Das neue Abenteuer 431
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Das neue Abenteuer 431
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Stanislaw Rodionow
Das Haus am Steilhang
Verlag Neues Leben Berlin
Titel des russischen Originals: OrnycK Ins Deutsche übersetzt von Ruprecht Willnow Illustrationen von Karl Fischer
© Verlag Neues Leben, Berlin 1982 Lizenz Nr. 303 (305/83/82) LSV7703 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 9p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 409 0 DDR 0,25 M
Der Leiter der Kriminalmiliz drehte ein Finnmesser mit kunstvoll geschnitztem Griff aus Wacholderholz zwischen den Fingern. „Müde?“ „Und wie!“ bekräftigte Petelnikow mit Nachdruck, dam it kein Zweifel blieb: Er w ar hundemüde. „Du siehst aber frisch aus, glattrasiert und rosig wie ein Pfirsich.“ „Ich bin innerlich m üde“, präzisierte der Inspektor. „Das Herz?“ „Tiefer.“ „Etwa die Nieren?“ „Die Seele, Genosse Major.“ „Ach so. Wenn die Seele müde wird, nimmt m an keinen Urlaub, sondern läßt sich aus der Kriminalmiliz entlassen.“ „Binnen einer Woche hat sie sich erholt.“ „Wie lange hast du schon keinen Urlaub gehabt?“ erkundigte sich der Major, obwohl er dies ebensogut wußte wie sein Untergebener. „Faktisch zwei Jahre.“ „Nur?“ Der Major verzog das Gesicht ob dieser kümmerlichen Zeitspanne. Zwei Jah re sind nicht zwanzig. „Das steht im W iderspruch zur Verfassung“, sagte Petelnikow seufzend. Der Major beugte sich zur Seite und angelte aus der unteren Schreibtischschublade ein zweites Messer mit selbstgebasteltem Plastgriff. Mit solchen Messern konnte er einen ganzen Tisch füllen. Sie lagen zusammen mit Schlagringen, Brecheisen, angespitzten Feilen und Bleihandschuhen im Safe. Viele Jahre schon sammelten sie solche Exponate fü r ihr Kreismilizmuseum, von dem sie ebenso lange träum ten und das vorerst noch leer stand. „Natürlich kann der Mensch müde werden, zugegeben“, sagte der Major. „Aber Petelnikow ist nicht nur ein Mensch, er ist Oberin spektor der Kriminalmiliz. Wie kann da von Müdigkeit die Rede sein!“ „Nur eine Woche, fürs vergangene J a h r“, sagte Petelnikow mit monotoner Stimme. „Und wie steht die Sache mit dem Überfall auf den Bürger Sowkow?“ fragte der Major barsch. „Ist aufgeklärt.“ „Die mißbräuchliche Benutzung des Motorrades vom Bürger Koltschizki?“ „Er hat es selbst im Wald stehenlassen, als er betrunken w ar.“ „Der tollwütige Hund auf der Sportiw najastraße?“ „Eingefangen und unschädlich gemacht.“ Da beugte sich der Major abermals zur Seite und legte das näch ste Messer auf den Tisch. „Wer mag wohl der Besitzer dieser Waffe sein?“ Petelnikow rutschte im Sessel hin und her. Der Besitzer dieser Waffe spazierte nämlich noch in Freiheit umher. „Vorläufig wird sich Ledenzew damit befassen.“ Der Major zupfte an seinem weißblonden, schon grau getönten 3
Schnurrbart. Dann fegte er die Messer in den Tischkasten und er kundigte sich in verändertem, gleichgültigem Ton: „Und wohin soll’s gehen?“ „Nach dem Süden.“ „Dort sind fünfundvierzig Grad im Schatten!“ „Ich steig ins Wasser.“ „Dort gibt’s Medusen, Riesenapparate von Quallen.“ „Ich leg mich an den Strand.“ „Dort sind Frauen in Bikinis.“ „Oder ich bummle ein bißchen durch die Stadt.“ „Wo an jeder Ecke aus Tankwagen billiger Wein angeboten wird.“ Der Inspektor erhob sich. „Boris Michalytsch, nur eine Woche.“ „Scher dich zum Teufel!“ sagte der Major. Petelnikow bekam sechs volle Tage Urlaub, An- und Abreise nicht mitgerechnet. Der Leiter der Kriminalmiliz hatte ihm noch ver sichert, länger könne man es im Süden sowieso nicht aushalten, man werde ganz dämlich von der Sonne und dem Wasser. Genau das wollte Petelnikow aber, nämlich: sich von der Sonne dun kelbraun braten lassen und sich im Wasser tummeln, bis er fast zum Salzhering wurde. Er stieg nachts aus der Linienmaschine, und morgens um acht U hr kletterte er bereits die Felsen zum schmalen, mit kleinen Stei nen übersäten Strand hinunter. Hier waren weniger Leute. Er ent deckte ein freies Eckchen südländischen Territoriums und belegte mit seiner dicken Aktentasche einen Platz neben zwei Mädchen, die sich schon im Nirwana befanden. Er kleidete sich aus, setzte sich auf den heißen Boden und verfiel gleichfalls dem Nirwana. Anfangs bedeckte er den Rücken noch mit dem Hemd, aber dann lag er völlig ungeschützt auf den Steinen. Er wußte, daß er sich einen Sonnenbrand holen würde. Aber er w ar im Süden, am Meer, und ihm standen genau sechs Tage zur Verfügung, von denen einer schon angebrochen war. Die Steine, die Luft und sein Körper heizten sich auf. Er hatte ständig den salzig-bitteren Geschmack des Meeres im Mund, spürte den lehmigen Geruch der rundgeschliffenen Steine und lauschte dem ununterbrochenen und friedlichen Plätschern der Wellen. Er richtete sich auf und betrachtete seine Nachbarinnen. Die eine w ar etwas mollig, trug einen dunkelblauen Badeanzug und hatte das schwarze Haar gelöst, die zweite hingegen w ar schmäch tig und schlank und hatte einen hellgrünen Anzug an. Nach einer Stunde mußte er vor der Sonne flüchten. Er tauchte sein Hemd ins Wasser und streifte es über den rosa Rücken, um den Kopf wickelte er das nasse Handtuch. Sofort überkam ihn an genehme Mattigkeit. Kurz darauf w ar er fest eingeschlafen. Unterirdisches Rütteln weckte ihn. Es waren rhythmische Stöße, als arbeite unter den dicken Gesteinsmassen ein gigantisches Me tronom. Er hob den Kopf von der Aktentasche, erkannte, daß sein 4
Herz so hämmerte, und spürte ein Stechen in den Schläfen. Es w ar nicht mehr so heiß. Der Strand hatte sich bereits etwas geleert. Petelnikow erhob sich und lief zum Wasser. Er schwamm ein ganzes Stück hinaus. Der Haut tat es gut, mit allen Zellen die Kühle aufzunehmen, wie sie morgens die Sonnenwärme aufgenom men hatte. Auch der bittere, frische Geschmack des Salzwassers w ar angenehm. Nach etwa einer halben Stunde kehrte er an seinen Platz zurück. Die Mädchen plätscherten noch im seichten Wasser. Hier am Strand hatte es die tiefblaue Färbung verloren und sah weißlich aus. Petelnikow tupfte behutsam den heißen Rücken mit dem Handtuch ab; bestimmt würde er sich schälen. Die Mädchen kam en auch aus dem Wasser. Die Schwarze trug eine Flasche. Wahrscheinlich hatten sie sie im Meer gekühlt. „Wir kriegen sie nicht auf“, verkündete eine Frauenstimme schein bar in den leeren Raum. „Darf ich Ihnen helfen?“ fragte Petelnikow galant. Er nahm die Flasche. Sie w ar leer bis auf ein Stück weißes Pa pier, das durchs dunkle Glas schimmerte. „Einleuchtend. Das Meer, die Wellen, dazu eine Flaschenpost. Soll ich den Zettel herausangeln?“ „Selbstverständlich“, erklärte die Schwarze. „Dann steht womöglich drauf: Wer das liest, ist dumm.“
„Aber wenn es ein Gedicht ist?“ sagte die Kleine in schwärmeri schem Ton. „Bei der Hitze?“ Die Flasche w ar fest mit grünlichem Lehm zugestopft. Durch einen kräftigen Schlag mit dem Handballen stieß Petelnikow den Pfropfen ins Flascheninnere und angelte den Papierfetzen mit einem Stück Holz heraus. Die Kleine nahm ihn, las, blinzelte verständnislos und gab ihn ihrer Freundin. Diese kicherte. „Was soll der Unfug?“ „Meinen Sie mich?“ fragte Petelnikow erstaunt. „Ja“, bekräftige die Kleine. Er nahm den Fetzen, der offensichtlich von einer herausgerisse nen Heftseite stammte, jedoch arg verschmutzt, zerknittert und feucht war. Die dünn mit Bleistift gekritzelten Buchstaben schie nen übereinanderzukriechen. „Wer immer diese Flasche findet: Helft m ir um Christi willen! Wer weiß, was sie m ir sonst antun. Ich bin im Haus am Steilhang eingekerkert. Helft mir!“ „Na und?“ fragte Petelnikow. „Genau: na und?“ sagte die Schwarze und lächelte spöttisch. „Urlauber machen eben ihre Späße“, erläuterte er. „Geht das nicht auf Ihr Konto?“ fragte die Kleine rundheraus. Petelnikow w ar sprachlos: Sie glaubten, daß er sich mittels dieser Flasche an sie heranm achen wollte. „Mädchen, ich kenne eine Unmenge Tricks, mit dem schönen Ge schlecht in Kontakt zu kommen, aber doch nicht auf so mittelalter liche Weise.“ „Sondern?“ erkundigte sich die Schwarze. „Zum Beispiel könnte ich fragen, ob Sie vielleicht Hautkrem haben.“ „Bitte.“ Die Kleine reichte ihm eine Tube. „Danke. Ich geb sie Ihnen morgen hier an dieser Stelle zurück. Und wenn Sie wollen, daß ich am Leben bleibe, vertreiben Sie mich lieber vom Strand, meine Schönen.“ Petelnikow w ar in einem winzigen weißen Haus auf der Winogradskajastraße untergebracht. Bestimmt w ar es früher einmal ein kleiner Schuppen gewesen, der im Garten hinter dem Wohn haus stand. Vor der Tür wuchs ein alter Apfelbaum mit riesigen, prallen Früchten. Hinter dem Häuschen lag ein großes Holzfaß. Gleich Diogenes wohnte der kastanienbraune Hund Buket darin, der alle Kurgäste haßte. Petelnikow kam mit ihm zurecht, nachdem sie gemeinsam ein Kilo Kochsalami verzehrt hatten. „Wollen Sie Tee trinken?“ fragte die Wirtin. Petelnikow gefiel ihr, weil er gleich, als er das Häuschen gemietet hatte, fest versprochen hatte, weder zu kochen noch zu waschen oder sonst um etwas zu bitten. Höchstens um Tee. „Ich hatte mal eine Urlauberin, die jauchzte: ,Die Sonne! Die Sonne!1, ließ alles stehen und liegen und stürm te zum Strand“, 6
erzählte die Frau. „Abends hat m an sie dann ins Krankenhaus gebracht, über und über mit Blasen bedeckt.“ Die Vermieterin hatte wohl die Gewohnheit, Gedanken miteinan der zu verbinden, die in keinem Zusammenhang standen. Aber als Petelnikow sein feuerrotes Spiegelbild sah, w urde ihm sofort alles klar. Nachdem er an der nächsten Tasse Tee, der dritten, genippt hatte, stellte er eine Frage, die ebenfalls in keinem Zusammenhang stand. „Gibt es hier irgendwo ein Haus am Steilhang?“ „Gießt wohl öfters m ar einen hinter die Binde?“ erkundigte sich die Wirtin lebhaft und nippte am Tee. „Das kommt schon vor“, gestand er fü r alle Fälle, ohne recht zu wissen, worauf sie hinauswollte. „Die Leute nennen es verschieden: Zum Stillen Zecher, Schnaps destille, Saigon, die amtliche Bezeichnung lautet: Schaschlykdiele.“ Petelnikow lächelte - wie doch alles zusammenpaßte: Da saß so ein Kerl im Stillen Zecher, trank seinen Wein, kritzelte was auf einen Zettel, steckte ihn in die Flasche und w arf diese ins Meer. Folgeerscheinung des billigen Apfelweins. „Danke.“ Er erhob sich und wollte zu seinem weißen Häuschen gehen. „Dann steht da noch ein kleines Haus am Steilhang. Das Wasser hat immerzu am Ufer geleckt und sich rangeschlichen. Die Besitzer kriegten ihre Versicherung ausgezahlt, und ab ging’s ins weite Rußland, auf und davon.“ „Wo steht dieses Haus?“ fragte Petelnikow und blieb stehen. „Etwa zwei Kilometer das U fer entlang Richtung Leuchtturm. Es steht auf Lehmboden.“ „Auf grünem Lehm ?“ „Ja.“ Er ging in sein Zimmer und setzte sich aufs Bett. Mit offenem Mund starrte er auf den Fußboden, vermied es, auf das weiße Laken, die weißen Wände und sogar ein weißes Blatt Papier zu blicken. Ihm war, als brenne noch im mer die unerbittliche Sonne über seinem Kopf und fülle das Zimmer mit gleißendem Feuerschein. Seine Haut brannte, er kam sich vor wie ausgetrock net. Kein Lüftchen regte sich - die B lätter des Weines hingen reglos. Schlafen konnte er auch nicht. Kam es von der Hitze, oder ließ ihn sein an Ermittlungen ge wöhntes Hirn nicht ruhen, jedenfalls ging ihm immer wieder die Flaschenpost durch den Kopf. Erste Variante: Jem and hatte sie in der Schaschlykdiele ge schrieben, die auf dem Felsvorsprung stand. Schwerlich. Ein Be trunkener hätte sich gepfefferter ausgedrückt, außerdem hatte er dort keinen Lehm zur Hand. Zweite Variante: U rlauber hatten sie geschrieben. Sie hätten dem Ganzen jedoch mehr Kolorit gegeben und gutes Papier und einen Kugelschreiber benutzt. Kinder? Der Text sprach dagegen. Ein Scherz? Dann hätte es witziger geklun gen, außerdem hätte der Betreffende sauberer geschrieben, so aber 7
zerflossen die Buchstaben wie Wellen. Und die Sprache? „Ein gekerkert“, „um Christi willen“. Vor allem aber die Angst, die un verfälschte Angst, die aus diesen altmodischen Worten sprach. Doch das w ar ja Unsinn: Wen würde man in unserer Zeit einker kern und wofür? Von Schlaf konnte keine Rede sein. Also w ar es besser, am Strand spazierenzugehen, als im schwülwarmen Zimmer zu hokken. Petelnikow schlenderte in Richtung Leuchtturm, mied den be schwerlichen Weg über die Steine und ging oben entlang über die Hügel. Hier ließ sich gut laufen. Die Schwüle w ar verschwunden, schien im Ort zurückgeblieben zu sein. Unten blinkte schwach das Meer, von dort wehte es kühl herauf. Dutzende kleine Pfade durch das dürre, stachlige Gras hatten sich zu einem festen Weg vereinigt. Manchmal löste sich ein Stein unter seinen Füßen und rollte zum Meer, dann blieb der Inspektor stehen und wartete, bis er unter dem Steilhang zur Ruhe gekommen war. Nach einer guten halben Stunde tauchte in einiger Entfernung etwas Helles aus dem Dunkel. Er ging darauf zu. Das verlassene Haus. Seine Mauern leuchteten nicht so wie die der Häuser im Ort. Vielleicht weil kein Leben dahinter war. Die Fenster w aren mit Brettern vernagelt, vom Schieferdach w ar kaum etwas übrig. Der Garten war dicht von niedrigem Gebüsch überwuchert. An den Zaun erinnerten nur die Betonpfeiler. Vorsichtig näherte er sich der Mauer. Dornengestrüpp, ein Stück Draht, Ziegelbrocken und Konservenbüchsen hängten sich im Dunkeln an ihn, als wären sie lebendig. Am Haus angelangt, be rührte er die verwitterte, erstaunlich warme Wand, als sei er des halb gekommen. Dann rüttelte er an dem B rett vorm Fenster - es saß fest. Die Tür war ebenfalls vernagelt. Alles war, wie es sein mußte bei einem aufgegebenen Haus. Es würde noch gut zwanzig Jahre stehen, weil auf solidem Bruchsteinfundament errichtet. Plötzlich vernahm er so etwas wie ein Stöhnen, es schien nicht aus dem Haus zu kommen, sondern von den Hügeln, aus einem Wäldchen. Alles w ar still. Nur das Meer patschte am Fuß der Steilküste. Gewiß eine Sinnestäuschung. Nachts, wenn keine Menschenseele in der Nähe ist, bildet m an sich sonstwas ein. Auf einmal hatte er nur den Wunsch, sich davonzumachen. Er tat noch einen Schritt und begriff, daß er nicht weitergehen, die Füße nicht bewegen konnte wegen der Angst, die ihn von hinten überfiel und im Genick packte. Er wandte sich schroff um. Durch einen Spalt zwischen den Brettern am Fenster blickte ihn plötzlich ein überdimensionales Auge über einer plattgedrückten Nase an. Nach sekundenlanger Erstarrung trat der Inspektor, über einen Balken, bereit, jederzeit loszustürzen, davonzulaufen und dabei weder auf den Weg noch die Richtung zu achten. Aber das Auge w ar verschwunden und mit ihm auch jene entsetzliche Angst. Er hockte sich hin und tastete im Halbkreis den Boden ab. Ein 8
etwa einen halben Meter langes M etallrohr geriet ihm unter die Finger. Er packte es und sprang zum Eingang. Die Bretter, voh dem als Hebel verwendeten Rohr angehoben, flogen davon wie Späne. E r trat gegen die Tür und schmiegte sich in Erwartung eines Schus ses oder Steinwurfs an die Mauer. Alles blieb still. Nur die rostigen Angeln knarrten. Jetzt mußte er eintreten, jedoch hatte er weder eine Taschenlampe noch Streichhölzer bei sich. Einen Augenblick lugte er um die Ecke und versuchte, wenigstens etwas zu erkennen. Imm erhin wußte er jetzt, daß niemand an der Tür stand und man im Haus etwas sehen konnte - Mondlicht fiel durch die schmalen Lücken zwischen den Brettern an den Fenstern. Er w arf sich hin, legte sich hinter die Schwelle wie hinter eine Grabenwehr und hielt Ausschau. Das Haus hatte keine Räume. Aus den Zwischenwänden war offenbar Brennholz gemacht worden. Nirgends w ar jemand zu entdecken. Petelnikow erhob sich und tra t lautlos ein. Keine Men schenseele, nur schmutziges Papier, Späne und dürres, stachliges Gras raschelten unter seinen Füßen. E r durchquerte das Haus noch einmal und trat hinaus ins Mondlicht. „Ich hab entschieden zu lange in der Sonne gelegen“, sagte er laut, w arf das Rohr ins Gebüsch und ging zurück in den Ort. Er schlief bis Mittag. Als er erwachte, war es schwül im Zimmer. An ein Sonnenbad w ar heute nicht zu denken. Er stand auf, putzte 9
die Zähne, rasierte sich, nahm sein Handtuch und ging zum Strand. Petelnikow nickte den Mädchen zu, die an der alten Stelle lagen, als wären sie nie weggegangen. Er zog sich aus. Im Nu schlug ihm die Sonne glühendheiß auf den Rücken. Er stürzte zum Wasser dort lag die Rettung - und schwamm hinaus. Das Wasser kühlte den Sonnenbrand. Die Muskeln begannen sofort, sich wieder auf ihre K raft und Energie zu besinnen. Diese teilte sich dem Kopf mit, der plötzlich frisch und m unter arbeitete. Angenommen, das Auge w ar eine Sinnestäuschung, verursacht durch übermäßigen Sonnenbrand. Kam so etwas bei ihm vor? Wohl hatte er schon unter Schlägen das Bewußtsein verloren, sich jedoch stets an die Gesichter der Banditen erinnert. Demnach w ar das Auge dagewesen. Vielleicht ein Urlauber, der im Ort kein Quartier gefunden hatte? Warum war das Haus dann mit Brettern ver nagelt? Und w arum schlief er nachts nicht? Falls es der Absender der Flaschenpost, der „Eingekerkerte“, war, w arum hatte er dann nicht gerufen? Petelnikow stieg aus dem Wasser und ließ sich neben den Mädchen nieder. „Haben Sie keine Angst vor der Sonne?“ „Wir sind von hier.“ „Was heißt das?“ „Wir arbeiten in dem Sanatorium dort.“ Die Schwarze wies mit einer Kopfbewegung in die entsprechende Richtung. Oben auf dem Berg schimmerte weiß ein Sanatorium. „Sie liegen doch schon den ganzen Tag in der Sonne.“ „Wir haben Nachtschicht.“ „Wie ist dort das Essen?“ fragte Petelnikow, denn ihm w ar ein gefallen, daß er noch nichts gegessen hatte. Die Schwarze antwortete lebhaft: „Sehr kalorienbewußt.“ „Was soll das heißen?“ „Viel Vitamine, Eiweiß, Geschmacksstoffe.“ „Verstehe. Gibt’s auch Pelmeni?“ erkundigte er sich. Es w ar sein Lieblingsgericht. „Bei Gedeck Nummer drei.“ Petelnikow sah, wie sich neben seinem Handtuch zielstrebig ein junger Mann niederließ - immer m ehr U rlauber kamen in der Hoffnung, daß es am Nachmittag kühler sein werde. Der Bursche war ziemlich klein, hager, aber kräftig. Kurze, sportliche Frisur. Die rötliche Haut w ar kaum gebräunt, offenbar w ar er noch nicht lange hier. Sein Alter: etwa zwanzig. Sollte er nicht diesen Jungen zur Besichtigung des verlassenen Hauses mitnehmen? Natürlich sofern er einverstanden war. Und sofern er ein Mann war. Das w ar unschwer herauszukriegen. „Sollten wir unser Trio nicht in ein Quartett umgestalten?“ schlug er den Mädchen vor. „Durch den da?“ Die Schwarze wies auf den neu Hinzugekomme nen. Der Bursche hatte jedoch bereits Taucherbrille und Schnorchel angelegt, ging zum Ufer, tauchte noch im Seichten und verschwand im Wasser. 10
Petelnikow setzte sich aufs Handtuch und m usterte die Sachen des Jungen. Kleidungsstücke, Sandalen, eine Tasche, zwei Bücher. Was w aren das wohl für welche? „Der Sucher“ und „Der gelbe Hund“ von Simenon. Klar, dieser Junge dürstete nach Abenteuern. Als er aus dem Wasser kam, fragte Petelnikow träge: „Wie ist die Tem peratur da unten?“ „Normal.“ „Hast du die Bücher hier bekommen oder mitgebracht?“ „Die kriegt m an hier.“ Sie unterhielten sich - U rlauber kommen schnell ins Gespräch. Nach zwanzig Minuten wußte Petelnikow bereits, daß Oleg aus Sibirien gekommen w ar, dort in einem Forstbetrieb arbeitete und gern die Bekanntschaft d er Mädchen gemacht hätte. „Das Wetter hier taugt fü r die Liebe“, erklärte er lachend und zeigte kräftige weiße Zähne, die wohl einen D raht durchbeißen konnten. „Hast wohl was übrig für Krimis?“ fragte Petelnikow. „Und ob.“ „Möchtest du selbst gern mal einen Fall klären?“ „Es gibt vieles, was ich möchte. Zum Beispiel mal den Direktor spielen. Statt dessen muß ich Bäume fällen.“ „Dann hör zu.“ Oleg saß scheinbar ruhig, doch die Augen unter der weißblonden Stirnlocke blitzten neugierig, und die H aut über den Backenkno chen zuckte leicht. Die Mädchen hatte er bereits vergessen. „Das ist ein Ding!“ erklärte er neiderfüllt. „Wollen wir zusammen hingehen?“ „Jetzt gleich?“ fragte er aufgeregt. „Wenn die Hitze nachgelassen hat. Gegen Abend.“ Sie vereinbarten, sich an der Gaststätte unter den Zypressen zu treffen. — Petelnikow mußte sich überzeugen, daß der Begriff „Abend“ im Süden nicht so klar zu definieren war. E r kam zur vereinbarten Stunde und war verw undert über die jäh hereinbrechende Dunkel heit. Oleg verspätete sich. Der Inspektor kaufte für alle Fälle eine Schachtel Streichhölzer, stand eine Weile herum, wanderte umher und ließ sich schließlich auf einem großen Stein nieder. Bald war es richtig dunkel, w ar die Nacht hereingebrochen. Der Mond goß sein orangenes Licht über den Ort. Oleg kam eine volle Stunde zu spät. Er bog um die Ecke der Gaststätte und ging lautlos über den feinen Staub. Seine Augen blitzten gelb im Mondlicht. Auch die Stirnlocke sah gelb aus. „Warum kommst du so spät?“ fragte der Inspektor mürrisch, als befände er sich auf einem dienstlichen Einsatz. „Ich wollte erst mal was futtern.“ Petelnikow zog die Luft ein. „Hast du getrunken?“ „Ein Glas sauren Apfelwein. Dazu hab ich Sonnenblumenkerne geknabbert.“ II
Nein, das sah nicht nach einem dienstlichen Einsatz aus. Eher nach einem Spaziergang, einem Abendspaziergang den Strand entlang. Vielleicht hatte sein neuer Freund auch nur Angst - er sollte mit einem Unbekannten zu einem unbekannten Haus gehen, noch dazu im Dunkeln. Oleg schüttelte die Hände. Aus einem Ärmel glitt eine Taschen lampe, aus dem anderen eine kurze Stahlrute. Na klar, er hatte Angst. „Dann mal los“, sagte Petelnikow und trat unter dem Baum her vor. „Was machst du abends so?“ fragte der Inspektor. „Ach, das übliche. Wein, Kino und Domino. Was stellst du eigent lich so dar?“ „Ich bin Kfz-Schlosser“, log Petelnikow, um unnützen Fragen aus dem Weg zu gehen. Außerdem hatte er nach der Schulzeit tatsäch lich in einer Garage gearbeitet. Außerhalb des Ortes redeten sie nicht m ehr miteinander. Ringsum herrschte Stille, war alles menschenleer. Nur die Zikaden sangen ihr ewiges Lied, und wenn sie eines der zum Meer führen den kleinen Täler durchquerten, hörten sie das Rauschen der an laufenden Wellen. Sie stiegen aus der Schlucht, wobei sie sich an den lederartigen Blättern der kleinen Eichen festhielten, gingen an zwei kleinen Hügeln vorbei und sahen vor sich das weiße Haus schimmern wie ausgeblichene Knochen. „Da ist es“, sagte Petelnikow halblaut. .. Oleg antwortete nicht, sondern ließ nur die Stahlrute aus dem Ärmel gleiten. „Wenn es nun mehrere sind?“ fragte Petelnikow, um ihn zu prüfen. „Die dreschen wir zusammen“, knurrte Oleg dumpf. Nein, er w ar kein Feigling. Vorsichtig näherten sie sich der Tür. Oleg bewegte sich gewandt und lautlos, teilte das grüne Gestrüpp mit seiner Schulter; es schloß sich hinter Petelnikow wie Wasser hinter einem Schwimmer. An der Tür blickte der Inspektor kurz durch das Fenster - zwischen den Brettern gähnte schwarze Finsternis. Er mochte sich selbst nicht eingestehen, daß jenes Auge ihm nicht bedrohlicher, eher widerlicher als eine ganze Bande von Kriminellen erschienen war. Die Tür w ar verschlossen. Oleg stieß sie mit einem Tritt auf, sie verschwand knarrend in der Dunkelheit. „Leuchte mal“, flüsterte Petelnikow. Ein heller Lichtstrahl streifte die trockene Erde und verschwand im Haus wie von der Finsternis verschluckt. Sie traten ein. Im Haus w ar alles unverändert. Schmutziges Papier, Späne, Büschel von Heu, Milchtüten. In einer Ecke des Raumes glänzte dunkel verschüttetes Pech. Überall roch es nach trockenem Papier und Schmutz. Stille herrschte. Nicht einmal Mäuse raschelten. Nein, etwas im Haus hatte sich doch verändert: An der Wand lag ein von der Sonnenglut und Zeit gedunkelter Balken. 12
„Der w ar noch nicht da“, sagte Petelnikow. „Bestimmt haben Touristen ihn hergeschleppt.“ Vielleicht hatte Petelnikow ihn aber auch nur beim Mondlicht übersehen. Oleg ließ den Lichtkegel über Wände und Fußboden gleiten. „Wo soll sich hier einer verstecken?“ fragte er. Offensichtlich zweifelte er Petelnikows Bericht über das mysteriöse Auge an. „Weiß der Teufel!“ entgegnete Petelnikow nachdenklich, hob einen Krümel vom Boden und zerrieb ihn: Lehm, grüner Lehm. Genau solcher wie der, mit dem die Flaschenpost versiegelt war. „Und was ist das?“ fragte Oleg plötzlich und wies auf eine Stelle zu seinen Füßen. Auf dem Fußboden hob sich deutlich ein Viereck ab. Ein Keller, das Haus hatte einen Keller. Oleg hob die Falltür mit seiner Stahl rute. Sie ließ sich leicht öffnen. Petelnikow packte sie, stellte sie senkrecht und blickte, dem Lichtkegel folgend, hinunter - dort war nichts, keine Menschenseele. Plötzlich erlosch die Lampe. Im selben Moment schnitt sich die Stahlrute mit ungeheurer Wucht in sein Genick. Er stürzte in den Keller und verlor das Bewußtsein. Der Schmerz im Nacken ließ ihn jedoch bald zu sich kommen. Er betastete die Stelle und drehte den Kopf hin und her - der Schlag lag knapp unter dem Halsansatz und hatte die Wirbelsäule nicht beschädigt. Die Stirn schmerzte, geronnenes Blut w ar daran fest gebacken. Außerdem war ihm leicht übel. Offenbar hatte er das Bewußtsein verloren, als er mit dem Kopf gegen die Kellerwand prallte. Petelnikow richtete sich auf. Man konnte die Luke an der Decke nicht mit den Händen erreichen - sie griffen ins Leere. Petelnikow überw and seinen Abscheu, suchte Späne und Holzstücke und er richtete ein kleines Häufchen. In der Ecke fand er einen zerbeulten Blechkanister. Ein halber Ziegel tauchte aus dem Schutt. Der In spektor riß einige Latten von den Wänden - wahrscheinlich die Reste von Verschlägen - und baute aus allem eine A rt Pyramide. Die unsichere Konstruktion trug ihn mit Ach und Krach und schwankte unter seinem Gewicht. Er konnte die Luke erreichen und drückte dagegen, doch im selben Augenblick wurde ihm klar, daß sie durch eine Last niedergehalten wurde, die ein Mensch von unten nicht anheben konnte. Der Balken! Der eigens dazu herbeigeschleppte, etwa vier Meter lange Balken. Er wäre auch von einer soliden Leiter aus nicht anzuheben. Dennoch versuchte Pe telnikow es noch einmal mit letztem Krafteinsatz, bis seine Py ram ide auseinanderfiel und er wieder auf dem Boden stand. Von der Anspannung wurde ihm übel. Blut pulsierte in seinem Hinterkopf und Nacken, als schlage dieser Oleg weiterhin gleichmäßig mit seiner Stahlrute auf ihn ein. Die Beine zitterten. Er verschnaufte. Einen Gang mußte er graben, das war der Aus weg. Bis zum Meer konnte es nicht weit sein, das Haus stand direkt an der Steilküste. Er brauchte eine Konservenbüchse oder einen 13
Metallgegenstand. Da fielen ihm die Streichhölzer ein, die er in der Gaststätte gekauft hatte. Er zündete eines an und schloß die Augen - die kleine gelbe Flamme strahlte wie eine Atomexplosion. Beim zweiten Streichholz hatten sich seine Augen daran gewöhnt. Er blickte um sich. Schutt und Staub. Die Bretterverschläge überall abgerissen. Kein Stück Metall außer dem zerbeulten Kanister. Aber selbst mit einem eisernen Werkzeug ließe sich wenig ausrichten - der Keller w ar in den graugrünen Lehm gegraben, der Boden hart wie Asphalt. Allenfalls eine Brechstange hätte hier helfen können, außerdem wußte Petelnikow nicht mehr, in welcher Richtung das Meer lag. Am besten alles anzünden, den Müll, die Holzstücke und die Dielenbretter über seinem Kopf - das Haus sollte richtig auflodern. Die Bretter w ürden verbrennen und er hinausgelangen. Irrtum - er würde als erster verbrennen. Oder vielmehr am Rauch ersticken. Vielleicht sollte er gegen die Decke hämmern, bis man ihn hörte? Er griff eine Latte und stieß sie gegen die Luke über seinem Kopf, doch das morsche Holz zerbrach in m ehrere Stücke. Er packte die nächste Latte - sie zerfiel buchstäblich in seinen Händen. Blieb nur noch Schreien. Er zögerte, da er nicht wußte, was er rufen sollte. Zu Hilfe, helft m ir doch? Er, Oberinspektor der Kri minalmiliz, sollte so etwas rufen? Er brüllte: „Haa-a-ll-o!“ und ver- $ suchte, die dicken Mauern mit seiner Stim mkraft zu durchdringen. Er rief lange und ausgedehnt. Nichts rührte sich. Wer sollte ihn auch hören? Ohne recht zu wissen, warum, entzündete er ein Streichholz und untersuchte nochmals den Boden. Müll, Dunkelheit und stumme Wände. Viele Papierschnipsei, gelb und halb verm odert wie P a pyrusfetzen. Einer sah seltsam neu aus. Er zündete ein weiteres Streichholz an und entzifferte: „Awa, mein Töchterchen...“ Der Eingekerkerte! Dieselbe Schrift, derselbe Bleistift wie in der Fla schenpost. So also standen die Dinge! In diesem Haus hatte ein Mensch ge sessen, der jenen Zettel geschrieben, in eine Flasche gesteckt, diese m it Lehm verschlossen und offenbar unbem erkt den Steilhang hinuntergeworfen hatte. Danach hatte man ihn in diesen Keller gesteckt, wo er gleichfalls versucht hatte, etwas zu schreiben, es jedoch wahrscheinlich nicht m ehr geschafft hatte. Durchaus möglich, daß er, Petelnikow, ihn daran gehindert hatte, als er sich nachts dem Haus genähert hatte.