auf seiner Türmatte liegen sah, hätte Wexford liebend gern akzeptiert. Unter dem Adler mit der Schriftrolle im Schnabel, auf der in Frakturschrift der Name des Courier prangte, sprang ihm die Titelgeschichte ins Auge. Er schloß die Augen, mußte sie aber notgedrungen wieder aufmachen. »WO IST SANCHIA?« fragte die Schlagzeile in den größten römischen Lettern, die die Drucker des Courier zur Verfügung hatten, und darunter kaum weniger verwegen und riesig: »ORBE FINDET UNTERSCHLUPF BEI DER POLIZEI«. Was in der darunter abgedruckten Story stand, konnte er sich denken, noch bevor er sie las. Die Quintessenz war ihm in dem Moment eingefallen, als er
die Schlagzeilen gesehen hatte: Ein kleines Mädchen war verschwunden, diese Meldung wurde geheimgehalten, und während man Orbe hatte verschwinden lassen - es war eine großangelegte Verdunk 178 lungsaktion im Gange. St. Georges Kommentar - der als Verfasser zeichnete hatte er allerdings nicht vorausgesehen: Thomas Henry Orbe war gegenwärtig auf dem Polizeirevier von Kingsmarkham in einer frisch renovierten, »mit allen Annehmlichkeiten ausgestatteten« Zelle untergebracht. Zwei Fotos waren in den Text eingegliedert, das klassische, das Orbe bei seiner Freilassung aus dem Gefängnis zeigte und inzwischen überall zu sehen war, und ein Porträtfoto von Sanchia Devenish, das er noch nie gesehen hatte. Offensichtlich war es aufgenommen worden, als sie etwa ein halbes Jahr alt war, denn es zeigte ein Baby, dessen runder, beinahe haarloser Kopf auf einem spitzenbesetzten Kissen ruhte. Ein verschwommenes, vermutlich stark vergrößertes Bild. In der Ecke war eine Erwachsenenhand zu sehen - die von Fay Devenish? -, dazu das Seitenteil eines Kinderwagens oder Sportwägelchens. Wie ein verstimmter Bär vor sich hin knurrend, nahm Wexford die Zeitung mit in die Küche und setzte Teewasser auf. Instinktiv - wie heutzutage den meisten Menschen, wenn sie erstaunt, erfreut, schockiert oder entsetzt sind kam ihm der Gedanke, jemanden anzurufen. Aber wen? Southby natürlich. Zum zukünftigen stellvertretenden Chief Constable hielt er so wenig Kontakt wie möglich. Superintendent Rogers? Den wachhabenden Sergeant auf dem Revier? Als er Dora den Tee nach oben gebracht und bemerkt hatte, es regne schon wieder, das Thema seines verschollenen Regenmantels aber nicht mehr erwähnt hatte, kam er schließlich auf den altbewährten Bürden zurück. »Ich hab's gesehen«, sagte Bürden. »Ich dachte, Sie hätten das Käseblättchen abbestellt.« »Habe ich auch. Sie haben wieder mal die falschen Zeitungen geliefert.« »Dann geht's Ihnen wie mir. St. George muß gesehen haben, wie Wendy Brodrick mit Orbe hereinfuhr. Sicher ist er draußen herumgestrichen oder hat in einem geparkten Wagen gelauert. Sie waren bloß fünf Minuten da.« 178 »Lange genug. Wo hat er das Bild von Sanchia aufgetrieben?« »Weiß der Himmel. Für uns konnten diese Devenishs kein Foto erübrigen, aber St. George kriegt eins. Nicht, daß es uns interessiert hätte, ein Kind mit einem halben Jahr sieht völlig anders aus als mit zweidreiviertel Jahren. Mit
dem Foto, das St. George hat, findet man Sanchia genausowenig, wie wenn man eins von Ihnen oder von mir abdrucken würde.« Nachdenklich meinte Bürden: »Vielleicht haben die Devenishs es ihm ja gar nicht gegeben. Sie wissen doch, daß sie beim Courier diese Wettbewerbe veranstalten, angeblich zu wohltätigen Zwecken - wer ist der Kerl mit den größten Füßen, ein schauderhaftes Frettchenrennen oder die MissKingsmarkham-Wahl, bis die Feministinnen der Sache Einhalt geboten... Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob Sanchia vielleicht mal in einer Baby-Show war und gewonnen hat und sie deswegen das Bild von ihr gemacht haben. Sie war doch ein hübsches Baby, nicht?« Diese für Bürden recht untypischen Worte berührten Wexford so tief, daß sein Ärger sofort verflog. Daß Bürden die Vergangenheitsform verwendet hatte, versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, der ihn verstummen ließ. Die arme Kleine, dachte er, bitten wir Gott oder die Schicksalgöttin oder die Furien, daß derjenige, der sie mitgenommen hat, gut zu ihr ist. »Sind Sie noch dran?« fragte Bürden. »Ja.« Wexford räusperte sich. »Die Devenishs sind aber doch keine Leute, die ihre Tochter in einer Baby-Show auftreten lassen würden, oder?« »Was weiß ich, was für Leute es sind. Mich dürfen Sie nicht fragen, fragen Sie lieber St. George.« »Das habe ich auch vor«, sagte Wexford und fügte dann mit untypischer Schadenfreude hinzu: »Ich überlege mir schon noch eine Strafe für ihn.« 179
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Diesmal begann der Ärger nicht weit von den Häusern von Trevor Ferry und Rosemary Holmes in der Rectangle Road in Stowerton, wo Joe Hebdens Bruder mit seiner Freundin, deren zwei Kindern und seinen beiden eigenen wohnte. David Heb-den war der Fahrer des Lieferwagens, der die aktuelle Ausgabe des Courier druckfrisch an alle Zeitungshändler in Kingsmarkham, Stowerton und Pomfret auslieferte, und seine Runde begann um sechs Uhr morgens. Des Lesens nicht mächtig, war er jedoch in der Lage, die Überschriften auf den Sportseiten zu entziffern. Was an diesem regennassen Morgen im Courier seine Aufmerksamkeit auf sich zog, war einer der wenigen Namen, die er lesen konnte, zufällig derselbe, auf den die jüngste Tochter seiner Freundin getauft war. David Hebden war der kleinen Sanchia sehr zugetan. Obwohl sie nicht von ihm stammte, mochte er sie lieber als seine eigenen Kinder, die, wie er fand, zwischen ihm und seiner Exfrau standen. Eine angstvolle halbe Stunde lang
dachte er schon, ihr sei etwas Schreckliches zugestoßen. Wieso sollte ihr Name sonst in der Zeitung stehen? Da er es nach Möglichkeit vermied, andere Leute zu bitten, ihm vorzulesen, sagte er gegenüber dem Zeitungshändler nichts davon und wurde nur jedes Mal aufgeregter und frustrierter, wenn sein Blick auf den geliebten, in schrecklich großen Buchstaben gedruckten Namen fiel. Als er nach Hause kam, schliefen noch alle. Er lief schnell nach oben, um nach Sanchia zu sehen, fand sie neben ihrer Mutter im Bett, in das sie nach seinem Weggehen gekrochen sein mußte, und weckte mit seinen Freudenjuchzern das ganze Haus. Sanchias Mutter Katrina nahm ihm die Zeitung ab und las 180 die Geschichte vor. Nach einer Weile kamen auch die anderen Kinder und setzten sich aufs Bett, weil sie in der Unterbrechung der Routine eine willkommene Abwechslung sahen. »Die Polizei sollte sich was schämen«, sagte Katrina. »Da wird das kleine Ding seit Montag vermißt, und was machen die? Nicht etwa nach ihr suchen oder vielmehr nach ihrer Leiche, o nein, die machen aus dem Polizeirevier ein Hotel mit allen Annehmlichkeiten, damit es der Pädophile auch recht bequem hat.« »Mum, was ist ein Pädophiler?« wollte die sechsjährige Georgina wissen. »Wer lang fragt, geht lang irr. Ich ruf jetzt gleich Joe und Charlene an, Dave. Oder mach du das, es ist deine Pflicht, die haben ein Recht drauf, es zu erfahren.« Seit Orbes Abgang aus dem Muriel Campden Estate hatten sich die Aufregung und der Zorn zum größten Teil gelegt. Ein anderes Ereignis hatte die Gemüter der Bewohner von Puck, Ariel und Oberon Road erhitzt: Colin Crownes tätlicher Angriff auf Jodi, das virtuelle Baby, und dessen nachfolgende Zerstörung. Zugetragen hatte es sich einen Tag bevor Lizzie Cromwell Jodi dem Jugendamt hätte zurückgeben sollen. Nach ihrem Kampf mit Brenda Bosworth und nachdem alle außer Miroslav selbst die Tatsache anerkannt hatten, daß er der Kindsvater war, hatte Lizzie offensichtlich das Interesse an Jodi verloren. Dem Pflegen, Füttern und Wickeln, dem Schlafenlegen und wieder Hochnehmen und dem ständigen Geknuddel war rasch die totale Gleichgültigkeit gefolgt, und Jodi - um den sich zum erstenmal in seinem kurzen Leben niemand kümmerte, denn er war als Neugeborener zu ihr gekommen -, fing an zu schreien. Er schrie und
schluchzte und heulte, und als der Schreimechanismus abgelaufen war, spulte sein Tonband zurück, und er fing von vorn an. »Du kannst ihn doch nicht einfach weglegen«, schimpfte Debbie. 181 Colin sagte gar nichts. Er unternahm auch nicht den Versuch, Jodi ruhigzustellen, indem er seine Batterien herausnahm oder ihn mit etwas zudeckte. Um neun Uhr abends, nachdem der Roboter geschlagene sechs Stunden geschrien hatte, packte er ihn an den Beinen und knallte ihn gegen die Badezimmerwand. Jodis Gliedmaßen, sein Mechanismus und sein hübsches, feingearbeitetes Köpfchen fielen in Einzelteilen in die Badewanne, wo Colin noch zusätzlich auf ihnen herumtrampelte. Lizzie war es egal, sie fand die ganze Sache langweilig, mußte es aber der Sozialarbeiterin erklären. Colin war an dem Tag nicht zu Hause, weil er sich im Jobcenter arbeitslos melden mußte. Die Sozialarbeiterin meinte, so etwas sei ihr ja noch nie untergekommen und was für eine Mutter Lizzie wohl abgeben würde, wenn sie erst einmal ein richtiges Baby hatte? Natürlich müßten sie oder ihre Mutter oder ihr Stiefvater für einen Ersatz von Jodi aufkommen und ob ihr überhaupt klar sei, wieviel so ein virtuelles Baby kostete? Colin kam nach Hause und sagte, nur über seine Leiche würden sie ihn dazu bringen, dafür zu zahlen, daß er so eine blöde Scheißpuppe kaupttgemacht hatte, und Debbie meinte, sie würde es aus Prinzip auch nicht tun. Das mit der Leiche sei übrigens kein Witz, meinte Colin, denn bei ihm sei bereits ein Ausschlag ausgebrochen, rings um die Taille herum und bis über den Hintern hinunter. Keiner hätte eine Ahnung, was für einen Streß er mit dem Unding im Haus durchgemacht habe, weiß Gott, wie es mit einem echten Baby wäre. Die Nachricht von diesem ungerechtfertigten Anspruch des Jugendamts von Kingsmarkham breitete sich im Muriel Campden Estate wie ein Lauffeuer aus. Fast alle schlugen sich auf die Seite der Crowne-Cromwells, mit Ausnahme von Monty Smith, Maria Michaels und den Mitchells. Monty Smith, dessen Strafe auf Bewährung ausgesetzt worden war und der eine unbeschreiblich große (von Maria geliehene) Summe berappen mußte, weil er Sergeant Fitch einen Faustschlag versetzt hatte, war der Ansicht, wenn er mit einer un 181 gerechten Geldstrafe belegt wurde, wieso sollten andere dann ungeschoren davonkommen? »Wie baut man eine Benzinbombe?« hatte Colin Crowne am Vorabend im Rat & Carrot von Joe Hebden wissen wollen.
»Was? Du hast sie wohl nicht alle!« »Nein, ich hab's im Fernsehen gesehen. Irgendwo in Algerien oder im Irak, irgendwo da unten haben sie Benzinbomben auf die Regierung geschmissen. Und da dachte ich mir, das sollte man hier mal bei der Stadtverwaltung machen, da würden die aber aufwachen.« Ein Mann, den keiner kannte, sagte: »Man füllt Benzin in eine Flasche, zum Beispiel eine Milchflasche.« »Wir kriegen aber keine Milchflaschen mehr«, wandte Colin ein. »Stimmt. Es geht aber mit jeder Flasche, Hauptsache, sie ist nicht aus Plastik. Man füllt sie und stopft oben einen Lappen rein. Dann tränkt man den Lappen mit Paraffin, egal ob rosa oder blaues, und hält ein Streichholz dran und schmeißt sie weg. Man muß sie aber gleich wegschmeißen und nicht noch lang rummachen, sonst fängt man Feuer. Die Mühe braucht ihr euch aber nicht zu machen. Wenn ihr eine wollt, kann ich euch eine besorgen. Für die Dinger gibt's einen Markt.« »Das war bloß ein Witz«, sagte Joe. Der Mann lachte nur und sagte, er würde ihnen eine Runde ausgeben und ihnen dann gern etwas zeigen wollen. Joes Frau Charlene wurde von ihrem Schwager am nächsten Morgen um halb acht angerufen. Daß das Kind immer noch vermißt wurde, interessierte sie nicht sonderlich. Das wußte sie, alle im Muriel Campden Estate wußten es im Gegensatz zu den Medien. Aber Orbe auf dem Polizeirevier von Kingsmarkham versteckt! Und auch noch luxuriös untergebracht! Charlene behauptete immer gern, die Welt sei unterteilt in die, die etwas tun, und die, die nichts tun, und sie gehöre zu denen, die etwas tun. Sie zog sich an, schnappte sich einen Regenschirm und trat aufs Dreieck hinaus, um an sämtliche Türen zu klopfen. 182 Es gibt dicke Männer, die fest und kompakt sind wie Carl Meeks, breitschultrig und mit Trommelbauch, straff wie in ein Korsett geschnürt, wenn es auch wenig nützt, und dann gibt es dicke Männer, deren Fettleibigkeit zu fließen oder wie in einer dünnen Hülle herumzuwabbeln scheint, so daß der kleinste Nadelstich genügen würde, um sie in einen zusammengefallenen Ballon zu verwandeln. Brian St. George, Chefredakteur des Kingsmarkham Courier, gehörte zur letztgenannten Sorte, und gegenwärtig ergoß sich seine fließende Körperlichkeit über die Armlehne von Wexfords Sessel und versank wie eine Flutwelle am Rand des Schreibtischs. Sein Hemd hätte eigentlich weiß sein sollen, sah jedoch wie immer aus, als wäre es mit
einer schwarzen Jeans und einem roten T-Shirt gewaschen worden. Falls er eine Krawatte dabeihatte, steckte sie wahrscheinlich in seiner Tasche. Seit er kahl geworden war, hatte er sein Resthaar ganz lang wachsen lassen, so daß sein Kopf, wenn man ihn - wie Wexford momentan - von oben betrachtete, wie ein riesiges weißes Gänseblümchen mit einer rosiggelben Mitte aussah. Brian St. George war ins Polizeirevier gebeten worden und der Aufforderung auch nachgekommen, weil ihm die Vorstellung, der Chief Inspector könne ihn in den Räumen des Courier aufsuchen, doch nicht recht behagte, hatte sich in diesen Sessel gesetzt und wurde nun in die Mangel genommen. Er verteidigte sich wacker und wortreich, teils weinerlich, teils aggressiv, und beteuerte immer wieder, er sei quasi zum »Improvisieren« gezwungen, da die Polizei von Kingsmarkham ihm ja nie was sagte. »Die Kingsmarkhamer Sechs««, sagte Wexford angewidert. »Das stammt gar nicht von mir«, erwiderte Brian St. George abwiegelnd. »Das ist rachsüchtig, damit wollen Sie mich bestrafen. Sie wissen genau, daß Sie nicht fair zu mir sind, Reg.« »Nennen Sie mich nicht so.« »Oh, ich bitte um Verzeihung. Ich hatte immer gedacht, wir sind hier alles alte Freunde. Sie Reg, ich Brian. Das ist 183 doch völlig übertriebene Förmlichkeit, so wie Sie mich >Mr. St. George« nennen.« »Von mir aus, sagen Sie dazu, wie Sie wollen, aber unter diesem Dach halten wir uns an Förmlichkeit. Wenn Sie dachten, Orbe sei hier, warum haben Sie dann Ihren alten Freund nicht angerufen und nachgefragt? Nein, sparen Sie sich die Antwort. Weil Sie ein Dementi bekommen hätten, und ein Dementi war das letzte, was Sie hören wollten. Denn dann hätten Sie ja keine Story gehabt.« St. George verlagerte seine schlaffe Masse um ein paar Zentimeter. Zwischen zwei Knöpfen an seinem Hemd öffnete sich ein Spalt, und ein kreisrundes Stück haarige, rosafarbene Haut kam zum Vorschein. Wexford versuchte, nicht hinzusehen. Der Chefredakteur des Kingsmarkham Courier holte eine Packung Marlboro hervor, sah sich vergeblich noch einem Aschenbecher um und zündete sich dann trotzdem eine Zigarette an. »Hier ist rauchfreie Zone«, sagte Wexford. »Das war aber noch nie«, protestierte St. George. »Seit wann denn?« »Seit heute früh um neun.« Wexford warf einen Blick auf seine Uhr, die drei Minuten nach neun zeigte. »Kommen Sie schon, machen Sie die Kippe aus.«
Langsam und mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns drückte St. George seine Zigarette aus. »Die Story ist in sämtlichen überregionalen Blättern«, flehte er. »Die Mail hat es als Titelgeschichte aufgemacht.« »Bloß weil Sie es ihnen gesagt haben. Offenbar ist hier den ganzen Abend das Telefon heißgelaufen. Das muß alles dementiert werden. Orbe ist nicht hier. Orbe war haargenau fünf Minuten hier, draußen auf dem Parkplatz in einem Auto. Ich nehme an, Sie haben gesehen, wie er hergefahren wurde.« »Ich bekenne mich schuldig, Euer Ehren.« St. George brachte ein Lausbubenlächeln zustande. »Und gaben Ihr Gedankenkonstrukt an die Medien weiter, 184 aber spät genug, daß sie dem Courier nicht mehr die Schau stehlen konnten.« »Na, was hätten Sie denn an meiner Stelle getan, Reg? O Verzeihung, ich meine Mr. Wexford.« »Mich wie ein verantwortungsvoller Bürger verhalten, aber so was ist Ihnen ja völlig fremd. Jetzt ist es zu spät, um noch etwas zu unternehmen. Wir können nur hoffen, daß dadurch kein Schaden angerichtet wurde. Woher haben Sie das Foto von Sanchia?« »Meine Quellen darf ich nicht offenlegen, das wissen Sie.« »Ich rede nicht von Ihren Quellen, ich rede von einem Foto, das Sie entweder von den Eltern des Kindes bekommen oder irgendwann mal selbst aufgenommen haben.« »Als ihr Vater die große Gehaltserhöhung bekommen hat, so um die Hunderttausend. Wir haben damals eine »Dicker Fisch-Geschichte darüber gebracht. Sie wissen schon: »Wie rechtfertigt Flugtycoon massive Gehaltserhöhung?«« »Und was hat das mit Sanchia zu tun?« »Das Private kommt an, das wissen Sie doch. Trautes Familienleben und so. Zufällig hatte unser Fotograf draußen Mrs. D. mit dem Baby gesehen. Dadurch haben wir ja eigentlich auch erst ihren Vornamen erfahren, als wir das Fotoarchiv durchsahen. Die nannten sie ja alles mögliche, Sasha und Sarah und was weiß ich.« Wexford musterte ihn voller Verachtung. »Wir werden Ihrer Zeitung in Zukunft keinerlei Auskünfte mehr zukommen lassen, egal zu welchem Thema; weisen Sie Ihre Mitarbeiter also an, daß die Reporter, die sonst zweimal wöchentlich zur Pressebesprechung hereinkommen, nicht mehr erwünscht sind.«
Am ganzen Körper wabbelnd, rappelte St. George sich mühsam hoch. »Also, hören Sie mal, das können Sie doch nicht machen. Das ist ja unerhört, ich werde mich an den Chief Constable wenden.« Doras Worte hallten Wexford im Ohr, als St. George sagte: »Das ist ja wie bei der Stasi, wie beim KGB ist das.« 185 »Mir egal, und wenn es wie bei den Taliban ist«, gab Wexford zurück. Jeder weitere Kommentar wurde durch das Geräusch von zerberstendem Glas unterbrochen, das von unten heraufdrang. Es hörte sich an, als wäre in einem der unteren Stockwerke eine Scheibe zertrümmert worden. Wexford trat an sein Fenster und sah hinaus. Er blieb einen Augenblick reglos stehen, dann drehte er sich herum und winkte Brian St. George zu sich herüber. »Kommen Sie her! Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben«, sagte er. Um halb neun wußte die gesamte Bevölkerung von Kingsmarkham und der umliegenden Dörfer, daß ein Kind vermißt wurde und ein berüchtigter Kinderschänder unter Polizeischutz stand. Das Gerücht, Orbe habe Sanchia Devenish getötet, den Mord gestanden und auf dem Polizeirevier in Kingsmarkham Unterschlupf gefunden, um nicht von den rechtschaffenen Eltern vor Ort in Stücke gerissen zu werden, wurde von einer Bewohnerin der Glebe Road in die Welt gesetzt. Sie war selbst Mutter zweier Kinder, von denen das ältere von einem Mann aus Stowerton zu unzüchtigen Handlungen genötigt worden war. Mit ihrer Halbschwester Jackie Flay, Jackies Tochter Kaylee und einem halben Dutzend Nachbarn machte sie sich zu Fuß auf den Weg - es war nicht mehr als eine Viertelmeile - und stieß unterwegs auf eine Abordnung, die von Stowerton herüberkam. In diesem Demonstrationszug trugen alle rasch improvisierte Papierbanner mit der Aufschrift Her mit Orbe oder Rettet unsere Babys. Wenn es nur weitergeregnet hätte, sagte Wexford später, dann hätte die ganze Demonstration verhindert werden können, da viele von diesen Leuten nur ungern naß geworden wären. Doch der Regen hatte sich um Viertel vor acht gelegt und strahlendblauem Himmel, hellem Sonnenschein und kräftigem Nordwestwind Platz gemacht. Die beiden Gruppen trafen sich zufällig draußen vor dem Jobcenter, wo sie eine Zeitlang innehielten, um sich zu sam 185 mein. Auf dem Mäuerchen saßen bereits die Schulschwänzer von der Gesamtschule Kingsmarkham, die üblichen lustlosen Teenager. Sie waren noch gar nicht richtig wach, weil sie von ihren Eltern früh geweckt und zur Schule geschickt worden waren. Da sie fanden, daß in diesem Mistkaff
sowieso nie was passierte, waren sie hocherfreut über die Aufforderung, im Protestzug mitzumarschieren. Als sich gerade wieder alle in Bewegung gesetzt hatten und in die High Street einbogen, hielt der aus Stowerton kommende Bus vor dem Olive and Dove an, und David Hebden stieg aus, zusammen mit Katrina und deren Töchtern Georgina und Sanchia sowie seinen Söhnen Grant und Jason; die Kinder hatten sie aufgrund dieser weitaus wichtigeren Unternehmung gar nicht erst zur Schule geschickt. Nachdem ihr Vorhaben von dem Plakat, das der kleine Grant trug, abgelesen war (vorne zwei händchenhaltende Kinder mit Rettet die Kleinen, hinten Kopf ab für alle Pädos), wurden sie von der Gruppe aus der Glebe Road mit offenen Armen empfangen, und der ganze Trupp, der mittlerweile auf dreißig angewachsen war, marschierte die High Street entlang und an St. Peter's vorbei. So gesittet führten sie sich auf, daß die Constables Lydia Wingate und Leslie Wilson, die gerade auf Streife waren, an der Kingbrook Bridge den Verkehr anhielten, damit sie die Straße überqueren konnten. Inzwischen strömte eine noch größere Menge vom Muriel Campden Estate in die York Street. Aus verschiedenen Gründen wie Schwangerschaft, schlichter Vorsicht, echter Krankheit und Furcht vor der Zahlung weiterer Geldstrafen oder gar Inhaftierung abwesend waren Lizzie Cromwell und ihr Stiefvater, Suzanne Orbe, Sue Ridley sowie Pete McGregor und Monty Smith. Aber Brenda Bosworth marschierte mit Miroslav Zlatic an der Spitze, gefolgt von den Hebdens, den Keenans, Carl und Linda Meeks, Maria Michaels und Shirley Mitchell sowie Tasneem Fowlers Mann Terry mit Kim und Lee. Viele trugen in der Hand etwas, was wie volle Einkaufstaschen aussah, doch war daran an sich nichts besonders 186 Verdächtiges, und als Lydia Wingate sie sah, fiel ihr nicht einmal auf, daß es sich um die Bewohner des Muriel Campden Estate handelte, denen sie am vergangenen Wochenende begegnet war. Vor dem Heaven-Spent-Einkaufszentrum schlossen sie sich dem Protestzug aus Stowerton und der Glebe Road an. Als die Brüder Joe und David Hebden einander sahen, fielen sie sich, vom Gefühl überwältigt, in die Arme, umarmten sich und tatschten sich gegenseitig auf den Rücken - beide hatten sie Mitte Dreißig werden müssen, bis ihnen so etwas einfiel. Diese brüderliche Liebesbezeugung ging den ungefähr fünfzig versammelten Leuten sehr zu Herzen, und sie applaudierten johlend, bevor sie in Richtung Polizeirevier weiterzogen.
Nach der Ankunft der Muriel-Campden-Kohorte war allerdings Schluß mit dem gesitteten Marschieren. Hier zeigte sich der Kontrast zwischen der erschöpften, ermatteten Altstadt und der vitalen, energiegeladenen Neustadt, es war, als hätte die alte eine stimulierende Injektion erhalten, die Feuer in ihre Adern strömen ließ, denn alle begannen beim Weitergehen zu singen erst leise, dann schwollen ihre Stimmen in einem ständigen Crescendo allmählich an. Zur Melodie von »Stand by Your Man« intonierten sie »Steht zu den Kids, und sagt ihnen, daß ihr sie liebhabt...« Wer für die geistreiche Übersetzung von Tammy Wynettes Song verantwortlich zeichnete, wußte anscheinend niemand, später war aber die übereinstimmende Meinung zu hören, es sei Brenda Bosworth gewesen. So schritten sie auf der östlichen High Street voran, ein Trupp von Leuten aller Altersgruppen zwischen zwei und vierzig Jahren, eine Abordnung von Jugendlichen, das Jüngste im Sportwägelchen, der älteste mit Glatze und Bauchansatz, und sangen dabei diesen vielleicht bekanntesten Countrysong, den die meisten aber wohl ziemlich altmodisch fanden. Sie trugen ihre Tasche und Transparente, und die helle Sonne schien auf sie herunter, und der Wind wehte das Haar der Frauen in alle Richtungen. Kurz nach neun kamen sie am Git 187 ter vor dem Polizeirevier von Kingsmarkham an. Das Tor stand offen, der Parkplatz - um die Ecke gerade noch erkennbar - stand voller Autos, und niemand war zu sehen. Der Protestzug zögerte. Carl Meeks sagte später bei der polizeilichen Vernehmung, sie seien etwas überrascht gewesen, niemanden zu sehen. Der leere Platz war unheimlich. Und sogar die große Flügeltür war geschlossen. Wäre jemand herausgekommen, irgendein »verantwortlicher Amtsträger«, dann hätten sie ihm - oder ihr - ihre Sache vortragen können. Dann hätten sie, sagte Carl Meeks, die Beamten ersucht, Orbe woandershin zu bringen, irgendwohin, nur weg von Kingsmarkham. Es war aber niemand herausgekommen. Wenn nicht die Autos auf dem Parkplatz gewesen wären, hätte man meinen können, es war gar niemand im Gebäude. Wer führte sie in den äußeren Hof, wo lediglich ein Streifenwagen und ein nicht gekennzeichnetes Polizeifahrzeug parkten? Wieder wurde die Vermutung geäußert, es sei Brenda Bosworth gewesen, obgleich sich niemand daran erinnern konnte. Eins war jedoch sicher: Sobald sie das Tor passiert hatten, hörten sie auf zu singen. Es wurde still. Shirley Mitchell kam es so vor, als sei die ganze Stadt zum Schweigen gebracht worden, der Verkehr
verstummte, und selbst das Amselmännchen im Ahornbaum auf dem Vorplatz unterbrach sein Lied. Schweigend gingen sie bis auf wenige Meter auf die Treppenstufen und die Flügeltür zu. Dort blieben sie stehen, um die Frau, die sie zu ihrer Sprecherin erkoren hatten, durchzulassen: Brenda Bosworth, die sich untypischerweise etwas weiter hinten in der Menschenmenge befunden hatte und sich jetzt nach vorn arbeiten mußte. Unterdessen öffnete sich im Polizeirevier ein Fenster, und Sergeant Joel Fitch streckte den Kopf heraus. Was er hatte sagen wollen, mit welchen Worten er sie ermahnt hätte, ihnen geraten hätte, doch nach Hause zu gehen oder sich zu zerstreuen, erfuhr man nie, denn bei seinem Anblick brannte bei Maria Michaels die Sicherung durch. Sie erkannte ihn sofort - nicht so sehr als den Urheber von Monty Smiths Unan 188 nehmlichkeiten, sondern als den Grund, daß Monty sich ihre gesamten Ersparnisse bei der Cooperative Bank geliehen hatte, um seine Geldstrafe bezahlen zu können. Sie griff tief in die mitgebrachte Marks & SpencerTasche, holte einen Ziegelstein hervor und schleuderte ihn auf Sergeant Fitch. In ihrer Jugend war Maria bei den County-of-Sussex-Wettkämpfen von 1984 Meisterin im Kugelstoßen geworden und konnte immer noch weiter und besser werfen als die meisten Männer. Zu seinem und ihrem Glück verfehlte sie Fitch, aber nur weil er sich duckte. Der Stein flog durch den linken Fensterflügel, wo sein Kopf gewesen war. Der kurzen, erschrok-kenen Stille folgte lautes Gejohle, und der Sprechchor setzte erneut kräftig ein. »Her mit, her mit Orbe, Orbe, Orbe!« Diesmal erklang die Melodie von »Colonel Bogey« und ließ die Vorübergehenden vor dem Tor draußen innehalten. Vielleicht fühlten sich die Demonstranten durch das Publikum stimuliert, denn dem ersten Ziegelstein folgte ein Hagel von Dosen und Steinen, von denen jedoch nur einer ein Fenster traf und eine Scheibe zertrümmerte. Die übrigen knallten gegen das Mauerwerk oder landeten harmlos in dem Beet mit verblühtem Goldlack am Fuß der Mauer. Sie bewirkten jedoch, daß etwa ein halbes Dutzend Polizeibeamte aus der Flügeltür auf die Menschenmenge zugerannt kamen. Gleichzeitig öffnete Superintendent Rogers die Balkontür in der Mitte der Vorderfront des Gebäudes und trat auf den Balkon hinaus, ein Megaphon in der Hand, zu beiden Seiten einen Beamten. »Her mit Orbe, her mit Orbe, Orbe, Orbe!« Als man das Polizeirevier in den frühen sechziger Jahren entworfen hatte, war der Balkon zu ebendiesem Zweck dort angebracht worden: damit ein
hochrangiger Polizeibeamter dort stehen und eine Abordnung ermahnen, zurechtweisen oder beruhigen konnte. Inzwischen hatte man Witze darüber gemacht, Vergleiche mit Justizpalästen in südamerikanischen Zwergstaaten waren angestellt worden, wo immer mit einer Revolution zu rechnen war. Bis heute war der Balkon 189 nie benutzt worden, und George Rogers hatte sich vom nächstbesten, in diesem Fall Detective Constable Archbold, helfen lassen müssen, um die Balkontür überhaupt aufzubekommen. Als er schließlich hinaustrat, sah er sich einer viel größeren Menge gegenüber als erwartet. Etwa fünfzig Leute waren es, die seine Beamten da zurückhielten, indem sie eine Kette bildeten und sich gegen sie drängten. Es waren keine Geschosse mehr geflogen, und beim Anblick von Rogers mit Fitch zur einen, Archbold zur anderen Seite ebbte der Sprechchor zu leisem Gemurmel ab, zu einem wütendem Summen wie von schwärmenden Bienen. Ein Stockwerk darüber stand Wexford mit Brian St. George am Fenster. Nachdem er gehört hatte, was sich unten zutrug, hatte er das Fenster geöffnet, weil er befürchtete, von fliegenden Glassplittern getroffen zu werden. Der letzte, den er in dieser Situation bei sich haben wollte, war St. George, aber er konnte den Mann ja schlecht aus dem Gebäude weisen, sozusagen in den aufgerissenen Rachen der Protestler, und ihn schon gar nicht im Revier herumstreifen lassen, damit er sich alles mögliche zum Fräße beschaffen konnte. Früher hätte Rogers oder ein anderer in seiner Position die Aufruhrakte verlesen. Statt dessen sprach er in sein Megaphon: »Personen, die Geschosse geworfen haben, werden zur Rechenschaft gezogen. Es wird Festnahmen geben. Für alle anderen gilt: Gehen Sie jetzt nach Hause. Orbe ist nicht hier und war nie hier. Es wurde auch kein Kind getötet. Sie wurden von falschen Zeitungsberichten in die Irre geführt. Orbe stellt für Ihre Kinder absolut keine Gefahr dar. Ihre Kinder sind vollkommen sicher.« »Wo ist er denn dann?« rief jemand aus der Menge. »Ich bin nicht befugt, Ihnen das zu sagen«, sagte Rogers. »Da drin bei Ihnen ist er! Sie decken ihn!« »Her mit, her mit Orbe, Orbe, Orbe!« »Wie fänden Sie es denn, wenn ein Kindermörder und Vergewaltiger neben Ihren Kindern einziehen würde? Ist das in Ordnung? Ist das fair?« Das kam von Brenda Bosworth. »Wie 189
fänden Sie es denn, wenn die Polizei ihn beschützt und alle Mums und Dads zu Kriminellen stempelt?« Trotz seiner Abneigung gegen sie mußte Wexford zugeben, daß sie nicht unrecht hatte. Wie hätte er es denn gefunden, als seine Töchter klein waren? Und überhaupt - wie wäre Rogers selbst denn zumute, Rogers, der spät geheiratet hatte und zwei Kinder unter zehn hatte? Rogers hatte die Situation ungeschickt gehandhabt. Das hätte Wexford aber nur Bürden gegenüber verlauten lassen und dann auch nur unter vier Augen, doch Bürden war nicht da. Irgendwie hatte er sich an diesem Morgen verspätet. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn er gegenüber St. George Kritik an Rogers äußerte! Eigentlich sollte Rogers jetzt wieder hineingehen, dachte er, und die Sache auf sich beruhen lassen. Seine Festnahmen vornehmen, falls er die Schuldigen fand. Wexford überlegte, was für ein lächerliches Wort »Wurfgeschoß« war und daß es seine ursprüngliche Bedeutung - ein Gegenstand, der geworfen wurde - verloren hatte. Genauso ein lächerlicher Ausdruck wie Marschflugkörper, der mit einem Marsch überhaupt nichts zu tun hatte, sondern eine Art Rakete, eine Projektilbombe nuklearen oder sonstigen Ursprungs war, die im Kriegszustand abgeschossen wurde. Seltsam, überlegte er später, daß er es in genau diesem Augenblick gedacht hatte und noch seltsamer, daß er und nur er allein Zeuge dessen wurde, was als nächstes geschah. Von unten herauf hörte er Rogers' etwas schwächliches Abschlußwort: »Ich wiederhole - Orbe ist nicht hier. Er wohnt nicht mehr in Ihrer Nähe und befindet sich auch nicht in diesem Polizeirevier.« Die Männer im Vorhof redeten der Menge zu, doch jetzt zurückzugehen, und bugsierten sie mit sanfter Gewalt durch das Tor auf den Gehsteig hinaus. Der Sprechchor war verstummt, war zu einem leisen Gemurmel abgeebbt. Rogers trat wieder hinein, gefolgt von Fitch und Archbold, und die Balkontür ging zu. Wexford wollte gerade das Fenster schließen. Statt dessen machte er es noch weiter auf und sah hinunter. 190 Sergeant Ted Hennessy war aus der Flügeltür getreten und steuerte über den Vorhof auf das Tor zu. Um die angedrohten Festnahmen vorzunehmen? Oder hatte er sich zuvor außer Sicht- und Hörweite im rückwärtigen Teil des Gebäudes aufgehalten und kam in diesem Augenblick ahnungslos aus einem ganz anderen Grund heraus? Später machte sich Wexford bittere Vorwürfe, weil er den Blick von den Demonstranten abgewandt und zu Hennessy hinübergesehen hatte, denn dadurch hatte er es versäumt, mit eigenen Augen
zu beobachten, was ihm später dann berichtet wurde. Allerdings sah er, wie das Ding im hohen Bogen aus der Menschenmenge flog, sah, wie es eine unidentifizierbare Hand verließ und schrie - zu spät - auf: »Vorsicht! Auf den Boden!« Er sah die dünne Flammenschicht, während die hell leuchtende Flasche flog, und obwohl sie weit unter ihm war, duckte er sich und zog St. George mit sich zu Boden. Andernfalls hätte ihn die Explosion umgeworfen. Es war eher ein donnerndes, ohrenbetäubendes Dröhnen als ein Krachen, ein lautes Zischen wie bei einem Wirbelsturm, der die Luft einsaugt. Aber nicht laut genug, den Schrei vom Vorhof zu übertönen. Ein entsetzlicher, fast unmenschlicher Schrei war es, ein Geräusch, wie man es sich von einem gewaltsam sterbenden Tier vorstellt. Wexford rollte sich auf den Rücken. Er tastete nach St. George, doch der war inzwischen aufgestanden, streckte den Kopf aus dem Fenster und schrie aus Leibeskräften: »Ich hab's gesehen! Ich hab' alles gesehen!« Wexford sprang auf. Überall lagen Glasscherben, knirschten unter seinen Schuhsohlen. Das Fenster war hin. Auf dem Vorplatz unter ihm brannte ein Auto, eine Flammensäule erhob sich zischend in die Luft. Die Menge war zurückgewichen, auf dem Gehsteig hockten Leute oder lagen herum. Wexford sah Bürden auf dem Weg zur Arbeit von der Straße hereinkommen, langsam, die Hände zum Gesicht erhoben, kam er über den inzwischen menschenleeren Vorplatz. Möglicherweise unbemerkt von ihm, strömte die Pressemeute mit Kameras und Mikrofonen hinter ihm herein. 191 Für den Mann, der dicht neben dem Auto gestanden hatte, kam jede Hilfe zu spät. Er war verschwunden. Er war in diesem Inferno und verbrannte zusammen mit Metall, Chrom und Leder, irgendwo im Inneren der zischenden, lodernden Flammen, der wild herumwirbelnden Spirale aus weißem und schwarzem Rauch und dem erstickenden Gestank von verbrennendem Benzin. Aus der Menge, die immer noch von der Polizeikette zurückgehalten wurde, erhob sich ein Stöhnen. Wexford hatte es die Sprache verschlagen, er war unfähig, auch nur das dumpfe, kummervolle Stöhnen auszustoßen, das von den Leuten auf dem Gehweg herübertönte. Er sah die Presseleute näher kommen, Blitzlichtgewitter, von irgendwoher erscholl das Heulen von Feuerwehrsirenen. Da wandte er sich zu St. George um und tat etwas, was er noch bei niemandem getan hatte. Er packte ihn hinten am Jackenkragen, wie man einen ungehorsamen Hund im Genick packt, und trieb ihn in Richtung Tür.
»Ich hab' alles gesehen!« keuchte St. George, halb erstickt. »So ein Glück!« 192
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Der Tod von Ted Hennessy hatte bei den Medien keine Zurückhaltung bewirkt. Ihre Autos drängten sich in der Savesbury Road, im Winchester Drive und in der Ploughman's Lane, wo sie an der Zufahrt von Woodland Lodge ihr Lager aufschlugen. Wexford setzte kurzfristig eine Pressekonferenz an und bemühte sich nach Kräften um eine Antwort auf Fragen wie: Warum haben Sie diese Entführung geheimgehalten? Sind Sie sicher, daß Thomas Orbe nichts mit dem vermißten Kind zu tun hat? Vergeblich wiederholte er die schlichte Wahrheit: daß Orbe im Laufe seiner erbärmlichen Karriere niemals Interesse an Mädchen gezeigt hatte. Er war des Mißbrauchs von Knaben überführt und hatte wegen Totschlags an einem Jungen eine Haftstrafe verbüßt, war im ursprünglichen Wortsinn also ein Päderast. »Er hat aber doch geheiratet, oder?« wollte eine junge Frau von einer überregionalen Boulevardzeitung wissen. »Er hat eine Tochter.« »Seine Opfer waren immer männlichen Geschlechts«, erwiderte Barry Vine, der mit Wexford auf dem Podium saß. »Orbe hat mit dem Verschwinden von Sanchia Devenish nichts zu tun.« Wer nicht das Haus der Familie Devenish belagerte oder bei Hennessys Witwe vor der Tür campierte, richtete seine Angriffe gegen Suzanne Orbe, die in der Oberon Road Nummer 16 ihrer Genesung entgegensah. Ein vollkommen aus der Luft gegriffenes Gerücht war in Umlauf gekommen, Suzanne sei ein frühes Opfer ihres Vaters gewesen, sei als Kind bestimmt selbst mißbraucht worden, eine unglückliche Partnerin beim 192 Inzest. Den Kopf noch im dicken Verband, trat sie durch die provisorische Tür aus dem mit Brettern vernagelten Haus und schrie ihnen entgegen: »Er hat mir kein Haar gekrümmt, ihr ekligen Scheißkerle! Der arme alte Sack hätte sich ja nie an den dreckigen Gören vergriffen, wenn ihm meine Mum nicht abgehauen wäre. Das war's, davon ist er verrückt geworden nach den dreckigen Gören. Und jetzt verpißt euch und laßt uns in Ruhe!« In der Ploughman's Lane hatte Fay Devenish um halb acht die Lokalzeitung von der Fußmatte hereingeholt. Bevor Stephen Devenish auch nur einen Blick darauf werfen konnte, klingelten die Reporter bei ihm schon an der Tür, hämmerten heftig dagegen, und sein Telefon begann zu läuten und hörte nicht mehr auf. Er ging wohlweislich nicht an die Tür. Einer von den
Presseleuten kletterte auf das Garagendach und versuchte, durch ein Oberlicht hereinzugelangen. Er hätte Kaylee Flay bei sich haben sollen, bemerkte Wexford, als er davon erfuhr. Devenish rief ein Taxi, um sich zum Polizeirevier fahren zu lassen. Wenn er sein eigenes Auto herausgeholt hätte, wäre die Meute über ihn hergefallen und hätte sich Zutritt zum Haus verschafft. Die Taxifirma hieß All The Sixes und pendelte mit ihren Fahrzeugen regelmäßig zwischen der Stadtmitte von Kingsmarkham, dem örtlichen Bahnhof und den Dörfern hin und her. Da der Chauffeur zwischen den Medienleuten und den geparkten Autos nicht durchkam, ließ er sein Taxi stehen und ging zu Fuß weiter. Reporter umringten ihn, einige hängten sich sogar an seine Fersen und bestürmten ihn zu verraten, wer sein Fahrgast sei, wohin er ihn fahren sollte und sie doch einen Moment mit Sanchias Vater reden zu lassen. Der Taxifahrer kam sich vor wie im Film. Er spielte mit dem Gedanken, von den Reportern ein schönes Sümmchen dafür zu verlangen, daß er Mr. Devenish gefangenhielt, doch dann fiel ihm ein, daß er dafür seinen Job verlieren könnte, und im übrigen muß ein Held - ob Sheriff, Hauptaugenzeuge oder Fahrer der Postkutsche - sich auch heldenhaft verhalten, 193 den Mund halten, stark sein und wacker zur Rettung schreiten. Also bemühte er sich, nicht auf sie zu achten, ging beherzt auf die Haustür zu und läutete. Devenish streckte erst den Kopf aus einem Fenster und kam dann heraus. Der Taxifahrer sagte beruhigend: »Halten Sie sich jetzt ganz dicht bei mir, Sir, und sagen Sie nichts, dann kriegen wir das schon hin. Ich nehme Ihren Arm und bringe Sie durch dieses Pack von Paparazzi - Sie haben doch nichts dagegen, oder?« Devenish sagte, er hätte nichts dagegen, beziehungsweise schrie es, denn jedes seiner Worte ging in den Fragen der Pressemeute unter, in Fußgetrappel und dem Klicken und Blitzen der Kameras. Der Taxifahrer übernahm das Kommando, nicht ohne dafür zu sorgen, daß sein grimmiges Gesicht auf die Bilder geriet, während er Devenish geschickt zu dem wartenden Taxi geleitete. Zitternd sank Devenish auf den Rücksitz. »Danke. Haben Sie vielen Dank. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte.« Die Meute setzte ihnen nach, doch es gelang dem Chauffeur, sie abzuschütteln. Als sie auf dem Revier ankamen, gab ihm Devenish ein stattliches Trinkgeld und ging durch die ramponierte Flügeltür hinein. Der
Chauffeur fuhr zweimal im Kreis um den Vorplatz herum, um einen genauen Blick auf die zertrümmerten Fenster und die rußgeschwärzte Vorderseite der Polizeistation zu erhaschen. Wenn er später Zeit hatte, würde er mit dem Fotoapparat wiederkommen. Stephen Devenish verlangte Wexford zu sprechen. Nein, der Chief Inspector erwarte ihn zwar nicht, er, Devenish, dächte aber, er würde ihn trotzdem empfangen, und im übrigen denke er gar nicht daran, denen dort draußen in den Rachen zu laufen wie ein Fuchs einer Hundemeute. Der diensthabende Sergeant schickte ihn im Aufzug nach oben und sagte, Wexford würde ihn dort abholen. Devenish hatte gerade den zweiten Stock erreicht, als die ersten Presseautos auf den Vorplatz gefahren kamen. In Wexfords Dienstzimmer beklagte er sich zwar nicht über 194 die Aufdringlichkeiten der Medien, schrie aber weiter, und zum erstenmal sah Wexford die Anzeichen seines berühmten Jähzorns. Devenish ließ die Fäuste auf den Tisch krachen. »Hat dieser Pädophile etwa mein Kind?« »Beruhigen Sie sich doch bitte, Mr. Devenish.« »Ich verlange eine Antwort!« »Bitte, setzen Sie sich. Gut. Ich verstehe Ihre Aufregung. Mir ginge es unter den Umständen genauso. Aber - nein, Orbe hat Ihr Kind nicht.« »Woher wollen Sie das wissen? Woher sind Sie sich da so sicher?« »Wir haben das Verschwinden Ihrer Tochter geheimgehalten«, sagte Wexford, »weil wir nämlich genau das befürchteten, was jetzt eingetreten ist. Es ist ein unglücklicher Zufall, daß Orbe zum Zeitpunkt ihres Verschwindens in der Gegend war, aber mehr steckt nicht dahinter. Es gibt keine Verbindung - ich hoffe, das verstehen Sie nun.« »Wo ist er dann jetzt?« »Das darf ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid. Aber er ist nicht in diesem Gebäude, er ist nicht einmal in dieser Stadt.« Wexford war es müde, den Leuten zu erklären, daß Orbe es auf Knaben abgesehen hatte; trotzdem wiederholte er für Sanchias Vater, was er schon so oft gesagt hatte. »Thomas Orbe interessiert sich nicht für Mädchen. Er ist Päderast.« »Das ist ja eklig! Da wird einem ja schlecht.« Pech, dachte Wexford, beides kann man eben nicht haben. »Wir tun, was wir können, um Sanchia zu finden«, sagte er, »und ich kann Ihnen versichern, was Sie hoffentlich trösten wird, sie ist nicht in der Hand eines uns bekannten Pädophilen. Ich meine, landesweit. Kein Pädophiler hat Ihr Kind. In solchen Fällen sind die Schuldigen oft gestörte Personen, meistens
eine Frau, die kurz davor ihr eigenes Kind verloren hat oder selbst keine Kinder bekommen kann. Deshalb wollte ich von Ihnen und Ihrer Frau auch unbedingt die Namen aller Ihrer Freunde und Bekannten, für den Fall, daß sich unter ihnen eine solche Person befindet.« 195 Wexford glaubte, im Gesichtsausdruck des Mannes eine winzige Veränderung entdecken zu können, kaum mehr als ein Flackern, eine schwache Veränderung in der Iris seiner Augen, eine kaum wahrnehmbare Spannung um die Mundwinkel. Ohne weiter darauf einzugehen, kam er von Sanchias potentiellem Kidnapper auf die Lage in Woodland Lodge in der Nacht ihrer Entführung zu sprechen. »Es geht eigentlich nicht darum, Mr. Devenish«, sagte er, »wer eventuell einen Schlüssel hat oder sich anderweitig Zutritt zu Ihrem Haus verschaffen könnte, sondern darum, wer dazu in der Lage wäre, ohne daß Sie oder Ihre Frau und Ihre Söhne dadurch aufgeschreckt würden oder Sanchia sich dabei muckste. Können Sie mir glaubhaft versichern, daß ein Fremder Ihr Töchterchen nachts aus dem Bett holen, sie aufwecken oder hochnehmen kann, ohne daß sie schreit oder nach Ihnen ruft?« »Ich weiß nicht.« Wexford sah sich zu der nächsten Frage gezwungen. Er mußte ein für allemal Klarheit darüber haben, ob und inwieweit Sanchias Intelligenz und Sinneswahrnehmungen beeinträchtigt waren. »Ich nehme doch an, daß sie schreien kann? Sie sagten, sie spricht kaum, aber sie kann doch sprechen, oder?« »Natürlich kann sie sprechen«, entgegnete Devenish ungewöhnlich heftig. »Sie ist ja nicht stumm. Was wollen Sie damit sagen? Daß sie verblödet ist?« »Nein, Mr. Devenish, das behaupte ich nicht. Aber Sie müssen selbst zugeben, daß die ganze Sache höchst merkwürdig aussieht. Hat sich schon ein Arzt oder Psychologe darüber geäußert, wieso Sanchia mit zweidreiviertel Jahren immer noch nicht spricht? Hat jemand einen Erklärung dafür?« »Wir haben niemand darum gebeten«, sagte Devenish. Er hatte sich inzwischen beruhigt, die Röte war aus seinem Gesicht gewichen und der alte Charme war zurückgekehrt. Sein Ton war gelassen, er hatte sein typisches leichtes Lächeln aufgesetzt. »Wir haben es nicht für nötig gehalten. Sie ist eben ein Spätentwickler. Verzeihen Sie, aber gehört das denn hier 195 her? Davon, daß Sie herauskriegen, wieso sie nicht spricht, werden Sie sie auch nicht finden.«
»Wenn ich vor einem Rätsel stehe, möchte ich, daß es gelöst wird«, erwiderte Wexford ruhig. »Ich möchte auch das Rätsel dieser Drohbriefe lösen, die man Ihnen geschickt hat. Neid schafft Feinde, und es gibt sicher viele, die Sie beneiden. Als Sie zum Beispiel Ihren heutigen Job bekamen und später, als Sie eine stattliche Gehaltserhöhung erhielten, muß es doch Leute gegeben haben, die Ihretwegen übergangen wurden. Vielleicht gibt es auch Leute, die wegen eines tatsächlichen oder eingebildeten Fehlverhaltens der Fluggesellschaft sauer sind und ihren Groll auf Sie als den Vertreter des Unternehmens übertragen. Sie verstehen doch, was ich meine.« »O ja, natürlich. Aber da ist nichts dran.« In Devenishs leicht zu durchschauenden Zügen zeichneten sich Lüge und Wahrheit immer sofort ab. Momentan log er, da war Wexford sich sicher. Auch Sturheit ließ sich in diesen dunklen Augen erkennen. Es ging ihm nicht nur ums Lügen, er wollte das Gesagte auch nicht weiter ausführen. Es war nichts dran, er hatte keine Feinde, und damit basta! Raum für Einwände oder gutes Zureden gab es da nicht. »Ihnen ist anscheinend nicht recht klar«, sagte Devenish ausgesucht höflich, »daß Leute, die solche Briefe verschicken, verrückt sind. Die brauchen dazu keinen Grund. Bei denen reicht es, daß sie irgendwas in der Zeitung lesen, und schon rasten sie aus. Das sind Verrückte.« »Mir ist klar, daß es oft, wenn auch nicht immer zwingend so ist, Sir. Und jetzt will ich etwas von Ihnen wissen, was Sie möglicherweise ähnlich irrelevant finden, was es, versichere ich Ihnen, jedoch nicht ist.« Wexford machte eine bedeutungsvolle Pause und sah den anderen unverwandt an. »Haben Sie einen zweiten Wohnsitz?« »Was, ein Häuschen auf dem Lande, meinen Sie wohl? Wir wohnen bereits auf dem Land. Und eine Wohnung in London haben wir auch nicht.« »Dann brauche ich wohl auch nicht zu fragen, ob ein so of 196 fenkundig hingebungsvoller Gatte wie Sie heute oder schon seit seiner Heirat ein Verhältnis mit einer anderen Frau hat?« Falls Devenish den ironischen Unterton in Wexfords Stimme und seinen untypischen Gebrauch der dritten Person bemerkt hatte, ließ er es sich nichts anmerken. »Chief Inspector, das soll wohl ein Witz sein.« Devenish lächelte und schüttelte gleichzeitig den Kopf wie über eine ganz unglaubliche Geschichte. »Das ist doch nicht Ihr Ernst.« »Durchaus, Sir«, sagte Wexford ungerührt. »Ich finde es eigentlich gar nicht so lustig. Heute früh ist hier ein Mann auf entsetzliche Weise ums Leben
gekommen. Sie werden entschuldigen, wenn ich mich vorab darauf konzentriere.« Die sterblichen Überreste von Ted Hennessy lagen in der Leichenhalle aufgebahrt. Er war vierunddreißig fahre alt geworden, vier davon bei der Kriminalpolizei in Myringham beschäftigt gewesen. Verheiratet, zwei Kinder, wie man aus der Presse erfahren konnte. In der Todesnachricht in einer überregionalen Zeitung - zwar nicht auf der ersten Seite, sondern unter der Rubrik Geburten, Hochzeiten und Todesfälle -hießt es, er sei der geliebte Ehemann von Laura und Vater von Jonathan und Kate gewesen. Die Benzinbombe, die ihn tötete, hatte jemand aus der Menge heraus geworfen. Hennessy wäre normalerweise gar nicht in Kingsmarkham gewesen, er war zur Verstärkung von Wexfords geplagtem Team gekommen. Die traurige Ironie bei der Sache war, wenn man so wollte, daß Orbe und die Devenishs schuld an seiner Anwesenheit waren. »Ich sehe darin keine Ironie«, bemerkte Bürden. »Nein, Sie haben recht«, meinte Wexford. »Was ich sagen wollte, er war eigentlich aus gar keinem richtigen Grund hier. Nur weil ein paar Leute sich unmöglich aufgeführt haben.« Er ließ sich nicht weiter darüber aus. Um die Mittagszeit hatte er eine Verabredung mit Brian St. George. Der Chefredakteur des Kingsmarkham Courier war nicht auf der Pressekonferenz erschienen, und Wexford konnte sich schon den 197 ken, warum. Jedenfalls vermutete und hoffte er, den Grund zu kennen. St. George hatte »es alles gesehen« - und zwar direkt. Sein Glück war gewesen, daß er gesehen hatte, wie die Benzinbombe geworfen wurde. »Ich behaupte nicht, daß ich es tatsächlich gesehen habe, Reg«, begann St. George. Er wirkte nervös. »Nicht direkt gesehen. Das wollte ich damit eigentlich nicht sagen.« »Was wollten Sie dann damit sagen?« »Äh, ich sah sie ins Ziel gehen.« »Mit »Zieh meinen Sie wohl Sergeant Hennessy.« Wexford konnte seinen Zorn kaum noch bändigen. »Für einen Journalisten haben Sie eine reichlich unpassende Ausdrucksweise. Wollen Sie das womöglich in Ihrem Käseblatt so schreiben?« Wenn man St. George an einer empfindlichen Stelle treffen konnte, dann mit einem Angriff auf seine Schreibkünste. Er zuckte leicht zusammen. Die Hände über die kahle Gänseblümchenstelle auf seinem Kopf gelegt, sah er Wexford
finster an. »Ich hab' nicht gesehen, wer sie geworfen hat«, sagte er. »Das wollte ich nie behaupten. Und wenn«, fügte er verwegen hinzu, »würde ich nicht damit herausrücken. Ich will mich doch nicht exponieren, Reg, nicht in meiner Position.« »Nennen Sie mich nicht Reg«, sagte Wexford. Als Hennessys Witwe Laura die Nachricht von seinem Tod erhielt, sagte sie: »Ich hab' immer gewußt, daß der Job ihn mal umbringt, aber doch nicht so, nicht so.« Bis zum nächsten Morgen war der Platz vor dem Polizeirevier wieder sauber, das ausgebrannte Auto - ehemals im Besitz von Constable Archbold abtransportiert und die zertrümmerten Fensterscheiben mit Brettern vernagelt. Es hatte mehrere Festnahmen gegeben, und gegen ein halbes Dutzend Leute, unter ihnen Brenda Bosworth, Maria Michaels und David Hebden, wurde wegen mutwilliger Sachbeschädigung Anklage erhoben. Barry Vine und Lynn Fancourt mußten die Suche nach Sanchia Devenish aufgeben, um mit zwei Kollegen vom Regionalen Kriminaldezernat denjenigen aus der 198 Gruppe auf dem Gehsteig aufzuspüren, der die Benzinbombe geworfen hatte, durch die Hennessy zu Tode gekommen war. Es war eine Sache, sich nicht als Zeuge zu melden, wenn es darum ging, daß ein Stein geworfen und ein Fenster zertrümmert wurde, jedoch etwas ganz anderes, wenn als Folge davon ein Mensch gestorben war. Nicht jeder hatte, um mit Wexford zu sprechen, solchen Schiß wie Brian St. George. Die Leute waren äußerst mitteilsam, und von überallher aus Stowerton, Kingsmarkham und dem Muriel Campden Estate trafen die Hinweise ein. Das Problem lag darin, daß niemand mit Sicherheit sagen konnte, wer überhaupt eine Benzinbombe gehabt, geschweige denn, wer sie geworfen hatte. Eins wußten sie: Hennessys Mörder war mitten unter ihnen gewesen, war einer von ihnen, war mit ihnen die High Street entlang marschiert, hatte mit ihnen geredet und »Steht zu den Kids« mit ihnen gesungen. So mußte es gewesen sein, aber dann verstummten sie plötzlich und sahen Barry und Lynn hilflos an. Sie konnten nicht absolut sicher sagen, es sei der und der gewesen, wären auch nicht bereit, es zu beschwören, sie dachten eben nur... Man will ja schließlich nichts mit absoluter Sicherheit behaupten, wenn am Ende womöglich jemand lebenslang ins Gefängnis muß. Andy Honeyman, der Wirt des Rat & Carrot, gab großzügig Auskunft. Wie Barry gegenüber Michael Bürden später bemerkte, hätte man meinen können,
er sei dabeigewesen, hätte alles gesehen und sich Notizen gemacht und Fotos geschossen. Schließlich stellte sich heraus, daß er in seiner Bar ein Gespräch mitgehört hatte: »Der Typ sagte: >Wie baut man eine Benzinbombe ?< Jetzt frag' ich Sie, würden Sie das ernst nehmen? Und der andere, der hat's auch nicht ernst genommen. >Was?< sagt er, >du spinnst wohl< oder >du hast sie wohl nicht alle- oder so ähnlich. Recht hat er, dachte ich, ich wußte ja nicht, wie das noch enden sollte. Und dann kam ein anderer Typ dazu »Moment mal«, unterbrach ihn Vine, »ich kann diese 199 ganzen Typen nicht auseinanderhalten. Sie wissen nicht vielleicht zufällig, wie die heißen?« .»Klar weiß ich, wie die heißen«, sagte Andy Honeyman. »»Der erste Typ, der war dieser Colin, äh, Colin Cromwell -nein, Crowne. Ihr Ex hieß Cromwell, aber der da heißt Crowne. Und der andere Typ war Joe Hebden. Die wohnen beide da auf diesem Schandfleck in der Landschaft, dem Muriel Campden Estate. Äh, wie gesagt, dann kam ein anderer Typ dazu »Wie hieß der denn?« »Fragen Sie mich nicht. Den hatte ich noch nie gesehen. Wer's war, weiß ich nicht, aber ich weiß, was er gesagt hat. Der hat ihnen nämlich erklärt, wie man eine Benzinbombe bastelt - man nimmt eine Flasche, füllt sie mit Benzin, den Rest können Sie sich denken. Er sagte, es gäbe einen Markt für die Dinger, was wohl soviel heißt, daß die Leute sie kaufen. Dann sagte er, selbermachen wäre zu umständlich, wo er sie doch liefern könnte. Da haben übrigens jede Menge Leute zugehört. Also, dieser Fowler war auch da, der mit der Negerfrau, die ihm davongelaufen und zu dem Haufen Schlampen gezogen ist, The Hide heißt es, wo sie hin ist. Ich weiß schon, wie es bei mir heißen würde.« Barry befragte daraufhin Colin Crowne, Joe Hebden und Terry Fowler. Colin wollte wissen, woher er denn bitteschön Benzin kriegen sollte, er hätte ja nicht mal ein Auto - als wäre der Besitz eines Kraftwagens das einzige Kriterium für den Zugang zu einem Zapfhahn. Er konnte sich nicht mehr an das Gespräch im Rat & Carrot erinnern und war der Überzeugung, Andy Honeyman habe es sich ausgedacht. Jedenfalls sei er bei dem Protestmarsch überhaupt nicht dabeigewesen, sondern habe mit Gürtelrose das Bett gehütet; darunter leide er übrigens immer noch, was sogar ein Halbblinder sehen könne. Joe konnte sich an das Gespräch nicht mehr erinnern, und Terry sagte, er habe das Wort »Bombe« zwar gehört, wisse aber nichts mehr von einem Typen, der Ratschläge erteilt haben sollte, wie man eine bastelte. Colins rhetorische Frage 199
brachte Barry jedoch auf eine Idee, und am nächsten Tag begann er, an jeder Tankstelle in der Stadt und der ganzen Umgebung Ermittlungen anzustellen. Lynn fuhr nach Hause, stellte ihren Wagen ab und wartete dann verloren und verlassen aussehend an der Straße nach Savesbury, bis sie schließlich vom vierten Auto und der ersten Frau am Steuer das Angebot, sie mitzunehmen, akzeptierte. Die Frau hatte kein graues Haar oder vielmehr doch, allerdings war es rot gefärbt, sie war eher dünn als kräftig gebaut und bestimmt nicht über fünfundvierzig. Sie fuhr Lynn nach Kingsmarkham zurück und setzte sie wie gewünscht vor St. Peter's ab. Lynn blieb nichts anderes übrig, als mit dem Taxi nach Hause zu fahren, und sie überlegte, ob sie den Fahrpreis als Spesen geltend machen könnte. Die gerichtliche Untersuchung der Todesursache von Ted Hennessy wurde eröffnet und wieder vertagt. Wexford und Bürden gingen gemeinsam hinaus, und Wexford zog die dünne Regenhaut über, die er vor vielen Jahren für einen Irlandurlaub gekauft hatte. »Ich kann irgendwie an nichts anderes mehr denken als an den armen Kerl«, sagte er. »Seine Frau sagte es ja, es ist nicht so sehr, daß er gestorben ist, obwohl das schlimm genug ist, sondern die Art, wie er gestorben ist. Tod durch Verbrennen - was Schlimmeres kann man sich eigentlich nicht vorstellen.« »Den kriegen wir noch«, sagte Bürden mit einem etwas tadelnden Blick auf die Regenhaut. »Kein Zweifel - ob ihn oder sie, die kriegen wir noch.« »Ich fürchte, in der Rache sehe ich nicht viel Trost, Mike.« Sie gingen die High Street entlang, wo die Sonne hell auf die nassen Bürgersteige schien, auf Pfützen und wahre Seen quer über die ganze Fahrbahn. Ein Auto fuhr mit zu hoher Geschwindigkeit vorbei und sprühte einen Wasserschwall hoch, der Burdens Hosenbeine knapp verfehlte. An der roten Ampel beugte sich der Fahrer ohne ersichtlichen Grund über den Beifahrersitz und drohte ihnen mit der geballten Faust. 200 »Gehen wir doch ins Europlate und trinken einen Kaffee«, schlug Wexford vor. Das Europlate war vor einem halben Jahr eröffnet worden. Sein Name hatte allerdings nichts mit der Europäischen Währungsunion zu tun, sondern bezog sich ausschließlich auf die Speisekarte, ein sinnig ausgewähltes Angebot an Hauptgerichten aus der Nationalküche jedes EU-Mitgliedstaates. Es gab schwedische Fleischklößchen, spanische Tortillas, griechischen Hirtensalat, Irish Stew, deutsche Würstchen, Croque Monsieur und das gute, alte englische Roastbeef. Das Problem war nur, daß alles nach Chinapfanne
schmeckte. Der Koch war angeblich Chinese, obwohl niemand behaupten konnte, ihn je zu Gesicht bekommen zu haben, um dies zu bestätigen. Als Wexford das letztemal hiergewesen war - er zog das Lokal der Kantine im Polizeirevier vor -, hatte er nach türkischem Konfekt gefragt und eine ziemlich mürrische abschlägige Antwort bekommen. Das Europlate war ganz in Gelb und Blau gehalten. Die Tischdecken waren dunkelblau, und jede Serviette trug in der Mitte den Sternenkreis, das Emblem der Europäischen Union. Sie bestellten Kaffee und bekamen gratis je ein Stückchen dänischen Plunder dazu. Bürden lehnte mit einem skeptischen Lächeln ab, doch Wexford hatte Mühe, dem mit Zucker und gehackten Nüssen bestreuten und mit Aprikosenmarmelade gefüllten Gebäck zu widerstehen und erlag schließlich der Versuchung. »Ich nehme es«, sagte er. »Ich weiß, ich sollte eigentlich nicht, aber ich brauche was zum Trost. Eine furchtbare Woche, was? Es wird noch eine Untersuchung der Ereignisse vom letzten Donnerstag früh geben, und das Ergebnis wird sein, daß der arme alte Rogers seinen Hut nehmen muß.« »Das mit der Benzinbombe konnte man ja nicht ahnen. Wer rechnet bei uns hier schon mit Benzinbomben? Wir sind doch nicht in Seoul, wir sind doch nicht« - Bürden zögerte und überlegte, wo sie sonst noch nicht sein könnten »in Jakarta. « 201 Wexford sah versonnen auf sein Plunderstückchen hinunter. Es war das erste Gebäck dieser Art seit über einem Jahr und vermutlich für das nächste Jahr das letzte. »Wie Sie wissen, war ich gestern bei Seaward Air. Am Hauptsitz in Gatwick, nicht in Brighton oder im hiesigen Zweigbüro. Ich habe mit Devenishs Assistentin und mit seiner Sekretärin gesprochen - zwei verschiedene Damen übrigens, er ist ja ein sehr wichtiger Mann - und mit dem gegenwärtigen Geschäftsführer. Er ist bei allen beliebt, alle sagen, er ist ein guter Chef, sehr fair, freundlich, aber ohne zu vertraulich zu sein.« »Und?« »Nun ja, es gibt ein >und