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Alfred Pritz, Elisabeth Vykoukal, Katharina Reboly, Nassim Agdari-Moghadam (Hrsg.)
Das Messie-Syndrom Phänomen, Diagnostik, Therapie und Kulturgeschichte des pathologischen Sammelns
SpringerWienNewYork
Univ.-Prof. Dr. Alfred Pritz Dr. Elisabeth Vykoukal Katharina Reboly, BA pth Mag. (FH) Nassim Agdari-Moghadam Sigmund Freud PrivatUniversität, Wien, Österreich
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien
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ISBN 978-3-211-76519-7 SpringerWienNewYork
Vorwort wohnverhältnis in meinem wohnbüro häufen sich die klamotten in der denkerküche paaren sich die stöckelschuhe in der kleiderkammer hängt der zwiebelgeruch vom eierbraten im verschwitzten Bett rutschen papiere und bücher von der bettdecke zu boden gute nacht mein liebes glumpert ich habe zuviel von euch aber nicht genug
Elfriede Gerstl, 19851 „Abgeleitet vom englischen Wort mess (= Unordnung) werden jene Menschen Messies genannt, die nicht Ordnung halten können, ihre Wohnung mit Dingen überfüllen, die ihren Lebensbereich drastisch einschränken, und die unter Umständen auch an der Organisation des Alltagslebens immer wieder scheitern.“ Mit diesen Worten haben im April 2005 Elisabeth Vykoukal und Katharina Reboly zur Konstituierung einer Selbsthilfegruppe für Messies an der Sigmund Freud PrivatUniversität (SFU) eingeladen. Diesem Schritt war seitens Elisabeth Vykoukals bereits eine mehrjährige Arbeit mit Messies als
1 Elfriede Gerstl, mein papierener garten, Literaturverlag Droschl, Graz Wien, 2006, S.42. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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Vorwort niedergelassene Psychotherapeutin vorangegangen. Seither ist die Arbeit mit Messies ein Schwerpunkt der psychotherapeutischen Praxis und Forschung an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien geworden. Im Jahr 2006 fand die erste Tagung unter dem Titel „Vom Sinn der Unordnung“ statt. In diesem Zusammenhang wurde eine Forschungsgruppe unter Leitung des Rektors, Univ.-Prof. Dr. Alfred Pritz, eingerichtet mit der Zielsetzung, die Arbeit mit den Messies auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Es stellen sich viele Fragen: Wie weit ist diese Lebensform an unseren Kulturkreis gebunden, an die freie Marktwirtschaft, Konsumund Wegwerfgesellschaft? Wie ist der Zusammenhang mit gesellschaftlichen Normen und Wertmaßstäben? Wann kann von einer Lebensform gesprochen werden, wann muss man von Krankheit sprechen? Gibt es eine diagnostische Abgrenzung von anderen psychischen Erkrankungen? Das sind wissenschaftliche Fragestellungen für die Psychotherapie und verwandte Wissenschaften. In diesem Forschungsinteresse kommt der unterschiedliche Zugang von Patient und Therapeut zum Messiesein zum Ausdruck. Dieser unterschiedliche Zugang ist notwendig, damit Therapie überhaupt gelingen kann. Denn es ist wichtig, nicht im Leiden des Patienten aufzugehen, sondern eine feste Position einzunehmen, die es ermöglicht, die Situation des Leidens von außen wahrzunehmen. Vergleichbar mit der Situation eines Menschen, der in brüchiges Eis gerät: Es muss jemand außen fest stehen, damit er das rettende Seil auch halten kann. In der therapeutischen Arbeit ist es einerseits notwendig und sinnvoll, sich auf die Einzelsituation zu beschränken, den einzelnen Leidenden beizustehen und bei der Überwindung der Not zu unterstützen. Andererseits hilft ein klares theoretisches Konzept bei der Durchführung der Therapie: Das Wissen um Ursachen und Entwicklungen einer bestimmten psychischen Störung und das Wissen um Veränderungsprozesse in der Anwendung von Psychotherapie. Die Öffentlichkeit beschäftigt sich mit dem Messiesein, weil die Abweichung von der Norm und der Konvention Interesse erweckt und einerseits als Abschreckung, andererseits als Entlastung wahrgenommen wird. Bilder von Wohnungen und Häusern, Schilderungen vom Messie-Alltag führen die Schrecken des Chaos vor Augen: Jeder, der das sieht, ist froh, dass es bei ihm nicht so schlimm ist, und mobilisiert seine Kräfte, um es nicht so weit kommen zu lassen. Gleichzeitig liegt auch ein Reiz des Wieder-Erkennens in diesen Berichten, weil das ordentliche Leben und die Bewältigung der Alltagsanforderungen für viele andere auch nicht einfach sind und die Schamlosigkeit, mit der das Chaos dargestellt wird, auch attraktiv ist.
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Vorwort Oft sind die Formen des Umgangs mit den Dingen wichtiger als die Dinge selbst. Die Dinge werden aber nicht als einzelne wahrgenommen oder hervorgehoben. Meist fällt es schwer, die einzelnen Gegenstände und ihren spezifischen Wert zu beschreiben. Es scheint so zu sein, dass diese Dinge einen halbwegs sicheren Raum in einer Welt bieten, in der sich die Patienten sonst so leicht verlassen und verloren fühlen. Wenn sie über diesen Raum berichten, beginnen sie ihre Welt mit anderen zu teilen. Wir erhalten und erwerben viele schöne Gegenstände, die es Wert sind, aufbewahrt zu werden, und doch sind sie zur Vernichtung bestimmt, alltäglich trennen wir uns gedankenlos von ihnen, um für Neues wieder Platz zu machen. Wenn wir ständig wegwerfen, sind wir auch in Gefahr, nachlässig auch das Wertvolle wegzuwerfen, zu verlieren, was wir schätzen und brauchen. Die Messies zeigen, dass in dieser Welt der Massenproduktion der individuelle, persönliche Umgang mit Dingen sehr schwierig ist. Durch die Fülle der Dinge kann eine andere Art von Not erzeugt werden: Es wird schwierig etwas zu besitzen, sich etwas zu eigen zu machen, weil der Druck des Verbrauchens und Konsumierens besteht. Gleichzeitig demonstrieren die Messies auch an den Dingen jene Umgangsweise, der sie sich als Menschen ausgesetzt fühlen. Sie erleben sich selbst als x-beliebig, austauschbar, nicht in ihrer Einzigartigkeit wahrgenommen, vom Wegwerfen, Aussortieren bedroht, leicht ersetzbar durch andere, modernere. Die Angst davor, selbst verloren zu gehen, projizieren sie auf die Dinge, die sie nicht verlieren wollen. Sie zeigen, dass die Verfügbarkeit heute wichtiger ist als das Wahrnehmen eines unerfüllten Wunsches. Die Ersatzbefriedigung wird dem Erleben der Sehnsucht vorgezogen. Die Konsumgesellschaft gaukelt vor, dass die Wünsche ständig und ununterbrochen erfüllt werden können, solang man „flüssig“ ist (über Geld verfügt). Für viele ist der Preis wesentlich – sie suchen einen objektiven Wert, der aber gleichzeitig die Besonderheit des einzelnen Dings auslöscht. Messies weigern sich, die Dinge nur nach ihrem Nutzen zu beurteilen, sie machen sie zu Wertgegenständen – unabhängig davon, ob sie für andere Menschen oder auf Grundlage gesellschaftlicher Konventionen einen Wert haben. Sie meinen mit den Dingen sich selbst – identifizieren sich mit dem Wert, den sie geben können und geben sich selbst damit einen neuen Wert. So finden sie Ausdruck für ihre persönliche und einzigartige Art, in dieser Welt zu leben und sie zu begreifen. Es geht in der Psychotherapie darum, von diesem Ausdruck auszugehen und ihn in etwas Neues, Gemeinsames umzuwandeln, das keine Schutzwälle von Dingen mehr erfordert.
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Vorwort Der vorliegende Band zeigt die verschiedenen Forschungsansätze zum Messie-Syndrom, die wir hier erstmals zu einem Ganzen zusammenfügen. Empirisch-statistische Forschung wird ergänzt durch die phänomenologischhermeneutische Verstehensweise. Dazu gehören auch Patientenberichte, die aus der subjektiven Innensicht die Welt des Messieseins beschreiben. Aber auch therapeutische Werkstattberichte ergänzen die Untersuchungen. Viele Fragen bleiben offen bzw. können jetzt erst gestellt werden, nachdem wir doch reichliches Material gesammelt haben. Insbesonders die besten therapeutischen Strategien zur Verbesserung der Lage der Betroffenen – oft auch der Angehörigen – bedürfen weiterer Forschung, der wir uns in den nächsten Jahren widmen wollen. Unser Dank gilt den Patientinnen und Patienten, der Forschungsgruppe und den auswärtigen Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Buch bereitwillig mitgearbeitet haben. Außerdem danken wir dem Springer-Verlag für sein Interesse an diesem neuen Thema und den Lektorinnen, Frau Mag. Renate Eichhorn und Frau Mag. Franziska Brugger, für die Betreuung dieses Buches. Wien, im Sommer 2008 Alfred Pritz, Elisabeth Vykoukal, Katharina Reboly, Nassim Agdari-Moghadam
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Inhaltsverzeichnis Phänomenologie 1.
Das Messie-Syndrom – zur Entstehungsgeschichte einer psychischen Störung .................................................................................... 3 Alfred Pritz
2.
Selbstbilder ................................................................................................... 13 Nassim Agdari-Moghadam
3.
Fallgeschichten............................................................................................. 31 Elisabeth Vykoukal
4.
Angehörige von Messies ............................................................................ 39 Gina Borsos, Robert Gruber
5.
Fallgeschichte: Frau Berta Z. ..................................................................... 47 Katharina Reboly
Diagnostik 6.
Horten und Sammeln im Spektrum der Zwangsstörungen ................... 55 Martin Aigner, Ulrike Demal, Markus Dold
7.
Krank oder nicht krank? – Psychiatrische Aspekte einer Organisations-Defizit-Störung (sogenanntes „Messie-Syndrom“) ....... 67 Arnd Barocka
8.
Der Messie-House-Index (MHI) ............................................................... 91 Andreas Schmidt
9.
Der Messie-Formenkreis ........................................................................... 99 Katharina Reboly
Therapeutische Aspekte 10.
Sammelsurium – ein buntes Durcheinander ......................................... 127 Christa Luger
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Inhaltsverzeichnis 11.
Das Messie-Kunstprojekt .......................................................................... 141 Dorit Doppelhammer
12.
Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen ................................. 163 Gabriele Flemisch
13.
Das therapeutische Angebot der SFU ..................................................... 183 Elisabeth Vykoukal
Selbstzeugnisse 14.
Die Messie-Bewegung in der Schweiz..................................................... 189 Johannes von Arx
15.
Worte eines Betroffenen ........................................................................... 213 Erwin Prem
Das Messie-Phänomen im Spiegel der Kulturgeschichte 16.
Der Messie immer schon in uns – Kreuz/Quer zur Kultur oder jenseits des Gegenstandes ................................................................ 221 Joachim Prandstetter
17.
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Anhang: Kontaktadressen, Fragebögen ................................................. 297
Phänomenologie
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Das Messie-Syndrom – zur Entstehungsgeschichte einer psychischen Störung Alfred Pritz
1. Die Collyer-Brüder Am 21. März 1947 findet die Polizei in einem Haus in der Fifth Avenue die Leichen zweier Brüder, Homer Lusk und Langley Collyer. Sie sind umgeben von etwa 100 Tonnen Müll. Sie werden bekannt als prototypische Vertreter für zwanghaftes Sammeln, aber auch für Disposophobia, die Unfähigkeit, etwas wegzuwerfen. Man nennt dieses Phänomen auch „Brüder-CollyerSyndrom“. Das Besondere daran ist, dass diese beiden Brüder zwar als leichte Sonderlinge galten, aber ansonsten durchaus integriert in das gesellschaftliche Leben waren. Die Neigung, exzessiv zu sammeln – insbesondere Papier, Bücher, Möbel und andere Dinge –, hatte sich im Laufe der Zeit entwickelt und bis zu ihrem Tod angehalten und sogar verstärkt.
2. Die Sammelleidenschaft Sammeln an sich zählt in der Menschheitsgeschichte zu den atavistischen Kulturleistungen. Nahrung zu sammeln, damit man in Zeiten der Not nicht verhungert, ist eine kluge Überlebensstrategie. Auch Waren zu sammeln, um sie eintauschen zu können, ist wohl der Beginn des Handels und des Wohlstands. Schließlich lebt die heutige Welt zu einem beachtlichen Teil vom Horten und Verleihen von Geld, das selbst an sich bereits wieder eine Symbolisierung von Besitz darstellt. Uns allen ist die Komikfigur von Walt
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Alfred Pritz Disney bekannt: Dagobert Duck, dessen große und einzige – perverse – Leidenschaft das Sammeln von Geld und Gold ist und der auch gar nichts davon abgeben kann. Besonders beeindruckend: Er genießt es, in seinem materiellen Reichtum richtiggehend und konkret zu baden und so zur Befriedigung zu gelangen. Das Sammeln kann sich ausweiten und zum Zwang, der sich mit Sucht vermischt, werden. Und es gibt kaum einen Lebensbereich, der vom Sammeln nicht erfasst werden kann: Bilder, Bierdeckel, Beziehungen, Autos, Ländereien – die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden. Wir sehen, es kommt zu einer emotionalen Besetzung eines Gegenstandes, eines Objektes oder auch eines Themas, das dazu führt, Libido nur mehr in eine bestimmte Richtung zu fokussieren. Interessanterweise hat das Sammeln für unsere untersuchte Gruppe – die Messies – ebenfalls eine zentrale Funktion, allerdings können wir einen wesentlichen Unterschied zur oben beschriebenen Sammelfreude feststellen: die Sammlungen der Messies sind nicht von gesellschaftlichem Wert (siehe auch die Brüder Collyer), sie sind in den Augen der anderen wertlos oder nur von sehr geringem Wert. Man bezieht schließlich auch den Begriff des „Messies“ nicht auf Vermögende, die ihren Reichtum ebenfalls zusammengesammelt haben und nichts mehr davon abgeben. Man könnte es so formulieren: Sammeln ist für Messies essenziell, Sammler sind aber nicht unbedingt Messies.
3. Sandra Felton und das Messie-Syndrom 1985 prägt Sandra Felton den Begriff des „Messies“ und begründet eine Selbsthilfebewegung, die internationale Dimensionen angenommen hat (Felton 1994, 1995, 1999). Es gibt bereits Selbsthilfegruppen in vielen Ländern, die sich als „Messie-Gruppen“ bezeichnen. Das Wort „Messie“ leitet sich aus dem Englischen von „mess“ ab, das so viel bedeutet wie „Unrat, Unordnung, Durcheinander“. Die Idee von Felton war es, Menschen, die sich nicht organisieren können bzw. ihre – materielle – Ordnung nicht in ausreichendem Maße aufrechterhalten können, mit Ratschlägen und Meinungsaustausch zu unterstützen.
4. Das Diogenes-Syndrom Als Diogenes- oder Vermüllungssyndrom (Dettmering et al. 1985, Klosterkoetter 1985), selten auch als Syllogomanie bezeichnet, ist diese Störung
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Das Messie-Syndrom zunächst durch eine Vernachlässigung des eigenen Körpers, des Wohnbereichs, durch sozialen Rückzug und die Ablehnung von Hilfe durch andere gekennzeichnet. Der Begriff „Vermüllungssyndrom“ wurde 1984 vom Hamburger Arzt und Psychoanalytiker Peter Dettmering eingeführt. Dettmering sammelte seine Erfahrungen vor allem in der Betreuung von psychiatrischen Patientinnen und Patienten, die den eben beschriebenen sozialen Rückzug, verbunden mit entsprechender Verwahrlosung, beobachten ließen.
5. Die Organisations-Defizit-Störung (ODS) Dieser Begriff, von Barocka (siehe Kapitel 7 in diesem Band) geprägt, bezieht sich vor allem auf die Unfähigkeit der betroffenen Personen, sich entsprechend dauerhaft in ihrem Alltag zu organisieren. Die Begrifflichkeit zielt auf ein möglicherweise hirnorganisch mitbedingtes Störungsbild, das ein Hauptproblem von Messies beschreibt, nämlich die – partielle – Unfähigkeit, im unmittelbaren Lebensraum eine Ordnung zu konstituieren. Allerdings darf angemerkt werden, dass viele Messies eine erkennbare Ordnung in der Unordnung erkennen lassen. Chaostheoretisch betrachtet ist die Unordnung die noch nicht erkannte Ordnung.
6. Die Symptomspanne und der Leidensdruck Die Symptome von Messies reichen vom eifrigen Sammeln „unbedeutender“ Dinge bis zu völlig überladenen, vollgefüllten und auch verschmutzten Wohnungen oder Häusern, die so vollgeräumt sind, dass in extremen Fällen die Bewohner sogar außerhalb der Wohnung oder des Hauses nächtigen müssen. Entsprechende soziale Einladungen sind dann völlig unmöglich, dies wird auch oft schamvoll von den Betroffenen selbst wahrgenommen. Die Spanne reicht vom Sammeln über das Nicht-wegwerfen-Können bis hin zur Verwahrlosung. Messies berichten aber auch von unterschiedlicher Zeitfolge und Intensität in diesem Sammeln und Nichtwegwerfen. Interessant ist, dass bei vielen Messies das Horten von Papierprodukten, Zeitungen, vor allem aber auch Büchern neben den unterschiedlichen anderen Gegenständen zu den besonderen Leidenschaften zählt. Das Messie-Dasein ist natürlich bei den meisten Betroffenen nicht der einzige Lebensinhalt, kann aber bei schwereren Ausprägungen die Lebenssituation massiv negativ beeinflussen. Wesentlich bei schwereren Verlaufsformen ist die unbedingte emotionale Besetzung des Gehorteten: Versuche von außen, das Gehortete als Müll zu
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Alfred Pritz beseitigen, kann zu erheblichen Depressionen und sogar zu psychotischen Reaktionen führen (Dettmering 1985). Bei leichteren Formen kann durchaus aber eine Organisationshilfe bei der Neustrukturierung der Wohnungsinhalte hilfreich sein, insbesondere wenn diese Hilfe von vertrauenswürdigen Personen angeboten wird. Die Symptome können folgendermaßen gegliedert werden: t Unordentlichkeit bis zur Geruchsbelästigung und zu hygienischen Problemen t zwanghaftes Sammeln wertloser und verbrauchter Dinge t Zeitmanagementprobleme bis zur extremen Unpünktlichkeit t ungeöffnete Post t eingeschränktes Sozialverhalten durch die Nicht- oder nur eingeschränkte Benutzbarkeit der Wohnung / des Hauses (Pritz 2007).
Die Leidensempfindungen hinsichtlich der Symptome sind bei Messies unterschiedlich und reichen von völliger Abwesenheit eines Leidensgefühls bis hin zur Niedergeschlagenheit aufgrund der Unfähigkeit zur Selbstorganisation. Das Messiesein ist nicht unwesentlich auch eine soziale Krankheit, als sie zur Isolierung führen kann, die natürlich als schmerzhaft empfunden wird.
7. Krankheit oder Kulturphänomen Das Messie-Phänomen kann durchaus im Kontext spezieller Eigenschaften in verschiedenen Kulturen zu unterschiedlichen Zeitepochen beobachtet werden (Prandstetter siehe Kapitel 16 in diesem Band). Als eine Gegenwelt zur derzeitigen herrschenden Konsumwelt ist sie gewissermaßen eine Parodie auf den Konsumwahn unserer gegenwärtigen Kultur (Wettstein 2005). Sie deutet durch das Sammeln der Belanglosigkeiten auf den Un-Sinn des Materiellen. Allerdings wird diese kritische Übertreibung von den Betroffenen verinnerlicht und kann so zum Leiden werden. Untersuchungen wurden jedoch bisher nur in modernen Industriestaaten des Westens und in Hongkong und Taiwan (Hwang 1998, Chiu 2003) durchgeführt, doch darf aufgrund von Einzelfallberichten vermutet werden, dass das Messie-Phänomen auch in ökonomisch armen Staaten zu beobachten ist. Untersuchungen stehen noch aus.
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Das Messie-Syndrom Zur Krankheit wird das Messiesein dann, wenn wesentliche gesellschaftliche Regulationsmechanismen außer Kraft gesetzt werden, diese dann aber in ein persönliches Defizit und Leiden transformiert und dann schließlich zur Krankheit als „regelwidriger psychischer Zustand [werden], der einer Krankenbehandlung bedarf “ (Entwurf des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger zum Gesamtvertrag für eine Psychotherapieregelung 1992).
8. Verbreitung In Publikationen der Selbsthilfebewegung für Messies in Deutschland wird eine Zahl von geschätzten 300 000 Personen, die man als Messies bezeichnen könnte, angegeben. Dies würde für Österreich eine Anzahl von etwa 30 000 Personen bedeuten. Empirische Daten dazu liegen bisher noch nicht vor, nicht zuletzt wegen des Mangels an einer verbindlichen Definition des Begriffes inklusive seiner Abgrenzung.
9. Andere Krankheiten, die mit dem MessiePhänomen verbunden sind In der Geschichte der Erforschung des Messieseins wurden Organisationsdefizite und -probleme bei verschiedenen Krankheiten beobachtet, die manchmal zum Schluss führten, das Messiesein sei ein Teil der beschriebenen Erkrankung (Maier 2005). Tatsächlich kann die Messie-Symptomatik auch Teilsymptom der folgenden Krankheiten sein: t Demenz t Schizophrenie t Depression t Zwangsneurosen t Manie t Alkoholismus t Drogensucht t Borderline-Persönlichkeitsstörung t ADHS t Prader-Willi-Syndrom
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Alfred Pritz
10. Psychodiagnostik des Messie-Syndroms Es besteht Evidenz, dass Messies bis zu einem gewissen Grad unfähig sind, Brauchbares und Unbrauchbares zu trennen. Es entsteht Angst, wenn etwas Liebgewordenes, und sei es auch wertlos, wegzuwerfen wäre, und Lust, ebensolches zu sammeln. In der Fachwelt diskutiert man die Frage, welcher psychischen Störung man das Messie-Syndrom zuordnen könnte. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass Zwangskomponenten ebenso wie Suchtkomponenten eine Rolle spielen und dass viele Messies auch depressiv sind. Es gibt also unterschiedliche diagnostische Zuordnungen, die den Schluss erlauben, dass das Messie-Phänomen als solches sich psychodiagnostisch nicht eindeutig zuordnen lässt, sieht man von der Begleitsymptomatik wie unter 9. beschrieben ab (Reboly 2007 und 2008).
11. Therapeutische Konsequenzen Menschen, die am Messie-Syndrom leiden, brauchen Unterstützung und Hilfe. Es lassen sich 4 therapeutische Initiativen unterscheiden: a) Hilfestellung durch konkrete Handlungsanweisungen (oft zuhause aufsuchend) b) Coaching (konkrete Maßnahmen werden durchdiskutiert, Betroffene motiviert, mehr „Ordnung“ in ihr Leben zu bringen) c) Selbsthilfegruppen (Betroffene schließen sich zu Selbsthilfegruppen zusammen, manchmal unterstützt durch Experten wie Psychotherapeuten oder Psychologen) d) Psychotherapie (meist Verhaltenstherapie oder psychodynamische Methoden, insbesonders dann indiziert, wenn die Betroffenen das Messiesein nicht nur als Ordnungsproblem empfinden, sondern als Teil ihrer Lebensproblematik (Pritz 2007, Frost et al. 2003).
Bei der Fragestellung, wieweit die therapeutischen Maßnahmen nachweislich helfen, ist man vorwiegend auf Fallbeschreibungen angewiesen. Outcome-Studien zeigen, dass Verhaltenstherapie durchaus nützlich sein kann (Frost 2003). Empirische Untersuchungen über die Wirkung von Selbsthilfegruppen und psychodynamischen Therapien bei Messies sind noch ausständig.
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Das Messie-Syndrom Wesentlich ist aber, dass viele persönlich Betroffene verschiedene therapeutische Maßnahmen als für sie sehr sinnvoll und nützlich empfinden, sodass eine psychotherapeutische Unterstützung oder ähnliche Maßnahmen als notwendig vorzusehen sind.
12. Das folgende Gedicht von Shel Silverstein illustriert treffend die Messie-Problematik in künstlerischer Form: HECTOR THE COLLECTOR1 Hector the Collector Collected bits of string, Collected dolls with broken heads And rusty bells that would not ring. Pieces out of picture puzzles, Bent-up nails and ice-cream sticks, Twists of wires, worn-out tires, Paper bags and broken bricks. Old chipped vases, half shoelaces, Gatlin’ guns that wouldn’t shoot, Leaky boats that wouldn’t float, And stopped-up horns that wouldn’t toot. Butter knives that had no handles, Copper keys that fit no locks, Rings that were too small for fingers, Dried-up leaves and patched-up socks. Worn-out belts that had no buckles, ’Lectric trains that had no tracks, Airplane models, broken bottles, Three-legged chairs and cups with cracks. Hector the Collector Loved these things with all his soul Loved them more than shining diamonds, 1 aus: Shel Silverstein: Where the Sidewalk Ends: Poems and Drawings, Harper Collins 1974; ©1974, renewed 2002 by Evil Eye, LLC.
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Alfred Pritz Loved them more than glistenin’ gold. Hector called to all the people, „Come and share my treasure trunk!“ And all the silly sightless people Came and looked...and called it junk.
13. Literatur Barocka A, Seehuber D, Schone D. Sammeln und Horten – Ein Messie kann nicht anders. Die Wohnung als Müllhalde. MMW-Fortschr.-Med. Nr. 45, Ausgabe 11 (2004) Chiu SN, Chong HC, Lau SPF. Exploratory Study of Hoarding Behaviour in Hong Kong. Hong Kong J Psychiatry (2003) Coles ME, Frost RO, Heimberg RG, Rhéaume J. „Not just right experiences“: perfectionism, obsessive-compulsive features and general psychopathology, Behaviour Research and Therapy 41 (2003) Coles ME, Frost RO, Heimberg RG, Steketee G. Hoarding behaviours in a large college sample, Behaviour Research and Therapy 41 (2003) Dettmering P, Pastenaci R. Das Vermüllungssyndrom – Theorie und Praxis. Verlag Dietmar Klotz 4. Auflage (2004) Dettmering P. Das Vermüllungssyndrom – ein bisher unbekanntes Krankheitsbild. Öffentliches Gesundheitswesen 47 (1985) Felton S. Im Chaos bin ich Königin – Überlebenstraining im Alltag. Brendow, Moers (1994) Felton S. Im Chaos werden Rosen blühen – Tipps und Tricks für Messies. Brendow, Moers (1995) Felton S. Schritt für Schritt aus dem Chaos. Das Arbeitsbuch für Messies. Brendow, Moers (1999) Frost RO, Gross RC. The hoarding of possessions. Behaviour Research and Therapy 31 (1993) Frost RO, Hartl T. A cognitive behavioural model of compulsive hoarding. Behaviour Research and Therapy 34 (1996)
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Das Messie-Syndrom Hartl TL, Duffany R, Allen GJ, Steketee G, Frost RO. Relationships among compulsive hoarding, trauma and attention-deficit/hyperactivity disorder. Behaviour Research and Therapy 43 (2005) Hwang JP, Tsan SJ, Yang CH, Liu KM, Ling JF. Hoarding behaviour in dementia: A preliminary report. American Journal of Geriatric Psychiatry No 6 (1998) Klosterkoetter J, Peters UH. Das Diogenes-Syndrom. Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie (1985) Maier T. On phenomenology and classification of hoarding: a review. Acta Psychiatrica Scandinavica (2004) Mataix-Cols D, Baer L, Rauch SL, Jenike MA. Relation of factor-analyzed symptom dimension of obsessive-compulsive disorder to personality disorders. Acta Psychiatrica Scandinavica (2000) Mataix-Cols D, Rosario-Campos MC, Leckman JF. A multidimensional model of obsessive-compulsive disorder. American Journal of Psychiatry (2005) Steins G. Desorganisationsprobleme: Das Messie-Phänomen – Desorganisationsprobleme. Pabst Science Publishers (2003) Wettstein A. Messies. Alltag zwischen Chaos und Ordnung. Zürcher Beiträge zur Alltagskultur. Band 14. Zürich (2005)
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Selbstbilder Nassim Agdari-Moghadam
1. Einleitung In den letzten Jahren lernte ich im Rahmen diverser Praktika an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien unterschiedliche Messie-Persönlichkeiten kennen. Von Beginn an war ich beeindruckt vom komplexen und kreativen Störungsbild dieser Menschen, die sich selbst als Messies bezeichnen. Im Rahmen der Messie-Hausbesuche hatte ich auch die Gelegenheit, einige der Betroffenen zu Hause zu besuchen. Dabei bestätigte sich mir, dass das Phänomen eine sehr individuelle Ausprägung erfahren kann. Es gibt einige, die alles auf einen oder mehrere Haufen gelegt hatten. Jedoch gibt es auch andere, bei denen eine Art von „Ordnung“ herrscht. Die Gegenstände sind in Plastiktaschen neben- oder aufeinandergetürmt bzw. in Kartons und Kisten aufeinandergestapelt. Die Zimmer sind zwar mit vielen Gegenständen und Dingen überfüllt, aber viele davon scheinen zumindest für die Betroffenen eine Geschichte zu erzählen oder von einem Erlebnis zu berichten. Von diesen sehr persönlichen Geschichten handelt dieser Beitrag; vielleicht können wir aus ihnen etwas lernen. Wenn Messies einen Gegenstand in der Hand halten, fällt ihnen meist das in der Erinnerung damit verknüpfte Erlebnis ein, und so sind sie nicht nur von Dingen umgeben, sondern von ihrer Vergangenheit. Es scheint, als wäre für sie die Vergangenheit nicht vergessen und vorbei, sondern allgegenwärtig. All die Erinnerungen sind nicht nur in ihrem Gedächtnis gespeichert, sondern unmittelbar mit den Gegenständen verbunden. Es ist unglaublich, auf welch kleinem Raum Messies bereit sind zu leben und welche Bedeutung all diese Dinge für sie haben.
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Nassim Agdari-Moghadam Bereits in der Selbsthilfegruppe zeigte sich, dass das Messie-Syndrom anscheinend unabhängig von Geschlecht, Alter oder Bildung seine Ausprägung findet. Wie beschreiben sich die Betroffenen selbst; wie begründen sie ihr Messiesein und wie leben sie damit? Ich will versuchen, diesen Fragen hier nachzugehen – kurz gesagt – mich der Lebenswelt der Betroffenen, wie sie sich in ihren Selbstdarstellungen begegnet, wissenschaftlich zu nähern. Die individuellen Erscheinungsformen des Messie-Syndroms sind vielfältig. Warum haben sich die Menschen diese Form des Ausdrucks gesucht? Was möchten sie der Welt damit mitteilen? Um das Phänomen näher zu beschreiben, ist es vielleicht dienlich, die Gegenstände „zu begreifen“, indem man die dazugehörigen Geschichten kennt. Daher habe ich mit einigen Betroffenen narrative Interviews geführt (Schütze 1983). Die transkribierten Interviews wurden zunächst der Globalauswertung unterzogen (Legewie 1994). Danach orientierte sich das Auswertungsverfahren an der Grounded Theory (Glaser, Strauss 2005). Im Folgenden werden nun zwei dieser Persönlichkeiten vorgestellt. Um aufzuzeigen, wie vielschichtig sich dieses Störungsbild darstellt, wurden zwei sehr unterschiedliche Personen gewählt. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema und die Auswertung der Interviews ist derzeit im Gange, und daher ist dieser Beitrag auch nur als ein flüchtiger Einblick in den laufenden Prozess zu verstehen. Die Fallgeschichten lesen sich wie Abrisse – Sequenzen aus dem Leben der Betroffenen.
2. Fallgeschichte – Frau R. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau R. rund 50 Jahre alt. Sie ist eine große, schlanke Frau, die aufgrund ihrer sportlichen Kleidung sehr jugendlich wirkt. Frau R. wuchs in einer gut situierten Familie auf, ihre Mutter war Hausfrau und ihr Vater Akademiker. Nach der Hauptschule schloss Frau R. eine Lehre ab; heute ist sie als Hilfskraft tätig. Frau R. hatte zwar als Kind Schwierigkeiten, mit anderen Kindern ihr Spielzeug zu teilen, aber bis zum 20. Lebensjahr sammelte sie nicht viel in ihrem Zimmer. Erst danach begann die erste „Sammelwelle“, wie sie sagt, in der sie den Inhalt des Kellers in ihr Zimmer trug. Besondere Feiertage, wie Weihnachten, stellten aber immer wieder einen Anlass dar, der ihr dazu verhalf, ihr Zimmer auch wieder aufzuräumen.
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Selbstbilder In ihrer ersten Wohnung besaß sie mehr Möbel und Gegenstände, als sie zu nutzen vermochte, aber von Vermüllung konnte nicht die Rede sein. Auch hier gab es Phasen, in denen sie aufräumte, zum Beispiel vor einem Rauchfangkehrer-Termin. Nach dem Tod ihres Gatten kam es dann zur ersten Vermüllung. Frau R. konnte diese mit Hilfe der Psychiatrie-Ambulanz beseitigen, aber schon nach einigen Monaten sammelte „es“ sich wieder an. Die vielen Dinge wurden zu einer unüberwindbaren Belastung, und der Leidensdruck stieg enorm, sodass sie mittlerweile bereits in der dritten Wohnung wohnt. Die anderen zwei Wohnungen sind voller Gegenstände und wurden von ihr teilweise seit Jahren nicht mehr betreten.
2.1. Subjektive Ursachentheorien Die Großeltern mütterlicherseits akzeptierten den Schwiegersohn, also ihren Vater nicht. Es kam zu jahrzehntelangen Konflikten zwischen den beiden Familien. Diese Streitigkeiten weiteten sich dann schließlich auch auf ihre Eltern aus. Frau R. empfindet sich als ein ungewolltes Kind, in diese „Kriegswirren“ hineingeboren. „... und alles, was aus dieser Beziehung entstanden ist ... das war auch ich ... war ungewollt ... ja, ich war kein gewünschtes Kind ... ich war ein Betriebsunfall ... ich habe eigentlich nur dazu gedient, ja, irgendwo haben die Eltern über mich den Krieg ausgeführt.“
Bereits in der Volksschule – so erinnert sich Frau R. – gab es Situationen, in denen sie unter Ängsten gelitten habe, dass ihr Zimmer wieder einmal ausgeräumt werden würde. Anscheinend wurden von ihren Eltern die Grenzen ihrer Intimsphäre nicht gewahrt. So sah sie sich mit 20 Jahren gezwungen, ein Schloss an ihrer Zimmertür anzubringen. Diese von den Eltern, vor allem von der Mutter, durchgeführten „Zwangsräumungen“ und deren Bedeutung für Frau R. werden noch näher unter dem Abschnitt „Verlust und Verlustängste“ beschrieben. Die Umstände ihrer Kindheit haben es ihr – so meint sie – auch nicht ermöglicht, ihre eigenen Berufswünsche zu verwirklichen. Sie war sehr eingeschüchtert und hat sich eher zurückgezogen. „... das alles hat irgendwie zu einem völlig unzufriedenen Leben geführt ... der Hintergrund ... ist wahrscheinlich schon irgendwo eine Lebensenttäuschung. ... große Weichen, die ich versäumt habe in diesem Leben.“
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Nassim Agdari-Moghadam In ihrem derzeitigen Beruf kann sie ihre Fähigkeiten und Potenziale nicht ausschöpfen und fühlt sich sehr unterfordert. Die Beziehung zu ihrem Vorgesetzten und das Arbeitsklima mit den Kolleginnen und Kollegen ist für sie eine zusätzliche Belastung.
2.2. Komorbidität Frau R. hat eine diagnostizierte Zwangsstörung, mit welcher sie sich gut identifizieren und leben kann. Der Charakter der Zwangsstörung zeigt sich bei ihr vor allem in der Art und Weise, wie sie die Dinge aufbewahrt, also darin, wie sie die Dinge aufeinanderstapelt oder nebeneinanderstellt. Diese Ordnung bzw. Anordnung von Gegenständen darf auch nicht von anderen verändert werden. Im Laufe ihres Lebens war Frau R. auch mit anderen psychischen Störungen konfrontiert, dabei handelte es sich um Sozialphobie, eine depressive Verstimmung, eine Emetophobie und Panikattacken. Sie begab sich auch einige Male freiwillig in stationäre psychiatrische Behandlung und hat Erfahrung mit Psychopharmaka gemacht. Als Volksschulkind litt sie an einer ungeklärten Übelkeitssymptomatik, welche nach einiger Zeit verschwand. Im Erwachsenenalter traten die Beschwerden erneut, aber verändert, wieder auf. „... eine Übelkeit, die nicht irgendwie erklärbar ist, ja und für ein Kind schon gar nicht genau zu definieren, ja viele Arztbesuche, gemacht, letzten Endes hat es dann geheißen, dass das alles irgendwie eine Einbildung ist ... (Jahre später, während sie in einem Vortrag saß) ... in dem Kurs ist mir dann wieder schlecht geworden ... das war der Moment, wo sich dann diese Übelkeit an geschlossene Situationen gekoppelt hat, ja das hat sich immer mehr gesteigert, bis ich überhaupt nicht mehr mit der Straßenbahn fahren konnte.“
Dieses Erlebnis hat dazu geführt, dass sie sich zu einem stationären Aufenthalt entschlossen hat. Während dieses Aufenthaltes lernte sie, diese Übelkeit besser zu verstehen.
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Selbstbilder
2.3. Psychodynamik Verlust/Verlustängste Die ersten massiven Verlustängste empfand sie bereits während der Volksschulzeit. Sie erinnert sich, dass es während eines Spitalsaufenthaltes anlässlich einer Mandeloperation zu einer Steigerung dieser unerträglichen Ängste kam. „... im Zimmer war es dann so, dass ich mich dauernd erkundigt habe und dauernd Tag und Nacht darüber nachgedacht habe, was machen die schon wieder zu Hause und was wird mit meinem Zimmer sein, ist eh noch alles so, na ja, also eigentlich ununterbrochen da mit den Ängsten im Zimmer, sage ich jetzt einmal, gelegen und eigentlich die Tage gezählt, wann ich endlich wieder rauskomme, ja wer weiß, was in diesem Zimmer ist und wie viele Sachen es eigentlich nicht mehr gibt, wenn ich da vom Spital nach Hause komme.“
An dieser Stelle sollte auch nicht unerwähnt bleiben, dass die vorher beschriebene Übelkeitssymptomatik ein Jahr nach dem Tod der Mutter wieder auftrat. Inwieweit und ob hier ein Zusammenhang besteht, darüber konnte Frau R. nichts sagen. Sie begleitete ihren Gatten auf der Intensivstation in den letzten Monaten vor seinem Tod. Diese Zeit bezeichnet sie trotzdem als eine wertvolle Zeit, weil sie die Möglichkeit hatte, sich auch mit dem Thema, das sie ihr ganzes Leben lang so sehr interessiert hatte, zu beschäftigen – der Medizin. Nach dem Tod ihres Mannes musste sie die gemeinsame Wohnung rasch aufgeben und wieder übersiedeln – viel Zeit zu trauern blieb ihr nicht.
Bindung/Beziehungen An Freundschaften mit Gleichaltrigen war Frau R. nie wirklich interessiert, im Gegenteil, sie konnte es kaum erwarten, erwachsen zu werden. „... ja, irgendwie haben andere Kinder mich eigentlich die ganze Kindheit, bis in die Pubertät rein, sage ich jetzt einmal, überhaupt nicht interessiert ... anstatt mit anderen Kindern im Park zu spielen, sind wir, bin ich immer nur mit meiner Mutter spazieren gegangen, ins Allgemeine Krankenhaus, und haben dem Unfalldienst zugeschaut, wie die Rettungsleute die Patienten bringen ...“
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Nassim Agdari-Moghadam Ihre Beziehungen, von denen sie im Interview berichtet, bestanden vorwiegend zu Ärzten. Wann immer sich eine Gelegenheit ergab, führte sie stundenlange Gespräche mit Ärzten und entdeckte so auch ihre Liebe und Leidenschaft zur Medizin und zur Wissenschaft. In der Pubertät lernt Frau R. einen jungen Arzt kennen, mit dem sie, wie sie sagt, ihre ersten psychotherapeutischen Erfahrungen sammelte. „... dass ich dann eine Zeitlang regelmäßig ungefähr einmal in der Woche zu diesem Arzt hingegangen bin und mich einfach unterhalten habe ... der war so irgendwo Ersatz für die Vaterfigur, ja für die Eltern überhaupt ... wir haben eine spezielle Sprache dafür (für die psychischen Vorgänge in mir) entwickelt ... zum ersten Mal ein Mensch, muss ich sagen, mit dem du dich wirklich gut unterhalten kannst ... der hat mir in meinem bisherigen Leben am allermeisten geholfen.“
Auffallend in diesem Zusammenhang ist auch, dass ihre Übelkeitsproblematik sich an die Gegenwart anderer Personen koppelt. Dieses Gefühl, sich zurückziehen und verstecken zu müssen, kennt sie allerdings schon aus ihrer Kindheit. „... diese Übelkeit, die auftritt in geschlossenen Räumen, abhängig von anderen Personen, ob die da sind oder nicht ... habe damals schon eine Definition gefunden, die hat gelautet, dass die Tiefe der Vertrautheit der anwesenden Personen, die Qualität des Anziehens ... das Angstsymptom potenziert hat ... ja also so auf U-Boot-Strategie und U-Boot-Leben habe ich immer schon Wert gelegt, muss ich sagen ... dieses Zusammenräumen in meinem Zimmer hat dazu geführt, dass ich die Türe zugesperrt habe ... “
Angst/Aggression/Abwehrverhalten Als Kind hat sich Frau R. viel lieber mit Erwachsenen unterhalten als mit gleichaltrigen Kindern. Warum wollte sie kein Kind sein? Wieso war es wichtig, schnell erwachsen zu werden und vernünftig zu sein? „... frustriert habe ich darauf warten müssen, habe mir immer gesagt, ich muss jetzt warten, bis die Gleichaltrigen 50 Jahre alt werden, dass du mit denen normal reden kannst, ja es ist für ein Kind nicht wirklich lustig, wenn du immer schon die Tage und die Jahre zählst, und ein Jahr ums andere vergeht und die ändern sich eigentlich nicht und werden nie vernünftig, du kannst mit denen kein vernünftiges Gespräch führen, da heißt es geduldig warten, bis du 50 bist, aber das ist auch nicht lustig.“
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Selbstbilder Aufgrund ihrer Erkrankungen und vielen Arztbesuche waren es vorwiegend Ärzte, mit denen sie das Gespräch suchte. Dabei lernte sie viel, was ihr half, ihren Berufswunsch zu definieren. Das ist möglicherweise auch ein Grund, warum sie dieser Zeit der Begleitung ihres Gatten auf der Intensivstation etwas Positives abgewinnen konnte. Frau R. wurde von ihrem Vater häufig entwertet und gedemütigt. Vor allem das Thema Ausbildung und persönliche Interessen hinsichtlich eines zukünftigen Berufes wurde nicht wahrgenommen und unterstützt – im Gegenteil: Für ihren Vater war sie nur ein dummes Mädchen. Es sind heftige Aggressionen gegen den Vater zu vermuten. „... also speziell der Vater war nur interessiert daran, ich sage jetzt einmal, dem anderen zu beweisen, welchen Trampel er eigentlich auf die Welt gestellt hat ... mein Vater wollte sogar durchsetzen, dass ich nicht an die Volksschule komme, sondern in die Sonderschule! ... mein Vater war ja immer, ich sage einmal, dagegen, dass ich zumindest das Notgleis noch bekomme ...“
Bei der Erzählung über das Wiederauftreten der Übelkeitssymptomatik erwähnt Frau R. eine Situation auf einer Rolltreppe, in welcher sie den Hintern eines Mannes betrachtet. In welcher Weise sexuelle Aspekte, wie sie in der Darstellung dieser Begebenheit thematisch werden, auch psychodynamisch relevante Faktoren für das Messietum darstellen, konnte im Rahmen dieses Interviews nicht geklärt werden. „... es war Sommer, ein sehr heißer Tag ... ich bin auf der Rolltreppe gefahren, vor mir ein junger Mann, in engen Jeans, und ich schau ihm auf den Popo, wie ich das halt immer gemacht habe, mein Gott na, soll ja sein, dass einem manche Männerhintern gut gefallen, Faktum ist, in dem Moment wird mir irgendwie schlecht, ich behaupte heute, dass das wahrscheinlich nichts mit diesem Hintern zu tun hat, aber genau ist es nicht geklärt ...“
Frau R. berichtet auch von ihren Zwangshandlungen, die sie sehr viel Zeit kosten. Vielleicht kann man diese als eine Art „autoaggressives“ MessieVerhalten verstehen. Diese stundenlangen Arbeiten des Ordnens und Hinund Herräumens führen uns auch zum nächsten Punkt, dem Leidensdruck von Frau R. „... wenn ich die ganzen Handlungen, die mich da stundenlang Zeit kosten und sehr viel psychische Energie und Kraft kosten, wenn ich die einmal
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Nassim Agdari-Moghadam ausführen würde als Normalhandlung, dann täten die wahrscheinlich zehn Minuten dauern, aber ausgeführt als Zwangshandlung dauern dieselben Handlungen eben vier Stunden und sind sehr viel mehr psychisch belastend ...“
Die Zwangshandlungen einer Zwangsstörung sollten eigentlich eine entlastende Wirkung für die Betroffenen haben – interessanterweise erlebt sie Frau R. aber als eine zusätzliche Belastung.
2.4. Leidensdruck Frau R. leidet unter dem von den Medien vorwiegend dargestellten Bild von Messies. „Na ja, das Messietum hat halt leider Gottes, also das Wort Messie an sich ist ja nicht so schlimm, schlimm wurde das Messietum leider von den Medien gemacht, das muss man leider auch sagen. Der Messie ist heute ein Mensch ... ja das sind die Leute, die die Wohnung vermüllen, ja leider Gottes wird Messietum in der Öffentlichkeit ... mit Vermüllung in Zusammenhang gebracht ...“
Ihre Lebensqualität ist stark eingeschränkt, vor allem durch ihren Zwang, welcher ihr eine bestimmte Reihenfolge des Ordnens abverlangen. „... jetzt bin ich in die dritte Wohnung gezogen, der Leidensdruck in der zweiten Wohnung war zu groß ... aber es ist die Belastung dieser ganzen Gänge-Freiräumerei, weil ich habe natürlich, wie andere Messies auch, solche Gänge, und da muss man immer wieder sackeln [eintüten] ...“
2.5. Zusammenfassung Frau R. sprach während des Interviews sehr rasch, um ja alles Wesentliche unterzubringen und nichts zu vergessen. Sie meinte, einzelne Themen, zum Beispiel ihre kurze Ehe oder andere Beziehungen, benötigten ein eigenes Interview – diese Aussage kann auch als eine Ausprägung des Messie-Syndroms verstanden werden. Sie bezeichnet sich selbst als einen Menschen, dem es psychisch immer schlecht gegangen sei. In Phasen ihres Lebens habe sie es trotzdem immer wieder geschafft, die Wohnungen aufzuräumen. Erst als dann krisenhafte Erlebnisse, wie der Tod eines nahen Menschen, hinzukamen, wäre die Situation nicht mehr zu bewältigen gewesen.
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Selbstbilder Es scheint, als hält Frau R. derzeit keine Veränderung für möglich. Öfter meint sie, nun sei sie doch schon 50 Jahre alt, es sei doch ohnehin zu spät, also warte sie nur mehr auf das nächste Leben. Eine eigenständige Diagnose für Messies würde sie sehr begrüßen und sich wünschen, insbesondere weil sie in ihrer Lebensgeschichte mit vielen verkannten und unerklärten Störungen konfrontiert war. Die Übelkeitsproblematik, die ihr Leben von frühester Kindheit an geprägt hat, lässt einige Fragen offen. Wovor hat sich dieses Kind so geekelt? Warum war ihr so schlecht? Was wollte sie damals sagen? Wenn sie von ihrer Kindheit und diesen grenzüberschreitenden Aufräumaktionen berichtet, spürt man die Ohnmacht und die Hilflosigkeit dieses jungen Menschen von damals. Wiederholend meint sie im Interview, wie wichtig es ihr wäre, die Möglichkeit zu haben, in Freiheit selbst Entscheidungen zu treffen.
3. Fallgeschichte – Herr X. Herr X. ist Mitte vierzig, blond und von sportlicher Statur. Er legt offensichtlich großen Wert auf sein Äußeres. Zum Interview erscheint er in Jeans, einem Sakko und einem dazupassenden Herrenschal. Seine sympathische Art entspringt einer Kombination seiner neugierigen und lebhaften Ausstrahlung einerseits und seiner sehr gewählten Ausdrucksweise andererseits. Herr X. wirkt wie ein Sieger – auch wenn er sich selbst anders fühlt. Die ersten Kindheitsjahre verbrachte er mit seinen Eltern auf dem Lande. Seine Mutter war Hausfrau und sein Vater Arbeiter. Als er sieben Jahre alt war, starb, nach längerem Krebsleiden, seine Mutter. Er wuchs bei seinem Vater, der Stiefmutter und deren Tochter aus erster Ehe – also seiner Stiefschwester – auf. Die Zeit zwischen seinem 10. und 16. Lebensjahr war eine sehr schwierige für den heranwachsenden Jungen. Er musste sich arrangieren und in sehr beengten Verhältnissen mit seiner neuen Familie leben. Im Alter von 16 Jahren wurde die Wohnung nebenan frei und konnte von ihm allein bezogen werden. In diesem ersten eigenen Zuhause hatte er endlich ausreichend Raum und konnte seinen Interessen und Bedürfnissen nachgehen. Schwierigkeiten, Ordnung zu halten und sich von Dingen zu trennen, wurden von ihm erstmalig wahrgenommen. Herr X. hat Anfang zwanzig geheiratet und ist Vater zweier Kinder. Vor einigen Jahren wurde seine Ehe geschieden, und er lebt wieder allein. Beruflich ist er sehr engagiert und ambitioniert; selbst ein Studium hat er angefangen.
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3.1. Subjektive Ursachentheorie Er erinnert sich, dass seine Mutter längere Zeit krank und häufig im Spital war; nach ihrem Tod wurde er von einer „Tante“ zur nächsten gereicht – eine stabile Bezugsperson gab es nicht. Den Vater erlebte Herr X. als hilflos und überfordert. „... es gab unterschiedliche, teilweise sehr hilflose Bezugspersonen, dadurch war ich sehr früh für mich selbst verantwortlich ... für das, was ich getan habe ... und so glaube ich, dass ich im Festhalten am Materiellen, habe ich so irgendwie einen Halt, oder eben auch diese Dinge, die ich mitschleppe, das ist jetzt so mein Bezugsrahmen. Das ist eine Erklärung.“
Offensichtlich bieten die Gegenstände Sicherheit und Schutz; Eigenschaften, die sich das Kind damals von seinen Bezugspersonen gewünscht hätte. Vielleicht gewinnen Dinge mehr an Bedeutung, wenn Menschen versagt haben. Heute, auf sein bisheriges Leben zurückblickend, versteht Herr X. sein Messietum als ein Zusammenspiel verschiedener Umstände. „... in der ersten eigenen Wohnung ist es mir aufgefallen, dass ich mit Ordnung oder mit Dingen schwer zurechtkomme ... ich will dauernd umstellen ... ich möchte immer etwas verändern ... es fällt mir auch schwer, Dinge wegzuwerfen und ganz banale Sachen sind einfach wahnsinnig wichtig geworden ... ja eben dieses Aufheben von Dingen ... meine Persönlichkeit hat auch etwas damit zu tun. Ich interessiere mich für wahnsinnig viel, eben ein Informationssammler ... und dann diese Unfähigkeit, mit den Dingen umzugehen ... und das spiegelt sich im Inneren wieder, mit meiner Tagesstruktur, wo ich einfach lange überlege, was mache ich als Nächstes.“
Dass ganz banale Dinge und Gegenstände einen enormen Wert für Messies haben, macht sie in unserer Konsum- und Wegwerfgesellschaft zu Außenseitern. In diesem Sinne schwimmen sie gegen die derzeitig herrschenden gesellschaftlichen Normen: zu erwerben, rasch zu konsumieren und wieder Neues zu kaufen – Messiesein als Protest. „... ich habe das mit dem Trotzalter von Kindern auch nie verstanden. ... ich war immer so trotzig, obwohl ich das Gefühl hatte, ich habe ein berechtigtes Anliegen, und da bin ich mir dann wirklich manchmal ungerecht behandelt vorgekommen – von meiner Mutter, vom Vater, auch von anderen, eben von all diesen Leuten, die damals halt auch mit Kindern
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Selbstbilder anders umgegangen sind. ... ich habe darunter gelitten, dass man mich nicht ernst nimmt, so als Wesen.“
Umso wichtiger erscheint es jetzt, mit diesem Leiden ernst genommen zu werden. Herr X. kennt ausreichend viele Ordnungssysteme und weiß, wie er aufräumen sollte – es ist nicht die Trägheit, die hindert. Das Phänomen ist viel facettenreicher und daher differenzierter zu betrachten. Herr X. berichtet ferner von einer möglichen genetischen Komponente des Messie-Syndroms; vielleicht gibt es doch ein Messie-Gen? Wenn das so ist, wäre man für sein Handeln auch nicht verantwortlich, meint er. „... wie mein Vater mir das erzählt hat von seiner Arbeit – da war mir klar, er hat genau das gleiche Problem ... dass es ihm eben schwer gefallen ist, etwas fertig zu machen, und dass er in seiner Arbeitszeit einen Kollegen hatte ... der ihn immer so, so mitgetragen hat, was ich sehr spannend gefunden habe.“
Die Wunschvorstellung eines Idealzustandes und die Angst vor Veränderung scheinen unüberwindbare Gegensätze zu sein. Die häufig formulierten perfektionistischen Vorstellungen von Ordnungssystemen erschweren eine Veränderung und machen Herrn X. zusätzlich emotionalen Druck. „... es gibt so ein Ideal, so eine Idee, da gibt’s jetzt irgendjemanden, der weiß jetzt genau, was ich bräuchte und hilft mir und unterstützt mich, aber ich glaube, das ist so eine Illusion ... das könnt natürlich therapeutisch passieren.“
3.2. Komorbidität Messies werden die unterschiedlichsten Diagnosen gestellt. Im Folgenden werden mögliche Schwierigkeiten einer differentialdiagnostischen Bestimmung anhand dieser Fallgeschichte kurz dargestellt. Die aufgeweckte interessierte Art von Herrn X., die Unmöglichkeit zu fokussieren und sein manchmal impulsives Verhalten können auch als Hyperaktivität verstanden und in diesem Sinn mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) in Zusammenhang gebracht werden. Das würde zwar verständlich machen, aber nicht rechtfertigen, dass Menschen mit dem Messie-Syndrom häufig diese Diagnose bekommen.
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Nassim Agdari-Moghadam Ein weiteres Beispiel sind die unter dem Abschnitt „Leidensdruck“ beschriebenen zeitweise auftretenden depressiven Stimmungen des Herrn X. Diese sind jedoch als Folge des Messie-Syndroms zu verstehen und nicht als depressive Episoden im eigentlichen Sinn.
3.3. Psychodynamik Verlust/Verlustängste Herr X. hat nicht nur seine Mutter in jungen Jahren verloren, sondern auch, symbolisch gesehen, seinen Vater. Denn dieser wurde von Herrn X. als sehr hilflos, überfordert und versagend erlebt. Er musste sehr früh selbstverantwortlich leben – kann man sich denn auf niemanden und nichts wirklich verlassen? Woher kommt diese Angst, etwas zu verlieren oder sich nicht mehr daran erinnern zu können? Handelt es sich hierbei wirklich um eine Information oder einen Gegenstand? Die Beschreibung lässt doch eher ein Geheimnis, ein schreckliches Erlebnis dahinter vermuten – vielleicht ein Trauma, das nicht vergessen werden darf?! „... ich habe so viele Informationen, wo bringe ich die unter, darf ich die jetzt aus meinem Kopf raustun, darf ich die auch mal wo ablegen, und wo lege ich sie ab ... und wenn ich sie ablege, finde ich sie wieder?“
Besteht der Drang, Informationen zu sammeln darin, endlich etwas wissen und verstehen zu wollen – vielleicht die Erkrankung der Mutter? Die Tatsache, dass es ihm nicht möglich ist, Informationen zu ordnen und abzulegen, wird bei Herrn X. von einem Gefühl der Angst beherrscht. Die Angst, dass „es“ verloren gehen könnte, wenn „es“ nicht bei ihm ist. Daraus entsteht die Notwendigkeit: Informationen und Dinge können ausschließlich in ihm zusammengehalten werden. In diesem Sinn kann das Messie-Phänomen als eine Darstellung der inneren Unordnung, welche nicht mehr gehalten werden kann und daher nach außen verlagert werden muss, verstanden werden.
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Bindung/Beziehung Die Tochter der Stiefmutter aus erster Ehe war nur ein Jahr jünger als Herr X. Die Wohnung bestand aus Zimmer, Küche und Kabinett, das WC war am Gang – in dieser Wohnung lebte die vierköpfige Familie während der Woche. Die Wochenenden verbrachten sie häufig in einem Haus am Stadtrand. „... ich hatte in dieser Zeit keine Freunde ... so hat sich dann zu diesem Mädchen eine Liebe entwickelt ... was natürlich schräg war, weil wir ja Geschwister waren, ja also natürlich nicht wirklich ... es war aber auch sehr schön, weil das für uns beide so ein Lichtblick war. Wir haben beide so vor uns hin gelitten und haben uns dann irgendwie halt ineinander verliebt und haben also ein seltsames Doppelleben geführt, ein paar Jahre lang, und irgendwann war klar, außer dem gemeinsamen Leidensweg gibt’s nichts Gemeinsames zwischen uns. ... dann haben sich unsere Wege getrennt, und wir haben uns nie wieder getroffen.“
Unter dieser Enge, mit sehr wenig Raum, haben sie zwar gemeinsam gelitten, aber sich auch ineinander verliebt. So ist es doch auch beim Messietum: Auf der einen Seite leiden Messies unter einem Druck – ein enormer Leidensdruck, auf der anderen Seite scheint Messiesein mit so viel Lust verbunden zu sein – zu besitzen und zu haben und vor allem nicht loslassen zu müssen. Während seiner fast zwei Jahrzehnte dauernden Ehe hat Herr X. in drei Wohnungen gelebt. Letztendlich sei die Beziehung an der Ordnung, also am nicht vorhandenen Ordnungssystem, gescheitert. „... wir haben es nicht geschafft, Ordnung zu machen ... es ist überall was übergeblieben und nicht fertig geworden ... meine Partnerin hat nie den Ansprüchen genügt, die ich gehabt hätte an etwas: an Ordnung, am Zusammenräumen, am Putzen ... ich hab so das Gefühl gehabt, das ist ja nur ein Symptom – also so Ordnung machen, ist nur ein Symptom, ja für irgendetwas, was wir offensichtlich beide nicht können, und ich hätte das gerne mit ihr irgendwie aufgearbeitet.“
Bekannte, Verwandte und Freunde machen oft konkrete Angebote, um gemeinsam „einmal ordentlich aufzuräumen“. Aber wenn der Betroffene diese Hilfsangebote nicht annimmt, kommt es häufig innerhalb dieser Beziehungen zu großen Auseinandersetzungen und Konflikten.
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Nassim Agdari-Moghadam „... ich möchte im Moment mit niemand anderem zusammenleben ... ich traue auch irgendwie niemanden etwas zu, ich trau schon gar nicht jemandem zu, mir wirklich, also mir wirklich zu helfen.“
Angst/Aggression/Abwehrverhalten Die Beziehung zum Vater ist nach wie vor eine schwierige. Herr X. hat sich durch die erneute Heirat des Vaters im Stich gelassen und unverstanden gefühlt. „... es war einfach blöd, was er gemacht hat. Er hat einfach nicht adäquat reagiert in der Situation, einfach meine Lage nicht richtig eingeschätzt ... er wollte auch gar kein Kind, meine Mutter wollte eines. ... jedenfalls habe ich das mit der Heirat als ziemlichen Vertrauensbruch empfunden ... und habe ihn schnell als jemanden, der mich unterstützt oder mir helfen könnte, abgeschrieben.“
Wie ist das subjektive Erleben eines heranwachsenden Kindes, das sich als nicht gewollt erlebt?! Wenn man an Messies denkt, hat man das Bild von überfüllten und unordentlichen Wohnungen vor sich. Wofür stehen all die Gegenstände? Werden etwa unausgesprochene Worte durch Dinge ersetzt? „... das ist jetzt wirklich eine Vermutung, aber es wird passen, dass die Mutter so an dieser Sprachlosigkeit zu meinem Vater gelitten hat. Also, ich habe auch das Problem, dass ich mit ihm schwer reden kann ... mein Vater behauptet steif und fest, sie hätten nie gestritten, und das kann ich mir einfach nicht vorstellen, nie Streiten klingt so, als hätte es nie Konflikte gegeben.“ „... ja, meine Eltern waren schon auch streng, also da gab es eine unausgesprochene Moral, obwohl der Umgang sehr freundlich und gewaltfrei war ... zum Beispiel etwas kaputt zu machen ... es war immer klar, dass das etwas ganz Schlimmes ist.“
Es könnte einen Zusammenhang zwischen den unausgetragenen Konflikten und dem unausgesprochenen Verbot, etwas zu zerstören, geben. Wie geht man mit Meinungsverschiedenheiten und zwischenmenschlichen Schwierigkeiten innerhalb der Familie um? Wie darf Aggression gelebt werden? Darf es so etwas überhaupt geben? „... meine Mutter zum Beispiel, die hatte bereits Operationen hinter sich und eben eine Brust abgenommen ... und sie hat noch immer die Betten in
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Selbstbilder der Früh gemacht. Man steht in der Früh auf, dann tut man sie auslüften, und dann macht man sie irgendwie so schön, als ob man sie fotografieren möchte für einen Katalog, und die hat mit aller Gewalt ... also, sie hat sich kaum bewegen können ... hat sie diese Bettdecken völlig glattgestrichen, und da hat sie ganz fein säuberlich die Polster ausgerichtet und so ... jetzt denke ich mir, das kann so was gewesen sein, so nach dem Motto, ich kann das noch, obwohl ich krank bin, oder auch ein völlig irres Festhalten an idiotischen Vorgaben, ja also was Ordnung betrifft. Also da gibt es also eben dieses wahnsinnig Perfektionistische, das hat sie aber auch originell gemacht.“
Vielleicht ist das Messie-Phänomen bei Herrn X. ein Versuch, aus diesen familiären Mustern auszubrechen und nicht nach „idiotischen Vorgaben der Ordnung“ zu leben. „... ich verbeiße mich so in eine Idee, und ich habe Angst davor, dass, wenn es fertig ist, es mir dann nicht gefällt, und ich es dann aber nicht schaffe, wieder zu ändern ... so im Sinne von fertig werden, und dann gibt es eben dieses Ordnungsproblem, dass ich eben wirklich nicht weiß, wie ich Unterlagen sinnvoll ablege ... “
3.4. Leidensdruck Der Leidensdruck scheint ein sekundärer zu sein, also nicht so sehr bedingt durch die Unordnung oder die Dinge selbst, sondern vielmehr dadurch, dass man nichts mehr findet und Fristen versäumt. „... es geht mir dabei schlecht, ganz schlecht ... schon Tage davor geht es mir nicht gut, ich bin blockiert, aber ich schaff es nicht, mich hinzusetzen und diese Arbeit anzugehen. Es kommt irgendwo der Punkt, wo es nicht mehr gesund ist, also gesund ist es so und so nicht, aber ich für mich spüre, dass ich so nicht mehr weitermachen will. Ich möchte eine Grenze setzen ... dieser Druck, der ist sehr unangenehm ... das ist dann doch eigentlich nicht so, wie ich leben möchte.“
Herr X. ist sowohl beruflich als auch in seinem Freundeskreis sehr engagiert, aber wenn er allein in der Wohnung ist, befällt ihn ein Gefühl der Enge. „... es ist ja nicht so, dass ich das alles nicht sehe ... dann habe ich das Gefühl, ich bin völlig gefangen, und dann hänge ich da und könnte eigent-
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Nassim Agdari-Moghadam lich was tun, und tu es nicht, und dann fang ich so richtig schön an, mich in eine Depression reinzugraben.“
Er beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit diesem Problem der Unordnung und des Hortens – aber jetzt hat dieses Phänomen einen Namen und kann bezeichnet werden – das erleichtert ihn sehr. „... ich habe jetzt einen Namen dafür und trau mich mit mehreren Leuten reden, das ist schon so ein Punkt ... ich hab so das Gefühl, dass es schwer ist, so rüberzubringen, dass ich, obwohl ich noch sehr gut im Leben steh, keine gravierenden Probleme habe, dass ich trotzdem ein massives Problem hab. Also, das macht es so schwer ... so anderen auch zu erzählen oder glaubhaft zu machen.“
3.5. Zusammenfassung Am Beispiel des Herrn X. sieht man, dass das Messie-Phänomen nicht unbedingt mit dem Vermüllungssyndrom, das häufig in den Medien dargestellt wird, im unmittelbaren Zusammenhang stehen muss. Er ist ein belesener, gebildeter Mann, der beruflich erfolgreich ist, und trotzdem hat er ein Problem, das ihn sein ganzes Leben begleitet und belastet. Trotz des frühen Verlustes der Mutter und des von ihm als versagend erlebten Vaters hat er sein Leben bisher gut gemeistert. Er hat seine Ausbildung beendet, war immer berufstätig und engagiert und hat eine Familie gegründet. Herr X. sammelt eigentlich gar nichts; er kann sich nur von Dingen und Informationen nicht trennen. Wie unter dem Abschnitt Verlust und Verlustängste beschrieben, besteht die Annahme, dass die Dinge, wenn sie nicht von ihm zusammengehalten werden, verloren gehen. Unter diesem Blickwinkel ist das Anhäufen jedoch nur als eine Konsequenz des Phänomens zu verstehen und nicht als ein Sammeln an sich.
4. Abschließende Überlegungen Die Äußerungsformen des Messie-Sydroms sind, wie diese Fallbeispiele auch aufzeigen konnten, sehr vielfältig und variantenreich. Das Phänomen ausschließlich als ein „Sammel- und Ordnungsproblem“ zu beschreiben,
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Selbstbilder wäre zu einfach – vielmehr sollte das Interesse dem Dahinterstehenden gelten. Welche Bedeutungen haben all diese Dinge und Gegenstände für die Betroffenen?
5. Literatur Böhm A. Theoretisches Codieren: Textanalyse in der Grounded Theory. In: U Flick, E von Kardorff, I Steinke (Hrsg.). Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Rohwolt (2003) Flick U. Qualitative Sozialforschung: eine Einführung. Rohwolts Enzyklopädie (2002) Glaser B, Strauss A. Grounded Theory, Strategien qualitativer Forschung, 2. Auflage. Huber (2005) Glinka HJ. Das narrative Interview: eine Einführung für Sozialpädagogen. Juventa (2003) Legewie H. Globalauswertung von Dokumenten. In: Boehm A, Mengel A, Muhr T (Hrsg.). Texte verstehen. Konzepte, Methoden, Werkzeuge. Universitas (1994) Mayring P. Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, 9. Auflage. Beltz (2007) Strauss A, Corbin J. Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Beltz (1996) Schütze F. Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis (1983) Wiedemann P. Erzählte Wirklichkeit: zur Theorie und Auswertung narrativer Interviews. Beltz PVU (1986)
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Fallgeschichten Elisabeth Vykoukal
die ohnmacht der therapien
die sich und anderen nicht verzeihen können die keine hilfe annehmen die alles was ihnen gut täte meiden müssen für diese qualen und ihre ursachen gibt es viele lateinische bezeichnungen habilitationen lehrkanzeln denen die sich bestrafen wollen nützt das aber gar nix die therapien blühen die neurosen aber auch Elfriede Gerstl, Jänner 20061
1 Elfriede Gerstl, mein papierener garten, Literaturverlag Droschl, Graz Wien, 2006, S. 53. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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Elisabeth Vykoukal Anlässlich der 1. Österreichischen Messie-Tagung im November 2006 hat Elfriede Gerstl aus ihren Gedichten gelesen. In der Vorbereitungsphase für die Tagung hat sie mir den oben zitierten Band geschenkt. Dieses Gedicht habe ich markiert, es ist wesentlich für meine Arbeit als Psychotherapeutin. Es weist mich darauf hin, wie schwierig diese Arbeit ist. Psychotherapie bringt die existenziellen Grundlagen der Patienten in Aufruhr. Ihre Symptome sind nicht nur schmerzhaft, sondern auch eine Überlebenshilfe, sie sind Grundlagen ihres Selbstverständnisses und ihres Handelns in der Welt. Psychotherapie kann keine allgemeingültigen, ewigen und einfachen Lösungen bieten und der Not ein Ende setzen. Auf das soziale und kulturelle Umfeld unserer Patienten, das so oft ihr psychisches Elend verursacht, haben wir keinen Einfluss. Wir können nur erwarten, dass unsere Patienten – als Resultat der Therapie – auch in die Lage gesetzt werden, Veränderungen in ihrer Umwelt zu bewirken. Wir arbeiten mit jenen, die ihren Bezug zur Welt verloren haben oder nie ausreichend entwickeln konnten. Aber sie unterscheiden sich von vielen anderen, die in einer ähnlichen Lage sind. Unsere Patienten sind bereit, uns einzubeziehen in ihre Verzweiflung und in ihr Bedürfnis nach Trost und Veränderung. Jede Erkenntnis, die wir über psychisches Leid und mögliche Veränderung erwerben, verdanken wir dem Vertrauen und der Offenheit unserer Patienten, die uns teilnehmen lassen an ihrer Entwicklung. Die Auseinandersetzung mit den alltäglichen Dingen ist für Messies eine schwierige Aufgabe, eine tägliche Herausforderung, die ihr Leben bestimmt. Das Selbstverständliche wird übermächtig und verlangt ein Ausmaß von Aufmerksamkeit, das alles überschattet. Messies weigern sich, die Dinge nur nach ihrem Nutzen zu beurteilen, sie machen sie zu Wertgegenständen – unabhängig davon, ob sie für andere Menschen oder auf Grundlage gesellschaftlicher Konventionen einen Wert haben. Sie meinen mit den Dingen sich selbst – identifizieren sich mit dem Wert, den sie geben können und geben sich selbst damit einen neuen Wert. So finden sie Ausdruck für ihre persönliche und einzigartige Art, in dieser Welt zu leben und sie zu begreifen. Ich denke, es geht in der Therapie darum, von diesem Ausdruck auszugehen, ihn zu verstehen und ihn in etwas Neues, Gemeinsames umzuwandeln, das keine Schutzwälle von Dingen mehr erfordert. Frau B. hat einen großen Haushalt zu führen, mit mehreren Kindern und einem beruflich sehr ausgelasteten Ehemann. Die Tage sind voll mit Aufgaben vielfacher Art für andere, sie ist dauernd konfrontiert mit Ansprüchen der anderen und bestrebt, diesen nachzukommen. Sie möchte effizient sein,
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Fallgeschichten alles rasch erledigen, nichts Wichtiges vergessen, nichts verlieren oder verlegen, was noch brauchbar ist. Auch ökonomisch bildet die Kinderschar eine Herausforderung: Kleidung, Nahrung, Schulbesuch und alle damit zusammenhängenden Anschaffungen lasten auf ihr. Der Umfang der Tätigkeiten und die große Menge der Dinge, mit denen sie sich auseinanderzusetzen hat, führen zu Überlastung. Am Morgen fällt es ihr schon schwer zu beginnen, alles zu finden, was für den Aufbruch der Kinder erforderlich ist, sich auf Einkaufen, Kochen, Bereitstellen von Dingen für Spiel und Schulaufgaben zu konzentrieren. Gleichzeitig berichtet sie, dass es ihr auch guttut in dieser Menge von Dingen und Tätigkeiten „verloren“ zu gehen, nicht an ihre Angst vor dem Versagen, an ihre Zweifel über den Sinn ihrer Tätigkeiten und ihres Lebens rühren zu müssen. Die große Menge von Aufgaben, die zu bewältigen sind, schützt sie davor, ihre eigenen Bedürfnisse, ihre Nöte und Wünsche zu erleben. Denn vielleicht müsste sie dann manches verweigern und hätte unabsehbare Konflikte vor sich, vielleicht sogar die Gefährdung ihrer materiellen Existenzgrundlage. Sie ist ja schon lange tätig im Dienst der Familie und hat keinen selbstständigen Bereich außerhalb dieses Rahmens. Mit der Zeit fällt ihr auf, dass sie in ihrem aktuellen Alltagsleben eine Kindheitserfahrung reproduziert. Ihre Mutter war schwer krank, die Tochter war eine Last für sie. Sie war zwar die einzige, stellte aber eine ständige Überforderung für die Mutter dar. Oft war sie bei den Großeltern, für die sie auch eine zusätzliche Belastung war. Es gab keinen behüteten Raum für ihre eigene Entwicklung, und sie erinnert sich an niemanden, der ihre Aktivitäten, Wünsche oder Interessen beachtete oder sich daran beteiligte. Schon damals kreierte sie für sich ihre Welt aus den Dingen, die sie vorfand. Eine der Schwierigkeiten von Frau B. ist es, Entscheidungen zu treffen, wenn es darum geht, Platz zu schaffen, sich von manchen Dingen zu trennen. Sie hat ein Vorsortiersystem entwickelt, aber dann bleibt noch immer die letzte Entscheidung: Was wird weggeworfen? Da ihr die Entscheidung zu schwerfällt, hat sie einen Weg gefunden, diese Entscheidung nach außen zu verlagern. Sie wirft eine Münze: Kopf bedeutet „behalten“ und Adler bedeutet „wegwerfen“. Jeden Tag wirft sie das Los über fünf bis zehn Dinge, die sie vorher sorgfältig auswählen muss. Bei Frau B. zeigt sich, dass es wichtig ist, Zeichen und Beteiligung von der Außenwelt zu erhalten, eine Bestätigung in der Entwicklung ihrer Welt, die sie mit ihren Dingen strukturiert. Sie finde auch Freundinnen und Messie-Coaches, die sie beim Aufräumen durch Beobachtung unterstützen, und heute bezeichnet sie sich als geheilt, obwohl sie meint, dass sie noch immer mehr Dinge besitzt als die meisten anderen Menschen.
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Elisabeth Vykoukal
Ein Patient ruft an, weil er als Messie gern eine Therapie machen möchte. Er ersucht mich, bevor wir beginnen – vor dem Erstgespräch – einen Besuch bei ihm zu machen. Er möchte sehen, wie ich auf seine „Wirtschaft“ reagiere, bevor er sich entschließt. Ich stimme zu und sage, dass ich 45 Minuten bleiben werde. Er lebt in einer gutbürgerlichen Gegend in einem schönen, alten Mietshaus mit etwa zwanzig Wohnungen. Seine Wohnung sehe ich fast vollständig. Den Vorraum hat er für mich vorbereitet, etwas breiter gemacht, indem er einiges, was dort gestapelt ist, in Koffer gepackt und vor die Eingangstür gestellt hat. Er zeigt mir die Küche, die ordentlich, aber sehr klein ist. Neben der Küche befindet sich ein kleiner Raum mit einem schmalen Bett, das ist der Raum, in dem er schläft und sich auch hauptsächlich aufhält, wenn er daheim ist. Derartige Räume waren früher Dienstbotenzimmer und werden heute oft als Abstellräume benützt. Der Rest der Wohnung ist relativ vollgeräumt. Ein Raum ist nicht mehr begehbar, aber die Tür lässt sich öffnen. Es zeigen sich ein paar Regale mit Büchern und Ordnern. Der Boden ist bedeckt mit Büchern und Zeitschriften. In der Mitte des Zimmers erhebt sich ein Berg von Taschen und Koffern. Der Mann erzählt von seinem Berufsleben als Reisender, der immer wieder aus Koffern gelebt hat. Die Wohnung wurde hauptsächlich von seiner Mutter bewohnt. Er kam für Zwischenstopps, auf dem Weg von einem Arbeitsort zum anderen. Immer hat er Material für die Wiener Zentrale des Unternehmens mitgebracht. Er hatte eine wesentliche Funktion in der Information der anderen Mitarbeiter. Auch jetzt, nach seiner Pensionierung, sammelt er möglichst viele Informationen, um sie weitergeben zu können. Viele Berufskollegen fragen ihn immer wieder um Rat, und er ist froh, wenn er ihnen zu Diensten sein kann: mit Zeitungsausschnitten, Berichten, Artikeln, Ankündigungen von Vorträgen und Weiterbildungsangeboten. Bis zum Tod seiner Mutter hatte sie die Fülle der Dinge eingedämmt, nur den einen Raum mit den Reisetaschen hatte sie gemieden – das war sein „Saustall“. Jetzt scheint sich dieser Zustand auf die ganze Wohnung auszubreiten, bis auf jenen Bereich, der zum Überleben nötig ist, die Küche, das Bett, das Bad. Am Ende der Besichtigungstour stehen wir wieder im Vorraum, er sieht mich an und sagt: „Sie scheinen das Durcheinander tatsächlich auszuhalten, ich möchte bei Ihnen beginnen.“ Eine gebildete, lebhafte, elegante Frau wendet sich an mich. Seit einigen Jahren gelingt es ihr nicht mehr, ihre Wohnung in Ordnung zu halten. Sie kauft viel Kleidung, ihre Schränke sind überfüllt. Die alten Stücke kann sie nicht weggeben, weil sie schön sind und sehr teuer waren. Sie kann sie nicht
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Fallgeschichten mehr tragen, weil sie nicht mehr modisch sind und sie sich nicht mehr wohl in ihnen fühlt. Die neuen Kleider hängen außen an den Schränken, teilweise an Türen und Fenstern, auf den Möbeln im Wohnzimmer und im Gästezimmer auch auf dem Boden. Das Reinigen der Wohnung ist äußerst aufwendig, weil jeder Raum ausgeräumt werden muss, bevor er gereinigt werden kann. Ein Großteil der Freizeit wird mit Putzen verbracht. Gäste kann sie nicht mehr einladen. Besuche bei Freunden schränkt sie ein, weil sie keine Gegeneinladung aussprechen kann. Immer wieder macht sie Pläne zur Behebung der Überfüllung: Sie überlegt, eine zweite Wohnung zu mieten, um die alten Kleider dort zu lagern. Sie macht Listen von Personen, denen sie etwas überlassen könnte, aber letztlich erscheint ihr niemand würdig. Es wäre nur möglich, sich von Dingen zu trennen, wenn diese anderswo gut aufgehoben wären. Am wohlsten fühlt sie sich, wenn sie verreisen kann. Sie braucht nicht viele Dinge, wenn sie verreist. Dann packt sie bloß einen Koffer, auch wenn die Reise vier Wochen dauern soll. Solange sie fort ist, ist sie glücklich, denkt an die Dinge, die sie daheim – in Sicherheit – hat und freut sich über das, was sie benützen wird, wenn sie zurückkommt. Kaum kehrt sie heim, wird sie überschwemmt von der kaum überschaubaren Menge. Hilflos steht sie allein zwischen allen Dingen. Ihr hilft nur der Rückzug ins Bett oder vor den Fernseher. Begonnen hatte das Leiden mit dem Tod der Mutter. Damals hat sie vieles aus deren Besitz zu sich genommen. Obwohl ihr die Kleidung der Mutter zu groß ist, bringt sie es nicht übers Herz, sie weiterzugeben oder zu verkaufen. Sie ließ neue Schränke bauen und konnte alles verstauen. Die Wohnung blieb frei, es war bloß schwierig, in den Schränken etwas zu finden. Nach dem Tod ihres Ehemanns verschlimmert sich die Situation, sie kauft viel mehr ein, verliert immer mehr die Übersicht. Die Patientin spricht vom „Wuchern“ der Dinge in ihrer Wohnung, sie haben eine Art Eigenleben entwickelt und breiten sich aus – ihrem Empfinden nach – ohne ihr Zutun. Sie selbst geht darin verloren und findet keinen Halt. Wenn sie ans Aussortieren denkt, dann denkt sie zunächst immer an den Nachlass ihrer Mutter und ihres Ehemanns. Aber gerade diese Dinge kann sie nicht aufgeben, denn dann würde sie jenen Teil ihres Lebens verlieren, der ihr am meisten bedeutet hat. Sicher und wertvoll hat sie sich nur in ihren Bindungen gefühlt, ohne die ist sie ein Nichts. Aber sie ist sich auch ihrer eigenen Erinnerung an die Verstorbenen nicht sicher. Sie möchte alles bewahren, damit sie nichts vergisst. Wenn sie auf Reisen ist, ist das anders, dann hat sie manchmal das Gefühl, dass die beiden daheim auf sie warten, und gelegentlich kauft sie ihnen sogar ein Souvenir.
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Elisabeth Vykoukal Frau I. berichtet, dass sie ihre Wohnung nur als Stützpunkt verwendet. Sie benötigt die Wohnung bloß zur Aufbewahrung von Kleidung, Modeschmuck, Informationsmaterial. Ihr Leben spielt sich außerhalb ab. Sie besucht Kulturveranstaltungen aller Art: Ausstellungen, Konzerte, Theater. Sie ist aktiv in der Entwicklung ihrer kreativen Kapazitäten: in Musik-, Mal- und Kunstgewerbegruppen. Die Zeit ist ihr immer zu knapp, ihre Freundschaften pflegt sie in Zusammenhang mit ihren außerhäuslichen Aktivitäten. Die Kinder werden nicht eingeladen, wohl aber besucht und auch mit diversen Tätigkeiten unterstützt. Sie selbst fühlt sich eigentlich wohl in ihrem Leben; es stört sie nicht, dass sie in der Wohnung nur schmale Gänge zur Verfügung hat und dass es kaum möglich ist, defekte Geräte zu reparieren, da Handwerker kaum Zutritt finden können. So hat sie auch eine Zeit lang ohne Koch- und Heizgelegenheit recht gut gelebt. Ihren Kindern zuliebe sucht sie psychotherapeutische Hilfe. Sie nimmt an Gruppen teil und ist wegen ihrer Vielseitigkeit und Aufmerksamkeit sehr beliebt. Deutlich wird, dass sie Angst hat, sobald es um sie selbst geht, ihre eigenen Gefühle und Wünsche, ihre Enttäuschungen und Verletzungen. Wenn sie nach ihrer Kindheit gefragt wird, berichtet sie von hübschen Kleidern und schulischen Erfolgen. Beiläufig erwähnt sie, dass sie viel sich selbst überlassen war, weil die Mutter schwer zu arbeiten hatte. Auch die enttäuschende Ehe stellt sie als überwunden dar. Wichtig ist die Gegenwart und alles, was ihr Interesse erregt, sie weg bringt von der Wohnung, in der sie keinen Platz hat und in der niemand auf sie wartet. Frau H. fühlt sich als Messie, weil es ihr nicht gelingt, ihren Schreibtisch in Ordnung zu halten. Sie ist ein sehr ordentlicher Mensch und führt den Haushalt für ihre Familie perfekt. Sie ist auch in der Lage, alte Dinge auszusortieren, Schränke in Ordnung zu halten und nur das zu besorgen, was sie braucht. Den Schreibtisch verwendet sie beruflich, sie hat das Geschäft ihrer Mutter übernommen und macht die Büroarbeiten dafür daheim. Es stapeln sich Werbematerialien, Belege für die Steuer, Rechnungen, die zu bezahlen sind, Belege, die zu überprüfen sind, Korrespondenz mit Ämtern, Kunden, Lieferanten, Bank und Versicherung. Jeden Abend sitzt sie daran, oft bis spät in die Nacht. Aber sie kommt mit den Papieren nicht zurande. Immer wieder übersieht sie Termine, vergisst, Rechnungen zu bezahlen, Bestellungen durchzuführen oder wichtige Anfragen zu beantworten. Sie erzählt viel vom Schreibtisch und ihrer Verzweiflung über ihre Unfähigkeit, aber sie berichtet nichts über das Geschäft selbst. Als ich nachfrage, reagiert sie irritiert, sie meint, das tue nichts zur Sache; entscheidend wäre ihre Unfähigkeit, sie würde sich genauso verhalten, wenn sie Socken oder Lebensmittel zu ver-
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Fallgeschichten kaufen hätte. Sie macht klar, dass es keinen Weg für sie gibt, mir anzuvertrauen, womit sie ihr Geld verdient. Ich entscheide mich, nicht weiter nachzufragen. Aber ich frage nach, warum sie dieses Geschäft übernommen hat und wie sie sich an die Geschäftsgebahrung der Mutter erinnert. Sie ist die älteste Tochter, hat sich der Mutter immer sehr nahe gefühlt. Die Mutter hat die Familie versorgt, mit dem Geschäft die materielle Grundlage für die Familie geschaffen, der Vater hat mitgearbeitet und bald auch die älteste Tochter. Es war selbstverständlich, dass sie übernehmen musste. Die Geschwister sind ihre eigenen Wege gegangen, haben sich nicht so verbunden gefühlt. Sie wollte ihre Mutter nicht enttäuschen, obwohl sie sich eigentlich auch für etwas anderes interessiert hätte. Sie hätte gerne Literaturwissenschaften studiert. Mittlerweile arbeitet sie nicht so ungern in dem Betrieb, obwohl es ihr peinlich ist, und sie findet, dass diese Arbeit nicht wirklich zu ihr passt. Bis heute habe ich nicht erfahren, was Frau H. macht. Aber Frau H. hat erfahren, dass sie ihre Mutter geliebt und auch gehasst hat, dass sie sich abhängig gefühlt hat und auch überlegen. Sie kann die materielle Grundlage jetzt besser annehmen, die ihr die Mutter übergeben hat, und sie muss nicht mehr Chaos machen, um sich für ihre Wut zu bestrafen.
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Angehörige von Messies Gina Borsos, Robert Gruber
1. Gründung der Selbsthilfegruppe für Angehörige von Messies Der Fokus der Arbeit mit Messies lag in den ersten beiden Jahren primär bei den Messies und bestand aus Gruppenangeboten, Einzeltherapien, der Messie-Hausbetreuung und der Messie-Tagung. Doch im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass es eine weitere Gruppe von Betroffenen gibt, die bis jetzt nicht berücksichtigt worden waren: die Angehörigen von Messies. Daher erfolgte zwei Jahre nach Beginn der Messie-Therapieangebote die Gründung der Selbsthilfegruppe für Angehörige von Messies an der SFU durch die beiden Autoren dieses Artikels.
2. Die Situation der Angehörigen von Messies Menschen, die nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kommen, haben unterschiedliche Strategien, ihre Spannungen abzubauen und sich zu erholen. Sie legen sich auf die Couch, lesen gemütlich ein Buch, sie kochen sich etwas, das sie gerne essen. Für die meisten Menschen ist das etwas Selbstverständliches. Doch Partner und Kinder von Messies erzählen etwas anderes. Sie berichten, dass sie keinen Rückzugsbereich mehr haben. Sie kommen nach Hause und haben diese Möglichkeiten nicht, sich zurückzuziehen oder zu entspannen. Die Couch ist voller Gegenstände, vom Tisch ganz zu schweigen. Sie können sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann sie zum letzten Mal eine warme Mahlzeit gemeinsam mit dem Partner an einem Tisch einnehmen
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Gina Borsos, Robert Gruber konnten, da dafür nirgends Platz ist. Die Wohnungen sind meistens so voll, dass man beim Gehen aufpassen muss, wo man noch hintreten kann und wo noch ein freier Platz ist. Der Messie schafft es immer wieder, tagein, tagaus, die Wohnung anzufüllen. Angefangen mit Prospekten, Elektrogeräten, Handys, Zeitungen bis zu Zahncreme, Shampoos, Lebensmitteln, Kabeln, EDV-Zubehör etc. „Wir haben die neuesten Produkte zuhause und alles in mehrfacher Ausführung, und wenn ich etwas wegschmeiße oder wegräume, zum Beispiel in den Keller, merkt das mein Partner sofort.“
Wenn dieser Zustand zu lange dauert, wird es verständlich, wenn die Angehörigen schließlich keine Lust mehr haben, Ordnung zu halten. Ein Satz, der mir sehr lebhaft in Erinnerung geblieben ist, war von einem betroffenen Partner: „Würde es mich nicht geben, würde mein Mann in einem Schweinestall leben, so leben wir nur in einem Kuhstall.“ Für alle Angehörigen gleich ist die Schwierigkeit, mit den Besonderheiten des Messie-Syndroms umgehen zu lernen. Es entsteht manchmal der Eindruck, dass Messies mit ihrem Problem deutlich leichter zurechtkommen als die Angehörigen. Ein Angehöriger, der an beiden Gruppen (der Angehörigen- und der Messies-Gruppe) teilgenommen hatte, bemerkte: „Also eines muss ich schon sagen: oben [in der Messies-Selbsthilfegruppe] ist der Leidensdruck deutlich kleiner als hier.“ Hier ist zum einen das Problem der ständig gebrochenen Versprechen. Der Messie verspricht, dass er „das eh gleich wegräumen wird.“ Aber das Wegräumen findet nie statt. Das Nicht-einhalten-Können von Versprechen erstreckt sich aber auch bis hin zu nicht eingehaltenen Terminzusagen, nicht erledigten Besorgungen ... Hier wird sichtbar, dass einem Messie seine Versprechen schnell zu viel werden, dass er es besonders perfekt machen will und sich schließlich von all den vielen Verpflichtungen erschlagen fühlt. Eine besondere Schwierigkeit stellen für einen Angehörigen die Rationalisierungen dar, mit denen ein Messie begründet, warum er genau dieses eine Stück nicht wegwerfen kann. All diese Begründungen, warum etwas nicht wegkommen kann, wirken für einen Nichtmessie als Ausreden. Oftmals wird für die Angehörigen aber auch hier bereits das Krankheitsbild sichtbar. Es ist für die Angehörigen dennoch oft schwer auszuhalten – zu spüren, dass der andere es ernst meint, aber zugleich zu wissen, dass diese Begründung nicht objektiv wahr sein kann.
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Angehörige von Messies Eine weitere Diskrepanz ist für die Angehörigen oft wahrnehmbar, wenn ein Messie auf der einen Seite beteuert, dass „eh alles in Ordnung ist“, zugleich aber niemanden in die Wohnung lässt, nicht den Rauchfangkehrer, nicht den Installateuer, aber auch keine Verwandten und Freunde. Messies wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist, und zugleich wollen sie es nicht wissen. Viele Angehörige unterdrücken seit Jahren ihre Aggressionen. Der Messie hat keine Einsicht und will über dieses Thema nicht reden, da er einfach das Problem nicht sieht, verdrängt und leugnet oder einfach nicht sehen will bzw. kann.
2.1. Partner von Messies Bei Partnern ist der größte Leidensdruck spürbar, denn Messies nehmen dem Partner den Lebensraum. Obwohl sie oft seit Jahrzehnten ihren Messies hinterherräumen, schaffen sie es einfach nicht, Ordnung in der Wohnung zu halten. Sie fühlen sich wie billige Arbeitskräfte und meistens sehr ausgenutzt. Der Messie selbst hat im Allgemeinen auch kein Problem. Ein Problem entsteht für ihn mit dem Partner, der den Zustand nicht mehr aushält, oder mit anderen Familienangehörigen, die Druck auf ihn ausüben, „doch endlich aufzuräumen“. Für die Partner besonders schwierig nachzuvollziehen ist die Beziehung, die ein Messie zu seinen Dingen hat, die manchmal sogar in eine Identifikation des Messies mit den Dingen selbst mündet: „Wie ich das weggeworfen hab, hat er mir gesagt: ‚Du wirfst ja mich aus der Wohnung!’“
Ein Großteil der Partner von Messies, die an der Selbsthilfegruppe für Angehörige an der SFU bis jetzt teilgenommen haben, haben Zweitwohnungen, in die sie von Zeit zu Zeit flüchten. Diese Flucht erzeugt jedoch wieder Schuldgefühle, denn oft spüren die Angehörigen, dass ihr Partner Hilfe braucht, und sie wollen ihm auch helfen. Dieses Hilfsangebot wird aber sehr oft abgelehnt und als Angriff betrachtet. Eine Lösung ohne Krankheitseinsicht des Messies ist hier nur schwer vorstellbar. Und wenn die Partner sich schließlich zu wehren beginnen, wird aus der Beziehung schnell ein Machtkampf. Es ist auch zu beobachten, dass Messie und Partner zusammenpassen. Die Frage, die sich die Partner im Lauf der Gruppentherapie immer wieder stellen, ist: „Warum lasse ich mir vom anderen den Lebensraum nehmen?“ Oft
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Gina Borsos, Robert Gruber gibt es hier eine bittere Erkenntnis: Die Wohnung spiegelt das Verhältnis wieder, das die beiden in ihrer Beziehung auch so leben – einer nimmt den Raum, der andere gibt ihn. Und eine weitere Frage, die sich immer wieder stellt, ist: „Wieso bleibe ich bei meinem Messie-Partner?“
2.2. Verwandte von Messies Natürlich kommen nicht nur betroffene Partner in die Selbsthilfegruppe, sondern auch Eltern, Kinder, Geschwister und andere Verwandte. Auch wenn sie mit dem Messie nicht unter einem Dach leben, ist der Leidensdruck groß. Sie machen sich Sorgen und bieten ihre Hilfe an, und sie erleben permanent Ablehnung. Ein Ehepaar berichtet von seiner Tochter: „Unsere jüngste Tochter ist ein Messie. Sie arbeitet nicht, schläft den ganzen Tag, und in der Nacht geht sie aus oder schaut fern. Sie lässt niemanden mehr in die Wohnung, auch uns nicht.“
Die Eltern machen sich große Sorgen und stellen sich immer wieder die Frage, was sie falsch gemacht haben. Hier steht der Wunsch im Vordergrund, das Kind nicht verlieren zu wollen, den Kontakt nicht abbrechen zu lassen, ihm auf seinem Weg zu helfen, aber zugleich mit ihren Möglichkeiten nicht mehr weiterzukommen. Die umgekehrte Situation erleben die Kinder von Messies. Eine betroffene Tochter erzählte: „Ich habe meine Kindheit in einem vollgeräumten Haus verbracht. Ich konnte nie jemanden einladen und habe auf leeren Milchpackerln geschlafen.“
Ein Sohn berichtet von seinen Eltern, die geschieden und beide Messies sind. Oftmals drehen sich hier die Rollen von Eltern und Kind um. Der Messie übernimmt die Rolle des Kindes, und die Kinder übernehmen die der Eltern. Sie müssen sich ständig um die Eltern kümmern. Sie befürchten, dass die Eltern die Wohnung verlieren oder dass es zu brennen beginnt. Doch wenn sie mit ihnen darüber reden wollen, stoßen sie meistens auf taube Ohren, da die meisten Messies keine Einsicht haben. Es gab auch einmal den Fall, dass eine Tochter die Wohnung ihrer Mutter entrümpeln ließ, als diese im Krankenhaus gewesen ist. Die Tochter erzählte: „Ich werde nie den Gesichtsausdruck meiner Mutter vergessen, als sie in die geräumte Wohnung kam, wir haben sie sehr schön hergerichtet und
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Angehörige von Messies gereinigt. Das Gesicht meiner Mutter war total leer und ausdruckslos, als hätte ich ihr die Freude in ihrem Leben genommen. Ich weiß nicht, ob das richtig oder falsch gewesen ist.“
Die Kinder sind selbst oft noch verstrickt in Ablöse- und Aufarbeitungsprozesse. Hier ist es wesentlich, daran zu denken, dass das Zusammenleben mit Messie-Eltern oft sehr belastend und prägend war und auch lange nach dem Auszug aus dem Elternhaus noch nachwirkt. Betroffen machende Botschaften sind zum Beispiel im Internet auf der Seite www.childrenofhoarders.com zu finden: „Wenn es an der Tür läutet oder wenn jemand an meine Tür klopft, macht mein Herz einen Sprung. Instinktiv schaue ich mich panisch um, um zu sehen, wofür ich mich schämen muss.“ „Einmal bin ich mit drei Einkaufstaschen nach Hause gekommen, und auf einmal hab ich mir gedacht: ‚Um Gottes willen, ich werde wie sie!‘ Ich habe alles weggeworfen und nicht einmal mehr hineingeschaut.“
Einfacher wird es, wenn das Messietum erst sehr spät begonnen hat und ein Begleitsymptom einer beginnenden Demenz ist. Hier war oft zu beobachten, dass eine Hilfe durchaus möglich war und die Eltern sie von ihren Kindern angenommen haben (also die Kinder zum Beispiel aufräumen ließen). Hier war vom Messie ein „Ich schaff das nicht“ zu beobachten, das bewirkte, dass er sich von seinem Kind, dem er doch vertraute, helfen ließ.
3. Hilfe durch die Selbsthilfegruppe Die Selbsthilfegruppe bietet für die Angehörigen einen Rahmen, wo sie über ihre Probleme reden können. Das haben sie oftmals seit Jahren nicht getan, da es ihnen einerseits unangenehm war, weil sie sich schämten, und ihre Anliegen, wenn sie sich einmal geöffnet hatten, von den Leuten bagatellisiert wurden: „Das wird schon wieder, ich kann dir ja beim Zusammenräumen helfen.“ Die Angehörigen fühlen sich missverstanden und in ihrem Problem nicht wahrgenommen. Es kommt aber auch immer wieder vor, dass neue Gruppenmitglieder kommen, jedoch auch etwas enttäuscht wieder gehen. Sie erwarten von der Gruppe oder insbesondere von der Leitung, dass diese ihr Problem löst bzw. ihnen sagen wird, wie sie das Problem lösen können. Die Realität sieht aber anders aus. Die Gruppe kann für die Angehörigen in erster Linie dazu dienen, sich selbst besser zu verstehen, die eigenen Bedürf-
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Gina Borsos, Robert Gruber nisse zu erkennen und durch das Teilen der Probleme zu erkennen, dass sie nicht allein dastehen. Auch für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Selbsterfahrungsgruppe ist die Erkenntnis schmerzhaft und schwierig anzunehmen, dass man sich nur selbst ändern oder etwas verändern kann, aber sehr schwer einen anderen Menschen. Sehr viel Raum nimmt die Beschäftigung mit dem Messie und seinen Dingen ein, selbst wenn der Messie gar nicht im Raum ist und die Dinge gar nicht von den Betroffenen stammen. Es war ein wesentlicher Punkt, in unserer Arbeit zu lernen, dass wir diesen Aspekt der Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis von Anfang an ansprechen und einbeziehen müssen. Ein zentraler Aspekt der Gruppe ist auch, gemeinsam zu lernen, mit dem Problem umzugehen und gemeinsam Strategien zu überlegen. Für Partner von Messies gilt es immer wieder, eine wesentliche Frage gemeinsam zu bearbeiten: „Wieso lebe ich mit einem Messie oft schon seit Jahrzehnten unter einem Dach? Wieso lasse ich es zu, dass auch mein persönlicher Lebensraum eingeschränkt wird, mir mein Platz weggenommen wird?“ Kinder von Messies müssen ihren Rollenwechsel aufarbeiten, andererseits lernen, damit umzugehen, dass ihre Hilfe von den Eltern abgelehnt wird. Eltern von Messies müssen sich mit der Tatsache konfrontieren, dass ihre Kinder, trotz der offensichtlichen Hilfsbedürftigkeit, keine Hilfe mehr von ihnen annehmen. Auch Schuldgefühle sind ein großes Thema, Angehörige machen sich große Vorwürfe und Sorgen zugleich. Gleichzeitig fühlen sie sich in einem Spannungsfeld gefangen. Wollen sie etwas unternehmen, erleben sie Ablehnung durch die Messies bis hin zum Beziehungsabbruch. Tun sie nichts und es passiert etwas, bekommen sie den Vorwurf zu hören, „warum haben sie denn nichts unternommen“. Auch hier hilft die Gruppe, dieses Problem anzusprechen und immer wieder die richtige Balance finden zu lernen. Als sehr wertvoll und bereichernd haben sich auch gemeinsame Treffen von Messies und Angehörigen von Messies erwiesen. Hier ergab sich zum ersten Mal die Gelegenheit, dass Messies und Nichtmessies miteinander sprechen, sich von ihren Problemen und Sichtweisen erzählen und voneinander lernen.
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Angehörige von Messies
4. Der Messie-Fragebogen1 Im Rahmen der Angehörigen-Gruppe war es besonders interessant, Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zu beobachten. In diesem Sinne berichten Angehörige oft, dass ihre Messies keine Einsicht hätten und sich nie im Leben als Messies bezeichnen würden. Eine Dame berichtete uns, dass sie vor Jahren eine Sendung im Radio über Messies gehört hätte. Damals habe sie erkannt, dass eigentlich von ihr die Rede war. Eine andere Person las einen Zeitunsartikel und wieder einem anderen wurde es bewusst, indem er eine Dokumentation im Fernsehen sah. Angehörige nicht bekennender Messies greifen mitunter auch zu „Tricks“, um ein Problembewusstsein zu induzieren. So hätten Mitglieder der Gruppe beispielsweise bereits versucht, Einsicht bei ihren Angehörigen dadurch zu erreichen, dass sie Bücher über das Thema Messie „zufällig“ in der Wohnung liegen ließen oder Zeitungsartikel ausschnitten. Der Entwurf eines Fragebogens (im Anhang) könnte sowohl für Angehörige, im Hinblick auf den Schweregrad einer eventuell gegebenen Symptomatik darstellen. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass dieses Erhebungsinstrument nur Teilaspekte erfassen kann und keine verbindliche Diagnose erlaubt.
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Konzept: Gina Borsos
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Fallgeschichte: Frau Berta Z. Katharina Reboly
1. Der Zustand meiner Wohnung ist der Spiegel meiner Seele! Berta bezeichnet sich als Messie, da sie sich unfähig fühlt, Entscheidungen zu treffen, besonders jene: „Schmeiß ich das jetzt weg oder behalt ich es?“ Dabei gehe es manchmal um wirklich unwichtige Dinge, wie ein Blatt Papier, Werbematerial oder Ähnliches. Denn es gibt so vieles, was man vielleicht später noch brauchen könnte. Das sei sehr belastend und kann sich im schlimmsten Fall über Stunden ziehen. Diese Zustände herrschen seit Jahren, werden immer schlimmer, und die Aufräumphasen werden viel seltener. Es kommt immer noch mehr dazu, als sie wegwirft, die Unordnung herrscht oft monatelang. Wenn die Antriebslosigkeit nachlässt, putzt sie fast jeden Tag, wobei sie körperlich eingeschränkt ist. Sie versucht, System und Ordnung zu schaffen, was nur teilweise und manchmal gelingt. Es ist unbeschreiblich, wie viel das ist! Wenn es ihr gut geht, braucht sie keine Aufräumpläne, sie fängt einfach an, etwas zu tun; wenn es ihr schlecht geht, leidet sie morgens am meisten und fühlt sich unfähig, Leistung zu erbringen. Am Abend kommt Hoffnung auf und sie schmiedet zuversichtlich Pläne. Am nächsten Morgen beginnt alles von vorn. In fremden Wohnungen gibt es kein Messie-Dasein; da ist sie sehr ordentlich und braucht nur das Nötigste. Ihr Vater war sehr ordentlich, alles, was er hatte, war schön und wichtig und musste auch sorgsam behandelt werden, alles andere war „Glumpert“ und wurde entsorgt. Die Mutter war eher unordentlich und ging sorglos mit Gegenständen um, außer mit Schmuck.
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Katharina Reboly Ihr Lieblingsbereich in der Wohnung ist das Sofa im Wohnzimmer. Ihre Schmerzen werden leichter, da gönnt sie sich eine Pause und Ruhe und sieht von früh bis nachts fern. Sie versteht diesen Bereich als Rückzug, Erholung, und er strahlt Wärme aus. Das Chaos beherrscht sie, und sie ist wütend, weil sie sich ausgeliefert fühlt. Der Anblick übervoller Regale, Tische, Kästen, Sessel, Schachteln und Plastiktaschen ist sehr belastend und macht Angst, Leute in die Wohnung zu lassen. Sie ist ständig unzufrieden, fühlt sich machtlos und unsauber. Sie möchte neu anfangen, vieles zurücklassen, Belastendes abwerfen.
2. Anamnese 2.1. Der erste Kontakt Im November 2006 kam Frau Berta Z. (60 Jahre alt) in die Psychotherapeutische Ambulanz der Sigmund Freud PrivatUniversität, um an der MessiesSelbsthilfegruppe teilzunehmen. Bereits nach dem ersten Besuch beschloss sie, sich ebendort doch in Einzeltherapie zu begeben, da sie sich aufgrund der aggressiven Atmosphäre in der Gruppe unwohl gefühlt habe. Im Erstinterview schildert sie ihre Lage: Sie leide unter dem Zustand ihrer Messie-Wohnung, Adipositas, psychosomatischen Beschwerden, Antriebs- und Schlafstörungen aufgrund immer wiederkehrender Depressionen; nur in kürzer dauernden manischen Episoden sei sie handlungsfähig und neige zur Kaufsucht. Wegen dieser bipolaren Störung ist sie seit 1999 immer wieder in ambulanter psychiatrischer Behandlung, ab Anfang der 70er Jahre wagte sie immer wieder Therapieanläufe sowohl in Einzel- als auch in (Selbsthilfe-)Gruppen-Settings. Nun wolle sie noch einmal einen Therapieanlauf versuchen, all die (in der Kindheit) erlittenen Kränkungen aufarbeiten, sich auskotzen in den Stunden – und das mit meiner Hilfe : Da sie mich ja schon aus der Selbsthilfegruppe ein bisschen kenne, sei sie froh, dass sie bei mir gelandet sei, denn ich sei ihr gleich sympathisch gewesen. Nicht zuletzt deswegen, da ich als sichtlich junger Mensch noch den nötigen Ehrgeiz und Elan hätte, um mich für sie engagieren zu können. Obschon sie sich Sorgen mache, ob ihre heftige Geschichte und ihre enorme Pathologie mich als Therapeutin in Ausbildung nicht allzu sehr belasten würde; denn beschmutzen wolle sie mich nicht mit ihrem Dreck.
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Fallgeschichte: Frau Berta Z.
2.2. Lebensgeschichtliche Entwicklung Zum Zeitpunkt der Geburt der Patientin waren ihre Eltern verheiratet und lebten mit ihrer drei Jahre älteren Halbschwester (aus erster Ehe der Mutter) und den Großeltern in einer viel zu kleinen Wohnung mit Toilette am Gang in einer Arbeitergegend. Die Mutter arbeitete als Verkäuferin im Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern im selben Haus und war deshalb meistens anwesend. Die Liebe und Nähe zu ihr war absolut gewesen, und sie sei viel zu lange die wichtigste Person in ihrem Leben gewesen, aber das habe sie erst später so empfunden. Im Nachhinein erlebe sie ihre Mutter nun nämlich als bestimmend, allwissend, abgehoben und kaltschnäuzig. Frau Z. habe von klein an aufbegehrt und vieles in Frage gestellt, was sie unbeliebt gemacht habe, weil sie infolgedessen nicht als pflegeleicht galt. Weiters habe sie immer den Eindruck gehabt, die Mutter bevorzuge die Schwester, was in ihr enorme Eifersuchtsgefühle hervorrief. Der Vater – ein Exekutivbeamter – war ein sowohl innerhalb der Familie als auch an seinem Arbeitsplatz gefürchteter Mann, da er gewaltbereit und -tätig gewesen war. Es gab wenig Geld, aber viel Streit, denn der Vater beteiligte sich weder am Familienleben noch unterstützte er Frau und Kinder. Er war tyrannisch, diktatorisch, machtgeil, feige, sadistisch und prügelte manchmal die gesamte Familie. Aufgrund der Gewaltbereitschaft des Vaters war sie froh und erleichtert, wenn dieser nicht zu Hause war und sie seinen Demütigungen nicht ausgesetzt war. Frau Z. vermutet, der Vater wollte in Wirklichkeit einen Sohn haben, der sie eben nicht war, und er habe sie deswegen abgelehnt. Seine Enkelin, also die Tochter von Frau Z., liebte er, soweit ein „derart Gestörter“ dazu fähig ist, da er ihr Fahrräder, Eislaufschuhe, Kleidung und anderes kaufte. Den Tod des Vaters im Urlaub (mit der Geliebten – den Vermutungen der Mutter nach) Anfang der 80er Jahre erlebte die Patientin als enorme „Bereicherung“, da sie seine Bedrohung für „gestorben“ hielt. Allerdings vermutet sie nun, dass er „nur äußerlich unter der Erde liege“, denn sie habe ihn noch nicht ganz begraben können. Neben den Schlägen des Vaters war die Kindheit und Jugend von ständigen Drohungen der Mutter begleitet, ins Heim abgeschoben zu werden, wenn man nicht brav ist. Sie sei der Mutter eben zu aufgeweckt, zu rebellisch, zu anstrengend gewesen. Ihre Schwester und sie seien ihrer eigenen Einschätzung nach jedoch ausgesprochen gut erzogen gewesen, sogar eher dressiert und sehr brav. Die Beziehung zum Großvater beschreibt die Patientin als sehr positiv, da er sie sehr geliebt haben muss und ein Zufluchtsort für sie gewesen war, aber leider zu früh starb – sie war 7 Jahre alt. Die Schwester, mit der sie viel gemeinsame Freizeit in der Kindheit verbracht hatte, beschreibt Frau Z. als fügsam, geduldig und als Liebling der Großmutter. Seit Jahren habe sie aber
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Katharina Reboly nun keinen Kontakt mehr zu ihr, und sie leide darunter, dass ein klärendes und offenes Gespräch nie zustande gekommen war. Sie führt als Erklärung dazu an, dass der Bruch seit dem dubiosen Tod des Lieblingssohnes der Schwester vor etlichen Jahren die Wesensveränderung hervorgerufen habe. Heute gingen weitere vergebliche Kontaktversuche zur Schwester, die gemeinsam mit der Mutter lebt, von Frau Z. aus, allerdings vermutet sie, dass die Schwester nichts von ihr wissen wolle, da diese um das alleinige Erbe (v. a. Schmuck) fürchte. Sie verwehre ihr den Zutritt auch zur Mutter, was für sie eine große Belastung darstelle, da sie nicht wisse, wie sie mit dieser Unklarheit, Zurückweisung und Ablehnung umgehen solle. Da sie immer schon sehr liebes- und zärtlichkeitsbedürftig war und immer das Gefühl hatte, zu wenig Zuneigung zu bekommen, setzte sie in ihre erste Ehe, die sie mit 16 Jahren einging, die Hoffnung, von da an bis an ihr Lebensende glücklich zu sein und alles besser zu machen, was sich retrospektiv als Wunschdenken herausstellte. In der Schule wurde sie als die Intelligenteste bezeichnet, wurde von niemandem gefördert, ihr Interesse wurde als Schlimmsein abgetan, und ihr wurde eingetrichtert, dass sie weder ehrgeizig, zielorientiert noch musikalisch sei. Da sie kein Taschengeld bekam, konnte sie keinem Hobby nachgehen, deshalb bestand ihre Freizeitgestaltung aus Putzen, Geschirrspülen, Wäschewaschen und Bügeln. Zudem habe sie sich unter anderem wegen des Übergewichts nicht schön gefühlt. Damals wusste sie gar nicht, was Pubertät eigentlich ist. Heute erinnert sie sich an diese Zeit als jene, in der Eltern „schwierig wurden“. Als die Menses mit 13 Jahren eintrat, wurde sie nicht von den Eltern aufgeklärt, sondern im Flüsterton von der Schwester oder einer Schulkollegin. Den ersten Sex mit 15 Jahren erlebte sie als schmerzhaft, angstvoll und schambesetzt. Es war ein langer Entwicklungsprozess gewesen, um Sexualität frei, lustvoll und als etwas Zärtliches erleben zu können. Sie sei immer auf der Suche nach Liebe gewesen, doch die letzten Jahre waren von Resignation, Einengungsgefühlen und Angst vor Verletzung geprägt. Sie fühle sich müde, beziehungsunwillig und nicht belastungsfähig genug für einen möglichen Partner. Ferner sei persönlicher Freiraum für sie von größter Bedeutung. Ihr Berufswunsch war Gärtnerin gewesen, doch der Vater lehnte selbst die Diskussion über diese Berufswahl ab und zwang sie zu einer Arbeit in einem Büro. Damals wurde sie von ihrem zweiten Freund schwanger und heiratete ihn. Nach der Geburt der Tochter traten die depressiven Verstimmungen zum ersten Mal auf und suchen sie seither immer wieder heim. Da
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Fallgeschichte: Frau Berta Z. vernachlässigte sie den Haushalt, alles war ihr zu viel, sie bekam aber keine Unterstützung von ihrem Ehemann. Sie begann, alles vor sich herzuschieben. Der Kontakt zu ihrer Tochter sei heute ebenfalls nicht besonders gut, da sie sich nicht sehr oft sehen würden. Diese lebe in einer Partnerschaft, die ihr anscheinend sehr gut tue, da sie nicht mehr so viele Drogen nähme. Manchmal glaubt sie, zu jung für ein Kind gewesen zu sein, und vermutet, die Tochter sei noch immer gekränkt, weil sie sie in ein Internat gesteckt habe. Nach der Scheidung vom ersten Mann folgten zwei Ehen, dann zwei Lebensgemeinschaften, „die alle Mist waren“, da sie viel Gefühl, Zeit und Geld investiert hatte und sie nur mehr schmerzliche und leidvolle Erinnerungen an diese Beziehungen hat. Nur eine Liebe war von Zärtlichkeit, Respekt und Achtung gezeichnet gewesen. Sie schloss die Lehre zur Einzelhandelskauffrau ab und arbeitete danach im Verkauf und viele Jahre als Geschäftsführerin in der Gastronomie. Seit 1997 ist sie aufgrund chronischer Erkrankungen und Schmerzen arbeitslos. Sie beantragte die Pensionierung, denn sie vertrage Stress, Hektik und Druck sehr schlecht.
2.3. Somatische Anamnese Die Patientin gibt an, wegen unterschiedlichster Schmerzen häufig bei Ärzten gewesen zu sein: etliche Operationen wegen Unterleibsbeschwerden, Gallenentfernung, Blinddarm, Tubenentfernung; Schwangerschaftsabbrüchen, Pneumonien, Venenentzündung, Hepatitis B (ausgeheilt) und LWSProblemen. Zum Zeitpunkt der Erhebung fühlt sich die Patientin körperlich ausgelaugt, leidet unter massiven Durchfällen und Verstopfung, Harninkontinenz, Essattacken, Druck auf der Leber, Schlafstörungen, Schweißausbrüchen und unter Schmerzen an Schulter, Nacken, Magen, Knien, rechtem Handgelenk und dem rechten Bein. Deswegen sei sie auch ständig bei Ärzten, was sie sehr nerve.
3. Psychodynamik Die Ziele, die Frau Z. erreichen möchte, gelten der Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte. Sie möchte verstehen, warum sie so ist, wie sie ist. Weiters möchte sie es schaffen, ihre Wohnung und den Haushalt auf lange Sicht in den Griff zu bekommen und eine gewisse Steigerung ihrer Lebensqualität zu erreichen. In den Phasen tiefer Depression sucht sie Halt und Unterstützung.
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Katharina Reboly Frau Z. zeigt ein gepflegtes Äußeres, leidet jedoch an ihrem enormen Übergewicht. Bereits zu Beginn der Therapie wirkt sie sicher und selbstbewusst und zeigt Tendenzen einer Logorrhoe, was sich im Laufe der psychotherapeutischen Arbeitsbeziehung erheblich ändert; sie wird ruhiger, aufmerksam und zeigt sich interessiert gegenüber Zusammenhängen zwischen ihrer Biografie und aktuellen Leidenszuständen. Vorrangige Abwehrmechanismen sind Externalisierung, Somatisierung und depressive Introjektion aggressiver Triebimpulse. Im Kontakt zeigt sie ein unsicher-ambivalentes Beziehungsmuster, indem sie meist wütend und überschwänglich über erlebte Konflikte mit Bezugspersonen aus der Vergangenheit berichtet, als seien diese Konflikte aktuell. Der intrapsychische Konflikt wird in ödipalen Verstrickungen deutlich, unbewusste Schuldgefühle und das Strafbedürfnis stellen den Über-Ich-Widerstand dar. Ihre zwanghafte Struktur wird dadurch deutlich, dass sie gerne alles unter Kontrolle halten will, indem sie ständig Pläne schmiedet, die dann meistens nicht zur Umsetzung gelangen. Zudem ist sie nicht in der Lage, Aufgaben zu delegieren, und zeigt eine enorme Rigidität, denn Terminverschiebungen bedeuten für sie eine Unmöglichkeit. Überhaupt beschäftigt sie sich eindringlich mit Fragen von Ethik und Moral. Im Verlauf der positiven Übertragung der Patientin gewinnt sie an Ich-Stärke, durch die haltende Beziehung wird ihr aufdringliches und verschlingendes Verhalten gemildert; sie kann ein äußeres Objekt vorsichtig aufnehmen. Dadurch muss die emotionale Verwahrlosung, die aus der Vergangenheit rührt, nicht mehr durch Essattacken kompensiert werden, und sie beginnt, langsam und stetig abzunehmen und auf ihr Ernährungsverhalten zu achten. Zunehmend gelingen kleine, kontinuierliche Arbeiten in der Wohnung und das Interesse an sozialen Kontakten steigt. Mittelschwere depressive Einbrüche sind nach wie vor vorhanden, die einerseits durch medikamentöse Intervention versucht werden, in den Griff zu bekommen, andererseits durch das Anwenden konkreter Überwältigungsstrategien. Zu Beginn der Behandlung wurde jener Patientin keine Erfolg versprechende Prognose erteilt. Wenn man allerdings die mikroskopischen Schrittchen (z.B. „sich zeigen dürfen“ oder Milderung des subjektiven Leidensdrucks) als korrigierende emotionale Erfahrung betrachtet, die sie verändern und setzen kann, dann kann man die psychotherapeutische Arbeit – über weite Strecken in der Funktion des Containers – als fruchtbar und gerechtfertigt erachten. Anmerkung: Die Angaben wurden anonymisiert. Auch konnten hier nur Teilaspekte angeschnitten werden, die als Anregung für weitere Überlegungen dienen sollen; es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit!
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Diagnostik
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Horten und Sammeln im Spektrum der Zwangsstörungen Martin Aigner, Ulrike Demal, Markus Dold
1. Einleitung Der Begriff „Messie-Syndrom“ hat in den letzten Jahren zunehmende Verbreitung erfahren. Der zwanghafte Charakter des „Messie-Syndroms“ hat dazu geführt, dass das Syndrom schon früh mit Zwangssymptomen in Verbindung gebracht wurde. An der Spezialambulanz für Zwangsstörungen an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien haben sich in den letzten Jahren daher zunehmend Menschen mit Sammelzwängen vorgestellt, die unter einem „Messie-Syndrom“ leiden. Das „Messie-Syndrom“ ist aber sicher nicht zur Gänze als Zwangsstörung zu verstehen. Eine Reihe von psychiatrischen Erkrankungen können dem „Messie-Syndrom“ zugrunde liegen, die sich über beinahe das gesamte Diagnosenspektrum des ICD-10 (WHO 1994) erstrecken (Tabelle 1). Für den Therapeuten ist die Diagnostik der entsprechenden Grunderkrankung notwendig, um die geeigneten therapeutischen Schritte einleiten zu können. Der „Sammlertrieb“ kann als „Urtrieb“ der Jäger und Sammler verstanden werden. Im Sammeln steckt ein Dominanzbedürfnis („Besitzen wollen“, „Beherrschen wollen“), aber auch ein Ausweichverhalten mit Rückzug und Beschäftigung mit Gegenständen. Sammeln kann eine Kompensation unerfüllter sozialer Wünsche nach Anerkennung oder Bewunderung sein. Auch als „Ersatzbefriedigung“ zur Kompensation unerfüllter sexueller Wünsche kann es dienen. Sammeln kann helfen, Ängste und depressive Stimmung abzubauen. Sammeln kann auch durch die Vermeidung von Entscheidungen (Wegwerfen Ja/Nein) entstehen.
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Martin Aigner, Ulrike Demal, Markus Dold Das Sammeln bzw. Horten ist also nicht primär pathologisch. Erst durch das Ausmaß, die stereotype Wiederholung, den sich aufdrängenden Charakter und die erlebte Sinnlosigkeit oder Unsinnigkeit wird es als Zwang erfahren, dem der Patient sich am liebsten widersetzen würde. Obwohl Horten mit verschiedenen psychischen Störungen verbunden ist, kommt es doch am häufigsten in Verbindung mit der Zwangsstörung vor (LaSalle-Riccia et al. 2006). Insgesamt kann das Sammelverhalten also als ein Verhalten verstanden werden, das Spannungen reduziert, und als solches, wenn es ein pathologisches Ausmaß annimmt, in das Spektrum der Zwangsstörungen eingeordnet werden. d Tabelle 1: Differentialdiagnose des „Messie-Syndroms“ im ICD-10:
F0 F1 F2 F3 F4 F5 F6 F7 F8 F9
HOPS (Hirnorganisches Psychosyndrom), Demenz (speziell frontale Demenz) Alkoholismus Schizophrenie, schizotype Störung, Wahnsyndrome (z. B. Verarmungswahn) Affektive Störung: Depression, Bipolare Störung Zwangsstörung Essstörungen Impulskontrollstörung Persönlichkeitsstörung Minderbegabung ADHS (Attention Deficit Hyperactivity Syndrom)
2. Zwangsstörung und Zwangsspektrumstörungen Hier soll im Folgenden auf jene Gruppe der Patienten mit „Messie-Syndrom“ näher eingegangen werden, deren Erkrankung als sogenannte „Zwangsspektrumstörung“ (Hollander, Wong 1995; Aigner et al. 1998) verstanden werden kann. Zwangsspektrumstörungen (Tabelle 2) sind Störungen, die zum einen den Zwangsstörungen zugerechnet werden können und zum anderen den Impulskontrollstörungen. Gemeinsam ist diesen Störungen eine gesteigerte Anspannung oder Unruhe, die die Betroffenen durch ein bestimmtes Verhalten (durch Sammeln/Horten beim Sammelzwang) zu verringern versuchen. Das Verhalten zur Spannungsreduktion bei den Impulskontrollstörungen ist zunächst ich-synton – Spielen oder Kaufen werden als lustvoll erlebt. Bei der Zwangsstörung wird das Verhalten zur Spannungsreduktion
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Horten und Sammeln (z. B. Wasch- oder Kontrollrituale) meist schon von Beginn an als ich-dyston erlebt – Wasch- und Kontrollrituale sind belastend. Beim Sammelzwang findet sich beides. Es gibt einerseits Patienten, die ihr Sammeln als ich-synton erleben und wo der Leidensdruck und die Beeinträchtigung mehr im Beziehungsumfeld zu finden sind. Angehörige von Patienten mit Hortzwang leiden meist massiv unter der „zugesammelten“ Wohnung, in der oftmals nur noch einige Räume bewohnbar sind oder zusätzliche Kosten durch die notwendige Anmietung von Stauraum entstehen. Andererseits gibt es Patienten, die von Beginn an ihr Horten als ich-dyston erleben, insbesondere dann, wenn es in Richtung „Vermüllung“ der Wohnung geht. d Tabelle 2: Beispiele für Zwangsspektrumstörungen zwischen den Polen „zwanghaft“ und „impulshaft“:
Zwanghafte Symptomatik
Impulshafte Symptomatik
Zwangsstörung Horten, Sammeln Hypochondrie Körperdysmorphe Störung Anorexia nervosa Asperger-Syndrom
Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, Tics Trichotillomanie Kaufrausch Kleptomanie Pathologisches Spielen Bulimia nervosa
Phänomenologisch ist Horten eine von vier Dimensionen der Zwangsstörung, neben Symmetrie/Ordnen, Kontamination/Reinigen und Zwangsgedanken/Kontrollieren (Mataix-Cols et al. 2005). Ein Modell für Sammelzwänge wurde von Frost und Hartl (1996) entwickelt und von Steketee und Frost (2003) erweitert. Sammelzwänge werden als facettenreiche Störungen mit primären Defiziten oder Schwierigkeiten konzipiert: Exzessiver emotionaler Bezug zu Besitz, signifikantes Vermeidungsverhalten, falsche Grundannahmen über die Natur und Bedeutung von Besitz, Defizite in der Informationsverarbeitung, der Kategorienbildung, des Gedächtnisses und der Entscheidungsfähigkeit sind Bestandteile des Modells. Für eine eindeutige Diagnose einer Zwangsstörung nach ICD-10 (WHO 1994) sollen wenigstens zwei Wochen lang an den meisten Tagen Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) nachweisbar sein. Diese werden als eigene Gedanken/Handlungen angesehen, wiederholen sich dauernd, werden als unangenehm, übertrieben und unsinnig erkannt, und von den Betroffenen wird, wenn auch erfolglos, Widerstand geleistet. Die Be-
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Martin Aigner, Ulrike Demal, Markus Dold troffenen leiden unter den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen oder werden in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand. Differentialdiagnostisch davon abzugrenzen ist die zwanghafte Persönlichkeitsstörung. In der Weltbevölkerung (Alter zwischen 18 und 55 Jahren) sind in etwa bei 22 % aller Erkrankungen mit Behinderung psychiatrische Erkrankungen die Ursache. Die Zwangsstörung ist mit 2,2 % die vierthäufigste behindernde psychische Erkrankung (nach Affektiven Störungen [13,7 %], Alkoholkrankheit [3,3 %] und Schizophrenien [2,6 %]). Ein Sammelzwang kann bei 30 % der Patienten mit Zwangsstörung gefunden werden (Frost et al. 1996; Samuels et al. 2002). Die Prävalenz für Horten selbst wird recht unterschiedlich angegeben. In einer postalischen Umfrage hatten 26 von 100 000 Befragten aus der Bevölkerung pathologisches Horten (Frost et al. 2000a). Bei Demenzpatienten zeigte sich in 22,6 % Verhalten im Sinne von Horten (Hwang et al. 1998). Die Symptom-Checkliste der Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS) (Goodmann et al. 1989) ist ein wichtiges diagnostisches Instrument zur Erfassung der Zwangsstörung. Ein Item bezieht sich auf Zwangsgedanken mit dem Inhalt Sammeln und Aufbewahren von Gegenständen (als Erläuterung ist angeführt: abzugrenzen gegenüber Hobbys und Beschäftigung mit Objekten, die finanziell wertvoll sind oder einen besonderen Erinnerungswert haben), und ein Item bezieht sich auf Sammel- und Aufbewahrungszwänge (auch wieder abzugrenzen gegenüber Hobbys und Beschäftigung mit Objekten, die finanziell wertvoll sind oder einen besonderen persönlichen Erinnerungswert haben). Als Beispiele werden genannt: z. B. sorgfältiges Durchlesen von Reklamesendungen, Aufeinanderstapeln alter Zeitungen, Durchwühlen von Abfall, Sammeln von nutzlosen Gegenständen.
3. Biologische und psychologische Befunde und Komorbidität bei Hort- und Sammelzwängen Der Beginn des Hortens wird bei Kindern von den Eltern rückblickend mit 25 bis 27 Monaten angegeben (Evans et al. 1997; Zohar, Feliz 2001). Bei Patienten mit Sammel- oder Hortzwang ist mildes Horten meist schon vor dem 18. Lebensjahr vorhanden. In den Studien über Zwangsstörungen ist das
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Horten und Sammeln Symptom „Horten“ mit männlichem Geschlecht und früherem Beginn der Zwangsstörung verbunden (Samuels et al. 2002). Liegt ein später Beginn vor, ist häufig ein Trauma in der Anamnese zu finden (Grisham et al. 2006).
3.1. Biologische Befunde Für Horten und Sammelzwänge sind genetische Faktoren bekannt. Zum einen gibt es häufig eine positive Familienanamnese (Winsberg et al. 1999), zum anderen ist Horten bei Patienten mit Tourette-Syndrom mit 3 Chromosomenregionen verbunden (4q, 5q, 17q) (Zhang et al. 2002). An neurobiologischen Befunden zeigt sich ein reduzierter Glukosemetabolismus im Gyrus cingularis posterior und im dorsolateralen präfrontalen Kortex im Vergleich zu anderen Zwangspatienten (Saxena et al. 2004).
3.2. Psychologische Befunde Störungen der Exekutivfunktionen und der Informationsverarbeitung dürften beim Sammelzwang eine wichtige Rolle spielen. Besonders den Entscheidungsschwierigkeiten kommt bei Sammel- und Hortzwängen eine grundlegende Funktion zu (Frost, Gross 1993; Frost, Shows 1993; Steketee, Frost 2003). Patienten mit Sammelzwang haben ähnliche Entscheidungsschwierigkeiten wie andere Zwangspatienten ohne Sammelzwang, erleben aber im Zuge der Zwänge keine generalisierte Angst. Entscheidungsschwierigkeiten spielen beim „Klassifizierungsverhalten“ eine besondere Rolle (Wincze et al. 2007). Dementsprechend zeigen Patienten mit starkem Sammelzwang eine beeinträchtigte Entscheidungsfähigkeit in der „Iowa Gambling Task“ (IGT) und verminderte Hautleitwerte (Lawrence et al. 2006). Auch Gedächtnisprobleme (z. B. Gedächtnisstörung im Rey-Osterrieth-Figuren-Test) konnten bei Patienten mit Sammelzwang gefunden werden (Hartl et al. 2004). Ein wichtiges diagnostisches Kriterium im DSM-IV (APA 1994) ist die Kodierung der Einsicht in die Übertriebenheit und Unsinnigkeit der Zwangshandlungen bzw. Zwangsgedanken. Patienten mit Zwangsstörung zeigen ein Spektrum an Einsicht in die Sinnlosigkeit ihrer Zwänge: Meist, wenn keine aktuelle Zwangshandlung / kein aktueller Zwangsgedanke vorhanden ist, ist eine gute Einsicht gegeben; nicht so, wenn die Patienten „im Zwang sind“. Die Zusatzkodierung „mit wenig Einsicht“ sollte herangezogen werden, wenn die Person im Verlauf der derzeitigen Krankheitsepisode die meiste Zeit nicht erkennt, dass Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen übertrieben oder unbegründet sind. In einer eigenen MRI-Untersuchung an 84 Patienten mit Zwangsstörung konnten wir zeigen, dass Patienten mit geringer Einsicht signifikant häufiger MRI-Auffälligkeiten aufwiesen als Patienten
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Martin Aigner, Ulrike Demal, Markus Dold mit Zwangsstörung ohne diese Zusatzkodierung und dass bei Patienten mit geringer Einsicht nicht nur die thalamokortikalen Basalganglienschleifen, sondern auch andere Hirnregionen von diesen MRI-Auffälligkeiten betroffen sind (Aigner et al. 2005). Patienten mit geringer Einsicht haben zudem eine stärker ausgeprägte Alexithymie. Im Spektrum der Zwangsstörungen sind neben den Hort- und Sammelzwängen auch Zwangssymptome, die dem Bereich der Körperdysmorphophobie und der Hypochondrie zugeordnet werden können, signifikant mit geringer Einsicht gekoppelt (De Berardis et al. 2005). „Magisches Denken“ spielt bei Sammel- bzw. Hortzwängen ebenfalls eine bedeutende Rolle. „Magisches Denken“ bedeutet den irrtümlichen Glauben einer Person, dass ihre Gedanken, Worte oder Handlungen ein bestimmtes Ereignis hervorrufen oder verhindern können, wobei allgemeingültige Regeln von Ursache und Wirkung verletzt werden. Es handelt sich um einen überhöhten Glauben an die Wirkmächtigkeit von Gedanken, Worten oder Handlungen. „Magisches Denken“ kommt in der normalen Kindheitsentwicklung als Durchgangsphase vor. Im Erwachsenenalter jedoch kann es, wenn in großem Ausmaß vorhanden, ein Prodrom für wahnhafte Störungen sein.
3.3. Komorbidität Horten geht insgesamt mit einem erhöhten Ausmaß an Psychopathologie einher (Frost et al. 1996): Im Rahmen einer Zwangsstörung ist Sammeln/ Horten ein Zeichen erhöhter Komorbidität (Frost et al. 2000b). Horten ist auch verbunden mit Dysphorie (LaSalle-Riccia et al. 2006). Bei Patienten mit Sammelzwang wurden vermehrt Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität festgestellt (Hartl et al. 2005). LaSalle-Riccia et al. (2006) beschreiben, dass Horten mit einer erhöhten Lifetime-Komorbidität auf Achse I im DSM-IV verbunden ist. Die Bipolare Störung, die Posttraumatische Belastungsstörung und die Körperdysmorphophobie werden als komorbide Störungen angeführt. Hohe Werte bei der Dimension Symmetrie/Horten sind oftmals mit der Diagnose chronische Ticstörung verbunden (Baer 1994). Horten ist assoziiert mit Sozialphobie und pathologischem Pflegeverhalten (Hautzwicken, Nägelbeißen, Trichotillomanie) (Samuels et al. 2002). Auch eine Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen (Achse II im DSM-IV) ist von Bedeutung. Horten tritt häufiger bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, insbesondere aus dem ängstlichen Cluster, auf (Mataix-Cols et al. 2000). Hohe Werte bei der Dimension Symmetrie/Horten sind mit der Diagnose anankastische Persönlichkeitsstörung verbunden (Baer 1994). Horten ist aber auch mit anderen Persönlichkeits-
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Horten und Sammeln störungen (emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus, histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörung) assoziiert (Samuels et al. 2002). Sammelzwang und Kaufzwang haben eine hohe Assoziation (Frost et al. 1998, 2001; Winsberg et al. 1999). Die psychosoziale Beeinträchtigung bei Patienten mit Sammel- und Hortzwängen (Achse IV und V im DSM-IV) ist stärker ausgeprägt als bei Zwangspatienten ohne Sammelzwang (Frost et al. 2000b).
4. Therapie des Hort- und Sammelzwanges Die Eingliederung der Sammelzwänge in die Zwangsspektrumstörungen legt folgende therapeutische Herangehensweise auf psychotherapeutischer und medikamentöser Ebene nahe: Zum einen gibt es Nachweise für die gute Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen, zum anderen können Antidepressiva wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer eingesetzt werden. Ein wichtiger Punkt für das Management von Sammel- und Hortzwängen ist zunächst die Diagnosestellung: Handelt es sich um einen Sammelzwang im Spektrum der Zwangsstörungen? Welche Komorbidität besteht? Welche Bedingungen, im Sinne eines biopsychosozialen Modells, haben zur Entstehung der Problematik (Bedingungsanalyse) geführt? Im Zuge einer verantwortungsvoll durchgeführten Therapie wird im Rahmen der Funktionsanalyse nach jenen Bedingungen geforscht, die zur Aufrechterhaltung des Problems beitragen (Funktionalität). Erst nach diesen sorgfältigen Analysen kann mit dem Betroffenen gemeinsam eine Entscheidung über das weitere Vorgehen in der Therapie getroffen werden (Therapieplanung). Im Zuge einer multimodalen Verhaltenstherapie wird einerseits an zugrunde liegenden Problembereichen (siehe Funktionsanalyse) und andererseits symptomorientiert gearbeitet. Symptomorientiertes Arbeiten beinhaltet bei Zwangsstörungen immer emotionsaktivierende Verfahren wie Exposition mit Reaktionsmanagement. Im Rahmen der Behandlung von Sammel- und Hortzwängen ist es aus unserer Sicht unabdingbar, zu diagnostischen Zwecken „Wohnungs- bzw. Hausvisiten“ vor Ort zu machen. Die Wohnung / das Haus muss in die Therapieplanung miteinbezogen sein. Im Zuge der Exposition wird in enger Zusammenarbeit und mit dem Einverständnis des Patienten in der häuslichen Umgebung gearbeitet. Die während des Wegwerfens/ Entsorgens auftretenden negativen Emotionen (Hilflosigkeit, Ekel, Unsicherheit, Traurigkeit, Wut, Ausgeliefertsein, Überforderung, Schmerz etc.) können unter hoher emotionaler Beteiligung direkt in Bezug zur Lebensge-
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Martin Aigner, Ulrike Demal, Markus Dold schichte des Patienten gesetzt und/oder bearbeitet werden (Reaktionsmanagement). Bei Patienten, die aufgrund von Schamgefühlen Hausbesuche vorerst ablehnen, stellt Exposition in sensu (Exposition in der Vorstellung) eine sinnvolle Variante dar. Die Responseraten bei Sammelzwängen durch kognitive Verhaltenstherapie, Medikation und psychosoziale Rehabilitation haben noch nicht das Ausmaß wie bei anderen Zwangsstörungen erreicht (Saxena et al. 2002). Patienten mit Hortzwängen sind signifikant weniger häufig unter den Respondern nach kognitiver Verhaltenstherapie zu finden (Rufer et al. 2006). War in den ersten medikamentösen Studien (mit Paroxetin) Horten mit schlechterem Therapieresponse assoziiert (Black et al. 1998), so zeigen neuere Studien, dass Patienten mit Sammelzwang auf Paroxetin gleich gut ansprechen wie andere Zwangspatienten ohne Sammelzwang (Saxena et al. 2007).
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Krank oder nicht krank? – Psychiatrische Aspekte einer Organisations-DefizitStörung (sogenanntes „MessieSyndrom“) Arnd Barocka
1. Nosologische Vorbemerkung Die „Messie-Syndrom“ genannten Störungen werfen für den an Psychopathologie und psychiatrischer Krankheitslehre Interessierten einige bedenkenswerte Fragen auf. Liegt der Störung von Organisation und Planung der Lebensabläufe eine andere psychiatrische Erkrankung zugrunde, d. h., ist das Phänomen „Messie“ vielleicht eine undiagnostizierte und deshalb unbehandelte Erscheinungsform von Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung oder Demenz, um nur eine Auswahl mehr oder weniger wahrscheinlicher Kandidaten zu nennen (Abb. 1a)? Oder ist die möglicherweise zugrunde liegende Erkrankung eine neue eigenständige Erkrankung (Abb. 1b)? Psychiatrische Erkrankungen können ja tatsächlich neu auftauchen und wieder verschwinden. Zwar gibt es eine Art „harten Kern“ psychischer Erkrankungen, die – wie die paranoide Schizophrenie – offenbar kulturunabhängig zu allen Zeiten und bei allen Völkern vorkommen, doch sind andere psychische Störungen erheblichen soziokulturellen Einflüssen und Varianzen unterworfen. Neurasthenie, eine Lieblingsdiagnose des großen Freud, diagnostiziert man heute kaum mehr. Andererseits war das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) des Erwachsenen vor zwanzig Jahren noch weitgehend unbekannt.
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Arnd Barocka Die vielleicht etwas plumpe Alternative: „Ist ‚messiness‘ eine Krankheit – ja oder nein?“ lässt sich verfeinern, indem man sich ein Kontinuum vorstellt, das zwischen diskreten und extremen Ausprägungen des Störbildes verläuft, eine Art „Messie Spectrum Disorder“. Dabei würden die leichten Ausprägungen in der Bevölkerung subsyndromal relativ häufig vorkommen (so wie zum Beispiel die spezifischen Phobien), ohne dass ihnen ein eigentlicher Krankheitswert als psychiatrischer Fall („caseness“) zugebilligt werden kann. Die Linie in Abb. 1c) soll dementsprechend die Grenze zwischen kranken und normalpsychologischen Ausprägungen darstellen. Nur höhere Schweregrade würden als klinisch behandlungsbedürftig imponieren. Als Viertes besteht noch die Möglichkeit, dass es ein Messie-Persönlichkeitsmerkmal beim Gesunden gibt, das zwar phänotypisch an bestimmte psychiatrische Erkrankungen erinnert, mit diesen aber ansonsten nichts zu tun hat (Abb. 1d). d Abb. 1: Das nosologische Problem – being (a) messy
a) maskiert andere Erkrankung
c) ein Kontinuum
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b) ist eine eigenständige Erkrankung
d) ein normalpsychologisches Merkmal
Krank oder nicht krank?
2. Das Messie-Phänomen in der Ratgeberliteratur 2.1. Merkmale Das Messie-Phänomen wurde etwa gleichzeitig in sozialpsychiatrischen Ambulanzen und im Bereich der Laienselbsthilfe entdeckt. Sozialarbeiter und Psychiater erlebten bei ihren Hausbesuchen vor allem die Vermüllung von Wohnungen und die daraus abgeleiteten hygienischen und sozialfürsorgerischen Probleme. Dagegen beschrieben Ratgeberbücher wie die von Sandra Felton – einer Betroffenen – das Messie-Phänomen als ein die gesamte Persönlichkeit prägendes Merkmal, das sich auf alle Lebensbereiche einschließlich der Zeitplanung und Beziehungsgestaltung ungünstig auswirkt, ohne dass die Betroffenen deshalb immer psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen würden (Felton 1999). In diesen Darstellungen, die zumeist anekdotisch oder anhand eigener Erfahrungen (d. h. nicht anhand systematischer Untersuchungen) das Problem darstellen, werden folgende Merkmale beschrieben: Im Mittelpunkt steht das Horten von Gegenständen. Die Betroffenen ersticken gleichsam in deren Überfülle. Die Zahl der Besitztümer wird so groß, dass die räumliche Orientierung gestört erscheint. Man findet sich nicht zurecht, und man findet die Gegenstände nicht wieder. Auch das Zeitgefühl ist gestört mit daraus folgender terminlicher Unordnung. Es bestehen Störungen der Merkfähigkeit und der gerichteten Aufmerksamkeit, dabei vermehrte Ablenkbarkeit, ja Verführbarkeit. Handlungen werden nicht zum Ziel gebracht, man kann zu Ablenkungen nicht Nein sagen. Beschrieben werden auch lähmende Handlungsblockaden in den Bereichen Ordnung und Lebensplanung, d. h. die Unfähigkeit, Handlungen zu initiieren und die Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Verbunden sind diese Defizite mit sozialem Rückzug: Man wagt es beispielsweise aus einem Gefühl der Beschämung heraus nicht, anderen Menschen den Zutritt zur eigenen Wohnung zu gestatten. Hinzu kommen geringes Selbstvertrauen und Depression. Die Störung soll seit der Kindheit bestehen. Es soll in Deutschland immerhin ca. 300 000 Betroffene, etwa gleich viele Männer wie Frauen, geben. Die Betroffenen erleben sich als sozial stigmatisiert.
2.2. Ätiologische Hypothesen Die Ratgeberliteratur präsentiert bereits ätiologische Hypothesen.
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Arnd Barocka
Biologische Faktoren Es soll eine genetische Belastung geben, d. h., das Messie-Phänomen soll familiär gehäuft auftreten. Die Störung in der Informationsverarbeitung, insbesondere in der Hierarchisierung von Informationen, soll auf eine Störung des dopaminergen Systems hinweisen, die Störung der Impulskontrolle, d. h. Kaufzwang und Sammeltrieb, auf eine Störung des serotonergen Systems – dahin gehend wird der deutsche Psychiater Manfred Spitzer aus der Frauenzeitschrift „Brigitte“ zitiert.
Psychologische Faktoren Auf der psychologischen Ebene beschreibt man frühkindliche psychische Belastungen der Art, dass die Erziehungspersonen dem Kind zu wenig Autonomie einräumen und seine Handlungsimpulse unterdrücken. Daraus entsteht ein Verhaltensmuster, das einerseits defizitär ist – die Betroffenen haben es nicht gelernt, eigene Ziele zu verfolgen –, andererseits passivaggressiv – die Unordnung entspricht einer unbewussten Tendenz, andere Menschen zu strafen oder auf Abstand zu halten.
Soziale Faktoren Die Überflussgesellschaft begünstigt die Anhäufung von Gegenständen, aber auch die Reiz- und Informationsüberflutung. Wenn man davon ausgeht, dass die Fähigkeit zu Ordnung und Planung normal verteilt ist, dann ist es plausibel, dass mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft die Zahl derer wächst, deren Fähigkeiten den gestiegenen Anforderungen an die Informationsverarbeitung nicht gewachsen sind. Fast alle diese Aussagen sind empirisch kaum substantiiert; es sind Hypothesen. Dennoch zeigen die Auflagen der Ratgeberliteratur und die Aktivitäten der Selbsthilfeorganisationen, dass das zugrunde liegende Phänomen sozial hoch bedeutsam ist (Tolin et al. 2008).
3. Die Organisations-Defizit-Störung in der wissenschaftlichen Literatur 3.1. Nomenklatur Hier stoßen wir zunächst auf das Problem, dass der Begriff „Messie“ in der wissenschaftlichen Literatur kaum vorkommt. Man spricht entweder von Vermüllung (engl. domestic squalor) oder von Horten, d. h. einem krank-
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Krank oder nicht krank? haften Sammeltrieb (engl. hoarding). Der Begriff Diogenes-Syndrom wird manchmal in der Literatur für die Verwahrlosung alter Menschen verwendet. Etwas anders beschreiben Klosterkötter und Peters (1985) das „Diogenes-Syndrom“. Die Betroffenen legen nicht nur wie der zynische Philosoph keinen Wert auf ihr Äußeres und das Aussehen ihrer Wohnung, sondern stellen sich – so sehen es die Autoren – gegen die bürgerliche Gesellschaft, unterwerfen sich nicht deren Normen und bewahren in der Vermüllung ein hohes Maß an persönlicher Unabhängigkeit.
3.2. Organisations-Defizit-Störungen in der Normalbevölkerung Wie Zwangsphänomene, Phobien und andere subsyndromale psychische Störungen ist auch das Horten in der gesunden Bevölkerung verbreitet (Coles et al. 2003). Bei psychisch nicht erkrankten amerikanischen CollegeStudenten, die sich selbst als „packrats“ (deutsch: „Jäger und Sammler“) charakterisierten, wurden in einem Test ähnliche Schwierigkeiten mit der Bildung von Kategorien und der Einordnung von Gegenständen in diese Kategorien gefunden wie bei klinisch manifesten Fällen (Luchian et al. 2007).
3.3. Organisations-Defizit-Störungen bei psychiatrischen Krankheitsbildern Organisations-Defizit-Störungen treten bei so vielen psychiatrischen Erkrankungen auf, dass man die Frage nach ihrer Spezifität stellen muss. Um dies besser tun zu können, sollen einzelne Krankheitsbilder im Hinblick auf Organisations-Defizit-Störungen betrachtet werden.
Zwangsstörung (engl. Obsessive-Compulsive Disorder OCD) Hier liegen gegenwärtig die umfangreichsten Forschungsergebnisse vor. Beim Zwang handelt es sich um Gedanken, Impulse und Handlungen, die sich dem Betroffenen aufdrängen, obwohl er sie selbst als absurd betrachtet. Bei Unterlassung sind innere Sanktionen in Form sehr unangenehmer Emotionen zu befürchten, was dazu führt, dass die Zwangshandlung ausgeführt wird. Sammeln und Horten (engl. hoarding) ist faktorenanalytisch als eine Dimension der Zwangsstörung identifiziert worden – neben Kontrolle, Waschen, Ordnen, Zwangsgedanken und Neutralisieren (Cullen et al. 2007; Gönner et al. 2007). Diese Dimension war im Verlauf von durchschnittlich sechs Jahren bei 43 Patienten stabil (Rufer et al. 2005). Dennoch wird die Zuordnung des Hortens zum Zwang kontrovers diskutiert, da es häufig ich-synton präsentiert wird. Die Betroffenen rechtfer-
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Arnd Barocka tigen ihr Handeln als sinnvoll, möglicherweise aus Scham oder aber wegen der für das Horten typischen besonderen emotionalen Beziehung zu den Gegenständen. Die Vermüllung ergibt sich folgerichtig aus dem Wesen des Zwangs: Ich muss bestimmte Gegenstände (z. B. Bücher, Artikel, Broschüren) unbedingt haben und/oder bringe es nicht fertig, sie wieder wegzuwerfen. Das Merkmal Horten ist nicht kategorial im Sinne einer Ja-Nein-Aussage, sondern dimensional ausgeprägt und reicht über die traditionellen nosologischen Grenzen hinaus (Mataix-Cols et al. 2005). Der Umschlag ins Pathologische ist folgendermaßen definiert: (1) Die gesammelten Gegenstände sind objektiv nutzlos, (2) der Müll blockiert Funktionen des Wohnens (z. B. das Bad ist vollgestellt und kann nicht mehr genützt werden), (3) die Vermüllung führt zu einer erkennbaren sozialen Beeinträchtigung. Man kann die Dimension des Hortens mit psychologischen Skalen messen z. B. mit der revidierten Form des 26 Items enthaltenden „Saving Inventory“ (s. Abschnitt „Kognitive Therapie“). Pathologisches Horten als Subtyp der Zwangsstörung Viele Autoren vertreten demnach die Auffassung, dass das Merkmal „mit pathologischem Horten“ einen besonderen Subtyp der Zwangskrankheit bezeichnet (Samuels et al. 2002, 2007; Wheaton et al. 2007), der etwa 30 % der Zwangspatienten umfasst und durch folgende Eigenschaften charakterisiert ist: häufiger bei Männern, höherer Schweregrad, höhere Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen, geringeres Ansprechen auf Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) (Steketee et al. 2003) und geringeres Ansprechen auf konventionelle Psychotherapie (Abramovitz et al. 2003) – also insgesamt eine prognostisch eher ungünstige Konstellation. Das leuchtet ein, wenn man sich vor Augen hält, dass Vermüllung ja das Ende einer langen Krankheitsstrecke und ein hohes Maß an sozialer Funktionsstörung bedeutet. Aber könnte es auch sein, dass Horten nicht nur Ausdruck einer weiter fortgeschrittenen und besonders schweren Zwangsstörung ist, sondern dass ihm auch andere neuronale Mechanismen zugrunde liegen als der Zwangsstörung „ohne Horten“? Hierfür sprechen neuere Untersuchungen zur Komorbidität von Zwangssymptomen (vgl. Abschnitt „Borderline-Persönlichkeitsstörung), zur Genetik und Neurophysiologie des Subtyps „Horten“. Genetik des Zwangshortens Grundsätzlich ist die Genetik psychischer Erkrankungen besonders komplex und ihre molekulargenetische Aufklärung mit einer Reihe von schwer
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Krank oder nicht krank? lösbaren Problemen verbunden. Immerhin wurde inzwischen mehrfach die Vermutung geäußert, dass die OCD-Subgruppe „mit Horten“ genetisch distinkt ist. Denn das Phänomen ist familiär gehäuft, Verwandte ersten Grades zeigen vermehrt das Merkmal „Horten“ (Hasler et al. 2007). Ein interessantes Modell ist das Prader-Willi-Syndrom. Es ist gekennzeichnet durch Kleinwuchs, Minderbegabung, Hyperphagie und Adipositas sowie Hypogonadismus. Die Patienten horten Nahrungsmittel, aber auch nicht nahrungsbezogene Gegenstände. Daneben zeigen sie weitere Zwangssymptome wie Zupfen an der Haut, Symmetrie- und Ordnungszwänge. Offenbar leidet ein großer Teil der Prader-Willi-Patienten an einer Zwangsstörung „mit Horten“ (Dykens et al. 2003). Die chromosomale Schädigung beim Prader-Willi-Syndrom ist bekannt (in 70 % der Fälle Deletion am Chromosom 15[q11-q13]). Zhang et al. (2002) untersuchten Patienten mit Zwangsstörung (OCD), Horten und Tourette-Syndrom mit Linkage-Analyse. Sie fanden Signale auf den Chromosomen 4,5 und 17. In einer neueren Untersuchung bei Patienten mit einer Zwangskrankheit mit Horten, ebenfalls mit Linkage-Analyse, fanden sich Signale auf den Chromosomen 14 und 3 (Samuels et al. 2007). Eine genetische Belastung für die Unterform „Horten“ der Zwangsstörung ist also erkennbar, jedoch nicht ein einzelnes Gen. Diesen Sachverhalt kennen wir auch von anderen psychischen Erkrankungen. Zerebrale Bildgebung beim Zwangshorten Saxena et al. (2004) untersuchten gesunde Versuchspersonen, Patienten mit Zwangsstörung ohne Horten und Patienten mit Zwangsstörung mit Horten mit 18F-Glucose-PET. Sie fanden geminderte Stoffwechselaktivität in verschiedenen Anteilen des Gyrus cinguli bei den „Hortern“. Eine Studie mit funktionellem Kernspin fMRI ergab bei dieser Patientengruppe eine Aktivierung des linken präzentralen und des rechten temporo-occipitalen Cortex (Mataix-Cols et al. 2004). Eine Untersuchung an Prader-Willi-Patienten ebenfalls mit fMRI ergab eine frontale Aktivierung (Miller et al. 2007). Ein Fallbericht einer japanischen Forschergruppe beschreibt einen 54-jährigen Patienten mit Demenz im Anfangsstadium, der seit Jahren objektiv wertlose ausrangierte Gegenstände wie kaputte Fernsehapparate, Uhren, alte Zeitungen und Ähnliches in seiner Wohnung hortete. Zudem bestand eine Spielsucht. Im Hirn-SPECT fand man bei diesem Patienten Hypometabolismus mediofrontal und orbitofrontal beidseits sowie im Gyrus cinguli (Nakaaki et al. 2007).
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Arnd Barocka Zusammenfassend gilt sowohl für molekulargenetische wie für neurophysiologische Befunde, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein einheitlicher Pathomechanismus dargestellt werden kann, allerdings werden Frontalhirn und Gyrus cinguli mehrfach genannt. Therapie des Zwangshortens 1) SSRI Obwohl nach anekdotischen Berichten SSRI weniger wirksam sein sollen, werden in der Literatur dennoch positive Effekte z. B. von Fluvoxamin berichtet (Kaplan et al. 2004). Eine neuere placebokontrollierte doppelblinde Studie mit Paroxetin (Saxena et al. 2007) fand keinen Unterschied mehr zwischen Zwangsstörung mit und ohne Horten. 2) Kognitive Therapie Psychotherapeutische Verfahren, die spezifisch auf die Problematik des Hortens eingehen, wurden in den letzten Jahren in der Arbeitsgruppe von Frost in Northampton, Massachusetts entwickelt. Beim Horten sind typische kognitive und emotionale Störungen zu berücksichtigen (Frost et al. 1999; Steketee 2003): Die Patienten haben Angst vor Fehlentscheidungen, die sie dazu verführt, Gegenstände erst einmal zu behalten. Sie haben Probleme damit, Kategorien zu bilden, nach denen sie ihren Besitz ordnen. Jeder Gegenstand kommt ihnen fast einmalig vor, sodass sie z. B. ein Buch nicht in ein Bücherregal zu anderen Büchern stellen wollen. Patienten haben Sorge, den Zugang zu dringend benötigten Informationen nicht mehr zu finden. Sie wollen deshalb das Informationsmaterial (z. B. Zeitungsartikel) jederzeit griffbereit vor Augen haben und bringen es nicht über sich, das Material z. B. in einen Schrank wegzuräumen. Schließlich haben die Patienten eine für andere nicht nachvollziehbare emotionale Bindung an die gehorteten Gegenstände entwickelt, die ihnen ein Gefühl der Geborgenheit gewährleisten. Dass konventionelle KVT beim Subtyp Horten schlechte Ergebnisse hat, wurde unlängst noch einmal von der Hamburger Arbeitsgruppe von Iver Hand demonstriert (Rufer et al. 2006). Es gibt aber auch Einzelfallberichte über kognitive Therapien beim Zwangshorten, bei denen durch gezielte Bearbeitung dieser spezifischen Probleme die Symptomatik gebessert wurde (Saxena et al. 2002, Cermele et al. 2001, Hartl et al. 1999). Inzwischen liegt eine offene Studie zu dieser Therapieform vor. Darin wurden die Patienten über Anzeigen als Zwangshorter rekrutiert, mussten aber nicht die übrigen Symptome einer Zwangskrankheit aufweisen. Nur un-
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Krank oder nicht krank? medizierte Patienten wurden ausgewählt. 10 Patienten hielten bis zum Ende der Therapie durch. Messinstrument war zunächst das Clutter Image Rating: Hier zeigt man den Patienten Fotos mit unterschiedlichen Schweregraden häuslicher Verwahrlosung („clutter“ deutsch: Unordnung, Wirrwarr) und lässt sie ihren Zustand selbst einschätzen. Das Saving Inventory ist ein strukturiertes Interview mit den Dimensionen „clutter“, Schwierigkeit wegzuwerfen und Kaufverhalten. Das CGI ist ein globales Fremdrating des Schweregrades. Die Therapie umfasste 26 Sitzungen, mit Hausbesuchen und einer nach dem Modell von Frost und Hartl (1996) ausgerichteten KVT. Abbildung 2a zeigt eine signifikante Symptomreduktion in allen drei Dimensionen des Saving Inventory. d Abb. 2: Offene Studie zur Psychotherapie bei Zwangshorten (Tolin et al. 2007) b) Clutter Image Rating (CIR) & Clinican's Global Impression (CGI)
a) Saving Inventory Revised (SI-R)
6
80 70
SI-R total
60 50 40
Clutter
30 20 10 0
vor der Therapie
nach 12 Sitzungen Therapieverlauf
nach 26 Sitzungen
Difficulty discarding Acquiring
Standard-Werte
Standard-Werte
90
5 4
CIR CGI-S
3 2 1 0
vor der Therapie
nach 12 Sitzungen
nach 26 Sitzungen
Therapieverlauf
Abbildung 2b zeigt den gleichen Therapieverlauf für Clutter Image Rating und CGI. Dabei sieht man einerseits ein Ansprechen auf die Therapie, andererseits eine deutliche Restsymptomatik am Ende der Behandlung.
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Arnd Barocka d Abb. 3: Offene Studie zur Psychotherapie bei Zwangshorten (Tolin et al. 2007)
5 0 0
4
8
12
16
20
24
% Reduktion
-5 -10
Clutter Difficulty discarding Acquisition
-15 -20 -25 -30 -35 -40
Sitzungen
Abb. 3 schlüsselt anhand des Saving Inventory den Therapieverlauf auf. Auf der Ordinate ist die Symptomreduktion in Prozent aufgetragen. In den ersten Sitzungen zeigen sich nur unwesentliche Veränderungen. Erst ab der 16. Sitzung kommt man über die 15%-Besserung hinaus. Nach Angaben der Autoren waren 5 von 10 Personen Therapieresponder, d. h., sie waren am Ende gut oder sehr gut gebessert. Noch ist also die Therapie des Hortens ein hartes Brot, aber es zeichnen sich doch schon Möglichkeiten eines verbesserten therapeutischen Zugangs ab.
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS Das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS beginnt in der Kindheit. Es wurde früher zu selten und wird gegenwärtig zu häufig diagnostiziert. Beim Übergang ins Erwachsenenalter tritt typischerweise die Hyperaktivität zurück, während die Aufmerksamkeitsstörung persistiert. Die Symptomatik lässt Überschneidungen mit dem charakterologischen „Messie-Syndrom“ plausibel erscheinen: der frühe Beginn (vor dem 6. Lebensjahr) und die persönliche Identifikation mit der Symptomatik, die familiäre Häufung, die Behandlung meist im ambulanten Bereich, selten in der Klinik, sowie vor allem das Kontinuum der Schweregrade, das vielen Betroffenen erlaubt, ihre Symptome gerade noch zu kompensieren und zu verbergen. Anekdotisch beschreiben dies Kaplan et al. (2004). Ein vermehrtes
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Krank oder nicht krank? Auftreten von ADHS, insbesondere des aufmerksamkeitsgestörten Typs, bei Personen mit Zwangshorten wurde berichtet. Bei Personen aus Selbsthilfegruppen für „Messies“ wurden im Vergleich zu Kontrollpersonen signifikant erhöhte Werte auf der Attention deficit/hyperactivity disorder symptom scale ADHSSS von Barkley und Murphy gefunden. Vier von 26 „Messies“ gaben an, schon einmal wegen ADHS behandelt worden zu sein (Hartl et al. 2005). Kinder, die zugleich an einem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom litten, zeigten bei der Untersuchung von Zwangssymptomen überraschend häufig eine Zwangssymptomatik mit dem Subtyp des Hortens (Moll et al. 2002). Bei 120 Kindern und Jugendlichen (Durchschnittsalter 13,7 +/− 2,8 Jahre) mit Zwangsstörung bestand eine Beziehung zu ADHS folgender Art: Bei komorbider bipolarer Störung, die in 35,8 % der Fälle vorlag, fand sich bevorzugt der Subtyp „mit Horten“ und eine höhere Komorbidität mit ADHS – verglichen mit OCD-Patienten ohne bipolare Störung (Masi et al. 2007).
Borderline-Persönlichkeitsstörung Die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird ätiologisch in vielen Fällen als Folge kindlicher Traumatisierungen betrachtet und steht deshalb in einer gewissen Nähe zur Posttraumatischen Belastungsstörung (s. nächsten Abschnitt). Die Symptomatik ist gekennzeichnet durch gestörte Kontrolle der Impulsivität und Emotionalität. Hinzu kommen Gefühle innerer Leere und Sinnlosigkeit, Derealisation und Dissoziationen. Dies führt sowohl zu planlosen, wenig zielführenden Handlungsweisen als auch zu Antriebsstörungen. Es ist deshalb plausibel und auch aus der klinisch-psychiatrischen Erfahrung bekannt, dass bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung Vermüllung vorkommen kann ebenso wie Probleme mit Behörden, dem Einhalten von Fristen und dem Wiederfinden von Urkunden.
Posttraumatische Belastungsstörung PTBS Spezifisch dysfunktionales Elternverhalten wird in der Ratgeberliteratur ursächlich für die Entstehung der Organisations-Defizit-Störung verantwortlich gemacht (s. Abschnitt „Psychologische Faktoren“). Weiters ist bekannt, dass das typische Sammelverhalten in bestimmten Fällen nach psychischen Traumata auftritt. In einer Studie an Teilnehmern von Selbsthilfegruppen wurde im Vergleich zu Kontrollen eine signifikant größere Zahl, Vielfalt und Schwere psychischer Traumatisierungen festgestellt (Hartl et al. 2005). Eine Studie an 180 Zwangspatienten, von denen 24 % dem Subtyp „Horten“ entsprachen, bestätigte diesen Zusammenhang (Cromer et al. 2007). Auch bei
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Arnd Barocka der PTBS kommen Dissoziationen vor. Die hierfür typischen, teils sehr kurzen, teils mehrere Stunden, ja Tage anhaltenden Bewusstseinsstörungen mit Amnesie bieten ebenfalls eine plausible Basis für gestörte Ordnung.
Bipolare affektive Störung Patienten mit Manie, Hypomanie oder manisch-depressiven Mischzuständen, letztere also auch mit einem Anteil manischer Symptomatik, können gelegentlich unter dem Bild des Messies auftreten. Allerdings sind nicht alle Manisch-Depressiven Messies, sondern nur bestimmte Verlaufskonstellationen führen dazu: subakut langjährig mit wenig symptomfreien Intervallen und nicht extrem schwerer Ausprägung. Auch beginnt die Erkrankung nicht in der Kindheit, sondern im frühen Erwachsenenalter. Familiäre Häufung ist sicher, wenn auch der Erbgang bisher nicht geklärt werden konnte. Die Symptome sprechen auf Dopaminantagonisten an. Man diskutiert eine „Bipolar spectrum disorder“, ein Kontinuum, das subsyndromal beim hyperthymen Temperament beginnt und bis zu den schweren Bipolar-I-Formen reicht (Akiskal et al. 1999). Bei Kindern besteht eine hohe Komorbidität von Zwangsstörung mit Horten, bipolarer Störung und ADHS (vgl. Abschnitt „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS“ Masi et al. 2007). Falldarstellung Bipolare affektive Störung Zur Aufnahme kommt nach einem ambulanten Vorgespräch ein 48-jähriger unverheirateter Mann. Er sei verzweifelt, weil ihm alles über den Kopf wachse. Er könne seine Steuererklärung nicht abgeben. Es gebe schon einen Strafbefehl vom Finanzamt über 1500 €. Dies sei jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Er sei zeit seines Lebens vor Aufgaben ausgewichen. Sein Perfektionismus habe ihn daran gehindert, etwas zu Ende zu führen. So wollte er z. B. den Dachstuhl seines Wohnhauses renovieren. Das Dach wurde abgedeckt, aber nicht wieder neu eingedeckt, weil ihm das Geld ausgegangen sei. Er habe das Dach notdürftig mit Folien verschlossen, nun schon seit mehreren Jahren. Er habe Baumaterialien gesammelt, die er später einmal gebrauchen könne. Diese lägen bisher nutzlos herum. Überhaupt habe er einen zwanghaften Sammeltrieb. Er habe in seinem Haus eine große Zahl von Gegenständen aufgehäuft, meist Broschüren oder Zeitungen, sodass er sich nicht zurechtfinde und auch wichtige Dokumente nicht wiederfinde. Vom 2. bis zum 3. Lebensjahr sei er bei der Großmutter aufgewachsen. Diese war streng, Zeugin Jehovas. Auch die Mutter, eine „Respektsperson“, ließ ihm wenig Freiheit. Wegen Lippen-Nasen-Gaumen-Spalte wurde er
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Krank oder nicht krank? häufig operiert. Ein älterer Bruder war das „schwarze Schaf “ und neigte zur Verwahrlosung. Ein anderer Bruder sei ebenfalls Jehovas Zeuge. Als er 19 Jahre alt war, starb sein Vater, der an manisch-depressiver Krankheit gelitten hatte, durch Suizid. Seine Ausbildung ging bis zur Fachhochschulreife, das anschließende Studium brach er ab. Er fasste beruflich nicht Fuß. Er sei nie recht fertig geworden, habe sich schwer mit Zeiteinteilung und Ordnung getan. Mit 30 Jahren war er schon einmal vier Monate in unserer Klinik unter den Diagnosen „Neurotische Depression. Arbeitsstörungen bei ausgeprägten schizoiden und zwanghaften Zügen“. Jetzt arbeite er als Zeitungszusteller mit einem Einkommen von 1100 € Brutto. Die 82 Jahre alte Mutter lebt mit Wohnrecht in seinem Haus, sodass für ihn nur ein kleines Zimmer bleibt. Laut Aufnahmebefund der Klinik war das formale Denken umständlich weitschweifig, Aufmerksamkeit und Konzentration subjektiv gestört, die Stimmung gedrückt bei innerer Unruhe. Die Diagnosen waren mittelgradige depressive Episode ohne somatische Symptome sowie Zwangsstörung vorwiegend mit Zwangshandlungen (Horten); eine Therapie mit 200 mg/die Fluvoxamin wurde begonnen. Neuropsychologisch war im Zahlenverbindungstest ZVT die selektive Aufmerksamkeit normal, im Zahlensymboltest die geteilte Aufmerksamkeitsleistung deutlich verzögert mit 72 sec. Im d2 war die Leistung deutlich unterdurchschnittlich mit einem Prozentrang von 14. Wortflüssigkeit, Umgang mit Zahlen, visuokonstruktive Leistungen, Gedächtnis, verbal und visuell, waren alle normal. Leistungseinschränkungen bestanden also ausschließlich im Bereich der selektiven Aufmerksamkeit und der Konzentration, insbesondere unter Zeitdruck. Die Therapie bestand aus Arbeitstherapie, sozialen Maßnahmen, nämlich Vorbereitung eines betreuten Wohnens, und Einzelgesprächen, die weitgehend klärenden und beratenden Charakter hatten. Darüber hinaus empfahlen wir – als immer neue finanzielle Belastungen zum Vorschein kamen – eine gesetzliche Betreuung mit dem Wirkungskreis der Vermögenssorge. Der Patient nahm das sehr übel und verließ die Klinik gegen ärztlichen Rat. Wenige Tage später jedoch wurde er erneut stationär aufgenommen. Er war nun hoch akut manisch, agitiert logorrhoisch mit psychotischer Symptomatik, einem religiösen Größenwahn. Die Diagnose einer bipolaren affektiven Störung wurde gestellt, und die Verlegung auf eine geschlossene Station veranlasst. Rückblickend wurden die sozialen Probleme und die Aufmerksamkeitsstörung als Folge formaler Denkstörungen im Rahmen der bipolaren affektiven Störung gedeutet.
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Arnd Barocka Dieser Patient imponierte im Erstkontakt als typischer Messie und bezeichnete sich auch selbst so. Jetzt wissen wir, dass eine manisch-depressive Erkrankung – übrigens wie bei seinem Vater – vorliegt.
Schizophrenie und Demenz In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschrieb der Berliner Psychiater Dettmering das von ihm sogenannte „Vermüllungssyndrom“ (Dettmering et al. 2004). Dettmering arbeitete beim Gesundheitsamt und machte Hausbesuche. Die vermüllten Wohnungen, die er dabei sah, gehörten älteren Patienten mit einer Wahnsymptomatik und/oder Orientierungsstörungen, sodass man von Demenz oder Altersschizophrenie ausgehen konnte (eingehende Diagnostik war im gegebenen Rahmen meist nicht möglich). Stein et al. (2003) fanden bei 100 stationär aufgenommenen gerontopsychiatrischen Patienten 5 Fälle mit Horten, davon 4 mit den Symptomen einer paranoiden Schizophrenie und Demenz, ein Patient mit einer manischen Episode und Demenz. Wustmann und Brieger (2005) untersuchten in Halle 35 Patienten mit Vermüllungssyndrom; davon waren 17 dement und 14 schizophren. Sowohl bei der Demenz als auch bei fortgeschrittenen Fällen von Schizophrenie ist die häusliche Verwahrlosung zwanglos aus der Symptomatik abzuleiten: aus der Störung der Merkfähigkeit und der Orientierung bei der Demenz, dem Misstrauen, sozialen Rückzug, Antriebsmangel und der emotionalen Nivellierung bei der Schizophrenie. Etwa die Hälfte der in der Literatur berichteten Fälle von häuslicher Verwahrlosung soll ältere Patienten betreffen (Snowdon et al. 2007). Es fällt schwer, diese gerontopsychiatrischen Patienten als Messies zu bezeichnen. Mit dem von Felton und anderen beschriebenen Schicksalen haben sie nur die Vermüllung gemein. Es fehlt die das Leben durchziehende Vorgeschichte, die Messie-Persönlichkeit und das innere Chaos, dessen Ausdruck das äußere Chaos ist. Falldarstellung Gerontopsychiatrie Der 76-jährige Herr Müller kommt zum dritten Mal in unsere stationäre Behandlung. Erstmals vor 30 Jahren habe er an einer Depression gelitten und sei stationär behandelt worden. Seine Persönlichkeit ist gekennzeichnet von übermäßiger Genauigkeit, Pünktlichkeit und Pflichtbewusstsein. Seine Frau hat ihn wohl auch deshalb vor 18 Jahren verlassen; er lebt allein. Bei der jetzigen Aufnahme in der Klinik berichtet er, er sei zunehmend depressiv, antriebslos, mutlos, ängstlich agitiert und unruhig gewesen. Er verspüre auch eine körperliche Schwäche. In den letzten sechs Wochen habe er 10 kg abgenommen. Im psychischen Befund war er wach und bewusstseinsklar, in gut gepflegtem Zustand, im Kontakt gut erreichbar. Die
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Krank oder nicht krank? Stimmung wirkte deutlich gedrückt, Unruhe und Ängstlichkeit prägten die Gesprächssituation. Das Denken kreiste um eigenes Versagen, Scham und Schuld und war deutlich eingeengt. Wahnsymptome lagen nicht vor. Offenbar handelte es sich nach ICD-10 um das Rezidiv einer depressiven Episode mit somatischen, nicht aber mit psychotischen Symptomen. Zusätzlich bestand der Verdacht auf eine zwanghafte Primärpersönlichkeit. Herr Müller war sichtlich erleichtert, in die Klinik zu kommen, die letzten Wochen waren für ihn wohl eine erhebliche Belastung gewesen. Im Rahmen der stationären psychiatrischen Behandlung wurde Herr Müller mit einem SSRI medikamentös antidepressiv behandelt und nahm an einzel- und gruppentherapeutischen Angeboten teil. Dabei war er stets gesprächsbereit, höflich, kooperativ, die depressive Verstimmung besserte sich deutlich. Zu einer erheblichen Verschlechterung des Befindens kam es aber, als erstmalig eine Beurlaubung nach Hause thematisiert wurde. Herr Müller äußerte sich dabei nicht eindeutig, er druckste herum, das Thema Nach-Hause-Fahren war für ihn sichtlich belastend und angstbesetzt. Für die behandelnden Ärzte war dies nicht nachvollziehbar, sodass ein Angehörigengespräch mit dem Bruder und der Schwägerin vereinbart wurde, bei dem Herr Müller natürlich mit anwesend war. Auch dieses Gespräch schien ihn im Vorfeld sehr zu belasten, er reagierte mit Angst und Unruhe. Im Gespräch mit den Angehörigen stellte sich dann heraus, dass Herr Müller in den Monaten vor der Aufnahme „gesammelt“ habe. Seine Wohnung sei bis zur Decke voll mit Papieren, Prospekten, Müll, schmutzigen Taschentüchern, Flaschen usw. Er habe nur ein kleines Stück freien Teppichboden, auf dem er geschlafen habe. Die Schilderung seiner Angehörigen war Herrn Müller äußerst peinlich, er zog sich voller Scham zurück, andererseits war er auch erleichtert, dass das häusliche Problem benannt wurde. Um ein besseres Bild von der Situation zu bekommen, wurde ein Hausbesuch vereinbart. Dort zeigte sich die Wohnung vollgestapelt mit Papieren, Kartons, Verpackungen. Herr Müller sah sich sofort in der Wohnung um, ob etwas verändert oder weggekommen sei. Dabei erzählte er von seinen Schwierigkeiten, etwas wegzugeben, loszulassen, auszusortieren. Er denke dann mehrere Stunden lang darüber nach, wäge immer wieder ab, ob etwas noch wichtig sei oder nicht, bedenke das Für und Wider und gelange schließlich zu dem Schluss, alles beim Alten zu lassen. Allerdings war es ihm sichtlich unangenehm, in Begleitung in die Wohnung zu gehen. Die Entscheidung, die Wohnung von seinen Angehörigen säubern, ordnen und renovieren zu lassen, fiel ihm sichtlich schwer, er rang immer wieder mit
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Arnd Barocka sich, kam in seiner Ambivalenz nicht weiter, sodass die Therapeutin sich einschalten musste, er sich gewissermaßen ihrer Entscheidung beugte, ohne jedoch Widerstand dagegen zu leisten. Nachdem die Wohnung renoviert war, wurde ein erneuter Hausbesuch mit Herrn Müller durchgeführt. Die Wohnung war ihm jetzt sichtlich fremd. Er wollte nach dem ersten kurzen Blick bereits wieder zurück in die Klinik. Schließlich sah er sich dennoch um, war traurig, dass einige Kleidungsstücke und Gegenstände spurlos verschwunden schienen, wirkte verstört und ratlos. Er suchte nach ganz bestimmten Dokumenten und Papieren, die er jedoch jetzt nicht mehr fand. Nach der Rückkehr wurde mit Herrn Müller die Gesprächstherapie fortgesetzt. Er konnte seine Trauer zum Ausdruck bringen, sah auch die Notwendigkeit einer Hilfe von außen ein, wenngleich er andererseits auch stets (wie Diogenes) seine Autonomie betonte. Gemeinsam mit den Angehörigen wurden Möglichkeiten der Versorgung und Betreuung erörtert, z. B. Besuch einer Tagesstätte nach der Entlassung, Versorgung durch Essen auf Rädern, Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Depressionen. Im Anschluss an die Klinik erfolgte eine ambulante nervenärztliche Weiterbehandlung.
Substanzabhängigkeit Fortgeschrittene Verläufe können ebenfalls mit kognitiven und Antriebseinbußen einhergehen mit der Folge von Depravation und Verwahrlosung.
Essstörungen Patienten mit Anorexie horten Nahrungsmittel. Eine Generalisierung auf andere Gegenstände findet meist nicht statt. Auch andere Merkmale des Messie-Syndroms fehlen.
4. Neuropsychologische Basis der Störungen von Ordnung und Planung 4.1. Gestörte Aufmerksamkeit Die Organisations-Defizit-Störung scheint mit einer Störung von Aufmerksamkeitsleistungen einherzugehen. Es wurde berichtet, dass Betroffene leicht ablenkbar sind und Schwierigkeiten haben, bei einer Sache zu bleiben. Ihre Aufmerksamkeit wandert zu verschiedenen Gegenständen, sodass es
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Krank oder nicht krank? ihnen nicht gelingt, eine Entscheidung über einen bestimmten Gegenstand (wegwerfen, in eine Kategorie einordnen) zu treffen. Neuropsychologisch kann man einen Teil des Verhaltens bei einer Aufmerksamkeitsstörung auf die Störung eines Verhaltensmusters reduzieren, das als delayed reward bezeichnet wird. Dieses zunächst im Tierversuch beschriebene Verhalten ist mit der Fähigkeit zur Zukunftsplanung verbunden: Der Proband verzichtet auf eine unmittelbare Befriedigung seines Bedürfnisses, weil er weiß, dass er später dafür eine zusätzliche Belohnung erhält – gewissermaßen auf den Spatz in der Hand für die Taube auf dem Dach. Diese Fähigkeit zur zeitlichen Verschiebung einer Bedürfnisbefriedigung ist bei Aufmerksamkeitsstörungen (und bei Suchtverhalten) beeinträchtigt. Ein Teil des extrapyramidalmotorischen Systems, das Striatum, ist in der Umsetzung dieses Verhaltens aktiv. Die Aktivierung des ventralen Striatums erfolgt bei kurzfristiger, des dorsalen Striatums bei langfristiger Belohnungserwartung (d. h. bei delayed reward, Schweighofer et al. 2007). Die Autoren zeigen, dass hohe zerebrale Serotoninkonzentrationen Delayed-reward-Verhalten beim Menschen fördern. Die Tatsache, dass Striatum und N.accumbens als Teil des ventralen Striatums wiederum Teil des dopaminergen Belohnungssystems sind, hat auch einen klinischen Bezug. Denn sie schlägt eine Brücke zu der klinischen Beobachtung, dass Horten ein selbstverstärkendes Verhalten ist, verbunden mit lustvollen Emotionen; mit anderen Worten: Horten hat Suchtcharakter, was auch durch die beobachtete erhöhte Komorbidität von Spielsucht und Horten illustriert wird (Frost et al. 2001).
4.2. Störungen der Informationsverarbeitung Eine Reihe von Störungen der Informationsverarbeitung wurde beschrieben (Steketee et al. 2003). Die Betroffenen haben falsche Vorstellungen über den Wert von Gegenständen, was zu Problemen bei der Entsorgung führt. Sie verwenden ungünstige Organisationsstrategien und zeigen verbal und nonverbal geminderte Gedächtnisleistungen (Hartl et al. 2005 b). Weiterhin bestehen Probleme bei der Kategorienbildung von Gegenständen und Informationen (Wincze et al. 2007), verlängerte Reaktionszeiten, Probleme bei der Unterscheidung von Zielen und vermehrte Impulsivität (Grisham et al. 2007). Untersuchungen an Hirnverletzten mit diesem Beschwerdemuster ergaben Läsionen im Bereich des Frontalhirns (Hahm et al. 2001). Dieser Befund stimmt mit neueren zerebralen Bildgebungsstudien überein (s. Abschnitt „Zerebrale Bildgebung beim Zwangshorten“).
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Arnd Barocka
4.3. Kognitive Störungen Charakteristisch ist eine irrational hohe Wertzuschreibung für den Gegenstand und eine starke persönliche Bindung daran bei zugleich geringen persönlichen Bindungen an andere Menschen. Ein Betroffener sagte: „Diese Dinge sind meine Biografie, meine Persönlichkeit. Wenn man sie mir wegnimmt, zerstört man mich. Dann werde ich mich umbringen.“ Diese Bindung an Gegenstände wurde in der Literatur mehrfach beschrieben (Frost et al. 1995; White 2000; Samuels 2002).
5. Abschließende Überlegungen und Desiderata 5.1. „Organisations-Defizit-Störung“ statt „Messie-Syndrom“ Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die wissenschaftliche Bearbeitung des Phänomens „Messie“ erst am Anfang steht. Dabei stellt sicher die ausgesprochen unpassende Bezeichnung „Messie“ ein Hindernis für eine ernsthafte Beschäftigung mit der Thematik dar. Der Begriff stammt, wie bereits erwähnt, aus der Laienselbsthilfe, sollte witzig wirken und beim Verkauf der diesbezüglichen Publikationen helfen. Er wird jedoch der Problematik, ja häufig Tragik im Leben der Betroffenen nicht gerecht und trägt im Gegenteil noch dazu bei, sie zu belächeln und damit weiter zu stigmatisieren. Auch vermittelt er keine Einsicht in das Wesen des Phänomens. Denn ob es sich tatsächlich um ein „Syndrom“ handelt, ist weiterhin unklar. Da eine Störung mit Defiziten in Organisation und Planung aller Lebensbereiche vorliegt, soll diese Bezeichnung, nämlich „Organisations-DefizitStörung (ODS)“ für den deutschen Sprachraum an dieser Stelle ausdrücklich vorgeschlagen werden. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn dadurch das unsägliche „Messie“ abgelöst werden könnte.
5.2. Epidemiologische Fragen Validitätsstudien sowie Prävalenz- und Inzidenzstudien fehlen. Nicht alle Betroffenen sind gleich. Es ist unklar, wie sich die Organisations-DefizitStörung in der Normalbevölkerung zu bestimmten klinischen Störbildern verhält. Auch entsprechen nicht alle Verwahrlosten dem charakterologischen Typ der Organisations-Defizit-Störung; dies gilt besonders für die Dementen und Schizophrenen. Um diese Zusammenhänge zu erhellen, benötigen wir unbedingt mehr epidemiologische Studien. Dabei scheint das Alter des Krankheitsbeginns ein hilfreiches Unterscheidungskriterium zu
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Krank oder nicht krank? sein. Während die Organisations-Defizit-Störung als Persönlichkeitsmerkmal mit Beginn in einem frühen Lebensalter imponiert (Frost et al. 1993), treten die sekundären Störungen von Ordnung und Planung im Rahmen einer psychiatrischen Krankheit (z. B. Schizophrenie) später auf. Dies gilt auch für posttraumatische Störungen (Grisham et al. 2006). Die sehr produktive Arbeitsgruppe um R. Frost geht offenbar davon aus, dass es sich bei der persönlichkeitsnahen frühen Form um eine Dimension der Zwangsstörung handelt. Auch dies ist aber noch nicht abschließend belegt, vielmehr scheint es vielversprechend, sich auch mit ADHS, dissoziativer Störung und bipolarer affektiver Störung zu befassen, bei denen es zu ähnlichen Störungsbildern kommen kann.
5.3. Therapie Der therapeutische Ansatz von Tolin et al. sollte aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Dabei wäre dann nicht nur von Konzepten der Zwangsstörung auszugehen, sondern auch der manchmal schwer zu fassende Übergang zwischen Zwang und Drang zu berücksichtigen. McElroy et al. (1995) sprachen von einem „obsessive-impulsive spectrum“. Die suchtartige Selbstverstärkung des Sammelverhaltens stellt ein Therapiehindernis dar, das bisher zu wenig berücksichtigt wurde. In Anbetracht des großen Bedarfs und des Leidens der Betroffenen ist die Weiterentwicklung derartiger Therapien von großer gesundheitspolitischer Relevanz.
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Der Messie-House-Index (MHI) Andreas Schmidt
1. Beschreibung des Modells Der Messie-House-Index (MHI) ist ein psychodiagnostisches Messinstrumentes, welches geeignet erscheint, das Ausmaß der Einschränkung des engsten Aktionsraums eines am Messie-Syndrom leidenden Menschen zu veranschaulichen. In diesem Sinn zielt er darauf ab, einen exakten Befund einer (überfüllten) Messie-Wohnung zu erstellen und dadurch eine gleichsam ‚objektive’ Vergleichsmöglichkeit verschiedener Schweregrade der Beeinträchtigung zu ermöglichen. Zur Berechnung des Indexwertes geht der MHI-Modell von der zur Gesamtfläche in Relation gesetzten Nutzfläche der Wohnung aus. Dabei werden die einzelnen (noch) frei begehbaren Flächen perzentil zur Gesamtfläche in Bezug gesetzt und in die 10-stufige Rangskala transformiert. d Tabelle 1: Die Modelltabelle zeigt die Flächen in Prozent und den MHI Fläche begehbar Fläche belegt MHI
100 0 0
90 10 1
80 20 2
70 30 3
60 40 4
50 50 5
40 60 6
30 70 7
20 80 8
10 90 9
0 100 10
Der Normalbereich liegt praktisch zwischen 1 und 4. Bei einem MHI 5 zeigen die Betroffenen bereits einen messiespezifischen Leidensdruck, wie Scham oder sozialen Rückzug, wobei eine gewisse Funktionalität der Wohnbereiche aber noch vorliegt. Ab einem MHI 9 bis 10 besteht unmittelbarer multiprofessioneller Handlungsbedarf (etwa psychosoziale Maßnahmen, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie).
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Andreas Schmidt Bildliche Darstellungen von Messie-Wohnungen: d Wohnung mit MHI 3: Nutzfläche: 46,7 m2; verbleibend: 33,0 m²
Der MHI 3 liegt im Bereich der funktionellen Norm. Die unterste Range liegt zwischen MHI 1 und 4. Diese ist durchwegs als Normalbereich anzusehen. Hier kann – wenn auch unter eingeengteren Bedingungen – ein herkömmliches Alltagsleben stattfinden. Ein messiespezifisches Leiden im Bezug auf Objekte liegt (noch) nicht vor. d Wohnung mit MHI 5: Nutzfläche: 69,0 m2; verbleibend: 35,0 m2
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Der Messie-House-Index
Der MHI 5 liegt im mittleren Bereich. Der mittlere Range liegt zwischen MHI 4 bis maximal 6. Alle Areale der Wohnung sind grundsätzlich erreichbar, jedoch erheblich eingeengt. Die im Bild erkennbaren „Stichwege“ als einzige Möglichkeit des Zuganges zu Objekten sind dabei charakteristisch. Der Überblick über einzelne Objekte ist bereits verloren gegangen und das Suchen mit einem größeren Suchaufwand verbunden. Das soziale Leben innerhalb der Wohnung ist massiv eingeschränkt. d Wohnung mit MHI 9: Nutzfläche: 64,0 m2; verbleibend: 8,0 m²
Der MHI 9 bedeutet die absolute Unzugänglichkeit sowohl zu den einzelnen Wohnbereichen als auch zu den Objekten selbst. Die hochgradige Range liegt bei MHI 7 bis 10 (und theoretisch >10). Die funktionale Gebundenheit ist aufgehoben, was beispielsweise das Schlafen im Lehnsessel notwendig macht. Die Betroffenen können niemanden in die Wohnung einladen. Hier ist bereits akuter Handlungsbedarf indiziert.
2. Literatur Statistik Austria. Wohnen. Ergebnisse der Wohnungserhebung im Mikrozensus Jahresdurchschnitt 2006. Verlag Österreich, Wien (2007)
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Andreas Schmidt
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Der Messie-Formenkreis Katharina Reboly
1. Einleitung Abgeleitet vom englischen Wort „mess“ (= Unordnung) werden jene Menschen Messies genannt, die ihren Lebensbereich drastisch einschränken, indem sie zum Beispiel ihre Wohnungen mit Dingen vollräumen und unter Umständen sich auch die Organisation des Alltagslebens oft extrem erschweren. Die amerikanische Sonderschulpädagogin Sandra Felton (1994) prägte den Begriff „Messies“ für Menschen, die an dieser Desorganisation, bezogen auf Raum, Zeit und soziale Integration, leiden und etablierte eine Selbsthilfebewegung in den USA. Aufgrund internationaler Entwicklungen und unseren Erfahrungen ist anzunehmen, dass unter dem Messietum eine größere Anzahl von Menschen leidet. Derzeit steht fest, dass diese psychische Entität nicht ausreichend wissenschaftlich dokumentiert oder aufgearbeitet ist. Die populärwissenschaftliche Literatur umfasst primär Ratgeber, die durch Anleitung Verhaltensänderung versprechen, oder Darstellungen von einzelnen Fallbeispielen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung im deutschsprachigen Raum begann mit einer Fallstudie zum „Vermüllungssyndrom“ (Dettmering 1985) in den USA Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts unter dem Begriff „compulsive hoarding“ (Pritz 2007). Da dieses Leiden nicht als psychische Störung erfasst wurde, ergibt sich derzeit ein Mangel an psychotherapeutischer Kompetenzentwicklung. Aufgrund des bisher unzureichenden professionellen Angebots im psychosozialen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgungsbereich konnte im Rahmen der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien und der Psychotherapeutischen Ambulanz der SFU die erste und einzige Plattform in Österreich für Betroffene und deren Angehörige geschaffen werden: die expertenun-
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Katharina Reboly terstützte Selbsthilfegruppe, die expertenunterstützte Angehörigengruppe, Gruppenpsychoanalyse für Messies, die öffentliche Vortragsreihe zu messiespezifischen Themen, Informations- und Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit, die Organisation der Ersten und Zweiten Österreichischen MessieTagung, Psychotherapie auf Krankenschein und letztlich Unterstützung durch Studentinnen und Studenten. Das Messies-Forschungsprojekt an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien setzt sich mit mehreren Schwerpunkten auseinander. Einerseits soll das Phänomen beschrieben werden und zu bekannten Krankheitsbildern in Bezug gebracht werden (diagnostische Abgrenzung), andererseits wird die Nosologie und Ätiologie erhoben. Zudem werden die bisherigen Zusammenfassungen über Gespräche mit Betroffenen einer kritischen Betrachtung unterzogen, um die Voraussetzung für effizientere Therapieansätze zu finden (psychotherapeutische Behandlungskonzepte). Schließlich handelt es sich um eine explorative Pilotstudie, da abzuklären ist, ob dieses Erscheinungsbild einen Krankheitswert hat bzw. ein Kulturphänomen darstellt im Sinne einer „Überforderung des Individuums innerhalb westlicher Industriegesellschaften“ (Wettstein 2005; siehe auch Kapitel „Selbstbilder“). Ein weiterer Schwerpunkt beschäftigt sich mit den spezifischen Leidenszuständen von Messie-Angehörigen. Im Rahmen der Psychotherapeutischen Ambulanz der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien ergab sich im April 2005 die Möglichkeit zur Konstituierung einer Messies-Selbsthilfegruppe unter der Obhut von Frau Dr. Elisabeth Vykoukal. Studierende der Pyschotherapiewissenschaften sind so in der Lage, unter Supervision die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Aufrechterhaltung der Selbsthilfegruppe zu begleiten. Eine äußerst positive Resonanz auf die Gruppenkonstituierung konnte festgestellt werden, vor allem geprägt durch die große Erleichterung, dass die Betroffenen andere Messies kennengelernt haben, da dieses Leiden oft von sozialer Isolation begleitet wird. Die Ziele der Selbsthilfegruppe sind vielfältig: Gedankenaustausch, gegenseitige Unterstützung, Selbsterfahrung, Entlastung und Ermutigung durch den Austausch mit anderen Betroffenen sowie Informations- und Aufklärungsaktivitäten über das „Messie-Syndrom“ in unterschiedlichen Medien. Beim Gruppenselbsthilfeprinzip ist es u. a. entscheidend, ob sich Selbsthilfegruppen als zerstreute Sozialsplitter nur gelegentlich sammeln oder ob sie als selbstständige Gesamtheit ohne Verlust der lebendigen Basis handlungsfähig werden können (Möller 1978). Die teilnehmende Beobachtung und die angefertigten Gedächtnisprotokolle der Studierenden aus den Gruppensitzungen stellen den Ausgangspunkt für weitere Konfrontationen und Überlegungen dar:
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Der Messie-Formenkreis Der Austausch mit anderen führte bei den Betroffenen manchmal zu einer Entlastung hinsichtlich ihrer Scham über ihre Situation. Auch dass das „Kind einen Namen hat“ und „man nicht allein ist“ trugen zur Akzeptanz der eigenen Situation bei. Gerne werden Vergleiche mit prominenten Messies (Marcel Prawy, Johanna Reininghaus, Hermes Phettberg, Franz Schuh, Elfriede Gerstl etc.) gezogen, um die Kreativität, Besonderheit und Vielschichtigkeit einer „Messie-Persönlichkeit“ zu untersteichen. Die Konstituierung der Selbsthilfegruppe ermöglichte neben der Etablierung der individuellen Identität auch eine gesellschaftliche Identität als quasi homogene Gruppierung. Nicht nur darin zeigte sich die Intellektualisierung, die sich durch die meisten Gruppentreffen zog, sondern auch im humorigen Umgang der Messie-Freundschaftsagentur: Kommen zwei Einbrecher in eine Messie-Wohnung; sagt der eine zum anderen: Oje! Da waren ja schon unsere Kollegen da!
Außerdem wurde nach subjektiven Erklärungsmodellen gesucht, warum es dazu gekommen sein könnte, dass man sich „das Leben so zumüllt“. Neben der Messie-Problematik wurden weitere Belastungen deutlich: Schlafstörungen, Kaufsucht, Zwänge, Essstörungen, Fernsehsucht, Depressionen etc. Es wurde diskutiert, ob das Messiesein als krankheitswertig oder als selbstgewählter Lebensstil („letzte Insel der gesellschaftlichen Unangepasstheit“) zu bewerten sei. Die Frage nach „bad or mad?“ beschäftigte sehr, ob man als Betroffener nun Charaktereigenschaften wie Faulheit oder Undiszipliniertheit aufweise oder erkrankt sei. Abgrenzungen zwischen „Messie-, Müllie-, Massie- und Sammlersein“ werden getroffen. Sicherheit sei die Abwesenheit von Angst, und das Messiesein sei als Reinszenierung früherer Ängste zu verstehen. Zum Beispiel bei Auftreten von Panik beim bloßen Gedanken an den Rauchfangkehrer, wenn dieser in die Wohnung müsse. Die spezifischen Ängste – wie Verlust- oder Trennungsangst – wurden im Zusammenhang mit der Schilderung der Wohnsituationen deutlich: Oftmals sieht diese so aus, dass eine Wohnung von Angehörigen übernommen wurde. Aufgrund unterschiedlicher psychodynamischer Gründe sehen sich die Betroffenen nicht in der Lage, etwas zu verändern: „Ich will lernen, dass mir das nicht wehtut, wenn ich was weggebe.“ Trotz der auffälligen Unpünktlichkeit fast aller (!) Teilnehmer schilderten viele eine Versäumnisangst nicht nur in Bezug auf Zeit, sondern auch im Umgang mit Alltagsgegenständen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu einzelnen Situationen wurden unter die Lupe genommen, und es wurde vorsichtig versucht herauszufinden, welcher Gruppenteilnehmer nun „am
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Katharina Reboly vermülltesten“ bzw. wer „gar kein richtiger Messie“ sei, um aufgrund des Gruppenmaßstabs die eigene Situation einordnen zu können. Ferner wurde Arbeitslosigkeit versus Berufstätigkeit als Schweregradskriterium definiert. Die Betroffenen artikulierten ihre Schwierigkeiten, Pläne und Vorhaben zu einer Umsetzung zu bringen, was zu Versagensgefühlen führte. So wurden wichtige Arbeiten immer wieder verschoben oder gänzlich vermieden. Es wurde versucht, einzelne Gegenstände als pars pro toto zu analysieren, um Zusammenhänge zwischen der Symbolik der Dinge und der Lebensgeschichte abzuleiten. Einige Teilnehmer berichteten von der Beseelung der Gegenstände. Gerne wurde die äußere Messie-Situation als Spiegel des inneren Gefühlschaos gesehen. „Was man fühlen kann, kann man nicht kontrollieren; Dinge kann man unter Kontrolle bringen.“ Dieses Zitat unterstreicht das Kontrollbedürfnis, um Unsicherheitsgefühle kompensieren zu können. Die ständige Suche nach der Sicherheit, alles bedacht zu haben, führt zu vorschnellen Entscheidungen bzw. der Unmöglichkeit, Entscheidungen überhaupt treffen zu können. Einige Teilnehmer der Selbsthilfegruppe nehmen Psychotherapie in Einzelsettings an der Psychotherapeutischen Ambulanz der Sigmund Freud PrivatUniversität in Anspruch. Um die Kommunikation mit Experten zu vernetzen und professionelle Erfahrungen auszutauschen, finden einmal im Monat Intervisionsgruppen und Kasuistikseminare statt. Psychotherapeuten tauschen ihre therapeutischen Erfahrungen aus und arbeiten an der Erforschung dieser Symptomatik. Eine besondere Schwierigkeit in der Therapie besteht darin, dass das Messiesein den Kern der Identität bildet und es gefährlich ist, diese Identität aufzugeben. Aber es ist eine Form der Identität, die mit permanenter Selbst-Entwertung verbunden ist, weil das Abweichen von der Norm als Scheitern und Versagen wahrgenommen wird. Steins (2004) postuliert die Ambivalenz im Selbstbild der betroffenen Personen wie folgt: „Auf der einen Seite schaut man sich die konkreten emotionalen Erlebnisse und Alltagserfahrungen an, ist es negativ, ein Messie zu sein. Auf der anderen Seite werden jedoch exakt die Verhaltensweisen, die von außen betrachtet als negativ bewertet werden, als Ausdruck eines zugrunde liegenden kreativen, sozialen Kerns positiv bewertet.“ Wie bereits erwähnt, konnte bisher festgestellt werden, dass dieses Erscheinungsbild unzureichend wissenschaftliche Auseinandersetzung gefunden hat. Eine klinische oder wissenschaftliche Definition (im ICD-10 oder DSM-IV) bzw. die dahinterliegenden psychodynamischen Prozesse wurden bisher nicht ausreichend beschrieben, woraus sich ein Mangel an psychotherapeutischer Kompetenz ergibt. Die differentialdiagnostische Betrachtung und Erhebung (qualitativer Ansatz) ist ein wichtiges Anliegen zur
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Der Messie-Formenkreis Beschreibung und zur strukturierten Einordnung in das Gesamtkonzept. Im Speziellen können folgende klinische Krankheitsbilder mit der MessieProblematik in Zusammenhang gebracht werden: Zwangsstörungen (Frost 2003, Barocka 2004), Kaufsucht (Mueller et al. 2005), Depression, AD(H)S, soziale Phobie, Persönlichkeitsstörungen, Angst- und Anpassungsstörungen, Posttraumatische Belastungsstörung, Sucht (Gross 2004) psychotische Erkrankungen, etc. Da auch der Kontakt mit internationalen Organisationen und Einrichtungen sowie Fachleuten als wichtig erachtet wird, wurde ein kurzes Experteninterview zusammengestellt. Die Ergebnisse aus dem Expertenscreening und jene aus dem Messies-Fragebogen der SFU und des Beck-DepressionsInventars werden hier diskutiert.
2. Differenzialdiagnostische Überlegungen 2.1. (Historisch) verwandte Bezeichnungen und Erscheinungsbilder zum Messie-Formenkreis Häufig spricht man vor allem in der populärwissenschaftlichen Literatur vom „Messie-Syndrom“. Der Begriff des Syndroms wird im Allgemeinen als regelhafte Verknüpfung von Symptomen definiert. Erst eine Symptomkonstellation, die bereits Pathologisches beinhaltet, bildet ein Syndrom. Ob das Messiesein als Symptom, Syndrom oder ferner als Störung (engl. disorder) bzw. eigene Erkrankung zu betrachten ist, soll der Vergleich mit bereits bekannten Störungsbildern zeigen. In der ICD-10-Diagnostik wird der Begriff der Krankheit gänzlich vermieden und der Terminus „Störung“ präferiert, was möglicherweise als Eingeständnis zu werten ist, dass ein genereller Mangel an Wissen über psychische Phänomene vorherrscht (Paulitsch 2005). Das heißt, es wird hier davon ausgegangen, dass es sich beim Messie-Phänomen a priori um einen krankheitswertigen Sachverhalt handelt, da bei den Betroffenen einerseits ein enormer primärer oder sekundärer Leidensdruck (subjektive Betrachternorm), andererseits Abweichungen der funktionalen Norm und der Idealnorm (vgl. Auswertungen aus dem Expertenscreening) zu beobachten sind. Die Phasen der Krankheitsentwicklung (prämorbide Phase, Krankheitsphase) zeigen, dass jede Abnormität linear und schwankend hinsichtlich Qualität und Intensität verläuft. Aufgrund der Chronifizierung, die zu einer gänzlichen bzw. partiellen Handlungsunfähigkeit führt, scheint eine krankheitswertige Betrachtungsweise angemessen. Bei der ICD-10-Diagnostik handelt es sich um einen kategorialen, operationalisier-
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Katharina Reboly ten und deskriptiv-diagnostischen Diagnoseschlüssel, der als Grundprinzip Zuordnungen für psychische Erkrankungen und Einteilungen von Phänomenen und Gegebenheiten verfolgt. So können u. a. für die (psychotherapeutische und medikamentöse) Behandlung, für die Prognosenerstellung, die Pathogenese und für die Zusammenarbeit unter Fachleuten (Kommunikation) Konsequenzen abgeleitet werden. 1985 begann mit der Publikation „Das Vermüllungssyndrom“ von Dettmering und Pastenaci leise die klinische Auseinandersetzung mit der Vermüllungsproblematik. Allerdings wurden hier wie heute die Studien in psychiatrischen Einrichtungen durchgeführt, was folglich nur ein eingeschränktes Bild in Bezug auf die gesamte Erscheinungsform zulässt. Dettmering postuliert (2001) drei Formen der Vermüllung; nämlich Wohnungen, die nach einem stereotypen Ordnungsschema mit wertlosen Gegenständen vollgestellt werden (Gangsystem), solche Wohnungen, die keine Ordnung mehr erkennen lassen (funktionale Einschränkungen) und Wohnungen, die total unbewohnbar geworden sind (Verwahrlosung). Aufgrund der von Dettmering definierten Merkmale ist eine klare Abgrenzung zum MessiePhänomen machbar, denn es lassen sich (zitiert nach Vykoukal 2006) verschiedene Typen von Messies unterscheiden:
Merkmal 1: Häusliche und persönliche Verwahrlosung Viele Messies sind nicht häuslich verwahrlost, sondern die Wohnungen sind schier überfüllt („Massies“). Die Betroffenen können ihre Wohnung nicht als Ort der Regeneration und der Erholung von Verpflichtungen in der Außenwelt nutzen. Manche häufen Dinge an, die diese Wohnung überfüllen, sodass sie selbst kaum mehr Platz darin finden; manche scheitern auch an den Aufgaben der Reinigung und dem Umgang mit Lebensmitteln, Kleidung und Wäsche. Wenn eine persönliche Verwahrlosung vorliegt, dann wird diese niemals nach außen hin gezeigt; das heißt, es wird auf körperliche Attraktion geachtet.
Merkmal 2: Horten von Unrat und gekauften oder gesammelten Gegenständen „Die Sammler und Sucher“ haben eine Vorliebe für bestimmte Dinge, suchen diese auf Flohmärkten, bekommen sie von Freunden geschenkt, können sich von keinem dieser Stücke trennen und brauchen ständig Nachschub an neuen Exemplaren. „Die Bewahrer“ haben Schwierigkeiten, zu entsorgen, was sie an jemanden erinnert, zum Beispiel Kleidung, Briefe, Erinnerungsstücke von Verstorbenen.
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Der Messie-Formenkreis
Merkmal 3: Sozialer Rückzug und Isolation Es gibt „die Wanderer und die Einsiedler“: Die Wanderer haben viele soziale Kontakte und Interessen, benutzen die Wohnung nur zum Schlafen und haben daher auch deswegen kein Interesse an Ordnung, weil sie sowieso den Rückzug meiden. Die Einsiedler hingegen halten sich sehr viel in der Wohnung auf, gehen nur für die nötigsten Besorgungen außer Haus und verbringen den Tag damit, in ihren Bergen von Dingen zu suchen, sie hin und her zu sortieren und Pläne für Ordnungsvorhaben zu machen.
Merkmal 4: Müll als Entlastung von seelischen Problemen „Die Vermüller (Müllies)“ können sich von gar nichts trennen, nicht einmal von Müll. Sie sind in der größten Gefahr, dass ihre Wohnung von Unrat zugeschüttet wird und sie sich nicht mehr darin aufhalten können oder hygienische Missstände entstehen lassen, die durch die Behörde behoben werden müssen oder gar zum Verlust der Wohnung führen. „Die Abfallexperten“ hingegen sind über Entsorgung und Umweltschutz sehr gut informiert. Sie sind bemüht, die Mülltrennung exakt durchzuführen. Es wird manchmal mehr sortiert als entsorgt. Es kommt auch vor, dass sie Abfallcontainer durchsuchen und den Müll sortieren. Sie können mit großer Empörung über Verschwendung und Gefährdung der Umwelt berichten.
Merkmal 5: Verweigerung von Hilfsangeboten Die sozialpsychiatrische Studie von Wustmann und Brieger (2005) zeigte Hinweise, dass Interventionen in der Wohnsphäre (Umzug, Haushaltshilfen) im Gegensatz zu aufsuchender Betreuung durch den sozialpsychiatrischen Dienst und stationären Behandlungen Erfolg brachten. Von den 35 untersuchten Personen (Durchschnittsalter 63 Jahre) litten 49 % an einer organischen Störung, 40 % an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis und bei 26 % trug eine körperliche Beeinträchtigung zur Vermüllung bei.
Merkmal 6: Nichtsehen bzw. Nichtakzeptieren der offenkundigen Verwahrlosung Merkmal 7: Panikreaktion bei Entmüllungsaktion (Pastenaci 2004) Die frühe wissenschaftliche Bezeichnung Diogenes-Syndrom findet man heute noch immer in der englischsprachigen Literatur und sie wird (fälsch-
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Katharina Reboly licherweise) häufig synonym für das „Vermüllungssyndrom“ verwendet. Das Diogenes-Syndrom ist nach dem kleinasiatischen Philosophen Diogenes von Sinope (410–323 v. u. Z.) benannt, der die Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Konventionen, von Besitz und Errungenschaften der Zivilisation zur Verwirklichung höherer Ideale lehrte. Diogenes selbst ging in seiner materiellen Bedürfnislosigkeit so weit, dass er in einer Tonne wohnte. Eine Anekdote macht heute seine Berühmtheit aus; als Alexander der Große ihn besuchte, um ihm einen Wunsch zu erfüllen, antwortete er: „Geh mir aus der Sonne!“ Nach Faust bezieht sich das Syndrom allerdings auf die Vernachlässigung bei älteren, vormals aktiven und im Leben stehenden Menschen, die im letzten Lebensabschnitt isoliert, misstrauisch und verschmutzt leben. Im Gegensatz zum Messie zeigen jedoch diese Personen kein Schamgefühl ob der Verwahrlosung und Vernachlässigung. Aufgrund der enormen Schamproblematik ist es vielen betroffenen Messies nicht mehr möglich, ihr soziales Leben innerhalb des Wohnbereiches stattfinden zu lassen. Davon begleitet, werden oftmals paranoide Ängste ausgelöst, die sich in Misstrauen gegenüber anderen Menschen äußern. Dieses Verhalten führt schließlich zu sozialer Isolation (Frost 1996) bzw. der Unfähigkeit, befriedigende Beziehungen zu gestalten oder einzugehen, was den subjektiven Leidensdruck intensiviert. Klosterkoetter (1985) formuliert eine differenziertere Übersicht zum Diogenes-Syndrom, indem er dieses Erscheinungsbild ausschließlich im gerontopsychologischen Bereich ansiedelt. Weitere Kriterien wie die „schamlose Vernachlässigung des Körpers“ oder die „Häufung beim weiblichen Geschlecht“ schließen eine Gleichsetzung mit dem Messie-Formenkreis aus. Die pathologische Bezeichnung für Sammeltrieb (Syllogomanie) beschreibt die Neigung, Gegenstände ohne Rücksicht auf Verwendbarkeit zu sammeln und zu horten. Dies kann im Rahmen einer Alzheimererkrankung oder einer Involutionsdepression auftreten (Faust). Im Unterschied zum Messie vergessen diese Patienten die gesammelten Dinge wieder und vermissen sie auch nicht. Ein Sammelverhalten kann auch bei Menschen mit Impulskontrollstörungen beobachtet werden, zum Beispiel Kaufsucht (Mueller et al. 2005) oder Kleptomanie (Frost 2002). Allerdings soll das Auftreten eines Sammeltriebes im Zuge von Kleptomanien und besonderen Fetischismen oder das Auftreten einer Sammelsucht, die meist als gesellschaftlich anerkannte Leidenschaft gilt, nicht mit den spezifischen Ausprägungsformen bei Menschen mit Desorganisationsproblemen verwechselt werden.
2.2. Komorbidität Das Interesse der amerikanischen klinischen Forschung gilt dabei insbesondere dem obsessive compulsive hoarding. In den letzten Jahren publizierte
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Der Messie-Formenkreis Frost (2003) mehrere klinische Studien mit einer hohen Patientenzahl. Anfänglich zog er in Erwägung, dass es sich bei den Patienten mit „compulsive hoarding“ um eine Subform des OCD (obsessive compulsive disorder) handelt. Die Forschungsergebnisse zeigten jedoch eine Abweichung hinsichtlich der allgemeinen Psychopathologie – „Hoarders“ hatten eine stärkere Komorbidität zu anderen Störungen als „Non-Hoarders“. In seinen späteren Publikationen spezifiziert er diesen Unterschied und zeigt wesentliche Zusammenhänge von „Hoarders“ mit Depression und Beziehungsstörungen auf. Der international gebräuchliche Begriff „Hoarding“ ist nicht ohne Weiteres mit dem Begriff „Messie-Syndrom“ gleichzusetzen (Maier 2006). Maier zeigt in seiner Studie von 2004, dass wiederum bei Menschen mit Vermüllung keine sonstigen psychopathologischen Befunde zu erheben sind. Daraus lässt sich schließen, dass es sich beim Messie-Phänomen um ein Sammelsurium verschiedenster Ausprägungsformen handeln kann (MessieFormenkreis) und vielschichtige zugrunde liegende psychodynamische Konstrukte beobachtet werden können. Eine Gegenüberstellung der DSMIV-Klassifikation mit den ICD-10-Kodierungen (Zwangsstörung DSM-IV 300.3 versus ICD-10 F42) zeigt, dass die amerikanische Einteilung als weiteres Kriterium das Ausmaß der Krankheitseinsicht vorsieht. ICD-10 unterscheidet an der 4. Stelle Zwangsstörungen danach, ob eher Zwangsgedanken, -handlungen oder eine Kombination aus beiden vorliegt. Zwanghafte Persönlichkeitsstörungen (DSM-IV 301.4 versus ICD-10 F60.5) werden im DSM-IV auf Achse II kodiert, wie alle weiteren Persönlichkeitsstörungen. Sowohl bei der anankastischen Persönlichkeitsstörung als auch bei der Zwangsstörung beschäftigt sich nach Paulitsch (2004) der Betroffene mit Details, Regeln, Listen und Ordnung (DSM-IV 301.4 Kriterium 1 und ICD10 F60.5 Kriterium 2). Allerdings sind die Symptome milder und die sozialen Aktivitäten sind in geringerem Maße beeinträchtigt; durch die sozial unverträgliche Symptomatik (wie beispielsweise Waschzwänge oder die Anhäufung von wertlosen Gegenständen) ziehen sich Patienten mit einer Zwangsstörung häufig zurück, werden meist arbeitslos oder müssen in die Frühpension gehen. Das Vertiefen in Detailarbeit, sodass die eigentliche Arbeit nie zum Abschluss kommt (DSM-IV 301.4 Kriterium 2), das gänzliche Aufgehen in der Arbeit und Produktivität bis zur Aufgabe von Freizeitbeschäftigungen und Freundschaften (Kriterium 3) und die häufig außerordentliche Gewissenhaftigkeit, die sich voller Skrupel und unflexibel in Bezug auf Moral- und Wertvorstellungen (Kriterium 4) äußert, zeigt sich auch bei Messies. Nach Saß (2003) kommt es vor, dass Menschen mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung nicht in der Lage sind, wertlose und oder abgenützte Dinge wegzuwerfen, selbst wenn diese keinerlei Gefühlswert besitzen (DSM-
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Katharina Reboly IV 301.4 Kriterium 5). Sie machen sich zu „Packeseln“. Sie erachten es als Verschwendung, etwas wegzuwerfen, denn sie denken, „man weiß nie, wann man etwas noch einmal brauchen könnte“, und sie geraten außer Fassung, wenn jemand versucht, die Dinge loszuwerden, die sie selbst aufbewahrt haben. Ihre Ehepartner oder auch andere Mitbewohner beklagen sich unter Umständen über den zunehmenden Platzbedarf für alte Gegenstände, Zeitungen, beschädigte Geräte usw. Ein Sammelzwang kann bei 30 % der Patienten mit Zwangsstörung gefunden werden (Frost et al. 1996; Samuels et al. 2002). Aufgaben werden nur ungern delegiert (Kriterium 6), und der Umgang mit finanziellen Möglichkeiten ist durch Geiz und Gier gekennzeichnet (Kriterium 7). Diese Menschen sind charakterisiert durch Rigidität und Eigensinn (Kriterium 8): Sie sind so sehr beschäftigt, auf dem einzig „richtigen“ Weg die Dinge zu tun, dass es ihnen schwerfällt, die Ideen anderer mitzuverfolgen. Sie planen bis ins kleinste Detail voraus und wollen dabei von Veränderungen nichts wissen. Völlig in die eigene Sichtweise verstrickt, ist es ihnen nahezu unmöglich, die Gesichtspunkte anderer zu berücksichtigen. Freunde und Kollegen können durch diese durchgehende Starrheit frustriert werden. Sogar wenn Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung erkennen, dass Kompromisse auch in ihrem eigenen Interesse sein könnten, werden sie diese doch eigensinnig zurückweisen, indem sie auf Prinzipien verweisen (Saß 2003). Die differentialdiagnostische Unterscheidung nach DSM-IV ist trotz der Namensähnlichkeit zwischen Zwangsstörung und einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung anhand des Vorliegens echter Zwangsvorstellungen und -handlungen leicht: Laut den Herausgebern des DSM-IV-TR (2003) sollte die Diagnose einer Zwangsstörung vor allem „bei extremer Sammelwut, wenn z. B. die Anhäufung wertloser Objekte eine erhöhte Brandgefahr darstellt und den Durchgang durch ein Haus erschwert“, gestellt werden. Liegen Kriterien für beide Störungen vor, so sollten auch beide Diagnosen gestellt werden. Allerdings werden hier keine Angaben zur Begründung genannt, woraus abzuleiten ist, wie schwierig die Messie-Symptomatik in die bestehenden diagnostischen Klassifikationen einzuordnen ist. Zwangsstörungen werden im ICD-10 zu den neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen, im DSM-IV dagegen zu den Angststörungen gezählt. Daher sollte die Frage nach den psychodynamischen Strukturen im Sinne einer dimensionalen Diagnostik eher Beachtung finden, um Ableitungen für Behandlungskonzepte und prospektive Prognosenerstellungen zu erarbeiten. Obwohl bei einem Vorliegen von Hoarding verschiedene Grundkrankheiten (Dysphorie, Life-events als Auslöser, Bipolare Störung I, PTBS und Body Dysmorphic Disorder) zugrunde liegen können, zeigen LaSalle-Ricci et al. (2005) in ihrer Studie, dass das Auftreten ei-
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Der Messie-Formenkreis ner Hoarding-Symptomatik meist mit OCD vergesellschaftet ist. Wie bereits erwähnt, listet weder die ICD-10-Diagnostik noch der DSM-IV-Diagnoseschlüssel Hoarding als eigene Klassifikation auf, aber als Symptom bei der Zwangsstörung und bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung. Die APAArbeitsgruppe rund um den DSM-V diskutiert die Kategorisierung des Messie-Phänomens im Rahmen des Zwangsspektrums. Die Komorbiditäten mit Depression, Angststörungen (spezifische Phobie, soziale Phobie, Panikstörung, generalisierte Angststörung) und Persönlichkeitsstörungen (zwanghafte Persönlichkeitsstörung, vermeidend-selbstunsichere oder dependente Persönlichkeitsstörung) und weitere wissenschaftliche Beobachtungen sollten hier in das Gesamtkonzept einfließen. Maier (2004) kritisiert, dass sich bis dato die klinische Forschung (Samuels et al.) mit dem Hoarding-Phänomen ausschließlich im Zusammenhang mit OCD beschäftigt hat und das meist mit einer geriatrischen Personengruppe. Die psychopathologische Struktur kann Elemente des OCD beinhalten, oftmals gehen mit dieser Störung aber Impulskontrollstörungen und schwere Selbstvernachlässigungen einher. Allerdings können sich diese Personen „nicht entschließen, Objekte wegzuwerfen, da sie obsessiv denken, man könnte diese Objekte später noch benötigen. Es handelt sich also nicht eigentlich um den Zwang, etwas zu sammeln, sondern um die Angst zu verhindern, die beim Wegwerfen auftreten würde“ (Maier 2006). Wie es sich zeigt, liegt oftmals Hoarding als Symptom bei OCD vor. Daher sollte man in diesem Kontext von „Compulsive Hoarding“ sprechen. Patientengruppen, die davon jedoch nicht betroffen sind, bleibt eine andere Formulierung vorbehalten. Es konnte gezeigt werden, dass ein großer Teil der Betroffenen keine klassische Zwangsstörung, sondern nur zwanghafte Elemente aufweist (Steins 2000). Gross (2002) konnotiert häufig die Messie-Symptomatik mit einer Suchterkrankung: Manche Tätigkeiten werden als „zwanghaft“ bezeichnet (z. B. Essen, Fernsehen, Glücksspiel), wenn sie exzessiv ausgeübt werden; es handelt sich hier jedoch um keine Zwangshandlungen, da diese Personen meist ein Wohlbefinden durch diese Tätigkeiten erreichen und nur wegen der schädigenden Konsequenzen eine Änderung im Verhalten wünschen (sekundärer Leidensdruck). Im Gegensatz zum „Zwang-Messie“ ist das Sammeln des Suchtkranken unstrukturiert, chaotisch, ohne System und kann ebenfalls bis zur Vermüllung gehen. Weiters beobachtet Gross, dass die klassischen Suchtkriterien „Kontrollverlust“ und „Abstinenzunfähigkeit“ gegeben sind. Eine „Entmüllungsaktion“ des Wohnbereiches löst bei den meisten Betroffenen Panikreaktionen aus (Pastenaci 2004). Inwieweit diese beschriebenen Panikreaktionen ein erhöhtes Suizidrisiko auslösen können, ist noch weitgehend unklar. Einige Betroffene sprechen von einem „unbeschreiblichen Ausnahmezustand“.
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Katharina Reboly Ein Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Messietum wurde von Wustmann (1998) beschrieben. Einige wenige Messies berichten von Alkoholproblemen in der Familienanamnese, auch die primäre Betroffenheit scheint eher gering. Allerdings erlebt der eine oder andere sein Verhalten per se als dependent. Wu et al. (2004) interpretierten die Ergebnisse ihrer Studie kritisch: Obwohl Hoarding bei einigen Patienten mit OCD beobachtet wird, können keine ausschließlichen Zusammenhänge gefolgert werden. In zwei Studien konnte aufgezeigt werden, warum die klassischen Symptome von OCD (wie Zwangshandlungen, Zwangsrituale und Verwahrlosung) interkorrelieren: Hoarding ist nicht nur ein Symptom von OCD oder Depression. Ob es sich bei der Depression schlicht um eine Nebensymptomatik beim MessiePhänomen handelt, ist fraglich. Gewiss handelt es sich um eine dynamische Wechselwirkung. Die Ergebnisse des Beck-Depressions-Inventars (2.5.) belegen eine hohe klinische Relevanz. Die Untersuchung von Mataix-Cols et al. (2000) an 75 Patienten (OCD mit „Hoarding“) ergab, dass bei 37 % eine hohe Korrelation mit dem Erscheinungsbild von Persönlichkeitsstörungen (insbesondere ängstliche Persönlichkeitsstörungen) vorliegt. Es wurde daraus abgeleitet, dass der Zusammenhang zwischen einem Hoarding-Symptom und einer Persönlichkeitsstörung häufig auftreten kann. Ein Großteil der an der Psychotherapeutischen Ambulanz der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien psychotherapeutisch behandelten Messies wurde emotional instabil diagnostiziert. Die dort abgehaltenen Supervisionen und Intervisionen belegen einen Zusammenhang mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen bzw. -Organisationen und der Messie-Symptomatik. Hartl et al. (2004) untersuchten in ihrer Studie Aspekte von posttraumatischen Belastungsreaktionen und Aufmerksamkeitsstörungen bei Hortern. Die untersuchten Messies (n = 26) wiesen signifikant mehr traumatisierte Erlebnisse und markantere Aufmerksamkeitsdefizite (und Hyperaktivität) als die Kontrollgruppe (n = 36) auf. Der gefundene Zusammenhang zwischen einer posttraumatischen Belastungsstörung und ADHS sollte hier gezeigt werden. Die Folgen dieser Stoffwechselstörung (sowohl Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen als auch Unruhezustände) sehen einige Autoren (vgl. Koch 2004) als Ansatz für ein Erklärungsmodell der Messie-Problematik. Allerdings ist diese Diagnose im Allgemeinen (vor allem bei Erwachsenen) in der psychotherapeutischen Fachwelt sehr umstritten und es empfiehlt sich daher ein kritischer und reflektierter Umgang. Die bei Dementen (Hwang 1998), bei Patienten mit Prader-Willi-Syndrom (Barocka 2004) oder Autismus (Symalla 2002) und bei Schizophrenen
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Der Messie-Formenkreis in der Prodromalphase bzw. affektiven Psychosen (Saß 1996) beschriebene Messie-Problematik, entspricht eher stereotypen Verhaltensmustern oder Tics. Hier kann man von einer Begleitsymptomatik ausgehen. Hingegen postuliert Koch (2004) ein kognitives Erklärungsmodell (Störung der willentlichen Handlungssteuerung) als Ursache für das Messie-Syndrom. Die propagierten Modelle zur Krankheitsentstehung betonen Zusammenhänge mit der Traumatheorie (Hartl et al. 2004), fehlgeleitete Trauerarbeit oder – psychoanalytisch betrachtet – eine ambivalente Mutterbeziehung (Dettmering 1985). Die Diskrepanz zwischen äußerer und innerer Welt (Steins 2000) kann durch eine narzisstische Störung oder eine orale Schädigung bedingt werden (Gross 2002): „Die Betroffenen versuchen unbewusst, die Löcher in der Seele mit Äußerlichkeiten – in diesem Fall mit Horten und Sammeln – zu stopfen. Frühkindliche traumatische Verlusterlebnisse, Bindungsstörungen und kritische Lebensereignisse können eine Einschränkung des emotionalen Erlebens hervorrufen. Es wird dann versucht, dies mit Besitz zu kompensieren: Die Unfähigkeit zu fühlen, bringt Messies dazu, sich für das ‚Haben‘ statt für das ‚Sein‘ (nach Erich Fromm) zu entscheiden.“ Die Kulturwissenschaftlerin Annina Wettstein (2005) beschreibt in ihren Ausführungen eine ähnliche Situation bei Messies in der Schweiz: Als subjektive Erklärungsmodelle für das Messiesein, berichten die Betroffenen von einem angeborenen Leiden, von auslösenden Faktoren in der Kindheit oder von ursächlichen Ereignissen im Erwachsenenalter. Folglich kann man verallgemeinernd von einer emotionalen Instabilität sprechen.
2.3. Messies-Fragebogen der SFU Der Messies-Fragebogen der SFU dient der ausführlichen Erfassung im Selbstbeurteilungsverfahren von explorativen und anamnestischen Daten und besteht aus einem allgemeinen, einem assoziativen und einem messiespezifischen Teil. 41 Personen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich – die sich als Messies bezeichnen – nahmen an der Befragung teil und stimmten zu, dass die aufgezeichneten Daten in anonymisierter Form der Forschung und Publikation zur Verfügung stehen. Die Verteilung der Geschlechter zum Zeitpunkt der Erhebung belief sich auf 27 Frauen (zwischen 37 und 70 Jahren) und 14 Männer (zwischen 27 und 55 Jahren). Schätzungen von Vertretern der Selbsthilfeorganisationen gingen von einer geschlechterspezifischen Verteilung aus (80 % Frauen), was dazu führte, dass sich die Ratgeber-Literatur ausschließlich auf das weibliche Geschlecht bezog (Felton 1994). 2001 beschäftigte sich A. Jüntschke erstmalig männerspezifisch mit dem Messie-Dasein.
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Katharina Reboly Als höchste abgeschlossene Ausbildungen (Leistungsentwicklungen) gaben 8 Personen den Pflichtschulabschluss an, 19 Berufsschule/Lehre, 11 Mittelschule, 2 Hochschule und eine Person enthielt sich der Angabe. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren 13 Personen in einem Angestelltenverhältnis und 7 Personen selbstständig berufstätig, 4 arbeitslos und 17 in (Früh-)Pension. Eine methodisch vergleichbare Studie („Exploratory Study“ Chiu et al. 2003) zum Hortverhalten in Hongkong zeigte eine ähnliche Situation. Es handelte sich um 17 Frauen, 13 Männer im durchschnittlichen Alter von 54,9 Jahren. 24 Patienten liefen unter einer psychiatrischen Diagnose, 6 zeigten keine psychischen Auffälligkeiten. Hauptsächlich in unteren sozioökonomischen Schichten beobachtete die chinesische Forschungsgruppe schwere Ausprägungsformen des Hortens. Einige Fälle wurden erst nach vielen Jahren des Messieseins den psychosozialen Einrichtungen bekannt. Weiters wurden die Betroffenen gebeten, ihren individuellen Leidensdruck auf einer Skala von 1 (sehr stark) bis 10 (überhaupt nicht) anzugeben; den daraus gewonnenen Mittelwert von 4,6 kann man dahingehend bewerten, dass kein exorbitant hoher Leidensdruck am Primärsymptom selbst besteht. Allerdings wird aus den Antworten auf die Frage nach den konkreten Gründen für den angegebenen Leidensdruck deutlich, dass jene Personen die sekundären Folgeerscheinungen, wie kein soziales Leben in der Wohnung stattfinden lassen zu können oder das enorme Schamgefühl, als Belastung erleben. Die Arbeit mit Messies und die Entwicklung der Selbsthilfegruppe an der Psychotherapeutischen Ambulanz der SFU bestätigen dieses Ergebnis, zumal die Teilnehmer durch das Bestehen der Gruppe die sozialen Einschränkungen kompensieren und unter „Gleichgesinnten“ Bestätigung finden. 27 Personen gaben an, bereits professionelle Hilfe aufgesucht zu haben, 4 Personen enthielten sich der Angabe. Einige rare Publikationen zur Psychotherapie mit Messies (Tolin 2007; Rufer 2006) legen aufgrund der Assoziation mit einer Zwangsstörung Verhaltenstherapie als indiziert nahe, Vertreter der Selbsthilfeorganisationen unterstreichen oft die Inkompetenz der Fachleute in Bezug auf die Messie-Problematik. Auch die medikamentöse Therapie wird bei der Behandlung von Grundkrankheiten und Begleitsymptomatiken eingesetzt (Steketee 2003). Damecour et al. (1998) deklarieren eine geringe Therapiemotivation, geringe Introspektionsfähigkeit und eine hohe Rückfallquote bei Hoarders mit Schizophrenie, OCD und Tic-Störungen. Frost (2002) unterscheidet drei Kriterien (Sammeln – Nicht-wegwerfenKönnen – Verwahrlosen); die Symptomspanne reicht von Unordentlichkeit bis zu Geruchsbelästigung und hygienischen Problemen, von zwanghaftem Sammeln wertloser und verbrauchter Dinge bis zu Zeitmanagementprob-
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Der Messie-Formenkreis lemen. Der Leidensdruck geht häufig auf eingeschränktes Sozialverhalten durch die Nicht- oder nur eingeschränkte Benutzbarkeit der Wohnung zurück (Pritz 2007). Das prominente Symptom „Nicht-wegwerfen-Können“ (und die damit steigende Menge) findet sich häufig bei Patienten mit Zwangsstörungen. Bei den meisten Personen (26) kommen Überlappungen vor, das heißt, es können mehrere Modi beschrieben werden. Die häufigsten Kombinationen sind „Nicht wegwerfen und Menge“ und „Sammeln und Unordnung“. Auch der Zeitaufwand beim Räumen bzw. Sortieren ist unterschiedlich. Das Aufräumen kann sich über mehrere Stunden täglich hinziehen, es kann schubhaft auftreten oder gänzlich verweigert werden.
2.4. Expertenscreening Um die Kommunikation unter Experten zu vernetzen und einen professionellen Erfahrungsaustausch zu forcieren, wurden Angehörige von Gesundheits- und Sozialberufen zu ihrer Arbeit mit sogenannten Messies befragt. Die bisherigen therapeutischen Erfolge werden zwar unterschiedlich interpretiert, weisen jedoch ein unbefriedigendes Ergebnis auf. In folgender Tabelle werden die häufigsten Antworten aus dem Expertenscreening wiedergegeben: Definition von Messies und worin besteht der Leidensdruck?
Kulturelle Ausprägung versus krankheitswertige Störung Gründe und Interventionsvarianten für möglich Therapieerfolge
Zwangsstörung, Entscheidungsunfähigkeit, soziale Isolation und Vereinsamung, Einschränkungen der Lebensqualität, gesellschaftlicher Revolutionär, Beeinträchtigungen im Lebensbereich, Verlustängste/Trauma/Trennung, Anpassungsstörung und Sammelsucht. 80 % der Befragten stufen die Messie-Problematik als krankheitswertig ein.
korrigierende therapeutische Arbeitsbeziehung, praktische Unterstützung und medikamentöse Behandlung
2.5. Depression Das Beck-Depressions-Inventar ist ein Selbstbeurteilungsinstrument und erfasst den Schweregrad einer depressiven Symptomatik. Die häufigsten Beschwerden sind zu 21, keiner ätiologischen Theorie verpflichteten Items komprimiert, und seine Aussagen bleiben von Lebensalter, Geschlecht und nosologisch-diagnostischer Eingruppierung weitgehend unberührt (Hautzinger 2005). Das BDI wurde einzeln und in Gruppen bei 60 Frauen und
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Katharina Reboly Männern zwischen 35 und 72 Jahren, die sich als Messie bezeichnen, eingesetzt. Der Proband hatte aus jeder Gruppe von Aussagen jene auszuwählen, die seine gegenwärtige Situation am ehesten beschreiben. Durch jede Gruppe von Aussagen wurden typische depressive Symptome (traurige Stimmung, Pessimismus, Versagen, Unzufriedenheit, Schuldgefühle, Strafbedürfnis, Selbsthass, Selbstanklagen, Selbstmordimpulse, Weinen, Reizbarkeit, sozialer Rückzug und Isolierung, Entschlussunfähigkeit, negatives Körperbild, Arbeitsunfähigkeit, Schlafstörungen, Ermüdbarkeit, Appetitverlust, Gewichtsverlust, Hypochondrie und Libidoverlust) erfragt. d Auswertung der Ausprägung depressiver Symptome bei 60 Personen, die sich als Messie bezeichnen: 16 Personen 20 Personen 24 Personen
unauffällig; normaler Bereich milde bis mäßige Ausprägung klinische Relevanz
24 Messies weisen zum Zeitpunkt der Erhebung eine schwere depressive Episode auf und 20 Personen zumindest eine dysthyme Verstimmung. Saß et al. (2003) gehen von einer hohen Mortalitätsrate bei Vorliegen einer Major Depression aus, 15 % der Betroffenen sterben durch Suizid und in der Altersgruppe der über 55-Jährigen erhöht sich die Mortalitätsrate um ein Vierfaches. Häufig treten zusammen mit einer Major Depression andere psychische Störungen auf: Panikstörungen, Zwangsstörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen etc., und die Prävalenzraten scheinen keine Korrelation mit ethnischer Gruppe, Bildungsgrad, Einkommen oder Familienstand zu zeigen. Ferner beschreiben die Autoren des Diagnostischen und Statistischen Manuals besondere kulturelle, Alters- und Geschlechtsmerkmale bei der Bestimmung des Depressionsrisikos aufgrund einiger epidemiologischer Studien. Zwischen 1940 und 1950 geborene Personen scheinen ein früheres Ersterkrankungsrisiko und ein höheres Lebenszeitrisiko für verschiedene Depressionen aufzuweisen als vor 1940 Geborene. Aus der Messies-Stichprobe handelt es sich diesbezüglich um 17 Personen. Bei jugendlichen und erwachsenen Frauen tritt die Major Depression (einzelne Episode oder rezidivierend) doppelt so häufig als bei jugendlichen oder erwachsenen Männern auf. Die häufigsten Symptome einer dysthymen Störung sind Minderwertigkeitsgefühle, allgemeiner Verlust von Interesse und Freude, sozialer Rückzug, Schuldgefühle oder Grübeln über die Vergangenheit, subjektive Gefühle von Gereiztheit oder übermäßiger Ärgerlichkeit, reduzierte Aktivität, Leistungsfähigkeit oder Produktivität und vegetative Symptome. Auch
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Der Messie-Formenkreis die Handlungslähmung von depressiven Patienten liefert einen möglichen Erklärungsansatz für die Messie-Gruppe. Die dysthyme Störung kann in Verbindung mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung, der histrionischen, narzisstischen, vermeidend-selbstunsicheren und der dependenten Persönlichkeitsstörung auftreten (Saß et al. 2003).
3. Zusammenfassung Aufgrund der Teilergebnisse stellt sich das Messie-Phänomen differenziert dar. So kann von einem Messie-Formenkreis (gereiht nach Schweregrad und Intensität) gesprochen werden.
a) Das Messie-Verhalten als (Begleit-)Symptom und Ausprägungsform bei zugrunde liegender Psychopathologie b) Das Messie-Syndrom bei Chronizität, mäßiger Ausprägung und Leidensdruck ausschließlich am Primärsymptom (Desorganisation in Raum, Zeit und sozialen Beziehungen) c) Messiesein als Lebensstil bei klinischer Unauffälligkeit, geringem bis gar keinem Leidensdruck, als Ausdruck des Zeitgeistes
Da sich die Messie-Problematik sowohl als Symptom vor allem im Zuge von Zwangserkrankungen, affektiven Störungen und spezifischen Persönlichkeitsstörungen als auch als ein für sich stehendes Syndrom zeigen kann, sollte dies in der psychotherapeutischen Praxis unterschieden und erkannt werden. Wie bei anderen Störungen auch, kann die Einschätzung des Patienten der des Psychotherapeuten diskonkordant gegenüberstehen. Für die diagnostische Phase hieße das zum Beispiel, die Art des Sammelns oder die Eigendefinition eines „Messies“ und die dazugehörigen Fantasien und Mythen der konsultierenden Patienten in den Fokus zu stellen. Die Exploration (im Sinne der phänomenologischen Intuition) der individuellen Bedeutung für den Einzelnen bringt Aufschluss über die psychodynamischen Konflikte bzw. über den konkreten primären Leidensdruck. Menschen mit psychischen Problemen zeigen im Ausdruck der Pathologie die ihnen bestmögliche psychische Überlebensstrategie und Abwehr. So eindrucksvolle und kreative Lösungen für das innere Chaos finden sich selten. Vielleicht geht es in der Psychotherapie um das metaphorische „Sichsammeln“. Der
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Katharina Reboly Philosoph Manfred Sommer (2002) formuliert, dass es sich bei dem, was gesammelt wird, in keinem Fall um Dinge handelt: „Es gehört indes zum Leben, aufs Leben zurückzublicken: zumindest an den Wendepunkten gibt es ein Sichsammeln, eine Rekapitulation der eigenen Lebensgeschichte, um das, was war, so zu ordnen und zu interpretieren, dass es mit hinein genommen werden kann in das, was nun bevorsteht. Es geht um Identität im Übergang.“
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Therapeutische Aspekte
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Sammelsurium – ein buntes Durcheinander Psychoanalytische Überlegungen zum Messie-Syndrom Christa Luger
„Sammeln verdankt sich wie die Kunst, wie jede produktive Leistung, unter anderem einem MANGEL. Das früh Entbehrte kommt als WUNSCH nicht zur Ruhe, und wer etwas von dem Vermissten später beschaffen kann, muss dennoch nicht daran satt werden.“ (Elfriede Gerstl 1995, S. 59)
Ich bin eingeladen worden, einen Beitrag zu schreiben, ich sehe diesen als eine „Gedanken-Sammlung“. Konkret wollte/sollte ich mich mit dem Messie-Syndrom auseinandersetzen. Mein Arbeitstitel lautet: „Sammelsurium – ein buntes Durcheinander. Psychoanalytische Überlegungen zum Messie-Syndrom“. Ich beginne zu sammeln; mein Computer spuckt massenhaft Papier aus – Artikel vermischen sich mit meinen Notizen – Fallvignetten aus meiner Praxis – notierte Literaturhinweise und, und, und … Widerstand regt sich, ich fühle mich eingeschränkt, bedrängt, ich komme unter Zeitdruck, Unlustgefühle stellen sich ein. „Gegenübertragungsphänomen?“ – stelle ich mir die Frage.
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Christa Luger Ich will mich nicht nur auf therapeutischem Terrain bewegen, reduziert auf die Technik und die Möglichkeit einer Veränderung des Erlebens von Lebensqualität, ich möchte mich noch auf einer anderen Ebene als dem therapeutischen Zugang bewegen. Das heißt, ich stelle mich dem universitären Diskurs, und damit öffnet sich die Beschränkung. Das Forschungsinteresse erwacht, die Gedanken sind weniger stringent. Räume öffnen sich in die Philosophie, in die Kunst, in die Kultur, um dann vielleicht in der Psychoanalyse zusammenfließen zu können. Weniger, um zu deuten, sondern vielleicht mit dem Zuwachs an Erkenntnis. Um welche Erkenntnisgewinnung soll es sich handeln, könnten Sie sich jetzt fragen. Im Rahmen meines Beitrages um den Mangel, um jenen Riss, welcher Platz bietet für den Wunsch, die Sucht, die Sehnsucht. Ich stelle mir die Frage, ist diese Sehnsucht darin begründet, dass es dem Ich nie gelingt, sich selbst einzuholen; es bleibt sich selbst fremd, denn dem Bewusstsein bleibt das Produzieren der Welt unbewusst. Vergessen muss es, dass es gerade es selbst ist, was es in seinem Objekt anschaut. Diese Blindheit des Ich für das Produzieren der Welt ist für den Philosophen Schelling das Unbewusste. Es ist dasselbe, was die Traumdeutung tut, wenn sie die Welt des Traumes als das versteht, worin das Ich sich spiegelt, aber sich in dieser Spiegelung gerade vergisst. Wenn ich noch kurz im philosophischen Diskurs bleiben darf, dann ist die Angst vor dem Selbstverlust auch die Angst vor der Kontingenz, dem Sein – in der abendländischen Tradition –, welches nicht aus eigener Wesensnotwendigkeit existiert. Denn wenn ich Unbewusstheit nicht deskriptiv verstehe, im Sinne von thematisch nicht anwesend, sondern dynamisch, als eine „psychische Instanz“, ein Konfliktfeld, wie immer sich diesbezügliche Modellkonstruktionen ausdrücken, so ist sie immer nur aufgrund einer angenommenen Subjekt-Objekt-Spaltung möglich. Franz Schuh schreibt in seinem Nachwort zu Elfriede Gerstls Buch „Kleiderflug“: „Der Sammler, so glaube ich, möchte wenigstens auf einem, auf seinem Gebiet die Kontingenz in den Griff bekommen. Dieses eine Gebiet reduziert in der Sammlerseele stellvertretend den ungebändigten Zufall auf allen anderen Gebieten.“ (Gerstl 1995, S. 72)
Und weiter:
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Sammelsurium - ein buntes Durcheinander „Der Sammler versucht die Angst vor der Kontingenz durch den Überblick über seinen Sammlergegenstand loszuwerden. So steht er merkwürdigerweise in antithetischer Parallelität zum Spieler. Während der Sammler einsammelt und behält, worum es ihm geht, setzt der Spieler alles, was ihm wichtig ist, aufs Spiel.“(Gerstl 1995, S. 72)
In eben dieser Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Welt liegen meiner Meinung nach die Ursachen des Messie-Syndroms. Es ist schier unmöglich, die eigenen Wünsche und Triebe mit den äußeren Anforderungen der Welt in Einklang zu bringen. Der Mangel, der Riss, die Lücke treibt den/ die Messie dann ständig dazu, auf der Suche sein zu müssen, nach etwas, was er/sie nicht benennen kann. Psychoanalytiker sprechen von einer narzisstischen Störung. Es ist der Narzissmus, welcher als Zement die einmal hergestellte Einheit des ICH versucht aufrecht zu halten. Hier muss an das Offensichtliche erinnert werden: Narzissten sind verletzte Wesen. Es ist die Enttäuschung, die sie immer als offene Wunde in sich tragen: Hinsichtlich ihres Narzissmus sind sie echte Mängelwesen. Die Enttäuschung ist meist nicht nur auf einen Elternteil beschränkt, sondern betrifft beide Elternteile. Erinnern Sie sich, es ist der Mangel, der Riss, die Lücke, welche der/die Messie vermeintlich versucht zu überwinden, scheinbar ein Loch zu stopfen mit Dingen, Objekten, welche nicht verletzen können, von denen man nicht verlassen wird. Erinnern Sie sich aber auch an das Zitat von Franz Schuh, in welchem er zu Elfriede Gerstls Buch „Kleiderflug“ schreibt: „… es geht um den Versuch, die Kontingenz wieder herzustellen, es ist das flüchtige Gefühl, das Schicksal selbst in der Hand zu haben.“
Das Messie-Verhalten wird mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern konnotiert: Von der Zwangsstörung, Suchterkrankung, Depression, Schizophrenie und affektiven Psychose bis hin zu dem oft inflationär gebrauchten Borderline-Syndrom. Bei meinen theoretischen Überlegungen zum Messie-Syndrom habe ich mich zum wiederholten Mal intensiv mit dem Narzissmus, der Basis, auseinandergesetzt. In der Lektüre habe ich mich beinahe verloren – meinte ich –, bis ich bei André Green hängen blieb. Sein Buch „Die tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebensnarzissmus und Todesnarzissmus“ war der „Klirrpunkt“ für meine Auseinandersetzung mit dem Messie-Syndrom.
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Christa Luger Die Weiterentwicklung der Theorie, welche er unter Abstützung auf Freud vornimmt, zielt darauf ab, die Bedeutung der Grenzproblematik in den Beziehungen zwischen innen und außen hervorzuheben. Diese/seine Entwicklung des Narzissmuskonzeptes hat mich gefangen genommen. Es würde jedoch Zeit und Rahmen sprengen, genauer darauf einzugehen, und ich konzentriere mich auf seine spannenden Ausführungen über das Weiße, das Blande, die „Psychose blanche“. Green präzisiert das in seinem Sinne gebrauchte Weiß (oder Blande): Es kommt vom Englischen blank, womit ein unbesetzter leerer Raum bezeichnet wird. Welch ein Paradoxon, fällt mir ein: Mein Titel zur Messie-Problematik heißt Sammelsurium – ein buntes Durcheinander. Eben dieses Unerwartete ist es, welches mich geradezu zwingt, meinen Blick zu fokussieren auf das scheinbar Gegensätzliche. Leere versus Überfüllung Weiß versus Färbigkeit innen / außen Subjekt / Objekt An dieser Stelle ist es mir wichtig, die etymologischen Präzisierungen zu dem Theorem „psychose blanche“ von André Green zu übernehmen, denn diese sorgen für ein besseres Verständnis der Mehrdeutigkeit: „Weiß (oder bland) in dem von mir gebrauchten Sinn kommt vom englischen blank, womit ein unbesetzter, leerer Raum bezeichnet wird (ein unbedruckter freier Raum auf einem Formular für die Unterschrift oder auf einem Blanko-Scheck für die Summe; carte blanche, heißt freie Hand haben). Der englische Begriff wiederum wurzelt im westgermanischen blank, was klar und geputzt bedeutet. Blank hat das lateinische albus überlagert. Hiervon abgeleitet sind die Verben blanchir (weißen, putzen, bleichen).“ (Green 2004, S. 165)
Green bezieht sich auf Lewin, für welchen die weiße Projektionsfläche im Traum eine Repräsentanz der Brust nach dem Einschlafen ist, dem befriedigendes Stillen vorausgegangen war. Für ihn ist der weiße Traum ein leerer Traum ohne Bilder und Vorstellungen, aber voller Affekt. Hier ist der primäre Narzissmus verankert. Für Green bestehen zwischen dieser herbeihalluzinierten Brust und der negativen Halluzination Bezüge von Symmetrie und Gegensätzlichkeit. Wenn ich hier wieder Green wörtlich zitiere, dann auch deshalb, weil diese
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Sammelsurium - ein buntes Durcheinander Beschreibung für mich geradezu literarischen Charakter hat und eine komprimierte Zusammenfassung die Aussagekraft und Eindringlichkeit schwächen würde. „Bezeichnet weiß die Farbe, ist auch das Schwarz nicht weit: Die verborgene Schwärze der Milch ist die Rückseite der süßen Milch menschlicher Zärtlichkeit. Dieses Schwarz kann in der Freudschen Theorie Gewalt oder Sadismus meinen. Das Schwarz steht aber auch für den Raum der Nacht, in der das Objekt verschwindet: Brust, Mutter, Penis der Mutter. Hier schließt die Semantik der Farbe an die der Form an: Schwarz der leere, menschenleere Raum. Die Urszene im Dunkeln lässt die Formen verschwinden, umso eindringlicher sind die Geräusche. Das Weiße ist also das Unsichtbare (oder allgemeiner gesprochen, das Nicht-Wahrnehmbare, nicht Spürbare und noch weiter gefasst das Undenkbare, Unvorstellbare). Sein semantisches Gegenteil ist das Morgengrauen, das die Ängste der Nacht zerstreut, aber auch das depressive Gefühl ankündigt: „noch so ein Tag …“ (Green 2004, S. 166)
Die Einheit muss erhalten bleiben, es fehlen die Vorstellungskraft und die Erinnerungsspuren im sprachlichen Bereich. Um der Überflutung von Affekten zu entkommen, erfolgt eine radikale Abtrennung vom „bösen Objekt“. Gleichzeitig kommt es jedoch zum Eindringen in diesen unbesetzten Raum, einer Triebregung aus dem vorsprachlichen, körperlichen Bereich. Die Vermittlungsfunktion durch Vorstellungskraft und Identifikation mit dem Objekt muss im Außen bleiben. Das ICH, um mit Lacan zu sprechen, das ICH bewahrt seine Einheit jedenfalls durch die Verleugnung der Wirkung des Objekts auf dieses; das Objekt als die Quelle des Wunsches. Was will das ICH? Es will die Außenwelt ignorieren, die Quelle von Erregung, aber auch die Innenwelt, die Affekte. Es ist dies ein Ringen um scheinbare Autonomie. Das heißt, die Einheit muss um jeden Preis erhalten bleiben, damit dieses einheitliche ICH nicht in Stücke zerbricht. Nach Green umfasst die Angst damit folgende Problembereiche: t die Bedrohung der Einheit t die Verdoppelung t die Grenzenlosigkeit t Bruchstücke t Vernichtung
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Christa Luger
Es ist die „Angst vor dem Gesamt“, wie Green schreibt, welche mich völlig überraschend auf das Messie-Problem geworfen hat. Über diese Irritation zeigte sich mir das Messie-Syndrom in einem anderen Licht. Es ist nicht die Angst vor der Leere, sondern im Gegenteil die Angst vor dem Chaos, in welcher er die Symptome ortet. In eben diesem vom Messie ausagierten Chaos offenbart sich der seelische Zustand, externalisiert im Symptom: total verwahrloster Wohnraum, unbeschreibliche Unordnung – all das, von dem wir auch heute genügend gehört haben. Ich wiederhole: Die „Angst vor dem Gesamt“ ist die Angst vor Zerstreuung, Fragmentierung und Zerfall, die Angst vor Zerstückelung, welche nach einem Ersatzobjekt sucht. Ich glaube, ich bin nun an der Stelle angekommen, Ihnen die Theorie mit der Unterlegung eines Fallbeispiels aus meiner Praxis näherzubringen. Einmal aus Gründen der Diskretion, zum anderen auch, um mich nicht am Ausverkauf von Fallgeschichten zu beteiligen, ziehe ich nur wenige Facetten aus dem Behandlungsverlauf zum besseren Verständnis dieses Theorieansatzes heran. Nennen wir sie Sophie. „Sie war nie da, sie ist nicht gekommen, wenn ich geweint, nach ihr gerufen habe.“
Keine Zärtlichkeiten, nur die notwendigste Versorgung. Ein Leben in großer Armut, die Mutter war auf dem Feld oder bei den Tieren, soweit sich Sophie, die Erstgeborene von vier Kindern, zurückerinnern kann. In mir tut sich ein Bild auf: Ein Korb, ein Kind, es weint nach der „süßen Milch der Zärtlichkeit“. Ein Kind noch ohne Worte und Zeit. In Hemmung, Symptom und Angst beschreibt Freud die Verzweiflung des Säuglings, der von Verlassenheitsangst beherrscht ist: Hilflosigkeit führt zum Scheitern der Verdrängungsfähigkeit. Wenn der Säugling mit der Befriedigung innerhalb einer Zeit rechnen kann, schafft er dies auch. Entweder durch Antizipation (ich beziehe mich hierbei auf Winnicot) oder durch halluzinatorische Wunschvorstellung. Verlängert sich diese Zeit aber, tritt Angst auf. Fügt man dem eine weitere Verzögerung hinzu, ergibt sich ein
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Sammelsurium - ein buntes Durcheinander Zuviel, die Angst wird quälend, und das Kind wird in Agonie gestürzt. Es ist das Zuviel am Zuwenig, wie Winnicot es beschreibt, welches für den Zusammenbruch verantwortlich ist. Sophie bleibt allein in ihrem Korb; immer und immer wieder, bis in das Hier und Jetzt. Ein Grundstein wurde gelegt. Das Chaos im Inneren fängt aufgrund des Zuviels des Mangels an zu toben. Dieser Lärm muss zum Schweigen gebracht werden. Ein Zuviel an Spannung wird erzeugt, eine erdrückende Last für den psychischen Apparat des Säuglings. Sophie lebt nun im äußeren Chaos. Ihre Wohnung droht überzuquellen. Das Übergequollene sammelt sie weiter in angemieteten Abstellräumen, um dann weitere Abstellräume zu öffnen, um sie zu füllen und so weiter, und so weiter … Abstell-Raum – sinniere ich. Sie will das tosende Chaos der sich ihr aufdrängenden Triebe abstellen, das Ungeordnete, „Unsprachliche“, um das kleine, zerbrechliche ICH zu retten. Eigenartigerweise habe ich nun Bilder von der Geschichte mit dem unaufhörlich kochenden, überkochenden Hirsebrei. Als kleines Mädchen hatte ich ein Bilderbuch. Der Brei, welcher eigentlich so süß war, hat mir plötzlich Angst eingeflößt. Der Brei quillt, quillt über, dringt durch die Türen und die Ritzen des Hauses. Ich habe dieses Bilderbuch und die Geschichte nicht gemocht. Dieser „Überfluss“ hat mich hilflos gemacht. Sophie ist eine zarte Frau. Obwohl schon über der Lebensmitte, wirkt sie wie ein Mädchen. Wenn sie nicht einkauft und sammelt, geht sie ins Kino. Die Gefühle, die auf Zelluloid gebannt sind, faszinieren sie. Die Leinwand hat einen Respektabstand. Die Gefühle sind im Außen. Wenn sie zu Hause ist, dann hat sie zwei Plätze. Der eine Ort ist ein kleiner Schemel in der Küche. Dort sitzt sie, mit dem Teller auf ihren Knien, und isst. Der andere Ort ist ihr Bett. Sie schläft lange. Sie träumt nicht, sagt sie. Dieser Schemel symbolisiert für mich den Rückzug in ihr ICH, ein begrenzter Raum im Chaos. Die Objekte bleiben leblos und bleiben im Außen. Manchmal glitzern sie. Meistens bleiben sie in den Nylonsäcken. Green beschreibt die „blande Psychose“: „Das Ich entzieht der Vorstellung die Besetzung und findet sich dadurch in der Leere wieder, aus dem heraus es sich ursprünglich konstituiert hatte. Das Ich lässt sich vergehen, weil zuviel Lärm in es eindringt.“ (Green 2004, S. 166)
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Christa Luger Das innere Chaos, die Angst, häuft sich neben Sophie auf dem Schemel, die Angst bleibt in den Nylonsäcken. Ein Kind – ein Korb – der Verlust der Brust. An dieser Stelle ist es mir wichtig anzumerken, dass es sich bei dem Verlust der Brust um eine Metapher handelt. Die Brust beinhaltet den Geruch der Mutter, ihre Haut, ihren Blick und all die anderen Bestandteile, die die Mutter ausmachen. Es ist Sophies Blick, ihre Augen, welche mich oft erschrecken. Sie sind dunkel. Oft kann ich keinen Unterschied zwischen Iris und Pupille ausmachen. In ihren Augen spiegelt sich für mich die „tote Mutter“, wie Green sie beschreibt. Es handelt sich dabei nicht um den realen Tod der Mutter, sondern um eine Imago, die sich in der Psyche des Kindes infolge einer mütterlichen Depression gebildet hat. Die „tote Mutter“ ist also, anders als man zunächst glauben könnte, eine Mutter, die am Leben bleibt, die aber sozusagen psychisch tot ist, tot in den Augen des kleinen Kindes, für das sie zu sorgen hat. Es ist die Depression der Mutter, welche sich in Sophies Augen spiegelt. Die reale Mutter Sophies wird für mich in ihren Schilderungen nicht sichtbar, sie scheint abwesend zu sein. Manchmal meine ich, ihren Schatten zu sehen. Müde, verhärmt und gedemütigt neben einem Mann, der sie wie eine Magd hält. Sophie hat nie Berührungen zwischen Vater und Mutter gesehen. Die ferne, starre, unbesetzte Mutterfigur nimmt in ihren Schilderungen nur zweimal Gestalt an. Sophie erinnert sich an ihre spätere Kindheit: Die Mutter konnte sich uns, den mittlerweile vier Kindern (zwei Brüdern und einer Schwester), nur über das Kochen zeigen. „Trotz großer Armut hat sie uns immer gekocht, was wir wollten. Geholfen haben wir ihr nie.“
Hier scheint eine hohe Identifikation mit dem Vater ins Spiel zu kommen. Präsent wird die Mutter auch durch ihren realen Tod. Die Mutter starb an einer Krebserkrankung. Sophie plagen Schuldgefühle, zu wenig bei ihrer Mutter gewesen zu sein. Damals nach dem Tod ihrer Mutter, kam sie für kurze Zeit nach Hause, kümmerte sich um den verwahrlosten Haushalt, die Tiere, putzte und schrubbte und kochte für die Brüder und ihren Vater. Von dem älteren Bruder wurde sie dafür gedemütigt, dem Vater, der krank und gebrechlich war, kam sie näher. Ihr jüngerer Bruder wird psychotisch. Es hat eine Identifikation mit der toten Mutter stattgefunden, sofern in diesem Zusammenhang überhaupt von einer Identifizierung gesprochen
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Sammelsurium - ein buntes Durcheinander werden kann. Handelt es sich in diesem Fall nicht eher um eine Introjektion, eine Inkorporation des Objektes, wie Freud dies im dritten Kapitel von „Das Ich und das Es“ für die Melancholie beschreibt? Sophie „verschlingt“ die Eigenschaften der verstorbenen Mutter. Ich zitiere Freud: „Wenn das ICH die Züge des Objektes annimmt, drängt es sich sozusagen selbst dem ES als Liebesobjekt auf, sucht ihm seinen Verlust zu ersetzen, indem es sagt: „sieh, du kannst auch mich lieben, ich bin dem Objekt so ähnlich.“ (Freud 1982, S. 209)
Ich neige zu der Annahme, dass diese „Narzissierung“ der Liebe, die das Ich sich selbst zukommen lässt, Sophie zu diesem Zeitpunkt zur Selbsterhaltung, Sicherung der Grenzen und der Kohärenz des ICH, zur Festigung seiner Konsistenz gebraucht hat, sie vor einer Desorganisation, einem Zusammenbruch, vielleicht der Psychose gerettet hat. Sophie lernt gut in der Schule. Durch die Unterstützung von Lehrern in der Volksschule wird ihr erlaubt, das Gymnasium zu besuchen, sie kommt in ein Internat. Sie ist eine der Besten, sie will wissen. Sie hält Ordnung in ihrem schmalen Spind, sie will alles richtig machen, sie ist nie „aufmüpfig“. Mit Leistung kann sie beeindrucken. Nach der Matura beginnt sie ein Studium in der großen Stadt. Sie wohnt im Studentenheim, hält Ordnung. Die große Stadt macht ihr Angst mit ihrem „Getriebe“. Im Studentenheim fühlt sie sich wohl, sie mag die Ordnung und die Anordnungen in der Institution. Die große Mutter, die Institution hält ihre Angst im Zaum. Sophie kann das inkorporierte Wissen jedoch nicht loslassen. Prüfungsangst stellt sich ein. Der Gang zu den Psychotherapeuten beginnt. Sie kann nicht abschließen. Sie kann nicht loslassen, sie muss ihr Wissen bei sich behalten. Sie scheitert. Sie würde gerne noch im Studentenheim wohnen, sagt sie, denn dort war alles in Ordnung. Sie bezieht eine kleine Wohnung, jobbt manchmal. Das innere Chaos verlagert sich nach außen. Sie beginnt zu horten, kauft und sammelt, deckt sich mit Kuscheltieren ein. Sie beginnt zu somatisieren, lässt sich in Kliniken einweisen. Noch heute sagt sie, fühle sie sich wohl im Warteraum der Klinik. Sie nimmt oft viel in Kauf, um dorthin zu kommen.
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Christa Luger Die Regression, Weiß, blanche, blank, bland, fällt mir spontan dazu ein. „Acting out“ durch ihr Sammeln, Horten und Kaufen. „Acting in“ durch ihr Somatisieren. Beides dient dem gleichen Zweck, nämlich der Entleerung der psychischen Realität. Green beschreibt die somatische Entleerung wie folgt: „Die Abwehr durch die Somatisierung verläuft hier geradezu entgegengesetzt zur Konversion. Die Regression lässt den Konflikt aus der psychischen Sphäre, in dem sie ihn durch eine Triebentmischung der Psyche und des Somas in das Soma (und nicht in den libidinös besetzten Körper) ausstößt. Ihr Ergebnis ist eine asymbolische Bildung durch die Verwandlung libidinöser Energie in neutralisierte (…), die rein somatisch ist und manchmal das Leben des Subjekts gefährden kann (…). Es handelt sich darum, die Desintegration des Ichs als Folge einer für es selbst und das Objekt zerstörerischen Begegnung durch eine Erledigung zu vermeiden, der die Bedeutung eines auf den nicht libidinös besetzten Körper gerichteten Agierens zukommt.“ (Green 2003, S. 183)
Seit zwei Jahren sehe ich Sophie zweimal wöchentlich. Die Sitzungen fanden bis dato im Sitzen statt. Sie versuchte, mich zu verführen, zu blenden, zu entwerten, um dann wiederholt am Ende der Sitzung zu sagen: „Eigentlich möchte ich täglich eine Therapiestunde.“ Die Schilderungen ihrer Lebensgeschichte, ihres Chaos machte mich sprachlos. Ich musste zuerst einmal „containen“, um mit Bion zu sprechen. Ich habe es ausgehalten. In der Übertragung musste ich auch aushalten, dass sie mich als belebtes Objekt gar nicht wahrnahm. Ganz konzentriert auf ihre Darstellung – musste ich verschwinden. Deutungen oder spärliche Interventionen bewirkten kaum eine Unterbrechung ihres Sprachflusses. Ihre Sprache nimmt eine rhetorische Form an, untermalt mit geradezu theatralischem Ausdruck ihres Körpers und der Mimik. Sie berichtet über Konflikte, die ihr draußen begegnen, ähnlich dem Kind, das seiner Mutter den Tagesablauf und die vielen kleinen Ereignisse erzählt, die es erlebt hat. Der narrative Stil ist nur wenig assoziativ, d. h. nach Green „… das Subjekt koppelt sich ab, hält sich heraus, um nicht vom Affekt, der mehr ein Nacherleben als eine Erinnerung ist, überwältigt zu werden. Gibt es dem Affekt dann endlich nach, zeigt sich die nackte Verzweiflung“. (Green 2004, S. 254)
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Sammelsurium - ein buntes Durcheinander
„Der narzisstische Panzer schützt das Ich einerseits, und nährt die Allmachtphantasie einer Befreiung vom Objekt, muss aber auch andererseits der Trennungs- und Intrusionsangst standhalten.“ (Green 2004, S. 170)
Dennoch, wir nähern uns an. Vorsichtig versuche ich, das Thema ihres Redeflusses anzusprechen. Spontan bricht Sophie jedes Mal in schallendes Lachen aus, wenn ich nur das Wort „Schweigen“ ausspreche. Sie betont, dass sie mich nicht auslache, kann sich aber vor lauter Lachen nicht mehr beruhigen. Tränen laufen ihr dabei über das Gesicht. „Entschuldigung, Sie kommen mir zu nahe“, prustet sie los. Sie rutscht mit ihrem Sessel weit zurück, kippt beinahe und muss weiter lachen. Ein Affekt – denke ich mir, ein inadäquater zwar, aber sie kann ihn zulassen. „Kokett wie ein Teenager“, sage ich spontan zu ihr. „Ja“, stimmt sie mir überraschenderweise zu. „So kokett war ich auch damals mit meinem Vater, wenn ich etwas wollte.“ An dieser Stelle ist es mir wichtig anzumerken, dass es mir bewusst ist, dass ich den Vater in meinem Vortrag nicht mit einbezogen habe, weil dies den zeitlichen Rahmen sprengen würde. Zum anderen ist mir aber auch bewusst, dass im Rahmen der Analyse die Triangulierung Platz haben muss und auch hat. Der Vater scheint besetzt zu sein. Wut und Enttäuschung, aber auch Zärtlichkeit und Trauer für den alternden Vater können zum Ausdruck gebracht werden. Nach der Sommerpause entdeckte ich ein interessantes Phänomen in meiner Gegenübertragung. Während Sophie redet und redet, geht mein Blick ins Leere. Ich verspüre eine eigenartige Traurigkeit und habe das Gefühl, eine Fensterscheibe trennt uns und ihre Worte prasseln auf diese wie Regen. Sie können nicht in das Innere dringen. Ich teile ihr dies mit – Sophie stockt und scheint zu verstehen. Seit diesem Zeitpunkt kann sie auch manchmal das/ihr Schweigen zulassen, wobei es sie ängstigt, sagt sie. Dennoch, sie versucht, sich zu spüren. Sekunden nur, aber diese Momente beginnen sich zu mehren. In einer der letzten Sitzungen sagt sie: „Es könnte sein, wenn ich mich beginne zu spüren, dann ertrage ich das Chaos in meiner Wohnung nicht mehr, und was dann …?“ Die technische Haltung stellte mich vor die Wahl zwischen zwei Positionen. Die erste, die klassische Lösung birgt die Gefahr, wie Green schreibt, die Beziehung zur „toten Mutter“ durch Schweigen zu wiederholen. Ich nehme
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Christa Luger für mich die zweite von Green bevorzugte Lösung in Anspruch. Das heißt, das Setting als Übergangsraum zu benützen, welcher aus dem Analytiker ein lebendiges Objekt macht, „… dessen Wachheit und Interesse durch seinen Analysanden stimuliert wird und der seine Lebendigkeit mit Hilfe assoziativer Verbindungen mitteilt, bezeugt, ohne doch jemals seine Neutralität aufzugeben.“ (Green 2004, S. 255)
Hier möchte ich den Philosophen Humboldt zitieren: „Die Menschen verstehen einander nicht dadurch, dass sie sich den Zeichen der Dinge wirklich hingeben, auch nicht dadurch, dass sie sich gegenseitig bestimmen, sondern dadurch, dass sie gegenseitig ineinander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen berühren, dieselbe Taste ihres geistigen Instruments anschlagen, worauf alsdann in jedem entsprechende, nicht aber dieselben Begriffe hervorspringen.“ (Zit. nach Lorenzer 1972, S. 86)
Ich begebe mich wieder in die analytische Beziehung und schließe diesen Teil mit einer Bemerkung Ferenczis ab. Er bezeichnet die optimale Einstellung des Analytikers als „fortwährende Oszillation zwischen freiem Spiel der Phantasie und kritischer Prüfung“. Zum Abschluss dieses Vortrages möchte ich Ihnen zwei für mich berührende Momente in der Analyse mit Sophie nicht vorenthalten. Sophie zeichnet alle erdenklichen wissenschaftlichen Vorträge, vorrangig medizinische, auf Tonband auf und sammelt diese. Vor Kurzem hat sie bemerkt, dass zwei Kassetten leer geblieben waren. Sie ist verzweifelt. Dann überlegt sie, dass sie diese vielleicht für eine andere Aufzeichnung gebrauchen könnte. Nein, das würde sie nicht tun, denn sie hofft, dass es vielleicht die Möglichkeit gibt, dass eine Methode entwickelt werden könnte, mit dem das Unhörbare wieder hörbar gemacht werden kann. Tonspur – Erinnerungsspur assoziiere ich. Und dann kommt sie einmal in die Stunde und sagt: „Gestern bin ich eine viertel Stunde ganz ruhig auf meinem Bett gelegen und habe in den Sonnenuntergang geschaut. Es hat mir gutgetan.“ Der Titel meines Beitrags lautete: Sammelsurium – ein buntes Durcheinander. Dann habe ich mich im Weißen bewegt, im Blanden, Blanken. Was hat das eine mit dem anderen zu tun, könnten Sie sich jetzt fragen?
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Sammelsurium - ein buntes Durcheinander Ich wurde bei Wittgenstein in seinen „Philosophischen Bemerkungen“ fündig. Ich war fasziniert von dessen Aussagekraft. Wie eine Klammer sollen seine Worte diese Arbeit zusammenhalten. „Wenn ich das Gesichtsbild nicht vollständig beschreibe, sondern nur einen Teil, so ist es offenbar, dass in der Tatsache gleichsam eine Lücke ist. Es ist offenbar etwas ausgelassen. Wenn ich ein Bild dieses Gesichtsbildes malte, so würde ich die Leinwand an gewissen Stellen durchschauen lassen. Aber die Leinwand hat ja auch eine Farbe und füllt den Raum aus. Nichts könnte ich nicht an der Stelle lassen, wo etwas fehlt. Meine Beschreibung muss also unbedingt den ganzen Gesichtsraum, ja selbst seine Färbigkeit enthalten, auch wenn sie nicht sagt, welche Farbe an jedem Ort ist. D. h., sie muss doch sagen, dass eine Farbe an jedem Ort ist. Heißt das, dass die Beschreibung den Raum, soweit sie ihn nicht mit Konstanten erfüllt, mit Variablen erfüllen muss.“ (Wittgenstein 1984, S. 115f )
Literatur Freud S. Das Ich und das Es. Psychologie des Unbewussten. Band III. Studienausgabe Fischer Wissenschaft. Fischer Taschenbuchverlag (1982a) Freud S. Hemmung, Symptom und Angst. Hysterie und Angst. Band VI. Studienausgabe Fischer Wissenschaft Fischer Taschenbuchverlag (1982b) Gerstl E. Kleiderflug. Edition Splitter (1995) Green A. Die tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebensnarzissmus und Todesnarzissmus. Psychosozialverlag (2004) Green A. Geheime Verrücktheit. Grenzfälle der psychoanalytischen Praxis. Bibliothek der Psychoanalyse. Psychosozialverlag (2003) Lorenzer A. Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten einer Metatheorie der Psychoanalyse. Suhrkamp (1972) Wittgenstein L. Philosophische Bemerkungen. Werkausgabe Band 2. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft (1984)
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Das Messie-Kunstprojekt Dorit Doppelhammer
In diesem Kapitel möchte ich zeigen, was die Kunsttherapie als Entwurf für einen Lösungsprozess für Menschen, die am sogenannten „Messie-Syndrom“ leiden, leisten könnte. Das im Oktober 2007 an der Sigmund Freud PrivatUniversität begonnene Kunstprojekt erlaubt es, bereits erste Erfahrungen darzustellen, obwohl bis zu diesem Zeitpunkt erst einige Sitzungen zu jeweils 90 Minuten absolviert wurden, was auf den ersten Blick noch sehr wenig zu sein scheint. Doch bereits die wenigen Einheiten verweisen auf das Potenzial, das in kunsttherapeutisch orientierten Gruppenprozessen als Hilfestellung für vom MessieSyndrom betroffene Menschen liegen kann: Während die Teilnehmenden in den ersten beiden Einheiten noch – vermutlich auch im Sinne einer ersten Annäherung – auf der Gesprächsebene verblieben, entfalteten sich ab der dritten Stunde sukzessive kreativ-gestalterische Prozesse. Es ist bemerkenswert, was in diesen wenigen, aber intensiven Stunden in entspannter und gelöster Atmosphäre alles entstehen konnte, welch tiefes Gemeinschaftsgefühl entwickelt wurde, und ich denke, dass all diese Aspekte als Ressourcen der Betroffenen nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Diese ersten Fallbeschreibungen und daraus hervorgehende Analysen können in diesem Sinne allerdings nur exemplarisch sein; um das MessieKunstprojekt systematisch und gemäß eines angelegten Untersuchungsdesigns zu analysieren, ist es noch zu früh. Das bedeutet für den hier vorliegenden Artikel, dass ich in der Darstellung und Gestaltung erste Einblicke in das Projekt näherbringen und über die Planung und den Verlauf berichten werde. Ich möchte auch einen Vergleich mit dem Objektsammeln eines Künstlers bringen und auf die für die Kunsttherapie nicht unwichtigen theoretischen Hintergründe der „Sozialen Plastik“ von Joseph Beuys hinweisen. Des Weiteren werde ich die Bildgestaltung eines Klienten kommentieren, dessen Loslösungswunsch in einer
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Dorit Doppelhammer
imponierend bildnerischen Ausdruckskraft zutage kam. Der Mann ließ sich, wie es in einem kunsttherapeutisch begleiteten Rahmen auch sein soll, ohne jegliche Vorgaben und ohne mit dem Medium der Malerei vertraut zu sein, ganz frei auf sein eigenes Tun ein. Ich werde später an diesem Beispiel eine Deutung versuchen. Zum Abschluss bringe ich noch ein kleines Fallbeispiel, welches einen optimistischen Ausblick auf das Gelingen dieses großen Vorhabens – des Messie-Kunstprojektes – erlaubt.
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Das Messie-Kunstprojekt Gleichzeitig soll mit diesem Kapitel auch aufgezeigt werden, dass die Umsetzung des Projektes für leidende Personen einen Weg zu mehr Perspektiven und Möglichkeiten bahnen und weiters dazu führen kann, dass man aus einer Starre und Unbeweglichkeit heraus in ein mehr oder weniger kunstvoll gestaltetes Leben gelangen kann.
1. Wie es zu einem Messie-Kunstprojekt kam Nach einer Idee von Eva Pritz entstand an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien ein künstlerisches Projekt mit Messies, welches ich seit Herbst 2007 als Kunsttherapeutin begleite. Betroffene und daran interessierte Mitglieder aus der Selbsthilfe- und der Psychotherapiegruppe, aber auch spontane Einsteiger sollten sich zusammenfinden, um mit ihren „Sammelschätzen“ einen kreativen, schöpferischen Umgang auszuprobieren. Darüber hinaus lag es in der Zielsetzung für diese Gruppe, den Teilnehmenden die Möglichkeit zu eröffnen, einen anderen und neuen Zugang zu den sehr bedeutsamen und doch so belastenden persönlichen Dingen kennenzulernen. Es gab aber auch noch ein anderes Ziel: nämlich die Objekte im Jahr 2009 in der SFU-Galerie auszustellen. Obwohl es bei den meisten Klientinnen und Klienten sehr beliebt ist, bei Ausstellungen und Vernissagen mit den eigenen Werken präsent zu sein, ist für die Kunsttherapie die Prozessorientierung grundlegend. Daher kann die Zielsetzung einer Ausstellung, also die Orientierung am Produkt, äußerst problematisch sein. Wir hatten dieses Problem nicht, denn unser Vorhaben war von vornherein nicht in einem therapeutischen Rahmen definiert gewesen, und da sich die Gruppe als Kunstgruppe formiert hatte, stand auch der Beibehaltung des Ziels einer Ausstellung nichts im Wege.
1.1. Warum ich mich für dieses Projekt beworben habe „Von der Sammelkunst zur Lebenskunst!“ stellt ein sehr interessantes Projekt aus der Sicht der Kunsttherapeutin dar und vor allem eines, das auf den ersten Blick nicht sehr schwierig erscheint (könnte man meinen!). Das Sammeln selbst ist ein sehr kreativer Akt, und die Irrwege des Sammelns – vom vermeintlichen Nutzen zur enormen Belastung – wären durch initiierte Prozessarbeit vermutlich zu durchbrechen, umzuleiten und zu wandeln. Die Kunsttherapie ist prädestiniert dafür, vorhandene Kreativität zum Nutzen für ein besseres Leben umleiten zu können. Sie ist bei sehr vielen Erkrankungen, bei den verschiedensten Beschwerden, Belastungen und dergleichen mehr, eine sehr gute und im Sinne der Lebensqualität gewinnbrin-
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Dorit Doppelhammer gende Methode, nämlich deshalb, weil die Klientinnen und Klienten etwas produzieren und schaffen, etwas, das sichtbar, anfassbar und in den meisten Fällen bleibend ist und so von ihnen als etwas Wertvolles beurteilt wird (Starke o. J.). Die Kunsttherapie, die nach meiner Ausbildungsstätte, der Wiener Schule für Kunsttherapie, tiefenpsychologisch auf C. G. Jung basiert, legt ihren Fokus und Anspruch eher darauf, Wandlungsprozesse zu initiieren und zu fördern, während die Aufdeckung der tieferen Gründe des Sammelnmüssens und eine die Persönlichkeitsstruktur betreffende, tiefgreifende Heilung eher im Aufgabenfeld einer Psychoanalyse liegt. Allgemein lässt sich noch sagen, dass sich eine Kunsttherapie hinsichtlich eines Therapiebeginns für Klientinnen und Klienten als grundsätzlich niederschwellig gestaltet: Zwar kann das im Therapienamen enthaltene Wort „Kunst“ die Gefahr bergen, dass Menschen die Vorstellung haben, für diese Art von Therapie ein Talent besitzen zu müssen, andererseits hält das Wort Kunst auch eine freie, kreative und gesellschaftlich anerkannte Bedeutung bereit. Hinsichtlich des subjektiven psychischen Leidens- und Krankheitsgefühls wird es für Klientinnen und Klienten weniger bedrohlich (z. B. weniger intim oder schambesetzt), sich einer Kunsttherapie zu öffnen, dies nach außen zu vertreten, und deshalb kann auch die Identifikation mit der Therapie rasch eintreten.
1.2. Die Kunstgruppe Es scheint, als ob das große kreative Potential, welches in jedem einzelnen Menschen steckt, bei den am Messie-Syndrom leidenden Menschen durch den Sammeltrieb zugedeckt ist. Das Ziel der kunsttherapeutischen Interventionen ist es, dass der Druck und der Zwang besser reguliert werden können und dass der Trieb, sammeln zu müssen, kontrolliert und in konstruktiven Bahnen verlaufen kann. Man könnte es im Sinne eines geglückten „Gesundschrumpfens“ des Syndroms verstehen. Aber wie stellt man das an? Zuerst dachte ich an ein Ritual, denn im Methodenschatz der Kunsttherapie nimmt der Einsatz eines Rituals eine zentrale Rolle ein. Ein Ritual folgt strengen Regeln, stellt einen festen Rahmen zur Verfügung und kann durch seine Struktur und Halt gebende Funktion beispielsweise bei der Verarbeitung von Trennungsprozessen sehr hilfreich sein – und um den Aspekt der Trennung geht es auch beim Messie-Syndrom: das Lösen, die Trennung von den Objekten. In der Umsetzung für die Gruppe dachte ich daran, ein ebensolches anzubieten, konkret, die neuen Gestaltungen von Bildern und/oder Objekten einmal dem Feuer oder dem Wasser zu übergeben. Für mich stellte sich die
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Das Messie-Kunstprojekt Frage, ob sich die Messies auf dieses Experiment einlassen würden und es überrascht wahrscheinlich nicht, dass sie dankend ablehnten! So stellten sich am Beginn gleich einige Schwierigkeiten ein. Vorhaben dieser Art funktionieren erfahrungsgemäß nicht sofort und bedürfen immer gewisser Anlaufzeiten, und so begann auch das Messie-Kunstprojekt sehr zögerlich. Die Kunstgruppen-Mitglieder kamen anfangs nur vereinzelt, und sie brachten auch nichts von zu Hause mit. Keiner ließ sich auf die Vorstellung ein, etwas entbehren zu können, und so blieb der kunsttherapeutisch geplante „Objekt-Austauschplatz“ bis auf eine einfache grüne Flasche und eine Zeitungsbeilage leer. Dieser Austauschplatz sollte nicht nur für materielle, sondern auch für immaterielle Werte dienen und einen wechselseitigen verbalen und bildnerischen Dialog ermöglichen. Genauso wie ich es gelernt hatte und quasi als Amplifikation nochmals in „Kunst & Therapie“, der Zeitschrift für bildnerische Therapien (Majer, Meschede 2005), expliziert hatte, sollte die Idee der Loslösung und Trennung mit dem Austauschen verschiedener Dinge und Objekte beginnen. Ich denke, dass dabei vor allem die Auseinandersetzung und die Beschäftigung mit den anderen, den, wenn man so will, Leidensgenossen sehr wichtig ist. Letztere ist ein bedeutender kunsttherapeutischer Aspekt, denn bei Gruppenarbeiten kommt man mit sich selbst und dem Anderen in Berührung. Von den Messies ist bekannt, dass sie eher zurückgezogen leben, als introvertiert gelten und sich auffallend selbstkontrolliert verhalten. Genau diesen Eindruck bekam ich auch bis auf ein oder zwei Ausnahmen in unserer Messie-Kunstgruppe. Bei den Gruppenmitgliedern wurde aber ebenso eine Sehnsucht nach Kontakten und Anerkennung spürbar, dies vor allem durch bildnerische Äußerungen in Bezug zur Gestaltung des Bildraumes. Gut beobachtbar sind solche Prozesse zum Beispiel in der Interaktion beim Malen eines gemeinsamen Bildes, worauf später noch spezieller eingegangen wird. Aber, wie gesagt, der Sammelort für Gestaltungen blieb (noch) lange leer, und erst langsam zeichnete sich hier eine Entwicklung ab. Durch den zögerlichen Beginn und durch die geschilderten Schwierigkeiten wurde rasch deutlich, dass es einen anderen Einstieg in dieses vielversprechende Vorhaben brauchte. Dieser wurde dadurch erleichtert, dass ich ankündigte, beim nächsten Mal Farben, Pinseln und Papier mitzubringen und die Gruppenmitglieder könnten einfach nur kommen und daraufloswerken.
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Dorit Doppelhammer Da ein fixer Atelierraum für kunsttherapeutisches und künstlerisches Arbeiten unabdinglich ist, aber leider Platzmangel herrschte, musste improvisiert werden: Ein Hörsaal der SFU wurde und wird seither vor den jeweiligen Stunden als Atelierraum eingerichtet. Der passende Atelierraum und die Aussicht auf ein entspanntes, lustvolles Gestalten, für welches man keinerlei Voraussetzungen braucht, sowie auch die Tatsache, dass den Teilnehmern vorerst die Entscheidung über das Mitbringen oder Nichtmitbringen von eigenen Gegenständen abgenommen wurde, brachten plötzlich wesentlich mehr Personen in die Gruppe als zuvor. Sie erwiesen sich zunehmend auch als etwas experimentierfreudiger. Durch den geschützten Rahmen und die besondere Achtsamkeit, welche die Kunsttherapeutin bietet, aber auch durch die besondere gegenseitige Aufmerksamkeit aller anderen Personen, hatte sich ein Raum entwickelt, der Halt bot und auch individuell jeweils von den Gruppenmitgliedern bereitgestellt wurde. Erstmals konnten sie die Erfahrung machen, dass in einer Gruppe gleichzeitig miteinander gearbeitet, beraten, unterstützt, gelacht, gelobt und vor allem aber berührt werden konnte: Vom Ich „ein kleines bisschen mehr“ zum Du, um Martin Buber in diesem Kontext etwas abgewandelt heranzuziehen. Obwohl das Sammeln bei den Messies nicht mehr kontrolliert verläuft, wird von meinen Kolleginnen und Kollegen sowie von mir häufig beobachtet, dass sie sich als Personen sehr selbst-kontrolliert verhalten. Um diese Verhaltensweise etwas aufzulockern, schlug ich in einer der ersten Stunden eine Gemeinschaftsarbeit mit Fingerfarben vor. Bemerkenswert erschien, dass sich zwei Teilnehmer, eine Frau und ein Mann, sehr um eine Frau bemühten, die nicht mitmachen wollte. Als Gründe dafür gab diese Frau Angst vor Beurteilung und Versagensängste an, auch in Hinblick auf ihre eigenen Ansprüche. Plötzlich bemühten sich auch die restlichen Gruppenmitglieder darum, der Frau die Angst zu nehmen, und sie wurde, trotz ihrer anfänglichen Widerstände, liebevoll integriert. Hier kam die anfangs erwähnte besondere Achtsamkeit und Fürsorge für den anderen zum Tragen – es konnte eine warme Bewegungsdynamik entstehen, und die Frau machte in der letzten halben Stunde beim Gemeinschaftsbild mit. Eine andere junge Teilnehmerin, Frau G., die ihre (vorhin beschriebene) Kollegin seit Beginn der Arbeit sehr zum Mitmachen ermutigt hatte, wagte sich, ohne zu zögern, an die Sache heran! Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern konnte sie sich voll der Farbe hingeben, während die anderen anfangs äußerst zaghaft und nur mit den Fingerspitzen und wenig Farbe vorsichtig umgingen.
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Das Messie-Kunstprojekt d Abbildung 1: Gemeinsames Arbeiten mit Fingerfarben, November 2007
Auf die gesamten Aspekte der Farbauswahl einzugehen, würde hier zu weit führen. Ich möchte aber erwähnen, dass Frau G. sehr viel von der Farbe Braun verwendete. Dies war insofern bemerkenswert, als „Braun“ in der Literatur, wie z. B. in Eva Hellers Buch „Wie Farben wirken“, als eine der unbeliebtesten Farben beschrieben wird und auch in meiner Erfahrung mit den Klientinnen und Klienten die Ablehnung dieser Farbe immer wieder deutlich und sogar verbalisiert bestätigt wurde. Abgesehen von den vielen negativen Zuschreibungen der Farbe Braun steht diese aber auch für Gemütlichkeit und Geborgenheit. Als Raumfarbe zum Beispiel wird Braun häufig positiv erlebt, weil braune Zimmer zwar enger, aber gemütlicher wirken. Braun steht unter anderem auch für knusprig, aromatisch und verdorben. Dunkle Schokolade, dunkles Brot und Eier, die keine weiße Schale, sondern eine braune haben, sind beliebter (vgl. Heller 1999, S. 203). Braun ist auf alle Fälle eine gehaltvolle Farbe, und die Teilnehmerin brachte sich gehaltvoll und mutig in die Bildgestaltung ein; sie regte indirekt alle anderen zum Mitmachen an. Bei den Gruppenmitgliedern wurde indes sichtbar, dass sie selbstvergessen die haptische Erfahrung mit den Fingerfarben genossen und atmosphärisch eine gute Stimmung wahrnahmen. Sie bedeckten ihre Fingerkuppen mit Farbe, und ihr „Einklopfen“ auf den Papierbogen bedeutet kunsttherapeutisch betrachtet die Mitteilung eines „In-der-Welt-Seins“ und „Daseins“.
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Dorit Doppelhammer Zitat einer Teilnehmerin: „Heut möcht ich gar nicht mehr aufhören, so wohl fühl ich mich, wenn ich da ans Nach-Hause-Gehn denk …!“ Am Ende der Stunde war das erste Gemeinschaftsbild der Messie-Kunstgruppe geschaffen, alle hatten Freude damit, und die Stimmung war gelöst! Martin Schuster schreibt in seinem Buch „Wodurch Bilder wirken“: „Viele Techniken erlauben auch dem Laien, Schönes zu gestalten und können so im Klienten, der seit langem nur negativ von sich denkt, Gefühle des Stolzes wachrufen. Der Umgang mit Farbe weckt Emotionen und löst emotionale Verkrustungen; ja, das Schmieren von Farbe kann die längst kanalisierte Lust am Spiel mit Schlamm und Kot anklingen lassen und insofern Kontrollen auflockern. Beim Malen muss der Klient, wenn auch nur in einem individuellen Rahmen, Erfindungen machen und kreativ sein. Diese neu geweckte schöpferische Kraft könne in das Leben übernommen werden und auch dort zu neuen Versuchen führen, die eine erfolgreiche Lebensführung erlauben.“ (Schuster 1997, S. 214).
Es gibt auch in unserer Kunstgruppe immer wieder Beispiele, die diese Sichtweise bestätigen. Das negative Denken über sich selbst wurde von einer Teilnehmerin bemerkt und bildnerisch sehr bald verändert. Schon zu Beginn schrieb sie mit Pinsel und blauer Farbe auf ihr Blatt: „Meine Hand kann so viel“ und nach ein paar weiteren Pinselstrichen schrieb sie dazu: „zerstören“. Nachdem sie darunter zarte, luftige Blütendetails in lindgrüner Farbe gemalt hatte, wurde sie für eine kurze Zeit nachdenklich; dann überdeckte sie das „zerstören“, um etwas später in einem kräftigen Blau „schaffen“ darüber zu schreiben. Unsere Kunstgruppen-Mitglieder sind sehr stolz auf ihre neu geschaffenen Bilder und Objekte. Es ist ihnen ein großes Anliegen, dass ich bei jedem Treffen die Mappe, in der die Bilder aufbewahrt werden, mitbringe, damit sie die Bilder jederzeit hervorholen und betrachten können und auch, um sich darüber mit mir oder den Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Und immer wieder gibt es Aussagen, wie zum Beispiel: „Ich hätt gar nicht gedacht, dass ich so etwas zustande bringe“.
1.3. Die Bedeutung sozialer Wärme Ein weiteres wichtiges theoretisches Konzept für die Kunsttherapie stellt der schöpferische Prozess in der „Sozialen Plastik“ von Joseph Beuys dar.
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Das Messie-Kunstprojekt
d Abbildung 2: Erstes Gemeinschaftsbild der Messie-Kunstgruppe, Fingerfarben, November, 2007
Darin wird deutlich, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, und zwar als „Künstler“, d. h. als ein selbstbestimmtes, schöpferisches Wesen, dessen Naturbestimmung die Gestaltung ist. Nichts wird von dieser Gestaltung ausgeklammert. Der Begriff „Plastik“ ist zwischen zwei Pole gespannt. Der erste ist der Pol der Form oder der Pol der Idee, der zweite ist der Pol der reinen Potenz. Zugleich ist bei der „Sozialen Plastik“ die Rede von einer noch nicht vorhandenen bzw. einer auf eigentümliche Art und Weise in jedem Menschen vorhandenen Potenz – im Sinne einer Energie oder Kraft. Und zwischen diesen Polen taucht dann das Bewegungselement als Drittes auf. Jedes dieser drei Wesenselemente bezeichnet eine besondere Position des Menschen, und zwar immer als Künstler: erstens der Künstler, der in einer zukünftigen „Sozialen Plastik“ selbstbestimmt produzieren und leben kann, zweitens der Künstler, der diese „Soziale Plastik“ überhaupt erst einrichten will, drittens der Künstler, der die richtigen Schritte dahin macht (Stüttgen 1988, S. 40f). „Jeder Mensch ein Künstler“ (ebd., S. 117) ist einer der bekanntesten Aussprüche von Beuys. Und:
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Dorit Doppelhammer „... alles menschliche Wissen stammt aus der Kunst. Jede Fähigkeit stammt aus der Kunstfähigkeit des Menschen, das heißt: kreativ tätig zu sein. Woher soll es anders stammen können?“ (Beuys 2007, S. 33).
Bei Beuys wird also der künstlerische Prozess auf alle Lebenslagen ausgeweitet, und Kunst und Leben werden zu einer Einheit zusammengefügt. Will ich jetzt konkrete Bezüge zu meinen Gedanken in Verbindung mit der Messie-Gruppe und den Aussagen von Joseph Beuys herstellen, so denke ich, dass über den künstlerischen Prozess in der Gruppe in dieser Weise auch die erworbenen Fähigkeiten in ihre Lebenslagen übertragen werden könnten. Joseph Beuys verwendete in seiner „Sozialen Plastik“ das Fett als Element. Fett ist beweglich und formbar, und je nach dem, ob man ihm mit Wärme oder Kälte entgegenkommt, zerfließt oder erstarrt es. So wurden von Joseph Beuys unter anderem kalte, materielle Gegenstände, wie zum Beispiel ein Klavier, mit Fett umschmiert, um deren Bewegungsdynamik zwischen warm und kalt darzustellen. Das Fett wurde zum Bildträger seiner Idee der sozialen Wärme. Er geht davon aus, dass sich die Struktur schöpferischer Gestaltungsvorgänge zweipolig bewegt und das nicht nur in der Kunst, sondern bei allen Prozessen, die Lebendiges beschreiben. Darüber hinaus postulierte er, dass in jedem Menschen ein kreatives Potential steckt, welches sich in einer natürlichen Sehnsucht nach Weiterentwicklung äußert. „In der natürlichen Sehnsucht des Menschen sich weiter zu entwickeln, ist es notwendig sich selbst zu ermutigen, als ersten Anstoß zur Entfaltung der freien Persönlichkeit“ (Stüttgen 1988, S.117). Der von mir geschilderte Fall von der ersten gemeinsamen Gruppenarbeit ließe sich dann auf der Ebene der Metapher in diesem Sinne auch ein Stück weit mit Beuys begreifen: Sie war ein Prozess, der aus anfänglicher Reserviertheit, oder besser gesagt Vorsicht, in ein miteinander liebevolles Gemeinsames floss.
1.4. Kunsttherapeutisch orientierte Zugänge zum MessieSyndrom: Sammeln zwischen Leid und künstlerischem Akt Wenn (nach Joseph Beuys) jede Fähigkeit aus der Kunstfähigkeit des Menschen herrührt, so verstehe ich als Kunsttherapeutin das Sammeln, Aufbewahren und Horten von Gegenständen meiner Klientinnen und Klienten als einen sehr kreativen Akt und als eine gewisse Kunstform, wenn auch durch
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Das Messie-Kunstprojekt die Ausprägung des hier behandelten Syndroms kontraproduktive, weil dadurch der jeweilige Lebensraum drastisch eingeschränkt wird. Stelle ich jedoch den Vergleich mit dem „geglückten“ Sammeln eines Künstlers, in diesem Fall mit Dr. Rolf Laven, akademischer Maler, Bildhauer, Kunstpädagoge und Kurator des Franz-Cizek-Nachlasses im Wien Museum Karlsplatz an, so zeigt sich für mich hier eine nicht krankheitswertige Ausprägung, die gleichzeitig die Kunstform und den kreativen Akt des Sammelns herausstellt. Aus diesem Grund möchte ich diesen Aspekt auch noch genauer ausführen. Dem Künstler gelingt es, Sammeln mit seinen Konzepten zu verbinden, damit erhält das Sammeln spezifischen Sinn. Wie er mir in einem Interview (im Dezember 2007) mitgeteilt hat, sammelt er die unterschiedlichsten Dinge, von Schmetterlingen und Käfern über Eisen, Holz und Glas bis zu Schleifscheiben und alten Ölkanistern von Shell oder Kolkoks, um daraus zum Beispiel Rucksäcke zu designen. Er studierte in Maastricht und Wien, unter anderem bei Bruno Gironcoli und Michelangelo Pistoletto. Für seine Diplomarbeit (1998) bei M. Pistoletto, an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, kaufte und sammelte er 200 Personenwaagen, um daraus eine Rauminstallation zu gestalten. Rolf Lavens Intention war es, dass diese Waagen auch begangen werden sollten, und einige „gewichtige Personen“ (Professoren der Akademie) nutzten dieses Angebot. Das Sammeln der Waagen setzt er bis heute fort, und er besitzt mittlerweile so viele, dass er einen ganzen Raum mit den Personenwaagen austapezieren könnte. Er hält Ordnung in seinen Sammlungen, hat allerdings durch sein großes Atelier und weitere Depoträume auch genügend Platz dafür. Auf meine Frage, warum er überhaupt sammle und die unterschiedlichsten Dinge aufbewahre, antwortete er: Dies habe wahrscheinlich mit einer traumatischen Erfahrung in seiner Kindheit zu tun. „In dem Dorf (im Rheinland), in dem ich gelebt habe und in den Kindergarten gegangen bin, und im Nachbardorf ist alles abgerissen und der Braunkohle geopfert worden. Und das ist natürlich ein prägendes Erlebnis, wenn da ein Haus und dort ein Straßenzug weggerissen wird. Landschaften verschwinden einfach. Das große Bauernhaus meiner Eltern wurde ebenfalls abgerissen. Realisiert hab ich das später, ich bin dann weggezogen aus der Gegend, von dort nach Wien, also 1000 km, ich hab das dann nur mehr aus der Entfernung und aus Telefonaten mit den Eltern mitbekommen. Die berichteten dann, da ist auch etwas abgerissen worden und
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Dorit Doppelhammer dort … und da haben sie neu gebaut …, das war nicht leicht zu ertragen und ich denk, das spielt halt auch bei der ganzen Geschichte mit.“ d Abbildung 3: Rolf Laven, „Diplombegehung“, 1998 (http://www.rolflaven.com/)
Möglicherweise hat das ungeglückte, unkontrollierte Sammeln bei den betroffenen Messies auch mit traumatischen Erfahrungen zu tun, es wird in Fachkreisen zumindest oft diskutiert. Es ist jedenfalls zu unterscheiden, ob es sich um ein, wie ich es bezeichnen möchte, geglücktes Sammeln handelt, welches den privaten Lebensbereich nicht einschränkt und wo aus der ganzen Fülle kreativ geschöpft werden kann, oder um ein „pathologisches“ Sammeln in Form einer Sucht, mit einhergehendem Kontrollverlust und Leidensdruck. Mit dem Verständnis und dem Blick auf die künstlerischen, ästhetischen Momente, die dem Akt des Sammelns inhärent sind, auf die Hintergründe, die künstlerischem Ausdruck und künstlerischen Akten innewohnen und die Hervorbringung der kreativen, künstlerischen Gestaltungsfähigkeit der Klientinnen und Klienten in den Therapiestunden selbst, eröffnet die Kunsttherapie Menschen mit „Messie-Syndrom“ mittels ihres kreativen Potenzials Möglichkeiten des Verstehens und Umgangs und damit vielleicht die eingangs beschriebene, angestrebte Wandlung des leidvollen Syndroms.
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Das Messie-Kunstprojekt
1.5. Deutungen Die Deutungen von Bildern werden in Kunsttherapiestunden zumeist nicht von den Kunsttherapeuten vorgenommen, sondern von den Klientinnen und Klienten, die eingeladen werden, ihre Werke selbst und von sich heraus zu beschreiben, zu kommentieren und letztendlich auch zu deuten. Als Kunsttherapeutin greife ich bei meinen Klientinnen und Klienten nur regulierend und impulsgebend ein, um die Arbeiten nachträglich für mich selbst zu analysieren. Dies dient dem Vergleich, zu sehen, was mir in den Gestaltungen entgegenkommt und was von der Klientin / vom Klienten wahrgenommen wurde. Wenn es initiiert erscheint, wird in der nächsten Stunde das Bild mit den Klientinnen und Klienten nochmals besprochen, gegebenenfalls auch nochmals bearbeitet, oder es wird, je nach Bedarf und Bedürftigkeit, gleich in eine neue Gestaltung gegangen. Stellt sich jedoch während eines Gestaltungsvorgangs eine prekäre Situation dar, greife ich sofort ein, um diese Situation zu entschärfen und die Klientinnen und Klienten zu entlasten. Die Münchner Ärztin und Psychoanalytikerin Gisela Schmeer drückte es beim Internationalen Symposium für Kunsttherapie 1997 in Wien folgendermaßen aus: „Die [Kunsttherapeuten] müssen wissen, wie schnell Krisen ausgelöst werden können durch das Malen. Es ist Kernenergie in diesem Prozess! Eine brisante Energie, mit der man umgehen muss!“
Ich kann diese Aussage durch meine lange Erfahrung auf diesem Gebiet nur bestätigen. In der Messie-Kunstgruppe wird von mir, wenn überhaupt, sehr vorsichtig, aber dennoch offen konfrontiert. Ich bin aber eher bestrebt, sie im Sinne der „Art brut“ arbeiten zu lassen. Die Mitglieder haben dadurch großes Vertrauen zu mir gewonnen und gutes Arbeiten wurde dadurch möglich.
1.6. Eine kleine Bildanalyse Bei der Deutung von Bildern orientiere ich mich unter anderem an der sogenannten „Matrix des Bildes“ der Wiener Schule für Kunsttherapie, an der ich im Jahr 2002 meine vierjährige Ausbildung zur Kunsttherapeutin abgeschlossen habe. Diese Matrix erweist sich als sehr hilfreich bei den Bilddeutungen und kann einen guten Gesamtüberblick bieten (Starke o. J.).
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Dorit Doppelhammer Für diese Zwecke ist es unerlässlich, eine gute Schulung der Wahrnehmung erfahren zu haben. Da es sich um ein sehr komplexes Gebiet handelt, wird zur Veranschaulichung in einem kurzen Abschnitt auf das Bild eines Kunstgruppen-Teilnehmers eingegangen.
„Loseisen“ Betrachtet man nun jene Gestaltung, die von einem Teilnehmer der MessieKunstgruppe bei seinem ersten Besuch entstanden ist, begegnet dem Beobachter eine deutliche Dynamik und Bewegung in relativ kräftigen Farben. Laut Angaben des Teilnehmers wurden von ihm zum ersten Mal Acrylfarben verwendet, deren Konsistenz empfand er anfangs zwar als gewöhnungsbedürftig, sie erlaubten ihm aber rasch ein angenehmes, fließendes Arbeiten. Er malte zügig und war begeistert bei der Sache, ab und zu unterbrach er seine Arbeit und meinte, dass sein Bild leider nicht so werde, wie er es im Kopf hätte. Am Ende jedoch war er sehr zufrieden mit dem Ergebnis, und als ich ihn fragte, wie er sein eigenes Bild benennen möchte, antwortete er: „Es ist, als ob ich mich loseisen wolle.“ Wenn ich zum Beispiel in der Mitte des Bildraumes ein oder mehrere gestaltete Elemente wahrnehme, die eine Tendenz von der linken zur rechten Seite erkennen lassen, kann ich gestaltbildnerisch davon ausgehen, dass es sich um eine unbewusste Bewegung von der biografischen Vergangenheit und Introversion über eine diametral angelegte Selbstbefreiung (von links unten nach rechts oben) in Richtung Selbstverwirklichung und auf ein Ziel in Richtung biografische Zukunft und Extraversion handelt. Im vorliegenden Bild des Klienten sind diese Tendenzen, meiner Ansicht nach, durchaus zu erkennen, und ebenso erkennt man die vier Elemente in dem Bild, nämlich: Wasser, Erde, Feuer und Luft. Sie wurden vom Gestalter bewusst eingebracht und ebenso benannt. Betrachtet man nun den linken oberen Teil des Bildes, so befinden wir uns im Bereich der Vorstellung, Irrealität, er steht ebenso für die Zone der Passivität und den Zuschauerraum des Lebens. Als Element ist diesem Quadranten der Bereich Luft zugeordnet. Luft bedeutet Leere, Nichts, Idee, Licht, Sehnsucht und Wunsch. Im Bild des Klienten findet man hier eine Verdichtung und eine gewisse Form der Lebendigkeit und Bewegung. Es könnte darüber hinaus mehrmals das Symbol Schlange auffallen, und dieses steht unter anderem auch für die Weisheit. Der rechte obere Teil gilt als Zone der Aktivität, der aktiven Auseinandersetzung mit dem Leben und beinhaltet als Überbegriff das Element Feuer; dem Bereich werden Begriffe wie Höhepunkt, Ziel und Ende zuge-
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Das Messie-Kunstprojekt d Abbildung 4: „Loseisen“, Acrylfarben, November 2007, von einem Kunstgruppen-Teilnehmer
schrieben. In diesem Quadranten wurde vom Gestalter die Sonne platziert und der Himmel, und auch wenn es banal klingen mag: Ohne Sonne gibt es kein Leben! Sonne und Feuer gehören zusammen, die bei Sonnenfinsternis sichtbaren Protuberanzen sind ein (ewiges) Zeichen des Feuers und stehen im Zusammenhang mit dem Leben auf unserer Erde. Deshalb denke ich, dass man in einem Großteil sämtlicher Gestaltungen, angefangen von Kinderzeichnungen bis zu kunsttherapeutisch gefertigten Bildern hochbetagter Menschen, die Sonne meist an jene Stelle gesetzt findet, die ich als Platzhalter für einen kollektiven Automatismus bezeichnen möchte.
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Dorit Doppelhammer Im linken unteren Bereich des Rechtecks mit dem Element Erde sind Grundemotionen angelegt, Instinkte, Konflikte, Angelegtes und existentielles Selbst. Darunter steht das „(männlich) väterlich Verhindernde“. Hier scheint der Fuß der gemalten Gestalt in der Erde festzustecken, ohne Bodenhaftung, aber fixiert. Geht man weiter in der Bildbetrachtung, so erkennt man in der rechten unteren Ecke das Element Wasser; dieses steht für Anfang, Regression, Retardierungen, Fixierungen auf frühere Störungen, Überwundenes. Vom Klienten wurde dieser untere Bereich als Eisblock bezeichnet, in dem er sich eingefroren fühlt und von dem er sich loseisen möchte. Der Fuß der gemalten Gestalt ist fast an der Oberfläche angelangt und scheint die Eisschicht bald zu überwinden. Die Matrix schreibt diesen unteren Teil des Quadranten dem „(weiblich) mütterlich Bindenden“ zu. Von der biografischen Vergangenheit, Introversion auf der linken Seite geht es nach rechts in die biografische Zukunft, Extraversion. Geht so eine bildnerische Gestaltung nun dynamisch und bewegt vom unteren linken Teil in Richtung rechten oberen Teil, so nimmt man das Ziel „Selbstbefreiung“ an; würde eine Gestaltung von der rechten unteren Ebene in Richtung linke obere Ebene hinweisen, kann man als Ziel den Begriff „Selbstideal“ nennen. Abschließend möchte ich noch anführen, dass sich unterhalb eines (vorgestellten) Rechtecks in der Mitte die Begriffe „Weibliches“, Materie, Unbewusstes, kollektiv Unbewusstes befinden und oberhalb des gesamten Rechtecks „Männliches“, Geist, göttliches Bewusstsein, Bewusstes. „Die Bild- und Gestaltungsarbeit hat sich aus der analytischen Psychologie C. G. Jungs entwickelt. Sie vertritt eine Kunstauffassung, die künstlerische Tätigkeit auch als Mittel und Weg zur Welterfahrung sieht. Sie begreift das Bild auf tiefenpsychologischer Grundlage als Ebenbild und die Bewegungen zur und in der Gestaltung als gleichzeitigen Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Heilungsprozess. Damit folgt sie der Archetypischen Psychologie James Hillmans. Neben dem fühlenden, empfindenden und intuierenden Herangehen arbeitet die Bild- und Gestaltungsarbeit mit strukturierenden Matrixen, die die Dynamik und Individualität wie auch allgemeingültige Bedeutung der bildnerischen Gestaltung theoriebezogen erfassen können. Diese Theorie formuliert Grundannahmen und aus ihnen heraus die Auffassung der Bereiche Gestaltbildung, innerpsychische Strukturen, Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten und Auffassung vom künstlerischen Prozess. Mit diesem Bezugssystem kann dann eine Gestaltung fokussiert und die Art der Fokussierung benannt werden
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Das Messie-Kunstprojekt und eingeordnet werden, so daß die Theorie zur Orientierungshilfe dienen kann, in einer Welt der Psyche, von der wir wie Hillman annehmen, dass sie vielschichtig und vielgestaltig ist, ihre Ganzheit also nie eine Einheit sein kann sowie die zugrundeliegenden Strukturen unsichtbar sind.“ (Starke o. J.)
Nun möchte ich zusammenfassend aufzeigen, welche Aspekte mit Hilfe dieses Bildes für mich sichtbar bzw. erkennbar wurden. Zum einen Teil sehe ich ein Gebundensein wie auch eine Starrheit, Fixierung und ein Gefangen-/ Eingeeistsein im tiefen unteren Bereich, während mir im Bereich der Körpermitte, man könnte auch sagen im Solarplexus-Gebiet, bereits eine gewisse Geborgenheit, Wärme, Natur- und bewegte Lebensenergie entgegenkommt. Im dritten Teil des Bildes setzt sich diese Energie fort, sie erscheint fast in eine Art Fröhlichkeit, zumindest aber Lebendigkeit überzugleiten. Die Figur bewegt sich selbst in den gebundenen Bereichen, sie möchte sich daraus lösen. Außerdem tendiert die Bewegung von einer biografischen Vergangenheit in Richtung Selbstverwirklichung und als Ziel in die Selbstbefreiung. Ob man dieses Bild auch für ein Verstehen der Messie-Problematik dieses Klienten heranziehen kann, wage ich nicht zu beurteilen, weil es sich um einen Einzelfall und um ein Einzelstück handelt. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass nach einer längeren Erfahrung auf diesem Gebiet und aus einem Pool vieler Gestaltungen in Zukunft eine Aussage zu treffen sein wird. Kunsttherapie kann, meiner Ansicht nach, die Verzweiflung wandeln, sie sollte daher zu einem fixen Bestandteil in der Messie-Forschung und -Behandlung werden.
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Dorit Doppelhammer d Abbildung 5–7: Frau H., Scherenschnittschirm, Dezember 2007
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Das Messie-Kunstprojekt
1.7. Ein optimistischer Durchblick Bei Frau H. war es üblich, dass sie in jeder Stunde zumindest einen Scherenschnitt mit dem Zeichenpapier machte. Dem Falten und Ausschneiden kommt in Gisela Schmeers Buch „Das Ich im Bild“ eine besondere Bedeutung zu – als Eingriff in das Bild: einerseits um Bildelemente hervorzuheben, andererseits um sie wegzufalten (vgl. Schmeer 1992, S. 197). Das Ausschneiden kann eine Möglichkeit des spielerischen Ausprobierens bedeuten, wie gewisse Bildelemente in einer neuen Zuordnung miteinander eine neue Dynamik entstehen lassen und ein ganz neues Lebensgefühl auslösen können (ebd., S. 201). In einer der letzten Stunden brachte Frau H. bereits ein Objekt mit. Sie kam mit einem Schirm, besser gesagt einem gefundenen kaputten Knirps. Mit ihrer Nagelschere trennte sie das schwarze Nylon von den Speichen, und flink begann sie, in die schwarze Hülle einzuschneiden. Wir alle waren von ihrem Werken begeistert, und ich sah es als Erfolg an, dass sie den gefundenen kaputten Schirm mitbrachte um daraus etwas zu gestalten, und ihn nicht nach Hause mitnahm. Wie die bereits entstandenen Bilder und Objekte, der Einsatz, der Gemeinschaftsgedanke, die Begeisterung und die Freude aller Mitwirkenden
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Dorit Doppelhammer
d Abbildung 8: Frau B., „Luftholen”, Acrylfarben, Dezember 2007
zeigen, ist das Messie-Kunstprojekt eine vielversprechende Sache. In erster Linie aber eine Sache, die den Teilnehmern Spaß macht, die entspannend, beruhigend und anregend ist, und vor allem eine, die völlig andere Perspektiven für Veränderungsgedanken mit sich bringt!
2. Literatur Beuys J. Kunst ist ja Therapie und jeder Mensch ist ein Künstler. In: Petzold HG, Orth I (Hg.): Die Neuen Kreativitätstherapien. Handbuch der Kunsttherapie, Theorie und Praxis. Aisthesis Verlag, Bielefeld, 33–40 (2007) Heller E. Wie Farben wirken. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck (1999) Majer H, Meschede E. Freizonen. Ein offener Projektansatz für den klinischen Kontext. Kunst & Therapie, Zeitschrift für bildnerische Therapien 01: 17–28 (2001) Schmeer G. Das Ich im Bild. Ein psychodynamischer Ansatz in der Kunsttherapie. Verlag J. Pfeiffer, München (1992)
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Das Messie-Kunstprojekt Schuster M. Wodurch Bilder wirken. Psychologie der Kunst. DuMont Buchverlag, Köln (1997) Starke IM. Scriptum der Gestaltbildung. Wiener Schule für Kunsttherapie, Wien (o.J.) Stüttgen J. Zeitstau. Im Kraftfeld des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys. Verlag Urachhaus, Stuttgart (1988)
Tondokument Internationales Symposium – Theoretische Grundlagen der Kunsttherapie – 21.–23. Feb 1997, Wien. Gesendet im ORF Februar 1997 auf Radio Ö1, Dimensionen: Gesundheit mit Kunst. Interview von Ursula Siller mit I. M. Starke und mit Gisela Schmeer
Bildquelle: Diplombegehung URL: http://www.rolflaven.com/ Download am 02.01.2008
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Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen Gabriele Flemisch
Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben. Søren Kierkegaard
Jeder Mensch verfügt über die Fähigkeit, sich selbst aus deprimierenden Lagen zu befreien. Es bedarf lediglich der richtigen Strategie, um die Fähigkeiten des um Selbsthilfe bemühten Individuums in erfolgreichem Maß zu mobilisieren. Wir alle haben Erfahrungen mit Ereignissen in einem als bedeutsam und schwierig empfundenen Lebensabschnitt gemacht. Ebenso kennen wir auch das Gefühl, wenn man die psychische Talsohle überwunden hat, die Kräfte langsam wiederkehren und man beginnt, nach Auswegen zu suchen. Wenn möglich, sollten diese Ansätze und die daraus resultierenden Lösungsmöglichkeiten langfristig und nachhaltig wirken. Es gelingt kaum auf Anhieb, das belastende Problem abzuschütteln, und es ist zweckmäßig, sich nach Hilfe umzusehen. In der Phase, in der man seine Probleme wahrnimmt und versucht, sich ihnen zu stellen, hat man im Grunde schon die ersten Schritte aus dem Schlimmsten geschafft. Es bildeten sich bereits Fähigkeiten, die wieder in die Lage versetzen, sich auf erneuerte Ziele zu konzentrieren. Diese Aufbruchstimmung und ihre Chancen zur Weiterentwicklung und Verfestigung werden unter dem Titel „Selbsthilfe“ speziell in Bezug auf die Messie-Problematik dargestellt. Die „Selbsthilfe“-Maßnahmen lassen sich in zwei unterschiedliche Durchführungsarten kategorisieren. Die erste Mög-
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Gabriele Flemisch lichkeit besteht darin, wie schon vorhin angedeutet, eine langfristige und nachhaltige Lösung anzustreben. Bei der Zweiten steht anfangs, evtl. auch über einen längeren Zeitraum, der Ablenkungscharakter im Vordergrund. Ausgehend von verschiedenen Informationen im therapeutischen Kontext sowie von Beobachtungen in einer Selbsthilfegruppe werden in der Folge die Entwicklungsprozesse angeführt und schlüssig aufbereitet. Zu beachten ist dabei, dass jeder Messie die angestrebte Weiterentwicklung in seinem eigenen, individuellen Tempo durchläuft und somit weder zeitlich noch auf organisatorischer Ebene mit anderen Betroffenen vergleichbar ist. Die stetigen Veränderungen in der Gruppe gaben den Anstoß, einen Überblick über die stufenweise Anwendung der Selbsthilfe-Konzepte festzuhalten. Viele der nachfolgend angeführten Punkte werden überlappend begonnen oder zeitgleich angewandt. Es zeigte sich bei der Arbeit mit Betroffenen, dass der gemeinsame Einsatz der skizzierten Selbsthilfe-Möglichkeiten Erfolg versprechender ist, da der Hilfesuchende auf verschiedenen Ebenen parallel und synergetisch an sich arbeiten kann. Ein Beispiel: Eine Umstrukturierung und Neuplanung mit einem den Messie motivierenden „Helfer“ kann den Wohnbereich in Ordnung bringen. Regelmäßige Therapie kann die zugleich nötige Stärkung der Persönlichkeit unterstützen. Beide Initiativen stabilisieren die Gesamtsituation. „Selbsthilf ist aller Ehren werth. Weil sie von anderen nichts begehrt.“ Hoffmann von Fallersleben
1. Bücher und Zeitschriften Das Lesen von fachspezifischen Büchern kann bemerkenswert hilfreich sein, da damit ein großes Wissensbedürfnis abgedeckt wird und der Leser zugleich erlebt, wie sich andere mit seinem persönlichen Problem ernsthaft wie wohlwollend zielorientiert auseinandersetzen. Wenn ein Thema, das einen so sehr selbst beschäftigt, zur Hauptsache wird, motiviert das Lesen zu weiteren befreienden Selbsthilfeschritten. Die für Messies relevante Literatur umfasst insbesondere Themen wie Räumungen, Persönlichkeitsentwicklung und Erforschung von Hintergründen, Informationen über Begleit- und Krankheitssymptome, aber auch Ansätze über Verhaltensänderungen.
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Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen
1.1. Ratgeber Der Bereich Räumungen steht für die Betroffenen als wichtigster Ansatzpunkt am Beginn zur Selbsthilfe. Es gibt mittlerweile schon eine große Anzahl von Büchern, die sich ausschließlich Räumungen widmen. Für die meisten Messies ist es eine der ersten Aktivitäten, um Ordnung in das desorganisierte Leben zu bringen, gemeinsam also das nach außen sichtbare Chaos zu beseitigen. Eine der bekanntesten Autorinnen ist die in Amerika ansässige – ehemals selbst betroffene – Sandra Felton. Ihre Bücher tragen so reißerische Namen wie: „Endlich weg mit dem Ballast!“ (2000) oder: „Schritt für Schritt aus dem Chaos“ (1999). Sie konzentriert sich hauptsächlich darauf, die Wohnung von belastenden und störenden Dingen zu befreien, und bietet dazu die verschiedenartigsten Strategien an. Sandra Feltons Ansatz folgen bis zum heutigen Tag noch viele andere Autoren, die sich vorwiegend auf die Wohnungsorganisation spezialisieren. Ein aktuelles Beispiel bietet der Ratgeber der ebenfalls in Amerika lebenden und sich selbst als „Haushalts-Expertin“ bezeichnenden Cynthia Townley Ever. Sie teilt in ihrem Buch „Nie wieder Chaos“ (2007) die verschiedenen Verhaltensmuster in Typen ein: Es gibt z. B. den Chaos-Typ, der die Dinge vorerst auf die Seite legt, um sich später darum zu kümmern. Diesem empfiehlt sie, sich seine Vorgehensweise bewusst zu machen, um dieses Zögern mit Aktivität zu bekämpfen. Die Hauptverursacher für Unordnung ortet Ever in den sogenannten „Haushalts-Nomaden“. Das sind obdachlose Gegenstände, die immer wieder neu dazukommen, wie etwa Post, Zeitungen und dergleichen, oder Gegenstände, die ständig in Gebrauch sind, wie Schuhe, Taschen und Bekleidung. Diese Dinge kann man nur organisieren, indem man ihnen fixe Plätze zuweist. Jeder Mensch sollte sich aber auf jeden Fall auch einen „Chaos-Freibrief “ zugestehen. Der Alltag bringt ein normales Maß an Unordnung mit sich, der man bestimmte Plätze in der Wohnung zugestehen darf z. B. Sessel für Bekleidung im Schlafzimmer. Vorsätze in einem gut organisierten Haushalt sind ihrer Meinung nach mit Zuhilfenahme wöchentlich oder täglich zu erstellender Checklisten leichter umzusetzen. Aber auch sie meint abschließend: Ordnung ist ein Langstreckenlauf! Wie eingangs erwähnt, sind diese Ratgeber häufig die erste Möglichkeit eines Betroffenen, sich aktiv mit seiner speziellen Problematik zu befassen. Dahingehend sollte diese Einstiegsliteratur nicht gering geschätzt werden (diese Abwertung erfolgt oft von Messies selbst, die sich schon umfassender mit sich und der eigenen Thematik auseinandergesetzt haben). Behutsam gesetzte Entwicklungsschritte, verbundenen mit einer Konfrontation der ge-
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Gabriele Flemisch genwärtigen Tatsachen und der sich daraus einstellenden Bewusstmachung, sind der Nährboden, auf dem Veränderungen gedeihen. Dieses situative „Gewahrwerden“ ist mit sehr vielen schmerzlichen Gefühlen verbunden, da noch keine Lösungsmöglichkeiten greifbar sind. Erst wenn das ein oder andere Etappenziel in sichtbare Nähe rückt, wird Erleichterung spürbar und aktives Handeln möglich. Diese Akzeptanz von Neuerungen und die möglichen Veränderungen können nicht von heute auf morgen erreicht oder gar rasch erzwungen werden. So, wie sich der Weg in das Chaos erst über einen langen Zeitraum entwickelte und manifestierte, führt der Weg auch nur Schritt für Schritt, in einer ganz bestimmten Abfolge, heraus.
1.2. Wissenschaftliche Literatur Seit den 80er Jahren begannen sich, vorerst in Amerika und später auch in Teilen Europas, kontinuierlich mehr Personen mit der Messie-Thematik aus einem wissenschaftlichen Kontext heraus auseinanderzusetzen. Einige versuchten, das damals noch unter der Bezeichnung „Diogenes-Syndrom“ oder auch „Vermüllungs-Syndrom“ bekannte Krankheitsbild genauer zu verifizieren und in Kategorien einzuteilen. Daraus ergaben sich interessante Zugänge für Ärzte, Psychologen und Therapeuten, die direkt mit der Betreuung von Messies befasst waren. Diese Erweiterung ermöglichte Vergleiche und Abgrenzungen, und es entstanden unterschiedliche Theorien. Viele davon wurden publiziert und gestatteten so Betroffenen und Wissbegierigen einen Zugang zu mannigfaltigen Informationen. Bekannte Werke, welche in diesem Bereich einzuordnen wären, sind das von Peter Dettmering und Renate Pastenaci verfasste Buch „Das Vermüllungssyndrom“ (2004) sowie „Einmal Messie, immer Messie?“ (2005) und „Das Messie Handbuch“ (2005) von Eva S. Roth. Sie setzt sich vor allem mit verschiedenen Arten von Desorganisation und den damit verbundenen Ursachen auseinander. Der deutsche Internist und Psychoanalytiker Rainer Rehberger hat in einem 2007 erschienenen Buch die Messie-Problematik mit dem Thema Angst und Zwang in Verbindung gebracht. Er hat sich eingehend mit Kindheitserfahrungen und Bindungsstilen beschäftigt (siehe Punkt 5).
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Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen
2. Räumungsstrategien – Abgabemöglichkeiten Es gibt verschiedenste Strategien, die Wohnung in Ordnung zu halten oder von Chaos zu befreien. Die Grundprinzipien finden sich in den meisten, bisher erschienenen Publikationen – wenn auch mit leicht abgeänderten Schwerpunkten – wieder: Sortieren – Wegwerfen – Organisieren – Aufräumen Messies in Selbsthilfegruppen diskutieren das Thema Räumungen detailgenau. Die Betroffenen entwickeln ständig neue Ideen und Anregungen und verfeinern diese im Dialog mit den anderen. Mit diesen Anregungen können fortlaufend kleine neue Ziele anvisiert werden. Erreichte Teilerfolge erleichtern nicht nur den Alltag, es stellt sich zusätzlich ein weiterer positiver Aspekt ein: so erzielte Erfolgserlebnisse wirken aufbauend für das Selbstwertgefühl und motivieren gleichzeitig zum Weitermachen.
2.1. „Kleine Räumungsstrategien“ Diese könnten wie folgt aussehen: t „Werbesendungen gleich nach dem Hineintragen in die Wohnung kritisch durchsehen.“
Hiermit schafft man sich mehr Möglichkeiten, die Prospekte zu entsorgen und an bestimmter Stelle – vielleicht gleich vor der Eingangstüre – zu deponieren. t „Den Abfallsack vor die Tür stellen und beim Verlassen der Wohnung gleich mitnehmen.“
Das Einhalten bestimmter Ordnungsmuster diszipliniert und kann ausgeweitet werden (z. B. Schere, Bürste, WC-Papier usw. haben einen genau definierten Platz). t „Die Wohnung renovieren lassen – ein Zimmer nach dem anderen.“
Das Loslösen von Dingen geschieht leichter in Vorfreude auf die Neuerung. t „Umzug – Anlass für Veränderungen“
Wie beim vorhergehenden Punkt wird „Loslassen“ verbunden mit einer Verschönerung. Dabei kommt man notgedrungen bei einem Umzug viel umfassender und detaillierter mit allen Gegenständen in Kontakt. Oft ist die Trennung von einer großen Menge leichter, als die Auseinandersetzung mit dem einzelnen Stück. Erfahrungsgemäß kann keine allgemeine Aussage
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Gabriele Flemisch über die dadurch entstehende emotionale Belastung getroffen werden, da jeder Betroffene anders reagiert. Bei manchen löst der Gedanke an einen Umzug Ängste und Bestürzung aus. Ein von der Symbolik her eindrucksvoller und in seiner Irreversibilität radikaler Tipp von einem Zeitungs-Messie an einen anderen: t „Nach „übernächtiger“ (wie er formuliert, um die Länge des Trennungsprozesses zu unterstreichen) Erkenntnis, dass man den Artikel oder die Zeitung nicht mehr braucht: ZERREISSEN!“
Somit erfolgt ein unwiderrufliches Entwerten durch eine nicht revidierbare Handlung. Dieser Entscheidung geht eine gezielte Entschlussfassung mit geplanter Durchsetzung voraus und dies kann den Trennungsprozess erleichtern. Möglicherweise ist dadurch auch eine leichtere Entsorgung möglich. t „Eine mögliche Platzersparnis bringt die Übertragung der für den Betroffenen relevanten Texte auf digitale Medien.“
Längerfristig können sehr ähnliche Probleme beobachtet werden. Es kommt zu einer Übertragung des Sammelverhaltens in den virtuellen Raum. Die damit verbundene Anhäufung und Überlastung der Kapazität führt zu ständigen Erweiterungen der Speicherkapazität. Gleichlaufend fehlt auch hier die Zeit, die vielen Daten, die zur Verfügung stehen (Berichte, Filme usw.) abzurufen, und das entstehende Chaos gleicht somit dem in der Wohnung.
2.2. Hilfsgemeinschaften In Selbsthilfegruppen bilden sich oftmals kleine Hilfsgemeinschaften. Frauen und Männer bieten sich Unterstützung bei Räumungen und Entsorgungsfahrten an. Andere wieder schließen sich zusammen, um Waren auf Flohmärkte zu fahren und dort zum Verkauf anzubieten. Häufig ist das Interesse sehr groß, karitative Abgabemöglichkeiten zu entdecken und untereinander Informationen darüber auszutauschen. Es ist vielen Betroffenen lieber, die Dinge einer neuen Verwendung zuzuführen oder einfach jemandem damit eine Freude zu bereiten, als sich – im wahrsten Sinne des Wortes – „sinnlos“ davon zu trennen.
2.3. Speditionen Messies haben in der Selbsthilfegruppe über positive, aber auch negative Erfahrungen mit durchgeführten Räumungen verschiedenster Speditionsfirmen berichtet. Ein Konzept einer sich auf die Messie-Thematik speziali-
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Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen sierten Firma präsentiert sich mit knalligen Überschriften: „Er ist da! Der richtige Zeitpunkt … für Ordnung, Freiraum und Platz für Neues!“ Der Spediteur bietet Vor-Ort-Beratung, professionelle Anleitung und Mithilfe beim Aussortieren. Die überflüssigen Dinge leitet die Firma an karitative Einrichtungen und Projekte weiter. Bei Akquisitionsgesprächen und Informationsveranstaltungen werden dem Hilfe suchenden Messie vielfältige Räumungsstrategien präsentiert: Eine davon nennt sich die „3-Schachtel-Strategie“. In eine Schachtel gehören die Dinge, die man noch behalten will, eine andere ist für Sachen, für die noch keine endgültige Entscheidung getroffen werden konnte, und die letzte Schachtel steht für entschieden „Sinnloses“.
3. Unterstützung von einer Hilfsperson Wenn wir an unsere Jugend zurückdenken, gab es schon als Kind – beim einen mehr, beim anderen weniger – die „Unterstützung“ von der Mutter, das Kinderzimmer in Ordnung zu halten. Später, nach Gründung eines eigenen Haushaltes, hat bei manch einem der Freund/die Freundin oder der Ehepartner/die Ehepartnerin diese „Unterstützer-Rolle“ übernommen, oder man hat bei den eigenen Kindern diese Position ausgeübt. So einen Beistand könnte in einem Messie-Haushalt ein „Helfer“ übernehmen. Differenziert durch ein wesentliches Merkmal: Der Elternteil, der Freund / die Freundin oder der Ehepartner / die Ehepartnerin hat selbst mit angepackt, das macht der unterstützende Helfer nicht! Seine Aufgabe ist es, zu strukturieren und zu stützen. Dieser Helfer sollte eine nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Person sein. Es kann ein Freund oder Bekannter, aber auch ein Therapeut oder Sozialbetreuer sein, der in gleichmäßigen Abständen, nach Absprache mit dem Betroffenen, in dessen Wohnbereich kommt. In der Regel ein- bis zweimal die Woche. Folgende Punkte sollten vom Helfer idealerweise berücksichtigt werden: t Als Grundvoraussetzung für alle Arbeitsvorgänge gilt, dass der Helfer keinerlei Zwang oder Druck auf den Betroffenen ausüben darf! t Zu Beginn sollte eine Besprechung über die Wünsche und Vorstellungen des Betroffenen stattfinden. t Danach bedarf es einer Orientierung: Abklärung der zu bearbeitenden Bereiche; sich einen Überblick verschaffen und an die besprochenen Vorstellungen anpassen.
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Gabriele Flemisch t Erreichbare Ziele festlegen. t Hilfreich, nach definierter Zielsetzung, ist ein grobes Konzept, das später in kleine bewältigbare Etappen-Aufgaben unterteilt werden kann („Weg der kleinen Schritte“). t Zum besseren Verständnis oder zum Umsetzen der effizientesten Aufgabenschritte kann vom Helfer „vorgearbeitet“ werden.
Weiters ist zu beachten: t Die „Kontrolle“ bzw. „Führung“ bei den einzelnen kleinen Einheiten, die gerade bearbeitet werden, muss stets der Betroffene behalten. Ein Messie hat seine Gefühle auf den Punkt gebracht: „Kontrollverlust wäre eine Katastrophe!“ t Zu beachten ist auch die Tagesverfassung sowie die Stimmung des Messies. Die gewählte Aufgabenstellung ist dementsprechend flexibel anzupassen. t Kleine Erfolgserlebnisse anerkennen; Lob motiviert zum Weitermachen. t Das Gefühl der Veränderung nach getaner Arbeit muss beim Betroffenen entsprechend empfunden werden, um nachwirken zu können.
3.1. Energieaufwand Eine interessante Aussage machte eine Betroffene in einem Messie-Film: „Von einem Bekannten wurde ich immer wieder auf den benötigten Energieaufwand, der mit dem Ding verbunden ist, hingewiesen …“. Was ist darunter zu verstehen? Zum Beispiel ein Kleidungsstück aufzubewahren: Man muss es von Zeit zu Zeit aus dem Kasten nehmen, waschen, bügeln, eventuell ausbessern, zusammenlegen, wieder einordnen. Der Helfer kann die Sinnhaftigkeit der weiteren Aufbewahrung in Frage stellen, indem er anregt, sich daraus ergebende Konsequenzen beziehungsweise damit verbundene Motive bewusst zu machen. „Wozu benötigen Sie das noch?“ „Braucht es jemand danach?“ oder „Was verbinden Sie mit diesem Ding?“
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Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen Anhand dieser oder ähnlicher Fragen sollte sich der Messie seiner mit dem Gegenstand assoziierten Gedankengänge bewusst werden. Dinge repräsentieren, in diesem Kontext betrachtet, meist Wunschvorstellungen oder Träume, wie z. B. ein gekaufter Neopren-Anzug, der über Jahre aufgehoben wird: „Wenn ich einmal auf Urlaub bin, lerne ich sicher surfen.“ Oder einen Motorradhelm, der ein Schnäppchen war: „Wenn ich einmal ein Motorrad habe …“ Der Messie soll erkennen, dass die mit dem Gegenstand verbundene Vorstellung einer Wunschvorstellung entspringt, die keinen Bezug zur Realität aufweist. Durch diese Erkenntnis soll kognitiv eine realistische Einschätzung des Gegenstandes möglich werden. Unterstützend könnte der Helfer beispielsweise argumentieren, dass der Neopren-Anzug nach Jahren der Lagerung undicht, unmodern oder zu knapp und somit unbrauchbar. Die Trennung vom Gegenstand wird anhand der Hintergründe bearbeitet. Die Loslösung erfolgt zu einem Teil kognitiv (insbesondere hier kann der Helfer sehr unterstützend wirken) zum anderen, vielfach größeren Teil emotional. Zu unterscheiden sind ausgewählte Dinge, zu denen keine „brauchbaren“ Zusammenhänge herzustellen sind und die ausschließlich mit Emotionen behaftet sind: Davon zu unterscheiden sind jene Dinge, die ihren Stellenwert ausschließlich ihrer emotionalen Besetzung verdanken, etwa Gegenstände, die mit Erinnerungen an liebe Freunde, Verwandte oder Verstorbene in Verbindung gebracht werden. Eine Trennung bzw. Separation bedeutet ein Verlassen und/oder Entfernen von damit assoziierten Gefühlen. Ein 20 Jahre alter Pullover, der verfilzt, viel zu klein geworden war, erinnerte eine Betroffene an die Zeit, wo sie noch frisch verliebt und glücklich war, und sie hatte die Angst, sich mit dem Pullover auch von dieser glücklichen Zeit zu trennen. Zum Ausdruck gebracht werden diese Gefühle oftmals mit Aussagen wie: „Ich verspüre richtige Schmerzen, wenn etwas weggeworfen wird.“ „Meine vollgeräumte Wohnung ist ein Ort, voll von vielen kleinen Vorfreuden auf etwas, ein Ort der Erinnerungen an liebe Menschen, ein Platz, der unzählige schöne Erlebnisse beherbergt.“ (Messie aus Selbsthilfegruppe)
4. Selbsthilfegruppen Hier treffen sich Menschen, die ähnliche Probleme haben bzw. sich in vergleichbaren Lebenssituationen befinden. Zu hören und zu reflektieren, wie
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Gabriele Flemisch andere ihr Leben führen und welche Bewältigungsmöglichkeiten schon ausprobiert wurden, schafft eine Verbesserung. Fortschritte des Einzelnen wirken motivierend für alle anderen. Ebenso kann ohne Scham Belastendes angesprochen werden, da es alle Anwesenden gleichermaßen betrifft. Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass durch die Gemeinschaft der Selbsthilfegruppe der Messie aus der für ihn so typischen sozialen Isolation herausgeholt werden kann. „Viele Patienten kommen mit der beunruhigenden Ansicht in die Therapie, dass sie einzigartig in ihrer Verkorkstheit seien, dass nur sie alleine solche erschreckenden und inakzeptablen Probleme, Gedanken, Fantasien und Impulse hätten.“ (Irwin Yalom 1996)
Nachfolgende Punkte führen im Kontext der Selbsthilfegruppe zu eklatanten Verbesserung der Befindlichkeit des Einzelnen: t Stärkung des Selbstwertgefühls t Schulung der Eigen- und Fremdwahrnehmung (Feedback) t Verbesserung der sozialen Kompetenzen – auch außerhalb der Gruppe (neue Kontakte herstellen, Aufbau von Netzwerken, Kommunikationsfähigkeit schulen, Toleranz integrieren usw.) t Umgang und Abbau des Schamgefühls t Akzeptanz gewählter Anonymität einzelner Gruppenmitglieder t Probleme verlieren ihre Schärfe, wenn sie mit anderen geteilt werden t Hilfestellung annehmen oder selbst anbieten t Neue, andere Sichtweisen verhelfen zum besseren Verständnis – dies ermöglicht längerfristig Verhaltensänderungen
Zielführend scheint es, sich nicht nur bei der Besprechung einzelner Symptome aufzuhalten (gemeint sind hier vor allem die „kleinen Räumungsstrategien“), sondern die Beleuchtung der Hintergründe der Handlungsmuster in den Vordergrund zu stellen. In der Selbsthilfegruppe besteht für viele Messies zum ersten Mal die Chance, über ihre Problematik zu sprechen. Die Gruppe gibt das Gefühl,
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Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen dass einem zugehört wird, und manche ergreifen die Gelegenheit, gleich beim ersten Besuch ausschweifend über sich zu erzählen. Andere wieder lassen sich länger Zeit und hören erst einmal, was andere zu berichten haben. Durch das bewusste Erzählen und die Preisgabe von Erlebnissen und Episoden aus dem Leben entsteht eine unmittelbare positive Wirkung auf die Psyche. Es ist ganz wichtig, belastende oder traumatische Erfahrungen mitzuteilen. Ist das nicht möglich, kann das traumatischer als das Ereignis selbst sein. Indem etwas in Worte gefasst wird, findet eine emotionale Entlastung statt. Es tritt gewissermaßen eine kathartische Wirkung ein, welche zu einer psychologischen Entkrampfung und physiologischen Entlastung führt. Gefühle wie Intimität und Vertrautheit können sich entwickeln. Durch das Sichmitteilen und mittels der zu beobachtenden Reaktionen bei den Teilnehmern gelingt es, die Probleme einzuordnen. Gleichzeitig wird bemerkt, dass andere Menschen ähnliche Schwierigkeiten kennen. Durch dieses Benennen der Probleme vor den anderen und deren Feedback werden die Situationen neu überdacht, und es können Revisionen alter Erzählmuster stattfinden. Erfahrungen und Erlebnisse werden anders interpretiert und verändern die Persönlichkeit und somit die Lebensgeschichte. Zum Beispiel können positivere Gedankenmuster gelernt werden: Sagte man früher „Da kann man halt nichts machen …“, so wird der Satz nun von einem völlig neuen Vokabular, durch neue Begriffe und aufmunternde Phrasen ersetzt: „Das muss anders werden!“.
5. Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit – Ergründung der Ursachen Zur Ergründung der Ursachen gibt es verschiedene Ansätze. Ein Ursachenmodell von Rainer Rehberger informiert über Zwangserfahrungen in der Kindheit, verbunden mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil (Rehberger 2007).
5.1. Bindungsstile Rehberger bezieht sich hier auf die vom britischen Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby (1969/70) begründete und in Zusammenarbeit mit der Kanadierin Mary Ainsworth (1974) weiterentwickelten Bindungstheorie. Sie basiert auf mindestens drei verschiedenen Arten von Bindungen. In Versuchen wurden Kinder im Alter zwischen 12 und 15 Monaten und deren Verhalten bzw. Bindung zur Mutter untersucht. Ausgehend von einer vorgegebenen Versuchsordnung, verlässt die Mutter im Wechsel mit einer dritten
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Gabriele Flemisch Person den Raum, in dem ihr Kind spielt. Das Verhalten und die Reaktionen des Kindes und der Mutter geben Aufschluss über die bisher ausgebildete Bindung zwischen den beiden (Bowlby 1972, 2006). Rehberger beginnt mit dem, ein gesundes Mutter-Kind-Verhältnis beschreibenden, sicheren Bindungsstil: Bei der Wiederkehr der Mutter zeigt das Kind angemessene Gefühle. Die zweite Möglichkeit des Verhaltens nennt er den unsicher-ambivalenten Bindungsstil: Hier reagiert das Kind mit massiv verstärkten Gefühlen von Angst, Schmerz und Ärger. Als dritter der unsicher-vermeidende Bindungsstil: Diese Kinder lassen sich keine Gefühle anmerken, zeigen aber bei Messungen stark erhöhte Cortisolwerte, die auf verstärkten Stress hinweisen. Diese Kinder haben schon früh gelernt, Ärger bzw. Gefühle allgemein zu unterdrücken (mit der Zeit werden diese Affekte nicht mehr bewusst wahrgenommen). Dieser unsicher-vermeidende Bindungsstil ist gerade bei Messies oft ein Mitbringsel aus der Kindheit. Beziehungserfahrungen aus der frühen Kindheit (bis 24 Monate) werden im „Prozesswissen“ (sensorische oder motorische Handlungsmuster) gespeichert, zu dem wir allerdings im Erwachsenenalter keinen Zugang mehr haben. Wenn deshalb, oft schon durch kleine Anlässe reaktiviert, solche abgespeicherten Muster unbewusst angesprochen werden, nimmt der Erwachsene ein für die Situation nicht stimmiges Gefühl wahr. Das kann zum Beispiel unerklärliche Angst, Sehnsucht, Leere oder auch Zwang sein. Menschen, die schon als Kind einen starken Zwang erfahren haben, können bei bestimmten Tätigkeiten diesem Zwang erliegen und geplante Aufgaben nicht durchführen. Wenn sie sich etwa vornehmen: „Heute räume ich einmal wieder mein Zimmer auf “, hemmt sie eine unbewusste Verweigerung (Rehberger 2004, 2007). Bernhard Strauß vom Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie FSU Jena stellt die Bindungstheorie von John Bowlby in den Kontext der klinischen Forschung und Psychoanalyse: „Klinische Bindungsforschung stand lange Zeit der eher theorieorientierten Psychoanalyse als rein empirische Forschung gegenüber. Heute wird mehr und mehr akzeptiert, dass sich Psychoanalyse und Bindungstheorie auf dem gleichen Terrain bewegen. Die Bindungstheorie bietet eine naturwissenschaftliche Erklärung für die Tatsache an, dass persönliche bzw. unpersönliche Fürsorge in der Kindheit einen weitreichenden Einfluss auf die seelische Entwicklung eines Menschen hat. Diese Theorie wurde in der psychologischen Forschung primär durch Entwicklungspsychologen aufgegriffen und empirisch validiert. Bowlby hat sie als offenes Modell konzipiert, das sich am wissenschaftlichen
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Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen Vorgehen Darwins, dem Wissen der klassischen Entwicklungspsychologie, der kognitiven Psychologie, der Kontrolltheorie und der Verhaltensbiologie der 60er Jahre orientierte.“ (Strauß et al. 2002). Strauß (Vortrag an der SFU, 2008) stellt die Frage: „Sind Bindungserfahrungen das entwicklungspsychologische ‚missing link‘ in Copingtheorien?“ Eine Bewusstmachung von erlernten Verhaltensweisen und Schemata ist erfahrungsgemäß nur mit Hilfe eines geschulten Psychotherapeuten möglich. Auf diese Weise lernt der Betroffene neue Bindungserfahrungen und stärkt gleichzeitig seine Autonomie. Es entstehen neue Gefühls- und Handlungsmuster, die im Laufe der Zeit die alten ersetzen. Ein Messie illustrierte bei einem Gruppentreffen seine Gefühle, indem er seinen Wohnungsgrundriss mit einer weißen Fläche verglich. Je angeräumter eine Wohnung ist, desto weniger Weiß bleibt über. Die Zeit des Wohlfühlens nimmt parallel zum Weißanteil kontinuierlich ab. Das „Herumräumen“ und Suchen in der Wohnung wird immer aufwendiger und kostet viel Freizeit. Diese kostbare Zeit fehlt zum Aufräumen, aber auch zur Entspannung. Dazu mischt sich häufig ein Schuldbewusstsein, verbunden mit übernommenen elterlichen, ethischen und/oder gesellschaftlichen Werten. Entstehender Druck, begleitet von Zwangsgefühlen, wird aufgrund der Ausweglosigkeit verdrängt.
5.2. Gefühlsblockaden Das Auflösen von Gefühlsblockaden ist ein weiterer Zugang der Ursachenforschung. Gefühlsblockaden sind häufig Reaktionen auf Gefahren, Belastungen oder traumatische Ereignisse, wie zum Beispiel der Verlust eines geliebten Menschen. Solche Ereignisse können zu einer Blockierung und/oder Isolierung von Affekten führen. Eine notwendige emotionale Verarbeitung und Bewältigung, verbunden mit einer Integrierung in den Erfahrungsbereich, wird somit verhindert. Das stattgefundene Ereignis nimmt der Betroffene zwar wahr, Inhalt bzw. Bedeutung aber verleugnet oder bagatellisiert er. Oft wird von einer „Gefühls-Leere“, einem „Neben-sich-Stehen“ und „Sich-selbst-nicht-betroffen-Fühlen“ erzählt. Die Gefühle werden einfach abgeschaltet! Auffällig ist auch, dass es bei den Betroffenen durch das Beobachten anderer in ähnlichen Situationen zu massiven nicht stimmigen Gefühlsausbrüchen kommen kann. Es entsteht eine Übersensibilität gegenüber Mitmenschen und Ereignissen, die Parallelen zu den eigenen Erfahrungen wecken. In der Folge führt das zu teilweise unerklärlichen Angstgefühlen und übersteigerter Fürsorglichkeit. Der Betroffene ist in ständiger Erwartung, dass etwas Schreckliches passieren könnte, und agiert übervorsichtig. Gleichzei-
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Gabriele Flemisch tig führt diese Überängstlichkeit zu einem Vermeidungsverhalten und zu Fluchtgedanken. Diese Reaktionsabfolgen Angst und Flucht in früher Kindheit manifestiert und bewirken ein unbewusstes Abwehrverhalten. Mit diesen unangenehmen Gefühlen ganz und gar beschäftigt, ist der Betroffene bei der aktiven Bewältigung behindert. Bei der Messie-Problematik sieht das so aus: Werden aktive Handlungen in der Wohnung geplant, stellt sich schnell ein Ohnmachtsgefühl ein. Der Betroffene hat keine Lust, keine Kraft anzufangen. Es übermannt ihn lähmende Müdigkeit, und schon beim Planen fühlt er sich vollends überfordert. Ein Ausweg wird im Versuch, sich abzulenken, gesucht, indem der Fernsehapparat eingeschaltet oder in diversen Zeitschriften herumgestöbert wird. So vergeht die Zeit, und später quälen den Messie Selbstvorwürfe, und er bezichtigt sich der Unfähigkeit. Aus dieser Handlungsblockade entwickelt sich ein Kreislauf der Selbstabwertung, aus dem der erste Schritt zur Erkenntnis erwächst: die Erkenntnis, ein Betroffener zu sein. (Roth, 2005). „Genussfähigkeit – Wahrnehmung und Befriedigung eigener Bedürfnisse: Wo individuellen Bedürfnissen kein Raum gestattet wird, lernt man diese zu „vergessen“, sie einfach nicht mehr wahrzunehmen, da das angstvolle Spannung erzeugt, weil keine Befriedigung möglich ist. Dies schützt vor Dauerfrustration und Spannung. Dazu ist es nötig, Bescheid zu wissen darüber, was man braucht und gut tut und diese Bedürfnisse auch ernst zu nehmen.“ (Jutta Fiegl 2002)
Den grübelnden Betroffenen belasten Fragen, die dann in der Selbsthilfegruppe gestellt, hilfreiche Lösungsansätze ermöglichen können. Zwar werden keine Entscheidungen abgenommen, meist eröffnen sich aber neue interessante Wege, und dadurch ergibt sich ein besserer Umgang mit der bedrückenden Situation. Die am häufigsten gestellten Fragen sind: t „Bedeutet eine vollgeräumte Wohnung wirklich immer nur ‚Leid‘?“ t „Kann es nicht auch heißen, endlich Ruhe vor Besuchen oder vor anderen Menschen zu haben?“ t „Wie wäre das Leben ohne all die Dinge, die man besitzt?“ t „Vollgeräumt wirkt so beschützend, wieso ist das so?“ t „Wenn man Dinge kauft, kauft man da nicht mehr die ‚Aktion‘, den ‚Kauf-Akt‘?“
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Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen t „Sind Messies extreme Perfektionisten, und ist dieser Perfektionismus ein Entscheidungskiller? Glaubt man dadurch, es könnte etwas Besseres nachkommen?“ Sollte man es nicht mit Marcel Prawy halten, der behauptete: „Präzision zählt nicht, nur die Persönlichkeit, die ihre Fehler überwindet.“? t „Wie ist das mit der Vielseitigkeit der Interessen von Messies?“ t „Wieso kann ich mich so schlecht konzentrieren?“ usw.
5.3. Identifikation als „Messie“? Eine der ersten Fragen eines Messies an die Gruppe ist häufig: „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt ein Messie bin?“ Und weiter: „Was ist ein Messie überhaupt?“ Gerade diese Fragen stellen einen ganz zentralen Punkt der Selbstfindung und eine Identifikation mit der Problematik dar. Erst hier kann die „Selbsthilfe“ wirklich effektiv ansetzen. Ist das Problem, das den Messie beschäftigt, zu individuell gestaltet, weil ein Großteil der Persönlichkeit des Betroffenen berücksichtigt werden muss? Oft scheinen sich Analogien in der frühen Kindheit zu verstecken, die man als ursprüngliche Auslöser verifizieren kann. Aber ebenso gibt es genug andere Entwicklungsgeschichten, abseits von Menschen mit traumatischen Kindheitserlebnissen. Warum ist es so schwer, Diagnosekriterien aufzustellen? „Hinken wir mit unseren Vorstellungen/Vorgaben hinterher? Was der Zeitgeist injiziert, die Diskurse diktieren und die Dispositive bestimmen?“ (Sigusch 2001). Hängt die Benennung „Messie“ nicht zu sehr davon ab, wie groß die Wohnung beschaffen ist, welche Bedeutung ein Gegenstand einnimmt, gekoppelt mit Gefühlen zu geliebten Menschen oder durch Verlagerungen aufgrund von Verletzungen? Ist es nicht, wie die Geschichte lehrt, abhängig von kulturellen Hintergründen und verwoben mit dem gesellschaftlichen Kontext, welche Dinge bereichern, welche als belastend gelten oder als wertlos abzutun sind? Welche Güter werten Menschen auf? Wie steht die betreffende Person zu ihrem Selbstwert in Anbetracht des bisherigen Lebensweges, seines Milieus, miteinbeziehend die ganzen prägenden Kindheitserfahrungen und Bindungsmuster? Wann empfindet sich der Mensch als auf- oder abgewertet? Welches soziale Umfeld ist bestimmend? Hier zur Veranschaulichung ein Beispiel anhand „der wunderbaren Autorität für alles, was Musik betrifft“ (Placido Domingo), Opernführer Marcel Prawy. (Dieses Beispiel möchte insbesondere die Parallele einer Sammelleidenschaft hervorheben, nimmt aber keinen Bezug zu einer Messie-Thema-
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Gabriele Flemisch tik des Vorgenannten.) Ein ungeheures Zettelsammelsurium hat ihn gesellschaftlich aufgewertet. Marcel Prawy hatte damit natürlich kein Problem, er sah sich dadurch bereichert, zog daraus Gewinn für sich und für alle Musikliebhaber. Gesellschaftskritisch betrachtet war es für ihn ein nach außen sichtbares Zeichen seines breit gefächerten Wissens. Man bewunderte ihn für die vielen Informationen und Kontakte, die er mit Künstlern pflegte. Er sammelte Prospekte, Programme, Zeitungsausschnitte, Niederschriften, musikalische Aufzeichnungen, persönliche Notizen, die er sich bei direkten Treffen mit Künstlern oder wo auch immer machte. Und wie wir alle wissen, bewahrte er diese Schätze in unzähligen Plastiktüten auf. Man lächelte darüber, befand ihn deshalb für schrullig, aber staunte über die Wissensvielfalt, die er anzubieten hatte, und auch, dank seiner Popularität, der breiten Öffentlichkeit zugängig machte. „Sie werden es nicht glauben, aber wenn ich wirklich will, finde ich alles“, Marcel Prawy (1996), gefragt zu seiner „Sackerl- und Papierl-Wirtschaft“. Wiewohl diese selbstbewusste Einschätzung Prawys im krassen Widerspruch zu den Aussagen von Messies steht, verfügen viele von ihnen über ein ähnlich breit gefächertes Wissensarsenal in ihrer Wohnung. Sie besitzen diese Mannigfaltigkeit meist aufgrund der vielseitigen Interessensgebiete, die sie verfolgen möchten. Gleichwohl gibt es nur wenige Ausnahmen, die überzeugt sind, ihr „gehortetes Wissen“ schnell abrufen zu können. Aber was hindert sie daran, auf die Sammlung, die mühsam gesucht und zusammengetragen wurde, richtig „stolz“ zu sein und das Schamgefühl auszublenden? Sich diesen vorgeschlagenen Fragen zu stellen und nach schlüssigen Antworten zu suchen ist ein ganz wichtiger Schritt zur Stärkung der Persönlichkeit und somit ein Ansatzpunkt zur Bewältigung der Messie-Problematik.
6. Verhaltensänderungen Ein Messie hat meist schon in frühester Kindheit gelernt, Emotionalität zu unterdrücken. Ausschlaggebend waren Ereignisse oder die Beziehungen zu Bezugspersonen. Gedankenmuster wurden gebildet und haben sich manifestiert, die Verhaltensweisen unbewusst leiten. Angereichert durch gute und schlechte Erfahrungen im Leben, wirken diese im Hintergrund. Kommt dann noch ein traumatisches Ereignis, wie z. B. der Verlust des Arbeitsplatzes, eine Trennung oder gar der Tod eines Lebenspartners, dazu, ist oft Resignation und/oder Depression die Folge. Je nach erlerntem Verarbeitungsmuster beginnt ein Rückzug, und die Gefühle zu anderen Menschen werden kontinuierlich weggeblendet und abgewehrt. Die Lebensfreude und Gebor-
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Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen genheit findet sich dann in den gefügigen Gegenständen wieder. Hier sind keine Verletzungen zu erwarten, und eine andere Art von Emotionalität kann auch mit ihnen aufrechterhalten werden: Erinnerungsstücke, die betrachtet werden können oder aber über deren Besitz man sich sicher sein kann, helfen, schöne Zeiten für einen Moment wieder wachzurufen. Dabei ist es nicht von Bedeutung, wo sich diese Gegenstände befinden und ob sie greifbar sind. Selbst wenn diese in irgendeinem Haufen versteckt sind – irgendwo ganz tief drinnen spürt der Messie ihre Existenz und fühlt sich bereichert. Schweifen die Gedanken zu dem bestimmten Stück der Erinnerung, ist man sich sicher, dass, falls es wirklich notwendig wäre, der Zugriff möglich wäre. Diese Gewissheit macht einen großen Unterschied aus: Ein Weggeben des Gegenstandes dagegen würde den endgültigen Verlust bedeuten. Nachhaltige Veränderungen beginnen in den ganz kleinen Bereichen, wie Loslassen von einzelnen Dingen, und setzen sich in Modifikation der Lebenseinstellung fort: Gelingt es nämlich immer mehr, seine Wahrnehmung auf sich selbst zu konzentrieren und andere Aufgabenbereiche zu entdecken, verlagert sich das Schwergewicht weg von den Gegenständen. In Gesprächen mit Betroffenen offenbarte sich, dass eine aktuelle Aufgabe, ein neuer Job, eine positive Veränderung im Privatleben, den Fokus der Aufmerksamkeit von den gesammelten Objekten in der Wohnung abzieht. Das bewirkte eine massive Veränderung im Werteverständnis. Eines Tages hatte der Bereich Wohnung sekundäre Bedeutung, und mit der Zeit war es möglich, sich viel leichter von Dingen zu lösen. Es entstand eine Distanz, und die Aufmerksamkeit und Emotionalität verlagerte sich auf andere Bereiche und/oder Mitmenschen. Von zentraler Bedeutung bei der Bewältigung der Messie-Problematik sind folgende Entwicklungsschritte: t Sinnfindung: Interessen- und Aufgabengebiete finden und effizient einsetzen. t Persönlichkeit entfalten und sich der eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten bewusst werden. t Inneres und äußeres Gleichgewicht wiederherstellen.
Eine Darstellung des Selbstwertes einer gestärkten Persönlichkeit, sehr treffend definiert: „Eine reife Persönlichkeit erlebt wenig Selbstunsicherheit, wenig starre Denkmuster, ein gesteigertes konsequentes Verhalten, mehr Selbstakzep-
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Gabriele Flemisch tanz bei vermeintlichen Defiziten und die Fähigkeit, sich auf veränderte Situationen stressfrei einstellen zu können.“ (Marianne Bönigk-Schulz 2005)
Die zentrale Unterstützung aller Selbsthilfeansätze ist eine psychotherapeutische Begleitung. Sie bietet eine Erfolg versprechende Hilfestellung im Umgang mit aktuellen Problemen sowie bei der Erkennung unbewusst ablaufender Prozesse. Es gibt ein großes Angebot an Therapien. Jeder sollte für sich ein Konzept wählen, das ihm in seiner derzeitigen Lebenssituation am besten geeignet erscheint.
6.1. Grundvoraussetzungen für eine unterstützende Psychotherapie Vertrauenswürdige und berechenbare Beziehung zwischen Therapeuten und Betroffenen. Die Gefühle Vertrauen und Sicherheit ermöglichen den Betroffenen ein „sich-öffnen“ und es entstehen neue Bindungsmuster. Einhalten von Struktur und Vereinbarungen. Absprache und Einhaltung des Behandlungsrahmens (z. B. Pünktlichkeit bei den Therapiestunden), um eine neue Struktur aufzubauen und Verhaltensmuster bewusst zu machen. Erklärungen über Hintergründe des Verhaltens. Führen zu Verständnis und zur besseren Handhabung von Situationen, indem mehr Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Erweiterung des Handlungshorizontes. Langsame, an die Möglichkeit des Patienten angepasste Vorgehensweise. Die schon erwähnten „kleinen Schritte“ schützen vor Überforderung. Aufbau von Eigenständigkeit. Bietet die Chance, sich und Teilbereiche des Lebens neu zu organisieren. Fördert Akzeptanz und Toleranz und stärkt die Entscheidungskraft. Einen neuen Umgang mit Trennungen aufzeigen. Alte Verhaltensmuster augenscheinlich machen und neue bessere Möglichkeiten erarbeiten. Kennenlernen und Sicherung von sozialen Beziehungen und Bindungen. Besprechen und Erarbeiten von sozialer Kompetenz, Aufbau von Netzwerken, Umgang mit schwierigen Situationen.
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Selbsthilfe – Erfahrungsberichte von Betroffenen Aufbau des Selbstwertes. Emotionale Stabilität, Abklärung und Förderung von Interessen, Zulassen und Erleben von Gefühlen.
7. Literatur Bönigk-Schulz M (Hrsg.). Das Messie-Syndrom. Primäre Symptome. Was kann helfen? Ein Versuch der Bewältigung. Bundesgeschäftsstelle der Messie-Selbsthilfegruppen-Deutschland, Blomberg (2005) Bowlby J. Mutterliebe und kindliche Entwicklung. Reinhardt, München (1972) Dettmering P, Pastenaci R. Das Vermüllungssyndrom. Theorie und Praxis. Verlag Dietmar Klotz, Eschborn bei Frankfurt a. M. (2004) Ever CT. Nie wieder Chaos. So bekommen sie ihren Haushalt wieder in Griff. Dorling Kindersley (2007) Felton S. Schritt für Schritt aus dem Chaos. Arbeitsbuch für Messies. Brendow, Moers (1999) Felton S. Endlich weg mit dem Ballast! Wege aus dem Messie-Chaos. Brendow, Moers (2000) Fiegl J. Bindungen Brüche Übergänge. In: ders.: Der Wunsch nach Verschmelzung. Sexuelle Zufriedenheit – ein Gradmesser für Stabilität beziehungswiese Gefährdung intimer Beziehungen? Falter Verlag, Wien (2002) Prawy M. Marcel Prawy erzählt aus seinem Leben. Kremayr & Scheriau, Wien (1996) Rehberger R. Chaos in Raum und Zeit. In Bönigk-Schulz M (Hrsg.) Tagungsdokumentation. Betroffene im Gespräch mit Fachleuten. Förderverein zur Erforschung des Messie-Syndroms (FEM) e. V., Blomberg (2004) Rehberger R. Messies – Sucht und Zwang. Klett-Cotta, Stuttgart (2007) Roth ES. Das Messie Handbuch. Chaos Unordnung Desorganisation. Beschreibung und Ursachen. Eschborn, Frankfurt a. M. (2004) Roth ES. Einmal Messie – immer Messie. Eschborn, Frankfurt a. M. (2005) Sigusch V. Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Thieme, Stuttgart, New York (2001) Strauß B, Buchheim A, Kächele H. Klinische Bindungsforschung. Theorien – Methoden – Ergebnisse. Schattauer, Stuttgart (2002)
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Gabriele Flemisch Strauß B. Bindungstheorie und Psychotherapie. Vortrag an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien (2008) Yalom ID. Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch. Pfeifer, München (1996)
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Das therapeutische Angebot der SFU Elisabeth Vykoukal
Die SFU bietet ein breites Spektrum an therapeutischen Angeboten für Messies: Es gibt eine Selbsthilfegruppe für Betroffene und eine für Angehörige, es gibt eine Kunstgruppe, es gibt Hausbesuche, Einzel- und Gruppenpsychotherapie. Bereits über 200 Betroffene nehmen die verschiedenen Angebote wahr. Die spezifischen Erfahrungen mit Messies im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen werden in anderen Beiträgen dieses Buches beschrieben; ich will mich mit den über die Psychotherapie hinausgehenden Angeboten beschäftigen. Grundlage für die Entwicklung dieser Angebote war das professionelle und wissenschaftliche Interesse von Lehrenden und Studierenden der SFU an dieser spezifischen Form psychischen Leids. Hier kamen Patienten, die wesentlich darunter litten, dass ihre Lebensweise Verachtung, Geringschätzung und Abscheu erregt. Sie hatten für ihr Leid selbst den Namen „Messie“ gefunden, sich mit Bewältigungsstrategien beschäftigt, die häufig im Theoretischen hängen blieben. Sie schwankten zwischen völligem Rückzug und dem Bekenntnis zu ihrer Identität als Messie, die auch eine erste Zuflucht darstellt. Schon meine Erfahrungen in der Privatpraxis seit dem Jahr 2000 zeigten mir, dass es mit Psychotherapie allein nicht getan ist, um diesem Leiden beizukommen. Immer wieder kam es etwa dazu, dass die Wohnsituation aus der Psychotherapiesitzung herausfiel, weil so viel anderes wichtig war: die Kindheit, die aktuelle Arbeitssituation, die Beziehungsprobleme oder körperliche Erkrankungen. Von der Notsituation in der Wohnung erfuhr ich oft erst ein paar Tage vor dem Besuch der Hausverwaltung, manchmal sogar erst nach der Durchführung einer verordneten Räumung. Die Psychotherapie war nicht als Unterstützung bei der Veränderung, sondern als Ablenkung und Ausweichmöglichkeit genützt worden. Die Gründung der SFU und die Einrichtung der Ambulanz eröffneten das breitere Angebot.
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Elisabeth Vykoukal
Die Selbsthilfegruppe für Messies besteht seit dem Jahr 2004, sie findet wöchentlich statt und wird von Studierenden der Psychotherapiewissenschaft geleitet. Diese Studierenden stellen der Selbsthilfegruppe einen Teil ihrer psychotherapeutischen Praktikumszeit zur Verfügung. Die Leitungsaufgabe ist wesentlich organisatorisch und Struktur bildend für die Gruppe. Die Studierenden sorgen für Informationsmaterial über die Selbsthilfegruppe, sie führen die Adresslisten für Aussendungen, unterstützen bei Kontakten mit Medien und Ämtern. Es wird darauf geachtet, dass der Raum zur Verfügung steht und dass die Zeit von eineinhalb Stunden eingehalten wird. Es werden Anwesenheitslisten geführt, und am Ende jeder Sitzung wird mit der Gruppe zusammen ein Satz oder ein Begriff gefunden, der die Erfahrung dieses Abends ausdrückt. Einmal wurde der Ausdruck „Reif für die Insel“ gefunden. Die Gruppe hatte sich mit den Beziehungen der Teilnehmer zu ihrer Familie und ihren Partnern beschäftigt. Es wurde besprochen, dass der Überfluss an Dingen eine wesentliche Rolle in den Beziehungen spielt und den Abstand zwischen einem Messie und seinen Angehörigen reguliert. Mit den Dingen bauen sie sich eine Insel, damit ihnen niemand zu nahe kommt. Ein anderes Mal lautete die Zusammenfassung „Nicht: Man muss es schaffen, sondern man darf es schaffen“. An diesem Abend ging es um Bewältigungsstrategien, um die Schwierigkeit, Vorsätze durchzuführen, beim Aussortieren zu bleiben, sich von etwas trennen zu können. Es gelang der Gruppe, über die Schwierigkeiten hinauszugehen, Zukunftsvorstellungen zu entwickeln. „Wenn aufgeräumt ist, dann kann ich meine Freunde zum Essen einladen“, „dann finde ich meine Lieblingsbücher wieder“, „dann brauche ich nicht mehr so lang, um meine Wohnung zu verlassen“. Es wurde deutlich, dass das ständige Scheitern an den Ordnungsaufgaben auch damit zusammenhängt, dass die Ordnung als etwas von außen Aufgezwungenes erlebt wird und nicht als Ausdruck des Bedürfnisses, sich seine Umgebung selbst zu gestalten. Zusätzlich zu den wöchentlichen Treffen der Selbsthilfegruppe gibt es Informationsveranstaltungen mit Gästen aus Bereichen, die für Messies von Bedeutung sind: So sprach etwa ein Museumskurator über das Sammeln durch Museen, ein Feuerwehrmann über Gefährdung durch Lagerung vieler brennbarer Dinge und räumlicher Beschränkung, ein Rauchfangkehrer über seine Erfahrungen und Eindrücke beim Besuch von Messie-Wohnungen. Auch für diese Zusatzveranstaltungen ist die studentische Leitung der Selbsthilfegruppe verantwortlich. Die Selbsthilfegruppe bietet den Betroffenen eine Grundversorgung dadurch, dass Zeit, Raum, Information und Aufmerksamkeit durch die Insti-
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Das therapeutische Angebot der SFU tution SFU zur Verfügung gestellt werden. Für viele gibt diese Gruppe eine erste Möglichkeit, sich ihrer Symptomatik zu stellen. Im Alltag haben sie mehr mit ihrer Scham zu kämpfen, sie haben Angst, jemandem ihre Wohnung zu öffnen und mit dem Entsetzen oder mit guten Ratschlägen konfrontiert zu werden. Angehörigen gegenüber fühlen sie sich schuldig, weil sie deren Lebensraum auch beschränken. Freundschaften können nicht wachsen, weil sie einen wesentlichen Teil ihres Lebens zu verbergen versuchen. So bestärkt die Gruppe zunächst die Identitätsbildung als Messie. Wenn es den Betroffenen gelingt, dabei nicht stehen zu bleiben, wenn sie es sich nicht in ihrer Messie-Existenz gemütlich machen, dann kann die Gruppe auch einen Ausgangspunkt für Veränderung darstellen. Für viele Besucher der Gruppe schwindet durch die Teilnahme die Skepsis gegenüber der Psychotherapie, da sich die Gruppe in den Räumen der Ambulanz trifft und Begegnungen mit praktizierenden und angehenden Psychotherapeuten ständig stattfinden. Einige der Teilnehmer an der Gruppe sind auch selbst in Einzel- oder Gruppenpsychotherapie und bilden eine Motivation für die neuen. Die angeleitete und organisierte Selbsthilfegruppe bietet den Teilnehmern eine Struktur, die unabhängig von ihnen funktioniert und auf die sie sich verlassen können. Die Gruppe ist zu den vereinbarten Zeiten immer für sie da, sie müssen nicht für sich selbst sorgen, sie werden versorgt. Diese Form erlaubt den Teilnehmern Regression in sehr frühe Phasen ihres Lebens, in denen sie auf Versorgung durch die Mutter angewiesen waren. Es ist für viele meist wohltuend, dass sie sich auf die Stabilität der Gruppe verlassen können, dass sie frei sind, zu kommen, wann sie wollen, und doch immer willkommen sind. Es gibt aber auch immer wieder Situationen, in denen die Organisation durch die Studierenden als fremd, fordernd und ausnützend empfunden wird. Es kommt der Vorwurf, dass das Interesse bloß ein wissenschaftliches und therapeutisches ist und daher nicht wirklich von den Interessen der Betroffenen ausgeht. Solche Situationen zeigen das Bedürfnis nach Loslösung und Eigenständigkeit und geben die Möglichkeit, sich mit der Verantwortung für das eigene Leben auseinanderzusetzen und mit der Anforderung, selbst an Veränderungen zu arbeiten. Ein weiteres Einstiegsangebot in die Auseinandersetzung mit der psychischen Störung ist das Angebot von Hausbesuchen. Die Hausbesuche werden ebenfalls von Studierenden in ihrer Praktikumszeit durchgeführt. Zielsetzung der Hausbesuche ist es, die Messies bei der Wahrnehmung ihrer Wohnsituation zu unterstützen und bei Maßnahmen zur Erweiterung ihres Bewegungsraums in der Wohnung zu begleiten. Die Studierenden packen nicht physisch zu, aber sie sind anwesend, um festzustellen, wie schmal die Gänge sind, wie groß die Berge von Kleidern sind, wie hoch die Stapel
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Elisabeth Vykoukal von Bedrucktem geworden sind und wie unauffindbar die wichtigen Dinge sind. Die Hausbesucher helfen bei der Festlegung von Zielen und bei der Durchführung. Es kann sich darum handeln, einen Sessel zu räumen, damit das Fernsehen bequemer wird – und auch das ist schon ein wesentlicher erster Schritt. Vor Beginn der Hausbesuche ist ein psychotherapeutisches Erstgespräch zu führen, das dazu dient, festzustellen, ob die Zielsetzung der Hausbesuche für den Klienten passend ist. Auch dieses Gespräch nimmt die Scheu vor einer Psychotherapie. Während die Einrichtung der Selbsthilfegruppe wenig Initiative von den Klienten verlangt, sind sie bei den Hausbesuchen gefordert, die Termine einzuhalten. Wenn zwei Termine ohne Absage nicht eingehalten werden, werden die Hausbesuche eingestellt. Sie sind auch gefordert, regelmäßig jemanden in ihre Wohnung zu lassen und sich mit der Scham und der Angst zu beschäftigen, die das bei ihnen auslöst. Es gibt auch die positive Erfahrung, dass sie jemandem die Dinge zeigen können, die ihnen so viel bedeuten, dass sie gemeinsam an der Trennung von diesen Dingen arbeiten können und dass sie die Freude über die Vergrößerung ihres bewohnbaren Raumes mit jemandem teilen können. Etliche Messies nehmen parallel mehrere Angebote der SFU wahr, und wir beschränken das auch nicht. Manche gehen in Einzel- und in Gruppentherapie, besuchen gelegentlich oder regelmäßig die Selbsthilfegruppe und nehmen auch Hausbesuche in Anspruch. Wie sich das auf den persönlichen Veränderungsprozess auswirkt, untersuchen wir im Rahmen unseres Forschungsprojekts. Es scheint aber der „Natur“ der Messies zu entsprechen, dass sie viele Seiten haben, die sie nur in unterschiedlicher Umgebung wahrnehmen und erleben können. Wahrscheinlich haben uns die Messies selbst auch zur Vervielfältigung unseres Angebots gebracht. Da es sich um immaterielle Angebote handelt, die extern wahrgenommen werden, bieten diese den Messies auch die Möglichkeit, ihre innere Vielfalt anzunehmen, ohne sich mit äußeren Dingen einschränken zu müssen.
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Selbstzeugnisse
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz Johannes von Arx
1. Die Anfänge Die Messie-Bewegung in der Schweiz hat einen genauen Geburtsmonat: September 2001. Man müsste eigentlich von einer Zwillingsgeburt sprechen: Zum einen wurde in Zürich am 6. September die erste Selbsthilfegruppe der Schweiz gegründet. Zum anderen erreichte am 28. September das Schweizer Fernsehen mit der populären Sendung „Quer“ erstmals eine breite Öffentlichkeit zum Thema „Messie“. Danach setzte sich die Reihe an Publikationen in ziemlich regelmäßiger Folge fort. Die Vorgeschichte: Im Juli 2001 erhielt der Fachpsychologe Heinz Lippuner von der Offenen Tür Zürich (OTZ; eines der schweizerischen Selbsthilfezentren, vergleichbar mit der „Ambulanz“ der SFU) einen Anruf aus Deutschland; die Hilferufe von Schweizerinnen und Schweizern, welche namentlich über deutsche Fernsehsendungen zum ersten Mal das Wort „Messie“ gehört hätten, häuften sich. Das waren Betroffene, welche Hilfe suchten. Lippuner selbst wurde schlagartig mit einem Problem konfrontiert, das ihm bis dato unbekannt war. Doch das löste bei ihm den Impuls aus, in der Schweiz die erste Messie-Selbsthilfegruppe zu begleiten und in der Folge auch eng am Thema zu bleiben und die sich bildende Bewegung zu unterstützen. Er war es denn auch, der am Abend des 6. Septembers ein gutes Dutzend Frauen und Männer in der OTZ begrüßte. Obwohl das Wort „Messie“ zum damaligen Zeitpunkt fast gänzlich unbekannt war, trafen sich ungewöhnlich viele Hilfesuchende. Für diesen Gründungsabend der ersten Messie-Selbsthilfegruppe war bloß mit Flugblättern in Praxen von Ärzten und Psychologen sowie in zwei großen Konsumentenzeitungen geworben worden. Diese
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Johannes von Arx Schar gespannter und redelustiger Messies erzählte teilweise abenteuerliche Messie-Geschichten. Aber nicht nur solche. Die Aussage einer Berufskollegin, welche der Schreibende von viel früher her kannte, zeigte auf eindrückliche, unvergessliche Art das große Spektrum des Selbstverständnisses der Messies: „Ein leerer Schreibtisch, ein Bleistift und ein Schreibblock genügen – damit richte ich ein Chaos an“. Mit den üblichen Abgängen nach ein paar Abenden und Zuzügen kam damit eine recht geschlossene Gruppe zustande, welche mehr als fünf Jahre zusammenblieb.
2. Die Messie-Thematik in den Medien Durch die Ankündigung der Gruppengründung wurde auch das Schweizer Fernsehen auf das Messie-Thema aufmerksam. Dessen Sendung „Quer“ befasste sich jeweils freitags mit besonderen menschlichen Problemen, Schicksalen, Randgruppen. Einen Betroffenen, Melchior, hatten die Sendungsmacher bereits gefunden. Man wollte jedoch zwei Messies porträtieren, die bereit waren, ihre Wohnung filmen zu lassen und vor der Kamera auszusagen. Weil die Zeit drängte, wandten sich die Produzenten des Fernsehens in der Hoffnung, im Kreis der eben gegründeten Selbsthilfegruppe jemanden zu finden, an Lippuner. Mit dem Einverständnis auch der Gruppe stellte ein Redakteur zu Beginn des zweiten Abends der Selbsthilfegruppe sein Anliegen vor. Wiederum ein Glücksfall war, dass ich mich im Rahmen einer langjährigen Psychotherapie auch mit meinem Messiesein auseinandergesetzt hatte. Dies nicht nur auf das Problem bezogen, sondern auch aus der Warte des freien Journalisten, der ich ja bin. Ich erkannte, dass es sich um ein absolutes Tabuthema handelt und eine breite und seriöse Aufklärungsarbeit dringend vonnöten war. Weiters überlegte ich mir nicht nur, ob ich mich in diesem Themenfeld engagieren, sondern auch, ob ich mich – falls geboten – persönlich outen soll. Ohne aktuellen Druck von außen und in aller Freiheit und Klarheit beschloss ich, mich im Bedarfsfall für meine Berufskolleginnen und -kollegen von den Medien zur Verfügung zu stellen oder das Thema auch selbst aufzugreifen. Mit zu dieser Haltung trug die Vorstellung bei, dass mir angekündigte Besuche von Journalisten und Fotografen Impulse geben würden, wieder ein Stück zu räumen und Ordnung zu schaffen (was sich in der Folge auch bewahrheitete). Schließlich gestand ich mir auch ein Stück Narzissmus zu. Als am erwähnten Abend – erwartungsgemäß – niemand anders aus unserer Gruppe bereit war, an der Sendung mitzumachen, sagte ich zu, wiewohl
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz ich bei meinen Outing-Überlegungen nicht eben an einen Fernsehauftritt gedacht hatte. Aber ich ortete in diesem Forum eine große Chance dafür, dass dieses Tabuthema in der Schweiz endlich einmal auf breiter Ebene und dabei auf eine zu erwartende seriöse Weise dargestellt würde. Die Sendung am 28. September 2001 war freilich überschattet von einem tragischen Ereignis in einer kleinen Schweizer Stadt wenige Tage zuvor. Deshalb wurde die Sendung nicht nur zeitlich verschoben, sondern in deren erstem Teil stand diese Tragödie im Vordergrund. Dennoch löste der Messie-Beitrag ein breites Echo aus. Bei mir persönlich meldeten sich – wie auch bei späteren Medienberichten, in denen ich porträtiert wurde – nicht wenige mehr oder weniger mitbetroffene Berufskolleginnen und -kollegen. Es scheint, dass die Verbindung Journalist – Messie nicht ganz selten anzutreffen ist. In der Folge nahm sich im Januar 2002 die Coop-Zeitung, die Wochenzeitschrift der Coop-Detailhandelskette, des Themas an, im September des gleichen Jahres auch die NZZ am Sonntag. Bei beiden Artikeln stand ich zur Verfügung, damals zwar noch nur mit Vornamen, freilich für alle, die mich mindestens von Ferne kannten, zweifelsfrei identifizierbar. Nach jedem dieser „Informationsschübe“ wandten sich zahlreiche Betroffene an die jeweiligen kantonalen Selbsthilfezentren. Deshalb konnten in Zürich bereits im Januar 2002 die zweite und um die Jahreswende 2003/04 die dritte bzw. vierte Selbsthilfegruppe gegründet werden. Ebenfalls bis zu dieser Zeit kamen Gruppen in Weinfelden (Kanton Thurgau), Uster (Zürich) und Olten (Solothurn) dazu. Noch später entstanden in Basel und Bern Messie-Selbsthilfegruppen.
3. Der kurze Weg zur eigenen Website Zwei Jahre nach dem Start der ersten Selbsthilfegruppe ist durch die erwähnten Medienberichte das Messie-Phänomen durchaus schon ein Thema bei vielen Betroffenen, in zunehmendem Maß auch in der Öffentlichkeit. Doch im Vergleich zu Deutschland herrscht noch immer ein erheblicher Informationsrückstand. Langsam wächst das Bedürfnis für eine eigene Website, auf der sich nicht nur die bestehenden Gruppen besser vernetzen können sollen, sondern auch vertiefte Informationsarbeit geleistet werden soll. Das Erste in einem solchen Fall ist das Finden einer geeigneten Internetadresse (URL). Am nächstliegenden wäre wohl www.messie.ch. Doch just diese ist bereits besetzt, aber noch ist kein Inhalt freigeschaltet. Was tun? Ganz einfach: Mit dem Eigner der Adresse, Thomas Moll, telefonieren.
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Johannes von Arx Das geschah etwa im November 2003. Ich stellte mich Thomas, selbst Messie, kurz vor und deutete zaghaft an, dass wir eigentlich gerne diese Adresse hätten. Ob man könne …? „Man“ konnte. Er „gestand“, dass diese Website eher einem Versuch entsprochen und er sich mehr vorgenommen als erreicht hatte. Thomas bot nicht nur seine Adresse an, sondern spontan auch die volle Zusammenarbeit. In der Folge telefonierten und mailten wir intensiv, entwarfen Inhalte und Gestaltung. Dabei kam auch nochmals die Adresse selbst ins Gespräch. Es war uns enorm wichtig, das Messiesein nicht einfach als eine persönliche Deformation darzustellen. Vielmehr sollten sich Betroffene und ihre Angehörigen als Teil einer Schicksalsgemeinschaft verstehen. Im Vordergrund steht die Solidarität untereinander. Und das sollte bereits schon in der Webadresse zum Ausdruck kommen. Also wählten wir www.messies.ch. Die heutige, definitive Adresse www.lessmess.ch wurde erst anderthalb Jahre später eröffnet im Zusammenhang mit der Gründung des gleichnamigen Verbandes. Nach nur wenigen Wochen Vorbereitungszeit schaltete Thomas am 7. Januar 2004 die erste Website der Messies Schweiz auf. Sie vermittelte Basisinformationen über die Selbsthilfegruppen, einen Messie-Test, Verhaltensweisen beim gegenseitigen Helfen etc. Eine Woche später gingen wir hinaus mit dem ersten Messie-Rundbrief (heute LessMess-Info). Darin wiesen wir natürlich zuerst auf die neue Website hin, ebenso wie auf angekündigte Anlässe im Messie-Umfeld sowie fix angekündigte Fernseh- und Radiosendungen. Dieser Rundbrief ging per Mail vorab an die Ansprechpersonen der Gruppen mit der Bitte um Weiterverteilung, zudem auch an die Selbsthilfezentren und weitere Interessenten. Wer wollte, konnte den Service gegen eine bescheidene Gebühr per Post abonnieren. Dank dessen, dass mittlerweile eine recht starke Bewegung in die Szene kam, z. B. immer mehr Medienberichte und Studienarbeiten erschienen und Selbsthilfegruppen neu gegründet wurden, gab es genügend Stoff für mehrere Aussendungen im Jahr. Heute verzeichnet die Seite durchschnittlich 80 Besucher und 400 Seitenaufrufe pro Tag und dies über das zweite Halbjahr 2007 recht konstant. Netto (also Such- und Spamroboter von den USA und RUS ausgenommen) kommen rund 70 % der Anfragen aus der Schweiz, 20 % aus Deutschland, 5 % aus Österreich. Ungefähr 40 % sind Direktaufrufe (sozusagen Stammkunden), die restlichen werden via Suchmaschinen und Links zu www.lessmess.ch geführt. Im Forum sind etwa 60 Benutzer registriert. Auch wenn es hier relativ wenig Aktivität gibt, so ist das Forum doch die am meisten besuchte Seite bei LessMess! Mittlerweile gibt es ca. 40 Links zu LessMess.
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz
4. Die Gründung des Verbandes LessMess „Wir“, das sind in dieser Zeit Thomas – das freischaffende Computer- und Internettalent – und ich, der als freier Journalist prädestiniert ist für diese redaktionelle Aufgabe, engagieren uns für eine perfekte Umsetzung. Nun mag es zwar angehen, dass in einer Pionierphase Akteure ohne institutionelles Fundament agieren, aber langfristig ist eine derartige, nicht demokratisch abgestützte Arbeit fragwürdig; es besteht die Gefahr der Inkonstanz und Inkompetenz. Gedanken an den Aufbau einer Messie-Vereinigung in der Schweiz gab es schon einige Zeit zuvor. Aber in der Regel ist das so, dass alle Leute irgendwo engagiert sind. Jemand muss irgendwann dem Karren einen gehörigen „Schupf “ geben, wie wir Schweizer sagen. Manchmal kommt ein solcher „Schupf “ aus einer intellektuellen Anstrengung, manchmal entsteht er beim Jogging. Ein Gedankenblitz bei einem meiner Waldläufe Anfang Dezember 2004 löste eine hektische Aktivität aus, als deren Folge am 12. Januar 2005 in Zürich das erste offene Messie-Treffen zustande kam. Eingeladen waren alle Interessierten, Betroffene, Angehörige, egal, ob in Selbsthilfegruppen organisiert oder nicht, sowie uns bekannte Fachleute aus dem Bereich Psychologie. Auf der Tagesordnung stand nicht nur das Hauptthema Gründung eines Verbandes, sondern auch die Bildung von Arbeitsgruppen zum Aufbau verschiedener Projekte wie Kommunikation, Psychotherapie für Messies, Forschung „Messie-Spitex“ etc. (siehe Kasten). Da dieses rasche, entschlossene Vorgehen auch kritische Reaktionen auslöste, entschlossen wir uns dazu, einen uns geneigten, erfahrenen Krisenmanager – keinen Messie – als Leiter der beiden ersten Treffen zu holen. Damit war auch jedwelchem Verdacht einer Parteilichkeit vorgebeugt. Zu diesem ersten Treffen fanden sich 30 Personen ein. Aus diesem Kreis schrieben sich mit regem Interesse zahlreiche Leute für mehrere Arbeitsgruppen ein. Die erste Priorität lag natürlich auf der Verbandsgruppe, welche rasch die Arbeit aufnahm. In intensiver Vorarbeit wurde auch der Name des Verbandes „LessMess – Netzwerk für Messies“ ausgetüftelt. Am 9. September 2005 fand dann im Cooperativo „Coopi“ in Zürich die Gründungsversammlung mit ebenfalls 30 Teilnehmenden statt. Gleichsam als „Startgeschenk“ konnten wir unseren Flyer – „frisch ab Presse“ – präsentieren. Nicht nur bei den Vorarbeiten, sondern auch bei der Besetzung des Vorstandes legten wir großen Wert darauf, dass auch Nichtmessies diesen mittrugen. Ich schloss von Anfang an präsidiale Funktionen aus, ließ mich aber gerne in den Vorstand wählen.
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Johannes von Arx
5. Strukturelle Probleme und ihre maßgeschneiderten Lösungen Eine maßgeschneiderte Lösung ist auch unsere heutige Kopräsidentin, Helene Karrer-Davaz, diplomierte Hauswirtin (in der Schweiz Hauswirtschaftliche Betriebsleiterin HHF), Thomas Moll, Messie, ist der andere Kopräsident. Nach jahrelanger Erfahrung im Verbandsmanagement hatte sie im März 2004 eine Firma gegründet, welche u. a. Messie-Coaching anbietet. In diesem Zusammenhang suchte sie das Gespräch mit mir: Sie wollte nicht nur professionell, sondern auch praxisorientiert und vor allem mit viel menschlichem Gespür an diese Arbeit herangehen und unsere Erfahrungen einbeziehen. Es entwickelte sich in der Folge eine informelle, fruchtbare, vorerst bilaterale Zusammenarbeit. Daraus entstanden u. a. auch die Leitlinien für die gegenseitige Hilfe unter Messies, welche wir auf unsere Internetseite stellten. Eine klassische Win-win-Situation also. Somit war es naheliegend, Helene auch für den Aufbau unseres Verbandes sowie in dessen Kopräsidium einzuladen. Wir wollten von ihren Erfahrungen beim Organisieren profitieren. Selbstverständlich war uns allen bewusst, dass die Personalunion Verbandsarbeit – kommerzieller Beruf nicht ganz unproblematisch ist. Dies war im ersten Jahr von LessMess noch gewichtiger, da in dieser Zeit das Sekretariat samt dem Beratungstelefon mangels Alternativen in ihren Geschäftsräumen angesiedelt war. 2007 konnte eine Lösung gefunden werden durch Auslagerung dieser Bereiche in ein externes Sekretariat, was freilich auch nicht immer ohne Probleme blieb. Dort eingehende Briefe, Mails und Telefonate werden sachkundig bearbeitet. Diese Organisationsform gab denn bisher auch zu keinen Beanstandungen Anlass. Dieser Einblick in die Entwicklungsgeschichte der ersten Jahre zeigt, dass privat organisierte Institutionen im sozialen Bereich schon nahezu naturgesetzlich mit besonderen strukturellen Problemen und Unvollkommenheiten konfrontiert sind. Ideallösungen lassen sich zwar erträumen, sind aber wenig realistisch. Ein Einmannbetrieb, unter dem alles straff und effizient organisiert ist, hat genauso seine Schattenseiten wie eine komplexe, nach allen Seiten hin demokratisch abgestützte Organisation. Glücks-, Zu- und Unfälle spielen oft eine ebenso entscheidende Rolle wie ehrliches Bemühen, persönliches Engagement und selbstloser Einsatz. Mit LessMess dürften wir einen vertretbaren Mittelweg gefunden haben. Die Kooperation mit Helene hatte übrigens auch noch einen sehr willkommenen Nebeneffekt: Dank ihren Beziehungen konnte sie eine uns wohlgesinnte Donatorin vermitteln, welche uns mit einem ziemlich hohen Betrag den Start von LessMess und die ersten
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz drei, vier Jahre die Verbandsarbeit ermöglichte, ohne dass wir uns auch noch um die mühsame Beschaffung der allernötigsten finanziellen Mittel sorgen mussten.
6. Die weitere Entwicklung der Messie-Szene 6.1. Zahlreiche interessante Studienarbeiten Mit der Gründung von LessMess ist der wohl wesentlichste Schritt in der Schweizer Messie-Szene vollzogen. Es existiert eine demokratisch legitimierte Institution, die für Betroffene, Angehörige, Behörden und Medien zur Verfügung steht. Der Verband will auch aktiv informieren, sich engagieren für die Belange der Messies, etwa im Bereich von Problemen mit Vermietern, Informationsaustausch mit wesensverwandten Organisationen pflegen und in der Öffentlichkeit Aufklärungsarbeit leisten. Doch die eigentliche Knochenarbeit beginnt erst jetzt. Die Ziele sind hochgesteckt, das MessieSyndrom ist noch wenig bekannt und erforscht. Im Verlauf der weiteren gut drei Jahre bis zum Redaktionsschluss im Januar 2008 verzeichneten wir eine Menge an Aktivitäten und Ereignissen, auch solche, die nicht von uns initiiert wurden. Wohl das bedeutendste ist das Erscheinen der Studienarbeit „Messies – Alltag zwischen Chaos und Ordnung“ von Annina Wettstein. Das Taschenbuch bietet tiefe Einblicke in die Wohnungs- und Gedankenwelt der Messies. Die Autorin – sie hielt auch ein Referat an der ersten Messie-Tagung der SFU – stützte sich dabei auf ausführliche Interviews mit einem guten Dutzend Messies. Erfreulicherweise fand und findet das doch noch immer etwas „exotische“ Thema das Interesse von Studierenden aller Art. Sie wenden sich meistens zuerst einmal an mich mit der Bitte um Grundlagenmaterial, um ein Vorgespräch zwecks vertiefender Information und auch um die Vermittlung von Betroffenen. Diese werden dann interviewt, und alles wird in einer Studien- oder Diplomarbeit zusammengefasst. Auf diese Weise sind in den letzten Jahren mehrere sorgfältig und mit großem Aufwand erarbeitete, ganz ausgezeichnete Dokumentationen entstanden. Sie sind für uns außerordentlich wertvoll, weil sie (größtenteils sind die Autoren keine Messies) eine Außensicht vermitteln und oft unerwartete Aspekte in die Arbeit einbeziehen. Für solche Projekte lassen sich stets genügend Betroffene finden, welche sich für Interviews zur Verfügung stellen.
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6.2. Messies in den Medien Anders sieht es leider immer noch bezüglich Presseartikeln aus. Die Ängste von Messies, in einer Zeitung – selbstverständlich anonymisiert – porträtiert zu werden, sind nach wie vor enorm. Die Argumente sind dabei manchmal durchaus rational und nachvollziehbar, etwa wenn befürchtet wird, dass Verwandte aufgrund eines Bildes, das die Wohnung zeigt, die Person erkennen könnten. Ich bin aber überzeugt, dass solche Ängste oft übertrieben sind. Zumindest in meinem Umfeld stoße ich auf viel Verständnis für die Probleme, die auch aus der Überflussgesellschaft erwachsen. Umso bedauerlicher ist es, wenn geplante Artikel nicht erscheinen können, weil sich niemand zur Verfügung stellt. Denn Aufklärungsarbeit ist nach wie vor sehr wichtig. Zwar ist der Begriff „Messie“ dank der mehrdutzendfachen Berichterstattung seit 2001 wohl schon deutlich mehr als der Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer bekannt. Und beim Erklären des Inhalts sagen dann vielleicht gut zwei Drittel „Aha, doch, davon habe ich schon gelesen oder gehört“. Jedoch ist der Unterschied zwischen Messietum und Verwahrlosung noch immer wenig klar. Bilder – vornehmlich aus elektronischen Medien – von Zwangsräumungen echt vermüllter Wohnungen sind in den Hinterköpfen „gespeichert“. Nur eine präzise Darstellung nicht nur der Umwelt (lies Chaos), sondern auch der Innenwelt (d. h. Ideen, Perfektionismus, ADHS, Lebensstil etc.) von Messies kann diese Differenzierung fördern. Und die Schweizer Medien sind für diese Darstellungsform im Allgemeinen zugänglich. Da ist es gewiss ein Vorteil, wenn auch hier die Medien oft zuerst bei mir „anklopfen“, denn dann spielt sich das Gespräch entspannt unter Berufskollegen ab. Ich kann dann unter Verweis auf ein bestehendes Vertrauensverhältnis oft leichter Betroffene animieren, mitzumachen. Geteilte Aufnahme fand der Film „Sieben Mulden und eine Leiche“ von Thomas Haemmerli, der im Frühling 2007 in die Kinos kam. In einer Pressemitteilung räumte LessMess ein, dass das Werk zwar die Messie-Problematik thematisiere, aber nichts zur Aufklärung oder Hilfestellung beitrage. Letzteres ist vielleicht nicht unbedingt das primäre Ziel eines Spielfilms, doch etwas mehr Sensibilität über der dargestellten Messie-Frau – Mutter des Autors – hätten wir uns doch gewünscht.
6.3. Weitere Aktivitäten von LessMess Unterdessen entwickelte sich die Vorstandsarbeit weiter. Der Flyer wurde durch eine Präsentation auf CD ergänzt. Wir versandten weiterhin unsere LessMess-Infos, die wir mit Buchkritiken und Kurzinterviews ergänzten. Weiterhin wiesen wir auf Veranstaltungen hin, selbstverständlich auch auf
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz die Wiener Tagungen der SFU. Leider fanden sich bisher noch keine weiteren Personen aus der Schweiz, welche die Reise nach Wien antraten für diese interessanten Veranstaltungen. Nach wie vor sind wir regelmäßig präsent an Tagungen der Selbsthilfezentren in der Schweiz, von Institutionen, die sich mit Zwangserkrankungen, AD(H)S etc. beschäftigen, wie wir sie mehr oder weniger häufig auch bei Messies antreffen. Schließlich war uns wichtig, eine Liste von (Psycho-)Therapeutinnen und -therapeuten aufzustellen, welche bereit sind, sich mit der spezifischen Messie-Problematik auseinanderzusetzen. Denn langfristig verspricht eine persönliche Weiterentwicklung innerhalb einer Therapie am ehesten auch Fortschritte bei der Selbstorganisation. Diese Liste stellen wir bewusst nicht auf unsere Website, sondern vermitteln die Adressen nur auf Anfrage. Ein Versuch, mit dem Schweizerischen Hauseigentümerverband zu kooperieren, um generell das Verständnis für die spezifischen Probleme von Messies als Wohnungsmieter zu fördern und im Speziellen Problemfälle mit unserer Hilfe lösen zu helfen, scheiterte an der Weigerung des erwähnten Verbandes. Wir verfolgten das Problem weiter in Form einer Umfrage unter Messies auf unserer Website, welche zahlreiche Rückmeldungen auslöste. Die Website selbst bauen wir auch permanent aus, etwa mit einem Pressespiegel sowie mit einem Forum, das sehr rege besucht wird. Das Signet „Baustelle“ da und dort macht freilich deutlich, dass zwischen Wunsch und Wirklichkeit oft eine Lücke klafft. Wir haben uns mehr vorgenommen, als uns zu realisieren vergönnt war. Ziehen wir in Betracht, wo die Messie-Szene Schweiz im September 2008 – genau sieben Jahre nach deren „Geburt“ – steht, dann haben wir durchaus Grund, mit einem gewissen Stolz zurückzublicken. Nicht wenig Anteil am Erreichten haben auch etliche Außenstehende, Fachleute, mit Rat und Tat Beistehende, wofür auch an dieser Stelle gerne gedankt werden darf. Aus dem Kreis der Selbsthilfegruppen in Zürich wurde der Wunsch nach einem Messie-Treffen laut. Wir haben diese Idee gerne aufgenommen und weiterentwickelt. Als Erstes erweiterten wir den Kreis der Teilnehmerschaft nicht nur auf alle Gruppen, sondern auch auf alle Messies und ihre Angehörigen. Es soll also ein wirklich offenes Treffen geben. Sodann kristallisierte sich als bestmöglicher „Aufhänger“ die Form eines Festes heraus. Doch wollen wir auch etwas Konstruktives anbieten. Und da lag das Thema „Messies und Medien“ nahe (siehe auch 6.2.). Die Idee: Zu dem Anlass sollen auch Journalistinnen und Journalisten, die uns persönlich bekannt sind, eingeladen werden. Dies nicht mit dem Ziel der Berichterstattung, sondern um das gegenseitige Vertrauensverhältnis zu stärken. Das Fest ging am 12. Juli 2008 in den Räumlichkeiten der OTZ (siehe 1) mit 30 Teilnehmenden über die
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Johannes von Arx Bühne. Im Podiumsgespräch tauschten die Medienleute und Messies ihre Erfahrungen und Wünsche aus. Es entspann sich eine lebendige Diskussion zwischen Publikum und Podium. Leider zwang uns das regnerische Wetter, den anschliessenden Apéro sowie das durch engagierte Vorstandsmitglieder organisierte, aufwändige Fest drinnen durchzuführen. Der grosse Erfolg bewog uns, für 2009 eine zweite Auflage ins Auge zu fassen.
6.4. Projekt Dokumentarfilm Eine ganz andere „Kiste“ ist ein anderthalbstündiger Kinodokumentarfilm, der unter Beteiligung von etwa fünf Messies geplant ist. Initiant und Autor ist der freie Filmemacher Ueli Grossenbacher, der in enger Zusammenarbeit mit Thomas das Projekt seit Ende 2006 zielstrebig vorantreibt. Im Fokus stehen nicht psychologische Hintergrunderklärungen. Vielmehr sollen im Film konkrete Lebenssituationen beschrieben, Ideen und Zwänge transparent gemacht werden. Das Kinopublikum soll hautnah nachvollziehen können, dass hinter dem vermeintlichen Chaos eine tiefgründige Welt mit ihrem Licht und Schatten existiert. Die Filmautoren streben eine spannende Dramaturgie an, so weit dies in einem Dokumentarfilm möglich ist. Bund, Kanton und Stadt Bern haben bereits einen Planungskredit zugesprochen. Im Moment arbeiten Ueli und Thomas an einem vertiefenden Dossier für einen entsprechenden Produktionsbeitrag. Sie streben eine Realisierung innert ca. zwei Jahren an. Selbstverständlich kann bei einem solchen Projekt LessMess bloß eine begleitende, beratende Funktion ausüben. Die eigentliche Verantwortung obliegt gänzlich dem Autorenteam.
7. Die Entwicklung der Messie-Selbsthilfegruppen Die Gründung der ersten Selbsthilfegruppe am 6. September 2001 stand am Anfang der Geschichte der schweizerischen Messie-Bewegung. Eine interessante Entwicklung im Bereich dieser Gruppen rechtfertigt es, diesem komplexen Thema einen eigenen Abschnitt zu widmen. Vorab die Bilanz über die Existenz aller zehn Gruppen, die je in der Schweiz gegründet wurden (Stand Mitte September 2008): t Eine kam nicht über das „Säuglingsalter“ hinaus; sie löste sich nach wenigen Sitzungen auf. t Fünf lösten sich nach einer Lebensdauer von etwa einem bis gegen fünf Jahre auf bzw. verteilten sich auf andere Gruppen (siehe Punkt 7.1.).
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz t Vier bestehen weiterhin: zwei in Zürich, je eine in Basel und Bern. t Eine teilte sich aufgrund unlösbarer Probleme in zwei therapeutisch orientierte Untergruppen, wobei sich eine davon bald wieder auflöste (siehe Punkt 7.2.).
7.1. Die „konventionellen“ Gruppen Auf der Basis der kleinen Zahl an Messie-Selbsthilfegruppen und der relativ kurzen Zeitspanne seit 2001 sind nur in sehr beschränktem Maß Vergleiche mit Gruppen anderer Themen möglich. Aber der Tenor aus den Gruppen wie auch aus dem Kreis der kantonalen Selbsthilfeszentren ist recht einhellig: Messies haben tendenziell mehr Schwierigkeiten mit dem Einhalten der Regeln, Pünktlichkeit, Rededisziplin, der Spannweite zwischen dominanten und zurückhaltenden Mitgliedern etc. Die eingangs erwähnte „Urgruppe“ aus Zürich hielt – nicht zuletzt auch durch die Betreuung durch Heinz Lippuner – über fast fünf Jahre (in einer späteren Phase auch gegen Bezahlung) durch. Dann trafen sich deren Teilnehmer noch wenige Male pro Jahr zum Essen, heute gibt es Treffen nur noch auf persönliche Einladung. Immerhin kam der Impuls für ein gemeinsames Treffen (siehe Punkt 6.4.) auch aus dieser Gruppe.
7.2. Eine therapeutisch orientierte Gruppe Sehr interessant – und vielleicht auch modellhaft – ist die Entwicklung der 2005 in Basel gegründeten Selbsthilfegruppe. Trotz einer über die obligate Begleitung an den ersten drei Abenden hinausgehenden Begleitung stellten sich große Schwierigkeiten ein. Anfang 2007 realisierte die Gruppe, dass es so nicht gehen konnte, und hielt Ausschau nach einer permanenten Begleitung. Der Psychotherapeut FSP Lukas Nissen erklärte sich bereit, stellte jedoch die Bedingung „Therapiegruppe oder nichts“. Um effizient therapeutisch arbeiten zu können, musste die Gruppe auf zwei Dreiergruppen aufgeteilt werden. Diese trafen sich alle zwei Wochen. Für die anderthalbstündige Sitzung bezahlen die Teilnehmenden je CHF 100 (ca. 60 €). Ein größerer Anteil davon wird von der Zusatzversicherung der Krankenkasse übernommen. Wie erwähnt, löste sich eine der beiden Gruppen bald wieder auf, was u. a. daran lag, dass in einem Fall noch ein anderweitiger Krisenherd, in einem anderen keine Motivation vorlag. Die andere Gruppe dagegen arbeitet intensiv weiter. Lukas Nissen ist überzeugt, dass die Messie-Problematik eine schwerwiegende sei, die aber fast immer durch andere Problemkreise überlagert ist. Auch deshalb vermeidet er es, direkt auf erstere einzugehen.
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Johannes von Arx Tue man dies, so drohe die Sache bald zu versanden. Er arbeitet prioritär an der Beziehung und wendet dabei die schematherapeutische Methode an, eine Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie nach Jefferey E. Young („Sein Leben neu erfinden“). Erste Erfahrungen belegen, dass sich bei allen Teilnehmenden etwas bewegt hat, langsam zwar, doch das ist im Bereich der Psychotherapie gewiss keine Besonderheit. Positiv sind – so Nissen – die Resultate im Wohlbefinden. Jemand habe begonnen zu kochen, statt länger aus der Büchse zu essen. Man stelle sich die Frage, wie Ordnung herzustellen sei und nehme kleine Aufgaben in Angriff. Die Gruppe bedeute allen viel. In einem Fall brachte ein Wechsel von der ursprünglichen Basler MessieGruppe in eine Kreativgruppe der Betroffenen einen nutzbringenden Perspektivenwechsel.
7.3. Selbsthilfegruppe mit therapeutischer Unterstützung Anders war die Ausgangslage bei der Selbsthilfegruppe, welche im März 2007 in Bern gegründet wurde. Dort spielte ein glücklicher Zufall eine Rolle, damit ein gemeinsames Engagement zustande kam. Die Ergotherapeutin Ruth Joss wandte sich in einem Messie-Patientenfall an Thomas Moll mit der Bitte um fachliche Beratung. Die Frage nach einer Berner Selbsthilfegruppe wurde laut. Beim kantonalen Selbsthilfezentrum waren bereits zwei Interessenten notiert, und ein Aufruf auf unserer Website vermittelte in kurzer Zeit drei weitere, sodass rasch an die Gründung einer Gruppe gedacht werden konnte. Es bot sich an, dass Ruth bei deren Start organisatorisch zur Seite stehen könnte, während Thomas die Leitung übernahm. So startete denn die Gruppe mit ihrer Hilfe. Sie beschränkte sich indessen auf Strukturierungsund Konzentrationshilfe, hielt sich mit therapeutischen Ansätzen tendenziell zurück, da es eine Selbsthilfegruppe bleiben sollte. Nach und nach reduzierte Ruth ihre Präsenz. Heute ist sie noch etwa jedes zweite oder dritte Mal dabei. Ihre – ohne Bezahlung geleistete – Unterstützung wurde positiv aufgenommen. Sie realisiert bei den Messies ein ziemlich auffälliges Gesprächsverhalten („vom Hundertsten ins Tausendste“), was sie mit der Kreativität, dem großen Interesse an vielen Dingen und Details, der Sprunghaftigkeit des Denkens sowie der reduzierten Fähigkeit, Prioritäten sinnvoll zu setzen in Zusammenhang bringt. Sie überlegt nun, eine definiertermaßen therapeutische Gruppe anzubieten. In diesem Fall würde sie mehr Themen setzen und das Gespräch wirklich leiten, statt bloß im Bedarfsfall zu unterbrechen. Sie denkt, dass mit mehr Struktur die einzelnen Teilnehmenden mehr persönliche Erfolge erarbeiten könnten. Wichtig ist für Ruth Joss auch, mehr
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz an konkreten Zielen zu arbeiten. Etwa daran, Hilfe anzunehmen, ohne welche Messies kaum eine ihnen entsprechende Ordnung erreichen könnten. Schließlich läge der Schwerpunkt in einer therapeutischen Gruppe darin, herauszuschälen, wo die individuellen Bremsen, Fallstricke und Mechanismen liegen und wie diese überwunden werden können. In jüngster Zeit zeichnet sich bei einem Teil der Gruppe tatsächlich ein Bedürfnis nach einer solchen therapeutischen Begleitung ab.
7.4. Schlussfolgerungen In der Schweiz haben sich also mehrere Modelle entwickelt, wobei auch Neuland betreten wurde. Diese Pluralität kann nur positiv bewertet werden, weil sie im weiten Feld an Problemkreisen um Hilfestellungen für Messies wertvolle Erfahrungen bieten. Es stellt sich zunehmend heraus, dass es weder ideale noch allgemein gültige Lösungen gibt. Nicht nur die Methode an sich ist entscheidend, sondern gleichermaßen auch der Prozess. Es spricht für die vorhandenen psychischen Ressourcen von Messies, wenn sie – wie oben beispielhaft aufgezeigt – aus eigener Initiative Konsequenzen aus einer unbefriedigenden Gruppensituation ziehen und nach geeigneteren Settings suchen. Dabei können Erfahrungen aus „reinen“ Selbsthilfegruppen, therapeutischen Gruppen und Mischformen Entscheidungshilfen bieten. Kreativität ist also nicht „nur“ bei den Messies selbst gefragt, sondern auch bei den Betreuungspersonen und den Therapeuten. Wichtig ist deshalb, dass diese Modelle auch transparent gemacht und in unseren Kreisen diskutiert werden.
8. Die Beziehungen zum Ausland Wie unter Punkt 1 erwähnt, kam der erste Impuls zur Gründung der MessieBewegung aus Deutschland. Zu dieser Zeit war unser nördlicher Nachbar das erste Land in Europa, in dem sich die Messies organisiert hatten. So war es naheliegend, dass ich mich auch dorthin wandte, um zu den damals noch spärlich vorhandenen Informationen zu kommen.
8.1. Deutschland Am bekanntesten war damals Jochen Kalthaus, über den 1991 die „MessieWelle“ von Amerika (Sandra Felton) nach Deutschland herübergeschwappt war. Jochen engagierte sich gut 15 Jahre lang als Ansprechperson für Betroffene, Angehörige und Medien, als Koordinator der Selbsthilfegruppen
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Johannes von Arx („Anonyme Messies“), und er verschickte auch etwa viermal im Jahr in Alleinarbeit mehrere tausend Rundbriefe – nicht per Mail, sondern per Post. Im Verlauf der Jahre führten wir Gespräche am Telefon, und ich besuchte Jochen auch einmal bei ihm zu Hause in Berlin. Wie im Kasten „War der Messias ein Messie?“ ausgeführt, widersprach ich ihm namentlich beim Begriff „anonym“. Dann wurde ich auf Marianne Bönigk-Schulz aufmerksam, die Begründerin des Fördervereins zur Erforschung des Messie-Syndroms (FEM) e. V. Sie hat sich große Verdienste erworben, indem sie viel Fachwissen zusammengetragen und in zahlreichen Schriften festgehalten hat und dies noch heute tut. Außerdem führt sie permanent Beratungsgespräche für Betroffene und Angehörige. Auch mit Marianne tausche ich mich ab und zu aus und besuchte zwei ihrer anregenden und spannenden Messie-Arbeits- und -Fachtagungen in Böblingen und Bielefeld. An solchen Anlässen referieren jeweils Fachleute zu verschiedenen Themen im Umfeld der Messie-Thematik, so auch über die Begegnung mit Behörden, Therapeuten etc. Gleichzeitig sind sie natürlich auch willkommene Orte des Gedankenaustauschs. Vor allem durch seine Bücher weit über Deutschland hinaus bekannt geworden ist längst auch Rainer Rehberger. Ich lernte den ausnehmend zuvorkommenden Dr. med., Facharzt für Psychotherapeutische und Innere Medizin, als Referenten an einer Fachtagung der FEM kennen. Tätig ist er als Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker in freier Praxis in Seefelden, einem kleinen Paradies in der Nähe des Pfahlbaumuseums Uhldingen am Bodensee. Dort besuchte ich den bekannten Buchautor (zuletzt „Messies – Sucht und Zwang“) auch dreimal und konnte hochinteressante Gespräche führen. Unter anderem legte er mir anhand verschiedener Forschungen sehr eindrücklich und plausibel dar, weshalb die Qualität der Bindung bei der Spezies Mensch so extrem wichtig sei: Erst die Vorverlegung der Geburt in einen sehr frühen Zeitpunkt (bei den nächstverwandten Tiergeschwistern, den Schimpansen, mit denen wir über 98 Prozent der Gene teilen, erfolgt die Geburt nach 18 Monaten) ermöglicht – durch den direkten Kontakt zur Umwelt – eine höhere Entwicklung des Hirns, als es bei den Tieren der Fall sei (Portmanns „physiologische Frühgeburt“, aufrechter Gang, Größe des Kopfes). Doch der Preis der frühen Geburt ist die einzigartige Abhängigkeit von Eltern und Beziehungspersonen. Im Verlaufe meiner Kontakte zu vielen Personen in Deutschland musste ich immer wieder konstatieren, dass das zwischenmenschliche Klima im Umgang in einigen Bereichen bedeutend rauer ist als bei uns in der Schweiz und bei unseren östlichen Nachbarn, den Österreichern. Damit wäre das
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz Stichwort gegeben zu den Kontakten mit unseren Freunden in der SFU. Doch zum Thema Deutschland fehlt noch ein wichtiger Name: Harm Kühnemund, gestorben am 22. September 2006. Erst im Frühling 2006 wurde ich von einem deutschen Messie-Freund auf Harm aufmerksam gemacht. Er engagiere sich in Tübingen für die Sache der Messies. So rief ich ihn Ende Mai 2006 zum ersten Mal an, stellte mich vor. Es entspann sich augenblicklich ein intensives Gespräch, dem weitere spannende Dialoge am Telefon und per Mail folgten. Der einstige Mikrobiologe an der Universität Göttingen interessierte sich für die Schweizer Szene, und ich erfuhr etwas von seinen Aktivitäten speziell im regionalen Bereich für die Messie-Szene, als Mittler zwischen Messies und Behörden, seiner Öffentlichkeitsarbeit und seinem Engagement für und bei Fachtagungen. Wir tauschten unsere persönlichen Erfahrungen als Menschen und Messies aus, diskutierten über die Literatur, über Ideen, Projekte, Visionen.
Messie trifft Messie In einer solchen Beziehung war auch bald klar, dass wir uns persönlich begegnen wollten. Da ich mich ohnehin sehr für unsere nördliche Nachbarschaft interessiere und dort schon viele Menschen und Landschaften kenne, verband ich eine sommerliche Erkundungstour per Fahrrad im Neckartal mit einem Besuch von Harm. Am 14. Juli in der berühmten Universitätsstadt angekommen, radelte ich in Tübingens südlichem Neustadtquartier, von dessen Straßennetz in der Umgebung von Harms Haus an der Neuffenstraße ich mir eine Handskizze angefertigt hatte. Doch im Messie-Hirn des Johannes von Arx ist alles etwas komplizierter, also irrte ich im Quartier herum. Schließlich besann ich mich auf meine beiden Mobiltelefone, ein deutsches und ein schweizerisches. Einen guten Steinwurf von seinem Haus entfernt – das ich bis dato noch nicht kannte – kramte ich sie aus meiner Tasche heraus. Man rate! Richtig: Bei einem war der Akku leer, beim anderen funktionierte der Pincode oder weiß Gott was sonst nicht. Jedenfalls scheiterte auch der elektronische Weg zu 100 Prozent „messiekonform“ … Rettung in der Not verschaffte mir der Bäckerladen, den ich aufspürte, um von dort ein Telefon zu starten. Ein paar Dutzend Meter weiter, ein paar Kurbelumdrehungen mehr, und ich langte bei Harm Kühnemund an. Ausgleichende (Messie-)Gerechtigkeit war dann, dass mich der energiegeladene Mann, der ab 1973 für fast ein Vierteljahrhundert Angestellter beim Deutschen Institut für Fernstudien (DIFF) in Tübingen und auch Wissenschaftsredakteur war, durch seine Messie-Wohnung führte. Und die war der meinen in Zürich durchaus vergleichbar, aber mindestens von der Quantität an Büchern, Zeitschriften, sonstigen Papieren, welche den Boden bedeckten, der meinen
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Johannes von Arx überlegen. So machten wir uns auf zu seinem persönlichen „Gästehaus“, dem idyllischen italienischen Gartenrestaurant Angelo. Dort philosophierten wir weiter über spezifische Messie-Themen, zwischendurch auch über Gott und die Welt. Sehr rasch wurde ich einer warmherzigen, humorvollen, überaus belesenen Persönlichkeit gewahr, voller Energie und Leidenschaft der Sache der Messies zugetan. Ich beneidete ihn um seinen ausgeprägten analytischen Verstand, der mir in einem dauernden Widerstreit zu seiner unerbittlichen Selbstkritik zu stehen schien. Schließlich kam Harm auf sein – freilich noch wenig konkretes – Buchprojekt zu sprechen. Dieses gründete vornehmlich auf den Materialien aus einer Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll vom Februar 2003, zu dessen Zustandekommen und Gelingen er maßgeblich beigetragen hatte. Da ich ebenfalls daran dachte, ein Messie-Buch zu schreiben, tasteten wir die Möglichkeit einer gemeinsamen Realisierung ab. Auf jeden Fall nahm ich mir sein großes Verantwortungsbewusstsein zum Vorbild, mit dem er sich diesem seinem Vorhaben näherte. Den Abend schlossen wir mit einem Nachtessen im Gasthaus Neckartor ab, ehe ich mit der Bahn zurückfuhr. Keine zwei Wochen später übermittelte mir Harm eine sehr differenzierte Nachanalyse unserer Gespräche, in welcher er auch seine Vorstellungen zu seinem Buchprojekt präzisierte: „Es geht mir vor allem darum, die Menschen – die kleinen Leute – zu Wort kommen zu lassen und mit ihren Erfahrungen sichtbar zu machen: Messies in ihrer Erfahrung mit sich selbst und mit mehr oder weniger hilflosen professionellen Helfern sowie auch diese Helfer (vor allem Sozialpädagogen in den Ämtern und Therapeuten), für die der Umgang mit den Messies fürwahr kein leichter Job ist. Es macht mich lebendig, für diese Aufgabe jede Menge Mühe und Kreativität aufzubringen.“ In diesen wenigen Zeilen schimmert etwas von Harms Reserve gegenüber jedweder Art von Autorität durch, was auf einschlägige Erfahrungen vor allem in seinem früheren Beruf als Biologe gründete. Er übte auch an meinen Ansätzen schonungslos – so hatten wir es vereinbart – Kritik, etwa dass ich mich allzu sehr an der Literatur und Theorie orientiere. Das waren für mich außerordentlich wertvolle Rückmeldungen. Am 12. September trafen wir uns erneut. Als Erstes half ich Harm, ein halbes Dutzend Säcke mit Altkleidern zur Weiterverwertung aus dem Keller vor das Haus zu schaffen. Dann war in diesem sehr warmen Herbst 2008 wieder Angelos Garten angesagt. Enthusiastisch zeigte er mir sein kompaktes Auto aus zweiter Hand, das ihm seine Schwester eben besorgt hatte, und erklärte mir, wie das Kennzeichen aus seinen Initialen und seinem Geburtsdatum 25. Juni 1939 zusammengesetzt sei. Da stießen zwei Weltanschauun-
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz gen aufeinander. Natürlich griff ich meinen Messie-Freund nicht direkt an, sondern kleidete meine Botschaft in die Form eines Vorschlages: Da ich von der gar nicht einfachen Sache, in Tübingen ein Velo (so sagen wir Schweizer zum Fahrrad) zu mieten, schon bald alle Händler kennengelernt hatte, regte ich an, dass wir anderntags nach einem Schnäppchen-Velo Ausschau halten sollten. Das würde ihm doch für seine Besorgungen in der Stadt oder bei der täglichen Fahrt zum bloß anderthalb Kilometer entfernten Angelo (Harm hatte einen nagelneuen Kocher, der aber unausgepackt in der Küche lag) nicht nur Geld sparen, sondern ihm auch etwas Bewegung verschaffen und erst noch die Umwelt schonen. Harm schrie in seiner ganzen Emotionalität hinaus: „Seit Jahren suche ich verzweifelt nach einem Fahrrad und schaffte es nie – einverstanden, das machen wir!“ Bei Angelo wandten wir uns wieder der Messie-Thematik zu, in welcher wir großmehrheitlich übereinstimmten, uns bei einzelnen Bereichen durchaus stritten. In Sachen Buchprojekt kamen wir kaum weiter, aber das war auch nicht das Hauptthema. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte auch er nach wie vor viele Ideen, aber über Form und Inhalt noch wenige konkrete Ansätze – so wenig wie ich. Im weiteren Verlauf unserer Begegnung realisierte ich, wie sehr sich unter Harms kraftvollem, bestimmtem Auftreten eine verletzliche Seite verbarg. Wie erwähnt, hatten wir beim großen Thema Messie kaum grundlegende Differenzen, über viele Aspekte diskutierten wir in konstruktiver Manier. Allerdings sprach er sehr emotional, wenn er gewisse Aussagen von Fachpersonen in der deutschen Messie-Szene oder inakzeptable Verhaltensweisen von Behörden kommentierte. Da spielten sicherlich seine zwiespältigen Erfahrungen eine Rolle, die er im Dienste der Wissensvermittlung sowie im Wissenschaftstransfer bei der Aus- und Weiterbildung gemacht hatte. Harm war es wichtig, Arbeit und Ergebnisse der Naturwissenschaftler einzubetten in menschliche und gesellschaftliche Zusammenhänge. Er monierte, dass sich die Wissenschaft auf den rational erfassbaren Teil der Wirklichkeit beschränke, wo doch das Leben nicht nur eine chemische Formel oder Rechenaufgabe sei, sondern mit seiner Individualität und Unwiederholbarkeit als übergeordnetes Prinzip über der Materie stehe. Ganz anders verlief das Gespräch, wenn wir auf allgemeine gesellschaftliche Themen kamen, etwa auf das Engagement hochgestellter Persönlichkeiten. Da konnte Harm absolut nicht akzeptieren, dass beispielsweise jemand ein weltweites humanitäres Projekt begründet und vorantreibt, aber gleichzeitig auf internationalen Konferenzen im Fünfsternehotel absteigt. Und da duldete er auch keinen Widerspruch. Denn das betraf sein sensibles The-
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Johannes von Arx ma Autorität. Und dass Harm gerade darauf so gereizt reagierte, dürfte auf frühere, tiefe Verletzungen zurückzuführen sein, wie mir später eine gute Freundin von Harm anvertraute. Vollends in Rage geriet er bei der Thematik Umweltschutz. Da waren die Auffassungen zwischen den Brückenbauern – als welche wir uns beide verstanden (er als Mittler zwischen Naturwissenschaft und Lebenswirklichkeit, auch zwischen Menschen und Gruppen, von deren beiden Ufern er sich nicht selten als vermeintlicher Verräter geprügelt empfand). Sie prallten aufeinander, als wir abends ein Ausflugsrestaurant auf einer Anhöhe unweit Tübingens aufsuchten, das sich als geschlossen erwies. Trotzdem genossen wir den einsamen Ausblick auf das sich eindämmernde Ammertal. Dann entzündete sich der Streit an verhältnismäßig banalen Differenzen wie der Frage der Ökologie der automobilen Gesellschaft. Das hinderte uns nicht daran, wieder zum bewährten Angelo zurückzukehren und noch immer im Freien zum letzten Mal zusammen zu essen und angeregt, aber friedlich weiterzudiskutieren. Wir bekräftigten, so war es schon früher geplant, anderntags nochmals zusammenzusitzen. Wieder bei Harm angekommen, fand ich einen Zettel an seiner Klingel, auf dem er mir mitteilte, er sei im Moment zu sehr aufgewühlt, er brauche eine Pause und würde sich wieder melden. Das tat er dann auch am 15. September per Mail, erledigte sachlich zwei formale Angelegenheiten, gab dann aber – in durchaus aggressiver Manier – zu erkennen, dass er sich von mir persönlich angegriffen fühlte. Auf meine Bitte um Konkretisierung griff mich Harm am 20. September erneut an, was ich auf ein ungelöstes Missverständnis zurückführte. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass wir dieses wieder freundschaftlich bereinigen könnten. Doch das Schicksal entschied anders. Am 1. Oktober rief mich ein Messie-Freund, den ich nur flüchtig bei einer Tagung kennengelernt hatte, an und eröffnete mir, dass Harm Kühnemund am 22. September 2006 mit seinem Auto von der Fahrbahn abgekommen und nach einer Frontalkollision tödlich verletzt sei. Der Schock war gewaltig. Doch das war Harm: ein intensives, nicht leichtes und alles andere als geradliniges, aber doch für viele segensreiches Leben. Ausdruck für Letzteres war die große Schar an Freunden, die sich am 16. Oktober zur Trauerfeier in Tübingen einfand (die Beisetzung hatte schon einige Tage zuvor in Hannover im Kreis seiner Verwandten stattgefunden). Tröstlich für mich war, im Nachhinein aus seinem Freundeskreis zu vernehmen, dass solche Verhaltensweisen aufgrund seiner Verletzlichkeit durchaus typisch gewesen seien und dass sich Harm immer wieder versöhnt hätte.
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz
Messie für Messies Damit ging ein äußerst vitales Leben als Messie und für Messies tragisch und vorzeitig zu Ende. Viel hatte er schon in seinem lokalen und regionalen Umfeld bewegt. Zunächst engagierte er sich in der Selbsthilfegruppe der „Anonymen Messies“ (AM) in Tübingen. Im Verlauf seiner intensiven Beschäftigung mit dem komplexen Phänomen der Messie-Existenz löste er sich nach und nach vom sogenannten „12-Punkte-Programm“ der AM. Überdies verabschiedete er sich bewusst vom Attribut „anonym“, outete sich persönlich und wollte auch über diesen Weg die dringend nötige Öffentlichkeit herstellen. Beflügelt von dieser neuen Philosophie, bahnte er ab 2004 das Projekt „Zukunfts-Initiative Messies Tübingen“ ZiMT an. Unter diesem Markenzeichen organisierte er nicht nur Informationsabende in der ganzen Region, sondern knüpfte Kontakte zu Behörden, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen für die oft nicht einfachen Probleme der Messies als Mieter oder im Zusammenleben von Messies mit ihren Kindern. Und aus der AM-Gruppe wuchs eine kleine, eher im persönlichen Rahmen arbeitende Gruppe heraus. Doch Harms Wirkungskreis reichte weit über Süddeutschland hinaus. Gemeinsam mit seinen Hamburger Leidensgenossinnen und Leidensgenossen beschäftigte er sich aus der Sicht unterschiedlicher Professionen mit dem Problem des desorganisierten Wohnens. Daraus folgte 2003 die Gründung des Vereins „rundertischmessies e. V.“, dem Harm Mentor, Begleiter, Unterstützer und Freund wurde. Oft telefonierten, mailten und schrieben sich Harm und Susanne Petersen, die Gründerin des Vereins in Hamburg, in diesen Jahren, trafen sich zu Sitzungen und feierten zusammen. Harm hätte die Idee dieses Vereins sehr gerne auch in Tübingen etabliert. Die Pläne waren fertig, aber die Zeit fehlte. Doch der rundetischmessies e.V. arbeitet in Harms Sinn weiter. Da ihm die fundierte und differenzierte Information der Öffentlichkeit über das Thema Messies ein großes Anliegen war, war er auch maßgebend am Zustandekommen von Radio- und Fernsehsendungen beteiligt. Harm war einige Zeit stellvertretender Vorsitzender von FEM. Aber er hätte noch viel mehr bewegen wollen. Was er aber immer wieder mit viel Zuwendung tat, war, Betroffene und Verzweifelte wieder aufzurichten. Oft bedurfte er allerdings selbst eines solchen Zuspruchs. Denn er hatte derart viele Ideen und angeschobene Projekte, dass seine sowieso nur begrenzten psychischen und physischen Kräfte zur Bewältigung nicht ausreichten. Mithin Gründe für die quälenden Depressionen und gelegentlichen Ausfälle und sicherlich auch seine messiehafte Existenz.
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8.2. Österreich Das Phänomen „Messie“ scheint nach wie vor – sehen wir ab vom Ursprungsland USA – ganz auf die deutschsprachigen Länder fokussiert zu sein. Jedenfalls kamen, abgesehen von ganz vereinzelten Anfragen aus der französisch sprechenden Westschweiz und entfernteren Ländern, nur Reaktionen aus Deutschland und Österreich. Aus diesem Land meldete im Frühling die damalige Studentin Katharina Reboly, dass die noch junge SFU dieses Thema als einen der Schwerpunkte ihrer Forschungstätigkeit erkoren und in diesem Zusammenhang die erste Selbsthilfegruppe in Österreich gegründet hatte. Für mich war diese Nachricht besonders erfreulich, weil ich damit endlich die Hoffnung auf eine umfassende, nicht ideologisch vorbelastete Forschung erfüllt sah. Deshalb besuchte ich gerne einen Abend der Selbsthilfegruppe und lernte dabei auch die Dozentin Elisabeth Vykoukal und Katharinas Studienkollegin Nassim Agdari kennen. Seither pflegen wir einen fast permanenten Gedankenaustausch. Schwerpunkte in diesen Kontakten sind die jährlichen Tagungen der SFU im November, zu denen ich freundlicherweise als Teilnehmer an den Podien eingeladen war und bin. Dabei kam ich schließlich auch mit SFU-Direktor Alfred Pritz ins Gespräch. Den vorläufigen Höhepunkt dieser fruchtbaren Zusammenarbeit bildet dieses Kapitel, das ich für das Buch der SFU schreiben durfte.
9. Dank Es bleibt mir der Dank für die Unterstützung zahlreicher Einzelpersonen und Institutionen bei der Realisierung dieses Kapitels. Namentlich der Teil 8 wäre ohne aktive Mithilfe von Angehörigen, Freunden und Mitbetroffenen von Harm Kühnemund nicht realisierbar gewesen.
10. Nachwort 10.1. Was wir (noch) nicht erreicht haben Nicht nur LessMess, sondern auch viele Einzelne haben sich viel vorgenommen. So beschäftigen sich einige Leute – ganz unabhängig von LessMess – mit eigenen Messie-Projekten. Wie unter Punkt 4 erwähnt, wurde am offenen Treffen vom 12. Januar 2005 in Zürich eine ganze Reihe von Projekten aufgelegt, von denen die Gründung eines Verbandes bloß eines war. Einige
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz davon überlappten sich wie etwa Verband und Öffentlichkeitsarbeit. Letztere ist ja eine zentrale Aufgabe einer jeden Lobbyorganisation. Zwei Projekte dagegen lagen mir besonders am Herzen: zum einen die Forschung und zum anderen die „Messie-Spitex“. Die „Messie-Spitex“, ausgeschrieben „spitalexterne Betreuung“, ist in der Schweiz eine sehr gut ausgebaute Institution, die Hausbesuche anbietet für Menschen mit einer Krankheit oder Einschränkung, die keine stationäre Einweisung erfordert, aber das Verweilen in der eigenen Wohnung von Dienstleistungen wie das Anlegen von Verbänden, Hilfe bei der Körperpflege, Reinigung etc. abhängig macht. Mir schwebte der Aufbau einer „MessieSpitex“-Gruppe vor, die sich aus Messies rekrutiert, die aber gezielt auf diese anspruchsvolle Arbeit vorbereitet werden sollte. Sie hätte Messies zur Verfügung stehen sollen für telefonische Beratungen, Beantwortung von Mails sowie Hausbesuche. Für diese Arbeitsgruppe schrieben sich zehn Personen ein. In der Folge trieb ich dieses Projekt in eigener Regie weiter und organisierte im ersten Halbjahr 2005 fünf Abende, an denen Gäste aus sozialtherapeutischen Bereichen über grundlegende Themen wie Helfersyndrom, Rollenverhalten, Abgrenzung, innere Vorbereitung zum Helfen etc. referierten. Doch es zeigte sich, dass das Vorhaben zu anspruchsvoll war, es musste also aufgegeben werden. Auch LessMess konnte diese Aufgabe allein schon aus Kapazitätsgründen nicht übernehmen. Wir zogen es vor, ausgewählte Leute mit genügend Reife und auch Ausdauer für solche Einsätze in den Verband zu integrieren. Option für später.
10.2. War der Messias ein Messie? Oder einige Gedanken zur Terminologie Über eine Frage haben wir uns immer wieder den Kopf zerbrochen: Gibt es nicht eine treffendere Bezeichnung für „Messie“, die nicht bloß einen negativen Aspekt des sehr komplexen Phänomens anspricht und erst noch einen verniedlichenden Beiklang hat? Nun, man kann sich im guten Glauben streiten über den Sinn, ein „Label“ zu ändern, das sich eingebürgert hat und das schon recht weit verbreitet ist. Doch die Frage nach der Änderung kippt rasch in die Richtung eines Imperativs, wenn wir in einer Suchmaschine nur ein wenig nach unten blättern. Dann stellt sich rasch heraus, dass „Messie“ auch „Messias“ heißt – nämlich im Französischen. Bleiben wir also beim „Messie“, dann bleiben wir auch bei einer sprachkulturellen Barriere. Das ist zwar kein Landesunglück, doch wir spüren diese terminologische Kollision, speziell in der zweisprachigen Schweiz. Wenn wir uns unseren „welschen Compatriotes“, wie wir sagen, erklären und dann sagen, wir seien „Messies“, ernten wir nur verständnisloses Kopfschütteln.
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Johannes von Arx Leider ist noch niemandem eine Alternative zu diesem unseligen Begriff eingefallen. Einigkeit herrscht freilich darüber, dass wir uns niemals nach Vorbild der anonymen Alkoholiker und einer Fraktion der Selbsthilfegruppenbewegung in Deutschland „Anonyme Messies“ nennen würden. Denn erstens ist die Verschwiegenheit ohnehin ein grundlegendes Prinzip aller Selbsthilfegruppen und muss nicht zusätzlich noch auf oberster Ebene verstärkt werden. Zweitens war und ist es die tiefste Überzeugung des Schreibenden, dass mit einem solchen Wort der selbstzerstörerische Rückzug der meisten Messies in die Isolation kontraproduktiverweise noch gefördert wird. Meine Überlegungen zur Terminologiefrage gehen in die Richtung, nicht nur von wertenden Ausdrucksweisen wegzukommen, sondern auch von solchen, welche auf krankhafte Aspekte – gleichgültig ob real vorhanden oder nicht – zielen. Je länger, je weniger sehe ich das Messie-Phänomen als ein lästiges Anhängsel meiner Person, das es mit allen Mitteln auszurotten oder wie ein Krebsgeschwür wegzuoperieren gilt. Vielmehr begreife ich mich als eine Person, als Ganzes, als Einheit. Jeder Mensch umfasst ein ganzes Spektrum an Charaktereigenschaften zwischen negativ und positiv, zwischen Licht und Schatten. Freud lehrte, dass zu einer Persönlichkeitsentwicklung das Akzeptieren des Schattens gehört. Die spezifischen Messie-Eigenschaften sind zweifellos solche Schatten. Aber sie sind nicht n u r Schatten: Sammeln, Bewahren, Vielheit, Sprunghaftigkeit, Chaos etc. sind nicht per se negativ. Ein Beispiel: Bin ich sprunghaft, kann ich mich in einer Notsituation vielleicht rascher als andere darauf einstellen und reagieren – sowohl für mich selbst wie für andere. Wenn ich mich also als Messie-Person akzeptiere, befreie ich mich aus der Selbstverurteilung und damit aus einem typischen MessieTeufelskreis. Und das schafft den Boden für Veränderung, Verbesserung, die nicht aus einem Ratgeber kommt, sondern von innen heraus wächst. Aus dieser Haltung könnte, ja sollte eine neue Bezeichnung kommen. Kreativität ist also gefragt. Und kreativ sind wir Messies ja …
10.3. Johannes von Arx – eine Spätzünderbiografie Geboren am 11. Juni 1943 in Solothurn (CH). „Urmessie“. So definiere ich Personen, welche seit Kindheit eine Tendenz zum Sammeln sowie ein Manko beim Organisieren und Strukturieren der persönlichen räumlichen und zeitlichen Umgebung haben. Im Gegensatz dazu stehen „Spätmessies“, Menschen, die erst im Erwachsenenleben durch ein traumatisches Ereignis wie Tod Nahestehender, Trennung, Arbeitsplatzverlust, Depression etc. zum Messie geworden sind.
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Die Messie-Bewegung in der Schweiz
Spätzünder Als Folge extremer sozialer Isolation und emotionalen Notstandes in der ganzen Kindheit und Jugendzeit geht im Erwachsenenleben zunächst alles unendlich viel langsamer voran als beim „Normalo“. Und es kostet mich einen immensen Aufwand an Energie, Therapie, „Nacherziehung“, um all das nachzuholen und aufzuarbeiten, was ursprünglich unterblieben war. Doch die eigentliche, erdrückende Lebenskrise beginnt erst im 46. Lebensjahr und dauert volle elf Jahre. Aber der Lohn des Spätentwicklers ist eine Art jugendlicher Frische zu Beginn des dritten und letzten Lebensabschnittes. Eine neue Ausgangslage, welche die Schleuse öffnet für Durchbrüche, Neubeginne, Erfolge, Zufriedenheit – freilich zum Preis einer dauernden Überlastung. Neue Chancen auch für Liebesbeziehungen.
Berufliche Umwege So zeigt sich eine Biografie, die in vielem vom Nichtmessie abweicht. Von den gelernten Berufen und Fortbildungen – chemischer Laborant, Elektroingenieur (Fachhochschule), medizinischer Masseur, Psychotherapie (abgebrochen) – habe ich keine über längere Zeit oder gar mit nennenswertem Erfolg ausgeübt. Das gute Dutzend der effektiv gelebten Berufe wie freier Journalist, Organisator, Hilfskoch, Anreger (www.anreger.ch) etc. sind alle im Learning-by-Doing angeeignet.
Multitasker In (m)einem Messie-(ADHS-)Kopf läuft auch sonst vieles anders als in dem eines „Normalos“. Nicht selten überschlagen sich die Gedanken, Ideen, Impulse, und alles sollte möglichst rasch und gleichzeitig angepackt werden. Genauso groß ist der unersättliche Drang nach Information über die Medien. Ein Phänomen, das sich darauf zurückführen lässt, dass das Radio das erste Medium war, über das Informationen aus der Außenwelt zu mir gelangten. Weil ein Menschenleben nie ausreichen würde, diese Fülle an Informationen seriell, also nacheinander, aufzunehmen, bleibt nichts anderes, als dies parallel zu tun. Es gibt höchstens ein Dutzend Sätze in diesem ganzen Kapitel, die ohne Begleitmedium geschrieben wurden: Radio (anspruchsvolle, komplexe Musik ebenso wie Informationssendungen), Fernseher rechts oben, gelegentlich auch mit einem zweiten Programm, eingeblendet auf einem Bildschirmfenster (notfalls ohne Ton). Es könnte ja etwas verpasst werden …
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Johannes von Arx
Musik Wenn die emotionale Entwicklung dermaßen nachhaltig gestört ist, sucht die Seele nach einer Kompensation. Bei mir findet sie diese zum einen im Sammeln, zum anderen in einer Leidenschaft für Musik. Kaum verwunderlich, dass sich eine innige emotionale Verwandtschaft zu Beethoven einstellt, natürlich speziell zu dessen Spätwerk, den letzten Sonaten, Streichquartetten, den Diabelli-Variationen, der Missa Solemnis. Aber Emotionen aller Farben und Intensitäten finden sich im ganzen zeitlichen Spektrum der Musik vom Mittelalter bis zum explosiven Free Jazz und der Musik rund um die Welt. Noch verharrt es im Kopf, das Buch, das ich über einen ganz speziellen Aspekt in der Musik schreiben möchte: die Horizontale. Also alles, was mit der zeitlichen Gestaltung in der Musik zu tun hat – im Gegensatz zur Vertikalen, die sich um das Klangliche, die Harmonie, Dissonanz, den Kontrapunkt dreht. So sieht meine Messie-Biografie aus. Eine Spätzünder-Biografie und sicher nicht die schlechtestmögliche aller Biografien.
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Worte eines Betroffenen Erwin Prem
Der Leidensdruck von mir als Betroffenem unterscheidet zwei Aspekte – den persönlichen und den gesellschaftlichen. Der gesellschaftliche wird an folgendem Beispiel deutlich: Während der Entstehung dieses Buches lief im deutschen Privatsender ProSieben eine Fernsehserie mit dem originellen Titel „4 Wohnungen – 1 Date“. Dabei bewerben sich vier männliche Kandidaten um ein Date (und vielleicht ein bisschen mehr) mit einer jungen Dame. Diese lernt die Kandidaten allerdings erst zum Ende der Sendung hin kennen. Für welchen Kandidaten sie sich entscheidet, hängt vom Aussehen (Einrichtungsstil), vor allem aber vom Zustand (Sauberkeit und Ordnung) der jeweiligen Wohnung ab. Die Kandidatin und die sie begleitende Moderatorin schauen sich auch IN den Einrichtungsgegenständen um – stets auf der Suche nach der geringsten Unsauberkeit und/oder Unordnung. Der kleinste Staubrest oder ein einziger Wasserfleck am Spiegel des Badezimmers – und der Kandidat bleibt weiter Single, zumindest so lange, bis er im realen Leben einer etwas weniger anspruchsvollen Frau begegnet. Alles ein Spiel – aber was dabei suggeriert wird, ist klar: Sauberkeit und Ordnung bestimmen die Qualität eines Menschen. Und wir Messies – wieder ein Stück mehr im gesellschaftlichen Abseits. Der persönliche Aspekt ist weniger treffend zu beschreiben und wird immer ein individueller sein. Am treffendsten kann das Leben von Messies als die Arbeit eines Schauspielers beschrieben werden; nämlich als ein Schauspieler des eigenen (Messie-)Lebens. Verlässt der Messie seine Wohnung, öffnet sich der Vorhang und sein Dasein als Schauspieler beginnt. Vor dem Publikum (der Gesellschaft) ist er meist angepasst (manchmal vielleicht sogar überangepasst) und vielfach dem Normativen der jeweiligen Gesellschaft entsprechend. Unauffälligkeit
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Erwin Prem scheint die Devise zu sein; denn ist er einmal als Mensch entdeckt, ist er vom Aufspüren seines Zuhauses nicht mehr weit entfernt – und das gilt es um jeden Preis zu vermeiden. Beim Betreten seiner Wohnung „fällt der Vorhang“, und seine Tätigkeit als Schauspieler ist zu Ende. Vom Schauspieler im Theater unterscheiden ihn jetzt zwei Dinge: Er bekommt wahrscheinlich keinen Abschiedsapplaus (es sei denn, es gab ein Erfolgserlebnis in diesem von Neid, Hass und Kränkung bestimmten Umfeld), und es folgt keine Phase der Erholungsmöglichkeit. Dieser zuletzt genannte Punkt ist wahrscheinlich der am intensivsten wirkende Verstärkungsfaktor seines (psychischen) Leidens. Nach getaner Schwerstarbeit (Schauspieler!) betritt man (z. T. völlig ermüdet und erschöpft) eine Welt des Chaos, der Unordnung und vielfach auch der Unsauberkeit ungeheuren Ausmaßes. Ein entspannendes Bad/eine Dusche wäre jetzt angesagt, aber der Weg ins Badezimmer muss erst freigeräumt werden. Wie in der ganzen Wohnung gibt es auch dorthin nur noch schmale Gänge; links und rechts stapeln sich Kisten, Zeitschriften und Tageszeitungen mit längst wertlosem Informationsgehalt. Aber es gibt auch Türme von mehr oder weniger befüllten Plastiktüten. Leere und oft sperrige Verpackungen (mit einst vielleicht wertvollem Inhalt) schaffen ebenso wenig den Weg zum Abfallcontainer wie längst Unbrauchbares oder Defektes. Selbst wirklicher Müll kann sich längere Zeit in einer Messie-Wohnung befinden; das ist jedoch eher die Ausnahme, darf aber nicht unerwähnt bleiben, da diese Tatsache die Ängste der davon Betroffenen aufgrund der stets vorhandenen Gefahr von Schädlingen noch einmal potenziert. Sind diese einmal in der Wohnung, ist eine zumindest teilweise Zwangsräumung unvermeidbar. Selbst wenn diese Räumung vom Betroffenen selbst erledigt werden kann oder wird, hinterlässt sie seelischen Schmerz ungeheuren Ausmaßes. Aber der völlig ermüdete Messie wollte ja ins Badezimmer! Das Freiräumen des Weges dorthin wäre für einen Nichtmessie vielleicht gar nicht so viel Arbeitsaufwand, vielleicht ein paar Minuten, nicht mehr. Der von dem Zustand der Wohnung ausgelöste (psychische) (Leidens-)Druck verringert die Leistungsfähigkeit derart, dass diese Arbeiten bis zu mehreren Stunden in Anspruch nehmen können. Vielfach müssen die Gänge aber hinter einem wieder zugeräumt werden; denn links und rechts ist bereits alles vollgeräumt. Jetzt endlich bei der Badewanne/Dusche angekommen! Aber wer sagt, dass diese gleich benutzbar ist? Also auch hier wieder räumen und umschlichten!
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Worte eines Betroffenen Nach getaner (in Anbetracht dessen, was einen nachher erwartet, Stichwort „Weg zurück“, eher lustloser) Körperpflege geht es also in stundenlanger Arbeit wieder zurück in den Wohnbereich. Gemütliches und entspanntes Sitzen auf der Wohnzimmercouch wäre jetzt das Beste für Körper und Seele. Doch der Standort der Couch ist nur vom Wohnungsbesitzer zu beschreiben. Zu erkennen ist die längst nicht mehr – zugeräumt von mehr oder weniger Wertlosem oder sollte man nicht sagen Wertvollem? Aber wer bestimmt den Wert? Die Gesellschaft, aber wer ist das und wer sind ihre offiziellen Vertreter? Apropos „Offizielles“. Ein, sagen wir mal hier der Einfachheit halber, offizieller Vertreter der Gesellschaft ist z. B. der Rauchfangkehrer. Er hat (letzten Endes) im Auftrag der Feuerwehr für den sicheren Betrieb der Abgase produzierenden Geräte zu sorgen und diese jährlich zu überprüfen. Dies kann er nicht, ohne die Wohnräumlichkeiten zu betreten. Der Rauchfangkehrer ist – wie auch jede andere Person in seinem (Wohn-)Reich – für den Messie der blanke Horrortrip mit unbeschreibbaren seelischen Schmerzen. Aber wovor hat der Messie eigentlich Angst? Vor der Abwertung oder Ablehnung durch die Gesellschaft, weil er nicht deren Normativ entspricht? Darauf gibt es (noch) keine Antwort – zumindest nicht von mir! Eines haben alle Messies gemeinsam – sie leiden selbst unter ihrer von ihnen selbst vollzogenen Lebensform! Niemand – auch wir Messies nicht – lebt gerne in Chaos, Unordnung und Schmutz. Warum fügen wir uns also selbst solches Leid zu? Außer den allgemeinen Aussagen, basierend auf der Theorie des neurotischen Lustgewinnes, existieren keine mir bekannten weiteren Theorien zur Messie-Symptomatik. Aufgrund der Beschäftigung im Rahmen meiner Erkrankung – und als solche würde ich das Messie-Symptom durchaus zu titulieren wagen – erachte ich die psychoanalytischen Theorien zur Erforschung menschlich psychischen Verhaltens als besonders gut geeignet zur Verdeutlichung möglicher Hintergründe der Messie-Problematik. Aus dem mich besonders innerhalb dieser Fachrichtung ansprechenden Instanzenmodell entwickelte ich Anfang des Jahres 2007 eine eigene Theorie zu einer – der sicherlich vielen denkbaren – Ursachen des Messie-Symptoms. Aufgrund einer bei mir diagnostizierten narzisstischen Persönlichkeit nannte ich diese einfach die „Narzisstisch-analytische Kurzabhandlung zum Messie-Symptom“.
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Erwin Prem Als Abschluss meiner Ausführungen möchte ich Ihnen ebendiese näherbringen. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich weder über eine psychologische noch über eine psychotherapeutische Ausbildung verfüge. Sie werden von den Aussagen dieser Theorie umso faszinierter sein, je weniger Sie von der (Fach-)Materie verstehen. Die in dieser Theorie zutage tretenden Erkenntnisse haben sicher keinen auf jeden Betroffenen zutreffenden Aussagewert. Dies gilt insbesondere für den in der Theorie gemachten Therapievorschlag. Ich habe diese Theorie an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien anlässlich der dort im November 2007 stattgefundenen „Zweiten deutschsprachigen Messie-Tagung“ vorgetragen und habe dazu die Rolle des Therapeuten übernommen. Vor der am Anfang meiner Ausführungen gemachten Aussage, dass Messies ohnehin über besondere schauspielerische Fähigkeiten verfügen müssen, fiel dieses Vorhaben nicht weiter schwer; ja sie hat gerade dazu animiert. Dieser nachfolgende Text wurde von mir ursprünglich als E-Mail an verschiedene mit dieser Thematik beschäftigte Mitarbeiter/Studenten der Sigmund Freud PrivatUniversität versandt und enthielt als Beigabe auch die Kopie einer Internetseite zum Thema Messie-Symptomatik, in der auf eine – wie es der Verfasser nannte – „innere Leere“ verwiesen wird. Diese dort zitierte „innere Leere“ würde ich weiterführend als „weiße Depression“, also eine Depression ohne melancholische Energie zu bezeichnen wagen. Ob die von mir getroffenen Definitionen der Fachausdrücke mit dem jeweiligen in der Psychoanalyse bekannten Fachtermini übereinstimmen, ist mir nicht bekannt; für mich sind sie aber stimmig. Dies gilt insbesondere für den Begriff der „weißen Depression“. Anm.: Der im nachfolgenden Text unterbreitete Therapievorschlag ist rein fiktiv, und die darin handelnden Personen und Institutionen sind reell nicht existent.
Narzisstische analytische Kurzabhandlung zum „MessieSyndrom“ [E. PREM; 2007] Geschätzte Kollegeninnen und Kollegen (ich weiß – heute auf die supernarzisstische Art unterwegs; hart an der Grenze zum – psychotischen – Wahn)! In beiden dieser Mail beigefügten Beiträgen wird von einer „inneren Leere“ gesprochen. Dabei fiel mir auf, dass das Projektionsobjekt in diesem Fall ein physisch lebloses ist. Dies hat mehrere Konsequenzen:
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Worte eines Betroffenen 1) Es kann sich selbstständig nicht verändern und nicht verlassen. Es ist also von außerordentlicher Stabilität und Konstanz. Das vermeidet weitgehend, zumindest objektivierbare, reale Bedrohungen durch daraus resultierende Verlustängste. 2) Es muss/müsste (daher) kein Raum im Inneren separiert werden, in dem das Objekt verinnerlicht werden kann bzw. muss. Diese Tatsache würde die Notwendigkeit von Spaltungsprozessen minimieren, was die Erfolgschancen späterer Therapien wesentlich verbessern könnte und eine langwierige analytisch orientierte Therapie unter Umständen sogar verzichtbar machen würde. Anmerkung: Wie Sie erkennen können, bin ich an dieser Stelle äußerst vorsichtig und sehr zurückhaltend. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass mir zum Zeitpunkt der Verfassung dieser Abhandlung die Funktionalität von Spaltungsprozessen (gerade im Erwachsenenalter), Objektbeziehungen und Introjektionen nicht wirklich vollkommen einsichtig war und es sich gerade hierbei noch dazu um eine relativ komplexe Materie handelt. 3) Sollte, durch welche Prozesse auch immer, es zu einer „Auffüllung“ der „inneren Leere“ kommen, kann das Objekt jederzeit ohne Konsequenz verlassen werden, da es objektiv, in den meisten Fällen ja sogar auch materiell, de facto wertlos ist und keinerlei Repräsentanzen dessen im Inneren vorhanden sind.
In diesem Zusammenhang würde ich durchaus zu der These neigen und behaupten, dass das Ansammeln eben gerade weitgehend materiell wertloser Dinge der Ausdruck auf die, wenn auch weitgehend unbewusste Hoffnung ist, diese eben „innere Leere“ doch noch „auffüllen“ zu können. 4) Für die therapeutische Intervention dürfte dieser „Hoffnung auf Auffüllung der inneren Leere“, wie ich dies nenne, wohl eine entscheidende Bedeutung zu kommen.
Da Messies aber bedingt durch ihren oft jahrelangen Leidensweg unter Umständen zu eher antriebslosen Geschöpfen geworden sind, stößt man im Hinblick auf die Mobilisierung zum Erlangen von Fähigkeiten zur selbstständigen „Auffüllung der inneren Leere“ schnell an die Grenzen herkömmlicher therapeutischer Methodik. An dieser Stelle kann es unter Umständen notwendig werden, diese Patienten durch zum Teil sehr massive und umfangreiche Aktivitäten seitens des Therapeuten selbst außerhalb des therapeutischen Settings emotional „anzustoßen“ und in Hinblick auf eine sicherere Erreichung deren Ziel(e), dass die Therapeuten, zumindest temporär, an ihrer statt agieren.
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Erwin Prem Die Intensität des notwendigen Impulses dieser, nennen wie es hier der Einfachheit halber, „Anstoß-Hilfe“ kann in der Realität groteske Formen annehmen. Vor dem Hintergrund einer solchen Tatsache erfordert solches Handeln sicher eine gehörige Menge Mut, Herkömmliches hinter sich zu lassen und damit therapeutisches Neuland zu betreten, selbst vor dem Hintergrund kollegialer Angriffe und/oder eigenen oder gemeinsamen Scheiterns. Ich danke für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit!
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Das Messie-Phänomen im Spiegel der Kulturgeschichte
“This page left intentionally blank.”
Der Messie immer schon in uns – Kreuz/Quer zur Kultur oder jenseits des Gegenstandes Joachim Prandstetter
Dans une grande partie des problèmes qui se posent pour nous quand nous essayons de scientifiser, c’est-à-dire de mettre un ordre dans un certain nombre de phénomènes, … c’est toujours en fin de compte les voies de la fonction symbolique qui nous mènent, beaucoup plus que n’importe quelle appréhension directe.1
1. Einleitende Gedanken Die in zunehmendem Maß geführten Diskussionen über das gegenständliche Phänomen berühren an jenem entscheidenden Punkt der Unsicherheit die Frage, ob die spezifischen Verhaltensmuster jener Menschen, die von sich als Messie sprechen, eine Krankheit im Sinne einer eigenständigen nosologischen Einheit darstellen.2 An diese Frage schließen sich folgerichtig alle anderen und im Besonderen die diagnostischen und differentialdia1 2
Lacan Séminaire II, S. 43. K. Reboly, S. 17ff bzw. S. 99ff. in diesem Band.
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Joachim Prandstetter gnostischen an. Die Frage verweist – nicht ohne Folgen für die Betroffenen – auf die Möglichkeit einer Differenzierung des Diskurses.3 So sehr diese Frage eine ist, die von grundlegender Bedeutung für die psychotherapeutische Konzeption des Phänomens ist, so sehr kann ihr Gegenstand dennoch nur als Referenz auf seine kulturgeschichtliche Dimension differenziert bestimmt werden. Beobachtungen, die dort ihren Ausgang nehmen, können nämlich nur schwer über die epistemologische Verengung hinwegsehen, welche aus einer Zugangsweise resultiert, die in ihrer Symptom- und Syndromorientierung die Struktur moderner Diagnosesysteme widerspiegelt4 und damit die Spezifität des Diskurses konstituiert.5 In diesem Zusammenhang drängt sich ein Vergleich mit der Konzeptualisierung psychosomatischer Leiden auf. Diese problematisierend macht etwa Eckhart Leiser in seinen Überlegungen, an Michel Foucault anschließend, auf die Auswirkungen eines monopolisierenden medizinischen Dispositivs aufmerksam, das er im „spezifischen Diskurs der Medizin um den Körper herum“ verortet. Es stellt sich die Frage, ob eine von der Kulturgeschichte ausgehende Betrachtung zur Entscheidung beitragen kann, ob das Messie-Phänomen sich einer Operationalisierung im Sinne moderner Diagnosesysteme in vergleichbarer Weise ver weigert, wie sich etwa Störungen vom Typ der in die 3 S. dazu auch Krause 1997, S. 21. 4 So darf vermutet werden, dass die unterschiedlichen Ansätze einer diagnostischen Zuordnung, sei es zu ADS, zu den Zwangsstörungen u. a. m., die zumeist einem phänomenologisch supponierten symptomatischen Moment alle anderen als dessen Folgeerscheinungen subordinieren, darin ihren Grund zu suchen haben. Hier könnte sich vielleicht auch gewinnbringend die Frage stellen, inwieweit uns dieses „diagnostische Dilemma“ mit den Folgen der „Denosologisierung“ konfrontiert, die den klassifikatorisch-operationalen Diagnosesystemen inhärent sind. (Vgl. auch Landis 2001, S. 10ff). Natürlich gilt dies auch in einem weiteren Sinne: „Die jüngere Geschichte 5 der psychosomatischen Medizin lässt deutlich werden, dass die unbewussten Phantasmen der vorwiegend männlichen Forscher / Therapeuten nicht weniger Einfluss auf die Theoriebildung und Epidemiologie hatten als die ebenfalls historisch wechselnden Lebensbedingungen und Traumata.“ (Krause 1997, S. 14.; s. auch Shorter 1992). Dieser Umstand eröffnet aber auch die Dynamik einer Dialektik: „Die Art der Diagnostik und Theoriebildung hängt allerdings sehr eng mit der bevorzugten Behandlung und der in einer Kultur vorgegebenen Mythologie und Abwehrstruktur, die sich um Krankheiten herum ansiedeln, zusammen. Erst in jüngster Zeit wird bemerkt, wie wenig weite Teile der Bevölkerung eigentlich bereit sind, sich auf das bevorzugte Krankheits- und Behandlungsmodell unserer Kultur einzulassen.“ (Krause 1997, S. 23).
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Der Messie immer schon in uns Psychosomatik „eingemeindeten“ Bilder wie Asthma oder Neurodermitis dem klassischen Neurosenmodell der Konversionshysterie entziehen (vgl. Leiser 2002, S. 18). Sollte dies der Fall sein, könnten wir vermuten, dass die Frage nach der Konzeptualisierung der treibenden Kräfte, die durch den Messie zur Entfaltung kommen, uns erneut die Notwendigkeit einer analogen Destruktion der Dichotomisierung von individueller Symptomatik versus gesellschaftlichem Phänomen, von Krankheit/Verhaltensauffälligkeit versus Gesundheit/Normalität vor Augen führt, wie die Psychosomatik (und nicht nur diese) eine solche hinsichtlich des Körper-Seele-Dualismus Descartes’scher Prägung vorzunehmen hat. Vielleicht, so mögen wir naheliegenderweise vermuten, findet der Messie ja auch in einem noch viel wörtlicheren Sinne zu einer Sprache, „in der unformulierte – und anders nicht formulierbare – Zustände unmittelbar ausgedrückt werden“6, als Lévi-Strauss annimmt, dass der Schamane dies für seine Kranken leistet, indem er ihnen etwa bei besonders schweren Geburten mittels eines Beschwörungsgesangs eine Sprache gibt, um die Schmerzen zu ertragen und dabei die physiologischen Prozesse zu steuern.7 Lévi-Strauss sieht im Verfahren des Schamanen Analogien zum psychoanalytischen Verfahren, „deren Angelpunkt in der Rückgewinnung eines symbolischen und mythologischen Zugangs zum körperlich-seelischen Leidenskomplex ist“ (Leiser 2002, S. 22). Der Blick auf die Psychosomatik birgt aber im Kontext der Spezifität des imaginären Entwurfs der Einheit von Körper und Psyche den weiteren Reiz in sich, die Aufmerksamkeit auf die Funktionalität eines selbstreferentiellen Systems zu lenken, das wir auf einer Achse von Selbstrepräsentanz und Externalisierung denken können8 – scheint doch der Messie, indem er nicht 6 Lévi-Strauss 1958, S. 217. 7 Solange wir über die tiefenpsychologische Dynamik des Phänomens so wenig wissen, wie dies heute noch der Fall ist, sollten wir vielleicht in einem furchtloseren Sinn mit der Kreativität psychischer Symptombildung rechnen und uns vor Kategorisierungen hüten, welche von der Sehnsucht, unserer eigenen Sprachlosigkeit zu entkommen, beredt Zeugnis ablegen: „Es ist nichts anderes als …“. So hat es wahrscheinlich auch wenig Nährwert, aus dem „Zwang“, mit dem psychische Prozesse folgerichtig zu einer Sprache finden, in jedem Fall eine Zwangsstörung abzuleiten, zumal dieser der „Not“ (Ananke) geschuldet ist, selbst wenn uns jene Sprache auch von der Notwendigkeit, sie zu sprechen, Zeugnis ablegt. 8 Stavros Mentzos macht bei seiner Konzeption der hysterischen Symptomund Charakterbildungen als Quasiveränderung der Selbstrepräsentanz dieses selbstreferentielle System in der Abgrenzung des Hysterikers vom Zwangsneurotiker, dem Melancholiker und dem Phobiker deutlich: Während das Verhalten des Hysterikers ihn anders erscheinen lassen soll, als er ist, hat das ritualisierte Händewaschen des
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Joachim Prandstetter seinen Körper als Bühne der symptomatischen Symbolisierung bemüht, die Bühne der Körper zu nutzen, die wir zumindest seit der Aufklärung als unbelebte9 Gegenstände zu betrachten lernen. Damit scheint er die „medizinischen“ Verhältnisse ebenso auf den Kopf zu stellen, wie er seine Umgebung zum Symbol einer Grenzüberschreitung werden lässt.10 Ort der Inszenierung seiner psychogenen Problematik ist in einer durchaus zeitgemäßen Weise also gerade die ökonomische Schnittstelle zwischen Individuum und Umwelt. Allerdings – es ist das „Wie“, das diese zeitgemäße und noch zu differenzierende Sprache zu sprechen scheint, nicht das „Wo“. Denn tatsächlich ist jener Nabel des Flusses der Dinge, des Kreislaufes der Güter, des Tausches und der Gabe, wie wir spätestens seit Lévi-Strauss wissen, auch jenes „Mal“, das uns an eine Ablösung erinnert, die wir als Ent-
Zwangsneurotikers die Funktion, (in magischer Weise) tatsächlich eine Wiedergutmachung, eine Säuberung zu bewirken. Um sein Über-Ich davon zu überzeugen, dass diese vollständig und exakt durchgeführt wurde, braucht er daher kein Publikum. Beim Melancholiker findet sich keine Quasiveränderung der Selbstrepräsentanz, es sind keine pseudoregressiven Szenen, er regrediert tatsächlich. Es handelt sich um eine tatsächliche Veränderung der Selbstrepräsentanz. Der Phobiker wiederum „tut nicht so“, als käme die Angst von außen, er externalisiert tatsächlich. Er manipuliert nicht wie der Zwangsneurotiker die Selbst-, sondern die „Weltrepräsentanz“ (vgl. Mentzos 2004, S. 100ff). Diese Betrachtungsweise scheint in unserem Zusammenhang auch interessant, weil sie mit Bezug auf den Messie vielleicht helfen könnte, den Modus, nach dem der Messie tun muss, was er tut oder eben nicht tut, differenzierter zu sehen. 9 Allerdings wird schon früh deutlich, dass dieser Prozess der „Aufklärung“ und die damit einhergehende Naturbeherrschung eine dialektische Kehrseite hat, welche unter anderem auch aus den Konsequenzen dieses Prozesses für das Subjekt folgt. So machen etwa Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die Ohnmacht und Lenkbarkeit der Massen beobachtend, welche mit der ihr zugeteilten Gütermenge stetig wachse und mit der Annullierung des Einzelnen einhergehe, mit Bezug auf den Geist darauf aufmerksam, dass sein wahres Anliegen „die Negation der Verdinglichung ist“, da er zergehen müsse, „wo er zum Kulturgut verfestigt und für Konsumzwecke ausgehändigt wird“ (Horkheimer,Adorno 2006, S. 4f). 10 Der politisch-ökonomisch-ökologische Diskurs hat dafür den Ausdruck „Umweltproblem“ reser viert: Unsere gesellschaftlichen Strukturen ziehen Umweltprobleme unweigerlich nach sich! Syntaktisch gesehen stellt sich dabei die Frage, wie das Kompositum aufzulösen wäre: Sind die Probleme der Umwelt solche, die ihr als Subjekt zukommen (Genitivus subiectivus) oder solche, die wir mit ihr als Objekt haben (Genitivus obiectivus)?
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Der Messie immer schon in uns wicklung der Kultur verstehen – ein Ort also, der im Folgenden zwar noch genauer zu bestimmen sein wird, an dem sich Kultur aber immer schon entschieden hat. Dieses „Mal“ scheint auf ein „Früheres“, ein „Davor“ zu verweisen und, Adornos Bild der „Regression der Aufklärung“ gebrauchend, mag es vor dem Hintergrund des Verhaltens der Messies durchaus eine Versuchung sein, die „Entzauberung der Welt“11 als das Ziel der Aufklärung zusammen mit seiner Grundthese, dass nämlich Mythos Aufklärung sei und Aufklärung in Mythos zurückschlage, als „Gestalt“ zu sehen (vgl. Adorno 2006, S. 6). Sicherlich ist es aber kein Zufall, dass sich all dies auch lesen lässt, wie ein Text zur Entwicklungspsychologie. Es steht wohl außer Zweifel, dass diesem kulturgeschichtlichen Entwicklungsprozess auf der ontogenetischen Ebene, ganz gleich welcher Konzeption man folgt, die Differenzierung zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt entspricht. Allerdings – und dort mag man auch das Paradoxon dieser „Spaltung“ vermuten – bleibt diese Differenzierung, wie niemand deutlicher zeigte als Freud, indem er die philosophische Achse von Kant über Schopenhauer zu Nietzsche12 fortführte und radikal für die Psyche geltend machte, immer auf das ver wiesen, was er „psychische Realität“ nannte. Um es vorwegzunehmen: Ist es in diesem Kontext betrachtet und angesichts des Verhältnisses des Messies zur „gegenständlichen Welt“ nicht mehr als auffällig, wenn Horkheimer und Adorno in ihrer Beschäftigung mit den „unerbittlichen Vollendern der Aufklärung“, als welche sie Kant, Sade und Nietzsche sehen, zeigen, wie „die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen gipfelt“. (Horkheimer, Adorno 2006, S. 11). Vor dem Hintergrund dieses Begriffs der psychischen Realität fasst Bernd Nitzschke das Problem der Realität, wie es Freud reflektierte, in der Aufzählung von drei Polaritäten zusammen, die nach dessen Auffassung, „das seelische Leben überhaupt … beherrschen“, nämlich die Gegensatzpaare „Subjekt (Ich) – Objekt (Außenwelt)“, „Lust – Unlust“ und „Aktiv – Passiv“. Die Spaltung von Subjekt und Objekt, die sich von Schopenhauers Gegenüberstellung von Wille und Vorstellung unterscheide, setze die in der abendländischen Denktradition überlieferte Spaltung der Realität in einen scheinbar subjektiven und einen scheinbar objektiven Anteil voraus. Die 11 Vgl.: „Die Entzauberung der Welt ist die Ausrottung des Animismus.“ (Horkheimer/Adorno 2006, S. 11) 12 Für Lacan, der uns später noch beschäftigen wird, wären neben der sprachwissenschaftlichen Achse dieser Achse entsprechend bekanntlich auch Hegel und Sade zu nennen.
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Joachim Prandstetter Polarität von Lust und Unlust fordere den Fortschritt vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip und sichere nach Freud ein realitätsgerechtes Erfassen der Wirklichkeit, während das Gegensatzpaar „Aktiv“ und „Passiv“ sich auf die Beziehung des Individuums zur äußeren Realität beziehe, wobei dem Trieb eine spezifische Funktion zukomme. Diese dritte Polarität habe nun entscheidende Bedeutung für Freuds Auffassung von psychischer Gesundheit und Krankheit: „Psychische Krankheit wird von Freud immer als Rückzug von der äußeren Realität interpretiert … Der Neurotiker verzichtet nach Auffassung Freuds weitgehend auf eine aktive Auseinandersetzung mit der äußeren Realität und überlässt sich massiv der inneren Realität. Dem Neurotiker müssen Wünsche, Fantasien und Träume regressiv Taten ersetzen … Die Triebe führen also hier nicht mehr zu Handlungen, sondern nur noch zu Phantasiebildungen und Wunschvorstellungen.“ (Nitzschke 1978, S. 14–16). Auch hier wird deutlich, dass uns Realität nicht etwa gegeben ist, wir sie uns, wie die Neurologie oder die Neonatologie heute ja auch bestätigen können, vielmehr strukturell erobern müssen, sodass wir behaupten könnten, dass sich im Modus unseres Umgangs mit der gegenständlichen Welt die Prozesse unserer Entwicklung widerspiegeln13, und zwar analog zur kulturgeschichtlichen Ebene auf der gesellschaftlichen und individuellen, wobei die symptomatische Externalisierung in ihrem selbstreferentiellen Bezug zur Selbstrepräsentanz nur ein spezifischer Modus des Rückzugs von der äußeren Wirklichkeit ist, oder – um ein Wort Peter Handkes zu ver wenden – wir uns auf sie immer nur als eine „Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ beziehen.
2. Methodisches Vorgehen Um den kulturgeschichtlich eventuell fassbaren Strukturen des Phänomens auf die Spur zu kommen, gehe ich dem hermeneutischen Ansatz folgend zunächst vom Terminus „Sammeln“ aus und versuche, aus der Oberflächenstruktur seiner kontextuellen Verwendung auf die Grammatik der Tiefenstruktur des Phänomens zu schließen – ich betrachte also die Kulturgeschichte als Sprache und untersuche, wie sie den Terminus ver wendet, in der semiologischen Absicht, ihren impliziten Begriff des Phänomens zu erschließen und zu interpretieren. Dies ist möglich, weil die Kulturgeschichte, in Absehung der Artefakte selbst, nichts anderes ist als das, was und wie wir über jene sprechen. Dabei interessiert mich, um beim Bild zu bleiben, 13 Augenscheinlich wird dies auch etwa in D. Winnicotts Konzept des Übergangsobjekts.
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Der Messie immer schon in uns das semantische Umfeld des Terminus ebenso wie die syntaktische Relation zwischen diesen Termini (und zwar in praesentia wie auch in absentia). Im Besonderen interessieren mich daher auch die Relationen zu Termini, die ihm komplementär oder antonym entgegenstehen, wie etwa „Wegwerfen“, „Aufgeben“, „Verzicht“ etc. Ich bleibe also nicht auf das Wort „Sammeln“ fixiert, sondern suche eher nach Instanzen jenes ihm spezifischen Modus des Umgangs mit der gegenständlichen Welt, den ich phänomenologisch als eine besondere Weise der Prozessierung von Umwelt verstehe, wobei die vorangegangenen Überlegungen den kulturgeschichtlichen Beobachtungen als Matrix dienen sollen.
3. Eigene Reflexion Noch während ich mich aber in dieser Weise der Kulturgeschichte als Objekt zuwenden will, finde ich mich sofort selbst in jenem besagten Modus wieder, da es natürlich nicht möglich ist, alle kulturgeschichtlich eventuell relevanten Daten zu sammeln, um so die Kulturgeschichte gleichsam in ihrer Gesamtheit14 zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. So verständlich dies sein mag, will mir zugleich scheinen, dass wir, wenn auch oft unausgesprochen, gerne davon ausgehen, dass sich Daten in akkumulierender Weise zu einem immer dichter werdenden Netz verspinnen könnten, wie ein Gewebe, sodass Schuss und Faden am Ende jenen Gedanken, jenen Einfall, zur Erscheinung bringen, der uns dann als erhellende Denkfigur entgegentritt. Was den wissenschaftlichen Prozess angeht, stellte man sich diesen vor Ludwig Fleck und Thomas Kuhn15 historisch gesehen gerne als einen linearen vor. Heute wissen wir wohl, dass dieser Prozess viel mehr durch Umstürze der Denkstile und diverse Paradigmenwechsel gekennzeichnet ist. Mit dem Denken und den Ideen scheint es sich also ebenso zu verhalten wie mit den Archiven: Sie leben davon, sind erst dadurch möglich, dass man Daten wegwirft!16 Dennoch scheint uns diesem Wegwerfen, als Gegenkraft 14 Im Kontext des gegenständlichen Themas weckt das Wort „gesamt“ unmittelbar spezifische Assoziationen. Tatsächlich leitet es sich vom Verbum „sammeln“ ab und ist ein erstarrtes Partizip Präteritum, sodass „die Gesamtheit“ nichts anderes ist als „das Gesammelte“. 15 S. Benetka 2002, S. 19ff. 16 Dass dies zu eigenartigen „Anti-Archiven“ führt, zeigte der Öffentlichkeit eindrucksvoll Benjamin Pell, der uns auch einen ersten Eindruck davon geben mag, wie eng das Messie-Phänomen mit unserer Gesellschaft verflochten ist: Die Veröffentlichung von Auszügen aus einem geheimen Dokument zu zukünftigen
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Joachim Prandstetter gleichsam, eine Annahme entgegenzustehen, nach der zunächst eine „kritische Masse“ von Daten nötig ist, um etwas geschehen zu lassen, etwas, das wir kennen und doch nicht kennen, weil es unserem direkten Zugriff nämlich verborgen und entzogen bleibt. Bezogen auf dieses uns Entzogene erhält unser Vorgehen denn auch fast den Charakter von Vorbereitungen, wie sie für die Durchführung einer Ritualhandlung nötig sind, allerdings, ohne dass diese selbst dann durchgeführt würde. Ich sehe in dieser Supposition einen der Antriebe für das Sammeln: Die Erwartung, vielleicht sogar das Begehren, es trete durch das Sammeln und aus dem Gesammelten etwas hervor, das vorher noch nicht war – und sei es nur die Vollständigkeit, von etwas, das zunächst jedenfalls alles andere als vollständig war.17 So erleben wir es doch: Ein unüberbrückbarer Spalt zwischen den Daten und der Idee, dem Einfall, der Erkenntnis. Dies macht, wie wir wissen, gerade den Witz18, und zwar auch in seiner metaphorischen Bedeutung, in der wir vom „Witz der Sache“ sprechen, aus: Die Pointe erhebt sich scheinbar unerwartet in voller Klarheit aus einem Datensalat, der bis zu ihrem Auftritt nicht besonders aufregend schien oder dessen innerer Zusammenhang vorher nicht erkennbar war. Auch wenn es beim Witz offensichtlich nicht auf die Menge der zu verdichtenden Daten ankommt, scheinen wir beim ersehnten Einfall analog
Regierungsentwürfen in der „Daily Mail“ im Sommer des Jahres 2000 führte zu großer Aufregung in der Downing Street Nummer 10 und weitreichenden Verdächtigungen von Spionage bis zu Hacker-Angriffen. Tatsächlich aber gelangten die brisanten Daten über Benjamin Pell, heute bekannt als „Benji the Binman“, an die Öffentlichkeit. Das Haus, in dem der unverheiratete Benji (ca. 40) zusammen mit seiner Mutter wohnte, wurde von der Polizei umstellt, die dort mehr als 200 000 Dokumente fand, allesamt geborgen aus Mülltonnen: „Das Erstaunlichste an diesem kuriosen Pell-Archiv ist die Tatsache, dass es sich ausschließlich aus Dokumenten zusammensetzt, die weggeworfen worden waren, um Archive anlegen zu können. Der glücklose Regierungsberater konnte nur zu einer zufriedenstellenden Endfassung des Strategie-Dokumentes gelangen, indem er seine früheren, nicht überzeugenden Entwürfe ver- bzw. wegwarf.“ (Thompson 2003, S. 11f). In fast symbolischer Weise, wir werden dem Gedanken später noch begegnen, gelangte der monomanisch sammelnde Benji infolge seines Tuns also schließlich selbst in diese Zeitungen, von denen er nicht lassen konnte. 17 Auch wenn der Sammler gemeinhin in der Sammlung das logische Subjekt für die Vollständigkeit anzunehmen bereit ist, sie also die Sammlung bestimmt, wollen wir die Frage nach dem Subjekt derselben zunächst noch offenlassen. 18 Die Nähe zum Witz ist nicht zufällig. Das Wort „Witz“ leitet sich über das Althochdeutsche aus der Sanskrit-Wurzel vid ab und bedeutet „wissen“, „begreifen“, „verstehen“‚ „erkennen“; vidyā bedeutet „Wissenschaft“.
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Der Messie immer schon in uns darauf zu hoffen, in der Verdichtung der gesammelten Daten jenes Moment erzwingen zu können, in dem uns der durchaus lustvolle Genuss aus der Ver wandtschaft beider Situationen zuteil wird – heureka.19 Für den Witz bestimmt Freud dieses Moment: „Ein vorbewusster Gedanke wird für einen Moment der unbewussten Bearbeitung überlassen und deren Ergebnis alsbald von der bewussten Wahrnehmung erfasst.“ (Freud GW IV, S. 189). In diesem von Freud bestimmten Moment finden wir nun die zuerst vermisste Haupthandlung: Nicht wir vollziehen sie – es ist das Unbewusste, das sie vollzieht, und ermöglicht wird dies durch etwas, das seinen Ausdruck in jenem unscheinbaren Wort „überlassen“ findet, welches wir, wenn auch auf psychischer Ebene, mit dem bereits genannten „Wegwerfen“ analog setzen können, dadurch also, dass wir ganz von einem Vollziehen absehen. Und hier wie dort sehen wir, wie jenes Überlassen bzw. Wegwerfen unumgänglich ist, damit auftauchen kann, was vorher noch nicht war, selbst wenn wir darin „wieder-erhalten“, darin wieder neu erkennen, was immer schon war. Das Subjekt betreffend, dürfen wir somit annehmen, dass die Frage, wen die Vollständigkeit zum Ziel habe, eher in uns als den Daten ihre Antwort finden wird, denn die dem Sprachgebrauch abhanden gekommene Differenzierung von Ritual und Opfer einfordernd, müssen wir zugestehen: Die Vorbereitungen des Sammelns mag dieser Prozess mit einem Ritual, dem mitunter langwierige Vorbereitungen vorausgehen können, gemein haben – das eigentliche Moment aber ist das eines Opfers, denn was wir im Überlassen einzusetzen bereit sein müssen, ist die bewusste Kontrolle durch das Ich,20 damit wir im Idealfall sagen können: „Es ergibt sich aus den Daten“. Der als leidenschaftlicher Sammler bekannte Goethe wusste wohl darüber Bescheid, wenn er Faust sagen lässt: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Natürlich bezieht sich das im GoetheWort implizite „Aufgeben“ dem Wortsinn nach auf den Gegenstand als die Voraussetzung, ihn in der Folge erwerben zu können. Allerdings scheint der Umstand, dass Goethe vom „ererbten“ Gegenstand spricht, zumindest anzudeuten, woran ein psychoanalytischer Standpunkt nicht zweifeln würde, dass es sich nämlich um einen Gegenstand handle, der sich einer besonders intimen Beziehung zum Ich erfreut und somit das Aufgeben auch einen analo-
19 Ähnliches muss auch Kleist bereits aufgefallen sein, als er den „Fabrikationsprozess der Idee auf der Werkstätte der Vernunft“ in seiner Erörterung „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und dabei auch einen frühen Vorläufer des psychoanalytischen Settings beschrieb. 20 Wir kennen dies in Umkehrung der Verhältnisse auch beim Lachen als Abwehr in den Momenten, in denen das Ich bedroht erscheint.
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Joachim Prandstetter gen Prozess in diesem zur Voraussetzung hat. Konsequent zu Ende gedacht, könnte daher in typischem Doppelsinn als der ultimative „Gegenstand“, für den das Gesagte Geltung hat, letztlich auch das eigene Ich gesehen werden. Dass Freud dem Witz in den Mechanismen seiner Konstruktion21 die Ver wandtschaft mit dem Traum attestieren kann, dass aus der geeigneten Konstellation der beteiligten Faktoren der Lustgewinn aus dem „ersparten psychischen Aufwand“ erwächst, den das soziale Ich ansonsten kostet, dem „befreiten Unsinn“ und der „Wiederherstellung alter Freiheiten und Entlastung von dem Zwang der intellektuellen Erziehung“, sollte uns aufmerken lassen, so wie seine Entstehung aus dem kindlichen Spiel: „Der Gedanke, der zum Zwecke der Witzbildung ins Unbewusste eintaucht, sucht dort nur die alte Heimstätte des einstigen Spieles mit Worten auf. Das Denken wird für einen Moment auf die kindliche Stufe zurückversetzt, um so der kindlichen Lustquelle wieder habhaft zu werden.“ (Freud GW VI, S. 194). Sollten wir hier in nuce bereits eine Instanz des Diktums Adornos sehen können, dass nämlich Mythos Aufklärung sei und Aufklärung in Mythos zurückschlage, wenn wir zugestehen, dass die aus der Sammlung von Daten her vorgehende Idee, ja dass womöglich Erkenntnis auf Prozessen beruht, die der Witz mit dem Traum gemeinsam hat?22 Hält man hier zu Recht das Argument einer von der Erkenntnis geforderten Empirie und Logik entgegen, bestätigt dies den geäußerten Verdacht allerdings eher, als dass es ihn zu beseitigen in der Lage wäre.
4. Der Verzicht 4.1. Der Veda Zugegeben, ich verschiebe in meiner Interpretation Freuds den Akzent ein klein wenig, aber wie mir scheint, ohne seine Formulierung zu sehr zu beanspruchen. Tatsächlich meint Freud: „Der Witz hat in ganz hervorragender Weise den Charakter eines ungewollten ‚Einfalls‘.“ (Ebd., S. 191). Ich sehe in Freuds Formulierung die Absicht, den autonom einfallenden Charakter des Witzes, der uns zustößt, zu betonen, sehe zugleich aber allenfalls in den Vorbereitungen, die im Falle des einen eher als beim anderen bewusst sein 21 S. auch Köhler 2000. 22 Auch wenn die lange Reihe der im Traum geschenkten weltverändernden Einfälle, selbst in der Geschichte der Naturwissenschaften, Mythos sein sollte – wir scheinen über diese Zusammenhänge ohnedies zu wissen.
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Der Messie immer schon in uns mögen, einen Unterschied, wobei uns allein das Wort „Einfall“ ohnedies verrät, dass wir Letzteren so schwer durch ein Wollen erzwingen können wie Ersteren. Wir können uns nun aber fragen, ob sich von diesen Beobachtungen ausgehend Instanzen der Kulturgeschichte ausmachen lassen, die in beispielhafter Weise zeigen, wie Menschen mit Gesammeltem umgehen bzw. wie die an jenem Ort der ökonomischen Schnittstelle zwischen Individuum und Umwelt stehende Prozessierung von Umwelt aussehen mag? Dabei gelangen wir zu einem Phänomen in der Geschichte der Kultur, das diese Beobachtungen bereits für die Frühzeit auf zwei Ebenen der Betrachtung zu dokumentieren scheint: auf einer literaturgeschichtlichen und einer inhaltlichen. Die „Literaturgeschichte“ des indogermanischen Sprachraums beginnt vor mehr als 3000 Jahren, einem Paukenschlag gleich, mit einem Textkorpus, für den es auch in der Folgezeit kaum Vergleichbares23 gibt: Es handelt sich um eine gewaltige Sammlung von Texten, die uns unter dem Namen Veda24 bekannt ist und dessen älteste, dem vedischen Opfer25 gewidmeten Textschichten von der einheimischen Tradition selbst als „Sammlungen“ bezeichnet werden. Ohne hier auf Schichtung und Aufbau dieses vielgestaltigen Textkorpus eingehen zu können,26 lässt sich ohne Übertreibung und in für unser Interesse relevanter Weise festhalten, dass sich dieses Korpus für einen „normalen Menschen“ nicht anders ausnehmen kann als ein undurchdringliches Sammelsurium kaum verständlicher „Daten“ und „Informationen“, Handlungsanweisungen und Vorstellungen aus der Frühzeit der Kultur (scil. der Bronzezeit). Etwa um 500 v. Chr., die produktive Zeit war bereits zu ihrem Ende gekommen, wird im Kontext der sich damals etablierenden hinduistischen philosophischen Schulen in der Rezeption dieses Textkorpus ein 23 Zu nennen wären hier etwa die zoroastrischen Texte des Avesta aus dem alten Iran. Auch in diesen Texten spielt im Übrigen – wir werden dem später noch begegnen – das Feuer eine große Rolle. 24 Als wäre es Zufall, leitet sich auch der Name dieses Textkorpus von der bereits genannten Sanskrit-Verbalwurzel vid ab. 25 Was die Darstellung des Phänomens anbelangt, folge ich im Weiteren den Ergebnissen der umfangreichen Forschung von J. Heesterman. Davon eventuell abweichende Interpretationen werden in seinen bibliografisch jeweils angeführten Arbeiten ausführlich diskutiert. 26 Vgl. Surendranath Dasgupta 1922, S. 11ff.: “Veda in its wider sense is not the name of any particular book, but of the literature of a particular epoch extending over a long period … If we roughly classify this huge literature … we can point out for different types, namely the Saņhitā or collection of verses, Brāhmaňas, Āraňyakas (‘forest treatises’) and the Upanisads.”
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Joachim Prandstetter bezeichnender Prozess greifbar, dem, salopp ausgedrückt, die Frage: „Wie gehen wir mit diesem Chaos um?“, unterstellt werden könnte: “Hinduism … continued to look upon the Vedas as its source, formally trasmitted by the brahmin members of the highest caste, regarded as an eternal revelation, ‘of nonhuman origin’ and no longer understood.” (Staal 1990, S. 67). Der hier angesprochene historische Wendepunkt bezieht sich auf den Entwicklungsprozess vom Veda zur Ritualwissenschaft, die Wandlung vom Opfer zum Ritualismus und wird von Jan Heesterman beurteilt, als “an intellectual achievement that should be rated a paradigm of what Max Weber called ‘formal rationality’. Its rational bend becomes apparent when we notice that it is not just to be done but is required to be ‘known’.” (Heesterman 1993, S. 4). Es ist hier eindeutig ein „Ablösungsprozess“ identifizierbar, der in jener auch von der einheimischen Tradition kontroversiell diskutierten und polemisierten Attribuierung des Ererbten als „nicht menschlichen Ursprungs“ kulminiert.27 Die Vermutung drängt sich auf, dass wir im Erreichen jener „formal rationality“, einem durchaus aufklärungsimmanenten Begriff, das Resultat jenes zuvor schon identifizierten Moments des Überlassens begrüßen dürfen, welches seine retrospektive Interpretation in der Bestimmung des Veda als von „nicht menschlichem Ursprung“ seiend erfährt – ein Ablösungsprozess, der unter Betonung des auf diesem Wege neu gewonnenen Subjekts des Prozesses ein Individuationsprozess28 ist. Vergessen wollen wir dabei aber nicht, dass die treibende Kraft für diesen Prozess in einer eigenartig paradox anmutenden Verschränkung wohl zumindest zu einem Teil auch der Intimität mit dem Gesammelten geschuldet ist,29 bleibt es doch immerhin Quelle der eigenen Kultur. Andernfalls, hätten die Inder also nicht auf diesem Wege erworben, was sie ererbten, wäre uns der Veda unwiederbringlich verloren.
27 Bezeichnenderweise wird dieses Attribut vor allem in der Folgezeit von buddhistischer Seite beeinsprucht, die den Veda auch nicht als autoritativ anerkennt. 28 Und zwar tatsächlich auch in einem wörtlichen Sinn, denn während das archaische Opfer auf die Gesellschaft bezogen ist, kennt das spätvedische nur mehr den individuellen Opferer (vgl. Heesterman 1999, S. 126). 29 Da die Dynamik nun in immer deutlicherer Weise hervortritt, ist es vielleicht schon überflüssig, darauf hinzuweisen, dass wir sie auch im Christentum wiederfinden – ja die Kreuzigung zum Symbol schlechthin dafür wurde (vgl. dazu in einem weiteren Sinne auch Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“).
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4.2. Inhaltliche Interpretation Können wir aber mehr über dieses „Aufgeben“ erfahren und damit sozusagen zur „Sache“ kommen, denn letztlich wollen wir ja wissen, ob sich unsere Beobachtungen tatsächlich auch auf den Umgang mit der gegenständlichen Welt übertragen lassen? Mit dieser Frage gelangen wir zur zweiten vorher angesprochenen Ebene, der inhaltlichen. Natürlich ist es hier nur andeutungsweise möglich, die Komplexität der Struktur des Opfers zu skizzieren: “Our difficulties in understanding the complex that we are wont to call ‘sacrifice’ lies in the combination of its three major elements: killing, destruction, and food distribution.” (Heesterman 1993, S. 9). Als die zentrale Institution der weltlichen Gesellschaft nimmt mithin an der „ökonomischen“ Schnittstelle der Verteilung der „Güter des Lebens“ seinen Platz das archaische Opfer mit den Elementen „Tod“, „Vernichtung“ bzw. „Überlassen“ und „Nahrung“ ein.30 Der Begriff des Tötens bezieht sich dabei unterschiedslos auf Pflanzen oder Tiere, wobei das typische Opfertier das bereits domestizierte Tier ist. Aus der Tötung resultiert die Möglichkeit der Verteilung von Nahrung, durch welche das Opfer zum existentiellen Moment der „Prozessierung von Umwelt“ wird und so seine soziale Funktion erhält.31 Die dominante Stellung, die dabei die Frage nach dem Rätsel um Leben und Tod einnimmt, lässt die Frage nach der Funktion der „Ver-Nichtung“, also der Preisgabe eines kleinen Teiles32 der Opferspeise im Opferfeuer, in den Hintergrund treten. Tatsächlich aber setzt diese Oblation eine nur schwer zu erklärende Zäsur zwischen Tötung und Nahrung. Als was ist sie zu verstehen, wenn sie keine „Gabe“ an die Götter ist? Die moderne Forschung neigt diesbezüglich bei allen Grenzen ihres Verständnisses dazu, die Interpretation der Oblation als „Gabe an die Götter“, durch welche eine gleichsam reziproke Zirkulation zwischen der himmlischen und der menschlichen Welt garantiert würde, als historisch späte Erklärung (Rationalisierung) zu betrachten. Auch wenn es unserem kartesianisch geprägtem Verstand und dem kontrollierenden Ich nicht gefällt, letzteres sich dadurch vielleicht sogar bedroht fühlt – es lässt sich inhaltlich im Grunde nicht viel mehr darüber sagen! Doch ist das nicht genau das, was wir suchen: Das Aufgeben ist als „Aufgeben“ zu verstehen! Ist das etwas, das der bewusste Verstand überhaupt erfassen kann, oder kann 30 Vgl. Heesterman 1999, S. 126. 31 Vgl. auch: “As such it becomes to be viewed not only as a social event but as a primary force in the formation and maintenance of human society.” (Heesterman 1993, S. 10) 32 Dass die Opfergabe nur einen kleinen Teil ausmacht, wird auch auf mythologischer Ebene, wie wir später noch sehen werden, problematisiert.
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Joachim Prandstetter er es denken eben nur als etwas „Negiertes“?33 Wenn ich etwas gebe, etwas verschenke, dann ist es zwar „nicht mehr meines“, aber es bleibt irgendwo erhalten, selbst wenn das bei den Göttern ist – es ist nicht wahrlich aufgegeben, zerstört. Das Opferfeuer aber zerstört34 – es bleibt nichts als Asche, die einfach weggekehrt wird und keinen Stellenwert im vedischen Opfer innehat. Wenn wir zunächst inhaltlich über dieses „Aufgeben“ noch nicht viel sagen können, müssen wir jedenfalls einräumen, dass ihm genau an jenem eingangs genannten Ort der ökonomischen Verteilung von Gütern eine offensichtlich wichtige, wenn auch schwer bestimmbare Funktion zwischen Tod und Leben zugesprochen wurde.
4.3. Ritualismus Verfolgen wir den Entwicklungsprozess aber noch ein wenig weiter. Während der immer schon klaffende Riss durch die Welt, in dessen Zentrum das archaische Opfer seinen Platz einnimmt, dieses im beschriebenen wörtlichen Sinn durch das agonale Verhältnis von Leben und Tod und deren „Verteilung“ unter den Teilnehmern prägt35, weswegen sich auf der Arena des Opferplatzes auch die Funktionen des Priesters und des Kriegers eher verschränken denn ausschließen, wandelt es sich, wie schon er wähnt, in der Gestalt des spätvedischen Rituals: “It is called upon to control the passion and fury of the sacrifical contest and to keep such forces within bounds. Sacrifical ritual represents ‘the rule of the game’” (Heesterman 1993, S. 3). Zwar immer auf der Klippe der Gefahr eines Rückfalls in die Katastrophe balancierend, entwickelt die Ritualwissenschaft ein intellektuelles Regelsystem, das jenseits
33 Ausgerechnet jene philosophische Schule, von der wir bereits als Ritualwissenschaft sprachen, kennt das „Nicht-Vorhandensein“ (abhāva) als ein eigenständiges Mittel einer „positiven“ Erkenntnis. 34 Zur ungemein interessanten Funktion des Feuers in diesem Zusammenhang s. auch Heesterman 1993, S. 18ff. 35 “In the simplest terms, sacrifice deals with the riddle of life and death, which are intimately linked and at the same time each other’s absolute denial. The riddle cannot be resolved, it can only bee reenacted by the participants in the ‘play’ of sacrifice, whose stakes are the ‘goods of life’ as against death. It would be a mistake to take this in a symbolic or metaphoric sense … At issue is the repartition of life and death among its participants … It is the renewal of the past and the gamble for the future. Combining in itself all functions – social, economic, political, religious – sacrifice is the catastrophic center, the turning point of life and death …” (Heesterman 1993, S. 2f).
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Der Messie immer schon in uns jeder Spiritualität36 einen ihm eigenen Platz in der Welt beansprucht, der auf die Vermittlung einer „Transzendenz“ ausgerichtet ist und dennoch seinen Sitz im Leben hat (vgl. Heesterman 1999, S. 121). Wie aber bestreiten die Ritualisten diese Ver wandlung? Den Angelpunkt der Wandlung stellt jenes Moment dar, um dessen Bestimmung unser Interesse noch immer kreist: das „Aufgeben“, die Zerstörung des kleinen Teils der Opferspeise im Opferfeuer. Sie wird als Haupthandlung bezeichnet und auch inhaltlich zum zentralen Element. Ihr gegenüber treten die beiden anderen Elemente „Tötung“ und „Nahrung“ nun unübersehbar in den Hintergrund. Die Tötung des Opfers erfolgt unblutig durch Ersticken außerhalb des eigentlichen Opferplatzes und nicht mehr wie früher durch Enthauptung. Auch das Opfermahl wird marginalisiert, und der Hauptteil wird nach dem Opferritual und ebenfalls außerhalb des Opferplatzes verzehrt (vgl. Heesterman 1993, S. 17f). Als das zentrale Element wird diese Haupthandlung zum „Symbol“ für die Haltung des Opferers: “It demonstrates the sacrificer’s lack of self-interest as regards both the unavoidable slaughter and the ensuing meal.” (Ebd., S. 18).
4.4. Philosophische Interpretation Richten wir unsere Aufmerksamkeit nun in aller gebotenen Kürze auf die „ritualwissenschaftlich-philosophischen“ Spekulationen, welche diese Wandlung tragen, ist es uns möglich, unsere vorangegangenen Beobachtungen wieder einzuholen und zu differenzieren. In dem, was in die Katastrophe zu entgleiten droht (scil. dem Opfer), einen der darüber hinaus ver weisenden Ordnung immanenten Imperativ erkennend, welcher missachtet, zu eben jener Katastrophe führt, zielt die Ritualwissenschaft zur Regelung der agonalen Kräfte ab auf die Setzung und in der Folge die Internalisierung der von diesem Imperativ vorgeschriebenen Handlungen, welche ihre Erfüllung wiederum im Opfer finden. Ihren Gegenstand bestimmt die Ritualwissenschaft daher als das Gesetz des Rituals (dharma) und klammert damit die agonalen Kräfte in ihrer Konkretheit aus.37 Möglich wird dies zum einen durch die für die vedischen Wörter grundsätzlich geltende Identität von Wort und dem dadurch Bezeichneten, also seiner Bedeutung, welche 36 In diesem Sinne sei etwa darauf hingewiesen, dass die Götter als der Welt immanent vorgestellt werden und von den Texten ohne kategorialen Unterschied zu den Substanzen gezählt werden, die für die Zurichtung des Opferrituals nötig sind. 37 Vgl. auch: „Anders gesagt, unabhängig von weltlichen Zwecken ist der dharma des Opfers sein eigener Zweck, dessen dynamisierende Wirkung in der Aufforderung an den Menschen zum Opfer liegt – eine Aufforderung, die der Mensch annehmen kann oder auch ablehnen kann.“ (Heesterman 1999, S. 122).
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Joachim Prandstetter im Falle der Vorschriften des Veda die Handlung selbst ist.38 Zum anderen geschieht dies dadurch, dass das als Haupthandlung Vorgeschriebene, der uns bereits bekannte „Verzicht“ ist, also eine Handlung, die sich diametral von einem weltlichen und mithin von einem durch das Verlangen nach einer „Frucht“ motivierten Handeln unterscheidet.39 Unter dieser Bedingung, so meint der grundlegende ritualwissenschaftliche Text40 Jaiminis, habe die Handlung den Menschen selbst zum „artha“. Das Sanskritwort artha umfasst semantisch Bedeutungen, die wir auch im deutschen Wort „Gegenstand“ intuitiv noch nachvollziehen können: Diese reichen von „Gegenstand“ über „Bedeutung“ und „Sinn“ bis hin zu „Ziel“ und „Zweck“. So hätte mit einem Wort die vorgeschriebene „Handlung“ des „Verzichts“ den Menschen selbst zum Ziel (artha), und zwar durch den Verzicht auf eine Frucht der Handlung im gegenstandsbezogenen Sinn. Das Aufgeben ist als Aufgeben zu verstehen und gewinnt nach dieser Interpretation anstelle eines äußeren Gegenstandes ein Unsichtbares – das Subjekt. Wir könnten hierin also eine sehr spezifische Form der Externalisierung eines Bezugs zur Selbstrepräsentanz sehen, wie sie im Opfer symbolisch Szene wird, die zugleich aber eine spezifische Form des Rückzugs von der Realität darstellt, indem sie eine auf das eigene Subjekt abzielende sublimatorische Handlung setzt, in welcher der Mensch zum Subjekt einer symbolisierten Realität wird. In diesem Sinne wäre eine Transzendierung erreicht, die nichts desto trotz ihren Sitz im Leben hat: Am Ende des Rituals
38 Die schulimmanente Ableitung dieser Lehre würde den Rahmen sprengen. Der Ansatz selbst ist unserer Anschauung aber ganz so fremd nicht, wie er sich zunächst ausnimmt, denken wir etwa an Freuds Beobachtung: „Auch beim Kinde, welches ja Worte noch als Dinge zu behandeln gewohnt ist …“ (Freud GW VI, S. 97). Den noch folgenden Überlegungen vorausgreifend könnte man mit Lacan auch sagen, dass das Wort des Veda durch seine Bestimmung als „nicht von menschlichem Ursprung seiend“ gleichsam per definitionem dem imaginären Bereich „geraubt“ und so in den Bereich „Symbolischer Ordnung“ gestellt ist. Es stellt damit qua Verdichtung (Paradigmatik) und Verschiebung (Metonymie) die „ultimative“ Symbolisierung des „Realen“ dar, das dadurch aufgehoben ist (s. u. Abschnitt 8.7f). 39 In der als Abwehr jenes Existentials des Bruches der archaischen Welt zu bewertenden Intellektualisierung lässt sich dabei formaliter im fast undurchschaubar komplexen Regelsystem ein zwanghafter Charakter als Symptom der „Wiederkehr des Verdrängten“ nicht leugnen. In diesem „Zwang“ spiegelt sich auf der Achse der Metonymie die Dialektik von Mythos und Aufklärung (s. u. Abschnitt 8.7f). 40 Mīmāņsāsūtra 4.1.2f; die Ritualwissenschaft sieht in Jaimini den Verfasser dieses Textes, auf den sie sich als ihre Grundlage beruft.
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Der Messie immer schon in uns soll der Opferer den Spruch sagen: „Hier bin ich, der ich bin.“ Dieser Spruch wird von den Texten auch unter Hinzufügung eines „wieder“ gedeutet: „Hier bin ich wieder, der ich bin.“41 Auch wenn es sicher nicht richtig ist, die Sprache und Welt des spätvedischen Rituals und natürlich noch weniger die der Ritualwissenschaft als mythische im strengen Sinn zu bezeichnen, geht es vielleicht doch an, die Veränderung, welche die soeben skizzierte Interpretation der Struktur des vedischen Opfers durch Jaimini in der ihm nachfolgenden Kommentatorengeneration erfahren hat, mit dem Diktum Adornos in Verbindung zu bringen. Sollte man geneigt sein, die bisher beschriebene Sichtweise Jaiminis als Aufklärung zu verstehen, vergleichbar der, die Adorno dem Mythos zugesteht, könnte man ebenso gut dazu neigen, die Aufklärung, die sein Kommentator Śabara in der Folgezeit unternimmt, dem Mythos zuzurechnen. Die Vorstellung, dass das vorübergehende Opfer etwas ergeben muss, welches das Ritual überdauert, führt diesen nämlich zur Annahme, eines „apūrva“, d. h. zur Annahme von „etwas, das vorher noch nicht war“, durch welches sich „in prinzipiell unerklärbarer Weise und zu einer unbestimmten Zeit, die verheißene ‚Frucht‘ des Opfers“ ergeben wird. Während sich bei Jaimini die zeitlose Transzendenz innerhalb des Rituals verwirklicht, geschieht dies nach jenem Kommentator erst, wenn das Ritual bereits beendet ist. Durch diese gleichsam in den Mythos zurückschlagende „Aufklärung“ betritt also die „Zeit“ in der Rolle linearer Kausalität die Bühne.
5. Entwicklung einer Formel für das Sammeln 5.1. Kulturgeschichte als Fach Wenn wir nun vor diesem Hintergrund einen Blick auf die Kulturgeschichte als Fach werfen, zeigt sich, dass das Phänomen des Sammelns einen bei 41 Vgl. dazu aber auch Heesterman 1999, S. 125f, der darauf hinweist, dass aus den spätvedischen Texten her vorgehe, „dass das integrale Opferritual eine eigene übermenschliche Welt für sich darstelle.“ Der Opferer trete mit diesem Spruch aus dieser übermenschlichen Opferwelt wieder zu seinen menschlichen Verhältnissen über. Er stellt jedoch auch fest: „Diese entscheidende Handlung entzieht sich den weltlichen Verhältnissen und gehört doch zur menschlichen Welt.“ Wenn hier auch eine nähere Bestimmung dessen, wie diese übermenschliche Welt (scil. der Himmel) im vedischen Sinne zu verstehen ist, unterbleiben muss, so genügt es für unsere Zwecke, sie als ein die gegenständliche Welt und einen auf sie bezogenen Nutzen Transzendierendes zu sehen.
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Joachim Prandstetter Weitem prominenteren Platz einnimmt, als vielleicht zunächst angenommen. Die Untersuchungen und Darstellungen gehen weit über eine reine Deskription der Geschichte des Sammelns in ihrer institutionellen Form wie auch der unzähliger berühmter Sammler hinaus.42 Das „Sammeln“ als soziologisches Phänomen wird dabei als eines jener Momente verstanden, an dem Kulturgeschichte im eigentlichen Sinne Gestalt gewinnt. Kulturgeschichte wird an der Geschichte des Sammelns ablesbar. Die frühesten Belege lassen sich für das Paläolithikum nachweisen: Die Geschichte der Artefakte beginnt vor ungefähr drei Millionen Jahren, und zwar bei den Bewohnern der prähistorischen Höhle von Hyène in Arcy-sur-Cure in Frankreich, denen, nach dem Kulturhistoriker Krzysztof Pomian, „bis zum Beweis des Gegenteils der Titel der ersten uns bekannten Sammler zukommt.“ (Pomian 1986, S. 47f).
5.2. Neuropsychologischer Einschub In diesem Zusammenhang scheint erwähnenswert, dass Jaak Panksepp, einer der großen Biopsychologen und Neurowissenschafter, in seinem Buch „Affective Neuroscience. The foundations of human and animal Emotions“, meint, dass eine wichtige mentale Strategie für die Erhaltung des Lebens unter den strengen Bedingungen (Ananke) der letzten Eiszeit, die Fähigkeit gewesen sein müsse, Nahrung zu zentralen Speicher- und Versorgungsstellen zu bringen. Allerdings gäbe es nach seiner Meinung kaum Beweise für einen instinktmäßig vorhandenen Mechanismus des Anhäufens (hoarding) von Ressourcen innerhalb der humanoiden Entwicklungslinie, während solche für Nager und Vögel vorhanden wären. Obwohl frühe Humanoide also keinen „instinct to hoard“, wie er es nennt, besessen hätten, wäre der menschliche Geist sicherlich bereits von phylogenetisch alten neuronalen Netzwerken beeinflusst gewesen, die „Gier“ beförderten – also das Verlangen der Erste zu sein, wenn es um wichtige Ressourcen geht. Dieser „instinct of greediness“ ohne die instinkthaften Mechanismen zum Sammeln könnte zu neuen Entwicklungen im ökonomischen Denken und kämpferischen Wettbewerb geführt haben. Diese könnten, nach seiner Meinung, basierend auf einer rationalen Entscheidungsfindung, auch die Entwicklung von Strategien zur Speicherung von Nahrung umfassen. Im Zuge dessen wäre aber
42 Stellvertretend für die fast unüberblickbare Menge an Publikationen zu diesem Thema sei hier nur auf Theewen 1996 verwiesen, in dessen Buch „Obsession Collection“ die Verbindung des Sammelns mit der Obsession über die Jahrhunderte hinweg bis zur Gegenwart zum Ausdruck kommt. Einen Überblick auch aus psychoanalytischer Sicht bietet etwa Subkowski 2004.
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Der Messie immer schon in uns auch die Verteilung dieser angesammelten Ressourcen zu einer äußert wichtigen geistigen Herausforderung geworden, mindestens so wichtig wie jene, welche die Organisation der Jagd aufwarf. 43 Natürlich können wir die Frage nicht entscheiden, ob das Sammeln von Ressourcen ein phylogenetisch bereits früher erworbenes eigenständiges Muster der Prozessierung von Umwelt darstellt oder nicht. Dennoch scheint dieser Ansatz einen psychologisch nicht unwahrscheinlichen und für unsere Belange interessanten Aspekt aufzuzeigen, indem er der „Gier“ als der unmittelbareren Manifestation des Überlebenswillens den primären Rang einräumt und dem Sammeln als einer Form der Bewältigung einer existentiellen Not den Platz eines Derivats der triebhaften Gier zuweist, welche zufolge ihrer kognitiven Anteile als Strategie zu betrachten ist. Interessant erscheint uns auch die Überlegung, dass sich an diese Strategie unmittelbar „kulturfördernde“, weil auf die Sozietät bezogene, Herausforderungen des ökonomischen Denkens und Wettbewerbs anschließen, die aus der Notwendigkeit der Verteilung der angesammelten Ressourcen resultieren. Wir können darin nämlich den Blick auf eine Gesellschaft wie etwa die des vedischen Opfers wiedererkennen, wenn auch aus einer deutlich entwicklungsgeschichtlich-ökonomischen Perspektive. Wie bereits er wähnt, war das vedische Opfertier das bereits domestizierte Tier, und ohne den Begriff der Domestikation zu überspannen, dürfen wir in ihr wahrscheinlich auch eine aus der Notwendigkeit (über lebenswichtige Ressourcen verfügen zu können) geborene Strategie der Prozessierung von Umwelt sehen, die eine innere Ver wandtschaft zum Sammeln und Horten aufweist. Um es pointiert zu sagen: Das Sammeln wäre so gesehen die Domestikation oder „Sublimie43 Panksepp 2005, S. 328: “An important mental strategy that could have promoted sur vival in the harsher environments of the Ice Ages was the ability to bring food to central storage and provisioning areas. It is hard to imagine that an arboreal primate could ever have developed such practices, and indeed, there is little evidence for instinctual storage strategies in the human line, as there are in many rodents and birds. Although early humans probably did not have the instinct to hoard, surely the human mind was already influenced by ancient circuits that promoted greediness – the desire to be first in line in access to resources. The instinct of greediness, without instinctual mechanisms of hoarding, could have led to new developments in economic thought and warlike competition, including new food storage strategies based on rational decision making. The distribution of stored resources would eventually become as important an issue for mental deliberation as was the organization of the hunt.” (Vgl. auch seine Bemerkungen zu roughhousing play, object play und fantasy play sowie die play-circuits S. 280–299).
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Joachim Prandstetter rung“ der triebhaften Gier. Dass dies nicht ungefährlich sein kann, zeigte uns das archaische Opfer – geht es doch vor dem Hintergrund der auf ihre Gelegenheit harrenden blinden Gier um die auf die Sozietät bezogene ökonomische Verteilung der lebenswichtigen Güter, die unausweichlich – und sei es im gelungenen Fall nur für das Opfertier – den Tod mit einschließt. Die erwähnte, beim archaischen Opfer zu beobachtende, verschränkte Funktion von Krieger und Priester verleiht der Situation das ihr gebührende Gepräge.44 Wir können uns die Katastrophe vorstellen, von der der agonale Charakter des Opfers Zeugnis ablegt, in die diese Situation an der Schnittstelle der Prozessierung von Umwelt kippt, sollte sie misslingen, und wir können uns lebhaft vorstellen, dass sie auch tatsächlich immer wieder misslungen ist.
5.3. Nützlichkeit – Bedeutung Bereits für die paläolithischen Funde eines auf Gegenstände45 bezogenen Sammelns lässt sich nun sagen, dass die anhand der Entwicklung des vedischen Opfers aufgezeigte zunehmende „formal rationality“, welche wir als einen „aufklärerischen“ Prozess betrachteten, ihren Widerhall in einem Spannungsfeld zwischen Nützlichkeit und Bedeutung als jener Matrix findet, nach der sich das Sammeln als Prozessieren der Umwelt ab nun entfalten wird. Eben dieses Spannungsfeld thematisiert etwa Walter Benjamin in seinem Text „Der Sammler“: „Es ist beim Sammeln das Entscheidende, dass der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird, um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten. Dies ist der diametrale Gegensatz zum Nutzen und steht unter der merkwürdigen Kategorie der Vollständigkeit. Was soll diese „Vollständigkeit“? Sie ist ein großartiger Versuch, das völlig Irrationale seines bloßen Vorhandenseins durch Einordnung in ein neues eigens geschaffenes historisches System, die Sammlung, zu über winden.“ (Benjamin 1927–1940, S. 257). W. Benjamin spricht im philosophisch-poetischen Wort, die Ideenlehre Platons assoziierend, das Irrationale des „bloßen Vorhandenseins“ an, das über wunden wird, durch eine „sinngebende“ kategoriale Einordnung in ein durch die Sammlung neu zu konstituierendes syntaktisches System aufeinander bezogener Elemente, das auf diese Weise in der Lage ist, die 44 Vgl.: “… the place of the sacrifice was originally a battleground, where one fought for the goods of life …” (Heesterman 1993, S. 52). 45 Es handelt sich dabei um „Raritäten“, wie Eisenkiesschollen, Muscheln, Fossilien, Quartz- und Bleiglanzkristalle, die von den Bewohnern der Höhlen auf ihren Wanderungen zusammengetragen wurden. (Pomian 1986, S. 48).
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Der Messie immer schon in uns Idee einer „Vollständigkeit“ zu entwerfen. In unserem Kontext könnten wir die Über windung des bloßen Vorhandenseins darin sehen, dass der Gegenstand dadurch bei einer Bedeutung anlangt, wie sie sich etwa auch erst durch die Vollständigkeit eines Satzes einstellt. Sollte diese Interpretation berechtigt sein, könnten wir sagen, dass die Sammlung zum Sammler „spricht“. Im Weiteren scheint W. Benjamin dies insofern zu bestätigen, als er das Sammeln als Form des praktischen Erinnerns bezeichnet. Auch im Folgenden thematisiert W. Benjamin, sich auf Bergson beziehend, Aspekte, die wir in unseren Überlegungen schon gekreuzt hatten, die aber auch auf noch kommende Beobachtungen verweisen: „Würden wir – so darf man sagen – gewissen Dingen gegenüber gelassener, anderen gegenüber schneller, nach einem anderen Rhythmus, leben, so gäbe es nichts Bestehendes für uns sondern alles geschähe vor unseren Augen, alles stieße es uns zu. So aber ergeht es mit den Dingen dem großen Sammler. Sie stoßen ihm zu … Im Grunde lebt der Sammler, so darf man sagen, ein Stück Traumleben. Denn auch im Traum ist der Rhythmus des Wahrnehmens und Erlebens derart verändert, dass alles – auch das scheinbar Neutralste – uns zustößt, uns betrifft. (Ebd., S. 258). Der Kulturhistoriker Krzysztof Pomian versteht die Sammlung, als „jede Zusammenstellung natürlicher oder künstlicher Gegenstände, die zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, und zwar an einem abgeschlossenen, eigens zu diesem Zweck eingerichteten Ort, an dem die Gegenstände ausgestellt werden und angesehen werden können.“ (Pomian 1986, S. 16). Ähnlich wie Benjamin unterteilt er Sichtbares in zwei Gruppen von Gegenständen: „Auf der einen Seite befinden sich die Dinge, nützliche Gegenstände, das heißt solche, die konsumiert werden können … Auf der anderen Seite befinden sich die Semiophoren,46 Gegenstände ohne Nützlichkeit im eben präzisierten Sinn, sondern Gegenstände, die das Unsichtbare repräsentieren, das heißt, die mit einer Bedeutung versehen sind.“ (Ebd., S. 49f). Aus diesem Ansatz entwickelt Pomian eine Semiotik des Gegenstandes als Vermittler zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, wobei die produktive Tätigkeit mit Bezug auf die Gegenstände im Allgemeinen auf zwei verschiedene Richtungen hin orientiert sei: zur Maximierung der Nützlichkeit oder der Maximierung der Bedeutung. Je mehr Bedeutung man einem Gegenstand dabei aber zuschreibe, desto weniger interessiere man sich für seine Nützlichkeit (vgl. ebd., S. 50ff).
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Darunter versteht er Zeichenträger mit Symbolcharakter.
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5.4. Formulierung der Formel Wir können die genannten Zugangsweisen zum Phänomen des Sammelns mit Bezug auf die Frage, in welcher charakteristischen Weise es seinen Gegenstand prozessiert, in folgender Formel zusammenfassen: Sammeln ist die Minimierung von Nützlichkeit bei gleichzeitiger Maximierung von Bedeutung. Die Funktion der Formel können wir auf folgende Weise bestimmen: Der Ort, an dem sich ein Gegenstand auf diesem Kontinuum zwischen maximierter Nützlichkeit und maximierter Bedeutung befindet, sei zugleich Maß für seine Funktion als Vermittler zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, für welches er bei Maximierung seiner Bedeutung steht. Was die Bedeutung betrifft, können wir für sie mit W. Benjamin axiomatisch festhalten, dass sie sich aus der syntaktischen Verschränkung der beteiligten Elemente herleitet, die ein auf eine Vollständigkeit hin orientiertes System konstituiert.47 Vielleicht können wir noch schärfer differenzierend sagen: eine Vollständigkeit, die auf andere Weise nicht bezeichnet werden kann. Das macht auch zugleich deutlich, warum die Bedeutung, die einer Sammlung zuzuschreiben ist, nicht durch die Menge oder Anzahl der beteiligten Elementen garantiert ist. Beispielsweise verliert die Sammlung einer großen Menge mehr oder weniger gleicher Elemente, abgesehen davon, dass die Menge selbst beeindrucken kann, insofern an Bedeutung, als sich die syntaktische Verschränkung ihrer Elemente in der Tautologie erschöpft, was sich praktisch daran zeigen würde, dass sie uns sehr bald langweilt.
6. Entwicklung einer These 6.1. Anwendung der Formel auf das Opfer Wenden wir die Funktion dieser Formel auf das gewonnene Verständnis vom Opfer als einer Form der Prozessierung von Umwelt an, erhalten wir erstaunlicherweise ganz vernünftige Ergebnisse, die uns eine Ver wandtschaft der Struktur des Prozessierens anzuzeigen scheinen. Wie lässt sich das aber plausibel machen? Weil es um das Ansammeln von Ressourcen und deren ökonomische Verteilung geht, und zwar auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Dinge, die man konsumieren kann, wie auch auf der Ebene der Semiopho47 Als axiomatisch können wir dies betrachten, weil es schon in der Struktur der Sprache, wie sie für uns die Funktion eines Mediums für Bedeutung erfüllt, supponiert ist und wir die jeweils verwendete Sprache als Grundlage vorausgesetzt annehmen müssen.
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ren, also der Zeichenträger für Unsichtbares, in dem Fall Leben und Tod, wobei die Elemente so verschränkt sind, dass sie auf eine ideelle Vollständigkeit hin orientiert sind, welche sich in der spezifischen Form ihrer Prozessierung aus ihnen herleiten lässt. Letztlich bestätigt dies ja nur, was wir vorher schon wussten, dass nämlich Kultur sich als jener Kontext bestimmen lässt, innerhalb dessen jede Form des Prozessierens von Umwelt, an der Bedeutung gemessen wird, welche sie in diesem produziert – im Spezifischen aber sich misst, an der für sie typischen Form des Prozessierens der Güter des Lebens, den sichtbaren wie den unsichtbaren. Wie sollte man sich das konkret vorstellen? Das Opfertier selbst, das geschlachtet wird, ist in keiner Weise Vermittler für Transzendentes, es dient schlicht und einfach als Nahrung. Es ist ein sichtbarer Gegenstand, der Seite der Nützlichkeit und der des Kriegers zuzurechnen, wobei seine Bedeutung nicht über den Zweck, den es erfüllt, nämlich die Mägen zu füllen, hinausgeht, weswegen es im Prozess der Ritualisierung in zunehmendem Maße an Bedeutung verliert. Wendet man ein, dass es damit ja wohl insofern nicht getan sein kann, als der physiologische Prozess dem höheren Wert des Lebens, dem er dient, zuzurechnen ist, so ist dies richtig. Nur ist dies ein unsichtbarer Gegenstand, welcher der Seite des Priesters zuzurechnen und von hoher Bedeutung ist, auf welchen hin die in ihrer materiellen Nützlichkeit minimierte Haupthandlung als Semiophor für Leben und Tod in ihrer Verteilung orientiert ist, und zwar in ihrer syntaktischen Verschränkung mit der maximierten Nützlichkeit der sichtbaren Dinge. So wird die Nützlichkeit am Angelpunkt des Verzichts auf die Bedeutung umgebrochen, der Bruch zwischen Leben und Tod in die Vollständigkeit des Subjektes transzendiert. Aus der spezifischen Form der Prozessierung der Elemente, die in dieser spezifischen syntaktischen Verschränkung liegt, konstituiert sich also ein kontextuelles System, das auf eine unsichtbare Vollständigkeit hin orientiert ist – das Subjekt. Wie die Elemente, das Materielle der Nahrung und das Immaterielle des Lebens in der Realität mit der materiellen Tötung und dem immateriellen Tod in ihrer Agonalität ineinander verschränkt auf eine Leerstelle verweisen, so erhalten sie in der Haupthandlung Bedeutung, die Es durch den Verzicht dort in die Vollständigkeit des Subjekts transformiert, sodass das Subjekt sagen kann: „Hier bin ich, der ich bin!“.48
48 Ebenso verhält es sich beispielsweise bei der Fossilien-Sammlung eines Museums. Der unmittelbare Nutzen geht gegen null, ist aber syntaktisch verschränkt und auf eine ideelle Vollständigkeit hin orientiert, aus der sich die Bedeutung für die Paläontologie und letztlich unser Selbst-Verständnis in einem spezifischen kulturellen Kontext herleitet.
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6.2. Anwendung der Formel auf die für Messies charakteristische Form der Prozessierung von Umwelt Auf den ersten Blick sieht es nun so aus, als würde unsere Funktion auch die für Messies spezifische Form der Prozessierung von Umwelt abbilden. Bei genauerer Betrachtung stimmt dies aber nicht mehr: Das, was sich bei den Messies ausnimmt wie Sammeln, ist lediglich die „Mimikry“ der Symbolsprache des Symptoms: Stellt sich doch bei dem, was Messies tun, niemals durch die syntaktische Verschränkung der Elemente eine Bedeutung ein, die auf eine Vollständigkeit hin orientiert wäre und sich aus den Elementen herleiten würde – jedenfalls keine Bedeutung, die nicht auch auf andere Weise bezeichnet werden könnte. Woraufhin im Gegenteil die tautologische Struktur der Prozessierung der Elemente „deutet“, ist die Unvollständigkeit, und zwar ohne dass die Elemente je auf eine Vollständigkeit hin orientiert sein könnten – im Gegenteil, sie sind im wörtlichen Sinne Ausdruck der Hoffnungslosigkeit „an der Stelle“ einer, wenn auch umso mehr begehrten, Vollständigkeit. Infolge eines solchen Ausdrucks entsteht nämlich, wie im Falle eines unvollständigen Satzes, eine „Er wartungshaltung“, das Bedürfnis nach der Ergänzung des Fehlenden – allerdings unter den Insignien des „Unmöglichen“. Unbeschadet der Menge ist das, was deren spezifische Form der Prozessierung von Umwelt „be-deutet“ – ohne Bedeutung zu sein – das, was fehlt, um vollständig zu sein. Man könnte vermuten, die prozessierten Elemente seien also nicht im symbolischen Sinne Zeichen für das, was fehlt, sie würden es vielmehr vertreten und dies in einer eigenartig konkretistischen Weise, jedes einzeln für sich und immer wieder. Kein Wunder, dass es immer mehr Sachen werden, die sich bei den Messies einfinden. Dass diese Dinge auf der anderen Seite nützlich sein könnten, mag der Messie erhoffen – er mag sein Tun mit diesem Argument auch legitimieren, wenn auch im konjunktivischen Sinne: „Diese Dinge könnten nützlich sein.“ Sprachlich gesehen ist im Deutschen der Konjunktiv mit dem Optativ zusammengefallen, welchen letzteren wir verstehen müssten als: „Sie sollten nützlich sein (sind es aber nicht).“
6.3. Die Implikation der zyklischen Struktur Der Entwicklungsprozess vom archaischen Opfer bis hin zum Ritualismus zeigt, worum es geht: Die Entwicklung dokumentiert einen selbstreferentiellen Prozess. Die Bedeutung des Opfers liegt im „Verzicht“, im „Aufgeben“. Darauf hin sind die Elemente in ihrer syntaktischen Verschränkung orientiert. Systemtheoretisch gesprochen dokumentiert die Entwicklung des
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Der Messie immer schon in uns Opfers den Reentry49: Die aus der für das Opfer spezifischen Prozessierung von Umwelt gewonnene „Information“ fließt als solche wiederum in das System „Opfer“ zurück und steuert, einem Destillationsvorgang gleich, seinen Entwicklungsprozess – es ist gleichsam sein eigener Beobachter. Das Ziel ist, dass der in das System „Opfer“ durch die Haupthandlung in sein Zentrum eingebundene Opferer zum Subjekt im Sinne einer Kybernetik zweiter Ordnung wird, wodurch er dessen Struktur introjeziert.50 Dass das Opfer auf diese Weise seiner Natur nach ein zyklischer Prozess ist, bedingt die Aufforderung zu seiner selbst-referentiellen Wiederholung als infinitesimale Annäherung an sein Ziel als eines, das vom Wesen einer psychischen Realität ist, die dem Realitätsprinzip verbunden bleibt. Was sich anhand des Systems des Opfers historisch dokumentieren lässt, nämlich das zyklische Moment als dynamisierende conditio sine qua non, ist vermittels der Wörter „Minimierung“ bzw. „Maximierung“ auch impliziter Bestandteil unserer Formel. Dass dem so sein muss, ergibt sich der Sache nach schon daraus, dass ein Prozessieren von Umwelt wie das des „Sammelns“ seinen Platz nicht außerhalb der ökonomischen Verteilung der Dinge haben kann, es sich eine Sonderstellung vielmehr immer nur in Relation zu ihr erobern kann, gewinnt es jenen Platz doch gerade daraus, im inneren Widerspruch mit ihr zu stehen.51 Es verhält sich wie das Leben zum Tod, welches Erstere, ohne diesen nicht denkbar seiend, seine Sonderstellung sich gerade aus dem inneren Widerspruch zu Letzterem erobert.
6.4. These der Regression Wenn sich so aber zeigt, dass das, was Messies tun, gar nicht „Sammeln“ ist, folgt dann daraus nicht, dass wir mit unseren Überlegungen völlig falsch
49 Schon in der ältesten Textschicht des Veda findet sich die Aussage: “The gods sacrificed sacrifice by sacrifice, these were the first ordinances.” Heesterman stellt dazu fest: “This celebrated line refers to the primordial immolation of the cosmic man, who is at the same time identified with the institution of sacrifice.” (Heesterman 1993, S. 13). Als „Kreuzen der Grenzen“ findet sich der Reentry auch in der Struktur des Opfers – wir können das bereits erwähnte Bild des „Himmels“ systemtheoretisch als jenen „Ort“ verstehen, an welchem der Verzicht des Opferers die Achse supponierter Intentionalität – anders ausgedrückt – die Systemgrenze der Nützlichkeit kreuzt (vgl. auch später Lacan unter Abschnitt 8.2). 50 Tatsächlich ist das auch die weitere Entwicklung im indischen Kontext: Das Opfer wird nicht mehr realiter ausgeführt, sondern introjeziert. 51 Wir werden später noch sehen, wie dieses Verhältnis auch als ökonomisches Topos erkannt wurde.
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Joachim Prandstetter liegen? Ich denke nicht52 – wir haben die Messies nur im Laufe der Argumentation verloren, während wir die „Domestikation der Gier“ bis hin zum spätvedischen Opfer verfolgten und mit gegenwärtigen Reflexionen über das Sammeln in Verbindung brachten. Während wir, seine Entwicklung nachzeichnend, wesentliche Konturen dessen deutlicher her vortreten ließen, was wir als „kultiviertes“ Sammeln bezeichnen können und dabei die psychoanalytische Erkenntnis bestätigt fanden, dass „Kultur“ Triebverzicht bedeute, blieben die Messies irgendwo „auf der Strecke“. Bevor wir uns aber damit auseinandersetzen, wo und vielleicht auch warum sie zurückblieben, wollen wir uns kritisch fragen, warum wir so schnell und scheinbar mühelos bei den verschiedensten Momenten unseres kulturellen Lebens auf das Sammeln stoßen? Ich denke, weil die „Gier“, die wir hinter dem Sammeln auf diesem Wege mehr oder weniger maskiert entlarven konnten, auf der Ebene des Triebs nichts anderes ist als das mehr oder weniger sublimierte Derivat des Eros. Wenn dem aber so ist und wir der historischen Entwicklung folgend zugleich den Prozess der Sublimierung nachzeichneten, bedeutet der Umstand, dass wir die Messies unterwegs verloren haben, dass diese infolge einer für sie nicht anders als durch die Verdrängung zu begegnenden Not auf eine Stelle der Fixierung regredierten, wobei wir nicht vergessen wollen, dass nach Freud unter dem Verdrängten die abgewiesenen Ansprüche der Sexualität in erster Linie stehen. Wir dürfen weiters vermuten, dass sich mit Hinblick auf das symptomatische Tun des Messies der Charakter des Zwangs aus der Dynamik der impliziten Zirkularität der Wiederholung herleite und dem Thanatos geschuldet sei – während sich der Charakter der Sucht aus dem Fehlen des Verzichts auf den Trieb, dem Eros, herleitet und dem Lustprinzip geschuldet sei. Daher begründe ein durch die kategoriale Struktur der Diagnosesysteme veranlasster Versuch einer Subsumierung des Phänomens jedenfalls unter einen der beiden Aspekte ein Gefühl des Mangels an
52 Eigentlich muss es uns aber auch nicht wundern, haben wir doch ganz zu Beginn schon festgestellt, dass Archive und Sammlungen im Allgemeinen nicht zustande kommen, wenn man nicht wegwirft. Wenn aber das Weg werfen Bedingung dafür ist, in einem aufgeklärten Sinne von Sammeln zu sprechen, können wir konsequenterweise dem, was Messies tun, das Prädikat des Sammelns nicht zusprechen.
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Der Messie immer schon in uns Umfassung, da dieses einer spezifischen Mischung seine Gestalt verdanke, dem das deskriptive, syndromatische Verständnis53 wahrscheinlich nicht in der Weise wie die Konzeption des „Komplexes“54 gerecht werden kann. Um die These deutlich zu machen: Ich sehe also in der für Messies spezifischen Art der Prozessierung von Umwelt keine „Entartung“ des Sammelns, kein Sammeln, das linear ad infinitum fortgesetzt, ausufern würde,55 sondern zunächst etwas, das eine Regression auf eine Vorstufe dessen darstellen könnte, was wir als „aufgeklärtes“ Sammeln bezeichnen. Was Messies tun, ließe sich im Sinne einer Arbeitshypothese also vielleicht als ein „Proto-Sammelns“ bezeichnen, das sich, wie schon festgestellt, der Mimikry des Sammelns bedient. Das kulturell hochgeschätzte Sammeln würde so vielleicht die sublimierte Form dessen zelebrieren, was unter anderen Umständen und Voraussetzungen die Wirkungsweise einer Störung entfaltet. Das mag vorerst wie ein technischer Trick klingen, könnte aber bei einer weiteren Theoriebildung nötigen „Denkraum“ schaffen. Dieser Modus des Prozessierens im Sinne eines „Proto-Sammelns“ würde uns dementsprechend nur in seinen Derivaten begegnen, die in ihrer konkreten Form durch weitere Dimensionen der Persönlichkeit bestimmt wären und in Abhängigkeit von diesen beispielsweise eher zwanghafte oder depressive Züge etc. annehmen könnten.
53 Vgl.: „Da in der Praxis viele Informationen nicht oder bruchstückhaft vorliegen, ist es zunächst hilfreich, die Beschwerden des Patienten einem Syndrom zuzuordnen, was durch Summierung von berichteten oder beobachtbaren Symptomen erfolgt.“ Paulitsch 2004, S. 58. 54 Vgl. das Verständnis des Begriffs etwa bei A. Green: „Die allgemeine, ihm zu Grunde liegende Idee ist, dass man, um den Komplex selbst erfassen zu können, nicht ein einzelnes ihm zugehöriges Merkmal herausgreifen sollte, weil die Bedeutung dieses isolierten, partiellen Merkmals erst wirklich Sinn macht, wenn es in Relation zum Gesamt anderer Merkmale steht, die gemeinsam den Komplex bilden – wobei die in Frage stehende Bedeutung dem Sinn untergeordnet wird, der durch die Gesamtkonstellation, die den Komplex als solchen definiert, freigesetzt wird.“ (Green 1990, S. 35). 55 Wenn das Sammeln seiner Struktur nach grundsätzlich verschieden ist von dem, was Messies tun, kann man dem Tun der Messies auch nicht zuschreiben, übertriebenes Sammeln zu sein. Dieses Argument unterscheidet sich aber grundlegend von jenem, das bei den Messies in ihrem Bezug auf die gegenständliche Welt das Sammeln nicht als Charakteristikum sehen will, weil sie dies nicht alle in gleicher Weise, mehr oder weniger vordergründig, betreiben.
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Joachim Prandstetter Bevor wir uns jedoch die Frage stellen, ob es möglich ist, die Struktur dieses Modus des Prozessierens von Umwelt in Abgrenzung vom sublimierten Sammeln noch genauer zu bestimmen, ist es vielleicht hilfreich, den Gang der Argumentation und das dabei Festgestellte kurz zu rekapitulieren.
7. Zusammenfassung Wir gingen in unseren Überlegungen zunächst vom Sammeln als Voraussetzung für die Idee, den Einfall bzw. die Erkenntnis aus und stützten uns dabei auf die Beobachtung, dass uns das Moment des Einfalls in einer der Situation des Witzes analogen Weise, vermittelt durch ein „Entlassen“ des Ich, zuteil wird. Dadurch gelangten wir in Gestalt einer unserem bewussten Zugriff entzogenen Transformation zu Mechanismen der Verarbeitung der Einzeldaten in ihrem „bloß irrationalen Vorhandensein“, wie sie das Unbewusste auszeichnet. Sollten wir im „Entlassen“ jenes auf die Transformation abzielende wesentliche Moment identifiziert haben, durch welches das für das Sammeln typische Prozessieren von Umwelt als dessen Voraussetzung motiviert ist, müssten sich innerhalb der Kulturgeschichte Instanzen finden lassen, die dieses Moment im Umgang mit Gesammeltem dokumentieren. Bereits für die früheste Kulturgeschichte konnten wir im Umgang mit großen Textsammlungen feststellen, auf welche Weise sich in der historischen Rezeption dieser Texte jenes Moment des „Entlassens“ als Ablösungsprozess dokumentiert, der in einem Individuationsprozess resultiert und in der Folge die „Erkenntnis des Mythos“ dem Menschen in eine zyklisch fortschreitend rationale Verfügbarkeit im Sinne der Aufklärung stellt, ohne dass dabei eine Linearität dieser Entwicklung garantiert wäre. Auf der Handlungsebene konnten wir im Opfer als der exponierten Schnittstelle der ökonomischen Verteilung der Güter des Lebens eine ihm typische Struktur feststellen, die sich mit jener des Sammelns in wesentlichen strukturellen Momenten kreuzt. Deshalb konnten wir von einer inneren Ver wandtschaft dergestalt sprechen, dass sich in dieser Struktur des Opfers jene konkretisieren lässt, die dem Sammeln in seiner Sonderstellung im Kontext der ökonomischen Verteilung der Güter den Kultur befördernden Wert verleiht. Nachdem wir auf diese Weise die Handlungseinheit dekonstruiert hatten, stellten wir fest, dass sich die Elemente aus seinem „semantischen Feld“ in eine Formel einschreiben lassen, die in der Lage zu sein scheint, die Struktur des Sammelns abzubilden. Im Zuge dessen wandten wir die Funktion der Formel auf das Prozessieren von Umwelt an und interpretierten die Ergebnisse, indem wir jenem den strukturalen Gesetzmäßigkeiten der Sprache analoge unterstell-
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Der Messie immer schon in uns ten. Auf diese Weise sollten wir zu seinem der Kulturgeschichte impliziten Begriff der ihn bestimmenden Struktur gelangen, so als könnten wir dieses Prozessieren danach befragen, wovon es im Grunde spreche, wenn wir in ihm etwa „eine auf eine Vollständigkeit hin orientierte syntaktischen Verschränkung von Elementen“ sehen. Wir wollen uns nun fragen, ob es Instanzen der Kulturgeschichte gibt, die ein solches Vorgehen selbst repräsentieren, und wenn, ob sich diese dazu verwenden lassen, unsere Ergebnisse dort einzuschreiben, um die Struktur jenes für Messies typischen Modus des Prozessierens in Abgrenzung vom eigentlichen Sammeln genauer bestimmen zu können.
8. Interpretation der Formel auf der Metaebene 8.1. Der strukturalistische Ansatz Eine solche Instanz finden wir insofern leicht, als das gewählte methodische Vorgehen schon in seiner Begrifflichkeit eine konzeptionelle Nähe zum strukturalistischen Ansatz56 in sich birgt, wie er in Weiterführung der sprachwissenschaftlichen Arbeit de Saussures seinen Niederschlag in der strukturalen Anthropologie von Lévi-Strauss sowie den Arbeiten von M. Foucault, R. Barthes und J. Derrida fand. Auf psychoanalytischer Seite entwickelte Jaques Lacan in Auseinandersetzung damit seine Theorie vom Signifikanten.57 Dass wir hier und entsprechend unserer Vorgangsweise auf Lacan treffen, ist aber kein bloßer Zufall: „Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass mehr noch als die Traumdeutung Freuds Buch über den Witz am laufenden Band Argumente für Lacans Rekonstruktion der Freud’schen Theorie in Signifikanten-Begriffen liefert.“ (Pontalis 1998, S. 10). Sich im Weiteren auf den Inhalt der von ihm zusammengefassten Lacan’schen Seminare IV–VI beziehend, stellt Pontalis fest, dass Lacan in diesen „… die Grundschritte für eine psychoanalytisch-rekonstruktive Erklärung der Genese des Moralischen, des Rechtlichen und des Ökonomischen“ zeige, da „die Kategorien Gabe, Tausch, Anspruch – auch im Sinne von Rechtsanspruch – und Rückforderung (Vergeltung) …“ entfaltet werden. Er fährt fort: „Natürlich 56 Vgl.: „Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen.“ (Barthes 1964, S. 191, zitiert nach Pagel 1989, S. 8). 57 S. dazu etwa Barthes 1964, S. 31ff; Barthes 1953, S. 94ff; s. auch Pagel 1989, S. 37ff bzw. Fink 1995.
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Joachim Prandstetter hat dies viel mit der Ausarbeitung einer strukturalen Psychoanalyse in Analogie zur strukturalen Linguistik, vor allem aber zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss zu tun, dem nicht nur eine dynamische Tauschtheorie zu verdanken ist, die unter die zirkulierenden Objekte auch die Frauen zählt, sondern der an diese diachronische Dynamik das synchronische Gefüge eines in Oppositionsbeziehungen aufgebauten Symbolischen anschloss, das sich in der Wiederkehrbewegung von Mythen und Ritualen beständig reproduzierte.“ (Ebd., S. 13). Damit ist sein Vorgehen in Verkehrung der historischen Verhältnisse nicht nur dem unseren methodisch analog zu sehen, es bildet vielmehr auch die Matrix unseres Ansatzes ab. Darüber hinaus macht uns Pontalis darauf aufmerksam, dass wir auch in unserer Funktion zwei Achsen entdecken können: Eine, die hier unter Bezugnahme auf Lévi-Strauss als jene der diachronischen Dynamik bezeichnet wird, und eine zweite, nämlich jene des synchronischen Gefüges des Symbolischen. Die beiden Achsen spannen bei uns die Begriffe „Nützlichkeit“ als eine diachronisch beschreibbare Dynamik und „Bedeutung“ als ein synchronisches Gefüge des Symbolischen auf. Im Falle des Opfers sehen wir, wie sich die erste, die x-Achse, von der Tötung des Opfertiers bis hin zur Nahrung zieht, und zwar als eine, die gleichsam gekreuzt wird von der zweiten, der y-Achse, auf der sich die Haupthandlung des „Verzichts“ als synchronisches Gefüge des Symbolischen abbildet. Die hier von Lévi-Strauss verwendete Matrix leitet sich her von de Saussures sprachwissenschaftlichen Untersuchungen, in denen er auf sprachlicher Ebene in vergleichbarer Weise eine syntagmatische und eine paradigmatische Achse unterscheidet.58
8.2. Die Kette der Signifikanten und der „unbewusste Einschlag“ Was die Theorie des Signifikanten59 betrifft, erklärt Pontalis, dass Lacan 1955/56 noch von einer Duplizität von Signifikant und Signifikat als materieller und ideeller Ordnung ausgehe, schließlich aber zu einer Autonomie des Signifikanten gelange. So komme es zu einer Topologie des Signifikanten, 58 Vgl. de Saussure 1931, S. 108. 59 Ohne hier darauf eingehen zu können, sei nur erwähnt, dass im Rahmen der indischen Sprachphilosophie Theorien entwickelt wurden, von denen es sich lohnen könnte, sie Lacans Theorien gegenüberzustellen – etwa wenn im Rahmen buddhistischer Erkenntnistheorie mit Hinblick auf die Frage des Denotats des Wortes und angesichts des Problems der Universalia, die Theorie entwickelt wurde, dass beispielsweise das Wort „Topf “ eine doppelte Negation zum Gegenstand hätte, indem es die Abwesenheit all dessen bezeichnet, was „nicht Topf “ ist. Im Übrigen hat sich de Saussure natürlich auch mit dem Sanskrit beschäftigt.
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Der Messie immer schon in uns die von zwei Zuständen desselben ausgehe. Der unbewusste Einschlag in den Diskurs, welchem wir schon begegneten, als wir Freuds Beobachtungen zum Witz referierten, werde dabei von Lacan als Effekt einer signifikanten Kette rekonstruiert, die eine Bahn supponierter Intentionalität schneide.60 Dieser unbewusste Einschlag in den Diskurs komme etwa in jenem von Freud als Beispiel für den Witz herangezogenen Versprecher „famillionär“ zum „Vorschwein“.61 Dass dieser Ansatz für unser Anliegen höchst interessant ist, ergibt sich leicht erkennbar daraus, dass wir mithin ein „Substrat“ fassen könnten, indem er die Handlungsebene und die Sprache als einen Spezialfall derselben auf die gemeinsame Wirksamkeit des Signifikanten zurückführt und damit sprachliche Strukturen als jene ausweist, durch welche in umfassender Weise „psychische Realität“ strukturiert und determiniert wird. Wie wir im Falle des ersehnten Einfalls – uns und die Daten sammelnd – alle Vorbereitungen treffen, um auf dieses Moment des unbewussten Einschlags hoffen zu dürfen, der uns im Witz ereilt, können wir nun nochmals genauer zu verstehen versuchen, wie dieser „unbewusste Einschlag“ von dem wir im Opfer erfuhren, dass er sich offensichtlich im Satz: „Hier bin ich, der ich bin“ niederschlage, für den Sammler ausnimmt und worauf hin er vielleicht deutet, wenn wir davon ausgegangen sind, dass auch dieser mittels der syntaktischen Verschränkung auf eine Vollständigkeit hin orientiert sei, die W. Benjamin so zu denken gibt.
8.3. Das Objekt In Auseinandersetzung mit der Objektbeziehungstheorie, die auf das Verhältnis des Subjekts zum Objekt und das Maß der Anpassung des Individuums an seine Umwelt abziele, sieht Lacan die Notwendigkeit, sich wieder mit dem Freud’schen Begriff der „Objektfindung“ zu beschäftigen. Ausgehend von den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ stellt Pontalis im Sinne Lacans fest, man fände dort „nirgendwo dieses völlig befriedigende Objekt beschrieben, das vollendete und vollendende (das berühmte genitale Objekt), das den Menschen in seiner letztlich adäquaten Realität begründen würde. Man findet darin etwas ganz anderes: die Vorstellung einer Sehnsucht, die das Subjekt an das verlorene Objekt bindet, und die das Wiederfinden mit dem Zeichen einer unmöglichen Wiederholung markiert. Man kann sich hierbei auf den berühmten Gegensatz zwischen dem modernen Begriff Wiederholung und dem platonischen Begriff Wiedererinnerung berufen: Für Freud 60 61
Lacan stellt dies im Graphen des Begehrens bildlich dar. Vgl. Pontalis 1998, S. 11 bzw. Freud GW VI, S. 14f und GW XI, S. 35.
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Joachim Prandstetter findet die Suche nach dem Objekt eindeutig im Register der Wiederholung statt. Auf diese Weise lassen sich die Opposition und die Komplementarität des Lustprinzips und das Realitätsprinzips verstehen.“ (Pontalis 1998, S. 21f). Die Frage des Objektes bei Freud wäre daher nach Lacan nicht nur eine des Mangels des Objektes, vielmehr sei das Objekt des Begehrens ein „mangelndes Objekt, was immer auch eine Einladung zu einer scheinbar auffüllenden Substitution ist.“ (Ebd., S. 12). Was folgt aber für das Objekt daraus? Während man es gerne mit dem „Realen“ ver wechsle, hebe es sich nach Freud eben nicht von einem Grund der gemeinsamen Realität, sondern vielmehr von einem Grund von Angst ab: „Das Objekt maskiert in verschiedenen Phasen die Angst des Subjektes. So werden wir besser daran tun, statt von der allgemeinen Idee der Objektbeziehungen von der einzigartigen Funktion des Objekts in der Phobie – wo es den Platz eines vorgeschobenen Sicherungspostens einnimmt –, oder im Fetischismus auszugehen.“ (Ebd., S. 23). Es fällt leicht, in der Sehnsucht, die das Subjekt an das verlorene Objekt bindet, indem sie das Objekt des Begehrens als ein mangelndes Objekt ausweist, das begehrende Motiv für die Hinorientierung auf eine Vollständigkeit zu sehen. Im Falle des sublimierten Sammelns scheint sich dem Sammler das „Worauf-hin“ der Sehnsucht zufolge der Sublimierung62 des Triebs im Opfer des Verzichts als „Be-Deutung“ symbolisch zu erschließen, indem die Syntax der Sammlung dem verlorenen Objekt zum Medium wird – vielleicht als Voraussetzung für jenes Moment, das wir als den unbewussten Einschlag kennengelernt haben. Im Gegensatz dazu begegnet uns dieselbe Sehnsucht im Falle des Messies als jene Erwartungshaltung, die jedes einzelne „wiedergefundene Objekt“ zum Zeichen einer unmöglichen Wiederholung macht. Dass sich das Begehren nach dem mangelnden Objekt dabei als auffüllende Substitution von einem Grund der Angst abhebt, konnten wir im Kontext des Opfers eindrücklich sehen, geht es doch letztlich um das Subjekt. Dass das Objekt in der Funktion des Fetischs diese Angst maskiert, weist uns nun darauf hin, davon die symbolische Funktion des Gegenstandes zu unterscheiden, auf welche wir stießen, als wir mit Pominan die Semiophoren bei Maximierung der Bedeutung als Zeichen für ein Unsichtbares verstanden. In diesem Sinne stellten wir angesichts des für Messies spezifischen Modus des Prozessierens fest, dass sich dieser zwar in vergleichbarer Weise wie der Sammler auf den Gegenstand bezieht, der Gegenstand in der Struktur seines Tuns aber dennoch einen vom „Symbol“ unterscheidbaren „Stellen-Wert“ einnimmt – steht er doch für etwas, das da sein sollte, aber fehlt. Somit bezweckt dieses Prozessieren eher die auffüllende Substitution des mangelnden 62 53–70.
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Zum Begriff der Sublimierung bei Freud und Lacan s. auch Nasio 1988, S.
Der Messie immer schon in uns Objektes, als dass sich in ihm die Symbolisierung einer Vollständigkeit ereignen könnte, die dem Bezug auf den Gegenstand beim sublimierten Sammeln Bedeutung verleiht. Es würde den Rahmen sprengen, hier auf die komplexen, das Symbol betreffenden Theorien einzugehen, etwa Freuds Verwendung des Begriffes oder auch die von Jones entwickelte Symboltheorie bzw. das sich unter dem Einfluss anderer Wissensgebiete, insbesondere auch der Linguistik, davon zunehmend ablösende Verständnis, wie es sich etwa in den Arbeiten von Alfred Lorenzer zum Begriff „Symbol“, „Zeichen“ und „Klischee“ niederschlägt (s. Lorenzer 1970; im Besonderen, S. 106ff).63 Es ist jedoch wichtig, hier darauf hinzuweisen, dass mit Hinblick auf das für Messies spezifische Prozessieren von Umwelt in seiner Abgrenzung von jenem, durch welches wir das „eigentliche“ Sammeln charakterisiert zu sehen glauben, Unterschiede festzustellen sind, die sich in der begrifflichen Bestimmung von Fetisch und Symbol wiederfinden. Daher sei auf die zugegeben sehr offene Interpretation des Fetischs verwiesen, die Pontalis an anderer Stelle gibt. In diesem ihn differenzierenden Sinne meint Pontalis, dass „der Fetisch als Deckerinnerung64 gilt, als unbedeutender und zugleich kostbarer, geistig oder gestisch manipulativer Zeuge, hinter dem sich für immer verbirgt und bewahrt, was nicht verloren gehen darf.“ (Pontalis 1970, S. 13). Im Kontext unserer Formel fällt die in dieser Formulierung angesprochene Minimierung von Bedeutung (scil. unbedeutend) bei gleichzeitiger Maximierung der Nützlichkeit (scil. kostbar) auf.
8.4. Erinnerung – Wiederholung Auch der Erinnerung sind wir im Zusammenhang mit dem „Wieder-Holen“ nun schon öfter begegnet, und Benjamin meint in der von uns zuvor herangezogenen Stelle: „Sammeln ist eine Form des praktischen Erinnerns und unter den profanen Manifestationen der ‚Nähe‘ die Bündigste.“ (Benjamin 1927–1940, S. 257). Wenn sich Pontalis (s. Pontalis 1998, S. 22) hinsichtlich des mit dem Zeichen der Unmöglichkeit signierten Wiederfindens dieses verlorenen Objektes auf den Gegensatz zwischen dem modernen Begriff der 63 S. auch Deserno 2006, der diesbezüglich in sehr prägnanter Weise einen Bogen von Freud über Lacan bis zur Theorie der Mentalisierung von Fonagy spannt. 64 Die noch folgenden Überlegungen sind vor dem Hintergrund der Feststellung Freuds in „Zur Psychologie des Alltagslebens“ zu sehen, dass nämlich „die Deckerinnerung ihre Existenz einem Verschiebungsvorgang verdankt“. (Freud GW IV, S. 51).
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Joachim Prandstetter Wiederholung und dem platonischen der Wiedererinnerung beruft, finden wir bei Lacan den erhellenden Hinweis auf Kierkegaard: „Man sage dazu, was man wolle, es wird in der neueren Philosophie eine besonders wichtige Rolle zu spielen haben; denn Wiederholung ist ein entscheidender Ausdruck für das, was bei den Griechen ‚Erinnerung‘ gewesen ist. Wie diese einst gelehrt haben, alles Erkennen sei Erinnern65, so wird die neuere Philosophie lehren, das ganze Leben sei eine Wiederholung. Der einzige neuere Philosoph, der eine Ahnung davon gehabt hat, ist Leibniz. Wiederholung und Erinnerung stellen die gleiche Bewegung dar, nur in entgegengesetzter Richtung; denn woran man sich als Gewesenes erinnert, das wird in rückwärtige Richtung wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung Erinnerung in Richtung nach vorn ist.“ (Kierkegaard 1843, S. 329). In Lacans Lesart Freuds begründet dieses Verständnis die spezifische Natur der „Symbolischen Ordnung“ als Konstituens. Im System ψ aus dem „Entwurf “ den Vorläufer des Unbewussten sehend, bezeuge Freud nach Lacan seine Originalität nämlich, indem dieses System nur im Wiederfinden des von Grund auf verlorenen Objekts befriedigt werden könne: „Auf diese Weise situiert Freud sich von Anfang an in der Kierkegaardschen Opposition, die den Begriff der Existenz betrifft, sofern sie in der Erinnerung oder in der Wiederholung gründet. Wenn Kierkegaard in bewundernswerter Weise in ihr die Differenz der antiken und modernen Konzeption des Menschen unterscheidet, dann wird offenbar, dass Freud der letzteren ihren entscheidenden Schritt abfordert, wenn er dem mit Bewusstsein ineinsgesetzten Menschen als Handelndem die in dieser Wiederholung enthaltene Notwendigkeit raubt. Da diese Wiederholung symbolische Wiederholung ist, stellt sich heraus, dass die Ordnung des Symbols nicht mehr als durch den Menschen konstituiert, sondern als Konstituens begriffen werden kann.“ (Lacan Schriften I, S. 45). Im französischen Original (Lacan Écrits 1966, S. 46) leichter erkennbar als in der deutschen Übersetzung ist die Notwendigkeit der Wiederholung somit dem Menschen geraubt und als Wesensmerkmal der symbolischen Ordnung den Gesetzmäßigkeiten der Kette der Signifikanten (s. u.) inhärent. Und weil es in diesem Sinne zu verstehen sei, „dass die Erinnerung, um die es im Unbewussten, im freudschen, wie sich versteht, handelt, nicht der Ordnung angehört, die man dem Gedächtnis unterstellt, sofern letzteres das Eigentum des Lebendigen wäre“ (Lacan Schriften I, S. 42), sieht Lacan den nicht vom originellen Charakter seiner Erfahrung weichenden Freud gezwungen, 65 Im Rahmen des „Hinduismus“ findet sich in den beiden Begriffen der Śruti und der Smŗti eine interessante Entsprechung: Als Smŗti – das Erinnerte – wird die „Erkenntnis“ im Sinne des „Wissens“ der Überlieferung bezeichnet, welcher die Śruti – das Gehörte – als jene unmittelbare Erkenntnis des Veda gegenübersteht.
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Der Messie immer schon in uns „ein Element herbeizuzitieren, das sie von Jenseits des Lebens beherrscht – und welches er den Todestrieb nennt.“ (Ebd., S. 45). Damit leitet Lacan letztlich Thanatos in Opposition zur „Ordnung des Lebendigen“ als ein der „Symbolischen Ordnung“ inhärentes strukturelles Moment ab, das in der signifikanten Kette als Wiederholung seine Wirksamkeit in der Kategorie der Notwendigkeit entfaltet66: In der Erinnerung im Sinne des Unbewussten resultiert diese Notwendigkeit aus den Gesetzmäßigkeiten der Codierung der signifikanten Kette. Hier sind wir genau bei jener anfangs er wähnten „Notwendigkeit“, die sich nicht in der modernen deskriptiven diagnostischen Kategorie des „Zwangs“ auflösen lässt. Mit Bezug auf das Handeln des Messies möge vorerst noch offenbleiben, was jenes sei, dessen Nähe diese „Erinnerung“ als Bündigste wiederhole? Wir wollen aber festhalten, dass wir „Erinnerung“ somit auf zwei „Ebenen“ zu unterscheiden haben – als Erinnerung in dem Sinne, wie Messies ihre Gegenstände oft als Stütze der Erinnerung an ein vergangenes Ereignis betrachten, und als jene soeben dargestellte im Sinne der Notwendigkeit der Wiederholung. Wir werden diesem Moment auch in der Beschäftigung mit der Literaturgeschichte noch begegnen, wollen uns aber zunächst wieder der Theorie der Signifikanten bei Lacan zuwenden, auch wenn ich natürlich nur versuchen kann, dieser so weit zu folgen, wie es für unsere Zwecke sinnvoll erscheint.
8.5. Der Signifikant und das Subjekt Das System der Signifikanten bildet also die Sprache und ist konstitutives Element der „Symbolischen Ordnung“. Der Signifikant ist nach Lacan primär und produziert in einem geschlossenen differenziellen System, also einem, das in seiner Struktur durch Differenzen der einzelnen Elemente determiniert ist, das Signifikat. Damit greift er als Netz der Signifikanten in die Strukturierung des Subjektes ein.67 Die Wirkung der Signifikanten auf 66 Vgl. auch weiter unten die diesbezügliche Interpretation durch Derrida. 67 Dies hat, wie im Vorhergehenden schon implizit zum Ausdruck kam, weitreichende Folgen, da das Subjekt nicht in eine symbolische Ordnung hineingeboren wird. Vielmehr wird es ausgehend von der Spiegelsituation (vgl. Leiser 2002, S. 33 bzw. Lacan Schriften I) als Effekt der Signifikanten „geschrieben“: „Es gibt eine Wirksamkeit des Signifikanten, die jeder psychogenetischen Erklärung entgeht, denn das Subjekt führt diese signifikante, symbolische Ordnung nicht ein, sondern es stößt auf sie.“ (Pontalis 1998, S. 29). Stellvertretend für die eingangs genannten neurologischen Beobachtungen zur „strukturellen Eroberung“ sei hier Alexander Lurija genannt, der meint, dass äußere Hilfsreize (Sprache, Zahlensystem usw.) wichtige Elemente bei der Schaffung funktioneller Verbindungen zwischen einzel-
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Joachim Prandstetter das Subjekt68 konstituiert nach Lacan somit das Unbewusste,69 weswegen er auch sagen kann, dass das Unbewusste strukturiert sei, wie die Sprache, dass also zwischen seinen Elementen dieselben sprachlichen Beziehungen bestünden, wie die zwischen den Elementen, welche die Sprache konstituieren. Was das Ich betrifft, unterscheidet er dieses radikal vom Subjekt, indem er zwar von Freuds „Das Ich und das Es“ ausgeht, dabei aber das berühmte Konzept des im Spiegelstadium dem Subjekt (je) entfremdeten Ich (moi) mit einbezieht, das nach ihm strukturiert ist wie ein Symptom: „Während das Ich Teil der imaginären Ordnung ist, ist das Subjekt Teil des Symbolischen. So ist das Subjekt nicht einfach ein Äquivalent des bewussten Handlungssinns, welcher nur eine vom Ich produzierte Illusion ist, sondern Äquivalent des Unbewussten: Lacans Subjekt ist das Subjekt des Unbewussten.“ (Ebd., S. 291). Insofern es also das Es ist, das spricht, wenn das Subjekt (je) spricht, dem als „der Andere“ die Seinsweise der Ex-sistenz zukommt, verstanden im Doppelsinn auch als Exzentrizität, ist es nie unmittelbar präsent – „es kommt nirgendwo im Gesagten vor“, es fällt also nicht mit dem grammatikalischen Subjekt des Satzes zusammen, sondern bricht wie im Witz als Diskurs „des Anderen“ von seinem exzentrischen Ort in den Ich-Diskurs ein, diesen gleichsam mit einem „Nein“ unterbrechend, wie es beispielsweise auch an der englischen Ver wendung des but in Aussagen wie: „I cannot deny but that it would be easy“ spürbar wird.70 Beobachten wir also beim Witz den unbewussten Einschlag in den Diskurs des Ich zufolge der signifikanten Kette, die ihre Wirksamkeit nach spezifischen Regeln entfaltet und – wie schon erwähnt – eine Codierung der „Erinnerung“ ihrer „Inhalte“ umfasst, bedeutet dies, dass die unbeabsichtigten Wörter „von einem anderen Ort stammen, einem anderen Agenten als dem Ich. Freud nannte diesen anderen Ort das Unbewusste, und Lacan sagt eindeutig: ‚[D]as Unbewusste ist der Diskurs nen, unabhängigen Teilen des Gehirns seien, sodass Hirnregionen, die vorher unabhängig voneinander arbeiteten, zu Bestandteilen eines einzigen funktionellen Systems werden, welche er unter Verweis auf Leontjew als neue funktionelle Organe bezeichnet: „Die geschichtlich bedingten Mittel zur Organisation menschlichen Verhaltens knüpfen neue Verbindungen in den Aktivitäten des menschlichen Gehirns … Dieses Aufbauprinzip des menschlichen Gehirns bezeichnet Wygotskij (1972) als Prinzip der extrakortikalen Organisation komplexer geistiger Funktionen.“ (Lurija 1973, S. 26f; vgl. dazu auch Habermas 1996, S. 202ff). 68 Wie die Kette der Signifikanten das Subjekt determiniert, illustriert Lacan anhand der im Anschluss daran durch vielfache Interpretationen berühmt gewordenen Erzählung „Der entwendete Brief “ von E. A. Poe. (S. Lacan Schriften 1, S. 10ff). 69 Vgl. Evans 1996. 70 S. dazu Fink 1995, S. 62f.
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Der Messie immer schon in uns des Anderen. Das heißt, das Unbewusste besteht aus den Worten, die von einem anderen Ort als dem der Ich-Sprache kommen‘.“ (Fink 1995, S. 21). Somit wird das, was unbewusst ist, „ohne Wissen der betreffenden ‚Person‘ gewusst: Es ist nichts, was man aktiv oder bewusst erfasst, sondern eher etwas, das passiv registriert, aufgeschrieben oder gezählt wird. Und dieses unbekannte Wissen ist in die Verbindung zwischen Signifikanten eingeschlossen; es besteht in genau dieser Verbindung.“ (Ebd., S. 45).
8.6. Das Reale – die Realität Diese vom Signifikanten aufgebaute „Symbolische Ordnung“ erschafft die „Realität“, indem sie „das Reale“, die dritte Ordnung neben der des Imaginären und des Symbolischen aufhebt. Das Reale ist also als das zu verstehen, was noch nicht symbolisiert wurde. Lacan sagt, dass der Buchstabe das Reale töte (vgl. Lacan Schriften 1, S. 22). Zu einer Fixierung gehöre daher etwas, das nicht symbolisiert wurde, wobei es die Sprache ist, die Substitution und Verschiebung ermögliche – also den genauen Gegensatz von Fixierung. In diesem Sinne „fällt“ das Symptom „gleichsam aus der Sprache“. Hier treffen wir nun also auf die Schnittstelle zur „äußeren Realität“, der wir eingangs die „psychische Realität“ als jene entgegenstellten, von der wir behaupteten, wir müssten sie uns strukturell „erobern“. Es liegt nahe, in diesem Prozess der strukturellen Eroberung des Realen, das uns für immer entzogen bleibt, ja, das als solches durch diesen Prozess zugleich getötet wird – kann die Eroberung doch nicht anders als sprachlich strukturiert sein –, die Symbolisierung als jenes Moment zu erkennen, das wir beim Einfall auf dem Wege der „Verdichtung“ anstreben, das uns im Witz ereilt und das uns in der Haupthandlung des Opfers begegnet, das aber umgekehrt auch für symptomatische Störungen anfällig ist. Aus diesem Grund stellt Lacan mit Bezug auf die Aufgabe der Psychoanalyse fest: „Wenn Freud in der Psychopathologie der Psychoanalyse für ein neurotisches oder nicht neurotisches Syndrom das Minimum an Überbestimmtheit fordert, das ein Doppelsinn dergestalt konstituiert, dass das Symptom zugleich Symbol eines abgestorbenen Konflikts ist und darüber hinaus eine Funktion in einem gegenwärtigen, nicht minder symbolischen Konflikt besitzt … dann ist bereits vollkommen einleuchtend, dass das Symptom sich ganz in einer Sprachanalyse auflöst, weil es selbst wie eine Sprache strukturiert ist, und dass es eine Sprache ist, deren Sprechen befreit werden muss.“ (Lacan Schriften I, S. 108f).
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Joachim Prandstetter
8.7. Die Sprache Ausgehend von der Traumdeutung stellt Lacan methodisch fest, dass es dabei in Kenntnis der rhetorischen Mittel der Sprache, wie der syntaktischen Verschiebung, der semantischen Verdichtung etc., bei dieser Befreiung der „erstarrten“ Sprache des Symptoms um eine „Übersetzung“ gehe, wobei zur Regel erhoben sei, dass „in ihr immer nach dem Ausdruck eines Begehrens zu suchen sei.“ (Ebd., S. 107). Ausgehend von de Saussure und R. Jakobson untersucht Lacan diese „rhetorischen“ Mechanismen, welche die Struktur der Kette der Signifikanten in dynamischer Weise bestimmen. Das Feld der Signifikanten lässt sich dabei in ein Koordinatensystem einschreiben, dessen y-Achse, die paradigmatische Achse, die „Verdichtung“ repräsentiert, während die x-Achse, die syntagmatische Achse, jene der Metonymie, also der Verschiebung, repräsentiert.71 Wir mögen versucht sein, in diesem Netz jenes Bild von Kette und Schuss des Gewebes wiederzuerkennen, von dem eingangs die Rede war. Anlässlich der kurzen Erwähnung des methodischen Vorgehens von Lévi-Strauss fiel uns auf, dass wir in unserer Formel und ihrer Funktionalisierung zwei Achsen entdecken konnten, die jenen, die Lévi-Strauss ver wendet, analog gesetzt werden können. Nun verstehen wir, dass wir, wenn wir unsere Formel dort einschreiben, sie tatsächlich zugleich auch in das Feld der Sprache einschreiben und damit eine Übersetzung der Dynamik des Prozessierens von Umwelt insofern erhalten, als auf diesem Wege ihre Bewegung innerhalb dieses Sprachfeldes abgebildet wird. Nach Einbeziehung des Lacan’schen Ansatzes besitzt dies insofern erhöhte Aussagekraft, als dieses Prozessieren wie die psychische Realität selbst seiner Natur nach immer schon sprachlich strukturiert ist – das heißt aber auch, dass die Übersetzung desselben im Sprachfeld zugleich auch ein Abbild der dadurch „geschriebenen“ psychischen Realität darstellt.
71 Nur am Rande sei erwähnt, dass für de Saussure dies besonders eindrücklich gewesen sein muss, da die morphologischen und syntaktischen Gesetze des Sanskrits eine solche Betrachtungsweise, gerade was die syntagmatische Achse anbelangt, insofern nahelegen, als sich die Wirksamkeit der Kontiguität dort bis hin zu den einzelnen Silben unmittelbar niederschlägt.
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Der Messie immer schon in uns
8.8. Das Feld der Sprache P a r a d i g m a t i k
(Das Reale) Symptomsprache des Messies
Nützlichkeit
Sammeln – Opfer
Symbol – Bedeutung Syntagmatik – Metonymie
Wenn wir unsere Formel nun in dieses Feld einschreiben, repräsentiert die Achse der Metonymie, also jene der Verschiebung, offensichtlich unsere Achse der Nützlichkeit. Im Sinne Lacans wäre sie mit dem Bereich des Imaginären verbunden, dem Ich als „moi“. Auf ihr bildet sich ab, was wir als „syntaktische Verschränkung der Elemente“ bezeichnet haben, welche – mittels der Verschiebung auf ihren Gegenstand hin orientiert – im Sinne einer Maximierung oder Minimierung von Nützlichkeit charakterisierbar ist. Sagen wir beispielsweise: „Wenn er so weitermacht, kommt er langsam aber doch noch …“, stellen wir eine Erwartungshaltung fest, es sei denn, der unbewusste Einschlag in den Diskurs kreuzt die Bahn der hier supponierten Intentionalität. Die syntaktische Verschränkung findet auf der Ebene der einzelnen Wortgegenstände, die entsprechend dem differenziellen System durch die Kontiguität determiniert ist, unter Orientierung auf jenen Satzgegenstand hin statt, durch welchen sich für uns „Realität“ vermittels dieser strukturiert ereignet. Im vorliegenden Beispiel einer signifikanten Kette ergibt sich aber noch keine geschlossene Gestalt, denn noch fehlt etwas. Ergänzen wir nun: „… auf die Sigmund Freud Universität“, beginnt sich die Gestalt zu schließen, wenn wir auch noch immer nicht wissen, ob als Student oder als Patient etc.! Ergänzen wir aber „… auf den Hund!“, kommt es zu einer Verschiebung weg von der „Sigmund Freud Universität“ auf den „Hund“. Aber auch die „Be-deutung“ der einzelnen Wortgegenstände verändert sich – am deutlichsten erkennbar anhand des Wortes „Hund“, von dem wir unmittelbar feststellen können, dass die Art der syntaktischen Verschränkung zwar allenfalls erlaubt, es als Referenz auf den Ort zu verstehen, an dem sich ein Hund befindet, nämlich den am Boden der Vorratstruhe, der dort aufgemalt ist und auf welchen man stößt, wenn alle Vorräte aufgebraucht sind, welche zu bewachen seine Aufgabe gewesen wäre. Eine Dereferenzierung des Wortes im Sinne des Lebewesens ist aber nur mehr im metaphorischen Sinne mög-
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Joachim Prandstetter lich. Gleichzeitig zeigt sich, wie stringent dieses „Netz“ seine Wirksamkeit entfaltet, denn allein die vorangegangene Er wähnung der SFU als mögliche Ergänzung, mag nun bewirken, dass sich die Idee einstellt, er könne sich die Studiengebühren bald nicht mehr leisten usw., usw. Wir sehen hier auch, in welchem Sinne Lacan meinte, dass die signifikante Kette niemals zu einem Ende komme. Während wir nun aber wie Kinder mit den Wörtern spielten als wären sie Gegenstände, zeigte sich zugleich auch jene Bewegung, welche die paradigmatische Achse repräsentiert. Wiederum am deutlichsten am Wort „Hund“ zu erkennen, stellten wird in seinem Zusammenhang die Funktion der Metapher und der Verdichtung fest. Es wird dabei auch leicht einsehbar, dass diese beiden Dimensionen immer eine Funktion bilden, und wir mit den Wörtern eben nicht spielen könnten wie mit Gegenständen, indem wir sie in immer wieder neue Konstellationen zueinanderbringen, wenn wir sie „wörtlich“ verstünden, als auf etwas ihnen ein für alle Mal Zugeschriebenes hin fixierte. Wir könnten dann aneinanderreihen, was immer wir wollten, wir kämen zu keiner Bedeutung, die sich aus ihnen ergäbe, allenfalls würden wir uns dabei, wäre dies denn möglich, in pathologischer Weise aus der sprachlich strukturierten symbolischen Ordnung bewegen. Vielleicht können wir im Wort des Dichters etwas davon erahnen: Es schlug einer, ein Lehrer, mit dem Stock auf den Tisch: Zu sterben, das ist Grammatik! Ich lachte. Nimm den Leib wörtlich, das Wort leiblich. Ich lachte. Ich starb.72
8.9. Das Einschreiben der Formel in das Feld der Sprache Es macht nun keine Schwierigkeit, das Sammeln, wie wir es formalisierten, in diese Matrix einzuschreiben. Das „Sprechen“ des Sammlers löst in seinem Prozessieren die einzelnen Elemente aus dem Kontext ihrer Nützlichkeit. Um sie im Goethe’schen Sinne des „Besitzens“ in jenes neue System der Sammlung überführen zu können, müssen sie, auf der x-Achse verschoben, ihrer Nützlichkeit beraubt – und dadurch auf der Klippe des Rückfalls in die „Irrationalität ihres bloßen Vorhandenseins“ stehend – gleichsam aus dem Bereich des „Realen“ strukturell wieder erobert werden, um auf dem Wege 72
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Der Messie immer schon in uns fortschreitender „Verdichtung“ auf der paradigmatischen Achse als „Erworbene“ in der denkbar engsten Beziehung der symbolischen Ordnung auf eine Vollständigkeit hin orientiert sein zu können.73 Hier wird für uns auch der Unterschied des „sublimierten Sammelns“ gegenüber jenem erkennbar, das lediglich „Geschäft“ ist. Sammelt man Dinge um ihres finanziellen Wertes willen, als Geldanlage sozusagen, vollzieht man diese Wandlung im Bezug zu ihnen nicht – die Dinge werden dadurch nicht in unserem Sinne zu einer symbolischen Ordnung hin verdichtet, orientiert auf eine Vollständigkeit hin, sie bleiben auf der Achse der Nützlichkeit – werden dort allenfalls zu einem höheren finanziellen Wert hin verschoben. Dabei nehmen sie deutlich erkennbar auch die Stelle von etwas anderem ein, sind also Stellvertreter für Geld, „Fetische“ im weiteren Sinne eben! Diese Bewegung wäre in unserer Matrix der ersteren gegenläufig und entspräche einer von der „Bedeutung“ weg hin zum „Nutzen“, selbst wenn dieser dem Betreffenden viel „bedeutet“.74 Wir verstehen sogar, warum salopp ausgedrückt, Geld nicht glücklich macht – der Maximierung von Nützlichkeit sind wohl Grenzen gesetzt, weswegen der Utilitarismus wohl auch nur die Schattenwelt einer Utopie beschreibt. Man könnte sich aber auch fragen, wie sich in diesem Zusammenhang die Aufklärung in ihrem Bezug zur gegenständlichen Welt darstelle: Ob sie den ihr scheinbar vorgezeichneten „Rückfall“ in den Mythos nicht der Eigengesetzlichkeit dieses Sprachfeldes verdanke, indem die fortschreitende Verschiebung zur Nützlichkeit des Gegenstandes den Begriff seiner Bedeutung beraube? Uns stellt sich nun aber die Frage, wie sich innerhalb dieses Feldes jenes Prozessieren der Messies, welchem wir unterstellten, sich der Mimikry des Sammelns zu bedienen, abbilden ließe? Wir stellten bereits fest, dass ihr Prozessieren der Umwelt auf der Achse der Nützlichkeit gegen null gehe, welcher Umstand der tautologischen Natur geschuldet ist, welche die von ihnen bevorzugte syntaktische Verschränkung der Elemente charakterisiert. Wir könnten auch sagen, sie tendierten dazu, ihren Satzgegenstand syntagmatisch auf „das bloße Vorhandensein in seiner Irrationalität“ hin zu verschieben, sodass er ohne die Wiedergewinnung auf der paradigmatischen Achse für etwas stehen würde, dessen Fehlen die Orientierung auf eine Vollständigkeit hin negiere – ja geradezu verbiete. Und tatsächlich findet sich diese Negation auch in vielen der für sie typischen selbst-referentiellen Aussagen. Mit den geschäftsmäßigen Sammlern teilt ihr Sprechen die Verschiebung auf der Achse der Nützlichkeit, nur unter gleichsam umgekehrten Vorzeichen. 73 Wir werden diesem Durchgang durch den Nullpunkt der Nützlichkeit auch bei der ökonomischen Betrachtungsweise begegnen. 74 Vgl. auch Abschnitt 9.3.
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Joachim Prandstetter In dieser gegenüber dem Sammeln und dem Opfer gegenläufigen Bewegung auf beiden Achsen und damit letztlich gleichsam weg von der Orientierung auf eine Vollständigkeit hin, bleibt innerhalb dieser Matrix allenfalls nur die Hypothese einer Verschiebung und „Verdünnung“ hin zum Realen, von welchem Lacan sagt, dass es das „Unmögliche“ (Lacan Se 11, S. 152) sei – das, „was unmöglich imaginiert oder in die symbolische Ordnung integriert werden kann, und jedenfalls nicht zu erlangen ist.“ (Evans 1996, S. 251).
8.10. Der Mangel Natürlich – wir wussten, dass es nicht „das Reale“ an sich sein könne, so wie der Messie in seinem symptomatischen Tun ahnt, dass nicht die „reale Zeitung“ – um ein besonders prominentes Objekt zu nennen – das Objekt seines Begehrens ist, das sich von einem Grund der Angst abhebe. Wir dürfen nun aber wohl annehmen, dass die Zeitung an der Stelle von etwas steht, das vom Messie als etwas, das real sein sollte, aber fehlt, imaginiert wird: Dass sie also für das Objekt des Begehrens steht, das jener schon genannte Mangel des Objektes ist. Im Mangel, als der Negation des Vorhandenseins eines Realen, ist das Reale nämlich „gegenwärtig“. Pontalis exemplifiziert dies im Rahmen der Theorie der Herausbildung der Objekte anhand des „Fort, Da“-Spiels aus Freuds „Jenseits des Lustprinzips“, in dem sich der Agent der Versagung, die Mutter, herausbilde: „Denn was geschieht, wenn die Mutter nicht mehr auf das Drängen des Begehrens antwortet, wenn sie nach ihrem Belieben, antwortet? Sie wird real, sie wird Macht. … Alles in allem beobachten wir eine Positionsumkehrung. Die zuvor symbolische Mutter wird real und die realen Objekte werden symbolisch.“ (Pontalis 1998, S. 29f). Den Mangel selbst differenziert Lacan den drei Registern entsprechend weiter als Privation, die sich auf ein symbolisches Objekt bezieht, als Kastration, die sich auf ein imaginäres Objekt bezieht, und als Frustration oder Versagung, die sich auf das reale Objekt bezieht. Wenn wir somit das Prozessieren von Umwelt als Prozessieren des „Realen“ verstehen, lässt sich das symptomatische Sprechen des Messies, das sich in der Mimikry des Sammelns zeigt, in unsere Matrix als eines einschreiben, das sich gleichsam regressiv im Register des Realen auf ein reales Objekt der Frustration bezieht, wobei dem Mangel im Register des Imaginären die Kastration entspräche. Die Entwicklung des Realitätsprinzips aus dem Mangel ableitend, führt Pontalis an, dass mit dem Begriff der „Realität“ in der Psychoanalyse immer der Doppelsinn von „Lust“ und „Realität“ verbunden sei, wie wir ja schon ganz zu Anfang unserer Beobachtungen, Freuds Begriff der psychischen Realität referierend, feststellten. Man neige nun heute dazu, das Lustprinzip mit der mütterlichen Brust gleichzusetzen, während das Realitätsprinzip durch
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Der Messie immer schon in uns den Umstand, dass das Kind im Zuge fortschreitender Desillusionierung lernen müsse, Frustration zu ertragen, zu seiner Geltung komme. Das Winnicott’sche Konzept des Übergangsobjektes kritisch in Frage stellend, merkt er an, dass sich darin ein merkwürdiges Vergessen eines wesentlichen Bereichs psychoanalytischer Erfahrung offenbare: das Vergessen des Begriffs des Fehlens des Objekts (manque de l’objet). Die Verwendung der „Vokabel frustration“ führe deshalb heute insofern zu Ver wirrung, als Freud, wie Pontalis im Sinne Lacans weiter ausführt, sich mit Bezug auf das Fehlen des Objekts auf ein Drittes beziehe: „Freud hat zwischen Mutter und Kind einen dritten Term eingeführt, ein imaginäres Element, dessen signifikante Rolle vorrangig ist: den Phallus.“ (Pontalis 1998, S. 26f). Im Folgenden differenziert Pontalis in für uns äußerst erhellender Weise die drei bereits genannten Formen des Mangels und ihre entsprechenden Objekte, wobei diese in ihrer „ontologischen“ Kategorisierung voneinander zu unterscheiden seien. Die Versagung (frustration) sei von ihrem Wesen her der Bereich der Rückforderung, der ungebändigten Forderungen, ohne Bezug zu irgendeiner Möglichkeit von Befriedigung. Ihr Mittelpunkt sei eine imaginäre Beschädigung (ein Schaden). Die Privation hingegen sei etwas Reales: ein realer Mangel, ein Loch im Realen. Die Kastration, welche seit Freud eher vernachlässigt als vertieft worden sei, ließe sich nur in Verbindung mit der Ordnung des Gesetzes – des in der Struktur des Ödipus und des Inzestverbotes gegenwärtigen Gesetzes – und mit dem Register der Sanktion begreifen. Die Objekte der drei Formen des Mangels bestimmend, fährt er fort: „Was ist das also für ein Objekt, das in diesen drei Fällen fehlt? Im Falle der Kastration ist das, was fehlt, offensichtlich nicht ein reales Objekt … das Objekt der Kastration ist imaginär: es ist der Phallus. Im Gegensatz dazu ist das Objekt der Frustration, so imaginär sie auch ist, sehr wohl ein reales Objekt; es ist … der Penis als Organ. In der Privation schließlich ist das Objekt symbolisch: Denn in einem bestimmten Sinne ist das Reale immer voll: ein Objekt fehlt an seinem Platz nur, wie man es von einem Werk im Regal einer Bibliothek sagt, weil es da sein sollte.“ (Ebd., S. 26f).
8.11. Metatheoretische Hypothese Im Sinne dieser Differenzierung des Mangels des Objektes als das, worauf hin die spezifische Bewegung, oder besser die spezifische Fixierung, der symptomatischen Sprache des Messies orientiert ist, können wir diese in ihrem Bezug zum Realen, der sich als Mimikry des Sammelns figuriert, nun abbilden. Im gegenstandsbezogenen Prozessieren des Messies erkennen wir dabei die im Register der Wiederholung angesiedelte Suche nach dessen Objekt als dem mangelnden Objekt des Begehrens in seiner Funktion der auffüllen-
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Joachim Prandstetter den Substitution dieses dreifach unterteilten Mangels. Wir können aber auch verstehen, welch buchstäblich seitenverkehrte Widerspiegelung der „Figur“ der Sprache des Opfers doch jene des Messies in der Matrix abbildet – die im Messie gespiegelte Figur des Prozessierens wirft das seitenverkehrte Spiegelbild des Opfers als Gestalt des Ödipus zurück: Müsste er die symbolische Schuld durch die Blendung symbolisch sühnen, um die Dinge auf dem Wege der Symbolisierung wieder sehen zu können als das, was sie sind – Augen besitzen, um nicht zu sehen – also, um in der „Durchquerung“ des Ödipuskomplexes auf die Imagination der Kastration zugunsten der symbolischen Ordnung verzichten zu können? Dem auf den drei Ebenen differenzierten Mangel als Gegenstand des Sprechens des Messies entspricht im Opfer in Verkehrung der unbändigen Rückforderung der Verzicht gemäß der Ordnung des Gesetzes des Rituals, also die „Ver-Nichtung“ des kleinen Teils der vom Eros gestellten Forderung im Register des Realen als jenes Moment des Übertritts in die symbolische Ordnung, welche die imaginäre Ordnung von der realen trennt. Ist es auf diese Weise, dass der Mythos des Orpheus, des sublimierten Dionysos, sich zu dem des Ödipus stellt? Erinnern wir uns daran, was Lacan über den Signifikanten sagt – er tötet das Reale! Wenn wir es nun wagen, die Frage erneut zu stellen, was jenes sei, dessen Nähe diese „Erinnerung“ als bündigste wiederhole, wird unmittelbar klar, dass der Gegenstand des Messies von diesem auf dem Wege der Verschiebung als Deckerinnerung75 mit der Notwendigkeit prozessiert wird, die diese zufolge der Unmöglichkeit zur symbolischen Ordnung zu gelangen als Wiederholung dessen signiert, das sich dahinter verbirgt: die Dynamik des Ödipuskomplexes als die Herausforderung des Übertritts in die symbolische Ordnung. Über die Grenzen der „Sprachbarriere“ zwischen objektbeziehungstheoretischem und strukturalistischem Ansatz hinausgehend und das Problem der Grenze zwischen „realer“ und „symbolischer Ordnung“ als genuin an die Struktur der Sprache gebundenen psychoanalytischen Topos ausweisend, der die in der „psychischen Realität“ eingeschlossene Achse von 75 Vgl. die Perspektive Freuds mit Bezug auf die Deckerinnerung: „Der Erfolg des Konflikts ist also der, daß anstatt des ursprünglich berechtigten ein anderes Erinnerungsbild zustande kommt, welches gegen das erstere um ein Stück in der Assoziation verschoben ist. Da gerade die wichtigen Bestandteile des Eindrucks diejenigen sind, welche den Anstoß wachgerufen haben, so muß die ersetzende Erinnerung dieses wichtigen Elements bar sein; sie wird darum leicht banal ausfallen. Unverständlich erscheint sie uns, weil wir den Grund ihrer Gedächtniserhaltung gern aus ihrem eigenen Inhalt ersehen möchten, während er doch in der Beziehung dieses Inhalts zu einem anderen, unterdrückten Inhalt ruht.“ (Freud GW I, S. 536).
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Der Messie immer schon in uns Selbstrepräsentanz und Externalisierung tangiert, sei hier nur auf die Theorien zum Sprachapparat in der frühen Arbeit Freuds „Zur Auffassung über die Aphasien“ verwiesen. Von dieser ausgehend zeichnet Didier Anzieu die Entwicklung der Topik des psychischen Apparates über den „Entwurf “ bis hin zu „Das Ich und das Es“ als eine nach, die eng mit der Entwicklung der Theoreme verbunden ist, welche sich Termini wie „Wortvorstellungen“ versus „Objektrepräsentanzen“, „Kontaktschranke“ etc. anschließen (vgl. Anzieu 1985, S. 98ff). Wenn Sie mich nun der Banalität bezichtigen, insofern diese Überlegungen letztlich in der Erkenntnis resultieren, dass wir wieder bei jenem „archäologischen Feld“ angelangt sind, das die Urfantasien bis hin zum Ödipuskomplex aufspannen, haben Sie in einem gewissen Sinne recht. Wenn die Argumentation aber haltbar ist, wüssten wir, jenseits der Ver wirrung, die das Symptom hervorruft, wo wir zu suchen hätten. Andererseits wäre bestätigt, dass das, wovon Messies in ihrer symptomatischen Sprache sprechen, so anders nicht ist, auch wenn sie den Konflikt damit in einem besonderen Dialekt zur Sprache bringen – einem Dialekt, der uns in Kenntnis der ihn bestimmenden „Lautgesetze“ nicht mehr länger unverständlich scheinen muss: Ein Dialekt aber auch, der so gesehen, den „paralysierten“ Messie nicht nur im Sinne der Abwehr schützt. Er schützt ihn in seiner Möglichkeit des Agierens im Sinne des „Wider-Stands“ auch gegen ein rückwärts zum Ursprünglichen hin gerichtetes „Auf-Lösen“ (analyein), gegen die Analyse also, und somit vor der Therapie – der „Widerstand“ ist hier „Gegenstand“ geworden –, wörtlich, nicht metaphorisch – ganz wie es des Wortes „Gegenstand“ althochdeutsche Bedeutung ist – und paradox genug zugleich zu dem, was Objekt der Archäologie ist! In diesem Sinne gerät die Forderung an den Messie, sich vom Gegenstand zu lösen, zur Paradoxie. Wir könnten uns im individuellen Fall beispielsweise überlegen, ob die Dinge des Messies „reale Briefe“ aus der ersten Lacan’schen Phase des Ödipus sind, gerichtet an eine Mutter, von der das Kind erkennt, dass es in Ermangelung des Phallus ihren aus dem Begehren er wachsenen Mangel nicht füllen kann76 – sodass wir vielleicht weniger fragen sollten, „wozu“ er die Dinge sammelt, sondern „für wen“ – wodurch wir von der Achse der Nützlichkeit, auf die er uns verführt hat, wieder zur symbolischen kämen? Wir könnten uns anhand der individuell vorherrschenden Mechanismen der Verleugnung und der Verwerfung die Grenzbereiche zur Perversion und zur Psychose überlegen. Wir hätten
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S. dazu Evans 1996, S. 208ff und S. 160.
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Joachim Prandstetter jedenfalls die Mimikry des Sammelns auf eine analytische Basis zurückgeführt, mit der sich klinisch arbeiten und sich die individuelle Gestaltung der Symptomsprache der Messies in all ihren Färbungen entziffern lässt. Hier wäre dann aber auch die Verzahnung mit der Aufklärung und der „modernen“ Gesellschaft zu suchen, die sich in der Frage konkretisieren ließe, ob sich denn das Selbstverständnis dieser Aufklärung, wie schon öfters angesprochen, nicht geradezu als jene Schwelle zur Symbolisierung anböte, über die ein derart strukturierter Konflikt zu stolpern mehr als bereit sein dürfte? Am Anfang dieses „metatheoretischen“ Abschnittes fragten wir uns, ob es eine mit unserem methodischen Vorgehen vergleichbare Instanz der Kulturgeschichte gäbe, um dort eventuell unsere Ergebnisse einschreiben zu können. Auf diesem Wege wollten wir die Struktur jenes für den Messie typischen Prozessierens in Abgrenzung vom eigentlichen Sammeln genauer bestimmen. In Lacans Lehre eine solche Instanz gefunden habend, warf sich die Frage auf, ob wir die Struktur dessen genauer bestimmen können, das sich im Moment des unbewussten Einschlags für uns ereignet, wenn dieser uns im Witz ereilt, wir ihn im Einfall erhoffen und er, wie wir annahmen, im System des Opfers in jenem Satz: „Hier bin ich, der ich bin“ seinen bündigsten Ausdruck findet? Ohne weiter auf die komplexen Theorien Lacans vom Subjekt eingehen zu können, die dieser aus den hier nur skizzenhaft referierten Ansätzen entwickelt, seien in diesem Sinne zwei Aussagen Lacans zum Witz erwähnt, die uns zumindest einen Eindruck davon vermitteln können: „In der Sprache tritt als die andere Seite der hoheitlichen Macht des Witzes die Pointe auf, mit der dieser sein ganzes Reich in einem Augenblick vernichtet. Durch sie erweist sich in der Tat sein schöpferisches Handeln als absolute Zweckfreiheit, in der die Herrschaft über das Reale sich als Herausforderung des Unsinns ausdrückt, in der der Humor durch die bösartige Anmut eines freien Geistes eine Wahrheit symbolisiert, die ihr letztes Wort nicht ausspricht.“ (Lacan Schriften I, S. 110). In jenem Einschlag ereignet sich also das Subjekt des Unbewussten, aber es zeigt sich seiner Natur gemäß im Unterschied zur Kette der Signifikanten als „Flüchtiges“. In diesem Sinne bestätigt Lacan unsere eingangs geäußerte Bestimmung dessen, das sich als uns Entzogenes präsentiert, wenn er meint: „Nirgends wird denn auch die Intention des Individuums deutlicher durch den Einfall des Subjekts überholt; nirgends ist die Unterscheidung, die wir zwischen Individuum und Subjekt machen, spürbarer; denn es ist nicht bloß erforderlich, dass etwas an meinem Einfall mir fremd gewesen ist, damit ich an ihm Gefallen finde, vielmehr muss es das auch bleiben, damit er diese Wirkung erzielt.“ (Ebd.,
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Der Messie immer schon in uns S. 111). Auf diese Weise also ist der „Einfall“ – gelingt er nach den Regeln der Zurichtung des Rituals, das ihn beschwört – das „Einfallen“ des Subjekts des Unbewussten in den Diskurs.
9. Reentry 9.1. Ein soziologischer Blickwinkel Vor diesem Hintergrund können wir nun anhand einiger weiterer Instanzen aus der Kulturgeschichte überprüfen, inwieweit sich Aspekte, die sich inzwischen als Kristallisationspunkte des semantischen Feldes unseres Phänomens herausgestellt haben, Leitmotiven gleich wiederfinden lassen bzw. welchen Wandlungen sie eventuell unterworfen sind. So sei unser Verständnis vom Phänomen des Sammelns in Abgrenzung von dem, was Messies tun, gleichsam dem Weg des hermeneutischen Zirkels unter worfen, wenn wir es nun darauf anwenden wollen, was etwa der Soziologe Alois Hahn über das Sammeln sagt: „So wie sich im Camus’schen Mythos des Sisyphos die Absurdität der ewigen Strafe in dem Moment auflöst, wo Sisyphos sich entschließt, die an sich sinnlose Tätigkeit als sinnvoll zu unterstellen, so wird generell der vorher belanglose Gegenstand durch eine Bedeutungsinvestition von großer Relevanz. Dass ein Bierdeckel aufhört, das zu sein, wozu er dient, und Element einer Sammlung wird, gelingt aufgrund einer solchen Umdeutung der Wirklichkeit. … ähnlich wie beim Spielen vollziehen sich beim Sammeln Umwertungen der sonst geltenden Mittel-Zweck-Relationen.“ (Hahn 2000, S. 460f). Unschwer erkennen wir die Elemente unserer Formel auf den dynamisierten Achsen von Nützlichkeit und Bedeutung. Wir treffen aber auch auf die spezifische Einschätzung des „Bloßen an sich“ des „Realen“, hier in der Widerspiegelung der Dialektik von Sinn und Unsinn als Absurdität bezeichnet, welche den Autor veranlasst, das Sammeln mit der Religion zu vergleichen: „Der Vergleich mit der Religion zeigt demgegenüber wohl ebenfalls funktionale Äquivalente; denn gerade dass etwas, obwohl es zu nichts dient, doch nicht als sinnlos erfahren wird, verknüpft es mit religiösen Erfahrungen, deren tieferer Sinn ebenfalls in der Bannung der Absurdität besteht.“ (Ebd., S. 461f). Allerdings weiß Hahn auch die Grenzen der Funktion einer möglichen „Sinngebung“ anzugeben. Während nämlich die religiöse Sinngebung das ganze Dasein umspanne (wir denken an unseren Vergleich mit dem Opfer), weise das Glück des Sammelns, innerhalb einer „geschlossenen Sinnprovinz“ kaum über sich hinaus: „Wo dies doch der Fall wäre, wo wirklich jemand für seine Sammlungen lebte, vielleicht
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Joachim Prandstetter sogar ihretwegen, da wäre freilich die Grenze überschritten. Da wären die Sammelobjekte nicht nur im metaphorischen Sinne zu Kultgegenständen geworden.“ (Ebd., S. 461f). Dass das System „Sammlung“ also nur „sinnvoll“ funktionieren kann, wenn ihre Elemente im „metaphorischen Sinne als Kultgegenstände“ prozessiert werden, wirft die Frage auf, als was sie in einem Fall prozessiert werden, in welchem die Selbstbeschränkung des Systems in seinem Sinnanspruch, der Triebverzicht (?), nicht eingehalten werde: „… die wirklichen Kultgegenstände verdanken ihren Rang ja nicht sich selbst, sondern der Bedeutungsinvestition, deren Träger sie sind. Das leuchtet uns vor allem bei primitiven Religionen durchaus ein, deren fetischistischer Charakter uns leichter durchschaubar ist. Wie viele Menschen es bei uns gibt, die aus ihren Sammlungen ihre Götzen gemacht haben, darüber gibt es keine Untersuchungen.“ (Ebd., S 462). Auch Hahn zieht also eine Trennlinie zwischen metaphorischer und fetischistischer Verwendung und vermutet für den letzteren Fall eine „Dunkelziffer“. Diese Betrachtungsweise kann uns vielleicht auch einen Hinweis darauf geben, warum sich die Spur der Messies in der Rezeption verschiedenster Bereiche der Kulturgeschichte so schwer ausmachen lässt. Der „Unsinn“ ist noch nicht so lange Gegenstand des Interesses, tritt er nicht in Gestalt einer ihn dann überblendenden Inszenierung der Tragödie auf. Letztlich entzündete sich das nicht selten schamlos voyeuristische Interesse am Phänomen des Messies der heutigen Zeit ja auch nicht zuletzt an der mit ihm einhergehenden Dramatik. Die sinngebende Funktion des Sammelns führt Hahn in einer für uns nicht mehr überraschenden Weise auf eine „symbolische Vollständigkeit“ zurück. Entscheidend nämlich, so meint er weiter, sei „dass durch Sammeln eine in sich sinnvolle Welt entsteht. Die Vollständigkeit als Sammlerziel hängt eng mit diesem Aspekt zusammen. Teilweise lässt sich auch der Hang zum Plural beim Sammler … aus diesem Motiv als symbolische Vollständigkeit erklären.“ (Ebd., S. 462). So rechtfertige sich „der Vergleich von Sammlungen mit irdischen Paradiesen, waren sie doch im Persischen ursprünglich Gärten mit Sammlungen, in denen symbolisch die ganze Tier- und Pflanzenwelt um das Weltzentrum des herrscherlichen Sammlers herum gruppiert war.“ Diese Paradiese waren dabei „als symbolische Repräsentanten des Kosmos“ (ebd., S. 462) gedacht. Wie Benjamin meint: „Das Phänomen der Sammlung verliert, indem es sein Subjekt verliert, seinen Sinn.“ (Benjamin 1931, S. 221), so stellt sich also auch für Hahn die Frage nach dem Subjekt der Sammlung. Implizit auf die Aufklärung und die Abwehrfunktion von Intellektualisierung und Rationalisierung eingehend, meint er, die mit der Herrschaft des blind Objektiven einhergehende „Annullierung“ des erotisierten Subjekts beklagend: „Die Entzauberung der Welt ist auch eine Entzauberung der irdischen Para-
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Der Messie immer schon in uns diese. … Die moderne Vollständigkeit des Zoos oder des Museums hat kein individuelles Zentrum: Da, wo einst Adam und Eva oder der Großkönig lustwandelten … haust eben jetzt die Wissenschaft. Die Idee der Vollständigkeit der Erfassung der Welt ist zwar geblieben, aber, und das ist ein Aspekt der Krisis der europäischen Wissenschaft, die mit anderen Hoffnungen aufbrach: Ihre Perfektion baut keinen sinnlich erfahrbaren Kosmos um den Menschen herum auf. Sie ist enterotisierend. Ihre Gärten sind vollständiger als Eden, aber keine Paradiese.“ (Ebd., S. 462). Selbst wenn sich der Eindruck einstellt, Hahn kenne Benjamin, wenn er ihn auch nicht explizit erwähnt, dürfen wir in Benjamins Ansatz, auf den wir uns in so grundlegender Weise gestützt haben, damit einen erkennen, der jedenfalls seinen Platz auch in der Soziologie gefunden hat.
9.2. Ein sozialökonomischer Blickwinkel Schon lange unterteilen Sozialökonomen „besitzbare“ Dinge in „transient“, also vergängliche, und „durable“, dauerhafte. Der Wert der einen sinkt dabei gegen null, der der anderen steigt ins Unermessliche. Die Analogie zu unserer Formel bedarf keiner weiteren Kommentierung. Bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts gab es in der Ökonomie keine Theorie darüber, auf welche Weise Übergänge von der einen zur anderen Kategorie möglich wären. Mehr noch: Man dachte explizit, dass eine diesbezügliche Theorie gar nicht formulierbar wäre! Zu dieser Zeit entwickelte der Kultursoziologe Michael Thompson eine diesbezügliche Theorie, und zwar im Zuge dessen, dass er feststellte, dass es neben den beiden bereits bekannten Kategorien von Objekten noch eine dritte, eine versteckte Kategorie gäbe, nämlich den Müll. Müll hat aber den Wert von null und ist damit unsichtbar für die Sozioökonomie. Und es ist nach seiner Theorie genau jene Kategorie des Mülls, die die Verbindung zwischen Vergänglichem und Dauerhaftem herstellt, und zwar in Form einer zirkulären Dynamik (vgl. Thompson 2003). Es bedarf keiner sonderlichen Fantasie, um zu erkennen, dass die Sozialökonomie in der ihr eigenen Sprache von eben denselben Funktionen spricht, die wir soeben beschrieben haben. Es entbehrt insbesondere in unserem Kontext jedoch nicht einer gewissen „Komik“, wenn in dieser Sprache, die sich auf die äußere Realität in ihrer Relation zur sozialen Wirklichkeit bezieht, der Gegenstand am Durchgangspunkt durch die „Null-Position“ als „Müll“ bezeichnet wird – in unserer Matrix wäre dies jener durch ein nicht mehr relativierbares Minimum der Nützlichkeit bestimmte Punkt, welcher mit jenem der Unmöglichkeit einer Symbolisierung zusammentrifft, pointiert gesagt, also jener Punkt, der für das Reale charakteristisch ist! Sensibilisiert durch die Beschäftigung mit dem Witz, sollten wir aber vielleicht nicht vorschnell
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Joachim Prandstetter die Komik lediglich als Anlass zum Schmunzeln gering schätzen. Vielleicht könnte sich im Zusammenhang mit unserer Matrix ja gerade hier eine Möglichkeit eröffnen, das „Messie-Phänomen“ vom „Vermüllungssyndrom“ genauer abzugrenzen?
9.3. Der größere Kontext der Wirtschaftswissenschaften Ein Hinweis – wenn es mehr als ein solcher auch nicht sein kann – auf die Relevanz des Phänomens des Hortens in seiner volkswirtschaftlichen Dimension soll hier nicht unterbleiben. Dass es eine solche geben würde, kann nicht verwundern, wenn wir daran denken, dass wir das Phänomen des Sammelns bzw. des Hortens schon von Anfang an vor dem Hintergrund der ökonomischen Verteilung von Ressourcen zu sehen gezwungen waren. Die eigendynamische Komplexität und die zweifelsohne gegebene Vielfalt seiner Erscheinungsformen, in welcher jenes in den Wirtschaftswissenschaften schon lange zum Thema geworden ist, mag den Anspruch auf seine grundsätzlich psychologische Determiniertheit als ungenügend reduktionistisch erscheinen lassen. Wenn aber etwa die große Ökonomin Joan Robinson in ihrem bereits 1938 erschienenen Artikel „The concept of Hoarding“77 die Zirkulation des Geldes im Verhältnis zu jener der Waren, also der Verteilung der Güter des Lebens, problematisiert, öffnet sie von der ökonomischen Seite her den Zugang zu jenem Aspekt unseres Phänomens, der sich uns schon beim vedischen Ritual als eine Ausprägung seines Kontextes zeigte. Eine zugegeben willkürliche Stichwortsuche zeigt weiter, dass die Wirtschaftswissenschaften jene uns interessierende spezifische Weise des Prozessierens von Umwelt mit Hinblick auf ganz verschiedene Objekte für untersuchenswert betrachtet und damit eine durchaus globale Relevanz sich darin manifestierender gesellschaftlicher Entwicklung belegt. Dazu gehören etwa Begriffe wie „labor hoarding“, „reserves hoarding“, „cash hoarding“ oder auch „information hoarding“. Die zunehmende Abstraktionsebene der Behandlung basaler Mechanismen suggeriert eine scheinbare Ablösung der Problematik von der Ebene des „Realen“, sollte aber wohl nicht mit der Funktion der Symbolisierung in unserem Sinne verwechselt werden. Natürlich wäre erst auszuweisen, in welcher Weise und in welchem Ausmaß jene Kräfte, die aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive in gesellschaftlichen Dynamiken zur Wirkung gelangen, mit jenen verglichen oder sogar analog gesetzt werden können, durch welche wir die Psychodynamik des Individuums in seinem Verhältnis zur (gesellschaftlichen) Um77 Robinson, Joan: The Concept of Hoarding; in The Economic Journal, Vol. 48, No. 190 (Jun., 1938), S. 231–236.
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Der Messie immer schon in uns welt bestimmt annehmen. Dass die Möglichkeit einer solchen analogen Betrachtungsweise jedoch vom Fach selbst eingeräumt wird, belegt beispielsweise der Nationalökonom Fritz Machlup, wenn er Nationen wie Individuen betrachtet und Dynamiken dieser Größenordnung metaphorisch mit Verhaltensmustern gleichsetzt, welche auf individueller Ebene beobachtbar sind. Die von ihm explikativ gewählten Metaphern erhalten in der Folge auch in der fachlichen Auseinandersetzung begrifflichen Rang, etwa als „the catching-up-with-the-Joneses-effect“ bzw. „the Mrs Machlup’s wardrobe hypothesis“. Um einen Eindruck von den Größenordnungen und dem globalisierten Maßstab zu erhalten, sei hier stellvertretend für viele andere Belegstellen wie auch viele andere Ausprägungen, in denen sich das Phänomen zeigt, auf ein Paper von Yin-Wong Cheng und Xing Wang Qian mit dem Titel „Hoarding of international reserves: Mrs Machlup’s wardrobe and the Joneses“ verwiesen, vorgelegt im Juli 2007 als CESifo78 Working Paper No. 2065: “Motivated by the observed international reserve hoarding behavior in the post-1997 crisis period, we explore the Mrs Machlup’s wardrobe hypothesis and the related keeping up with the Joneses argument.79 It is conceived that, in addition to psychological reasons, holding a relatively high level of international reserves reduces the vulnerability to speculative attacks and promotes growth.” Nach der Finanzkrise sei, so erfährt man weiter, vor allem in China, Japan, Korea, Malaysia und Taiwan eine beunruhigende Entwicklung zu beobachten: “... the dramatic jumps in international reserve holdings raise concerns in both policy and academic circles. In general, it is perceived that some of these economies are holding international reserves at a level that is difficult to be rationalized by conventional factors. … While excessive international reserves offer some benefits, they carry substantial negative implications for both domestic economies and global imbalances, and thus, can be a serious threat to the stability of the world economy.” Ohne dieser Problematik weiter folgen zu können, scheint sich am Beispiel des Geldes in besonderer Weise zu zeigen, wie es aus dem größeren Zusammenhang gelöst, dem des Tausches nämlich, diesen nicht nur zum Erliegen bringt (wie bei den Messies geht der Nutzen verloren), sondern dadurch, auch seiner „imaginären“ Funktion beraubt, zu dem wird, was es ist – Papier eben – oder das Bloße „an sich“ der Materie des Goldes (vgl. auch Ab-
78 Ein Forschungsverbund, bestehend aus dem Center for Economic Studies (CES), dem ifo Institut für Wirtschaftsforschung und der CESifo GmbH (Münchener Gesellschaft zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften). 79 “On his wife’s dress need, Machlup (1966, S. 26) suggests that it depends ‘on the Joneses with whom she wishes to keep up’.” (Ebd.).
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Joachim Prandstetter schnitt 8.9).80 Als solches wird es für das Subjekt zu jenem Fetisch, welcher an der Stelle steht, wo etwas sein sollte, aber fehlt, und ist zugleich damit nicht mehr länger genuiner Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften, sondern vielmehr einer der Psychologie. Die metaphorische Terminologie Machlups mag uns dabei folgerichtig an die bereits von Panksepp (vgl. Abschnitt 5.2) dargestellte Ausgangsproblematik gemahnen, die in der vedischen Opferdynamik eine Antwort gefunden haben mag, welche darauf abzielt, das Subjekt in seiner Not des Mangels zu transzendieren.
9.4. Das Selbstverständnis des Sammlers in der Renaissance Sprachen wir schon bei der Untersuchung des Umgangs mit Gesammeltem im Zusammenhang mit den kaum überblickbaren vedischen Textsammlungen von einem Ablösungs- und Individuationsprozess, findet sich dieser Aspekt auch im Selbstverständnis des „sammelnden Menschen“ zumindest seit der Renaissance repräsentiert. So sieht etwa Horst Bredekamp in der Sammeltätigkeit mit Beginn der Renaissance die Selbstverortung des Menschen auf einem Kontinuum, für das stellvertretend die Stichwörter „Naturform“ – „antike Skulptur“ – „Kunstwerk“ – „Maschine“ stehen mögen – ein Ordnungssystem, wie es sich dann auch in den musealen Sammlungen selbst wiederfindet (vgl. Bredekamp 1993, S. 33). Bredekamp zeigt, wie sich im Selbstverständnis des Sammelns der Renaissance die „Ablösung“ des Menschen aus der Natur – der mythischen Zeit – selbst reflektiert. Die Antiken – zugleich Grundlage der eigenen Kultur und dennoch kategorial den Fossilien zugerechnet (Ebd., S. 19) –, mit den ersten Maschinen der Erde abgerungen, werden dadurch zum Bild für die aufgeklärte Dichotomie zwischen Natur und Mensch. Mit dem Naturforscher verband dabei den Kunstsammler die Vorstellung, dass die Antiken zwischen Natur und Mensch zu vermitteln vermögen.81 Wieder begegnet uns das Sammeln also als eine Form des Prozessierens von Umwelt, die dem 80 Im Zusammenhang mit der Ablösung des Geldes vom realen Substrat seines Tauschwertes könnte auch der Vergleich mit der im Rahmen der Entwicklung des Opfers beschriebenen Marginalisierung von Tötung und Nahrung interessant sein. 81 Im Bereich der Kunstgeschichte betont Boch in ihrer Untersuchung zu Jacob Burckhardts Text „Die Sammler“ den von jenem thematisierten zyklisch wirkenden Einfluss der Sammler auf die Entwicklung der Kunst und Kultur im Sinne jenes selbstreflexiven Prozesses, dem wir auch schon beim Opfer begegneten: „In der Figur des Sammlers sah Burckhardt einen Rezeptor, der wie ein Seismograph auf die kulturgeschichtlichen Erschütterungen seiner Zeit reagierte und diese zu einem Kunsturteil verdichtete. Sammler und Besteller waren für ihn folglich Akteure eines
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Der Messie immer schon in uns Menschen seinen eigenen Individuations- und Separationsprozess widerspiegeln soll, die Ablösung von der Mutter Erde – aber auch dem Dunklen, dem „inneren Afrika“ eben. In diesem Zusammenhang treffen wir auf ein Moment, das uns schon wohlbekannt ist: Das er wachende Selbstbewusstsein des Menschen der Renaissance findet seinen symbolhaften Ausdruck in der Identifikation des Sammlers mit Prometheus, welcher spätestens seit Plinius als Schutzpatron der Sammler gilt (Bredekamp 1993, S. 26). Verbunden sei das Sammeln, wie Bredekamp meint, mit Prometheus unter anderem „wegen der assoziativen Verbindung der promethischen Schöpferkraft mit der Leidenschaft des Sammelns“.82 Dass es Leidenschaft sei, die den Sammler treibe, wird uns nicht wundernehmen. Wenn wir bedenken, dass wir dem Sammeln zugesprochen haben, eine Sublimierung des Eros zu sein, stellt auch die assoziative Verbindung mit der Schöpferkraft keine Überraschung mehr dar, zumal Freud dies bestätigt, selbst wenn er die Verbindung mit der Leidenschaft in der Leber des Prometheus begründet sieht, die für ihn das Feuer symbolisiere, so, „dass dann ihre tägliche Aufzehrung und Erneuerung eine zutreffende Schilderung von dem Verhalten der Liebesgelüste ist, die, täglich befriedigt, sich täglich wiederherstellen.“ (Freud GW XVI, S. 6f). Das Feuer selbst wird dadurch bei Freud aber zum Bild für die Libido, und das ist für uns interessant, ist es doch das Feuer, in dem der kleine Teil des Opfertieres seine Vernichtung findet! Das Feuer selbst hatten wir in unserer Analyse des vedischen Opfers noch ganz ausgespart. Wenn wir nun sagen, dass der Opferer den materiellen Teil des Todes symbolisch der Libido überlasse, auf dass er durch sie vernichtet werde – ist das wohl ein kaum in aller Tiefe auszulotendes Bild, treffen hier auf der Triebebene doch Eros und Thanatos aufeinander. Wir können fantasieren, dass der Opferer im Umstand, dass das Feuer den Tod „frisst“, seine Hoffnung bestätigt finde, dass Eros über Thanatos siegt – und dadurch erst das tote Fleisch, statt Ausdruck des Todes zu sein, zu Leben spendender Nahrung transformiert wird. Damit diese Wandlung aber möglich ist, muss der Opferer symbolisch verzichten. Ich wage es kaum zu sagen, aber die Parallelen sind trotz der Verschiebung der Rollen unübersehbar: Die Rolle des Feuers übernimmt der daher nicht zufällig zölibatäre Priester – als Stellvertreter des nicht zufällig geopferten
auf Kulturrezeption und Kulturprägung basierenden Kreislaufs des Geschmacks.“ (Boch 2004, S. 92). 82 Darüber hinaus auch, weil „Prometheus seit Plinius die Fähigkeit zugesprochen worden war, mit Metall und Edelstein die härtesten und kostbarsten Naturstoffe verarbeitet und die Menschen gelehrt zu haben, Fingerringe als erstes Sammlerobjekt zu tragen.“ (Ebd., S. 26).
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Joachim Prandstetter göttlichen Sohnes, während im Avesta das Feuer als solches vergöttlicht wurde und in Indien sich das Individuum durch das Introjekt des Feuers selbst transzendierte. Aber wer ist Prometheus: Der Demiurg, der aus Lehm den Menschen formt und darüber hinaus der Kulturheros schlechthin, der ihm nicht nur das Feuer bringt, sondern nach dem Mythos des Hesiod im olympischen Opfer auch noch trickreich zum Fleisch der Opfertiere verhilft. Seiner Intervention ist es nämlich zu verdanken, dass die Funktion des kleinen Teils des getöteten Opfertiers, den wir aus der Haupthandlung des vedischen Opfers bereits kennen, im olympischen Opfer lediglich die mit Fett und Aromen bestrichenen Knochen desselben erfüllen (vgl. Heesterman 1993, S. 12). Auffällig ist diese Verbindung zwischen dem Feuer, dem Opfer und dem Sammeln schon. Wie wir metaphorisch gesprochen im Sammeln bereits die Domestikation der Gier, die Sublimierung des Triebes, vermutet haben und im Opfer die Domestikation des Kampfes um die Verteilung der Güter, also des Fleisches der domestizierten Opfertiere, könnten wir analog auch für das Feuer eine Vermutung anstellen. Was bedeutet es, wenn Prometheus im Mythos den Menschen das Feuer bringt? Nichts anders als die Domestikation des Feuers, das jenes als Beherrschbares in die Gewalt des Menschen bringt. Um dies aber zu bewerkstelligen, ist ganz sicher eines nötig: das Sammeln von Brennmaterial als jenes Sammeln, das wie keines nach ihm Kultur befördert hat. Hier wird aber in für das Symbol typischer Weise auch etwas anderes deutlich: Das Sammeln ist so nicht nur Ausdruck der Sublimierung des Triebes, es ist darüber hinaus auch das Mittel, ihn zu sublimieren.83 Wenn wir dies auf die Messies umlegen dürfen, würde das bedeuten, dass diese spezifische Form der Mimikry des Symptoms uns sagen will, dass die Sublimierung des Triebes missglückt ist! Sollten wir die Sublimierung des Triebes als seine „Organisation“ bezeichnen wollen, könnten wir das Phänomen, wie es ja auch geschieht, als „Desorganisationssyndrom“ bezeichnen – ob wir damit aber in einer nicht doch sehr verengten Weise nur einen deskriptiven 83 Im Text „Zur Gewinnung des Feuers“ deutet Freud ausgehend vom „mongolischen Verbot auf Asche zu pissen“, die Gewinnung desselben zufolge des Triebverzichts, der im Verbot der Löschung des Feuers durch Prometheus kulminiere: Die zweifache Funktion des Glieds des Mannes in ihrer Gegensätzlichkeit, nämlich der Entleerung des Harns und der Ausführung des Liebesaktes, veranlasse uns, meint Freud, zu sagen, „dass der Mensch sein eigenes Feuer durch sein eigenes Wasser lösche“. So betrachtet, könnte der dem „Sammeln“ implizite Aspekt des Triebverzichts noch bildhafter verstanden werden, indem das „Sammeln“ bezogen auf beide, das Wasser wie das Feuer, zum Symbol einer Sublimierung wird, welche ihre Kraft aus der Dialektik von Eros und Thanatos gewinnt.
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Der Messie immer schon in uns Aspekt zum Anlass der Namensgebung machten, bleibe dahingestellt, es sei denn, wir verstehen die Desorganisation als eine innere. Dass die Menschen der Renaissance an die Stelle des Brennmaterials das technologische Kulturprodukt ihrer Zeit als Metapher für die Ablösung von Naturzeitlichem setzten, könnte die innere Verbindung des Sammelns und des Opfers mit der Aneignung eines Selbst-Verständnisses von Kultur in dem Sinne erneut bestätigen, dass der Triebverzicht also jene Gottheit wäre, dem die modernen Kulturleistungen zu verdanken seien.
9.5. Ein literaturgeschichtlicher Blickwinkel Wenden wir uns nun noch kurz der Literaturgeschichte zu und behalten wir dabei nicht nur das Sammeln selbst im Auge, sondern auch die explizite oder implizite Bewertung des darin zum Ausdruck kommenden Verhältnisses zum Gegenstand. In Adaption unserer Ergebnisse könnten wir im Bereich der Literatur in diesem Sinne etwa nach Repräsentationen suchen, in denen die Minimierung der Nützlichkeit dessen, was Sammler tun, bei gleichzeitiger Maximierung der Bedeutung ihres Handels thematisch in den Vordergrund der Darstellung rückt, und zwar sowohl mit Hinblick auf sie selbst als Subjekt der Sammlung als auch mit Hinblick auf den gesellschaftlichen Kontext. Wenn wir die Geschichte der Literatur daraufhin ansehen, dürfen wir davon ausgehen, dass die „Un-Ordnung“ als natürlicher Kontext menschlichen Lebens in einer sachlichen Weise erst in dem Moment als zunehmend uner wünscht auffällt, in dem des Menschen Verhältnis zu der ihn umgebenden Welt aufgeklärt rationalisiert ist, sodass die zunehmende natur wissenschaftliche Relativierung von Raum und Zeit deren Begriffe in ihrer selbstgewählten Funktion zur Stabilisierung und Strukturierung menschlicher Lebenswelt im entsprechenden Maß erst eigentlich festgeschrieben hat. Was das Verhältnis zur umgebenden Welt angeht, wissen wir anhand der Entwicklung der frühmittelalterlichen Beichtspiegel, wie der Soziologe Alois Hahn84 festgestellt hat, dass „Sünde“ zunächst am Verhalten festgemacht wurde und für seelisch-psychische Impulse erst noch eine Terminologie und mit ihr die entsprechende introspektive Grammatik, sie zu erkennen, entwickelt werden musste, in welchem Prozess Eva Jaeggi eine Vorform der Psychologie erkennen kann. So verwundert nicht, dass die moralische Qualität zunächst noch mehr am Umgang mit dem Gegenstand festzumachen ist und erst allmählich zu einer inneren, seelischen Dimension des handelnden Subjektes wird. 84
Jaeggi 1995, S. 80f; vgl. auch Hahn 2000, S. 198ff.
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Joachim Prandstetter Als ältesten Beleg des Wortes „sammeln“ führt das Grimmsche Wörterbuch ein Gedicht des Dichters Hugo von Trimberg (1260–1309) an, von dem leider nur der Titel „Der Sammler“ erhalten ist – von dem wir aber annehmen dürfen, dass es in hohem Maße lehrhaften Inhalt gehabt haben mag. Eine interessante Belegstelle findet sich in Dantes Beschreibung des Infernos: Im vierten Höllenkreis finden nach Dante jene ihre Bestrafung, die gegen die rechte, weil durch Fortuna als göttlich vorgegebene, Verteilung der Gegenstände verstießen. Dante kennt zwei Pole: die Geizigen, Raffgierigen und ihnen gegenüber die Verschwender. Die Vertreter beider Gruppen müssen in jenem Höllenkreis schwere Steinblöcke vor sich her und aufeinander zu schleppen, sodass sie im Zentrum aufeinanderkrachend ihrer Last verlustig gehen und an den Beginn, den Rand des Kreises, zurückzukehren haben, um von dort erneut schwere Blöcke aufzunehmen (vgl. Dante 2007, S. 29f). Neben dem moralischen Aspekt darf uns dieser ewige Kreislauf auffallen, der durch den totalen Verlust dessen, um das sie sich bemühen, charakterisiert ist und der bezeichnenderweise für beide gilt, aber im Auge des jeweils anderen komplementär bewertet wird. In beiden Fällen aber ist es ein Verlust – kein Verzicht! Im Verlauf der Literaturgeschichte wird die Moral immer mehr zum Surrogat der erzählten Geschichte und die Sünde zunehmend als eine gegen den Menschen bzw. sein Leben gerichtete verstanden. Letztlich können wir in Balzacs Erzählung vom Vetter Pons die gleichen Elemente finden wie in Dantes Inferno. Ein ganzes Genre französischer Literatur, das um das Thema des Sammelns kreist, nimmt mit Balzac seinen Anfang (s. Watson 1999). Der Sammler wahn, auf der einen Seite, trifft auf die ihm komplementäre Triebverirrung der Verschwendung auf der anderen. Wie bei Dante die Vertreter der Raffgierigen den Verschwendern zurufen, so würde die Haushälterin dem in ärmlichen Verhältnissen lebenden Pons, der bezeichnenderweise noch nie sexuellen Kontakt mit einer Frau hatte, mit Hinblick auf seine unbezahlbare Sammlung zurufen: „Was hältst du fest?“ und er würde antworten: „Was vergeudest du’s?“ Beide Parteien scheinen sich zwar an Fortuna zu vergehen, die die Güter der Welt aufteilt unter den Menschen und Völkern, in den Vordergrund aber tritt das Netzwerk eines Begehrens, das in keinem Objekt seine Befriedigung finden kann: Trotz seiner sublimierten Kultur verbundenheit erliegt auch Pons der sich Thanatos zuneigenden Dynamik des Sammelns: War, diesem immer schon in ihr schlummernden entgegenzuwirken, die Sammlung jener Ausdruck, welcher ihren kulturellen Wert bestimmte, so treiben nun beide unbarmherzig der Auflösung zu – kann doch auch Pons der „rohen“ Gier seiner Haushälterin nicht den erlösenden
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Der Messie immer schon in uns Verzicht auf das eine oder andere Stück entgegensetzen, um sich aus ihren todbringenden Machenschaften zu befreien. Dem unerbittlichen Gesetz des raffiniert gesponnenen Geflechts jener Machenschaften gehorchend, löst Pons im „Gegen-Stand“ sich auf, während in ihm ihres Subjektes verlustig gehend, seine Sammlung stirbt, ohne dass entschieden wäre, wer an wem zerbricht: Von den Geiern niederer Motive zerfressen, bleibt nichts als seine Leiche. Entschieden aber ist, dass das Sammeln nicht am Sammeln zerbricht, es vielmehr an Pons zerbricht, indem er am Triebverzicht zerbricht – während die Sammlung mit ihrem Subjekt zerbricht. Was uns Balzac so eindrucksvoll zu zeigen scheint, ist, dass der Weg in die Auflösung jener ist, welcher deren Kräfte auf dem Wege der Regression entfesselt. Doch es kommen auch andere Perspektiven ins Bild: Bei Stifter etwa finden wir die verklärende Beschreibung des „Trödels“ und „Plunders“, in denen das Andenken und die Erinnerung an seinen Urgroßvater gespeichert erscheint, und der so tief wirkt, obwohl, „es eigentlich Trödel war“. Stifter sinniert „in der Mappe seines Urgroßvaters“: „Wie der Mensch doch selber arbeitet, dass das vor ihm Gewesene versinke, und wie er wieder mit seltsamer Liebe am Versinkenden hängt, das nichts anderes ist, als der Weg wurf vergangener Jahre. Es ist dies die Dichtung des Plunders, jene traurig sanfte Dichtung, welche bloß die Spuren der Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit prägt, aber in diesen Spuren unser Herz oft mehr erschüttert als in anderen, weil wir auf ihnen am deutlichsten den Schatten der Verblichenen fortgehen sehen, und unsern eignen mit, der jenem folgt.“ (Stifter 1841, S. 12) Wir müssen allerdings bemerken, dass wir es bei Stifter offensichtlich eher mit einem Angehörigen zu tun haben, der sich das Messie-Verhalten seines Großvaters zu erklären sucht. Es ist aber erst in diesem 19. Jahrhundert, dass der Lumpensammler beginnt, die Epoche zu faszinieren, wie W. Benjamin schreibt: „Die Blicke der ersten Erforscher des Pauperismus hingen an ihm wie gebannt mit der stummen Frage, wo die Grenze des menschlichen Elends erreicht sei.“ Ein Blick, der nach Aleida Assmann vor allem durch Baudelaires Texte geprägt sei, und dem von ihm beschriebenen chiffonier als Produkt der modernen Großstadt (s. Assmann 1999, S. 384ff).
9.6. Die „familiäre“ Symbiose mit dem Gegenstand Nun, ich fürchte, ich habe in der Literatur, zumindest in der älteren, keine Darstellung eines genuinen Messies in unserem Sinne gefunden, wenn auch Aspekte jenes Prozessierens von Umwelt in Szene gesetzt werden, die wir hinter der Maske des Sammelns beim Messie vermuten. Was dabei aber auffällt, sind die Abgründe, und nicht nur jene der Melancholie, die sich
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Joachim Prandstetter dem Sammler auftun, mit dem Atemzug, in dem unabwendbar zur Gewissheit wird, dass er – Leib und Seele den Dingen, den Seinen, verschrieben – ihnen, was ihm Schicksal scheint, eingeschrieben und überantwortet hat. Von „ihnen“ spricht schon Goethe in einem wahrlich unauflösbar „famillionären“ Doppelsinn als „den Seinigen“, wenn er im entsprechend titulierten Text „Der Sammler und die Seinigen“ diese am Ende 40000 Objekte (s. Asman 1997, S. 125) in acht „Briefen“ als das über die Generationen hinweg identitätsstiftende Zentrum des Familienlebens in Szene setzt. Auch bei Benjamin erscheinen sie ununterscheidbar von Familienmitgliedern, wenn er von der „Springflut von Erinnerungen“ spricht, „die gegen jeden Sammler anrollt, der sich mit den Seinen befasst“. (Benjamin 1931, S. 214). Das Objekt, meint Carrie Asman in ihrer Interpretation dieser Briefe Goethes weiter, werde „nachträglich mit Ereignisstruktur aufgeladen und als Gegenstand staunender Rührung derart mit persönlicher und historischer Resonanz befrachtet“, dass seine kategoriale Zuordnung nicht mehr eindeutig festzulegen sei: „Wenn es nicht zur Naturgeschichte gehört, gehört es dann zur Historie, ist es Teil einer Erzählung, ist es Exponat einer Wunderkammer, oder ein Fetisch, das heißt, eine Geschichte, die sich als Objekt verkleidet?“ (Asman 1997, S. 131). So verdichten sich nach ihrer Auffassung die „magischen Spuren des Fetischs und des Authentischen, die die Trauerarbeit des Hinterbliebenen entlasten“, um „das Trauma der Vergänglichkeit und des Verlusts durch die Allmacht der Gegenwart zu tilgen.“ (Ebd., S. 132f). Tatsächlich gerät Goethe die Darstellung seiner Sammlung zum Anlass, eine typologische Schematisierung der künstlerischen Zugangsweisen, also eine Typologie des Prozessierens von Objekten, zu entwerfen. Diese Zugangsweisen können in ihrer Innigkeit85 „naturalistische“ Züge annehmen, sich „nachahmend“ gebärden, sich „wirklichkeitsfordernd“ aufführen, imaginieren und manirieren etc.: „Meine Schwester starb noch jung und schön, ihr Mann malte sie im Sarge. Seine Töchter, die, wie sie heranwuchsen, die Schönheit der Mutter, gleichsam in zwey Portionen darstellten, konnte er vor Wehmut nicht malen. Oft stellte er die kleinen Geräthschaften, die ihr angehört hatten und die er sorgfältig bewahrte, in Stillleben zusammen, vollendete die Bilder mit der größten Genauigkeit …“ (Goethe 1788/89, S. 29). In dieser Innigkeit der Verbindung, einem Nabel gleich, sind alsbald die Positionen nicht mehr deutlich unterscheidbar – was ist Bild und was sein Abbild? Im Bemühen um den Begriff des Ästhetischen spannt sich ein Kontinuum auf hin bis zur Fra85 Vgl. auch: „Wir haben heute Mühe, uns die Intensität des früheren Verhältnisses zwischen Menschen und Dingen verständlich zu machen.“ (Ariès 1978, S. 176; s. auch seine Bemerkungen zur Entwicklung der Darstellung der Objekte in der Kunstgeschichte S. 171ff).
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Der Messie immer schon in uns ge, was ist Wirklichkeit und was ihre Katharsis? Angesichts der Feststellung seines Gesprächspartners, eines jungen Philosophen, dass wohl nirgendwo Schrecken und Tod entsetzlicher wüte als bei der Darstellung der Niobe, stellt Goethe ver wundert fest: „Ich erschrack über eine solche Assertion … ich finde keine Spur von wüthenden Schrecken des Todes, vielmehr in den Statuen die höchste Subordination der tragischen Situation, unter die höchsten Ideen von Würde, Hoheit, Schönheit, gemäßigtem Betragen.“ (Ebd., S. 63). Legt hier, selbst in meiner extrem verkürzten Darstellung, die dichterische Sprache nicht von der ganzen Bandbreite eben jener Funktionen des Prozessierens Zeugnis ab, die wir im Feld der Sprache abbilden konnten? Das Reale wird im Symbolischen greifbar, das Lebendige zum Fetisch des imaginierten Bildes der verstorbenen Frau – die Töchter ver weisen auf den Mangel des begehrten Objekts an der Stelle, an der es sein sollte, aber fehlt – ohne Möglichkeit zur Symbolisierung. Der Gegenstand ist hier tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes aus seinem Kontext und dem der Nützlichkeit genommen, dem der Welt der Gegenständlichkeit nämlich, und bildet mit dem Sammler fortan eine Einheit, in welcher er diesem auf eine zwar neue, aber zugleich umso vertrautere Weise „entgegensteht“. Asman macht uns aber auch auf den für uns interessanten Hintergrund eines besonders beliebten Sammelobjektes aufmerksam: „Durch das Tragen von Porträtmedaillons der abwesenden Eltern, vor allem der Väter, sollten im vorrevolutionären Frankreich unklare Familienverhältnisse oder Verwandtschaften sichtbar gemacht werden, um die Trägerinnen vor den Konsequenzen einer undurchsichtigen beziehungsweise illegitimen Herkunft zu schützen.“86 All diese „Dinge“ – so viel scheint zumindest in diesem Kontext deutlich zu werden – sind keine Übergangsobjekte, es sind Imagines, eingebettet in den jeweiligen familiären „Komplex“. So sind konnotativ mit dem Phänomen des Sammelns begegnende Termini wie „Erinnerung“, „Schicksal“ und „Tod“ unübersehbar – erstaunlich, bei einem Thema, das doch angeblich so lustbetont sei. Diese Dramatik, weniger die der Unordnung, von der Benjamin meint: „So ist das Dasein des Sammlers dialektisch gespannt zwischen den Polen der Unordnung und der 86 Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch die Beobachtung, die Baudrillard macht, wenn er den Wandel des „modernen Verhältnisses zu den alltäglichen Gegenständen“ beschreibt: „Noch ein weiteres Ding ist zugleich mit dem Spiegel verschwunden: das Familienporträt, das Hochzeitsbild im Schlafzimmer, die Büste des Familienoberhauptes im Salon und die umrahmten Kindergesichter fast an jedem Ort. Sie alle, die gleichsam der Zeitspiegel der Familiengeschichte sind, verschwinden mit dem echten Spiegel …“ (Baudrillard 1968, S. 33).
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Joachim Prandstetter Ordnung“ (Benjamin 1931, S. 215), scheint das Sammeln, aber auch die Sammler selbst zu bestimmen: die Verbindung mit dem Tod – ein dichterischer Topos? Sicher – aber warum geht er eine so deutliche Verbindung mit dem Thema des Sammelns ein? Ist es die Unsicherheit, welche die Sublimierung zu ihrem Wesen hat, zumal ihr implizit ist, zu fordern, was einzulösen dem Sammler so schwer möglich scheint. Zielt die Dichtung hier anstelle des Objekts, das sich von einem Grund von Angst abhebt, auf eine Angst ab, in der das „Sammeln von Objekten“ seinen Grund hat – jene, vielleicht, vor dem Rückschlag in den Mythos, vor welchem wir so wenig sicher sein können, wie „Kultur“ von sich aus „geschieht“ – Angst also, vor dem Rückschlag in den Mythos des Ödipus? Jedenfalls tritt dieser Topos im Zusammenhang mit der immer inniger werdenden Verbindung des Sammlers mit seinen Gegenständen auf – jener Schicksalsgemeinschaft auf einem Kontinuum zwischen Leidenschaft und sinnlicher Lust bis hin zum Verderben auf Leben und Tod. Dabei scheint immer mehr Leben und Gesundheit aus dem Leib des Sammlers zu weichen, als müsse er damit den Gegenstand nähren, als flösse ein Teil seines Lebens in diesen libidinös besetzten Gegenstand, ja als schlüpfe er selbst förmlich in diesen. Rückwärtsgerichtet ist diese Symbiose mit dem Gegenstand als Aggregat einer Erinnerung an eine ungewisse Zukunft, die im Gegenstand selbst antizipiert wird. Man mag Freuds Feststellung assoziieren, wonach alles Denken nur ein Umweg von der Erinnerung an eine Befriedigung zu der identischen Besetzung derselben Erinnerung ist, die auf dem Wege der motorischen Betätigung wieder erreicht werden kann. Nur – im Falle des Sammlers, oder sollten wir hier doch eher vom Messie sprechen, scheint sie nicht über diese motorische Betätigung erreicht werden zu können, hat doch deren Rolle bereits der Gegenstand eingenommen. Aber bleiben wir noch bei dem Bild des „Nabels“ in dieser eigenartig unheiligen Allianz mit dem Gegenstand, von dem er sich offensichtlich nicht „abnabeln“ kann. Vergessen wir nicht, wie sehr die Abstraktion als Mittel sich aus der Identität von Gegenstand und Begriff zu befreien, erst der Aufklärung geschuldet ist. Noch Leibniz vertrat die Meinung, dass zu den Spezifika eines Gegenstandes, welche in einer sogenannten „deutlichen Erkenntnis“ erfasst werden, auch Bestimmungen wie etwa die Angst und Hoffnung zählen, die durch eben diesen Gegenstand ausgelöst werden (vgl. Bredekamp 2004, S. 13). Und die Position einer „Vernunft als Aufklärung“ mit ihrer klar abgegrenzten Differenzierung von Begriff und Gegenstand führt, wie Bernd Nitzschke zeigt, ja letztlich zu eben jenem „Zwang zur Vernunft“, der nach Freud das Unbehagen in der Kultur speist (vgl. Nitzschke 1990, S. 17).
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10. Die „Dekonstruktion“ Wenn wir nun zum Schluss noch einmal auf unsere Funktion im Sprachfeld zurückkommen, möchte ich versuchen, sie konsequent zu Ende zu denken. In unserer metatheoretischen Analyse des spezifischen symptomatischen Prozessierens des Gegenstandes durch den Messie stellten wir fest, dass dieses charakterisiert wäre durch die unbändige Rückforderung anstelle des Verzichts auf den kleinen Teil mit Hinblick auf die vom Eros gestellte Forderung als Voraussetzung für jenes Moment des Übertritts in die symbolische Ordnung, welche die imaginäre Ordnung von der realen trennt. Wir meinten dann, dass der Gegenstand des Messies von diesem auf dem Wege der Verschiebung als Deckerinnerung mit der Notwendigkeit prozessiert werde, die diese zufolge der Unmöglichkeit, zur symbolischen Ordnung zu gelangen, als Wiederholung dessen signiert, das sich dahinter verbirgt. Davon ausgehend und den familiären Kontext als auslösenden Hintergrund der Dynamik berücksichtigend, behaupte ich nun: Sie können mit nach Hause nehmen, was immer sie wollen, sie werden nie ein Messie werden, wenn sie nicht dieses Besondere tun: „Nichts!“, wenn sie nicht in allen dafür wesentlichen Belangen „nichten“! Aber es ist eine bestimmte Form von „nicht“ – eine in ihrer Verneinung besonders produktive. Es ist jenes „Nein!“, auf welches sich diese ungeheure literarische Figur Melvilles in der Erzählung „Bartleby“ im Wesentlichen beschränkt. Es ist Bartlebys „Formel“ wie Deleuze sie auch nennt, sein: „I would prefer not to“, die in ihrer Unabgeschlossenheit dessen, was sie zurückweist, jenen radikalen Charakter einer Grenz-Funktion erhält und in ihrer Wiederholung und Beharrlichkeit, mit der Bartleby sie äußert, an das Unerbittliche grenzt, während „der Wahnsinn zunimmt, nicht ‚im besonderen‘ der Bartleby’s, sondern der um ihn herum“. Ihre „agrammatikalische Form“, sagt Deleuze – und das erinnert uns, dass wir Lacan folgend meinten, die Sprache des Messies fiele in ihrem spezifischen symptomatischen Bezug zum Realen „aus der Sprache“ – diese agrammatikalische Form also, klinge wie eine „Anomalie“, funktioniere wie eine Grenze. Dadurch hebe sie „eine Ununterscheidbarkeits-Zone, eine Zone der Unbestimmtheit aus, die unaufhörlich zwischen nicht-gemochten Tätigkeiten und bevorzugbaren Tätigkeit wächst. Jede Besonderheit, jede Referenz wird abgeschafft“, und so führe die Formel zu einer ständigen „Zunahme eines Nichts an Willen“. Deleuze bezieht sich auf Mathieu Lindon, der meint, diese Formel des Bartleby entkopple „die Worte und die Dinge, die Worte und die Aktionen, aber auch die Handlungen und die Worte“ (Deleuze 1989, S. 21). Bartleby ist ohne Herkunft, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Der IchErzähler, ein Anwalt(!) und Junggeselle(!), der Bartleby als Schreiber(!) ein-
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Joachim Prandstetter gestellt hat, lässt uns wissen: „Während es sich mit anderen Aktenkopisten so verhält, dass ich ihr ganzes Leben schildern könnte, ist bei Bartleby nichts dergleichen möglich. Für eine vollständige und befriedigende Lebensbeschreibung dieses Mannes gibt es, glaube ich, keine Unterlagen. Das ist ein nicht gutzumachender Verlust für die Literatur. Bartleby gehörte zu den Menschen, über die sich nichts ermitteln lässt, es sei denn aus den Originalquellen, und diese sind in seinem Fall sehr dürftig. Was meine eigenen, verwunderten Augen an Bartleby beobachteten, ist alles, was ich von ihm weiß, mit Ausnahme jedoch eines einzigen, vagen Berichts, der im Schlussteil folgen wird.“ (Melville 1853, S. 9). Im Schlussteil erfahren wir dazu: „Der Bericht besagte, dass Bartleby ein untergeordneter Angestellter im Dead Letter Office87 in Washington gewesen sei und diese Stellung durch einen Wechsel in der Regierung plötzlich verloren habe.“ (Ebd., S. 73). Natürlich fragt sich auch Deleuze: „Gibt es zwischen dem Anwalt und Bartleby eine Identifikationsbeziehung? Doch worin besteht eine solche Beziehung und in welche Richtung verläuft sie?“ (Deleuze 1989, S. 27). Sich auf das Konzept der „mimetischen Rivalität“ von René Girard beziehend, meint er weiter, dass es sich dabei um einen komplexen Vorgang handle, „der sich durch alle Abenteuer der Ähnlichkeit hinzieht und stets Gefahr läuft, in die Neurose zu verfallen oder sich in Narzissmus umzukehren. Das ist die „mimetische Rivalität“, wie man sagt: Das Bild ist paar excellence ein Vaterbild und das Subjekt ist ein Sohn, selbst wenn die Bestimmungen sich vertauschen.“ (Ebd., S. 27f). Es ist nicht zu übersehen – in der Verdichtung der Dichtung wird hier ein Moment, nein, das Moment des Ödipus in der Figur Bartlebys „dekonstruiert“ –, Bartleby ist die Verkörperung, er ist der Körper des väterlichen „Nein!“, des Lacan’schen „Non-du-Père“, im Feld des gemeinsamen libidinösen Begehrens. Aber noch etwas ist auffällig an dieser traumartigen Aufstellung, dekonstruiert in zwei Figuren, die letztlich im Bild der Spaltung eine einzige Dynamik in Szene setzt – ein „Aspekt“, der uns hier nicht zum ersten 87 Eine Zufälligkeit – gewiss, aber da uns der Brief nun schon so oft begegnet ist, sei hier erwähnt, dass uns Lacan in seinem Vorspann zur Abhandlung über E.A. Poes Erzählung vom „Entwendeten Brief “ darauf aufmerksam macht, wie man im literarischen Kreis um Joyce mit der Zweideutigkeit zur Homophonie der beiden englischen Wörter letter und litter, Brief und Abfall, gespielt habe. Diese Zufälligkeit verdient deshalb auch Er wähnung, da Lacan mit Bezug auf den Signifikanten und den entwendeten Poe’schen Brief, der nirgendwo gefunden werden kann und der seinerseits eine Beziehung mit dem Ort unterhält, die hier wie dort nur mit dem Wort „odd“ zu bezeichnen ist, feststellt, dass dies eine sei, die einzigartig ist, insofern es genau jene sei, die der Signifikant mit dem Ort unterhält. (Lacan Schriften I, S. 22–24).
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Der Messie immer schon in uns Mal begegnet. Bartleby, von dem niemand weiß, woher er kommt, den der Anwalt, obwohl er zu nichts mehr von Nutzen ist, auch nicht los werden kann – er meint diesbezüglich: „… wie die Dinge lagen, hätte ich ebenso gut auf den Gedanken kommen können, meiner bleichen Cicero-Büste die Türe zu weisen“ (ebd., S. 24f) –, dieser Bartleby also „war immer da“: „Er blieb, was er immer gewesen war, nein, er wurde – falls das möglich gewesen wäre – noch mehr ein Einrichtungsstück als vorher“ (ebd., S. 46) und wie ein solches sieht er ihn „in seiner Mauerträumerei an seinem Fenster“ (ebd.) oder „wie die letzte Säule eines zerstörten Tempels, stumm und einsam in der Mitte des sonst verlassenen Raumes stehen.“ (Ebd., S. 50). Sein Blick aber, der Blick des Anwalts, findet sich nicht in jenem des Bartleby gespiegelt: „Ich blickte ihn unverwandt an und bemerkte, dass seine Augen trüb und glasig aussahen.“ (Ebd., S. 46). Er findet so wenig Zugang zu Bartleby, wie Kafkas Mann vom Lande Einlass findet vor jenem Tor zum Gesetz, nur um schließlich, während sein Augenlicht bereits erlischt, kurz vor seinem Tode, erfahren zu müssen, dass dieses Tor der nur für ihn bestimmte Eingang zum Gesetz war, der nun vom Tor wächter geschlossen wird (s. Kafka 1914, S. 162f). Und daher verdient diese Aufstellung auch den Derrida’schen Begriff, denn Gegenstand ist hier das „Unmögliche“ und „das Unmögliche ist ja genau das Geschäft der Dekonstruktion“ (Derrida 1980, S. 28), da nämlich gilt, „dass die Dekonstruktion, wenn es denn dergleichen gibt, keine Kritik und noch weniger eine theoretische oder spekulative Operation ist, die methodisch von jemandem durchgeführt wird, sondern, dass … sie – als Erfahrung des Unmöglichen stattfindet.“ (Ebd., S. 38). Derrida bezieht sich auf die Figur des Bartleby in seiner Dekonstruktion des Widerstands der Widerstände, den Freud als jenen des Unbewussten schlechthin auffasst, also den Widerstand gegen die Analyse, wobei er das Wiederholungsprinzip gemäß dem Umstand versteht, „dass das Prinzip einer Serie dieser Serie ebenso transzendent ist und es, dem Sinn entzogen, den es gewährt, am Ende genau das seines Sinnes beraubt, dem es Sinn gibt.“ (Ebd., S. 157). Da die Psychoanalyse auf diese Weise dem Wiederholungszwang homogen ist und man sie daher als „Wiederholungszwang am Werk“ darstellen könnte, folgt: „Der Wiederholungszwang, der hyperbolische Widerstand des Nicht-Widerstands, ist in sich selbst analytisch …“ (Ebd., S. 157ff). In diesem Sinn sieht Derrida diese „Unmöglichkeit“ in Bartleby verkörpert, die ein Antworten ist, ohne zu antworten, ohne Ja oder Nein zu sagen, ohne anzunehmen, noch sich zu widersetzen, ein Sprechen zwar, doch ohne etwas zu sagen, weder Ja noch Nein. Wenn wir Melvilles Erzählung als einen anagogischen Bericht aus der „Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelt“ auffassen, können wir diese „Unmöglichkeit“ und die Struktur dieses sperrigen „Nein!“ als den unmittel-
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Joachim Prandstetter baren Ausdruck des wörtlichen Bezugs zum Realen verstehen. So stößt der Lacan’sche Begriff des Begehrens des Anderen auf das „Nein!“ des Vaters – der Verzicht auf die libidinöse Forderung kulminiert im Gesetz – Janus zeigt sich hier von der thanatologischen Seite des Verbots, des Inzest-Verbots, dem umgekehrt das Gebot der Exogamie entspricht. In der anagogischen Verdichtung des in zwei Figuren zerfallenden Subjektes ver weigert Bartleby das mechanische Kopieren des Gesetzes – er wird zum Medium, aus dem, ihm eingeschrieben, das „Nein!“ ablesbar wird: In seiner Wirkung einem nur dem Subjekt selbst bestimmten und dennoch nicht passierbaren Tor zum Gesetz gleich, versinnbildlicht als jene Mauer, bahnt sich auf diese stoßend und in der Negation der Forderung sein Wirken verkehrend der gestaute Eros in Erfüllung des Prinzips des Thanatos seinen Weg in der Wiederkehr desselben, die ab nun als tautologisches „Stottern“ imponiert. So wird für den, der das Gesetz auslegt und dessen Geschäft das ihm gemäße Handeln ist, den Anwalt, jener Bartleby jenseits der Symbolisierung zu einem zum Gegenstand degradierten Phallus, der alle anderen Gegenstände hinter sich lässt. Den Signifikant der Signifikanten imaginiert er – stumm und einsam – wie die letzte Säule eines zerstörten Tempels in der Mitte des sonst verlassenen Raumes. Bartleby ist der Inbegriff des „Inzestverbots“ und der Namedes-Vaters (nom-du-père) ist ihm als das Gesetz des Nein-des-Vaters (nondu-père) eingeschrieben, wie das übertretene Gebot dem Delinquenten in Kafkas „Strafkolonie“ mit jenem monströsen Apparat in den Leib geschrieben wird: „Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden, er erfährt es ja auf seinem Leib.“ (Kafka 1919, S. 170). Die Schrift des eingeschriebenen Gesetzestextes ist schwer zu lesen, denn „es ist keine Schönschrift für Schulkinder. Man muss lange darin lesen. Es darf natürlich keine einfache Schrift sein; sie soll ihn nicht sofort töten …“ (ebd., S. 175).88 In dieser „Wörtlichkeit“ ist es nicht der Signifikant, der das Reale tötet – das Reale tötet das Subjekt! So nimmt es nicht wunder, dass Bartlebys Herkunft unbekannt ist, denn der Inhalt der Urfantasien, wie sie sich an die Fragen nach Geburt, Urszene oder die Androhung der Kastration als Strafe für die Übertretung des Inzestverbotes etc. anschließen, ist die Frage nach der Herkunft, dem Ursprung. Eben jenes Feld ist es aber auch, das den Ursprung seiner Regelung in der symbolischen Ordnung nimmt, von der Lacan in Rekurs auf Freud und LéviStrauss spricht, denn es ist dieses Feld, in dem der Austausch der Güter des Lebens – auch jener der Frauen – durch die Symbolisierung nicht zuletzt im Opfer, im Totem oder und eben bei den Verwandtschaftsbeziehungen geregelt wird: „Der Mensch spricht also, aber er tut es, weil das Symbol ihn zum 88
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Den Hinweis auf diesen Text Kafkas verdanke ich Susanne Berndl.
Der Messie immer schon in uns Menschen gemacht hat.“ (Lacan Schriften I, S. 117). Nach dem Grundgesetz des Ödipus, also dem Inzestverbot, „überlagert das Reich der Kultur durch die Regelung von Ver wandtschaftsbeziehungen das der Natur, das dem Gesetz der Paarung unterliegt. … Hinreichend deutlich ist zu erkennen, dass dieses Grundgesetz mit einer sprachlichen Ordnung identisch ist.“ (Ebd., S. 118). Wie an dem das Gesetz auslegenden Anwalt erkennbar, „beraubt“ die Formel Bartlebys diesen, dem er zu einem „Mühlstein“ geworden ist, einer quälenden Last, seiner Macht, und er gehorcht „jener seltsamen Gewalt … jener Gewalt, der ich mich, trotz all meines Ärgers, nicht völlig entziehen konnte“ (Melville 1853, S. 52f). Er gibt sich Fantasien hin: „Ja, wie ich zuerst vorblickend vorausgesetzt hatte, dass Bartleby gehen werde, so könnte ich jetzt rückblickend voraussetzen, dass er gegangen sei“ (ebd., S. 53), nur um solcher Art Überlegungen als nicht auf Bartleby anwendbar zu verwerfen. Der Zorn der Ohnmacht gegenüber Bartleby steigert sich bis zu jenem Punkt, an dem „eine verhängnisvolle Tat“ nicht mehr auszuschließen ist: „Doch als sich dieser alte Adam des Grolls in mir erhob und mich gegenüber Bartleby versuchte, packte ich ihn und warf ihn nieder. Wie? Nun, einfach indem ich mir das göttliche Wort ins Gedächtnis rief: ‚Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr liebet einander.‘ Ja, das war es, was mich rettete.“ (Ebd., S. 55). Schließlich sieht er die einzige Möglichkeit, Bartleby zu entkommen, darin, seine Kanzlei zu wechseln, um aber alsbald wegen Bartleby, der die ehemalige Kanzlei nicht verlassen hat, zur Verantwortung gezogen zu werden: „Dann Sir … sind Sie verantwortlich für den Mann, den Sie dort zurückgelassen haben. … Sie müssen ihn wegschaffen, Sir, sofort.“ (Ebd., S. 62). Den Forderungen des Hauseigentümers nachkommend, beschließt der Anwalt, mit Bartleby zu sprechen, um ihn doch noch dazu zu bewegen, das Haus zu verlassen: „‚Wenn Sie nicht bis zum Abend dieses Haus verlassen, dann sehe ich mich gezwungen – ja dann bin ich gezwungen –, selbst – selbst das Haus zu verlassen!‘ schloss ich ziemlich unsinnig, weil mir keine Drohung einfiel, mit der ich versuchen konnte, ihn so einzuschüchtern, dass sich seine Unbeweglichkeit in Zustimmung ver wandelte.“ (Ebd., S. 66). Wenn wir hier die Erzählung verlassen, dann nicht, weil schon alle Momente genannte wären, die in ihrer Bedeutung für sich sprechen – aber ich denke, das Bild des Phallus im Haus als dem Bild der Frau, der Mutter, das jenen Ich-Erzähler zwingt, vom „Nein!“ des Vaters daraus vertrieben, andere Wege zu gehen, mag uns im Zusammenhang mit den vorangegangenen Überlegungen einen hinlänglichen Eindruck von der dem Gegenstand als Fetisch innewohnenden Deckerinnerung geben, in der die Linien der imaginierten Kastration
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Joachim Prandstetter und des „Grundes des Begehrens im Mangel“ sich im Subjekt schneiden. Die Frage der Identifikationsbeziehung, die Deleuze sich stellt, ließe sich aus unserer Perspektive als genuines Bild für die Ichspaltung verstehen.89 Wenn wir uns nun daran erinnern, dass wir das Prozessieren der Messies im Feld der Sprache als eines bestimmten, das dazu tendiere, seinen Satzgegenstand syntagmatisch auf „das bloße Vorhandensein in seiner Irrationalität“ hin zu verschieben, sodass er für etwas stehe, dessen Fehlen die Orientierung auf eine Vollständigkeit hin negiere – ja geradezu verbiete, sehen wir hier im „Nein!“ des Vaters die innere Natur dieses Verbotes, welches im Umgang mit der gegenständlichen Welt gleichsam szenisch zur Sprache wird, indem die Versagung die Rückforderung als ungebändigte Forderungen, ohne Bezug zu irgendeiner Möglichkeit von Befriedigung evoziert. Das aber, was mit dem „Nein“ des Verbotes implizit auch die Kastration ausspricht, steht als Widerstand90 im „Gegen-Stand“, just an der Stelle, an der fehlt, was dort sein sollte – das macht den Nabel aus, die Innigkeit der Beziehung zum Gegenstand, in welcher der ödipale Triebkonflikt als labiles Gleichgewicht reziprok inszeniert wird.91 Auf der anderen Seite dieser Gleichung, auf der Seite des gespaltenen Ich, hinterlässt diese Beziehung ein Opfer, das zwei Möglichkeiten hat, der Opferrolle zu entkommen: den Verzicht auf den kleinen Teil, um das Subjekt zu gewinnen, als erste Möglichkeit und den Verzicht auf den Verzicht als die zweite. Wird der Verzicht aber nicht geübt, wendet er sich gemäß der Rechtssprache, aus der dieser Begriff zuallererst kommt, zu seiner alten, zweiten Bedeutung – der Anklage, welche jene ist, 89 Vgl. dazu auch Freud GW XVII, S. 59ff. 90 Vgl. zu der schon früher angeführten Bedeutung des Wortes „Gegenstand“ als Widerstand und im Zusammenhang mit unseren Beobachtungen zum familiären Kontext: „In gewisser Weise lernt der Mensch auf die gleiche Weise, mit Dingen zu hantieren, wie er lernt, mit Menschen zu kommunizieren. In der Kontakterfahrung mit einem Gegenstand bemerkt das Kind einen Widerstand, den es zuerst in dem Gegenstand lokalisiert … Nach Mead überträgt also das Kind einen Mechanismus, den es in der symbolischen Interaktion erlernt hat, auf die Interaktion mit Gegenständen. Ursprünglich, phylo- wie ontogenetisch, würden Gegenstände wie Personen behandelt: ‚Die frühesten Objekte sind soziale Objekte, und alle Objekte sind anfangs soziale Objekte‘.“ (Habermas 1996, S. 224). 91 Vgl. dazu Baudrillard, der mit Hinblick auf „moderne Formen“ des Fetischs, die er unter Zugrundelegung der Lacan’schen Terminologie untersucht, feststellt, dass „die Sexualangst (das panische Wiedererkennen der Kastration) hier durch eine Inszenierung der Kastration stillgelegt wird … Wie im Fetischismus kann der Wunsch sich jetzt auf Kosten der Kastrationsdrohung und des Todestriebs befriedigen.“ (Baudrillard 1976, S. 158).
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Der Messie immer schon in uns die uns im Wort „bezichtigen“ noch erhalten ist. Auf das Opfer im Veda umgelegt, deute ich daher den Tod des Opfertieres als jenen des Opferers, der im Verzicht in der Haupthandlung statt zur Anklage zur Wandlung zum Leben, zur neuen Geburt, wird – in dem Sinne, in dem der Opferer dann sagt: „Hier bin ich, der ich bin.“
11. Jenseits des Gegenstandes Es ist nicht meine Absicht, mich auf eine Interpretation der Funktion des Gegenstandes beim Messie im Sinne einer gleichsam klinischen Bestimmung dessen festzulegen, was ich möglichst offen als Prozessieren von Umwelt bezeichnet habe. Eine solche Aufgabe kann eine Untersuchung, die sich auf kulturgeschichtliche Quellen stützt, sinnvollerweise auch nicht leisten. Wie zu Beginn festgestellt, war es daher auch Ziel, einen der Kulturgeschichte eventuell impliziten und semiologisch fassbaren „Begriff “ des Phänomens differenzierter her vortreten zu lassen. Darin liegt auch der Vorteil einer solchen Vorgangsweise, insofern die Symbolisierung, die dem „Sprechen der Kulturgeschichte“ zu eigen ist, die Möglichkeit in sich birgt, determinierende strukturelle Momente des Phänomens als solche erkennen zu können. Gelingt dies, sollte sich zugleich auch der Rahmen eröffnen, in dem das Phänomen auf einer überindividuellen Ebene in Relation zu vergleichbaren bzw. von ihm unterscheidbaren Phänomenen gesetzt werden kann, ohne dass dabei individuellen Ausprägungen gegenüber Rechenschaft ablegt werden müsste. Der Maßstab, in dem dies eine hermeneutische Gratwanderung bleibt, bestimmt sich durch die Auswahl der herangezogenen Belegstellen und die Dimension des Rasters, also der Relevanz, die man jenen zuspricht. Stimmt es aber, dass das Phänomen des Prozessierens von Umwelt, wie es für den Messie nach unseren Beobachtungen charakteristisch zu sein scheint, seinen Ursprung in der ödipalen Konfliktdynamik hat und im Objektbezug die Struktur der Perversion aufweist, ist auf individueller Ebene eine Vielzahl spezifischer Ausprägungen, aber auch eine Vielzahl von Möglichkeiten theoretischer Konzeptualisierung zu erwarten. Betrachten wir innerhalb dieses Rahmens unser Phänomen etwa aus Lacans Perspektive, so bieten sich, wie schon vorher angedeutet, die drei von ihm unterschiedenen Phasen des Ödipuskomplexes und die ihnen spezifische Konfliktdynamik als Fixierungspunkte an, individuelle Ausprägungen des Objektbezugs zu konzeptualisieren. Es bleibt die Frage offen, ob der Gegenstand im speziellen Fall eher als phobisches Objekt oder als Fetisch fungiert. Die Ähnlichkeit zwischen dem Fetisch und dem phobischen Ob-
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Joachim Prandstetter jekt zeigt sich darin, „dass beide symbolische Substitute für ein fehlendes Element sind und dazu dienen, das Umfeld zu strukturieren.“ (Evans 1996, S. 237). Während der Fetisch aber „ein symbolischer Ersatz für den der Mutter mangelnden Phallus ist, ist das phobische Objekt ein imaginärer Ersatz für die symbolische Kastration.“ (Ebd. S. 100). Wie wir in unserer Formulierung der metatheoretischen Hypothese die Frage stellten, ob die vom Messie prozessierten Gegenstände vielleicht „reale Briefe“ aus der ersten Phase sein könnten, so ließen sich für diese auch Annahmen formulieren, die ihre Begründung in den Konfliktdynamiken finden, welche die beiden folgenden Phasen bestimmen: „Während in der Kastration / Privation der Mutter in der zweiten Phase des Ödipuskomplexes das Verb ‚haben’ verneint wird (die Mutter hat den Phallus nicht), so verneint die Kastration des Subjekts in der dritten Phase des Ödipuskomplexes das Verb ‚sein’ (das Subjekt muss auf seine Bemühungen, der Phallus der Mutter sein zu wollen, verzichten)“ (ebd., S. 161), und das, weil der reale Vater in dieser dritten Phase des Ödipus durch seine Inter vention, indem er zeigt, dass er den Phallus hat und ihn weder eintauscht noch hergibt (Se 3, 359), das Kind kastriert (vgl. ebd., S. 209). Entsprechend unseren Überlegungen hinsichtlich der Darstellbarkeit des für den Messie in seinem Gegenstandsbezug spezifischen Prozessierens innerhalb des Sprachfelds meinten wir, feststellen zu können, dass es eben jener „unmögliche“ Bezug zum „Realen“ auf der metonymischen Achse sei, der ihm den Übertritt von der imaginären zur symbolischen Ebene ver wehre. In diesem Sinn zeigte sich, vermittelt durch die Frage nach dem mangelnden Objekt, der Ödipuskomplex als das Zentrum des zugrundeliegenden Konflikts – fordert dieser doch nichts weniger als den „Übertritt aus der imaginären Ordnung in die symbolische Ordnung, ‚die Eroberung der symbolischen Beziehung als solcher‘ (Se 3, 224),“ (ebd., S. 207), insofern der Mensch nur in der Durchquerung des Ödipuskomplexes, „zu einer vermenschlichten Struktur des Realen gelangen kann.“ (Lacan Se 3, 224 zitiert nach Evans 1996, S. 210). Hier nur mehr andeutend, was nun zur Darstellung gelangen sollte, sei auf das fast „poetisch“ anmutende Bild des „Jenseits des Objekts“ ver wiesen, das im Bild des Schleiers vor dem Objekt Lacan im Seminar IV dazu dient, die Struktur der Per version darzustellen, deren Funktion er als metonymische bestimmt92, bei welcher, den hermeneutischen Kreis der Darstellung schließend, der Kreislauf des symbolischen Tausches den Rahmen bildet. In Umkehrung dessen, was Lacan die Paradoxien der Per version entfaltend in der Einleitung dazu feststellt, nämlich: „Im Objekt wird geliebt, woran es ihm fehlt …“ (Lacan Seminar IV, S. 177), könnten wir formulie92 Vgl.: „Und ebenso ist die Funktion der Perversion des Subjektes eine metonymische Funktion.“ (Lacan Seminar IV, S. 171).
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Der Messie immer schon in uns ren, dass dem Messie, was fehlt, im Objekt anwesend ist. In diesem Sinne entfaltet Lacan die Funktion des Schleiers: „Der Schleier oder der Vorhang vor etwas sind immer noch das, was es am besten gestattet, ein Bild für die Grundsituation der Liebe zu geben. Man kann sogar sagen, dass mit der Anwesenheit des Vorhangs das, was jenseits ist als Mangel, danach strebt, sich zu realisieren als Bild. Auf dem Schleier malt sich die Abwesenheit. Es ist nichts anderes als die Funktion eines Vorhangs, woraus er auch bestehen mag. Der Vorhang erhält seinen Wert, sein Sein und seine Beständigkeit dadurch, dass er eben das ist, worauf die Abwesenheit projiziert und imaginiert wird. Der Vorhang ist, sofern man das sagen kann, das Götzenbild der Abwesenheit.“ (Ebd., S. 182). Klingt diese Darstellung in ihrer Abstraktheit „zu schön“ für das Bild, das wir vor Augen haben, wenn wir an eine Messie-Wohnung denken, halte man sich vielleicht an die Formulierung von Pontalis in seiner Zusammenfassung dieses Seminars: „Der Fetisch ist jenes faszinierende Objekt, das sich auf dem Schleier einschreibt, er ist jenes Idol, ja jene Trophäe, wodurch das Subjekt seine Beziehung zum Geschlecht mit einem Wappen ausstattet. Im Fetischismus ist das Subjekt dem Imaginären ausgeliefert, es lässt sich von ihm eingefangen; die ternäre symbolische Beziehung, Subjekt-Objekt-Jenseits, steigt auf den Schleier herab, um sich auf ihm zu verkörpern.“ (Pontalis 1998, S. 46f). Ist auch dieses Bild noch nicht konkret genug, wage ich, dem Eklektizismusvorwurf zum Trotz und um der Konkretheit willlen, den Seitenblick zur kleinianischen Schule, den auch Lacan bisweilen nicht scheute, und verweise auf die Weiterführung des Ansatzes von M. Klein durch Sylvia Payne, welchen Roger Dorey referiert: Der Fetisch symbolisiere nach diesem kleinianischen Verständnis „die Teilobjekte, die gegessen und damit aufbewahrt wurden; er repräsentiert nämlich: die mütterliche Brust, die Brustwarze, die Fäkalien der Eltern, die Genitalien der Mutter, ihren ganzen Körper, aber auch den im Körper der Mutter enthaltenen Penis des Vaters. Der Fetisch ist also wesentlich überdeterminiert, er ist eine Art Konglomerat, in dem alle Teilobjekte mit dem vereinigten Bild der Eltern verschmelzen.“ (Dorey 1970, S. 45).93 So gesehen ließe sich bezeichnenderweise etwa die „Zeitung“ oder allgemein das bei den Messies so beliebte Objekt des bedruckten Papiers als der Körper der 93 Es sei hier auch darauf hingewiesen, dass dieses „Götzenbild“ der im Geschlechtsakt vereinigten „Götter“ (Bodhisattva) im Rahmen der tantrischen buddhistischen Ikonographie als yab-yum zu großer Bedeutung gelangt ist. Interessanterweise scheint der Platz, den die „Urszene“ in der „Symbolischen Ordnung“ des Buddhismus gefunden hat – indem der Signifikant das Reale tötet, also transzendiert – die „realistische“ Darstellung wieder zu gestatten, und zwar in ihrer „friedvollen“ wie ihrer „schrecklichen“ Erscheinungsform.
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Joachim Prandstetter Mutter deuten, dem das Gesetz des Vaters eingeschrieben ist, der Körper, den sein Phallus also signiert hat, wie schon das Gesetz des Moses oder der Codex des Hammurapi, und analog die Festplatte, in welche die Daten eingeschrieben sind, oder die unzähligen Radio-Empfänger, aus welchen es sich dementsprechend anbietet, die Röhren auszubauen, wie dies in einem dem Autor bekannten Fall in unglaublichem Ausmaß tatsächlich geschehen ist.94 Somit könnte man zum Schluss kommen, dass die Messies, während sie vor dem, was sie kastriert, als Symbol dessen, was dort fehlt, auf die Inthronisation durch eben jenes als Zepter warten, in ihrer Selbstbezeichnung beredt Zeugnis ablegen von den ursprünglichen Zusammenhängen ihres Tuns, in so far as that’s the mess they are concerned with.
94 Hier würde sich nun die Möglichkeit anbieten, eine weitere „hermeneutische Schleife“ zu ziehen, um von unserem Ausgangspunkt und der Analogie mit der Psychosomatik von Neuem zu beginnen, wobei nun der Gegenstand im Feld des Lacan’schen Objekts (a) zu bestimmen wäre: „Umgekehrt sind diese virtuellen Objekte den Realobjekten einverleibt. Sie können in diesem Sinne mit Teilen des Körpers des Subjekts oder einer anderen Person oder gar mit ganz besonderen Objekten des Typs Spielzeug oder Fetisch korrespondieren. Die Einverleibung ist keineswegs eine Identifikation und nicht einmal eine Introjektion, da sie die Grenzen des Subjekts übersteigt … Wie immer auch die Realität beschaffen sein mag, die sich das virtuelle Objekt einverleibt – es wird durch sie nicht integriert: Es wird in sie eher eingepflanzt, eingerammt und findet im Realobjekt nicht eine Hälfte, die es ergänzt, sondern bezeugt in diesem Objekt vielmehr die andere, virtuelle Hälfte, die ihm auch weiterhin fehlt.“ (Deleuze 1968, S. 135). Von der phänomenologischen Seite gesehen, böte es sich etwa an, unsere Betrachtungen im Lichte einer „Phänomenologie des Leibes“, wie sie Merleau-Ponty entwickelt, weiterzudenken: „Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus: er ist es, der alles sichtbare Schauspiel unaufhörlich am Leben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein einziges System bildend … Man wird einwenden, die Verlegung des Gegenstandes in die leibliche Erfahrung – als deren einer Pol – beraube ihn eben dessen, was seine Objektivität ausmache … Wohl bildeten Leib und Gegenstand ein System, doch lediglich in Gestalt eines Bündels objektiver Korrelationen, nicht aber, wie wir soeben behaupteten, eines Ganzen erlebter Entsprechungen … Doch ist wirklich der Gegenstand dergestalt von den Bedingungen loszulösen, unter denen er uns wirklich gegeben ist?“ (Merleau-Ponty 1945, S. 239ff).
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Der Messie immer schon in uns
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Anhang
Kontaktadressen Mag. (FH) Nassim Agdari-Moghadam, BA pth. Studium der europäischen Wirtschafts- und Unternehmensführung, Magisterstudium der Psychotherapiewissenschaften und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, Psychotherapeutin iAuS (Psychoanalyse), Marianne-Ringler-Preis 2006 E-Mail:
[email protected] a.o. Univ.-Prof. Dr. Martin Aigner Medizinstudium an der Universität Wien, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, Ausbildung in Psychotherapeutischer Medizin (Verhaltenstherapie), Habilitation im Fach Psychiatrie 2006 E-Mail:
[email protected] Johannes von Arx Chemielaborant, Elektroingenieur HTL (Höhere Technische Lehranstalt Solothurn), freier Journalist (Spezialgebiet Bahn und Tourismus), im Vorstand von LessMess (www.lessmess.ch) E-Mail:
[email protected] Univ.-Prof. Dr. Arnd Barocka Psychiater und Psychotherapeut, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Abteilung für Allgemeine Psychiatrie und Psychotraumatologie der Klinik Hohe Mark in Oberursel Gina Borsos Studentin der Psychotherapiewissenschaften, derzeit in Ausbildung zur Psychotherapeutin (Individualpsychologie). E-Mail:
[email protected] 297
Anhang Mag. Dr. Ulrike Demal Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie), Lehrtherapeutin (ÖGVT), tätig an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Allgemeines Krankenhaus Wien und in freier Praxis E-Mail:
[email protected] Markus Dold Medizinstudium an der Medizinischen Universität Wien, Diplomand an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie E-Mail:
[email protected] Dorit Doppelhammer diplomierte Kunsttherapeutin, Transaktionsanalytische Psychotherapeutin in Ausbildung, Studium der Psychotherapiewissenschaften an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien E-Mail:
[email protected] Gabriele Flemisch Studium der Psychotherapiewissenschaften an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, Integrative Gestalttherapie, Diplom für Kommunikationsmanagement E-Mail:
[email protected] DI Robert Gruber Studium der Technischen Physik, NLP Masterausbildung, Ausbildung in Integrativer Atemtherapie nach Malik Wöss, Student der Psychotherapiewissenschaften, derzeit in Ausbildung zum Integrativen Gestalttherapeuten E-Mail:
[email protected] Mag. phil. Christa Cora Luger-Hammer Psychoanalytikerin, Univ.-Lektorin an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien E-Mail:
[email protected] Mag. Dr. phil. Joachim Prandstetter Studium der Indologie und Tibetologie, langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur- und Geistesgeschichte Asiens der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Mitglied der Messie-Forschungsgruppe der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien E-Mail:
[email protected] Erwin Prem im technischen Hilfsdienst der Republik Österreich tätig (ZAMG Wien; Kalibrierung von Geräten zur automatischen Erfassung der Niederschlagsmenge), gelernter Radio- und Fernsehmechaniker (Fa. Ingelen/ITT Wien), EDV-Aus-
298
Anhang bildung im Bereich Administration Windows/LINUX (Learn & Use), Ausbildung zum Elektroakustiker und Tontechniker (BFI-Wien) E-Mail:
[email protected] Univ.-Prof. Dr. Alfred Pritz Leiter der Forschungsgruppe „Messie-Syndrom“, Rektor der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien E-Mail:
[email protected] Katharina Reboly, BA pth. Magisterium Psychotherapiewissenschaft und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, Psychotherapeutin iAuS (Psychoanalyse) an der SFU-Ambulanz, Marianne-Ringler-Preis 2006 E-Mail:
[email protected] Andreas Schmidt Studium der Medizin an der Universität Wien, Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, Ausbildung in Verhaltensbiologie der Canidae bei Priv.-Doz. Dr. Erik Zimen Dr. Elisabeth Vykoukal Gruppenpsychoanalytikerin, Gründungsmitglied und Vizerektorin der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, arbeitet seit 2000 mit Messies und ist verantwortlich für die klinische Arbeit mit Messies an der SFU. E-Mail:
[email protected] Kontaktadressen Messie-Selbsthilfegruppen Deutschland: Förderverein zur Erforschung des Messie-Syndroms (FEM) e.V. Marianne Bönigk-Schulz: www.femmessies.de Schweiz: LessMess, Johannes von Arx www.lessmess.ch E-Mail:
[email protected],
[email protected] Österreich: Sigmund Freud PrivatUniversität Wien www.sfu.ac.at E-Mail:
[email protected] 299
Anhang
Fragebogen zum Messie-Syndrom Alle Angaben unterliegen dem Datenschutzgesetz und werden vertraulich und anonym behandelt!
Wo endet Ordnung und wo beginnt Unordnung? Unter dem Begriff Messies werden all jene Menschen zusammengefasst, die durch die Anhäufung von Gegenständen ihre Wohnungen überfüllen, sodass ihr Lebensraum drastisch eingeschränkt wird. 1. 1 Ich bin ein Messie
Ich bin kein Messie, aber meine Angehörigen/Bekannten sind der Meinung, dass ich einer bin 3 Ich bin kein Messie 4 Ich bin ein geheilter Messie Ich bin ein Angehöriger von einem Messie und lebe mit ihm/ 5 ihr im selben Haushalt 2
1 weiblich 2 männlich
2.
Geschlecht:
3.
Alter: ….………….. Jahre
4.
Höchste abgeschlossene Ausbildung: 1 Hochschule 2 Matura 3 Handelsschule 4 Berufsschule 5 Hauptschule 6 Sonstiges ......................
5.
Beruf: 1 leitende(r) Angestellte(r) 2 Arbeiter(in), Facharbeiter(in) 3 Angestellte(r) 4 selbstständig 5 SchülerIn, Lehrling, StudentIn
300
Anhang 6 7 8 9 6.
Pensionist Hausfrau/ Hausmann arbeitslos Sonstiges ......................
Familienstand: 1 ledig 2 verheiratet 3 Lebensgemeinschaft 4 geschieden 5 verwitwet
Fragebogen Teil 1 Die nun folgenden Fragen beziehen sich auf Ihre aktuelle Wohnsituation. Ich würde gerne erfahren, ob Sie allein wohnen oder nicht. Ob Sie zusätzlich zu Ihrem Wohnraum Keller bzw. Lagerflächen angemietet haben. Und ob Sie bei den alltäglichen Reinigungsarbeiten eine Unterstützung erhalten. 7.
Ich wohne ... 1 allein 2 in einer Partnerschaft ohne Kind 3 bzw. mit Kind(ern) 4 Sonstiges: ..........................
8.
Ich wohne ... 1 in einer Wohnung 2 in einem Haus
9.
Meine Wohnung / mein Haus hat ca. ....................... m² Wohnfläche und besteht aus .................... Zimmer(n)
10. Ich habe zusätzlich zu meiner Wohnung (Mehrfachnennung möglich) ... 1 einen voll geräumten Keller 2 zusätzlich Lagerflächen angemietet bei Freunden/Verwandten im Keller Gegenstände 3 eingelagert 4 Sonstiges: ..................
301
Anhang
11. Für die Reinigung in meiner Wohnung (Mehrfachnennung möglich) ... 1 bin ich allein verantwortlich 2 habe ich eine Reinigungskraft 3 unterstützt mich mein(e) Partner(in), Bekannte, Verwandte 12. Ich sammle (Mehrfachnennung möglich) ... 1 so gut wie nichts 2 Druckerzeugnisse (Zeitungen, Papier, Bücher) 3 Werkzeuge 4 Haushaltsgeräte 5 Elektrogeräte 6 DVD’s 7 Tonfiguren 8 alte Kleider, Stoffe, Knöpfe 9 Sonstiges: ......................................... Fragebogen Teil 2 In diesem Teil des Fragebogens bitte ich Sie, immer nur EINE Antwort anzugeben, die am ehesten auf Sie zutrifft. 13. Ich fühle mich in meiner Wohnung wohl 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 14. Ich lade gerne Freunde/Verwandte zu mir nach Hause ein 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 15. Zumindest einmal im Monat habe ich Besuch in meiner Wohnung 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu
302
Anhang
16. Für mich ist es kein Problem, unangemeldeten Besuch in meine Wohnung zu lassen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 17. Wenn ich sehr krank bin, habe ich kein Problem, wenn der Hausarzt zu mir nach Hause kommt 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 18. Mir ist es unangenehm, wenn ein Techniker in meine Wohnung kommt, um z. B. den Strom abzulesen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 19. Ich kann auf meiner Couch gemütlich sitzen und z. B. lesen oder fernsehen, ohne sie vorher frei räumen zu müssen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 20. Ich kann auf meinem Esstisch jederzeit eine Mahlzeit einnehmen, ohne dass ich ihn abräumen muss 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 21. Mindestens einmal alle zwei Wochen wird der Boden gereinigt 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu
303
Anhang
22. Meine Fenster werden mindestens gereinigt 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu
einmal
im
Jahr
23. Manchmal lasse ich mein schmutziges Geschirr über Wochen auch einfach liegen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 24. Es kommt manchmal vor, dass sich in meinem Geschirrspüler gereinigtes und schmutziges Geschirr gleichzeitig befinden 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 25. Freie Arbeitsflächen in meiner Küche sind öfters verstellt, so dass ich nicht bequem kochen kann 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 26. Es würde Stunden dauern, um die Arbeitsfläche in der Küche abzuräumen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 27. Bevor ich meinen Müll wegwerfe, reinige ich ihn z. B. wasche ich Joghurtbecher aus, bevor sie in den Mülleimer kommen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu
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Anhang 4 ich stimme überhaupt nicht zu 28. Wenn mein Mülleimer voll ist, trage ich ihn hinaus 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 29. Manchmal fällt es mir nicht leicht, auch schon verdorbene Lebensmittel wegzuschmeißen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 30. Es fällt mir schwer, mein Badezimmer problemlos zu nutzen, weil ich dort andere Gegenstände lagere 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 31. Am Boden liegen so viele Sachen herum, ich muss schon richtig achtgeben, wo ich hintrete 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 32. In meiner Wohnung stehen volle Kisten oder Säcke herum, da ich sonst keinen Stauraum mehr habe 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 33. In meinem Bett lagere ich nichts, da kann ich mich jederzeit gemütlich hinlegen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu
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Anhang
34. Auch wenn ich schon das meiste in einer Tageszeitung/ Broschüre gelesen habe, hebe ich sie über einen/mehrere Monat/e auf 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 35. Es ist für mich schwer, Gegenstände, auch wenn sie nicht mehr funktionstüchtig sind, wegzuwerfen, da ich mir denke, man könnte sie ja eines Tages vielleicht noch gebrauchen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 36. Wenn Bekannte/Verwandte übersiedeln und ihre Wohnung räumen, nehme ich Sachen, die sie nicht mehr benötigen, gerne mit 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 37. Wenn ich einkaufen gehe, kaufe ich gerne Produkte, die im Angebot sind (z. B Nimm 3 zahl 2), auch wenn ich nicht sicher bin, dass ich sie aufbrauchen werde 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 38. Ich gehe öfters auf den Flohmarkt und kaufe Dinge, die ich eigentlich gar nicht benötige 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 39. Ich komme oft zu spät, da ich meistens unter Zeitdruck komme 1 ich stimme voll und ganz zu
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Anhang 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 40. Es fällt mir oft schwer, mich nur auf eine Sache zu konzentrieren, besonders beim aufräumen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 41. Wenn ich aufräume, muss alles absolut perfekt gemacht werden 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 42. Ich verstehe einfach nicht, wie manche Leute alles unter einen Hut bekommen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 43. Einmal im Jahr miste ich meinen Kleiderschrank aus, damit meine neuen Kleider Platz haben 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 44. Ich weiß, wo ich meine persönlichen Dokumente (wie z. B. Meldezettel) aufbewahre und finde sie problemlos 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 45. Ich verbringe mehrere Stunden pro Woche damit, etwas in meiner Wohnung zu suchen, was ich verlegt habe 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu
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Anhang 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 46. Innerhalb eines Tages könnte ich meine Wohnung für ein festliches Essen mit Freunden aufräumen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 47. Meine Familie und Freunde beklagen sich immer wieder über den Zustand meiner Wohnung 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 48. Ab und zu belastet mich der Zustand meiner Wohnung 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu 49. Ich trenne mich nicht gerne von meinen Sachen, schließlich sind das alles Erinnerungen 1 ich stimme voll und ganz zu 2 ich stimme eher zu 3 ich stimme eher nicht zu 4 ich stimme überhaupt nicht zu
Herzlichen Dank für Ihre Mitarbeit!
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Anhang
Fragebogen der SFU für Therapeutinnen und Therapeuten Liebe Kollegin! Lieber Kollege! Im Rahmen unserer Explorativen Pilotstudie zum Messie-Phänomen, bitten wir Sie um Ihre geschätzte Mitarbeit! Um die Kommunikation mit Ihnen als Expertin/ Experte zu vernetzen und professionelle Erfahrungen austauschen zu können, erlauben wir uns im Folgenden einige Antworten zu erfragen. Bitte geben Sie den ausgefüllten Bogen ab bzw. senden Sie diesen an die SFU Sigmund Freud PrivatUniversität Wien Kennwort „Messies-Experteninterview“ Schnirchgasse 9a A-1030 Wien Wir danken für Ihre geschätzte Mitarbeit und wünschen Ihnen eine spannende Auseinandersetzung und anregende Diskussionen zum Messie-Phänomen! Katharina R. Reboly
[email protected] ----------------------------------------------------------------
Seit wann und in welcher Form arbeiten Sie mit Messies und/oder deren Angehörigen?
Was ist ein Messie?
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Anhang
Betrachten Sie das Messie-Phänomen als kulturelle Ausprägung oder als krankheitswertige Störung (inklusive diagnostische Ansiedelung)? Bitte begründen Sie Ihre Ansicht.
Bitte nennen Sie Gründe und Interventionsvarianten für mögliche Therapieerfolge.
Name und Kontakt:
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Anhang
Fragebogen der SFU für Betroffene Betreff: Explorative Pilotstudie zum Messie-Phänomen Liebe(r) Messie! Die Sigmund Freud PrivatUniversität Wien startet ihre Explorative Pilotstudie zum Messie-Phänomen. Da Sie als Betroffene(r) das Geheimnis in sich tragen, möchten wir Sie bitten, an unserer Studie teilzunehmen, denn Sie sind es, die/der Aufschluss über die Thematik geben kann, um das Messiesein besser verstehen zu können. Sie haben dadurch einerseits die Möglichkeit, sich eingehend mit sich selbst auseinanderzusetzen, andererseits können Sie auch einen Beitrag insofern leisten, als dass Fachleute aus den Gebieten der Psychotherapie, Psychologie und Psychiatrie über das MessiePhänomen aufgeklärt werden und folglich die Behandlung verbessert werden kann! Der Ihnen vorliegende MFU – Messies-Fragebogen der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien – gliedert sich in einen biografischen, einen spezifischen und einen assoziativen Teil. Bitte beantworten Sie alle Fragen möglichst spontan und offen! Selbstverständlich werden Ihre Daten in jedem Fall anonym und vertraulich behandelt. So Sie den ausgefüllten Fragebogen abgeben bzw. uns postalisch zukommen lassen, stimmen Sie zu, dass Ihre aufgezeichneten Daten der Forschung und Publikation in anonymisierter Form zur Verfügung stehen. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen! Bitte geben Sie den ausgefüllten Bogen ab oder senden Sie diesen an: SFU Sigmund Freud PrivatUniversität Wien Kennwort „MFU“ Schnirchgasse 9a A-1030 Wien Falls Sie Interesse zeigen, an der gesamten Pilotstudie teilzunehmen, melden Sie sich einfach telefonisch bei uns. Wir danken für Ihre geschätzte Mitarbeit! Katharina R. Reboly Mag. (FH) Nassim Agdari-Moghadam E-Mail-Adresse:
[email protected] 311
Anhang
MFU Messies-Fragebogen der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien
1. Biografische Daten:
Alter:
Geschlecht:
1.1. Familiärer und sozialer Entwicklungshintergrund In welche familiäre Situation wurden Sie hineingeboren? Schildern Sie bitte die frühe Situation in Ihrer Familie, als Sie geboren wurden. Wie alt waren zu diesem Zeitpunkt Ihre Eltern und in welchen Lebensumständen befanden diese sich? Waren Ihre Eltern berufstätig? Wenn ja, in welchem Bereich? Waren diese frühen Bezugspersonen anwesend?
Haben Sie Geschwister? Wenn ja, in welcher Folge kamen diese zur Welt? Wie war das Verhältnis zu Ihren Geschwistern? Wie beschreiben Sie die jetzige(n) Beziehung(en) zu Ihren Geschwistern? Gibt es aus Ihrer Sicht erwähnenswerte Auffälligkeiten (Erkrankungen oder Todesfälle) in Bezug auf Ihre Geschwister?
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Anhang Wie sahen Ihre Lebensumstände im Allgemeinen in den Kinderjahren aus? Wie empfanden und erlebten Sie Ihre Kindheit? Zu wem hatten Sie emotionale Beziehungen? Und wer waren Ihre wichtigsten Bezugspersonen? Wir erlebten Sie zu dieser Zeit die Atmosphäre in Ihrer Familie?
Gab es psychische Auffälligkeiten oder Störungen in der Kindheit? Waren Sie in psychotherapeutischer oder ähnlicher Behandlung, wenn ja, wo oder bei wem und aus welchen Gründen? Schildern Sie sonstige Besonderheiten in der Kindheit.
1.2. Entwicklung des Selbst und interpersonelle Entwicklung Wo und bei wem sind Sie aufgewachsen? Leben diese Personen noch? Wenn nicht, wann sind diese verstorben und wie gehen Sie mit diesen Verlusten um?
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Anhang Wie war Ihre Beziehung zu den Eltern? Nennen Sie Beispiele. Nennen Sie je drei Adjektive, die für Sie am besten Ihre Mutter und Ihren Vater beschreiben würden.
Erzählen Sie bitte etwas über Beziehungen in der späten Kindheit, z. B. im Kindergarten und in der Schule. Wer waren Ihre Spielkameraden? Hatten Sie Hobbys, mit denen Sie sich näher beschäftigt haben?
Wie ist Ihre Pubertät verlaufen? Hatten Sie sexuelle Beziehungen und ab wann? Wie würden sie diese beschreiben?
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Anhang Und als junger Erwachsener? Wie war die Berufsentscheidung? Beziehungen in dieser Zeit? Wann sind Sie von zu Hause ausgezogen? Und im Erwachsenenalter? Wie sieht ihre aktuelle Lebenssituation aus? (Partnerschaft, Ehe etc.) Frühere Ehen und Lebensgefährten?
Haben Sie Kinder? In welchem Alter? Wie ist die Beziehung zu diesen? Lebenssituation der Kinder im Allgemeinen? Führen Sie derzeit eine Beziehung? Wenn ja, wie alt ist der Partner? Berufliche Tätigkeit?
1.3. Leistungsentwicklung Wie würden Sie Ihre Schulzeit beschreiben? Hatten Sie Probleme in der Schule? Was waren Ihre Lieblingsfächer? Und welche haben Sie weniger interessiert? Was wollten Sie als Kind werden?
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Anhang Beschreiben Sie Ihre Ausbildungszeit und ihren Verlauf. Wie sieht Ihre aktuelle Arbeitssituation aus? Arbeiten Sie momentan? Und wenn ja, was? Was sind Ihre persönlichen und beruflichen Schwächen?
1.4. Körperliche Entwicklung Schildern Sie bitte eventuelle bisherige Erkrankungen (Krankheiten, Operationen, Unfälle, Spitalsaufenthalte etc.), körperliche Befindlichkeiten und Beschwerden:
Derzeitiges körperliches Empfinden:
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Anhang 2. Daten zum Messiesein Warum bezeichnen und erleben Sie sich als Messie?
Was bedeutet für Sie Messiesein? Wann ist man ein Messie? Nennen Sie einige wichtige Aspekte vom Messiesein.
Trifft das alles auf Sie zu?
Und worunter leiden Sie? Was stört Sie konkret? Möchten Sie etwas verändern, wenn ja, was?
Wann begann die „Wegwerf-Hemmung“? Gab es ein spezielles Ereignis oder einen speziellen Auslöser?
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Anhang Beschreiben Sie bitte die Zeit vor dem Messiesein, und gab es da markante Ereignisse? Wie war Ihr Aufräumverhalten in der Zeit davor?
Wie würden Sie den Verlauf von Beginn bis heute beschreiben?
Wie geht es Ihnen mit dem Verwalten von E-Mails bzw. SMS?
Sammeln Sie und/oder können Sie nichts wegwerfen? Sind Sie unordentlich und/oder ist es die Menge?
Gibt es eine Zunahme der Anhäufung oder bleibt es gleich über einen längeren Zeitraum?
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Anhang Wie viele m2 hat Ihre Wohnung? Und wie viele m2 davon sind bewohnbar? Beschreiben Sie die einzelnen Räume.
Beschreiben Sie den problematischsten Raum bitte genau. Nennen Sie bitte alles, was Sie sehen, wenn Sie diesen Raum betreten.
Seit wann wohnen Sie in Ihrer Wohnung? Und wohnen Sie allein oder mit anderen Personen? Mit wem?
Wenn Ihre Wohnung ein Auto wäre, welche Marke würde sie am ehesten beschreiben?
Beschreiben Sie bitte Ihren Lieblingsbereich in Ihrer Wohnung. Wie fühlen Sie sich dort?
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Anhang Was wird gesammelt, gehortet oder nicht weggeschmissen? Nennen Sie bitte Beispiele wie, wann und wo Sie sammeln.
Bilden sich Stapel und wenn ja, wie viele? Gehen Sie beim Horten systematisch vor?
Wenn Sie sortieren, wie viel Zeit benötigen Sie hierfür? Verharren Sie bei Objekten und wenn ja, bei welchen und wie lange?
Wie oft und wie lange machen Sie während des Sortierens Unterbrechungen? Was passiert in diesen Pausen? Und wann beginnen Sie diese? Wie lange dauert eine Unterbrechung?
Wann räumen und sortieren Sie am häufigsten? Gibt es eine spezielle Jahresoder Tageszeit? Und gibt es bestimmte Stimmungen, die Sie dazu bewegen?
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Anhang Wann und in welchen Situationen nehmen Sie sich vor, mit dem Aufräumen zu beginnen? Was geht in so einem Moment in Ihnen vor? Zum Beispiel auch körperliche Reaktionen.
Nennen Sie mir bitte 5 Gegenstände, die Sie nie wegwerfen oder weggeben könnten. Beschreiben Sie bitte genau, was diese für Sie bedeuten.
Wie gehen Sie in anderen, fremden Wohnungen oder auf Reisen mit dem Messiesein um? Beschreiben Sie einen gewöhnlichen Tagesablauf.
Wie gehen Sie mit Zeit um? Sind Sie pünktlich?
Was machen Sie in Ihrer Freizeit? Haben Sie Hobbys? Wenn ja, wie oft gehen Sie diesen nach?
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Anhang Haben Sie Freunde und Bekannte? Wie sieht ihr soziales Leben aus?
Wann und wie gönnen Sie sich Zeit für sich und/oder was tun Sie für sich?
Wie sind Ihre Eltern oder Bezugspersonen mit Gegenständen umgegangen? Waren diese ordentlich oder unordentlich? Wie haben Sie das empfunden?
Hatten Sie eher strenge oder lockere Eltern? Wie wurden Sie gelobt und wie bestraft?
Wie viel Platz hatten Sie in Ihrer Kindheit und Jugend?
Beschreiben Sie die Umstände rund um Ihre erste Wohnung.
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Anhang Waren Sie bzw. sind Sie in psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung? Wenn ja, wie lange bzw. seit wann? In welcher Methode?
3. Bitte benennen Sie Ihren spontanen Einfall zu folgenden Begriffen: Liebe –
Vater –
Neugierde –
Gott –
Verlust –
Umwelt –
Aggression –
Müll –
Kontrolle –
Messie –
Gier –
Wegwerfgesellschaft –
Freude –
Scham –
Tageszeitung –
Mutter –
Wohnung –
Sex –
Rauchfangkehrer –
Angst –
Trauer –
Wegwerfen –
Wie sehr leiden Sie unter dem Messiesein auf einer Skala von 1–10 (1 = sehr stark; 10 = überhaupt nicht)? … wenn Sie kein Messie wären, dann wären Sie:
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Anhang Bitte schätzen Sie, wie lange Sie für die Bearbeitung dieses Fragebogens benötigt haben:
Besten Dank für Ihre Mitarbeit! Katharina R. Reboly Mag. (FH) Nassim Agdari-Moghadam
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