Das Haus der Träume Violet Winspear
Deborah ist in der Liebe scheu und unerfahren. Sie träumt von dem Mann, der sie ein...
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Das Haus der Träume Violet Winspear
Deborah ist in der Liebe scheu und unerfahren. Sie träumt von dem Mann, der sie eines Tages stürmisch erobern wird. Bei Juan Salvador, dem spanischen Großgrundbesitzer und Herrn über das englische Anwesen Abbeywitch, scheint dieser Traum wahr zu werden. Doch dann verdächtigt sie ihn, mit der auf mysteriöse Weise ums Leben gekommenen Frau seines Halbbruders Michael ein Verhältnis gehabt zu haben – und ihr Traum wird zu einem schrecklichen Alptraum…
1985 by Violet Winspear Unter dem Originaltitel: „House of Storms“ erschienen bei Mills & Boon Ltd. London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES B. V. Amsterdam Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA als FRÜHLINGSBAND 4 1988 by CORA Verlag GmbH, Berlin Übersetzung: Ingeborg Krüger Foto: RJB Photo Library, WEPEGE © CORA Verlag GmbH
1. KAPITEL Deborah war sehr beeindruckt, als sie das Haus, in dem sie für einige Wochen arbeiten sollte, zum erstenmal sah. Abbeywitch mit seinen vielen Türmen und Erkern kam ihr vor wie ein Schloß aus dem Märchenbuch und schien die ideale Umgebung für einen bekannten Autor von historischen Romanen zu sein. Es war auf den steil zum Meer abfallenden Granitklippen der Insel Lovelis, die vor der Küste von Cornwall liegt, gebaut. Die dicken Mauern des Gebäudes wirkten solide und vertrauenerweckend. Sie schützten die Mitglieder der Familie Salvador, denen die Insel und das Haus gehörten, nicht nur vor Stürmen, Wellen und unliebsamen Eindringlingen, sondern sie bewahrten sicher auch so manches Geheimnis über die Menschen, die in ihnen lebten. Die Salvadors galten als Nachkommen jenes legendären spanischen Piratenkapitäns Don Juan Rodare de Salvador, der durch die Entführung einer jungen kornischen Krabbenfischerin in die Geschichte von Cornwall eingegangen war. Er hatte das Mädchen bei der Arbeit überrascht und aufsein Schiff gebracht. Zwei Jahre später segelten die beiden als Paar von Spanien nach England zurück. Don Rodare kaufte die Insel Lovelis, um sein Unrecht wiedergutzumachen, und ließ darauf Abbeywitch errichten, denn sein Sohn sollte in Cornwall, der Heimat seiner Mutter, zur Welt kommen. Für Deborah war die Gelegenheit, in Abbeywitch zu arbeiten, ziemlich überraschend gekommen. Eines Tages hatte ihr Chef, der in London den Columbine-Verlag leitete, sie in sein Büro gerufen. „Ich möchte, daß Michael Salvadors neuester Roman im Herbst erscheint“, erklärte Harrison Holt ohne lange Umschweife. „Das könnte den leidgeprüften Autor vielleicht etwas ablenken, denn er hat vor kurzem seine junge Frau verloren. Pauline Salvador war erst dreiundzwanzig Jahre alt gewesen, als sie unter nie ganz aufgeklärten Umständen im Meer ertrank. Sie hinterläßt einen Sohn, der noch zu klein ist, um sich an seine Mutter erinnern zu können.“ Holt machte eine Pause und betrachtete nachdenklich seine sehr jugendlich wirkende Mitarbeiterin. Deborah ahnte, daß er jetzt wohl überlegte, ob er es verantworten konnte, sie in das von tragischen Vorfällen überschattete Haus zu schicken. Denn wie Deborah von ihm anschließend erfuhr, sollte sie eine Zeitlang in Abbeywitch leben und den Roman, den Michael Salvador auf Bänder gesprochen hatte, abtippen und das Manuskript in eine druckfertige Form bringen. Der Schriftsteller weigerte sich nämlich, dem Verlag die Tonbänder auszuhändigen, und seine Sekretärin konnte die Arbeit auch nicht übernehmen, da sie nach einem Streit mit Michaels Mutter fristlos entlassen worden war. „Im Augenblick weiß kein Mensch, wo sich Michael aufhält“, fuhr Harrison Holt fort. „Er hat sich irgendwo verkrochen, um über den Tod seiner Frau hinwegzukommen. Es hat den Anschein, daß er jegliches Interesse an seinem Roman verloren hat. Aber das darf uns nicht hindern, am Ball zu bleiben. Glauben Sie, daß Sie dieser nicht ganz leichten Aufgabe gewachsen sind?“ „Ja, ich werde es versuchen“, erwiderte Deborah kurz. Am liebsten wäre sie aber in helle Begeisterung ausgebrochen, denn seit der Schulzeit schwärmte sie für Michael Salvadors Bücher, und während der vier Jahre beim Columbine-Verlag hatte sie immer gehofft, dem Autor einmal persönlich zu begegnen. Doch daß ihr eines Tages die Chance geboten wurde, an einem seiner Romane mitzuarbeiten, hatte sie nie zu träumen gewagt. „Wann soll ich fahren?“ fragte Deborah mit erzwungener Ruhe. Dabei preßte sie die gefalteten Hände fest zusammen, um ihre Aufregung zu verbergen. „So schnell wie möglich, Miss Hartway. Ich werde Michaels Mutter telefonisch von
Ihrer Ankunft informieren.“ „Hoffentlich kann ich Mrs. Salvadors Erwartungen auch erfüllen“, meinte Deborah. „Eine Zusammenarbeit mit ihr scheint ja nicht ganz einfach zu sein, wenn sie die langjährige Sekretärin ihres Sohnes nach einer Auseinandersetzung fristlos entläßt.“ „Die alte Dame ist eine stolze Vertreterin des Matriarchats, der Mutterherrschaft, und zwingt der gesamten Familie ihren Willen auf“, erklärte Mr. Holt. „Deshalb rate ich Ihnen, Lenora Salvador möglichst aus dem Weg zu gehen, um sich eventuelle Unannehmlichkeiten zu ersparen. Ich sehe jedoch keinen Grund zur Besorgnis, denn Sie wurden mir von mehreren Mitarbeitern des Verlags als eine sehr diplomatische junge Frau geschildert“, fügte er aufmunternd hinzu. „Danke, Mr. Holt.“ „Ich wünsche Ihnen viel Glück, Miss Hartway“, sagte er abschließend, und Deborah fand, daß seine Stimme nicht mehr ganz so zuversichtlich klang. Wenige Tage später saß Deborah im Zug nach Cornwall. Der Verlag hatte ihr einen Platz in einem Abteil der ersten Klasse zugestanden. Das Mittagessen nahm sie im Speisewagen ein und leistete sich statt eines Desserts ein Glas Champagner. Trotz ihres selbstbewußten Auftretens war sie leicht nervös, besonders, wenn sie an das Ziel ihrer Reise dachte. Deborah betrachtete die Arbeit in Abbeywitch nicht nur als willkommene Abwechslung zu ihrer Tätigkeit im Londoner Verlag und dem Leben in der Großstadt. Sie erhoffte sich dadurch auch, dem erhofften Ziel, Karriere im Verlagswesen zu machen, näherzukommen. Am Beispiel ihrer Mutter hatte Deborah gesehen, wieviel Kraft es kostete, wenn sich eine Frau plötzlich vor die Tatsache gestellt sah, für den eigenen Lebensunterhalt und den ihres Kindes sorgen zu müssen. Die von ihrem Mann liebevoll versorgte und behütete Claudia Hartway war ganz überraschend mit zweiunddreißig Jahren Witwe geworden. Doch sie war eine Kämpfernatur und sorgte dafür, daß ihre Tochter eine solide Sekretärinnenausbildung erhielt. Dennoch hatte Deborah oft bemerkt, wie schwer ihre Mutter dafür arbeiten mußte, und sich schon während ihrer Schulzeit geschworen, daß sie selbst einmal finanziell unabhängig von einem Mann sein wollte. Darum setzte sie alles daran, um in ihrem Beruf erfolgreich zu sein, damit ihre Mutter nicht umsonst Opfer gebracht hatte. So kannten die Angestellten von Columbine Deborah als eine hart arbeitende Kollegin, die konsequent ihr Ziel verfolgte. Die trüben Gedanken verflogen schnell, als Deborah nach dem Essen den Speisewagen verließ und in das Abteil zurückging. Sie war ruhiger geworden und betrachtete gelassen die vorbeiziehende Landschaft. Wiesen in sattem Grün wechselten sich ab mit Getreidefeldern, auf denen die Ähren in voller Reife standen. Selbst das Laub der Bäume kam ihr hier im Gegensatz zu London viel grüner und kräftiger vor. Daß sie für mehrere Wochen der Großstadt entfliehen konnte, war für Deborah ein Grund mehr gewesen, sich auf die Tätigkeit in Abbeywitch zu freuen. Die Kolleginnen im Büro hatten sie deswegen allerdings bedauert und sie gefragt, ob sie sich auf dem Land nicht langweilen würde, noch dazu auf einer einsamen Insel. „Wie sollte ich mich langweilen, wenn ich mich gleichzeitig in frischer, gesunder Luft erholen kann?“ hatte Deborah lächelnd erwidert. „Mich hättest du nur mit einer spanischen Insel von hier weglocken können, denn dort ist das Klima viel angenehmer als in Cornwall, nicht zu vergessen die attraktiven feurigen Spanier“, hatte eine junge Kollegin gemeint.
„Auch Michael Salvador hat spanisches Blut.“ „Er glänzt jedoch durch Abwesenheit.“ „Und wenn schon. Sein kleiner Sohn ist sicher ein würdiger Ersatz.“ „Ach du lieber Himmel!“ hatte die Kollegin erwidert, „die Ferien, die ich plane, finden nur mit großen Jungs statt.“ Deborah mußte unwillkürlich schmunzeln, als sie an das Gespräch dachte. Sie hatte ein nettes Verhältnis zu allen Mitarbeiterinnen, war aber bisher immer standhaft geblieben, wenn eine von ihnen sie zu einem gemeinsamen Urlaub überreden wollte. Das Geld sparte sie lieber für eine Eigentumswohnung, in der auch Platz für eine Bibliothek sein mußte. Denn Bücher, die sie in eine Traumwelt entführten, zog sie manchmal der Gesellschaft von Menschen vor. Als der Zug durch die Grafschaft Devonshire fuhr, wurde Deborah an ihre Schulferien erinnert, die sie häufig bei der Schwägerin ihrer Mutter verbracht hatte. Ihre Tante hatte im Alter von knapp vierzig Jahren einen Witwer mit fast erwachsenen Kindern geheiratet, die sich sehr geschmeichelt fühlten, daß sie von einem vierzehnjährigen Teenager, der ohne Geschwister aufwuchs, rückhaltlos bewundert wurden. Der neunzehnjährige Mark war Deborahs erste Liebe gewesen, bis sie eines Tages bitter von ihm enttäuscht wurde. Es geschah auf einem Reiterball. Zuerst hatte Mark nur mit Deborah getanzt und ihr Komplimente über ihr hübsches Kleid mit dem weißen Spitzenkragen gemacht. Jedesmal, wenn er sie aufforderte, war sie vor Freude ganz rot geworden, denn er gefiel ihr am besten von den jungen Männern in der Scheune, in welcher der Ball stattfand. Plötzlich aber war Mark verschwunden, obwohl er Deborah noch weitere Tänze versprochen hatte. Als sie sich auf die Suche nach ihm machte, überraschte sie ihn mit der Tochter des Reitlehrers im Pferdestall. Zuerst wollte Deborah nicht glauben, daß Mark ihre naive Schwärmerei nur benutzt hatte, um das andere junge Mädchen eifersüchtig zu machen, bis er es mit einer ironischen Bemerkung zugab. Die Rückkehr aus ihren Träumen auf den Boden der Wirklichkeit war ziemlich hart und schmerzlich für Deborah gewesen, doch sie lernte daraus und beging nie wieder den Fehler, andere Menschen für ebenso romantisch veranlagt zu halten, wie sie es war, besonders wenn es sich bei den anderen um gutaussehende junge Männer handelte. Abbeywitch entsprach in jeder Beziehung Deborahs Erwartungen. Es dauerte nicht lange, und sie hatte sich in dem alten, aber mit jeglichem Komfort eingerichteten Haus eingelebt. Man hatte ihr ein gemütliches Zimmer im Erdgeschoß eines Seitenflügels zugewiesen, in dem auch Michaels Sohn, der kleine Julian Salvador, und dessen Kindermädchen Rose Jones untergebracht waren. Deborahs Zimmer hatte eine Glastür, die auf eine Terrasse führte, welche bis zum Rand der Klippen reichte. Es gehörte zu Deborahs schönsten Erlebnissen, von dieser Terrasse aus übers Meer zu sehen oder die Pferde am Strand zu beobachten, wie sie bei Ebbe durch das Wasser galoppierten, denn die Salvadors besaßen nicht nur ausgedehnte Ländereien, sondern befaßten sich auch mit Pferdezucht. Die Bucht, in der das Haus lag, hieß „Bride’s Cove“ und erinnerte an die Zeit vor vielen Jahren, als jener Piratenkapitän Don Juan Rodare de Salvador an dieser Stelle ankerte, weil er von seinem Schiff aus ein junges Mädchen beobachtet hatte, das zwischen den großen Steinen Krabben suchte. Da es bei ihm Liebe auf den ersten Blick war, ging er an Land, hob die hübsche Fischerin auf seine starken Arme und brachte sie auf sein Schiff, um mit ihr nach Spanien zu segeln und sie dort zu seiner „Braut“ zu machen. Deborah wurde aus ihren Träumen gerissen, denn bei Flut änderten sich die
Geräusche des Meeres. Die Möwen schrien schriller, und meterhohe Wellen schlugen mit bedrohlicher Kraft gegen die Granitwände. In solchen Augenblicken mußte Deborah an ein anderes Ereignis denken, das noch nicht sehr lange zurücklag und sehr viel tragischer war als die amüsante Entführung der Krabbenfischerin. Aus Gesprächen mit dem Kindermädchen Rose erfuhr sie Einzelheiten über Pauline Salvadors Tod. Auf einer Yacht, die in der „Bucht der Braut“ vor Anker gegangen war, hatte in jener Nacht ein Fest stattgefunden, und es wurde so ausgiebig gefeiert, daß der fröhlichen Gesellschaft Paulines Verschwinden nicht sogleich auffiel. Dann aber machten sich alle auf die Suche, die erst am Morgen endete, als Michaels junge Frau zwischen den Steinen am Ufer gefunden wurde. „Tod durch Ertrinken“ hieß die offizielle Stellungnahme, obwohl eine Autopsie ergeben hatte, daß die Verletzungen im Gesicht und am Hals der Toten schon vorhanden gewesen waren, bevor der leblose Körper an Land gespült wurde. Dafür fand man aber die etwas vage Erklärung, daß sich Pauline bei ihrem Sprung ins Wasser am Schiffsrumpf verletzt hatte, da sie durch übermäßigen Alkoholgenuß ihre Bewegungen nicht mehr kontrollieren konnte. Wenn Deborah auf der Terrasse stand und über das aufgewühlte Meer blickte, stellte sie sich manchmal vor, daß Michael immer wieder durch das Rauschen der Wellen an die Tragödie erinnert wurde, die ihn schon nach zweijähriger Ehe zum Witwer gemacht hatte. Eine Woche verging, bevor Deborah schriftlich aufgefordert wurde, Mrs. Lenora Salvador beim Nachmittagstee Gesellschaft zu leisten. Die Begegnung fand erst zu diesem Zeitpunkt statt, weil die alte Dame bis dahin an Migräne gelitten hatte. „Ich habe nicht vor, mich einschüchtern zu lassen“, sagte Deborah zu Rose Jones, denn sie hatte erfahren, daß ihre beiden Vorgängerinnen von Lenora Salvador eingestellt, aber jeweils schon nach wenigen Tagen wieder entlassen wurden, weil ihre Fähigkeiten den Ansprüchen der alten Dame nicht genügten. „Dazu besteht auch kein Grund.“ Rose lächelte sanft. „Madame hat bestimmt ihre Fehler, ist launisch und sehr standesbewußt, doch sie wird sofort erkennen, daß Sie im Vergleich zu den beiden anderen eine richtige Persönlichkeit sind, an der sie bestimmt nichts aussetzen kann.“ Trotz dieser aufmunternden Worte betrat Deborah mit sehr gemischten Gefühlen das sonnige Erkerzimmer, in dem Lenora und ihre Tochter Sandra bereits an dem hübsch gedeckten Tisch saßen. Deborah wartete an der Tür, bis sie gebeten wurde, Platz zu nehmen. Während sie den Raum durchquerte, wurde sie einer eingehenden Musterung unterzogen. Ob die beiden Damen an ihrem schwarzen Leinenrock und der schlichten weißen Bluse etwas zu bemängeln hatten, konnte sie nicht erkennen. „Sie sind also die Neue, die sich die Finger am Manuskript meines geliebten Bruders wund schreibt“, meinte Sandra spöttisch und steckte sich eine neue Zigarette an. „Demnächst können Sie seine historischen Romane auch im Kino bewundern, weil einige davon verfilmt werden sollen.“ Sandra war Schauspielerin, und Deborah kannte ihr lebhaftes Gesicht mit den blitzenden dunkelbraunen Augen aus einigen Fernsehserien. „Ja, ich habe im Verlag schon davon gehört“, erwiderte Deborah ruhig, „und ich vermute, daß dadurch der Fanclub Ihres Bruders noch größer werden wird, Miss Salvador.“ „Die Miss gibt’s nicht mehr, ich bin geschieden“, erwiderte Sandra bissig. „Oh, das tut mir leid.“ „Das muß es mir höchstens, denn die Ehe mit diesem bärtigen Ungeheuer war ein peinlicher Fehler. Er wäre mir erspart geblieben, hätte ich auf meine Mutter gehört.“ Sandra warf Mrs. Salvador einen ironischen Blick zu. „Du hast eben Pech
mit deinen Kindern, Mom. Michael und ich hätten deine Ratschläge bei der Wahl unserer Lebensgefährten befolgen sollen. Zum Glück war ich etwas klüger als dein Sohn.“ Sie wandte sich an Deborah. „Sie haben bestimmt schon den jüngsten Sproß der Familie kennengelernt?“ „Ich finde ihn ganz reizend“, bestätigte Deborah lächelnd. „Nach Aussagen seines Kindermädchens soll er sehr weit für sein Alter sein.“ „In dieser Beziehung scheint er seiner Mutter zu ähneln“, spottete Sandra. „Jetzt reicht es, Sandra!“ Lenoras Worte klangen gereizt, doch ihr Ton wurde sofort freundlicher, als sie Deborah fragte, ob sie Zitrone oder Sahne in ihren Tee nähme. „Sahne bitte, vielen Dank.“ „Sie brauchen wohl keine Angst um Ihre Figur zu haben, was?“ bemerkte Sandra schnippisch und betrachtete Deborah durch den Rauch ihrer Zigarette. Gemessen an den Kippen im Aschenbecher, schien sie Kettenraucherin zu sein. Da sie aber eine lange Zigarettenspitze benutzte, war an ihren schlanken Fingern keine Spur von Nikotin zu sehen. „Ich schätzte Sie sehr viel jünger ein als die beiden Tippsen, die nach Miss Tucker in unser Haus kamen“, stellte sie dann fest. „Die Ärmste mußte uns ja verlassen, weil sie sich mit meiner Mutter gestritten hat.“ „Nach dieser bösartigen Anschuldigung konnte ich sie hier nicht länger dulden“, erklärte Lenora und reichte Deborah eine Tasse aus hauchdünnem chinesischem Porzellan. „Michael wird ganz schön sauer sein, wenn er von ihrer Entlassung erfährt“, meinte Sandra. „Er kam mit dieser Miss Tueker ja ganz gut zurecht.“ „Mein Sohn wird mich schon verstehen, wenn er meine Gründe hört“, erwiderte Mrs. Salvador rechthaberisch. „Kein Mensch kommt ungestraft davon, der mir vorwirft, ich hätte Pauline das Leben zur Hölle gemacht. Nichts davon ist wahr! Ich habe mich nur gelegentlich über das dümmliche Geplapper und die entsetzliche Musik, die sie ständig hörte, aufgeregt. Dieses Mädchen besaß einfach keine Klasse, keinen Stil, was sich ja auch in ihrer Kleidung ausdrückte. Ich kann bis heute nicht begreifen, wie Michael sie heiraten konnte.“ Gegen den ziemlich unkonventionellen Aufzug ihrer Tochter hat Mrs. Salvador offensichtlich nichts einzuwenden, dachte Deborah, denn Sandra trug zu einer grellfarbigen Pluderhose eine Flatterbluse aus schwarzer Seide, die bis zu den Kniekehlen reichte und sehr gut zu ihrem langen, leicht gewellten blauschwarzen Haar paßte. „Du bist doch noch nicht so alt, um das vergessen zu haben, Mom?“ neckte Sandra ihre Mutter. „Pauline war eine kurvenreiche blonde Sexbombe, die deinem Sohn völlig den Kopf verdreht hatte.“ „Mußte er sie deshalb gleich heiraten? In unserem Haus verkehren so viele nette, guterzogene Mädchen aus den besten Familien. Sharon Chandler beispielsweise hatte ich mir als Schwiegertochter gewünscht, und Michael wußte das. Statt dessen bringt er mir eine unbekannte kleine Tänzerin aus irgendeiner Musicalshow an! Diese Ehe war meiner Meinung nach von Anfang an zum Scheitern verurteilt.“ „Wir alle kennen deine Meinung, Mom. Besonders Michael hat sie oft genug zu hören bekommen“, antwortete Sandra ungehalten. „Kannst du nicht endlich aufhören, davon zu reden? Mit seinem besonderen Sinn für dramatische Szenen hat Michael die Asche seiner Frau ins Meer gestreut, und die Wellen haben sie schon längst davongetragen.“ Deborah verfolgte schweigend die Unterhaltung zwischen Mutter und Tochter, während sie ihren Tee trank. Aus jedem Wort Lenoras war herauszuhören, daß sich ihre negative Einstellung gegenüber der nicht standesgemäßen Schwiegertochter keinesfalls geändert hatte – weder nach der Geburt des
einzigen Enkels noch nach Paulines Tod. Unwillkürlich verglich Deborah die vornehme, elegante und noch immer sehr schöne alte Dame mit einem Diamanten – kalt, hart und scharf geschliffen. „Würden Sie sich bitte selbst bedienen?“ meinte Mrs. Salvador und schob Deborah die beiden silbernen Schalen zu, von denen eine mit appetitlich angerichteten Schnittchen und die andere mit Cremetörtchen gefüllt war. „Miss Tucker hätte bestimmt gleich zwei von diesen Törtchen genommen“, bemerkte Sandra gehässig, nachdem sich Deborah für ein mit Lachs belegtes Brot entschieden hatte. „Aber die stopfte ja auch den ganzen Tag nur Süßigkeiten in sich hinein. Doch es ist ja allgemein bekannt, daß manche Frauen eine Ersatzbefriedigung brauchen, um sich über die Tatsache, allein geblieben zu sein, hinwegzutrösten. Sind Sie auch dieser Meinung, Miss Hartway?“ „Darüber kann ich mir kein Urteil erlauben, Miss… Salvador.“ Deborahs Zögern fiel Sandra zum Glück nicht auf, so daß Deborah ein Vorwurf diesmal erspart blieb. „Dann haben Sie demnach einen Freund?“ Deborah schüttelte den Kopf. „Nein. Mich stört es allerdings überhaupt nicht, daß ich allein lebe.“ „Sie machen vielleicht Scherze! Ein Zusammenleben mit Männern ist zwar nicht einfach, aber ohne sie auskommen zu müssen, ist für mich unvorstellbar.“ Sandra verzog verächtlich ihren Mund, bevor sie spöttisch hinzufügte: „Vielleicht haben Sie etwas an sich, das Sie für das andere Geschlecht unattraktiv macht?“ Unbeeindruckt hielt Deborah Sandras herausforderndem Blick stand. So schnell ließ sie sich nicht von dieser verwöhnten, ungezogenen jungen Dame einschüchtern, deren einziges Interesse ihrer eigenen Person galt. So waren dann auch die Erfolge in ihrem Beruf recht bescheiden geblieben. Sandra schien Deborahs nicht gerade schmeichelhaften Gedanken erraten zu haben. „Sie halten sich wohl für überaus klug, nicht wahr?“ meinte Sandra wütend. „Mir können Sie aber nicht weismachen, daß Sie mit Ihrem keuschen Getue nicht ein bestimmtes Ziel verfolgen.“ „Du sagst manchmal unmögliche Dinge“, wies Mrs. Salvador ihre Tochter zurecht. „Miss Hartway macht auf mich einen sehr sensiblen Eindruck. Sie ist geschmackvoll gekleidet und frisiert – nicht wie andere junge Frauen, die sich nur für die Männer herausputzen.“ Sandra überging den Einwand ihrer Mutter und meinte herausfordernd: „Ich würde verrückt werden, wenn ich wochenlang Seite um Seite tippen müßte, bis der Autor endlich zufrieden ist. Für meinen Bruder zu arbeiten ist nämlich nicht einfach, Miss Hartway.“ „Ich halte ihn für einen Perfektionisten, was seine Bücher betrifft“, erwiderte Deborah sachlich. „Daraus entnehme ich, daß auch Sie zu seinen Fans gehören.“ „Ja – ich bewundere seine Art zu schreiben, Gefühle auszudrücken und…“ „Beschränken Sie sich auf die Bewunderung seiner Werke“, wurde Deborah von Sandra unterbrochen. „Dies ist ein Ratschlag, den Sie ernst nehmen sollten, Miss Hartway. Das ist doch sicher auch deine Meinung, Mom?“ „Ich hatte nie andere Absichten, Miss Salvador!“ entgegnete Deborah ärgerlich über diese bösartige Unterstellung, die offensichtlich auch von Mrs. Salvador gebilligt wurde, denn sie äußerte sich nicht dazu. „Nach einigen unverzeihlichen Fehlern sind wir sehr auf den guten Ruf unserer Familie bedacht“, fuhr Sandra fort, und auf ihrer Stirn erschien eine steile Falte. Deborah vermutete, daß sie von ihrer und ihres Bruders mißglückten Ehe sprach. Dann lächelte Sandra plötzlich wieder. „Kennen Sie eigentlich die Geschichte
unseres abenteuerlustigen Ahnherrn Don Juan Rodare de Salvador?“ fragte sie Deborah. „Ich habe darüber in den Chroniken über Cornwall nachgelesen“, erklärte Deborah, „nachdem mich Ihr Bruder neugierig gemacht hatte und in einem seiner Romane die Entstehung des Namens ,Bride’s Cove’ erwähnte.“ „Don Juan Rodare war ein richtiger Mann“, schwärmte Sandra. „Er wurde Pirat, nachdem man ihn im Schlafzimmer einer königlichen Hoheit erwischt hatte. In der folgenden Zeit wandte er seine Begabung, sich das anzueignen, was ihm nicht gehörte, in seinem neuen Betätigungsfeld ausgiebig an.“ „Mir wäre lieber, wenn sich meine beiden Kinder nicht so sehr für die unrühmlichen Aktionen dieses Herrn begeistern würden“, meinte Mrs. Salvador vorwurfsvoll. Sandra lachte nur. „Das kannst du mir nicht verbieten, Mom. Ich hätte diesen Haudegen gern persönlich kennengelernt und bin stolz bei dem Gedanken, daß ein wenig von seinem Blut in meinen Adern fließt.“ „Dann müßte dein Halbbruder Juan ja vor Stolz bersten, denn er ist ein direkter Nachkomme dieses Abenteurers und hat ja auch zahlreiche Eigenschaften seines Ahnherrn geerbt. Zum Glück kommt Michael mehr nach meiner Familie.“ Als Lenora ihren Sohn erwähnte, betupfte sie ihre Augen mit einem Spitzentaschentuch. „Michael war immer so klug und umsichtig, und ich hoffe nur, daß der kleine Julian wie sein Vater wird“, sagte sie bekümmert. „Leider neigen kluge Männer manchmal dazu, sich bei der Wahl ihrer Ehefrauen gründlich zu irren.“ Zumindest lassen sie sich von gegensätzlichen Charakteren anziehen, dachte Deborah. Daß Sandra und Michael einen Halbbruder hatten, hörte sie zum erstenmal. Dieser Juan lebte wahrscheinlich in Spanien, da in Abbeywitch nichts auf seine Existenz hinwies. „Wie gefällt es Ihnen in Abbeywitch?“ erkundigte sich Sandra unvermittelt. „Es ist ein wunderschönes altes Haus. Irgendwo habe ich gelesen, daß bei seinem Bau Steine eines verfallenen Klosters verwendet wurden.“ „Stimmt genau“, bestätigte Sandra. „Der Kamin im Salon wurde damit gemauert, ebenfalls die Terrassen der Schlafzimmer im Erdgeschoß.“ Sie sprach wie ein Fremdenführer, der seinen Text lustlos herunterleierte. „Der Raum, in dem Sie Ihre Schreibarbeiten machen, ist einmal die Gebetszelle eines Mönchs gewesen.“ Dann wurde ihre Stimme plötzlich lebhafter. „In Abbeywitch soll es sogar spuken. Eine Cousine meiner Mutter behauptet steif und fest, ein Gespenst in ihrem Zimmer gesehen zu haben. Allerdings ist die alte Dame etwas schrullig, wahrscheinlich hat sie in ihrem ganzen Leben noch nie etwas mit einem Mann zu tun gehabt. Sie schaut auch jeden Abend unter ihrem Bett nach, ob sich nicht einer darunter versteckt hält.“ „Rede nicht so respektlos von Cousine Cora“, schimpfte Mrs. Salvador, bevor sie sich an Deborah wandte. „Haben Sie auch Familie, Miss Hartway?“ Deborah erzählte von ihrer Mutter, die jetzt mit ihrem zweiten Mann in Kanada lebte, und von ihrem früh verstorbenen Vater, an den sie sich kaum erinnern konnte. Dabei erwähnte Deborah, daß sie gut nachempfinden könne, wie schmerzlich es für den kleinen Julian sein müsse, ein Elternteil verloren zu haben. Lenora preßte die Lippen aufeinander, was Sandra ein spöttisches Lachen entlockte. „Ach, Mom, Miss Hartway hat Paulines Namen noch nicht einmal erwähnt, und trotzdem reagierst du so empfindlich. Sei mal ehrlich. Du wärst ganz zufrieden gewesen, wenn Pauline sich Juan geangelt hätte. – Sie müssen wissen, Miss Hartway, daß die erste Frau meines Vaters eine spanische
Zigeunerin gewesen ist, die in Tavernen getanzt hat.“ „Sie hätte in keinem Fall in unsere Familie gepaßt“, erklärte Mrs. Salvador gereizt. In gewisser Weise fand Deborah die Salvadors faszinierend, ihren Dünkel aber unerträglich. Als sich Sandra eine neue Zigarette anzündete und ihrer Mutter den Rauch ins Gesicht blies, reagierte diese ungehalten. „Mußt du auch dieses Zimmer verpesten, Sandra? Ich verstehe nicht, warum du dir mit dieser Raucherei deine Stimme ruinierst.“ „Nicht jeder ist so ohne Fehl und Tadel wie du, Mom“, erwiderte Sandra gleichmütig, und als Lenora versuchte, den Rauch mit beiden Händen zu vertreiben, stand sie auf und stellte sich ans Fenster. „Weißt du eigentlich, wann Michael gedenkt, aus seinem Versteck aufzutauchen?“ fragte Sandra so ganz nebenbei. „Er wird nach Hause kommen, wenn er es für richtig hält.“ „Du meinst, wenn er seine Trauer überwunden hat?“ Nach einer langen Pause fügte sie hinzu: „Vielleicht trauert er ja gar nicht mehr, sondern hat bereits eine neue Ehefrau gefunden. Mit dieser Möglichkeit mußt du rechnen, Mom, denn schließlich braucht sein Sohn eine Mutter.“ „Diesen Schritt würde ich ihm nie verzeihen!“ Das klang verzweifelt, aber unwiderruflich, und auf Lenoras Gesicht erschienen hektische rote Flecke. Ziemlich unvermittelt bat sie Deborah dann, den Tee auszutrinken und sich zurückzuziehen. Nachdenklich verließ Deborah das Erkerzimmer und stieg die Treppe hinunter ins Erdgeschoß. Das Verhalten der Hausherrin gab ihr einige Rätsel auf, so daß Deborah das Bedürfnis verspürte, mit Rose Jones darüber zu reden. Im Grunde aber wollte sie ihr die eine Frage stellen: Hielt sich auch Lenora Salvador in jener Nacht an Bord der Yacht auf, als Pauline den Tod fand, und hatte sie sich vielleicht aus Verachtung für ihre Schwiegertochter zu einer boshaften Bemerkung hinreißen lassen, so daß Pauline aus Kummer zuviel Alkohol trank und freiwillig ins Wasser ging…? In der Diele blieb Deborah vor dem Portrait des Gründers von Abbeywitch stehen. Die dunklen Augen unter den kühn geschwungenen schwarzen Brauen erregten ihre Aufmerksamkeit, denn sie verliehen dem Gesicht nicht nur einen stolzen, selbstbewußten Ausdruck, sondern auch etwas Böses. Das war also der große Don Juan Rodare de Salvador, den Sandra bewunderte und von dem ihr Halbbruder Juan offenbar einige .Wesenszüge geerbt hatte.
2. KAPITEL Die Tage vergingen, und Deborah wurde mit ihrer Arbeit immer vertrauter. Niemand störte sie oder machte ihr Vorschriften. Zudem wollte sie auf jeden Fall alle Auseinandersetzungen mit Mrs. Salvador vermeiden, um nicht dasselbe Mißgeschick wie ihre Vorgängerinnen zu erleben. Es schien aber, als würde die exzentrische Hausherrin weder ihre beruflichen Qualitäten anzweifeln noch eifersüchtig darüber wachen, daß Deborah ihrem geliebten Sohn Michael gefährlich werden konnte. Bei diesem Gedanken mußte Deborah lächeln, denn sie stellte sich vor, daß sie in ihrer schlichten Garderobe, dem glatt nach hinten gekämmten Haar und mit der Brille, die sie beim Maschinenschreiben aufsetzte, wirklich nicht so sexy und aufregend aussah, um die Aufmerksamkeit eines Mannes zu erregen. Dies konnte ihr auch nur recht sein, denn sie fand das Leben in Abbeywitch höchst interessant. Obwohl Deborah nicht zu hoffen wagte, daß sie eines Tages vielleicht Michael Salvadors fest angestellte Sekretärin werden würde, wollte sie trotzdem ihren begrenzten Aufenthalt in dieser idyllischen Umgebung genießen. Denn zu Beginn des Sommers bot die Insel Lovelis viele Annehmlichkeiten, die Deborah in der stickigen Großstadt vermißte. In London war sie nie durch Vogelgezwitscher und Meeresrauschen geweckt worden, hatte auch nie auf einer sonnigen Terrasse gefrühstückt oder in so interessanten Räumlichkeiten gearbeitet. Deborahs Arbeitszimmer lag in einem ruhigen Seitenflügel des Gebäudes und war ein hoher Raum mit gotischen Kreuzgewölben. Regale voller Bücher, Manuskripte und Tonbänder verliefen an den mit Holz und Leder getäfelten Wänden. Licht fiel durch ein breites Fenster, vor dem Deborahs Schreibtisch stand, und da es nicht alle Winkel in dem düster wirkenden Zimmer beleuchtete, hatte Deborah manchmal das Gefühl, als stände jemand hinter ihr, um sie bei der Arbeit zu beobachten. Dabei mußte sie an den Mönch denken, von dem Sandra gesprochen hatte und der in diesem Raum gelebt haben soll. Deborah redete natürlich nicht über ihre unbehaglichen Empfindungen, denn sie wollte vermeiden, von der Tochter des Hauses in spöttischem Ton mit Cousine Cora verglichen zu werden, die sich vor dem Schlafengehen vergewisserte, ob sich auch kein Mann unter ihrem Bett versteckt hatte. Deborah fand ihre Arbeit recht ungewöhnlich, denn sie hörte oft stundenlang nur Michael Salvadors tiefe, klangvolle Stimme. Sie hatte noch nicht einmal ein Foto von ihm gesehen. Der Autor vieler guter Romane galt als pressescheu. Er gab keine Interviews, weder im Fernsehen noch Zeitschriftenreportern, und bisher durfte außer ein paar Daten aus seinem Leben auch kein Bild im Klappentext seiner Bücher erscheinen. Es gab Leute, die ihm diese Scheu verübelten und es für überhebliches Getue hielten. Andere wiederum, und dazu gehörte auch Deborah, sahen darin einen gewissen Reiz, der ihrer Phantasie einen großen Spielraum ließ. Der Roman, den Deborah gerade in Manuskriptform brachte, war eine leidenschaftliche Romanze, die tragisch endete und auf einer Insel spielte. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, daß Michael Salvador wie der melancholische, vom Schicksal verfolgte Held aussah. Darüber hinaus fand sie die Geschichte so packend und farbig geschildert, daß sie überzeugt war, an einem Bestseller mitzuwirken. Das hatte sie auch ihrem Verleger Harrison Holt mitgeteilt. Deborah war froh, daß sie darüber nicht mit den Damen des Hauses sprechen mußte, denn Lenora und Sandra Salvador verunsicherten sie sehr. Zudem bekam sie die beiden Frauen nur selten zu Gesicht. Um so lieber war Deborah bei Rose Jones,
die oft auch Nanny Rose genannt wurde, und nahm mit ihr und dem niedlichen Julian die Mahlzeiten ein. Dabei ging es viel ungezwungener zu als bei diesen abendlichen Essen, die Mrs. Salvador für eine Gruppe von Schauspielerkollegen ihrer Tochter veranstaltete, und an denen Deborah zu Beginn ihres Aufenthaltes in Abbeywitch auch teilgenommen hatte. Die jungen Leute wohnten ebenfalls hier, waren aber tagsüber auf dem Festland, um ein Theaterstück zu proben. Während ihrer freien Zeit hielten sie sich dann aber gern am Wasser auf. Auch Deborah machte es besonderen Spaß, wann immer es ihre Arbeit erlaubte, zur Bucht hinunterzusteigen und im Meer zu schwimmen. Dort am Strand hatte sie hinter einem riesigen Stein ihren Lieblingsplatz entdeckt, wo sie vor neugierigen Blicken geschützt war. Nur die Möwen konnten zuschauen, wenn sie nackt ein Sonnenbad nahm. An einem warmen Sonnabendnachmittag war Deborah weit aufs Meer hinausgeschwommen. Danach sonnte sie sich in „ihrer“ Bucht, und das gleichmäßige Plätschern der Wellen machte sie schläfrig. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als habe sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Deborah reckte sich träge und öffnete blinzelnd die Augen. Im selben Augenblick war ihre Müdigkeit wie weggeblasen, denn sie erkannte, daß ein großer breitschultriger Mann vor ihr stand. Erschreckt richtete sie sich auf. „Dies alles hier ist Privatstrand“, brachte Deborah nur mühsam heraus. „Ganz richtig – und deshalb frage ich Sie, was Sie hier zu suchen haben.“ „Ich darf mich hier aufhalten, weil ich für die Familie arbeite, der dieser Strand gehört.“ „Sieh mal an“, meinte er spöttisch. „Weiß die Dame des Hauses denn auch, daß eine ihrer Angestellten völlig nackt hier am Strand herumliegt?“ „Ich bin die Sekretärin von Michael Salvador und…“ Deborah sprach ihren Satz nicht zu Ende. War dieser Mann etwa der von ihr bewunderte Autor, dachte Deborah entsetzt. Denn sie hatte sich die erste Begegnung mit ihm ganz anders vorgestellt. „Ach so, Sie sind die Sekretärin“, wiederholte der Fremde gedehnt. „Von meinem letzten Aufenthalt in Abbeywitch habe ich eine kleine dicke etwa fünfzigjährige Frau in Erinnerung, die sämtliche Schreibarbeiten für Michael Salvador erledigte. In diesem – Evaskostüm habe ich sie allerdings nie erlebt.“ „Wer sind Sie eigentlich?“ fragte Deborah ärgerlich. „Vielleicht einer von Sandra Salvadors Freunden?“ „Sehe ich wie ein Schauspieler aus?“ Der ironische Ton in seiner Stimme und sein selbstbewußtes Auftreten machten Deborah klar, daß er wohl kaum einer von Sandras Kollegen war. Dieser Fremde strahlte so viel Männlichkeit und Überlegenheit aus, daß er sogar auf Deborah großen Eindruck machte. „Wer sind Sie?“ fragte sie noch einmal. „Ich bin zufällig der Besitzer von Abbeywitch“, sagte er stolz. „Sicher hat meine Stiefmutter von mir gesprochen. Mein Name ist Juan Salvador.“ Auf diese Worte wußte Deborah nichts zu erwidern, denn sie hatte ganz selbstverständlich angenommen, daß Michael als Lenoras Sohn der Eigentümer von Abbeywitch war. „Würden Sie mir bitte meine Sachen reichen?“ bat sie Juan leise, nachdem sie ihn eine Weile sprachlos angeblickt hatte. Dabei zeigte sie auf das Bündel zwischen seinen Füßen. „Selbstverständlich.“ Er bückte sich und warf ein Stück nach dem anderen in ihren Schoß. Bevor er sich ab wandte, betrachtete er sie noch einmal von Kopf bis Fuß. In aller Eile schlüpfte Deborah in die Kleidungsstücke. Sie band gerade ihr Haar zusammen, als sich Juan Salvador wieder zu ihr umdrehte. Deborah fand ihn trotz seiner überheblichen Art faszinierend. Seine Haut war tief gebräunt, die
Nase lang und schmal, während ihm die hohen Backenknochen ein südländisches Aussehen verliehen. So auch das glatte, modisch geschnittene schwarze Haar, das wie bei Sandra einen leicht bläulichen Schimmer hatte. Besonders ausdrucksvoll waren seine ebenholzfarbenen Augen mit ihrem durchdringenden Blick, der in Deborah einerseits das Bedürfnis auslöste davonzulaufen, andererseits aber zu bleiben und sich zu verteidigen, denn Juan Salvador hatte ganz offensichtlich eine falsche Meinung von der Person, die für seinen Halbbruder als Sekretärin arbeitete. „Ich habe heute meinen freien Tag“, erklärte sie ihm, da sie das Schweigen nicht länger ertragen konnte. „Und den verbringen Sie am Strand, um eine nahtlose Bräunung zu erreichen?“ fragte er ironisch. „Sie glauben wohl, ich liege hier, um mich zur Schau zu stellen?“ fuhr sie ihn ärgerlich an. „Ich habe lediglich die Vorteile genutzt, die Abbeywitch durch seine Lage am Meer bietet. Außerdem bin ich an dieser Stelle vor neugierigen Blicken geschützt“, fügte sie trotzig hinzu. „Genießen Sie noch andere Vorteile in meinem Haus? Sind Sie zu Ihrer Zufriedenheit untergebracht? Ist das Essen gut?“ Sein Spott traf Doborah zutiefst. „Ich erledige meine Arbeit sehr gewissenhaft, Mr. Salvador, und bekomme mein Geld nicht umsonst“, erwiderte sie wütend. „Das einzige, was man mir vorwerfen kann, ist, daß ich einen Strand benutzt habe, der offenbar Angestellten nicht zugänglich ist. Davon war mir bisher leider nichts bekannt. Vermutlich verlangen Sie jetzt von mir, daß ich Abbeywitch verlasse. Entschuldigen Sie mich also bitte, damit ich gehen und meine Sachen packen kann.“ „Sie werden genau dort bleiben, wo Sie sind, junge Frau.“ „Ach, ist die Strafpredigt noch nicht zu Ende? Haben Sie mir noch nicht deutlich genug gesagt, daß ich nur darauf aus bin, die Annehmlichkeiten Ihres Hauses zu genießen, ohne dafür etwas zu tun?“ Deborahs Augen funkelten böse. Dieser arrogante Kerl, dachte sie, wie konnte er es wagen, von dem harmlosen Vergnügen, ein Sonnenbad zu nehmen, auf ihre beruflichen Qualitäten zu schließen? „Gewöhnlich läßt sich meine Stiefmutter nicht von oberflächlichem Charme beeindrucken“, meinte Juan und verzog verächtlich seinen Mund. „Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, wie Sie es geschafft haben, daß sie Ihnen erlaubt hat, für ihren Sohn Michael zu arbeiten. Normalerweise sind seine Schreibkräfte nicht so jung und attraktiv, die Lenora für ihn einstellt – wenn ich da nur an diese Miss Tucker denke… Wissen Sie eigentlich, was mit dieser Dame passiert ist?“ „Sie mußte gehen, weil eine ihrer Bemerkungen Mrs. Salvador sehr verärgert hat“, antwortete Deborah zögernd, der gleichzeitig bewußt wurde, daß ihr vielleicht irgendwann dieselbe ungerechte Behandlung widerfahren könnte. Denn in dieser hochnäsigen Familie wurden wohl nur Angestellte geduldet, die keine eigene Meinung hatten. „Und welche Bemerkung war das?“ „Es ging um die verstorbene Frau Ihres Bruders, und soweit ich weiß, behauptete Miss Tucker, daß Mrs. Salvador ihrer Schwiegertochter das Leben zur Hölle mache. – Aus welchem Grund die beiden anderen Sekretärinnen, die danach kamen, wieder gehen mußten, weiß ich nicht.“ „Aber den Grund, warum Sie mit Mrs. Salvador so gut auskommen, werden Sie doch wohl kennen?“ fragte er herausfordernd. „Mrs. Salvador scheint zufrieden mit meiner Arbeit zu sein“, erwiderte Deborah gereizt. „Daran möchte ich auch nichts ändern, denn ich fühle mich sehr wohl in Abbeywitch.“ „Daß Lenora mit Ihnen zufrieden ist, wundert mich eigentlich sehr, da Sie doch
höchstens… neunzehn Jahre alt sein können“, bemerkte er anzüglich. „Ich bin vierundzwanzig!“ Juan musterte Deborah eingehend. Was er sah, schien ihn gleichermaßen zu überraschen und zu verärgern. Deborah suchte eilig ihre Badesachen zusammen. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag“, wandte sie sich noch einmal flüchtig an Juan, bevor sie auf die steile Treppe zulief, die zur Spitze der Klippen führte. Kurz bevor sie jedoch die Treppe erreicht hatte, holte er sie ein, packte sie am Handgelenk und zwang sie stehenzubleiben. „Sie haben ein bemerkenswertes Temperament, junge Frau“, stellte er grimmig fest. „Ist das etwa auch verboten?“ Deborah wagte jedoch nicht, seine Hand abzuschütteln. Es hätte unweigerlich ein kleines Gerangel gegeben, und Deborah befürchtete, daß sie dabei mit ihm in Berührung gekommen wäre. Juans Anblick allein war schon verwirrend genug. „Bitte, lassen Sie mich los, Mr. Salvador“, bat sie ihn statt dessen. „Es ist schon spät, und vielleicht sollte ich jetzt lieber meine Sachen packen.“ „Sehr ungern, wie ich vermute.“ „Stimmt, doch ich möchte nicht ständig auf der Hut sein, eventuell etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Leider hat mich keiner vorher gewarnt, daß Sie jetzt…“ „Daß ich jetzt der Herr von Abbeywitch bin“, vervollständigte er ihren Satz. „Solange ich mich auf der Insel aufhalte, habe ich tatsächlich das Sagen“, setzte er spöttisch hinzu. „Wie nennt man Sie übrigens?“ Deborah blickte ihn wütend an. Einem so arroganten Mann war sie noch nie begegnet. „Haustiere nennt man, aber nicht…“ „Genug jetzt“, unterbrach er sie ungehalten. „Ich möchte gern Ihren Namen wissen.“ „Deborah Hartway.“ Sie gehorchte nur sehr widerwillig. „Haben Sie eigentlich eine Ahnung, Miss Hartway, wie gefährlich es ist, so allein am Strand zu liegen? Sie hätten vergewaltigt werden können.“ „Daran habe ich nicht gedacht“, mußte Deborah unsicher zugeben. „Ich kann mir schon vorstellen, wie es zu dieser Unvorsichtigkeit kam: Nach einem erfrischenden Bad im Meer hatten Sie das Bedürfnis, die warme Sonne auf jedem Teil Ihres Körpers zu spüren.“ Etwas im Ton seiner Stimme verriet Deborah, daß er nicht ganz unbeeindruckt von dem war, was sie ihm ungewollt angeboten hatte, und sie wurde nachträglich noch rot. Dann erinnerte sie sich an eine von Sandras Bemerkungen über ihren Bruder: „Juan hat seinen Spaß mit Frauen, ohne sich jemals die Flügel dabei zu verbrennen.“ Die Frauen bekommen seine Hitze zu spüren, wenn sie sich leichtfertigerweise in seine Nähe begeben, dachte Deborah und entzog ihm energisch ihre Hand. Kommentarlos überging Juan diese Geste. „Wenn ich Ihnen in Zukunft also verbiete, sich allein am Strand aufzuhalten, geschieht das aus ernsthafter Sorge um Ihr Wohlergehen“, sagte er weiter. „Ändert sich dadurch vielleicht Ihre Meinung, daß ich ein arroganter Snob bin?“ „Sie haben vergessen, daß Sie zudem noch sehr stolz und voreingenommen sind, Mr. Salvador.“ „Gut pariert.“ Er lachte, und Deborah war keineswegs überrascht, daß er strahlend weiße, gleichmäßige Zähne besaß. „Sie werden also auf Lovelis bleiben? Trotz Ihrer voreiligen Vermutung, daß ich Sie wegschicken würde?“ „Geben Sie doch zu, daß Sie daran gedacht haben.“ „Ich kümmere mich nie um die Angelegenheiten meines Bruders, ebenso ist das auch umgekehrt der Fall. Mich würde allerdings interessieren, ob es Ihnen Spaß macht, mit ihm zusammenzuarbeiten?“ Erstaunt sah Deborah ihn an. „Wissen Sie
denn gar nichts von seiner Abwesenheit?“ fragte sie. Als Juan den Kopf schüttelte, erzählte sie ihm, daß Michael Salvador spurlos verschwunden war. „Was zum Kuckuck ist bloß in ihn gefahren, daß er sich so verantwortungslos seinen Verpflichtungen entzieht?“ Juan zog die dunklen Augenbrauen zusammen, wodurch seine Miene etwas Drohendes bekam. „Trauer um seine verstorbene Frau!“ erwiderte Deborah leise. „Trauer muß überwunden werden, sonst wird sie nur zum Selbstmitleid.“ Er legte eine Hand fest auf Deborahs Schulter. „Gehen wir ins Haus, Miss Hartway. Der Strand wird gleich überflutet sein, außerdem muß ich unbedingt mit meiner Stiefmutter reden.“ Am Ende der steilen Treppe blieb Juan plötzlich stehen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die Türme und Erker von Abbeywitch hoben sich dunkel gegen den roten Abendhimmel ab. „Ein herrlicher Anblick, nicht wahr?“ sagte er. „Jedesmal, wenn ich auf die Insel zurückkomme, frage ich mich, weshalb ich sie überhaupt verlassen habe. Führe ich dann in Andalusien auf meiner ,granja’ ein Zigeunerleben wie die Familie meiner Mutter, muß ich immer an diese Festung auf ihren hohen Klippen denken. Seit meiner Jugend pendle ich zwar unruhig zwischen Spanien und England hin und her – doch Michaels spurloses Verschwinden finde ich sehr ungewöhnlich. Bisher hat er seine Arbeit in Abbeywitch über alles andere gestellt.“ „Die Liebe zu Pauline kann Ihren Bruder verändert haben, Mr. Salvador“, erwiderte Deborah zaghaft. Juan wandte ihr das Gesicht zu und lächelte überlegen. „Sie sind zu jung, um die Freude und das Leid einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung zu kennen, Miss Hartway. Sonst hätten Sie nicht so mädchenhaft und scheu erröten können, als ich Sie heute unbekleidet am Strand überrascht habe.“ „Bitte erwähnen Sie Ihrer Stiefmutter gegenüber nichts davon – sie würde kein Verständnis dafür aufbringen“, antwortete Deborah, die sich von jedem Wort, das Juan Salvador sagte, in die Enge getrieben fühlte. Sie war ihm nicht gewachsen, denn er weckte Empfindungen in ihr wie kein anderer Mann zuvor. „Ich verspreche Ihnen, daß es unser Geheimnis bleiben wird“, sagte er mit unüberhörbarer Ironie in der Stimme. Als er dann auf das tosende Meer hinausblickte, bewunderte Deborah verstohlen sein klassisches Profil. „Wenn ich Schriftsteller oder Maler wäre, würde ich mich von der Schönheit dieses winzigen Fleckchens Erde inspirieren lassen“, sagte Juan mehr zu sich selbst. „Mein Bruder hat sicher auch in seinem jüngsten Roman etwas davon zum Ausdruck gebracht.“ „Das stimmt, und soweit ich es beurteilen kann, erscheint im Herbst ein neuer Bestseller.“ Deborah war erleichtert, daß Juan ein ihr vertrautes Thema angeschnitten hatte. „Manchmal bin ich beim Abtippen so vertieft in den Inhalt, daß ich kaum die Abenddämmerung bemerke. In meiner Phantasie sehe ich oft eine lauernde Gestalt zwischen den Schatten der Möbel und…“, sie räusperte sich verlegen, „dann knipse ich schnell die Schreibtischlampe an, und der Spuk ist vorbei.“ Wie komme ich bloß auf die dumme Idee, ausgerechnet Juan Salvador davon zu erzählen? fragte sich Deborah, als sie sein spöttisches Lachen hörte. „Sie sollten in einem anderen Zimmerarbeiten, Miss Hartway, da Sie offensichtlich das Geschreibsel meines Bruders so aufregt“, bemerkte er. „O nein, das wäre kindisch. Die meiste Zeit über fühle ich mich ja auch sehr wohl in dieser alten Mönchszelle.“ „Trotzdem scheinen Sie eine übertriebene Einbildungskraft zu besitzen. Haben Sie selbst schon Bücher geschrieben?“ Deborah schüttelte den Kopf. „Ich interessiere mich nur für die verlegerische
Seite, was nicht heißt, daß ich nicht leidenschaftlich gern lese. Besonders die Werke von Michael Salvador haben es mir angetan. Deshalb bin ich Ihrem Bruder unendlich dankbar, daß er mir die einmalige Chance geboten hat…“ Weiter kam Deborah nicht, denn völlig unerwartet umschloß Juan mit seinen kräftigen Fingern ihr Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. „Irre ich mich, oder betreiben Sie so eine Art Personenkult?“ fragte er kühl. Das Blut rauschte in ihren Ohren wie die Wellen unten am Strand. Deborah wollte weglaufen, doch wie gebannt hielt sie seinem wilden Blick stand. Ganz unvermittelt ließ er sie dann los und meinte, daß es jetzt wohl besser wäre, wenn sie zum Essen gingen. Sie hatte Mühe, sich seinem schnellen Schritt anzupassen. Als sie Abbeywitch erreichten, leuchtete hinter den Fenstern ein einladend warmes Licht. Die beiden näherten sich schweigend der großen Haustür. Juan öffnete sie und ließ Deborah höflich den Vortritt. „Nehmen Sie die Mahlzeiten gemeinsam mit der Familie ein?“ erkundigte er sich. „Meistens mit dem Kindermädchen des kleinen Julian.“ „Auf Ihren eigenen Wunsch? Oder hat Mrs. Salvador das verlangt?“ „Ich mag Nanny Rose und fühle mich in ihrer Gesellschaft wohler als in dem hochherrschaftlichen Eßzimmer des Hauses“, antwortete Deborah ausweichend. „Das kann ich gut verstehen.“ Ein wenig später, als sie durch die Diele gingen, blieb Deborah nicht zum erstenmal vor dem Portrait des Gründers von Abbeywitch stehen. Nun, da sie Juan kennengelernt hatte, fiel ihr die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Ahnherrn sofort auf – stolz, selbstsicher und autoritär. Juan erklärte schmunzelnd, daß auch Mohrenblut durch seine Adern fließe, und darum sei er wohl so eifersüchtig… Plötzlich hatte Deborah es sehr eilig, in die friedliche Atmosphäre des Kinderzimmers zu kommen, wo der kleine Julian Salvador sie bestimmt mit seinem ansteckenden herzlichen Lachen empfangen würde. „Rose wird sich fragen, wo ich so lange bleibe“, meinte Deborah leise und verabschiedete sich hastig. „Es war mir ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben“, rief Juan hinter ihr her. „Ein sehr aufregendes Vergnügen sogar. Bitte, geben Sie dem Hijito einen Kuß von mir. Das ist das spanische Wort für Söhnchen“, fügte er erklärend hinzu, als er ihren fragenden Blick bemerkte. „Aber natürlich, Mr. Salvador“, erwiderte sie förmlich und lief den schmalen Flur entlang, der zum Kinderzimmer führte…
3. KAPITEL In London hatte Deborah nie Zeit für ein gemütliches Frühstück gefunden. Sie mußte wegen des Straßenlärms und der schlechten Luft bei geschlossenem Fenster schlafen und wachte morgens meistens schon nervös auf. Auf Lovelis dagegen schlief Deborah ruhig und tief, und wenn sie von so angenehmen Geräuschen wie Meeresrauschen und Vogelgesang geweckt wurde, galt ihr erster Gedanke dem Frühstück, das sie allein auf der Terrasse vor ihrem Zimmer zu sich nahm. Um das Personal nicht zu bemühen, holte sie selbst das Tablett aus der Küche, setzte sich so hin, daß sie den Ozean sehen konnte, und aß mit großem Appetit Eier, Schinken, Toast und andere Köstlichkeiten, die ihr die Köchin zubereitet hatte. Was führe ich doch für ein herrliches Leben, dachte sie manchmal vergnügt. Obwohl sie am Sonntag nie arbeiten mußte, suchte sie dennoch für einige Stunden ihre „Mönchszelle“ auf. Das vertrieb ihr die Zeit, und sie vermied dadurch, Sandra oder ihren Freunden zu begegnen. Die jungen Leute probten nämlich am Wochenende nicht. Vor ein paar Tagen war Deborah zufällig am Wohnzimmer vorbeigekommen, in dem sich alle versammelt hatten. Deborah hörte, daß man über sie sprach, von der „grauen Maus, die man nur zu ihrer Schreibmaschine in dem geheimnisvollen Mäuseloch huschen sieht.“ Diese sehr zutreffende Beschreibung, wie sich Deborah selbst eingestand, kam von Stuart Coltan. Sie hatte den Schauspieler schon mal in einer Fernsehserie über ein bekanntes New Yorker Tanzlokal gesehen, das während des Krieges ein beliebter Treffpunkt für Soldaten mit ihren Freundinnen war. Stuart Coltan spielte einen jungen Soldaten, dessen große Leidenschaft das Tanzen war. Damals hatte Deborah sein Spiel und vor allem seine geschmeidigen Bewegungen beim Tanzen bewundert, jetzt hielt sie ihn nur noch für einen albernen, nichtssagenden Menschen, der sich Witze auf Kosten anderer erlaubte. Außerdem bemühte er sich sehr um Sandra. Die wiederum fand es scheinbar ganz toll, daß sie der Mittelpunkt im Interesse dieses Mannes war. Deborah mußte zugeben, daß sie ein hübsches Paar abgaben, wenn sie die beiden manchmal am Strand oder beim Wasserski beobachten konnte. Deborah hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, vor Arbeitsbeginn bei Nanny Rose und dem kleinen Julian vorbeizuschauen, um ihnen einen guten Morgen zu wünschen und mit dem Jungen ein wenig zu spielen. Er war ihr in der kurzen Zeit ihres Aufenthalts auf Abbeywitch richtig ans Herz gewachsen. An dem Sonntag nach der Begegnung mit Juan Salvador zeigte ihr Julian stolz sein neues Spielzeug, einen Clown aus Stoff mit schlenkernden Armen und Beinen und einer dicken roten Nase. „Dino!“ rief er und strahlte Deborah aus seinen blauen Augen an. Dino war Julians Lieblingswort, und er bezeichnete damit nicht nur sein Spielzeug, sondern alle Gegenstände, die ihm gefielen. „Das ist aber ein lustiger Clown“, sagte Deborah bewundernd. „Hat ihn dir dein Onkel geschenkt?“ „Sie wissen also schon über Julians Onkel Bescheid“, meinte Rose, die gerade mit einem Teller Haferbrei ins Zimmer kam. „Seine Ankunft war wieder einmal für alle im Haus eine große Überraschung. Aber das macht Mr. Juan immer so. Plötzlich steht er in der Tür, braungebrannt wie ein spanischer Stierkämpfer. Ich habe ihn gestern noch gesehen, als er kurz ins Kinderzimmer kam, um einen Blick auf seinen schlafenden Neffen zu werfen.“ Sie band Julian ein Lätzchen um und fing an, ihn zu füttern. „Manchmal kann ich gar nicht glauben, daß er der Halbbruder von Miss Sandra und Mr. Michael ist. Äußerlich hat er so wenig Ähnlichkeit mit den beiden.“ Rose gebrauchte für die Mitglieder der Familie
Salvador immer noch diese altmodische Anrede, aber sie kannte das gar nicht anders, da sie schon seit ihrer Ausbildung zur Säuglingsschwester nur in Häusern der sozialen Oberschicht arbeitete. Deborah lächelte nur und erwähnte nicht, daß sie bereits eine sehr verwirrende Begegnung mit Juan Salvador hinter sich hatte. „Bedauerlich, daß nicht der Vater des Kleinen nach Hause gekommen ist“, sagte Rose. „Wer weiß, wann er sich endlich dazu entschließt. Es gibt Augenblicke, da frage ich mich, ob er für immer gegangen und seiner armen Frau gefolgt ist.“ „An so etwas dürfen Sie nicht einmal denken“, antwortete Deborah entsetzt. „Sie haben ihn nicht gesehen, als er die Asche der Verstorbenen ins Meer gestreut hat.“ Rose warf Deborah einen bedeutungsvollen Blick zu. „Kreidebleich ist er im Gesicht gewesen, und danach raste er mit seinem Motorboot davon, als sei der Teufel hinter ihm her. Das ganze Haus stand köpf nach Mr. Michaels Abfahrt. Madame bekam hysterische Anfälle, so daß selbst Mr. Juan sie nicht beruhigen konnte. Und Miss Sandra wählte ausgerechnet diesen unpassenden Augenblick, um mit ihrer Stute Firefly auszureiten, die sich bei dem waghalsigen Ritt auch noch das Bein brach. Ich habe Mr. Juan selten so wütend erlebt, denn er mußte das Tier erschießen. Später hat er den beiden Frauen so heftig die Meinung gesagt, daß seine Stimme durchs ganze Haus schallte.“ Diese Szene konnte sich Deborah lebhaft vorstellen. „Ich verstehe nicht, weshalb die Familie so erregt war, obwohl keiner, wie es scheint, sehr viel Sympathie für Pauline aufbrachte.“ „Sie fühlten sich wohl alle ein wenig mitschuldig“, antwortete Rose vorsichtig. „Außerdem müssen Mrs. Salvador und Miss Sandra sehr gelitten haben, weil sich Mr. Michael von ihnen abwandte, als könne er ihren Anblick nicht mehr ertragen.“ „Aber warum hat er seinen kleinen Sohn zurückgelassen?“ wandte Deborah ein und wischte Julian ein wenig Brei vom Mund. „Es gibt wohl keinen Maßstab für das, was Menschen tun, wenn sie verzweifelt sind.“ Nanny Rose sah den Jungen traurig an. „Ich bin alt genug, um erkannt zu haben, daß wir Menschen uns manchmal schon recht merkwürdig und unberechenbar benehmen. Das können Sie mir glauben, Deborah.“ Im nächsten Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Juan Salvador betrat das Kinderzimmer. Er war in Reitkleidung und sah nach Deborahs Meinung noch besser aus als am Tage vorher. Ihr Herz begann bei seinem Anblick heftig zu klopfen. Er verbeugte sich höflich vor Rose Jones und Deborah, bevor er sich mit einem amüsierten Lächeln zu seinem Neffen umdrehte. „Der kleine Bursche ist tüchtig gewachsen, seit ich ihn zum letztenmal gesehen habe“, meinte er anerkennend. Julian schenkte seinem Onkel auch ein strahlendes Lachen. „Dino, Dino“, rief das Kind begeistert und zeigte dabei auf die Clownpuppe. „Warum nennt er mich Dino?“ fragte Juan schmunzelnd. Nanny Rose erklärte ihm, was Julian damit meinte. „Du magst mich also wie deinen Teddybären und die anderen Spielsachen. Vielen Dank für das reizende Kompliment.“ Juan streichelte über das lockige dunkle Haar des Jungen, und als dieser vor Vergnügen laut lachte, rief Juan erstaunt: „Er hat ja sogar schon Zähne! Wie kleine Reiskörner sehen die aus.“ Diese Bemerkung rührte Deborah. Vorsicht, ermahnte sie sich energisch, denn sie merkte, daß alles, was dieser Mann sagte und tat, sie mehr faszinierte, als ihr lieb war. Seine kraftvolle Ausstrahlung belebte dieses Haus, in dem sie bisher ruhig und ohne Aufregung gearbeitet hatte. Onkel und Neffe sahen sich eine Weile schweigend an. Dann nahm Julian seinen buntbemalten Becher, und nachdem er einige Schlucke getrunken hatte, hielt er Juan den Becher hin und
sagte: „Da!“ Juan kostete und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Hm, der Orangensaft schmeckt köstlich“, meinte er ernsthaft. „Wirklich nett von dir, daß du mir etwas davon abgegeben hast, pequenio.“ „Dino“, war Julians fröhliche Antwort. Seine großen blauen Augen richteten sich erst auf Rose, die anerkennend nickte, und danach auf Deborah, die seine kleine Hand ergriff und einen Kuß daraufdrückte. „Du bist schon ein richtiger Gentleman, Julian“, sagte sie zärtlich. „Ja, es ist erstaunlich, daß ein Junge in seinem Alter schon dieses Gespür für gute Manieren hat“, stimmte Juan ihr zu. „Wissen Sie etwas über Ihren Bruder, Mr. Juan?“ schaltete sich Nanny Rose in das Gespräch ein. „Sein Verhalten ist für uns alle so beängstigend, weil er zu vergessen scheint, daß hier eine große Verantwortung auf ihn wartet.“ „Da bin ich ganz Ihrer Meinung.“ Nachdenklich blickte Juan auf seinen Neffen herab. „Ich habe erst gestern erfahren, daß er noch nicht einmal seiner Mutter eine Adresse hinterlassen hat, wo er zu erreichen ist.“ „Ich hoffe nur, daß es ihm gutgeht“, meinte Rose besorgt. „Oder könnte es sein, daß er sich…“ Juan schüttelte den Kopf. „Sie befürchten, daß er sich etwas angetan hat? Nein, das paßt nicht zu Michael. Als wir Kinder waren, hat er sich auch immer in seinen Schmollwinkel zurückgezogen, wenn er wütend war oder tief betrübt. Dort blieb er dann, bis er seine Stimmungen überwunden hatte. Paulines Tod war ein Schock für ihn, mit dem er erst einmal fertig werden muß. Hinzu kommen Gewissensbisse – denn er hat sich mit seiner Frau vor dem Unglück sehr häufig gestritten.“ Deborah konnte sich lebhaft vorstellen, wie schrecklich das alles für Michael gewesen sein mußte. Wo mochte er jetzt wohl sein…? Deborah wurde durch Julian abgelenkt, der sich von den ernsten Mienen der Erwachsenen nicht beeinflussen ließ und jauchzende Laute von sich gab, während er mit seinem Löffel in den Brei schlug, so daß er in alle Richtungen spritzte. Am liebsten hätte sie den fröhlichen kleinen Kerl in den Arm genommen und an sich gedrückt. Wenig später verabschiedete sich Juan Salvador und versprach, seinen Neffen demnächst mit in den Zoo nach Penarth zu nehmen. „Wir beiden Männer werden uns dort bestimmt amüsieren“, sagte er augenzwinkernd zu Julian. Kaum war die Tür hinter Juan ins Schloß gefallen, mußte Deborah erst einmal tief durchatmen, um sich von einem verwirrenden Gefühl zu befreien, das sie in der vergangenen halben Stunde belastet hatte. Es kam ihr allerdings auch so vor, als wehte ein frischer Luftzug durchs Kinderzimmer. „Pauline und Michael haben sich also gestritten“, sagte Deborah leise und mehr zu sich selbst, doch so laut, daß Rose Jones es hören konnte. „Diese Ehe war von Anfang an nicht so, wie es hätte sein sollen“, entgegnete Nanny Rose seufzend. „Die hübsche Pauline mit den gut gewachsenen Beinen stand intellektuell keinesfalls auf derselben Ebene wie Mr. Michael. Körperliche Anziehungskraft sollte eben nicht mit Liebe verwechselt werden.“ „Was ist Liebe?“ fragte Deborah. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß unterschiedliche Erziehung und Lebensumstände zwei Menschen wieder trennen konnten, die gefühlsmäßig aneinander gebunden waren. „Leider kann ich Ihnen diese schwere Frage nicht beantworten“, entgegnete Rose. „Mit sechzehn Jahren habe ich meine Ausbildung begonnen, und da ein Kindermädchen heutzutage die besten Jobs bekommt, wenn es ledig ist, waren die einzigen jungen Männer in meinem Leben in Julians Alter.“ Liebevoll streichelte sie dem Jungen übers Haar. „Die brechen mir nur das Herz, wenn sie ins schulreife Alter kommen.“ „Haben Sie sich denn immer nur um kleine Jungs gekümmert?“
„Als ich mit sechzehn meine Heimat Wales verließ und später einen Job als Kindermädchen erhielt, stellte ich fest, daß ich sehr gut mit kleinen Jungs umgehen konnte.“ „Und Sie haben nie den Wunsch gespürt, sich zu verlieben und zu heiraten?“ wollte Deborah wissen. „Welches junge Mädchen möchte das nicht?“ stellte Rose die Gegenfrage. „Ich habe nur sehr früh begriffen, daß mir mein Beruf mehr Befriedigung bringt, als wenn ich mich frühzeitig an einen jungen Mann binde, der mich vielleicht nur ausnutzt. Drei meiner Schwestern haben dieses Schicksal erlitten. Die Ehe kann ein gewagtes Unternehmen werden, sollte aber nie ein Fehler sein.“ „Es scheint, daß auch Juan Salvador zu den Männern gehört, die einen Fehler diesbezüglich unbedingt vermeiden wollen.“ „Ich glaube auch, daß er vorher genau prüfen wird, welchem Mädchen er einen Ring an den Finger steckt.“ Der leicht verbitterte Ton in Roses Stimme ließ Deborah vermuten, daß sie durch den langjährigen Umgang mit ihrem Schützling auch Einsicht in die privaten Dinge der Familie hatte. „Sie können sicher selbst beurteilen, daß Mr. Juan nicht so leicht zufriedenzustellen ist. Er ist ein stolzer Spanier, und zudem fließt in seinen Adern Zigeunerblut. Die Frau, die er heiratet, kann sich glücklich schätzen, doch sie sollte sich hüten, jemals vom richtigen Weg abzukommen.“ „Sie reden wie eine Weissagerin“, lachte Deborah. „Ich kann wirklich aus Teeblättern die Zukunft vorhersagen, meine Liebe, und wenn Sie gerne wissen möchten, was Sie in kommender Zeit erwartet, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich“, bot Rose freundlich an. „Ich glaube kaum, daß ich auf dieses Angebot zurückgreifen werde. Trotzdem vielen Dank.“ Deborah stand auf und umarmte Julian zum Abschied. Als Antwort legte er seinen Kopf an ihre Brust und blinzelte freundlich zu ihr hoch. „Na, du bist mir ja schon ein richtiger Charmeur – und das in deinem Alter“, meinte Deborah belustigt. „Mit dir als meinem kleinen Freund kann ich der Zukunft wohl beruhigt entgegensehen. Du bist doch mein Freund, nicht wahr, kleiner Mann?“ Julian nickte ernsthaft. Einige Stunden später wurde Deborah in ihrer Arbeit durch einen unwillkommenen Besucher gestört. Es war Stuart Coltan, der ohne anzuklopfen ins Zimmer kam und sich neben ihren Schreibtisch stellte. „Ich bin sehr beschäftigt, Mr. Coltan.“ Deborah schob die Brille auf die Stirn und betrachtete ihn mißbilligend. Dabei mußte sie aber zugeben, daß er aus nächster Entfernung ebensogut aussah wie im Fernsehen. „Selbst am Sonntag? Englische Sekretärinnen sind doch wirklich fleißige Wesen, da sie sich sogar an einem Tag, der zum Faulenzen geschaffen wurde, hinter ihre Schreibmaschine setzen“, meinte er spöttisch. „Macht es Ihnen eigentlich Spaß, ständig auf diesen Tasten herumzuhacken?“ „Es kommt auf die Arbeit an, Mr. Coltan“, entgegnete sie unbeeindruckt, „und das neue Buch von Michael Salvador begeistert mich.“ „Es ist ein Jammer, daß Sie sich nur durch leblose Bücher in Begeisterung versetzen lassen.“ Er musterte Deborah mit seinen blauen Augen. „Dabei sind Sie doch eine sehr attraktive Person – wenn Sie nicht diese fürchterliche Brille tragen würden. Besonders Ihr Haar hat es mir angetan. Die Farbe bezeichnet man wohl als Kastanienbraun, nicht wahr?“ Deborah ließ die Brille wieder auf die Nase rutschen und ordnete einen Stapel Manuskriptseiten. „Ja, ich gehöre zur seltenen Gattung der grauen Mäuse mit kastanienbraunem Fell“, sagte sie so ganz nebenbei, denn sie konnte es sich nicht verkneifen, ihn wissen zu lassen, daß sie neulich seine abfällige Bemerkung gehört hatte. „Bitte, diesen Ausrutscher müssen Sie mir verzeihen.“
Als Stuart sich ein engbeschriebenes Blatt von der Ablage nehmen wollte, schlug ihm Deborah leicht auf die Hand. „Finger weg, sonst berichte ich Mrs. Salvador, daß Sie hier herumschnüffeln“, erkärte sie streng. „Das Buch ist erst bei Erscheinen für die Öffentlichkeit bestimmt.“ Er lachte nur. „Ist es verboten, sich von Ihren Fähigkeiten als Sekretärin zu überzeugen? Vielleicht möchte ich ja auch mal Ihre Dienste in Anspruch nehmen, indem ich Ihnen einen Brief diktiere.“ „Um diesen Gefallen sollten Sie eine von Ihren sicherlich zahlreichen Freundinnen bitten“, schlug Deborah vor. „Dann hat unser berühmter Schriftsteller wohl Exklusivrechte?“ Langsam verlor Deborah die Geduld mit diesem aufdringlichen Menschen und wollte ihm gerade unmißverständlich zu verstehen geben, daß er seine Zeit vergeudete, als er ihr die Brille von der Nase riß und sie sich selbst aufsetzte. „Bitte schreiben Sie an eine gewisse Deborah Hartway, daß ich mir sehr wünsche, demnächst mit ihr essen zu gehen“, sagte er mit verstellter, näselnder Stimme, so daß sich Deborah Mühe geben mußte, nicht zu lachen. „Diesen Brief können Sie sich sparen, Mr. Coltan, denn ich kann Ihnen im voraus sagen, daß die Dame nicht interessiert ist. Sie möchte nur ihre Brille wiederhaben.“ „Das kann ich nicht glauben“, entrüstete er sich. Diesmal war es aber nicht gespielt, stellte Deborah amüsiert fest und freute sich, daß sie ihn in seiner Eitelkeit getroffen hatte. „Mein Erfolgsrekord bei Frauen ist bisher ungebrochen“, setzte er beleidigt hinzu. „Herzlichen Glückwunsch.“ Deborah streckte die Hand aus, um ihre Brille entgegenzunehmen. „Dann können Sie sicher auch mein Rekordbedürfnis verstehen, Einladungen von Schürzenjägern auszuschlagen.“ „Sie halten mich also für einen Schürzenjäger?“ fragte er erstaunt. „Hier haben Sie Ihre Brille zurück, denn ohne sie scheint Ihre Sicht wirklich getrübt zu sein.“ „Mit oder ohne Gläser kann ich in Ihnen wie in einem Buch lesen“, erklärte Deborah. „Und nun seien Sie ein lieber Junge und widmen sich wieder Ihren Spielchen“, forderte sie ihn freundlich auf, „weil ich nämlich zu arbeiten habe.“ Statt zu gehen, steckte Stuart Coltan die Hände in die Hosentaschen und sah sich im Raum um. „Haben Sie keine Angst, daß Sie eines Tages von einem Gespenst heimgesucht werden?“ fragte er lauernd. „Ich glaube, Sie haben in zu vielen Gruselfilmen mitgespielt, oder leiden Sie an übertriebener Einbildungkraft?“ fragte Deborah herausfordernd, obwohl es sie unangenehm berührte, daß er denselben Gedanken wie sie gehabt hatte. „Meinen Sie?“ Er blickte sie spöttisch an. „Ich wette, daß sie bei beginnender Dunkelheit Angst bekommen. Kein Wunder, diese alten Bücher können sogar bei mir eine Gänsehaut hervorrufen. Sie sollten in einer freundlicheren Umgebung arbeiten, Miss Hartway. Wenn Sie sich nämlich weiterhin wie eine graue Maus benehmen, werden die Leute Sie auch dementsprechend behandeln.“ „Danke für den weisen Rat, Mr. Coltan“, erwiderte sie schnippisch. „Ich bevorzuge aber gerade diesen Raum, weil mich hier sehr selten ungebetene Besucher bei meiner Arbeit stören.“ „Habe ich Sie nur bei der Arbeit gestört? Das ist schade. Ich hatte gehofft, auch Ihr Selbstbewußtsein etwas ins Wanken zu bringen.“ „Um das zu schaffen, muß schon ein anderer kommen.“ Deborah ging zur Tür und öffnete sie. „Ihre Freunde warten bestimmt schon auf Sie, Mr. Coltan“, sagte sie mit einer kleinen Verbeugung. „Okay, ich verschwinde schon, aber Sie haben mich bestimmt nicht zum letztenmal gesehen, Darling.“ Beim Vorbeigehen beugte er sich blitzschnell vor
und gab Deborah einen Kuß auf den Mund. Dann schlenderte er pfeifend den Korridor hinunter. Seine Worte, die wie eine Drohung klingen sollten, veranlaßten Deborah nur zu einem amüsierten Lächeln. Stuart Coltan hatte sicher schon eine Menge Herzen gebrochen und sich unbekümmert darüber hinweggesetzt, aber ihr konnte er mit seinem Charme nicht gefährlich werden. Ihr Lächeln verschwand aber, als sie daran dachte, was sie gerade zu Stuart gesagt hatte. „Da muß schon ein anderer kommen.“ Diesem Mann war sie vor einigen Stunden zum zweitenmal begegnet, und zwar diesmal im Kinderzimmer. Ganz überlegen hatte Juan Salvador die Situation gemeistert und keine einzige Andeutung gemacht, daß er Deborah bei der ersten Begegnung nicht so züchtig in Rock und Bluse angetroffen hatte. Sie selbst aber hatte bei seinem Anblick eine bis dahin nie gekannte Schwäche gespürt. Ihre Knie zitterten, und der Mund war wie ausgetrocknet – alles Anzeichen ihrer großen Verwirrung. Deborah atmete tief durch und spannte ein neues Blatt in die Maschine. Dann schaltete sie das Tonbandgerät ein und ließ sich von der klangvollen Stimme Michael Salvadors in die dramatische, bittersüße Romanze seines Helden entführen. Die nächste Unterbrechung erfolgte durch ein freundliches Hausmädchen, das Deborah auf Anweisung des Hausherrn ein Glas Wein und eine Schale mit Käsegebäck brachte. Deborah freute sich über diese Aufmerksamkeit. Sobald das Mädchen gegangen war, trank sie von dem köstlichen Wein, der sicher zu den vielen Sorten gehörte, die im Keller der Salvadors lagerten. Sie hatte den riesigen Weinvorrat zwar besichtigen dürfen, aber bisher war niemand auf die Idee gekommen, ihr etwas davon anzubieten. Nur Juan war so zuvorkommend gewesen, und diese Seite seines Wesens empfand Deborah als sehr angenehm neben den zahlreichen anderen, die sie immer wieder verwirrten. Der Wein versetzte Deborah in eine melancholische Stimmung, und sie dachte mit Wehmut an den Tag ihres Abschieds von Lovelis. Dieser Insel vor der romantischen Küste von Cornwall, dem Land des Zauberers Merlin, dessen Sagen und Legenden noch tief mit der Landschaft und in der Sprache der Bevölkerung verwurzelt waren. In London hatte sich Deborah oft in die Welt der Bücher zurückgezogen. Hier auf Lovelis spürte sie den Pulsschlag des Lebens, wenn sie den gewaltigen Wellen zuschaute oder den Wind auf ihren Wangen fühlte, der über die Gräser und die mit Heidekraut bewachsenen Flächen wehte. Ihre Haut prickelte nach langen Spaziergängen am Strand, den sie bei Ebbe und Flut gleichermaßen faszinierend fand. Für Deborah wäre es das schönste Geschenk gewesen, wenn sie für immer auf Lovelis hätte bleiben können, um als Michael Salvadors Privatsekretärin zu arbeiten. Das Leben in der Großstadt übte keinen Reiz mehr auf sie aus, seitdem sie sich von der zauberhaften Inselatmosphäre einfangen ließ. Doch es führte kein Weg daran vorbei, daß sie eines Tages wieder nach London zurückkehren mußte. Deshalb hielt sie es für ratsam, den Verlauf der kommenden Wochen realistisch zu betrachten. Lovelis durfte nur ein Ort sein, an dem sie die Arbeit mit einem sehr erholsamen, wunderschönen Urlaub verbinden konnte. Deborahs Blick wanderte zum silbernen Tablett mit dem Kristallglas, und plötzlich verspürte sie eine merkwürdige Erregung. War es möglich, daß sie sich die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte? Daß ihr sehnsüchtiger Wunsch, auf der Insel zu bleiben, in enger Verbindung mit dem Mann stand, an den sie seit gestern ununterbrochen denken mußte? „Nein, das darf einfach nicht möglich sein“, sagte sie laut und hämmerte auf die
Tasten der Maschine, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Durch die Enttäuschung mit Mark, ihrer ersten großen Liebe, hatte sie doch den Denkzettel erhalten, Gefühlen zu mißtrauen, die auf körperlicher Anziehungskraft beruhten. Von diesem Mißtrauen konnte sie sich nur bei der Lektüre von Liebesromanen lösen, die aber mit der Wirklichkeit nur wenig zu tun hatten. Deborahs Finger flogen immer schneller über die Tasten der Schreibmaschine, als könne sie dadurch jeden Gedanken an Juan Salvador vertreiben. Aber es kam ihr so vor, als wäre in dem Wein, den er ihr hatte servieren lassen, etwas enthalten gewesen, das sie dauernd an ihn erinnerte. „Nach der Arbeit mache ich als erstes einen ausgedehnten Spaziergang über die Insel, damit mir der Wind diese fixen Ideen vertreibt“, redete Deborah laut vor sich hin, „und ich hoffe, daß ich mich dann nicht mehr wie ein törichtes Schulmädchen benehme…“
4. KAPITEL Dämmerung legte sich über die Landschaft, und ein feiner Nieselregen fiel vom Himmel, als Deborah nach ihrer ausgedehnten Wanderung nach Abbeywitch zurückkehrte. Sie stand gerade in der Diele und schüttelte die Regentropfen aus ihrem langen, vom Wind zerzausten Haar, das sie offen getragen hatte, da schreckte sie zusammen, weil jemand sie ansprach. „Buenas tardes, Senorita!“ Rasch drehte sich Deborah um und wußte nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte, als sie statt des erwarteten Juan Salvador nur Stuart Coltan am Fuß der Treppe stehen sah. Er grinste Deborah schadenfroh an. „Mein Bluff ist gelungen, nicht wahr? Sie dachten, ich sei der allmächtige Don Juan!“ „Guten Abend, Mr. Coltan“, sagte Deborah kühl und wollte an ihm vorbeigehen. Doch er erwischte sie am Ärmel ihres Pullovers. „Nicht so eilig, Süße. Haben Sie vergessen, daß ich hinter Ihnen her bin? Ich fasse Sie zum Beispiel gern an.“ Er streichelte über Deborahs Arm. „Fühlt sich toll an, dieses flauschige Gewebe. Wie nennt man das noch?“ „Angorawolle“, antwortete Deborah und schüttelte seine Hand ab. „Lassen Sie diese albernen Spielchen, Mr. Coltan. Ich sagte Ihnen bereits, daß ich nicht interessiert bin.“ „Mag sein, daß Sie so etwas erwähnten, doch das war während Ihrer Arbeitszeit. Jetzt ist Feierabend, Kleines, die Zeit der Entspannung.“ „Ich weiß auch schon, wie ich mich entspannen werde“, erwiderte Deborah schroff. „Auf jeden Fall nicht mit Ihnen, denn ich möchte unter keinen Umständen meinen Job verlieren, nur weil ich mit Ihnen gesehen werde. Wir wissen beide, daß Sandra Salvador ganz und gar nicht damit einverstanden wäre.“ „Was geht es die Tochter des Hauses an, wenn ich mich ein bißchen unterhalte mit einer – Klassefrau, wie Sie es sind.“ Seine blauen Augen funkelten spöttisch. „Sandra ist mindestens zehn Jahre älter als ich.“ „Sie lassen sich doch durch einen Altersunterschied nicht abschrecken, Mr. Coltan. Hauptsache ist, daß die Frau attraktiv aussieht. Habe ich recht?“ „Stimmt genau, und deshalb bemühe ich mich ja auch so um Sie, Schätzchen.“ Blitzschnell umfaßte er Deborahs Taille und zog sie an sich. „Morgen wird für den Hausherrn eine Willkommensparty veranstaltet, und ich möchte gern mit Ihnen diesen Abend verbringen“, flüsterte er Deborah ins Ohr. „Sie sollten sich auch mal ein bißchen vergnügen, sonst werden Sie noch eine verknöcherte alte Jungfer.“ „Welch grausiges Schicksal“, spottete Deborah und legte beide Hände auf Stuarts Brust, um ihn zurückzustoßen. Ihr Versuch scheiterte. „Bitte, lassen Sie mich los, Mr. Coltan“, meinte sie unbeeindruckt. „Haben Sie etwa Angst vor Männern?“ „Jemand wie Sie kann mir keine Angst einjagen.“ „Nein? El Salvador vielleicht?“ Unwillkürlich empfand sie eine seltsame Erregung bei der Erwähnung von Juans Namen. „Sie sollten dafür sorgen, daß er Sie nicht hört, wenn Sie so abfällig über ihn reden“, flüsterte Deborah. El war die Abkürzung für Eloah und bedeutete auf hebräisch „gottähnliches Wesen.“ „Sie zittern ja regelrecht vor Respekt“, erwiderte Stuart lachend. Gleich darauf sah er Deborah jedoch ernst an. „Entspannen Sie sich, Mädchen. Dieser Mann nimmt noch nicht einmal wahr, daß es Sie überhaupt gibt. Da müßten Sie schon die Tochter von Morton Chandler sein, der ein großes Tier hier in Cornwall ist.
Diese Dame wird der Hausherr morgen abend gewiß wieder wie ein eitler Pfau umwerben.“ „Ist ihr Vorname Sharon?“ fragte Deborah, denn sie erinnerte sich, daß Lenora Salvador von Sharon Chandler gesprochen hatte. „Genau die meine ich.“ „Ich dachte, sie wäre Michael Salvadors Freundin gewesen, bevor er Pauline heiratete?“ „Mag sein. Jetzt hat sie ein Auge auf seinen Halbbruder geworfen, und es ist kein Geheimnis, daß die Salvadors sie gern in ihre Familie aufgenommen hätten. Miss Chandler besitzt dafür die drei nötigen Voraussetzungen: ein hübsches Gesicht, Geld und eine gute Erziehung. Ich warne Sie, Deborah, geben Sie sich keinen Illusionen hin. Sie und ich amüsieren diese Leute vielleicht, aber wir passen nicht in ihren gesellschaftlichen Rahmen – ebensowenig wie Pauline.“ „Haben Sie Michaels Frau gekannt?“ erkundigte sich Deborah. „Flüchtig“, antwortete Stuart. „Sie tanzte als Mitglied des Fernsehballetts in einigen Shows, in denen auch ich auftrat. Pauline war ein ehrgeiziger Emporkömmling, doch ihr fehlte die Skrupellosigkeit, die gewisse Personen der Familie Salvador kennzeichnet. Mir brauchen Sie doch nicht vorzumachen, daß Ihnen diese Eigenschaft bei El Juan nicht aufgefallen ist.“ „Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, erwiderte Deborah verwirrt, denn sie wollte vor Stuart nicht zugeben, daß Juan bei ihrer ersten Begegnung am Strand nicht gerade Feinfühligkeit bewiesen hatte. „Wir beide sind, wie gesagt, amüsante Außenseiter, was jedoch nicht bedeuten muß, daß wir uns deshalb unterwürfig benehmen“, fuhr Stuart fort. „Was halten Sie also davon, mir morgen auf der Party Gesellschaft zu leisten?“ Deborah zögerte mit ihrer Antwort, obwohl es sie reizte, sich wieder einmal hübsch anzuziehen und unter Menschen zu gehen, anstatt sich zu verkriechen und nur darauf zu achten, daß sie niemanden störte. „Ich bin nicht eingeladen worden, und es war nie meine Art, mich aufzudrängen, wenn ich unerwünscht bin“, erklärte sie Stuart. „Ich lade Sie ein. Falls Sandra Einwände hat, werde ich schon mit ihr fertig“, erklärte er großspurig. „Sie ist nämlich gar nicht so überlegen, wie sie immer tut. Außerdem wurde ihr vom Team die Aufgabe zugewiesen, sich um den Theaterproduzenten zu kümmern, der wie eine sehr wichtige Persönlichkeit behandelt werden muß, damit er die Gelder für das Stück rausrückt“, setzte er hämisch lächelnd hinzu. „Wie stehen Sie eigentlich zu Sandra?“ Deborah war noch unschlüssig, ob sie Stuarts Einladung annehmen sollte. „Außerdem wird sie wütend sein, weil sie glaubt, daß ich mich an Sie heranmache.“ „Sie wollen wissen, wie ich zu Sandra stehe? – Ich flirte mit ihr, weil ich ehrgeizig bin und sie die richtigen Beziehungen in gewissen Kreisen hat. Ansonsten übt eine dürre Kettenraucherin keinen Reiz auf mich aus – im Gegensatz zu Ihnen.“ Er lockerte seinen Griff ein wenig, ohne Deborah loszulassen, und musterte sie mit unverhüllter Bewunderung. „Sie haben die richtigen Kurven und die passende Größe für mich, da Sie mir knapp über die Schulter reichen. Wetten, daß wir ein ideales Paar beim Tanzen abgeben? Tanzen Sie eigentlich gern, Süße?“ „Sehr gern sogar“, gestand Deborah spontan. „Allerdings kann ich nur die Standardtänze.“ Das war Stuart nur recht, denn er hielt auch nicht viel von dem „albernen Discogehopse“, wie er sich geringschätzig ausdrückte. Dann überrumpelte er Deborah erneut, indem er mit ihr durch die weitläufige Halle tanzte. Anfangs ließ sich Deborah von seiner Begeisterung mitreißen, bis sie mit
Schrecken bemerkte, daß sie von Juan Salvador beobachtet wurden. Leise mahnte sie Stuart, sofort aufzuhören. „Warum denn? Eine so anpassungsfähige Partnerin habe ich selten erlebt.“ Unbeeindruckt machte er weiter, mußte aber nach ein paar schwungvollen Drehungen zwangsläufig den Tanz beenden, weil Deborah vor lauter Verwirrung über seine Füße gestolpert war. Genau vor Juan blieben sie stehen. „Wir üben für morgen abend“, erklärte Stuart. „Da diese schwer arbeitende junge Dame keine Einladung erhalten hat, habe ich mir erlaubt, das Versäumte nachzuholen.“ Dabei zog er Deborah ganz nah zu sich heran. „Ich wußte nicht, daß man Sie übergangen hat, Miss Hartway.“ Juans dunkle Augen ruhten auf ihrem erhitzten Gesicht. „Soweit ich Sandra verstanden habe, wurden alle jungen Leute aufgefordert, an dieser Party teilzunehmen.“ „Das ist wirklich nicht schlimm“, versicherte Deborah und befreite sich durch eine geschickte Bewegung aus Stuarts enger Umarmung. „Ich hatte gar nicht erwartet, eingeladen zu werden, Senor, und habe darum auch Mr. Coltans Albernheit nicht ernst genommen.“ „Nein? Sie tanzen aber hervorragend zusammen.“ „Nett, daß Sie das sagen“, erwiderte Stuart unfreundlich. „Deborah ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die meines Erachtens ihre Zeit in diesem düsteren Geisterzimmer vergeudet, in dem sie ständig auf der Schreibmaschine tippen muß. Aber vermutlich hat es die Salvadors noch nie interessiert, unter welchen Bedingungen ihre Angestellten arbeiten müssen.“ „Das ist eine unverschämte und anmaßende Bemerkung“, tadelte ihn Juan. „Außerdem habe ich den Eindruck, daß Miss Hartway nur unter einem gewissen Zwang zugestimmt hat, Sie auf die Party zu begleiten.“ Er wandte sich Deborah zu und fragte eindringlich: „Hat dieser junge Mann versucht, Sie gegen Ihren Willen zu überreden?“ „Nein, das heißt, ich bin mir nicht ganz sicher“, antwortete Deborah zögernd. „Sie müssen doch wissen, ob Sie eine Begleitung wünschen oder nicht?“ Diese Fragen verwirrten Deborah. „Natürlich weiß ich das, Mr. Salvador. Da mich diese Angelegenheit jedoch ganz allein betrifft, werde ich auch selbst meine Entscheidung treffen.“ „Und wie fällt die aus?“ drängte Juan. „Gönnen Sie diesem Mädchen, das sogar am Sonntag arbeitet, doch ein wenig Spaß“, schaltete sich Stuart ein. „Spaß mit Ihnen, Mr. Coltan?“ fragte Juan. „Das wäre sehr unklug von Miss Hartway.“ „Du liebe Zeit! Sie reden über mich, als könnte man mir nicht vertrauen“, beschwerte sich Stuart. „Ist das so abwegig? Wenn Miss Hartway natürlich auf Ihre Begleitung besonderen Wert legt, habe ich nichts dagegen einzuwenden. Sollten Sie aber Miss Hartway zu nahe treten, muß ich Sie warnen, Mr. Coltan. Ich werde Sie nicht aus den Augen lassen.“ „Was bilden Sie sich eigentlich ein?“ antwortete Stuart ärgerlich, „Deborah kann ihre Freizeit gestalten, wie sie es möchte.“ „Solange Miss Hartway in meinem Haus arbeitet, fühle ich mich für sie verantwortlich. Und ihr Aufenthalt in Abbeywitch ist nicht dazu da, dem Freund meiner Schwester Spaß zu bereiten, um Ihren Ausdruck zu gebrauchen, Mr. Coltan.“ Juan betonte jedes Wort. „Ihre Arroganz ist unausstehlich“, erwiderte Stuart wütend. „Wir sind hier nicht in Spanien, wo man mit dem Mädchen nur von weitem flirten darf.“
„Sehr richtig.“ Juan betrachtete eindringlich Deborahs Gesicht, bevor sein Blick über ihr Haar glitt, das vom Regen noch feucht war und kastanienbraun glänzte. „Ich wage sogar zu behaupten, daß Miss Hartway wohl recht wenig Erfahrung mit Männern besitzt. Das würden Sie, Mr. Coltan, bestimmt ausnutzen.“ „Da befinde ich mich ja dann in guter Gesellschaft“, meinte Stuart gehässig. „Würden Sie mir bitte genau erklären, was Sie damit sagen wollen?“ forderte Juan ihn auf. Deborah ließ Stuart erst gar nicht zu Wort kommen, denn sie war es leid, Spielball zweier Kampfhähne zu sein. „Da ich sehr gut auf mich selbst aufpassen kann, ist es völlig unnötig, daß Sie sich streiten“, unterbrach sie die Diskussion der beiden Männer. „Ich wurde von Miss Salvador nicht zur Party eingeladen und werde darum auf keinen Fall daran teilnehmen.“ „Aber Sie haben es mir doch versprochen“, beklagte sich Stuart. „Gar nichts habe ich versprochen, und das wissen Sie genau. Außerdem wäre ich auf dieser Party fehl am Platz.“ „Was soll das heißen?“ fragte Juan. „Sie haben es selbst deutlich genug ausgedrückt, Senor“, entgegnete Deborah so ruhig wie möglich. „Ich bin Angestellte in diesem Haus und nicht Gast wie Mr. Coltan. Morgen abend wird mir ein Buch aus Ihrer Bibliothek Gesellschaft leisten – und damit bin ich sehr zufrieden.“ „Bücher, immer nur Bücher!“ rief Stuart. „Wenn Sie sich weiterhin überwiegend mit Büchern beschäftigen, werden Sie Ihre unansehnliche Brille ständig tragen müssen.“ „So schütze ich mich wirksam vor aufdringlichen Männern“, erklärte Deborah unbeeindruckt. „Sie werden natürlich an der Party teilnehmen, Miss Hartway“, entschied Juan in der für ihn typischen Art, die keinen Widerspruch duldete. „Diese Frage stand nie zur Diskussion. Ich habe Mr. Coltan lediglich daran erinnern wollen, daß ich meine Pflichten als Hausherr durchaus kenne und dafür sorgen werde, daß Ihnen nichts geschieht. Für mich ist das Ehrensache.“ „Hören Sie eigentlich nie auf, sich selbst in den Vordergrund zu spielen?“ Theatralisch schlug Stuart die Hände über dem Kopf zusammen. „Sandra hat ganz recht, Sie mit Ihrem unberechenbaren Vorfahren zu vergleichen, der peitscheschwingend für Recht und Ordnung sorgte.“ Er wies auf das Porträt in der Halle und lächelte hämisch. „Ich wette mit Ihnen, daß auch Sie sich manchmal, genauso wie dieser Tyrann da auf dem Bild, nicht an die Gesetze halten.“ „Ich treffe nur Regelungen, die für alle in Abbeywitch notwendig sind“, erklärte Juan mit unbewegtem Gesicht, „und wenn Sie sich nicht danach richten wollen, können Sie dieses Haus auf der Stelle verlassen, Mr. Coltan. Pronto!“ „Stuart bleibt!“ Der Ausruf kam von Sandra, die unbemerkt von den anderen die Halle betreten hatte. Zwischen den Fingern hielt sie die unvermeidliche Zigarette. „Zufällig ist Stuart mein Gast, Juan. Also steig von deinem hohen Roß herunter und informiere mich, was er Schlimmes getan hat, daß du dich zu solchen Worten hinreißen läßt.“ „Dein Halbbruder denkt, daß ich eine kleine Stenotypistin verführen will“, meinte Stuart beleidigend. „Dabei habe ich nur ganz bescheiden bei ihr angefragt, ob sie mich morgen abend auf die Party begleiten möchte.“ „Dich auf die Party begleiten?“ wiederholte Sandra mit drohendem Tonfall. „Bitte, nicht noch mehr Vorwürfe“, stöhnte Stuart. „Jemand muß mir doch Gesellschaft leisten, während du dich um unseren Produzenten kümmerst“, fügte
er trotzig hinzu. „Und was sagen Sie zu alldem, Miss Hartway?“ erkundigte sich Sandra, während sie Deborah böse Blicke zuwarf. „Meiner Meinung nach hat sich Mr. Coltan auf meine Kosten einen üblen Scherz erlaubt“, antwortete sie, fügte aber dann doch noch hinzu, daß sie nur auf Partys ginge, wenn sie eingeladen wäre. „Ich habe Sie eingeladen, Miss Hartway, und damit ist die Sache wohl erledigt – oder?“ Dabei blickte Juan herausfordernd in die Runde. „Ja – natürlich“, meinte Deborah beschwichtigend, und sie war froh, daß damit das Streitgespräch ein Ende fand. Nach einigen entschuldigenden Worten verließ sie schnell die Halle. Julian kreischte vor Vergnügen, als Deborah ins Kinderzimmer kam, wo Rose Jones ihren kleinen Schützling gerade badete. Zur Begrüßung warf er Deborah ein mit Wasser gefülltes Plastikboot zu, das sie nicht auffangen konnte und neben ihren Schuhen auf den Boden landete. Das Wasser spritzte gegen Deborahs Hosenbeine. „Jetzt wissen Sie, weshalb ich mir dieses Monstrum umbinde,“ sagte Nanny Rose schmunzelnd und zeigte auf die Schürze aus Plastik, dabei reichte sie Deborah ein Tuch zum Abtrocknen. „Ihre Hände zittern ja“, bemerkte Rose erstaunt. „Was ist los mit Ihnen?“ „Daran ist Juan Salvador schuld! Ich kann mich einfach nicht an seine herrische Art gewöhnen.“ „Soso. – Wie wäre es mit einer Tasse Tee zur Beruhigung?“ „Eine wunderbare Idee, Nanny Rose“, stimmte Deborah zu. Bevor Rose ins Nebenzimmer ging, um den Wasserkessel aufzusetzen, drohte sie Julian lächelnd mit dem Finger. „Deine Boote bleiben in der Badewanne, junger Mann, sonst haben wir hier gleich eine Überschwemmung.“ Deborah folgte dem Kindermädchen und setzte sich in den Schaukelstuhl am Fenster. Eine Weile war nur Julians übermütiges Gelächter aus dem Bad zu hören. „Es tut mir wirklich leid, daß Mr. Juan Ihnen dermaßen auf die Nerven geht“, sagte Rose dann. „Im allgemeinen ist er nämlich gar nicht so übel.“ Sie hatte inzwischen den Tee zubereitet und schenkte Deborah und sich selbst eine Tasse ein. „Mr. Juan gehört zu der Sorte Männer, deren Worte und Taten immer etwas Besonderes darstellen“, fuhr Rose schwärmerisch fort. „Was hat er also getan, um Sie so in Erregung zu versetzen, Deborah? Oder wollen Sie nicht darüber reden?“ „Im Gegenteil, Nanny, denn ich bin ziemlich ratlos.“ Deborah erzählte der Reihe nach, was sich in der Halle abgespielt hatte. Besonders empört berichtete sie, daß sie von Juan wie ein unerfahrenes Schulmädchen behandelt worden war. Außerdem schien es ihm ein besonderes Vergnügen bereitet zu haben, Stuart Coltan zur Weißglut zu bringen. „Sie haben sich doch wohl nicht in diesen amerikanischen Schauspieler verliebt?“ fragte Rose besorgt. „Er sieht für meinen Geschmack etwas zu gut aus. Vor allem hält er sich für unwiderstehlich. Gelegentlich taucht er auch hier im Kinderzimmer auf, um mir schöne Augen zu machen.“ „Vielleicht besucht er ja auch Julian“, meinte Deborah nachdenklich, „obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß er sich für einen knapp einjährigen kleinen Jungen interessiert.“ „Ich habe mit den Jahren gelernt, daß vieles, was die Menschen tun, sehr oft unerklärlich bleibt“, meinte Nanny. Sie stand auf, holte Julian aus dem Badezimmer und kam zurück, um den heftig strampelnden Jungen abzutrocknen.
Ein wirklich hübsches Kind, dachte Deborah, während sie Julian eingehend betrachtete. Die dichten schwarzen Haare und Wimpern hatte er von den Salvadors, die strahlend blauen Augen dagegen erinnerten sie an die von Stuart Coltan. „Was ist Michael Salyador eigentlich für ein Mensch?“ fragte sie Rose. „Äußerlich ähnelt er seiner Mutter, ist aber im Wesen viel umgänglicher und gutmütiger als die alte Dame. Fast zu gutmütig für eine Frau wie Pauline, der es leichtfiel, zum Beispiel eine einfache Mahlzeit rundweg abzulehnen und sie gegen Champagner und Kaviar einzutauschen.“ „War Pauline wirklich so?“ fragte Deborah enttäuscht. Demnach hatte Lenora wohl doch recht, wenn sie der mittellosen Tänzerin unterstellte, daß sie es nur auf das Geld und den gesellschaftlichen Status ihres Sohnes abgesehen hatte. Ebenso zerbrach Deborahs romantische Vorstellung, daß die Ehe von Pauline und Michael Salvador eine jener berauschenden Liebesaffären war, die tragisch enden mußten, weil es das Schicksal so bestimmt hatte. „Ich muß mich wohl daran gewöhnen, daß sich die Menschen in Wirklichkeit völlig anders verhalten als in meinen Büchern“, mußte Deborah kleinlaut zugeben. „Sie sollten aber auch nicht zu den Frauen gehören, die in Panik geraten, wenn sie der wahren Liebe begegnen, und sich statt dessen eher für die Karriere als für eine Familie entscheiden.“ Roses Antwort überraschte Deborah. „Dann bedauern Sie also, daß Sie nicht geheiratet haben?“ erkundigte sich Deborah vorsichtig. „Hin und wieder gehen meine Gedanken in diese Richtung“, gestand die freundliche Erzieherin, in deren Gesellschaft Deborah sich so gut entspannen konnte. Als Deborah wenig später in ihrem Zimmer stand, kam die Unruhe zurück. Tagsüber waren so viele Dinge geschehen, die sie noch gar nicht richtig verarbeitet hatte. Sie hängte sich eine Strickjacke über die Schultern und ging auf die Terrasse hinaus, um an der frischen Luft ihre wirren Gedanken vor dem Schlafengehen noch ein wenig zu ordnen. Es hatte aufgehört zu regnen. Unzählige Sterne blinkten am klaren tiefschwarzen Himmel und verwandelten das Meer in eine silbrig glänzende Fläche. In den vergangenen Nächten hatte dieser Anblick Deborah immer ruhig und glücklich gemacht; jetzt wurde aber diese friedliche Szene durch das Bild eines großen breitschultrigen Mannes gestört, das sich einfach nicht verdrängen ließ. Deborah selbst fand es unmöglich, daß Juan Salvador in dieser Weise ihre Gedanken beherrschte. Er sah in ihr bestimmt nicht mehr als die Sekretärin seines Bruders, und spätestens nach der Rückkehr in seine Heimat Spanien würde er vergessen haben, daß es sie überhaupt gab. Juan ahnte ja noch nicht einmal, welche Verwirrung er mit seiner Einladung zu der Party gestiftet hatte. Jeder andere hätte sie wahrscheinlich ohne weiteres angenommen und sich einfach über die Tatsache hinweggesetzt, daß sie aus lauter Höflichkeit ausgesprochen wurde. Warum gelang ihr das nicht? Nach einer Weile wurde es Deborah draußen doch zu kühl. Sie ging ins Zimmer zurück und zog die Vorhänge zu. Dabei fiel ihr Blick auf den Roman, der auf dem Nachttisch lag. Sie hatte ihn, bevor sie ihren langen Spaziergang machte, aus der Bibliothek geholt, um sich vor dem Einschlafen etwas zu entspannen. Sie war aber keineswegs davon überzeugt, daß es ihr gelingen würde. Wenig später saß Deborah in seidigem Neglige vor dem Spiegel und bürstete ihr Haar, als jemand an der Tür klopfte. Das war keineswegs ungewöhnlich, denn auch zu dieser späten Stunde kam Rose manchmal noch zu einem kleinen Schwatz vorbei. Als Deborah zur Tür ging und sie öffnete, blieb sie wie angewurzelt stehen. Der
Hausherr persönlich stand auf der Schwelle. Das burgunderfarbene Samtjackett verlieh ihm ein vornehmes Aussehen. In der rechten Hand hielt er eine schmale Zigarre, von der ein angenehmer Duft aufstieg. Deborah konnte ihre Verwirrung nur schwer verbergen. „Was wünschen Sie, Senor?“ fragte sie nervös. „Ich war gerade dabei, ins Bett zu gehen.“ „Ich will mich auch nicht lange aufhalten, Miss Hartway“, entgegnete er ruhig. Dabei verweilte sein Blick einen Moment auf dem tiefen Ausschnitt ihres Nachtgewandes. „Ich hatte vorhin den Eindruck, daß Sie sich keineswegs klar darüber waren, ob Sie meine Einladung annehmen sollten. Deshalb wiederhole ich sie. Ich rechne unbedingt mit Ihrem Erscheinen und wäre sehr ungehalten, wenn Sie dem Fest fernblieben.“ „Das, was Sie eine Einladung nennen, klingt eher wie ein Befehl.“ Deborah rettete sich in eine Trotzhaltung, um Juan nicht zu zeigen, wie sehr er ihre Gedanken durcheinanderbrachte. „Sie fühlen sich verpflichtet, mir zu beweisen, daß ich aus Versehen nicht auf die Gästeliste gesetzt wurde, obwohl wir beide wissen, daß Ihre Schwester mit voller Absicht gehandelt hat. Aber das alles ist ja auch völlig unwichtig, da ich ohnehin kaum in der Stimmung sein werde, mich zu amüsieren.“ „Bringt Sie die Aussicht, mit Stuart Coltan zu tanzen, etwa nicht in Stimmung?“ fragte Juan erstaunt. „Ich nahm an, daß sich ihm die Frauen in diesem Haus bedingungslos ergeben“, setzte er ironisch hinzu. „Ich ergebe mich nie, vor allem nicht bedingungslos“, antwortete Deborah gereizt. „Sie scheinen mich falsch einzuschätzen, Senor Salvador. Schon seit einigen Jahren stehe ich auf eigenen Füßen, auch wenn Sie mich nur zu gern wie ein Schulmädchen behandeln. Zum Glück bin ich jedoch in der Lage, auf mich aufzupassen und meine eigenen Entscheidungen zu treffen.“ „Und da haben Sie also entschieden, meine Einladung zu mißachten?“ Er zog an seiner Zigarre und beobachtete Deborah durch die Rauchwolken hindurch, so daß sie den Ausdruck in seinen Augen schlecht deuten konnte. War er ärgerlich oder nur belustigt über ihre Worte? „Das ist eine unpassende Formulierung, Senor“, sagte Deborah leise und wiederholte, daß sie durchaus Verständnis für Sandras Handlungsweise hätte. Außerdem wäre sie, Deborah, kein Gast, sondern nur Angestellte in Abbeywitch. „Dies erklärten Sie mir bereits heute nachmittag“, erwiderte Juan kurzangebunden. Dann blickte er über ihre Schulter hinweg in das Zimmer. „Wie ich sehe, hat man Ihnen einen gemütlichen Raum zugewiesen, was man von Ihrem Arbeitszimmer nicht gerade behaupten kann. Es ist vielleicht etwas zu abgelegen.“ „Gerade das finde ich ja so ideal. Ich kann mich konzentrieren und werde nicht gestört.“ „Auch nicht von Stuart Coltan?“ „Nein! Das heißt, heute vormittag ist er wohl aus reiner Neugier vorbeigekommen.“ „Der junge Mann scheint mir etwas zu neugierig zu sein.“ Juans Stimme bekam einen drohenden Klang. „Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn er aufdringlich wird und Sie belästigt.“ „Nein“, antwortete Deborah. „Nein?“ Juan winkte ärgerlich ab. „Als Hausherr habe ich das Recht, davon in Kenntnis gesetzt zu werden.“ „Sie haben das Recht, Senor?“ fragte Deborah ungläubig. „Ja, Miss Hartway, ich fühle mich für die Menschen, die unter meinem Dach leben, verantwortlich. Höflichkeit und Gastfreundschaft gehören zu den Gesetzen
unserer Familie. So habe ich es von meiner Mutter gelernt. Denn ich bin von Geburt Spanier und in Spanien aufgewachsen. Als sich meine Eltern trennten, heiratete mein Vater zum zweitenmal.“ Er machte eine kleine Pause. „Michael und Sandra wurden dann hier geboren und Sie wundern sich wahrscheinlich, daß Abbeywitch mir gehört“, fuhr er mit wesentlich sanfterer Stimme fort. Deborah nickte. Es interessierte sie nämlich sehr, mehr über diesen äußerst selbstbewußten Mann zu erfahren, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen und selbstverständlich auch erwartete, daß sie befolgt wurden. „Mein Vater hat sich nach der Scheidung meiner Eltern nicht mehr um mich gekümmert, so als wolle er mich für das Scheitern seiner Ehe verantwortlich machen“, sprach Juan nach einer Weile weiter. „Mir hat das wenig ausgemacht, denn ich bin nicht so leicht zu verletzen. Nur meine Mutter hat sehr durch sein Verhalten gelitten. Nach dem Tod meines Vaters erbte ich als sein ältester Sohn Abbeywitch und die Insel – sehr zum Leidwesen Lenoras. Ich hätte sie und ihre Kinder zwingen können, von hier wegzugehen, um mich für den Kummer meiner Mutter zu rächen, doch das hielt ich für unangebracht. Außerdem ist das Haus groß genug für uns alle.“ Der Zigarrenrauch hatte sich verzogen, und Deborah entdeckte ein schwaches Lächeln auf Juans Gesicht, während er ihr Haar betrachtete, das im Licht der Flurbeleuchtung glänzte. „Die Farbe erinnert mich an einen Nachtfalter, den ich schon oft in den Gärten bei meiner Villa in Spanien beobachtet habe“, sagte Juan nachdenklich. „Wenn er sich auf eine der leuchtenden Blüten der Bougainvillea setzt, sieht er so zerbrechlich aus, als könne man ihn durch bloßes Berühren mit einem Finger zerquetschen. Das Beobachten der Natur gehört zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, Miss Hartway. Dafür opfere ich viel meiner freien Zeit. Ansonsten…“ Er brach ab und verzog spöttisch seinen Mund. „Sie haben sich doch bestimmt schon mal gefragt, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene – oder halten Sie mich für einen reichen, untätigen Playboy?“ „Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie jemals untätig sein könnten“, antwortete Deborah leicht verwirrt. Juan nickte zustimmend. „Ich bin so etwas wie ein wirtschaftlicher Ratgeber, ein ,padrino’, wie wir Spanier sagen. Im Vergleich zu dem Beruf oder besser ausgedrückt, der Berufung meines Bruders, kommt Ihnen diese Beschäftigung sicher sehr langweilig vor.“ „Sie ist anders“, entgegnete Deborah und lächelte Juan an. Dieser Augenblick war so erregend und zauberhaft, daß sie große Mühe hatte, ihre Gefühle nicht offen zu zeigen. Auf keinen Fall darf er merken, welche Macht er über mich hat, dachte sie verzweifelt, während sie versuchte, wieder kühl und beherrscht zu wirken. „Es wird Zeit, daß ich in mein Bett komme, Senor Salvador“, meinte Deborah leise. „Unser Gespräch hat sich wider Erwarten in die Länge gezogen, Miss Hartway, und dafür möchte ich mich entschuldigen. Ich sehe Sie also morgen um acht Uhr im Ballsaal.“ „Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, Senor.“ „Es gibt Dinge, die ich unter allen Umständen durchsetzen möchte“, erwiderte Juan, bevor er eine kurze Verbeugung andeutete und sich mit „Buenas noches, Senorita“ verabschiedete. Das Meeresrauschen hatte in dieser Nacht keine einschläfernde Wirkung auf Deborah. Noch lange lag sie wach, und ihre Gedanken kreisten nur um eine Frage: Welche Mittel standen ihr zur Verfügung, um sich dem immer stärker werdenden Einfluß Juan Salvadors zu entziehen? Um einen gewissen Abstand herzustellen, hatte sie stets die förmliche Anrede Senor gewählt, was jedoch wenig geholfen hatte. Denn Deborah entwickelte Gefühle für ihn, die in ihren
Büchern als „Liebe“ bezeichnet wurden. Obwohl sie darin wirklich wenig Erfahrung aufweisen konnte, verspürte sie ein nicht zu erklärendes Unbehagen. Deborah vergrub das Gesicht in ihr Kissen. Sie versuchte, Juans stolze Gesichtszüge und seine manchmal so sanft klingende Stimme zu vergessen. Es war zwecklos. Immer wieder glaubte sie, seine Worte zu hören. Nachtfalter hatte er sie genannt. Ich muß äußerst vorsichtig sein, dachte Deborah, damit ich mich nicht wie ein Nachtfalter an der hellen Flamme verbrenne…
5. KAPITEL Am Abend des nächsten Tages fegte ein gewaltiger Sturm über die Insel Lovelis hinweg. Deborah stand in ihrem weißen Kleid am Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus. Nur wenn die schnell dahintreibenden Wolken den Mond für kurze Zeit freigaben, konnte sie das aufgewühlte Meer erkennen. Deborah hatte den Eindruck, als wollten die tosenden Elemente eine Party in Abbeywitch verhindern – die erste nach dem Tod von Michael Salvadors junger Frau. Aus dem großen Salon im Erdgeschoß, der als Ballsaal diente, schallte bereits laute Musik bis zu Deborah hinauf. Die flotten Rhythmen vermischten sich mit dem heulenden Sturm zu einem unwirklich klingenden Geräusch. Es entstand dadurch eine gespenstische, beängstigende Atmosphäre. Deborah mußte plötzlich an Pauline denken, die so gern getanzt hatte, und die viel zu jung gewesen war, um schon zu sterben. Die Einzelheiten ihres rätselhaften Todes kamen Deborah wieder in den Sinn, und sie war auf einmal traurig und niedergeschlagen, obwohl sie doch gerade zu einem fröhlichen Fest gehen wollte. Ein letztes Mal betrachtete sich Deborah im Spiegel. An ihrem Aussehen gab es nichts auszusetzen. Das trägerlose, raffiniert geschnittene Kleid aus weißem Organza betonte ihre zierliche Figur genau an den richtigen Stellen und bildete einen schönen Kontrast zu ihrem kastanienbraunen Haar, das sie aufgesteckt hatte. Um den schlanken Hals trug sie das einzige wertvolle Schmuckstück, das sie besaß. Eine echte Perle in Form einer großen Träne, die an einer schlichten silbernen Kette hing. Ihr Vater hatte sie in der Zeit, als er Botschaftssekretär in Tokio war, einem japanischen Perlenfischer abgekauft. Deborah hatte bisher kaum Gelegenheit gehabt, diesen kostbaren Anhänger zu tragen, wenn sie von der bevorstehenden Party einmal absah, an der sie eigentlich nur widerstrebend teilnahm. Aber sie mußte dort unbedingt erscheinen, denn Juan Salvador würde sie nicht nur für unhöflich halten, sondern wohl auch sehr verärgert sein. Deborah hatte vor, sich heimlich unter die Gäste zu mischen, um Juans Aufmerksamkeit nicht zu erregen. Daraus wurde jedoch nichts, denn vor ihrer Zimmertür stieß Deborah fast mit Stuart Coltan zusammen, der sie in den Festsaal begleiten wollte. Jeder andere Mann hätte in dem weißen Seidenanzug und dem grellrosa Hemd unmöglich ausgesehen, doch dem Amerikaner stand beides phantastisch. „Du liebe Zeit, Sie sehen aus, als wollten Sie die Bewunderung aller Frauen auf dieser Party erringen“, stelle Deborah lächelnd fest. „Schön, daß Sie meinen Aufzug gut finden“, freute er sich, während er sie mit seinen blauen Augen eingehend musterte. „Reizend, wirklich reizend sehen Sie aus“, meinte er dann anerkennend. „Ich hatte schon befürchtet, Sie hier mit Ihrer komischen Brille und der strengen Frisur anzutreffen.“ „Und ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, Ihnen diesen Gefallen zu tun, Mr. Coltan“, erwiderte Deborah herausfordernd, weil es tatsächlich der Wahrheit entsprach. Doch warum sollte sie Sandra und ihren Freunden eigentlich nicht zeigen, daß auch eine graue Maus attraktiv sein konnte? Nein, Deborah brauchte sich wirklich nicht zu schämen. Sie hatte eine aufregende Figur, schönes Haar und einen makellosen Teint. Wenn ihre Eltern sie jetzt hätten sehen können, wären sie stolz auf ihre hübsche Tochter gewesen. Äußerst selbstbewußt ging Deborah neben Stuart her, während er sich bei ihr beklagte, daß sie ihn noch immer nicht beim Vornamen nannte. „Wir sind doch so ein ideales Gespann und haben zumindest gemeinsam, daß wir auch ohne
akademischen Grad oder eine vornehme Familie viel erreichen werden“, meinte er. „Sie mögen vielleicht ehrgeizig sein“, Deborah befreite sich durch eine geschickte Drehung von seinem Arm, den Stuart vertraulich um ihre Schultern gelegt hatte, „aber woher wollen Sie wissen, daß ich auch so bin?“ „Die Tatsache, daß Sie in Abbeywitch sind, mitten unter begüterten Herrschaften, spricht für Sie, schöne Dame“, antwortete er galant. „Die Schmeicheleien gehen Ihnen wohl niemals aus, Mr. Coltan“, meinte Deborah belustigt. „Stuart“, verbesserte er. „Ist das Ihr richtiger Name oder Ihr Künstlername?“ „Spielt das eine Rolle, Schätzchen?“ „Sie sind ein eitler Mann, Mr. Coltan.“ „Bin ich das?“ „Glauben Sie wirklich, daß alle Frauen Ihnen verliebt nachlaufen?“ fragte sie amüsiert. „Was wissen Sie schon von der Liebe?“ erwiderte Stuart großspurig. „Wahrscheinlich haben Sie darüber in Büchern gelesen – hatten Sie überhaupt schon mal einen Geliebten, Deborah?“ „Sie kennen doch die Antwort, Mr. Coltan. Warum fragen Sie dann noch?“ „Nicht jede Frau gibt das so offen zu“, meinte er grinsend. „Was halten Sie davon, wenn ich diese Rolle übernehme? Ich kenne mich mit Frauen aus und kann Ihnen versprechen, daß Sie Ihren Spaß haben werden.“ „Das bezweifle ich, Mr. Coltan“, sagte Deborah und lächelte ihn ironisch an. „Es wäre sehr unklug von mir, wenn ich mich mit Ihnen einlassen würde. Denn Sie hatten recht vorhin, ich bin ehrgeizig und habe mir berufliche Ziele gesteckt, die ich unbedingt erreichen will.“ „Sie Ärmste, nur Arbeit und kein Vergnügen.“ Stuart schüttelte bedauernd den Kopf. „Was soll bloß aus Ihnen werden? Eine alte, verknöcherte und launische Jungfer?“ „Es gibt schlimmere Schicksale, Mr. Coltan. Denken Sie zum Beispiel an Pauline Salvador. Ihrer Ehe hat keiner in diesem Haus eine Chance gegeben. Alle haben auf Pauline herumgehackt und wundern sich nun, weshalb ihr Mann verschwunden ist.“ Stuart warf Deborah einen vielsagenden Blick zu. „Und Sie vermuten sicher, daß ihn die Trauer in sein Versteck getrieben hat, weil sich die Geschichten in Ihren Büchern auch nach diesem einfachen Muster abspielen. Wie wäre es mit einer anderen Möglichkeit? Daß der heißblütige Michael seine Frau bei einem Seitensprung erwischt hat?“ „Aber der kleine Julian ist…“ Deborah verstummte betroffen. Erst Juan, dann Rose Jones und nun auch Stuart hatten vorsichtig angedeutet, daß es einen schwachen Punkt in der Ehe der Salvadors gab. Doch keiner wollte die ganze Wahrheit erzählen. „Sie meinen, der kleine Julian sei das Pfand einer leidenschaftlichen Liebe?“ vervollständigte Stuart Deborahs angefangenen Satz. „Ach, Sie kleines Unschuldslamm“, fügte er mit einem theatralischen Seufzer hinzu. „Kinder werden auch aus anderen Gründen gezeugt.“ „Wenn Sie schon so zynische Gedanken haben, Mr. Coltan, verstehe ich nicht, warum Sie sich manchmal um Paulines Sohn kümmern“, sagte Deborah. Am liebsten hätte sie hinzugefügt, daß Kinderliebe wohl kaum zu einem ehrgeizigen, vergnügungssüchtigen und egoistischen Charmeur paßte. „Ist es verboten, Interesse für den Sprößling einer guten Bekannten zu zeigen?“
fragte Stuart und blieb unter dem Bild von Juan Rodare de Salvador stehen. Stuarts Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. „Sie schätzen mich falsch ein, Deborah. Ich handle in mancher Beziehung gefühlsbetonter als die Nachkommen dieses Herrn da. Damit meine ich insbesondere den aufgeblasenen, wichtigtuerischen gegenwärtigen Hausherrn.“ Deborah spürte eine seltsame Unruhe, als er Juan erwähnte, und sie schaute furchtsam den gebieterischen Vorfahren der Salvadors an. Dann hörte sie Stuarts höhnisches Lachen, bevor er sie rücksichtslos in eine Nische drängte, die das Licht der Kandelaber in der Diele nicht beleuchtete. „Jetzt endlich erkenne ich den wahren Grund für ihre Zurückhaltung mir gegenüber!“ rief er unbeherrscht. „Sie haben ein Auge auf El Juan geworfen!“ Stuart erfaßte grob ihre entblößten Schultern, als er Deborah zu sich herumdrehte und, bevor sie protestieren konnte, seinen Mund auf ihre Lippen drückte. Aus Angst, Juan könnte sie entdecken und falsche Schlüsse aus diesem Kuß ziehen, setzte Deborah die einzige Waffe ein, die ihr bei der engen Umarmung noch blieb. Sie holte mit dem Fuß aus und trat Stuart vors Schienbein. Er schrie vor Schmerz auf und ließ sie sofort los. Deborah nutzte diese Gelegenheit und ging hastig weiter. Erst in dem großen holzgetäfelten Raum mit der herrlichen Stuckdecke verlangsamte Deborah ihren Schritt. Stuart war ihr dicht auf den Fersen geblieben, doch er benahm sich vernünftig, da schon zahlreiche Gäste anwesend waren. Wie magnetisch wurden Deborahs Blicke jetzt von dem schlanken, hochgewachsenen Mann im schwarzen Abendanzug angezogen, der vor einem leuchtendroten Vorhang stand. Sein Gesicht wirkte bronzefarben im Licht des riesigen Kronleuchters. Nicht zum erstenmal wurde sie an ein Gemälde von Goya erinnert, der Maler am Hof des spanischen Königs gewesen war. Wieder verspürte Deborah beim Anblick von Juan Salvador dieses sehnsüchtige Verlangen. Schnell drehte sie sich zu Stuart um, vergaß ihren Ärger über seine Aufdringlichkeit und bat ihn, mit ihr zu tanzen. „Der Rhythmus geht mir in die Beine“, erklärte sie ihm lächelnd. Zum Glück war Stuart nicht nachtragend. Er führte Deborah in die Mitte des Saals, und dann glitten beide in vollkommener Harmonie über das Parkett, als wären sie schon seit Jahren ein Tanzpaar. „Ah, jetzt hat unser Gastgeber die Dame seines Herzens gefunden“, flüsterte Stuart Deborah während einer flotten Rumba zu. Da er das schnelle Tempo beibehielt und außerdem komplizierte Figuren tanzte, kam Deborah erst beim anschließenden langsamen Walzer dazu, in die Richtung des Fensters zu sehen, vor dem Juan bisher etwas abseits vom Trubel gestanden hatte – wie ein Monarch, der amüsiert das fröhliche Treiben seiner Untertanen beobachtete. „Ist das Sharon Chandler?“ Diese Frage kam Deborah im nächsten Augenblick selbst überflüssig vor, denn das junge Mädchen in dem golden schimmernden Lamekleid, das in der Farbe zu den langen blonden Haaren paßte, konnte nur die von Lenora favorisierte Tochter jener reichen Familie sein. „Ja, das ist Sharon Chandler. Die junge Dame gleicht einem kostbaren Schmuckstück!“ Stuarts Stimme klang begeistert. Er schwenkte Deborah herum, so daß er Juan und Sharon besser beobachten konnte, dabei schilderte Stuart, was sich vor dem roten Vorhang abspielte. „Unser Don Juan wendet seine Verführungskünste sehr erfolgreich an, wie man sieht. Die kleine himmelt ihn an, obwohl sie sich dabei auf die Fußspitzen stellen muß.“ „Ich finde, daß sie gut zueinander passen“, mußte Deborah während einer Drehung neidlos anerkennen. Die beiden gaben wirklich ein entzückendes Paar
ab. Das Mädchen wirkte wie eine Blüte, die sich unter den bewundernden Blicken des jungen Mannes zu ihrer vollen Schönheit entfaltete. „Jaja, wie füreinander geschaffen“, war Stuarts spöttischer Kommentar. „Und dieser Ansicht scheint auch Lenora zu sein, die gerade mit ausgestreckten Armen auf die wertvolle Beute zugeht, ihr einen Kuß auf die zarte Wange haucht und – ist das denn die Möglichkeit? Die alte Hexe lächelt!“ Der langsame Walzer war zu Ende, und da Stuart sie nicht losließ, drehte sich Deborah in seinen Armen um. Eine lächelnde Senora Salvador wollte sie sich nicht entgehen lassen. Deborah wurde jedoch für ihre Neugier bestraft, denn sie fing nur einen geringschätzigen Blick von Juan auf, der sie wütend machte. Am liebsten hätte sie den Saal auf der Stelle verlassen. Was erwartete Juan eigentlich von ihr, als er ihr die Einladung sozusagen aufgezwungen hatte? Daß sie brav in einer Ecke sitzend das Mauerblümchen spielte und zuschaute, wie sich alle anderen amüsierten? Oder sollte Deborah ihn lediglich mit Sharon Chandler sehen? „Ich wollte gar nicht zu dieser Party kommen, aber er hat darauf bestanden“, erklärte Deborah leise und ließ sich von Stuart zu den Klängen eines Foxtrotts über das Parkett führen. „El Juan?“ „Ja, er kam gestern abend in mein Zimmer…“ Zu spät fiel Deborah auf, wie zweideutig ihre unüberlegte Äußerung für Stuart klingen mußte. „Ich meine, daß…“ „Ich weiß, was Sie meinen“, unterbrach Stuart sie. „Mich würde nur interessieren, ob er sich gewaltsam Eintritt verschafft hat.“ „Wie kommen Sie denn darauf? Natürlich nicht“, protestierte sie. „Er kam nur bis zur Türschwelle, als wir uns unterhielten.“ „Diesmal noch kam er nur bis zur Schwelle, aber beim nächsten Besuch verhält er sich bestimmt anders.“ Stuart tanzte auf das kalte Büfett zu, das in einer Ecke des Saals aufgebaut war. „Diesem Mann sollten Sie nicht über den Weg trauen.“ Stuart nahm zwei Sektkelche vom Tablett eines vorübereilenden Kellners und gab Deborah eins davon. „Sie glauben, daß er sich durch sein Gerede über Ritterlichkeit und Gastfreundschaft von anderen Männern unterscheidet. Im Grunde nutzt er damit nur ihre Leichtgläubigkeit aus, weil er weiß, daß Sie viele Märchen und Sagen gelesen haben. Die Ritter der Tafelrunde haben auch viel von Ehre gefaselt, was Lancelot zum Beispiel nicht abhielt, schöne Damen zu verführen.“ „Warum geht es eigentlich nicht in Ihren Kopf, daß ich mich von niemandem verführen lasse?“ „Jeder hat so seine dummen Angewohnheiten.“ Stuart lächelte und nippte genießerisch an seinem Glas. „Echter Champagner. Die Salvadors lassen sich wirklich nicht lumpen. Von dem Geld, das sie für dieses edle Getränk und den Kaviar ausgegeben haben, könnte ich einige Wochen gut leben.“ Er hakte sich bei Deborah unter und drängte sich mit ihr an den Leuten vorbei, die vor dem langen, mit einem Brokattuch bedeckten Tisch standen. Die darauf bereitstehenden Speisen waren die reinste Augenweide. Sie wirkten auf Deborah so appetitanregend, daß sie Stuarts Beispiel folgte und sich reichlich bediente. Obwohl sie immer wieder an Juans spöttischen Blick denken mußte, wollte Deborah den Abend genießen und sich amüsieren. Sie würde über Stuarts Unsinn lachen und mit ihm tanzen, wann immer er sie aufforderte. Ihr Entschluß geriet jedoch ins Wanken, als Sandra auf sie zusteuerte. In dem engen gold-schwarz gestreiften Kleid sieht sie wie eine Wildkatze aus, dachte Deborah. Der geschmeidige Gang und der heisere Unterton in ihrer Stimme
rundeten dieses Bild noch ab. Vorwurfsvoll beklagte sich Sandra bei Stuart, daß er es noch nicht einmal für nötig gehalten hatte, sie zu begrüßen. „Du warst wohl anderweitig beschäftigt?“ fügte sie mit einem Seitenblick auf Deborah hinzu. „Du weißt, wie gern ich tanze, und Deborah war bereit, dich zu vertreten, damit du dich um Van Allen kümmern kannst. Übrigens solltest du einmal von dem köstlichen Kaviar probieren, Schätzchen. Ich bin sicher, daß du davon kein Gramm zunimmst.“ „Schmeckt er Ihnen auch?“ fragte Sandra Deborah. „Ja, sehr gut sogar.“ „Vermutlich haben Sie noch nie vorher welchen gegessen, Miss Hartway.“ Sandra war so gereizt, daß sie sich nicht einmal die Mühe gab, höflich zu sein. „Ganz richtig, Miss Salvador, ich esse zum erstenmal in meinem Leben Kaviar“, bestätigte Deborah liebenswürdig. „Im Geschmack erinnert er mich ein bißchen an den Dorschrogen, den ich mir jeden Freitag zum Abendbrot leiste.“ Überrascht drehte sie sich zu Stuart um, der laut loshustete, weil er sich vor Lachen an seinem Champagner verschluckt hatte. „Der Rogen vom Dorsch ist besonders delikat mit frischem Weißbrot“, begann Deborah, nun völlig verunsichert, zu erklären, doch Sandra ließ sie nicht weiterreden. „Das soll wohl komisch sein, Sie unverschämte kleine Tippse? Sie waren als Gast auf unserer Party gar nicht vorgesehen, weil wir generell keine Angestellten einladen, und…“ „Hör auf, Sandra!“ mischte sich Stuart ein, und seine Stimme klang äußerst ungehalten. „Wenn du deine Wut unbedingt an jemandem auslassen mußt, dann bitte an mir. Ich bin es gewöhnt, mit Schauspielerinnen umzugehen, die überdreht und launisch werden, wenn sie nicht ständig im Scheinwerferlicht stehen.“ Als Sandras Hand hochschnellte, fing Stuart sie geschickt ab, bevor ihre spitzen Fingernägel sein Gesicht zerkratzen konnten. Sandra blickte Stuart haßerfüllt an. Unbeeindruckt erwiderte er diesen Blick, während Deborah die Gelegenheit nutzte und sich hastig zurückzog. Deborah verschwand Schutz suchend in einer dunklen Nische, die aber nach wenigen Schritten in einen Gang mündete, an dessen Ende ein Wintergarten lag. Er sah wie ein tropisches Gewächshaus aus. Grünpflanzen mit in allen Farben schillernden Blüten rankten sich an Palmenstämmen empor, die bis zu den Kreuzgewölben der Decke reichten, und begrenzten wie eine wildwuchernde Hecke den Goldfischteich in der Mitte des Raumes. Für die exotische Schönheit ihrer Umgebung konnte Deborah im Augenblick keine Begeisterung aufbringen, denn sie mußte sich erst erholen. Die Auseinandersetzung zwischen Sandra und Stuart war wirklich recht unerfreulich gewesen! Deborah sah in Sandra die hoffnungslos verliebte Frau, deren Gefühle ganz offensichtlich nicht erwidert wurden, und obwohl Deborah so unhöflich von Sandra behandelt worden war, fühlte sie eigentlich nur Mitleid mit der jungen Frau. Eifersucht konnte sehr schmerzhaft sein. Das hatte Deborah selbst erfahren, als sie Juan Salvador in einem so vertraulichen Gespräch mit Sharon Chandler gesehen hatte. Doch Deborah wehrte sich gegen diese eifersüchtigen Gefühle. So weit wäre es aber gar nicht erst gekommen, wenn Juan ihren Wunsch, diesen Abend mit einem interessanten Buch auf ihrem Zimmer zu verbringen, respektiert hätte. Plötzlich sehnte sie sich nach dem geregelten, überschaubaren Leben, das sie in London geführt hatte, auch wenn es weniger Abwechslung bot. Erschöpft setzte sich Deborah auf eine Steinbank am Rande des Goldfischteichs und nippte an ihrem Champagner. Langsam wurde sie ruhiger – bis das Geräusch
von Schritten die angenehme Stille in dem Gewächshaus unterbrach. Und dann stand auch schon der Mann vor ihr, dem sie die ganze Verwirrung zu verdanken hatte. „Ich dachte mir schon, daß Sie irgendwann eine Erholungspause brauchen“, bemerkte Juan. „Oder verstecken Sie sich vor Stuart Coltan?“ „Es war Ihre Schwester, die mich hierher getrieben hat.“ „Sandra ist natürlich nicht entgangen, daß Sie mit ihrem Kollegen und Liebhaber tanzten, und hat Ihnen auf unliebenswürdige Weise verdeutlicht, daß sie Ihr Verhalten nicht billigt – oder?“ Deborah nickte nur, denn sie hatte noch deutlich Sandras haßerfüllten Blick vor Augen. „Hat Sandra denn einen Grund, auf Sie eifersüchtig zu sein, Miss Hartway?“ wollte Juan dann wissen. „Wie ist denn Ihre Meinung dazu, Senor?“ Deborah hoffte, daß sie ihn durch ihre aufsässige Art vielleicht bewegen könnte, wieder zu gehen und sie in Ruhe zu lassen. Sie wunderte sich sowieso, daß er ihre Gesellschaft suchte und nicht die der charmanten Sharon. „Bei uns in Spanien sagt man, daß zwischen zwei Menschen, die gut zusammen tanzen, eine gegenseitige Anziehungskraft besteht“, erwiderte Juan, während er aus seinem goldenen Etui ein Zigarillo nahm. Sehr bedächtig zündete er es an, ohne den Blick von Deborahs Gesicht abzuwenden. „Das ist ja interessant“, sagte Deborah leise. „Vieles in meiner Heimat ist interessant, Senorita. Ganz besonders die Menschen.“ Er sagte das ohne Überheblichkeit, aber mit unverkennbarem Stolz für die Landsleute seiner Mutter. „Wir Spanier lassen uns von einem unbändigen Drang nach Unabhängigkeit leiten, der tief in uns verwurzelt ist, so daß er alle unsere Gefühle und Bedürfnisse beeinflußt. Gibt Ihnen das nicht zu denken, Senorita?“ „Was fragen Sie mich?“ antwortete Deborah gereizt. „Ich bin doch nur eine kleine unverschämte Tippse, die man normalerweise nicht zu einer Party in Abbeywitch einlädt.“ „Hat Sandra das zu Ihnen gesagt?“ „Ja.“ „Kommen Sie.“ Juan ergriff ihre Hand und zog Deborah hoch, die ihn dabei überrascht anblickte. „Wir gehen jetzt gemeinsam in den Saal zurück, um Sandra zu zeigen, daß Ihre Teilnahme an dem Ball meine absolute Zustimmung findet.“ „Nein, das möchte ich nicht.“ Deborah schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Auf meinem Zimmer bin ich viel besser aufgehoben.“ „Die Nacht ist noch jung, Senorita, und ich möchte sie nutzen, indem ich mit Ihnen tanze.“ Verzweifelt suchte Deborah nach einer Ausrede. Lenora Salvador würde es als Herausforderung auffassen, wenn ihr Stiefsohn vor allen Gästen mit einer Angestellten tanzte, und ihre Konsequenzen ziehen. Als sie Juan aber zaghaft darauf hinwies, meinte er ungerührt, daß er auf einer Party, die ihm zu Ehren veranstaltet wurde, sogar auf seinen Händen tanzen dürfe. „Und wie bringen Sie es fertig, mit jemandem zu tanzen, den Sie im Grunde verachten?“ fragte Deborah in ihrer Verzweiflung. Für einige Sekunden war nur das Plätschern der Goldfische in dem kleinen Teich zu hören. „Wiederholen Sie das bitte“, verlangte Juan schroff. Beim Klang seiner drohenden Stimme erschrak Deborah. Diese heftige Reaktion
hatte sie nicht erwartet, und es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. „Ich fing einen Blick von Ihnen auf, während ich mit Mr. Coltan tanzte, und dabei hatte ich den Eindruck, Sie wollten mich zurechtweisen, vielleicht weil ich mich so ungeniert amüsierte.“ „Das sehen Sie völlig falsch!“ Gerade wollte Deborah energisch widersprechen, als sie plötzlich den sanften Druck seiner Hand in ihrem Rücken spürte. Er zog sie dicht zu sich heran. Juans Gesicht war jetzt ganz nah, sein warmer Atem streifte Deborahs Lippen, als er leise fragte: „Glauben Sie wirklich, daß ich Sie zurechtweisen wollte?“ Deborah fehlte der Wille und die Kraft, um sich gegen Juans Annäherung wehren zu können. Er beherrschte bereits ihren Körper, und er sah so aus, als wolle er sich damit nicht zufriedengeben. Der Blick seiner schwarzen geheimnisvollen Augen forderte eindringlich eine Antwort auf seine Frage. „Und jetzt wollen Sie mir beweisen, wer hier das Sagen hat?“ antwortete Deborah ausweichend mit einer Gegenfrage. „Vielleicht will ich ja nur testen, ob ein Kuß von mir ebenso willkommen ist wie der von Coltan.“ In diesem Augenblick wußte Deborah, warum Juan sich so benahm. Er hatte sie und Stuart in der Nische gesehen und folgerte daraus, daß sie dem Schauspieler freiwillig dorthin gefolgt war, um sich küssen zu lassen. Wie sollte sie Juan bloß vom Gegenteil überzeugen? „Spionieren Sie allen Leuten hier im Hause nach?“ fragte Deborah ungehalten. „Ich soll spionieren? Jetzt sind Sie zu weit gegangen, Miss Hartway. Diese Anschuldigung kann ich nicht widerspruchslos hinnehmen!“ Juan warf sein Zigarillo auf den Marmorfußboden und trat es mit dem Schuhabsatz aus, bevor er Deborah fest umarmte und sie auf den Mund küßte. Dieser Kuß war wild und rücksichtslos, und versetzte Deborah in einen Zustand nie gekannter Erregung. Sie wollte sich dagegen wehren, indem sie scheinbar teilnahmslos in Juans Armen lag. Aber dies alles konnte nicht verhindern, daß ihr Herz wie wild klopfte, je stärker der Druck seiner Lippen wurde. Dann hauchte Juan zarte Küsse auf ihren schlanken Hals. Sein Mund folgte der Linie ihrer Schulter am Ausschnitt des Kleides entlang. Deborah hatte das Gefühl, als brenne ihre Haut, wo seine warmen Lippen sie berührten. Sie durchlebte Augenblicke höchster Verzückung und tiefer Verzweiflung, weil sie sich erniedrigt fühlte. Noch unerträglicher wurde dieser Zustand, als Juan mit beiden Händen über ihren Rücken streichelte, bis sie zu zittern anfing und haltsuchend die Arme ausstreckte. Ihre Hände griffen ins Leere, denn Juan war in diesem Augenblick einen Schritt zurückgetreten. Nachdenklich betrachtete er Deborahs verstörtes Gesicht. Sie suchte vergebens einen Ausdruck des Triumphes in seinen Augen, der sie noch mehr beschämt hätte, weil er genau wußte, daß seine Küsse die beabsichtigte Reaktion hervorgerufen hatten. Sie fuhr mit dem Handrücken über ihre schmerzenden Lippen. „Sind Sie nun zufrieden, Senor?“ fragte sie verbittert. „Seit unserer Begegnung am Strand sehen Sie in mir eine minderwertige Person, und eben haben Sie sich zur Bekräftigung Ihrer Meinung auch noch den Beweis geholt.“ „Das Schlimme mit euch Frauen ist, daß ihr meint, ihr könntet uns Männer mit Worten attackieren, ohne daß wir uns mit Taten zur Wehr setzen. – Haben Sie vergessen, daß Sie mich beschuldigten, ich hätte Ihnen nachspioniert?“ „Ich wollte mich nur rechtfertigen, weil ich mir gleich von Ihnen verurteilt vorkam“, entgegnete Deborah kleinlaut. „Sie beobachteten mich mit Mr. Coltan
und bildeten sich sofort eine schlechte Meinung von mir.“ „Habe ich das?“ Er lachte spöttisch, als Deborah nicht antwortete. „Es scheint mir, daß wir beide uns häufig mißverstehen, Miss Hartway, und ich frage mich, warum das so ist?“ „Sie – Sie kennen den Grund genau.“ Ihre Stimme klang sehr leise. Dann wandte sich Deborah ab, um den Wintergarten zu verlassen, denn mit einemmal fiel ihr das Atmen in der feuchtwarmen Luft äußerst schwer. Zudem hielt sie die Weiterführung eines Gesprächs mit Juan für sinnlos. Es gab nichts mehr, worüber sie reden könnten. Er würde nie aufhören, sie für eine schamlose Frau zu halten, die nur die Maske des etwas weltfremden, naiven jungen Mädchens trug, und deshalb würde Juan jede Gelegenheit wahrnehmen, um ihr das zu beweisen. Sein Stolz ließ es nicht zu, daß er dabei behutsam mit ihr umging, denn sie hieß ja Deborah Hartway und nicht Sharon Chandler, die er bestimmt nachsichtiger behandelt hätte. „Einen Augenblick bitte, Miss Hartway. Sie wollen mich doch hier nicht allein lassen? War es nicht ausgemacht, daß wir beide jetzt tanzen?“ Deborah blieb zögernd stehen, sah sich aber nicht um, weil sie wußte, daß ein Blick in Juans dunkle Augen sie aus der Fassung bringen könnte. „Ich möchte aber nicht“, sagte sie zaghaft und wußte schon, daß er diesen Einwand nicht gelten lassen würde. So war es dann auch. Juan nahm schweigend ihre Hand und ging mit Deborah in Richtung Ballsaal. „Warum sind Sie eigentlich so unerbittlich zu mir?“ fragte sie. „Übertreiben Sie nicht ein bißchen? Die Sachlage ist doch denkbar einfach. Erst haben Sie mit Coltan getanzt und nun mit mir.“ „Aber warum muß ausgerechnet ich Ihre Tanzpartnerin sein?“ Diese Antwort blieb er ihr schuldig, denn sie hatten inzwischen den Saal erreicht. Ganz selbstverständlich mischte sich Juan mit Deborah unter die anderen Paare. Da es für Deborah keinen Ausweg gab, machte sie ein möglichst unbeteiligtes Gesicht, als tanze sie mit einem völlig fremden Mann. Doch er war kein Fremder mehr für sie. Ihre Sinne reagierten sehr empfindsam auf seine Nähe und auf jede Bewegung seines Körpers, so daß sie sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr konzentrieren mußte, sondern völlige Übereinstimmung mit ihrem Partner und der Musik erreichte. Nur etwas störte Deborahs Freude beim Tanzen. Da sie sich von Juan führen ließ, und er sehr viel Raum für seine Figuren beanspruchte, tanzten sie auch an Lenora Salvador und ihrer Tochter vorbei. Die Gesichter der beiden Frauen wirkten wie versteinert. Aber Juan gelang es durch seine temperamentvolle Art zu tanzen, Deborah völlig abzulenken, so daß sie die verärgerten Mienen der alten Dame und ihrer Tochter nicht weiter beachtete. Als die Kapelle eine Rumba spielte, zogen sich die anderen Paare wie selbstverständlich an den Rand der Tanzfläche zurück. Für Deborah war es die zweite Rumba an diesem Abend, und wenn schon Stuart ein phantastischer Tänzer gewesen war, so konnte er sich doch mit Juan nicht vergleichen. Der lateinamerikanische Rhythmus lag Juan im Blut, und es fiel ihm nicht schwer, seine Partnerin mit seiner Begeisterung anzustecken. Deborah vergaß alles um sich herum. Sie hatte das Gefühl, in einen Zustand der Schwerelosigkeit versetzt worden zu sein, bis sie der Applaus der anderen Gäste in die Wirklichkeit zurückversetzte. Es wurde ein schlimmes Erwachen. Denn Deborah war es äußerst peinlich, daß sie plötzlich im Mittelpunkt des Interesses stand. Verzweifelt befreite sie sich aus Juans Armen und rannte aus dem Saal. Lautes Klatschen und Gelächter folgten ihr.
Diese Geräusche hallten ihr noch in den Ohren, als sie außer Atem in ihrem Zimmer ankam, und es dauerte eine Weile, bis sie sich einigermaßen wieder beruhigt hatte. Deborah setzte sich vor den Spiegel, um die Kämme und Spangen aus ihrem Haar zu entfernen. Plötzlich bemerkte sie, daß der Perlenanhänger verschwunden war, und obwohl sie sich rasch auszog und ihre Kleidung sorgfältig untersuchte, konnte sie ihn nirgends finden. Am liebsten hätte sich Deborah sofort auf die Suche nach diesem kostbaren Schmuckstück gemacht, aber dann verwarf sie den Gedanken gleich wieder. Denn vermutlich war der Kettenverschluß aufgegangen, als Juan sie so unsanft geküßt hatte, und die Perle lag nun irgendwo auf dem Fußboden des Wintergartens. Um dorthin zu gelangen, mußte sie aber den Ballsaal durchqueren, und dort würde sie unweigerlich auf diesen Mann treffen. Deborah war nämlich davon überzeugt, daß Juan sein hinterhältiges Spiel mit ihr getrieben hatte, indem er sie – die kleine Angestellte – rücksichtslos dazu benützt hatte, seine Tanzkünste vorzuführen. Selbst der Einfältigste unter den Gästen hatte nun Anlaß, seine Schlüsse daraus zu ziehen…
6. KAPITEL Nach Mitternacht brachen die letzten Gäste zum Festland auf oder setzten zur Yacht des Theaterproduzenten Van Allen über. Deborah, die in ihrem Bett lag und nicht schlafen konnte, lauschte dem Motorengeräusch der kleinen Schnellboote, bis es in der Ferne verhallte. Dann dauerte es noch eine ganze Weile, bis auch in Abbeywitch Ruhe einkehrte. Deborah konnte nicht einschlafen, und so wartete sie ungeduldig darauf, daß es endlich hell wurde, denn sie wollte so früh wie möglich im Wintergarten ihren Anhänger suchen, bevor ihn eine der Putzfrauen fand und das Schmuckstück Lenora Salvador aushändigte. Deborah versuchte das Zusammentreffen mit der alten Dame so weit wie möglich hinauszuschieben. Zum einen verspürte Deborah keine Lust, sich eine Strafpredigt wegen ihres provozierenden Verhaltens im Ballsaal anzuhören. Andererseits hielt sie ihre Entlassung durch Mrs. Salvador für möglich. Diese Szene wollte sie sich jedoch erst einmal ersparen, denn ihr Bedarf an Demütigungen war gründlich gedeckt. In einer Hinsicht war Deborah gar nicht so traurig darüber, daß sie vielleicht ihre letzte Nacht in Abbeywitch verbrachte, obwohl sie dieses Haus und die Insel in ihr Herz geschlossen hatte. Aber hier mußte sie täglich daraufgefaßt sein, Juan zu begegnen – und jede Begegnung wäre ein aussichtsloser Kampf, um seiner erregenden Anziehungskraft zu entkommen. Im Grunde genommen sehnte sie sich unbewußt danach, diese aufregende Empfindung genießen zu können, wenn das alles nicht von der bitteren Erkenntnis begleitet würde, daß Juan nur mit ihr spielte und das wohl auch nur so lange, bis der Reiz des Neuen verblaßt war. Das Läuten des Haustelefons auf ihrem Nachttisch riß Deborah aus ihren Grübeleien. Der Apparat stammte noch aus der Zeit, als Miss Tucker dieses Zimmer bewohnte, denn Michael Salvador hatte die Angewohnheit, seine Sekretärin manchmal nachts zu wecken und zum Diktieren zu bitten, wenn ihm gerade ein interessanter Text eingefallen war. Deborah war bisher nur von Rose Jones ein paarmal angerufen worden, allerdings nie zu einer so ungewöhnlichen Zeit. Sie machte sich deshalb schon auf eine schlimme Nachricht gefaßt, als sie den Hörer abnahm und sich mit gemischten Gefühlen meldete. „Habe ich Sie aus süßen Träumen geholt, Schätzchen?“ erkundigte sich Stuart. „Was soll dieser Unfug, Mr. Coltan?“ fragte Deborah ärgerlich, als sie die näselnde Stimme des Schauspielers erkannte. Dann mußte sie ihre Meinung aber gleich wieder ändern, weil Stuart erklärte, daß er ihren Perlenanhänger und die Kette im Wintergarten gefunden hatte. Deborah bedankte sich erfreut, was ihn sofort neugierig machte. „Die Perle ist wohl so eine Art Liebespfand und der großzügige Spender ein spezieller Freund von Ihnen?“ „Ja, Mr. Coltan. Deshalb war ich ja auch so beunruhigt, als ich feststellte, daß sie mir abhanden gekommen war“, antwortete Deborah. Sie erwähnte absichtlich nicht, daß sie den Anhänger von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte. Viel wichtiger schien es ihr, Stuart in dem Glauben zu lassen, sie hätte einen Freund. Vielleicht würde er dann aufhören, sie weiter zu belästigen. Leider hatte sie sich verrechnet. „Sie brauchen sich darum nicht mehr zu sorgen, Schätzchen, denn ich mache mich gleich auf den Weg, um Ihnen das kostbare Stück zu bringen“, hörte sie ihn lachend sagen. „Das hat auf jeden Fall bis morgen Zeit“, rief sie erschrocken, doch Stuart hatte bereits aufgelegt.
Mit einem Satz sprang Deborah aus dem Bett, nahm ihren Bademantel aus dem Schrank und zog ihn schnell über. Sie wollte Stuart unter keinen Umständen in ihrem dünnen Nachthemd empfangen, damit er gar nicht erst auf dumme Gedanken kam. Der Mann war imstande, einen Finderlohn zu fordern, und wie der aussah, konnte sie sich lebhaft vorstellen. Da klopfte es auch schon an der Tür. Deborah machte als Vorsichtsmaßnahme einen doppelten Knoten in den Bademantelgürtel und öffnete die Tür nur wenige Zentimeter. Der Spalt war jedoch breit genug, um einen Blick auf Stuarts merkwürdigen Aufzug zu werfen. Er trug einen langen Hausmantel in Schottenkaromuster und einen schwarzen Schlips. Sein dunkles Haar war gescheitelt und glänzte, als hätte er eine ganze Dose Pomade hineingeschmiert. „Sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. Coltan, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, mir meinen Schmuck zurückzubringen“, sagte Deborah betont höflich, obwohl sie am liebsten laut gelacht hätte. Denn er sah aus wie ein Lebemann, der vor dem Schlafgemach seiner Geliebten stand. „Würden Sie ihn mir bitte geben?“ fügte Deborah ebenso höflich hinzu und streckte die Hand aus. „Ihnen würde ich alles geben, Teuerste“, erwiderte er theatralisch und musterte das, was er von Deborah sehen konnte, sehr eingehend. Mit aufreizender Langsamkeit holte er dann den Schmuck aus der Tasche seines Hausmantels, hängte sich die Kette über den Zeigefinger seiner rechten Hand und ließ die Perle dicht vor Deborahs Gesicht hin und her pendeln. „Ich hätte gern gewußt, wer Ihnen dieses wunderschöne Stück geschenkt hat. Kennen Sie ihn gut, Schätzchen?“ Bei der nächsten Gelegenheit werde ich ihm dieses abfällige „Schätzchen“ verbieten, dachte Deborah. Im Augenblick war sie jedoch mehr daran interessiert, Stuart so schnell wie möglich abzuwimmeln. „Ich kenne ihn nicht nur gut – wir sind sogar sehr eng befreundet, Mr. Coltan“, beantwortete Deborah gereizt seine Frage und war erstaunt, wie leicht ihr das Lügen fiel. „Soso, also sehr eng befreundet“, wiederholte Stuart gedehnt. „Wenn sich das so verhält…“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern grinste Deborah hämisch an, als er seine Hand langsam nach unten neigte, bis die Kette von seinem Finger rutschte und zu Boden fiel. Sofort ließ Deborah die Türklinke los und bückte sich. Sie kam nicht dazu, den Anhänger aufzuheben, denn sie mußte entsetzt mitansehen, wie Stuart seinen Fuß darauf setzte und kräftig zutrat, bis ein knirschendes Geräusch zu hören war. „Das dürfen Sie nicht!“ „Nein? Darf ich nicht?“ Deborah versuchte, Stuart wegzustoßen, weil sie es nicht ertragen konnte, daß er mutwillig das einzige Erinnerungsstück an ihren Vater zerstörte. Ihre Anstrengungen beantwortete er mit höhnischem Lachen. Voller Empörung und Wut schlug sie ihm ins Gesicht. „Was sind Sie doch für ein niederträchtiger Mensch“, rief sie erbost. „Wollen Sie es mir auf diese widerwärtige Art heimzahlen?“ Stuart rieb sich die Wange, doch er wich keinen Schritt zur Seite. „Was heimzahlen?“ fragte er und verlagerte nun sein ganzes Gewicht auf den einen Fuß. „Fragen Sie nicht so dumm. Sie wissen genau, was ich meine.“ Deborah zuckte zusammen, als es unter dem Lackschuh laut knackte. Sie war fest davon überzeugt, daß sich Stuart an ihr rächen wollte, weil er sie im Wintergarten mit Juan beobachtet hatte. „Ich weiß nur, daß Sie nicht jenes Unschuldslamm sind, das Sie vorgeben zu sein“, sagte er gehässig.
„Stimmt, Mr. Coltan! Und Sie sind genauso ungehobelt, wie ich Sie von Anfang an eingeschätzt habe.“ „Ungehobelt ist aber ein sehr altmodischer Ausdruck. Verwendet ihn Michael Salvador etwa auch in seinen herzergreifenden Romanen? Sollte der zeitgenössische Autor ebenso unmodern sein wie sein großer Bruder?“ „Ich verstehe Sie nicht, Mr. Coltan“, sagte Deborah scheinbar unbeeindruckt, hielt aber die Hände zu Fäusten geballt, um nicht die Beherrschung zu verlieren und Stuart ein zweites Mal zu schlagen. „Ich spreche von der Art, wie der Senor Rumba tanzt. Wenn Sie im Tanzen etwas bewanderter gewesen wären, hätte er sogar eine Paso doble mit Ihnen vorgeführt, obwohl ihr beide auch so schon eine sehr eindrucksvolle Vorstellung gegeben habt.“ „Nicht wahr? Ich bin kein einziges Mal über seine Füße gestolpert“, entgegnete Deborah schnippisch. „Wollen Sie damit etwa andeuten, daß er besser tanzt als ich?“ Stuarts Augen wurden ganz schmal, was ihm ein bedrohliches Aussehen verlieh. Er hatte nichts mehr von einem charmanten Playboy an sich, stellte Deborah beunruhigt fest. „Aber das können Sie ja gar nicht beurteilen“, fuhr er spöttisch fort. „Sie schwebten mit verklärtem Gesichtsausdruck über das Parkett, so geschmeichelt fühlten Sie sich durch die Aufmerksamkeit, die Ihnen der große Meister großzügig gewährte. Sandra und ihre Mutter gehörten übrigens nicht zu denjenigen, die anschließend applaudiert haben. Die gekonnte Vorführung erinnerte sie zu sehr an das Tanzpaar Pauline – Juan. Jetzt sind Sie überrascht, nicht wahr, Miss Hartway? Michael ist der Intellektuelle in dieser Familie, während der heißblütige Spanier…“ Stuart lachte höhnisch. „Möchten Sie wissen, welche Freuden er außer dem Tanzen noch mit Pauline geteilt hat?“ „Wie können Sie nur etwas so Abscheuliches behaupten?“ rief Deborah empört. Im stillen aber war sie schockiert über Stuarts Andeutung, daß Juan auch Paulines Geliebter gewesen sein sollte. „Ach, Sie meinen, ihm hätte es etwas ausgemacht, daß Pauline seine Schwägerin war? Es wird höchste Zeit, daß Sie von Ihren Büchern aufblicken und die Menschen so sehen, wie sie wirklich sind.“ „Ich besitze zumindest ausreichend Menschenkenntnis, um Sie, Mr. Coltan, richtig beurteilen zu können. Sie sind nämlich auf der einen Seite ein herzloser Egoist, der mit allen Mitteln ein sehr fragwürdiges Ziel im Leben erreichen will und sich dabei keine Gedanken um die Personen macht, die unter seinen ehrgeizigen Plänen zu leiden haben. Auf der anderen Seite…“ „Augenblick mal“, unterbrach Stuart sie. „Jeder Mensch handelt egoistisch, wenn er zielstrebig ist. Eine Partnerin oder ein Partner würde dabei nur stören. So habe ich es bisher gehalten und bin immer gut…“ „Auf der anderen Seite“, fuhr Deborah unbeirrt fort, „sind Sie ein verwöhntes und unartiges Kind, das aus reinem Vergnügen das Spielzeug anderer zerstört. Bevor Sie sich eine Lebensphilosophie zulegen, sollten Sie erst einmal erwachsen werden.“ Deborahs Worte machten wenig Eindruck auf Stuart. Ein geringschätziger Blick auf Deborah, ein gleichgültiges Achselzucken – und dann drehte er sich um und ging. Als Deborah nur noch seine schlurfenden Schritte auf dem Flur hörte, bückte sie sich, um ihr Schmuckstück aufzuheben. Es hatte ziemlich gelitten. Die seidig schimmernde Oberfläche der Perle war an einigen Stellen zerkratzt, die Fassung wie auch einige Kettenglieder waren breitgetreten. Deborah war sehr traurig über diese sinnlose Zerstörungswut. Plötzlich löste sich die aufgestaute Spannung in ihr, und sie begann zu weinen. Während sie in der
Hocke saß und die einzelnen Teile auf ihre Handfläche legte, fielen ihr ziemlich grobe Schimpfworte für Stuart ein, die sie leise vor sich hin sagte. Dann berührte sie plötzlich jemand an der Schulter. „Sie elender, gemeiner Schuft, lassen Sie mich endlich in Ruhe!“ schrie Deborah, denn sie glaubte, daß Stuart zurückgekommen war. Sie schaute zu ihm auf und bekam kein Wort mehr heraus, weil nicht Stuart, sondern Juan Salvador vor ihr stand. „Beschimpfen Sie mich – oder vielleicht doch jemand anders?“ fragte Juan und betrachtete ihr tränenüberströmtes Gesicht. „Ich…“ Mehr brachte Deborah nicht über die Lippen. Sie konnte nur noch einen einzigen klaren Gedanken fassen: Sie durfte nicht länger in Juans Nähe bleiben. Hastig richtete sich Deborah auf und lief zurück in ihr Zimmer. Doch Juan kam genauso schnell hinterher und schloß die Tür. Behutsam legte er einen Arm um Deboras Schulter, ging mit ihr einige Schritte bis zum Bett, so daß sie sich darauf niedersetzen konnte. „Wer hat Ihnen etwas getan, Miss Hartway?“ fragte Juan. „Etwa Sandra? Hat sie erneut etwas Beleidigendes gesagt?“ Deborah schüttelte den Kopf. Seine Fürsorge tat ihr gut, und obwohl sie kein weinerlicher Typ war und sich stets bemühte, vor anderen Leuten nicht die Beherrschung zu verlieren, liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie beruhigte sich erst, nachdem Juan aus dem Bad einen nassen Waschlappen geholt und ihr vorsichtig das Gesicht abgewischt hatte. Stockend erzählte sie Juan dann, was vorgefallen war. Er öffnete ihre Faust, nahm den Anhänger und die Kette von der Handfläche und betrachtete den Schaden genau. „Coltan hat wirklich ganze Arbeit geleistet, und dafür werde ich ihn zur Rechenschaft ziehen“, sagte er nach einer Weile. „Meinetwegen brauchen Sie sich diese Mühe nicht zu machen, denn…“ Deborah wagte nicht, Juan anzusehen, als sie mit leiser Stimme fortfuhr: „… ich bin morgen sowieso nicht mehr in Abbeywitch.“ „Warum wollen Sie uns verlassen? Wegen des Schmucks?“ „Ich bin sicher, daß Ihre Stiefmutter und Sandra nicht dulden werden, daß ich länger an dem Buch arbeite.“ „So? Und welchen Grund haben die Damen?“ Nervös spielte Deborah mit den beiden Enden des Bademantelgürtels. „Sie – sie sind verärgert.“ „Demnach ist diese Verärgerung von so großer Wichtigkeit, daß Sie, Senorita, vorhaben, das Manuskript meines Bruders in andere Hände zu geben“, faßte er zusammen. Deborah spürte, daß er sie dabei unentwegt ansah, und hob langsam den Kopf. In dem seidenen grünen Hausmantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte, wirkte Juan ausgesprochen groß und beeindruckend, so daß ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Jetzt erst wurde ihr bewußt, daß sie ganz allein mit ihm war. Alle anderen Bewohner von Abbeywitch hatten sich wahrscheinlich schon zur Ruhe begeben, denn es war schon ziemlich spät. „Ich verehre Ihren Bruder sehr, Senor, und ich würde die Arbeit an seinem Buch auch gern beenden“, begann Deborah so leise, daß sich Juan neben sie setzte und sich vorbeugte, um sie besser verstehen zu können. Es kostete Deborah sehr viel Überwindung weiterzusprechen. „Sie fragten mich eben, Senor, ob Sandra etwas Beleidigendes gesagt hätte. Sie wissen doch genau, daß mich weder Ihre Schwester noch Ihre Stiefmutter eingeladen haben, an der Party teilzunehmen, und das aus gutem Grund. Die beiden besitzen nämlich ein ausgeprägtes Standesbewußtsein.“
„Und ausgerechnet ich mußte dieses Standesbewußtsein verletzen, indem ich mit einer jungen Dame, die mein Gast war, getanzt habe“, erwiderte Juan spöttisch. „Scheinbar haben aber nur Sandra und Lenora so schrecklich gelitten, während alle anderen Gäste davon begeistert waren, wie der Beifall zeigte.“ „Sharon Chandler hat das aber ganz bestimmt nicht gefallen…“ Zu spät bemerkte Deborah, daß es sehr unpassend war, was sie gerade gesagt hatte. Leider waren ihr die Worte so herausgerutscht. Ein typisches Zeichen für Deborahs innere Anspannung, die sie schon während des ganzen Abends plagte. Denn sonst hätte sie nie so offen zugegeben, daß sie eifersüchtig auf das junge Mädchen war. Unwillkürlich zuckte Deborah zusammen, als Juan jetzt ihren Kopf zu sich drehte und sie ihm in die Augen blicken mußte. „Ich möchte endlich einmal klarstellen, daß ich mich nie den Wünschen und Erwartungen anderer Leute untergeordnet habe. Ich bin mein eigener Herr. Als ich mit Ihnen getanzt habe, wollte ich es so. Ich kann nicht verstehen, daß Sie sich deshalb schuldig fühlen und Konsequenzen daraus ziehen wollen. Warum beachten Sie so sehr die Meinung dieser blasierten Menschen? Sie sollten Lenora und Sandra lieber wegen ihrer Oberflächlichkeit bedauern. Die beiden würden nicht begreifen, daß es in Spanien sogar Bettler gibt, die unter ihrer ärmlichen Kleidung Stolz und Ehrgefühl verbergen. Deshalb liebe ich dieses Land und halte mich häufiger dort auf als in Abbeywitch.“ Während Juan eindringlich auf Deborah einredete, glitt seine Hand wie selbstverständlich unter ihr Haar, und er massierte mit dem Daumen ihren Nacken. Diese sanfte Berührung bewirkte zwar, daß sich Deborah entspannte, gleichzeitig spürte sie aber, daß sie auch sehr empfänglich für andere Liebkosungen wurde. Wenn Juan sie jetzt küßte, wäre sie wohl kaum imstande, sich dagegen zu wehren. „Solange ich in Spanien bin, übernimmt Michael meine Verpflichtungen hier auf der Insel. – Im Augenblick mache ich mir jedoch Sorgen um ihn. Wo mag er nur sein?“ „Wahrscheinlich an irgendeinem einsamen Ort* wo er seinen Grübeleien nachgeht“, flüsterte Deborah. Dabei fiel ihr Stuarts Andeutung über eine intime Beziehung zwischen Pauline und Juan wieder ein. Dieser Gedanke war für Deborah unerträglich, und doch lag es nahe, daß Paulie die Nähe eines anderen Menschen gesucht hatte, je stärker sie die Ablehnung durch Lenora und Sandra zu spüren bekam. „Außer den Pflichten als Hausherr, die ich ihm jetzt also vorübergehend abgenommen habe, scheint Michael auch zu vergessen, daß er der Vater eines kleinen Sohnes ist und außerdem ein bekannter Autor“, fuhr Juan fort. „Bei Julian kann ihn niemand ersetzen, doch Sie, Senorita, können dafür sorgen, daß die Leser seiner Bücher nicht enttäuscht werden. Das sollte doch ein Grund sein, Ihre Arbeit nicht einfach im Stich zu lassen!“ „Ich bin da keineswegs so sicher“, erklärte Deborah, denn sie mußte daran denken, daß sie ohne Juan, der eines Tages nach Spanien zurückkehrte, in Abbeywitch den weiblichen Mitgliedern der Familie Salvador hilflos ausgeliefert war. Sandra würde es niemals widerspruchslos hinnehmen, daß Stuart Coltan eine andere Frau ansah, und Lenora würde bis an ihr Lebensende die Menschen verachten, die zur arbeitenden Bevölkerung gehörten. „Michael verläßt sich auf Sie, Miss Hartway. Wollen Sie ihn enttäuschen?“ Juan hörte nicht auf, Deborahs Nacken zu streicheln. „Ich kann nicht glauben, daß Sie sich so leicht einschüchtern lassen. Als wir uns am Strand begegneten, waren Sie durchaus in der Lage, sich zu verteidigen. Erinnern Sie sich?“ Wie könnte ich das jemals vergessen, dachte Deborah. Jede Einzelheit dieser
Begegnung war in ihrem Gedächtnis haften geblieben, und plötzlich erinnerte sie sich auch daran, daß sie unter ihrem Bademantel nur ein hauchdünnes Nachthemd anhatte. Juan schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn seine Augen funkelten lüstern. Doch er blickte sofort in eine andere Richtung, als er bemerkte, daß Deborah errötete. „Wir haben gut zusammen getanzt, nicht wahr?“ fragte Juan beiläufig. „Haben Sie schon einmal einen Paso doble versucht?“ Deborah schüttelte den Kopf. Auch Stuart hatte von einem Paso doble gesprochen und sich darüber lustig gemacht. „Ich kenne nur die klassischen Tänze“, erwiderte Deborah zögernd. „Die Rumba war aber sehr gekonnt. Warum sind Sie übrigens am Schluß so Hals über Kopf davongerannt?“ Deborah lächelte gequält. „Den Gesichtern von Mrs. Salvador und Sandra war deutlich anzusehen, was sie sich bei dieser Vorstellung dachten.“ „Bitte, klären Sie mich auf, Miss Hartway.“ „Die Damen dachten, daß ich mit Ihnen flirte!“ „Dios! Was für ein Skandal!“ „Ja, spotten Sie nur, Senor“, ereiferte sich Deborah. „Sie kennen doch die Einstellung Ihrer Stiefmutter Pauline gegenüber und wußten im voraus, welche Herausforderung unser Tanz für Mrs. Salvador war. Setzen Sie sich eigentlich immer über die Gefühle anderer hinweg?“ „Welche meinen Sie? Ihre Gefühle oder die meiner Stiefmutter?“ „Ich spreche von beiden! Sie können es mir nicht verübeln, wenn ich den Eindruck habe, daß Sie sich köstlich amüsierten, als Sie mich zum Tanzen aufforderten.“ „Glauben Sie denn, daß ich mir wegen Ihrer Meinung, die Sie von mir haben, Gedanken mache?“ „Nein!“ „Sind Sie ganz ehrlich?“ Juan rückte noch näher an Deborah heran und forschte in ihrem Gesicht, bis sie nervös die Augen niederschlug. Was sie aber in diesem Augenblick sah, ließ ihr Herz noch schneller schlagen als vorher, denn Juans Hausmantel schob sich über der Brust etwas auseinander, so daß dichtes gekräuseltes Haar sichtbar wurde. Juan hatte demnach noch weniger unter seinem Mantel an als sie selbst. Seine nächste Bemerkung lenkte Deborah vorübergehend von dem äußerst verwirrenden Anblick ab. Denn er behauptete, daß es in Spanien sehr häufig unschuldige und unerfahrene junge Frauen gäbe, während bei den Engländerinnen diese Tugenden schon eine Seltenheit wären. Als Juan aber dann von diesem Vergleich auf ihre erste Begegnung am Strand und seine empfindliche Reaktion überleitete, ließ Deborah ihn gar nicht erst weiterreden. Sie empfand es als verletzend, weil er sie wieder in ein Schema zwängen wollte, in das nur Frauen ihres Alters paßten, die bereits ausgiebig Erfahrungen mit Männern gesammelt hatten und dabei ganz raffiniert vorzugehen pflegten. „Ihre Empfindlichkeit würde ich eher als Schock bezeichnen, Senor“, meinte Deborah verärgert, „was für mich trotzdem unbegreiflich bleibt. – Hatten Sie denn vorher noch nie an Spaniens Stränden eine englische Urlauberin gesehen, die…“ „Die völlig nackt ein Sonnenbad nahm?“ unterbrach Juan sie spöttisch. „Nein, Senorita. Diejenigen, die ich sah, hatten zumindest ein Höschen an. Aber Sie, Deborah, hätte ich natürlich auch ganz anders eingeschätzt, wenn wir uns zum erstenmal an Ihrem Arbeitsplatz hinter der Schreibmaschine begegnet wären. Wobei ich den Anblick am Strand auf jeden Fall vorziehe.“
Deborah sah Juan unsicher an und atmete tief durch. Er nutzt seine Stärke in jeder Situation schamlos aus, dachte sie, und mir fehlen die überzeugenden Argumente, um sein Selbstbewußtsein zu erschüttern. „Je eher Sie also zu Ihren züchtigen und unverdorbenen Spanierinnen zurückkehren, desto besser ist es für mich“, meinte Deborah kleinlaut. „Denn ich fühle mich wohl in Abbeywitch und kam mit meiner Arbeit sehr gut voran, bevor Sie hier auftauchten und alles durcheinanderbrachten. Jetzt glaubt Ihre Familie natürlich, daß ich es nur auf Männer abgesehen hätte. Dabei wollte ich gar nicht mit Ihnen tanzen. Sie haben mich förmlich dazu gedrängt.“ Ihre Stimme wurde noch leiser. „Ich wünschte, Sie würden mich endlich in Frieden lassen.“ „Sind Sie denn der Meinung, daß ich mich Ihnen auch jetzt aufdränge? Dann irren Sie sich nämlich, Senorita. Ich habe nur kurz nach meinem Neffen gesehen und fand Sie auf dem Rückweg weinend am Boden kauern. Bei jedem anderen Gast in meinem Haus hätte ich…“ Juan konnte seinen Satz nicht beenden, weil in diesem Augenblick die Tür aufgerissen wurde. Mit vor Zorn gerötetem Gesicht stürmte Lenora Salvador ins Zimmer. Als sie die beiden eng nebeneinander auf dem Bett sitzen sah, war an ihrer Miene deutlich abzulesen, was sie davon hielt. Den ängstlichen Blick, den Deborah Juan zuwarf, mußte Mrs. Salvador genauso mißverstehen wie alles andere auch. Selbst wenn sich Juan ganz schnell eine vernünftige Erklärung einfallen ließ, schien seine Stiefmutter nicht in der Stimmung zu sein, ihm zu glauben. Am liebsten würde sie mich wohl postwendend aus dem Haus weisen, dachte Deborah und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. „Ausgerechnet dich muß ich hier finden, Juan.“ Lenoras Lippen bebten vor Zorn. „Du mit deinem stolzen Gerede von den Spaniern, die angeblich die Ehre einer Frau respektieren. Du selbst scheinst diese hochtrabenden Worte am wenigsten zu beherzigen.“ „Es besteht überhaupt kein Grund zur Aufregung, Lenora, denn ich bin zu Miss…“, er zögerte kurz, „zu Deborah gegangen, um ihr einen Heiratsantrag zu machen.“ Beide Frauen schauten Juan ungläubig an, und es war Lenora, die zuerst ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, Juan. Du kennst doch die Bedingung im Testament deines Vaters, und deshalb hattest du dich entschieden, Junggeselle zu bleiben.“ „Ganz recht, Lenora. Wenn ich heirate, muß ich mich in Abbeywitch niederlassen oder auf den Besitz verzichten. Aber nur ein Verrückter würde sein Recht des Erstgeborenen aufgeben. Daher werde ich mich dem Willen meines Vaters fügen und in Zukunft hier in Abbeywitch leben!“ Deborah wagte nicht zu glauben, was sie da hörte, und kam zu dem Schluß, daß Juan wirklich verrückt sein mußte. Wie kam er nur auf die abwegige Idee mit dem Heiratsantrag? Erlaubte er sich einen Scherz, oder wollte er ernsthaft ihre Ehre verteidigen, weil Lenora ihn im Schlafzimmer einer Angestellten ertappt hatte? Angestellte! Deborah fand, daß sie aufhören mußte, sich selbst als minderwertigen Menschen einzustufen. Dabei war die Bearbeitung der Manuskripte hier eine selbständige und verantwortungsvolle Tätigkeit, und in London war sie für ihr Alter schon eine erfolgreiche Verlagsassistentin, die hart daran arbeitete, eines Tages Lektorin oder Ressortleiterin zu werden. Es wurde höchste Zeit, daß ihr Selbstbewußtsein wieder zum Vorschein kam, indem sie umgehend diesem Unsinn ein Ende bereitete. Gerade wollte sie laut und energisch protestieren, als Juan sie auf eine sehr wirkungsvolle Art zum Schweigen brachte – er küßte sie mitten auf den Mund.
Eindrucksvoll war auch, wie er sich anschließend vor Lenora hinstellte und sie von oben herab betrachtete. „Ich muß mich beeilen, seßhaft zu werden, denn man sagt doch, daß Junggesellen das eigene Ich zu sehr in den Vordergrund stellen, zu anspruchsvoll werden. Aber wie mir scheint, billigst du meinen Entschluß nicht, Lenora.“ „Wundert dich das?“ fragte Mrs. Salvador nach einem verächtlichen Blick auf Deborah. „Ich weigere mich zu glauben, daß du jemanden heiraten willst, der lediglich für uns arbeitet, sozusagen als kleiner Angestellter. – Diesmal bist du mit deinem oft merkwürdigen Sinn für Humor zu weit gegangen. Das Mädchen nimmt dich womöglich noch ernst.“ „Das hoffe ich sehr“, antwortete Juan sofort, bevor er an Deborah die Frage richtete, ob sie ihn ernst nähme. Er duzte sie dabei, und es klang ganz selbstverständlich. Deborah reizte es, Juan auf die Probe zu stellen und ihm eine Lektion zu erteilen. „Aber natürlich, lieber Juan, ich kann es gar nicht erwarten, endlich deine Frau zu werden“, flötete Deborah. „Da hörst du es, Lenora.“ Juans Gesicht blieb ausdruckslos, nur in seinen Augen blitzte es kurz auf. „Um Himmels willen, bist du blind?“ erwiderte Lenora gehässig. „Von Anfang an hat diese Person ihre Netze nach dir ausgeworfen, und nur, weil sie in dir eine gute Partie sieht. Wenn du dich so leichtfertig einfangen läßt, ergeht es dir wie Michael. Warum gibst du ihr nicht einfach einen Scheck, damit sie für alle Zeiten von der Insel verschwindet?“ Diese ungeheuerliche Lüge wollte Deborah nicht widerspruchslos hinnehmen. „Ich hatte nie die Absicht, Mrs. Salvador“, begann Deborah mit vor Erregung zitternder Stimme, doch Juan hinderte sie weiterzusprechen. Hart und unerbittlich verlangte er von seiner Stiefmutter, daß sie sich eine Wohnung nehmen müßte, falls sie es nicht ertragen könnte, mit ihm und Deborah unter einem Dach zu leben. Nun versuchte Lenora, Mitleid zu erregen, indem sie ein Spitzentuch aus ihrem Ärmel holte und sich damit die Augen abtupfte. „Ich bin tieferschüttert darüber, wie du mit mir redest“, beklagte sie sich. „Daß ich das noch erleben muß, hätte ich niemals für möglich gehalten. Dieses Mädchen hat dich total verändert, genauso wie Pauline deinen Bruder verändert hat. Wie kommt es nur, daß ihr beide unter eurem Stand heiratet?“ „Das hängt wohl mit den Erbanlagen zusammen…“ „Jetzt wirst du beleidigend, Juan!“ Lenora sah ein, daß sie mit ihrem Taschentuch nicht viel ausrichten konnte und steckte es wieder weg. „Ich nehme mir nur an dir ein Beispiel“, fuhr Juan erbarmungslos fort. „Oder glaubst du, für Deborah ist es keine Beleidigung, wenn sie dir zuhören muß? Dein Benehmen entspricht nicht dem einer wahren Dame, werte Stiefmutter“, fügte er ironisch hinzu. „Entspricht es dem Benehmen eines Gentleman, sich nachts in das Zimmer einer – einer Angestellten zu schleichen, während das Haus voller’ Gäste ist?“ erwiderte Lenora wütend. „Sandra hat dich hier hineingehen sehen und mich gewarnt, und ich gebe die Warnung an dich weiter. Wir wollen unbedingt einen Skandal vermeiden.“ „Da ich Deborah heiraten werde, gibt es keinen.“ „Es wird auch keine Hochzeit geben, da ich diesen Antrag lächerlich finde!“ rief Deborah empört und sprang vom Bett auf. „Da hast du es!“ Lenora sah sehr zufrieden aus. „Diese selbständigen jungen Mädchen erwarten heutzutage keinen Heiratsantrag mehr, wenn sie mit einem Mann erwischt werden. Dein Fehler ist, daß du zu lange in Spanien gelebt hast. Du mußt dich nicht verpflichtet fühlen, und das weiß Miss Hartway sehr genau.
Also gib ihr wenigstens einen großzügigen Scheck.“ „Das Geld würde ich nicht einmal mit der Feuerzange anfassen, Mrs. Salvador“, meinte Deborah beherrscht, bevor sie sich zu Juan umdrehte und ihm ebenso kühl zu verstehen gab, daß sie jetzt ihre Koffer packen werde. Da er es nicht für nötig hielt, seiner Stiefmutter zu erklären, daß in diesem Zimmer nichts Anstößiges vorgefallen sei, wolle sie die Insel so schnell wie möglich verlassen. Sie wäre es leid, wie ein Flittchen behandelt zu werden. „Du willst wirklich gehen, Deborah?“ fragte Juan enttäuscht. Im Gegensatz zu ihr duzte er sie immer noch. „Ja, denn ich will nicht so enden wie Pauline“, schleuderte sie ihm entgegen und holte ihren Koffer aus dem Schrank. „Wenn Sie es nicht anstößig finden, daß Sie eng an Juan geschmiegt auf dem Bett sitzen und so gekleidet sind, als wollten Sie gleich mit ihm unter die Decke schlüpfen, dann könnten Sie mir vielleicht freundlicherweise erklären, Miss Hartway, wie ich diese Szene verstehen soll“, fragte Lenora höhnisch. Deborah klammerte sich an ihren Koffer wie an einen Rettungsring, während sie nur mühsam beherrscht erklärte, aus welchem Grund Juan in ihr Zimmer gekommen war. Daß sie wegen Stuart geweint hatte, ließ sie unerwähnt. „Juan, der Tröster verzweifelter Frauenherzen. Ich bin überzeugt, daß mein Stiefsohn sehr talentiert für diese Aufgabe ist.“ Als Juan auch weiterhin schwieg, fing Deborah an zu packen. Sie wollte gerade einen Stoß Pullover in den Koffer legen, da hörte sie Juans ungeduldige, befehlende Stimme. „Du bleibst, Deborah! Solange du als mein Gast unter dem Dach meines Hauses lebst, fühle ich mich für deinen guten Ruf verantwortlich. Er ist mit Schmutz beworfen worden, und deshalb verbietet es mir mein Stolz, dich so einfach gehen zu lassen. Du wirst bleiben und mich heiraten.“ „Am Ruf dieser jungen Dame gibt es doch gar nichts mehr zu beschmutzen“, warf Lenora gehässig ein. „Nun reicht es aber, Senora!“ rief Juan, außer sich vor Zorn. „Ich habe Ihnen jetzt lange genug zugehört, und es wird Zeit, daß Sie sich verabschieden.“ „Du bist ein unverbesserlicher Narr – genauso wie Michael. Aber du wirst deinen Fehler eines Tages noch bitter bereuen.“ Das waren Lenoras letzte Worte, bevor sie ging. Die Tür ließ sie demonstrativ offen, und Deborah blickte sehnsüchtig dorthin, weil sie auch gern davongelaufen wäre… Eine Weile blieb es still im Zimmer. Juans Gesicht wirkte wie eine steinerne Maske, und er sah ganz und gar nicht wie ein glücklicher Mann aus, der einer Frau gerade einen Heiratsantrag gemacht hatte. Deborah überlegte verzweifelt, mit welchen Argumenten sie ihn von diesem unsinnigen Vorhaben abbringen konnte. Es würde nicht leicht sein, ihn davon zu überzeugen, daß es keinen Grund gab, sie zu heiraten. So wie Lenora unerschütterlich an ihrer Überzeugung festhielt, daß es Menschen verschiedener Klassen gab, die nichts miteinander gemein hatten, so glaubte Juan fest daran, daß er als Hausherr gewisse Verpflichtungen hatte, auch wenn das manchmal ein wenig altmodisch wirkte. Am Beispiel Stuarts, dem Juan unmißverständlich gedroht hatte, daß er Abbeywitch verlassen müsse, falls er sich nicht an die Hausordnung hielt, war diese Einstellung schon deutlich geworden. Der in seiner Eitelkeit schwer gekränkte Schauspieler war sicher auch für die unangenehme Situation verantwortlich, in die Deborah nun geraten war. Stuart hatte bestimmt beobachtet, daß Juan in ihr Zimmer gegangen war, und da blieb ihm natürlich nichts Eiligeres zu tun, als Sandra zu informieren, und diese wiederum ihre Mutter. Deborah unterbrach das Schweigen und erklärte zögernd, daß zwei
Menschen heutzutage nicht unbedingt heiraten müßten, um einen Skandal zu vermeiden. Zumal, wenn beide wüßten, daß sie gar nichts Schlimmes getan hätten. „Das wissen wir, aber die anderen nicht“, antwortete Juan unbeeindruckt. „Ich kann es nicht zulassen, daß dir durch eine falsche Auslegung Schaden zugefügt wird und du von hier weggehst mit dem Makel, meine Partnerin in einer schmutzigen Episode gewesen zu sein.“ „Natürlich gab es keine Episode, vor allem keine schmutzige“, betonte auch Deborah. Dann holte sie tief Luft, denn sie wollte noch ein schwieriges Thema ansprechen. „Nur zwei Menschen, die sich sehr lieben, sollten sich in unserer Zeit auch durch eine Ehe aneinander binden“, sagte sie leise. „In Spanien gibt es auch andere Gründe, zum Beispiel in unserem Fall. Wir heiraten, weil wir erwischt worden sind.“ „Du… Sie können mich nicht zwingen, Senor.“ Langsam wich Deborah vor ihm zurück. „Ihr Benehmen erinnert mich an Ihren Ahnherrn, und ich bin mir fast sicher, daß Sie sich Don Juan Rodare zum Vorbild genommen haben.“ „Nicht ganz.“ Als Juan einen Schritt vorwärts machte, drehte sich Deborah um und lief auf die Terrasse hinaus. Ihre Flucht endete jedoch an der Brüstung. Juan hob sie mühelos auf seine Arme und trug sie ins Schlafzimmer zurück. „Jagt dir der Gedanke, mich zu heiraten, solchen Schrecken ein?“ fragte er lachend. „Sieh mal, ich kann dir doch eine Menge bieten. Und was bedeutet schon Liebe? Wir in Spanien sagen, daß Liebe nicht zufällig da ist, sondern gemacht wird.“ Juan setzte Deborah behutsam aufs Bett. „Schlaf jetzt erst einmal – und morgen sieht alles schon ganz anders aus. Wenn du dann frisch und munter bist, kannst du auch deiner Mutter schreiben, daß du bald heiraten wirst. Buenas noches, Deborah mia.“ „Ich gehöre nicht Ihnen, das sollten Sie sich merken“, rief Deborah. „Und wenn mich etwas erschreckt, dann ist es Ihre unerträgliche Sicherheit, wie Sie völlig abwegige Dinge als selbstverständlich hinstellen.“ „Meinen Heiratsantrag, zum Beispiel?“ „Ja. Sie nehmen doch an, daß ich Ihren Vorschlag brav befolgen werde.“ „Du hast gar keine andere Wahl, Deborah.“ „Doch – die habe ich, Senor.“ Ihre Augen blitzten vor Erregung, als sie Juan ansah und plötzlich wußte, daß sie alles an ihm lieben könnte, wenn sie auf seinen verrückten Vorschlag eingehen würde. Ihrer Meinung nach schlug Juan die Verbindung aber lediglich aus leidenschaftlichen Gefühlen vor – etwa genauso, wie er den guten Ruf einer Frau verteidigte. „Ich erkenne an, daß Sie mich respektieren, doch Sie müssen endlich auch einmal realistisch denken“, fügte Deborah eindringlich hinzu. „Sie sollten eine Frau heiraten, die zu Ihrem Lebensstil paßt. Diese Frau bin ich nicht, denn ich möchte in meinem Beruf noch viel erreichen.“ „Hast du vergessen, daß auch du die Verantwortung dafür trägst, daß ich in dein Zimmer gekommen bin?“ „Ich habe Sie nicht hereingebeten und kein Mitgefühl verlangt.“ „Du hast mich aber auch nicht abgewiesen, als ich versuchte, dich zu beruhigen.“ Juan holte den Anhänger und die Kette aus der Tasche und betrachtete beides nachdenklich. „Das bringe ich morgen zur Reparatur. Könntest du mir sagen, wer es dir geschenkt hat?“ „Mein Vater“, antwortete Deborah. „Würde dein Vater glücklich sein, wenn er wüßte, daß seine Tochter ihre Stellung aufgibt, weil über sie häßliche Gerüchte im Umlauf sind?“ „Sie übertreiben, Senor. Außerdem hatte Ihre Stiefmutter schon vorher
entschieden, daß ich hinausgeschmissen werde!“ „Du Ärmste wurdest entlassen, weil du mit mir getanzt hast“, entgegnete Juan spöttisch. „Je länger wir reden, Deborah, desto deutlicher wird mir bewußt, daß das Schicksal für uns entschieden hat.“ Seine Stimme klang jetzt sehr ernst. „Schicksal“, flüsterte sie und senkte den Kopf, so daß ihr Haar im Lampenlicht glänzte. Ein Zittern durchlief ihren Körper, weil auch sie den Eindruck hatte, daß eine unbekannte Kraft sie in die Nähe dieses Mannes getrieben hatte – den sie nie wiedersehen würde. Denn Deborah war fest entschlossen, ihn zu verlassen. „Du kannst vor mir davonlaufen, aber ich werde dir folgen“, sagte Juan drohend. „Warum?“ „Weil ich zu meinem Wort stehe.“ Dann verneigte er sich vor ihr wie ein Kavalier der alten Schule und verließ das Zimmer. Deborah würde nie den Ausdruck auf seinem Gesicht vergessen, als er diese letzten Worte aussprach…
7. KAPITEL „Was soll ich bloß machen, Nanny Rose!“ Schon seit den frühen Morgenstunden saß Deborah bei dem Kindermädchen, denn sie hatte das Bedürfnis gehabt, sich einem Menschen anzuvertrauen. Während sie von den Ereignissen des vergangenen Abends und der Nacht erzählte, drückte sie immer wieder den kleinen Julian an sich, der auf ihrem Schoß saß und verträumt an seinem Daumen nuckelte. „Hören Sie auf Ihr Herz“, entgegnete Rose auf Deborahs unsichere Frage. „Vielleicht gibt es Ihnen nicht die erwünschte Antwort – aber eine Antwort ist besser als keine.“ „Sie denken, daß ich mich in ihn verliebt habe, nicht wahr?“ „Zumindest ein bißchen, wenn nicht sogar mehr“, meinte Rose. „Ich habe so etwas schon geahnt. Sie, die erfrischend natürliche und unverdorbene junge Frau – Mr. Juan, der gebieterische, stolze Spanier. Und nun will er Sie heiraten?“ „Den Grund dafür habe ich Ihnen erzählt, Rose.“ „ Jaja.“ Rose Jones schenkte Tee aus ihrer alten, braun glasierten Kanne ein, die sie schon seit Jahren von einer Arbeitsstelle zur anderen begleitet hatte. „Es ist an der Zeit, daß er seßhaft wird, und zwar nicht mit einer Sharon Chandler, trotz ihrer Schönheit und ihres gewandten Auftretens.“ „Aber die beiden kommen aus derselben Umgebung“, sagte Deborah, und ihr Lächeln fiel etwas kläglich aus. „Sie sind also der Meinung, daß Sie nicht zu Mr. Juan passen?“ Deborah nickte. „Ja, so ist es. Ich füge mich nämlich genausowenig in sein Leben ein wie Pauline in das von Michael. Sie wissen ja selbst, was aus ihr geworden ist.“ „Mr. Juan würde viel besser auf seine Frau aufpassen als sein Bruder“, bemerkte Rose lächelnd. „Weil er besitzergreifend ist. Oh, Sie hätten ihn sehen sollen, Rose, nachdem seine Stiefmutter ihre Anschuldigungen gegen mich hervorgebracht hatte. Juan kam mir wie ein spanischer Edelmann des achtzehnten Jahrhunderts vor, der im Morgengrauen mit dem Degen seine Ehre verteidigt.“ Deborah atmete tief durch. „Aber die Realität ist gar nicht so spaßig, und deshalb werde ich Abbeywitch verlassen.“ „Obwohl Sie viel eher in dieses Haus gehören als Madam, von Miss Sandra ganz zu schweigen? Ich weiß doch, daß Ihnen dieses alte Gemäuer ans Herz gewachsen ist.“ „Das stimmt“, gab Deborah zu. „Doch wenn ich hierbliebe, müßte ich Juan heiraten und immer mit der Gewißheit leben, daß er mich nicht liebt und sich nur aus ehrenvoller Verpflichtung an mich gebunden fühlt.“ „Dennoch ist der Gedanke sehr verlockend, nicht wahr?“ Rose Jones schmunzelte, während sie bedächtig ihren Tee umrührte. „Nicht jedes Mädchen hat die Chance, einen Mann wie ihn zu bekommen. Zugegeben, er ist oftmals recht herrschsüchtig, aber jeder Zoll an ihm ist männlich und bringt vermutlich Ihr Blut in Wallung, wenn Sie ihn nur angucken. Sie wollten vorhin meinen Rat – und der ist, Mr. Juan zu heiraten und dafür zu sorgen, daß er Sie liebt.“ Bei Roses temperamentvoller Schilderung hatte Deborah zuerst lachen müssen, doch nun wurde sie wieder ernst. „Statt Liebe würde vielleicht Haß entstehen, Nanny.“ Deborah stand auf und setzte Julian in sein Kinderstühlchen. „Mir bleibt nichts anderes übrig, als meine Koffer zu packen und Walter Lee zu bitten, mich zum Festland zu fahren. Ich werde Sie und den Kleinen sehr, sehr vermissen.“ Nachdem sich Deborah von Nanny Rose verabschiedet hatte, beugte sie sich über
den Lockenkopf des Jungen. „Dein Daddy wird bestimmt bald nach Hause kommen, mein kleiner Liebling“, flüsterte sie traurig. Als Julian beide Arme um Deborahs Hals legte und sich an sie schmiegte, traten ihr Tränen in die Augen, worauf sie ihm hastig die Wangen küßte, bevor sie das Kinderzimmer eilig verließ. Vor der Tür blieb sie einen Augenblick stehen und ermahnte sich zu überlegtem Handeln. Dann wischte sie mit dem Taschentuch die Tränen fort und ging entschlossen auf ihr Zimmer. Ihre Sachen waren schnell gepackt, denn sie hatten in einem Koffer und einer Reisetasche Platz. Jetzt konnte Deborah nur noch hoffen, unbemerkt zum Bootshaus zu gelangen. Auf keinen Fall durfte Juan sie mit den Gepäckstücken sehen. Er würde seine Drohung wahr machen und ihr überallhin folgen, und sie könnte der Versuchung erliegen, Nanny Roses Ratschlag zu beherzigen. Aber diese Heirat war unmöglich, und Deborah vermutete sogar, daß Juan seinen Antrag schon bitter bereute. Aus guten Gründen war er bisher Junggeselle geblieben, denn er schätzte nicht nur seine Freiheit hoch ein, sondern auch das Leben in Spanien. Daran würde ihn aber das Testament seines Vaters hindern, der seinen ältesten Sohn dazu zwingen wollte, ständig in Abbeywitch zu leben, falls er sich verheiratete. Diese Klausel hatte Deborah sehr verwundert, weil sie sich nicht vorstellen konnte, daß jemand gezwungen werden mußte, sich in diesem wunderschönen Haus und auf der landschaftlich so faszinierenden Insel sein Leben lang aufzuhalten. Deborah knöpfte ihre Jacke zu und trat ein letztes Mal auf die Terrasse. Es wehte ein heftiger Wind, der die graue Wolkendecke aufriß, so daß die Sonne hindurchschimmern konnte. Dann sah das Meer wie eine geschliffene Metallplatte aus. Ein melancholisch machender Anblick, der genau meiner momentanen Stimmung entspricht, dachte Deborah und wandte sich schweren Herzens ab. Auf dem Weg zum Bootshaus am Strand drehte sich Deborah kein einziges Mal um. Sie befürchtete, in Tränen auszubrechen, wenn sie ein letztes Mal das Haus auf den steilen Klippen sah. Außerdem mußte sie sich beeilen, denn sie wollte auf keinen Fall Walter Lee verpassen, der jeden Morgen mit dem Boot zum Festland hinüberfuhr, um Post und Zeitungen zu holen. Walter war der Sohn der Haushälterin und geistig ein wenig zurückgeblieben, so daß er sich ein kindliches Gemüt trotz seiner beachtlichen Größe und seiner massigen Figur bewahrt hatte. Als Deborah den niedrigen Schuppen betrat, der so aussah, als sei er aus Treibholz gebaut worden, hämmerte Walter gerade auf einer Holzplanke herum. Sie zupfte am Ärmel seines Overalls, um sich bemerkbar zu machen. „Hallo, Walter“, begrüßte Deborah ihn und erklärte ihm, was sie wollte. Über sein wettergegerbtes Gesicht huschte ein unsicheres Lächeln. „Sind Sie nicht die Miss, die an Mr. Michaels Buch arbeitet?“ „Bis heute, Walter. Jetzt möchte ich zum Festland, um den Zug nach London zu erreichen. Ich bezahle Ihnen die Überfahrt auch“, fügte sie hinzu. Walter runzelte seine dichten, buschigen Augenbrauen, die ihm ein grimmiges Aussehen gaben, wenn er nicht gerade lächelte. „Brauchen Sie denn kein Zeugnis und Ihren Gehaltsscheck, Miss?“ fragte er. „Sie finden doch sonst gar keine neue Stelle. Oder hat Ihnen Mr. Michael etwa seine Adresse gegeben?“ Er betrachtete Debora zuerst mißtrauisch, nickte aber dann zustimmend. „Nur wir beide kennen die Adresse. Noch nicht einmal Mr. Juan weiß sie, obwohl er mich ausgehorcht hat. Ich verrate nichts, denn Mr. Michael und ich sind Freunde.“ Also hatte Michael doch einem Menschen anvertraut, wo er sich aufhielt, überlegte Deborah, und sie konnte sich auch vorstellen, daß bei Walter das
Geheimnis gut aufgehoben war. Diese Tatsache brachte sie auf eine Idee, die sogar hinter dem Wunsch, Cornwall so schnell wie möglich zu verlassen, zurücktrat. Wenn sie Walter überreden könnte, mit ihr gemeinsam Michael aufzusuchen, würde sie den Schriftsteller vielleicht davon überzeugen, wieder nach Hause zurückzukehren, wo er von seinem kleinen Sohn gebraucht wurde. Es bedurfte keiner großen Überredungskunst, und Walter erklärte sich einverstanden. Er schien es aber gar nicht eilig zu haben. „Gehen Sie wegen ihr von hier weg?“ wollte er neugierig wissen. „Sie sprechen sicher von Mrs. Salvador.“ „Nein, von der Goldblonden, die gar nicht mehr schön aussah, als man sie zwischen den Steinen am Strand gefunden hat. Wollen Sie mal die Stelle sehen, Miss?“ Bevor Deborah etwas sagen konnte, stapfte Walter in seinen schweren Gummistiefeln aus dem Schuppen. Sie hatte Mühe, sich seinem schnellen Schritt anzupassen, und wäre beinahe auf den glitschigen Wasserpflanzen ausgerutscht, die das Meer ausgespült hatte. Vor der bizarren Form eines glänzenden grauen Steins blieb er stehen. „Hier genau hat sie die Flut angeschwemmt“, sagte er düster dreinblickend. „Sie war mausetot. Ihre Augen haben nicht mehr gelacht.“ Unverwandt drehte er sich um und starrte über das Wasser, das wie der Himmel eine dunkelgraue Farbe angenommen hatte. Der Wind war noch stärker geworden, doch er vermochte die dichte Wolkendecke nicht mehr aufzureißen. Alles deutete darauf hin, daß ein Gewitter aufzog. So bedrohlich und unheimlich wie die Natur wirkte auch Walter Lee auf Deborah, als er unbeweglich am Ufer stand. Nicht weit von dieser Stelle entfernt war der Platz, an dem sie in den ersten Wochen auf Lovelis heimlich Sonnenbäder genommen hatte, bis Juan sie auf die Gefahren hinwies. Schaudernd dachte Deborah plötzlich daran, was geschehen wäre, wenn nicht Juan, sondern Walter sie hier entdeckt hätte. Er war sehr kräftig und hatte Pauline mit den Augen eines Mannes gesehen, obwohl sein Verstand mit dem eines Kindes zu vergleichen war. „Wir müssen uns jetzt auf den Weg machen, Walter“, mahnte Deborah freundlich, aber mit einer gewissen Strenge. Sie marschierte auch gleich los und stellte erleichtert fest, daß Walter ihr folgte. Richtig beruhigt war sie aber erst, als er im Bootshaus den schweren Hammer aus der Hand legte. Kurz darauf raste das kleine Schnellboot in Richtung Penarth, der ersten größeren Hafenstadt auf dem Festland, die Lovelis am nächsten lag. Deborah traute sich nicht, Walter Fragen zu stellen, damit er nicht mißtrauisch wurde und womöglich umkehrte. Bisher glaubte er ja noch, daß sie den Aufenthaltsort von Michael Salvador kannte. Deborah vermutete aber, daß es sich dabei um Penarth handelte, denn Walter fuhr täglich dorthin und überbrachte sicher seinem Freund Nachrichten von Julian. „Schade, daß Sie wegfahren“, sagte Walter plötzlich. Er hatte seine düstere Stimmung überwunden, seitdem sie das offene Meer erreicht hatten. „Mr. Michael ist nämlich sehr froh, daß Sie an seinem neuen Buch arbeiten. Das hat er mir oft genug gesagt.“ „Dieses Lob freut mich sehr“, antwortete Deborah und bemühte sich, ihre Aufregung zu verbergen, um Walter in dem Glauben zu lassen, daß Michael Salvador ein alter Bekannter sei und kein völlig Fremder, von dem ihr bisher nur die Stimme vertraut war. Deshalb würde sie ihn auch wohl kaum erkennen, wenn sie ihm auf der Straße begegnete – es sei denn, er hätte Ähnlichkeit mit seinem älteren Bruder. Niemals würde Deborah dagegen Juan Salvador vergessen können. Seine stolze Haltung und die markanten Gesichtszüge hatten sich tief in
ihr Gedächtnis eingegraben. „Warum gehen Sie eigentlich fort von Abbeywitch?“ wollte Walter wissen. Deborah erzählte ihm, daß es Schwierigkeiten mit Mrs. Salvador gegeben hatte, und er nickte verständnisvoll. „Die alte Hexe kann mich auch nicht leiden und möchte mich am liebsten überall sehen, nur nicht auf der Insel. Zum Glück kann sie aber überhaupt nichts machen, da Mr. Juan zu bestimmen hat.“ Geschickt wich Walter einer hohen Welle aus. „Man sagt, daß Hexen nicht weinen, und das stimmt, denn ich habe keine Träne bei ihr gesehen, als Miss Paulines Asche ins Meer gestreut wurde.“ „Haben Sie an dem Begräbnis teilgenommen, Walter?“ „Ich war nur in der Nähe, weil es mir Mr. Michael erlaubt hat. Die Alte wurde gar nicht gefragt.“ „Sie haben Pauline gern gehabt, nicht wahr?“ fragte Deborah. „Ja – sehr sogar, denn sie hat mich nicht wie ein Tier behandelt, so wie die anderen beiden Frauen. Zu mir war sie immer sehr freundlich.“ Walter lächelte plötzlich ganz verschämt, was in dem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht etwas sonderbar aussah. „Miss Pauline war nett zu allen Männern. Wenn ich wollte, könnte ich Ihnen etwas erzählen, Miss. Aber ich behalte es doch lieber für mich. Sie verpetzen mich vielleicht bei Mr. Michael, weil Frauen immer Geheimnisse ausplaudern. Die sind nicht so verschwiegen wie ich.“ „Dann ist es bestimmt ein großes Geheimnis.“ Mehr wollte Deborah nicht dazu sagen, obwohl Walter ihre Neugier angestachelt hatte. „Ja, so groß und tief wie das Meer“, meinte er ehrfürchtig. „Keiner kommt dagegen an, und wenn er noch so kämpft. Es bleibt immer Sieger. Aber sie hat ja auch ihre gerechte Strafe bekommen.“ Langsam stellte sich Deborah auf Walters Ausdrucksweise und Gedankensprünge ein und hakte nach. „Weshalb wurde Pauline denn bestraft? Und so grausam?“ „Alle Menschen werden bestraft, wenn sie etwas Böses tun“, sagte Walter ernst. Ohne es recht zu wissen, weihte er Deborah dann in sein großes Geheimnis ein. Er hatte Pauline und einen Mann von einem sicheren Versteck aus beobachtet, als sie sich am Strand liebten, und war empört, weil sie den von ihm sehr verehrten Mr. Michael betrogen hatte. Seine Bewunderung für die „Goldblonde“, wie er Pauline auch nannte, hatte durch diesen Vorfall vorübergehend gelitten. „Leider hat die alte Hexe auch davon Wind bekommen und natürlich großen Ärger gemacht“, fügte er wütend hinzu und drehte den Motor des Schnellboots so hoch, daß Deborah wegen des Lärms Walter nicht fragen konnte, welchen Mann er mit Pauline am Strand gesehen hatte. Dann fuhren sie auch schon in den Hafen von Penarth ein. Geschickt schlängelte sich Walter zwischen den größeren Schiffen hindurch und legte an. Mit einer Leichtfüßigkeit, die Deborah dem kräftigen Mann gar nicht zugetraut hatte, sprang er auf den Steg und half Deborah beim Aussteigen. Anschließend folgte sie ihm über den Marktplatz. Auf dem altertümlichen Kopfsteinpflaster standen viele Buden, und trotz des einsetzenden Nieselregens herrschte hier ein fröhliches Treiben. Immer wieder blieb Walter stehen und schwatzte mit den Marktfrauen, die ihn wie einen alten Bekannten begrüßten. „Lassen Sie uns bitte auf direktem Weg zu Mr. Michael gehen“, mahnte Deborah nach einer Weile ungeduldig. „Er wohnt doch hier in Penarth, nicht wahr?“ Sie schlug den Kragen ihrer dünnen Sommerjacke hoch und ärgerte sich, daß sie sich nicht einen Pullover und ihren Anorak angezogen hatte. Auf einen längeren Marsch war sie gar nicht vorbereitet. „Ja, er wohnt ein paar Straßen weiter in einem Hotel“, erklärte Walter, sehr zu
Deborahs Erleichterung, und lachte dröhnend auf. „Sehr fein ist es nicht da, und die beiden vornehmen Ladys würden bestimmt die Nase rümpfen.“ Vor einem baufälligen Gebäude, das einmal bessere Tage gesehen hatte, wie unter anderem der Stuck an den Rundbögen und Säulen bewies, zögerte Walter und warf Deborah einen ängstlichen Blick zu. „Hoffentlich schimpft er nicht mit mir, daß ich sein Versteck verraten habe. Es ist ihm sicher peinlich, wenn ich eine Lady mit hierherbringe.“ „Ich bin doch keine Lady, Walter“, meinte Deborah beruhigend, und dann gingen sie gemeinsam hinein. Auch das Innere des Hotels war wenig ansprechend. Von den Wänden platzte die Farbe ab, die Teppiche in der Eingangshalle waren verblichen und abgetreten, das geschnitzte Geländer der Treppe zur ersten Etage schien an einigen Stellen durchbrochen. Die Stufen aus Eichenbrettern ächzten, als der gewichtige Walter darüberging. Dieses Haus machte einen deprimierenden Eindruck auf Deborah, und sie hatte Mitleid mit Michael Salvador, der sich in diese schäbige Umgebung flüchten mußte, weil er in dem schönen Elternhaus nur Abfälliges über seine verstorbene Frau zu hören bekam. Aber vielleicht zog er sich ja auch von Julian zurück, da er nicht mehr sicher sein konnte, ob der Junge sein Sohn oder der eines anderen war. Vor einer Tür, auf der in Messingbuchstaben „Grüner Salon“ geschrieben stand, blieb Walter stehen und äußerte nochmals Bedenken, die Deborah aber sogleich wieder zerstreute. Dann klopfte sie zaghaft an, denn Walter trug ihren Koffer und die Tasche und schien auch nicht bereit zu sein, die beiden Gepäckstücke abzusetzen. Als sich nach dem ersten Klopfen hinter der Tür nichts rührte, wiederholte es Deborah etwas kräftiger. Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen. „Es wird aber auch Zeit, Walter, ich dachte schon, du…“ Die ärgerliche Stimme brach ab. Deborah wurde rot, weil Michael Salvador sie von oben bis unten musterte und nicht sehr erfreut aussah. „Wer, zum Kuckuck, sind Sie?“ fragte er dann. „Das ist die Miss, die sich bei Ihnen ihr Zeugnis und ihr Geld abholen wollte“, erklärte Walter verstört. „Geld? Zeugnis? Was hat das zu bedeuten?“ „Ich bin Deborah Hartway, und ich würde gern mit Ihnen reden, Mr. Salvador. Es dauert bestimmt nicht lange.“ Sie wäre am liebsten davongelaufen, so sehr erschreckte sie Michael Salvadors Äußeres. Seine Augen flackerten nervös, ungesunde Blässe überzog sein Gesicht, von dem sich die Bartstoppeln deutlich abhoben. Das schwarze, an manchen Stellen schon ergraute Haar war strähnig und stumpf. „Hartway?“ Er runzelte die Stirn. „Ah, jetzt fällt’s mir ein. Sie kommen vom Columbine Verlag und arbeiten an meinem Buch. Harrison erwähnte in einem Brief Ihren Namen.“ „Die Miss findet keine neue Stelle, wenn Sie ihr kein Zeugnis geben“, erklärte Walter. „Sonst hätte ich sie nie zu Ihnen gebracht, weil ich nämlich schweigen kann wie ein Grab. Sogar Mr. Juan weiß nicht, wo Sie sind, Mr. Michael. Er hat mich ausgequetscht wie eine Zitrone, aber ich bin stumm geblieben.“ „Das hast du richtig gemacht, Walter.“ Michael Salvador wandte sich wieder an Deborah. „Ich verstehe noch immer nicht, weshalb Sie hier und nicht in Abbeywitch sind. Haben Sie Ihre Arbeit bereits beendet?“ Er betrachtete sie mißtrauisch. „Oder hat sich meine Mutter etwa wieder eingeschaltet?“ „Ja – es gab einige Meinungsverschiedenheiten mit ihr“, antwortete Deborah vorsichtig. „Du liebe Zeit, warum ist ausgerechnet meine Mutter nicht so sanftmütig und schweigsam wie die von anderen Leuten?“ meinte er, und
sekundenlang blitzten seine Augen so lebhaft wie die von Juan. „Und was habe ich mit diesen Meinungsverschiedenheiten zu tun, abgesehen von der Tatsache, daß Sie Ihren Job kündigen wollen?“ „Sie könnten mir ein wenig von Ihrer Zeit opfern, Mr. Salvador.“ „Und warum sollte ich das tun?“ „Es geht um Ihren Sohn.“ Deborah rechnete mit einer scharfen Zurechtweisung, die sie Michael nicht mal übelnehmen könnte. Was mischte sie sich auch in Angelegenheiten ein, die sie gar nichts angingen? „Na, Sie haben Nerven“, sagte er zunächst unfreundlich, dann schien er nachzudenken, bis er sich schließlich an Walter wandte und ihn bat, für eine Weile in die Hotelbar zu gehen, weil er mit Deborah etwas zu besprechen hätte. Er gab ihm Geld. „Aber keinen Whisky“, mahnte Michael und drohte lächelnd mit dem Finger. „Nein, ich trinke bestimmt nur Apfelsaft und esse ein paar Kekse dazu“, versprach Walter treuherzig. Offensichtlich machte es ihm nichts aus, daß er von dem Gespräch ausgeschlossen wurde. Auf der ersten Treppenstufe drehte sich Walter noch einmal zu den beiden um und rief mit seinerdröhnenden Baßstimme, die so wenig zu seiner kindlichen Ausdrucksweise paßte: „Ich finde es ganz toll, daß Sie mit der Miss reden, Mr. Michael.“ Michael schmunzelte noch, als er Deborah höflich aufforderte, in sein Zimmer zu kommen, und sie hatte gerade in dem einzigen Sitzmöbel, einem Schaukelstuhl aus Rohr, Platz genommen, als ein Hausmädchen für Michael einen Aperitif brachte. „Möchten Sie auch etwas zu trinken, Miss Hartway?“ fragte er. Da ein alkoholisches Getränk ihre Nervosität eher gesteigert als gemildert hätte, lehnte Deborah dankend ab. Ihr genügte schon, daß sie sitzen konnte, denn ihre Knie gaben plötzlich nach bei dem Gedanken, gleich Rede und Antwort stehen zu müssen. „Wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, hat meine Mutter etwas an Ihnen auszusetzen gehabt“, sagte Michael in diesem Augenblick. „Darf ich erfahren, worum es diesmal ging?“ fragte er erwartungsvoll und trank einen großen Schluck aus seinem Glas. Der Drink war zwar so klar und durchsichtig wie Wasser, doch Deborah tippte eher auf Wodka oder Gin, da Michael beim Trinken das Gesicht leicht verzogen hatte. Das fängt ja gut an, dachte Deborah und überlegte, wie sie sich am besten aus der Affäre ziehen sollte. Den wirklichen Grund ihres Besuchs brachte sie einfach nicht über die Lippen. „Ihre Mutter macht sich große Sorgen um Sie, Mr. Salvador, und ist ständig so gereizt, daß sie dazu neigt, andere Leute falsch zu beurteilen“, fiel ihr schließlich als Ausrede ein. „Und Sie gehören zu diesen Leuten?“ „Ich fürchte ja, Mr. Salvador.“ Aber der ließ nicht locker. „Die Mißverständnisse, wie ich sie einmal nennen möchte, führen Sie darauf zurück, daß meine Mutter mich vermißt?“ „Das ist doch ganz natürlich!“ Sie sah Michael erstaunt an und verglich ihn unwillkürlich mit Juan. Dieser Vergleich fiel auf Grund seines ungepflegten Äußeren zugunsten des älteren Bruders aus, obwohl sie zugeben mußte, daß auch Michael sehr vornehme Gesichtszüge aufweisen konnte. Ihm fehlte jedoch die Ausstrahlungskraft, die Juan so verwirrend unwiderstehlich machte. „Suchen Sie nach einer Ähnlichkeit zwischen mir und dem kleinen Julian, Miss Hartway?“ fragte Michael unvermittelt. „Natürlich besteht eine Familienähnlichkeit“, erwiderte Deborah verlegen. „Gerade heute morgen ist mir wieder aufgefallen, daß Ihr Bruder und Julian…“ „Onkel und Neffe sehen sich Ihrer Meinung nach ähnlich?“ unterbrach Michael sie, aber er schien keine Antwort zu erwarten, weil er bereits die nächste Frage
stellte, die Deborah in noch größere Verlegenheit stürzte. „Gibt es auch Ähnlichkeiten zwischen Juan und mir?“ „Selbstverständlich, Mr. Salvador.“ „Die besteht nur in Ihrer Einbildung“, entgegnete er schroff. „Juan ist im Wesen und dem Aussehen nach ein Spanier. Wir haben nur unseren Stolz gemeinsam. Aus Stolz halte ich mich auch von Lovelis fern und bereite meiner Mutter angeblich so viel Kummer.“ Er verzog spöttisch den Mund. „Jetzt werden Sie mir wahrscheinlich sagen, daß ich kein Recht habe, mich auch von meinem Sohn fernzuhalten.“ „Ja – aber meiner Meinung nach hat das nichts mit Recht oder Unrecht zu tun, Mr. Salvador.“ Trotz seines Gefühlsausbruchs fiel es Deborah nicht schwer, Michael offen in die Augen zu sehen. „Julian ist ein so süßer, aufgeweckter Junge, und wenn Sie noch länger wegbleiben, bringen Sie sich um die Freude, ihn in seiner Entwicklung zu beobachten. Bald fangt er an zu laufen, zu sprechen und seine Umwelt zu entdecken. Warum bestrafen Sie sich so hart?“ „Sie kennen nicht alle Fakten und mich auch nicht, Miss Hartway, sonst würden Sie anders darüber denken“, sagte er verbittert. „Vielleicht sollte ich ein wenig nachhelfen. Was halten Sie zum Beispiel von folgendem Grund: Ich verzichte auf die Annehmlichkeiten von Abbeywitch und verkrieche mich statt dessen in diesem schäbigen Loch, weil ich das Opfer ehelicher Untreue geworden bin?“ Deborah erschrak. Dann war also etwas Wahres an den Gerüchten über Paulines Liebhaber und Michaels Zweifel, daß er der Vater von Julian war. Nun bekam ihre eigene Bemerkung über die Ähnlichkeit zwischen Onkel und Neffen ein ganz anderes Gewicht. Es sah ganz so aus, als würde Michael seinen älteren Bruder verdächtigen, und sein tief verletzter Stolz hinderte ihn an einer offenen Auseinandersetzung mit ihm. Oder hatte Michael Angst, daß er dabei den kürzeren ziehen würde? Juan war so stark… „Ich hatte kein Recht, Walter zu überreden, mich zu Ihnen zu bringen“, sagte Deborah und stand auf. Sie war entschlossen, die Unterhaltung zu beenden. „Außerdem wird es Zeit für mich, denn ich möchte meinen Zug nach London erreichen.“ „Darf ich Sie zum Mittagessen einladen, Miss Hartway?“ fragte er völlig überraschend. „Wenigstens der Koch in diesem Hotel versteht sein Fach. Das Essen ist wirklich gut.“ Er leerte sein Glas mit einem Schluck. „Wenn ich ganz ehrlich bin, geht es mir in erster Linie um Ihre Gesellschaft, denn es ist schon lange her, daß ich mich mit einer so netten und vernünftigen Person, wie Sie es sind, unterhalten habe.“ Als Deborah zögerte, fügte er ein schlichtes „Bitte, Miss Hartway“ hinzu, was sie davon überzeugte, daß ihm ihre Gesellschaft wirklich etwas bedeutete. Sie nahm seine Einladung an. Während des Essens ergab sich vielleicht erneut eine Gelegenheit, über Julian zu sprechen. Die wollte sie sich nicht entgehen lassen, da sie es nach wie vor unmöglich fand, daß ein Kind unter den Unzulänglichkeiten der Erwachsenen leiden sollte. „Ich danke Ihnen.“ Er lächelte verlegen und fuhr sich mit der Hand über sein unrasiertes Kinn. „Geben Sie mir noch etwa fünfzehn Minuten, damit ich mein Äußeres wieder einigermaßen in Ordnung bringen kann?“ „Aber natürlich!“ Deborah stellte sich ans Fenster, nachdem Michael im angrenzenden Bad verschwunden war, und betrachtete die riesige Pfütze, die sich durch den fortwährend niederprasselnden Regen auf der Terrasse gebildet hatte. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden war soviel Unerwartetes geschehen, daß ihr alles so unwirklich erschien. Nun, da sie Lovelis verlassen hatte, überfiel sie manchmal der absurde Gedanke, daß Juans Heiratsantrag reine Einbildung war. Dagegen kam ihr jenes Bild, das
sie plötzlich vor sich sah, gar nicht mehr so abwegig vor: die blonde Pauline in den Armen des dunkelhaarigen Juan, und beide schwebten in vollkommener Harmonie über das Parkett. Sie tanzten einen Paso doble, und der feurige Rhythmus entfachte leidenschaftliche Begierden… Deborah fuhr herum – und vor ihr stand Michael Salvador in einem dunkelblauen Anzug. Rasiert und gekämmt, und so vornehm gekleidet entsprach er ganz der Vorstellung, die sie schon immer von dem bekannten Schriftsteller hatte, den sie sehr bewunderte. „Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe“, meinte er höflich. „Ich war in Gedanken ganz weit weg.“ Deborah zwang sich zu einem Lächeln und wünschte sich nicht zum erstenmal, ihre Gefühle besser verbergen zu können. „In Abbeywitch? Bedauern Sie schon, daß Sie Abschied von dem Haus und der Insel genommen haben?“ „Nein, Mr. Salvador. Es war doch mein eigener Entschluß.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube Ihnen nicht, Miss Hartway. Ich vermute eher, daß Sie Ihr Herz dort gelassen haben.“ „Wovon sprechen Sie überhaupt?“ Vor Verlegenheit klangen die Worte ungehaltener, als Deborah es beabsichtigt hatte. „Ich spreche von dem kleinen Julian.“ Michaels Augen wirkten wie zwei schmale Striche. „Oder dachten Sie an eine andere Person?“ „Ja, ich meinte eigentlich Stuart Coltan“, sagte sie mit etwas zu lauter Stimme. „Er ist ein gutaussehender, charmanter Mann, nicht wahr? Vor allem scheint er davon überzeugt zu sein, daß ihm alle Frauen zu Füßen liegen.“ „Ich wußte gar nicht, daß Coltan wieder sein Unwesen auf der Insel treibt und meiner Schwester den Hof macht“, meinte Michael abfällig. „Es würde mich interessieren, wenn ausgerechnet Sie von diesem unangenehmen Typen beeindruckt wären.“ Deborah lachte erleichtert auf. „Ich habe doch nur einen Scherz gemacht, Mr. Salvador. Was Stuart Coltan betrifft, bin ich völlig Ihrer Meinung. Ich verabscheue ihn sogar. Julian dagegen finde ich ganz entzückend. Den kleinen Kerl habe ich wirklich ins Herz geschlossen.“ „Unser Essen wartet, Miss Hartway“, sagte Michael schroff.
8. KAPITEL Das Hotelrestaurant befand sich in einem großen Erkerzimmer, dessen Einrichtung noch an den Glanz vergangener Jahre erinnerte. Wertvolle Schnitzereien schmückten die schweren Eichenmöbel, und die getäfelten Wände schimmerten dunkel. In dem aus dicken Feldsteinen gemauerten Kamin brannte ein Feuer und verbreitete behagliche Wärme. Nebenan in der Bar wurde Dart gespielt, und Deborah lauschte dem surrenden Geräusch der Pfeile, während Michael das Essen bestellte – Rinderbraten, Erbsenbrei und verschiedene Gemüsesorten. Es war eine gutbürgerliche englische Mahlzeit, die zu der Umgebung paßte. „Es gefällt mir hier“, sagte Deborah, „und ich fange an zu verstehen, weshalb Sie diesen Ort als Unterschlupf gewählt haben.“ „Ich liebe Dinge von historischem Wert“, entgegnete Michael. Er zeigte auf zwei kostbar verzierte silberne Duellpistolen, die über dem Kamin an der Wand hingen. „Bis auf eine Ausnahme könnte ich auf die Erfindungen der modernen Zeit gut verzichten, und damit meine ich mein Diktiergerät. Was halten Sie davon? Ist das Abhören von Bändern nicht langweilig?“ „Im Gegenteil. Ihre Stimme macht die Handlung und die Personen erst richtig lebendig.“ „Und dennoch wollen Sie Ihre Arbeit an meinem Roman nicht beenden, Miss Hartway. Ich bedauere das sehr. Gefällt Ihnen Cornwall nicht?“ „Cornwall ist ein bezauberndes Fleckchen Erde, aber…“ Deborah blickte durchs Fenster in den Garten, der grau und trostlos aussah. „Schicken Sie mir die Bänder doch nach London, Mr. Salvador. Ich könnte sie in meinem Büro ebensogut abtippen und wäre persönlich dafür verantwortlich, daß sie Ihnen unversehrt wieder zurückgeschickt würden.“ „Davon bin ich überzeugt, doch das Risiko, daß eins abhanden kommt, ist mir trotzdem zu groß. Wenn Sie selbst schreiben würden, hätten Sie Verständnis dafür. Ein Buch ist für den Autor wie ein Kind, das…“ Er brach ab, um gleich darauf unbeherrscht fortzufahren: „Ich weiß genau, was Ihr vorwurfsvoller Blick bedeutet, Miss Hartway. Aber woher nehmen Sie sich eigentlich das Recht, mich zu verurteilen? Sie denken bestimmt, daß ein Kind aus Fleisch und Blut viel wichtiger ist als ein Roman mit erfundenen Personen – auch wenn ich zufällig weiß, daß Julian nicht mein Sohn ist!“ „Wie können Sie das so einfach behaupten?“ „Weil ich diese Information sozusagen aus erster Hand habe – von meiner Frau persönlich.“ Deborah schaute ihn entsetzt an. „O nein“, sagte sie leise. „O doch! Es hat ihr damals sogar ein teuflisches Vergnügen bereitet, mich davon zu unterrichten. Sie kündigte mir an, daß sie mich verlassen und Julian mitnehmen wollte, und ich antwortete ihr mit dem Satz, der für diese Art Auseinandersetzungen so passend war: Nur über meine Leiche bekommst du meinen Sohn. Und unter Hohngelächter klärte Pauline mich auf, daß Ehemänner nicht unbedingt auch die Väter der Kinder wären, und dann rannte sie ans andere Ende des Decks, wo Sandras Kollegen standen. Alle amüsierten sich köstlich, als ihnen Pauline die Geschichte erzählte. Ihr Lachen klang für mich so, als käme es direkt aus der Holle. Ich stand da wie gelähmt und redete mir immerzu ein, daß alles nur ein schrecklicher Traum sein dürfe. Doch Pauline hatte mich noch nie angelogen.“ Michael fuhr sich mit der Hand über die Augen, als könne er dadurch die quälenden Bilder wegwischen. „Sie war geradezu von einer kindlichen Ehrlichkeit,
sehr zum Entsetzen meiner Mutter. Im Kreis guter Freunde oder von Verwandten gab sie Geschichten aus ihrer Kindheit preis, die sie in den Slums von Belfast verbracht hatte. Sie erzählte ganz offen, daß sie die abgelegten Kleider ihrer Schwester tragen mußte und daß sie Sicherheitsnadeln benutzte, damit ihr die Sachen paßten. Ihre Schuhe stopfte sie mit Zeitungspapier aus, um darin laufen zu können. Meine Mutter war jedesmal einer Ohnmacht nahe.“ Es fiel Deborah nicht schwer, sich diese für Mrs. Salvador so peinlichen Szenen vorzustellen. Allerdings auch die harte Kritik, die Pauline erdulden mußte, wenn kein Zuhörer anwesend war. „In jener Nacht starb sie“, fuhr Michael ruhig fort. „Wie und warum wird wohl immer ein Geheimnis bleiben. Ich hatte zwar allen Grund, ihr nur das Schlechteste zu wünschen, doch an ihrem Tod trage ich keine Schuld. Meiner Meinung nach trifft der Autopsiebericht zu: Pauline war überreizt, hatte zuviel Champagner getrunken, so daß ihr Reaktionsvermögen stark eingeschränkt war. – Ja, und den Namen ihres Liebhabers nahm sie mit in den Tod.“ Dieser Liebhaber ist leider keine erfundene Person, dachte Deborah traurig, denn Walter hatte ihn am Strand mit Pauline beobachtet, den Namen des Mannes aber nicht seinem Freund Michael verraten. Michaels Ruhe fand Deborah verwunderlich, obwohl sie auch nicht genau sagen konnte, ob er ihr nur etwas vorspielte. Vielleicht quälte er sich ja ebenfalls mit dem furchtbaren Gedanken, daß eine intime Beziehung zwischen Pauline und Juan bestanden hatte? Im Augenblick ließ er sich davon allerdings nichts anmerken, denn er erzählte von Cornwall, von der großartigen Landschaft und den abergläubischen Bräuchen, die noch so tief in der Bevölkerung verwurzelt waren wie das Heidekraut auf den nebligen Hügeln und die alten Steine mitten im Moor, von denen die Legende berichtete, daß sie junge Mädchen und Männer sein sollten, die zur Strafe, weil sie am Sabbat getanzt hatten, versteinert worden waren. Deborah war nicht ganz bei der Sache, horchte dann aber auf, als Michael seinen älteren Bruder erwähnte, an den sie gerade gedacht hatte. „Als Juan und ich noch jünger waren, fieberten wir jedes Jahr der Nacht entgegen, in der durch riesige Feuer die Sommersonnenwende gefeiert wurde“, erzählte Michael, während über sein blasses Gesicht sogar ein verträumtes Lächeln huschte. „Wir klatschten uns die Hände wund, damit die Flammen höher aufloderten und dadurch Hexen und Dämonen vertrieben. Anschließend trampelten wir wie die Verrückten die Asche nieder, um auch die letzten Spuren der bösen Geister zu vernichten. Trotzdem sahen wir auf dem Nachhauseweg stur geradeaus, weil wir immer noch Angst hatten, daß sich einer von ihnen oder sogar der Teufel selbst hinter einem Busch versteckt hielt.“ „Ich kann jetzt gut verstehen, daß Cornwall eine so große Rolle in Ihren Büchern spielt.“ Deborah beobachtete Michael über den Rand ihres Weinglases hinweg und erinnerte sich an die vielen Stunden, die sie in ihrer „Mönchszelle“ verbracht und der tiefen, wohlklingenden Stimme gelauscht hatte. „Was sagt denn die Expertin zu meinem neuen Buch?“ erkundigte sich Michael interessiert. „Im Gegensatz zu der Meinung vieler Leute legen wir Autoren großen Wert auf eine positive oder negative Kritik – ganz egal, ob es unser Selbstbewußtsein aufrichtet oder niederschmettert.“ „Ich kann es nur aufrichten“, entgegnete Deborah lächelnd. „Wie ich sicher schon einmal sagte, haben Sie die Begabung, sich in die Romanfiguren völlig hineinzuversetzen.“ „Das mag stimmen.“ Er dachte über ihre Worte nach. „Vielleicht glauben Sie ja, daß diese starke Identifizierung meiner Ehe geschadet hat?“ „Wie soll ich das wissen, Mr. Salvador?“
„Sie haben recht. Diese Frage kann wohl niemand so leicht beantworten“, sagte er niedergeschlagen. „Pauline und ich haben einfach nicht zusammengepaßt. Es war ein großer Fehler, sie aus ihrer Welt in eine völlig andere Umgebung zu verpflanzen. Und trotzdem…“ Ein gequälter Ausdruck trat in seine Augen. „Ich könnte schwören, daß dieses wunderschöne Mädchen im ersten Jahr unseres Zusammenlebens ganz allein mir gehört hat.“ „Dann besitzen Sie doch etwas Schönes, woran Sie sich immer erinnern können“, erwiderte Deborah aufmunternd. „Als mir mein Sohn kurz nach seiner Geburt in den Arm gelegt wurde, strömte mein Herz über vor Zärtlichkeit und Liebe, bis Pauline mir sagte, daß ich kein Recht hätte, Julian zu behalten. Da zerbrach etwas in mir. Und diese Erinnerungen, Miss Hartway, sind keinesfalls schön.“ „Das tut mir alles so leid, und ich würde es nicht noch einmal versuchen, Sie zu überreden, nach Abbeywitch zurückzukehren, wo Sie alles an das erinnert, was Sie vergessen wollen.“ „Ich bin sicher, das Sie nur aus Sorge um den Kleinen so gehandelt haben“, erwiderte Michael lächelnd. Dann nahm er die Dessertkarte zur Hand und studierte sie aufmerksam. „Zum Nachtisch könnte ich einen mit Marmelade gefüllten Crepe empfehlen“, schlug Michael vor, und Deborah merkte, daß er so das Thema wechseln wollte. „Oder mögen Sie lieber Erdbeeren mit Sahne?“ Am liebsten hätte Deborah auf jedes Dessert verzichtet. Denn auch den vorzüglich zubereiteten Rinderbraten hatte sie nur Michael zuliebe gegessen. Da ihre Absicht, den Autor zur Rückkehr nach Abbeywitch zu bewegen, mißglückt war, wollte sie jetzt so schnell wie möglich ihre Reise nach London antreten. Aber anstatt dies Michael zu erklären, meinte Deborah, daß sie sehr gern als Nachtisch Erdbeeren essen würde. Sie sah nämlich plötzlich einen winzigen Hoffnungsschimmer, ihr Vorhaben doch noch erfolgreich durchzuführen, und in Gedanken entwickelte sie bereits einen Plan… Nachdem Michael beim Ober zwei Portionen Erdbeeren bestellt hatte, sprach er Deborah auf ihre Zukunftspläne an. Michael war überrascht, als er hörte, daß sie nicht daran dachte, zu heiraten und Kinder zu bekommen, sondern eine Karriere im Verlagswesen anstrebte. „So realistisch, Miss Hartway? Wo bleiben da die romantischen Erlebnisse, von denen doch jedes junge Mädchen träumt?“ „Meine Träume beschäftigen sich eher mit den Personen, denen ich bei meiner Lieblingsbeschäftigung, dem Lesen, begegne“, antwortete Deborah. Natürlich vertraute sie Michael nicht an, daß sie gerade einer sehr realistischen Person begegnet war, die sie mehr als jeder Romanheld zum Träumen anregte. „Sind Ihnen die Menschen außerhalb der Bücher vielleicht zu neugierig, weil sie zu viele Fragen stellen?“ erkundigte sich Michael lächelnd. Eine Antwort blieb ihr erspart, denn der Ober brachte ihnen die Erdbeeren, die so appetitlich frisch aussahen, daß sogar Deborah tüchtig zulangte. Michael beobachtete sie dabei amüsiert und redete sie erst wieder an, nachdem sie ihre Portion mit Genuß verzehrt hatte. „Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, die Arbeit an meinem Manuskript fortzusetzen, Miss Hartway? Nun, da ich Sie persönlich kennengelernt habe, bin ich überzeugt, daß Sie die Schwierigkeiten mit meiner Mutter meistern könnten.“ Deborah wich seinem herausfordernden Blick aus und trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Die Gelegenheit, Michael ihren Plan zu unterbreiten, war günstig. Warum zögerte sie also? „Ich merke, daß Sie mit sich ringen, Miss Hartway.“ Er beugte sich vor und
bedeckte ihre Finger mit seiner Hand. „Sie wissen nicht, ob sie sich für oder gegen Ihr Pflichtbewußtsein entscheiden sollen, nicht wahr?“ „Ja, ich stehe vor einem ähnlichen Problem wie sie, Mr. Salvador“, sagte sie, um Zeit zu gewinnen. „Im Augenblick sprechen wir aber von Ihnen“, meinte er freundlich. Deborah betrachtete seine Finger, die auf ihrer Hand lagen und sich so angenehm kühl anfühlten. An seinem Ringfinger glänzte ein schmaler goldener Reif. Plötzlich wußte Deborah, daß sie ihren Vorschlag nicht länger für sich behalten durfte. Sie hatte Angst vor den Konsequenzen gehabt, falls Michael ihn akzeptierte, doch nun befürchtete sie mehr die quälenden Vorwürfe, die sie sich während der Reise nach London machen würde, wenn sie schwieg. „Ich fahre nur unter der Bedingung nach Lovelis, daß sie mich begleiten“, sagte sie nach langem Zögern und wartete gespannt auf Michaels Reaktion. In diesem Augenblick schlug ein Blitz in unmittelbarer Nähe des Fensters ein, gefolgt von einem lauten Donnerschlag. Danach herrschte lähmende Stille im Eßraum, in dem jetzt fast alle Tische besetzt waren. „Die Götter sind zornig“, sagte Michael so leise, daß es nur Deborah hören konnte. „Sie stehen da oben und kreuzen die Klingen ihrer Schwerter. Das glaubten Juan und ich, als wir Kinder waren.“ Als ein zweiter Blitz den Raum sekundenlang in gespenstisches Licht tauchte, drückte er beruhigend Deborahs Hand. „Haben Sie etwa Angst vor Gewittern?“ fragte er. „Gewöhnlich nicht.“ „Heute scheint ein Tag zu sein, an dem Sie nicht nur mit einer Gewohnheit brechen. Ich vermute, daß es sonst wohl kaum Ihre Art ist, sich in die Angelegenheiten anderer Leute zu mischen.“ „Das stimmt genau, Mr. Salvador, aber diesmal hielt ich eine Einmischung für gerechtfertigt.“ Deborah mußte tief Luft holen, bevor sie weitersprechen konnte, denn Michaels sanfte Stimme irritierte sie. „Das Kind, das Sie bei seiner Geburt so zärtlich geliebt haben, ist dasselbe geblieben. Geändert hat sich insofern nur, daß es jetzt mehr als damals Ihre Liebe braucht. Vielleicht hat sich Ihre Frau auch nur nach Aufmerksamkeit und Zuneigung gesehnt, als Sie zu sehr von Ihrer schriftstellerischen Arbeit beansprucht wurden und ihr beides in ungenügendem Maße zukommen ließen. Kann es nicht so gewesen sein, daß sie sich ausgeschlossen fühlte und deshalb die Nähe eines anderen Mannes suchte? Bitte, geben Sie nicht auch dem kleinen Julian das Gefühl, daß er nicht geliebt wird.“ Deborah schwieg eine Weile, und da Michael nichts erwiderte, fuhr sie eindringlich fort: „Ich bewundere an dem Autor Michael Salvador schon seit langem die Empfindsamkeit, mit der er die Probleme seiner Romanfiguren durchleuchtet. Warum fehlt sie Ihnen, wenn es um Julian geht? Sind Sie sich ganz sicher, daß Sie keine Liebe mehr für ihn empfinden? Ich kann nicht glauben, daß Liebe so schnell vergeht.“ „Hat in den vielen Büchern, die Sie gelesen haben, nie gestanden, daß Liebe auch ein erbitterter Kampf zwischen zwei Menschen sein kann, der sehr tiefe Wunden hinterläßt?“ fragte Michael. „Ich weiß, daß Sie sehr gelitten haben“, erwiderte Deborah voll Mitgefühl. „Aber sind Sie nicht auch mit mir einer Meinung, daß Ihre Leidenschaft nun vorüber sein sollte? Sie dürfen sie nicht durch Ihren Stolz unnötig verlängern, Mr. Salvador.“ „Dieser Stolz wurde mir bereits in die Wiege gelegt“, bemerkte er spöttisch. „O ja, das ist mir bekannt!“ Michaels Reaktion auf ihre letzte Bemerkung war ein erstaunter Blick, bevor er sich wieder in Schweigen hüllte und Deborah mit ihren Gedanken allein ließ.
Sie verstand sich eigentlich selbst nicht mehr. Vor ein paar Stunden war sie von der Insel Lovelis aufgebrochen, um nach London zu reisen. Penarth sollte dabei nur eine Zwischenstation auf ihrem Weg dorthin sein. Nun saß sie hier und erwartete ein Ja oder Nein von Michael, auf Grund ihres soeben gemachten Vorschlags. Wenn er darauf einging, würde auch sie nach Abbeywitch zurückkehren – und Juan zwangsläufig wiedersehen. Hatte das Schicksal, von dem Juan behauptete, daß es bereits für sie beide entschieden hätte, etwas mit ihrer Rückkehr zu tun? fragte sich Deborah und preßte eine Hand gegen ihr heftig pochendes Herz. Im Augenblick waren ihre Gedanken zu verwirrt, um diese Frage zu beantworten. Nur eins wußte sie sicher: Im Falle eines Wiedersehens würde sie Juan mit anderen Augen betrachten, denn er entsprach nicht mehr dem Bild des idealen Liebhabers, von dem sie früher geträumt hatte. Er war vielmehr ein normal veranlagter Mann, der dem Drang seiner Leidenschaft folgte und wenig darauf achtete, wie sehr er andere Menschen damit verletzte. Wie aus weiter Ferne vernahm Deborah plötzlich Michaels Stimme: „… für Julian Partei ergriffen, um mein Gewissen zu wecken. Das ist Ihnen gelungen, Miss Hartway. Wir werden also gemeinsam nach Lovelis zurückkehren. Wegen meiner Mutter brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich werde mich schon darum kümmern, daß sie Ihnen nicht mehr in die Quere kommt.“ „Danke, Mr. Salvador“, sagte Deborah leise, und auf einmal wurde ihr bewußt, wie leichtfertig sie gehandelt hatte. Mrs. Salvador war eins der Probleme, die sie erwarteten, aber dabei konnte sie auf die Unterstützung von Michael rechnen. Das Hauptproblem waren jedoch die beiden Brüder. Durfte sie den jüngeren bitten, daß er ihr half, den älteren auf Distanz zu halten? Wie würde Michael reagieren, wenn er den wirklichen Grund ihrer Abreise herausfand? Würde er ihr glauben, daß Juans Anwesenheit in ihrem Schlafzimmer im Grunde ganz harmlos gewesen war? Als Michael vorschlug, daß Deborah wegen des Gewitters über Nacht in Penarth bleiben sollte, erklärte sie sich sofort damit einverstanden. Der Aufschub würde sicher keins ihrer Probleme lösen, aber sie hätte dann wenigstens ein paar Stunden gewonnen, um sich für die Begegnung mit Juan zu stärken. Mit ihm mußte sie ganz allein fertig werden, das stand inzwischen für sie fest. Denn es wäre nicht fair, auf Michaels Hilfe zu bauen. Wie konnte sie auch ausgerechnet Unterstützung von dem Mann erwarten, der den quälenden Verdacht hatte, daß sein Bruder der Vater von Julian war? Der Einfachheit halber nahm sich Deborah ein Zimmer im selben Hotel, in dem auch Michael wohnte. Nachdem sie einen warmen Pullover und eine zweckmäßige lange Hose angezogen hatte, traf sie Michael in dem kleinen Aufenthaltsraum. Dort wollten sie warten, bis es aufgehört hatte zu regnen, um anschließend einen kleinen Stadtbummel zu unternehmen. Erleichtert stellte Deborah fest, daß Michael einen wesentlich entspannteren Eindruck machte als vorher. Ihm schien eine Last von der Seele genommen zu sein, seitdem er den Entschluß gefaßt hatte, nach Hause zurückzukehren. Das half auch Deborah, ihre eigene Situation in einem besseren Licht zu sehen. Außerdem konnte sie für Julian einen Erfolg erringen, da er selbst noch nicht in der Lage war, seine Ansprüche gegenüber den Erwachsenen durchzusetzen. „Bitte, erzählen Sie mir etwas über Julian“, bat Michael. Mit großer Herzlichkeit schilderte Deborah, wie sie den Jungen erlebt hatte – freundlich, zutraulich, aufgeschlossen für seine Umwelt, sehr bewegungsfreudig und lernbegierig. Ja, er sei eine richtige Wasserratte, lautete ihre Antwort auf eine von Michaels vielen Fragen. Er habe schon einige Milchzähne und mache
auch die ersten Gehversuche. Michael lächelte still vor sich hin, als Deborah mit ihrem ausführlichen Bericht am Ende war. „Dieses Kind besitzt Eigenschaften, die ich mir immer für meinen Sohn gewünscht habe“, sagte er nach einer Weile nachdenklich. „Könnte es nicht doch so gewesen sein, daß Pauline Sie angelogen hat?“ fragte Deborah vorsichtig, denn sie hatte das Bedürfnis, Michael zu trösten. „Pauline wollte von der Insel weg, wußte aber, daß Sie unter keinen Umständen dulden würden, wenn sie Julian mitnahm. Da griff sie zur einzigen Waffe, die ihr noch geblieben war, und traf Ihre empfindlichste Stelle – Ihren Stolz. Schließlich hatte sie lange genug mit der Familie Salvador unter einem Dach gelebt, um sich genau vorstellen zu können, wie Sie auf die Mitteilung, daß Julian nicht Ihr Sohn sei, reagieren würden. Es gibt Menschen, die solche außergewöhnlichen Mittel anwenden, um sich einen sehnlichen Wunsch zu erfüllen“, fügte Deborah leise hinzu. Das knisternde Kaminfeuer war für einige Minuten das einzige Geräusch in dem kleinen Raum. Deborah beugte sich in ihrem Sessel weit vor, um den wärmenden Flammen näher zu sein, denn ihr war plötzlich kalt geworden. Zudem wollte sie vermeiden, Michael in die Augen zu sehen, während sie auf seine Erwiderung wartete, die auch ihr so sehr am Herzen lag. Statt zu antworten, stellte Michael aber eine Frage: „Sie sind also der Meinung, daß Julian ein Salvador ist?“ Zuerst war Deborah enttäuscht, bis sie sich überlegte, daß Michael vielleicht anders reagieren konnte. Es war ihre eigene Schuld, wenn sie seit einigen Stunden den Eindruck vermittelte, sie sei eine lebenserfahrene Frau, die genau Bescheid wußte über die Menschen und deren Verhaltensweisen. Sie hatte Sicherheit vorgetäuscht, um die eigene Unsicherheit zu verbergen. Michaels erstaunte Blicke, die ihr bestimmt signalisieren sollten, daß er ihre Überlegenheit anzweifelte, waren für sie nur Ansporn gewesen, noch eindringlicher auf ihn einzureden. Jetzt ist wohl der Zeitpunkt gekommen, daß du ihm zumindest erklärst, weshalb du wirklich aus Abbeywitch weggegangen bist, dachte Deborah und erzählte Michael die ganze Geschichte. Mit Juans Einladung zur Party begann sie, und mit seinem merkwürdigen Heiratsantrag, den sie nicht akzeptieren wollte, hörte sie auf. Noch während Deborah sprach, erhob sich Michael aus seinem Sessel und lief im Zimmer umher, bis sie aufhörte zu reden. Dann blieb er vor ihr stehen und schüttelte den Kopf. „Ich hätte Juan nie einen so schwerwiegenden Schritt zugetraut“, sagte er verwundert. „Ihr Bruder mag zwar höflich und ehrenwert gehandelt haben, weil er um meinen guten Ruf besorgt war, aber aus solchen Gründen würde ich einen Mann nie heiraten.“ „Auch Juan hat bisher gute Gründe gehabt, keiner Frau einen Heiratsantrag zu machen. Deshalb bin ich ja so verblüfft, daß er seine Meinung geändert hat. Ich dachte immer, daß ich ihn ziemlich genau kennen würde.“ Plötzlich richtete sich Michael zu seiner vollen Größe auf, als hätte man ihm gerade ein schweres Gewicht von den Schultern genommen. „Wissen Sie was?“ sagte er zu Deborah, „ich möchte jetzt sofort nach Hause fahren. Warten Sie bitte hier auf mich, damit ich Walter Bescheid geben kann.“ Sie mußten ihre Abfahrt dann doch auf den nächsten Morgen verschieben, denn Walter hatte beim Dartspiel so viel Geld gewonnen, daß er nur noch daran gedacht hatte, seiner Mutter den Gewinn zu zeigen. Deborah war ihm deswegen nicht böse. Im Gegenteil – ihr blieb dadurch vor dem Einschlafen noch viel Zeit,
darüber nachzudenken, ob Juan wirklich die idealen Eigenschaften besaß, die sie Michael genannt hatte – Höflichkeit und ehrenhaftes Verhalten. Wie gern würde sie daran glauben!
9. KAPITEL Gestern bin ich verzweifelt gegen die Strömung angeschwommen, heute trägt sie mich sanft an den Strand von Lovelis zurück, dachte Deborah, als die Insel in Sicht kam. Noch eine knappe Viertelstunde, und sie würde Walters Motorboot nur wenige Meter von der Stelle entfernt verlassen, wo die erste Begegnung mit Juan Salvador stattgefunden hatte. Ihr Herz klopfte heftig. Deborah spürte, daß Michael sie unentwegt beobachtete, langsam drehte sie sich um und sah ihn an. Auch ihm war die nervöse Spannung anzumerken, trotz seiner Zuversicht am Abend zuvor. Durch Juans Heiratsantrag wäre die Situation zwar etwas komplizierter geworden, hatte Michael zugegeben, aber er war sicher, daß er seine Familie überzeugen könnte, verständnisvoll auf Deborahs und seine eigene Rückkehr zu reagieren. Was Sandra und Juan anbetraf, war das für Deborah gar nicht so selbstverständlich, dagegen brachte sie Mrs. Salvador seit den Gesprächen mit Michael mehr Verständnis entgegen. Deborah mußte nämlich daran denken, daß Michaels Vater seine erste Frau Soledad nie hatte vergessen können und nach der Scheidung nur ein zweites Mal heiratete, weil er sich in Abbeywich einsam fühlte. Lenora versuchte seine Erinnerung an die schöne spanische Zigeunerin zu verwischen, indem sie ihrem Mann sehr schnell nach der Hochzeit zwei Kinder schenkte. Doch sie schaffte es nicht, daß er sein Testament zugunsten von Michael änderte. Deshalb war sie ja auch so entsetzt gewesen, als sie von Juans Heiratsabsichten erfuhr. Dann würde ihr Stiefsohn ständig auf Lovelis leben, und sie wäre in allen Dingen auf ihn angewiesen. Diese Abhängigkeit paßte der stolzen Frau gar nicht. „Ob er mich wiedererkennen wird?“ fragte Michael zweifelnd. Deborah lächelte zerstreut, weil Michael den großen Stofflöwen anredete, den er unterm Arm trug, da er in seinen Händen die Bänder hielt, an denen die in buntes Papier eingewickelten Pakete baumelten. Alles Geschenke für Julian, denn Michael hatte in übertriebenem Eifer fast den ganzen Bestand eines Spielzeugladens aufgekauft, als sie gestern durch Penarth bummelten. „Sie werden es bald wissen, ob er Sie wiedererkennt“, beantwortete Deborah Michaels Frage. Das flache Ufer war nur noch wenige Meter entfernt, als Walter den Motor abstellte, damit das Boot sanft auf den Sand gleiten konnte. Er vertäute es an einem Pfahl und half Deborah und Michael beim Aussteigen. „Jetzt sind Sie endlich wieder zu Hause, Mr. Michael.“ Das waren Walters erste Worte seit der Abfahrt aus dem Hafen, aber sie klangen keineswegs froh. Etwas schien ihn zu bedrücken, und auf Drängen von Michael rückte er schließlich mit der Sprache heraus: Ein Blitzeinschlag hatte im Westflügel von Abbeywitch großen Schaden angerichtet, besonders in den Zimmern von Julian und seinem Kindermädchen, aber auch in dem, das Deborah vorher bewohnt hatte. Die Terrassen waren zum Teil abgesackt und alle Fensterscheiben zersplittert. „Was ist mit Julian und Rose Jones passiert?“ flüsterte Michael, der aschfahl im Gesicht geworden war. „Die Nanny ist vor Schreck in Ohnmacht gefallen, und da sie das Kind gerade auf dem Arm trug…“ „Um Himmels willen!“ Michael ließ die Pakete und den Stofflöwen in den Sand fallen und spurtete los, gefolgt von Deborah. „Der Junge hat nur ein paar Kratzer im Gesicht und die Nanny eine leichte Gehirnerschütterung“, rief Walter hinter ihnen her. Als Deborah und Michael die Diele von Abbeywitch erreichten, begegnete ihnen Walters Mutter, die gerade Julians Frühstück in die Räume von Mrs. Salvador
bringen wollte. „Madam kümmert sich um ihren Enkel, solange Rose krank ist“, berichtete Mrs. Lee. „Der Kleine ist quietschvergnügt und munter, und auch Rose wird bald wieder auf den Beinen sein“, fügte sie zu Michaels Beruhigung hinzu. Er nahm ihr das Tablett aus den Händen und eilte die Treppe hinauf. Diesmal ließ Deborah ihn allein gehen, denn ihre Anwesenheit beim Wiedersehen zwischen Vater und Sohn hätte nur gestört. Aber was sollte sie jetzt machen? In ihr früheres Zimmer konnte sie sich nicht zurückziehen, ein anderes hatte man ihr noch nicht zugewiesen, und wo Rose Jones lag, zu der sie gern gegangen wäre, wußte sie auch nicht. Es blieb ihr eigentlich nur übrig, die Arbeit an Michaels Buch wiederaufzunehmen, auch wenn es sie viel Überwindung kostete. Gerade wollte sich Deborah auf den Weg zu ihrem Arbeitsraum machen, als eine Bewegung auf der Galerie ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie blickte nach oben und genau in Juans dunkle Augen, die sie festzunageln schienen, denn Deborah war unfähig, sich zu rühren oder in eine andere Richtung zu sehen. „Das Gewitter hat gestern schon einige Aufregung verursacht, und nun sorgen Sie gleich für neue, indem Sie mit Michael zurückkommen.“ „Das tut mir leid, aber Ihr Bruder hat mich gebeten, weiter an seinem Buch zu arbeiten“, entgegnete Deborah förmlich. „Nur aus diesem Grund bin ich wieder hier, Senor, und ich werde auch gleich mit meiner Arbeit beginnen“, setzte sie hastig hinzu, als Juan langsam die Treppe herunterkam. „Gibt es keinen anderen Grund für Ihre Rückkehr, Senorita? Es könnte ja sein, daß Sie Sehnsucht nach Ihrem Verlobten hatten.“ Deborah war erleichtert, daß Juan wieder „Sie“ sagte. So fiel es ihr nicht ganz so schwer, ihm einigermaßen ruhig mitzuteilen, daß er sich die Anspielung auf eine Verlobung sparen könnte, da es keine gäbe. Ihre Stimme wollte ihr zwar gehorchen, aber nicht ihr Körper, als Juan plötzlich beide Hände auf ihre Schultern legte. „Sie zittern, ja, Senorita“, bemerkte er amüsiert. „Es ist der Schock über – über den Schaden, den das Gewitter angerichtet hat“, versuchte sich Deborah herauszureden. „Wissen Sie eigentlich, daß es zur Teezeit so gegen fünf Uhr passiert ist? Sie hätten sich wahrscheinlich in Ihrem Zimmer aufgehalten.“ Seine Hände und Augen hielten Deborah wie in einer Falle gefangen. „Das Schicksal spielt uns manchmal seltsam mit, nicht wahr?“ „Ja, das stimmt, Senor. Man kann sich manchmal auch dagegen auflehnen“, setzte sie eindringlich hinzu. „Zum Beispiel gedenke ich keinen Mann zu heiraten, den ich nicht liebe.“ „Ein Leben ohne Liebe ist düster und grau“, erwiderte Juan spöttisch. „Was würden Sie übrigens machen, wenn ich meinen Antrag nicht zurückziehe?“ „Sie können tun, was Ihnen gefällt, aber das kann mich nicht beeinflussen.“ „Nein?“ Juan beugte sich ein wenig vor und sah ihr starr in die Augen. „Sie scheinen mit der festen Absicht nach Abbeywitch zurückgekehrt zu sein, mich zu Ihrem Feind zu machen, Miss Hartway. Haben Sie vergessen, daß ich hier der Hausherr bin? Ein einziges Wort von mir genügt, und Sie sitzen wieder im Boot, das Sie umgehend Richtung Festland befördert.“ „Dann sagen Sie doch dieses eine Wort“, forderte sie ihn heraus. „Ihr Bruder ist sensibel genug, um meine Abreise zu verstehen.“ „Selbstverständlich werden Sie bleiben, Senorita. Wie könnte ich jemanden wegschicken, der mich so beeindruckt? Sie haben Walter überredet, daß er Ihnen Michaels Versteck verrät, und den von Ihnen bewunderten Autor haben Sie sehr erfolgreich an seine Pflichten und an seine Verantwortung erinnert.“
Juans Hände wanderten zu ihrem Gesicht, das sie fest umschlossen. Nur mit den Daumen streichelte er sanft über ihre Wangen. „Ich werde aber auf gar keinen Fall zulassen, daß Sie wieder solch ein Schattendasein in diesem Haus führen wie vor Ihrer Abreise, Miss Hartway. Das, was in diesem Köpfchen, umrahmt von wunderschönem kastanienbraunem Haar, vorgeht, irritiert mich.“ Juans Blick wurde wieder strenger. „Wenn ich Sie in Zukunft auffordere, mit mir spazierenzugehen, werden Sie das tun. Sie werden auch mit mir ausreiten, wenn ich es verlange. Haben Sie mich verstanden?“ „Und wenn ich mich weigere, Ihren Befehlen zu gehorchen?“ fragte Deborah, während sie feststellte, daß ihre Aufsässigkeit allmählich überlagert wurde von einem sehnsüchtigen Verlangen, daß er doch die Liebkosungen auf ihren ganzen Körper ausdehnen möge. „Ich werde Ihnen beweisen, daß ich kein Mann bin, der Widerspruch stillschweigend duldet“, entgegnete er. Allein der Tonfall seiner Stimme ließ Deborah keinen Augenblick zweifeln, daß er diese Drohung ernst meinte. „Sie sind wie eine Katze, die eine Maus zum Spielen braucht“, erwiderte Deborah gereizt. „Ich werde lieber wieder gehen, denn es macht mich nervös, nie zu wissen, wann das Spiel zu Ende ist.“ „Dieser Vergleich gefällt mir nicht, Miss Hartway.“ „Warum? Kommt er der Wahrheit zu nahe?“ Das Aufblitzen in seinen Augen war eine zu kurze Warnung für Deborah. Darum konnte sie auch nicht verhindern, daß Juan sie rückwärts quer durch die Diele drängte, bis ihr Rücken gegen eine Wand stieß. Sie erkannte die Nische wieder, in der Stuart Coltan sie vor der Party so heftig geküßt hatte. Jetzt wurde sie nicht viel sanfter behandelt. Juan drückte sie mit einer Hand gegen die Wand, mit der anderen knöpfte er Deborahs Jacke auf, und seine Finger glitten unter ihren Pullover. Sie wand sich verzweifelt, doch ihr Widerstand reizte ihn nur, seine Hüften und Schenkel gegen ihren Unterleib zu pressen und mit beiden Händen ihre Brüste zu umschließen. Die ausweichende Bewegung ihres Kopfes stoppte er durch einen Kuß auf den Mund. Nun war ihm Deborah in jeder Beziehung hilflos ausgeliefert. Ihr Körper, ihr Verstand und auch ihr Herz ergaben sich vor dieser männlichen Kraft. Deborah öffnete die Lippen, um den Kuß zu erwidern, sie schmiegte sich an den muskulösen Körper, um ihn intensiver zu spüren, sie verstärkte den Druck gegen ihre Brüste, indem sie ihre Hände auf Juans legte. In diesem Augenblick höchster Erregung ließ Juan sie los und starrte schweigend in ihre weit aufgerissenen Augen, in denen sich Enttäuschung und Schmerz über die Zurückweisung widerspiegelten. Daß Juans Gesicht dabei völlig ausdruckslos blieb, machte alles noch schlimmer. „Ich hasse Sie, Senor“, flüsterte Deborah. Sie schlug die Vorderteile ihrer Jacke übereinander, denn ihre zitternden Finger schafften es nicht, die Knöpfe zu schließen. „Es hat Ihnen doch Spaß gemacht“, entgegnete er ruhig, bevor er sich umdrehte und die Diele durch die schwere Eichentür verließ, die nach draußen führte. „Mich selbst verachte ich am meisten“, sagte Deborah mehr zu sich selbst, denn sie war maßlos erschrocken, daß Juan diese leidenschaftlichen Gefühle in ihr wecken konnte. Sie mußte weg aus Abbeywitch, weg von der Insel Lovelis und sogar Cornwall weit hinter sich lassen! Das waren Deborahs einzige Gedanken. Nur in London würde es ihr gelingen, wieder Ruhe zu finden. Als Deborah wenig später die Nische verließ und Michael mit Julian auf dem Arm die Treppe herunterkommen sah, verwarf sie sofort ihren eben gefaßten
Entschluß. Sie hatte eine Aufgabe angefangen, die sie nun auch zu Ende führen wollte. Michaels Buch würde mit ihrer Hilfe im Herbst erscheinen, und damit er sich ganz seinem Sohn widmen konnte, mußte sie weiterhin selbständig an dem Manuskript arbeiten. Dafür lohnte es sich, ihre eigenen Sorgen erst einmal in den Hintergrund zu stellen. „Dibby“, rief Julian vergnügt, als Deborah zärtlich die Schrammen an seinen Armen und Beinen küßte. „Jetzt hast du sicher keine Angst mehr vor dem bösen Sturm, nicht wahr, kleiner Mann? Denn von nun an wird dich dein Daddy immer beschützen.“ Deborah ging noch einen Schritt näher an die beiden heran, so als suche auch sie Schutz bei Michael. „Man merkt, daß Sie Kinder sehr lieben“, sagte er lächelnd. „Julian ist ja auch etwas Besonderes, und da mache ich schon mal eine Ausnahme“, erwiderte sie rasch. „Weil Sie sonst nur an Ihre Karriere denken? Es fällt mir schwer, das zu glauben“, fuhr er fort, als Deborah nickte. „Sie haben ein so mitfühlendes Herz, und eines Tages werden Sie sich davon leiten lassen.“ „Mein Herz gehört zum größten Teil dem Beruf. Da ist es am besten aufgehoben, denn es führt mich geradewegs auf mein Ziel zu und nicht auf Irrwege.“ „So reden alle, wenn sie jung sind, Deborah. Ich kenne das. Wir sind dann ganz sicher, daß wir unser Schicksal und unser Leben selbst bestimmen können. Aber wir vergessen dabei die bösen Einflüsse, die unsere Pläne vernichten wollen, indem sie uns eine Frucht reichen, die außen süß und innen doch so bitter schmeckt.“ „Sie brauchen nicht länger verbittert zu sein.“ Julian lachte laut auf, als Deborah die Fläche seiner kleinen Hand kitzelte. „Sehen Sie nur, was das für eine süße Frucht ist.“ „Es ist wie ein Wunder“, sagte Michael glücklich und drückte den Kleinen fest an sich. „Stellen Sie sich vor, der Blitz hätte ihn getroffen und nicht die alten Steine. Vermutlich wäre ich verrückt geworden. Haben Sie sich den Schaden im Westflügel schon einmal angeschaut? Ihr Zimmer ist nicht mehr bewohnbar, so daß Sie jetzt eins in einem der Türme im Ostflügel beziehen werden… wie dieses Mädchen in jenem alten Märchen, das ihr zu einem Zopf geflochtenes langes Haar zum Fenster hinaus hielt, damit ihr Liebhaber daran emporsteigen konnte.“ „Mit einem Liebhaber kann ich nicht dienen.“ „Dabei fällt mir ein, daß ich noch etwas mit Juan klären muß“, meinte Michael. „Ich habe ihn bereits gesehen.“ Deborah richtete den Blick unverwandt auf den kleinen Julian, für den Fall, daß ihre Augen Gefühle verrieten, die sie lieber für sich behielt, oder auch von der leidenschaftlichen Begegnung mit Juan erzählten. Die Szene in der Nische erwähnte sie natürlich nicht, sondern meinte zum Schluß ironisch, daß Juan mit seinem Hang zur Dramatik auch Schauspieler oder Schriftsteller hätte werden sollen. Michael lachte. „Das steckt den Salvadors im Blut und scheint auch den Mauern von Abbeywitch anzuhaften, das auf seiner einsamen Insel von dem gewaltigen Element Wasser umgeben ist. – Inselbewohner leben für sich allein in ihrer eigenen Welt. Ihr Dasein wird beeinflußt durch das Meer. Ist es da verwunderlich, wenn die Salvadors zu Empfindungen neigen, die sich den mächtigen Wogen und den tiefen Wellengräben anpassen?“ „Und den gefährlichen, unberechenbaren Strömungen“, ergänzte Deborah. „Ja richtig, die dürfen nicht vergessen werden“, sagte Michael nachdenklich. Da sich Julian plötzlich an ihn kuschelte, als ob er die tiefere Bedeutung dieser
Bemerkung verstanden hätte, glitt ein zufriedenes Lächeln über Michaels Gesicht. Die tiefe Verbundenheit zwischen Vater und Sohn bestätigt die Richtigkeit meiner Handlungsweise, dachte Deborah, und sie war sogar ein wenig stolz über ihren Beitrag zu dem Glück der beiden. Das wollte sie sich immer vor Augen halten, wenn es Schwierigkeiten mit Juan gab, und die waren sicher nicht zu vermeiden. Einen ersten Eindruck davon bekam sie wenig später, als Juan und Walter das Gepäck und die Spielsachen für Julian in die Diele brachten. „Der Koffer und die Tasche gehören Ihnen, sagte mir Walter“, bemerkte Juan und stellte die beiden Gepäckstücke etwas abseits von den anderen. „Er hat sie aus Michaels Hotelzimmer geholt“, fügte er hinzu und betonte jedes Wort. „Ja, das sind meine“, antwortete Deborah unbeeindruckt und ging auf seine zweite Äußerung absichtlich nicht ein, trotz der harmlosen Erklärung, die es dafür gab. Denn sie hatte ja ihre Koffer in Michaels Zimmer abgestellt, bevor sie mit ihm zum Frühstücken gegangen war, um vor allen Dingen Walter unnötige Laufereien zu ersparen. Juans Blick verunsicherte Deborah so sehr, daß sie jetzt gar nicht mehr den Mut fand, das Mißverständnis aufzuklären, und auch Michael kam ihr nicht zu Hilfe, da er sich mit Julian beschäftigte, der unbedingt auf dem Stofflöwen reiten wollte. Dann soll Juan eben glauben, daß ich seinen Bruder nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten von der Notwendigkeit seiner Rückkehr überzeugt habe, versuchte sich Deborah einzureden. In Anwesenheit von Michael vertiefte Juan dieses Thema nicht weiter. Daß er sich aber nicht mit der einen Andeutung begnügte, mußte Deborah wenig später im Turmzimmer feststellen. Er hatte darauf bestanden, sie dorthin zu begleiten, obwohl sie viel lieber allein gegangen wäre. Der „Sky Room“, so hatte Michael unbekümmert erwähnt, war das Versteck von Pauline gewesen. Wirklich ein ideales Versteck, dachte Deborah und sah sich in dem runden Raum mit den vielen Fenstern um. Es lag direkt unter dem Dach und konnte nur über eine schmale Wendeltreppe erreicht werden. Die Einrichtung bestand aus Bambusrohrmöbeln, die Türen des in die Rundung eingebauten Kleiderschranks waren aus geflochtenen Bambusblättern, und die Blüten dieser Grasstaude tauchten immer wieder in dem Muster der Gardinen und der Tagesbettdecke auf. „Haben Sie keine Angst, daß Sie hier von einem Geist heimgesucht werden?“ fragte Juan spöttisch. „Überhaupt nicht. Das Auftauchen eines Geistes zählt zu meinen geringsten Sorgen.“ „Die gelten wohl eher den Lebewesen aus Fleisch und Blut?“ „Nur einem einzigen, Senor“, erwiderte Deborah. „Warum sind Sie dann zurückgekommen?“ wollte er wissen. „Sie kennen den Grund“, erklärte sie kurz angebunden und ging zum Fenster, um die herrliche Aussicht zu genießen, von der Michael gesprochen hatte. Der „Sky Room“ machte seinem Namen alle Ehre, fand Deborah, als sie vor dem Fenster stand und den Eindruck hatte, dem Himmel etwas näher zu sein, so weit reichte der Blick. Sicher hatte auch Pauline oft hier gestanden, wenn sie nach einer Auseinandersetzung mit ihrer Schwiegermutter wieder Ruhe und Frieden finden wollte. Oder hatte Michaels junge Frau aus anderen Gründen das abgelegene Turmzimmer als Versteck gewählt? Diese Frage drängte sich Deborah plötzlich auf, und sie knüpfte daran auch gleich das Bild von Pauline und Juan, die sich auf dem Bett aus Bambusrohr zu einem intimen Beisammensein trafen. Dieser Gedanke war für Deborah so unerträglich, daß sie rasch zur Tür ging und sie weit aufmachte. „Würden Sie bitte so freundlich sein und mich jetzt allein
lassen, denn ich möchte gern meine Koffer auspacken“, sagte sie höflich. Doch Juan folgte dieser Aufforderung nicht, sondern betrachtete interessiert das Blütenmuster auf der Tagesdecke. „Haben Sie eigentlich die Absicht, Pauline zu ersetzen?“ fragte er beiläufig. Daß ausgerechnet er diese Frage stellte, machte Deborah wütend. „Ich vermute, daß Sie augenblicklich versuchen, sich so abscheulich wie möglich zu benehmen, Senor.“ „Finden Sie denn meine Frage so abwegig?“ Juan drehte sich zu ihr herum und musterte sie kritisch. „Michael ist Ihr Idol, denn sonst würden Sie ja wohl kaum so fleißig für ihn arbeiten. Sie sind beeindruckt von seinen Romanen, in denen sich der Autor widerspiegelt, wie es so schön heißt. Außerdem sind Sie fasziniert von dem einsamen Witwer mit einem kleinen Sohn…“ „Hören Sie auf und verschwinden Sie endlich“, fuhr Deborah ihn wütend an. „Am besten gleich bis nach Andalusien. Seitdem sie nämlich auf der Insel sind, versuchen Sie, mich von meiner Arbeit abzulenken. Sie brauchten eine Abwechslung, weil Ihnen die Verantwortung für Abbeywitch lästig wurde, und dummerweise fiel Ihre Wahl auf mich, die ich ja nur die Sekretärin Ihres Bruders bin und ansonsten eine unscheinbare graue Maus, der Sie gelegentlich Ihre Aufmerksamkeit schenken.“ Deborah stemmte die Hände in die Hüften und fuhr zornig fort: „Ich kann gut auf Ihre Aufmerksamkeit verzichten, Mr. Salvador. Ich lasse mir nicht den Kopf verdrehen durch Ihr übertrieben männliches Gehabe!“ „Vielleicht gelingt es mir nicht, Ihnen den Kopf zu verdrehen, meine Liebe, aber wenn ich Sie jetzt küssen oder berühren würde, wären Sie wie Wachs in meinen Händen, Senorita. Gran Dios, können Sie sich nicht vorstellen, daß ich genau weiß, wann ich eine Frau erregt habe?“ Die Erinnerung an seine Küsse und Liebkosungen war noch so lebhaft, daß es wie ein heißer Strom durch ihren Körper lief, als Juan sie mit seinen dunklen Augen betrachtete. In ihnen loderte ein Feuer, das ihren Zorn niederbrannte. „Bitte, gehen Sie jetzt“, bat sie inständig. „Lassen Sie mich in Ruhe meine Arbeit beenden. Falls Ihnen etwas an Ihrem Bruder liegt, wird Ihnen das sicher gelingen, Mr. Salvador.“ „Es fällt mir nicht im Traum ein, diese idyllische Partnerschaft zu stören.“ Deborah suchte an der Türklinke einen Halt, als Juan langsam auf sie zukam. „Was uns beide betrifft, ist es völlig unmöglich, daß wir uns wie höfliche Fremde benehmen, solange wir unter demselben Dach wohnen.“ „Wo ein guter Wille ist, gibt es immer einen Weg.“ Er schüttelte den Kopf. „Eine unbekannte Kraft zieht uns an, die Sie meinetwegen vor mir und sich selbst leugnen können – gegen die Sie aber machtlos sind. Bis wir nicht herausgefunden haben, ob es Liebe oder Haß ist, die uns aneinander binden, nutzen auch die besten Vorsätze wenig.“ Er ging mit festen Schritten an Deborah vorbei zur Tür hinaus und blieb dann plötzlich auf dem Treppenabsatz stehen. „Für ein oder zwei Tage werden Sie jedoch Ruhe vor mir haben, denn dringende Geschäfte zwingen mich zu einer Reise aufs Festland. Hoffentlich nutzen auch Sie die Zeit, fleißig zu arbeiten, Miss Hartway.“ Deborah lauschte dem Geräusch seiner Schritte auf der Wendeltreppe, und erst als es ganz still war, schloß sie die Tür. Dann packte sie ihre Koffer aus. Sie versuchte sich nur darauf zu konzentrieren, die Wäschestapel ordentlich in den Schrank zu legen und die Kleider sorgfältig auf die Bügel zu hängen. So gelang es ihr allmählich, sich wieder zu beruhigen. Nachdem sie mit allem fertig war, zog Deborah ein gelbes Sommerkleid an und
machte sich schon vor der mit Michael verabredeten Zeit auf den Weg ins Arbeitszimmer. Denn im Augenblick machte sie der Aufenthalt in ihrem stillen Turmzimmer nur nervös. Außerdem hatte Michael inzwischen bestimmt das Manuskript gelesen, und es interessierte sie sehr, wie er ihre Arbeit beurteilte. Michael begrüßte Deborah mit einem Lob. „Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, aber ich habe mich entschlossen, am ersten Kapitel noch einige Änderungen vorzunehmen. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus.“ „An mir soll es nicht scheitern, Mr. Salvador“, antwortete Deborah lachend. Dann suchte sie nach Block und Bleistift, weil sie annahm, daß er sofort diktieren wollte. „Bitte, nennen Sie mich Michael“, forderte er sie auf, „und lassen Sie das Schreibzeug für heute ruhen. Sie haben schon so viel für mich getan. Ihre Fähigkeit, sich in die Verzweiflungen und Ängste anderer hineinzuversetzen, ist erstaunlich. Woran liegt es nur, daß Sie mit Ihren jungen Jahren einen solchen reifen Eindruck hinterlassen?“ Deborah lächelte nur. Seine Aufforderung, ihn beim Vornamen zu nennen, hatte sie an Juans Bemerkung über die idyllische Partnerschaft zwischen ihr und Michael erinnert. Sie befürchtete Komplikationen und spöttische Kommentare von Juan, wenn er recht behalten sollte. Andererseits fühlte sie sich in Michaels Gesellschaft sehr wohl, so daß es ganz natürlich war, wenn eine gewisse Vertrautheit entstand. In beiden Fällen muß ich aber wohl vorsichtig sein, dachte Deborah und beantwortete Michaels Frage dann so diplomatisch wie möglich, indem sie von ihrer Mutter erzählte, die nach dem Tod ihres Vaters Schweres durchgemacht hatte, doch selten den Mut verlor und sich schließlich ein zweitesmal verliebte. „Sie leugnen es zwar, aber ich bin überzeugt, daß auch für Sie die Liebe sehr wichtig ist“, sagte Michael leise. Deborah empfand eine seltsame Unruhe, weil Michaels Stimme so zärtlich geklungen hatte. Sie blickte zum Fenster hinaus. Draußen im Hof zwitscherten die Vögel, und die Sonne schien strahlend vom wolkenlosen blauen Himmel. Bäume und Blumen reckten sich ihr entgegen, als wollten sie damit zeigen, daß auch sie das Gewitter vom Vortage überwunden hatten. „Haben Sie Lust zu einem Spaziergang durch den Park?“ fragte Michael, der dicht hinter ihr stand. Er nahm ihre Hand. „Ich möchte Ihnen so gern die Rhododendronbüsche zeigen. Sie sind einer der Gründe, weshalb ich Abbeywitch so liebe.“ Die Büsche mit ihren großen leuchtenden Blüten waren zum Teil so hoch wie Bäume, und es gab sehr viele davon. Deborah hatte den Eindruck, durch einen Märchenwald zu gehen, in dem Abbeywitch das verwunschene Schloß war – nur Juan, der Besitzer, wollte nicht so recht in dieses Bild passen. Michael dagegen fühlte sich hier heimisch, während Juan das Leben in Spanien vorzog. Ihm gehörte aber nun mal das, was Michael so sehr liebte. Vor einem Strauch blieb Michael plötzlich stehen und nahm vorsichtig eine Blüte zwischen beide Hände. „Sie kommt mir vor wie eine wunderschöne Hexe, deren Tage gezählt sind, denn die Nacht der Sommersonnenwende ist nah.“ Er atmete tief den Duft der Blume ein, bevor er sie wieder losließ und sich zu Deborah umdrehte, die aus einiger Entfernung die Szene schweigend beobachtet hatte. „Es ist ein Glück, daß Sie mich aus der Hölle, in der ich mich verkrochen hatte, herausgeholt haben. Es tut so gut, wieder auf diesem herrlichen Fleckchen Erde zu sein.“
10. KAPITEL Jeden Morgen kamen Handwerker vom Festland auf die Insel, um den durch das Gewitter entstandenen Schaden zu beseitigen. Nach zehn Tagen erinnerten nur noch die neuen Brüstungen um die Terrassen des Westflügels von Abbeywitch daran, daß ein Unwetter stattgefunden hatte. Deborah empfand es sehr angenehm, daß sie bei ihrer Arbeit wieder das Meer und die Vögel hören konnte, obwohl sie der Baulärm eigentlich nie richtig gestört hatte. Als aber Gäste in Abbeywitch eintrafen, war sie hellhörig geworden. Mrs. Salvadors Pläne waren allerdings nicht schwer zu durchschauen, als sie kurz nach Michaels Rückkehr eine Einladung an die Familie Chandler schickte. Sollte es sich ergeben, daß ihr Sohn wieder nach einer Frau Ausschau hielt, so würde Sharon gleich in der Nähe sein. Die junge Dame kam dann auch sofort angereist und brachte ihre Mutter, zwei Dienstmädchen und einen Pudel mit. Für Deborah war die Ankunft der Chandlers nur eine kurze Unterbrechung ihrer Tätigkeit gewesen. Sie hatte schnell wieder ihren gewohnten Arbeitsrhythmus gefunden, und das hieß, daß sie die meiste Zeit des Tages hinter der Schreibmaschine verbrachte. Die morgendlichen Besuche im Kinderzimmer und die Gespräche mit Rose Jones zu den Mahlzeiten fehlten ihr allerdings sehr. Julians Kindermädchen mußte noch immer das Bett hüten, um sich von ihrer Gehirnerschütterung und den Prellungen zu erholen. Sie wurde von Mrs. Lee, der Haushälterin, so fürsorglich bemuttert, daß Deborah bisher nur zweimal zu ihr durfte. Julian, um den sich Mrs. Salvador weiterhin kümmerte, sah sie auch nur dann, wenn Michael mit ihm ins Arbeitszimmer kam. Die beiden blieben zwar nie lange, doch es war für Deborah jedesmal eine große Freude, wenn sie die Vertrautheit zwischen Vater und Sohn betrachtete. Weniger erfreulich war, daß sich Juan noch nicht entschlossen hatte, seine Koffer zu packen, um nach Andalusien zurückzukehren. Seine Anwesenheit in Abbeywitch beunruhigte Deborah nach wie vor. Wenn sie abends vor dem offenen Fenster saß und ihr Haar bürstete, dachte sie oft angestrengt darüber nach, wie sie Juan aus ihrem Gedächtnis vertreiben könnte. Aber gleichzeitig lauschte sie auf die fröhlichen Stimmen, die aus dem Salon in ihr stilles Turmzimmer drangen, und stellte sich vor, wie die Salvadors der hübschen Sharon den Hof machten. Dann fragte sie sich manchmal, wie sich ein junges Mädchen fühlte, dessen Eltern reich waren und ihrer Tochter ein sorgloses und vergnügtes Leben ermöglichten. Sharon konnte daher viel Zeit für ihr gutes Aussehen verwenden und dabei lernen, wie man charmant und wirkungsvoll auftritt. Sie brauchte sich nie damit zu beschäftigen, welchen Beruf sie später ergreifen sollte, um sich ihren Lebensunterhalt allein zu verdienen und vielleicht auch noch Karriere zu machen. Ihr Ziel war es eher, einen jungen Mann aus ihren Gesellschaftskreisen kennenzulernen und ihm das Gefühl zu geben, das große Los gezogen zu haben. Es waren aber nicht nur Stimmen, die Deborah hörte. Oft klang auch Musik zu ihr herauf und weckte Sehnsüchte, wieder einmal mit Juan zu tanzen, beschwingt seinen Schritten zu folgen und die Wärme und Kraft seines Körpers zu spüren. – Deborah war machtlos gegen diese Wunschvorstellungen, und sie würde wohl erst dann von ihnen loskommen, wenn Hunderte von Kilometern zwischen ihr und Juan lagen. Morgens auf dem Weg in ihre „Mönchszelle“ erkundigte sie sich manchmal beiläufig bei Mrs. Lee oder dem Hausmädchen Kitty, ob sie zufällig etwas von Mr. Juans Abreise erfahren hätten. Die Antwort hieß jedesmal nein. Enttäuscht und aufgeregt zugleich zog sich Deborah dann hinter ihre Schreibmaschine zurück
und fragte sich, wann Juan sie aufsuchen und seine Drohung wahrmachen würde. Die Worte hatten sich ihr genau eingeprägt: Er wollte es nicht dulden, daß sie länger ein Schattendasein in seinem Hause führte. So vergingen die Tage, und ohne ihre Arbeit an Michaels Roman hätte es Deborah hier schon längst nicht mehr ausgehalten. Sie zwang sich zu eiserner Disziplin und hielt die drei Pausen bis zum Abend streng ein. Am Vormittag brachte Kitty ein Glas Wein und einige Kekse, so wie es Juan am zweiten Tag seiner Ankunft angeordnet hatte; das Mittagessen nahm sie in der Küche ein; zum Fünf-Uhr-Tee setzte sie sich auf die breite Fensterbank im Arbeitszimmer und verfütterte den Kuchen, der regelmäßig mit dem Tee serviert wurde, an die Vögel. Sie bekam zwar immer ein schlechtes Gewissen dabei, andererseits hatte sie Kitty schon mehrfach gebeten, den Kuchen wegzulassen, weil sie sich nichts daraus machte. Die Teepause genoß Deborah allerdings ganz besonders. Einige Male hatte Michael ihr Gesellschaft geleistet, meistens aber war sie allein, doch sie fühlte sich trotzdem nicht einsam. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die zur Unterhaltung eine Gruppe brauchten. Da sich die Chandlers augenblicklich in Abbeywitch aufhielten, war Deborah sogar mehr als dankbar, daß sie im Arbeitszimmer eine Zuflucht gefunden hatte. Zu ihrer großen Erleichterung blieb sie auch von Stuart Coltans Belästigungen verschont. Wenn sie ihn zufällig einmal traf, musterte er sie nur mit unverschämten Blicken, doch auf eine betreffende Bemerkung verzichtete er völlig. Der Schauspieler hatte im Augenblick mehr damit zu tun, sich bei Lenora Salvador einzuschmeicheln. Offensichtlich mit Erfolg, wie Michael berichtete. „Meine Mutter findet ihn charmant, amüsant und attraktiv und betrachtet ihn bereits als ihren zukünftigen Schwiegersohn.“ Deborah war die Ironie in Michaels Stimme nicht entgangen, und sie konnte sich gut vorstellen, welche Gedanken ihn dabei bewegten: Hätte seine Mutter nämlich die junge Tänzerin als Schwiegertochter akzeptiert, wäre Michaels Ehe sicher kein Alptraum geworden, und Pauline würde vielleicht noch leben. Deborah machte sich natürlich auch ihre eigenen Gedanken über diese Ehe. Es war unklug von Michael gewesen, an ein harmonisches Zusammenleben mit seiner Frau zu glauben, wenn sie in demselben Haus wie seine Mutter wohnten. Andererseits verstand sie, daß Michael die Atmosphäre der Insel unbedingt für seine Arbeit brauchte. Und je besser Deborah den Schriftsteller kennenlernte, desto deutlicher erkannte sie, daß er ein Teil von Lovelis war – ein Kelte, der sich dem mythologischen Glauben dieses Volksstammes tief verbunden fühlte. Sein älterer Bruder dagegen gehörte nach Andalusien, wo mehrere Generationen die dunkelhäutigen, selbstherrlichen Mauren regiert hatten, die nicht nur das von ihnen eroberte Land beschützten, sondern auch eifersüchtige Bewacher ihrer Frauen waren. Juan hatte ihr von diesem Wesenszug seines Ahnherrn erzählt, als sie beide einmal vor dessen Bildnis standen. Eines Tages erschien dann Juan im Arbeitszimmer, als Deborah gerade am Fenster saß, ihren Tee trank und den Vögeln zuschaute, die sich um die Kuchenkrümel zankten. Von ihrem Platz konnte sie in den Gärten sehen, der in dem geschützten Hof von Abbeywitch angelegt worden war. Mit den berankten Arkaden, den Kieswegen und dem Springbrunnen in der Mitte erinnerte er sie an einen spanischen Garten, nur die Hausmauern hätten dann nicht grau, sondern weiß sein müssen. Groß, schlank, in seiner beigefarbenen Leinenhose und einem schwarzen Seidenhemd stand Juan plötzlich neben ihr. Er lächelte zwar, doch es war kein
freundliches Lächeln. Offensichtlich spürte er, daß er nicht willkommen war. „Es tut mir wirklich leid, Sie mitten in Ihrer Teepause zu stören, Miss Hartway. Ich weiß ja, wie wichtig Ihnen die Arbeit ist, so daß Sie sich diese Unterbrechung ehrlich verdient haben.“ Deborah überhörte unbeeindruckt seinen Sarkasmus. „Wenn Sie Michael sprechen wollen, so…“ „Michael?“ unterbrach er sie. „Seine frühere Sekretärin Miss Tucker hat ihn nie so angeredet. Die Dame war sogar sehr förmlich.“ „Es war der Wunsch Ihres Bruders, daß ich ihn mit seinem Vornamen anrede“, erklärte Deborah ihm und ärgerte sich, daß Juan schon mit wenigen Worten ihre friedliche Stimmung zerstört hatte. „Und selbstverständlich befolgen Sie seine Wünsche.“ Juan zog eine schmale Schachtel aus seiner Hosentasche und überreichte sie Deborah. „Ich bin Ihretwegen gekommen, um Ihnen das zu geben. Keine Angst, es ist kein Verlobungsring“, fügte er spöttisch hinzu, als er ihre erschrockene Miene sah, denn auf dem Deckel stand der Name eines Juweliers in Penarth. Vorsichtig hob Deborah den Deckel hoch und stieß einen leisen Freudenschrei aus. In der Schachtel lagen der Perlenanhänger und die Kette. Also hatte Juan sein Versprechen gehalten und den von Stuart Coltan beschädigten Schmuck zur Reparatur gebracht. Der Juwelier hatte gute Arbeit geleistet. Die Perle schimmerte wieder so sanft wie vorher. Deborah bedankte sich und fragte Juan, was sie ihm schuldig sei. Seine Augen blitzten. „Wenn Sie unbedingt bezahlen wollen, Senorita, dann nur mit einem Kuß.“ „Das kann nicht Ihr Ernst sein“, wehrte sie ab. „Aber ein Kuß ist doch eine ernsthafte Angelegenheit.“ „Für mich ja, doch bei Ihnen bin ich mir da nicht so sicher. Deshalb möchte ich mit Geld bezahlen, Senor“, setzte sie nachdrücklich hinzu. „Meinen Preis habe ich bereits genannt.“ Ein Wort folgte dem anderen, doch schließlich gab Deborah nach, da sie sich so schnell wie möglich wieder ihrer Arbeit widmen wollte und einsehen mußte, daß Juan nicht eher von seinem Platz weichen würde, bis er seine Forderung erhalten hatte. Sie bot ihm ihre Lippen zum Kuß, doch damit begnügte er sich nicht. Behutsam zog er sie von der Fensterbank herunter in seine Arme. Warum sollte sie leugnen, daß sie sich den Kuß heimlich gewünscht hatte? Es war himmlisch, den Druck seiner Lippen auf ihrem Mund zu spüren, und Deborah fand es widersinnig, gegen dieses Verlangen ankämpfen zu wollen. Dennoch drehte sie den Kopf rasch zur Seite, als sich Juan zu ihr hinunterbeugte, so daß sein Mund ihr Ohrläppchen traf. „Die Lady mit dem rotbraunen Haar benimmt sich wie eine gerissene kleine Füchsin.“ Juan lachte amüsiert auf. „Was wird sie aber machen, wenn sie ganz der Gnade ihres Jägers ausgeliefert ist?“ „Sie wird versuchen, sich gar nicht erst fangen zu lassen.“ „Sitzt sie nicht gerade jetzt schon in der Falle? Meine Arme halten sie noch fest umschlungen, und ich bin sehr stark.“ Es kostete Deborah sehr viel Überwindung, Juans spöttischen Blicken standzuhalten. „Es wundert mich, Senor, daß Sie eine der von Ihnen aufgestellten Hausregeln so leichtfertig übertreten“, sagte sie kühl. „Oder täuschte ich mich, als Sie mir völlige Sicherheit für die Dauer meines Aufenthalts in Abbeywitch versprachen?“ „Soll das etwa heißen, daß Sie sich in meinen Armen nicht sicher fühlen?“ fragte er überrascht.
„So schutzlos bin ich mir selten vorgekommen.“ Juan runzelte die Stirn. „Ich überlege, ob Sie mir mit dieser Bemerkung schmeicheln oder mich beleidigen wollen.“ „Diese Entscheidung müssen Sie allein treffen, Mr. Salvador.“ „Was sind Sie doch manchmal für eine eiskalte Person.“ Juan ließ sie nicht nur los, sondern er breitete sogar die Arme weit aus, um Deborah zu beweisen, daß sie ungehindert den Rückzug antreten könnte. Diese Gelegenheit ließ sie sich auch keinesfalls entgehen. „Ich möchte mich sehr herzlich für die Reparatur meines Anhängers bedanken“, sagte sie, nachdem sie hinter dem Schreibtisch saß – außerhalb Juans Reichweite. „Keine Ursache. Er steht Ihnen übrigens sehr gut, und Sie sollten ihn morgen abend zum Dinner tragen.“ Aus einem goldenen Etui, das er vorher umständlich aus der Hosentasche geholt hatte, nahm er ein Zigarillo und zündete es betont langsam und bedächtig an. Offenbar wollte er Deborah zeigen, daß er viel Zeit hatte. Im Plauderton erzählte er ihr dann auch von dem Feuer, das nach dem Essen am nächsten Abend auf den Klippen angezündet würde. Der Holzstoß mußte ziemlich hoch sein, denn der Lichtschein sollte bis zum Festland reichen, wo dann überall ähnliche Feuer brannten. Einem alten keltischen Brauch zufolge feierte die Bevölkerung auf diese Weise die Nacht der Sommersonnenwende. „Je höher die Flammen, um so größer die Hoffnung, daß alle bösen Geister, Hexen und der Teufel verjagt werden“, ergänzte Juan. „Dieses Ereignis dürften Sie sich eigentlich nicht entgehen lassen, da Sie doch sicher an übernatürliche Kräfte glauben.“ „Ich würde das Feuer gern sehen, aber an Ihrer Stelle hätte ich guten Grund, der Zeremonie fernzubleiben, falls Sie zufälligerweise selbst abergläubisch sind“, entgegnete sie und lächelte ihn spöttisch an. Juan verstand die Anspielung sofort. „Soso, in Ihren Augen bin ich also ein Teufel, und Sie würden mich gern in einer Rauchwolke gen Himmel fahren sehen. Würden Sie sich dann von mir befreit fühlen, Senorita?“ „Ich fühle mich ja nicht an Sie gebunden, Senor.“ Deborah blickte auf den Anhänger und die Kette in ihrer Hand. „Der Heiratsantrag glich einem schlechten Theaterstück, das müssen Sie doch selbst zugeben. Die Salvadors mit ihrem ausgeprägten Sinn für Dramatik haben es perfekt inszeniert. Zuerst wird Mrs. Lenora Salvador von ihrer Tochter in mein Zimmer geschickt, es folgte der empörte Auftritt, auf den Sie dann wie ein Ehrenmann reagieren. Ich war zwar an dem Stück beteiligt, wurde aber nie gefragt, ob ich überhaupt mitspielen will.“ Sie sah Juan fest an. „Obwohl ich die Szene überlebt habe, möchte ich keine Wiederholung, Mr. Salvador. Also, bitte…“ „Bitte?“ unterbrach er sie. Über Juans Gesicht zogen die Rauchschwaden seines Zigarillos und verliehen ihm ein geheimnisvolles Aussehen, das Deborah sofort verwirrte. „Sie wissen genau, was ich sagen will“, erwiderte sie unsicher. „Sie wollen mich also nicht in Ihrer Nähe haben?“ Deborah nickte nur, denn sie hätte ihre widersprüchlichen Gefühle verraten, wenn sie seine Frage mit Worten bestätigt hätte. Es schien Deborah, als loderte in diesem Mann ein leidenschaftliches Feuer, das sie anlockte wie das Licht die Insekten, an dem sie sich aber auch verbrennen würde. Zurück bliebe wahrscheinlich nur Asche… „Wen möchten Sie denn in Ihrer Nähe?“ fragte Juan. „Ich will überhaupt kei…“ „Ach, machen Sie sich selbst und auch mir doch nichts vor!“ Er ließ seine Blicke
durch den Raum schweifen. „Mein Bruder und Pauline hatten sich bald nichts mehr zu sagen, aber in Ihrer Gegenwart scheint Michael nie um Worte verlegen zu sein. Ich sehe Sie und ihn in diesem Zimmer, umgeben von Büchern, über die Sie heiße Diskussionen führen. Merken Sie denn nicht, daß Sie Michael tief beeindruckt haben, Miss Hartway?“ „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ „Spielen Sie mir bitte nicht die Ahnungslose vor.“ Er machte eine ungeduldige Handbewegung, so daß ein wenig Asche seines Zigarillos auf die oberste Seite des getippten Manuskripts fiel. Als Deborah sie entfernen wollte, umklammerte Juan ihr Handgelenk mit hartem Griff. „Ich würde Sie am liebsten kräftig schütteln, bis Sie endlich einmal etwas ehrlich zugeben.“ „Lassen Sie mich los! Sie tun mir weh!“ Ganz plötzlich änderte Juan die Taktik. Er lockerte seinen festen Griff, streichelte sanft mit dem Daumen über Deborahs Hand und sagte mit schmeichlerischer Stimme: „Ich kann in Ihren Augen lesen wie in einem Buch. Für Sie ist Michael der tragische Held, der eine Schulter braucht, um sich auszuruhen. Er weiß aber gar nicht, wie weich sich diese Schulter anfühlt, wenn man sie mit den Lippen liebkost, wenn man ihrer Rundung folgt, bis man zu sehr viel verheißungsvolleren Stellen gelangt. Ich spreche damit einen empfindlichen Punkt an, nicht wahr? Allein meine Worte erregen Sie schon, pequenia. Schafft das mein Bruder auch, wenn er mit Ihnen über Literatur redet? Ich glaube kaum.“ „Ihr Bruder respektiert mich“, stieß Deborah unbeherrscht hervor. „Wenn ich hier mit ihm allein bin, weiß ich genau, was mich erwartet, und stehe nie unter diesem Druck. Warum suchen sie sich für Ihr Katz-und-Maus-Spiel nicht jemand anderen, Senor? Zum Beispiel Miss Chandler?“ „Mit ihr macht das Spiel nicht halb soviel Spaß wie mit Ihnen. Sie reagieren, Miss Hartway. Ein Blick, eine Bemerkung oder eine Berührung von mir, und sie würden sich am liebsten in Ihr Mauseloch verkriechen. Da kann ich der Lust, Sie zu verfolgen, einfach nicht widerstehen.“ „Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe!“ erwiderte Deborah leise und war sich in diesem Augenblick bewußt, daß sie nur die halbe Wahrheit sagte. Ein Teil von ihr sehnte sich nach Juans Nähe, der andere dagegen war tatsächlich ständig auf dem Sprung, die Flucht zu ergreifen. „Der flehende Ausdruck in Ihren schönen Augen spricht Bände“, fuhr Juan unbarmherzig fort. „Sie versuchen verzweifelt, nach außenhin die spröde, pflichtbewußte Verlagsassistentin zu sein, doch tief in Ihnen schlummern Leidenschaften, die Sie nicht vor mir verbergen können. Dagegen kämpfen Sie an.“ „Sind wir uns in dieser Beziehung nicht ähnlich? Glauben Sie, daß Sie alle Menschen zum Narren halten können, weil Sie von oben auf sie herabsehen? Mich können Sie durch Ihre Überheblichkeit nicht täuschen.“ „Was machen wir denn da?“ fragte Juan. Sein Mund verzog sich spöttisch, während er so tat, als würde er nachdenken. Dann leuchteten die dunklen Augen plötzlich auf. „Ich habe mich entschlossen, Ihnen nicht zu glauben, Senorita“, erklärte er mit gespielter Fröhlichkeit. „Sie sind viel zu jung und unerfahren, um uns Männer zu durchschauen, allen voran die Spanier. Haben Sie schon viele Spanier kennengelernt?“ „Sie sind der erste“, gab Deborah widerwillig zu. „Mir scheint, daß Sie überhaupt noch nicht viele Männer kennengelernt haben.“ Diesmal schwieg Deborah, doch sie konnte Juan nicht täuschen. „Sagen Sie nichts, Miss Hartway. Ich glaube Ihnen auch so, daß es nicht viele gewesen sind.“
„Sie glauben mir? Bei unserer ersten Begegnung am Strand war es anders“, erinnerte Deborah ihn. „Ja! – Wie war das noch? Da hielt ich Sie für eine schamlose Verführerin, nicht wahr?“ Deborah kam sich vor wie eine Marionette, und mit wachsendem Vergnügen spielte Juan mit ihr. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihm zu beweisen, daß er nicht nach Belieben die Fäden ziehen konnte. „Sie merken wohl selbst, daß erste Eindrücke nur selten immer ganz zutreffend sind“, sagte sie. „Das ist ja interessant. Sie hielten mich anfangs für einen Schauspieler. Wenn Ihre Behauptung stimmt, daß sich Meinungen ändern können, würde ich gern wissen, was Sie jetzt über mich denken.“ „Sie handeln eigenwillig und – sind sich selbst und anderen gegenüber unbarmherzig“, erklärte Deborah und fand den Mut, Juan direkt in die Augen zu sehen. Sie machte eine sonderbare Entdeckung. In diesen Augen spiegelte sich das heißblütige Temperament des Spaniers wider, der sich dazu hinreißen ließ, mit der Frau seines Bruders eine intime Beziehung einzugehen. Gleichzeitig aber las sie darin so etwas wie ein Schuldbekenntnis. Bevor sie noch mehr erkennen konnte, ließ Juan ihre Hand los und wandte sich ab. Deborah massierte noch ihr schmerzendes Gelenk, als die Tür aufgerissen wurde und Michael hereinkam. „Ich hoffe, daß du Deborah nicht bei ihrer Arbeit störst“, sagte er zu Juan gewandt, der einen zerstreuten Eindruck machte, als sei er in Gedanken weit weg gewesen, und seinen Bruder nun höflich bat, die Frage zu wiederholen. „Aber nein, ich würde es nie wagen, dieses Juwel an Eifer und Pflichtbewußtsein zu stören“, wehrte er dann entrüstet ab. Seine Stimme klang jedoch äußerst spöttisch. „Ich weiß schließlich, daß innerhalb dieser vier Wände ein großes, unsterbliches Werk entsteht. Kannst du es mir verübeln, daß ein so alltäglicher Mensch wie ich nur einmal diese verzauberte Luft einatmen wollte?“ Er wandte sich an Deborah. „Sagen Sie selbst, verehrte Miss Hartway, habe ich Sie gestört?“ „Überhaupt nicht, Mr. Salvador“, antwortete sie und bemühte sich, gelassen zu wirken. „Wenn ich in meine Arbeit vertieft bin, kann mich überhaupt nichts ablenken.“ Michael sah sie bewundernd an. „Jetzt hat sie dich auf deinen Platz verwiesen, Bruder“, bemerkte er amüsiert. „Ja, sie hat ihre Qualitäten wieder einmal unter Beweis gestellt. Sie ist die ideale Verkörperung einer Karrierefrau – bescheiden und zurückhaltend, wenn es die Umstände erfordern, aber auch sehr scharfzüngig, wenn ihr danach zumute ist. Du hast Glück, daß du sie für dein neues Buch verpflichten konntest. Und bietet sich diese ehemalige Mönchsklause nicht geradezu an für einen Hohepriester, der sein Leben der Poesie und der Literatur geweiht hat, um mit seiner ergebenen Dienerin zusammenzuarbeiten?“ Michaels Lächeln verschwand schlagartig. „Ich mag diese versteckten Andeutungen nicht, Juan! Warum sprichst du nicht offen aus, was dich beschäftigt?“ „Was sollte mich schon beschäftigen, hermano?“ Juan gebrauchte das spanische Wort für Bruder sicher ganz bewußt, überlegte Deborah. „Ich könnte dir eine Reihe von Dingen aufzählen“, erwiderte Michael. „Ist das die Möglichkeit? Bitte, nenn mir doch ein einziges, da ich offenbar begriffsstutzig bin, um selbst darauf zu kommen“, forderte Juan ihn auf. Deborah spürte die Spannung zwischen den Brüdern, die sich im Augenblick noch abwartend verhielten, um herauszufinden, wie sie sich gegenseitig am
wirksamsten bekämpfen konnten. Einen direkten Angriff wagte wohl keiner von ihnen. Michael stand immer unter dem Druck, von Juan aus Abbeywitsch vertrieben zu werden, wie er Deborah einmal anvertraut hatte, und nach Paulines Tod wäre dieser Rausschmiß beinahe erfolgt. Unter einem Druck anderer Art stand auch Juan, weil ihn Schuldgefühle wegen Pauline plagten, zu denen er sich nicht offen bekennen konnte. „Zum Beispiel Deborah“, erwiderte Michael jetzt. „Ich hoffe, daß sie dir deutlich genug gesagt hat, wie wenig sie von deiner Auffassung hält, ihren guten Ruf verteidigen zu müssen. Sie ist sogar davongerannt, nachdem du deinen außergewöhnlichen Heiratsantrag gemacht hattest.“ „Eine ziemlich unglaubwürdige Flucht, wenn man bedenkt, daß sie gleich am nächsten Tag wieder zurückgekommen ist.“ „In meiner Begleitung und auf meinen Wunsch, möchte ich betonen. Sie steht jetzt unter meinem persönlichen Schutz. Meine Mutter hat das inzwischen begriffen und du hoffentlich auch.“ „Wie galant von dir, Michael, und wie beruhigend muß sich das auf Miss Hartways kindische Befürchtungen auswirken, ich würde ihr wieder zu nahe treten. Was habe ich bloß an mir, daß sie jedesmal bei meinem Anblick so nervös wird? Ist es vielleicht die Tatsache, daß ich unserem Ahnherrn so ähnlich sehe, der einen Mädchenraub begangen hat?“ Deborah sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und ärgerte sich darüber, daß sie erschrocken einen Schritt zurückwich, als Juan sie direkt fragte, ob sie Angst hätte, er könne sich wie der legendäre Don Juan Rodare de Salvador verhalten. „Das würde ich Ihnen unbedingt zutrauen“, antwortete sie verstört. „Dann sollten Sie sich beim nächstenmal, wenn Sie zum Sonnenbaden an den Strand gehen, vorsehen, Senorita“, warnte Juan. „Du bekommst es mit mir zu tun, wenn du auch nur den Versuch machst, sie anzufassen“, schaltete sich Michael ein. „Dann teile mir doch bitte vorher mit, zu welcher Tageszeit und auf welche Art du dich mit mir duellieren willst, hermano“, antwortete Juan ironisch und würdigte Deborah keines Blickes, als er aus dem Zimmer ging und die Tür laut zuschlug. „Ich wünschte, er würde auf der Stelle nach Spanien verschwinden und für immer dort bleiben“, stieß Michael wütend hervor, sobald er mit Deborah allein war. „Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist, daß er sich so unmöglich benimmt, doch ich kann Ihre Reaktion gut verstehen, Deborah.“ „Meine Reaktion?“ Deborah sah ihn fragend an. Ahnte er etwas von ihren Gefühlen für seinen Bruder, obwohl sie sich verzweifelt bemüht hatte, sie unter Kontrolle zu halten? „Seine arrogante Art, Ihnen ein Heiratsversprechen zu geben, muß eine so sensible Frau wie Sie ja verwirren. Aber jetzt wird er hoffentlich begriffen haben, daß er nicht Ihr Typ ist. Obwohl…“, Michael lächelte, „ich sehr gut verstehen kann, wenn er sich um Sie bemüht.“ Dabei lächelte er sie liebevoll an, so daß Deborah von einer seltsamen Unruhe ergriffen wurde. „Gefällt es Ihnen eigentlich in Abbeywitch, abgesehen von Juan? Und macht Ihnen unsere gemeinsame Arbeit Spaß?“ fragte Michael unvermittelt. Deborah formulierte ihre Antworten sehr vorsichtig. Das Haus wäre wunderschön, die Arbeit ginge gut voran, so daß sie bestimmt den Erscheinungstermin des Buches einhalten konnte. „Nur Arbeit und sehr wenig Vergnügen – das steht in keinem guten Verhältnis zueinander“, meinte Michael, während er tief durchatmete. „Jeden Abend verkriechen Sie sich in Ihrem Turm und sind daher für mich unsichtbar.“ Er
berührte flüchtig Deborahs Haar. „Morgen sollten Sie es offen tragen und an meiner Seite an der Familientafel sitzen. Danach gehen wir auf die Klippen und bewundern das Freudenfeuer. Mein Bruder, Walter und ich werden heute abend noch den Holzhaufen errichten.“ „Ich möchte gern meine Mahlzeiten wie bisher allein einnehmen, aber zu dem Feuer…“ „Ist es wegen meiner Mutter, daß Sie nicht mit uns essen wollen?“ fragte Michael, bevor sie ihren Satz zu Ende sprechen konnte. „Ja, Sie kennen doch ihre Einstellung mir gegenüber, und außerdem haben Sie Gäste im Haus.“ „Sharon wird erfreut sein, Sie kennenzulernen“, erklärte er unnachgiebig. „Sie ist ein nettes Mädchen und überhaupt nicht hochnäsig.“ Deborah warf ihm einen bittenden Blick zu. „Michael, das letzte Zusammentreffen mit Ihrer Familie und Ihren Freunden war eine Katastrophe! Bitte, ersparen Sie mir eine erneute Demütigung!“ Plötzlich bedeckte Deborah ihr Gesicht mit den Händen und weinte. Seit ihrer Rückkehr nach Abbeywitch hatte sie tapfer versucht, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, aber die sicher freundlich gemeinte Einladung Michaels durchbrach ihre Zurückhaltung. Doch sie weinte nicht wegen des heimlichen Kummers mit Juan, sondern weil sie mit ihren Kräften am Ende war und somit genau wußte, daß sie eine zweite Konfrontation mit den Salvadors nicht durchstehen würde. „O nein, Deborah, Sie sollten nicht weinen!“ Michael streichelte beruhigend über ihr Haar. „Sie sind sonst immer ausgeglichen und gelassen, und es bedrückt mich, wenn ich sehe, wie verzweifelt Sie sind. Ist vielleicht Juan daran schuld? Oder befürchten Sie, daß meine Mutter wieder Schwierigkeiten macht? In dieser Beziehung kann ich Sie beruhigen, Deborah. Mama hat ihren Fehler inzwischen eingesehen, was Sie betrifft. Können Sie nicht mir zuliebe versuchen, ihr zu verzeihen?“ Deborah suchte noch nach einer Antwort, da fuhr Michael auch schon fort, auf sie einzureden. „Wenn Sie sich weiterhin so rar machen, werden alle glauben, daß Sie etwas zu verbergen haben. Ich weiß, daß dies nicht der Fall ist, aber jeder hier im Haus sollte derselben Meinung sein wie ich.“ Mit verweinten Augen sah Deborah zu ihm auf. „Warum ist Ihnen das so wichtig, Michael?“ „Es ist von großer Bedeutung für mich“, betonte er. „Mehr möchte ich im Augenblick nicht dazu sagen. Weil es mir sehr viel bedeutet, möchte ich, daß sich die Kluft zwischen Ihnen und meiner Mutter schließt. Deshalb verlange ich in gewisser Weise von Ihnen, daß Sie uns morgen abend Gesellschaft leisten!“ „Als mein Arbeitgeber fühlen Sie sich wohl berechtigt, diesen Befehl auszusprechen“, erwiderte Deborah mehr erstaunt als aufsässig. „Und wenn ich mich Ihrer Anordnung widersetze, muß ich meine Koffer packen, ja?“ „Nein. – Ich wäre nur sehr enttäuscht von dem Mädchen, das mich so überraschend in meinem Versteck in Penarth aufsuchte und mir temperamentvoll und eindringlich deutlich machte, wo meine Verpflichtungen liegen. Und dies alles geschah mit einem Temperament, das zu dem wunderschönen Haar sowie dem ganzen Erscheinungsbild paßte!“ „Sie machen es mir schwer, Ihre Einladung abzulehnen“, antwortete Deborah errötend. Die völlig neue Seite, von der sich Michael zeigte, fand sie äußerst verwirrend. Zuerst verhielt er sich autoritär, dann überhäufte er sie mit Komplimenten. „Das war auch meine Absicht“, erwiderte er. „Sie sind jemand, der allen Grund hat, den Kopf hochzutragen. Ganz besonders morgen abend beim Essen.
Außerdem kann ich mir kaum vorstellen, daß Sie mich sozusagen im Stich lassen, indem Sie die Nerven verlieren.“ Danach ließ Michael das Thema fallen und beschränkte sich auf eine Unterhaltung über seinen Roman. Deborah versuchte, diesen Stimmungswechsel ebenso rasch zu vollziehen, aber sie hatte große Schwierigkeiten damit. Denn ihre Einstellung zu Michael hatte einen neuen Abschnitt erreicht, weil wohl beide ahnten, daß nicht nur die Liebe zur Literatur sie miteinander verband…
11. KAPITEL An diesem Abend zog sich Deborah mit einem Buch über Cornwall in ihr stilles Turmzimmer zurück, denn sie wollte etwas mehr über das Ereignis am nächsten Tag erfahren, von dem sie schon so viel gehört hatte. Die Lektüre faszinierte sie. Die Feuer zur Sommersonnenwende waren zunächst ein heidnischer Brauch, bis ihn die Kirche segnete und diesen Tag zum Johannistag erklärte, benannt nach dem heiligen Johannes. Das Ritual blieb jedoch dasselbe. Nur zu Beginn der Zeremonie sprach ein Priester ein Gebet in keltischer Sprache. Dann wurden Gräser und Wiesenblumen in die Flammen geworfen, damit sie heller aufloderten. Wenn das Feuer niedergebrannt war, faßten sich die ganz Mutigen an den Händen und sprangen in der Glut herum, angestachelt durch den Beifall und den Gesang der übrigen Teilnehmer. Damit sollten auch die letzten Spuren der bösen Geister mit dem Rauch vertrieben werden. Dieser Brauch enthielt auch den heidnischen Glauben, daß das Feuer die Sonne wärmte, die von vielen Naturvölkern wie Jäger, Hirten und Bauern wiederum als ein gottähnliches Wesen verehrt wurde. Wenn sie den ganzen Tag schien, verhalf sie zu einer guten Ernte und zum gesunden Wachstum der Nachkommen. Schaden richteten nur der Teufel, Hexen und die bösen Geister an. Deshalb wurden an vielen Orten in Cornwall Besenstiele oder dem Satan ähnlich sehende Puppen verbrannt. Deborah mußte lächeln, als sie an ihre Warnung dachte, daß Juan sich lieber irgendwo verkriechen sollte, statt an der Zeremonie der Teufelsverbrennung teilzunehmen. Juan eine mit Heu ausgestopfte Puppe? Sogar mit sehr viel Phantasie konnte sie sich das kaum vorstellen, auch nicht, daß sein kraftvoller Körper ein Opfer der Flammen wurde. Deborah klappte das Buch zu und legte es auf den Nachttisch, direkt neben die schmale Schatulle mit ihrem Schmuck, den Juan in Penarth zur Reparatur gebracht hatte. Da erinnerte sie sich wieder an seine Aufforderung, den Perlenanhänger doch am morgigen Abend zu tragen. Bestimmt hatte er nicht gemeint bei der Feuerzeremonie, sondern wohl während des Familienessens, zu dem sie ja von Michael eingeladen worden war. Ihr Lächeln verschwand. Wie würde Juan reagieren, wenn sie am Arm seines jüngeren Bruders den Salon betrat, wo meistens vor dem Essen die Aperitifs serviert wurden? War Michael stark und selbstbewußt genug, um sie vor Juans Sarkasmus zu schützen, vor den Demütigungen und Beleidigungen von Lenora und Sandra, vor den neugierigen Fragen der Chandlers? Auch Stuart Coltan würde anwesend sein und ihr auf keinen Fall hilfreich beistehen, da ihm mehr daran gelegen war, sich die Sympathie von Mrs. Salvador zu erschmeicheln. „Nein, auf solche Szenen kann ich gut verzichten“, sagte Deborah laut zu sich selbst. Sie ging zum Schrank, holte eine Strickjacke heraus und verließ das Zimmer. Ein bißchen Bewegung an der frischen Luft war genau das Richtige, um sich zu beruhigen. Die Uhr auf der Galerie im ersten Stock schlug gerade achtmal, und die dumpfen Schläge begleiteten Deborah auf ihrem Weg die breite Treppe hinunter. Acht Uhr bedeutete, daß die Salvadors beim Essen saßen. Es war also eine günstige Zeit, um unbemerkt die Diele zu durchqueren und zum Seiteneingang zu gelangen. Trotzdem atmete Deborah erleichtert auf, als sie den Garten erreicht hatte, und zum Glück war ihr niemand begegnet, der sie fragen konnte, wohin sie zu dieser Zeit noch wollte. Der Mond hing wie eine große runde Scheibe am Himmel und tauchte alles in ein fahles Licht. Der warme Schein der Laternen inmitten einiger prächtiger
Blumenbeete zog die Insektenschwärme an, deren Surren die Luft erfüllte. Die Vögel, die tagsüber so herrlich sangen, hatten sich schon zur Ruhe begeben. Nur ein paar Saatkrähen in einem Weißdornbusch krächzten leise. Ihr schwarzes Gefieder hob sich gespenstisch von den weißen Blüten ab. Deborah hatte sich schon als Kind für Tiere interessiert und war begeistert von den vielen Arten, die sie auf Lovelis beobachten konnte. Sie hatte mitansehen müssen, wie Wanderfalken kleinere Vögel im Flug ergriffen und ihre Beute dann verschlangen, bis nichts mehr übrigblieb. Dagegen wirkten die Robben richtig sanftmütig. Wenn diese Tiere, die an Land so tolpatschig wirkten, zu den vom Wasser glatt geschliffenen Steinen watschelten, um sich zu sonnen, hüpften Flußuferläufer und Papageientaucher um sie herum und hatten nichts zu befürchten. Die Nordspitze der Insel war wie eine breite Plattform, und als Deborah näher kam, sah sie einen mächtigen Holzstoß in deren Mitte. Die Vorarbeiten für das große Feuer hatten schon begonnen. Neben dem bereits aufgeschichteten Holz stand ein Leiterwagen, beladen mit Balken und gebündelten Zweigen. Deborah mußte daran denken, daß wohl nicht einmal Walter Lee kräftig genug war, um diesen Wagen bis zu dieser Stelle zu ziehen. Bestimmt hatte man dazu ein Pferd eingespannt. Aber Pferd und Kutscher waren nirgends zu entdecken, so daß es Deborah richtig unheimlich zumute wurde, denn sie war ganz allein auf diesem Platz, der hoch über dem Meer lag. Vergebens versuchte sie, gegen dieses Gefühl anzukämpfen, und so entschloß sie sich, zurückzugehen. Diesmal lief sie viel schneller, aber als sie am Wegrand eine Blume sah, deren Blütenblätter bläulich-lila im Mondlicht schimmerten, hielt sie an und hockte sich hin, um sie genauer zu betrachten. „Pflücke nie eine Taubenskabiose, sonst wird dich der Teufel bis zu deinem Bett verfolgen.“ Obwohl Deborah durch die Männerstimme sehr erschrocken war, blieb sie ganz still und rührte sich nicht. Sie verhielt sich wie ein Tier, das bei einem direkten Angriff auf sein Leben in völliger Ruhestellung verharrte, um seinen Jäger zu täuschen. Ob sie allerdings Juan Salvador davon abhalten konnte, sich seiner Beute zu nähern, schien ihr fraglich. „Ist Ihnen eigentlich klar, daß Sie fast am Rand der Klippen hocken?“ fragte er und forderte Deborah auf, vorsichtiger zu sein. Er hat recht, dachte sie, denn der Weg führte wirklich dicht am Abgrund vorbei. Bevor sie sich aufrichtete, pflückte sie trotzig eine der blauen Blüten ab und drehte sich zu Juan um, der wenige Meter von ihr entfernt stand. Er war ganz in Schwarz gekleidet, die bis zu den Knien reichenden Stiefel ließen ihn größer erscheinen, das schwarze Seidenhemd betonte seine breiten Schultern. „Wie ich sehe, fordern Sie den Teufel auf, an Ihr Bett zu kommen, Senorita.“ Deborah hatte ihn im stillen gerade mit einem kühnen Freibeuter verglichen, doch jetzt stellte sie fest, daß er dem Bild, das sie sich vom Satan machte, sehr viel ähnlicher sah. Ob Freibeuter oder Satan – der Anblick dieser dunklen Gestalt hatte auf jeden Fall keine sehr beruhigende Wirkung auf ihre Nerven und ihren Körper. Sie führte diese merkwürdigen Empfindungen jedoch auf den Vollmond zurück. „Kennen Sie die Redensart, daß der Vollmond die Luft verzaubert und in euch Frauen weibliche Urinstinkte weckt?“ Sein spöttisches Lachen verriet Deborah, daß er ihre Gedanken zu erraten schien. „Wenn ich Sie so betrachte, Senorita, neige ich dazu, dieser Redensart zu glauben. Denn Sie tragen das Haar offen und lassen es im Wind wehen. Ihre Augen strahlen geheimnisvoll – kurzum, Sie haben in dieser herrlichen Vollmondnacht mehr von einer Frau an sich als von
einem gut funktionierenden Roboter, der seinem Herrn und Meister aufs Wort gehorcht.“ „Ich habe keinen Herrn und Meister, sondern ich bin frei in meinen Entscheidungen“, protestierte Deborah. „Haben Sie nicht den Wunsch, von einem Mann angebetet zu werden, der Sie zu seinem Besitz macht und eifersüchtig reagiert, wenn Sie andere Männer auch nur anschauen?“ „Ein schauriger Gedanke“, erwiderte Deborah und überlegte fieberhaft, wie sie sich verhalten sollte, weil Juan Schritt für Schritt näher kam. Rückwärts gehen war zu gefährlich, weil sie unweigerlich in den Abgrund gefallen wäre – vorwärts noch gefährlicher, denn da war Juan. Seitliches Ausweichen hielt sie für unklug, weil er sie bestimmt verfolgt hätte. So blieb sie erst einmal stehen und wartete ab. „Denken Sie wirklich so?“ fragte Juan. „Ich denke nicht nur so, ich weiß es!“ „Was können Sie schon wissen? Sie sind von der Schulbank zur Schreibmaschine übergewechselt, um die niedergeschriebenen Phantasien anderer Leute zu bearbeiten. Damit Sie aber vor uns Männern geschützt sind, haben Sie eine dornige Hecke um sich wachsen lassen.“ Jetzt trennten Deborah nur noch wenige Meter von Juan. „Bedauerlicherweise sind die Dornen nicht spitz genug, damit ich mich in totaler Sicherheit wiegen kann“, sagte Deborah leise. Und als Juan jetzt ganz dicht vor ihr stand und seine Hände auf ihre Hüften legte, konnte Deborah nur noch flüstern: „Bitte – nicht.“ Langsam beugte er sich zu ihr hinunter. „Soll das heißen, daß ich mich nicht an den Dornen verletzen darf?“ Sein warmer Atem streifte über ihr Gesicht, der in ihrem Körper ein heißes Verlangen weckte. „Die Schmerzen machen mir nichts aus, Senorita, wenn Sie Ihren Heiligenschein endlich einmal ablegen könnten. Sie geben sich immer so selbstzufrieden und bescheiden, doch sobald ich Sie anfasse, sind Sie wie ein Falter, der in die Flammen fliegt.“ Er umspannte ihre Taille etwas fester und erreichte, daß Deborah gegen seine Brust taumelte. „Sie drehen und winden sich wie ein Nachtfalter im Feuer und genießen dieses erregende Gefühl, auch auf die Gefahr hin, daß Sie sich dabei verbrennen. Sagen Sie mir, daß es so ist. Kommen Sie hinter Ihrer Dornenhecke hervor, und nehmen Sie doch daran teil, was Ihnen das wirkliche Leben bietet!“ „Das wirkliche Leben besteht aus sehr unangenehmen Seiten!“ Deborah hatte ihre augenblickliche Schwäche überwunden und versuchte wieder, gegen Juan anzukämpfen. „Ich fühle mich hinter meinen Dornen wohler. Deshalb bitte ich Sie, mich loszulassen. Außerdem werden Walter und Ihr Bruder bestimmt gleich kommen, und ich möchte nicht…“ „Daß Michael Sie in meinen Armen sieht?“ „Genau. Er könnte denken…“ Juan ließ sie wieder nicht ausreden. „Er könnte denken, daß es Ihnen Vergnügen bereitet, wenn ich Sie umarme?“ „Vergnügen? Da kann ich nur lachen! Selbst die Umarmung einer Schlange wäre mir da sympathischer!“ meinte Deborah verächtlich, dabei hatte sie aber das Gefühl, daß Juan sie um so fester an sich gepreßt hielt, je heftiger sie sich mit Worten gegen ihn wehrte. Plötzlich stellte sie sich vor, wie diese Szene auf einen ahnungslosen Beobachter wirken könnte – Juan stand breitbeinig wie ein Fels in der Brandung, sie schwankte wie ein Rohr im Wind – ihre Silhouetten zeichneten sich scharf gegen den Abendhimmel ab. „Sie wollen, daß uns Michael zusammen sieht, nicht wahr?“ fragte Deborah jetzt vorwurfsvoll.
„Dieser Gedanke ist mir nie gekommen.“ „Sie sind ein unverschämter Lügner!“ „Aber, aber! Wer einen Heiligenschein trägt, sollte nicht so reden.“ „Ich habe nie behauptet, eine Heilige zu sein.“ „Nein? Warum ziehen Sie dann diese Show ab und leisten so heftig Widerstand?“ „Weil – das wissen Sie sehr genau, Senor.“ „Ich bin nur teilweise informiert, aber sehr begierig, alles zu erfahren.“ Deborah überlegte kaum noch, ob es nicht klüger war, zu schweigen, denn durch unbedachte Bemerkungen forderte sie Juan bestimmt nur wieder heraus. Einige seiner plötzlichen Temperamentsausbrüche hatte sie ja bereits kennengelernt. So beklagte sie sich jetzt darüber, welche Einstellung er ihr gegenüber an den Tag legte. „Anscheinend glauben Sie immer noch, daß ich eine leichtfertige Person bin, die mit den Männern flirtet, um etwas Bestimmtes bei ihnen zu erreichen. Sie sehen mich vielleicht so, weil ich eine noch sehr junge Engländerin bin, die offensichtlich von den überheblichen Spaniern als wertloses Spielzeug betrachtet wird. Um das Spielchen etwas vernüglicher zu gestalten, werden dann die unterschiedlichsten Tricks angewandt. Da versuchen Sie mir einzureden, daß mein guter Ruf gefährdet sei, und machen mir einen Heiratsantrag.“ Deborah holte tief Luft. „Heiratsantrag!“ wiederholte sie dann. „Wer zieht hier eigentlich eine Show ab, Mr. Salvador? Sie sind kein bißchen besser als Stuart Coltan. Der behauptet wenigstens nicht von sich, ein Ehrenmann zu sein.“ Deborahs letzte Worte gingen in einem überraschten Schrei unter. Mühelos hob Juan sie hoch, legte sie über seine Schulter und ging querfeldein auf eine Reihe von Büschen zu. „Ich will sofort runter!“ schrie Deborah und schlug mit den Fäusten auf Juans Rücken ein. Die Schläge prallten ohne Wirkung an seinen harten Muskeln ab. Doch Deborah machte unerbittlich weiter. „Sie haben nichts begriffen, von dem, was ich eben sagte“, rief sie in hilflosem Zorn, „sonst würden Sie mich ein für allemal in Ruhe lassen!“ „Erst wenn ich fertig bin, kleine Hexe.“ Juan gab ihr einen leichten Klaps auf den Po. „Die Zeit ist gekommen, um das zu einem Abschluß zu bringen, was zwischen uns am ersten Tag unserer Begegnung begonnen hatte.“ „Warum haben Sie mich nicht schon damals vergewaltigt?“ fragte sie herausfordernd. Am liebsten hätte sie laut um Hilfe gerufen, befürchtete jedoch, daß Michael und Walter sie bemerken könnten. Denn die beiden waren ganz bestimmt in der Nähe und arbeiteten an dem Holzstoß für das große Feuer. „Sie scheinen nicht einmal zu ahnen, was Vergewaltigung bedeutet“, antwortete Juan unbeeindruckt. Er war inzwischen an seinem Ziel angekommen und setzte Deborah ab. Ein ideales Plätzchen hat er sich ausgesucht, dachte sie nach einem kurzen Rundblick. Weiches Gras reichte ihr bis an die Knöchel, die Büsche waren so hoch, daß nicht einmal der Mond zu sehen war. „Ich möchte ins Haus zurück“, bat Deborah. Er schüttelte den Kopf. „Noch nicht.“ Als sie durch eine schnelle Drehung der Umklammerung seiner Arme entkommen wollte, griff er in ihr Haar und zog daran, bis sie den Kopf weit zurückbeugen mußte. „Ja, so ist es gut“, sagte er zufrieden. „Ich mag es sehr, wenn Sie sich sträuben. Allerdings mag ich es noch mehr, wenn…“, sein Blick glitt zu ihren Brüsten hinab, „… meine Finger diese kleinen festen Hügel bis zu ihren aufrecht stehenden Spitzen erforschen.“ „Sie sind tatsächlich ein Teufel“, stieß Deborah hervor. Ein Schauder überlief sie jedoch, als Juan seinen Worten Taten folgen ließ, und sie konnte es sich selbst kaum verzeihen, daß sie diese Berührungen genoß und keinen Widerwillen
empfand. Ihre Augen senkten sich, während sich ihre Lippen erwartungsvoll öffneten, denn sie sehnte sich nach seinem Kuß ebenso wie nach den erregenden Liebkosungen seiner geschmeidigen Finger auf ihren Brüsten. „Nein, das bitte nicht…“, flüsterte Deborah und wußte doch genau, daß sie ihr Verlangen schon zu deutlich gezeigt hatte, um Juan durch solchen Protest noch aufhalten zu können. Er knöpfte die Bluse auf, streifte sie über ihre Schultern und öffnete mit einer schnellen Bewegung das winzige Häkchen am Verschluß des Büstenhalters. Beide Kleidungsstücke fielen zu Boden. Vorsichtig, als wäre ihr Körper aus zerbrechlichem Porzellan, bettete er Deborah dann auf den weichen Grasteppich und legte sich neben sie. Mit den Lippen streichelte er zuerst zart über die Vertiefung zwischen ihren Brüsten, bevor er die beiden Wölbungen nacheinander hingebungsvoll küßte. In heißen Wellen strömte ihr Blut durch die Adern und machte ihre Gliedmaßen schwer und träge. Deborah fand nur Kraft, die Arme um Juan zu legen und ihn fest an sich zu pressen. Sie hörte, wie er schwer atmend ihren Namen rief, und es klang hilflos und fordernd zugleich. Wieder küßte Juan ihre Lippen. Sie spürte seinen heißen Atem, während seine Hände abwärts über ihren Leib glitten und ihn zärtlich mit kreisenden Bewegungen massierten, bis Deborah ein erregendes Prickeln am ganzen Körper spürte. Doch dann tasteten sich seine Hände immer tiefer vor, wurden drängender und fordernder, und erst in diesem Augenblick erkannte Deborah in aller Deutlichkeit, worauf sie sich da eingelassen hatte, und fand die Kraft, Juan zurückzustoßen. „Haben Sie diese Verführungskünste auch bei Pauline angewandt?“ fragte sie leise. Kaum hatte sie es ausgesprochen, da erschrak Deborah über ihre eigenen Worte. Es war mit einem Mal so still, daß sie in weiter Ferne eine Stimme vernahm, die Juans Namen rief. Auch Juan hatte es gehört. Er stand auf, atmete tief durch, während er mit beiden Händen durch sein dichtes schwarzes Haar fuhr, und sagte dann gelangweilt: „So ist das also.“ „Gehen Sie endlich!“ Deborah drehte sich auf den Bauch, um ihren entblößten Oberkörper vor Juans durchdringenden Blicken zu verbergen. „Gehen Sie, um Michael und Walter zu helfen, den Holzstoß möglichst hoch aufzurichten, damit alle Teufel lange und lichterloh brennen!“ In dieser Nacht kam Deborah sehr spät ins Bett. Nachdem Juan gegangen war, hatte auch sie sich auf den Rückweg zum Haus gemacht. Bevor sie ihr stilles Turmzimmer aufsuchte, saß sie noch lange auf der Steinbank im Garten und nahm Abschied von einer Illusion: Sie hatte von einer Liebe geträumt, die ihr Leben erhellen würde wie die Sterne den dunklen Nachthimmel. Doch nun war dieser romantische Traum zerstört, ihre Ängste und Zweifel, daß er sich nicht erfüllen würde, bestätigt. Vielleicht gab es diese Art von Liebe gar nicht, sondern nur das wilde, ungezügelte Verlangen zwischen Mann und Frau, Lustgefühle des Körpers zu befriedigen. Auf der steinernen Bank hatte Deborah dann einen Entschluß gefaßt: Sie wollte Juan hassen und diesen Haß immer vor Augen halten, bis sie fest daran glaubte – bis sie diesen stolzen Mann ansehen konnte, ohne etwas dabei zu empfinden. Als Deborah ruhiger geworden war, hatte sie die Diele von Abbeywitch wieder durch die Seitentür betreten. Sie schaffte es diesmal nicht, unbemerkt in ihr Zimmer zu gelangen, denn sie traf Sharon Chandler, die sehr froh zu sein schien, endlich Deborahs Bekanntschaft zu machen. Die herzliche, ungezwungene Art des jungen Mädchens und vor allem sein frisches Aussehen – Sharon trug ein
weißes Kleid mit weit schwingendem Rock, dazu pinkfarbene hochhackige Schuhe und um den Hals eine dreireihige Kette aus offensichtlich echten Perlen – hatten Deborah so aus der Fassung gebracht, daß sie Kopfschmerzen vortäuschen mußte, um einen Grund zu haben, sich zurückzuziehen. Nachdem sie ausgiebig geduscht und sich auf ihren Lieblingsplatz ans Fenster gesetzt hatte, bekam sie Besuch von Michael Salvador. Er war einfach ins Zimmer gekommen, obwohl sie auf sein Klopfen mit einem lauten „Verschwinden Sie“ reagiert hatte, denn sie war überzeugt gewesen, sein Bruder Juan wäre der unwillkommene Besucher. „Ich habe Ihnen auch etwas mitgebracht, damit Sie mir verzeihen, daß ich Sie so spät noch überfalle“, meinte Michael und lächelte verlegen. In den Händen hielt er ein mit einer Serviette bedecktes Tablett. „Erdbeeren und Schlagsahne gefällig, junge Frau?“ fragte er. Schwungvoll riß Michael die Serviette weg, und zum Vorschein kamen zwei Schalen mit leuchtend roten Früchten und einer Schüssel Sahne. „Was sagen Sie dazu? Ich habe die Beeren vorhin bei Mondschein gepflückt, was bedeutet, daß sie verhext sind.“ Trotz ihrer bedrückten Stimmung mußte Deborah lachen. Michaels gute Laune wirkte ansteckend, und so willigte sie auch ein, den appetitlich aussehenden Nachtisch mit ihm zu teilen. Während sie aßen, rückte Michael mit einer Überraschung heraus: Er bat Deborah, in Abbeywitch zu bleiben und für ihn als seine Sekretärin und Herausgeberin seiner Bücher zu arbeiten. „Ich brauche jemanden wie Sie, Deborah, und außerdem habe ich das Gefühl, daß Sie sich auf der Insel wohl fühlen“, führte er sein Angebot weiter aus. „Ich mache natürlich einen langfristigen Vertrag mit Ihnen.“ „Geben Sie mir ein wenig Zeit, daß ich darüber nachdenken kann“, fragte Deborah verwirrt. „Könnten Sie sich nicht jetzt gleich entscheiden?“ Deborah schüttelte den Kopf. Ihr Zögern überraschte sie selbst, denn es war noch gar nicht so lange her, daß sie den sehnlichen Wunsch gehabt hatte, für Michael Salvador arbeiten zu dürfen. Was sie sich jedoch nicht gewünscht hatte, war diese nervenaufreibende Beziehung zu Juan. Er würde zwar nach Spanien zurückfahren, aber gelegentlich auch wieder in Abbeywitch auftauchen, da er seine Pflichten als Besitzer des Anwesens wahrnehmen mußte. Deborah war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob ihr heimlicher Plan funktionierte. Würde sie sich wirklich einreden können, daß sie Juan haßte, obwohl er sich tief in ihr Herz eingeschlichen hatte? „Ich wollte eigentlich bei Columbine Karriere machen, Michael“, sagte sie schließlich, als sie das Gefühl hatte, daß sie das Schweigen unterbrechen mußte. Sie erzählte ihm von den vielen interessanten Abteilungen des Verlags, die eine abwechslungsreiche Arbeit garantierten, und erwähnte auch, daß der Verlagsleiter Mr. Holt viel von ihren Fähigkeiten hielt. „Das kann ich gut verstehen.“ Es war ihm anzusehen, wie enttäuscht er war. Michael versuchte, sein Angebot noch schmackhafter zu machen, und nannte Deborah ein geradezu fürstliches Gehalt. Als sie sich wieder Bedenkzeit ausbat, gab er seufzend nach. „Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, Deborah.“ Im weiteren Verlauf der Unterhaltung merkte Deborah, daß Michael nichts unversucht ließ, sie doch noch zu überreden. Vor allem schien es ihm wichtig zu sein, daß sie ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter und Sandra herstellte. Er wiederholte seine Einladung zu dem Familienessen, das eine gute Gelegenheit wäre, einen Anfang zu machen, und warf ihr übertriebene Empfindlichkeit vor, als sie die Ausrede gebrauchte, daß die Chandlers wohl kaum begeistert sein
würden, wenn sie mit einer Angestellten des Hauses an einem Tisch sitzen müßten. Langsam wurde Deborah unsicher. Michaels Verhalten warf viele Fragen auf. Hatte Juan vielleicht auch recht mit seiner Behauptung, daß sich sein Bruder zu ihr hingezogen fühlte? Daß sie ihm „unter die Haut gegangen wäre“, wie Juan sich ausdrückte? Oder ahnte Michael etwas von ihren zwiespältigen Gefühlen für den Erben von Abbeywitch? Reagierte er darum manchmal etwas gereizt und mißtrauisch, weil er das Gefühl hatte, sie wäre ihm gegenüber nicht ganz ehrlich? Deborah überlegte, ob sie Michael von der Begegnung auf den Klippen erzählen sollte. Vor einigen Minuten hatte sie bereits zugegeben, daß sie dort spazierengegangen war, während alle beim Essen saßen, und Michael hatte ihr einen erstaunten Blick zugeworfen. Nein, ich kann ihn nicht ins Vertrauen ziehen, dachte Deborah nach kurzer Überlegung. Weder Michael noch einer anderen Person konnte sie von dem Vorfall erzählen und vor allem, wie er geendet hatte. Sie selbst war ja nicht einmal in der Lage, diesen merkwürdigen Ausdruck in Juans Augen zu deuten, nachdem sie ihn beschuldigt hatte, mit Pauline geschlafen zu haben. Es war eine Mischung aus Schock, Schmerz und Resignation gewesen. Plötzlich nahm Michael ihre Hand und küßte sehr zart jeden einzelnen Finger. „Sie sehen so traurig aus, Deborah, und auch ein wenig ängstlich. Ich würde so gern wissen, wovor Sie sich fürchten.“ Er ließ ihre Hand wieder los und lächelte verlegen. „Ein bißchen spanisches Blut fließt auch in meinen Adern. Hat es Ihnen etwas ausgemacht, einen Handkuß von mir zu bekommen?“ „Es – war eine nette Geste, Michael.“ „Das freut mich, wenn Sie es so sehen.“ Er betrachtete versonnen ihre Lippen, die von dem Saft der Erdbeeren rot glänzten, so daß sie einen Kontrast zu ihrem blassen Gesicht bildeten. „Ich bin allerdings etwas aus der Übung“, fügte er hinzu. „Sie wollen doch nicht etwa mit mir üben?“ „Würden Sie das zulassen?“ „Gegen einen Handkuß habe ich nichts einzuwenden.“ „Mehr nicht, Deborah?“ Deborah atmete tief durch. Die charmante, lockere Art, in der Michael mit ihr flirtete, stand in so krassem Gegensatz zu Juans leidenschaftlichen Liebkosungen. Die Erinnerung daran wurde auf einmal so stark, daß sie die Tränen kaum noch zurückhalten konnte. „Habe ich Ihnen etwa einen Schrecken eingejagt?“ Michael schüttelte hilflos den Kopf und sah viel erschrockener aus als Deborah. „Das lag nicht in meiner Absicht. Sie sind ein so sensibles, gefühlvolles Geschöpf, dem ich nie weh tun möchte. Vielleicht verhalte ich mich so ungeschickt, weil ich noch nie ein Mädchen wie Sie kennengelernt habe.“ „Ich benehme mich unmöglich“, sagte Deborah selbstkritisch und wischte die Tränen weg. „Sind Sie jetzt böse auf mich?“ fragte er betrübt. „Überhaupt nicht.“ „Dann ist es also immer noch der Gedanke an das Familienessen, der Sie bedrückt?“ Dankbar griff Deborah den Entschuldigungsgrund auf. „Ja, das wird es wohl sein, Michael.“ „Gut, ich werde Sie nicht mehr bedrängen. Sie müssen mir nur versprechen, daß Sie sich das Feuer ansehen.“ Er schwieg eine Weile. Seine Augen ruhten nachdenklich auf Deborahs blassem Gesicht. „Ich spüre, daß Sie etwas bedrückt,
Deborah. Sie haben sonst so etwas Strahlendes an sich, das heute abend sehr gedämpft wirkt. Leider habe ich das Gefühl, daß Sie sich mir nicht anvertrauen wollen. Vielleicht jetzt noch nicht. Deshalb möchte ich Ihnen nur noch einmal sagen, daß ich überglücklich wäre, wenn Sie in Abbeywitch blieben. Ich brauche Sie nötiger, als Sie sich vorstellen können.“ „Sie sind sehr liebenswürdig, Michael.“ „Liebenswürdig?“ wiederholte er. „Nein, ich bin egoistisch wie alle Männer! Ich will mich nicht mit dem begnügen, was Sie bereits für mich getan haben. Durch Sie habe ich zu meinem Sohn zurückgefunden, Deborah.“ Er sah ihr fest in die Augen. „Und Julian ist mein Sohn“, sagte er mit ebenso fester Stimme. „Diese Erkenntnis habe ich allein Ihnen zu verdanken.“ „Für mich ist es Dank genug, wenn ich Sie und Julian zusammen sehe“, antwortete Deborah. Wieder entstand eine Pause. Um etwas zu tun, stellte sie die beiden Schalen ineinander. Als sie Michaels Löffel nehmen wollte, berührte sie zufällig seine Hand. Dann geschah etwas, womit Deborah nicht gerechnet hatte. Wie elektrisiert sprang Michael auf und riß sie ungestüm in seine Arme. Er küßte ihre Augen, ihre Lippen und ihren Hals, und sie ließ es geschehen, ohne sich zu wehren. Mit geschlossenen Augen lauschte Deborah den Koseworten, die Michael ihr ins Ohr flüsterte. Es waren sehr poetische und phantasievolle Worte und Vergleiche, wie er sie auch in seinen Romanen verwendete. Aber sie spürte auch, daß er es ernst mit ihr meinte und nicht mit ihr spielte. Nur als er gestand, daß sie so ganz anders als Pauline wäre, erwachte Deborah aus ihrer Benommenheit. „Es ist schon spät, Michael. Sie sollten jetzt gehen“, ermahnte sie ihn. „Muß ich wirklich?“ Seine Augen sahen sie bittend an. „Ja, Sie müssen gehen.“ Sie schob ihn sanft zurück. „Vielen Dank für die Erdbeeren.“ „Ich bedanke mich, daß Sie mich nicht geohrfeigt haben.“ Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, und für einen Augenblick wurde Deborah so sehr an Juan erinnert, daß ihre Knie zu zittern begannen. Ohne sich etwas von ihrer Schwäche anmerken zu lassen, ging Deborah zur Tür und öffnete sie. Michael nickte, als er ihren Wink verstanden hatte. „Sie sind ein seltsames Mädchen, Deborah, fast so etwas wie eine Heilige“, sagte er und ging an ihr vorbei aus dem Zimmer. Es gelang ihm aber nicht, seine Enttäuschung zu verbergen. „Morgen ist übrigens ein Feiertag – von früh bis spät nur Vergnügen, und wir beginnen mit einem Ausritt. Sind Sie damit einverstanden, Deborah?“ Endlich durfte sie wieder einmal auf dem Rücken eines Pferdes sitzen? Deborah strahlte Michael an. „Und ob ich einverstanden bin!“ sagte sie begeistert. „So gefallen Sie mir schon viel besser“, meinte Michael zufrieden, wünschte ihr eine gute Nacht und angenehme Träume. Dann stieg er die Treppe hinunter. Deborah machte die Tür zu und lehnte sich erschöpft dagegen. Fast so etwas wie eine Heilige hatte Michael sie genannt! Auch Juan hatte von einem Heiligenschein gesprochen. Aber wie anders war die Situation gewesen! Sehr viel verwirrender und komplizierter, wie auch der Mann, der sie darin verwickelt hatte. Deborah trug die Schalen ins Bad und wusch sie unter warmem Wasser ab, damit der Saft nicht über Nacht eintrocknete. Vielleicht will ich ja nur die Spuren von Michaels Besuch verwischen, dachte sie und lächelte verbittert ihr Spiegelbild an. Aber wenn Lenora Salvador etwas davon erfährt, hätte ich mir diese Arbeit sparen können – allerdings wird mir dann auch die Entscheidung abgenommen, ob ich in Abbeywitch bleibe oder nach London zurückfahre.
12. KAPITEL Michaels Wunsch, daß Deborah angenehm träumen sollte, ging nicht in Erfüllung. Sie verbrachte eine sehr unruhige Nacht. Gleich nach dem Aufstehen ging sie zu den Stallungen, um das Pferd mit dem hellbraunen Fell und der flachsfarbenen Mähne aus der Nähe zu bewundern. Der Palomino war ihr schon vorher aufgefallen, denn er war immer der erste gewesen, wenn die Pferde am Strand entlanggaloppierten, und seine anmutigen Bewegungen hatten sie begeistert. „Du bist eine Schönheit, Palo“, flüsterte Deborah und streichelte den schlanken Hals des Hengstes, der sich mit einem leisen Wiehern für das Kompliment zu bedanken schien. Viel Zeit blieb ihr nicht, sich mit dem edlen Tier zu beschäftigen. Es blähte die Nüstern und begann zu tänzeln, als auf dem mit Steinen gepflasterten Hof Schritte laut wurden. Deborah zuckte unwillkürlich erschreckt zusammen und schlug die Augen nieder, nachdem sie gesehen hatte, daß die beiden Brüder und Miss Shandler um die Ecke bogen. Noch bevor die drei die Box erreicht hatten, hörte sie Juan laut und deutlich sagen: „Sharon wird Palo reiten. Eine Anfängerin kommt mir nicht in seinen Sattel.“ Deborah atmete tief durch, um wieder ruhig zu werden. Dieser überhebliche Kerl, dachte sie wütend. Wie kam er dazu, eine so abfällige Bemerkung über ihre Reitkünste zu machen, obwohl er keine Ahnung hatte, wie gut oder wie schlecht sie ritt? Wäre sie in Jeans und Turnschuhen gekommen, hätte sie vielleicht noch Verständnis gehabt. Aber ihre Reithose und die schwarzen Lederstiefel deuteten zumindest darauf hin, daß sie schon einmal im Sattel gesessen hatte. Als sie sich umwandte, konnte ihr niemand anmerken, daß sie äußerst wütend war. „Reiten Sie mit uns?“ fragte Sharon fröhlich. „Ich habe Deborah eingeladen“, antwortete Michael für sie. „Hoffentlich haben Sie keine Angst vor Pferden wie Michaels frühere Sekretärin, Miss Tucker“, meinte Sharon lächelnd. „O nein, im Gegenteil“, erwiderte Deborah und erzählte mit wenigen Sätzen von den Ferien bei ihrer Tante in Devonshire, durch deren Kinder sie das Reiten schon mit sechs Jahren gelernt hatte. Mit Absicht verschwieg sie, daß sie auch in London gelegentlich in der Halle ritt, wenn das Geld dazu reichte. Sollte Juan ruhig glauben, daß sie aus der Übung gekommen war. Während des kurzen Berichtes aus ihrer Kindheit bemerkte Deborah, daß Juan sie prüfend betrachtete. Wahrscheinlich wollte er sie dazu bringen, ihm in die Augen zu sehen. Doch diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Statt dessen wandte sie sich an Michael und fragte ihn, welches Pferd sie reiten sollte. „Natürlich das kastanienbraune, Deborah.“ Michael erwiderte ihr strahlendes Lächeln, und für einen Augenblick teilten die beiden schweigend ihr Geheimnis von einem Nachtmahl mit Erdbeeren und Schlagsahne. Durch Juans Räuspern wurden Deborah und Michael daran erinnert, daß die Pferde gesattelt waren. Die vier stiegen auf und ritten vom Hof der Stallungen hinaus ins offene Gelände. Im stillen mußte Deborah Juan recht geben, denn in ihrem weißen Reitdreß machte Sharon wirklich eine gute Figur auf Palo, dessen Fell wie fahles Mondlicht glänzte im Gegensatz zu Juans schwarzem Araber. Michael ritt auf einer grau gescheckten Stute. Deborahs kastanienbrauner Hengst trug den interessanten Namen Tidy, was übersetzt „niedlich“ oder „ordentlich“ bedeutete. Nach wenigen Minuten im Sattel stellte Deborah fest, daß es ein leicht zu führendes Pferd war, aber auch ein sehr schnelles, wenn man es dazu antrieb. „In Palo steckt gar nicht soviel, wie es den Anschein hat“, sagte Michael neben
ihr. „Vermutlich haben Sie auch schon mit dem Gedanken gespielt, daß Sie ihn auf Tidy schlagen könnten. Habe ich recht?“ „Sie sind ja Gedankenleser.“ Deborah lachte ihm verschmitzt zu. „Soll ich es wirklich wagen?“ „Na los“, spornte er sie an. „Sie haben doch sicher auch den Ehrgeiz, Juan etwas zu beweisen. Oder wollen Sie es so einfach hinnehmen, daß er Sie eine Anfängerin genannt hat?“ Du hast genau ins Schwarze getroffen, dachte Deborah und gab Tidy durch einen leichten Schenkeldruck zu verstehen, daß er den schmalen Sandweg zum Strand einschlagen sollte. Es ging ihr natürlich in erster Linie um Juan, der sie durch seine abfällige Bemerkung herausgefordert hatte. Zwischen ihnen war Feindschaft entstanden, und merkwürdigerweise konnte sie mit diesem Gefühl im Augenblick viel besser umgehen als mit den Empfindungen, die sie so verwirrten. „Das Verhalten Ihres Bruders hat mich nicht sonderlich überrascht“, erklärte Deborah leichthin. „In seiner überheblichen Art setzt er sich je nach Laune über Anstandsregeln hinweg, die er anderen vorschreibt.“ „Hoppla! Was ist heute morgen bloß in Sie gefahren?“ Michael warf ihr einen mißtrauischen Blick zu. „Sage ich nicht die Wahrheit?“ Mit zornig blitzenden Augen betrachtete sie den breitschultrigen Mann, der vor ihr an der Seite von Sharon ritt. „Er wollte mich nur vor Miss Chandler demütigen, damit ich mich schnell wieder hinter die Schreibmaschine verkrieche, wo ich seiner Meinung nach hingehöre. Aber Sie haben mich eingeladen, und Sie sind mein Boß, Michael.“ „Bravo! Ich freue mich, daß Sie so blendender Stimmung sind“, meinte Michael und nickte anerkennend. „Haben Sie noch mehr Überraschungen auf Lager?“ „Ja, aber natürlich!“ Die frische Morgenluft und der leichte Wind, der vom Meer herüberwehte, vertrieben auf einmal Deborahs Sorgen und Zweifel. Sie spürte soviel Energie in sich, daß sie es mit jedem und allem aufnehmen wollte. „Ich werde heute abend mit Ihnen essen, Michael, und mich dafür extra in Schale werfen.“ „Die Überraschung ist ihnen gelungen, Deborah“, antwortete er lachend. Inzwischen hatten sie den Strand erreicht, der sich bei Ebbe wie ein goldenes Band rund um die Insel erstreckte. Deborah sah mit einem Blick, daß eine perfekte Rennstrecke vor ihr lag. Sie schnalzte mit der Zunge, schlug ein paarmal die Stiefelabsätze in die Flanken des rotbraunen Hengstes, und schon setzte Tidy zum Galopp an. Als sie an Sharon vorbeiritt, bedurfte es nur eines kurzen Zurufs, und das junge Mädchen nahm die Herausforderung an. In Tidy fand Deborah den geeigneten Partner, mit dem sie dieses Rennen gewinnen wollte. Sie gab ihm die Zügel frei und ließ ihn sein Tempo selbst bestimmen. Mehr Aufmunterung brauchte der Hengst nicht, um alles aus sich herauszuholen. Wie ein Pfeil schoß er über den Sand. Er spitzte die Ohren, als er Palos angestrengtes Schnauben neben sich vernahm, und legte sie dann flach an den Kopf. Er hatte die Signale seines Gegners vernommen und stellte sich darauf ein, indem er noch schneller wurde. Der Wind löste das Band aus Deborahs Haaren, so daß es wie ein Banner hinter ihr her flog, als sie weit vorgebeugt auf Tidys Hals lag. Sie fühlte sich wie neugeboren an diesem Morgen, spürte eine ungeahnte Kraft durch ihre Adern pulsieren. Nichts mehr erinnerte an die traurige Gestalt, die gestern auf einer Steinbank im Garten von Abbeywitch gesessen hatte… Durch einen Blick über die Schulter vergewisserte sich Deborah, daß Palo schon weit zurückgefallen war, während Tidy mit unverminderter Geschwindigkeit voranschoß. Da der Kampf gewonnen war, versuchte sie durch leichtes Anziehen
der Zügel sein Tempo zu drosseln, doch sie richtete damit nichts aus. Er geht mir durch, wenn ich mir nicht etwas einfallen lasse, dachte sie in einem Anflug von Panik. Plötzlich hörte sie erneut Hufgetrappel hinter sich, und gleich darauf war Juans schwarzer Araber auf gleicher Höhe mit Tidy, dessen Temperament dadurch erneut angestachelt wurde. „Ändere die Richtung und reite mit ihm ins Wasser, damit er langsamer wird“, rief Juan ihr zu. Die Vernunft siegte über ihren Trotz, diesen Befehl zu ignorieren. Diesmal riß Deborah sehr viel kräftiger am Zügel und brachte Tidy dazu, daß er zuerst den Kopf, dann den Körper zum Ozean herumschwenkte. Durch den Widerstand des Wassers mußte er zwangsläufig das Tempo senken, und er blieb stehen, als es ihm über die Fesseln reichte. „Das hast du brav gemacht“, lobte Deborah ihn und tätschelte seinen Hals. Sie richtete sich im Sattel auf, als Juan an ihre Seite ritt, und wappnete sich innerlich gegen seine Vorwürfe. „Das war eine tolle Leistung, Miss Hartway, auch wenn Sie sich beinahe den Hals gebrochen hätten“, sagte er aber nur und schien vergessen zu haben, daß er Deborah eben noch geduzt hatte. „Ich bin überrascht, wie gut Sie reiten können.“ „Ich dagegen bin kein bißchen überrascht, daß Sie sich Ihre Meinung gebildet haben, bevor Sie die Tatsachen kannten“, erwiderte sie schnippisch. „Erlauben Sie mir bitte, daß ich mich bei Ihnen entschuldige, weil ich Sie eine Anfängerin genannt habe“, meinte Juan mit seltsam sanftem Tonfall. Deborah horchte auf, doch sie vermied es noch immer, Juan in die Augen zu sehen. Statt dessen starrte sie auf die blinkende Wasseroberfläche, weil es ihr so leichter fiel, ihrer unterdrückten Wut Luft zu machen. „Ich bin eben nur dann eine Anfängerin, wenn man mich gegen meinen Willen zu Sexspielen hinter eine Hecke zerrt, Mr. Salvador“, erklärte sie kühl. Dann führte sie Tidy aus dem Wasser und trabte auf die Stelle zu, wo Michael und Sharon stehengeblieben waren. Sharon empfing sie mit einem glockenhellen Lachen. „Schade, daß ich keine Kamera zur Hand hatte, denn die Szene war wirklich filmreif, Deborah. Sie verlieren die Kontrolle über Ihr Pferd und sind auf die Hilfe eines mutigen Retters angewiesen.“ Deborah war froh, daß sich Sharon auf diese Weise über ihre Niederlage hinwegtröstete. So brauchte sie sich wenigstens nicht zu rechtfertigen, weil sie das junge Mädchen schamlos ausgenutzt hatte, um sich an Juan zu rächen. Vergnügt zwinkerte sie Michael zu, als er ihr anerkennend auf die Schulter klopfte und ihr seine Hochachtung aussprach. „Was amüsiert dich denn so, Sharon?“ erkundigte sich Juan, der inzwischen auch eingetroffen war. Sharon wiederholte, was sie Deborah und Michael gerade geschildert hatte. „Die Szene wäre natürlich noch spannender geworden, wenn du Deborah aus dem Spiel gelassen hättest“, fügte sie hinzu und schenkte Juan ein strahlendes Lächeln. „Sehr bedauerlich, daß meine Auffassung von Heldenmut nicht deinen kindlichen Phantasien entspricht. Außerdem war eine heroische Tat gar nicht notwendig. Miss Hartway hatte Tidy sehr gut im Griff, und ich wollte eigentlich nur sehen, wie rasch sich sein feuriges Temperament abkühlt.“ Zu Deborahs Erstaunen nahm Sharon diese spöttische Zurechtweisung nicht übel. Sie lächelte sogar noch bezaubernder, als sie Juans Vorschlag zustimmte, den Pferden eine Portion Hafer und den Reitern ein kräftiges Frühstück zu gönnen. Es war offensichtlich, welchem der beiden Brüder sie den Vorzug gab. Später beim Frühstück flirtete Sharon so auffällig mit Juan, daß Deborah es nicht
mehr länger aushalten konnte und Michael fragte, ob er denn gar nicht eifersüchtig sei. Sie war neugierig geworden, weil ihr Nanny Rose einmal erzählt hatte, daß Michael vor seiner Heirat mit Pauline eng mit Sharon befreundet gewesen war. Darüber hinaus wollte sie ihn von ihrer Person ablenken, denn seit sie die Stallungen verlassen hatten, unterhielt sich Michael nur mit ihr und benahm sich manchmal recht sonderbar. „Sharon ist wie ein leichter, süßer Wein, den man gern trinkt, bevor man die schwereren, gehaltvolleren Sorten zu schätzen weiß“, beantwortete er Deborahs Frage. „Ihr Bruder scheint den leichten zu bevorzugen“, meinte Deborah spöttisch. Sie hoffte, daß sie Michael genügend Gesprächsstoff gegeben hatte, damit er ihr nicht dieselbe Frage stellte. Ihm war sicher nicht entgangen, daß sie fast zwanghaft immer in die Richtung des Pärchens sah, das eine so angeregte Unterhaltung führte. „Er ist mein Halbbruder“, berichtete Michael. „Ich möchte das betonen, weil ich meinen richtigen Bruder bestimmt besser kennen würde. Juan ist mir ein Rätsel geblieben, obwohl ich mich sehr um Verständnis bemüht habe.“ Michael erzählte Deborah von seinen Reisen nach Spanien und daß er ein paarmal nicht widerstehen konnte, Stierkämpfe zu besuchen, die er gleichermaßen abstoßend brutal und faszinierend fand. Um diesen Widerspruch zu erklären, hatte er eine Menge über das Leben berühmter Matadore gelesen. „Die Lektüre hat mir gezeigt, daß Juan sehr viel von einem Stierkämpfer hat“, fuhr Michael fort. „In ihm vereinen sich Eigenschaften wie Unbarmherzigkeit, aber auch Großzügigkeit und sogar Mitgefühl. Wie viele seiner Landsleute reizt ihn das Wagnis, das vielleicht auch den Tod bedeuten kann. Im Gegensatz zu den meisten Toreros stammt Juan jedoch aus einer sehr vornehmen Familie. Er ist ein spanischer Edelmann, der sich seiner Privilegien und Pflichten sehr bewußt ist und die Tradition, wenn es sein muß, mit dem Degen verteidigt.“ „Und wenn er in England ist?“ fragte Deborah leise. „Hier ist sein Verhalten manchmal schwer zu begreifen.“ Deborah trank einen Schluck von dem köstlichen Kaffee, der von den Salvadors extra aus Brasilien importiert wurde. „Auf jeden Fall hat er sich an seine gute Erziehung erinnert und sich für seine Bemerkung, daß ich eine Anfängerin im Reiten sei, entschuldigt“, verriet sie Michael. Er sah sie prüfend an. „Hat er denn Grund, Sie auch in anderer Beziehung für eine Anfängerin zu halten?“ „Ich weiß nicht, was Sie meinen, Michael.“ Nervös zupfte Deborah an ihrer Serviette. In seinen Augen stand wieder dieses Mißtrauen, das Deborah so verunsicherte. „Ich glaube doch.“ „Ach, Sie sprechen von den spitzfindigen Andeutungen, die Ihr – Halbbruder neulich im Arbeitszimmer gemacht hat?“ Sie lachte etwas gekünstelt auf und sah in Juans Richtung, um Michaels forschendem Blick auszuweichen. „Wenn Sie ihn auch manchmal nicht verstehen, so wissen Sie doch zumindest, daß Mr. Salvador zu starker Übertreibung neigt“, fügte sie erklärend hinzu. „Ist ja schon gut, ich wollte Sie mit meinen Fragen nicht beunruhigen“, meinte Michael versöhnlich. Er streckte Deborah die Hand hin. „Kommen Sie mit? Julian und ich wollen Nanny Rose besuchen.“ „Ja, gern.“ Deborah stand auf. Michaels ausgestreckte Hand übersah sie geflissentlich, denn in diesem Augenblick kreuzten sich ihre und Juans Blicke, Sie nickte ihm und seiner blonden Begleiterin zu und wandte sich wieder an Michael. „Wir sehen uns später bei Rose. Ich möchte mich vorher gern umziehen.“
In ihrem Zimmer öffnete Deborah erst einmal alle Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Obwohl die Sonne noch nicht ihren höchsten Stand erreicht hatte, war es jetzt schon drückendheiß draußen, und die Temperaturen würden sicher noch steigen. Daher duschte sich Deborah lange unter kaltem Wasserstrahl, zog ein bunt bedrucktes Sommerkleid aus leichtem Stoff an und flocht ihr Haar zu einem langen Zopf, den sie mit einigen Nadeln hochsteckte. Deborah warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Dabei mußte sie an Pauline denken. Deborah stellte sich vor, was wohl geschehen würde, wenn die schwangere Pauline plötzlich hinter ihr stände und den Namen ihres Liebhabers preisgeben würde. Unwillkürlich erschrak Deborah über ihre wirren Gedanken und verließ eilig das Zimmer. Auf der Wendeltreppe, wo sie niemand hören konnte, flüsterte Deborah sich selbst zu: „Nur weil Michael dir erzählt hat, daß Pauline über die Schwangerschaft entsetzt war, brauchst du noch lange keine Gespenster zu sehen. Warum nimmst du dir nicht ein Beispiel an Michael, der fest daran glaubt, daß er der Vater von Julian ist? Du hast ihm dabei doch sogar geholfen!“ Vor der Tür zu Nanny Roses Krankenzimmer holte Deborah noch einmal tief Luft und trat ein. Hätte sie die Wahl gehabt, wäre sie auf der Stelle umgekehrt, denn außer dem Kindermädchen, ihrem kleinen Schützling und Michael war auch Lenora Salvador anwesend. „Kommen Sie doch herein“, forderte Michael Deborah auf. „Ich habe meiner Mutter gerade erzählt, daß wir einen Ferientag redlich verdient haben.“ „Mein lieber Sohn hat mir auch gesagt, daß Sie für seine Rückkehr verantwortlich sind, Miss Hartway.“ Lenora gab sich große Mühe, damit ihre Worte höflich klangen, und zwang sich sogar zu einem Lächeln, doch Deborah ließ sich nicht täuschen. Mrs. Salvador war nach der letzten Begegnung bestimmt nicht gut auf sie zu sprechen. „Wie haben Sie es nur geschafft, Walter die Information über Michaels Aufenthaltsort zu entlocken?“ fragte die alte Dame. Sie betonte dabei das Wort „entlocken“. „Hätten wir nur die leiseste Ahnung gehabt, daß er Bescheid wußte, hätte Juan bestimmt alles versucht, um die Adresse zu erfahren.“ Nicht alle Hunde, die bellen, beißen auch, dachte Deborah und kam zu der Überzeugung, daß Lenora kein gefährlicher Gegner war. „Walter ist wie ein großes Kind, und bei Kindern erreicht man mit einem Lächeln manchmal viel mehr als mit Schimpfen“, antwortete Deborah freundlich. „Was Sie nicht sagen! – Zufällig bin ich Mutter zweier Kinder, Miss Hartway. Weder Sandra noch Michael werden behaupten, daß ich jemals mit ihnen geschimpft habe. Sie wurden mit viel Liebe erzogen.“ „Bitte, Mom, reg dich nicht auf.“ Michael gab seiner Mutter einen Kuß auf die Wange. „Niemand stellt deine liebevollen Erziehungsmethoden in Frage. Als dein Sohn möchte ich dich aber bitten, nett zu Deborah zu sein, damit sie sich entschließt, Miss Tuckers Platz einzunehmen.“ „Hast du ihr etwa dieses Angebot gemacht, Michael?“ „Natürlich. Wer denn sonst?“ „Sie besitzen ein bemerkenswertes Talent, Miss Hartway, sich den Männern in dieser Familie unentbehrlich zu machen.“ In Lenoras Stimme lag ein gereizter Ton. „Hör auf, Mom“, warnte Michael. „Deinetwegen habe ich schon Miss Tucker verloren, und wenn Deborah dieses Haus ein zweitesmal verläßt, weil du wieder…“ „Wieder? Hat dir Miss Hartway nicht berichtet, was sich in Ihrem Zimmer abgespielt hat, und daß Juan viel mehr mit Ihrer Abreise zu tun hatte als ich?“
„Ich weiß darüber Bescheid“, entgegnete Michael ungehalten. Dann lächelte er. „Jetzt ist aber Schluß mit diesem Thema. Ich bin froh, wieder zu Hause zu sein, und denke, daß wir alle unsere Meinungsverschiedenheiten vergessen sollten. Vielleicht werden wir so eine große, zufriedene Familie. Nicht wahr, mein Sohn?“ Er beugte sich zu Julian hinunter, der auf Nanny Roses Schoß saß und auf ein goldenes Medaillon biß, das an einer Kette um ihren Hals hing. „He, was ist denn das?“ fragte Michael verwundert. „Mein Glücksbringer, den ich von Mr. Juan bekam“, erklärte Rose Jones. „Mr. Juan meinte, daß mich der Heilige Jakob aus Spanien, der darauf abgebildet ist, vor weiteren Unfällen schützen soll.“ „Juan und sein lächerlicher Aberglaube“, meinte Lenora verächtlich. „Du solltest deinem Sohn nicht erlauben, daß er dieses Ding in den Mund nimmt, Michael.“ „Es wird ihm nicht schaden, Madam. Das Medaillon ist aus purem Gold.“ Rose lächelte nachsichtig. Lenora sah mißtrauisch aus. Dann strich sie plötzlich mit den Fingerspitzen über ihre Schläfen und setzte eine Leidensmiene auf. „Was soll ich bloß gegen diese schrecklichen Migräneanfälle machen, Rose?“ fragte sie jammernd. „Gerade in den letzten Tagen haben sie mich so sehr geplagt, und ausgerechnet in dieser Zeit mußte ich mich um meinen süßen Enkel kümmern. Der Kleine hat es wirklich nicht verdient, daß seine Großmutter…“ „Mir geht es so gut, daß ich Sie jetzt wieder entlasten kann“, unterbrach Rose sie. „Ich bin mehr als froh, meine Pflichten wieder übernehmen zu können.“ Deborah erwartete eine scharfe Zurechtweisung, denn Mrs. Salvador war es sicher nicht gewohnt, daß sie von einer Angestellten unterbrochen wurde. Es war sonst auch gar nicht Roses Art, so unhöflich zu sein, doch unter den gegebenen Umständen verständlich. Aber Lenora hatte erreicht, was sie wollte, und bedankte sich sogar bei der Nanny, weil diese ihr eine große Sorge abgenommen hatte. „Sobald es mir wieder bessergeht, können Sie mir den Jungen jederzeit bringen, denn ich beschäftige mich wirklich gern mit ihm“, fügte Lenora unaufrichtig hinzu. „Das wird bestimmt nicht nötig sein, Madam“, erwiderte Rose ruhig. Lenora warf einen Blick auf ihre mit Diamanten besetzte Armbanduhr. „Es wird Zeit für meine Kaffeestunde mit Millicent Shandler“, rief sie geziert. „Möchtest du uns nicht Gesellschaft leisten, Michael? Sharon wird auch dasein.“ „Danke für die reizende Einladung, Mom, aber da ich mit Juan ausgemacht habe, heute nacht den Teufel zu verbrennen, muß ich mich um die Symbolfigur kümmern.“ „Dein Vater hat diesen Brauch abgeschafft, weil er der Meinung war, daß dadurch Unglück und Schaden unter Umständen erst herausgefordert würden“, tadelte Mrs. Salvador. „Sieh an, wer ist denn jetzt abergläubisch, Mom?“ neckte Michael. „Gönn uns doch den zusätzlichen Spaß beim Sonnwendfeuer.“ „Ein sehr unverantwortlicher und kindischer Spaß, Michael!“ Michael zwinkerte Deborah zu. „Es tut uns Erwachsenen von Zeit zu Zeit ganz gut, wenn wir die Verantwortung einmal beiseite lassen und uns wie Kinder benehmen. Leicht ist das manchmal nicht.“ Er dachte einen Augenblick nach. „Hoffentlich kann ich Sandra überreden, uns ihren grellroten Jogginganzug zu überlassen. Mit Stroh ausgestopft könnte er einen sehr wirkungsvollen Körper abgeben – das Problem ist nur der Kopf.“ „Ein Kürbis würde sich gut dazu eignen, wenn Sie um diese Jahreszeit einen auftreiben könnten, Mr. Michael“, schlug Rose vor. „Eine wunderbare Idee.“ Michael war begeistert. „Jetzt fehlen noch die Hörner…“
„Und der Pferdefuß“, ergänzte Deborah. „Ein ausgehöhlter Kürbis, in den Sie Löcher für die Augen und den Mund schneiden, ist teuflisch genug“, meinte Rose lächelnd. „Es überrascht mich, daß Sie Michael in diesem Unsinn auch noch unterstützen, Rose“, schimpfte Lenora. Sie erhob sich und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und blickte die drei Erwachsenen strafend an. „Hoffentlich wißt ihr, was ihr tut“, sagte sie streng. Kaum hatte seine Mutter das Zimmer verlassen, brach Michael in schallendes Gelächter aus. „Die alte Dame wäre eine sehr viel bessere Schauspielerin als Sandra geworden.“ „Madam weiß sich in Szene zu setzen“, bestätigte Rose und warf Michael einen nachdenklichen Blick zu. Michael hatte es plötzlich sehr eilig, die Symbolfigur zusammenzubasteln und fragte Deborah, ob sie ihm dabei helfen wollte. „Deborah bleibt bei mir, Mr. Michael“, entschied Rose. „Wir zwei Frauen müssen mal wieder richtig schwatzen.“ „Manchmal sind Sie wirklich eine Landplage, Nanny“, beklagte er sich seufzend, doch dabei konnte er ein Lachen kaum unterdrücken. Bevor Michael ging, wünschte er den „beiden Klatschbasen“ noch gute Unterhaltung… „Setzen Sie sich doch bitte, Deborah, damit Sie mir Julian abnehmen können.“ Rose Jones zeigte auf den Schaukelstuhl, in dem Mrs. Salvador vorhin gesessen hatte. Bevor sie Julian an Deborah weitergab, drückte sie ihn zärtlich. „Wenn du so schläfrig bist wie jetzt, kleiner Mann, wirst du mir ein bißchen schwer. Die liebe Debbie wird dich festhalten, auch wenn ihre Hände ein wenig zittern.“ Erst als Deborah Platz genommen hatte, kam Nanny Rose wieder auf die zitternden Hände zu sprechen. „ Seit Sie vorhin in dieses Zimmer gekommen sind, weiß ich, daß Sie ein Problem haben, über das Sie gern mit mir reden möchten“, erwiderte Rose freundlich. „Ich weiß auch, daß es kein einfaches Problem ist.“ „Haben Sie mich deshalb nicht mit Michael gehen lassen, Nanny?“ Statt einer Antwort lächelte Rose Jones nur. Und den kleinen Julian habe ich auf dem Schoß, damit ich mich an ihm festhalten kann, dachte Deborah. Sie streichelte über das schwarze Haar des Jungen und begann zögernd zu erzählen – von ihrer Idee, Michael zu überreden, wieder nach Hause zu kommen; von seinen Motiven, Hals über Kopf Abbeywitch zu verlassen; von Walters Beobachtungen. „Ich würde so gern glauben, daß Pauline Michael angelogen hat, aber ich kann es nicht, Nanny“, sagte Deborah seufzend, nachdem sie Rose Jones mit den Tatsachen vertraut gemacht hatte. „Unser kleiner Schatz soll der Sohn von Paulines Liebhaber sein?“ Rose Jones schüttelte den Kopf. „Dieses dumme Mädchen. Wie konnte sie sich bloß dazu hergeben?“ Weil es Juan Salvador war, hätte Deborah am liebsten gesagt. Es konnte nur er gewesen sein, denn Juan hatte sich mit keiner Silbe gegen ihre Anschuldigung gewehrt. „Nehmen wir einmal an, Pauline hat die Wahrheit gesagt.“ Jedes Wort, das Deborah aussprach, legte sich wie ein schwerer Stein auf ihr Herz. „In diesem Fall kommt nur ein Mann als Liebhaber in Frage.“ „Sie meinen doch nicht etwa Mr. Michaels Bruder?“ fragte Rose nach einer Weile. „Mr. Juan würde so etwas niemals tun. Er ist ein stolzer, aber auch sehr gütiger Mann, Deborah. Es wäre unter seiner Würde, sich mit der Frau seines eigenen Bruders einzulassen. Ich bin erschüttert, daß Sie zu dieser Schlußfolgerung
gekommen sind, und kann Ihnen nur raten, darüber mit keinem anderen Menschen zu reden. Bei mir ist Ihr Geheimnis selbstverständlich gut aufgehoben.“ Besorgt betrachtete Deborah das blasse Gesicht von Rose. Auf den eingefallenen Wangen waren hektische rote Flecken erschienen. „Er-, Juan, weiß von meinem Verdacht“, flüsterte Deborah. „Etwa von Ihnen?“ „Ja, leider.“ „Das muß Ihnen auch leid tun.“ Rose atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Dann fügte sie in sanfterem Ton hinzu: „Ausgerechnet von Ihnen hätte ich nie erwartet, daß Sie soviel Haß mit sich herumtragen können.“ „O Nanny.“ Deborah fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Es ist – Haß in einem ganz anderen Sinn. Ich hasse Juan, weil ich ihn liebe. Weil er mich dazu gebracht hat, ihn zu lieben.“ Das Geständnis war heraus, und Deborah konnte es nicht mehr zurücknehmen. „Du liebe Zeit, was machen Sie bloß für Sachen“, flüsterte Rose erschrocken. „Haben Sie Mr. Michael vergessen? Er hofft so sehr, daß Sie in Abbeywitch bleiben.“ „Davon kann nun nicht mehr die Rede sein“, meinte Deborah bedrückt. „Wenn ich das nächste Mal die Insel verlasse, werde ich nie wieder zurückkommen, Nanny.“ „Ja, das ist vielleicht die beste Lösung. Denn Mr. Michael verehrt Sie, was Sie sicher auch schon bemerkt haben. Aber Sie machen sich Hoffnung, seinen Bruder für sich zu gewinnen. Ich verstehe Sie ja, Deborah. Mr. Juan ist ein liebenswerter Mann. Doch die Situation ist viel zu verworren…“ Deborah ließ Rose nicht ausreden. „Ich will Juan nicht!“ meinte sie verzweifelt. „Ersparen Sie mir die Lüge. In der Angelegenheit ist schon viel zuviel gelogen worden.“ Rose streckte die Arme aus. „Würden Sie mir bitte Julian zurückgeben? Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen, Deborah. Sie wollen sicher nachdenken und ich…“, sie lächelte schwach, „ich muß mich erst einmal von dem Schock erholen.“ Behutsam setzte Deborah den schlafenden Jungen auf den Schoß von Nanny Rose, die erschöpft die Augen geschlossen hatte. Dann verließ sie wortlos das Zimmer. Auf der Galerie blieb Deborah vor einem Fenster aus buntem Glas stehen. Eine wunderschöne Rosette war darauf abgebildet. Zerstreut fuhr Deborah mit dem Finger über die rubinroten und goldenen Blütenblätter und überlegte, wohin sie jetzt gehen sollte. Rose Jones hatte ihr geraten, in Ruhe über alles nachzudenken. Aber gab es da eigentlich noch etwas zum Nachdenken? War nicht schon alles geklärt? Sie hatte die Gefühle, die Juan in ihr erweckte, zugegeben und mußte deshalb eine Entscheidung treffen, die seinen Bruder betraf. Um in Michael keine falschen Hoffnungen zu wecken, mußte sie aus Abbeywitch verschwinden. So einfach war das! Und auch die schmerzhaft quälenden Gedanken würden bestimmt schnell vergehen, wenn die Ursache dafür erst einmal in Spanien weilte – weit entfernt von dem nüchtern eingerichteten Büro in einem Londoner Verlagshaus. Wie so oft in den vergangenen Wochen überkam Deborah plötzlich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Dann brauchte sie umgehend frische Meeresluft. Sie raste die breite Treppe hinunter und stieß auf der untersten Stufe mit dem Mann zusammen, dem sie die ganze Verwirrung zu verdanken hatte. „Dios! Warum hat es eigentlich heute jeder so eilig? Macht sich auch bei Ihnen
bereits die Unruhe der Sonnenwendnacht bemerkbar, Senorita?“ „Ich bin selten so ruhig gewesen“, log Deborah. „Dann sind Sie sicher so schnell gerannt, um Ihren Kreislauf etwas anzuregen“, erwiderte Juan spöttisch. „Hatten Sie ein bestimmtes Ziel?“ „Nein, eigentlich nicht.“ „Wie wär’s, wenn Sie mich nach Penarth begleiteten, um diesen Kürbis aufzutreiben, den Michael unbedingt haben will?“ „Für den Satan in Gestalt einer Puppe?“ fragte Deborah boshaft. „Sehr richtig!“ „Fahren Sie ruhig allein nach Penarth, Senor. Trotzdem vielen Dank für das Angebot.“ „Ein Nein als Antwort lasse ich nicht gelten. Außerdem ist es auf dem Wasser angenehm kühl bei der Hitze.“ „Müssen Sie immer anderen Leuten Ihren Willen aufzwingen“, ereiferte sich Deborah. Juan hob erstaunt die Augenbrauen. „Habe ich Ihnen schon jemals etwas aufgezwungen, Miss Hartway?“ „Oja!“ „Wenn das so ist, werde ich jetzt keine Ausnahme machen.“ Er nahm ihre Hand und zog Deborah rücksichtslos hinter sich her bis zum Bootshaus. „Sei so gut, Walter, und hilf mir, das Boot an den Strand zu schieben“, forderte er Walter auf. „Gerne, Mr. Juan.“ Walter Lee grinste verstehend. Deborah kam aus dem Staunen nicht heraus. Die beiden Männer gingen so höflich und respektvoll miteinander um, daß in ihr ein ganz bestimmter Verdacht aufstieg, über den sie aber im Augenblick nicht nachdenken wollte…
13. KAPITEL Unter wolkenlosem blauen Himmel bot die Stadt Penarth einen viel freundlicheren Anblick als bei Regenwetter und herannahendem Gewitter, so wie es bei Deborahs erstem Besuch gewesen war. Damals waren ihr weder die vom Wind zerfransten Palmen entlang der Uferpromenade aufgefallen noch die malerischen kleinen Häuser dahinter, an deren Granitfassaden grüne Kletterpflanzen bis zu den grauen Schieferdächern hochrankten. Auf dem Platz in der Nähe des Hafens fand ein großer Jahrmarkt statt, der die Bewohner von Penarth schon tagsüber in fröhliche Stimmung versetzte, bevor nachts die Freudenfeuer anläßlich der Sommersonnenwende abgebrannt wurden. Die Menschen drängten sich an Buden und Ständen mit den bunten Sonnenschirmen vorbei. Besonders umlagert war ein Kinderkarussell mit bemalten Holzpferden. Das freudige Geschrei der kleinen Reiter übertönte manchmal sogar die flotte Musik, die aus zahlreichen Lautsprechern über den Platz schallte. „Was für ein farbenprächtiges Bild“, meinte Deborah, als sie an Juans Seite über die Hafenmole ging. Sie konnte ihm noch nicht ganz verzeihen, daß er ihr die Fahrt nach Penarth aufgezwungen hatte. „Wenn man dieses freundliche Städtchen sieht, kann man gar nicht glauben, daß es früher einmal Schauplatz von Überfällen spanischer Seeräuber gewesen ist“, erklärte Juan gut gelaunt. „Andererseits muß es ja stimmen, denn der legendäre Don Juan Rodare de Salvador, von dem ich ja abstamme, gehörte schließlich dazu.“ „Die Abstammung ist nicht zu leugnen, und ich bin sicher, daß Sie mächtig stolz darauf sind“, erwiderte Deborah schlagfertig. Sie hatte sich das Gemälde von Don Rodare so oft angeschaut, daß sich ihr die markanten Gesichtszüge genau eingeprägt hatten. Juans Ähnlichkeit mit dem Piratenkapitän, der damals die Gewässer um Cornwall unsicher machte und mit seiner Mannschaft alles plünderte, was ihnen in die Hände fiel, war verblüffend. Manchmal stellte sich Deborah sogar vor, daß auch Juan von Bord eines Schiffes ging und allein an den Strand der Insel Lovelis watete, um sich seine Beute zu holen – vielleicht ebenfalls eine junge Krabbenfischerin, die wahrscheinlich gar keine Chance hätte, sich gegen diesen starken Mann zu wehren. „Gibt es eigentlich auch ein Gemälde von der geraubten Braut?“ Die Frage war Deborah ganz unbewußt herausgerutscht. „Ja, es hat seinen Ehrenplatz an einer weißgetünchten Wand in meiner Villa in Andalusien bekommen“, antwortete Juan. „Don Rodare gab einem ziemlich bekannten spanischen Künstler den Auftrag, sie zu malen, und zwar nicht als elegante Senora, sondern wie die Tochter eines armen Fischers, die mit wehendem Haar und im geflickten Kittel auf einem Stein steht. Aus den Augen des Mädchens leuchtet das Glück, obwohl in Chroniken geschrieben wurde, daß die Romanze der beiden mit Tränen begonnen hatte. Anscheinend ist es dem Schwerenöter ziemlich schnell gelungen, seiner Geliebten zu beweisen, daß Tränen reine Vergeudung sind.“ Deborah war gar nicht überrascht, als sie hörte, daß Juan nur das Frauenbildnis in seinem andalusischen Heim aufgehängt hatte. Den Mann dazu sah er nämlich jedesmal, wenn er sich im Spiegel betrachtete. Vielleicht würde er dadurch angeregt, die Geschichte seines Ahnherrn nachzuahmen und sich eines Tages auch eine Braut von der Insel Lovelis zu holen. „Haben Sie Lust, sich in das Getümmel zu stürzen?“ Juan holte Deborah ziemlich unvermittelt in die Gegenwart zurück. „Auf dem Markt gibt es ein paar Trödler,
die ganz witzige Sachen anbieten. Vielleicht haben Sie ja Lust, sich ein Andenken an unseren Ausflug zu kaufen.“ „Und womit soll ich bezahlen?“ fragte Deborah gereizt. „Sie haben mir ja noch nicht einmal gestattet, die Geldbörse aus meinem Zimmer zu holen.“ „Geld habe ich genug bei mir. Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.“ „Haben Sie eine Bank ausgeraubt?“ „Viel altmodischer. Ich habe mich als Pirat betätigt.“ „Wie abenteuerlich“, erwiderte Deborah, blickte aber dabei zur Seite, um nicht in seine blitzenden Augen sehen zu müssen. Verwirrt ließ sie Juan einfach stehen, überquerte hastig die Straße, die Marktplatz und Mole voneinander trennte. Das Angebot der Trödler reichte von wertvollen Antiquitäten bis hin zum billigen Ramsch. Zuerst ließ sich Deborah nur von dem Menschenstrom mitreißen, bis sie immer häufiger stehenblieb, weil sie ein interessantes Stück entdeckt hatte. Juan folgte ihr wie ein Schatten. Wenn Deborah verweilte, wartete auch er und stellte sich so dicht hinter sie, so daß ihre Aufmerksamkeit stark abgelenkt wurde. Es kam auch oft vor, daß Juan sie „zufällig“ berührte, wenn er mit dem Arm über ihre Schulter langte, um sich einen Gegenstand vom Tisch zu nehmen. Dann überlief sie jedesmal ein prickelnder Schauer. Aber gleichzeitig machte es Deborah wütend, daß sie so auf seine Nähe reagierte. „Na, haben Sie schon etwas gefunden?“ fragte Juan von Zeit zu Zeit. Als er sich wieder einmal erkundigte, reichte ihm Deborah eine Vase, die sie gerade zwischen gebrauchten Küchengeräten entdeckt hatte. Sie war mit einer öligen Schmutzschicht bedeckt, so daß sie ziemlich unansehnlich wirkte. Aber als Deborah mit den Fingern darüberwischte, kam eine altrosa Grundfarbe mit reliefartigem Gittermuster in etwas hellerem Ton zum Vorschein. Außerdem gefiel Deborah die Form, denn der Vasenhals öffnete sich am oberen Rand wie ein Blütenkelch. Juan untersuchte die Vase so gründlich, als wäre er ein Porzellanfachmann. „Die müssen Sie unbedingt nehmen“, entschied er dann, handelte mit dem Verkäufer einen Preis aus und bezahlte. Als er Deborah den in Zeitungspapier eingewickelten Gegenstand übergab, warnte er sie: „Lassen Sie das Ding bloß nicht fallen. Es scheint ziemlich wertvoll zu sein.“ „Wirklich?“ Deborah errötete vor Freude. „Dann sollten Sie aber die Vase behalten, denn Sie haben sie schließlich bezahlt.“ „Was soll ich damit?“ Juan faßte Deborah am Ellenbogen und dirigierte sie durch die Menschenmenge. „Dahinten habe ich ein Obstgeschäft entdeckt. Es wird Zeit, daß wir uns um den Kürbis kümmern. Übrigens käme ich niemals auf die Idee, einer Frau ein so kitschiges Geschenk zu machen“, fuhr er fort. „Das ist nicht mein Stil. Deshalb betrachten Sie die Vase bitte nur als von mir bezahlt, aber nicht als geschenkt. Darauf lege ich großen Wert.“ „Ihre Bitte ist mir Befehl, Senor“, erwiderte Deborah übertrieben gehorsam, wobei sie absichtlich nicht auf seine arrogante Bemerkung einging, denn damit hatte er sie nur zum Widerspruch herausfordern wollen. Diesen Gefallen hatte sie ihm jedoch schon viel zu oft getan und meistens den kürzeren dabei gezogen. Die Verkäuferin in dem Obstgeschäft war sehr erstaunt, nachdem Juan sein Anliegen hervorgebracht hatte. Kürbisse gäbe es nicht um diese Jahreszeit, erklärte sie ihm, und wenn er Kompott daraus machen wolle, so könne sie ihm andere Früchte empfehlen. „Es muß aber unbedingt ein Kürbis sein. Er soll nämlich den Kopf einer Teufelsfigur bilden, die wir heute abend bei unserem Sonnenwendfeuer verbrennen wollen“, erklärte Juan geduldig.
„Ach so.“ Das Mädchen überlegte. „Vielleicht haben wir ja noch einen hinten im Lagerraum. Soll ich mal nachschauen, Sir?“ fragte es eifrig. Juan lächelte freundlich. „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie einen auftreiben könnten.“ Sein Charme hatte Erfolg, denn fünf Minuten später verließen Deborah und Juan das Geschäft, und obwohl sie die amüsierten Blicke der übrigen Passanten auf sich zogen, trug er den verschrumpelten Kürbis so stolz vor sich her, als wären es die Kronjuwelen. „Hungrig?“ fragte Juan plötzlich. Deborah betrachtete skeptisch den Kürbis, der eine merkwürdige Farbe aufwies. „Haben Sie etwa vor, dieses alte Ding zu verspeisen?“ fragte sie lächelnd. „Nein, der Kürbis wird ein Opfer der Flammen“, antwortete Juan mit gespielter Strenge. „Ich dachte eher an ein Mittagessen im ‚Garden Cafe’, das heißt, wenn Sie bereit wären, sich mit mir abscheulichem Kerl an einen Tisch zu setzen.“ „Gestern nacht waren Sie wirklich abscheulich.“ „Ich würde sagen, daß ich auch noch etwas anderes war, aber es ist zu heiß, um auf der Straße über dieses Thema zu diskutieren. Ich habe viel mehr Appetit auf ein Glas Wein, Hummer und Krustenbrot. Kann ich Sie damit vielleicht auch in Versuchung führen?“ Die Versuchung stellst ganz allein du selbst dar, dachte Deborah, von den schwarzen Haaren mit dem bläulichen Schimmer bis zu den handgearbeiteten Sandalen. „Da ich Sie nicht um Ihr Mittagessen bringen will, bin ich…“ „Ganz zu schweigen von dem, worum Sie mich sonst noch bringen“, führte Juan ihren Satz fort. „Ich wollte eigentlich damit sagen, daß ich nichts dagegen habe, ins ,Garden Cafe’ zu gehen“, erklärte Deborah unbeeindruckt. Die Tische in dem Gartenlokal standen unter hohen Bäumen, die viel Schatten spendeten, so daß es angenehm erfrischend und kühl war. Bevor sie Platz nahmen, bestellte Juan Weißwein und legte den Kürbis in ein Blumenbeet neben ihrem Tisch. „Es ist eigentlich ein Jammer, daß der Kürbis heute nacht im Feuer endet“, meinte Deborah bedauernd. „Vorhin sprachen Sie noch von einem alten Ding“, erwiderte Juan und studierte dabei die Speisekarte. „Warum ist es jetzt schade um ihn?“ „In irgendeinem Märchen wird er in eine gläserne Kutsche verwandelt, womit die Prinzessin zum Ball fährt.“ Juan sah kurz hoch und lächelte amüsiert. „Sie kommen mir manchmal vor wie ein Kind, das nur Märchen im Kopf hat.“ „Nur weil ich zufällig eine ausgeprägte Phantasie habe, bin ich noch lange kein Kind“, protestierte Deborah. „Gegen Phantasie ist nichts einzuwenden, solange sie nicht den Blick für die Wirklichkeit trübt. – Was wünschen Sie als Vorspeise? Hummer oder Melone mit Parmaschinken?“ Deborah nahm ihre eigene Speisekarte zur Hand und entschied sich für einen Avocado-Krabben-Cocktail. „Und danach?“ „Da möchte ich mich gern nach Ihnen richten.“ Als Deborah aufblickte, sah sie direkt in Juans schwarze Augen. Es überkam sie ein angenehm prickelndes Gefühl, das sie ihre Umgebung völlig vergessen ließ, bis sie erschrocken und wie ertappt zur Seite blickte. Für einen Augenblick war Deborah nicht in der Lage gewesen, ihre Gefühle für Juan zu verbergen. „Sehen Sie mich nicht so an“, meinte sie zurechtweisend.
„Wie sehe ich Sie denn an?“ „Wie ein Mann, der beenden will, was er angefangen hat. Ich wollte nicht mit Ihnen nach Penarth fahren, doch Sie haben mich dazu gezwungen. Vielleicht können Sie mir verraten, was Sie damit bezwecken wollen?“ „Das läßt sich leicht erklären, meine Liebe. Ich möchte Sie zu einem Abschiedsessen einladen, denn morgen fahre ich zurück nach Spanien. Da sich Michael jetzt in Abbeywitch um alles kümmern wird, werde ich nicht mehr gebraucht.“ Während er noch sprach, brachte der Ober den Wein an ihren Tisch, und Deborah konnte sich von dem Schreck über Juans Mitteilung erholen. Ein halber Tag und eine Nacht, und Juan würde aus ihrem Leben verschwinden, würde ein Fremder für sie werden, den sie bestimmt nie wiedersah. Dieser Gedanke schnürte Deborah die Kehle zu, so daß sie nur dankend mit dem Kopf nicken konnte, als der Ober ihr Glas vollschenkte. „Salud, Senorita!“ Juan prostete Deborah zu. „Ich hoffe, daß meine Neuigkeit Ihren Appetit angeregt hat. Haben Sie schon entschieden, was Sie als Hauptspeise möchten?“ Deborah starrte unentwegt auf die Speisekarte. Auf keinen Fall wollte sie Juan zeigen, wie entsetzt sie über seine bevorstehende Abreise war. Sie überflog die Spalte mit den Hauptgerichten und suchte sich wahllos etwas heraus. „Können Sie das weiße Fleisch vom Huhn, garniert mit Pilzen, empfehlen?“ „Sehr sogar.“ Für sich selbst bestellte Juan Tournedos mit verschiedenen Gemüsen. Danach brachte ein anderer Kellner die Fischvorspeisen. Zunächst aß Deborah noch mit einigem Appetit, denn es schmeckte köstlich. Doch es dauerte nicht lange, bis sie glaubte, an jedem Bissen ersticken zu müssen. Als sie gestern nacht die Träume von der großen Liebe über Bord geworfen hatte, war der Schmerz schon groß gewesen, doch er verblaßte vor dem grenzenlosen Kummer, den sie jetzt fühlte. Je langsamer Deborah aß, desto eindringlicher wurde sie von Juan beobachtet. Um ihn zu täuschen, hob sie ihr Glas und leerte es bis zur Hälfte mit einem Schluck. Sie hoffte, daß diese lässige Geste Juan über ihre wahren Empfindungen hinwegtäuschen würde, ebenso wie die leicht hingeworfene Bemerkung, daß es in Andalusien bestimmt heißer sei als in England. „Ja, es herrscht dort eine Höllenhitze, doch ich bin daran gewöhnt“, entgegnete Juan. „Sie sollten einmal in diesen Teil von Spanien reisen. Er wird Ihnen gefallen. Vielleicht nimmt Michael Sie ja mal mit.“ „Wieso Michael?“ „Warum nicht?“ Juan zuckte mit den Schultern. „Es könnte doch sein, daß er für ein neues Buch recherchieren muß, und wenn ich ihn richtig verstanden habe, werden Sie in Zukunft als seine festangestellte Sekretärin arbeiten.“ „Ich – habe mich noch nicht entschieden“, erwiderte Deborah verwirrt und nahm wieder einen großen Schluck aus ihrem Glas. „Das verstehe ich nicht“, meinte Juan erstaunt. „Michael ist doch offensichtlich sehr zufrieden mit Ihnen – innerhalb der vier Wände des Arbeitszimmers und auch außerhalb.“ * Er erwähnte das so beiläufig, daß Deborah erst Augenblicke später begriff, worauf er anspielte. Natürlich auf Michaels Besuch in ihrem Zimmer und das Picknick mit Erdbeeren und Sahne! Als sie Juan ansah, bestätigte sich ihre Befürchtung, daß er Bescheid wußte. Irgendwie hatte er es herausgefunden. „Ich bin sicher, daß Sie für meinen Bruder fast unentbehrlich sind“, fuhr Juan fort, als ob er sie zwingen wollte, mit ihm darüber zu sprechen. Deborah weigerte
sich jedoch, auch nur ein Wort über dieses Thema zu verlieren. Es war ja ohnehin sinnlos. Juan würde morgen abreisen, und welche Entscheidung sie in bezug auf Michaels Angebot traf, war allein ihre Angelegenheit. Der Hauptgang wurde direkt im Anschluß an die Vorspeise serviert, und wieder zwang sich Deborah, so zu tun, als würde sie jeden einzelnen Bissen genießen. An die Rückfahrt mit dem Boot durfte sie gar nicht denken. Deborahs schmerzliche Gedanken und der zu hastig getrunkene Wein erzeugten schon jetzt leichte Übelkeit, die ihr den Schweiß auf die Stirn trieb. „Sie unverbesserliche Närrin! Legen Sie sofort Messer und Gabel zu Seite! Glauben Sie, ich merke nicht, was Sie sich da antun?“ Sofort befolgte Deborah seinen Befehl. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, atmete tief durch und nahm nur undeutlich wahr, daß Juan den Ober heranrief und Kaffee bestellte. „Das liegt an der Hitze“, sagte sie schließlich entschuldigend. „Natürlich.“ Juan schob seinen Teller beiseite, obwohl auch er noch nicht zu Ende gegessen hatte. „Die Hitze ist daran schuld und Ihre Angewohnheit, sich alles zu sehr zu Herzen zu nehmen.“ „Was nehme ich mir zu Herzen?“ fragte Deborah leise. „Daß Sie nach Spanien zurückkehren?“ Er nickte. „Ich glaube schon. Aber deshalb geht die Welt noch lange nicht unter. Die Begegnung mit Ihnen war insofern interessant für mich, weil ich zum erstenmal in meinem Leben eine Frau gefragt habe, ob sie mich heiraten will.“ „Sie fühlten sich verpflichtet zu fragen.“ „So wie Sie sich verpflichtet fühlten, meinen Antrag abzuweisen“, entgegnete er ohne zu zögern. „Hätten Sie das bei Michael auch getan?“ Deborah blickte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. „Zwischen Ihrem Bruder und mir gibt es nichts, was einen Antrag gerechtfertigt hätte. Ich arbeite gern für ihn, weil er nett und rücksichtsvoll ist, aber…“ „Sind das nicht Eigenschaften, die Sie an einem Mann schätzen?“ Juan betrachtete sie mit seinen dunklen, geheimnisvollen Augen. „Michael besitzt nur Tugenden. Ich dagegen, so beschuldigten Sie mich in der vergangenen Nacht, verhalte mich unmoralisch und werde mit dem Teufel verglichen, der in Abbeywitch nur Unfrieden stiftet. Ich gebe vor, ein Ehrenmann zu sein, während ich doch nur ein Verführer bin. Zuerst mache ich mich an Michaels treue Ehefrau heran, dann an seine Sekretärin. Lassen sie sich etwas gesagt sein, Miss Hartway…“ Juan unterbrach seinen Satz, weil der Ober den Kaffee brachte und einschenkte. Als sie wieder allein waren, fühlte sich Deborah noch unwohler als zuvor, denn von dem Mann ihr gegenüber ging etwas Drohendes, Unheimliches aus. „Ach, denken Sie doch meinetwegen, was Sie wollen.“ Juan nahm seine Tasse und trank. „Das ist ja alles nicht mehr wichtig – und morgen bin ich in Andalusien.“ Deborah wollte etwas sagen, doch Juan drehte den Kopf zur Seite. Sein Gesicht wirkte wie eine steinerne Maske. Deborah hatte das Gefühl, als sei eine Tür zwischen ihnen unwiderruflich geschlossen worden. „Es tut mir leid.“ Ihre zaghafte Entschuldigung blieb ohne Antwort. Später auf der Rückfahrt erschien es Deborah unmöglich, das Schweigen zwischen ihnen zu brechen. In sich zusammengesunken saß sie in dem Motorboot und umklammerte mit beiden Händen die in Zeitungspapier eingewickelte Vase. An diese Fahrt würde sie sich noch sehr lange erinnern. Und wenn sie so alt wie Rose Jones war, die sich für ihren Beruf statt für die Ehe entschieden hatte, würde sie vielleicht auch eines Tages zu einer jüngeren Frau
sagen, daß jedes Mädchen nur einmal im Leben dem richtigen Mann begegnete. Nanny Roses Mann hatte David geheißen, ihrer hieß… „Oh“, sagte Deborah plötzlich aufgeschreckt, „wir haben den Kürbis in Penarth vergessen.“ „Haben wir? Welch ein Jammer!“ Deborah sagte nichts mehr. Als das Boot das Ufer von Lovelis erreichte und Juan damit beschäftigt war, es an Land zu ziehen, sprang sie von Bord und lief los, ohne sich umzublicken. Während des Laufens hielt sie die Vase fest an sich gepreßt, aus Angst, daß ihr einziges Erinnerungsstück an Juan zerbrechen könnte. In ihrem Zimmer entfernte Deborah das Zeitungspapier und verschwand gleich im Bad, um die Vase unter heißem Wasser abzuwaschen, bis die altrosa Farbe leuchtend zum Vorschein kam und sich das Gittermuster deutlich abzeichnete. Wie wertvoll sie wirklich war, würde Deborah nie durch ein Gutachten feststellen lassen. Ihr bedeutete sie sehr viel mehr, als sich in Zahlen ausdrücken ließ. Vorsichtig stellte Deborah den für sie kostbaren Gegenstand auf einer Kommode in ihrem Zimmer ab, um ihn noch einmal in Ruhe betrachten zu können. Dabei wurden die schmerzlichen Erinnerungen so übermächtig, daß sie langsam zu ihrem Bett ging und sich darauf niedersetzte. Wie hatte sie nur glauben können, daß Juan Paulines Liebhaber am Strand gewesen war? Walter Lee, der Michael treu ergeben war und ihm bedingungslos vertraute, würde in diesem Fall Juan niemals so bedingungslos akzeptieren. Außerdem hätte er dann schon längst einen Weg gefunden, um es Juan an Michaels Stelle heimzuzahlen. Statt dessen verhielt sich Walter sehr zuvorkommend in Juans Gegenwart und befolgte dessen Anordnungen ohne jeglichen Widerwillen. Deborah saß immer noch in Gedanken versunken auf ihrem Bett, als es an der Tür klopfte. Sie mußte sich regelrecht überwinden, „herein!“ zu rufen, und Deborah blickte erst auf, als ein Hausmädchen die Tür öffnete und ihr einen Brief übergab. „Das kam heute morgen mit der Post, Miss, und ich möchte mich entschuldigen, daß ich nicht früher daran gedacht habe“, erklärte Kitty. „Wir haben heute aber so viel zu tun, da Madam verlangt, daß alles im Haus blitzt und das Dinner perfekt ist.“ „Geht schon in Ordnung, Kitty. Vielen Dank.“ Deborah wartete, daß Kitty wieder ging, doch das Mädchen blieb auf der Türschwelle stehen und musterte beunruhigt Deborahs blasses Gesicht. „Geht es Ihnen nicht gut, Miss Hartway?“ „Ich habe – Kopfschmerzen, wahrscheinlich von der Sonne. Einen so heißen Tag wie heute habe ich auf der Insel noch nicht erlebt“, redete sich Deborah heraus. „Wenn ich eine Tablette genommen habe, wird es mir sicher gleich wieder besser gehen.“ „Ja, das sollten Sie tun. Versuchen Sie auch, ein wenig zu schlafen, damit Sie an dem großen Ereignis heute abend teilnehmen können. Und…“, Kitty machte ein verschwörerisches Gesicht, „legen Sie einen Zweig Rosmarin und eine Silbermünze unter Ihr Kopfkissen, denn dann träumen Sie von dem Mann, den Sie einmal heiraten werden.“ Trotz ihres Kummers mußte Deborah lachen. „Kitty, Sie sind ja abergläubisch!“ „Sie etwa nicht, Miss Hartway? Es ist auf jeden Fall den Versuch wert, ganz gleich, wie man darüber denkt.“ Danach verließ Kitty das Zimmer, und Deborah riß ungeduldig den Umschlag auf und las den Brief durch. Er kam von Harrison Holt, ihrem Chef in London, und begann mit der Anfrage,
wie weit die Arbeit an Michael Salvadors Buch vorangeschritten wäre. Es folgten ein paar verlagsinterne Mitteilungen über Umbesetzungen und Kündigungen, und erst am Schluß des Briefs hatte der Verlagsleiter noch eine Überraschung für Deborah: Sie sollte nämlich die Leitung der Kinderbuchabteilung übernehmen und wurde aufgefordert, so schnell wie möglich Bescheid zu geben, ob ihr dieser Posten zusagen würde. In Gedanken versunken zerknüllte Deborah den Brief in ihrer Hand, bis sie sich einen Ruck gab und innerhalb von Sekunden eine Entscheidung fällte. Gleich morgen würde sie Michael sagen, daß sie Mr. Holts Angebot annehmen würde. Denn es bedeutete, daß sie eine Stufe höherstieg auf der Erfolgsleiter und war zudem ein Beweis, daß man bei Columbine ihre Arbeit schätzte und sie für fähig hielt, diese verantwortungsvolle Tätigkeit auszuüben. Während sie das Papier wieder glättete, fiel ihr Kittys Ratschlag ein, und sie schüttelte den Kopf. Nein, eine Silbermünze und einen Zweig Rosmarin brauchte sie nun nicht mehr, denn in der Zukunft, die sie sich vorstellte, gab es keinen Platz für einen Ehemann. Deborah nahm auch keine Tablette gegen ihre Kopfschmerzen, sondern streifte die Sandalen von den Füßen, zog ihr Kleid aus und legte sich aufs Bett. Ihre Hoffnung, daß sie ein wenig Ruhe finden würde, erfüllte sich aber leider nicht. Ihre Gedanken wanderten zurück zum Mittagessen, mit Juan im „Garden Cafe“. Noch bevor der Ober den Kaffee gebracht hatte, war ihr die Ungeheuerlichkeit ihrer Beschuldigung bewußt geworden, und sie hatte zu ihrer Rechtfertigung nichts anderes zu sagen gewußt als: „Es tut mir leid.“ Wie sehr mußte Juan sie verachten! Er zog die einzig mögliche Konsequenz aus ihrem Verhalten, indem er sich von ihr abwandte und nicht mehr mit ihr redete. Aber durch wen hatte sich eigentlich dieser Verdacht wie eine fixe Idee in ihrem Kopf festgesetzt? überlegte Deborah angestrengt und wälzte sich unruhig hin und her. Nanny Rose konnte es nicht gewesen sein, auch nicht Mrs. Salvador, die trotz scharfer Worte in der Nacht nach der Party nie behauptet hatte, daß es eine Angewohnheit ihres Stiefsohns wäre, sich im falschen Schlafzimmer aufzuhalten… Ganz plötzlich durchzuckte Deborah ein seltsamer Gedanke, der sie an Stuart Coltans Satz erinnerte. „Außer Tanzen haben Pauline und Juan noch ganz andere Freuden geteilt“, hatte er hämisch behauptet, nachdem sie seinen plumpen Annäherungsversuch vor ihrer Zimmertür zurückgewiesen und ihm auch gründlich die Meinung gesagt hatte, bevor er in sinnloser Wut ihren Schmuck zertrat. Stuart war die Schlange, die das Gift verspritzt hatte und dann von weitem zusah, wie es zu wirken begann. Jetzt wurde Deborah auch klar, weshalb Stuart nie wieder in ihre Nähe gekommen war. Er und Pauline waren dieses Liebespaar gewesen, das Walter Lee am Strand beobachtet hatte. Diese Erkenntnis rüttelte Deborah auf, so daß sie am liebsten zu Juan gelaufen wäre, um ihn um Verzeihung zu bitten. Aber die Einsicht kam zu spät. Niemand konnte die Zeit bis zu jener nächtlichen Stunde zurückdrehen, als Juan sie hinter den Büschen geküßt und gestreichelt hatte… Verzweifelt und ratlos drehte sich Deborah auf die Seite und fiel nach einer Weile in einen unruhigen Schlaf. Sie merkte nicht, daß sich die Vorhänge vor den Fenstern leicht bewegten, weil die Luft draußen kühler geworden war, und daß sich der Himmel und das Meer rot färbten, als die Sonne unterging. Die totale Erschöpfung forderte ihren Preis, und so schlief sie ohne Unterbrechung durch, bis der Mond voll am Himmel stand. Als Deborah dann endlich aufwachte und ihren Wecker vom Nachttisch nahm, stieß sie einen überraschten Schrei aus. Sie mußte nämlich feststellen, daß es
zwanzig vor acht war. Deborah hätte schon längst damit beginnen müssen, sich für das Dinner zurechtzumachen. Schlaftrunken lief sie zum Schrank, um ihr weißes Ballkleid herauszuholen, das sie zu diesem Anlaß tragen wollte. Kaum hatte sie die mit geflochtenen Bambusblättern bespannten Türen zurückgeschoben, da erkannte Deborah sofort die äußerst gefährliche Situation, in der sie sich befand – doch sie war unfähig, darauf zu reagieren. So konnte sie Stuart Coltan, der sich zwischen ihren Kleidern versteckt hatte, nur aus weit aufgerissenen Augen anstarren, ohne einen Laut von sich zu geben. „Diesmal bin ich in deinem Zimmer, meine Schöne, und keiner von den Brüdern ist in der Nähe, um dir zu helfen“, meinte er höhnisch. „Niemand wird deine Schreie hören, wenn ich das mit dir mache, was ich auch Pauline angetan habe.“ Er lachte unnatürlich schrill. „Die hochherrschaftlichen, arroganten Salvadors haben ja keine Ahnung, wie die blonde Tänzerin wirklich ums Leben gekommen ist. Sie glauben an einen Tod durch Ertrinken! Wirklich irrsinnig komisch!“ Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt und so gespenstisch bleich, daß es fast dieselbe Farbe wie der weiße Seidenanzug hatte, den Stuart zu seinem grellrosa Hemd trug. Er war so gekleidet wie am Abend der Party, aber jetzt hatte er nichts mehr von einem charmanten Playboy an sich. Sein Benehmen flößte Deborah Angst ein. „Ich weiß, wie es wirklich passiert ist, denn ich war ja dabei“, fuhr Stuart fort. „Wir sind in jener Nacht von Bord der Yacht gesprungen und an Land geschwommen, wo wir uns zwischen den Steinen am Strand geliebt haben. Als das Vergnügen vorüber war, hielt Pauline wieder einen dieser endlosen Monologe, in dem sie mir androhte, ihrem Mann von unserer Affäre zu erzählen, falls ich sie nicht heiraten würde. -Ich sie heiraten?“ Wieder erklang dieses unangenehme schrille Lachen. „Ich hatte mir doch schon die reiche und mir treu ergebene Sandra ausgesucht, die ich nicht verärgern durfte. Kein auch nur einigermaßen vernünftiger Mann läßt sich eine so gute Partie entgehen.“ Entsetzt mußte Deborah mitanhören, wie Stuart anschließend ein Schuldbekenntnis ablegte. Er hatte Pauline zuerst mit einem Stein erschlagen und dann ihren Kopf unter Wasser gehalten, so daß es den Eindruck erweckte, sie sei ertrunken. „Was wollen Sie von mir, Stuart?“ flüsterte Deborah mit bebenden Lippen, als er seine schreckliche Beichte beendet hatte. „Ich werde dich mit meinen kräftigen Händen erwürgen“, antwortete Stuart ungerührt. „Und sie sind wirklich kräftig, wie du gleich merken wirst“, fügte er triumphierend hinzu. „Ich habe hart damit arbeiten müssen, um mir das Geld für die Schauspielschule zu verdienen, denn mir wurde kein Reichtum in die Wiege gelegt wie anderen Leuten.“ Er zog beide Hände aus den Taschen. Als er sie öffnete, fielen aus der einen mehrere große Nägel auf den Boden. „Warum wollen Sie mich töten? Was habe ich Ihnen getan?“ „Nichts Besonderes. Aber ich habe gerade Lust dazu.“ „Sie – sind verrückt“, stammelte Deborah. „Nicht ich, sondern der geistig zurückgebliebene Walter Lee“, erwiderte Stuart höhnisch grinsend. „Ihm wird man die Schuld an dem Mord geben, weil neben deiner Leiche diese Nägel hier gefunden werden, die er für die Planken der Boote benutzt. Wenn ich die Hände um deinen schlanken Hals gelegt und zugedrückt habe…“ Er kam drohend auf Deborah zu, „… werde ich damit dein hübsches Gesicht zerkratzen. Dann nützt dir auch dein kastanienbraunes Haar…“ Er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen, denn in diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und während Juan hereinstürzte, schrie er Stuart wütend an: „Gehen Sie sofort zurück, Coltan, oder Sie können was
erleben!“ „Von Ihnen nehme ich schon gar keine Befehle entgegen, Senor!“ rief Stuart höhnisch und machte noch einen Schritt auf Deborah zu. Da sprang Juan dazwischen, und kurz darauf wälzten sich die beiden Männer am Boden. Wie erstarrt beobachtete Deborah einige Sekunden lang den heftigen Kampf, dann rannte sie die Treppe hinunter und direkt in den Salon, wo Lenora, Sandra und Michael in festlicher Abendgarderobe saßen und einen Aperitif tranken. Sie wartete Lenoras Vorwürfe wegen ihrer unpassenden Kleidung – Deborah trug nur einen Slip und ein kurzes Hemdchen – gar nicht erst ab, sondern forderte Michael auf, seinem Bruder sofort zu helfen, den verrückt gewordenen Stuart zu überwältigen, und rannte dann wieder zurück. Als Deborah ihr Zimmer erreichte, stellte sie erleichtert fest, daß Juan als Sieger aus diesem Kampf hervorgegangen war. Er hatte Stuarts Arme nach hinten gedreht und hielt dessen Handgelenke mit festem Griff umspannt. Bei jeder Bewegung jammerte der Schauspieler vor Schmerzen. „Zieh dir bitte etwas über“, sagte Juan zu Deborah. Sie war gerade in ihren Bademantel geschlüpft, als Michael hereinkam und sich verblüfft umschaute, denn in dem Zimmer herrschte ein heilloses Durcheinander. Möbelstücke standen quer, Stühle und Sessel waren umgekippt, die Gardine hing nur noch an zwei Ringen. Bei Michaels Anblick fing Stuart an zu kreischen. „Ihr dürft ihm nichts sagen! Er wird mich töten!“ „Ich würde sogar gern zusehen, wenn er Ihnen Ihr verdammtes Genick bricht, Coltan“, stieß Juan grimmig hervor. Deborah glaubte ihm jedes Wort, weil er selbst ziemlich furchterregend aussah. Inzwischen kam auch Sandra völlig atemlos ins Zimmer gestürzt. „O Stuart, mein Liebling, was macht er bloß mit dir?“ jammerte sie. „Er hat dir doch nicht etwa weh getan?“ „Er hat Pauline getötet und wollte auch mich umbringen“, sagte Deborah, die es nicht ertragen konnte, daß Stuart so liebevoll angeredet wurde. Sie zeigte Sandra auch die Nägel und erklärte ihr, was die zu bedeuten hatten. „Worüber redet sie überhaupt?“ Sandra stemmte beide Hände in die Taille ihres flammendroten Cocktailkleides und sah Stuart herausfordernd an. „Außerdem will ich wissen, was du hier in ihrem Zimmer zu suchen hast.“ Stuart zuckte beim Klang ihrer herrischen Stimme zusammen. Dann blitzten seine blauen Augen haßerfüllt. „Deine Überheblichkeit ist unerträglich. Woher nimmst du dir eigentlich das Recht, etwas von mir zu verlangen? Du und deine Mutter seht auf uns normal Sterbliche herab, weil ihr glaubt, etwas Besseres zu sein. Euer Getue ekelt mich an!“ Er brach ab und drehte sich zu Deborah um. „Du hast deine Chance bei mir gehabt, schönes Mädchen“, sagte er fast ein wenig bedauernd. „Ich habe dir mein Herz zu Füßen gelegt, ich hätte sogar noch sehr viel mehr für dich getan, doch du hast mich abblitzen lassen, weil deine Ziele höher gesteckt waren. Nur der stolze Spanier war gut genug für dich. Als du ihm endlich den Kopf verdreht hattest, bist du vor ihm davongerannt. Was willst du eigentlich? Daß er dir die Sterne vom Himmel holt?“ Stuarts letzte Worte gingen in ein wirres Gestammel über, und Sandra betrachtete ihn kopfschüttelnd, als sähe sie ihn zum erstenmal. „Hat er wirklich Pauline getötet?“ fragte Michael ungläubig, der bisher geschwiegen hatte. „Ja, amigo“, antwortete Juan, bevor er sich an Deborah wandte und sich fürsorglich erkundigte, ob sie sich von ihrem Schrecken erholt hätte. Sie nickte. „Ein Glück, daß Sie – daß du gerade noch rechtzeitig erschienen bist“, fügte sie leise hinzu und wunderte sich, daß ihr das Du ohne große Schwierigkeiten über die Lippen kam.
Obwohl Juan mit keinem Wort erwähnt hatte, weshalb er überhaupt in ihr Zimmer gekommen war, wußte Deborah, daß er es ihr früher oder später bestimmt noch erzählen würde. Gewiß wartete Juan nur ab, bis sie mit ihm allein war, und so lange wollte sie sich gern gedulden. „Es ist ein Jammer, daß wir unsere Teufelsfigur nicht durch diesen elenden Kerl ersetzen dürfen“, meinte Juan grimmig und stieß Stuart zur Tür hinaus. Mit gesenktem Kopf folgte Michael den beiden. Es war ihm deutlich anzumerken, wie sehr ihn die schrecklichen Einzelheiten über Paulines Tod erschüttert hatten. Dadurch wurden nicht nur der Schmerz, sondern auch seine Schuldgefühle wieder aufgewühlt. Deborah erinnerte sich an Gespräche, die sie mit Michael über seine Ehe geführt hatte. Daher wußte sie, daß seine Leidenschaft für die junge Tänzerin sehr schnell abgekühlt war. Zwischen den Ehepartnern gab es fast keine Gemeinsamkeiten mehr, und bald ging jeder seiner Wege. Michael hatte seine Arbeit, in der er völlig aufging und die ihn blind machte für Paulines Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit und Abwechslung. Die schriftstellerische Tätigkeit war auch dann für Michael der einzige Halt, als er bemerkte, daß sich Pauline gegen die Schwangerschaft auflehnte, weil sie darin keine Lösung für ihre Probleme sah. Ohne es zu ahnen, überließ Michael Stuart Coltan das Feld, und der hatte ein sicheres Gespür für die Unzufriedenheit der jungen Frau. Stuart hatte immer Zeit für sie, zudem gab er ihr das Gefühl, daß sie zu ihm gehörte. Ihre Gemeinsamkeiten fanden sie überwiegend im Milieu des Showbusineß, in dem beide aufgewachsen waren, und dem Platz, den sie sich in der Familie Salvador erobert hatten. Durch Stuart wurde Pauline zwischen zwei Welten und zwei Männern hin- und hergerissen. Sie wollte alles, doch als sie glaubte, eine Lösung aus diesem Zwiespalt gefunden zu haben, verlor sie ihr Leben, weil Stuart sie mittlerweile als Belastung empfand. Deborah konnte diese arme Frau nur bedauern und fragte sich, ob Pauline ihrem traurigen Schicksal entgangen wäre, wenn ihr Ehemann und dessen Familie mehr Verständnis für Paulines Probleme aufgebracht hätten. Deborah atmete tief durch, als ihr bewußt wurde, daß es auf diese Frage keine Antwort mehr geben würde. Was Pauline betraf, kam jede Einsicht zu spät. Aber ich habe noch die Möglichkeit, mein Gewissen zu erleichtern, indem ich Juan um Verzeihung bitte, dachte Deborah plötzlich. Sie mußte nur eine Gelegenheit finden, um ihm erklären zu können, daß sie sich geirrt hatte und daß sie zu sehr mit ihren Gefühlen für ihn beschäftigt war, um die Wahrheit zu erkennen. Juan war das einzige Mitglied der Familie Salvador, das begriffen hatte, in welchem Konflikt sich Pauline befand, und er hatte ihr seine Freundschaft angeboten, hatte zum Beispiel mit ihr getanzt, obwohl er dadurch den Unwillen Lenoras und Sandras herausforderte. Als Deborah an diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt war, bemerkte sie, daß sich Sandra noch immer in ihrem Zimmer aufhielt. Die junge Schauspielerin stand in Gedanken versunken am Fenster, und ihr ernstes Gesicht drückte Schmerz und verletzten Stolz aus. Da Deborah nicht wußte, was sie mit ihr reden sollte, begann sie, die umgestürzten Möbel wieder aufzustellen. Dabei fand sie die Scherben der Porzellan Vase, die sie auf dem Trödelmarkt erstanden hatte. Das wertvolle Erinnerungsstück an ihren Ausflug mit Juan war ein Opfer des heftigen Kampfes geworden. Vielleicht sollte diese Vase nicht die einzige Verbindung zwischen ihr und dem geliebten Mann sein… „Sie haben von Anfang an gewußt, daß er keinen Charakter hatte, nicht wahr, Deborah?“ fragte Sandra plötzlich. Ihre Hände zitterten, als sie sich eine Zigarette anzündete. „Es ist wie ein schrecklicher Alptraum“, fügte sie hinzu, bevor Deborah antworten konnte. „Wissen Sie, daß ich daran gedacht habe, diesen Mann zu heiraten, der die arme Pauline auf dem Gewissen hat?“
Während Deborah die Scherben der Vase aufsammelte, kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Konnte es möglich sein, daß Julian der Sohn von Stuart Coltan war? Hatte Pauline in jener Nacht, bevor sie mit Stuart von Bord gesprungen war, Michael die Wahrheit gesagt? Es war nicht zu übersehen, daß der Junge blaue Augen hatte, so wie seine Mutter – wie deren Liebhaber. In diesem Augenblick kam Sharon Chandler zur Tür herein, und Deborah wurde erst einmal abgelenkt. „Ich habe euch Kaffee gebracht, denn ich glaube, daß ihr beide sehr geschockt sein müßt“, sagte Sharon und stellte das Tablett mit der Kanne und den Tassen am Fußende des Bettes ab. Sie schenkte ein, forderte Deborah und Sandra auf, sich zu setzen, und reichte jedem eine Tasse. Nach einer Weile spürte Deborah, wie das beklemmende Gefühl der Bedrohung durch Stuart, sie aus einer Laune heraus umzubringen, langsam abklang. Es erschien ihr jetzt wie ein böser Traum, jedenfalls versuchte sie sich das einzureden, und wie jeder Traum verlor er an Bedeutung, wenn die Wirklichkeit in den Vordergrund trat. „Wir sind zwar schockiert, aber deshalb wollen wir uns auf keinen Fall das Sommersonnenwendfest verderben lassen“, meinte Sandra, als habe sie Deborahs Gedanken erraten. „Pater Restormel kommt extra zu uns, um das Feuer zu segnen. Für mich ist dies wie eine Beschwörung, daß uns die bösen Geister nicht länger heimsuchen.“ Sie wandte sich an Sharon. „Weißt du, was meine Brüder wegen Stuart unternommen haben?“ fragte sie. „Juan bringt ihn gerade zum Festland“, antwortete Sharon. „Walter Lee begleitet ihn, da Michael verständlicherweise noch keinen klaren Gedanken fassen kann.“ „Und Michael? Ist er bei meiner Mutter?“ „Ja, er hat sich dorthin zurückgezogen. Sie wird wohl im Augenblick die einzige sein, die ihm helfen kann, das Gleichgewicht wiederzufinden. Noch vor etwa einer Stunde war Lenora in bester Stimmung. Sie hat mir Fotos von Michaels Hochzeit gezeigt und von seiner Taufe.“ Sharon strich sich über den Rock ihres leuchtendblauen Ballkleides. „Das war, wie gesagt, vor einer Stunde, und seitdem hat sich so viel geändert. Das Leben hält manchmal seltsame Überraschungen für uns bereit, nicht wahr?“ fügte sie seufzend hinzu. „Meiner Meinung nach ist das alles viel dramatischer, als es jemals ein Autor in einem Theaterstück ausdrücken kann“, bestätigte Sandra. Sie schien zu ihrer alten Selbstsicherheit zurückgefunden zu haben, denn die zweite Zigarette, die sie sich an der ersten anzündete, lag schon wieder ganz ruhig zwischen ihren Fingern. „Mom wird ihren Liebling Michael schon wieder zurechtbiegen, Sharon. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, sie hat ihn immer viel besser verstanden als mich. Aber wahrscheinlich verhalten sich die meisten Mütter so, wenn sie einen Sohn und eine Tochter haben. Nur Pauline war anders. Anstatt sich mit dem zu begnügen, was sie an Michael und Julian hatte, trieb sie ihre übersteigerte Lebenslust in Stuarts Arme. Hätte sie ihn in Ruhe gelassen, wäre ihm und uns viel erspart geblieben.“ „Vielleicht hast du recht.“ Sharon schwieg eine Weile. Dann warf sie Deborah einen aufmunternden Blick zu und sagte fröhlich: „Als ich die Fotos von Michaels Taufe gesehen habe, ist mir zum erstenmal aufgefallen, wie ähnlich der kleine Julian seinem Großvater sieht. Dieselbe Farbe der Augen! Derselbe Schnitt der Gesichtszüge! Wirklich erstaunlich!“ Deborah war nur sehr unaufmerksam den Worten der beiden Frauen gefolgt, denn der heiße Kaffee erzeugte eine wohlige Wärme in ihrem Körper und versetzte sie in eine Art Dämmerzustand. Sharons Bemerkung ließ Deborah aber wieder hellwach werden. Denn was sie soeben gehört hatte, konnte letzten Endes
der Beweis dafür sein, daß der kleine Julian doch Michaels und Paulines Sohn war und nichts mit der Affäre seiner Mutter und Stuart Coltans zu tun hatte. Deborahs erste Vermutung, daß Pauline nur aus Verzweiflung gelogen hatte, weil sie keine andere Möglichkeit sah, ihrem goldenen Käfig zu entfliehen, war demnach richtig gewesen. „Gott sei Dank“, sagte Deborah leise vor sich hin und drückte mit den drei Worten ihre Erleichterung aus, daß dieses Kapitel zermürbender Grübeleien endlich einen Abschluß gefunden hatte. Durch Sandras Antwort aber wurde ihr erst bewußt, daß sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte. „Ich kann Ihnen nur beipflichten, Deborah. Wir können wirklich dankbar sein, daß Stuart keine Gelegenheit bekommen hat, ein zweites Verbrechen zu begehen.“ Sandra stand auf, und es sah so aus, als wollte sie das Turmzimmer verlassen. „Trotzdem bleibe ich bei meiner Meinung, daß wir uns das Fest durch diesen Vorfall nicht verderben lassen sollten.“ Sie gab Sharon einen Wink, ihr zu folgen. „Ich glaube kaum, daß Deborah zwei Zofen zum Umkleiden benötigt, so daß wir beide ebensogut schon nach unten gehen können“, setzte sie in ihrer gewohnten spöttischen Art hinzu. Zögernd legte Sharon eine Hand auf Deborahs Schulter. „Mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken, daß Sie allein in diesem Zimmer bleiben. Sie müssen sich doch sehr erschreckt haben, als Sie Stuart plötzlich in ihrem Schrank entdeckten.“ „Ja – das ist richtig. Aber jetzt bin ich wieder ganz in Ordnung“, versicherte Deborah lächelnd. Ihr erster Eindruck, daß Sharon ein nettes, natürliches junges Mädchen war, bestätigte sich wieder einmal. Sie entsprach nicht nur Lenora Salvadors Vorstellung von einer idealen Schwiegertochter, sondern sie würde sicher auch eine gute Mutter für Julian sein. Nachdem Sandra und Sharon gegangen waren, schüttelte Deborah ihre Müdigkeit ab und schob zum zweitenmal an diesem Abend die Schranktüren zur Seite. Obwohl sie sich inzwischen von dem Schrecken erholt hatte, lief ihr dennoch eine Gänsehaut über den Rücken, als sie die Hand ausstreckte, um den Bügel mit dem weißen Ballkleid herauszunehmen. Sie wollte dieses Kleid unbedingt anziehen, nicht nur weil es ihr so gut stand und ihre schlanke Figur betonte. Sie wollte auch noch einmal die Erinnerung an den Tanz mit Juan zurückholen, der ihr unvergeßlich bleiben würde. Ihre Bewegungen hatten sich in vollkommener Harmonie den seinen angepaßt, bis sie glaubte, in einem Zustand der Schwerelosigkeit über das Parkett zu schweben. Damals hatte Juan ihren Körper und ihr Herz in Besitz genommen und sie so in Verwirrung gestürzt, daß sie ein leichtes und empfängliches Opfer für Stuarts Verdächtigungen wurde. „Heute abend ist die letzte Gelegenheit, Juan um Verzeihung zu bitten“, flüsterte Deborah, als sie nach einem erfrischenden Bad vor dem Spiegel saß und sich das Haar hochsteckte, damit die schmalen Schultern und der schlanke Hals richtig zur Geltung kamen. Da ihr Gesicht noch etwas blaß von dem gerade überstandenen Abenteuer war, legte sie ein wenig Rouge auf die Wangen und zog die Lippen mit einem zartrosa Stift nach. Schwarze Wimperntusche vervollständigte ihr Make-up. Ganz zum Schluß legte sie das silberne Kettchen mit der echten Perle an. Es war Juan zu verdanken, daß von Stuarts Zerstörungswut kein Kratzer mehr auf der schimmernden Oberfläche zu sehen war. Ich hätte schon sehr viel früher ahnen müssen, daß sich hinter Stuarts kindischem Racheakt ein Hang zur Grausamkeit verbirgt, dachte Deborah und fröstelte dabei, als sie an das schrille Lachen dachte, das Stuarts Schilderung von
Paulines Tod begleitet hatte. Plötzlich konnte Deborah nicht schnell genug das Turmzimmer verlassen, um die Gesellschaft der Familie Salvador und der Chandlers zu suchen. Die weiße Strickjacke aus flauschiger Angorawolle, die Deborah später auf dem Spaziergang zur Feuerstelle anziehen wollte, legte sie sich erst einmal über die Schultern, dann ging sie ins Erdgeschoß hinunter. Auf der letzten Stufe der breiten Treppe, die in der geräumigen Diele von Abbeywitch endete, wurde Deborah an eine andere Begebenheit mit Stuart erinnert. Er hatte sie zum Ball abgeholt und von ihrem gemeinsamen Ehrgeiz gesprochen, sich in der Familie Salvador einen festen Platz zu erobern. Auf ihn traf das natürlich auch zu, denn er hatte nichts unversucht gelassen, um sich die Gunst von Lenora zu erschleichen, was ihm durch seine Schauspielkünste bei Sandra schon lange vorher gelungen war. Deborah hatte zwar damals mit ihm nicht weiter darüber geredet und - seine Unterstellung als oberflächliche Schmeichelei abgetan, doch sie wußte bereits genau, daß ihr Ehrgeiz auf einem anderen Gebiet lag: Deborah wollte Karriere bei Columbine in London machen, und der Brief von Harrison Holt, in dem ihr der Verleger einen verantwortungsvollen Posten als Leiterin der Kinderbuchabteilung anbot, war eine Bestätigung dafür, daß sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Später, wenn sie die Spitze der Erfolgsleiter erreicht hatte, würde sie vielleicht mit einiger Gelassenheit auf die Zeit in Abbeywitch zurückblicken und sich sagen können, daß diese Episode in ihrem Leben auch ihr Gutes gehabt hatte. Im Augenblick merkte sie jedoch noch nichts von dieser Gelassenheit, und so erschrak sie auch, als Michael plötzlich aus einer Nische hervorkam. „Da sind Sie ja endlich, Deborah.“ Michael nahm ihre Hand und führte sie in den Speisesaal. „Wir haben uns auf die besonderen Umstände eingestellt und das Dinner in eine Mahlzeit mit Selbstbedienung umgewandelt“, erklärte er ihr und führte sie durch den Raum zu seiner Mutter, die sich mit einem Geistlichen unterhielt. „Vor dem Essen möchte ich Ihnen erst einmal Pater Restormel vorstellen, Deborah, der als Vertreter der Kirche zu uns gekommen ist, damit das Sonnenwendfeuer kein heidnischer Brauch bleibt.“ Als Deborah in die braunen Augen des Priesters sah, mußte sie unwillkürlich an Sandras Bemerkung über die Geisterbeschwörung denken, und sie fühlte sich plötzlich wesentlich ruhiger. „Ich habe gehört, daß Sie eine sehr mutige junge Frau sind“, sagte Pater Restormel. Er drückte Deborahs Hand und machte anschließend das Kreuzzeichen auf ihrer Stirn, so als sei es eine ganz natürliche Geste in dieser Situation. Seine freundlich blickenden Augen schienen ihr sagen zu wollen: „Vergiß das Böse, das Menschen manchmal zu schrecklichen Taten verleitet, und denk nur an das Gute in ihnen.“ Danach ließ sich Deborah von Sharon und Michael überreden, eine Scheibe Gänsebraten zu essen und ein Glas Champagner zu trinken. Während sie sich mit den beiden unterhielt – alle drei sprachen von ganz allgemeinen Dingen und vermieden es, den Namen Stuart Coltan zu erwähnen –, ertappte sich Deborah dabei, daß sie zur Tür blickte und sehnsüchtig darauf wartete, daß Juan hereinkam. Sie wußte, daß sie ihre Ruhe erst wiederfinden würde, wenn er ihr verziehen hatte. Der Holzstoß brannte schon fast eine halbe Stunde, als sich Juan endlich der Gruppe näherte, die sich um die hell auflodernden Flammen versammelt hatte. Es war Lenora, die ihren Stiefsohn zuerst entdeckte und ihn fragte, was alle Anwesenden gleichermaßen interessierte. „Was haben sie auf dem Festland mit Stuart Coltan gemacht?“ „Er sitzt in Untersuchungshaft, und gleich morgen früh beginnen die ersten
Verhöre“, berichtete Juan. „Das bedeutet, daß ich meine Abreise nach Spanien verschieben muß, denn man will mich als Zeugen vernehmen.“ Er wandte sich an Michael. „Tut mir leid, aber es wird sich bestimmt nicht vermeiden lassen, daß dabei schmerzhafte Wunden aufgerissen werden.“ „Wenigstens kennen wir jetzt endlich die Wahrheit“, sagte Michael ruhig und richtete seinen Blick auf Abbeywitch, das sich wie eine Festung gegen den dunklen Nachthimmel abhob. Deborah vermutete, daß er an seinen Sohn dachte, der hinter diesen Mauern in der Obhut von Nanny Rose ungestört schlief und erst sehr viel später erfahren würde, wie seine Mutter gestorben war. Bis dahin würde so viel Zeit vergehen, daß sich hoffentlich auch Michael nicht mehr an jede Einzelheit ihres grausamen Todes erinnerte. „Bitte folge mir, denn ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen“, flüsterte Juan plötzlich in ihr Ohr. Wie im Traum folgte ihm Deborah bis an den Rand der Klippen. Dort blieb Juan stehen und umschloß ihr Gesicht mit beiden Händen, so daß sie ihn ansehen mußte. Im Mondlicht wirkte seine Miene sehr ernst, doch die Augen blickten zärtlich. „Ich bin heute abend in dein Zimmer gekommen, um dir zu sagen, wie sehr ich dich begehre, querida mia.“ Er mußte sehr laut sprechen, um das Rauschen der Wellen zu übertönen, die tief unter ihnen gegen die Felsen am Ufer schlugen. „Wenn du mich aber nicht willst, werde ich mich bemühen, deine Entscheidung zu akzeptieren.“ „Du hast mir das Leben gerettet, Juan“, sagte Deborah verwirrt. „Ich will dich und nicht dein Mitleid“, rief er erregt. „Seit dem Tag, an dem wir uns begegnet sind, wissen wir beide von dem leidenschaftlichen Feuer, das in uns brennt und niemals zu löschen ist, auch wenn wir uns nach den Gerichtsverhandlungen trennen und jeder seinen Weg geht.“ „Ja, es ist eine große Leidenschaft“, gab Deborah zu. „Aber ist es auch Liebe?“ Vorsichtig löste Juan die Spangen und Kämme aus ihrem Haar, bis es in weichen Wellen über ihre Schultern fiel. „Da du es unbedingt in Worten ausgedrückt haben möchtest, hör mir bitte jetzt genau zu: Ich liebe dein Haar, wenn es im Wind weht. Ich liebe deinen schlanken, geschmeidigen Körper, ganz besonders in diesem weißen Kleid, und ich liebe es, deine weiche Haut zu berühren. Ich bewundere deinen wachen Geist, deinen Humor und die Art, wie du das verteidigst, was dir am Herzen liegt.“ Er zog sie in seine Arme und hielt sie ganz fest. „Und ich bin sehr einsam und allein, wenn du nicht bei mir bist, Deborah“, flüsterte er. „Dann hast du mir also verziehen?“ fragte Deborah leise. Alles, was Juan ihr gerade gesagt hatte und durch seine innige Umarmung noch zusätzlich ausdrückte, erschien ihr wie ein unwirklicher, wunderbarer Traum. „Verziehen schon – was nicht bedeutet, daß du deiner Bestrafung entgehst, weil du mir so etwas Furchtbares zugetraut hast.“ Voll Verlangen erwiderte Deborah seinen leidenschaftlichen Kuß, der die süßeste Strafe war, die sie sich hatte vorstellen können. Sie wußte jetzt mit untrüglicher Gewißheit, daß sie zu Juan gehörte. Es machte Deborah jedoch ein wenig traurig, wenn sie daran dachte, daß durch ihr Glück andere leiden mußten. Oder war es möglich, daß Juan seinem Bruder und dem Rest der Familie gestattete, weiterhin in Abbeywitch zu wohnen? „Du hattest recht mit deiner Behauptung, daß die Verantwortung für die Insel Lovelis und Abbeywitch eine Belastung für mich sei“, hörte sie Juan jetzt sagen. Wieder einmal schien er ihre Gedanken lesen zu können. „Ich möchte mich in Zukunft hauptsächlich nur darum kümmern, dich glücklich zu machen, querida mia. Deshalb habe ich beschlossen, den gesamten Besitz an Michael abzutreten,
der ja gewissermaßen schon ein Teil von Abbeywitch ist. Viel mehr, als ich es jemals war, denn ich gehöre nach Spanien. Andalusien ist der einzige Ort auf der Welt, wo ich mit meiner Frau leben möchte und mit ihr eine Familie gründen will. Wirst du mir dorthin folgen, mein Liebling?“ Sie streichelte zärtlich seine Wangen. „Wie großzügig von dir, auf dein Recht als Erstgeborener zu verzichten, Juan.“ „Eigentlich wurde ich erst an jenem Tag geboren, als ich eine schamlose junge Engländerin im Evaskostüm am Strand liegen sah…“ „Wirst du mir das ewig vorhalten?“ „Ich habe nicht die Absicht, es jemals zu vergessen.“ „In diesem Fall werde ich mich entschließen, den Posten als Leiterin der Kinderbuchabteilung bei Columbine anzunehmen, Senor“, sagte Deborah mit gespielter Überheblichkeit. „Ich bin überzeugt, daß du dich hervorragend dafür eignest, aber was wird dann aus mir? Zähle ich denn überhaupt nicht?“ Deborah seufzte glücklich. „O doch, mein Liebster, mehr als alles und jeder auf dieser Welt.“ Sie schmiegte sich an ihn, und eng umschlungen genossen die beiden Liebenden den geheimnisvollen Zauber der Sonnenwendnacht. - ENDE -