Ruth
Das Verderben Roman Aus dem Englischen von Cornelia C. Walter
Blanvalet
Die Originalausgabe erschien 1999 unte...
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Ruth
Das Verderben Roman Aus dem Englischen von Cornelia C. Walter
Blanvalet
Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Harm Done« bei Hutchinson, Random House UK Ltd, London.
Umwelthinweis:
Dieses Buch und der Schutzumschlag wurden auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die Einschrumpffolie (zum Schutz vor Verschmutzung) ist aus umweltschonender und recyclingfähiger PE-Folie. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann 1. Auflage © der Originalausgabe 1999 by Kingsmarkham Enterprises © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Satz: Uhl + Massopust, Aalen, Druck und Bindung: Graph. Großbetrieb Pößneck Printed in Germany ISBN 3-7645-0052-2
Den »Kinderkreuzzug« nannte er es, als alles vorbei war, weil Kinder eine so große Rolle darin spielten. Doch eigentlich ging es überhaupt nicht um Kinder. Kein einziges trug körperlichen Schaden davon, keinem war etwas getan worden, keines hatte über das in seinem Alter normale Maß hinaus weinen müssen, nicht einmal das. Der erlittene seelische Schmerz, das emotionale Trauma und die psychische Schädigung - nun, das war etwas anderes. Wer weiß, welchen Eindruck ein bestimmter Anblick auf Kinder ausübt? Und wer kann sagen, welche Handlungen solche Eindrücke nach sich ziehen? Wenn überhaupt. Vielleicht sind sie ja, wie man früher glaubte, charakterbildend. Sie machen uns stark. Das Leben ist schließlich hart, und darüber sollte man sich am besten schon in jungen Jahren klarwerden. Jede Kindheit ist unglücklich, sagt Freud. Allerdings, überlegte Wexford, ist die eine unglücklicher als die andere. Diese Kinder, die Kreuzzügler, waren Zeugen. Viele meinen, man sollte nie zulassen, dass Kinder Zeugen werden. Und es gibt ja auch Gesetze, die sie vor der Ausbeutung durch die Gerichtsbarkeit schützen. Aber wer will verhindern, dass sie etwas sehen, dass sie überhaupt erst Augenzeuge werden? Seine Tochter Sylvia, die Sozialarbeiterin, sagte, nach allem, was sie schon gesehen hatte, glaube sie manchmal, alle Kinder sollten ihren Eltern gleich nach der Geburt weggenommen werden. Andererseits würde sie selbst sich mit Händen und Füßen wehren, falls irgendein übereifriger Sozialarbeiter versuchen würde, ihr ihre eigenen Kinder wegzunehmen. Die Kinder, um die es in Wexfords Fragen und Ermittlungen ging, stammten von überallher aus Kingsmarkham und 5
den umliegenden kleinen Ortschaften, aus einem Sozialwohnungsgebiet, das die Zeitungen mit ihrem derzeitigen Lieblingsausdruck als »verrufen« bezeichneten, aus dem Millionärsviertel, das bei ihnen »im Grünen« lag, und aus der Mittelschicht dazwischen. Sie trugen die Vornamen — waren gelegentlich sogar darauf getauft worden —, die in den achtziger und neunziger Jahren beliebt waren: Kaylee und Scott, Gary und Lee, Sascha und Sanchia. In einer bestimmten Klasse der St.-Peter-Grundschule in Kingsmarkham war es taktlos, nach dem Namen des Vaters zu fragen, weil die meisten Kinder nicht recht wussten, wer ihre Väter waren. Auch wenn diese Kindergeneration mit Kartoffelchips, Pommes frites, Schokolade und Fertigmahlzeiten aufgezogen worden war, war es trotzdem die gesündeste, die das Land je besessen hatte. Hätte eins dieser Kinder jemals eine Ohrfeige verpasst bekommen, so hätte es den Übeltäter vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezerrt. Seelische Grausamkeit war eine andere Geschichte, keiner kannte sich so recht aus mit ihr, obwohl viele sie jeden Tag zu schreiben versuchten. Das älteste Kind, für das Wexford sich interessierte, war schon fast keines mehr. Sie war sechzehn, alt genug zum Heiraten, aber nicht zum Wählen, alt genug, um von der Schule abzugehen, wenn sie sich dafür entschied, und auch ihr Elternhaus zu verlassen, wenn sie das wollte. Ihr Name war Lizzie Cromwell.
1 An dem Tag, an dem Lizzie von den Toten zurückkehrte, waren Polizei, Familie und Nachbarn schon dabei, nach ihrer Leiche zu suchen. Sie bearbeiteten das offene Land zwischen Kingsmarkham und Myringham, durchkämmten die Hügel und streiften durch den Wald. Obwohl bereits April, war es kalt und nass, und es blies ein schneidender Nordostwind. Ihre Aufgabe war nicht angenehm; keiner lachte oder machte Witze, und es wurde wenig gesprochen. Unter den Suchenden befand sich auch Lizzies Stiefvater, doch ihre Mutter war zu erschüttert, das Haus zu verlassen. Am Vorabend hatten die beiden im Fernsehen einen Aufruf durchgegeben, Lizzie möge doch wieder nach Hause kommen, und an ihren etwaigen Entführer oder Angreifer appelliert, sie freizulassen. Ihre Mutter sagte, sie sei erst sechzehn, was bereits bekannt war, und habe Lernschwierigkeiten, was noch nicht bekannt war. Ihr Stiefvater war ein gutes Stück jünger als ihre Mutter, vielleicht zehn Jahre, und sah auch sehr jung aus. Er hatte langes Haar und einen Bart und trug mehrere Ohrringe, alle im selben Ohr. Nach der Fernsehausstrahlung riefen einige Leute auf dem Polizeirevier von Kingsmarkham an und gaben ihrer Vermutung Ausdruck, Colin Crowne habe seine Stieftochter ermordet. Eine Anruferin behauptete, er habe sie auf dem Baugrundstück an der York Street vergraben, etwa eine Viertelmeile vom Muriel Campden Estate entfernt, einer Siedlung des sozialen Wohnungsbaus, wo die Crownes mit Lizzie wohnten. Eine andere sagte zu Sergeant Vine, sie habe Colin Crowne zu Lizzie sagen hören, er würde sie umbringen, weil sie »dumm wie Bohnenstroh« sei. 7
»Leute, die zum Fernsehen gehen und über ihre vermissten Kinder reden«, meinte eine Anruferin, die sich weigerte, ihren Namen zu nennen, »sind immer die Schuldigen. Es ist immer der Vater. Wie oft hab' ich das schon erlebt. Und wenn Sie das nicht wissen, haben Sie bei der Polizei nichts zu suchen.« Chief Inspector Wexford hielt sie für tot. Nicht weil es die anonyme Anruferin gesagt hatte, sondern weil sämtliche Indizien darauf hindeuteten. Lizzie hatte keinen Freund, war alles andere als frühreif, hatte einen niedrigen IQ und war ziemlich langsam und schüchtern. Drei Abende zuvor war sie zusammen mit ein paar Freundinnen mit dem Bus ins Kino nach Myringham gefahren, nach dem Film hatten die beiden anderen Mädchen sie aber allein nach Hause fahren lassen. Sie hatten gefragt, ob sie noch mit in die Disco käme, doch Lizzie hatte gesagt, dann würde ihre Mutter sich Sorgen machen — ihre Freundinnen glaubten, Lizzie hätte es bei der Vorstellung selbst mit der Angst bekommen —, und so hatten sie sich an der Bushaltestelle von ihr getrennt. Es war kurz vor halb neun und wurde schon dunkel. Um Viertel nach neun hätte sie zu Hause in Kingsmarkham sein müssen, aber sie kam dort nicht an. Um Mitternacht hatte ihre Mutter dann die Polizei verständigt. Wäre sie ein — nun ja, ein etwas anderes Mädchen gewesen, hätte Wexford der Angelegenheit nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn sie eher wie ihre Freundinnen gewesen wäre. Selbst in Gedanken zögerte er etwas bei dem Ausdruck, denn er hielt sich gern an seine eigenen Standards politischer Korrektheit, in Gedanken wie in der Rede. Er wollte es nicht auf die Spitze treiben, wollte keine lächerlichen Ausdrücke wie etwa »intellektuell herausgefordert« benutzen, aber auch nicht unsensibel sein und ein Mädchen wie Lizzie Cromwell schwachsinnig oder zurückgeblieben nennen. Abgesehen davon war sie weder das eine noch das andere, sie konnte lesen und schreiben, zumindest einigermaßen, besaß ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und war selbständig. Am hellen Tag 8
jedenfalls. Trotzdem hätte man sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht an einer abgelegenen Straße allein lassen dürfen. Aber bei welchem Mädchen hätte man das schon gedurft? Wexford hielt sie also für tot. Von irgendjemandem ermordet. Colin Crowne hatte ihm auf Anhieb nicht besonders gefallen, allerdings hatte er keinen Grund, ihn des Mordes an seiner Stieftochter zu verdächtigen. Zugegeben, ein paar Jahre vor der Heirat mit Debbie Cromwell war Crowne wegen tätlichen Angriffs auf einen Mann vor einem Pub verurteilt worden, und danach noch einmal, weil er ein Auto entwendet und weggefahren - mit anderen Worten, gestohlen - hatte. Aber was besagte das schon? Nicht viel. Wahrscheinlicher war, dass jemand angehalten und Lizzie angeboten hatte, sie mitzunehmen. »Würde sie mit Fremden mitfahren? « hatte sich Vine bei Debbie Crowne erkundigt. »Manchmal dauert es, bis sie was kapiert«, hatte Lizzies Mutter erwidert. »Dann sagt sie ja und nein und lächelt ein bisschen lächeln tut sie viel, sie ist ein glückliches Kind -, aber man weiß nie, ob es, na ja, angekommen ist. Stimmt's, Col? « »Ich hab' ihr gesagt, sie soll nicht mit Fremden reden-, sagte Colin Crowne. »Ich hab's ihr gesagt bis zum Gehtnichtmehr, und was tut sie? Lächelt, nickt, lächelt noch mal, und dann sagt sie was ganz was anderes, irgendwas Bescheuertes, zum Beispiel, dass die Sonne scheint, oder sie fragt, was es zum Abendbrot gibt.« »Sag nicht bescheuert, Col«, bat die Mutter, offensichtlich verletzt. »Du weißt schon, was ich meine.« Als sie drei Nächte verschwunden und der dritte Tag angebrochen war, machten sich Colin Crowne und die Nachbarn zu beiden Seiten der Crownes im Muriel Campden Estate dann auf die Suche nach Lizzie. Wexford hatte bereits mit ihren Freundinnen gesprochen und mit dem Fahrer des Busses, den sie hätte nehmen sollen, und Inspector Burden und 9
Sergeant Vine hatten Dutzende von Autofahrern befragt, die die Straße täglich um etwa diese Uhrzeit befuhren. Als der Regen sich zu einem Wolkenbruch verstärkte, was gegen vier Uhr nachmittags geschah, blies man die Suche für diesen Tag ab, verabredete aber, sie gleich bei Tagesanbruch wieder aufzunehmen. In Begleitung von Detective Constable Lynn Fancourt fuhr Wexford in die Puck Road, um sich noch einmal mit Colin und Debbie Crowne zu unterhalten. Als die drei Straßen und die Häuserblocks auf der Grünfläche dazwischen in den sechziger Jahren zwischen dem oberen Abschnitt der York Street und der Westseite der Glebe Road auf einem offenen Grundstück, das man heute als »grüne Wiese« bezeichnen würde, gebaut worden waren, hießen sie noch York Estate. Der damalige Vorsitzende des Wohnungsbauausschusses, der in seiner Schulabschlussprüfung den Sommernachtstraum und den Sturm bearbeitet hatte und auf sein dort gewonnenes Wissen stolz war, benannte die Straßen nach Personen aus diesen zwei Shakespeare-Stücken: Oberon, Ariel und Puck. Letztere stellte für Bewohner, Polizei und örtliche Behörde seit jeher ein Problem dar, da sie der ortsansässigen Jugend Gelegenheit bot, einen unschuldigen Namen mittels Farbsprühdose und minimaler Anstrengung in eine Obszönität zu verwandeln. Muriel Campden hatte länger als irgendjemand sonst den Vorsitz (wie es heute geschlechtsneutral heißen muss) des Bezirksrates von Kingsmarkham innegehabt, und als sie starb, wurde York Estate nach ihr benannt. Es waren Bestrebungen im Gange, auf der Grünfläche gegenüber dem Sozialamt —einem Gebäude, das kürzlich die Bezeichnung Gemeindezentrum erhalten hatte — ein Standbild von ihr zu errichten. Die eine Hälfte der Bevölkerung war dafür, die andere vehement dagegen. »Ich hätte gedacht, die Siedlung ist schon Denkmal genug«, meinte Wexford, während er das Dreieck aus gedrungenen Sechziger-Jahre-Häusern betrachtete, aus deren Mitte sechs 10
Stockwerke hoch ein Wohnsilo mit Flachdach hochragte. Die Ariel, Oberon und Puck Road wirkten wie aus porösen Schlackensteinblöcken erbaut, die die Nässe vieler regenreicher Winter aufgesaugt und dadurch einen kohlschwarzen Farbton angenommen hatten. »Passt sehr gut zu Muriel Campden. Sie war ja eine dunkle, graue, düstere Person.« Er deutete auf das schon wieder verunstaltete Straßenschild am oberen Ende der Puck Road. »Sehen Sie sich das an. Man sollte doch meinen, es wird ihnen irgendwann langweilig.« »Schlichter Spaß für schlichte Gemüter, Sir«, sagte Lynn in dem Moment, als die Tür aufging und die Bewohnerin von Nummer 47 'sie zu Nummer 45 hereinließ. Die Nachbarin, eine gewisse Sue Ridley, geleitete sie zu Debbie und Colin Crowne hinüber, die einträchtig nebeneinander auf dem Sofa saßen. Beide rauchten, und beide verfolgten gerade eine Ratesendung im Fernsehen beziehungsweise starrten auf den Bildschirm. Bei ihrem Eintreten sprang Debbie auf und kreischte: »Sie haben sie gefunden! Sie ist tot!« »Nein, nein, Mrs. Crowne, es gibt noch nichts Neues. Es hat sich noch nichts getan. Darf ich mich setzen?« «Machen Sie, was Sie wollen«, entgegnete Colin Crowne in seinem üblichen mürrischen Ton. Er steckte sich eine Zigarette an und gab seiner Frau ohne zu fragen ebenfalls eine. Die Luft in dem kleinen Raum war bereits rauchgeschwängert. Der Regen schlug unaufhörlich an die Scheiben. Auf dem Bildschirm wusste ein Quizteilnehmer auf die Frage, ob Oasis eine Stadt in Saudi-Arabien, eine Popgruppe oder ein Kino im West End war, keine Antwort. Debbie Crowne bat ihre Nachbarin quengelnd, noch eine Tasse Tee zu machen, ach bitte, Sue, sei so gut. Wexford, der mit seinem Team bereits alle relevanten Fragen gestellt hatte, war eigentlich eher gekommen, um Mrs. Crowne zu versichern, dass getan werde, was man könne, als um weitere Auskünfte von ihr einzuholen. Er erkundigte sich aber noch einmal nach den Namen auswärtiger Verwandter
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oder Freunde, zu denen Lizzie eventuell gegangen sein könnte. Jemand hätte jedoch ohne Zeitung, Radio und Fernsehen auf einer Insel der Äußeren Hebriden festsitzen müssen, um von Lizzies Verschwinden und der polizeilichen Suchaktion nichts mitzubekommen. Trotzdem fragte er nach. Nur um etwas zu sagen, um Debbie Crowne von ihren schrecklichen Befürchtungen abzulenken. Es klingelte gerade in dem Moment an der Tür, als Sue Ridley den Tee in vier Henkeltassen hereinbrachte, in denen noch die Teebeutel schwammen. Die Milch war bereits im Tee, Löffel gab es keine. Sie stellte die Tassen dicht nebeneinander auf dem Tisch ab und ging an die Tür, um zu öffnen. Dabei sagte sie, es sei bestimmt ihr Lebensgefährte, der vom Suchtrupp zurückkam. Ihr lauter Ausruf ließ Wexford zusammenschrecken. »Du böses Mädchen, du, wo hast du bloß gesteckt? « Alle erhoben sich, die Tür ging auf, und ein Mädchen kam mit triefenden Haaren und Kleidern herein — sie sah aus, als wäre sie gerade aus der Wanne gestiegen. Debbie Crowne schrie auf und warf schreiend die Arme um ihre Tochter, ungeachtet der klatschnassen Kleider. »Mir ist kalt, Mum«, sagte Lizzie zähneklappernd mit einem wässrigen Lächeln. »Mir ist unheimlich kalt.« Sie war wohlbehalten wieder da, offensichtlich auch unversehrt, und alles andere zählte vorerst nicht. Wexford verabschiedete sich und wies Mike Burden und Lynn Fancourt an, mit Lizzie zu reden, nachdem sie heiß gebadet hatte. Er selbst sollte sie am nächsten Tag und den darauffolgenden Tagen noch mehrmals befragen, weil ihre Antworten alles andere als zufriedenstellend waren. Anders ausgedrückt, sie weigerte sich — oder war außerstande — zu sagen, wo sie gewesen war. Davon erwähnte er nichts, wusste er nichts, als er — früher als gewöhnlich — um sechs Uhr sein Haus betrat, erzählte seiner Frau aber, dass Lizzie Cromwell gefunden worden war. »Das heißt, anscheinend ist sie aus eigenem Entschluss zu12
rückgekommen. Sie bringen es bestimmt um neun in den Nachrichten.« »Wo war sie denn?« fragte Dora. »Keine Ahnung. Mit irgendeinem Jüngling unterwegs, nehme ich an. So ist es doch meistens. Es hat gar nichts zu bedeuten, wenn die Eltern nicht wissen, dass es einen Knaben gibt.« »Bei uns war es wahrscheinlich genauso. Sylvia und Sheila hatten bestimmt Freunde, von denen wir gar nichts wussten, und dann noch die, von denen wir wussten. Apropos, Sylvia bringt Robin und Ben über Nacht zu uns. Neil ist irgendwo unterwegs, und sie hat ja diesen neuen Job.« »Ah ja, den Telefonnotdienst bei The Hide. Ich wusste gar nicht, dass sie da auch nachts hin muss.« »Mir wäre lieber, sie müsste es nicht. Es ist doch viel zu viel für sie. Schließlich arbeitet sie tagsüber ja auch noch. Ich glaube kaum, dass sie ihr bei The Hide viel bezahlen.« »Ich könnte mir vorstellen«, meinte Wexford, »dass sie bei The Hide überhaupt nichts zahlen.« Er telefonierte gerade mit Burden, als seine ältere Tochter mit den Enkelsöhnen ankam. Burden hatte sich bei ihm gemeldet, wutentbrannt über Lizzie Cromwells Weigerung, den Mund aufzumachen. »Heißt das, sie will nicht verraten, wo sie war? « »Ich dachte schon, sie könnte gar nicht reden. Ich dachte wirklich, sie ist stumm. Na, ganz normal ist sie ja wohl auch nicht, oder? « »Sprechen kann sie«, sagte Wexford reserviert. »Ich habe sie gehört.« »Ach, ich auch — inzwischen schon.« »Und sie ist so normal wie Sie auch oder jedenfalls so normal wie die meisten Leute dort. Sie ist nur eben kein Genie.« Wexford räusperte sich. »Wie Sie und Ihresgleichen«, fügte er boshaft hinzu, denn Burden war gerade Mitglied bei Mensa geworden, mit einem IQ von 152, wie man munkelte. »Wieso sagt sie nicht, wo sie gewesen ist? « 13
»Keine Ahnung. Aus Angst. Aus Sturheit. Will nicht, dass ihre Mum und der Ohrring-Kerl was erfahren, nehme ich an.« »Na gut, wir probieren es morgen noch mal.« Wexfords Tochter Sylvia war Sozialarbeiterin. Sie hatte als reiferes Semester noch Soziologie studiert, nachdem sie mit Achtzehn geheiratet hatte. Die beiden Jungs, die aus der Küche gerannt kamen, als ihr Großvater gerade den Hörer auflegte, stammten aus dieser Ehe. Wexford begrüßte die beiden, bewunderte ein neues Nintendo und einen Gameboy und fragte, ob ihre Mutter noch hier sei. »Die quatscht mit Gran«, sagte Ben abschätzig, ais wollte er damit ein zutiefst unsoziales Benehmen geißeln. Eltern haben unter ihren Kindern immer einen Liebling, wenngleich sie, wie im Fall von Wexford, stets darauf bedacht sind, diese Vorliebe zu verbergen. Er hatte die Bevorzugung seiner jüngeren Tochter nie verhehlen können, war sich dessen voll bewusst und versuchte es daher immer wieder. Sylvia gegenüber war er überschwänglicher, versäumte es nie, ihr bei jedem Treffen einen Kuss zu geben, hörte aufmerksam zu, wenn sie ihm etwas erzählte, und tat so, als machte es ihm nichts aus, wenn sie ihm auf die Nerven ging. Denn Sylvia fehlte die charmante Art ihrer Schwester, und obwohl sie recht nett aussah, hatte sie nichts von Sheilas Schönheit. Sie war eine rechthaberische, schulmeisternde und oft aggressive Feministin mit der Gabe, ins Fettnäpfchen zu treten, eine Nörglerin und eine unbegabte Ehefrau, aber Expertin in Sachen Kindererziehung. Im übrigen hatte sie — und das wusste Wexford — das Herz auf dem rechten Fleck und ein enormes soziales Gewissen. Er traf sie am Küchentisch sitzend an, einen Becher Tee vor sich, wie sie ihrer Mutter gerade einen Vortrag über häusliche Gewalt hielt. Dora hatte offensichtlich die klassische Frage gestellt, die Sylvias Meinung nach von Ignoranz gegenüber dem ganzen Thema zeugte: »Aber wenn ihre Männer sie schlagen, warum verlassen sie sie dann nicht? « »Die Frage ist mal wieder typisch«, sagte Sylvia gerade, »für 14
eine Frau, die keine Ahnung hat, was in der Welt eigentlich vorgeht. Ihn verlassen, sagst du. Wo soll sie — sprechen wir mal nur von einer — wo soll sie denn hin? Sie ist doch abhängig von ihm, sie hat ja nichts Eigenes. Sie hat Kinder — soll sie ihre Kinder mitnehmen? Klar, er verprügelt sie, er bricht ihr die Nase und schlägt ihr die Zähne aus, aber danach sagt er jedes Mal, es tut ihm leid, er wird es nie wieder tun. Sie will, dass alles normal bleibt, will die Familie nicht auseinanderreißen — ach, hallo, Dad, wie geht's? « Wexford küsste sie, sagte, alles in Ordnung, und erkundigte sich, wie die Arbeit am Krisentelefon denn ginge. »Notruf heißt das bei uns. Ich habe Mutter gerade davon erzählt. Also, es bricht einem wirklich das Herz, das alles. Und mit das Schlimmste ist die Haltung der Öffentlichkeit dazu. Es ist wirklich unglaublich, aber viele Leute finden es immer noch komisch, wenn ein Mann eine Frau schlägt. Es ist ein Witz, wie auf diesen blöden Urlaubspostkarten. Die sollten mal einige von den Verletzungen sehen, die wir zu sehen kriegen, ein paar Narben. Und was die Polizisten anbelangt ...« »Moment mal, Sylvia.« Wexfords gute Vorsätze verflüchtigten sich. »Wir haben hier in Mid-Sussex ein Programm zum Thema häusliche Gewalt, das heißt, wir behandeln es absolut nicht als Bestandteil des ehelichen Alltags, wenn Frauen zu Hause tätlich angegriffen werden.« Seine Stimme wurde lauter. »Im Moment läuft gerade ein Projekt an, mit dem wir Freunde und Nachbarn ermutigen wollen, Fälle von häuslicher Gewalt zu melden. Es heißt Hurt-Watch, und falls du davon noch nichts gehört hast, ist das ein Fehler.« »Schon gut, reg dich nicht auf. Aber du musst zugeben, dass das alles noch recht neu ist. Das gibt es erst seit kurzem.« »Für mich hört es sich an wie die Stasi oder der KGB«, meinte Dora. »Die entfesselte Bevormundung, jeder braucht ein Kindermädchen.« »Mutter, und wenn schon, was ist dagegen einzuwenden, wenn sich ein Kindermädchen um einen kümmert? Ich hätte mir oft gewünscht, mir eins leisten zu können. Manche von 15
diesen Frauen sind vollkommen hilflos, um die hat sich nie jemand geschert, bis das mit den Frauenhäusern anfing. Und falls das noch nicht genug Beweis für den Bedarf ist: Es gibt überhaupt nicht genügend Frauenhäuser, es gibt nicht einmal annähernd genug, um den Bedarf zu decken ...« Wexford ging leise aus dem Zimmer, um seine Enkel zu suchen. Die Knabenschule lag am Stadtrand von Myfleet, und am nächsten Morgen chauffierte Wexford sie dorthin, bevor er zur Arbeit fuhr. Sein Weg führte ihn durch das Flusstal der Brede, unterhalb von Savesbury Hill und am Waldrand von Framhurst Great Wood entlang. Sooft er diesen Weg fuhr, verspürte er große Dankbarkeit darüber, dass die im Vorjahr geplante Umgehungsstraße aufgrund des Regierungswechsels auf Eis gelegt worden war. Newbury war bereits fertig, aber Salisbury würde nie gebaut werden und Kingsmarkham auch nicht (wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von »nie« sprechen konnte). Es war ungewöhnlich, sich über Sparsamkeit zu freuen und erleichtert zu sein, wenn man sich etwas nicht leisten konnte, doch war dies ein seltenes Beispiel dafür. Die Gelbe Köcherfliege war gerettet, ebenso der Landkärtchenschmetterling. Man könnte sogar sagen, bestimmte Arten von Wildtieren hätten von der geplanten Umgehungsstraße profitiert, denn die Dachse hatten ihre alten Baue behalten und neue, eigens für sie konstruierte dazu bekommen, während der Schmetterling sich nun von zwei Nesselplantagen ernähren konnte statt nur von einer. An der Stelle, an der die Umgehungsstraße anfangen sollte, hatte man schon mit den Arbeiten begonnen und den Erdboden mit Schaufelbaggern und Aushubmaschinen umgesetzt. Wie es schien, hatte niemand die Absicht, das Terrain in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, und Gras und Wildpflanzen waren über die neue Landschaft aus Erdwällen und Abhängen gewachsen, so dass diese Hügel und Täler in zukünftigen Jahren ganz natürlich wirken würden. So 16
lautete jedenfalls Wexfords Kommentar zu der seltsamen Szenerie. »Und in ein paar hundert Jahren, Grandad«, sagte Robin, »denken die Archäologen vielleicht, diese Hügel wären die Grabstätten eines alten Stammes.« »Wahrscheinlich, meinte Wexford, »das leuchtet ein.« »Tumuli«, sagte Robin, das Wort auskostend, »so werden sie sie nennen.« »Freust du dich? « fragte Ben. -Worüber? Dass sie die Umgehungsstraße nicht gebaut haben? Ja, doch, ich freue mich sehr. Es hat mir gar nicht gepasst, dass sie die Bäume gefällt und die Hecken rausgerissen haben. Mir haben die Straßenarbeiten nicht gefallen.« »Mir schon«, sagte Ben. »Mir haben die Bagger gefallen. Wenn ich groß bin, fahre ich Schaufelbagger, und dann grab' ich die ganze Welt um.« Es war die schönste Jahreszeit, obwohl es Anfang Mai, also in einem Monat, noch üppiger und blumenreicher wäre. Doch schon jetzt im April trugen die Bäume einen grünen und hellgelben Schleier, und im Framhurst Great Wood, der im Mai mit einem Glockenblumenteppich überzogen sein würde, zeigten sich schon Schöllkraut und Eisenhut hellgolden auf dem Waldboden. Nachdem er die beiden am Schultor abgesetzt und abgewartet hatte, bis sie ins Gebäude gebracht worden waren, fuhr er davon. Unterwegs dachte er über kindliche Vorlieben nach, über die Schönheit der Natur und die Frage, wann Kinder zum ersten Mal davon berührt werden. Mädchen früher als Jungs, dachte er, Mädchen schon mit sieben, während Jungen die Landschaften, Flüsse und Hügel, den Anblick der Niederungen in der Ferne und die Wolken am hohen Himmelszelt erst weit im Teenageralter bemerken. Und doch waren die großen Naturdichter alle Männer gewesen. Natürlich hatte Sylvia vermutlich recht, und es hatte auch große Dichterinnen gegeben dazu geboren, ohne Anerkennung zu bleiben und ihre Süße an die Wüstenluft zu verschwenden. Nun, vorerst hatte er mit einem Mädchen zu reden, das sich 17
aus der Schönheit von Weideland, Dachsen und Schmetterlingen vielleicht etwas machte oder auch nicht, das jedoch recht liebenswert schien und auch dann noch zaghaft lächelte, wenn ihr Stiefvater sie ausschimpfte und sie bis auf die Haut durchnässt war. Kein wilder Teenager, keine Rebellin. Sie saß auf dem Wohnzimmersofa in der Puck Road Nummer 45 und sah sich gerade einen Trickfilm über Dinosaurier an, der für halb so alte Kinder gedacht war und Jurassic Larks hieß. Oder starrte darauf, ohne richtig hinzusehen, dachte Wexford. Nur um ihn oder Lynn Fancourt nicht ansehen zu müssen. Auf ein Nicken von Wexford hin griff Lynn nach der Fernbedienung auf dem Tisch. -Das schalten wir jetzt aus, Lizzie. Jetzt ist es Zeit zum Reden.« Während der rosafarbene Brontosaurus verblasste und der Pterodaktylus mit dem kleinen Ichthyosaurus im Maul flimmernd verschwand, stieß Lizzie einen missbilligenden Laut aus, eine Art schnaubenden Protest. Sie starrte weiter unverwandt auf den leeren Bildschirm. »Aus der kriegen Sie nichts raus«, sagte Debbie Crowne. »Die ist so stur, da können Sie auch gleich an die Wand hinreden.»Wie alt bist du, Lizzie? « fragte Wexford. »Sechzehn ist sie.« Debbie ließ ihrer Tochter keine Chance zu antworten. »Im Januar ist sie sechzehn geworden.« -Wenn das so ist, Mrs. Crowne, wäre es vielleicht am besten, wenn wir uns mit Lizzie allein unterhalten.« »Was, ohne dass ich dabei bin?« »Nur bei einem Kind unter sechzehn ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass ein Elternteil oder eine verantwortliche erwachsene Person zugegen ist.« Ohne den Kopf zu drehen, ließ sich Lizzie plötzlich vernehmen: »Ich bin kein Kind.« »Seien Sie bitte so gut, Mrs. Crowne.« »Okay, wie Sie wollen. Aber sie wird nichts sagen.« Debbie 18
Crowne schlug sich die Hand vor den Mund, als sei ihr gerade etwas eingefallen. »Und wenn sie doch was sagt, dann sagen Sie's mir, ja? Ich meine, sie hätte ja weiß Gott wo sein können, mit wer weiß wem. Man kann nie wissen, stimmt's? Ich meine, sie könnte ja auch schwanger sein. Lizzie stieß den gleichen Laut aus wie vorhin, als man ihr Video ausgeschaltet hatte. Mit den Worten: »Brumm du nur hier rum. Ich finde, sie gehört untersucht«, ging Debbie Crowne aus dem Zimmer und machte die Tür etwas zu forsch hinter sich zu. Das Mädchen rührte sich nicht. »Du warst drei Tage weg von zu Hause, Lizzie«, sagte Wexford. »So was hast du noch nie gemacht, stimmt's?« Schweigen. Lizzie senkte den Kopf noch weiter nach unten, so dass ihr Gesicht vom herunterhängenden Haar völlig verdeckt war. Es war hübsches Haar, rotgolden, lang und wellig. An den Händen auf ihrem Schoß waren die Fingernägel abgebissen. »Du bist nicht allein gegangen, oder? Hat dich jemand mitgenommen, Lizzie? Als klar war, dass sie auch diese Frage nicht beantworten würde, sagte Lynn: »Egal, was du getan hast und wohin du gegangen bist, niemand wird dich bestrafen. Hast du Angst, du kriegst Ärger? Kriegst du aber nicht.»Niemand wird dir was tun, Lizzie«, sagte Wexford. »Wir wollen bloß wissen, wo du hingegangen bist. Wenn du weggegangen bist, weil du mit jemandem zusammen sein wolltest, den du magst, hattest du ein Recht darauf. Daran kann dich niemand hindern. Aber, weißt du, alle haben dich gesucht, die Polizei und deine Eltern und deine Freunde haben dich alle gesucht. Also haben wir jetzt auch ein Recht. Wir haben ein Recht darauf zu wissen, wo du warst.« Wieder kam das Brummen, ein langgezogener Laut wie unter Schmerzen. »Ich verstehe ja, dass du es mir vielleicht nicht sagen willst«, sagte Wexford. »Ich kann auch gehen. Dann könntest du mit Lynn allein sein. Du könntest mit Lynn reden. Hättest du das gern? « Da hob sie den Blick. Ihr Gesicht, ein recht hübsches, rund-
liches Gesicht mit Sommersprossen auf Nase und Stirn, war ausdruckslos, ihre blassblauen Augen starrten ins Leere. Sie befeuchtete sich die schmalen, rosaroten Lippen. Sie legte die Stirn in Falten, als konzentrierte sie sich sehr, als ginge die intellektuelle Anstrengung aber über ihre Kräfte. Dann nickte sie. Kein gewöhnliches Nicken mit mehrmaligen Auf-undAb-Bewegungen des Kopfes, sondern nur einmal, ruckartig, fast schroff. »Also gut.« Wexford ging aus dem Zimmer in den Flur hinaus, einen schmalen Durchgang, in dem ein Fahrrad und ein Kasten leere Flaschen standen. Er klopfte an eine Tür am anderen Ende und wurde in eine Wohnküche gebeten. Colin Crowne war nirgends zu sehen. Seine Frau saß auf einem Barhocker an der Anrichte in der Essecke, trank Kaffee und rauchte. »Möglicherweise kann Ihre Tochter mit Detective Constable Fancourt allein eher sprechen.« »Wie Sie meinen, aber wenn sie nicht mal mit ihrer eigenen Mutter spricht ...« »Was würden Sie davon halten, wenn sich herausstellt, dass sie mit einem Freund zusammen war? « »War sie aber nicht-, sagte Debbie Crowne und drückte ihre Zigarette in einem Unterteller aus, »also kann ich auch nichts davon halten.« »Dann lassen Sie es mich anders formulieren. Hätte sie vielleicht Angst vor den Folgen, wenn Sie herausbekommen, dass sie mit einem Freund zusammen war? « »Hören Sie, sie hat keinen Freund. Das wüsste ich. Ich weiß immer genau, wo sie ist — jede einzelne Minute. muss ich auch, sie ist nicht — na, Sie wissen ja, wie sie ist. Sie ist ein bisschen — also, man muss sich um sie kümmern.« »Trotzdem war sie am Samstagabend mit ihren Freundinnen allein unterwegs, und obwohl sie mit ihnen in Myringham war, haben sie sie allein nach Hause fahren lassen.« »Das hätten sie nicht dürfen. Wie oft hab' ich ihnen eingeschärft, sie sollen Lizzie nicht sich selbst überlassen. Ihnen hab' ich's gesagt und ihr auch.« 20
»Sie sind sechzehn, Mrs. Crowne, sie tun nicht immer das, was man ihnen sagt.« Nun verlegte sie sich auf ein Thema, das ihr offenbar mehr am Herzen lag. »Aber was ist, wenn sie doch schwanger ist, wie ich gesagt habe, dann muss man sie untersuchen, dann muss man sich doch um sie kümmern. Mal angenommen, er hat ihr was getan, wir wissen doch nicht, was er ihr getan hat.« »Wollen Sie damit andeuten, sie wurde vergewaltigt? ‘‘ »Nein, das nicht, natürlich nicht, das wüsste ich doch.« Wenn sie also keinen Freund hat und nicht vergewaltigt wurde, wie sollte sie dann schwanger sein? Er fragte es nicht laut, sondern ging wieder ins Wohnzimmer, nicht ohne vorher anzuklopfen. Dort saß Lynn, doch das Mädchen war verschwunden. »Ich hätte sie schlecht davon abhalten können, Sir. Sie wollte nach oben in ihr Zimmer, und daran konnte ich sie ja nicht hindern.« »Nein. Für heute lassen wir es gut sein.« Im Wagen draußen fragte er, was bei dem Gespräch herausgekommen war, falls es überhaupt ein Gespräch gewesen war. »Hat sie etwas gesagt?« »Einen Haufen Lügen hat sie mir aufgetischt, Sir. Ich weiß, dass es gelogen war. Es war, als ob sie - na ja, als hätte sie begriffen, dass sie irgendwas sagen muss, damit wir sie in Ruhe lassen. Ihr Pech ist, dass sie eine ziemlich beschränkte Phantasie hat, aber sie hat's versucht.« »Was für tolle Geschichten sind ihrer beschränkten Phantasie denn eingefallen?« »Sie hat im Regen an der Bushaltestelle gewartet. Eine Dame - so hat sie sich ausgedrückt - eine Dame kam im Auto vorbeigefahren und bot ihr an, sie mitzunehmen, doch sie lehnte ab, weil Colin ihr gesagt hatte, sie soll sich nie von Fremden im Auto mitnehmen lassen. Weil der Bus nicht kam und es in Strömen goss, ging sie in ein unbewohntes Haus mit vernagelten Fenstern - das Haus mit dem Apfelbaum, nennt 21
sie es — und setzte sich dort auf den Boden, um abzuwarten, bis es aufhörte zu regnen ...« »Ist doch nicht zu glauben!« »Was hab' ich gesagt? Ich hab's auch nicht geglaubt.« »Wie ist sie hineingekommen? « »Die Tür war nicht verschlossen. Sie hat sie aufgestoßen. Und als der Regen aufgehört hatte und sie wieder zur Bushaltestelle gehen wollte, kam sie nicht mehr heraus, weil jemand vorbeigekommen war und sie eingesperrt hatte. Sie blieb drei Tage und drei Nächte ohne Essen dort drin, konnte sich aber Wasser aus der Leitung besorgen und fand ein paar Decken, in die sie sich einwickeln konnte, um sich warmzuhalten. Dann wurde die Tür wieder aufgeschlossen, sie entkam und nahm den Bus nach Hause.« Obwohl niemand Lizzies Geschichte Glauben schenkte, lohnte es doch die Mühe, nach Myringham zu fahren und sich die Sache anzusehen. »Das müssen Sie aber doch nicht, Sir«, sagte Lynn. Damit meinte sie, es war unter seiner Würde. »Das kann ich doch machen.« »Entweder das oder wieder ab an den Schreibtisch«, meinte Wexford. Vine hatte mit den Freundinnen Hayley Lawrie und Kate Burton gesprochen, die beide behaupteten, sie hätten Lizzie bis an die Bushaltestelle gebracht. Sie hatten versprochen, sie nicht allein zu lassen, und das hatten sie doch auch nicht, nur für fünf Minuten, der Bus sollte in fünf Minuten kommen. Hayley sagte, inzwischen wünsche sie sich, sie wäre bei Lizzie geblieben, bis der Bus kam, aber Kate meinte, es sei doch egal, Lizzie wäre ja nichts passiert. Die Bushaltestelle lag gleich neben dem Kino, in dem sie gewesen waren, aber schon am Ortsrand von Myringham an der alten Straße nach Kingsmarkham. Als erstes fiel Wexford das verfallene Haus auf. Die Bushaltestelle befand sich direkt davor. Alle Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Hälfte 22
der Dachschieferplatten fehlte, und das Gartentörchen hing nur noch an einer einzigen Angel. Das Haus stand in einem überwucherten Garten, in dem das einzig Schöne ein pink-rosa blühender Kirschbaum war. Kein Apfel, wie Lizzie gesagt hatte, sondern eine Japanische Kirsche. Die Haustür war vor etwa zwanzig Jahren in einem aggressiven dunkelgrünen Farbton gestrichen worden, und inzwischen blätterte die Farbe ab. Wexford drehte den schwarz angelaufenen Messingknopf und drückte dagegen. Dabei überlegte er, was er von Lizzie halten sollte, falls die Tür nachgab. Doch sie war verschlossen. Sie gingen hinten ums Haus. Hier hingen die Bretter an einem Fenster lose herunter, vielleicht hatte auch jemand den Versuch unternommen, sie zu entfernen. Wexford entschied kurzerhand: »Wir gehen hier hinein. Und danach lassen wir das Fenster wieder ordentlich zunageln. Tun wir dem Besitzer den Gefallen, wer immer es sein mag.« Vielleicht war Lizzie auf diesem Weg hinein- oder herausgelangt oder beides. Die Öffnung war groß genug, dass kleine oder zierliche Menschen sich durchquetschen konnten, doch für Wexford musste Donaldson sie mit Hilfe von Werkzeugen aus dem Autokofferraum erweitern. Wexford trat über das Fensterbrett hinein, Lynn und Donaldson folgten. Drinnen war es kalt und feucht und roch modrig. Unter den abgelösten Bodenbrettern waren schwarze Löcher zu sehen, in denen teilweise Ölpfützen standen. Die meisten Möbel waren längst herausgeschafft worden, nur ein kleines schwarzes Roßhaarsofa war in dem Raum zurückgeblieben, in dem sie jetzt waren, und in dem eisernen Korb im Kamin lagen leere Chipstüten und Zigarettenkippen. Die Tapete hing in langen gekringelten Streifen von den Wänden. Abgesehen von der Küche war im Erdgeschoss nur noch ein anderes Zimmer, an dessen angeschimmelten Wänden zwei Ölbilder hingen, das eine zeigte einen Hirsch, der aus einem Teich trank, das andere ein präraffaelitisch angehauchtes Mädchen, das an einem Strand Muscheln sammelte. Decken 23
waren nirgends zu sehen. Nun blieb noch das Obergeschoss zu erforschen. Vorher wollte sich Wexford das schäbige Küchengelass genauer ansehen. Er drehte an beiden Wasserhähnen. Aus einem kam gar nichts, aus dem anderen tröpfelte blutrotes Rostwasser. Aus dem hatte Lizzie nicht getrunken. An der hinteren Tür steckte kein Schlüssel im Schloss, und sie war nicht verriegelt. Über die Türeinfassung waren Holzlatten genagelt. Durch die Haustür war Lizzie ebenfalls nicht hereingekommen, denn sie war von innen verriegelt. Die Riegel waren verrostet und hätten sich ohne Werkzeug nicht zurückschieben lassen. »Meinen Sie, die Stufen halten, Lynn?« erkundigte sich Wexford. »Sieht aus, als hätte sich jemand mit der Spitzhacke daran zu schaffen gemacht.« »Gerade noch, Sir.« Lynn betrachtete ihn, nicht die Treppe, etwas abschätzend, als zweifelte sie eher an seinen athletischen Fähigkeiten als an der Stabilität von Trittflächen und Setzstufen. Offensichtlich hatte man den Versuch gemacht, die Trittflächen zu erneuern, sie zu entfernen oder die ganze Konstruktion zu erweitern, und das Vorhaben dann aufgegeben, aber erst als die Treppe schon teilweise demoliert war. Wexford ließ Lynn vorausgehen, weniger aus Höflichkeit, sondern weil er wusste, dass er so, wenn er rückwärts fiel, nicht auf eine kleine, zierliche Frau fallen würde, die vermutlich keine fünfzig Kilo wog. Er trat behutsam auf, hielt sich dabei vielleicht unvorsichtigerweise an dem wackligen Geländer fest und gelangte sicher nach oben. Seine Mühe wurde durch den Anblick einer großen, grauen Decke belohnt, die über eine Art Wassertank oder dergleichen, jedenfalls einen großen, würfelförmigen Gegenstand gebreitet lag. Ansonsten waren die beiden kleinen Dachzimmer absolut leer. »Kann ja sein, dass sie sich in die eingewickelt hat«, sagte Lynn und streckte Wexford die Hand entgegen, die durch die Berührung mit der Decke feucht geworden war. »Obwohl sie ein bisschen muffig riecht.« Über ihnen war durch ein Loch im 24
fleckigen Verputz der Rand einer Dachplatte zu sehen und dahinter ein Stück blauweißer Himmel. »Vielleicht hat sie Leitungswasser im Bad getrunken«, sagte Wexford, »wenn es hier ein Bad gibt.« Er schüttelte den Kopf. »Kann schon sein, dass sie hier war, aber keine drei Tage.« »Ist das denn so wichtig, Sir?« fragte Lynn, als sie sich die gefährliche Treppe wieder hinunterwagten. »Ich meine, sie ist doch wieder da, und es fehlt ihr nichts. Geht es uns was an, wo sie gesteckt hat? « »Vielleicht nicht. Vielleicht haben Sie recht. Ich würde es eben einfach nur gern wissen.Burden gegenüber drückte er sich am nächsten Tag ähnlich aus, als der Inspector Einwände gegen Wexfords Interesse an so einer trivialen Sache erhob. Sie waren nicht auf dem Revier, sondern hatten sich nach der Arbeit auf ein feierabendliches Bier im Olive and Dove getroffen. »Mir scheint, ich habe heute überhaupt nicht gearbeitet«, meinte Wexford, »bloß verdammte Formulare ausgefüllt.« »Vielleicht sind wir ja drauf und dran, das Verbrechen zu besiegen.« »Sie machen Witze. Ich nehme nicht an, dass an Lizzie Cromwell eine Straftat verübt wurde oder dass sie selbst eine verübte, aber ich würde es doch gern wissen. Drei Tage war sie weg, Mike, drei Tage und drei Nächte. In dem Haus war sie nicht — nun gut, eindeutig feststellen können wir das nur, indem wir ihre Fingerabdrücke abnehmen und das Haus mit der Lupe untersuchen, aber ich weiß, dass sie nicht dort war. Sie wäre gar nicht reingekommen, und wenn, wäre es ihr nicht gelungen, es zu verlassen und das Fenster wieder in den Zustand zu versetzen, in dem wir es vorfanden. Sie log, als sie sagte, sie hätte aus dem Wasserhahn getrunken, sie log, als sie sagte, dass sie sich in die Decke gewickelt hätte, und sie log, als sie sagte, sie sei eingesperrt und dann wieder herausgelassen worden. Sie war also überhaupt nicht dort. Ich frage mich, ob es einen Sinn hat, einen Aufruf an diese Frau zu richten, die ihr angeboten hat, sie mitzunehmen.« 25
»Das war vielleicht auch gelogen.« »Stimmt. Vielleicht.« Wexford kippte den letzten Rest seines Bieres hinunter. »Wo war sie dann?« »Bei einem Mann. Diese Dinger sind immer bei einem Mann, das wissen Sie doch. Die Tatsache, dass ihre Mutter behauptet, es gäbe keinen Freund, heißt überhaupt nichts, und wenn sie sagt, sie hätte gar keine Gelegenheit gehabt, jemanden kennenzulernen, heißt das auch nichts. Es ist völlig egal, wie ein Mädchen aussieht oder wie schlicht von Gemüt sie ist — schon gut, schauen Sie nicht so, Sie wissen, was ich meine —oder wie schüchtern und so weiter, der Fortpflanzungstrieb in diesen jungen Dingern ist dermaßen stark, dass die unwahrscheinlichsten Kandidaten zusammentreffen wie — wie Magnete.« »Ich hoffe, in dem Fall gibt es keine Fortpflanzung, obwohl ich zugebe, dass es am wahrscheinlichsten ist, dass sie mit einem Mann zusammen war, mit einem Jungen. Damit wissen wir aber immer noch nicht, wo.« »Bei ihm natürlich.« »Aha, aber da liegt doch das Problem. Wenn er in ihrem Alter ist, wohnt er aller Wahrscheinlichkeit nach noch bei seinen Eltern oder einem Elternteil und vielleicht Geschwistern. Wenn er älter ist, ist er vermutlich verheiratet oder lebt, wie man sich heute ausdrückt, 'in einer Beziehung‘. Die anderen Beteiligten wüssten von ihrem Verschwinden. Jemand hätte uns verständigt.« »Er hätte sie auch mit in ein Hotel nehmen können.« »Drei Tage und drei Nächte, Mike? Hat er es so üppig? Nein, ich sehe nur eine Möglichkeit: Er lebt allein, hat ein Zimmer oder eine Wohnung, und dorthin hat er sie mitgenommen. Er behielt sie die ganzen drei Tage und drei Nächte bei sich, und niemand im Haus oder in der Wohnanlage hat sie zu Gesicht bekommen. Die Sache gefällt mir nicht so recht, ich glaube eigentlich auch nicht dran, aber wir wissen ja, was Sherlock Holmes sagte.« Burden hatte es schon zu oft von Wexford gehört, um nicht 26
Bescheid zu wissen. »Wenn alles andere unmöglich ist, muss das, was übrigbleibt, so sein — oder so ähnlich.« Er holte noch eine Runde Getränke. Er würde es nicht sagen, jedenfalls jetzt noch nicht, aber er hatte von Lizzie Cromwell die Nase voll, die ganze Geschichte langweilte ihn. Wexford war seiner Meinung nach drauf und dran, sich schon wieder in etwas zu verrennen, bloß dass es früher, wenn er so einen Fimmel gehabt hatte, um bedeutsamere Ereignisse gegangen war. Falls Burden jedoch hoffte, als er mit den beiden Biergläsern zum Tisch zurückkehrte, Wexford würde sich einem neuen Gesprächsthema zuwenden, wurde er enttäuscht. »Als ihre Freundinnen sie an der Bushaltestelle stehenließen, wartete sie demnach darauf, dass dieser Kerl im Auto vorbeikam, stimmt's? Aber wieso an einer Haltestelle? Wieso nicht an einem warmen und trockenen Ort wie einem Café? »Weil sie vor ihren Freundinnen so tun musste, als würde sie auf den Bus warten«, sagte Burden abschließend und hoffte, damit habe es sein Bewenden. »Sie haben genug von der Sache, stimmt's? Ich weiß es, das merke ich. Nun, ich will Ihnen nicht mehr lang auf die Nerven gehen. Ich glaube, Sie haben recht mit Ihrer Erklärung, weshalb sie an der Bushaltestelle gewartet hat, aber ich will doch noch ein bisschen nachbohren. Wieso wollte sie, dass ihre Freundinnen glauben, sie wartet auf den Bus? « »Damit sie das mit dem Freund nicht rauskriegen.« »Aber warum sollen sie es nicht erfahren? Wäre sie denn nicht stolz auf einen Freund? Besonders auf einen mit Auto und eigener Wohnung? Sie hätte sich doch auf sie verlassen können. Ihrer Mutter hätten sie es bestimmt nicht verraten.« -Vielleicht ist er verheiratet.« »Dann könnte er sie nirgendwohin mitnehmen«, sagte Wexford, und obwohl Burden auf die nächste Phase seiner Ausführungen wartete, ließ er sich nicht weiter darüber aus. »Das Hurt-Watch-Treffen ist morgen früh«, sagte er statt dessen. »Sie wissen doch? Um Punkt zehn. Southby wird auch da sein, falls ich Ihnen das noch nicht gesagt habe.«
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Beim Gedanken auf die bevorstehende Begegnung mit dem zukünftigen stellvertretenden Chief Constable stöhnte Burden leise auf. Operation Safeguard, wie das Projekt ursprünglich geheißen hatte, interessierte ihn herzlich wenig. Seine persönliche Meinung war, was immer innerhalb der eigenen vier Wände vor sich ging, gehörte auch dorthin und sollte so wenig wie möglich in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzes fallen. Doch da er wusste, wie Wexford dazu stand, hielt er den Mund. Am nächsten Morgen, eine halbe Stunde vor dem geplanten Beginn der Versammlung, kam eine Frau auf dem Weg zur Arbeit ins Revier, um zu melden, sie habe Lizzie Cromwell am vergangenen Montagabend an der Bushaltestelle gesehen. Es war reiner Zufall, dass sie überhaupt mit Wexford sprechen konnte. Er kam in dem Moment mit Barry Vine am Empfang in der Eingangshalle vorbei, als sie mit dem diensthabenden Sergeant sprach. Trotzdem sagte Barry sein übliches Sprüchlein, er würde sich schon darum kümmern, es sei doch nicht nötig, dass Wexford dass ich mir mein hübsches Köpfchen darüber zerbreche, dachte Wexford, sagte es aber nicht laut. »Gehen wir hinauf in mein Büro«, sagte er.
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2 Inzwischen war Freitag, und Lizzie war am Dienstag Nachmittag zurückgekommen. Diese Tatsache teilte Wexford Mrs. Pauline Ward mit, überrascht, dass sie es noch nicht wusste. »Darf ich fragen, warum Sie nicht schon früher gekommen sind? « »Ich habe ihr Foto erst gestern Abend gesehen. Es war in der Zeitung, in die die Krabbe eingewickelt war.« »Wie bitte? « »Hören Sie, ich habe keine Zeitung abonniert. Ich meine, keine Tageszeitung. Ich sehe mir auch keine Fernsehnachrichten an. Ich sehe fern, aber nicht die Nachrichten. Das regt mich nur auf. Wenn es nicht um Grausamkeiten in Albanien geht oder Kinder, die in einem Feuer zugrunde gehen, dann sind es erschlagene Seehundbabys. Das tu' ich mir gar nicht mehr an.« »Die Krabbe, bitte, Mrs. Ward.« Sie war Mitte Fünfzig, chic gekleidet, der Rock zwar etwas zu kurz und die Augenlider zu blau, aber ansonsten eine ansehnliche, gepflegte Frau, die in einem dunkelblauen, spiegelblank polierten Audi vorgefahren war, den sie auf dem für den zukünftigen stellvertretenden Chief Constable reservierten Parkplatz abgestellt hatte. Wenn sie — wie in diesem Moment — lächelte, waren ihre schönen, strahlend weißen Zähne zu sehen. »Ach ja, die Krabbe«, sagte sie. »Also, gestern Abend nach der Arbeit fuhr ich auf dem Nachhauseweg bei dem guten Fischgeschäft in der York Street vorbei. Ich hatte zum Abendessen Besuch eingeladen und brauchte noch eine Vorspeise, also dachte ich mir, eine Krabbe wäre doch was Feines, und 29
der Fischhändler packte sie mir in diese Zeitung ein. Es war, glaube ich, die Times. Na jedenfalls, als ich meine Krabbe auspackte und das Foto sah, fiel mir wieder ein, dass ich sie am Montagabend gesehen hatte.« »Aha. Und als Ihre Freundin kam, sprachen Sie mit ihr darüber? « »Mit ihm«, sagte Mrs. Ward. »Ein Er, es ist mein Freund.« Sie hörte sich an wie eine Frau, die sich kaum die Mühe machen würde, für einen weiblichen Gast eine Krabbe zu besorgen. »Äh, nein, habe ich nicht. Hätte ich das sollen?« »Er hätte Ihnen vielleicht gesagt, dass man Lizzie Cromwell gefunden hat. Das heißt, falls es ihn nicht auch davor graust, sich die Nachrichten anzusehen.« Pauline Ward warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Keine Ahnung. Über solche Sachen reden wir nicht.« Fast hätte sie unwillig den Kopf zurückgeworfen. »Wollen Sie das mit Montagabend denn nicht hören? « Wexford nickte. »Also gut. Ich leite im Heaven-Spent-Einkaufszentrum in Myringham den Crescent Minimarket. Samstags haben wir bis halb neun geöffnet. Als ich ging, war es zwanzig vor neun. Ich musste noch abschließen und zu meinem Wagen gehen, und so war es schließlich schon zehn vor, als ich an der Bushaltestelle vorbeifuhr.« Wexford unterbrach sie. »Wie kommt es, dass Sie sich bei der Uhrzeit so sicher sind? « »Bin ich immer, auf die Minute genau. Ich schaue ständig auf die Uhr. Na ja, auf die Armbanduhr. Ich sah, wie spät es war, als ich aus dem Geschäft ging, und warf einen Blick auf die Digitaluhr an der Midland Bank, als ich gerade losfuhr, und die zeigte acht Uhr vierundfünfzig an. Ich dachte, das kann doch nicht sein, so spät ist es doch noch nicht, und verglich es mit meiner Armbanduhr und der Uhr im Auto — ich wusste, dass beide auf die Sekunde genau gehen —, und auf beiden war es acht Uhr neunundvierzig. Na, dachte ich, ich gehe in die Midland und sage es ihnen — was ich am Dienstag auch 30
tat. Und bis ich es zu Ende gedacht hatte, das mit der Bank, meine ich, kam ich bereits an der Bushaltestelle vorbei, an der das Mädchen stand, und dachte, armes Ding, steht da im Regen und wartet auf den Bus. Soll ich fragen, ob sie mitfahren will, dachte ich, aber dann dachte ich, lieber nicht, man kann ja nie wissen, stimmt's? « Das war also nicht die Frau, die Lizzie angeboten hatte, sie mitzunehmen, und deren Angebot abgelehnt worden war. Aber zehn vor neun ... Hatte das Mädchen tatsächlich zwanzig Minuten an der Bushaltestelle gewartet? »Sind Sie sich ganz sicher, dass es zehn vor neun war?« »Habe ich doch gesagt, oder? Ich merke mir immer die Uhrzeit. Wieso wollen Sie das alles eigentlich wissen, wo sie doch zurückgekommen ist? »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mrs. Ward.« Sie stand auf. »Wollen Sie sich nicht bei mir bedanken? Ich hätte ja nicht herkommen müssen. Wäre ich auch nicht, wenn ich nicht zufällig diese Krabbe gekauft hätte.« Er brachte sie hinunter, und am Ausgang drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Sie haben da ein Problem mit Ihrer Einstellung, wissen Sie. Darum sollten Sie sich mal kümmern.« Wexford verkniff sich das Lachen, bis sie weg war. Er hatte durchaus ein Problem, aber nicht mit seiner Einstellung. Vielmehr ließ er sich in geradezu lächerlicher Weise auf diese Geschichte mit Lizzie Cromwell ein. Sie war wieder da, wie ihm von allen Seiten immer wieder versichert wurde, sie war mit einem Freund unterwegs gewesen, aber nun war sie wieder da, und nichts Schlimmes war passiert. Hatte der Freund sie zwanzig Minuten an der Bushaltestelle warten lassen? Im Regen? Vielleicht. Schon möglich. Da fiel ihm plötzlich ein —und die Vorstellung war alles andere als willkommen —, dass Lizzie, niedlich, auf kindliche Weise hübsch, nicht besonders hell im Kopf und vermutlich höchst naiv, genau die Art von Person war, die ein gewissenloser Mensch ausnutzen würde. Ging sie auf eine Art Sonderschule? Und wenn nicht, 31
warum nicht? Und wäre diese Schule überhaupt der richtige Ort, um bei ihr Selbstvertrauen und Lebenstüchtigkeit herauszubilden? Wexford bezweifelte es. Doch er beschloss, sich von Lizzie, ihren Problemen und ihrer Familie abzuwenden. Es war nicht Sache der Polizei. Polizeiressourcen und das Geld des Steuerzahlers waren darauf verschwendet worden, aber das war nichts Neues. Man musste schon froh sein, dass kein Verbrechen stattgefunden hatte, dass es keine Toten und nicht einmal Verletzte gab, und nachdem es so gut ausgegangen war, würden manche sogar behaupten, Zeit und Ausgaben hätten sich gelohnt. Also, adieu, Lizzie Cromwell, wollen wir hoffen, dass du nicht schwanger bist. Die Hurt-Watch-Versammlung ging ohne besondere Vorkommnisse, ja sogar zufriedenstellend vonstatten. Zur Abwechslung waren sich Wexford und Malcolm Southby einmal einig. Beide wollten häusliche Gewalt als ernstzunehmendes Verbrechen priorisieren (Southbys Ausdruck, mit dem Wexford nicht einverstanden war), und beide fanden die Idee gut, Frauen als deren Opfer mit Mobiltelefonen und Funkempfängern auszustatten. Allein ihnen das Bewusstsein zu vermitteln, dass die Polizei hinter ihnen stand, war schon ein Schritt in die richtige Richtung. »Und was ist mit den Opfern, die uns noch nie angerufen haben?« fragte Karen Malahyde. »In diesem Bereich gibt es eine Menge Heimlichtuerei, wissen Sie. Ein Großteil dieser Frauen würde fast alles tun, um nicht zugeben zu müssen, dass sie Opfer sind.« »Ich weiß nicht, was wir dagegen tun können, Sergeant Malahyde, gab Southby zurück, der mit dem Geld der Steuerzahler recht knauserig umging, »außer jedem weiblichen Wesen im Einzugsgebiet von Kingsmarkham teure elektronische Geräte zur Verfügung zu stellen. « Sogar wenn er eine Sache unterstützte, konnte sich der zukünftige stellvertretende Chief Constable den Sarkasmus kaum verkneifen. Er führte es weiter aus. »Oh, Verzeihung, natürlich nur denen, die in einer festen Beziehung leben.« Er gackerte über seinen eigenen Witz. 32
Karen fand es nicht lustig, verzog das Gesicht aber kaum und blickte nur finster drein; dabei bemerkte sie missbilligend, dass einige ihrer Kollegen liebedienerisch lächelten. »Das ist ja alles schön und gut, Sir.« Sie traute sich nicht recht zu sagen, das sei ja alles recht witzig, da sie wusste, dass ihr »Sir« nicht alles rechtfertigte. »Aber müssen wir nicht noch mehr tun, um herauszufinden, wo die Opfer sind? Ich meine, diejenigen, die um jeden Preis verheimlichen wollen, was mit ihnen passiert? « »Dazu haben wir doch Hurt-Watch, Karen«, sagte Wexford und erntete einen komischen Blick von Southby, weil er ihren Vornamen benutzt hatte. »Wir machen per Anzeige im Courier darauf aufmerksam und verteilen Handzettel an alle Haushalte. Ein Vertreter der Polizei — einer von uns hier — geht in Newsroom South-East auf Sendung und spricht darüber. Ich sehe im Augenblick nicht, was wir sonst noch tun können.»Okay. Danke, Sir. Es ist nur — die ganze Geschichte nimmt momentan immer mehr zu — trotzdem, danke.« Wexford hatte sich während des einstündigen Treffens auf das Thema konzentriert, und es war ihm auch nicht schwergefallen, über Southbys witzige Bemerkung nicht zu lächeln. Sobald es vorbei war, schlich sich der Gedanke wieder ein: Apropos Heimlichtuerei, was hatte es eigentlich mit diesem Freund auf sich, der vor Lizzies Freundinnen sowie vor ihren Eltern versteckt werden musste, und wieso wollte sie sich jetzt nicht zu ihm bekennen? The Hide war vermutlich nicht das langweiligste und uninteressanteste Gebäude in ganz Kingsmarkham. Das MurielCampden-Wohnsilo war noch häßlicher, und einige Büroblocks waren trister, doch unter den größeren Häusern auf eigenem Grundstück war The Hide in der Kategorie langweiliger Häuser, die keinen zweiten Blick verdienten, ohne Konkurrenz. Dass die wenigsten dem Haus einen zweiten Blick geschenkt oder es überhaupt bemerkt hätten, war ein wesent33
licher Gesichtspunkt gewesen, als Griselda Cooper und Lucy Angeletti beschlossen hatten, es als Zentrum und zeitweiliges Zuhause für die Opfer häuslicher Gewalt zu erwerben. Es war wichtig, dass das Haus unscheinbar wirkte, aber so, als hätte es nichts zu verbergen, langweilig, ohne unheimlich auszusehen, und von einer Düsterkeit, die keine Kommentare herausforderte. Früher hatte es die Hausnummer 12 im Kingsbrook Valley Drive getragen, doch das Schild war entfernt, ein Schild mit dem Namen »The Hide« nicht angebracht worden. Die Nummer war nicht im Telefonbuch eingetragen, nur die Notrufnummer war bekannt. In jeder Telefonzelle in Kingsmarkham, Stowerton, Pomfret und auf den Dörfern hing ein Kärtchen mit der Notrufnummer von The Hide. Allerdings stand auf der Karte nicht, wo sich das Haus befand oder wozu es diente, noch wer dort Zuflucht suchte und auch fand. Als sie mit der Arbeit beim Notruf anfing, hatte Sylvia Fairfax fast als erstes die Frage gestellt: »Wozu die Heimlichtuerei?« »In neun von zehn Fällen«, sagte Griselda Cooper, »kommen Ehemänner und Partner oder Freunde, eben die, die für den Missbrauch verantwortlich sind, und suchen sie. Auf die Art wird es ihnen schwerer gemacht, sie zu finden. Nicht unmöglich, aber schwerer.« »Aber sie finden her?« -Manche schon. Wir hatten einen da, der ist über die Mauer gekommen. Die ist zwar drei Meter hoch und hat obendrauf Stacheldraht, aber er hat es geschafft. Danach haben wir den Stacheldraht durch Natodraht ersetzt.« Es gab einen riesengroßen Garten. Gitterwerk erhöhte die Mauern zwischen The Hide und den Hausnummern 10 und 14 im Kingsbrook Valley Drive. Abgesehen davon, dass der Rasen gemäht und die Büsche gelegentlich gestutzt wurden, war der Garten ungepflegt. Für die Kinder gab es eine Schaukel und ein Klettergerüst, und Lucy Angeletti, die die finanziellen Mittel für The Hide auftrieb, wollte genügend Geld zu34
sammenbringen, damit ein richtiger Spielplatz angelegt werden konnte. Die Nachbarn in Nummer 10 und 14 und auch in Nummer 8 und 16 hatten von dieser Absicht Wind bekommen und bemühten sich nun nach Kräften, der Sache einen Riegel vorzuschieben. The Hide und dessen Bewohnerinnen waren im Kingsbrook Valley Drive nicht gerade beliebt. Die Leute fanden, es stelle eine Gefahr für den Frieden in der Gegend dar und locke das Verbrechen an. Das Haus selbst, ein großer, quadratischer Kasten ohne Seitenflügel, Giebel oder Veranda war 1886 von einem Mann mit vielköpfiger Familie gebaut worden, der Kosten hatte sparen wollen. Nicht einmal das Dach war von der Straße her auszumachen, obwohl es nicht ganz flach war — es lag hinter einer kahlen Backsteinmauer versteckt, die über den Fenstern im dritten Stock um das Haus verlief. Als Baumaterial waren Ziegel in einem stumpfen Rotbraun verwendet worden, und die einzige Zierde war die gelbbraune Verblendung, mit der die flachen Schiebefenster abgesetzt waren. Das Ganze wurde halb verdeckt von den im Vorgarten dominierenden Lorbeerbüschen sowie von zwei Stechpalmen, Friedhofsbäumen, deren Blätter nie abfielen, sondern mit der Zeit nur dunkler und staubiger wurden. Drinnen sah es ganz anders aus: Pastellfarben, hübsche Vorhänge und Bilder an den Wänden. Eigentlich waren es eher Plakate als Bilder. Lucy hatte die glorreiche Idee gehabt, mehrere Bögen Geschenkpapier zu kaufen, auf denen Blumenbilder, Weltkarten oder Die Dame mit dem Einhorn abgebildet waren, und sie rahmen zu lassen. Das Mobiliar stammte aus Trödelläden oder war von Sponsoren beigesteuert worden, und der Fußbodenbelag kam aus dem Teppichlager an der Stowerton Road, wo die Ware wegen Feuerschadens billig zu haben war. Ständig mangelte es an Geld. Lucy hatte schon graue Haare vor lauter Sorgen, ob sie genügend finanzielle Mittel zusammenbekäme, damit The Hide weiterexistieren konnte — obwohl ihr Haar sich vielleicht sowieso verfärbt hätte, da vorzeitiges Ergrauen bei ihr in der Familie lag.
Am Geldmangel lag es, dass Sylvia und Jill Lewis und Davina Crewe nicht dafür bezahlt wurden, dass sie am Telefon mit den Frauen sprachen, die um Hilfe und manchmal auch um Zuflucht baten. Im Idealfall hätte die Notrufnummer von einem anderen Ort aus betrieben werden sollen. Doch einen anderen Ort gab es nicht. Griselda Cooper wohnte im Haus und Lucy Angeletti in einer Einzimmerwohnung in Stowerton. Außer den zwei Zimmerchen im Keller von Kingsbrook Valley Drive Nummer 12 besaß The Hide keine Büroräume. Die beiden Telefone, die von Jill und Davina, manchmal von Griselda und Lucy und nun auch von Sylvia betreut wurden, befanden sich in einem Raum im Obergeschoss neben Griseldas winziger Wohnung. Platz war so kostbar, dass die beiden anderen Räume auf diesem Stockwerk in möblierte Zimmer für geflohene Frauen umgewandelt worden waren, mit zwei Einzelbetten in einem und drei Betten und einem Klappbett im anderen. Ideal war es nicht, aber etwas Besseres konnten sie nicht bieten. Einen Aufzug gab es nicht. Sylvia musste sich die drei Treppen vom Erdgeschoss hochquälen, wo sich die Wohnzimmer befanden, Gemeinschaftsraum und Fernsehzimmer, Kinderspielzimmer, Küche und Waschküche, durch den ersten und zweiten Stock, die ganz mit möblierten Zimmern und Bädern besetzt waren - der Einbau von zusätzlichen Badezimmern stand dringend an, sobald Lucy die Mittel bekam - und nach oben zu den Telefonen. Normalerweise spielten Kinder auf der Treppe. Das durften sie eigentlich nicht, auch nicht die Geländer herunterrutschen, doch wenn das Spielzimmer überfüllt war und es regnete, blieb ihnen kaum etwas anderes übrig. An zwei Abenden pro Woche, und zwar nicht immer denselben Abenden, arbeitete Sylvia von sechs Uhr bis Mitternacht in The Hide. Normalerweise war ihr Mann dann zu Hause, um sich um die beiden Söhne zu kümmern, und falls er einmal verhindert war, konnte sie sie zu ihren Eltern bringen. Sie hatte die Aufgabe teils aus sozialem Gewissensdruck
und dem Engagement für die Sache der Frau übernommen, teils um ein wenig aus dem Haus zu kommen. Wenn sie zu Hause war, schwiegen Neil und sie sich gegenseitig an, wandten sich nur indirekt über ihre Kinder aneinander oder stritten. Ihrer Mutter und ihrem Vater erzählte sie nie, wie es um ihre Ehe stand, sprach darüber jedoch mit Freundinnen, und Griselda Cooper wurde für sie rasch zu einer Freundin. Griseldas Schicht endete, wenn Sylvia übernahm, doch manchmal blieb sie noch eine halbe Stunde oder länger, um zu reden. Sie war gut zwölf Jahre älter als Sylvia, alleinstehend und hatte einen Liebhaber, der beneidenswert oft mit ihr ausging oder mit ihr fortfuhr, wenn sie einmal ein Wochenende frei hatte. Sylvia konnte sich den Anflug von Neid nicht verkneifen, obwohl Griselda keine Kinder hatte und nie welche haben würde. Eines Abends erzählte sie Griselda von ihrer Ehe, dass sie und Neil sehr jung geheiratet und zu spät entdeckt hatten, dass sie überhaupt nicht zueinander passten. »Zu spät?« fragte Griselda, die geschieden war. »Ich kann die Familie doch nicht auseinanderreißen. Eine Trennung wäre für meine Kinder verheerend.« »Das hört sich an wie das, was unsere Anruferinnen sagen. Er hat sie gerade fast umgebracht und wird es wieder tun, sie weiß es, will aber die Familie nicht auseinanderreißen.« Als das Telefon klingelte, hob Griselda ab. »Hier ist der Notruf von The Hide. Was kann ich für Sie tun? «Sie sprach im ruhigsten, wärmsten und beruhigendsten Ton, den sie zuwege brachte, also sehr ruhig, warm und beruhigend. Sylvia konnte spüren, dass es am anderen Ende der Leitung still blieb — wie so oft. Plötzlich verließ die Frauen der Mut oder sie wussten nicht, was sie sagen sollten, oder — was am schlimmsten war — der Herr des Hauses war ins Zimmer gekommen, in dem das Telefon stand. Griselda wartete. »Was kann ich für Sie tun?« wiederholte sie und sagte dann: »Wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Wollen Sie mir nicht sagen, was das Problem ist? Was Sie sagen, wird vertraulich behandelt.«
Nach zehn Minuten beharrlichen Wartens legte sie bedauernd auf. »Ich konnte sie atmen hören«, sagte Griselda. »Ich hörte sie seufzen. Jetzt hoffe ich bloß, dass sie wieder anruft. Das macht sie vielleicht, und dann gehst du ran.« »Was du da gesagt hast, bevor der Anruf kam«, sagte Sylvia, »von dem Mann, der die Frau fast umgebracht hat, aber sie will die Familie nicht auseinanderreißen — Neil hat mir nie ein Haar gekrümmt. Und weißt du, hier zu arbeiten und mir das alles anzuhören, von diesen Frauen zu hören, was sie alles durchgemacht haben, hat mir gutgetan. Ich meine, es hat meiner Ehe tatsächlich gutgetan.« »Mach keine Witze.« »Als ich neulich von hier nach Hause gefahren bin, es war natürlich mitten in der Nacht, und ins Bett ging — o ja, wir schlafen in einem Bett, verrückt, nicht? —, und mich neben ihn gelegt habe, er schlief schon, schlief friedlich wie ein Kind, da dachte ich, du warst immer so freundlich zu mir und sanft und geduldig, und ich habe es nie zu schätzen gewusst. Und da — habe ich den Arm um ihn geschlungen und lag neben ihm und umarmte ihn. Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan ...« »Ist ja gut«, sagte Griselda, »wein doch nicht. Na gut, weine nur, wenn es dir guttut.« Sie legte den Arm um Sylvia, aber nur für einen Augenblick, weil das Telefon schon wieder läutete. Einer Textildesignerin, die in Pomfret lebte und arbeitete, war der gesamte Lagerbestand gestohlen worden. Die Kollektion, bestehend aus Steppmänteln und Westen, Bettdecken und Überwürfen sowie Batikwandbehängen, Kleidern, Tischdecken und Servietten war im Keller untergebracht gewesen, der vor zwei Jahren zu einer Werkstatt umgebaut worden war. Das Kellerfenster war vergittert und die Außentür doppelt abgeschlossen, doch das Fenster des Garderobenraums, eines schrankgroßen Kabuffs mit Toilette und Mini-Waschbecken, stand offen. Wer immer durch dieses Fenster gekommen war, 38
musste zierlich und gelenkig gewesen sein und hatte offenbar die gesamte Beute durch ebendiese Öffnung hindurch nach draußen geschafft. »Oder hat die Tür von innen entriegelt und aufgeschlossen«, sagte Inspector Burden, »das Zeug hinausgebracht, ist dann noch einmal hinein, um die Tür zu verriegeln und abzuschließen, und durch das aufgebrochene Fenster geflüchtet.« »Ich würde es nicht schaffen«, meinte Wexford bekümmert. »Nicht einmal, wenn es doppelt so groß wäre.« Er sah Burden skeptisch an, dessen neuer braungrauer Anzug die schlanke Figur noch betonte. »Und ich möchte mal vermuten, Sie auch nicht, Mike. Haben die dort ein Kind reingeschickt? Eine Art Oliver Twist? « »Wer weiß? Wir haben keine Fingerabdrücke gefunden außer denen der Besitzerin und ihres Lebensgefährten. Sie schätzt den Wert der verschwundenen Sachen auf fünfzigtausend Pfund.»» »Ach tatsächlich? Ich dachte immer, diese Kunsthandwerker nagen am Hungertuch. Es heißt doch, die verdienen mit Putzengehen mehr Geld als mit ihrer edlen Stickerei, Keramik, Batik etcetera.« »So hoch hat sie es geschätzt. Das will aber nicht heißen, dass sie es auch dafür verkaufen kann. Übrigens, bevor ich's vergesse, wir hatten noch einen Anruf von einer Mutter, deren Tochter verlorengegangen ist.« Wexford schlug mit beiden Fäusten auf die Schreibtischplatte. »Warum sagen Sie mir das erst jetzt?« Burden gab keine Antwort. Immer penibel auf seine äußere Erscheinung bedacht, fummelte er an seiner ebenfalls braungrauen, jedoch dezent dunkelrot und hellblau gemusterten Krawatte herum und sah sich suchend nach einem Spiegel um. Ein winziges Exemplar hatte sonst immer zwischen Tür und Karteikasten an Wexfords gelber Wand gehangen. »Der ist weg«, sagte Wexford ungehalten. »Ich mag keine Spiegel. Ich schaue morgens zum Rasieren hinein, notge39
drungen, und das reicht mir für den ganzen Tag. Ich bin doch kein Dressman.« »Offensichtlich nicht«, erwiderte Burden, der inzwischen den besten Blick auf Gesicht und Hals studierte, den ihm die Glasscheibe über Wexfords Chagall-Druck bot. »Ich weiß gar nicht, was mit dieser Krawatte los ist, ständig verrutscht sie.« »Meine Güte, dann nehmen Sie sie eben ab. Oder Sie machen es wie ich und tragen zwei Krawatten abwechselnd —montags, mittwochs und freitags die blaue und dienstags und donnerstags die rote, und nächste Woche dann umgekehrt. Und jetzt sagen Sie mir vielleicht endlich, was mit dem vermissten Mädchen los ist.« Burden nahm Wexford gegenüber am Schreibtisch Platz. »Es ist wahrscheinlich gar nichts mit ihr los, Reg. Wissen Sie, dass in diesem Land mehr als vierzigtausend Teenager als vermisst gelten? Natürlich wissen Sie das. Na, jedenfalls wird die hier nicht vermisst, sie ist kein Kind mehr, sie ist Achtzehn und hat sich vermutlich das gleiche geleistet wie Lizzie Cromwell.« »Und das wäre? « »Damit meine ich, sie ist mit einem Knaben abgehauen oder besucht Freunde oder ist ausgestiegen oder sonstwas.« »Was soll das heißen, ,ausgestiegen?« »Sie studiert irgendwo. Am Wochenende kam sie hierher nach Hause, ging Samstagabend aus und wurde seither nicht mehr gesehen.« »Früher«, sagte Wexford, »hat die Universität ihren Studienanfängern untersagt, am Wochenende nach Hause oder sonst wohin zu fahren. Schade, dass sie das aufgegeben haben. Ich nehme an, ihre Mutter weiß, dass sie nicht einfach wieder an die Uni zurückgefahren ist — gab es vielleicht einen Streit in der Familie? « »Sie behauptet nein. Das Mädchen ist auch nicht zurückgefahren. Barry hat sich in ihrem Wohnheim und bei der Tutorin erkundigt.« »Wie heißt sie, und wo wohnt sie?« 40
»Sie heißt Rachel Holmes und wohnt in der Oval Road in Stowerton. Die Mutter, Mrs. Rosemary Holmes, ist geschieden und wohnt allein, wenn das Mädchen nicht da ist. Sie ist Sprechstundenhilfe bei Dr. Akande.« Sich von seinem Spiegelbild losreißend, einem geisterhaften Gesicht, das sich hinter Chagalls fliegendem Liebespaar schwach abzeichnete, begann Burden seine Ausführungen. Rachel war am Samstagabend etwa um acht aus dem Haus gegangen, um sich mit ein paar Freunden in einem Pub zu treffen. Ihre Mutter wusste weder in welchem Pub, noch wohin Rachel danach gegangen war, vermutlich in eine Diskothek oder zu einer Freundin nach Hause. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie vor zwei oder drei Uhr morgens zurück sein würde. »Als sie jünger war«, hatte Mrs. Holmes zu Sergeant Barry Vine gesagt, »habe ich ihr ein Handy mitgegeben, und sie hat mich angerufen und gesagt, wo sie gerade war. Das geht aber nicht mehr, wenn sie über Achtzehn sind, nicht wahr? Schließlich ist sie jetzt Studentin. Was sie dort macht, weiß ich nicht, weiß nicht, wann sie dort abends nach Hause kommt. Was soll ich mir also hier Sorgen machen, wenn sie spät dran ist? Ich mache mir aber natürlich trotzdem Sorgen. Samstagnacht habe ich kein Auge zugetan.« »Sie hat uns also heute angerufen, richtig?« fragte Wexford. »Rief an und kam vorbei, um eine Vermisstenmeldung aufzugeben.« »Wieso hat sie so lange gewartet?« »Keine Ahnung. Vine hatte den Eindruck, das Mädchen ist eine von diesen aufsässigen Teenagern, die ihrer Mutter aufs Dach steigen würde, wenn sie sie als vermisst meldet, während sie bloß irgendwo ist und sich einen flotten Lenz macht.« Wexford saß einen Augenblick schweigend da. Er wollte auf keinen Fall zulassen, dass ein einzelner, nicht besonders wichtiger Fall zwanghaft wurde, überhandnahm und ihn gedanklich vereinnahmte. Doch war ihm auch bewusst, dass man 41
seinen Charakter nur schwer ändern kann, besonders in seinem Alter. So war er nun einmal, und der Versuch, eine Veränderung herbeizuführen, würde seiner Persönlichkeit möglicherweise völlig grundlos Zwang antun. »Sie haben doch nicht etwa vor, Mrs. Holmes einen Besuch abzustatten?« fragte Burden fast spöttisch. »Barry hat die Sache im Griff.« »Ich habe vor, noch einmal bei den Crownes und Lizzie Cromwell vorbeizuschauen.« Wexford stand auf. »Wäre doch höchst interessant, wenn sie die Holmes' oder die beiden Mädchen einander kennen.«
3 »Nein, die kennen wir nicht.« Debbie Crowne spuckte die Worte geradezu aus. »Die ist doch viel zu fein für uns, oder? Solche wie die wollen mit unsereins nichts zu tun haben.« Da Rachel Holmes und ihre Mutter in einem Reihenhaus in einer Nebenstraße wohnten, in einem bescheidenen Häuschen, das um einiges kleiner war als das, in dem er sich gerade befand, wunderte sich Wexford über die feine Unterscheidung, die Mrs. Crowne machte. Gleichzeitig wusste er, dass er nicht ganz ehrlich zu sich war. Es gab einen Unterschied. Rosemary Holmes war Eigentümerin ihres Hauses und übte eine Bürotätigkeit aus, Rachel ging auf die Universität. Falls sie früher zur Arbeiterschicht gehört hatte, war Mrs. Holmes inzwischen um einige Stufen höher gestiegen, während die Crownes immer noch da waren, wo sie angefangen hatten. Irgendwie mochte er diese Abstufungen nicht, wusste jedoch, dass sie eine feste Tatsache waren und nicht etwa kulturspezifisch oder — wie manche behaupteten — auf dieses Land beschränkt. »Ist Lizzie mit Rachel auf dieselbe Schule gegangen? « Kaum hatte er es gesagt, war ihm klar, dass er sich damit gewaltig vertan hatte. Lizzie warf ihm einen ihrer finsteren Blicke zu, mit hängendem Kopf, aber nervös nach oben spähenden Kaninchenaugen. Ein Ausdruck, den man normalerweise bei Kindern sah, die halb so alt waren wie sie. Ihre Mutter sagte: »Sie sagten doch, sie sind zwei Jahre auseinander. Für jemanden in ihrem Alter sind das Jahrhunderte.« »Aber Lizzie geht doch auf die Gesamtschule in Kingsmarkham«, insistierte er, »wie Rachel früher auch? »Und noch ein paar tausend andere dazu. Außerdem ist sie 43
im Förderzweig für Lernschwache.« Debbie Crowne beäugte ihn mit dem gleichen Ausdruck wie ihre Tochter. »Das ist so ziemlich das unterste Ende.« Trotzdem mussten die beiden über mehrere Jahre hinweg an der gleichen Schule gewesen sein, vielleicht sogar über vier Jahre. War das die Verbindung? Bevor das Gespräch fortgesetzt wurde, kam Colin Crowne ins Zimmer. Wexford betrachtete ihn prüfend, während Mrs. Crowne über Lizzie sprach, ihre Befürchtungen bezüglich dessen wiederholte, was Lizzie während ihrer Abwesenheit zugestoßen sein mochte, und in verdrossenem Ton die Möglichkeit abstritt, Lizzie könnte schwanger sein. Dabei sah sie immer wieder zu ihrem Mann hinüber. Die meisten Leute hätten Colin Crowne als gutaussehend bezeichnet. Er war groß und schlank, dunkelhaarig und dunkeläugig, mit straffen, scharfgeschnittenen Zügen. Doch die Länge seiner Haare und der Bart, vielleicht nur das Resultat einer Woche Nichtrasieren, sowie das dreifache Ohrring-Arrangement ließen ihn etwas finster aussehen. Die blasse Erscheinung seiner Frau, ihr verkniffenes Gesicht und das spröde, wirre Haar standen in einem fast grotesken Gegensatz zu dem jugendlich-sinnlichen Eindruck, den er bot. Wexford erinnerte sich wieder an ihren Auftritt im Fernsehen, wo Crowne einen redegewandten Appell um Lizzies Rückkehr durchgegeben hatte, dabei unverwandt in die Kamera gestarrt und seine Worte deutlich und scheinbar echt bewegt ausgesprochen hatte, während seine Frau danebensaß, sich auf die Lippen biss und nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte. Wenn es auch nicht stimmte, wie die Anruferin behauptet hatte, dass diejenigen, die im Fernsehen um die Rückkehr eines vermissten Kindes flehen, oft selbst am Tod dieses Kindes schuldig sind, so lag wohl doch ein Körnchen Wahrheit darin. Es hatte bereits Fälle gegeben, in denen Eltern, die später des Kindesmordes für schuldig befunden wurden, die Zuschauer mit ihren Gefühlsausbrüchen über das Verschwinden 44
dieses Kindes zu Tränen gerührt hatten. Ein derartiges Verhalten war auch nicht unbedingt scheinheilig, denn diese Leute verspürten tatsächlich Kummer, echte Emotionen und manchmal auch bittere Reue. Denn was sollte mehr weh tun und mehr Reue hervorrufen als eine Mordtat? Doch Lizzie war nicht tot, Lizzie war zurückgekommen. Wexford hatte absolut keinen Grund, Crowne die Schuld an ihrer dreitägigen Abwesenheit zuzuschieben oder ihn für irgendetwas in diesem Zusammenhang verantwortlich zu machen. Nachdem er kurz mit sich zu Rate gegangen war, beschloss er, Lizzie auf das verfallene Haus in Myringham anzusprechen. Selbst wenn sie es Lynn Fancourt im Vertrauen gesagt haben sollte, hatte sie nicht um Verschwiegenheit gebeten. Im Übrigen war sie wohl nie dort gewesen. Einem Mädchen wie ihr konnte man wegen einer Lüge vielleicht keinen Vorwurf machen, doch gelogen hatte sie. Sanft wandte er sich an sie. »Lizzie, du warst gar nicht in dem Haus dort neben der Bushaltestelle, stimmt's? Du hast« - er suchte nach einem Ausdruck, den sie verstehen konnte -»der Polizistin gesagt, dass du drei Tage in dem Haus gewesen bist und dich in Decken eingewickelt hast, ja? Du hast ihr gesagt, du hättest Wasser aus der Leitung getrunken, aber das hat nicht gestimmt, oder? ‘< An der Art, wie Colin und Debbie Crowne reagierten, besser gesagt, nicht reagierten, sah er, dass ihnen die gleiche Geschichte aufgetischt worden war. Wahrscheinlich hatte Lizzie ihr Lügenmärchen nicht deswegen für sich behalten, weil sie Angst hatte, es ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zu erzählen, sondern weil sie es sich erst ausgedacht hatte, kurz bevor sie es Lynn offenbarte. Vermutlich hatte sie vor Debbie Crowne die ganze Geschichte noch einmal zum besten gegeben, nachdem er und Lynn gegangen waren. Und nun rief sie mit der allzu vehementen Entrüstung einer Lügnerin: »Doch, es hat gestimmt! Ich war wirklich dort!« »Aus den Leitungen kam kein Wasser, Lizzie. Es war dort auch sehr kalt. Eine Decke war zwar da, aber die war feucht.«
»Ich war aber dort!« Crowne sagte gereizt: »Na bitte, da haben Sie Ihre Antwort. Was wollen Sie denn noch? Eine ganze Menge. Aber es wäre nutzlos und vielleicht sinnlos, weiter darauf zu bestehen. Und doch war sich Wexford plötzlich sicher, dass sie tatsächlich in dem Haus gewesen war, zwar bestimmt nicht drei Tage und Nächte, doch sie war dringewesen, sie kannte es. Sie hatte die Decke gesehen und zumindest versucht, Wasser aus der Leitung zu bekommen. War Rachel ebenfalls dort gewesen? Burden hatte angedeutet, es sei eigentlich nicht nötig, dass Wexford in die Oval Road nach Stowerton fuhr. Hier handele es sich um einen völlig anderen Fall von Vermisstenmeldung als bei Lizzie Cromwell, da Rachel älter war, die meiste Zeit nicht zu Hause lebte und eine intelligente junge Frau war, die ihr eigenes Leben durchaus selbständig meisterte. Doch bisher hatten alle Nachforschungen nichts ergeben. Sie hatte sich bei keinem Verwandten gemeldet, und anscheinend war sie auch nicht bei Freunden untergekrochen. Ein nochmaliger Anruf bei der University of Essex ergab lediglich, dass sie zu der Vorlesung, an der sie morgens um zehn hätte teilnehmen sollen, nicht erschienen war. Inzwischen kristallisierte sich aber ein anderes Bild heraus. Rachel hatte offenbar nie die Absicht gehabt, direkt zum Pub zu fahren, sondern hatte vorher noch bei einer Freundin in Framhurst vorbeischauen wollen. Weil die Buslinie zwischen Framhurst und Stowerton eingestellt worden war, als man mit den Arbeiten an der Umgehungsstraße begonnen hatte, war mit Caroline Strangs Mutter vereinbart worden, dass diese sie auf ihrem Nachhauseweg von der Arbeit um acht an der Kingsmarkham Road, fünf Minuten von der Oval Road entfernt, abholen würde, mit ihr Caroline in Framhurst einsammeln und die beiden Mädchen dann zum Rat & Carrot fahren würde. Vine hatte mit Mrs. Strang gesprochen und erfahren, dass sie wegen eines Verkehrsstaus ein paar Minuten nach acht am
Treffpunkt angekommen war, wo sie geparkt und gewartet hatte. »Immer kommen sie zu allem zu spät, diese Mädchen. Ich weiß Bescheid, ich habe selbst zwei, und ich dachte mir, ich bin lange vor Rachel dort, obwohl ich spät dran war.« Sie hatte zehn Minuten gewartet und war dann weggefahren. »Ich wäre ja zu ihr nach Hause gefahren, aber ich wusste nicht, wo sie wohnt. Die Telefonnummer habe ich, aber nicht die Adresse.« Caroline Strang vermutete, Rachel habe sich vertan und sei direkt ins Rat & Carrot gefahren. Trotzdem rief sie bei ihr zu Hause an, bevor sie loszog, bekam aber keine Antwort. Sie nahm natürlich an, dass niemand an den Apparat ging, weil Rachel auf dem Weg ins Pub und ihre Mutter aus war. Vine sprach mit den anderen drei jungen Leuten, mit denen Caroline und Rachel an jenem Abend verabredet waren. Sie sei eben nicht gekommen, sagten alle, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Sie nahmen an, Rachel habe es sich eben anders überlegt. Vine schloss daraus, dass sie tatsächlich sehr lässig umgingen mit Dingen wie Vergesslichkeit, Unentschlossenheit oder einem Anruf, um Bescheid zu geben oder sich zu entschuldigen, wenn sich für den Abend etwas Besseres ergeben hatte. Da noch die Möglichkeit bestand, dass Rachel mit dem Bus nach Kingsmarkham gefahren war, hatte Vine mit den Busfahrern gesprochen. In den Bussen der Linie Stowerton—Kingsmarkham—Pomfret gab es keine Schaffner, dort nahmen die Fahrer das Geld in Empfang und stellten die Fahrkarten aus. Vine zeigte den Fahrern des Acht-Uhr-Zehn- und des AchtUhr-Zweiunddreißig-Busses Rachels Foto. Keiner konnte sich an sie erinnern, doch der eine sagte, er würde sich bestimmt nicht an sie erinnern, und der andere meinte, er könne sich Gesichter so schlecht merken. Dies ließ Wexford zu der Überzeugung gelangen, dass Rachel gar nicht im Bus gesessen hatte, denn sie wäre jedem Mann aufgefallen — ein außergewöhnlich attraktives 47
Mädchen mit üppigem dunklen Haar, großen schwarzen Augen und sinnlichen Zügen, vollen Lippen, einem runden Kinn und hoher, glatter Stirn, die sie von ihrer gutaussehenden Mutter geerbt zu haben schien. Rosemary Holmes sah aus wie vierzig oder jedenfalls kaum älter. Wexford konnte sich vorstellen, dass sie oft Komplimente von Leuten bekam, die sie und ihre Tochter für Schwestern hielten. Ihr dunkles Haar war geflochten und im Nacken zum Kranz gesteckt, eine altmodische Frisur, die gut zu ihrem ovalen Gesicht passte. Sie war sehr schlank und hatte lange, wohlgeformte Beine. Dr. Akande hielt seine Sprechstundenhilfe offensichtlich gut versteckt, dachte Wexford, denn diese Frau wäre ihm sicher aufgefallen, wenn er sie im Gesundheitszentrum gesehen hätte. In Gedanken hatte er das Crownsche Heim mit diesem hier verglichen: Ersteres war zwar recht sauber, verriet jedoch, dass sich seine Bewohner nicht sonderlich für ihre Umgebung interessierten. Rosemary Holmes' Haus dagegen war geschmackvoll, wenn auch nicht teuer eingerichtet. Sorgfältig gepflegte Zimmerpflanzen wuchsen grün und üppig in Trögen auf beiden Fensterbrettern im Wohnzimmer, auf dem Tisch stand eine große, bauchige Vase mit orangefarbenen Tulpen, und an einer Wand waren vom Boden bis zur Decke maßgefertigte Bücherregale angebracht. Die britische Landbevölkerung mochte immer noch klassenbewusst sein, doch ihrem Elitedenken und ihrem Minderwertigkeitsgefühl lag eine etwas verquere Logik zugrunde. Obwohl er wusste, dass es falsch war, konnte Wexford nicht umhin, die beiden Fälle gedanklich miteinander zu verknüpfen und sich nun einzureden, weil Lizzie nach drei Tagen und drei Nächten zurückgekommen war, würde Rachel ebenfalls zurückkommen, und zwar nach dem gleichen Zeitraum, also morgen Nachmittag, Dienstag Nachmittag. Er konnte Mrs. Holmes' Befürchtungen daher nicht teilen, und als sie in diesem Augenblick sagte: »Ich muss immer denken, ich sehe sie nie wieder«, fühlte er sich seltsamerweise wie im Besitz höheren Wissens, geheimer Informationen, und fände es grausam, ihr
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diese nicht zu offenbaren. Doch so war es natürlich nicht, er wusste nichts. Es gab keinen Grund, das Verschwinden des einen Mädchens mit dem eines anderen in Verbindung zu bringen. Ihr zu sagen, alles würde gut, sie solle sich nur keine Sorgen machen, wäre rücksichtslos, herzlos, denn wer kann schon von sich behaupten, er hätte öfter recht als unrecht? »Haben Sie vor«, fragte sie ihn, »nach ihr — zu suchen? Ich meine, wie sie es manchmal im Fernsehen zeigen — so in einer Reihe — mit Stöcken? Wo sie so — äh, auf die Erde schlagen? «Sie rang die Hände. Wexford verstand sehr wohl, worauf sie hinauswollte: Das täten sie nur, wenn Grund zu der Annahme bestand, dass ihre Tochter tot war. Karen Malahyde ersparte ihm die Antwort. »Dazu ist es noch zu früh, Mrs. Holmes. Warten wir noch eine Weile ab. Rachel wird ja erst seit Samstagabend vermisst, das sind noch keine achtundvierzig Stunden.« Nach einem etwaigen Freund hatten sie sich schon erkundigt. Vine hatte danach gefragt, und nun tat Karen es ebenfalls. »Sie sagten, sie hätte im Moment keinen Freund, aber was war früher, als sie noch hier bei Ihnen wohnte und zur Schule ging? « Rosemary Holmes nannte zwei Namen, die sie anderen Polizeibeamten gegenüber bereits erwähnt habe. Falls sie ungehalten war, es wiederholen zu müssen, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie wollte unbedingt helfen und hätte klaglos alles getan, um dazu beitragen zu können, dass ihre Tochter gefunden wurde. »Und Sie, Mrs. Holmes?« Karen stellte die Frage sehr vorsichtig. »Haben Sie auch eine Beziehung?« »Ich habe einen Freund, ja. Aber Sie glauben doch wohl nicht ... ? « »Im Augenblick glauben wir eigentlich überhaupt nichts«, sagte Wexford und überlegte, dass nichts weiter entfernt von der Wahrheit sein könnte als dies. »Wir stellen Fragen und werten die erhaltenen Informationen aus. Beim gegenwärtigen Stand der Ermittlungen können wir die Namen und
Adressen von allen Ihren Freunden und denen Ihrer Tochter gut gebrauchen, Mrs. Holmes.« Sie nannte ihnen einen Arzt mit Praxis in Flagford, mit dem sie jetzt seit etwa einem Jahr eine Beziehung habe. Sie verbrächten manchmal gemeinsam das Wochenende. Rachel, sagte sie in einem Ausbruch von Offenheit, könne ihn nicht leiden, allerdings habe sie bisher keinen der Freunde ihrer Mutter leiden können. So hoch war der gesellschaftliche Stellenwert eines Arztes, dass Wexford Dr. Michael Devonshire sofort über jeden Verdacht stellte, ihn nach rascher Selbstermahnung aber dann wieder mit einbezog. Auch ein Mann der Medizin war ein Mann, und man konnte schließlich nie wissen. »Sie gingen Samstagabend ebenfalls aus, Mrs. Holmes?« Sie errötete leicht. »Äh, ja. Darf ich fragen, woher Sie das wissen? « »Als Caroline Strang etwa fünf vor halb neun hier anrief, waren Sie nicht da.« »Michael und ich waren zum Essen gegangen. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich habe solche Schuldgefühle, weil ich unterwegs war, als - als mit Rachel weiß Gott was geschah.« »Wussten Sie von der Vereinbarung mit Mrs. Strang?« Rosemary Holmes erwiderte etwas verlegen: »Ich wusste, dass jemand sie an der Kingsmarkham Road abholen sollte. Sie hat es mir gesagt. Ich dachte, es wäre ein - äh, einer von den Jungs, mit denen sie verabredet war.- Plötzlich brach es aus ihr heraus: »Man kann die jungen Leute doch nicht davon abhalten, oder? Man kann sie ja nicht die ganze Zeit beaufsichtigen.« Und wieder gab sie sich eine Blöße. »Wahrscheinlich ist es ja nicht wichtig, ich will nur sagen, wir haben durchaus unsere Probleme, Rachel und ich. Sie ist ein wunderbares Mädchen, wirklich ein feiner Mensch, und ich verstehe mich bestens mit ihr, aber sie sich nicht so gut mit mir. Das ist bei Leuten in ihrem Alter aber doch ganz normal, oder? « »Ganz normal, Mrs. Holmes«, sagte Karen. Als sie wieder im Wagen saßen, meinte Wexford, sie solle mit Michael Devonshire sprechen, vielleicht erwischte sie 50
ihn noch vor seiner Abendsprechstunde. »Obwohl er offenbar ein Alibi mit Rachels Mutter hat. Meinen Sie, es lohnt sich, dass wir uns das Haus in Myringham noch mal ansehen? « »Aber Rachel war doch gar nicht in Myringham, Sir.« Karen klang überrascht. »Soviel wir wissen.« »Es ist bestimmt bloß Zufall, dass Lizzie Cromwell am vorletzten Samstag als vermisst gemeldet wurde und Rachel Holmes letzten Samstag spurlos verschwand.« »Wir mögen aber keine Zufälle, richtig? Wir wissen, wenn Ereignisse aufeinander oder einem bestimmten Muster folgen, dann besteht zwischen diesen Ereignissen meist ein Zusammenhang.« Karen wirkte skeptisch. Recht hat sie, dachte Wexford, recht hat sie. Er musste es sich aus dem Kopf schlagen, das Verschwinden der beiden Mädchen miteinander zu verknüpfen. Es hatte keinen Sinn, noch einmal zu dem verfallenen Haus zu fahren, und ebenso wenig gab es eine konkrete Verbindung zwischen den Mädchen — außer der Tatsache, dass sie auf dieselbe Schule gegangen waren. Außer dass sie beide jung, hübsch, ungebunden und weiblich waren. Außer dass sie an zwei aufeinanderfolgenden Samstagen verschwunden waren ... Schluss jetzt, schalt er sich, doch als er Burden nach der Arbeit traf, schlug er für ihr feierabendliches Bier, auf das sie zweimal die Woche gingen, wenn sie es zeitlich einrichten konnten, das Rat & Carrot vor statt des Olive and Dove. Burden musterte ihn argwöhnisch. »Sie ist dort aber doch nie angekommen, Rachel Holmes, meine ich. Was immer mit ihr passiert ist, hat sich in Stowerton zugetragen. Als sie auf den Bus wartete.« »Wie Lizzie Cromwell«, sagte Wexford. »Sie haben keinen Grund, die beiden miteinander in Verbindung zu bringen, absolut keinen. Wir wissen, dass Rachel nicht auf den Bus hätte warten sollen, sondern darauf, dass sie abgeholt wurde. Aber die sind ja so verschlafen, diese jungen Dinger, vergesslich wie alte Leute. Also, wenn Lizzie Crom51
well tot aufgefunden worden wäre und Rachel Holmes danach erst verschwunden wäre, hätte ich gesagt, Sie haben recht. Nein, das ist nur wieder mal eine von Ihren fixen Ideen. Ich dachte, das hätten Sie aufgegeben, aber Sie sind genauso schlimm wie früher.« »Kann ein Leopard aus seinem gefleckten Fell?« kam Wexfords rhetorische Frage, »oder ein Äthiopier aus seiner schwarzen Haut? « »Wenn ich das gesagt hätte, hätten Sie mich einen Rassisten genannt.« Die erste Bushaltestelle in der Nähe des Kingsbrook Valley Drive lag am östlichen Ende der High Street. Von dort waren es zu Fuß etwa zehn Minuten bis zum Rat & Carrot, einem überladenen viktorianischen Bau an der Kreuzung zwischen Kingsbrook Valley Drive und Savesbury Road. Es war zwar überwiegend eine Wohngegend, doch gab es neben dem Pub noch zwei Läden: einen kleinen Supermarkt und ein Schmuckgeschäft. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Apotheke. Inzwischen hatten alle geschlossen, und der Juwelier hatte die wertvollen Sachen aus dem Schaufenster genommen und den Metallrolladen heruntergezogen. Es war ein Viertel mit bunt zusammengewürfelten Häusern: Bungalows aus den dreißiger Jahren standen neben schon fast hochherrschaftlichen Villen, Wohnblocks aus den Siebzigern wechselten mit düsteren Bauten aus dem späten neunzehnten Jahrhundert ab. Das Rat & Carrot war die örtliche Stammkneipe. Vor nicht allzu langer Zeit hatte das Pub noch Duke of Albany geheißen, doch da der Name von den tonangebenden Kräften für altmodisch und bedeutungslos befunden wurde, hatte es diesen neuen Namen bekommen. Diejenigen, die es umtauften, fanden ihn amüsant. Leider verpassten ihm die Einheimischen schon nach einem halben Jahr den Spitznamen Rotten Carrot, was so viel wie »Zur vergammelten Karotte« heißt, und der blieb an ihm hängen. Offensichtlich war man bemüht, den Gästen alles zu bieten, 52
was man sich von einem Pub nur wünschen konnte, sowie darüber hinaus eine ganze Menge Extras, auf die wohl kein Mensch gekommen wäre. »Richtige« Mahlzeiten wurden im Restaurant sowie in der Bar serviert, Imbiss und Sandwiches waren den ganzen Tag über zu haben, und außerdem veranstaltete das Pub eine eigene Lotterie und verteilte Rubbellose als Preis an diejenigen, die errieten, wie viele Pints pro Tag ausgeschenkt wurden oder wie viel Geld für wohltätige Zwecke seit Weihnachten in der Bar gesammelt worden war. Dienstag und Donnerstag abends traf sich der Ratten-Hard-Rock-Club. Kinder waren gern gesehene Gäste im Rattenkönig-Kinderzimmer, wo Orangensaft und Coke verkauft wurden, oder bei schönem Wetter draußen auf dem Spielplatz, der mit einem riesigen lila Dinosaurier, einem gigantischen Yogi-Bär, zwei Klettergerüsten und einer großen Comicfigur ausgestattet war, in deren Bauch Tischchen und Stühlchen angeordnet waren. Wie Wexford treffend bemerkte, konnte man es niemandem verübeln, wenn einem dabei völlig entging, dass der Hauptzweck einer Schankwirtschaft der Verkauf alkoholischer Getränke war. Er trat mit Burden durch den Haupteingang unter einem Schild hindurch, auf dem die Gäste informiert wurden, dass der Wirt ein gewisser Andy Honeyman war. Zwischen Tafeln, auf denen abwechselnd für Riesenfrühstück, Volkstanzgruppen und einen Talentwettbewerb (Wer wird das nächste Spice Girl? ) geworben wurde, bahnten sich die beiden einen Weg hinein. »Hier in der Gegend möchte ich nicht wohnen«, sagte Burden verdrossen. »Die Sommerabende müssen ja ein Alptraum sein.« »Ach, herrje«, erwiderte Wexford, während er ihre Getränke an einen Tisch trug, »mitten wir im Leben sind mit Karaok' umfangen. Das könnte Ihnen übrigens auch passieren. Das Pub an Ihrer Straße ist doch frei verpachtet. Lassen Sie bloß einen neuen Wirt kommen, und schon haben Sie aus Ihrem Wohnzimmerfenster freie Sicht auf Comicfiguren und Spice Girls in spe, die die halbe Nacht herumträllern.« 53
Mit dem Glas in der Hand besah sich Burden eingehend die Örtlichkeit und tat, als hätte er nichts gehört. Der Schankraum war höchst farbenfroh dekoriert. An den Wänden wechselte rot-goldene Velourtapete mit imitierter Faltwerktäfelung ab, es gab eine Reihe von Bildern mit rehäugigen Mädchen, herumtollenden Kätzchen, versonnen dreinblickenden Hunden und Bergpanoramen, und die Bestuhlung war in Schwarz und Gold gestrichen und mit blassgelbem Polsterstoff bezogen. Das Mädchen, das herumging und die bereits blitzsauberen Tische abwischte, trug hautenge knallrote Leggings und Ohrringe, die ihr bis aufs Schlüsselbein herunterhingen. Außer ihr und den beiden Polizeibeamten war nur noch ein bärtiger, etwa vierzigjähriger Mann im Schankraum, den sie mit Andy anredete und der auf einem Barhocker hinter dem Tresen saß und Sporting Life las. Burden schüttelte bedächtig den Kopf, als fragte er sich, wie weit es mit der Welt schon gekommen war. »Rachel Holmes«, sagte er. »Unbegreiflich! Was hat ein Mädchen wie sie in so einer Spelunke verloren? « »Diese Frage stellen ihr wohl eine Menge Männer«, meinte Wexford ernsthaft. »Was? Ach so, ich verstehe. Richtig. Aber ehrlich, ein attraktives Mädchen aus gutem Hause, das auf die Universität geht — was sieht sie hier drin eigentlich? « »Ihre Freunde, nehme ich an. Na, nichts hat sie gesehen, weil sie gar nicht hier war. Aha, da kommt noch Kundschaft. Sehr schön. Ich muss sagen, ich sitze nicht gern allein im Pub, und Sie? « Zwei Männer waren hereingekommen, dicht gefolgt von einem Mann und einer Frau. »Um ehrlich zu sein, mir ist es lieber«, sagte Burden. »Ich mag es gern ein bisschen stiller.« Wexford grinste, denn mit der Antwort hatte er schon gerechnet. »Da fällt mir gerade etwas ein. Mrs. Strang hatte sich verspätet, sie kam erst ein paar Minuten nach acht zu dem vereinbarten Treffpunkt — vor dem Flag, stimmt's? —, sagen wir, frühestens um fünf nach acht. Angenommen, Rachel hatte 54
sich nicht verspätet, sondern traf Punkt acht oder sogar ein paar Minuten vor acht dort ein. Und jemand anders kam angefahren, bot ihr an, sie mitzunehmen, und sie willigte ein.« »Wieso denn? Sie wartete doch auf Mrs. Strang.« »Stimmt. Aber mir ist da etwas eingefallen ...« Er unterbrach sich und rutschte etwas zurück, um eine Gruppe Frauen durchzulassen, die das Rat & Carrot gerade durch die Schwingtüren betreten hatten. Sie waren zu viert, zwei junge und zwei im mittleren Alter, und Wexford fiel sofort auf, wie vorsichtig und ängstlich sich fast alle vier verhielten. Diejenige, die in Richtung Tresen vorausgegangen war, eine dünne, ziemlich attraktive junge Frau in Jeans und abgetragenem Pulli, deren langes Haar hinten mit einem Chiffontuch zusammengebunden war, trug eine entschlossene Miene zur Schau, als hätte sie vor dem Hereinkommen die Zähne zusammengebissen und sich geschworen, ihr Vorhaben um jeden Preis durchzuführen. Ihren ganzen Mut zusammengekratzt, dachte er. Die anderen folgten ihr und stellten sich nebeneinander an die Theke. Die Schwarzhaarige räusperte sich, was jedoch keine Wirkung auf Honeyman hatte, der den Blick auf sein Sporting Life geheftet hielt. Es folgte eine kurze Stille, dann — Wexford hörte, wie sie den Atem einzog — sagte sie in einer Tonlage, die vermutlich höher lag als ihre normale Stimme: »Wir würden gern etwas trinken. Bitte zwei Gläser Weißwein und zwei Lager and Lime.« Der Wirt klappte vernehmlich seine Zeitung zu und hob den Kopf. »Sie sind von dem Haus da oben, stimmt's?« Sie trat näher an die Theke. »Was?« »Na, von dem Haus mit den Frauen, die ihren Männern abgehauen sind. Von da kommen Sie doch.« Eine der Älteren sagte wacker: »Das ist ja eine komische Formulierung. Na, und wenn schon, was ist dabei?« »Das werd' ich Ihnen sagen, was dabei ist. Ich bedien' Sie nicht, das ist dabei.« 55
Die Schwarzhaarige war ganz blass geworden. Wexford glaubte ihre Hand auf dem Tresen zittern zu sehen. »Das können Sie nicht machen«, sagte sie. »Aus welchem Grund denn? « »Da brauch' ich keinen Grund. Fragen Sie jeden, ob ich nicht das Recht habe, mich zu weigern, wenn ich jemanden nicht bedienen will.« »Das hat er allerdings«, murmelte Burden. Wexford nickte. Er bezweifelte, dass die Frauen sich auf eine Auseinandersetzung einlassen würden, und er behielt recht. Sie sagten nichts mehr, sondern wandten sich um und gingen auf den Ausgang zu. »Gehen Sie lieber auf die High Street, wo Sie niemand kennt«, rief ihnen der Wirt nach. »Da werden Sie bedient, bis man rauskriegt, wo Sie herkommen.« Die Schwarzhaarige drehte sich um und rief durchdringend: »Scheißkerl! »Sehr charmant«, sagte Honeyman, als die Tür hinter ihnen zuschwang. »Haben die Herren das gehört? Sehr damenhaft, finden Sie nicht? « Wexford stand auf und trat an den Tresen, und nachdem er noch zwei Krüge Bier bestellt hatte, gab er sich als Polizeibeamter zu erkennen und zeigte seinen Dienstausweis. Honeyman sagte etwas zu eilfertig: -Ich war doch im Recht, oder? Ich brauche keinen Grund, wenn ich jemanden nicht bedienen will.« »Sie waren im Recht, aber Sie müssen doch einen Grund gehabt haben, und ich frage mich schon die ganze Zeit, welchen. Der Wirt schenkte die zwei Bierkrüge nach. »Die gehen aufs Haus.« »Nein, das tun sie nicht, trotzdem danke.« Wexford zog einen Fünfpfundschein hervor und legte ihn bedächtig hin. »Wir sind hier, um Sie nach dem vermissten Mädchen zu fragen, Rachel Holmes, aber erzählen Sie mir doch zuerst mal das mit den Frauen, ja? »Die wohnen in einem Haus am Kingsbrook Valley Drive,
gleich da oben an der Ecke.« Honeymans ganze Haltung hatte sich verändert, war verbindlich und schmeichlerisch geworden. Sogar seine Stimme war anders, hatte den breiten südenglischen Zungenschlag abgelegt und einen etwas gespreizten Ton angenommen. »Geschlagene Frauen sind das, wenn Sie wissen, was ich meine. Behaupten sie jedenfalls. In Wirklichkeit haben ihre Männern ihnen höchstens ein bisschen auf die Finger geklopft, wenn sie aufmüpfig waren.« »Aha, verstehe. Und wieso sind Sie auf sie sauer? « »Das will ich Ihnen sagen. Vor paar Wochen waren zwei von denen hier, und da kommt so ein armer Kerl rein und greift sich die eine und bittet sie heimzukommen. Die hat ihn mit den Kindern sitzenlassen, also, ich bitte Sie. Natürlich spurt die nicht, kann man sich ja denken, oder? Hat sie wahrscheinlich noch nie. Also wehrt sie sich und stößt ihn weg, und er fängt an, sie zu vertrimmen, war ja praktisch dazu gezwungen, und wie sich die andere einmischt und ihn mit den Fäusten traktiert, musste ich dazwischengehen. Raus mit euch, hab' ich gesagt — hätten Sie doch auch, oder? —, alle miteinander, und laßt euch hier nicht wieder blicken. Eigentlich tat's mir leid, ihn auch rauszuschmeißen, er schien ein recht ordentlicher Kerl. Wissen Sie was? Na ja, natürlich wissen Sie's. Wenn früher die Leute geheiratet haben, musste die Frau versprechen, dass sie ihm gehorcht. Ein Jammer, dass man das geändert hat, wenn Sie mich fragen.« »Ich glaube nicht, dass ich Sie gefragt habe, Mr. Honeyman«, sagte Wexford unverblümt. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, Sie in irgendeiner Sache um Rat fragen zu wollen.« Er sah Honeyman blinzeln und unmerklich zusammenschrecken. »Aber Sie sollten sich einen guten Rat geben lassen: Nächstes Mal verständigen Sie uns, wenn ein recht ordentlicher Kerl in Ihrem Lokal eine Frau vertrimmt. Und jetzt möchten Sie mir vielleicht sagen, ob dieses Mädchen Ihres Wissens je hier war.« Honeymans Gesicht war tiefrot angelaufen. Er war vermutlich froh, etwas ansehen zu können, was ihn ablenkte. Er 57
starrte auf das Foto, das ihm Wexford hinhielt, und brummte dann: »Keine Ahnung, ich kann mich nicht erinnern.« Burden, der ebenfalls an die Theke getreten war, sagte: »Soll das heißen, Sie haben sie hier Samstag abends nie mit ihren Freunden gesehen? Sieht gut aus, nicht wahr? Nicht gerade ein Gesicht, das man leicht vergisst.« »Kann sein, dass ich sie gesehen habe.« Die breite Aussprache und der schmollende Ton waren zurückgekehrt. »Vielleicht so vor zwei, drei Monaten. Sie war mit ein paar anderen Jugendlichen da — na ja, ich meine nicht direkt Jugendliche«, fügte er rasch hinzu, als ihm einfiel, was das Gesetz über den Ausschank von Alkohol an Minderjährige vorschrieb. »Die waren alle über Achtzehn — und haben auch alle was Warmes gegessen.« »Aber diesen Samstagabend haben Sie sie nicht gesehen? « »Definitiv nicht.« Honeyman schüttelte den Kopf, um seiner Verneinung heftigen Ernst zu verleihen. »Sylvia arbeitet dort«, sagte Wexford, als er mit Burden wieder draußen war und sie sich The Hide näherten. »Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das schon erzählt habe. Unter anderem macht sie Telefondienst beim Notruf. Haben Sie schon einmal eine Frau geschlagen? « »Selbstverständlich nicht«, erwiderte Burden schockiert. »Was für eine Frage!« »Ach, ich weiß nicht. Ich auch nicht. Wussten Sie, was Barry letzthin zu mir sagte? 'Alle Männer schlagen ihre Frauen irgendwann mal», hat er gesagt. Ich war einigermaßen verblüfft.« »Mein Gott.« Burden klang entsetzt. »Ich hoffe und vertraue doch darauf, dass wir keinen Frauenschläger im Team haben. Das wäre ja noch schöner, wo Hurt-Watch gerade in Gang gekommen ist. Übrigens, wie wollen wir die Piepser und Handys eigentlich verteilen? Dass häusliche Gewalt in allen Gesellschaftsschichten vorkommt, wissen wir ja, aber wie viele Verfahren wegen Gewalt gegen Ehefrauen und Freundinnen hat es in unserer Gegend denn gegeben? Herzlich wenige. Das heißt aber vermutlich nicht, dass die zwi58
schengeschlechtlichen Beziehungen hier idyllischer verlaufen oder die Männer umgänglicher sind, sondern lediglich, dass die Frauen uns nicht angerufen und um Unterstützung gebeten haben.« »Wie finden wir also diejenigen, die in Gefahr sind? Wollen Sie das damit sagen? Vielleicht, indem wir die Leute konsultieren, die dieses Haus führen.« Draußen vor The Hide blieb Wexford stehen und sah zu den Fenstern hinauf, die im Erdgeschoss fast vollständig von den üppigen Lorbeergewächsen im Vorgarten verdeckt waren. Aus einem Fenster im obersten Stockwerk musterte ihn ein weißes, von schwarzem Haar umrahmtes Gesicht, in dem er die Frau erkannte, die Andy Honeyman angeschrien hatte. »Wir müssen nach einer bestimmten Methode vorgehen. Wir können doch schlecht eine Anzeige in den Courier setzen und allen, die sich darauf melden, kostenlose Kommunikationssysteme anbieten. Wie Southby schon sagte, da würde wohl die gesamte weibliche Bevölkerung eins haben wollen.« Burden interessierte sich offensichtlich wenig dafür. »Wo wir gerade von der weiblichen Bevölkerung sprechen«, fragte er, »was ist Ihnen vorhin eingefallen? « »Eingefallen? « »Sie sagten doch, Ihnen sei etwas eingefallen wegen Rachel, die auf Mrs. Strang wartete. Ich nehme an, Sie sind auf eine Lösung gekommen.« »Ach ja, richtig. Aber so weit würde ich nicht gehen. Ich habe mich nur gefragt, ob Rachel und Mrs. Strang sich überhaupt schon einmal begegnet sind. Ich meine, ob sie einander erkennen würden? « Burden schien verwirrt. Er warf Wexford einen finsteren Blick zu und meinte, er ginge jetzt wohl besser nach Hause, seine Schwiegereltern seien zu Besuch da und er habe sich bereits entsetzlich verspätet. Wexford ging ebenfalls nach Hause. Burdens Bemerkungen ließen ihm keine Ruhe, während er sein Abendessen verzehrte und auch danach, als ein 59
Fernsehdokumentarfilm über die europäische Einheitswährung seine Aufmerksamkeit nicht zu fesseln vermochte. Operation Safeguard und das ergänzende Hurt-Watch-Projekt konnten nur funktionieren, wenn er und seine Mitarbeiter den Gesamtkomplex häusliche Gewalt gründlich untersuchten. Ein groteskes Bild entstand vor seinen Augen: fünfhundert Mobiltelefone und Funkrufempfänger, die alle in seinem Büro, womöglich gar auf seinem Schreibtisch landeten, und er hatte nicht die geringste Ahnung, welche Frauen nun berechtigt waren, eines zu bekommen, und welche einen Affront darin sähen, dass man ihnen etwas anbot, was im Grunde zur Verteidigung und zum Schutz gegen die Männer gedacht war, mit denen sie zusammenlebten. Und sobald diese Hürde überwunden war — wie sollte die Polizei auf einen Anruf von einem dieser Telefone aus reagieren? Zum Wohnsitz der Anruferin fahren und den Täter festnehmen. Ganz einfach. Bloß dass es meistens nicht so klar und unmissverständlich war. Sie würde sagen, sie wolle nicht, dass gegen ihn Anklage erhoben wurde, sie wolle nicht, dass er weggebracht wurde, er sei doch der Ernährer, er habe versprochen, es nie wieder zu tun, es täte ihm leid, er schäme sich, sie hätte die Polizei nicht rufen sollen, sie sei bloß verängstigt und gekränkt gewesen und habe sich nicht mehr zu helfen gewusst, aber sie wolle doch die Familie nicht auseinanderreißen ... Er musste mit Sylvia darüber sprechen. Außerdem war da noch die Sache mit dem vermissten Mädchen, Rachel Holmes. Dora lag anscheinend recht viel an der langweiligen Fernsehsendung, also konnte er nicht abschalten. Da es abends noch bis nach acht hell blieb, ging er in den Garten hinaus, spazierte ein wenig herum und setzte sich schließlich auf dem gepflasterten Rondell, dem Mittelstück von Doras Rosengarten, auf einen der französischen Caféhausstühle, die Sheila ihnen zu Weihnachten geschenkt hatte. Die hocheleganten Dinger mit ihren blassgrauen Metallschnörkeln, Windungen und Spiralen luden allerdings nicht gerade zum Verweilen ein. Über ihm wurde der Himmel zusehends blauer, 60
und ein rotgelber Fesselballon, der momentan wahrscheinlich Pomfret passierte, kam langsam in seine Richtung geschwebt, er konnte sehen, wie die Passagiere ihm zuwinkten. Oder jemand anderem. Wexford winkte zurück und fiel dabei fast von seinem bedrohlich schwankenden Stühlchen. Morgen war Dienstag, und am Nachmittag würde Rachel Holmes zurückkommen. Beide Mädchen hatten dieselbe Schule besucht, beide waren unter Zwanzig, beide waren —wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise — attraktiv, jede war Kind einer geschiedenen Mutter, beide hatten auf den Bus gewartet, die eine auf der Rückkehr vom abendlichen Ausgehen mit Freundinnen, die andere in Erwartung eines solchen Abends. Beide waren an einem Samstag verschwunden, und zwar an aufeinanderfolgenden Samstagen. Trotzdem würde Burden die Schlussfolgerung lächerlich finden. Wexford stellte sie jedes Mal an, wenn ihm das Mädchen in den Sinn kam. Es hinderte ihn daran, sich um Rachel die Sorgen zu machen, die er sich eigentlich machen sollte. Hinderte es ihn aber auch daran, alle nur erdenklichen Schritte zu unternehmen und Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu finden? Hätte er beispielsweise Rosemary Holmes ins Fernsehen bringen sollen? Hätte er in der Gegend zwischen Stowerton und Kingsmarkham eine Suchaktion einleiten sollen? Die Frage, die er sich vielleicht stellen sollte, lautete: Hätte er es getan, wenn Lizzie Cromwell nicht vor genau einer Woche als vermisst gemeldet worden und drei Tage und drei Nächte später wieder nach Hause gekommen wäre? Als der Ballon über ihn hinwegschwebte, kam eine leichte Brise auf, die das junge Laub zauste und einen Schauer von Blütenblättern vom Birnbaum fallen ließ. Der hübsche Stuhl war dermaßen unbequem, dass man ihn für ein Folterinstrument hätte halten können. Zwölf Stunden unter grellem Licht darauf zu sitzen und die Fragen des Inquisitors zu beantworten ... Mein Gott, dachte er. Er stand auf und ging ins Haus, fest entschlossen, gleich morgen früh mit Caroline Strangs Mutter zu sprechen. 61
4 Am Dienstag Nachmittag um zwei begann die Suche. Es waren zehn uniformierte Beamte, einige davon als Verstärkung vom Kriminaldezernat in Myringham, sowie sechzehn Gemeindemitglieder, alles Nachbarn und Freunde der Holmes', die sich freiwillig gemeldet hatten. Rosemary Holmes wollte mitkommen, doch Wexford riet ihr davon ab. Obwohl nichts darauf hindeutete, war er immer noch überzeugt, dass Rachel im Lauf des Nachmittags auftauchen würde, und was er am Vormittag in Framhurst erfahren hatte, bestärkte ihn noch in dieser Überzeugung. Olga Strang war Rachel noch nie begegnet, hatte nicht einmal ein Foto von ihr zu Gesicht bekommen. Die beiden Mädchen hatten sich an der Universität kennengelernt und nicht, weil sie nur fünf Meilen voneinander entfernt wohnten oder die gleiche Schule besucht hatten. Für sie war Rachel eine Fremde und umgekehrt. »Wie hätten Sie denn wissen sollen, wer sie ist?« hatte Wexford gefragt. »Sie sollten sie im Auto mitnehmen, aber wie hätten Sie sie denn erkannt? ‘‘ »Sie meinen, ob sie ein gelbes Band trug und ich eine große rote Rose? Nichts dergleichen. Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht, ich war einfach dort und sie hätte auch dort sein sollen, war es aber nicht.« Mrs. Strang, eine schusselige Frau, die anscheinend nicht in der Lage war, sich länger als zwei Minuten zu konzentrieren, machte ganz den Eindruck, als ob alles in ihrer Umgebung und womöglich gar das Leben selbst sie zermürbte und ihr auf die Nerven ging. In dem Cottage, das sie mit ihrem Mann und drei Kindern bewohnte, herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander, Papiere und Kleider waren wild verstreut, auf 62
den Stühlen stapelten sich Zeitungen und Zeitschriften, benutzte Tassen und Gläser waren neben Vasen mit verwelkten Blumen abgestellt und dort vergessen worden, und ein eingeschaltetes Bügeleisen stand mit rotglänzendem Lämpchen hochkant zwischen einem offen daliegenden Brotlaib und einem aufgerissenen Päckchen Entkalker. Sie selbst, im transparenten Morgenmantel über Bluse und Slip, hatte sich offenbar gerade ans Bügeln machen wollen, denn sie hielt ein zerknittertes rotes Stoffteil in der linken Hand, vermutlich einen Rock oder eine Hose. Ohne den Griff zu lockern, setzte sie sich auf die Tischkante, knüllte das rote Ding noch mehr zusammen und fuhr sich dabei mit der Rechten durch ihr wirr abstehendes, rotgoldenes Haar. »Ich will Sie gar nicht lang aufhalten«, sagte Wexford. »Ich sehe ja, dass Sie gleich zur Arbeit wollen.« Er konnte den Blick nicht von dem Bügeleisen losreißen, das sich ihren Musselinrüschen bedrohlich zu nähern schien, während sie nervös hin und her schaukelte. »wusste Rachel denn, was für ein Auto Sie fahren? Und die Farbe? « »Ach, weiß ich doch nicht, das kann ich Ihnen nicht beantworten.« »Hatte Caroline sie Ihnen denn beschrieben? « »Da müssen Sie sie schon selbst fragen. Ich weiß es nicht mehr.« Plötzlich hellte sich ihre Miene auf, und sie lächelte. »Ich wusste, dass sie dunkle Haare hat. Ich hielt nach einem dunkelhaarigen Mädchen Ausschau. Und Caroline sagte auch, sie sehe sehr gut aus.« »Mrs. Strang, gleich versengen Sie sich Ihren — äh, Morgenmantel an dem Bügeleisen.« »Wirklich? Ach Gott! Danke. Caroline ist nicht da, die ist wieder im College, aber Sie können sie ja dort anrufen und sie fragen. Oder ich könnte. Ich muss jetzt den Rock bügeln, bitte entschuldigen Sie mich, ich bin schon spät dran ...« Er hatte genug erfahren. Was die Frau betraf, die sie abholen sollte, so wusste Rachel von ihr nur, dass sie im mittleren Alter war und einen Wagen fuhr. Jemand war um acht aufge63
kreuzt und hatte sie mitgenommen, und als Rachel fragte: »Mrs. Strang?« oder etwas Ähnliches, hatte diese Frau bejaht, war auf das Missverständnis eingegangen und hatte es sich zunutze gemacht. War es die gleiche Frau, die auch Lizzie Cromwell angeboten hatte mitzufahren? Und hatte Lizzie, obwohl sie es geleugnet hatte, das Angebot angenommen? Auf diese verwegene Vermutung hin zu handeln wäre kriminell. Eine Suche musste eingeleitet werden, und falls Rachel am darauffolgenden Tag immer noch nicht wieder aufgetaucht war, würde er Rosemary Holmes vor die Fernsehkameras stellen. Doch sie kam bestimmt nach Hause. Sie würde in der Oval Road einfach hereinspazieren. Nicht verwirrt, auch nicht bis auf die Haut durchnässt, sie würde einfach hereinspazieren und nach dem hysterischen Anfall ihrer Mutter schlicht fragen, was das ganze Getue solle. Oder sie tauchte an ihrer Universität auf, wo sie eine Menge Dinge würde erklären müssen. Wexford wandte sich seiner Post zu und griff als Erstes nach dem Schreiben, das zuoberst auf seinem Schreibtisch lag. Wenn einen jemand in einem Brief mit Vornamen anredet und mit »Liebe Grüße« unterzeichnet, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass es sich bei dem Schreiber um einen guten Freund handelt. Der vor Wexford liegende Ausdruck einer E-Mail begann zwar mit »Lieber Reg« und endete mit »Liebe Grüße Brian«, doch hätte er Brian St. George, den Chefredakteur des Kingsmarkham Courier, nicht in diese vertrauliche Kategorie eingeordnet. Schon der Anblick des Schreibens beunruhigte ihn. In seinen bisherigen Briefen hatte sich St. George jedenfalls weder konstruktiv gezeigt, noch hatte er die Polizeistrategie auf irgendeine Weise unterstützt. Er betrachtete das Blatt erst, ohne seine Lesebrille aufzusetzen, und sah einen Augenblick lang nur glasig-verschwommene Buchstaben tanzen. Doch da er wusste, dass es nichts half, setzte er nach kurzem Zögern die Brille auf, um St. Georges Brief zu lesen.
Lieber Reg, Es ist mir zur Kenntnis gelangt, dass Henry Thomas Orbe, der berüchtigte Pädophile, Ende dieser Woche aus der Haft entlassen werden soll. Seine Heimatadresse ist nach wie vor Muriel Campden Estate in Kingsmarkham, und aus zuverlässiger Quelle erfuhr ich, dass er beabsichtigt, in dieses Haus zurückzukehren, das gegenwärtig von seiner Tochter und deren Lebensgefährten bewohnt wird, wenn er am 17. April das Gefängnis verlässt, in dem er während der vergangenen neun Jahre eingesessen hat. Nun leben in Muriel Campden Estate zahlreiche Familien mit kleinen Kindern, für die Orbe zweifellos eine Bedrohung darstellt. Ich habe daher die Absicht, in der nächsten Ausgabe des Courier eine Titelgeschichte herauszubringen, um interessierte Kreise von Orbes Rückkehr zu unterrichten. Sie stimmen mir gewiss zu, dass dieser Orbe ein gefährlicher Mensch ist und kein Kind sicher, solange er frei herumläuft. Ihre Meinung dazu interessiert mich sehr. Falls die Polizei von Mid-Sussex mir eine Erklärung zu Orbes gegenwärtiger Situation und vielleicht zu den generellen Vorkehrungen bei der Freilassung von Pädophilen zukommen lassen möchte, drucke ich sie mit Vergnügen ab. Mit den allerbesten Wünschen Liebe Grüße, Brian Wexford seufzte. Ihm war nicht nur schleierhaft, was St. George dazu bewog, ihn mit Vornamen anzureden und den Brief so vertraulich zu beenden, sondern auch ein Rätsel, weshalb diesem Menschen überhaupt daran lag. Bei ihrem letzten Treffen — im Zusammenhang mit der geplanten Umgehungsstraße von Kingsmarkham hatte es eine Geiselnahme gegeben — war Wexford dem Chefredakteur des Courier gegenüber entsetzlich (aber gerechtfertigterweise) unhöflich gewesen und hatte sich dafür eine Menge Scherereien eingehandelt. Die Antwort lag auf der Hand: St. George wollte etwas von ihm. Seine Zustimmung?
Er beschloss kurzerhand, nicht auf das Schreiben zu reagieren.
Schließlich konnte er, selbst wenn er gewollt hätte, St. George und den Courier an ihrer Mission nicht hindern. Nur durch eine einstweilige gerichtliche Verfügung wären sie davon abzuhalten. Er versuchte, sich an Orbe zu erinnern, doch fiel ihm nur das Foto eines rattengesichtigen Mannes mit fliehendem Kinn und hoher Stirn ein, das er vor langer Zeit in der Zeitung gesehen hatte. Das wollte aber nicht viel heißen. Auf diesen vergrößerten Schnappschüssen sah jeder schrecklich aus. An Orbe als Mensch hatte er überhaupt keine Erinnerung. Allerdings war das Verbrechen damals nicht in der Kingsmarkhamer Gegend begangen worden, und er hatte ihn auch nicht persönlich verhaftet. Er überlegte gerade, ob er wohl in der Lage wäre, Orbes Lebenslauf oder Akte an seinem Computer aufzurufen und den hübschen blauen Bildschirm, über den Wolken schwammen und Vögel flogen, mit nützlichen Informationen zu füllen, als Barry Vine eintrat. »Wie geht es mit der Suche nach Rachel Holmes voran?« fragte Wexford. »Nichts Neues, Sir. Aber ich wollte Ihnen was anderes sagen. Sie wissen doch, dass es wieder einen Kleiderdiebstahl gegeben hat?« »Ach ja. In der First Gear Boutique.« »Also, wir haben jemanden für alle beide, für First Gear und die Designerin. Sie hatten recht mit der Annahme, die hätten sich mit einem Kind Zutritt verschafft. Eine Art Oliver Twist, sagt sie, wie Burden mir erzählt hat. Ich weiß zwar nicht, wie alt Oliver Twist war — ich muss zugeben, ich kenne weder das Buch noch den Film —, aber dieses Kind ist vier.« Eine Weile sagte Wexford gar nichts. Orbes Gesicht, das Gesicht, an das er sich erinnerte, tauchte wie in einem Bilderrahmen wieder in seinem Kopf auf, und er fragte sich, was eigentlich schlimmer war — ein kleines Kind sexuell zu missbrauchen oder ihm das Einbrechen und Stehlen beizubringen. Selbstverständlich ersteres, da gab es gar keine Frage, und doch ... 66
»Soll das heißen, dieser Schurke - wie heißt der überhaupt? ‘‘ »Flay. Patrick Flay. Er wohnt in der Glebe Road.« »Dieser Patrick Flay hat einen vierjährigen Jungen durch das Oberlicht geschickt und ihn angewiesen, wie er die Tür aufmachen soll? ‘‘ »Nicht ganz, Sir‘‘, sagte Vine. »Ein Mädchen. Es war seine eigene Tochter, und während es beim ersten Mal ein Oberlicht war, glaube ich, dass sie beim zweiten Mal zum Katzentürchen hinein ist.‘‘
»Zum Katzentürchen?«
»Ja, Sir. Das ist eine Art Klapptür an Angeln, die die Katze mit dem Kopf aufstößt, um ... ‘‘ »Ich weiß, was es ist.« Wexford schüttelte eher bekümmert als ungehalten den Kopf. »Bevor die Dinger erfunden wurden, hat man ein Loch in die Tür gemacht, und es heißt, Isaac Newton hätte für seine Katze ein Loch ausgeschnitten, und als sie Junge bekam, hätte er noch mal sechs Löcher ausgeschnitten.« Vine starrte ihn verblüfft an. »Muss der bescheuert gewesen -Na ja, eigentlich nicht. Einen Genieklub wie Mensa gab es zwar damals noch nicht, aber er war genauso intelligent wie Mr. Burden. Er war ein großer Physiker, hat unter anderem die Schwerkraft entdeckt. Aber das ist es ja - selbst sehr kluge Menschen können in mancher Beziehung dämlich sein. Die Geschichte glaube ich aber nicht recht. Die habe ich Ihnen nur erzählt, um zu zeigen, dass ich weiß, was ein Katzentürchen ist. Wo ist Flay jetzt? Unten? ‘‘ »Er hat seinen Anwalt verständigt, der ist unterwegs.- »Ich hoffe doch sehr, dass Sie die Kleine nicht auch hergebracht haben?« Vine sah leicht beleidigt aus. »Ich habe sie bei ihrer Mutter gelassen, Sir. Ich habe mit ihr gesprochen ... ‘‘ »Im Beisein ihrer Mutter, hoffe ich? ‘‘ -Natürlich. Die Mutter behauptet, sie wüsste von nichts, 67
aber die Kleine — sie heißt Kaylee, K-A-Y-L-zwei-E — erzählte mir, ihr Daddy hätte ihr Handschuhe verpasst und gesagt, es sei kalt und sie sollte sie unbedingt anbehalten. Sie seien rausgegangen und hinten um das Haus herum, wo ihr Daddy das Türchen gezeigt hätte, das der >Miezekatze‘ gehörte, ich zitiere, und er hätte gesagt, sie darf niemandem verraten, was sie da macht, und darum wollte sie es mir auch nicht verraten. Aber danach hätte sie von ihrem Daddy ein Dracula bekommen.« »Ein was?« »Eine Art Eiscreme«, sagte Vine. Sie gingen zusammen nach unten. Unterwegs erkundigte sich Wexford, ob man die verschwundenen Textilien schon gefunden hätte, was Vine verneinen musste. Flay, ein fünfundzwanzigjähriger Mann, der sein rötliches Haar in einer Rastafrisur trug, obwohl er weiß war und nur über spärlichen Haarwuchs verfügte, saß rauchend am Tisch im Vernehmungsraum und wartete auf das Eintreffen seines Anwalts. Constable Martin Dempsey saß mit dem Rücken zur Wand auf einem Stuhl neben der Tür, den gleichmütigen Blick auf die Tischbeine gerichtet. Vine schaltete das Aufnahmegerät ein und sagte: »Chief Inspector Wexford und Sergeant Vine haben um vier Uhr zweiundfünfzig den Raum betreten. Ebenfalls anwesend sind Constable Dempsey und Patrick John Flay.»Bevor mein Anwalt nicht hier ist, sag' ich kein Wort«, meinte Flay. Wexford gab keine Antwort. Er saß kaum eine Minute, als Lynn Fancourt den Anwalt hereinführte. Den jungen Mann hatte Wexford zwar noch nie gesehen, wusste jedoch, dass es sich um James Beamish von Proctor, Beamish & Green in der High Street in Kingsmarkham handelte. Vine stellte seine Ankunft fest und begann Flay zu befragen, dessen verdrossene Miene sich erwartungsfroh aufgehellt hatte, sobald sein Anwalt neben ihm saß. Sein Lächeln verwandelte sich in Gelächter, als Vine ihn nach seiner Tochter fragte. »Da liegen Sie schon mal falsch. Das ist gar nicht meine, die ist von mei68
ner Frau. Ich bin sozusagen ihr Stiefdaddy. Die war schon auf der Welt, wie wir zusammengezogen sind.« »Sie scheinen ein gutes Verhältnis zu ihr zu haben«, sagte Wexford. »Was, zu Kaylee? Klar doch. Ich liebe Kinder.« »So sehr lieben Sie Kaylee, dass Sie ihr beibringen, in anderer Leute Häuser zu gehen und deren Eigentum zu stehlen? « »Ich weiß gar nicht, von was Sie reden«, sagte Flay mit einem breiten Grinsen. »Wenn Sie das glauben, was Ihnen ein vierjähriges Gör erzählt, praktisch ein Kleinkind, dann sind Sie bescheuert. Die hat vielleicht Phantasie, die Kaylee. Was die für Geschichten erzählt, sag' ich Ihnen! Andere Leute würden es Lügen nennen. Na ja, ich nicht, ich bin ja ein toleranter Mensch, aber ein anderer würde dem Gör eine scheuern, wenn es so'n Quatsch verzapft wie Kaylee.« »Sie haben sie also keine Handschuhe anziehen lassen und sie durch ein Oberlicht in die Garderobe des Hauses gesteckt und dann durch ein Katzentürchen in den Keller des Hauses? « Wexford war sich im Klaren darüber, wie lächerlich das alles klang. Ein Außenstehender hätte die Erheiterung fast für gerechtfertigt gehalten, mit der Flay nun den Anwalt ansah und grinsend den Kopf schüttelte. -Sie haben ihr nicht beigebracht, das Fenster zu öffnen und das gestohlene Gut nach draußen zu schaffen? « »Ach woher denn. Sie machen wohl Witze!« »Kaylee wurde also nicht beigebracht, ins Haus einzusteigen und das Eigentum des Besitzers zu entwenden? Beamish hob träge den Blick. »Mein Mandant hat Ihre Frage bereits verneint, Mr. Wexford.« Wexford überlegte, wie er seine Fragen anders formulieren könnte, als Lynn Fancourt ihm eine Nachricht hereinbrachte. Er warf nicht einmal einen Blick darauf, so sicher war er sich, dass es die Mitteilung von Rachel Holmes' Rückkehr war, sprach jedoch ins Aufnahmegerät, er werde den Raum nun verlassen, Lynn übernehme für ihn. Draußen entfaltete er den Zettel. Kein Wort über Rachel, sondern eine Nachricht
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vom zukünftigen stellvertretenden Chief Constable, in der er gebeten wurde, ihn dringend anzurufen. Es war natürlich auch noch etwas früh für Rachels Rückkehr. Falls sie zur gleichen Zeit zurückkam wie Lizzie Cromwell damals, wäre sie nicht vor sechs in Stowerton. Von seinem Büro aus rief er sofort Southby an. »Orbe«, sagte die Stimme, die ihre abgehackten Sätze immer herausbellte. »Henry Thomas Orbe. Sagt Ihnen das was? Wäre er auf dem laufenden gewesen, wenn St. George ihm nicht den Brief geschrieben hätte? Wexford hätte nie gedacht, dass er einmal Grund haben würde, dem Chefredakteur des Kingsmarkham Courier dankbar zu sein. »Ein Kinderschänder, Sir«, sagte er wie aus der Pistole geschossen. »Er hat neun Jahre gesessen und wird nächsten Freitag entlassen.« -Richtig.« Southby klang etwas enttäuscht. »Ich dachte mir nur, Sie sollten wissen, dass das hiesige Käseblatt eine von diesen »Geschichten im Interesse der Öffentlichkeit» herausbringen will. Am Freitag. Ich gehe davon aus, dass es ohne Zwischenfälle vonstatten geht.« Southby hatte also ebenfalls einen Brief von St. George bekommen. Ich möchte wissen, ob der mit Lieber Malcolm angefangen hat, dachte Wexford. Er schaltete den Computer ein, und nach einigen falschen Operationen, die ziemlich beängstigende Ermahnungen auf dem Bildschirm zur Folge hatten, gelang ihm der Zugriff — verhasste Computersprache, aber nichtsdestotrotz eine Quelle des Stolzes, wenn man den richtigen Begriff erwischt hatte — auf Henry Thomas Orbe. »Geboren am 20. Februar 1928«, las er, »in South Woodford, London E 18, als dritter Sohn von George und Annie Orbe aus Churchfields, South Woodford. Besuch der Grafschaftsoberschule Buckhurst Hill bis zum Alter von sechzehn Jahren. 1949 und erneut 1952 wegen schwerer Unzucht zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten für das erste und Achtzehn Monaten für das zweite Vergehen verurteilt. 1958 wegen schwerer Unzucht mit einem Minderjährigen zu einer achtjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.«
Von der eintönigen Wiederholung fast ebenso angewidert wie von der Erbärmlichkeit der Delikte, drückte Wexford nun die Bild-ab-Taste und stellte erneut fest, dass es funktionierte. Die Taste führte den Befehl tatsächlich wie angekündigt aus, was seiner Erfahrung nach bei Computeroperationen durchaus nicht immer der Fall war. Diesmal jedoch tat das Gerät, was er wollte, und auf dem Bildschirm erschien die letzte Seite von Orbes jämmerlichem Sündenregister. Wexford schnappte nach Luft. Vor neun Jahren war der Mann wegen Totschlags ins Gefängnis gekommen, nachdem er für seine Beteiligung an der Vergewaltigung eines zwölfjährigen Jungen mit Todesfolge ursprünglich sogar zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden war. Außer ihm waren noch zwei Männer beteiligt gewesen, von denen der eine das gleiche Strafmaß wie Orbe erhalten hatte, der andere acht Jahre. In der Akte war weder die Rede von Orbes Ehe oder Ehen noch von einer Tochter. Wexford stellte fest, dass er inzwischen ein alter Mann von über siebzig sein musste. Ob er für Kinder noch eine Gefahr darstellte? Man müsste den Mann wohl kennen und sich viel besser mit Pädophilie auskennen als er, um diese Frage beantworten zu können. Eins stand jedoch fest: Irgendetwas stimmte nicht mit einer Gesellschaft, die so ein Monster, selbst ein mattes, gealtertes, gebrochenes Monster in eine Gemeinde entließ, in der der Anteil der kleinen Kinder größer war als irgendwo sonst in der Umgebung. Um neun wusste er, dass er sich geirrt hatte und dass Rachel Holmes' Verschwinden nicht nach dem Muster von Lizzie Cromwell ablaufen würde. Gewissensbisse plagten ihn, als wäre er schuld daran, dass sie nicht zurückgekommen war. Er war froh, von seiner Hoffnung und Überzeugung zu niemandem außer zu Burden etwas gesagt zu haben. Auf diese Weise würde es unter ihnen bleiben. Er versuchte, es dadurch wettzumachen, dass er vorschlug, die Suche auch nach Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen, musste dann aber einsehen, dass 71
es unmöglich war, weil die Nacht finster und mondlos war und es heftig regnete. Vine, den er kurz vor dem Schlafengehen noch anrief, sagte ihm, er habe Patrick Flay laufenlassen müssen. Mangels ausreichender Beweise für eine Anklageerhebung war er verpflichtet, den immer noch lachenden Mann in Begleitung seines Anwalts gehen zu lassen. Wexford blieb eine Weile am Fenster neben dem Treppenaufgang stehen und sah in die Nacht hinaus. Er hatte die Angewohnheit, so hinauszustarren, wenn alles still und ruhig war, und hatte amüsiert festgestellt, dass Sylvia das ebenfalls tat. Vielleicht war das Gen der meditativen Himmelsbetrachtung erblich. Der Regen fiel unablässig wie lange silberne Nadeln in der Dunkelheit. Da fielen ihm König Lears Worte wieder ein, mit denen dieser sich dafür tadelt, dem Schicksal der Obdach- und Mittellosen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben — ihr armen Nackten, die ihr des tückischen Wetters Schläge duldet —, den Frauen, die sich hilfesuchend an Sylvia wandten, den zu Opfern gemachten Kindern wie Kaylee Flay und dem vermissten Mädchen. Aber das lag inzwischen wahrscheinlich schon tot in einem Wassergraben. Wenn es nach Sergeant Vine gegangen wäre — der im Gegensatz zu Sylvia Fairfax da nicht differenzierte —, hätten Leute wie die Flays überhaupt keine Kinder kriegen dürfen, und falls sie sie unter Umgehung des Gesetzes doch bekamen, hätten sie sie nicht aufziehen dürfen. Wozu gab es eigentlich ein staatliches Fürsorgesystem, wenn nicht, um Kinder vor Typen wie Patrick Flay zu schützen? Wozu gab es Pflegestellen und Adoptionsmöglichkeiten, wenn diese Verfahren nicht besser angewendet wurden? Als er in der Erdgeschosswohnung in der Glebe Road ankam, die untere Hälfte eines schäbigen, heruntergekommenen Hauses, traf er Patrick Flay und Kaylees Mutter zu Hause an. Das kleine Mädchen wurde, als er mit ihr zu reden anfing, auf dem fleckigen, durchgesessenen Sofa zwischen die beiden geklemmt und hatte keine Möglichkeit zu entkommen. Die 72
Kleine war ein Mischlingskind; ihre Mutter war so hellhäutig, sommersprossig und rothaarig wie Patrick, Kaylee dagegen hatte einen dunkelbraunen Lockenkopf, dunkelbraune Augen und leicht olivfarbene Haut. Unter dem linken Auge war ein dunkler Fleck zu sehen, eine Prellung, die letztes Mal nicht dagewesen war, und Vine war sich so sicher, als hätte er den Schlag selbst niedergehen sehen, dass einer von diesen beiden sie ins Gesicht geschlagen hatte. Jackie Flay vielleicht, aber vermutlich eher Patrick, und Vine wusste auch, weshalb ihr dieser Schlag verabreicht worden war. Ein erstickendes Gefühl der Ohnmacht und Frustration hinderte ihn fast am Sprechen, und am schlimmsten, wie er Wexford später sagte, war das Bewußtsein, nichts dagegen tun zu können. »Sie können das Jugendamt verständigen«, sagte Wexford. »Es gäbe doch triftige Gründe, den Flays damit zu drohen, dass das Kind in Pflege gegeben wird. Also, was ist passiert? « »Kaylee sagte mir, es sei nichts passiert. Sie ist ein intelligentes Kind, wissen Sie. Ich meine, wirklich ein helles Köpfchen. Sie behauptet einfach, es sei alles gar nicht wahr, sie hätte es sich ausgedacht. Mit anderen Worten, genau was Flay sagte. Und dann hatte der den Nerv, zu ihr zu sagen: 'Du weißt ja, was dir passiert, wenn du lügst, Kaylee!< Dabei grinste er wieder auf diese eklige Art.« »Und die Mutter? « »Die saß einfach da und hatte Schiss. Sie verstehen schon. Die sah aus, als würde sie alles sagen und tun, bloß um Flay nicht zu reizen. Wahrscheinlich hat sie die Kleine noch festgehalten, während Flay sie verhauen hat. Ich kann ihn direkt hören: 'Du sagst, du warst es nicht, du warst nie da drinnen —verstanden? Sonst fängst du gleich noch eine!belästigt' sagen.« Sie sah Wexford mit einem Blick an, als wollte sie ihn mit in die Granny-Kategorie einbeziehen. »Ich lag auf einem Bett, und Vicky — ich bin mir sicher, dass es Vicky war und nicht er — hatte mir Jeans und Pulli ausgezogen. Hemd, BH und Unterhose hatte ich noch an, und sonst hat mir auch niemand etwas getan. Okay? Ist das klar? Vicky brachte mir eine Tasse Tee und sagte, ich soll aufstehen, baden und mich anziehen.« Sie zögerte. »Das hab' ich gemacht«, sagte sie. »Na ja, erst hab' ich mich gewehrt und gefragt, wo ich überhaupt bin, und gesagt, sie soll mich nach Hause bringen. Aber dann hab' ich gemerkt, dass ich da unmöglich raus konnte — sie hatte mich eingeschlossen und wollte mich erst rauslassen, nachdem ich gebadet hatte —, also hab' ich's eben gemacht. Ich hab' mir gedacht, ich kann besser abhauen, wenn ich sauber und angezogen bin. Vicky hatte meine Jeans mitgenommen und mir einen Rock hingelegt, ein ziemlich langes, ausgestelltes Teil, also, scheußlich, aber ich wollte ja schließlich nicht in Unterhosen raus, also hab' ich ihn angezogen und bin raus, und da saß er — sie nannte ihn Jerry —, und sie sagte, ich soll Mittagessen machen.« »Sie hat Ihnen gesagt, Sie sollen das Mittagessen machen?« fragte Wexford in neutralem Ton. Das ungläubige Staunen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich sollte Mittagessen machen, abräumen und spülen. Ich sagte: 'Das soll wohl ein Witz seinIch möchte deinen Vater sprechenNein, ich war's nicht, ein geheimnisvoller Fremder an der Tür war's. Ich war mir so sicher, dass wir dafür keine Bestätigung bekommen würden, doch sie kam.« »Und Sie haben die beiden Jungs von ihrer Mutter getrennt, auf dass sie ihnen nicht sage, sie möchten für sie lügen.« Wexford grinste. Ein unerwartetes Glücksgefühl durchströmte ihn. »Ihre Ausdrucksweise gefällt mir, Mike. Es muss daran liegen, dass Sie jetzt Mitglied bei Mensa sind. Sicher, das war der Grund, sie voneinander zu trennen. Ich bin sehr froh 397
darüber. Robert hat es ebenfalls bestätigt. Er sagte, der Mann hätte eine Aktentasche bei sich gehabt.« »In der sich die Tatwaffe und vielleicht ein Regenmantel befanden? « »Vermutlich. Was ich also für Zeitverschwendung gehalten habe, nämlich zu versuchen, herauszufinden, wer diese Drohbriefe geschickt hat und was für eine Eröffnung Trevor Ferry für uns bereithält, ist jetzt tatsächlich wichtig geworden. Jemand hatte etwas gegen Devenish, und dieser Jemand führte seinen Racheakt oder was es sonst war aus.« »Na, dann los, fahren wir zu ihm. Ich komme mit.« »Ich glaube ja nicht, dass da was dran ist«, sagte Ferry. Dieser Satz, so oder anders formuliert, ließ Wexford jedes Mal aufhorchen. Er wurde offenbar immer dann benutzt, wenn das Gegenteil zutraf und ziemlich viel »dran« war. Weit weniger scharf war er auf Berichte, die als sensationell oder haarsträubend angepriesen wurden oder nach Einschätzung ihres Erzählers zu unverzüglichen Festnahmen führen würden. Er sagte das, was er unter diesen Umständen immer sagte: »Das werden wir dann schon beurteilen können.« Es war nachmittags um drei, und Gillian Ferry hatte sie hereingelassen. Als Burden fragte, ob sie heute früher von der Arbeit nach Hause gekommen sei, erwiderte sie, an ihrer Schule hätten vor zwei Tagen die Ferien begonnen. Sie war eine dünne, drahtige Person mit früh gealtertem Gesicht und silbrigen Strähnen im blonden Haar und wirkte bis auf die großen, wütend dreinblickenden grünen Augen in jeder Hinsicht unscheinbar. Sobald sie sie ins Wohnzimmer geführt hatte, wo ihr Mann sich wieder an den kulinarischen Banalitäten im Fernsehen ergötzte, ging sie, wobei sie die Tür etwas zu heftig hinter sich zumachte. Bei dem Knall zuckte Ferry zusammen. Er schüttelte sich, als käme er gerade wieder zu sich und kehrte aus den Gefilden bolognesischer Küchen und toskanischer Festgelage zurück in die reale Welt. »Sie wollen wissen, was mit dem Kerl ist, 398
mit dem Steve Devenish die Rauferei hatte? Das kann ich Ihnen sagen. Es war ungefähr vor zwei Jahren. Nein, es ist länger her, ich war damals ja noch dort, es war ungefähr zu der Zeit, als Steve Devenish die enorme Gehaltserhöhung bekam. Ich glaub' allerdings nicht, dass jemand je von ihm gehört hätte, wenn sie in der Zeitung nicht den Artikel über ihn mit den ganzen Fotos gebracht hätten.« »Im Kingsmarkham Courier, meinen Sie?« »Im Lokalblatt, ja. Einen dicken Fisch nannten sie ihn und brachten Bilder von ihm und dem Haus, sogar eins von seiner Frau und dem Baby — das war doch das Baby, das vermisst wurde, stimmt's? Also, ungefähr zu der Zeit war es, dass dieser Bursche mit Seaward nach Amsterdam flog — ich glaub', es war Amsterdam —, bloß als er nach Gatwick kam, sagte man ihm und ein paar anderen, dass der Flug überbucht war. Wir hatten mehr Passagiere als Sitzplätze. Es war der SechzehnZehn-Flug, also zehn nach vier Uhr nachmittags. So was passiert nun nicht oft, jedenfalls nicht bei Seaward, aber manchmal eben doch, besonders auf den beliebten Strecken. Die Sache mit Amsterdam — also, Schiphol, meine ich — ist, dass man dort billige Flüge in die USA kriegen kann, ich meine billigere. Das hatte der Bursche nun aber nicht vor, der wollte auf ein Wochenende nach Amsterdam und die Sau rauslassen oder was weiß ich, das hatte er jedenfalls vor, bloß dass wir überbucht hatten und jemand dran glauben musste, Sie verstehen schon, was ich meine.« Ferry sah die beiden Polizeibeamten erwartungsvoll an, offensichtlich rechnete er mit Zustimmung. Wexford gab sie ihm mit einem aufmunternden Nicken. »Wir fingen also an, den Passagieren unsere Angebote zu machen«, fuhr er fort, »Sie wissen schon, so in der Art: Sie verzichten auf Ihren Platz auf diesem Flug und nehmen einen späteren — sagen wir, in drei Stunden —, und wir spendieren dafür ein Dinner im Holiday Inn und eine Flasche Wein. Ein Passagier willigte ein, also blieben noch zwei übrig. Wir haben natürlich den Einsatz erhöht, und der andere Bursche, also
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nicht dieser, akzeptierte. Dann gab's aber Probleme, denn irgendwie war es so gelaufen — reine Ineffizienz vermutlich —, dass wir für den Sitzplatz, den dieser Bursche für seinen hielt, zwei Tickets ausgestellt hatten. Ich wurde dazugebeten — ich war damals natürlich noch Geschäftsführer bei Seaward —, um mit dem Burschen zu reden, sozusagen unter uns, nahm ihn in ein Büro mit und spendierte ihm einen Drink. Alle anderen waren schon an Bord und startklar. Ich wusste, dass es Ärger geben würde, denn die Flugmeilen wollte er nicht, also hab' ich ihm auf eigene Kappe hundertfünfzig Pfund angeboten, wenn er die spätere Maschine nimmt. Na ja, schließlich hat er akzeptiert, er sagte, das Bargeld nimmt er und lässt sich den Flugpreis zurückerstatten, und ich habe eingewilligt. Er ist dann überhaupt nicht geflogen, sondern hat das Geld hergenommen, um sich im Privatwagen von einem Chauffeur nach Harwich fahren zu lassen und dann mit der Fähre nach Hoek van Holland überzusetzen.« »Wieso ist er nicht selber gefahren?« fragte Burden. Es tat nichts zur Sache, doch er wollte es wissen. »Ihm gefiel der Luxus. So drückte er es aus: Luxus. Anscheinend hatte er sich noch nie im Leben im Taxi herumchauffieren lassen, nicht mal in einem blöden Minitaxi, sagte er jedenfalls. Er hat also seinen Wagen und seinen Chauffeur gekriegt, kam aber nie in Hoek an. Der Wagen geriet nicht weit vom Autobahnkreuz Dartford auf der M25 in eine Karambolage, und er und der Fahrer kamen beide ums Leben.« Der Gesichtsausdruck, mit dem Ferry die beiden ansah, war lebhafter als gewöhnlich; offensichtlich war er stolz auf seine dramatische Erzählung. »Was hat das mit der Drohung oder Gefahr für Devenish zu tun?« fragte Wexford. »Darauf komme ich schon noch«, erwiderte Ferry mit dem Talent des Geschichtenerzählers, Spannung zu erzeugen. Er sah viel munterer aus, weniger wie ein Jammerlappen, und sein graues Gesicht hatte Farbe bekommen. »Dieser Bursche 400
hatte eine Schwester, und die war — oder ist vermutlich immer noch — mit einem ganz schön aggressiven Kerl verheiratet. Wohnt hier in der Gegend, der Kerl.« Wexford war zuversichtlich, alles recht gut auseinanderhalten zu können, vorausgesetzt Ferry kategorisierte seine Hauptpersonen konsequent als »Bursche« und »Kerl«. «Erzählen Sie weiter«, sagte er. »Also, dieser Kerl kannte die Geschichte. Anscheinend hatte der Bursche seine Schwester von Gatwick aus angerufen und ihr die ganze Story erzählt. Also, der war hin und weg, völlig von den Socken war der, dass er das Geld von der Fluggesellschaft eingestrichen hatte. Ich nehme an, er hat es so hingestellt, als hätte er einen besonderen Deal gelandet.« Ferry machte eine Pause, als seine Frau auf einem Tablett drei Henkelbecher mit Tee hereinbrachte. Die Milch wurde im Viertelliterkarton serviert und der Zucker in einer halbleeren Packung. Löffel gab es nicht, und so war es gerade recht, dass keiner Zucker nahm. Gillian Ferry ging ebenso schnell hinaus, wie sie hereingekommen war. Ihr Mann verteilte die Becher, sah sich vergeblich nach einer Abstellmöglichkeit um und gab achselzuckend auf. »Fahren Sie bitte fort, Mr. Ferry«, sagte Burden. »Okay. Wo war ich? Ach ja. Also, Sie verstehen, mit Seaward hatte das nichts zu tun, was der Bursche mit seinem Geld machen wollte. Er beschloss, es für einen Wagen mit Privatchauffeur auszugeben, der Wagen hatte einen Unfall, und er ist umgekommen. Daran war aber Seaward doch nicht schuld. Dann könnte man ja auch behaupten, die Fluggesellschaft hätte den Tod des Fahrers verursacht. Dieser Kerl aber, der Schwager und seine Frau, die Schwester, die sahen das ganz anders. Irgendwie haben sie sich Stephen Devenish rausgesucht und ihm die Sache in die Schuhe geschoben.« »Weil Mr. Devenish — könnte man sagen — der oberste Boss von Seaward war? « fragte Wexford. »Genau. Der Kerl sah es so, ich nehme jedenfalls an, dass er es so gesehen hat — falls so ein Primitivling überhaupt was 401
sieht: Steve Devenish hat die Firmenpolitik festgelegt — was nur zum Teil stimmte —, und die Firmenpolitik verlangte, dass Flüge überbucht werden sollten und Leute ‚bestochen