Anna Degen
Das Haus am Nonnengraben
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Hanna Tal soll einen Artikel über das verwahrloste »Haus am ...
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Anna Degen
Das Haus am Nonnengraben
scanned 05_2007/V1.0
Hanna Tal soll einen Artikel über das verwahrloste »Haus am Nonnengraben« schreiben. Bei der Recherche vor Ort findet sie nicht nur eine alte Frau, die seit Wochen ermordet an ihrem Küchentisch sitzt, sondern auch die junge Stadtstreicherin Tanja mit ihrem Baby. Bei dem Versuch, Tanjas Unschuld zu beweisen, gerät Hanna immer tiefer in den Strudel der dunklen Geheimnisse des Hauses. Staatsanwalt Benno Berg und die Polizei verfolgen bei ihren Recherchen eine ganz andere Spur, die sie zu illegalen Geldgeschäften in der feinen Bamberger Gesellschaft führt. Wo ist der Knoten, der Vergangenheit und Gegenwart verknüpft? ISBN: 978-3-89705-494-3 Verlag: Emons Erscheinungsjahr: 2007 Umschlaggestaltung: Heribert Stragholz
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor Karin Dengler-Schreiber promovierte über die mittelalterlichen Handschriften des Klosters Michelsberg. Als Historikerin mit dem Spezialgebiet »Bamberger Geschichte« beschäftigt sie sich seit vielen Jahren mit Häusern und dem, was sie erzählen. Für ihre umfangreiche ehrenamtliche Tätigkeit erhielt sie 2004 das Bundesverdienstkreuz. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Bamberg. »Das Haus am Nonnengraben« ist ihr erster Roman, den sie unter dem Pseudonym Anna Degen veröffentlicht.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
Für meine Männer
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Wie scone du bist, fruintin min, wie scone du bist! Geseret habest tu mir min herza, swester min gemahela, geseret habest tu mir min herza in einemo diner oigen. Williram von Ebersberg: Hohes Lied, althochdeutsche Übersetzung In der Erinnerung beginnen die Wege in die Zukunft.
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Prolog Seit vielen Jahren schon war er nicht in den Bergen gewesen, die doch vor seiner Haustür lagen, bei Föhn sogar sichtbar, wie Geister am Horizont. Als Kind hatte er sie gehasst, diese ewigen Bergwanderungen. Um ihn zu »motivieren« – schon dieses Wort war ihm zuwider gewesen –, hatten ihm seine Eltern ein Wanderbuch geschenkt, mit dem er »Gipfel sammeln« konnte. Gemeint waren damit jene Stempelstationen in den Alpen, wo man sich per Eintrag in seinem Buch sozusagen offiziell bestätigen lassen konnte, dass man an einem bestimmten Tag einen bestimmten Gipfel bestiegen hatte. Er fand das Buch beim Durchsuchen ihres Schreibtischs. Das sah ihr ähnlich, so etwas aufzuheben. Teils geschmeichelt, teils genervt hatte er es schon in den Papierkorb geworfen, als ihm eine geniale Idee kam: Das Wanderbuch würde ihm das perfekte Alibi liefern. Das musste nur genau geplant werden, exakt geplant, bis ins Detail. Es gab Stempel, da konnte man das Datum selbst einstellen. Er suchte die alten Wanderkarten heraus, machte Weg- und Zeitpläne, stellte komplizierte Berechnungen an, checkte Parkplätze und Autoverleihfirmen. Dann lief er an einem Wochenende die Strecke zur Probe ab, was ihm Blasen und Muskelkater eintrug. Aber der Plan würde funktionieren: Er brauchte nur am Samstag die Tour zu machen, die drei Stempel unterwegs auf den Sonntag vorzudatieren und abends in der Hütte dem Wirt von seiner für den nächsten Tag geplanten Wanderung zu erzählen. So gewann er für den Sonntag ein äußerst ehrenwertes, rotstrümpfiges Alibi. So stand zwischen ihm und dem Haus nur noch sie. Sie hätte ihn nicht so behandeln sollen. Es war nicht klug, gar nicht klug, ihn so zu beleidigen. Und er bekam immer, was er wollte, wenn er nur gut genug plante. Er war sehr zufrieden mit sich. 6
1 Über einen Abgrund führte ein kleiner Steg von der Rampe der Nonnenbrücke hinüber zum Haus am Nonnengraben. Das Fenster in der Haustür am Ende des Stegs wurde von einem auffallend schönen Gitter geschützt. Jedes Mal, wenn Hanna hier vorbeigekommen war, hatte sie sich vorgenommen, eines Tages stehen zu bleiben und sich das Gitter näher anzusehen, es ohne konkreten Anlass aber nie getan. Jetzt war der Anlass da. Hanna Tal war Chefin und einzige Mitarbeiterin ihres Büros für Untersuchungen in der Denkmalpflege. Im Augenblick hatte sie den Auftrag, für das Landesamt für Denkmalpflege ein Kellerkataster der Bamberger Altstadt zu erstellen, eine Aufgabe, die sie mit Leidenschaft erfüllte. Aber einen kleinen Nebenjob konnte sie hin und wieder ganz gut gebrauchen. Deshalb hatte sie ohne langes Zögern zugestimmt, als die Bamberger Zeitung, der Fränkische Tag, sie gebeten hatte, einen Artikel über das verwahrloste Haus am Nonnengraben zu schreiben. Den Anstoß dazu hatte ein Leserbrief gegeben. »Wie kann man in Ihrer wunderschönen und ansonsten so gut sanierten Weltkulturerbestadt nur seit Jahren einen solchen Schandfleck zulassen?«, hatte ein Besucher aus Hamburg geschrieben. Diese Frage hatte eine Menge von Zuschriften ähnlichen Inhalts ausgelöst. Der Fränkische Tag, der um das große Interesse der Bamberger an ihrer Stadt wusste, war bereit, dieser Frage nachzugehen, und hatte Hanna mit einer Recherche über das Haus beauftragt. Das passte hervorragend, denn sie musste es sowieso noch für ihr Kellerkataster bearbeiten. So stand sie also jetzt an diesem hellen Montagmorgen im September vor dem Haus am Nonnengraben und bewunderte erfreut das Gitter in der Haustür. Dahinter wohnte laut Adressbuch eine Elfi Rothammer, die aber weder auf Hannas 7
Anrufe noch auf ihre Briefe reagiert hatte. Weil die Klingel keinen Ton herausbrachte, versuchte Hanna, durch das Gitter ins Innere zu spähen. Es war an vielen Stellen verrostet und wie das ganze Haus in einem beklagenswerten Zustand, aber die Linien, sanft und kraftvoll zugleich, erzählten davon, dass der Schmied, der sie vor fast zweihundert Jahren geschaffen hatte, mit einer Künstlerseele ausgestattet gewesen war. Hanna empfand eine kleine Zärtlichkeit für diesen vergessenen Mann und fuhr mit dem Zeigefinger die metallenen Kurven des Gitters nach. Da öffnete sich unter dem leichten Druck ihrer Hand lautlos die Tür und lockte Hanna in das Innere des Hauses. Hinter dem Windfang lag eine Halle, deren einstige Eleganz noch spürbar war. In dem dämmrigen Licht, das durch die Fensterläden fiel, tanzte Staub über breite Eichendielen. Das Schönste war die Treppe, die sich frei durch den leeren Raum zu einer Galerie im ersten Stock schwang. Es war still hier, trotz des Autoverkehrs draußen. Doch die Stille wirkte nicht friedlich, sondern beängstigend. Hanna schaute sich um und versuchte, die Quelle ihres intensiven Unbehagens ausfindig zu machen, bis ihr auffiel: Es war der Geruch. Es roch einfach widerlich. Plötzlich hörte sie ein leises Wimmern. Ein Kätzchen? Es schien aus dem rückwärtigen Teil des Hauses zu kommen. Hanna durchquerte die Halle und betrat einen Gang, der zum Garten führte. Durch eine bunt verglaste Tür an seinem Ende fiel Licht auf einen gemusterten Terrazzoboden, wie er im 19. Jahrhundert für die Küchen- und Gesindetrakte üblich war. Hinter einer Tür rechts war jetzt wieder das Wimmern zu hören, ein kleiner Ton, der gleich wieder abbrach. Hanna öffnete die Tür und sah vor sich den seltsamsten Raum, den sie je betreten hatte. Es musste sich um die frühere Küche handeln; dafür sprachen die beiden großen Spülbecken und der Herd an der rechten Wand. Ansonsten aber wirkte der Raum wie ein großes Zelt. An allen Wänden entlang waren Schnüre gespannt, an denen Stoffe in den unterschiedlichsten Farben und Materialien 8
hingen. Die Stoffbahnen in den Ecken führten bis in die Mitte des Raums und waren dort am Haken der alten Hängelampe angebunden. Das Ganze wirkte bizarr, aber auch anheimelnd. Zwischen den beiden Ostfenstern saß auf einem Stuhl ein Mädchen mit einem Säugling an der Brust. Kein Kätzchen, ein Kind hatte gemaunzt. Das Licht aus den Fenstern hinter dem Mädchen umstrahlte sie wie ein Glorienschein. Aber es war eine seltsame Madonna, die da saß und ihr Kind säugte: Von den grünen Haaren über den Ring in der Nase bis zu den zerschlissenen Turnschuhen war sie höchst unheilig anzusehen. Sie schaute Hanna erschrocken an. »Oh, hallo«, sagte Hanna. »Entschuldigung, dass ich hier einfach so hereinplatze. Die Haustür ging von selbst auf.« »Sind Sie von der Polizei?« Das Mädchen legte schützend einen Arm um ihr Kind. Hanna lachte und sagte: »Seh ich so aus? Nein, ich bin hier, weil ich einen Artikel über das Haus schreiben soll. Wohnst du hier?« »Gehen Sie weg!«, sagte das Mädchen. Warum reagierte die Kleine so verängstigt? Hanna lächelte besonders lieb. »Ist das dein Kind? So ein süßer Wurm!« Sie schaute hingerissen auf das Baby hinunter. Wirre schwarze Haare standen von seinem Köpfchen ab. Es nuckelte ungerührt an der Brust seiner Mutter, und eines seiner Händchen lag vertrauensvoll auf ihrer zarten weißen Haut. Wie rührend die Hände eines Säuglings sind, dachte Hanna, die vollendeten Fingernägel, so zart und scharf, die Grübchen anstelle hervorstehender Erwachsenenknöchel, winzige perfekte Instrumente. »Ist das ein Junge?«, fragte sie. »Wie heißt er denn?« Das grüne Mädchen blieb misstrauisch, aber ihr Stolz gewann die Oberhand. »Will. Wie sein Vater. William Shandy.« Sie sah ihr Kind mit einer so intensiven Zuneigung an, dass Hanna ganz 9
flau wurde im Magen. Es war nicht Neid, der sie durchflutete, aber eine große Woge von Selbstmitleid. Da saß dieses Kind – wie alt mochte sie sein? Sechzehn oder siebzehn Jahre vielleicht – mit seinen grünen Haaren und diesem Riesenschatz von Mutterliebe, neben dem Hanna sich vorkam wie eine Bettlerin. Eine Bettlerin mit einem Sack voller Enttäuschungen. »Shandy?«, fragte sie. »Ist das sein Nachname?« »Nein, der zweite Vorname. Tristram Shandy war Wills Lieblingsbuch.« »Ist er denn gestorben?« »Warum?«, fragte das Mädchen verwirrt. »Weil du gesagt hast, ›war‹. Es ›war‹ Wills Lieblingsbuch.« Sie hatte die falsche Frage gestellt. Die Tür, die sich durch Hannas Bewunderung für das Kind etwas geöffnet hatte, fiel wieder zu. »Ich weiß nicht, was mit ihm ist.« Hanna wollte den Faden nicht abreißen lassen. »Und wie heißt du?« »Tanja«, murmelte die Kleine mürrisch. »Ich heiße Hanna.« Einen Versuch war es noch wert. Sie sah sich im Zimmer um. »Toll hast du das hergerichtet, richtig gemütlich.« Sie trat an das hintere Fenster und sah hinaus in den Garten. Und vergaß alles andere. Da draußen lag ein Stück vom Paradies. Rosen in den verschiedensten Farben leuchteten vor Efeu und Weinlaub. »Oh, das muss ich mir ansehen«, sagte Hanna und war schon durch die Tür. Im Hof ihres Häuschens, vom Vorgänger mit einer massiven Betonschicht befestigt, hatte sie jede Menge Töpfe aufgestellt, aber sie träumte schon lange von einem richtigen Rosengarten. Jetzt stand sie überwältigt inmitten der Pracht und schaute und saugte den Duft ein und hörte das Summen der Insekten und
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spürte unter den Fingerspitzen die glatte Sanftheit einer Rosenknospe. »Ist das dein Garten?«, fragte sie über die Schulter. Tanja war ihr nachgekommen. Sie hatte Will in den Kinderwagen gelegt, über den hinweg sie Hanna beim Schauen beobachtete. Sie sah weniger abweisend aus als vorhin. »Na ja, meiner nicht direkt. Ich kümmere mich darum. Aber du hättest ihn mal sehen sollen, als ich vor einem halben Jahr hier ankam. Die reinste Wildnis.« Aha, sie sagte »du«! »Ein halbes Jahr …? Aber niemand kann doch … Das sind doch lauter alte Rosen?« »Das meiste Zeug war schon da, bloß halt überwuchert und voll Unkraut. Schau mal, den Kompostberg da hinten an der Mauer. Das war alles ich.« »Das hat sich aber gelohnt«, sagte Hanna voller Bewunderung. Sie wusste gar nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. »Das ist ja eine alte Roseland Star. Die gibt es doch gar nicht mehr! Und wie die riecht!« Dann entdeckte sie eine riesige Westerland, fast drei Meter hoch und voller orangegelber Blüten. »So viele Knospen bei der zweiten Blüte! Und sie sind ganz gesund. Wie machst du das bloß?« »Ich mach gar nix. Das war schon so. Ich glaub, die Pflanzen schützen sich gegenseitig.« Hanna lächelte. »Du scheinst einen grünen Daumen zu haben. Bist du Gärtnerin oder so was?« Kopfschütteln. »Bist du hier angestellt?« Tanja scharrte mit ihrem Schuh im Sand auf dem Gartenweg. »Nicht direkt. Ich wohn hier und dafür mach ich halt den Garten.« »Du wohnst hier? Und wer wohnt sonst noch hier?« Tanja zögerte. »Niemand.«
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»Niemand?«, fragte Hanna ungläubig. »Aber wem gehört denn das Haus?« Tanja drehte sich um und ging mit ihrem Kinderwagen wieder zum Haus zurück. Hanna setzte sich konsterniert auf die Bank am Gartenhaus. Was war denn jetzt schon wieder? Es war wahrscheinlich klüger, die Kleine von sich aus kommen zu lassen. Sie schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, den Düften und der Wärme hingegeben. Aber sie hörte jeden von Tanjas Schritten. Zögerlich kam das Mädchen durch den Garten herüber zu der Bank und setzte sich neben Hanna. Will war eingeschlafen, und Tanja drapierte ein Tuch sorgfältig so, dass er im Schatten lag. »Erzähl«, sagte Hanna. Jetzt wollte sie wirklich wissen, was hier los war. Die Stille dehnte sich. »Was denn?«, fragte Tanja schließlich. »Wo hast du so gut gärtnern gelernt?« Da kannte die Kleine sich aus, das würde sie etwas sicherer machen. »Bei meiner Mutter.« Tanja lehnte sich zurück und starrte auf ihre Füße. »Wir waren früher den ganzen Sommer im Garten, ach, eigentlich das ganze Jahr.« Sie klang wehmütig, als läge das schon Jahrzehnte zurück. »Wir auch, aber meine Geschwister und ich, wir haben uns vor der Gartenarbeit gedrückt, wo es nur ging.« »Nö, ich hab das schon immer gern gemacht. Ich hab schon als ganz kleines Kind mein eigenes Beet gehabt.« Tanja lachte leise auf. »Da hab ich zuerst Löwenzahn gezogen.« »Na, da wird deine Mutter aber begeistert gewesen sein. Unsere hätte uns jedenfalls was erzählt, wenn die ganzen Samen in ihre Rabatten geflogen wären.«
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»Meine Mutter nicht. Das Beet ist so schön gelb, hat sie gesagt. Und wir haben dann ›Löwenwolle‹ gesammelt und einen ganzen Sack mit Löwenzahnsamen voll gemacht.« Das ist doch eine wunderbare Idee, das Problem zu lösen, dachte Hanna. Da muss sie doch nicht so traurig schauen. »Deine Mutter ist wohl mächtig stolz auf dich und diesen Garten. Und dann hat sie auch noch so einen süßen Enkel. Freut sie sich darüber?« »Nein«, sagte Tanja schroff. Ihre Nase war ganz spitz geworden. »Was, nein?« »Nein, sie ist nicht stolz und froh, sie ist tot.« »Oh, das … das tut mir leid.« Hanna mochte es nicht glauben. »Aber du bist doch noch so jung!« »Sie ist bei einem Verkehrsunfall gestorben. Als ich elf war. Zusammen mit meinem Vater.« Tanja sah trotzig aus und verloren, und plötzlich begann sie zu weinen, immer heftiger und heftiger. Hanna nahm sie spontan in den Arm und streichelte sie und murmelte die einsilbigen Worte des Trostes: »Na komm, ist ja schon gut, ist ja schon gut.« Und Tanja ließ es zu, der Igel stellte seine Stacheln nicht auf. Als das trockene, stoßweise Schluchzen sich allmählich legte und Tanja sich lange und geräuschvoll in Hannas zerfleddertes Taschentuch geschnäuzt hatte, fragte Hanna sachlich: »Und wieso wohnst du jetzt hier?« »Ich kam damals zu Tante Doris. Die ist ganz anders als Mama, obwohl sie ihre Schwester ist. Ständig hat sie Geschichten mit Männern, und wenn einer sie mal wieder sitzen gelassen hat, dann säuft sie und jammert rum und ist zu überhaupt nichts mehr zu gebrauchen. Der hat es gar nicht
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gepasst, so ein Balg angehängt zu kriegen, aber sie ist meine einzige nahe Verwandte.« Tanjas Unterlippe zitterte. Sie starrte blicklos vor sich hin. »Hätten sie doch bloß diese Reise nicht gewonnen! Dabei haben sie sich so gefreut. Sie waren Lehrer, weißt du, und haben immer gespart und gespart, weil sie bauen wollten. Und dann haben sie diese Reise gewonnen, nach Florenz. Ab Flughafen München. Und auf der Autobahn …« Hanna nahm sie wieder in den Arm. Nach einer Weile sagte sie: »Und weiter?« »Ach, ab da ging irgendwie alles schief. Erst bin ich in der Schule sitzen geblieben. Dabei war ich vorher eigentlich gut. Dann wollten meine Freundinnen nix mehr von mir wissen. Und dann …« Tanja kaute an einem Fingernagel. »Na ja, die sollten sich halt wundern, was ich anhab und so … Jaa, ich weiß, das war Scheiße, okay, okay!« Will maunzte ein bisschen, weil die Sonne inzwischen in seinen Kinderwagen schien. Sofort stand Tanja auf und drehte den Wagen in den Schatten. »Natürlich bin ich irgendwann beim Klauen erwischt worden, und dann kam eine Sozialarbeiterin und maulte Tante Doris an von wegen Vernachlässigung ihrer Erziehungspflichten, und dann wurde es ganz schrecklich. Sie hat auf streng gemacht und mich geschlagen und wegen jedem Scheiß eingesperrt. Aber wirklich ausgeflippt ist sie, als sie gemerkt hat, dass ich schwanger bin. Sie kann nämlich keine Kinder mehr kriegen, weil bei ihr mal eine Abtreibung schieflief. Sie hat geschrien und getobt, ich käme in ein Heim für Schwererziehbare und man würde mir sofort das Kind wegnehmen und zur Adoption freigeben. Sie hat auf mich eingeprügelt und wollte mir einen Stuhl in den Bauch stoßen. Auf meinen Bauch hatte sie es richtig abgesehen, auf den hatte sie eine entsetzliche Wut. In der 14
Nacht bin ich fort.« Sie schwieg trotzig. »Und ich geh da auch nie mehr zurück! Nie mehr.« Hanna hatte mit wachsender Empörung zugehört. »Wie alt bist du, Tanja?« »Fast achtzehn.« »Dann bist du doch sowieso bald volljährig!« Tanja lächelte, ein kleines verzerrtes Lächeln, das Hanna in der Brust wehtat. »Wann bist du denn weg von zu Haus?« »Das war letztes Jahr im November.« »Im November? Und was hast du dann gemacht?« »Ich bin in unser Gartenhaus gegangen, das von meinen Eltern, oben am Paradiesweg. Weil im Winter geht Tante Doris da nie hin.« »Aber wovon hast du denn gelebt? Du brauchst doch Essen und Babykleider und so etwas?« Plötzlich spürte Hanna das Schneckenhaus wieder, die harte Schale, die Tanja sich als Schutzpanzer zugelegt hatte. Tanja rückte ein Stückchen von Hanna ab und hob die Schultern. Doch dann drehte sie den Kopf, sah sie an und beschloss offenbar, ihr zu vertrauen. »Ich bin ziemlich gut im Organisieren«, sagte sie mit flacher Stimme. »Auf eine Frau mit Kinderwagen passt man nicht so auf.« Na super. Eine Diebin. Doch Hanna bemerkte, dass diese Erkenntnis ihre wachsende Sympathie für Tanja nicht beeinträchtigte. »Ach so?«, murmelte sie nur. »Und Kleider kriegt man bei der Caritas, und beim Sperrmüll findet man jede Menge Zeug.« Und mit einem zufriedenen Nicken fuhr sie fort: »Die Tücher in meinem Zimmer lagen beim Karstadt im Hof rum, als die umgebaut haben. Achtmal bin ich in der Nacht zwischen dem Grünen Markt und hier hin15
und hergelatscht, bis ich die alle im Kinderwagen hergebracht hab.« Sie war sichtlich stolz auf ihr Organisationstalent, und das konnte sie unter den gegebenen Umständen wohl auch sein. Aber dann fügte sie bitter hinzu: »Und jetzt ist alles für die Katz!« »Wieso? Was meinst du damit?« »Als ich hierher gekommen bin – also, ich wusste, dass ich nicht ewig in unserm Gartenhaus bleiben konnte. Im Sommer ging Tante Doris immer mit ihren Lovern dorthin. Auch wenn sie jetzt die Wohnung für sich allein hatte, ohne mich Störenfried, wer weiß, was sie vorhatte. Und wenn die mich findet, dann kannst du hinterher mit mir den Boden bohnern. Weil, na ja, als ich damals wegging, da hab ich ein paar von ihren Sachen mitgenommen, warme Pullover und so, ich selbst hatte ja fast nix, und hundertfünfzig Euro, die sie im Küchenbüfett versteckt hatte. Sie hat mich zwar offenbar nicht vermisst gemeldet, ich hab jedenfalls nirgendwo ein Plakat gesehen. Das war ihr wohl zu gefährlich, wegen irgendwelcher Fragen vom Jugendamt vielleicht. Aber sie ist bestimmt gigantisch sauer auf mich. Ich weiß, was mir blüht, wenn sie mich erwischt. Das heißt, ich musste rechtzeitig fort aus dem Gartenhaus und mir was anderes suchen. Und auf einer meiner Touren … Ach entschuldige, ich quatsche und quatsche. Ich hab schon so lang mit niemand mehr geredet. Aber ich will dich nicht aufhalten.« »Du hältst mich nicht auf. Erzähl weiter. Wie bist du hierher gekommen?« »Na ja, irgendwann kam ich mal hier vorbei, und da ging die alte Frau über die Brücke, und die schleppte sich so mit ihren Einkäufen ab. Ich nix wie hin, auf solche Sachen bin ich immer scharf, weil man kriegt oft gute Trinkgelder. ›Darf ich Ihnen helfen?‹, frag ich in meiner höflichen Art. Aber sie guckt nur ganz misstrauisch, und als ich meine Hand ausstreck, um ihr die Tasche abzunehmen, zuckt sie erst zurück. Aber vielleicht war 16
sie zu müde oder der Kinderwagen mit Baby hat sie beruhigt, jedenfalls lässt sie mich die Taschen in den Wagen laden und heimfahren. Ich trag ihr das Zeug rauf in den ersten Stock. Aber dann hat sie so getan, als wär ich nicht mehr da. Ich bin noch so ein bisschen rumgestanden und hab gedacht, jetzt könnt sie mir doch was geben.« »Sie hat dir kein Trinkgeld gegeben?« »Nein. Also hab ich versucht, mit ihr zu reden, und frag sie, ob sie allein in dem Haus wohnt, weil das irgendwie völlig leer aussah. Aber sie hat keinen Ton gesagt, und ich hab geglaubt, sie ist schwerhörig oder was. Sie ist in der Küche rumgeschlurft und hat ihre Taschen ausgepackt und das Zeug in die Schränke gestellt. Als wär ich aus Luft. Da hab ich sie gefragt, ob ich für eine Weile hier wohnen könnt und ihr auch mal helfen, einkaufen oder so. Aber sie hat nur so eine Bewegung mit der Hand gemacht, wie wenn man eine Fliege verscheucht. Und ich hab gedacht … na ja, keine Ahnung, ich hab halt angenommen, das heißt, ich darf im Haus wohnen, wenn sie mich nur nicht zu sehen kriegt. Drum hab ich auch dieses Zimmer da hinten genommen und bin immer nur durch die Gartentür rein und raus. Am Anfang sah es da schrecklich aus, alles voll Spinnweben und Dreck und der halbe Putz war runtergekommen, aber allmählich wurde es ganz nett. Aber jetzt, ach, Scheiße!« Sie biss sich auf die Fingerknöchel, um nicht wieder zu weinen. »Was ist denn, Tanja, was ist denn los?« »Es ist etwas echt Scheußliches passiert, echt Scheiße. Und ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich tun soll.« Jetzt weinte sie doch. »Die alte Frau ist … sie ist … ach, verdammt, geh doch rauf und schau dir die Sauerei selbst an.« Als Hanna aufstand und sie fragend ansah, sagte sie stockend: »Aber sei … sei vorsichtig, es ist echt … voll krass.«
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2 In der Halle blieb Hanna zögernd stehen. Durch die Schlitze der geschlossenen Fensterläden fielen Lichtschranken voller Staub über die Treppe, als wollten sie sie am Weitergehen hindern. Hanna fingerte ein Taschentuch aus ihrer engen Jeans, hielt es sich vor Nase und Mund und atmete ganz flach, um möglichst wenig der verpesteten Luft in sich aufzunehmen. Dann stieg sie vorsichtig die Treppe hinauf. Die erste Tür, die sie oben öffnete, führte in einen Raum, der wohl ehemals als Salon genutzt worden war. Die gemalte Girlande aus Rosensträußen oben an den Wänden, der zierliche Stuck an der Decke und der eingelegte Parkettboden erzählten von Geschmack und Reichtum der einstigen Eigentümer. Doch jetzt war das Ganze ein wahllos vollgepfropftes Wohnzimmer, an dessen Stirnseite wie auf einem Altar der Fernsehapparat stand. Nippes umringte eine orange glitzernde Fernsehlampe; ein Nierentisch, eine mit alten Wolldecken schonbelegte Couchgarnitur und andere Möbelstücke füllten das Zimmer, bedeckt mit einer dicken Staubschicht. Alles wirkte ungeliebt und tot. Rechts führte eine Tür zur Küche. Hinter dieser Tür wartete ein Albtraum, weit schlimmer als alles, was sie sich je ausgemalt hatte. Am Küchentisch saß eine Frau in einem braunen Wollkleid. Auf den wirren grauen Haaren, dem nach hinten hängenden Kopf, den Händen, dem Stuhl, dem Fenster – überall krabbelten Fliegen. Als Hanna die Gestalt am Küchentisch entsetzt anstarrte, schien ihr plötzlich, als bewegte sich der Körper. Dann sah sie die Maden. Sie hielt den Atem an und schloss die Augen. Doch der Schock und der Gestank waren mehr, als ihr Magen vertragen konnte. Sie rannte auf der verzweifelten Suche nach dem Bad aus der Küche. Vergebens. Das, was sie im Gang hinterließ, machte die Szene nicht gerade 18
appetitlicher. Hanna öffnete das nächste Fenster und lehnte sich hinaus. Die Luft draußen roch süß und sauber. Am liebsten wäre sie sofort in den Garten geflohen. Ihre Beine zitterten. Sie fühlte sich schwach und elend und lehnte sich blicklos gegen den Fensterrahmen. Allmählich verdichtete sich in dem dumpfen Aufruhr in ihrem Inneren die Überzeugung, dass die Frau keines natürlichen Todes gestorben war. Ihr Kopf hatte in so einem seltsamen Winkel nach hinten gehangen mit weit auseinanderklaffenden Zähnen wie in einem endlosen stummen Schrei. Hanna gab sich einen Ruck. Sie musste sich zusammenreißen. Sie musste die Polizei anrufen. Wo stand wohl das Telefon? Hanna holte noch ein paarmal tief Luft und kehrte in den Gestank zurück. Sie schob sich mit zusammengebissenen Zähnen durch die Küchentür, schaute sich rasch um und vermied dabei möglichst den Blick auf die Gestalt am Küchentisch. Doch weder hier noch im Wohnzimmer war ein Telefon zu entdecken. Hanna fand den Apparat schließlich am dunklen Ende des Flurs, ein Telefonfossil aus schwarzem Bakelit an der Wand. Aber wie sehr Hanna auch drückte und die Wählscheibe drehte, es war ebenfalls tot, es gab keinerlei Lebenszeichen von sich. Sie flüchtete schwankend die Treppe hinunter und durch den dunklen Gang hinaus in den hellen Garten, wo sie auf die Bank sank und dort eine ganze Weile mit geschlossenen Augen sitzen blieb. Sie hatte den Tod zu plötzlich getroffen, zu unvorbereitet … »Seit ich die Schönheit angeseh’n mit Augen, bin ich dem Tode schon anheim gegeben.« Die Gedichtzeilen sprachen unaufhörlich in ihr, pochten in ihren Schläfen. Wieso nur? Sie hatte doch das Gegenteil von Schönheit gesehen, einen besonders toten Tod. Da beugte sich Tanja über sie. »Da, trink das, du bist so blass.« 19
Hanna nahm das kühle Glas Wasser, spülte sich den Mund aus, trank. Zeit verstrich. Allmählich geriet der zähe graue Brei in ihrem Kopf in Bewegung, bildete Blasen, die aufplatzten und Fragen entließen: Wer war die Tote? Wie war sie gestorben und wann? War sie ermordet worden? Wer hatte das getan? Was hatte Tanja damit zu tun? Was hatte Tanja damit zu tun? Was hatte Tanja damit zu tun? Hanna zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie sah die Rosen, roch den bunten Duft des Gartens, hörte Will quieken. Tanja saß im Schatten auf der Bank neben ihr und hielt Will auf dem Schoß. Sie legte ihm ein Tuch über das Gesicht und rief: »Kuckuck!«, und Will zog es herunter, um begeistert die Welt neu zu entdecken. Tanja schaute von ihrem Ende der Bank zu Hanna herüber. »Schlimm, nicht?«, sagte sie mitleidig. Der Ton ihrer Stimme machte Hannas erste Frage fast schon unpassend: »Hast du etwas damit zu tun?« »Nein.« »Aber warum sitzt sie dann noch da oben? Warum hast du ihren Tod nicht gemeldet?« Tanjas Blick war erstaunt, fast gereizt. »Du hast wohl ’nen Clown gefrühstückt! Wer hätte mir schon geglaubt, dass nicht ich sie umgebracht habe.« Die Härte in ihrer Stimme war älter als siebzehn Jahre. »Sie ist also umgebracht worden. Woher weißt du das?« »Ich hab sie gefunden, da konnte man das noch sehen.« Hanna schluckte. »Und mit diesem Wissen hast du die ganze Zeit hier gelebt, unter der toten Frau, in diesem Gestank?« »Nein, natürlich nicht.« Tanja sah Hanna unwillig an, als zweifelte sie an deren Verstand. »Ich war nicht hier.« »Aber wieso …?« 20
»Ich war ein paar Tage bei einer Freundin in Scheßlitz zu Besuch gewesen. Die hat mir zugesetzt, ich soll doch mit der Frau Rothammer reden, dass sie mich richtig offiziell im Haus wohnen lässt, als Hausbesorgerin oder als Gärtnerin. Mir war der Garten so ans Herz gewachsen, und vielleicht hätte sie mir ja auch ein Gehalt zahlen können. Manchmal denke ich, sie war gar nicht so arm, wie sie aussah. Und in den letzten Wochen, da hab ich gemerkt, dass sie uns manchmal beobachtet hat, wenn wir im Garten waren. Ich hab gesehen, wie sich da oben ein Vorhang bewegt hat. Und einmal lag eine Tafel Schokolade vor meiner Tür. Und grad als ich wegwollte, um zu meiner Freundin zu fahren, stand ein Gläschen mit Babynahrung bei mir auf dem Tisch. Als ich zurückkam, hab ich einen großen Blumenstrauß gepflückt und bin mit Will rauf zu ihr. Da saß sie am Küchentisch. Ihr Kopf hing so komisch verdreht nach hinten, und ihr Gesicht war ganz blau. Ihr Hals sah schrecklich aus.« Tanja drückte Will an sich und schmiegte ihre Wange an sein Köpfchen. »Es war plötzlich so entsetzlich still im Haus, aber zuerst hab ich mich noch nicht gefürchtet, komisch, das kam erst später. Ich hab meine Blumen vor sie auf den Tisch gelegt.« Will maunzte leise, und Tanja lockerte ihren Griff. »Dann bin ich runter zu mir und hab alles, was in den Kinderwagen gepasst hat, zusammengepackt und bin in unser Gartenhaus. Es waren ja Ferien, und da ist Tante Doris sowieso meistens weg. Das war vor ungefähr drei Wochen. Ich hab immer wieder überlegt, was ich tun soll. Wenn ich zur Polizei gegangen wär, die hätten mich doch sofort eingesperrt und Will in ein Heim gesteckt. Das hätte ich nicht ausgehalten.« Das klang alles recht plausibel. »Und zu welchem Entschluss bist du gekommen?« »Keine Ahnung. Zu gar keinem eigentlich. Ich hab halt gewartet. Aber gestern hab ich Tante Doris im Bus gesehen. Das war so ätzend, und da hab ich gedacht, ich schau mal nach, was
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hier im Haus los ist. Ich hatte ja noch meinen Schlüssel für die Gartentür.« »Woher hattest du den denn?« »Ach, der hing im Gang neben der hinteren Tür, und ich hab ihn halt mitgenommen. Und als ich rauf gegangen bin zu Frau Rothammer, da saß sie immer noch am Küchentisch. Ich hab geglaubt, ich krieg die Krise. Da hab ich mich hingesetzt und erst mal Will die Brust gegeben und überlegt, was ich jetzt tun könnte. Und dann kamst du.« Tanja sah Hanna flehentlich an. »Bitte, bitte, ruf nicht die Polizei!« »Aber ich muss die Polizei anrufen. Ich muss einen Mord doch melden.« »Dann lass mich wenigstens vorher verschwinden. Ich geh einfach, und du hast mich nie gesehen, okay?« Hanna zögerte. »Bitte, Hanna, die nehmen mir Will weg. Bitte!« Hanna versuchte, das Mädchen mit den grünen Haaren, das so gut im »Organisieren« war, mit den Augen eines Polizisten zu sehen. Die Geschichte war so abstrus, dass man ihr bestimmt nicht glauben würde. Und sie selbst? Hanna wurde klar, dass sie Tanja mochte. Und dass sie ihr glaubte. Es gab natürlich einiges, was gegen sie sprach: Sie hatte die Gelegenheit gehabt und womöglich auch ein plausibles Motiv. Vielleicht hatte die alte Frau sie an die Luft setzen wollen, und in ihrer Not hatte Tanja … Nein, Hanna konnte sich das Mädchen nicht als Mörderin vorstellen. Hände, die so sorgfältig und liebevoll mit einem Kind und mit Blumen umgingen, waren nicht in der Lage, den Hals einer alten Frau so lange zuzudrücken, bis sie tot war. Wie immer in schwierigen Situationen meldete sich Hannas Widerspruchsgeist, den sie Anna diabolica nannte, zu Wort, um mit ihr ein Streitgespräch anzufangen. Sie kam offenbar allmählich wieder zu sich. »Ach, die zarten Händchen«, seufzte Anna diabolica. 22
»Und Hitler liebte Schäferhunde.« – »Halt doch die Klappe! Sie ist einfach nicht der Typ einer Mörderin.« – »Und wie viele Exemplare des Typs Mörderin belieben gnädige Frau zu kennen?« – »Ich glaub ihr, basta, und ich werde ihr helfen.« – »Du bist wohl nicht ganz bei Trost. Du willst dir ein Kind mit einem Kind aufhalsen? Eine Diebin und potenzielle Mörderin, die von der Polizei gesucht wird? Weißt du eigentlich, was du tust?« – »Ja, jetzt weiß ich es. Ich werde Tante Kunigunde anrufen!« Tante Kunigunde war die Schwester ihres Vaters, Witwe, redselig und resolut, mit jeder Menge Humor und Neugier begabt und das patenteste Weib, das Hanna kannte. Sie war nicht nur im Besitz eines großen Herzens, sondern auch eines Hauses mit zwei leeren Zimmern. Die Kombination dieser Eigenschaften ließ sie in der gegebenen Situation als absolutes Ideal erscheinen. Bei ihr würde sie Tanja unterbringen. Dann würde sie den Mord melden. Niemand konnte sie zwingen, von Tanja zu erzählen. Aber wollte sie wirklich so viel Verantwortung auf sich nehmen? Sie schaute in Tanjas müdes, zögerlich vertrauensvolles Gesicht und sah ihren Blick, in dem im Hintergrund die Befürchtung stand: »Ich weiß schon, du lässt mich bestimmt auch im Stich.« Das entschied es. Sie würde versuchen, ihr zu helfen. »Okay, Tanja, wenn es geht, werde ich der Polizei nichts von dir sagen.« Tanja fiel ihr um den Hals und drückte sie so fest, dass ihr fast die Luft wegblieb. »Ich will mal schauen, ob ich für euch beide eine Unterkunft finde, jedenfalls für ein paar Tage. Dann sehen wir weiter.« Sie wies Tanja an, alles zusammenzupacken, was einen Hinweis auf sie geben könnte, und mit ihrem Gepäck an der hinteren kleinen Gartentür, die zum Fußweg am Nonnengraben führte, auf sie zu warten, bis sie vom Telefonieren zurückkam. 23
Warum hatte sie nur ihr Handy wieder nicht dabei? Hanna rannte um die Ecke zur Telefonzelle im Studentenheim bei den Oberen Mühlen. Sie hatte Glück. Tante Kunigunde war zu Hause. »Grüß dich, Tante Kunigunde. Sitzt du?« »Du guter Gott, was ist denn jetzt schon wieder passiert? Ist es schlimm?« »Das weiß ich noch nicht. Ich habe eine tote Frau gefunden.« »Was? Wo?« »Im Haus am Nonnengraben.« »Ach! Hast du schon die Polizei gerufen?« »Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass in dem Haus ein junges Mädchen untergeschlüpft ist, die jetzt dort weg muss und nicht weiß, wohin. Sie ist ganz verzweifelt, und ich wollte dich fragen, ob du sie vielleicht für ein, zwei Tage bei dir aufnehmen könntest, bis sie etwas anderes gefunden hat.« »Hör mal, das klingt aber alles sehr merkwürdig.« »Vertrau mir einfach. Ich erkläre es dir später. Bitte. Du kennst mich doch.« »Eben!«, sagte Tante Kunigunde. Hanna nahm das als Zustimmung und schickte mehrere dicke Küsse durchs Telefon, so dick und schwer wie der Stein, der ihr vom Herzen gefallen war. Bevor sie auflegte, sagte sie noch schnell: »Übrigens, das Mädchen hat ein Baby.« Tante Kunigundes Kommentar hörte sie nicht mehr. Auf dem Rückweg zum Gartentürchen nahm Hanna ihr Fahrrad mit, das sie vor dem Haus geparkt hatte. Tanja und sie beluden es mit allem, was in und auf dem Kinderwagen keinen Platz mehr fand. »Sperr die Tür ab und nimm den Schlüssel mit«, sagte sie zu Tanja. »Wer weiß, ob wir nicht noch mal ins Haus müssen, wenn die Polizei hier fertig ist.« Die kleine Tür in der Gartenmauer war unter dem wuchernden wilden Wein kaum 24
zu sehen, und Hanna ordnete die Ranken so, dass es aussah, als hätte schon lange niemand mehr diese Tür benützt. Sie schoben ihre Gefährte den Fußweg am Nonnengraben entlang. Der Kran vor dem alten Lagerhaus auf der andern Seite des Kanals schwieg vergessen vor sich hin. Keine Lastkähne mehr weit und breit, keine schwitzenden Hafenarbeiter, keine Flüche – nur sich spiegelnde Bäume, Moos an den Kaimauern, ein einsamer Schelch an einem Seil, Frosch- und Vogelgesang. Kurzer Friede. Tante Kunigunde erwartete sie, aufgebaut wie ein General, am unteren Eingang ihres Hauses an der Oberen Brücke. Fünf Stockwerke hatte das schmale Haus auf der Seite zum Kanal hin, wie ein mittelalterlicher Brückenturm. Auf der Oberen Brücke dagegen, wo der Haupteingang in den dritten Stock des Hauses führte, sah es aus wie ein netter kleiner, schiefer Barockbau. Tante Kunigunde umarmte ihre Nichte. Dann sah sie kurz und prüfend Tanja an und streckte ihr mit einem sehr abwartenden Lächeln die Hand hin. Tanja wirkte plötzlich verlegen. »Guten Tag, ich bin Tanja Steinhübel. Vielen Dank, dass Sie mich aufnehmen wollen«, sagte sie artig. Und fügte hastig hinzu: »Bis ich was gefunden hab.« Die Situation änderte sich schlagartig, als Tante Kunigunde sich über den Kinderwagen beugte. Will sah sie mit seinen großen blauen Augen an, krähte begeistert, lächelte über alle Grübchen und streckte ihr die Ärmchen entgegen. Kein Fremdeln, kein Abwarten – es war Liebe auf den ersten Blick, das war die Frau seines Lebens. Tante Kunigunde nahm ihn vorsichtig aus dem Wagen und barg ihn an ihrem umfangreichen Busen. Ihr Lächeln ging auf wie ein Hefekuchen. »Kommt rein, kommt rein«, rief sie, »ich habe eine Kleinigkeit zu essen vorbereitet, das kann nie schaden.« 25
In ihrer sonnendurchfluteten schiefwinkligen Küche standen belegte Brote auf dem Tisch, und unter der Haube wartete die dicke silberne Teekanne. »Tante Kunigunde, du bist die Größte! Darf ich schnell dein Bad benutzen?« Hanna musste den Ekel, den sie aus dem Haus am Nonnengraben mitgebracht hatte, loswerden, bevor sie essen konnte. Sie kam sich vor, als hätte der Gestank des Todes ihre Haut mit Schleim überzogen. Nachdem sie lang und heiß geduscht und sich minutenlang die Zähne geputzt hatte, ging es ihr besser. Und als sie eines der leckeren Brote gegessen hatte, fühlte sie sich fit genug, um Benno Berg gegenüberzutreten.
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3 Benno Berg saß an seinem Schreibtisch in der Staatsanwaltschaft und kämpfte sich durch die Akten über die russischen Rauschgiftdealer, die die Bamberger Polizei gerade verfolgte. Er versuchte, sich zu konzentrieren, aber immer wieder geriet ihm eine Flut wilder roter Haare zwischen die Seiten. Er hatte die Besitzerin dieser Haarpracht, Hanna Tal, vor zwei Wochen kennengelernt – genau gesagt vor sechzehn Tagen, zwölf Stunden und dreißig Minuten. Sein Freund, Kriminalhauptkommissar Werner Sinz, hatte ihn zu einer Party bei seiner neuen Freundin Katja mitgenommen. Dort war Benno im wahrsten Sinn des Wortes »aufgegabelt« worden. In Katjas kleiner Wohnung herrschte ein unbeschreibliches Gedränge, und am schlimmsten war es rund um den Tisch mit dem kalten Büfett. Die Leute standen so dicht, dass er schließlich in seiner Not – er war den ganzen Tag noch nicht richtig zum Essen gekommen – mit der Hand durch die Menschenmauer nach der letzten verbliebenen dicken Scheibe kalten Bratens angelte. In diesem Moment erwischte ihn eine Gabel, die es ebenfalls auf diesen Braten abgesehen hatte. Sie rutschte zwar seitlich von seiner Hand ab, hinterließ jedoch einen roten Streifen, aus dem ganz langsam winzige Blutströpfchen drangen. Das war der Anfang. Benno entdeckte ein Paar erschrockene, aber auch lachbereite dunkle Augen. Eine sehr attraktive Frau schaute ihn entschuldigend an. Das veranlasste ihn, mit der instinktiven Geste des Jägers, der seine Beute anbietet, das Fleisch auf ihren Teller zu legen. Aber die Zivilisation holte ihn sofort ein – es war ihm peinlich. O Gott, dachte er, ich habe den Braten mit der Hand angefasst, das ist ihr sicher eklig. Doch sie schien nichts 27
dabei zu finden. Sie lächelte und bedeutete ihm mit den Augen, ihr in ein Nebenzimmer zu folgen, das nicht ganz so übervölkert war. Sie ging vor ihm her. Ihm gefiel, wie sie ging: in einer Aura von Energie, die die Leute veranlasste, ihr Platz zu machen. Auch im Nebenzimmer, Katjas Schlafzimmer, standen Gäste, aber längst nicht so dicht wie im Wohnzimmer. Durch die weit geöffneten Fenster floss die sanfte Frische der Abenddämmerung. Seine schöne Lotsin räumte auf dem mit allerlei abgelegten Jacken überladenen Bett ein Plätzchen zum Sitzen frei und sagte, als sie ihren Teller wieder an sich nahm: »Danke für den Braten. Ich würde ihn gern mit dir teilen.« Auf Katjas Partys sagten grundsätzlich alle »du« zueinander. Sie schnitt die Scheibe in zwei Teile und schob einen davon auf seinen Teller. Zuerst wollte er protestieren, doch dann akzeptierte er. »Also gut, eigentlich habe ich ihn mir ja redlich verdient«, sagte er und hielt seine Hand hoch. Sie verbarg theatralisch die Augen hinter ihren Fingern und tat entsetzt: »O Gott! Habe ich dir wehgetan?« »Das will ich meinen. Höllische Schmerzen! Das gibt bestimmt eine Blutvergiftung, und die Hand muss amputiert werden.« »Tja, da muss ich wohl die Wunde desinfizieren. Katjas Desinfektionsmittel brennt zwar fürchterlich, aber das macht einem starken Mann sicher nichts aus.« Sie lächelte süß und boshaft. »Ach nein, nicht desinfizieren! Du weißt doch, dass die Wunden, die ein Mann sich am kalten Büfett einhandelt, Ehrenwunden sind, die er standhaft bis zum bitteren Ende ertragen muss.« »Feigling!« Sie lachte.
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Gott sei Dank, sie lachte. Benno war erleichtert und recht zufrieden mit sich. Endlich war es ihm einmal gelungen, mit einer Frau, die ihm gefiel, locker ins Gespräch zu kommen. Er litt unter der Vorstellung, steif und langweilig zu wirken, wie ein Staatsanwalt eben. Aber diesmal … »Andererseits wäre ich dir natürlich schon sehr verbunden, wenn du mich verbindest.« »Ach, wenn du sowieso an Blutvergiftung stirbst, lohnt es sich ja gar nicht. Und jetzt haben wir uns gerade einen Sitzplatz ergattert. Es ist schrecklich, Katja lädt immer zu viele Leute ein. Ich hab ihr das schon hundertmal gesagt.« »Ich finde es eigentlich ganz lustig. Und man erlebt die unwahrscheinlichsten Dinge.« Benno schaute bedeutungsvoll seine Hand an. Sie überhörte die Anspielung. »Du bist, glaube ich, das erste Mal hier.« »Ja, Werner Sinz hat mich mitgenommen …« »Katjas Neuer …« »Ja. Er hat mich angefleht, dass ich ihn nicht allein lassen soll unter lauter fremden Leuten. Und wie sieht es jetzt aus? Er steckt im Dauerclinch mit Katja mitten in einer Menschentraube, und sein armer bedauernswerter Freund muss sich ganz allein den nächtlichen Gefahren des Hauens und Stechens stellen.« »Noch so eine Anspielung«, drohte seine Gesprächspartnerin, »und eine gründliche Desinfektionskur ist unausweichlich.« »Ist diese hartherzige Grausamkeit ein persönliches Charaktermerkmal oder Folge deines Berufes? Bist du Krankenschwester oder … oder so etwas Ähnliches?« »Domina?«, schlug sie hilfreich vor. Benno sah sie abschätzend an und grinste. »Zu wenig Leder«, meinte er. »Und, was machst du wirklich?« Sie erzählte ihm ausführlich und begeistert von ihrem Büro und von »ihren« Kellern und was alles aus ihnen abzulesen war, 29
ein Thema, von dem er keine Ahnung hatte. »Weißt du«, erklärte sie ihm, »die Keller sind immer übrig geblieben. Egal, ob es gebrannt hat oder ein Krieg die Stadt zerstört hat oder ob ein Haus nur abgerissen und neu gebaut wurde, den Keller hat man fast immer weiterverwendet. Deswegen kann man an den Kellern die ältesten Strukturen einer Stadt ablesen, wie sie sich entwickelt hat, wo früher die Grundstücksgrenzen waren und wo die Straßen verliefen …« Sie geriet richtig in Fahrt, und es gelang ihm, an den richtigen Stellen die richtigen Fragen einzuwerfen. Und als sie ihn schließlich nach seinem Beruf fragte, konnte er mit ein paar amüsanten Fällen aufwarten und genoss ihr Erstaunen, dass jemand, »der so locker drauf ist«, als Staatsanwalt arbeitete. »Ich habe gar nicht gewusst, dass Staatsanwälte ermitteln wie die Polizei«, stellte sie fest. »In den Krimis, die ich gelesen habe, gab es immer nur den Kommissar und seine Leute. Der Staatsanwalt war meist nur das Ekel vom Dienst.« Benno lachte und verbeugte sich. »Vielen Dank für die Blumen.« Er setzte gerade zu einer längeren Erläuterung der bemerkenswerten Fähigkeiten von Staatsanwälten an, als sein Handy klingelte. Es hatte einen Unfall gegeben, und er musste hinfahren, denn er hatte Jourdienst. Innerlich fluchend entschuldigte er sich bei seiner neuen Bekannten. Doch bevor er ging, gab er ihr noch seine Visitenkarte und seine Handynummer, falls sie einmal »Fragen an die Staatsanwaltschaft« hätte. »Du heißt Berg?« Sie sah ihn ungläubig an. »Ja, warum?«, fragte er im Gehen. So ungewöhnlich war sein Name doch gar nicht. Gleich am nächsten Morgen rief er seinen Freund Werner an. Werner reagierte sehr unwirsch. Erstens war er noch im Halbschlaf und zweitens … 30
»Dann stell halt dein Handy ab, du Depp, wenn du nicht gestört werden willst«, knurrte Benno. »Also weißt du jetzt, wie Katjas Freundin heißt, oder nicht?« »Welche von Katjas zahlreichen Freundinnen meinst du denn?« »Die große, gut aussehende mit den vielen roten Haaren.« »Ach, der Feger«, grummelte Werner und riskierte damit eine alte Freundschaft. Benno hörte Gemurmel im Hintergrund. »Sie heißt Dr. Hanna Tal, und jetzt lass mir mei Ruh!« Hanna Tal. Sie hieß Hanna Tal! Wenn das kein Zeichen war! Benno liebte Zeichen. In ihm lebte ein archaisches Bedürfnis nach Wegmarken in der Wildnis des Schicksals. Eine offene oder verschlossene Tür, ein höflicher oder rücksichtsloser Autofahrer, der Umstand, etwas sofort zu finden oder erst lang danach suchen zu müssen, konnte für ihn ein Zeichen für einen guten oder einen schlechten Tag sein. Auch wenn er sich über diese Macke lustig machte, beeinflusste ihn das davon ausgehende Sicherheitsgefühl doch bis zu einem gewissen Grad. Und nun: Hanna Tal und Benno Berg – er konnte es kaum glauben. Eigentlich hieß er Benjamin, Benjamin Severin, nach seinen Großvätern mütter- und väterlicherseits, aber im Kindergarten hatte jemand, der Benjamin nicht aussprechen konnte, Benno zu ihm gesagt, und dabei war es geblieben. Er musste sie unbedingt wiedersehen. Benno spielte in Gedanken lange mit den Namen – Hanna Tal, Benno Berg –, denn er hatte eine weitere kleine Leidenschaft: Buchstaben. Sein Lieblingsvokal war das »A«, hell und warm, der Laut des Lachens, des Lebens, der Freude, der Kraft. Das »E« dagegen schien ihm ein gänzlich durchschnittlicher Buchstabe zu sein, langweilig und gewöhnlich, der Buchstabe der Vorsilben und Endungen. Benjamin Severin Berg! Das »E« brauchte dringend das »A«. Und zusammen?
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»A« und »E« ergaben »Ä«. Und das war ein sehr bambergischer Vokal, der häufigste im Bamberger Dialekt. Benno tat sich immer noch schwer mit dieser Sprache. Anfangs hatte sie in seinen Ohren abstoßend geklungen, schwer, breit und langsam, derb und sehr erdnah, die Sprache von Gärtnern – in Bamberg mit mindestens zwei »Ä« gesprochen. Aber nach und nach entdeckte er, dass es da eine Witzigkeit gab, die er mochte, einen untergründigen, selbstironischen Humor, der sich im Understatement versteckte und nur dem offenbart wurde, der seiner würdig war, der gewogen und nicht für zu leicht befunden worden war. Keine Sprache für »locker vom Hocker« und »don’t worry, be happy«. Seine Zuneigung zum »Ä« war inzwischen groß. Benno versuchte, sich endlich auf die Akten zu konzentrieren, als das Telefon klingelte. Er schnappte nach Luft – es war tatsächlich Hanna. Sie wollte ihn »dringend sprechen«. Benno legte den Hörer auf und stieß einmal triumphierend die Faust in die Luft. Er strahlte. Sie hatte angerufen! Wie oft hatte er in den vergangenen Tagen den Hörer in die Hand genommen und wieder aufgelegt, ein paarmal hatte er es auch klingeln lassen, aber niemand hatte geantwortet. Und jetzt rief sie an und wollte ihn dringend sprechen! Er kämmte sich die ewig struppigen Haare, steckte den Kamm zurück in die hintere Hosentasche, zerrte an seinem Pullunder und rückte sinnlos einige Akten auf seinem Schreibtisch hin und her, die dadurch auch nicht weniger wurden. Wie lange fünf Minuten dauern konnten!
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4 Hanna fühlte sich unwohl. Schon wenige Schritte von Tante Kunigundes Haus entfernt blieb sie stehen, lehnte sich an das steinerne Brückengeländer und schaute flussabwärts. Sie sah das Beinchen des Engels nicht, das dort aus der Wand des Brückenrathauses ragte, und nicht die großen Figuren der Tugenden daneben, die seit der Barockzeit streng und pathetisch auf die Vorübergehenden blickten. Dabei hätte sie eine der Tugenden ganz gut gebrauchen können. Denn sie war im Begriff zu lügen. Und das war ihr Problem. Sie wusste, dass sie sehr schlecht lügen konnte. Ohne gelegentliche Korrekturen der Wahrheit oder dessen, was man als solche wahrnahm, kam wohl niemand aus. Aber richtig lügen – sagen, etwas sei weiß, wenn man wusste, dass es schwarz war –, das war Hanna einfach unmöglich. Wie sollte sie Benno nur die Existenz von Tanja verschweigen, ohne rot zu werden oder zu stottern? Sie ging weiter, durch den Rathausturm auf der Brücke hindurch und auf der anderen Seite hinunter zum alten Franziskanerkloster, dem vorübergehenden Sitz der Staatsanwaltschaft. Dabei legte sie sich sorgfältig zurecht, was sie Benno sagen wollte. Sie hatte auf der Party damals deutlich gespürt, wie angetan er von ihr gewesen war. So etwas machte Männer ein bisschen blind. Und deshalb wollte sie ihm von dem Fund der Leiche erzählen und nicht der Polizei. Doch dann stand sie lange vor der alten Eichentür, starrte auf das silbrige Holz, strich mit den Fingern über die Verzierungen und konnte sich nicht entschließen. Schließlich holte sie tief Luft und klopfte. Bennos fragendes »Ja?« wirkte aufmunternd. Hanna mochte seine Stimme, warm und klar und tief. Er saß im hellen Mittagslicht hinter einem riesigen Schreibtisch voller Schriftstücke, sprang auf, als er sie sah, und 33
kam ihr sichtlich erfreut entgegen. Er schwenkte einen imaginären Schlapphut, machte einen Diener und sagte fröhlich: »Was verschafft mir die Ehre Eurer strahlenden Anwesenheit in meinem bescheidenen Büro, Mylady?« Hanna gelang nur ein dünnes Lächeln. Steif und verzagt sagte sie: »Ich habe eine Leiche gefunden.« Bennos Strahlen erlosch. »Du hast eine Leiche gefunden?«, wiederholte er. »Wo?« »Im Haus am Nonnengraben. Dieses heruntergekommene Haus an der Ecke –« »Ja, ich weiß, welches Haus du meinst«, unterbrach er sie. »Es sieht aus, als ob es seit Jahren leer stünde.« »Tut es ja jetzt auch.« »Was hast du … aber setz dich doch erst mal, du siehst ganz mitgenommen aus.« »So fühl ich mich auch. Wirklich, es war grässlich.« Er führte sie zu der kleinen Sitzgruppe in einer Ecke des Zimmers und rückte ihr höflich einen der Sessel zurecht. Die Möbel stammten aus der Zeit um 1900. Die hatte Benno wohl beim Umzug ins Franziskanerkloster mitnehmen können. Hanna hatte nämlich vor einiger Zeit einen Bericht über das historische Zentralgerichtsgebäude am Wilhelmsplatz geschrieben und wusste deshalb, dass ein großer Teil der originalen Ausstattung in den sechziger Jahren verschenkt oder verbrannt worden war, auf dass mit schicken Resopalschreibtischen ein frischer Wind in die alten Mauern zöge. Hier war nun einer der wenigen erhaltenen Reste, massive klar gezeichnete Möbel, gelbbraunes Holz, dunkelroter abgewetzter Samt mit kugeligen Messingnägeln befestigt, einladend. Hanna klammerte sich an diese Erinnerung, weil sie nicht wusste, wie sie anfangen sollte. Benno half ihr. »Weshalb warst du in dem Haus?«, fragte er ernst. 34
»Ich soll einen Artikel über das Haus schreiben. Es gehört einer Frau Rothammer. Ich habe versucht, sie anzurufen, und als das nicht klappte, bin ich heute früh hingegangen. Die Klingel funktionierte auch nicht, aber als ich die Tür angelangt habe, ging sie auf. Da bin ich hineingegangen.« Hanna schwieg. »Und dann?« »Habe ich sie gefunden.« »Die Leiche liegt hinter der Eingangstür?« »Nein, nein, sie liegt in der Küche im ersten Stock. Besser gesagt, sie sitzt da, am Tisch, am Küchentisch. Und zwar offenbar schon ziemlich lange.« Plötzlich begann Hanna zu ihrem eigenen Erstaunen zu weinen. »Es war so grauenvoll. Überall die Maden. Und es hat so furchtbar gerochen. Ich glaube, den Gestank werde ich mein Leben lang nicht mehr los. Dieser ekelerregende Haufen da am Tisch, und das war einmal ein Mensch, mit Gefühlen und Wünschen und Leuten, die ihn lieb gehabt haben. Der Gedanke ist so deprimierend. Es war … es war … so trostlos, und ich habe … ich habe …« Nein, sie konnte nicht sagen, dass sie sich im Gang übergeben hatte, die Hemmschwelle der hygienischen Erziehung war einfach zu hoch. »Ich habe mich hinterher nicht besonders wohl gefühlt.« Sie schniefte. Unterschwellig wusste sie genau, dass sie bis zu einem gewissen Grad Theater spielte, um Benno von ihrem Geheimnis abzulenken. Aber er reagierte nicht so, wie sie es erwartet hatte – besorgt und bereit, ihren Tränen alles zu glauben. Er wirkte eher ein bisschen ungeduldig und holte ein sauberes Taschentuch aus seiner Jackentasche. Sie war erstaunt, dass das Papier ganz glatt und weiß war. Wie brachte der Mann das nur fertig? Bei Hanna waren Papiertaschentücher nach kürzester Zeit zerfasert und schmuddelig. Sie hielt sich das Taschentuch an die Augen und schluchzte noch einmal auf.
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Er legte ihr nur leicht die Hand auf den Arm und murmelte: »Ist ja gut, ist ja gut.« Doch er ließ ihr Gesicht keinen Moment aus den Augen und sah sie mit jener Intensität an, die ihr damals gleich an ihm aufgefallen war, mit einem Blick, der zu hören schien über das Sichtbare hinaus. »Ist dir in dem Haus irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?« »Na ja, eine Leiche ist für mich schon ziemlich ungewöhnlich. Aber sonst … es ist ein altes, leer stehendes, völlig verwahrlostes Haus. Es muss einmal sehr schön gewesen sein, aber die Besitzerin hat offenbar seit langer Zeit nichts richten lassen. Und jetzt ist sie tot.« »Woher weißt du denn, dass die Tote die Besitzerin des Hauses war?« »Ich, ich weiß nicht. Ich habe das halt angenommen.« »Aha. Und ansonsten war das Haus leer? Hat sie allein da gelebt?« Oh, dachte sie. »Ich glaube, sie war allein in ihrer Wohnung, aber ich war nicht in allen Zimmern; es hat so gestunken.« »Wie hast du sie denn gefunden?« »Ich bin die Treppe hochgegangen und dann in den Salon und dahinter liegt die Küche und da war sie.« Er wirkte nicht ganz überzeugt. »Und was hast du dann gemacht?« »Ich habe versucht, die Polizei anzurufen, aber das Telefon ging nicht. Und mir wurde schlecht und ich hab nach dem Klo gesucht, aber es reichte nicht mehr.« Jetzt hatte sie es doch gesagt. Das war peinlich genug, aber vielleicht erklärte es ihre Verlegenheit. »Und von wo hast du dann mit mir telefoniert?« Eigentlich wollte Hanna sagen, sie sei zu ihrer Tante gegangen, die wohne in der Nähe. Doch ihr fiel noch rechtzeitig 36
ein, dass sie die Tante besser nicht erwähnte, wenn Tanjas Aufenthaltsort nicht entdeckt werden sollte. »Ich, äh, ich bin zu einer Telefonzelle gegangen.« Er schwieg einen Augenblick, dann stand er seufzend auf. »Dann wollen wir uns mal ins unappetitliche Gefecht stürzen.« Er griff zum Telefon. »Du hältst dich bitte zur Verfügung, wir werden noch Fragen an dich haben.« Als sie Bennos Büro verließ, war sie erleichtert, aber auch seltsam enttäuscht. »Du hältst dich bitte zur Verfügung!« Was war denn das? Er war doch an ihr interessiert gewesen. Wie er gestrahlt hatte, als sie in sein Büro gekommen war! Es war schon lange her, dass sie einmal geweint hatte, und dann das! Von dem Knistern, das sie auf der Party geschmeichelt wahrgenommen hatte, war nichts mehr zu spüren gewesen. Vielleicht war er ja auch nur ein kleinkarierter Juristentrottel. Oder verheiratet oder so etwas. Sie blieb an einem Gangfenster stehen und sah in den Hof hinunter. Irgendetwas stimmte nicht an ihrer Argumentation. Der Fehler lag nicht bei ihm. Sie hatte versucht, seine Sympathie für sich auszunutzen, und war durch ihre Lügengeschichte in eine schiefe Position geraten. Sie gefiel sich im Moment nicht, ganz und gar nicht. Der ehemalige Kreuzganghof war beim Umbau des Klosters vor einigen Jahren zu einem Kunstwerk umfunktioniert worden. Plötzlich sah sie es: ein Steinpfad und ein Metallbogen, schlicht und ohne Umwege. Sie drehte sich um und ging zu Bennos Büro zurück. Doch er war schon gegangen. Die Tür war verschlossen.
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5 Benno traf Kriminalhauptkommissar Werner Sinz direkt vor dem Haus am Nonnengraben. Mit ihm arbeitete er besonders gern zusammen. Er hatte Werner an der Universität Regensburg kennengelernt, wo beide Jura studierten, bevor Werner zur Polizei ging und Benno die Richterlaufbahn wählte. Später verschlug es sie beide nach Bamberg, und sie wurden mehr und mehr zu Freunden. Sie ruderten, kochten und wanderten zusammen und teilten ihre Liebeskümmernisse. Sie hatten denselben Humor, machten sich gegenseitig Witze zum Geschenk, und beide liebten ihre Arbeit: die Suche nach Spuren, das Ergänzen von einzelnen Mosaiksteinchen zu logischen Bildern, das Jagdfieber, die Herausforderung ihrer Intelligenz, das Hineindenken in Menschen und ein beinahe trotziges Verlangen nach Gerechtigkeit. Sie stöhnten über die Schreibtischarbeit und über ihre Chefs, was zu zweit viel genussvoller war. Als Benno ankam, schloss Werner gerade sein Fahrrad am Geländer vor dem Haus an. »Nanu, du kommst allein?«, fragte Benno. »Du hast mich grade hier in der Nähe erwischt, als du angerufen hast. Meine Leute kommen in etwa zwanzig Minuten nach.« »Gut«, sagte Benno. »Ich schau mir das sowieso lieber erst mit dir alleine an.« Werner war Leiter des K1, des Kommissariats, das in Bamberg für die »höchstpersönlichen Rechtsgüter« zuständig war, also für Tötung, Brand, Sitte und so weiter. Vor seiner kürzlich erfolgten Beförderung hatte er im Rauschgiftdezernat gearbeitet und einen wichtigen Fall, den er am besten kannte, in 38
seine neue Stellung mitgenommen. »Mann, ich hoffe bloß, dass das hier kein Mord war«, jammerte er. »Wir sind in der Abschlussphase mit den russischen Rauschgiftdealern. Wir müssen sie jetzt rund um die Uhr beschatten. Ich kann keinen Mann entbehren. Und schon gar keine weitere Sonderkommission bilden.« »Jetzt wart’s doch erst mal ab. Vielleicht war es ja ein simpler Herzinfarkt, und der liebe Sohn in Hamburg hat sich halt seit Wochen nicht um Mami gekümmert.« »Ach, der Sohn wohnt in Hamburg?« »Oder in Frankfurt oder Wanne-Eickel, was weiß denn ich!« »Aber einen Sohn hat sie?« »Du nervst. Ich weiß überhaupt nichts über die Frau. Noch nicht einmal sicher, wer sie ist. Nur dass sie tot ist und das schon seit Längerem.« »Das kann ja heiter werden. Und ich hab vorhin drei Weißwürste gegessen!« Die Haustür wirkte verschlossen, öffnete sich aber, als Benno dagegen drückte. Er sah sich das Türschloss an. Der Schnapper funktionierte nicht mehr; er war möglicherweise gewaltsam beschädigt worden. »Schloss überprüfen lassen. Art der Beschädigung feststellen«, schrieb Benno auf seinen Notizblock. In der Halle waren im Staub so etwas wie Spuren sichtbar, klarer noch auf den Treppenstufen. »Frau Dr. Tal sagte, die Leiche liege … nein, sitze in der Küche im ersten Stock.« »Frau Dr. Tal? Hanna Tal? Ist das nicht die rothaarige Schönheit von Katjas Party, wegen der du letzthin so aus dem Häuschen warst?« »Rothaarige Schönheit!« Benno verzieh Werner umgehend den »Feger« und brummte zustimmend.
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»Oh, oh!«, machte Werner nur, und Benno wusste genau, was er damit sagen wollte: Das kann Schwierigkeiten geben. Sie gingen die Treppe hinauf, vorsichtig an der Seite, um möglichst wenig Spuren zu verwischen. Werner gab seinem Freund ein paar Einmalhandschuhe. Benno fand das immer etwas lächerlich, aber Herr Dotterweich von der Spurensicherung konnte sehr ungehalten werden. Der widerliche Geruch nach Tod wurde mit jeder Stufe stärker und stürzte sich auf sie, als sie die Küchentür öffneten. Benno hatte schon etliche Leichen gesehen, aber das hier strapazierte auch seinen Magen heftig. Werner sah sich die Leiche scheinbar ungerührt an. »Oh, oh!«, sagte er wieder – das war wohl momentan sein Lieblingsspruch –, »das sieht aber wirklich nicht gut aus. Ich glaube, den Herzinfarkt können wir leider vergessen. Das sieht verdammt nach einem gewaltsamen Tod aus.« Er machte mit seiner kleinen Kamera einige Fotos des Ganzen, dann stürzte er ans Fenster und öffnete es. »Und wenn sich Dotterweich auf den Kopf stellt, so kann man nicht arbeiten, das zerbröselt einem ja das Gehirn.« Er sah sich um. »Ob das wohl die Tatwaffe war?« Er deutete auf einen Schal, der unter dem Stuhl der Toten lag. »Schau mal, da auf dem Tisch, das ist ein vertrockneter Wiesenblumenstrauß«, bemerkte Benno. »Was für ein pietätvoller Mörder. Ein Wunder, dass er nicht noch ein Kreuz und eine Kerze hingestellt hat!« »Wieso denkst du, dass es ein Mann war?« »Ich habe das ganz geschlechtsneutral gemeint.« Werner ignorierte Bennos spöttisches Grinsen. »Außerdem sind Mörderinnen so selten. Ich hatte in meiner ganzen Laufbahn noch keine.« »Aber Wiesenblumen, ich weiß nicht. Das passt nicht. Ein gekaufter Strauß vielleicht, als offizielles Mitbringsel. Aber geht 40
jemand auf eine Wiese und pflückt Blumen für einen Menschen, den er umbringen will?« »Vielleicht hat er – oder sie – es ja nicht geplant, sondern im Affekt getan?« Werner begann, die Küche zu inspizieren, öffnete geräuschvoll Türen und Schubladen. Benno störte dieser alltäglich-banale Krach neben der Toten. Er ging hinaus in den Flur. Das schwarze Telefon an der Wand fiel ihm sofort auf, weil der Hörer nicht auf der Gabel lag, sondern an der Schnur herunterhing. Er nahm den Hörer, drückte mehrmals auf die Gabel, drehte die Wählscheibe, das Telefon war tot. Er untersuchte die Zuleitung und stellte fest, dass der Stecker in der Dose steckte und die Leitung intakt war. Er notierte: »Feststellen lassen, seit wann Anschluss von Frau R. nicht mehr funktioniert.« Dann ging er ins Wohnzimmer. Auch ihm fiel die Diskrepanz zwischen der einstigen noch fühlbaren Schönheit dieses Raums und seinem jetzigen Zustand auf. Er wagte es nicht, die Fenster zu öffnen, aber hier war der Gestank nicht ganz so unerträglich. Das einzige wirklich interessante Möbelstück schien der Sekretär zu sein, Kirschbaum mit Einlegearbeiten, mit einer ausgeklappten, lederbezogenen Platte und vielen Schubladen. Benno öffnete einige, nahm ein paar Papiere heraus, legte sie wieder zurück und notierte: »Veranlassen, dass der gesamte Inhalt des Schreibtischs mir zur Durchsicht gebracht wird. Schubladenweise sortiert!« Im Schlafzimmer war das Bett ungemacht, die Bettwäsche grau und fadenscheinig. Auf einem Stuhl lag ein formloser Haufen dunkler Kleidung, daneben ein Paar ausgetretene braune Schuhe. Vom Schlafzimmer führte eine Tür in ein Ankleidezimmer, Kleiderschränke rechts und links bis zur Decke, an der Stirnwand ein riesiger Spiegel. Die Schränke waren vollgestopft mit Kleidern: Abendkleider, Cocktailkleider, Kostüme, Seidenblusen, strassbestickte Jäckchen, Pelze, viele davon in weißen Leinensäcken. Ein ganzes Schrankabteil voller 41
Damenschuhe, auf schrägen Regalen, farblich sortiert, etwa fünfzig Paar. Schubladen voll Unterwäsche, Strümpfe, Schals. Im gegenüberliegenden Schrank war ein Tresor eingebaut. Der Schlüssel steckte. Auf speziell geformten Tabletts lagen Ketten, Colliers und Armbänder, Ringe, Broschen, Ohrringe: Brillanten, Perlen und viele blaue Steine, Saphire und Aquamarine. Ein Raubmord war es also nicht gewesen, es sei denn, der Mörder wäre gestört worden und dann nicht wiedergekommen, was angesichts des leeren Hauses und der aufgebrochenen Haustür unwahrscheinlich war. Männerkleidung fand sich keine. »Kleider und Schmuck beurteilen lassen, Alter, Wert usw.«, schrieb Benno auf. Auf dem Gang traf er mit Werner zusammen, der die übrigen Räume angesehen hatte. Er erzählte ihm von den eigenartigen Kleiderschränken und fragte: »Und bei dir?« »Auf den ersten Blick nichts Auffälliges. Manche Zimmer scheinen ewig nicht benutzt worden zu sein. Schauen wir uns mal unten um.« Auch die Räume links von dem Gang hinter der Halle boten nichts Spektakuläres: ehemalige Wirtschaftsräume, Regale mit leeren Einmachgläsern, eine alte Wäschemangel, eine Toilette, die allerdings auffallend sauber aussah. Umso größer war ihre Verblüffung, als sie die letzte Tür auf der rechten Seite öffneten und die ehemalige Küche entdeckten, diesen Raum voll bunter Tücher. »Was ist denn das?«, fragte Benno ungläubig. »Oh, oh«, sagte Werner, »das war aber wohl nicht die Alte vom Küchentisch!« »Ich fasse es nicht.« Benno inspizierte alles gründlich – das Bett aus zwei übereinandergelegten Matratzen, bedeckt mit einer bunten Wolldecke, daneben ein Schrank, in dem nur leere Kleiderbügel hingen, den Tisch bei der Eckbank, auf dem ein Glas stand, den großen Stuhl zwischen den beiden Fenstern, den 42
Herd und die beiden überdimensionalen Spülbecken auf der anderen Seite. In einem stand eine kleine Wasserlache, die noch nicht eingetrocknet war. »Hier hat sich bis vor Kurzem jemand aufgehalten«, stellte er fest. »Bis heute«, sagte Werner und hielt ihm einen schmalen Papierstreifen hin, den er aus dem Abfalleimer gefischt hatte. Es war ein Fahrschein für den Bamberger Stadtbus, und der Stempel zeigte klar und deutlich das heutige Datum, den 3. September. »Das ist doch komisch«, murmelte Benno. »Davon hat Frau Tal gar nichts erzählt.« »Na, vielleicht hat Frau Dr. Tal es ja nicht gesehen?« Werner sprach »Frau Dr. Tal« mit besonderer Betonung aus und sah Benno mit hochgezogenen Brauen an. »Du kannst mich mal«, sagte Benno. »Und es ist trotzdem seltsam.« Aus der Eingangshalle waren jetzt Geräusche zu hören, die verkündeten, dass die Leute von der Spurensicherung gekommen waren. Werner ging nach vorn, um sich mit ihnen zu besprechen. Benno sah sich im Garten um, aber ihm fiel nichts Verdächtiges auf. In der Halle traf er auf den Gerichtsarzt Dr. Last, der sich gerade die Handschuhe auszog. »Und, können Sie uns schon etwas über die Todesursache sagen?« »Bei dem Zustand der Leiche?«, fragte Dr. Last sarkastisch. »Erwarten Sie Wunder?« »Nein, nur einen kleinen Hinweis, ob es sich um einen natürlichen Tod handelt.« »Nun ja, die Haltung des Kopfes könnte ein Indiz für eine Gewalteinwirkung sein. Bei einem natürlichen Tod wäre sie vermutlich vornübergesunken. Aber vor der Obduktion …« 43
»Ja, natürlich, ich weiß. Und was ist mit dem Todeszeitpunkt?« »Den werde ich wohl auch nach der Obduktion nur ungefähr angeben können. Da spielen, wie Sie wissen, viele Imponderabilien eine Rolle. Warten Sie’s ab.«
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6 Es war jetzt kurz nach zwölf Uhr, Zeit genug, um vor dem Mittagessen in der Staatsbibliothek noch etwas über das Haus am Nonnengraben herauszufinden. Natürlich hatte Hanna schon vor ihrem Besuch die wichtigsten Tatsachen über das Haus zusammengesucht. Aber in den Bamberger Blättern von 1914 gab es einen Artikel von einem früheren Bewohner, den sie ergänzend heranziehen wollte. Hanna wählte Tante Kunigundes Nummer. »Hallo, wie geht es euch? – Ach, Will schläft. Und er hat brav getrunken. Danke für die Nachricht … Tante Kunigunde, bitte halt inne. Ich wollte dich nur fragen, ob ich zum Mittagessen kommen darf. Hättest du irgendetwas, um deine schwer arbeitende Nichte vor dem Hungertod zu bewahren? – Danke. Ginge es so um halb zwei? – Ja, natürlich, ich werde ganz leise sein, um Will nicht zu wecken.« Hanna mochte den Weg hinauf zum Domberg: an der beherrschend aufragenden alten Burgmauer entlang, die durch allerlei kleine Pflanzen zwischen den Steinen alt und milde geworden war, und über die Karolinenstraße mit dem in der Luft hängenden Eingangsportal des einstigen Eyb’schen Domherrenhofs, das von rätselhaften Verkehrserleichterungen früherer Zeiten erzählte. Im Schatten der turmhohen Kurien stieg der Weg bergan. Und dann, oben hinter der Ecke, strömte dieser unglaubliche Platz heran, dieses Bilderbuch der Geschichte. Viele Leute hatten sie schon darauf angesprochen, dass der Domplatz so leer und kahl sei, aber Hanna schätzte gerade das: die großzügige Weite und hoheitsvolle Würde, wie das Innere eines Glockentons. Nachts konnte sie ihn hören, diesen Ton, im wassergrünen Licht der Dombeleuchtung. Jetzt aber war der Platz überwimmelt von Leben, Touristengruppen, 45
die mit andachtsvollen Gesichtern an den Armen der Stadtführer entlang auf Dom, Alte Hofhaltung und Neue Residenz blickten, ein langsamer grüner Stadtbus, zwei Autofahrer, die an der Abzweigung zur Residenzstraße kurz anhielten, um sich zu unterhalten, Studenten, die auf dem Fahrrad über das reparaturbedürftige Pflaster holperten. Hanna war verwundert, dass sie die vertrauten Bilder plötzlich so glasklar wahrnahm. Dieser Vormittag hatte das Gewohnte aufgebrochen und Innenseiten sichtbar gemacht. Sie stand und atmete. Schloss die Augen und öffnete sie wieder. Sie war noch da. Eigentlich hätte der Tod ihr vertraut sein müssen. Fast alle Menschen, mit denen sich eine Historikerin beschäftigte, waren bereits tot. Aber in dem Moment, wo ihr Bewusstsein diese Menschen erfasste, erweckte sie sie wieder zum Leben: Geburt, Beruf, Heirat, Nachkommen – der Tod war nur eine Station in dieser Abfolge der Generationen, im steten Strom des Lebens, dessen Spuren in die Mauern führten, die sie untersuchte. Die Mauern waren durchdrungen von dem Geschehen, das sich in ihnen und um sie herum abgespielt hatte, getränkt vom Schrei der Geburt wie vom Seufzer der Krankheit, von den Essensdünsten in den Küchen und vom Pferdeurin in den Ställen, von bitteren Notwendigkeiten in den Alkoven und von Eitelkeiten in den Bohlenstuben; die Dachsparren bewahrten die Erinnerung an Wind und Regen, die Steine hatten Sonnenschein und Stürme gesammelt, in ihnen war das Gebrüll zündelnder Soldaten und die Sehnsucht nach Schönheit gegenwärtig. Zu diesem Leben in den Steinen gehörte der Tod als notwendige Grundmelodie. Doch er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem realen Tod, der sie an diesem Morgen angeblickt hatte wie eine Schrift im Spiegel. Sie wusste noch nicht, wie ihre Antwort darauf ausfallen würde. Sie ging über das holperige Kopfsteinpflaster hinüber zur Neuen Residenz, jener »Unvollendeten« des barocken Fürstbi46
schofs Lothar Franz von Schönborn, dem mitten im Bau das Geld ausgegangen war, weil er Krieg führen musste. So standen bis heute an einer der Ecken die Kragsteine in die Luft und warteten auf Anschluss. In einem Teil des Schlosses war die Staatsbibliothek mit ihren weltberühmten Handschriften untergebracht. Hanna fühlte sich hier zu Hause wie ein Vogel in der Luft. Sie ging gleich in den Lesesaal. Das war einer der Vorzüge des Sommers – man brauchte kein Geld für den Kleiderschrank im Gang. In der kalten Jahreszeit musste Hanna sich immer erst die passenden Münzen besorgen. Der Lesesaal mit seinen barocken Stuckdecken war vor Kurzem modernisiert worden. Gewiss waren solche Maßnahmen notwendig, aber Hanna reagierte dennoch missmutig. All die Bücher, nach denen sie seit ihrem Studium jahrelang blind gegriffen hatte, standen jetzt an anderer Stelle, und die Sucherei nervte sie. Sie überflog noch einmal ihre Notizen aus dem entsprechenden Band des Inventars: »Nonnengraben 1. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts das einzige Haus in diesem Bereich der Geyerswörth-Insel. 1384 als ›Eulenburg‹ in den Quellen erwähnt. Der Ursprung des Namens ist nicht mehr sicher erklärbar. Es liegt nahe, anzunehmen, dass es sich um ein bereits im Verfall begriffenes Haus handelte, das nur noch von Eulen bewohnt war. 1579 gehörte das Anwesen Dr. jur. Johann Reuß, genannt der Türke, und umfasste Haus, Hof, Abort, Garten und ›Lusthäuslein‹. Nach dem Verkauf an den Fürstbischof wurde es Dienstwohnung des fürstbischöflichen Oberhofgärtners, der zuständig war für den benachbarten Renaissancegarten des landesherrlichen Schlosses, für … Orangerien … Figuren … Eremitorium … Wasserspiele …« Der Artikel in den Bamberger Blättern beschäftigte sich näher mit den Bewohnern des Hauses: »Vom 16. Jahrhundert bis zur Säkularisation wurde das Amt des Oberhofgärtners in der Familie Dechant vererbt. Nach 1803 wurde der Garten geteilt, den südlichen Bereich erwarb 1836 Adalbert Rothammer, der 47
dort eine Samenzucht einrichtete und seinen Sämereigroßhandel betrieb. Er riss 1838 das alte Hofgärtnershaus bis auf die Keller und den Gartenflügel ab und ließ sich durch Joseph III. Dennefeld das jetzige ›Haus am Nonnengraben‹ im italienischen Landhausstil errichten. Es ist bis heute im Besitz der Familie Rothammer. Zum Grundstück gehört als Rest des fürstbischöflichen Geyerswörth-Gartens ein großer, heute verwilderter Garten, der sich hinter der alten Mauer entlang des Nonnengrabens erstreckt.« Dann folgte die Beschreibung des Hauses mit seinen Risaliten und Ecklisenen. Einige der Bauhandwerker wurden genannt, leider nicht der Schmied des kunstvollen Türgitters. Als Hanna die Beschreibung des Inneren las, wurden ihre Hände kalt. Über diese »großzügig geschwungene Treppe« war sie hinaufgegangen, durch den »ehemaligen Salon mit den gründerzeitlichen Rosengirlanden« in die Küche, alles verseucht vom Gestank des Todes und in ihrer Erinnerung untrennbar damit verbunden. Die verwahrloste Schönheit des Hauses, wie Spinnwebfäden auf der Haut, machte Hanna noch trauriger als die einsame Tote am Küchentisch. Sie schrieb die wichtigsten Fakten für ihren Artikel ab. Ihr Magen knurrte. Für den Rückweg wählte sie die Treppe am Katzenberg, zwängte sich durch den Touristenpulk vor der Brauerei Schlenkerla – sie liebte die Wirtschaft und ihr Rauchbier trotz deren sagenhafter Bekanntheit und den daraus folgenden Heimsuchungen – und schlich sich weisungsgemäß leise in Tante Kunigundes Küche. Tante Kunigunde hatte Schinkennudeln mit Tomatensoße gemacht. Hanna stibitzte sich sofort einen Löffel Soße und bekam von Tante Kunigunde eins auf die Finger. »Schau dir mal Tanjas neue Bleibe an«, sagte sie zufrieden. Wie war diese Frau tüchtig! Sie hatte eines der kleinen Zimmer im oberen Stock für Tanja hergerichtet. Sonne fiel durch gerüschte Spitzenvorhänge auf einen glänzenden 48
knubbeligen Fichtenboden, alle Kleider hingen im Schrank, die Kommode war mit zwei Wolldecken und einem Leintuch zum Wickeltisch befördert worden. Will schlief satt und zufrieden in seinem Kinderwagen, und Tanjas Haare waren frisch gewaschen. Sie sah schon nicht mehr so hohläugig aus wie am Morgen, war aber nach ihrem sprudelnden Herzenserguss auf der Gartenbank ziemlich schweigsam. Gemeinsam gingen sie hinunter zum Essen. Nach ein paar Gabeln Schinkennudeln und den ersten Schlucken von dem sauberen herben Weißwein aus Zeil, den Tante Kunigunde bevorzugte, lehnte sich Hanna auf ihrem Stuhl zurück und fragte: »Tante Kunigunde, hast du eigentlich die Tote, die Frau Rothammer, gekannt?« »Du sollst nicht kippeln, Kind, setz dich gerade hin.« Tante Kunigunde sagte es nebenbei, sah Hanna gar nicht an. »Und ob ich die gekannt habe, das Luder. Das hat sie nun davon!« Die Falten um ihren Mund verschärften sich auf für sie ungewöhnliche Art. »Es ist schon bemerkenswert, wie viele Menschen diese Frau unglücklich gemacht hat.« Hanna konnte sich nicht erinnern, dass Tante Kunigunde je so über jemanden gesprochen hatte. »Elfi. Elfi Patzik, patzig wie Elfi, haben wir immer gesagt. Sie konnte so wundervoll beleidigt sein, reckte die Nase in die Luft und rauschte davon. Königlicher Abgang mit Pauken und Trompeten, pah!« Tante Kunigunde schnaufte kurz durch die Nase. »Aber schön war sie, das muss man ihr lassen, umwerfend schön. Große, ganz blaue Augen und eine Unmenge schwarzer Haare, die trug sie elegant und weich auf dem Kopf zusammengesteckt, mit so einer stolzen Haltung wie eine Krone.« Tante Kunigunde straffte die Schultern und hob das Kinn in einer Weise, die gleichzeitig anmutig und affektiert 49
aussah. »Und da war noch etwas, sie hatte so etwas – wenn sie einen Raum betrat, spielten alle Männer ›Schwänzchen in die Höh‹.« Tanja hob ruckartig den Kopf und sah sie erstaunt an. Sie ließ den Rest ihres Essens kalt werden, so aufmerksam hörte sie jetzt zu. »Wir andern Mädels hatten das natürlich nicht so richtig gern; wir wehrten uns mit Spott dagegen – das konnte sie überhaupt nicht ertragen. Wenn sie irgendwo auftauchte, schauten wir uns an, grinsten und summten, mit spöttischen Blicken auf die verzauberten Knaben, ›Alle meine Entlein‹. Und sie kriegte nie raus, warum.« Tante Kunigunde saß nachdenklich eine Weile da und fingerte an ihren Haaren. Plötzlich kicherte sie, ein befremdliches, unfrohes Kichern. »Ich entbehre des Senfs«, murmelte sie, »ich entbehre des Senfs. Die dumme Pute! Ich entbehre des Senfs. Weißt du, das war auch so etwas. Sie war ein Flüchtlingskind und hat ständig versucht, so zu reden wie wir, so wie ihrer Meinung nach die feineren Leute reden.« Tante Kunigunde sprach es wie »foinere Loite« aus. »Und einmal im Tennisclub – also, sie stand im Gang um die Ecke und konnte uns hören, aber nicht sehen. Da unterhielt ich mich mit meiner Freundin ganz laut darüber, dass man jemanden, der wirklich etwas Besseres sei, daran erkenne, dass er den Genitiv gebrauche, den ›feinen Genitiv‹, sagte ich.« Tante Kunigunde schüttelte nachdenklich den Kopf. »Gemein eigentlich. Aber damals … weißt du, sie ist uns so schrecklich auf die Nerven gegangen.« Tanja sah sie immer noch mit großen Augen verwundert an. Tante Kunigunde seufzte und sagte betreten: »Ja, so kam es zu dieser Picknickgeschichte. Wir waren damals im Tennisclub eine fest verschworene Clique. Ich war die Älteste, so ein bisschen die Mutter der Kompanie, die immer alles organisiert und dafür gesorgt hat, dass genügend zu essen und zu trinken da war bei den Ausflügen und so etwas. Was haben wir nicht alles 50
unternommen! Nicht nur Tennis gespielt und Turniere veranstaltet, nein, wir haben auch sonst dauernd beieinander gesteckt, immer so fünfzehn, achtzehn Leute. Wir haben Wanderungen gemacht, im Heu geschlafen, sind tanzen gegangen und schwimmen, im Schwimmverein, ach, es war eine schöne Zeit.« Tante Kunigunde seufzte wieder. »Die Stars waren die Rothammers, Arthur und seine Schwester Karla. Sie waren so etwas wie die Anführer der Gruppe. Alle wollten immer mit ihnen zusammen sein, und wenn sie mal nicht dabei waren, dann fehlte dem Ganzen der … Glanz, ja, der Glanz. Sie waren wirklich toll, groß und schlank und sehr sportlich, alle beide, gingen bergsteigen und Ski fahren, schwammen wie die Fische, waren natürlich im Schulsport immer an der Spitze, und Arthur hatte als Erster ein Auto und fuhr damit wie ein Wilder durch die Gegend. Später ist er dann Rennen gefahren. Das hat Karla nicht mitgemacht, im Gegenteil, sie mochte es gar nicht, wenn er so schnell fuhr. Aber sonst waren sie ein Herz und eine Seele, haben alles gemeinsam unternommen und organisiert. Ach, diese Feste in ihrem Haus am Nonnengraben! Wir haben uns immer wieder was Neues ausgedacht. Einmal haben wir zum Beispiel einen ›Weiß-Ball‹ veranstaltet, überall weiße Luftballons und weiße Tücher, und alle mussten ganz weiß angezogen sein, und jeder hatte nur einen Farbfleck frei, eine Blume oder ein Tuch oder so. Schön sah das aus mit all den Kerzen. Damals lebte ihr Vater noch, der alte Herr Rothammer, ein reizender Herr, weltfremd, aber ganz lieb.« Tante Kunigunde machte eine kleine Pause und runzelte die Stirn. »In dem Jahr des ominösen Picknicks, ich weiß nicht mehr so genau, es muss so etwa 1959 oder ’60 gewesen sein, waren Arthur und Karla zum Skilaufen gefahren. Arthur hatte seinen Freund Anton mitgenommen und Karla ihre Freundin Christine, das war Antons Schwester. Und als sie wiederkamen, war unausgesprochen klar, dass bald Hochzeit gefeiert würde. Arthur und Christine und Karla und Anton. Sie studierten 51
zusammen und spielten Tennis, und alles passte wunderbar. Und dann kam das Picknick.« Tante Kunigunde stützte den linken Arm auf den Tisch und legte das Kinn in den Handteller. Ihr Blick ging durch das Tischtuch hindurch weit in die Vergangenheit. »Es war ein herrlicher Sommersonntag. Unsere Gruppe hatte große Picknickkörbe gepackt, und wir sind in die Fränkische Schweiz gefahren. Wir lagerten auf einer Blumenwiese an einem Bach, hatten die Tischtücher ausgebreitet und das Essen aufgebaut und die Sonne schien und die Lerchen sangen und alles war ganz idyllisch. Und dann sagt Elfi, dieser Unglückswurm: ›Ich entbehre des Senfs.‹« Tante Kunigunde bekam wieder einen Lachanfall, der gar nicht heiter klang. »Ich entbehre des Senfs! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie wir gelacht haben. Wir haben uns gekringelt und auf die Schenkel gepatscht und ›ich entbehre des Senfs‹ geschrien. Elfi blieb eine Weile fassungslos sitzen, dann ist sie aufgestanden und hat mich angeschaut.« Tante Kunigunde zögerte. »Das war das einzige Mal, dass ihr einstudiertes Gehabe von ihr abfiel. Sie sah aus wie ein trauriges Kind, und dann ist sie davongerannt, in den Wald. Sie war wunderschön, wie sie da über die Wiese rannte: Ihr weißes Kleid flatterte im Wind und ihre langen schwarzen Haare hatten sich gelöst und flossen über ihren Rücken. Arthur schaute ihr nach, und langsam erstarb das allgemeine Gelächter. Dann stand Arthur auf und folgte ihr, der edle Ritter. Das war Arthur tatsächlich, der starke Arm, der Schutz der Schwachen, jetzt also der Tröster der Betrübten. Als er im Wald verschwunden war, versuchten wir, zu unserem leichten Geplänkel zurückzufinden, aber die Stimmung war verflogen. Karla, die über den Senf am meisten gelacht hatte, machte ein Gesicht, als hätte sie eine Biene verschluckt. Uneingestanden warteten wir alle darauf, was passieren würde. Es dauerte lange, fast eine halbe Stunde. Christine ist einmal aufgestanden und auf den Wald zugegan52
gen, hat dann aber so getan, als würde sie Blumen pflücken, und sich wieder zu uns gesetzt und mit Anton ein Gespräch angefangen. Dann kamen sie. Arthurs Hand lag beschützend auf Elfis Arm. Er hatte ihr nicht den Arm um die Schulter gelegt, nur die Hand auf den Arm, sodass ein Abstand zwischen ihnen war und doch eine Verbindung. Er sagte: ›Ich bringe Elfi nach Hause. Es ist ja genügend Platz für alle in den anderen Autos.‹ Keiner antwortete, und wir schauten den beiden nach, wie sie den Hang hinaufgingen und oben ins Auto stiegen und wegfuhren. Niemand hatte mehr so rechten Appetit, nicht einmal der dicke Hans mochte noch etwas. Wir versuchten noch ein Federballmatch, aber dann packten wir bald zusammen. Dabei schien die Sonne noch immer. Drei Monate später starb Vater Rothammer, und einen Monat danach heirateten Arthur und Elfi. Ja, das war’s. Das war die Geschichte mit dem Senf.« Tante Kunigunde schwieg, strich mit dem Finger Parmesankrümel auf dem Tisch zusammen, formte Muster aus dem kleinen Häufchen, strich es wieder zusammen. Man hörte die alte Uhr ticken, langsam und tief. Hanna konnte die Stille nicht mehr ertragen. »Und wie ging es weiter?« »Karla war wie vom Blitz getroffen. Sie konnte sich mit dieser Heirat einfach nicht abfinden. Sie ging zum Studium nach München und kam nur noch sehr selten nach Hause. Dann haben wir sie aus den Augen verloren. Weil Elfi mit uns nichts mehr zu tun haben wollte, suchte sich auch Arthur neue Freunde, Leute, die in der damaligen Wirtschaftswunderzeit schnell zu Geld kamen. Arthur übrigens auch, er machte, glaube ich, etwas in Finanzberatung. Jedenfalls schien er jede Menge Geld zu haben. Er behängte Elfi mit Schmuck, fuhr mehrere schnelle Autos, und sie machten jedes Jahr Urlaub in irgendeinem exotischen Land, von dem wir meist nicht mal den Namen kannten. Aber sein Augapfel war das Haus am Nonnengraben. Das wurde gestrichen und verschönt und mit neuen Bädern 53
versehen und mit Antiquitäten eingerichtet, und alles immer vom Feinsten. Er feierte riesige Feste mit Sekt und Kaviar, aber wir, seine alten Freunde, waren nie eingeladen. Wir wären wahrscheinlich auch nicht hingegangen. Wir mochten ihn nicht mehr, den neuen Arthur mit seiner Großmannssucht. Und dann ist er eines Tages mit seinem Auto zu schnell gefahren, und ein Brückenpfeiler stand im Weg. Er war sofort tot.« Tante Kunigunde presste die Lippen zusammen und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Und Elfi?«, fragte Hanna und trank den letzten Schluck von ihrem Wein. »Elfi wurde immer wunderlicher. Sie blieb allein im Haus am Nonnengraben. Nach Arthurs Tod hat sich eigentlich keiner mehr um sie gekümmert, ihre tollen neuen Freunde kannten sie bald nicht mehr. Ich habe sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Es ist sicher gut fünf Jahre her, da traf ich sie mal beim Einkaufen. Ich habe sie fast nicht erkannt, so verändert war sie. Schrecklich!« Tanja sagte ganz leise: »Die arme Frau! Sie hat nirgendwo dazu gepasst.« Tante Kunigunde sah verlegen aus. Sie räusperte sich und stand auf. »Wenn du noch mehr über die Rothammers wissen willst, solltest du Anneliese Kurt fragen. Sie war jahrzehntelang Dienstmädchen bei den Rothammers, bis Elfi sie entlassen hat. Sie wohnt jetzt im Arbeiterwohlfahrt-Altersheim. Ich habe sie dort einmal besucht. Sag ihr einen schönen Gruß von mir. Ich mag sie gern. Das ist eine Frau mit dem Herzen auf dem rechten Fleck.« Hanna trug die gestapelten Teller zum Spülbecken, ließ Wasser einlaufen und begann abwesend auf dem obersten Teller herumzureiben. Sie war noch ganz in der Geschichte gefangen.
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»Lass nur, Kind.« Tante Kunigunde brachte den Rest des Geschirrs. »Wir machen das schon.« Sie schaute Tanja auffordernd an. »Ja. Klar.« Tanja nickte. »Danke, Tante Kunigunde«, sagte Hanna, »für die Schinkennudeln und die Geschichte und alles. Ich sollte mich jetzt wirklich an meinen Artikel machen, sonst kriege ich den nicht rechtzeitig fertig.« Von der Oberen Brücke brauchte Hanna nicht mehr als drei Minuten bis zu ihrem Häuschen in Klein-Venedig. Vor sechs Jahren war ihr Vater überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Er hatte ihr eine große wunde Stelle in ihrer Seele, ein Paket gut angelegter Papiere, das knapp ihren Lebensunterhalt sicherte, und dieses kleine Haus aus Familienbesitz hinterlassen. Ein Haus in der malerischen Zeile der Fischer- und Schifferhäuser, die ein romantischer bayerischer König einmal Klein-Venedig getauft hatte, gehörte inzwischen zu den begehrtesten Immobilien in Bamberg, und Hanna hatte schon diverse lukrative Angebote dafür bekommen. Aber sie hatte nicht die Absicht, das Haus zu verkaufen. Es war genau das Richtige für ihre Bedürfnisse, gerade ausreichend für Büro und Wohnung, und sie fühlte sich äußerst wohl darin. Sie ging in ihr Wohn- und Arbeitszimmer im unteren Stockwerk und setzte sich gleich an den Computer. »Das Aschenputtel am Nonnengraben«, sollte die Überschrift heißen. »Jeder Bamberger ist bestimmt schon oft an diesem Haus vorbeigefahren und hat sich vielleicht über seinen schlechten Zustand gewundert. Wenigen wird die interessante Architektur aufgefallen sein.« Nein, das musste sie umformulieren, sonst fühlten sich die Leser, denen nichts aufgefallen war, vielleicht brüskiert. »Was hat es mit diesem ungewöhnlichen Haus auf sich? In seinen Grundmauern steckt eines der ältesten Häuser 55
auf der ganzen Geyerswörth-Insel. Auf dieser Insel hatten die Geyers, eine der großen und reichen Patrizierfamilien Bambergs, ihre Stadtburg. Doch nach den für die Bürger und ihre Geschäfte negativ verlaufenden Aufständen im 15. Jahrhundert verließen sie Bamberg und verkauften ihren Ansitz dem Bischof, der ihn sich kostbar zum fürstlichen Hof umbauen ließ. Zum Geyerswörth-Schloss gehörte ein großer Garten im Renaissancestil, und für reisende adelige Kavaliere war es unerlässlich, diesem Garten einen Besuch abzustatten. Besonders berühmt waren die Wasserspiele, gespeist von einem Wasserarm zwischen der Regnitz und einem alten Flussarm, der ›Nonnengraben‹ genannt wurde, seit die Klarissinnen daneben ihr Kloster errichtet hatten. Zuständig für den Garten und die Wassertechnik war der Hofgärtner, der als Wohnung die ›Eulenburg‹ zugewiesen bekam …« Hier fügte sie ihre Notizen ein und schmückte sie ein bisschen aus. Sie war ganz zufrieden mit sich. Schreiben tut gut, dachte sie. Die Suche nach dem passenden Ausdruck, der Kick, wenn das Wort mit den richtigen Ober- und Untertönen, die die erhofften Assoziationen auslösten, gefunden war, die Beglückung, wenn eine Melodie sich einstellte, ein Hauch von Gesang. Der Schock, in den die Konfrontation mit dem Tod an diesem Morgen sie versetzt hatte, verflüchtigte sich allmählich. Wenn morgen der Mord in der Zeitung steht, wird mein Artikel ganz schön gefragt sein, dachte sie. Sie wandte sich vom Computer ab und blickte über das glitzernde Wasser. Die Ereignisse des Vormittags zogen an ihr vorbei – zum wievielten Mal? Etwas irritierte sie, wenn sie an das Gespräch mit Benno Berg dachte, immer wieder, wie eine raue Stelle an einem Zahn. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie ihm über ihren Weg im Haus am Nonnengraben erzählt hatte, wohin sie dort gegangen war. Sie war sich sicher, dass sie Tanjas Küche nicht erwähnt hatte. Aber die Polizei würde wohl 56
feststellen, dass sie dort gewesen war. Sie hatte die Türklinke angefasst. Also würden dort ihre Fingerabdrücke sein – und die von Tanja. Konnte man Fingerabdrücke, die sich überlagerten, ablesen wie Schichtabfolgen in der Archäologie? Wahrscheinlich nicht, vermutlich verdarben sich Fingerabdrücke gegenseitig. Und wenn einzelne, deutliche Fingerabdrücke von ihr und Tanja gefunden wurden, konnte man diese dann datieren? Konnte ein Experte sagen, dieser Abdruck sei ganz frisch von heute früh, und bei jenem sei das Hautfett schon drei Tage alt? Konnte man damit beweisen, dass sie und Tanja gleichzeitig im Haus gewesen waren? Aber Hanna wusste, dass das Problem nicht die Fingerabdrücke waren. Das Problem war sie selbst. Wenn jemand sie nach der zweiten Person in der Küche fragte, würde sie es nicht fertigbringen, zu sagen, sie habe dort niemanden gesehen. Vermutlich war es günstiger, von sich aus darüber zu sprechen, bevor sie gefragt wurde, so wie sie es ja schon am Mittag hatte tun wollen. Sie sagte sich, dass sie Benno Berg vertrauen konnte, dass er sie verstehen und Tanja beschützen würde. Sie streckte gerade die Hand nach dem Telefon aus, um ihn anzurufen, als es klingelte.
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7 Benno kickte wütend ein Steinchen vor sich her. Er war sauer. Sie hatte gelogen, Hanna hatte ihn angelogen. Die Spurensicherung hatte festgestellt, dass die Person, die das Haus am Morgen durch die Vordertür betreten hatte, auch in das Hinterzimmer gegangen und dort mit einer zweiten Person herumgelaufen war. Und die Befragung der Nachbarn hatte prompt eine Zeugin zutage gefördert, die gesehen hatte, wie Hanna – die Beschreibung passte eindeutig auf sie – das Haus um neun Uhr betreten hatte. Um neun Uhr, und angerufen hatte sie ihn um halb zwölf! Was hatte sie in diesen zweieinhalb Stunden getan? Es gab nur eine Lösung: Sie hatte dem Bewohner des Hinterzimmers zur Flucht verholfen. Wie hatte sie nur glauben können, dass die Polizei das nicht herausfinden würde? Oder dass er das nicht erfahren würde? Für wie dumm hielt sie ihn eigentlich? Ein Wurm bohrte sich durch seinen Magen. Benno brauchte eine Weile, bis er differenzieren konnte, dass es sich dabei um schieren Hunger handelte. Er schaute auf die Uhr: Es war ja fast schon drei Uhr, und er hatte noch nichts gegessen. Er ging also nicht zurück in sein Büro, sondern quer über die Schranne zu dem kleinen Italiener an der Ecke zur Lugbank, seinem Stammlokal. Der Wirt wollte gerade schließen. »Luigi, bitte, ich komme um vor Hunger. Hast du nicht noch eine Kleinigkeit für mich?« »No, signore.« Der Italiener hob bedauernd die Handflächen und schüttelte den Kopf. Benno schaute ihn flehend an. Luigi zögerte. »Nur noch halbe Pizza ist da, aber ist kalt.« »Luigi, du bist ein Engel. Mach sie warm und her damit.«
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»Pizza aufwärmen?« Luigi hörte sich an, als verlangte man von ihm, Regenwürmer zu rösten. »Luigi, bitte, du bewahrst mich vor dem Hungertod.« Luigi knurrte und nickte zu Bennos Stammplatz hinüber. Zwei Minuten später standen Oliven und Weißbrot und ein Glas eines leichten Rotweins auf dem Tisch. Nach den ersten Bissen versuchte Benno, gründlich und geordnet nachzudenken und eine Struktur in das Chaos in seinem Kopf zu bringen. Aber es war eben doch nicht nur Hunger, was ihn am Denken gehindert hatte. Immer wieder verfingen sich seine Gedanken in einem Gewirr roter Haare und ertranken in einem großen Topf gekränkter Eitelkeit. Wieso hatte sie das getan? Dabei war sie eine miserable Lügnerin. Er hatte doch sofort gemerkt, dass da etwas nicht stimmte, von dem Moment an, als sie so verlegen sein Büro betreten hatte. Für wen log eine Frau wie sie? Doch wohl nur für einen Mann! Sie hatte ihn belogen, ja, sie hatte ihn benutzt, um einem anderen zur Flucht zu verhelfen. Wie konnte sie nur? Die Enttäuschung schmerzte wie ein großer blauer Fleck, und die Eifersucht bohrte. Die Pizza, die Luigi noch liebevoll mit frischem Basilikum belegt hatte, lag wie ein Klumpen in seinem Magen, und das kam nicht daher, dass sie aufgewärmt war. Ihm war klar, dass er diesen Fall abgeben musste. Er war »persönlich beteiligt«, um es mal vorsichtig zu sagen. Aber er war nun einmal der für Tötungsdelikte zuständige Staatsanwalt. Und wie sollte er die Bitte um Übernahme durch einen anderen Kollegen denn begründen? »Ich möchte den Fall abgeben, weil ich mich vielleicht in eine der Zeuginnen verlieben werde«? Er hatte ja noch nicht einmal den Anfang einer Beziehung mit dieser Dame, und so, wie sie sich verhielt, würde aus diesem Nicht-Anfang auch nie eine werden. Und außerdem hatte er sich doch im Griff. Persönliche Gefühle waren die eine Seite, berufliche Dinge die andere. Er würde seine Ermittlungen objektiv und sachlich korrekt durchführen wie immer. 59
Nachdem er den Wein bezahlt hatte – Luigi weigerte sich, etwas für die Pizza zu nehmen –, kehrte Benno mürrisch und lustlos an seinen Schreibtisch zurück. Natürlich hatte der Wachtmeister während seiner Abwesenheit einen Stapel Akten gebracht, die sofort, umgehend, am besten schon vorgestern, bearbeitet werden mussten. Er rief Hanna an. »Ich muss mit dir reden. Kann ich in zwei Stunden bei dir vorbeikommen?« Natürlich hätte das auch Werner Sinz oder der von ihm eingeteilte zuständige Sachbearbeiter übernehmen können – eigentlich war das deren Job –, aber Benno wollte es selbst machen. So eine lausige Lügnerin würde leicht zu knacken sein. Er musste ihre erste Reaktion beobachten. Er wollte ihr Gesicht sehen, wenn er sie mit ihren Lügen konfrontierte, wollte wissen, wie sie sich herauszuwinden versuchte. Das war entscheidend, das konnte er keinem anderen überlassen. Mit glühendem Pflichteifer übertönte er die warnende Stimme aus dem Off. Zu seinem Erstaunen klang Hanna erfreut. »Gut«, sagte sie, »in zwei Stunden. Da kann ich noch schnell meinen Artikel fertig machen, dann habe ich Zeit für dich.« Benno schluckte. Zeit! Sie hatte, verdammt noch mal, für eine Vernehmung Zeit zu haben. Sie sollte eingeschüchtert sein, zumindest verlegen und nicht … »Ich wohne in Klein-Venedig, aber du musst dazu von der Kapuzinerstraße aus –« »Ich weiß«, unterbrach Benno sie. »Bis dann.« Er legte auf. Natürlich wusste er, wo sie wohnte. Er hatte damals, als er nach der Party von Werner ihren Namen erfuhr, sofort im Telefonbuch nachgesehen. In den vergangenen sechzehn Tagen hatte er immer mal wieder vom anderen Ufer der Regnitz, vom Leinritt aus, zu dem kleinen barocken Häuschen hinübergeschaut. Eigentlich war es ja eine »Bausünde«, hockte in der ziemlich einheitlichen Reihe der fleißigen alten Fischerhäuser 60
wie der kleine Schwan in der Schar der Enten. Nur dass es kein »hässliches Entlein« war, im Gegenteil: Mit seinem geschwungenen Dach und den zierlichen Fenstern sah es zum Liebhaben aus. Benno wäre zu gern »zufällig« an ihrem Haus vorbeispaziert, um Hanna ganz »zufällig« treffen zu können. Aber die schmale Seitengasse führte lediglich zum Tor ihres Grundstücks und zwei anderen Hauseingängen. Diese konnte man nur gezielt ansteuern. Und genau das würde er jetzt tun.
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8 Hanna wunderte sich. Sie hatte erwartet, dass Benno sie zu einem weiteren Gespräch in die Staatsanwaltschaft vorladen oder die Polizei sie zur Abgabe ihrer Fingerabdrücke auffordern würde. Und nun kam er zu ihr. Was bedeutete das? Und warum hatte seine Stimme so unfreundlich geklungen, so ganz ohne Flirt mit Schlapphut? Seltsamerweise freute sie sich auf den Besuch. Wahrscheinlich lag das daran, dass sie ihm endlich die Wahrheit sagen konnte. Sie schaute auf die Uhr. Das würde knapp werden: den Artikel fertig schreiben und zur Redaktion mailen, die Wohnung aufräumen – ja, das war eindeutig vonnöten –, und umziehen musste sie sich auch noch. Es konnte wohl auch nicht schaden, etwas zu trinken bereitzustellen. Was war das nur für ein Tag! Irgendwie hatte er am Telefon wirklich seltsam geklungen. Aber vielleicht war ja noch jemand im Zimmer gewesen oder er hatte sich über etwas geärgert. Er hatte sich geärgert, und der Ärger hatte mit ihr zu tun, das erkannte Hanna gleich, als Benno das Hoftor öffnete. Er schien von einer finsteren Wolke umgeben, die über den Hof auf sie zukam. Ihr Willkommenslächeln versickerte. »Hallo«, sagte sie unsicher, »komm doch herein.« Benno gab ihr nicht die Hand und folgte ihr nach einem kurzen Nicken in den großen hellen Wohnraum, der fast die ganze Grundfläche des Häuschens einnahm. Durch die Fenster sah man übers Wasser hinauf zum Dom. Unter Bennos kritischen Blicken kam Hanna ihr geliebtes Zimmer, das sie doch gerade aufgeräumt hatte, plötzlich ganz chaotisch vor: Sie sah die zurückgeschobene Tischdecke, neben der der Laptop auf dem ovalen Biedermeier-Esstisch stand, sie sah durch die halb geöffnete Küchentür das abtropfende Geschirr neben dem 62
Spülbecken, sah überall auf dem Boden und auf allen Ablagen die Stapel von Büchern und Zeitschriften. »Setz dich doch bitte.« Hanna wies verwirrt auf eines der Sofas. Die beiden Samt- und Schaumstoffdinger waren zwar ungeheuer bequem – manchmal schlief Hanna hier sogar, wenn sie nach dem Fernsehen zu faul war, nach oben in ihr Schlafzimmer im Dachgeschoss zu gehen –, aber sie waren sehr niedrig, und Benno konnte mit seinen langen Beinen nur in einer ziemlich lächerlichen Position darauf sitzen, was seine Laune offensichtlich nicht verbesserte. »Möchtest du etwas zu trinken?«, fragte sie zaghaft. »Nein, bleib sitzen. Ich habe einige Fragen an dich.« Bennos Stimme klang hart und unfreundlich. »Eine Zeugin hat beobachtet, dass du heute früh um neun Uhr das Haus am Nonnengraben betreten hast. Dein Anruf bei mir erfolgte um elf Uhr dreiundzwanzig. Kein Mensch, der eine Leiche findet, wartet zweieinhalb Stunden, bis er die zuständige Behörde verständigt, es sei denn, er hätte dafür einen triftigen Grund. Was hast du in dieser Zeit getan?« Hanna schaute auf ihre Hände. »Ich war im Garten, hinter dem Haus …« Warum war es plötzlich so schwer, die Wahrheit zu sagen? »Du warst im Garten, so! Allein?« Hanna betrachtete erstaunt den feindseligen fremden Mann vor ihr. Wo waren denn der schüchterne Charmeur von der Party und der unbestechliche Beamte von heute Mittag abgeblieben? Mit denen hätte sie reden können … »Hanna, jetzt sag endlich, was los war. Die Spurensuche hat eindeutig ergeben, dass sich im Haus am Nonnengraben zwei Personen aufgehalten haben und dass du im Hinterzimmer mit jemandem zusammengetroffen bist. Wer war der Mann?« 63
»Was für ein Mann?«, fragte Hanna verblüfft. »Hör zu, Hanna, es sieht so aus, als sei Frau Rothammer ermordet worden. Wenn der Mann etwas mit dem Mord zu tun hat, bist du in großer Gefahr!« »Aber Frau Rothammer ist doch offenbar schon seit Langem tot; warum sollte der Mörder …« »Was ist: Hast du dem Mann zur Flucht verholfen?« »Da war kein Mann.« »Jetzt hör schon auf zu lügen. Das hier ist keine romantische Geschichte, in der du einen Helden retten musst.« Wovon sprach er denn nur? Was für eine romantische Geschichte? Und welcher Held? Etwas an Bennos Tonfall machte Hanna stutzig. Konnte es vielleicht sein, dass da eine Spur von Eifersucht im Spiel war auf jenen »Mann«, den sie angeblich gerettet hatte? Ein kleines Lächeln stieg in ihre Augen, nur in die Augen, aber die Wirkung auf Benno war unübersehbar. Seine Haltung wurde noch eisiger und unnahbarer. Hannas Selbstvertrauen kehrte zurück. Sie beschloss großmütig, ihn nicht länger zappeln zu lassen, und erzählte ihm von Tanja, der kleinen grünen Madonna, und von ihrem Kind und ihrer Odyssee und wieso sie im Haus am Nonnengraben untergeschlüpft war und warum sie so große Angst vor der Polizei hatte, erzählte zunächst mit mitleidiger Zärtlichkeit, allmählich aber immer stockender. Denn Benno blieb ein Block grimmigen Misstrauens, und unter seinem skeptischen Blick kam ihr Tanjas Geschichte immer unglaubwürdiger vor, wie ein kläglicher Haufen konstruierter Beschönigungen von verdächtigem Tun. Als sie mit einem zögerlichen »Ja, so war es« endete, schnaubte Benno verächtlich. »Ach, so war das? Und du, du glaubst das alles?« »Ja, tu ich. Wieso?« 64
»Das stimmt doch alles vorn und hinten nicht.« »Was soll denn da nicht stimmen?« »Zum Beispiel: Wie hat das Mädchen denn das Kind gekriegt? Allein im Gartenhaus? Hat sie mit den Zähnen die Nabelschnur durchgebissen, oder war sie im Krankenhaus und keiner hat nach Papieren und Krankenversicherung gefragt? Oder: Sie lebt angeblich monatelang von Diebstählen, obwohl da doch Geld sein muss. Wo ist denn das Geld, das die Eltern für das Haus gespart haben? Und diese Tante Doris müsste doch Kindergeld für sie kriegen. Und wer glaubt denn heute noch so was wie das mit dem Kind wegnehmen, wo es gerade für junge ledige Mütter jede Menge Einrichtungen gibt. Wer ist denn so idiotisch und glaubt so was!« »Ich, ich bin so idiotisch«, sagte Hanna leise. »Die hat genau gewusst, wie sie bei dir auf die Tränendrüsen drücken muss.« Bennos Stimme wurde noch sarkastischer. »Aber tröste dich: Vertrauen in Menschen ist zweifelsohne etwas Schönes.« »Aber sie wirkte so glaubwürdig. Wenn du sie gesehen hättest …« »Genau das will ich ja. Mir diese ominöse Tanja mal selbst vornehmen. Dann werden wir ja sehen, was an ihren Angaben dran ist. Wir gehen jetzt und holen sie aufs Polizeirevier. Dort kann sie ihre Version zu Protokoll geben.« Hanna konnte es kaum glauben. Reagierte er so auf ihre Offenheit, auf ihr Entgegenkommen? Sie kam sich vor wie jemand, der eine Vorauszahlung geleistet hatte und nun statt einer Gegengabe eine neue Forderung vorgelegt bekam. »Aber ich habe dir doch gesagt, dass sie wegen ihrer … weil sie halt hin und wieder was mitgehen ließ, schreckliche Angst vor der Polizei hat. Sie wird nichts sagen«, stotterte sie. Er musste sie doch verstehen! 65
Doch Benno murmelte in aufwallendem Unmut: »Mach doch nicht so ein Theater! Wenn wir ihr das Kind wegnehmen, wird sie schon reden.« Hanna starrte ihn fassungslos an. Sie wiederholte leise den letzten Satz: »Wenn wir ihr das Kind wegnehmen …« Der Jähzorn, der ihr schon als Kind so viele Schwierigkeiten eingebrockt hatte, kochte in ihr hoch, so heftig, dass ihre Fingernägel tiefe Halbmonde in ihre Handballen gruben. Sie sprang auf und zischte tonlos und mit geballten Fäusten: »Du … du riesengroßes … Du bist so was von zum Kotzen!« Benno stand ebenfalls auf. »Vorsicht, junge Frau«, sagte er höhnisch, »fügen Sie der Liste Ihrer Vergehen nicht auch noch eine Beamtenbeleidigung hinzu.« Und fast verzweifelt: »Hanna, begreif doch – du deckst vielleicht eine Mörderin!« »Tanja ist keine Mörderin!« »Du hast doch keine Ahnung! Wie willst du das denn beurteilen?« »Ich spüre das einfach.« »O Gott, die berühmte weibliche Intuition. Das hat ja kommen müssen. Herrje, gebrauch doch deinen Verstand, falls da einer ist …« »Was …?« »Aber so überleg doch: Diese Tanja ist, wenn schon nicht die Täterin, dann doch die wichtigste Zeugin. Wir brauchen ihre Aussage. Du sagst mir jetzt auf der Stelle, wo sie ist!« »Nein.« »Nein?« »Nein! Tanja hat gerade erst Vertrauen zu mir gefasst. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich sie an dich verrate.« »Was für ein melodramatischer Quatsch! Ich will sie ja nicht foltern, ich will sie nur befragen. Wo ist sie?« Hanna schwieg. 66
»Wo ist sie?« »Ich habe zwar weder Ahnung noch Verstand, aber ich kann den Mund halten!« »Herrgottsakra, so geht das nicht! Wir sprechen uns noch!« Benno stürmte hinaus und knallte die Tür zu. Hanna schmiss einen Apfel hinter ihm her, der dumpf gegen die Tür prallte. So ein Mistkerl, so ein arroganter, überheblicher Trottel … Wie hatte sie den jemals sympathisch finden können … Sie suchte vergeblich nach einem Schimpfwort, das dem Ausmaß ihrer Wut und ihrer abgrundtiefen Verachtung gerecht geworden wäre. So zornig war sie schon lang nicht mehr gewesen. Es schüttelte sie. »Wir sprechen uns noch.« Da konnte er lang warten, der Blödmann! Die nächsten Tage jedenfalls nicht, denn da war sie gar nicht in Bamberg.
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9 Na wunderbar! Er hatte sich, ganz wie erwartet, voll im Griff. Wie feinfühlig und ergebnisorientiert er dieses Gespräch geführt hatte! Benno war ebenso unglücklich wie wütend. Wie hatte er nur das mit dem Kind sagen können? Er schämte sich bis in die Seelenspitze. Noch nie in seiner Laufbahn hatte er sich so idiotisch benommen und etwas so verdorben. Dabei war er doch berühmt für seine erfolgreichen Vernehmungen, weil er seinen »Kandidaten« wirklich zuhörte und ihnen das Gefühl vermitteln konnte, ihre Aussage interessiere ihn und er verstünde sie, auch wenn er nicht billigte, was sie sagten. Diesmal hatte er alles falsch gemacht, was nur falsch zu machen war. Was war nur mit ihm los? Er stapfte mit Riesenschritten durch die Straßen, blind für die abendliche Stadt. Aber wie konnte sie es auch wagen! Wie konnte sie sich unterstehen, die Ermittlungen zu boykottieren, die Arbeit der Polizei, seine eigene Arbeit. Sich ihm in einem so wichtigen Punkt zu widersetzen, das ging doch nicht. Das Mädchen, diese Tanja, wenn es sie gab – ganz sicher war er sich immer noch nicht, ob er den Mann aus dem Hinterzimmer völlig verabschieden sollte –, diese Tanja war die wichtigste Zeugin, auch wenn ihre Geschichte erstunken und erlogen war; vielleicht hatte sie den Mörder gesehen, steckte mit ihm unter einer Decke oder war selbst beteiligt. Jedenfalls war sie die erste und bisher einzige Spur in diesem Fall. Allzu viel hatten sie bisher schließlich nicht: einige wenige, nicht allzu deutliche Fingerabdrücke – da fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, Hanna zur Abgabe ihrer Fingerabdrücke einzubestellen, das würde er am nächsten Morgen erledigen. Aber er würde die Wahrheit schon aus dieser Tanja herausbekommen! Und er würde sie finden, verdammt noch 68
eins! Er schlug mit der Faust auf das Brückengeländer. Plötzlich nahm er seine Umgebung wieder wahr. Wie war er nur hierher gekommen? Er stand auf der Geyerswörth-Brücke und starrte in das Wasser, das am Fuß des Wehrs sprudelte und schäumte. Im schrägen Abendlicht sah er die Linien im Holz des Geländers, Linien, die lange parallel liefen, bevor sie sich in einem Knoten verquirlten und eine neue Richtung nahmen. »Wenn du auf einem Weg nicht weiterkommst, dann versuch einen anderen«, hatte sein Vater oft zu ihm gesagt. Er war Polizist gewesen. Ein sehr guter Polizist und ein konsequenter und anständiger Mann, dessen Ratschläge Benno selbst während der Pubertät nicht ausgeschlagen hatte. Er drehte sich um und ging über die Brücke zur Staatsanwaltschaft. In seinem Büro setzte er sich an den Schreibtisch und zog den Aktenwagen mit dem Material, das die Spurensicherung aus dem Schreibtisch im Wohnzimmer der Toten geborgen hatte, zu sich heran. In der ersten Schachtel waren Briefe, stapelweise Briefe an den »Lieben Arthur«, ein kleines Bündel an die »Liebe Elfi«, der letzte aus dem Jahr 1995 von »Deiner Dich liebenden Freundin Ellen«. Seit so vielen Jahren kein weiterer Brief? Als Nächstes zwei Schuhkartons voller Fotos. Wo nahm die Spurensicherung nur all diese Schuhkartons her? Auf den meisten Fotos war eine sehr schöne Frau zu sehen, und Benno brauchte eine Weile, bis er diese Frau mit der Toten am Küchentisch in Verbindung brachte, bis er begriff, dass es sich bei der Frau auf den Fotos um Elfi Rothammer handelte: Elfi mit Kopftuch und Sonnenbrille in der geöffneten Tür eines Porsche, Elfi in Caprihose und weit ausgeschnittenem Top auf der Kühlerhaube des Porsche, Elfi mit Bikini an einem weißen Sandstrand, Elfi mit riesigem Hut und elegantem Kostüm vor Pferden im Hintergrund, Elfi im langen Samtkleid in Bayreuth. Viel Geld war auf diesen Bildern zu sehen: teure Kleider, teure Schuhe, teurer Schmuck, Autos, Segelyachten, Urlaubsorte und
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immer wieder das Haus am Nonnengraben, die Treppe, die Antiquitäten, der Garten, gepflegt, geschmückt und vorgezeigt. Benno nahm eines der kleinen braun- und blaustichigen Fotos mit den gezackten Rändern nach dem anderen in die Hand und überlegte, woher sein wachsendes Unbehagen kam, eine namenlose Traurigkeit, die rund um die Lichtpfütze seiner Schreibtischlampe aufstieg wie Nebel. Auf einigen wenigen Bildern war ein Mann zu sehen: groß, schlank, elegant, mit einem Gesicht, das vor lauter Beherrschung hochmütig wirkte. Das musste Herr Rothammer sein. Nur auf zwei Fotos war er allein abgebildet, auf den anderen posierte er mit dem, was er auf den übrigen Bildern präsentierte: sein Haus, seine Autos, sein Pferd und seine Frau, ein schöner Gegenstand wie die anderen. Jetzt wusste Benno, was ihn so traurig machte. Die Frau auf den Bildern wirkte wie die Models in den Modezeitschriften – gezeigt wurden die Kleider und der Schmuck und die Frisur, aber nicht der Mensch. Benno holte sich den nächsten Karton auf den Schreibtisch, auf dessen Deckel »Von der Schreibtischplatte« stand. Er enthielt lediglich ein paar Werbeprospekte und einen kleinen Zettel mit der Aufschrift »Für das Mädchen und den Kleinen«. Deutlich interessanter war die Schachtel, die den Inhalt der Schreibtischschublade mit den amtlichen Dokumenten barg. Benno hatte das schon bei der Untersuchung einer Reihe von Nachlässen beobachtet: Mit Schubladen konnten die Menschen etwas anfangen, Ordnung in ihr Leben bringen – eine Schublade für Rechnungen, eine für Garantiescheine und Gebrauchsanweisungen, eine für Offizielles und eine für Krimskrams, der in keine Kategorie passt. Die »offizielle« Schublade von Elfi Rothammer enthielt ihre Geburtsurkunde, ihren Pass, ihre Heiratsurkunde mit Arthur, Arthurs Totenschein und sein Testament.
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»Ich, Arthur Rothammer, im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte, bestimme hiermit als meinen letzten Willen: 1. Meine Schwester erhält das nach meinem Tod vorhandene Vermögen, ausgenommen die unter 2. und 3. genannten Anteile und alle meine Bücher und Aufzeichnungen. Die Nachlassverwalter sollen alles tun, um meine Schwester, deren Aufenthaltsort mir seit zehn Jahren unbekannt ist, zu finden. Das Geld für die Suche liegt auf einem Konto der Stadtsparkasse Bamberg bereit. Siehe Anlage. 2. Frau Anneliese Kurt erhält ein Fünftel meines nachgelassenen Vermögens, festgelegt in mündelsicheren Papieren. Siehe Anlage. 3. Frau Elfi Rothammer erhält ihren Pflichtteil als Ehefrau und das lebenslange Wohnrecht in meinem Haus am Nonnengraben. 4. Unberührt von diesen Verfügungen bleibt die 1979 ins Leben gerufene Arthur-Rothammer-Stiftung, als deren Verwalter und Stiftungsvorstand ich meinen Freund Rechtsanwalt Norbert Böschen bestimmt habe. Die Stiftung wurde bei der Stadt Bamberg eingetragen. Siehe Anlage.« Benno pfiff leise durch die Zähne. Oha, das war ja interessant. Da gab es eine Ehefrau, die »Frau Elfi Rothammer« genannt und praktisch enterbt wurde. Da gab es eine verschollene Schwester und eine weitere Frau, Anneliese Kurt, die zusammen genauso viel erhielten. Ob diese Frau vielleicht eine ehemalige Geliebte war? Ob es da vielleicht Nachkommen von Arthur Rothammer gab, von denen man bisher nichts wusste? Und von einer Arthur-Rothammer-Stiftung hatte Benno noch nie etwas gehört. Das gab viel Arbeit. Die Polizei sollte morgen als Erstes Nachforschungen über die Schwester und die restliche Familie anstellen. Werner konnte sich diese Anneliese Kurt vornehmen.
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Er selbst würde mit dem Stiftungsreferenten sprechen und dann mit Rechtsanwalt Böschen. Auf dem Heimweg schaute Benno zu einem Stern hinauf, der blinzelnd zwischen zwei Schornsteinen hing, und dachte: Diese Spur scheint heiß zu sein. Möglicherweise bringt sie viel mehr als die Kleine mit den grünen Haaren. Auch wenn man das natürlich weiterverfolgen muss. Er kickte ein Steinchen vor sich her und versuchte nicht daran zu denken, wie unmöglich er sich gemacht hatte. Und nicht an diejenige, vor der er das getan hatte. Und schon gar nicht an die sanfte Kurve zwischen ihrem Ohrläppchen und ihrem Wangenbogen. Von anderen Kurven ganz zu schweigen.
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10 Hanna blinzelte die Tränen weg und biss die Zähne zusammen. So ein Idiot, so ein Mistkerl! Was für eine dumme Kuh sie doch war! Wie hatte sie sich nur so täuschen können. Sie hatte wirklich geglaubt, ihm vertrauen zu können. Einem Staatsanwalt! Aber dem würde sie es zeigen! Nichts brachte sie so in Rage, wie wenn jemand ihre Intelligenz in Frage stellte. Gebrauch doch deinen Verstand, falls da einer ist … O ja, Herr Staatsanwalt, das wollen wir doch einmal sehen, was wir mit unserer weiblichen Intuition herausfinden. Tanja ist keine Mörderin! Sie stand auf, um die Gläser wegzuräumen. So viel zu vertrauensbildenden Maßnahmen! Zornig diskutierte sie in Gedanken weiter mit Benno. Als sie den Kopf zurückwarf, um ihn mit einer feurigen Suada zu vernichten, stieß sie sich den Wangenknochen am Eck des Hängeschranks. Das tat höllisch weh. Sie sank auf einen Küchenstuhl und hielt sich den nassen Spüllappen ans Gesicht. Ihr Zorn wurde dadurch nicht geringer. In Ermangelung geeigneterer Ziele für eine Misshandlung nahm sie einen Zettel, der auf dem Küchentisch lag, und zerknüllte ihn, noch mal und noch mal. Sie wollte den kleinen Papierball gerade wegwerfen, als ihr etwas einfiel. Das war doch die Notiz mit der Telefonnummer des Arbeiterwohlfahrtsheims. Sie hatte die Heimleitung gebeten, Frau Kurt zu sagen, dass sie, Hanna, gern am Abend vorbeikommen würde. Das hatte sie über der Aufregung mit Benno vollkommen vergessen. Gottlob war ihr Gespräch ja nicht sehr ausführlich gewesen. Es war nicht einmal acht Uhr. Sie konnte es noch rechtzeitig schaffen. Hanna packte ihr kleines Diktiergerät und ihren Schreibblock ein und fuhr hinaus nach Bamberg-Ost.
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Anneliese Kurt wohnte im achten Stock. Der Blick auf die Hügelkette im Westen, deren Rand die untergegangene Sonne silbern zeichnete, unterbrochen von den Türmen der Stadt, entschädigte für die hässliche Nüchternheit des Treppenhauses mit seinen Glasbausteinen und für die Enge des Zimmers, dem seine Bewohnerin eine rührende Gemütlichkeit gegeben hatte. Anneliese Kurt war eine kleine weißhaarige Frau mit rosiger, fast faltenfreier Haut. Alles an ihr und um sie wirkte frisch gewaschen und duftig sauber. Ihre Fingernägel waren manikürt und durchsichtig rosa lackiert, die Hände lagen entspannt in ihrem Schoß. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht aufstehe«, sagte sie, als Hanna ihr die Hand gab, »ich habe mir gestern den Fuß verstaucht, und der Arzt sagte, ich solle ihn nicht belasten. Setzen Sie sich doch.« Dann schwieg sie und sah Hanna erwartungsvoll an. »Ich soll Ihnen herzliche Grüße von Frau Buchner bestellen. Ich bin ihre Nichte.« »Oh, wie nett. Wie geht es ihr denn?« »Danke, wirklich gut.« »Des freut mich. Ist sie immer noch so sportlich?« »Das kann man wohl sagen. Sie ist topfit, macht all ihre Besorgungen noch mit dem Fahrrad, spielt zweimal in der Woche Tennis, und das bekommt ihr prächtig.« »Schön. Grüßen Sie sie bitte von mir. Und warum wollten Sie mich sprechen?« »Ich soll einen Artikel über das Haus am Nonnengraben schreiben und wollte Sie deshalb um Informationen zur Familie Rothammer bitten. Tante Kunigunde sagte mir, dass Sie viele Jahre dort gearbeitet haben.« »Ja, des stimmt. Von 1930 bis 1979, bis Elfi mich entlassen hat. Die Familie war mein Leben.« Es klang ebenso schlicht wie 74
glaubwürdig. »Wie geht es Elfi Patzik denn?« Bis heute war diese Frau für Anneliese Kurt keine Rothammer geworden. »Sie ist tot. Ich habe sie heute früh gefunden. Sie ist ermordet worden.« »So?« Die alte Frau zeigte weder Erschrecken noch Trauer. »Weiß man, wer’s war?« »Nein, noch nicht. Aber ich wüsste gern Näheres über das Opfer.« Dabei hätte sie es bewenden lassen können. Doch plötzlich und für sie selbst überraschend erzählte sie das zweite Mal an diesem Tag die ganze Geschichte, alles, was ihr am Vormittag im Haus am Nonnengraben begegnet war. Frau Kurt hörte mit gelassener Aufmerksamkeit zu, wie ein kleiner weißhaariger Rabe, und diesmal klang Tanjas Geschichte völlig selbstverständlich, so als wäre daran nichts Ungewöhnliches oder Tadelnswertes. »Wenn ich Tanja helfen will, muss ich so viele Hintergrundinformationen sammeln wie möglich. Könnten Sie mir erzählen, was Ihnen zu Elfi und zum Haus und zu den Rothammers einfällt? Bitte.« »Hm, ja also, ich werd’s versuchen. Vielleicht gibt’s ja so was wie eine ausgleichende Gerechtigkeit«, sagte die kleine Frau ganz sachlich, und um ihren Mund bildeten sich Falten, die denen von Tante Kunigunde, als sie von Elfis Tod erfahren hatte, erstaunlich ähnlich sahen. »Sie scheinen Frau Rothammer nicht besonders gemocht zu haben.« »Nein, des kann man wirklich net behaupten. Sie hat alles kaputt gemacht, was mir wichtig war, die Familie, des Haus, den Arthur, alles. Und zum Schluss hat sie mich nausgeworfen. Ich hätt schon vorher gehen sollen, aber wer nimmt einen in dem Alter schon noch?« Erbittert stieß sie die Luft zwischen den zusammengepressten Lippen aus. Hanna wartete, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
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»Ich mocht sie von Anfang an net. Aber der Arthur war ja völlig vernarrt. Egal, was man gegen die Elfi gesagt hat, es hat ihn nur noch mehr davon überzeugt, dass er ihr helfen müsst. Vor allem weil sein Vater versucht hat, sie ihm auszureden. Der arme Herr Rothammer! Er hat’s so gut gemeint, aber er hat alles falsch gemacht. Dabei hat er völlig recht gehabt. Elfi war das genaue Abbild von Arthurs Mutter: schön, eingebildet und genauso dumm wie raffiniert. Die wusste einfach, wie man’s anstellen muss. Clever nennt man das heute wohl. Aber der Arthur wollt die Wahrheit net hören, über seine Frau net und über seine Mutter schon gar net. Er ist nie drüber weggekommen, dass sie davongelaufen ist mit einem anderen Mann. Elf Jahre war der arme Kerl damals alt, und ich konnt tun, was ich wollt, er hat geweint und geweint. Es wär besser gewesen, wenn sie gestorben wär. So hat sich niemand so recht drüber zu reden getraut, und alle haben die Kinder bemitleidet und geheimnisvoll getan, und keiner hat ihnen wirklich gesagt, was los war. Die Karla war ja erst neun damals. Da hat all mein Trösten und Liebhaben net viel geholfen.« Ihre Augen waren rot geworden, und sie zog ein gebügeltes und gestärktes, handumhäkeltes Taschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke und wischte sich damit unter der Nase durch. »Dabei haben sie mich auch lieb gehabt. Kürtchen, hat mich der Arthur immer genannt, Kürtchen, mein Kürtchen.« Hanna fand, dass der Name sehr gut zu der energischen kleinen Frau passte, und nannte sie von da an in Gedanken ebenfalls so. Kürtchen drehte den Kopf und sah lange zum Fenster hinaus. Die Sonne hinter dem Horizont tauchte den Himmel jetzt in ein tiefes Violett. »Irgendwann sagte mal jemand zu den Kindern, ihre Mutter sei auf einer Missionsreise. Da haben sie sich wohl ein Traumbild gesponnen, und der Arthur wurde es nie mehr ganz los. Die Karla schon.« Sie schaute blicklos auf ihr Taschentuch und schien Hanna vergessen zu haben. 76
Die Dämmerung stieg langsam im Zimmer auf wie sanfter, grauer Staub. Die Konturen der Möbel wurden unscharf, und in den Ecken hockten die Schatten. Die Kuckucksuhr mit ihrem kleinen Ticktack hinderte Hanna daran, eine Frage zu stellen. Kürtchen langte neben sich zu einer Stehlampe, und das Licht ging mit einem runden »Klack« an, begleitet vom metallischen Schaben des Schalterkettchens. Kürtchen sah Hanna leicht fragend an. »Des war aber wahrscheinlich net des, was Sie wissen wollten.« »Doch, genau das. Bitte, erzählen Sie weiter. Sie wurden also die Ersatzmutter der Kinder. Wie war denn der Vater, Herr Rothammer? Er war Geschichtsprofessor, nicht wahr? Ich habe einiges von ihm gelesen.« Kürtchen dachte kurz nach. »Tja«, sagte sie gedehnt, »wie soll man ihn beschreiben? Später war er zwar berühmt, aber im Grunde war er doch ein armer Kerl. Das Schlimme war, dass sich seine Geschichte wiederholt hat, nur umgekehrt. Weil, bei ihm war’s der Vater, der die Mutter weggeschickt hat.« Sie stockte, weil sie nicht recht wusste, wie sie den verworrenen Faden ihrer Erzählung entknoten sollte. »Ich weiß net so recht … Ich bin sonst net so geschwätzig.« »Aber Sie erzählen wunderbar. Ich könnte Ihnen stundenlang zuhören.« Hanna fiel plötzlich ein, dass sie vergessen hatte, ihr Tonband einzuschalten. Doch sie wollte das nicht ungefragt tun und fürchtete, eine entsprechende Bitte würde Kürtchens Erzählfluss stoppen. Um ihn wieder in Gang zu bringen, fragte sie: »Wann sind Sie denn zu den Rothammers gekommen?« »Wollen Sie wirklich … Das ist fei eine lange Geschichte.« Sie klopfte nachdenklich die Fingerspitzen aneinander. »Ich bin 1930 zu den Rothammers gekommen, da war ich dreizehn. Ich hab von zu Haus fortmüssen. Wir waren zu zwölft, auf einem kleinen Bauernhof droben auf dem Jura. Drum haben sie mich 77
als Küchenmädchen zu den Rothammers geschickt. Die nächsten Jahre waren die schönsten in meinem Leben. Das lag an der gnädigen Frau. Sandra Rothammer hieß sie, eine geborene Grunauer, Sie wissen schon.« »Ach ja, die berühmte jüdische Familie aus Bamberg. Die von der Villa Grunauer. Hopfenhändler waren die, nicht wahr?« »Ja, und Ärzte. Der Vater und der Großvater von der gnädigen Frau sind Ärzte gewesen. Die hatten viele reiche und vornehme Patienten, die Königin Amalie zum Beispiel. Aber sie haben dafür auch viele Arme umsonst behandelt, vor allem die vielen armen Juden, die damals vom Land in die Stadt gekommen sind. Na, jedenfalls, die gnädige Frau war ein wunderbarer Mensch. So jemandem bin ich nie wieder begegnet. Sie konnte so gut mit den Leuten umgehen. Wir hatten damals viel Personal, einen Gärtner, einen Chauffeur, eine Köchin und ein Küchenmädchen, eine Frau, die geputzt und gewaschen hat. Ich bin nach einiger Zeit so was wie das persönliche Dienstmädchen von der gnädigen Frau geworden. Sie hat viel mit mir geredet, und dann hat sie mir Sachen zu lesen gegeben, weil sie gemerkt hat, dass mir das Spaß macht. Romane und auch Bücher über fremde Länder und so was. Und dann hat sie sich mit mir da drüber unterhalten. Das war schön.« Kürtchens Stimme war wie ihre Sehnsucht jung geblieben. Oha, dachte Hanna. Da hat sich aber jemand eine Heilige erschaffen. Aber sie wusste aus den »Erinnerungen von Dienstmädchen in jüdischen Haushalten«, die sie vor Kurzem gelesen hatte, von vielen ähnlichen Geschichten. »Aber sie war zu jedem anders«, fuhr Kürtchen fort, »so wie es für jeden gut war. Oft war sie streng, ließ keine Faulheit oder Schlamperei durchgehen, aber meist war sie freundlich. Alle hatten großen Respekt vor ihr, aber sie haben sie auch gern gehabt. Ihre Söhne haben sie angebetet, hat mir die Köchin erzählt. Die beiden Älteren hab ich nimmer kennengelernt. Der Adalbert war im letzten Kriegsjahr gefallen, und der Zweite war 78
schon nach Amerika gegangen. Die gnädige Frau hat also nur noch den Jüngsten, ihr Nesthäkchen, gehabt. Er war ein Nachzügler, zehn Jahre jünger als sein älterer Bruder, und sie hing an ihm halt ganz besonders. Aber sie hat sich immer große Mühe gegeben, ihn net zu verhätscheln, ihr Dölfchen. Adolf hat er eigentlich geheißen.« »Adolf, der Sohn einer Jüdin?« »Ach, das war doch lange vor dem Hitler. Adolf ist 1907 geboren, da war das noch ein ganz normaler Name.« Hanna dachte verwundert darüber nach, wie ein Mann einen Namen so völlig aufsaugen konnte, dass dieser nach ihm nie mehr verwendet, ja nicht einmal ohne Echo genannt werden konnte. »Außerdem hatte den Namen ja ihr Mann ausgesucht, Adrian Rothammer.« »Adrian, Adolf, Adalbert … Begannen in der Familie Rothammer alle Vornamen mit ›A‹?«, fragte Hanna. »Die der Söhne schon«, antwortete Kürtchen, »das hatte etwas mit ihrem Wappen zu tun. Der erste Rothammer, der das Haus gebaut hat, der Sämereigroßhändler, hat dieses Wappen gekriegt oder gekauft. Das hing ganz groß im Treppenhaus, und drunter standen zwei lateinische Wörter, ›Arbor regnat‹ oder so ähnlich, und alle Rothammers sollten diese Anfangsbuchstaben haben.« »Aber jetzt hängt das Wappen nicht mehr im Treppenhaus. Ich habe es zumindest dort nicht gesehen.« »Nein, des hat die edle Elfi weggeworfen, gleich nach dem Tod vom Arthur«, sagte Kürtchen bitter. Doch plötzlich schüttelte sie den Kopf. »Was bin ich nur für eine Gastgeberin! Ich red und red. Entschuldigen Sie bitte. Täten Sie mir den Gefallen, einen Kirschlikör mit mir zu trinken? Er steht dort drüben auf der Kredenz. Nehmen Sie doch bitte die Gläser aus dem rechten Fach.« 79
Hanna schüttelte sich fast bei dem Gedanken an Kirschlikör, aber die Gläser waren schön, alte rubinrote Kristallgläser. Als sie den Likör einschenkte, lobte sie die Gläser, und Kürtchen sagte, die habe sie von der »gnädigen Frau« zum Abschied geschenkt bekommen. »Wieso zum Abschied?«, fragte Hanna. »Ach, des ist eine traurige Geschichte. Herr Rothammer hat mit dem Geld von seiner Frau – er war wohl auch von Haus aus net arm, aber sie hat viel Geld mit in die Ehe gebracht –, damit hat er als Bankier ordentlich Karriere gemacht und war ein hohes Tier geworden, bei der Reichsbank, glaub ich. Und dann kam das Dritte Reich, und da war es für ihn irgendwann sehr lästig, eine jüdische Frau zu haben. Die gnädige Frau war nie besonders religiös gewesen, aber jetzt bestand sie darauf, eine Jüdin zu sein, ging sogar in die Synagoge. Etwas anderes ließ ihr Stolz net zu. Na ja, schließlich hat er sie nach Amerika geschickt, zu ihrem Sohn.« »Und das hat sie sich gefallen lassen?« »Es sollt ja nur vorübergehend sein. Und kurz drauf war es dann zu gefährlich. Und sie mocht wohl auch ihren Mann nimmer mit all seinen Nazifreunden.« »Und ihr Dölfchen hat sie nicht mitgenommen?« »Der war damals doch schon sechsundzwanzig und hat studiert und an seiner Doktorarbeit gesessen.« »Und nach dem Krieg, ist sie da nicht zurückgekommen?« »Ach, nach dem Krieg, da wollt sie nimmer nach Deutschland. Ihre Eltern sind in Theresienstadt ermordet worden. Und außerdem waren hier doch so schlechte Zeiten. Es gab doch nix zu essen, und in der Familie war’s auch … na ja. Der alte Rothammer war im letzten Kriegsjahr gestorben, und der Adolf hat doch diese Inge, diese Haushälterin, geheiratet gehabt. Das heißt, eigentlich hat sie ihn geheiratet. Er war zu sanft, er hat sich net wehren können. Er war so gescheit, der berühmte Herr 80
Professor, und gleichzeitig so blind. Mein ganzes Leben hab ich ihn gekannt und ich … und ich …« Kürtchen schwieg einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf und nahm einen Schluck Kirschlikör. »Ich hätt ihn schon auch gewollt«, sagte sie ganz leise und verschämt. »Aber die Inge, die war schneller, und die hat sich was getraut. Die hat ihn rumgekriegt, und als ein Kind unterwegs war, hat er sie halt aus Anstand geheiratet. Aber die gnädige Frau war darüber sehr unglücklich. Sie hätt mit dieser Person net in einem Haus leben können. So ähnlich hat sie mir das einmal geschrieben, nur hat sie es natürlich feiner ausgedrückt. Sie ist nie mehr nach Deutschland zurückgekommen, aber sie hat viele Pakete geschickt. Die Kinder, der Arthur und die Karla, haben ihre Grandma, so haben sie sie genannt, ein paarmal besucht. Sie haben sie sehr geliebt. Und mir hat sie geschrieben bis zu ihrem Tod.« Hanna nippte an ihrem Kirschlikör, der gar nicht einmal so schlecht schmeckte, betrachtete Kürtchens ordentlich gelegte weiße Haare im sanften Schein der Pergamentlampe und dachte über dieses seltsame Verhältnis distanzierter Nähe zwischen dem alt gewordenen Dienstmädchen und seiner »gnädigen Frau« nach. »Ein Glück, dass sie den ganzen Schlamassel nimmer erlebt hat. Sie war doch so stolz auf ihre Enkel und dass sie sich so gut vertragen und alles miteinander gemacht haben.« »Welchen Schlamassel?«, fragte Hanna. »Na, wo doch der Arthur der Karla das Haus verboten hat, und das auch noch an Weihnachten. Es war schrecklich. Und danach ist die Karla nie mehr heimgekommen, obwohl es dem Arthur fast das Herz gebrochen hat.« »Aber warum hat er ihr denn das Haus verboten? Ich denke, er hat seine Schwester geliebt?« »Na ja, das war so … wie erzähl ich das denn bloß … Genau das war es, was die Elfi net ertragen hat, dass er seine Schwester 81
lieb gehabt hat. Die Elfi hatte sich den schicken, reichen jungen Mann geangelt. Aber mein Arthur hat auch andere Seiten gehabt. Er war sehr verletzlich, ja, das war er. Das Zarte hat er von seinem Vater geerbt. Er hat auch Gedichte geschrieben. Die hat er niemandem gezeigt, aber ich hab sie beim Aufräumen gesehen und auch die traurigen Bilder, die er manchmal gemalt hat. Darüber konnt er nur mit der Karla reden. Und das hat die Elfi fuchsteufelswild gemacht. Weil sie eifersüchtig war. Weil das eine Welt war, von der sie überhaupt nix verstanden hat, wo sie völlig ausgeschlossen war. Sie hätt zu gern mitgemacht, aber dazu war sie zu primitiv. Und der Arthur und die Karla wollten sie auch net dabeihaben. Sie sind ohne sie ins Theater gegangen, zu den Symphonikern und solche Dinge. Ach, wenn doch bloß net gerade damals ihr Vater gestorben wär. Das hat meinen Arthur so durcheinandergebracht. Er war im Grunde wesentlich weniger stabil wie die Karla.« Das Spitzentaschentuch trat wieder in Aktion. Kürtchen räusperte sich und schluckte. Und fuhr dann mit belegter Stimme fort: »Elfi hat gemerkt, wie sehr der Arthur nach dem Tod von seinem Vater Trost gebraucht hat. Das ist der Elfi ihre Chance gewesen. So was konnte sie gut. So haben sie halt geheiratet. Und die Karla, ach Gott …« Kürtchen presste sich das Taschentuch an den Mund. »Die Karla war doch so stolz«, sagte sie mit einem Schluchzer. »Das war ihr großer Fehler. Sie war net wie der Arthur, der jedem gefallen wollt und immer drum zu bitten schien, dass man ihn nett findet. Die Karla war wie eine Fürstin, für die das Beste grade gut genug war. Und das Beste, das war ihr Bruder. Und dann das. Eine Affäre hätt sie ihm verziehen, aber diese Heirat! Eine Elfi Patzik in ihrer Familie! Sie war wie versteinert damals, hat nur noch das Allernötigste gesprochen. Und dann ist sie fortgegangen. Nach München und hat dort weiterstudiert. Aber sie ist doch wenigstens noch hin und wieder nach Haus gekommen. Die Elfi hat immer gestichelt und war gemein zu 82
ihr, und die Karla hat so getan, als würde es ihr nix ausmachen. Hat es aber doch. Und der Arthur hat sich vorgespielt, dass alles in Ordnung ist und er mit beiden Frauen klarkommt.« Kürtchen schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Hanna schenkte den dritten Kirschlikör ein. Sie gewöhnte sich schon fast daran. Der Kuckuck fuhr aus seinem Gehäuse, sperrte den Schnabel auf, zeigte seine spitze rote Zunge und kuckuckte zehnmal. Kürtchen trank einen winzigen Schluck und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Als die Karla an Weihnachten nach Haus gekommen ist, hat man gesehen, dass sie schwanger war. Aber sie hat net rausgelassen, wer der Vater war. Der Arthur war entsetzt. Er war schon immer sehr moralisch gewesen, auch wenn er mit vielen Mädchen so ein bisschen rumgetändelt hat. Das war ja wahrscheinlich auch der Grund, warum er die Elfi geheiratet hat. Aber dass sie ihm, ihrem Bruder, den Namen von dem Kindsvater net verraten hat, des hat ihn vollends rasend gemacht. Wahrscheinlich ist da viel zusammengekommen. Jedenfalls hat’s einen entsetzlichen Krach gegeben, unterm Weihnachtsbaum. Ich stand im Gang und hab jedes Wort gehört, so laut haben sie gestritten. Es war das erste Mal, dass die zwei einen richtigen echten Streit gehabt haben. Irgendwann schrie der Arthur, wenn sie so wenig Vertrauen zu ihm hätt, bräucht sie auch nimmer in sein Haus zu kommen. Dann war es plötzlich ganz still im Zimmer, und dann hat die Karla gesagt: ›In dein Haus?‹ Und dann hat sie die Tür aufgemacht und ganz leise und kalt gesagt: ›Keine Sorge, ich werde dein Haus nicht mehr betreten.‹ Und ich hab durch die Tür die brennenden Kerzen gesehen und der Elfi ihr zufriedenes Gesicht und meinen Arthur bleich und betrunken. Die Karla hat noch in derselben Nacht ihre Sachen gepackt und ist fort. Sie war so ein entsetzlicher Dickkopf, da konnt ich sagen, was ich wollt. Sie kam nie mehr nach Haus.«
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Hanna rieb sich den Nacken und nippte an ihrem Kirschlikör. Was für eine dramatische Geschichte, die so sehr der modernen Angst vor großen Gefühlen widersprach! Aber Kürtchen erzählte mit so viel Betroffenheit, dass Hanna heftig schlucken musste und vorsichtshalber schnell noch einen Kirschlikör trank. Kürtchen schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück. »Entschuldigen Sie bitte, ich bin sehr müde. Ich hab letzte Nacht fast net geschlafen, weil mein Fuß so wehgetan hat. Ich mach Ihnen einen Vorschlag. Ich hab die Briefe aufgehoben, die die Karla mir geschrieben hat, nachdem sie weggegangen war. Ich denke … Sie sind ein liebes Mädchen, und es ist ja schon egal, wo die Karla doch jetzt auch tot ist und niemand mehr … Ich kann die Geschichte auch net … Es ist schwer. Nehmen Sie die Briefe mit. Machen Sie mal dort die oberste Schublade von der Kommode auf. Aber bitte seien Sie vorsichtig mit den Briefen, sie sind mir sehr wichtig.« Hanna versprach, sie zu hüten wie ihren Augapfel, versprach auch, ihre Tante herzlich zu grüßen. Dann umarmte sie Kürtchen spontan. »Danke für den wunderbaren Abend. Darf ich irgendwann wiederkommen und Kirschlikör trinken?«
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11 Elfi kam auf sie zugeschwebt, in einem blauen Samtkleid in der Farbe ihrer Augen, blau, blau wie ein Emailletopf. Die schwarzen Haare trug sie als Krone um den Kopf. Einzelne Strähnen lösten sich und fielen über ihre Schultern, dann floss die ganze schwarze Haarflut herunter bis auf ihre Füße. Die Haut an ihrem Hals klappte auf und flatterte Stückchen für Stückchen davon. Elfi wurde immer durchsichtiger, bis nur noch die Knochen vorhanden waren. Doch aus dem kahlen Schädel sahen diese unwahrscheinlich blauen Augen sie weiterhin an, fordernd und traurig. Hanna wachte langsam auf. Im Fenster stand grau ein Himmel, der noch nicht wusste, wie sich das Wetter entscheiden würde. Da waren noch immer diese Augen, vor dem Himmel, diese fordernden blauen Augen. Gegen ihren Willen wuchs in Hanna Mitleid mit diesem »Flüchtlingskind«, das sich mit seiner Schönheit einen Platz erkauft hatte, der zu einer einsamen Insel wurde. Flüchtlingskinder. Hannas Mutter hatte ein paar kleine Skizzen geschrieben, die sie ihr einmal zu Weihnachten geschenkt hatte – Erinnerungen aus ihrer Jugend in Bamberg – und die Hanna in ihrer Nachttischschublade aufbewahrte. Das dritte Blatt war dasjenige, das sie suchte. In der sorgfältigen Handschrift ihrer Mutter stand unter der Überschrift »Baracker«: »›Ich will nicht, dass du mit diesen Barackern spielst. Oder möchtest du Läuse bekommen?‹, hatte Mutti gesagt. Auf dem großen, leicht vertieften Gelände, wo später in den sechziger Jahren das Arbeitsamt und die Berufsschule gebaut wurden, hatte man nach dem Krieg Baracken-Unterkünfte für die Flüchtlinge errichtet. Dorthin zum Spielen zu gehen hatte für mich den Reiz des Abenteuers. Nicht 85
nur, weil meine Eltern es mir verboten hatten. Es war so etwas wie das Anlegen an einer fremden Insel, wenn du nicht weißt, ob dich die wilden Einwohner anbeten oder auffressen werden. Würde ich beim Murmelspiel mitmachen dürfen, weil ich ihnen die Chance gab, mir nicht nur die tönernen, bunt bemalten Tatzer, sondern auch zwei oder drei von den schillernden oder milchigen Glaskugeln abzugewinnen? Oder würden sie mit Steinen werfen nach mir, dem sauberen, brav angezogenen Kind aus einem der feinen Häuser vorn am Kunigundendamm? Die Frage stellte sich jedes Mal neu, und die kurze Gabelsbergerstraße zwischen dem Kunigundendamm und dem Barackengelände hat viele halbe und ganze Fluchten, Herzklopfen und abgebissene Fingernägel gesehen. Gott sei Dank gab es aber auch so etwas wie einen offiziellen Grund, zu den Barackern zu gehen. In einem der Schuppen hatte jemand einen Rollerverleih aufgemacht. Fünf Pfennig für ein hölzernes Radelrutsch, das an jedem Stein hängen blieb, zwanzig Pfennig für einen Metallroller mit luftgefüllten Gummireifen, der einen wolkenweich davontrug und mit dem man mit ein- oder zweimal Antreten die halbe Gabelsbergerstraße entlangrollte. Die Jungs fragten schon mal mit ihrer komischen Aussprache: ›Darf ich auch mal rollen?‹, aber die Mädchen standen in ihren geblümten Schürzen neben den Barackentüren und sahen nur zu.« Hier brach der Text ab. Hanna legte ihn sorgsam in die Schublade zurück und griff nach der Schachtel mit Briefen, die Kürtchen ihr am Abend zuvor anvertraut hatte. Es war eine große, silbrig glänzende Metalldose, die einst Nürnberger Lebkuchen enthalten hatte, mit geprägten Verzierungen und dem Bild einer Postkutsche auf dem Deckel. Die Schachtel war randvoll mit jahrgangsweise gebündelten Briefen, Päckchen für Päckchen umwunden mit roter Schnur. Hanna suchte nach dem ältesten Jahrgang, wickelte sorgsam die Schnur ab und faltete den ersten Brief auf. Karlas Handschrift war klar und groß und verhältnismäßig leicht zu lesen. 86
»Liebes Kürtchen, bitte verzeih mir, dass ich neulich in aller Herrgottsfrüh verschwunden bin, ohne mich von Dir zu verabschieden. Ich konnte mit niemandem reden, mit niemandem! Ich war so voller Zorn und Unglück. Wie konnte er das sagen, ›sein‹ Haus? Es war doch immer unser Haus. Und wenn er es dreimal geerbt hat – es ist doch unser Zuhause, unser Elternhaus gewesen. Gewesen – siehst Du, jetzt schreibe ich es schon selbst. Etwas ist kaputtgegangen, ist wohl für immer Vergangenheit. Aber ich bin noch nicht fertig damit, es tut immer noch so teuflisch weh. Arthur ist ein alter Traumtänzer. Wie kann er nur glauben, dass Elfi und ich ›Schwestern‹ sein könnten oder Freundinnen! Pah! Es gibt kaum jemanden, bei dem ich mir das so wenig vorstellen kann wie bei ihr! Ich werde ihr nie verzeihen, dass sie ihn mir weggenommen hat, um ihn in einen solchen Hampelmann mit Sonnenbrille und Porsche zu verwandeln. Sie kennt Arthur doch gar nicht. Warum nur, warum hat er sie geheiratet? Ich versteh’s nicht und versteh’s nicht. Ich sitze halbe Tage hier herum und heule. Ich hoffe, Dir geht es gut. Deine Karla.« Im April kam Karlas Kind in einer Münchner Klinik zur Welt. Es war ein Junge. Sie nannte ihn Arthur. Er starb nach drei Wochen. Karla litt sehr. Kürtchen war offenbar zu ihr gefahren und eine Weile bei ihr geblieben, wofür Karla sich mehrfach bedankte. Aber ihre Sehnsucht nach Arthur blieb quälend lebendig; das wurde in jedem einzelnen Brief der folgenden Jahre deutlich. Es dauerte lange, bis sie wusste, wieso; bis sie die Erkenntnis zulassen konnte, dass sie ihn nicht als Bruder liebte, sondern als Mann. »… ganz langsam komme ich dahinter, was mit mir los ist. Ich habe viel gelesen inzwischen, Psychologiebücher und Biographien berühmter Schwestern und Brüder, Dorothy und William Wordsworth, Carla und Heinrich Mann … Du bist so eine kluge Frau. Seit wann weißt Du es? Wie konnte ich all die Jahre nur so blind sein? O Gott, was soll ich denn jetzt nur 87
anfangen? Manchmal denke ich, ich werde verrückt, wie so viele Schwestern berühmter Männer. Das scheint der einfachste Weg zu sein. Aber irgendwie gelingt mir nicht einmal das. Schreib mir bald, bitte, bitte, erzähl mir von ihm, ich brauch es so dringend!« »Ach Kürtchen, ich geb mir ja Mühe, ich mühe mich und mühe mich, ich bin schon ganz wund und aufgeribbelt. Aber all diese jungen Männer, die ständig angehoppelt kommen – weißt Du, es ist halt keiner wie Arthur, auch nicht im Entferntesten. Nach drei Sätzen find ich sie schon zum Erbrechen langweilig oder lächerlich oder lästig oder lodenhosig, 1,1,1,1, lauter Nullen.« »Liebes Kürtchen, kannst Du Dich noch an unseren großen alten Steifbären Bubu erinnern, der auf so einem Brettchen stand und unten Rädchen zum Ziehen hatte? So einen habe ich gestern hier in einem Antiquitätengeschäft für sündhaft teures Geld gesehen, er war genauso abgeliebt wie Bubu damals. Wo ist er eigentlich hingekommen? Weißt Du noch, wie oft wir abends mit ihm in Dein Zimmer kamen? Du hast uns vorgelesen und das Türchen vom Ofen offen gelassen, damit man den roten Schein des Feuers sehen konnte. Arthur und ich saßen auf dem Bären, ich vorne und Arthur hinter mir, und er hat mir die Haare gebürstet, was sonst Du hättest machen müssen, mit langen, gleichzeitig festen und weichen Strichen, den ganzen Rücken hinunter. Ich habe Bubu vor Wonne fast die Ohren abgezupft. Ich gäbe meine halbe Seele, wenn ich das noch einmal erleben könnte. Wie geht es ihm?« »Liebes Kürtchen, Du schreibst, er sei so unglücklich. Ist es nicht verrückt: Es zerreißt mir das Herz, und gleichzeitig macht es mich glücklich. Obwohl ich ihm doch alles Glück der Welt wünsche, wäre ich doch unglücklich, wenn er glücklich wäre, während ich seinetwegen so unglücklich bin. Was für ein fürchterliches Durcheinander! Außerdem ist es widerlich: Verzweiflung ist wie eine Krankheit – man kann nur noch an 88
sich und seinen Schmerz denken und von nichts anderem mehr sprechen oder schreiben. Es ist sicher Monate her, seit ich Dich das letzte Mal gefragt habe, wie es denn Deinem Bruder geht. Er war immer so nett, wenn Arthur und ich ihn auf seinem Pfarrhof besucht haben. Kannst Du Dich noch erinnern, wie Arthur sich mal in die Kirche geschlichen und mitten am Tag die Glocken geläutet hat, und alle Leute kamen gelaufen, weil sie dachten, es sei ein Feuer ausgebrochen oder ein Krieg? Ich habe mir damals vor Lachen in die Hosen gepinkelt. O Gott, warst Du böse mit uns. Fährst Du Ostern wieder hin?« Dann monatelang Briefe über Bergtouren, Studienkollegen, eine neue Freundin, mit der sie »Kleider kaufen und herrlich herumalbern« konnte. Und immer wieder »Wie geht es ihm?« und »Schreib bald!«. Dann war da plötzlich eine Lücke in der Abfolge der Briefe, eine Lücke von fast zwölf Monaten. In dem Bündel von 1964 gab es nur einen einzigen Brief. »Liebes Kürtchen, wie konntest Du mir, wie konntest Du uns das antun? Warum nur hast Du ihm meine Adresse gegeben? Ich hatte gerade angefangen, wieder ein bisschen zu leben, da stand er plötzlich vor der Tür. Es war sehr schrecklich, glaub mir. Ich kann ohne ihn überleben, aber ihn sehen, nein, das geht nicht. Ihn sehen, ohne ihn berühren zu dürfen, das kann ich nicht. Ich kann es nicht!« Hanna setzte sich auf und sah auf ihre Uhr. Zehn Minuten nach sechs. Sie las jetzt schon fast eine Stunde in Karlas Briefen. Sie konnte gar nicht aufhören. Ein Päckchen nach dem anderen schnürte sie auf, faltete sorgfältig die Briefe auf und bündelte sie wieder. Inzwischen konnte sie Karlas Handschrift mühelos lesen und überflog die weniger wichtigen Passagen. Aber dazwischen waren Stellen, die las sie zwei-, dreimal, mit einem Würgen in der Kehle. Wie viel Zeit hatte sie noch? Sie stand auf, weil sie zur Toilette musste, und überdachte dabei ihren Tagesplan. Heute Nachmittag hatte sie einen Termin in 89
München, einen Besuch bei Herrn Dechant, einem pensionierten Gymnasiallehrer. Er war der Nachfahr einer Bamberger Gärtnersfamilie und daher Eigentümer verschiedener Immobilien, die sie für ihr Kellerkataster bearbeitete. Vor allem aber besaß er Unterlagen zum Haus am Nonnengraben, ganz frühe Quellen aus der Zeit, als die Dechants noch Oberhofgärtner des Fürstbischofs gewesen waren. Er hatte ihr die Unterlagen in seinem Besitz nicht schicken wollen, und so hatte sie mit ihm vereinbart, sie bei ihm einzusehen. Und mit sich selbst hatte sie vereinbart, sich anschließend einen freien Tag in den Bergen zu gönnen, da sie heuer noch keinen Urlaub gehabt hatte. Am Vormittag waren keine weiteren Termine eingeplant. Sie hatte Liegengebliebenes aufarbeiten, dann packen und rechtzeitig losfahren wollen. Aber der Termin war erst um fünfzehn Uhr. Wenn sie für die Fahrt nach München drei Stunden einrechnete, und das war reichlich, musste sie um zwölf Uhr aus Bamberg wegfahren. Sie hatte also noch Zeit. Das Liegengebliebene konnte noch ein bisschen weiter liegen bleiben. Später wollte sie mal in der Redaktion anrufen, wie denn ihr Artikel angekommen war. Mit Tante Kunigunde musste sie auch telefonieren. Und dann war da noch die Sache mit Benno. Dieser Mistkerl! Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. So schaltete sie den Anrufbeantworter ein, kuschelte sich mit einem wohligen kleinen Seufzer wieder in ihre eigene Wärme und griff nach dem nächsten Brief. »Ich habe einen sehr netten Mann kennengelernt. Er ist Geografielehrer an meiner Schule, und wir können wunderbar miteinander reden. Er ist groß und sportlich und hat gute Hände. Und er geht genauso gern in die Berge wie ich.« Doch Walter Schneider war verheiratet, und er blieb es auch, als Karla von ihm schwanger wurde. »Liebes Kürtchen, stell Dir vor, ich kriege wieder ein Kind. Ich freue mich so! Es ist ganz anders als beim letzten Mal. Diesmal ist es ein unglaublich wunderbares Gefühl. Ich leg die 90
Hand auf meinen Bauch und denke: Da drin entsteht ein neuer Mensch mit allen Möglichkeiten des Lebens. Die Fantasie ist schon ein lustiger Vogel, der rätselhafte Kurven fliegt. Ich träume, dass er Präsident werden könnte oder Astronaut oder Künstler oder Revolutionär. Natürlich denkt man immer nur gute Dinge. Zu den Möglichkeiten gehört ja auch, dass er ein Betrüger würde oder ein Mörder, aber das kann man sich einfach nicht vorstellen. Ich kann es nicht einmal umgekehrt: dass die Terroristen und Mörder, die ich im Fernsehen sehe, einmal winzige Embryos im Bauch ihrer Mutter waren. Für meinen winzigen Embryo sind die äußeren Umstände zwar ein bisschen schwierig, aber das packe ich schon. Ich bin versetzt worden und habe eine neue Wohnung. In drei Wochen ziehe ich um. Meinst Du, Du kannst Dich freimachen und mir ein bisschen helfen? Du kannst Arthur doch sagen, Du müsstest zu Deiner Cousine oder so was. Wehe, Du verrätst etwas.« Die Schwangerschaft wurde schwierig. Berichte von Blutungen, Krankenhausaufenthalten, die Bitte, bei der Geburt dabei zu sein. Danach viele Briefe mit Kinderbegeisterung: Joschi war so süß, Joschi konnte schon dies, Joschi konnte schon das. Das erste Lächeln, der erste Zahn, Krabbeln, Stehen, das erste Wort. »Komm an Weihnachten zu uns. Lass Arthur und Elfi ihre blöde Party doch allein feiern. Du kannst wirklich an Weihnachten freinehmen und zu Deiner Familie gehen, darauf hast Du ein Recht. Komm zu mir und Joschi. Es ist so traurig, allein unterm Weihnachtsbaum zu sitzen. Und Joschi braucht eine Großmutter, wenn er schon keinen Vater hat.« Das wurde zur wiederkehrenden Einrichtung, wie Mitteilungen über Weihnachtsvorbereitungen, die Bitte um das Mitbringen bestimmter Plätzchensorten und Ähnliches in den nächsten Jahren zeigten. In die Bewunderung für das Kind mischte sich jetzt manchmal Sorge. »Joschi ist ein bildschönes Kind geworden. Die Leute bleiben auf der Straße stehen, um 91
ihm nachzusehen mit seinen mandelförmigen, leuchtend grünen Augen und seinen langen blonden Locken. Er sieht immer mehr wie Mutter aus. Ich hoffe allerdings, er hat nur ihre Schönheit geerbt und nichts vom Rest. Die Kindergärtnerinnen haben ziemlich viel Ärger mit ihm.« Sie heiratete Walter Schneider, der sich schließlich doch hatte scheiden lassen; sie bauten ein Haus; sie weigerte sich weiterhin, mit Arthur Kontakt aufzunehmen. Walter und Joschi kamen immer weniger miteinander zurecht. Der Sohn ertrug es nicht, dass die geliebte Mutter plötzlich einen fremden Mann in ihr Bett mitnahm, in dem er fünf Jahre lang hatte schlafen dürfen. Er machte Schwierigkeiten in der Schule, prügelte sich und stahl. Schließlich kam er in ein Internat, Walter hatte darauf bestanden. Karla flüchtete sich immer öfter in lange Reisen. Sie wurde krankgeschrieben und ging für zwei Monate nach Gomera, in eine einsame Berghütte ohne Telefon. »Nein, nein, Kürtchen, ich glaube es nicht, ich glaube es einfach nicht. Sag, dass es nicht wahr ist! Es kann nicht wahr sein, es kann doch nicht wahr sein!!! Und ich war nicht da! Ich war nicht mal zur Beerdigung da! Er kann doch nicht verschwinden, einfach so. Und ich bin auf die Insel gefahren, um zu mir selbst und zur Ruhe zu finden. Oh! Oh, ich war schon lang nicht mehr so ruhig wie jetzt. Ich laufe schreiend durchs Haus, und meine Lippen sind schon ganz blutig. Liebes Kürtchen, Liebe, wie geht es denn Elfi? Seltsam, jahrelang habe ich nicht an diese Frau gedacht, und jetzt überlege ich mir, wie sie wohl den Tod ihres Mannes – da, das habe ich geschrieben – ihres Mannes … Noch nie habe ich … er hat sie ja geheiratet, aber dieses ›ihres Mannes‹, das hat so eine feste Form, so eine Gewissheit über die Leidenschaft hinaus. Wieso sehe ich ihn plötzlich so? Ich will kommen und sein Grab besuchen. Liegt er in der Familiengruft? Aber ich kann nicht bleiben, ich fahre gleich wieder weg. Weißt Du, ich will … ach, jetzt habe ich es
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vergessen. Ich bin schon ganz wirr im Kopf. Dauernd sehe ich das brennende Auto, und jemand schreit.« »Liebes Kürtchen, gestern kamen seine Bücher und Papiere hier an. Ich werde ganz schön zu tun haben, bis ich alles sortiert und aufgeräumt habe. Du hast das Grab wunderschön bepflanzt. Danke! Joschi geht es ganz gut im Internat. Seine Lehrer machen mir Hoffnung. Walter ist als Austauschlehrer nach Saudi-Arabien gegangen. Ich fange in zwei Wochen wieder an mit dem Unterricht.« »Ach Kürtchen, Kürtchen, ich habe seine Gedichte gelesen. Ich bin völlig verzweifelt. Ich kann es nicht aushalten. Du hast ihn doch gekannt. Hast Du das gewusst? Solche Gedichte? So viel … So viel Weh? Weißt Du, wenn ich sie aufschreibe für Dich, wenn ich sie mit Dir teile, Dir mitteile … Ich kann es alleine nicht ertragen. Vor drei Jahren schrieb er: Wo bist du nur? In meinem Berg aus Einsamkeit sitze ich mit festgewachsenem Bart, ein Stein unter Steinen. Laokoon, Barbarossa, Sisyphus. Sand rieselt aus meiner Hand. Die Stalaktiten wachsen durch mein Gehirn in meine Zunge und du hinderst sie nicht. Ich habe lange gebraucht, bis ich begriffen habe, dass das ›Du‹ dieser Gedichte ich bin, oder vielmehr ich und er zusammen, als Einheit.« »Liebes Kürtchen, weißt Du, ich wollte es nicht wissen. Ich wollte nicht wissen, dass er mich liebt, so sehr liebt wie ich ihn. Er hatte doch das Vertrauen gebrochen, er hatte doch diese Elfi geheiratet. Aber am Tag seiner Hochzeit hat er dieses Gedicht
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geschrieben ›Für Karla, mein All‹. Stell Dir vor, am Tag seiner Hochzeit. Karla, du meine Schöne, du mein Ego und mein All. Ich bespucke und verhöhne dich, du Teufel im Kristall. Nicht, dass ich mich nach dir sehne, du mein Ego und mein All. Folter ist nur eine Lehne Vor der Sehnsucht hohem Wall. Ich habe es nicht gewusst, ich hab’s doch nicht gewusst. Ich dachte doch, nur ich … Ich dachte doch, wenn ich weggehe … Ich wollte es doch recht machen! Und jetzt … Acht Tage vor seinem Tod, acht Tage: Ich spreche nur noch mit Nebeln Nebel in meinen Augen Nebel in meiner Feder Nebel in meinen Tagen und Tod in den Nächten. Und die Sonne will und will nicht kommen. Kürtchen, ich weiß nicht, wie ich überleben soll.« Joschi wurde zum allgemeinen Erstaunen plötzlich gut in der Schule. Er lernte fleißig und arbeitete effizient. Für seine besseren Noten verlangte er von seiner Mutter Geld, und sie gab es ihm, froh über dieses kleine Stückchen Helligkeit. Irgendwann starb Walter, ohne dass es weiter auffiel. Joschi machte sein Abitur mit 1,5, wurde Zahnarzt und eröffnete eine erfolgreiche Praxis in München. Mit seiner Mutter hatte er kaum noch Kontakt. 94
Karla, die ihm das Haus überlassen hatte, lebte pensioniert in einer hübschen kleinen Wohnung in Haidhausen, kämpfte ein Jahr lang mit Brustkrebs und starb einundzwanzig Jahre, sechs Monate und zwei Tage nach ihrem Bruder, wie Kürtchen auf dem letzten Briefumschlag notiert hatte. Als Hanna aufstand, war es schon fast neun Uhr. Sie hatte nicht in der Redaktion angerufen, sie hatte nicht gefrühstückt, und sie hatte nicht an Benno gedacht. Ihr war etwas schwindelig nach der langen, aufwühlenden Lektüre. Arme Karla, armer Arthur! Wie grausam das Schicksal manchmal sein konnte. Während sie ihr Frühstück zubereitete, dachte sie weiter über die Geschwister nach. Ob es wohl eine Verbindung zwischen ihnen und dem Mord an Elfi Rothammer gab? Wenn sie sich recht erinnerte, dann waren alle Personen aus dieser Geschichte bereits tot, bis auf eine: Joschi, Karlas Sohn … und Elfis Erbe. Joschi Schneider, Zahnarzt in München. In München! Hanna schaute auf die Uhr und begann zu rechnen. Wenn sie sich sehr beeilte, konnte sie es vielleicht schaffen, der Praxis Schneider sogar noch vor ihrem Termin bei Herrn Dechant einen Besuch abzustatten. Einen Vorwand würde sie schon finden; das konnte sie sich auf der Fahrt ausdenken. Irgendwo musste sie ja anfangen, wenn sie Tanja entlasten wollte. Und ein Erbe war doch immer hinreichend verdächtig. Ihr Wunsch, Benno etwas zu beweisen, war zwar nicht mehr so brennend wie am Abend zuvor, aber immer noch stark genug, um ihr die nötige Energie zu geben. Sie holte ihr Köfferchen aus dem Schrank und fing an zu packen. Doch bevor sie losfuhr, musste sie sich unbedingt noch eine Absolution holen. »Guten Morgen, Tante Kunigunde. Wie geht es dir?« »Gut. Und dir?« »Ach, da ist etwas Schreckliches.«
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»Schon wieder? Lass das nicht zur Gewohnheit werden, Kind. Du hast erst gestern eine Leiche gefunden.« »Nein, nicht so schrecklich. Aber … also ich wollte dich fragen, ob ich dich heute und morgen mit Tanja und Will allein lassen kann.« »Aber sicher, wir kommen gut zurecht. Mit Will ist das sowieso kein Problem, und Tanja wird schon noch. Momentan ist sie noch ein bisschen scheu, aber das ist ja auch kein Wunder.« »Hat sie dir erzählt, was ihr passiert ist?« »Nicht alles. Sie fürchtet sich noch vor mir.« »Sei nicht zu streng mit ihr.« »Ach, etwas Strenge schadet ihr gar nicht. Aber gestern Abend ist sie schon langsam aufgetaut. Aber was ist denn los? Warum willst du uns denn allein lassen?« »Ich habe gestern in dem ganzen Durcheinander vergessen, dir zu sagen, dass ich heute Nachmittag einen Termin in München habe, den ich nicht verschieben kann, weil der Mann sowieso schon solche Schwierigkeiten gemacht hat. Und eigentlich – aber das kann ich natürlich auch lassen, wenn es dir nicht passt – , eigentlich wollte ich anschließend einen Tag dranhängen und mal ausspannen. Ich hatte heuer noch keinen Urlaub.« »Aber natürlich, Kind, tu das. Wenn du so weitermachst mit deinen Kellern, siehst du bald aus wie ein Grottenmolch, weiß und blind.« »Den Grottenmolch verbitte ich mir. Aber danke, dass Tanja so lange bei dir bleiben darf. Und wenn ich wieder da bin, schaue ich auch gleich, ob ich eine Unterkunft für sie finde.« »Das lässt du mal schön bleiben. Das muss sie selbst tun. Sie muss ihr Leben in die Reihe kriegen, nicht du.« »Aber das wird sie nicht schaffen. Wenn sie es bisher nicht konnte …« 96
»Jetzt mach dir mal keine Sorgen. Das wird schon. Ich habe jetzt erst einmal meinen Anwalt gebeten, die rechtliche Seite zu prüfen, Erbe, Kindergeld und all das.« »Aha, so viel also zu Tanjas Selbstständigkeit. Ich habe aber trotzdem ein schlechtes Gewissen, dir das alles aufgehalst zu haben.« »Na ja, wenn es dich glücklich macht, dann hab halt ein schlechtes Gewissen. Und fahr vorsichtig, du wirst hier schon noch gebraucht.«
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12 Am Dienstagmorgen versuchte Benno als Erstes, Hanna anzurufen. Er wollte sich bei ihr entschuldigen, ihr erzählen, dass Tanja zunächst aus der Schusslinie war, und sie bitten, ob sie das Mädchen nicht doch zu einer Aussage bewegen könne. Die halbe Nacht lang hatte er sich dieses Gespräch vorgestellt. Aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Hatte sie eigentlich kein Handy? Die Sekretärin in der Geschäftsstelle fand für ihn die entsprechende Nummer heraus, doch dort sagte ihm nur eine, wie er fand, widerlich freundliche Stimme, es sei gerade niemand »available«. Dann rief er das K1 an, wo er Werner direkt ans Telefon bekam. Er berichtete von dem Testament, und Werner versprach, die Verwandtschaft der Rothammers überprüfen zu lassen und so schnell wie möglich Anneliese Kurt ausfindig zu machen und sie danach zu fragen, warum sie von Arthur Rothammer mit einem Fünftel seines Vermögens bedacht worden war. Und er würde sich auch erkundigen, ob ein Mädchen mit grünen Haaren namens Tanja vermisst gemeldet oder zur Fahndung ausgeschrieben war. Der Tag fing gut an. Als Nächstes wählte Benno die Nummer des Stiftungsreferenten der Stadt. Hans Zorn war ein alter Bekannter von Benno, ein freundlicher, offener und unauffälliger Mann, dessen Hobby es war, die Biere der neun Bamberger Brauereien am Geschmack unterscheiden zu können, was man seiner Figur deutlich ansah. Sie plauderten über die schlechten Zeiten, bevor Benno zur Sache kam und nach der Arthur-Rothammer-Stiftung fragte. Hans Zorn hatte noch nie von einer solchen Stiftung gehört, wollte sich aber schlaumachen. Er rief zehn Minuten später zurück und bestätigte, dass in den Amtsunterlagen keine
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derartige Stiftung verzeichnet sei. Aber es sei ihm etwas Eigenartiges aufgefallen. »Weißt du, die gemeldeten Stiftungen werden bei uns durchnummeriert, und die entsprechenden Akten werden mit diesen Nummern versehen. Du sagst doch, dass die Stiftung 1979 eingerichtet wurde. Und in dem Jahr fehlt die Nummer 82. Die Nummer 81 aus dem Jahr 1978 ist da und 83 auch, aber 82 fehlt.« »Vielleicht ist die Stiftung ja auch inzwischen erloschen?« »Für erloschene Stiftungen, deren Akten ins Stadtarchiv gegeben werden, bleibt bei uns ein Pappschild mit der Nummer und dem Vermerk ›erloschen‹ im Regal stehen, damit die Nummer nicht versehentlich zweimal vergeben wird. Ich habe es überprüft, alle anderen sind da, es fehlt nur die 82.« »Sag mal, Hänschen, wie lang bist du jetzt Stiftungsreferent?« »Seit acht Jahren, Benno, und vor mir war’s Hans Lautenbacher, und der ist, wie du weißt, ein absolut integrer Mann. Aber rat mal, wer 1979 der zuständige Referent war?« »Du wirst es mir bestimmt gleich sagen.« »Karl Bolz!« Benno sah Hänschens Grinsen förmlich durchs Telefon, und ihm war auch klar, warum Hänschen grinste. Karl Bolz war Bennos Lieblingsfeind, wie seine Freunde wussten. Bolz war ein kleiner Mann mit wenig Kinn, dafür einem umso ausgeprägteren Gespür für seinen persönlichen Vorteil. Er kämmte seine dünnen Haare von einem Scheitel zwei Zentimeter über dem linken Ohr auf die andere Seite seines dreieckigen Kopfes, pflegte mit Hingabe sein feines Schnurrbärtchen und war so glatt und schleimig wie eine Nacktschnecke, nur nicht so hübsch. Er hatte verschiedene Verwaltungsstellen in der Stadt durchlaufen und überall seine unheilvollen Spuren hinterlassen. Stets hatte man ihn nach einiger Zeit fortgelobt, weil man ihn anders nicht loswurde, und so war er schließlich bis zum Stadtdirektor aufgestiegen. Er 99
nahm völlig ungeniert vermeintliche Rechte für sich in Anspruch, parkte seinen Wagen im Halteverbot, ohne Strafe zu zahlen, ließ städtische Arbeiter auf Kosten der Stadt in seinem Garten schuften, und Benno war fest davon überzeugt, dass bei einer großen Anzahl von Bauprojekten Bestechungsgelder in Bolzens Taschen gewandert waren. Aber er hatte Freunde in allen wichtigen Kreisen der Stadt und kam irgendwie immer ungeschoren davon. Benno nahm die Spur der verschwundenen Akte also mit frohem Jagdhundschnüffeln auf. Er beschloss, zunächst einmal Rechtsanwalt Norbert Böschen aufzusuchen, um das Terrain zu sondieren. Böschens Sekretärin sagte ihm, der Herr Rechtsanwalt sei momentan bei Gericht, aber um zwei Uhr könne sie ihm einen Termin reservieren. Die Sekretärin des Stadtdirektors dagegen war ganz untröstlich, weil sie dem Herrn Staatsanwalt überhaupt keine Hoffnung für den heutigen Tag machen konnte, denn noch sei der Herr Stadtdirektor in Bayreuth und käme ganz knapp zurück, um ab vierzehn Uhr die Sitzung des Bausenats zu leiten. Der Bausenat hätte eine sehr umfangreiche Tagesordnung, und man wisse nicht, wie lange sich das hinzöge. Aber morgen, Mittwoch, um neun Uhr könne der Herr Stadtdirektor ein paar Minuten für ihn erübrigen. Benno knirschte mit den Zähnen, bedankte sich freundlich und wandte sich seufzend seinen Aktenstapeln zu. Gegen Mittag besuchte er Dr. Last in der Gerichtsmedizin. Das Zentraljustizgebäude am Wilhelmsplatz war 1903 als einer jener »Justizpaläste« erbaut worden, die die Bedeutung der neuen Rechtsordnung repräsentieren sollten, mit Freitreppen, wuchtigen Säulen am Eingang und hallenden Gängen. Der Weg zu den Leichen in den Kellergewölben gewann durch den gerade laufenden Umbau mit den überall hängenden Plastikplanen nicht gerade an Heimeligkeit. 100
Dr. Last nickte Benno nur kurz zu. »Ich sitze gerade über dem Obduktionsbericht. Sie hätten sich nicht extra herbemühen müssen, Sie hätten ihn noch heute Nachmittag auf dem Tisch gehabt.« »Ich habe sowieso im Gericht zu tun und wollte nur mal kurz schauen, wie Sie vorankommen. Und?« »Allzu viele Erkenntnisse ließen sich nicht mehr gewinnen«, sagte Last sarkastisch. »Die Wüste lebt. In diesem Fall die wüste Leiche – sie besteht zu etwa siebzig Prozent aus Maden. Wenn Sie mit mir hinüber in den Sezierraum kommen, kann ich Ihnen die Einzelheiten zeigen.« »Ach, es genügt mir schon, wie Sie sie schildern.« Last grinste. »Also gut. Die Leiche war weiblichen Geschlechts, etwa fünfundsechzig Jahre alt und körperlich, soweit festzustellen, gesund.« Seltsam, dass alle Zeugen von ihr als einer »alten Frau« gesprochen haben – mit fünfundsechzig ist man heutzutage doch keine alte Frau, dachte Benno und fragte: »Und was wissen Sie über die Todesursache?« »Es hat ein Angriff gegen den Hals stattgefunden. Die Kehlkopfhörner sind abgebrochen, ein sicheres Zeichen dafür, dass eine maßgebliche Gewalt auf den Hals eingewirkt hat.« »Auf Deutsch – sie wurde erwürgt? Nicht mit dem Schal erdrosselt, sondern mit den Händen erwürgt?« »Ja, das zeigen die abgebrochenen Kehlkopfhörner, wie gesagt. Der Druck auf die entsprechenden Nervenstrukturen hat zum Herzstillstand und zum sofortigen Tod geführt.« »Hat sich die Tote, ich meine, Frau Rothammer – also hat sie sich denn nicht gewehrt?« »Schwer zu sagen. Reste unter ihren Fingernägeln waren kaum zu gewinnen, und die Analyse dauert noch.« »Und was sagen Sie zum Todeszeitpunkt?« 101
»Vor etwa drei Wochen.« »Geht’s nicht ein bisschen genauer?« »Nein. Sie wissen doch, eine exakte Fixierung der Stunde des Exitus geht nur im kurzen postmortalen Zeitraum, wenn noch eine rektale Temperaturmessung im Vergleich zur Raumtemperatur möglich ist. Bei einem so langen Zeitraum wie im vorliegenden Fall kann ich eigentlich nur nach der ›Fliegenuhr‹ gehen. Das bedeutet: Fliegen krabbeln in sämtliche vorhandenen Körperöffnungen und legen dort ihre Eier ab. Die Larven schlüpfen, beginnen zu fressen und wachsen. Und je nach Länge der Maden – in einer Woche verzehnfachen sie ihre Größe – beziehungsweise nach der Zahl der neuen Fliegengenerationen kann man in etwa die verflossene Zeit errechnen. Aber natürlich nicht auf den Tag exakt.« »Danke, so genau wollte ich es gar nicht wissen.« Benno verabschiedete sich verdrossen. Diese ungefähre Angabe des Todeszeitpunkts machte ihnen die Ermittlung von Alibis praktisch unmöglich, was das Aufspüren des Täters erheblich erschwerte. Als er zurück in sein Büro kam, lag auf seinem Schreibtisch auch der abschließende Bericht der Spurensicherung. Im Haus hatte man Fingerabdrücke von wahrscheinlich vier Personen gefunden, aber das Ergebnis war wegen des vielen Staubs mit Unsicherheitsfaktoren behaftet. Die Spuren am Boden zeigten die Anwesenheit von zwei Personen in der ehemaligen Küche im Erdgeschoss in jüngster Zeit und Radspuren, wahrscheinlich von einem Kinderwagen. Beide Personen waren in den ersten Stock gegangen und dort herumgelaufen. Der Blumenstrauß auf dem Tisch war ebenfalls vor etwa drei Wochen gepflückt worden. Im Gang lag frisch Erbrochenes, das auf ein Frühstück mit Tee und Honigbrot schließen ließ. Das Fenster daneben war geöffnet worden von jemandem, dessen Fingerabdrücke auch auf verschiedenen Türklinken und auf dem toten Telefon auftauchten. Es war wenig dabei, was Benno nicht bereits 102
wusste. Die Polizei hatte außerdem ermittelt, dass das Telefon von Elfi Rothammer seit einiger Zeit defekt war. Der Apparat hatte ausgetauscht werden sollen, aber der Mann von der Telekom war mehrfach unverrichteter Dinge wieder abgezogen; man war dabei, das zu überprüfen. Nach einigem Hin- und Herverbinden erwischte Benno auch die Beamtin, die sich das Ankleidezimmer vorgenommen hatte. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, sich die Sachen im Einzelnen anzusehen, aber nach dem ersten Überblick bestätigte sie, dass Schmuck und Kleider wertvoll, aber Jahrzehnte alt waren. Um zwei Uhr war Benno in Böschens Büro. Die Sekretärin sah ihn an und lachte. »Sie heißen ja fast genauso wie der ›Bulle von Tölz‹!« »Wie wer?«, fragte Benno verwirrt. Er hielt nichts von Fernsehkrimis. »Das ist so eine TV-Serie. Mit einem ganz dicken Kommissar, dem ›Bullen von Tölz‹ eben. Ganz witzig, aber mir ist er zu dick. Und der heißt Benno Berghammer.« »Naa, Hammer hammer net«, sagte Benno. Jetzt schaute die Sekretärin konsterniert. »Ich melde Sie dann mal bei Herrn Böschen an.« Der Rechtsanwalt legte sein rundes rotes Gesicht in freundliche Falten, kam ihm jovial durch das große Zimmer entgegen und schüttelte ihm anhaltend die Hand. »Wie schön, dass Sie mich einmal besuchen, Herr Staatsanwalt«, rief er fröhlich. »Bitte nehmen Sie doch Platz. Möchten Sie einen Kaffee?« Ohne Bennos Zustimmung abzuwarten, öffnete er die Tür, rief seiner Sekretärin zu: »Zwei Kaffee!« und kam händereibend zu Benno zurück. »Wie ging denn am Sonntag Ihr Tennismatch zu Ende? Sie spielen ja immer eine Stunde länger als ich.« »Verloren«, sagte Benno kühl. 103
»Na, Kopf hoch, beim nächsten Mal sind dann Sie der Sieger.« Benno ärgerte sich über die anbiedernde Art des Zuspruchs. Gleich wirst du etwas des Trostes bedürfen, mein schmieriger Freund, dachte er. Er setzte sich und schaute sich in Böschens mit schweren Möbeln teuer eingerichtetem Büro um. »Was verschafft mir denn die Ehre Ihres Besuchs?«, fragte Böschen und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Ich komme wegen Elfi Rothammer.« »Ach ja, die arme Elfi. Ich habe es heute früh in der Zeitung gelesen. Elfi R. im Haus am Nonnengraben, das konnte ja nur sie sein. Ist sie denn wirklich ermordet worden?« »Die Ermittlungen laufen noch. Sie werden verstehen, dass ich noch nichts darüber sagen kann. Sie haben Frau Rothammer gekannt?« »Ja. Und ob! Sie war die schönste Frau, die mir je begegnet ist. Diese Haare, diese Figur, dieser Gang! Wir waren alle ganz verrückt nach ihr, damals.« Er rieb sich die Nase und schaute auf, als sich die Tür öffnete. Seine Sekretärin brachte ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee und einem Tellerchen, auf dem einige Kekse lagen. Benno pustete über seine Tasse und fragte: »Woher kannten Sie Frau Rothammer?« »Na, sie war die Frau eines guten Freundes, Arthur Rothammer. Ich werde nie vergessen, wie ich sie das erste Mal sah. Arthur hatte uns zu einem großen Fest in sein Haus eingeladen. Alle Gäste waren schon da, Und dann kam sie die Treppe herunter, in einem blauen Abendkleid, so blau wie ihre Augen. Sie hatte die Haare hochgesteckt wie eine schwarze Krone und trug dazu dieses lange blaue Kleid. Sie sah fantastisch aus. Alle schauten sie an, und sie genoss es. Und Arthur sah aus, als würde er uns auf einem Silbertablett einen Leckerbissen servieren.« 104
»Das klingt ja wie im Märchen.« »Bloß dass der Leckerbissen sich gleich darauf auf mich stürzte, um mich zu verschlingen. Sie hat auf eine fast aggressive Weise mit mir geflirtet. Ich war damals ein ziemlich … na ja, ein ziemlich attraktiver Knabe. Und natürlich habe ich, eitel wie ich war, ihre … ihre Aufmerksamkeit zunächst auf mich bezogen und mich ganz schön geschmeichelt gefühlt. Erst später ist mir aufgegangen, dass das Ganze gar nicht mir galt, sondern Arthur. Sie tat es, um Arthur eifersüchtig zu machen, das kleine Biest.« Der Kaffee stand unberührt vor ihm. Böschen schien ihn nicht zu sehen. »Und hat es geklappt?« Benno schluckte ein trockenes Stückchen Keks hinunter. »Wie?« »Konnte sie Arthur eifersüchtig machen?« »Nein, gar nicht. Sie hat ihn nur weiter von sich fortgetrieben. Er war höflich und zuvorkommend und so weiter, aber er wirkte immer wie – ich weiß auch nicht –, als wenn er nicht ganz da wäre, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Dabei war Arthur ein flotter Kerl. Sehr großzügig, ein Herr, ein wirklicher Herr. Und ein Draufgänger. Gott, was haben wir für vergnügte Zeiten erlebt, auf die Pauke gehauen und so weiter. Was ist der mit dem Auto herumgerast, und Tennis gespielt hat er wie der Teufel. Man konnte neidisch werden, vor allem weil er an der Börse und überhaupt in Gelddingen und so weiter ein unglaubliches Glück hatte. Dabei hat er sich nie angestrengt. Er hat alles immer wie nebenbei getan, als wäre ihm das alles gar nicht wichtig.« »Und was war ihm wichtig?« Böschen rührte nachdenklich in seiner Kaffeetasse. »Hm. Sein Haus, das Haus am Nonnengraben, das war ihm wirklich wichtig. Mit dem hat er einen Kult getrieben, das kann man sich nicht vorstellen, vor allem als ihm klar wurde, dass er keine 105
Kinder bekommen würde, zumindest nicht von Elfi. Er litt richtig darunter, dass er keinen Erben haben würde, dem er seinen Namen und vor allem sein Haus weitergeben konnte, das hat er mir mehr als einmal gesagt.« »Woher kannten Sie denn Herrn Rothammer?« »Ach, wie man sich eben so kennt in einer Stadt. Ich weiß es nicht mehr genau. Vom Tennisclub und so weiter. Arthur hatte einen großen Freundeskreis.« »Aber Sie waren besonders eng mit ihm befreundet?« Böschen nickte und trank endlich einen Schluck Kaffee. »Hatten Sie auch geschäftlich miteinander zu tun?« »Ja, ich war sein Rechtsanwalt, half ihm bei Verträgen und so weiter.« »Deswegen hat er Sie dann zu seinem Testamentsvollstrecker eingesetzt?« Böschen hob ruckartig den Kopf. »Testamentsvollstrecker?« Er setzte klirrend die Kaffeetasse auf den Unterteller. »Nun, zumindest steht das in dem Testament, das wir in Frau Rothammers Schreibtisch gefunden haben.« Benno hatte die Freude, zu sehen, wie der Rechtsanwalt sich verfärbte. Seine netten Falten entfreundlichten sich schlagartig und waren nur noch Zeugnisse von zu vielen langen Nächten, Alkohol und Zigaretten. Böschen bückte sich nach dem Kaffeelöffel, der auf den Boden gefallen war. Als er wieder über der Schreibtischkante auftauchte, hatte er sich gefangen. »Sie haben ein Testament gefunden? Arthurs Testament? In Elfis Schreibtisch?« »Was erstaunt Sie daran so sehr, Herr Rechtsanwalt? Sie müssen das Testament doch kennen. Haben Sie es denn nicht für Ihren Mandanten aufgesetzt?« »Doch, doch, natürlich.« Böschen schluckte und griff nach seinen Zigaretten. »Ich wusste nur nicht, dass es noch ein 106
zweites Exemplar gab. Neben dem, das ich habe. Es ist schon so lange her.« Sein Feuerzeug wollte nicht recht zünden. Bennos Augenbrauen wanderten in die Höhe. Er wartete. Endlich brannte Böschens Zigarette. »Hm, ja, also. Stimmt. Ich sagte ja schon, ich war sehr eng mit Arthur befreundet. Ein Jammer, dass er so früh sterben musste.« Böschen wiegte betrübt sein fleischiges Haupt. Die Falten rutschten nach unten und vermittelten den Eindruck eines traurigen Dobermanns. Benno sah dem Faltenwurf beeindruckt zu. Interessant war nicht so sehr, was Böschen sagte, sondern das, was er nicht sagte. »Waren Sie auch der juristische Berater von Frau Rothammer?« »Ja. Nein. Anfangs schon, aber in den letzten Jahren nicht mehr.« »Warum? Hatten Sie Streit?« »Nein, nein, keinen Streit. Es war mehr … Elfi wurde immer komischer, so eigenbrötlerisch. Sie brauchte mich auch nicht mehr, als Rechtsbeistand, meine ich. Also, ich will sagen, sie tat nichts mehr, wozu man einen Rechtsanwalt benötigt und so weiter.« »Aber Sie müssen doch zwangsläufig wegen der ArthurRothammer-Stiftung hin und wieder mit ihr zu tun gehabt haben.« Jetzt war Böschen eindeutig alarmiert. Er schluckte. »Ja. Nein, das war eher selten.« Benno beobachtete Böschens Reaktionen gespannt. Der Mann fühlte sich trotz seiner überheblichen Art offensichtlich unwohl in seiner Haut. »Wann haben Sie Frau Rothammer denn das letzte Mal gesehen?« »Ach, das ist schon … das ist bestimmt drei Jahre her.«
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»Sie sind der Verwalter der Stiftung und haben Frau Rothammer und das Haus drei Jahre nicht mehr besucht?« »Nun, vielleicht war es auch … Ich weiß es nicht mehr genau. Ich sagte ja schon, es war am Schluss nicht mehr viel mit ihr anzufangen. Nicht mehr richtig im Kopf und so weiter. Sie ließ mich ja gar nicht mehr ins Haus.« »Ach so«, sagte Benno und nickte verständnisvoll. Böschen entspannte sich ein wenig. »Könnten Sie mir etwas über diese Stiftung erzählen?« Böschen blinzelte. »Was soll mit der Stiftung sein?« Er stand auf und ging zum Fenster. »Welchen Zweck hat sie denn überhaupt?« Böschen sah über die Schulter zu Benno hinüber. »Ach so, das wissen Sie nicht. Na ja, Künstler und so weiter.« Er machte eine wegwerfende Bewegung. »Arthur hatte so einen Tick. Er wollte Künstler unterstützen. Junge Künstler. Das Haus am Nonnengraben sollte als Künstlerbegegnungsstätte eingerichtet werden.« »Sie waren also nicht beteiligt am Zustandekommen dieser Stiftung?« Böschen kam zum Schreibtisch zurück und nahm sich einen Keks. »Nein, nein. Das war Arthurs Idee. Es ging ihm vor allem um das Haus. Er wollte unter allen Umständen verhindern, dass Elfi es nach seinem Tod verkauft. Aus irgendeinem Grund war er schon damals überzeugt, er würde vor Elfi sterben. Das Haus sollte seinen Namen tragen, damit man sich immer an ihn erinnern würde. Jeder hat halt so seine Ideen.« »Und was hielt Frau Rothammer von der Idee?« »Elfi? Gar nichts, natürlich. Anfangs hat er ihr auch nichts davon gesagt. Nicht dass er es hinter ihrem Rücken gemacht hätte, er hat es nur einfach nicht mit ihr besprochen. Ich konnte damals wenigstens noch durchsetzen, dass Elfi ein lebenslanges 108
Wohnrecht in dem Haus bekam. Aber Sie hätten sie bei der Testamentseröffnung hören sollen, als sie von der Stiftung erfuhr. Katastrophal, sage ich Ihnen, sie muss tagelang heiser gewesen sein, so hat sie getobt. Dabei hat Arthur sie keinesfalls als arme Frau zurückgelassen. Sie hat einen ganz schönen Batzen geerbt. Aber sie hat sich aufgeführt, als hätte ihr jemand ein Messer in die Brust gestoßen.« »Vielleicht war sie gekränkt, dass ihr Mann sie nicht einbezogen hat?« »Ach was, ihr ging es nur ums Geld. Die war geldgierig wie ein alter … wie ein alter Geldwechsler.« Böschen brach seinen Keks in zwei Hälften. »Jedenfalls werden Sie demnächst viel Arbeit haben.« »Ich? Wieso?« »Sie sind doch jetzt nach Elfis Tod dafür verantwortlich, das Haus dem Stiftungszweck entsprechend herzurichten, oder? Und bei dem gegenwärtigen Zustand des Hauses dürfte das keine leichte Aufgabe sein. Es sieht aus, als sei seit Jahrzehnten nichts daran gerichtet worden.« »Ah, ja doch, natürlich. Da haben Sie ganz recht. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Das kommt alles so plötzlich!« »Ich würde mich gerne noch etwas genauer über diese Stiftung informieren. Dürfte ich mir einmal Ihre Unterlagen zu den Stiftungsgeschäften ansehen?«, fragte Benno betont ruhig. »Die Unterlagen? Was für Unterlagen?« »Die Akten eben, die Stiftungsurkunde und die Abrechnungen über die Verwendung der Gelder und Ähnliches.« »Kommt überhaupt nicht in Frage!« Plötzlich wurde Böschen pampig. »Erstens benötige ich die Unterlagen in der nächsten Zeit selbst, wie Sie gerade richtig bemerkt haben. Und außerdem ist das alles vertraulich. Wofür brauchen Sie die denn überhaupt? Wieso interessiert sich denn plötzlich die 109
Staatsanwaltschaft für die Arthur-Rothammer-Stiftung? Was hat Elfis Tod denn mit dieser Stiftung zu tun?« Benno sah ihn freundlich an und hob leicht die Augenbrauen. »Aber Herr Rechtsanwalt, Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass wir im Fall eines plötzlichen ungeklärten Todes allen Spuren nachgehen müssen.« »Aber nicht mit diesen Akten. Da gibt es keine Spur.« Böschen warf die zerbröselten Kekshälften in den Papierkorb und klopfte sich die Hände ab. »Ich weiß nicht, ob ich den Richter oder die Kriminalpolizei mit dieser Argumentation überzeugen kann. Ich hatte auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gehofft. Aber ich kann mir natürlich auch einen Durchsuchungsbeschluss besorgen …« Er lächelte und ließ seinen Blick demonstrativ über die Regale voller Aktenordner schweifen. Der Blick, den Böschen Benno zuwarf, war eher weniger freundlich. »Ich bezweifle …«, blaffte er, besann sich dann aber eines Besseren. »Na gut, wenn Sie unbedingt Ihre Zeit verschwenden und auf der alten Sache herumreiten wollen … Ich lasse Ihnen die Unterlagen zusammensuchen und schicke Sie Ihnen morgen ins Büro.« »Ich dachte, ich könnte sie vielleicht gleich mitnehmen. Umso schneller bekommen Sie sie zurück.« »Ich habe die Akten gar nicht alle da«, schnaufte Böschen. »Die wichtigsten sind sowieso bei Herrn Bolz, der mit mir zusammen die Stiftung verwaltet. Er ist ja eigentlich der Vorstand. Er lässt sie Ihnen dann morgen in Ihr Büro bringen«, wiederholte er und stand auf. Benno reichte ihm die Hand. »Vielen Dank für Ihre Kooperation«, sagte er spöttisch. »Und bitte: Ich brauche das gesamte Material. Ich werde Ihnen die Sachen zurückbringen lassen, sobald ich sie mir gründlich angesehen habe. Danke, ich finde allein hinaus.« 110
Benno trieb sich noch etwas im Vorzimmer herum, wo er die Blumen und die schicke Brille der Sekretärin bewunderte. Doch die hatte keine rechte Zeit, sich mit ihm zu unterhalten, weil sie, kurz nachdem Benno das Büro ihres Chefs verlassen hatte, den Herrn Rechtsanwalt mit dem Herrn Stadtdirektor verbinden sollte. Das war ja interessant. Bolz war doch angeblich in der Bausenatssitzung? Benno tippte sich an einen imaginären Hut und machte, dass er zum Rathaus kam. Er wollte Bolz sprechen, bevor der Zeit gehabt hatte, eventuell Unterlagen verschwinden zu lassen. So schnell er konnte, rannte Benno von Böschens Kanzlei am Obstmarkt über den Grünen Markt Richtung Rathaus. Wie üblich an einem schönen Tag war die Fußgängerzone voller Menschen. Als er sich das dritte Mal entschuldigen musste, weil er jemanden angerempelt hatte, überlegte er, ob es nicht hintenherum durch die Austraße schneller gegangen wäre. Aber dort waren bei diesem Wetter alle Gehsteige mit den Tischen der Straßencafés verstellt, und dazwischen drängten sich die Studenten, zu Fuß und auf dem Fahrrad. Dort kam man auch nicht rascher voran. Auf dem Maxplatz schlängelte er sich durch die Marktstände, und ihm fiel ein, dass er im Lauf des Nachmittags unbedingt noch einkaufen musste. Er nahm auf der Treppe zum Eingang des Rathauses je zwei Stufen auf einmal und schaute dabei auf die Uhr. Knapp vier Minuten hatte er nur gebraucht, nicht schlecht. Doch als er sich in den Sitzungssaal schlich, war Bolz schon verschwunden. Ein Zuhörer flüsterte ihm auf seine Frage hin zu, Bolz habe vor wenigen Minuten nach einem Blick auf sein Handy seinem Stellvertreter die Sitzungsleitung übertragen. Er habe sich entschuldigt, etwas von »mein Sohn« gemurmelt und sei gegangen. Benno rannte durchs Rathaus, Gänge, Treppen, Gänge, bis er schließlich das Büro des Stadtdirektors fand. Aber dessen Sekretärin, Frau Morgenthaler, war schon wieder 111
untröstlich: Herr Bolz habe vor wenigen Minuten das Haus verlassen; dringende familiäre Probleme hätten ihn weggerufen. Benno bewunderte auch hier die Zimmerpflanzen und erfuhr von Frau Morgenthaler, dass der Herr Stadtdirektor große Schwierigkeiten mit seinem Sohn habe; der Junge wolle einfach nicht gehorchen und liefe von Zeit zu Zeit von zu Haus weg. Benno ließ mitfühlende »Hms« und »Tststs« hören, verabschiedete sich höflich und nahm ein Taxi zum Haus von Karl Bolz. Doch niemand öffnete auf sein Klingeln hin. Im Laufe des Tages versuchte er von seinem Büro aus immer wieder, bei Bolz anzurufen, doch das Telefon wurde nicht abgenommen. Das war doch mehr als seltsam! Was ihn jedoch wesentlich mehr ärgerte und zunehmend beunruhigte, war ein anderes schweigsames Telefon. Bis zum Abend rief er sicher zehnmal bei Hanna an. Vergeblich. Wo war sie nur? Er hatte ihr doch gesagt, sie solle sich zur Verfügung halten. Außerdem rief er ja nicht so zum Spaß an; er war doch wirklich verpflichtet, ihr zu erzählen, dass sie sich um Tanja vorerst keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Aber nur der Anrufbeantworter lohnte sein edel selbstloses Bemühen. Als er nach Hause ging, klingelte er an der Tür seiner Nachbarn. Die Karls hatten einen vierzehnjährigen Sohn, Leo, den Benno kannte, seit er dort eingezogen war. Sie verstanden sich gut und unterhielten sich oft. Leo war gerade nach Hause gekommen. »Hi, Leo, sag mal, du bist doch mit Viktor Bolz befreundet, oder?« »Nee, mit dem Arsch bin ich nicht befreundet. Wir sind nur zusammen in der MC.« »Wieso ist der denn ein Arsch?« »Ist er halt. Gibt an wie weiß ich was. Heut Nachmittag zum Beispiel, da ging’s um die Organisation von so ’nem Freizeitlager, und jeder hätte irgendeine Arbeit übernehmen 112
müssen. Aber der feine Herr Bolz nicht, nee, der nicht. Sägen? So was hat er ja noch nie gemacht, dafür sind andere da. Sein Spitzname passt schon: Bobbo. Er ist halt ein Arsch.« »Wie lang hat eure Besprechung denn gedauert?« »Den ganzen Nachmittag. Ich komm grad davon. Warum?« »Und Viktor war die ganze Zeit dabei?« »Ja, war er.« »Danke, du hast mir sehr geholfen.« »Echt wahr? Ist was mit Bobbo?« »Nein, es hat nichts mit Bobbo zu tun, sondern mit Ermittlungen, die ich momentan durchführe. Die sind noch geheim. Versprichst du mir, dass du niemandem ein Wort über unser Gespräch verrätst? Indianerehrenwort?« »Indianerehrenwort? Was ist denn das? Aber das geht schon in Ordnung.« Benno nickte Leo zum Abschied lächelnd zu. Wie viele heiße Nachmittage lang hatten er und seine Freunde sich im ewigen Kampf zwischen Indianern und Cowboys ausgetobt, den Leo offenbar nicht mehr kannte. Sicher hatte er neue Helden, von denen wiederum Benno nichts wusste. Möglicherweise war das eine Bildungslücke, über die er sich Sorgen machen musste. Dennoch pfiff er vergnügt, als er seine Wohnung betrat. Bolzens Verschwinden aus der Sitzung am Nachmittag hatte also nichts mit seinem Sohn zu tun gehabt. Das zu wissen war doch schon mal ganz schön. Die gute Laune verging ihm jedoch im Laufe des Abends, denn er konnte Hanna einfach nicht erreichen. Verdammt, wo trieb sie sich bloß herum? Nichts als Ärger mit dieser Frau. Und außerdem … und außerdem … Die kleine Kurve zwischen Ohr und Wange saß noch immer als Sehnsucht in seinen Fingerspitzen auf der Lauer.
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13 In Joschi Schneiders Praxis war ein topmodischer Designer am Werk gewesen: viel Glas und Stahl, türkis und dunkelblau, an den Wänden großformatige, farblich passende Abstrakte, teuer und perfekt vom Teppichboden bis zum Fenstergriff. Das Mädchen hinter der Lochstahlempfangstheke war freundlich und nicht ganz so perfekt. Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Computer. Hilfesuchend schaute sie Hanna an. Hanna beugte sich über die Theke, um auf den Bildschirm der jungen Sprechstundenhilfe schauen zu können. Da spürte sie auf ihrem Po einen Blick, so intensiv wie eine Berührung. Empört schnellte sie herum und schnappte nach Luft. Der Mann vor ihr sah nicht nur gut, er sah unglaublich gut aus: hohe Wangenknochen, dicht bewimperte grüne Augen, strahlend weiße Zähne und dazu ein amüsierter Blick, gepaart mit einem leicht spöttischen, aber durchaus anerkennenden Lächeln, das war schon sehr überzeugend. »Nanu, wen haben wir denn da?«, fragte Joschi Schneider. »Hanna Tal.« Hanna versuchte, so hoheitsvoll wie möglich zu nicken. »Die Dame möchte einen Termin«, stammelte das Mädchen am Computer. »Ach ja?« Joschi Schneider sah Hanna von oben bis unten an. »Und was kann ich Ihnen Gutes antun? Wo liegt das Problem?« »Ach, es ist eigentlich nur eine Kleinigkeit. Ich habe mich gestern an einer Schrankecke gestoßen, hier im Gesicht, und es tut noch immer ziemlich weh. Ich will nur sichergehen, dass der Kiefer nicht beschädigt wurde.«
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Joschi strich sanft mit dem Finger über den roten Fleck auf Hannas Wange. »Ja, da ist eine leichte Schwellung. Wer ist denn als Nächstes dran?«, fragte er das Mädchen hinter der Theke. »Frau Oberstudienrat Müller. Sie wartet schon eine Stunde.« »Sagen Sie ihr höflich, dass es noch ein bisschen dauert. Das macht die Vorfreude auf meine Behandlung umso größer. Wir wollen mal die Dame hier dazwischenschieben.« Sein anerkennendes Grinsen wurde breiter, als er Hanna in das Behandlungszimmer führte. Er deutete auf den Zahnarztstuhl. »Machen Sie sich’s bequem. Ich muss mir nur noch schnell etwas überziehen.« Die Art, wie er die Latexhandschuhe anzog, hatte etwas von einem umgekehrten Striptease. Hanna schluckte und konzentrierte sich auf den Schwenkarm des Bohrers. Doch das nützte nicht viel. Die zufälligen oder vielleicht auch nicht so zufälligen Kontakte von Joschis Händen mit ihrer Haut während der Untersuchung spürte sie am ganzen Körper. »Nein, es ist nichts«, sagte er und streifte die Handschuhe ab. »Ein kleiner Bluterguss, der durch den Druck etwas schmerzhaft wirkt, aber das geht von selbst vorbei. Ansonsten sind Ihre Zähne top in Ordnung. Schade, ich hätte sie gern wiedergesehen. Ihre Zähne natürlich.« »Na ja, also …« Hanna fiel es schwer, einen Einstieg in ihre wunderbare Lügengeschichte zu finden. »Eigentlich war diese Beule eher so etwas wie ein Vorwand.« Joschi zog erstaunt und geschmeichelt die Augenbrauen hoch. »So? Hat eine Freundin mich empfohlen?« Noch amüsierte sich Hanna über so viel unverschämtes Selbstbewusstsein. »Keine Dame, sondern das Schicksal gewissermaßen. Ich habe Sie blind aus dem Münchner Telefonbuch herausgetippt. Ich bin Journalistin, wissen Sie, und habe den Auftrag für einen Bericht über die Veränderung im Freizeitverhalten von Zahnärzten nach der Gesundheitsreform. Ich komme aus einer kleineren Stadt, und da kenne ich einige 115
Zahnärzte, aber hier in München kenne ich keinen, und irgendwo musste ich ja anfangen.« Joschi sah Hanna nachdenklich an. Ihr wurde ganz mulmig. Sie sprach über ihre Verlegenheit hinweg: »Ob ich Sie vielleicht einmal zu einem Kaffee einladen dürfte, in Ihrer Freizeit natürlich«, sie versuchte, sein freches Grinsen zu imitieren, »dann könnten wir uns darüber unterhalten. Und vielleicht würden Sie mir auch ein paar Namen von anderen Zahnärzten nennen, die ich interviewen kann.« Er sollte schließlich nicht merken, dass sie es nur auf ihn abgesehen hatte. »Unterhaltung in der Freizeit – hm, darüber habe ich gerade nachgedacht«, sagte er. »Nein, kein Kaffee, sondern Champagner und Wachtelbrüstchen. Zufällig habe ich heute Abend ein kleines Essen für Freunde arrangiert, beide Zahnärzte. Meine Partnerin hat mir vor zwei Stunden abgesagt. Hätten Sie Lust, sie heute Abend zu vertreten? Da können wir in aller Ruhe über das Freizeitverhalten von Zahnärzten reden.« Hanna zögerte. »Heute Abend?« »Haben Sie schon etwas vor?« »Nein, das nicht, aber …« »Na bitte, dann tun Sie mir doch den Gefallen.« Hannas Neugier und ihr Ehrgeiz siegten. Das war die Gelegenheit. »Also gut, vielen Dank für die Einladung. Und wo soll das fabelhafte Diner stattfinden?« »Bei mir zu Hause natürlich. Es ist schon alles bestellt.« »Bei Ihnen zu Hause?« »Was ist, schöne Dame? Sie werden sich doch nicht vor dem Zahnarzt fürchten? Das lernen doch heute schon die Kindergartenkinder: Er bohrt, und es tut gar nicht weh.«
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Hanna lachte, obwohl sie sich überrumpelt fühlte. Joschi nannte ihr die Adresse und überreichte ihr gleichzeitig mit einer leicht übertriebenen Verbeugung seine Visitenkarte. »Ich erwarte Euch heute Abend um acht, meine Schönste«, sagte er mit altmodischem Schmelz in der Stimme. Hanna lächelte huldvoll und versuchte einen leidlich würdigen Abgang. »Bis dann«, hauchte sie und fächelte sich mit der Visitenkarte Luft zu. Im Aufzug schaute sie sich streng im Spiegel an. »Hast du einen Knall, Hanna Tal?«, fragte Anna diabolica sarkastisch. »Seine Absichten sind absolut eindeutig!« – »Und ich bin absolut gut in der Verteidigung.« – »Dir werden doch schon die Knie weich, wenn er dich nur ansieht.« – »Wie hätte ich die Einladung denn ablehnen sollen?« – »Du gehst allein zu einem Mann, der ein Mörder sein könnte!« – »Ach, ich glaube nicht, dass er …« – »Aha, so plötzlich. Er ist ja so attraktiv, nicht wahr?« – »Ich traue ihm einen Mord einfach nicht zu.« – »Und er hat auch so schöne grüne Augen!« Aber wie sollte sie denn sonst rauskriegen, was er über seine Tante wusste? Hatte er nicht mitbekommen, dass sie gestorben war? Und wann hatte er sie das letzte Mal gesehen? Sie hätte doch eigentlich auf der Beerdigung seiner Mutter gewesen sein müssen. Das konnte sie Kürtchen fragen; Anneliese Kurt war sicher auf Karlas Beerdigung gewesen. Es wurde Zeit, dass sie zu Herrn Dechant kam. Er wohnte nur wenige Straßen entfernt in einem großen, mit Masken, Girlanden und Rosetten verzierten Mietshaus, wie sie typisch waren für die Stadterweiterungen Münchens aus der Gründerzeit. Sie klingelte, sagte ihren Namen in die Sprechanlage, und die schwere Holztür öffnete sich. Neben den Briefkästen hing die Hausordnung und am Treppengeländer ein gelbes Schild »Achtung. Frisch gebohnert«. Die beklemmende, enge Sauberkeit im Treppenhaus nahm ihr fast den Atem. Herr 117
Dechant wohnte im obersten Stockwerk. Er hatte sich offensichtlich fein gemacht für ihren Besuch. Er trug ein sehr dilettantisch gebügeltes weißes Hemd, zugeknöpft bis oben, das dem eingeschrumpelten Hals, an dem ein spitzer Adamsapfel hüpfte, zu weit geworden war. Seine Hand, die er Hanna zur Begrüßung hinstreckte, fühlte sich trocken, schuppenglatt und kühl an wie die Haut einer Echse, und er roch so intensiv aus dem Mund, dass sie die Zähne zusammenbiss, um nicht vor seinem Lächeln zurückzuzucken. Das Wohnzimmer war sehr groß und bot einen phänomenalen Ausblick über einen kleinen Park auf die Alpen. Trotzdem wirkte es spießig, vollgestellt mit dunklen, schweren Möbeln. Es zeigte Spuren eines gut gemeinten, aber ungeschickten Ordnungswillens. Ein gewitterdräuender Gebirgssee im reich verzierten Goldrahmen hing nach dem Abstauben schief, die Sofakissen hatten einen Knick in der Mitte. Zwischen all der Düsternis schimmerte ein alter Kirschbaumholzsekretär, mit kleinen Schubladen rechts und links, einer halbrunden Höhlung und einer hochklappbaren Platte. So einen hatte Hanna doch unlängst erst gesehen. Wo denn nur? Beim Vorbeigehen strich sie über die samtige Oberfläche und sagte: »Schön ist der.« »Ja, den habe ich einmal gekauft.« Herr Dechant nickte stolz. »Die anderen Möbel hat meine Frau ausgesucht. Aber den habe ich durchgesetzt.« Auf einem nierenförmigen niedrigen Sofatisch – dem modernsten Stück im Raum – waren die Dokumente aufgeschichtet, deretwegen Hanna gekommen war. Das Zimmer war schon lange nicht mehr gelüftet worden. Der Geruch nach altem Mann stand beinahe greifbar zwischen den Möbeln. Hanna überlegte krampfhaft, wie sie frische Luft hereinlassen konnte, ohne Herrn Dechant zu kränken. Aber so konnte sie unmöglich arbeiten. Nachdem sie sich im Zimmer umgesehen hatte, ging sie zum Fenster und fragte: »Darf ich mal 118
hinausschauen? Sie wissen ja, ich interessiere mich für alte Häuser.« So konnte sie das Fenster öffnen und offen lassen. Herr Dechant redete beinahe ununterbrochen. Er hatte wohl nicht oft einen Gesprächspartner. Er sprach vom Wetter, vom Haus und den Nachbarn, vom Tod seiner Frau vor zwei Jahren und wie schwer das Leben für ihn seitdem sei, von ihrem Grab auf dem Ostfriedhof, von der Straßenbahn dorthin, von den Ausländern in der Straßenbahn, von der Unfähigkeit der Politiker, die all diese Ausländer ins Land ließen, und wie schlimm es sei, dass man die Todesstrafe abgeschafft habe. Trotz ihres Mitleids mit seiner alten Einsamkeit setzte sich Hanna schließlich energisch auf das Sofa und sagte: »Ich will Ihre Zeit nicht allzu lang in Anspruch nehmen. Ich denke, ich sollte jetzt ein wenig arbeiten.« Sie nahm die erste Akte zur Hand. »Ja, natürlich«, bestätigte Herr Dechant und redete weiter. Hanna versuchte sich zu konzentrieren. Das fiel ihr zunehmend schwerer. Schläfrigkeit kroch in ihre Augen. Sie war schließlich schon seit fünf Uhr wach und hatte eine lange Fahrt hinter sich; außerdem wirkte die Redseligkeit von Herrn Dechant wie ein Narkotikum. Von der Straße hörte man das trockene Knattern von Rollerblades, mit denen Kinder auf den Gehsteigplatten herumfuhren. Eine Wespe flog zum offenen Fenster herein. Der greisenhaft gebrechlich wirkende Herr Dechant war plötzlich blitzschnell auf den Beinen. Er eilte ins Nebenzimmer und kam mit einer Fliegenpatsche zurück. Die Jagd auf die Wespe eröffnete er mit den Worten: »Sehen Sie, das hat man davon, wenn man das Fenster offen lässt. Dann kommt das Geschmeiß herein.« Mit einem erstaunlich kräftigen Schlag erlegte er die Wespe, packte den Kadaver, dessen Unterteil auf dem Holz der Kredenz kleben blieb, mit spitzen Fingern an einem Flügel und warf sein Opfer in den Hof. Dann schloss er das Fenster. 119
Hanna seufzte. Die Arbeitssituation war extrem unbequem. Entweder stellte sie den Laptop auf ihre Knie, dann waren die Schriftstücke auf dem Couchtisch zu weit von ihren Augen entfernt, oder sie nahm die Aktenordner auf den Schoß, dann musste sie die Tastatur über das sperrige Hindernis hinweg bedienen. Nach fünf Minuten tat ihr das Kreuz weh. Zudem waren die meisten Unterlagen wenig ergiebig. Interessant war nur die kurze handgeschriebene Lebensgeschichte eines Vorfahren von Herrn Dechant aus der Zeit vor dem Verkauf an die Rothammers, die die Geschichte des Hauses am Nonnengraben im 19. Jahrhundert lebendig machte. »Ein Fleckchen im Garten hatten wir Kinder, das uns gehörte, da wurde gegraben, gebaut und gepanscht. Vom nahen Brunnen leiteten wir das Wasser herüber, bauten eine Mühle mit Mühlenrad, das sich drehte, und vieles andere. Über dem Kanal drüben, unserm Haus gegenüber, lag das frühere Klarisser Kloster, dann Kaserne des ersten Ulanenregiments. Es war immer herrlich anzusehen, wenn unsere Kaiserulanen mit Musik auszogen, geschmückt mit dem Helmbusch, dem roten Latz und den blau-weißen Fähnchen an den Lanzen. Wir konnten alles von unsern Fenstern aus gut beobachten. Wenn dann um neun Uhr abends von der Kaserne herüber der Zapfenstreich erscholl, dann war es auch für uns Kinder die höchste Zeit zum Schlafen.« Hanna hätte sich gern etwas mehr in das Manuskript vertieft, nach Stellen gesucht, die etwas über die Bausubstanz des Hauses, vor allem über die Keller, aussagten, aber Herrn Dechants ständige Bemerkungen verdichteten sich zu einer Hintergrundmusik, die sie in ihrer Konzentration störte. Um ihr zu entgehen, stimmte Hanna schließlich der Einladung zum Kaffee zu. Das würde ihn wenigstens für eine Weile in die Küche verbannen. Doch dann blieb er merkwürdig lange weg. Irgendwann beschloss Hanna, die das Manuskript durchgelesen hatte, mit 120
ihren Exzerpten fertig und des düsteren Gebirgssees überdrüssig war, ihn zu suchen. Durch ein opulentes Speisezimmer kam sie schließlich in die Küche. Herr Dechant las konzentriert in einem Massenblatt mit dem Aufmacher »Die Leiche am Küchentisch«. Neben ihm lagen die Bamberger Tageszeitung und die Süddeutsche mit der gleichen Titelgeschichte. Er schaute auf, sah sie im Türrahmen stehen und sagte nervös: »Oh, Sie sind schon fertig. Ich dachte, Sie bräuchten noch länger.« »Nein, es ist alles erledigt. Vielen Dank, dass ich die Unterlagen benutzen durfte. Ich schicke Ihnen dann den fertigen Text.« Herr Dechant legte die Zeitungen hastig zusammen und stopfte sie in eine Schublade. »Setzen Sie sich doch. Der Kaffee ist fertig.« Hätte sie die Einladung doch nur ausgeschlagen! Er hatte fünf Stück Torte besorgt – für Hanna ein absoluter Graus – und auf einer nicht besonders sauberen Platte angerichtet. An ihrer Kuchengabel waren Reste von Ei, von schmuddeligem Ei. Hanna legte die Gabel wieder neben ihren Teller und trank einen Schluck des heißen, säuerlichen Kaffees. »An welcher Schule in Bamberg haben Sie denn unterrichtet?«, fragte sie ihren Gastgeber, damit er nicht wieder mit den Ausländern und der Todesstrafe anfing. »Am Alten Gymnasium, Latein und Geschichte. Jetzt heißt das ja Kaiser-Heinrich-Gymnasium!« Herr Dechant sprach den Namen aus, als hätte er den Geruch von Abstieg und Untergang in der Nase. »Warum müssen die Menschen nur alles verändern? So unsinnig! Früher gab es ein Altes und ein Neues Gymnasium und dann noch die anderen, da wusste man gleich, woran man war.« Es war deutlich zu erkennen, dass er damit die gesellschaftliche Rangfolge meinte und auch, welche der Schulen sich an der Spitze dieser Rangfolge befunden hatte. »Wie lange waren Sie denn am Alten Gymnasium?« 121
»Am alten Pennal? So haben wir das als Schüler genannt.« Offenbar fand er seine Bemerkung witzig. »Ich war nämlich schon als Schüler dort. Und dann als Lehrer zwanzig Jahre lang.« Dann könnte er doch … »Haben Sie vielleicht zufällig die Rothammers gekannt? Die waren doch auch am Alten Gymnasium.« Herr Dechant schien sich nicht zu wundern, wieso sie plötzlich auf die Rothammers zu sprechen kam. »Ja. Es gab damals kaum jemanden unserer Generation in Bamberg, der die Rothammers nicht gekannt hätte. Arthur war zwei Jahre unter mir in der Klasse. Wir haben zusammen Tennis gespielt.« »Wie war er denn so?« »Arthur? Fair. Ein guter Sportsmann.« »Und seine Schwester?« »Aber Sie essen ja gar nichts. Ich habe die Sachen extra für Sie besorgt. Der Konditor ist berühmt für seine Torten.« Was sollte sie nur machen? Sie konnte diese Kuchengabel einfach nicht in den Mund nehmen. Und wenn es noch so unhöflich war: Sie ging zur Spüle und wusch sie ab, kratzte mit den Fingernägeln so lange, bis alle alten Reste entfernt waren. Und selbst danach noch kostete es sie Überwindung, sie zu benutzen. Doch er schien, verfangen in Erinnerungen, ihre Aktion nicht einmal zu bemerken. Er wiegte betrübt seinen Greisenkopf, und seine Augen wurden noch etwas röter und wässriger. »Dass Arthur sich damals von Elfi einfangen ließ, das hat uns alle gewundert. Er war der begehrteste junge Mann weit und breit. Und ausgerechnet Elfi! Dabei war die ein Flüchtling. So eine von denen aus dem Osten, die sich überall reindrängelten und den Einheimischen die Butter vom Brot nahmen.« 122
»Wieso? Was taten die Flüchtlinge denn?« »Ach, junge Frau. Sie haben ja keine Ahnung. Keiner, der es nicht miterlebt hat, kann sich vorstellen, was damals nach dem Krieg in Bamberg los war. So viele Fremde in der Stadt! Die war voll bis über den Kragenrand. Weil sie nicht ganz so zerstört war wie die Städte in der Nachbarschaft. Bis 1944 war Bamberg ja verschont geblieben. Die Leute sagten: ›Hier passiert schon nix‹, weil sie glaubten, die heilige Kunigunde hätte ihren Schleier über die Stadt gezogen. Die Narren! Wenn die Flieger kamen, gingen sie statt in den Keller aufs Dach, um zu schauen, wo die Flugzeuge hinflogen.« »Tatsächlich?« »Sie können sich denken, dass sich das blitzschnell änderte, als Anfang ’45 die ersten Bomben fielen. Da hockten sie dann alle in den Kellern, unterm Stephansberg, unterm Jakobsberg und sonst wo. Am Schluss war auch bei uns eine Menge kaputt, am Grünen Markt und am Bahnhof und in der Geisfelder Straße. Na ja, und dann sind die Amis einmarschiert und haben die schönsten Häuser beschlagnahmt. Die Herren ›Befreier‹«, in Herrn Dechants Mundwinkel bildete sich ein höhnisches Bläschen, »haben sich ganz schön aufgespielt.« »Sie wollten eigentlich etwas über die Flüchtlinge erzählen.« »Tja, das war … ganz mulmig wurde einem da. Die kamen Tag für Tag, Hunderte, Tausende. Und alle musste man unterbringen, irgendwie. Da hat man dann das große Kaufhaus Tietz hergenommen, am Grünen Markt, und hat die Menschen da hineingestopft. Bis zu viertausend Leute quetschten sich da manchmal, und es gab vielleicht zehn oder zwanzig Toiletten. Sie können sich vorstellen, was da los war. Im Herbst ist dann Typhus ausgebrochen, da haben die Amis Soldaten rund um das Haus postiert, damit keiner mehr rauskonnte, außer ihren Liebchen natürlich. Was damals ablief, Sodom und Gomorrha, kann ich Ihnen sagen. Geschlechtskrankheiten waren eine 123
richtige Volksseuche.« Herr Dechant schüttelte empört den Kopf. »Aber was hat das mit Elfi Roth …« Doch der alte Herr ließ sich nicht unterbrechen. »Sie wollten doch was über die Flüchtlinge wissen, oder? Also, die haben sie dann auf die Wohnungen verteilt. Irgendein lieber Nachbar hat natürlich auch meine Eltern verpfiffen beim Bürgerkomitee – das waren welche, die vorher immer gegen alles waren und deswegen jetzt groß rauskamen und bei den Amis lieb Kind waren. Der Nachbar hat verraten, dass wir mehr Zimmer hatten als angegeben. Da musste ich mein Zimmer räumen, und sie haben uns eine Familie reingesetzt ins Haus. Sechs Leute. Nach kurzer Zeit war das Klo verstopft, und in unserer Küche haben sie Kohl gekocht, immer nur Kohl, das hat vielleicht gestunken.« »Vielleicht hatten sie nichts anderes?«, wandte Hanna ein. »Gestunken hat es trotzdem! Und alle haben sie immer erzählt, wie toll es da war im Osten. Alle waren sie plötzlich Grafen und Barone und Großgrundbesitzer gewesen. Konnte ja keiner nachweisen. Und jetzt kommen sie wieder, noch weiter aus dem Osten, aus der Ukraine, aus Kasachstan – Deutsche angeblich, die kein Wort Deutsch können. Unsere Politiker müssten einmal mit der U-Bahn fahren, dann wüssten sie, was los ist. Man ist ja schon froh, wenn man mal ein deutsches Wort hört.« Hanna konnte es kaum ertragen. Doch sie hatte das Gefühl, dass eine Diskussion mit dem alten Mann keinen Sinn hatte – so festgebackene Mauern konnte man nicht mehr zum Einsturz bringen, jedenfalls nicht in einem Gespräch am nachmittäglichen Kaffeetisch. Sie wollte lieber diese unvermutete Informationsquelle zu den Rothammers noch etwas anzapfen. »Haben Sie auch Karla Rothammer gekannt?«
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»Wieso wissen Sie eigentlich so gut über die Familie Bescheid? Das brauchen Sie doch nicht für dieses KellerDingsbums, von dem Sie mir erzählt haben.« »Da haben Sie recht. Aber ich habe auch einen Artikel für die Zeitung über das Haus am Nonnengraben geschrieben, über seine Geschichte, seine Bewohner und Ähnliches. Meine Tante, Kunigunde Buchner, hat mir schon einiges erzählt.« »Kunigunde Buchner? Ach, Moment mal, Sie heißen Tal, nicht wahr? Kunigunde Tal, natürlich. Es Kunnerla! Die Mutter der Kompanie. Grüßen Sie sie von mir.« »Ja, mache ich. Karla Schneider ist heuer gestorben, nicht wahr?« »Ja.« »War Elfi Rothammer auf der Beerdigung?« »Elfi? Elfi doch nicht. Sie und Karla haben sich gehasst wie die Pest. Wieso interessiert Sie, ob Elfi auf Karlas Beerdigung war?« »Ach, nur so. Weil ich mich mit dem Haus beschäftigt habe und …« »Hm.« Herr Dechant wirkte nicht ganz überzeugt, forschte aber nicht weiter nach. »Und Sie haben auch Tennis gespielt?«, fragte Hanna. »Ja, ich spiele noch immer manchmal. Und bis vor zehn Jahren habe ich noch Senioren 1 gespielt.« »Alle Achtung!« Hannas mattes Lob gab Herrn Dechant Auftrieb. »Na ja, gelernt ist gelernt. Auch wenn die Beine manchmal nicht mehr so recht wollen.« Er lächelte in sich hinein, als wüsste er etwas, was jüngeren Leuten wie Hanna verborgen war. Er setzte zu einer weiteren Erzählung an, aber Hanna sagte schnell: »Aber jetzt muss ich wirklich gehen. Nochmals vielen Dank, dass ich die Unterlagen einsehen durfte und für Kaffee und Kuchen.« 125
»Aber Sie haben doch fast nichts gegessen. Was soll ich denn nur mit dem ganzen Kuchen machen? Essen Sie doch noch ein Stück!« »Es tut mir leid, aber ich kann wirklich nicht mehr. Und ich bin sowieso schon zu spät dran.« Sie atmete auf, als sie das Haus verließ. Was für ein spießiger Kleingeist, dieser Herr Dechant. Gott sei Dank, dass sie das hinter sich hatte. Damit hatte sie ihn auch schon vergessen. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf den bevorstehenden Abend. »Champagner und Wachtelbrüstchen«, hatte Joschi Schneider gesagt. Das klang nach etwas Elegantem. Da konnte sie unmöglich in Jeans erscheinen. Und auch die anderen Kleidungsstücke, die sie heute früh eilig in ihr Köfferchen gepackt hatte, hatte sie für einen Wandertag ausgewählt; sie passten keinesfalls zu Champagner und Wachtelbrüstchen. Was sollte sie tun? Es war jetzt kurz nach fünf. Sie hatte also noch Zeit für ein bisschen Shopping. Die Pension, wo sie ein Zimmer reserviert hatte, lag gleich um die Ecke. Dort konnte sie ihr Auto stehen lassen, und mit der U-Bahn war sie dann in zwei Minuten am Marienplatz. Energisch widmete sie sich der angenehm-grässlichen Aufgabe, ein neues Kleid zu kaufen. Es sollte aufregend sein und unaufdringlich elegant, vor allem aber durfte es fast nichts kosten. Für solche Aufgaben der höheren Mathematik konditionierte nur jahrelanges Training. Im dritten Laden fand Hanna schließlich ein rauchgraues halblanges Kleid mit reichlich Ausschnitt vorn und hinten. Das Viskose-Material sah ungemein edel aus, und der Preis vermittelte ihr das Gefühl, es sei heute ihr Glückstag. Mit den hohen schwarzen Schuhen, die sie für alle Fälle immer im Kofferraum ihres Autos hatte, würde der Eindruck perfekt sein.
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Auf dem Weg machte sie an einer Telefonzelle Halt. Der Akku ihres Handys war schon wieder einmal leer, und das Ladegerät hatte sie daheim vergessen. »Hallo, Tante Kunigunde, ich wollte dir nur sagen, dass ich gut in München angekommen bin.« »Danke, Kind, dass du mir Bescheid sagst. Ist das noch immer das schlechte Gewissen? Du bist doch sonst nicht so fürsorglich.« »Man kann machen, was man will, immer wird man am Gutsein gehindert. Ja, natürlich habe ich auch noch einen anderen Grund für meinen Anruf. Könntest du mir bitte die Telefonnummer von Anneliese Kurt geben? Ich müsste sie etwas fragen.« Es wäre doch interessant zu erfahren, wie Joschis Verhältnis zu seiner Tante gewesen war, bevor Hanna sich heute Abend mit ihm darüber unterhielt. »Was ist denn das für eine Frage, dass du sie dafür aus München anrufen musst?« »Das erzähle ich dir, wenn ich wieder daheim bin. Jetzt mach bitte, mein Geld geht bald zu Ende.« Hanna schrieb sich die Nummer auf und sagte dann: »Kannst du dir bitte Folgendes notieren: Joschi Schneider, Haiderstraße 5, München. Hast du das? Wenn irgendetwas sein sollte, gibst du diese Adresse an Staatsanwalt Berg. Danke!« Sie fühlte sich sicherer, wenn jemand wusste, wo sie den Abend verbrachte, aber sie legte vorsichtshalber auf, bevor Tante Kunigunde zu Fragen ansetzen konnte. Bei Kürtchen meldete sich leider niemand. Dann musste es eben so gehen. Eigentlich hätte sie sich ja auch bei Benno Berg melden müssen. Er hatte gesagt, sie solle sich zur Verfügung halten. Doch der Kerl konnte ihr gestohlen bleiben, und außerdem hatte sie nicht die geringste Lust auf Erklärungen, bevor sie mehr wusste. Und ihr Kleingeld war auch alle.
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In Hochstimmung kehrte sie in ihre Pension zurück und machte sich sorgfältig zurecht, bevor sie aufbrach. Das neue Kleid und die Aussicht auf Champagner und Wachtelbrüstchen sowie die Befriedigung ihrer Neugier beflügelten sie. Und der Schatten von Angst im Hintergrund erhöhte den Reiz der Situation nur. Sie hatte die Haiderstraße auf dem Stadtplan herausgesucht, und mit ihrem guten Ortssinn fand sie sie fast auf Anhieb. Sie lag in einem der unendlichen Vororte von München, ehemaligen Bauerndörfern, die jetzt ihre Herkunft verleugneten und Stadt spielten. Auch Joschi Schneiders Haus hatte ein neues Outfit bekommen. Die beiden Säulen vor dem Eingang stammten wohl noch von dem Bauplan, den Karla entworfen hatte; sie erinnerten an eine Bauherrin, die sich von der Geschichte von Scarlett O’Hara zu Tränen hatte rühren lassen. Jetzt waren die Säulen grau und lila gestrichen, ebenso wie der Türrahmen. Das große tief gezogene Dach und die riesige Kletterrose wirkten fehl am Platz neben der silbern glitzernden Doppelgarage mit den lilafarbenen Toren. Eines davon stand offen und gab den Blick auf einen Porsche frei. Die Alarmanlage und das stählerne Grundstückstor zeigten die Unnahbarkeit der schönen neuen Welt. Hanna parkte ihren kleinen Golf direkt vor dem Grundstück. Joschi erwartete sie oben an der Freitreppe. Er kam ihr in einem edlen hellen Leinenanzug und einem schwarzen T-Shirt drei Stufen entgegen und begrüßte sie mit einem Handkuss. »Sie sehen bezaubernd aus, gnä’ Frau!«, sagte er mit übertriebenem Wiener Akzent. »Wie schön, dass Sie meine bescheidene Hütte mit Ihrer Anwesenheit beglücken!« »Ein beeindruckendes Haus!«, sagte Hanna anerkennend. »Finden Sie?« »Haben Sie es gebaut?«
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»Nein, es war das Haus meiner Eltern.« Er verwandelte seine wegwerfende Handbewegung in eine Einladung. »Kommen Sie doch herein.« Im Windfang nahm er Hanna ganz langsam das Umhängetuch ab und hängte es an die Garderobe. In der Geste lag so viel Erotik, dass Hanna sich räusperte und fragte: »Sind die anderen Gäste schon da?« Sein Aftershave gefiel ihr nicht. Joschi grinste ein bisschen und hielt ihr die Tür auf. »Nein, noch nicht. Gisela kommt immer zu spät. Für eine Frau sind Sie ungewöhnlich pünktlich.« Bevor Hanna eine entsprechende spöttische Erwiderung einfiel, wandte Joschi sich ab und ging ihr voraus in eine Halle mit einer breiten Treppe. Er führte sie zunächst ins Wohnzimmer, dessen Wände fast bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren. Durch eine große offene Flügeltür fiel der Blick in das Speisezimmer. Der Tisch war für vier Personen gedeckt, auf dem Sideboard wartete ein kaltes Büfett, bei dessen Anblick Hanna das Wasser im Mund zusammenlief: Lachs und Aal, Shrimpscocktail und Geflügelsalat, Parmaschinken und Wachtelbrüstchen in Aspik. »Darf ich Ihnen einen Aperitif anbieten?«, fragte Joschi. »Einen Kir royal? Auch wenn das nach der Fernsehserie gleichen Namens absolut out ist?« »Eigentlich möchte ich lieber nur ein Wasser. Ich bin mit dem Auto da und habe den ganzen Tag nur ein Stückchen Pizza aus der Hand gegessen.« »Tun Sie mir den Gefallen und trinken Sie ein ganz kleines Gläschen mit mir. Mein Kir ist nämlich etwas Besonderes. Ich bekomme den Cassis von einer dankbaren Patientin, die ihn selbst macht.« Dick und dunkel wie Blut tropfte die süße Flüssigkeit in die Sektgläser und stieg in Schlieren durch die Perlen nach oben.
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Als Hanna ihr Glas entgegennahm, klingelte das Telefon. Joschi nahm mit entschuldigender Geste ab. »Ach hallo, Dieter«, sagte er. »Wir warten schon auf euch. Wo bleibt ihr denn? … Ach, das tut mir aber leid. Und so ganz plötzlich? Hat Gisela das schon einmal gehabt? … Ja, das ist klar, in dem Zustand kannst du sie nicht allein lassen. Natürlich versteh ich das. Aber schade ist es schon. Die Journalistin, von der ich dir erzählt habe, die euch heute Abend zu eurem Freizeitverhalten befragen wollte, ist äußerst attraktiv. Sie guckt schon ganz enttäuscht.« Joschi hob sein Glas und grüßte zu Hanna hinüber. »Ja, vielen Dank, ich bin überzeugt, dass der Abend auch ohne euch sehr nett wird. Grüß Gisela herzlich und sag ihr gute Besserung!« Hanna ging, an ihrem Glas nippend, an den Bücherregalen entlang. Sie liebte solche Entdeckungsreisen in einen unbekannten Geist. Sie hatte ein kindliches Vergnügen daran, Bekannte wiederzufinden, Werke, die sie auch besaß, besonders dann, wenn es dieselben Ausgaben waren. Sie versuchte immer gleich herauszufinden, nach welchem System die Bücher aufgestellt waren, und litt Qualen, wenn ihr auffiel, dass ein Buch sich völlig verirrt hatte, denn es ging ja wohl nicht an, dass sie in einer fremden Bibliothek anfing, Bücher umzusortieren. Diese Bibliothek hatte offensichtlich nicht Joschi zusammengestellt, Viele Klassikerausgaben waren darunter, ein ganzes Regal mit Lyrik, auch der wunderbare Ewige Brunnen, dick und blau mit goldenen Streifen, viel Fontane, Horst Wolfram Geißler, Siegfried Lenz, Thomas Mann. Bei der ausländischen Literatur, die von der deutschsprachigen getrennt stand, ebenfalls nach Autoren alphabetisch sortiert, die gesamte Simone de Beauvoir, Doris Lessing, Virginia Woolf. Das war nicht die Bibliothek eines jungen Mannes, es mussten Karlas Bücher sein. Doch irgendwie machte das Ganze einen zerrupften Eindruck, wie ein zahnlöcheriges Gebiss, das willkürlich gestopft worden war. Das Grundordnungsprinzip war erkennbar, 130
doch viele Bände standen am falschen Platz. Joschi hatte die Bücher, die Karla mitgenommen hatte, als sie aus diesem Haus ausgezogen war, nach ihrem Tod wohl wahllos wieder ins Regal gestellt. Allmählich drang das Telefongespräch, das Joschi im Hintergrund führte, in Hannas Bewusstsein. Sie spürte seinen Blick auf ihrem Rücken, und Unruhe kroch in ihr hoch. Die angekündigten Gäste würden nicht kommen, und ob das nun Zufall war oder Absicht, es bedeutete, dass sie allein mit ihm in diesem großen Haus war. Joschi legte auf und kam auf sie zu. Das Glitzern in seinen Augen war ziemlich deutlich. »Wir können gleich mit dem Essen beginnen«, sagte er. »Mein Freund Dieter hat gerade abgesagt. Seine Frau ist schwanger und hat vorhin Blutungen bekommen. Sie werden also für Ihre Recherchen mit mir allein vorlieb nehmen müssen. Ich hoffe, ich kann Ihren Ansprüchen genügen.« Bei den letzten Worten trat er ziemlich nah an sie heran, sah ihr in die Augen und stieß mit seinem Sektglas an ihres. Hanna machte einen Schritt zur Seite und sagte kühl: »Welch ein Pech für Ihre Freunde, vor allem wenn sie einen solchen Hunger haben wie ich.« Damit strebte sie zielsicher auf das Speisezimmer zu. Spannung lag plötzlich in der Luft, das Schweigen dauerte einige Sekunden zu lang. Während Hanna sich am Büfett bediente, suchte sie angestrengt nach etwas, womit sie ihn auf ein Thema bringen konnte, zu dem sie mehr von ihm hören wollte. »Sind das die Bücher Ihrer Mutter?«, fragte sie schließlich unvermittelt. »Die Bücher meiner Mutter?« Joschi zog die Augenbrauen zusammen, während er ihr höflich den Stuhl zurechtrückte. Hanna setzte sich an den Tisch und wies mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer. 131
»Ach so, meine Büchertapete.« Joschi zwinkerte verständnisheischend. »Ja, die habe ich tatsächlich geerbt. Und die meisten stammen von meiner Mutter. Weißwein oder Rotwein?« »Gerne einen Weißen. Und ein großes Glas Wasser, bitte.« Als Joschi Hanna das Glas überreichte, sah er sie intensiv prüfend an. »Sie erinnern mich an meine Mutter. Wenn wir eingeladen waren, hat sie auch immer so wie Sie eben vor den Bücherregalen gestanden, den Kopf schief gelegt, um die Titel lesen zu können. Sie hat gemeint, dass sie damit die Leute besser kennenlernen würde. So was Abgefahrenes!« »Aber nein! Sage mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist.« »Also, das versteh ich nicht. Wenn ich jemanden kennenlernen möchte, dann unterhalte ich mich halt mit ihm. Da erfahre ich doch viel mehr über ihn als aus ein paar Büchern, die irgendwo herumstehen. Hier würden Sie doch zum Beispiel einen ganz falschen Eindruck kriegen. Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass das Karlas Bücher sind?« »Karla?« »Meine Mutter wollte, dass ich sie beim Vornamen nenne. Das war damals pädagogisch gerade in.« »Ach so. Nun, ich vermute, dass Sie sich kaum freiwillig einen halben Meter Simone de Beauvoir und weitere Emanzipationsliteratur zulegen würden. Die Werke sind aber alle schon älter, keines ist in den letzten zehn Jahren erschienen. Und da in diesem Haus nichts auf die ständige Anwesenheit einer Frau hindeutet, schließe ich, dass es nicht die Bücher Ihrer Frau oder Schwester, sondern die Ihrer Mutter sind.« Hanna stand auf und holte sich den nächsten Gang, Parmaschinken und Spargel. Deswegen wandte sie Joschi glücklicherweise gerade den Rücken zu, als er sagte: »Du liebe Güte, an Ihnen ist ja eine Detektivin verloren gegangen.«
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Sie zuckte zusammen. Das hatte sie ja prima hingekriegt! Um ihn von ihrer Harmlosigkeit zu überzeugen, sagte Hanna leicht geziert, als genierte sie sich: »Ach, ich interessiere mich nur etwas für Literatur. Ich habe das mal studiert.« »Und? Nix draus geworden?«, fragte Joschi herablassend. Er schenkte sich bereits das zweite Glas Weißwein ein. »Nein, nach einiger Zeit ging mir das ewige Hermeneutikgeschwätz und das werkimmanente Gepule auf die Nerven.« Joschi nickte, als verstünde er, wovon sie sprach. »Und was haben Sie stattdessen gemacht?« »Dann habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht. Ich war schon als kleines Mädchen gut in Karate, und als Studentin war ich an der Spitze der Uni-Mannschaft, und mein Karatelehrer hat mich gefragt, ob ich denn nicht Kurse für ihn übernehmen wolle.« Offenbar war sie doch nicht so schlecht im Geschichtenerfinden. Ihr Karateunterricht war schon recht lang her und auch nicht sehr intensiv gewesen, geschweige denn, dass sie es je an einen Spitzenplatz geschafft hätte. Aber es war besser, wenn er glaubte, dass sie sich notfalls wehren konnte. »Ach ja?« »Doch auf die Dauer wurde mir das zu eintönig.« Sie verzog etwas abschätzig die Mundwinkel. »Darum bin ich jetzt freie Journalistin und befrage zum Beispiel Zahnärzte nach ihrem Freizeitverhalten. Haben Sie schon immer gewusst, dass Sie Zahnarzt werden wollen?« Joschi holte sich noch ein Wachtelbrüstchen in Aspik. »Ja, hab ich«, sagte er langsam. »Das wollte ich schon immer, schon als Kind. Mein Vater war auch Zahnarzt, ein starker, großartiger Mann. Ich habe ihn sehr bewundert und wollte immer so sein wie er. Ich war sehr gut in der Schule, von meinen Noten her hätte ich alles machen können.« Er war also auch nicht schlecht im Geschichtenerfinden. Sein Vater war doch Lehrer gewesen. Was hatte er nur von dieser Lügengeschichte? 133
»Haben Sie die Praxis Ihres Vaters übernommen?« Als Nachtisch gab es Bayerisch Creme, die Hanna besonders gern mochte, mit Himbeersoße. »Nein, leider starb er schon, als ich gerade mit meinem Studium begonnen hatte. Aber er blieb mein großes Vorbild.« Hatte er sich darum einen anderen Vater erfunden? Weil er ein Vorbild brauchte? Aber Joschi sprach schon weiter: »Und jetzt bin ich ein armer Waisenknabe. Ich stehe ganz allein auf der Welt.« Er hob sein Glas und prostete ihr zu. »Ach«, sagte Hanna scheinheilig. »Sie Ärmster! Ganz allein? Nicht das kleinste bisschen Tante nennen Sie Ihr eigen?« »Keine Tante, keinen Onkel, keine Nichte, keine Frau und keine Kinder. Nicht einmal einen Hund. Ich brauche ganz viel Trost und Zuwendung.« Joschi griff über den Tisch nach ihrer Hand und versuchte, bemitleidenswert auszusehen. Hanna zog ihre Hand zurück und faltete ihre Serviette zusammen. »Sind Sie fertig mit dem Essen?«, fragte Joschi amüsiert. »Ja, danke, es war spitzenmäßig. Schade, dass Ihre Freunde …« Er grinste. »Ach, ich finde das nicht so bedauerlich. Wir zwei kommen doch gut miteinander zurecht. Gehen Sie schon mal vor ins Wohnzimmer. Ich mach uns schnell einen Espresso, ja?« »Kann ich Ihnen helfen, die Sachen in die Küche zu tragen?« »Ach was, das lasse ich stehen. Das macht morgen meine Putzfrau.« Hanna juckte es in den Fingern, wenigstens die Platten mit den Resten vom kalten Büfett in den Kühlschrank zu stellen. Aber sie sagte sich streng, das sei nicht ihr Bier beziehungsweise Fleisch. Außerdem war in diesem Fall die Verlockung, ein paar
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Minuten allein mit Joschis Schreibtisch im Wohnzimmer zu sein, stärker als ihr Widerwille, Essen verderben zu lassen. Auf dem Schreibtisch lag eine Ledermappe, die aber nur weißes Papier mit Joschis Briefkopf enthielt. Ein kleiner Stoß ungeöffneter Briefe daneben sah hauptsächlich nach Reklame und Rechnungen aus. Ein Stapel mit Prospekten für Seniorenheime – seltsam, was wollte er denn damit? Unter dem Stapel blitzte ein Papier mit etwas Gold hervor. Neugierig hob Hanna die Prospekte hoch. Darunter lag ein mehrfach gefaltetes Blatt mit goldenem Briefkopf. Hanna nahm es in die Hand, um es sich anzusehen. In dem Moment hörte sie Joschi an der Tür. Erschrocken steckte Hanna den Brief in die Tasche ihres Kleides und griff nach einem Buch, das in Reichweite lag. Joschi trug das Tablett mit den Espressotassen und stieß mit dem Fuß die Tür zu. »Na, haben Sie Ihre Untersuchungen fortgesetzt?«, witzelte er, während er das Tablett auf den Couchtisch stellte. Hanna war sehr froh, dass er gerade nicht zu ihr hinsah. Er hätte unmöglich übersehen können, wie rot sie geworden war. »Ach, ich habe mich hier festgelesen«, sagte sie so leichthin wie möglich. »Dieses Buch über …« Wovon handelte es bloß? Sie hatte es falsch herum in der Hand und ließ es rasch fallen, um ihren Fehler zu überspielen. »… über Mallorca scheint mir sehr interessant«, schloss sie lahm. »Bitte setzen Sie sich.« Joschi wies auf das weiße Ledersofa. Als Hanna sich bewegte, raschelte das Papier in ihrer Tasche. Es beulte ihr Kleid deutlich sichtbar aus. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich müsste mal für kleine Mädchen. Wo …?« »Vorne im Windfang, neben der Haustür.« Joschi grinste verständnisinnig. Als Hanna die Tür der Gästetoilette abschloss, zitterten ihre Hände. So richtig eignete sie sich wohl doch nicht zur Detektivin. Sie holte das Blatt aus ihrem Kleid und glättete es. 135
Doch sie kam nicht dazu, es sich anzusehen, denn in dem Moment hörte sie Joschi draußen rumoren und wurde von der unsinnigen Vorstellung verfolgt, er hätte das Fehlen des Briefes bereits bemerkt und würde am Knistern des Papiers erkennen, was sie tat. Sie faltete das Blatt ganz klein zusammen und versteckte es in dem Reißverschlussfach ihrer kleinen Handtasche. Dann spülte sie und wusch sich geräuschvoll die Hände. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, saß Joschi auf dem Sofa und blickte sie anerkennend an. »Das gefällt mir.« Mit einer Geste lud er sie auf den Platz neben sich ein. »Neun von zehn Frauen schminken sich in dieser Situation die Lippen neu. Und ich hasse es, wenn hinterher alles voll Lippenstift ist.« Den Lippenstift hatte Hanna in ihrer Aufregung schlicht vergessen, aber Joschis siegessichere Arroganz empörte sie, und sie setzte sich betont beiläufig auf das zweite Sofa, das rechtwinklig zu dem seinen stand. »Wie mögen Sie Ihren Espresso?«, fragte Joschi und schenkte die heiße, schwarze Flüssigkeit in die kleinen Tassen. »Ähm … ohne Milch, zwei Löffel Zucker.« Hanna war noch immer steif vor Verlegenheit. »Schwarz und süß, ich hab’s mir doch gedacht.« Joschis Knie berührte ihres wie aus Versehen, und er zog es nicht zurück. Hanna verlagerte ihr Gewicht auf die andere Seite, um ihr Knie unauffällig wegbewegen zu können. Wo fand sich nur auf die Schnelle ein unverfängliches Gesprächsthema? »Wollen Sie nach Mallorca fahren?« Sie deutete auf den Reiseführer, den sie auf den Tisch gelegt hatte. Joschis Augen funkelten amüsiert. Er nahm ein Stückchen Würfelzucker, tunkte es in den Kaffee, bis es sich halb vollgesogen hatte, und biss dann mit seinen prächtigen Zähnen den knirschenden feuchten Zucker genüsslich ab. Er ließ ihn auf der Zunge zergehen und bewegte dabei seine Kiefer ganz, ganz 136
langsam vor und zurück. Währenddessen ließ er Hannas Gesicht keine Sekunde aus den Augen. Sein Blick saugte sich an ihrem Mund fest, und er sagte leise: »Ich mag Frauenlippen viel lieber nackt. Vor allem wenn es so schöne nackte Lippen sind wie Ihre.« Das ging zu weit. Hanna holte einen kleinen Block aus ihrer Handtasche und setzte ein professionelles Gesicht auf. »Also, jetzt müssen wir aber etwas arbeiten. Sie erzählten vorhin, es sei das Vorbild Ihres Vaters gewesen, das Sie zu Ihrer Berufswahl bewog.« Plötzlich sagte Joschi etwas, das der Wahrheit sehr nahe zu kommen schien. »Hm. Außerdem war dieser Beruf, als ich anfing zu studieren, der schnellste Weg, zu Geld zu kommen.« »Geld ist Ihnen also wichtig?« »Na ja, vor allem das, was man damit machen kann. Womit wir wieder beim Freizeitverhalten wären.« Warum sah er sie denn nur ständig so prüfend an? Sie trank ihren Espresso aus. »Okay, wunderbar. Wie sieht es denn damit bei Herrn Dr. Schneider aus?« »Nun, raten Sie doch mal, mein kluges Kind.« »Ich würde sagen, Sie sammeln keine Briefmarken, Sie züchten keine Kaninchen und Sie singen nicht im Männerchor.« Joschi bekam wieder dieses unverschämte grüne Funkeln in die Augen, das bei ihm offenbar Vergnügen signalisierte. »Exakt, Frau Detektivin. Die Kandidatin hat hundert Punkte.« »Und?«, fragte Hanna gedehnt. »Was tun Sie denn nun in Ihrer Freizeit?« Joschi lachte. »Ich glaube, ich muss Sie enttäuschen. Ich bin der ganz ordinäre Bildzeitungs-Niveau-Prototyp eines Zahnarztes. Ich mag hübsche Mädchen« – gezielter Blick auf sie – »und schnelle Autos, und ich hätte verdammt gern eine Yacht im Mittelmeer. Ich überlege schon die ganze Zeit, ob ich Ihnen 137
nicht etwas Besonderes bieten könnte – das Sammeln erotischer Erstausgaben, makrobiotische Kochkünste, scientologische Missionsarbeit. Würde sich doch gut für Ihren Artikel machen. Aber leider bin ich ein ganz gewöhnlicher Feld-, Wald- und Wiesenzahnarzt mit den Hobbys, die man von ihm erwartet.« »Na gut, da kann man halt nichts machen. Vielleicht haben Ihre Freunde oder Bekannten ja interessantere Gewohnheiten. Also, Mädchen, schnelle Autos und der Traum von einer Yacht im Mittelmeer. Ziemlich kostspielig. Wie hat sich die Gesundheitsreform denn darauf ausgewirkt?« Joschi verfiel in eine längere Schimpftirade über die Reformversuche, die notgedrungen zu einer Verschlechterung der Patientenversorgung führen würden. Das kannte Hanna alles schon aus dem Wartezimmer ihres Zahnarztes. Angaben über die Auswirkungen auf seine Freizeitvorlieben waren nicht darunter. »Es wurden viele Fehler gemacht, das stimmt schon«, erwiderte Hanna. »Aber andererseits muss sich doch etwas ändern. Unser Gesundheitswesen wird einfach unbezahlbar. Ein Punkt ist zum Beispiel die teure Gerätemedizin. Könnten Sie sich vorstellen, dass Naturheilverfahren …« Joschi schaute sie stirnrunzelnd an. »Sie erinnern mich wirklich an Karla. Genauso hätte sie auch argumentiert.« Er schüttelte erstaunt den Kopf. »Seltsam, wie oft ich an sie denken muss, seit … Viel öfter, als zu ihren Lebzeiten.« Hanna ergriff die Gelegenheit. »Wie war sie denn so?« Joschi setzte die Ellbogen auf die Knie und stützte das Kinn auf die Handrücken. »Ich weiß eigentlich nicht viel über sie. Ich war so lange im Internat.« Seine Augen verengten sich. »Sie war schon eine gute Mutter. Sie war, im Gegensatz zu meinem Vater, immer da, wenn ich der dritte Engel von links im Weihnachtsspiel war, sie ging in alle Sprechstunden der Lehrer und hat mich immer wieder aus schwierigen Situationen 138
herausgepaukt. Und ich hatte viele ›schwierige Situationen‹.« Joschi sagte es, als wäre er stolz darauf. »Ich war ein schlimmer Finger.« Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. »Aber was sie auch machte, irgendwie war es nicht genug. Es war nie genug. Ich hatte immer das Gefühl, als erfüllte sie möglichst schnell eine lästige Pflicht, um sich danach dem Eigentlichen zuwenden zu können.« »Und was war das Eigentliche?« »Ich weiß es nicht. Ich habe es nie herausbekommen. Ich jedenfalls war es nicht, ich war nicht die Nummer eins.« Und leise fügte er hinzu: »Und ich wäre es so gern gewesen.« Er schwieg eine Weile, dann kehrte sein Blick zu Hanna zurück, und er schlüpfte wieder hinter die Maske des Charming Boy. »Sorry, ich bin ein miserabler Gastgeber. Wir sitzen hier immer noch vor leeren Espressotassen. Dabei habe ich einen wunderbaren spanischen Rotwein dekantiert. Er ist weich und anschmiegsam. Ich mag das – bei Weinen wie bei Frauen.« »Mir nur einen kleinen Schluck bitte. Ich muss noch Auto fahren.« »Ja, wirklich?«, fragte Joschi mit tiefer Stimme und stand auf, um den Rotwein zu holen. Das wäre der Moment gewesen, in dem sie eigentlich hätte gehen müssen. So knieerweichend attraktiv sie ihn auch fand, sie wollte doch nicht … Irgendetwas stieß sie ab, und es war nicht der Verdacht, den sie anfangs gehabt hatte. Und während sie noch darüber nachdachte, wie sie ihm die Frage stellen konnte, die sie schon den ganzen Abend hatte anbringen wollen, war die Sekunde, in der sie höflich hätte aufstehen und sich mit Anstand hätte verabschieden können, schon vorbei. Joschi lächelte voller Genugtuung, als hätte er nichts anderes erwartet, als dass sie bliebe. Er ließ den Rotwein in die dickbauchigen Gläser gleiten und prostete ihr zu. »Auf Giselas 139
Schwangerschaft, die uns diesen wunderbaren Abend beschert hat.« Hanna nahm einen kleinen Schluck. »Nicht schlecht. Er erinnert mich an einen ganz ungewöhnlichen Rotwein, den ich vor Kurzem getrunken habe, einen fränkischen. Wussten Sie, dass man auch in Franken hervorragenden Rotwein macht? Ich war neulich in Bamberg. Das ist so eine schöne alte Stadt. Kennen Sie Bamberg?« Joschis spöttischer Blick glitt über ihren Körper. »Also, noch ein bisschen Smalltalk«, murmelte er und setzte sich neben sie. Um den Abstand zu ihm wieder etwas zu vergrößern, beugte Hanna sich vor und nahm eine Streichholzschachtel, die neben dem Leuchter auf dem Tisch lag. Sie spielte damit, stellte sie senkrecht und stupste sie an, sodass sie mit leisem Klappern umfiel. »Spielkasino Bad Wiessee« stand darauf, in goldenen, geprägten Lettern. »Nein, ich war noch nie in Bamberg«, sagte Joschi dezidiert. Er schüttelte unwillig den Kopf, nahm ihr mit einer katzengleichen Bewegung die Streichholzschachtel weg, steckte sie in die Tasche und sagte verkniffen: »Ich kann das nicht verstehen, dieses ganze ach so romantische Getue. Mir ist das alles zu eng. In solchen Gassen krieg ich Atembeschwerden. Mir ist schon München zu eng. Am liebsten würde ich alles hier hinschmeißen und wegfahren, hinaus aufs Meer oder nach Amerika, über endlose Straßen, mit einem starken schönen Auto – ja, das wär mein Ding, das wäre wirkliche Freiheit.« »Und warum tun Sie es dann nicht?« »Ach, das liebe Geld«, knurrte Joschi ärgerlich, »es reicht einfach nicht!« Erstaunt sah sich Hanna um. »Aber dieses Haus, in dieser Lage, in München! Wenn man –« »Das kann ich nicht verkaufen«, unterbrach er sie. »Karla, diese … diese treue Seele, hat testamentarisch verfügt, dass ich 140
das Haus zwanzig Jahre lang nicht verkaufen darf.« Seine Stimme klang höhnisch. »Damit ich meine Wurzeln nicht verliere!« »Ach so. Und die Praxis?« »Wer übernimmt denn heute noch eine nicht voll bezahlte Zahnarztpraxis! Da haben Sie die wirklichen Auswirkungen Ihrer Scheißgesundheitsreform! Von wegen Freizeitgestaltung. Freiheitsberaubung ist das. Ich bin wie ein Sklave gefesselt an all das hier, diesen goldenen Käfig, den ich nicht loswerden kann.« Hanna fühlte sich schrecklich unwohl bei diesem Ausbruch. Er würde ihr nicht verzeihen, dass sie den Riss in seiner glänzenden Yuppie-Fassade gesehen hatte. Was konnte sie nur sagen, um seine Worte abzuschwächen? Sie starrte auf ihre Hände. Da packte er sie und küsste sie hart auf den Mund. Überrumpelt hielt Hanna still. Joschis eine Hand hielt ihren Kopf, und die andere fing an zu wandern. Nein! Hanna bog mit beiden Händen Joschis Kopf zurück. Er sah sie mit verengten Augen an. »Jetzt reicht’s. Sag ja nicht, dass du nicht willst«, stand in diesem Blick. Also flüsterte sie ihm ins Ohr: »Ich bin gleich wieder da.« Sie ging in den Windfang, machte laut die Tür zur Gästetoilette auf und wieder zu, fischte sich ihr Tuch von der Garderobe und zog ihre Schuhe aus, damit sie nicht klapperten. Die Haustür ließ sie einen Spalt offen, und dann rannte sie zu ihrem Auto. Als sie die Autotür hinter sich zuschlug, fühlte sie sich, als wäre sie einer Falle entronnen.
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14 Am Mittwochmorgen betrat Benno um fünf Minuten vor neun Uhr das Büro von Karl Bolz. Er kam bewusst zu früh, und er hatte sich den Namen der Sekretärin gemerkt, denn er wollte die Gelegenheit nutzen, sich noch etwas mit ihr zu unterhalten. Sekretärinnen wussten meist mehr als ihre Chefs, vor allem aber wussten sie mehr als die meisten über ihre Chefs. »Guten Morgen, Frau Morgenthaler.« Er reichte ihr lächelnd die Hand. »Welch passender Name!« Verwirrt schaute die junge Frau ihn an. »Wieso?« »Sie sehen doch aus wie der junge Morgen. Fällt denn nicht jedem bei Ihrem Anblick der Spruch ›Morgenstund hat Taler im Mund‹ ein?«, fragte Benno, etwas geniert ob seiner plumpen Schmeichelei. Frau Morgenthaler schluckte sie aber ohne jede Schwierigkeit und sagte errötend: »Wollen Sie sich noch ein wenig setzen, Herr Staatsanwalt? Der Herr Stadtdirektor muss jeden Moment da sein.« »Ja, ich weiß, ich bin etwas zu früh dran, schlechte Angewohnheit von mir. Sagen Sie, sind Sie neu hier? Als ich das letzte Mal hier war …« »Ja«, unterbrach ihn Frau Morgenthaler eifrig. »Das war Frau Grüner. Ich bin die Schwangerschaftsvertretung. Frau Grüner wird in den nächsten Wochen ein Baby bekommen.« »Herzlichen Glückwunsch. Obwohl ich darüber fast verwundert bin, denn sie war sozusagen eine sehr zugeknöpfte Person. Ein Lächeln war ja schon ein hoher Gunsterweis, geschweige denn, dass sie mit einem gesprochen hätte.« »Ach, privat ist Frau Grüner sehr nett.« »Aber Sie sind eben auch dienstlich sehr nett.« 142
Frau Morgenthaler errötete wieder und sagte, als Benno auf die Uhr schaute, entschuldigend: »Der Herr Stadtdirektor wird gleich kommen. Er ist nur schnell heimgefahren, um zu duschen.« Benno hob fragend die Augenbrauen. Die Sekretärin erklärte: »Der arme Mann! Er hat ja gestern so viel Zeit versäumt wegen der Geschichte mit seinem Sohn. Und dann hat er offenbar die ganze Nacht durchgearbeitet. Er hat einfach so viel um die Ohren, der Herr Stadtdirektor. Er hat’s schon nicht leicht.« »Wirklich, der arme Mann«, sagte Benno völlig ernst. »So viel um die Ohren.« Frau Morgenthaler hörte die Ironie nicht. Sie erläuterte wortreich die verschiedenen wichtigen Tätigkeiten ihres Chefs. Es war schon zehn Minuten nach neun, als sich schließlich die Tür öffnete. Bolz trat auf, frisch gewaschen, im teuren Markenanzug und äußerst aufgeräumt. Benno fand den Geruch seines Rasierwassers widerlich. Bolz rieb sich die Hände. »Guten Morgen, Herr Staatsanwalt. Schön, dass Sie schon da sind. Morgenthalerchen, machen Sie uns einen Kaffee.« Frau Morgenthaler nickte und fragte Benno: »Möchten Sie auch einen Kaffee, Herr Staatsanwalt, oder lieber etwas anderes?« »Danke, ich hätte gern einen Tee.« Und er fügte hinzu, als würde er ihr ein Geheimnis anvertrauen: »Nur mit Zucker bitte.« Frau Morgenthaler lächelte Benno an. Dann wandte sie sich beflissen an ihren Chef: »Soll ich etwas Gebäck besorgen?« »Später, Morgenthalerchen, später.« Bolz drehte sich abrupt um und ging in sein Zimmer voraus.
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Benno zwinkerte der Sekretärin zu, bevor er ihm folgte und die Tür schloss. In dem weitläufigen Zimmer stand auf einem fast raumfüllenden Teppich ein riesiger schwerer Schreibtisch. An den Wänden hingen Ölschinken mit Bamberg-Ansichten um etwa 1930. Bolz ließ sich mit einer einladenden Handbewegung zu Benno hinter seinem Schreibtisch nieder. »Sie ermitteln also im Mordfall Rothammer.« »Ja, wir ermitteln wegen des gewaltsamen Todes von Frau Rothammer. Sie wissen davon?« »Es stand ja in der Zeitung. Wie schrecklich! Die arme Elfi!« »Sie haben Frau Rothammer gekannt?« »Ja, natürlich habe ich Elfi gekannt. Sie war die schönste Frau, die mir je begegnet ist.« Bolz gebrauchte unbewusst die gleichen Worte wie Böschen; es schien die Standardformel im Zusammenhang mit Elfi zu sein. »Ich war ein guter Freund ihres Mannes. Arthur hat mich damals in unseren Club gebracht. Vor Arthurs Tod haben wir eine Zeit lang viel miteinander unternommen.« Seine Hände glitten mit den Handinnenflächen ein paarmal an der Schreibtischkante entlang, und sein Gesicht wirkte für einen kurzen Augenblick geistesabwesend. Dann legte er die Hände wieder locker verschränkt vor sich auf die Schreibunterlage. Sieht aus, als hätte er das auf einem teuren Seminar gelernt, dieses freundliche Sitzen, dachte Benno. »Was für ein Jammer jedenfalls, dass Elfi so enden musste. Sie war einmal eine tolle Frau, lebenslustig und alles. Wir hatten gute Zeiten miteinander. Aber in den letzten Jahren ist sie immer komischer geworden, richtig schrullig. Manchmal dachte ich, dass sie vielleicht verrückt war.« »Wieso?«
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»Ach, wenn man etwas zu ihr sagte, dann antwortete sie entweder gar nicht, oder sie sagte etwas völlig Unpassendes.« »Vielleicht war sie ja nur schwerhörig geworden?« »Schwerhörig? Ach was! Wenn es um finanzielle Dinge ging, da hat sie gehört wie ein Luchs. Mann, war das ein geldgieriges Weib! Und wurde im Alter immer gieriger. Ich weiß gar nicht, wozu, so verlottert wie sie war.« Benno spürte ein Kribbeln in den Fingern. »Wann haben Sie Frau Rothammer denn das letzte Mal gesehen?« »Weiß ich nicht mehr. Ist jedenfalls schon eine ganze Weile her.« »Könnten Sie vielleicht versuchen, sich etwas genauer zu erinnern, wie lang die ›ganze Weile‹ ist: drei Wochen, drei Monate, drei Jahre?« Bolz kniff die randlosen Lippen noch etwas fester zusammen. »So etwa ein Jahr, würde ich sagen. Zum Schluss hatte ich mit Elfi nur noch geschäftlich zu tun.« »Wegen der Stiftung, die Arthur Rothammer gegründet hat?« »Natürlich, weswegen sonst?« »Was wollte Herr Rothammer eigentlich mit dieser Stiftung?« »Das steht doch in dem Testament, das Sie haben!« »Nein, daraus geht lediglich hervor, dass es diese Stiftung gibt. Woher wissen Sie denn, dass wir Herrn Rothammers Testament gefunden haben?« Bolz stutzte etwas. »Na, von Böschen natürlich. Hat der Ihnen nicht gesagt, worum es ging?« Benno antwortete nicht, sondern sah Bolz nur aufmerksam an. Er wollte hören, was der im Vergleich zu Böschen sagte. »Also, wie auch immer, Zweck der Stiftung war die Förderung von Kunst. Arthur hatte so einen Kunstfimmel. Auf jeder Einladung mussten wir erst irgendwelche künstlerischen 145
Darbietungen über uns ergehen lassen, bevor wir ans kalte Büfett durften: Dichter lasen, Sänger sangen, Bilder hingen im Treppenhaus, sogar eine Balletttruppe hatte er mal. Die hatten wenigstens kaum was an.« Bolz grinste. »Wir haben versucht, ihm das auszureden, aber er war unerbittlich. Na ja, und dann kam er auf die Idee, sein Haus nach seinem Tod zu einer ›Künstlerbegegnungsstätte‹ zu machen. Was man davon auch halten mag, so eine Stiftung ist jedenfalls günstig für die Steuer.« Bolz blinzelte Benno vertraulich zu, als hätte auch dieser das Problem, seine Millionen vor der Steuer zu retten. Benno bewahrte mühsam sein Pokerface. »Arthur hat wirklich gut verdient damals. Er war jedenfalls einer der Ersten nach dem Krieg, die begriffen hatten, wie das Spiel mit der Börse funktionierte. Und er hatte Glück, eine Menge Glück. Jedenfalls hatte er nach einiger Zeit ein erhebliches Vermögen beieinander. Und da er die Habgier seiner Frau kannte – ich denke jedenfalls, dass es das war –, also jedenfalls hat er einen großen Teil seines Vermögens in dieser Stiftung festgelegt und Böschen und mich als Stiftungsvorstand bestimmt.« »Ja, aber das verstehe ich nicht. Das Haus ist doch keine Künstlerbegegnungsstätte. Ist die Stiftung denn nicht in Kraft getreten?« »Tja, da gab es ein Problem – Elfi. Arthur hatte testamentarisch verfügt, dass mit einem Teil des Stiftungsertrags das Haus, die Einrichtung, der Garten und so weiter instand gehalten werden sollten. Doch Elfi hatte ein lebenslanges Wohnrecht. Erst nach ihrem Tod sollte das Haus zur Künstlerbegegnungsstätte umgebaut werden. Und Elfi blieb dort wohnen, obwohl sie das Haus gehasst hat und wahrhaftig genug Geld gehabt hätte, sich etwas anderes zu suchen. Ich weiß nicht, ob sie das aus Geiz tat oder aus Trotz. Jedenfalls brauchten wir 146
für alle Maßnahmen ihr Einverständnis. Wir konnten ja nicht über ihren Kopf hinweg in dem Haus etwas richten lassen. In den ersten Jahren ging es noch ganz gut. Wir haben, so wie es die Stiftungsbestimmungen festlegen, einen Teil des Ertrags für alle möglichen Reparaturen verwendet. Da war was mit der Statik, im Dach waren Holzwürmer, Leitungen mussten erneuert werden und so weiter.« Was ist der Mann eloquent! Das klingt, als hätte er es auswendig gelernt, dachte Benno. »Können Sie mir beschreiben, wie das in der Praxis ablief?« »Also, Böschen hat, wenn eine Reparatur am Haus oder an einem der Sammlungsgegenstände anstand, eine entsprechende Firma beauftragt und bezahlt«, antwortete Bolz geschmeidig, als hätte er diese Frage erwartet. »Ich habe die Rechnungen geprüft und sie am Ende des Jahres der Regierung vorgelegt. Aber das mussten wir, wie gesagt, jedenfalls mit Elfi zusammen tun. Allerdings wurde unsere Aufgabe im Laufe der Jahre immer schwieriger. Das heißt, Elfi wurde immer schwieriger. Sie hat die Leute derart schlecht behandelt: Entweder hat sie die Handwerker gar nicht ins Haus gelassen, oder sie hat sie beschimpft und ständig neben ihnen gestanden und jeden Handgriff kontrolliert. Jedenfalls haben wir schließlich keine Handwerker mehr gefunden, die bereit waren, einen Auftrag zu übernehmen, vor allem in der Zeit, wo man sowieso jedem Handwerker in den Hintern kriechen musste, damit er überhaupt kam. Dann hat sie gesagt, sie wolle selbst bestimmen, was in ihrem Haus gemacht wird, sie wüsste ja wohl am besten, was nötig sei, und wir sollten ihr das Geld überweisen.« »Und das haben Sie gemacht?«, fragte Benno ungläubig. »Ja, eine Zeit lang. Wir dachten, das würde die Situation erleichtern. Wissen Sie, sie hat uns auch irgendwie leidgetan. Denn sie war natürlich fürchterlich sauer, dass Arthur diese Stiftung eingerichtet hatte, fühlte sich jedenfalls gedemütigt und all so was und hat ständig gejammert, als müsste sie am 147
Hungertuch nagen.« Bolz hatte offenbar das Gefühl, er müsste für mehr Verständnis werben. »Wissen Sie, Elfi war eine Frau, der man schwer widerstehen konnte.« Er sah sein Gegenüber mit jenem Blick von Mann zu Mann an, der Benno ganz besonders zuwider war. »Sie war nach dem Tod ihres Mannes, sagen wir mal, für Trost ziemlich aufgeschlossen.« Wieder blinzelte er. »Und deshalb haben Sie ihr unkontrolliert Geld aus der Stiftung gegeben?« »Was heißt hier unkontrolliert?«, fragte Bolz. »Wir haben natürlich weiterhin die Rechnungen überprüft. Aber es wurde immer komplizierter mit Elfi. Sie hat überall herumerzählt, wir würden sie betrügen. Dabei hat sie uns übers Ohr gehauen, wo sie nur konnte. Das Haus verlotterte jedenfalls immer mehr. Nein, wir haben das mit den Reparaturen dann eingestellt. Wir wollten das Geld dem zweiten Stiftungszweck zukommen lassen, den bedürftigen jungen Künstlern.« »Aha, bedürftigen jungen Künstlern. Und wie haben Sie die rekrutiert?«, fragte Benno scharf. Die Nachsicht, die der Herr Stadtdirektor bis dahin zur Schau getragen hatte, begann merklich zu bröckeln. »Sagen Sie, was soll diese Fragerei eigentlich? Was hat denn all das mit dem Mord an Elfi zu tun?« »Im Fall eines gewaltsamen Todes müssen wir eben allen möglichen Spuren nachgehen, Herr Bolz. Vielleicht hat ja einer der geförderten jungen Künstler gemeint, er könnte die Förderung noch etwas ausdehnen?« »Ach Unsinn, das kann ich mir nicht vorstellen.« »Also, wie haben Sie die Künstler ausgewählt, denen die Förderung zugutekommen sollte?«
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»Wie das in solchen Fällen eben üblich ist. Eine Jury hat pro Jahr einen geeigneten vielversprechenden Kandidaten ausgesucht, dem dann der entsprechende Scheck überreicht wurde. Es ist ein erhebendes Gefühl zu sehen, wie sich die armen Kerle gefreut haben. Dass sich jemand freiwillig ein solches Dasein zumutet!« »Kann ich bitte eine Liste der Jurymitglieder und der bedachten Kandidaten haben?« Bolzens nicht vorhandenes Kinn rutschte in den Hemdkragen. »Das können Sie alles aus den Unterlagen ersehen. Ich habe sie für Sie aus dem Archiv holen lassen.« »Danke«, sagte Benno kühl. »Eine letzte Frage hätte ich noch, Herr Stadtdirektor. Die Akte der Arthur-Rothammer-Stiftung ist im Stiftungsreferat der Stadt nicht auffindbar. Können Sie mir etwas über den Verbleib sagen?« Benno wusste schon, während er fragte, was kommen würde. »Wie sollte ich? Ich bin seit zwölf Jahren nicht mehr dort tätig. Was weiß ich denn über deren Schlampereien!«, antwortete Bolz schneidend. Er stand auf. »Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ein Stadtdirektor hat so das eine oder andere zu tun.« »Auch ein Staatsanwalt kann nicht den ganzen Vormittag nur angenehm verplaudern«, sagte Benno. Einige Sekunden standen sich die beiden Männer wie Kater mit gesträubten Nackenhaaren gegenüber. »Vielen Dank für das Gespräch.« Bevor Bolz die Hand ausstrecken konnte, nickte Benno kurz und ging zur Tür. Frau Morgenthaler blickte ihm entgegen. Er brauchte gar nicht zu fragen. Sie holte von einem Aktenwagen zwei gut gefüllte Leitzordner und hielt sie Benno hin. »Die hat der Herr Stadtdirektor persönlich für Sie herausgesucht«, sagte sie strahlend, als könnte sie ihm damit eine besondere Freude machen. Was ja auch der Fall war, wenn auch aus anderen Gründen, als sie sich vorstellen konnte: Der Herr Stadtdirektor
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hatte sich also entgegen seiner Aussage persönlich um die Akten gekümmert. Die ganze Nacht? »Möchten Sie sie gleich mitnehmen, oder soll ich sie Ihnen per Boten zuschicken?« Benno wollte sie gern gleich mitnehmen, und Frau Morgenthaler machte eine große Plastiktüte für ihn frei, indem sie ihre eigenen Einkäufe daraus ausräumte. Sie lächelte noch, als er unter der Tür zu ihr zurückschaute, und das Lächeln blieb, bis der Summer auf ihrem Schreibtisch es vertrieb. Als Benno die Treppe hinunterkam, war der Rathauspförtner gerade dabei, einen Betrunkenen vor die Tür zu setzen. Benno schaute ihm zu, nickte und sagte: »Ich bin Staatsanwalt Berg. Wie lange bewachen Sie das Rathaus denn so aufmerksam?« Der Pförtner nahm Haltung an und rückte seine Mütze gerade. »Seit sechsundzwanzig Jahren, Herr Staatsanwalt«, sagte er zackig. »Respekt! Und wie lang am Tag? Ich meine, von wann bis wann ist hier die Pforte denn besetzt?« »Von sieben Uhr früh bis abends um sechs. Wir sind zu zweit und teilen uns die Zeit ein.« »Und wenn Sie abends weggehen, ist das Rathaus dann unbewacht?« »Schon, aber dann ist ja zugesperrt.« »Aber die Sekretärin von Herrn Bolz hat mir vorhin erzählt, ihr Chef habe die ganze Nacht hier gearbeitet.« »Das stimmt, den habe ich gestern Abend noch gesehen. Ich hab gestern mit dem Hausmeister und seiner Frau noch eine Runde Skat gespielt – machen wir immer dienstags –, und als ich so gegen neun Uhr gegangen bin, da kam der Herr Stadtdirektor zusammen mit Herrn Böschen, und beide hatten offenbar viel vor, so dicke Aktenkoffer, wie sie dabeihatten.« »Aber wie kommt der Herr Stadtdirektor denn ins Haus?« 150
»Der gehört natürlich zu denen, die einen eigenen Schlüssel haben. Manchmal gibt es ja auch abends noch Sitzungen oder so. Aber dann ist der Hausmeister zuständig.« »Ah, so ist das. Gut organisiert, muss ich sagen.« Benno deutete eine Art militärischen Gruß an und verließ nachdenklich das Rathaus. In seinem Büro machte er sich daran, die Unterlagen, die er von Bolz bekommen hatte, zu prüfen. Ihm war klar, dass Bolz und Böschen in der vergangenen Nacht die Unterlagen manipuliert hatten, aber dafür musste er erst einmal einen Beweis finden. Doch wie? Alles sah sehr ordentlich aus, alle Zahlen stimmten, soweit Benno das feststellen konnte. Sehr weit kam er mit seinen Feststellungen jedoch nicht, da er sich immer wieder verrechnete. Er konnte und konnte sich nicht konzentrieren. Warum rief Hanna nicht an, warum konnte er sie nirgends erreichen? Als er kurz davor war, seinen heimtückischen Taschenrechner, der ihn ständig foppte, an die Wand zu werfen, gab er es auf. Er würde die Unterlagen dem zuständigen Beamten bei der Regierung in Bayreuth zuschicken. Das würde allerdings dauern. Und wenn die dort ihrer Aufsichtspflicht nicht ordnungsgemäß nachgekommen waren, war es natürlich zweifelhaft, ob sie überhaupt etwas finden würden, was ihm Bolz ans Messer lieferte. Er war im Aufbruch zum Mittagessen, als das Telefon klingelte. Benno stürzte zu seinem Schreibtisch zurück. Aber es war nicht Hannas Stimme. »Grüß Gott. Mein Name ist Grüner. Ich war die Sekretärin von Herrn Stadtdirektor Bolz.« »Guten Tag, Frau Grüner. Wir hatten ja schon ein paarmal das Vergnügen. Wie geht es Ihnen? Wann kommt das Baby?« »Danke der Nachfrage. In etwa drei Wochen. Momentan geht es mir allerdings nicht so gut.« »Was ist denn?« »Herr Bolz hat mich gestern entlassen.« 151
»Was? Aber im Mutterschaftsurlaub … das kann er doch gar nicht.« »Der kann, glauben Sie mir. Aber deswegen rufe ich nicht an, sondern weil Frau Morgenthaler mir erzählt hat, dass Sie nach Informationen zur Arthur-Rothammer-Stiftung suchen.« »Ja, stimmt.« »Also, dazu kann ich etwas beitragen, weil ich das jahrelang miterlebt habe. Diese Stiftung war etwas, was Herr Bolz, Herr Böschen und Frau Rothammer unter sich ausgemacht haben. Und das nicht nur auf finanzieller Ebene.« »Was meinen Sie damit?« »Na ja, dass die auch privat was miteinander hatten. Am Anfang, hat mir meine Vorgängerin gesteckt, trafen die sich mindestens zweimal im Monat zu ›Besprechungen‹, und immer abends. Später, als ich schon da war, wurde das seltener, und dann rief nur noch sie, die Rothammersche, an, und Bolz und Böschen drückten sich, wo sie nur konnten. Immer musste ich Ausreden erfinden und sie am Telefon damit abwimmeln.« »Und wie hat Frau Rothammer darauf reagiert?« »Wütend. Einmal hat sie gezischt, das würden die Herren schon noch bereuen. Aber irgendwann hat sie aufgegeben. Die letzten Jahre hat sie nicht mehr angerufen.« »Sagen Sie, Frau Grüner, hatten Sie vielleicht auch Einblick in die geschäftlichen Unterlagen der Stiftung?« »Nein, solche Sachen hat der Herr Stadtdirektor immer persönlich gemacht, da hat er keinen anderen drangelassen.« »Vielen Dank, Frau Grüner, für Ihren Anruf. Ich muss Sie bitten, Ihre Aussage auch schriftlich zu Protokoll zu geben. Würden Sie das tun?« »Ja, natürlich.« »Gehen Sie bitte zu Herrn Kriminalhauptkommissar Sinz im Polizeipräsidium. Der erklärt Ihnen dann alles Weitere. Und 152
wegen Ihrer Entlassung wenden Sie sich doch mal an Rechtsanwalt Gieringer. Der ist ein Ass im Arbeitsrecht. Ich werde ihn anrufen und ihm Bescheid sagen.« Zum Mittagessen ging Benno ins Café Luitpold. Dort trafen sich um diese Tageszeit stets verschiedene Juristen, Richter und Rechtsanwälte. Mancherlei Probleme ließen sich auf diesem »kurzen Dienstweg« umgehen. Benno hatte gerade seine Bestellung – drei Bamberger Bratwürste mit Sauerkraut – aufgegeben, als Franz van Vinden an seinen Tisch trat, Abteilungsleiter bei der Deutschen Bank, ein sportlicher, freundlicher junger Mann, den Benno vom Tennisclub kannte. »Ist bei dir noch frei?«, fragte er. »Ja, setz dich«, sagte Benno und rückte sein Glas etwas zur Seite. »Ich wollte eigentlich Hauptkommissar Sinz treffen, aber der hat mir gerade gesimst, dass er’s nicht schafft.« »Der war heute früh bei mir und hat sich nach Elfi Rothammer erkundigt.« »Hast du Frau Rothammer denn gekannt?« »Ich war seit vielen Jahren ihr Kundenberater. Ich war der Einzige, der mit ihr zurechtkam. Sie war, nun ja, sehr eigenwillig. Aber wenn man ihre Kratzbürstigkeit erst einmal durchschaut hatte … Weißt du, sie war ein sehr einsamer Mensch. Und sie muss früher einmal sehr schön gewesen sein. Es hat mich total umgehauen, dass sie tot sein soll.« Die Kellnerin trat an den Tisch, und Franz van Vinden bestellte zerstreut das Börsengericht des Tages. Sie war schon fast am Tresen, da rief er ihr nach: »Und ein Mineralwasser, bitte.« »Na, ob sie das bei dem Krach hier gehört hat?«, bezweifelte Benno. Der hohe Raum mit den schweren Stuckdecken brodelte wie üblich vom Gespräch vieler Menschen. »Wann hast du Frau 153
Rothammer denn das letzte Mal getroffen?«, wollte Benno wissen. »Das hat mich der Kommissar auch gefragt. Laut meinem Computer war das am 15. Juli. Da hatten wir ein längeres Beratungsgespräch.« »Wirkte sie da auf dich anders als sonst, beunruhigt zum Beispiel?« »Nein, nicht beunruhigt. Aber unruhig schon. Sie war irgendwie zappelig, fast als erwartete sie etwas, wie ein Kind vor Weihnachten. Und sie fragte mich, ob sie für jemand anderen ein Konto eröffnen könne und welche Unterlagen sie dafür brauche.« »Hat sie gesagt, für wen?« Benno nahm dankend seine Bratwürste entgegen. »Nein, sie hat irgendwie geheimnisvoll getan, aber einmal sprach sie von ›dem Mädchen‹. Mehr hat sie nicht gesagt.« »Deine Abteilung ›Private Banking‹ kümmert sich doch, wenn ich mich recht erinnere, um Kunden der gehobenen Einkommensklasse. Hat Frau Rothammer denn dazugehört?« »Das kann man wohl sagen. Sie hat ein … sie hatte ein ansehnliches Vermögen. Und sie hat etwas daraus gemacht. Diese Frau hatte ein unglaubliches Gespür für Geschäfte. Wenn ich mir unsicher war, was ich kaufen oder verkaufen sollte, habe ich mich oft an das gehalten, was sie getan hat, und es war fast immer gut. Dabei hatte sie als Informationsquelle wohl nur ihren Fernsehapparat, keine Fachzeitschriften, kein Internet, keine Börsendaten … Sie konnte riechen, wohin etwas lief.« Die Kellnerin brachte das Essen, und van Vinden schaute bestürzt auf seinen Teller. »Habe ich das bestellt? Zwiebel?« »Ober sicher«, gab die Kellnerin spitz zurück. »Des Börsengericht vo heut: Gfüllta Zwiefel und Salat!«
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Der junge Mann begann resigniert zu essen, bemerkte aber nach dem ersten Bissen: »Ach, eigentlich gar nicht so schlecht.« »Esse ich auch oft«, meinte Benno, kam dann jedoch auf sein Thema zurück. »Was hat Frau Rothammer denn mit ihrem Geld gemacht?« »Oh, das ist ein besonderes Kapitel. Sie hat mir zwar verboten, jemals mit jemandem darüber zu sprechen. Aber jetzt ist sie ja tot. Und es schadet ihr auch nicht, im Gegenteil. Weißt du, Frau Rothammer war eigentlich eine Art Heilige. Für sich selbst hat sie ja fast nichts mehr gebraucht. Sie hat den gesamten Gewinn, den sie erzielte, an Flüchtlingsorganisationen gegeben.« »An Flüchtlingsorganisationen? Wieso denn das?« »Siehst du, du weißt auch nicht, was für ein Problem das ist. Fünfzig Millionen Menschen auf der Welt sind auf der Flucht vor Hunger, Folter oder Krieg. Und in den ärmsten Ländern ist es am schlimmsten. In Guinea zum Beispiel kommen, wenn ich mich recht erinnere, neunzig Flüchtlinge auf tausend Einwohner. In der EU sind es grade mal sechs. Und wir machen ein Theater, als würden die Asylanten uns morgen die Haare vom Kopf fressen.« »Das wusste ich wirklich nicht«, sagte Benno betroffen. Franz van Vinden schnaubte. »Am ärgsten trifft es immer die Kinder. Das musst du dir mal vorstellen: So viele entwurzelte Kinder, ohne Eltern, ohne Geschwister! Was wird denn später aus denen? Was das für die Zukunft, auch für uns, bedeutet!« »Woher weißt du das denn alles?« »Durch Frau Rothammer. Sie hat sehr genau Bescheid gewusst, hat sich immer ausgiebig informiert, mich um Downloads aus dem Internet gebeten und dementsprechend den verschiedenen Organisationen geholfen.« Benno schüttelte verwundert den Kopf. »Und davon hat keiner etwas gewusst?« 155
»Ich glaube nicht. Der Steuerbeamte vielleicht. Sie hat alles immer über mich abgewickelt, meist anonym.« »Aber warum?« »Sie war wohl selbst ein Flüchtlingskind, das seine Verwandten auf der Flucht verloren hatte. Sie hat einmal so eine Andeutung gemacht, aber sie war sehr zurückhaltend mit Auskünften über sich selber.« »Aber wir haben in ihrem Haus keinerlei Unterlagen gefunden, keine Kontoauszüge oder Ähnliches.« »Das kann ich mir nicht vorstellen. Frau Rothammer war äußerst penibel in diesen Dingen, sie hatte die Zahlen immer ganz exakt parat, sie muss genau Buch geführt haben.« »Hm, sieht so aus, als müssten wir uns noch einmal auf die Suche machen«, seufzte Benno und zahlte. Er verließ van Vinden mit einem großen Erstaunen. Das passte so gar nicht zu dem Bild, das er sich bisher von der Toten gemacht hatte. Und er fragte sich, wo wohl die Wahrheit zwischen den vielen Gesichtern eines Menschen wohnte. Nach seiner Verhandlung am Nachmittag fuhr Benno auf dem Heimweg zum Polizeipräsidium, einem großen modernen Gebäude in Grau und Grün im Osten der Stadt. Werner hatte eine Lagebesprechung vorgeschlagen, war aber noch nicht von seinem Besuch bei Anneliese Kurt zurück, als Benno in sein Büro kam. Ein paar Minuten später stürmte er ins Zimmer und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Entschuldige. Es hat bei Frau Kurt ein bisschen länger gedauert. Das ist eine tolle Frau! Die muss an die neunzig sein. Sie hatte offenbar arge Schmerzen im Bein. Aber so was von beherrscht und freundlich!« Werner schüttelte beeindruckt den Kopf. »Und ihre private Buchhaltung erst! Stell dir vor: Seit dem Tag, an dem sie das Vermächtnis von Arthur Rothammer 156
bekam, hat sie jeden Pfennig, den sie ausgegeben hat, aufgeschrieben, bis hin zu den Briefmarken.« »Und wieso hat sie dieses Vermächtnis gekriegt?« »Sie war Arthur Rothammers Kindermädchen und wohl so eine Art Ersatzmutter, nachdem seine Mutter weggegangen war. Sie hat mir ohne Weiteres ihre gesamte Buchhaltung, gezeigt, lauter dicke Schulhefte mit endlosen Kolonnen von fein säuberlich geschriebenen Zahlen. Also, das Geld, das sie geerbt hat, ist in sicheren Papieren angelegt. Sie bekommt jeden Monat einen kleinen Betrag überwiesen. Davon kann sie zusammen mit ihrer Rente das Heim bezahlen. Was dann noch übrig ist, ermöglicht ihr ein paar bescheidene Extras. Die einzige größere Ausgabe, die mir auffiel, war für die Kirchenrenovierung ihres Bruders, der irgendwo auf dem Land Pfarrer ist.« »Sieht ja alles schwer verdächtig aus.« »Hm, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass wir da noch irgendetwas finden. Nur mit Angaben zur Familie Rothammer war sie sehr sparsam. Sie findet wohl, das gehe die Polizei nichts an.« »Das bringt uns also auch nicht weiter. Was haben wir denn überhaupt bisher?«, fragte Benno, wissend, dass Werner auf diese Frage wartete. Werner stand auf und holte seine Notizen vom Schreibtisch. »Lass uns mal zusammenfassen«, sagte er einleitend. »Fangen wir mit dem Opfer an. Die Tote hieß Elfi Patzik, geboren am 20.11.1937 in Hirschberg, Schlesien. Sie heiratete am 15.8.1960 Arthur Rothammer, der am 18.12.1979 bei einem Autounfall ums Leben kam. Elfi Rothammer war alleinstehend, sie hat keine lebenden Verwandten mehr. Bohrer hat das gecheckt.« »Euer grandioser Umstandskrämer?« »Ja, das ›Genie in Uniform‹.« »Hm?« 157
»So hat er sich mal selbst bezeichnet. Das heißt also, dass ihr Vermögen an den Staat fällt. Oder kriegt das die ArthurRothammer-Stiftung?« »Das weiß ich nicht. Erb- und Stiftungsrecht sind Bereiche, in denen ich mich nicht so auskenne. Ich werde mich morgen schlaumachen.« »Steht denn nichts darüber in den Akten, die dir Bolz gegeben hat?« »Nein. Diese Akten sind überhaupt eigenartig, so nichtssagend. Ein paar Sachen fallen allerdings auf. Zum Beispiel: Arthur Rothammer hat die Stiftung im Februar 1979 gegründet. Zehn Monate später war er tot. Er starb drei Tage, nachdem er sein Testament gemacht hatte. Passender Autounfall, findest du nicht? Danach scheinen sich Bolz, Böschen und Frau Rothammer sehr eng zusammengeschlossen zu haben. Ich bin überzeugt, dass sie die Stiftungsgelder, oder zumindest die Erträge, unter sich aufgeteilt haben.« »Aber wie denn? So eine Stiftung unterliegt doch der staatlichen Aufsicht, oder?« »Da ist in der Satzung der Arthur-Rothammer-Stiftung eine juristische Untiefe. Arthur Rothammer hat neben Böschen den Stiftungsreferenten der Stadt Bamberg mit der Verwaltung der Stiftung beauftragt, aber er hat sie nicht zu einer sogenannten ›rechtsfähigen örtlichen Stiftung‹ gemacht, die vom Stadtrat kontrolliert würde. So prüft nur die Regierung in Bayreuth einmal jährlich die Rechnungen. Und die sehen makellos aus. Was aber hier in Bamberg mit den Geldern passierte, hat niemand geprüft.« »Und was haben sie offiziell damit gemacht?« »In den letzten Jahren angeblich junge, mittellose Künstler unterstützt. Aber in den Akten findet sich weder eine Liste der Künstler noch eine der Jurymitglieder, die die Begünstigten
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ausgesucht haben. Das heißt, ich muss noch mal bei Bolz oder Böschen vorstellig werden.« »War denn ein Zweck der Stiftung nicht auch der Unterhalt des Hauses am Nonnengraben?« »Ganz richtig. Und so, wie das Haus aussieht, kann da irgendetwas nicht stimmen. Da müsste man mal bei den Firmen nachfragen, von denen die Rechnungen in den Unterlagen stammen.« »Das kann Bohrer morgen tun. Schau nicht so, ich habe nur ihn. Die andern sind alle mit den Russen beschäftigt.« Werner klopfte mit seinem Stift nachdenklich auf den Tisch. »Wie ist das denn mit dem Stiftungsvermögen? Das muss doch auf irgendeinem Konto liegen.« Er schaute Benno an, als glaubte er selbst nicht an diesen Hoffnungsschimmer. »Bei den Unterlagen waren nicht etwa Kontoauszüge?« »Nein, waren sie nicht. Und das kannst du auf die Schnelle auch vergessen. Das Depot des Vermögens ist bei einer Bank in Basel. Um da dranzukommen, müssen wir ein Rechtshilfeersuchen über das bayerische Justizministerium an die Schweizer Justiz stellen. Das dauert Wochen.« »Mist! Gibt es denn nichts, wo wir einhaken können?« »Tja, da ist noch eine kleine Feinheit: In der Satzung der Arthur-Rothammer-Stiftung wird der Stiftungsreferent der Stadt zum Verwalter der Stiftung bestimmt. Damit ist natürlich der jeweils gerade amtierende Stiftungsreferent gemeint. Aber Bolz hat diese Aufgabe, als er befördert wurde, einfach mitgenommen. Und damit niemand etwas merkt, hat er die entsprechende Akte aus dem Archiv des Stiftungsreferats verschwinden lassen. Leugnet er natürlich. Aber vielleicht lässt sich ihm daraus ein Strick drehen.« »Dann müsste ihm jetzt der Arsch eigentlich ganz schön auf Grundeis gehen.«
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»Ach, bei dem Gespräch mit mir wirkte er erstaunlich cool. Er scheint sich ziemlich sicher zu sein, dass man ihm nichts nachweisen kann.« »Ist ja alles schön und gut. Aber was könnte das alles mit unserem Mord zu tun haben?« »Vielleicht war Elfi Rothammer ja der Unsicherheitsfaktor in dem System Selbstbedienungsladen? Vorhin rief mich die ehemalige Sekretärin von Bolz an und erzählte mir, dass Elfi, Bolz und Böschen nicht nur geschäftlich verbandelt waren. Da lief offenbar auch irgendeine Sexgeschichte. Und als die Männer sie fallen ließen, hat Elfi wohl gedroht, die beiden würden das noch bereuen.« Werner pfiff leise durch die Zähne. »Oh, oh! Das klingt ja spannend. Und wie machen wir jetzt weiter?« »Ich denke, dass wir auf der Spur des Geldes bleiben sollten«, schlug Benno vor. »In diesem Fall steckt nämlich ein ganzer Haufen Geld: erstens das Stiftungsvermögen, zweitens das Geld, das Arthur Rothammer vererbt hat, und drittens das Vermögen von Elfi Rothammer. Was ist eigentlich mit dieser Schwester von Arthur Rothammer, die den Hauptteil seines Vermögens bekommen hat? Ist die auch schon verstorben?« »Ja, offenbar.« Werner war mit den Gedanken schon woanders. »Du, Benno, da gibt es ein Problem. Jemand müsste noch mal in das Haus am Nonnengraben gehen und die Bankunterlagen von Elfi Rothammer suchen. Herr van Vinden meinte, die müssten da sein.« Benno nickte. »Ja, richtig, das hat er mir auch gesagt. Vielleicht finden wir in ihren Kontoauszügen ja auch Gelder aus dem Stiftungsvermögen. Irgendwohin muss das ja geflossen sein, wenn …« Werner unterbrach ihn: »Aber ich bin morgen den ganzen Tag nicht da. Ich muss in Eger einen Vortrag über die bayerische 160
Polizeireform halten. Die finde ich in vielen Punkten so bescheuert, und dann muss ich mich im Ausland hinstellen und den Strahlemann machen und erzählen, wie toll das alles angeblich ist! Anordnung vom Chef.« Er verzog das Gesicht. »Das steht mir quer wie eine Gräte im Hals. Und außerdem hab ich eigentlich überhaupt keine Zeit dafür.« »In Eger? Kannst du denn Tschechisch?« »Nein, ich halte ihn auf Englisch. Das kommt noch dazu. Mein Englisch ist so was von super! Aber wegen der Kontoauszüge: Ich könnte morgen nur Bohrer in das Haus am Nonnengraben …« »Schon gut, ich habe verstanden.« Benno grinste. »Ich gehe. Morgen Nachmittag müsste ich das zeitlich unterbringen können.« »Danke, Benno. Dich interessiert dieser Fall wirklich, nicht wahr?« »Natürlich, so viele Morde hatte ich in meiner Laufbahn bisher noch nicht. Und wenn, dann war es meist das Übliche, im Pennermilieu oder in der Rauschgiftszene, irgend so ein armes Schwein, das nach zwei Stunden gefasst war. Oder der Ehemann, der es nicht ertragen konnte, dass seine Frau sich von ihm trennen wollte. Aber so ein richtiger Ermittlungsfall …« »Und dein Interesse hat nicht zufällig etwas mit einer gewissen Frau Dr. Tal zu tun?« »Schuft, natürlich nicht. Reines Berufsethos.« »Sie hat übrigens angerufen und sich nach dir erkundigt.« »Hanna? Bei dir?« Werner lachte. »Nein, bei Katja. Die mich daraufhin intensiv über dich ausfragte.« »Und, was hast du ihr erzählt?« »Na, dass du ein übler Schweinehund seist, von dem man besser die Finger ließe.« 161
Doch Benno lachte nicht über diesen Witz. »Mit der habe ich es sowieso verdorben«, knurrte er missmutig. Wie ihm das gelungen war, mochte er nicht erzählen. »Was hast du denn sonst noch so erzählt? Von Dagmar?« »Dass du schon mal verheiratet warst? Ja, sie hat mich direkt danach gefragt.« »Nach Dagmar?« »Nein, ob du verheiratet bist.« »Und was hast du gesagt, warum es schiefgegangen ist?« »Ach, ich hab es sehr poetisch ausgedrückt: dass sie Après-Ski wollte und du Morgenlicht, sie Bayern 3 und du Bayern 4. Gut, nicht?« Aber Benno war nicht in der Lage, Werners poetische Vergleiche zu würdigen. »Hm.« »Warum hast du Dagmar eigentlich damals geheiratet? Sie hat so wenig zu dir gepasst.« »Was glaubst du, wie oft ich schon darüber nachgedacht habe. Ich habe es vielleicht einfach satt gehabt, immer als der verlässliche große Bruder meiner jüngeren Geschwister zu gelten, der brave große Sohn, der Waldspaziergänge und Beethoven liebt. Ich kam mir so todlangweilig vor, wollte endlich mal ein bisschen Pfeffer in mein Leben bringen. Und außerdem habe ich natürlich geglaubt, dass ich sie liebe.« »Tja, es gibt nichts Unzuverlässigeres als den Glauben an die Liebe«, bemerkte Werner weise. »Du musst es ja wissen«, brummte Benno. »Aber wenn du mir mit deinen blöden Bemerkungen die Tour …« »Du hast doch gesagt, dass du es dir mit Frau Tal sowieso verdorben hast? Beruhige dich. Ich habe auch sehr Nettes über dich verlauten lassen: Dass du hervorragend kochen kannst, zum Beispiel. Das macht Frauen total an. Sogar auf mich ist davon
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noch ein kleiner Lichtstrahl gefallen, weil ich dir doch immer dabei geholfen habe.« »Wann hat sie denn angerufen?« »Vor acht Tagen oder so.« »Ach so. So lang schon«, murmelte Benno. »Ich hatte gehofft … Seit Dienstag früh ist Hanna nämlich nicht zu erreichen. Sie ist doch in diesem Fall eine wichtige Zeugin. Da muss sie doch …« »Nun mach dir mal keine Sorgen. Katja hat erzählt, dass sie beruflich viele Termine hat, auch außerhalb Bambergs. Die taucht schon wieder auf.« »Aber ich habe ihr doch gesagt, sie solle sich zur Verfügung halten. Sie hätte doch wenigstens telefonisch …« »Tja, das ist das Problem mit den Frauen, dass sie halt meist nicht das tun, was man will«, sagte Werner grinsend.
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15 Hanna dachte gar nicht daran, aufzutauchen. Sie war im Gegenteil gerade dabei, abzutauchen – ins Nachtleben, in die Untiefen des Spielkasinos von Bad Wiessee. Sie fühlte sich unsicher, denn sie war noch nie in einem Spielkasino gewesen und kannte weder die offiziellen noch die ungeschriebenen Spielregeln. War es vielleicht unmöglich, als Frau allein dorthin zu gehen? Wie war man angezogen, wie viel Geld musste man mindestens eintauschen, musste man dort essen oder kam man nach dem Essen? Ihr Wissen über Spielkasinos stammte von James Bond und Dostojewski. Sie hatte einen Urlaubstag wie aus dem Bilderbuch hinter sich, so einen Tag, an dem man nur die schönen Dinge sieht. Sie hatte sich ein Zimmer auf einem Bauernhof genommen und sich von ihrer Wirtin einen kleinen Moorsee zum Baden empfehlen lassen. Die Wanderung dorthin – Voralpenlandschaft pur: abgeerntete stachelig bleichgelbe Getreidefelder, das helle Blau der Kornraden und das rieselnde Gelb der Goldruten. Eine Luft, wie es sie nur Anfang September gibt, klar und blau zum Trinken, die Farben ohne das Mehlige des Sommers, die Schattenkonturen deutlich, doch weich. Hanna hatte den runden, sonnenüberglitzerten See am Ende des Weges ohne Mühe gefunden. Das dunkle Wasser war tatsächlich an der Oberfläche noch erstaunlich warm gewesen, auch wenn es darunter erschreckende kalte Strömungen gegeben hatte. Hanna glitt nackt hinein. Nackt schwimmen war für sie die Wonne schlechthin. Sie fühlte sich geborgen und schwerelos und ließ sich auf dem Rücken treiben mit dem Blick im unendlichen Himmel. Es war ganz still, nur hin und wieder ein Plätschern, wenn sie sich bewegte oder ein Fisch sprang. In den Büschen am See tschilpte hell ein Vogel. Einmal hatte ein 164
Traktor im Wald getuckert. Danach war die Stille noch intensiver gewesen. Jetzt fuhr sie mit ihrem kleinen Golf durch diese zauberhafte Landschaft auf Bad Wiessee zu. Die Berge lagen als klare Linien vor dem goldenen Himmel, Goldstaub hier auf einem Dach, dort an einer Holzwand – schimmernd die ganze Welt. Der sanfte müde Finger der Sonne strich über Zaunlatten und ließ sie glänzen. Das zufriedene dunkle Muhen der gemolkenen Kühe in den Ställen mischte sich in die helleren Glocken der Draußengebliebenen, einmal ergänzte das Bimmeln einer Kapelle die Töne zum Dreiklang. Weiche, würzige Luft strich durch die offenen Autofenster. Hanna fuhr ganz langsam, um das Glück nicht zu stören. Oben am Hang blieb sie stehen, stieg aus und schaute. Lange, um so viel wie möglich von diesem Licht in sich aufzusaugen. Nach und nach bekam die Kupferplatte des Tegernsees kleine schwarze Löcher im Schatten der Wellen. Es wurde langsam dunkel. Also stieg sie wieder ins Auto und fuhr hinunter in den Ort, der am See entlangwucherte. Viel Geld war da zu sehen. Das Kasino war eine Enttäuschung. Hanna hatte Glamour und Glitzer erwartet, wenigstens falschen: Strass und dritte Zähne, Champagner und angeklebte Wimpern. Nichts davon, stattdessen ein geschäftiges Hin und Her. Hanna war eindeutig zu elegant gekleidet. Sie fragte die beiden Aufsichtsbeamten im Vorraum der großen Spielhalle nach den Regeln; sie sei das erste Mal hier und fühle sich etwas hilflos. Aber die beiden abgebrühten älteren Herren ließen sich von ihrem Charme nicht einwickeln und empfahlen ihr nüchtern, sich einfach umzusehen; sie würde es dann schon lernen. Sie befolgte den Rat, ging im Saal von Tisch zu Tisch, sah zu. Dennoch dauerte es eine Weile, bis sie erkannte, dass die einzigen wirklich gut gekleideten Männer, die in den schwarzen Anzügen und Fliegen, die Croupiers waren, drei an jedem Tisch, dazu auf erhöhten Stühlen die Saalchefs. Dazwischen überwiegend 165
Männer, Männer in Straßenanzügen und Krawatte, viele sahen asiatisch oder arabisch aus. Einige erstaunlich biedere Frauen, Nachbarinnen von nebenan. Eine in einer Art Trainingsanzug, mit wirren Haaren. Ein Geruch von Einsamkeit dümpelte zwischen den Menschen, sie sahen sich nicht an, keiner lächelte, es wurde nur wenig gesprochen. Eine Frau in einem blauen Kirchenvorstandsgattinnenkostüm bekam an jedem Tisch Streit mit den Croupiers. Sonst hörte Hanna vor allem das Klappern der Chips. Anfangs begriff sie nicht, was da vor ihren Augen auf den grünen Tischen geschah. Verwirrende Haufen bunt gefärbter Plastikplättchen lagen zwischen den aufgemalten Linien oder darauf, dann rollte die Kugel, sprang herum, blieb in einer Vertiefung liegen. Die Croupiers holten mit ihren Rechen die meisten Chips zu sich, sortierten sie in Kästchen. Allmählich verstand sie einige der Regeln und begann vorsichtig, die ersten Chips zu setzen. Sie gewann häufig bei den einfachen Chancen und beim Dutzend, verlor aber, als sie mit höherem Risiko setzte. Nach einer knappen Stunde hatte sie zu ihren hundert Euro Einsatz fünfundfünfzig Euro dazugewonnen, und das Spiel begann ihr Spaß zu machen. Sie riskierte etwas mehr, verlor, gewann dann wieder. Sie zählte gerade ihr Plastikvermögen, als ein Mann neben ihr zwei Fünfhunderter auf den Tisch warf. Der Croupier gab ihm dafür Chips, die der Mann hastig über die Felder verteilte – all das, während die Kugel schon rollte. Eine Sekunde später war von den tausend Euro fast nichts mehr übrig; der Croupier hatte nur wenige Chips liegen gelassen, die der Mann erneut setzte. Seine Hände zitterten, gepflegte, hellhäutige Hände, die Hanna kannte. Also doch! Es war etwas Merkwürdiges gewesen an der Geste, mit der Joschi Schneider die Streichholzschachtel des Spielkasinos eingesteckt hatte. Hanna saß ganz still und hoffte, dass er sie nicht bemerkte. Nicht nach dem gestrigen Abend! Es war ihr nicht nur peinlich. In ihr stieg so etwas wie Furcht hoch. 166
Als er zum nächsten Tisch gegangen war, stand sie auf und ging zur Kasse. Sie hatte Mühe, nicht zu rennen. Der Kassenbeamte begann mit ihr zu flirten. Er machte einen Witz über die geringe Höhe des Betrags, den sie eintauschen wollte, und meinte, sie habe heute Abend ja nicht gerade die Bank gesprengt. Hanna lächelte gequält und trommelte mit den Fingern auf die Marmorplatte vor dem Schalter. Der Kassier legte hundertfünfzig Euro in Scheinen auf den Tresen, doch die Münzen waren ihm ausgegangen. Er zog einen Schlüssel aus seiner Jackentasche, schloss einen kleinen Tresor zu seinen Füßen auf, nahm zwei Rollen Münzen heraus und klopfte sie auf, alles in bayerischer Bierruhe. Hanna hätte ihn am liebsten angeschrien. Sie grapschte durch das Loch in der Glasscheibe der Kasse nach den Geldscheinen, sagte: »Behalten Sie den Rest« und hastete zur Tür. Aus dem Augenwinkel sah sie Joschi quer durch die Tische auf sich zukommen. Die verdammten hohen Absätze behinderten sie beim Laufen. Durch das riesige leere Treppenhaus und über den inzwischen dunklen Parkplatz bis zu ihrem Auto würde sie es nie schaffen. Sie eilte durch den kleinen Vorraum mit den beiden Kontrollbeamten und bog in den Gang zu den Toiletten. Als sie die Tür mit dem »D« hinter sich schloss, atmete sie erleichtert auf. Sie stopfte die in ihrer schwitzigen Hand zerknautschten Scheine in ihr Handtäschchen, erledigte, was zu erledigen war, kämmte sich und zog sich die Lippen nach. Joschi stand direkt vor der Tür. Er packte sie hart am Arm, schubste sie gegen die Wand und stemmte die Hände neben ihren Kopf. Seine Augen waren nur noch Schlitze. »Was tust du hier? Spionierst du mir nach?«, zischte er. Die Angst steigerte Hannas Wut. »Sind Sie verrückt?«, schrie sie. »Lassen Sie mich sofort los!« »Schrei nicht so!« Er presste seinen Körper gegen ihren. »Was denkst du dir eigentlich? An dem einen Abend lässt du mich mit offener Hose sitzen und am nächsten rennst du mir nach?« 167
Hanna versuchte ihn wegzustoßen. »Sie sollen mich loslassen!« Vergeblich. Joschis Lippen berührten ihre beinahe. »Ich habe dir vertraut«, sagte er leise und drohend. »Ich habe tatsächlich gedacht, du bist anders als die andern.« Hanna versuchte, mit einer schnellen Bewegung unter Joschis Armen wegzutauchen. Doch er fing sie sofort wieder ein. Die Schritte eines Wachmanns klatschten über den Gang. »Was ist denn hier los?«, rief er alarmiert. Joschi steckte die Hände in die Hosentaschen und zuckte die Schultern. Der Wachmann sah Hanna fragend und erstaunt an. Sie strich ihr Kleid glatt und sagte, so ruhig sie konnte: »Dieser Herr belästigt mich.« »Herr Dr. Schneider belästigt Sie? Das kann doch nicht sein! Ich kenne den Herrn Doktor seit vielen Jahren, und er …« In einem Wandspiegel sah Hanna, wie Joschi hinter ihrem Rücken einen verständnisinnigen Blick mit dem Wachmann tauschte und ihm, mit der Hand vor seiner Stirn hin- und herwedelnd, zu verstehen gab, dass sie nicht ganz dicht sei. Der Mann machte einen Schritt auf sie zu. »Haben Sie eine Forderung an die Frau?«, fragte er Joschi beflissen. Joschi zupfte seine Manschetten zurecht. »Ach, lassen Sie sie gehen. Es lohnt sich nicht«, sagte er großmütig. Hanna zitterte vor Zorn. Sie hätte diesen Scheißkerl erwürgen mögen. Dennoch gelang es ihr, leidlich würdevoll und langsam die glatte Marmortreppe hinunterzukommen. Erst in der Dunkelheit vor der Tür, dort, wo das Licht des Eingangs versickerte, zog sie ihre Schuhe aus und rannte über den endlosen finsteren Parkplatz zu ihrem Auto. Auf der Heimfahrt entspannte sie sich langsam. Sie schaltete das Radio ein, und allmählich nahm sie die Schönheit der Nacht um sich herum wahr. Unter dem dicken samtenen Himmel mit 168
großen Sternen hing ein Mond, der viel Licht gab. Die sanft geschwungenen, silberübergossenen Weiden, die Zäune mit den Mondlichtschatten, die Lichter vereinzelter Höfe. Und auch mit dem Ergebnis ihrer Nachforschungen war sie nicht ganz unzufrieden. Immerhin wusste sie jetzt, dass Joschi ein Spieler war – nach dem, was sie gesehen hatte, nicht unbedingt ein erfolgreicher Spieler –, dass er mit seinem Leben unzufrieden war, es aber aus finanziellen Gründen nicht ändern konnte, und dass eine gewisse Brutalität in ihm steckte. Das war doch etwas, was sie Benno präsentieren konnte. Diese Spur war weit vielversprechender als die arme Tanja. Am nächsten Morgen hielt Hanna auf dem Heimweg nach Bamberg gleich an der ersten Raststätte, an der sie vorbeikam, und rief ihre Tante an. Kunigunde freute sich darüber, dass sie mittags wieder da wäre, und ja natürlich würde sie eine Kleinigkeit zu essen machen. Dann rief Hanna Benno an, mit Flattern im Bauch, einer Mischung aus schlechtem Gewissen, weil sie sich so lang nicht gemeldet hatte, und Neugier auf seine Reaktion. »Hallo, hier spricht Hanna Tal. Ich …« »Hanna! Gott sei Dank! Ich habe mir schon solche Sorgen um dich gemacht. Wo warst du denn nur? Ich habe bestimmt hundertmal bei dir angerufen.« Benno atmete tief durch. Hanna lachte. Der Mistkerl und Macho war urplötzlich verschwunden. »Aber warum hast du dir denn Sorgen gemacht? Ich hatte einen Termin in München, der schon lange festgemacht war. Ich habe am Montagabend irgendwie vergessen, dir das mitzuteilen.« Sie versuchte, den Spott in ihrer Stimme möglichst zurückzudrängen. »Aber ich habe etwas herausgefunden, was dich interessieren wird. Du wirst dich wundern!«
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»Ich wundere mich sowieso über allerlei. Wann bist zu zurück?« »Ich bin gerade erst losgefahren. Gegen Mittag könnte ich wieder da sein.« »Das passt wunderbar. Willst du in mein Büro kommen?« »Ja, kann ich machen.« »Sehr schön. Ich freu mich.« »Also, bis dann.« »Bis dann. Und pass auf dich auf.« Er hatte sich Sorgen um sie gemacht, so. Sie hatte gedacht, er würde ärgerlich sein, weil sie sich nicht »zur Verfügung gehalten« hatte. Aber er hatte sich Sorgen gemacht, »solche Sorgen«. Sie nagte beunruhigt an ihrer Unterlippe. Diese Beziehung zu Benno war ein einziges Wechselbad der Gefühle. Sie wusste nicht so recht, woran sie war, aber noch viel weniger, was sie selbst eigentlich wollte. Da war sein offensichtliches Interesse an ihr, das ihr schmeichelte und das sie mit Wohlwollen hinnahm. Selbst sein Verhalten am Montagabend konnte sie, in die Kategorie »Eifersucht« eingeordnet, gnädig abnicken; sie selbst hatte sich ja auch nicht ganz fein benommen. Aber da war etwas, womit sie nicht umgehen konnte, was sie innerlich immer einen Schritt vorwärts und einen zurück machen ließ. Auf der langen Heimfahrt begriff sie allmählich, dass es Angst vor einer festen Bindung war, ziemlich große Angst. Seit Paolo … Ihre erste große Liebe und der Traum von einem Leben in einem venezianischen Palazzo waren damals in einer Resopalküche an den Ohrfeigen eines frustrierten und von seiner Mutter unter Druck gesetzten Mannes zerschellt. Seit damals hatte keine Beziehung länger als ein paar Wochen gehalten; sie waren auch nie anders gedacht gewesen und freundlich und schmerzlos verraucht. Aber Benno war kein Mann für so etwas. Wenn sie sich auf ihn einließ, würde das 170
lang und ernsthaft werden, und sie war sich nicht sicher, ob sie das wollte. Nein, sie war sich ganz und gar nicht sicher.
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16 Benno saß an seinem Schreibtisch und war glücklich. Sie hatte sich gemeldet, unverletzt und fröhlich. Und in ein paar Stunden würde er sie wiedersehen. An diesem Donnerstagmorgen hatte er schon um sieben Uhr bei Hanna angerufen. Er hatte wieder eine unruhige Nacht hinter sich gehabt, in der sich zu seinen Selbstvorwürfen Sorge gesellt hatte. Was konnte ihr nur passiert sein? Ein Verkehrsunfall? Vielleicht war sie vor ihrem Haus ins Wasser gefallen oder der Mörder hatte … In der Nacht kleidete Angst sich in vielgestaltige Gewänder. Benno überlegte, warum es ihn mit solcher Besorgnis erfüllte, dass er Hanna nicht erreichten konnte. Übertrieb er schon wieder? »Du erdrückst mich mit deiner Sorge, du nimmst mir ja die Luft zum Atmen«, hatte seine Frau gesagt, wenn er sie wieder einmal kritisiert hatte, weil sie unbedingt Motorrad fahren oder Bungee jumpen musste. Für ihre schrägen Träume hatte er zu viel Erdenschwere gehabt, und sie hatte ihn nicht davon befreien können. Darum war sie gegangen. Er hatte es lange klingeln lassen und dann Werners Handynummer gewählt. »Ich kann Hanna noch immer nicht erreichen. Ich habe gerade bei ihr angerufen. Um sieben Uhr morgens ist ein Mensch doch normalerweise zu Hause.« »Vielleicht hat sie ja nicht in ihrem eigenen Bett geschlafen!« »Danke, du bist wirklich ein Freund. Könntest du bitte Katja anrufen und sie fragen, ob sie etwas von Hanna weiß?« »Kann ich machen.« Benno hörte, wie Werner sich vom Handy abwandte und rief: »Katja, hat Hanna dir gesagt, ob sie wegfährt oder etwas Ähnliches? Hier ist ein Staatsanwalt, der 172
sie ganz schrecklich vermisst.« Eine Stimme im Hintergrund antwortete, und dann war Werner wieder am Telefon: »Nein, Katja hat seit Tagen nicht mit ihr gesprochen. Wenn wir bis, sagen wir mal, morgen früh nichts von ihr gehört haben, sollten wir etwas unternehmen. Aber jetzt ist es wirklich noch zu bald.« »Ja, aber wenn …« »Benno, lass gut sein. Ich würde mich jetzt wirklich gern fertig rasieren, ich bin sowieso schon spät dran. Ich muss losfahren. Ich bin heute Abend zurück. Okay?« Werner hatte leicht reden. Der wusste schließlich, wo seine Katja war. Er war ja jetzt dauernd bei ihr. Eine Psychologin. Ausgerechnet. »Du willst doch bloß auf ihre Couch«, hatte er zu Werner gesagt. Er konnte ihn ja verstehen, vor allem, seit er Katja auf ihrem Fest neulich kennengelernt hatte. Diesem Fest, das für ihn den Beginn eines neuen Lebens bedeutete, denn dort war er Hanna begegnet. Sie war so lebendig, so ungewöhnlich, so strahlend. Und sie war so … so schön. Ihr Lächeln, ihr Mund, ihre Bewegungen, ihr … Es hatte ihn erwischt wie schon lange nicht, nein, wie noch nie. Die Tür knarrte, und da war sie, leibhaftig und unversehrt, ein Wirbelwind aus Ungeduld und roten Haaren. Bennos Herz raste. Er hätte sie am liebsten umarmt. Aber das war ja wohl unmöglich. So nahm er nur ihre Hände, drückte sie fest und sagte hastig: »Ich bin froh, dass du wieder da bist. Ich habe dir so viel zu erzählen. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wo warst du denn nur? Ich habe so oft bei dir angerufen! Ich wollte mich entschuldigen für mein Benehmen neulich, und ich wollte dir sagen, dass du dir um Tanja keine Sorgen mehr zu machen brauchst. Da steckt offenbar viel mehr dahinter. Ich bin da einer ganz großen Sache auf der Spur, und ich … Aber setz dich doch erst mal.«
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Hanna lachte leise abwehrend und sah ihn prüfend an. »Ich habe auch viel zu erzählen.« Sie versuchte, ihre Hände zu befreien. »Aber vielleicht ist das, was ich herausgefunden habe, gar nicht mehr wichtig.« Benno räusperte sich und trat einen Schritt zurück. »Doch, natürlich, jeder Hinweis ist wichtig. Ich bin schon … schon sehr gespannt …« Wie schön sie war, wie lebendig. »Aber setz dich doch erst einmal.« Er rückte seinen Stuhl ganz nah neben das Sofa. »Wo bist du denn nur gewesen?«, fragte er wieder. »Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich …« »… zur Verfügung halten, jawoll, Herr Staatsanwalt!« »Entschuldige«, sagte Benno leicht errötend, »nur … also, ich meine … du kannst wirklich nicht mitten in den Ermittlungen verschwinden, ohne dass jemand weiß, wo du bist. Wenn Werner, also Hauptkommissar Sinz, nicht dagegen gewesen wäre, hätte ich dich suchen lassen.« »Ich habe meiner Tante Kunigunde Bescheid gesagt.« »Und woher soll ich wissen, dass du eine Tante Kunigunde hast? Unter Tal stehst nur du im Telefonbuch.« Hanna schaute an ihm vorbei. »In Ordnung, ich entschuldige mich. Ich war so zornig. Aber ich hätte mich tatsächlich abmelden müssen. Vielleicht kann ich es wieder gutmachen, wenn du hörst, was ich erlebt habe.« Für ihre Reue hätte Benno ihr die Füße küssen mögen. Doch er verbarg seine Beglückung und sagte streng: »Na gut, fang an. Wo warst du?« »Ich hatte, wie ich dir schon am Telefon gesagt habe, in München einen Termin bei einem alten Herrn. Er besitzt Unterlagen zum Haus am Nonnengraben. Der Besuch war schon seit Langem verabredet. Aber dann kam noch etwas hinzu, was dich interessieren müsste. Meine besagte Tante Kunigunde, die in Bamberg alle und jeden kennt, hat mir einiges über die 174
Rothammers erzählt. Denn natürlich hat sie auch Elfi Rothammer und ihren Mann Arthur gekannt, war sogar mit ihnen zusammen im Tennisclub. Sie hat mich zu Anneliese Kurt geschickt, die jahrzehntelang als Dienstmädchen bei den Rothammers gearbeitet hat.« »Ach ja, Werner hat sie gestern besucht. Sie ist im Testament von Arthur Rothammer mit einem ziemlich großen Betrag bedacht worden.« »Kann ich mir vorstellen. Sie hat sich um Arthur und seine Schwester gekümmert, nachdem deren Mutter weggelaufen war. Die Kinder wurden ihr Lebensinhalt. Sie nannten sie Kürtchen. Ich war am Montagabend nach einem unerfreulichen Gespräch mit einem gewissen Herrn …« – Hanna schaute zur Decke und spitzte die Lippen, als wollte sie pfeifen – »da war ich also bei ihr, und sie hat mir ziemlich viel über die Familie erzählt. Und sie gab mir Briefe zu lesen. Aus all dem gehen zwei wichtige Befunde hervor: Erstens, dass die Familie einmal sehr reich gewesen sein muss, und es ist nicht klar, wo das Geld abgeblieben ist, und zweitens, dass Elfi nur noch einen einzigen lebenden Verwandten hatte, ihren Neffen Joschi Schneider. Der ist Zahnarzt in München. Und da dachte ich, wenn ich sowieso in München bin, könnte ich mir diesen Herrn Schneider doch mal anschauen.« »Was? Die Ermordete hatte einen Neffen? Himmelherrgottsakra, dieser Bohrer! … Aber hör mal. Soll das heißen, dass du auf eigene Faust Ermittlungen angestellt hast? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Weißt du denn nicht, wie gefährlich so etwas sein kann?« »Jetzt hör mir mal gut zu, Herr Staatsanwalt! Ich bin bisher ganz gut mit meinem Leben zurechtgekommen. Ich entscheide selbst, was ich tue oder nicht tue! Okay?« Zwischen ihren Brauen bildete sich eine zornig entschlossene kleine Furche. Darin hatte sich eines der wilden Haare verfangen. Benno hätte es gern gerettet. Aber da hatte sie es schon mit einer ihrer 175
resoluten Bewegungen beiseitegeschoben. »Hörst du mir überhaupt zu?« »Ja, sicher, ich … Tut mir leid, ich mache mir eben Sorgen.« »Ich mag es aber nicht, wenn man sich dauernd um mich sorgt. Das macht mich nervös!« »Aber wir ermitteln hier in einem Mordfall. Das ist doch …« »Willst du jetzt wissen, was ich herausgefunden habe, oder nicht?« »Ja, selbstverständlich will ich das wissen.« »Also, auch Joschi Schneider sieht nach viel Geld aus: feudal eingerichtete Praxis, teures Auto, großes Haus. Aber …« Sie machte eine kunstvolle Pause und sah Benno erwartungsvoll an. »Na?« Sie sieht aus wie die Göttin des Triumphes, dachte Benno. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen. Seine Hände zitterten leicht, und er klemmte sie zwischen die Knie. »Er spielt! Ich habe ihn im Spielkasino Bad Wiessee beobachtet.« »So, so. Das ist ja interessant.« »Das ist doch ein Motiv, oder?« »Na hör mal, nicht jeder, der spielt, bringt auch seine Tante um. Und wie kommst du überhaupt ins Spielkasino Bad Wiessee?« Hanna runzelte schon empört die Stirn, da klopfte es kurz, die Tür wurde aufgerissen, und Generalstaatsanwalt Daum marschierte ins Zimmer. Er nickte Hanna zu und sagte knapp: »Herr Berg, kann ich Sie kurz sprechen?« Er ging mit Benno in die entfernte Ecke des Raumes neben der Tür. »Herr Berg, Herr Stadtdirektor Bolz hat sich bei mir über Ihr Betragen beschwert.«
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»Das erstaunt mich. Ich habe mir besondere Mühe gegeben, den Herrn Stadtdirektor absolut korrekt zu behandeln.« »Aber was stochern Sie denn in diesen uralten Stiftungssachen herum? Sie haben doch einen Mordfall aufzuklären!« »Genau aus diesem Grunde stochere ich in diesen Stiftungssachen herum. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Mordfall.« »Das Ganze ist zwanzig Jahre her! Verschieben Sie Ihre historischen Studien und bleiben Sie doch erst einmal in der Gegenwart! Haben Sie sich schon um den Neffen von Frau Rothammer gekümmert?« »Woher wissen Sie …« Doch Daum ließ sich nicht unterbrechen. »Das tut nichts zur Sache. Er ist immerhin der einzige Erbe von Frau Rothammer.« »Ich vernehme zu diesem Thema gerade eine Zeugin. Eine Zeugin übrigens mit guten Ohren.« Der Herr Generalstaatsanwalt war konsterniert. »Wie meinen Sie das? Ich kann Ihnen nicht folgen!« Benno riss sich zusammen. »Vielen Dank für den Hinweis auf den Neffen der Ermordeten. Ich kann allerdings nicht ausschließen, dass wir auch in der Stiftungssache noch die eine oder andere Frage klären müssen, Herr Generalstaatsanwalt. Darf ich Sie nachher anrufen, um das zu besprechen, damit ich jetzt mit meiner Vernehmung fortfahren kann?« »Ja, ja, vernehmen Sie, vernehmen Sie. Und konzentrieren Sie sich auf den Neffen. Ich möchte von jetzt an jeden Tag über Ihre Ergebnisse informiert werden. Grüß Gott.« Benno starrte auf die geschlossene Tür, dann atmete er tief aus und ging kopfschüttelnd zu Hanna zurück. »Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass an der Sache etwas faul ist, dann war es dieser Auftritt. Der Herr Stadtdirektor und der Herr Generalstaatsanwalt essen jeden Mittwochmittag zusammen in 177
ihrem Club. Und dass Bolz von der Stiftungssache ablenken und den armen Neffen reinreiten will, ist doch unglaublich!« Benno war sich bewusst, dass er solche Details eigentlich gar nicht mit Hanna besprechen durfte. Aber einerseits war sie sowieso schon sehr in den Fall involviert und konnte vielleicht noch weitere nützliche Hinweise beisteuern. Und andererseits … und andererseits … Er rückte seinen Stuhl noch etwas näher zu ihr hin. Hanna fragte: »Was für eine Stiftungssache? Und was hat denn der reizende Karl Bolz damit zu tun?« »Ach, kennst du den auch?« »Wer in Bamberg kennt den nicht?« »Also, ich denke, das ist der springende Punkt in dem ganzen Fall. Das war so: Arthur Rothammer hat einige Zeit vor seinem Tod eine Stiftung gegründet, die junge Künstler unterstützen soll.« »Ach, dann steckt das Vermögen der Rothammers in dieser Stiftung!« »Zum Teil. Auffallend ist nur, dass zum Stiftungsvermögen auch das Haus am Nonnengraben gehört. Es soll aus den Mitteln der Stiftung unterhalten werden.« »Aber so, wie das Haus aussieht, ist da nicht viel unterhalten worden.« »Eben. Mit dieser Stiftung stimmt etwas ganz und gar nicht. Und Stadtdirektor Bolz und ein Rechtsanwalt Böschen stecken hackedick mit drin. Ich weiß bloß noch nicht, wie. Und mein General macht es mir ja nicht gerade leichter, es herauszufinden, nicht wahr? Aber ich find’s raus, und wenn er sich auf den Kopf stellt.« »Trotzdem solltest du Joschi nicht aus den Augen verlieren. Da habe nämlich ich kein gutes Gefühl! Überprüf doch wenigstens mal sein Alibi.« 178
»Was denn für ein Alibi? Wir wissen doch gar nicht, wann genau Elfi Rothammer ermordet wurde. Der Pathologe kann den Todeszeitpunkt nur auf ungefähr vor drei Wochen eingrenzen, auf ein paar Tage hin oder her legt er sich nicht fest. Und Zeugen haben wir bisher nicht aufgetrieben. Die Einzige, die uns da weiterhelfen könnte, wäre deine Tanja.« »Sie sagt, dass sie damals gerade ein paar Tage weg war, bei einer Freundin, und als sie zurückkam, war Frau Rothammer tot.« »Na gut, dann kann sie uns wenigstens sagen, wann das war. Das grenzt den Todeszeitpunkt vielleicht ein. Außerdem hat sie möglicherweise irgendwelche Besucher im Haus gesehen oder sonst etwas Verdächtiges bemerkt.« »Okay, ich schicke sie dir. Wann willst du denn mit ihr sprechen?« Benno schaute auf seine Armbanduhr. »Ich habe jetzt gleich eine Verhandlung, die den ganzen Nachmittag dauert. Und heute Abend habe ich was Besseres vor. Aber morgen früh, gleich um neun Uhr, würde es gut passen. Hier in meinem Zimmer. Es wäre schön, wenn du dabei sein könntest.« »Hm, ja, mache ich. Was … was hast du denn heute Abend vor?« »Ich werde die umwerfendste Frau meines Lebens zum Essen einladen. Irgendwo muss ich doch ihre Nummer haben?« Benno tat, als suchte er in seinen Taschen nach einem Stück Papier. Hanna schluckte. Da grinste er sie an. »Ach, eigentlich kann ich sie auch direkt fragen: Würdest du heute Abend mit mir essen gehen?«
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17 Hanna ging wie in Trance über die Obere Brücke, unter den sich kreuzenden gotischen Bogen des Alten Rathauses hindurch. Ihr war seltsam zumute. Etwas Entscheidendes war passiert, aber was? Jedenfalls konnte sie nicht mehr aufhören, an Benno zu denken. Kleine Blubberbläschen guter Laune stiegen in ihr auf. Summend kam sie bei Tante Kunigunde an. Sie betrat das Haus durch die schiefe Ladentür, wechselte mit der netten Ladeninhaberin einige Sätze über den bemerkenswerten Zusammenhang zwischen Kinderspielzeug und der allgemeinen Weltlage und ging nach oben. Tante Kunigunde stand am Herd und rührte in etwas Wohlduftendem. Sie strahlte, als sie Hanna sah, hielt ihr die Wange zum Küssen hin und zitierte spöttisch sich selbst: »Schön, dass du wieder da bist, Kind. Ich habe ›zufällig‹ eine Kleinigkeit zum Essen da. Magst du einen Teller? Ist in zehn Minuten fertig. Geh dir inzwischen die Hände waschen und schau dir Will an. Du wirst staunen, wie er gewachsen ist.« »In zwei Tagen? Hörst du auch das Gras wachsen, Tantchen?« »Sei nicht so frech, Kind. Du wirst schon sehen. Morgen geht Tanja mit ihm zur Vorsorgeuntersuchung. Er ist zwar das gesündeste Baby, das ich kenne, aber besser ist besser, und die Porzellankiste ist die Mutter der Vorsicht, wie ich immer sage.« Hanna flüchtete lachend aus der Küche und tat, wie ihr geheißen. Tanja klebte gerade Wills Windel zu. Will strampelte und krähte und klammerte sich an Hannas Finger fest, den sie ihm hinhielt. Sie lächelte Tanja an. »Hallo Tanja, wie geht es euch?« »Gut, danke. Deine Tante ist ein lieber Mensch. Ich danke dir.« 180
Tanja sprach leise, ohne Hanna anzuschauen. Hanna war gerührt; sie ahnte, wie schwer es Tanja fiel, so etwas zu sagen. »Ist schon gut«, brummte sie und fügte dann schnell in sachlichem Ton hinzu: »Du musst jetzt keine Angst mehr vor der Polizei haben. Ich komme gerade von Staatsanwalt Berg. Sie sind inzwischen überzeugt, dass du nichts mit dem Mord zu tun hast. Aber sie brauchen dringend deine Aussage. Du warst schließlich außer dem Mörder die Letzte, die Frau Rothammer lebend gesehen hat. Herr Berg würde dich morgen früh gern sprechen.« Tanja starrte finster auf Wills Windel, als wären die armen Klebestreifen schuld an ihrem Dilemma. Sie murmelte: »Ich will da aber nicht hin. Ich weiß doch wirklich nichts, was ich dir nicht schon gesagt hab.« »Erstens musst du es halt nicht nur mir, sondern auch denen sagen, damit sie es zu Protokoll nehmen und verwerten können. Und zweitens weißt du ja vielleicht doch etwas, woran du jetzt gar nicht denkst, was ihnen weiterhelfen könnte. Sie wissen zum Beispiel immer noch nichts Genaues über den Todeszeitpunkt.« »Morgen geht nicht, da muss ich mit Will zur Vorsorge«, sagte Tanja zögernd. »Dann gehst du halt, wenn ihr vom Arzt zurück seid. Ewig wird das ja nicht dauern. Wann bist du denn bestellt?« »Um acht Uhr.« »Na also. Da bist du doch spätestens um elf fertig. Ich frage mal, ob das geht.« Tanjas sagte nichts, aber Hanna spürte, wie sie sich verschloss. Sie bekam den abwesenden Rühr-mich-nicht-an-Blick, den Hanna von ihrer ersten Begegnung kannte, und schaute sich in dem netten kleinen Zimmer um, als sei sie schon wieder auf der Flucht.
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Hanna beunruhigte dieser Blick. Sie beugte sich über Will, fragte: »Kann ich ihn mal nehmen?«, und setzte sich mit dem Kind in den blauen Korbsessel neben der Wickelkommode. Sie begann mit ihm zu schmusen, blies ihm ganz vorsichtig ins Gesicht, was Will mit hellem Krähen quittierte. »Ach Will, du Wonneproppen«, seufzte sie. »Tante Kunigunde ist ganz vernarrt in ihn. Sie ist so glücklich, wie seit Langem nicht. Ich glaube, sie würde euch am liebsten behalten. Weißt du, wenn ihr einen festen Wohnsitz habt und keine Fluchtgefahr besteht, kann die Polizei dich auch nicht festnehmen, selbst wenn herauskäme, dass du euren Lebensunterhalt auf nicht ganz legale Weise ›organisiert‹ hast.« Hatte sie damit Tanjas Sorge erraten? »Aber ich kann hier nicht …«, murmelte Tanja. »Ich muss was Eigenes … Ich mag auch nicht dauernd dankbar sein müssen.« »Ach so ist das. Sag mal, wann hast du eigentlich deinen achtzehnten Geburtstag?« »In zehn Tagen, am 16. September.« »Tante Kunigunde hat mir gesagt, dass ihr Anwalt sich um dein Erbe kümmern will. Du hast doch erzählt, dass deine Eltern auf ein Haus gespart haben. Dieses Geld gehört eindeutig dir.« »Das hat Tante Doris doch längst verbraucht«, stieß Tanja verächtlich hervor. »Ich bezweifle, dass sie da so einfach drankonnte. Ich könnte mir vorstellen, dass das Vormundschaftsgericht es seinerzeit für dich angelegt hat. Das werden wir herausfinden. Und noch etwas: Doris hat bestimmt für dich Kindergeld oder eine ähnliche Unterstützung gekriegt. Wenn sie dich nicht vermisst gemeldet hat, hat sie das Geld wahrscheinlich die ganze Zeit zu Unrecht bezogen.« Tanjas Panzer bekam einen Riss. »Echt?«, fragte sie und schaute von der Wolldecke auf, an der sie herumgezupft hatte. »Können wir sie damit drankriegen?«
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»Ich glaube schon. Und ich würde sie mit Begeisterung drankriegen, die liebe Tante Doris, weil sie dir so Angst gemacht hat mit diesem Unsinn, dass man dir Will wegnehmen würde.« Doch die harte Schale hatte sich schon wieder geschlossen. Tanjas Miene sagte deutlich: Was weißt du schon von der rauen Wirklichkeit da draußen! Sie nahm Will auf den Arm und ging aus dem Zimmer. Hanna blieb noch einen Augenblick sitzen, um zu überlegen. Was hatte sie getan, um eine solche Abwehrreaktion hervorzurufen? Tanja hatte ihr doch vertraut? Wieso hatte sie jetzt Angst? Und wovor? Ob Benno doch recht gehabt hatte? Einiges von dem, was er gegen Tanja vorgebracht hatte, war ja tatsächlich fragwürdig. Wusste Tanja etwa doch mehr, als sie zugab? Tante Kunigundes energischer Gong rief sie zu Tisch. Jahrelang hatte sie sich über dieses Geburtstagsgeschenk einer Freundin mokiert. »Wie überaus passend, so ein Gong für einen Einpersonenhaushalt«, hatte sie gespottet und sich selbst bei jeder Mahlzeit zu Tisch gegongt. Jetzt hatte das Instrument endlich zu seiner wahren Bestimmung gefunden. Die »winzige Kleinigkeit«, die sie zubereitet hatte, war frisches Gemüse vom Markt und ein Berg lockerschaumiges Rührei. Will saß in einem Kinderstühlchen und versuchte konzentriert, nach einem Löffel zu greifen. »Er ist wirklich ein sonniges Kind«, stellte Hanna fest. »Schreit er eigentlich nie?« »Doch, schon«, antwortete Tanja knapp. »Wo habt ihr nur so schnell ein Kinderstühlchen besorgt?« »Die Frau Irmler von unten hat es uns geliehen«, sagte Tante Kunigunde. »Aber sie braucht es wieder. Könntest du uns vielleicht morgen Nachmittag dein Auto plus Chauffeuse leihen, damit wir eines kaufen fahren können?« 183
»Nein, tut mir leid, Tante Kunigunde, morgen muss ich arbeiten, sonst komme ich mit meinem Abgabetermin nicht klar. Aber Samstag früh muss ich sowieso etwas besorgen, wofür ich das Auto brauche, da kann ich euch mitnehmen. Apropos Auto: Ich habe mir neulich überlegt, wie du das damals eigentlich bei der Geburt gemacht hast, Tanja, so ohne Auto? Wie bist du denn in die Klinik gekommen?« »Ach, das war hart.« Tanja sah in ihren Teller. »Als die Wehen anfingen …« Tanja zögerte. »Was war, als die Wehen anfingen?«, fragte Tante Kunigunde. »Also, das Problem war, ich hatte ja nix von der Krankenkasse, so einen Schein, oder was man da braucht. Bloß meinen Personalausweis. Also musste ich in einem Zustand sein, wenn ich in die Klinik kam, wo sie keine Papiere mehr verlangen konnten. Na ja, als die Wehen anfingen, bin ich rübergelaufen zum Klinikum. Ist ja nicht weit, vom Paradiesweg aus. Und dann hab ich mich dort in die Kirche gesetzt und gewartet, bis das Fruchtwasser abgegangen war und die Wehen ganz oft kamen und ich’s wirklich nimmer aushielt. Dann bin ich in die Notaufnahme und hab gesagt, ich sei auf einem Spaziergang gewesen und hätte deshalb keine Papiere bei mir. Ich hab dann auf dem Gang gelegen, weil kein Zimmer mehr frei war, und Will lag im Bettchen neben mir.« Tanja grinste etwas schräg. »Und in der nächsten Nacht bin ich fort.« Hanna wischte sich mit der Serviette über die Lippen, damit man ihre Skepsis nicht bemerkte. Ob Benno diese Geschichte glauben würde? Aber Tante Kunigunde sah Tanja stolz an, küsste sie auf die Stirn und sagte: »Komm an mein Herz, Kind. Du bist aus dem Stoff, aus dem Welteroberer gemacht sind. Du imponierst mir!« Dann wandte sie sich an Will: »Du hast eine Mama, weißt du!« Hanna sah, dass Tanja mit den Tränen kämpfte.
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Irgendwann während des Essens gelang es Hanna, Tante Kunigundes Schilderung der begeisterten Äußerungen verschiedener Personen über Will zu unterbrechen und sie zu fragen: »Hast du schon mal was von einer Arthur-RothammerStifung gehört?« »Nein.« Erstaunt fügte Tante Kunigunde hinzu: »Arthur hat eine Stiftung gegründet? Wofür denn?« »Davon sollte unter anderem das Haus am Nonnengraben erhalten werden. Aber das ist doch in einem schrecklichen Zustand. Kannst du dir vorstellen, warum?« Tante Kunigunde überlegte. »Hm, weiß ich nicht. Brauchst du denn immer noch Informationen über das Rothammer-Haus? Dein Artikel ist übrigens gleich am Dienstag erschienen. Er war sehr gut. Eine ganze Menge Leute haben mich darauf angesprochen.« »Freut mich. Wenn ich heimkomme, werde ich mir die Zeitung gleich anschauen. Aber noch mal zum Haus am Nonnengraben: Weißt du vielleicht, ob dort einmal Reparaturen ausgeführt worden sind und welche Firmen daran beteiligt waren?« Zu ihrem Erstaunen wurde Tante Kunigunde etwas rot. Sie schluckte und antwortete erst nach einer Weile. »Hm, ja. Einmal wurde dort das Dach repariert, irgendwas mit den Sparren war nicht in Ordnung. Das weiß ich, weil die Firma unmittelbar danach bei mir war, um mein Dach neu zu decken, und da haben sie davon erzählt, wie Elfi sie so schikaniert hat, dass sie schließlich den Auftrag hingeschmissen haben. Drum konnten sie auch früher als erwartet zu mir kommen.« Tante Kunigunde lächelte in ihren Suppenteller. »Er war so wütend, man hätte ihm gar nicht zugetraut, dass er so wütend werden könnte. Hier am Tisch saß er und schimpfte. Aber mein Eierlikör hat ihn besänftigt. Den mochte er gern.« »Wer saß hier am Tisch und wurde mit Eierlikör besänftigt?« 185
Tante Kunigunde errötete erneut. »Der Herr Ernst. Alle nannten ihn nur den ›kleinen Herrn Ernst‹, weil er wirklich ziemlich klein ist. Er ist der Vorarbeiter bei der Firma Simanc, du weißt schon, die Dachdeckerfirma in der Memmelsdorfer Straße. Er machte damals alles dort, brachte Aufträge bei, organisierte den Einkauf, überwachte die Ausführung, alles. Er schien mir der gute Geist des Betriebs zu sein. Der alte Chef war ja eine ziemliche Niete, das Geschäft ging nur, weil er fast nie da war. Aber der junge Simanc soll anders sein, habe ich gehört.« »Du meinst also, dein Herr Ernst müsste auch über die Einzelheiten des Auftrags bei Elfi Rothammer Bescheid wissen?« »Er ist nicht ›mein‹ Herr Ernst«, sagte Tante Kunigunde verstimmt. »Aber wenn einer Bescheid weiß, dann er.« Hanna hätte ihre Tante gern noch ein wenig aufgezogen. Die Vorstellung war himmlisch: Tante Kunigunde und der schimpfende »kleine Herr Ernst« im blauen Arbeitsoverall beim Eierlikör in diesem Zimmer mit den polierten Möbeln und den Spitzenvorhängen und der tickenden Uhr und dem Blick auf das Brückenrathaus. Doch sie hatte das Gefühl, dass sie schwankenden Boden betrat und dass Tante Kunigunde es wohl nicht so lustig finden würde. Also fragte sie nur ganz sachlich: »Wo könnte ich Herrn Ernst denn wohl erreichen? Ist er noch bei der Firma Simanc?« Diesen Herrn Ernst, dem es gelang, Tante Kunigunde zum Erröten zu bringen, wollte sie jedenfalls gern kennenlernen. Und vielleicht erfuhr sie dabei ja etwas, was sie Benno abends als kleines Mitbringsel servieren konnte. »Ich glaube schon«, sagte Tante Kunigunde. »Er ist sieben Jahre jünger als ich, also hat er das Rentenalter noch nicht ganz erreicht. Fahr doch vorbei und frag nach ihm. Und … und nimm ihm eine Flasche von meinem Eierlikör mit.« 186
Hanna holte ihr Auto von der Schranne und parkte es in ihrem Hof. Dann packte sie ihr Köfferchen aus und bestückte die Waschmaschine. Eigentlich gehörte dieser Nachmittag noch zu ihrem Miniurlaub, doch sie wollte wenigstens die spärlichen Erkenntnisse aus den Unterlagen von Herrn Dechant in ihr Kellerkataster einarbeiten. Aber das hatte noch etwas Zeit bei dem schönen Wetter. Also setzte sie sich an den Tisch in ihrem kleinen Gärtchen zwischen Haus und Wasser, um die Post zu öffnen und die Zeitungen nachzulesen. Der Fränkische Tag hatte am Dienstag ausführlich über den Mord berichtet, allerdings ohne zu erwähnen, wer die Leiche gefunden hatte. Offenbar hatte Benno sie nicht genannt, um ihr unangenehme Fragen zu ersparen. Ihr Artikel über das Haus am Nonnengraben kam wirklich gut heraus, mit Bildern von früher und heute im Vergleich. Auch in den Ausgaben von Mittwoch und Donnerstag fanden sich kleinere Berichte zu dem Mord, in denen aber eigentlich nur stand, dass die Polizei noch keine Spur habe. Mangels anderer Erkenntnisse wurde häufig aus ihrem Artikel zitiert, was sie mit Befriedigung erfüllte. Doch zwischendurch schweiften ihre Gedanken immer wieder von der Lektüre ab, weil sich Benno zwischen die Zeilen drängte. Sie verschränkte die Hände im Nacken, schloss die Augen und ließ die Sonne auf ihrem Gesicht spazieren gehen. Die Zeitung glitt auf den Boden, und sie ließ sie liegen. Hanna stellte sich vor, wie es wäre, hier mit Benno … Frühstück im Sonnenschein zum Beispiel, oder abends, beim Geläut der Glocken (»Wenn die Mücken einen auffressen«, sagte Anna diabolica) … Nein, Schluss jetzt. Sie konnte nicht ewig so vor sich hin träumen. Der große Ast der Kletterrose an der Hausfassade musste dringend angebunden werden. Sie holte die Leiter aus dem Kellerraum unter dem hinteren Teil des Häuschens, lehnte sie an die Fassade und befestigte den Ast am unteren Ende des Balkongitters. Das muss ich auch mal wieder 187
streichen, dachte sie. Vielleicht habe ich am Wochenende Zeit dafür. Deshalb trug sie die Leiter nicht in den Keller zurück, sondern legte sie in das offene, von Arkadenbögen umgebene Untergeschoss des Hauses. Dann holte sie ihren Laptop. Sie war es gewohnt, gesehen zu. werden, wenn sie sich in ihrem Garten aufhielt. Auf der anderen Seite des Flusses flanierten ständig Touristengruppen vorbei und schauten herüber nach Klein-Venedig. Der Fluss war breit genug, um Geschehen und Personen zu anonymisieren. Für die da drüben war sie nichts als eine Puppe, die sich vor einer malerischen Kulisse bewegte. Aber heute war das anders. Sie fühlte sich beobachtet, direkt und persönlich. Nach jedem zweiten Satz schaute sie auf und spähte über den Fluss, um zu erkennen, wer sie da ansah. Aber sie konnte nichts entdecken. Das irritierte sie so, dass sie schließlich Laptop und Unterlagen nahm und sich an ihren Schreibtisch im Innern des Hauses zurückzog. Doch ihre Konzentration war dahin. Gegen vier Uhr machte sie sich auf den Weg zu Herrn Ernst.
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18 Benno löste das Polizeisiegel an der Tür des Hauses am Nonnengraben und schob sie auf. Drinnen öffnete er sämtliche Fenster, an denen er vorbeikam, vor allem die zum Garten, und klemmte ein paar Türen fest, um einen Durchzug zu erzeugen. Es roch zwar nicht mehr ganz so schlimm wie am Montag, aber so richtig lauschig war es noch immer nicht. Mit dem Strom frischer Luft wurde ihm etwas wohler, und er begab sich systematisch auf die Suche. Wo konnte Elfi Rothammer die Bankunterlagen versteckt haben? Sie hatte sie gar nicht versteckt, es war nur niemand auf die Idee gekommen, sie mitzunehmen. Sie standen im Wohnzimmerregal neben den Büchern, fünf schwarze Aktenordner. Als Benno sie herauszog, fiel ihm daneben ein kleines, in rotes Plastik gebundenes Büchlein auf. Da es handschriftliche Einträge enthielt, trug Benno es mit den Ordnern zusammen in den Garten, um es sich in Ruhe anzusehen. Er versuchte sich blätternd einen ersten Überblick über die Papiere in den Ordnern zu verschaffen. Aber es gab da Auszüge einer Vielzahl von Konten und Depots, zwischen denen er sich binnen Kurzem heillos verirrte. Das musste ein Spezialist begutachten. Er würde die Ordner bereitstellen, damit die Polizei sie abholen konnte. Die Kontoauszüge von Frau Rothammers Girokonto immerhin bestätigten Franz van Vindens Aussagen: Sie hatte immer wieder beachtliche Summen, die kurz vorher von verschiedenen Konten auf ihrem Girokonto eingegangen waren, an diverse Flüchtlingsorganisationen überwiesen. Benno wunderte sich, wie viele es gab, wie viel Bedarf da offensichtlich war. Dann nahm er sich das rote Plastikbüchlein vor. Es war Elfis Kinderpoesiealbum. »Zu Deinem Geburtstag alles Gute von 189
Deiner Dich liebenden Schwester Marie. 20.11.1948«, stand auf der ersten Seite. Dann folgten die üblichen poesiealbumtauglichen, rührenden, moralintriefenden Sprüchlein jeweils auf der rechten Seite und auf der linken gemalte Blümchen und Häschen, manchmal ein eingeklebtes Heiligenbild. Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her, dass Du es noch einmal wieder zwingst und von Sonnenschein und Freude singst. Denke immer an Deine Freundin Erika Wer ist der Glücklichste auf Erden? Der, der nie wünscht, noch glücklicher zu werden. Deine Lehrerin Schwester Gundrada Die Schule des Lebens kennt keine Ferien. Zur lieben Erinnerung an Deine Mitschülerin Hella Die ungelenken, bemühten Kinderschriften erinnerten Benno an Bilder von kleinen Mädchen mit langen Zöpfen, großen Schleifen im Haar oder auf dem Scheitel gedrehten Haarrollen, wie er sie im Fotoalbum seiner Mutter gesehen hatte. Kleine Mädchen, die sich mit der Zungenspitze an der Oberlippe bemühten, ihre Buchstaben auf dem vorsichtig mit dem Lineal gezogenen Bleistiftstrich balancieren zu lassen, bevor sie diesen wieder wegradierten. Kleine Mädchen, die an Nikolaus und Weihnachten mit verschwitzten Händen Gedichte aufsagten und auf Kindergeburtstagen Blinde Kuh spielten. Kleine Mädchen, für die der Ausflug nach der ersten heiligen Kommunion ein aufregendes Abenteuer war …
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Benno blätterte weiter. Die Sprüchlein füllten nicht das ganze Buch. Nach ein paar leeren Seiten begann eine Handschrift, die etwas älter wirkte: »Heute ist Marie gestorben, meine große Schwester, sie war die letzte Verbindung zur Heimat. Sie ist nach den Soldaten nie wieder ganz gesund geworden. Ich weine und weine. Ich denke an das Bächlein hinter unserem Haus daheim, das Bächlein ist meine lebhafteste Erinnerung, es war ganz flach, darum durfte ich darin spielen. Und im Sommer ganz warm. Voll heller und dunkler Flecken. An einer Stelle war so eine Mulde, da habe ich meine Puppe gebadet, so wie mich Mama immer gebadet hat. Aber bei Adda gingen die Arme und Beine ab und sind davongeschwommen. Ich habe geschrien, dann hat Marie sie mit dem Kescher unten am Wehr herausgefischt, und Papa hat sie wieder drangemacht, er war gerade auf Heimaturlaub da. Es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Die Arme und Beine von Adda waren danach steif, man konnte sie nicht mehr richtig bewegen, aber sie war doch wieder heile. Ich habe sie dann auf der Flucht verloren. Wir mussten aus unserem Haus raus, innerhalb einer Stunde, und durften nur ganz wenig mitnehmen. Ich war fünf Jahre alt. Wir kamen in ein Lager, da war es schrecklich. So viele Menschen, und als Klo gab es nur einen offenen Graben. Und jede Nacht kamen die Soldaten und haben sich Frauen geholt, die Frauen haben geschrien und geschrien. Am Anfang habe ich mir immer die Ohren zugehalten, später habe ich geschlafen und nichts mehr gehört. Aber wie sie Marie geholt haben, das habe ich doch gehört, zwölf war sie damals. Wir hatten immerzu Hunger. Dann wurde es Frühjahr und etwas besser, wir konnten Löwenzahn essen und Giersch, Gänseblümchen und Brennnesseln. Mama hat alle Kräuter gekannt, das war gut. Einmal kamen wir an einer Scheune vorbei, da standen dahinter ganz viele Brennnesseln, aber der Bauer hat sie uns nicht pflücken lassen, Marie und mich. Er hat 191
einen Knüppel genommen, so einen dicken Ast, der da herumlag, und hat uns davongejagt. Er hat uns nicht einmal die Brennnesseln gegönnt, nicht einmal die. Dann waren wir in Bamberg, in dem großen Kaufhaus, wo die Flüchtlinge untergebracht waren. Da ist Mama gestorben. An Typhus. Und jetzt Marie. Die Schwestern im Heim versuchen mich zu trösten, sie sind lieb, aber streng.« Der Rest der Seite unter diesem Text war gefüllt mit der ungelenken Zeichnung eines Grabes mit einem Kreuz. Benno blickte auf, sah sich in dem geschlossenen Garten um. Er fuhr mit dem Finger betroffen das Kreuz nach. So viel Leid … Autolärm drang gedämpft über die hohen Mauern und durch die Kronen der Bäume. Eine Fliege landete immer wieder auf seiner Stirn, sooft er sie auch wegscheuchte. Kleine Mädchen, für die der Ausflug nach der ersten heiligen Kommunion ein aufregendes Abenteuer war … Benno wollte Elfis Album gerade schließen, als ein Zettel herausfiel. Er hob ihn auf, um ihn zurückzulegen, und entdeckte, dass Elfi nach der Grabes-Zeichnung wiederum einige Seiten leer gelassen hatte. Dann stand unter dem Datum vom 1.7.1959: »Ich habe ihn kennengelernt, ich habe ihn kennengelernt! Seit einem Jahr schon himmle ich ihn heimlich an, aber er war immer so weit weg. Von meinem ersten Gehalt hab ich mich im Tennisclub angemeldet. Und ich war ›zufällig‹ immer in der Nähe, wenn er gespielt hat. Und jetzt! O Glück!« 15.8.1960: »Heute ist mein Hochzeitstag. Ich heirate den Mann meiner Träume. Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt!« Auf dem Zettel, der aus dem Buch gefallen war, las Benno: »Dies ist die Geschichte von Majid, der aus Afghanistan geflohen ist.« Elfi hatte dies über eine Kopie aus einem Buch geschrieben, aus dem offensichtlich auch eine Reihe weiterer solcher Kopien stammten, die sie in ihr Album eingeklebt hatte. 192
Alle beschrieben in der Art von Augenzeugenberichten die Geschichten von Kindern auf der Flucht aus Ländern quer über den Erdball. Dann hatte sie mit der Hand weitergeschrieben: »Warum nur berührt mich ihr Schicksal so? Es sind fremde Kinder, mit denen ich nichts zu schaffen habe; ich hatte noch nie mit Kindern zu schaffen. Aber ich kann nicht aufhören, über sie nachzudenken. Ich habe dieses Buch gelesen, und jetzt kann ich nicht mehr aufhören, wie wenn da überall ein Stückchen von mir auferstanden wäre, so traurig. Wie fühlst du dich, wenn sie immer wieder Negerin zu dir sagen, und du bist doch so schön und so stolz, aus Eritrea zu sein? Sie denken, sie ist dumm, weil sie schwarz ist und nicht so reden kann wie sie, dabei hat sie viel mehr Erfahrung als die Hiesigen. Sie ist wochenlang auf der Flucht gewesen, immer nachts. Während die hier gemütlich in ihren Betten schliefen, musste sie mit ihrer Mutter und ihren kleinen Geschwistern auf Kamelen durch die Wüste, und überall war der Feind, und die Kinder durften keinen Mucks machen, und der Kleinste war erst zwei. Wie haben die das nur gemacht, die Kinder still zu halten tagsüber im Gebüsch und nachts auf den Kamelen? Was hab ich damals geweint, wie ich Adda verloren hab. Es sind die kleinen Dinge, nach denen man sich sehnt. Wie Emil nach seinem Hund, der kleine Emil. Der nur einen Wunsch hat, wieder in Sarajewo mit seinem Hund im Park spazieren gehen zu dürfen. Sein ganzes Herz liegt in diesem Traum, die Sehnsucht nach seinen Eltern und die Angst vor der Fremde, hier, wo er nie angekommen ist. Bin ich je angekommen? Für Momente vielleicht, in den wenigen glücklichen Stunden, aber irgendwie suche ich Adda noch immer. Doch man kann niemals zurück, das, was man erlebt hat, bleibt. Bleibt für immer in einem. Aber vorwärts kann man, das hab ich so lang nicht gewusst. Vorn ist der Weg offen auf der geheimen Straße. Gott im Himmel! Wie habe ich dieses Haus gehasst, weil ich ihn nicht 193
hassen konnte. Der Hass ist nicht geblieben, nur als Asche auf meinem Gesicht. Ich dachte, wenn ich nur den Torwächter besteche, käme ich ins Paradies. Doch von Anfang an konnte ich ihn nie ganz greifen hinter jener Mauer, wo Karla thronte, unüberwindbar. Hass ist eine starke Kraft und trägt lange, aber danach ist nichts mehr. Nach der Liebe kommt immerhin der Hass, aber danach bleibt nur noch eine leere Feuerstelle. Sogar Karla ist weg. Sie hat noch so lange hier gewohnt, obwohl aus ihrer Zeit nichts mehr da war, keine Bilder, keine Möbel. Sie wohnte in den Wänden, in den Ecken, es ist einsam ohne sie, ohne ihren Hochmut, an dem ich wuchs. Die Mauern sind so still geworden, jetzt könnte ich weggehen.« 26. Juli: »Ich bin nicht gegangen. Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche habe ich es verschoben. Das Packen sei so mühsam, dachte ich. Dabei liegt mir gar nichts an dem Zeug. Karla ist im Mai gestorben. Anton hat es mir geschrieben, er will mich besuchen. Bei mir hat sich ein kleiner Vogel eingenistet, ein verlorenes Kind mit einem Kind. Sie richtet den Garten her. Jahrzehntelang habe ich ihn nicht gesehen. Jetzt sehe ich ihn mit ihren Augen. Schön ist das.«
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19 Als Hanna auf den Parkplatz der Firma Simanc einbog, kollerte die liebevoll verpackte Flasche Eierlikör auf dem Beifahrersitz zur Seite, und die Karte, die mit einem Schleifchen daran befestigt war, zeigte mit der beschrifteten Seite nach oben. »Lieber Herr Ernst«, stand da, »meine Nichte hat eine Frage an Sie. Herzliche Grüße, Ihre Kunigunde Buchner.« Sieben ihrer schönsten Karten hatte Tante Kunigunde für diesen Text verbraucht. Hanna wurde von einem vorbeieilenden Angestellten zur Chefsekretärin in den ersten Stock geschickt. Die war offensichtlich im Stress und wies zwischen zwei Telefonaten auf Hannas Frage nach Herrn Ernst nur kurz auf eines der Fenster. »Er macht gerade unten im Hof seine Teepause.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber da klingelten zwei Telefone gleichzeitig, und sie nickte Hanna nur kurz zu und begann eifrig zu notieren. Hanna blickte aus dem Fenster. Der Werkshof lag in der weichen Nachmittagssonne, ein großer, lichtdurchfluteter Raum. Und mittendrin saß auf einem Holzstapel der kleine Herr Ernst. Er hatte ein weißes Tuch auf den Brettern vor sich ausgebreitet, darauf standen ein Pappteller mit zwei Scheiben Kuchen und eine silbern glänzende Thermoskanne. Soeben wickelte er eine feine weiße Porzellantasse aus einer Serviette. Dieses Stillleben mitten zwischen den großen Hallen voller Ziegel, Balken und Arbeitsmaschinen verblüffte Hanna so, dass sie noch neugieriger auf den kleinen Herrn Ernst wurde, als sie es nach Tante Kunigundes Andeutungen ohnehin schon war. Sie fand den Hof auf Anhieb. Es war erstaunlich still dort, eine dichte, vom Geruch warmen Holzes durchdrungene Stille, die durch ein entferntes Hämmern noch vertieft wurde. 195
Der kleine Herr Ernst war genau wie sein Name: klein, ernst und ein Herr. Als Hanna auf ihn zuging, erhob er sich von seinem Holzstapelsitz. »Karl Ernst«, sagte er mit einer knappen Verbeugung. »Mit wem habe ich die Ehre?« »Mein Name ist Hanna Tal«, antwortete Hanna wohlerzogen und überzeugt, er hätte ihr in einer anderen Umgebung die Hand geküsst. »Meine Tante, Kunigunde Buchner, lässt Ihnen dies hier übermitteln.« Sie hielt ihm ihr Mitbringsel hin, amüsiert darüber, wie spontan sich seine Umgangsformen auf ihre Sprache übertrugen. »Und sie lässt schöne Grüße bestellen.« Einen Augenblick lang sah Herr Ernst sie fassungslos an. Er nahm die Flasche, die er so vorsichtig hielt wie ein kleines Kind, und schloss kurz die Augen. Dann begann langsam die Freude in ihm aufzusteigen. Sein ganzer kleiner, hagerer Körper strahlte vor Freude. Doch die Höflichkeit half ihm, die Haltung zu bewahren. Er wies einladend auf den Holzstapel und sagte: »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Frau Dr. Tal. Ich habe Ihren Artikel über das Haus am Nonnengraben gelesen. Er hat mir sehr gut gefallen. Darf ich Sie zu einem Tässchen Tee einladen? Ich kann Ihnen meine Tasse anbieten, ich habe sie noch nicht benutzt. Ich finde immer, wirklich gut schmeckt Tee nur aus feinem Porzellan, nicht wahr?« Er schraubte die Thermoskanne auf, schenkte für Hanna Tee in die Tasse und für sich in den Deckel der Kanne und reichte ihr den Pappteller mit dem Kuchen, als wäre er ein Silbertablett. Hanna kam aus dem inneren Kopfschütteln gar nicht mehr heraus und dachte, dass niemand besser in Tante Kunigundes Wohnstube mit den Spitzenvorhängen passte als dieser kleine würdige Herr. Mit einem stummen Seufzer verabschiedete sie sich von dem komischen Bild des in breitem Fränkisch schimpfenden Mannes im speckigen Arbeitsoverall, das ihr bei Tante Kunigundes Erzählung vorgeschwebt hatte. Herr Ernst sprach kein Fränkisch, sondern ein sehr präzises, etwas 196
gestelztes Hochdeutsch, in dem tief im Untergrund leise ein ostpreußisches »R« grummelte. »Der Kuchen schmeckt wunderbar«, begann Hanna die Unterhaltung, denn Herr Ernst schien sie kurzfristig vergessen zu haben. »Ja, er ist nicht schlecht, aber nichts im Vergleich zu den Kuchen Ihrer Frau Tante«, meinte Herr Ernst. Er schien den Geschmack des Kunigunden-Kuchens auf der Zunge zu spüren. »Wie still es hier ist.« Hanna fragte sich, wie sie ihn je zum Reden bringen sollte, wenn er dauernd in seine Erinnerungen entglitt. »Ach, warten Sie nur eine Stunde, wenn die Baufahrzeuge zurückkehren. Dann ist hier die Hölle los. Aber jetzt, ja, Sie haben recht, bei Sonnenschein herrscht hier eine ganz besondere Stimmung. Ich nenne diese Zeit für mich immer die Stunde des Pan. Auch wenn ich natürlich weiß, dass damit etwas anderes gemeint ist.« Natürlich. Ein einfacher Arbeiter, hatte Tante Kunigunde gesagt. Hanna fiel von einem Erstaunen ins andere. Herr Ernst nahm jetzt von sich aus den Faden wieder auf. »Ihre Frau Tante ist eine wunderbare Frau. Auch meine tägliche Teepause«, er wies mit einer eleganten Handbewegung auf das Arrangement vor sich, »ist auf sie zurückzuführen. Als wir damals bei ihr waren, um das Dach ihres Hauses neu zu decken, wobei sie strikt darauf achtete, dass wir jeden der alten Ziegel, der noch gut war, wiederverwendeten«, er lächelte versonnen und schüttelte leicht den Kopf, »sie war übrigens die Einzige, die je von sich aus erkannt hat, wie wichtig das für die Dachlandschaft der Altstadt ist, also, wir waren damals drei Wochen bei ihr beschäftigt, und am Nachmittag lud sie mich immer zu einer Teepause ein, um mit mir die Angelegenheiten bezüglich des Daches zu besprechen.«
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Das darf doch nicht wahr sein, dachte Hanna, »bezüglich des Daches«! Sie würde Herrn Ernst zum Vorstandsmitglied ihres »Vereins zur Rettung des Genitivs« machen. »Aber wir unterhielten uns auch über viele andere Dinge, über Gott und die Welt, wie man so schön sagt. Und jeden zweiten Nachmittag gab es einen anderen ihrer so überaus köstlichen Kuchen. Ich habe mich nie mehr so wohlgefühlt.« Er sagte das ohne Übertreibung, schlicht und glaubwürdig. »Aber warum …?« Hanna wagte die Frage nicht auszusprechen. Herr Ernst kniff ganz leicht die Lippen zusammen und schaute über den Werkshof, als lägen dort die leeren verflossenen Jahre. »Meine Frau war damals schon krank und sehr eifersüchtig.« Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Vor zwei Jahren ist meine Frau gestorben.« Dann wandte er sich mit einem höflichen Lächeln an Hanna. »Aber Sie sind ja nicht gekommen, um sich den Erinnerungen eines alten Mannes auszusetzen, verzeihen Sie. Ihre Tante schreibt, Sie hätten eine Frage.« Hanna war hingerissen von Herrn Ernst. »Doch, gerade um die Erinnerungen eines gar nicht alten Mannes geht es mir. Erinnern Sie sich an Elfi Rothammer?« »Aber natürlich. Eine ausnehmend grässliche Person. Warum fragen Sie nach ihr?« »Ich habe sie am Montag früh ermordet in ihrem Haus aufgefunden.« »Wie schrecklich, Sie Ärmste! War das nicht furchtbar für Sie?« Kein Wort des Mitleids für Elfi. »Ja, es war ziemlich scheußlich. Könnten Sie mir erzählen, wie Sie sie kennengelernt haben?« »Das war der Auftrag unmittelbar bevor wir zu Ihrer Frau Tante kamen. Wir sollten die Dachsparren der Villa Rothammer 198
reparieren. Doch sie hat uns in einer Weise behandelt, die unerträglich war. Ständig kontrollierte und kritisierte sie uns oder ließ uns gar nicht erst ins Haus. Zweimal standen wir morgens vor ihrer Tür und riefen und klopften vergebens. Zwei Stunden später rief sie dann in der Firma an und beschwerte sich aufs Heftigste, wieso wir nicht auf der Bildfläche erschienen waren und dass es kein Wunder wäre, wenn es dem Betrieb so schlecht ginge, bei so nachlässigen Mitarbeitern. Und es ging dem Betrieb tatsächlich nicht gut, aber nicht der Mitarbeiter halber, sondern wegen des Chefs.« »Wieso, was tat der denn?« »Er tat eben nichts. Dafür nahm er viel zu viel Geld aus der Firma und investierte zu wenig. Nur der alte gute Name des Betriebs und ein eingespieltes Team haben uns über die Jahre gerettet.« »Und wie ging die Geschichte mit Elfi Rothammer weiter?«, wollte Hanna wissen. »Wir konnten den Auftrag nicht zu Ende führen, obwohl wir seiner, wie gesagt, in unserer damaligen finanziellen Lage dringend bedurft hätten. Aber die Arbeiter weigerten sich, das Haus nochmals zu betreten. Und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das auch der Zweck der Übung war. Irgendetwas stimmte nicht mit der Abrechnung. Ich habe das nie ganz durchschaut, denn dies war einer der Fälle, in denen sich der Chef persönlich um die geschäftliche Seite des Auftrags kümmerte. Aber ich habe einmal einen Beleg gesehen, der um ein Vielfaches höher war als das, was wir tatsächlich geleistet hatten.« Nach kurzem Zögern fügte Herr Ernst hinzu: »Ich würde das nicht so sagen, wenn der junge Chef nicht ganz anders wäre.« Das war ja interessant. Ein solcher Beleg würde Benno aus seiner Beweisnot helfen. »Gibt es möglicherweise noch schriftliche Unterlagen aus der Zeit?«, fragte Hanna. Das war 199
inzwischen fünfzehn Jahre her, also hatte sie eigentlich wenig Hoffnung. Aber Herr Ernst sagte ganz ruhig: »Natürlich gibt es die. Das Firmenarchiv ist seit 1950 vollständig vorhanden, zum Teil gehen die Bücher zurück bis zur Gründung des Betriebs im Jahre 1908. Ich weiß das, denn ich habe das Archiv selbst geordnet und aufgestellt.« Herr Ernst war sichtlich stolz darauf. Hanna hätte ihn am liebsten umarmt. Hier war sie endlich, die handfeste Spur. Wenn man die in den Geschäftsbüchern für die Steuerabrechnung eingetragene Auftragssumme verglich mit der Rechnung, die die Arthur-Rothammer-Stiftung angeblich bezahlt und der Regierung zur Kontrolle vorgelegt hatte … Hanna war vor Freude ganz aufgeregt. »Könnten wir uns die Unterlagen zu dem Rothammer-Auftrag anschauen, am besten jetzt gleich?« »Tut mir leid, Frau Dr. Tal«, sagte Herr Ernst bedauernd. »Das Archiv ist dort hinten in dem alten Lagerhaus untergebracht.« Er deutete auf ein Holzgebäude am Ende des Hofes. Es war sicher der älteste Teil des ganzen Firmenkomplexes, wohl noch aus der Zeit der Betriebsgründung. Neogotischer Zierrat hing vom Giebel herunter, und rot-weiße Fensterläden gaben dem kleinen Haus ein freundliches Aussehen. »Normalerweise trage ich den Schlüssel immer bei mir. Aber heute Mittag musste unser Fahrer dringend etwas aus einem Lager außerhalb von Bamberg holen, und ich konnte den Schlüssel zu jenem Lager partout nicht von meinem Schlüsselring lösen. Er hatte sich wohl verklemmt. Da der Fahrer ein absolut zuverlässiger Mann ist, habe ich ihm in der Eile meinen ganzen Schlüsselbund gegeben. Folglich habe ich ihn nicht bei mir.« »Gibt es denn keinen zweiten Schlüssel zum Archiv?« Hanna hätte Benno so gerne einen greifbaren Beweis überreicht.
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»Doch, den zweiten Schlüssel hat der junge Chef, aber der ist wegen einer Geschäftsreise bis nächsten Montag unterwegs.« Herr Ernst war untröstlich, ihr nicht behilflich sein zu können. »Morgen früh werde ich als Erstes ins Archiv gehen. Ich mache Ihnen unverzüglich Kopien der entsprechenden Stellen. Diese bringe ich Ihnen dann morgen Nachmittag mit. Ich würde nämlich gerne morgen gegen fünf Uhr Ihrer Frau Tante meine Aufwartung machen, um mich persönlich für ihr Geschenk zu bedanken. Könnten Sie ihr bitte einen kleinen Brief von mir geben und mich nötigenfalls über eine Änderung zu informieren?« Er sah sie an. »Bitte.« »Warum rufen Sie sie nicht einfach an?« »Ach nein, das möchte ich nicht tun. Nach so langer Zeit würde ich lieber persönlich … in angemessener Weise … Verstehen Sie?« Er holte aus der Innentasche seines Arbeitsanzugs einen Block, schrieb rasch einige Zeilen und übergab Hanna das Blatt mit einer knappen Verbeugung. Hanna lächelte ihn herzlich an. Sie musste sich beherrschen, ihm nicht die Hand zu streicheln. »Ich bin sicher, dass meine Tante Zeit für Sie hat. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Kopien schon morgen früh faxen könnten.« Sie gab Herrn Ernst ihre Visitenkarte. Sie wollte die Sache so schnell wie möglich vorantreiben. Als sie aufstand, um sich von Herrn Ernst zu verabschieden, sah sie sich noch einmal in diesem seltsam verzauberten Werkshof um. Da entdeckte sie an dem Fenster, von dem aus die Sekretärin ihr vor Kurzem den Pausenplatz von Herrn Ernst gezeigt hatte, einen Mann, der sie beobachtete. Es war Karl Bolz. Er zog sich sofort zurück, doch sie hatte ihn deutlich gesehen. Die reine Vollkommenheit dieser sonnenwarmen Nachmittagsstunde auf ihrem Bretterstapel, auf diesen Brettern, die für eine vergessene Weile die Welt bedeutet hatten, bekam einen 201
Sprung. Plötzlich sah sie die Glasbausteine in der Fachwerkwand, die Gier der großen metallenen Greifmaschinen, die verrosteten Blechdosen hinter den Brennnesseln. Und die Zeit war wieder da. Hanna sah auf ihre Uhr. »Ich muss mich leider allmählich auf den Weg machen.« Herr Ernst begleitete sie, hielt ihr die Autotür auf und schloss sie nach letzten Abschiedsworten sorgfältig und mit Nachdruck. Er schaute ihr mit einem glücklichen Lächeln nach, und beim Einbiegen in die Hauptstraße sah sie ihn im Rückspiegel noch immer an derselben Stelle stehen.
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20 Benno kam fünf Minuten zu früh. Diesmal konnte Hanna ihm das verzeihen, denn sie war ausnahmsweise fertig. Unter normalen Umständen stand sie kurz vor einer Verabredung meist noch nackt im Bad und schminkte sich. Doch heute war sie nicht nur komplett angezogen, sie hatte auch ihre Kleiderberge abgetragen, das Bett frisch bezogen, Bad und Küche geputzt, und sogar ihr Schreibtisch sah halbwegs manierlich aus. Die Blumen waren gegossen, der Müll ausgeleert und die Kissen aufgeschüttelt. Hanna fühlte sich heldenmäßig. Und als sie zur Tür ging, um Benno zu öffnen, fand sie sich im Flurspiegel überdies ziemlich hübsch. Sie trug ihren grünen Leinenblazer, eine Hose im selben Farbton und einen hoffentlich händezitternerregend anschmiegsamen weißen Seidenpulli. Sie erwartete Benno unter der Haustür. Er gefiel ihr, als er über den Hof auf sie zukam: kein altmodisch gestreifter Pullunder heute, sondern schwarze Jeans, ein weißes T-Shirt und eine weiche Wildlederjacke. Benno überreichte ihr eine einzelne lange orangerote Rose. »Ich hoffe, sie gefällt dir. Ist das Ergebnis längerer Diskussionen mit meiner Blumenfrau.« »Wow, wie feudal. Hat eine eigene Blumenfrau«, sagte Hanna lachend. Sie nahm die Rose mit einem leicht übertrieben huldvollen Neigen des Kopfes entgegen und roch daran – sie duftete natürlich nicht, im Gegensatz zu Benno, der etwas zu viel Aftershave erwischt hatte. »Komm rein«, sagte sie, »damit ich die Rose in eine Vase stellen kann.« Sie führte ihn in ihren großen Wohnraum mit seinen hohen Bücherwänden, wo ihre schönen ererbten Teppiche in dem Abendlicht, das durch die Fenstertüren hereinfiel, schimmerten. 203
Sie stellte die hohe Vase mit der Rose vor den schmalen Spiegel, der zwischen den Bücherregalen hing. »Willst du einen Aperitif?«, fragte sie. »Ich habe einen Tisch in Rockenbachs Garten reserviert«, antwortete Benno. »Wir sollten nicht allzu spät kommen. Du weißt, grad die Tische auf der Galerie sind an so warmen Abenden ziemlich begehrt; Frau Gruse kann ihn nicht ewig freihalten.« Sie gingen durch die Fischereigasse, vorbei an den braven kleinbürgerlichen Fassaden der Häuser der Fischer und Schiffer, deren arbeitsame Rückseiten sich so malerisch zu KleinVenedig reihten, und Hanna erzählte alles Mögliche, nur nichts von Herrn Ernst und seinem Archiv. Das sparte sie sich als Überraschung für später auf. Mitten auf der Markusbrücke machte Benno plötzlich einige gut gelaunte Tanzschritte, schaute nach rechts und links und pflückte, als er sich unbeobachtet glaubte, einen Stängel von einer Geranie in den Blumenkästen am Brückengeländer. Er überreichte ihn Hanna mit einer Verbeugung: »Ich danke Euch für die Gunst, mit mir zu speisen, Schönste der Frauen!« Hanna deutete einen Knicks an und steckte sich die Blüte hinters Ohr, obwohl das Rosa sich schmerzlich mit dem Farbton ihrer Haare biss. Der kleine Tisch im Laubengang über dem Hof des Lokals war mit Weinlaub geschmückt. Kerzen brannten. Das vom Tag aufgeheizte Holz der Wände gab erstaunlich viel Wärme ab. Sobald sie Platz genommen hatten, beugte Hanna sich vor und sagte: »Ich habe ein Geschenk für dich!« Doch in dem Moment wogte Frau Gruse, die Wirtin, herbei, die wie eine Empfehlung für ihr Essen aussah, und begrüßte Benno, den sie gut zu kennen schien. Hanna wurde vorgestellt, gnädig mit einem Lächeln bedacht, und dann begann Benno mit der gestrengen Matrone eine Diskussion über die zu wählende Speisenfolge. 204
Die Spezies der Kürbisse für die Suppe – natürlich kamen nur Hokaidos in Frage – musste ebenso gründlich erörtert werden wie der Lieferant der geräucherten Saiblinge und dass zu dem ganz zarten Jungschwein-Braten Kartoffeln der Sorte Bamberger Hörnla besser passten als die üblichen Klöße. Hanna war drauf und dran, die Wirtin zu fragen, ob sie auch den Namen des Jungschweins persönlich kenne, unterließ es angesichts von Bennos Begeisterung jedoch. Er schien die Diskussion zu genießen und orderte mit Hannas Einverständnis für beide dieselbe Menüfolge. Hanna sah der Szene mit wachsender Ungeduld zu. Sie wollte Benno jetzt endlich ihre Entdeckung präsentieren. Aber zunächst stand noch die Wahl der Getränke an. Zum Auftakt und zur Suppe natürlich Bier. Zum Fisch würde ein Weißwein passen, aber zum Schweinebraten? »So, wie ich na mach, passt a Weißer aa dazu«, versicherte Frau Gruse, aber Hanna und Benno entschieden sich doch dafür, beim Bier zu bleiben. »Welches Bier haben Sie denn?«, fragte Hanna. »Mir ham a Schlenkerla, a Spezial, a Klosterbräu …« »Habter a Mahrs aa?«, fragte Hanna, die im Bedarfsfall ganz gut Bambergerisch sprach. »Hammer. Wollns a U?« Hanna schüttelte den Kopf. Sie mochte den eigenwilligen Geschmack des U, des ungespundeten Biers, nicht besonders. »Lieber a Lager«, entschied sie. Nachdem die Wirtin davongeeilt war, konnte sie endlich ihr »Geschenk« loswerden. »Stell dir vor …« Und dann erzählte sie von der Teezeremonie im Fabrikhof und von Herrn Ernsts Beobachtungen im Haus am Nonnengraben und dass es dazu noch Unterlagen gab, überhöhte Rechnungen, die vielleicht beweisen konnten, wie der Betrug mit der Arthur-Rothammer-
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Stiftung gelaufen war, und die ihnen am nächsten Morgen zur Verfügung stünden. »Na, was sagst du?« Benno hatte ihr aufmerksam zugehört. »Hm«, machte er nachdenklich und nickte. »Das passt. Es war also tatsächlich Elfi Rothammer, die das Haus so verkommen ließ. Ich dachte bisher, Bolz und Böschen hätten das nur behauptet, weil man einer Toten leicht etwas in die Schuhe schieben kann, in Wirklichkeit aber hätten sie die alte Frau betrogen und das Geld der Stiftung in die eigene Tasche gesteckt. Aber nach dem, was du erzählt hast, war es wirklich Frau Rothammer, die die Handwerker bewusst und aktiv vergrault hat.« Frau Gruse kam an den Tisch und stellte zwei kleine Teller »mit am Amüsgöllala«, wie sie es mit stolzem Lächeln bezeichnete, vor sie hin. Hanna und Benno rätselten eine Weile herum, bis sie dahinterkamen, dass es sich dabei um ein kleines »Amuse-Gueule« handelte, geröstete Weißbrotscheibchen mit Leberterrine. Sie lachten Tränen. »Ich glaube, das Amüsgöllala muss ich in meinen Wortschatz aufnehmen«, sagte Benno und wischte sich die Augen. Hanna nahm den Faden des Gesprächs über Frau Rothammer wieder auf. »Ich finde das irgendwie unstimmig. Wieso hat sie wohl Handwerker bestellt, wenn sie sie dann verscheuchte?« »Wahrscheinlich hat nicht sie die Handwerker bestellt, sondern Bolz oder Böschen, und sie wollte das nicht. Sie hat nämlich das Haus am Nonnengraben gehasst. Ich habe heute Nachmittag so eine Art Tagebuch von Elfi Rothammer gefunden, in dem sie genau das beschreibt.« »Sie hat das Haus gehasst und ist trotzdem ihr Leben lang da wohnen geblieben?« »Es scheint so eine Art subtile Rache an ihrem Mann gewesen zu sein, dass sie es systematisch zugrunde gehen ließ. Für ihn war es nämlich so etwas wie das Symbol seiner Liebe zu einer gewissen Karla.« 206
»Karla? Karla war Arthur Rothammers Schwester. Sie ist vor ein paar Monaten gestorben. Kürtchen, also Anneliese Kurt, hat mir doch die Briefe gegeben, die Karla ihr geschrieben hat. So eine unglückliche Geschichte! Karla und Arthur waren einander verfallen, wollten diese inzestuöse Geschwisterliebe aber lange Zeit nicht wahrhaben. Es gab sogar irgendwelche Heiratspläne der beiden mit jeweils anderen Partnern, wenn ich mich recht erinnere. Das war noch bevor Elfi aufgetaucht ist und sich Arthur geangelt hat.« »Geangelt? Mir gefällt das Wort in diesem Zusammenhang nicht«, unterbrach Benno sie. »Elfi Rothammer scheint ihn geliebt zu haben, er war der Mann ihrer Träume. Schreibt sie in ihrem Tagebuch. Dieses Tagebuch ist wirklich erschütternd. Sie hat auf der Flucht schreckliche Dinge erlebt. Für sie war Arthur der Beginn eines neuen Lebens.« »Aber ihn hat sie damit kaputt gemacht. Elfi und Karla konnten überhaupt nicht miteinander auskommen, und als Karla schwanger wurde, gab es einen Riesenkrach zwischen Arthur und seiner Schwester, und Karla ging für immer weg.« »Das verstehe ich nicht ganz. Was hatte Elfi mit der Schwangerschaft ihrer Schwägerin zu tun? War es denn Arthurs Kind?« »Nein, nein, die beiden hatten keine sexuelle Beziehung; im Gegenteil, Karla hat alles getan, um das zu vermeiden.« »Und was ist aus dem Kind geworden?« »Das ist Joschi Schn … nein, falsch, Joschi kam erst später. Das erste Kind ist wenige Wochen nach der Geburt gestorben.« »Das weißt du alles aus den Briefen, von denen du mir erzählt hast?« Hanna nickte. »Und Arthur Rothammer, hat der sich so einfach mit dem Verschwinden seiner Schwester abgefunden?« 207
»Einmal hat er sie aufgespürt, weil Kürtchen ihm ihre Adresse verraten hatte. Aber Karla hat jeden weiteren Kontakt verweigert. Und dann ist er bei einem Autounfall umgekommen. Es muss Selbstmord gewesen sein, das verraten seine Gedichte. Sehr schöne und sehr traurige Gedichte.« Benno nickte nachdenklich. »Und kurz vorher hat er diese Stiftung eingerichtet. Ohne seiner Frau etwas davon zu sagen.« »Das ist ja wohl … Weißt du, es ist seltsam: Keiner, mit dem ich über Elfi Rothammer gesprochen habe, hatte ein gutes Wort für sie übrig. Meine Tante Kunigunde, der menschenfreundlichste Mensch, den ich kenne, bekam bei ihrer Erwähnung einen so harten Zug um den Mund, wie ich ihn noch nie an ihr gesehen habe. Elfi muss ein Biest gewesen sein. Aber eigentlich tut sie mir irgendwie auch leid: Stell dir doch mal vor, mit einem Mann verheiratet zu sein, der dich nur genommen hat, um von der Liebe zu seiner Schwester loszukommen.« Sie schaute versonnen in ihren Bierkrug. »Und der das dann nicht schafft, der, während er mit dir verheiratet ist, verzweifelt seine Schwester liebt. Und Elfi hatte nicht einmal Kinder, um sich zu trösten, oder irgendjemanden, um zu reden.« »Da hast du recht. Sie muss sehr einsam gewesen sein. Böschen hat mir erzählt, dass sie sehr intensiv mit den Freunden ihres Mannes geflirtet habe. Vielleicht hat sie das ja nicht nur getan, um ihren Mann eifersüchtig zu machen, sondern weil sie irgendwie menschlichen Kontakt suchte.« »Hm, manchmal ist das ja so bei sehr schönen Frauen – sie haben nie gelernt, einen Freund oder eine Freundin zu finden, weil die andern immer als Erstes ihre Schönheit sehen und damit alle anderen Wahrnehmungen blockiert sind.« »Na, Gott sei Dank besteht da ja bei dir nicht die geringste Gefahr.« Benno griff über den Tisch nach Hannas Hand. Sie grinste und gab ihm einen Klaps. »Du Hollamöffl!« »Hollamöffl?« 208
»Bambergerisch für ›grober Klotz‹.« Sie verputzte den letzten Happen ihres Amüsgöllala. »Aber wenn Frau Rothammer früher so schön war, warum sah sie denn jetzt aus wie eine Hexe und lief herum wie eine Pennerin? Hatte sie denn gar kein Geld mehr?« »Im Gegenteil, sie war ausgesprochen reich. Allerdings hat sie für sich kaum etwas verbraucht. Sie hat ihr Geld vor allem an Flüchtlingsorganisationen gegeben.« »Elfi Rothammer? Flüchtlingsorganisationen? Na so was! Das hätte ich im Leben nicht gedacht! Wenn ich das Tante Kunigunde erzähle …« »Das wirst du bitte bleiben lassen. Was wir hier besprechen, bleibt unter uns. Versprochen?« »Na klar. Entschuldige, ich habe nicht daran gedacht …« »Ist schon gut.« Er nahm einen Zahnstocher und hielt die Spitze in die Kerzenflamme. »Diese Elfi ist und bleibt eine widersprüchliche Person. Seit ich ihr Tagebuch gelesen habe, ist sie mir irgendwie nah gekommen. Trotzdem bleibt so vieles rätselhaft. Und was könnte das alles denn mit dem Mord zu tun haben? Ich finde nirgendwo eine Verbindung.« Benno pustete die kleine Flamme an der Spitze des Zahnstochers aus. »Oh, hm, da kommt unsere Kürbissuppe. Das duftet ja hinreißend, Frau Gruse. Ist der kleine Klecks da in der Mitte Kürbiskernöl?« »Biolochisch, aus dä Steiermark«, nickte Frau Gruse und eilte geschäftig wieder davon. Nach den ersten paar Löffeln der leuchtend orangegelben, sämigen Suppe fragte Hanna: »Wen hast du denn bisher überhaupt auf deiner Verdächtigenliste?« »Es ist ziemlich schwierig, überhaupt eine aufzustellen, da uns von den drei Anhaltspunkten Zeit, Gelegenheit und Motiv wegen des unbekannten Todeszeitpunkts nur die Frage nach dem Motiv bleibt. Aber wir können es ja mal zusammen versuchen. Erstens: Karl Bolz und Norbert Böschen. Sie haben 209
Elfi Rothammer gut gekannt, wurden aber, nach ihren eigenen Aussagen, von ihr betrogen. Außerdem vertuschen sie irgendetwas. Sie haben, so sicher wie das Amen in der Kirche, an diesen Unterlagen für die Rothammer-Stiftung herummanipuliert, wenn ich auch noch nicht weiß, wie und was. Und bei ihrer gesellschaftlichen Stellung haben beide eine Menge zu verlieren, wenn da etwas herauskommt. Zweitens, Tanja. Schnauf nicht, sie muss mit auf die Liste. Sie hat Frau Rothammer gekannt, sie hat in ihrem Haus gewohnt und hatte als Letzte Kontakt mit ihr. Motiv: bisher unbekannt. Wie heißt sie eigentlich mit Nachnamen?« »Wart mal, äh, Steinhübel. Sie heißt Steinhübel. Aber … na gut. Aber als Nächstes muss unbedingt Joschi Schneider auf die Liste. Er ist, soweit ich weiß, der einzige lebende Verwandte von Elfi und damit ihr Erbe. Allerdings …« »Allerdings?« »Er behauptet, überhaupt keine Tante zu haben und noch nie in Bamberg gewesen zu sein. Und da Karla und Elfi sich gehasst haben und Karla den Kontakt zu ihrem Bruder abgebrochen hatte, kann es schon sein, dass Joschi nie von dieser Tante erfahren hat. Und Elfi war auch nicht – wer hat mir denn das nur erzählt –, Elfi war auch nicht auf Karlas Beerdigung, sodass er also auch bei dieser Gelegenheit …« »Joschi gehört trotzdem zu den Hauptverdächtigen. Ich werde mich morgen früh als Erstes mit ihm in Verbindung setzen.« Als die leeren Suppenteller abgeräumt waren, holte Benno Papier und Bleistift aus der Innentasche seiner Jacke und schrieb die bisher gesammelten Namen auf. Hannas Bewunderung stieg: Benno hatte nicht nur saubere Papiertaschentücher in seinen Taschen, sondern sogar Schreibzeug.
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Benno machte einen Punkt hinter den letzten Eintrag auf seiner Liste und murmelte nachdenklich: »Wer käme denn sonst noch als Täter in Frage?« »Alle und keiner. Wie willst du denn die Menge potenzieller Täter eingrenzen?« »Nun, der erste Fixpunkt, von dem wir ausgehen müssen: Wir konzentrieren uns auf jemanden aus Frau Rothammers Bekanntenkreis. Ich glaube, den unbekannten Landstreicher, der vorbeigekommen ist, um sie mal schnell zu erwürgen, ohne etwas von den wertvollen Sachen mitgehen zu lassen, dürfen wir wohl vergessen.« »Aber das gleicht der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen: Halb Bamberg hat offenbar die Rothammers gekannt.« »Wir können den Kreis einengen, wenn wir das Motiv dazunehmen. Da gibt es die bewährten zwei Hauptbeweggründe für Morde: Geld oder Leidenschaft. Unter diesen Vorzeichen müsste es jemand sein, der wusste, dass Frau Rothammer reich war, und irgendwie die Möglichkeit hatte, an ihr Geld zu kommen, oder jemand, der sie gehasst hat, oder beides.« »Wer wusste denn von ihrem Vermögen?« »Nach Aussage von Franz van Vinden nur er und der Steuerbeamte. Die Nachbarn haben alle gesagt, dass sie sie für arm hielten. Eine Nachbarin hat ihr einmal aus Mitleid Essen gebracht. Aber sie berichtete empört, Frau Rothammer habe sie so angefahren, dass sie das nur einmal versucht hätte. Die junge Polizeibeamtin, die sie vernommen hat, schrieb ihre Äußerung wörtlich auf: ›Und wenn sie verhungert wäre, ich hätte mich nicht mehr um sie gekümmert.‹« »Wir jedenfalls müssen nicht verhungern«, stellte Hanna fest. »Schau dir diese Saiblinge an!« Die Filets, die gerade serviert wurden, lagen geborgen in der golden glänzenden Haut der geräucherten Fische, Kopf und Schwanz ragten noch über den 211
Tellerrand. Während Hanna den ersten Bissen mit Sahnemeerrettich bestrich, überlegte sie laut: »Elfi hat also ihre Nachbarn bewusst auf Abstand gehalten. Aber meinst du nicht, Bolz und Böschen könnten über ihre Vermögensverhältnisse informiert gewesen sein?« »Das ist anzunehmen.« »Weißt du, was auch noch möglich wäre? Mir kommt gerade eine Idee. An den Betrügereien, die da offenbar mit der Rothammer-Stiftung betrieben wurden, war sicher nicht nur die Firma Simanc beteiligt. Das hätte sich doch wohl nicht gelohnt. Vielleicht hatte das mit den fehlerhaften Abrechnungen ja Methode. Und vielleicht hat Elfi im Zusammenhang damit jemanden erpresst.« »Gute Idee.« Benno murmelte, während er auf seinen Notizblock, den er neben seinen Teller gelegt hatte, schrieb: »In den Unterlagen der Rothammer-Stiftung erwähnte Firmen überprüfen. Elfi Rothammers Kontobelege auf Eingänge hin untersuchen.« Dann sagte er zu Hanna: »Wie gut, dass ich die Unterlagen noch nicht nach Bayreuth geschickt habe. Verdammt, das Ganze wird immer diffuser. Obwohl – es ist mir ja schon ganz peinlich, dass ich immer wieder dasselbe Ziel ins Visier nehme, aber wenn Elfi jemanden erpresst hätte, dann wären doch wohl Bolz oder Böschen die lohnendsten Opfer gewesen, oder?« »Und wie ist das mit der Leidenschaft? Gibt es irgendwo einen verschmähten Liebhaber?« »Nicht dass ich wüsste. Im Tagebuch hat jedenfalls nichts gestanden. Weißt du von jemandem, der sie gehasst hat?« »Karla hat sie gehasst, aus tiefster Seele. So schien es mir jedenfalls. Aber sie hat das bestmögliche Alibi: Sie war, als Elfi starb, schon etwa drei Monate tot.«
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»Gut, Karla ist damit definitiv aus dem Rennen.« Benno grinste etwas schräg. »Doch Anneliese Kurt konnte Frau Rothammer auch nicht besonders gut leiden.« »Aber Kürtchen ist nie und nimmer eine Mörderin. Meine Tante Kunigunde konnte Elfi auch nicht leiden. Und Herr Ernst. Wenn du alle auf die Liste setzt, die Elfi nicht leiden konnten, wird die ziemlich lang.« »Frau Kurt ist von Elfi Rothammer allerdings tatsächlich geschädigt worden. Sie hat sie entlassen und …« »… und Elfi hat alles kaputt gemacht, was ihr wichtig war. Stimmt, das hat Kürtchen gesagt. Aber das ist Jahrzehnte her.« »Vielleicht gab es ja einen konkreten Anlass, in der Folge von Karla Schneiders Tod zum Beispiel. Vielleicht hat sie ja etwas aus dem Haus geerbt und ist deswegen hingegangen …« »Ich kann es mir trotzdem nicht vorstellen. Du hast sie nicht gesehen. Sie ist so eine ordentliche, adrette kleine Frau. Und außerdem ist sie fast neunzig. Nein, ausgeschlossen.« »Schon gut. Ich veranstalte nur eine Art Brainstorming, in der Hoffnung, einen Haken zu finden, an dem möglicherweise etwas hängen bleibt. Wir haben ja kaum konkrete Anhaltspunkte. Die Fingerabdrücke sind wegen des vielen Staubs kaum brauchbar. Zur Untersuchung von Faserspuren braucht die Polizei Vergleichsobjekte, dasselbe gilt für die DNA und so weiter. Alles, was ich weiß, ist, dass Frau Rothammer vor etwa drei Wochen erwürgt wurde.« Hanna holte mit einer geschickten Bewegung das Bäckchen aus dem Fischkopf. Diesen Leckerbissen hob sie sich immer bis zum Schluss auf. Doch sie stoppte die Gabel auf halbem Weg zum Mund. »Ich weiß nicht … ich habe dauernd das Gefühl, als müsste ich mich an etwas erinnern, irgendetwas im Zusammenhang mit Elfi Rothammer, das ich erst vor Kurzem erfahren habe, aber ich komme und komme nicht dahinter.«
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Sie sprachen weiter über die Tote, und allmählich formte sich das Bild einer schönen, traurigen, einsamen Frau, die nirgendwo dazugehört hatte. Und zu der unverhofft noch einmal die Zukunft gekommen war, in Form einer kleinen grünen Madonna mit einem Kind. Eine Zukunft, die Elfi zaghaft und mit winzigen Schritten zu ergreifen begonnen hatte. Diese neue Geschichte aber war brutal abgewürgt worden. »Arme Elfi«, sagte Hanna. Frau Gruse brachte den Schweinebraten, ganz dünn geschnittene Scheiben in einer klaren Soße. Die gelben, länglichen Kartöffelchen und der zartgrüne Kohlrabi kamen in dampfenden Schalen auf den Tisch. »Hm, das sieht ja hinreißend aus!«, seufzte Hanna. »Das hast du hervorragend ausgewählt. Aber dass du kochen kannst, das hätte ich nie gedacht.« »Warum denn nicht?« »Ach, ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich selbst nicht gern koche. Ich weiß überhaupt so wenig von dir. Erzähl mir doch ein bisschen was.« »Tja, was soll ich denn über mich erzählen. Ich bin einen Meter achtzig groß, wiege neunundsiebzig Kilo und bin derzeit Staatsanwalt. Außerdem nehme ich gerade mit meiner Traumfrau ein himmlisches Essen ein. Genügt das?« »Nein, nein«, sagte Hanna lachend. »Wie war’s denn zum Beispiel bei euch zu Hause? Woher kommst du? Hast du Geschwister?« Da erzählte Benno von dem kleinen Reihenhaus am Rand von Regensburg. Er und seine drei kleinen Geschwister hatten in einem Anbau an das Häuschen ein Zimmer mit Stockbetten geteilt. Benno hatte die Küken in Schach halten müssen, wenn seine Mutter arbeiten ging, und dabei hatte er gelernt, wie man für Ordnung sorgte. Er erzählte, wie er Terminpläne für die Arbeiten der Kinder in Haus und Garten und für die 214
Schulaufgaben erstellt hatte, weil sie nur zwei kleine Schreibtische besaßen, die sie abwechselnd benutzen mussten. Er erzählte von dem großen Garten und der Obsternte und von den Hasen, die sie hielten, und von der immer wiederkehrenden Trauer, wenn einer geschlachtet werden musste. Schließlich hatte er verboten, dass die neugeborenen Häschen Namen bekamen, weil dann der Abschied nicht so schwer wurde. Hanna war froh, dass sie nicht nach dem Namen des Jungschweins gefragt hatte. »Du hast das verboten, nicht deine Eltern?« »Bei uns war ich für solche Sachen zuständig. Vater dagegen musste die Tiere schlachten, und er hasste es. Kaum bekam er eine Gehaltserhöhung, wurden die Hasen abgeschafft.« Hanna dachte daran, wie glühend sie sich als Kind einen weißen Hasen gewünscht hatte, was aber in einer Wohnung voller Perserteppiche und Antiquitäten als völlig unmöglich abgelehnt worden war. »Als ich ein kleines Mädchen war – ich glaube, ich war noch nicht in der Schule«, erzählte sie, »durften meine Schwester und ich die Ferien auf dem Bauernhof der Familie unserer Haushaltshilfe verbringen. Die hatten auch viele Hasen, mindestens zwanzig hölzerne Käfige neben- und übereinander. Die Türen waren vorn mit Maschendraht verschlossen, durch den man Grashalme zu den Hasen reinstecken konnte. Und natürlich habe ich gleich am ersten Tag einen Käfig aufgemacht und einen der Hasen herausgeholt, um ihn zu streicheln. Aber der hat mich gebissen, und ich habe ihn fallen lassen, und schwupps war der Hase verschwunden. Und die beiden andern, die außerdem in dem Käfig waren, ebenso. Denn ich bin natürlich laut schreiend davongelaufen. Ich erinnere mich noch genau, wie empört ich war, dass dieses Tier mich gebissen hat, wo ich doch nur lieb zu ihm sein wollte. Und dann haben auch noch alle mit mir geschimpft wegen der Hasenflucht, es gab eine Riesenaufregung. Ich verstand die Welt nicht mehr.« 215
Benno lachte und steuerte eine ähnliche Geschichte aus seiner Kindheit bei. Er drückte vorsichtig eine der kleinen, festen Kartoffeln in den letzten Rest der Schweinebratensoße auf seinem Teller. »Das ist doch bemerkenswert, dass uns von klein auf so ein intensives Gerechtigkeitsgefühl mitgegeben ist. Ich glaube, Kinder sind nie empörter, als wenn sie tatsächlich oder vermeintlich ungerecht behandelt werden«, sagte Hanna. »Das erleben wir auch bei Gericht immer wieder, dass Menschen bis zum Umfallen kämpfen, wenn sie sich ins Unrecht gesetzt fühlen, auch wenn sie dafür persönliche Nachteile in Kauf nehmen müssen.« »Wieso bist du eigentlich Staatsanwalt geworden?«, fragte Hanna, nachdem ihre Teller klappernd abgetragen worden waren. »Die Frage müsste eigentlich lauten, warum ich Jurist geworden bin. Staatsanwalt ist nur eine der Stationen, die alle Juristen in Bayern im Staatsdienst durchlaufen müssen. Und dass ich Jura studiert habe, nun, das hat natürlich viele Gründe, aber es hat schon auch etwas mit dem Wunsch zu tun, für Gerechtigkeit zu sorgen.« Benno machte ein Gesicht, als sei ihm sein Geständnis etwas peinlich. »Ich finde das klasse!« Hanna hatte keine Probleme mit großen Worten. »Ich bin immer wieder erstaunt, wie selbstverständlich die meisten Menschen hinnehmen, dass sie hier ziemlich sicher und angstfrei leben können, dass auf die Justiz und die Polizei im Allgemeinen Verlass ist, dass du sie nicht bestechen musst, um anständig behandelt zu werden. Wenn das nicht wertvoll ist! Und es ist alles andere als selbstverständlich. Wann in der Geschichte war das denn schon der Fall?« Hanna nahm von Frau Gruse den Teller mit dem Nachtisch entgegen und sagte entschuldigend: »Ja, ich weiß, jetzt bin ich 216
schon wieder bei der Geschichte. Aber wenn man sich näher damit beschäftigt … Ich habe vor Kurzem einen Artikel zu dem Thema geschrieben. Sie sind so teuer erkauft worden, die Demokratie, die Freiheit, der Rechtsstaat. Während des ganzen 19. Jahrhunderts sind so viele Menschen dafür ins Gefängnis geworfen, sind seelisch gebrochen oder hingerichtet worden. Und trotzdem ist diese Idee immer wieder in neuen Köpfen aufgetaucht. Am schlimmsten ging sie im 20. Jahrhundert unter; es brauchte zwei Weltkriege, um die alten Strukturen endgültig zu zerbrechen …« Sie half mit dem Finger nach, ein paar der frischen Blaubeeren neben das Eis auf ihren Löffel zu schieben. »Wir leben jetzt in dem Paradies, von dem die Vorkämpfer damals geträumt haben, und was ist daraus geworden? Wie viele gehen denn noch zu den mit so viel Leid errungenen Wahlen? Und wenn ich das Wort Freiheit aus dem Mund des Präsidenten der ›einzigen Weltmacht‹ höre – ›Wir bringen ihnen die Freiheit, und wenn wir sie alle erschießen müssen.‹ –, dann wird mir nur noch schlecht. Und von Gleichheit redet sowieso keiner mehr.« »Doch, wir. Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Wir bemühen uns zumindest, meistens. Aber … na ja … Ideale und Menschen passen halt nicht immer so gut zusammen.« Benno räusperte sich. »Hat dir denn das Essen geschmeckt?« Hanna lachte über den plötzlichen Themenwechsel. »Stark«, sagte sie. »Vom Rechtsstaat zu den Blaubeeren mit Vanilleeis! Aber das Essen war wunderbar. Und ich bin so satt.« Sie reckte sich, klopfte sich auf den Magen und sagte: »Ich muss unbedingt ein Stückchen laufen. Machen wir noch einen kleinen Spaziergang?« Sie gingen durch den Garten des Stadtarchivs hinunter zur Regnitz. Schilf raschelte, ein paar Enten quakten im Schlaf. Auf dem Steg vor der Konzerthalle blieben sie stehen und blickten über das dunkle, schimmernde Wasser auf die Lichter der 217
Altstadt. Der Steg schien leise zu schwanken, als sie sich küssten.
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21 Daheim holte Hanna sich ein großes Glas Wein und stellte sich damit vor die offene Flügeltür in ihrem Wohnzimmer. Sie lehnte sich an die Gitterbrüstung, blickte über den Fluss und wartete auf den Augenblick, in dem die Beleuchtung des Doms sich ausschaltete und sein Bild für Sekunden wie ein bleicher Schatten auf der Netzhaut verblieb, bis seine dunkle Silhouette vor dem helleren Nachthimmel auftauchte. Eine große Zärtlichkeit stieg in ihr auf, und es tat fast körperlich weh, Benno jetzt nicht neben sich zu spüren. Warum hatte sie ihn nur nicht eingeladen, noch mit hereinzukommen? Sie waren plötzlich beide verlegen gewesen, und Benno hatte sich beinahe hastig verabschiedet. Verdammt, die Sache sah wirklich ernst aus, wenn sie sich sogar Zeit nahmen, sich näher kennenzulernen, bevor … Das war ihr so noch nie passiert. Sie blieb lange stehen, doch allmählich wurde ihr kühl, und sie überlegte, ob sie sich ihr warmes Schultertuch holen sollte, denn der Dom war noch immer nicht erloschen. Aber irgendwie war ihr heute nicht wohl bei ihrem Abendritual. Immer wieder spähte sie angestrengt in ihren kleinen dunklen Garten hinunter, ob sich dort vielleicht etwas verbarg. Dabei war das ganz unmöglich. Ihr Häuschen war gesichert wie eine Festung: Das hohe Hoftor und die Mauer waren vom Vorbesitzer mit Spitzen und Glasscherben versehen worden und kaum zu überwinden, und ihr Gärtchen grenzte unmittelbar an den Fluss. Sie war so beunruhigt, dass sie beinahe die Fenstertüren geschlossen hätte. Aber dazu war das Wetter denn doch zu schön und die Nachtluft zu verführerisch, und so ließ sie zumindest einen Flügel offen. Sie lag schon im Bett, als Benno noch einmal anrief. »Sehen wir uns morgen?«, fragte sie. »Wollen wir bei dem schönen Wetter vielleicht auf den Keller gehen?« 219
»Ja, gern«, sagte Benno. »Der Wetterbericht hat zwar gemeldet, dass es schlechter werden soll, aber wir können es ja probieren. Spezi-Keller? Oder magst du kein Rauchbier?« Hanna mochte Rauchbier, und sie mochte vor allem den Blick von diesem Biergarten auf die Türmesilhouette der Stadt. Doch sie hatte kaum aufgelegt, da fiel ihr ein, dass sie am nächsten Abend mit einem potenziellen Auftraggeber zum Essen verabredet war und dass sie das unmöglich absagen konnte, nachdem sie ihn schon mehrfach vertröstet hatte. Sie brauchte dringend einen Folgeauftrag, wenn sie demnächst mit ihrem Kellerkataster fertig war. Also wählte sie Bennos Nummer und entschuldigte sich. »Vielleicht können wir uns ja später, wenn ich von dem Essen zurück bin, noch treffen. Und dann erzählst du mir, was du aus den Akten von Herrn Ernst herausgefunden hast.« Sie war schon fast eingeschlafen, als ihr Telefon klingelte. »Ich freu mich auf morgen«, sagte Benno mit rauer Stimme, »sehr!« Sie war drauf und dran, ihn zu fragen, ob er nicht gleich vorbeikommen wolle, aber dazu war die Hemmschwelle doch noch zu hoch. Und die Vorfreude zu schön. Lächelnd schlief sie mit dem Telefonhörer in der Hand ein. Doch bereits eine Stunde später war sie wieder wach. Ihr war, als habe sie ein Geräusch gehört, so etwas wie das Klicken von Metall gegen Metall. Sie horchte angestrengt, aber alles war still. Trotzdem zwang sie sich, aufzustehen, überall die Lichter anzumachen und Zimmer für Zimmer zu überprüfen. Nichts. Alles war ruhig und unberührt, keine Pfanne war von der Wand gefallen, kein Blatt auf dem Schreibtisch verschoben und kein Einbrecher saß unterm Tisch. Sie schalt sich hysterisch und ging wieder ins Bett. Aber sie fand nicht in den Schlaf zurück. Ständig meinte sie, Geräusche oder Schritte zu hören, und ihr Herz klopfte im Hals und in den Ohren, heftig und laut. Schließlich ging sie ins Bad und nahm eine Schlaftablette. Anna diabolica spottete: »Bist du vielleicht schon ein bisschen zu alt 220
für Liebesabenteuer? Oder nur aus der Übung?« Hanna weigerte sich, ihr verzaustes Spiegelbild genauer anzusehen, und schlurfte ins Bett zurück. Aber die Angst blieb und begleitete sie in den Schlaf. Albträume quälten sie. Sie suchte intensiv nach einem Weg, doch ihre Landkarte und die Umgebung wollten partout nicht übereinstimmen. So bemerkte sie nicht, obwohl sie es im Traum gleichzeitig wusste, dass etwas näher und näher kam, etwas sehr Gefährliches. Und dann war es über ihr, bevor sie richtig wach wurde. Den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, der Schatten sei Benno. Doch der Mann, der auf ihren Armen kniete, hatte überhaupt nichts Liebevolles mit ihr vor. In Hannas Kopf explodierte ein Feuerwerk, und ihre Zunge schien den ganzen Mund zu füllen, als er ihr keuchend den Hals immer fester zudrückte. Es tat qualvoll weh. Schierer Überlebenswille und vage Erinnerungen an den Karateunterricht veranlassten Hanna, einen Augenblick ganz still zu liegen, all ihre verbliebene Energie im rechten Knie zu sammeln und es ihrem Angreifer in den Unterleib zu rammen. Der lockerte mit einem überraschten Schmerzensschrei seinen Griff. Sie hatte ihn voll an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Kaum spürte Hanna etwas Bewegungsfreiheit, rollte sie sich mit einem Ruck Richtung Bettkante. Der Mann wurde mitgerissen und fiel vor dem Bett auf den Boden. Offenbar hatte er sich dabei verletzt, denn er stöhnte kurz auf. Sekunden später sah Hanna einen schwarzen Schatten vor dem helleren Fensterviereck vorbeihumpeln. Sie konnte es kaum glauben – er hatte aufgegeben, hatte sich nicht wieder auf sie gestürzt. Der Mann rumpelte die Treppe hinunter, und nach einer zähen, ewigen Zeitspanne hörte Hanna die Haustür und dann das Hoftor ins Schloss fallen. Noch wagte sie nicht, sich zu bewegen, saß keuchend und sprungbereit in der Dunkelheit auf ihrem Bett, voller Angst, der Albtraum würde zurückkehren.
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Nur langsam fing ihr Verstand wieder an zu arbeiten und sagte ihr, dass Licht besser sei als Dunkelheit und dass die letzte Nummer, die sie am Abend angerufen hatte, die von Benno gewesen war, und dass sie deshalb nur den Hörer nehmen und auf Wahlwiederholung drücken musste, dann würde alles wieder gut. Benno meldete sich nach dem zehnten Klingeln, äußerst ungehalten. Doch als sie zu sprechen versuchte, kam kein Ton aus ihrer geschwollenen Kehle. »Hallo, wer ist da?«, fragte Benno jetzt schon zum dritten Mal, inzwischen richtig wütend und offenbar entschlossen, aufzulegen. Da gelang ihr ein Krächzen: »Hilfe.« Das hielt ihn wenigstens am Telefon. »Benno …« »Hanna?« In Bennos Stimme mischten sich Unglauben und wachsende Furcht. »Hanna, was ist los?« »Überfall«, brachte sie heraus. »Wo bist du?« »Zu Hause.« »Ich komme sofort.« Erschöpft ließ Hanna den Hörer fallen. Sie legte sich einen Augenblick hin, um Kraft zu schöpfen. Dann versuchte sie aufzustehen. Ihr ganzer Körper fühlte sich an wie Gelee, vor allem die Beine. Jeder Schritt war ein Wagnis, das sie nur bestand, wenn sie sich festhielt. Schließlich war sie im Bad. Ans Waschbecken gelehnt, ließ sie kaltes Wasser in den Zahnputzbecher laufen. Das Schlucken war eine Qual, aber das kühle Wasser linderte die Schmerzen ein wenig. Im Spiegel erkannte sie sich kaum wieder. Ihre Augen waren dunkelrot, voller geplatzter Aderchen, auch ihr Hals war rot und schien zusehends dicker zu werden. Der Rest war leichenblass. Mit den 222
ersten Lebensgeistern kehrte auch Hannas Humor zurück. Wenn Bennos Zuneigung diesen Anblick überlebt, dann ist ihm wirklich nicht mehr zu helfen, dachte sie. Sie machte ein Handtuch nass und legte es sich um den Hals. Dann tastete sie sich langsam die Treppe hinunter. Das ganze Wohnzimmer war mit Papier übersät. Schubladen standen offen, auf ihrem Schreibtisch, auf dem die Lampe brannte, türmten sich vorher nicht vorhandene Papierhaufen, auch der Fußboden war mit Blättern gesprenkelt. Es war zu mühsam, darüber nachzudenken, was das bedeuten konnte. Hanna wankte in den Windfang und setzte sich neben dem Türdrücker für das Hoftor auf einen Stuhl. Von Zeit zu Zeit drehte sie das Handtuch um, damit die kühlere Seite wieder auf ihrer brennenden Haut zu liegen kam. Endlich klingelte es. Sie war unendlich erleichtert, als sie Benno durch den Hof rennen hörte, und stand auf, um die Tür zu öffnen. Er atmete schwer von dem schnellen Lauf, und sie versuchte zu lächeln. Dann rutschten ihr die Beine weg. Als Hanna wieder zu sich kam, lag sie auf ihrem Sofa, den Kopf auf Bennos Oberschenkel. Das war zwar ganz schön, aber etwas unbequem. Benno telefonierte. »Ja, Schulgasse hinten rechts«, sagte er gerade, »und könnten Sie bitte schnell kommen, Doktor, es geht ihr nicht gut. Sie ist in Ohnmacht gefallen.« Er legte auf. Hanna schlug die Augen auf. »Hey«, krächzte sie. Benno beugte sich zu ihr hinunter und lächelte sehr zärtlich. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte: »Hey Lady, hättest du dir nicht eine etwas weniger spektakuläre Art aussuchen können, um mich hierher zu locken?« Er küsste sie auf die Stirn, was sich als kurzfristig hochwirksames Schmerzmittel erwies. »Ein einfacher Anruf hätte genügt.« Hanna nahm seine Hand und legte sie auf ihr Gesicht. Dann schloss sie die Augen wieder, das Licht war so anstrengend. 223
»Die Spurensicherung wird gleich da sein. Und Dr. Last auch«, sagte Benno. »Er wird dich untersuchen und entscheiden, ob wir dich ins Krankenhaus bringen müssen.« Hanna bewegte verneinend den Kopf, allerdings vorsichtig. »Mir geht’s schon wieder besser.« Ihre Stimme klang inzwischen schon fast verständlich. »Genauso siehst du aus.« Benno hatte eine wirklich mitfühlende Art, den wunden Punkt zu treffen. Er stand auf und bettete ihren Kopf vorsichtig auf ein Kissen. »Bleib brav liegen. Ich sehe mich mal schnell um. Ich bin gleich wieder da.« »Verwisch bloß keine Spuren!«, wollte Hanna ihm nachrufen, aber die Stimme versagte ihr den Spott. Sie blieb ungern allein. Benno war Minuten später zurück, setzte sich neben sie auf das Sofa und berichtete: »Der Einbrecher ist mit dem Boot gekommen. Es liegt noch unten vor deinem Garten. Und dann ist er mit einer Leiter hier durch die Fenstertür gekommen.« Natürlich, die Leiter, die sie nach dem Rosenaufbinden nicht weggeräumt hatte. Leichter hätte sie es ihm kaum machen können. Benno schaute sich kopfschüttelnd das Chaos im Zimmer an. »Was kann er denn bloß hier gesucht haben? Hast du vielleicht in einem deiner Keller einen verborgenen Schatz entdeckt?« Hanna grinste kläglich. Benno nahm ihre Hände und rieb sie an seinen Wangen. »Bist du schon so weit, dass du mir erzählen kannst, was los war?«, fragte er. Doch da klingelte es. Der Arzt kam. Nach einer ersten Untersuchung sagte er: »Am sichersten wäre es, wenn ich Sie in die Klinik überweisen würde. Dort …« Aber Hanna krächzte: »Nein, bitte nicht!« und schüttelte so entschieden sie konnte den Kopf. »Ist das unumgänglich notwendig, Dr. Last?«, fragte Benno. »Wir haben noch keine Aussage von ihr, und die brauchen wir 224
so bald wie möglich. Und Sie wissen, dass es Stunden dauert, bis sie im Krankenhaus durch die Mühle ist. Sie können das doch genauso gut.« Franz Last zögerte, aber als Hanna mit fast klarer Stimme flehte: »Bitte!«, gab er nach. Er stellte ein Rezept für Augentropfen und eine Salbe für den Hals und die Abschürfungen an den Armen aus und schickte Benno damit in die nächste Apotheke mit Nachtdienst. Außerdem untersuchte er Hanna noch einmal sehr gründlich, horchte und klopfte und holte ihr dann eine große Portion Vanilleeis aus ihrem Tiefkühlfach zur Linderung der Schwellung in ihrem Hals. Benno kam zurück und brachte Werner Sinz und die Leute vom Kriminaldauerdienst und von der Spurensicherung mit, die er am Hoftor aufgelesen hatte. Werner gab es auf, Hanna zu befragen, als er sah, wie schwer ihr jedes Wort fiel. Er hatte es außerdem eilig, weil seine Leute von der Sonderkommission den russischen Dealern ganz dicht auf der Spur waren und die Falle jeden Augenblick zuschnappen konnte. »Mach du das«, sagte er zu Benno und war schon wieder fort. Die Beamten von der Spurensicherung fotografierten und saugten und nahmen Faserspuren und putzten Hannas Fingernägel, obwohl sie zu beteuern versuchte, sie habe den Einbrecher nicht angefasst. Aber es war einfacher, es geschehen zu lassen, als zu protestieren. Bevor sie gingen, las eine junge Beamtin die Blätter vom Boden auf und schichtete sie sorgfältig auf dem Schreibtisch zusammen. Auch Dr. Last verabschiedete sich und verordnete, dass sie keinesfalls allein bleiben dürfe und für die nächsten Tage absolute Ruhe halten müsse. Er werde am nächsten Tag wieder vorbeischauen und prüfen, ob sie psychologischer Hilfe bedürfe. Die beste erste Seelenhilfe aber sitze ja, wie er sehe, schon bereit. Er zwinkerte Benno zu. Und dann war der Trubel, den Hanna wie hinter einem Vorhang wahrgenommen hatte, vorbei. Sie war allein mit 225
Benno. Ihre Stimme war durch die abschwellende Wirkung des Eises zurückgekehrt, wenn auch noch schwach. Benno nahm Hannas Hände zwischen die seinen. »Endlich!« Er lächelte sie an. »Geht’s dir langsam besser?« Sie nickte. »Weißt du, was mich wundert? Dass du überhaupt nichts gehört hast. Der Einbrecher hat doch Schubladen aufgemacht und ist hier herumgegangen. Dass du davon nicht wach geworden bist?« »Schlaftablette.« Noch schonte Hanna ihre Stimme. »Habe Geräusche gehört – etwa um ein Uhr –, bin aufgestanden und habe das Haus durchsucht. Ich konnte nicht mehr einschlafen, darum habe ich eine Tablette genommen.« Sie schluckte den letzten Löffel Eis. »Ach so, dann war der also schon länger hier zugange. Und was ist dann passiert? Was hast du als Erstes bemerkt?« »Ach, nichts Besonderes«, antwortete Hanna. »Ein Mann kniete auf meinen Armen und versuchte, mich zu erwürgen. Davon bin ich aufgewacht.« »Bist du dir sicher, dass es ein Mann war?« »Ganz sicher. Ich habe ihm das Knie in den Unterleib gerammt, und er fiel vom Bett und stöhnte. Das hörte sich ziemlich männlich an.« Sie erzählte ihm, wie es dann weitergegangen war, bis sie ihn angerufen hatte. »Hast du irgendetwas erkennen können?« »Wie denn? Es war doch dunkel, und ich war damit beschäftigt, nicht zu ersticken.« »Aber vielleicht ist dir doch etwas aufgefallen. Die Stimme, der Geruch …« Hanna dachte nach. Der Geruch, ja, der war ihr irgendwie bekannt vorgekommen, aber sonst … »Ich habe ihn am Fenster vorbeigehen sehen. Aber er ging vornübergebeugt und humpelte.« 226
»Na gut, dann müssen wir woanders ansetzen. Hast du einen Feind, jemanden, der dich nicht mag?« Er sah sie mit schief gelegtem Kopf und seinem Schalkslächeln an. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass es irgendjemanden auf der Welt gibt, der dich nicht mag, aber offenbar ist da doch einer anderer Meinung.« »Ich kenne nur eine, die mich wirklich gehasst hat: meine ExSchwiegermutter in spe.« Bei dem Wort Schwiegermutter zog Benno fragend die Augenbrauen hoch. »Aber sonst? Ich bin ein absolut harmloser Mensch. Ich habe nicht mal geschäftliche Rivalen.« »Du? Harmlos? Von wegen. Du bist gefährlich wie Schießpulver.« Benno streichelte Hannas Finger. Hannas Lächeln ging in ein Gähnen über. Sie war völlig erschöpft. »Vielleicht hat es ja mit dem Rothammer-Fall zu tun?«, nuschelte sie. »Ja, das denke ich auch. Komm, halt noch ein bisschen durch. Denk nach: Wem hast du in den letzten Tagen so viel Wut oder Angst eingeflößt, dass er den Wunsch verspürt, dich zu ermorden? Er muss dich kennen, er muss deine Adresse wissen und …«, Benno starrte auf seine Finger, mit denen er die Bedingungen aufzählte, »und er muss etwas bei dir gesucht haben. Notizen vielleicht? Wenn er weiß, dass du wegen Elfi Rothammer Recherchen angestellt hast – eigenmächtige, wie ich betonen möchte –, dann ist die Wahrscheinlichkeit nicht von der Hand zu weisen, dass es sich hierbei um den Mörder von Elfi handeln könnte.« Ganz ohne sprachliche Spätfolgen geht ein Jurastudium eben doch nicht ab, dachte Hanna, sparte aber ihre Stimme, denn das Sprechen tat immer noch weh. »Jemanden, den ich in Angst oder Wut versetzt habe? Also, am Montag zunächst mal einen Staatsanwalt, wie hieß der noch gleich?« Benno gab ihr einen kleinen Nasenstüber. »Frechdachs!« 227
»Und außerdem?« Hanna schloss die Augen. »Außerdem wohl Joschi Schneider. Der war mächtig ungehalten, als er mich im Spielkasino in Bad Wiessee entdeckte. Er hat mich beschimpft, ich würde ihm nachspionieren.« »Er meinte, du würdest ihm nachspionieren, weil du auch im Spielkasino warst? Das ist aber komisch.« Irgendwie hatte Hanna keine Lust zu erklären, warum Joschi außerdem noch so wütend gewesen war. Plötzlich packte Hanna Bennos Hand. »Jetzt weiß ich’s!«, rief sie. »Au, mein Kopf!« Sie hatte sich zu schnell aufgesetzt. Aber die Erregung über das, woran sie sich eben erinnert hatte, verdrängte den Schwindel. »Heute Nachmittag, als ich mit Herrn Ernst auf dem Werkshof saß und Tee getrunken habe und er mir die Sache mit den getürkten Unterlagen erzählte, wen, glaubst du, habe ich da gesehen?« »Na sag schon!« »Karl Bolz! Er stand mit der Chefsekretärin am Fenster und sah zu uns herunter. Er hat sich sofort zurückgezogen, aber ich habe ihn trotzdem erkannt, und er hat nicht gerade entzückt ausgesehen.« »Karl Bolz«, sagte Benno gedehnt. »So, so. Hat euch beobachtet, sagst du. Aber wenn er … was könnte er hier gesucht haben? Hast du dir bei dem Gespräch vielleicht Notizen gemacht? Oder hat Herr Ernst dir etwas gegeben?« »Ja, stimmt. Herr Ernst hat ein paar Zeilen an Tante Kunigunde geschrieben und mir mitgegeben.« »Kleine Närrin.« Er streichelte ihr übers Haar. »Etwas gefährlich, deine Hilfsbereitschaft, hm?« Aber er machte ein Gesicht wie ein Kater vor einem Schälchen Sahne. »Karl Bolz bei der Firma Simanc, ei, ei. Was hatte er wohl da zu suchen? Das werde ich ihn morgen doch mal fragen müssen, ehrbarer Bürger hin oder her!«
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Benno gab Hanna das Beruhigungsmittel, das der Arzt dagelassen hatte. »In drei Stunden fängt ein arbeitsreicher Tag an. Es wird Zeit, dass ich noch ein paar Minuten Schlaf erwische.« Er gähnte. »Ich warte noch auf die Polizistin, die auf dich aufpassen soll, und gehe dann nach Hause. Komm, ich bringe dich ins Bett.« »So habe ich mir das eigentlich nicht vorgestellt«, murmelte Hanna und schlang ihm die Arme um den Hals. »Was hast du dir so nicht vorgestellt?« Er keuchte ein wenig, als er sie die Treppe hinauftrug, denn ganz leicht war Hanna nicht. »Ins Bett bringen«, krächzte sie mit dem Kopf an seiner Brust.
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22 Benno schob den Aktenstapel von der Mitte seines Schreibtischs an den Rand, legte den Zettel mit der Liste derer, die er dringend anrufen musste, links neben sich und nahm ein frisches Blatt Papier. Er konnte nicht anders, er musste schnell das Gedicht aufschreiben, das ihm auf dem Weg ins Büro eingefallen war. »Wie der Berg zum Propheten, so komm ich zu dir, mein liebliches Tal. Ich ruhe an deiner Seite Und Blumen decken uns beide.« Zufrieden steckte er es in seine Brieftasche. Es war zwar nicht gerade große Dichtung, aber zumindest klang es biblisch, und das war doch auch schon etwas. Trotz der kurzen Nacht war Benno gut gelaunt. Sein Leben fühlte sich frisch und hellgrün an. Er war Hannas Retter und Held, der stark wie Sankt Georg ihren unheimlichen Feind gnadenlos … Das Telefon unterbrach seine gnadenlosen Pläne. Es war die Sekretärin aus der Geschäftsstelle, die ihn mit der Zahnarztpraxis Schneider in München verbunden hatte. »Guten Tag, hier spricht Benno Berg. Kann ich bitte Herrn Dr. Schneider sprechen?« Eine junge, etwas unbedarfte weibliche Stimme antwortete: »Nein, können’s leider net, der Chef ist net da. Ich hab scho Ihrer Sekretärin gsagt, dass er nach Bamberg gefahrn is wegen dem Todesfall.« »Todesfall?«, fragte Benno verblüfft.
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»Ja, eine Tante von ihm ist gstorbn, in Bamberg, hat er gsagt, und da ist er hingfahrn, weil er das klären muss. Weil, von der hat er nämlich nix gwusst, hat er gsagt, und das muss er jetzt klären.« »Aha«, sagte Benno, »und können Sie mir vielleicht auch sagen, wo ich ihn in Bamberg erreichen könnte?« »Ja, das ko ich scho«, antwortete das Mädchen eifrig, »weil, das war nämlich gestern ich, die das Zimmer bstellt hat. Im Hotel Nepomuk war’s. Ich kann Ihnen die Nummer raussuchen. Die muss noch im Display sei.« »Danke, das ist nett von Ihnen.« Benno lächelte. Er nahm sich erneut seine Telefonliste vor. An erster Stelle stand »Hanna«, aber die würde er noch etwas schlafen lassen. Er fragte nur per Handy bei Frau Kröner, der Aufpass-Polizistin, an, ob alles in Ordnung sei. Bei Werner war besetzt. So rief er im Büro des Stadtdirektors an, um seinen Besuch anzukündigen. Frau Morgenthaler musste ihm aber, zu ihrem Bedauern, wie sie beteuerte, mitteilen, Herr Bolz weile erst am Dienstag früh wieder in Bamberg, da er über das Wochenende in die Bamberger Partnerstadt Rodez geladen sei. Sie selbst habe ihn, so erzählte sie auf Bennos Nachfrage, am gestrigen Abend nach Nürnberg zum Flughafen gefahren, da sein Chauffeur sich »kurzfristig den Arm gebrochen« habe. »Ich mache es ja gern«, klagte sie zum Abschluss ihres Berichts, »aber wenigstens ›Danke schön‹ hätte er sagen können.« Bolz war also nicht Hannas nächtlicher Angreifer gewesen. Es war sowieso unwahrscheinlich, dass er so etwas selbst machen würde; so etwas ließ man erledigen. Und überhaupt, Benno traute Bolz ja alles Mögliche zu, sogar den Mord an Frau Rothammer, aber den Überfall auf Hanna, nein, das nicht. Also doch Herr Dr. Schneider. Er war immerhin heute Nacht in Bamberg gewesen. Als Benno im Hotel Nepomuk anrief, meldete sich Wally, eine alte Freundin, mit der er vor zwei 231
Jahren ein paarmal ausgegangen war. »Ja, hallo, Benno. Das ist aber schön, mal wieder von dir zu hören! Willst du dich erkundigen, wie es mir geht?« Benno lachte. »Natürlich, ausschließlich. Wie geht es dir?« »Na, gut, wenn ich dich am Telefon habe. Was kann ich für dich tun?« »Lass mich mal überlegen. Hmm, was könnte ich denn von der Chefin eines Hotels wollen?« »Aber hallo, Herr Staatsanwalt, wir sind ein durch und durch seriöses Haus!« »Also gut, ganz seriös und offiziell: Bei dir hat sich gestern ein Joschi Schneider eingemietet, mit dem ich sprechen müsste. Ist der noch im Haus?« »Ja, der Herr Doktor ist noch da. Der legt nämlich großen Wert darauf, mit ›Herr Doktor‹ angesprochen zu werden.« Wally kicherte. »Dabei hätte der das wirklich nicht nötig, so gut wie der ausschaut. Der bräuchte nur mit den Fingern zu schnippen …« Sie seufzte genüsslich. »Na hör mal. Geht das nicht gegen die Standesehre, mit Gästen?« »Ach, schließlich geht uns das Wohlbefinden unserer Gäste über alles. Da muss man schon zu dem einen oder anderen Opfer bereit sein.« »Du armes Opferlamm! Weißt du, ob Herr Dr. Schneider vorhat, heute abzureisen?« »Er hat das Zimmer für zwei Tage gebucht, und momentan schläft er noch. Er wollte um zehn Uhr geweckt werden und hat dann ein Frühstück aufs Zimmer bestellt.« »Ich danke dir. Ich komm dann später vorbei. Kannst du mir bitte Bescheid geben, falls Schneider schon früher auftauchen sollte?« Benno gab ihr seine Handynummer.
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Er nahm sich ein großes Blatt Papier, um ein Diagramm der möglichen Beziehungen zwischen dem Mordfall Rothammer und dem Überfall auf Hanna zu erstellen. Dabei musste er sich eingestehen, dass er der Lösung des Mordfalls noch nicht viel näher gekommen war als zu Anfang. Immer, wenn er glaubte, festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, tauchten neue Fragen, Sumpflöcher, Abwege auf. Hatte Joschi Schneider tatsächlich nichts vom Tod seiner Tante gewusst? Das würde erklären, warum er sich bisher nicht bei der Polizei gemeldet hatte. Ich muss das unbedingt mit Werner besprechen, dachte Benno. Wie auf einen telepathischen Kontakt hin klingelte in diesem Moment das Telefon. »Na, Benno, wie fühlst du dich?«, fragte Werner. »Kurze Nacht, was? Da siehst du mal, wie es uns armen, geschundenen Polizisten oft geht.« »Der Dank des Vaterlands ist dir gewiss. Was machen deine Russen?« »Sie sind nicht aufgetaucht. Wir können uns also noch eine Nacht um die Ohren schlagen. Mist, verfluchter! Und wie sieht es bei dir aus, wie geht es Frau Tal?« »Ich glaube, ganz gut. Die Krönerin ist bei ihr und sagt, sie schliefe noch. Dr. Last meinte heute Nacht, auf die Beruhigungsmittel hin würde sie etwa acht Stunden schlafen. Ich denke, so gegen Mittag müsstest du mit ihr sprechen können.« »Mache ich. Ich weiß übrigens, wie der Einbrecher zu Frau Tal gelangt ist. Heute früh hat einer von den Kropfens den Diebstahl eines Schelchs gemeldet. Weil er repariert werden sollte, lag der noch im alten Kanal, vom Fischerstechen bei der Sandkerwa.« »Aha. Stell dir vor, dieses berühmte Turnier habe ich noch nie gesehen. Da ist immer so ein Menschenandrang, und ich kann solche Massen nicht leiden.« 233
»Na ja, wenn du dich ranhältst, dann hast du nächstes Jahr ja einen Logenplatz. Das Fischerstechen findet doch genau vor dem Häuschen von Frau Tal statt. Das müsste bis zu ihren Fenstern spritzen, wenn die sich gegenseitig ins Wasser schubsen.« »Na gut, auch ein Grund, um sich ranzuhalten. Ich werd’s mir merken. Die Polizei, dein Freund und Helfer! Trotzdem hätte ich dich nachher gern bei einer Vernehmung dabei. Es handelt sich um den Neffen von Frau Rothammer …« »Wie bitte, Frau Rothammer hatte einen Neffen? Bohrer hat doch gesagt, sie habe keine Verwandten, er habe alles gecheckt! Ich könnt ihn … kann man dem nicht mal die einfachsten Sachen anvertrauen? Aber warum sagst du mir das erst jetzt?« »Ich weiß es ja selbst erst seit gestern, und du warst doch in Eger und nicht erreichbar, und heute Nacht hatte ich anderes im Kopf.« Benno hatte ein schlechtes Gewissen, denn gegen Abend hätte er Werner durchaus erreichen können, doch da hatte er ebenfalls anderes im Kopf, zum Beispiel was er anziehen sollte und ob man einer gewissen Dame, mit der man das erste Mal essen geht, etwas mitbringt. »Oh, oh«, machte Werner. »Und wer ist dieser Neffe?« »Ein Joschi Schneider, Zahnarzt in München. Er ist offenbar der einzige Verwandte von Frau Rothammer und damit ihr Erbe und damit natürlich automatisch verdächtig.« »Woher weißt denn du von diesem Neffen?« »Mein General hat mich auf ihn aufmerksam gemacht, und … nun ja, Hanna hat mit ihm gesprochen.« »Sie hat mit ihm gesprochen? Wieso?« »Sie hatte über ihre Tante von ihm erfahren und wollte erkunden, was er weiß.« »Du meinst, sie ist nach München gefahren, um Nachforschungen anzustellen?« 234
»Na ja, so könnte man es nennen. Sie hatte sowieso dort zu tun und …« »Die hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank! Und den willst du jetzt vernehmen?« Benno fiel auf, dass Werner nicht fragte, was Hanna herausgefunden hatte. Nur dieses »Die hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank«. Hatte er selbst auch so reagiert? So viel zur Emanzipation des Mannes, dachte er und sagte: »Joschi Schneider ist zur Zeit in Bamberg, im Hotel Nepomuk. Wir müssen unbedingt mit ihm sprechen. Vielleicht ist er auch für den Überfall auf Hanna verantwortlich. Kannst du mal nachschauen, ob die Polizei etwas über ihn im Computer hat?« Die Computertastatur klapperte, und schon Sekunden später sagte Werner: »Kein Eintrag zu Joschi Schneider. Nicht einmal ein Fahrverbot. Aber ›Joschi‹ klingt mir verdammt nach Kosenamen, wer weiß, wie der wirklich mit Vornamen heißt, und ›Schneider‹ ist ja nicht gerade ein seltener Name; das braucht länger, wenn ich noch mal übers Einwohnermeldeamt recherchieren lasse.« »Seine Mutter war die Schwester von Arthur Rothammer. Sie hieß Karla. Das müsste euch weiterhelfen. Okay, nach dem, was wir bisher wissen, liegt also nichts gegen ihn vor. Ich brauch dich trotzdem bei der Vernehmung.« »Aber ich kann heute früh nicht. Ich muss nämlich zu meinem eigenen Zahnarzt. Es dauert zwar nur eine Viertelstunde, aber es muss unbedingt heute gemacht werden, sonst platzt was ab und die ganze bisherige Behandlung war umsonst. Dr. Specht hat mir die grässlichsten Qualen angedroht, wenn ich heute nicht komme.« »Soll ich Händchen halten?« Benno wusste, dass der Herr Kriminalhauptkommissar Angst vor dem Zahnarzt hatte. »Du Heini! Ich schicke dir Hans vorbei, der soll dich beglei…« 235
»Wann musst du denn beim Zahnarzt sein?«, unterbrach ihn Benno. »Um viertel vor zehn.« »Das passt doch. Schneider hat sich das Frühstück um zehn Uhr aufs Zimmer bestellt. Ich gehe um die Zeit hin, und du kommst nach, sobald du fertig bist. Einverstanden?« »Nein. Du solltest da nicht allein hingehen. Wer weiß, wie der reagiert.« »Na gut, ich muss eh noch etwas erledigen. Wir treffen uns dann um viertel elf in der Hotelhalle. Ich hab übrigens noch eine gute Nachricht: Hanna hat einen Zeugen aufgetan …« »Sag das noch mal«, rief Werner aufgebracht. »Wer hat was? Frau Tal hat einen Zeugen aufgetan? Macht Frau Tal inzwischen hier die Polizeiarbeit oder was?« »He, reg dich ab, darum geht es doch gar nicht. Keiner will dir einen Stein aus der Krone holen. Sie verfügt halt über ein gewisses gesellschaftliches Insiderwissen, und das können wir uns doch zunutze machen, finde ich.« Werner murrte: »Also, was ist das für ein Zeuge, den Frau Tal mit ihrem gesellschaftlichen Insiderwissen aufgetan hat?« »Das ist ein Vorarbeiter bei der Dachdeckerfirma Simanc, der bezeugen kann, dass bei der Arthur-Rothammer-Stiftung nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist, dass es Betrügereien gab, und was noch besser ist: Er hat dafür sogar schriftliche Unterlagen, die er uns heute früh übergeben wird. Alles im sorgfältig geordneten Archiv der Firma Simanc aufbewahrt.« »Wie sagst du, heißt die Firma? Simanc? Die war doch heute Thema in der Morgenrunde. Dort hat es nämlich heute Nacht gebrannt. Ein alter Schuppen im hinteren Teil des Firmengeländes. Sieht nach Brandstiftung aus. Warte mal.« Man hörte wieder die Hacktöne der Computertastatur. »›Die Feuerwehr
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konnte eine Ausbreitung des Brandes verhindern‹«, zitierte Werner. »›Größerer Schaden ist nicht entstanden.‹« »Verdammte Scheiße!«, äußerte Benno vornehm. »Von wegen ›kein größerer Schaden‹! Wenn dieser Schuppen das Archiv der Firma war, dann ist der Schaden für uns enorm. Denn die Akten dort waren bisher die einzigen Beweise, die ich für die Stiftungsgeschichte auftreiben konnte. Du weißt so gut wie ich, dass die zum Himmel stinkt, nur beweisen kann ich nichts. Lass bitte umgehend alles, was von den Akten noch vorhanden ist, sicherstellen. Vielleicht finden wir ja doch noch irgendwelche Hinweise.« »Geht in Ordnung«, sagte Werner. »Meine Leute sind ja sowieso dort und sichern alles ab, wegen der Brandstiftung.« »Irgendwie gefällt mir das alles nicht. Können wir nicht gleich zu Herrn Schneider gehen, noch vor deinem Zahnarzttermin?« »Leider nicht. Ich muss los, eine Krankenschwester vernehmen, die heute Nacht einen Mann totgefahren hat, einen Herrn Ernst.« »Herrn Ernst?« »Ja. Er war … aber holla, er war Vorarbeiter …« »… bei der Firma Simanc«, ergänzte Benno. »Verdammte Scheiße!« Sein Wortschatz war an diesem Vormittag etwas eingeschränkt. »Unser wichtigster Zeuge! Und das soll Zufall sein? Das gibt’s doch nicht! Wer war das, der Herrn Ernst überfahren hat?« »Eine junge Krankenschwester namens … Tamila Nabadjan«, sagte Werner, »sie hat sich sofort kompetent und fürsorglich um den Verletzten gekümmert. Als er in ihren Armen starb, hat sie einen Schock erlitten und liegt jetzt oben im Klinikum.« »Diese geschockte Krankenschwester möchte ich mir einmal persönlich anschauen. Holst du mich ab? Ich gehe gleich runter zur Bushaltestelle an der Schranne. Da kannst du mich im 237
Vorbeifahren aufpicken.« Von Bennos guter Laune war nicht mehr viel übrig. Er holte sein Handy heraus. Er trug es nur im Notfall angeschaltet mit sich herum. Noch während er es einschaltete, klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Die Geschäftsstelle rief an, er möge doch bitte vorbeikommen und ein paar Unterschriften leisten, es sei eilig. Vor dem Fenster trieben Wolken über den Himmel. Es sah nach Regen aus. Benno holte seinen Schirm aus dem Schrank und zog seine Jacke an. Dann stellte er den Schirm wieder zurück. Er würde ihn doch nur irgendwo vergessen, und er musste auch keine weiten Strecken zu Fuß gehen. Er schloss sein Büro ab und beeilte sich, damit er das mit den Unterschriften noch erledigen konnte, bevor Werner ihn an der Bushaltestelle vor der Staatsanwaltschaft auflas. Zurück blieb, mitten auf seinem Schreibtisch, ein einsames Handy.
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23 »Hanna … Hanna … Es ist etwas Schreckliches … Herr Ernst ist tot.« Hanna war noch nicht aus ihrer Beruhigungsmittelferne zurückgekehrt. Sie hatte Mühe, Tante Kunigundes Stimme am Telefon zu erkennen. Sie klang fremd, gepresst und tonlos. »Was sagst du? Herr Ernst? Wieso? Was ist denn passiert?« »Er ist überfahren worden. Gestern Abend. Die Bedienung vom Sternla war dabei und hat es heute früh der Bäckerin erzählt.« Schluchzer unterbrachen Tante Kunigundes Bericht. Angst kroch aus den Nebeln in Hannas Gehirn. Herr Ernst gestern Abend, sie selbst heute Nacht … »O Gott, Tante Kunigunde, nein! Es tut mir so leid!« »Kind, könntest du mir einen Gefallen tun? Könntest du kurz zu mir kommen?« »Nein, Tante Kunigunde, ich fürchte, das kann ich nicht.« »Wieso, was ist los? Du klingst so komisch.« »Ich bin noch ein bisschen lädiert, weil – ich bin heute Nacht überfallen worden«, sagte Hanna kläglich. »Überfallen? Du guter Gott!« Tante Kunigunde hörte sich schon etwas weniger verloren an. »Wo, wer … Wart, ich komme zu dir.« Hanna ließ den Telefonhörer fallen und legte den Kopf zurück. Sie war so entsetzlich müde. Der Hals tat ihr unsäglich weh, und sie bekam kaum Luft. Die Bilder in ihrem Kopf zerbröselten. Hingen denn der Überfall auf sie und der Tod von Herrn Ernst und der Mord an Elfi zusammen? Und wie? Gab es eine gemeinsame Wurzel? In ihr wuchs eine würgende Angst. Da war etwas Ungutes, etwas, das anklopfte, ans Licht kommen 239
wollte, das sich im Traum nach vorn gedrängt hatte, immer wieder. Ein Bild, das verschwand, sobald sie es genauer anzusehen versuchte. Sie wusste, sie musste diese Botschaft verstehen, bald, aber sie war so müde. Nein, nein, nicht schlafen, sie musste nachdenken. Das konnte sie doch: analysieren, Fakten voneinander trennen, sie einzeln befragen und aus den Erkenntnissen ein neues Netz knüpfen. Wenn ihr doch bloß der Hals nicht so wehtäte. Wenn doch bloß die Schleier aus ihrem Kopf verschwänden. Wenn doch … Hanna sank langsam in den Schlaf zurück. Sie sah einen Reißverschluss, einen kleinen schwarzen Reißverschluss. Dann nichts mehr. Mit feuchten Händen schrak sie aus dem Schlaf hoch. An ihrem Bett saß Tante Kunigunde und schaute sie aus verweinten Augen liebevoll an. »Was machst du nur für Sachen, Kindchen? Die Polizistin hat mir alles erzählt.« Sie nahm Hannas Hand. »Gott, Tante Kunigunde, es tut mir so leid …«, flüsterte Hanna. »Herr Ernst. Wenn ich nicht zu ihm gegangen wäre …« »Ach, Unsinn! Was soll ich da erst mit meinem verdammten Eierlikör sagen …« Tante Kunigundes raue Stimme kam kaum an dem riesigen Knoten in ihrer Kehle vorbei. Hanna lächelte mitleidig und schloss die Augen wieder. Sie fasste Tante Kunigundes Hand fester. »Wie hast du es denn erfahren?« »Ich bin heute früh zum Bäcker gegangen, und da stand die Gundi Dütsch, die alte Bedienung aus dem Sternla, an der Theke und hat der Bäckerin schluchzend die Geschichte erzählt.« Tante Kunigunde ahmte die Stimme der Kellnerin nach, und es schien ihr Erleichterung zu bringen, deren Bericht Wort für Wort wiederzugeben. »›Seit dem Tod vo seiner Fraa‹, sagte sie, ›is er jeden Ohmd zu uns kumma, und noch nie hot er mehr getrunkn wie a klaans Bier. Und gestern Ohmd hot er fast an ganzn Bocksbeutel ghobt. Und nochm Essen hot er sich a Schnapsglas 240
bestellt und hot sich aus seiner mitgebrachtn Flaschn eigschenkt, aa Gläsla und nuch aans und nuch aans. Die Aung hot er zugemacht dabei, und gelächelt hot er wie der Engel in Dom. Seelich, richtig seelich.‹ Ich fing schon an, ungeduldig zu werden und wollte fragen, ob ich vielleicht auch einmal bedient würde, aber da sagte die Gundi ›Un nocher hot er zwanzich Euro aufn Tisch gelecht – zwanzich Euro, wo sei Essen doch bloß elf Euro achtzich gekost hot – un hot sei Eierlikörflaschn genumma und is fort.‹ Als ich das Wort Eierlikör hörte, war mir plötzlich klar, von wem sie sprach. Mir wurde ganz schwarz vor den Augen. Gott sei Dank haben die in der Bäckerei vor einiger Zeit einen kleinen Tisch und zwei Stühle aufgestellt, sodass ich mich setzen konnte. Den Rest der Erzählung habe ich kaum noch verstanden. Er ist wohl mit seiner Eierlikörflasche im Arm auf die Straße gelaufen, direkt in ein Auto. Die Gundi ist ihm noch nachgesprungen, weil er seinen Hut vergessen hatte, und hat hinter ihm hergerufen, aber da war es schon zu spät. Sie meinte, sein Genick sei vielleicht gebrochen gewesen, denn von außen habe man keine Verletzungen sehen können. ›Er hot ganz friedlich ausgseng‹, hat sie gesagt, ›immer noch mit seim Lächeln, und sei Eierlikörflaschn hot er im Arm ghabt wie a Baby.‹ Die Fahrerin des Wagens, eine junge Krankenschwester, ist gleich aus dem Auto gesprungen und hat Wiederbelebungsversuche gemacht, aber es war zu spät.« Hanna richtete sich auf und nahm Tante Kunigunde in den Arm. Das gemeinsame Weinen tat gut. Schließlich gab sich Tante Kunigunde einen Ruck. »Ich werde uns jetzt Frühstück machen. Die Frau Kröner kann ein paar Brötchen holen. Eine nette Frau übrigens. Ich glaube, ich kannte ihren Onkel.« Tante Kunigunde war offenbar auf dem Weg der Besserung. »Tanja wird auch gleich da sein. Ich habe ihr einen Zettel an die Tür gepinnt.« Hanna fühlte sich allmählich etwas stärker. Wenn nur diese Unruhe nicht gewesen wäre, dieses nagende Gefühl, wie wenn 241
man in einem leeren Haus jemanden an eine entfernte Tür klopfen hört und weiß, dass der Fremde eine böse Nachricht bringt. Hanna zog sich ihren Bademantel über und tastete sich die Treppe hinunter. Es klingelte; Tanja kam mit Will. Tante Kunigunde hatte in Hannas großem Wohnraum den Tisch gedeckt. Eine dicke Kerze brannte gegen die zunehmende Nieseligkeit draußen an und beleuchtete bunte Papierservietten. Die frischen Brötchen dufteten nach Morgen. Frau Kröner bedankte sich bereits zum dritten Mal für die Einladung zum Frühstück. Tante Kunigunde nahm Will auf den Schoß, der begeistert versuchte, ihr Haare auszureißen. »Also, alles in Ordnung!«, stellte sie befriedigt fest. »Hab ich mir doch gleich gedacht. Und er ist sogar zwei Zentimeter größer als der Durchschnitt.« Sie sagte es, den Blick auf die Tabelle auf dem gelben Voruntersuchungsheft gerichtet, als wäre das ihr persönliches Verdienst. »Hat Dr. Kramer noch Schwierigkeiten wegen der Papiere gemacht?« »Na ja, ich musste alles Mögliche ausfüllen.« Tanja war in Gegenwart der Polizistin spürbar gehemmt. »Aber weil Sie doch gestern mit ihm gesprochen haben … Wir müssen halt nächste Woche auf die Stadt …« Sie drehte ihre Serviette zusammen. Frau Kröner schaute sie an und begann von ihrem kleinen Sohn zu erzählen und dass der nachts immer noch nicht durchschlafen würde und wie schwierig es für sie sei, Kind und Dienst unter einen Hut zu bringen. Tanja entspannte sich etwas, lächelte sogar bei einer witzigen Bemerkung. Schließlich sagte Hanna: »Frau Kröner, könnten Sie vielleicht später mit Tanja zur Staatsanwaltschaft gehen? Ich habe Herrn Berg versprochen, heute Vormittag mit ihr bei ihm zu erscheinen, aber ich fühl mich noch etwas …« »Aber natürlich. Mach ich gern. Liegt eh mehr oder weniger auf meinem Weg.« Sie sah Tanja fragend an, und Tanja nickte.
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Nach dem Frühstück legte Hanna sich wieder hin. Ihr war immer noch schwindelig. Frau Kröner ging mit Tanja weg. »Meine Ablösung wird gleich da sein«, sagte sie. »Aber wir sind im Moment etwas knapp mit Leuten.« »Ach, solange Tante Kunigunde in der Nähe ist, brauche ich doch überhaupt keinen Wachhund. Die wird mit jedem Verbrecher fertig, nicht wahr?« »Natürlich«, sagte Tante Kunigunde todernst. »Wo sind deine Schlachtermesser?« Dann verzog sie sich mit Will ins Bad, wo sie ihn im Waschbecken badete, sehr zu seinem Entzücken, wie man seinem Quietschen entnehmen konnte. Kaum hatte Hanna die Augen geschlossen, da kam die Angst wieder, und sie sah wieder den Reißverschluss, den kleinen schwarzen Reißverschluss, und die Hand, die ihn zumachte. Aber diesmal wusste sie, dass es ihre eigene Hand war, die etwas hinter diesem Reißverschluss verborgen hatte. Und plötzlich fiel ihr auch wieder ein, was es war. Wie hatte sie das nur vergessen können? Sie setzte sich so heftig auf, dass sie stöhnte vor Schmerz. Sie wankte zum Schrank und fand beinahe sofort, was sie suchte. Und es bestätigte, was sie befürchtet hatte. Auf der Vorderseite des Blattes stand die dritte Mahnung des Kreditinstituts »Spielerglück Bad Wiessee«. Trotz der vornehmen Aufmachung mit goldenem Briefkopf, der Angabe zahlreicher Bankverbindungen und wohlklingender Eingangssätze war die Drohung unüberhörbar: »Sollten Sie Ihre Verbindlichkeiten von 120.000 Euro nicht bis zum 15. August beglichen haben, sehen wir uns gezwungen, geeignete Mittel der Selbsthilfe zu ergreifen.« Auf der Rückseite des Briefes war ein Zeitplan handschriftlich skizziert. »Samstag, 9 Uhr Auffahrt zum Belfer, 8 Stunden Wanderung (Stempel!), Übernachtung Andratsch-Hütte. 243
Sonntag, 5 Uhr früh Abstieg zu Parkplatz A, 8 Uhr Abfahrt nach Bamberg, =, Rückfahrt zu Parkplatz B, 17 Uhr Auffahrt zum Belfer, Übernachtung Belferhütte (von Wanderung erzählen).« Auch die Standpunkte verschiedener Autos und die Abfahrtszeiten eines Busses waren notiert. Das also hatte der Einbrecher bei ihr gesucht. Ein so brisantes Dokument war dieses Risiko wirklich wert. O Gott, das musste Benno wissen, auf der Stelle! Wenn nur ihre Knie nicht so wackelig, ihre Hände nicht so zittrig wären! Mehrmals wählte sie Bennos Handynummer, dann die Büronummer, und dann wieder die Handynummer, ließ es endlos klingeln – niemand meldete sich. Dann rief sie bei der Polizei an und verlangte Kriminalhauptkommissar Sinz zu sprechen. »Der is im Aungblick net do; ich geb Ihna sein Stellvertreter«, sagte der Beamte in der Vermittlung. Und dann meldete sich Herr Bohrer. Herr Bohrer sah sich nicht in der Lage, Hanna Herrn Sinzens Handynummer zu geben, unter gar keinen Umständen, und wenn sie noch so schön bitten täte; sie solle doch ihm sagen, worum es gehe. Aber als Hanna das versuchte, war er so begriffsstutzig und jede seiner Äußerungen dauerte so lange, dass sie schließlich mitten in einem von Bohrers umständlichen Satzwürmern entnervt auflegte. Sie fühlte, dass es um Minuten ging, um Sekunden. Sie musste unbedingt Benno erreichen, so schnell wie möglich. Gott sei Dank, Katja war zu Hause. Aus welchem glücklichen Grund auch immer, sie war heute nicht in ihre Praxis gegangen. »Katja, schnell, hast du Werners Handynummer?« »Ja, klar. Warte mal, ich muss erst mein Handy einschalten; auswendig kann ich sie noch nicht. Sekunde! Was ist denn so Dringendes? Du klingst ja ganz außer dir!« »Erzähle ich dir später! Bitte, sag schon!«
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»Ist ja gut! Aber du wirst ihn nicht erreichen, der ist gerade beim Zahnarzt. Da schaltet er sein Handy aus, um in seinem Dulden nicht gestört zu werden.« Hanna versuchte es nochmals bei der Staatsanwaltschaft. Die Richter und Staatsanwälte hatten zwar keine persönlichen Sekretärinnen mehr; die Arbeiten wurden in sogenannten Geschäftstellen zusammengefasst. Aber vielleicht wusste man dort ja, wo Benno hingegangen war. Und welch ein Wunder, sie bekam direkt Frau Oehm ans Telefon. Frau Oehm war intelligent, kompetent und von schneller Auffassung. Und sie kannte Hanna von einer ihrer Kellerführungen. »Guten Tag, Frau Doktor«, sagte sie, als Hanna sich meldete. »Wie geht es Ihnen?« »Im Moment eilig. Ich muss unbedingt wissen, wohin Herr Berg gegangen ist. Wen könnte ich da fragen?« »Mich«, sagte Frau Oehm. »Er hat sich bei mir abgemeldet. Er wollte zunächst zu einer Vernehmung ins Krankenhaus und dann ins Hotel Nepomuk.« »Weshalb wollte er denn ins Hotel Nepomuk?« »Ich habe heute früh für Herrn Berg ein Gespräch mit einem Dr. Schneider in München vermittelt. Dessen Sprechstundenhilfe sagte mir, dass ihr Chef nach Bamberg gefahren und im Hotel Nepomuk abgestiegen ist, Zimmer 102. Ich glaube, Herr Berg wollte dort mit ihm sprechen.« Wenn doch nur Frau Kröner nicht weggegangen wäre, wenn doch nur ihre Ablösung schon da wäre, wenn ihr doch nur nicht so furchtbar schwindelig wäre! Hanna zog sich an, schnappte sich ihren Regenumhang und eine Sonnenbrille, damit sie unterwegs nicht wegen ihrer roten Augen angesprochen wurde, schlich sich heimlich aus dem Haus – denn sie wusste genau, was Tante Kunigunde zu ihrem Plan sagen würde –, schnappte sich ihr Fahrrad und radelte zum Hotel Nepomuk. Hoffentlich, 245
hoffentlich, hoffentlich kam sie rechtzeitig! Sie strampelte gegen den Wind. Auf der Unteren Brücke versperrte ihr eine Reisegruppe den Weg, an der Schranne parkten die Autos dicht an dicht, sodass sie einen Umweg fahren musste, in der Schimmelsgasse kam ihr ein Lieferwagen entgegen, der beinahe die Hauswände streifte, sodass sie absteigen und zurückgehen musste, um in einer Hofeinfahrt zu warten, bis er vorbei war. Es war wie ein Albtraum. Die Hotelhalle war leer, auch die Rezeption war nicht besetzt. Erst als sie vor Zimmer 102 stand, überlegte sie, was sie denn nun tun sollte. Klopfen und hineingehen? Wenn Benno aber noch nicht da war? Sie hatte gerade beschlossen, zur Rezeption zurückzugehen und zu fragen, da öffnete sich die Tür. »Oh, ich wollte gerade Zigaretten holen, aber das ist viel besser. Dass das Schicksal mir am frühen Morgen solch ein Glück beschert!« Hanna starrte Joschi entsetzt an. Vor Schreck blieb sie stocksteif stehen. Joschi packte Hanna am Arm und zerrte sie ins Zimmer. Er stieß sie zu Boden, und sie wünschte sich ebenso verzweifelt wie vergeblich, ihre Karatekenntnisse nicht so vernachlässigt zu haben. Sie wehrte sich völlig umsonst. Mit seinem Bademantelgürtel fesselte er ihre Hände und erstickte ihre Hilferufe mit einem Paar Socken, die er ihr in den Mund stopfte und mit seinem Seidenschal festband. Dann riss er sie auf die Beine, schubste sie vor sich her ins Badezimmer, schob sie in die Duschkabine und band ihre verschnürten Hände an der Stange der Brause fest. »Diesmal entkommst du mir nicht, du Hexe«, murmelte er. »Alles hast du verdorben. Es ist nicht gut, mich so wütend zu machen, gar nicht gut, sag ich dir.« Joschi roch intensiv nach Alkohol und sah seltsam aus, völlig verquollen, fast, als hätte er geweint. Er war eindeutig schwer betrunken und fixierte sie aus schmalen Augen. Als Hanna dachte, sie könne diesen Blick nicht länger ertragen, verließ er das Bad. Sie blieb allein mit 246
dem Rauschen des Flusses, das durch das kleine Fenster hineindrängte und sich zwischen den Kacheln fing. Doch ihre Erleichterung währte nur Sekunden, denn Joschi kam sofort wieder. Auf seinem Gesicht lag ein eigenartiges Lächeln. Die Kuppe seines rechten Daumens strich zärtlich über die Schneide eines aufgeklappten Messers, querte sie, hin und her, vorsichtig hin und her. Hanna glaubte, das Geräusch zu hören, ein zartes Zischen, wie eine Schlange, die durchs Gras gleitet. Hannas Angst gerann im Getöse des Flusses. Würde sie das je wieder können, einen Fluss rauschen hören, ohne gleichzeitig mit jedem Nerv das winzige Schaben des Daumens über das Messer zu vernehmen? Dieses sanfte Geräusch, wieder und wieder. Joschi lehnte am Rahmen der Badezimmertür; offenbar konnte er kaum noch stehen. »Warum hast du mich sitzen lassen? Weißt du, wie weh das getan hat?« Plötzlich hörte er sich an wie ein beleidigtes Kind. »Seit langer Zeit warst du die Erste … ich habe gewartet und gewartet, und du bist einfach nicht wiedergekommen. Das Büfett habe ich mir eigentlich gar nicht leisten können. Und dann gehst du einfach weg. Aber das lasse ich mir nicht gefallen.« Joschi lachte bitter auf. »Ein echter Rothammer lässt sich so etwas nicht gefallen. Ein echter Rothammer doch nicht. Schau ihn dir an. Ein reinrassiger Rothammer!« Stöhnend wandte er sich zum Waschbecken um, stützte sich schwer auf den Rand und starrte in den Spiegel. »Wie konntest du mir das antun? Mit deinem Bruder, mit deinem eigenen Bruder! Hast du denn nicht an mich gedacht, wie sich das anfühlt, so ein Kind zu sein? Gott im Himmel, wie hast du mir das antun können?« Hanna verstand sein verwaschenes, trunkenes Gemurmel nur mit Mühe. Doch dann begriff sie: Joschi hatte in der vergangenen Nacht die Briefe seiner Mutter gelesen! Kürtchens 247
Schachtel mit den Briefen hatte auf ihrem Schreibtisch gestanden, wo er sie entdeckt haben musste auf der Suche nach dem verräterischen Dokument, das sie bei ihm mitgenommen hatte. Das also waren die Papierhaufen auf dem Tisch gewesen, die Blätter auf dem Boden. Und das war der Grund, warum Joschi so aufgelöst war: Er glaubte, das Kind von Arthur und Karla zu sein, von Bruder und Schwester. Eiskalter Schweiß lief Hanna den Rücken hinunter. Sie überlegte verzweifelt – gab es so etwas wie Übertragung? Würde er jetzt anstelle seiner Mutter sie leiden lassen? Er hatte gesagt, sie würde ihn an Karla erinnern. Was sollte sie nur tun? Wenn sie ihm doch nur Bescheid sagen könnte! Aber wegen des Knebels in ihrem Mund konnte sie nur unartikuliert stöhnen. Joschi drehte sich um und kam einen Schritt auf sie zu. Er sah sie an, als versuchte er mühsam über etwas nachzudenken. Sein Daumen begann wieder das nervenzermürbende Spiel mit der Messerschneide – fff, fff. Doch plötzlich war da noch ein anderes Geräusch. Es klopfte. Der Daumen erstarrte. Es klopfte wieder, energischer diesmal. Hanna konnte die Tür jenseits von Bad und Zimmer sehen; sie schien weit weg. Sie hörte eine Stimme etwas rufen, fragend, konnte aber die Worte nicht verstehen. Sekunden verstrichen. Joschi beobachtete die Tür wie ein Tier auf der Flucht. Als die Klinke sich bewegte, warf er das Messer ins Waschbecken, rief: »Einen Augenblick noch!« und ging ins Zimmer. Die Badezimmertür schloss er von außen zu. Hanna versuchte verzweifelt, etwas von dem mitzubekommen, was im Hotelzimmer geschah. Doch außer einem unverständlichen Gemurmel drang nichts durch die massive Badezimmertür. Wie konnte sie Joschis ahnungslosen Gast nur auf sich aufmerksam machen? Sie trat so mit dem Fuß gegen die Seitenwand der Duschkabine, dass ihr Schuh mit der Kante auf das Plexiglas traf. Es gab ein hallendes Geräusch, das in ihren Ohren sehr laut klang. Hatte Schneiders Gast sie gehört?
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24 Wie der Himmel trübte sich Bennos Stimmung immer mehr ein. Die Temperatur war in der letzten Stunde um mehrere Grad gefallen, und die spinnwebdurchwirkte Wärme des Altweibersommers schien viel weiter entfernt als einen Tag. Benno bohrte die Fäuste in die Jackentaschen, fröstelnd und mürrisch. Nichts ging voran. Die Vernehmung der Krankenschwester hatte überhaupt nichts gebracht. Die war wirklich unschuldig wie ein Kinderpopo, wenn sie nicht eine besonders begabte Schauspielerin war. Von dem Simanc’schen Firmenarchiv waren, nach dem Bericht des Einsatzleiters, nur unbrauchbare Reste übrig, und er hatte keinerlei Berechtigung, Bolz zu fragen, was er denn bei Simanc getan hatte. Hanna war fast zu Tode gekommen, Herr Ernst war tot, und er, Benno, fühlte sich wie im Irrgarten. Welchen Weg er auch wählte, er endete an einer Wand. Er wollte jetzt endlich einmal vorankommen. Deswegen machte er sich gleich von der Schranne aus, wo er aus dem Bus gestiegen war, auf den Weg zum Hotel Nepomuk. Inzwischen nieselte es ziemlich heftig. Benno schlug den Jackenkragen hoch, schob die Hände in die Taschen und rannte mit hochgezogenen Schultern los. Die kleine enge Gasse hinter dem Sonnenplätzchen, die er sonst so romantisch fand mit den überkragenden Obergeschossen der Häuser, sah plötzlich düster und verkommen aus. Benno hielt sich dicht an den Hauswänden. Das schützte zwar nur wenig vor dem Regen, aber auf dem Abhang vor dem Klosterbräu hinunter zum Fluss gaben die vielfarbigen alten Tonplatten auf dem Gehsteig einen besseren Halt als die glitschig glitzernden Kopfsteine des Fahrbahnpflasters. Unten rannte er um die Ecke der Steinmühle und über die Mühlbrücke bis in die Eingangshalle des Hotels. Er schüttelte sich, froh, der Nässe entronnen zu sein. Das Hotel, 249
eine ehemalige Mühle, stand mitten im Fluss, und in dem Rauschen des Wassers rund um das Gebäude fühlte sich der Regen ganz besonders nass an. »Oh, là, là, der Herr Staatsanwalt!« Benno hob den Blick von seinem Jackett, an dem er herumgeklopft hatte, um die Tropfen zu entfernen. Hinter der Rezeption stand Wally. »Na, Benno, altes Haus, give me five!« Sie hielt ihm den Handteller mit nach oben gespreizten Fingern hin. Dieser Gruß war in dem Freundeskreis, dem sie beide angehört hatten, üblich gewesen. Benno klatschte lachend ab. »Hallo, Wally, altes Haus, schön, dich zu sehen. Sag, hat sich dein Gast, dieser Dr. Schneider, schon gerührt?« »Nein, keine Sorge, von dem war bisher nix zu sehen und zu hören. Brr, ist das ein Mistwetter.« »Das kannst du laut sagen.« »Ich bin gerade durchs ganze Haus gerannt, um die Fenster zu schließen. Ein Glück, dass in dieser Zeit kein Gast kam; es macht keinen guten Eindruck, wenn die Rezeption nicht besetzt ist. Du Ärmster, du bist ja ganz nass. Komm mal hier in mein Büro. Ich gebe dir ein Handtuch, damit du dich trocken reiben kannst.« Während Benno sich die Haare rubbelte, holte Wally einen Föhn aus dem Schreibtisch und föhnte sein Tweedjackett. Aber schon nach einer kurzen Weile sagte Benno unruhig: »Ach, lass mal. Ich muss so schnell wie möglich mit diesem Dr. Schneider sprechen. Welche Zimmernummer hat er denn?« »Die 102. Das ist unser schönstes Zimmer, gleich hier über dem Eingang.« »Ja, kenne ich. In der Badewanne kannst du so laut singen, wie du willst, da störst du keinen. Ich habe noch nie einen Fluss so rauschen hören.« »Stimmt. Grad in dem Badezimmer ist es extrem. Darum 250
haben wir da auch die alten Türen wieder einbauen lassen. Das sind die Eichentüren aus der Mühle, die vor dem Neubau hier stand, durch die hörst du im Zimmer selbst fast nichts. Aber sag einmal, Herr Berg, was hattest denn du in dieser Badewanne zu singen?« Benno betrieb das Zusammenfalten des Handtuchs mit plötzlich verschärfter Präzision. »Hrm«, räusperte er sich. »Wer sagt denn, dass ich nicht mal bei den Tölzer Sängerknaben war?« »Tölzer Sängerknaben? Ich denke, du bist aus Regensburg?« »Ich muss jetzt wirklich nach oben zu Herrn Dr. Schneider. Kennst du Werner Sinz, Hauptkommissar bei der Kripo?« »Klar kenn ich den, schon seit ewigen Zeiten.« »Fein. Wenn Werner kommt, dann schick ihn rauf.« Er konnte ja schon mal anfangen. Die Zeit drängte; wer weiß, wie lange Schneider sein Frühstück ausdehnen würde, und er wollte nicht riskieren, dass der ihm durch die Lappen ging. Benno musste mehrmals klopfen, bevor Joschi Schneider die Tür öffnete. »Ja?«, blaffte er. »Guten Morgen. Herr Dr. Schneider?« Benno nickte ihm kurz zu. Der Mann sah eigenartig aus, als wenn er nicht ganz bei sich wäre. »Ja. Was wollen Sie?« »Mein Name ist Berg. Von der Staatsanwaltschaft Bamberg. Ich würde mich gerne kurz mit Ihnen unterhalten.« »So. Worüber?« »Über den Tod Ihrer Tante, Frau Rothammer.« »Aha. Und was wollen Sie wissen?« »Darf ich vielleicht zunächst eintreten?« »Na gut, kommen Sie herein. Wenn es länger dauert …« 251
Benno registrierte die teuren Lederpantoffeln, die Designershorts unter dem offenen, eleganten Bademantel, das überhebliche Gehabe. Joschi Schneider erschien ihm wie der typische Yuppie, als den Hanna ihn geschildert hatte. Ein überaus nervöser Yuppie allerdings. Schneider blieb zunächst stehen und stützte die Hände auf die Rückenlehne eines Sessels, entschloss sich dann aber doch, sich hinzusetzen. Er verschränkte die Arme, beugte sich Sekunden später vor, zog den Aschenbecher auf dem Tisch zu sich heran und zündete sich eine Zigarette an. Er saß sprungbereit auf der Kante des Sessels. »Also, was wollen Sie?« »Darf ich fragen, warum Sie hier in Bamberg sind?« »Na, wegen dem Tod meiner Tante natürlich. Ich habe heute Mittag einen Termin mit ihrem Rechtsanwalt, Herrn Böschen.« »Wie und wann haben Sie denn vom Tod Ihrer Tante erfahren?« »Böschen hat mich am Mittwoch angerufen und es mir gesagt.« »Am Mittwoch?« Joschi Schneider empfand die Frage offenbar als Vorwurf. »Ja, ich weiß, heute ist Freitag. Hören Sie, ich habe in München eine ziemlich gut gehende Zahnarztpraxis, ich kann nicht alles stehen und liegen lassen, nur weil eine Tante von mir gestorben ist.« »Haben Sie denn viele Tanten?« »Nein, nur die eine.« »Haben Sie Ihre Tante gut gekannt?« »Ich habe sie überhaupt nicht gekannt. Ich habe sie nie gesehen. Ich habe überhaupt erst von ihrer Existenz erfahren, als ich nach dem Tod meiner Mutter ihre Papiere durchgesehen habe.« »Wissen Sie, wie Ihre Tante zu Tode gekommen ist?« »Böschen sagte, sie sei ermordet worden.« 252
»Das hat Ihnen Herr Böschen am Mittwoch erzählt? Und da haben Sie sich nicht mit der Polizei in Verbindung gesetzt?« »Das hätte ich schon noch getan. Ich wollte heute zuerst mit Böschen reden.« Benno horchte auf, denn er glaubte, aus dem Nebenraum ein Klopfen zu hören, wandte sich dann aber gleich wieder Joschi Schneider zu. Die fiebrige Hast, mit der dieser rauchte, die Art, wie er immer wieder aufstand, durchs Zimmer ging und sich wieder setzte, die aggressive Spannung, mit der er seine Fragen beantwortete, all das schienen Benno Alarmzeichen, die seine Konzentration noch verschärften. »Sind wir dann fertig?«, fragte Schneider. »Ich muss mich anziehen für den Termin mit Herrn Böschen.« »Nein, wir sind noch nicht fertig. Ich habe noch weitere Fragen: Kennen Sie Frau Tal?« »Tal? Wer soll das sein?« »Sie war am Dienstag in Ihrer Praxis.« »Ach Gott, wenn ich mir alle Damen merken wollte, die zu mir in die Praxis kommen …« »Sie haben sie am nächsten Abend im Spielkasino Bad Wiessee bedroht. Vielleicht erinnern Sie sich daran?« »Ach, Sie meinen diese aufdringliche Journalistin? Aber was heißt denn hier bedroht? Ich habe diese Zimtzicke doch nicht bedroht! Ich habe sie nur nachdrücklich darauf hingewiesen, dass ich keinerlei Interesse an ihr habe und sie sich keine Schwachheiten einbilden soll. Das war eine von denen, bei denen man etwas deutlicher werden muss, damit sie einen in Ruhe lassen, wissen Sie.« »Ach, so eine war das«, sagte Benno sarkastisch. Er hätte dem Mann am liebsten eine vor den Latz geknallt. »Sie sagte, Sie hätten ihr vorgeworfen, sie spioniere Ihnen nach. Wie kamen Sie
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auf diese Idee? Wollten Sie nicht im Spielkasino ertappt werden?« »Was heißt denn ertappt?« Schneider zündete sich eine neue Zigarette an. »Ich … ich kann doch nichts dafür, dass die Natur mich mit einem Gesicht ausstaffiert hat, auf das die Frauen abfahren. Wenn Sie wüssten, was manche anstellen, nur um von mir behandelt zu werden! Und die Tal hat ja sogar freiwillig zugegeben, dass sie nur unter einem Vorwand zu mir in die Praxis gekommen ist.« Benno stellte fest, dass Joschi Schneider seiner Frage nach dem Spielkasino geschickt ausgewichen war. Er überlegte seine nächste Frage, als er erneut von diesem seltsamen Klopfen abgelenkt wurde. »Was klopft denn da so?« »In diesem Haus hier gibt es so viele Geräusche. Vor allem das Wasser rauscht so laut, dass ich heute Nacht kaum ein Auge zugetan habe.« »Das ist natürlich sehr unangenehm. Es war Ihre erste Nacht hier? Wann sind Sie denn in Bamberg angekommen, Herr Schneider, Verzeihung, Herr Dr. Schneider?« »Gestern Nachmittag.« »Obwohl Sie, vielbeschäftigt wie Sie sind, erst heute Mittag einen Termin bei Rechtsanwalt Böschen haben?« »Ich wollte mir Bamberg ansehen. Ist das verboten?« »Nein, nein, natürlich nicht. Es ist ja eine sehenswerte Stadt. Sie kannten Bamberg noch nicht?« »Nein.« Was klang an dieser Antwort denn nur so falsch? »Obwohl die Familie Ihrer Mutter aus Bamberg stammte, sind Sie nie hier gewesen?« Schneider zögerte, warf Benno einen kurzen prüfenden Blick zu. »Ich glaube, ich habe hier mal einen Kongress besucht. Da hatte ich aber keine Zeit, mir die Stadt anzusehen.« 254
»Und das haben Sie jetzt nachgeholt. Und, was haben Sie gesehen? Klein-Venedig zum Beispiel?« »Sagen Sie, was soll der Scheiß? Ist das hier ein Verhör oder was? Ich …« Schneider war aufgestanden, stand neben seinem Sessel, machte zwei Schritte nach links, zwei Schritte nach rechts. Der Aschenbecher quoll schon über. »Herr Schneider, wo waren Sie heute Nacht zwischen zwei und vier Uhr?« »Was für eine blöde Frage! Hier in meinem Bett natürlich.« »Gibt es dafür einen Zeugen … oder eine Zeugin?« »Nein, dafür gibt es keine Zeugin«, antwortete Schneider höhnisch. »Hin und wieder brauche auch ich meine Nachtruhe.« »Auch wenn Sie dann kein Auge zutun. Ich meinte eigentlich den Herrn oder die Dame an der Hotelrezeption, Herr Dr. Schneider.« »Hier gibt es keinen Nachtportier. Man kriegt einen Schlüssel.« »Sie haben also für heute Nacht kein Alibi?« »Sie rauben mir den letzten Nerv!«, fauchte Schneider. »Nein, ich habe für heute Nacht kein Alibi. Wozu auch? Könnten Sie mir jetzt endlich sagen, was hier eigentlich gespielt wird?« »Wir führen wegen des gewaltsamen Todes von Frau Rothammer Ermittlungen durch, und da sind Sie natürlich ein wichtiger Zeuge.« »Und verdächtig obendrein, nicht wahr? Ich bin ja schließlich der Erbe.« Benno wartete etwas, aber Schneider fragte nicht nach, was der Tod seiner Tante denn mit seinem Alibi für die vergangene Nacht zu tun hatte. Warum wunderte er sich nicht darüber? Benno beschloss, einen Trick anzuwenden: »Sie sagen also, Sie hätten Ihre Tante noch nie besucht? Wie erklären Sie sich dann,
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dass eine Nachbarin Sie vor dem Haus von Frau Rothammer gesehen hat?« Niemand hatte dergleichen gesagt, doch der Bluff wirkte. »Eine Nachbarin hat mich gesehen? Oh … na ja, kann sein. Ich wollte mir einmal das Haus ansehen, das ich erben werde.« Schneider wirkte verunsichert. »Wann soll das denn gewesen sein?« »Das Datum habe ich jetzt nicht mehr im Kopf. Da müsste ich in meinen Unterlagen nachsehen. Irgendwann Anfang August, so um den 10. oder 12.« Das war ein Schuss ins Blaue. »Also bestimmt nicht am zwölften. Da muss sich die Nachbarin irren.« Benno schaltete schnell. »Am 12. August? Dem Todestag Ihrer Tante? Was macht Sie da so sicher?« »Weil ich für den 12. August ein lupenreines Alibi habe.« Triumph schwang in Schneiders Stimme. »Ach so. Und warum erinnern Sie sich so genau daran, was Sie an diesem Tag gemacht haben?« »Weil ich nachgesehen habe. Nachdem Böschen mir vom Tod meiner Tante erzählt hat, habe ich gleich befürchtet, dass die Polizei mich verdächtigen würde. Immerhin bin ich ihr einziger Erbe. Die Polizei verdächtigt doch immer den Erben. Also habe ich in meinem Terminkalender nachgesehen. Und da ist nichts zu machen. Da habe ich ein todsicheres Alibi.« »Ein todsicheres Alibi, ja?« »Ja. Da war ich nämlich wandern, im Gebirge, am Belfer. Samstag und Sonntag. Das kann ich mit meinem Wanderbuch belegen. Und die Leute in der Hütte, wo ich übernachtet habe, können es bezeugen. Da ist nichts zu machen!« »Das ist ja wirklich ein sehr schönes Alibi, Herr Doktor«, sagte Benno freundlich. »Da gibt es nur ein kleines Problem: Bisher wusste niemand genau, wann Ihre Tante ermordet 256
wurde.« Benno machte eine Pause, bevor er zum Schlag ausholte. »Es gibt nur einen einzigen Menschen, der den fraglichen Tag kennen kann: der Mörder. Herr Dr. Schneider, ich nehme Sie vorläufig fest wegen des Mordes an Frau Elfi Rothammer.« Schneider starrte Benno einen Moment lang fassungslos an. »Aber ich habe sie nicht umgebracht«, stammelte er. Er sank in den Sessel zurück. Benno griff zum Telefon, um nach einem Einsatzwagen zu telefonieren, und sagte zu Schneider, nachdem er wieder aufgelegt hatte: »Die Polizei wird gleich da sein. Sie sollten sich anziehen.« Joschi Schneider wirkte noch immer ganz betäubt, doch dann richtete er sich auf. »Kann ich zuerst noch ins Bad gehen? Der Schreck ist mir auf die Blase geschlagen.« Benno überlegte kurz, aber er wusste, dass das kleine Badfenster direkt auf die bei der Mühle stark strömende, wirbelnde Regnitz hinausging. Es war unmöglich, auf diesem Weg zu flüchten. »Ja, können Sie. Und packen Sie gleich Ihr Waschzeug zusammen.« Als Schneider aus dem Bad kam, stieß er Hanna vor sich her. Er hielt ihr ein Messer an den Hals. »Los, Hände hoch und rein ins Bad!«, schrie er Benno an. Benno starrte Hanna entgeistert an. »Hanna, du? Was …« »Ruhe! Hände hoch!« Als Benno nicht sofort reagierte, drückte Schneider mit dem Messer etwas fester zu, sodass ein Blutstropfen an Hannas Hals herunterlief. Daraufhin tat Benno widerstrebend mit erhobenen Händen, was von ihm verlangt wurde. Er hörte, wie sich der Schlüssel in der Badezimmertür drehte, eine Zeit lang Gepolter und Schneiders zornige Stimme. Dann war es still. Was, um Gottes willen, konnte diese Stille 257
bedeuten? Hatte der Mörder auch Hanna umgebracht? Oder hatte er mit ihr zusammen das Zimmer verlassen? Benno rüttelte verzweifelt an der Badezimmertür, doch die war tatsächlich vom guten alten Schlag, unerschütterlich und stabil. Er fluchte gottserbärmlich, schwor sich, nie mehr in seinem Leben das Handy zu vergessen und versuchte, ob er nicht doch durch das Badezimmerfenster entkommen könnte. Aber es war zu klein, er konnte sich nur bis zu den Schultern hinauszwängen. Während Benno sich noch im Fensterrahmen hin und her wand, kam Werner über die Mühlbrücke. Benno schrie wie verrückt und fuchtelte wild mit den Armen. Aber Werner ging unter seinem Schirm dahin und schaute nicht auf. Benno war den Tränen nahe, als Werner im letzten Moment doch noch auf ihn aufmerksam wurde. Er schaute fragend und rufend zu Benno hinüber. Der strengte seine Stimme an, so sehr er konnte, aber Werner verstand ihn offensichtlich nicht, obwohl er samt seinem Regenschirm beide Hände hinter die Ohren legte. Das Wasser rauschte zu laut, und der Regen pladderte zu heftig auf ein benachbartes Blechdach. In seiner Not griff Benno auf die alte Fingersprache aus Schulzeiten zurück, formte: »MORDER MIT HANNA« und deutete heftig nach unten. Werner schaute kurz Richtung Hoteleingang, dann hielt er wieder seinen Schirm über sich und ging weiter, als sei nichts geschehen. In diesem Moment tauchten Joschi Schneider und Hanna auf. Sie war völlig vermummt. Erst auf den zweiten Blick erkannte Benno, dass das große Tuch, das um ihren Kopf gewickelt war, die Tischdecke aus dem Hotelzimmer war, die Schneider wohl zum Verdecken des Knebels benutzte. Den rechten Arm hatte er ihr um die Schultern gelegt und hielt sie eng an sich gepresst. Werner schien in seinen Taschen nach etwas zu suchen. Dabei ging er mit gesenktem Kopf gerade auf sie zu. Als er dicht vor ihnen war und Joschi ihm eben ausweichen wollte, klatschte Werner ihm seinen Schirm ins Gesicht und stieß Hanna mit dem 258
Fuß zu Boden. Hanna fiel von Schneider weg und knallte auf die nassen Planken der Brücke. Joschi Schneider stürzte sich auf Werner, der versuchte, ihm das Messer aus den Fingern zu zwingen und ihm den Arm auf den Rücken zu drehen. Aber Schneider war schnell, er wehrte sich, die beiden Männer rangen verbissen auf den glitschigen Holzbrettern über dem strudelnden Wasser. Benno registrierte erleichtert, dass Hanna sich mühsam aufrappelte und zum Hotel zurückrannte. Als Werner Joschi schließlich überwältigte und die Handschellen sich schlossen, kommentierte er dies nur mit einem mürrischen »Na endlich!«. Seine Rolle in dieser Szene machte ihm eindeutig keinen Spaß.
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25 Hanna lief zum Hoteleingang. Durch die Decke um ihren Kopf konnte sie kaum etwas sehen, und der Knebel erschwerte ihr das Atmen. Die Hotelhalle war menschenleer. An der verlassenen Rezeption versuchte Hanna vergeblich, mit dem Kinn den Klingelknopf zu betätigen. Nahm der Albtraum denn überhaupt kein Ende? Joschi Schneider hatte, bevor er mit ihr das Zimmer verlassen hatte, auf dem Bett einen Haufen Tempotaschentücher angezündet. Sicher brannte inzwischen das Bett lichterloh, womöglich schon das Zimmer, vielleicht schon das Bad, und Benno war dort gefangen. Und weit und breit niemand … Da hörte sie aus der Küche nebenan Stimmen. Sie stieß mit der Schulter die Schwingtür auf. Der Beikoch sah sie und schrie erschrocken auf. Schlagartig herrschte Ruhe in der Küche. Alle starrten sie an, und Hanna war sich schmerzlich bewusst, welch beängstigenden Anblick sie bot: eine eigenartig verhüllte Gestalt, die undefinierbare Laute von sich gab. »Wo ist denn die Chefin?«, knurrte der Chefkoch, hinter dem sich die verunsicherten Küchenangestellten versammelten. »Ich waas net«, stammelte der Beikoch, der noch immer mit erhobenem Zwiebelmesser und offenem Mund neben dem Herd stand. »Kann vielleicht mal einer seinen Hintern bewegen und sie herholen?« Hanna verzweifelte schier. Es ging um Sekunden, und diese Idioten standen herum und begriffen nicht, was los war! Da öffnete sich die Küchentür und eine Kellnerin kam herein. Sie war mit zwei Schritten bei Hanna, wickelte ihr die Tischdecke vom Kopf, löste den Knoten des Schals um ihren Kopf.
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Hanna spuckte würgend die Socken aus ihrem Mund. »Feuerlöscher!«, stieß sie hervor, »Generalschlüssel! Es brennt! Zimmer 102. Schnell! Schnell!« Darauf war der Chefkoch besser vorbereitet. Er montierte mit zwei Handgriffen den Feuerlöscher von der Wand und stürmte, das Gerät wie ein Gewehr im Anschlag, die Treppe hinauf. Hinter ihm die noch immer gefesselte Hanna, der Beikoch mit dem Zwiebelmesser, der Küchengehilfe, der Oberkellner, die Kellnerin und zum Schluss Wally mit dem Generalschlüssel. »Lasst mich durch, Leut, lasst mich doch durch!«, schrie sie, als sich alles vor der Zimmertür von 102 staute. Hinter ihr drängte der ganze Pulk ins Zimmer. Der Chefkoch stürzte mit gezücktem Feuerlöscher zum Bett, um enttäuscht festzustellen, dass ihn dort keine lodernden Flammen erwarteten, sondern nur ein leise glimmendes Betttuch, in dem sich ein schwarzes Sengen langsam voranfraß. Bevor er noch in der Lage war, seinen Schaum in Gang zu setzen, hatte Wally ihn beiseite geschubst und die Bettdecke über die Brandstelle geworfen, um die Glut zu ersticken. »Mach mir ja keine Sauerei«, fuhr sie den armen Helden an, »wir haben doch schwer brennbares Bettzeug.« »Kann mich mal bitte jemand entfesseln?«, rief Hanna aufgebracht. Der Beikoch kam mit dem großen Messer, an dem noch immer kleine Zwiebelstückchen hingen, auf sie zu, doch auch er kam für eine hilfreiche Tat zu spät. Die Kellnerin drängte sich zwischen ihn und Hanna, löste den Ledergürtel, der ihre Hände am Körper festhielt und begann, die Fessel um ihre Handgelenke aufzuknoten. Zwei Zimmermädchen und eine Putzfrau eilten herbei und standen im Weg herum. Endlich öffnete der Oberkellner die Badezimmertür, auf die Benno einhämmerte.
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Benno schoss heraus wie der Korken aus der Sektflasche, stürzte auf Hanna zu und schloss sie so fest in die Arme, dass sie das Gefühl hatte zu zerbrechen. »Du lebst!«, stammelte er. »Du lebst!«, und er küsste sie ausführlich und immer wieder; er küsste ihre roten Augen, er küsste ihr das Blut vom Hals, er küsste die geschwollenen Striemen an ihren Handgelenken und murmelte zwischendurch: »Wenn du«, Kuss, »noch einmal«, Kuss, »versuchst … mir zu helfen … kannst du … was erleben.« »Ach, ich habe eigentlich vorerst genug erlebt«, antwortete Hanna.
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26 Benno saß am Tisch des Vernehmungszimmers und versuchte, seinen Zorn zu zügeln. Wie dieses Arschloch ihn hereingelegt hatte, ärgerte ihn maßlos, aber viel schlimmer war, was er Hanna angetan hatte. »Willst du wirklich bei dieser Vernehmung dabei sein?«, hatte Werner ihn gefragt. Sie hatten sich darauf geeinigt, die Situation für das Spiel »guter Vernehmer – böser Vernehmer« zu nutzen. Benno wollte sich weitgehend aus der Befragung heraushalten und in erster Linie Joschi Schneiders Körpersprache beobachten, die geheimen Botschaften hinter der verbalen Ebene. Werner würde ihn mit einfachen, unverfänglichen Fragen so lange wie möglich am Reden halten. Aber Benno erwartete, dass Schneider sehr bald den coolen Yuppie herauskehren würde, der ohne seinen Anwalt gar nichts sagte. Doch der Mann, den der Wachtmeister ins Vernehmungszimmer führte, war nicht mehr der smarte Schnösel, dessen Maske Benno am Vormittag im Hotel kennengelernt hatte. Die zwei Stunden in der Zelle hatten ihn merklich verändert. Er sah müde aus, die Arme hingen beziehungslos an ihm herab. Er wirkte, als hielte ihn nur etwas Trotz noch aufrecht, als sei er kurz davor, sich aufzugeben. Schweigend setzte er sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Werner schaltete das Aufnahmegerät ein. »Fürs Protokoll: Es ist Freitag, der 7. September, 14 Uhr. Anwesend sind Staatsanwalt Berg, Kriminalhauptkommissar Sinz und Herr Dr. Joschi Schneider. Erste Vernehmung von Herrn Schneider. Herr Dr. Schneider, könnten Sie uns Ihre Personalien aufs Band sprechen?«
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»Hm. Ich heiße Joschi Schneider, geboren am 13.12.1964 in München; dort wohne ich auch, in der Haiderstraße 5. Ich bin Zahnarzt. Noch was?« »Danke, das genügt. Sagen Sie, Joschi klingt wie ein Kosename. Auf welchen Namen wurden Sie denn getauft?« »Josef Arthur. Josef nach meinem Großvater väterlicherseits, Arthur nach meinem älteren Bruder.« Joschi senkte den Kopf. »Ach nein, nicht nach meinem älteren Bruder, sondern …« »Sie haben einen Bruder?« »Hatte. Er ist gestorben, im Alter von drei Wochen.« »Und Ihre Tante, wie war die mit Ihnen verwandt?« »Elfi Rothammer war die Frau des Bruders meiner Mutter.« »Sie haben sie also entgegen Ihrer Angabe doch gekannt?«, fragte Benno dazwischen. Joschi ignorierte ihn. Er wandte sich nur an Werner: »Ich habe meine Tante nicht gekannt. Ich habe erst nach dem Tod meiner Mutter von ihr erfahren. Sie hat nie von ihren Bamberger Verwandten gesprochen. Sie hatte völlig mit ihnen gebrochen.« »Auch Frau Kurt, Ihre Ersatzgroßmutter, hat nie von Ihrer Familie erzählt?« »Kürtchen? Nein, nie. Vielleicht hatte Karla, also meine Mutter, es ihr verboten.« Werner hakte nach: »Ihre Mutter ist dieses Jahr gestorben?« »Ja, Ende Mai.« Joschi starrte zum Fenster hinaus. »War denn niemand von Ihrer Verwandtschaft auf der Beerdigung?« »Da gibt es keine weitere Verwandtschaft. Es waren überhaupt nur sehr wenig Leute da, ein paar ehemalige Kolleginnen, ein paar meiner Freunde und seltsamerweise mein Vermieter. Der hat sie wohl von früher gekannt.« »Und Frau Kurt war nicht auf der Beerdigung?« 264
»Ach verdammt! Kürtchen! Natürlich, ich hätte ihr schreiben müssen. Daran hab ich nicht gedacht. Ich habe sie … Seit ich ins Internat gekommen bin, habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich habe sie völlig aus den Augen verloren. Sie lebt also noch?« Benno machte sich eine Notiz: »Woher wusste Frau Kurt von Karlas Tod? Nicht von Joschi!« »Ja, Frau Kurt lebt noch«, sagte Werner. »Wie haben Sie denn entdeckt, dass Sie eine Tante haben?« »Als ich den Schreibtisch meiner Mutter ausgeräumt habe. Da waren ein Familienstammbaum der Rothammers und ein Adressbuch und solche Sachen.« »Sie haben also erst jetzt von Ihrer Bamberger Familie erfahren?« »O ja, die Rothammers. Eine stolze Sippe, die Rothammers. Mit Familienwappen, Familienstammsitz und allem. Und ich bin ihr Erbe«, sagte Joschi bitter. Er verbarg den Kopf in den Händen. »Und was für ein Erbe. Ein verdichteter Erbe sozusagen!« Benno nahm Werners fragenden Blick nicht wahr. Er fragte hart: »Und wegen des Erbes haben Sie Ihre Tante umgebracht?« Joschi fuhr auf. »Ich habe sie nicht umgebracht!« »Und woher kannten Sie dann als Einziger den Zeitpunkt ihres Todes?« »Den kenne ich doch gar nicht! Als ich hinkam, war sie schon tot. Das müssen Sie mir glauben!« »Sie geben also zu, dass Sie im Haus Ihrer Tante waren?« »Ja. Ja, ich habe sie besucht. Zwei Mal.« »Wieso?« »Nun, sie war doch nach dem Tod meiner Mutter meine einzige Verwandte. Ich wollte sie kennenlernen.« Obwohl die Fragen von Benno kamen, sah Joschi ihn immer noch nicht an. 265
Benno ließ nicht locker: »Und beim zweiten Besuch haben Sie sie dann getötet.« »Nein, habe ich nicht!« »Jetzt lass Herrn Schneider doch erst mal die Möglichkeit zu erzählen, wie das aus seiner Sicht ablief«, sagte Werner begütigend. »Also, Herr Schneider, Sie haben nach dem Tod Ihrer Mutter beschlossen, Kontakt zu Ihrer Tante aufzunehmen?« »Ja, ich habe ihr geschrieben und sie dann in Bamberg besucht.« »Und wie hat sie reagiert?« »Sehr erfreut natürlich. Sie war ja ganz allein. Wir haben uns gut unterhalten.« »Wann fand denn dieser erste Besuch statt?« »Das weiß ich nicht mehr so genau. Etwa zwei, drei Wochen vor dem zweiten.« »Und was passierte bei diesem zweiten Besuch?« Werner schob das Mikrofon des Aufnahmegeräts näher zu Joschi hin. »Es war so schrecklich! Ich kam in die Küche, und da saß sie, mit offenem Mund, als wollte sie schreien. Ich bin hingegangen zu ihr und habe ihr den Schal abgenommen. Sinnlos. Sie war längst tot. Sie war schon kalt. Ihr Hals sah furchtbar aus.« »Sie haben sie angefasst?« »Ich konnte es erst gar nicht glauben. Sie war doch … Ich wollte …« Joschi schüttelte sich. »Ist Ihnen in der Küche oder im Haus irgendetwas besonders aufgefallen?«, fragte Werner. »Nein, nichts. Ich war so schockiert.« Joschi zögerte. »Oder doch – etwas war komisch. Vor ihr, auf dem Küchentisch, lag ein frischer Blumenstrauß. Die Blumen waren noch kaum verwelkt.« 266
»Wie sind Sie denn überhaupt ins Haus gekommen, wenn Ihre Tante Sie nicht hereingelassen hat?«, fragte Benno. »Ich … ach, Tante Elfi hatte mir einen Schlüssel gegeben.« »Na, da müssen Sie sich aber wirklich gut mit ihr unterhalten haben«, sagte Benno sarkastisch, »wenn Frau Rothammer, die von allen als extrem misstrauisch beschrieben wird, Ihnen gleich bei der ersten Begegnung einen Schlüssel gegeben hat.« »Ich kann’s halt gut mit Frauen.« Das erste Mal warf Joschi einen Blick auf Benno, spöttisch-abschätzend. Für Augenblicke fiel er in seine alte Rolle zurück. »Aber etwas verstehe ich ganz und gar nicht«, sagte Werner. »Warum haben Sie denn den Mord an Ihrer Tante nicht der Polizei gemeldet?« »Ich … ja, also …« Joschi wischte sich die Hände an der Hose ab. »Also …« »Also was?«, fragte Benno. »Na ja, ehrlich gesagt, es war doch nicht ganz so, wie ich es erzählt habe. Ich hatte keinen Schlüssel, ich bin in das Haus eingebrochen, mit einem Schraubenschlüssel.« »Mit einem Schraubenschlüssel? Den hatten Sie dabei? Sie hatten diesen Einbruch also geplant. Wann war das genau?«, wollte Werner wissen. »Am Sonntag, den 12. August.« Benno schaute in sein Notizbuch. »Der Tag, an dem Sie angeblich in den Alpen wandern waren? Für den Sie nach Ihrer Aussage ein todsicheres Alibi haben?« »Ach, das mit dem Alibi. Da muss ich mich irgendwie getäuscht haben.« »Tja, das müssen Sie wohl.« Werner war bewusst vorsichtig in seiner Wortwahl. »Sie sind also an diesem Tag in das Haus Ihrer Tante eingedrungen. Und um welche Uhrzeit haben Sie die Tür geöffnet?« 267
»Das wird so gegen zwölf Uhr gewesen sein.« »Sie sind am helllichten Sonntagmittag an einer vielbefahrenen Straße mit einem Schraubenschlüssel in ein Haus eingebrochen, und niemand hat etwas bemerkt?« »Bei so einem Schloss geht das ganz schnell. Das hat mir einer im Internat beigebracht, als wir nachts weg wollten.« »So viel zur Internatserziehung«, murmelte Werner. »Aber trotzdem – das ist doch kein Grund, die Polizei nicht zu verständigen, nach einem Mord!« »Es war so …« Joschi wand sich. Er brauchte mehrere Anläufe und ein verständnisvolles Nicken von Werner, bevor er sagen konnte: »Ich brauchte dringend Geld, sehr dringend. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn die Gläubiger einem im Nacken sitzen, bösartige Gläubiger … Und das Geld gehörte ja sowieso mir. Ich bin doch ihr Erbe …« »Von welchem Geld sprechen Sie?« Schweigen. »Herr Schneider«, mahnte Werner. »Was für ein Geld?« Joschi starrte auf den Boden. »Es wäre wohl cleverer gewesen, damals doch die Polizei zu rufen und einen Einbruch zu melden«, murmelte er. »Aber ich war so … also ich habe das Geld genommen und bin so schnell wie möglich verschwunden.« »Welches Geld?« Werners Stimme hatte jetzt einen ungeduldigen Unterton. »Auf Tante Elfis Schreibtisch lagen dreitausend Euro. Aber das war ja sowieso mein Geld.« »Das bezweifle ich sehr«, sagte Benno hart. »Abgesehen davon, dass noch keineswegs sicher ist, dass Sie überhaupt etwas erben – Mörder erben nämlich nicht –, lag auf dem Schreibtisch von Frau Rothammer, als wir ihn untersuchten, nämlich ein Zettel mit einer Büroklammer und der Aufschrift 268
›Für Tanja und den Kleinen‹. Unter der Büroklammer klemmte aber nichts. Könnte es vielleicht sein, dass dort einmal dreitausend Euro steckten?« Joschi blähte die Nasenflügel. »Das ist doch wohl egal, oder?«, murmelte er. Benno holte schon Luft, als Werner schnell sagte: »Kommen wir zu einer weiteren Frage: Was ist das für eine Geschichte mit dem Alibi? Warum haben Sie Staatsanwalt Berg erzählt, Sie seien nachweislich am 12. August in den Bergen auf einer Wanderung gewesen, während Sie uns jetzt erklären, Sie seien zur selben Zeit in Bamberg im Haus Ihrer Tante eingebrochen?« »Ich muss wohl …« »Erzählen Sie uns jetzt nicht, dass Sie sich getäuscht hätten.« Werners Stimme wurde immer strenger. Joschi schwieg. »Herr Schneider, das sieht nicht gut aus für Sie. Wollen Sie jetzt vielleicht doch Ihren Anwalt verständigen? Sie haben natürlich auch das Recht, die Aussage zu verweigern.« »Ich hab keinen Anwalt, und ich kann mir auch keinen leisten.« »Sollen wir Ihnen einen Pflichtvertei…« »Nein, das kann ich selbst! Also gut …« Joschi atmete tief auf, wie vor dem Sprung vom Fünfmeterbrett. »Also gut: Ich wollte sie töten. Deswegen habe ich mir das Alibi gebastelt. Ich brauchte ihr Geld, brauchte zumindest die Aussicht auf das Haus. Das hätte die Aasgeier erst mal hingehalten. Ich war so nah dran am Gewinn. Ich hatte ein todsicheres System beim Spielen entwickelt. Ich brauchte nur noch etwas Kapital, dann hätte ich Geld gescheffelt. Wenn sie mir nur ein bisschen entgegengekommen wäre! Aber sie hat mich behandelt wie den letzten Dreck. Rausgeschmissen hat sie mich. ›Ich habe schon deine Mutter davongejagt, und du verschwindest jetzt auch, auf 269
der Stelle, du Erbschleicher!‹, hat sie gekreischt, die alte Hexe. Behandelt man so seinen einzigen Neffen? Ich hätte mich ja auch um sie gekümmert, hätte ihr ein schönes Altersheim gesucht, wenn ich das Haus günstig hätte verkaufen können. Ich hatte mir schon Prospekte von Seniorenheimen besorgt. Aber sie hat mir keine Chance gelassen. Sie hat keinen meiner Briefe beantwortet, und ihr Telefon ging nicht. Was blieb mir anderes übrig?« »Und wie wollten Sie sie töten?« Werner fragte sehr zurückhaltend, um Joschis Redefluss nicht zu stoppen. Joschi bohrte sich die Mittelfinger in die Augenwinkel. »Ich hatte ein Betäubungsmittel aus der Praxis.« Er schaute auf. »Aber ich habe sie nicht umgebracht. Sie war schon tot, ich schwöre es. Und als ich sie so gesehen habe … ich hätte es, glaube ich, auch nicht fertiggebracht. Sich etwas ausdenken, einen Plan entwerfen ist das eine, aber es dann tun … ich hätte es nicht gekonnt.« »Diese Skrupel hatten Sie gestern Nacht bei Frau Tal aber nicht«, zischte Benno. »Hanna? Die kleine Journalistenschlampe?« Joschi schaute unter gesenkten Lidern zu Benno hinüber. »Das war doch etwas ganz anderes. Ich wollte die süße Hanna doch nicht umbringen, nur ein bisschen bestrafen. Sie ist eine Diebin. Sie hat etwas gestohlen, was mir gehört, und Diebe gehören bestraft. Und sie hat mich beleidigt, sie hat mich zum Idioten gemacht … das lasse ich mir nicht gefallen! Die Tussi hat nur gekriegt, was sie verdient!« Sein hämisches Grinsen missriet kläglich. Werner stand auf, stellte sich neben Bennos Stuhl und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Herr Schneider, ich denke, wir unterbrechen die Vernehmung an dieser Stelle. Wir bitten das Gericht, Ihnen einen Pflichtanwalt zu bestellen. Dann reden wir weiter.« Er rief nach dem Wachtmeister, der Joschi in die Zelle zurückbringen sollte. 270
Beim Hinausgehen warf Joschi einen eigenartigen, fast triumphierenden Blick auf Benno. Dann war es still im Zimmer. Benno stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus, blind für das Draußen. Nach einer Weile atmete er tief aus. »Entschuldige bitte«, sagte er, bevor er sich an den Tisch setzte. »Und danke, dass du mich davor bewahrt hast, ihm den Hals umzudrehen.« »Hm«, machte Werner und lächelte unmerklich. »Warum erzählt uns der Kerl das alles? Der redet sich doch um Kopf und Kragen! Ich hätte eher gedacht, dass er den Mann von Welt markiert, der nur mit Anwalt agiert.« Benno zog nachdenklich an seiner Nase. »Ja, das dachte ich anfangs auch. Aber ich glaube, der ist am Ende. Der brauchte jemanden, mit dem er reden konnte. Du hast dich angeboten.« »Trotzdem, ich weiß nicht … Meinst du, er hat Frau Rothammer umgebracht?« »Ja. Er hatte das gewichtigste Motiv der Welt: Er brauchte Geld, verzweifelt. Das zeigt ja der Brief dieses dubiosen Kreditinstituts, den Hanna uns gegeben hat. Ganz abgesehen von seinem famosen Alibiplan! Deutlicher geht’s doch nicht! Ich bin überzeugt davon, dass er Hanna aus dem Weg räumen wollte, weil sie genau das entdeckt hatte!« »Trotzdem, er scheint zwar zutiefst kränkbar zu sein und außerdem eine beachtliche Begabung zur Selbstrechtfertigung zu besitzen, aber mir kommt das, was er ausgesagt hat, zumindest nicht unwahrscheinlich vor.« »Aber er hat doch eigentlich immer nur das zugegeben, was wir sowieso schon wussten, oder er hat sich berichtigt, sobald wir ihn der Lüge überführt haben. Ich glaube, dass er da einen raffinierten Plan ausgeheckt hat, wie er aus der eigentlichen Mordanklage rauskommt. Aber ich bin in dem Fall vielleicht nicht ganz unvoreingenommen.«
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»Nicht ganz«, bestätigte Werner. »Wie machen wir jetzt weiter?« »Mir ist da etwas aufgefallen: Woher wusste Frau Kurt von dem Tod von Karla Schneider, wenn Joschi Schneider es ihr nicht mitgeteilt hat?« »Ja, genau das habe ich mir auch überlegt. Ich werde sie fragen.« »Na, wie auch immer, wir reden später weiter. In meinem Büro wartet Tanja Steinhübel, die Kleine aus dem Haus am Nonnengraben. Ich hab sie auf heute Nachmittag umbestellt. Sie soll mir mal erzählen, wie sie Frau Rothammer gefunden hat. In allen Einzelheiten.« »Gut, bis später. Ich hör mir dann noch mal den Mitschnitt von der Vernehmung an. Da waren mehrere Sachen, die mir komisch vorkamen.« Nach dem Gespräch mit Tanja rief Benno Werner an. »Es scheint leider so, als hätte Joschi Schneider die Wahrheit gesagt. Es war Tanja, die den Blumenstrauß, den er erwähnte, auf den Tisch gelegt hat. Wenn er nicht schon vor Tanja dort war und dann noch mal zurückgekommen ist, dann ist er aus dem Schneider, der Herr Schneider. Jedenfalls für den Mord an Frau Rothammer. Da ist die Jagd also jetzt wieder offen. Hast du irgendeine Spur?« »Eine Spur nicht, aber etwas, das mich stutzig macht. Ich habe mit Frau Kurt telefoniert. Sie wusste von einem Herrn Dechant aus München von Karla Schneiders Tod. Er hat sie nach der Beerdigung angerufen, weil er sich wunderte, dass sie nicht dort war. Herr Dechant ist Joschis Vermieter, der so auffallenderweise auf der Beerdigung von Karla Schneider aufgetaucht ist. Und, so sagt Frau Kurt, er ist der Mann, der Karla einmal heiraten wollte.«
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»Tja«, machte Benno, »das ist allerdings ein seltsames Zusammentreffen. Es sieht so aus, als müssten wir diesen Herrn einmal etwas genauer unter die Lupe nehmen. Weißt du was? Ich fahre am Montag sowieso nach München; ich bin ins Justizministerium bestellt. Danach werde ich bei diesem Herrn Dechant vorbeischauen und hören, was er über die Rothammers und seinen Mieter Joschi Schneider weiß.« Ganz tief im schwarzen Untergrund seiner Seele fühlte Benno eine kleine Befriedigung darüber, dass er jetzt einmal eine Spur verfolgte, auf der Hanna noch nicht unterwegs gewesen war. Er würde ihr nichts davon erzählen.
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27 Die Hände des alten Mannes lagen vor ihm auf dem Tisch, als gehörten sie nicht zu ihm, wie zwei eigenständige Lebewesen, bereit, sich davonzumachen. Sie schlossen und öffneten sich krampfhaft, seit Benno ihn nach Karla Schneider gefragt hatte. »Wie gut haben Sie Frau Schneider gekannt, Herr Dechant?« »Wie gut ich Karla gekannt habe?« Er stieß ein bitteres, schnaubendes Lachen aus. »Sehr gut habe ich sie gekannt. Sehr gut. Man könnte sagen, sie war die große Liebe meines Lebens, ja, das könnte man. Der Stern an meinem Himmel. Lebendig war ich nur in ihrer Nähe. Das sagt sich so einfach, und es tut so weh. So viele Jahre, so viele Jahre …« Die dicken, pilzigen Fingernägel bohrten sich in seine Handflächen. »Wie haben Sie Frau Schneider denn kennengelernt?« »Rothammer, Karla Rothammer.« Anton Dechant fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wie ich Karla kennengelernt habe?« Er atmete in einem langen Atemzug aus. »Ich werde Ihnen die Geschichte erzählen – Karlas Geschichte, meine Geschichte. Sie wartet schon viel zu lange darauf, ans Licht zu kommen. Tag und Nacht erzählt sie sich in mir. Immer wieder sehe ich diese oder jene Szene, immer wieder stelle ich mir die Frage ›Was wäre geschehen, wenn …‹ Immer wieder, immer wieder. Wenn ich es recht bedenke – ich wusste eigentlich, dass ich sie eines Tages erzählen werde. Ich war mir sicher, dass ihr mich irgendwann finden würdet.« Er schaute Benno gerade in die Augen. »Und es ist recht so.« Die Hände legten sich mit den Handflächen nach unten ruhig auf den Tisch und verschränkten sich erst wieder, als Herr Dechant zu sprechen begann: »Ich war ein Freund von Karlas Bruder, Arthur. Wir haben zusammen Tennis gespielt, Doppel, 274
meine Schwester Christine und Arthur und Karla und ich. Dann haben die Rothammers uns zu sich eingeladen, ins Haus am Nonnengraben. Das war für uns eine ganz neue Welt. Dieses Haus, so kultiviert, so elegant, mit seinen Bildern und Teppichen und alten Möbeln. Wir kamen aus einem sehr katholischen Elternhaus, wo jeder Luxus als Sünde angesehen wurde. Tennis spielen durften wir auch nur deswegen, weil meine Mutter hoffte, dass Christine sich dabei einen reichen Mann angeln könnte. Und ich musste auf sie aufpassen. Aber bei den Rothammers war alles ganz anders. So frei. So großzügig. So extravagant. Jedes Stück im Haus war ausgesucht und schön. Dieses Haus war mein Traum.« Der alte Mann schwieg. »Und Karla?« »Ich habe mich auf den ersten Blick in Karla verliebt, obwohl sie ein ganzes Stück jünger war als ich. Aber Karla war fast zeitlos. Schon als junges Mädchen wirkte sie wie eine Fürstin, so stolz, so souverän. Es war wie ein Geschenk, wenn sie einen beachtete. Ja, sie schenkte Beachtung, im wahrsten Sinn des Wortes. Und mir schenkte sie mehr Beachtung als anderen. Ich war viel mit ihrem Bruder zusammen. Wir verstanden uns gut, hatten viele gemeinsame Interessen. Wir sahen uns sogar ähnlich, ich wurde oft für seinen älteren Bruder gehalten. Allmählich unternahmen wir immer mehr gemeinsam, meine Schwester, die Rothammers und ich. Es war die schönste Zeit meines Lebens, ja, das war sie. Dann sind wir einmal gemeinsam zum Skilaufen gefahren. Gott, was haben wir gespart und geschuftet, Christine und ich, um uns diese Woche leisten zu können – unsere Eltern waren nicht arm, aber knauserig, und Skifahren, so was Neumodisches, um Gottes willen! Und als wir wiederkamen nach den paar Tagen, ging das Gerücht um, wir seien verlobt. Und Karla hat dem Gerücht nicht widersprochen. Ich ging wie auf Wolken, weit über dem Boden.« Schweigen. Die Hände streichelten den Tisch. 275
Schließlich fragte Benno: »Und dann?« »Dann kam Elfi.« Der harte Unterton in der Stimme des alten Mannes ließ Benno aufhorchen. »Das heißt, sie hatte schon das ganze vorherige Jahr versucht, sich in unsere Gruppe zu drängen. Diese Gruppe, ein paar aus dem Tennisclub und der eine oder andere Freund; am Anfang war das ganz locker, man hat halt ein paarmal was miteinander organisiert, Ausflüge und so weiter. Dann wurde das fast zur Institution. Ballgruppe haben wir sie genannt – verstehen Sie, von Tennisball und Tanzball –, Babagru, Bamberger Ballgruppe. Das war nach dem berühmten ›Weiß-Ball‹ bei den Rothammers. Das ganze Haus war weiß geschmückt und alle mussten weiß angezogen erscheinen und durften nur ein farbiges Teil tragen. Für die Männer war das gar nicht so einfach – wer hatte damals schon weiße Hosen? Die meisten kamen in weißen Hemden und Bäcker- oder Arzthosen. Aber ich hatte mir von einem Nachbarn, der Musiker war, einen weißen Smoking leihen können. Der passte mir sogar ganz gut, und ich war, neben Arthur natürlich, der eleganteste Mann des Abends.« Herr Dechant lächelte. »Ja, das war ich. Als ich das Haus betrat, kam Karla gerade die Treppe herunter, in einem wunderbaren alten weißen Kleid, ich glaube, von ihrer Großmutter. Ich hatte in der Brusttasche ein rotes Einstecktuch und eine farblich genau passende kleine Rose. Die reichte ich Karla – ich beugte dabei ein Knie, wie ein mittelalterlicher Ritter.« Eine Hand flog in die Luft, als überreichte sie eine Rose, und Herr Dechant deutete lächelnd eine Verbeugung an. »Karla legte das bunte Tuch, das sie um den Hals geschlungen hatte, über das Treppengeländer. Sie trug ihre Haare hochgesteckt. Sie nahm eine Klammer aus ihren Haaren – jetzt erinnere ich mich wieder, Klämmala nannte man so etwas, Klämmala – und befestigte damit die Rose an ihrem Ausschnitt. ›Sieht aus wie Gold, nicht wahr?‹, sagte sie. Und das tat es, so golden wie ihre Haare, und es hielt den ganzen Abend.« 276
»Und Elfi?« »Die war da noch nicht dabei. Aber sie hatte es auf Arthur abgesehen, und sie fand Mittel und Wege … In dem Frühjahr war mal ein Picknick, da passierte ihr irgendein Missgeschick, und Arthur hat sie heimgefahren. Und seitdem … Dann starb Vater Rothammer, und Arthur war so … so trostbedürftig. Da muss sie ihn wohl verführt haben, und anständig, wie er war, entschied er sich, sie zu heiraten. An dem Abend, als er es Karla sagte, erst wenige Tage vor der Hochzeit, kam ich zufällig bei den Rothammers vorbei. Karla öffnete die Tür, nahm mich wortlos an der Hand und brachte mich in ihr Zimmer. Sie weinte herzzerreißend, und ich tröstete sie, so gut ich konnte. Schließlich …« Die Hände lagen jetzt ruhig ineinander. »O Gott, ich war so glücklich in dieser einzigen, einzigen, einzigen Nacht.« Der alte Mann hatte die Augen geschlossen, und Benno wagte nicht, in sein Schweigen einzubrechen, lange. »Danach war Karla irgendwie verändert. Sie war … freundlich und geduldig zu mir, sie behandelte mich wie eine nette ältere Schwester einen etwas lästigen kleinen Bruder. Aber ich war so verliebt, ich wollte natürlich mehr. Doch sie ließ mich … nie mehr, sie ließ mich nie mehr an sich heran. Wochen später – Arthur und Elfi waren inzwischen verheiratet, ich war Trauzeuge, mein Gott, war das eine verhunzte Hochzeit –, also, eines Abends hatten Karla und ich uns furchtbar gestritten. Ich knallte die Tür zu ihrem Zimmer zu, und da stand Elfi auf der Treppe. Sie muss dort auf mich gewartet haben. ›Na, du großer Jäger‹, sagte sie – Karla mochte das nicht, wenn ich auf die Jagd ging, aber ein Onkel hatte mich mitgenommen, und Elfi fand das immer ganz großartig. ›Na, du großer Jäger.‹ Ich weiß es noch genau, weil es mir schmeichelte, und das hatte ich in dem Moment bitter nötig. ›Das nennt man Treffsicherheit.‹ Nein, sie sagte, noch anzüglicher: ›Das nennt man Zielwasser. Ein Schuss, und voll ins Schwarze!‹ Damals wusste noch niemand, 277
dass Karla schwanger war, auch ich nicht. Aber sie hat es gewusst, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie sie es rausgekriegt hat. Ich verstand also nur die Hälfte ihrer Andeutung. Ich hörte nur, dass sie mich bewunderte und für einen tollen Liebhaber hielt, im Gegensatz zu Arthur, der es nicht ›so brächte‹, wie sie das ausdrückte. Elfi war eine sehr schöne, sehr sinnliche Frau. Und ein junger Mann in meiner Situation … ich ging mit ihr in eine der leeren Mädchenkammern. Das war das Ende meines Glücks.« »Wieso, was ist passiert?« »Ich konnte natürlich nicht. Ich hatte das Gefühl, als würde Karla mir zusehen, mir über die Schulter schauen. Elfi verhöhnte mich, nannte mich einen ›Schlappschwanz und Versager‹. Das hätte ich ertragen können. Aber bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit erzählte sie es Karla, in meinem Beisein. Karla drehte sich zu mir um, sah mich mit großen, fast verwunderten Augen an und sagte, ganz leise, nur ein Wort: ›Geh!‹ Ich hatte keine Möglichkeit, mich zu verteidigen. Ich ging die Treppe hinunter und hoffte auf jeder Stufe, sie würde mich zurückrufen. Dann fiel die Haustür ins Schloss, und ich stand draußen. Es war früh Winter geworden in jenem Jahr. Schnee fiel, und ich stand da und sah durch die immer dichter wirbelnden Flocken zu den erleuchteten Fenstern hinauf. Diese Nacht und noch viele Nächte stand ich auf der anderen Straßenseite, dort, wo es zum Kanal hinuntergeht, hinter der Brückenrampe, damit man mich nicht sehen konnte, und starrte zu den hellen Fenstern, in der Hoffnung, dass ein Schatten vorbeiglitt, der vielleicht Karla war. Ich stand da, bis ich eine Lungenentzündung bekam. Ich wäre so gern gestorben. Aber ich starb nicht. Dass man für einen Fehler, einen unbedeutenden Fehler, so lange und so schrecklich büßen muss. In jenen Nächten wusste ich, wie sich Adam und Eva bei der Vertreibung aus dem Paradies gefühlt haben müssen. Noch heute sehe ich mich in vielen schlaflosen Nächten dort neben der Brücke 278
stehen, in der Kälte, seh die hellen Fenster und die verschlossene Tür. Die hellen Fenster …« Der alte Mann legte den Kopf in die Hände. Er weinte. »Haben Sie ihr denn nicht geschrieben?«, fragte Benno. »Natürlich, oft. Aber alle meine Briefe kamen ungeöffnet zurück.« Die Hände wanderten ziellos über den Tisch, als suchten sie den verlorenen Faden der Erzählung. »Im folgenden Mai kam unser Sohn zur Welt. Karla war in jenem Winter von zu Hause fortgegangen, nach München. Ich fand heraus, in welcher Klinik sie entbunden hatte. Von Klinik zu Klinik bin ich gelaufen und habe gefragt. Damals wurde alles noch viel strenger gehandhabt; die Kinder waren nicht bei ihren Müttern, sondern auf Säuglingsstationen. Die hatten eine große Scheibe, und davor standen die Väter und bekamen durch das Glas ihre Babys gezeigt. So sah ich meinen Sohn, so ein kleines verhutzeltes Gesicht und zwei winzige rote Fäustchen in viel weißem Stoff. Ich weinte und dachte: ›Das ist mein Sohn, mein Sohn, der einmal das Haus am Nonnengraben erben wird.‹ Bei den Rothammers erbt nämlich immer der älteste Sohn einer Generation das Haus am Nonnengraben. Ich habe ihn nur dieses eine Mal gesehen, meinen Sohn, nur dieses eine Mal. Drei Wochen später starb Arthur – sie hatte ihn nach ihrem Bruder genannt, nicht nach mir –, und sein Grab …« Der alte Mann schluckte schwer. »Dort liegt nun auch Karla. Ich bin jetzt also der nächste lebende Verwandte dieses Kindes, und damit gehört das Haus am Nonnengraben mir. Das stimmt doch, oder?« Seine geschlossenen Fäuste hoben sich aus den Handgelenken und klopften auf den Tisch. »Das stimmt doch!« Benno fragte statt einer Antwort: »Und wie ging es weiter?« »Ich habe mein Studium beendet und eine Frau geheiratet, die meine Mutter für mich ausgewählt hatte. Sie war gut katholisch, das war meiner Familie wichtig. Wir bekamen keine Kinder. Irgendwann ließ ich mich an ein Gymnasium nach München 279
versetzen. Karla und ich haben uns verschiedentlich getroffen, auf Tagungen und Seminaren. Sie hat wieder mit mir gesprochen. In ihrer Nähe ging es mir fast gut. Ich hatte inzwischen angefangen, Häuser zu kaufen. Ich hatte mehrere Häuser in Bamberg geerbt – beim Erben hatte ich Glück, irgendwo muss der Mensch ja auch Glück haben –, und ich war, zu meinem eigenen Erstaunen, ziemlich begabt für den Immobilienhandel. Ich sammelte Häuser wie andere Oldtimer oder was weiß ich. Erst später ging mir auf, dass ich eigentlich immer auf der Suche nach dem Haus am Nonnengraben war, aber keines war so, nein, so wie das Haus am Nonnengraben war keines. Eines Tages kam Karla zu mir; das hatte sie noch nie getan. Sie hatte große Sorgen mit ihrem Sohn – sie hatte von einem anderen Mann noch einmal einen Sohn bekommen, Joschi –, und sie tat alles, um ihm eine sichere Zukunft aufzubauen. Sie hoffte, so sagte sie, wenn er einen guten Beruf und ein sicheres Einkommen hätte, würden sich die Fehler, die er offenbar entwickelt hatte, legen. Sie fragte mich, ob ich ihm nicht in einem meiner Häuser in guter Lage eine Praxis zu günstigen Konditionen geben könnte. Natürlich habe ich das möglich gemacht, auch wenn Joschi es mir nicht gedankt hat. An diesem Tag fragte ich Karla auch nach dem Haus am Nonnengraben und dass es doch, da inzwischen auch Arthur, ihr Bruder, tot war, uns gehöre als den Erben unseres Kindes. Ihr Gesicht wurde sofort eisig. ›Mit diesem Kapitel habe ich abgeschlossen‹, sagte sie. ›Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Wenn du etwas unternehmen willst, wirst du schon bis zu meinem Tod warten müssen.‹ Damit ging sie. Ich habe das Thema natürlich nie mehr angeschnitten, wenn wir uns trafen. Aber nach Karlas Tod – ach Gott, nie hätte ich gedacht, dass sie vor mir sterben würde, und auch nicht, dass es noch so wehtäte. Ich … nun ja, als ich mich einigermaßen erholt hatte, bin ich nach Bamberg gefahren und habe Elfi im Haus am Nonnengraben besucht. Ich hätte alle meine Häuser hergegeben 280
für dieses eine Haus. Es war wie der Traum von der Rückkehr ins Paradies. Wieder all das Schöne sehen, anfassen, die Möbel, die Bilder, die Teppiche, das große Wappen im Treppenhaus … Und dann sah ich, was Elfi aus dem Haus gemacht hatte: ein verhungertes Gerippe, schmutzig, verlottert, leer. Es war … niederschmetternd. Trotzdem habe ich ihr ein sehr hohes Angebot gemacht. Ich hätte es ja wieder … Doch sie hat abgelehnt. Sie saß da am Küchentisch, hat an dem Schal herumgefingert, den ich ihr mitgebracht hatte, und sagte mit demselben hämischen Grinsen, mit dem sie zugesehen hat, wie Karla mich wegschickte: ›Ich verkaufe das Haus nicht, und schon gar nicht einem Schlappschwanz wie dir.‹ Da habe ich sie erwürgt. Und ich bereue es nicht!« Der alte Mann streckte Benno die Hände hin. »Wohin werden Sie mich jetzt bringen?«
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Danksagung Die Hauptrolle in diesem Roman spielt Bamberg mit seinen realen Schauplätzen. Auch deren Geschichte ist teilweise real. Aber in dem Haus an der Oberen Brücke hat natürlich niemals eine Kunigunde Buchner gewohnt und im Haus am Nonnengraben niemals eine Familie Rothammer. Alle Personen in diesem Roman sind frei erfunden; sie haben ein Eigenleben entwickelt, das mich immer wieder in Erstaunen versetzte. Aus juristischen Gründen habe ich mir das Amt des Stadtdirektors ausgedacht, das es so in Bayern nicht gibt. Ich bedanke mich bei allen, die mir geholfen haben: Herrn Kriminalhauptkommissar Udo Wagner für den Einblick in die Bamberger Polizeiwelt, dem Gerichtsarzt Dr. Honus für Leichenschauerlichkeiten, Konrad, Tilmann, Benedikt und Philipp Dengler für ihre Informationen aus dem Justiz- und Polizeileben, meinen Freunden fürs kritische Lesen der Texte, meinen Lektorinnen Dr. Marion Heister und Elvira Willems für heftige nächtliche Diskussionen und Herrn Emons, Christel Steinmetz und den andern vom Emons Verlag für mutmachende Unterstützung.
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