Arthur 1973
Janov
The
Feeling Child Aus dem Amerikanischen von Willi Köhler
Das
Revolution der Psyche
1972
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Arthur 1973
Janov
The
Feeling Child Aus dem Amerikanischen von Willi Köhler
Das
Revolution der Psyche
1972
Gefangen im
befreite
Schmerz
1980
Der neue Urschrei 1991
Kind
Mehr Janov Maaz
Grundsätze einer primär-
Miller
Peglau
Home
therapeutischen Erziehung
Arthur Janov, zunächst Psychotherapeut Freudscher Richtung, entwickelte 1967 – nach siebzehnjähriger Praxis als Therapeut an verschiedenen psychiatrischen Kliniken und als Berater in Fragen kindlicher Verhaltensstörungen – seine als revolutionär geltende Urschreioder Primartherapie. Die in seinem ersten, weithin beachteten Buch »Der Urschrei« (sechste Auflage 1974) dargestellte neue Technik psychotherapeutischer Behandlung erhielt mit der »Anatomie der Neurose« (zweite Auflage 1974) die wissenschaftlich-theoretische Grundlage. Janov gründete 1970 in Los Angeles das
»Primal Institute«, das inzwischen eine große Zahl psychisch Kranker erfolgreich behandelt hat. In seinem Institut bildet Janov Therapeuten aus aller Welt aus.
Ausgehend von mehrjährigen Erfahrungen bei der primärtherapeutischen Behandlung von Erwachsenen, sucht Arthur Janov in dem vorliegenden Buch nachzuweisen, daß psychische Störungen und Verhaltensabweichungen in vielen Fällen auf heute weithin übliche Praktiken der Kinderpflege und -erziehung zurückzuführen sind. Der Begründer der Urschrei- oder Primärtherapie führt eine Vielfalt eigener Beobachtungen und Forschungsergebnisse anderer Wissenschaftler ins Feld, um die sich konsequent aus seiner Theorie ergebende These zu stützen, daß ein Kind bereits vor der Geburt traumatische Schädigungen – etwa durch Rauchen oder falsche Ernährung der Mutter – davontragen kann, die bei Fortdauer widriger Lebensumstände zwangsläufig psychische Störungen zur Folge haben müssen. Nach Janov führen Schmerz und daraus resultierende Angst, auch wenn sie vom Kind begrifflich-rational noch nicht erfaßt werden können, zu Spannungszuständen oder – mit einem von Janov geprägten Begriff – Überlastungen im Organismus, die sich später unter Umständen in Störungen der verschiedensten Art, nicht nur psychischen, äußern können. Dem mit einer Fülle von Beobachtungen und wissenschaftlichen Befunden vorgetragenen Argument, der Aufenthalt im Mutterleib, die Umstände der Geburt und die Erfahrungen während der ersten sechs Lebensmonate seien für die kindliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung, wird sich auch der skeptische Leser kaum entziehen können. Doch Janov hält sich nicht nur bei Erklärungsversuchen für kindliche Entwicklungsstörungen auf, er weist nicht nur auf schädigende Einflüsse zumeist unbefragter Erziehungs- und Sozialisationspraktiken hin – er regt die Eltern auch zu Verhaltensänderungen an, gibt Hinweise, wie man den Bedürfnissen des Kindes im Ablauf der verschiedenen Entwicklungsphasen gerecht werden kann und veranschaulicht in der zweiten Hälfte des Buches, etwa in den Protokollen über Sitzungen mit primärtherapeutisch behandelten Eltern, die verschiedensten alltäglichen Probleme im Umgang mit Kindern.
Mit seiner Hauptforderung, das Kind sich so entwickeln zu lassen, wie es seinen Bedürfnissen entspricht, gehört Janov zweifellos zu den Verfechtern einer repressionsfreien Erziehung. Darüber hinaus stellt sein Buch einen wichtigen Beitrag zu der bisher ungelösten Aufgabe der Neurosenverhütung dar.
A u s d e m A me r i k a n i s c h e n v o n W i l l i K ö h l e r © 1 9 7 3 b y A r th u r J a n o v D i e a me r i k a n i s c h e O r i g i n a l a u s g a b e e r s c h i e n u n t e r d e m T i t e l »T h e F e e l i n g C h i l d « b e i S imo n a n d S c h u s te r , N e w Y o r k D e u ts c h e A u s g a b e : © S . F is c h e r V e r la g G mb H , F r a n k f u r t a m Ma in 1 9 7 4 U ms c h la g n a c h e in e m E n tw u r f v o n K la u s J a n o r s c h k e
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S a tz u n d D r u c k
G e o r g W a g n e r , N ö r d lin g e n E in b a n d H a n s K lo tz , A u g s b u r g
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P r in te d in G e r ma n y 1 9 7 5 #
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100367030
Für Rick und Ellen und für die größte unterdrückte Minderheit der Welt – die Kinder
Danksagung Ich möchte meiner bibliothekarischen Mitarbeiterin Barbara McAlpine danken: sie hat für meine Arbeit viele Stunden darauf verwandt, unklare Literaturangaben nachzuprüfen, sie hat mich auf spezielle Artikel aufmerksam gemacht und war mir überhaupt
eine große Hilfe bei der Suche nach relevantem Material für das vorliegende und meine früheren Bücher. Mein besonderer Dank gilt meiner Sekretärin und Freundin Janet Seefeld, die dieses Buch im wortwörtlichen Sinne zusammengestellt hat. Schließlich möchte ich meiner Frau Vivian danken, meiner wichtigsten Kritikerin und Lektorin. A. J.
Inhalt Einführung 9
1. Gründe für den Wunsch nach Kindern 1 5 2. Das intrauterine Leben 2 0 # H e l e n 3 1 3. Geburtswehen und Entbindung 3 5 # K a i s e r s c h n i t t 3 7 # Madelyn 42
4. Das Urerlebnis der Geburt
44
# Brian 48 #
Prototypisches Geburtstrauma 53 # Jeff 54 # Anita 59 # Kenneth 82 # Zusammenfassung 91
5. Nach der Geburt 9 3
# Fred 98 # Ronald 100 # Louise
104
6. Stillen 1 0 7 #
Evelyn 113
7. Die Bedürfnisse 1 1 7 # O r a l i t ä t 1 1 7 # P s y c h i s c h e u n d physische Bewegung 123 # Das Bedürfnis nach Stimulierung 131 # Körperkontakt 132 # Kritische Perioden 136
8. Die innere Umwelt 1 4 0 # D e r H o r m o n o s t a t 1 4 8 9. Langfristige Auswirkungen früher Erfahrung 1 6 3 10.Körperliche und psychische Bedürfnisse 1 6 8 11.Bedeutung der Forschung für den Menschen 1 7 4 # Beth 182
12.Kindliche Sexualität 1 8 6
# Inzest 189 # Nancy 191
13.Kindliche Ängste - bei Tag und bei Nacht 1 9 4 # Angst vor Wünschen 200
14.Elterliche Bedürfnisse
204
# Elternrolle 217 # Das
kindliche Bemühen 219 # Schlußfolgerungen 224
15.Was ich von meinen Kindern lerne
238 von Vivian
Janov
16.Ricks Kinobesuch 2 4 8 17.Primärtherapeutisch behandelte Familien 2 5 3 Anhang A: Dorothy 317 #
Anhang B: Richard 321
#
Anhang C:
Körpererinnerungen 326 Namenregister 331
Einführung
E in Buch sollte grundsätzlich für sich selbst sprechen; es sollte aus sich heraus verständlich sein und nicht zu sehr auf andere Arbeiten Bezug nehmen. Ich denke, dieses Buch kann für sich selbst sprechen, doch der Leser sollte sich klarmachen, daß es auf der Primärtheorie beruht; eine gründliche Kenntnis dieser in Der Urschrei im einzelnen dargelegten Theorie könnte als Einführung von Nutzen sein. Das Buch ist Ergebnis der Beobachtung von Patienten, die ihre Kindheit wiedererleben. Ihre Gefühle und Erfahrungen lassen uns erkennen, auf wie vielfältige Art und Weise Eltern ihre Kinder schädigen und sie zu Neurotikern machen können. Vielleicht können wir durch ihr Leid lernen, wie wir anderen Kindern Leid ersparen können. Das Buch will dazu
beitragen, kindliches Leid zu verhindern. Wir können Eltern schlechterdings nicht dazu anhalten, noch einmal und diesmal besser zu tun, was sie mit ihren Kindern getan haben, doch wir können jenen Eltern Richtlinien anbieten, die mit ihren Kindern nicht zurechtkommen. Nach Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur habe ich die Ergebnisse der Lektüre mit meinen eigenen Beobachtungen vereint und bin so zu gewissen Schlußfolgerungen über die Erziehung von Kindern gelangt. Die Grundlage bilden jene Erfahrungen und Einsichten, die Patienten im Verlauf der Primärtherapie über ihre Jugend gewonnen haben. Jede weitere Forschung kann nur ergänzen, was diese Patienten über die Kindheit kennenlernen, wenn sie in der Therapie das von Gefühlen erfüllte Kind werden, das zu sein ihnen niemals vergönnt war. In dem vorliegenden Buch verwende ich durchgängig den Begriff »Urerlebnis« oder »Primal«. Damit meine ich die vollständige Wiederbelebung früherer Erfahrungen im Verlauf der Primärtherapie. Ein Urerlebnis ist ein schmerzliches Wiedererleben, häufig eine qualvolle Erfahrung, die den Patienten erlaubt, zu Gefühlen zurückzufinden, die sie nicht zu empfinden wagten in einer Zeit, in der sie noch zu jung, zu schwach waren, um den Schmerz ertragen zu können. Sie fühlen jetzt, in der Therapie, den Haß ihrer Eltern, ihre Gleichgültigkeit und Gefühlskälte. Sie empfinden die schreckliche Angst, zur Schule geschickt, allein einer Operation ausgeliefert, von 9
einem Elternteil verlassen, vom Streit der Eltern hin und hergerissen zu werden oder im Kinderbett ihre Gefühle nur durch Weinen und Schreien äußern zu können. Sie haben wie niemals
zuvor das Bedürfnis, an der Mutterbrust zu saugen. Kurz, sie fühlen erst jetzt die Schmerzen, die sich zeit ihres Lebens in ihrem Körper anstauten, Spannungen erzeugten und folglich zu Symptomen führten. Jedes Urerlebnis bildet ein weiteres Mosaiksteinchen im Gesamtbild der Elternschaft und läßt uns erkennen, was wir tun sollen, was nicht, was wir vermeiden, fördern, sagen oder ungesagt lassen sollen. Nach Tausenden von Urerlebnissen besteht unser Bild von der Elternschaft aus so vielen Einzelelementen, daß es schier unmöglich erscheint, mit Kindern richtig umzugehen; und es mag durchaus unmöglich sein. Der einzig wahre Schutz des Kindes liegt in der psychischen Gesundheit seiner Eltern. Nach unserem Verständnis heißt dies, daß die Eltern selbst von Urschmerzen frei sein müssen. Aufgrund unserer Untersuchungen wissen wir, daß es ein »fühlendes Gehirn« und ein »denkendes Gehirn« gibt. Der denkende Teil des Gehirns kann den fühlenden Teil nur geringfügig kontrollieren, vor allem wenn der fühlende Teil von Schmerzen überschwemmt wird. Vorträge und Anleitungen für neurotische Eltern führen in der Praxis gewöhnlich nicht zu tiefgreifenden Änderungen in der Kinderbehandlung, doch sie können in einigen Fällen hilfreich sein. Dieses Buch ist kein »Anleitungs«-Buch im herkömmlichen Sinne; solche Bücher sind bereits Legion. Anleitungen sind problematisch, weil man für jede Gelegenheit eine spezielle Verhaltensregel aufstellen muß, um bestimmte Wirkungen erzielen zu können, und weil Anleitungsbücher lediglich zwanghafte Menschen ansprechen, Menschen, deren Schwierigkeit darin besteht, daß sie nach Regeln leben anstatt nach Gefühlen. Eltern behandeln Kinder entsprechend ihren eigenen verborgenen Gefühlen, und nur fühlende Eltern vermögen zu spüren, was in den jeweiligen Situationen für Kinder gut und richtig ist. Es ließe sich nun einwenden: Wenn falsches Wissen
über Kindererziehung, wie ältere Handbücher es vermitteln, Schaden anrichten kann, dann muß folglich richtiges Wissen eine Hilfe darstellen. Leider stimmt dies nicht unbedingt. Die falschen Informationen in jenen besagten älteren Büchern entstammten einer neurotischen Auffassung von menschlicher Entwicklung, sie entsprachen allgemeinen neurotischen Vorstellungen (schreiende Kinder sollen nicht auf den Arm genommen, Säuglinge nach einem genau 10
einzuhaltenden Zeitplan abgefüttert werden usw.) und wurden mithin nur zu bereitwillig übernommen. Aus der Primärtheorie gewonnene Einsichten widersprechen jenen neurotischen Vorstellungen, und daher finden sie nicht so leicht Zustimmung. In früheren Jahrzehnten herrschte allgemein die Auffassung vor, in einer kalten, bedrückenden Welt dürften Kinder nicht verwöhnt und verzärtelt werden, um sie nicht unvorbereitet in diese Welt zu entlassen. Daher betonten jene Handbücher über Kindererziehung, es sei dringend notwendig, Kinder nicht zu verwöhnen, sie nicht gewähren zu lassen — mit anderen Worten, sich klarzumachen, daß Charakterbildung ein mühsames, mit vielen Anstrengungen verbundenes Geschäft sei. Das Familienleben war geprägt von der mythischen Vorstellung erzieherischer Härte. Die Primärtherapie hingegen hat deutlich gemacht, daß Kinder nicht verwöhnt werden können, sondern daß der Mangel an angemessener Bedürfnisbefriedigung »verwöhntes«, übermäßig anspruchsvolles Verhalten geradezu erzeugt. Für jene von uns, die mit Härte erzogen wurden, die dem Glauben anhängen, Kampf forme den Charakter, sind Milde und Nachsicht Begriffe, mit denen man sich nur schwer befreunden kann.
Ein Kind ist zur Neurose verurteilt, wenn seine Eltern neurotisch sind. Ich erwarte keineswegs, daß die in dem vorliegenden Buch entwickelten Richtlinien die Neurosen von Eltern außer Kraft setzen können. Dennoch bin ich der Meinung, daß Eltern eine Menge für ihre Kinder tun können. Eltern sollten wissen, daß schreiende Säuglinge auf den Arm genommen werden und nicht nach dem Motto »Es wird sich schon ausschreien« ihrem ungestillten Bedürfnis überlassen bleiben sollen. Es ist nicht nötig, daß Eltern ihre Neurose überwinden, wenn es darum geht, ein Kind, das sich verletzt hat, zu trösten. Im folgenden werde ich die Entwicklung des Kindes von der Empfängnis bis zum Erwachsenenalter verfolgen und die neurotisierenden Umstände jeder Entwicklungsstufe beschreiben. Besonderes Gewicht lege ich auf die Entwicklung des Kindes in der Gebärmutter, im Uterus, und auf die Begleitumstände bei der Geburt; diese Themenbereiche werden in der Diskussion über Kindererziehung vernachlässigt. Ich will damit sagen, daß der Keim einer Neurose durchaus vor der Geburt gelegt werden kann, daß die Erfahrungen des Fötus im Mutterleib genauso wichtig, wenn nicht wichtiger sein können als die anschließenden sozialen Erlebnisfaktoren. Die kindliche Neurose hat ihren Ursprung in der Psyche der Eltern, das heißt 11
in den Gründen, warum er oder sie ein Kind wünschen. In einigen Fällen handelt es sich um den Wunsch, zum erstenmal im Leben jemanden ganz für sich zu besitzen. In anderen Fällen soll das Kind die Weiblichkeit oder Männlichkeit des jeweiligen Elternteils bestätigen. Welche Gründe auch immer für den Wunsch bestehen, ein Kind zu haben, sie legen im voraus fest, wie das Kind von dem Tag an, da es das Licht der Welt erblickt, behandelt wird.
Im allgemeinen formen die Eltern ihr Kind, machen es entweder krank oder verhelfen ihm zum Wohlbefinden. Doch auch andere Umstände können zu Störungen führen. Angenommen, ein Kind wird mit einem Sehfehler geboren und dann von neurotischen Kindern als »Brillenschlange« gehänselt. Solche Hänseleien müssen das Kind empfindlich treffen, vielleicht nicht in dem Maße wie Spötteleien seitens der Eltern; aber es sind Lebenserfahrungen, die das Kind in die Neurose treiben können. Doch nicht isolierte Erfahrungen rufen Neurosen hervor, sondern die Anhäufung und die Belastung durch eine Folge schlimmer Erfahrungen. Hinzu kommt das tagtägliche Zusammenleben mit Eltern, die dem Kind Schmerzen zufügen, die es feindselig, gleichgültig oder offen ablehnend behandeln. Nachdem ich die dramatischen Veränderungen bei Kindern erlebt habe, deren Eltern sich einer Primärtherapie unterzogen, bin ich fest davon überzeugt, daß diese Therapie der einzige Weg ist, Kindern eine Lebenschance einzuräumen. Wir haben Experten für Kindererziehung, Verfasser von Büchern über den Umgang mit Kindern behandelt; all ihr Wissen vermochte ihnen nicht dabei zu helfen, gute Eltern zu sein, solange es ihnen nicht gelang, mit ihren eigenen Bedürfnissen und Spannungen fertig zu werden. Primärtherapeutisch behandelte Eltern brauchen keine Anleitungen. Sie haben nachträglich intensiv gefühlt, was ihre Eltern ihnen angetan haben, und sie wissen, was sie ihren Kindern nicht antun dürfen. Wer niemals die überwältigenden Schmerzen empfunden hat, die ihm die eigenen Eltern zugefügt haben, der kann auch niemals wissen, wie er seine eigenen Kinder vor Krankheiten und Störungen bewahren soll. Gefühle sind Reaktionen auf die Eltern wie auf das Kind. Fühlende Eltern handeln richtig aufgrund ihres Kindes, ein fühlendes Kind handelt richtig aufgrund seiner selbst.
12
Für einen Philosophen ist es weit einfacher, einem anderen Philosophen einen neuen Gedanken zu erklären als einem Kind. Warum? Weil das Kind die richtigen Fragen stellt ... Jean Paul Sartre in einem Interview mit John Gerassi in Le Monde, Oktober 1971
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4 Das Urerlebnis der Geburt
U nsere Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Geburtstrauma und späterer Neurose basieren auf Beobachtungen, auf Tonbandaufzeichnungen und Filmen von zahlreichen Geburtsprimals in der Primärtherapie.* Ein Patient mag etwa die Erfahrung von Hilflosigkeit wiedererleben, die er als Siebenjähriger in der Schulzeit gemacht hat, und während der Therapie plötzlich ein mit dem Gefühl von Hilflosigkeit einhergehendes Geburtsprimal haben. Dieses frühe Urerlebnis sagt uns vieles über seine späteren Reaktionen auf bestimmte Situationen und darüber, ob seine Reaktionen neurotisch sein werden oder nicht. Geburtsprimals beweisen uns die Richtigkeit der These, daß ein frühes körperliches Trauma das spätere Allgemeinverhalten nachhaltig beeinflußt. Ich betone die Bedeutung des Geburtstraumas nicht deshalb, weil ich der Meinung bin, daß dieses Trauma allein Neurosen »verursacht«, sondern weil wir vor dem Hintergrund von Geburtsprimals verstehen können, warum diese Traumata entscheidend zur Anhäufung innerer Spannungen beitragen. Ihr Einfluß auf die Neurosenbildung ist weit größer, als wir vorher vermutet hatten. Dieser Einfluß ist keine »Theorie«, die ich mir zurechtgelegt hätte, sondern basiert auf der Erfahrung, daß es viele therapeutische Urerlebnisse braucht, um dieses eine Trauma aufzulösen und seine Folgen zu beseitigen. Das Ausmaß der mit den Geburtstraumata
1 Gründe für den Wunsch nach Kindern
D ie Weichen für die künftige Behandlung eines Kindes können bereits vor der Geburt, das heißt im Stadium des Wunsches nach einem Kind gestellt werden. Wenn eine Mutter sich nach einer von Wärme und Liebe erfüllten Familie sehnt, einer Familie, die sie selbst nie gekannt hat, dann mag sie an das Kind die Hoffnung knüpfen, es werde ihr zu einer solchen Wunschfamilie verhelfen. Wenn das Kind dann später eigene Wege geht, unabhängig sein möchte, etwa die Schule besucht oder heiraten will, dann könnte eine solche Mutter dies als eine unbewußte Bedrohung empfinden. Denn unbewußt steht diese Mutter unter dem Eindruck des alten Gefühls, keine eigene, richtige Familie zu haben, eines Gefühls, das so schmerzlich ist, daß es vom Bewußtsein ferngehalten werden muß. Jedes Zeichen von Unabhängigkeit auf Seiten des Kindes, jedes Verhalten, das zu bedeuten scheint, es brauche die »Mamma« nicht mehr, ruft in der Mutter zunächst eine vage Spannung hervor und führt dann zu einem Abwehrverhalten, mit dem das Urgefühl verdrängt werden soll. Sie wird ihre Zuflucht zu Rationalisierungen nehmen, wenn sie erklären soll, warum ihr Sohn nicht fortgehen darf, warum sie ihn braucht usw.
Aus den gleichen Ur-Gründen wird eine solche Mutter Wutäußerungen der Kinder ihr gegenüber nicht dulden. Sie wird die Freunde ihres Sohnes schlechtmachen, weil sie ihre Position bedrohen, ihre Wunschvorstellung antasten, ihr Sohn liebe nur sie, sie ganz allein. Kurz, die Mutter agiert gegen ein altes qualvolles Gefühl, das sie nie ertragen konnte, noch heute ertragen kann. Um dem Schmerz zu entgehen, manipuliert sie beständig ihr gegenwärtiges Leben. Sie kann nicht aufrichtig zu ihren Kindern sein, denn sie stellt sie in den Dienst ihrer Bedürfnisse. Das Ausagieren verleugneter schmerzlicher Gefühle macht das Wesen der Neurose aus; darum führe ich den Begriff hier ein. Jeder Neurotiker zeigt ein solches Verhalten. Kinder zu haben, bietet Neurotikern eine von vielen Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse auszuagieren. Es gibt eine Unzahl neurotischer Gründe für den Wunsch nach Kindern, bei denen es nicht darum geht, ein neues menschliches Wesen zu zeugen. 15
Für den neurotischen Kinderwunsch besteht einer der Hauptgründe darin, einen Menschen in die Welt zu setzen, der Liebe geben soll und den ein Elternteil oder beide ganz für sich besitzen wollen. Ein Mensch, der in einer großen Familie aufgewachsen ist, der praktisch keine Aufmerksamkeit oder Zuneigung erfahren hat, kann den zwanghaften Wunsch verspüren, von seinem Kind vollständig Besitz zu ergreifen. Der Wert des Kindes bemißt sich dann daran, inwieweit es den Eltern das Gefühl vermittelt, geliebt zu werden. Doch wie gesagt, dieser Vorgang ist nicht bewußt. Der betroffene Elternteil kann bereits bei gelegentlicher Gleichgültigkeit des Kindes in Unruhe geraten und sich zu einem unangemessenen
Wutausbruch hinreißen lassen, wenn das Kind seine Aufmerksamkeit von ihm abwendet. Die Wut neurotischer Eltern mag sich in Aufforderungen äußern wie: »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!« Die emotionale Überreaktion (Wut in diesem Falle) ist ein altes Gefühl, das die betreffenden Eltern ihren eigenen Eltern gegenüber empfunden haben, ein Gefühl, das der Verdrängung unterliegt und das sich nun in unangebrachter Weise Luft macht. Die verleugnete große Wut gilt der gleichgültigen Behandlung. Jede spätere gleichgültige Behandlung löst dieses Urgefühl und gleichermaßen auch die verdrängte alte Reaktion aus.
Schauen wir uns die Kompliziertheit dieses Vorgangs genauer an! Eine von uns behandelte Patientin hatte eine so rasende Wut darüber, daß ihre Mutter sie vernachlässigte, daß sie ihr den Tod wünschte. Vor diesem Gefühl empfand das Kind jedoch eine solche Angst, daß es den Todeswunsch aus dem Bewußtsein verdrängte und stattdessen Kopfschmerzen bekam. Jedesmal nun, wenn die Patientin in ihrem späteren Leben sich gleichgültig behandelt fühlte, hatte sie sofort unerklärliche Kopfschmerzen. Den Grund für ihre Schmerzen kannte sie nicht; sie wußte nicht, daß sie sich geringschätzig behandelt fühlte, und wußte erst recht nicht, daß sie den Wunsch verdrängte, der Mensch, der sie kränkte, möge sterben. Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich um einen unbewußten neurologischen Vorgang, der ohne Einschaltung des Bewußtseins ablief. Mit anderen Worten, es war ein alter Primärvorgang, der schließlich in der Primärtherapie aufgedeckt wurde: unter Schreien und krampfartigen Wutanfällen brach aus der Patientin der Wunsch hervor, ihre Mutter möge sterben. Dieser Ausbruch wurde dadurch ausgelöst, daß die Tochter der Patientin ihrer Mutter nicht die gewünschte Aufmerksamkeit entgegengebracht hatte.
Wir erkennen an dieser Fallgeschichte, welche Auswirkungen neuro16
tische Reaktionen auf das unschuldige Verhalten von Kindern haben können. Kinder haben ziemlich früh ein feines Gespür für neurotische Verhaltensweisen und lernen mit der Zeit, wie sie sich vor der elterlichen Ur-Wut schützen können. Sie gehen in Deckung, suchen die Eltern zu beschwichtigen, verhalten sich ruhig und sind aufmerksam. Sie werden neurotisch, weil ihre Eltern neurotisch sind. Das Kind wird in eine starre Verhaltensform gepreßt, denn die ungelösten Primärgefühle der Eltern rufen im Laufe der Zeit bei ihm die gleichen neurotischen Reaktionen hervor. Es muß dann über Jahre hin immer die gleichen Beschwichtigungsversuche unternehmen. Wenn die Mutter das Kind braucht, um sich geliebt zu fühlen, dann kann daraus eine Art geheimer Verschwörung gegen den Vater entstehen. Auf subtile Weise entwertet die Mutter den Vater, um auf diese Weise zu erreichen, daß das Kind ausschließlich sie liebt. Die Mutter wendet damit einen höchst wirksamen neurotischen Mechanismus an, gegen den das Kind sich nicht zur Wehr setzen kann. Hilflose Kinder lassen sich leicht in eine solche Lage drängen. Sätze wie »Hans ist ein so lieber Junge, er kann gar nicht genug für mich tun« haben schlimme Folgen, denn sie sind wortwörtlich so gemeint —: Hans wird nämlich niemals in der Lage sein, genug für seine Mutter zu tun, denn er müßte sie für die Entbehrungen ihres ganzen Lebens entschädigen. Hinter dem Kinderwunsch kann auch das Motiv stehen, eine gestörte Ehe zu kitten. Dies trifft vor allem auf Frauen zu, die ihre Ehemänner um jeden Preis an sich binden wollen. In diesem Fall ist das Kind sozusagen das letzte Mittel. Bei ihren Bemühungen um den Mann benutzt die Mutter das Kind als eine
Art Faustpfand. Über kurz oder lang wird es bittend und bettelnd zwischen den streitenden Eltern zu vermitteln suchen. Schon bald wird es sich für ihr Glück und für ihr Unglück verantwortlich fühlen. Die Grundstimmung der Eltern, etwa Traurigkeit, weckt in dem Kind automatisch das Gefühl, es müsse dazu beitragen, die Stimmung zu verbessern und aufzuhellen. Bei melancholischen Eltern sind Ratschläge über Kindererziehung nutzlos, solange sie im Umgang mit ihrem Kind – mögen sie sich auch noch so nach »Vorschrift« verhalten – nur Schwermut zum Ausdruck bringen. Natürlich gibt es auch ungewollte, zufällige Schwangerschaften, die zur Folge haben, daß die Eltern ihr Kind von Anfang an ablehnen. Vom Zeitpunkt der Geburt an empfinden solche Eltern, selbst noch Kinder, die lediglich ihren Spaß haben wollen, ihr Kind als aufdringliche Belästigung und verhalten sich entsprechend. Das 17
Kind wird geschlagen, wenn es die Eltern durch Schreien stört, es wird gewaltsam zur Ruhe gebracht und muß unter vielen Mühen sein Recht auf Existenz verteidigen. Es leidet unter der Gereiztheit seiner Eltern, einer Gereiztheit, wie sie gewöhnlich junge Menschen an den Tag legen, denen es so sehr an Liebe fehlt, daß sie jede Rücksicht in den Wind schlagen, sobald sie die fehlende Liebe in der Sexualität zu finden glauben. Die Gründe für den Kinderwunsch sind so zahlreich wie die neurotischen Störungen selbst. Ein Mann, der Zweifel an seiner Männlichkeit hegt, mag sich ein Kind, vor allem einen Jungen, wünschen, um seine Männlichkeit zu beweisen. Wenn sein Kind Angst zeigt, gerät sein übersteigertes Bild von Männlichkeit in Gefahr, und das führt ihn dazu, die kindliche Angst zu
unterdrücken. Eine Frau mag sich Kinder wünschen, um ihre Weiblichkeit bestätigt zu finden oder sich zumindest nicht unfruchtbar zu fühlen. Unter Umständen möchte sie dennoch weiterhin Partys, Nachtklubs und Geselligkeiten aufsuchen, um sich in ihrer weiblichen Attraktivität bekräftigt zu fühlen. In diesem Fall wäre der Wunsch nach einem Kind nur ein Trick in einem neurotischen Spiel: es kommt ihr nicht in den Sinn, daß sie mit dem Kind ein neues, von Bedürfnissen erfülltes menschliches Wesen in die Welt setzt. Aus dem gleichen Grund, der in ihr den Wunsch nach einem Kind weckte, ist sie später eine nachlässige, lieblose Mutter – um hübsch, attraktiv und »weiblich« zu sein. Neurotiker haben eine Abneigung dagegen, ständig für jemanden da zu sein, für ihn zu sorgen. In Wirklichkeit sind sie Kinder, die sich danach sehnen, umhegt und umsorgt zu werden. Für solche Menschen ist der Wunsch nach einem Kind mit Phantasien besetzt. Die Frau sieht nur die Sorge und Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht werden, solange sie schwanger ist. Auch mag ihr das Kind als einziges Mittel erscheinen, sich eines Mannes zu versichern, der bei ihr bleibt, um sie zu umhegen und anzuleiten. Solche Eltern begreifen nicht, daß ein Säugling totales Bedürfnis und totaler Anspruch ist. Kein Wunder, daß diese Eltern schon bald nach der Geburt des Kindes fast ständig gereizt und erregt sind, weil sie aus Rücksicht auf ihr Kind ihre eigenen Wünsche stärker zurückstellen müssen. Wenn das Kind weint und schreit, stellt sich bei den Eltern automatisch der Wunsch ein, das Schreien und die Forderungen des Kindes zu unterdrücken. Sie nehmen sich nicht die notwendige Zeit, die Bedürfnisse des Säuglings zu befriedigen. Wenn Eltern die kindlichen Bedürfnisse nicht befriedigen können, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sie zu unterdrücken. Das läßt sich folgender18
maßen erklären: Als Kinder mußten diese Eltern selbst ihre unbefriedigten und daher unerträglichen Wünsche aus dem Bewußtsein verdrängen. Später können sie aufgrund der Verdrängungen auch die Bedürfnisse ihrer eigenen Kinder nicht wahrnehmen. Das fortwährende Weinen und Schreien des Säuglings (ein Zeichen von Bedürfnissen) wird von den Eltern als unerträglich empfunden und folglich unterdrückt. Ihnen stehen viele Möglichkeiten zur Verfügung, das Weinen von Kindern zu unterdrücken, zum Beispiel: Ablenkung durch Rasseln, Geräusche verschiedenster Art, Spiele usw.. Auch kräftiges Schütteln, eine brutalere Methode, bietet sich an. Das Ergebnis ist in jedem Fall das gleiche. Der entscheidende Punkt ist, daß die Gründe für den Kinderwunsch, die wir uns einreden, häufig nicht mit den unbewußten Motiven übereinstimmen. Diese Motive sind ihrerseits Bedürfnisse, allerdings unbewußte, weil sie verschüttet wurden. Ein Kind wird vom Tag seiner Geburt an in diese unbewußten Bedürfnisse einbezogen, denn sie sind bei den Eltern selbst vom Tag ihrer Geburt an vorhanden. Einer der allgemein üblichen Gründe dafür, daß Menschen Kinder haben, ist ihre Furcht vor der Endgültigkeit des Todes. Sie sind auf das Gefühl angewiesen, daß ein Teil ihres Selbst in der Zeit nach dem Tode weiterleben wird; entweder sie machen sich eine Vorstellung von einem Danach oder sie erschaffen sich dieses Danach mit Hilfe eines Kindes. Der Gedanke, nichts zu besitzen, was überdauert, bedeutet, den Tod als das Ende der Existenz zu akzeptieren. Ohne Frage ist eine der besten Methoden zu vermeiden, daß unerwünschte (mithin neurotische) Kinder in die Welt gesetzt werden, die Verhütung unerwünschter Schwangerschaft. Die Frau erreicht dies am besten dadurch, wenn sie ihrem eigenen Innern gegenüber aufgeschlossen ist und mit Überlegung
empfängnisverhütende Mittel verwendet. Primärtherapeutisch behandelte Frauen spüren den Augenblick, da die Ovulation (Eiausstoßung) beginnt; sie werden nicht von einer Schwangerschaft überrascht, wie es gelegentlich bei neurotischen Frauen geschieht. Eine ausgeglichene Frau hat kein übersteigertes Liebesbedürfnis und wird kaum dazu neigen, die Sexualität zwanghaft auszuagieren. Eine ausgeglichene Frau setzt kein hilfloses Menschenkind in die Welt, nur weil sie einen Mann an sich fesseln möchte, der für sie sorgen soll. Für die Gesundheit und das Wohlergehen von Kindern ist es offensichtlich entscheidend wichtig, daß sie gewünscht sind. Zufälle sind schon per Definition unerwünscht.
19
2 Das intrauterine Leben
Ü ber das Leben im Uterus, in der Gebärmutter, liegen nur unzulängliche Untersuchungen vor. Doch wir haben unbezweifelbare Beweise dafür, daß die körperliche Verfassung der Mutter den Fötus, die Leibesfrucht, beeinflußt. Mit anderen
Worten, der Keim für eine Neurose wird mit den jeweiligen Lebenserfahrungen gesetzt, und diese Erfahrungen beginnen nun einmal im Mutterleib. Bereits mit dem zweiten Monat im Uterus arbeitet das Gehirn des Kindes und sendet Nervenimpulse aus, welche die Organe des winzigen Körpers koordinieren. Obwohl das Gehirn noch rudimentär, noch nicht völlig ausgebildet ist, kann es bereits die aus der uterinen Welt stammenden Sinneseindrücke registrieren. Ich wähle mit Absicht den Begriff »registrieren«, weil das winzige Nervensystem in einer Umwelt mit äußeren Einflüssen lebt, mit Einflüssen, die unter Umständen zu einer neurotischen Entwicklung führen, lange bevor sie vom Gehirn des Kindes begrifflich erfaßt werden können. Wenn eine Mutter Alkohol zu sich nimmt, können Spuren dieser Substanz in den Organismus des Fötus gelangen. Wenn sie Heroin spritzt, kann der Fötus süchtig werden. Wenn sie raucht, kann von daher eine verzögerte Entwicklung des Fötus resultieren; das Kind kommt dann körperlich kleiner zur Welt, als es der Fall wäre, wenn die Mutter nicht geraucht hätte. Betrachten wir den einfachen Fall, daß eine schwangere Mutter raucht. Untersuchungen an Affen haben gezeigt, daß Nikotin in kurzer Zeit vom Körper der Mutter in den des Fötus gelangt.* Nikotin beeinträchtigt den Kreislauf des Fötus, indem es den Sauerstoffgehalt des Blutes reduziert. Es verlangsamt auch den Herzschlag des Fötus und senkt seinen Blutdruck. Anders ausgedrückt, eine Nikotininjektion bei einer trächtigen Äffin setzt ihren Fötus Belastungen aus, und man darf getrost annehmen, daß dies auch für den menschlichen Fötus gilt. Einer Untersuchung an 17.000 britischen Kindern zufolge ist das Neugeborene einer starken Raucherin (täglich zehn Zigaretten und
* > E f f e c ts o f N ic o tin e o n th e U n b o r n < , in : T h e S te th o s c o p e , X X I V , N r . 4 , A p r il 1 9 6 9 , S . 1 .
20
mehr nach dem vierten Schwangerschaftsmonat) in einer schlechteren körperlichen Verfassung als das Neugeborene einer Nichtraucherin; außerdem hat sich gezeigt, daß die soziale Entwicklung des Neugeborenen einer starken Raucherin beeinträchtigt ist.* Rauchen senkt nachweislich den Vitamin-CGehalt des Körpers und vermag die Zellstruktur nachteilig zu beeinflussen; unter Umständen kann auch die Synthese von Kollagen [Gerüsteiweiß, Eiweißkörper im Bindegewebe, in Sehnen, Knorpeln und Knochen]** beeinträchtigt werden. Raucher benötigen zweimal so viel Vitamin C wie Nichtraucher. Die Untersuchung an den 17.000 britischen Kindern soll fortgesetzt werden; sie sollen im Abstand von vier Jahren auf ihren körperlichen Zustand und ihr soziales Verhalten hin untersucht werden.*** Eines der jüngsten Ergebnisse dieser Untersuchung: Mütter, die während der Schwangerschaft rauchen, haben 30 % häufiger Fehlgeburten als Nichtraucherinnen. Die überlebenden Kinder der Raucherinnen wurden im Alter von sieben Jahren auf ihre Körperlänge hin gemessen. Sie waren durchschnittlich 3,7 Zentimeter kleiner als die Kinder von Nichtraucherinnen. Außerdem hatten sie in der Schulzeit mehr Leseschwierigkeiten und häufiger psychische Probleme. Schließlich erschienen sie körperlich unausgeglichener und zeigten Unzulänglichkeiten beim Nachzeichnen einfacher Bildvorlagen. Über die Auswirkungen des Rauchens auf den Fötus wissen wir offensichtlich nicht allzu viel, doch unser heutiges Wissen reicht aus, um sagen zu können, daß schwangere Frauen besser nicht rauchen sollten. Wir wissen nicht, um wieviel ängstlicher und
angespannter rauchende Mütter sind als nichtrauchende und auf welche Weise die vom Rauchen ausgehenden Wirkungen dadurch beeinflußt werden. Anders ausgedrückt, Rauchen ist lediglich eine Nebenerscheinung innerer Spannungen; mit diesen Spannungen müssen wir uns befassen und versuchen, sie zu beseitigen, damit eine gesunde Schwangerschaft gewährleistet wird. Da das Nervensystem des Fötus um die Mitte der Schwangerschaft bereits weitgehend ausgebildet ist, kann man sich vorstellen, welchen Eindrücken der Fötus ausgesetzt ist,
*
> G r a v id a 's S mo k in g S e e n H a n d ic a p to O f f s p r in g < , in : O b s t e t r i c s -
G y n e c o lo g y Ne ws 5 , N r . 1 2 , 1 5 . J u n i 1 9 7 0 , S . 1 6 . ** ***
E c k ig e K la mme r n e n th a lte n A n me r k u n g e n d e s Ü b e r s e tz e r s . R. D a v ie , N . Bu tle r u H . G o ld s te in , F r o m B i r t h t o S e v e n , C. L o n g ma n ,
L o n d o n 1 9 7 2 ; Be r ic h t d a z u a u c h in d e r L o n d o n e r T i m e s v o m 4 . J u n i 1 9 7 2 . S. 27.
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wenn er stündlich mit Nikotin bombardiert wird, mit einer Substanz, die den Sauerstoffgehalt des Blutes verringert. Auf einer Tagung der American Association for the Advancement of Science [Amerikanische Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaften] im Frühjahr 1970 wurde ein Untersuchungsbericht über trächtige Ratten vorgelegt, die über längere Zeit hin lauten Geräuschen ausgesetzt worden waren. Ergebnis des Experiments: Die Ratten warfen körperlich kleinere Junge. Man darf mithin annehmen, daß Streß (oder Angst) die fötale Entwicklung unmittelbar beeinflußt. Nicht nur die mit lärmenden Geräuschen traktierten trächtigen Ratten hatten einen beschleunigten Herzschlag, auch die Herzschlagfrequenz ihrer Föten war heraufgesetzt. Das heißt, daß Streß, der auf die schwangere Mutter einwirkt, zur Neurose bei ihrer
Nachkommenschaft führen kann. Wir haben Beweise dafür, daß Geräusche unmittelbar auf den Fötus einwirken. In der Säuglingsstation eines Krankenhauses ließ man ein Tonband abspielen, auf dem das Schlagen eines Herzens aufgenommen worden war. Bei dem Experiment ging das Weinen und Schreien der Säuglinge auffällig zurück. Dies dürfte ein Hinweis dafür sein, daß der Fötus den Herzschlag der Mutter registriert und daß die Regelmäßigkeit (oder Unregelmäßigkeit) des Herzschlags das Befinden des Fötus verändert. Der Herzschlag der Mutter während der Schwangerschaft dürfte sich mithin auf die spätere Verfassung des Kindes auswirken. Es scheint, daß der gleichmäßige Herzschlag einer schwangeren Mutter mit dazu beiträgt, eine kindliche Neurose zu verhindern. Gleichmäßige Töne wirken beruhigend. Wir alle können dabei einschlafen. Unregelmäßige Geräusche hingegen sind beunruhigend. Wenn Erwachsene infolge eines Erbfaktors derartig auf Geräusche reagieren, warum sollte dies nicht auch für den Fötus zutreffen? Geräusche werden von der Haut wahrgenommen, mehr noch: es scheint bewiesen, daß bestimmte Hautpartien sogar die Geräuschquelle lokalisieren können. Der Fötus kann also mit der Haut gleichsam sehen. Eine Mutter berichtete in der Primärtherapie, sie sei im achten Schwangerschaftsmonat in einen Park mit einem nahegelegenen Schießstand gegangen. Bei jedem Schuß habe sich das Baby in ihrem Leib heftig bewegt. Mit dem inzwischen acht Monate alten Säugling habe sie dann den Park erneut aufgesucht; nach den Worten der Mutter zeigte das Kind bei jedem Schuß eine ungewöhnlich starke Schreckreaktion. 22
Experimenten zufolge, die in Schweden angestellt wurden, reagiert der Fötus selbst auf schwache Geräusche mit einer Beschleunigung des Herzschlags. Erhöhte Herzschlagfrequenz ist als Streßreaktion anzusehen. Der Fötus hat zwar von dem Streß keine begriffliche Vorstellung, doch das bedeutet noch lange nicht, daß er davon unberührt bleibt oder daß der Streß keine langfristigen Auswirkungen auf sein späteres Verhalten ausüben kann. Während des Lebens im Uterus und in der Folgezeit erlebt das Kind Streßsituationen, die ihre Spuren im Organismus zurückgelassen und ein primäres Reservoir von Gefühlen bilden, das eines Tages überfließen und zu Symptomen führen kann. Der New Yorker Facharzt für Ohrenheilkunde S. Rosen kam bei seinen Untersuchungen zu aufschlußreichen Ergebnissen: »Wenn das Ohr plötzlich von einem Geräusch getroffen wird, beschleunigt sich der Herzschlag, die Blutgefäße verengen sich, die Pupillen weiten sich, und Magen, Speiseröhre sowie die Därme werden von Spasmen [Krämpfen] ergriffen ... Man mag das Geräusch vergessen, der Körper vergißt es nicht.« (Zeitschrift Life vom Juni 1970) Dr. Rosen beschreibt in seinem Artikel eine Streß- oder Angstreaktion. Ein Säugling, der nicht in der Lage ist, sich auf die Geräuschquelle einzustellen oder etwas dagegen zu unternehmen, erfährt eine Streßreaktion. Ob der menschliche Organismus sich im Uterus befindet oder nicht, spielt dabei keine Rolle, soweit es um die körperliche Reaktion auf die Geräuschbelastung geht.* Während der Schwangerschaft bereitet der Fötus sich auf sein Menschsein vor. Sinneseindrücke lösen bei ihm gesamtkörperliche Vorgänge aus; sie beeinflussen die Sekretion, die Hormonbildung, die Gehirnentwicklung usw. Das heißt, Sinneseindrücke sind Vorläufer von Gefühlen. Katastrophale Eindrücke können eine Entwicklungsstörung einleiten, die sich nach der Geburt zu einer Neurose mit all ihren Begleitumständen auswächst. Bei scheinbar genetisch bedingten
Unterschieden zwischen Neugeborenen kann es sich durchaus um die bereits durch die Lebenserfahrungen im Mutterleib geformte »Persönlichkeit« handeln. Im Falle einer Raucherin, die ein körperlich kleines Kind zur Welt bringt, hat sicherlich die Belastung des Fötus durch das Rauchen auf irgendeine Weise mit dazu beigetragen, die für das Wachstum notwendige Hormon-
* J u n g e Ra tte n , d ie ü b e r e in e n län g e r e n Z e itr a u m h in L ä r mb e la s tu n g e n a u s g e s e t z t w o r d e n w a r e n , w a r en a n f ä l l i g f ü r K r a mp f z u s t ä n d e u n d A te mb e s c h w e r d e n . ( T a g u n g s p r o to k o lle d e r A me r ic a n A s s o c ia tio n f o r th e A d v a n c e me n t o f S c ie n c e v o m J u n i 1 9 7 0 . ) A n d e r e n U n te r s u c h u n g e n z u f o lg e n e ig e n lä r mb e la s te te Ra tte n h ä u f ig e r a ls u n b e la s te te Ra tte n z u V ir u s in f e k tio n e n .
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bildung zu beeinträchtigen. Angesichts der Tatsache, daß Hormone auf komplizierte Weise unsere Gefühle steuern, erscheint es logisch anzunehmen, daß eine gestörte Hormonbildung unsere Gefühlsfähigkeit nachteilig beeinflußt. Gelegentlich sind katastrophale Sinneseindrücke nicht sofort als solche erkennbar. Wenn zum Beispiel eine schwangere Frau einen hohen Berg besteigt, in einem Flugzeug fliegt, das keine Anlage zum Ausgleich des Luftdrucks in der Passagierkabine besitzt, oder deren Kreislauf aufgrund innerer Spannungen Belastungen ausgesetzt ist, dann kann es geschehen, daß der Fötus unter Sauerstoffmangel leidet und unangenehme Empfindungen verspürt. Obgleich die Plazenta [Mutterkuchen] den Sauerstoffmangel mittels verstärkter Eigenentwicklung auszugleichen sucht, kommt man doch um die Tatsache nicht herum, daß der Fötus den Sauerstoffmangel auf irgendeine Weise registriert. Ständiges Unbehagen blockiert oder stört automatisch die Sensitivität des Körpersystems – und führt in dem genannten
Fall zum Beispiel zu einer Überentwicklung der Plazenta –, ohne daß mit dem Vorgang die bewußte Wahrnehmung von Schmerz verbunden sein muß. Mit anderen Worten, der Fötus kann Unbehagen (das ich Schmerz nenne) ohne bewußte Wahrnehmung des Schmerzes empfinden. Sinneseindrücke sind entscheidende Bestandteile des Bewußtseins. Heftige Sinneseindrücke können nachträglich Auswirkungen auf das Bewußtsein des Neugeborenen haben. Der Säugling kann weniger rege, aufgeweckt und lebenskräftig sein; die Entwicklung seines Auffassungsvermögens kann sich verlangsamen und dergleichen mehr. Man hört gelegentlich den Einwand, daß selbst heftige Sinneseindrücke keine anhaltenden Auswirkungen auf den Fötus haben können, weil viele zur Wahrnehmung und Einordnung dieser Eindrücke notwendige Gehirnzellen noch nicht myelinhaltig seien.* Delgado hat jedoch darauf hingewiesen, daß Rattenjunge bereits Tage vor der Geburt Bewegungen ausführen, obwohl die Myelinisation der dafür notwendigen Gehirnstrukturen erst Tage nach der Geburt abgeschlossen ist.**
* M y e l i n i s t e i n e » f e t t ä h n l i c h e « , d ie N e r v e n f a s e r n b e d e c k e n d e S u b s ta n z [ L ip o id ], d ie a n z e ig t, d a ß d ie N e r v e n f u n k tio n s f ä h ig s in d . D e r F ö tu s k a n n a u f d e n mü t t e r l i c h e n H e r z s c h l a g k o n di t i o n i e r t w e r d e n . D i e T a t s a c h e , d a ß d e r F ö tu s n a c h d e r G e b u r t H e r z s c h la g tö n e a ls a n g e n e h m u n d b e r u h ig e n d e mp f in d e t, lä ß t d e n S c h lu ß z u , d a ß s ic h b e r e its im U te r u s e in e A r t s y s t e ma t i s c h e n G e d ä c h t n i s s e s a u s g e b i l d e t h a t . * * J o s e D e lg a d o , P h y s ic a l Co n tr o l o f th e M in d , H a r p e r & R o w , N e w Y o r k 1 9 6 9 . I c h w e r d e d ie s e s T h e ma in e in e m n e u e n Bu c h mit d e m T ite l P r i m a l M a n : T h e Ne w Co n s c io u s n e s s im e in z e ln e n b e h a n d e ln .
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Wenn eine Frau für ihr Wohlbefinden Sorge tragen sollte, dann während der Schwangerschaft. Schlechte Ernährung, starker Alkoholkonsum usw. schädigen ihr Kind. Die schwangere Frau hat bereits eine Beziehung zu ihrem Kind aufgenommen. Wenn ihr das Wohl des Kindes am Herzen liegt, dann wird sie dafür sorgen, daß sie in guter körperlicher und psychischer Verfassung ist, nicht herumhetzt, nicht bis zum letzten Augenblick allein im Auto zur Arbeit fährt, nicht alle paar Minuten ihre anderen Kinder anschreit, kurz alles unterläßt, was zu verstärkten inneren Spannungen führt. Ihr Körper muß entspannt sein. Ungenügende Sauerstoffzufuhr ist nicht die einzige Mangelerscheinung, die einem Fötus widerfahren kann. Als weiterer entscheidender Faktor wäre die falsche Ernährungsweise der Mutter zu nennen. Die gesunde Mutter empfindet die Bedürfnisse des Fötus in ihrem Körper als Teil ihrer eigenen Bedürfnisse. Durch eine geeignete Diät während der Schwangerschaft wird sie diese Bedürfnisse gleichsam intuitiv befriedigen. Sie wird nicht aus Eitelkeit fasten, um schlank zu werden. Eine Mutter, die sich nicht richtig ernährt, fügt ihrem Kind Schaden zu. Seine Bedürfnisse werden nur mangelhaft erfüllt; dieser unterschwellige Mangel kann sich später womöglich in körperlichen Anfälligkeiten niederschlagen. Fasten kann das Nervensystem des Ungeborenen in einer Zeit schneller Entwicklung auf subtile Weise beeinträchtigen. Wir alle wissen, daß eine falsche Diät unser körperliches Wohlbefinden stört. Doch wir machen uns nicht richtig klar, daß eine schwangere Frau ihrem Kind durch eine falsche Diät Leiden zufügt, auch wenn das Kind aufgrund seines noch unterentwickelten Bewußtseins diese leidvolle Erfahrung nicht wahrnimmt. Eine neurotische Mutter kann ihr Kind auch durch eine Früh- oder Spätgeburt schädlichen Einflüssen aussetzen. Nach meiner Überzeugung werden beide Geburtsarten weitgehend durch neurotische Störungen verursacht. So läßt sich zum
Beispiel in den Gehirnbereichen, die bei der Verdrängung eine Rolle spielen, eine Konzentration der blutdrucksteigernden chemischen Substanzen Serotonin nachweisen. Eine der Begleitumstände erhöhten Serotoninspiegels ist das Zusammenziehen der Blutgefäße. Diese von neurotischer Verdrängung verursachte chronische Verengung der Blutgefäße ist in manchen Fällen einer der Gründe für einen Spontanabort oder eine Frühgeburt. Übermäßiger Serotingehalt kann auch die Blutzufuhr in die Planzenta drosseln und damit die Versorgung des Fötus gefährden. Eine Frühgeburt hat stets zahlreiche gesundheitsschädliche 25
Folgen, doch selten wird das psychische Trauma eines solchen Ereignisses berücksichtigt. Ein primärtherapeutisch behandelter Patient, der durch eine Frühgeburt zur Welt gekommen war, hatte in einem Geburtsprimal das Gefühl, plötzlich in die Welt gestoßen zu werden, ohne dazu bereit zu sein, und er kam aus diesem Primal mit der Einsicht, daß er sich während seines ganzen Lebens an Dinge geklammert, sich um einen dauerhaften Arbeitsplatz und konstante Lebensverhältnisse bemüht hatte und bei jeder Veränderung von Panik ergriffen worden war. Er hatte den starken Eindruck, daß seine Panikgefühle mit seiner Frühgeburt und dem Wunsch zusammenhingen, sich bis zur normalen Geburt im Mutterleib festzuklammern. Ich bin sicher, daß es eine Reihe noch unbekannter biologischer Faktoren gibt, die eine Frühgeburt zur Folge haben. Doch ich bin gleichfalls sicher, daß zwischen diesen Faktoren und neurotischen Störungen eine enge Verbindung besteht. Patientinnen in der Primärtherapie, die Frühgeburten hinter sich hatten, wußten jedesmal mit Sicherheit, daß sie ihre Kinder frühzeitig zur Welt gebracht hatten, weil sie die Schwangerschaft
nicht ertragen konnten und ihre Kinder nicht austragen wollten. Aus zahlreichen Untersuchungen geht hervor, daß Frühgeburten schädliche Folgen haben, angefangen von verzögerter geistiger Entwicklung bis zur größeren Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen der Atemwege. Freilich dürfte für viele dieser Störungen weniger die Frühgeburt als die Tatsache verantwortlich sein, daß frühgeborene Kinder in Brutkästen gelegt und folglich einen Teil der für ihre Entwicklung notwendigen Stimulierung, Wärme und Körperkontakt entbehren müssen. In diesem Zusammenhang sollte man bedenken, daß Frühgeborene in jeder Hinsicht noch Föten sind, die all die vom Mutterleib ausgehenden Stimulierungen benötigen. Wenn Frühgeborene überhaupt Gelegenheit haben sollen, sich normal zu entwickeln, dann muß man ihnen ein größeres Quantum an taktiler, mit Berührung zusammenhängender Stimulierung bieten, als dies üblicherweise geschieht. Wie wir später sehen werden, beeinflußt solche Stimulierung unmittelbar das Wachstum der Gehirnzellen. In diesem Zusammenhang ist eine von Freedman und anderen durchgeführte Untersuchung an Zwillingen von Bedeutung. Die untersuchten Zwillinge hatten sämtlich ein geringes Geburtsgewicht (was als Folge von Frühgeburten angesehen wurde). Die eine Gruppe der Kinder wurde in ihren Bettchen geschaukelt, die andere 26
nicht. Die stimulierten Kinder nahmen schneller an Gewicht zu als die nicht-stimulierten.* Auch Spätgeburten laufen den natürlichen Bedürfnissen des Kindes zuwider, denn es wird ihm nicht gestattet, was ihm zusteht, nämlich zur richtigen Zeit zur Welt zu kommen. Neurotische Mütter, die sich einer Primärtherapie unterzogen,
kamen zu der Erkenntnis, daß sie mit der verzögerten Geburt ihre Ablehnung dem Kind gegenüber zum Ausdruck gebracht hatten, Ablehnung aufgrund mangelnder Bereitschaft, sich um das Kind zu kümmern. Eine der Mütter erklärte, sie sei nur deshalb schwanger geworden, damit man sich um sie kümmere, und sie habe diesen Zustand möglichst lange beibehalten wollen. Das Zurückhalten des Kindes, der Unwille, es in die Welt zu setzen, ist neurotisch motiviert; die Mutter kann mit ihrem Verhalten unter Umständen zu einer allgemeinen Verzögerung der kindlichen Entwicklung beitragen. Das Trauma der Spätgeburt zeigt sich an der Tatsache, daß die Sterblichkeitsquote spätgeborener Kinder doppelt so hoch ist wie die normal geborener. Da Kopf und Hüfte des Kindes größer sind als gewöhnlich (aufgrund des längeren Verbleibens im Mutterleib), ist die Geburt häufig mit Komplikationen verbunden, die traumatische Auswirkungen haben können. Eine Mutter, die sich nicht bereit fühlt, Mutter zu sein, die innerlich gespannt und verschlossen ist, die dazu neigt, Dinge nicht mitzuteilen, kann in unbewußter Absicht ihr Kind zu lange in sich behalten. Was uns fehlt, sind Untersuchungen. die Aufschluß darüber geben, welcher Zusammenhang bei schwangeren Frauen zwischen dem Maß innerer Spannungen und der Art der Geburt besteht. Neigen unter stärkeren Spannungen lebende Frauen zu Spätgeburten? Besteht ein Zusammenhang zwischen inneren Spannungen bei der Mutter und größerer Häufigkeit von Hirnschäden und anderen schwerwiegenden Krankheiten beim Kind? Haben mütterliche Spannungen Einfluß auf die Sterblichkeitsquote von Kindern? Bei Tierversuchen ist dies nachweislich der Fall. Bei trächtigen Rattenweibchen, die während der Schwangerschaft häufig gestreichelt werden, ist die Zahl der überlebenden Jungen größer als bei Ratten, die nicht auf diese Weise behandelt werden.**
* D . G . F r e e d ma n , H . Bo v e r ma n u . N . F r e e d ma n , > E f f e c ts o f K in e s th e tic S timu la tio n o n W e ig h t G a in a n d S milin g in P r e ma tu r e I n f a n ts < , V o r tr a g v o r d e r A me n c a n O r th o - p s yc h ia tr y A s s o c ia tio n in S a n F r a n c is c o , K a lif o r n ie n , im A p r il 1 9 6 0 . * * J . W e r b o f f e t a l. , > H a n d lin g o f P r e g n a n t Mic e < , in : P h y s io lo g y a n d B e h a v io r , 3 , 1 9 6 8 , S . 3 5 - 3 9 .
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Streicheln erzeugt offensichtlich ein Gefühl des Wohlbehagens, entspannt das organische System und läßt seine Funktionen optimal ablaufen. Natürlich ist der menschliche Organismus ein wenig komplizierter, doch nach meiner Meinung gilt für ihn der gleiche Grundsatz. Wenn eine Mutter als Säugling viel gestreichelt und gehätschelt wurde, dann wird ihr Organismus während und nach der Schwangerschaft mit einiger Sicherheit entspannter, ausgeglichener und damit ihrem Kind zuträglicher sein, als dies der Fall wäre, wenn sie selbst als Kleinkind auf Zärtlichkeiten verzichten mußte. Die Erfahrungen der Mutter als Säugling und Kleinkind bestimmen zum Teil ihr späteres Verhalten als Mutter. Es wäre auch wichtig zu wissen, ob die inneren Spannungen einer schwangeren Frau den Wahrscheinlichkeitsgrad erhöhen, daß ihr Kind unter Koliken oder Hauterkrankungen (Ekzemen) leiden wird. Wenn wir von Spannungen sprechen, dann meinen wir einen gesamtphysiologischen Zustand, der den Hormonhaushalt, den Muskelapparat, das Kreislaufsystem usw. umfaßt. Spannung ist lediglich ein Begriff, der den Zustand jener miteinander verbundenen organischen Systeme bezeichnet. Der Grund dafür, daß streichelnde Berührung bei Rattenweibchen die Überlebensquote ihrer Jungen positiv beeinflußt, liegt in der Tatsache, daß die Berührung und die damit einhergehenden
Sinneseindrücke sich physiologisch umsetzen, indem sie Veränderungen bei den organischen Schlüsselsystemen bewirken. Störungen im mütterlichen Hormonhaushalt können zu dauerhaften Schädigungen beim Fötus führen. Sie wirken sich unter Umständen auf die Gemütsverfassung des Kindes aus, das heißt, sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, ob ein Kind aggressiv oder passiv wird. Trächtige Primatenweibchen [höchstentwickelte Säugetiere, Affen], denen männliche Hormone verabreicht wurden, brachten Junge zur Welt, die ein aggressiveres Verhalten an den Tag legten als die Jungen einer Kontrollgruppe von Primaten, denen keine männlichen Hormone injiziert worden waren. Der Nachwuchs der erstgenannten Primatengruppe zeigte ein ungewöhnlich aggressives Verhalten; diese Charaktereigenschaft scheint unwandelbar zu sein. Der springende Punkt ist, daß eine Neurose den mütterlichen Hormonhaushalt durcheinanderbringen und zu einem Überschuß an Androgenen (männlichen Geschlechtshormonen) führen kann. Als Folge dieser Störung können die weiblichen Neugeborenen als ungewöhnlich aggressive Kinder zur Welt kommen, als vermännlichte Mäd28
chen, die mit ihrer Umwelt in »männlich-harter« Weise umgehen. Bei Menschen kann dieser Umstand der Anfang einer späteren sexuellen Abirrung sein, etwa lesbischer Neigungen. Natürlich dürften in einem solchen Falle viele weitere soziale Faktoren eine Rolle spielen, doch es ist durchaus möglich, daß das Kind bereits während der Schwangerschaft für spätere Verhaltensstörungen prädisponiert, gleichsam vorgeprägt wird. So ist zum Beispiel nachgewiesen worden, daß männliche Ratten, denen unmittelbar nach der Geburt das weibliche Sexualhormon
Oestrogen verabreicht wurde, für ihr Leben lang feminisiert werden. das heißt weibliche Verhaltensweisen zeigen. Wenn das gleiche Hormon später injiziert wird, ruft es keine derartigen Verhaltensänderungen hervor. Mithin haben Störungen im Hormonhaushalt nur in kritischen Zeitspannen katastrophale Folgen. Die Natur scheint um diese Zusammenhänge zu wissen, denn während der menschlichen Schwangerschaft steigt der Progesterongehalt [weibliches Keimdrüsenhormon] stark an. Das Hormon Progesteron hat in vielerlei Hinsicht entscheidende Auswirkungen: es trägt zur Entspannung der Mutter bei, setzt die nervöse Reizbarkeit des Uterus herab und dürfte schließlich einen beruhigenden Einfluß auf die Leibesfrucht ausüben. Auf die wichtigste Auswirkung des Hormons hat mich Dr. Oscar Janiger hingewiesen.* Bei Durchsicht der Fachliteratur stellte Dr. Janiger fest, daß es während der Schwangerschaft selten, wenn überhaupt zu einem psychotischen Schub (Nervenzusammenbruch) kommt. Doch laut Dr. Janiger ist die Literatur voll von Hinweisen auf psychotische Störungen nach der Entbindung - einer Zeit, wenn der Progesterongehalt rapide absinkt. So wird das Abwehrsystem der Mutter während der Schwangerschaft automatisch, nämlich aufgrund eines angeborenen Mechanismus, zusätzlich verstärkt; dieser Vorgang muß mit unserem sogenannten Überlebenswillen zusammenhängen: Er schützt die Gesundheit der Mutter, während sie ihr Kind austrägt, und garantiert ihm die beste Lebenschance. Progesteron scheint eine anästhesierende, das heißt schmerzstillende Wirkung zu haben; das geht aus Berichten hervor, denen zufolge an Patienten, die zuvor eine hohe Dosis Progesteron erhalten hatten, ohne Narkotisierung kleinere Operationen durchgeführt werden konnten. Und hier wollen wir zur Primärtheorie
* P e r s ö n l i c h e M i t t e i l u n g ; D r . J a n ig e r i s t L e i t e r f ü r p s y c h i a t r i s c h e F o r s c h u n g a n d e r U n iv e r s itä t v o n K a lif o r n ie n in I r v in e .
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zurückkehren. Während der Schwangerschaft wird im Körper der Frau ein chemischer Stoff abgesondert, der die Schmerzen lindert und damit das Abwehrsystem stützt. Das Fehlen akuter Psychosen in dieser Zeit legt den Schluß nahe, daß dieser im Innern des Körpers gebildete Schmerzlinderer einen beträchtlichen Schutz darstellt - mehr noch, daß Psychosen mit unabgewehrtem Schmerz zu tun haben. Die Krankheitsanfälligkeit der Mutter nach der Niederkunft muß irgendwie mit dem gesunkenen Progesteronspiegel zusammenhängen. Progesteron hat noch weitere Funktionen, nicht zuletzt jene, die Differenzierung in männlich oder weiblich zu fördern. Auch hier wiederum können Veränderungen im Progesterongehalt während der Schwangerschaft die besagte Differenzierung derartig beeinträchtigen, daß die basale Einstellung des Neugeborenen gegenüber den Lebensereignissen — seine Grundorientierung — gestört wird. Frauen, die Schwierigkeiten damit haben, ihr Kind auszutragen, erhalten gelegentlich extrem hohe Dosen Progesteron (um den Uterus zu beruhigen), und dies wiederum hat bisweilen zur Folge, daß ihre weiblichen Neugeborenen gleichsam vermännlicht zur Welt kommen (mit starker Körperbehaarung usw.). Mit anderen Worten, Veränderungen im Hormonhaushalt der Mutter übertragen sich auf den Fötus; diesen Tatbestand haben wir zu berücksichtigen, wenn wir über den Neurosenursprung nachdenken. Wir haben uns mit der Genetik beschäftigt, um für den Fall, daß die Schwangerschaftsperiode einmal in allen Einzelheiten erforscht ist, zur Klärung ungelöster Probleme beizutragen.*
So habe ich zum Beispiel darauf hingewiesen, daß ein extrem hoher Serotoningehalt einen Spontanabort oder eine Frühgeburt herbeiführen kann. Vielleicht haben abgesonderte Körperhormone wie Progesteron irgendeine Rückwirkung auf Gehirnhormone wie Serotonin, die ihrerseits dann die Körpervorgänge beeinflussen. Der Körper verfügt über eine komplexe Hormonkette; jede Störung oder Veränderung in einem Kettenglied könnte letztendlich die anderen Kettenglieder beeinträchtigen. Wenn wir nicht die Gesamtperson in unsere Überlegungen einbeziehen, könnten wir zu der Annahme verführt werden, eine einzige Hormonsubstanz sei der »Grund« für diese oder jene Körperverfassung. Ich bin der Überzeugung, daß
* E s i s t n ic h t v ö l l i g g e k lä r t , o b d e r A n s t i e g d e s P r o g e s t e r o n s p ie g e l s u n mi t t e l b a r z u e i n e r S t ä r k u n g d e s A b w e h rs y s t e ms f ü h r t o d e r o b e r z u n ä c h s t a u f b io c h e mis c h e E le me n te e in w ir k t.
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Neurosen das gesamte körperliche Interaktionssystem stören und auf der ganzen Linie zu geringfügigen Unausgeglichenheiten im Körperhaushalt führen, zu Gleichgewichtsschwankungen, die ihrerseits das körperliche Wachstum, die Haarbildung, den Sexualtrieb, den Blutzuckerspiegel usw. beeinträchtigen können.* Progesteron dürfte lediglich ein Bestandteil eines psychoseverhindernden, die Körperabwehr stärkenden biochemischen Systems sein. Serotin wäre ein weiterer Abwehrstoff. So ist zum Beispiel bei Psychosen kein Serotinspiegel vorhanden. Wenn wir erst einmal begriffen haben, daß es nicht nur psychische Abwehrfunktionen gibt, wie etwa Projektionen, die unangenehme Vorstellungen abwehren sollen, sondern auch Abwehrformen, die die neurochemischen Vorgänge
unseres gesamten Körpers erfassen, dann werden wir verstehen lernen, wie Neurosen den Gesamtorganismus beeinträchtigen. Das Leben des Fötus im Uterus stellt eine Mutter-KindBeziehung her. Der Gedanke erscheint nicht abwegig, daß eine psychisch gesunde Mutter eine bessere Beziehung zu ihrem Fötus hat als eine psychisch gestörte Mutter.
HELEN Gestern beim Gruppenabend hatte ich ein sehr merkwürdiges Urerlebnis. Ich hatte das Gefühl, wieder im Mutterleib zu sein. Plötzlich bekam ich einen gräßlichen Schreianfall, doch gleichzeitig war mir alles ein wenig deutlicher bewußt, als das in jener frühen Lebensphase der Fall ist. Heute, genau in diesem Augenblick, geht mir auf, was es mit diesem Urerlebnis auf sich hat. Ich erinnere mich, daß meine Mutter erzählte, sie sei im neunten Schwangerschaftsmonat spätabends über einen Spielplatz vor unserem Hause gegangen und
* D ie d u r c h N e u r o s e v e r u r s a c h te n V er ä n d e r u n g e n im H o r mo n a u s s to ß h a b e ich in D ie A n a to m ie d e r Ne u r o s e , S . F is c h e r V e r la g , F r a n k f u r t a m Ma in 1 9 7 4 , a u s f ü h r lic h e r e r lä u te r t. A n te c h n is c h e n E in z e lh e ite n in te r e s s ie r te L e s e r v e r w e i s e i c h a u f d i e k ü r z l i c h e r s c h i e n e n e A r b e i t T h e Ne u r o b io lo g y o f th e A m y g d a la ( S ymp o s iu m in Ba r H a b o r . U S - Bu n d e s s ta a t Ma in e , P le n u m P r e s s ) . D a n a c h s c h e i n t b e w i e s e n , d a ß d ie A myg d a la [ Ma n d e l] d e n H o r mo n a u s s to ß d e s H yp o th a la mu s [ h o r mo n b ild e n d e r T e il d e s Z w i s c h e n h i r n s ] r e g u l i e r t u n d a u c h e i n e n u n mi t t e l b a r e n E i n f l u ß a u f d a s e n d o k r in e S ys te m [ in n e r e S e k r e tio n ] h a b e n d ü r f te . W e n n d a s limb is c h e S ys te m [ Z e n tr u m f ü r T r ie b h a n d lu n g e n , E mo tio n e n , L e r n - u n d G e d ä c h tn is f u n k tio n ], in d e m d e r H ip p o c a mp u s [ z u m Rie c h h ir n g e h ö r e n d e r G e h ir n b e r e ic h ] u n d d ie A myg d a la e n ts c h e id e n d e F u n k tio n e n a u s ü b e n , S c h me r z e n b lo c k ie r t, d a n n w ir d f o lg lic h d ie E n e r g ie d e s b lo c k ie r te n S c h me r z e s ü b e r d e n H yp o th a la mu s in d a s S ys te m z u r ü c k g e le ite t u n d f ü h r t z u k r a n k h a f te n S tö r u n g e n im H o r mo n h a u s h a lt.
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dabei gestolpert. Sie war mitten aufs Gesicht gefallen und hatte sofort befürchtet, ich könnte dabei Schaden erlitten haben. Daher rief sie ihren Arzt an, der ihr jedoch versicherte, ich hätte keinen Schaden erlitten und sei wohlauf. Mir ist heute klar, daß es sich bei dem gestrigen Urerlebnis um eine Wiederbelebung jenes Ereignisses handelt. Gegen Ende des Urerlebnisses, nachdem ich das Gefühl gehabt hatte, ich befände mich wieder im Mutterleib, ein Gefühl, als seien alles Denken und alle Körpervorgänge, selbst das Atmen zum Stillstand gekommen, da verspürte ich plötzlich einen Ruck, der in mir das Gefühl hervorrief, als habe man mich brutal geweckt oder als sei meine Wahrnehmung geschärft worden. Gleichzeitig hatte ich heftige Angst, mir war, als werde nach mir gegriffen oder als zöge sich mein Körper zusammen. Damit war das Urerlebnis vorbei. Anschließend lag ich noch eine Zeitlang da, ohne Gefühl für Raum und Zeit oder irgend etwas anderes. Wenn ich nicht diesen plötzlichen scharfen Ruck verspürt hätte, wäre es mir wahrscheinlich gar nicht erst möglich gewesen, mich an das Gefühl zu erinnern, im Mutterleib zu sein, denn dieses Gefühl war in einer so tiefen unbewußten Schicht verborgen. Oder vielleicht hätte ich mich doch daran erinnern können, wenn ich einfach eingeschlafen wäre. Ich weiß, als Kind bin ich häufig in diesen Zustand entglitten, und später dachte ich mir, dies sei ein Weg gewesen, meiner erbärmlichen Kindheit zu entfliehen, doch heute weiß ich, daß mein Körper versuchte, die erste traumatische Urerfahrung zu mildem. Das panikartige Gefühl gegen Ende des Urerlebnisses war überhaupt keine verstandesmäßige Erfahrung; es war nichts als eine körperliche Reaktion. Wenn ich als Kind aufgrund jenes »Mutterleibs-Primals« in diesen Zustand der Geistesabwesenheit oder Trance entglitt, dann verschaffte ich mir auf diese Weise eine Möglichkeit, dem
Schmerz zu entgehen, den meine Mutter mir zufügte. Doch wenn ich für eine Weile in diesem Mutterleibs-Gefühl verharrte, dann überfiel mich ein intensives Panikgefühl, ein Gefühl schrecklicher Angst, und mein Körper krampfte sich zusammen, wahrscheinlich in Erwartung des ruckartigen Stoßes, den ich geschildert habe. Ich war außerdem das erste Kind meiner Mutter und zog wahrscheinlich deshalb ihre Ängste und Befürchtungen auf mich. Das Füttern war von Anfang an eine Qual für mich, denn ich wurde nach Plan und nicht nach Bedürfnis gestillt. Wenn ich hungrig war und mein Bedürfnis durch Schreien äußerte, wurden meine Anstren32
gungen (das Schreien) niemals belohnt. Stattdessen wurden meine Bedürfnisse zu Zeiten erfüllt, die mir völlig verrückt erschienen, entweder, wenn ich überhaupt nicht hungrig war, oder, wenn ich schlief, usw. Mein Bedürfnis und die tatsächliche Bedürfnisbefriedigung (das Füttern) fielen selten zusammen. Sie paßten einfach nicht zusammen. Wenn ich das Bedürfnis verspürte, bekam ich nichts, und wenn ich das Bedürfnis nicht verspürte, bekam ich etwas. Es war einfach verrückt, es wirkte auf mich sinnlos und verwirrend, als sei ich bereits in früher Kindheit aus dem Lebensrhythmus geraten. Mir ist heute klar, daß es mir ähnlich erging, wenn ich das Bedürfnis hatte, in den Arm genommen und geliebt zu werden. Ich konnte dieses Bedürfnis nur so äußern, wie ich es als Kind getan hatte, nämlich durch Schreien und Weinen. Doch meine Mutter nahm mich nicht in den Arm und widmete mir keine Aufmerksamkeit, sondern wurde im Gegenteil wütend auf mich und ließ mich allein in meinem Zimmer. So wird man verstehen, daß es auf mich wirkte, als würde ich jedesmal bestraft, wenn ich Bedürfnisse zeigte. Sie
wurden nicht in der Weise beantwortet, wie ich es mir wünschte, sondern genau entgegengesetzt: ich wurde allein gelassen und ausgeschlossen. Kein Wunder, daß ich in den Mutterleib zurückkehren wollte, doch wenn ich einmal das MutterleibsGefühl hatte, dann fühlte ich mich trotzdem nicht lange sicher, denn in jedem Augenblick konnte der ruckartige Stoß wieder einsetzen, und so erfaßte mich selbst bei dem Gefühl, wieder im Mutterleib zu sein, Angst und Schrecken. Die Erinnerung an meine Kindheit besteht nur aus Angst und Schrecken, die mich ständig erfüllten. Meine Mutter verletzte und ängstigte mich auch, indem sie häufig Wut gegen mich äußerte und mir Schläge verpaßte. Sie prahlte ständig damit, daß ich das am meisten verprügelte Kind des ganzen Wohnblocks sei. Sie befürchtete ständig, mich zu verwöhnen. Heute weiß ich einfach, daß man ein Kind gar nicht verwöhnen kann, wenn man ihm zuviel Liebe gibt. Was mich angeht, so habe ich meinen Sohn ausgiebig verprügelt und ausgeschimpft, doch ich bin schließlich auf den Grund meiner Wut gekommen. Vor einigen Wochen hatte ich ein Urerlebnis, das mit irgendwelchen lächerlichen Kleinigkeiten im Verhalten meines Sohnes zu tun hatte, mit Bagatellen, die mich jedoch wahnsinnig ärgerten, und im Verlauf dieser Erfahrung wurde die Wut plötzlich viel intensiver, bis ich schließlich in einen Zustand völliger Raserei .geriet. Die Wut auf meinen Sohn wurde sofort Wut auf meine Mutter, eine Wut über alles, was ich als Kind 33
zu erdulden hatte. Ich verstehe jetzt, daß immer dann, wenn ich heutzutage in Wut gerate, diese Wut ausgelöst wird durch eine ungeäußerte alte Wut über meine Mutter, wie ich sie in der Kindheit empfunden habe. Mein armer Junge hatte die Hauptlast
dieser Wut zu ertragen, wie ich die von meiner Mutter ... und sie von ihrer Mutter. Ich könnte wirklich ein Buch darüber schreiben, wie übel meine Mutter mir mitgespielt hat und wie ich selbst meinem Sohn zugesetzt habe. Kurz und gut, man kann keine guten Eltern sein, wenn man noch in seiner Vergangenheit verhaftet ist, und das sind die meisten von uns.
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3 Geburtswehen und Entbindung
Im vorigen Kapitel habe ich erläutert, wie der körperliche Zustand der Mutter das Kind, das sie in sich trägt, beeinflussen kann. Neurotische Störungen können kurz nach der Empfängnis einsetzen. Der nächste kritische Punkt ist die Entbindung selbst. Ich werde mich mit den Geburtswehen und der Entbindung ausführlicher befassen, weil ich der Meinung bin, daß diese körperlichen Vorgänge häufig nicht nur quantitativ zur Neurosenentstehung beitragen, sondern auch zu qualitativen Sprüngen führen, qualitativ hinsichtlich der Schmerzanhäufung
und Spannungsrückstände, von denen das Körpersystem ergriffen wird. Die Geburt eines Kindes ist ein rhythmischer Prozeß. Geburtswehen haben einen eigenen Rhythmus; die Bewegung des Fötus durch den Geburtskanal in die Außenwelt ist im Grunde Teil eines geordneten Geschehnisablaufs — sofern es sich um eine auf den Körperrhythmus abgestimmte Geburt bei einer normalen Frau handelt. Menstruation und Schwangerschaft sind beide rhythmisch ablaufende Körpervorgänge. Rhythmus ist ein wesentlicher Bestandteil menschlichen Lebens. Neurose ist Antirhythmus. Bei neurotischen Störungen sind die Dinge nicht mehr im »Fluß«. Das Leben ist bruchstückhaft und zusammenhanglos. Bei neurotischen Frauen ist die Geburt häufig ein »unnatürlicher« Vorgang – nicht ruhig, glatt und fließend, sondern quälend. Aufgrund des Sozialisationsprozesses wird die menschliche Geburt im Gegensatz zu den Tieren nicht mehr von Instinkten gesteuert. Die Frau hat eine »angelernte« Geburt. Sie ist angeleitet, abgerichtet und vorbereitet auf einen Vorgang, der eigentlich natürlich ablaufen sollte. Der Gedanke einer natürlichen Geburt steht für gewöhnlich nicht zur Debatte. Die Frau wird ins Krankenhaus gebracht und unter Drogen gesetzt, so daß sie gar nicht in der Lage ist, die eigenen körperlichen Prozesse während der Geburt voll wahrzunehmen. Daher kann sie sich auf ihren eigenen Rhythmus nicht einstellen, denn sie fühlt ihren Körper nicht. Sie ist nicht in der Lage, ihren Körper einzusetzen, um dem Neugeborenen dabei zu »helfen«, durch den Geburtskanal zu gelangen. Häufig muß das Kind mit Hilfe von Instrumenten herausgezogen werden. Unterdessen ver35
spürt der Fötus all diese Unterbrechungen im Geburtskanal und ist bereits aus dem Rhythmus mit sich selbst, noch ehe er das Licht der Welt erblickt hat. Das Neugeborene ist mithin bei der Geburt schon kein Organismus mehr, dessen Funktionen natürlich und frei fließend arbeiten. Es ist ein Wesen, das daran »gehindert« wird, es selbst zu sein – sich nach seinem eigenen natürlichen Zeitgefühl zu entwickeln. Es muß sich dem durcheinander geratenen Rhythmus seiner Mutter »fügen«. An dieser Stelle müssen wir zunächst festhalten, daß Schmerz auf verschiedenen Ebenen auftritt, daß einige Schmerzen begrifflich wahrnehmbar sind, bewußt werden können, andere nicht. Körperliche Schmerzen prägen sich genauso nachhaltig ein wie jeder andere Schmerz. Zweitens kann Schmerz (Unbehagen) bereits im Uterus auftreten und während der Geburt noch verstärkt werden. Das heißt nicht, daß eine einzige Erfahrung – in diesem Falle: im Mutterleib zurückgehalten werden – das Neugeborene anschließend zu einem gefügig-unterwürfigen Kind zu machen vermag. Es heißt vielmehr, daß es in seinem Leben eine wesentliche Erfahrung gibt, eine Lebenssituation, in der es sich zu fügen hatte, und daß diese Erfahrung im Verein mit vielen späteren Situationen, in denen es sich den Bedürfnissen anderer zu unterwerfen hat, eine durch Unterwürfigkeit gekennzeichnete Charakterstruktur hervorbringen kann. Die Geburtserfahrung kann zum Urbild für spätere Reaktionen des Kindes auf Belastungen werden. Die Begriffe prototypisches (urbildliches) Trauma und prototypisches Abwehrverhalten sollen weiter unten ausführlicher erläutert werden. In diesem Zusammenhang ist wichtig, zu verstehen, daß eine natürliche, glatt verlaufende Geburt entscheidend dazu beiträgt, dem Kind eine dauerhaft schädigende Neurose zu ersparen.
Das Kind wird im Uterus, einem Muskelsack, der sich mit dem Wachstum des Fötus ausdehnt, mit allem Notwendigen versorgt. An einem bestimmten kritischen Punkt wird der Fötus ausgestoßen. Der Vorgang ähnelt in vieler Hinsicht der Arbeitsweise anderer innerer Organe wie der Blase oder des Mastdarms. Ein von inneren Spannungen erfüllter Mensch kann unter chronischen Verstopfungen leiden und nicht in der Lage sein, sich auf seinen natürlichen Rhythmus einzustellen. Eine »angespannte« Mutter kann unfähig sein, ihr Baby auszustoßen. Wir wissen, daß innere Spannung die Muskelfasern zusammenzieht, und so darf man erwarten, daß bei einer neurotischen Geburt die zirkulären Muskelfasern der Gebär36
mutter nicht ausreichend entspannt werden, um den Fötus ungehindert in den Vaginalkanal zu entlassen. Auch die Vagina ist elastisch und vermag sich unter normalen Bedingungen so weit auszudehnen, um auch ein ziemlich großes Baby aufnehmen zu können. Doch aufgrund von innerer Spannung kann es zum »Schließen« statt zum »öffnen« kommen. Ich spreche hier nicht von Spannung, die mit der Furcht vor dem Gebären einhergeht, sondern vielmehr von einer rückständigen Spannung im mütterlichen Körper — von der Last an Schmerzen, die sie ständig in sich trägt und die als Ursache dafür anzusehen ist, daß sie unter chronischen inneren Spannungen und Verkrampfungen steht. Der große Geburtsschmerz ist nach meiner Meinung in der Mehrzahl der Fälle auf eine Neurose zurückzuführen – auf ein unnatürliches Verhaltenssystem, das sich einem natürlichen Prozeß verschließt; in ganz ähnlicher Weise entsteht Schmerz, wenn sich ein wirklichkeitsfremdes Verhaltenssystem gegenüber echten Gefühlen verschließt. Ich wüßte keinen anderen
natürlichen Körperprozeß, der mit einem solchen Schmerz verbunden ist. Es scheint vielmehr so, daß natürlich ist, was Schmerz verhindert. Mangel an Flexibilität bei Neurotikern ist demzufolge nicht einfach ein Persönlichkeitsmerkmal, sondern ein neuromuskuläres Gesamtgeschehen.
Kaiserschnitt Gelegentlich sind die Geburtswehen so schwierig, daß ein Kaiserschnitt notwendig wird, um das Kind zur Welt zu bringen. Auch eine solche Operation kann das Neugeborene traumatisieren, denn die Muskelkontraktionen während der Geburt haben die Funktion, die Haut des Kindes zu stimulieren, die ihrerseits wichtige Körpersysteme stimuliert, darunter die Atmungsorgane und das Urogenitalsystem [Harn- und Geschlechtsorgane]. Die Muskelkontraktionen haben etwa die gleiche Funktion wie das Ablecken tierischer Neugeborener durch die Muttertiere. Ablecken fördert bei neugeborenen Tieren die Tätigkeit des Darmtrakts und der Blase. Beim Kaiserschnitt wie bei der Frühgeburt ist unter anderem der Mangel an körperlicher Stimulierung problematisch. (Bei frühgeborenen Kindern ist die Zeit der Geburtswehen gewöhnlich kürzer.) Wir haben Beweise dafür, daß Kinder, die auf solche Weise zur Welt kommen, in stärkerem Maße als andere Kinder zu Erkrankungen 37
der Atemwege neigen und daß sie später als üblich die Kontrolle von Sphinkter [Afterschließmuskel] und Blase erreichen. »Beschleunigung« der Niederkunft wie Verzögerung der Geburt beeinträchtigen die Gesundheit des Kindes, weil sie dem
natürlichen Rhythmus zuwiderlaufen. Ich möchte behaupten, daß solche Abweichungen von der natürlichen Geburt in vielen Fällen auf neurotische Störungen der Mutter zurückzuführen sind; aufgrund des neurotischen Verhaltenssystems der Mutter unterliegt das Neugeborene bereits bei der Geburt einem Trauma und wird so selbst in einen neurotischen Prozeß gedrängt. In unserem Leben gibt es kritische Zeitspannen, in denen unsere Bedürfnisse befriedigt werden müssen, wenn verhindert werden soll, daß wir uns das ganze Leben lang mit Problemen herumplagen. Eines dieser Bedürfnisse ist nach meiner Meinung das Zusammengepreßtwerden und die massive körperliche Stimulierung während der Geburt, ein Bedürfnis, das bei Geburten durch Kaiserschnitt zu kurz kommt. Ich hege starke Zweifel, daß irgendein späteres körperliches Wohlbehagen oder irgendeine Behandlung seitens der Pflegepersonen dieses Bedürfnis beseitigen können. So ist zum Beispiel nachweisbar, daß Kinder, die mit Hilfe einer Kaiserschnittoperation zur Welt kommen, emotional gestörter sind als normal geborene Kinder.* Durch Kaiserschnitt geborene Kinder sind ängstlicher und unruhiger. Sie neigen dazu, auf Reize passiver zu reagieren — eine verständliche Reaktion, wenn man bedenkt, daß sie an ihrer Geburt nicht aktiv teilgenommen haben. Eine Untersuchung ergab, daß Affenkinder, die durch Kaiserschnitt geboren wurden, in gleicher Weise, nämlich passiv, auf Reize reagierten.** Der Organismus von Kindern mit Kaiserschnittgeburt weist biochemische Unterschiede auf; so ist etwa der Eiweißgehalt des Blutserums geringer. Auch ist ihre Sterblichkeitsquote höher. Mit anderen Worten, eine natürliche Geburt, eine Geburt zur rechten Zeit, ist ein entwicklungsbedingtes Bedürfnis, und wenn die Befriedigung dieses Bedürfnisses vorenthalten oder verhindert wird, kann das zu tiefreichenden und dauerhaften Veränderungen im Organismus führen. Das Zusammenziehen der Gebärmutter mit dem Ziel, den Fötus freizugeben, stimuliert die peripheren Nerven [vom Rückenmark zum Gehirn führende
* W . J . P i e p e r e t a l . , > P e r s o n a l i t y T r a i t s i n C a e s a r e a n - N o r ma l l y D e l i v e r e d Children Be h a v io r o f I n f a n t Mo n k e ys : D if f e r e n c e s A ttr ib u ta b le to Mo d e o f Bir th < , in : S c ie n c e , 1 4 3 , 1 9 6 4 , S . 9 6 8 f f .
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Nerven], die ihrerseits Impulse an das Gehirn weiterleiten, und das Gehirn nimmt anschließend Einfluß auf alle entscheidenden Organsysteme. Wenn dieses wichtige Ereignis fehlt, kommt es nicht zu einer adäquaten Aktivierung des Nervensystems. In entscheidenden Phasen seiner Entwicklung braucht das Gehirn bestimmte Stimulierungen, um sich richtig ausbilden zu können. Die Betonung liegt auf »entscheidende Phasen«, denn wenn das Kind die mit der Geburt verbundene massive Stimulierung durch Zusammenpressen im Alter von drei Monaten erfährt, kann das durchaus schädigend und traumatisch sein und den Ausfall von Gehirnfunktionen zur Folge haben. Wir wissen noch aus anderen Erfahrungen, welche nachteiligen Folgen eine Kaiserschnittgeburt haben kann, nämlich aus der Beobachtung von Urerlebnissen bei Patienten, die auf diese Weise zur Welt gekommen sind. Bei diesen Geburtsprimals fehlt der fließende Rhythmus der Muskelkontraktionen normaler Geburten. Die dabei zu beobachtenden Bewegungen sind zufälliger und gewöhnlich heftiger als andere Bewegungen. Es hat den Anschein, als wollten die Patienten durch ihre heftigen Bewegungen und durch ihr wildes Umsichschlagen ein Entwicklungsdefizit ausgleichen; mit ihren Urerlebnissen versuchen sie, so scheint es jedenfalls, eine biologische Lücke zu füllen, die dadurch entstanden ist, daß ihnen das Zusammenpressen während einer normalen Geburt vorenthalten wurde. Sie haben niemals ihr ursprüngliches »Rhythmus«-Gefühl
erfahren, ihnen fehlt eine Anfangserfahrung, die ihren Körper von vornherein geprägt hätte. In diesem Sinne haben sie genauso ein mit Schmerzen verbundenes Urerlebnis gehabt, als wären sie bei der Geburt von der Nabelschnur stranguliert worden. Ein mit Hilfe eines Kaiserschnitts geborener Patient drückte es folgendermaßen aus: »Seit jenem Geburtserlebnis habe ich darauf gewartet, daß etwas Großartiges geschehen würde. Jeden Tag dachte ich, ein wichtiger Telefonanruf würde mein ganzes Leben ändern. Nun weiß ich, auf welch eine einschneidende Erfahrung ich gewartet habe.« Damit dürfte uns klar werden, daß das Fehlen von Ereignissen Schmerzen erzeugt; das heißt, einem Kind eine notwendige Entwicklungserfahrung vorenthalten kann genauso katastrophal sein wie die Belastung durch eine extrem intensive Erfahrung. Infolgedessen können Frühgeburten wie auch Kaiserschnittgeburten jeweils auf ihre besondere Weise eine Neurose einleiten. Ein durch Kaiserschnitt geborener Patient, den ich in der Primärthe39
rapie hatte, erklärte mir nach seinem Geburtsprimal, er habe das Gefühl gehabt, man zerre ihn weniger »heraus«, sondern nach oben wie nach unten. Der Patient fühlte sich orientierungslos, denn bei der Geburt hatte er noch keine Vorstellung von oben und unten; ihm war lediglich, als sei er vom festen Boden, nämlich der Gebärmutter, in den freien Raum gestoßen worden. Er erinnerte sich an die Bestürzung, die er empfunden hatte, als er in dem Spielfilm »2001« Menschen im Weltraum hatte schweben gesehen. Als er vor einigen Jahren von einem kleinen Mädchen hörte, das in einen Brunnen gefallen war, konnte er vor Angst nicht einschlafen. Er wollte wissen, ob es gelingen würde, sie heil herauszuholen. Nach seinem Urerlebnis verstand er seine Angst. Sein Organismus hatte sozusagen das Fehlen einer notwendigen Erfahrung in Erinnerung behalten und in seinem
späteren Leben auf bestimmte Situationen mit entsprechenden, wenngleich unbewußten Ängsten reagiert. Die Geburt selbst bedeutet für das Neugeborene nicht notwendig ein Trauma, solange die Geburt nicht traumatisch verläuft. Es stimmt nicht, daß der Fötus im Mutterleib ein idyllisches Leben führt und eines Tages gegen seinen Willen aus seiner »Schutzhülle« gerissen wird. Vielmehr gehört das Auf-die-WeltKommen zur Lebensentwicklung. Die Geburt ist eine Stufe in der Entwicklung, vergleichbar dem Sich-Aufsetzen und dem Gehen. Wir sind nicht der Meinung, daß der Übergang vom sorglosen Aufenthalt im Mutterleib zum aktivitätsfordernden Aufenthalt auf dieser Erde traumatisch ist, noch können wir uns mit dem Gedanken befreunden, daß der Umschwung von totaler Abhängigkeit von der Mutter zur teilweisen Abhängigkeit von ihr tatsächlich eine Katastrophe bedeuten muß. Die gegenwärtigen Bemühungen um eine »natürliche« Geburt richten ihr Augenmerk in erster Linie darauf, den Frauen Geburtsschmerzen zu ersparen. Es ist zwar ein großer Fortschritt, daß man sich überhaupt Gedanken über die natürliche Geburt macht, doch ich glaube, man sollte die Tatsache nicht übersehen, daß wir einer neurotischen Mutter innere Schmerzen nicht gänzlich ersparen können, sofern wir es mit der natürlichen Geburt wirklich ernst meinen. Möglicherweise hat die Vorstellung, jede Geburt sei mit Schmerzen verbunden, dazu geführt, sich vor allem um die Vermeidung von Schmerzen zu kümmern. Gewiß, die Geburt ist mühevoll, doch es besteht kein Grund, warum wir gesunde Mütter nicht auffordern sollten, diese Mühen »auf sich zu nehmen«, die wie immer gearteten Schmerzen zu ertragen und ihren Qualen Ausdruck zu geben, wenn 40
sie vorhanden sind. Um es zu wiederholen, Qualen und Schmerzensschreie lassen sich nicht vermeiden, wenn etwas Wahres und Wirkliches einem wirklichkeitsfremden Körper- und Verhaltenssystem entrissen oder entbunden wird, und ob es sich dabei um Gefühle oder um ein Kind handelt, spielt meiner Meinung nach keine Rolle. Einübung ist hilfreich, doch wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, daß wir einem Neurotiker »beibringen« könnten, normal zu sein und ohne innere Schmerzen zu leben. »Jemandem beizubringen, natürlich zu sein«, ist ein logischer Widerspruch. Ein Kreißsaal mit Frauen, die vor Schmerzen schreien, ist besser als ein Kreißsaal mit folgsamen, unter dem Einfluß von Narkotika stehenden Frauen, denen es verwehrt ist, das wichtigste Ereignis ihres Lebens voll zu erleben: die Geburt ihres Kindes. Es ist nicht nur ein netter »Wunsch«, Gebärende nicht zu narkotisieren, denn viele Patientinnen, die Geburtsprimals erlebt haben, erklären anschließend, an einem entscheidenden Punkt der Geburtswehen seien ihre Gefühle erstarrt; nach ihren Urerlebnissen sind sie mehr tot als lebendig, ihnen ist völlig unklar, was mit ihnen geschehen ist. Sie kommen nicht voller Lebens- und Tatendrang zur Welt, im Gefühl, ihre Geburt wahrhaft erlebt zu haben, sondern »benebelt und betäubt« (darüber später mehr). Eine neurotische Mutter, die sich darauf einstellt, dem Schmerz »nachzugeben«, erleichtert den Geburtsvorgang, und damit fallen einige Faktoren fort, die eine neurotisierende Wirkung auf ihr Kind haben können. Bei Frauen, denen bewußt ist, daß sie bei der Geburt vor Schmerzen schreien können und sollen, werden sich Schuldgefühle und innere Spannungen vermindern. Stattdessen werden Frauen jedoch aufgefordert, sich »tapfer« zu verhalten, »sich entsprechend ihrem Alter zu verhalten« usw. Sie geraten buchstäblich in eine »Double-bind«-Situation [kaum zu übersetzen; etwa: Doppelbindung oder Zwickmühle]. Sie empfinden das Bedürfnis, ihren Schmerzen durch Schreie Ausdruck zu geben, und zugleich bereitet es ihnen Schmerzen,
daß sie die Äußerung des ursprünglichen Schmerzes unterdrücken müssen. Diese Unterdrückung verstärkt die Spannungen und intensiviert mithin das Geburtstrauma. Gerade die Schmerzensschreie würden Erleichterung und Entspannung bringen, der Gesamtschmerz würde geringer, erträglicher, und das wäre schon ein Vorteil. Zum Ausdruck gebrachter Schmerz kann besser verkraftet werden. Sich gegen den Ausdruck von Schmerzen sträuben hat schädliche Folgen. Die Ärzte sollten bei der Verwendung von schmerzstillenden Mit41
teln zurückhaltender sein; derartige Mittel werden häufig rein mechanisch verabreicht, sobald Patienten Schmerzen äußern. Auch die Ärzte sollten die Schmerzen der Mutter »auf sich nehmen«. Schmerzstillende Medikamente halten die innerliche Spannung lediglich zurück; viele der auf die Geburt folgenden Schmerzen wie Kopf- und Rückenschmerzen könnten die Folgen von Spannungsunterdrückung sein, die entweder von der Mißbilligung von Schmerzäußerungen seitens des Krankenhauspersonals herrührt oder von Medikamenten, die der Mutter gegeben werden, um sie zu »beruhigen«. Der stets fällige Preis für Unterdrückung von Schmerzen sind spätere Verhaltensstörungen. Unterdrückung bedeutet, daß sich Spannungsenergien anstauen, und diese Energien müssen ein Ventil finden, sobald sie ein bestimmtes Maß übersteigen.
MADELYN
Heute ist mir etwas klar geworden, was mich seit sechseinhalb Jahren gequält und deprimiert hat! Nachdem ich über den schrecklichen Tod meines Kindes in Weinen ausgebrochen war
und das damalige Traurigkeitsgefühl wieder verspürte, mir elend wurde bei dem Gedanken an mein Kind, da nahm mein Körper eine Stellung wie bei der Entbindung ein. Ich hatte starke Schmerzen im Unterleib, meine Beine spreizten sich, ich preßte die Hände gegen den Bauch, mein Körper zuckte, und ich verspürte Geburtswehen. Dann ging mir plötzlich ein Licht auf, und mir fiel ein: Bei der Geburt meines kleinen Mädchens wurden die Wehen künstlich eingeleitet, und ich habe davon nicht das Geringste gespürt, das heißt, ich kann mich nicht daran erinnern, weil der Arzt mir Skopolamin gegeben hatte, ein Mittel, das die Erinnerung ausschaltet. Ich wachte im Krankenzimmer auf, ohne die guten, normalen Schmerzen verspürt zu haben, die man empfinden sollte, wenn man ein Kind zur Welt bringt. Sie (die Ärzte) hatten mir meine Schmerzen vorenthalten, indem sie mein Gedächtnis ausschalteten, und daher verfiel ich nach der Geburt meines Kindes in schwere Depressionen. Bei meinen anderen Kindern konnte ich die Geburten voll und ganz fühlen und erleben. Ich habe mir immer schon gedacht, daß Schmerz, der nicht verspürt wird, unvermeidlich zu Depressionen führt. Nach meiner Meinung gibt es nicht so etwas wie eine Schwangerschaftsdepression nach der Entbindung. Meine Depression wurde 42
von Medikamenten verursacht, die mich an den Gefühlen hinderten. Der aufgrund der Medikamente unterdrückte, nicht empfundene Schmerz ist schuld daran, daß ich in Depressionen verfiel. Als ich schwanger wurde, spürte ich meinen Schmerz bereits ganz deutlich, denn damals war das Kind einer guten Freundin gestorben, und ich habe miterlebt, welche Schmerzen sie empfand. Die Gegenwart meiner Freundin, die Gespräche mit ihr, brachten meinen Schmerz gefährlich nahe an die Oberfläche.
Als mir dann meine Geburtswehen nicht gestattet wurden, entstand in mir ein Übermaß an nicht gefühlten Schmerzen, das mich in die Depressionen trieb.
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verbundenen systematischen Spannungsstauung läßt sich auch aus der Beobachtung erschließen, daß bei Patienten, die in der Primärtherapie solche Erfahrungen durchlebt haben, beträchtliche psychophysische Veränderungen vor sich gehen. Otto Rank hat das Geburtstrauma, das er für universal hielt, zur Grundlage eines ganzen Theoriegebäudes gemacht. Seinerzeit war man der Auffassung, die Geburt sei an sich traumatisch, weil das Kind in eine feindliche Umwelt geworfen werde. Nach Meinung der Geburtstrauma-Theoretiker ist das unfreiwillige Verlassen des sicheren Mutterleibs mit niederschmetternden Gefühlen verbunden. Geburten sind jedoch nur dann traumatisch, wenn sie tatsächlich
* E in e a u s f ü h r lic h e Be s c h r e ib u n g e in e s U r e r le b n is s e s ( P r ima l) f in d e t s ic h in D e r U r s c h r e i , S . F is c h e r V e r la g , F r a n k f u r t a m Ma in 1 9 7 3 .
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traumatisch verlaufen, und zwar nur dann — etwa im Falle von Strangulierung durch die Nabelschnur, bei Spätgeburten, bei übermäßig langwierigen Geburtswehen. Eine Zangengeburt kann schädliche Folgen haben, wenn der Arzt das Instrument nicht vorsichtig handhabt. Diese Traumata verursachen im Verein mit anschließenden körperlichen oder seelischen Torturen möglicherweise eine Überlastung des Kindes; sie können zu Erlebnisbrüchen führen, zu Erfahrungen, zwischen denen das Kind keinen Zusammenhang herstellen kann. Das vielleicht häufigste Geburtstrauma sind ungewöhnlich lange Geburtswehen. Den Begriff Zusammenhangslosigkeit von Erfahrungen habe ich in meinen früheren Arbeiten erläutert. Überlastung heißt, auf eine kurze Formel gebracht, daß ein Gefühl so qualvoll ist, daß es vom Körpersystem nicht reibungslos integriert werden kann.
Aufgrund dessen kommt es zu keiner Verbindung zwischen dem Bewußtsein des Gefühls und dem Gefühl selbst. Das heißt, das Bewußtsein ist gespalten, und die betroffene Person bemerkt ihr Leiden nicht. Zwei von uns primärtherapeutisch behandelte Mütter hatten noch während der Behandlung Geburten, und beide verliefen schnell und ohne Schwierigkeiten. Ich möchte annehmen, daß dies kein Zufall war, sondern zurückzuführen ist auf die Entspanntheit der Mütter, die ihr Neugeborenes psychisch wie körperlich freudig zur Welt brachten und ihm damit Belastungen ersparten. Man kann sich das Trauma gut vorstellen, das sich im Nervensystem eines Neugeborenen niederschlägt, das sich zwanzig bis dreißig Stunden abmühen muß, ehe es das Licht der Welt erblickt. Wir brauchen jedoch unsere Vorstellungskraft nicht zu bemühen, da wir miterlebt haben, wie Patienten während dieser gelegentlich Stunden dauernden Urerlebnisse sich winden, sich zusammenkrümmen und um sich schlagen. Danach sind sie völlig erschöpft; einige Patienten gehen aus dem Erlebnis mit einem Gefühl innerer »Leere« hervor und verbinden damit jenes zeit ihres Lebens verspürte Gefühl ständiger Erschöpfung, die ihnen kaum Energie genug ließ, eine schwierige Aufgabe durchzuführen. Bei einer gewissen Anzahl von Urerlebnissen spielt die Strangulierung durch die Nabelschnur eine Rolle; andere wieder haben mit Spätgeburten zu tun.* Wie wir bisher gesehen haben, bedeutet die Neurose der Mutter
* E in e a u s f ü h r lic h e Be s c h r e ib u n g d e s im V e r la u f v o n G e b u r ts p r ima ls w ie d e r b e le b te n G e b u r ts tr a u ma s f in d et d e r L e s e r in d e n S c h ild e r u n g e n v o n P a tie n te n , d ie in A n h a n g A u n d B w ie d e r g e g e b e n s in d .
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buchstäblich ein Unglück für den Fötus. Noch ehe er das Licht der Welt erblickt, hat er bereits Widrigkeiten zu bewältigen. Vor dem ersten Atemzug befindet er sich bereits in einer Art Kampf ums Leben. Ungeachtet des Faktenwissens, über das die Mutter verfügt, ungeachtet auch des Umstandes, ob sie sich auf die Geburt vorbereitet hat oder nicht, ihre neurotischen Störungen stürzen den Fötus in Not und Mühsal. Mag eine Mutter auch verschiedene traumatische Erfahrungen ihrer eigenen Kindheit innerlich von sich abspalten und verdrängen, wenn die Verdrängungen mit Hilfe verkrampfter Muskulatur aufrechterhalten werden, dann wird sich bei Eintritt des Geburtsschmerzes die Muskulatur, zu der auch der Uterus und der Vaginalkanal gehören, automatisch zusammenziehen. Das gilt besonders für frigide Frauen, die auf Sexualität mit »Verschließen« reagieren. Nach meiner Beobachtung dauern bei Frauen, die sexuelle Probleme haben, die sexuelle Situationen automatisch mit Verkrampfung abwehren, die Geburtswehen länger. In der Primärtherapie treffen wir auf Mütter, die unter dem Eindruck stehen, die rhythmischen Muskelkontraktionen bei Beginn der Geburtswehen lösten die Schmerzen ihrer eigenen Geburt aus und endeten mit der die Geburt hindernden Verkrampfung, wie sie sich bei ihrer eigenen Geburt ereignet hatten. Wir können mithin sagen, daß einer der Faktoren, die sicherstellen, daß eine schwangere Frau ohne Schwierigkeiten niederkommt, eine gut verlaufene Geburt der Frau selbst ist. Wenn eine Mutter eine traumatische eigene Geburt erlebt hat, dann muß sie dieses frühe Trauma wiedererleben, um die innere Freiheit zu gewinnen, die Geburt ihres Kindes in rechter Weise durchzustehen. Von Geburtsprimals kann man sich nicht auf verbale Weise, das heißt durch Worte, befreien. Denn dann hört man vom Patienten nur Klagen und Jammern und schließlich, wenn es um die Geburt geht, kindliches Wimmern und Wehgeschrei. Das Geburtstrauma hat sich im Nervensystem
niedergeschlagen, lange bevor die entscheidenden Gehirnbereiche, welche die Erfahrung wahrnehmen und deuten können, sich voll ausgebildet haben. Kein Wunder, daß das Geburtstrauma eine ständige unbewußte Störungsquelle bleibt. Was haben wir demnach unter einem Trauma zu verstehen? Jeden angestauten Schmerz, der sich nicht reibungslos in das Organsystem integrieren läßt; eine Schmerzmenge, die unsere integrative Fähigkeit überfordert und damit zu Spaltungs- und Desintegrationsprozessen führt. Das nicht zu integrierende Übermaß an Schmerz läßt gleichsam einen Speicher innerer Spannungen entstehen. 46
Spannung ist folglich ein vom Bewußtsein abgespaltenes Gefühl. Bewußtsein heißt nicht unbedingt etwas begrifflich Artikulierbares wie etwa die Äußerung: »Ich habe Angst.« Es kann sich dabei vielmehr einfach um eine körperliche Erfahrung handeln, die wir als Sinneseindruck wahrnehmen. Wenn dieser Sinneseindruck, also etwa der Geburtsschmerz, überwältigend wird, stumpft das Bewußtsein (und die Empfänglichkeit für Sinneseindrücke) ab. Aus diesem Grunde sagen wir, daß Neurotiker keine Gefühle haben, daß ihre Empfindungsfähigkeit verringert ist. Sie empfinden lediglich Spannungsabstufungen. In Wahrheit gibt es so etwas wie »Neurose« nicht. Neurose ist lediglich ein Begriff, mit dem wir das Verhalten von Menschen belegen, die viele ihrer frühen Erfahrungen vom Gefühl fernhalten und daher unter erheblichen und augenfälligen Spannungszuständen leiden. Mit jedem Gefühl, das der Mensch nicht empfindet, wird er ein nicht oder weniger fühlender »Neurotiker«. Das heißt, jede Verdrängung von Erfahrungen vergrößert die Kluft zwischen der Realität und dem im Laufe der Zeit entwickelten symbolischen, realitätsfremden Verhalten. Die Schwere einer Neurose hängt von dem Ausmaß an Schmerz ab, an
realem Schmerz, welcher der Verdrängung unterliegt; und dieser Schmerz ist ablesbar an dem Ausmaß der rückständigen Körperspannung. Je höher das Spannungsniveau, je mehr Gefühle sind verdrängt worden. Verdrängter Geburtsschmerz äußert sich häufig bereits im frühen Lebensalter in Form von Unrast und Reizbarkeit. In solchen Fällen ist das kleine Kind unfähig, still zu sitzen, es quengelt so lange, bis man es auf den Arm nimmt oder durch ständiges Schaukeln beruhigt. Doch solches Beruhigen hat lediglich eine vorübergehend besänftigende Wirkung, wie etwa ein Tranquillizer [auf die Psyche wirkendes Beruhigungs- oder Dämpfungsmittel] Damit wird der frühe Schmerz nicht beseitigt. Sobald ein Patient seine Geburtsprimals durchgemacht hat, gerät er nicht mehr automatisch in Zustände der Gereiztheit. Der entscheidende Punkt ist, daß wir präverbale, das heißt vor der Sprechfähigkeit liegende, unbewußte Schmerzen genauso abwehren wie erinnerte Schmerzen. Das Abwehrverhalten stellt sich automatisch und reflexartig ein; es ist kein Verhalten, das wir frei wählen könnten. Tatsächlich besteht zwischen dem vorbewußten körperlichen Schmerz, den wir einst erfahren haben, und dem bewußten psychischen Schmerz, den wir hier und jetzt empfinden, subjektiv kaum ein Unterschied. Die Schmerzen machen sich in gleicher Weise bemerkbar; das heißt, die Erfahrung von Schmerz wird durch die gleichen 47
psychischen und neurologischen Prozesse vermittelt. Es spielt beispielsweise keine Rolle, ob jemand unter Gefühlen leidet, die sich etwa mit den Worten ausdrücken lassen: »Ärgere dich nicht über mich, Vati!« oder: »Warum nimmst du mich nicht auf den
Arm, Mammi?« Die subjektive Erfahrung dabei wäre die gleiche, nur die geistigen Ausdrucksmittel wären verschieden. Schmerz ist unbefriedigtes Bedürfnis; die fehlende Befriedigung verursacht Qualen. Bei der folgenden Fallgeschichte geht es um einen Schauspieler, der drei Wochen zu früh zur Welt kam. Der Fall ist insofern aufschlußreich, als er die weitreichenden Folgen einer Frühgeburt auf die verschiedensten Formen des Sozialverhaltens veranschaulicht — angefangen von der Berufswahl, nämlich der Schauspielerei (in die Rolle eines anderen schlüpfen), bis zur Impotenz (er war nicht fähig, nicht bereit, erwachsen zu werden). Das vorzeitige Verlassen des Mutterleibes hemmte seine »Bereitschaft« zum Leben. Sein Verhalten war ein fortwährendes Ausagieren, ein Versuch, an jenen »sicheren Ort« zurückzukehren, ein immer wiederholter Versuch, wie früher ein »Teil« seiner Mutter zu sein. Dieses eine schwerwiegende Trauma beraubte ihn seiner Identität; im wahrsten Sinne des Wortes ein Existenzproblem. Er war Bestandteil von »ihr«, seiner Mutter, und niemals vollständig er selbst. Mitten in der Nacht (bei Nachlassen der Abwehr) wachte er auf und fühlte sich als Frau. In der Therapie konnte er anfangs nur Gefühle empfinden, wenn er sich in die Gefühle einiger Frauen in der Therapiegruppe versetzte. An diesem Beispiel wird uns deutlich, welch großen Einfluß ein sehr frühes Trauma auf das Sexualleben ausübt. Seit seiner Geburt fühlte sich der Patient wirklich »impotent«, und diese Impotenz kam überall zum Vorschein, angefangen beim Sozialleben, das ihn zum »Versager« stempelte, bis hin zum Sexualleben, dem er gleichfalls nicht gewachsen war.
BRIAN
Nach den Worten meiner Eltern kam ich drei Wochen zu früh zur Welt. Heute morgen bin ich mit Schmerzen im Nacken und in den Schultern aufgewacht. Meine linke Hand war teilweise gelähmt; ich konnte meine Finger nicht bewegen. Während ich noch im Bett lag, konnte ich im Innern meines Kopfes ein knirschendes Geräusch 48
hören — als wenn mein Kopf unter zu hohem Druck stände. Nach und nach konnte ich meine Finger wieder bewegen, doch ich fühlte mich erschöpft und verspürte eine leichte Übelkeit. Dieses Gefühl habe ich jetzt schon seit Monaten – ein Gefühl sozialer Lähmung und der Unfähigkeit, mich gehen zu lassen und in meine Geburtsgefühle zu versinken. Ich ging im Zimmer herum, aß ein wenig und hörte Musik, John Lennons Plastic Ono Band, die ich mir vor einigen Tagen ausgeliehen hatte. Von Zeit zu Zeit legte ich mich auf den Boden des Wohnzimmers und versuchte mich in meine Gefühle zu versenken. Dann stand ich auf und ging in mein kleines Zimmer mit schalldichten Wänden. Ich beschäftigte mich in Gedanken mit einem Mädchen in der Therapiegruppe, mit der ich mich oft herumgestritten habe. Allmählich hatte ich das Gefühl, sie zu sein, und mir kam der Gedanke, wenn dem so sei, dann würde ich meine eigenen Freunde haben und sie nicht mit ihrer (meiner) Tochter Jean teilen wollen. Ich mußte dies Lynda erzählen, die im Wohnzimmer geblieben war. Als ich ihr sagte: »Ich fühle mich wie das Mädchen aus der Gruppe«, meinte sie (wie schon früher), daß es mir sehr leicht falle, mich in anderen Menschen aufgehen zu lassen – ein anderer Mensch zu sein –, indem ich sie nachahmte oder mit ihnen fühlte. (Ich bin Schauspieler.) Der Druck im Nacken und in den Schultern verstärkte sich – wie auch die Übelkeit. Ich legte mich auf den
Boden und begann zu zittern. Meine Hände und Arme, Füße und Beine schlugen unkontrolliert um sich (als wäre ich ein Hampelmann). Meine Glieder fühlten sich an, als seien sie schwerelos. Ich wußte nicht, was mit mir geschah. Ich tauchte tiefer in diese Gefühle ein, und die Krämpfe und das Um-sichSchlagen nahmen zu. Ich war ein winziges Etwas, das seine richtige Form noch nicht gefunden hatte, doch ich bewegte mich, wurde unbarmherzig durch und durch geschüttelt. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert darüber, daß nach Monaten der Lähmung etwas in Bewegung geraten war. Nach etwa einer Stunde erhob ich mich vom Wohnzimmerboden und torkelte in das schalldichte Zimmer, in den Primalraum. Ich versank immer tiefer in mein Geburtserlebnis. Jetzt fühlte ich mich noch kleiner, als ein primitives Etwas, wie ich es auf Bildern vom Fötus im Alter von sechs oder sieben Monaten gesehen hatte. Ich fühlte mich so klein wie eine Ratte. Doch es geriet etwas in Bewegung. Ich hatte kein eigenes Ich mehr. In meinen Gefühlen war ich sie. Sie hatte die Krämpfe, sie zitterte und versuchte, mich mit Gewalt zur Welt zu bringen. Ich wollte das nicht, verspürte Haß 49
dabei! Aufruhr! Schreie! Ich hatte mich immer nur als sie gefühlt. So jedenfalls empfand ich es, als die Krämpfe einsetzten. In diesem Augenblick erfuhr ich etwas Neues über sie. Bis dahin hatte ich sie nur von der Nabelschnur her gekannt, die mich mit ihr und der warmen Flüssigkeit verband, in der ich gelebt hatte. Nun war ich gezwungen, sie von den äußeren Grenzen meines Ichs her zu betrachten, und doch war mir bei allem Zittern und bei allen Krämpfen nicht klar, wo ich anfing und sie begann oder wo ich begann und sie anfing. Doch warum mußte ich diese Erfahrung machen? Warum? Ich fragte nicht danach! Die Krämpfe und das Zittern verstärkten sich, und mir ging auf, daß ich mich akzeptieren und fühlen mußte, wenn ich überleben
wollte. Sie brachte mich dazu, ich zu sein, obwohl ich das nicht wollte. Nun gut, wenn ich ich sein mußte, dann blieb mir nichts anderes übrig, als ins Freie zu gelangen. Ich mußte ich sein, doch ich wollte es nicht. Als ich wie eine rauhe See aufgewühlt war, ohne die Möglichkeit, meine Bewegungen zu kontrollieren, empfand ich Panikgefühle und völlige Hilflosigkeit. Ich schrie und schrie — diesmal, damit sie auf mich aufmerksam würde. Ich rief Lynda, die an der Tür saß, zu: »Weißt du, was mit mir los ist?« Sie antwortete: »Ich habe keine Ahnung.« Ich brüllte: »Du hast keine Ahnung, hast wirklich keine Ahnung? Unglaublich!!« Mich überkam das Gefühl, daß meine Mutter keine Ahnung hatte, was vor sich ging, was damals mit mir geschehen war. Ich wurde heftig durch und durch geschüttelt, und sie konnte mich nicht fühlen, konnte nicht fühlen, was vor sich ging. Unglaublich! Sie konnte nicht einmal ihren eigenen Körper fühlen. (Sie stand unter Medikamenten.) Ich hatte Angst, ich müßte sterben. Ich mußte ich selbst sein, wenn ich am Leben bleiben wollte. Ich mußte ins Freie gelangen, mußte von da an mein eigener Herr sein. Ich schrie und schrie. Jetzt war ich es selbst, wirklich ich, der herauskam. Ich fühlte meinen Nacken und meine Schultern, und ich war immer noch ein winziges, unentwickeltes Etwas. Irgend etwas legte sich um meine Schultern, ich fühlte, wie es mich erwürgen wollte, und dann konnte ich fühlen, wie mein Kopf durch eine Öffnung ins Freie, in die Kälte gelang. Flüssigkeiten drohten mich zu ersticken, Hände legten sich um meinen Nacken. Ein schwerer Atemzug, ein Aufstöhnen — und dann empfand ich einen schrecklichen Schmerz in meiner Brust. Meine Brust ging auf und ab, und bei jeder Bewegung war da dieser schreckliche Schmerz. Mit den Lungen atmen! Gräßlich! Ich schrie und schrie mit jedem neuen Atemzug. Ich habe dies nie gewollt. Warum muß ich das tun? Es war so schmerzlich, 50
draußen zu sein - lebend, atmend. Ich hatte das Gefühl, nicht Kraft genug zu haben, um dieses Atmen durchzuhalten. Würde ich jemals in der Lage sein, den Schmerz des Atmens zu überwinden, um fühlen zu können, wo ich war, was mit mir geschah? Ich lag lange Zeit da, schreiend, keuchend, in der Hoffnung, es durchstehen zu können, daß die Luft in meinen Körper eindrang, ich fühlte bei jedem neuen Atemzug großen Schmerz in meinen Lungen. (Nach einer Weile hatte ich den Gedanken: »Ich bin draußen. Ich bin am Leben.«) Doch ich verspürte weiterhin das Verlangen, dorthin zurückzukehren, wohin ich gehörte. Nach dem Urerlebnis träumte ich davon, Blumen und Bäume zu betrachten, träumte, ich mache in nächtlicher Luft einen Spaziergang, um die Erde zum erstenmal wirklich zu sehen. (Das Urerlebnis begann gegen 13.30 Uhr, und jetzt war es bereits dunkel.) Das Urerlebnis hatte etwa sieben Stunden gedauert. Ich rief Art an. Er kam an den Telefonapparat. Der Schmerz während des immer schnelleren Atmens verstärkte sich. Doch bei dem Schmerz hatte ich ein Gefühl der Erleichterung, der Erhebung. Ich erklärte Art, ich sei geboren. Er antwortete: »Es klingt, als wenn du noch drin bist.« Er hatte recht (oder war das eine Äußerung, ein Hinweis meiner Mutter?) Ich taumelte in das Zimmer zurück und versank wieder in Krämpfe, zitterte am ganzen Körper. Ich war wieder im Mutterleib und kämpfte mich nach draußen. Dann wieder die Hände um meinen Nacken, Erstickungsanfälle, die Kälte und das Licht (bei diesem Mal), die Atemzüge und der gräßliche Schmerz des Atmens - ich benutzte zum erstenmal meine Lungen (erfüllt von der Angst: »Werden Sie das aushalten?«). Ich schrie wieder aus vollem Halse. Das fühlte sich gut an. Ich lag da, hatte das Gefühl, ich wünschte nichts anderes, als mich an das Atmen zu gewöhnen, damit der Schmerz, aufhörte. Ich war nur mit dem
Versuch beschäftigt, meinen Körper in Gang zu bringen. Später, nach dem Urerlebnis, scherzte ich mit Lynda darüber, wie albern es sei, zu atmen, die Lungen benutzen zu müssen (was für eine verrückte Welt!). Ich betrachtete die Pflanzen und Blumen in der Wohnung und verspürte eine Art kameradschaftlicher Zuneigung zum Lebenskampf. Mir ging auch der Gedanke durch den Kopf: »Wie konnte ich all die Jahre Fleisch essen?« Während des Urerlebnisses hörte ich hin und wieder den JohnLennon-Song Remember, die Melodie verfolgte mich, sie verstärkte die Krämpfe und das Zittern, vermischte sich mit ihnen. Die einset51
zenden Krämpfe stürzten mich in chaotische Gefühle und in Verwirrung, sie waren für mich der Anfang der Zeit, einer Zeit, auf die ich noch nicht vorbereitet war. Für mich handelt der Lennon-Song vom Anfang aller Dinge. Die in seinem Lied zum Ausdruck kommenden Gefühle empfand auch ich: »Don't feel sorry for the way it's gone; don't you worry for what you've done.« [Frei übersetzt etwa: »Sei nicht betrübt darüber, wie alles verlaufen ist; ärgere dich nicht darüber, was du getan hast.«] Ich war betrübt, doch so verläuft es wirklich! Der 5. November – an dem gleichsam eine Bombe explodierte – war in Wirklichkeit der 6. März, mein Geburtstag. Obwohl ich jetzt draußen bin, sehne ich mich immer noch danach, wieder dort zu sein, wo ich mich befand, als der große Schock eintrat, das heißt danach, sie zu sein, ein Teil von ihr, sie durch meine Nabelschnur in mich aufzunehmen. Während der letzten dreizehn Jahre war mir bewußt, daß ich versuchte, meinen Körper zu fühlen (ich bin auch meistens impotent gewesen, ohne jedes wirkliche sexuelle Gefühl), doch im Grunde genommen wollte ich
ihn gar nicht fühlen. Das machte mir auch in der Therapie zu schaffen — dieses Bemühen, in meinen Körper zu gelangen. Vor der Therapie konnte ich dem Schmerz nur durch Masturbation (das geschah häufig), durch das Anschauen von Pornographie, durch Voyeurismus (bis zum 24. Lebensjahr war ich ein zwanghafter »Spanner«), durch Rauchen und Schlafen entkommen. In den letzten Jahren habe ich eine Menge geschlafen, häufig bin ich noch vollständig angekleidet eingeschlafen, nachdem ich von der Arbeit in mein Ein-ZimmerAppartement heimgekehrt war. Während ich verlassene, ans Haus gebundene, behinderte Kinder unterrichtete, verlor ich mich in ihnen und in der Rolle, die ich spielte. Wenn ich mit ihnen zusammen war, bin ich häufig eingeschlafen. In den letzten zehn Jahren bin ich oft mitten in der Nacht mit dem Gefühl aufgewacht, ich sei eine Frau mit Brüsten und einer Vagina - ein schreckliches Gefühl. Ich stand auch häufig unter dem Zwang, darauf zu achten, daß ich keine zu weiblich wirkenden Kleidungsstücke trug. In Filmen weinte ich oft beim Anblick von Kummer und Einsamkeit der Hauptdarstellerinnen (das ist mir erst kürzlich aufgegangen). Oftmals fand ich Erleichterung, wenn ich bekannte Persönlichkeiten (Frank Sinatra, John Kennedy) oder jemanden aus meinem Bekanntenkreis nachahmte — sowohl im Beisein von anderen als auch für mich allein. Wenn ich in Stücken auftrat, wurde ich die dargestellte Person, selbst außerhalb der Bühne. Ich träumte häufig, ich sei anderen Leuten ähnlich oder sei ein anderer Mensch. 52
Immer wenn jemand, den ich mochte, anfing, mich gern zu haben, fand ich Gründe, um mich dem Betreffenden zu entziehen. Es
geschah häufig, daß Leute mich mochten, doch dann zog ich mich zurück, stieß sie vor den Kopf oder machte einfach Schluß, um allein zu sein (auch aus Angst, mit ihnen offen und ehrlich umzugehen). Häufig (vor allem in der jüngsten Zeit) habe ich den Eindruck, ich ginge in ihrem Rhythmus, in ihrer Persönlichkeit auf — würde sie. Vor der Therapie hatte ich auf Partys oder bei Rendezvous das Gefühl, von allem ausgeschlossen zu sein. Bei Rendezvous gab ich eine Menge Geld aus, ohne daß mir das klar geworden wäre. Ich hatte nur den Wunsch, allein durch die Straßen von New York zu gehen, um nach Bordellen oder Pornographie-Läden Ausschau zu halten, oder mich nach Haus zu begeben, um zu rauchen oder zu schlafen. Auf der höheren Schule verspürte ich selbst nach einer Verabredung mit einem Mädchen den zwanghaften Wunsch, in Fenster zu schauen. In der (Therapie-) Gruppe fällt es mir häufig schwer, mich meinen Gefühlen oder Urerlebnissen hinzugeben (zumindest war das in den letzten Monaten so). Die Gefühle oder Urerlebnisse eines anderen lenken mich ab. Die stärksten Urerlebnisse hatte ich in Gegenwart von einer oder zwei Personen, die sich nicht mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigten. Bei den Auseinandersetzungen mit meiner Mutter während der frühen Kindheit schien es vor allem darum zu gehen, daß ich nicht fähig war, sozusagen den nächsten Schritt zu tun oder das zu tun, was sie verlangte. Bis nach dem zweiten Lebensjahr wollte ich keine festen Speisen zu mir nehmen (dazu war ich erst nach zehntägiger intensiver Dressur in einem Kinderkrankenhaus in der Lage). Bis zum achtzehnten Lebensmonat lehnte ich es ab, laufen zu lernen. Ich verspürte einfach nicht den Wunsch danach. Auch hatte ich nie das Gefühl, meine Mutter sei sich im klaren darüber, was mit mir geschah. Selbst bei starken Emotionen, zum Beispiel in Urerlebnissen, habe ich nie so recht das Gefühl, daß mit mir, mit meinem Körper etwas geschieht. Jetzt erst fange ich allmählich an, den Grund zu
verstehen. Während dieses ganzen Urerlebnisses war ich mein Gefühl.
Prototypisches Geburtstrauma Welche Bedeutung hat ein Geburtsprimal? Es gibt uns Aufschluß darüber, auf welche Weise im späteren Leben mit den Er53
fahrungen umgegangen wird. Das Geburtstrauma dürfte für die Neurosenentstehung von ausschlaggebender Bedeutung sein. Die Erfahrungen während der Geburt sind vermutlich prototypisch für die Art und Weise, wie jemand in seinem späteren Leben auf Gefahrensituationen reagiert. Das kann nur dann der Fall sein, wenn das Geburtserlebnis tatsächlich traumatisch war. Der Begriff des prototypischen Geburtstraumas und des stets damit einhergehenden prototypischen Abwehrverhaltens ist für das Verständnis späterer neurotischer Reaktionen auf Belastungen von großer Wichtigkeit. In einem anderen Buch (Die Anatomie der Neurose, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1974) habe ich darauf hingewiesen, daß der Andrang von Körperflüssigkeit während einer Spätgeburt das Neugeborene dazu veranlassen kann, seine Bronchiolen [Lungenbläschen] zusammenzuziehen, um auf diese Weise eine lebensbedrohliche Situation zu bewältigen. Die Reaktion auf diese frühe Erfahrung schleift sich mit der Zeit ein (in Form eines auf der Urerinnerung beruhenden Reaktionsbogens), so daß jede spätere lebensbedrohliche oder als solche empfundene Streßsituation – etwa ein Streit zwischen den Eltern, der eine Ehescheidung
ankündigt – automatisch das prototypische Trauma und das sich im Zusammenzug der Bronchiolen äußernde Abwehrverhalten auslöst. Das Ergebnis kann ein asthmatischer Anfall sein. Während der Organismus sich bei der Geburt durch dieses Abwehrverhalten schützte, ist er jetzt, beim Asthma-Anfall, in Gefahr, zugrunde zu gehen. Dieses funktionslose Abwehrverhalten bildet den eigentlichen Kern einer Neurose. Es kommt zum Asthma-Anfall, weil der Streit der Eltern das ursprüngliche, das Urtrauma wiederbelebt. Im Falle von Asthma können wir erst dann von Heilung sprechen, wenn (um bei dem eben geschilderten Beispiel zu bleiben) die entscheidenden prototypischen Traumata, die das Abwehrverhalten – nämlich das Zusammenziehen der Bronchiolen – in Gang setzen, aufgedeckt und aufgelöst sind.
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Ich hatte ständig Asthma-Anfälle. Vor Beginn der Therapie lag ich im Krankenhaus und erhielt dort verschiedene Medikamente – Adrenalin (0,3 Kubikzentimeter) und Amenophelin (intravenös und als Zäpfchen). Seit ich in der Therapie bin, nehme ich Choledyl und 54
Tedrol. In der Nacht nehme ich Tedrol S. A. Ich führe all dies als eine Art von Referenz an, die bestätigen soll, daß ich auf meinem Felde, den Erstickungsanfällen, Experte bin. Am letzten Tag meiner dreiwöchigen Einzeltherapie hatte ich ein Urerlebnis. Ich werde versuchen, es zu beschreiben. Am Morgen, bevor ich zum Institut ging, hatte ich meine Medizin genommen,
und als ich im Institut eintraf, hatte ich keine asthmatischen Beschwerden mehr. Ich lag auf dem Boden und fing an, meinem Therapeuten über ein Telefongespräch zu erzählen, das ich mit meiner Freundin geführt hatte. Sie fehlte mir, ich dachte die ganze Zeit an sie und konnte es nicht abwarten, sie wiederzusehen. Also fragte ich sie, ob wir uns sehen könnten, und sie sagte ja. Wir wollten zu irgendeiner Veranstaltung gehen. Doch ich habe keinen Beruf und auch kein Geld. Meine Eltern schicken mir Geld. Als ich über meine finanzielle Situation sprach, meinte Bob: »Warum verkaufst du deinen Wagen nicht?« Als er dies sagte, wurde ich nervös und gab ihm das auch zu verstehen. Er antwortete: »Ja, ich habe verstanden.« »Ich überlege, ob ich mir nicht einen alten VW kaufe,« sagte ich. »Der kostet zuviel. Warum nicht einen alten Karren?« »Warum, zum Teufel, dieses Gerede... sprechen wir lieber über etwas anderes ...« Mir wurde richtig ungemütlich. »Ich will überhaupt nichts ... (ich fing an zu schreien)... ich will etwas ... das ist schöner ... (ich weinte, schrie, begann zu keuchen und fühlte mich wie ein kleines Kind) ... Ich möchte es... nimm mir meine Autos nicht weg... Nein... nein .. .nimm mir mein Spielzeug nicht weg, ich habe sonst nichts anderes ...« Dann dachte ich an meinen Vater. »Papi, Papi...« Ich malte mir aus, ich läge in meinem Kinderbett, und mein Vater beugte sich über mich, ich streckte meine Hände nach ihm aus, doch er grinste nur und verließ das Zimmer (ich keuchte schwer, begann zu schwitzen und zu husten). »Ich habe nichts getan... mein Papi liebt mich nicht, er haßt mich und möchte, daß ich sterbe.« Dann schrie ich. Doch bevor ich schrie, hatte ich einen Erstickungsanfall, und als ich dann schrie, ging der Anfall vorüber, das Schwitzen hörte auf, und ich fühlte mich wieder wohl.
Der Schrei wirkte wie eine Adrenalin-Spritze, nur schneller. Das Adrenalin beginnt gewöhnlich nach zwei bis fünf Minuten zu wirken. Bei dem Schrei geschah das sofort. Meine Reaktionen haben nicht so sehr mit Atemschwierigkeiten zu tun als mit dem Gedankengang —: mein Papi liebt mich nicht, er mag 55
mich nicht, er möchte, daß ich sterbe. Instinktiv wehre ich mich gegen dieses kindliche Gefühl, es ist dumm, es ist albern, so etwas zu sagen usw. Mein ganzes Leben lang stießen solche Dinge auf Spott und Hohn, bis ich endlich »lernte«, daß ich damit nur fertig werden könnte, wenn ich mich bemühte, jemand anderes zu sein, ein akzeptabler, gescheiterer, erwachsener Mensch, alles andere, nur nicht, was ich wirklich war — ein kleiner Junge.
Prototypische Traumata können nun freilich psychischer wie physischer Natur sein. Die physischen Traumata sind allerdings folgenschwerer, weil sie für gewöhnlich in frühester Kindheit auftreten und dann tatsächlich lebensbedrohlich sind. Doch auch ein späteres Trauma kann schlimme Folgen nach sich ziehen. Einer unserer Patienten, der eine normale Geburt gehabt hatte, kam eines Tages vom Kindergarten heim und mußte mit erleben, daß seine Eltern überhaupt nicht miteinander auskamen. Sie verhielten sich an diesem Nachmittag ihm gegenüber völlig gleichgültig. Der Patient war damals vier Jahre alt. Das Erlebnis war für ihn ein schrecklicher Schock, denn für gewöhnlich waren seine Eltern stets glücklich, ihn wiederzusehen. Das Erlebnis
erwies sich als ein prototypisches Trauma, aufgrund dessen er sich über Jahre hinweg verzweifelt abmühte, Menschen zu gefallen. Er wurde Krankenwagenfahrer, denn auf diese Weise erlebte er ständig Situationen, in denen Menschen froh waren, wenn sie ihn sahen. Krankenwagenfahren mit jener frühen Erfahrung in Verbindung zu bringen, mag eine unzulässige Schlußfolgerung sein. Doch bei einem Urerlebnis des Patienten, das um den besagten Kindergarten kreiste, wurde diese Verbindung sichtbar. Das Urerlebnis wurde ausgelöst durch eine Situation, in welcher der Patient bei seinen Krankenfahrten auf jemanden traf, der nicht froh war, ihn zu sehen. In diesem Zusammenhang sollten wir uns erinnern, daß ein frühes Trauma eine Überlastung darstellt, die nicht in das Körpersystem integriert werden kann. Das Körpersystem versucht anschließend, mit der Situation fertig zu werden. So hatte der besagte Patient früher Zeitungen ausgetragen, damit andere Menschen sich freuen sollten, ihn zu sehen. Später sollte das Krankenwagenfahren diesen Zweck erfüllen. Der gemeinsame Auslöser dieser zeitlich auseinanderliegenden Verhaltensweisen war ein im Innern des Patienten verkapseltes Urtrauma. Ein weiteres Beispiel für eine prototypische Reaktion: Einer unserer Patienten erschien eines Tages mit dem zwanghaften Bedürfnis zu 56
kichern. Jedesmal, wenn ihn ein schmerzliches Gefühl zu überkommen drohte, fühlte er sich genötigt zu kichern. Nur wenn der Therapeut dieses Kichern abblockte, führte die dem Verhalten zugrunde liegende Energie zu Schluchzen und Weinen. Als der Patient tiefer in diese Gefühle geriet, erlebte er Szenen aus seinem ersten Lebensjahr wieder. Sein Vater hatte ihn damals spielerisch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Das
Kleinkind war von Angst und Schrecken erfüllt, konnte diese Gefühle jedoch nicht äußern; so kicherte es vor Angst. Der Vater spielte mit dem Kind über Monate hin auf die geschilderte Weise. Diese Erlebnisse traumatisierten das Kind, das nicht über die Macht verfügte, das Spiel zu beenden. Anschließend löste jedes Angstgefühl das besagte Kichern aus. Sobald ein unangenehmes Gefühl in ihm hochkam, kicherte das Kind statt zu weinen oder Furcht zu äußern. Das Kichern wurde eine prototypische Reaktion, die sich bis ins Erwachsenenalter hielt. In den letzten Wochen habe ich zwei Urerlebnisse mit erlebt, die höchst unterschiedliche prototypische Reaktionen hervorriefen. Im ersten Falle handelt es sich um eine Patientin, die in der Therapie die ersten Tage nach ihrer Geburt wiedererlebte, eine Zeit, in der sie völlig vernachlässigt worden war; sie hatte lediglich alle paar Stunden die Flasche erhalten. Sie »beschloß«, sich dagegen »abzuhärten« . Dabei handelte es sich zweifellos nicht um einen bewußten Entschluß. Vielmehr reagierte der Organismus der Patientin mit einem Verhalten, das den Anschein erweckte, als hätte sie nichts oder niemanden nötig. Wir werden gleich sehen, welch entscheidenden Einfluß dieses frühe Trauma auf das Leben der Patientin ausübte. Ein anderer Patient erlebte eine Szene im Kinderbett wieder. (Wir hatten ihn aufgefordert, sich in unserem Institut in ein Kinderbett zu legen.) Der Therapeut ließ ihn allein im dunklen Zimmer. Als er zurückkehrte, war der Patient eingeschlafen. Das Verfahren wurde in den folgenden Primal-Sitzungen noch mehrmals angewandt. Schließlich vermochte der Patient den Schmerz zu ertragen und auch zu empfinden, anstatt sich weiterhin der Schlaf-Abwehr zu bedienen. Dem Verhalten des Patienten lag das Gefühl zugrunde, vernachlässigt zu werden, seinen Unwillen darüber von Zeit zu Zeit durch Schreien kundzutun und geschlagen zu werden, sobald er mit Schreien angefangen hatte. So wurde er ein »guter Junge« und hörte auf, seine Bedürfnisse
durch Weinen und Schreien zu äußern. Stattdessen schlief er ein. Nachdem er den Schmerz seiner Gefühle 57
ertragen konnte, wurde ihm einsichtig, daß seine prototypische Reaktion auf spätere traumatische Situationen, vor allem auf Ablehnung, in passivem Rückzug bestanden hatte. Seine prototypische Reaktion hatte sich im Laufe der Zeit verfestigt. Ihm stand fast keine andere Verhaltensalternative zur Verfügung als das Schlafen. Es brauchte viele Urerlebnisse, um dieses Gefühl zu durchbrechen, denn es war so frühzeitig und so häufig aufgetreten, daß der Schmerz niederschmetternd war. Wir mußten dem Patienten seine Abwehrmechanismen gestatten und konnten die Therapie nur langsam vorantreiben. Ein weiteres Beispiel für ein prototypisches Trauma psychischer Natur liefert uns das Urerlebnis einer früheren Prostituierten. Sie machte erneut die Zeit im Kinderbett durch. Damals – sie war noch sehr jung – hatte man ihr Buntstifte zum Spielen gegeben, die sie in ihre Vagina eingeführt hatte. Ihre Großmutter hatte ihr einen heftigen Klaps gegeben und sie »böses Mädchen« genannt. Sie hatte dieses Erlebnis aus der Erinnerung verloren, bis es nach mehr als einjähriger Primärtherapie wieder auftauchte. Ihr wurde anschließend klar, daß das Trauma bei ihr zu einer starren Reaktion geführt hatte, nämlich dazu, ihre Vagina zu benutzen, um »böse« zu sein. Sicherlich war sie nicht aufgrund dieses einen Erlebnisses später zur Prostituierten geworden. Doch dieses Erlebnis zusammen mit der Tatsache, daß sie im Alter von fünf Jahren von einem Onkel mißbraucht worden war, ferner mit der allgemeinen häuslichen Atmosphäre, in der bestimmte Körperteile als schmutzig und böse galten, und nicht zuletzt die Lieblosigkeit ihres Vaters während ihrer Jugend – all diese Erfahrungen hatten mit dazu beigetragen, sie in die Prostitution
zu treiben. Der Gebrauch ihrer Vagina war jedoch jedesmal, wenn sie später »böse« wurde, eine prototypische Reaktion. Es gibt jedoch viele Faktoren, die prototypische Reaktionen nach sich ziehen können: eine bestimmte Art von Nervensystem (leichte Erregbarkeit zum Beispiel), die nach meiner Meinung vererbt werden kann; Erfahrungen vor der Geburt, etwa intrauterine Vorgänge, die das spätere Verhalten beeinflussen; und die Art von Verhaltensalternativen, die sich während des Traumas selbst anbieten. Doch wenn während eines prototypischen Traumas erst einmal eine bestimmte Reaktion eingerastet ist, dann entwickelt sie sich gleichsam zu einer eigenständigen Kraft, die sich verfestigen kann und dann eine ständige Störungsquelle abgibt.
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ANITA Als ich erfuhr, daß meine Mutter sich einer Schockbehandlung unterziehen mußte, fühlte ich mich sehr einsam und verlassen. Kaum hatte ich angefangen, die Einsamkeit zu empfinden, da kam mir der Gedanke, mein Vater sei tot und meine Mutter sei so gut wie tot, und ich hätte somit niemanden mehr. Mein Gefühl von Verlassensein ging zurück auf die Zeit unmittelbar nach meiner Geburt. Da war keine Mutter, die mich auf den Arm nahm und mich beruhigte, da sie nach dem »Leiden«, das sie gerade durchgemacht hatte, nichts mit mir zu tun haben wollte. Auch mein Vater konnte mich keine weiteren fünf Tage lang ständig im Arm halten. Da er der einzige war, der wußte, welche Fürsorge ich brauchte, hatte ich niemanden mehr. Ich kam zur Welt, indem
ich nicht aufgab, um keinen Preis. Ich lernte bei der Geburt, daß ich es schaffen konnte, wenn ich mich nur abmühte. In jenen fünf Tagen der Entbehrung wurde ich hart, mühte mich ab und gab nicht auf. Meine Härte zeigte sich während meines späteren Lebens auf vielfältige Weise. Ich habe immer nur selbst für mich gesorgt und niemals andere um Hilfe gebeten. Von anderen erwarte ich nichts. Ich bitte um keinerlei Vergünstigungen. Ich wünsche mir nichts, wenn ich es mir nicht selbst beschaffen kann. Ich bitte nie jemanden, mir dabei zu helfen. Menschen halte ich mir vom Leibe, ich bin kalt und abweisend, wenn ich das Gefühl habe, daß sie für mich eine Bedrohung darstellen. Ich taue erst auf und kann mich erst offenbaren, wenn ich mich bei einem Menschen sicher fühle. Ich kann nicht lügen, denn wenn ich lüge, bin ich im Unrecht und der Gnade eines anderen ausgeliefert. Er kann mich dann bestrafen, wie es ihm gefällt. Aus diesem Grunde habe ich immer sorgfältig darauf geachtet, nicht vom Wege abzugeraten. Wenn ich gekränkt bin, lasse ich die Person, die mich gekränkt hat, niemals merken, daß das, was sie gesagt oder getan hat, irgendeinen Einfluß auf mich hat. Wenn meine Eltern mich ausschimpften oder bestraften, habe ich in ihrer Gegenwart niemals geweint. In diesem Zusammenhang ist mir aufgefallen, daß ich Jodey, wenn er mich wegen irgendeiner Sache anfährt, einfach zu Ende sprechen lasse, und dann das Thema wechsle und so tue, als sei nichts geschehen. Ich fühle es dann, wenn er nicht da ist, aber ich kann ihm nicht zeigen, daß ich gehört habe, was er gesagt hat. Ich konnte meinem Vater nicht zeigen, daß er mich liebhaben kann. 59
Mein Vater verstärkte mein prototypisches Verhalten, indem er mich dafür belohnte, mir Anerkennung zollte, wenn ich nicht
aufgab und mich kasteite, sobald ich irgendein Zeichen von Schwäche gezeigt hatte. Einmal nahm ich Musikunterricht, und als ich merkte, daß mein musikalisches Gehör zu wünschen übrig ließ, hatte ich unglaubliche Schwierigkeiten und arbeitete doppelt so hart wie alle anderen. Mein Vater bemerkte meine Schwierigkeiten und erklärte mir ständig, ich solle es nicht so schwer nehmen, das sei die Sache nicht wert. Doch als ich ihm mein Zeugnisheft zeigte und auf die Note »l« hinwies, die ich in der Klasse erhalten hatte, hellte sich sein Gesicht auf und er meinte: »Da siehst du, was geschieht, wenn du dich nur immer tüchtig anstrengst und nicht aufgibst!« Auch er gab niemals auf; er belohnte mich für sein eigenes Verhalten.
Einer der Hauptgründe für die Stabilität der Abwehrmechanismen, die eine »charakteristische Persönlichkeit« ausmacht, ist in der Tatsache zu suchen, daß das Körpersystem fortfährt, sich gegen die frühen, verinnerlichten Schmerzen zur Wehr zu setzen. Diese Schmerzen überlasten das Körpersystem zum Zeitpunkt des Traumas und »fixieren« den betreffenden Menschen auf Reaktionsweisen in bestimmten Belastungssituationen. So mag ein Kind, das sich in der Schule abgelehnt fühlt, Asthma-Anfälle bekommen. Wir alle verspüren den ersten stechenden Schmerz der Angst im Zustand der Erregung auf unterschiedliche Weise. Einigen von uns wird es »flau im Magen«, andere haben das Gefühl, als würde ihr Brustkorb eingeschnürt, wieder andere atmen heftiger. Nach meiner Ansicht sind solche Erscheinungen prototypisch; sie geben Aufschluß darüber, wo das erste große Trauma unseres Lebens sich abspielte. Unzureichende Ernährung während der Säuglingszeit kann zum Beispiel den Magen zum störanfälligen Organ bei allen späteren. Belastungssituationen machen, genauso
wie Atembeschwerden während der Geburt dazu führen können, daß wir später die zum erstenmal verspürte Angst im Brustkorb oder in den Atemwegen fühlen. Das ursprüngliche Erlebnis der Überlastung bildet die Hauptquelle für alle späteren, ähnlich gelagerten traumatischen Erlebnisse. Solche Erlebnisse sind neurologisch miteinander verknüpft; sie werden gespeichert in Erinnerungskreisläufen, die untereinander in Verbindung stehen. Die Erfahrung einer langen, schwierigen Geburt zum Beispiel, bei der das Neugeborene eine unerträglich lange Zeit »war60
ten« muß, bis es den Mutterleib verlassen kann, wird unter Umständen im späteren Leben immer dann neu belebt, wenn das Kind auf irgendetwas warten muß — in einer Schlange stehen, auf das Essen warten usw. Als Reaktionen stellen sich während der gegenwärtigen Wartesituation schreckliche Angst und Ungeduld ein, weil damit das ursprüngliche Trauma angerührt worden ist. Wenn dieses Trauma erst freigesetzt ist, dann wird auch das gesamte Arsenal der Warte-Erfahrungen wieder aktiviert. Aus diesem Grund setzt das Gefühl des ersten prototypischen Traumas alle später zum ihm geknüpften Assoziationsketten in Bewegung. Es gibt eine große Anzahl unterschiedlicher prototypischer Früherfahrungen. So kann auf ein Geburtstrauma unzureichendes Stillen folgen, das den Säugling über Wochen hin systematisch Hunger leiden läßt. Dieses Trauma spielt sich im Mundbereich ab und wird möglicherweise durch die Abkürzung der zum Saugen notwendigen Zeit hervorgerufen. Das Bedürfnis zu saugen kann im Verein mit späterem Mangel an väterlicher Liebe zur Homosexualität führen und das Bedürfnis wecken, an Penissen zu
saugen. Natürlich stelle ich hier die Unzahl von ebenfalls ausschlaggebenden täglichen Erfahrungen ziemlich vereinfacht dar. Doch fest steht, daß Homosexualität in einem Falle wie dem geschilderten erst dann beseitigt werden kann, wenn der betreffende Patient sein großes Verlangen nach dem Vater und das frühe Bedürfnis zu saugen verspürt. Die Vorstellung, er könne dazu angehalten werden, sich zu ändern, ohne jene Erfahrungen erneut durchlebt zu haben, ist reine Illusion. Auch zahllose heterosexuelle Erfahrungen oder ein »großer Bruder«, der weiter hilft, werden seine Lebensgeschichte nicht ungeschehen machen. Ein Kind, das gezwungen wird, sich selbst zu täuschen und sich anständig zu verhalten, um seiner Mutter oder einem Therapeuten zu gefallen, würde doppelt krank, indem es genötigt wird zu behaupten, seine Bedürfnisse existierten nicht. Für einen Homosexuellen dieser Art ist Saugen ein prototypisches Urbedürfnis. Keine Analyse kann dieses Bedürfnis beseitigen; das gilt in noch stärkerem Maße für den Versuch, das Verhalten durch Bestrafungen zu ändern.
Betrachten wir ein weiteres Beispiel für ein prototypisches Trauma — die Beschneidung. Dieser Eingriff traumatisiert das Kind im Genitalbereich. Wir wissen dies aufgrund der Beobachtung von zahlreichen Urerlebnissen, in deren Mittelpunkt dieses Trauma stand. Eine tyrannische Mutter und dazu eine Beschneidung im Alter von einem 61
oder zwei Jahren können erstens Angst um die Genitalien hervorrufen und zweitens Furcht davor, die Genitalien in Beziehungen zu Frauen zu benutzen. Auch hier wieder vereinfache ich, um die prototypische Erfahrung klarer
herauszuarbeiten. Beschneidung kann im späteren Leben als Bestrafung gedeutet werden. In einem solchen Falle wecken sexuelle Wünsche Angst und können zur Impotenz führen. Das zusätzliche körperliche Trauma in einem besonders kritischen Alter dürfte ein bedeutsamer Faktor sein, der uns verstehen hilft, warum ein Kind mit einer tyrannischen Mutter homosexuell wird, während ein anderes nicht diese Entwicklung einschlägt, auch wenn seine Mutter sich ähnlich verhält. Wenden wir uns dem Fall eines Epileptikers zu, der seit Jahren an Anfällen leidet und der kürzlich in die Therapie kam. Während der ersten beiden Wochen der Behandlung hatte er ein Geburtsprimal, in dessen Verlauf er das Gefühl hatte, sein Kopf stoße heftig mit irgendetwas zusammen. Nach zwei Stunden begann er wie ein Neugeborenes zu wimmern. Später erklärte er, seine Geburt sei sehr schwierig gewesen und habe lange gedauert. Seine Mutter habe ihm erzählt, er sei wimmernd zur Welt gekommen. Der Druck auf seinen Kopf, während seine Mutter sich mühte, ihn zur Welt zu bringen, mag durchaus kein physisches Trauma gewesen sein, doch er war mit Sicherheit der Brennpunkt eines psychischen Traumas. Als das Kind nach einigen Lebensmonaten allein in seinem Bettchen gelassen wurde, ohne gestillt oder aufgenommen zu werden, fing es an, mit dem Kopf gegen das Bettgestell zu schlagen. Nach seinem zehnten Lebensjahr stellten sich bei ihm Anfälle ein. Seit dem ersten Tag, da er in die Therapie kam, hat er keinen Anfall mehr gehabt, und das trotz der Tatsache, daß er seither kein Dilantin mehr genommen hat. Was können wir daraus schließen? Zum einen, daß die während der Geburt ausgelöste Spannung in erheblichem Maße zu dem allgemeinen Spannungsniveau in seinem späteren Leben beigetragen hat. Die hohe Spannung ergoß sich in ein epileptisches Symptom, das sich auf den von seinem frühen Trauma betroffenen Körperteil konzentrierte, ähnlich wie Patienten im Erwachsenenalter bei
Belastungssituationen plötzlich Hautstörungen entwickeln – das heißt, sie bilden ein Symptom im Körperbereich des frühen Traumas (im letzteren Fall bestand das Trauma in mangelnder Hautberührung während der ersten Lebensmonate), sobald sie in eine Streßsituation geraten. Wenn der besagte Epileptiker eine einigermaßen angenehme Kind62
heit gehabt hätte, hätte er lediglich ein Geburtstrauma erlebt und niemals epileptische Symptome entwickelt. Doch die Gesamtsumme aller traumatischen Erfahrungen führte zur Überlastung. Nach meiner Beobachtung haben allerdings Geburtstraumata einen maßgeblichen Anteil am Zustandekommen allgemeiner chronischer Spannungszustände. Das ist zum Teil auf die Verletzbarkeit des noch jungen Organismus zurückzuführen, auf seine noch nicht ausreichend entwickelte Fähigkeit, mit Belastungen fertig zu werden. Am wichtigsten ist freilich, daß es bei Geburtstraumata häufig um Leben und Tod geht – ein von der Nabelschnur stranguliertes Neugeborenes wird tatsächlich sterben, wenn nichts getan wird. Noch ehe wir das Licht der Welt erblicken, beginnt bei vielen von uns bereits der Kampf um Leben und Tod. Die von einem Geburtstrauma erzeugte Spannung kann derartig katastrophal sein, daß ansonsten effektive psychische Funktionen aussetzen, wie das beim kindlichen Autismus der Fall ist. Das Syndrom des infantilen Autismus gibt Fachleuten Rätsel auf, denn sie haben weder organische Hirnschädigungen festgestellt, die für die totale Unfähigkeit des Kindes, mit der Umwelt Kontakt aufzunehmen, verantwortlich sein könnten, noch haben sie herausgefunden, daß eine bestimmte, psychisch schädliche
Umwelt einen der Hauptgründe für die Krankheit bildet. Mehr noch, in Familien mit autistischen Kindern sind andere Geschwister häufig sehr gut angepaßt. Man sollte eigentlich annehmen, daß eine häusliche Umgebung, die derart schrecklich ist, daß sie kindlichen Autismus hervorbringt, auch die anderen Geschwister nachteilig beeinflußt. Die besagten Fachleute haben vielleicht übersehen, daß eine niederschmetternde Geburtserfahrung das Kind tief in den Urschmerz tauchen und es lebensunfähig machen kann. Das heißt, das Kind leidet beständig unter einem massiven Schmerz, ist jedoch nicht in der Lage, ihn zu verstehen oder in Begriffe zu kleiden. Es ist so tief in seinem Trauma gefangen, daß es sich nicht daraus zu retten vermag. Es muß dieses Trauma unter der Anleitung eines Fachmanns der Primärtherapie in kleinen abgewogenen Dosen wieder erleben.
Im Journal of the American Medical Association [Zeitschrift der amerikanischen Gesellschaft für Medizin] schreibt ein Forscher: »Die Gefahren, denen der Fötus ausgesetzt ist, erreichen während der Geburtswehen ihren Höhepunkt. Die Geburt ist die gefährlichste Erfahrung, die den meisten Menschen jemals widerfährt. Der Geburtsvorgang ist selbst unter optimalen, kontrollierten Bedingun63
gen ein traumatisches, potentiell vernichtendes Ereignis für den Fötus.«* Towbin fährt fort: »Hirnschädigungen, die sich bei der Geburt zeigen, treten häufig im verborgenen auf, nicht selten in der Zeit vor der Niederkunft.« Das soll heißen, es kommt häufiger, als wir vermuten, zu heimtückischen Hirnschädigungen aufgrund von gefährlichen (weil nach meiner Meinung
neurotischen) Geburtsabläufen. Towbin ist der Auffassung, daß einer der Hauptgründe für solche Schädigungen in der Hypoxie, das heißt in mangelnder Sauerstoffzufuhr zu suchen ist.** Bei wissenschaftlich ausgewerteten Autopsien von Frühgeborenen sind in vielen Fällen verborgene Verletzungen der tieferliegenden Gehirnbereiche festgestellt worden. Wie Towbin betont, kann Sauerstoffmangel zunächst nicht erkennbare Schädigungen nach sich ziehen, die erst später, wenn Belastungen hinzutreten, ans Tageslicht kommen; die Art der Schädigung, so Towbin, richtet sich danach, welche Gehirnzellen bei der Geburt in Mitleidenschaft gezogen wurden. Spätfolgen können sich als Sprachstörungen, emotionale Unausgeglichenheit oder als Unfähigkeit zu abstraktem Denken äußern. Auf einer 1971 veranstalteten Tagung der Society of Neuroscience [Gesellschaft für Neurologie] berichtete die in Los Angeles ansässige Psychologin Virginia Johnson über ihre Untersuchungen, die unter anderem die Analyse von insgesamt mehr als 25 000 Stunden dauernden Interviews umfaßten. Danach konnten sich Patienten unter dem Einfluß des Rauschmittels Methylphenidate noch an Erfahrungen aus den ersten Lebenswochen erinnern. Solche Erinnerungen sind nach den Worten von Virginia Johnson häufig mit neurotischen Symptomen im späteren Lebensalter verbunden. Die Psychologin ist der Ansicht, daß einige der erinnerten Früherfahrungen schizophrenogen sind, das heißt eine Schizophrenie nach sich ziehen können, und folglich mitwirkende Faktoren bei der Entwicklung einer späteren Psychose darstellen. »Die am häufigsten mit späteren Symptomen der Schizophrenie in Verbindung stehenden frühen Lebenserfahrungen hatten offensichtlich mit tiefgreifenden
* A b r a h a m T o w b in , > O r g a n ic Ca u s e s o f Min ima l Br a in D ys f u n c tio n s in : J o u r n a l o f th e A m e r ic a n M e d ic a l A s s o c ia tio n 2 1 7 , N r . 9 , 3 0 . A u g u s t 1 9 7 1 , S. 1213. * * T o w b in s c h r e ib t a u f S . 1 2 1 3 : »E s d r ä n g t s ic h d ie S c h lu ß f o lg e r u n g a u f , d a ß a u f S a u e r s to f f ma n g e l z u r ü c k z u f ü h re n d e g e r in g f ü g ig e S c h ä d ig u n g e n , d ie beim Fötus und beim Neugeborenen auftreten, verantwortlich sind für das s p ä te r e A u f tr e te n v o n g e r in g f ü g ig e n F o r me n k lin is c h e r U n z u lä n g lic h k e it, f ü r v e r s c h i e d e n e s u b t i l e F o r me n l e i c h t e r S t ö r u n g e n d e r Z e n tr a ln e r v e n s ys te m- F u n k tio n e n . «
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oder umfassenden Veränderungen des Bewußtseinszustandes kurz vor oder nach der Geburt zu tun.«* Virginia Johnson fand heraus, daß spezifische Verhaltensmuster, wie sie sich bei Schizophrenen zeigen, durch die Art des Urtraumas bestimmt sind, »weil die während eines dieser Bewußtseinszustände erfahrene Desorganisation sich dem Gedächtnis einprägt und mithin unter entsprechenden Bedingungen erinnert werden kann«. Diese entsprechenden Bedingungen stellen sich nach meiner Meinung in der Primärtherapie ein. Wir können dem Bericht von Virginia Johnson entnehmen, daß es eine große Zahl verschiedener schizophrenogener Traumata gibt, welche die Form und die Qualität der späteren Psychose festlegen, und daß man – wie auch wir meinen – von der Psychose nicht als einer monolithischen Einheit sprechen kann, sondern sich klar machen muß, daß es sich dabei um eine vielgestaltige Krankheitsform handelt. Nach der Ansicht von Virginia Johnson sind zum Beispiel auditive [dem Gehörsinn zugehörige] Halluzinationen auf bestimmte pränatale [vor der Geburt liegende] auditive Erfahrungen des Fötus zurückzuführen. Während der ersten Schwangerschaftswochen kann nach Virginia Johnson der Fötus
Gehöreindrücke empfangen, Eindrücke, die anschließend Bestandteil eines schizophrenen Prozesses werden können. Nach meiner Ansicht ist dies nur möglich, wenn die auditive Erfahrung traumatisch ist, wie etwa ein Gewehrschuß in der Nähe einer schwangeren Frau, ein Fallbeispiel, das ich an früherer Stelle dieses Buches geschildert habe. Ein solches Trauma im Gehörbereich (dazu viele andere im späteren Leben) kann zunächst abgespalten werden, aber dann beim »Hören von Stimmen«, einem häufigen Symptom bei Schizophrenen, eine Rolle spielen. Die dauerhaften und heimtückischen Spätschäden des Geburtstraumas sind 1972 im American Journal of Obstetrics and Gynecology [Amerikanische Zeitschrift für Geburtshilfe und Frauenheilkunde] dokumentarisch dargestellt worden. Eine Gruppe von Medizinern aus Indianapolis verglich die Geburtsprotokolle von 1698 Kindern mit ihren späteren Schulleistungen sowie mit anderen Angaben über ihre körperliche und psychische Anpassung im Alter von neun Jahren. Ein Viertel der in Steißlage geborenen Kinder war bis zum Alter von neun Jahren in der Schule mindestens einmal
* V ir g in ia J o h n s o n , > D o e s S c h iz o p h r e n ia G e t I ts S ta r t E a r ly in L if e ? < , in : S c i e n c e N e w s 1 0 2 , N r . 1 7 , 2 1 . O k to b e r 1 9 7 2 , S . 2 6 3 .
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sitzengeblieben; jedes fünfte Kind bedurfte heilgymnastischer Übungen. Ein weiteres Beispiel. Kürzlich kam eine Frau in die Therapie, die ihr Leben lang unter »Schmerzen und Druck im Kopf« – so ihre Worte – gelitten hatte. Im zweiten Monat der Behandlung
erlebte sie ein von mir überwachtes Geburtsprimal. Zweieinhalb Stunden lang lag sie zusammengerollt wie eine Kugel auf dem Boden, spuckte Schleim aus und schlug mit ihrem Kopf gegen die (gepolsterte) Wand. Die Kopfbewegungen vollführte sie sichtlich ohne willentliche Kontrolle und gleichsam automatisch; es erscheint zweifelhaft, ob irgendein Mensch imstande ist, zwei Stunden und länger seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, ohne sich völlig zu verausgaben. Unaufhörlich verdrehte und verrenkte sie ihren Kopf. Später erklärte sie, sie habe »versucht, herauszukommen«. Tage darauf fiel ihr ein, daß ihre Geburt ungewöhnlich lange gedauert hatte. Das Trauma erwies sich als Prototyp eines spezifischen Reaktionsmusters, das heißt, bei jeder späteren Streßsituation bekam sie »Schmerzen und Druck im Kopf«. Weder sie noch ich hätten jemals den Ursprung ihrer Kopfschmerzen erahnen können. Wollten wir versuchen, ihre Symptome mit Hilfe der konventionellen analytischen, Theorie zu verstehen, würden wir vermutlich auf Schuldgefühle schließen, die die Patientin darüber empfand, weil sie ihrer kranken Mutter nicht genug geholfen hatte, oder auf verdrängte Wut gegen ihren Vater usw. — und das könnte alles zutreffen. Doch keiner dieser Erklärungsversuche könnte verständlich machen, wie Schuldgefühle oder Wut sich in Kopfschmerzen verwandeln, die die Patientin tagelang das Bett hüten ließen. Nach meiner Beobachtung entspricht die Schwere von Symptomen gewöhnlich der Schwere des Traumas. Einige Aspirintabletten mögen Schuldgefühle oder Wut ein wenig lindern, doch sie sind gegenüber dem Druck des Geburtstraumas wirkungslos. Es scheint, daß der Organismus während einer traumatischen Geburt geradezu aufgespalten wird (die volle Gefühlsfähigkeit verliert) und daß weitere psychische Traumata diesen Spalt lediglich vergrößern. Mit anderen Worten, der Kern der Neurose wird bei den Menschen, die ein Geburtstrauma durchgemacht haben, mit der Geburt selbst gelegt. In diesem Zusammenhang
möchte ich hinzufügen, daß es in einer neurotischen Welt mit neurotischen Müttern äußerst schwierig ist, traumatische Geburten zu verhindern. Wenn der Organismus sich bei der Geburt aufspaltet, hat die Persönlich66
keit des Betroffenen anschließend etwas Lebloses, »Totes«. Die meisten gleichsam leblosen Patienten erleben häufig zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Therapie ein schweres Geburtsprimal. Wir können uns diese Leblosigkeit so erklären, daß dem betroffenen Menschen keine Zeit vergönnt war, ganz er selbst zu sein und Gefühle zu empfinden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß wir bei der Betrachtung des Verhaltens und der Symptomatik von Kindern sozusagen einen Bezugspunkt haben – eine Stelle, von der aus wir Gründe und Ursprünge von Störungen ausmachen können. Spätere Belastung konzentriert sich auf das Gebiet des ursprünglichen Schmerzes, als kehrte der Körper bei jeder Streßsituation zu seinem ersten katastrophalen Erlebnis zurück, um sich so selbst wieder in Ordnung zu bringen. Da zeigt sich das Wunder der menschlichen Existenz! Der Körper kann in der Zeit um fünfzig Jahre zurückeilen, um ein Trauma ungeschehen zu machen, das sich damals ereignete. Ungeschehen machen ist der richtige Ausdruck, denn nach durchgemachten Urerlebnissen verändern Patienten nicht nur ihr Verhalten, sondern es kommt auch zu tiefgreifenden Veränderungen in ihrem Organsystem, etwa bei der Hormonsekretion. Kehren wir zu einem früheren Beispiel einer Spätgeburt zurück und führen wir uns vor Augen, wie das Herausfallen aus dem natürlichen Rhythmus während der Geburt späteres Verhalten beeinträchtigt. Das Geburtstrauma bedeutet zunächst, daß das
Neugeborene sich den Bedürfnissen seiner Mutter zu unterwerfen oder sich ihnen zu »fügen« hat. Dieses Sich-Fügen im Mutterleib ist eine Lebenserfahrung – eine Beziehung –, die in jeder Hinsicht genauso bedeutsam ist, als wenn die Mutter ihr Kind später ausschimpft oder ihm Betragen beibringt. Die Erfahrung im Mutterleib ist der Prototyp eines gefügigen Verhaltens. Daneben gibt es noch weitere Faktoren. Wenn das Neugeborene sich während der Geburt heftig bewegt und sich aggressiv ins Freie drängt anstatt sich »hinzugeben« und sich zu fügen, dann liegt dem späteren Verhalten ein anderer Prototyp zugrunde, das heißt, das Kind wird in späteren Lebensjahren unter ähnlichen Bedingungen des Eingeschränktwerdens durch die Mutter ein aggressives Verhalten an den Tag legen.
Zwischen dem Geburtstrauma und späteren Verhalten in der Kindheit besteht augenscheinlich kein eindeutiger Kausalzusammenhang. Verhalten wird durch viele Erfahrungen geprägt. Doch wenn 67
die Geburt eines Kindes sich nicht im natürlichen Rhythmus vollzieht und wenn es intellektuelle Eltern hat, die großen Wert auf gewandtes Sprechen legen, dann kann sich die früh erlebte Disharmonie im Sprechverhalten niederschlagen und zu Sprachstörungen wie Stottern führen. Eine unzulässige Schlußfolgerung? Man sollte sich daran erinnern, daß jede Erfahrung bewahrt wird und daß diese Erfahrungen einen ständigen Einfluß auf uns ausüben. Ist der frühe Einfluß stark (wie beim Geburtstrauma), dann wirkt er sich auch auf das spätere Verhalten stark aus. Der Einfluß ist nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Natur. Das heißt, er
besitzt ein gewisses Maß an Wirkung auf das spätere Verhalten, hat darüber hinaus aber auch eine bestimmte richtungsweisende Qualität, die die Art des Verhaltens festlegt; so kann zum Beispiel eine zäh verlaufende Geburt zu einer zähflüssigen Sprechweise führen. Fügsamkeit während der Geburt hat nicht automatisch Fügsamkeit des Kindes im späteren Lebensalter zur Folge. Doch wenn seine Eltern es ständig einschränken und kontrollieren, wenn sie sich bei allem, was es tut, ständig ängstlich fragen: »Was werden die Nachbarn davon halten?«, wenn das Kind sich den Stimmungen und Launen seines Vaters unterwerfen muß, dann häuft sich eine Erfahrungslast an, die geeignet ist, gefügiges Verhalten auszuprägen. Bei der Spätgeburt sind noch weitere Aspekte zu beachten. Viele unserer Patienten, die ungewöhnlich langwierige Geburtswehen durchgemacht haben, ließen Ähnlichkeiten in bestimmten Bereichen ihrer Persönlichkeit erkennen. Und zwar im Hinblick auf Warten. Da sie während der Geburt gezwungen waren, lange zu warten, konnten viele der genannten Patienten es nicht ertragen, warten zu müssen. Die Eltern dieser Patienten gaben gewöhnlich den Wünschen und Forderungen ihrer Kinder nicht nach. Ihre ablehnende Haltung und ihre Unentschlossenheit – ihr »Später« als Antwort auf Forderungen ihrer Kinder – ließ in den Patienten das Gefühl entstehen, daß sie nichts bekämen, wenn es nicht »jetzt« geschehe. Ihre ungeheure Ungeduld war das Ergebnis des lebensbedrohlichen Wartens während der 30 bis 50 Stunden dauernden Wehen; hinzu kam das Verhalten der Eltern in den ersten Lebensjahren. Einer der Patienten erklärte: »Ich habe immer impulsive Entschlüsse gefaßt, weil ich nicht warten konnte – das heißt, ich konnte es nicht ertragen, das frühe Warten wieder zu fühlen; so heiratete ich das erste Mädchen, das mir begegnete, mietete die erste Wohnung, die ich mir ansah.« Seine Mutter ließ ihn auf das Leben
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warten und anschließend ließ sie ihn auf alles Erfreuliche warten. Sie schien der Auffassung zu sein, der Aufschub von Lust forme den Charakter. Was dabei herauskam, war ein rastloser und impulsiver Erwachsener. Ich messe dem prototypischen Trauma deshalb so viel Gewicht bei, weil es das Reaktionsmuster des Kleinkindes ausbildet und seine Persönlichkeit mit formt. Und weil es sich nicht in Übereinstimmung mit den Wünschen seiner Eltern verhält (entweder ist es zu sprunghaft und zu unruhig oder nach Meinung eines aggressiven Vaters zu schwach und zu passiv), erfährt es bereits sehr früh im Leben Ablehnung, eine Erfahrung, die seine Schwierigkeiten noch verstärkt. Seine Geschwister zum Beispiel, die eine leichtere Geburt hatten (weil spätere Kinder mit geringerer Wahrscheinlichkeit längere Geburtswehen erdulden müssen), können durchaus weniger krampfanfällig, weniger anspruchsvoll und reizbar sein und mithin auf mehr Geduld und Freundlichkeit ihrer Eltern rechnen. Falls beispielsweise ein Elternteil ein kraftvolles Kind wünscht, wird es enttäuscht sein, wenn eine traumatische Geburt das Kind in seiner körperlichen Verfassung beeinträchtigt. Diese Zusammenhänge wollen wir ausführlicher untersuchen.
Die im Körpersystem gespeicherte Rhythmusstörung (einer dem natürlichen Rhythmus nicht entsprechenden Geburt) kann beim Kind auch zu ruckartigen, unkoordinierten Bewegungen oder zu einem stockenden Gang führen. Dergleichen kann eintreten, wenn die Eltern vom Kind frühzeitiges Gehen oder Werfen erwarten. Das heißt, wenn Eltern erneut ein aus dem Rhythmus fallendes Verhalten provozieren, indem sie das Kind zwingen, körperliche
Tätigkeiten auszuführen, noch ehe die dazu notwendigen körperlichen und neurologischen Prozesse abgeschlossen sind; dann wiederbeleben sie die frühe Rhythmusstörung, mit dem Ergebnis, daß die körperliche Koordination beeinträchtigt wird. Ein »komischer« Gang ist ein Zeichen der Unfähigkeit des Gesamtsystems zum reibungslosen Funktionsablauf — das heißt, eines Systems, das frühe Erfahrungen nicht angemessen integrieren konnte. Hohes, näselndes, stotterndes Sprechen ist ein weiterer Hinweis auf mangelhafte physiologische Einheit. Das gleiche gilt für verzerrte Gesichtszüge und schließlich auch für uneinheitliches Körperwachstum, das sich etwa darin äußert, daß der Rumpf zu lang ist für die Beine oder die Beine zu lang sind für den Rumpf usw. Rhythmusgestörtheit ist etwas Angelerntes wie alles, was man in späteren Lebensjahren 69
lernen mag. Eine schwierige Geburt erteilt dem Kind die »Lehre«, daß das Leben ein Kampf ist, daß man hilflos ist, daß im Leben Gefahren drohen usw. Diese Lektionen sind Wirkungsfaktoren, sie bilden die Matrix, das Grundmuster künftigen Lernens; wenn ein Mensch beispielsweise später einer Philosophie anhängt, die die Notwendigkeit des Kampfes als sine qua non, als unaufhebbare Bedingung des Lebens postuliert, dann kann man davon ausgehen, daß dabei komplexe, weit in die Individualgeschichte des Betreffenden zurückreichende Faktoren im Spiel sind, Faktoren, die zur Entwicklung einer solchen Ideologie beitragen. Zu versuchen, jemandem einen »irrationalen« Gedanken auszureden, ist gleichbedeutend mit dem Versuch, ihm seine persönliche Geschichte auszureden. Ich möchte noch einige weitere Beispiele für die Auswirkungen des prototypischen Geburtstraumas anführen, um die weitreichenden Folgen eines einzelnen Traumas zu verdeutlichen und
die das ganze Leben beeinflussenden Konsequenzen eines frühen Geschehens hervorzuheben. Die Beispiele entstammen den Urerlebnissen von Patienten. Mehrere Patienten blieben länger im Mutterleib, weil der Arzt zu spät im Krankenhaus eintraf. Von ihren Geburtsprimals her wird verständlich, daß sie aufgrund des von der Geburt herrührenden Wunsches nach Befreiung aus der Gefangenschaft zeit ihres Lebens ständig »auf dem Sprung« gewesen waren. Eine unserer Patientinnen kam schließlich an die Wut über das »Zurückgehaltenwerden« heran und erklärte, sie habe bei der Geburt »aufgegeben« und anschließend auf die Preßbewegungen während der Wehen mit Resignation reagiert. Nach dem Geburtsprimal konnte sie ihre Wut empfinden und äußern; das heißt, sie war endlich in der Lage, ihre »passive« Einstellung deutlich zu ändern. Eine Patientin erklärte mir wiederholt, seit ihrer Jugend sei Selbstmord für sie ein »erstrebenswertes Ziel« gewesen. Unter Belastungen wollte sie sich umbringen, wie andere in ähnlichen Situationen den Wunsch verspüren zu essen. Die Patientin hatte schließlich ein Geburtsprimal, das sie für Stunden mit einem marternden Schmerz erfüllte und bei dem sie den Tod herbeisehnte, um die Höllenqualen zu beenden. Nach dem Primal wurde ihr klar, daß alle späteren Streßsituationen den bei der Geburt geweckten Todeswunsch wiederbelebten. Sobald sie aus der Fassung geriet, kam ihr der Gedanke an Selbstmord, eine prototypische Reaktion, die mit dem Eintritt ins Leben ihren Anfang genommen hatte. Es mag sein, daß es sich bei 70
dem von Freud beschriebenen »Todestrieb« einfach um diese »Todeswunsch«-Reaktion handelt, die sich bei vielen Neurotikern einstellt, sobald sie in belastende Situationen geraten. Doch der Todestrieb ist nicht genetisch verankert oder angeboren; er ist
vielmehr die Reaktion eines Kleinkindes, das absolut nichts unternehmen kann, um seinen marternden Schmerz bei der Geburt zu beenden. Nach meiner Beobachtung denken einige introvertierte Patienten unter Belastungen häufig an den Tod, andere niemals. Jene Patienten, die niemals an den Tod denken, sind die aktiven, die »Macher«, sind Menschen, die sich heftig abmühten, während der Geburt ins Freie zu gelangen; für sie bedeutet Nichtstun »Sterben«. Ihre Aktivität ist mithin Abwehr von Todeswünschen. Sie müssen sich ständig betätigen. Unter Streß neigen sie dazu, hart zu arbeiten; auf diese Weise gelingt es ihnen, ihre uranfänglichen Ängste tief im Innern verborgen zu halten. Es sind jene Menschen, die in angsterregenden Situationen gegenphobisch [Phobie: zwanghafte Angst vor bestimmten Gegenständen oder Situationen] handeln — sie stürzen sich in die Situationen hinein, verhalten sich tapfer und verleugnen ihre Angst. Lebenserfahrungen verstärken diese Abwehrmechanismen häufig. Die Abwehr breitet sich aus und wird im Laufe der Zeit immer komplexer. So hatte zum Beispiel einer unserer Patienten ein Geburtsprimal, bei dem ihm deutlich wurde, warum er niemals Kompromisse eingehen oder »nachgeben« konnte. Er stammte aus einem Elternhaus, in dem niemand sich ihm gegenüber nachgiebig gezeigt hatte, in dem einmal gegebene Befehle und Anordnungen niemals geändert wurden. Doch diesen Erfahrungen ging ein Geburtstrauma voraus, bei dem Lockerlassen und Nachgeben (im Kampf) unbewußt Tod bedeutete. Der Patient mußte vorwärtsstürmen, um sozusagen seine Stellung zu behaupten, und konnte es sich nicht leisten, in seinen Bemühungen nachzulassen. Wenn ein Patient später in der Primärtherapie an diese frühen Todesgefühle herankommt, ist er auf besondere Hilfe angewiesen, denn er wird alle seine Abwehrmechanismen in Gang setzen, um
diese Gefühle von sich fernzuhalten – indem er sich weiterhin übereifrig zeigt, behauptet, solche Gefühle habe er nicht, usw. Für den Patienten ist diese Phase der Behandlung eine gefährliche Zeit, denn wenn jene fürchterlichen Schmerzen sich verstärken, hat er das Gefühl, verrückt zu werden, und das heißt, daß in seinem Innern mehr aufsteigt, als sein Verstand verkraften kann. Nicht primärthe71
rapeutisch behandelte Menschen, die zu Marihuana oder LSD greifen, zu Rauschmitteln, die die Schmerzbarriere niederreißen und aus ihrem natürlichen Zusammenhang gerissene Geburtsschmerzen auftauchen lassen, verlieren häufig den Verstand. Der Schmerz reißt ihren Verstand gleichsam in Stücke, das Denken wird zusammenhangslos, inkohärent. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß prototypische Abwehrmechanismen, die sich um das Geburtstrauma gebildet haben, die Persönlichkeit zementartig zusammenhalten. Die Abwehrmechanismen müssen vorsichtig abgebaut werden; man darf sie auf keinen Fall mit einem Schlag und insgesamt beseitigen. Wir erkennen, daß zusammenhangsloses Denken eine notwendige Abwehroperation darstellt; sie ist häufig bei Leuten anzutreffen, die wiederholt Rauschgift konsumieren. Sie dürfen nicht »alles zusammensetzen«, weil totales Begreifen und Verstehen mit Schmerzen verbunden sind. Uns können mithin bestimmte präverbale Traumata widerfahren, von denen fortan ein beständiger Strom unbewußter Vorstellungen ausgeht; auf diesen frühen Erfahrungen basierendes Verhalten im späteren Lebensalter ist irrational, weil es sich nicht auf die gegenwärtige Realität gründet, sondern auf jene vergangenen Erlebnisse. Wenn etwa ein Mensch starrköpfig ist, sich auf keine Kompromisse einläßt, selbst wenn die
gegenwärtige Situation es fordert, dann verhält er sich neurotisch; mit dem Verstand denkt er: »Ich bin ein Mensch mit Prinzipien«, doch die wahren Gründe für sein Verhalten sind in verschiedenen früheren Ereignissen zu suchen. Kurz, der Verstand entwickelt Begriffssysteme, die rationalisieren sollen, was der Körper nicht fühlen kann. Neurotiker fechten in ihrem späteren Leben den Geburtskampf gleichsam neu aus, um damit fertig zu werden, zumindest in symbolischer Form. Viele von uns können zum Beispiel erst richtig arbeiten, wenn sie unter Druck stehen. Sie müssen unter starkem Termindruck stehen, um produktiv werden zu können. Einige unserer Patienten hatten Urerlebnisse, bei denen ihnen klar wurde, daß Arbeiten unter Druck ihnen die Möglichkeit gibt, das Geburtstrauma wiederzubeleben, das heißt, wieder unter dem schrecklichen Druck zu stehen, ins Freie zu gelangen; ihnen ging auf, daß die Mühsal in jener Situation, nämlich bei der Geburt, notwendig war, um überhaupt leben zu können. Im späteren Leben externalisierten sie diesen Druck, verlegten ihn nach draußen, und behaupteten, daß an sie viele Forderungen gestellt würden, um auf diese Weise 72
irgendwie mit dem Druck zurande zu kommen. Solche Menschen wollen fünf Dinge auf einmal tun, um unbewußt jenen (frühen) Druckzustand aufrechterhalten zu können. Sie fühlen sich ständig »unter Druck«, sind aber nicht in der Lage anzugeben, woher dieses Gefühl stammt; sie müssen annehmen, der Druck komme von draußen. Andere Patienten, die ganz ähnliche Geburtstraumata hatten, können keinen Druck ertragen, ohne sogleich zusammenzubrechen. Vielleicht war ihr Geburtskampf völlig
umsonst, weil die Mutter (und damit indirekt das Baby) schließlich narkotisiert und das Kind aus dem Geburtskanal herausgezogen wurde. Sie »lernten«, daß Kampf zu nichts führt. Der »Druck« war zu stark, um dagegen angehen zu können. Wenn ein solches Kind später zur Universität geht, kann es geschehen, daß es in seinen Leistungen zurückfällt, sobald es zwei Aufgaben zur gleichen Zeit zu erfüllen hat. Um es zu wiederholen, das Geburtstrauma allein ruft solche Reaktionen nicht hervor. Das Geburtsgeschehen legt die Richtung künftiger Reaktionen fest. Eltern, die ihre Kinder ständig bedrängen, sich sauber zu halten, zu lernen, Antworten parat zu haben usw., verstärken damit die drückende Last des Geburtstraumas. Als Erwachsene können die Kinder dann Druck nicht ertragen, weil bereits zuviel auf ihnen lastet.
Andere Beispiele für traumatisierende Geburtserlebnisse sind Fälle, in denen die Mütter ihr Kind nicht schnell genug loswerden können. Solche Mütter veranlassen den Arzt, die Wehen vorzeitig einzuleiten, weil irgend jemand ihnen erzählt hat, die Geburt solle an einem bestimmten Tag stattfinden; sie werden ängstlich, wenn der gesetzte Zeitpunkt verstreicht und das Kind sich noch in ihrem Leib befindet. Eine Anzahl von Patienten haben dieses Trauma in der Primärtherapie wiedererlebt, ein Trauma, das darin besteht, zu schnell in die Welt befördert zu werden. Nach ihrem Urerlebnis wußten diese Patienten, warum sie es nicht ertragen konnten, zur Eile angetrieben zu werden. In der Kindheit fanden sie stets Gründe, eine Weile länger dort zu bleiben, wo sie gerade waren, wenn ihre Mütter sie zum Essen riefen. Sie waren bei der Geburt zur Eile angetrieben worden, und niemand sollte ihnen das erneut antun. Auch in unseren Träumen beleben wir ständig unsere Geburtstraumata wieder. Häufig wiederkehrende Träume zum
Thema Ersticken können bedeuten, daß ungelöste traumatische Eindrücke während der Geburt fortwährend Zugang zum Bewußtsein suchen. Jene trau73
matischen Eindrücke und die daher stammenden Symbole sind dem Körpersystem für das ganze Leben lang sozusagen »eingeprägt«. Einer unserer Patienten träumte jede Nacht, er sei in ein rosafarbenes Gefängnis eingesperrt und werde von seiner viel zu engen Häftlingskleidung erstickt; der Alptraum verschwand, als er den wahren Alptraum wiedererlebte — seine Geburt. Häufig wiederkehrende Tr äume geben uns Einblick in das Wesen der Neurose, denn wir können an ihnen erkennen, wie sich vergangene Erfahrungen für immer in unserem Nervensystem niedergeschlagen haben, Erfahrungen, die ständig nach neuerlicher Symbolisierung jener verborgenen Schmerzen verlangen. Neurose heißt: ständiges unangemessenes Symbolverhalten, mit dem der Organismus auf seine Vergangenheit statt auf seine Gegenwart reagiert.
Hier der Bericht eines primärtherapeutisch behandelten Patienten über sein Geburtstrauma, Strangulierung durch die Nabelschnur, und die sein ganzes Leben beeinflussenden Folgen. »So weit ich zurückdenken kann, standen hinter dem ausagierenden Verhalten, das auf mein Geburtstrauma zurückzuführen war, immer Angst, Hilflosigkeit und innere Leere. Ich neigte immer zur Ängstlichkeit, vor allem in Gegenwart anderer, und ich glaube heute, daß die tiefste Quelle dieser Ängstlichkeit in dem Gefühl von Panik und Schrecken liegt, das ich bei der Strangulierung im Uterus empfand. In der
Vergangenheit war ich zuzeiten in der Lage, die Angst für eine Weile zu unterdrücken. Das Geburtsprimal, das ich zur Zeit wiederholt durchmache, besteht vor allem im Hochziehen meiner Schultern, so als wolle ich meinen Kopf und meinen Körper so nahe zusammenbringen wie möglich, während sich mein Rücken gleichzeitig zusammenkrümmt, so weit es irgend geht. Dadurch sind Rücken und Kopf einem starken Druck ausgesetzt. Im Grunde ist das noch kein vollständiges Urerlebnis, sondern ein Vor-Urerlebnis, denn ich kann meine Umgebung noch wahrnehmen. Mein Kopf bewegt sich außerdem nach links. Das Zusammenkrümmen dauert an, bis ich keinen Sauerstoff mehr bekomme. Mein Mund ist während der Bewegung verschlossen, zu einer Grimasse verzerrt. Kürzlich hatte ich Geburtsprimals, bei denen ich gurgelnde Geräusche von mir gab. Das geschieht dann, wenn ich meine Schultern hochziehe, der Rücken aber noch nicht gekrümmt ist. Während dieser Urerlebnisse scheine ich zu versuchen, den Mund zu öffnen, 74
doch ohne großen Erfolg. Ich unterbreche diese Urerlebnisse durch Schreien, dabei presse ich manchmal Luft durch meine Luftröhre, als wollte ich dadurch versuchen, sie zu öffnen, doch auch das nutzt nicht viel. Bei früheren Primais lag ich auf dem Rücken, die Arme über mir, in der Stellung eines Fötus, wurde von Angst geschüttelt und schrie. Diese Primais zogen sich über sechs Monate hin, sie nahmen ständig an Intensität zu. Eine Zeitlang hatte ich auch Primais, bei denen ich einfach auf dem Rücken lag, in einem Zustand von Muskelstarre, und zitterte. Das Zittern begann am Kinn und im Nacken und breitete sich allmählich über den Körper
aus. Während dieser Urerlebnisse, die über fünf Monate andauerten, preßte ich Kopf und Körper so eng aneinander wie nur möglich. Ich glaube, daß die mit Angst einhergehenden Primais und die von Muskelstarre begleiteten Primais zwei hartnäckige Abwehrfronten darstellen, die schließlich zusammenbrachen, und erst dann war ich in der Lage, mich tatsächlich so zu bewegen, wie ich es tat, als ich von der Nabelschnur stranguliert wurde. Ich muß dieses Erlebnis jetzt allerdings noch mit seiner vollen Intensität durchmachen. Ich war immer ziemlich labil und leicht zu manipulieren (ein Verhalten, das meine Mutter voll für sich ausnutzte). Diese Neigung zur Hilflosigkeit, die zusammenhängt mit jener Hilflosigkeit während der Strangulierung, die ich unterdrückte und gegen die ich agierte, äußert sich unter anderem dadurch, daß ich mich ruhig verhalte, vor allem wenn ich ängstlich bin. Ich glaube, die Schwierigkeit, die es mir bereitete, in der Nachbehandlungsgruppe und anderswo meinen Mund aufzumachen, rührt von der Schwierigkeit – vielleicht der Unfähigkeit – her, meinen Mund zu öffnen und zu schreien, als ich stranguliert wurde. In mir war auch eine unterschwellige Trägheit, ein Mangel an emotionaler Reaktionsbereitschaft, der auf die Gefühlsunterdrückung zurückgeht, zu der ich durch das Geburtstrauma gezwungen worden war. Die ersten drei Wochen der primärtherapeutischen Einzelbehandlung lockerten meine Abwehr wie niemals zuvor, und anschließend zeigte sich meine innere Leere und Kälte deutlicher, als dies je zuvor der Fall gewesen war. Fast alles Krankhafte an meinem Verhalten läßt sich tatsächlich zu einem erheblichen Teil auf mein Geburtstrauma zurückführen. So erklärt sich meine überintellektuelle Einstellung gegenüber
dem Leben, die früher viel ausgeprägter war als heute, durch die Gefühls75
unterdrückung im Mutterleib. Meine Schwierigkeiten in Beziehung zu Leuten haben ebenfalls dort ihren Ursprung. Schließlich auch mein oberflächliches und wahlloses Sexualverhalten. Ich hatte immer Angst davor, unter Wasser zu schwimmen, und vor einigen Jahren überfiel mich bei dem Versuch, mit einem Atemgerät zu tauchen, eine solche Angst, daß ich es aufgeben mußte. Das hat offensichtlich mit der Erfahrung zu tun, eingesperrt zu sein und zu ersticken. Auch meine Angst, in Höhlen hineinzugehen, vor allem wenn es dort nur wenig Licht gibt, stammt daher. Ich hatte auch Angst vor engen Beziehungen, weil ich befürchtete, eingesperrt und überwacht zu werden. Dies hat zum Teil damit zu tun, daß meine Mutter mich manipulierte, einschränkte und überwachte. Doch was mit mir im Mutterleib geschah, ist ein früherer Erfahrungsprototyp. Kürzlich, als ich in einem Primal den Rücken krümmte, kam mir auch die Erkenntnis, daß die Schwäche, die ich im Kreuz verspürte, ihre Ursache in meinem Geburtstrauma hat. Gewöhnlich bereitet mir diese Schwäche keinerlei Schwierigkeiten. Sie zeigt sich erst, wenn ich mich eine Zeitlang nach vom beuge. Als ich beispielsweise auf der höheren Schule Eishockey spielte, ein Sport, bei dem man sich häufig nach vorn beugen muß, um den Schläger richtig einsetzen zu können, hatte ich derart starke Rückenschmerzen, daß ich eine Art Korsett tragen mußte, um meinen Rücken zu stärken. Ich hatte auch immer eine schlechte Körperhaltung, das Kreuz zu weit nach vorn geneigt, das Gesäß zu weit rausragend.
Diese Körperhaltung kam noch deutlicher zum Vorschein bei Urerlebnissen, die mich veranlaßten, den Rücken bogenförmig zu krümmen. Sie hat offensichtlich mit der Haltung im Mutterleib zu tun.«
Geburt ist für einige Patienten die Ursituation der »Trennungsangst« (im Sinne von Otto Rank). Ein Trennungstrauma entsteht dann, wenn das Kind nicht gleich nach der Geburt auf den Arm genommen und gewärmt wird; es ist traumatisierend, ganz allein, verängstigt und mit Gefühlen des Unbehagens in die Welt entlassen zu werden. Spätere Trennungen von geliebten Menschen können dann die klassische Trennungsangst hervorrufen — die ursprüngliche. Einer der Gründe, warum Neurotiker so schwer allein sein können, besteht darin, daß ihre erste Begegnung mit der Welt gekennzeichnet war von jenem katastrophalen Gefühl des Alleinseins, das von ihnen 76
Besitz ergriff, als sie von der Mutter getrennt und allein und ohne Tröstung in ein Bett gesteckt wurden. Jeder Zustand des Alleinseins im späteren Leben kann dann begreiflicherweise diesen prototypischen Schmerz reaktivieren. Einige unserer Patienten erklärten, sie würden in der Nacht leicht durch Geräusche geweckt; andere wachen bei Licht auf. Einige klagen, sie seien äußerst empfindlich gegen Temperaturschwankungen; andere glauben, sie würden sehr schnell wach, wenn der Kohlendioxyd-Gehalt im Schlafzimmer
infolge geschlossener Fenster ansteigt. Wir haben herausgefunden, daß solche Reaktionen sich auf prototypische Erfahrungen zurückführen lassen. Das heißt, wenn ein Neugeborenes bei der Geburt Atemschwierigkeiten hat, kann es in späteren Lebensjahren in einem ungelüfteten Raum schnell aufwachen. Aufgrund eines Schutzmechanismus (aufstehen und das Fenster öffnen) wacht der Betreffende schneller auf als andere, weil die geringfügige Änderung im Kohlendioxyd-Gehalt die prototypische Lebensbedrohung wieder akut werden läßt. Wenn der erste Geburtsschock durch Licht verursacht wurde, kann der Betreffende in späteren Jahren empfindlich auf Licht reagieren, das in das Schlafzimmer dringt. Bemerkenswert ist, daß es sich dabei weitgehend um unbewußte Reaktionen handelt. Empfindlichkeit gegenüber Temperaturschwankungen während des Schlafs ist die Folge einer mit entsprechenden Erfahrungen angefüllten Lebensgeschichte, die die körperliche Konstitution und den Gesamtstoffwechsel der jeweiligen Person beeinflußt hat. Solche Reaktionen unterscheiden sich nicht von unbewußten Empfindlichkeiten gegenüber gewissen Dingen, die während des Wachlebens alte Schmerzzustände neu beleben. Einer unserer Patienten, der durch einen Kaiserschnitt zur Welt gekommen war, hatte nach einem Geburtsprimal das Gefühl, er könne keine Sache anfangen, weil er an seinem Lebensanfang nicht beteiligt gewesen war. Er verbrachte sein Leben damit zu warten, daß andere seine Angelegenheiten für ihn erledigten. Zusammenpressen bei der Geburt stellt den ersten »körperlichen« Umgang der Mutter mit ihrem Kind dar. Aufgrund von »Dämmerzuständen« schwach ausfallende Geburtskontraktionen bilden einen schlechten »Start« für Körperprozesse und lassen energisches, tiefes, das Körpersystem belebendes Durchatmen nicht zu. Kommt noch hinzu, daß die Mutter anschließend ihrem Kind körperliche Stimulierung vorenthält, dann haben wir die Elemente einer möglichen
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Disposition für spätere Atmungsstörungen beisammen. Nach meiner Auffassung sind die Körpersysteme den Muskeln vergleichbar —: wenn sie nicht voll in Anspruch genommen werden, müssen sie verkümmern. Wie wir sehen, haben Traumata verschiedene Auswirkungen, die abhängig sind vom Organismus und der Art und Weise, wie er mit traumatischen Erfahrungen umgeht, wie er sie verarbeitet. Hier ein letztes Beispiel, das den entscheidenden Einfluß prototypischer Traumata auf das spätere Verhalten deutlich machen kann: Ein homosexueller Patient hatte nach monatelangen Urerlebnissen immer noch homosexuelle Triebimpulse. Er hatte dann ein Geburtsprimal und fühlte dabei die gewaltigen Anstrengungen, die es ihm gekostet hatte, den Mutterleib zu verlassen. Nach dem Urerlebnis blieb ein Gefühl haften, das sich in den Gedanken äußerte: »Mammi war nicht für mich da. Sie hat mir nicht geholfen.« Dieses anfängliche Gefühl verstärkte sich später, als seine Mutter tatsächlich, aufgrund ihrer neurotischen Störung, niemals für ihn da war. Der Patient hatte einen passiv eingestellten Vater, von dem er vergeblich hoffte, er könne ihm etwas geben. Danach richtete der Patient seine Hoffnungen auf Männer und agierte sie homosexuell aus. Das soll nicht bedeuten, daß Geburtstraumata Homosexualität hervorrufen. Doch das Geburtstrauma des besagten Patienten verstärkte in verheerender Weise den Einfluß, der vom späteren Verhalten der Mutter ausging, einer Mutter, die für ihr Kind nicht da war und ihm nicht einmal bei der Geburt geholfen hatte. Der Patient mußte alles allein tun. Das Ausmaß der vom Geburtstrauma ausgeübten Wirkung kann man auf zweierlei Weise messen — objektiv und subjektiv. Objektiv stellen wir nach Geburtsprimals eine signifikante Verringerung der
Körpertemperatur fest — ein Zeichen für die Lösung der enormen Spannung. Subjektiv mag der Patient schließlich keinen Impuls zu homosexuellem Ausagieren mehr empfinden. Wir können mithin schlußfolgern, daß die starke Energie, die zum Ausagieren zwingt, wie etwa im Falle des besagten homosexuellen Patienten, zum Teil von einem Geburtstrauma herrührt, das erheblich zu der im Körper verbleibenden Spannungslast beitrug. Eine lesbische Patientin machte in der Therapie eine ähnliche Erfahrung. Während eines Primais hatte sie das Gefühl, eine ziemlich normale Geburt durchzumachen. Doch dann blieb sie Stunden lang ohne jeden Körperkontakt und empfand dabei schreckliche Angst. Bei ihren homosexuellen Betätigungen wollte sie sich immer 78
an die anderen Frauen anpressen und ankuscheln. In ihrem Urerlebnis fand sie den Grund dafür heraus — es war ihr Bedürfnis, sich an ihre Mutter anzuschmiegen und in ihren Leib zurückzukehren, zu dem letzten sicheren Ort in ihrem Leben. Diese Beispiele sind sicherlich ein wenig weit hergeholt. Doch der Leser sollte nicht vergessen, daß sie von Patienten stammen, die ihre früheren Erfahrungen neu erlebt haben, und daß es sich nicht um Deutungen handelt, die auf der Phantasie einiger Therapeuten beruhen. Was die bisherigen Ausführungen besagen, läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Ein guter Lebensanfang läßt das Kind fast alle späteren traumatischen Erlebnisse besser ertragen. Hingegen macht ein schwieriger, belastender Lebensanfang unerhört empfindlich und anfällig für spätere Ereignisse, die normalerweise als weniger schwerwiegend erlebt werden. Ein Kind kann unabhängig von Geburtstraumata eine ablehnende Mutter haben, und dennoch braucht die rückständige Spannung bei ihm nicht derart stark zu sein, daß es in die Homosexualität getrieben wird.
Um die obigen Darlegungen zu unterstreichen, möchte ich auf eine bemerkenswerte Untersuchung hinweisen, die der Direktor des Instituts für Psychologie in Kopenhagen, Sarnoff A. Mednick, durchgeführt hat. In der Fachzeitschrift Psychology Today* berichtet Mednick über eine großangelegte Reihenuntersuchung an 2000 dänischen Männern, die 1936 in Kopenhagen geboren worden waren. Von 16 Männern, die Gewaltverbrechen begangen hatten, »verlief bei 15 Männern die Geburt unter den denkbar schlimmsten Bedingungen... und der sechzehnte hatte eine epileptische Mutter.« Dr. Mednick kommt zu der Schlußfolgerung: »Es ist durchaus möglich, daß wir Bedingungen auf der Spur sind, die impulsive Kriminalität begünstigen.« Ich möchte auf keinen Fall den enormen Einfluß der Eltern-KindBeziehungen auf die Entwicklung neurotischer Verhaltensweisen herunterspielen, sondern lediglich auf Faktoren hinweisen, die wir möglicherweise übersehen haben. Das Forschungsteam von Dr. Mednick hat in einem großangelegten Projekt auch die Ursachen kindlicher Schizophrenie untersucht. Auch hier wiederum weist er darauf hin, daß Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt entscheidend zur Entwicklung psychischer Störungen beitragen können. Mednick untersuchte sowohl normale wie schizophrene Kinder. Bei beiden Gruppen von Kindern wurden zahlreiche Tests durchgeführt; so wurden unter
* P s y c h o lo g y T o d a y 4 , N r . 1 1 , A p r il 1 9 7 1 , S . 4 9 .
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anderem die Herzschlagfrequenz, die Muskelspannung, die Atmung und die galvanische Hautreaktion [Galvanisation: Anwendung des galvanischen Stroms zur Diagnostik] überprüft. Außerdem wurde bei jedem Kind der Bericht der Hebamme über die Geburt – in Dänemark gesetzlich vorgeschrieben – herangezogen. 70 Prozent der von der Untersuchung erfaßten psychisch gestörten Kinder hatten während der Schwangerschaft oder während der Geburt eine oder mehrere Komplikationen durchgemacht, darunter Anoxie [Sauerstoffmangel im Blut], Frühgeburt, langwierige Geburtswehen, Strangulierung durch die Nabelschnur, Steißgeburt usw. Dr. Mednick kommt zu dem Schluß: »(Dies) legt die Annahme nahe, daß Schwangerschaftsoder Geburts-Komplikationen die Fähigkeit des Körpers zur Regulierung der Streß-Reaktionsmechanismen beeinträchtigen.«* Eine der auf Sauerstoffmangel am empfindlichsten reagierenden Gehirnstrukturen scheint der Hippocampus zu sein. Möglicherweise beeinträchtigt Sauerstoffmangel bei der Geburt die Fähigkeit des Hippocampus zur Ausschaltung von Schmerz**; die Folge kann sein, daß das Kind in frühem Lebensalter mit körperlichem wie psychischem Schmerz überschwemmt wird und den Schmerz nicht ausreichend unterdrücken kann. Dies ist ein höchst wichtiger Punkt, denn es könnte sein, daß Gehirnstrukturen, die bei der Schmerzverdrängung beteiligt sind, gegen Sauerstoffmangel bei der Geburt besonders empfindlich sind und dauerhaft geschädigt werden können, wenn es zu Sauerstoffmangel kommt. Das bedeutet, daß Kinder anschließend ständig durch Traumata, die andere Kinder ohne weiteres verdrängen können, überlastet werden ... wie es bei autistischen Kindern der Fall ist. Eine geringfügige Schädigung des Hippocampus kann dazu führen, daß das Kind in ständiger Verwirrung lebt, leicht erregbar, schnell von Gefühlen überwältigt und gedanklich ablenkbar ist, weil es sich nicht für längere Zeit auf einen Gegenstand konzentrieren kann. Das heißt, es ist nicht in der
Lage, unwichtige Reize abzuwehren und sich einer wichtigen Angelegenheit zu widmen.***
* Op. cit., S. 49. * * D ie e n ts c h e id e n d e Ro lle d e s H ip p o c a mp u s b e i d e r S c h me r z a u s s c h a ltu n g h a b e i c h e b e n f a l l s i n A n a to m ie d e r Ne u r o s e b e s c h r ie b e n . * * * A u f d ie s e n P u n k t w e is t a u c h L o w e ll S to r ms h in ( la u t Be r ic h t in P s y c h o lo g y T o d a y v o m O k to b e r 1 9 7 2 , S . 7 2 ) : »S to r ms is t d e r A n s ic h t, d a ß e in e S tö r u n g d e r F ä h ig k e it z u r D ä mp f u n g v o n N e r v e n r e a k tio n e n z u e in e r ü b e r mä ß ig g e s te ig e r te n G e d a n k e n - u n d W a h r n e h mu n g s g e n e r a lis ie r u n g f ü h r t, d ie ih r e r s e its c h a r a k te r is tis c h e D e n k s tö r u n g e n d e r S c h iz o p h r e n ie z u r F o lg e h a t. « D ie v o n Ma n d e ll u n d a n d e r e n v e r tr e ten e T h e o r ie le g t d e n S c h lu ß n a h e , d a ß a u f g r u n d e in e s D e f e k te s d e r A d a p tio n s f ä h ig k e it v o n N e r v e n z e lle n d ie E r r e g u n g v o n N e r v e n imp u ls e n n ic h t u n te r d r ü c k t w e r d e n k a n n .
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Das kennzeichnende Merkmal der Neurose ist Überreaktion. Man kann auf eine Situation mit Überreaktion antworten, indem man die angemessene Handlung unterläßt, das heißt, man kann in einer Situation regungslos verharren, die normalerweise eine solch extreme Reaktion nicht hervorruft. Oder man kann hysterisch überreagieren. Häufig sind jedoch für Überreaktionen, ob körperliche oder gefühlsmäßige, Urschmerzen verantwortlich. So kann jemand auf einen kalten Raum übermäßig reagieren und etwa aufgrund des frühen Schocks infolge der Geburt in einem durchlüfteten Kreißsaal eine Allergie bekommen. Oder er mag auf eine Prüfung mit Angst reagieren, sich überwältigt und hilflos fühlen, weil der Prüfungsstreß die ursprünglichen Hilflosigkeitsgefühle während langwieriger Geburtswehen aktiviert. Überreaktion setzt sich zusammen aus der Reaktion auf eine gegenwärtige und eine vergangene Streßsituation. Zusammen rufen sie offensichtlich übertriebene, unrealistische Reaktionen hervor. Das Urerlebnis prägt Reaktionsmuster, lenkt Gedanken
und trägt zur Fixierung von Symptomen bei. Daher ist es so wichtig, die frühen Determinanten unseres Verhaltens zu erkennen. »Anleitungs«-Bücher gehen auf solche Schwierigkeiten nicht ein; sie wollen uns beibringen, wie wir mit den Ergebnissen jener Determinanten umgehen können, und ermöglichen uns mithin lediglich ein Operieren an der Oberfläche von Erscheinungen, deren Wurzeln weit in die Tiefe reichen.
Die folgenden Seiten enthalten eine ziemlich ausführliche Darstellung der zahllosen verästelten Spätfolgen des Geburtstraumas. Sie veranschaulichen, wie unerhört komplex soziales Verhalten ist und wie ein frühes Trauma derart feinmaschig in die Persönlichkeit eingewoben wird, daß es sich nicht mehr von ihr unterscheiden läßt. Aus diesem Grunde hatten wir bislang solche Schwierigkeiten bei dem Versuch, spezifische Faktoren des Wachstumsprozesses, die der Persönlichkeitsentwicklung ihren Stempel geben, aus ihrem Kontext zu isolieren. Hier zeigt sich das Problem, daß Fachleute anstatt Patienten einzelne Faktoren isolieren und untersuchen. Ich würde mich nicht dazu versteigen, auch nur halb so viel Erklärungen über die Auswirkungen des Geburtstraumas abzugeben wie der Patient in dem nachfolgenden Bericht. Doch weil dieser Patient die Auswirkungen fühlte und sich nicht intellektualisierend über mögliche Fol81
gen erging, war er in der Lage, einige erstaunliche Schlußfolgerungen aus seinen Urerlebnissen zu ziehen. Mehr noch, keine der Gedankenverbindungen oder Einsichten wurde ihm »suggeriert«; er hatte sie nicht in irgendeiner Schule gelernt. Er entdeckte sie in sich selbst, sozusagen in seinem Körper. Der
Kampf um Leben und Tod wurde gleichsam einem naiven, unerfahrenen Organismus eingebläut, einem Organismus, dessen erste soziale Erfahrung darin bestand, stranguliert, erstickt zu werden, diese Erlebnisse gezwungenermaßen zu vergessen usw. Einer unserer Patienten hatte eine ungewöhnlich lange Geburt durchgemacht. Er spürte den nahenden Tod (auch wenn er die schreckliche Angst nicht in Worte fassen konnte), denn er wurde von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten. So »mühte« er sich, ins Freie zu gelangen, um atmen zu können. Schließlich gelang es ihm, und er wurde für sein »Abmühen« belohnt: er bekam Luft. Doch die Vorstellung von »harter Arbeit« prägte sich ihm derart tief ein, daß sie seinen künftigen Lebensstil und seine philosophische Einstellung bestimmte. (»Man muß für alles, was man im Leben bekommt, hart arbeiten.«) Nach einem Urerlebnis ging ihm auf, daß nicht arbeiten für ihn den Tod bedeutete. Die Angst, die er verspürte, wenn er einmal nichts zu tun hatte, war die alte Urangst in einer Situation, wo es sein Tod gewesen wäre, wenn er nicht in jeder Minute gekämpft und sich abgemüht hätte. Er grüßte jedermann mit den Worten: »Viel zu tun? Laufen die Geschäfte?«, ohne sich richtig klarzumachen, was er damit zum Ausdruck brachte.
KENNETH 28. Oktober 1972 Vor einem Monat erfuhr ich. Sie hätten Ihre Patienten aufgefordert, Ihnen mitzuteilen, was sie bei ihren Geburtsgefühlen erfahren hätten, was sie über die Auswirkungen dieser Gefühle auf ihr späteres Leben wüßten usw. Obwohl ich selbst nach längerer primärtherapeutischer Behandlung den
Mutterleib noch nicht verlassen habe (meine Lebensgeschichte), erscheint es mir doch wichtig. Ihnen etwas von mir zu erzählen. Bei ein oder zwei Gelegenheiten habe ich meine Mutter gebeten, mir, so gut sie sich erinnere, zu erzählen, was ihr (und mir) während der Geburt widerfahren sei; es schien mir wichtig, so viel wie möglich herauszufinden, solange sie noch am Leben war und es mir erzählen konnte. 82
Vor allem hat es den Anschein, daß das, was mit mir im Mutterleib geschehen ist, mein ganzes Leben geprägt hat, ein Leben, das ich am besten beschreibe, indem ich sage (wie ich immer zu tun pflegte), daß ich es nie wieder erleben möchte, wenn ich die Wahl hätte. Nach einem Urerlebnis in der vergangenen Nacht ist mir klar geworden, warum ich keinen Freund habe (meine neurotischen Freunde habe ich verloren und von der Primärtherapie her kenne ich auch keine Freunde — nicht einmal Bekannte): weil ich niemanden finden kann, der mich braucht; Beziehungen zu Freunden kann ich nur aufnehmen, wenn sie mich brauchen. Ich kann niemals jemanden um Hilfe bitten, und es gibt für mich nur eine Möglichkeit, Hilfe zu bekommen: wenn ich tief in Schwierigkeiten stecke. Wenn es den anderen dann nicht auffällt, daß ich Hilfe brauche (und das war oft der Fall), dann bin ich gezwungen, sie um Hilfe anzugehen. Doch wenn es erst so um meine Bedürfnisse bestellt ist, nimmt das häufig kein gutes Ende. Wie immer möchte ich dann »die Leute mit einem Knüppel zwischen die Augen schlagen«, damit sie erkennen, daß ich in Schwierigkeiten bin und Hilfe brauche. Wie als Junge, als ich meine Mutter derart aufdringlich mit meinen Wünschen behelligte, daß ich von meinem alten Herrn eine Tracht Prügel bezog; wie das erste Mal (von insgesamt zwei), als ich meine
Eltern im Mittelwesten besuchte, von Urerlebnissen aufgewühlt, weinend, laut schreiend, jedermann zum Teufel wünschend; wie an jenem Tag, als ich meine Frau mit dem unerwarteten Geständnis außer Fassung brachte, daß verschiedene Angelegenheiten, die uns betrafen, völlig verfahren waren; wie an dem Morgen, als ich gegen drei oder vier Uhr Arthur Janov anrief, von Todesangst erfaßt, aufgelöst in Tränen; wie an dem Tag, als ich meine Mutter von innen her attackierte, als ich sie kurz nach Mitternacht aus dem Schlaf riß, damit sie sich ins Krankenhaus aufmachte, und ihr damit einen stechenden Schmerz zufügte, nach ihren Worten den ärgsten, den sie jemals verspürt hatte. Dann ist da dieses seltsam unerklärliche Gefühl. Immer hatte ich das Gefühl, daß ich zwar in der Welt sei, aber gleichzeitig auch außerhalb von ihr. Daß ich in Wirklichkeit zu niemandem Kontakt hätte, daß ich allein sei, im Schatten stehend, unsichtbar — ich hätte sterben können, und niemand hätte sich darum gekümmert. Nach den Urerlebnissen und Erfahrungen in der jüngsten Zeit weiß ich, daß dieses Gefühl aus meinem Innern stammt. Ich sollte noch sagen, daß es mir schwerfällt, über diese Gefühle zu reden, über diese Gefühle des Isoliertseins von anderen. Es hat den Anschein, daß jedes dieser Gefühle völlig mit allen anderen 83
verschmolzen ist und daß, wenn man über ein Gefühl spricht, damit auch alle anderen angerührt werden. Jetzt fühle ich mich irgendwie verloren. So werde ich über das stärkste Gefühl sprechen — ein Gefühl, das ich eine lange Strecke weit verfolgen muß, ehe es »ausgeschöpft« ist. Es ist das Gefühl, nicht in der Lage zu sein, von meiner Mutter
loszukommen. Ich bin immer »Muttersöhnchen« genannt worden. Als kleiner Junge verbrachte ich praktisch meine ganze Zeit (ausgenommen, wenn ich gezwungen wurde, nach draußen zu gehen) zu Hause bei meiner Mutter. Als Jugendlicher arbeitete ich zur Aushilfe auf einer Farm; der Schmerz, am Morgen das Haus zu verlassen (oder auch als ich erfuhr, mein Vater habe einem Farmer stolz?? erklärt, ich werde für ihn arbeiten), war grausam, unerträglich; tagsüber dachte ich an meine Mutter, stellte mir vor, sie riefe nach mir, und sehnte mich nach dem Tag oder dem Abend, an dem ich wieder bei ihr sein würde. Ich erinnere mich an einen Tag — als ich am Abend heimkam, die Hände mit Blasen bedeckt, mit schmerzendem Rücken, deprimiert; sie wußte, daß ich mich schlecht fühlte und sie ließ schnell Wasser in die Badewanne, um mir etwas Gutes zu tun. Immer wieder – montags morgens, wenn ich eine neue Stelle antrat, der erste Tag an der Universität, in der Armee – verspürte ich jenes schreckliche Gefühl, nicht fortgehen zu wollen, doch wissend, daß ich es tun müsse (um ein Mann zu sein oder was immer). Nach dem stechenden Schmerz, der sie frühmorgens aus dem Schlaf gerissen hatte, fror meine Mutter so sehr, daß sie wie Espenlaub zitterte; sie erklärte, sie habe niemals eine solche Kälte empfunden. In der ersten Behandlungswoche (etwa fünf Tage lang) verspürte ich eine Kälte, wie niemals zuvor. Es war eine Art greifbare Kälte, eine sich anklammernde, nasse Kälte, und während der ganzen Zeit hatte ich den Geruch von Alkohol oder Äther oder ähnlichem in der Nase, im Primär-Institut wie auch in meinem Hotelzimmer. Ich konnte mich von dieser Kälte nicht freimachen, wie ich mich auch drehte und wendete; ich war so klein, daß ich meine Arme mit den Muskeln nicht bewegen konnte. Ich drehte mich ein wenig, und als ich mich genügend gedreht hatte, schwangen meine Arme herum und fielen herab. Die kälteste Stelle war meine Stirn, und ich versuchte, meinen Kopf nach rückwärts zu bewegen (Kinn in die Höhe), versuchte
es aus irgendeinem Grund, nur um die sich an mich krallende Kälte auf meiner Stirn loszuwerden. (Es ist verrückt, würde ich sagen, doch ich kann ein wenig von dieser alten Kälte auf meinen Oberschenkeln spüren.) Von Natur aus bin ich immer 84
kälteempfindlich gewesen; es kann für mich nie zu heiß sein. Daran hat sich auch bis heute noch nichts geändert. Doch zurück zur Kälte, die ich im Institut empfand. Ich lag im Bett, unter zwei Wolldecken, und trug lange Unterwäsche, ein Oberhemd, einen Pullover, eine Trainingsbluse und eine Jacke, doch ich konnte dem Kältegefühl nicht entrinnen; denn es war ein ganz frühes Gefühl. Meine Mutter zitterte vor der gleichen Kälte. Auch ich zitterte während der ersten Behandlungswoche vor dieser Kälte. Zweimal erfaßte mich ein heftiges Zittern, und bei einem Mal übergab ich mich in ein Kissen, während Paul losrannte, um einen leeren Eimer zu holen. Meine Mutter war hysterisch. Während ihrer hysterischen Anfälle im Krankenhaus zerriß sie ihre Strümpfe in Fetzen. Sie sagte auch etwas, offensichtlich um eine der Schwestern zu einer Antwort auf die Bemerkung einer anderen zu bewegen, die eher rhetorisch gefragt hatte: »Wenn sie kein Kind wollte, warum ist sie dann überhaupt schwanger geworden?« Ich weiß auch, daß meine Mutter einen solchen Schmerz verspürte, daß sie Gott darum bat, sich und ihr Kind zu sich zu nehmen. Sie wurde dann narkotisiert. Der Arzt, der später dazu kam, meinte, wenn es noch 15 Minuten länger gedauert hätte, wären Mutter und Kind tot gewesen. Ein weiterer wichtiger Faktor: ich bin klein und schmächtig (1,72 Meter groß, ungefähr 135 Pfund schwer), und meine Mutter ist
klein (etwa 1,60 Meter). Meine Mutter aß besonders gut, als wollte sie ein großes, starkes Baby bekommen. Und das war auch der Fall. Bei der Geburt wog ich über acht Pfund. So habe ich ihren Leib niemals wirklich verlassen. Obwohl ich fast die Hälfte meines Lebens von meiner Mutter getrennt lebte (und immer schmerzte es, wenn ich sie verließ), hat sie sich dennoch immer um mich gekümmert — in Briefen, in meinen eigenen Phantasien, in meinen Freundinnen, in meiner Frau. Bis vor kurzem hat meine Frau uns beide unterhalten, zweieinhalb Jahre lang. Nach einem Jahr primärtherapeutischer Behandlung bekam ich schließlich eine Stelle. Ich kann meine Mutter nicht verlassen. Sie ist ständig um mich. Ich besitze praktisch nur das, was ich immer besessen habe (und das meiste davon ist Plunder). Ich habe noch immer alle Briefe, die meine Mutter mir geschickt hat, und ich besitze sogar noch viele der alten Möbel und das Geschirr, das meine Eltern loswerden wollten. Auf diese Weise behielt ich meine Mutter immer um mich. Es gibt eine Menge Gründe, warum ich meine Mutter nicht 85
verlassen kann (sie lebt 3000 Kilometer entfernt von mir — ich meine natürlich meine Mutter in mir). Einmal, weil ich sie dann verletzen werde. Ich habe ihr bei der Geburt nicht nur gräßliche Schmerzen zugefügt, sondern auch Teile ihres Körpergewebes beschädigt. Dies ist nach meiner Erinnerung eines der ersten Dinge, die meine Mutter mir erzählt hat. Daher habe ich zeit meines Lebens jedesmal, wenn ich mich aus den Armen einer weinenden Frau befreite oder eine traurige Mutter verließ, den Schmerz verspürt, jemanden zu verletzen und zu zerreißen, den ich in Wahrheit gar nicht verlassen wollte Warum hatte ich das
Gefühl, die Gebärmutter nicht verlassen zu wollen? Ich weiß es nicht. Vielleicht erschien mir der Aufenthalt dort leichter — viel leichter. Doch das darf nicht sein. Ich muß hinaus, aber ich will es nicht eigentlich, weil es so schwer ist — und so schmerzlich. Wie gesagt, ich bin niemals rausgekommen. Mir ist im Leben nie etwas gelungen. Ich wollte viele phantastische Dinge tun, und ich habe mich wie höllisch abgemüht und gearbeitet. Doch ich habe die Barriere niemals überwunden. Häufig ist es nur eine kleine Barriere (»Wenn es mir nur gelänge, ein wenig weiter zu kommen«), doch es kann sich auch um eine zehntausend Kilometer dicke Barriere handeln, denn solange ich sie nicht überschritten habe, kann ich sie nicht überschreiten. Ich habe niemals im Leben Erfolg gehabt (Karriere, Geld, Universität, guter Körperbau – und vor allem bei dem, was mir ursprünglich äußerst wichtig war – Erfolg bei der Suche nach Kenneth, der hier irgendwo leben soll. Mit der Suche bin ich bereits im Alter von fünfzehn angefangen – vor zweiundzwanzig Jahren). Ich befürchtete sogar, daß es mir nicht gelingen würde, im PrimärInstitut aufgenommen zu werden – weil es so verdammt wichtig für mich war. Meine Frau lebt seit längerer Zeit im Mittelwesten. Da diese Mutter hier nicht mehr für mich sorgt, blieb mir nichts anderes übrig, als mich selbst in einer ganz neuen Weise zu sehen. Vorher hat sie sich in verschiedenster Weise um mich gekümmert – unter anderem auch therapeutisch. Auch wenn sie jetzt innerlich zerbrochen ist, so ist sie doch kein Therapeut; doch ich benutzte sie weiter, hieß sie zuhören, wenn ich meinen Mist erzählte. Und ich konnte mich »revanchieren« (das Bedürfnis, anderen zu helfen), ich half ihr dabei, ihren Mist loszuwerden. Doch vor einem Monat oder so spürte ich den Wunsch, erfahrene Hilfe zu suchen – jemanden, der wirklich weiß, was er tut –, um Kenneth zu helfen. So suchte ich das Primär-Institut
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auf und nahm an Sitzungen teil. Ich fühlte das überwältigende Bedürfnis nach einem »Durchbruch«. Und ich versuchte mit aller Kraft, es mit Urerlebnissen zu schaffen — ich mühte und mühte mich, schrie, mit verkrampftem Körper, klammerte mich für ein oder zwei Wochen an allen möglichen Mist. Schließlich gab ich auf, unter dem Vorwand, kein Geld mehr zu haben. Das Verlangen war weg, und ich fühlte mich zeitweilig zufrieden. Doch ich wußte, daß ich mit dem Kopf gegen eine Wand gestoßen war - ich war gegen eine Barriere angerannt, die ich bislang nicht hatte durchbrechen können. Am Ende meines Berichts möchte ich dazu noch etwas sagen. Musik hat mich immer sehr fasziniert. Musik sind für mich Mutter und Vater gewesen; meine Gitarre war meine Lebensgefährtin (meine Mammi). Mit meiner Gitarre konnten sich meine wirklichen Freunde und Freundinnen nicht messen, jedenfalls soweit das mich betrifft. Musik ist für mich eine Art Therapie gewesen. Es ist fast so, als würde ich all die Musik, die sich während meines Lebens in mir angestaut hat, mit dem Gitarrespiel wiederbeleben, und wenn ich diese Musik wieder spiele, dann rufe ich damit viele meiner Gefühle zurück. Doch während meiner Therapie habe ich zweimal etwas Merkwürdiges erlebt. Erst beim zweiten Mal ging mir auf, daß eine bestimmte Musik mich in meine Geburtsgefühle versetzt. Das war während der Zeit, als ich mich bemühte, »durchzubrechen«. Verschiedene Arten von Musik wecken verschiedene Gefühle in mir. Diese besondere Musik ist von tiefen Baßklängen begleitet (etwa die Musik von Quincy Jones). Sie erzeugt in mir eine Art «Hoffnungs«-Gefühl (wir werden es schon schaffen, Baby!) – die Hoffnung, endlich den Kopf heben zu können –, nun, wie dem auch sei, mein Kopf hob sich jedenfalls. Ich fühlte den dunklen Baß, mein Kopf hob sich (Kinn in die Höhe), legte sich nach hinten auf den Nacken, und
innerhalb von Sekunden fiel ich ins Bett, war ein Fötus, in rhythmischen Bewegungen (arbeitend) den Weg erkämpfend, den ich gehen wollte. Ich nehme an, daß Musik zum Teil – wie die Sprache – eine symbolische Beschreibung von Geburtsgefühlen ist. (Mit dem Kopf gegen eine Wand; schaffe den Durchbruch nicht; in der »Klemme«; werde gedrückt; sehe Tageslicht; komme nicht los; finde keinen Weg aus diesem Schlamassel; weiß nicht, wohin ich gehen soll; weiter und weiter bis in alle Ewigkeit.) Kürzlich hatte ich das Gefühl, ich stecke in all diesem Mist (Schmerz, Urerlebnisse usw.) und niemand nähme wirklich Notiz davon. (Wenn sie nur wüßten, worin ich stecke.) Ständig hatte ich 87
mit einer Menge Mist zu tun (Schmerz, harte Arbeit, Leid, mit Mühe und Not davonkommen usw., Einsamkeit usw. usw.), und niemand wußte oder konnte wissen, was ich durchmachen mußte. In der Therapie habe ich das Gefühl, daß Arthur Janov überhaupt nicht weiß, was die Behandlung für mich bedeutet und wie sehr ich mich dabei abmühe — und was ich durchmache. Das ist ein schlimmes Gefühl, und es bedeutet eigentlich MAMMI, DU WEISST NICHT, WIE SEHR ICH MICH HIER DRIN ABMÜHE; DU VERSTEHST NICHT, WIE SCHWER ICH ARBEITE, WIE SEHR ICH MICH BEMÜHE, WIE ERBITTERT ICH KÄMPFE (um raus zu kommen) – und WIE SEHR ICH LEIDE – UND WIEVIEL ICH WIRKLICH WERT BIN! Mein ganzes Leben lang habe ich jedesmal hart für irgend jemanden gearbeitet, wenn sie nicht begreifen konnten, wie schwer ich mich abmühte, oder wenn sie meine Anstrengungen nicht anerkannten. Ich hätte mich abgeschuftet, wenn irgend jemand Notiz von mir genommen hätte; doch da es niemand tat, was hatte das alles für einen Sinn?
Während der intensiven Behandlungswoche (drei Sitzungen) im vergangenen Monat geriet ich in ein Gefühl, das mein ganzes Leben ausdrückt. Ich fühlte mich durch den Therapeuten unter Druck gesetzt, und zwar zu einem Zeitpunkt, als ich irgend etwas tun sollte, aber nicht wußte, was. Ich hatte das Gefühl ICH KANN NICHTS TUN, ICH KANN NICHTS TUN, und zur gleichen Zeit kämpfte ich wie ein Wilder. Wer mir nur einen Blick zugeworfen hätte, der hätte erkannt, daß ich eine Menge tat. Das ist mein Leben: kämpfen wie ein Wilder, doch niemals glauben, daß ich tatsächlich etwas tun kann. In meiner Mutter wie ein Wilder kämpfen, doch nicht das Gefühl haben, etwas zu tun (etwas Gutes zu tun). Es gab noch einen weiteren Grund, warum es mir schwer fiel, den Leib meiner Mutter zu verlassen; ich hatte das Gefühl, unerwünscht zu sein. Solange ich bei meiner Mutter war, konnte sie mir sagen, daß sie mich wünschte. Als ich weggegangen war, da war es zu spät. Dieses Gefühl habe ich mein Leben lang ausagiert: die Schwierigkeit, Mutter und ihre Ersatzpersonen zu verlassen. Die einsamen Stunden, Tage und Wochenenden, wo ich mich in mein dunkles, einsames Zimmer einschloß und nicht zur Tür ging, wenn Freunde (selten) mich besuchen wollten. Ich mußte in meinem Zimmer bleiben (wir zwei gemeinsam), weil dort etwas war. Und dann kam das Gefühl von Einsamkeit und Dunkelheit über mich. Ich blieb im Zimmer, aß das-» ganze Wochenende über nicht, schlief angekleidet auf dem Sofa ein. Nur ich und meine Musik. Es war wie Sterben. 88
Während der Geburt hatte ich auch Angst, meine Mutter wollte nicht, daß ich ich sei (geboren wurde), weil ich ein schlechter Junge sei; ich war etwas Dreckiges; ich war ein wilder kleiner Hundesohn. Und jedesmal, wenn ich beanspruchte oder ausdrückte, ich sei ICH, dann verkrampfte sie sich und drückte mich zusammen. Weg mit dem Ich, dessen Rauskommen mir
Angst bereitet, weil niemand mich mögen wird, weil ich dann Schwierigkeiten bekomme! Und da ist viel Ich. Genau wie im Mutterleib. Nun zu dem, was ich, wie gesagt, später noch hinzufügen wollte. Nach etwa einem Jahr Behandlung erlebte ich ein Gefühl, das ich schließlich als ICH FÜHLE MICH GUT erkannte. Schlicht und einfach so. Ich merke allmählich, daß dies etwas sehr Wichtiges für mich ist. Vor zwei oder drei Wochen sagte Helen etwas Nettes zu mir, und das hat viel in mir aufgerührt. Letzte Nacht hat sie mir geholfen. Ich weinte und sagte: »Es ist sehr unangenehm, daß du hier bist.« »Warum?« fragte sie. »Weil deine Anwesenheit dazu führt, daß ich mich gut fühle.« Auch das ist die Geschichte meines Lebens. Ich mache einen Fortschritt – sozial oder anderswo, und dann beginne ich mich wohl zu fühlen. Sobald dies eintritt, gerate ich in Aufregung, Panik – richtige Panik – extreme Spannung. Schließlich werfe ich alles hin. Am letzten Abend, nachdem Heien mich verlassen hatte, geriet ich aus diesem Sich-gut-Fühlen – oder einem verwandten Gefühl – in ein Geburtsgefühl. Und für den Bruchteil einer Sekunde, blitzartig, hatte ich ein Gefühl von »Sich öffnen«. Und ich spürte auch, daß es in Zukunft für mich gute Gefühle geben wird — gute Gefühle, die auf mich warten. Zum erstenmal hatte ich das Gefühl, daß ich »es schaffen« werde (in der Therapie) und daß ich die Barriere überwinden kann. Und daß diese guten Gefühle sich nicht plötzlich einstellen, sondern zur passenden Zeit gleichsam ausgehandelt werden - oder bildlich gesagt: wie ein Blatt nach dem anderen bei einer Pflanze. Doch wie gesagt, ich bin noch nicht draußen. Ich muß noch einen langen Weg zurücklegen; und ich nehme an, daß ich noch einen längeren Weg zu gehen habe, bis es mir gut geht. Es ist schön, wenn gute Gefühle auftauchen, ich kann sie schon fühlen. Sie werden keine Hindernisse sein; sie werden sich mir nicht in den Weg stellen. Wenn ich sie gefühlt habe, werde ich wieder ruhig
sein, bereit, das nächste Gefühl zu erleben, ob gut oder nicht. (Tatsächlich, selbst die schlechten Gefühle sind gut zu fühlen.) Man kann mein Leben auf folgende Formel bringen: Es gelang mir nicht, aus eigener Kraft den Leib meiner Mutter zu verlassen; ich 89
kämpfte wie ein Wilder. Und seither ist mir im Leben alles mißlungen, obwohl ich auch hier wie ein Wilder kämpfte. Es muß ein schönes Gefühl für ein Baby sein, durch das rhythmische »Verlangen« seiner Mutter dabei unterstützt zu werden, den Geburtskanal zu passieren. Mir blieben solche Gefühle versagt. So führte ich schließlich ein nichtsnutziges Leben, ein Leben der Vergeudung, lebte in einem Vakuum. Bei dem Versuch, die Reise ins Geborenwerden hinter mich zu bringen, muß ich zu Anfang ein Lustgefühl verspürt haben — zumindest den Hauch eines solchen Gefühls. Doch das Lustgefühl wurde durch den Schmerz meiner Mutter (meine Schuld) abrupt unterbrochen, und damit war ich dazu verurteilt, ein Leben zu führen, in dem es keine guten Gefühle gab, sondern nur Einsamkeit und das Streben nach guten Gefühlen. Das ist meine Hoffnung. Immer wenn sich ein Gefühl des Vergnügens in mir zu regen begann (Lust, sich gut zu fühlen), dann traten Schuldgefühle dazwischen (zwischen mich und das gute Gefühl). Wenn ich zum Beispiel bei meiner Frau sexuelle Lust zu empfinden beginne, dann fällt mir plötzlich eine von Kenneth abgelehnte, Kenneth begehrende, traurige, einsame frühere Freundin ein, die in ihrem Zimmer sitzt und sich ungeliebt fühlt. Ich konnte niemals Freude an mir haben, weil es immer jemanden gab, der litt.
Ich versuchte zu genießen; ich mühte mich Dinge zu genießen — ich kämpfte verzweifelt um den Kern eines vermutlichen Genusses zu finden, versuche, alles in mich aufzunehmen, versuche, es einzufangen. Doch während ich mich bemühe, scheint es immer zu entschlüpfen; und später dann sehne ich mich verzweifelt danach, voller Sehnsucht, ein weiteres schlimmes Gefühl für mich (ICH MÖCHTE ES ZURÜCK HABEN.) So war Lust für immer böse; das Gute war das Böse. Wie im Mutterleib fühle ich Schmerz und bewege mich; und wenn ich beginne, mich zu bewegen, empfinde ich ein gutes Gefühl. Doch dann verspüre ich den Schmerz meiner sich wehrenden Mutter, und meine Schuldgefühle hindern mich daran, jemals zu empfinden, was es heißt, gute Gefühle zu haben. Der undurchdringbare Körper meiner Mutter, ihr zerrissenes Gewebe, ihr Schmerz, MEINE SCHULD — das war meine Barriere. Ich wollte nicht, daß meine Mutter sich verschloß und mich eingesperrt hielt (ein schreckliches Gefühl). Und ich wollte ihr nicht wehtun, weil es mir wehtat. Doch nun, da ich ins Freie gelange, werden meine Gefühle weniger 90
und weniger schuldbeladen — und ich habe mehr und mehr gute Gefühle (nur so kann ich das Sich-gut-Fühlen beschreiben). Kenneth
Zusammenfassung
Die Ärzte sollten daran denken, daß sie ein lebendiges, empfindsames menschliches Wesen und nicht einen Klumpen Protoplasma entbinden. Sie sollten wissen, daß ihre Maßnahmen bei der Entbindung etwas mit der späteren Neurose des Kindes zu tun haben. Schonungsvolles Vorgehen ist eine sine qua non, eine unerläßliche Bedingung. Bis zur Ankunft des Arztes hinausgezögerte Geburtswehen sind schädlich. Über Gebühr verlängerte Geburtswehen laufen den Bedürfnissen des Kindes zuwider. Übermäßiges Verabreichen von Medikamenten kann sich nachteilig auf den Fötus auswirken. Angestrebt werden sollte die natürliche Geburt, vielleicht mit zusätzlicher örtlicher Betäubung, wo das absolut notwendig ist. Müttern mit schwierigen Geburtswehen sollte unter Umständen zusätzlich Sauerstoff verabreicht werden, um sicherzustellen, daß das Kind nicht unter Sauerstoffmangel zu leiden hat. Mütter müssen am Geburtsprozeß aktiv teilnehmen und nicht nur Anweisungen des Arztes befolgen. Es ist notwendig, daß sie ihren Kindern »helfen«, zur Welt zu kommen, und das können sie nicht, wenn sie halb betäubt sind. Die beste Gewähr für eine natürliche Geburt, für eine Geburt, die die Mutter unabhängig von den dabei auftretenden Schmerzen ertragen kann, ohne sich gleich systematisch zu verkrampfen, besteht natürlich in der Aufhebung anderer früherer Schmerzen der Mutter mit Hilfe von Urerlebnissen. Das heißt, in einem solchen Falle verstärkte der Schmerz der Geburt nicht andere frühere Schmerzen; die Geburtserfahrung wäre nicht derart schmerzlich, daß sie nicht ertragen werden könnte. Kindererziehung beginnt im Mutterleib, am Lebensanfang. In einer sprachlich orientierten Gesellschaft taten wir uns schwer damit, diesen Gedanken zu verstehen, weil es dabei um Erfahrungen geht, für die jede sprachlich faßbare Erinnerung fehlt und die man nicht erklären kann. Sie können nur erlebt werden. Die konventionellen Therapieformen haben diesen sehr frühen Lebensaspekt vernachlässigt, weil sie sich sprachlicher
Mittel bedienen. Bis zum Auftreten von Geburtsprimals hatten wir keine Möglichkeit, unsere These mit 91
Beweisen zu stützen. Man konnte darüber nur theoretisieren. Bis heute waren wir nicht in der Lage, die Bedeutung jener Erfahrungen und ihre Auswirkungen auf das spätere Verhalten einzuschätzen. Nun können wir Untersuchungen über das Spannungsniveau vorher und nachher, über Gehirnwellen usw. anstellen und können die Auswirkungen von Spannungslösungen nachweisen. Wir können Verhaltensänderungen beobachten (zum Beispiel das Nachlassen von epileptischen Anfällen), wenn es zu Geburtsprimals gekommen ist, und können uns aufgrund dessen eine Vorstellung davon machen, welch großen Druck frühe Traumata auf das Körpersystem ausüben. Wir können feststellen, daß ein frühes Trauma zu Störungen im Hormonhaushalt geführt hat, wenn sich nach Geburtsprimals der aus dem Gleichgewicht geratene Hormonhaushalt verändert. Schließlich haben wir heute Mittel und Wege, die Auswirkungen einer frühen Erfahrung auf spätere Lebensprobleme wie etwa Lernschwierigkeiten genau anzugeben. Und wir wissen endlich, daß es nicht darauf ankommt, was Eltern tun, sondern darauf, was und wie sie sind.
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5 Nach der Geburt
U nser Sozialleben beginnt in dem Augenblick, wenn wir zur Welt kommen. Was zu diesem Zeitpunkt geschieht, kann sich auf das ganze Leben auswirken. In diesem Zusammenhang sollten wir daran denken, daß das Neugeborene ein gleichsam offener, höchst sensibler Organismus ist, aufgeschlossen für alle Reize. Das neugeborene Kind ist unfähig, seine Schmerzen verstandesmäßig zu verarbeiten. Es kann die Schmerzen weder fühlen noch verdrängen. Zunächst einmal wird es in einem Raum geboren. Hat dieser Raum die Temperatur des Mutterleibs? Oder arbeitet in ihm eine Klimaanlage, damit die Ärzte sich wohl fühlen? Herrscht in dem Geburtsraum grelles Leuchtstofflicht? Oder diffuses, nicht auf die Augen des Neugeborenen gerichtetes Licht? Lassen wir einen Patienten sprechen! Seinen Worten können wir entnehmen, welche Auswirkungen die beiden genannten Faktoren – Temperatur und Licht – haben können: »Nach meinem dritten Geburtsprimal kam ich eines Tages in die Behandlung und empfand das Licht im Therapieraum als äußerst störend. Zuvor war mir das nicht aufgefallen. Das Licht schmerzte richtig, und ich begann zu blinzeln. Plötzlich befand ich mich wieder im Geburtsprozeß, diesmal von grellem, schmerzendem Licht gleichsam überschüttet. Die
Schmerzen nehmen kein Ende, und zur gleichen Zeit ist mir kalt – eiskalt. Ich friere, und ich kann nichts dagegen tun.«* Wir haben dieses Phänomen häufig genug beobachtet, um sagen zu können, daß der Kreißsaal nicht zu grell beleuchtet werden darf und daß er wärmer sein muß, als wir bislang angenommen haben. Viele »lichtempfindliche« Patienten, die sich höchst unbehaglich fühlen, wenn sie ins helle Sonnenlicht treten, haben ihre Reaktion auf das
* D i e d u r c h s c h n i t t l i c h e T e mp e r a t u r i n e i n e m K r e i ß s a a l b e t r ä g t r u n d 2 5 G r a d . I m Mu tte r le ib h e r r s c h t e in e T e mp e r a tu r v o n a n n ä h e r n d 4 0 G r a d . D a s n e u g e b o r e n e K in d is t mith in d e m S c h o c k e in e s T e mp e r a tu r a b f a lls v o n r u n d 1 5 G r a d a u s g e s e t z t . B e i d e r G e b u r t w ir d u n te r a n d e r e m d e r Me c h a n is mu s z u r T e mp e r a tu r k o n tr o lle im G e h ir n s timu lie r t. E s k a n n d u r c h a u s s e in , d a ß e in e s c h w ie r ig e G e b u r t u n d d e r z u s ä tz lic h e S c h o c k a u f g r u n d d e s T e mp e r a tu r a b f a lls d ie n o r ma le F u n k tio n d e r T e mp e r a tu r k o n tr o lle f ü r imme r b e e in tr ä c h tig t, s o d a ß d ie K ö r p e r te mp e r a tu r d e s Be tr e f f e n d e n a n s c h lie ß e n d z u h o c h o d e r z u n ie d r ig is t.
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helle Licht bis zum Kreißsaal zurückverfolgen können. Eine gleich große Anzahl von Patienten hat uns berichtet, daß sie zeit ihres Lebens mehr unter Kälte zu leiden hatten als andere, daß sie sich bereits warm anziehen mußten, wenn Menschen in ihrer Umgebung sich noch ganz behaglich fühlten. Auch diese Patienten konnten ihre Reaktionen auf die katastrophalen Erfahrungen in einem kalten Kreißsaal zurückführen. Einer unserer Patienten, der während eines Primals erneut den Kälteschock verspürte, den er im Kreißsaal erlebt hatte, kam zu der Einsicht: »Während meines ganzen Lebens war ich allergisch gegen Temperaturschwankungen. Jetzt fühle ich, daß dies alles
mit dem Schock begann, der mir zugefügt wurde, als ich den warmen Mutterleib verließ und mich plötzlich in einem kalten Raum befand. Diesen Schock konnte mein Körper niemals verwinden.« Nach dem Urerlebnis stellte der Patient fest, daß seine Nase nicht mehr jedesmal zu laufen begann, wenn er von einem heißen in einen kalten Raum trat, daß mithin eine Reaktion ausblieb, die vorher fast immer eingetreten war. Als nächstes stellt sich die Frage, wohin das Neugeborene gelegt wird. Wird es auf den warmen, pulsierenden Leib seiner Mutter gelegt oder in ein steriles, kaltes Kinderbettchen? Wir glauben, es ist am besten, das Neugeborene sofort seiner Mutter zu übergeben. Es muß traumatisierend sein, von Fremden rauh angefaßt und allein in eine Art Behälter gesteckt zu werden. Was dann geschieht, liegt auf der Hand: das von seiner Mutter getrennte Kleinkind wird in einen Kindersaal mit anderen schreienden Säuglingen abgeschoben. Es ist nicht in der Lage zu verstehen, was mit ihm vor sich geht, ausgenommen, daß es das primitivste aller Notsignale hört — den Schrei. Ein Dutzend oder mehr schreiende Babys müssen das Kleinkind in Erregung versetzen; folglich weint und schreit es auch (aus Angst). In einer Säuglingsstation kann man immer wieder beobachten, daß nicht ein oder zwei Neugeborene schreien, sondern daß gleich ein ganzer Chor in das Wehgeschrei einstimmt. Vielleicht schreien die beiden ersten vor Hunger. Doch dieses Schreien ist für die anderen Säuglinge etwas Bedrohliches. Das dürfte nicht so schwer zu verstehen sein, denn schreiende Babys regen auch Erwachsene auf und bringen sie mit ihrem unaufhörlichen Wimmern und Wehklagen zur Weißglut. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht zeigt auf, was mit Neugeborenen geschieht, wenn sie gleich nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt werden oder aber mit ihr zusammenbleiben. In dem
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besagten Bericht gab Dr. A. W. Liley von der Universität von Auckland bekannt, daß die Krankenhäuser seines [amerikanischen] Bundesstaates vor einiger Zeit dazu übergegangen seien, Neugeborene bei ihren Müttern »einzuquartieren«, statt sie wie bisher in einem gesonderten Säuglingssaal unterzubringen. Die zu ihren Müttern gelegten Säuglinge nahmen schneller an Gewicht zu, schrien weniger und nahmen die mütterliche Brust williger. Dazu erklärte Dr. Liley: »Vorher ließen wir die Babys fünfmal täglich zum Stillen zu ihren Müttern bringen, doch wir machten die Erfahrung, daß es besser ist, sie auf Verlangen zu stillen, als sie alle dem gleichen Zeitplan zu unterwerfen.« Dr. Liley berichtete auch über seinen Besuch in einem Krankenhaus von Bangkok, wo man in großen Räumen 400 Mütter mit ihren Neugeborenen zusammengelegt hatte: »Ich bin noch nie in einem Krankenhaus gewesen, das mit 400 Babys belegt war und in dem ich nicht ein einziges Baby habe schreien hören.«* Neben der Eltern-Kind-Beziehung gibt es offensichtlich noch weitere Faktoren, die eine Neurosenbildung begünstigen. Zum Beispiel das Krankenhauswesen, das in vielen Fällen einen Lebensanfang setzt, der von Schmerz verdüstert ist. Der Schmerz ist selbstverständlich in der Störung der natürlichen Mutter-KindBeziehung durch das Krankenhaus begründet. Die Entfernung des Neugeborenen von seiner Mutter kann bereits einen entscheidenden Faktor bei der Neurosenentstehung darstellen. Was kann sich außerdem störend auswirken und eine rückständige, eine Restspannung im Säugling erzeugen? Der größte Teil meiner Erörterungen basiert keineswegs auf Spekulation, sondern auf Informationen, die wir bei der
Beobachtung von vielen Hunderten von infantilen Urerlebnissen haben sammeln können. Männliche Neugeborene werden häufig kurz nach der Geburt beschnitten. Nach meiner Meinung sollten die routinemäßigen Beschneidungen eingeschränkt werden, denn sie haben eine traumatisierende Wirkung. Ich schlage statt dessen vor, mit der Beschneidung zu warten, bis der Junge alt genug ist, sich aus freien Stücken für eine solche Operation entscheiden zu können. Ganz gewiß ist ein solcher Eingriff weniger traumatisch, wenn man sich zu einer Entscheidung durchringen kann, wenn man klar zu erkennen vermag, was mit einem geschieht.
* Los Angeles Times vom 22. Februar 1971.
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Man versetze sich in die Lage eines Kleinkindes, das Schmerz an seinem Penis verspürt, ohne begreifen zu können, warum dieser Schmerz vorhanden ist. Neugeborene sollten vor lärmerfüllten Räumen, vor den Geräuschen von Absaugpumpen und vor Menschen mit schrillen oder rauhen Stimmen bewahrt werden. Extrem laute Geräusche traumatisieren das Neugeborene, vor allem in den ersten Tagen, wenn es nicht sehen, sondern nur hören kann. Das Neugeborene sollte auch nicht erschreckt, noch grob behandelt werden. Eine unserer Patientinnen hatte ein Urerlebnis, bei dem sie das Gefühl hatte, von einer Kinderschwester, die sie kurz nach der Geburt in den Säuglingssaal trug, hart und grob angefaßt zu werden. Eine andere Patientin hatte ein Primat, das zum Inhalt hatte, daß während der ersten Lebenstage ihr Kopf nicht richtig abgestützt worden war. Spannungen im Körper der Mutter übertragen sich in
kurzer Zeit auf ihr Neugeborenes, das man als eine komplizierte Empfindungsmaschine bezeichnen kann. Wir (unterdrückte Erwachsene) können schwer verstehen, was es bedeutet, gegenüber Sinnesreizen völlig offen und empfindlich zu sein. Erst in der Primärtherapie bereits fortgeschrittene Patienten fangen allmählich an zu begreifen, was ein Säugling durchmacht, denn sie sind wortwörtlich zu jenem frühen Zustand zurückgekehrt und innerlich wieder offen geworden für die traumatischen Erfahrungen, die sie dazu gebracht haben, sich innerlich zu verschließen. Eine sich ruckartig bewegende Mutter, eine Mutter mit unkoordinierten Bewegungen wird ihrem Kind ein Gefühl von Unsicherheit vermitteln. Es spielt keine Rolle, ob sie das »Buch« über Kinderpflege auswendig kennt, denn wenn sie im Umgang mit ihrem Kind körperlich nicht entspannt ist, hilft ihr das wenig; das gleiche gilt für den Fall, daß sie zu schnell und zu laut spricht. Ich kann auch nicht verstehen, warum man Kleinkinder in Strampelhöschen steckt, deren Ärmel so lang sind, daß sie über die Hände reichen, und warum man die Ärmel dann unten zusammenbindet. Die rational klingende Erklärung lautet: auf diese Weise werde das Kind daran gehindert, sich selbst Kratzwunden zuzufügen. Doch die Praxis ist barbarisch, denn das damit verbundene Gefühl von Hilflosigkeit wirkt sich traumatisierend auf das Kleinkind aus. Der Säugling kann auch dadurch traumatisiert werden, daß seine Windeln nicht häufig genug gewechselt werden, was ständiges Wundsein zur Folge hat. Ein anderer häufiger Anlaß für Urerleb96
nisse ist das feste Einwickeln in Decken. Man denkt dabei an die Sicherheit des Säuglings. Tatsächlich jedoch wird ihm damit ein Gefühl von Hilflosigkeit und Unsicherheit vermittelt. Ein
weiterer Faktor ist die Zimmertemperatur. Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, welche Temperatur Säuglinge brauchen, doch es scheint, daß sie mehr Wärme nötig haben als Erwachsene. Nicht unbedingt auf Grund konstitutioneller Unterschiede zwischen Kleinkindern und Erwachsenen, sondern weil unempfindliche Erwachsene die im Zimmer herrschende Kälte häufig nicht spüren. Vielleicht laufen ihre »Motoren« auf Hochtouren, so daß sie sich nicht vorstellen können, daß Säuglinge nicht die gleichen Hitzegefühle wie sie empfinden. Säuglinge sollten hochgenommen werden, wenn sie schreien. Schreien ist ein Notsignal. Gelegentlich können wir die jeweilige Notlage nicht erkennen, doch wir sollten in solchen Fällen wissen, daß Säuglinge Hilfe brauchen. Sie sollten gestillt und gefüttert werden, wenn sie danach verlangen, und nicht aufgrund eines willkürlichen Zeitplans, und sie sollten mit Muttermilch ernährt werden. Für wie lange Zeit? Man sollte sich der Natur anvertrauen. Bis sie Zähne bekommen oder nicht mehr gestillt werden wollen. Mit der Zahnbildung teilt die Natur uns etwas mit; genauso wie mit Mehrfach-Geburten, eine Laune der Natur, die darauf hinweist, daß wir uns zu einer bestimmten Zeit nur um ein Kind kümmern können. Im allgemeinen bekommen Kinder erst nach dem neunten oder zehnten Monat Zähne. Die Zeitspanne bis zum Zahnen ist gewöhnlich eine angemessene Stillperiode. Doch einige Kinder wollen mehr, andere weniger. Wir müssen uns in acht nehmen davor, die Bedürfnisse der Mutter auf das Kind zu übertragen; das kann dazu führen, daß das Stillen über einen zu langen Zeitraum ausgedehnt und daß dabei der Saugreflex verstärkt wird; auf diese Weise können sich genau wie bei nicht ausreichendem Stillen hartnäckige orale Fixierungen herausbilden. Wir haben Mütter erlebt, die unter dem Vorwand, »progressiv« und emanzipiert zu sein, das Stillen länger beibehalten haben, als es den Wünschen ihrer Kinder entsprach.
Es ist zweifellos schwierig und mühevoll, Säuglinge jedesmal auf den Arm zu nehmen, wenn sie schreien, und sie zu füttern, wenn ihnen danach zumute ist, doch die Kindererziehung ist eine Herkulesarbeit, die nicht von Eltern unternommen werden sollte, die selbst noch Kinder sind. Die Eltern müssen auf das beständige Bedürfnis vorbereitet sein, das ein Säugling darstellt. Reizbarkeit findet man 97
häufig bei Eltern, die nicht vorausgesehen haben, welch eine Aufgabe die Kindererziehung bedeutet. Die drei folgenden Fallgeschichten sollen verdeutlichen, wie kompliziert der neurotische Prozeß verläuft. Das Familienleben der zwei jungen Männer und der jungen Frau war auf den ersten Blick keineswegs krankheitsfördernd. Da war kein betrunkener Vater, der nach Haus kam, um die Kinder zu schlagen, keine Ehescheidung, keine Gewalttätigkeit, keine ständige Kritik und Verspottung – sondern nur tagaus tagein kaum wahrnehmbare Störungen, die die Patienten ihrer Persönlichkeit beraubten. Die primärtherapeutische Behandlung ihrer Neurosen war äußerst schwierig, weil ihr Abwehrsystem so verwickelt war – in ihrem Leben war nichts Auffälliges, auf das sie hätten hinweisen und auf das sie sich hätten als Krankheitsquelle konzentrieren können. Sie waren auf derart subtile Weise ihrer selbst entfremdet worden, daß sie kaum wußten, ob sie unter Leidensdruck standen oder nicht. Wir erkennen an diesen Fällen, wie sinnlos es gewesen wäre, den Eltern der Patienten Ratschläge über Kindererziehung zu geben; auch sie waren sich dessen, was sie ihren Kindern antaten, nicht bewußt, sondern agierten ihren eigenen Schmerz lediglich an ihren Kindern aus. Es hatte äußerlich den Anschein, als richteten sie sich nach einem Buch über Kindererziehung – ihr Verhalten schien vollkommen in
Ordnung zu sein; doch was fehlte, war ein wenig menschliches Gefühl.
FRED Meine Eltern waren Meister darin, auf subtile Art Druck auszuüben. Hier ein Beispiel für ein Gespräch: Ich: Mammi, ich fühle mich schlecht. Mutter (ängstlich und hastig): Hast du schon daran gedacht, Ball zu spielen? Ich: Ja, aber ... Mutter: Hast du mit deinen Freunden gesprochen? Ich: Nein, ich habe wirklich nicht ... Mutter: Möchtest du etwas schreiben? Meine Mutter wirkte auf mich immer so hilfsbereit. Doch ich fühlte mich trotzdem schlecht und fand niemals eine Gelegenheit, mir klarzumachen, warum. Die Einsicht, daß sie alle jene Vorschläge nur aus eigennützigen Motiven machte, weil sie es nicht ertragen konnte, 98
daß ich irgendeine Art von Schmerz verspürte, weil sie von sich den Eindruck haben wollte, sie sei gut – diese Einsicht war viel zu schmerzlich. So war ich genötigte sie als hilfsbereit anzusehen und mich als irgendwie unzulänglich, weil ich mich immer schlecht fühlte, ganz gleichgültig, was sie mir auch anriet. Als Erwachsener empfand ich Haßgefühle gegen Menschen, die mir eine. .Menge Fragen stellten, weil ich dann zunächst das Gefühl
hatte, sie sorgten sich um mich, und mir anschließend anhand der Schnelligkeit. und des Tonfalls der Fragen zu meiner Erbitterung aufging, daß sie – indirekt – etwas von mir wollten. Die Angst meiner Mutter vor Schmerz war so groß, daß ich mich schließlich ständig beobachtete, um sicher zu gehen, daß ich nichts Falsches sagte. Ich wurde niemals offen dafür bestraft, wenn ich ihr Schmerz zufügte, doch ein Blick auf ihr Gesicht genügte schon. Dadurch geriet ich in das entnervende Gefühl, mich schlecht verhalten zu haben, ein Gefühl, das sich niemals auflöste, weil wir nicht darüber sprechen konnten. Das Gefühl wurde niemals als solches erkannt, und so fühlte ich mich krank und hilflos, unfähig es auf irgendeine Weise zu korrigieren. Außerdem begann ich allmählich, meine Gefühle in Zweifel zu ziehen. Vom sechsten Lebensjahr an internalisierte ich meine Mutter schließlich in Gestalt einer Instanz, die ich »Gewissen« nannte, einer inneren Stimme, die automatisch bestimmte Reaktionen auslöste: sie hinderte mich daran zu weinen, mich um jemanden zu kümmern, überhaupt an allem. Anschließend konnte meine Mutter ohne weiteres behaupten, ich hätte es nicht nötig, ihretwegen etwas zu tun, zum Beispiel zur Universität zu gehen. Ich tat es für mich »selbst«. Das Verwirrendste an der ganzen Sache war die Erkenntnis, daß sie buchstäblich ein Teil von mir ist, war das auftauchende Gefühl, daß es tatsächlich so ist. Meine Mutter wurde mein Abwehrsystem: wie sie entfremdete es mich meiner selbst. Mein Vater hat viel mehr Gefühle als meine Mutter, doch auch er trug eine Menge zu meiner Verfassung bei. Er sagte mir niemals, was er empfand, auch wenn er sich wirklich schrecklich fühlte. Er wollte mich damit schützen. So dachte ich am Ende, ich sei schuld daran, daß er litt und sich nicht wohl fühlte. Er offenbarte mir niemals seine wahren Gefühle. Er wollte, daß ich selbständig sei, und folglich versuchte er nicht, mir irgend etwas anzuvertrauen, weil er befürchtete, er könne mich »formen«. Und was ist dabei herausgekommen? Daß ich jetzt schreie: »Vater, sag
mir, was ich tun soll.« Er ist stolz auf unsere Gespräche »von Mann zu Mann«, die er mit mir rührte, 99
als ich vier Jahre alt war. Beide, Mutter und Vater, taten sich zusammen, um meine Gefühle auszulöschen, und zwar auf folgende Weise: meine Mutter mit ihrer großen Angst vor Schmerz und mein Vater mit seinem idiotischen Stoizismus, wenn es ihm schlecht ging, ein Stoizismus, der in mir das Gefühl erweckte, alles nicht Lebensbedrohliche sei der Rede nicht wert. Meine Mutter bemühte sich nach Kräften, mich vor Schmerzen zu bewahren, doch wenn ich körperlich krank wurde, blieb mir kein Ausweg. Ich mußte mich unwohl fühlen, und damit kam auf einmal der ganze Schmerz wieder hoch. So hatte ich schreckliche Angst davor, mir Magenkrankheiten zuzuziehen. Und zwar solche Angst, daß es mir irgendwie gelang, nicht krank zu werden. Wenn es doch einmal geschah, dann verhielt ich mich wie mein Vater: ich konnte nicht um Hilfe bitten. So lag ich dann im Bett, stundenlang von Brechreiz und Übelkeit geplagt, von Entsetzen gepeinigt, und riß mich zusammen. Einmal mußte ich vier Tage lang im Krankenhaus zubringen, aufgrund eines Anfalls von Übelkeit, der nach einem Verkehrsunfall auftrat, bei dem ich mir meine Hand arg verstauchte. Ich tat alles Mögliche, nur auf Urerlebnisse ließ ich mich nicht ein. Ich begann, alle Dinge zu zerreden, hatte das Gefühl, meine Brust werde eingedrückt usw. Doch entscheidend dabei ist die Kluft zwischen dem, was ich normalerweise als Gefühl empfinde, und dem Gefühl des Entsetzens, was sich unversehens einstellt. Es fällt mir schwer zu glauben, daß andere Gefühle, andere Schmerzen »zählen«. Das gehört zu den Zweifeln, die ich mir selbst gegenüber habe.
Meine Eltern werden als unglaublich zartfühlend, warmherzig, rücksichtsvoll usw. eingeschätzt. Doch das ist gerade das Problem. Sie waren perfekt in ihren Neurosen: sie setzten sich niemals für etwas ein, gaben mir nie etwas, an das ich mich halten konnte. Auf die ruhigste und sanfteste Weise von der Welt nahmen sie mir mein eigenes Selbst. Irgendwie habe ich das immer gefühlt: So war ich fasziniert von der Hypnose, von posthypnotischen Befehlen, bei denen der Betreffende niemals feststellen kann, daß er innerlich weggetreten ist. Raffinesse ist beinahe das perfekte Verbrechen.
RONALD Solange ich mich erinnern kann, hatte ich stets den Eindruck, meine Eltern und meine Familie seien etwas Vornehmes und Besonderes. 100
Wir hatten alles, und wir hatten einander. Wir waren gescheit, gesund, athletisch, talentiert, gut aussehend, erfolgreich, originell und »hielten zusammen«. So weit ich damals erkennen konnte, gab es nur dies; sie machten mich auf ganz raffinierte Weise fertig. Ich konnte nie irgend etwas richtig fassen und sagen: »Augenblick mal, das ist alles eine Lüge.« Das heißt, der Schein war so überwältigend, daß es, vor allem für einen kleinen Jungen, fast unmöglich war, ihn an der Realität zu messen. Es war, als wenn sie ein Manuskript ablasen; sie redeten und verhielten sich, wie es guten Eltern ansteht; doch sie standen überhaupt nicht dahinter, und ich war nur der Spiegel, in dem sie sich betrachten konnten, wenn sie sich produzierten. Mein Vater
ist aus Stein, er hat einfach keine Gefühle. Meine Mutter spielt Gefühle vor und benutzt sie als Mittel zum Zweck. Doch beide sind bereits tot. Hier einige Beispiele für ihr Verhalten: Das erste, was ich wußte, als ich noch sehr klein war, war der Gedanke, ich müsse beweisen, daß ich krank sei (Fieber, Erbrechen oder einfach schlechtes Aussehen mit den entsprechenden Symptomen und Erklärungen), um auf diese Weise zu erreichen, daß meine Mutter sich um mich kümmerte oder, später dann, daß ich nicht zur Schule zu gehen brauchte. Damals glaubte ich, meine Mutter kümmerte sich wirklich um mich, wie es den Anschein hatte, doch nachdem ich unter dem Einfluß von Urerlebnissen ihr Gesicht gesehen habe, weiß ich, daß sie es haßte, sich um mich zu kümmern, daß sie mich haßte und daß hinter allem, was sie tat, die Aufforderung stand: »Stirb!« Doch schon damals wußte ich, was da vor sich ging – daß es weher tat, sie zu bitten, sich um mich zu kümmern, als krank zu sein –, und so hörte ich auf, krank zu sein. In den sechs Jahren, die ich die höhere Schule besuchte, habe ich nur vier Tage, gefehlt. Dann wurde ich anfällig für Unfälle. Die Geschichte meiner Körperverletzungen ist lang, die meisten habe ich mir mehr oder weniger selbst zugefügt, und jedesmal hoffte ich einen Augenblick, diesmal würden sie mich lieben. Doch jedesmal stellte ich prompt fest, daß ich nicht erreichen würde, was ich mir wünschte, und so verharmloste ich die Verletzung, war allein mit meinen Schmerzen, zu denen schließlich noch die Schmerzen kamen, die mir Bedürfnis und Hoffnung bereiteten. Doch über meine Angst und Qual konnte ich mit ihnen nicht sprechen. Als Junge fiel es mir schwer, durch die Nase zu atmen. So atmete ich durch den Mund, der infolgedessen offen stand. Ich mußte ziemlich »schlimm« ausgesehen haben, und ich erinnere mich, daß man mir,
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als ich sprechen gelernt hatte, zu verstehen gab, ich solle den Mund geschlossen halten. Sie sagten mir, wenn ich das nicht täte, werde mir ein Vogel in den Mund fliegen und gegen die Kehle picken, eine Vorstellung, die mir höllische Angst einjagte. So hielt ich den Mund geschlossen, versuchte sogar, mit geschlossenem Mund zu schlafen, und hatte alle möglichen Schwierigkeiten beim Atmen. Dabei hatte ich das Gefühl, »Sie möchten nicht, daß ich atme«, das heißt »lebe«. Ein weiteres Problem war das Essen. Ich benutzte natürlich bei vielen Gelegenheiten meine linke Hand. Als ich zwölf Jahre alt war, erklärten sie mir eines Tages, sie hätten beschlossen, ich solle in Zukunft mit der rechten Hand essen, weil alle anderen das auch täten und weil es besser für mich sei. Das konnte ich nicht verstehen und sagte daher, ich wolle das nicht. Sie erwiderten darauf, ich hätte gefälligst mit der rechten Hand zu essen oder bekäme gar nichts zu essen. So aß ich einige Tage lang nichts. Wahrscheinlich ein Kompromiß. Man brachte mir bei, Speisen runterzuschlucken, ohne das geringste Geräusch von mir zu geben; zu kauen, ohne daß es aussah, daß ich kaute – zu essen, ohne anwesend zu sein. Sterben. Mir wurde verboten, zu rülpsen, zu furzen oder zu spucken – selbst wenn ich allein war –, und ich wurde angehalten, die Wasserspülung der Toilette zu betätigen, wenn ich urinierte, damit man das Geräusch nicht hörte. Reinige dich ordentlich, wasch dich ordentlich und töte den Körper ab! Gleichzeitig hielten sie sich etwas darauf zugute, eine körperlich gesunde (athletische) Familie zu sein – waren stolz auf den Körper mit allem Drum und Dran. Doch berühre oder fühle ihn niemals – vor allem nicht deinen eigenen. Zigtausend Mal hörte ich Sprüche wie »Mach, was du willst« oder »Wir zwingen dich zu nichts«, doch das war nicht nur jedesmal eine Lüge, sondern auch ein Wink mit dem Zaunpfahl,
daß ich bald zu hören bekommen würde, was ich armer Scheißer für sie tun sollte. Mein Vater kam zu mir, um mir zu erklären, er wünsche mich zu sprechen, und dann schüttelte ich mich innerlich, weil ich wußte, daß ich wieder auf raffiniert feine Weise irgendeine Anweisung erhalten würde — daß sich für mich etwas ändern würde, doch nicht wegen einer Änderung in mir selbst. Mein Vater begann unsere Gespräche, indem er etwas sagte, was mich beruhigen sollte, dem Sinne nach etwa: »Mach, was du willst...«, und dann ging es los, sein Tonfall blieb immer gleich, ob er Lob ausdrückte oder Enttäuschung (was häufig geschah). Es spielte wirklich keine Rolle, um was es dabei ging, auf jeden Fall änderte es mich. Tu dies oder jenes für ihn! Eine weitere Aufspaltung zwischen mir und mir-plus-sie. 102
Uns wurden Werte beigebracht – oder Scheinwerte. Ehrlich sein heißt, nicht als Kind unter zwölf ins Kino gehen, wenn man zwölf ist. Doch die Werte hatten keine Beziehung zu Gefühlen. Ich durchlebte meine ganze Kindheit als ehrlicher Junge und hatte im Innern nie das Gefühl, ehrlich zu sein. Mein Leben war eine Lüge. Ich war ehrlich und hatte keine Ahnung, wie das zustande kam. So war da eine ständige Kluft zwischen dem, was wirklich zu sein schien, und dem, was innerlich wirklich war. Und aufgrund unbefriedigter Bedürfnisse führte ich ein Leben, das wirklich zu sein schien, und hielt verborgen oder tötete ab, was innerlich wirklich war. Ich könnte natürlich noch mehr erzählen: mir ist. als könnte ich bis in alle Ewigkeit so weiter schreiben. Auch habe ich das Gefühl, daß der Schmerz in mir sich während des Schreibens verflüchtigt und abgeschwächt hat. Der Schmerz sammelt sich in mir an, und es bedarf Stunden und Monate von Urerlebnissen, um Gefühle zu verspüren und sie miteinander zu verbinden, während
die geschriebenen Worte so ordentlich und endgültig auf dem Papier stehen. Freilich ist es nicht ganz ehrlich, auf diese Art über das, was mich bewegt, zu schreiben. Doch eins haben die Worte schon bewirkt, und zwar gründlich: einen tiefen Zweifel an meinen Wahrnehmungen, Gefühlen, Eingebungen und Eindrücken. Innerlich aufgespalten zu sein bedeutete für mich letztlich leben können. Ich kann nicht ich selbst sein, mein Ich kann nicht wirklich, real sein. So ging es mir, als mein Vater früher von unterwegs heimkehrte und ich als kleiner Junge bis spät in die Nacht wachblieb, oben auf der Treppe hockte, hörte, wie er meine Mutter begrüßte, und dann ins Bett rannte, aus Furcht, er könnte heraufkommen und mich erwischen. Wenn er wirklich in mein Zimmer trat, tat ich so, als schliefe ich; statt Freude über seine Heimkehr, statt Zärtlichkeit und Liebe verspürte ich nur Angst, empfand nur Lüge und Zurückhaltung. Neurotisch zu sein heißt, in unmögliche Situationen gestoßen zu werden und sie in Ordnung bringen zu müssen. Es heißt, zwischen Gefühlen und Verrücktheiten zu schweben und in einer unerträglichen Spannung zu leben, die aus diesem Ungewissen Zustand resultiert. Das alles bringt mich schon auf die Palme, wenn ich nur darüber rede. Zum Teufel mit der Schreibmaschine! Die geschriebenen Worte halten mit meinen Gefühlen nicht Schritt. Ich habe einen Sohn, er wird sieben im kommenden Mai. Obwohl ich ihn nicht versaut habe, indem ich als Vater um ihn war (er wurde bei der Geburt adoptiert), so bin ich doch an seinem unglücklichen Lebensanfang beteiligt, ein Mißgeschick, das ihn weiterhin begleitet, 103
auch wenn ich nicht bei ihm bin. Ich liebte seine Mutter nicht; er wurde in sentimentaler Sorglosigkeit gezeugt. Die Liebesaffäre
eines Sommers, zustande gekommen durch meine (und ihre) neurotischen Bedürfnisse, eine Affäre, bei der keine wirklichen Gefühle ausgetauscht wurden, an der nur Teile abwesender Körper beteiligt waren und ein wenig Erregung. In jenem Sommer haben wir uns zum letztenmal gesehen. Damals war ich zwanzig. Über ihre Schwangerschaft bin ich schriftlich durch einen Rechtsanwalt unterrichtet worden. Mein Vater nannte die Angelegenheit einen »Fehler«, er versprach mir, meiner Mutter nichts zu erzählen, weil sie das nicht ertragen würde. Doch dann tat er es doch, und meine Mutter ging nicht zugrunde. Sie verboten mir, sie zu sehen oder mit ihr zu sprechen. Ich bekam weiterhin Briefe von Mary, in denen sie mir mitteilte, sie wünsche mich zu sprechen, ihre Familie habe sich völlig von ihr abgewandt und sie wolle nicht, daß ich mir Sorgen mache usw. Doch ich brauchte Vater und Mutter mehr als sie, und so war ich ein braver Junge. So habe ich Mary seit jener Nacht nicht mehr gesehen. Auch meinen Sohn habe ich nie zu Gesicht bekommen. Er war von Anfang an unerwünscht, seine Mutter fühlte keine Liebe für ihn, sie war ihm keine Hilfe. Er läuft irgendwo herum, erfüllt von jenem Schmerz und anderen, die sich seither in ihm aufgehäuft haben. Das erste, was er empfand, waren Ablehnung und Schmerz. Er ist auf saubere, rationelle Weise »beseitigt« worden, unter dem Motto »Wir wollen nur das beste«, das beste, was sich Eltern und Rechtsanwälte ausdenken konnten.
LOUISE Viele Patienten, die in diese Therapie kommen, litten in ihrer Kindheit unter großen Entbehrungen. Sie hatten grausame und sadistische Eltern, hatten unter Gewalttätigkeiten oder unter psychischem Terror zu leiden; oder sie hatten gar keine Eltern. Bei mir war das nicht der Fall. Ich bin auf subtile Weise fertig
gemacht worden. Zunächst einmal war ich ein »Unglücksfall«, der sich unter sehr schlimmen Umständen ereignete, denn ich wurde während der Wirtschaftskrise geboren, mein Vater war arbeitslos, meine Mutter, 37 Jahre alt, wollte ihre bereits aus drei halbwüchsigen Kindern (zwei elf und dreizehn Jahre alte Schwestern, ein Bruder von zwölf) bestehende Familie nicht vergrößern. Noch Jahre nach meiner Geburt 104
mußte Mutter die Familie durch Näharbeiten über Wasser halten. Sie nähte den ganzen Tag und bestellte die Kunden für den Abend, nach dem Essen, zum Anprobieren. Dazwischen stillte sie mich bis zum achten Lebensmonat. Sie war immer da, um mich zu füttern und anzukleiden, doch wenn meine beiden Schwestern schulfrei hatten, dann mußten vor allem sie sich um mich kümmern. Wenn sie in der Schule waren, dann sorgte ich meistens für mich selbst, weil meine Mutter eigentlich nicht »da« war. Meine Schwestern spielten mit mir wie mit einem Spielzeug, wenn ihnen überhaupt danach zumute war. Sie mußten mich auch spazierenfahren, wenn sie mit ihren Freunden spielen wollten. Dann ließen sie mich im Kinderwagen sitzen und zuschauen, und dabei fühlte ich mich unglaublich einsam, wünschte nichts sehnlicher, als nach Haus gefahren zu werden, und hatte Angst, sie würden mich vergessen und stehen lassen, wo ich war. Selbst zu Haus fühlte ich mich nicht wohl, denn meine Mutter kümmerte sich nicht um mich — sie war mit Nähen und mit meinen Geschwistern beschäftigt und ging nur selten auf meine Bedürfnisse ein. Mein Vater konnte mit einem kleinen Kind nichts anfangen, und so gab es wirklich niemanden, der auf meine Wünsche oder Bedürfnisse Rücksicht nahm. So zog ich mich
schon frühzeitig zurück, ja ich gestand mir selbst schließlich nicht ein, daß ich etwas wünschte. Ich »sorgte für mich selbst«. Bis zur Primärtherapie, in der ich endlich ein Gefühl für all dies bekam, wußte ich überhaupt nicht, warum ich litt, denn an der Oberfläche schien meine Familie ganz in Ordnung zu sein. Jetzt, da ich weiß, worin mein Schmerz besteht, fange ich auch an zu erkennen, was ich meiner Tochter Lisa angetan habe und gelegentlich immer noch antue. Lisa ist jetzt zwei Jahre alt, sie war gerade im achten Lebensmonat, als ich die Therapie aufnahm. Meistens habe ich den Eindruck, ich sehe sie wirklich so, wie sie ist. Doch häufig habe ich das Gefühl, sie ist »zu gut«. Wenn ich nichts über Gefühle wüßte, müßte ich mich eigentlich glücklich fühlen, denn es hat den Anschein, als gerate sie niemals über irgend etwas in schlechte Laune. Das hat mich beunruhigt, und in den vergangenen zwei Monaten ist mir allmählich klar geworden, daß ein wichtiger Grund, warum sie anscheinend so wenig schmerzliche Gefühle hat, darin zu suchen ist, daß jedesmal, wenn sie über irgendeine Kleinigkeit zu weinen beginnt (etwa das Fernsehen umschalten, weil das Programm zu Ende ist), mein Schmerz darüber, daß ich niemals bekommen habe, was ich brauchte, wieder aufsteigt und ich ihr dann 105
gebe, was sie offensichtlich haben möchte. Anschließend schalte ich das Fernsehen um, wenn sie mit ihrer Aufmerksamkeit gerade woanders ist. Ich glaube, in solchen Augenblicken könnte sie einige alte Gefühle empfinden, wenn ich nicht auf sie einginge, sondern nach meinen Wünschen handelte und sie weinen ließe. Ich bin der Meinung, es würde mir leichter fallen, sie weinen zu lassen, wenn ich in solchen Momenten stärker fühlte, daß ich niemals etwas bekommen habe. Noch etwas, was heute zwar nicht zu Problemen führt, aber nach meinem Empfinden für Lisa sicher
nicht gut ist: ich versuche auch in Zeiten für sie da zu sein, wenn ich so tief in meinem eigenen Schmerz stecke, daß es mir völlig unmöglich ist. Doch in solchen Gefühlszuständen sage ich mir, wenn ich nur für sie da wäre, wenn ich mich danach fühle, dann hätte sie selten eine Mutter. Das ist ein wirklicher Konflikt, doch ich weiß auch, daß in meinen ständigen Versuchen, für sie da zu sein, viel von meinem eigenen Schmerz darüber zum Ausdruck kommt, niemanden zu haben, der für mich da ist. Was ich in solchen Augenblicken empfinde, ist die Unfähigkeit, sie in der gleichen Einsamkeit zu belassen. Doch ich bin sicher, dahinter steht mein eigener Schmerz. Allerdings wäre ich auch keine gute Mutter, wenn ich sie tatsächlich allein ließe. Ich versuche noch aus einem anderen Grund, für sie da zu sein: sie ist häufig für mich so etwas wie meine eigene Mutter, von der ich wünsche, daß sie mich liebt. Ich befürchte dann sie könnte mich, wäre ich eine schlechte Mutter, nicht so lieben wie ihren Vater, der häufiger für sie da zu sein scheint als ich. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann wird mir klar, daß ich viele Dinge benutzt habe, um ihr schmerzliche Gefühle zu ersparen. Wenn wir zum Beispiel im Auto nach Haus fahren und sie eine Flasche will, die ich ihr aber in diesem Augenblick nicht geben kann, dann benutze ich häufig das, was Vivian (Janov) eine »Über-Erklärung« nennt, indem ich ihr sage, ich könne ihr jetzt keine Flasche geben, weil wir noch eine Strecke weit zu fahren hätten, aber wenn wir erst da wären usw. usw. – nur um zu erreichen, daß sie mit Weinen aufhört, und das Schlimmste daran ist, es klappt auch. Der Grund für mein Verhalten ist natürlich auch hier wieder, daß ihr Weinen meinen Schmerz aufrührt. Obwohl Lisa unter ganz anderen Umständen lebt als ich früher, stelle ich immer wieder fest, daß ich sie auf die gleiche subtile Art und Weise beeinträchtige, wie es damals mit mir geschah.
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6 Stillen
F ür einen Säugling, dem die Brust gegeben wird, ohne daß ausreichend Milch vorhanden ist, der mithin ständig Hunger verspürt, besteht die Gefahr, daß er ein frühes Trauma erleidet. Das gleiche gilt für den Fall, daß die mütterliche Brust nicht voll entwickelt ist, so daß die Bedürfnisse des Kleinstkindes nach perioraler (auf die Mundregion bezogene) Stimulierung nicht befriedigt werden. Die Milchmenge, die eine Mutter geben kann, steht in enger Beziehung zum »emotionalen« Zentrum – dem Hypothalamus. Auch die Größe der Brust ist abhängig von der Ausgewogenheit des mütterlichen Hormonhaushalts. Eine wichtige Funktion des Stillens besteht in der damit einhergehenden perioralen Stimulierung. Eine magere, fachbrüstige Mutter kann im Gegensatz zu einer vollbusigen Frau ihrem Kind nicht das Gefühl von körperlicher Weichheit und Wärme vermitteln. Mit einem Wort, die vom Säugling verspürten Hautsensationen sind in beiden Fällen unterschiedlich. Wir können häufig beobachten, daß Leute sich die Mundgegend reiben, wenn sie geistesabwesend sind oder sich in Gedanken mit einer Aufgabe beschäftigen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich frage mich, ob diese Leute nicht gezwungen waren, während einer bestimmten Zeit ihres Lebens die Mundregion selbst zu
stimulieren, weil sie nicht ausreichend gestillt oder ausschließlich mit der Rasche ernährt worden sind. Stimulierung ist ein wichtiger Faktor, denn – wie wir gleich sehen werden – das Gehirn ist darauf angewiesen, stimuliert zu werden, wenn es physisch ausreifen soll. In einer anderen Arbeit (Der Urschrei, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1973) habe ich darauf hingewiesen, daß die Brüste primärtherapeutischer Patientinnen sich nach Abschluß der Behandlung voller entwickelten. Die Patientinnen wurden andere Menschen, ganz wörtlich genommen; dabei spielt überhaupt keine Rolle, wie sie sich in ihrer Umwelt verhielten. Ihre Wesensänderung wird sich in dem Maß an Stimulierung äußern, das sie ihren neugeborenen Kindern körperlich zu vermitteln wissen. Diese Stimulierung fördert die Gehirnentwicklung ihrer Kinder. All dies wird ermöglicht aufgrund einer Änderung in der Körperstruktur. Die entscheidenden Elemente des Stillens sind Saugen. Wärme, 107
Körperkontakt und Schaukeln. Experimentelle Untersuchungen über das Stillverhalten von Affen haben gezeigt, daß schaukelnde Bewegungen eine zusätzliche Wohltat bedeuten, die zur Befriedigung und Entspannung der Jungen beiträgt. Beim Flaschegeben wird allzu häufig dem Säugling einfach der Schnuller in den Mund gesteckt, während er im Kinderbettchen liegt und im Grunde genommen für sich selbst sorgen muß. Dabei kommen die infantilen Bedürfnisse nach Körperwärmen und Körperkontakt sowie überhaupt alle zur Entspannung und Befriedigung des Kindes erforderlichen Begleitumstände zu kurz. Ernährung mit der Flasche ist im besten Falle eine künstliche
Bedürfnisbefriedigung; sie kann den natürlichen Stillvorgang in keiner Weise ersetzen. Eine neurotisch gestörte Mutter, die sich schwer damit tut, Milch zu produzieren, dürfte mit einiger Sicherheit ihr Neugeborenes auch launenhaft, ohne innere Gelassenheit und rücksichtslos behandeln, so daß auch in diesem Falle der Säugling das Stillen nicht immer als angenehmes Erlebnis erfährt. Kinder, vor allem Säuglinge, die ein empfindliches Gespür für Berührung haben, sind in der Lage, Schmerz und Spannung der Mutter während des Stillens wahrzunehmen, und sprechen sofort auf diesen Eindruck an, so daß sie selbst während des Stillvorganges in Spannung geraten anstatt sich entspannt zu fühlen. Gewiß wird nicht gleich ein neurotischer Prozeß in Gang gesetzt, wenn ein Säugling einmal weniger sanft behandelt und zur Eile angetrieben wird. Doch wenn eine Mutter sich über Monate und Jahre in dieser Weise verhält, dann kann das im Verein mit anderen traumatischen Faktoren zu einem unerträglichen Spannungsdruck führen. Ich werde mich mit dem Umgang mit Kleinkindern und deren Bedürfnis nach Berührung weiter unten ausführlicher beschäftigen und mich dabei auf Ergebnisse der Tierforschung berufen, soweit sie in diesem Zusammenhang relevant sind. Über die Wichtigkeit des Stillens ist bereits eine Reihe von Untersuchungen angestellt worden. Ashiey Montagu führt in seiner Arbeit viele Ergebnisse an, die den Untersuchungen zu danken sind.* Danach haben mit Muttermilch genährte Säuglinge bessere Immunreaktionen, weil die Kolostralmilch [Sekret der Brustdrüsen vor und unmittelbar nach der Geburt], die von der Mutter in den ersten Lebenstagen ihres Kindes abgegeben wird, einen hohen Gehalt an
* A s h ie y Mo n ta g u , T o u c h in g , Co lu mb ia U n iv e r s ity P r e s s , N e w Y o r k 1 9 7 1 .
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Antikörpern besitzt, das heißt an Abwehrstoffen, die die Infektionsanfälligkeit des Kindes herabsetzen. Montagu hat die Vorteile der Ernährung mit Muttermilch dokumentarisch belegt. Danach kann als erwiesen gelten, daß Säuglinge, die keine Muttermilch erhalten, mit größerer Wahrscheinlichkeit an Erkrankungen der Atemwege, an Durchfall, Ekzemen und Asthma zu leiden haben. Ernährung mit Muttermilch fördert die Entwicklung der Gesichts- und Zahnstruktur. Schließlich besteht zwischen dem Saugen an der Mutterbrust und der Atemtätigkeit eine enge Beziehung. Das heißt, je länger ein Säugling an der Mutterbrust saugt, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß es später voll und tief durchzuatmen vermag. Je tiefer der Säugling durchatmet, um so geringer ist im allgemeinen die Gefahr, daß er seine Gefühle unterdrückt. Oder um es anders auszudrücken: bei Neurotikern stehen alle Körperfunktionen, einschließlich der Atem- und Muskeltätigkeit, im Dienste des Abwehrsystems. Wie immer geartete Atemtätigkeit ist Verhalten; wenn ein Kind unter dem Zwang steht, seine Gefühle zu unterdrücken, dann ist zu erwarten, daß seine Atemtätigkeit gestört wird, daß es flach atmet, kurzatmig wird. Als einer der wichtigsten Faktoren beim Stillen ist der enge körperliche Kontakt mit der Mutter anzusehen. Körperkontakt ist geeignet, den Sauerstoffgehalt des Blutes zu erhöhen; er führt, wie Barron in Tierversuchen nachgewiesen hat, zu einem »Anstieg der Erregbarkeit des Atemzentrums, (das) seinerseits ein tieferes Luftholen bewirkt, den Sauerstoffgehalt des Blutes hebt und auf diese Weise die Fähigkeit zu verstärkter Muskelanstrengung fördert«.* In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf die wichtige Funktion des Herzschlags hinweisen; weiter oben hatte
ich die Vermutung geäußert, das von einem ruhigen Herzschlag vermittelte Gefühl von Sicherheit werde dem Kind bereits im Mutterleib eingeprägt. Als eine Art Zwischenbilanz können wir festhalten, daß es eine große Zahl von Faktoren gibt, die im Säugling Spannung hervorrufen können. Diese Spannung ist in den meisten Fällen nicht sichtbar. Jeder der Faktoren fließt jedoch als eine Art zusätzlich verstärkender Nebenfluß in den unterschwelligen Spannungsstrom, der schließlich in Symptomen wie Koliken, Ekzemen, Durchfällen mündet oder sich einfach in unaufhörlichem, unerklärbaren Schreien
* Ibid., S. 61.
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äußert, in einem Verhalten mithin, mit dem das Kind sozusagen in vorderster Abwehrlinie signalisiert, daß es sich in Not befindet. Die Symptomwahl ist nicht etwas vom Kind »Durchdachtes«. Sie ist vielmehr das Ergebnis vieler spannungserzeugender Erfahrungen und wird gleichsam im Brennpunkt der Entbehrungen getroffen. So kann zum Beispiel ein Kind, das nicht genügend berührt und gestreichelt oder grob behandelt wird, unter Hauterkrankungen leiden. Ein fehlerhaft ernährtes Kind kann ständig irgendwelche Gegenstände in den Mund stecken oder plappernde Laute von sich geben. Bei einem Kind, das am Schreien gehindert oder dafür bestraft wird, kann die Nase anfangen zu laufen. Der Symptombrennpunkt liegt im allgemeinen in der Bedürfnisregion. Diese Region erfordert eine besondere »Behandlung«; hier ist es zur Überlastung gekommen. So kann
ein zu frühzeitig zur Sauberkeit abgerichtetes Kind zum Bettnässer werden und später zur Promiskuität, zum wahllosen Sexualverkehr neigen. Wenn es männlich ist, wird es seinen Penis, verkürzt ausgedrückt, zur Spannungsentlastung in genau der Region benutzen, die ursprünglich von dem Trauma betroffen wurde. Dabei handelt es sich natürlich um einen komplexen Vorgang, denn Überlastung braucht durchaus nicht die Folge eines einzigen Streßfaktors zu sein. Ein Kind kann zu abrupt entwöhnt, zu frühzeitig zum Gehorsam erzogen oder nach einem Zeitplan gefüttert werden, der seinen Bedürfnissen zuwiderläuft. Welche Entlastungsregion es wählt, hängt von seinen Lebensumständen, von seinem kulturellen Milieu und davon ab, was seine Eltern erlauben. In einer religiösen Familie mag Masturbation (als Entlastung von zu frühzeitiger Sauberkeitsdressur) überhaupt nicht vorkommen, weil das Kind sich aus lauter Angst eine solche Handlung versagt. Daher wird es einen anderen Ausweg wählen — zum Beispiel ständiges Beten. Wenn erst eine Entlastungsregion gefunden ist, dann wird hier jede allgemein auftretende Spannung abgeführt.* So fließt in einer ständig wiederkehrenden nervösen Muskelzuckung (Tic) des Gesichts oder des Mundes die aus verschiedenen Quellen gespeiste Spannung ab. Der Körper ist nicht in der Lage zu unterscheiden. Er reagiert auf
* H . B . M i l l e r s c h r e i b t i n S c ie n c e D ig e s t v o m J u li 1 9 7 0 : »( I c h ) v e r mu te , d a ß Bö s a r tig k e it e in e r E r k r a n k u n g ( K r eb s ) e in e a llg e me in e S tö r u n g is t, w o b e i d e r T u mo r le d ig lic h d ie lo k a le M a n i f e s t a t i o n d e s G e s a mtp r o z e s s e s d a r s t e l l t . « M i l l e r e r l ä u t e r t i n s e i n e r A r b e i t , w i e S p a n n u n g d i e S c h l e i mh ä u t e u n d d e n H yp o th a la mu s b e e in f lu ß t, d e r s e in e r s e its d a n n S e k r e te a b s o n d e r t, d ie u n te r U ms t ä n d e n d ie K ö r p e r z e l l e n i n M i t l e i d e n s c h a f t z i e h e n . N a c h M i l l e r s A u f f a s s u n g i s t e i n e mö g l i c h e T u mo r b i l d u n g ( e mo t i o n a l v e r u r s a c h te n ) K r e is la u f s tö r u n g e n z u z u s c h r e ib e n , d ie d a s G e w e b e u n d d ie Z e lle n in e x tr e me r W e is e s timu lie r e n u n d s c h lie ß lic h z u e in e r s tr u k tu r e lle n D e s o r g a n i s a t i o n f ü h r e n . M i l l e r e r k lä r t d i e Z u r ü c k b i l d u n g v o n T u mo r e n mi t
e mo tio n a le n V o r g ä n g e n . Mir is t s c h o n h ä u f ig d e r G e d a n k e g e k o mme n , d a ß K r e b s e i g e n t l i c h e i n e » V e r r ü c k t h e i t d er Z e l l e « i s t , v o n Z e l l e n , d i e a u f g r u n d v o n P r imä r d r u c k a u ß e r Ra n d u n d Ba n d u n d au ß e r K o n tr o lle g e r a te n . D ie s e r U r d r u c k mu ß u n s l e t z t l i c h a u f d e r Z e l l e b e n e b e e i n f l u s s e n .
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die Überlastung lediglich auf die gewohnte »eingeschliffene« Weise. Auch wenn wir heranwachsen, der Bedürfnisschmerz bleibt unverändert, behält seine ursprüngliche Stärke, denn dieser Schmerz ist unsere körperliche Wahrheit, und die Wahrheit ist der Zeit nicht unterworfen. Freilich, die Abwehr oder die Art der Entlastung ändern sich. Sie verfeinert sich – vom Daumenlutschen zum Rauchen, vom Bettnässen zur Masturbation, von den Prügeleien unter Jungen zu raffinierten Boshaftigkeiten. Gelegentlich bleibt die Abwehrform ein Leben lang unverändert. Immer wiederkehrende Träume sind dafür ein Beispiel. So wie Tics, Asthmaanfälle, Magengeschwüre, Hautbeschwerden und ähnliches. Auf jeden Fall weisen Symptome auf innere Spaltungsvorgänge hin. Das Einsetzen von Symptomen, sagen wir einer Allergie oder von Stottern, markiert den Beginn einer Spaltung. Gelegentlich geht die Aufspaltung nicht mit einem dramatischen Symptom einher; die Persönlichkeit wird dann lediglich starr, »fixiert«. Damit kommt zum Ausdruck, daß das Kind, innerlich abgespalten von seinem Schmerz, einen passenden Weg gefunden hat, mit seiner Überlastung fertig zu werden. Ein solches Kind mag ein Junge sein, der seine Freude daran findet, die Kleider seiner Mutter zu tragen, oder ein Mädchen mit blasser Hautfarbe, kränkelnd, still und höflich. Obwohl Urschmerzen verschiedene Ursachen haben, körperliche (Beschneidung) und psychische (Ablehnung), so sind die an der Verarbeitung des Schmerzes beteiligten Körperprozesse doch gleicher Natur, weil nämlich psychisch zugefügter Schmerz stets von Körperprozessen begleitet ist; Neurose ist ein
Körpergeschehen. In einer lieblosen, institutionalisierten Umwelt können Kinder an denn sogenannten psychischen Streß sterben. Da Symptome gleichsam Bedürfniserweiterungen oder Abzugsröhren für den Bedürfnisschmerz sind, können wir über ein Kind und seine unterschwelligen Probleme eine Menge durch Beobachtung seiner Symptome in Erfahrung bringen. Durch genaues Beobachten der bei Patienten vor sich gehenden Symptomänderungen in der Primärtherapie können wir tatsächlich erkennen, welche Schmerzen abgespalten worden sind. Wenn ein Kind zum Beispiel einen Freund 111
erfindet, der neben ihm sitzt, zu ihm spricht, mit ihm spielt usw. und wenn es sich diesem Wahn über Monate hingibt, dann dürfte diese Wahnvorstellung der eines Erwachsenen entsprechen, der sich einbildet, das »Gotteskind« zu sein, das Kind eines Gottes, der allgegenwärtig ist und alles beobachtet. Bei beiden irrealen Vorstellungen kann es sich um Symptome handeln, mit denen Gefühle der Einsamkeit und des Verlassenseins vom Bewußtsein ferngehalten werden sollen. Die Symptome sind durch Gefühlsüberlastung verursachte Fehlschaltungen; ihr Inhalt läßt uns die Art der abgespaltenen Gefühle erschließen. Die Absonderlichkeit der von den Symptomen zum Ausdruck gebrachten Gedanken zeigt das Maß an Überlastung an. Je realitätsferner ein Gedanke ist, um so absonderlicher stellt er sich dar. Die Vorstellung eines Schmerzpegels gestattet uns diese verallgemeinernde Aussage. Im Schmerz haben wir die Energie vor uns, welche die Gedanken von ihren Bezugspunkten ablenkt. So kann sich ein Kind nicht nur einen Phantasie-Freund erfinden, weil es sich von der Familie abgelehnt fühlt, sondern unter Umständen auch zu der Überzeugung gelangen, daß dieser eingebildete Freund zu ihm spricht und seine Bewegungen und
Handlungen lenkt. Später kann sich diese Vorstellung zu dem Wahn verfestigen, daß eine (nun nach außen verlegte) verborgene Kraft hinter den Handlungen wirksam ist, und dann steht tatsächlich hinter allem, was es tut, eine unsichtbare Macht — der Urschmerz. Angesichts der Einheit von Symptomen und Ursachen müssen wir uns hüten, die Symptome als abgesonderte und sich selbst erhaltende Gebilde aufzufassen und zu untersuchen. Wird ein Kind einem Arzt zur Symptombehandlung zugeführt, dann behandelt der Arzt lediglich die Ergebnisse all der von mir bisher erwähnten Kräfte — Geburtstrauma, Beschneidung, Geräusche, die das Kind in seinem Bettchen aufgenommen hat, unzureichende Muttermilch, ungenügende Fütterungszeit usw. Dabei spielt keine Rolle, ob es sich um einen »Geistes«-Arzt handelt, der sich auf die Behandlung von Kleptomanie oder Phobien versteht, oder um einen »Körper«-Arzt, der Allergien oder Darmerkrankungen wie Colitis zu heilen versucht. Beide befassen sich lediglich mit dem Schlußpunkt eines historischen Prozesses. Für gewöhnlich ist nicht ein Einzelfaktor auszumachen, den man als »Verursacher« des Symptoms, das der Arzt vor sich sieht, bezeichnen könnte. Solange der Arzt nicht bereit ist, den untergründigen Spannungsstrom zu erforschen und die verschiedenen Teilursachen des Symptoms ans Licht 112
zu fördern, kann er sich im besten Falle mit dem »Kopf der Schlange« befassen und darauf hoffen, daß dies zum Erfolg führt. Heilen kann seine Behandlung jedenfalls nicht. Der folgende Bericht ist ein gutes Beispiel dessen, was ich vor Augen hatte, als ich sagte, ein Urerlebnis sei eine kompakte Erfahrung — eine Erfahrung, bei der sich Schmerz auf Schmerz
schichtet und die ihren symbolischen Ausdruck in einem einzelnen Ereignis findet. Die Patientin bricht nicht in Schreie aus, weil dieses eine Ereignis, das sie wiedererlebt, sie in entsetzliche Angst versetzt; vielmehr ist dieses Ereignis eine Art Endsumme, die Hunderte von ähnlichen Ereignissen repräsentiert, Ereignisse, die alle die gleiche Art von Schmerz erzeugen.
EVELYN In der sechsten Behandlungswoche war ich zwei Tage lang wirklich überlastet, in erster Linie von schrecklicher Angst. Selbst nachdem ich in der Therapiegruppe vierzig Minuten lang geschluchzt und geweint hatte wie eine Besessene, war mein Körper immer noch traumatisiert. Auch als ich mich völlig meinen Gefühlen überließ, hatte ich das Empfinden, die einzelnen Zellen meines Körpers glühten und platzten auf. Schließlich mußte ich um ein Beruhigungsmittel bitten. Nach zweieinhalb Tagen war mein Körper wie ein ausgewrungener Waschlappen, und die entsetzliche Angst war immer noch nicht verschwunden. Eines Abends, als ich gerade eine Beruhigungstablette nehmen wollte, kam ein Freund zu mir. Wir sprachen ein wenig miteinander, er gab mir eine herrliche Kopfmassage, die wie ein natürliches Beruhigungsmittel wirkte, und dann war ich in der Lage, sechs Stunden lang ohne Unterbrechung zu schlafen. Mein Freund schlief in dieser Nacht bei mir auf dem Fußboden. Am anderen Morgen war ich etwas ausgeruht und fühlte mich ein wenig erholt. Ich lag mit dem Rücken auf dem Fußboden, während mein Freund das Frühstück vorbereitete. Ich fühlte mich noch erschöpft, ein wenig schwindelig. Als ich mich aufrichtete, wurde mir schwarz vor Augen, und ich mußte mich irgendwo anlehnen. Als ich den Kopf senkte, ging es mir etwas besser. Ich bemerkte, daß das Unwohlsein immer weiter nachließ, je tiefer
ich den Kopf senkte. Als ich wieder auf dem Rücken lag, fühlte ich mich ganz wohl. 113
Als das Frühstück fertig war, setzte ich mich an den Tisch. Ich schaute die Speisen an, und plötzlich geriet ich in Erregung, der Gedanke zu essen machte mich elend und krank. Mein Freund fragte: »Was ist los?«, und dann hob ich plötzlich den Arm über den Kopf, wie um mich zu verteidigen; das geschah ohne meinen Willen, und ich schaute hoch, Angst erfaßte mich, als sollte ich in jedem Augenblick geschlagen werden. Der Teller mit dem Erbsengemüse! Es war der Teller mit Erbsen, den meine Mutter auf meinem Kopf zerschlagen hatte, als ich nicht essen wollte! Ich geriet völlig außer Fassung, wich voller Entsetzen vor dem Teller zurück und konnte kaum ein Wort herausbringen. Zuguterletzt bat ich meinen Freund, den Teller in eine Papiertüte zu stecken und ihn für mich zum Institut zu bringen. Mein Freund hatte mir versprochen, er würde mich zum Institut begleiten. Auf dem Wege dorthin fühlte ich mich wie im Fieber, wie orientierungslos und krank vor Angst und Schrecken. Ich schaffte es nur, weil mein Freund mir beistand. Wir bekamen ein Zimmer, gingen hinein, und eine Stunde lang war ich völlig in den Zwischenfall versunken, der sich vor achtzehn Jahren ereignet hatte, und konnte mich nur für Sekunden daraus befreien. Kaum hatte ich das Zimmer betreten, warf ich mich auf den Fußboden, hielt beide Arme schützend über dem Kopf und schrie: »Mein Kopf, mein Kopf, mein Kopf...« Es klingt komisch, wenn ich sage, »ich« warf mich auf den Fußboden, denn ich hatte das Gefühl, als hätte mich irgend etwas anderes dorthin geworfen. Ich hatte nicht bewußt die Absicht, es
zu tun, hatte mich nicht dazu entschieden, konnte es nicht kontrollieren, doch »ich« tat es. Wie soll ich den Abgrund beschreiben, in den ich an diesem Tag fiel? Vor lauter Angst schrie ich an die zwanzig Minuten lang, warf mich hin und her, um mich zu schützen — warf mich auf den Rücken, die Arme in die Höhe gereckt, und schrie: »Nein, nein, nein ...« Ich verkroch mich in eine Ecke, immer schreiend, rollte mich zusammen, zog meinen Kopf ein, bedeckte ihn mit meinen Armen und schrie ununterbrochen. Dann überfiel mich ein neuer seltsamer Angstanfall. Ich wurde ganz still, lag da mit aufgerissenen Augen. Ich sah nach rechts, und da saß mein Vater, mein wunderbarer, freundlicher, doch jetzt auch erschreckter Vater. Er saß rechts von mir am Tisch, als der Teller auf meinem Kopf zersprang. Ich wußte, daß ich ihn am liebsten gebeten hätte, mir zu helfen, doch kein Wort kam über meine Lippen. Ich streckte die rechte Hand 114
nach ihm aus. Ich spürte ihn, wie er an meiner Seite saß, meine Lippen formten lautlos die Silbe »Pa-«. Mir war, als müßte ich mich ihm über eine Wüste hin verständlich machen, als hätte ich zur Zeit des Zwischenfalls in einer unglaublich tiefen Höhle meines Innern gerade seinen Namen geformt, seinen Namen, der nun vom Grund jener Höhle langsam aufstieg, und meine Lippen formten wieder die Silbe »Pa-«. Doch wieder entstand daraus kein Wort. Zehn Minuten lang brachte ich kein Wort hervor, nur jene stumme Silbe, und mein Arm streckte sich immer noch nach ihm aus, meine Hand suchte ihn zu fassen. Dann gab ich in tonloser Art den Laut »Pa-« von mir. Dann wieder »Pa-«, schließlich »Pa-pa... Pa-pa«. — Ich wiederholte immer wieder
»Pa-pa«, tonlos, wie hölzern. »Mein Papa, mein Papa, mein Papa...« — ich schrie, schrie, schrie, als ich mich von meinem Platz an dem phantasierten Tisch zu ihm hinüberbeugte. Ich schaute ihn an und schrie unter Schluchzen: »Papa, sag ihr, sag ihr, sag (Weinen), ich kann nicht, kann nicht essen, ich kann es nicht essen.« Für weitere fünfzehn bis zwanzig Minuten Schreien und Schluchzen, doch der Höhepunkt war erreicht, als ich die Silbe »Pa-« stammelte, und obwohl ich noch vor Schmerz schrie, waren Angst und Schrecken weitgehend abgeklungen. Ich weinte jetzt vor Erleichterung, vor allem, weil ich an meinen Vater dachte, dem ich nach zwanzigjähriger Entfremdung jetzt wieder begegnet war. Was kann ich darüber sagen, daß ich meinen Vater wiedergefunden habe? Dafür gibt es keine Worte. Meine ganze Kindheit hindurch bin ich von meiner Mutter terrorisiert worden. Sie hat mich fast täglich geschlagen, zwar niemals auf brutal körperliche Weise, doch ihr Gesicht sagte mir: »Ich hasse dich und werde dich umbringen.« Irgendwie war sie immer hinter mir her. Der Prozeß der gefühlsmäßigen Trennung von meinem Vater vollzog sich weitgehend in einem Zeitraum von zwei Jahren, zwischen meinem fünften und siebten Lebensjahr. Obwohl sich beide Traumata – der Haß meiner Mutter und die Gefühlstrennung von meinem Vater – über einen längeren Zeitraum erstreckten, hat doch das Eintauchen in die entsetzliche Angst die Macht beider Schmerzen gebrochen: Ein großer Teil des Schreckens, den meine Mutter in mir auslöste, schien sich irgendwie auf jenen Teller zu konzentrieren, den sie auf meinem Kopf zerbrach. Auch der Schmerz über die allmählich sich ausweitende Gefühlskälte gegenüber meinem Vater, den ich liebte und verehrte, 115
verschmolz mit jenem Augenblick, als ich nicht in der Lage war, mich an ihn zu wenden. Als ich den Teller zerspringen fühlte und die Silbe »Pa-« zu stammeln versuchte, da war irgendwie der Bann gebrochen. Als der Zwischenfall sich in meiner Kindheit ereignete, war ich völlig still, weinte nicht und schaute weder meine Mutter noch meinen Vater an. Als mir aufging, was geschehen war (sie kam von hinten und zerschmetterte ohne Vorwarnung den Teller auf meinem Kopf), da wurde ich merkwürdig ruhig, aß schweigend zu Ende und ging dann in mein Zimmer. Damals war ich sieben.
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7 Die Bedürfnisse
Oralität
S igmund Freud war der Auffassung, das infantile Leben bestehe aus einer Reihe von Entwicklungsphasen, die einen bestimmenden Einfluß auf das Kind ausübten. So gehe das Kind zunächst durch die orale Phase, anschließend durch die anale und gelange
schließlich zur sexuellen Reife in der Genitalphase. Freud nahm an, Fixierungen auf der jeweiligen Entwicklungsstufe legten die spätere Persönlichkeit des Kindes fest — als oralabhängige, analsadistische usw. Mangelnde Befriedigung in einer der Entwicklungsphasen binde das Kind für immer an diese Phase. In einer Hinsicht hat Freud recht. Befriedigungsmangel hat Fixierungen zur Folge — unaufhörliche Versuche, den erlittenen Mangel im späteren Leben auszugleichen. Aber es gibt keine Fixierungs-»Phase«. Wir haben es mit so vielen frühen Bedürfnissen zu tun, mit Bedürfnissen, die nebeneinander bestehen und sich überlappen, daß man jene Kindheitsperioden nicht mittels eines einzelnen Bedürfnisses charakterisieren kann. So wird zum Beispiel ein Kind, dem nicht genügend Bewegungsspielraum gegeben wird, das fest in Windeln eingepackt oder anderweitig ständig eingeengt wird, traumatisiert oder »fixiert«. Das kann durchaus in der Freudschen oralen Phase geschehen. Wenn das Kind während dieser Zeit nicht auf den Arm genommen wird, dann hat es auch unter Entbehrungen zu leiden. Anschließend wird es vielleicht ständig herumlaufen und irgendwelche Gegenstände berühren. Wir können die Entwicklung nicht in Phasen aufgliedern, weil wir uns als ein Gesamtwesen mit einer Vielzahl von Bedürfnissen entwickeln, die alle auf jeder Stufe der Entwicklung befriedigt werden müssen. Zu Freuds Zeiten war die Nahrungsaufnahme von Wichtigkeit. Damals wußte man wenig über das Bedürfnis nach Körperkontakt. Besonders im Wien Freuds war es keine weitverbreitete Praxis, körperliche Zuneigung und Anziehung zur Schau zu stellen, und so ist es denn kein Wunder, daß das Bedürfnis nach Körperkontakt zugunsten der oralen Bedürfnisse heruntergespielt wurde. Sehen wir uns einige der Bedürfnisse von Säuglingen und Kindern
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näher an, damit wir erkennen können, von welch entscheidender Bedeutung sie sind. Dabei werde ich mich zur nachdrücklichen Bekräftigung meiner Beobachtungen auf viele Untersuchungsergebnisse berufen, die Newton und Levine kürzlich veröffentlicht haben.* Seitz stellte Untersuchungen mit Katzen an, die früh, normal und spät entwöhnt wurden. Hier seine Untersuchungsergebnisse: 1. Früh entwöhnte Katzen zeigen Ausdauer und Zähigkeit, doch bei der Nahrungssuche und -beschaffung zeigen sie Desorganisationserscheinungen; 2. sie verhalten sich am wenigsten zielgerichtet, sind am wenigsten in der Lage, Nahrung mit anderen zu teilen, und sie sind argwöhnischer, ängstlicher und aggressiver im Umgang mit anderen Katzen; 3. sie zeigen am meisten Angst in neuen Situationen.** Alle diese Verhaltensweisen kann man einem einzigen Zentraltrauma zuordnen. Es liegt auf der Hand, daß frühe Entbehrung in einem spezifischen Bereich allgemeines neurotisches Verhalten mit sich bringt, denn diese spezifische Deprivation erzeugt eine allgemeine Spannung – nicht nur Spannung im Mundbereich. Der Organismus, und nicht nur die Mundhöhle, leidet unter der Bedürfnisversagung. Vielleicht wird dies deutlicher, wenn wir daran denken, in welche inneren Spannungen wir geraten, wenn wir über einen längeren Zeitraum auf sexuelle Befriedigung verzichten müssen. Dabei geht es nicht nur darum, daß Sexualimpulse nicht befriedigt, die Genitalien nicht erregt werden, vielmehr wird dem gesamten Organismus Entspannung versagt. Die Haut kann sich entzünden, Kopfschmerzen können auftreten, und es kann zu ständiger Gereiztheit kommen. Sexuelle Entbehrung verursacht allgemeine Spannung. Wir sehen hier eine Dialektik am Werk: spezifische Befriedigungsdefizite haben ein allgemeines Verhalten zur Folge, und allgemeine Spannung
zwingt zu spezifischen neurotischen Handlungen. Das Spezifische, Besondere ist stets Teil des Allgemeinen, das heißt, allgemeines Verhalten enthält stets das spezifische. Um das spezifische Verhalten zu ändern, ist es notwendig, das allgemeine zu ändern. Das ist mehr als Wortspielerei, denn das Beseitigen von spezifischen Ursachen amorpher neurotischer Spannung führt zur Auflösung dieser Spannung; nur so kann diese Spannung beseitigt
* G r a n t N e w to n u n d S e ymo u r L e v in e , E a r ly E x p e r ie n c e a n d B e h a v io r , Ch a r le s T h o ma s , S p r in g f ie ld , I llin o is 1 9 6 9 . * * P . F . D . S e i t z . > I n f a n t i l e E x p e r i e n c e a n d A d u l t B e h a v io r i n A n i ma l Subject», in: Psychosomatic Medicine, 21, 1959, S. 353-378.
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werden. Wenn man sich nur mit dem allgemeinen, dem offenkundig neurotischen Verhalten beschäftigt, bleiben die spezifischen Ursachen weiter bestehen. Die oben erwähnten Untersuchungen an Katzen sind in zweifacher Hinsicht wichtig: 1. zeigen sie, daß spezifische Deprivation zu allgemeinem Verhalten führen kann, und 2. lassen sie den Schluß zu, daß frühe Deprivation langfristige Auswirkungen hat. Newton und Levine schreiben über Tiere, denen das normale Saugen vorenthalten wird: »(Sie) zeigen die gleichen Formen stereotyper Handlungen, unabhängig von großen Unterschieden in anderen Aspekten ihrer Sozialerfahrung. So können Haustiere, Tiere, die in offenen Käfigen gehalten werden, und Tiere, die in völliger Isolation aufwachsen, alle die Gewohnheit annehmen, an den Pfoten zu saugen, und Zwangshandlungen unterliegen.«* Wir dürfen jedoch aufgrund dieser Untersuchungsergebnisse nicht
einfach schlußfolgern, Kinder, die ständig an irgendwelchen Gegenständen saugen, seien zu früh entwöhnt worden. Saugen ist für den Säugling eine der wenigen Möglichkeiten, sich von Spannungen zu entlasten, die aus jeder beliebigen Quelle gespeist werden können – es ist ein triebhaftes Beruhigungsverhalten. In der Primärtherapie können wir häufig Urerlebnisse beobachten, bei denen die Patienten mit beträchtlicher Intensität am Daumen lutschen, eine nicht vom Willen gesteuerte Handlung, die sich über eine oder zwei Stunden hinziehen kann. Gewöhnlich berichtet der Patient später, daß er den Eindruck gehabt habe, als seien in dieses zweistündige Saug-Urerlebnis Monate von Erfahrungen zusammengedrängt worden. Häufig erklären die Patienten anschließend, ihr früheres Bedürfnis zu rauchen sei verschwunden. Die wiedererlebte Erfahrungsabfolge erschloß das ganze Bedürfnis, das sich in der Geschichte des Organismus niedergeschlagen hatte und in der Physiologie des Patienten wortwörtlich festgeschrieben worden war. So mag ein Homosexueller sein Leben lang an Penissen saugen, ohne dieses Bedürfnis auflösen zu können, es sei denn in einem zweistündigen Urerlebnis, wo er das Bedürfnis im Kontext seines Säuglingsdaseins wiedererlebt und aufzulösen vermag. Damit will ich sagen, daß das Bedürfnis von dem Patienten so empfunden wurde, wie es von Anfang gelagert war, das heißt, als ein Bedürfnis, das ursprünglich auf ein anderes Ziel gerichtet war; so lange dies nicht geschieht,
* O p . c it, S . 4 4 8 .
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wird das Bedürfnis nicht verschwinden, unabhängig davon, wie lange es symbolisch ausagiert worden ist. Bei Menschen ist das
Bedürfnis zu saugen natürlich von anderen Bedürfnissen überlagert, mit anderen Worten: ein Mensch, der sich der Gewohnheit hingibt, an Penissen zu saugen, tut dies nicht aufgrund eines Saugebedürfnisses, sondern auch aufgrund des Bedürfnisses nach menschlicher Wärme. Es erscheint mir daher wichtig zu verstehen, daß ein elterlicher Fehler das Kind nicht irreversibel schädigt. Es geht nicht um den einen besonderen Tag, an dem das Baby zu lange weinte oder zu spät trockengelegt wurde. »Es ist so«, erklärt ein Patient, »als wenn mein Körpersystem versucht hätte, ein Entwicklungsbedürfnis nachträglich zu befriedigen. Es war so, als wenn mein Körper nach einer Brust schrie und immer noch schreit, die niemals da war, wenn ich sie brauchte. Ich konnte tun, was ich wollte, das Bedürfnis war nie zum Schweigen zu bringen, und so tat ich das Nächstliegende - ich schlug immer mit dem Kopf gegen irgend etwas. Daher kommt wahrscheinlich, daß ich heute so viele masochistische Phantasien habe.« An der Fallgeschichte eines unter Stottern leidenden Patienten wird die Komplexität neurotischer Symptome sichtbar. Seine ersten Urerlebnisse kreisten um das Thema, daß er etwas sagen sollte, ehe er Worte bilden konnte – zum Beispiel: »Sag Großmutter!« Nachdem es ihm unter großen Anstrengungen gelungen war, Worte, die von ihm erwartet wurden, auszusprechen, bedachte seine »Zuhörerschaft« ihn mit großem Beifall. Der Patient war also in der Mundregion traumatisiert worden. Doch warum stotterte er? Abgesehen von einer möglichen Prädisposition neurologischer Art, einer Empfänglichkeit für bestimmte Krankheiten, in diesem Fall für das Stottern - welche Umstände hätten seine Schwierigkeiten sonst noch verursachen können? Im Falle unseres Patienten ließ ein Urerlebnis über das Problem, sprechen zu sollen, ehe er dazu in der Lage war, eine vage Ängstlichkeit wiederauftauchen, die der Patient im Kinderkörbchen erlebt hatte. Er erinnerte sich
daran, daß er Furcht empfand und zu weinen begann, als ihm plötzlich etwas in den Mund gesteckt wurde, nämlich eine Flasche; das versetzte ihn in Panik. Er wurde nicht gestreichelt, nicht auf den Arm genommen, hörte kein besänftigendes Wort; seine Mutter hatte ihm lediglich in Eile und Ungeduld die Flasche in den Mund gestoßen. Nicht nur, daß die Flasche ihn nicht beruhigte, sie traumatisierte vielmehr seine 120
Mundregion – zweifellos ein weiterer Faktor bei der Entstehung seines Stotterns. Das routinemäßige Verabreichen der Flasche war allerdings kein isolierter Vorgang, sondern es geschah immer wieder, bis der kleine Junge sein Weinen einstellte, um die von ihm als beängstigend empfundene Handlung zu vermeiden. Doch seine Furcht blieb bestehen. Er stotterte fortan nicht nur, sondern hatte auch ständig Angst vor der Dunkelheit, eine Angst, die mit einem Ereignis oder einer Ereigniskette einsetzte, an die er sich nicht mehr erinnern konnte. Zwei weitere Beispiele mögen verdeutlichen, was ich meine. Übermäßige Nahrungsaufnahme und Alkoholismus sind in den Augen psychoanalytischer Theoretiker von oraler Abhängigkeit zeugende neurotische Verhaltensweisen. Danach können sich Kinder während des ganzen Tages zufrieden und wohl fühlen, doch wenn sie allein gelassen werden, dann tauchen in ihnen sofort Gedanken an Essen auf. Daran ändert auch nichts, wenn man sie auf Diät setzt, denn wenn man sie allein läßt, dann wird häufig jener frühe Lebensabschnitt wieder aktiviert, als sie gezwungen waren, nach einem Zeitplan zu essen, als sie zwischen den vorgeschriebenen Mahlzeiten Hunger verspürten und aufgrund ihrer geistigen Fähigkeiten noch nicht ausreichend verstehen konnten, daß ihre Mutter in ein oder zwei Stunden wieder bei ihnen sein würde. Damals vermochten sie nur das
Gefühl von Alleinsein und Angst zu empfinden. Es ist eine Tatsache, daß viele von uns in ihrer Kindheit gezwungen worden sind, sich an bestimmte Essenszeiten zu halten, und daß aufgrund dessen Vielesserei ein [nicht nur] in den Vereinigten Staaten weitverbreitetes Syndrom [Krankheitsbild] und als Diät verstandenes Fasten sozusagen eine nationale Fixierung darstellt. Problematisch am Fasten, an Diätvorschriften ist, daß der Betreffende sich in gewissem Sinne wieder als Kind fühlt, das Hunger verspürt, und daß der Hunger seinerseits die ursprüngliche Angst (und das verzweifelte Verlangen nach Nahrung) erzeugt. Wenn es uns gelänge, uns in die Lage von Kindern zu versetzen. könnten wir diese traumatischen Erlebnisse vermutlich besser verstehen. Kinder können nicht rational denken. Sie können nicht in Zeiträumen von Stunden denken. Hunger zu verspüren und, von Schmerz erfüllt, allein im Dunkeln gelassen zu werden, das bedeutet für sie, sterben zu müssen. Sie haben keine begriffliche Vorstellung davon, wann der Schmerz aufhören wird, und so können sie sich gegen den Schmerz nicht in verstandesmäßiger Weise wehren. Wir 121
hatten kürzlich einen Alkoholiker in Behandlung, der seit zwanzig Jahren getrunken hatte. Alkohol war für ihn ein Beruhigungsmittel. Nun liegt zwar auf der Hand, daß die Flüssigkeit seine Mundhöhle passierte, doch das Primal, das er schließlich erlebte, handelte davon, daß er sich so entsetzlich durstig fühlte, daß seine Zunge während des Urerlebnisses über zwei Stunden lang aus seinem Mund hing. Nach dem Erlebnis fühlte er sich vor Durst schier verschmachtet. Er war nicht oral fixiert, wie sein früherer Analytiker ihm hatte weismachen wollen, sondern er war traumatisiert worden aufgrund des
Durstgefühls, das er in den ersten Lebenswochen verspürt hatte; diese Entbehrungen und dazu der Umstand, daß seine Eltern gefühlskalt und versagend gewesen waren, hatten bei ihm zum Alkoholismus geführt. Die Aufnahme von Flüssigkeit zur Beruhigung war das prototypische Abwehrverhalten gegenüber einem prototypischen Trauma. Wenn das prototypische Trauma sich um Nahrung dreht, dann kann jedes spätere Unbehagen das Kind dazu veranlassen, ständig kleine Bissen zu sich zu nehmen und zu naschen, denn in einem solchen Falle weckt das gegenwärtige Unbehagen ein früheres. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich klarzumachen, daß es nicht notwendig ist, jedes Trauma wiederzubeleben, um eine Neurose zu beseitigen. Jedes Trauma steht in Verbindung zu einem zentralen, besonders gewichtigen Gefühl, sagen wir von Hilflosigkeit, und wenn dieses Gefühl wiederbelebt wird, dann bringt es ein Übermaß an schmerzvollen Erinnerungen an die Oberfläche, die alle um das Zentralgefühl gruppiert sind. So mag ein einziges Urerlebnis den Schmerz einer traumatischen Erfahrung lindern, die wiederholt erlebt wurde. Diese Erkenntnis läßt uns die Komplexität der zahlreichen zu neurotischen Symptomen führenden Ereignisse und Traumata abschätzen. Wir beginnen einzusehen, wie sinnlos es ist, das Symptom als eine isolierte, von anderen Faktoren unabhängige Einheit zu behandeln. Zum Schluß möchte ich sagen, daß wir uns hüten sollten. Entwicklungskategorien zu verwenden, denn wir Menschen entwickeln uns nicht in Kategorien. Auch ein in seinen Bewegungen eingeengtes oder bewegungslos gehaltenes Kind kann auf dieses Trauma »fixiert« werden. Jedesmal wenn es eingeengt wird, kann es in Angst geraten und unter dem Zwang stehen, sich freizumachen und seine Bewegungen fortzusetzen.
Doch zweifellos würden wir diese Lebensperiode nicht »km ästhetische [auf den Bewegungssinn bezüglich] Phase« nennen. 122
Psychische und physische Bewegung Bewegung dürfen wir uns nicht als ein basales Bedürfnis vorstellen. Doch wenn sie nicht ermöglicht wird, dann kann das genauso weh tun, als wenn man keine Liebe erfährt. Das Bedürfnis, sich zu bewegen und die Umgebung zu erkunden, ist nicht nur psychischer Natur, sondern für die Gehirnentwicklung unumgänglich. Nur durch Bewegung lernen wir richtige visuelle Wahrnehmung, entwickelt sich unser Gefühl für Gleichgewicht und Bewegungskoordination; nur so spüren wir überhaupt, daß wir uns bewegen. Vielleicht ist das Bedürfnis, zu Beginn unseres Lebens geschaukelt zu werden, das Anfangsbedürfnis nach Bewegung, nach einer Bewegung, zu der das Neugeborene selbst noch nicht fähig ist. Auf jeden Fall halte ich es für einen Bestandteil des Bedürfnisses nach Stimulierung. Dorothy Burlingham kommt zu der Feststellung, daß »die wohlbekannten rhythmischen Bewegungen wie Schaukeln ... sich unseres Wissens verstärken, wenn Kinder in ihren Kinderwagen oder Körbchen zu stark in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.«* Andere Wissenschaftler haben beobachtet, daß Kinder schaukelnde Bewegungen vollführen oder den Kopf hin und herwerfen, wenn ihnen ausreichende Bewegung verwehrt wird. Kulka meint, dieses Verhalten werde ausgelöst von »einem Versuch ... kinästhetische Bedürfnisse zu befriedigen«.** Es gibt zahlreiche Erklärungsversuche dafür, warum Kinder zwanghafte Kopf- oder Schaukelbewegungen ausführen. Die
Symptomwahl und die Begriffe prototypische Ängste und Abwehrverhalten habe ich im Kapitel über die Geburt ausführlich erläutert. Ein Grund für Verhaltensweisen wie Schlagen mit dem Kopf mag darin liegen, daß der Kopf während des Geburtsprozesses gegen den Schambogen schlug und dieser Vorgang sich traumatisierend auf die Kopfregion auswirkte. Jeder später erfahrene Streß kann dann das ursprüngliche Trauma wieder aktivieren und die genannten Kopfbewegungen auslösen. Das Symptom ist ein Zeichen für ein frühes Trauma, das sich im Körpersystem des Kindes niederschlug. Ein Kind kann in seinem Körbchen zwanghafte Schaukelbewegungen ausführen, weil es in einer viel weiter zurückliegenden Zeit
* D o r o th y Bu r lin g h a m, > N o te s o n P r o b le ms o f Mo to r Re s tr a in t D u r in g I l l n e s s < , i n : R . M . L o e w e n s t e i n , D r iv e s , A ffe c ts , a n d B e h a v io r , I n te r n a tio n a l U n iv e r s ity P r e s s , N e w Y o r k 1 9 5 3 , Bd . 1 , S . 1 6 9 - 1 7 5 . * * A . K u l k a e t a l . , » K i n e s t h e t i c N e d d s i n I n f a n e y s i n : A me r i c a n J o u r n a l o f O r th o p s y- c h ia tr y, 3 0 , 1 9 6 0 , S . 3 0 6 - 3 1 4 .
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extreme körperliche Einschränkungen zu erdulden hatte – zum Beispiel, indem es zu eng in eine Decke eingewickelt wurde. Auch kann es zwanghaft hin und herschaukeln, weil seine Eltern es während der ersten Lebenswochen nicht ausreichend geschaukelt haben. Das traumatisierte Kind versucht damit, sich eines frühen Traumas zu »entledigen«. Dabei handelt es sich um den primären »Wiederholungseffekt«. Ein Kind, das in den ersten Lebensmonaten, zu einer Zeit also, wo körperliche Einschränkungen die Gehirnentwicklung tiefgehend beeinflussen, haltungskorrigierende Gurte tragen mußte, kann unter Umständen
in seinem späteren Leben einen zwanghaften Bewegungsdrang entwickeln und zu Überaktivität neigen. So kann jede mit Einengungen verbundene Situation (zum Beispiel der Aufenthalt in einem Klassenzimmer) die infolge der Korrekturgurte als Einschränkung erfahrene frühere Situation wieder aktivieren und Angst sowie das Bedürfnis nach Bewegung hervorrufen. Aufgrund von Untersuchungen dürfen wir annehmen, daß zahlreiche Sehstörungen bei Kindern auftreten, denen nicht erlaubt wurde, genügend herumzukrabbeln. (In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Arbeit von Carl Delcato verweisen.) Der Wiederholungseffekt scheint das ganze Leben zu beeinflussen – bei dem davon betroffenen Kind folgen auf das Schaukeln im Kinderbettchen Überaktivitäten auf dem Spielplatz und im Klassenzimmer, und auch als Erwachsener ist es gezwungen, sich ständig in Bewegung zu halten. Im späteren Leben kann jede einschränkende Situation, etwa still in einem Lesesaal sitzen zu müssen, das frühe Trauma wieder wachrufen und Angst sowie ein vages Bedürfnis »rauszukommen« erzeugen. Nervöse Fußbewegungen und Trommeln mit den Fingern sind weitere Äußerungen dieses körperlichen Wiederholungseffektes. Man kann sich nur fragen, welch verheerende Auswirkungen die im Orient übliche Praxis des Kinderwickelns mit sich bringt. Nicht nur in körperlicher Hinsicht wird das Kind Einschränkungen unterworfen. Noch häufiger sind psychische Einschränkungen. Dem Kind wird nur gestattet, »erlaubte« Gedanken zu äußern. Beinahe von dem Tag an, da es Worte zu stammeln vermag, wird es in eine psychische Zwangsjacke gesteckt. Es muß gläubig sein und religiöse Gedanken haben, wenn seine Eltern es so wünschen. Oder es darf nur Gutes über die Leute sagen und niemals Kritik üben. Diese Art der Beschränkung kann zu einer anderen Abwehrform führen – zu Gedankenflucht, die man auch als Phantasieren oder Tagträumen bezeichnet. Eingesperrt in ein langweiliges Klassenzimmer, kann
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das Kind in einem solchen Falle sich in Phantasien verlieren; es sucht der Situation mit dem Kopf zu entfliehen. Bei geistiger Einkerkerung entwickelt sich ein psychischer Wiederholungszwang. Die Vorstellung einer rein »psychischen« Zwangsjacke ist natürlich irreführend. Ein Gefühl und sein gedankliches Gegenstück unterdrücken heißt, körperlichen Druck erzeugen; so kann man sich seinen Phantasien hingeben und gleichzeitig nervös mit den Füßen auf den Boden klopfen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß Gedanken keine eigenständigen Einheiten sind, die in einem geistigen Raum umherschweben. Sie sind untrennbar an unsere Körper und unsere Gefühle gebunden, sie sind Teile von beiden; mithin bedeuten unterdrückte Gedanken die Unterdrückung von neurophysiologischen Funktionen. Das heißt, daß man »verkehrt« aufwächst, wenn man sein eigenes »Selbst« sich nicht entfalten läßt. Das Gesicht, der Mund und der Körper verformen sich, um »andere« zu werden; dies kann man ganz wörtlich nehmen. Bei vielen rein körperlichen Urerlebnissen vollführen die Patienten unfreiwillig Bewegungen, die den Eindruck von Drehen und Herauswinden vermitteln; unter starkem Schmerz haben sie das Gefühl, von der ideologischen Zwangsjacke ihrer Eltern buchstäblich eingeschnürt zu werden. Manche Patienten hatten noch zusätzlich das Gefühl, ihre Angst hocke auf ihrer Schulter, nage sich in ihre Brust usw. Wie oft hören wir Eltern sagen: »Nun bleib hier sitzen und verhalte dich ruhig!«? Zu viele Eltern vergessen, daß Kinder von Natur aus rege und ausgelassen sind. Eltern, die sich in Roboter verwandelt haben, suchen ihre Kinder dem »toten« Bild, das sie von sich haben, anzugleichen und entsprechend zu formen. Ihnen entgeht, daß man die Erfahrung des Kindes einschränkt, wenn man seinen Körper einschränkt.
Unser ganzes Muskelsystem ist mit sensorischen »Empfängern« übersät, die unser Gehirn mit Informationen füttern. Wenn wir unsere Muskeln betätigen, dann betätigen wir in gewissem Sinne auch unser Gehirn. Bewegung ist eine Erfahrung. Durch spontane Bewegung lernen wir auch spontanes Fühlen. Bewegungsmangel bedeutet Erfahrungsmangel, und diese Erfahrung wiederum beeinflußt die Gehirnbildung, vor allem in der ersten Lebenszeit. Kindern Freiheit zu gewähren sollte nicht als eine »nette« Sache für »aufgeklärte« Eltern angesehen werden. Freiheit ist eine biologische Notwendigkeit! Kinder, die ständig getadelt werden, wenn sie herumrennen und ihre Umgebung erkunden, schränken alsbald automatisch ihre Bewegungen ein und bewe125
gen sich dann nur noch vorsichtig und in engen Grenzen. Kinder, die nicht sagen dürfen: »Ich glaube, ich kann meine Lehrerin nicht ausstehen, und die ganze Schule hängt mir zum Halse heraus«, gewöhnen sich bald daran, jeden ihrer Gedanken zu überprüfen, genauso wie jede ihrer Bewegungen. Vorsicht schleift sich ein, tritt schließlich automatisch auf, und die Spontaneität jedes Gefühls und jeder Bewegung geht verloren. Daraus kann später Frigidität werden, nicht aufgrund mangelhafter sexueller Betätigung, sondern weil dem Kind niemals gestattet wurde, seine Erregung zu fühlen und zu zeigen. Einer unserer Patienten erlebte eine Szene wieder, in der er, damals sechs Jahre alt, sich über irgendetwas erregte. Er schaute seinen Eltern in die Augen, und ihm wurde in diesem Augenblick blitzartig klar, daß sie beide gleichsam leblos, wie abgestorben waren. Er wußte sofort, daß er »tot« sein mußte, um zurecht zu kommen. Er unterdrückte seine Ausgelassenheit und wurde wie seine Eltern. Wenn man seinen Eltern später geraten hätte, ihn zu ermuntern, sich unbefangener zu geben, hätte das vermutlich wenig Sinn gehabt.
Wenn ein Kind seine Gedanken einschränkt, dann verschwinden diese Gedanken und ihre körperlichen Pendants nicht einfach. Sie bleiben abgespalten bestehen und üben wachsenden Druck aus. Dieser Druck treibt die Gedanken auf Nebenwege, und der betreffende Mensch hat über fast alles »neurotische«, unaufrichtige Gedanken, denn er kann nicht aufrichtig sein, ohne zugleich Schmerz und Angst zu empfinden; Aufrichtigkeit an sich wird zur Gefahr. Daher ist das Verhalten von unaufrichtigen Leuten in vielen Lebenssituationen so gleichbleibend unrealistisch. Der von den wirklichen Gefühlen ausgehende Druck führt auch zu Tagträumen, die ihrerseits Abkömmlinge der wirklichen Gefühle sind. Tagträume sind psychische Geschichten, bizarre Gedankenbildungen, hervorgebracht durch unterdrückte Gedanken und Gefühle. Warum sind diese bizarren Gedankengebilde unrealistisch? Weil der Betreffende schlicht und einfach seine Gefühle empfinden würde, wenn seine Gedanken real wären. Wenn unterschwellige Gefühle unrealistische Vorstellungen wie Tagträume hervorbringen können, dann ist natürlich klar, daß sie auch andere Formen unrealistischen Denkens nach sich ziehen können. Als Beispiel für den im Körperinnern herrschenden Druck aufgrund eingeschränkter Bewegungsfreiheit möchte ich ein kürzlich von uns beobachtetes Urerlebnis anführen. Der Patient erlebte eine Szene 126
wieder, bei der er von seinem Bruder während eines Ringkampfes fünfzehn Minuten lang auf dem Boden festgehalten worden war, ein Erlebnis, das ihn in einen Zustand panikartiger Angst versetzt hatte. Von jener Erfahrung konnte der Patient nicht loskommen,
er konnte sie nicht bewältigen. Und immer dann, wenn er später Angst verspürte, hatte er ein schmerzhaft prickelndes Gefühl in seinen Armen. Die Wiederbelebung dieses Gefühls in seinem Kontext brachte es zum Verschwinden. Eine beinahe überall gebilligte Methode, Kinder »festzuhalten«, besteht darin, sie in Laufställchen einzusperren. Diese Praxis engt die Bewegungsfreiheit des Kindes erheblich ein. Nur wenige Mütter können verstehen, daß diese Einengung des Bewegungsraumes für ihre Kleinen eine Art Gefängnis darstellt. Man nimmt sogar an, Kinder würden das Eingesperrtsein mit Zufriedenheit aufnehmen. So hört man Mütter sagen: »Ich kann nicht jede Sekunde bei meinem Kind sein, und wenn es nicht im Ställchen steckt, dann krabbelt es herum und tut sich weh.« Laufställchen sind zweifellos eine Annehmlichkeit. Doch es wäre besser, wenn wir uns einfallen ließen, wie wir Räume und Gärten anlegen, in denen die Kinder frei herumkrabbeln können, ohne sich der Gefahr von Verletzungen auszusetzen.* Das heißt auch, daß Mütter sich befleißigen müssen, wirklich Mütter zu sein, und ihren Kindern viel mehr Zeit widmen sollten, anstatt sie in Laufställchen einzusperren, um auf diese Weise ihrer Haushaltsarbeit nachgehen zu können. Das gilt genauso für den Vater, wenn er zu Hause bleibt, während die Mutter arbeitet. Nach der Entwöhnung spielt es keine Rolle, wer zu Hause bleibt, ob Mutter oder Vater; wichtig ist, daß Eltern wirklich Eltern sind, die ihre Kinder nicht zu etwas Nebensächlichem machen, das man ins »Gefängnis« stecken oder herausnehmen kann, wenn es einem gerade paßt. Eine Anthropologin, die in Afrika das Verhalten von Schimpansen erforscht hat, zog ihr Kind auf, wie sie es bei den Affen erlebt hat. Sie verzichtete auf ein Laufställchen, ließ ihr Kind gewähren und bot
* S o k ö n n te ma n z u m Be is p ie l d a s K in d e r z imme r mit a lte n Ma tr a tz e n a u s s ta tte n , s o d a ß d a s K in d u n g e h in d e r t h e r u mk r a b b e ln k a n n . I m P r i mä r i n s t i t u t h a b e n w i r e i n e n v o l l s t ä n d ig a u s g e p o ls t e r t e n R a u m » z u m A u s to b e n «, d e r e tw a z w e i ma l d r e i Me te r miß t. N a c h A n g a b e n d e r P a tie n te n is t d e r Ra u m z u m T e il d e s h a lb s o b e lie b t, w e il s ie d a r in f r ü h e r e S z e n e n in L a u f s tä llc h e n u n d in k le in e n b e e n g en d e n Z imme r n w ie d e r e r le b e n k ö n n e n , w o s ie s ic h n ic h t f r e i b e w e g e n k o n n te n . N u n k ö n n e n s ie h e r u mk r ie c h e n , u m s ic h s c h la g e n u n d s ic h h ie r u n d d o r th in w e r f e n , o h n e b e f ü r c h te n z u mü s s e n ir g e n d w o g e g e n z u la u f e n o d e r s ic h z u v e r le tz e n .
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ihm weitgehende Freiheit. Nach den Worten der Wissenschaftlerin war ihr Kind mit dieser Erziehungsmethode höchst zufrieden. Generationen sind im »Kinder-Gefängnis« aufgewachsen; das Ergebnis dieser Praxis haben wir in der Primärtherapie beobachten können. Unsere Patienten haben ihr Leben als Erwachsene damit zugebracht, sich durch Ausagieren frei zu fühlen, indem sie beständig auf Reisen waren, häufig ihren Arbeitsplatz wechselten und sich dem sogenannten freien Sexualleben verschrieben. Einige begaben sich am Wochenende zu Vergnügungszentren und beteiligten sich dort an Spielen, bei denen sie sich buchstäblich »freie Bahn« erzwangen, indem sie sich durch eine Gruppe von Menschen, die sie umgab, hindurchdrängten. Doch das Ausagieren von Freisein hält natürlich die innere Beschränkung nur aufrecht; wer hingegen jene frühen , Beengtheiten gefühlsmäßig erfährt, kann schließlich zur wahren inneren Freiheit gelangen. Einem Kind die volle Bewegungsfreiheit vorenthalten ist eine Form sensorischer Deprivation. Das heißt, das Kind erfährt nicht genügend innere Stimulierungen. Seinem Gehirn wird eine nicht ausreichende Menge an inneren Reizen zugeführt. Die Auswirkungen dieser sensorischen Deprivation haben wir weiter oben erläutert. Eine der auf Bewegungsmangel empfindlich
reagierenden Gehirnstrukturen ist das Kleinhirn. Es ist bei der Geburt noch ziemlich unausgebildet und wird bei fehlender Stimulierung in seiner Entwicklung beeinträchtigt. Auch hier sehen wir wieder, wie sehr die eigentliche Gehirnentwicklung auf Freiheit angewiesen ist (in diesem Fall auf Bewegungsfreiheit). Das überaktive Kind kann mit eben diesem Verhalten auf ein Bedürfnis reagieren, indem es auf diese Weise versucht, einen Mangel an Freiheit und Stimulierung zu kompensieren, den es in den ersten Lebensmonaten erfahren hat. Das heißt, es hat ein Abwehrverhalten angenommen, das zu einer früheren Zeit lebensnotwendig gewesen ist. Sein Körpersystem nimmt das Bedürfnis nach Stimulierung und Bewegung wahr, doch seine Eltern halten daran fest, es dafür zu bestrafen, und gehen mit ihm zu Ärzten, die dann versuchen, die übermäßige Aktivität mit Hilfe von Medikamenten einzudämmen. Das Bedürfnis nach körperlicher und geistiger Freiheit ist in psychophysiologischer Hinsicht von entscheidender Bedeutung. In der Tierforschung ist dieses Bedürfnis nachgewiesen worden. Bernhaut fand aufgrund von Experimenten heraus, daß in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkte Tiere träge und apathisch 128
werden.* Nach Bernhauts Auffassung dämpft frühe Einschränkung das Weckzentrum des Gehirns, das retikuläre Aktivierungssystem; die Folge ist ein ungenügender Ausstoß von Informationen, der seinerseits zu einer allgemeinen Bewegungsträgheit und Teilnahmslosigkeit führt. Die von Bernhaut angestellten Untersuchungen erlauben den Schluß, daß in den ersten Lebensmonaten ein Optimum an Stimulierung (und Bewegung ist Selbststimulierung) unerläßlich ist, wenn das retikuläre System seine volle Funktionsfähigkeit erreichen soll.
Untersuchungen von Carpenter haben gezeigt, daß totale körperliche Einschränkungen bei jungen Ratten selbst während eines einzigen Tages spätere Verhaltensstörungen zur Folge haben, und zwar Störungen, die sich als schwerwiegender herausstellten als die, mit denen zu rechnen ist, wenn Ratten während des gleichen Zeitraums Licht- und Gehörreize entzogen werden.** Wichtiger noch: bei USC angestellte Untersuchungen lassen vermuten, daß körperlich eingeschränkte Tiere krebsanfälliger sind. Eines Tages werden wir vermutlich zu der Erkenntnis gelangen, daß Freiheit aufgrund der katastrophalen Krankheiten, die auftreten können, wenn sie fehlt, im wahrsten Sinne des Wortes eine Frage von Leben und Tod ist. Es stellt sich immer deutlicher heraus, daß in den ersten Lebensmonaten ein fundamentales Bedürfnis nach Bewegtwerden besteht. Affen, die in Käfigen aufwuchsen, in denen sich nur ein bewegliches Pendel befand (das sie umklammern konnten), entwickelten sich schneller, nahmen stärker an Gewicht zu und waren sozial angepaßter als Affen, die in ihrem Käfig ein unbewegliches Pendel hatten. Jungaffen, die nicht an einem Pendel hin und herschwingen konnten, zeigten Angst vor Menschen, schienen weniger neugierig zu sein und waren allgemein fehlangepaßt. Die Frage ist: warum? Wir erkennen, daß es nicht ausreicht, wenn während der frühen Kindheit Bewegungen ermöglicht werden; es bedarf rhythmischer Bewegungen. Mit anderen Worten, die fundamentalen Bedürfnisse, die sich unmittelbar nach der Geburt äußern, müssen auf jene Bedingungen treffen, die den Lebensbedingungen im Mutterleib am nächsten kommen... ein stetiges Geräusch wie der Herzschlag, Bewegung, Körperwärme und viel körperlicher Kontakt. Je mehr
* M. Be r n h a u t, E . G e llh o r n u n d A . T . Ra s mu s s e n , > E x p e r ime n ta l Co n tr ib u tio n s to P r o b le ms o f Co n s c io u s n e s s < , in : J o u r n a l o f
Ne u r o p h y s io lo g y , 1 6 , 1 9 5 3 , S . 2 1 — 3 5 . * * P . B. Ca r p e n te r , > T h e E f f e c t o f S e n s o r y D e p r iv a tio n o n Be h a v io r in th e W h ite Ra t< , D is s e r ta tio n , F lo r id a S ta te U n iv e r s ity 1 9 5 9 .
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von diesen Bestandteilen fehlen, zum Beispiel Schaukeln oder rhythmische Bewegung, desto stärker wird die kindliche Entwicklung beeinträchtigt, desto größer ist die Gefahr von Schädigungen in irgendeiner Form. Die Untersuchungen an Affen und anderen Primaten können uns dabei behilflich sein, einige basale Bedürfnisse zu bestimmen, die wir bis jetzt noch nicht erörtert haben. Natürlich liegen uns heute auch schon hilfreiche Untersuchungen an Menschen vor. Frühgeborene Kinder entwickeln sich sowohl körperlich wie psychisch besser, wenn sie in Brutkästen gelegt werden, die schaukelnde Bewegungen ausführen. Brutkästen, die Bedingungen aufweisen, die den intrauterinen gleichen, bieten dem Kind die größte Überlebenschance. Das bedeutet: das Leben nach der Geburt ist eine Fortentwicklung des Lebens vor der Geburt, und je weniger die Lebensbedingungen nach der Geburt von denen vor der Geburt abweichen, um so besser für das Kind. Real sein heißt, in der Lage sein, sich frei bewegen zu können. Es heißt nicht, ständig in Bewegung sein, angetrieben von innerer Spannung. Es heißt auch nicht, sich beim Tanzen auszutoben, im Zimmer herumzurennen und sich wild aufzuführen. Vielmehr kommt es darauf an, einen geschmeidigen, entspannten Körper zu besitzen, der als ein Ganzes reagiert, dessen Bewegungen koordiniert sind, so daß man fähig ist, auf natürliche Weise in den meisten Sportarten gute Leistungen zu erbringen, und etwa beim Tanzen von seinem Körper vollen Gebrauch zu machen versteht. Nach meiner Überzeugung sind normale Kinder von Natur aus gute Sportler. Das bedeutet freilich nicht, daß Sportler
von Neurosen verschont bleiben. Ein guter Läufer kann durchaus immer noch unfähig sein, seinen Körper als eine Einheit zu empfinden und einzusetzen, so daß er nicht in der Lage ist, auf gefühlsgeladene Stimulierungen wie Musik zu reagieren. Jemand, der mit seinem Körper gut umzugehen weiß, kann trotzdem eine Neurose haben, die sich dann allerdings in psychischen Störungen äußert. Natürlich kann man einzelne Verhaltensweisen nicht aus dem Zusammenhang reißen und losgelöst betrachten. Doch wenn jemand völlig ungeschickt im Werfen ist, wenn er nicht imstande ist, schwimmen zu lernen, dann darf man annehmen, daß es sich um neurotische Symptome handelt, auch wenn sonst keinerlei Störungen zu bemerken sind. Ich bin keineswegs sicher, daß ein Neurotiker den Mangel an körperlicher Koordinierung mit Hilfe von Urerlebnissen vollständig beseitigen kann. Sobald die Neurose sich erst einmal im Körper 130
»festgesetzt« hat und zu Koordinierungsmängeln führt, die sich über Jahre hin einschleifen, dann ist der Schaden häufig nicht mehr völlig zu beheben. Der Neurotiker kann nie die Leistungen erzielen, die er in jahrelanger sportlicher Betätigung hätte erreichen können, wenn er von vornherein richtig aufgewachsen wäre. Nichtsdestoweniger haben wir als Folge von Urerlebnissen bemerkenswerte Änderungen in der Koordinierung feststellen können.
Das Bedürfnis nach Stimulierung Dem Bedürfnis eines jeden Kindes entspricht ein optimales Maß an Stimulierung. Ob ein Kind über- oder unterstimuliert wird, in
beiden Fällen kann Urschmerz auftreten. Ein Kind, mit dem die Eltern sich aus Ängstlichkeit zu häufig beschäftigen, kann durchaus unter Leidensdruck stehen, weil es Gefühle hat, die sich in die Worte kleiden ließen: »Laßt mich allein!«, und weil es, vor allem in der frühen Kindheit, nicht die Kraft hat, sich gegen das Verhalten der Eltern zur Wehr zu setzen. Mehrere unserer Patienten hatten Urerlebnisse, bei denen sie unter dem Eindruck standen, sie würden ständig gekniffen, in die Luft geworfen, zu allen möglichen Handlungen veranlaßt und immer daran gehindert, genügend Ruhe und Erholung zu finden. Das hängt damit zusammen, daß alles, was die Eltern, Großeltern oder Bekannte taten, in keinerlei Beziehung zu den Bedürfnissen des Kindes stand. Um es zu wiederholen, Neurotiker können nicht von ihren eigenen Bedürfnissen absehen. Überstimulierung kann die vielfältigsten Formen annehmen. Sie kann von Eltern ausgehen, die durch unablässiges Einreden auf das Kind Spannungen lösen. Sie geben dem Kind keine Zeit, sich eigene Gedanken zu machen, keine Zeit, nachzudenken und zu fühlen. Auch ständiges Hätscheln und Streicheln können das Kind überstimulieren. Eltern, die zu laut sprechen, können ihr Kind überstimulieren, denn übermäßige Sinneseindrücke verursachen Schmerz, ganz wörtlich genommen. Wie erkennt man, ob die Stimulierung zu stark oder zu gering ist? Das hängt von dem Bedürfnis des jeweiligen Kindes ab. Ein normales Kind weiß seine Bedürfnisse zu vermitteln. Und normale Eltern, das heißt Eltern, die nicht von Spannung getrieben werden, ersparen ihrem Kind Überstimulierung. Doch Überstimulierung ist gewöhnlich das geringere Problem. Viel häufiger ist Unterstimulierung; ein anderes Wort für Ablehnung. 131
Wir wissen, daß Stimulierung Wachstum und Dichte der Hirnrinde fördert, und somit hat der kindliche Organismus ein Bedürfnis nach Erfahrung schlechthin. Da man zuallererst sich selbst erfährt, ist die Lebenserfahrung um so reicher, je offener man sich selbst gegenüber ist. Oder um es anders auszudrücken: je mehr man von den Lebensprozessen des Körpers erfährt, desto mehr erfährt man vom Leben. Newton und Levine weisen darauf hin, daß »Erfahrungsbeschränkung die Sozialentwicklung von kleineren Affen wie von Schimpansen beeinträchtigt«.* Mangel an Stimulierung hat bei Affen stärkere, sich diffus äußernde Reizbarkeit und größere Ängstlichkeit zur Folge. Außerdem werden ihre sozialen Reaktionen auf unpassende Objekte fixiert; so richtet sich ihr Sexualtrieb auf diese Objekte statt auf ihre Artgenossen. Bei Menschen würden wir solche Objekte »Fetische« nennen. Aus den Untersuchungen an Primaten können wir folgern, daß Umwelteinschränkungen während der frühen Kindheit dazu führen, daß der Organismus sich eher an Gegenstände als an Menschen bindet. Das ist eine Frage unterschiedlicher Prägung: wenn einem Kind statt menschlicher Wärme ein Gegenstand wie eine Flasche oder ein Spielzeug gegeben wird, dann wird es unter Umständen zeit seines Lebens auf Objekte fixiert sein.
Körperkontakt Es scheint, daß ein Index dafür, wieviel Stimulierung von welcher Art wir brauchen, die Größe des Gehirnbereichs darstellt, der mit dem jeweiligen Bedürfnis zu tun hat. Das Bedürfnis nach Körperkontakt, nach Berührung ist zum Beispiel an weite Bereiche des Gehirns gebunden. Nach meiner Ansicht ist dieses neurologische Faktum gleichsam ein Vermächtnis der Evolution, das die Wichtigkeit des Körperkontakts bezeugt. Häufige Berührungen des Kindes verhindern Schmerz, wie er auftritt,
wenn das Kind unter einem Mangel an Körperkontakt zu leiden hat. Das Kleinkind kann somit den Körperkontakt mit anderen intensiv erfahren, weil es auf diese Weise zur intensiven Erfahrung seiner selbst gelangt. Ein Kind, das nur selten Körperkontakt erlebt, leidet unter dieser Versagung, ob es nun darum weiß oder nicht, denn dabei kommt sein physiologisches Bedürfnis – ein Bedürfnis so wichtig wie das Essen – zu kurz.
* O p . c it. , S . 4 6 8 .
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Schmerz drückt dem Erleben von Körperkontakt seinen Stempel auf, so daß das Kind in seinem späteren Leben Berührungen und Zärtlichkeit abwehrt und »nichts« zu fühlen vermag. Zuviel Körperkontakt kann freilich genauso schmerzvoll sein wie zu wenig, denn übermäßiges Berühren und Anfassen können das Kind derart überstimulieren, daß es sich innerlich dagegen verschließt. Überstimulierung ist kein Eingehen auf ein Bedürfnis, denn sie basiert keineswegs auf dem Bedürfnis des Kindes, sondern auf dem seiner Eltern. Das Hautempfinden ist eine der wenigen sensorischen Funktionen, die bereits bei der Geburt voll ausgebildet sind. Der Fötus kann bereits nach einer Entwicklung von nur zwanzig Wochen Hautsensationen empfinden. Das ist insofern verständlich, als die Haut das größte Sinnesorgan darstellt; sie repräsentiert einen weitgefächerten Bedürfniskomplex. Es scheint, daß sich bestimmte Areale des kindlichen Gehirns in Einklang mit der Entwicklung der menschlichen Spezies früher ausbilden als andere. So dürfte die Myelinisation [Markscheidenbildung] des mit dem Hautsinn zusammenhängenden Gehirnbereichs früher beendet sein als die
derjenigen Bereiche, die an der Denk- und Vorstellungsfähigkeit beteiligt sind. Im Evolutionsprozeß trat das Denken erst spät in Erscheinung; das gleiche wiederholt sich in der menschlichen Ontogenese, in der Entwicklung des Menschen von der Eizelle zur Geschlechtsreife. Auf die Gehirnentwicklung bezogen, heißt dies, daß die eher »animalischen« Bedürfnisse - die Bedürfnisse, die wir mit den Tieren gemeinsam haben — vor anderen den Vorrang haben. Vielleicht haben aus diesem Grund Untersuchungen an Tieren über den Mangel an Hautkontakt besondere Relevanz für das menschliche Verhalten. Doch die Tierforschung allein reicht für unser Verständnis menschlicher Neurosen nicht aus, die so unabweisbar mit Sprache, Denken und Bedeutung verknüpft sind. Spitz hat Kinder untersucht, die selten körperlichen Kontakt mit Pflegepersonen hatten; er fand bei diesen in Heimen untergebrachten Kindern eine größere Anfälligkeit für Ekzeme.* Aufgrund anderer Untersuchungen wissen wir, daß die gleiche Vernachlässigung von Kindern zu allergischen Hautreaktionen und -erkrankungen führen kann. Nach Bakwin haben künstlich ernährte Kinder eine höhere Anfälligkeitsquote für Ekzeme wie für Erkrankungen der Atemwege.**
* R . A . S p i t z , V o m S ä u g lin g z u m Kle in k in d , K le tt, S tu ttg a r t 1 9 6 9 . * * H . Ba k w in , > F e e d in g P r o g r a ms f o r I n f a n ts < , in : F e d e r a t i o n P r o c e e d i n g s , 23. S. 66 ff.
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Ashiey Montagu berichtet über den Fall eines an Akne erkrankten Mädchens, das »durch eine Behandlung geheilt wurde, zu der auch taktile Stimulierung in einem Schönheitssalon gehörte; dorthin hatte es ein scharfsichtiger Arzt geschickt, nachdem jede
Form orthodoxer medizinischer Behandlung versagt hatte.«* Der Arzt hatte den Traumabereich behandelt. Berührung ist ein Beruhigungsmittel für die Haut. Es ist also offenkundig, daß der Körper erkrankt, wenn er Versagungen ausgesetzt wird; nicht ganz so einsichtig ist, warum der Körper in solchen Fällen auf spezifische Weise erkrankt. Warum bekommen Kinder bei fehlendem Körperkontakt Ekzeme? Der Grund, glaube ich, liegt darin, daß die Haut zugleich den Bereich des Bedürfnisses wie der Versagung und folglich den Brennpunkt des Schmerzes darstellt. Natürlich müssen wir auch hereditäre, das heißt erbliche Prädispositionen als Faktoren der Symptombildung berücksichtigen. Nicht genug Körperkontakt erfahren heißt, nicht geliebt zu werden, gleichgültig, wie nachdrücklich die Eltern das Gegenteil behaupten. Mangel an liebevoller Zuwendung ist kein ausschließlich psychologisches Problem, sondern vielmehr ein psychophysiologisches. Daran ist nicht zu rütteln, trotz aller Äußerungen wie: »Sie haben mich wirklich geliebt, doch sie konnten nicht zärtlich sein.« Harlow ist einer der Pioniere bei der Erforschung von Auswirkungen mangelnden Körperkontakts auf das spätere Verhalten von Primaten.** Seine Experimente haben gezeigt, daß Affenjunge, die ohne Mütter aufwachsen, im späteren Leben dauerhaft verhaltensgestört sind. Affenjunge, denen aus Stoff gefertigte »Mütter« in den Käfig gestellt wurden, entwickelten sich besser als eine Kontrollgruppe, die sich mit einem Drahtgestell begnügen mußte, mit einer »Mutter« also, deren Beschaffenheit nicht einmal einen ersatzweisen Körperkontakt zuließ. Die »kontaktlosen« Affen waren später weit ängstlicher und weniger erkundungsfreudig. Bei späteren Experimenten stattete Harlow die Stoff-Mutter mit einem Heizgerät aus.*** Die Zufuhr von Wärme führte zu signifikanten Unterschieden. Affenjunge, denen eine Mutter beigegeben war, die keine Wärme
spendete, entwickelten sich weniger gut. Hingegen waren mit einem
* A s h ie y Mo n ta g u , T o u c h in g , Co lu mb ia U n iv e r s ity P r e s s , N e w Y o r k 1 9 7 1 , S. 207. * * H a r lo w s U n te r s u c h u n g e n h a b e ic h im K a p ite l »L ie b e « in D e r U r s c h r e i , F r a n k f u r t a m Ma in 1 9 7 3 , a u s f ü h r lic h b e h a n d e lt. * * * H . H a r lo w , A m e r ic a n P s y c h o lo g is t, F e b r u a r 1 9 7 0 .
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Wärmespender aufgezogene Affen eher bereit, sich an ihre »Mütter« anzuklammern, wenn sie in Angst gerieten. Wenn die Tiere zu lange mit einer kalten »Mutter« aufwachsen mußten, dann stellten sich dauerhafte Schäden ein; die Jungtiere scheuten jeden Kontakt, selbst wenn ihnen eine »warme Mutter« in den Käfig gestellt wurde. Harlow meint: »Das Aufwachsen mit einer kalten Mutter hatte bei ihm (dem Affenjungen) offensichtlich zu einer allgemeinen Gefühlskälte gegenüber Müttern geführt, selbst solchen Müttern gegenüber, die Wärme und Behaglichkeit ausstrahlten.«* Wenn wir die Untersuchungen von Harlow auf unser Thema übertragen, dann können wir festhalten, daß eine im späteren Leben erfahrene wärmespendende Umwelt frühe Traumata nicht auszulöschen vermag, sondern sie lediglich abmildert. Eine gefühlskalte Mutter in den ersten Lebensmonaten hinterläßt in ihrem Kind eine dauerhafte Ängstlichkeit, denn es hatte in der entscheidenden Zeit niemanden, an den es sich wenden konnte, um mit seinen furchterregenden Erfahrungen fertig zu werden. So dürfte ein Kind, das im achten Lebensmonat adoptiert wird, in seinem späteren Leben Schwierigkeiten haben, wenn es die ersten acht Monate in einer relativ kalten Anstaltsumgebung zubringen mußte. Das Fehlen einer warmherzigen Mutter in der ersten Lebenszeit führt zu einer
Überlastung des Kindes mit Furcht, die in Form einer vagen Ängstlichkeit weiterbesteht. Wenn das Kind später gefragt wird: »Wovor hast du Angst?«, könnte es keine einigermaßen plausible Antwort geben, denn erstens empfand es keine spezifische frühe Furcht, die im Vordergrund gestanden hätte, und zweitens traten die Befürchtungen zu einem Zeitpunkt auf, ehe das Kind sich begrifflich klarmachen konnte, vor was es Angst hatte oder daß es überhaupt Angst verspürte. Es wäre ein Fehler, dem Kind, das sich jetzt vor »neutralen« Gegenständen wie Hunden, hohen Gebäuden oder Aufzügen ängstigt, vorhalten zu wollen: »Das ist doch gar nichts, wovor du Angst haben müßtest.« Das Kind reagiert jetzt aufgrund einer vergessenen, jedoch weiterhin wirksamen frühen Lebensgeschichte. Um seinen Zustand allgemeiner Ängstlichkeit zu mildern, hätte es vieler Erfahrungen frühen Körperkontakts, vornehmlich gefühlswarmen Kontakts bedurft. Für Harlows Schlußfolgerungen bietet das menschliche Verhalten überreichlich Beweise. Mütter, von denen es heißt, sie seien »kalte« Frauen, sind durch ihren eigenen Schmerz derart blockiert, daß sie
* I b id . , S . 1 6 7 .
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in der Tat auf Körperkontakt gefühlskalt reagieren. Ihr Körper hat ; sich mit verlangsamtem Blutkreislauf und niedriger Körpertemperatur auf den Schmerz eingestellt. Keine noch so große Anzahl von Vorträgen oder Artikeln über mütterliche Gefühlswärme vermag diese Form weiblicher Kälte zu ändern. Die Gefühlskalte der Frau ist nicht schlicht eine Verhaltenseinstellung, sondern sie ist in ihrem Körpersystem verankert.
Kritische Perioden Häufiger Körperkontakt allein reicht nicht aus; es gibt auch bestimmte kritische Zeiten, in denen die Kleinkinder diesen Kontakt erfahren müssen. Ein Anstaltskind, das im achten Lebensmonat von einer Gefühlswärme ausstrahlenden Familie adoptiert wird, hat bereits ein Trauma erlitten, das sein weiteres Leben beeinflußt. Während der ersten acht Lebensmonate, wenn das Nervensystem besonders empfänglich ist und andere sensorische Funktionen noch nicht vollständig ausgebildet sind, vermag kein Körperkontakt lebenslange Schädigungen hervorzurufen. Wir bezeichnen die kritischen Perioden, in denen Stimulierung sich optimal auswirkt, als Prägungsperioden. Wenn Enten etwa fünfzehn Stunden nach dem Ausschlüpfen mit einem beweglichen Objekt zusammengebracht werden, dann werden sie auf dieses Objekt geprägt und folgen ihm (zum Beispiel einem Menschen) ihr Leben lang. Dieser Effekt kann völlig ausbleiben, wenn man mit einer vier Tage alten Jungente auf gleiche Weise verfährt. Denenberg hat in einer Untersuchung nachgewiesen, daß Jungratten, die in den ersten fünf Lebenstagen Körperkontakt erfahren, Belastungen länger ertragen können als Ratten, denen bis zum sechsten Lebenstag körperliche Berührungen vorenthalten werden.* Das bei Jugendlichen und Erwachsenen zu beobachtende Verhalten dürfte in direkterer Verbindung zu den Geschehnissen in den ersten Lebensmonaten stehen als zu irgendeiner späteren Störung der Eltern-Kind-Beziehung. Eine »gut« verlaufene frühe Kindheit kann entscheidend dazu beitragen, spätere Mißgeschicke bewältigen zu können; dies kann eine Erklärung dafür sein, daß ein Kind »es schafft«, ein anderes nicht. Tapp und Markowitz haben festgestellt, daß körperlicher Kontakt im Frühleben sich
* V . H . D e n e n b e r g , > A n A tte mp t to I s o la te Cr itic a l P e r io d s o f D e v e lo p me n t i n R a t s < , i n : J o u r n a l o f Co m p a r a tiv e a n d P h y s io lo g ie n ! P s y c h o lo g y , 5 5 , 1962, S. 813 ff.
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unmittelbar auf die Gehirnentwicklung auswirkt.* Nach Ansicht der beiden Wissenschaftler geschieht dies während besonderer Entwicklungsphasen. Auch besteht zwischen der stimulierten Körperzone und dem Wachstum des entsprechenden Gehirnareals eine direkte Beziehung. Bei geblendeten Ratten ist der mit der Sehfähigkeit verbundene Teil der Gehirnrinde verkümmert. Wenn ein Kind in der ersten Zeit seines Lebens keinen ausreichenden Körperkontakt oder nur mangelnde Pflege erhält, dürften diese Entbehrungen sich auf seine spätere Intelligenz tiefgreifender auswirken als jede formale Erziehung und Bildung. Erzieher sollten sich klarmachen, daß es nicht darauf ankommt, wie wir die Köpfe der Kinder mit Wissen füllen, sondern wie wir ihre Bedürfnisse erfüllen. Über die Frage des Körperkontakts liegen mittlerweile Tausende von Untersuchungen vor. Nachweislich sind »liebevoll« behandelte Ratten später ausgeglichener und weniger reizbar.**. Andererseits hat sich gezeigt, daß isolierte, ohne Körperkontakt lebende Ratten außerordentlich reizbar sind, wenn sie zum erstenmal in die »Gesellschaft« eingeführt werden. Wenn ihnen Chlorpromazin [Beruhigungsmittel] verabreicht wird, werden sie verträglicher.*** Um deutlich zu machen, wie wichtig Körperkontakt ist, möchte ich noch einige weitere Untersuchungen zitieren. Casler befaßte sich 1965 mit einer Gruppe von Heimkindern; über zehn Wochen hin gab er ihnen täglich eine zwanzig Minuten dauernde, körperlich stimulierende Behandlung.**** Bei anschließenden Tests stellte sich heraus, daß diese Kinder sozial angepaßter
waren als jene Kleinkinder, die nicht zusätzlich körperlich stimuliert worden waren. Die stimulierten Kleinkinder zeigten auch weit weniger Neigung, die
* J . T . T a p p u n d H . Ma r k o w itz , > I n f a n t H a n d lin g : E f f e c ts o n A v o id a n c e , L e a r n in g , B r a i n W e i g h t a n d C h o l i n e s t e r a s e A c t i v i t y < , i n : S c ie n c e , 1 4 0 , Ma i 1963, S. 486 f. * * L in d s le y v e r mu te t, d a ß f r ü h e D ep r iv a tio n d a s G le ic h g e w ic h t d e s W e c k z e n tr u ms im G e h ir n v e r ä n d e r t, j e n e s Z e n tr u ms , d a s d ie H ir n r in d e in Ric h tu n g s p e z if is c h e r A k tiv itä t h in o r g a n is ie r t. Mit g e r in g e r e r O r g a n is a tio n d e r H i r n r i n d e k o mmt e s s o mi t z u d if f u s e r e r , z u f ä l l i g e r R e i z b a r k e i t . B e i Menschen sprechen wir von »frei flottierender« Angst. Nach Lindsleys V e r mu t u n g i s t e i n w e n i g e r a u s g e b i l d e t e s u n d o r g a n i s i e r t e s G e h i r n a n f ä l l i g e r f ü r Ü b e r la s tu n g , s e lb s t b e i Re iz e n , d ie u n te r g e w ö h n lic h e n U ms tä n d e n n ic h t s c h ä d ig e n d w ä r e n . ( V g l. d ie A r b e it v o n D o n a ld L in d s le y ü b e r d ie F u n k tio n d e s r e tik u lä r e n A k tiv ie r u n g s s ys te ms im G e h ir n — N e u r o p s yc h ia tr ic Institute, UCLA.) * * * D a v i d S y mn e s v o m N a t i o n a l I n s t i t u t e o f M e n t a l H e a l t h h a t i n d e r T a t f e s t g e s t e l l t , d a ß i n I s o l i e r u n g a u f ge w a c h s e n e A f f e n e i n e n D e f e k t d e s r e tik u lä r e n A k tiv ie r u n g s s ys te ms h a b e n — d a ß e s c h r o n is c h ü b e r e r r e g t is t. E in A n z e ic h e n d a f ü r is t d e r Ma n g e l a n tie f e m ( w ir k ö n n e n h in z u f ü g e n »e r h o ls a me m«) , mit n ie d r ig e n H ir n s tr o mw e lle n e in h e r g e h e n d e n S c h la f . * * * * L . C a s l e r , > T h e E f f e c t s o f E xt r a T a c t i l e S t i mu l a t i o n o n a G r o u p o f I n s t i t u t i o - n a i i z e d I n f a n ts < , i n : G e n e tic P s y c h o lo g y M o n o g r a p h , 7 1 , 1 9 6 5 , S . 137-175.
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ihnen zugeführten Speisen wieder zu erbrechen. Eine für die Primärtheorie aufschlußreiche Untersuchung ist von Melzack und Scott durchgeführt worden.* Danach waren isoliert gehaltene Hunde nicht in der Lage, auf Schmerz normal zu reagieren. Die
gleiche Apathie hat Bowlby in seinen klassischen Untersuchungen an Heimkindern beschrieben.** Nach meiner These ist es außerordentlich schmerzerregend, wenn frühe Bedürfnisse über einen ungewöhnlich langen Zeitraum nicht befriedigt oder vernachlässigt werden; in solchen Fällen macht das Körpersystem aus Gründen des Selbstschutzes den Organismus unempfindlich gegen diesen Schmerz; dabei handelt es sich um einen mechanisch sich vollziehenden Vorgang. Es bedarf daher später einer erheblichen Menge an Stimulierung, um die Schutzbarriere zu durchdringen.*** Frühe Traumata können nicht nur die Empfindlichkeit für Schmerz dämpfen, sondern auch zu einer Form agitierten Verhaltens führen, das es dem Organismus nicht ermöglicht, längere Zeit Schmerz zu ertragen. Der Neurotiker hat das Bedürfnis, sich zum Schutz gegen den Schmerz immer mehr abzustumpfen. Es ist daher kein Wunder, daß Heimkinder den Anschein erwecken, als seien sie »tot«. Abschließend läßt sich sagen: die ständige Zunahme an Schmerz führt zu den meisten späteren Symptomen psychischer Störungen wie manische Erregung, katatone (bis zu völliger Lähmung gehende) Zustände und vom Druck des körperlichen Schmerzes verursachte Gedankenflucht. Der gleiche Druck äußert sich auch in Wahnvorstellungen und Halluzinationen – in einer Vorstellungsausweitung als Folge der Überschwemmung des Körpersystems mit Schmerz.
* R . M e l z a c k u n d W . R . T h o mp s o n , > T h e E f f e c t s o f E a r l y E x p e r i e n c e o n th e Re s p o n s e to P a in < , in : J o u r n a l o f Co m p a r a tiv e a n d P h y s io lo g ic a l P s y c h o lo g y , 5 0 , 1 9 5 7 , S . 1 5 5 - 1 6 1 . * * J . Bo w ib y, M a te r n a l Ca r e a n d M e n ta l H e a lth , W o r l d H e a l t h O r g a n iz a tio n Mo n o g r a p h S e r ie s , 2 , 1 9 5 1 .
* * * Ü b e r d ie s e E mp f in d u n g s lo s ig k e it s c h r e ib e n N e w to n u n d L e v in e : »D a d ie N e r v e n b a h n e n v o n d e r H a u t z u m Z e n tr a ln e r v e n s ys te m f r ü h e r z u f u n k tio n ie r e n s c h e in e n a ls a n d e r e s en s o r is c h e N e r v e n b a h n e n , a k tiv ie r t d ie S timu lie r u n g d e r H a u t e h e r a ls a n d e r e A r te n v o n S timu lie r u n g d a s K o o r d in a tio n s s ys te m ( f o r ma tio r e tic u la r is ) . « D a s h e iß t, d a ß g e r in g e r e S timu lie r u n g d ie T ä tig k e it d e s W e c k z e n tr u ms r e d u z ie r t. I c h f r a g e mic h , o b n ic h t d a s G e g e n te il d e r F a ll is t; d a ß n ä mlic h u n g e n ü g e n d e S timu lie r u n g e in e Ü b e r r e a k tio n d e s W e c k z e n tr u ms h e r v o r r u f t, u m a u f d ie s e W e is e d e n S c h me r z , d e s v e r n a c h lä s s ig te n Be d ü r f n is s e s a b z u m ild e r n . D a s G e h i r n w i r d in A la r mz u s ta n d v e r s e tz t, w e il d a s L e b e n b u c h s tä b lic h g e f ä h r d e t is t, w e n n d a s B e d ü r f n i s n ic h t b e f r i e d i g t w i r d . V g l . a u c h J . C . L i l l y , > M e n t a l E f f e c t s o f Re d u c tio n o f O r d in a r y L e v e ls o f P h ys ic a l S timu li o n I n ta c t, H e a lth y P e r s o n s < , i n : P s y c h i a t r i e R e s e a r c h R e p o r t s , 5 , 1 9 5 6 , S . 1 — 9 ; d ie o b e n a n g e s c h n i t t e n e F r a g e w i r d h ie r e i n g e h e n d b e h a n d e l t .
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Newton und Levine kommen nach Würdigung der großen Zahl von Untersuchungen über die Bedürfnisdeprivation zu dem Schluß: »Je höher die jeweilige Spezies auf der Evolutionsleiter steht, desto größer sind die vielfältigen Auswirkungen der Reizdeprivation.«* Das heißt, daß Menschen am stärksten unter frühen Versagungen zu leiden haben.
* Op. cit., S. 710
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9.
8 Die innere Umwelt
D ieses Kapitel ist möglicherweise schwer verständlich. Wer zu dieser Auffassung kommt, möge es überschlagen. Ich bin grundsätzlich der Ansicht, daß unser Körperinneres eine Art Milieu darstellt und daß diese »Umwelt« unsere Psyche genauso beeinflußt wie die äußeren Umstände. In unserem Körper herrscht ein empfindliches chemisches Gleichgewicht, dessen Aufrechterhaltung von gelungener psychischer Integration abhängt; dieses Gleichgewicht beeinflußt seinerseits unsere psychische Verfassung und unsere Verhaltensweisen. Es gibt eigentlich keinen Bereich, den man nur unter psychologischen Gesichtspunkten betrachten könnte. Bei der Untersuchung individuellen Verhaltens müssen wir psychophysiologisch vorgehen. Im Verlauf unseres Lebens auftretende körperliche und psychische Traumata beeinträchtigen das innere chemische Gleichgewicht, und diese Störung wiederum verändert unser psychisches Gleichgewicht. Je früher das Trauma auftritt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit eines dauernden chemischen Ungleichgewichts. Für gewöhnlich stellen wir uns das Körperinnere nicht als eine »Umwelt« vor. Doch die Vorgänge im Körperinnern übermitteln genauso wie äußere Ereignisse Signale an das Gehirn. Sensorische Rezeptoren in unserem Körper versorgen die Hirnzentren mit Informationen über das körperliche
Gleichgewicht, über die Körperstellung sowie über das Ausmaß und die Auftrittsstelle inneren Schmerzes. Körper und Gehirn bilden eine Einheit mit unauflösbaren Zwischenverbindungen. Das Gehirn ist auf richtige Informationen und auf richtige Körperfunktionen angewiesen, wenn seine Ingetrität nicht gestört werden soll. Im frühen Leben eintretende Veränderungen der inneren Umwelt können genauso langfristige Auswirkungen auf das Körpersystem haben wie von außen her erfahrene frühe Traumata. Bei jungen Tieren kann die Injektion von Sexualhormonen den Beginn der Pubertät beschleunigen. Bei neugeborenen Ratten führt die Verabreichung von Schilddrüsenhormon (Thyroxin) zu permanenter Ausschaltung der Schilddrüsenfunktion. In unserer Kindheit erfahrene psychische und körperliche Traumata können die innere Umwelt durcheinanderbringen und verzerren, indem sie zum Bei140
spiel die Schilddrüsenfunktionen beeinträchtigen. Ein Kind mit leichter Unterfunktion der Schilddrüse steht der Welt unter Umständen passiv, apathisch und lethargisch gegenüber und unterdrückt sein eigenes Selbst. Diese Einstellung wiederum kann die Schilddrüsenfunktion nachteilig beeinflussen, so daß ein Circulus vitiosus entsteht, bei dem das eine nicht die Ursache und das andere die Wirkung ist, sondern beide Ursache und Wirkung zugleich sind. Persönlichkeit und Körperfunktion verzahnen sich, werden eins, unter Umständen für das ganze Leben. Das Funktionieren des Gehirns hängt vom Hormonausstoß ab. Wenn man ganz jungen Ratten Schilddrüsenhormon verabreicht, wird die Gehirnentwicklung beschleunigt (früher eintretende Myelinisation). Sie öffnen ihre Augen früher als gewöhnlich und sind gegenüber ihrer Umgebung aufgeweckter als andere Ratten
in ihrem Alter. Diese Tieruntersuchungen sind deshalb von Bedeutung, weil sie erkennen lassen, daß frühe Erfahrungen (und innere Veränderungen sind Erfahrungen) zu tiefreichenden Dauerschäden führen können. Spätere Intelligenz- und Reifungsstörungen können das Ergebnis sehr früher unbeobachtbarer, ohne klinische Symptome verlaufender Beeinträchtigungen des Hormonausstoßes sein. Bei einigen unserer Patientinnen setzte die Menstruation erst ein, als sie fast zwanzig Jahre alt waren. Einige von uns behandelte Männer bekamen erst Bart- und Schamhaare, als sie bereits zwanzig und älter waren. Infolge von Primärtraumen, die unmerklich die Bildung von Wachstumshormonen beeinträchtigt hatten, waren viele unserer Patienten in ihrem Wachstum zurückgeblieben. (Diesen Punkt werde ich später ausführlich behandeln.) Levine schreibt über den Zusammenhang von Hormonen und Intelligenz: »Angesichts dieser Untersuchungsergebnisse wurde die Hypothese aufgestellt, daß infantile Stimulierung dem Organismus die Fähigkeit verleiht, die relevanten Aspekte der Umwelt genauer zu unterscheiden, einschließlich der Fähigkeit, auf Streß angemessen zu reagieren.«* Mit einem Wort, »realer« zu reagieren. Levine deutet damit an, daß der Hormonspiegel im Blutkreislauf unmittelbar auf die Gehirnentwicklung einwirkt. Nach Ansicht von Levine spielt dabei das Steroidhormon Adrenalin eine entscheidende Rolle: »Wir vermuten, daß dieser Unterschied (der Unterschied im Verhalten zwischen körperlich stimulierten und nichtstimulierten Tieren) die Funktion
* Op. cit., S. 49.
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bestimmter Wirkungsweisen des Steroidhormons Adrenalin [Nebennierenhormon] ist, das während sensitiver Perioden die Organisation des Zentralnervensystem permanent modifiziert (Hervorhebung durch den Verfasser).«* Nach meiner Auffassung beeinträchtigten alle kontinuierlichen und damit Gefühlsunterdrückung verursachenden Primärtraumata das Hormongleichgewicht, denn Hormone sind die biochemischen Vermittler von Gefühlen. Bei schweren Traumata dürfen wir durchaus hormonal bedingte spätere Erkrankungen erwarten, Krankheiten, die häufig als »psychosomatische« bezeichnet werden. Das gilt vor allem bei hereditärer Prädisposition für solche Leiden. Newton und Levine erklären zu den Experimenten, bei denen die innere Umwelt geändert wurde: »Diese durch sensorische Eingaben während solcher kritischer Perioden ausgelösten Ereignisse und ihre Auswirkungen dürften die neuronale [Nerven] Entwicklung zu Verbundmustern strukturieren, die relativ schwer umgebildet werden können, sobald sie erst einmal festgelegt sind.«** Kurz, wenn die Würfel gefallen sind, sind Änderungen äußerst schwierig. Nach Ansicht der beiden Wissenschaftler beeinflussen Änderungen im Körpersystem das Gehirn und führen zu neuen Verbindungsmustern, zu »Fehlverbindungen« im Sinne der Primärtheorie. Diese neuen Bahnungen haben zur Folge, daß das Gehirn die korrekten psychischen Verbindungen umgeht, vor allem in Belastungssituationen, und so kommt es zu falschen Wahrnehmungen, neurotischen Verzerrungen und zur Unfähigkeit, richtig zu begreifen und genau zu unterscheiden. Diese Fehlverbindungen beeinträchtigen nicht nur das Denken und Wahrnehmen. Sie stören auch die Hormonproduktion, so daß
entweder zuviel oder zuwenig Hormon abgerufen wird. So werden zum Beispiel bei verminderter Produktion von Steroidhormonen gleichzeitig das Denken und das Handeln beeinträchtigt. In einem solchen Fall kann das Kind sich sagen: »Es hat gar keinen Sinn, es zu versuchen«, wenn es einer frustrierenden Situation ausgesetzt ist oder auf einen übermäßig aggressiven und auf Rivalität erpichten Spielkameraden trifft. Es weicht dann dem Konkurrenzkampf aus, fühlt sich schon vorher geschlagen und entwickelt unter Umständen ein Minderwertigkeitsgefühl, weil »alle es besser können als ich«. Aufgrund von Traumen werden Gehirnbahnungen umgeleitet, es kommt zu »Einschleifungen«, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen,
* Op. cit., S. 51. * * O p . c it. , S . 2 6 6 .
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daß die umgeleitete Bahnung erneut eingeschlagen wird; infolge dessen neigen falsche Vorstellungen und Wahrnehmungen dazu, sich zu verfestigen. Das heißt, in einem solchen Fall ist die Gehirn-Struktur weniger verzweigt, als daß sie mit Belastungen fertig werden könnte. Der Reaktionsspielraum ist eng »begrenzt«. Der Betreffende wird in seinem Verhalten rigide, ist reizabhängig und reagiert auf ähnliche Situationen immer wieder in der gleichen Weise. Er besitzt ein geringeres Repertoire an Reaktionsalternativen. Auf das Körperliche bezogen, können wir sagen, das Kind hat weniger Möglichkeiten, die es abrufen kann. Das wird ganz deutlich, wenn wir Störungen betrachten, die das
Kind hindern, Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen, und bei denen aufgrund der durch ein frühes Trauma verursachten hohen Restspannung weite Bereiche des Denkens abgeschnitten sind. Dieses Spannungsniveau verhindert ruhiges und reflektives Denken; das Kind entwickelt vielleicht einen übermäßigen Bestätigungsdrang, befindet sich in ständiger Bewegung und ist kaum in der Lage, sich der Introspektion, der Selbstbeobachtung hinzugeben. Der Grund für diesen starken Bewegungsdrang ist möglicherweise kein schleichend um sich greifender Hirnschaden, sondern vielmehr ein frühes Trauma, der das Kind in chronische Spannung versetzt. Das Problem, um das es mir hier geht, läßt sich an den Untersuchungen von Diamond verdeutlichen. Diamond teilte Ratten in zwei Gruppen ein, von denen er eine in eine Umwelt setzte, die eine Vielfalt an Erfahrungsmöglichkeiten bot, während er der anderen Rattengruppe alle Stimulierungsmöglichkeiten entzog. Es zeigte sich, daß die an Erfahrungen reicheren Ratten einen starken kortikalen [Hirnrinden-] Blutstrom aufwiesen.* Der erhöhte Blutfluß stellt sicher, daß die Hirnrinde alle Nährsubstanzen erhält, die notwendig sind, wenn sie richtig funktionieren soll. Umgekehrt dürfen wir vermuten, daß die Hirnfunktionen beeinträchtigt werden, wenn angemessene Stimulierungen ausbleiben. Tiere in einer reizgesättigten Umgebung zeigen in Streßsituationen eine schnellere hormonale Reaktion. Sie sind in der Lage, auf Gefahr koordinierter und unverzüglich zu reagieren. Wenn wir überhaupt von »Ich-Stärke« sprechen wollen, dann sollten wir uns klarmachen, daß damit die Fähigkeit des gesamten Organismus gemeint ist, Belastungen zu ertragen und das Überleben zu sichern.
* M. C. D ia mo n d , D . K r e c h u n d M. R. Ro s e n z w e ig , > T h e E f f e c ts o f a n E n r ic h e d E n v ir o n me n t o n th e H is to lo g y o f th e Ra t Ce r e b r a l Co r te x < in : J o u r n a l o f Co m p a r a tiv e Ne u r o lo g y , 1 2 3 , 1 9 6 4 , S . 1 1 1 - 1 1 9 .
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Unter »Ich-Stärke« sollten wir nicht irgend etwas Vages wie »Verstandes-Stärke« verstehen. Hamnett hat in einer Untersuchung auf das Zusammenspiel von Drüsen und früher Stimulierung aufmerksam gemacht.* Er experimentierte mit zwei Gruppen von Ratten, denen er die Schilddrüse und die Nebenschilddrüse entfernte. Eine Gruppe wurde häufig gestreichelt und berührt, die andere nicht. Innerhalb von zwei Tagen starben fast 80 Prozent der nicht-gehätschelten Ratten. Von den häufig gestreichelten Tieren gingen nur 13 Prozent ein. Aus dieser Untersuchung darf man den Schluß ziehen, daß richtige Stimulierung zur rechten Zeit die Widerstandkraft gegen den Ausfall des Drüsensystems stärkt. Es scheint, daß der Körper fast jeder Unbill widerstehen kann, wenn nur seine Bedürfnisse befriedigt werden. Es dürfte auf der Hand liegen, daß Hormonausfälle nicht im luftleeren Raum auftreten. Für derartige Störungen sind zwar psychische Traumata verantwortlich, zumindest können sie dazu beitragen, doch wie weit ihre Auswirkungen gehen, hängt auch vom psychischen Zustand des Betroffenen ab. Primäre Befriedigung dürfte eine wesentliche Abwehrkraft selbst gegen angeborene Störungen im Hormonhaushalt darstellen. Über den Zusammenhang zwischen früher Bedürfnisversagung, traumatischen Belastungen und Wachstumsverzögerungen sind eine Reihe von Untersuchungen angestellt worden. 1947 wurden 100 für ihr Alter abnorm klein geratene Kinder untersucht. In der Hälfte der Fälle fand sich für diese Wachstumsverzögerung keine erkennbare körperliche Ursache. Doch viele dieser Kinder hatten
die erste Lebenszeit unter höchst widrigen Umständen verbracht; sie waren von einem oder beiden Elternteilen in starkem Maße abgelehnt worden. Daraus zog man den Schluß, daß die Kinder unter einem auf emotionalem Wege entstandenen Defekt der Hypophyse [Hirnanhang] litten. Eine Untersuchung an deutschen Waisenkindern erbrachte ähnliche Ergebnisse.** Kinder, für die eine freundliche Pflegerin sorgte, wuchsen besser als Kinder, die eine Pflegerin hatten, die auf strikte Disziplin hielt. Wir dürfen annehmen, daß die Hypophyse bei emotionalen Störungen eine entscheidende Rolle spielt und daß viele von uns aufgrund einer traumatisierenden Kindheit nicht ihre volle Größe erreicht haben. Primärtherapeutische Patienten zwischen 20 und 30 Jahren berichten uns, sie seien nach-
* F . S . H a mn e t t , > S t u d ie s i n t h e T h y r o id A p p a r a t u s < , i n : E n d o c r in o lo g y , 6 , 1922, S. 222-229. * * L . I . G a r d n e r , > D e p r iv a tio n D w a r f is m, in : S c i e n t i f i c A m e r i c a n, J u l i 1972.
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träglich um zweieinhalb bis dreieinhalb Zentimeter gewachsen. Dies läßt sich an rund einem Dutzend von uns behandelter Fälle nachweisen. Robert Blizzard kam bei seiner Forschungsarbeit zu den gleichen Ergebnissen.* Die im Gehirn gespeicherten schmerzlichen Erlebnisse können sich unter Umständen auf das Wachstumszentrum im Gehirn auswirken. Ich möchte noch einmal betonen, daß Flachbrüstigkeit und kleiner Körperwuchs an sich noch kein Unglück bedeuten, doch sie können auf schwerwiegende Blockierungen im endokrinen System hindeuten, die später zu katastrophalen Erkrankungen führen.
Vor kurzem ist ein Zusammenhang zwischen dem Ausstoß von Wachstumshormonen und der Art und Weise unseres Schlafens entdeckt worden. Untersuchungen an der University of Edinburgh haben ergeben, daß die Gesamtmenge der von Kindern in der Nacht abgesonderten Wachstumshormone größer ist als während des Tages. Bei Erwachsenen findet die Absonderung von Wachstumshormonen vorwiegend während der beiden ersten Schlafstunden statt. Wenn der Betreffende nicht einschlafen kann, werden keine Wachstumshormone abgesondert. Honda und seine Mitarbeiter sind er Ansicht, daß die Aktivität des Cortex cerebri [Hirnrinde] die Sekretion von Wachstumshormonen hemmt. Umgekehrt scheint tiefer erholsamer Schlaf die Absonderung von Wachstumshormonen zu fördern.** In diesem Zusammenhang sind wir nicht sicher, ob geistige Überaktivität, die keinen ausreichenden Schlaf gestattet, bei einem Kinde dazu beiträgt, sein Wachstum zu verlangsamen, doch wir halten dies nicht für unmöglich. Um es zu wiederholen: innere Spannung hält den Verstand, die geistige Tätigkeit nicht einfach in Gang, so daß kein Schlaf möglich ist; vielmehr beeinträchtigt dieselbe Spannung, welche die Geistestätigkeit antreibt, auch das endokrine System. Mehr noch, die Lage wird obendrein dadurch verkompliziert, daß
* Zu Robert Blizzards Untersuchungen siehe Der Urschrei, Frankfurt am Ma in 1 9 7 3 , S . 1 6 0 . P a tto n u n d G a r d n e r s in d d e r A u f f a s s u n g , e s mü s s e p h ys io lo g is c h e Ba h n u n g e n g e b e n , ü b e r d ie e mo tio n a le S tö r u n g e n E in f lu ß a u f d a s e n d o k r in e S ys te m n e h me n : »I mp u ls e v o n d e n o b e r e n G e h ir n z e n tr e n w a n d e r n a u f N e r v e n b a h n e n z u m H y p o t h a l a mu s u n d b e e i n f l u s s e n d a n n mi t t e l s e i n e s n e u r o h u mo r a le n Me c h a n is mu s d ie H yp o p h ys e . U n te r s u c h u n g e n ü b e r d ie v o m H yp o th a la mu s a b g e s o n d e r te n > A u s lö s ef a k to r e n < , d ie ih r e r s e its d e n H yp o p h ys e n v o r d e r la p p e n z u r S e k r e tio n v e r s c h ie d e n e r N e r v e n h o r mo n e
v e r a n la s s e n , h a b e n e r g e b e n , d a ß Z en tr e n im H yp o th a la mu s e in e n g r o ß e n E in f lu ß a u f d ie H ir n a n h a n g d r u s e a u s ü b e n . « ( S c i e n t i f i c A m e r i c a n , o p . c it, S . 7 9 ) . D ie V e r f a s s e r w e is e n d a r a u f h in , d a ß f a s t d a s g e s a mte Blu t, d a s z u r H y p o p h y s e s t r ö mt, z u n ä c h s t d e n M i t t el h ö c k e r d e s H y p o t h a l a mu s p a s s i e r t . * * S c i e n t i f i c A m e r i c a n, o p . c i t . , S . 8 1 .
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Geistestätigkeit ihrerseits die Hormonabsonderung stimuliert oder hemmt. Und somit kann ein Geburtstrauma vielerlei bewirken: Es hinterläßt im Kind eine hohe Restspannung, die seine Geistestätigkeit antreibt, und es beeinträchtigt die Funktionen des endokrinen Systems. Das ursprüngliche Trauma allein mag keine Veränderungen im Wachstumsprozeß herbeiführen, doch dieses Trauma im Verein mit schwerer primärer Deprivation (Mangel an Zärtlichkeit, Verständnis und Zuneigung) kann durchaus derartige Störungen nach sich ziehen. Wie ich bereits angedeutet habe, greifen Streß und Spannung in den tageszeitlichen Rhythmus der Hormonsekretion ein. Ein Neurotiker, der für gewöhnlich am Morgen eine erhöhte Menge an Steroidhormonen absondert, die ihn instand setzt, die Last des Tages zu ertragen, und dessen Sekretion am Abend absinkt, kann unter Umständen bis in die Nacht hinein eine gleichbleibend hohe Menge an Steroidhormonen absondern. Allein dieser Umschwung kann das Wachstum hemmen. Ärzte haben bereits seit langem beobachtet, daß Kinder, die über einen längeren Zeitraum hin Steroidhormone erhalten, in ihrem Wachstum zurückbleiben. Über diesen wachstumshemmenden Prozeß hinaus wird das Immunsystem angegriffen, mit dem Resultat, daß die Anfälligkeit des Kindes für bestimmte Krankheitsformen erhöht wird. Aus all diesen Erwägungen wird ersichtlich, wie kompliziert der Begriff »Persönlichkeit« ist. Ein Kleinkind, das sein Leben mit
einem hohen Steroidhormon-Spiegel beginnt, kann empfänglicher für Infektionen sein und sich folglich zu einem »kränkelnden« Kind entwickeln. Ein solches Kind stellt höhere Anforderungen als andere, mag daher für die Eltern eher eine Zumutung denn ein Liebesobjekt darstellen. Das Kind fühlt sich dann abgelehnt, steht unter höherer Belastung, wird krankheitsanfälliger, neigt zu Infektionskrankheiten, und damit gerät es in einen verhängnisvollen Kreislauf. Weitaus deutlicher können wir den Zusammenhang zwischen dem Zustand körperlicher Systeme und ausreichender oder nichtausreichender primärer Stimulierung nachweisen. Früher Körperkontakt fördert das Immunsystem. Durch körperliche Berührung stimulierte Ratten haben nach einer Immunisierung einen höheren Gehalt an Antikörpern im Blut als nicht-stimulierte Ratten. Inzwischen dürfte einleuchten, daß es sich bei dem Nervensystem um ein organisiertes, integriertes System handelt. Im Falle eines 146
Traumas ist das System nicht mehr zu einer reibungslosen Integrierung imstande; diese Beeinträchtigung kann weitreichende Folgen haben und unter anderem zu desorganisiertem Verhalten (Mangel an Koordination) und Denken führen. Mit einem frühen Trauma verbundene leichte Schwankungen in der Hormonsekretion können über Jahre hin folgenlos bleiben. Doch sie begründen eine Anfälligkeit für Krankheiten, so daß wir nach Jahren der Belastung organische Zusammenbrüche und auf hormonale Störungen zurückzuführende Krankheiten beobachten können. Die Vermeidung von Traumen wie Beschneidung in den ersten sechs bis neun Monaten – in einer Zeit also, in der weite
Bereiche des Gehirns sich entwickeln – ist nach meiner Ansicht von ganz entscheidender Bedeutung. In den ersten Lebensmonaten bilden sich zu viele Körperfunktionen aus, als daß plötzliche Wohnungs- und Zimmerwechsel, Neuanschaffungen von Kinderbettchen angebracht wären. Einige schmerzliche Erfahrungen wie geringfügige Operationen können besser ertragen und in das Körpersystem integriert werden, wenn die Fähigkeit vorhanden ist zu verstehen, was da vor sich geht. Wir können uns klarmachen, welch eine nachhaltige Wirkung selbst ein vergleichsweise harmloses Trauma in den ersten Lebensmonaten ausübt, wenn wir eine leichte Gehirnverletzung bei der Geburt mit einer ähnlich gelagerten Schädigung in der Adoleszenz vergleichen. Das Ausmaß an Verletzungen, das im Alter zwischen zehn und zwanzig die Denkfähigkeit nur geringfügig beeinträchtigen mag, kann während der Integrationsprozesse des Gehirns in der frühen Kindheit verheerende Folgen haben. Der plötzlich und ohne erkenntliche Ursache auftretende Tod von Kleinkindern (Tod im Kinderbett) läßt sich womöglich auf Panikgefühle zurückführen, von denen das Kind überschwemmt wird, wenn es mit einer völlig fremden Person allein gelassen oder in ein ihm unbekanntes Zimmer verlegt wird. Nach meiner Ansicht wirkt es auf ein Kind traumatisierend, wenn es von einem Babysitter die Flasche erhält, während die Eltern im Urlaub sind. Die Mutter muß während der entscheidenden ersten acht oder neun Monate ständig bei ihrem Kind sein. Darin besteht das Wesen der Mutterschaft, und Frauen sollten es sich zweimal überlegen, ehe sie diese Rolle übernehmen. Vom Büro eines Leichenbeschauers erhielt ich ein Informationsschreiben folgenden Inhalts: »Sicherlich wissen Sie, daß diese (kindlichen) Todesfälle bei augenscheinlich normalen, gesunden Klein-
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kindern aus jeder sozioökonomischen Schicht auftreten. Nach unseren Feststellungen treten diese Todesfälle nur auf, wenn das Kind allein gelassen wird (Hervorhebung durch den Verfasser), sei es für kurze Zeit, etwa wenn die Mutter ein Nickerchen macht, oder für die ganze Nacht. Unseres Wissens ist es in Gegenwart eines Elternteils noch nicht zu einem Tod im Kinderbett gekommen.« Es scheint mir auf der Hand zu liegen, daß das Kind von Angstgefühlen überflutet wird, wenn es allein gelassen wird; es kann gegen diese Gefühle nichts tun, außer sie über sich ergehen zu lassen, und da es sich gegen diesen Gefühlsansturm nicht verschließen kann, kann der Tod eintreten. Selbst wenn das Kind nicht sterben sollte, dürfte es klar sein, welch ein gravierendes Trauma es für das Kind bedeutet, sich selbst überlassen zu bleiben. Warum stirbt das eine Kind, ein anderes nicht? Es mag sein, daß mit dem Geburtstrauma der Grund für eine bestimmte Verletzlichkeit gelegt wird. Wie ich weiter oben bemerkt habe, wirkt sich Sauerstoffmangel bei der Geburt primär auf die Zellen des zum Gehirn gehörigen Hippocampus aus. Der Hippocampus seinerseits ist die für die Ausschaltung von Schmerz zuständige Vermittlungsstelle im Gehirn. So kann es durchaus sein, daß sich eine leichte Schädigung seiner Nervenzellen erst dann bemerkbar macht, wenn es zu einer Überlastung durch Panikgefühle kommt; in einem solchen Falle funktioniert der Hippocampus nicht so, wie es nötig wäre.
Der Hormonostat
Einige Forscher sind der Ansicht, das Gehirn verfüge über einen »Hormonostat«, der die Hormonzirkulation auf einem bestimmten Niveau hält.* Belastung verändert dieses Niveau und führt dazu, daß ständig zuviel oder zuwenig Hormon abgesondert wird. Der Hormonostat registriert zum Beispiel, ob der gegenwärtige Steroidhormon-Spiegel, sagen wir im Alter von sechs Jahren, dem bei der Geburt auf einer bestimmten Höhe festgelegten Niveau entspricht. Wenn der Hormonspiegel zu hoch ist, wird automatisch die Sekretion von ACTH-Hormon verringert, in ganz ähnlicher Weise, wie ein Thermostat in einer Wohnung die Wärme entsprechend der vorher gewählten Temperatur reguliert. Wenn das vorher festgelegte
* S e y mo u r L e v i n e , > A n E n d o c r i n e T h e o r y o f I n f a n t i l e S t i mu l a t i o n < i n : A . A mb r o s e , S tim u la tio n in E a r ly I n fa n c y , A c a d e mic P r e s s , N e w Y o r k 1 9 6 9 .
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Niveau des Steroidhormon-Spiegels zu hoch liegt, wenn folglich spätere Reaktionen auf Streßsituationen keinen angemessenen Bezugspunkt haben, dann kommt es zu einer chronischen Übersekretion von ACTH. (ACTH ist ein Streß-Hormon, das den Körper zur Mobilisierung befähigt, wenn es darum geht, sich in bedrohlichen Situationen zu behaupten.) Die davon betroffene Person mag dann in ihrer allgemeinen Verfassung als »überspannt« erscheinen. Häufig wird dafür ein genetischer Faktor verantwortlich gemacht, während es sich in Wirklichkeit um das Ergebnis eines frühen Traumas handelt. Eine große Zahl von Tierexperimenten scheint die Existenz eines solchen Hormonostat zu bestätigen. Bei Ratten, die in den ersten Lebenswochen nicht ausreichend körperlich stimuliert wurden, ist die Bandbreite der ACTH-Absonderung gering, im Gegensatz zu
häufig stimulierten Ratten, die einen größeren Sekretionsspielraum aufweisen. Abgeflachte Affekte (wie man sie bei schwer gestörten Menschen findet) scheinen nachgerade die Folge eines »abgeflachten« Hormonausstoßes zu sein. Das heißt nicht unbedingt, daß die allgemeine Hormonabsonderung gering ist, sondern vielmehr, daß der Körper nicht in der Lage zu sein scheint, auf emotional getönte Situationen in irgendeiner Weise flexibel zu reagieren, weil er bereits überreaktiv ist (nämlich auf ein frühes ungelöstes Trauma reagiert). Der Hormonostat macht sich noch auf andere Weise bemerkbar. Bei zu niedriger Einstellung besteht die Gefahr, daß der Organismus nicht genügend Energie erhält. In einem solchen Falle ist das allgemeine Triebniveau gering; wir haben dann die sogenannte »passive« Persönlichkeit vor uns. Dies ist eine Persönlichkeit, die sich nicht dazu aufraffen kann, irgend etwas zu tun. Sie kann sich innerlich nicht organisieren und in Bewegung treten. Ihre sexuelle Triebkraft ist gering, nicht nur infolge sexueller Hemmungen, sondern weil der Sexualtrieb auf gewisse Weise vom allgemeinen Energiepotential abhängig ist. Der Sexualtrieb ist nicht losgelöst von den allgemeinen Funktionen des Körpersystems. Der Gedanke ist nicht abwegig, daß die späteren Sexualfunktionen eines Menschen durch Ereignisse geprägt werden, die sich bei der Geburt abspielen. Bislang habe ich über den Hormonostat nur in allgemeinen Begriffen gesprochen. Die bisher vorliegenden Untersuchungen deuten darauf hin, daß der Hormonostat seinen Sitz in einer spezifi149
schen, uns als Hypothalamus bekannten Gehirnstruktur hat. Der Hypothalamus ist tief in das Gehirn eingebettet und fast
vollständig vom Limbischen System umgeben. Das Limbische System ist ein Ring von Nervenstrukturen, der unter anderem Urschmerz speichert und dämpft. Somit hat gespeicherter Schmerz fast unmittelbaren Zugang zum Hypothalamus, jener für die Regulierung des Hormonhaushalts entscheidenden Gehirnstruktur. Ein sich ständig erneuernder primärer Hirnstromkreis beeinflußt unmittelbar und kontinuierlich die Hormonsekretion und hat entweder Überstimulierung oder Insuffizienz zur Folge. Wir haben Beweise dafür, daß kleinere Bereiche des Hypothalamus ständig stimuliert werden können, ohne daß sie in eine refraktäre Phase eintreten (das heißt reizunempfindlich werden), wie das bei den meisten anderen Gehirnstrukturen der Fall ist. So kann es zum Beispiel vorkommen, daß die Sekretion bestimmter Magensäfte ständig stimuliert wird, was unter Umständen zu Magenleiden führt. Dennoch können ernsthafte Magenbeschwerden wie Geschwüre drei oder vier Jahrzehnte ausbleiben, weil ein Organ bisweilen erst nach ständigen schweren Attacken Ausfallerscheinungen zeigt. Was den Hypothalamus betrifft, so erscheint es wichtig, daß zwischen ihm und dem Kortex nur sehr wenige feste und direkte Nervenbahnen bestehen. Die von Hypothalamus ausgehenden Informationen werden vielmehr vom Limbischen System aufgefangen. Das heißt, das Körpersystem kann beständig hormonal stimuliert werden, ohne daß der denkende Teil des Gehirns, der Kortex, dessen gewahr würde; ja, selbst wenn er diese Stimulierung wahrnähme, hätte er keine Möglichkeit, den Hormonfluß zu unterbinden. Der Hypothalamus ist der für die Umwandlung von Gefühlen in körperliche Realitäten zentrale Gehirnbereich. Er ist der Vermittler zwischen Psyche und Körper. Seine Aufgabe ist die Regulierung vieler lebenswichtiger Systeme, einschließlich der Binnentemperatur des Körpers. Soweit wir wissen, ist der
Hypothalamus der einzige Teil des Nervensystems, der Hormone absondert. Er gibt die als »Auslöse-Faktoren« bezeichneten Hormone ab. Diese Hormone kontrollieren die Hormonostasis (das Hormongleichgewicht) des Körpers; man kann sie mithin zu Recht als Hormonostat bezeichnen. Aufgrund der Tatsache, daß der Hormonostat auf so komplizierte Weise an die Gefühlskreisläufe des Gehirns angeschlossen ist, bin ich der Auffassung, daß Kindheits-Traumata sein Regulations150
niveau dauerhaft verändern können. Die bei primärtherapeutisch behandelten Patienten anschließend immer wieder feststellbare Verringerung der Körperbinnentemperatur ist nur ein Hinweis dafür, daß es nach der Wiederbelebung und Auflösung von Kindheits-Traumata in einem entscheidenden Bereich zu einer Korrektur des Regulationsniveaus gekommen ist. Umgekehrt scheint es, daß die Körpertemperatur bei Neurotikern infolge von Urschmerz ständig erhöht ist und daß aufgrund dessen das Körpersystem höheren Anforderungen ausgesetzt ist. Das inzwischen vorliegende Beweismaterial berechtigt uns zu der Annahme, daß die von der Hypophyse (einer kleinen Ausbuchtung unterhalb des Hypothalamus) abgesonderten Wachstumshormone in erster Linie der Kontrolle des Hypothalamus unterliegen. Damit haben wir auch hier wieder eine Erklärung dafür, wie leicht das Wachstum durch Veränderungen des Regulationsniveaus in der ersten Lebensphase gehemmt werden kann. Und so beobachten wir denn auch bei primärtherapeutischen Patienten nach Behandlungsabschluß ein schwaches Gewebewachstum. Die Sekretion des Hypothalamus beeinflußt vor allem die Schilddrüse, die einen wichtigen Bestandteil des gesamten
hormonalen Systems bildet. Funktionsstörungen der Schilddrüse sind in der Bevölkerung weit verbreitet; sie sind mitverantwortlich für die Verminderung des Energiepotentials, von der ich weiter oben gesprochen habe, ferner für trockene Haut, für Veränderungen in der Haartextur sowie im allgemeinen Körperbild und, in besonders schweren Fällen, für Hirnschädigungen. Auch hier wieder stellen wir fest, daß viele primärtherapeutisch behandelte Patienten, die täglich vier bis fünf Gran Thyreoidin erhielten, um schwere Unterfunktionen der Schilddrüse auszugleichen, nach Abschluß der Behandlung nicht mehr auf solche stützenden Maßnahmen angewiesen sind; und medizinische Untersuchungen haben tatsächlich eine Änderung der Schilddrüsensekretion ergeben. Nach meiner Vermutung ist auch diese Änderung auf eine Korrektur des oben erwähnten Regulationsniveaus zurückzuführen.* Die Auslöse-Faktoren beeinflussen auch die Geschlechtsdrüsen und die Nebennieren. Wir dürfen annehmen, daß der im Limbischen System gespeicherte und aufgrund fehlenden Zugangs zur Groß-
* E i n e a u s g e z e i c h n e t e E r ö r t e r u n g d ie s e s Z u s a mme n h a n g s f i n d e t s i c h b e i R o g e r G u i l l e min u n d R o g e r B u r g u s , > T h e H o r mo n e s o f t h e H y p o t h a l a mu s < , in : S c i e n t i f i c A m e r i c a n , N o v e mb e r 1 9 7 2 .
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hirnrinde in Spannung verwandelte Urschmerz in den Hypothalamus zurückgeleitet und womöglich von dort an die Geschlechtsdrüsen weitergegeben wird und somit eine ständige sexuelle Stimulierung erzeugt. Der Neurotiker fühlt sich dann ständig »geil« und gibt sich entweder zwanghafter Masturbation oder sexueller Aktivität hin. Ausgelöst wird in diesem Falle die
Umwandlung von Spannungsschmerz in sexuelle Empfindungen. Umgekehrt kann eine Veränderung des Auslöse-Faktors die Sexualempfindungen hemmen. Es kann auch geschehen, daß die Schmerzenergie Zugang zum Appetitzentrum findet; dann neigt der Betreffende bei auftretender Spannung eher zu zwanghaftem Essen als zu sexueller Betätigung. Sobald das Regulationsniveau erst einmal dauerhaft verändert ist, verspürt der Betreffende in Spannungszuständen stets Hunger, ohne gewöhnlich den Grund zu kennen. Bei Funktionsstörungen der Nebenniere wird die Absonderung von Steroidhormonen ausgelöst (oder gehemmt). Bei den Steroidhormonen handelt es sich um Streßhormone, deren Funktion Hans Selye in einer Reihe von Büchern in bemerkenswerter Klarheit dargestellt hat. Die Absonderung von Steroidhormonen beeinflußt letztlich das Wachstum. Doch darüber hinaus wird auch die Struktur der Knochen in Mitleidenschaft gezogen (sie werden porös und bruchanfällig), es bilden sich Fettablagerungen mit Begleiterscheinungen wie aufgedunsene »Mondgesichter« und Buckel, der Gehalt an weißen Blutkörpern verändert sich, mit dem Ergebnis, daß die betroffene Person empfänglicher wird für Allergien wie für Infektionen, und schließlich gerät das Gleichgewicht an männlichen und weiblichen Hormonen durcheinander, eine Störung, die zu Erscheinungen wie übermäßigem Haarwuchs bei Frauen führt. Mangel an Steroidhormonen kann eine der Ursachen für die häufig mit Depressionen einhergehende Addisonsche Krankheit sein, wie umgekehrt bei einem Überschuß die Cushingsche Krankheit und nicht selten manische Zustände auftreten. Daran mag man die Wirkungsbreite von hormonostatischen Schwankungen ermessen. Es erscheint mithin fast als ein Wunder, daß häufig Jahre vergehen können, ehe Krankheiten wie Hypoglykämie [abnorm geringer Zuckergehalt des Blutes] und Diabetes aufbrechen. Urschmerzen verursachen nicht nur Veränderungen in Körperbau und -Struktur, sondern gleichzeitig auch die entsprechenden
psychischen Veränderungen. Mit anderen Worten, wer »nicht in Ordnung« oder verschroben aussieht, ist wahrscheinlich auch psychisch in einer ähnlichen Verfassung. 152
Damit nicht genug: der Hypothalamus hat auch entscheidenden Einfluß auf die Körperfunktionen der Mutter. So legt er die Milchmenge fest, die eine Mutter beim Stillen zur Verfügung hat; ferner hängt von ihm die Art und Weise der Menstruation ab. Nicht zuletzt spielt der Hypothalamus bei der Frage eine Rolle, ob eine Frau schwanger wird oder nicht. Für gewöhnlich macht ein Mensch mit erhöhtem hormonalen Regulationsniveau einen »überspannten« Eindruck. Wird seine starke innere Spannung aufgrund besonderer Lebensumstände (etwa mütterliche Verführungstendenzen - im Unterschied zur zwanghaften Überfütterung) in den sexuellen Bereich kanalisiert, dann entwickelt er später unter Umständen eine sexuelle Überaktivität. Das läßt sich damit erklären, daß die Sexualfunktionen einen Bestandteil der allgemeinen emotionalen Reaktionsbereitschaft des Organismus bilden und daß der Hormonostat die Stärke unserer Emotionen determiniert. Wir erkennen also, daß die Ursache für Hypersexualität nicht in einem reinen Sexualtrieb zu suchen ist, sondern daß wir es vielmehr mit inneren Spannungen zu tun haben, die über den Hypothalamus in sexuelle Kanäle abgeleitet werden. Sexualität bietet die Möglichkeit zur Spannungsabfuhr. Der Versuch, sexuelle Störungen wie Nymphomanie oder Satyriasis [abnormer Geschlechtstrieb beim Manne] lediglich als Abirrungen des Sexualtriebs zu behandeln, ist zum Scheitern verurteilt, weil derartige therapeutische Maßnahmen nur die Abfuhrwege angehen und nicht zu den Ursachen vorstoßen.
Ein Mensch mit hohem Regulationsniveau, dessen frühe familiäre Umwelt nur wenige Abfuhrmöglichkeiten gestattete (beispielsweise aufgrund der religiösen, rigiden Einstellung der Eltern), verharrt in seiner inneren »Überspanntheit« und entwickelt als Folge davon chronische Ängste. In einem solchen Falle besteht die erhöhte Wahrscheinlichkeit eines psychischen Zusammenbruchs zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr. Leute mit hohem Regulationsniveau vermitteln den Eindruck, als verfügten sie über große Energiereserven; und tatsächlich ist das auch der Fall. Sie schöpfen ihre Energien aus einem Körpersystem, das ständig auf hohen Touren läuft, um Schmerz abzuwehren. Einige richten ihre Energien auf sexuelle Aktivitäten, andere auf geschäftliche. Der »Überenergische« findet gewöhnlich einen Weg, seine Antriebskräfte abzuleiten. Nur wenn die Abfuhrwege blockiert werden, verwandelt sich die Spannung in den ihr zugrunde 153
.liegenden realen Schmerz. Solange noch Abfuhrwege offenstehen, kommt der Betreffende nicht auf den Gedanken, daß er unter dem Einfluß von Schmerz oder überhaupt unter Spannung steht — er fühlt sich lediglich energiegeladen. Zur Klärung der Frage des Energieniveaus können wir auf die Begriffe prototypisches Trauma und prototypische Abwehr zurückgreifen. Einer unserer Patienten machte kürzlich ein Geburtstrauma durch, bei dem er sich schließlich des Eindrucks nicht erwehren konnte, als würden gewaltige Energien in ihm freigesetzt. Anschließend verspürte er wirklich Energie. Das während des Urtraumas aufsteigende Gefühl, das er von da an ausagierte, läßt sich in die Worte fassen: »Da geschieht nun so viel mit mir, und ich kann mich nicht bewegen - ich kann nichts
dagegen tun.« Da er fast einen ganzen Tag lang im Geburtskanal festgehalten wurde, »gab« er schließlich »auf«, resignierte und setzte sich nicht länger zur Wehr. Später entwickelte er sich zu einer von Resignation und Lethargie erfüllten Persönlichkeit. In jeder Streßsituation fühlte er sich wie erstarrt. Das heißt, unter Belastung wurde die ursprüngliche und reale Bewegungslosigkeit, die seine Energien aufgezehrt hatte, wieder aktiviert, und dann hatte er das Gefühl, er sei unfähig, sich aufzuraffen, um irgend etwas zu unternehmen. Wenn er während eines Semesters für zwei Seminare schriftliche Arbeiten anfertigen sollte, konnte er sich nicht aufraffen, die Aufgaben in Angriff zu nehmen. Als er später Leihwagen-Schulden zu bezahlen hatte, war er nicht in der Lage. sich einen Job zu suchen oder .überhaupt irgend etwas zu tun. Er konnte sich »nicht bewegen«. In diesem Zusammenhang dürfen wir annehmen, daß das frühe Trauma seinen Hormonostat gravierend beeinträchtigte und ihn aller Kraft beraubte. Unter Streß griff er zu Rationalisierungen wie: »Es lohnt sich ja doch nicht.« Seine »passive« Persönlichkeit beruhte zumindest teilweise auf einem drastisch verminderten Energieniveau. Er hatte eine passive Einstellung zu seiner Umwelt, und die Umwelt wiederum verstärkte seine Passivität. Er traf nämlich auf Menschen, die ihn anleiteten und ihm sagten, was er tun solle, fand Leute, die ihm Ratschläge gaben und einen dominierenden Einfluß auf ihn hatten. Vereinfacht ausgedruckt, scheint es, als stelle das Leben nur eine Rationalisierung für unsere Konstitution dar. Die von dem Patienten zeit seines Lebens entwickelten Vorstellungen waren offensichtlich in starkem Maße von den Ereignissen zu Beginn seines Lebens abhängig. Vorstellungen und Begriffe sind weitge154
hend Abkömmlinge der gesamten Physiologie, und es hat wenig Sinn, die Vorstellungen eines Menschen über bestimmte Dinge
ändern zu wollen, solange man nicht gleichzeitig daran geht, seine gesamtkörperliche Verfassung zu ändern.* Wir wollen uns nun vor Augen führen, wie eine unter Streß eintretende spezifische Hormonstörung die von mir erwähnte Passivität beeinflußt und selbst von dieser Passivität beeinflußt wird. Das Gehirnhormon Norepinephrin scheint bei der Fähigkeit zu aktiven, mit Bestimmtheit geäußerten Reaktionen eine entscheidende Rolle zu spielen. Zu geringe Mengen dieses Hormons (»Neurotransmitter« genannt) können zu Passivität und in schweren Fällen zu Depressionen führen. Für Untersuchungszwecke hilflos gemachte und dann mit Stromstößen geschockte Tiere wiesen einen Abfall im Norepinephrin-Spiegel auf. Wenn sie Gelegenheit erhielten, sich auf der unter Strom stehenden Bodenplatte des Käfigs zu bewegen, stieg der Hormonspiegel an. Nach meiner Ansicht liegt in der Art des Geburtstraumas der Grund dafür, warum in einem Fall der Norepinephrin-Spiegel hoch, im anderen Fall niedrig ist; somit entscheidet das Geburtstrauma darüber, ob sich später Passivität oder Aktivität als charakteristische Reaktionsweisen herauskristallisieren. Wenn der Fötus über Stunden im Geburtskanal eingeklemmt ist, ohne jede Möglichkeit, sich zu bewegen, oder wenn er durch die Nabelschnur stranguliert wird, so daß Bewegung den Tod bedeutet, dann kommt es zu einer erhöhten Sekretion von Epinephrin. Dieser Neurotransmitter wirkt als Ausgleichssubstanz gegenüber dem Norepinephrin, das heißt, er mobilisiert im Körpersystem Energien für Flucht- oder Kampfreaktionen. Ein von Angst gelähmter, innerlich starrer, rigider Mensch hat einen erhöhten Norepinephrin-Spiegel. Ich vermute jedoch, daß Rigidität als ein Charakterzug mit Beginn des Lebens einsetzt, zu einem Zeitpunkt also, wo rigide und unbeweglich sein (im Geburtskanal) eine Frage von Leben oder Tod ist. Somit handelt es sich bei der später neurotisch werdenden Rigidität um eine frühe prototypische
Anpassungsreaktion. In diesem Sinne war zu einem früheren Zeitpunkt jedes unserer Persönlichkeitsmerkmale zur Erhaltung des Lebens und der körperlichen Integrität von
* A u s g e n a u d ie s e m G r u n d e h a b e n a u f »g e is tig e V e r ä n d e r u n g e n « a b z ie le n d e Konditionierungstechniken und therapeutische Methoden wie die realitätso r ie n tie r te T h e r a p ie k e in e n E r f o lg . Be i s o lc h e n Me th o d e n b le ib t d ie in d e n N e r v e n z e lle n d e s G e h ir n s g e s p e ic h e r te V e r g a n g e n h e it e r h a lte n .
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besonderer Bedeutung. Ein Beispiel für rigide Reaktionen verdanke ich einem Patienten, der während eines Vortrags merkte, daß er die Zeit überschritten hatte. Obwohl die Zuhörer ihn aufforderten, sich zu beeilen und vielleicht einige Vortragspassagen fortzulassen, sah er sich außerstande, seine Vortragsweise abzuändern. Nachdem er einmal seinen Weg eingeschlagen hatte, konnte er nicht von ihm abweichen, vor allem nicht in einer Belastungssituation wie bei einem Vortrag vor einem großen Zuhörerkreis. Der Grund für seine rigide Reaktion lag, wie er herausfand, in einem Geburtstrauma, bei dem er »keine Bewegung ausführen konnte«. Bei der Geburt hatte er einfach keine Reaktionsalternativen; die damalige Bewegungslosigkeit bildete in allen späteren Streßsituationen eine im Unbewußten fixierte Reaktionsweise. Die prototypische Abwehr ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil sich alle späteren Abwehrmechanismen darauf ablagern. Sie fixiert »Persönlichkeit«. Solange das prototypische Trauma und seine Abwehr nicht erneut erfahren und aufgelöst werden, sind tiefgreifende Persönlichkeitsänderungen ausgeschlossen. Daran haben wir zu denken, wenn wir über Persönlichkeitsänderungen sprechen. Zwar sind erhebliche Eingriffe in die Persönlichkeit möglich, doch tiefreichende Änderungen sind von prototypischen
Aufdeckungsprozessen abhängig. Das bedeutet, wenn wir Homosexualität, Asthma oder allgemeine Persönlichkeitsstarre vollständig heilen wollen, dann müssen wir zu dem ursprünglichen Fixierungspunkt zurückkehren, zu dem Urtrauma, das nicht unbedingt die Geburt sein muß; es kann durchaus ein später erlebtes Ereignis sein — zum Beispiel ein Erlebnis im Kinderbett. Bei einem Kind, das bei der Geburt zu kämpfen hat, um ins Freie zu gelangen, kann das Regulationsniveau für Epinephrin zu hoch liegen. Ein solches Kind mag dann chronisch »unter Dampf stehen«. Es wird unter Streß eher zu Handlungen als zum Nachdenken neigen. Sein charakteristisches Verhalten angesichts von Problemen wird eher im Angriff als im Nachdenken und Reflektieren bestehen. Seine Ängste wird es nicht allzu stark fühlen, weil es sie ständig »abarbeitet«. Aufgrund seines frühen Traumas (und entscheidender Lebensumstände) dürfte ihm später die Tätigkeit eines Fußballspielers eher zusagen als die eines Dichters. Denn für ein solches Kind ist auf einer unbewußten Gefühlsebene Angriff gleichbedeutend mit Leben, passives Nachdenken mit Tod. Kurz, sein Körpersystem wird (auf verschiedenen Ebenen, einschließlich der biochemischen) ständig angetrieben, das Urtrauma auf dem Wege des Angriffs auszulöschen. Wenn ein Kind bei der Geburt übermäßig aktiv war, wird es 156
im späteren Leben »überaktiv« sein; war es hingegen bei der Geburt zur Unbeweglichkeit verurteilt, dann wird es sich wahrscheinlich zu einem passiv-depressiven Erwachsenen entwickeln. Jede spätere Belastungssituation, sagen wir der Verlust des Ehepartners, wird die charakteristische Reaktion auslösen – entweder: »Was soll's?« oder:
»Ich werde dafür sorgen, daß du bei mir bleibst, ich werde es nicht zulassen, daß du mich verläßt.« Der Teufelskreis einer solchen Entwicklung besteht darin, daß der einmal »eingestellte« Hormonostat eine Persönlichkeit hervorbringt, die ihrerseits dann die hormonalen Komplikationen verstärken. Wir haben es hier mit einer Rückkoppelung zu tun. Nach meiner Überzeugung können therapeutische Urerlebnisse diese in sich geschlossenen Systeme aufbrechen, denn dann wird das ihnen zugrunde liegende Trauma wiedererlebt und aufgelöst. Was uns fehlt, sind Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen von Geburtstraumen und späteren Persönlichkeitstypen aufhellen. Doch solche Untersuchungen sollten sich nicht nur mit Persönlichkeitstypen befassen, sondern darüber hinaus zu klären versuchen, welche spätere Krankheiten mit welchen spezifischen Veränderungen im Hormonhaushalt bei der Geburt in Verbindung stehen. Neigt beispielsweise der Überaktive mit höherer Wahrscheinlichkeit zu übermäßiger Sekretion und ist er deshalb anfällig für Magengeschwüre? Ich habe an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß bewegungsunfähig gemachte, unter Streß stehende Tiere tumoranfälliger sind; uns stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, in welcher Beziehung diese Tatsachen zur menschlichen Tumorbildung stehen. Mit anderen Worten: Ist Tumoranfälligkeit auf das Geburtstrauma zurückzuführen? Ich würde sagen, dies trifft in vielen Fällen zu, bei denen sich ein hoher, das normale Maß weit übersteigender Gehalt an Norepinephrin nachweisen läßt. In solchen Tumoren findet sich eine »Massenansammlung« von Norepinephrin, die das Körpersystem aus irgendeinem Grund nicht auflösen und richtig verwerten kann.* Norepinephrin ist in erster Linie ein Gefäßverenger. Es verursacht durch Verengung der Blutgefäße einen erhöhten Blutdruck. Warum werden die Blutgefäße chronisch verengt? Ein Grund liegt sicherlich darin, daß wir uns dadurch einer
Bedrohung entziehen wollen. Urschmerz ist eine ständige Gefahrenquelle, mit der wir uns
* E i n e t e c h n i s c h e E r ö rt e r u n g d i e s e r Z u s a mme n h ä n g e g e b e n S t a n l e y G i t l o w e t a l . , > D i a g n o s i s o f N e u r o b l a s t o ma b y Q u a l i t a t i v e a n d Q u a n t i t a t i v e D e t e r mi n a t i o n o f C a t e c h o la mi n e M e t a b o l i t e s i n U r i n e < , i n : C a n c e r , B d . 2 5 , Nr. 6, Juni 1970.
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unablässig auseinandersetzen müssen. Die Absonderung von Norepinephrin schränkt die Blutzufuhr ein und überläßt damit den größten Teil des Blutes dem Gehirn, das einen Ausweg aus Problemen suchen und Lösungen finden muß. Norepinephrin verhindert ferner, daß der Körper in einen Schockzustand gerät, was mit Sicherheit eintreten würde, wenn alle Urschmerzen plötzlich in das Körpersystem fluteten. Das gilt besonders für eine traumatische Geburt, wenn das Kind etwa stranguliert wird und keine Möglichkeit für Kampf oder Flucht hat. Dann muß etwas geschehen, damit das Kind am Leben bleibt und seine Funktionen aufrechterhalten kann. Diese Aufgabe übernimmt vor allem das Norepinephrin. Wenn wir uns klarmachen, daß ein erhöhter NorepinephrinSpiegel die Blutzufuhr beeinträchtigt, dann verstehen wir auch, wie spätere Hypertonie [krankhaft erhöhter Blutdruck] entsteht. Natürlich spielen auch spätere Belastungen bei der Symptombildung eine Rolle. Wenn das Kind in einem Getto lebt, wenn es schwarz und arm ist, eine Schule besucht, wo Gefahren und Kämpfe an der Tagesordnung sind, dann wird es aufgrund dieser zusätzlichen Belastungen vermutlich früher unter Hypertonie leiden, als es sonst der Fall wäre. Wenn es in einer angenehmen, freundlichen Atmosphäre lebt, dürfte es länger
durchhalten, mag sein vier Jahrzehnte oder noch mehr.* Ich behaupte, daß die Vernachlässigung entscheidender psychischer Faktoren (mithin biochemischer Faktoren) mit ein Grund dafür ist, daß die angestrengte Suche vieler Wissenschaftler nach den Ursachen bösartiger Tumoren bislang ergebnislos verlaufen ist. Es ist kein Zufall, daß früh in Isolierung gehaltene Ratten (obwohl in diesem Zusammenhang niemals erklärt wird, daß »Isolierung« das Fehlen einer Mutter bedeutet) anfälliger für Hypertonie sind und, noch wichtiger, einen höheren Gehalt an Norepinephrin im Limbischen System (wo nach meiner Meinung die Urschmerzen gespeichert werden) aufweisen. Der entscheidende Punkt ist, daß nicht ein hoher NorepinephrinGehalt all die genannten Krankheiten verursacht, sondern vielmehr eine Anhäufung ungelöster Gefühle, die von gewissen chemischen Substanzen vermittelt werden. Diese Gefühle und nicht auftretende chemische Veränderungen sind der Untersuchungsgegenstand. Schließlich finden die chemischen Veränderungen im Innern von Menschen statt.
* F ü r e in e te c h n is c h e E r ö r te r u n g s ie h e M. Me n d lo w itz e t a l. , > C a t e c h o la mi n e M e t a b o l i s m i n E s s e n t i a l H y p e r t e n s i o n < , i n : A m e r ic a n H e a r t J o u r n a l, Bd . 7 9 , N r . 3 Mä r z 1 9 7 0 S . 4 0 1 - 4 0 7 .
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Was ich damit sagen will: Nicht der »Persönlichkeitstyp« legt fest, ob jemand unter Magengeschwüren oder Asthma leiden wird, sondern vielmehr spezifische, durch ein frühes Trauma ausgelöste Veränderungen in der Biochemie, die sowohl einen spezifischen Persönlichkeitstyp hervorbringen wie auch eine damit in Verbindung stehende Hormonstörung verursachen.
Daher liegt auf der Hand, daß jede Psychotherapie, die tiefreichende Persönlichkeitsänderungen erzielen will, eine Veränderung des basalen endokrinen Systems anstreben muß. Anderenfalls bringen wir einen »Überaktiven« lediglich dazu, seine Energien in ein Verhalten zu kanalisieren, das von einem Psychologen oder Psychiater für angemessen erachtet wird. Der Betreffende wäre weiterhin eine überaktive, ständig »auf dem Sprung befindliche« Persönlichkeit. Sicherlich wird nicht nur das Gehirn durch frühe traumatische Erfahrungen beeinträchtigt. Veränderungen im Hormonhaushalt beeinflussen das Tempo und das Wesen der psychischen Entwicklung. Bei Neurotikern finden wir häufig auch ein neurotisches »Aussehen«. Einzelne Teile ihres Körpers sind auf die eine oder andere Weise entweder über- oder unterentwickelt. Auffällig sind Erscheinungen wie ein zu kleiner Rumpf, zu kurze Beine, ein aufgedunsenes Gesicht, gehemmtes Wachstum usw. Umgekehrt sehen wohlgeratene Kinder auch wohlgeraten aus. Ihre Entwicklung verlief einheitlich; ihre Körper sehen entsprechend harmonisch aus. Über diese Zusammenhänge liegt uns bislang noch kein ausreichendes Datenmaterial vor. Doch die von uns primärtherapeutisch behandelten Mädchen, die inzwischen die Pubertät erreicht haben, sind hübsche Erscheinungen mit wohlgeformten Körpern und Brüsten. Sie wirken nicht dürr, blutleer oder hölzern. Es kann uns nicht überraschen, daß Neurotiker auch ein neurotisches Aussehen haben können. Die Körperform verändert sich kontinuierlich über Jahre hin. Einige unserer Körperteile entwickeln sich schneller als andere. Beine und Arme wachsen beispielsweise schneller als der Rumpf. Der Kopf sowie Hände und Füße entwickeln sich schneller als andere Körperteile. Diese körperlichen Veränderungen werden von einem genetisch
kodierten Hormonsystem gesteuert. Wenn im Verlauf kritischer Phasen, in denen spezifische, das Wachstum steuernde Hormone abgesondert werden, gravierende Traumata auftreten, einerlei ob körperliche oder psychische, 159
dann kommt es zu einer Beeinträchtigung der körperlichen Integration. Freilich, eine Verzögerung der Wadenbildung oder eine gestörte Entwicklung des Rumpfes können sich auf subtile Weise vollziehen. Als Endergebnis erscheint die betreffende Person als körperlich desintegriert. Ihr Körper kann klein bleiben, das Wachstum in der Adoleszenz kann viel zu spät einsetzen, als daß das tatsächliche Wachstumspotential jemals völlig ausgeschöpft werden könnte. Wenn Psychologen von »Persönlichkeitswachstum« sprechen, dann sollten sie sich ins Gedächtnis rufen, daß Wachstum nicht nur den Verstand oder die Psyche betrifft.* In einer anderen Arbeit (Der Urschrei, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1973) habe ich geschrieben, man könne sich eine Neurose so vorstellen, als habe jemand seinen inneren Motor angestellt und sei bis an sein Lebensende nicht mehr in der Lage, ihn abzustellen. Wir erkennen allmählich, daß dieser Vergleich sich auch biochemisch halten läßt, wenn wir uns nämlich vergegenwärtigen, daß der Hormonostat eines Menschen zu hoch eingestellt sein und das Regulationsniveau durch keinen Willensakt gesenkt werden kann. Es scheint jedoch, daß therapeutische Urerlebnisse das Regulationsniveau senken können, Urerlebnisse, die das Trauma schließlich beseitigen, das heißt die Hauptursache für das ständige Überreagieren des Körpersystems.
Ich glaube, wenn der Hormonostat zu hoch eingestellt wird, dann deshalb, weil er ständig auf eine unbewältigte Bedrohung oder ein nicht verarbeitetes Ereignis reagieren muß. In einem solchen Falle wird das Körpersystem ständig angetrieben, um Schmerz abzuwehren, und befindet sich mithin in einem chronischen Zustand der Überreaktion. Man kann zwar das Verhalten, das auf dem bei der Geburt festgelegten Triebniveau basiert, »konditionieren« (durch Verhaltenstherapie), doch man kann das Gehirn und das Triebniveau selbst nicht konditionieren. Das heißt, man kann ein delinquentes, ausagierendes, hyperaktives Kind umerziehen, so daß es sich besser verhält und seine Triebe in Schularbeit kanalisiert, doch man kann das auf eine bestimmte Höhe festgelegte Triebniveau nicht ändern. Somit hat besseres Verhalten seinen Preis, etwa Bettnässen, Alpträume und dergleichen. Levine hat mit seinen Untersuchungen unter anderem den wichtigen Nachweis erbracht, daß der Organismus weiblicher Tiere, denen in
* E i n e a u s g e z e i c h n e t e u n d a us f ü h r l i c h e B e s c h r e i b u n g a l l e r W a c h s tu ms p r o z e s s e f in d e t s ic h b e i M. T a n n e r , > P h ys ic a l G r o w th < , in P a u l Mü s s e n ( H r s g . ) , M a n u a l o f Ch ild P s y c h o lo g y , 3 . A u f l. , W ile y a n d S o n s , New York 1970.
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der ersten Lebenszeit die Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse vorenthalten wurde, einen gestörten Hormonhaushalt hat, und daß diese Tiere sich zu »bösen« Müttern entwickeln – zu neurotischen, indifferenten Müttern, die unfähig sind, ihren Jungen ausreichend Milch zu geben. Das heute vorliegende Beweismaterial berechtigt uns zu der Annahme, daß nicht die
ersten sechs Lebensjahre, wie Freud meinte, sondern die ersten sechs Monate für die kindliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind. Primäre Deprivation während dieser Lebensspanne bestimmt die künftige Entwicklungsrichtung – verhaltensmäßig, physiologisch und biochemisch. Die ersten sechs Monate sind für unser Leben am wichtigsten, und wenn spätere Schäden verhindert werden sollen, muß den Kindern während dieser Phase besonders große Aufmerksamkeit gewidmet werden. Keine Mutter sollte unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Wenn sie ein Kind hat, sollte sie sich darauf einstellen, Mutter zu sein und nicht eine Frau, die nebenbei noch arbeitet. Um normal zu sein, ganz man selbst zu sein, bedarf es eines Gehirns, das frei ist von Störungen, frei von gefühlsunterdrückender Zensur der Großhirnrinde. Unter einem störungsfreien Gehirn verstehen wir ein Gehirn, dem ein Maximum an physischer Entwicklung ermöglicht wird.* Dann erst besteht Lernen in der Freiheit, nach eigenem Zeitmaß zu wachsen und sich zu entwickeln. Mechanische Übung und Dressur lassen diese Freiheit nur verkümmern. Eine freie, an Erfahrungsmöglichkeiten reiche Umwelt trägt unmittelbar zur Verfeinerung der Gehirnbahnungen und damit zu mehr Einsicht und Verstehen bei. Ich möchte hinzufügen, daß dazu auch das Verstehen seiner selbst, die Selbsterkenntnis gehört, so daß wir sagen können, daß Selbsterkenntnis im wahrsten Sinne des Wortes das Ergebnis eines vollentwickelten, von Störungen freien Gehirns ist. Früher stand ich unter dem Eindruck, es sei ein Glück, daß Menschen, die in einer gräßlichen Umwelt aufwachsen, häufig ein zu »dummes« Gehirn haben, um verstehen zu können, was um sie vor sich geht; doch heute scheint es mir, daß »Dummheit« buchstäblich das neurologische Ergebnis einer solchen Umwelt
darstellt. Bei zu großem Schmerz versetzt die Natur das Gehirn gnädig in einen Zustand der Betäubung.
* D . K r e c h , M. R. Ro s e n z w e ig u n d I . L . Be n n e tt, > Re la tio n b e tw e e n Br a in Ch e mis tr y a n d P r o b le m S o lv in g , a mo n g Ra ts in E n r ic h e d a n d I mp o v e r is h e d I n v ir o n me n ts < , in : J o u r n a l o f Co m p a r a tiv e a n d P h y s io lo g ic a l P s y c h o lo g y, 55, 1962, S. 801-807.
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Wenn wir wollen, daß unsere Kinder wahrhaft aufgeweckt und aufnahmefähig werden und sich selbst und die anderen verstehen, so daß sie sich durch die Welt nicht widerstandslos manipulieren lassen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sie bewußte Kinder, primär bewußte Kinder werden. Dieses Bewußtsein wird ihnen von einem Gehirn mit reibungslosen Verbindungen zwischen allen seinen Bereichen vermittelt. Falsches Bewußtsein entsteht in einem Gehirn, das nicht als harmonische Einheit funktioniert, sondern bei dem ein Teil ständig damit beschäftigt ist, einen anderen auszuschalten. Aus diesem Grunde können Einsicht und Aufnahmefähigkeit nicht eigentlich gelehrt werden. Sie sind Funktionen eines normalen Gehirns.
9 Langfristige Auswirkungen früher Erfahrung
V iele Experimente belegen die langfristigen Auswirkungen früher traumatischer Erfahrungen. So haben zum Beispiel Melzack und Thompson nachgewiesen, daß Hunde, die in den ersten Lebenswochen Restriktionen ausgesetzt werden, später nicht in der Lage sind, sich gegen andere Hunde zu behaupten, wenn es etwa darum geht, Knochen in ihren Besitz zu bringen. Bei Auseinandersetzungen erwiesen sich die traumatisierten Hunde als »Verlierer«. Sie erweckten den Anschein ständiger Verwirrung und litten unter »diffuser emotionaler Erregung«.* Sie waren nervös. Andere physiologische Untersuchungen über die Auswirkungen von Restriktionen (häufig als »sensorische Deprivation« bezeichnet) lassen erkennen, daß bei Deprivationen in einem Sinnesbereich die entsprechenden Gehirnareale in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden. So hemmt zum Beispiel der Entzug von Licht und Geräuschen die Entwicklung der visuellen und mit dem Gehörsinn verbundenen Hirnpartien.** Dabei wird nicht nur das Gehirn geschädigt, sondern das Sinnesorgan selbst. Riessen hat in Experimenten festgestellt, daß bei visuell deprivierten Affen das Augengewebe in Mitleidenschaft gezogen wird. Ich möchte keineswegs den Eindruck erwecken, als ließen sich Symptome in direkter Linie auf eine Ursache zurückführen, sagen wir das Bettnässen auf die Sauberkeitsdressur. In der Wachstumsperiode geschieht so viel mit uns, daß es schwierig ist, eine Episode als ausschließlichen Faktor bei der Entstehung von Störungen herauszustellen. Wir können den Zusammenhang zwischen Symptomen und ihren Ursprüngen nur aufgrund von Gefühlen verstehen. Denn Gefühl verbindet auch die entlegensten und unterschiedlichsten Ereignisse im menschlichen Leben. So konnte einer unserer Patienten sich nicht auf seine Schulaufgaben
konzentrieren. Dann hatte er ein Urerlebnis, das um den Wunsch kreiste: »Mammi, laß mich nach draußen gehen und mit den anderen Jungen spielen.« Dieses
* R . M e l z a c k u n d W . R . T h o mp s o n , > Ef f e c t s o f E a r l y E x p e r i e n c e o n S o c i a l Be h a v io n , in : Ca n a d ia n J o u r n a l o f P s y c h o lo g y , 1 0 , 1 9 5 6 , S . 8 2 - 9 0 . * * E . G a u r o n u n d W . C. Be c k e r , > T h e E f f e c ts o f E a r ly S e n s o r y D e p r iv a tio n o n A d u l t R a t B e h a v i o r u n d e r C o mp e t i t i o n S t r e ß < , i n : J o u r n a l o f Co m p a r a tiv e P h y s io lo g ic a l P s y c h o lo g y , 5 2 , 1 9 5 9 , S . 6 8 9 - 6 9 3 .
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Urerlebnis beseitigte seine Lesestörungen, ohne daß das Problem selbst zur Sprache gekommen wäre. Wie war das möglich? Der Patient hatte als Junge immer erst seine Hausaufgaben erledigen müssen, ehe er sich erholen und spielen konnte. Sein ganzes Körpersystem sperrte sich dagegen, irgend etwas zuerst zu tun. Das Lesen bedeutete für ihn eine Aufgabe, gegen die er sich zur Wehr setzen mußte. Dieser Widerstand war ihm nicht bewußt; er hatte vielmehr jedesmal, wenn er sich hinsetzte, um zu lesen, das Gefühl, sein Verstand »wanderte«. Der Widerwille gegen das Lesen drückte den Gedanken aus: »Ich möchte frei sein.« Als er das frühe unbewältigte Trauma der ständigen Beschränkung auf die elterliche Wohnung wiedererlebt hatte, war er in der Lage, sich geistig wirklich frei zu fühlen. Dann erst konnte er sich in innerer Entspannung auf das Lernen konzentrieren, ohne weiterhin das nagende Zwangsgefühl zu verspüren, sich nach der Lektüre von zwei Absätzen eines Buches seinen Phantasien hinzugeben. Weder erzieherische Maßnahmen, gutes Zureden noch Drohungen konnten seinen Lesewiderstand aufheben; erst als die unterschwellige Gefühlsdynamik geklärt war, löste sich auch sein Widerwille gegen das Lesen auf. Der Zusammenhang zwischen der Lektüre eines Buches und dem Wunsch, nach
draußen zu gehen und zu spielen, war tatsächlich undurchsichtig; erst das Gefühl gab dem psychischen Mechanismus einen Sinn. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß mit dem Leben im Uterus unsere Einstellung zur Welt sich zu bilden beginnt. Bereits im Mutterleib sind wir aufnehmende, wahrnehmende Lebewesen, und wenn der Mutterleib ein angenehmer Aufenthaltsort war, dann haben wir unter Umständen nach der Geburt von Anfang an eine positive Lebenseinstellung. Wenn der Aufenthalt im Mutterleib unangenehm war, wenn die Mutter unter chronischen inneren Spannungen litt, einen schnellen oder unregelmäßigen Herzschlag hatte, zu abrupten Bewegungen neigte, rauchte, Alkohol trank und Rauschmittel nahm, dann bildet sich bereits im Fötus die unbewußte Einstellung heraus, Welt und Leben seien unsichere Angelegenheiten, denen man nicht trauen könne. Diese Erfahrung in utero sowie ein schwieriger Geburtsprozeß und falsche Behandlung in den ersten Lebensmonaten verfestigen eine rudimentäre Einstellung gegenüber dem Leben, die ihren Anfang im Mutterleib nahm. Die anfängliche Einstellung wird später in begriffliche Vorstellungen übersetzt, sobald das Kind dazu in der Lage ist; sie kleiden sich in 164
Worte wie: »Man kann niemandem trauen. Die Welt wird von Gemeinheit beherrscht.« All diese sogenannten paranoiden Gedanken haben einen realen Grund — in der realen Erfahrung des Kindes während seines uterinen Lebens. Im Mutterleib »prüft« der Fötus seine Welt nicht mit Augen und Ohren, sondern mit seinem Berührungssinn. Erst später bedient er sich zur Prüfung auch seiner anderen Sinne. Bis dahin vermag er zwischen den Sinneseindrücken nicht zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß es sich beim Fötus um einen
unterschiedslos Sinneseindrücke wahrnehmenden Organismus handelt, bei dem Traumata die gleiche An von sensorischer Überlastung hervorrufen können, wie sie mit ähnlichem Ergebnis nach der Geburt auftreten kann, mit dem Ergebnis nämlich, daß die Sinneswahrnehmung getrübt wird. Wir dürfen annehmen, daß der Fötus aufgrund seines noch nicht ausgebildeten neurologischen Apparats noch empfindlicher gegen sensorische Überlastung ist. Sensorische Überlastung vor und unmittelbar nach der Geburt kann zu Veränderungen im Gehirn führen und damit spezifische Fähigkeiten beeinträchtigen. So können die mechanischen Fähigkeiten des Kindes später unzureichend sein. Es mag zum Beispiel unfähig sein, bestimmte Zusammenhänge zu erkennen, unfähig, sich die Beziehung zwischen einzelnen Möbelstücken in einem Zimmer zu veranschaulichen oder das Ineinandergreifen einzelner Geräteteile zu begreifen. Dieses Unvermögen kann das Ergebnis sehr früher, vor der Geburt liegender Erfahrungen sein und nicht so sehr das Ergebnis angeborener Schwächen, wie wir früher geglaubt haben. Natürlich sollten wir den ungeheuren Einfluß von Erfahrungen nach der Geburt nicht übersehen. Wenn Eltern zum Beispiel ihrem Kind nicht gestatten, Dinge zu berühren und zu erforschen, dann kommen unter Umständen seine mechanischen Fähigkeiten nicht zur vollen Entfaltung. Das heißt, es wird nicht in der Lage sein, seine Umwelt körperlich zu erfahren, eine Erfahrung, die für eine körperlichmechanische Fähigkeit von wesentlicher Bedeutung ist. Wird das Kind etwa im Kinderwagen zur Untätigkeit, zur Passivität gezwungen, dann stumpft seine Wahrnehmungsfähigkeit ab, weil es einfach nicht genügend Gelegenheit erhält, seine Umwelt körperlich zu erkunden. Das Kind ist dann später insgesamt weniger aufgeschlossen für Wahrnehmungen. Aufgrund seines Neugierund Erkundungsverhaltens in den ersten Lebensmonaten gewinnt das Kind richtige Raumvorstellungen.
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Ein Kind, dem nicht erlaubt wird, seine Körpersinne voll auszuspielen, kann sich genötigt fühlen, seine Aufmerksamkeit abstraktem Denken zuzuwenden, das heißt, sich zu einem Menschen zu entwickeln, für den Denken und begriffliches Vorstellen eine größere Rolle spielen als körperliche Bewegung. Aus dem Kind mag ein Intellektueller mit einer ausgezeichneten Fähigkeit zu abstraktem Denken und eingeschränkter körperlicher Bewegungsfähigkeit werden. Ein Grund dafür, daß Intellektuelle häufig neurotisch sind, besteht in dem Umstand, daß solche Menschen in der Kindheit von sich selbst abstrahiert, sich selbst entfremdet worden sind. Der entscheidende Punkt ist jedoch, daß ein Kind, dem die volle Entfaltung seiner Körpersinne in den ersten Lebensmonaten versagt wird, zu einem Denk- und Daseinsstil gezwungen wird, der sein ganzes künftiges Leben bestimmt. Es scheint, daß ein guter Lebensstart dazu befähigt, jeder späteren Belastung zu widerstehen. Ein schlechter Lebensanfang führt mit Sicherheit zu größeren Problemen in der späteren Lebenszeit. Wichtiger noch, ein guter Lebensbeginn kann zugleich ein gutes Lebensende bedeuten, zumindest ein nicht vorzeitig eintretendes Ende. William Berkowitz kommt aufgrund seiner Tierexperimente zu der Schlußfolgerung, daß ausreichend stimulierte Tiere länger leben als ungenügend stimulierte. Ihr Nachwuchs lebt länger, wenn das Leben der Muttertiere in den ersten Monaten »gut« verlaufen war.* So können die ersten Lebensmonate durchaus über Leben und Tod entscheiden. In dieser kritischen Zeit muß der Vater sich bereithalten, häusliche Arbeiten zu übernehmen, damit die stillende Mutter sich erholen kann und bei guter Gesundheit bleibt. In dieser Zeit müssen die Eltern zum Nutzen für das Neugeborene für eine entspannte, von Streitigkeiten freie Atmosphäre sorgen, sie müssen verhindern,
daß ihr Baby mit lauten Geräuschen bombardiert oder in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird, etwa durch eine fest gewickelte Decke, und sie müssen dafür Sorge tragen, daß ihr Kind nicht zu lange Zeit in nassen Windeln liegt, nicht zu lange Hunger oder Durst verspürt. Kurz, die ersten Lebensmonate fordern die ständige Aufmerksamkeit der Eltern. Wer sich mit dem Gedanken trägt, ein Kind in die Welt zu setzen, sollte sich diese Notwendigkeiten vor Augen halten. Auch die Gesellschaft ist aufgerufen, diese Notwendigkeiten anzuer-
* Be r ic h t a u f d e r T a g u n g d e r A me r ic a n P s yc h o lo g ic a l A s s o c ia tio n in W a s h in g to n , D . C. S e p te mb e r 1 9 7 1 .
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kennen. Denn in den ersten Lebensmonaten des Kindes sollte weder die Mutter noch der Vater einer Berufstätigkeit nachgehen, sofern dies zu ermöglichen ist. Der Vater sollte eine Art Urlaub erhalten, um sich der wichtigsten Aufgabe von der Welt widmen zu können – dazu beizutragen, daß ein neues Menschenwesen die bestmögliche Lebenschance bekommt.
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10 Körperliche und psychische Bedürfnisse
O bwohl sich kaum bestreiten läßt, daß es so etwas wie ein psychisches Bedürfnis nicht gibt, das heißt ein Bedürfnis, das nur in der Psyche existiert, sind gerade darüber zahlreiche Bücher geschrieben worden – etwa über das Bedürfnis nach Ansehen, Macht, Selbstachtung usw.. Alfred Adler, einer der Schüler Freuds, hat sein ganzes Theoriesystem auf das Machtbedürfnis begründet und Bände darüber geschrieben. Doch ein Bedürfnis ist kein psychischer Zustand, sondern vielmehr ein Zustand, der das gesamte Körpersystem erfaßt. Es gibt kein Bedürfnis, das nicht Ausdruck unseres gesamten Körpersystems wäre. Aus diesem Grund hat jede Versagung in einem Einzelbereich allgemeine Auswirkungen. Bei Heimkindern, die in den ersten sechs Monaten auf einfühlsamen Körperkontakt verzichten mußten, stellte sich später heraus, daß sie allgemein »rastlos, deprimiert und zur Konzentration unfähig« waren.* Psychische Bedürfnisse sind lediglich symbolisierte körperliche Bedürfnisse. Gerade weil psychische Bedürfnisse Abkömmlinge und nicht wirkliche Bedürfnisse sind, kann man praktisch alle seine neurotischen, symbolischen Bedürfnisse befriedigen, ohne jemals eine Änderung zu erreichen. So kann man beispielsweise einem Kind alles geben, ohne damit eine Krankheit beseitigen zu können. Wir sind bei unserer Krankheitsbehandlung in die Irre
gegangen, weil wir versäumt haben, zwischen wirklichen und nicht-wirklichen Bedürfnissen genau zu unterscheiden, und so haben wir bisher versucht, Probleme des gesamten Körpersystems mit Mitteln zu behandeln, die sich ausschließlich an den Gehirnfunktionen orientieren. Es ist uns gelungen, die Psyche eines Menschen so zu verändern, daß er zu neuen Gedankengängen fähig ist, während die körperlichen Bedürfnisse unverändert erhalten bleiben; doch »Persönlichkeits«-Änderungen können nur dann Platz greifen, wenn es gelingt, Zugang zu den unterschwelligen Bedürfnissen zu finden. Ich lege deshalb solchen Wert auf diese Feststellung, weil zahllose Bücher über die besonderen Bedürfnisse von Kindern geschrieben
* M. P r in g le u n d V . Bo s s io n , > A S tu d y o f D e p r iv e d Ch ild r e n < , in : Vi t a H u m a n a n a , 1 , Ba s e l 1 9 5 8 , S . 6 5 - 9 2 u . S . 1 4 2 - 1 7 0 .
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worden sind, über Bedürfnisse, deren Existenz ich bezweifele. Da ist zum Beispiel das »Bedürfnis nach Zugehörigkeit«. In der psychologischen Literatur wird es abwechselnd als Bedürfnis nach Eingliederung oder Bedürfnis nach Sozialisation bezeichnet. Doch es sollte eigentlich klar sein, daß wir lediglich uns selbst zugehörig sein können. Wenn Eltern uns ein eigenes Selbst vorenthalten, dann müssen wir darum kämpfen, »Teil« von etwas zu sein. Wir bemühen uns darum, Leben durch eine Gruppe, eine Mannschaft, eine »Familie« von Freunden zu gewinnen. Wenn wir die Möglichkeit haben, durch uns selbst zu leben, dann verspüren wir nicht das Bedürfnis, zu irgend etwas zu gehören. Wir können an Aktivitäten teilnehmen und Vergnügen daran empfinden, doch in einem solchen Falle ist die motivierende
Kraft keineswegs neurotisch. Das läßt sich am besten im Sinne einer einfachen Dialektik verstehen. Wenn Eltern uns erlauben, wir selbst zu sein, dann fühlen wir uns als Teil von uns selbst; wenn sie uns daran hindern, wir selbst zu sein, dann fühlen wir uns von uns selbst getrennt. Dann beginnen wir, darum zu kämpfen, »Teil« von irgend etwas zu sein. Wenn also jemand klagt: »Ich fühle mich heute überhaupt nicht als ich selbst«, dann meint er etwas Tiefergehendes als eine vorübergehende Unpäßlichkeit. Sich nicht selbst zu gehören hat verschiedene Auswirkungen. Ungeschicklichkeit und mangelnde körperliche Koordinierung sind nur zwei Beispiele. Wenn der Körper dem Kind nicht gehört, dann wird es ihm schwerfallen, ihn richtig zu beherrschen. Ihm mag es an Wendigkeit und Anmut fehlen, es mag unfähig sein, sportliche Tätigkeiten einigermaßen gekonnt auszuüben oder zu tanzen – und das trotz jahrelangen Tanzunterrichts. Einer unserer Patienten erklärte seine Ungeschicklichkeit folgendermaßen: »Es ist nicht mein Körper. Es ist ihrer. Ich trage ihn nur herum, doch er tut, was sie wollen.« Ein anderer Patient meinte, sein Körper sei ihm fremd, er schleppe ihn lediglich herum. Wieder ein anderer Patient hatte beim Tennisspielen einen schlechten Tag erwischt. Wegen seiner Unbeholfenheit und »Dämlichkeit« geriet er in eine so vehemente Erregung, daß er sich auf den Tennisplatz setzte und ein Urerlebnis hatte. Anschließend erklärte er seinem Tennispartner (ebenfalls ein Primärpatient), das Gefühl, »mich nicht als mich selbst zu fühlen, hat mich gegen mich aufgebracht, mich intolerant gemacht mir selbst gegenüber. Als ich zu weinen begann, da fühlte ich den alten Schmerz darüber, daß es mir nie vergönnt war, etwas Falsches zu 169
tun oder etwas nicht gut zu tun. Ich haßte an mir, was eigentlich natürlich ist – mangelnde Gewandtheit, keine Antwort auf eine Frage parat zu haben –, Eigenschaften, die nach Ansicht meines Vaters dumm und falsch sind. Mir stand es niemals frei, einfach das Gefühl zu haben, ich könne ruhig etwas falsch oder nicht sonderlich gut tun. So hatte ich jedesmal, wenn etwas Derartiges geschah, das Gefühl, ich sei nicht >ich selbstständiger Bewegung, schwänzelte herum, wollte immer woanders hin, konnte einfach nicht stillhalten, wenn man dich auf den Armen wiegen, dir vorlesen oder nur an sich drücken wollteMammiDeine Mutter ist tot, sie wird nie mehr zurückkommen