Neal Davenport, Earl Warren, Gay D. Carson & Ernst Vlcek
Das Kind der Hexe Dorian Hunter Klassiker Band 11
ZAUBERMOND...
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Neal Davenport, Earl Warren, Gay D. Carson & Ernst Vlcek
Das Kind der Hexe Dorian Hunter Klassiker Band 11
ZAUBERMOND VERLAG
DAS BUCH Dorian hat endlich Gewissheit erhalten. Seine Gefährtin, die junge Hexe Coco Zamis, befindet sich nicht aus freien Stücken bei Olivaro, dem neuen, selbst ernannten Fürsten der Finsternis – im Gegenteil, sie erwartet ein Kind des Dämonenkillers, das sie mit allen Mitteln vor der Schwarzen Familie schützen will. Was plant Olivaro, der Coco für die Schande, die sie ihm durch die Offenbarung der Schwangerschaft bereitete, bestrafen will? Wie lange noch wird sie vor ihm in Sicherheit sein? In seiner Verzweiflung lässt Dorian sich auf ein geradezu wahnsinniges Experiment ein. Ein Körpertausch, auf magischer Ebene vollzogen, gibt ihm die Möglichkeit, sich Olivaro unerkannt in der Gestalt eines anderen Mannes zu nähern. Doch just als er sich am Ziel glaubt und der Fürst der Finsternis greifbar nahe scheint, muss Hunter erkennen, dass das Spiel noch lange nicht gewonnen ist. Der Mann, dessen Körper er wählte, ist vom Schicksal gezeichnet. Sein Leib ist der eines Werwolfs – eines Monsters, das zum Sterben verurteilt ist …
Was bisher geschah … Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen. Unterstützung in seinem Kampf erhält er durch den englischen Secret Service, den er von der Wichtigkeit seiner Mission überzeugen konnte. Der Service gründete die Inquisitionsabteilung, deren Leiter Trevor Sullivan seitdem auch Dorians Vorgesetzter im Kampf gegen die Dämonen ist. Ihr Hauptquartier ist die Jugendstilvilla in der Londoner Baring Road, die durch Dämonenbanner gegen einen Angriff der Schwarzen Familie gesichert ist. Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Teufel, der ihm daraufhin die Unsterblichkeit gewährte. Um seine Sünden zu büßen, verfasste de Conde den »Hexenhammer« – jenes Buch, das im 16. Jahrhundert zur Grundlage für die Hexenverfolgung wurde. Doch der Inquisition fielen meist Unschuldige zum Opfer; die Dämonen, auf die de Conde es abgesehen hatte, blieben ungeschoren. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, ging seine Seele in den nächsten Körper über. So ging es fort bis in die Gegenwart. Dorian Hunter begreift, dass er die Wiedergeburt de Condes ist. Es ist seine Aufgabe, den Dämonen nachzustellen und sie zu vernichten. Vielleicht ist dieser angeborene Dämonenhass der Grund dafür, dass er sich nicht an die Vorgaben des Secret Service hält. Er jagt die Dämonen auf eigene Faust, und als die Erfolge ausbleiben, gerät der
»Observator Inquisitor« Trevor Sullivan unter Druck. Die Abteilung wird aufgelöst. Hunters engste Gefährten lassen sich durch die Rückschläge nicht schocken: Da wäre zunächst die junge Hexe Coco Zamis, die früher selbst ein Mitglied der Schwarzen Familie war, bis sie wegen ihrer Liebe zu Dorian den Großteil ihrer magischen Fähigkeiten verlor. Weiterhin der Hermaphrodit Phillip, der weder Mann noch Frau, weder Mensch noch Dämon ist und dessen hellseherische Fähigkeiten ihn zu einem lebenden Orakel machen – sowie der Puppenmann Don Chapman, der als Agent für den Service arbeitete, bis er von einem dämonischen Puppenmacher auf Zwergengröße geschrumpft wurde. Hunter gelingt es, seine dämonischen Brüder zu töten und Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, zu vernichten. Doch mit Olivaro steht schon ein Nachfolger bereit. Zwar ist seine Position innerhalb der Familie nicht unumstritten, aber das lässt ihn im Kampf gegen Dorian nur umso gewissenloser agieren. Der neuste Schachzug Olivaros bringt Hunter an den Rand der endgültigen Niederlage. Der Dämonenkiller muss tatenlos zusehen, wie seine Gefährtin Coco Zamis die Seiten wechselt und sich dem selbst ernannten Fürsten der Finsternis anschließt. Ist Cocos dämonisches Erbe für den Sinneswandel verantwortlich, oder verfolgt die junge Hexe einen Plan, den selbst Dorian nicht durchschaut? Die Antwort erhält er in Griechenland, wo er Zeuge einer Schwarzen Messe wird. Coco Zamis soll Olivaro den Teufelseid schwören. Stattdessen aber gesteht sie ihm ihre Schwangerschaft, und Vater des Kindes – ist der Dämonenkiller! Dorian ist erleichtert, sich in Coco nicht getäuscht zu haben. Von jetzt an kennt er nur noch ein Ziel: Die Mutter seines ungeborenen Kindes aus den Klauen der Dämonen zu retten …
Vorwort Liebe Leserin, lieber Leser, vor Ihnen liegt der elfte Dorian Hunter-Band und mit dem titelgebenden Roman »Das Kind der Hexe« zugleich der 50. Roman der Serie und der Abschluss eines Zyklus. Die Hexe Coco Zamis, die sich von Dorian Hunter abgewandt hat, um sich dem Fürsten der Finsternis anzuschließen, traf diese Entscheidung, um Dorian Hunter und seine Gefährten zu schützen – und ebenso das Kind, das in ihr heranreifte! Hunter, der nichts von ihrer Schwangerschaft ahnte, wurden während einer Schwarzen Messe in Griechenland die Augen geöffnet. Jetzt kämpft er mit aller Macht darum, Coco aus den Klauen Olivaros zu befreien … Auch wir, die Autoren, Redakteure und weiteren Mitarbeiter, die an der Buchausgabe von Dorian Hunter ihren Anteil haben, müssen kämpfen. Lange hat der Verlag die gestiegenen Kosten im Herstellungs- und Druckbereich nicht an den Leser weitergegeben. Dies geht jetzt nicht mehr, weshalb der Preis pro Band ab sofort auf 17,95 Euro angehoben werden muss. Wir bedauern diese Erhöhung, aber sie war leider unausweichlich. Im Gegenzug werden wir uns bemühen, als kleinen Ausgleich möglichst stets fünf statt wie bisher oft nur vier Romane pro Band zusammenzufassen – natürlich auch weiterhin immer unter der Maßgabe der inhaltlichen Geschlossenheit. Die Preiserhöhung ist eine Möglichkeit, den Verlag zu entlasten. Die andere ist ein Abonnement, zum Beispiel direkt über die Homepagewww.DorianHunter.de oder per Post oder Fax an den ZaubermondVerlag, Oelkinghauser Straße 7, 58.332 Schwelm, Fax-Nr. 0 23 36 I 99 07 73. Jedes Abonnement bedeutet einen zufriedenen Kunden und ist deshalb die höchste Form von Wertschätzung, den diese Buchausgabe erfahren kann. Wir freuen uns immer wieder über ein solches Feedback, wie auch über Lesermeinungen im Forum unterwww.DorianHunter.de, und hoffen, dass Sie uns auch weiterhin die Treue halten werden. Unterhaltsames Gruseln wünscht Dario Vandis
Erstes Buch
Der Schaten des Werwolfs von Neal Davenport
Panik stieg in ihm hoch. Er konnte sich an nichts mehr erinnern, er hatte alles vergessen, sogar seinen Namen. Die Straßenbeleuchtung brannte. Ein roter doppelstöckiger Autobus fuhr an ihm vorbei. Rasch blickte er sich um. Ich bin in London, stellte er fest. Der Autobus und die Wagen fuhren auf der linken Straßenseite. Auf einem Haus konnte er den Straßennamen lesen: Baring Road, S. E. 12. Die Baring Road war ihm unbekannt, er wusste aber, dass er sich im Südosten Londons befand, in einem Stadtteil, in dem er nie zuvor gewesen war. Er starrte seine rechte Hand an. Lange, schlanke Finger; der Handrücken war gebräunt und mit dunklen Haaren bedeckt. Er umklammerte einen Schlüsselbund; einen der Schlüssel hielt er zwischen Zeigefinger und Daumen. Sein Blick wanderte weiter und fiel auf ein gewaltiges schmiedeeisernes Tor, das mit scheußlichen abstoßenden Mustern verziert war. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Hinter dem Tor lag ein gepflegter Garten, und er sah eine Villa. Jugendstil, stellte er fest und wunderte sich, woher sein Wissen stammte. Kein Grund zur Aufregung, versuchte er sich zu beruhigen. In wenigen Augenblicken werde ich mich wieder erinnern können. Ich werde wissen, wer ich bin und was ich hier will. Nochmals blickte er sich um. Kein Mensch war auf der Straße, nur gelegentlich raste ein Auto vorbei. Mühsam unterdrückte er das Zittern seiner Hände, hob dann den linken Arm und sah, dass er eine Lederjacke trug. Er schob den Ärmel zurück. Die Rolex zeigte an, dass es zehn Minuten nach neun war. Er wartete einige Minuten, schloss die Augen und dachte angestrengt nach, doch seine Erinnerung kehrte nicht zurück. Er griff in die Außentaschen der Jacke und fand eine angebrochene Packung Players und ein Feuerzeug. Schritte näherten sich. Er wandte den Kopf nach rechts. Es war ein verwachsener Zwerg, der rasch näher kam. Nie zuvor hatte er etwas
Ähnliches gesehen. Das unheimliche Geschöpf blieb vor ihm stehen. Es trug einen braunen Anzug. Der linke Arm war winzig klein und wirkte wie eine Geschwulst, die sich unter dem Ärmel abzeichnete. Dafür war der rechte Arm fast zwei Meter lang und dünn wie eine Liane. Die Beine waren unterschiedlich lang. Das Gesicht war abstoßend hässlich, mit Geschwüren und eitrigen Beulen übersät. »Endlich erreiche ich dich, Dorian«, sagte der Zwerg mit schriller Stimme. »Sie kennen mich?« Der Zwerg lachte bösartig. »Du willst dich wohl nicht mehr an mich erinnern, Bruder, was?« »Ich soll Ihr Bruder sein?« »Stell dich nicht dumm, Hunter!«, knurrte der Zwerg. »Ich will, dass du mich tötest.« »Wie nannten Sie mich?« »Jetzt reicht mir diese Komödie!«, schrie der Zwerg. »Du bist Dorian Hunter, und ich bin Jerome Hewitt.« Der Mann presste die Lippen zusammen. Der Zwerg kannte ihn. Er nannte ihn Dorian Hunter, doch dieser Name rief keine Erinnerung in ihm hervor. »Ich kann mich nicht entsinnen«, sagte er schwach. »Ich habe mein Gedächtnis verloren.« Hewitt musterte ihn aufmerksam. »Ich glaube dir kein Wort, Hunter.« »Es ist aber so. Ich habe die Erinnerung an alles verloren.« »Töte mich endlich! Erlöse mich von meinen Schmerzen!« Der muss verrückt sein, dachte der Mann. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, und er will, dass ich ihn töte. Der Freak versuchte, ihn zu packen. Der Mann schüttelte den dünnen Arm ab und näherte sich langsam dem Tor. Er steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch. Er passte. Seine Vermutung war richtig gewesen. Er sperrte das Tor auf, drückte einen der Flügel auf, trat in den Garten und wandte den Kopf um. Hewitt verfolgte ihn nicht. Er blieb draußen stehen, hüpfte wie ein Verrückter auf und ab und beschimpfte Dorian. Ich heiße also Dorian Hunter, dachte der Mann. Und wie es aussieht,
wohne ich hier. Die wilden Verwünschungsschreie des Freaks wurden leiser. Der Mann ging rascher, blieb vor der Haustür stehen, griff nach der Klinke und drückte sie nieder. Die Tür war versperrt. Zögernd blickte er den Schlüsselbund an, steckte ihn in die Jackentasche und drückte auf den Klingelknopf. Es dauerte mehr als eine Minute, bis die Haustür geöffnet wurde. Eine ältere Frau, an die Sechzig, stand vor ihm und musterte ihn missbilligend. Sie trug ein altmodisches Kleid, und das graue Haar hatte sie aufgesteckt. »Sie haben wohl den Schlüssel vergessen, Mr. Hunter?« »Wer sind Sie?« »Haben Sie den Verstand verloren, Mr. Hunter?«, fragte die Frau spöttisch. »Ich kenne Sie nicht.« »Aber ich bin doch Martha Pickford!« Der Mann schüttelte den Kopf. Hinter der Frau tauchte ein Mann auf. »Hallo, Dorian!«, sagte er. Er wirkte bullig, und sein Gesicht hatte brutale Züge. »Soll ich Sie kennen?«, fragte der Mann. »Na klar. Ich bin Marvin Cohen.« Auch dieser Name sagte ihm nichts. Die Alte trat einen Schritt zur Seite. Der Mann ging an ihr vorbei und blickte sich um. Die Diele rief keine Erinnerung bei ihm hervor. Seine Hoffnung, dass sein Gedächtnis zurückkehren würde, hatte sich nicht erfüllt. Tiefe Verzweiflung stieg in ihm hoch. Der Mann, der sich als Marvin Cohen vorgestellt hatte, baute sich vor ihm auf. »Was hat das alles zu bedeuten, Dorian?« Er hob verzweifelt die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er tonlos. »Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Sie behaupten, dass ich Dorian Hunter sei, doch dieser Name sagt mir überhaupt nichts. Ich kenne Sie und die Frau nicht.« »Sieh mal in den Spiegel, Dorian!«, sagte Cohen. »Vielleicht hilft dir das weiter.« Er folgte zögernd. Vor einem hohen Spiegel blieb er stehen und
beugte sich vor. Er war groß, mindestens ein Meter neunzig, schlank und hatte eine sportliche Figur. Sein Haar war mittellang und schwarz. Das Gesicht mit den stechenden, grünen Augen war dunkelbraun. Die Oberlippe zierte ein dichter Schnurrbart, dessen Spitzen nach unten gezwirbelt waren. »Kannst du dich jetzt erinnern, Dorian?« »Nein«, sagte Hunter heiser. »Es kommt mir so vor, als würde ich mich das erste Mal sehen.« Cohen fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Lippen. Er führte den Mann, der wie Dorian aussah, in ein großes Wohnzimmer. Auf einem Stuhl saß ein älterer Mann, der langsam aufstand. Er sah durchschnittlich aus. Das einzig Auffallende an ihm war, dass die rechte Gesichtshälfte wesentlich heller als die linke zu sein schien. »Dorian behauptet, dass er sein Gedächtnis verloren hat«, erklärte Cohen. »Sie soll ich wohl auch kennen?«, fragte der Mann mit Dorians Gestalt. »Ja, ich bin Trevor Sullivan.« »Nie gehört.« »Setzen Sie sich, Dorian!«, sagte Sullivan. Er setzte sich auf eine Couch und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das einfach nicht«, sagte er. »Ich soll Sie alle kennen, doch ich kenne niemanden.« Sullivan nickte. »Holen Sie bitte Phillip, Miss Pickford!« Die Alte nickte und ging rasch aus dem Zimmer. »Wer ist Phillip?« »Sagt Ihnen der Name Lilian etwas?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist Ihre Frau«, sagte Sullivan. »Sie haben noch eine Wohnung, Dorian. In der Abraham Road. Ein Reihenhaus, in dem Sie mit Lilian wohnen.« »Ich kann mich nicht erinnern«, wiederholte er und stützte den Kopf zwischen seine Hände. »Es ist furchtbar.« Sullivan und Cohen wechselten einen Blick.
»Ob die Schwarze Familie dahinter steckt?«, fragte Cohen leise. »Schwarze Familie?«, wiederholte er verwundert. »Er kann sich tatsächlich an nichts erinnern«, stellte Trevor Sullivan fest. »Das kann ziemlich böse werden.« »Dorian hat sich doch mit der Dämonengruppe verbündet, die Olivaro feindlich gegenübersteht«, sagte Cohen. »Vielleicht war das eine Falle«, meinte Sullivan. »Ich verstehe nicht ein Wort«, sagte der Mann in Dorians Gestalt. »Sie sprechen von Dämonen und Olivaro. Was hat das alles zu bedeuten?« »Später«, sagte Sullivan. Die Tür wurde langsam geöffnet, und Phillip trat mit geschlossenen Lidern ins Zimmer. Er schien in Trance zu sein. Der Mann stand überrascht auf. Phillips Haut war fast durchscheinend. Blondgelocktes Haar fiel über die schmalen Schultern. Er blieb vor Dorian stehen und öffnete die Augen. Sie waren goldfarben und schimmerten geheimnisvoll. Phillip lächelte. »Hallo, Dorian!«, sagte er. Der Mann nickte schwach. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung und wandte den Kopf um. Ich muss träumen, dachte er, als sein Blick auf eine dreißig Zentimeter große Gestalt fiel. Sie war normal gekleidet und wirkte trotz der Kleinheit überaus männlich. Das dunkle Haar des Puppenmannes war mit Silberfäden durchzogen. »Wer ist das?«, fragte er und zeigte auf den Puppenmann. »Don Chapman«, sagte Cohen. »Ich träume«, sagte er und ließ sich auf die Couch fallen. Er fürchtete, verrückt zu werden, schloss die Augen und kniff sich in die rechte Hand. Deutlich spürte er den Schmerz und riss die Augen auf. Die Versammlung der seltsamen Gestalten verschwand nicht. Das geheimnisvolle Wesen mit dem blondgelockten Haar lächelte freundlich, drehte sich um und ging langsam aus dem Zimmer. »Phillip zeigte keine Reaktion«, sagte Cohen nachdenklich. »Ich bin verrückt«, flüsterte der Mann. »Keine Bange!«, tröstete Cohen ihn. »Wir bekommen dich schon
wieder hin. Du wirst dich bald an alles erinnern.« »Das hoffe ich sehr«, sagte er.
Fred Archer war fünfunddreißig Jahre alt und seit vier Jahren beim Detektivunternehmen Observer angestellt. Er war ein mittelgroßer Mann, der ein wenig zum Dicksein neigte. Sein Gesicht war rosig, das rotblonde Haar kurz geschnitten und der Blick seiner blauen Augen aufmerksam. Die Villa stand inmitten eines großzügig angelegten Gartens und wirkte streng und modern. Vor der Haustür erwartete ihn ein hochnäsiger Butler. »Madame erwartet Sie bereits«, sagte der Butler, öffnete die Tür und ließ Archer ins Haus eintreten. »Sie gestatten, dass ich vorgehe, Sir?« Archer nickte. Der Butler führte ihn einen breiten Gang entlang, blieb vor einer Tür stehen und klopfte leise an. Dann öffnete er die Tür und verbeugte sich leicht. Der Privatdetektiv trat in ein langgestrecktes Zimmer. In der linken Längswand war ein gewaltiges Fenster eingelassen, durch das man in den Garten blicken konnte. Die rechte Wand wurde von kostbaren Gobelins und Gemälden bedeckt. Das Zimmer war im Empirestil eingerichtet. »Guten Tag«, sagte Archer förmlich. »Fred Archer vom Observer.« Auf einem der Stühle saß eine dicke Frau, die ein himmelblaues Seidenkleid trug, das sich über der gewaltigen Brust spannte. Ihr Alter war schwer zu schätzen; wahrscheinlich war sie Ende Dreißig. »Setzen Sie sich, Mr. Archer!«, sagte die Frau ungeduldig. »Ich bin Mrs. Chasen.« Archer deutete eine Verbeugung an und setzte sich der Frau gegenüber. Ihr Gesicht mochte irgendwann einmal hübsch gewesen sein. Jetzt war es aufgedunsen und mit einer dichten Make-upSchicht bedeckt. Bei jeder ihrer Bewegungen schwabbelte das Doppelkinn. Das dunkelbraune Haar fiel glatt auf ihre breiten Schultern. »Ihre Agentur wurde mir von Sir William empfohlen«, sagte Carol Chasen und musterte den Detektiv durchdringend. »Es geht um
meinen Mann.« Archer unterdrückte einen Seufzer. Wieder mal eine eifersüchtige Frau, die Angst hatte, dass sich ihr Mann in fremden Betten herumtrieb. »Ich verstehe.« »Sie verstehen gar nichts«, brummte Carol Chasen. »Ich kann Ihre Gedanken erraten, aber Sie irren sich. Mein Mann war mir bis jetzt treu, aber seit einer Woche erscheint er mir völlig verändert. Möglicherweise steckt eine andere Frau dahinter, aber das kann ich mir bei Ron einfach nicht denken. Ich möchte wissen, wie es möglich ist, dass sich ein Mann innerhalb von wenigen Tagen grundlegend ändert. Und das sollen Sie für mich herausbekommen.« »Erklären Sie mir, bitte …« »Lassen Sie mich erzählen«, sagte Carol Chasen scharf. »Mein Mann war bis vor einer Woche ein Pantoffelheld. Er kam jeden Abend pünktlich um neunzehn Uhr nach Hause, nahm vor dem Abendessen einen Drink, war freundlich und zuvorkommend zu mir. Nach dem Essen spielten wir Karten oder eine Partie Schach. Gelegentlich hatten wir auch Gäste, aber das war in den vergangenen Jahren immer seltener vorgekommen. Meist blieben wir zu Hause. Seit einer Woche ist mein Mann nun verändert. Er ist geistesabwesend, antwortet nicht auf meine Fragen, ja, er brüllte mich sogar an, dass ich ihn in Ruhe lassen sollte. So etwas war bisher einfach undenkbar. Ron hat nie seine Stimme erhoben. Einmal – das war vor zwei Tagen – als ich ihn wieder etwas fragte, stand er auf und schlug mir über den Mund, dann zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück. Ich kann mir nicht erklären, was in ihn gefahren ist. Er ist ein anderer Mann geworden.« »Vielleicht hat er berufliche Sorgen, Mrs. Chasen?« »Nein«, sagte Carol entschieden. »Er ist erfolgreich und kann sich kaum vor Aufträgen retten. Mein Mann ist Architekt, ein ganz hervorragender. Aber vielleicht hat es doch etwas mit seinem Beruf zu tun. Er erhielt vor einer Woche den Auftrag, Pläne für ein Großprojekt auszuarbeiten.« »Worum geht es bei diesem Projekt?« »Das ist ja so seltsam, Mr. Archer. Er zeigte mir einige Skizzen. Sie
waren fantastisch, stellten ein Gebäude dar, das so gigantisch wie der Turm zu Babel aussah. Auf meine Frage, wo dieses Gebäude gebaut werden sollte, gab mir mein Mann keine Antwort. Und seither ist er wie ausgewechselt.« »Wissen Sie, wer der Auftraggeber ist?« »Eine Familie Lorrimer«, sagte sie. »Ich kenne sie nicht, habe nie zuvor etwas von ihnen gehört.« »Kam Ihr Mann in den vergangenen Tagen später nach Hause?« »Ja«, sagte Carol. »Zweimal. Einmal kam er nach zweiundzwanzig Uhr, das zweite Mal weit nach Mitternacht. Als ich ihn fragte, wo er gewesen sei, antwortete er nicht. Er ignorierte mich einfach.« »Wirkte er da verändert?« »Das kann man wohl sagen«, stellte Carol Chasen spitz fest. »Er wirkte betrunken. Seine Augen waren glasig. Seine Bewegungen unsicher. Er schloss sich in seinem Schlafzimmer ein, und ich hörte, wie er lange Zeit auf und ab ging. Ich mache mir Sorgen. Und da er sich weigert, auf meine Fragen zu antworten, beschloss ich, mich an Sie zu wenden. Ich will wissen, was mit Ron los ist. Irgendetwas hat ihn verändert.« »Wo hat Ihr Mann sein Büro?« »In der Regent Street. Hier haben Sie ein Foto meines Mannes. Es wurde vor einem halben Jahr aufgenommen.« Archer griff nach dem Foto. Es zeigte einen unscheinbaren Mann, der gezwungen lächelte. Er war klein und schlank. Sein Gesicht mit den weit auseinanderstehenden Augen wirkte ungesund. Das helle Haar war kurz geschnitten und links gescheitelt. »Mein Mann ist sechsundvierzig Jahre alt«, sagte Carol Chasen. »Ich will, dass Sie ihn beobachten.«
Trevor Sullivan und Don Chapman hatten sich in Hunters Arbeitszimmer zurückgezogen, während Marvin Cohen bei Hunter im Wohnzimmer geblieben war. »Dorian kann sich tatsächlich an nichts erinnern«, stellte Don Chapman fest.
Trevor Sullivan nickte unbehaglich. »Irgendjemand hat ihm das Gedächtnis geraubt. Aber wer?« »Olivaro«, sagte der Puppenmann. »Ich weiß es nicht«, sagte Sullivan. »Und ich weiß auch nicht, was wir unternehmen sollen.« »Vielleicht kann ein Arzt helfen.« »Daran dachte ich auch schon, aber der hilft uns sicher nicht weiter, da Dorians Gedächtnisverlust auf magische Art verursacht wurde.« »Wahrscheinlich haben Sie Recht, Trevor«, sagte der Puppenmann nachdenklich. »Aber irgendwie müssen wir Dorian helfen.« »Ich sehe im Augenblick keine Möglichkeit«, meinte Sullivan und strich sich übers Kinn. »Wir können nur hoffen, dass es sich um einen vorübergehenden Zustand handelt.« »Dorian war schon in den vergangenen Tagen geistesabwesend«, sagte Chapman. »Seit seiner Rückkehr aus Mexiko wirkte er anders. Ob der Pakt mit den Dämonenfamilien eine Rolle spielt?« »Möglich. Unsere Vermutungen helfen uns jedoch nicht weiter. Wir …« Sie hörten das Anschlagen des Türgongs. »Das wird Parker sein«, sagte Chapman. »Er kündigte für heute seine Ankunft an.« Sullivan nickte und stand auf. Der Puppenmann kroch rasch von seinem Stuhl und folgte Sullivan, der die Tür offen hielt. Miss Pickford hatte die Haustür geöffnet, und Jeff Parker trat, gefolgt von seiner Freundin Sacheen, in die Diele. »Einen schönen Abend allerseits!«, sagte Jeff Parker fröhlich. Er war Ende der Dreißig, gab sich aber betont jugendlich. Sein gebräuntes Jungengesicht mit dem blonden Haarschopf war zu einem breiten Grinsen verzogen, das langsam erstarb, als er in Trevor Sullivans ernstes Gesicht blickte. »Was macht ihr denn alle für Leichenbittermienen? Ist wer gestorben?« Sullivan schüttelte den Kopf. »Das nicht«, sagte er und senkte seine Stimme. »Dorian hat das
Gedächtnis verloren.« »So etwas gibt es nur in Filmen und Romanen«, sagte Parker grimmig. »Es ist aber so.« »Hm«, brummte Parker. »Seit wann hat er sein Gedächtnis verloren?« »Seit ein paar Stunden«, schaltete sich Martha Pickford ein. »Vormittags war er für eine Stunde hier. Da war er noch ganz normal. Er kam mir nur verschlossener als sonst vor. Irgendwie geistesabwesend.« »Ist er hier?«, fragte Parker. »Im Wohnzimmer«, sagte Don Chapman. »Ich werde ihn mir mal ansehen«, sagte Parker. »Komm mit, Sacheen!« Parkers Freundin war eine auffallend junge Frau. Sie war groß und schlank und hatte breite Hüften und große Brüste, die sich unter der enganliegenden Bluse deutlich abzeichneten. Das blauschwarze Haar fiel in zwei dicken Zöpfen über ihre Schultern und reichte fast bis zu den Hüften. Das Indianerblut in ihren Adern ließ sich nicht verleugnen und gab ihrem Gesicht einen aparten Reiz. Sie bewegte sich geschmeidig wie eine Raubkatze. Parker blieb in der Tür stehen. Marvin hob grüßend den rechten Arm, und Parker nickte ihm flüchtig zu. Er kniff die Augen zusammen und studierte Dorian, der ihn interessiert ansah. »Hallo, Dorian!«, sagte Parker und kam langsam näher. Ihm fiel nichts Absonderliches an seinem Freund auf. »Wer ist das?«, fragte der Mann mit Dorians Aussehen und wandte sich an Cohen. »Dein alter Freund Jeff Parker«, antwortete Cohen. »Das Mädchen ist Sacheen. Seine Freundin.« Parker blieb vor Dorian stehen. »Du hast also tatsächlich dein Gedächtnis verloren«, stellte er missmutig fest. »Erinnere dich an unsere Abenteuer mit den Inkas, Dorian! An Machu Picchu!« »Ich kann mich einfach an nichts erinnern«, sagte der Mann, und sein Gesicht bekam einen gequälten Ausdruck. »Cohen versucht
schon seit mehr als einer Stunde vergebens, mein Erinnerungsvermögen zu wecken. Er hat mir schauerliche Geschichten erzählt. Darin wimmelt es von Dämonen, Hexen und Vampiren. Mir kommt das alles so unwirklich vor.« Parker setzte sich und schüttelte den Kopf. »Du hast also dein Gedächtnis verloren«, wiederholte er nachdenklich. »Beschränkt sich dein Gedächtnisverlust nur auf deine persönlichen Erinnerungen, oder …?« Der Mann beugte sich vor. »Ich weiß, dass ich in London bin«, sagte er. »Ich kann mich an geschichtliche Daten erinnern und weiß ganz genau, was in den vergangenen Wochen in der Welt vorgegangen ist. Aber ich habe keinerlei Erinnerung an mein Leben. Und das macht mich fast wahnsinnig.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Parker und lehnte sich zurück. »Wir haben uns einige Zeit nicht gesehen. Ich hoffte, dass du mit mir nach Frankfurt kommen würdest. Ich nahm Kontakt mit den okkultistischen Freimaurern auf.« Dorian hob bedauernd die Schultern. »Das sagt mir alles nichts.« Parker seufzte. »Ist Dorian noch mit Lilian zusammen?« »Ja«, sagte Cohen und sah dabei ziemlich verlegen drein. »Was ist mit Machu Picchu?« »Sie ist tot«, schaltete sich Sullivan ein. »Selbstmord. Sie wollte nicht mehr weiterleben.« »Das tut mir Leid«, sagte Sacheen. »Sie war ein nettes Mädchen.« »Das aber nicht in unsere Zeit passte«, meinte Parker. »Habt ihr schon einen Arzt geholt, der Dorian …« »Nein«, unterbrach ihn Sullivan. »Wir versprechen uns nichts davon.« »Sie tippen wohl darauf, dass Dorians Gedächtnisverlust von den Dämonen hervorgerufen wurde? Möglich, aber es muss nicht sein. Ich kenne da einen Spezialisten. Mit dem werde ich mich morgen in Verbindung setzen. Er soll Dorian untersuchen. Wir müssen jede Chance ergreifen, um ihm zu helfen. Bearbeitet er irgendeinen Fall, bei dem er mit einem Dämon zusammengetroffen sein könnte?«
»Dorian kam vor ein paar Tagen aus Mexiko zurück«, sagte Sullivan. »Er verbündete sich mit einer Dämonengruppe, die Olivaro nicht als Herrn der Schwarzen Familie akzeptieren will. Und noch eines stellte sich heraus: Coco ist weiterhin auf Dorians Seite. Sie bekommt ein Kind von ihm.« »Was?«, fragte Parker überrascht. »Ich erzähle Ihnen später alles genauer«, meinte Sullivan. »Weiß Lilian davon?« »Nein«, sagte Cohen rasch. »Wir hielten es für besser, ihr nichts zu sagen.« »Ist Lilian noch immer so schreckhaft?« »Nein«, antwortete Cohen. »Sie ist ganz normal.« Der Mann, der Dorian sein sollte, hatte verständnislos zugehört. Die Gespräche kamen ihm völlig wirr vor. Die erwähnten Ereignisse und Namen riefen in ihm keine Erinnerung hervor.
Fred Archer saß zusammen mit seinem Kollegen John Wood in einem unauffälligen beigen Morris. Archer hatte versucht, zu Ronald Chasen vorzudringen, doch er war nicht vorgelassen worden. Er hatte ein Spezialabhörgerät in Chasens Arbeitszimmer platzieren wollen. Schließlich hatte er Carol Chasen angerufen, die sich bereit erklärt hatte, diese Aufgabe für ihn zu erledigen. Sie hatte von Archer das daumengroße, flache Spezialgerät bekommen. Ihre Aufgabe war ziemlich einfach. Sie brauchte es nur an der Unterseite des Schreibtisches ihres Mannes zu befestigen. Deutlich hörten Archer und Wood die Stimmen. Wood regulierte die Lautstärke. »Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass ich nicht will, dass du mich im Büro besuchst, Carol«, hörten sie eine helle Männerstimme. »Das weiß ich«, antwortete Carol Chasen. »Aber ich muss mit dir sprechen, Ron.« »Ich habe keine Zeit«, brummte ihr Mann. »Ich arbeite an einem wichtigen Auftrag.« »Du bist so verändert in letzter Zeit. Kann ich dir helfen?«
»Ja«, fauchte Ronald Chasen. »Geh und lass mich allein!« »Ist das alles, was du mir zu sagen hast, Ron?« »Ja, das ist alles.« Die Stimme des Mannes klang jetzt eisig. »Kommst du heute nach Hause?« »Das weiß ich noch nicht. Bitte geh, Carol!« Sesselrücken war zu hören, dann Schritte und das Öffnen einer Tür, wieder Schritte, das Läuten des Telefons. »Chasen«, meldete sich der Architekt. »Sie hat es geschafft.« Wood war zufrieden. »Es ist Carol Chasen gelungen, die Wanze zu befestigen.« »Sei still!«, zischte Archer. »Ich habe einige Pläne vorbereitet, Miss Lorrimer«, sagte Chasen. »Ich hoffe, dass sie Ihnen gefallen werden.« Chasen sagte einige Sekunden nichts, dann: »Ja, ich verstehe, ich werde heute zu Ihnen kommen. Um neunzehn Uhr. Ja, ich habe verstanden.« Wieder herrschte einige Sekunden Schweigen. »Auf Wiedersehen, Miss Lorrimer!«, sagte Chasen abschließend. »Ja, ich werde pünktlich sein. Um neunzehn Uhr.« »Das mit der Wanze war eine gute Idee«, sagte John Wood zufrieden. Er war ein breitschultriger, gut aussehender Fünfundzwanzigjähriger. Archer nickte und legte die Stirn in Falten. »Du wartest hier, John!«, sagte er. »Nimm alle Gespräche Chasens auf Band auf! Ich sehe mir mal das Haus der Lorrimers an.« Archer stieg aus dem Morris und ging in die New Bond Street, in der er seinen Mini geparkt hatte. Er klemmte sich hinters Steuer und fuhr los. Die Lorrimers besaßen ein Haus am Stadtrand von London, in der Nähe des Richmond Parks. Die Adresse hatte er von Carol Chasen bekommen. Der Verkehr wurde erst etwas schwächer, als Archer Kensington erreicht hatte. Nun kam er rasch vorwärts. In den vier Jahren – seit er für das Detektivbüro Observer arbeitete – hatte er unzählige Fälle zu bearbeiten gehabt. Der Observer war ein
ziemlich großes Unternehmen, spezialisiert auf Scheidungsfälle, Versicherungsbetrügereien und Überwachungen. In den vergangenen zwei Jahren war das modernste Ausrüstungsmaterial angeschafft worden – Abhörgeräte und raffinierte Fotoapparate. Carol Chasen hatte den Auftrag gegeben, ihren Mann nicht aus den Augen zu lassen – und diesen Wunsch würde ihr Archer erfüllen. In seiner Praxis war er mehr als hundertmal mit eifersüchtigen Frauen und Männern konfrontiert worden, und er war ziemlich sicher, das auch hier eine andere Frau hinter dem veränderten Verhalten Ronald Chasens steckte. Archer seufzte. Immer das Gleiche, dachte er. Da heiratet ein junger aufstrebender Mann eine Frau. Anfangs geht alles gut, bis der junge Mann Erfolg hat. Die Frau lässt sich in den meisten Fällen gehen, vernachlässigt ihr Äußeres, nörgelt an ihrem Mann herum, der sich das eine Zeitlang gefallen lässt und dann genug von ihr hat. Die Frau geht ihm auf die Nerven. Er überlegt und sucht sich eine andere, was für einen erfolgreichen Mann ziemlich einfach ist. Archer fuhr nach Roehampton. Er blieb kurz stehen, holte den Stadtplan hervor, studierte ihn, warf ihn zurück ins Handschuhfach und fuhr weiter. Nach wenigen Minuten erreichte er den Kingston By-Pass, eine gut ausgebaute Schnellstraße. Kurz vor dem Coombe Golf Hill Course bog er in die Robin Hood Road ein und verlangsamte das Tempo. Ringsum waren Wiesen und kleine Wälder zu sehen. Dazwischen standen hübsche Villen. Als er das Haus der Lorrimers sah, bremste er ab und ließ den Wagen ausrollen. Die Villa stand mehr als fünfhundert Meter von der Straße entfernt. Ein schmaler Weg schlängelte sich zum Haus, von dem nur das Dach hinter den hohen, mit Efeu bewachsenen Mauern zu sehen war. Archer blieb einige Minuten sitzen. Nur ein Kombiwagen kam an ihm vorbei; der Fahrer interessierte sich nicht für ihn. Der Privatdetektiv stieg aus, steckte einen Feldstecher ein und schlenderte langsam zum Haus. Das schwere Eisentor war geschlossen und die Mauer fast drei Meter hoch. Rechts befand sich eine steil
abfallende Wiese, links wuchsen in etwa hundert Meter Entfernung einige uralte Eichen. Archer überlegte einige Sekunden. Er wollte einen Platz finden, von dem aus er das Haus beobachten konnte. Die Wiese schied aus. Er wandte sich nach links und ging rund um die Mauer. Hinter dem Haus entdeckte er noch eine Wiese. Da bleiben nur die Eichen als Beobachtungspunkt, dachte Archer. Er ging zu den Bäumen und suchte sich einen knorrigen Baum aus. Geschickt packte er einen herabhängenden Ast, hangelte sich hoch, blieb auf einem starken Ast stehen, lehnte sich gegen den Baumstamm und brummte zufrieden. Deutlich konnte er das Haus sehen. Es war ein zweistöckiger grauer Bau, mindestens zweihundert Jahre alt. Die tiefstehende Sonne funkelte in den geschlossenen Fensterscheiben. Vor dem Haus standen zwei Fahrzeuge – ein Porsche und ein Rolls Royce. Kein Mensch war zu sehen. Der Garten wirkte sehr gepflegt, überall wuchsen Sträucher und Blumen. Hinter dem Haus lag ein kleiner Teich. Archer holte das Fernglas hervor und betrachtete das Haus genauer. Neben dem Eingangstor befand sich eine gewaltige Terrasse, die mit einer riesigen Sonnenplane überdacht war. Er beobachtete das Haus einige Minuten, doch nichts rührte sich. Nach einer halben Stunde kroch er von der Eiche herunter und ging zur Mauer. Er suchte nach einer Stelle, um hinaufklettern zu können, doch er fand nichts Passendes. Er schob den Efeu zur Seite, berührte die Mauer und zuckte zurück. Es war ihm, als hätte er einen leichten elektrischen Schlag bekommen. Er probierte es nochmals. Diesmal ließ er seine Hand länger auf der Mauer liegen. Und wieder bekam er einen Schlag. Er kniff die Lippen zusammen und trat einen Schritt zurück. Dann ging er kopfschüttelnd zu seinem Wagen, griff nach dem Telefon und setzte sich mit John Wood in Verbindung. »Bei mir gibt es nichts Neues«, sagte Wood. »Chasen ist noch immer im Büro. Er hat seiner Sekretärin Anweisung gegeben, dass er nicht gestört werden will.«
»Sobald er sein Büro verlässt, verfolgst du ihn, John«, sagte Archer. »Ich bleibe einstweilen im Wagen, suche mir aber eine andere Stelle, wo ich ihn unauffälliger hinstellen kann.« Archer fand einen herrlichen Parkplatz hinter einigen Büschen. Von der Straße aus war er nicht zu sehen. Er aß zwei Sandwichs, trank eine Dose Bier und wartete. Kurz nach halb sieben Uhr meldete sich John Wood bei ihm. Chasen war in seinen Jaguar gestiegen und fuhr in Richtung Kensington. Von seinem Standpunkt aus hatte Archer einen guten Blick auf das Eisentor. Einige Minuten vor sieben Uhr tauchte ein cremefarbener Cadillac auf, der vor dem Tor hielt, das Sekunden später geöffnet wurde. Der Cadillac fuhr in den Garten, und hinter ihm schlossen sich die schweren Türflügel. In Minutenabständen trafen weitere Autos ein, darunter auch Chasen mit seinem silberfarbenen Jaguar. Insgesamt waren es fünf Wagen, die in den Garten der Lorrimers fuhren. Archer notierte die Wagennummern. Das Autotelefon läutete, und Archer hob den Hörer ab. »Ich stehe in der Robin Hood Road«, meldete sich John Wood. »Ist Chasen an dir vorbeigekommen?« »Ja«, antwortete Archer. »Komm zu mir, John! Und vergiss die Ausrüstung nicht!« »Was soll ich alles mitnehmen?« Archer zählte es auf. Zehn Minuten später erschien Wood. Er grinste und trug zwei Koffer. »Wir werden uns bei der Beobachtung des Hauses abwechseln«, sagte Archer. »Es gibt nur eine Stelle, von der aus wir das Haus unbemerkt beobachten können. Bei den Bäumen.« Wood nickte und folgte Archer, der vorausging. Unter der Eiche blieb er stehen und sah zu, wie Wood seine Geräte auspackte. »Ich steige mal hoch«, sagte Archer und kletterte auf den Baum, während Wood sich weiter mit seinen Empfangsgeräten beschäftigte. Wood war in die Garage gegangen, in der Chasen seinen Wagen
abgestellt hatte, und es war ihm gelungen, ein leistungsstarkes Gerät einzubauen. Archer schätzte die Entfernung von Chasens Jaguar bis zur Veranda, wo sich einige Leute aufhielten, ab. Es waren kaum fünfzig Meter. Wood hockte unter dem Baum und hatte sich Kopfhörer über die Ohren gestülpt. Er hantierte einige Minuten an seinen Geräten herum, setzte dann die Kopfhörer ab und sah zu Archer hinauf. »Es klappt tadellos«, sagte Wood. »Ich kann die Gespräche mithören.« »Lass das Tonband laufen, John!«, rief Archer hinunter. »Wenn du was Interessantes hörst, dann gib mir Bescheid! Ich beobachte das Haus weiter.« »Gut«, sagte Wood und setzte sich. Er stopfte sich einen Kaugummi in den Mund und hörte zu. Archer drehte an der Feineinstellung des Fernglases und sah sich der Reihe nach die Leute auf der Terrasse an, die in Gruppen herumstanden. Nach kurzem Suchen entdeckte er Ronald Chasen. Er hielt in der rechten Hand ein Glas. Seine Bewegungen wirkten seltsam verkrampft. Er bewegte den rechten Arm ruckweise. Sein Gesicht war bleich und das braune, leicht gewellte Haar streng nach hinten gekämmt. Sein brauner Anzug saß wie angegossen. Neben ihm stand ein junges Mädchen, das ein offenherzig ausgeschnittenes, giftgrünes Abendkleid trug. Das tizianrote Haar war zu einem kunstvollen Turm frisiert, in dem Perlen funkelten. Selten zuvor hatte Archer ein derart ausdrucksvolles Gesicht gesehen. Es war nicht schön, dazu waren die Augen zu ungleichmäßig; sie waren schräg gestellt und von einem schillernden Blau, das kalt wie das Eis eines Gletschers wirkte; die Nase war zu klein für das längliche Gesicht, dazu noch leicht aufgeworfen; die buschigen Brauen waren über der Nasenwurzel zusammengewachsen, und der Mund war ein kreisrunder, großer Fleck. Aber das alles fügte sich zu einem faszinierenden Ganzen zusammen. Archer konnte einige Minuten seinen Blick nicht von dem Gesicht losreißen. Dann blickte er wieder Ronald Chasen an, der neben dem jungen Mädchen unscheinbar und blass erschien.
Rasch sah er zu den anderen Leuten. Insgesamt waren es zwölf. Einen der Männer kannte er. Es war Robert Adam, ein bekannter Architekt, über den in letzter Zeit ziemlich viel geschrieben worden war, da er einige aufsehenerregende Bauten entworfen hatte. Die anderen Leute hatte Archer nie zuvor gesehen. Wood setzte die Köpfhörer ab. »Scheint eine ganz normale Party zu sein, Fred«, sagte er. »Sie unterhalten sich über Architektur und Kunst. Dabei ist immer wieder von besonders beachtlichen Bauwerken die Rede. Für mich ist das unverständlich, da ich von Architektur keinerlei Ahnung habe.« »Ich will zuhören«, sagte Archer. »Klettere mit den Kopfhörern hoch!« »Ich weiß nicht, ob das Kabel reichen wird«, sagte Wood. »Dann nimm ein Verlängerungskabel!«, knurrte Archer ungehalten. »Und bring mir den Fotoapparat mit! Den mit der Infraroteinrichtung!« »Ich komme«, sagte Wood. Fünf Minuten später hatte Archer den Fotoapparat um den Hals hängen und die Kopfhörer übergestülpt. Es dauerte einige Zeit, bis sich Archer an das Stimmengewirr gewöhnt hatte, das aus den Hörern drang, und er Einzelheiten verstehen konnte. Er hatte ein gutes Stimmengedächtnis und konnte Chasens Stimme herausfinden. »Wo soll dieses Gebäude errichtet werden?«, hörte er Chasen fragen. »Das werden Sie später erfahren«, sagte eine Frauenstimme, die tief und rauchig klang. »Aber es ist wichtig, Miss Lorrimer.« Der ungeduldige Ton in Chasens Stimme war nicht zu überhören. Die Rothaarige ist also Miss Lorrimer, stellte Archer fest. »Sie haben die Entwürfe mitgebracht, Mr. Chasen?«, fragte Miss Lorrimer. »Ja«, sagte Chasen. »Ich habe sie im Auto.« Der Privatdetektiv setzte das Fernglas ab und hob die Kamera. Mit dem Teleobjektiv schoss er einige Fotos von Chasen und der jungen Frau. Dann hörte er den Gesprächen weiterhin zu. Nach einer halb-
en Stunde wusste er mehr. Fünf Architekten waren eingeladen worden, die alle den Auftrag bekommen hatten, ungewöhnliche Bauwerke zu entwerfen. Die anderen Personen gehörten zur Familie Lorrimer. Als sich die Gesellschaft um einen hübsch gedeckten Tisch setzte und zwei junge Frauen Speisen servierten, nahm Archer die Kopfhörer ab und ließ das Fernglas sinken. Er kletterte vom Baum herunter. »Ich gehe was essen, John«, sagte er. »Lass das Band weiterlaufen! Ich fürchte, dass wir hier nur unsere Zeit verschwenden. Das scheint eine ganz normale Zusammenkunft zu sein, halb geschäftlich, halb privat. Ich bin in einer Stunde zurück.« Archer war schon nach fünfzig Minuten zurück. Er hatte in einem kleinen Restaurant rasch gegessen. Als er wieder auf die Eiche kletterte, wurde es langsam dunkel. Einige Minuten hörte er wieder den Gesprächen zu; sie waren völlig belanglos. Die Gesellschaft aß noch immer. Archer rauchte eine Zigarette, setzte sich so bequem wie möglich auf einen Ast und blickte alle fünf Minuten durchs Glas. Auf der Terrasse brannten einige Kerzen. Der Himmel war wolkenlos, und der Vollmond stand hoch. Es war eine schwüle Julinacht, völlig windstill. Hier vergeude ich nur meine Zeit, dachte Fred Archer. Lustlos hob er das Fernglas. Dann beugte er sich vor und atmete rascher. Nach einer Weile setzte er das Glas ab, schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. Er griff nach den Kopfhörern, die er auf einen Ast gelegt hatte, und schob sie über die Ohren. Lautes Keuchen war zu hören. Wieder hob er das Glas. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Und dann hörte er das Schreien. Es klang überlaut in den Kopfhörern. Er ließ das Fernglas sinken und griff mit zitternden Fingern nach der Infrarotkamera. In seiner Laufbahn als Privatdetektiv hatte er ja schon einiges gesehen. Er hatte Fotos von wilden Partys geschossen, die in Orgien ausgeartet waren.
Aber noch nie zuvor hatte er gesehen, dass sich völlig normale Menschen in unheimliche Geschöpfe verwandelten, die man höchstens in einem Horrorfilm zu Gesicht bekam. Archer schüttelte seine Überraschung ab und konzentrierte sich ganz aufs Fotografieren. Miss Lorrimer – er wusste jetzt bereits aus den mitgehörten Gesprächen, dass sie Elvira hieß – verwandelte sich langsam. Die buschigen Brauen in ihrem Gesicht wurden immer dichter. Die Perlen fielen aus ihrem kunstvoll aufgebauten Frisurenturm, und das lange Haar fiel locker auf ihre nackten Schultern. Haare wuchsen aus ihrer Stirn und verschmolzen mit dem Haupthaar. Ihre Augen änderten sich, wurden rund und schimmerten glutrot. Sekunden später war das Gesicht mit einem dichten, rötlich schimmernden Pelz bedeckt. Der Mund wurde zu einem geifernden Maul, das sich rasch öffnete und schloss und dabei gewaltige Zähne entblößte. Die junge Frau riss sich mit einem Ruck das giftgrüne Kleid vom Leib. Für einen Augenblick waren lange Beine zu sehen, schlanke Arme und feste, große Brüste; dann schien die Gestalt des Mädchens durchscheinend zu werden, die Arme und Beine verkürzten sich. Als ihr Körper wieder deutlich zu erkennen war, war er nur noch entfernt menschenähnlich – er war mit einem dicken Pelz bedeckt. Aber nicht nur Elvira Lorrimer hatte sich verwandelt, auch die anderen durchliefen eine Metamorphose und wurden zu abscheulichen Bestien. Lediglich fünf Männer wurden von der Verwandlung nicht betroffen. Sie saßen bewegungslos auf ihren Plätzen – darunter auch Ronald Chasen – und nahmen von den unheimlichen Geschehnissen nichts wahr. Sie schienen in Trance zu sein. Sieben Wolfsgestalten umtanzten die fünf Männer. Dabei stießen sie klagende Schreie aus. Eine hüpfte auf allen vieren auf und ab, andere streckten verlangend die Arme nach den Fünf aus. Archer begann zu zittern. Die Laute klangen jetzt sinnlich, lockend. Er riss sich die Kopfhörer von den Ohren und legte einen neuen Film in die Kamera. In die fünf Männer kam Bewegung. Zuerst hoben sie die Arme, dann bewegten sich die Finger ruckartig. Die Kerzen auf den Tischen erloschen; nur der hochstehende Voll-
mond erhellte die Szene. Ronald Chasen stand schwankend auf. Durch die Infrarotbrille konnte Fred Archer alles ganz genau sehen. Immer wieder fotografierte er. Chasen stützte sich mit einer Hand auf der Tischplatte auf, die sich langsam zur Seite neigte. Einige Gläser rutschten runter und zerschellten auf dem Terrassenboden. Eine der unheimlichen Wolfsgestalten näherte sich Chasen. Es war Elvira Lorrimer, die ihre prankenartigen Hände auf seine Schultern legte und sich an seinen Rücken schmiegte. Aus den Kopfhörern, die Archer über einen Ast geworfen hatte, drang dumpfes Röcheln, in das sich heisere Lustschreie mischten. Das kann es alles gar nicht geben, dachte der Privatdetektiv. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Einige der Wolfsmenschen griffen nach den fünf Männern, die noch immer wie in Trance waren. Sie trieben sie auf die schmale Tür zu, die ins Haus führte. Einer nach dem anderen verschwand. Schließlich waren nur noch Ronald Chasen und Elvira Lorrimer zu sehen. Archer bedauerte, dass er kein Gewehr bei sich hatte. Er konnte nicht eingreifen … ihm blieb nichts anderes übrig, als die unfassbaren Vorgänge zu fotografieren. Das Wolfswesen, in das sich Elvira Lorrimer verwandelt hatte, umtänzelte Ronald Chasen, gab ihm einen Stoß in den Rücken und drängte ihn zur Tür, die weit offen stand. Chasen verschwand in der Dunkelheit des Hauses, und das Wolfsmädchen folgte ihm. Archer setzte die Kamera ab und griff nach den Kopfhörern. Es blieb still, aber nur wenige Sekunden, dann hörte er einen schrecklichen Schrei. So schrie nur ein Mensch in höchster Todesangst. Der Schrei erstarb, und alles blieb ruhig. Archer wischte sich den Schweiß von der Stirn und schloss die Augen. Er war ziemlich sicher, dass er Ronald Chasen nicht mehr lebend sehen würde. Nach einigen Minuten hatte er sich etwas von seinem Schock erholt und begann die Ereignisse zu verarbeiten. Verdammt noch mal, jetzt gerade musste Wood nicht da sein! Er fragte sich, was er unternehmen konnte. Viel war es nicht … Er konnte nur abwarten. Allein – oder auch zusammen mit seinem Kollegen – konnte er nicht viel gegen die sieben reißenden Bestien un-
ternehmen. Er schüttelte den Kopf. Wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde er es nicht glauben. Werwölfe! Es gab tatsächlich Menschen, die sich in Wolfsmenschen verwandeln konnten. Die Tonbandaufnahmen und Fotos würden es beweisen. Er lauschte immer wieder nach verdächtigen Geräuschen, doch kein Laut drang aus den Kopfhörern. Es war unnatürlich still. Kein Licht war hinter den Fenstern des Hauses zu sehen. Nach einer halben Stunde hörte er schwere Schritte. »Ich bin's, Fred!«, vernahm er John Woods Stimme. »War was los?« »Das kann man wohl sagen«, meinte Archer leise. »Erzähle!« »Du würdest mir doch kein Wort glauben.« Archer beobachtete das Haus weiter. Er musste zehn Minuten warten, dann kam ein Paar auf die Terrasse. Es zündete die Kerzen an und setzte sich, so als wäre nichts geschehen. Sie sahen jetzt wie ganz normale Menschen aus, waren korrekt gekleidet … dabei hatte Archer deutlich gesehen, wie sie sich vor mehr als einer Stunde in Wolfsmenschen verwandelt hatten. Habe ich mir das alles nur eingebildet?, fragte er sich. Immer mehr Leute kamen auf die Terrasse, darunter auch Elvira Lorrimer, die wieder ihr giftgrünes Kleid trug. Das geht nicht mit rechten Dingen zu, stellte Archer fest. Er hatte ganz deutlich gesehen, wie Elvira aus ihrem Kleid geschlüpft war und es auf der Terrasse zurückgelassen hatte. Doch jetzt saß sie lächelnd an einem Tisch und trug das gleiche Kleid. Von den fünf Gästen war nichts zu sehen, stellte Archer fest. Doch einige Minuten später traten die fünf Männer auf die Terrasse. Sie setzten sich an die Tische und taten, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Lachen drang aus den Kopfhörern. Die Zwölf unterhielten sich recht vergnügt. Archer musterte Ronald Chasen. Sein Gesicht war vielleicht eine Spur bleicher, aber das konnte auch täuschen. Er wirkte geistesabwesend und war schweigsam.
Entweder habe ich mir das alles nur eingebildet, sagte sich Archer, oder ich habe geträumt oder bin verrückt. Kopfschüttelnd hantelte er von der Eiche hinunter und blieb vor John Wood stehen. »Was hast du so Außergewöhnliches gesehen, Fred?« Archer brummte ungehalten. »Nichts«, sagte er. Er wollte sich Gewissheit verschaffen und die Filme entwickeln und sich die Tonbänder anhören. »Ich fahre ins Büro, John«, sagte Archer. »Du beobachtest das Haus weiter. Ruf mich jede Stunde im Büro an.« »Und was soll ich tun, wenn Chasen das Haus verlässt?« »Dann verfolgst du ihn und gibst mir sofort Bescheid! Verstanden?« »Verstanden.« Archer nahm die bespielten Tonbänder und die zwei Filme, die er geschossen hatte, an sich. Spätestens in zwei Stunden würde er wissen, ob er sich geirrt hatte, oder …
Der Mann, der Dorian heißen sollte, hatte versucht, alles Gehörte zu einem verständlichen Ganzen zusammenzufügen, doch es gelang ihm nicht. Er kam sich wie ein Künstler vor, dem man einige Mosaiksteine hingeworfen hatte, aus denen er ein Bild formen sollte. Zu viele Informationen hatte er erhalten, die für ihn keinen Sinn ergaben. Er saß neben Marvin Cohen im Rover. Es war weit nach Mitternacht. Die Straßen waren leer. Er hatte das Fenster herunter gekurbelt und saß mit halbgeschlossenen Augen auf dem Beifahrersitz. Cohen hatte das Radio angedreht. Leise Musik war zu hören. Das Brummen des Motors und die Musik schläferten ihn ein. Er schreckte hoch, als Cohen vor einem Haus bremste. »Wir sind da«, sagte Cohen. Er blickte sich flüchtig um. Die Straße war ihm unbekannt. Kleine, einstöckige Häuser, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Aber
das war in London kein ungewohnter Anblick. Cohen stieg aus. Der Mann, der Dorian genannt wurde, kurbelte das Fenster hoch. Er zögerte, dann öffnete er die Tür und folgte Cohen. In einigen Fenstern des Hauses brannte noch Licht. Abraham Road, las er auf einem Straßenschild. Das Haus weckte keinerlei Erinnerung in ihm. Marvin Cohen läutete. Sekunden später wurde die Tür geöffnet, und eine junge Frau war zu sehen. Er blieb neben Cohen stehen und musterte die Frau. Sie wirkte zerbrechlich wie eine Porzellanfigur. Der Eindruck wurde noch durch ihre bleiche Haut und das zarte Puppengesicht, das von blondem Haar eingerahmt war, unterstrichen. Eine hübsche Frau, stellte er fest. Wirkt ein wenig steril, verkrampft und unecht. »Erinnerst du dich an mich, Rian?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. Ihre blassblauen Augen sahen ihn verwirrt an. Er wusste, dass es Lilian sein musste, die nach den Worten der anderen seine Frau war. Seiner Meinung nach hatte er diese Frau jedoch nie zuvor gesehen. Leider war er auf die Behauptungen anderer Menschen angewiesen und konnte einfach nicht feststellen, ob sie die Wahrheit sprachen. Er glaubte noch immer zu träumen, gefangen zu sein in einer irrealen Welt. »Kommt herein!«, sagte Lilian tonlos. Cohen hatte sie angerufen und schonend darauf vorbereitet, dass der Dämonenkiller sein Gedächtnis verloren hatte. Der Mann, der Dorian sein sollte, blickte sich in Diele und Wohnzimmer um, doch nichts rief eine Erinnerung in ihm hervor. Teilnahmslos setzte er sich auf eine Couch. Nochmals sah er Lilian an, dann Cohen. Die beiden verbindet etwas, dachte er. Wie sie sich ansehen! Wie Menschen, die sich mögen. Auch ihre Bewegungen und Gesten verrieten es. »Morgen gehen wir mit Dorian zu einem Arzt«, sagte Cohen, und Lilian nickte. »Ich bin müde«, sagte der Mann, der Dorian sein sollte. »Ich möchte schlafen. Ich fühle mich wie gerädert.«
»Ich zeige dir dein Zimmer«, erwiderte Lilian. Er war froh, dass er sein eigenes Zimmer hatte. Lilian wartete, bis er sich gewaschen hatte und in das Zimmer gegangen war. Sie ließ die Tür einen Spalt offen und kehrte leise ins Wohnzimmer zurück. Cohen stand auf und nahm sie in die Arme. Er küsste sie sanft auf die Stirn und die Wangen. Als er sie auf die Lippen küssen wollte, wandte Lilian den Kopf ab und schob Marvin zur Seite. »Nicht jetzt«, sagte sie fast unhörbar und setzte sich. Cohen blieb vor ihr stehen. »Hast du mit Dorian gesprochen?«, fragte Lilian. Cohen schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Gelegenheit«, sagte er. »Gestern wollte ich mich mit ihm über die Scheidung unterhalten, doch er war plötzlich verschwunden. Und heute tauchte er nach neun Uhr auf und konnte sich an nichts mehr erinnern.« Lilian nickte. »Ich versuchte auch mit ihm zu sprechen, noch heute, bevor er ging. Ich fragte ihn, wie er sich unser Zusammenleben in Zukunft vorstelle, doch er antwortete nicht darauf. Er war völlig geistesabwesend. Ich schrie ihn an, doch auch darauf reagierte er nicht. Unsere Ehe ist kaputt, Dorian, sagte ich. Unser Zusammenleben ist sinnlos geworden. Er hörte mir zu, doch ich hatte den Eindruck, er würde mich nicht verstehen. Es schien mir, als würde er einer anderen, unsichtbaren Stimme lauschen. Er nickte immer wieder mit dem Kopf, sein Gesicht war angespannt, Schweiß rann über seine Stirn. Ich hatte direkt Angst vor ihm. Ich lasse mich scheiden, brüllte ich ihm zu. Er antwortete wieder nicht und ging in die Diele. Ich packte ihn am Arm, wollte ihn zurückhalten, wollte endlich eine Aussprache herbeiführen, doch es war zwecklos. Er schüttelte meine Hand ab, verließ das Haus, stieg in den Wagen und fuhr los.« Cohen schwieg einige Sekunden, dann setzte er sich neben Lilian auf die Couch. »Er war schon seit seiner Rückkehr aus Mexiko seltsam.« »Das stimmt«, bestätigte Lilian. »Jetzt frage ich mich, ob mein Vorschlag mit der Scheidung etwas mit seinem Gedächtnisverlust zu tun hat. Vielleicht bekam er einen Schock.«
Cohen lächelte schwach. »Das glaube ich nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Dorian genau weiß, was zwischen uns ist. Bestimmt hat er gegen eine Scheidung nichts einzuwenden.« »Aber weshalb verhielt er sich dann so seltsam?« »Das würden wir alle gern wissen«, meinte Cohen. »Wir müssen herausfinden, was die Ursache für den Gedächtnisverlust ist.« »Und so lange muss ich wohl noch bei ihm bleiben«, sagte Lilian bitter. »Es wird wohl nichts anderes möglich sein.« »Ich will mit dir zusammen sein, Marvin.« »Mir geht es nicht anders«, erwiderte Cohen leise. Er legte einen Arm um Lilians Schultern und zog sie an sich. Diesmal hatte sie nichts dagegen, dass er sie auf den Mund küsste. Ganz im Gegenteil. Sie drängte sich ihm verlangend entgegen. Seine Hände strichen über ihren Körper, doch nach einigen Minuten löste sie sich schweratmend aus seinen Armen. Ihr voller Busen hob und senkte sich rascher. »Das ist jetzt nicht der richtige Ort und nicht der richtige Zeitpunkt«, sagte sie, stand auf und strich sich den Rock glatt. Cohen fuhr sich über die Lippen und nickte. Mühsam unterdrückte er sein Verlangen. »Ich übernachte hier«, sagte er. »Wir haben beschlossen, dass immer jemand von uns bei Dorian bleibt.« »Du kannst im Gästezimmer schlafen, Marvin.« »Danke, Lilian. Ich schlafe lieber hier.« »Gute Nacht«, sagte sie und trat aus dem Zimmer. Cohen sah ihr mit zusammengepressten Lippen nach. Er hatte ungeduldig Hunters Rückkehr aus Mexiko erwartet, da er mit dem Dämonenkiller wegen Lilian sprechen wollte. Und nachdem er erfahren hatte, dass Coco noch immer zu Dorian stand, ja, dass sie sogar ein Kind vom Dämonenkiller erwartete, hatte er gewusst, dass Dorian nichts gegen eine Scheidung von seiner Frau, die für ihn nur eine Last darstellte und mit der er sich in keiner Weise verstand, haben würde. Aber zu dieser Aussprache war es leider nicht gekommen, und jetzt hatte Dorian sein Gedächtnis verloren.
Nun habe ich so lange auf Lilian gewartet, dachte Cohen, da kommt es auf ein paar Tage auch nicht mehr an. Doch alles in ihm gierte nach dieser Frau. Er brauchte sie nur zu sehen und sein Herz schlug schneller. Er schlüpfte aus seiner Jacke, warf sie über einen Stuhl und ging langsam auf und ab. Im Haus war es ruhig. Er öffnete eines der Fenster, steckte sich eine Zigarette an und starrte in den Garten. Als er Schritte hörte, zuckte er zusammen, huschte zu seiner Jacke, riss die Pistole heraus und stürzte in die Diele, ließ die Waffe aber wieder sinken. Dorian kam langsam die Stufen herunter. Sein Gesicht war leer, die Augen waren weit aufgerissen. »Was ist, Dorian?«, fragte Cohen leise. Dorian blieb auf der letzten Stufe stehen und wandte langsam den Kopf. Er sah Cohen verwirrt an. »Ich bin nicht Dorian Hunter«, sagte er. »Mein Name ist Ronald Chasen.« »Wie war das?« »Ich habe meine Erinnerung teilweise zurückbekommen«, sagte der Mann. »Das ist nicht mein richtiger Körper. Es hört sich verrückt an, aber ich bin Ronald Chasen, bin Architekt und wohne in der Windmill Lane. Mein Büro habe ich in der Regent Street.« Cohens Kinnlade klappte herunter. »Ich bin seit zwanzig Jahren verheiratet«, sagte Ronald Chasen, dessen Geist sich offensichtlich in Dorian Hunters Körper befand. »Der Name meiner Frau ist Carol.« Cohens Gedanken wirbelten durcheinander. Ronald Chasens Geist befand sich also in Dorian Hunters Körper. Befand sich nun Dorian Hunters Geist in Ronald Chasens Körper? Und wenn ja, wodurch war dieser Tausch bewerkstelligt worden? Wahrscheinlich durch Magie. Doch wer konnte ein Interesse daran haben, einen solchen Persönlichkeitstausch vorzunehmen? »Darauf brauche ich einen Schluck«, sagte Cohen und trat ins Wohnzimmer. »Ich rufe meine Frau an«, sagte Ronald Chasen. »Das kommt nicht in Frage«, erwiderte Cohen. »Setz … Setzen Sie
sich!« Ronald Chasen gehorchte. »Wollen Sie auch einen Schluck?« Chasen schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich fühle mich ziemlich seltsam. Ich kann mich an mein Leben als Ronald Chasen erinnern, recht deutlich, aber ich erinnere mich auch an verschiedene Erlebnisse, die ich als Dorian Hunter hatte. Doch irgendetwas in mir weigert sich, die Erinnerungen von Hunter zu akzeptieren. Das ist alles so verwirrend. Ich kann es nicht in Worte fassen. In meinem Kopf geht es wie in einem Tollhaus zu. Alles verwischt sich, verbindet sich zu einem durcheinanderwirbelnden Gedankenchaos.« Cohen trank einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Er war froh, dass Hunter wieder alkoholische Getränke im Haus hatte. Dann stellte er die Flasche ab und baute sich vor Ronald Chasen auf. »Für mich bist du – sind Sie noch immer Dorian Hunter. Sie selbst haben behauptet, dass Sie Erinnerungen an Hunters Leben haben. Es wäre also denkbar, dass Ihnen jemand die Erinnerungen von Ronald Chasen eingepflanzt hat, zu einem Zweck, den wir noch nicht kennen. Versuchen Sie sich zu erinnern!« Ronald Chasen schloss die Augen und dachte angestrengt nach. »Die Erinnerung an Ronald Chasens Leben ist intensiver«, sagte er und öffnete die Augen wieder. »Ich will Carol anrufen. Ich will wissen, was mit meinem Körper geschehen ist. Verstehen Sie mich doch! Ich muss wissen, ob Ronald Chasen noch lebt. Vielleicht ist mein Körper tot, und mein Geist … Sie verstehen … Seelenwanderung.« Cohen nickte langsam. Das wäre auch eine Möglichhit, dachte er. Vielleicht war Ronald Chasen gestorben, und durch magische Kräfte wurde sein Geist in den Körper Hunters versetzt. Cohen wusste nur zu genau, dass es Seelenwanderung gab. Hunter selbst hatte unzählige Leben gelebt, war immer und immer wiedergeboren worden. »Ein Versuch kann nicht schaden«, sagte er und griff nach dem Telefon. »Was soll ich sagen, wenn sich Carol meldet, Dor … Verdammt!«, fluchte er. »Ich weiß ja nicht einmal, wie ich Sie jetzt ansprechen soll. Ich würde vorschlagen, wir bleiben bei Dorian. Ein-
verstanden?« ›Dorian Chasen‹ nickte. »Einverstanden. Ich erinnere mich nur recht undeutlich an die letzten Tage. Das ist seltsam, denn an alles was vorher war, kann ich mich genau erinnern. Ich weiß sogar noch, welches Kleid meine Frau zu ihrer Hochzeit getragen hat. Es war … unwichtig. Aber in der vergangenen Woche beschäftigte ich mich intensiv mit einem seltsamen Projekt. Ach ja, jetzt kann ich mich erinnern. Ich bekam von einer Familie Lorrimer einen merkwürdigen Auftrag. Ich sollte die Pläne für ein Bauwerk ausarbeiten, das so gewaltig und genial sein sollte, dass es alles bisher Geschaffene übertraf. Ich durfte meiner Phantasie freien Lauf lassen. Ich bekam einen gewaltigen Vorschuss und traf mich zwei Mal mit einem jungen Mädchen. Sie war ungewöhnlich attraktiv. Sie hieß Elvira Lorrimer.« Dorian schloss die Augen wieder. »Hm, ich telefonierte sogar noch heute mit ihr. Doch an das Gespräch selbst kann ich mich nicht mehr erinnern.« Cohen hatte interessiert zugehört. »Vielleicht gebe ich mich als ein Mitglied der Familie Lorrimer aus.« »Das wäre eine Möglichkeit. Ich lernte nur Elvira kennen. Aber davon weiß ja meine Frau nichts. Sagen Sie ganz einfach, dass Tony Lorrimer spricht.« Cohen hob den Hörer ab und wählte Ronald Chasens Nummer. Er blickte flüchtig auf die Uhr. Es war kurz nach zwei Uhr. Erst nach dem sechsten Läuten wurde der Hörer abgehoben, und eine schrille Frauenstimme sagte gereizt: »Hallo?« »Guten Abend«, meldete sich Cohen. »Ich würde gern mit Mr. Chasen sprechen.« »Wer spricht?« »Mein Name ist Tony Lorrimer«, sagte Cohen. Tiefes Atmen war zu hören. »Mein Mann ist nicht zu Hause«, sagte Carol Chasen. »Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?« »Nein! Das müssen Sie doch wissen, Mr. Lorrimer. Mein Mann war bei Ihnen eingeladen.« »Das muss ein Irrtum sein«, sagte Cohen rasch.
»Reden Sie keinen Unsinn!«, zischte Carol wütend. »Ich weiß, dass mein Mann bei der Familie Lorrimer eingeladen war. Ich bekam einen Ber … Ist er nicht mehr bei Ihnen?« »Da muss ein Irrtum vorliegen«, sagte Cohen. »Möglicherweise wurde Ihr Mann von meiner Schwester eingeladen. Aber davon weiß ich nichts. Ich werde mich an sie wenden. Entschuldigen Sie die Störung, Mrs. Chasen.« »Warten Sie, Mr. Lorr …« Cohen legte auf. »Ronald Chasen ist bei den Lorrimers. Haben Sie die Nummer?« Chasen nickte. Cohen wählte die Nummer. Als sich nach dem zwanzigsten Läuten noch immer niemand gemeldet hatte, legte er wieder auf. »Ich will wissen, was mit meinem richtigen Körper geschehen ist«, schrie er hysterisch. »Das würde ich auch gern wissen«, meinte Cohen, »aber es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als bis morgen zu warten.« Für Cohen gab es am nächsten Tag keinen Zweifel mehr: Es stimmte, dass sich Ronald Chasens Geist in Hunters Körper befand. Er hatte sich bis zum Morgengrauen mit Chasen unterhalten. An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Trevor Sullivan traf kurz nach sieben Uhr in der Abraham Road ein. Sie saßen im Wohnzimmer. Cohen hatte Tee aufgebrüht. »Was schlagen Sie vor, Trevor?«, fragte Cohen, nachdem er dem ehemaligen O.I. Bericht erstattet hatte. Sullivan schwieg einige Minuten. »Wir sind nur auf Vermutungen angewiesen«, sagte er leise. »Ich schlage Folgendes vor: Zu keinem Menschen ein Wort davon, dass in Hunters Körper jemand anderes steckt.« Cohen und Chasen nickten. »Das Vordringlichste für uns ist im Augenblick, Ronald Chasens wirklichen Körper zu finden. Wir müssen Gewissheit haben … Alles andere wird sich dann finden.« »Setzen wir uns doch einfach mit meiner Frau in Verbindung«, sagte Chasen. »Das wollte ich eben vorschlagen«, meinte Sullivan. »Es ist nicht
auszuschließen, dass Hunter in Ihrem Körper bei ihr auftaucht.« »Ich grübelte die ganze Zeit darüber nach, wer ein Interesse an dem Persönlichkeitstausch haben könnte«, sagte Cohen jetzt. »Ob da dieses seltsame Projekt der Lorrimers eine Rolle spielt?« Sullivan hob die Schultern. »Das wird sich alles herausstellen. Zuerst einmal fahren wir zu Carol Chasen. Wir müssen aber Lilian Bescheid geben, dass wir fortfahren. Gehen Sie bitte zu ihr, Marvin!« Fünf Minuten später kam Cohen zurück. Sein Gesicht sah eingefallen aus, und die Augen waren rot gerändert. »Fahren wir los«, sagte er. Kurz darauf klemmte er sich hinters Lenkrad und startete den Wagen. Ronald Chasen saß neben ihm, Sullivan hatte im Fond des Wagens Platz genommen. »Sie sind Dorian Hunter, Chasen!«, sagte Cohen eindringlich. »Denken Sie daran! Sie dürfen sich Ihrer Frau gegenüber auf keinen Fall verraten. Haben Sie verstanden?« Chasen nickte. »Ich werde daran denken. Aber unter welchem Vorwand wollen Sie mit meiner Frau sprechen?« »Das ist recht einfach.« Cohen grinste. »Ich bin für solche Fälle ausgerüstet. Ich habe noch immer meinen Secret-Service-Ausweis, der zwar ungültig ist, aber das kann Ihre Frau ja nicht wissen.« »Dennoch wird sie stutzig werden. Aus welchem Grund soll sich der Geheimdienst für mich interessieren?« »Machen Sie sich keine Sorgen! Das bekomme ich schon hin.« Cohen fuhr am Greenford Friedhof vorbei und bog in die Windmill Lane ein. Vor Ronald Chasens Haus blieb er stehen. Sie stiegen aus, und Cohen drückte auf den Klingelknopf. Eine halbe Minute später meldete sich eine tiefe Männerstimme. »Das ist mein Butler Charles«, flüsterte Chasen. »Ich möchte zu Mrs. Chasen«, sagte Cohen. »Wen darf ich melden, Sir?« »Mein Name ist Marvin Cohen. Sagen Sie Mrs. Chasen, dass es um ihren Mann geht.« »Einen Augenblick!«, brummte der Butler.
Zwei Minuten später meldete er sich wieder. Der Türsummer ertönte, und Cohen drückte gegen die Tür. Er betrat das Grundstück, und Chasen und Sullivan folgten ihm. Der Butler stand vor dem Haus. Für einen Augenblick sah er verwundert drein, als er drei Männer sah. Cohen blieb vor dem Butler stehen. »Ist Mr. Chasen zu Hause?« »Nein, Sir. Madame bittet Sie, sich einige Minuten zu gedulden. Sie hat Besuch.« »Ich muss sofort mit ihr sprechen«, sagte Cohen energisch. »Das ist leider …« »Sehen Sie sich das an!« Er hielt dem Butler seinen Secret-ServiceAusweis vor die Nase. »Das ist etwas anderes, Sir. Warten Sie bitte!« Er verschwand ins Haus. Eine halbe Minute später trat Mrs. Chasen in den Garten. Sie war ungeschminkt, das Haar zerrauft, und sie trug ein einfaches Leinenkleid. »Geheimdienst?«, fragte sie mit schriller Stimme. Cohen nickte und reichte ihr seinen Ausweis. Sie studierte ihn kurz und gab ihn Cohen zurück. »Was wollen Sie von mir, Mr. Cohen?« »Es geht um Ihren Mann, Ma'am. Er hat den Auftrag für ein Projekt übernommen, an dem wir interessiert sind. Wo können wir Mr. Chasen erreichen?« Sie strich sich über das schwabbelige Kinn und fixierte Cohen, dann blickte sie flüchtig die beiden anderen an. »Kommen Sie herein! Es trifft sich ganz gut, dass Sie gekommen sind. Ich habe Besuch. Fred Archer – ein Privatdetektiv. Er ist vor wenigen Minuten gekommen, um mir Bericht zu erstatten.« Mrs. Chasen trat ins Haus, und sie folgten ihr. »Wozu benötigen Sie einen Privatdetektiv?«, wollte Cohen wissen. »Mein Mann verhielt sich in letzter Zeit seltsam, und deshalb beschloss ich, ihn beschatten zu lassen.« Sie öffnete eine Tür, die in einen langgestreckten Raum führte. Bei ihrem Eintritt stand ein mittelgroßer Mann auf, der ziemlich übernächtigt aussah.
»Das ist Fred Archer«, stellte Carol den Privatdetektiv vor, der den Hereinkommenden zunickte. »Sie beobachteten also Ronald Chasen, Mr. Archer. Dann müssen Sie auch wissen, wo er sich im Augenblick befindet«, sagte Cohen, nachdem sie sich gesetzt hatten. »Das weiß ich. Er ist im Haus der Lorrimers in der Robin Hood Road.« »Bekamen Sie sonst irgendetwas heraus, Mr. Archer?« »Das kann man wohl sagen. In den vier Jahren, seit ich beim Observer beschäftigt bin, ist mir so ein Fall noch nie untergekommen. Um es ehrlich zu sagen, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es ist alles zu unglaublich, und ich kann kaum Beweise vorlegen.« Archer fuhr sich über die Lippen und starrte Cohen an. »Glauben Sie an Werwölfe, Mr. Cohen?« »Was hat diese Frage zu bedeuten?«, schaltete sich Sullivan ein. Archer seufzte. »Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich für verrückt halten, werde ich es Ihnen erzählen.« Der Privatdetektiv lehnte sich zurück und gab einen ausführlichen Überblick der gestrigen Ereignisse. Als er berichtete, wie sich die Leute in Werwölfe verwandelt hatten, wechselten Cohen und Sullivan einen bedeutungsvollen Blick. »Ich fuhr also mit den Filmen und den Tonbändern ins Büro«, schloss Archer, »und entwickelte die Fotos sofort.« »Dann haben Sie ja Beweise für Ihre unglaublichen Behauptungen«, schnaubte Carol Chasen. Ronald Chasen hatte sich weit vorgebeugt und mit großen Augen zugehört. Archer lächelte gequält. »Das ist es ja – ich hab leider keine Beweise.« »Ich verstehe nicht«, sagte Carol Chasen. »Sie sagten doch, dass Sie die Fotos …« Archer hob die Hände. »Ja, die Fotos ließen sich durchaus entwickeln. Ihr Mann und die vier anderen Gäste der Lorrimers sind drauf deutlich zu sehen. Doch die Gastgeber sind nirgendwo abgebildet.«
Der Detektiv öffnete eine Mappe und legte einen Stoß Fotos auf den Tisch. Carol Chasen und die anderen sahen sich die Bilder an. Eindeutig war Ronald Chasen zu erkennen. Er war auf fast jedem Foto abgebildet. Einige der Aufnahmen zeigten nur einen Tisch auf einer Terrasse. Carol warf die Fotos auf den Tisch. »Und was ist mit den Tonbändern?« »Das gleiche«, sagte Archer. »Nur die Stimmen ihres Mannes und der vier anderen Männer sind zu hören. Darf ich mal das Tonband laufen lassen?« Carol nickte. Archer schaltete das Gerät ein und drückte auf die Wiedergabetaste. »Wo soll dieses Gebäude errichtet werden?«, war deutlich Ronald Chasens Stimme zu vernehmen. Dann blieb es still, und nach einigen Sekunden war wieder Chasens Stimme zu hören. »Aber es ist wichtig, Miss Lorrimer!« Wieder Stille. »Ja, ich habe sie im Auto.« Archer stoppte das Band. »So geht es die ganze Zeit weiter. Die Stimme Ihres Mannes ist deutlich zu hören, doch die seiner Gesprächspartner nicht. Ich verstehe das einfach nicht.« Carol Chasen lehnte sich zurück und schüttelte immer wieder den Kopf. Ronald Chasen starrte seine Frau an. Die Hände hatte er verkrampft. Am liebsten hätte er gesagt: Hier bin ich, Carol! Ich bin hier! Doch er schwieg. Er wollte seine Frau nicht noch mehr verwirren. »Was taten Sie, nachdem Sie die Fotos entwickelt hatten, Mr. Archer?«, wollte Cohen wissen. »Ich packte die Fotos und die Bänder in meinen Wagen, fuhr zu meinem Kollegen, löste ihn ab und beobachtete weiterhin das Haus. Es war dunkel. Die Autos der Gäste standen noch im Garten. Kurz nach sieben Uhr löste mich John Wood wieder ab. Als ich losfuhr, war noch alles ruhig. Ich wollte unbedingt zu Mrs. Chasen, um Ihr Bericht zu erstatten.« Cohen stand auf. »Wir fahren zum Haus der Lorrimers«, sagte er. »Versuchen Sie Ihren Kollegen zu erreichen! Wir melden uns später
wieder bei Ihnen, Mrs. Chasen.« »Aber was hat das alles zu bedeuten?«, fragte sie völlig verwirrt. »Ich verstehe das alles nicht.« »Uns geht es nicht besser«, sagte Cohen knapp. Ronald Chasen zögerte, doch Cohen trieb ihn zur Eile an. Fred Archer versuchte seinen Kollegen über das Autotelefon zu erreichen, aber John Wood meldete sich nicht. Marvin Cohen folgte Archers Mini. »Diese Lorrimers sind eine Dämonenfamilie«, stellte Cohen fest. »Es fragt sich nur, ob sie Olivaro friedlich oder feindlich gegenüberstehen.« »Das interessiert mich im Augenblick recht wenig«, sagte Ronald Chasen. »Ich will zurück in meinen eigenen Körper. Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich mitgemacht habe, als ich den Bericht des Detektivs hörte. Aus der Erinnerung, die ich von Hunter habe, weiß ich, dass es Werwölfe gibt.« Cohen und Sullivan schwiegen. Beide waren überzeugt davon, dass sich Dorian Hunters Geist im Körper von Ronald Chasen befand. Und sie hatten Angst, dass Chasens Körper etwas geschah und damit auch Hunters Geist sterben könnte. Archer fuhr wie ein Wahnsinniger, und Cohen hatte einige Mühe, dem spritzigen Mini zu folgen. Sie rasten die Robin Hood Road entlang, und plötzlich bremste Archer ab und bog in einen schmalen Weg ein. Einige Meter vor dem Eisentor blieb der Mini stehen. Archer sprang aus dem Wagen und rannte zu einer Baumgruppe. Cohen stoppte ebenfalls und folgte dem Detektiv zu Fuß. Nach hundert Metern sah er hinter einigen Büschen einen gut versteckten beigen Morris. »John!«, rief Archer, doch er bekam keine Antwort. »Verflucht noch mal, wo steckst du, John?« Cohen blieb neben Archer stehen und blickte sich um. Dann teilte er das Gebüsch, ging langsam weiter und suchte den Boden ab. Nach einem Dutzend Schritten hielt er inne. »Da liegt jemand, Archer«, sagte er und ging um eine Eiche herum.
Ein breitschultriger Mann lag auf dem Bauch. Eine Hand hatte sich in den Boden verkrallt. Archer kam rasch näher. »Das ist John Wood«, sagte er und kniete nieder. Zusammen mit Cohen drehte er Wood auf den Rücken. »Er atmet«, sagte Cohen. »Er ist nur bewusstlos. Versuchen Sie ihn aufzuwecken! Ich steige mal auf einen Baum.« Archer nickte, und Cohen kletterte gewandt auf eine Eiche und blickte zum Haus hinüber. Grimmig presste er die Lippen zusammen. »Es ist kein Mensch zu sehen, Archer«, rief er dem Detektiv zu. »Und alle Autos sind verschwunden.« »Mist!«, knurrte Archer, der sich noch immer bemühte, John Wood aufzuwecken. Cohen sprang zu Boden und blieb neben dem Bewusstlosen stehen. »Was schlagen Sie nun vor?«, fragte Archer. »Wir dringen ins Haus ein. Aber vorher würde ich gern von Ihrem Kollegen hören, was geschehen ist.« Nach einigen Minuten bewegte sich John Wood. Dann setzte er sich langsam auf, öffnete die Augen und stöhnte. »Ich muss mir den rechten Arm gebrochen haben.« Er schüttelte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. »Was ist passiert, John?«, wollte Archer wissen. »Wenn ich das nur wüsste. Mensch, tut der Arm vielleicht weh! Ich muss vom Baum heruntergefallen sein.« »Erzählen Sie endlich!«, sagte Cohen ungeduldig. »Ich saß auf diesem Baum und beobachtete das Haus: Eine halbe Stunde, nachdem du fort warst, Fred, trat ein Mann vor das Haus. Er kniete nieder und vollführte äußerst seltsame Handbewegungen. Mit einem Stab malte er irgendetwas in den Kies. Plötzlich wurde mir schwarz vor den Augen. Ich klammerte mich an einem Ast fest und spürte, dass ich ohnmächtig wurde. Ich kämpfte vergebens dagegen an. Das ist alles, was ich sagen kann.« »Das ist nicht viel«, sagte Archer.
»Tut mir Leid«, sagte Wood zerknirscht. »Ich weiß nicht, wieso ich ohnmächtig wurde. Es war so, als würde sich etwas gegen mein Hirn pressen.« »Los!«, sagte Cohen. »Wir dringen ins Haus ein.« »Das wird nicht so einfach sein«, sagte Archer. »Ich versuchte die Mauer zu überklettern und bekam einen elektrischen Schlag.« »Wir werden sehen«, sagte Cohen. Sullivan und Chasen kamen heran und wurden von Fred Archer mit wenigen Worten über die Geschehnisse informiert. Zusammen gingen die Männer zum Eisentor, wo Cohen vergeblich nach einer Klingel suchte. Er klopfte gegen das Metall und zuckte zurück, als er einen heftigen elektrischen Schlag bekam. »Magie«, sagte er erschrocken. Seit er mit dem Dämonenkiller zusammen arbeitete, hatte er sich eine Reihe magischer Kenntnisse angeeignet. Er holte ein seltsam geformtes Amulett aus der Jackentasche, wickelte die Kette um sein rechtes Handgelenk, trat dicht ans Tor, überkreuzte zwei Finger und versetzte das Amulett in kreisende Bewegungen. Es kam dem Eisentor immer näher. Zuerst schimmerte es silbern, doch nach einigen Sekunden veränderte es die Farbe und begann rot zu glühen. Es prallte drei Mal gegen das Tor, doch Cohen bekam diesmal keinen elektrischen Schlag. Zufrieden trat er einen Schritt zurück. »Was haben Sie gemacht?«, fragte Archer verwundert. Cohen winkte ungeduldig ab. »Das erkläre ich Ihnen später. Helfen Sie mir! Ich will über die Mauer klettern.« Cohen stieg auf Archers Schultern, wurde dabei von Sullivan und Chasen gestützt und an den Ellbogen hochgehoben. Wieder bewegte Cohen das Amulett. Er stützte sich mit der linken Hand auf dem Mauerdach auf und stieß sich dann von Archers Schultern ab. Cohen landete auf dem Mauerdach, bekam einen fürchterlichen elektrischen Schlag, stieß einen Schrei aus und ließ sich einfach in den Garten fallen, geschickt wie eine Katze. Seine Hände zitterten leicht. Er wartete einige Minuten. Im Haus und im Garten rührte sich nichts. »Alles in Ordnung, Cohen?«, hörte er Sullivans Stimme.
»Alles in Ordnung«, antwortete er. Er musterte das Tor und bewegte wieder das Amulett, das jedoch nicht ganz die Wirkung der magischen Falle aufheben konnte. Als er das Tor öffnete, bekam er erneut einen so gewaltigen Schlag, dass er einige Meter zur Seite geschleudert wurde. Er schüttelte den Kopf und stand auf. Archer, Sullivan und Chasen traten in den Garten. Cohen ließ das Amulett nicht los. In die Linke nahm er die Spezialpistole, die mit geweihten Silberkugeln geladen war. Er fürchtete, dass im Garten weitere magischen Fallen verborgen waren, doch er stieß auf keine. Mühelos erreichte er das Haus. Die Eingangstür war nicht verschlossen. Er öffnete die Tür und trat ein. Vor ihm lag ein gewaltiger Raum. Boden und Wände bestanden aus Marmor. Die Halle war bis auf einige Stühle leer. Rechts und links führten kunstvoll verzierte Treppen in die Obergeschosse. »Wir bleiben beisammen«, sagte Cohen zu den anderen. Der Reihe nach öffnete er die Türen in der Halle, doch alle Zimmer waren leer. »Wir sind zu spät gekommen«, sagte er bitter. »Da ist wer!«, schrie Archer plötzlich. Er hatte eine Zimmertür geöffnet, und Cohen lief zu ihm. Zwei junge Mädchen saßen vor einem Tisch. Die Hände hatten sie auf der Tischplatte liegen. Ihre Gesichter waren leer und die Augen geschlossen. »Sie sehen aus, als wären sie in Trance«, sagte Archer. »Die beiden habe ich schon gestern gesehen. Sie servierten das Essen und die Getränke.« Cohen nickte und ging auf die jungen Frauen zu. Er blieb vor dem Tisch stehen und hob die rechte Hand. Das Amulett bewegte sich leicht, und die Lider der Frauen fingen zu flattern an. »Beide sind magisch beeinflusst«, stellte Cohen fest. »Sie nehmen das alles so gelassen hin, Cohen«, sagte Archer misstrauisch. »Sie wissen mehr, als …« »Tut mir Leid, Archer«, unterbrach ihn Cohen, »es ist besser, wenn ich Ihnen nicht alles sage. Seien Sie so freundlich und gehen Sie bitte
aus dem Zimmer! Ich werde versuchen, die Mädchen aufzuwecken.« Archer warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Sehen Sie in den anderen Zimmern nach, Archer!«, rief ihm Cohen nach. »Ich bin zwar ziemlich sicher, dass die Lorrimers das Haus verlassen haben, aber vielleicht entdecken Sie irgendwelche interessanten Spuren.« Archer schloss die Tür, und Cohen starrte die jungen Frauen an. Er konzentrierte sich auf die Jüngere. Sie konnte kaum älter als achtzehn sein. Ein hübsches schwarzhaariges Mädchen. Er beugte sich vor und versetzte das Amulett in kreisende Bewegungen. Die Lider der jungen Frau flatterten stärker, und die Finger verkrallten sich in der Tischplatte. Als das Amulett gegen ihre Wange prallte, stieß die junge Frau einen lauten Schrei aus. Cohen drückte das Amulett gegen die Stirn der Schwarzhaarigen. Sie hob ihre Hände, gab einen gurgelnden Laut von sich und sackte in sich zusammen. Cohen sprang um den Tisch herum, fing die junge Frau auf und legte sie sanft auf den Boden. Dann kniete er nieder und drückte immer wieder das silberne Amulett auf ihre Stirn. Sie warf den Kopf hin und her, hob abwehrend die Hände, versuchte der Wirkung des Silbers zu entgehen, doch Cohen ließ nicht locker. Die ersten Erfolge bestärkten ihn in seinem Tun. Es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis die junge Frau nicht mehr auf das Amulett reagierte. Sie lag bewegungslos auf dem Rücken, und ihre volle Brust hob und senkte sich regelmäßig. Er wartete einige Minuten, dann rüttelte er an den Schultern der Bewusstlosen. Sie brummte unwillig, doch Cohen war sich sicher, dass es ihm gelungen war, den magischen Bann von ihr zu nehmen. Immer wieder schüttelte er sie, und endlich schlug sie die Augen auf und sah ihn verwundert an. »Wer sind Sie?«, fragte sie überrascht und setzte sich auf. »Und wo bin ich?« Ihre Augen weiteten sich plötzlich. Sie warf Cohen einen ängstlichen Blick zu. »Gehören Sie auch zu ihnen?« »Zu wem?« »Zu den Lorrimers.«
»Nein«, sagte Cohen und lächelte. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind in Sicherheit. Nichts kann Ihnen geschehen.« »Ich kann es nicht glauben«, hauchte sie. »Es war alles so entsetzlich. Ich sah, wie sie sich verwandelten, in unheimliche Bestien. Und dann …« Sie senkte den Blick. Ihre Brust hob und senkte sich rascher. »Beruhigen Sie sich«, sagte Cohen sanft. »Wo sind die Lorrimers?« »Fort«, sagte die junge Frau. »Sie sind heute fortgefahren.« »Wohin?« »Ich weiß es nicht genau. Ich hörte irgendetwas von der Südsee. Sie wollten heute hinfliegen.« »Können Sie sich an den gestrigen Abend erinnern?« Sie nickte. »Was geschah da?« »Die Lorrimers hatten Besuch. Fünf Männer. Ann und ich«, sie zeigte auf die junge Frau, die noch immer im magischen Einflussbereich stand, »mussten servieren. Dann verwandelten sich die Lorrimers in Bestien und zogen sich mit ihren Opfern zurück. Danach feierten sie weiter. Heute servierten wir ihnen noch ein Frühstück. Dann fuhren sie alle los – zum Flughafen. Uns ließen sie zurück. Wir mussten uns in dieses Zimmer setzen, und plötzlich konnte ich mich nicht mehr bewegen.« Cohen nickte, öffnete die Tür zur Halle und rief Sullivan zu sich. Er erzählte ihm, was er von der jungen Frau erfahren hatte. Sullivan ging zum Wagen. Obwohl er nicht mehr beim Secret Service arbeitete, hatte er doch einige Beziehungen. Er wollte herausbekommen, ob die Lorrimers tatsächlich abgeflogen waren. Archer und Chasen traten indessen zu Cohen ins Zimmer. »Ich war im ersten und im zweiten Stock«, erzählte Archer, »und versuchte die Türen zu öffnen, doch es gelang mir nicht. Ich wollte eine aufbrechen, doch auch das war nicht möglich.« »So etwas Ähnliches hatte ich erwartet«, sagte Cohen und wandte sich an die junge Frau. »Wie ist Ihr Name?« »Ruth Mason.« »Seit wann waren Sie bei den Lorrimers beschäftigt?«
»Ich meldete mich vor vier Wochen auf eine Anzeige hin. Ich zog hierher, und dann verlor ich meinen Willen. Ich kämpfte dagegen an, doch ich musste den Lorrimers gehorchen. Vor allem Elvira.« »Und Ann?« »Sie wurde gleichzeitig mit mir aufgenommen.« Für Cohen war alles klar. Die Lorrimers waren eine Sippe der Schwarzen Familie, die sich aus dem Staub gemacht hatte. Sullivan kam ins Zimmer und blickte Cohen missmutig an. »Wir sind zu spät dran«, sagte er. »Vor mehr als zwei Stunden flog eine Maschine ab. Eine Privatmaschine. Zwölf Leute gingen an Bord: Die Lorrimers und ihre fünf Gäste, darunter auch Ronald Chasen.« Chasen stürzte auf Sullivan zu. »Wohin fliegen sie?« »Als Ziel wurde Honolulu angegeben.« »Ich will meinen Körper zurückhaben!«, brüllte Chasen. »Die Maschine muss umkehren. Ich will …« Cohen packte Chasen an den Schultern und schlug ihm mit der rechten Hand über den Mund. »Kein Wort mehr!«, schrie er. Chasen presste die Lippen zusammen und nickte. »Was geht hier eigentlich vor?«, fragte Archer. »Was hat das alles zu bedeuten?« »Tut mir Leid, Archer«, sagte Sullivan, »darüber dürfen wir Ihnen keine Auskunft geben. Gehen Sie zum Wagen und rufen Sie Mrs. Chasen an. Sagen Sie ihr, dass ihr Mann nach Hawaii unterwegs ist!« Archer blickte Sullivan böse an. Seine Kiefer malmten. Er schlug sich wütend mit der rechten Hand auf den Oberschenkel und stapfte aus dem Zimmer. »Reiß dich zusammen, Dorian!«, sagte Cohen. »Ich bin nicht Dorian. Ich bin Ronald Chasen. Ich halte das alles einfach nicht mehr aus. Ich will …« »Um Himmels Willen, Trevor, bringen Sie ihn hinaus! Und nehmen Sie Ruth mit! Ich will versuchen, ob ich den magischen Bann von Ann nehmen kann.«
Sullivan führte Chasen aus dem Zimmer, der hemmungslos wie ein kleines Kind weinte. Cohen konnte sich gut vorstellen, was in ihm vorging. Sein Geist steckte in einem fremden Körper, und rings um ihn geschahen Dinge, die für ihn einfach unfassbar waren. Cohen wartete, bis er mit Ann allein war, dann konzentrierte er sich und versuchte den Bann aufzuheben, was ihm nach einer Stunde intensivster Bemühungen schließlich auch gelang. Er war restlos groggy, als die junge Frau wieder sie selbst war. Er unterhielt sich einige Zeit mit ihr, erfuhr aber nichts Neues. So wie Ruth war sie gezwungen worden, für die Lorrimers zu arbeiten. Und wenn die Sippe Besuch hatte, mussten die jungen Frauen den Gästen in jeder Hinsicht zu Diensten sein. Er ließ sich von Ann den gestrigen Abend noch einmal schildern, doch auch sie konnte ihm nicht weiterhelfen. Zusammen mit Ann trat er in die Eingangshalle. »Ich habe Mrs. Chasen angerufen«, sagte Archer, der von einem Stuhl aufstand. »Sie bekam ein Telegramm von ihrem Mann. Es waren nur ein paar Zeilen. Er schrieb, dass sie sich keine Sorgen machen sollte, er müsste geschäftlich nach Hawaii und würde sich wieder bei ihr melden. Chasen teilte ihr außerdem mit, wo sein Wagen steht.« »So etwas habe ich erwartet«, sagte Cohen wütend. »Sie haben doch die Autokennzeichen der anderen Gäste notiert?« »Ja.« »Ich wette mit Ihnen, dass die Ehefrauen der anderen Männer ähnlich lautende Nachrichten bekommen haben.« Und Cohen hatte sich nicht geirrt. Wie sich herausstellte, waren die Männer erfolgreich und verheiratet. Für ihre Frauen war die Abreise völlig überraschend gekommen. Drei Tage später bekamen die fünf Frauen Expresskarten von ihren Männern. Alle Ansichtskarten zeigten das gleiche Motiv, alle waren in Honolulu aufgegeben worden.
Ich lag auf dem Rücken und starrte die Decke an. Langsam kehrte meine Erinnerung zurück. Mühsam setzte ich mich auf.
Das Innere des Rundhauses war spartanisch eingerichtet. Es bestand nur aus einem einzigen Raum, der durch Mattenvorhänge abgeteilt war. Von draußen hörte ich Stimmen, verstand aber nicht, was gesprochen wurde. Ich stand auf und bewegte meine Glieder. Der Körper, in dem ich mich befand, war mir fremd. Ich wusste, dass ich im Körper von Ronald Chasen steckte. Anfangs war alles sehr verwirrend gewesen. Ich hatte die Erinnerung an mein Leben als Dorian Hunter, doch auch die Erinnerung an Ronald Chasens Leben. Mittels schwarzer Magie war ein Persönlichkeitstausch vorgenommen worden. An die Ereignisse der vergangenen Tage konnte ich mich bedauerlicherweise nur sehr lückenhaft erinnern. Ronald Chasen hatte sich im Haus der Lorrimers aufgehalten. Und von einem Augenblick zum anderen hatte ich mich in seinem Körper wiedergefunden. Ich hatte neben Elvira Lorrimer auf der Terrasse gestanden und mit ihr über alle möglichen Dinge geplaudert. Zu diesem Zeitpunkt war aber Ronald Chasens Persönlichkeit noch dominierend gewesen. Wir hatten gespeist, und dann war ich in Trance gefallen. Die weiteren Ereignisse waren verwischt, undeutlich und nicht wirklich fassbar. Irgendetwas war im Haus der Lorrimers geschehen. Ich erinnerte mich daran, mich mit Elvira in einem Zimmer befunden zu haben. Völlige Dunkelheit war um uns gewesen. Seufzen und Stöhnen hatte das Haus erfüllt. Sie war verändert gewesen, doch so sehr ich mich auch bemühte, mir die Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen, es gelang mir einfach nicht; alles lag hinter einem Nebelschleier. Es musste aber etwas Wichtiges gewesen sein; wichtig für mich und das, was ich vorhatte. Ich setzte mich wieder nieder und dachte weiter nach. Am nächsten Morgen hatten wir das Haus der Lorrimers verlassen. Ich hatte ein Telegramm an Ronald Chasens Frau aufgegeben, war in den Jaguar gestiegen und zum Flughafen gefahren, wo mich
bereits Elvira erwartet hatte. Wir waren in ein Flugzeug gestiegen – die Lorrimer-Sippe und die vier Architekten, die ich alle als Ronald Chasen gut kannte. Dann klaffte wieder eine Gedächtnislücke. Undeutlich konnte ich mich erinnern, dass wir in Honolulu gewesen waren, in einem prunkvollen Haus außerhalb der Stadt. Ich hatte eine Karte an Carol Chasen geschrieben. Das Haus hatten wir nicht verlassen dürfen. Und dann war unsere Reise weitergegangen, mit einem Schiff, ja, daran konnte ich mich erinnern. Meistens hatte ich geschlafen; nur zu den Mahlzeiten war ich aufgestanden. Irgendwann stoppte die Jacht, und wir wurden mit Booten zu einem kleinen Atoll gebracht. Das war gestern Nachmittag gewesen. Ich trat aus dem Haus und blieb stehen. Ein wolkenloser, tiefblauer Himmel spannte sich über dem Atoll. Überall standen Kokospalmen. Ich sah die weißen Gischtkronen, die träge auf das Atoll zurollten. Im Schatten der Palmen saßen Männer. Einige davon waren mir persönlich bekannt … als Ronald Chasen hatte ich mit ihnen zu tun gehabt – es waren bekannte Architekten. Und dann erinnerte ich mich an den Auftrag, den Chasen von Elvira Lorrimer erhalten hatte. Er sollte Pläne für ein Bauwerk entwerfen. Ich zögerte, zur Gruppe zu gehen, und blieb im Schatten des Rundhauses stehen. Es würde einige Zeit dauern, bis ich mich daran gewöhnt hatte, auch Ronald Chasens Gedanken und Erinnerungen zu besitzen. Immer wieder überlagerten Chasens Gedanken die meinen. Ich war aus Mexiko zurückgekommen. Dort hatte ich einen Teilsieg im Kampf gegen Olivaro errungen. Coco! Der Gedanke an sie ließ mich die Fäuste ballen. Ich atmete schwer und versuchte, mich weiter zu erinnern. Ich hatte mich mit Dämonen verbündet, die Olivaro feindlich gegenüberstanden. Sie hatten mir einen unglaublichen Plan unterbreitet, phantastisch und gefährlich, doch schließlich hatte ich eingewilligt. Aber so sehr ich auch grübelte, mir fiel nicht ein, was meine
Aufgabe dabei war. Hatte es etwas mit meinem Persönlichkeitstausch zu tun? Unwillig schüttelte ich den Kopf und schlenderte zu den Architekten, die unter den Palmen lagen. Die meisten von ihnen trugen Badehosen und dösten vor sich hin. Ich setzte mich zu Edwin Behrens, den ich von einigen Tagungen her recht gut kannte. Behrens hob den Kopf und blickte mich an. Sein Gesicht sah angespannt aus. Die Lippen waren zusammengepresst, und seine Augen funkelten unheimlich. »Wie geht's, Edwin?«, fragte ich ihn. Er starrte mich an, wandte den Kopf und drehte ihn zur Seite. »Hast du die Sprache verloren, Ed?« »Lass mich in Ruhe!«, knurrte er. »Ich muss nachdenken.« Ich schlüpfte aus meiner Jacke, knöpfte das Hemd auf, legte das Kleidungsstück zusammen, benutzte es als Kopfkissen und studierte die anderen. Es waren etwa dreißig Männer, von denen die meisten angestrengt nachzudenken schienen. Ich versuchte mich zu entspannen, doch es wollte mir nicht gelingen. Eine seltene Unruhe war in mir. Einige Minuten lang blieb ich liegen, dann stand ich wieder auf. Hinter mir befanden sich sechs Rundhäuser mit den typischen Kegeldächern. Sie standen auf Pfählen. Ich ging an den Häusern vorbei und blieb stehen. In etwa zweihundert Metern Entfernung sah ich ein gewaltiges Haus, das etwa hundert Meter lang und zwanzig Meter hoch war. Ein Einheimischer kam mir entgegen. Er war hochgewachsen, das schwarze Haar war kurz geschnitten. Seine Haut war hellbraun, sein Gesicht wies einige Tätowierungen auf. Er war nackt, bis auf einen Schurz aus Bast, stellte sich breitbeinig vor mich hin und deutete auf das große Haus. »Mitkommen!«, befahl er in schlechtem Englisch. »Du und die anderen.« Er zeigte auf die Architekten, dann wieder auf das Haus. Niemand reagierte. Der Eingeborene verzog unwillig das Gesicht.
»Mitkommen!«, brüllte er den Architekten zu. »Sofort!« Einige erhoben sich träge, doch die meisten blieben ruhig liegen, was den Einheimischen immer mehr in Wut brachte. Er hüpfte von einem Bein auf das andere und brüllte immer lauter. Schließlich stand auch der letzte der Männer auf. Wir folgten dem Einheimischen. Dabei beobachtete ich die anderen Männer. Alle machten einen verträumten Eindruck, so als würden sie an schöne Erlebnisse denken. Wir betraten das große Haus, und ich sah mich aufmerksam um. Das Innere bestand nur aus einem Raum. Es waren keinerlei Nägel oder Dübel zum Bau verwendet worden, die Bauteile waren nur mit Lianen und Kokosschnüren zusammengebunden. In einem Halbkreis standen primitive Hocker, die um einen Tisch aufgestellt waren, der auf einem Podium stand. »Setzen!«, schrie der Einheimische. »Alle setzen!« Widerspruchslos setzten sich alle. Ich wählte einen Stuhl in der hintersten Reihe, nahe dem Eingang. Es schien mir, als sei ich der Einzige, der normal denken und handeln konnte. Die Männer stierten ins Leere. Ich musste mich ihnen anpassen, durfte nicht auffallen. Der Einheimische ging aus dem Haus. Niemand sah ihm nach. Keiner sprach ein Wort. Alle warteten geduldig, während meine Unruhe immer mehr wuchs. Ich hörte Schritte, wagte aber nicht, den Kopf umzuwenden. Die Schritte verstummten. Ich starrte geradeaus und versuchte aus den Augenwinkeln zu sehen, wer das Haus betreten hatte, doch es gelang mir nicht. Nach einer Minute waren wieder die Schritte zu hören, die rasch näher kamen. Eine Gestalt trat in mein Gesichtsfeld, und ich musste mich eisern beherrschen, sonst hätte ich mich verraten. Olivaro ging an mir vorbei! Er stellte sich hinter den Tisch und warf uns einen flüchtigen Blick zu. Dann setzte er sich langsam. Er sah aus wie an dem Tag, da ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Olivaro war ein mittelgroßer, recht passabel aussehender Mann. Das Gesicht war schmal, die braunen Augen standen weit auseinander. Das Haar war kurz geschnitten, die Schläfen waren angegraut, und
seine Haut war dunkelbraun gebrannt. Er trug einen weißen Leinenanzug, der wie angegossen saß. Vor sich breitete er einen Stoß Blaupausen und Pläne aus, die er langsam glättete. Nur das Rascheln der Papiere war zu hören. Die Architekten bewegten sich noch immer nicht. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und auf Olivaro losgegangen, doch die Vernunft sagte mir, dass dies nicht viel Sinn gehabt hätte. Er durfte auf keinen Fall merken, dass ich, Dorian Hunter, mich im Körper von Ronald Chasen befand. Meine Zeit würde noch kommen. Olivaro legte die Pläne zur Seite und wandte den Kopf der Tür zu. Schritte näherten sich. Und dann sah ich Coco. Sie kam mir noch schöner vor, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihr schwarzes Haar floss über die Schultern. Das Gesicht mit den großen, grünen Augen wirkte entspannt, gelöst. Sie trug ein hauchdünnes, fließendes Kleid, das ihre festen Brüste betonte und die leichte Wölbung ihres Bauches zu verstecken suchte. Ich war erleichtert. Coco trug noch immer mein Kind unter dem Herzen. Sie setzte sich neben Olivaro, der uns wieder musterte. Für einen Augenblick starrte er auch mich an, doch sein Blick wanderte sofort weiter. »Sieh sie dir an!«, sagte Olivaro spöttisch. »Hier sind die besten Architekten der Welt versammelt, aber ihre Entwürfe befriedigen mich in keiner Weise.« Er beugte sich leicht vor und bewegte die Hände. Leben kam in die regungslosen Gestalten. Sie bewegten sich, schüttelten verwundert die Köpfe und stierten Olivaro an. »Guten Tag, meine Herrschaften«, sagte Olivaro. »Sie alle erhielten durch Mittelsmänner den Auftrag, ein gewaltiges Bauwerk zu entwerfen. Sie sollten Ihrer Phantasie freien Lauf lassen, versuchen, etwas Neuartiges zu schaffen. Aber unter den Plänen fand ich nichts Neues.« »Wer sind Sie?«, fragte Enrique de Egas. Er war klein, sein Haar schlohweiß. »Mein Name ist Olivaro«, sagte der selbsternannte Herr der Finsternis laut.
»Sie sind also der Auftraggeber?«, fragte ein anderer Architekt. »Richtig«, stellte Olivaro fest. »Ich studierte Ihre Entwürfe ganz genau, meine Herren. Einige von Ihnen machten es sich besonders leicht. Ich will aber etwas völlig Neues und nicht eine Kopie der Pyramiden. Einer aus Ihrer Mitte hatte die Frechheit, mir den Turm zu Babel unterjubeln zu wollen. Dabei zeichnete er dreist von Bruegels berühmtem Gemälde ab. Ich will keine Kopien. Haben wir uns verstanden, meine Herren?« Jan van der Heyden stand rasch auf. Er war ein bulliger Architekt, dessen Bauten Weltgeltung erreicht hatten. »Wir sind alle Ihrem Ruf gefolgt, Mr. Olivaro«, sagte er laut. »Ich kann mich zwar nicht erinnern, wie ich hierher gekommen bin, aber das ist im Augenblick auch nicht wichtig. Um es ehrlich zu sagen, ich wollte Ihren Auftrag ablehnen, aber irgendetwas trieb mich dazu, mich damit zu beschäftigen. Was es war, kann ich nicht sagen. Das versprochene Honorar war es aber auf keinen Fall. Ich überlegte und ließ meiner Phantasie freien Lauf, doch ich merkte schnell, dass ich weitere Informationen benötigte. So einen unpräzisen Auftrag hatte ich nie zuvor erhalten. Ich soll das gewaltigste Bauwerk entwerfen, das die Welt je gesehen hat, aber ich weiß nicht einmal, welchen Zweck es erfüllen soll, wie groß es werden darf, wo es gebaut werden soll.« Olivaro lächelte. »Ich wollte Sie in Ihrer Phantasie nicht einengen, meine Herren. Ich war gespannt, was sich die besten Architekten einfallen lassen würden. Aber die Ergebnisse sind recht dürftig. Keiner der Vorschläge entspricht auch nur im Entferntesten meinen Erwartungen.« »Dann geben Sie uns endlich nähere Informationen, Mr. Olivaro!«, brüllte Carimo Fangago wütend. »Die bekommen Sie«, versprach Olivaro. Ich hatte dem Gespräch nur mit halbem Ohr zugehört. Immer wieder ging mein Blick zu Coco, die gelangweilt ins Leere starrte. »Wann?« Fangago ließ nicht locker. »Wenn Sie zu den Häusern zurückkehren, finden Sie alles vor, was Sie benötigen. Ich würde vorschlagen, sehen Sie sich einmal die Un-
terlagen an. Besprechen Sie alles untereinander! Vielleicht kommt bei einer Teamarbeit mehr heraus. Sie können gehen, meine Herren.« Alle standen auf. Die Männer wirkten noch immer recht seltsam auf mich. Jeder Zweifel war ausgeschlossen. Sie standen im Einflussbereich der Dämonen. Ich wunderte mich, dass es mir nicht auch so ging. Ich passte meine Bewegungen den anderen an, als wir uns zu den Häusern begaben. Alle stürzten sich auf die Unterlagen. Auch ich nahm sie zur Hand. Das Gebäude sollte auf dem Atoll errichtet werden, auf dem wir uns befanden. Es war etwa fünf Kilometer lang, zwei Kilometer breit und von einigen Lagunen durchsetzt. Ich legte den Plan zur Seite und schüttelte den Kopf. Weshalb wollte Olivaro hier ein Bauwerk errichten? Und welchem Zweck sollte es dienen? Das hatte er nämlich bis jetzt noch nicht gesagt. Ich musterte meine Kollegen, die die kümmerlichen Unterlagen studierten, hörte ihren erregten Diskussionen aber kaum zu, sondern versuchte mich zu erinnern. Der Schlüssel musste bei meinem Treffen mit den Oppositionsdämonen zu finden sein. Es war kein Zufall, dass ich mich im Körper Ronald Chasens befand. Die Dämonen mussten gewusst haben, was Olivaro plante. Meine Aufgabe war klar. Ich musste Olivaro töten. Aber das würde alles andere als leicht sein. Ich musste mir etwas einfallen lassen.
»Hast du dir diese Nieten angesehen?«, fragte Olivaro, als die Architekten das Versammlungshaus verlassen hatten. »Sie interessieren mich nicht«, erwiderte Coco. »Das sollten sie aber«, brummte Olivaro. »Immerhin sollen sie das Bauwerk entwerfen, das ich dir schenken will. Doch ich fürchte, dass sie nichts Besonderes zustande bringen werden. Sie denken in zu engstirnigen Bahnen. Wenn ich da an Männer wie Michelangelo oder Leonardo da Vinci denke!« Olivaro runzelte die Stirn, dann grinste er. »Wenn diese Architekten nichts Außergewöhnliches
schaffen, dann mache ich ganz einfach eine Totenbeschwörung. Ich erwecke Michelangelo.« »Du hast verrückte Ideen«, sagte Coco. Olivaro lachte. »Es wäre nicht einmal so schwierig. Aber warten wir erst einmal die Ergebnisse ab.« Er stand auf, als Elvira Lorrimer und Te-Ivi-o-Atea das Versammlungshaus betraten. Te-Ivi-o-Atea, der Göttervogel, war eine eindrucksvolle Erscheinung. Er war über einen Meter achtzig groß und trug einen Vogelfedermantel, wie ihn die Häuptlinge der Maori tragen und der aus den haarähnlichen Federn des Kiwi gefertigt war. Sein schmales Gesicht war über und über mit Narben bedeckt und sah abstoßend hässlich aus. Der Dämon stammte von der heiligen Insel Raiatea im Tahiti-Archipel. Seine Macht reichte über ganz Polynesien. Er verneigte sich leicht vor Coco, dann vor Olivaro und setzte sich. Elvira Lorrimer hatte ihr rotes Haar zu einem Rossschweif zusammengebunden. Sie trug ein einfaches Baumwollkleid, das ihre gute Figur vorteilhaft zur Geltung brachte. Sie setzte sich neben Coco an den Tisch. »Mit Enrique Castillo haben wir einen wertvollen Verbündeten verloren«, stellte Olivaro fest. »Allerdings«, sagte Elvira. »Wie kam es zu seinem Tod?« »Das weiß ich nicht genau«, sagte Olivaro vorsichtig. »Irgendjemand fand seinen Körper, als er wehrlos war, und tötete ihn.« »Und du hast keine Ahnung, wer dafür verantwortlich ist?« »Keine«, sagte Olivaro. »Ich nehme aber an, dass dahinter die Sippen der Familien stehen, die sich gegen mich gestellt haben. Ich werde herausbekommen, wer an Castillos Tod schuld ist.« Coco wusste, dass der Dämonenkiller Enrique Castillo getötet hatte, doch sie hütete sich, den Mund aufzumachen. Es war ziemlich schwierig gewesen, Olivaro zu täuschen. Der Fürst der Finsternis hatte Coco nach Mexiko gebracht. Dort hatte sie das werdende Leben in ihrem Leib verlieren sollen, doch Dorian hatte das vereitelt: Es war ihm jedoch nicht gelungen, Coco zu befreien. Jetzt war sie wieder an Olivaros Seite, der sie nicht
aus den Augen ließ. Sie wusste nicht, was er Teuflisches plante – er weihte sie nicht mehr in seine Pläne ein, er war misstrauisch geworden. »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Te-Ivi-o-Atea. »Wir wissen nicht, was die feindlichen Sippen planen. Hier sind wir sicher. Hier können sie uns nicht erreichen.« »Wir müssen Castillos Tod rächen«, sagte Elvira heftig. »Unternimm etwas, Olivaro!« »Keine Sorge! Ich habe schon einiges unternommen. Meine Feinde werden sich noch wundern.« Elvira kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, du vergeudest deine Zeit, Olivaro. Wir erfüllten deinen Wunsch und brachten dir die bedeutendsten Architekten der Welt. Aber findest du nicht, dass es im Augenblick wichtigere Dinge gibt, als ein Bauwerk zu errichten? Noch dazu für …« Sie warf Coco einen Blick zu, der alles andere als freundlich war. »Die fünf Architekten, die aus England kamen, sind von uns zu willenlosen Dämonendienern gemacht worden. Nur einer tanzt aus der Reihe. Dieser Ronald Chasen. Ich glaube, ich werde ihn mir einmal vornehmen müssen. Er reagiert nicht so wie die anderen.« »Tu, was du willst, Elvira. Der Bau hat mit meinen anderen Plänen etwas zu tun. Aber das werde ich dir später erklären«, sagte Olivaro ungeduldig. »Ist bei dir alles klar, Te-Ivi-o-Atea?« Der Dämon nickte. »Ich kann dir so viele Helfer zur Verfügung stellen, wie du nur willst. Es sind Eingeborene der verschiedensten Inseln. Ich werde noch heute einige rufen lassen, damit deine Architekten etwas Abwechslung haben.« »Das wird wohl notwendig sein«, sagte Olivaro. »Sonst können wir sie kaum auf die Dauer beherrschen. Sie müssen ihren Trieben folgen.« »Ich werde alles Notwendige veranlassen.« Te-Ivi-o-Atea erhob sich langsam, verbeugte sich kurz und verließ gemessenen Schrittes das Haus. »Wie lange wirst du hier bleiben, Elvira?«, fragte Olivaro. »Einige Tage – bis mich meine Familie abholt. Sie ist nach Hawaii
gefahren.« Sie verabschiedete sich, um schwimmen zu gehen. Olivaro sah ihr nach, dann verdüsterte sich sein Gesicht. Vor den anderen hatte er sich optimistisch gegeben, doch innerlich dachte er anders. Es lief nicht alles nach Wunsch. Die gegnerischen Dämonenfamilien erwiesen sich als ernsthafte Widersacher. Olivaro war froh, dass sich der Großteil der Sippen neutral verhielt: Sie warteten in aller Ruhe ab, wer aus der Auseinandersetzung als Sieger hervorgehen würde. Er sah Coco an. Auch sie war ein Problem, mit dem er nicht fertig wurde, und das ärgerte ihn gewaltig. Wer war sie schon, dass sie ihm Widerstand entgegensetzte? Aber er wusste, dass Coco schon immer als schwieriger Fall innerhalb der Schwarzen Familie gegolten hatte. In ihrer Jugend hatte sie sich sogar Asmodi verweigert. Und nun war Enrique Castillo, der Coco das Ungeborene aus dem Leib hätte reißen sollen, gescheitert – der Plan war sogar in einem völligen Fiasko geendet, da Castillo getötet worden war. »Das Böse wird siegen«, sagte Olivaro. Das hoffe ich nicht, dachte Coco. Ich werde alles daransetzen, um Olivaros Pläne zu vereiteln. Darum muss ich versuchen, sein Vertrauen wiederzugewinnen. Ich muss Begeisterung heucheln. Und sie wusste, dass dies bei Olivaro nicht leicht sein würde. Er war ein erfahrener Dämon. »Es wird siegen«, sagte Coco und lächelte strahlend, obzwar ihr alles andere als zum Lächeln zumute war. »Ich werde dir einen Palast errichten lassen, wie ihn die Welt nie zuvor gesehen hat«, schwärmte Olivaro. »Ich freue mich darauf«, heuchelte Coco Begeisterung. »Aber da ist vorher noch etwas zu erledigen«, sagte Olivaro hart. »Ich weiß«, sagte Coco. »Ich will endlich den Beweis für deine Treue«, sagte er und zeigte auf ihren Bauch. »Die Frucht des Dämonenkillers muss verschwinden.« »Nein«, sagte Coco. »Ich will das Kind austragen.« Olivaro erstarrte. »Ich will, dass es stirbt!«
»Das wird es auch.« »Wie meinst du das?« »Das kannst du dir nicht denken?« Cocos Augen glühten. »Ich werde das Kind zur Welt bringen.« »Das kommt nicht in Frage!«, schrie Olivaro wutschnaubend. »Ich werde das Kind während eines noch nie da gewesenen Rituals töten, es dir als Opfer darbringen. Ist das nicht ein genügender Beweis für meine Treue zu dir? Ich opfere dir mein eigenes Kind.« Olivaro setzte sich und blickte sie durchdringend an. »Die Idee ist nicht übel. Ich werde mir das noch überlegen. Vielleicht könnte man die Geburt beschleunigen.« Er lachte schallend, und sein Gesicht veränderte sich zu einer teuflischen Fratze. »Das Kind des Dämonenkillers als Grundstein für den Palast, den ich dir bauen will. Wirklich keine schlechte Idee.« Er lachte erneut, dann wurde seine Miene wieder ernst. Wenigstens habe ich ihn für eine Zeitlang hingehalten, dachte Coco erleichtert. Irgendwann ergibt sich vielleicht die Möglichkeit, Olivaro zu entfliehen. Und mein Kind opfere ich auf keinen Fall, da sterbe ich lieber.
Es wurde rasch dunkel. Meine Kollegen unterhielten sich noch immer über das gewaltige Bauwerk, das sie planen sollten. Die Meinungen prallten wild aufeinander. Soweit ich es beurteilen konnte, war bis jetzt noch kein vernünftiger Plan herausgekommen. Mir war keine andere Wahl geblieben, ich musste mich an der Unterhaltung beteiligen und auch meine Meinung vortragen, was mir dank des Wissens, das ich von Ronald Chasen besaß, ziemlich leicht fiel. Meine Kollegen waren alle fasziniert von dem Gedanken, ein Bauwerk zu entwerfen, das alles bisher Dagewesene übertreffen sollte. Nicht einmal während des Essens verstummten die Diskussionen. Einige Eingeborene servierten uns Koele Palao, einen Brei aus Bataten und Kokosmilch. Die Unruhe, die den ganzen Tag schon in mir gewesen war, wurde immer stärker. Ich fühlte ein seltsames Kribbeln im Rücken und in
den Beinen, das sich immer stärker bemerkbar machte. Und dann waren da noch die quälenden Gedanken an Coco, die so nahe war, doch der ich nicht sagen durfte, wer ich wirklich war. Verzweifelt versuchte ich eine Möglichkeit zu finden, Olivaro zu töten. Die Architekten waren keine Hilfe für mich – sie standen noch immer im Bann Olivaros. Ich war ganz allein auf mich gestellt. Das Kribbeln wurde stärker. Es schmerzte jetzt fast. Aber es ging nicht nur mir so. Einige der Architekten atmeten rascher, und ihre Glieder krümmten sich. Ein paar wälzten sich vor den Hütten auf dem Boden und wimmerten leise vor sich hin. Ich konnte nicht mehr ruhig sitzen, sprang hoch und lief auf und ab. Irgendetwas stimmte nicht mit Chasens Körper. Meine Bewegungen wurden ruckartig. Schweiß brach mir aus, und ich spürte, wie Fieberschauer meine Hände zittern ließen. Ich warf mich zu Boden und stöhnte. Für einige Minuten blieb ich auf dem Bauch liegen und schloss die Augen, da sich alles vor mir zu drehen schien. Mir wurde übel. Nach einigen Minuten fühlte ich mich besser. Eine Gier war in mir, die ich nicht erklären konnte. Mein Körper bebte, und Speichel tropfte über meine Lippen, rann über das Kinn. Ich wischte ihn fort. Dann kam der Schmerz, plötzlich und ohne Vorwarnung. Ich stieß einen schrillen Schrei aus und riss die Arme hoch. Meine Hände hatten sich verändert. Sie waren zu Klauen geworden und mit einem dichten braunen Pelz bedeckt. Für einige Sekunden konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich sprang wie verrückt hin und her und riss mir dabei die Kleider vom Leib. Meiner Umgebung schenkte ich keine Beachtung. Ich schien plötzlich alles durch eine Nebelwand zu sehen. Ich rannte los, stieß mir den Kopf, achtete aber nicht darauf. Ich raste an den Häusern vorbei, schrie wie verrückt, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, stolperte, fiel nieder, rappelte mich auf und raste weiter. Irgendwann blieb ich unter einer Gruppe Kokospalmen stehen. Die Schmerzen waren verschwunden, und ich konnte wieder normal sehen.
Vor mir erstreckte sich eine kleine Lagune. Der Mond stand hoch am Himmel und das Wasser schimmerte dunkel und geheimnisvoll. Zögernd kam ich näher und blickte in das Spiegelbild, das mir das Wasser zeigte. Meine Vermutung hatte mich nicht getäuscht. Ich hatte mich in einen Wolfsmenschen verwandelt. Ein abscheuliches Geschöpf. Der Körper war mit einem dichten, dunklen Pelz bewachsen – ich hatte lange Arme und Beine, und die Finger- und Fußnägel hatten sich zu Krallen umgebildet. Ich beugte mich vor. Mein Gesicht war noch menschenähnlich. Die Nase war normal, die Augen mehr oder minder auch. Das Maul sah affenartig aus, und deutlich waren die langen Ohren an meinem Kopf zu sehen. Ronald Chasens Körper war mir schon unangenehm genug gewesen, doch als Wolfsmensch fühlte ich mich noch unbehaglicher. Ich hatte Hunger. Entsetzlichen Hunger, der wie ein Schwert in meinen Eingeweiden wühlte. Und ich wusste, wonach es mir gelüstete. Nach Fleisch und nach Blut: Ich wollte meine Zähne in die Kehle eines Menschen schlagen. Meine Hände krallten sich zusammen. Ich kämpfte gegen die Gier meines unmenschlichen Körpers an, riss den Mund auf und stieß einen Schrei aus, der so schaurig klang, dass ich zusammenzuckte. Ich musste gegen den Zwang ankämpfen. Ich durfte mich nicht von meinem Verlangen hinreißen lassen. Ich ging gebückt um die Lagune herum. Einmal blieb ich stehen, als ich aus der Ferne laute Schreie hörte, in die sich das heisere Gebell einiger Werwölfe mischte. Und langsam kehrte meine Erinnerung zurück. Ich erinnerte mich an das Gespräch, das ich mit den Oppositionsdämonen geführt hatte.
Ich war seit zwei Tagen in London. Es war mir gelungen, Coco zu retten, doch ich hatte sie nicht befreien können. Olivaro war mir zuvorgekommen. Ich hoffte, dass es meiner Lebensgefährtin aus eigener Kraft gelingen würde, sich von Olivaro zu lösen. Und meine ganze Hoffnung setzte ich auf die Dämonengruppe, mit der ich mich verbündet hatte. Ich war sicher, dass sie sich mit
mir in Verbindung setzen würde. Und ich täuschte mich nicht. Es war nach Mitternacht. Lilian war schon schlafen gegangen, und ich saß im Wohnzimmer, trank einen Whiskey und rauchte eine Zigarette, als es mir schien, dass mich eine Stimme rief. Das Rufen wurde drängender. Ich stand auf, hörte das Aufheulen eines Motorrads, verließ das Wohnzimmer und trat vor das Haus. »Sie erwarteten wohl meinen Besuch, Hunter?«, fragte Demur Alkahest, den ich in letzter Zeit schon einige Male getroffen hatte. Er gehörte den Oppositionsdämonen an. Ich nickte und sperrte die Tür ab. Wie üblich war Alkahest ganz in Leder gekleidet. Die dunkle Motorradbrille und eine enganliegende, schwarze Haube ließen nicht viel von seinem Gesicht sehen. »Steigen Sie auf, Hunter!«, sagte Alkahest, und sein schmaler Mund verzerrte sich zu einem höhnischen Grinsen. »Wohin bringen Sie mich?« »Warum so neugierig? Sie werden doch keine Angst haben, oder?« Ich antwortete nicht, setzte mich hinter ihm auf die schwere Maschine und saß kaum, als er auch schon losfuhr. Besorgt klammerte ich mich an ihm fest. Ich war ja selbst kein sehr langsamer Fahrer, aber was Alkahest aufführte, war abnormal. Die Maschine heulte auf, und ich glaubte zu fliegen. Die Fahrt dauerte nicht einmal eine Viertelstunde, aber mir kam sie wie eine Ewigkeit vor. Der Dämonenrocker bog in eine kleine Gasse ein, drosselte die Maschine und fuhr auf ein Tor zu, das langsam hochgezogen wurde. Er brauste in den Hof und blieb vor einer niedrigen Holztür stehen. Ich stieg erleichtert ab. Das Tor schloss sich, und ich blickte Alkahest an. »Sie werden schon sehnsüchtigst erwartet, Hunter«, sagte er und zeigte auf die Tür. Ich drückte die Klinke nieder und trat in einen schmalen, matt erleuchteten Gang. Modrige Luft schlug mir entgegen, und mit jedem Schritt spürte ich die Ausstrahlung der Dämonen stärker. Der Gang
war etwa zwanzig Meter lang, die Mauern waren unverputzt. Mein Unbehagen wuchs. In Darkpool hatte ich die Oppositionsdämonen das erste Mal getroffen, doch damals hatte ich ihren Vorschlag zu einer Zusammenarbeit rundweg abgelehnt … Damals hatte ich noch nicht gewusst, dass Coco noch immer auf meiner Seite stand – das hatte ich erst viel später erfahren. Und dieses Wissen sowie die Tatsache, dass Coco von mir ein Kind erwartete, hatte mich zum Umdenken gezwungen. Ich nahm den Kampf gegen Olivaro auf. Und mir war jedes Mittel Recht. Ich kannte nur ein Ziel. Ich musste Coco befreien. Und dazu war es notwendig, dass ich Olivaro tötete. Es war eine schwerwiegende Entscheidung gewesen, die ich nach langem Überlegen gefällt hatte, denn es war ein Risiko, sich mit Dämonen zu verbünden – doch ich ging es ein. Das zweite Mal hatte ich die Oppositionsdämonen vor meinem Flug nach Mexiko getroffen und mich bei einer unheimlichen Zeremonie mit ihnen verbündet. Sie hatten von mir verlangt, dass ich meinen letzten noch lebenden Bruder, den Freak Jerome Hewitt, töte, doch ich hatte mich strikt geweigert. Durch die Dämonen hatte ich erfahren, was Olivaro mit Coco vor hatte, und ich hatte seinen Plan vereiteln können. Im Augenblick wusste ich nicht, was Olivaro gegen Coco plante, ja, ich wusste nicht einmal, wo sie sich befand. Ich konnte ihr nicht helfen. Der Gedanke an meine Hilflosigkeit trieb mich fast in den Wahnsinn. Vor einer Tür blieb ich stehen. Ein leises Knacken war zu hören, dann schwang die Tür nach innen auf. Ein dunkler Raum lag vor mir. Ich trat über die Türschwelle und blieb stehen. Die Luft wurde heiß, und ein Krachen war zu hören. Aus dem Nichts erschien eine brennende Kerze, die durch die Luft schwebte und auf einem Tisch stehen blieb. Im schwachen Lichtschimmer sah ich fünf gesichtslose Gestalten, die hinter einem schwarzen Tisch saßen. »Es freut uns, dass Sie Ihr Abenteuer in Mexiko gut überstanden haben, Hunter«, sagte eine tiefklingende Stimme, die ich schon zwei Mal gehört hatte. Bei unserer ersten Begegnung hatte der Dämon
verlangt, dass ich ihn Smith oder Miller nennen sollte. »Viel Erfolg hatten Sie nicht. Aber immerhin konnten Sie Olivaros Plan vereiteln und diesen widerlichen Castillo töten. Damit ist einer von Olivaros Anhängern beseitigt. Aber um die geht es uns nicht. Wir wollen Olivaro.« »Was glauben Sie, was ich will?« Meine Augen hatten sich an das trübe Licht gewöhnt, und ich trat zwei Schritte vor. Die fünf Dämonen trugen schwarze Umhänge. Ihre Gesichter waren weiße, verwaschene Flecke. Sie wollten nicht, dass ich sie erkannte, was nur zu verständlich war, mir aber natürlich nicht gefiel. Doch ich hatte ihre Bedingungen akzeptieren müssen – sonst wäre eine Zusammenarbeit nicht möglich gewesen. »Wir haben eine Möglichkeit gefunden, Sie zu Olivaro zu bringen, ohne dass er etwas davon merkt«, sagte einer der Dämonen. Ich blickte ihn interessiert an. »Und die ist?« »Setzen Sie sich, Hunter! Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir tun Ihnen nichts.« »Ich habe keine Angst«, sagte ich grimmig und setzte mich auf den bequemen Stuhl, der plötzlich hinter mir aufgetaucht war. »Sie wissen also, wo Olivaro steckt. Wissen Sie auch, wo sich Coco befindet?« »Ja, das wissen wir. Wir haben einen hübschen Plan entwickelt, wie wir Olivaro töten können. Er ist ein wenig kompliziert, und wie wir Sie kennen, werden Sie ablehnen.« »Lassen Sie erst einmal hören«, sagte ich und lehnte mich zurück. Ich steckte mir eine Zigarette an und inhalierte den Rauch tief. »Olivaro befindet sich auf einem kleinen Atoll in der Südsee«, sagte einer der Dämonen. »Es ist unmöglich, das Atoll unbemerkt zu betreten. Olivaro würde es sofort bemerken.« »Und wie soll ich dann …« »Seien Sie nicht immer so ungeduldig!«, unterbrach mich ein anderer Dämon. »Alles der Reihe nach. Zu Ihrer Information: Coco befindet sich bei Olivaro. Wie es ihr geht, das können wir Ihnen bedauerlicherweise nicht sagen, da wir nicht wissen, was auf dem Atoll vor sich geht. Aber wir erfuhren etwas anderes, das ein be-
zeichnendes Licht auf Olivaro wirft. Er ist ein wenig größenwahnsinnig geworden und muss unglaublich an Coco hängen.« Ich beugte mich ungeduldig vor, und der Dämon hob besänftigend beide Hände. »Bewahren Sie Ruhe, Hunter!«, sagte er. »Olivaro will für Coco ein Bauwerk errichten lassen, einen gewaltigen Palast. Völlig verrückte Idee – wie wir alle finden. Durch Mittelsmänner beauftragt er im Augenblick die bekanntesten Architekten der Welt, dass sie Entwürfe vorlegen sollen. Es war reiner Zufall, dass wir davon erfuhren. Unter anderem wurden auch fünf Engländer beauftragt. Wir wissen, dass diese fünf Architekten in einigen Tagen auf Olivaros Atoll gebracht werden sollen. Und darauf fußt unser Plan. Wir suchten uns einen der Fünf aus: Ronald Chasen, ein Mann mit einem besonders labilen Charakter. Er ist für unsere Zwecke wie geschaffen.« Ich drückte die Zigarette aus. »Ich verstehe noch immer nicht, wie Sie mich auf das Atoll bringen wollen.« »Das liegt doch auf der Hand, Hunter«, brummte der Dämon. »Sie enttäuschen mich.« »Sie denken doch nicht an einen Persönlichkeitsaustausch?« »Sie haben es erraten.« »Tut mir Leid.« Ich erhob mich. »Das ist mir zu gefährlich.« »Ich sagte Ihnen ja, dass Sie unseren Plan erst einmal ablehnen würden. Setzen Sie sich wieder, und hören Sie weiter zu!« Ich setzte mich. Das war Wahnsinn, was sie planten, dachte ich. Der reinste Wahnsinn. Ich wusste, dass es möglich ist, mittels Magie den Geist einer Person auf eine andere zu übertragen, aber dazu sind langwierige Vorbereitungen notwendig. Es kommt nicht selten vor, dass dabei die Person, die in den Körper eines anderen schlüpft, wahnsinnig wird. »Es ist die einzige Möglichkeit für Sie und für uns, an Olivaro heranzukommen«, sagte der Dämon. »Wir suchten nach einem anderen Weg, doch es gibt keinen. Wie gesagt, kein Unbefugter kann die Insel betreten. Aber wenn Ihr Geist im Körper Ronald Chasens steckt, dann haben wir eine gute Chance. Sie wären in Olivaros Nähe und könnten ihn zur Strecke bringen.«
»Ich habe doch keine Ahnung von Chasens Leben.« »Das bereitet keine Schwierigkeit. Wir können Ihnen seine Erinnerung lassen. Sie wissen dann alles, was Chasen weiß.« »Hm«, sagte ich. »Und was geschieht in der Zwischenzeit mit meinem Körper?« »Auf den passen wir auf. Sobald sich Ihr Geist im Körper Ronald Chasens befindet und Sie auf dem Atoll sind, können Sie sich mittels einiger einfacher Beschwörungen mit uns in Verbindung setzen. Wenn Sie das geschickt machen, kommen wir Ihnen zu Hilfe. Sie fungieren praktisch als Sender und Empfänger gleichzeitig. Olivaro fühlt sich auf dem Atoll sicher. Nur auf diesem Weg können Sie – und letztlich auch wir – hingelangen. Und das dürfte Olivaros endgültiges Ende sein.« Der Plan hatte etwas für sich, das musste ich zugeben, doch das Risiko, das ich dabei einging, war einfach zu groß. »Es gibt für Sie keine andere Möglichkeit, Hunter. Olivaro hat nicht die Absicht, das Atoll zu verlassen. Dort ist er unangreifbar. Zu seinen Verbündeten gehört ein mächtiger Dämon, den man als den Herrscher der Südsee bezeichnen kann. Sein Name ist Te-Ivi-oAtea. Für uns alle ist es eher unverständlich, dass er sich Olivaro angeschlossen hat, aber er tat es. Und wir können in diesem Gebiet nichts unternehmen, was er nicht sofort bemerken würde. Denken Sie an Coco! Olivaro wird sie nicht mehr aus den Augen lassen. Und denken Sie an Ihr ungeborenes Kind! Olivaro wird alles daransetzen, damit Coco es verliert.« »Daran denke ich die ganze Zeit«, sagte ich. »Aber Ihr Plan ist verrückt. Es wäre Wahnsinn für mich, ihm zuzustimmen.« Die Dämonen schwiegen. Die Kerze brannte heller. »Ich werde es mir überlegen«, sagte ich schließlich. Ich schob den Stuhl zurück und drehte mich um. »Wir setzen uns morgen mit Ihnen in Verbindung, Hunter. Bis dahin wollen wir Ihre Entscheidung wissen. Überlegen Sie es sich gut! Es ist die einzige Möglichkeit, Coco zu befreien.« Ich ging aus dem dunklen Raum und fühlte mich wie betäubt. Rasch trat ich in den Hof, beachtete Alkahests Bemerkungen nicht,
schwang mich hinter ihm aufs Motorrad und ließ mich nach Hause fahren. An Schlaf war nicht zu denken. Ich setzte mich ins Wohnzimmer, nahm einen Block und Filzschreiber und malte Figuren; dabei überlegte ich. Im Morgengrauen stand mein Entschluss fest. Ich würde mitmachen; ich würde einwilligen. Die Dämonen hatten Recht, es war meine einzige Chance, Coco zu retten. Jeder Tag, der verging, verschärfte die Situation. Lilian und meinen Gefährten sagte ich nichts von meiner Zusammenkunft mit den Dämonen. Gegen Abend läutete das Telefon, und ich hob ab. »Wie ist Ihre Entscheidung, Hunter?« »Ich mache mit.« »Gut«, sagte die tiefe Stimme. »Alkahest holt Sie morgen nach Mitternacht ab.« Ich starrte den Hörer einige Sekunden lang an, dann legte ich auf. Alkahest holte mich wie vereinbart ab. Den ganzen Tag war ich spazieren gewesen. Ich wusste, dass Lilian und Cohen mit mir sprechen wollten, doch ich wich ihnen aus. Mein Verhältnis zu Lilian war nichtssagend geworden – ich hatte mich nie mit ihr verstanden … und jetzt schon gar nicht mehr. Sie war eine Fremde für mich, und ich hatte mich in den vergangenen Wochen oft gefragt, was mich wohl vor Jahren bewogen hatte, sie zu heiraten. Sie war so gar nicht der Typ Frau, den ich mochte. Der Dämonenrocker führte mich in das Haus, in dem ich tags zuvor gewesen war. Wieder waren die fünf gesichtslosen Dämonen versammelt. So wie am Tag zuvor saßen sie hinter dem Tisch. Doch sie waren nicht allein. Ihnen gegenüber saß ein Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte. »Das ist Ronald Chasen«, sagte einer der Dämonen. Ich blieb neben Chasen stehen und sah ihn mir genau an. Was ich zu sehen bekam, gefiel mir nicht besonders. Er war ein unscheinbarer Mann, einer jener schwächlichen Typen, die ich noch nie hatte leiden können. Die Vorstellung, dass sich mein Ich in diesem Körper
befinden sollte, wollte mir überhaupt nicht gefallen. »Setzen Sie sich neben Chasen, Hunter!«, verlangte der Anführer der Dämonen. Ich gehorchte. »Nehmen Sie seine linke Hand!« Wieder folgte ich. Chasens Hand fühlte sich kühl an. Einer der Dämonen ging um den Tisch herum und blieb vor mir stehen. Er trug einen bodenlangen, schwarzen Umhang, der mit seltsamen Symbolen verziert war. Mit einem Griff stülpte er sich eine Kapuze über den Kopf, die keine Augenschlitze aufwies. Zwei Dämonen trugen ein Dreibein herbei, stellten es hinter Chasen und mir auf, schürten die Kohlen an und warfen Kräuter ins helllodernde Feuer. Ein betäubender Duft breitete sich im halbdunklen Zimmer aus. Sie warfen noch mehr Kräuter ins Feuer. Dicke, grünliche Schwaden durchzogen den Raum. Der Dämon mit der Kapuze murmelte vor sich hin, holte aus einer Tasche ein Stück Kreide und zog einen Kreis um Chasen und mich. Danach malte er das Stigma des Teufels Baal neben den Kreis. Die Rauchschwaden wurden immer dichter, und der Geruch wurde so intensiv, dass ich niesen musste. Der Kapuzenmann hob beide Hände, und seine Beschwörungen wurden lauter. Einige Worte verstand ich, doch nach wenigen Minuten erlahmte meine Konzentrationsfähigkeit. Ich schloss die Augen und wurde schläfrig. Die Stimme des Dämons lullte mich ein. Ich wollte nur eines. Schlafen. Irgendwann musste ich eingenickt sein, doch plötzlich zuckte ich zusammen. Ich spürte fremde Gedanken, undeutlich und verwirrend. Dann sah ich Bilder. Ein Haus, zuerst weit entfernt, dann kam es rasch näher, danach eine dicke Frau mit einem schwabbeligen Kinn und einer keifenden Stimme. Die Regent Street war zu sehen, ein sechsstöckiges Haus, Stufen, ein Aufzug, eine lächelnde Blondine, die einen zu engen Pulli trug, ein Büro mit einem riesigen Schreibtisch … Computer, Pläne, Schriftstücke … Die Bilder wechselten immer rascher. Gesichter tauchten auf, die ich nicht kannte. Dann wurde es schwarz vor meinen Augen. Etwas explodierte,
und ich spürte wieder fremde Gedanken, diesmal deutlicher. Gesichter waren zu sehen, die ich nun erkannte. Die dicke Frau, das war Carol, meine Ehefrau, die Blondine war Mona, meine Chefsekretärin, der bärtige Mann, das war Ellister McMauglin, für den ich ein Hochhaus entwerfen sollte, und die sinnliche Frau mit dem tizianroten Haar, das war Elvira Lorrimer, die wollte, dass ich ein gewaltiges Bauwerk schuf, ein Bauwerk, wie es die Welt noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Jaguar. Das war mein Wagen. Ich konnte deutlich Chasens Gedanken lesen, und es gelang mir, in seinen Körper zu schlüpfen. Es war ein kurzer erbitterter Kampf mit Chasens Ich, aus dem ich als Sieger hervorging. Unsere Gedanken verschmolzen, und ich konnte seinem Körper meinen Willen aufzwingen. Ich stand auf und bewegte mich innerhalb des magischen Kreises. Anfangs waren meine Bewegungen sehr ungelenk, doch nach einigen Minuten hatte ich mich an meinen neuen Körper gewöhnt. Ich blieb stehen und glotzte meinen richtigen Körper an. Da hockte Dorian Hunter, der Dämonenkiller, zusammengesunken auf einem Stuhl. Ich streckte meine Hand aus und berührte Hunters Schulter, hob sie höher und strich über die Stirn. »Es ist unglaublich«, sagte ich. Zum ersten Mal hörte ich Chasens Stimme, die mir wie sein Äußeres nicht gefiel. Ich lauschte Chasens Gedanken, und die gefielen mir noch weniger. Er war ein durchaus begabter Mann, aber ein Schwächling, ein Mann, der seiner Frau hilflos ausgeliefert war. Ein Pantoffelheld, wie er im Buche stand. Langsam setzte ich mich nieder und versuchte mich an Chasens Körper zu gewöhnen. Ich hatte Kreuzschmerzen, aber aus Chasens Gedanken erfuhr ich, dass er die seit einigen Jahren hatte. Er sollte Sport treiben, doch seine Arbeit fraß ihn förmlich auf … er hatte zu nichts Zeit. Er war ein Mensch, der nur für seine Arbeit lebte – und für seine Frau. Seinen Gedanken entnahm ich, dass sie einmal recht hübsch gewesen war, aber ich zog mich rasch zurück, als er an das erste intime Zusammensein dachte, das war mir einfach peinlich. »Es funktioniert«, sagte ich zum Kapuzenmann.
»Dann hören wir mit dem Versuch auf«, sagte er. Ich nickte, schloss die Augen, hörte seine Beschwörungen und versank in tiefen Schlaf. Als ich erwachte, fand ich mich in meinem Bett in der Abraham Road wieder. In den nächsten zwei Tagen stellten die Oppositionsdämonen einige Versuche mit mir an. Mehrmals am Tag führten sie einen Persönlichkeitsaustausch durch. Es war ein eigenartiges Gefühl für mich. Ich sah mir etwas im Fernsehen an, und plötzlich befand ich mich in Chasens Körper, saß in seinem Büro und studierte irgendwelche Pläne oder unterhielt mich mit Leuten, die ich als Dorian Hunter nie zuvor gesehen hatte. Die Dämonen verboten mir, dass ich meinen Gefährten etwas von unserem verrückten Plan erzählte. Sie versprachen mir, meinen richtigen Körper zu schützen. Nachdem die Versuche so erfolgreich verlaufen waren, sah ich voll Optimismus in die Zukunft. Und dann war es so weit. Ronald Chasen bekam die Einladung zu einer Party im Haus der Lorrimers. Von den Dämonen wusste ich, dass die Familie Lorrimer zu den mit Olivaro verbündeten Sippen gehörte. Alle fünf eingeladenen Architekten sollten in die Südsee verschleppt werden. Irgendwann gegen Abend würde der Persönlichkeitsaustausch stattfinden. Ich beschloss, in die Jugendstilvilla zu fahren, nahm mir ein Taxi und ließ mich in der Baring Road absetzen. Ich griff nach meinen Schlüsseln und trat auf das schmiedeeiserne Tor zu. Bevor ich noch aufsperren konnte, befand ich mich in Ronald Chasens Körper. Aber irgendetwas stimmte nicht. Ronald Chasens Ich war zu dominierend, was bei den vergangenen Versuchen niemals in diesem Ausmaß der Fall gewesen war. Ich stand neben Elvira Lorrimer, die vom Wechsel der Persönlichkeiten nichts mitbekommen hatte. Ich hatte mich mit ihr unterhalten, völlig unverbindliches Zeug, und wir hatten uns niedergesetzt, an einen hübsch gedeckten Tisch. Zwei junge Mädchen hatten das Essen serviert. Es hatte ausgezeichnet geschmeckt, und danach war ich in Trance gefallen. Und zu diesem Zeitpunkt war unser hübscher Plan schon zunichte gemacht worden. Wir hatten die Lorrimers und Olivaro unterschätzt. Sie begnügten sich nicht damit, die Architek-
ten einfach auf das Atoll zu bringen. Nein, sie machten sie zu ihren Dienern, zu ihren Sklaven. Jetzt waren mir auch die Ereignisse in der Villa der Lorrimers wieder bewusst. Sie hatten sich in Werwölfe verwandelt. Elvira hatte mir einen Stoß in den Rücken gegeben und mich ins dunkle Haus getrieben. Ich hatte Stöhnen gehört, eine krallenartige Hand hatte sich in meinen Rücken gebohrt und mich in ein Zimmer gedrängt. Ich war gestürzt und hatte einen pelzigen Körper gespürt, der sich schwer auf mich legte. Raubtiergeruch hing in der Luft, und das Malmen von Zähnen war zu hören. Irgendetwas zerrte an meiner Jacke. Ich richtete mich auf. Die Jacke fiel zu Boden. Mein Hemd folgte. Scharfe Krallen fuhren über meine Brust. Mein Gürtel wurde geöffnet, die Hose rutschte herunter. Nackt, zitternd vor Verlangen nach etwas, das ich nicht kannte, hatte ich mich zurückgelegt. Die Augen hatte ich geschlossen. Meine Hände verkrallten sich in einen festen Körper. Er fühlte sich wie ein Schäferhund an. Es fauchte in meinem Ohr. Eine raue Zunge strich über mein Gesicht. Mein Körper bäumte sich auf, und ich spürte die spitzen, scharfen Zähne, die sich in meine rechte Schulter bohrten und immer fester zubissen. Ich hörte mich stöhnen, während ich mich verlangend hin und her wälzte. Die scharfen Zähne verbissen sich nun in meiner Brust. Ich spürte, wie mein Blut aus der Wunde drang und die feuchte Zunge es gierig leckte. Die Zeit schien stillzustehen. Die Zähne bissen immer wieder zu, in meine Schenkel, Arme und in den Nacken. Ich keuchte und stöhnte. Es war herrlich, unbeschreiblich herrlich. Alles verwischte sich, wurde unreal. Ich verschmolz mit dem harten Körper in meinen Armen. Weißer Atem strich über meine Wangen, und wohlige Schauer ließen meinen Körper erzittern. Dann schlief ich ein. Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Ich fühlte mich beschwingt wie nie zuvor in meinem Leben. In der Dunkelheit griff ich nach meinen Kleidern und zog mich an. Ich stieg die Stufen hinunter, trat auf die Terrasse und setzte mich zu Elvira Lorrimer an den Tisch. Ich glaubte noch immer zu schweben und wollte nicht sprechen. Mir genügte Elviras Nähe.
Irgendwann gingen wir ins Haus. Ich schlief mit Elvira. Sie schmiegte sich an mich, und ich fühlte mich zufrieden und entspannt. An den Persönlichkeitstausch konnte ich mich nicht erinnern. Und dann fuhren wir nach Honolulu und schließlich zu diesem Atoll. Und in dieser Zeit konnte sich das schwarze Blut richtig in meinem Körper entfalten. Ronald Chasen war zu einem Werwolf geworden. Damit hatten die Oppositionsdämonen nicht gerechnet … und ich schon gar nicht.
Die Gier nach Menschenfleisch wurde übermächtig. Ich musste einen Menschen reißen. Es blieb mir keine andere Wahl. Ich musste töten. Ich stieß einen heiseren Schrei aus, hockte mich nieder und winselte den hochstehenden Mond an. Für einen Augenblick erinnerte ich mich an die Beschwörungsformeln, die nötig waren, um mit den Dämonen Kontakt aufzunehmen, doch ich brachte kein Wort hervor. Mein Maul formte nur unverständliche Laute. Alles in mir sträubte sich gegen die Beschwörung. Das unheimliche Blut in mir war zu stark. Und daran scheiterte unser Plan, der sonst sicherlich geklappt hätte. Ich war allein auf mich gestellt. Mit der Hilfe der Oppositionsdämonen konnte ich nicht rechnen, da ich sie nicht rufen konnte. Aber nicht genug damit, musste ich auch noch gegen das Locken meines unmenschlichen Körpers ankämpfen. Mir wurde übel. Alles in mir gierte nach Fleisch, nach Menschenfleisch. Der Zwang trieb mich weiter. Ich stand zwischen den Palmen und duckte den Kopf. Von überall her waren wilde, durchdringende Schreie zu hören. Ich lief zu den Häusern zurück, vorbei an einem kleinen einstöckigen Haus, ließ das Versammlungshaus hinter mir und erreichte schließlich die Kegeldachhäuser. Alle Architekten hatten sich in Monster verwandelt, die wie wahnsinnig umher liefen und sich gegenseitig bedrohten. Der hochstehende Mond tauchte die Szenerie in silbernes Licht. Eine der Schauergestalten schlug mit ihren Tatzen nach mir, und
ich sprang zur Seite. Der Großteil der Architekten hatte sich in werwolfartige Geschöpfe verwandelt, einige hatten – so wie ich – noch entfernt ein menschliches Aussehen, während die anderen sich in geifernde Bestien verwandelt hatten. Etliche liefen auf allen vieren umher. Sie hatten sich in tiger- und pantherähnliche Monstren verwandelt. Ein paar Vampirwesen waren auch darunter, hohlwangige Geschöpfe mit fast durchsichtiger Haut und langen, spitzen Zähnen und blutunterlaufenen Augen. Die Unruhe unter den Albtraumgeschöpfen wuchs. Sie sprangen sich gegenseitig an, wälzten sich im Sand, und das Schreien wurde immer lauter. Plötzlich war ein leiser Gesang zu hören, und die Unruhe unter den Dämonengeschöpfen legte sich. Ich spürte, wie auch ich langsam ruhiger wurde, doch die Gier war noch immer da. Der Gesang wurde lauter, einschmeichelnder. Die Bestien ließen voneinander ab und liefen zum Strand. Ich schloss mich ihnen an und sah die Boote. Der lockende Gesang, der aus dem Nichts zu kommen schien, klang drängender. Ich lief den Strand entlang und stieß ein tief aus der Kehle kommendes Brummen aus. Es waren etwa sechs Boote. Eines legte an. Zwei Männer und drei junge Frauen sprangen heraus, wateten durch das Wasser und blieben am Strand stehen. Ich rannte auf sie zu, doch ich kam zu spät. Drei tigerartige Bestien waren schneller. Die fünf Einheimischen standen reglos wie Statuen da, doch plötzlich kam Bewegung in sie. Sie brüllten vor Angst und rannten in Richtung der Häuser, von den drei Bestien verfolgt. Eines der Monster packte eine Frau, warf sie zu Boden und schlug mit der rechten Vorderpranke zu. Die Frau bäumte sich auf, das Monster verbiss sich hemmungslos in ihrem Körper. Ich schlich näher, die Bestie wandte sich mir zu, richtete sich drohend auf und hob die Vordertatzen. Sie fauchte wütend und ging auf mich los. Ich wich zurück und sah aus einiger Entfernung zu, wie das Biest das Blut der Toten aufleckte. Mein Magen krampfte sich vor Verlangen zusammen. Dann konnte ich für einen Augenblick normal denken, wandte mich ab und kämpfte gegen die Begierde an.
Immer mehr Boote legten an. Und immer das gleiche Bild. Die Einheimischen waren anfangs wie gelähmt, dann fiel die Erstarrung von ihnen ab. Sie schrien vor Entsetzen, als sie die Monster sahen, und versuchten, zu fliehen. Innerhalb weniger Minuten war der Strand vom Blut rot gefärbt. Überall lagen Tote herum. Das Schreien der Opfer hallte schaurig in meinen Ohren. Ich zitterte am ganzen Leib vor Verlangen. Noch konnte ich mich beherrschen, doch wie lange noch? Ich zog mich zurück und versuchte, die Todesschreie der Menschen und das gierige Schmatzen der Monster zu ignorieren. Ein Wolfsmensch lief an mir vorbei. Er verfolgte ein junges Mädchen – ihr langes, schwarzes Haar wehte hinter ihr her. Der Wolfsmensch erreichte sie. Eine Tatze verkrallte sich in ihrem Haar. Er riss sie an sich, und seine Zähne schnappten zu. Ich darf meiner Gier nicht nachgeben, dachte ich verzweifelt. Doch von Minute zu Minute fiel mir die Enthaltsamkeit schwerer.
Olivaro stand zusammen mit Coco und Elvira Lorrimer vor einem der Fenster im ersten Stock des kleinen Hauses, das sich neben dem Versammlungshaus befand, und blickte zum Strand hinüber. »Sie sind unruhig«, sagte er. »Sie gieren nach Menschenfleisch.« »Hoffentlich kommen die Opfer bald«, sagte Elvira, »sonst zerreißen sie sich noch gegenseitig.« »Keine Angst.« Olivaro grinste. »Te-Ivi-o-Atea hat noch immer seine Versprechen gehalten. Da! Hört ihr das Singen?« Der Gesang wurde immer lauter, und die ersten Boote legten an. Olivaros Gesicht verzerrte sich. Er beugte sich genüsslich vor und sah vergnügt zu, wie sich die Bestien auf die wehrlosen Einheimischen stürzten. Elvira konnte sich kaum beherrschen. Der Anblick war einfach zu viel für sie. Olivaro bemerkte Elviras Unruhe. »Nur zu! Du kannst dich ruhig an dem Spaß beteiligen. Es sind genügend Opfer da.« Elvira starrte den Mond an, und eine geheimnisvolle Kraft schien
auf sie überzuspringen. Sie riss sich das Kleid vom Leib. Ihre Gestalt wurde für einen Augenblick durchscheinend, dann hatte sie sich verwandelt. Für sie als echte Werwölfin war es möglich, die Verwandlung innerhalb von Sekunden durchzuführen. Coco warf ihr einen verächtlichen Blick zu. Elvira öffnete das geifernde Maul und rannte die Stufen hinunter. Olivaro sah ihr grinsend nach. Er beugte sich aus dem Fenster. Augenblicke später lief Elvira auf den Strand zu. Olivaro legte einen Arm um Cocos Hüften und zog sie an sich. Coco war die Berührung des Dämons widerlich, doch sie durfte sich nichts von ihrem Ekel anmerken lassen. »Ein hübscher Anblick. So eine Abwechslung tut gut.« Er kicherte, als er die Todesschreie der unschuldigen Menschen hörte. Coco wandte den Kopf ab. Schon als Kind hatte sie nichts für die grausamen Sitten innerhalb der Schwarzen Familie übrig gehabt – und jetzt noch weniger. »Gefällt es dir nicht, Coco?« »Du weißt genau, wie ich darüber denke. Ich finde es abstoßend.« Olivaro seufzte. »Ich finde es amüsant. Sieh, jetzt hat Elvira ein Opfer erwischt!« »Ich will es nicht sehen«, sagte Coco gereizt. Olivaro lachte. »Unglaublich, mit welcher Gier Elvira das Blut aus der Kehle ihres Opfers trinkt.« Wieder war ein Todesschrei zu hören, und Coco zuckte zusammen. In diesem Augenblick hasste sie Olivaro wie nie zuvor. Seine Hand an ihrer Hüfte schien aus Feuer zu bestehen. Sie trat einen Schritt zur Seite und atmete heftig. Verstohlen beobachtete sie Olivaro, der sich mit beiden Händen auf das Fensterbrett aufstützte und zum Strand blickte. Sein Gesicht war vor Genuss verzerrt. Coco hatte Olivaro gründlich unterschätzt. Sie hatte geglaubt, dass er über solche Schauspiele erhaben wäre, doch das stimmte nicht. Ihn ergötzte das Wüten der Scheusale sichtlich, und er weidete sich an der Angst der Menschen. »Ich gehe schlafen.« »Bleib noch!«, sagte Olivaro, ohne den Blick von der schauerlichen Szene abzuwenden. »Ich will noch einiges mit dir besprechen,
Coco.« »Kann das nicht bis morgen warten?« Er sah sie flüchtig an und schaute wieder aus dem Fenster. »Ich dachte über deinen Vorschlag nach. Ich finde ihn gut. Wir werden eine Frühgeburt herbeiführen, und sobald die Architekten mir die Pläne für den Bau geliefert haben, werden wir das Kind opfern, es in das Fundament einbauen. Die Idee ist großartig. Sie könnte von mir stammen.« »Es freut mich, dass sie dir gefällt«, sagte Coco, und ihre Stimme vibrierte. »Geh nur ruhig schlafen.« »Gute Nacht.« Coco hatte ein eigenes Zimmer am Ende des Ganges im ersten Stock. Sie schob den Vorhang zur Seite und trat ein. Es war hell. Der Mond war deutlich in der Fensteröffnung zu sehen. Coco blieb einen Augenblick stehen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Mit Mühe unterdrückte sie ein Schluchzen. Ich halte es einfach nicht mehr aus, dachte sie. Langsam trat sie ans Bett, setzte sich, schlüpfte aus ihrem Kleid und warf es über einen Stuhl. Noch immer war das Wüten der Bestien zu hören. Coco zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Es war ihr gelungen, Olivaro hinzuhalten, zumindest so lange, bis die Architekten die Pläne lieferten, doch dann konnte sie ihn nicht mehr vertrösten. Er würde das Ungeborene unter ihrem Herzen töten. Das musste sie unbedingt verhindern. Aber sie wusste, dass es für sie keine Möglichkeit gab, dieses kleine Atoll zu verlassen … und gegen Olivaro konnte sie nichts ausrichten. Ihre magischen Kräfte waren wieder schwächer geworden. Sie drückte die Zigarette aus. Neben ihrem Bett stand ein Dreifuß. Sie entzündete ein magisches Feuer, das den Raum in ein gespenstisches Licht tauchte. Die Dämpfe legten sich schwer auf ihre Lungen. Der aromatische Duft machte sie schläfrig und beruhigte ihre Nerven. Sie legte sich auf den Rücken, atmete tief ein und aus, spürte, wie sie langsam ruhig, wie alles bedeutungslos wurde. Die Anspannung fiel von ihr ab.
Einen Augenblick lang dachte sie an Dorian Hunter, fragte sich, wo er wohl stecken mochte und ob er eine Möglichkeit finden würde, ihr zu helfen. Mit diesem Gedanken schlief sie ein.
Ich hatte mich von den Bestien abgesondert. So rasch ich konnte, rannte ich von den Häusern fort. Minutenlang hörte ich noch immer das Brüllen und Schreien, dann klang es leiser, und schließlich verstummte es. Ich warf mich zu Boden und wälzte mich hin und her. Es war mir gelungen, gegen meine Werwolfgier anzukämpfen, doch ich glaubte, wahnsinnig zu werden. Ich wusste nicht, wie lange ich mich von Krämpfen geschüttelt herumwarf. Irgendwann stand ich wieder auf. Das Verlangen war noch immer da. War es möglich, dass ich in meiner Werwolfgestalt Olivaro etwas anhaben konnte? Bedauernd schüttelte ich den Kopf. Diese Möglichkeit schied aus. Olivaro hätte mich mit einer Handbewegung ausgeschaltet. Ich kam an einigen Toten vorbei und warf mich auf den Boden. Für einige Sekunden war das schwarze Blut in meinen Adern stärker. Ich leckte das eingetrocknete Blut auf. Das hätte ich nicht tun sollen. Es verstärkte meine Gier. Ich lief los. Jetzt war nichts mehr von Dorian Hunter in mir. Die blutgierige Bestie dominierte. Verzweifelt suchte ich nach einem Opfer. Aber um mich herum war alles still. Ich erreichte die Hütten. Von den Bestien war nichts mehr zu sehen. Vor dem Versammlungshaus blieb ich stehen. Langsam trat ich ein und blähte die Nasenflügel. Kein Mensch war hier. Ich rannte aus dem Gebäude und blieb wieder stehen. Aus einem kleinen Haus drang aromatischer Duft. Rauchschwaden zogen aus einer Öffnung im ersten Stock. Der Duft machte mich fast verrückt. Ich rannte auf das Haus zu. Es war ziemlich einfach, hinaufzuklettern. Mit meinen scharfen Krallen hakte ich mich in den Holzstämmen fest und hantelte mich hoch. Nach wenigen Sekunden hatte ich die Fensteröffnung erreicht. Ich steckte den Kopf hinein. Eine junge Frau lag auf dem Rücken. Sie trug ein tiefausgeschnitte-
nes, rotes Nachthemd, das ihre Brüste nur halb bedeckte. Ich griff nach den Verzierungen oberhalb der Öffnung, hielt mich mit der linken Pranke fest und setzte das rechte Bein auf das Fensterbrett. Geräuschlos sprang ich in den Raum. Die Frau bewegte sich und setzte sich auf. Es war Coco, in deren Zimmer ich eingedrungen war! Für einen Augenblick war ich wie gelähmt. Und diesen Augenblick nutzte sie. Sie sprang aus dem Bett und griff nach einem Dolch, der auf einem kleinen Tischchen lag. In meinem Inneren herrschte völlige Verwirrung. Der Duft, die Gier nach Menschenfleisch und dazu meine Gedanken als Dorian Hunter, der sich seiner Gefährtin gegenübersah … Coco hob den Dolch. Er war aus Silber. Das Mondlicht spiegelte sich in der Klinge, und die Kraft des Silbers veränderte mich. Ich prallte zurück, und Haarbüschel fielen mir aus. Coco kam langsam auf mich zu. Ich öffnete den Mund und gab einen krächzenden Laut von mir. Coco hob eine Hand und wollte zustechen. »Nicht!«, rief ich. »Ich bin es, Dorian!« Sie senkte den Dolch und starrte mich misstrauisch an. »Du musst mir glauben, Coco«, beschwor ich sie. Meine Stimme war fast unverständlich. »Das ist nicht möglich.« »Es ist aber so. Ich kann es beweisen.« »Ich höre zu«, sagte sie, ohne den Dolch zu senken. Ich kämpfte noch immer gegen die Gier an, sie einfach anzuspringen und ihr die Kehle zu zerfetzen. »Erinnere dich an unser Zusammensein in Wien!«, bat ich. »Als wir die Hochzeit mit Behemoth verhinderten.« Cocos Augen blickten mich interessiert an. »Erzähle weiter!« »Wir blieben noch einen Tag in Wien«, fuhr ich fort. »Wir hatten ein Zimmer im Imperial – Nummer 245. Wir waren essen und gingen kurz nach zehn Uhr auf unser Zimmer. Du trugst einen schwarzen Hosenanzug. Das Haar hattest du aufgesteckt.« »Das kann fast jeder wissen. Was geschah dann?«
Ich erzählte es ihr. Es waren Einzelheiten, die nur ihr und mir bekannt waren. Ich merkte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie mir glaubte, doch sie sagte nichts. »Ich bin nicht als Dorian Hunter auf diesem Atoll«, sagte ich abschließend. »Ich kam als Ronald Chasen hierher. Einer der Architekten, die für Olivaro den Palast bauen sollen. Du musst mir glauben!« Coco wandte den Kopf nach rechts, so als würde sie etwas hören. Sie wandte sich ab. Der Dolch wurde von ihrem Körper verdeckt. Meine Werwolfnatur siegte. Ich kämpfte dagegen an, doch das Verlangen war stärker. Ich hob meine Pranken und sprang los. Dabei fauchte ich und packte Coco an den Schultern. Der Dolch fiel zu Boden, und ich schnappte nach ihrem Nacken.
Eine Woche war seit dem Verschwinden Dorians vergangen. Im Wohnzimmer in der Jugendstilvilla hatten sich Cohen, Parker, Sullivan und Ronald Chasen versammelt. Für Chasen waren die vergangenen Tage ein nicht enden wollender Albtraum gewesen. Geistig gesehen war er ein Wrack. Meist saß er teilnahmslos herum und hing seinen trüben Gedanken nach. Mit Dorians Körper konnte er sich einfach nicht abfinden und mit dem Leben, das er führen sollte, schon gar nicht. Vor Lilian spielte er seine Rolle als Dorian Hunter weiter, doch er sah sie kaum, dafür sorgten schon Cohen und Sullivan, die nicht wollten, dass Lilian erfuhr, dass ein Persönlichkeitstausch stattgefunden hatte. »Wir sind keinen Schritt weitergekommen«, sagte Cohen wütend. »Immerhin wissen wir, dass die Lorrimers nach Honolulu geflogen sind«, meinte Parker. »Aber dann verwischen sich die Spuren«, entgegnete Sullivan ungeduldig. »Uns ist bekannt, dass sie in einem Haus außerhalb Honolulus gewesen sind. Das hat der Privatdetektiv feststellen können, den Parker beauftragt hat. Und wir wissen, dass die Lorrimers mit einer Jacht losgefahren sind und sich die fünf Architekten an Bord befanden. Aber wir wissen nicht, wohin die Jacht gefahren ist. Sie ist
nirgends aufgetaucht.« »Wir sollten nach Hawaii fliegen«, schlug Parker vor. »Vielleicht finden wir dort mehr heraus.« »Das glaube ich nicht, Jeff«, meinte Sullivan. »Es ist sinnlos. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten. Vielleicht meldet sich Dorian.« »Ziemlich unwahrscheinlich«, brummte Cohen. »Wir wissen, dass die Lorrimers Werwölfe sind. Hunter wurde sicherlich infiziert und ist jetzt selbst ein Werwolf. Er steht ganz im Einfluss der Dämonen. Wahrscheinlich ist er völlig hilflos. In der Südsee gibt es Tausende von Inseln. Auf irgendeiner wird er sich befinden. Aber auf welcher? Wir haben keinen Anhaltspunkt. Doch wir müssen bald etwas herausfinden, sonst sehe ich für Chasen schwarz. Er schnappt uns noch über.« Ronald Chasen saß mit geschlossenen Augen da. Er zollte der Unterhaltung keinerlei Aufmerksamkeit. Seit zwei Tagen spielte er mit dem Gedanken, Selbstmord zu begehen, doch dazu fehlte ihm noch der Mut. »Wir dürfen ihn nicht einen Augenblick aus den Augen lassen«, sagte Parker leise. »Mir tut Ronald Chasen Leid«, sagte Sullivan. »Ein anderer Mann hätte sich vielleicht mit der Situation abgefunden, aber er ist zu schwach, zu labil. Er ist durch nichts abzulenken. Was wir nicht alles …« Sullivan hob den Kopf, als Martha Pickford ins Zimmer trat. »Phillip benimmt sich ziemlich seltsam, Mr. Sullivan«, sagte sie. »Vielleicht sehen Sie sich ihn einmal an.« »Was macht er?« »Er hat sich aus der Bibliothek einen Atlas geholt«, berichtete Miss Pickford. »Und vor allem eine Karte starrt er ständig an.« »Welche?«, fragte Parker. »Die Südsee.« »Vielleicht will uns Phillip einen Hinweis geben«, meinte Cohen. »Das hoffe ich«, sagte Sullivan. »Darauf warte ich, seit Dorian verschwunden ist. Wo ist er jetzt?«
»In seinem Zimmer.« »Sie bleiben hier, Marvin!«, sagte Sullivan. »Lassen Sie Chasen nicht aus den Augen!« Cohen nickte und blickte Chasen an, der nichts von der gespannten Erwartung aller merkte. Sullivan und Parker gingen in Phillips Zimmer. Der Hermaphrodit lag auf dem Bauch. Vor ihm befand sich der Britannica-World-Atlas. Er hatte ihn aufgeschlagen und stierte mit weit aufgerissenen Augen eine Karte an. In der rechten Hand hielt er einen Kugelschreiber. Sullivan kam leise näher. Er blieb neben Phillip stehen und beugte sich vor. Phillip hatte die Seiten 67 und 68 aufgeschlagen. Ozeanien. Sullivan und Parker sagten nichts. Sie beobachteten den Hermaphroditen, der weiterhin die Karte studierte. Einige Minuten konzentrierte sich Phillip. Er schloss die Augen, und sein hübsches Gesicht bekam einen schmerzverzerrten Ausdruck. Dann bewegte er langsam die rechte Hand, riss die Augen weit auf und beugte sich tief über die Karte. »Dorian«, sagte er. »Dorian.« Seine Hand näherte sich der Karte. Blitzschnell malte er mit dem Kugelschreiber ein kleines Kreuz auf die Karte. Dann ließ er den Kugelschreiber fallen und stand auf. Er hatte einen Punkt zwischen Samoa und Tonga gekennzeichnet.
»Dorian befindet sich in der Gegend, die Phillip markiert hat. Wir fliegen hin«, meinte Parker. »Nicht so hastig!«, sagte Sullivan. »Ich fliege hin«, erwiderte Parker stur. »Phillip ist ein wandelndes Orakel, seine Tipps waren immer hilfreich. Manchmal drückt er sich umständlich aus, aber diesmal hat er sich eindeutig festgelegt. Ich fürchte, dass sich Dorian in großer Gefahr befindet. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Kommen Sie nun mit oder nicht?« »Ich komme mit.« Parker grinste. »Wen nehmen wir noch mit?«
Sullivan überlegte kurz. »Cohen – und natürlich Chasen.« »Ich verständige meinen Piloten. Ein Glück, dass ich meine Maschine nach London beordert habe.« Parker ging aus dem Zimmer, und Sullivan versuchte, einige Male mit Phillip zu sprechen. Der Hermaphrodit schwieg aber beharrlich. Nach einiger Zeit gab Sullivan seine Bemühungen auf. Alles recht gut und schön, dachte er. Phillip hat uns einen Hinweis darauf gegeben, wo sich Dorian befindet, aber in diesem Gebiet gibt es unzählige kleine Inseln und Atolle. Es würde schwierig sein, Dorian zu finden. Aber es war besser, in der Region zu suchen, als tatenlos in London zu warten. Als Sullivan ins Wohnzimmer trat, legte Parker gerade den Hörer auf. »In drei Stunden können wir starten«, sagte er, lächelnd fügte er hinzu: »Es hat eben seine Vorteile, wenn man Millionär ist und eine eigene DC-9 besitzt.« »Haben Sie gehört, Ronald: Wir fliegen in die Südsee«, sagte Sullivan. Sie hatten sich in den vergangenen Tagen angewöhnt, Ronald Chasen mit seinem richtigen Namen anzusprechen. »Was tun wir dort?« »Wir wissen, wo sich Hunter aufhält.« »Ich will nicht fort.« Chasen sprang auf. »Ich will hier bleiben. Ich halte das alles nicht mehr aus. Ich habe genug. Ich gehe zu Carol und werde ihr …« »Nichts wirst du«, drohte Cohen. Mit Chasens Frau hatte es einige Schwierigkeiten gegeben. Sie hatte unbedingt die Polizei einschalten wollen. Auch Fred Archer hatte mehr wissen wollen, doch es war Cohen gelungen, ihm einige plausible Erklärungen aufzutischen. Außerdem half ihm immer der Hinweis, dass dies eine Angelegenheit für den Geheimdienst war. Das hatte letztlich dann auch Carol Chasen davon abgehalten, zur Polizei zu gehen. »Sie kommen mit, Ron«, sagte Sullivan. »Das ist doch Ihre Chance. Sobald wir Hunter haben, können Sie wieder in Ihren eigenen Kör-
per zurück.« Chasen nickte zögernd, dann lächelte er schwach. »Hoffentlich haben Sie Recht, Trevor.« »Kopf hoch, Ronald!«, sagte Parker. Er war froh, dass sie endlich etwas unternehmen konnten. Das nutzlose Warten war nicht nach seinem Geschmack gewesen. Er war ein Mann der Tat. Parker, Sullivan und Chasen fuhren zum Flughafen, während sich Marvin Cohen zu Lilian begab. Es war ihm unangenehm, dass er sie allein lassen musste. Als er ihr vorschlug, in der Zwischenzeit in die Jugendstilvilla zu ziehen, lehnte sie ab. Sie bettelte Cohen an zu bleiben – doch er konnte nicht anders. Er musste sie allein lassen. Cohen war ziemlich gereizt, als er den Flughafen erreichte. Der Abschied von Lilian hatte ihn mitgenommen, und es ärgerte ihn, dass noch immer keine klaren Fronten geschaffen waren. Eine halbe Stunde später bekamen sie die Starterlaubnis, und die schneeweiße DC-9 hob ab. Das Innere der Maschine war verschwenderisch eingerichtet. Sie saßen im großen Passagierraum, der mit einem Dutzend bequemer Lederstühle ausgestattet war. Parker rieb sich vergnügt die Hände, trat zur Bar und mixte einige Drinks. »Wie stellen Sie sich die Suche vor, Jeff?« Sullivan nippte an seinem Getränk. »Zuerst fliegen wir nach Hawaii. Dort mieten wir ein Wasserflugzeug und suchen die Gegend ab, die Phillip uns gezeigt hat.« »Das kommt mir wie die berühmte Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen vor«, knurrte Cohen. »Sie sind ein hoffnungsloser Pessimist, Marvin«, sagte Parker. »Warten wir es ab«, erwiderte Cohen.
Coco Zamis hatte sich eisern beherrschen müssen, um ihre Freude nicht zu verraten. Sie glaubte nun, dass sich Dorian tatsächlich im Körper des Wolfsmenschen befand. Die Einzelheiten, die er berichtete, konnte nur er wissen. Aber für einen Augenblick erwachte ihr Misstrauen: Es wäre denkbar gewesen, dass Dorian irgendjeman-
dem diese Dinge unter Hypnose verraten hatte. Diese Überlegung spukte in Cocos Hirn herum, während sie dem Wolfsmenschen zuhörte. Und dann vernahm sie das Geräusch draußen vor dem Zimmer, und sie spürte, dass es Olivaro war, der dort lauschte. Sie wandte sich ab und überlegte, was sie tun sollte. Da bekam sie einen Stoß in den Rücken. Scharfe Krallen vergruben sich in ihren Schultern, und ein Fauchen war zu hören. Der Dolch entfiel ihrer Hand, und sie taumelte zur Wand. In diesem Augenblick wurde der Vorhang zurückgeschlagen, und Olivaro trat ins Zimmer. Hinter ihm war Elvira Lorrimer zu sehen, die mit vor Wut blitzenden Augen hereinstürmte. Als sie den Wolfsmenschen erkannte, handelte sie augenblicklich. Sie verwandelte sich in einen Werwolf und sprang wie eine Furie auf Dorian Hunter zu. »Nicht!«, schrie Olivaro mit überschnappender Stimme, doch es war zu spät. Die Werwölfin hatte sich in Hunters Kehle verbissen. Ihre starken Zähne malmten. Hunters Wolfskörper durchlief ein Zittern. Blut drang aus seiner zerfetzten Kehle und tropfte auf seine Brust. Olivaro vollführte mit den Händen einige blitzschnelle Bewegungen, und die Werwölfin wurde zu Boden gerissen. Hunter fiel auf die Knie, die Vorderpranken presste er gegen den Hals, aus dem das Blut spritzte. Seine Augen wurden glasig, dann brach er langsam, wie in Zeitlupe, zusammen. »Schade«, sagte Coco. »Ich hätte ihn gern selbst getötet. Eine Opferung in Rabaul auf Neu-Britannien wäre das Richtige gewesen.« Sie blieb vor dem sterbenden Werwolf stehen. Sie ließ sich nichts von ihrer Erregung anmerken. Ein letztes Zittern durchlief den Körper der Kreatur, dann bewegte sie sich nicht mehr. Die langen Arme und Beine verwandelten sich, die Haare fielen aus, und Sekunden später lag Ronald Chasens Körper vor Coco. Elvira stand schwankend auf. Sie verwandelte sich wieder in einen Menschen. »Das wirst du mir büßen, Elvira«, sagte Olivaro mit eiskalter Stimme. »Nicht genug damit, dass du mir den Dämonenkiller herschmuggelst, was schon schlimm genug ist, nein, du lässt dich auch noch hinreißen und tötest ihn. Was hast du dir dabei eigentlich ge-
dacht?« Die rothaarige Frau schwieg, sie zitterte vor Angst. »Auf solche Verbündete wie dich kann ich verzichten.« »Aber ich wusste doch nicht, dass sich Hunter im Körper von Ronald Chasen …« »Das war eben dein Fehler.« »Aber wie hätte ich ahnen können, dass …« »Dafür gibt es keine Entschuldigung. Du wirst deine verdiente Strafe bekommen. Ich wäre gnädiger gestimmt gewesen, wenn du ihn nicht getötet hättest. Dann hätte ich wenigstens in Erfahrung bringen können, wer hinter dem Persönlichkeitstausch steckt. Aber so habe ich nur einen Toten, mit dem ich nichts anfangen kann.« »Gnade!«, wimmerte Elvira. »Ich war so wütend, dass es Hunter gelungen war, sich in den Körper Chasens zu schwindeln, dass ich einfach durchdrehte. Ich konnte nicht anders. Ich musste ihn …« »Das war dein Fehler«, wiederholte Olivaro kalt. »Der letzte, den du in deinem Leben begangen hast.« Elvira wusste, dass sie verloren war. Als sie sich Olivaro angeschlossen hatte, wurde sie durch magische Bande an ihn gefesselt. Sie war ihm völlig ausgeliefert. Trotzdem wollte sie einen Versuch unternehmen. Kampflos würde sie sich nicht töten lassen. Sie verwandelte sich wieder in eine Werwölfin und sprang Olivaro an. Er blieb ruhig stehen, hob beide Hände, und seine Augen schienen zu glühen. Er ballte die Hände, und seine Lippen verzogen sich. Elvira schien gegen eine unsichtbare Wand zu prallen. Sie winselte, krachte zu Boden und konnte sich nicht mehr bewegen. Olivaro starrte sie mitleidlos an. »Verflucht sollst du samt deiner Sippe sein! Die Geschöpfe, die deine Familie geschaffen haben, werden dich töten. Geh hinaus! Geh zu den Hütten und finde dort den Tod!« Die Werwölfin wurde durchscheinend und nahm wieder menschliche Gestalt an. Sie stand auf und bewegte sich wie eine Marionette. Die Augen hatte sie geschlossen. Langsam ging sie an Olivaro vorbei, der ihr keine Beachtung schenkte. Er blickte aus dem Fenster, murmelte einige unverständliche Worte und beugte sich vor.
Elvira kam ins Freie und blieb vor dem Haus stehen. Heiseres Brüllen war zu hören. Aus einem der Häuser stürmten vier Wolfsmenschen hervor. Sie umringten Elvira, und Olivaro sah gleichgültig zu, wie die Kreaturen auf sie losgingen. Sie stieß einen schrillen Schrei aus. Olivaro wandte sich ab und blickte Coco lauernd an. »Nun zu dir.« Coco zuckte zusammen, als Elviras Todesschrei zu hören war. »So geht es allen Verrätern«, sagte Olivaro. »Ich habe dich nicht verraten«, sagte Coco. »Da bin ich mir nicht so sicher.« »Was willst du damit sagen?« »Ich verfolgte dein Gespräch mit Hunter.« »Ich wollte ihn gefangen nehmen.« »Das glaube ich nicht.« »Du hast doch selbst gesehen, dass er auf mich losgegangen ist. Ich wollte ihn nicht töten, nicht in diesem Augenblick, sondern erst später. Ich ahnte ja nicht, dass du alles …« »Bist du sicher, dass es tatsächlich Hunter gewesen ist?«, unterbrach sie Olivaro ungeduldig. »Das bin ich nicht. Das, was er mir erzählte, konnte nur er gewusst haben – aber vielleicht ist es jemandem gelungen, Hunter dieses Wissen zu entlocken. Möglicherweise hatte Chasen den Auftrag erhalten, mich zu töten. Vielleicht sollte er sich mein Vertrauen erschleichen, um mich leichter umbringen zu können.« »Das wäre eine Möglichkeit.« Olivaro nickte. Seine Wut war etwas verraucht. Aus dem Gespräch mit Coco und Chasen hatte er nicht viel entnehmen können. Aber er war ziemlich sicher, dass tatsächlich ein Persönlichkeitstausch stattgefunden hatte. Coco hatte sich während des Gespräches recht reserviert gezeigt. »Wir sprechen morgen darüber.« Olivaro verließ das Zimmer, ohne Coco eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie atmete erleichtert auf und setzte sich. Als ihr Blick auf den Toten fiel, wandte sie den Kopf und schloss die Augen. Und plötzlich hatte sie Angst, Angst um Dorian. Wenn er sich tatsächlich in Ronald Chasens Körper befunden hatte, was war mit seinem Geist ge-
schehen? War er zurück in seinen eigenen Körper gelangt oder war … Sie schlug die Hände vors Gesicht. Sie konnte nur hoffen, dass Dorian in seinen eigenen Körper zurückgekehrt war. Coco versuchte sich zu erinnern, was sie alles über einen magischen Persönlichkeitstausch wusste. Damit hatte sie sich in ihrer Jugend eine Zeitlang recht intensiv beschäftigt. Ein Persönlichkeitstausch war immer gefährlich. Zu viel konnte dabei geschehen. Und eine Voraussetzung musste erfüllt sein: Die beiden Personen mussten sich ziemlich nahe sein, wenn eine von ihnen starb, sonst … Sie verkrampfte die Hände. Wenn sich Dorians Körper nicht in einem Umkreis von etwa hundert Kilometern befunden hatte, könnte das Schreckliche geschehen sein …
Ich hatte nicht anders gekonnt. Ich musste Coco anspringen. Ich musste meinen Hunger stillen. Ich wurde nur von meinen Werwolfinstinkten beherrscht. Es war mir egal gewesen, in welchem Verhältnis ich zu Coco stand. Aber ich kam nicht dazu, meine scharfen Zähne in ihren Nacken zu schlagen. Ich sah eine Bewegung. Olivaro trat ins Zimmer, und hinter ihm tauchte Elvira Lorrimer auf. Bevor ich noch reagieren konnte, hatte sich Elvira verwandelt. Sie sprang mich an. Ich hörte Olivaro etwas schreien, dann schnappten die scharfen Zähne zu und zerrissen meine Kehle. Ich wollte die Werwölfin abwehren, doch es gelang mir nicht. Ein entsetzlicher Schmerz durchraste mich. Ich fiel zu Boden und spürte, wie das Leben aus meinem Körper entwich. Undeutlich vernahm ich Cocos Stimme, die seltsam schrill klang: »Eine Opferung in Rabaul auf Neu-Britannien wäre das …« Dann wurde es dunkel um mich, und irgendwann starb ich. Als nächstes hörte ich Motorengebrumm und Stimmen. »Wir vergeuden nur unsere Zeit«, hörte ich eine Stimme, die mir bekannt vorkam. Ich war doch gestorben, dachte ich, doch ich konnte meine Hände bewegen. Ich riss die Augen auf. Es dauerte einige Zeit, bis mir bewusst wurde, wo ich mich be-
fand. Ich war an Bord eines Flugzeugs, das dicht über dem Meer flog. Die Sonne ging eben auf. Vor mir saß Marvin Cohen, der mit einem Fernglas die Wasseroberfläche absuchte. Dann sah ich Jeff Parker und Trevor Sullivan. Ich atmete tief durch, hob meine Hände und sah sie an. Es waren Dorian Hunters Hände. Ich war in meinen eigenen Körper zurückgekehrt. Dann dachte ich an Ronald Chasen und presste die Lippen zusammen. Ich fühlte mich an seinem Tod schuldig. Ohne den Persönlichkeitstausch wäre er noch am Leben. Aber er war nicht mehr er selbst gewesen. Er war ein Werwolf geworden und hätte früher oder später getötet werden müssen. Und dafür, dass er zu einem Werwolf geworden war, trug ich keine Verantwortung; daran war die Sippe der Lorrimers schuld. »Ich verstehe Sie nicht, Jeff«, sagte Sullivan. »Es war doch sinnlos. Ich sage Ihnen …« »Einen Augenblick!«, sagte ich laut, und die Drei starrten mich verwundert an. »Was ist, Ron?«, fragte Parker. »Ich bin nicht Ron. Ich bin Dorian Hunter. Ich bin in meinen Körper zurückgekehrt.« Parker starrte mich mit offenem Mund an. »Mach den Mund zu, Jeff!«, sagte ich grinsend. »Und sag dem Piloten, dass er sich schleunigst aus diesem Gebiet entfernen soll! Wo befinden wir uns überhaupt?« »Zwischen Samoa und Tonga«, antwortete Parker. »Sag mal, bist du jetzt tatsächlich der richtige Dorian Hunter?« »Ja«, bestätigte ich. »Und was ist mit Ronald Chasen?«, fragte Cohen. »Er ist tot«, sagte ich leise. »Die Familie Lorrimer verwandelte ihn in einen Werwolf, und als er starb, kehrte mein Ich in meinen Körper zurück. Ich erzähle euch später alles genau. Aber ich wundere mich, dass ihr hier seid.« »Phillip gab uns einen Hinweis«, erklärte Sullivan. »Das war meine Rettung.« »Hast du Coco gesehen?«, wollte Cohen wissen. »Ja. Sie und Olivaro. Und ich habe einen Hinweis bekommen, kurz
bevor ich starb. Ich hoffe, dass ich sie richtig verstanden habe. Wir müssen nach Rabaul.« »Und wo liegt das?«, fragte Parker. »Auf Neu-Britannien.« »Und wo hast du als Ronald Chasen gesteckt?« »Auf einem kleinen Atoll. Es muss irgendwo hier in der Gegend sein, aber wo genau, das weiß ich nicht.« »Wie wär's, wenn wir es suchen würden?« Parker hob fragend die Brauen. »Das ist völlig sinnlos«, erwiderte ich. »Ich bin sicher, dass es vom Flugzeug aus nicht zu sehen ist. Dafür hat Olivaro schon gesorgt. Und er würde uns bemerken. Das wäre unser Ende. Wir müssen möglichst rasch nach Rabaul fliegen.« Parker gab dem Piloten einige Anweisungen. Dann musste ich ihnen meine Geschichte erzählen. Anschließend bekam ich ihren Bericht. Der Plan der Oppositionsdämonen war gescheitert, und ich konnte glücklich sein, dass ich am Leben war. Es war jedoch ein Versuch gewesen, der Erfolg versprochen hatte. Voller Sorge dachte ich an Coco und hoffte, dass ich ihren Hinweis mit Rabaul richtig verstanden hatte.
Zweites Buch
Panik von Earl Warren
Olivaro blickte finster über das Meer. Der Dämon, der als Magus VII. zum Herrscher der Schwarzen Familie und zum Fürsten der Finsternis aufgestiegen war, hatte Sorgen. Deshalb spazierte er über die Klippen am Moray Firth. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen. Sturm und Regen peitschten sein Gesicht. Das Wetter passte zu seiner gegenwärtigen Stimmung. Weshalb hatten viele Dämonenfamilien immer noch Ressentiments gegen ihn? Weshalb würdigten sie seine Verdienste nicht gebührend? Hatte er nicht mehr Macht, als je ein Dämon vor ihm? Olivaro hatte jahrhundertelang gewartet und sich vorbereitet, ehe er die Macht übernahm. Geschickt hatte er seinen Vorgänger, Asmodi II. mit Hilfe Dorian Hunters, den er als Werkzeug benutzte, aus dem Weg geräumt. Doch immer noch gab es Schwierigkeiten. Vielleicht habe ich mich in den vergangenen Jahrhunderten zu ruhig verhalten, dachte Olivaro. Die Mitglieder der Schwarzen Familie fürchten mich nicht genügend, sehen in mir immer noch den Gemäßigten. Oh, diese Narren! Ich habe die Macht und die Kraft, diesen ganzen Planeten in Stücke zu reißen. Ich kann allen Zweiflern Schrecken bereiten, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Ich werde dafür sorgen, dass mein Name wie ein glühendes Menetekel in ihre kümmerlichen Gehirne eingebrannt wird, damit sie mich endlich als den Größten und Schrecklichsten anerkennen, ehren und fürchten. Mich, Magus VII. Fürst der Finsternis. Olivaro ging weiter. Der Sturmwind umheulte die einsame Gestalt in dem schwarzen Mantel mit dem blutroten Innenfutter. Sie munkeln, ich hätte nicht das Charisma eines Führers, sinnierte Olivaro weiter. Wohlan, sie sollen mein Charisma spüren und sich ihm beugen oder sterben. Denn mein Charisma ist das Böse. Der Sturm heulte, die Brandung toste, und die Gischt spritzte hinauf bis zu dem einsamen Wanderer auf den Klippen. Vielleicht liegt es daran, dass ich Dorian Hunter bisher noch nicht habe
zur Strecke bringen können. Er hat der Schwarzen Familie schon viel Schaden zugefügt und muss endlich sterben. Ach, ich wünschte, ich könnte ihm ein Messer in den Bauch stoßen, ihm mit einem Donnerkeil den Schädel spalten oder einfach ein paar Killer anheuern. Aber als Dämon und Fürst der Finsternis bin ich den Gesetzen der Schwarzen Familie unterworfen und muss mich an ihre Regeln halten. Dorian Hunter muss durch meine Magie sterben, und es muss ein Tod sein, der einem Feind des Fürsten der Finsternis würdig ist. Ich glaube, Coco Zamis fühlt sich noch immer zu ihm hingezogen. Was hat dieser Kerl nur, was ich nicht habe, was auch die schwarze Magie mir nicht verleihen kann? Ist es, weil Dorian Hunter ein echter Mann ist, tapfer und im Grunde seines Wesens gut? Pah! Ich spucke den ätzenden Schleim des Höllenhundes Zerberus darauf. Ich bin der Fürst der Finsternis, und es wäre ein Unding, wenn ich nicht Coco Zamis' Zuneigung gewinnen könnte. Sie hat Dorian Hunter einmal geliebt, aber kann denn Liebe stärker sein als all meine dämonische Kraft und die geballte Macht des Bösen? Wenn es so wäre, dann stünden wir Dämonen letzten Endes auf verlorenem Posten. Olivaro schaute in die tobende Brandung unter sich. Ärgerlich riss er sich nach einer Weile von seinen Gedanken los. Was brachte es, zu philosophieren und zu grübeln? Praktische Maßnahmen mussten ergriffen werden. Er beschloss, den Dämonenkiller zu vernichten und Coco Zamis auf die Probe zu stellen. Jetzt wollte er es genau wissen. Wenn Coco sich für ihn, den Fürsten der Finsternis, entschied, dann würde er ihr sein dämonisches Reich zu Füßen legen. Wenn sie aber Dorian Hunter wählte, dann sollte sie elendig umkommen, mitsamt ihrem ungeborenen Kind. »Ja!«, rief Olivaro in den tobenden Sturm, der ihm die Worte von den Lippen riss, »ich werde Tangaroa wecken. Mein schrecklichstes Geschöpf soll alle meine Feinde und Gegner mit Furcht und Schrecken erfüllen. Tangaroa – gegen den selbst der mörderische Moloch nur ein harmloses Haustierchen war.« Begeistert von seinem Plan, machte sich der Fürst der Finsternis sofort auf, ihn zu verwirklichen.
Das amerikanisch-japanische Gemeinschaftsunternehmen faszinierte die Öffentlichkeit. Immer wieder tauchten Meldungen in der Presse auf, und regelmäßig wurden im Fernsehen Filme und Dokumentationen gezeigt, Observator beschäftigte sich mit den tiefsten Meerestiefen. Der 11.022 Meter tiefe Marianengraben sollte erforscht werden. Zwar hatte Jacques Piccard zusammen mit dem amerikanischen Marineleutnant Don Walsh bereits am 25. Januar 1960 in seinem Tauchboot Trieste eine Tiefe von 10.910 Metern erreicht, aber er hatte nicht die Möglichkeiten gehabt, die den Leitern des Projekts Observator zur Verfügung standen. Und damals hatten nicht Millionen zu Hause im bequemen Fernsehsessel die Pionierleistung miterleben können. Die Projektleiter waren Professor Dr. Benjamin Jefferson vom Marineforschungsinstitut in Portland, Maine, und Professor Takahama Yakumotu von der Kaiserlichen Universität in Tokio. Beide waren Ozeanologen. Jefferson hatte sich auf die Flora der Tiefsee spezialisiert, Yakumotu auf die Fauna. Für das Projekt Observator standen zur Verfügung. Ein Forschungsschiff von 18.000 Bruttoregistertonnen, ein Schwergut-Frachtschiff, das speziell für die Belange des Tauchbootes Challenger hergerichtet worden war, das Tauchboot, zwei Kleinunterseeboote sowie die volle Unterstützung der amerikanischen und japanischen Marine. Ein Team von dreißig Spezialisten und sechshundert Helfern der amerikanischen und japanischen Marine arbeiteten für Observator. Am 31. Juli tauchte Challenger wieder auf den Grund des Marianengrabens, und zwar an der tiefsten Stelle, beim Witjas-Tief. An Bord des Forschungsschiffes und an Bord des Frachtschiffes konnte man auf den Monitoren sehen, was die beiden Spezialkameras des Tauchbootes aufnahmen. Über Funk stand die fünfköpfige Besatzung des Tauchbootes mit den beiden Schiffen in Kontakt. Der japanische Marineleutnant Hirogawa Toki hatte an Bord der Challenger das Kommando. Seine Stellvertreterin war die Ozeanologin Dr. Susan Allison. Drei weitere Wissenschaftler befanden sich an Bord. Das Tauchen auf eine Tiefe von elftausend Metern nahm mehrere
Stunden in Anspruch. Der Druck musste immer wieder reguliert werden, um die gefürchtete Caissonkrankheit zu vermeiden. Um elf Uhr hörte Professor Jefferson, ein schmaler, sehniger Mann von fünfundvierzig Jahren und mit angegrauten Schläfen, Leutnant Tokis Routinemeldung. »Hier Challenger, Leutnant Toki«, tönte es gut verständlich aus dem Übertragungslautsprecher des Funkgeräts. »Haben eine Tiefe von zehntausendfünfhundert Metern erreicht. Druckkompensation ist vorgenommen. Wassertemperatur minus 0,5 Grad, Außendruck 1.430 atü. Keine besonderen Vorkommnisse.« Er leierte eine Liste von technischen Daten herunter, die er von den Instrumenten ablas. »Wir gehen auf die endgültige Tauchtiefe. Kommen!« »Verstanden. Wir erwarten Ihre nächste Meldung. Ende«, sagte Professor Jefferson. Er wandte sich seinem japanischen Kollegen Yakumotu zu, der hinter ihn getreten war. »Verdammt wortkarg, dieser Bursche.« Yakumotu lächelte. »Was soll er sagen? Zu romantischen Betrachtungen besteht kein Anlass.« Das stimmte. Auf den Monitoren war nur milchiges Grau zu sehen. Starke Scheinwerfer des Tauchbootes leuchteten die Umgebung aus, doch in einer Tiefe von mehr als zehntausend Metern gab es längst kein Licht mehr und kaum noch pflanzliches und tierisches Leben. Knochenplattfische und Garnelen existierten noch und niedere Lebewesen wie Schwämme und Stachelhäuter, Tiefseevertreter der Seegurke und Seeigel. »Mich würde interessieren, worum es sich bei diesem Riesenei auf dem Meeresgrund handelt«, sagte Professor Yakumotu nachdenklich. »Gestern, als das Gebilde beim letzten Tauchversuch entdeckt wurde, war die Zeit zu knapp, es zu untersuchen.« »Dafür haben wir ihm heute das gesamte Tagesprogramm gewidmet«, antwortete Professor Jefferson. »Ich nehme an, dass es sich um eine Gesteinsformation handelt. Aber vielleicht ist es auch das Ei eines Riesenkraken, und er kommt ab und zu vorbei, um es auszubrüten.« Yakumotu war einige Augenblicke verdutzt, dann erkannte er,
dass der gutaussehende sportliche Amerikaner Spaß gemacht hatte. Er lachte. »Der Größe nach zu urteilen, müsste es sich eher um ein Ei des Filmmonsters Godzilla handeln.« Die beiden Männer unterhielten sich über das Tauchboot. Challanger bestand aus einem bootsförmigen Unterwasserkörper von fünfzehn Metern Länge und einem Durchmesser von dreieinhalb Metern. Es wog fünfzehn Tonnen und fasste hunderttausend Liter Tragbenzin – denn wie ein gasgefüllter Stratosphärenballon sich durch die Luft bewegte, so sollte das Tauchboot unter Wasser operieren – das Benzin, leichter als Wasser, ermöglichte das. Um die nötige Tauchtiefe zu erhalten, wurden Tauchtanks geflutet. Außerdem dienten Pakete von Eisenschrott als Ballast. Der Eisenschrott wurde zum Teil bei Erreichen der Tauchtiefe und später beim Aufsteigen durch Klappen abgeworfen. An dem Schwimmkörper hing eine Passagierkapsel aus Edelstahl mit Druckfenstern aus Plexiglas, eingebauten Scheinwerfern und Videokameras. Um zwölf Uhr fünfzehn meldete Challenger, dass die endgültige Tauchtiefe erreicht sei. 10.960 Meter. Das Tauchboot schwebte etwas über dem gigantischen Riesenei. Die Techniker an Bord des Forschungsschiffes errechneten die Maße: »Das Ei – oder was immer es auch sein mag – ist fünfzehn Meter lang und hat einen Durchmesser von neun Metern.« Jefferson pfiff durch die Zähne. »Ein ganz schöner Brocken.« Die Umrisse waren auf den Monitoren nur verschwommen zu erkennen. Man konnte die Konturen ausmachen und sehen, dass das eiförmige Gebilde halb im Schlamm versunken war oder aus diesem hervorwuchs. Die Scheinwerfer der Challenger strahlten es an. »Es sieht tatsächlich wie ein riesiges Ei aus«, meldete sich Leutnant Toki über Sprechfunk. »Wir werden jetzt mit Spezialwerkzeugen ein Loch hineinbohren und Materialproben entnehmen.« »Gut.« Der elektrische Antrieb brachte das Tauchboot ganz nahe an das Riesenei heran. Aus einer Luke wurde ein Bohrer ausgefahren. Plötzlich meldete sich Leutnant Tokis Stimme über Funk, ganz im Gegensatz zu sonst aufgeregt und hektisch.
»Hier Challenger. Das Ding bekommt Sprünge.« »Es handelt sich wohl um ein leicht zerbrechliches Material«, sagte Professor Yakumotu ins Funkmikrofon. »Es hält die Bohrung nicht aus.« »Aber der Bohrer hat es überhaupt noch nicht angerührt!« Jetzt konnte man es auch auf den Monitoren erkennen. In der Zentrale des Unternehmens schauten alle wie gebannt zu. Große Sprünge durchzogen das Riesenei, ein Stück bröckelte ab, und eine Öffnung entstand. Man konnte aber nicht erkennen, was sich darin befand. »In diesem Ei lebt etwas!«, rief eine Stimme aus dem Hintergrund. »Es schlüpft aus.« Jefferson drehte sich um. Außer ihm waren noch dreißig Männer in der Zentrale, um die verschiedenen Instrumente zu überwachen. »Wer hat das gesagt? So ein Blödsinn! Das Ganze spielt sich in elftausend Metern Tiefe ab. Abgesehen davon, dass es so große bebrütete Eier überhaupt nicht gibt. Vielleicht ist es ein Meeresbeben, das diese ovale Formation zerfallen lässt.« Er wandte sich über Funk an Leutnant Toki. »Zeigt euer Seismograph etwas an?« »Nein. Keine Anzeichen eines Bebens. Es werden immer mehr Sprünge. Die Öffnung vergrößert sich. Jetzt sehen wir durchs Fenster, dass sich in dem Ei etwas bewegt. Großer Gott, auf was sind wir da gestoßen?« »Halten Sie größeren Abstand! Gehen Sie auf dreißig Meter Distanz und warten Sie ab!« Zu den andern gewandt sagte Jefferson: »Jetzt fangen die da unten auch schon an, Gespenster zu sehen.« Auf den Monitoren war jetzt so gut wie gar nichts mehr zu erkennen. Ausgerechnet in diesem Augenblick gab es eine Bildstörung. »Berichten Sie, Leutnant Toki!«, forderte Jefferson über Funk. »Die Bildübertragung ist gestört!« »Es ist grässlich«, gellte es aus den Übertragungslautsprechern. »Das Ei bricht auf. Ja, es ist nichts anderes als ein gigantisches Ei, und etwas steckt darin, schlüpft aus. Ich sehe einen Tentakel nach uns greifen. In unseren Köpfen raunt und singt etwas. Jemand flüstert uns etwas zu. Ja, jetzt höre ich es ganz deutlich.« Eine kurze
Pause folgte. Dann schrie der Leutnant auf: »Tangaroa! Tangaroa erwacht! Wehe uns allen! Wehe der ganzen Welt!« Gebrüll folgte, Angstschreie einer Frauenstimme. Das Bild auf dem Monitor wurde nun schärfer. Man sah, dass das Ei geborsten war. Das Wasser wurde durcheinandergewirbelt, und dann schwankte plötzlich alles. Aufgewirbelter Schlamm verdeckte die Sicht. Ein riesiger Tentakel war noch zu erkennen, dann nichts mehr. »Tangaroa hat das Boot gepackt und schüttelt es!«, schrie Toki aus dem Übertragungslautsprecher. »Mein Gott, es knackt in allen Verstrebungen und Wänden! SOS! SOS! Rettet unsere Seelen! Die Passagierkapsel wird vom Bootskörper abgerissen. Ein Leck! Ein Leck! Elfhundert Atmosphären Wasserdruck und …« Ein Krachen und Bersten war zu hören, dann kein Laut mehr. Auch die Monitore zeigten nichts. Bleich sahen die Männer in der Zentrale sich an. »War das wirklich ein Lebewesen, ein Ungeheuer, das die Challenger vernichtet und fünf Menschen getötet hat?« Jefferson hielt noch immer das Mikrofon in der Hand. »Ich kann es nicht glauben. Es ist unmöglich.« »Tiefenrausch«, sagte Professor Yakumotu. »Plötzlicher Wahn oder Halluzinationen. Wir werden vielleicht nie erfahren, was sich da unten wirklich abgespielt hat.« »Was wollen Sie denn noch, Sie verbohrter Hohlkopf?«, schrie ein junger Techniker. »Ein Exklusivinterview mit Tangaroa? Sie haben doch gehört, was passiert ist.« »Halten Sie den Mund!«, rief Jefferson scharf. »Der Mann ist abzulösen«, sagte er zum befehlshabenden Offizier. Und leise fügte er hinzu: »Wir müssen sofort das Marineoberkommando verständigen. Vielleicht kann man mit leistungsfähigen Ortungsgeräten etwas feststellen.«
Rabaul, einer der Hauptorte des Bismarckarchipels, ist ein malerisches Nest mit 17.000 Einwohnern. Es gibt einen Hafen, einen Luft-
waffenstützpunkt, Hotels, Kinos und ein paar Bars. Dorian Hunter, Jeff Parker, Trevor Sullivan und Marvin Cohen landeten am 1. August mit einer klapprigen DC 8 auf dem Flughafen von Rabaul. Jeff Parkers Privatflugzeug war wegen eines technischen Defekts in der Hauptstadt von Neuguinea zurückgeblieben. Der bullige Marvin Cohen sah sich um, als er die Gangway herunterkam, und musterte die Regenwälder an den Berghängen im Innern der Insel. »Hier sind wir am Arsch der Welt«, sagte er inbrünstig. »Ich möchte wissen, wie ein Dämon sich hierher verirren kann und was er hier wollen soll.« »In der Abgelegenheit gedeiht das Dämonische ebenso gut wie in der Anonymität der Großstädte«, dozierte Trevor Sullivan. Er schätzte Cohens derbe Redeweise nicht. »Wir werden sehen«, sagte Dorian. Hier in Rabaul sollte Cocos Hinweis entsprechend Olivaros dämonischer Plan in die Tat umgesetzt werden. Die Passkontrolle wurde von einem gähnenden Polynesier mit Schweißflecken unter den Achseln sehr lasch gehandhabt. Er empfahl Dorian das Hotel Otto von Bismarck. Bis 1919 war das Bismarckarchipel eine deutsche Kolonie gewesen, und das machte sich bei manchen Dingen noch bemerkbar. Die vier Männer mussten ihr Reisegepäck selbst schleppen. Es gab zwar einen Gepäckträger, aber der schlief friedlich auf der Bank in der heißen Abfertigungshalle, vier leere Flaschen australischen Bieres neben sich auf dem Boden. Draußen war es heiß, aber eine Brise sorgte für etwas Frische. Überall gab es Kokospalmen, wuchsen Büsche und Blüten. Rabaul glich einem riesigen Park. Ein Taxi hielt vor der Abfertigungsbaracke, ein uraltes Vehikel, verbeult, zerschrammt und nur noch mit drei Kotflügeln versehen, aber bunt bemalt. Die Scheinwerfer bildeten die Pupillen zweier großer stilisierter Augen. »Also fahren wir zu diesem Hotel«, sagte Jeff Parker. »Ich brauche erst einmal einen anständigen Drink und eine Dusche.« »Wir nehmen besser einen Bungalow«, entschied Dorian. »In ei-
nem Hotel sind wir zu sehr unter Beobachtung.« Den Anderen war es Recht. Sie verstauten ihr Gepäck und stiegen ein. Dorian handelte mit dem Taxifahrer, einem ungeheuer beleibten Melanesier, der kaum noch hinters Lenkrad passte, das Fahrtziel aus. Es stellte sich heraus, dass Moaloka – so hieß der Taxifahrer – mit der halben Stadt verwandt, verschwistert und verschwägert war und von den übrigen auch jeden kannte. Er brachte Dorian und seine Gefährten zu Mama Wahia, einer Cousine soundsovielten Grades. Sie besaß einen Bungalow am Osthang des Berges, mit einer herrlichen Aussicht auf den Ozean. Ein australischer Major war erst vierzehn Tage zuvor mit seiner Familie ausgezogen. Mama Wahia, nicht minder umfangreich wie Moaloka, aber mit ihren strahlenden Augen immer noch schön, fuhr gleich mit zum Bungalow. Trevor Sullivan und Jeff Parker warteten in Mama Wahias Hotel, denn neben den beiden melanesischen Schwergewichtlern und dem Gepäck passten sie nicht auch noch in den Autoveteranen. Dorian schaute während der Fahrt auf das schöne, an der See träumende Städtchen. Es gab im Zentrum ein paar moderne Geschäfte und Häuser, auch Bauten im Kolonialstil, ansonsten kleine Häuschen, Bungalows, Hütten und Baracken. Die Melanesier hatten nicht den Ehrgeiz, imponierende Bauwerke zu errichten, ihnen genügte es, in dieser schönen Umgebung leben zu können. Hier gab es keine Hektik, Stress war unbekannt. Etwas von Dorians innerer Anspannung löste sich. Er hatte auf einmal ein Auge für die Farben, die hier strahlender und intensiver waren als an anderen Orten, roch die Düfte, die durch die geöffneten Fenster ins Taxi wehten. Und er betrachtete die Menschen und stellte fest, dass sie schön waren. Besonders die jüngeren Frauen mit ihren buntbedruckten Pareas hatten einen exotischen Reiz. Der Bungalow war in Ordnung. Dorian handelte mit Mama Wahia einen annehmbaren Preis aus, zahlbar in australischen oder US-Dollars. Sie sagte etwas in ihrer Muttersprache, einem der vielen Dialekte, die in der Inselwelt der Südsee gesprochen wurden. »Mama Wahia wünscht Ihnen Glück und einen angenehmen Aufenthalt auf der Insel«, übersetzte Moaloka. »Und Sie sagt, dass Sie
ihr gefallen.« »Oh – danke.« »Wenn Mama Wahia zwanzig Jahre jünger wäre, hätte Sie ihnen die Gastfreundschaft ihres Hauses und ihres Bettes umsonst angeboten, aber jetzt …« Mama Wahia kicherte wie ein Teenager und stieß den Taxifahrer mit dem Ellbogen in die Rippen. »Kommen Sie ruhig zu mir, wenn Sie irgendetwas brauchen oder wissen wollen«, sagte sie zu Dorian. Moaloka und Mama Wahia verließen den Bungalow. Marvin Cohen durchstöberte den Kühlschrank nach etwas Trinkbarem. »Sie gefallen mir, Mr. Hunter«, spottete er und wollte sich ausschütten vor Lachen. »Holzkopf!«, sagte Dorian. »Wer scharwenzelt denn um verheiratete Frauen herum, während ihr Mann in irgendeiner Weltecke die Dämonen bekämpft?« Cohen verstummte sofort. Dorian spielte auf das Verhältnis an, das sich zwischen seiner Frau Lilian und Marvin Cohen entwickelt hatte. Bei der zarten Lilian wurde der sonst so kaltschnäuzige und brutale Cohen zum rücksichtsvollen Kavalier. Er hatte Lilian sogar schon Rosen geschenkt, und er fluchte in ihrer Gegenwart ganz selten. »Weißt du, Dorian, darüber wollte ich schon lange mit dir sprechen«, sagte Cohen nach einer Weile. »Lilian und ich – es ist schwer zu erklären, weißt du, besonders für einen Mann wie mich.« »Sprich dich nur aus, Marvin«, sagte Dorian und steckte sich eine Zigarette an. Diese Aussprache war schon lange fällig, und jetzt war die Gelegenheit günstig. Aber es sollte nicht dazu kommen. Dorian hörte einen seltsamen Laut draußen vor dem Bungalow, ein brummendes Schwirren. Er gab Marvin Cohen einen Wink. Der öffnete seinen Reisekoffer und entnahm ihm eine großkalibrige Coltpistole. Dorian vergewisserte sich indes, ob er die geweihte Gemme eingesteckt hatte. Dann verließen die beiden den Bungalow durch den Hinterausgang.
Im Garten stand eine blühende Hecke. Dorian und Marvin Cohen zwängten sich durch die Hecke und sahen drei Männer. Zwei waren jüngere Melanesier, der Dritte ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit einer sich nach oben zuspitzenden Ritualmaske vor dem Gesicht. Sie endete in einer turmartigen Spitze. Er hielt in der Linken einen Totenschädel und in der Rechten zwei gekreuzte, schwarz bemalte Knochen. Hinter der Maske glühten fanatische Augen. Die jungen Melanesier schwangen Schwirrhölzer: geschnitzte, seltsam geformte Holzstücke, die sie an einer Schnur um den Kopf kreisen ließen. Sie erzeugten einen brummenden, schwirrenden Laut, der an- und abschwoll und in dem man eine Stimme aus dem Jenseits vermuten konnte. »Was treibt ihr hier?«, donnerte Marvin Cohen. »Was hat das zu bedeuten?« Dorian hielt dem Mann mit der Maske die gnostische Gemme vors Gesicht, doch der zeigte keine Reaktion. Die beiden Melanesier ließen die Schwirrhölzer sinken. »Ich grüße dich, Tohunga«, sagte der Mann mit der Maske mit hohler Stimme. »Du bist der Auserwählte, der geopfert werden soll. Das heilige Holz hat es mir gesagt.« »Wie kommt ihr hierher?«, fragte Dorian. Der Maskierte sprach ein recht gutes Englisch, wenn er auch die Vokale übermäßig betonte. »Man hat es mir gesagt«, antwortete der Mann. »Die Dukduk erfahren alles, was auf der Gazellenhalbinsel vorgeht.« Die Gazellenhalbinsel, das war das Nordende Neu-Britanniens, auf dem sich Rabaul befand. Dorian, der gute Grundkenntnisse hatte, was Magie und Geheimbünde anging, wusste, dass die Dukduk eine geheime Vereinigung waren, auf dem Bismarckarchipel beheimatet. »Ob der Dukduk oder sonst ein Duk«, sagte Marvin Cohen, der nichts davon wusste, »wenn du etwas im Schilde führst, wirst du es bereuen, du Maskengeier. Nimm zuerst mal die Maske ab, wenn du mit uns redest!« Die jungen Männer murmelten erregt in einem Inseldialekt.
Der Dukduk wich zurück und hielt die Hand mit den gekreuzten Knochen schützend vor die Maske. »Das darfst du nicht von mir verlangen! Nicht ich bin es, der alles bestimmt hat.« »So, wer denn sonst?« Auf ein Zeichen des Dukduk begannen die beiden jungen Männer wieder die Schwirrhölzer zu schwingen. Es summte und brummte, und dann sprach eine deutlich vernehmbare Stimme: »Te-Ivi-o-Atea, der Herr der Südsee, grüßt dich, Dorian Hunter.« Die Schwirrhölzer verstummten wieder. Marvin Cohen sprang vor und riss dem Dukduk die Maske vom Gesicht. Er prallte mit einem Aufschrei zurück, denn er sah ein Gesicht ohne Nase und Ohren, mit einer lippenlosen, klaffenden Höhle als Mund. Das Gesicht war mit scheußlichen Geschwüren bedeckt – es war von der Lepra zerfressen. Die beiden Melanesier flüchteten. Der Aussätzige verneigte sich vor Dorian. »Wir sehen uns wieder, Tohunga.« Er schritt durch den strahlenden Sonnenschein. Weder Dorian noch Marvin Cohen mochten den Aussätzigen anfassen und aufhalten. Sie ließen ihn gehen. »Du musst deine Hände desinfizieren, Marvin«, sagte Dorian. »Wer einen Leprakranken anfasst, kann selbst die Krankheit bekommen.«
Bei dem Forschungsschiff und dem Schwergut-Frachtschiff des Projekts Observator hatte sich ein in der Nähe operierender leichter Kreuzer der US-Pazifikflotte eingefunden. Der Kreuzerkommandant stand Professor Jeffersons Meldung ebenso skeptisch gegenüber wie das amerikanische und japanische Marineoberkommando. Mit Echolot und Radar machte sich das Navigationsteam daran, das Witjas-Tief an der Stelle zu erforschen, wo das Tauchboot versunken war. Die Öffentlichkeit horchte auf, forderte Informationen. Nachdem zuerst jede Phase des Unternehmens live übertragen worden war, erregte die plötzliche Zurückhaltung, die mit einer Nachrichtensperre zu vergleichen war, natürlich Verdacht. Man speku-
lierte, ob es Sabotage oder ein Seebeben gewesen war. Manche sprachen von plötzlich ausgebrochenem Wahnsinn eines Besatzungsmitglieds der Challenger, andere glaubten an einen Riesenkraken, der das Tauchboot angegriffen hatte. Echolot und Radargeräte des Kreuzers zeigten sich als nicht leistungsstark genug, um genaue Daten aus elftausend Metern Tiefe zu liefern. Die Professoren Jefferson und Yakumotu waren an Bord des Kreuzers gegangen. »Was glauben Sie denn, überhaupt entdecken zu können?«, fragte der Kommandant Jefferson und Yakumotu. »Ich weiß es nicht«, antwortete Jefferson. »Aber wir müssen unbedingt herausfinden, was auf dem Meeresgrund passiert ist.« Der Kreuzerkommandant hatte sich die Aufzeichnungen angesehen, aber er war nicht so beeindruckt wie die Leute, die es unmittelbar miterlebt hatten. Schulterzuckend ließ er den Kontakt mit dem Funkraum herstellen. »Meldung an die amerikanische und japanische Admiralität«, ordnete er an. »Wir brauchen leistungsstärkere Schiffseinheiten, um das Ende von Challenger aufzuklären.« Er gab den genauen Text der Funkmeldung durch. Es erfolgten zwei Rückfragen, dann meldeten die Admiralitäten kurz hintereinander, dass zwei schwere Kreuzer, ein Schlachtschiff sowie das Atom-U-Boot Endeavor Kurs auf das Witjas-Tief nehmen würden. Die schweren Kreuzer und das Schlachtschiff Samurai entsendeten die Japaner, die Endeavor gehörte zur 7. US-Flotte, die im Pazifik stationiert war. Gleichzeitig mit diesen Schiffen nahmen ein russisches Atom-UBoot und ein chinesisches Frachtmotorschiff Kurs auf das Witjas-Tief. Auch die Briten waren mit von der Partie und entsendeten ein Torpedo-Schnellboot, dessen Kommandant ganz offiziell seine Hilfe anbot. Um zwölf Uhr achtunddreißig war das letzte Lebenszeichen von Challenger vernommen worden, um einundzwanzig Uhr achtundvierzig erschien die Endeavor am Ort des Geschehens. Das Atom-UBoot tauchte auf viertausend Meter, die optimale Tiefe, die es aufsu-
chen konnte. Mit Echolot und Tiefenradar suchte die Endeavor den Grund des Witjas-Tiefs ab. Um null Uhr dreißig wurde Professor Jefferson an Bord des Forschungsschiffes geweckt. Commander Irving, der Kommandant des Atom-Unterseebootes, verlangte ihn zu sprechen. Verschlafen suchte Jefferson den Funkraum auf, und gleich darauf hörte er die Stimme des Mannes, der sich viertausend Meter unter ihm befand. »Etwas bewegt sich an der Stelle, wo Challenger verloren ging«, meldete Commander Irving. »Wir können nicht genau ausmachen, was es ist, aber unseren Messergebnissen nach muss es etwa zwanzig Meter groß sein.« »Hm. Bleiben Sie am Ball, Commander! Wenn das Ding, was immer es auch ist, sich entfernt, dann müssen wir es verfolgen.« »Auf jeden Fall, Professor. Werden Sie die Öffentlichkeit bereits informieren?« »Worüber? Erst einmal müssen wir abwarten, was weiter passiert.« Die Nacht über geschah nichts. Am Morgen um neun Uhr zehn hörte der Professor die Meldung, dass das Ding vom Grund heraufstieg. Die Überreste der Challenger hatte man nicht entdecken können. »Sie müssen auf alles gefasst sein, Commander Irving«, warnte Professor Jefferson ihn über Funk. »Auch auf einen Angriff auf ihr Boot.« Er hörte ein amüsiertes Lachen. »Was dieses Ding auch sein mag und was immer es auch vorhat, mit der Endeavor legt es sich besser nicht an. Ich kann noch immer nicht an ein Tiefseemonster glauben, Professor, aber wenn es eines gibt, dann versichere ich Ihnen, dass es gegen die moderne Waffentechnik nicht mehr Chancen hat als eine Schneeflocke in der Hölle. Ende.« »Ende«, sagte Jefferson mechanisch und hängte das Funkmikrophon in die Halterung. Endlos langsam verging die Zeit. In regelmäßigen Abständen meldete die Endeavor die Bewegungen des Dings. Man hatte ihm noch
keinen Namen gegeben. Im Gehirn des Professors spukte der Name Tangaroa herum, den Hirogawa Toki in der letzten Minute seines Lebens genannt hatte, aber er wollte die Sache nicht unnötig dramatisieren. Wer oder was sollte der Besatzung des Tauchbootes wohl den Namen des Monsters übermittelt haben, das sie tötete? Falls es überhaupt ein Monster gewesen war. Immer noch gab es alle möglichen anderen Erklärungen. Das Ding, das die Endeavor per Echolot anpeilte und auf ihren Radarschirmen hatte, konnte ein Fischschwarm oder eine Substanz sein, die sich vom Meeresgrund gelöst hatte.
Das Ding stieg aus dem Witjas-Tief auf und umkreiste die Endeavor ein paar Mal in gebührender Entfernung. Commander Francis Irving versuchte näher heranzukommen, aber das Ding wich dem Unterseeboot aus. Es stieg weiter auf, bis es sich nur noch fünfhundert Meter unter der Meeresoberfläche befand. Hier im trüben Dämmerlicht verharrte es eine Weile, als müsste es sich orientieren. Inzwischen war es längst vom Bordradar des Forschungsschiffes und der anderen Schiffe erfasst und mit den Echoloten angepeilt. Das Ding ließ die Endeavor nicht an sich herankommen. Das Forschungsschiff erhielt immer mehr Anfragen über Funk. Die Presse wollte wissen, was sich da beim Marianengraben abspielte. Doch im Einverständnis mit den Admiralitätsoberkommandos schwiegen die Professoren Jefferson und Yakumotu hartnäckig. Aber das nutzte nicht viel. Funksprüche zwischen dem Forschungsschiff und der Endeavor sowie den schweren Kreuzern und dem Schlachtschiff Samurai waren abgehört worden. Bald rasten Sensationsmeldungen durch die Medien, tauchten Sonderberichte in den Morgenblättern auf. Professor Jefferson entschloss sich endlich, etwas Einschneidendes zu unternehmen. Er wendete sich über Funk an die Kommandanten aller Schiffe – nur nicht an den des russischen Atom-U-Boots, das sich in gebührender Entfernung hielt, und den des chinesischen Frachtmotorschiffes, das angeblich einen Maschinenschaden hatte und in Sichtweite der anderen Schiffe auf den Wellen schaukelte. »Wir müssen Klarheit über dieses Ding gewinnen«, sagte Jeffer-
son. »Und es gibt nur einen Weg. Dem Projekt Observator stehen zwei Klein-U-Boote zur Verfügung. Wir brauchen Freiwillige, die sich darin dem Ding nähern, es sich ansehen und es fotografieren.« »Sie wissen doch, was mit dem Tauchboot Challenger passiert ist«, sagte der britische Torpedo-Schnellboot-Kommandant. »Soll nun auch noch das Leben von Freiwilligen aufs Spiel gesetzt werden?« »Die gesamten Besatzungen unserer drei Schiffe stehen als Freiwillige zur Verfügung«, meldete der Kommandant des japanischen Schlachtschiffes Samurai sofort. Commander Francis Irving hatte einen anderen Vorschlag. »Den Heldenmut der japanischen Marineleute in Ehren«, bemerkte er trocken, »aber ich weiß eine weit bessere Lösung. An Bord der Endeavor befindet sich ein Zwei-Mann-U-Boot vom Typ Deep Star, das einen Torpedo und panzerbrechende Unterwasserraketen abschießen kann. Damit sollten wir dem Ding zuleibe rücken. Der Deep Star ist kein wehrloses Forschungsfahrzeug. Und Freiwillige finde ich an Bord auch genügend.« Alle waren mit dieser Lösung einverstanden. Die Endeavor, die sich in fünfhundert Metern Tiefe befand, schleuste aus einer Luke das Klein-U-Boot aus, besetzt mit Leutnant Adlai Harris und Obermaat John S. Duncan. Der gelbe Deep Star, einer schwimmenden Untertasse ähnlich, bewegte sich mit Hilfe von Wasserstrahldüsen. Harris und Duncan waren angeschnallt, ähnlich Piloten im Cockpit eines Flugzeugs. Jenseits der Druckfenster tat sich die Unterwasserwunderwelt vor ihnen auf. Ein Schwarm glotzäugiger, fast runder Fische mit rötlichem Rücken schwamm um die Deep Star herum. Ein dreißig Zentimeter langer Viperfisch schoss herbei und jagte die Glotzaugen. Plötzlich verschwanden all die Fische. Auch ein viereinhalb Meter langer Riemenfisch flüchtete. Ein gigantischer Schatten tauchte auf. »Achtung!«, rief Duncan. »Das ist das Ding!« Es war es nicht – er stellte es fest, als er gerade über Funk Meldung machen wollte. Der Schatten entpuppte sich als eine Riesenkrake mit Fangarmen von achtzehn Metern Länge und einer Ansatzdicke von neunzig Zentimetern. Die Saugnäpfe daran waren so groß wie
Suppenteller, die Augen hatten einen Durchmesser von einem halben Meter. Ein solcher Krake konnte sogar mit einem Blauwal den Kampf aufnehmen. »Hallo, wen haben wir denn da?« Leutnant Harris freute sich. Er war ein ebenso humorvoller wie unerschrockener Mann. »Sieh mal, John! Er schwimmt genau in die Richtung, in die wir auch wollen. Wenn wir Glück haben …« John S. Duncan verstand. »Du meinst, das Ding und die Riesenkrake machen sich gegenseitig den Garaus?« »Warum denn nicht? Groß genug ist unser Freund mit den langen Armen, um dem Ding nicht aus dem Weg zu gehen.« Adlai Harris schaltete das Funkgerät ein und machte Meldung. Er folgte dem Riesenkraken. In der Dämmerung der Tiefe sahen die beiden Männer vor dem Kraken einen Schatten auftauchen. Der Krake zögerte, schwamm dann entschlossen weiter, den Kopf voran, die acht Arme nachziehend. Er näherte sich rasch dem Schatten, und dann schoss ihm dieser entgegen. Harris und Duncan sahen ganz kurz zwei Tentakel und etwas, das wie eine riesige Klauenhand mit Schwimmflossen zwischen den Fingern aussah. Der Krake warf die Fangarme nach vorn. Dann wurde es stockfinster auf dem Kampfschauplatz. Er hatte seine Tintenflüssigkeit entleert. Leutnant Harris hatte das Funkmikrofon in die Kopfhalterung eingehängt. Er wandte sich an Professor Jefferson: »Das Ding kämpft mit dem Kraken. Es handelt sich tatsächlich um ein Tiefseemonster.« Die Deep Star hatte sich der Tintenwolke bis auf vierzig Meter genähert. Etwas Gewaltiges schoss aus der Wolke. Ein mehr als zwanzig Meter großes Ungeheuer! Es kam rasend schnell näher, Harris und Duncan sahen etwas Hellblaues und Rotes und einen runden Kopf mit einem klaffenden, zahnbewehrten Maul und riesigen Augen. »Zum Teufel, was ist das?«, rief Duncan fassungslos. »Dieses Ding hat den Kraken erledigt«, erwiderte Harris. Und dann war es heran und packte das Klein-U-Boot. Ungeheure Kräfte packten die Deep Star. Harris und Duncan sahen, wie eine
mächtige Zahnreihe gegen das Fenster drückte. Es entstanden winzige Sprünge, die sich rasch vergrößerten. Harris brüllte vor Entsetzen. Die Unterwasserraketen hatte er längst zum Abschuss klargemacht. Jetzt drückte er die Feuerknöpfe. Die Raketen zischten aus den Rohren. Plötzlich spürten die beiden Männer, wie es in ihren Ohren dröhnte. Ein Wort manifestierte sich in ihren Gehirnen, ein Begriff, der sie erschauern ließ: TANGAROA! »Commander!«, brüllte Harris ins Mikrofon. »Commander, es hat uns! Dieses Ding vernichtet das U-Boot. Wir haben es mit mindestens zwei Raketen erwischt, aber das hilft uns nichts mehr. SOS! SOS! SOS! Wir …« Das Druckfenster barst. Das Wasser kam und erstickte, was Leutnant Harris noch hatte sagen wollen. Tangaroa zerquetschte das UBoot wie eine Konservenbüchse – das Ungeheuer zerriss die Deep Star … Harris und Duncan waren verloren. Commander Francis Irving hatte die Geschehnisse fassungslos mitverfolgt: »Jetzt werde ich diesem Monster mit Raketen den Garaus machen. Meine Männer sollen nicht umsonst gestorben sein.« Das Monster ließ etwas in die Tiefe trudeln – das völlig deformierte Wrack des Deep Star. Die beiden Leichen waren nicht mehr an Bord. Commander Francis Irving entschloss sich, nachdem er wieder kühler denken konnte, keine Unterwasserraketen einzusetzen. Das japanische Schlachtschiff Samurai und die drei Kreuzer sollten einen Bombenteppich auf das Ungeheuer herabsenken.
»Ich weiß nicht, was du dir hier erwartest, Dorian«, sagte Jeff Parker. »Meiner Meinung nach wäre es viel besser, mit den okkultistischen Freimaurern Kontakt aufzunehmen. Ich habe übrigens vor einigen Monaten mit dem Großmeister der Magischen Bruderschaft in Frankfurt gesprochen. Er wollte dich kennen lernen. Er behauptet, wichtige Dinge zu wissen.« »Ich gehe hier nicht weg«, sagte Dorian entschlossen. »Du kannst mit den andern nach London zurückkehren, wenn dein Flugzeug re-
pariert ist – aber ohne mich.« Die vier Männer befanden sich nun den zweiten Tag in Rabaul, und bis auf das Auftauchen des aussätzigen Dukduk war noch nichts Außergewöhnliches geschehen. Dorian wartete auf ein Zeichen oder eine Nachricht von Coco Zamis … vergebens bis jetzt. Jeff Parker sah, dass er den Freund nicht umstimmen konnte. Es war dreizehn Uhr Ortszeit auf der Gazellenhalbinsel. Draußen lag Trevor Sullivan am Swimmingpool. Marvin Cohen weilte in der Stadt, angeblich um Erkundigungen einzuziehen, in Wirklichkeit wohl, um einen Zug durch die Bars von Rabaul zu machen. Brummig ging Parker ins Nebenzimmer und schaltete das Radio ein. Als sich ein Nachrichtensprecher meldete, horchte er auf: »Das Ungeheuer, das dabei ist, aus dem Witjas-Tief heraufzusteigen, befindet sich noch zweitausend Meter unter der Meeresoberfläche. Dem amerikanischen Atom-U-Boot Endeavor ist es bisher ausgewichen, so dass keine Angaben über seine Natur gemacht werden können. Beim Witjas-Tief sind inzwischen ein Schlachtschiff, drei Kreuzer sowie ein Torpedo-Schnellboot eingetroffen.« »Dorian!«, rief Jeff Parker. »Komm einen Augenblick herüber und hör dir das an!« Dorian lauschte der Nachrichtensendung bis zum Ende. »Ein Tiefseeungeheuer …«, meinte Jeff grüblerisch. »Ob die Schwarze Familie damit zu tun hat?« Dorian hob die Schultern, nahm eine zerknautschte Packung aus der Brusttasche seines bunten Hawaiihemdes und zündete sich eine Players an. Der Blick seiner grünen Augen war jetzt nachdenklich. Wer ihn kannte, merkte ihm an, dass er Sorgen hatte. Er wusste, dass Coco schon im siebten Monat schwanger war und sich noch immer in der Gewalt Olivaros befand. Ihm war klar, dass sie Olivaro nicht unbegrenzt lange täuschen konnte – dazu war der selbsternannte Fürst der Finsternis zu schlau und gerissen. Wenn er merkte, dass Coco Dorian nach wie vor liebte, dann würde er ihr ein schreckliches Ende bereiten. Vielleicht erduldete sie sogar jetzt schon Qualen, wie nur ein Dämon sie sich ausdenken konnte. »Ich weiß nicht, ob die Schwarze Familie dahintersteckt«, beant-
wortete Dorian erst jetzt Jeff Parkers Frage. »Ich weiß nicht einmal, ob dieses angebliche Tiefseeungeheuer tatsächlich existiert oder eine Nachrichtenente ist. Es kann sich um alles mögliche handeln.« »Wenn es aber nun doch ein Ungeheuer ist?« »Dann ist es nicht meine Sache, mich darum zu kümmern. Ich habe andere Sorgen.« Das Telefon klingelte, und Jeff nahm ab. »Es ist Marvin Cohen«, sagte er. »Er will dich sprechen.« Dorian nahm Jeff den Hörer aus der Hand. »Ja?« »Hallo, alter Freund!« Der Stimme nach musste Marvin Cohen einiges getrunken haben. »Komm mal gleich zur Oaeha Bar! Ich bin hier auf einen Mann gestoßen, der behauptet, dass er einen abtrünnigen Dukduk kenne. Du wolltest doch Näheres über diesen Geheimbund herausfinden.« Das wollte Dorian, denn er war davon überzeugt, dass er über die Dukduk und Te-Ivi-o-Atea an Olivaro und Coco Zamis herankommen konnte. »Ich komme sofort, Marvin. Wo ist diese Pinte?« »Nimm dir ein Taxi! Die Oaeha Bar kennt jeder in Rabaul. Hier gibt es die hochprozentigsten Getränke, die schönsten Mädchen und die härtesten Schlägereien.« Es klang, als könnte Dorian sich auf einiges gefasst machen. Eine Viertelstunde später hielt ein Taxi vor dem weißen Bungalow. Dorian stieg aus. Einige Wolken waren am Himmel aufgezogen, Dunst verbreitete sich. Er verhüllte die Insel, nur die Gipfel der höchsten Berge waren zu erkennen. Es sah aus, als thronten sie direkt auf den Wolken. »Viel Spaß!«, wünschte der Taxifahrer, als Dorian ausstieg. Dorian trat in die dämmrige Bar. Zwei große Ventilatoren kreisten träge an der Decke. Es war eine Bar wie tausend andere auf den Inseln auch. Ein Melanesier mit nicht mehr ganz weißer Jacke stand hinter dem Tresen, ein halbes Dutzend junger Frauen mit bunten Pareos saß an den Tischen. Ein paar hatten Blumen im Haar. Die Gäste waren hauptsächlich Melanesier. Zunächst sah Dorian Marvin Cohen nirgends. Einige Nischen waren durch Flechtwände abgeteilt. Dorian schaute sich um. Die An-
wesenden waren verstummt und musterten ihn neugierig. Es roch nach Zigaretten und billigem Parfüm, nach Whiskey und Bier. Dorian fand Marvin Cohen in der mittleren Nische, zusammen mit einem Mann, der fast hinüber war. Sein Gesicht war von Wind und Sonne tabakbraun gefärbt, und er wies unzählige Falten und Runzeln auf. Der Mann prostete Dorian zu. Er trank Gin mit einem Schuss Bitter Lemon und einer Grapefruitscheibe garniert. »Das ist Jean Guillard«, sagte Marvin Cohen und schlug dem kleinen Mann auf die Schulter. »Ihm hat mal ein Schoner gehört, aber der ist lange abgesoffen. Jean behauptet, er hätte Gauguin auf Tahiti noch persönlich gekannt.« Das konnte schlecht sein, denn der berühmte Maler Gauguin war 1903 gestorben. Dorian hoffte, dass die Geschichte mit dem abtrünnigen Dukduk nicht eine ebensolche Pleite war. Er setzte sich an den Tisch und bestellte eine Cola. »Also«, sagte er auf Französisch, »ich habe wenig Zeit, Monsieur Guillard. Wo finde ich diesen Dukduk, der sich von den andern abgekehrt hat?« »Oh, offiziell gehört er immer noch dazu«, sagte Guillard mit überraschend sicherer Stimme. »Nur wenige wissen, dass er gegen den Geheimbund eingestellt ist. Wenn es mehr wüssten, hätten die Dukduk ihn sicher längst umgebracht. Diese Halunken terrorisieren in der letzten Zeit den ganzen Archipel. Seit der zweite Tubuan aufgetaucht ist, sind sie außer Rand und Band.« »Ein zweiter Tubuan?«, fragte Dorian. »Wie ist das möglich?« Dorian wusste gut Bescheid. Er hatte Mama Wahia am Vorabend angerufen und sich noch über einige Dinge informiert. Der Geheimbund der Dukduk verehrte zwei große Geister – den Tubuan und den Dukduk. Der Tubuan war weiblich und der Wichtigere von den beiden. Während der Dukduk starb und nach seinem Tod aus bestimmten Vorzeichen ein neuer Dukduk erkannt werden musste, lebte der Tubuan ewig oder wurde wiedergeboren. Ohne den Tubuan durfte der Dukduk nichts unternehmen, sich nicht einmal seinen Anhängern zeigen.
»Weiß ich es«, sagte Jean Guillard auf Dorians Frage. »Ich kümmere mich nicht um diesen Eingeborenenaberglauben. Die Insulaner vermuten doch hinter jeder Palme gleich einen bösen Geist.« »Wie heißt nun dieser Abtrünnige?« Guillard trank sein Glas aus. »Hundert australische Dollar und zwei Flaschen Gin – und ich sage es Ihnen, Monsieur.« »Könnt ihr euch nicht vernünftig in Englisch unterhalten?«, fragte Marvin Cohen. »Von diesem Froschfressergequake versteht doch kein Mensch etwas.« Cohens Augen waren wie glasige Pfützen, verschleiert von den genossenen Drinks. Aber viel merkte man ihm nicht an. Er konnte einen ordentlichen Stiefel vertragen. »Sei ruhig, Marvin! Gut, ich zahle, Guillard. Aber erst, nachdem ich mich vom Wert Ihrer Information überzeugt habe.« Sie einigten sich auf einen Vorschuss von zwanzig Dollar und eine Flasche. Dorian schrieb Jean Guillard eine kurze Notiz. Mit dem Zettel sollte der Alte am nächsten Tag zu Jeff Parker gehen; der würde auszahlen, wenn er inzwischen von Dorian nichts anderes gehört hatte. Jean Guillard beschrieb Dorian und Marvin Cohen nun, wie sie die Hütte des Dukduk finden konnten. Der Mann hieß Araui und wohnte oben am Berg, schon an der Grenze des Regenwaldes. Dorian zahlte seine und Cohens Rechnung und kaufte noch eine Packung australischer Zigaretten. Die beiden Männer verließen die Pinte, ohne sich um die Barschönen zu kümmern, die ihnen aufreizende Blicke zuwarfen. Es wurde schwül auf der Insel. Eines der kurzen, heftigen Tropengewitter braute sich zusammen. Die Regenzeit, die jeden Tag am Nachmittag eine Wasserflut brachte, war aber schon ein Vierteljahr vorbei. Dorian und Marvin Cohen stiegen in den korallenroten Toyota, den sie für die Dauer des Inselaufenthaltes gemietet hatten. Sie fuhren in die Berge.
Jean Guillard kaufte seine Flasche am Tresen und wankte aus der
Bar. Eine Viertelstunde später kam er wieder herein, völlig nüchtern, und verlangte seinen üblichen Gin mit Bitter Lemon. »Hast du nicht schon genug gehabt, Jean?«, fragte ihn der Barkeeper. »Mit dem, was du zusammen mit dem Engländer gekippt hast, könnte man ein ganzes Bataillon betrunken machen.« »Ich weiß gar nicht, wovon du redest. Ich habe heute noch keinen Tropfen getrunken.« Der Barkeeper lachte ungläubig und machte Guillard seinen Drink. Er glaubte, der alte Mann wollte ihn auf den Arm nehmen. Guillard setzte sich in die Ecke. Eine der Frauen aus der Bar kam zu ihm. »Was waren das für Männer, mit denen du dich vorhin unterhalten hast, Jean? Der Große mit dem Schnurrbart hat mir gut gefallen.« »Du willst mich wohl für dumm verkaufen, Laona«, fuhr Guillard sie an. »Ich war heute noch nicht hier! Dummes Stück! Hau ab!« Laona setzte sich fort. Jean Guillard galt als Sonderling; sie dachte nicht weiter darüber nach, was den Alten wohl dazu bewog, seine Unterhaltung mit den beiden Männern zu leugnen. Der Barkeeper überlegte noch, wie Jean Guillard es wohl anstellte, so nüchtern zu erscheinen, und wo er seine Flasche Gin gelassen hatte. Aber bald waren Jean Guillards Benehmen und die beiden Fremden vergessen.
Am Stadtrand schlurfte ein alter Mann dahin, der aufs Haar genauso aussah wie Jean Guillard. Er hielt eine Flasche in der Hand und wanderte auf einen Palmenhain zu. Hier warf er die Flasche achtlos weg. Er murmelte etwas, beschrieb einige Gesten mit den Händen und malte mit den Fingern ein magisches Symbol in die Luft. Sein Äußeres veränderte sich. Er wurde zu einem kräftigen, stumpfsinnig dreinschauenden Einheimischen mittleren Alters. »Warte, Dorian Hunter!«, sagte er halblaut. »Diesmal sollst du mir nicht entkommen. Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast.« Er kicherte bösartig. »Erst kurz vor deinem grässlichen Ende wirst du erkennen, wer dich getäuscht hat.« Eine weitere Beschwörung, und mit dem Krachen des ersten Don-
ners war der Melanesier verschwunden.
Es goss wie aus Kübeln. Der Weg durch den tropischen Regenwald war kaum noch zu erkennen. Der Toyota sank an manchen Stellen fast bis zu den Achsen im Schlamm ein. Die wassergefüllten Schlaglöcher stellten die Stoßdämpfer auf eine harte Probe. Die Scheibenwischer vermochten der Fluten nicht mehr Herr zu werden. Dorian fuhr mit zusammengekniffenen Augen im Schritttempo. Zu alledem war das Schiebedach des Toyota nicht ganz dicht. »Hoffentlich sind wir bald da«, knurrte Dorian. »Wenn die Karre stecken bleibt, stehen wir gut da.« Marvin Cohen grinste nur; er fand das alles lustig, das Krachen des Donners, das Zucken der Blitze, die Windstöße, den Regen. Dorian wischte über die Scheibe. Er glaubte die kleine Lichtung zu sehen, von der Jean Guillard gesprochen hatte, war sich aber nicht sicher. »Halt deinen umnebelten Schädel mal aus dem Seitenfenster, Marvin! Ist hier die Hütte dieses Araui?« »Schau doch selber nach!«, lallte Cohen. Dorian gab ihm einen derben Stoß, und brummend bequemte sich Marvin Cohen, das Seitenfenster herunterzukurbeln. Er schaute hinaus. »Da steht eine Hütte«, bemerkte er, als er seinen nassen Kopf wieder zurückzog. Dorian ließ den Wagen auf dem Weg stehen. Er traute dem Untergrund zu beiden Seiten nicht. Die Männer stiegen aus, und im Nu waren sie völlig durchnässt. Dorian schloss eilig den Wagen ab. Sie liefen zur Hütte, einem mit Palmwedeln gedeckten Bauwerk mit einem hohen, geschnitzten Giebel. Arauis Hütte war ohne einen Nagel oder ein Eisenteil errichtet worden; lediglich Rotanlianen und Kokosschnurtaue hielten alles zusammen. Die Hütte stand auf einem Steinfundament. Dorian hämmerte mit der Faust gegen die Tür, und eine dumpfe Stimme sagte drinnen im Inseldialekt etwas. »Jean Guillard schickt uns!«, rief Dorian. »Wir müssen mit dir reden, Araui.«
Der Hüttenbewohner öffnete und ließ Dorian und Marvin Cohen ein. Er war ein kräftiger, stumpf dreinblickender Melanesier mittleren Alters und trug nur einen Schurz über dem recht umfangreichen Bauch. »Ah, Guillard, der alte Trunkenbold«, sagte er. »Was hat er wieder herumerzählt?« Das Innere der Hütte bestand aus einem einzigen großen Raum, der lediglich durch Flechtmattenwände, die nicht bis zur Decke reichten, unterteilt war. »Bist du allein, Tohunga Araui?«, fragte Dorian. »Ja.« »Ich bin Dorian Hunter, jener Tohunga, den die Dukduk opfern wollen. Ich will mit dir über den Geheimbund und über ein paar andere Dinge sprechen.« Der Dukduk musterte Dorian Hunter und Marvin Cohen verschlafen und winkte ihnen dann, näher zu treten. Er brachte Handtücher, mit denen sie sich abtrocknen konnten, und zwei Tiputas, Kleidungsstücke, die dem südamerikanischen Poncho entsprachen; sie waren bunt und wiesen leuchtende Motive auf. Araui setzte seinen Gästen Schalen mit erfrischender Kokosmilch vor. Draußen ließ das Gewitter schon nach. Der Donner grollte in der Ferne. Arauis Hütte war einfach eingerichtet. Die Männer saßen auf Matten. An Nägeln in der Wand hingen einige Gebrauchsgegenstände, in der Ecke standen ein paar sehr schöne große Krüge, Muster der Keramikkünste der Insulaner. In der anderen Ecke hatten zwei spitz zulaufende und mit langen, turmartigen Spitzen versehene DukdukMasken ihren Ehrenplatz. An der Feuerstelle standen in Körben allerlei Ingredienzien, auch Kokosnusshälften, die als Tiegel dienten, und Flaschen und Schalen. Dorian wusste von Jean Guillard, wer Araui war. Ein Zauberer, der Beschwörungen durchführte, viele der zahlreichen Tabus der Südsee brechen konnte und Liebeszauber und Heilmittel verkaufte. Araui war ein Tohunga, ein Meister, aber kein bedeutender. »Du also sollst beim Kampf der Tubuan geopfert werden«, sagte
Araui nun. »Ich hätte nicht gedacht, dass du die Kühnheit besitzt, zu mir zu kommen.« »Ich hörte, du bist gegen die Dukduk eingestellt. Wenn es stimmt, was ich glaube, dann befindet sich der Geheimbund in der Gewalt von Dämonen, die ihn für ihre bösen Zwecke missbrauchen.« Dorian spielte wie zufällig mit der gnostischen Gemme, die er aus der Hosentasche genommen hatte. »Mit deiner Hilfe kann es mir vielleicht gelingen, das Treiben dieser Dämonen zu beenden.« Er ließ die Gemme, auf der eine Schlange eingraviert war, die sich selbst in den Schwanz biss, vor Arauis Gesicht pendeln. Araui betrachtete die Gemme neugierig, zeigte aber keine Reaktion. Dorian war jetzt davon überzeugt, dass sich hinter ihm kein Schwarzblütiger verbarg. »Ja, Dämonen missbrauchen die Dukduk. Ich weiß es«, sagte der Zauberer. »Einer der beiden Tubuan ist ein Dämon, und er will den andern verdrängen. Die beiden Tubuan verlangen immer wieder Opfer und Bluttaten. Es ist innerhalb des Geheimbundes zu einer Spaltung gekommen. Beim Fest der Mondsichel, das bald stattfinden wird, muss es sich entscheiden, welcher Tubuan Sieger bleibt.« Ein Gedanke drängte sich Dorian auf. Der Tubuan war weiblich, und Coco Zamis war eine Frau, eine Hexe. Konnte es sein, dass Olivaro sie zwang, die Rolle eines Tubuans zu spielen, weil er sie prüfen wollte? Oder war es ein neuer Versuch des Fürsten der Finsternis, Coco ihr Kind zu nehmen und es zu opfern? Der Gedanke lag nahe, denn sicher war es kein Zufall, dass die Dukduk sich ausgerechnet Dorian Hunter als Opfer ausgesucht hatten. »In der letzten Zeit sind viele Menschen auf den Inseln des Archipels spurlos verschwunden oder auf mysteriöse Weise umgekommen«, fuhr Araui fort. »Es ist durchgesickert, dass die Dukduk damit zu tun haben, und die Regierung erwägt schon ernsthafte Schritte. Ich habe viele Feinde und Gegner innerhalb des Bundes, und mir widerstrebt, was in der letzten Zeit dort vorgeht. Du kannst mir glauben, dass ich mich lieber heute als morgen von den Dukduk trennen würde, Tohunga Hunter, aber dann würde sicher auch ich ein Opfer des falschen Tubuans werden.«
Dorian sagte Araui, dass er den falschen Tubuan vernichten wolle. Doch er hatte Verständnis dafür, dass Araui zögerte. Der Gedanke, einen Außenstehenden mit zu den geheimen Versammlungen zu nehmen, erfüllte den Zauberer sicher mit Angst und Sorge. Die Treffen der Dukduk fanden in strenger Abgeschiedenheit statt: Eine Lichtung oder ein bestimmtes Areal des Waldes wurde mit Bastmatten verhängt und bei Todesstrafe war nicht zum Geheimbund Gehörenden der Zutritt verboten. Aber Dorian gelang es, Araui zu überzeugen: »Wenn der falsche Tubuan tot ist und sich alles beruhigt hat, hast du eine gute Gelegenheit, dich von den Dukduk zu trennen, Araui. Vielleicht willst du es dann aber gar nicht mehr, denn wenn du deine Rolle bekannt werden lässt, wird der siegreiche Tubuan dir Dank schulden, und du wirst einer der angesehensten Dukduk werden. Vielleicht wirst du nach dem Tod des Mannes, der den Dukduk-Geist verkörpert, sogar zu seinem Nachfolger bestimmt.« Araui schaute zu Boden und überlegte offensichtlich angestrengt. »Also gut. Ich will dich bei der nächsten Versammlung einschmuggeln. Unter der Dukduk-Maske kann man dich nicht erkennen. Sag mir, wo du dich aufhältst, und ich werde dir eine Nachricht zukommen lassen, wo du dich einfinden sollst.« Dorian beschrieb Araui die Lage des Bungalows. Der Dukduk sagte ihm, er erwarte Besuch und er und Marvin Cohen sollten jetzt lieber gehen. Die beiden Männer nahmen ihre Kleider, die immer noch feucht waren. Araui überließ ihnen die Tiputas, und sie verließen die Hütte. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft roch würzig und frisch. Araui stand in der Tür und schaute dem davonfahrenden Toyota nach. Als der Wagen im dichten Wald verschwunden war, kehrte er in seine Hütte zurück. Ein teuflisches Gelächter schüttelte den kräftigen Körper mit dem hellbraunen Teint. Und während Araui lachte, drehte sich sein Kopf um hundertachtzig Grad. Die nun vorn liegenden Haare teilten sich, und ein Gesicht erschien, ein Gesicht, das Dorian erkannt hätte. Das wahre Gesicht des Dämons Olivaro, des
Fürsten der Finsternis. Es hatte einen grünen Stich, war knochig wie ein stilisierter Totenschädel und wirkte kalt, böse und grausam. In den Augenhöhlen wohnte unergründliche Schwärze, und die hohe Stirn wies ein V-Zeichen auf, ein V aus Knochen, wie es auf alten Abbildungen immer den Mund des Teufels bildete. Olivaro, der Dämon mit dem Januskopf, ballte die Faust und schüttelte sie drohend. »Mit einer lumpigen Gemme hat er mir beikommen wollen, mir, dem Fürsten der Finsternis! Gegen Magus VII. muss man schon andere Mittel einsetzen. Bald habe ich dich, Dorian Hunter. Und auch für Coco Zamis kommt die Zeit der letzten Prüfung. Entweder sie entscheidet sich für mich und lebt als Hexe an meiner Seite oder sie stirbt als Gefährtin des Dämonenkillers einen grässlichen Tod mitsamt ihrem Ungeborenen.«
Commander Irving gab den Befehl. Der Torpedo raste auf das Ungeheuer zu. Das japanische Schlachtschiff und die drei Kreuzer hatten die Wasserbomben bereits ausgeklinkt. Professor Jefferson und die restliche Besatzung des Forschungsschiffes beobachteten die See. Auch die Besatzungen des britischen Schnellbootes und die des Frachtschiffes spielten die Zuschauerrolle. Dumpfe Explosionen grollten unter Wasser … genau dort, wo sich das Ungeheuer befand. Die Männer auf den Brücken aller Schiffe starrten auf die Radarschirme, auch jene an Bord des russischen Atom-U-Bootes und des chinesischen Frachtmotorschiffes. Alle wussten, worum es ging, dass jetzt mit dem Blut des Tiefseemonsters das letzte Kapitel geschrieben werden sollte. Das Wasser brodelte. Das Gleichmaß des ewig wogenden Ozeans wurde unterbrochen. Die Leiber toter Fische glänzten silbern im Sonnenlicht. »Jetzt müssen der Leib des Tiefseemonsters oder wenigstens Fetzen davon an die Oberfläche kommen«, sagte Professor Yakumotu. »Schade, wir werden nie erfahren, worum es sich wirklich handelte.« Auf den Radarschirmen war der dunkle Fleck, auf den der ewig rotierende Strahl gestoßen war, plötzlich verschwunden. An Bord
der Schiffe wurden die sich im Wasser fortpflanzenden Erschütterungen und Schallwellen genau gemessen. Professor Jefferson schaute mit dem Fernglas über die wogende See, sah aber nur tote Fische, die der Druck der Unterwasserexplosionen an die Oberfläche geschleudert hatte. Ein Hubschrauber kreiste über der Stelle. Eine halbe Stunde verging, und von den Überresten des Ungeheuers war noch immer nichts wahrzunehmen. Vom Funkraum aus nahm Jefferson mit Commander Irving Kontakt auf. »Der Torpedo und die Wasserbomben müssen das Monster in kleinste Teile zerrissen haben«, sagte Irving über Sprechfunk. »Wir wissen nicht, aus welcher Substanz es bestand. Es kann Tage dauern, bis seine Überbleibsel an die Oberfläche kommen – wenn überhaupt. Vielleicht versinken die Reste auch oder dienen anderen Meerestieren als Nahrung. Wie auch immer, dieses Kapitel dürfte abgeschlossen sein.« In diesem Augenblick erhielt Professor Jefferson über die Sprechanlage eine Meldung von der Brücke: »Professor, wir haben etwas auf dem Radarschirm, das den Konturen des Tiefseemonsters entspricht. Es befindet sich fünf Seemeilen von der Explosionsstelle entfernt und bewegt sich in südöstlicher Richtung.« »Nennt die genaue Position!«, verlangte Jefferson. »Ich gebe die Daten an Commander Irving weiter.« Jefferson informierte Irving über das, was er gerade erfahren hatte. Der U-Boot-Kommandant wollte es nicht akzeptieren: »Das kann nicht unser Tiefseeungeheuer sein, Professor Jefferson. Wie sollte es ohne größere Schäden an einem meilenweit von der Explosion entfernten Ort auftauchen? Nein, nein. Das muss etwas anderes sein. Ein Blauwal vielleicht. Unser Torpedo hat voll getroffen.« »Ich verlange, dass dieses Ding verfolgt wird. Wir müssen uns Gewissheit verschaffen, ob es das Tiefseemonster ist oder nicht. Ich gebe Ihnen jetzt die Daten, Commander.« »Sie machen sich allmählich lächerlich, Professor. Die Endeavor wird diesen Ort nicht verlassen. Nur hier können wir feststellen, was mit dem Tiefseemonster geschehen ist.«
Jefferson ging zur Kommandobrücke hoch und beobachtete eine Weile den Punkt auf dem Radarschirm. Er studierte das Echogramm, die Aufzeichnung des Echolots, und ließ es sich vom Ersten Offizier erklären. Der kleine, rundliche und bebrillte Professor Yakumotu kam hinzu, und auch er beugte sich über das Echogramm und verglich es mit denen, die von dem aus der Tiefe aufsteigenden Tiefseemonster aufgezeichnet worden waren. »Ich bin kein Fachmann«, sagte er, »aber es könnte sich nach meiner Meinung um das gleiche Ding handeln.« Professor Jefferson nahm direkt von der Brücke über Sprechfunk nochmals Verbindung mit Commander Irving auf. Der Commander wollte nichts davon wissen, dem sich rasch entfernenden Ding zu folgen. Das unbekannte Unterwasserobjekt machte in der Stunde achtzehn Knoten. Der Kommandant des japanischen Schlachtschiffes hielt auch nichts davon, einem Hirngespinst nachzujagen. Commander Irving und der Schlachtschiffkommandant hatten den Oberbefehl über die Kommandanten der kleineren Schiffseinheiten. Professor Jefferson sah, dass er keine Unterstützung zu erwarten hatte. Nach einer kurzen Beratung mit dem Kapitän des Forschungsschiffes fasste er seinen Entschluss. »Wir folgen diesem Ding so lange, bis wir Gewissheit haben.« »Ich weiß nicht, ob Professor Yakumotu das billigen wird«, wandte der Kapitän ein. Jefferson winkte ab. »Ich übernehme die Verantwortung, Kapitän. Ordnen Sie volle Kraft voraus an – Kurs Südsüdost!« Das Forschungsschiff nahm Kurs auf jenes rätselhafte Ding, das auf dem Radarschirm deutlich zu erkennen und per Echolot zu orten war. Die übrigen Schiffe, einschließlich der Russen und Chinesen, blieben beim Witjas-Tief, als gelte es, dieses zu bewachen. Bis Mitternacht folgte das Forschungsschiff dem zur Inselwelt Mikronesiens strebenden Ding. Es wurde bald klar, dass jenes Objekt sich schneller zu bewegen vermochte, als man auf der Brücke des Forschungsschiffes zunächst angenommen hatte. Das Forschungsschiff machte eine Höchstgeschwindigkeit von
27,5 Knoten, doch als es an das langsamer schwimmende Ding bis auf drei Seemeilen herangekommen war, erhöhte dieses abrupt die Geschwindigkeit. Es vergrößerte die Distanz auf sechs Seemeilen und ließ dann das Forschungsschiff wieder näher herankommen. Dieses Spiel wiederholte sich ein paar Mal. Als der Kapitän des Forschungsschiffes die Geschwindigkeit versuchshalber auf zwanzig Knoten verringerte, verminderte auch das Ding im Wasser sein Tempo, so dass ein Abstand von drei Seemeilen bestehen blieb. Um drei Uhr morgens erfasste das Radar ein anderes Schiff. Roaldsen, der Kapitän des Forschungsschiffes, befahl, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Es war ein japanischer Hecktrawler. Roaldsen ließ Jefferson wecken. »Es wird höchste Zeit, dass Sie den Kapitän des Fischtrawlers darüber informieren, was auf ihn zukommt.« »Haben Sie das denn noch nicht getan, Kapitän?« »Das ist Ihre Sache, Professor.« Jefferson überlegte, wie er es anfangen sollte. Der Kapitän des Fischtrawlers sprach kein Englisch. Der Funker musste die Rolle des Dolmetschers übernehmen. »Sie haben sicher von den Geschehnissen beim Witjas-Tief gehört, Kapitän«, begann Jefferson diplomatisch die Unterredung über Funk. »Wie Sie wissen, hat ein Meeresungeheuer ein Tauchboot vernichtet und ein Unterseeboot der US-Marine ebenfalls. Das Monster wurde von Schiffen der amerikanischen und japanischen Flotte bombardiert. Wir wissen aber nicht, ob es wirklich tot ist.« »Kommen Sie zur Sache!«, übersetzte der Funker. »Wir haben keine Zeit für Funkplaudereien.« »Seien Sie vorsichtig, Kapitän, damit Sie es nicht mit diesem Meeresungeheuer zu tun bekommen! Es ist sehr gefährlich. Besonders fatal wäre, wenn es Ihnen etwa ins Netz geriete.« Eine lange Pause, dann folgten ein paar japanische Worte, und endlich sagte der Funker: »Etwas ist uns ins Netz geraten, gerade eben. Wir melden uns später. Wir haben jetzt genug damit zu tun, unseren Fang zu retten.« »Diese Narren!«, rief Jefferson, als er feststellte, dass der Kontakt
unterbrochen war. »Sie täten gut daran, das Schleppnetz zu kappen. Wir müssen sofort zu dem Fischtrawler, Kapitän.« Das Ding war plötzlich vom Radarschirm verschwunden. Es musste sich ungeheuer schnell vorwärtsbewegt haben. Der Teufel mochte wissen, wo es steckte. Das Forschungsschiff lief mit Höchstgeschwindigkeit den Fischtrawler an. Als es bis auf zwei Seemeilen herangekommen war, meldete sich der japanische Fischdampfer wieder: »Unser Schleppnetz ist gerissen, als wir es einholen wollten. Etwas befindet sich darin. Es dröhnt und hämmert in unseren Köpfen, und jemand raunt uns etwas zu. Einen Namen. Tangaroa. Tangaroa kommt aus dem Meer, um uns alle zu verschlingen. Ich …« Der Funkkontakt brach ab. Professor Jefferson schlug in seiner Erregung Kapitän Roaldsen auf die Schulter. »Ich habe es gesagt!«, rief er. »Es ist unser Tiefseeungeheuer. Es ist Tangaroa. Und niemand hat mir glauben wollen.« »Unmöglich!«, stammelte Kapitän Roaldsen. »Wie hat es den Torpedo und die Wasserbomben überlebt?« »Das weiß der Teufel. Wir müssen sehen, dass wir den japanischen Fischern helfen können.« Das Forschungsschiff lief volle Kraft voraus. Der japanische Funker meldete sich noch einmal, mit vor Entsetzen verzerrter Stimme. »Tangaroa ist an Bord gekommen. Er zertrümmert die Aufbauten und zerbeult die Brücke wie eine rostige Konservendose. Er frisst die Männer auf. Mit klebrigen Tentakeln holt er sie in sein gefräßiges Maul.« Der Funker kreischte auf japanisch weiter. Der schreckensbleiche Professor Yakumotu übersetzte. »Es gibt keine Rettung. SOS! SOS! Wir sind alle verloren. Jetzt sehe ich eine riesige Faust mit langen Krallen gegen die Tür der Funkkabine drücken. Es kann sich nur noch um Sekunden handeln. Vernichtet dieses Ungeheuer! Sagt meiner Familie, dass ich meine Pflicht tat bis zuletzt! Jetzt gibt die Tür nach. Ich sehe blaue Krallenfinger mit roten Schwimmhäuten. Bei allen Göttern der Ahnen, solche Monster darf die Erde nicht tragen. Das ist …« Ein Todesschrei
gellte, dann kam nur noch Krachen, Knacken und Pfeifen aus dem Empfänger. Das Forschungsschiff hatte den Fischtrawler erreicht. Im Mondund Sternenschein sah man einen gigantischen Schatten auf dem schwankenden Schiff. Starke Scheinwerfer erfassten das Schiffswrack. Für einige Augenblicke erhaschte die Besatzung des Forschungsschiffes einen Blick auf einen riesigen Kopf mit Glotzaugen und funkelnden Zahnreihen, auf hin und her peitschende Tentakel und gewaltige Arme mit einem Zackenkamm an der Außenseite und einem roten Rückenkamm. Fürchterliches Gebrüll war zu hören. Dann glitt das Monster ins Wasser und war von einer Sekunde zur anderen verschwunden. Der Fischtrawler aber war nur noch ein völlig verwüstetes Wrack. Menschen waren nicht zu sehen – weder lebendig noch tot. »Wir müssen schleunigst weg von hier«, rief Kapitän Roaldsen. »Ich lege keinen Wert darauf, Tangaroa bei mir an Bord zu sehen.« »Zuerst müssen wir feststellen, ob noch Menschen am Leben sind«, sagte Jefferson. »Dann müssen die Militärs verständigt werden. Unser Schiff ist vier Mal so groß wie der Fischtrawler. An das wird sich Tangaroa nicht so schnell heranwagen.« »Das sagen Sie. Aber ich bin der Kapitän und für die Sicherheit des Schiffes verantwortlich. Ich sage, wir müssen weg von hier.« Jefferson und Roaldsen blickten einander feindlich an. Da krachte es drüben auf dem Trawler, und ein Teil der beschädigten Aufbauten flog weg. An der Leeseite war ein Leck entstanden. Das Schiff bekam schnell Schlagseite. Eine Kesselexplosion war erfolgt. Weiße Dampfschwaden wehten über das Wasser. Nichts regte sich auf dem Schiff, das bald untergehen würde. »Dieses Schiff hat das Monster auf dem Gewissen«, sagte Kapitän Roaldsen. »Wir entfernen uns von hier. Die Navy muss dieses Ungeheuer erledigen.« »Aber vergessen Sie nicht, dass Tangaroa schneller ist als wir!«, sagte Jefferson. »Wenn er uns haben will, bekommt er uns. Ich bleibe bei meiner Meinung, dass wir zu groß für ihn sind und er sich nicht an uns heranwagen wird.«
»Wie groß war das Ungeheuer, als es beim Witjas-Tief das Mini-UBoot vernichtete?« »Das wissen Sie so gut wie ich. Zwanzig Meter, vielleicht zweiundzwanzig.« »Der Schatten, den wir ins Meer gleiten sahen, maß mindestens dreißig Meter. Ich habe ein gutes Augenmaß und schätze genau. Tangaroa wächst rasend schnell, und ich möchte nicht mehr hier sein, wenn es groß genug geworden ist, um dieses Schiff anzugreifen.«
Am Tag, nachdem er Araui aufgesucht hatte, erhielt Dorian eine Nachricht. Er sollte sich um zwanzig Uhr auf dem Platz vor dem Gouverneursgebäude einfinden. Aus dem Fernsehen erfuhren Dorian und seine drei Gefährten die letzten Neuigkeiten vom ObservatorPojekt. Die Nachrichtensperre war jetzt endlich aufgehoben. Eine erstaunte Weltöffentlichkeit erfuhr, dass es auch auf dieser Erde noch Monster und Ungeheuer gab, von denen niemand etwas geahnt hatte. Im australischen Fernsehen wurden Filmaufzeichnungen des Oberservator-Teams gezeigt, allerdings ohne das Monster. »Eigentlich sind immer nur das Wasser und die Schiffe und ein paar Meter Unterwasserfilm zu sehen«, sagte Cohen, der sich im Sessel vor dem Farbfernseher lümmelte. »Ich möchte wissen, weshalb darum so viel Aufhebens gemacht wird.« Die Meldungen von der Vernichtung des Tauchboots und des Mini-U-Boots sowie der Vernichtung des Monsters durch ein Torpedo und Wasserbomben wurden mit zweifelndem Erstaunen aufgenommen. Eine so phantastische Story hätte besser in einen Film gepasst. Eine hitzige Debatte setzte ein, ob es gerechtfertig gewesen war, das Unterwassermonster zu vernichten. Viele meinten, so ging aus den Kommentaren im Rundfunk und im Fernsehen hervor, dass man das Ungeheuer hätte erhalten müssen. Niemand zweifelte daran, dass das Monster tot war. Dass das Forschungsschiff des ObservatorProjekts einen Schatten auf dem Radarschirm wahrgenommen hatte und diesem gefolgt war, wurde in den Nachrichten nicht erwähnt.
Dorian interessierte sich nur mäßig für die ganze Sache. Für ihn war alles gelaufen. Er verstand die Leute nicht, die dem Tiefseemonster nachtrauerten. Wichtiger als wissenschaftliche Interessen waren nach Dorians Meinung Menschenleben; und nachdem das Tiefseeungeheuer sechs auf dem Gewissem gehabt hatte, war es richtig gewesen, nicht länger zu zögern. Am Nachmittag erlitt Trevor Sullivan einen schweren Anfall. Nach seinem Abenteuer auf den Orkneyinseln, wo ein Dämon reichen alten Leuten durch die Lebenskräfte junger Menschen auf grässliche Weise die ewige Jugend verlieh, hatte der frühere Observator-Inquisitor ein psychisches Leiden davongetragen. So wie Leute mit Rheuma, Gicht oder Ischias Wetterveränderungen im Voraus spürten, so kündigten sich bei Trevor Sullivan dämonische Ereignisse durch schlimme Beschwerden an. Er bekam Lähmungserscheinungen, Gliederzucken und -reißen und entsetzliche Kopfschmerzen, die kein Medikament zu lindern vermochte. An diesem Tag spürte Sullivan zudem noch Stiche in der Herzgegend und im ganzen Körper. Es war so schlimm, dass Dorian einen Arzt holte. Der Arzt, ein älterer Indonesier, wollte Sullivan ins Krankenhaus einweisen, aber dagegen wehrte sich Sullivan mit aller Kraft, die er noch aufzubringen imstande war. Der Arzt verschrieb ihm einige Medikamente und ging wieder. Dorian versuchte Sullivan auf magische Weise Linderung zu verschaffen, aber weder Hypnose noch die einfachen Beschwörungen gegen Schmerzen vermochten etwas auszurichten. Jeff Parker hatte es sich nicht nehmen lassen, tagsüber den Strand aufzusuchen. Der Vierzigjährige ließ eben in keiner Lebenslage die Freuden des Daseins ganz außer Acht. Er betrieb den Kampf gegen die Dämonen aus Abenteuerlust. Parker brauchte den Nervenkitzel, den ihm die Vergnügungen des Playboylebens nicht bieten konnten. Er drängte darauf, Dorian am Abend zu begleiten, aber der Dämonenkiller lehnte ab. So blieb Jeff Parker mit Marvin Cohen und dem ächzenden Trevor Sullivan im Bungalow zurück. Dorian fuhr mit dem Toyota zum Gouverneurspalast. Er schlenderte umher und schoss mit Jeff Parkers Minox ein paar Fotos, als
sei er ein Tourist. Ein kleiner Junge lief auf ihn zu und steckte ihm einen Zettel in die Hand. Dorian las. Araui wollte ihn am Westrand der Stadt in einem Haus treffen. Eine kleine Skizze war auf den Zettel gezeichnet, und nach dieser fuhr Dorian los. Er ließ seinen Wagen auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus stehen, ging den Rest des Weges zu Fuß und gelangte in ein Viertel mit baufälligen, windschiefen Hütten. Aus dem Innern der Behausungen plärrten lautstark Ghettoblaster, und unzählige Hunde kläfften und balgten sich. Halbwüchsige Melanesier bildeten Gruppen auf den Straßen. Viele von ihnen trugen nur einen Lendenschurz, aber alle hatten die unvermeidliche Zigarette im Mund. Männer saßen vor den Hütten, tranken Bier und unterhielten sich. Junge Frauen flanierten zu zweit oder zu dritt vorbei, mit billigen bedruckten Kattunfähnchen in schreienden Farben oder mit den traditionellen Pareos aus schlechtem Material angetan, und die jungen Männer pfiffen hinter ihnen her. Es war eine Welt, die Dorian fremd und vertraut zugleich war. Das war ein Slum im Kleinformat am Rande von Rabaul. Hier lebten Menschen, die von der Zivilisation verdorben waren, ehe sie noch ihre positiven Seiten kennen gelernt hatten. Das Holzhaus, das Araui Dorian bezeichnet hatte, war groß und geräumig. Es war ein Bordell. Dorian merkte es, als er einige Soldaten vom Luftwaffenstützpunkt auf den Wartebänken in der Bar vorn im Erdgeschoss sah und hörte. Eine verblühte Frau kam auf den Dämonenkiller zu und zog ihn in die hinteren Räume. Hinter den Türvorhängen hörte er eindeutige Geräusche. Die Soldaten murrten, weil Dorian vorgezogen wurde. Die Melanesierin führte den Dämonenkiller in einen schmutzigen Raum mit einem Mattenlager am Boden. Eine schlampig aussehende junge Einheimische mit einem Bastschurz und Hängebrüsten wusch sich gerade in einer Waschschüssel, deren Wasser dringend hätte gewechselt werden müssen. Als Dorian sie fragend ansah, winkte die fette Frau sie hinaus und sagte mit rauer Stimme zu dem Dämonenkiller: »Araui gleich kommen.« Auch sie entschwand, Dorian setzte sich hin, steckte sich eine Zi-
garette an und lauschte dem unvermeidlichen Geplärr des Radios, das auch in diesem Haus auf Hochtouren lief. Wenig später kam Araui hereingehuscht. »Heute findet eine Versammlung statt, und ich will dich mitnehmen. Du musst aber in meiner Nähe bleiben und darfst dieses erste Mal nichts unternehmen. Das musst du mir versprechen.« Dorian versprach es, und Araui gab ihm einige Verhaltensmaßregeln. Im Wesentlichen sollte Dorian den Mund halten, das tun, was die andern auch taten, und auf keinen Fall auffallen. Schwierig war lediglich, dass Dorian den melanesischen Dialekt nicht verstand, der bei der Versammlung gesprochen wurde. Der Dämonenkiller beherrschte zwar eine Menge Sprachen, die er in diesem Leben und in seinen vorigen gelernt hatte, doch Südseeinseldialekte gehörten nicht dazu. Araui wollte Dorian in einem nahen Kokoswald treffen. Er ging und verließ das Bordell durch eine Geheimtür. Der Dämonenkiller fand Araui in dem Kokospalmenhain. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen, aber die Sterne standen hell und klar am Himmel und leuchteten. Die Mondsichel hing über den Palmen, und das Kreuz des Südens funkelte. Im Sternenschein sah die Insel besonders schön und romantisch aus. Es duftete nach Humus, Pflanzen und Blumen. Man konnte kaum glauben, dass ein dämonisches Schauspiel bevorstand. Araui gab Dorian wortlos eine Dukduk-Maske, und der Dämonenkiller setzte sie auf, nachdem er einen Tiputa über seine Kleider gezogen hatte. Dorians Hände waren von der Sonne braungebrannt und bei Nacht konnte man den Farbunterschied zum Teint der Melanesier nicht bemerken. Lediglich Dorians Größe – er maß immerhin einen Meter neunzig – war jetzt noch auffallend. Araui sagte ihm, er sollte sich gebückt halten. Auch der Zauberer setzte nun die hohe, spitze Maske auf, dann wanderten die beiden Männer durch den Palmenhain zum Versammlungsort am Berghang. Bald trafen sie andere Dukduk. Schweigend tauchten Gestalten mit den charakteristischen Spitzmasken aus der Dunkelheit auf und wanderten auf schmalen Pfaden durch den dichten Dschungel.
Im Regenwald wuchsen Farne und Gestrüpp dicht und ineinander verfilzt am Boden. Insekten und Moskitos summten. Das Rufen der Nachtvögel war zu hören. Größere Raubtiere gab es hier nicht und nur wenige Schlangenarten, von denen lediglich eine oder zwei giftig waren. Mit der grünen Hölle des Amazonas war der Dschungel hier nicht zu vergleichen. Nach einer Stunde anstrengenden Marsches – es ging steil bergauf – erreichten sie den Versammlungsplatz. Eine große Lichtung war mit Bastmatten verhängt. Man sah Feuerschein hindurchleuchten. Beim Eingang standen zwei Wächter mit Schnellfeuergewehren. Sie trugen ebenfalls Dukduk-Masken. Dorian murmelte wie die anderen die Losung – Moko-mokai – und trat auf den Versammlungsplatz. In der Mitte brannte ein großes Feuer, in den vier Ecken jeweils ein kleines. An die zweihundert Dukduk hatten sich bereits versammelt. Einige unmaskierte Mitglieder des Geheimbundes sorgten für die rituelle Musik. Sie ließen brummende, summende Schwirrhölzer herumwirbeln, so schnell, dass ein flirrender Kreis um ihren Kopf entstand. Flöten wurden gespielt, verschiedene Trommeln geschlagen und Rasseln geschwungen. Dorian sah Schlitz- und Maultrommeln und bemerkte einen Mann, der ein einfaches Schenkelxylophon schlug. Es war eine seltsame, exotische Musik, rhythmisch, aufpeitschend und wild – sie passte zu diesem Geheimbundtreffen. Die nackten Oberkörper der Musikanten waren schweißüberströmt … Die starren Augen verrieten, dass sie sich in Trance befanden. Dorian nahm mit Araui seinen Platz hinten an der Wand ein. Wenn er sich ein wenig reckte, konnte er die Menge gut überblicken. Die Menschen summten und wiegten die Oberkörper hin und her. Manchmal wurde aufgestampft und ein paar Mal in die Hände geklatscht: Als sich etwa vierhundert Menschen versammelt hatten, war die Versammlung vollzählig. Zum Dukduk-Bund gehörten nur Männer – Frauen durften sich bei Todesstrafe nicht auf den Versammlungen blicken lassen. Ein Dukduk trat vor – offenbar einer der Tohungas. Leidenschaftlich hielt er eine Rede, die immer wieder von Zwischenrufen, Geklatsche
und Füßetrampeln unterbrochen wurde und bei den Zuhörern Erstaunen und Besorgnis hervorrief. Dorian verstand kein Wort. Es war auch keine Gelegenheit, Araui zu fragen. Zwischen den Matten staute sich die Hitze der auf engem Raum zusammengedrängten Körper. Dorian lief unter seinen Kleidern und dem Tiputa der Schweiß über den Körper und Schweißtropfen perlten unter der vor sein Gesicht geschnallten Spitzmaske. Der Dukduk hüpfte am auflodernden Feuer umher und rief Beschwörungen und geheime Worte des Bundes. Die Schwirrhölzer brummten lauter, der Trommelklang schwoll an. Der Dukduk-Tohunga warf einige Handvoll Kräuter, die er unter seinem Tiputa hervorholte, in das Feuer. Rauch stieg auf und hüllte für Augenblicke das Feuer und seine Umgebung ein. Als er sich verzogen hatte, standen zwei Gestalten da, die zuvor noch nicht da gewesen waren. Auch sie trugen Spitzmasken, die aber breiter waren als die der Dukduk, eine kürzere Spitze aufwiesen und in einem Federbusch endeten. Die Masken saßen auf einem Gewand von Palmfächern, das den Träger umhüllte und ihn fast wie ein rundes Knäuel erscheinen ließ. »Tubuan, Tubuan!«, schrien die Dukduk und fielen nieder. Aus der Menge trat nun eine weitere Gestalt in einem Palmwedelgewand, der Dukduk-Geist. Er platzierte sich zwischen den beiden Tubuanen. Die Menge war sehr unruhig. Dorian hörte Gemurmel und aufgeregte Worte. Das Auftauchen beider Tubuane zur gleichen Zeit war ein Schock für die Dukduk. Sie erwarteten ein schlimmes und außergewöhnliches Schauspiel. Es kam auch gleich zu einem Rededuell zwischen den beiden Tubuanen. Sie umkreisten einander, und aus den Palmwedelgewändern kamen Hände hervor, die sich drohend zu Fäusten ballten und Beschwörungen vollführten. Aus dem Gewand des einen Tubuan huschte eine leuchtende Schlange und kroch rasend schnell auf den andern zu. Aber ein schwarzer Adler stieß vom Himmel herab, packte die Schlange und entschwand mit ihr in die Lüfte. Mit donnernder Stimme rief der eine Tubuan ein paar Worte, dann sprach der andere. Seine Stimme klang nicht minder drohend und unmenschlich.
Dorians Blicke huschten von einem Tubuan zum andern. Konnte sich unter einer dieser Maskeraden Coco Zamis verbergen? Viel Weibliches konnte der Dämonenkiller an diesen beiden als weiblich geltenden Geistern nicht erkennen. Der Dukduk war offensichtlich zwischen den beiden Tubuanen hin und her gerissen. Dukduk-Anhänger brachten nun Opfergaben – Früchte, Schweine und Hühner mit zusammengebundenen Beinen sowie ein gefesseltes junges Mädchen, das keinen Faden am Leib trug und an allen Gliedern zitterte. Sie legten die Gaben vor den beiden Tubuanen nieder. Die Musikinstrumente waren jetzt fast verstummt, bildeten nur noch die Untermalung. Die beiden Tubuane stritten um die Opfer. Ein Disput entbrannte. Plötzlich beschwor jeder von ihnen etwas, das Feuer flammte gewaltig auf. Eine glühende Lohe umschloss Tubuane, Dukduk und Opfer. Aber selbst die vordersten Dukduk-Anhänger spürten keine Hitze. Als die Feuerlohe zusammenfiel, waren die Tubuane und alles andere spurlos verschwunden. Lediglich der Dukduk stand noch am Feuer. Er flüchtete mit einem klagenden Schrei in die verstörte Menge und verschwand darin. Die Musikinstrumente spielten wieder lauter. Die Menge erhob sich, besorgt und verwirrt. Es wurden noch ein Sprechgesang und ein einfacher Stampftanz aufgeführt, aber Dorian merkte, dass keiner mit den Gedanken bei der Sache war. Dann verließ die Menge das Mattenviereck und verschwand in den Dschungel. Es war kurz nach zwei Uhr morgens. Ein Dukduk nach dem andern trennte sich von der Gruppe, verschwand wortlos, bis endlich Dorian und Araui allein waren. Im Palmenhain nahmen sie die Masken ab. Dorian war froh, endlich den Tiputa loszuwerden. Seine Sachen waren durchgeschwitzt. »Was hat das Erscheinen gleich zweier Tubuane zu bedeuten?« »So etwas hat es noch nie gegeben«, sagte der Dukduk. »Es ist ein schlimmes Vorzeichen. Wenn die beiden Tubuane sich treffen und bekämpfen, dann wird ein Ungeheuer kommen und die Bewohner ganzer Inseln fressen, so sagt die alte Prophezeiung, denn dann ist die ganze Schöpfung in Unordnung geraten. Bald wird es zu einem Kampf der beiden Tubuane kommen, dem alle Dukduk beiwohnen
werden. Der Sieger aus diesem Kampf wird der echte große weibliche Geist sein, das Unsterbliche, das immer war und immer sein wird.« »Was haben die Tubuane miteinander gesprochen? Ich habe nichts davon verstanden.« »Wir alle waren entsetzt, denn sie haben sich wüst beschimpft. Der eine nannte den anderen einen ekelhaften Dämon mit tatauierter Narbenfratze, den die Hölle verschlingen solle für all seine Bosheiten und Gemeinheiten. Und der andere Tubuan nannte den, der ihn so bezeichnete, eine Hexe und Hure aus fernen Ländern, die in seinem Einflussbereich nichts verloren hätte. Außerdem sei sie durch ekelhafte und verabscheuungswürdige Liebe zu einem Menschen besudelt und nicht wert, zur Schwarzen Familie zu gehören.« Dorians Herz machte einen Sprung. »Und weiter?« »Der Tubuan, der zuerst gesprochen hatte, sagte nun, der andere hätte kein Recht, ihm irgendwelche Verfehlungen aus der Vergangenheit vorzuwerfen, und er sollte sich um seinen eigenen Kram kümmern. Da gäbe es gerade genug Punkte, die nicht zu einem Dämon der Finsternis passten. Er wollte ihm schon zeigen, wer der Mächtigste ist. Bald schon. Einer von ihnen sei zuviel auf der Erde, doch nicht mehr lange.« Dorian wusste jetzt, wen er vor sich gehabt hatte. Es gab keinen Zweifel mehr. Die tatauierte Narbenfratze konnte nur der Dämon Te-Ivi-o-Atea gewesen sein, der Herr der Südsee. Und der andere Tubuan musste Coco Zamis gewesen sein. Auf sie traf alles zu, was Te-Ivi-o-Atea vorgebracht hatte. »Der Kampf der Tubuane kann die ganze Insel vernichten, mit allem, was darauf ist«, sagte Dorian zu Araui. »Ich kenne einen Zauber, der den falschen Tubuan entlarvt und seine Kräfte schwächt, so dass der Echte über ihn siegen kann. Damit wären alle gerettet.« »Kann denn ein Mensch in den Kampf der Götter eingreifen?«, fragte Araui zweifelnd. »Einer der Tubuane ist eine falsche Gottheit«, antwortete der Dämonenkiller, »ein übler Dämon, der viel zu lange schon sein Spiel treibt. Er kennt und fürchtet mich. Nicht umsonst hat er verlangt,
dass ich, der große Tohunga, geopfert werden soll.« »Du bist in großer Gefahr. Man wird dich gefangen nehmen und zu Ehren des Tubuan töten.« »Das wird nicht geschehen. Ich werde auf der Hut sein. Nicht umsonst bin ich ein Tohunga. Du musst mir nur rechtzeitig Bescheid geben und mich zum Versammlungsplatz, an dem der Kampf der beiden Tubuane stattfinden soll, führen – dann werde ich das Meine tun.« Der vermeintliche Araui nickte. Mit seinen beiden Dukduk-Masken ging er davon. Der Dämonenkiller wanderte zur Stadt, von tiefer Sorge erfüllt. Te-Ivi-o-Atea war ein gefährlicher Dämon, und sicher hatte auch Olivaro seine Hände im Spiel. Er begehrte Coco, aber wenn er Gewissheit darüber erlangte, dass sie immer noch Dorian Hunter liebte, dann würde er sie gnadenlos vernichten. Dorian fuhr zum Bungalow. Obwohl er todmüde war, dauerte es lange, bis er einschlafen konnte. Schlimme Albträume quälten ihn. An einem anderen Ort überprüfte der Fürst der Finsternis den Fortschritt seiner Pläne, und eine höllische Freude erfüllte ihn.
Professor Jefferson hatte Alarm geben lassen und mit dem Oberkommando der US-Navy Kontakt aufgenommen. Takahama Yakumotu hatte an die japanische Admiralität eine lange Funkmeldung abgesetzt. Um die Mittagszeit bereits funkte der amerikanische Flugzeugträger John F. Kennedy das Forschungsschiff an. Jefferson sprach mit dem Kommandanten, Dwight T. Forbes, Commodore der US-Navy. »Ihre Geschichte mit dem Tiefseemonster wird immer toller, Professor«, sagte Forbes. »Aber etwas muss wohl daran sein, denn wir haben einen verstümmelten Funkspruch des japanischen Trawlers aufgefangen. Geben Sie uns laufend Ihre Position durch! Wir kreuzen Ihren Kurs und werden bald ebenfalls dieses Ding auf dem Radarschirm haben.« Das Forschungsschiff pflügte seit einigen Stunden mit zwanzig Knoten Geschwindigkeit durch den Ozean. Tangaroa hatte südli-
chen Kurs eingeschlagen und befand sich in der Inselwelt Mikronesiens mit seinen Tausenden von kleinen und kleinsten Inseln. Der Funkkontakt wurde beendet. Stunde um Stunde folgte das Forschungsschiff dem Tiefseemonster. Um fünfzehn Uhr meldete sich die japanische Admiralität von Yokohama aus, wobei das japanische Schlachtschiff als Funkrelaisstation diente. Die Japaner wollten von nun an alles den Amerikanern überlassen, die im Pazifik genügend Stützpunkte und eine ganze Flotte hatten. Die Japaner beschränkten sich auf die Beobachterrolle. Um siebzehn Uhr zehn erhielt Professor Jefferson eine weitere Funkmeldung – diesmal von einem Aufklärungsflugzeug. »Hier PB-Y 17, Aufklärer des Flugzeugträgers John F. Kennedy«, tönte es aus dem Funklautsprecher. »Lieutenant Dickson. Komme jetzt bald in Sichtweite und werde versuchen, ein paar Fotos von Tangaroa zu schießen. Gebt mir seine genaue Position direkt durch!« Jefferson antwortete: »Riskieren Sie nicht zu viel, Mann! Tangaroa befindet sich nach den letzten Ortungen nur zwanzig Meter unter der Wasseroberfläche.« »Deswegen bin ich ja hier. Mal sehen, vielleicht steckt er den Kopf aus dem Wasser, wenn ich auf ihn ballere.« Der Aufklärer wurde sichtbar – ein pfeilschneller Deltaflügler. Er jagte über die Schaumkronen dahin. Der Funker forderte von der Brücke die genauen Daten über Tangaroa an und gab sie an den Aufklärer weiter. Der Aufklärer drehte einen Looping und schraubte sich in den Himmel hoch. Die Besatzung des Forschungsschiffes stand an Deck und beobachtete die Stelle, an der Tangaroa sich in etwa befinden musste. Einige Männer hatten Ferngläser, die die Runde machten. Doch noch war nicht mehr zu sehen als der blaue Himmel mit den Wolken und der wogende Ozean. Der Aufklärer stieß auf das Wasser herab und fotografierte mit den Bordkameras. Einige Männer von der Besatzung des Forschungsschiffes schrien entsetzt. Es sah so aus, als würde das Raketenflugzeug auf der Wasseroberfläche zerschellen. Doch der Pilot fing es ab und zog es wieder nach oben. Einen kurzen Feuer-
schweif aus der Düse hinter sich herziehend, verschwand es in den Wolken. Kapitän Roaldsen tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Entweder ist dieser Bursche ein Verrückter«, sagte er, »oder einer der besten Piloten, den die Navy hat.« »Ich habe nichts von Tangaroa zu Gesicht bekommen«, meldete sich der Pilot – über Funk. »Das nächste Mal werde ich ihm mit den Bordwaffen einheizen.« »Seien Sie vorsichtig, Dickson!«, beschwor Professor Jefferson den tollkühnen Piloten. »Tangaroa ist gefährlich. Er hat ein ganzes Schiff vernichtet und versenkt.« »Geflogen ist er bisher noch nicht. Ende.« Professor Jefferson hielt die Spannung nicht mehr länger aus. Er eilte aus dem Funkraum auf die Brücke. Wieder raste der Aufklärer auf die Ozeanoberfläche zu. Im Sturzflug begannen die Bordwaffen zu hämmern – Geschosse der 4,5-cm-Kanonen und der Maschinengewehre. Eine Rauchwolke entstand und verwehte. »Tangaroa rührt und regt sich nicht. Sind Sie sicher, dass ich am richtigen Platz bin?«, rief Lieutenant Dickson. »Es besteht kein Zweifel«, ließ Jefferson dem Piloten mitteilen. »Wir haben Tangaroa auf dem Radarschirm und hatten auch Sie.« Der Kapitän sagte Jefferson etwas. Er ließ es sofort Lieutenant Dickson übermitteln: »Tangaroa taucht tiefer. Anscheinend stört ihn der Beschuss.« »Dann werde ich es noch einmal versuchen – und diesmal gründlich. Ich habe eine Überraschung für unseren Freund. Eine Luft-Unterwasser-Rakete. Typ Kamikaze. Mal sehen, wie er darauf reagiert.« Der Aufklärer heulte heran. Schmerzhaft trafen die Schallwellen die Trommelfelle der Besatzung des Forschungsschiffes. »Yippeeeehhh!«, schrie der Lieutenant ins Funkmikrofon, als er die Bordrakete abschoss. Der Aufklärer näherte sich der Wasseroberfläche. Da schoss etwas Dunkles aus dem Meer empor – Tangaroa! Wie von einem Katapult abgeschnellt jagte das Monster in die Höhe, mit aufgestellten Kämmen und Schwimmhäuten – wie ein
riesiger fliegender Fisch. Der Lieutenant sah den abgeflachten Kopf des Monsters auf sich zurasen und wollte das Raketenflugzeug zur Seite dirigieren. Zu spät, das Monster war zu schnell. Der Aufklärer und das Tiefseemonster prallten zusammen. Es gab eine gewaltige Explosion. Ein Feuerball glühte auf. Ein Besatzungsmitglied des Forschungsschiffs hatte die Geistesgegenwart, eine Aufnahme zu machen. Dann plumpste Tangaroa schwer ins Meer zurück und ging unter. »Das hat das Monster nicht überlebt. Damit ist alles vorbei«, sagte Professor Yakumotu. Das Forschungsschiff nahm Kurs auf die Stelle, wo der Zusammenstoß stattgefunden hatte. Professor Jefferson hoffte, noch ein paar Überbleibsel von Tangaroa aus dem Meer fischen zu können. Er stand an Deck und betrachtete misstrauisch die Kamera des Maats, der das Foto geschossen hatte. »Professor, Professor, das Monster ist noch immer am Leben! Wir haben es auf dem Radarschirm. Es schwimmt in südlicher Richtung auf Melanesien zu, als sei nichts gewesen«, schrie jemand von der Brücke herunter. Jefferson rannte nach oben. Dem Professor fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er es sah. Tangaroa lebte. Es gab keinen Zweifel. »Ich muss sofort mit Commodore Forbes vom Flugzeugträger Verbindung aufnehmen«, sagte er, als er sich einigermaßen gefasst hatte. Die Massenmedien schrien es in alle Welt hinaus. Die Sensation war perfekt. Tangaroa, das unzerstörbare Monster aus der Tiefe, terrorisiert die Südsee. Jetzt schaltete auch Washington endlich. Vizeadmiral Terrell Parker, derzeit auf dem Marinestützpunkt Oahu auf Honolulu befindlich, sollte zum Flugzeugträger John F. Kennedy geflogen werden und die Oberleitung der ›Operation Tangaroa‹ übernehmen. Die Welt schaute auf das Inselgebiet Mikronesiens. Alle Kriege, Putsche, Naturkatastrophen und sonstigen Sensationen waren vergessen. Der Flugzeugträger John F. Kennedy näherte sich von Osten her
einem Punkt, an dem er das Forschungsschiff treffen wollte. Alle andern Schiffe wurden aus dem Gebiet beordert, Katastrophenwarnung wurde gegeben. Jeder wusste inzwischen, dass der Name Tangaroa vom Meeresgott der Polynesier entliehen war, und abergläubische Polynesier glaubten, der Meeresgott selber sei aus seinem Reich am Grund des Ozeans heraufgestiegen, weil ihn das Treiben der Menschen erzürnte. Ein Wasserflugzeug des Flugzeugträgers landete in der Nacht neben dem Forschungsschiff und holte den Film mit der Aufnahme von Tangaroa ab. Sie sollte in den Speziallabors entwickelt und ausgewertet werden. Das Forschungsschiff folgte Tangaroa die Nacht hindurch. Morgens um acht Uhr, als Professor Jefferson nach dem morgendlichen Training im Gymnastiksaal im Swimmingpool seine Runden drehte, kam der aufgeregte zweite Offizier herbeigestürzt. »Professor, Professor, Tangaroa kommt auf uns zu! Er greift uns an!« »Verdammt!« Er kletterte gerade aus dem Swimmingpool, als das Monster das Forschungsschiff rammte. Jefferson fiel ins aufspritzende Wasser zurück, kletterte aber gleich wieder heraus. Tangaroa hatte das Schiff mit ungeheuerlicher Wucht in Höhe des Hauptmaschinenraumes gerammt. Jefferson klemmte Shorts, Polohemd und Schuhe unter den Arm und stürzte zur Brücke vor. Er sah das bleiche Gesicht von Kapitän Roaldsen. »Wir haben ein großes Leck im Maschinenraum«, sagte der Kapitän. »Den Männern dort ist nicht mehr zu helfen. Die Schotten sind dicht gemacht. Jetzt kommt alles auf die Hilfsmaschinen an.« Er schrie in die Sprechanlage: »Reicht die Pumpenleistung aus?« »Wenn das Wasser nicht in den Hilfsmaschinenraum durchbricht, kann es klappen«, kam die Antwort. »Wir tun, was wir können, Sir.« »Das weiß ich. Haltet aus, Jungs!« Die Druckpumpen liefen auf Hochtouren. Schon sah es so aus, als könnte das Schiff gerettet werden. Da schrie der Navigationsoffizier am Radargerät auf. »Er kommt! Er kommt! Tangaroa greift uns wieder an.« In der nächsten Sekunde gab es eine so gewaltige Erschütterung, dass alle auf der Brücke zu Boden stürzten. Kapitän Roaldsen erhob
sich, einen blutigen Riss an der Stirn, und hielt sich bei der Sprechanlage fest. »Das Wasser kommt – aus dem Maschinenraum«, kam es aus dem Lautsprecher. »Es steigt rasend schnell. Wir können die Schotten nicht dicht machen …« Ein Gurgeln, ein Schrei, dann war Stille. Das Schiff sackte merklich tiefer, kam in Schräglage. Übers Deck gellten entsetzte Schreie: »Tangaroa kommt an Bord!« »Gott sei uns gnädig!« »Das Tiefseemonster frisst uns auf!« Professor Jefferson, vom Fall noch benommen, sah einen Kopf wie aus einem Albtraum über die Reling lugen. Zwei riesige Glotzaugen starrten ihn an. Eine Krallenhand hatte das Schiff am Bug gepackt, die andere am Schornstein. Mächtige Tentakel peitschten über Deck. Sie waren klebrig, so dass die Menschen daran haften blieben – sie wurden in das gefräßige Maul geschaufelt. Die Unglücklichen schrien entsetzlich. Tangaroa brüllte und schmatzte. Das Ungeheuer hatte eine hellblaue Haut, rote Schwimmflossen, Stachelkämme und gelb glühende Glotzaugen. An seinem Körper hingen viele kleine Schmarotzertierchen: Muscheln, Seesterne und Algen. Jefferson sah einige große, gezackte Narben, die wohl von dem Beschuss und dem Zusammenprall mit dem Aufklärer herrührten, aber bereits völlig verheilt waren. Der Professor erlebte Szenen des Grauens mit, während das Ungeheuer unter der einhundertachtundzwanzigköpfigen Besatzung wütete. Manche Details dieses Horrors prägten sich Jefferson unauslöschlich ein. Er sah seinen Kollegen Takahama Yakumotu an einem der Tentakel hängen, sah, wie dem dicklichen Japaner die Brille von der Nase rutschte, wie er plötzlich in den aufgerissenen Rachen purzelte. Jefferson sah Kapitän Roaldsen mit einer Axt auf das Ungeheuer zurennen und auf den platten Kopf losdreschen. Aus dem Rachen Tangaroas fegte eine lange, gespaltene, schwärzliche Zunge, erfasste den Kapitän und riss ihn in den gierigen Mordrachen. Tangaroa war unwahrscheinlich gewachsen. Er maß jetzt gut vierzig Meter. Das Ungeheuer zog sich völlig an Bord und brachte das
Forschungsschiff mit seinem Tonnengewicht fast zum Kentern. Jefferson sah, dass Tangaroa lächerlich kleine Beinchen mit Krallen und Schwimmflossen und einen mächtigen Fischschwanz hatte. Er ertappte sich dabei, wie er seine Shorts anzog. Als wäre es nicht gleichgültig, wie das Monster mich frisst, dachte er, als er die vorderen Ladebäume wie Streichhölzer zersplittern sah. Tangaroa knickte den Schornstein um und riss das Deck auf, zerstörte die Aufbauten. Jefferson flüchtete von der Brücke. Er kam an der Funkkabine vorbei, wo der Funker am Gerät saß und mit erstaunlich leidenschaftsloser Stimme immer wieder die Position, den internationalen Notruf und eine kurze Situationsschilderung durchgab. Wie Schlangen krochen Tangaroas Tentakel durch das Schiff. Seine gespaltene, klebrige Zunge leckte Dutzende von Menschen auf und ließ sie im Rachen verschwinden. Es war ein Albtraum, den das Gebrüll des Monsters, die Schreie der Menschen in Todesangst, das Krachen und Bersten von Aufbauten und Schiffseinrichtungen sowie das Knirschen, Knacken und Reißen des sich verformenden Stahls und Eisens untermalten. Das Forschungsschiff sackte nun mit dem Heck ab. Der Bug ragte aus dem Wasser. Jefferson war aus dem Schiffsinnern gekommen. Er stand auf dem Vordeck, vor den zerbeulten Überresten der Aufbauten. Der Professor rechnete nicht mehr damit, mit dem Leben davonzukommen. Zu seinem Erstaunen empfand er keine besondere Todesangst. Er wünschte sich nur, es möge schnell vorbei sein. Sein ganzes Leben raste in Sekundenschnelle an ihm vorüber. Einigen Besatzungsmitgliedern war es gelungen, drei Rettungsboote zu Wasser zu lassen. Über das sinkende Schiff gellten nur noch vereinzelt Schreie, und auch sie verstummten bald. Es schien, dass außer Ben Jefferson keiner an Bord mehr lebte – alle, alle hatte Tangaroa gefressen. Über sich hörte Jefferson ein Brummen. Zwei Hubschrauber der US-Navy schwebten über dem sinkenden Schiff. Tangaroa schielte zu ihnen hinauf und stieß ein entsetzliches Gebrüll aus. Dann sprang er von Bord und schwamm wie ein blauroter Blitz auf die Rettungsboote zu. Tangaroa packte das erste Rettungs-
boot und schüttelte sich die Insassen ins Maul. Einige besonders Hartnäckige, die sich an den Sitzbänken festklammerten, holte er mit seiner Zunge. Dann kam das zweite Rettungsboot an die Reihe und dann das dritte. Die Hubschrauber hatten das Feuer eröffnet. Mit Maschinengewehren und Bordkanonen beschossen sie das Monster, doch dieses schien die Verletzungen nicht zu spüren. Es zuckte zwar, und eine zähe, grünliche Flüssigkeit quoll aus vielen Wunden, aber es ließ von seinen Opfern nicht ab und war sichtlich auch nicht schwer getroffen. Als er das letzte Rettungsboot geleert hatte, tauchte das Monster unter. Jefferson kletterte über das Vordeck, das eine Neigung von dreißig Grad hatte, zur Ankerwinde, hielt sich daran fest und winkte. Er schrie sich die Kehle heiser, bis die Hubschrauber auf ihn aufmerksam wurden. Die Kampfhubschrauber kreisten über dem Schiff, das nun rasch sank, und hielten nach Tangaroa Ausschau. Als sich nichts regte, ging einer der Helikopter tiefer. Der Hubschrauber hatte zwei Mann Besatzung und konnte auch auf dem Wasser landen. Die Seitenluke wurde geöffnet, eine Strickleiter pendelte herab. Der Hubschrauber hing zwölf Meter über dem Schiffswrack, dessen Bug nun fast senkrecht nach oben zeigte. Der Copilot – Jefferson sah nur ein Gesicht mit Sturzhelm und Fliegerbrille – winkte dem Professor zu, rasch an Bord des Hubschraubers zu klettern. Jefferson gelang es beim dritten Versuch, die pendelnde Strickleiter zu packen. Er kletterte nach oben, was nicht leicht war, denn die Strickleiter drehte sich um die eigene Achse. »Tangaroa«, hörte Jefferson undeutlich über den Lärm des Hubschraubers hinweg. Der Professor meinte, das Ungeheuer tauchte wieder auf, und stieg wie ein Artist nach oben. Er gelangte in Rekordzeit in den Hubschrauber. Als er nach unten schaute, war von Tangaroa nichts mehr zu sehen. Der Copilot schlug Jefferson auf die Schulter, schloss die Luke und klopfte vorn an die Trennwand zum Cockpit. Der Hubschrauber stieg steil in den Himmel. Jefferson, zerschunden und zerkratzt, war völlig erledigt und fertig. Das Grauen stand
ihm noch ins Gesicht geschrieben; nachträglich kam der Schock. Noch einmal erlebte Jefferson im Geist die Schreckensszenen. Der Copilot steckte ihm eine Zigarette an, doch Jefferson begann unvermittelt so heftig zu zittern, dass sie ihm aus der Hand fiel und über den Boden rollte. Der Copilot bettete ihn auf die Sitzbank und schnallte ihn wie einen Verwundeten an. »Sie sind gerettet. Ich hole Ihnen ein Beruhigungsmittel.« Vierhundert Meter unter dem Hubschrauber versank das Wrack des Forschungsschiffes. Ein Sog entstand, dann quirlten einige Wrackteile aus der Tiefe. Minuten später wogte der Pazifik wieder wie immer. Am Horizont sank der rotglühende Sonnenball ins Meer. Es war, als hätte hier nie eine Katastrophe stattgefunden, als gäbe es kein Ungeheuer aus der Tiefsee. Die beiden Hubschrauber gehörten zum Flugzeugträger John F. Kennedy. Jefferson wurde auf den Flugzeugträger gebracht, einen Giganten mit Kernenergieantrieb. Er machte eine Höchstgeschwindigkeit von sechsunddreißig Knoten und hatte eine Besatzung von viertausendsechshundert Mann. Hundertzehn Flugzeuge und dreißig Hubschrauber waren auf diesem schwimmenden Riesen stationiert. Jefferson musste sich an die Maße und Verhältnisse erst einmal gewöhnen. Commodore Dwight T. Forbes, ein großer schwarzhaariger Mann Mitte der Vierzig, dessen tiefen Gesichtsfalten man das Magenleiden ansah, begrüßte Jefferson persönlich. Der Professor wurde zunächst aufs Krankenrevier gebracht. Seine größte Sorge war, dass der Flugzeugträger Tangaroa auch auf jeden Fall folgte und Teile der 7. US-Flotte zusammengezogen wurden, um das Monster zu vernichten. Erst als der Commodore ihm das übers Bordtelefon persönlich zusicherte, beruhigte er sich allmählich und fiel in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Um neunzehn Uhr landete Vizeadmiral Terrell Parker auf dem Flugzeugträger. Er übernahm sofort das Oberkommando und forderte einen Teil der 7. US-Flotte an. Zwei schwere Schlachtschiffe, drei Schlachtkreuzer, ein Dutzend leichter Kreuzer, acht Torpedoboote und ebenso viele Zerstörer wurden beim Ostkarolinenbecken zusammengezogen. Vierzehn Geleitboote und drei U-Boote – ein
kleines Unterseeboot mit 750 Tonnen, ein U-Kreuzer herkömmlichen Typs und das Atom-Unterseeboot Endeavor – vervollständigten das Aufgebot. Mit dieser Flottille wollte Terrell Parker Tangaroa einkesseln und zur Strecke bringen. Er beorderte alle Schiffseinheiten in strategische Positionen, und als er sich morgens um drei Uhr im Lageraum vom Kartentisch erhob, war er siegesgewiss. Der Vizeadmiral war für seine drastische Ausdrucksweise bekannt. Schließlich war er Seesoldat. »Ich kille das Mistvieh oder ich will meine Sterne abgeben«, schwor er vor dem versammelten Offizierskorps. »Tangaroa hat nicht mehr Chancen als ein Furz gegen einen Tornado.« Dann legte Terrell Parker sich schlafen. Als er morgens um neun Uhr schon wieder auf den Beinen war, konnte er Professor Jefferson begrüßen, den es nicht mehr im Krankenrevier gehalten hatte. Der Vizeadmiral und der Professor trafen sich in der Offiziersmesse. Sie frühstückten am gleichen Tisch. »Sie sind also der Mann, der uns dieses Monster auf den Hals gehetzt hat«, sagte der Vizeadmiral launisch, den Mund noch halbvoll. »Das Ungeheuer wäre auch ohne das Unternehmen Observator aus dem Ei geschlüpft. Haben Sie Tangaroa eigentlich schon offiziell den Krieg erklärt, wenn Sie mit einer ganzen Flotte gegen ihn anrücken, Vizeadmiral?« Ein paar Offiziere weiter unten an der Tafel lachten und Terrell Parker, der nur seine eigenen Witze lustig fand, durchbohrte sie mit einem eisigen Blick. »Mein Motto ist es, nichts dem Zufall zu überlassen«, sagte er. »An meiner Blockade wird Tangaroa scheitern. Darauf können Sie sich verlassen, Professor. Der gefährdete Sektor ist abgeriegelt, alle Schiffe haben Warnungen erhalten. So abwegig ist es übrigens gar nicht, Tangaroa mit konzentrierten Kräften zu Leibe zu rücken. Sie kennen die neuesten Nachrichten sicher noch nicht. Ihr Baby aus dem Marianengraben misst inzwischen an die sechzig Meter.« »Teufel, Teufel! Das Monster wächst wie rasend. Wo soll das hinführen?«
Die beiden Hubschrauber hatten bei der Vernichtung des Forschungsschiffes Filmaufnahmen von Tangaroa gemacht. Professor Jefferson betrachtete sie sich in einem der Filmvorführräume des Flugzeugträgers und gedachte schaudernd des Grauens. Er wusste, dass es reines Glück war, dass er noch lebte, und tiefe Trauer über den Tod seiner Kameraden erfüllte ihn. Nach der Filmvorführung, der auch ein Teil der Mannschaft des Flugzeugträgers beigewohnt hatte, ging Professor Jefferson an Deck. Er trug eine Marineuniform ohne Rangabzeichen. Ein Aufzug beförderte ihn zu den Hangars. Plötzlich hallten Lautsprecherdurchsagen über das Deck. Professor Jefferson eilte zur Brücke und begab sich zum Gefechtsstand. Vizeadmiral Terrell Parker bellte Befehle für die einzelnen Abteilungen ins Mikrofon. Der dabeistehende Commodore Forbes informierte Professor Jefferson. Tangaroa war plötzlich von seinem vorausberechneten Kurs abgewichen und näherte sich schnell einer Inselgruppe beim Ostkarolinenbecken. »Tangaroa entkommt uns«, kam eine Meldung des Radaroffiziers über die Sprechanlage. »Er bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Knoten.« Vizeadmiral Parker fluchte wie ein Marinesoldat beim Manöver. »Tangaroa misst nach den letzten Daten beinahe siebzig Meter«, informierte der Commodore Professor Jefferson. Der Vizeadmiral befahl den Männern aus dem Maschinen- und Reaktorraum, den Kernenergie-Antrieb so stark wie möglich zu belasten. »Damit holen wir Tangaroa auch nicht ein«, sagte Professor Jefferson. »Die Flugzeuge und Hubschrauber müssen eingesetzt werden.« Terrell Parker wirbelte mit seinem Drehsessel herum. Sein Zeigefinger schnellte vor und deutete auf Jefferson. »Genau das wollte ich gerade anordnen. Stören Sie nicht, sonst lasse ich Sie entfernen, klar?« Ohne eine Antwort abzuwarten wandte er sich an den Commodore. »Fünf Flugzeugstaffeln und die Hälfte der Hubschrauber sollen starten. Wasserbomben sollen geworfen werden, um Tangaroa auf den ursprünglichen Kurs zurückzutreiben. Falls er auf-
taucht: Feuer frei! Das Monster darf sich unserer Umklammerung nicht entziehen.« Commodore Forbes gab die Befehle des Vizeadmirals weiter. So nebenbei erfuhr Professor Jefferson, dass Tangaroa sich in einer Tiefe von drei Kilometern bewegte und bald die Randzone des Radarund Echolotbereiches erreicht haben musste. Tangaroa brach aus. Vizeadmiral Parker dirigierte im Südosten und im Osten Schiffseinheiten um. Der Professor mochte den Vizeadmiral zwar persönlich nicht besonders leiden, er musste aber zugeben, dass dieser sein Metier beherrschte und er sich keinen besseren Mann für die ›Operation Tangaroa‹ hätte wünschen können, als diesen Strategen und Haudegen. Dann kam die Meldung, dass Tangaroa den Ortungsbereich des Flugzeugträgers verlassen hatte. Von den anderen Schiffen hatte ihn noch keines geortet. Die Flugzeuge und Hubschrauber kreisten vergeblich in der Luft. Um dreizehn Uhr fünfzehn wurde aus der Nähe der Mortlock-Inselgruppe der Notruf einer portugiesischen Hochseejacht aufgefangen. »Tangaroa kommt!«, hieß es. »Wir sind verloren. Warum hat uns niemand gewarnt? Und wo ist die verdammte Yankee-Flotte? Betet für unsere Seelen!« »Das kann nicht sein!«, rief Vizeadmiral Parker, als ihm die durchgegebene Position mitgeteilt wurde. »Das ist zwölfhundert Kilometer von der Stelle entfernt, an der wir Tangaroa zuletzt geortet haben. Diese Strecke kann er nicht in zweieinhalb Stunden zurückgelegt haben. Er ist keine Rakete.« Aber der Pilot eines Bordjägers bestätigte, dass er an der angegebenen Stelle Wrackteile gesehen habe. Zu allem Unglück kam auch noch eine Sturmwarnung. Für den Sektor des Ostkarolinenbeckens war ein Taifun angesagt. Professor Jefferson hielt die Untätigkeit, zu der er an Bord des Flugzeugträgers gezwungen war, nicht länger aus. Er bat den Vizeadmiral um die Erlaubnis, mit einem Hubschrauber mitfliegen zu
dürfen. Terrell Parker hatte nichts dagegen. Zwanzig Minuten später flog Jefferson mit der Zwei-Mann-Besatzung eines Kampfhubschraubers nach Osten. Sie waren eine Stunde in der Luft, als sie die Meldung vom Flugzeugträger erhielten. »Bohrinsel Mayfair funkt SOS. Etwas rüttelt von unten an der Insel und hat das Bohrgestänge völlig verbogen. Titanische Kräfte sind am Werk.« Die Position wurde durchgegeben. Es war in der Nähe der Nukuoru-Inseln. »Wenn es Tangaroa ist, hat er wieder eine ganz schöne Strecke zurückgelegt.« Der Pilot gab zurück, dass er verstanden hätte und zur Bohrinsel fliegen wollte. Einige Jäger und Bomber seien im Anflug, meldete der Flugzeugträger. Der Copilot ging auf die Sendefrequenz der Bohrinsel. Sogleich hörte er SOS-Rufe und dazwischen die Katastrophenmeldungen. »SOS! Es gibt keinen Zweifel mehr, es ist Tangaroa. Der Schrecken steigt aus dem Meer. SOS! SOS! SOS! Welche Kräfte muss dieses Ungeheuer haben, dass es meterdickes Gestänge aus Edelstahl einfach verbiegt und abbricht? Das Monster wütet an Bord. Es zertrümmert den Bohrturm und die Aufbauten. Wir achtzig Männer sind verloren. Bald wird es auch mich erwischen. SOS!« Eine kurze Pause, dann ging es weiter. »Wahnsinn regiert die Welt, und der Schrecken steigt aus der Tiefe. Die Nacht der Dämonen verfinstert die Erde, und der Schrecken reitet im Sternenwind. Bleiche Leichenfresser entweihen unsere Gräber. Das Ende ist nahe.« Der Funkkontakt brach ab. Die drei Männer an Bord des Hubschraubers sahen sich an. »Er muss wahnsinnig geworden sein vor Angst«, sagte der Copilot. Jefferson schüttelte den Kopf. »Es klang mir eher wie ein Orakel. Der Todgeweihte sah in die Zukunft, oder jemand hat ihn inspiriert.« »Mann, o Mann!«, meinte der Pilot. »Wenn das stimmt, dann sieht es aber zappenduster für uns alle aus. Na, wir wollen uns mal die
Bohrinsel ansehen oder das, was davon noch übrig ist.« Als der Hubschrauber zehn Flugminuten später die Position erreichte, war nur noch ein Trümmerhaufen da. Tangaroa hatte die Bohrinsel in einen Haufen Schrott verwandelt. Kein lebendes Wesen zeigte sich mehr. Der Hubschrauber schwebte auf der Stelle. Überschalljäger und -bomber vom Flugzeugträger John F. Kennedy tauchten auf, doch von Tangaroa war nichts mehr zu sehen. Der Hubschrauber landete nach einiger Wartezeit auf der Bohrinsel, die Professor Jefferson inspizieren wollte. Kaum waren die Männer aus dem Cockpit ausgestiegen, als plötzlich ein langer Tentakel über die wie nach einem Fliegerangriff aussehende Bohrinsel peitschte. Der Copilot blieb daran hängen. Er brüllte entsetzlich auf. Jefferson riss den Piloten in die Deckung einer zerstörten Stahlkonstruktion. Die Bordwaffen der Jagdflugzeuge begannen zu hämmern. Die Bomber flogen in Kettenformation heran und klinkten die Wasserbomben aus. »Die Schweine bringen uns um«, schrie der Pilot. »Sie wollen Tangaroa erledigen, ganz egal, ob wir dabei draufgehen.« »Wenn wir die Köpfe einziehen, kann uns nicht viel passieren«, sagte Jefferson kaltblütig. »Die Bohrinsel ist noch immer stabil genug, um die Explosionen auszuhalten. Hauptsache, wir entgehen Tangaroa.« Der Tentakel verschwand, als Raketen ins Wasser rasten und explodierten. Tangaroa zog sich vor dem heftigen Beschuss zurück. Wenig später detonierten die Wasserbomben, und das Bohrinselwrack tanzte auf den Wellen wie eine Nussschale. Jefferson und der Pilot mussten sich festhalten. Der Hubschrauber wurde von den Erschütterungen ins Wasser geschleudert und versank. Es war ein Inferno. Das Wasser brodelte, von Geschossgarben und Unterwasserexplosionen gepeitscht und aufgewühlt. Minuten nur dauerte der Spuk. Sie kamen Jefferson und dem Piloten wie eine Ewigkeit vor. Als endlich alles vorbei war, trieben im weiteren Umkreis der Bohrinsel Tausende und Abertausen-
de von toten Fischen im Wasser. »Das müsste Tangaroa erledigt haben«, sagte der Pilot, der sich genauso wie Jefferson wieder aufgerichtet hatte. Er wischte die Hände an der Uniformhose ab. »Schade um Charlie. Er war ein guter Kamerad. Verfluchte Sache, dass Tangaroa ausgerechnet ihn als letztes Opfer verschlungen hat.« »Hoffen wir, dass Charlie tatsächlich das letzte Opfer war. Ich bin mir gar nicht sicher, ob Tangaroa wirklich vernichtet ist. Irgendwelche Reste von ihm sehe ich jedenfalls nicht an der Oberfläche schwimmen.« »Wenn dieser Beschuss das Monster nicht getötet hat, dann schafft es nur noch eine Atombombe«, meinte der Pilot. »Warten wir ab. Dazu kommt es vielleicht noch.« Die Piloten der Jäger und Bomber hatten die beiden Männer auf der zertrümmerten Bohrinsel gesehen. Ein paar wackelten mit den Flügeln, um Signal zu geben. »Jetzt können wir nur abwarten, bis ein anderer Hubschrauber uns abholt. Hoffen wir, dass die Bohrinsel in der Zwischenzeit nicht absäuft oder Tangaroa doch noch einmal auftaucht.«
Seit vier Tagen warteten Dorian und seine Gefährten auf eine Nachricht von Araui. Der Dämonenkiller war in gereizter Stimmung. Er mache sich Sorgen um Coco. Die Ungewissheit zerrte an seinen Nerven. Er wünschte nichts sehnlicher, als dass endlich der entscheidende Kampf zwischen den beiden Tubuanen stattfand. Die Nachrichten im Rundfunk, Fernsehen und in der Presse waren nicht dazu angetan, seine Laune zu verbessern. Ein Tiefseeungeheuer wütete in der Inselwelt Mikronesiens und der US-Navy war es bisher noch nicht gelungen, es zu vernichten. Dorian und die anderen waren sich einig darüber, dass Tangaroa als Geißel der Menschheit von Olivaro geschickt worden war. Dorian glaubte, dass er der Welt ein Armageddon bescheren wollte. Marvin Cohen kam in den Bungalow. Es war kurz vor siebzehn Uhr; Dorian hatte den Fernseher eingeschaltet und wartete auf die Nachrichten.
»Merkwürdig«, sagte Cohen. »Ich habe in Rabaul den alten Jean Guillard getroffen und fragte ihn, weshalb er den Rest seiner Prämie für die Information nicht bei Jeff Parker abholte. Er starrte mich an, als hätte er mich noch nie gesehen, und schließlich brummte er, ich sollte ihm den Buckel runterrutschen, er wüsste überhaupt nicht, wovon ich eigentlich rede. Komischer alter Kauz!« Im Nebenzimmer stöhnte Trevor Sullivan. Es ging ihm schlecht. Jeden Tag bekam er Anfälle. Er litt sehr. Etwas Dämonisches lag in der Luft und kündigte kommendes Grauen an. Jeff Parker bemühte sich um ihn. Im Fernsehen wurden die Nachrichten ausgestrahlt: »Nach letzten Meldungen hat Tangaroa heute um sechzehn Uhr Ortszeit – also um fünfzehn Uhr ostaustralischer Zeit – eine Bohrinsel bei den Nukuoru-Atollen zerstört. Dabei gab es achtzig Todesopfer. Bei einer unmittelbar darauf erfolgten Operation der US-Navy wurde das Tiefseemonster beschossen und bombardiert. Es konnte aber nicht getötet werden. Ein Hubschrauberpilot kam ums Leben. Zur Zeit bewegt sich Tangaroa in südsüdwestlicher Richtung und dürfte Melanesien bereits erreicht haben. Für die Schifffahrt in den gefährdeten Gebieten wurde Katastrophenalarm gegeben, zumal auch unmittelbar ein Taifun bevorsteht. Tangaroa befindet sich jetzt wieder im Ortungsnetz von starken Flotteneinheiten der 7. US-Flotte unter Vizeadmiral Terrell Parker. Nach den letzten Erfahrungen muss aber bezweifelt werden, ob es gelingen wird, das Monster in der Umklammerung zu halten. Nach den Nachrichten folgen aktuelle Reportagen über das Monster und die ›Operation Tangaroa‹.« Jeff Parker war aus dem Nebenzimmer gekommen, eine Zigarette im Mundwinkel. »Gegen Tangaroa hilft nur eine Atombombe. Ich kann nicht begreifen, weshalb die US-Regierung nicht endlich zu diesem Mittel greift. Tangaroa hat bereits über zweihundertfünfzig Menschenleben auf dem Gewissen. Was soll noch alles passieren?« Marvin Cohen ließ sich schwer in den Sessel fallen und griff nach der Bourbonflasche und dem Eiskübel. »Man kann im besiedelten Inselgebiet nicht einfach eine Atombombe zünden. In meinen Augen ist es überhaupt ein Witz, dass ein Flugzeugträger, zwei schwe-
re Schlachtschiffe, drei Schlachtkreuzer und Dutzende von leichteren Schiffseinheiten, ja, sogar ein Atom-U-Boot mit Tangaroa nicht fertig werden. Das kann auch nur den Amis passieren. Dieser Vizeadmiral Parker muss eine schöne Pfeife sein.« »Die meisten Schiffe befinden sich auf strategischen Positionen«, sagte Jeff Parker etwas beleidigt. »Tangaroa steckt in einem riesengroßen Netz. Ich halte es für ausgeschlossen, dass er noch einmal ausbrechen kann – wie heute Vormittag.« Cohen lachte nur und nahm einen kräftigen Schluck. Im Fernsehen wurde jetzt eine Luftaufnahme von Tangaroa gezeigt, wie er seine linke Klauenhand nach oben streckte, die Tentakel peitschen ließ und das Maul aufriss. Er hockte auf dem Forschungsschiff. Die Aufnahme war von einem Hubschrauber aus gemacht worden. Die neuesten Filme zeigten den Beschuss Tangaroas bei der Bohrinsel. »Dass er das überlebt hat!«, sagte Jeff Parker kopfschüttelnd, als er Luft-Unterwasser-Raketen ins Wasser rasen sah. »Die Dinger zertrümmern jedes U-Boot.« Zuletzt wurde gezeigt, wie Professor Jefferson und der Hubschrauberpilot durch einen Marine-Hubschrauber von der völlig zertrümmerten Bohrinsel gerettet wurden. Mit einer Großaufnahme von Jefferson endete der Film. »Das ist Professor Benjamin Jefferson, der Leiter des Projekts Observator – und sein einziger Überlebender«, erklärte der Sprecher. Der amerikanische Präsident wurde gezeigt. Er behauptete, die Navy habe die Situation fest in der Hand und werde Tangaroa über kurz oder lang erledigen. Alle zeigten sich besorgt, und zumindest unterschwellig klang die Furcht durch, dass noch mehr Monster von der Art Tangaroas die Erde heimsuchen könnten. Der Präsident eines multinationalen Konzerns hatte von Finanzexperten errechnen lassen, dass Tangaroa bis jetzt Material im Wert von über vierhundert Millionen Dollar vernichtet hatte und dass die Operation der Flotteneinheiten der US-Navy den Steuerzahler jeden Tag fünf Millionen kosteten. Der Präsident eines mitteleuropäischen Staates behauptete, Tanga-
roa sei ein Produkt amerikanischer und französischer Kernwaffenversuche im pazifischen Raum. Der australische Ministerpräsident gab sich gelassen. Er vertraue der US-Marine, verkündete er, an seiner Pfeife saugend. Eine Gefahr für australisches Besitztum bestehe nach seiner Meinung nicht. Die großen Kirchen ließen verlauten, Tangaroa sei den Naturphänomen und -katastrophen zuzuordnen. In dem Monster eine Kreatur des Teufels zu sehen, wurde abgelehnt. Die UNO hatte offizielle Beobachter entsandt. Der Sicherheitsrat hielt ein Eingreifen auf internationaler Basis aber nicht für nötig. Tangaroas Auftauchen war zwar eine Sensation, wurde außer in den betroffenen Gebieten aber allgemein nicht als Bedrohung empfunden. Lediglich einige Sektierer und Phantasten witterten hinter Tangaroas Erscheinen den Untergang der Welt. Damit befassten sich die zum Teil skurrilen Sondermeldungen: Im New Yorker Central Park hatten einige Hippies drei junge Mädchen in einem Teich ertränkt, um den Meergott gnädig zu stimmen. Ein afrikanischer Voodoo-Priester namens Seku-Konoe wollte Tangaroa durch einen Fernzauber töten, für den er kiloweise lebende Fische verzehrte. In Oslo verkündete der Begründer einer nordischen Göttersekte, Tangaroa sei die mystische Midgardschlange, und die Zeit des Weltunterganges, des Kampfes zwischen Göttern und Unterweltgeschöpfen, sei nahe. Der Dalai-Lama verkündete, der Heimsuchung durch Tangaroa würden weitere folgen; er habe Zeichen erhalten und wolle für die Welt beten. Die Aussage des Dalai-Lama unterschied sich wohltuend von den andern. Dorian war geneigt, diesem Mann Glauben zu schenken. Die Sendung über Tangaroa dauerte eine Stunde, und als sie beendet war, waren schon die nächsten Nachrichten fällig. Über Tangaroa wurde nichts Neues gemeldet. Er verfolgte weiter seinen Südkurs. Dorian brauchte keine Karte zur Hand zu nehmen, um zu wissen, dass Tangaroa in ein bis zwei Tagen das Bismarckarchipel erreicht haben musste – wenn er die Richtung nicht änderte. Wollte Olivaro das Tiefseemonster etwa gegen ihn einsetzen? War Tanga-
roa der große Trumpf in Olivaros dämonischem Spiel? Dorian schaltete den Fernseher ab, steckte sich eine Zigarette an und tigerte im Bungalow umher. Trevor Sullivan stöhnte und wand sich schweißnass auf seinem Lager, die Augen weit aufgerissen. »Es wird immer schlimmer«, ächzte er, als Dorian hereinschaute. »Lange kann ich diese Qualen nicht mehr aushalten.« »Sie sollten ins Krankenhaus gehen, Mr. Sullivan.« »Wozu? Dort können sie mir auch nicht helfen. Meine Schmerzen entstehen auf metaphysische Art. Medikamente können sie nur zeitweise lindern.« Dorian ließ ihn allein, denn helfen konnte er ihm nicht. Die Sorge um Coco und die Ungewissheit zerfraßen ihn fast. Im Aufenthaltsraum unterhielten sich Marvin Cohen und Jeff Parker über Tangaroa und die nach ihm benannte Operation der US-Navy. Jeff Parker verfocht überzeugt die Ansicht, eine Atombombe sei das Mittel gegen Tangaroa. In Anbetracht der Umstände begann auch Dorian das zu glauben. Wenn doch endlich eine Nachricht von Araui käme, dass der Kampf der Tubuane bald stattfände! dachte er verzweifelt. Er überlegte, ob vielleicht die Dukduk Araui auf die Schliche gekommen waren und ihn umgebracht hatten. Da klopfte es an der Tür. Es war ein halbwüchsiger Junge. Er brachte eine Nachricht in einem verschlossenen Kuvert. Dorian gab ihm einen Dollar und riss den Briefumschlag auf. Die Nachricht stammte von Araui. Der Kampf der Tubuane sollte in dieser Nacht stattfinden. Dorian las, wo er Araui treffen sollte – allein. Er überlegte, ob er sich aus dem Bungalow fortstehlen oder seine Gefährten daran hindern sollte, ihm zu folgen. Letzteres erschien ihm sicherer, denn wenn er einfach wegging, würden Marvin Cohen und Jeff Parker möglicherweise ganz Rabaul auf den Kopf stellen, um ihn zu finden. Sie wussten, was auf dem Spiel stand, und würden ihn nicht allein gehen lassen. Der Dämonenkiller nahm drei gnostische Gemmen aus dem Handgepäck. Eine erschien ihm besonders geeignet. Einer der Steine zeigte einen muskulösen Krieger mit einem Hahnenkopf, einem Schild und einer Peitsche. Er hatte Schlangenfüße, und zu seinen beiden Seiten standen Symbole einer
uralten vergessenen Schrift. Dorian trat in den Aufenthaltsraum und ließ die gnostische Gemme am Lederriemen baumeln. »Schaut euch mal diese Gemme an!«, sagte er zu Cohen und Parker. »Fällt euch nichts daran auf?« Die beiden Männer schauten auf den Stein. Dorian ließ ihn pendeln. Er konzentrierte sich und malte hinter seinem Rücken mit den Fingern einige Symbole der weißen Magie in die Luft. »Was soll daran Außergewöhnliches sein?«, fragte Marvin Cohen. »Seht genau hin!«, drängte Dorian. »Ganz genau! Konzentriert euch auf diese Gemme und nur auf diese Gemme! Nehmt nichts anderes wahr, und ihr werdet es merken!« Cohen und Jeff Parker erstarrten im Sitzen. Ihre offenen Augen wurden ausdruckslos. Dorian hatte sie hypnotisiert. »Ihr werdet in einer halben Stunde aufwachen und glauben, dass ich in die Stadt gegangen bin, um mich ein wenig zu zerstreuen. Ihr werdet mir nicht folgen und mir nicht nachspionieren. Falls ihr nicht in Gefahr geratet, werdet ihr den Bungalow nicht verlassen.« Starr saßen Marvin Cohen und Jeff Parker da. Dorian schaute noch einmal nach Trevor Sullivan. Er hatte genug mit sich selbst zu tun und war nicht in der Verfassung, irgendetwas zu unternehmen. Als Dorian die Bungalowtür von außen abschloss, hörte er noch Sullivans Stöhnen. Das war sein letzter Eindruck von seinen Freunden: ein stöhnender Mann und zwei regungslose, hypnotisierte Männer. Der Dämonenkiller wusste nicht, ob er sie jemals Wiedersehen würde. Olivaro und Te-Ivi-o-Atea waren furchtbare Gegner. Dorian hatte Marvin Cohens Coltpistole und zwei Schachteln Munition mitgenommen. Gegen Dämonen half ein Colt zwar nichts, wohl aber gegen deren menschliche Anhänger. Er trug auch eine kleine, aber starke Bleistifttaschenlampe bei sich – und drei Leuchtraketen, die sich mit Streichhölzern oder einem Feuerzeug zünden ließen. Ein Kreuz, das er an einem Kettchen um den Hals trug, eine Phiole mit Weihwasser und die drei gnostischen Gemmen vervollständigten Dorians Ausrüstung. Er fuhr mit dem Toyota aus der Stadt und stellte ihn ein Stück
vom Weg entfernt hinter einem Gebüsch ab. Diesmal wollte er Araui in der Nähe des Strandes, den Palmenhaine säumten, treffen. Der Dukduk erwartete ihn bei der angegebenen Stelle am Nadelfelsen. Dorian konnte die Brandung rauschen hören; hier war der Strand felsig und zerklüftet. Wortlos nahm er von Araui die Dukduk-Maske und den Tiputa entgegen und zog beides über. Auch Araui legte die Maske mit der langen Spitze an. Dann stieß er einen Schmerzensschrei aus, griff sich an die Brust und wankte. Dorian sprang schnell hinzu und stützte ihn. »Was hast du, Araui?« »Ach, nichts weiter. Folge mir, großer Tohunga! Ich werde dich zum Versammlungsplatz führen.« Dorian beobachtete ihn misstrauisch, und bald stöhnte Araui wieder auf und strauchelte. »Jetzt will ich aber wissen, was los ist«, sagte Dorian, der ihn hielt. »Sonst gehe ich keinen Schritt weiter.« »Die Dukduk müssen herausgefunden haben, dass ich ein Abtrünniger bin – oder vielmehr war. Ein schlimmer Zauber ist gegen mich ausgesprochen. Ein magisches Feuer verzehrt mich innerlich, und glühende Nadeln durchbohren mein Herz. Mit mir geht es zu Ende. Mir kann nichts mehr helfen. Aber ich will dich auf jeden Fall noch zum geheimen Versammlungsplatz führen, großer Tohunga, damit der Wille der Götter erfüllt werden kann.« »Araui, leg dich auf den Boden nieder! Ich will sehen, ob ich dir nicht helfen kann.« »Nein, ich würde nicht mehr aufstehen. Mir bleibt nicht viel Zeit. Komm!« Araui zog Dorian vorwärts. Der Dämonenkiller war gerührt von der Ergebenheit dieses Mannes, der ihn trotz furchtbarer Schmerzen mit letzter Kraft führte. Er wusste nicht, dass Olivaro sich unter der Maske des Dukduk Araui verbarg und ihn bösartig täuschte; er ahnte nicht, dass Olivaros unter den Haaren verborgenes Dämonengesicht in teuflischer Bosheit lachte, wenn er rücksichtsvoll den Wankenden und Stöhnenden stützte. Olivaros Falschheit feierte Triumphe. Sein Plan lief prächtig. Der
Dämonenkiller empfand keinerlei Misstrauen gegen ihn; die Voraussetzungen hätten günstiger gar nicht sein können. Die Versammlung fand im Schwarzen Kessel statt, einem felsigen, unfruchtbaren Tal, das von Wald umgeben war, nördlich von Rabaul, auf der Spitze der Halbinsel. In der Mitte des Tals befand sich der Schwarze Kessel, der ihm den Namen gegeben hatte, eine fast kreisrunde felsige Plattform. Es war eine Kultstätte der Inselbewohner. In früheren Zeiten hatten sie hier den Göttern Menschenopfer dargebracht. Jetzt war der Schwarze Kessel von einer hohen Mattenwand umgeben, die die Dukduk eigens für die Versammlung aufgestellt hatten. Vor dem Eingang im Mattengeflecht standen Wachposten. Sie trugen Schnellfeuergewehre, Reißwaffen und Schlaghölzer, die mit Haifischzähnen besetzt waren. Eine solche Reißwaffe konnte entsetzliche Wunden schlagen. Auf dem Versammlungsplatz drängten sich weit über vierhundert Dukduk. Araui nahm sich zusammen. Er ging jetzt aufrecht. Nach Dorians Meinung unterdrückte er mit Gewalt seinen Schmerz. Wieder hörte der Dämonenkiller die Schwirrhölzer, Trommeln und Flöten, das Schenkelxylophon und die Rasseln. Ein Dukduk-Tohunga hielt eine fanatische Ansprache. Immer wieder brach die Menge in den lauten Ruf »Tubuan! Tubuan!« aus. In der Mitte des Versammlungsplatzes loderte ein riesiges Feuer. Auf einer Bank lagen allerlei Folterwerkzeuge und Gerätschaften. Vier Pflöcke waren in die Erde geschlagen, wohl um den falschen Tubuan daran zu fesseln und unter furchtbaren Qualen umzubringen. Dorian schauderte bei dem Schicksal, das Coco Zamis drohte. Er konnte sich vorstellen, wie die Prüfung vor sich gehen sollte. Erst wurden die Tubuane mit den Folterwerkzeugen geprüft. Ein Großer Geist, ein Gott, durfte keinen Schmerz verspüren. Nach der Prüfung fand dann der Kampf statt. Doch dazu würde es vielleicht gar nicht mehr kommen. Coco Zamis war nicht gegen glühendes Eisen, Messer und Zangen gefeit, wie es Te-Ivi-o-Atea sein mochte. Der Dämonenkiller musste Coco finden, bevor die Prüfung begann. In der Nähe des Feuers standen zwei Mattenrondelle. Dorian reck-
te sich auf die Zehenspitzen. Er sah, wie sich hinter den Matten etwas bewegte. Sie begannen einen halben Meter über dem Boden, und Dorian konnte ein paar Füße erkennen. »Die beiden Tubuane sind schon da«, erklärte ihm Araui. »Sie machen sich für den Kampf fertig.« »Wir müssen hin«, sagte Dorian. Er hatte Englisch gesprochen. Ein Dukduk, der hinter ihm stand, sah ihn misstrauisch an. Aber dann riss ihn die Ekstase der Menge wieder mit. Er klatschte und stampfte rhythmisch, wiegte den Oberkörper im Takt der immer wilder werdenden Musik. Der DukdukGeist trat aus der Menge. Achtungsvoll wich der Tohunga zurück. Mit krächzender Stimme sprach der Dukduk zu seinen Anhängern. Es war vom Kampf der Tubuane die Rede. Die Menge war erregt und aufgepeitscht. Ein geringer Anlass genügte, sie in eine tobende Horde zu verwandeln. Immer neue Dukduk kamen. Der Versammlungsplatz fasste sie kaum noch. Dorian drängte sich zu einem Mattenrondell durch, Araui folgte ihm. Der Dämonenkiller bückte sich und sah unter den Matten hindurch. Er erblickte ein paar große, braune Füße und braune, stämmige Beine, die aus einem Palmwedelkostüm ragten. Cocos Beine waren das nicht. Dorian kämpfte sich zum anderen Rondell durch. Die Menge brüllte wie toll. Der Trommelklang schwoll an. Die andern Instrumente steigerten sich zu einem Crescendo. Dorian spürte, dass die Entscheidung unmittelbar bevorstand. Die Stimmung war auf dem Siedepunkt. Als er beim andern Rondell unter den Bastmatten hindurchschaute, sah er die wohlgeformten langen, schlanken Beine einer schönen Frau. Sie ragten aus dem aufgeplusterten, knäuelförmigen Palmwedelkostüm, das ihren Körper verhüllte. »Coco!«, rief Dorian, um sich im Geschrei der Menge verständlich zu machen. »Ja«, antwortete eine Frauenstimme. »Wer ist da?« Der österreichische Einschlag in den Worten war nicht zu überhören: Coco Zamis war in Wien aufgewachsen. »Dorian Hunter.«
Er schaute sich rasch um. Die entfesselte Menge beachtete ihn nicht, tobte und brüllte und schaute auf das Feuer und den DukdukGeist. Schnell streifte Dorian seine Maske ab, bückte sich und kroch unter den Matten hindurch. Coco nahm die Maske des Tubuan ab. Einen Augenblick sahen der große Mann mit dem Schnauzbart und die schöne schwarzhaarige Frau sich an, dann fielen sie sich in die Arme. Dorian presste Cocos Körper in dem dicken Palmwedelkostüm an sich, als wollte er ihn nie wieder loslassen. »Dorian, du musst fliehen. Du darfst nicht hier bleiben. Ich bitte dich.« »Ich gehe nicht ohne dich, Coco.« »Aber – das ist Wahnsinn. Olivaro wird mich nicht entkommen lassen. Ich muss Te-Ivi-o-Atea besiegen, um Olivaros Vertrauen zu behalten und mein Kind zu retten. Es gibt keine andere Möglichkeit.« In diesem Augenblick kroch eine Gestalt mit einer Spitzmaske unter den Matten hindurch und richtete sich auf. Coco starrte den Dukduk entsetzt an. Dorian ballte die Fäuste und stellte sich schützend vor Coco. Da nahm der Dukduk die Maske ab. Es war Araui – oder vielmehr Olivaro, der in dieser Maske auftrat. Arauis Gesicht war verzerrt und grau. Schweiß perlte darüber. »Ich will mit dieser Frau fliehen, Araui«, sagte Dorian. Er wandte sich an Coco. »Wie steht es mit deiner Spezialität, uns in einen rascheren Zeitablauf zu versetzen?« »Ich denke, ich werde es schaffen«, antwortete Coco. Sie musste laut reden, denn die Menge draußen brüllte und tobte. »Es wird jetzt etwas Seltsames geschehen, Araui«, sagte Dorian. »Wir können uns normal bewegen, während alle anderen gleichsam erstarren. Sie werden also so schnell wie möglich davonlaufen, denn lange kann dieser Zustand nicht andauern.« Araui taumelte gegen die Mattenwand. »Flieht ihr!«, sagte er. »Für mich hat es keinen Zweck. Die Qualen werden immer schlimmer. Ich werde das Gewand des Tubuan anziehen und die Dukduk sowie den Tubuan noch eine Weile hinhal-
ten. Schlimmere Schmerzen, als ich jetzt schon erleiden muss, kann mir niemand mehr zufügen.« »Er spricht die Wahrheit«, sagte Coco. »Ich spüre, dass ein magisches Feuer ihn von innen heraus verzehrt. Eine Rettung gibt es für ihn nicht. In wenigen Minuten wird er tot sein.« Olivaro hatte in seinem Leib tatsächlich ein magisches Feuer entfacht, das ihn allerdings nicht zu verletzen vermochte. Es hatte außerdem die Fähigkeit, seine magische Aura überstrahlen zu können, so dass Coco sie nicht wahrnehmen konnte. Sie merkte genauso wenig wie Dorian, dass sie in Araui den Fürsten der Finsternis vor sich hatte. Olivaro wollte wissen, wie Coco Zamis sich entschied. Würde sie wirklich alles ausschlagen, was er ihr bot, und mit Dorian Hunter flüchten? Sollte er sich in ihr so getäuscht haben? Würde sie ihre Herkunft und alles andere verraten? Coco konzentrierte sich. Dorian, der durch eine Ritze in der Mattenwand nach draußen spähte, bekam nicht mit, was sie machte. Doch plötzlich sah er, wie die Dukduk draußen auf der Stelle verharrten, bewegungslos. Sie befanden sich in der Normalzeit, während er, Coco und Araui-Olivaro in den schnelleren Zeitablauf versetzt worden waren. Coco tauschte mit Araui-Olivaro das Gewand und setzte die spitze Dukduk-Maske auf. Auch Dorian setzte seine Maske wieder auf und drückte rasch Araui die Hand. »Ich werde dich nie vergessen, mein Freund«, sagte er tief bewegt. Dann schlüpften er und Coco unter den Matten hindurch. Es war bis auf einen dumpfen Ton gespenstisch still. Dorian nahm Cocos Hand. Sie liefen am Feuer und dem Dukduk-Geist vorbei und drängten sich durch die Menge zum Ausgang. Für die Dukduk bewegten sie sich zu schnell, als dass diese sie hätten wahrnehmen können. Als sie die Mattenwände des Versammlungsplatzes hinter sich gelassen hatten, warfen Dorian und Coco die Masken weg. Sie hatten sie nur getragen, falls durch magische Kräfte Olivaros oder Te-Ivi-o-Ateas Cocos Zeitmanipulation gestört worden wäre – dann hätte eine Tarnung vielleicht nutzen kön-
nen. Dorian und Coco rannten durch das Tal, verließen es und tauchten im Wald unter. Erschöpft sank Coco nieder. Auf magische Weise den Zeitablauf zu verändern, zehrte gewaltig an der Substanz. Außerdem war sie immerhin schon im siebten Monat schwanger, und das schnelle Laufen machte ihr zu schaffen. Sie kehrten in den normalen Zeitablauf zurück. Sie hörten jetzt aus dem Tal wildes Gebrüll. Für die Dukduk auf dem Versammlungsplatz waren nur einige Augenblicke vergangen. Dorian ließ Coco ein paar Minuten verschnaufen, dann zog er sie hoch. »Weiter! Wir sind noch lange nicht in Sicherheit. Wenn Olivaro den Betrug merkt, müssen wir weit fort sein.« Er wusste nicht, dass Olivaro längst von Cocos Flucht wusste, dass der Plan bereits ablief, den der Fürst der Finsternis für diesen Fall geschmiedet hatte. Auf dem Versammlungsplatz trat Olivaro nun als Tubuan aus dem Mattenrondell. Er schritt zum Feuer, und aus der anderen Richtung kam Te-Ivi-o-Atea. »Jetzt ist deine letzte Stunde gekommen, du Menschenhure«, geiferte der polynesische Dämon unter der Tubuan-Maske. Ein Eisen wurde von einem Dukduk glühend gemacht. Die beiden Tubuane sollten die Glut mit der bloßen Hand anfassen, ohne sich zu verletzten. Das war die erste Probe. Als das Eisen rotglühend war, brachte der Dukduk es zu Olivaro. Er hatte es mit einer Zange gefasst und streckte es dem Tubuan auffordernd entgegen. Das Eisen löste sich aus der Zange, beschrieb eine Pirouette in der Luft und bohrte sich tief in den Brustkorb des Dukduk. Grässlich schreiend stürzte dieser zu Boden und zuckte qualvoll mit den Beinen, bis der Tod ihn endlich erlöste. Es stank nach verkohltem Fleisch. »Was soll das bedeuten?«, rief Te-Ivi-o-Atea. Olivaro nahm die Tubuan-Maske ab. Das Palmfächergewand fiel von seinem Körper. Das stilisierte Totenschädelgesicht des Fürsten der Finsternis blickte Te-Ivi-o-Atea an. Kälte, grausame Strenge und dämonische Bosheit prägten es. Ein lila Schein, fast wie ein Heiligenschein anzusehen, begrenzte die hohe Stirn, und schlohweißes Haar ragte darüber hinaus. Die unergründlichen schwarzen Augen blick-
ten über die Menge, und jeder glaubte, ihn direkt fixierten sie. Die Dukduk verstummten. Sie spürten, dass hier einer war, dem Tubuan- und Dukduk-Geist nicht das Wasser reichen konnten. Sie fielen auf die Knie und verhüllten das Gesicht. »Magus VII!«, rief Te-Ivi-o-Atea entsetzt. »Willst du Tubuan werden? Oder trittst du an Coco Zamis' Stelle gegen mich zum Kampf an?« Tödliche Angst erfasste den polynesischen Dämon. Er wusste, dass er gegen den Fürsten der Finsternis keine Chance hatte. Olivaro winkte ab. »Tubuan? Du kannst es bleiben. Was liegt mir an solchen Kleinigkeiten. Ich habe Coco Zamis geprüft, gewogen und für zu leicht befunden. Sie ist eine Verräterin, eine Abtrünnige. Sie hat den Fürsten der Finsternis verschmäht und beleidigt. Dafür soll sie einen schlimmen Tod sterben.« Te-Ivi-o-Atea atmete auf, als er erkannte, dass es Olivaro nicht auf ihn abgesehen hatte. »Die Südsee ist mein Hoheitsgebiet«, rief er eifrig. »Ich werde alles aufbieten. Coco kann uns nicht entkommen.« Wieder winkte Olivaro ab. »Ich brauche keine Hilfe bei meiner Rache, die des Fürsten der Finsternis würdig sein soll. Ich verbiete, dass jemand sich einmischt. Tangaroa soll Coco Zamis und den Dämonenkiller fressen.« »Wie du willst, mächtiger Magus.« »Sag diesen Narren hier, alles sei nur eine Probe gewesen, um die Festigkeit ihres Glaubens an den Tubuan zu prüfen.« Die beiden Dämonen hatten sich einer Sprache bedient, die von den Dukduk keiner verstand. Den Zuhörern klang sie wie grollender Donner in den Ohren. »Ich muss gehen«, rief Olivaro. »Der Fürst der Finsternis empfiehlt sich.« Ein Donnerschlag krachte. Olivaro sank langsam in die Erde ein. Flammen umloderten sein Haupt, und der Boden erbebte. Es stank durchdringend nach Pech und Schwefel, und war ein beeindruckendes Schauspiel, das den Dukduk – die nun doch aufsahen – in die Knochen fuhr. Dorian Hunter und Coco Zamis hatten zu diesem Zeitpunkt den
Palmenwald schon fast hinter sich gelassen. Eine halbe Stunde später erreichten sie den Toyota, und Dorian raste im Rennfahrertempo über die holprige Straße nach Rabaul. Er bremste vor dem Bungalow, stieg mit Coco aus und pochte hart an die Tür. Marvin Cohen und Jeff Parker öffneten. Dorian holte die Gemme hervor und hob den hypnotischen Bann auf. Die beiden staunten nicht schlecht, als sie den Dämonenkiller und Coco Zamis vor sich stehen sahen. »Wie kommt Coco hierher?«, rief Marvin. »Ich verstehe das nicht. Du sagtest doch, du wolltest dir in Rabaul einen Film ansehen und hinterher ein paar Gläschen trinken, Dorian?« Jeff Parker geriet völlig aus dem Häuschen, als er Coco sah. Er umarmte sie – wobei er Rücksicht auf ihren gewölbten Leib nahm – und konnte sich gar nicht fassen. »Ich hätte nie geglaubt, dich lebend und unversehrt an Dorians Seite wiederzusehen«, stammelte er ein ums andere Mal. »Wie hast du es nur angestellt, Olivaro zu entkommen? Ich muss zugeben, ich hatte schon an dir gezweifelt.«
Trevor Sullivan kam aus dem Schlafzimmer. Er fühlte sich besser – zum ersten Mal seit Tagen. »Die Sonne geht auf!«, begrüßte er Coco. Dorian schilderte kurz Cocos Befreiung. »Es wundert mich, dass Olivaro nichts unternommen hat«, meinte Trevor Sullivan. »Er wird noch genug unternehmen«, sagte Dorian sehr ernst. »Hier sind wir keinen Augenblick mehr sicher. Wir müssen uns trennen. Jeder muss für sich versuchen, nach London zu gelangen. Keiner soll dem andern seinen Fluchtweg verraten. Wir verlassen den Bungalow auf der Stelle. Ich bleibe natürlich bei Coco.« Sie packten schnell das Nötigste zusammen.
Nachdem Tangaroa die Bohrinsel zertrümmert hatte, kreuzte er in der Inselwelt Melanesiens. Mehr und mehr näherte er sich dem Bis-
marckarchipel. Um vierundzwanzig Uhr fingen der Flugzeugträger John F. Kennedy und andere Schiffe des ›Unternehmens Tangaroa‹ die SOS-Rufe eines japanischen Öltankers auf. Es handelte sich um die Tenno Hirohito, mit 350.000 Tonnen eines der größten Tankschiffe der Welt. Tangaroa hatte den Riesentanker in der Nähe der Kapingamarangi-Inseln angegriffen. Der Tanker wies mehrere Lecks auf, und Tangaroa wütete an Bord. Vizeadmiral Terrell Parker jagte sofort zwei Staffeln Kampfflugzeuge und Schlachtbomber los. Außerdem ließ er das Unterseeboot Falcon, einen Schlachtkreuzer und drei Torpedoboote sowie ein Geleitboot den Ort der Katastrophe anlaufen. Die Jäger, die mehr als die doppelte Schallgeschwindigkeit erreichten, waren bereits dreiundzwanzig Minuten nach dem Start bei dem Riesentanker. Er schwamm in einer großen Öllache. Mehr als 150.000 Tonnen Rohöl waren schon ins Meer geflossen. Tangaroa hockte auf dem dreihundertachtzig Meter langen und siebenundsechzig Meter breiten Riesentanker und holte sich mit Tentakeln und Krallenhänden die letzten Männer der Besatzung. Das Monster war auf hundert Meter angewachsen. Es bot einen schrecklichen Anblick, war über und über mit Öl besudelt. Kommandobrücke und Heckaufbauten hatte Tangaroa völlig zertrümmert. Der Tanker hatte schwere Schlagseite. Vizeadmiral Parker tobte. Normalerweise hätte der Tanker im Hafen liegen müssen. Aber der Eigner, ein japanischer Großreeder, hatte ihn in verantwortungsloser Geldgier durch das Sperrgebiet losgeschickt, kaum dass der am Vortag tobende Taifun abgeflaut war. Solange noch Menschen an Bord vermutet wurden, durften die beiden Flugzeugstaffeln nichts unternehmen. Als Tangaroa aufhörte, mit seinen Tentakeln das Innere des Tankers zu durchforschen, den platten Kopf mit den vorquellenden Glotzaugen nach oben gerichtet und ein herausforderndes Brüllen den Überschall-Jägern entgegenschickte, da wusste der Staffel-Commander, dass auf dem Riesentanker niemand mehr am Leben war. »Feuer frei!«, gab er an die beiden Staffeln durch. »Killt das Monster!«
Die Jäger donnerten aus dem Himmel. Leuchtspurmunition fetzte in den Körper des Monsters. Raketen zischten durch die Luft, trafen Tangaroa und den Tanker. Das Öl fing Feuer. Dann kamen die Bomber. Die ganze Staffel stieß herab. Jedes der Flugzeuge trug sechzehn Bomben an der Unterseite. Die granatförmigen Bomben wurden ausgeklinkt, trudelten herab. Plötzlich schnellte Tangaroa sich von dem brennenden Tanker hoch und wischte mit den Pranken durch die Luft. Er erwischte einen der silberglänzenden Schlachtbomber. Das Flugzeug detonierte zu einem Feuerball. Tangaroa klatschte in der Nähe des brennenden Tankers auf das Wasser zurück. Die riesige Öllache um den Tanker stand in lodernden Flammen. Die Bomben detonierten, Wasser- und Feuersäulen stiegen auf. Tangaroa verschwand in einem flammenden Inferno. Die Besatzungen der Flugstaffeln bekamen nichts mehr von ihm zu sehen. Ehe noch der Staffel-Commander seine Meldung an die John F. Kennedy durchgeben konnte, erhielt er eine Funknachricht von der Falcon, dem Unterseeboot. Sie lautete: »Tangaroa ist auf fünfhundert Meter Tiefe gegangen und entfernt sich von dem Wrack. Er bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Knoten direkt auf uns zu. Wir schießen Torpedos und Unterwasser-Raketen ab.« Eine Weile herrschte Funkstille. Der Staffel-Commander verständigte Vizeadmiral Terrell. »Tangaroa mit Torpedos und Raketen mehrmals getroffen«, meldete die Falcon dann. »Er verringert die Geschwindigkeit nicht. Das ganze Boot rauscht und dröhnt und in unseren Gehirnen kristallisiert sich die Gewissheit des nahen Todes. Jetzt hat er das Boot gepackt. Die Erschütterung ist unglaublich.« »Mein Gott!«, sagte der Staffel-Commander schreckensbleich zum Copiloten, einem Captain der Marine-Luftwaffe. »Das Monster vernichtet ein schwerbewaffnetes U-Boot. Und wir können nichts tun.« Die Staffeln kreisten über der Stelle, wo das Drama in der Tiefe stattfand. Die Falcon hatte hundertneun Mann Besatzung an Bord. Sie war bis an die Zähne bewaffnet, und niemand hatte geglaubt, dass Tangaroa es mit einem solchen Gegner hätte aufnehmen kön-
nen. Der Beschuss bei dem Öltanker und das Feuer mussten ihn wütend gemacht haben. An Bord des Flugzeugträgers saß Vizeadmiral Terrell Parker, bleich und fassungslos, den Blick auf das leuchtende U-Boot-Symbol auf der grünphosphoreszierenden Großprojektionskarte geheftet, das die Falcon darstellte. »Der Bootskörper gibt nach«, kam die nächste Meldung von der Falcon. »Wir haben Wassereinbrüche im Mannschaftsraum und im Maschinenraum. Tangaroa reißt uns in die Tiefe. Wir werden in zwei Minuten unsere gesamte Munition zünden und hoffen, dass wir mit uns selbst auch das Monster vernichten, das uns eng umklammert hält. Wenn es nicht gelingt, kann nur noch eine Atombombe helfen. Wir sterben als tapfere Seeleute der US-Kriegsmarine … bei dem Versuch, den Gegner zu vernichten.« Quälend langsam vergingen die Sekunden. Noch einmal meldete sich die Falcon. »Tangaroa hat das Boot zusammengedrückt wie eine Konservendose. Überall bricht Wasser ein. Wir zünden. Jetzt!« Es dauerte eine Zeitlang, bis Wrackteile an die Oberfläche gelangten. Von irgendwelchen Überresten Tangaroas war nichts zu sehen. Der Schlachtkreuzer Okinawa war der Katastrophenstelle am nächsten. Mit dem ASDIC, einem Ultraschall-Ortungsgerät, durchforschte er die Umgebung der Unterwasser-Explosionsstelle. Und dann kam ein Echo. Ein Körper reflektierte die Schallwellen. Schnell wurden die Daten ausgewertet. Sekunden später schon spuckten die Rechner das Ergebnis aus, und nach drei Minuten bekam der Flugzeugträger John F. Kennedy die Funkmeldung des Schlachtkreuzers: »Tangaroa hat die Explosion überlebt und bewegt sich mit hoher Geschwindigkeit nach Südsüdwest. Derzeitige Position: 155 Grad 22 Minuten 3 Sekunden östlicher Länge und 3 Grad 4 Minuten 53 Sekunden nördlicher Breite. Es gibt keinen Zweifel daran, dass es sich wirklich um Tangaroa handelt.« Vizeadmiral Parker hielt die Funkmeldung in der Hand. Er las, wischte sich mit der Hand über die Stirn und erhob sich. Professor Jefferson und die Offiziere schauten ihn an. »Meine Herren, die Würfel sind gefallen«, sagte der Vizeadmiral. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Der Präsident muss den Befehl zum
Einsatz einer Atombombe geben. Anders können wir Tangaroa nicht beikommen. Ich bitte um Vorschläge, wie wir Tangaroa mit der Bombe vernichten sollen.« Der beste Vorschlag kam von Professor Jefferson. Ein Köder sollte für Tangaroa ausgelegt werden, ein schrottreifes Schiff, und wenn er es packte, sollte die Atombombe fallen. Der Vizeadmiral wandte sich über Funk ans Oberkommando in Washington. Naturgemäß dauerte es eine Zeitlang, bis die Entscheidung fiel – den Einsatz von nuklearen Waffen konnte nur der Präsident selbst anordnen. In der Wartezeit machte Vizeadmiral Parker sich bereits Gedanken darüber, wie man Tangaroa den Köder beibringen sollte. Aus dem Ortungsnetz der US-Navy konnte das Tiefseemonster nicht mehr entkommen, dafür hatte Vizeadmiral Parker gesorgt. Aber der Kurs des Monsters war unregelmäßig. Niemand konnte voraussagen, wohin es sich als nächstes wenden würde. Wieder hatte Professor Jefferson ein paar gute Ideen. Vizeadmiral Parker schätzte den drahtigen Wissenschaftler zwar persönlich nicht sehr, aber er begann Achtung und Respekt für ihn zu empfinden. Um neunzehn Uhr zehn Ortszeit erhielt Vizeadmiral Terrell Parker vom Präsidenten über das rote Funktelefon die Anweisung, Tangaroa mit einer Atom-Bombe zu vernichten. Er forderte von der Marinebasis Oahu auf Honolulu einen achtstrahligen Langstreckenbomber des Typs B-52 A Stratofortress an. Die Maschine beförderte eine Bombe mit einer Sprengkraft von 100.000 Tonnen TNT. Funkmeldungen dirigierten den Bomber auf den Kurs Tangaroa, der einen Haken nach Osten schlug, auf das Marshallbecken zu. Von dem Marinestützpunkt Kjawalein, einer Insel der Ralikgruppe, liefen zwei zum Verschrotten vorgesehene Schlachtkreuzer mit Vieh an Bord Tangaroa entgegen. In der Nähe des Äquators sollten sie seinen Kurs schneiden. Das Monster bewegte sich stetig und in gerader Linie in zweihundertfünfzig Metern Tiefe. Vizeadmiral Terrell Parker postierte die beiden Schlachtkreuzer auf dem voraussichtlichen Kurs Tangaroas. Der B-52-Bomber folgte dem Monster in der Luft. Erst als Tangaroa in unmittelbarer Nähe war, ließ der Vizeadmiral die Kreuzerbesatzungen mit Lasthubschraubern evakuie-
ren. Das Manöver nannte sich ›Operation Trojanisches Pferd‹. Düsenjäger beschossen Tangaroa mit Unterwasser-Luft-Raketen, um ihn wütend zu machen. Bald zeigten die Ortungen der Schiffseinheiten, in deren Bereich sich Tangaroa befand, seine schnelle Annäherung an die beiden Schlachtkreuzer an. Professor Jefferson hatte vorgeschlagen, Schlachtvieh auf die Schiffe zu treiben. Er vermutete mit Recht, das Tangaroa wahrnehmen konnte, ob sich Leben an Bord befand oder nicht. Das Monster, inzwischen auf hundertfünfzig Meter angewachsen, tauchte aus dem Meer auf und stürzte sich auf den ersten Schlachtkreuzer. Vizeadmiral Parker gab den Befehl zum Abwurf der Atombombe. Der Stratofortress-Bomber warf die Bombe aus tausend Metern Höhe ab. Sie hatte ein automatisches Zielsuchgerät und konnte die beiden Kreuzer, die nur fünfzig Meter voneinander entfernt waren, nicht verfehlen; einen Schlachtkreuzer musste sie treffen. Tangaroa sah die Bombe fallen und brüllte. Ein Atomblitz zuckte auf. Die Hitzestrahlen von mehreren Millionen Grad ließen die beiden Schlachtkreuzer und Megatonnen Wasser verdampfen. Dann kam die Druckwelle, überschallschnell, ließ heiße, atomar verseuchte Luft vor sich herwirbeln. Schließlich entstand ein Luftsog, als Luftmassen in das Vakuum stürzten, das bei der Kernexplosion entstanden war. Die Strahlung vernichtete alles Leben. Ein gigantischer Atompilz verkündete wie ein Fanal die Vernichtung Tangaroas.
»… wurde heute morgen um sechs Uhr dreißig Ortszeit das Tiefseemonster Tangaroa bei der ›Operation Trojanisches Pferd‹ von Streitkräften der US-Marine durch den Abwurf einer Atombombe vernichtet. Die Explosion fand in Äquatornähe noch außerhalb des Bereichs des Marshallbeckens statt. Die in dieser Gegend liegenden kleinen Inseln gelten als unbesiedelt. Das Explosionsgebiet wurde zur Quarantänezone erklärt.« Dorian Hunter und Coco Zamis hörten die Meldung. Sie befanden
sich am Stadtrand von Rabaul in einer kleinen Hütte, die ihnen Mama Wahia zur Verfügung gestellt hatte. Den zweiten Tag hielten sie sich nun versteckt. Dorian war überzeugt, dass Olivaro alle Fluchtwege überwachen ließ, und um ihn zu verwirren, wollte der Dämonenkiller zunächst abwarten. Nachdem Tangaroa vernichtet war, konnte er den Plan in die Tat umsetzen, den er bereits geschmiedet hatte. Dorian und Coco packten ihre Sachen und fuhren mit einem uralten Ford zum Flughafen. Coco buchte einen Flug nach Sydney. Am frühen Nachmittag sollte eine Maschine starten. Sie warteten in der Flughalle. Würden die Dämonen sie auf dem Flughafen angreifen? Würde Olivaro sie hier vernichten wollen? Endlos langsam verstrich die Zeit. Was aus Marvin Cohen, Jeff Parker und Trevor Sullivan geworden war, wusste Dorian nicht. Um dreizehn Uhr fünfzehn, als der Flug zum letzten Mal aufgerufen wurde, gingen Dorian Hunter und Coco Zamis aus dem Abfertigungsgebäude zur Maschine. Auf der Gangway versetzte Coco sich und Dorian in einen schnelleren Zeitablauf. Sie rannten über das Flugfeld, durch die Abfertigungsbaracke hinaus auf die heiße Straße. Sie liefen zum Hafen, und Coco musste sich bemühen, den Zeitraffereffekt so lange aufrechtzuerhalten. Am Hafen angekommen, war Coco erschöpft. An der Mole in der Nähe einer Barkasse kehrten sie und Dorian in den normalen Zeitablauf zurück. Dorian rüttelte einen dösenden Barkassenführer aus seinem Halbschlaf. Er sollte sie zu dem vor der Hafeneinfahrt ankernden Ozeanriesen King George hinausfahren, der seine Fahrt von Sydney nach Tokio wegen Tangaroa hatte unterbrechen müssen. Dorian und Coco hatten keine Passage gebucht, aber sie wussten, dass Ozeanriesen dieser Größe selten ausgebucht waren. Tatsächlich hatte der Zahlmeister nichts dagegen, noch zwei zusätzliche Passagiere an Bord zu nehmen. Dorian und Coco kletterten über die Jakobsleiter an Bord und bezahlten ihre Passage. Der Kapitän ließ bei den Polizeibehörden von Rabaul über Funk rückfragen, ob gegen die beiden etwas vorläge, und als das nicht das Fall war, hatte alles
seine Ordnung. Nachdem Tangaroa vernichtet war, sollte die King George um siebzehn Uhr auslaufen. Dorian und Coco bekamen eine schöne 1. Klasse-Kabine. Die King George war eine schwimmende Stadt. Sie hatte Einrichtungen für zweitausend Passagiere und tausend Mann Besatzung. Es gab zwölf Decks. An Bord befanden sich zwei Kinos und ein Theater, ein Restaurant und drei Speisesäle, Hallen und Promenaden, zwei Swimmingpools an Deck und ein Schwimmbad unter Deck. Neunzehn Fahrstühle sorgten für den reibungslosen Verkehr, und zu jeder der drei Klassen gehörten Schönheitssalons und Bäder. Pünktlich um siebzehn Uhr lief die King George aus, ohne dass Olivaro etwas unternommen hätte. Zwei Tage lang passierte nichts. Die Spannung des Dämonenkillers und Coco Zamis' ließ nach. Sie ließen sich an Bord mit dem Luxus verwöhnen, den sie sich reichlich verdient hatten, genossen die Annehmlichkeiten des Lebens und hatten eine schöne Zeit. Am dritten Tag passierte die King George die Marianeninsel Saipan. Und am Nachmittag geschah es: Coco befand sich im Schönheitssalon und Dorian war in der Kabine mit einem Buch aus der Bordbücherei auf dem Bauch eingeschlafen, als das Schiff plötzlich keine Fahrt mehr hatte. Ein entnervter Maschinenoffizier teilte dem Kapitän mit, dass aus unerklärlichen Gründen beide Schrauben abgerissen und die Schraubenwelle gebrochen seien. Außerdem war das Steuerruder total verbogen. Die King George war manövrierunfähig. »Das ist Sabotage!«, brüllte der Kapitän, ein Australier, mit hochrotem Kopf. »Unter normalen Umständen kann so etwas gar nicht passieren.« Dorian erwachte, weil sein Körper sich auf das leichte Vibrieren des Schiffes eingestellt hatte und ihm dieses plötzlich fehlte. Vielleicht weckte ihn auch sein Instinkt. Er trat ans Bullauge und schaute hinaus. Die See war bewegt, aber die Stabilisatoren verhinderten, dass man an Bord etwas davon merkte. Vor den Augen des Dämonenkillers tauchte etwas aus dem Meer. Zuerst kam ein breiter, glat-
ter Kopf mit hervorquellenden Glotzaugen und einem Maul, so groß wie ein mehrstöckiges Haus zum Vorschein. Zwei Tentakel wuchsen unterhalb des Mauls aus dem Kopf, und dann tauchte der ganze monströse Körper aus den Wellen. Dorian sah die blaue Haut, die roten Flossen- und Zackenkämme. Ein furchtbares Gebrüll ließ die King George erzittern. Das Schiff erbebte unter Infraschallwellen, in den Köpfen der Menschen dröhnte es, und ein Name manifestierte sich, ein Name, der zum Symbol des Schreckens geworden war: Tangaroa! Das Tiefseemonster lebte! Nicht einmal die Atombombe hatte es vernichten können. Tangaroa war ein paar Seemeilen von der King George entfernt aus dem Wasser aufgetaucht. Jetzt schwamm es näher, langsam, ohne Eile. Entsetzt sah Dorian, wie riesig das Tiefseemonster sein musste. Die radioaktive Strahlung der Atom-Bombe hatte Tangaroas Wachstum anscheinend noch mehr beschleunigt. Auf dem Grund des Ozeans hatte das Monster nach der Atomexplosion gewartet, von keinem Ortungsgerät erfasst, so dass alle glaubten, es sei tot. Dorian stürzte aus der Kabine und suchte Coco. Auf dem Schiff spielten sich unbeschreibliche Szenen ab. Panik brach aus. Menschen prügelten sich um die vierundzwanzig Rettungsboote, mit denen sie einen verzweifelten Fluchtversuch unternehmen wollten. Dem Kapitän, den Offizieren und der Mannschaft war es unmöglich, angesichts des Grauens die Disziplin aufrechtzuerhalten. Der Funker jagte Notrufe in den Äther. Die Marine- und Luftwaffenbasis auf Guam wollte Kampffliegerstaffeln und Rettungshubschrauber schicken. Im Schönheitssalon fand Dorian Coco nicht. Er irrte durch das riesige Schiff und rief ihren Namen. Schreiende, von Panik gepackte Menschen kamen ihm entgegen. Dorian drängte sich durch die Menge, suchte das Sportdeck, das Sonnendeck und das Promenadendeck ab. Er irrte durch Hallen und Räume und Szenen des Schreckens prägten sich ihm ein: Da war ein Geistlicher, der in einer Halle mit von Entsetzen geschüttelten Zuhörern betete. Da waren Männer, auch ein paar Besatzungsmitglieder darunter, die sich in
der Bar auf dem Sonnendeck wüst betranken. Da war ein Tourist, der auf dem Oberdeck an der Reling stand und mit seiner Videokamera Aufnahmen von Tangaroa machte. Da waren Gruppen, die ziellos umherrannten. Eine blonde Frau kreischte derart hysterisch, wie Dorian es nie für möglich gehalten hätte. Nur Coco Zamis fand er nirgends. Noch hatte Tangaroa nichts unternommen. Er glotzte auf das Schiff, das vom Kiel bis zum Rand des vorderen Schornsteins immerhin dreiundfünfzig Meter hoch war. Lautsprecherdurchsagen hallten über Deck: »Hier spricht der Kapitän. Begeben Sie sich ins Schiffsinnere auf die tiefer gelegenen Decks. Einem Ozeanriesen wie der King George kann auch Tangaroa nichts anhaben. Bewahren Sie Disziplin! Kampfflugzeuggeschwader sind von Guam hierher unterwegs und müssen in wenigen Minuten eintreffen. Die oberen Decks sind zu räumen. Die Besatzungsmitglieder werden aufgefordert, sich nach Katastrophenplan Gelb zu verhalten und ansonsten die Weisungen ihrer vorgesetzten Offiziere zu befolgen. Meine Damen und Herren, hier spricht der Kapitän …« Eine Massenflucht ins Schiffsinnere setzte ein. Ein paar Unentwegte bemühten sich weiter um die Rettungsboote, wurden aber dann vom allgemeinen Sog mitgerissen. Ein Rettungsboot schwamm bereits auf dem Wasser und Tangaroa holte es sich. Er tauchte unter dem Schiff hindurch und verschlang das Rettungsboot mit den vierzig Menschen darin. Dorian suchte immer noch nach Coco. Vor den Fahrstühlen drängten sich Menschen, Offiziere und Besatzungsmitglieder. »Tangaroa wird das Schiff versenken«, schrie eine Frau plötzlich. »Ich will nicht absaufen.« Die Menge trampelte die Leute von der Besatzung nieder. Die Menschen rannten durch das Schiff und wussten nicht, wohin sie sollten. Ein Steward wollte Dorian nach unten schicken. »Ich suche meine Frau«, sagte der Dämonenkiller. »Haben Sie sie gesehen? Sie ist groß, hat schwarzes Haar und ist sehr schön.« »Nein, Sir. Tut mir Leid.« »Weshalb hat das Schiff gestoppt?«
»Wir nehmen an, dass Tangaroa die Schrauben angehalten und abgerissen hat.« Dorian ließ den Steward stehen und suchte weiter. Da spürte er plötzlich, wie das Schiff sich bewegte, wie es aus dem Wasser gerissen und emporgehoben wurde. Tangaroa hatte den Ozeanriesen an Bug und Heck gepackt und hochgestemmt. Jetzt ging das Monster zum Angriff über. Es hatte eine Größe erreicht, die die des Empire-State-Buildings bei weitem übertraf. Es maß vom Kopf bis zur Schwanzflosse siebenhundert Meter. Brüllend schüttelte Tangaroa das Schiff durch, und unter seinen Pranken verformten sich dicke Stahlplatten, platzten Schweißnähte auf. Mit seinen beiden Tentakeln riss Tangaroa den hinteren Schornstein einfach ab. Er schlug gegen den Ozeanriesen … Bruchstellen erschienen, große Löcher klafften in der Außenwand. Dorian wurde hart gegen die Wand geschleudert. Er hörte das Schreien der Menschen im Schiff und dann auch einen entfernten Ruf: »Dorian! Dorian!« Er eilte hin. Coco Zamis kam ihm in einem Aufgang entgegen. Sie fielen sich in die Arme. Tangaroa holte mit seinen klebrigen Tentakeln Menschen aus dem Schiff. Auf den Tentakeln, die jetzt einen Durchmesser von fünfzehn Metern am Ansatz und eine mittlere Dicke von sechs bis acht Metern hatten, waren metergroße Saugnäpfe entstanden. Menschen verschwanden darin, wurden trotz aller Gegenwehr hineingerissen. Krachend bahnten die Tentakel sich den Weg durch das Schiff, brachen Zugänge auf und zertrümmerten dicke Eisenwände. Tangaroas Pranken fetzten die Aufbauten weg, wühlten im Schiffsinnern. Den Kampfgeschwadern der US-Air-Force boten sich Bilder des Grauens. Schreiende Menschen verschwanden zu Dutzenden in Tangaroas riesigem Maul und in den Saugnäpfen seiner Tentakel; er riss mit seinen ungeheuren Kräften alles weg, was ihn störte und die Menschen an Bord der King George schützte. Bis hinab ins unterste der zwölf Decks und in den Maschinenraum und die Fracht- und Laderäume kam er. Tangaroa schlachtete den Ozeanriesen im wahrsten Sinne des Wortes aus.
Dorian und Coco hatten sich aufs C-Deck zurückgezogen, wo sich die technischen Anlagen und Werkstätten des Ozeanriesen befanden. Sie hörten das Hämmern der MGs und das Bellen der automatischen Schnellfeuerkanonen, aber für Tangaroa war der Beschuss nicht schlimmer als Mückenstiche. Selbst Raketen, die in seinen Monsterkörper schlugen, störten ihn nicht. »Es ist Olivaros Monster«, sagte Coco zu Dorian. »Er hat mir eine Nachricht übermittelt, während ich dich suchte. Tangaroa soll uns fressen. Das ist Olivaros Rache, sagte eine Stimme in meinem Gehirn. Sein Monster soll der Welt die Furchtbarkeit des Fürsten der Finsternis vor Augen führen.« »Nicht einmal nukleare Waffen können Tangaroa vernichten«, sagte Dorian. »Gegen das absolute Böse sind alle Waffen der Menschen machtlos.« »Und auf magische Weise können wir diesem Ungeheuer auch nicht beikommen. Wir müssen uns auf den Tod gefasst machen. Trotz allem – es war eine schöne Zeit mit dir, Dorian.« »Ja«, sagte der Dämonenkiller, »das war es, Coco.« Wieder stemmte Tangaroa das Schiff hoch, reckte es triumphierend den Kampfflugzeugen und Hubschraubern entgegen. Seine Tentakel wüteten. Dorian Hunter, Coco Zamis und ein paar andere flüchteten auf das vordere Sportdeck. Sie winkten und schrien verzweifelt. Ein Hubschrauberpilot wagte das Tollkühne. Er ging tiefer und schwebte nur sechs Meter über dem Schiff. Eine Strickleiter wurde herabgelassen. Coco kletterte als Erste hoch, zwei weitere Frauen und ein alter, gebrechlicher Mann folgten. Er brauchte eine Ewigkeit, bis er oben war. Coco schrie dem Dämonenkiller aus der Luke des Hubschraubers verzweifelt entgegen. Schon knackte das Schiffswrack in der Mitte bedrohlich und bog sich. Gleich musste es zerbrechen. Dorian und ein kräftiger Mann waren die letzten vorn an Deck. Der Mann stürzte sich auf Dorian, wollte ihn niederschlagen, um vor ihm an Bord des Hubschraubers zu kommen. Dorian hatte vorschlagen wollen, sie sollten beide gleichzeitig versuchen, die Strick-
leiter hochzukommen, doch jetzt musste er sich wehren. Er traf den Mann mit ein paar harten Faustschlägen, riss das Knie hoch und versetzte ihm einen Handkantenschlag. Der Gegner brach wimmernd zusammen. Dorian packte die Strickleiter und kletterte nach oben – im letzten Augenblick. Das Schiffswrack zerbrach, und der Hubschrauber zog steil nach oben. Ein Stück höher kreiste der Transporthubschrauber auf der Stelle. Dorian kletterte an Bord. Hinter ihm wurde die Luke geschlossen. Die Kampfflieger schossen alles in Tangaroa hinein, was sie aufbieten konnten. Das Monster tauchte und riss die beiden Wrackhälften der King George mit sich in die Tiefe des Marianengrabens. Nur fünf Menschen hatten die Katastrophe überlebt, die andern waren Opfer Tangaroas geworden. Dorian Hunter und Coco Zamis wurden mit den anderen Überlebenden zunächst auf die Marine- und Luftwaffenbasis Guam geflogen. Eine Panik lief rund um den Erdball. Die Menschen fragten sich nach der ungeheuren Schiffskatastrophe, ob der Schiffsverkehr überhaupt noch aufrechtzuerhalten war, solange Tangaroa existierte. Das Tiefseemonster konnte die gesamte internationale Seefahrt zum Erliegen bringen, konnte die Bewohner der Südseeinseln ausrotten, wenn es an Land kam, was durchaus möglich schien. Doch zu aller Erstaunen geschah nichts mehr. Tangaroa holte sich keine weiteren Opfer. Nur einmal noch geisterte eine Meldung über das Tiefseemonster durch die Nachrichten und die Weltpresse. Eine Woche nach der King-George-Katastrophe sichteten die Männer eines japanischen Walfängers einen riesigen treibenden Kadaver. Er hatte sich grau verfärbt, aber es war nicht zu verkennen, dass es sich um Tangaroa handelte. Auf diesem Kadaver, groß wie eine Insel, saß ein Mann mit einem schwarzen Umhang. Der Kapitän des Walfängers beobachtete ihn durch das Fernglas und sah entsetzt, dass der Mann zwei Gesichter hatte. Das eine war durchschnittlich und wirkte normal, das andere sah wie ein stilisierter Totenkopf aus. Der Unheimliche verschwand, während der Kapitän ihn beobachtete, und etwas wie ein Komet raste in den Himmel. Das Walfangschiff fuhr weiter. Suchflugzeuge konnten den Kada-
ver Tangaroas später nicht mehr finden. Die Sache mit dem Mann mit den zwei Gesichtern glaubte dem Kapitän niemand, von ein paar Leuten abgesehen, die Bescheid wussten. Seeleute waren schließlich immer abergläubisch. Dass der Walfänger den Kadaver Tangaroas gesichtet hatte, wurde mit der Zeit allgemein akzeptiert, denn Tangaroa tauchte nicht mehr auf. Nie mehr. Doch die Erinnerung an ihn prägte sich unauslöschlich im Gedächtnis der Menschheit ein. Von Guam aus hatten sich Dorian Hunter und Coco Zamis von der US-Luftwaffe nach Manila bringen lassen. Hier verwischten sie ihre Spuren und überlegten, wohin sie sich als nächstes wenden sollten. Coco schlug vor, über Thailand und den Fernen Osten nach London zurückzukehren. An einem Abend im Hotel erhielten Dorian und Coco eine Botschaft von den gegen Olivaro alias Magus VII. opponierenden Dämonen. Die Botschaft kam über einen Radiosender, der zuvor noch Unterhaltungsmusik gesendet hatte. »Dorian Hunter …«, sagte eine Grabesstimme. »Olivaro hat eine Niederlage hinnehmen müssen, weil er dich und Coco Zamis nicht auf die von ihm geplante Art töten konnte. Er wurde von der Schwarzen Familie gezwungen, dem Monster den Garaus zu machen und es vollständig zu vernichten, denn er war dabei, die Kontrolle über Tangaroa zu verlieren. Tangaroa gefährdete die Interessen der Schwarzen Familie ebenso wie die der Menschen. Er bildete für alle eine Gefahr. Er hätte Te-Ivi-o-Ateas Südseeinsulaner ausgerottet. Hüte dich vor Olivaro, Dorian Hunter! Er wird alles tun, um die ihm von dir und Coco Zamis angetane Schmach zu rächen.« Die Grabesstimme verstummte. Das Radio spielte den Schlager, der dabei war, sich den Platz Nr. 1 auf allen Hitlisten zu erobern. Der Song hieß Tangaroa. Dorian Hunter schaltete schnell ab.
Drittes Buch
Blut für Lukretia von Neal Davenport
Olivaro beugte sich vor. »Kadron«, sagte er leise. »Ich will, dass du für mich Coco Zamis und Dorian Hunter fängst. Sollte das nicht möglich sein, dann töte sie.« Kadron lächelte. Das war ein Auftrag, der ganz nach seinem Geschmack war. In der Schwarzen Familie galt Kadron als ein schlauer Fuchs, ein Dämon, der tausende Tricks kannte und in den verschiedensten Masken auftrat. »Ich würde mich ja selbst gern um die beiden kümmern«, sagte Olivaro, »aber im Augenblick habe ich wichtigere Dinge zu tun.« »Das kann ich mir denken«, stellte Kadron fest. Olivaro stand langsam auf. »Ich habe einige Schwierigkeiten mit ein paar Familien.« Das ist wohl milde ausgedrückt, dachte Kadron. Doch ihm war es gleichgültig, wer der Herr der Finsternis war. Aus dem Machtkampf Olivaros, der sich selbst zum Herrn der Finsternis ernannt hatte, hielt er sich heraus. Er war es gewohnt, von verschiedenen Sippen der Schwarzen Familie Aufträge zu erhalten, die er immer zur vollen Zufriedenheit seiner Auftraggeber erledigt hatte. »Ich glaube, dass du selbst Coco und den Dämonenkiller fangen wolltest, Olivaro.« Olivaro blieb vor dem unscheinbaren Dämon stehen, und seine Miene verfinsterte sich. »Stimmt«, gab er zu. »Aber ich habe einen Fehler gemacht.« Kadron war überrascht. In den vielen Jahren, die er Olivaro kannte, hatte der selbsternannte Herr der Schwarzen Familie noch nie einen Fehler zugegeben. »Es war falsch, dass ich Tangaroa erweckte«, fuhr Olivaro fort. Olivaro hatte das Monster geweckt, um der Schwarzen Familie einen Beweis seiner Macht zu geben, doch das war gründlich daneben gegangen. Sogar die mit ihm verbündeten Dämonenfamilien – an ihrer Spitze der mächtige Te-Ivi-o-Atea – waren entsetzt gewesen
und hatten ihn bestürmt, das Monster zu töten. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, da das Ungeheuer immer mehr seiner Kontrolle entglitten war. Diesen Fehlschlag hätte er noch verschmerzen können. Aber noch mehr störte ihn, dass Coco und der Dämonenkiller im letzten Augenblick von einem Hubschrauber gerettet worden waren. Kadron schwieg. Er kannte Olivaros Probleme. Einige der mächtigsten Sippen, die vor wenigen Tagen neutral gewesen waren, stellten sich nun offen gegen Olivaro. Und die wenigen Familien, die noch zu Olivaro hielten, waren unsicher geworden. So wie es im Augenblick aussah, war die Situation für Olivaro alles andere als rosig. Er würde sich etwas Besonderes einfallen lassen müssen, um dem Lauf der Dinge eine andere Richtung zu geben. Olivaro war es seinem Ruf schuldig, dass Coco Zamis und Dorian Hunter getötet wurden. »Nimmst du den Auftrag an, Kadron?« »Ja. Es ist eine Aufgabe, die mich reizt. Viele haben schon versucht, den Dämonenkiller unschädlich zu machen, doch keinem ist es bisher gelungen. Ich werde ihn und Coco gefangen nehmen.« »Unterschätze Hunter nicht, Kadron!« »Ich unterschätze meinen Gegner nie, Olivaro. Deshalb habe ich immer meine Aufträge erfüllt. Ich weiß, dass Hunter gefährlich ist. Und ich weiß auch, dass er in vielen Fällen Glück gehabt hat und nur deshalb am Leben geblieben ist. Asmodi machte auch den Fehler, dass er Hunter unterschätzte. Anfangs sah er belustigt zu, wie Hunter seine Brüder tötete. Das war ein großer Fehler. Er hätte sofort zuschlagen sollen, doch er hielt sich zurück. Und dann war es zu spät. Er selbst wurde durch einen von Hunters Tricks hereingelegt und fand dabei den Tod. Ich werde vorsichtig sein.« »Hunter hat sich mit einigen Familien verbündet, die mir feindlich gegenüberstehen«, sagte Olivaro. »Ich weiß«, meinte Kadron. »Ich werde nichts übereilen, sondern alles ganz genau prüfen und dann einen Plan entwickeln. Wo steckt Hunter im Augenblick?« »In Thailand.«
»Was ist mit Coco?« Olivaros Miene verdüsterte sich. Der Gedanke an Coco versetzte ihn in Wut. »Sie hat einige ihrer Fähigkeiten als Hexe zurückgewonnen.« »Auch die Spezialität der Familie Zamis?« »Du meinst den rascheren Zeitablauf?« »Genau«, sagte Kadron. Olivaro zuckte mit den Achseln. »Es gab Tage, da verfügte sie über ungewöhnliche Fähigkeiten. An anderen Tagen war sie mehr oder minder hilflos. Ich vermute, dass es etwas mit ihrer Schwangerschaft zu tun hat.« »Das werde ich herausfinden.« Kadron stand auf. »Die Jagd auf Hunter und Coco kann beginnen.« Die Luft flimmerte, und seine Gestalt wurde durchscheinend, dann löste sie sich auf. Olivaro setzte sich und schloss die Augen. Kadron hatte noch bei keinem Auftrag versagt. Er würde auch diesmal Erfolg haben. Olivaro schob den Gedanken an Coco und Hunter zur Seite. Er musste den Kampf gegen die feindlichen Dämonenfamilien weiterführen, und dieser Kampf beanspruchte seine ganzen Kräfte. Aber er hoffte noch immer, dass er als Sieger hervorgehen würde.
Dorian hatte lange gezögert, ob er sich mit den Oppositionsdämonen in Verbindung setzen sollte. Nun hatte er sich doch dafür entschieden. Zu seinem größten Erschrecken hatte Coco fast alle magischen Fähigkeiten verloren, sie traten nur noch sporadisch und unkontrollierbar auf. Und mit jedem Tag wurden sie geringer. Coco war für ihn keine Hilfe mehr. In Manila hatten sie sich neu eingekleidet und waren einige Tage im Hotel geblieben. Dorian befürchtete, dass jeder seiner Schritte von Olivaros Spitzeln überwacht wurde. Er hatte Angst davor, auf direktem Weg nach London zu reisen. Schließlich hatten sie beschlossen, nach Bangkok zu fliegen. Sie hatten verschiedene Tricks versucht, um ihre Verfolger abzuschütteln. In Bangkok hatten sie
sich in einem einfachen Hotel einquartiert. Dorian hatte einen VW gemietet und einige Gegenstände gekauft, die er unbedingt benötigte, um mit den Oppositionsdämonen in Verbindung zu treten. Er stand am Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Er musste warten, bis es dunkel wurde. Die Beschwörung konnte er nicht in einem geschlossenen Raum durchführen, sondern nur im Freien. Er drehte sich langsam um und sah Coco lächelnd an. Sie saß nachdenklich auf dem Bett. Das ausdrucksvolle Gesicht mit den hohen Backenknochen, den grünen Augen und das lange, pechschwarze Haar gaben ihr ein leicht exotisches Aussehen. Die Schwellung ihres Bauches war nicht mehr zu übersehen. Es kam dem Dämonenkiller noch immer wie ein Wunder vor, dass sich Coco wieder an seiner Seite befand. »Woran denkst du?«, fragte er. Coco hob den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, ob es tatsächlich eine gute Idee ist, dass du die Oppositionsdämonen anrufst, Dorian.« Der Dämonenkiller seufzte. »Es bleibt uns keine andere Wahl, Coco«, sagte er und setzte sich neben Coco. »Wir wissen nicht, was Olivaro beabsichtigt. Aber ich bin mir sicher, dass er unsere Spur nicht verloren hat – ich traue ihm jede Teufelei zu. Wir brauchen Hilfe.« Coco nickte langsam. »Alles wäre einfacher, wenn ich meine Fähigkeiten gezielt einsetzen könnte.« »Wir müssen uns damit abfinden«, sagte Dorian und nahm Cocos Hände in die seinen. »Und nur die Oppositionsdämonen können uns helfen.« »Ob sie uns helfen werden?«, fragte Coco leise. »Du bist für sie unwichtig geworden.« »Solange Olivaro nicht tot ist, können sie mich noch immer gegen ihn einsetzen.« Coco schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Ich glaube, dass Olivaros Tage als Herr der Schwarzen Familie gezählt sind. Seine Position ist zu sehr angeschlagen.« »Stimmt. Und deshalb glaube ich auch, dass ich Hilfe von den Oppositionsdämonen erhalten werde.«
»Und worauf stützt du deinen Optimismus?« »Das ist ganz einfach. Olivaro muss uns töten, das steht fest. Wir brauchen nicht damit zu rechnen, dass er sich in irgendeiner Weise zurückhalten wird. Wir sind zu einer reinen Prestigeangelegenheit für ihn geworden. Es wäre zweifellos ein Plus für ihn, wenn er uns töten könnte. Die Oppositionsdämonen sind kühle Rechner, sie werden es unter keinen Umständen zulassen, dass Olivaro auch nur den kleinsten Vorteil aus einer Situation zieht. Deshalb bin ich sicher, dass sie uns helfen werden. Sie helfen uns nicht, weil sie dich und mich ins Herz geschlossen haben, sondern nur, weil es in ihre Pläne passt.« »Deine Vermutung hat etwas für sich«, sagte Coco. »Und wir gehen dabei kein Risiko ein. Wir können nur gewinnen.« An der Tür wurde geklopft. Dorian stand auf. Die rechte Hand schob er in die Tasche und umklammerte die entsicherte Pistole. »Wer ist da?« »Ich bringe das Essen, Sir.« Dorian drehte den Schlüssel um und riss die Tür ruckartig auf. Dabei trat er einen Schritt zur Seite. Ein freundlich lächelnder Kellner stand mit einem Servierwagen vor der Tür. Dorian ließ die Pistole los und griff nach dem Wagen. »Wir bedienen uns selbst«, sagte er und drückte dem Kellner einen Fünfzig-Baht-Schein zu, den dieser einsteckte und sich tief verbeugte. Dorian sperrte die Tür ab und schob den Servierwagen zum Tisch. Er hatte ein einfaches Mahl bestellt, aber das schien es in Thailand für Ausländer nicht zu geben. Mehr als zehn verschiedene Speisen befanden sich auf dem Wagen. Während sie aßen, wurde es langsam dunkel. Für Coco und Dorian waren die Speisen nichts Ungewohntes, da sie in London häufig thailändische, indische und chinesische Restaurants besuchten. Besonders gut schmeckte der Kao Pad, gebratener Reis, und das süßsaure Rindfleisch. Dazu tranken sie deutsches Bier. Zu Dorians größter Überraschung hatte Coco einen gesegneten Appetit. Nach einer halben Stunde waren die vielen Tassen und Schüsseln bis auf
einige Bissen leer. Der Kellner hatte eine englischsprachige Abendzeitung, die Bangkok World, mitgebracht. Noch immer beschäftigte sich die Presse mit Tangaroa. Wie üblich waren sich die Wissenschaftler nicht einig. Hinter all den Theorien stand die bange Frage, ob es noch andere solcher Monster in den Tiefen der Ozeane gab. Eines war aber sicher: In Zukunft würden sich die Großmächte intensiver mit der Tiefsee beschäftigen. Dorian legte die Zeitung zur Seite. »Ich fahre jetzt los.« »Ich komme mit.« Coco stand auf. »Ich glaube, dass es besser ist, wenn wir zusammenbleiben.« Der Dämonenkiller teilte ihre Meinung. Sie verließen das Hotel und blieben auf der Straße stehen. Dorian sah sich rasch um. Die meisten Leute, die ihnen entgegenkamen, waren europäisch gekleidet. Nichts Verdächtiges war zu sehen. Dorian sperrte den VW auf, setzte sich hinters Lenkrad, während Coco neben ihm Platz nahm. Er schlug den Stadtplan auf und reichte ihn Coco. Mit einem roten Filzstift hatte er die Route eingezeichnet. Er wollte die Stadt in Südostrichtung verlassen. Er startete, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr langsam los. Das Linksfahren war er gewohnt. Er bog nach rechts in die Rama IV Road ein und fuhr am Lumpini Park vorbei. Coco blickte interessiert auf die Statue des Königs Vajiravudh, die vor dem Park stand. »Schade, dass wir nicht unter anderen Umständen hier sind«, sagte Coco bedauernd. »Hier gibt es so viele Dinge zu sehen, die mir gefallen.« Dorian lächelte. »Ich verspreche dir, dass wir, sobald uns keine Gefahr mehr droht und das Kind auf der Welt ist, einen ausgedehnten Urlaub machen werden. Eine Weltreise, bei der …« »Belüge dich nicht«, sagte Coco fast unhörbar. »Einen richtigen, unbeschwerten Urlaub werden wir nie machen können, dazu haben wir zu viele Feinde. Wir müssen immer darauf gefasst sein, dass uns jemand etwas antun wird.« Der Dämonenkiller presste die Lippen zusammen. Er wusste, dass Coco Recht hatte. Schweigend fuhr er weiter. Nach einigen Minuten
änderte sich das Stadtbild, jetzt waren fast nur noch kleine moderne Häuser und Bungalows zu sehen. Bald hatte er den Stadtrand erreicht. Er fuhr jetzt die gut ausgebaute Überlandstraße Sukhumvit Road entlang, die nach Samutprakan führte. Der Verkehr wurde immer schwächer, je weiter sie sich von der Stadt entfernten. Dorian fuhr langsamer und suchte nach einem geeigneten Platz, wo er die Beschwörung durchführen konnte. Das Land war flach, nirgends auch nur der kleinste Hügel. Überall waren riesige Obstgärten, Kokospalmen, Betelnussbäume, Zuckerrohrplantagen und Reisfelder zu sehen. Dorian bremste ab, als er einen schmalen Feldweg erblickte, der zu einer Kokospalmenplantage führte. Er bog in den Feldweg ein und schaltete die Scheinwerfer ab. Der hochstehende Mond spendete genügend Licht, trotzdem fuhr er langsam. Nach zweihundert Metern stellte er den Motor ab und stieg aus. Er sah sich aufmerksam um, nickte zufrieden und half Coco beim Aussteigen. Er nahm ein kleines Säckchen aus dem Handschuhfach, in dem sich die Utensilien befanden, die er zur Beschwörung benötigte. Der Dämonenkiller wandte sich nach links, und Coco folgte ihm in einigen Metern Abstand. Zwischen einer Palmengruppe blieb er stehen. Er nickte zufrieden. Weder von der Straße, noch vom Feldweg aus war er zu sehen. Er schlüpfte aus seinen Kleidern und rieb sich Hände und Gesicht mit einer scharf riechenden Flüssigkeit ein, die er aus verschiedenen Kräutern zubereitet hatte. Aus dem Säckchen holte er ein blutbeschmiertes Hühnerbein, mit dem er um sich einen Kreis in den sandigen Boden zog. Er kniete nieder und presste die Knie zusammen. Dann setzte er sich auf die Fersen, beugte den Oberkörper vor und stieß den Hühnerknochen vor sich in den Boden, presste die Hände gegen die Schenkel und legte die Stirn auf den Hühnerknochen. Er konzentrierte sich, versuchte sich zu entspannen und alle störenden Gedanken zu verscheuchen. Nach einigen Minuten war er so weit. »Ich beschwöre dich, dämonischer Geist, höre mich. Ich beschwöre dich bei Ayperos!«, rief er aus. Er konzentrierte sich noch stärker und sprach die Worte nochmals. Nichts geschah. Er wartete einige
Minuten und wiederholte den Satz. Dorian presste die Lippen zusammen. Die Oppositionsdämonen hatten ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es unter Umständen einige Zeit dauern würde, bis sich jemand bei ihm melden würde. Sein Ruf würde auf jeden Fall gehört werden. Wenn er dringend mit den Dämonen Kontakt aufnehmen wollte, dann müsste er zusätzlich das Stigma des Dämons Ayperos auf den Boden malen. Er zog den Knochen aus dem Sand und malte langsam das Zeichen Ayperos'. Er schloss die Augen und sagte laut und deutlich den Anfangssatz der Beschwörung. Er hatte kaum das letzte Wort gesagt, als ein blaues Licht aus dem Nichts erschien, sich rasch ausdehnte und den magischen Ring einhüllte. »Wir haben dich gehört, Dorian Hunter«, war eine leise Stimme zu hören. »Hilfe ist schon unterwegs.« Das war alles. Die blaue Flamme erlosch. Dorian rieb sich mit dem Sand die scharf riechende Flüssigkeit von Gesicht und Händen, stand langsam auf und spuckte aus. Mit dem rechten Fuß durchbrach er den Kreis und schlüpfte in seine Kleider. Er blickte sich nach seiner Gefährtin um, sah sie aber nicht. »Coco?« »Hier bin ich«, antwortete die junge Frau und kam langsam näher. Sie hatte bei der Beschwörung nicht zugesehen, um Dorian nicht zu stören. »Es hat geklappt«, sagte Dorian zufrieden. »Angeblich ist schon Hilfe unterwegs.« »Und was sollen wir nun tun – hier warten?« »Ich weiß es nicht. Ich nehme aber an, dass es das Beste sein wird. Gehen wir zum Wagen zurück.« Coco nickte und Dorian griff nach ihrem rechten Arm. In den vergangenen Tagen hatte er stets damit gerechnet, dass von einer Sekunde zur anderen etwas Unheimliches geschehen würde. Langsam fiel die Anspannung von ihm ab. »Mit Hilfe der Oppositionsdämonen sind wir in wenigen Tagen in London«, sagte er. »Und dann kann uns Olivaro nichts mehr anhaben.«
»Noch sind wir nicht in London«, stellte Coco fest. Seit zwei Tagen fühlte sie sich unwohl. Ihr wurde öfters schlecht, jede Bewegung fiel ihr schwer, und sie musste ständig gegen eine übermächtige Müdigkeit ankämpfen. Das Kind in ihrem Leib bewegte sich heftig, denn sie war schon im siebten Monat schwanger. Sie bemühte sich, ihre Schwäche vor Dorian zu verbergen, weil sie wusste, dass er sich schon ohnedies Sorgen machte. Sie wollte ihn nicht auch noch mit ihrem Kummer belasten. Schweigend blieb Dorian stehen, und seine Finger pressten sich fester um Cocos Ellbogen. Er wandte den Kopf nach links und kniff die Augen zusammen. »Ich muss mich getäuscht haben. Ich glaubte, Schritte gehört zu haben.« Er lauschte wieder, doch nichts rührte sich. Er zuckte mit den Achseln, und sie gingen weiter. Dorian hatte einen sechsten Sinn entwickelt. Er spürte manchmal die Gefahr fast körperlich. Sein Nackenhaar sträubte sich. Er blieb wieder stehen, ließ Coco los und griff nach der Pistole. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Von einer der Kokospalmen sprang eine braune Gestalt, die bis auf weite dunkle Hosen nackt war. In der rechten Hand blitzte ein Krummdolch, auf dessen Klinge seltsame Muster eingraviert waren. Bevor Dorian die Pistole ziehen konnte, legte sich eine Schlinge um seinen Hals, die ruckartig zusammengezogen wurde. Der Dämonenkiller griff mit beiden Händen an seinen Hals, richtete sich auf und versuchte einen Finger unter die Schlinge zu bekommen, doch es gelang ihm nicht. Die dünne Schnur fraß sich immer tiefer in seine Haut, drückte auf die Halsschlagader. Dorian riss den Mund auf, sein Gesicht lief blau an, und die Augen schienen aus den Höhlen zu treten. Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln, und rote Schleier wogten vor seinen Augen. Coco versuchte ihre magischen Fähigkeiten zu entfalten, hatte damit aber keinen Erfolg. Hilflos musste sie zusehen, wie Dorian bewusstlos zusammenbrach. Sie war von drei mittelgroßen Männern umringt. Alle trugen Tätowierungen auf der Brust und hielten Dolche in den Händen. Drei weitere Männer tauchten auf. Einer blieb vor dem Bewusstlosen stehen, bückte sich und löste die
Schlinge von seinem Hals, die zwei anderen drehten Dorian auf den Bauch, rissen seine Arme auf den Rücken und fesselten seine Handgelenke mit einer dünnen Schnur, dann drehten sie ihn wieder auf den Rücken. Coco wehrte sich, als zwei der Männer auf sie losgingen. Sie schnatterten in einer Sprache, von der Coco kein Wort verstand. Einer der Männer zeigte auf ihren geschwollenen Bauch und lachte. Ein anderer packte ihre linke Hand und versuchte sie auf den Rücken zu drehen. Coco versuchte die Hand abzuschütteln, doch der Griff war zu fest. Plötzlich stand ein weiterer Mann vor ihr, und bevor sie ausweichen konnte, schoss eine geballte Faust auf sie zu. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. »Bewegen Sie sich nicht«, sagte einer der Männer in gut verständlichem Englisch, »sonst schlagen wir Sie.« Coco wusste, dass sie keine Chance hatte. Sie blieb stehen, versuchte wieder ihre magischen Kräfte zu mobilisieren, doch auch diesmal gelang es ihr nicht. Sie wehrte sich nicht, als ihr die Hände auf den Rücken gefesselt wurden. »Was habt ihr mit uns vor?«, fragte Coco, als der Schmerz etwas nachgelassen hatte. Doch sie bekam keine Antwort. Angstvoll blickte sie zu Dorian, der sich noch immer nicht bewegte. Doch er atmete. Sie waren in eine Falle geraten, stellte Coco fest. Und in welchem Auftrag die sechs Männer handelten, war klar. Sie hoffte, dass die Männer nicht die Anweisung hatten, sie sofort zu töten. Einer von ihnen blieb vor ihr stehen. Er hielt ihr den Dolch vors Gesicht. »Mund aufmachen!«, befahl er. Coco gehorchte. Der Tätowierte bückte sich, schnitt ein Stück Stoff aus ihrem Rock und knebelte sie damit. Dann riss er einen weiteren Streifen ab, band ihn ihr über den Mund und verknotete ihn. Zwei der Männer entfachten ein kleines Feuer, zu dem sie Coco schleppten. Sie warfen sie zu Boden. Einer kniete neben ihr nieder und schnitt ihr das Kleid auf. Zwei Dolche wurden in das Feuer gelegt. Coco strampelte mit den Beinen und wollte sich aufrichten, aber zwei der Männer hielten sie fest. Sie wandte den Kopf. Dorian bewegte sich. Er drehte sich zur Seite und öffnete die Augen. Coco sah, wie sie sich vor Entsetzen weiteten. Er
wollte sich aufrichten – da trat ein Mann hinter ihn und schlug ihn mit der rechten Handkante ins Genick. Dorian brach wieder zusammen. Einer der Männer holte einen Dolch aus dem Feuer. Die Klinge glühte dunkelrot. Er blieb vor Coco stehen. Sein Gesicht war zu einem bösartigen Grinsen verzerrt. Langsam kniete er nieder. Coco erstarrte. Sie schloss die Augen. Sie wusste, was der Mann vorhatte. Ich muss ruhig sein, dachte sie, ganz ruhig. Nur so habe ich vielleicht die Möglichkeit, meine Kräfte zu wecken. Sie hörte einen unmenschlichen Schrei und riss die Augen auf. Einen Augenblick lang war der Mond von einem riesigen Geschöpf verdeckt, das rasch näher kam. Es war eine Vampirfledermaus mit gewaltigen Flügeln und einem halbmenschlichen schwarzen Körper. Die scharfen Krallen des Vampirs schlugen sich in den Rücken des Mannes, der den glühenden Dolch hielt. Sie rissen den Mann hoch, der Dolch entfiel seinen Händen, und dann hörte man das Krachen zersplitternder Knochen. Das war die versprochene Hilfe der Oppositionsdämonen, dachte Coco erleichtert. Die Männer versuchten zu fliehen, doch es gelang ihnen nicht. Die riesige Fledermaus war nicht allein. Sie hatte einen Begleiter bei sich. Ein hominides, bleiches Geschöpf, das höchstens 1,50 Meter groß sein konnte und unglaublich dürr war. Sein Gesicht hatte den typisch blassen Teint eines Vampiropfers. Coco wandte sich schaudernd ab, als der Zwerg über einen der Männer herfiel. Lautes Geschrei war zu hören. Nach einigen Minuten war es still. Coco öffnete die Augen und blickte sich um. Um das Feuer lagen die sechs Männer, die sie und Dorian gefangengenommen hatten. Alle sechs waren tot. Von dem Vampir und seinem Begleiter war nichts zu sehen. Coco setzte sich mühsam auf. Sie war erleichtert, als sie sah, dass Dorian wieder bei Bewusstsein war. Er hatte sich ebenfalls aufgesetzt und blickte zu ihr herüber. Coco fragte sich, wohin der Vampir verschwunden war. Dann hörte sie die Schritte und wandte mühsam den Kopf. Eine hochgewachsene Frau kam rasch näher. Sie blieb neben dem Feuer stehen, sah zuerst Coco an, dann wandte sie sich Dorian zu. Langes
Haar hüllte sie wie ein Schleier ein … im ersterbenden Schimmer des Feuers schien es glutrot zu funkeln. Sie trug einen schwarzen Umhang, der mit einem dünnen Lederriemen um den Hals befestigt war. Sie hatte den Umhang zurückgeschlagen. Ihr Körper strahlte eine aufreizende Sinnlichkeit aus. Sie trug einen winzigen roten Bikini, der kaum ihre Blößen bedeckte. Die vollen Brüste wippten bei jeder ihrer Bewegungen. Das Gesicht mit der geraden Nase wirkte kalt, die schwarzen Augen funkelten lüstern. Der Mund war ein blutroter Fleck in dem faszinierenden Gesicht. »Mein Name ist Lukretia Mahan Kal«, stellte sie sich vor. »Und das ist mein ständiger Begleiter Guido Sera.« Sie zeigte auf den Zwerg, der langsam näher kam. Er hatte sich verändert. Jetzt war seine Haut rosig und sein Körper kräftig. Er trug einen bodenlangen Umhang. Sera bückte sich, hob einen Dolch auf und schnitt Cocos Fesseln durch. Coco rieb sich die schmerzenden Handgelenke, dann riss sie sich den Knebel aus dem Mund. »Danke für die …« »Nichts zu danken«, sagte Lukretia. Ihre Stimme klang tief und rauchig. »Ich habe den Auftrag erhalten, mich um euch zu kümmern. Ich soll euch sicher nach London bringen. Und das werde ich auch tun.« Sie musterte Coco, ließ den Blick über den geschwollenen Leib gleiten und wandte sich Dorian zu. Ihn sah sie ganz anders an. Ihre Augen leuchteten, und sie leckte sich die Lippen. Sera löste Dorians Fesseln, der ihm dankbar zunickte. Der Dämonenkiller massierte sich die Handgelenke, dann griff er sich an den Hals. Deutlich war noch der Einschnitt der Schlinge zu spüren. Dorian stand schwankend auf. Er war noch immer benommen. Jede Bewegung bereitete ihm Anstrengung. Er räusperte sich und versuchte zu sprechen, was ihm aber nicht gelang. Nur ein unverständliches Krächzen kam über seine Lippen. Er räusperte sich nochmals und massierte den Hals. »Ich bin Dorian Hunter«, sagte er schließlich. »Ich weiß«, sagte Lukretia. »Die Schwangere ist die Hexe Coco Zamis, auf die Olivaro ein Auge geworfen hatte.« Sie blickte Coco verächtlich an. »Ich verstehe nicht, was Olivaro an ihr findet, aber das
ist nicht meine Angelegenheit.« Sie sah wieder Dorian an und trat einen Schritt näher. »Aber du gefällst mir, Dorian. Ich würde gern …« Der lüsterne Blick ihrer Augen war unverkennbar. »Ich kann mir denken, was du willst, Lukretia«, sagte der Dämonenkiller. »Aber damit wird es wohl nichts. Ich habe keine Lust, dass du mein Blut trinkst. Solltest du das versuchen, dann lass dich warnen. Auch wenn du mir im Auftrag der Oppositionsdämonen helfen sollst, würde ich keine Gnade kennen. Haben wir uns verstanden?« Lukretia lächelte. »Du gefällst mir immer besser«, sagte sie, und ihre Stimme klang jetzt süß wie Honig. »Aber vielleicht ergibt sich ein anderes Mal die Gelegenheit dazu.« »Daraus wird wohl nichts werden«, stellte Dorian fest, ging an Lukretia vorbei und nahm Coco in die Arme. »Wie geht es dir?«, fragte er sanft. »Danke«, sagte Coco. »Ganz gut.« Dorian küsste sie zärtlich auf die Stirn, ließ sie los und sah Lukretia an, die ihn lauernd anstarrte. Der Dämonenkiller zeigte auf die sechs Toten. »Wurden diese Männer von Olivaro geschickt?« »Keine Ahnung«, sagte Lukretia, die plötzlich abweisend wirkte. Sie griff nach ihrem Umhang und hüllte sich darin ein. »Ich empfing den Ruf, euch zu helfen und handelte sofort. Ich kam so rasch es ging. Möglicherweise wurden die Sechs von Olivaro ausgesandt, aber es muss nicht sein. Seit einigen Wochen macht sich eine Sekte bemerkbar, die aus dem Caodaismus hervorging. Sie lauern überall auf Opfer. Und nach den Tätowierungen zu schließen, sind diese Männer Mitglieder dieser Sekte gewesen. Wenn sie ein Opfer erwischt haben, dann töten sie es. Sie baden im Blut und glauben dadurch unverwundbar zu werden.« »Dein Auftritt war recht eindrucksvoll«, sagte Dorian. Lukretia wandte sich verschämt ab. Sie liebte es nicht, wenn man ihr bei ihrem Tun zusah. Bis zum heutigen Tag hatte noch jeder sterben müssen, der sie als Fledermaus gesehen hatte. Nur einen hatte sie am Leben gelassen: Guido Sera. Er war bis vor zwei Jahren ein normaler Mensch gewesen, dann war er ihr Opfer geworden, hatte
sich in einen Vampir verwandelt und begleitete sie überall hin. Er hatte die Fähigkeit, das Blut der Opfer, die er aussaugte, in seinem Körper zu speichern, und das war ein unschätzbarer Vorteil für Lukretia. Immer, wenn sie kein Opfer zur Hand hatte, konnte sie auf Guido Sera zurückgreifen und ihm Blut abzapfen. Er war ein Schattengeschöpf, das nur in der Nacht agieren konnte. Tageslicht war für ihn tödlich. In den zwei Jahren, seitdem Sera ihr ständiger Begleiter war, hatte sich zwischen den beiden ein seltsames Verhältnis entwickelt. Sera hing abgöttisch an Lukretia. »Wir fahren jetzt zu mir«, sagte Lukretia. »Ich nehme an, dass ihr mit einem Wagen gekommen seid?« »Richtig«, sagte Dorian. »Und was machen wir mit den Toten?« »Wir lassen sie liegen«, sagte Lukretia gleichgültig. Dorian legte einen Arm um Cocos Schultern und führte sie zum Wagen, während Lukretia Mahan Kal und Guido Sera in einigen Metern Abstand folgten. Dorian blieb vor dem VW stehen und sperrte auf. Lukretia sagte in herablassendem Ton: »Einen besseren Wagen hast du nicht besorgen können? Diese Klapperkiste ist meiner nicht würdig.« Dorian lächelte. »Wenn ich geahnt hätte, dass ich dich kennen lernen würde, hätte ich natürlich einen Luxuswagen gemietet.« Lukretia reagierte nicht darauf. »Setzt euch nach hinten. Ich fahre selbst.« Dorian und Coco gehorchten. Lukretia wartete, bis Guido Sera neben ihr Platz genommen hatte, dann fuhr sie los. »Habt ihr irgendetwas Wichtiges in eurem Hotel?«, fragte Lukretia, als sie die Schnellstraße erreicht hatten und in Richtung Bangkok fuhren. »Nein«, sagte Dorian. »Aber es würde auffallen, wenn wir einfach verschwinden …« »Lasst das nur meine Sache sein. Ich werde alles veranlassen.« »Und wie soll es weitergehen?«, erkundigte sich der Dämonenkiller.
»Das werde ich mir noch überlegen. Es ist leider nicht möglich, dass wir einen Direktflug nach London nehmen. Wir müssen auf jeden Fall nach Bombay, dort werden wir weitersehen. Im Augenblick kann ich nichts Genaueres sagen, ich bekomme erst meine Instruktionen.« »Wohnst du ständig in Bangkok?«, fragte Dorian. »Nein. Ich habe ein Haus in Kalkutta und eines in Saigon.« Als sie die Stadt erreichten, fing es leicht zu regnen an. Das war im August nichts Ungewöhnliches, fast jeden Tag ging Regen nieder. Dorian musterte Lukretia und Guido Sera, der bis jetzt nicht ein einziges Wort gesprochen hatte. Der Zwerg hockte steif im Sitz, hatte die schmalen Hände über dem Bauch gefaltet und die Augen geschlossen. Ab und zu rülpste er geräuschvoll. Die Dämonenkillerinstinkte Dorians erwachten. Er hatte sich zwar mit den Oppositionsdämonen verbündet, aber bei den Zusammenkünften mit ihnen hatte er keinen erkennen können, da sie gesichtslos aufgetreten waren. Bei Lukretia war es anders. Sie war eine reinblütige Dämonin. Ein Mitglied der Schwarzen Familie, der auch Coco angehört hatte – bis sie von ihrem Vater verstoßen worden war. Lukretia war ein Vampir. Ihr Alter war nicht zu schätzen. Sie konnte fünfundzwanzig sein, so sah sie zumindest aus, aber auch einige hundert Jahre alt, was bei Dämonen häufig vorkam. Dorian fragte sich, wie vielen unschuldigen Menschen Lukretia wohl schon den Tod gebracht hatte? Seine Hände zitterten. Mühsam beherrschte er sich. Er durfte ihr nichts tun, und das war gegen seine Natur. Der Gedanke, auf die Hilfe einer Vampirin angewiesen zu sein, war nicht nach seinem Geschmack. Coco spürte Dorians Erregung, sie legte eine Hand auf seine Schenkel, und er blickte sie an. Sie lächelte ihm schwach zu. Ihr Haar war zerrauft und staubig, das Kleid war zerfetzt. »Das Leben ist seltsam«, stellte Lukretia fest. »Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass ich dem größten Feind der Familie helfen soll.« »Mir geht es nicht anders«, erwiderte Dorian. »Ich kenne nur eine
Behandlung für einen Vampir: den Pfahl!« Lukretia kicherte. Sie genoss die absurde Situation sichtlich. »Ich darf dich nicht töten«, sagte sie, »dabei würde ich so gern meine Zähne in deine Kehle schlagen. Und dir zittern die Hände bei dem Gedanken, mich mit Weihwasser zu besprengen und mir einen Eichenpfahl in die Brust zu treiben.« Sie lachte wieder, und Dorians Gesicht verfinsterte sich. Sie fuhren an der Hualumpong Railway Station vorbei, dem Hauptbahnhof Bangkoks, von dem aus die Züge in den Norden und Osten des Landes verkehrten. Den Menam überquerten sie über die Memorialbrücke, die nach dem Stadtbegründer Rama I. genannt wurde. Dann ging es geradeaus weiter, rund um den Big Circle, vorbei am Tak-Sin-Denkmal. Lukretia bog in die Lardva Road ein. Dorian und Coco glaubten sich in eine andere Welt versetzt. Hier gab es unzählige kleine Kanäle, winzige Gartenanlagen. Viele der Häuser standen auf Pfählen. »Wir befinden uns in Dhonburi«, sagte Lukretia. »Das ist der älteste Teil der Stadt.« Vor einem der Pfahlbauten blieb Lukretia stehen. »Das ist mein Haus.« Sie stiegen aus. Kein Mensch war zu sehen. Keines der Häuser war erleuchtet. In der Dunkelheit konnte man nicht viel von Lukretias Haus erkennen. Es ähnelte einem buddhistischen Tempel. Vor den Stufen, die zu einer großen überdachten Veranda führten, stand ein kleines Geisterhäuschen. Als sie die kunstvoll verzierte Treppe betraten, flammte plötzlich auf der Veranda Licht auf. Jetzt konnten sie Einzelheiten erkennen. Das Haus hatte drei übereinander liegende Satteldächer, die mit blau glasierten Ziegeln bedeckt und mit unzähligen Nagas, Himmelsschlangen, verziert waren. Der Bau bestand aus Teakholz, die Türen und Fensterläden waren mit Schnitzereien und kunstvollen Perlmutteinlagen geschmückt. Die Vampirin blieb vor der Eingangstür stehen, faltete die Hände, neigte leicht den Kopf und hob die Hände in Augenhöhe. Dann sagte sie laut: »Sawadi.« Die Tür sprang auf.
Dorian und Coco traten beeindruckt in einen riesigen Raum. Die Wände waren mit Schnitzereien verziert, überall bedeckten kostbare Teppiche den Boden, die Möbel waren aus Teakholz. Eine Wand war mit Khonmasken bedeckt, die für Tanzpantomimen verwendet werden. Die unzähligen Vasen, Krüge und Lampenständer waren aus lindgrüner Keramik. Dorian und Coco schlüpften aus ihren Schuhen. »Setzt euch«, sagte Lukretia. »Sagt Guido eure Wünsche. Entschuldigt mich, ich habe zu tun.« Sie verließ den Raum. Dorian und Coco setzten sich an ein kleines Tischchen. »Ein Bier wäre nicht übel«, sagte Dorian. »Kann ich eines haben?« Guido Sera nickte. »Du auch, Coco?« »Gern«, sagte die junge Frau. Dorian wartete, bis Guido Sera das Zimmer verlassen hatte. Er steckte sich eine Zigarette an und rauchte in tiefen Zügen. »Ich traue Lukretia nicht. Wir haben keinen Beweis dafür, dass sie wirklich von den Oppositionsdämonen geschickt wurde.« »Du vermutest also, dass der Überfall der sechs Einheimischen nur eine Tarnung war – ein Täuschungsmanöver: Lukretia taucht auf und wir vertrauen ihr.« »Genau. Dieser Plan könnte aufgehen. Im Augenblick haben wir keine andere Wahl, als mit Lukretia zu rechnen. Aber wir müssen vorsichtig sein, vielleicht lockt sie uns in eine Falle.« »Aber die Oppositionsdämonen ließen dir doch ausrichten, dass Hilfe unterwegs ist«, wandte Coco ein. »Das stimmt«, gab Dorian zu. »Aber habe ich irgendeinen Beweis, dass es tatsächlich die Oppositionsdämonen waren, die mir die Botschaft übermittelten?« Coco lachte. »Du bist zu misstrauisch, Dorian.« »Das muss ich sein«, sagte er. »Wäre ich es nicht so oft gewesen, dann wäre ich schon lange tot. Außerdem ist es mir unerträglich, mit einer Vampirin zusammen zu sein. Alles in mir drängt danach, sie zu töten.«
»Damit hast du rechnen müssen, als du die Beschwörung vornahmst«, sagte Coco. »Wir hätten es noch viel schlimmer treffen können. Wie wäre dir zumute, wenn wir einen Ghoul als Helfer bekommen hätten?« Dorian wandte sich schaudernd ab. Auch er hasste die Leichenfresser ganz besonders. Sie waren die Aasgeier der Schwarzen Familie, die selbst von Dämonen nicht geschätzt wurden. Sie schwiegen, als Guido Sera mit einem Tablett ins Zimmer trat, auf dem zwei Gläser und zwei Flaschen Bier standen. Sera stellte das Tablett ab, öffnete die Flaschen und schenkte ein. Dann sah er Dorian fragend an. »Kannst du nicht sprechen, Guido?«, fragte Dorian, der Mitleid mit dem Zwerg hatte. Guido Sera war ein Opfer der Schwarzen Familie. Er war durch Lukretias Biss zu einem Vampir geworden. Nur zu deutlich konnte sich Dorian erinnern, wie es war, ein Vampir zu sein. In einem seiner früheren Leben war er selbst einmal zu einem Blutsauger geworden, und erst vor wenigen Wochen hatte er erlebt, wie man sich als Werwolf vorkommt. »Ich kann sprechen«, sagte der Zwerg, »aber mein Englisch ist nicht besonders gut. Haben Sie noch Wünsche?« »Nein, danke«, sagte Dorian. »Ich will mich aber ein wenig mit dir unterhalten, Guido.« »Tut mir Leid«, sagte das Schattenwesen scharf, »ich darf mit Ihnen nicht sprechen.« Er drehte sich abrupt um und stapfte aus dem Zimmer. Dorian verzog das Gesicht, prostete Coco zu und trank einen Schluck. Das Bier war kalt und schmeckte herrlich. »Guido steht ganz im Bann Lukretias«, sagte Coco. Dorian nickte und drückte die Zigarette aus. Er hob den Blick, als eine der Türen geöffnet wurde. Lukretia trat ins Zimmer. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, ihr Körper bewegte sich anmutig. Ihr langes Haar reichte fast bis zu den Knien. Es hatte die Farbe geändert, jetzt war es korngelb. Sie trug nur den roten Bikini, den Umhang hatte sie abgelegt. Ihr Gesicht wirkte ungewöhnlich anziehend, und seltsamerweise ging von ihr nicht die Ausstrahlung aus, die
Dorian bei anderen Dämonen kannte. Hätte er Lukretia unter anderen Umständen kennen gelernt, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, eine Vampirin vor sich zu haben. Sie wusste um die Schönheit ihres Körpers und setzte seine Reize hemmungslos ein. »Ich habe meine Instruktionen erhalten«, sagte sie. »Wir fliegen morgen nach Bombay. Ich habe veranlasst, dass eure Habseligkeiten aus dem Hotel geholt werden.« »Wohin fahren wir dann?« »Das werde ich euch in Bombay sagen«, meinte Lukretia kühl. Sie streckte die rechte Hand aus. An ihrem rechten Oberarm befanden sich drei Reife, auf dem linken nur einer. Sie griff nach einem bauchigen Krug und steckte die Hand hinein. Ein lautes Zischen war zu hören. Der gewaltige Schädel einer Königskobra tauchte auf, die gespaltene Zunge bewegte sich rasch, und die Augen schienen Dorian bösartig zu fixieren. Träge schlängelte sich die Kobra um Lukretias Arm, kroch über ihre Schultern und schob den hässlichen Schädel in das lange Haar. Dorian hatte nie zuvor eine so riesige Kobra gesehen. Ihr Leib war so dick wie sein Arm. »Ein nettes Haustier«, sagte er sarkastisch. Wenn er vorher gewusst hätte, dass sich eine Königskobra im Zimmer befand, wäre er nicht so ruhig gewesen. Lukretia nickte und streichelte die Schlange liebevoll. »Ich habe ein halbes Dutzend Schlangen im Haus.« »Hoffentlich kriechen sie nicht frei herum.« Die Vampirin lächelte. »Hast du Angst vor Schlangen?« »Nein«, sagte Dorian. »Aber ich würde deine Reptilien töten, wenn sie mir über den Weg laufen.« »Sie sind völlig harmlos«, versicherte Lukretia. »Sie gehen nur auf Menschen los, wenn ich es ihnen befehle.« Der Dämonenkiller war in seiner Laufbahn schon den seltsamsten Wesen begegnet, doch noch nie hatte er erlebt, dass sich eine Vampirin Schlangen als Haustiere hielt. Die Kobra kroch über Lukretias Schulter und ringelte sich jetzt um den linken Arm. Sie hob den Schädel, riss das Maul auf und fauchte Dorian an, der sich davon aber nicht beeindrucken ließ. Er wusste, dass viele Menschen in In-
dien und Thailand eine abergläubische Ehrfurcht vor Kobras haben. Die Kobra wird seit alters her als heiliges Tier verehrt. Die Ehrfurcht, die man diesen todbringenden Reptilien zollt, entstand aus dem Sagenkreis, der sich um Buddhas Leben gebildet hatte. Die Überlieferung behauptet, dass einst eine Kobra mit ihrem breiten Kopf das Gesicht des schlafenden Buddhas gegen die glühenden Strahlen der Sonne schützte. Als Belohnung dafür soll der Kobra göttliche Gnade und ewiger Schutz versprochen worden sein. Dorian griff nach seinem Glas, und die Schlange wiegte den Kopf hin und her. »Eine Vampirin, die sich Schlangen hält«, sagte Dorian und trank einen Schluck. »Man lernt nie aus.« Lukretia lächelte und streichelte zärtlich den schuppigen Schlangenkörper. »Schlangen sind für mich die anmutigsten Tiere, die es gibt. Wollt ihr meine anderen sehen?« »Danke«, sagte Dorian, »mir reicht das eine Exemplar.« Doch Lukretia hörte nicht auf ihn. Sie stieß einen schrillen Pfiff aus. Unwillkürlich zuckten Dorian und Coco zurück. Aus einem Augenschlitz einer Maske kroch eine Harlekinschlange, eine Pamaschlange folgte. Aus einem hohen Krug erhob sich eine Klapperschlange. Aus welchem Winkel die grüne Mamba und die Riesenkorallenotter kamen, konnte Dorian nicht sehen. Sie waren plötzlich da, ringelten sich um Lukretias Arme und Beine, wanden sich um ihren Hals – die dreieckigen Schädel mit den langen Zungen umschmeichelten ihren Kopf. Dorian blickte Lukretia an. Die Vampirin wurde ihm immer unheimlicher. »Ich werde euch vermissen«, sagte Lukretia zu den Schlangen, »aber in ein paar Tagen bin ich wieder zurück.« Guido Sera trat ins Zimmer. Er sagte etwas zu Lukretia, das Dorian und Coco nicht verstanden. Die Vampirin nickte, und Guido zog sich zurück. »Euer Gepäck ist gekommen«, sagte Lukretia. »Guido bereitet für euch ein Zimmer im ersten Stock vor.« Dorian hatte wenig Lust, im Haus der Vampirin zu übernachten,
aber es blieb ihm keine andere Wahl. Er knöpfte sich unauffällig den obersten Knopf seines Hemdes auf und beugte sich vor, dabei kam die Abraxasgemme zum Vorschein, die er an einer Kette um den Hals trug. Lukretia sprang wütend auf. Ihr Gesicht verzerrte sich. »Lass das Amulett sofort verschwinden!«, fauchte sie. Die Farbe ihrer Augen änderte sich. Sie leuchteten jetzt dunkelrot. Die Schlangen bewegten sich unruhig. Dorian steckte die Gemme zurück und lächelte spöttisch. Er war zufrieden, das Amulett hatte auch bei Lukretia die erhoffte Reaktion ausgelöst. Er stand auf. »Wir gehen jetzt schlafen. Und ich hoffe, dass du es dir nicht einfallen lässt, uns einen Besuch abzustatten. Das würde dir schlecht bekommen, Lukretia.« Sie wandte sich ab. »Ihr könnt unbesorgt schlafen. Ich werde meinen Begierden nicht nachgeben.« Plötzlich tauchte Guido Sera wieder auf. Lukretia rief ihm etwas zu, und Guido nickte. »Guido zeigt euch das Zimmer«, sagte sie. »Gute Nacht«, meinte Dorian, ging an Lukretia vorbei und warf ihr einen raschen Blick zu. Ihr Gesicht war angespannt, die Augen hatte sie geschlossen. Der Dämonenkiller, gefolgt von Coco, stieg hinter Guido Sera die Stufen in den ersten Stock hinauf. Guido blieb vor einer Tür stehen und öffnete sie. Auf einem niedrigen Tischchen lagen ihre Koffer. Das Zimmer war eher spartanisch eingerichtet. Ein breites französisches Bett und ein einfacher Schrank. Guido verbeugte sich und schloss die Tür. Dorian untersuchte das Zimmer. Eine Tür führte in ein kleines Badezimmer. Er fand nichts Verdächtiges, doch er wollte kein Risiko eingehen. Er sicherte die Tür mit zwei Dämonenbannern. Ein Amulett befestigte er am Fenster, dann setzte er sich aufs Bett und zog seine Jacke aus. Er wartete, bis Coco aus dem Badezimmer gekommen war. Sie zog ein Nachthemd über und schlüpfte unter die Bettdecke. »Was hältst du von Lukretia?«, fragte er, während er sich wusch.
»Irgendwie finde ich sie faszinierend.« Dorian trocknete sich das Gesicht ab. Er schüttelte den Kopf. Da sprach wohl das schwarze Blut aus seiner Gefährtin. »Ich finde sie abscheulich.« Coco lachte. »Das sagst du nur, weil du weißt, dass sie eine Vampirin ist und der Schwarzen Familie angehört. Wüsstest du das nicht, dann würdest du anders über sie sprechen.« »Möglich.« Dorian kam aus dem Badezimmer, drehte das Licht aus und legte sich ins Bett. Er nahm sie in die Arme und küsste sie sanft auf die Lippen. Dorian war glücklich, dass sich Coco wieder an seiner Seite befand. Er hatte sie mehr vermisst, als er zugeben wollte. Sie schmiegte sich an ihn, und seine Hand glitt über ihren Bauch. Bald bin ich Vater, dachte er. Unwillkürlich lächelte er. Die Vorstellung, dass er Vater werden würde, hatte etwas Absonderliches an sich und machte alles noch schwieriger. Seine Gedanken irrten ab – er hatte sich mit Coco eingehend über ihre gemeinsame Zukunft unterhalten. Er würde sich von seiner Frau scheiden lassen. Lilian bedeutete ihm nichts mehr – und sie hatte einen anderen gefunden. Er wusste, dass sich Lilian Marvin Cohen zugewandt hatte. Aber das störte ihn nicht, ganz im Gegenteil, es hatte nur seine Entscheidung erleichtert. Er dachte an seine Freunde Jeff Parker, Trevor Sullivan und Marvin Cohen und fragte sich, ob die Drei sicher nach London gelangt waren. Er hatte es nicht gewagt, dort anzurufen, da er befürchtete, dass Olivaro dadurch erfahren würde, wo er sich aufhielt. »Entspanne dich, Dorian«, sagte Coco leise. »Du bist zu unruhig. Du quälst dich mit nutzlosen Gedanken.« Ihre Hände strichen durch sein Haar, kosten seinen Nacken und strichen über seine Schultern. Dorian schloss die Augen und gab sich ihren Zärtlichkeiten hin.
Der Dämonenkiller hatte tief und traumlos geschlafen. Als er die Augen aufschlug, war es hell im Zimmer. Er wandte den Kopf, das Bett neben ihm war leer, doch aus dem Badezimmer hörte er das
Wasser rauschen. Er blieb noch einige Minuten liegen und stand erst auf, als Coco aus dem Badezimmer kam. Eine halbe Stunde später verließen sie das Zimmer. Im Haus war es ruhig. Sie traten in das große Zimmer im Erdgeschoss. Lukretia nickte ihnen flüchtig zu. Sie saß am Tisch und trank Tee. »Guten Morgen«, sagte Dorian. Lukretia hatte ihr langes Haar aufgesteckt – heute schimmerte es tizianrot. Sie trug eine einfache weiße Bluse, unter der sich deutlich ihre Brüste abzeichneten, und eng anliegende giftgrüne Hosen. Dorian und Coco setzten sich, und wieder wunderte sich Dorian, dass er keine dämonische Ausstrahlung bemerkte. Lukretia sah wie ein ganz normaler Mensch aus, eine überaus attraktive Frau, in der niemand eine Dämonin vermutet hätte. »In zwei Stunden fliegen wir los«, sagte sie. »Bedient euch.« Dorian stellte Lukretia einige Fragen, auf die sie aber nicht antwortete. Sie trank noch eine Tasse Tee, rauchte eine Zigarette und sah zu, wie Coco und Dorian das üppige Frühstück genossen. Lukretia war noch immer kalt und abweisend, als sie mit ihrem cremefarbenen Cadillac zum Flughafen Don Muang fuhren, der dreißig Kilometer nördlich von der Stadt lag. Dorian hatte sich über einen Bassgeigenkasten gewundert. Auf seine Frage hatte Lukretia gesagt, dass sich Guido Sera darin befand. Da er das Tageslicht nicht vertrug, beförderte sie ihn immer auf diese Weise. Die Zollabfertigung brachten sie ohne Schwierigkeiten hinter sich, wobei Lukretia von ihren magischen Künsten Gebrauch machte. Sie gingen an Bord, und eine hübsche Stewardess führte sie zu ihren reservierten Sitzen. Sie setzten sich und schnallten sich fest. Dorian saß zwischen Coco, die den Fenstersitz hatte, und Lukretia. Die Nähe der Vampirin war Dorian unangenehm. »Wir werden in Kalkutta zwischenlanden«, erklärte Lukretia. Dorian blickte sich aufmerksam um. Das Flugzeug war überraschend gut besetzt. Kaum ein Platz war frei. Die Maschine rollte an. Die üblichen endlosen Floskeln waren zu hören, die Begrüßungsworte, die bei jeder Fluggesellschaft gleich verlogen klangen, die Be-
lehrungen über Notausgänge und Sauerstoffmasken. Das alles hatten Dorian und Coco schon unzählige Male gehört. Dorian fragte sich, wie viele Stunden seines Lebens er wohl schon in Flugzeugen verbracht hatte. Die Maschine erreichte die Startbahn, wurde schneller, und deutlich war das Geräusch des sich einziehenden Fahrwerks zu hören. Sie gewannen rasch an Höhe, durften sich schließlich losschnallen, ertrugen die Begrüßung des Flugkapitäns und seinen ersten Bericht über den Flugverlauf. Alles Routine, dachte Dorian. Doch seine Nerven waren angespannt. Äußerlich versuchte er ruhig zu wirken, doch innerlich war er es nicht. Er wusste nicht, ob sich nicht einer von Olivaros Verbündeten an Bord befand. Er wusste nicht einmal, ob er Lukretia trauen durfte. Während eines Flugs konnte alles Mögliche geschehen. Olivaro hätte eine Bombe an Bord schmuggeln lassen können, für einen Dämon eine Kleinigkeit. Und Lukretia wollte ihm gar nicht gefallen. Sie schien ihre Aufgabe, Coco und ihn sicher nach London zu bringen, sehr leicht zu nehmen. Sie musterte einen jungen Inder, der den Ecksitz auf der anderen Seite inne hatte. Lukretias Blick sprach Bände. Sie bewegte sich unruhig hin und her und der Inder sah sie immer wieder an. »Ich warne dich, Lukretia«, sagte Dorian leise. »Lass den Jungen in Ruhe.« »Du hast mir keine Vorschriften zu machen«, antwortete die Vampirin wütend. Sie lehnte sich aber zurück und beachtete den Inder nicht mehr. Bei einer auffallend hübschen Stewardess bestellte Dorian einen Drink. Coco und Lukretia wollten nichts zu sich nehmen. Der Blick, den Lukretia und die Stewardess miteinander gewechselt hatten, erregte Dorians Aufmerksamkeit. Sicher wollte Lukretia ihrer Gier nach Blut nachgehen, und dabei war es ihr gleichgültig, ob sie einem Mann oder einer Frau das Blut aussaugte. Ihre magischen Fähigkeiten machten es ihr leicht, einen Menschen ganz nach ihren Wünschen zu beeinflussen. Dorian beschloss, die Vampirin nicht einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Er bekam seinen Drink, und die Stewardess sah Lukretia mit einem einladenden Blick an. Ihr
Röckchen wippte aufreizend, als sie in Richtung Bordküche ging. Lukretia wollte aufstehen, doch Dorian packte sie am rechten Arm und zog sie zurück auf den Sitz. »Das lässt du hübsch bleiben.« Lukretias Blick verschleierte sich. Ihre Augen weiteten sich, und Dorian spürte, wie er schläfrig wurde. Da bekam er einen Stoß in den Rücken, Coco hatte rechtzeitig eingegriffen. »Versuch das nicht noch einmal«, sagte der Dämonenkiller, »sonst hole ich mein Amulett hervor und …« Lukretia wandte den Kopf ab und presste wütend die Lippen zusammen. Üblicherweise schlief sie sonst den ganzen Tag lang und suchte sich erst nachts ihre Opfer. Sie liebte das Tageslicht nicht, obwohl es ihr als echter Dämonin nichts anhaben konnte. Aber es schwächte sie und ließ ihre Gier nach warmem Blut übermächtig werden. Sie konnte sich, wenn sie es wollte, in eine Fledermaus verwandeln, aber sie musste es nicht tun, wenn sie nach Blut gierte. Sie konnte ihre Menschengestalt beibehalten, was sie meist tat, da sie es genoss, ihre Schönheit auf ihre Opfer wirken zu lassen. Ihre Wut auf Dorian steigerte sich. Warte nur, dachte sie, einmal erwische ich dich auch noch. »Erinnere dich an deinen Auftrag, Lukretia!«, sagte der Dämonenkiller, »du sollst uns sicher nach London bringen. Vergiss das nicht!« »Ich vergesse es nicht«, flüsterte Lukretia. Aber ihr Verlangen nach dem jungen hübschen Inder dauerte an. Und die Stewardess reizte sie ganz besonders. Vielleicht ergab sich doch noch eine Möglichkeit, ihre Begierde zu stillen. Coco schloss die Augen und entspannte sich. Sie versuchte sich in Trance zu versetzen. Sie wollte wissen, ob es ihr heute gelang, einen Teil ihrer magischen Kräfte zu mobilisieren, doch wie in den vergangenen Tagen blieb ihr Bemühen erfolglos. »Pass auf Lukretia auf«, sagte Dorian leise zu Coco. »Ich sehe mich um, ob ich etwas Verdächtiges entdecke.« Coco nickte ihm zu, und Dorian stand auf. »Ich geh mal wo hin.« Dorian holte sein Amulett hervor. Der Reihe nach musterte er die hinter ihnen sitzenden Passagiere, doch keiner schenkte ihm mehr
als einen flüchtigen Blick. Er ging langsam den Gang entlang, bis er die Toilette erreicht hatte, betrat sie, wusch sich die Hände, wartete einige Minuten und kehrte zu seinem Sitz zurück. Die Passagiere waren der übliche, bunt zusammengewürfelte Haufen, fast alles Geschäftsleute. Der Dämonenkiller setzte sich. Die Stewardessen hatten begonnen, das Mittagessen zu servieren. Coco und Lukretia aßen nichts, und Dorian ließ das Essen nach ein paar Bissen stehen. Sie landeten in Kalkutta, wo sie eine halbe Stunde Aufenthalt hatten. Einige Reisende stiegen aus. Dorian beobachtete die Passagiere, die jetzt zustiegen, doch es fiel ihm an keinem etwas auf. Das Flugzeug hob ab, und die Drei schwiegen. Nachdem sie etwa fünfzehn Minuten unterwegs waren, stand Lukretia auf. Dorian blickte ihr nach. Sie öffnete eine der drei Toilettentüren und zog die Tür hinter sich zu. Der Dämonenkiller wandte den Kopf und sah Coco an. »Irgendetwas stimmt nicht«, sagte sie rasch. »Ich spüre es. Ich weiß nicht …« Sie brach ab und richtete sich auf. »Merkst du es nicht, Dorian?« Er fühlte sich plötzlich schläfrig. Er schloss die Lider halb, kämpfte gegen die Müdigkeit an und riss die Augen auf. Sein Blick fiel auf die Passagiere. Alle schienen zu schlafen. Dorian sprang auf. »Ich spüre, dass etwas mit Lukretia geschieht«, sagte Coco. Der Dämonenkiller trat in den Gang und lief an den schlafenden Passagieren vorbei in Richtung der Toiletten. Noch immer musste er gegen die magische Schläfrigkeit ankämpfen. Hoffentlich ist der Pilot nicht auch eingeschlafen, schoss es ihm durch den Kopf, dann hatte er die Toilettentür erreicht. Die beiden anderen Toiletten waren unbesetzt. Dorian riss an der Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Er hörte einen lauten Schrei, der gurgelnd abbrach. »Lukretia!« Dorian riss stärker an der Tür. Er warf sich dagegen, doch sie ging nicht auf. Coco war ihm gefolgt und blieb neben ihm stehen. »Sie ist in Lebensgefahr – ich spüre es. Wir müssen die Tür aufbrechen.« »Das ist leicht gesagt.« Dorian warf sich wieder gegen die Tür. Er
prallte zurück, doch er hatte nichts erreicht. Wieder war ein gurgelndes Geräusch zu hören, in das sich ein Zischen mischte. Dorian und Coco hatten nicht bemerkt, dass sich ein Mann genähert hatte. »Lassen Sie mich mal ran!«, sagte der Mann. Dorian warf ihm einen überraschten Blick zu. Der Mann trug einen gut sitzenden blassblauen Anzug. Sein schwarzes Haar lag eng am Kopf und war streng nach hinten gekämmt. Sein Teint war olivfarben. Das einzig auffallende an dem Unbekannten waren die seltsamen Stulpenhandschuhe aus Rehleder. Der Mann lächelte schwach, hob beide Hände und bewegte sie blitzschnell. Die Tür sprang mit einem lauten Knall auf und glitt wie von unsichtbaren Händen bewegt zurück. Gestank drang aus der Toilette. Lukretia lehnte an der Wand. Ihr Gesicht war angstvoll verzerrt. Mit beiden Händen wehrte sie die hübsche Stewardess ab, die dabei war, sich zu verwandeln. Sie hatte sich in die Toilette geschlichen, ohne von Dorian bemerkt zu werden. Lukretia hatte eine magische Spange im Mund, die verhinderte, dass sie sich in eine Fledermaus verwandeln konnte, außerdem konnte sie ihre Vampirzähne nicht gebrauchen. Sie war der Stewardess hilflos ausgeliefert. Bevor Dorian und Coco etwas unternehmen konnten, handelte der Mann mit den Stulpenhandschuhen. Die Stewardess hatte ihre Verwandlung noch nicht ganz abgeschlossen. Ihr Gesicht war eingefallen, graue Hautfetzen bedeckten die Wangen, die Haare waren stumpf und farblos geworden. Die Lippen hatte sie weit zurückgezogen und entblößte spitze, gebogene Zähne. Die Augen lagen tief in den Höhlen und glänzten rotgelb. »Die Stewardess ist ein Ghoul!«, rief Dorian entsetzt. Nur wenige Augenblicke noch, und der Leichenfresser hatte seine Verwandlung vollendet. Der Körper schwoll wie ein Luftballon an. Die Beine wurden halb durchsichtig, grünlicher Schleim tropfte über die Lippen und fiel auf die Uniformbluse. Der Mann sprang auf den Ghoul zu, seine Hände griffen zu. Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Von den Stulpenhandschuhen flos-
sen Strahlen, die den Leib des Monsters einhüllten. Dorian schloss geblendet die Augen, öffnete sie aber wieder zu schmalen Schlitzen. Ein magisches Feuer hatte die Stewardess erfasst. Sie verwandelte sich in ein menschliches Wesen zurück, aber nur für wenige Sekunden. Dann löste sich der Körper auf, fiel zusammen, verbrannte mit der Uniform. Der Mann mit den Stulpenhandschuhen bewegte die Hände leicht, die Asche schwebte durch die Luft, sammelte sich und bildete eine Kugel, die er in die Klosettmuschel warf. Lukretia hatte die Vorgänge nicht bemerkt. Sie stand wie eine Statue mit geschlossenen Augen da. »Wer sind Sie?«, fragte Dorian den Fremden. Der Mann drehte ihm das Gesicht zu und legte einen Finger auf den Mund. »Kümmern Sie sich um Ihre Gefährtin. Sie soll in Zukunft Ihre Gelüste besser zügeln.« Dann ging er an Dorian vorbei. »Warten Sie!«, rief ihm der Dämonenkiller zu. »Ich habe einige Fragen.« »Das kann ich mir denken«, entgegnete der Mann. »Ich darf Ihnen aber nicht antworten. Noch nicht.« Er winkte Dorian zu und trat in den Gang. Dorian wollte ihm folgen, überlegte es sich aber. Zuerst musste er sich um Lukretia kümmern. Er griff nach ihrem Kinn und hob es hoch. Mit der rechten Hand riss er die magische Spange aus ihrem Mund, und die Erstarrung der Vampirin löste sich. Lukretia blickte Dorian verwundert an. »Jetzt reicht es mir endgültig«, schrie Dorian. »Kannst du dich nicht daran erinnern, was du getan hast?« »Nur undeutlich«, sagte sie verwirrt. »Ich konzentrierte mich auf die hübsche Stewardess und befahl ihr …« Dorian hatte beschlossen, Lukretia nicht vom Eingreifen des unbekannten Mannes zu erzählen. »Kennst du das?«, fragte Dorian und hielt Lukretia die magische Mundklammer hin. Die Vampirin zuckte zurück. Angst lag in ihren Augen.
»Ich erinnere mich«, sagte sie leise. »Ich lockte das Mädchen in die Toilette. Ich wollte sie … Als ich mich über sie beugte, griff sie in die Tasche und drückte mir die Spange gegen den Mund. Ich war so überrascht, dass ich nicht reagieren konnte. Ich wehrte mich, doch dann kann ich mich an nichts mehr erinnern.« »Und weißt du auch, wer die Stewardess war?« »Ein Ghoul«, flüsterte Lukretia. »Ich verstehe nicht, dass ich das nicht gemerkt habe. Ich erkenne sonst immer einen Ghoul sofort, doch diesmal …« Dorian wandte sich ab. Er wollte mit dem Unbekannten sprechen. Als er den Gang absuchte, sah er, dass die Passagiere noch immer alle schliefen. Er blickte sich um, doch nirgends konnte er den Mann sehen. Das gibt es doch nicht, dachte er. Nachdenklich blieb er stehen. Es war natürlich denkbar, dass der Mann über die Fähigkeit verfügte, sein Aussehen zu ändern. Aber dann musste es sich um einen mächtigen Dämon handeln. Es blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er musste sich jeden einzelnen Fluggast vornehmen und ihn mit seinem Amulett berühren. Doch dazu kam es nicht, denn in diesem Augenblick erwachten die Passagiere, und damit fiel Dorians Plan ins Wasser. Zähneknirschend kehrte er zu seinem Platz zurück und setzte sich zwischen Coco und Lukretia, die schuldbewusst drein sah. »Du bist mir vielleicht eine schöne Hilfe«, sagte Dorian verächtlich, »aber was kann man schon von einer …« Das Wort Vampirin unterdrückte er, da eben die Stewardess vorbeiging. Das Verschwinden der Ghoul-Stewardess musste jeden Augenblick bemerkt werden. Doch nichts geschah. Dorian dachte nach. Immer wieder fragte er sich, wer wohl der Unbekannte war. Nachdem er eingegriffen hatte, lag die Vermutung nahe, dass er auf Dorians Seite stand. Vielleicht hatten die Oppositionsdämonen ihn ohne Lukretias Wissen mit seinem Schutz beauftragt. Nach einigen Minuten gab er es auf. Er war auf Vermutungen angewiesen, die ihm nicht weiterhalfen. Die Maschine setzte zur Landung an, und sie stiegen aus. Dorian
und Coco sahen sich genau um, doch von dem Unbekannten sahen sie keine Spur. Er war verschwunden. Lukretia hatte für sie Zimmer im Oberoi Sheraton, einem vierunddreißigstöckigen Luxushotel, bestellt. Die Fahrt vom Flughafen zum Hotel verlief ohne Zwischenfälle. Dorian und Coco konnten sich nicht satt sehen, für einige Zeit vergaßen sie all ihre Sorgen. Bombay ist Indiens bedeutendste Hafenstadt, sie ist als Gateway of India – Tor zu Indien – bekannt. Eine eindrucksvolle Stadt, die von unzähligen Hügeln umgeben ist. Hier finden sich alle Volksgruppen des Riesenlandes zusammen. Jede hält an ihren Sitten und Gebräuchen und an ihrer traditionellen Kleidung fest, was ein buntes Bild ergibt. Das Hotel lag im südlichen Teil des Stadtviertels Marine Drive. Hier war ein modernes Hotel- und Geschäftszentrum entstanden. Das Oberoi Sheraton war eine kleine Stadt für sich. Es gab sieben Restaurants, drei Bars, einen Nachtklub, ein Schwimmbad, ein drehbares Terrassengeschoss, und in vier Stockwerken des Wolkenkratzers waren mehr als zweihundert Läden untergebracht. Dorian wäre es lieber gewesen, wenn Lukretia in einem kleineren Hotel Zimmer bestellt hätte. Sie hatten nebeneinanderliegende Zimmer im zwanzigsten Stockwerk. »Jetzt wird es Zeit, dass wir uns unterhalten«, sagte Dorian. »In einer halben Stunde«, sagte Lukretia. »Ich muss mich um Guido kümmern.« Dorian warf dem Bassgeigenkasten einen misstrauischen Blick zu. »Okay«, stimmte er zu und ging zu Coco ins Zimmer. »Lukretia kommt in einer halben Stunde.« »Ich dusche mich rasch«, meinte Coco, schlüpfte aus ihrem Kleid und verschwand ins Badezimmer. Dorian unterzog die Minibar einer Prüfung. Sie war gut gefüllt. Er nahm sich eine Cola, stellte sich ans Fenster und blickte über die Back Bay. Er trank in kleinen Schlucken, rauchte eine Zigarette und dachte nach. Er beschloss, Lukretia gegenüber nichts vom Eingreifen des Unbekannten zu erwähnen. Coco trat aus dem Badezimmer. Sie trug einen flauschigen Bademantel und setzte sich auf einen Stuhl. »Willst du etwas trinken, Coco?«
»Nein, danke«, lächelte sie. »Ich bin müde. Ich halte nichts mehr aus.« »Das ist bei deinem Zustand auch kein Wunder«, sagte Dorian und setzte sich neben sie. Coco beugte sich vor. »Mir geht der Zwischenfall aus dem Flugzeug nicht aus dem Kopf«, meinte sie nachdenklich. »Ich würde nur zu gern wissen, wer der Mann ist.« »Mir geht es nicht anders.« »Wir müssen auf alle Fälle vorsichtig sein. Lukretia scheint mir nicht die ideale Verbündete zu sein. Sie lässt sich zu sehr von ihren dämonischen Neigungen treiben. Ich fürchte, wir werden noch Schwierigkeiten mit ihr bekommen.« Dorian nickte und stand auf, als an der Tür geklopft wurde. Lukretia trat ein. Sie hatte sich nicht umgezogen, aber sie wirkte wie neugeboren. Dorian vermutete, dass sie sich ihrem Gefährten gewidmet hatte und ihm etwas Blut ausgesaugt hatte. Dorian war die Gegenwart der Vampirin fast unerträglich. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte er. Lukretia setzte sich. »Ich besorge uns ein Schiff.« »Unser Bedarf an Schiffsreisen ist für die nächsten Jahre gedeckt«, sagte Dorian grimmig. »Es gibt aber keine andere Möglichkeit«, stellte Lukretia fest. »Ich habe eine vorgeschriebene Route erhalten. Die Reise geht per Schiff weiter.« »Da dauert es Wochen, bis wir endlich in London sind«, warf Coco ein. Lukretia schüttelte den Kopf. »Wir fahren nach Aden. Und von dort aus … Das wird sich dann herausstellen.« Nach ihrem Abenteuer mit Tangaroa hatte Dorian wenig Lust auf eine Schiffsfahrt. »Es steht euch aber frei, eine andere Route einzuschlagen«, sagte Lukretia spitz, »dann braucht ihr aber nicht mit meiner Hilfe zu rechnen.« Dorian musterte die Vampirin. Er hatte gute Lust, die Reise auf eigene Faust fortzusetzen. Lukretia erschien ihm immer weniger ge-
eignet für ihre Aufgabe. »Nun – was ist?«, fragte Lukretia schließlich, als Dorian und Coco schwiegen. »Es bleibt uns wohl keine andere Möglichkeit, als zuzustimmen«, meinte Coco. »Gut. Ich besorge ein Boot. Irgendeine Jacht. Mit einem Linienschiff ist es zu gefährlich.« Sie stand auf. »Ich gebe euch Bescheid, sobald ich ein Boot gefunden habe. Verlasst das Zimmer nicht! Ich weiß nicht, was Olivaro vorhat. Und nach dem Zwischenfall im Flugzeug fürchte ich, dass er sich noch immer auf unserer Spur befindet.« »Das fürchte ich auch«, sagte Coco leise. Die Vampirin öffnete die Tür und trat in den Korridor. Dorian sperrte hinter ihr zu. Er hatte das Essen aufs Zimmer bringen lassen. Der Kellner holte den Servierwagen ab. Dorian warf einen Blick auf den Korridor und wollte die Tür schließen, als er einen schwarzgekleideten Mann sah. Seine Gesichtszüge wirkten seltsam angespannt. Der Dämonenkiller zögerte einen Augenblick und schloss die Tür bis auf einen schmalen Spalt. »Was ist, Dorian?«, fragte Coco. Er winkte ungeduldig Coco heran. Sie blieb neben ihm stehen und blickte neugierig in den Gang. Der schwarzgekleidete Mann blieb gegenüber ihrem Zimmer stehen, sperrte die Tür auf und trat zur Seite. Vier Inder kamen langsam näher. Sie trugen einen schwarzen Sarg. »Was geht da vor?«, fragte Coco leise. »Das würde mich auch interessieren.« Die Inder trugen den Sarg in das Zimmer, stellten ihn ab und gingen zum Ausgang zurück. Kurz danach brachten sie einen weiteren Sarg in den Raum. Der schwarzgekleidete Mann stellte sich zwischen die Särge. Da ist doch etwas faul, dachte Dorian. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Hotelleitung die Erlaubnis erteilte, in einem ihrer Zimmer zwei Särge unterzubringen. »Ich frage mal den Mann«, sagte Dorian.
»Bleib lieber hier, Dorian. Vielleicht ist es eine Falle!« »Das vermute ich. Ich will mir Gewissheit verschaffen.« Dorian trat auf den Korridor. »Guten Tag«, sagte er laut. Der schwarzgekleidete Mann hob den Kopf. Er blickte den Dämonenkiller finster an. »Was wollen Sie von mir?« »Würden Sie mir sagen, was die beiden Särge zu bedeuten haben?« »Das geht Sie nichts an«, antwortete der Mann schroff. Dorian trat auf ihn zu. »Es ist doch seltsam, dass zwei Särge in ein Hotelzimmer gebracht werden.« »Verschwinden Sie!« Doch der Dämonenkiller ließ sich nicht abschütteln. »Wer liegt in den Särgen?« Die Stirnadern des Mannes schwollen an. Seine Lippen bebten. »Mein Sohn und seine Frau«, sagte er leise. »Ich habe mit der Hotelleitung ein Abkommen getroffen. Ich will die Särge nicht aus den Augen lassen.« Vielleicht trafen die Angaben des Mannes zu, obwohl es Dorian unwahrscheinlich vorkam, dass die Hotelverwaltung einem so ungewöhnlichen Wunsch nachgekommen war. »Ich weiß, dass es ungewöhnlich ist. Und ich muss mich für mein schlechtes Benehmen entschuldigen.« Der Mann lächelte schwach. »Mein Name ist Buanarotti. Mein Sohn Carlo und seine Frau Maria starben gestern bei einem Autounfall. Ich kam wie durch ein Wunder unverletzt davon und habe mich noch immer nicht von diesem Schock erholt. Die Särge bleiben nur diese Nacht im Hotel, morgen lasse ich sie nach Italien bringen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Buanarotti schloss schnell die Tür und sperrte sie ab. Der Dämonenkiller rieb sich nachdenklich das Kinn. Wieder im Zimmer schenkte er sich einen Bourbon ein und ging unruhig im Zimmer auf und ab. »Was hältst du davon, Coco?« Die junge Frau überlegte kurz, dann blickte sie ihren Gefährten an. »Ich glaube nicht an so viele Zufälle. Gestern stirbt ein Ehepaar bei
einem Autounfall. Die Särge werden in dem Hotel untergebracht, in dem wir wohnen … noch dazu im gegenüberliegenden Zimmer.« »Du vermutest, dass Buanarotti gelogen hat?« »Nein«, antwortete Coco. »Ich bin sicher, dass er die Wahrheit gesagt hat. Aber für einen Dämon wäre es doch nicht schwierig, ihn und die Hotelleitung zu beeinflussen.« »Aber was hat das alles für einen Sinn?« »Das überlege ich gerade. Nehmen wir einmal an, dass Olivaro hinter dem Tod des Paares steckt. Weshalb hätte er sie töten sollen – und weshalb lässt er die Särge ins Hotel schaffen? Vielleicht will er die Toten beleben und sie auf uns hetzen?« »Das wäre eine Möglichkeit. Aber dazu ist das alles viel zu umständlich. Olivaro hat ganz andere Möglichkeiten.« »Vielleicht soll es nur eine Warnung sein. Bei Olivaro kennt man sich nie aus. Er liebt teuflische Scherze. Aber er unternimmt nichts ohne Grund … Telefoniere mit der Hotelleitung, Dorian!« Er ließ sich mit dem Hotelmanager verbinden und beschwerte sich, dass im gegenüberliegenden Zimmer zwei Särge untergebracht worden waren. Der Manager entschuldigte sich. Dorian verlangte andere Zimmer, doch dies war angeblich nicht möglich, da alle Zimmer im Hotel belegt seien. Als Dorian mit dem Manager persönlich sprechen wollte, lehnte dieser ab. Der Dämonenkiller legte den Hörer auf und runzelte die Stirn. »Das Hotel hat neunhundert Betten. Außerdem ist der Monat keine beliebte Reisezeit für Indien. Ich kann es einfach nicht glauben, dass kein Zimmer frei sein soll. Das Verhalten des Managers kommt mir seltsam vor. Seine Weigerung mich zu empfangen, ist in einem Luxushotel nicht üblich. Ich bin sicher, dass er von einem Dämon beeinflusst wurde.« »Da stimme ich mit dir überein«, sagte Coco. »Ich werde mich mit Lukretia darüber unterhalten.« Doch auf sein Klopfen an Lukretias Zimmertür erhielt er keine Antwort. Er kehrte zu Coco zurück und öffnete das Fenster. »Ich schlage vor, dass wir ausziehen. Mir will das alles nicht gefallen. Da geht irgendetwas Teuflisches vor, und wir haben keine Ahnung,
was es ist. Außerdem habe ich keine Waffen, außer der Pistole, die aber gegen Untote nicht hilft.« »Wir müssen warten, bis Lukretia zurück ist«, warf Coco ein. Dorian nickte. »Ich muss mir Waffen besorgen. Einen Dolch oder ein Schwert.« Er griff nach dem Prospekt auf dem Nachttisch und blätterte ihn durch. Er enthielt Informationen über das Hotel und die darin befindlichen Geschäfte. »Ich brauche das Hotel nicht zu verlassen. Hier finde ich alles, was ich benötige. Ich bin gleich wieder zurück.« Er stand auf. Als er die Tür öffnete, zögerte er einen Augenblick lang. Er wollte Coco nicht allein lassen. »Zieh dich an, Coco! Du kommst mit.« »Unsinn!« »Du kommst mit«, wiederholte Dorian. Er wartete, bis sich Coco angezogen hatte und ihm folgte. Dann sperrte er das Zimmer ab. Leise ging er zur gegenüberliegenden Tür und drückte das rechte Ohr dagegen, doch er hörte nichts. Sie gingen zum Aufzug. »Es wäre besser gewesen, wenn ich im Zimmer geblieben wäre. In der Zwischenzeit kann sich jemand hineinschleichen und …« »Das ist möglich«, sagte Dorian. »Aber ich habe keine ruhige Minute, wenn ich dich allein weiß.« »Du tust gerade so, als sei ich ein kleines Kind«, entgegnete Coco. »Du hast deine Fähigkeiten verloren. Und in deinem Zustand kannst du nicht kämpfen.« Kurz danach hatten sie einen Laden gefunden, in dem neben Souvenirs auch kunstvoll verzierte Dolche verkauft wurden. Dorian wählte zwei gleiche Dolche aus, die etwa zwanzig Zentimeter lange Klingen hatten. Er zahlte, nahm die Dolche an sich, und sie verließen das Geschäft. Vor ihrem Zimmer blieben sie kurz stehen. Dorian öffnete die Tür, knipste das Licht an und blickte ins Zimmer. Nichts Verdächtiges war zu sehen. Er trat ein, ließ Coco an sich vorbei und sperrte die Tür ab. Er öffnete den Karton, in dem sich die beiden Dolche befanden. »Jetzt fühle ich mich etwas wohler«, sagte er zufrieden und nahm
die Dolche in die Hände. Sie waren ziemlich schwer und lagen gut in der Hand. Er setzte sich. Plötzlich zuckte er zusammen. Ihm war, als habe er einen elektrischen Schlag bekommen. Er wollte den Dolch, den er in der linken Hand hielt, auf den Tisch legen, doch es gelang ihm nicht. Der Dolch war in seiner Handfläche wie festgeklebt. Wieder erhielt er einen Schlag. Um seine Hände breitete sich ein blaues Licht aus. Eine unheimliche Kraft schien von den Dolchen in seinen Körper zu fließen. Seine Hände wurden ruckartig hochgerissen. Er versuchte die Dolche fortzuschleudern, doch sie hafteten an seinen Händen. »Die Dolche machen mit mir, was sie wollen«, stieß er keuchend hervor. Coco sprang auf. Entsetzt sah sie, wie sich Dorian langsam aus seinem Stuhl erhob. Die Dolche schienen ihn durch das Zimmer zu zerren. Seine rechte Hand bewegte sich auf Coco zu, die sich mit einem raschen Sprung in Sicherheit bringen konnte. »Flieh aus dem Zimmer!«, schrie Dorian. »Rasch!« Coco drückte sich gegen die Wand, und Dorian streckte beide Arme von sich. Er versperrte ihr den Weg zur Tür. »Ich spüre, wie die Kraft immer stärker wird, die von den Dolchen ausgeht. Flieh, Coco!« »Ich kann nicht an dir vorbei!« Dorian war nicht mehr Herr seiner Sinne. Eine unheimliche Kraft hatte sich seines Körpers bemächtigt. Er war zu einem Werkzeug eines Dämons geworden. Seine Hände bewegten sich blitzschnell. Coco duckte sich und hechtete über den Boden. Die Dolche schlugen gegen die Wand, rutschten ab, entfielen aber Dorians Händen nicht. Er ging wieder auf Coco los, die im Zimmer hin und her lief. Sie packte einen Stuhl und schleuderte ihn Dorian entgegen, der leicht taumelte, ihr aber sofort nachrannte. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, er stand ganz im Bann der unheimlichen Macht. Der Dämonenkiller nahm nichts wahr. Er handelte wie eine willenlose Marionette, setzte Coco nach und versuchte sie zu töten. Coco ließ Dorian nicht aus den Augen. Immer wieder versuchte er, sie mit den Dolchen zu erreichen, doch seine Bewegungen waren zu
unkontrolliert, zu heftig. Er reagierte immer einen Augenblick zu spät. Stach er zu, dann war sie schon einen Schritt aus seiner Reichweite. Coco kam langsam außer Atem. Die Stühle waren umgefallen, das Bett verrutscht, die Koffer lagen auf dem Boden, und überall waren Kleidungsstücke verstreut. Sie stand in einer Ecke des Zimmers, knapp neben dem Fenster, das weit offen stand. Dorian schlich geduckt auf sie zu und versuchte, auf sie einzustechen. Wieder konnte sie sich unter seinen weit ausgestreckten Armen ducken und ihm entkommen. Coco war ruhig. Sie registrierte jede Bewegung des Dämonenkillers. Je länger sie ihm zusah, umso stärker wurde ihre Vermutung: Der Dämon, in dessen Bann er stand, hatte nicht die Absicht, sie zu töten. Hätte er es wirklich geplant, dann würde Dorian sich anders verhalten. Es war lediglich ein Katz-und-Maus-Spiel. Trotzdem musste sie vorsichtig sein. Sie könnte zufällig getroffen werden. Und dann trat das ein, womit sie gerechnet hatte. Ein lautes Fauchen war zu hören, und eine dunkle Gestalt landete auf dem Fensterbrett. Es war Lukretia in der Gestalt einer riesigen Fledermaus. In ihren Armen hielt sie Guido Sera, den sie ins Zimmer stieß. Lukretia streckte die Hände aus und packte Coco an den Schultern. Das Rauschen der riesigen Fledermausflügel wurde lauter. Lukretia stieß sich vom Fensterbrett ab und riss Coco mit sich, die sich nicht wehrte. Dorian war noch immer wie von Sinnen. Er ging sofort auf Guido Sera los, und diesmal waren seine Bewegungen viel besser koordiniert. Die Dolche zuckten durch die Luft. Guido Sera blieb ruhig stehen. Er hatte vor den Dolchen keine Angst, denn als Untoter konnte er nur getötet werden, wenn man ihm einen Holzpfahl in die Brust schlug … oder der Gegner musste über gewaltige magische Kräfte verfügen. Der Dämonenkiller hatte gut getroffen. Die Dolche bohrten sich tief in die Brust Guido Seras, dessen Körper sich kurz aufbäumte und dann erstarrte. Einen Augenblick lang war der Körper des Vampirdieners in blaues Licht getaucht. Der magische Zauber fiel
von Dorian ab. Er sprang einen Schritt zurück. Die Dolche blieben in Seras Brust stecken. Das blaue Licht erlosch, und Sera konnte sich bewegen. Er griff nach den Dolchen in seiner Brust und riss sie heraus. Die Wunden schlossen sich sofort. Sera beugte sich aus dem Fenster und schleuderte die Dolche in die Dunkelheit hinaus. Dorian blieb schwer atmend stehen, schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. »Wie kommst du hierher?«, fragte er verwundert. Dann sah er sich um. »Wo ist Coco?« Er riss die Badezimmertür auf und blickte hinein. »Sie ist bei Lukretia«, erklärte Sera in schlechtem Englisch. Dorian konnte sich nur undeutlich an die Geschehnisse erinnern. Er wusste, dass die Dolche von seinem Körper Besitz ergriffen hatten und das er auf seine Gefährtin losgegangen war. Er stürzte zur Tür, drehte den Schlüssel herum und lief den Gang entlang. Die Tür zu Lukretias Zimmer stand offen. Er trat hinein und lächelte schwach, als er Coco und die Vampirin sah. Guido Sera war ihm gefolgt. »Ich habe Coco gerettet«, sagte Lukretia. »Danke«, sagte der Dämonenkiller. Er griff nach den Zigaretten, die auf dem Tisch lagen, und steckte sich eine an. Er fühlte sich wie ein ausgedrückter Schwamm. Jeder Gedanke fiel ihm schwer. Dorian ließ sich in einen Stuhl fallen und schloss die Augen. Die Zigarette entfiel seiner Hand, er bückte sich und hob sie auf. Seine Finger zitterten immer stärker. Er schreckte hoch, als er Cocos Stimme hörte. »Jetzt will ich endlich wissen, was gespielt wird«, sagte Coco scharf. »Was meinst du?«, fragte Lukretia mit unschuldiger Miene. »Es stimmt einiges nicht.« »Erkläre mir das näher!« Coco blickte die Vampirin misstrauisch an. »Gestern hast du uns in letzter Minute aus den Händen der sechs Männer gerettet. Im Flugzeug mussten wir dir helfen. Und heute tauchst du gerade im richtigen Augenblick auf, um mich vor Dorian zu retten.«
»Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinaus willst, Coco.« »Ich glaube nicht an solche Zufälle!« Lukretia überlegte einige Sekunden, dann nickte sie langsam. »Du hast Recht, Coco. Das können keine Zufälle sein. Gestern bekam ich den Bescheid euch zu helfen, und ich kam gerade rechtzeitig, um euch aus den Klauen der sechs Männer zu befreien. Und heute? Ich flog zum Jachthafen, und es gelang mir, ein Boot zu besorgen, mit dem wir morgen in See stechen werden. Ich kehrte mit Guido zum Hotel zurück, wollte gerade in mein Zimmer fliegen, als ich merkte, dass etwas Ungewöhnliches in eurem Zimmer geschah. Ich landete auf dem Fensterbrett und sah, wie Dorian mit zwei Dolchen auf dich losging. Wäre ich ein paar Minuten später gekommen, dann hätte Dorian dich …« »Das stimmt eben nicht«, unterbrach sie Coco. »Wir kauften die Dolche hier im Hotel. Und zwar nur, weil im gegenüberliegenden Zimmer zwei Särge aufgebahrt sind. Während Dorian mit den Dolchen auf mich losging, hatte ich den Eindruck, als würde der Dämon, der Gewalt über ihn gewonnen hatte, gar nicht wollen, dass er mich tötet. Um es ganz ehrlich zu sagen: Ich erwartete jeden Augenblick, dass du auftauchen würdest.« »Jemand spielt mit uns«, sagte Lukretia leise. »Das ist auch meine Meinung«, stellte Coco fest. »Gestern wäre es für Olivaro – oder dem von ihm beauftragten Dämon – ein Leichtes gewesen, Dorians Beschwörung zu verhindern. Die sechs Männer tauchten erst nach der Beschwörung auf. Im Flugzeug hättest du leicht getötet werden können. Und auch wir. Und jetzt? Da erst recht. Dorian hätte mich töten können, doch er tat es nicht. Er stach auf mich ein, traf mich aber nicht. Und dann erlosch der Spuk plötzlich. Ich frage mich, was das alles soll.« »Irgendjemand versucht, unsere Fähigkeiten zu testen«, meinte Lukretia. »Und dieser Unbekannte muss eine ziemlich geringe Meinung von unseren Fähigkeiten gewonnen haben«, sagte Dorian und drückte die Zigarette aus. »Olivaro will uns lebend! Entweder hat er sich selbst auf unsere Spur gesetzt oder er hat einen anderen Dämon be-
auftragt, uns gefangen zu nehmen. Töten hätte er uns schon mindestens drei Mal können, doch er will es nicht. Und jetzt weiß er ganz genau, dass Coco ihre Fähigkeiten verloren hat, dass sie sich nicht wehren kann. Der Unbekannte weiß, dass er leichtes Spiel mit uns hat.« »Und was ist mit mir?«, fragte Lukretia verärgert. »Deine magischen Fähigkeiten sind sehr beschränkt. Du kannst dich zwar in eine riesige Fledermaus verwandeln, aber mehr nicht.« »Das stimmt nicht«, sagte Lukretia wütend. »Ich verfüge über …« Dorian winkte ungeduldig ab. »Du wurdest wahrscheinlich nur für deine Aufgabe ausgesucht, weil du der nächstbeste Dämon warst. Reg dich nicht auf, Lukretia, der Vorfall im Flugzeug hat uns beiden die Augen über deine Fähigkeiten geöffnet. Lass dich von deiner Aufgabe entbinden! Du kannst uns nur sehr wenig helfen.« Lukretias Blick war alles andere als freundlich. »Ich kann mich nicht mit den Oppositionsdämonen in Verbindung setzen. Ich darf es auch nicht.« »Dann sehe ich für unsere Zukunft schwarz«, meinte Dorian. »Wir müssen aus diesem Hotel ausziehen«, sagte Coco. »Noch besser wäre es, wenn wir noch heute aus Bombay verschwinden würden.« Lukretia überlegte kurz. »Das wäre allerdings eine Möglichkeit. Wir würden einen Tag gewinnen. Was ist mit diesen Särgen, von denen ihr vorhin gesprochen habt?« Dorian erzählte es ihr. Das gab für Lukretia den Ausschlag. »Wir fahren noch heute Nacht. Ich werde alles Notwendige veranlassen.« Dorian stand auf. Er fühlte sich noch immer etwas schwach. Coco ging an ihm vorbei und öffnete die Tür. In diesem Augenblick wurde die gegenüberliegende Tür aufgerissen und Buanarotti stürzte heraus. Schweiß stand auf seiner Stirn, und die Augen waren blutunterlaufen. Er schnappte nach Luft und griff sich mit beiden Händen an die Brust. »Was ist mit Ihnen los?«, fragte Dorian. Buanarotti atmete schwer. Stumm zeigte er auf sein Zimmer.
»So reden Sie endlich!«, drängte Dorian. Der schwarzgekleidete Mann schloss für einen Augenblick die Augen und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Ich öffnete die Särge. Ich wollte noch einmal meinen Sohn und seine Frau sehen. Sie verstehen?« Dorian nickte. »Hat Ihnen jemand andere Leichen in die Särge gelegt?« »Nein, das nicht«, schnaubte Buanarotti. »Aber … Haben Sie gute Nerven?« »Ja.« »Dann sehen Sie selbst.« Lukretia stellte sich neben Coco und sah sich Buanarotti genau an. »Geh nicht in das Zimmer. Es könnte sich um eine Falle handeln.« »Was reden Sie da für einen Unsinn?«, brummte Buanarotti. »Was haben Sie gesehen, Buanarotti?«, fragte Dorian. »Vor zwei Stunden öffnete ich die Särge – da war alles in Ordnung. Ich ging dann fort und kam vor einigen Minuten zurück. Und in der Zwischenzeit …« Dorian ging an Buanarotti vorbei und warf einen Blick in das Zimmer. Die Särge standen nebeneinander vor dem Doppelbett. Die Sargdeckel lehnten an einer Wand. Ohne zu zögern ging der Dämonenkiller ins Zimmer und blieb vor den Särgen stehen. Jetzt konnte er auch das Entsetzen Buanarottis verstehen. Jemand hatte den beiden Toten die Köpfe abgeschlagen. Es war ein schauriger Anblick. Carlo Buanarotti trug einen hellen Sommeranzug. Die Arme hatte er über der Brust gekreuzt, und zwischen den Händen lag sein abgeschlagener Kopf. Das Haar des Toten war schwarz, die Haut gebräunt und die Augen weit aufgerissen, dunkel und gebrochen. Der Mund war zu einem bösartigen Grinsen verzogen. Maria Buanarotti sah nicht anders aus. Auch sie hielt ihren Kopf zwischen den Händen. Ihr schwarzes Haar war aufgesteckt, und die blauen Augen waren weit aufgerissen. Der Dämonenkiller hatte genug gesehen. »Irgendjemand hat in Ihrer Abwesenheit die Toten geköpft.« Buanarotti nickte. »Wer tut so etwas Entsetzliches?«, fragte er mit versagender Stimme.
»Keine Ahnung«, sagte Dorian. Es kam ihm völlig unsinnig vor. Er hatte vermutet, dass Olivaro die beiden Toten erwecken würde, um sie auf ihn und Coco zu hetzen. Und einen Untoten tötete man am besten, indem man ihm den Kopf abschlug. Mit geköpften Toten war nicht viel anzufangen. »Ich werde die Polizei verständigen«, sagte Buanarotti. »Ich würde mich lieber mit der Hotelverwaltung in Verbindung setzen«, empfahl ihm der Dämonenkiller. »Das werde ich auch tun.« Buanarotti hatte sich wieder etwas beruhigt. »Und lassen Sie die Särge nicht aus den Augen!«, rief Dorian Buanarotti hinterher, als der in sein Zimmer ging und hinter sich absperrte. »Wir packen und verschwinden«, sagte Coco. »Hast du bemerkt, ob dieser Buanarotti von einem Dämon beeinflusst ist, Lukretia?«, fragte Dorian. Die Vampirin schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nichts bemerkt.« »Na gut. Dann brechen wir sobald wie möglich auf.« Sie nahmen sich ein Taxi. Es war kurz nach Mitternacht, als sie den Government Dockyard erreichten. Sie stiegen aus und betraten den sechshundert Meter in das Hafenbecken reichenden Pier. Hier lagen viele Schiffe vor Anker. Einige Hafenarbeiter kamen ihnen entgegen, beachteten sie jedoch nicht. »Wo liegt das Schiff?«, fragte Dorian. »Wir sind gleich dort«, antwortete Lukretia. Während der Fahrt zum Hafen hatte sich Dorian immer wieder umgeblickt, doch sie waren nicht verfolgt worden. Er hatte dem Taxifahrer sein Amulett entgegengehalten, doch dieser hatte nicht darauf reagiert. »Wir sind da«, sagte Lukretia endlich. Sie zeigte auf eine dunkle Jacht. Sie betrat den Bootssteg – Guido Sera und Coco folgten ihr, während Dorian sich noch einmal umblickte. Der Pier war verlassen. Von einem der Schiffe drang laute Musik
und Gelächter herüber. Die Jacht war etwa zwanzig Meter lang und erinnerte Dorian an Jeff Parkers Schiff, das vor langer Zeit bei seiner Flucht vor Asmodi untergegangen war. Dorian betrat die Jacht. Er hatte eine tiefe Abneigung gegen Schiffsreisen, was auch kein Wunder war. Er konnte sich an keine erinnern, bei der ihm nicht etwas Unangenehmes zugestoßen war. Er konnte die Abenteuer mit dem von Asmodi geschaffenen Moloch und dem von Olivaro erweckten Tangaroa nicht aus dem Gedächtnis verdrängen. »Wo steckt die Besatzung?«, fragte Dorian, als sie an Bord waren. »Wem gehört die Jacht?« »Die Jacht gehört einem Freund«, meinte Lukretia ausweichend. »Guido wird euch die Kabine zeigen. Ihr dürft sie nicht verlassen. Unter keinen Umständen, habt ihr mich verstanden?« Dorian runzelte die Stirn. Das gefiel ihm keineswegs. Guido Sera stieg die Treppe zum Kabinendeck hinunter. Dorian und Coco folgten ihm. Als sich der Dämonenkiller einmal umdrehte, war Lukretia verschwunden. Die Jacht schaukelte leicht, als sie einen schmalen Gang entlanggingen. »Warum machst du kein Licht, Guido«, fragte Dorian, doch das Vampirgeschöpf antwortete nicht. Er öffnete eine Kabinentür und knipste das Licht an. Die Kabine war klein. Ein Doppelbett nahm fast den ganzen Platz ein. Ein Einbauschrank bedeckte eine Wand, gegenüber lag eine schmale Tür, die in eine Duschkabine führte. Dorian warf die Koffer auf das Bett und trat zur Luke. Außer dem nachtschwarzen Meer war nichts zu sehen. Guido Sera schloss die Tür hinter sich, und Dorian und Coco waren allein. »Ein besonderes Prunkstück ist diese Jacht nicht«, sagte Dorian missmutig. »Es gibt nicht einmal Telefon.« »Weshalb sollen wir in der Kabine bleiben?«, fragte Coco. »Das frage ich mich auch.« Dorian zog seine Jacke aus. »Ich glaube nicht, dass dieses Schiff einem von Lukretias Freunden gehört. Ich habe eine ganz andere Ahnung.« »Du glaubst, dass sie die Besatzung beeinflusst hat?«
»Genau – das ist meine Vermutung.« Ein leichtes Vibrieren durchlief das Schiff. Die Motoren wurden angeworfen. »Ich komme mir wie ein Gefangener vor«, sagte Dorian und versuchte vergeblich die Luke zu öffnen. Sein Ärger steigerte sich immer mehr. Es missfiel ihm, nicht zu wissen, woran er war. »Wir hätten lieber auf eigene Faust die Flucht fortsetzen sollen«, sagte er, während Coco die Koffer ausräumte und die Kleider in den Einbauschrank hing. »Jetzt können wir nichts mehr ändern«, meinte Coco. »Du hast die Hilfe der Oppositionsdämonen gewünscht und …« »Ich konnte nicht ahnen, dass sie mir eine Vampirin als Beschützer schicken würden«, stellte Dorian missmutig fest. Er blickte noch immer aus der Luke. Die Jacht setzte sich langsam in Bewegung. Lichter spiegelten sich auf dem dunklen Wasser. Das Tuten einer Schiffssirene war zu hören. »Die beiden geköpften Toten gehen mir nicht aus dem Sinn«, sagte Coco. »Wo wohl unser unbekannter Freund stecken mag?« Dorian winkte ungeduldig ab. »Deine Fragen sind sinnlos, da wir keine Antwort darauf finden.« »Du hast auch schon bessere Laune gehabt.« »Das kannst du wohl sagen. Ich sehe mich an Bord um.« »Das würde ich an deiner Stelle lieber sein lassen«, hörte Dorian Lukretias Stimme. Die Vampirin trat in die Kabine. Dorian wandte den Kopf. »Weshalb?« »Niemand braucht zu wissen, dass ihr euch an Bord befindet. Ich habe die Besatzung unter Kontrolle.« »Ich habe dich schon einmal gefragt, Lukretia, wem die Jacht gehört. Diesmal will ich eine Antwort!« »Das hat dich nicht zu interessieren«, entgegnete die Vampirin. »Ihr seid an Bord. Nur das zählt. Und in einer halben Stunde haben wir das offene Meer erreicht. Hier haben wir nichts zu befürchten. Ich würde jede Annäherung eines anderen Schiffes sofort bemerken.« »Das wage ich stark zu bezweifeln.«
»Ich habe keine Lust, mit dir zu streiten, Dorian«, sagte Lukretia ungeduldig. »Ich erfülle nur meine Aufgabe, und ich wäre dir dankbar, wenn du sie mir nicht erschweren würdest.« Das Schlingern und Stampfen der Jacht wurde stärker. Guido Sera servierte Kaffee. Guido verbeugte sich und verschwand geräuschlos aus der Kabine. Dorian trank seine Tasse in einem Zug aus. »Um es ganz offen zu sagen, Lukretia: Ich traue dir nicht.« »Ich sage dir auch etwas ganz offen – ich habe mich nicht um die Aufgabe gerissen, euch nach London zu bringen. Aber mir blieb keine andere Wahl. Wenn ich ehrlich sein soll, dann wäre es mir lieber, ihr wäret schon heute tot.« »Fein«, sagte Dorian, der etwas von seiner guten Laune zurückgewonnen hatte. »Jetzt spielen wir endlich mit offenen Karten. Es wurde auch schon Zeit. Weshalb wurdest du gezwungen, uns zu helfen?« »Vor einem Jahr steckte ich in einer üblen Situation. Ich war auf die Hilfe eines mächtigen Dämons angewiesen. Er half mir. Dafür musste ich ihm versprechen, ihm irgendwann bedingungslos zu helfen. Ein Jahr lang geschah nichts. Erst gestern vernahm ich seinen Ruf und erhielt den Auftrag, euch zu schützen und sicher nach London zu geleiten. Dieser Auftrag war ein Schock für mich. Ich wusste ganz genau, welch unermesslichen Schaden du über die Schwarze Familie gebracht hast. Ich hatte mir immer geschworen, dich zu töten, wenn du mir einmal begegnen würdest. Aber alles kam ganz anders. Jetzt muss ich dir helfen. Und ich hasse mich dafür.« »Eine ergreifende Geschichte«, spottete der Dämonenkiller. Sein Gesicht wurde ernst. »Ich glaube dir kein Wort, Lukretia.« »Das ist mir gleichgültig«, sagte die Vampirin kühl. »Von mir bekommt ihr keine Informationen mehr. Entweder ihr haltet euch an meine Anweisungen, oder …« »Oder?«, fragte Coco. »Das werdet ihr schon sehen«, sagte Lukretia, und ein schwaches Lächeln lag um ihre Lippen. Sie stand auf. Dorian packte sie an den Schultern und riss sie herum. Lukretias Gesicht verzerrte sich. Ihre Augen leuchteten.
»Ich habe es nicht gern, wenn man mir droht«, sagte Dorian. »Und jetzt werde ich mir das Schiff ansehen.« Lukretia schüttelte seine Hände ab und gab ihm blitzschnell einen Stoß vor die Brust. Der Dämonenkiller versuchte das Gleichgewicht zu bewahren, doch ein weiterer Stoß schleuderte ihn durch die Kabine. Er stolperte über das Bett und fiel zu Boden. Bevor er sich noch aufgerichtet hatte, war Lukretia aus der Tür. Ihr Gesicht verzog sich zu einer bösartigen Fratze, dann knallte sie die Tür zu und sperrte sie ab. Dorian stand langsam auf. »Ich werde die Tür aufbrechen.« »Nein!« Cocos Stimme klang scharf. »Du bleibst hier. Es hat im Augenblick wenig Sinn, wenn du dich auf dem Schiff umsiehst. Außerdem fürchte ich, dass Lukretia einige Mannschaftsmitglieder in Vampire verwandelt hat. Du erreichst mehr, wenn du dich bei Tag umsiehst.« Dorian antwortete nicht. Er setzte sich und trank noch eine Tasse Kaffee. Er rauchte eine Zigarette und beruhigte sich langsam. Nach einigen Minuten merkte er, wie er müde wurde. Seine Glieder waren bleiern, jede Bewegung fiel ihm schwer. »Das Biest hat mir ein Schlafmittel in den Kaffee gegeben«, sagte er mit unsicherer Stimme. Schwankend stand er auf und legte den Riegel vor, um den er sein Amulett wickelte. Er wankte zum Bett, setzte sich und warf die leeren Koffer auf den Boden. Er ließ sich auf den Rücken fallen, kämpfte gegen die Schläfrigkeit an, die immer stärker wurde. Seine Lider wurden schwer, und nach wenigen Augenblicken war er tief eingeschlafen. Coco, die nur eine Tasse Kaffee getrunken hatte, fühlte sich zwar auch schläfrig, doch sie konnte erfolgreich gegen die Müdigkeit ankämpfen. Sie stellte sich an die Tür und horchte. Einige Minuten blieb es ruhig, dann hörte sie einen langgezogenen Schrei, der plötzlich abbrach. Sie hatte genug gehört. Schaudernd schlüpfte sie aus ihren Kleidern, warf eine Decke über den schlafenden Dämonenkiller und kroch ins Bett. Sie löschte das Licht und versuchte, nicht an die Zukunft zu denken. Sie konzentrierte sich auf Erinnerungen an schöne Ereignisse, entspannte sich und schlief bald ein.
Lukretia Mahan Kal waren klare Befehle erteilt worden. Sie hatte Dorian und Coco belogen. Diese Jacht gehörte keinem ihrer Freunde. Sie hatte keine Freunde, nicht einmal innerhalb der Schwarzen Familie. Sie war eine Außenseiterin, die ihren Neigungen nachging und sich kaum um die Belange der Familie kümmerte. Doch vor einem Jahr hatte sich das geändert. Sie war ohne ihr Wissen einem anderen Dämon zuvorgekommen, als sie sich an eine junge Frau herangemacht hatte. Der ihr unbekannte Dämon hatte mit der Frau seine eigenen Pläne verfolgt. Er wollte Lukretia töten, doch sie war ihrem Los entkommen. Er hatte sie freigelassen, doch sie musste ihm versprechen, über die Ereignisse nichts zu sagen und ihm zu dienen, wann immer er es verlangen würde. Es war ihr keine andere Wahl geblieben. Er hatte ihren wahren Namen erfahren, sich ein Haarbüschel und Fingernagelstücke von ihr geben lassen. Sie stand völlig in der Macht dieses Dämons. Sie konnte sich gegen seine Befehle nicht auflehnen, das wäre ihr sicherer Tod gewesen. Der Dämon hatte sich gestern bei ihr gemeldet und ihr befohlen, Dorian und Coco zu schützen. Sie konnte sich nicht mit dem Dämon in Verbindung setzen und war darauf angewiesen, dass er sich bei ihr meldete. Er hatte ihr befohlen, Dorian und Coco nach Bombay zu bringen. Nach ihrer Ankunft musste sie zum Hafen fliegen und eine Jacht namens Skanda suchen. Skanda war der Kriegsgott der HinduReligion, der Sohn des Shiva. Sie war den Befehlen gefolgt. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte sie sich verwandelt, Guido Sera mit sich genommen und war zum Hafen geflogen. Nach kurzem Suchen hatte sie die Jacht entdeckt. Unter dem Namen Skanda befand sich eine Figur, die den Kriegsgott darstellte. Er hatte vier Köpfe und ritt auf einem Pfau. In seinen vier Händen hielt er Hahn, Glocke, Speer und Flagge. Sie war auf der Jacht gelandet, hatte Guido Sera abgesetzt und das Boot untersucht. Die Besatzungsmitglieder hatte sie an Deck versammelt vorgefunden, sie hatten regungslos auf dem Boden gesessen. Die Menschen befanden sich in einem tranceartigen Zustand. Im Salon hatte
sie einen jungen Inder gesehen, der in Begleitung einer hübschen blonden Frau war. Sie schliefen engumschlungen. Da war ihr Verlangen nach Blut erwacht. Sie hatte sich nicht zurückhalten können, den schlafenden Mann an sich gezogen, ihn in den Hals gebissen und gierig das warme Blut getrunken. Dann hatte sie sich dem jungen Mädchen zugewandt. Vom Blut der beiden berauscht, war sie an Bord getaumelt. Guido Sera war in der Zwischenzeit nicht untätig geblieben. Er hatte zwei Männern das Blut ausgesaugt. Lukretia riss Guido zurück, als er sich ein weiteres Opfer holen wollte. Sie wartete geduldig darauf, dass sich der Dämon meldete. Nach einer halben Stunde war es soweit. Sie hörte die Stimme in ihrem Kopf. Sie sollte morgen Dorian und Coco auf das Schiff bringen. Dann ergriff eine magische Kraft Besitz von ihr. Alles verschwamm vor ihren Augen. Die Stimme befahl ihr, sofort zum Hotel zurückzufliegen. Lukretia war dem Befehl gefolgt und hatte Coco im letzten Augenblick gerettet. Während des Gesprächs mit Dorian und Coco im Hotel hatte sich der Dämon eingeschaltet und befohlen, dass sie noch heute abreisen sollten. Und wieder gehorchte Lukretia. Sie fuhren zur Jacht. Guido brachte Dorian und Coco in ihre Kabine, während sich Lukretia um die Besatzung kümmerte. Doch sie brauchte keine Befehle zu erteilen. Die Männer handelten von selbst. Und wieder meldete sich der Dämon. Sie sollte Dorian und Coco betäuben, ihnen ein Schlafmittel in den Kaffee schütten und verhindern, dass sie ihre Kabine verließen. Auch diesen Befehl erfüllte Lukretia. Als sie die Tür zu der Kabine des Dämonenkillers versperrt hatte, blieb sie stehen und dachte nach. Sie hatte Dorian auf seine Fragen keine Antwort geben können, da sie keine wusste. Ihr war unbekannt, wem die Jacht gehörte. Ihr war auch ihr Ziel unbekannt. Dorian gegenüber hatte sie behauptet, dass Aden ihr Ziel sei, aber das traf nicht zu. Sie hatte keine Ahnung, wohin die Reise gehen würde. Ja, sie wusste nicht einmal, auf welcher Seite sie eigentlich stand. Handelte sie auf Anweisung der Oppositionsdämonen, oder war Olivaro ihr Auftraggeber? Sie stieg die Treppe zum Deck hinauf und blieb stehen. Sie hatten das offene Meer erreicht. Sie wandte den
Kopf, als sie Schritte hörte. Guido Sera blieb neben ihr stehen. Ihre Gier nach Blut wuchs. Ich muss mich beherrschen, dachte sie. Ich darf nicht wahllos Opfer unter der Besatzung suchen. »Komm mit«, sagte sie zu Guido, der ihr wie ein gut dressierter Hund folgte. Vor dem Salon blieb sie stehen. »Guido«, sagte sie scharf. »Du fällst keinen Menschen mehr an. Hast du mich verstanden?« Ihr Begleiter nickte. Lukretia öffnete die Tür des Salons und drehte das Licht an. Der Inder und die Frau lagen noch immer engumschlungen auf der Couch. Doch sie hatten sich verändert. Lukretia hatte nur einen Teil ihres Bluts gesaugt. Der Keim des schwarzen Blutes steckte in ihnen. In wenigen Minuten würden sie die Metamorphose durchlaufen haben und sich in Schattenwesen verwandeln, wie es mit Guido Sera vor zwei Jahren geschehen war. Meistens kümmerte sich Lukretia nicht um ihre Opfer. Beim ersten Schein des Tageslichts zerfielen sie zu Staub. Und das war ihr nur Recht. »Kümmere dich um die Besatzungsmitglieder, deren Blut du gesaugt hast, Guido«, sagte Lukretia. »Sperre sie in eine Kabine und verdunkle die Luken. Hast du mich verstanden?« Guido nickte erneut. Der Inder bewegte sich langsam. Er hob den rechten Arm und löste sich aus der Umarmung der blonden Frau. Seine Lider flatterten. Seine Haut war grau geworden, das schwarze Haar wirkte stumpf. Deutlich zeichneten sich die Bisswunden an seinem Hals ab. Blutspuren waren auf seiner Jacke. Er schlug die Augen langsam auf. Ruckartig wandte er den Kopf. Mit blutunterlaufenen Augen blickte er überrascht auf Lukretia. Er öffnete den Mund, und sie lächelte zufrieden. Sein Gebiss hatte sich ebenfalls verändert. Es wies die charakteristischen langen Eckzähne auf. »Ich bin deine Herrin«, sagte Lukretia. Unsichtbare Bande verknüpften sie mit ihren Opfern, denen keine andere Wahl blieb, als ihr zu folgen. »Sag mir deinen Namen!« Der Inder setzte sich auf. »Ich bin Nadir Shah.« »Gehört die Skanda dir?«
»Ja, es ist meine Jacht.« Lukretia lächelte zufrieden. »Und wer ist das Mädchen?« »Ann Mathers.« Die junge Frau bewegte sich und setzte sich auf. Ihre Haut war bleich, fast durchscheinend geworden. Sie schob sich das schulterlange Haar aus der Stirn und sah Lukretia an. »Ann, du bleibst hier«, sagte Lukretia befehlend. »Und du kommst mit mir, Nadir.« Der Inder folgte ihr. Bereitwillig zeigte er ihr das Schiff und stellte ihr die Besatzungsmitglieder vor. Außer dem Kapitän, einem alten Mann, und dem Steuermann befanden sich noch acht Besatzungsmitglieder an Bord, darunter ein Koch und zwei Stewards. Als Lukretia einen heiseren Schrei hörte, lief sie zu den Kabinen. Einer der von Guido Sera gebissenen Männer ging auf einen Matrosen los, der sich nicht bewegte. Er ließ es ruhig zu, dass sich die scharfen Zähne des Vampirs in seine Kehle bohrten. Lukretia riss den Mann zurück, und mit Guidos Hilfe sperrte sie ihn in eine Kabine. »Wo ist der andere?«, fragte Lukretia. »Ich habe ihn in der Nebenkabine eingesperrt«, antwortete Guido Sera rasch. Lukretia warf Nadir Shah einen Blick zu. Der Inder sah den Matrosen fasziniert an. Nadirs Gesicht war vor Gier verzerrt. Lukretia lachte. Sie konnte sich gut vorstellen, was in Nadir vorging. Er gierte nach Blut, genauso wie sie. »Bediene dich, Nadir«, sagte sie und zeigte auf den Matrosen. Der Inder stürzte sich mit einem gurgelnden Schrei auf den Matrosen, krallte seine Finger in seine Schultern und biss ihn in den Hals. Lüstern schlürfte er das Blut. Lukretia sah kurze Zeit zu, drückte Nadir zur Seite und bediente sich selbst. Während sie das Blut saugte, schloss sie die Augen, und ihr Körper wurde vor Wollust geschüttelt, doch rechtzeitig beherrschte sie sich. Sie löste ihre Zähne, leckte sich die Lippen und trat einen Schritt zurück. »Guido«, flüsterte sie. »Bring den Mann in den Salon. Das Mädchen braucht auch Blut.« »Und was ist mit den beiden, die ich in die Kabinen gesperrt
habe?« »Die sind unwichtig.« Sie gingen in den Salon. Ann Mathers sprang auf. Ihr voller Busen wogte. Ihre Augen glühten dunkelrot. Speichel tropfte über ihre Lippen. Sie sprang auf den unglücklichen Matrosen zu und stillte ihre Gier nach Blut. Nun war Guido Sera an der Reihe, der die letzten Tropfen Blut aus dem sterbenden Körper saugte. Guido Sera und Nadir Shah schleppten den Toten an Deck und warfen ihn ins Meer. Lukretia setzte sich im Salon nieder. Den Steuermann und den Kapitän musste sie am Leben lassen. Ein Matrose und ein Steward hatten sich in Untote verwandelt, sie würden kein Blut mehr liefern. Den Koch durfte sie nicht anrühren. Als Opfer für die nächste Nacht blieben ihr drei Matrosen und ein Steward. Das war nicht viel, wenn sie bedachte, dass Nadir Shah und Ann Mathers auch Blut benötigen würden. Ihre Entscheidung war getroffen. Die beiden Untoten würde sie morgen dem Tageslicht aussetzen und dadurch endgültig töten. Auch die junge Frau musste sterben. Für sie hatte sie keine Verwendung, sie war nutzlos, während sie Nadir Shah vorerst am Leben lassen würde. Er konnte ihr vielleicht Informationen verschaffen, die sie dringend benötigte. Sie sperrte Nadir und Ann in zwei verschiedene Kabinen, dann suchte sie den Kapitän, den sie in seiner Kabine fand. Sie versuchte mit ihm zu sprechen, doch er sah sie nur verständnislos an. Auf ihre Fragen nach dem Ziel der Reise gab er ihr keine Antwort. Lukretia hoffte, dass sich der Dämon melden würde, doch ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Jacht fuhr schnell durch die sternenklare Nacht. Und sie wusste nicht, wohin die Reise ging …
Es dauerte eine Weile, bis Dorian bewusst wurde, wo er sich befand. Er sprang aus dem Bett, warf der schlafenden Coco einen Blick zu, lief zur Kabinentür, schob den Riegel zurück und drückte die Klinke nieder. Zu seiner Überraschung ließ sich die Tür öffnen. Er schloss sie wieder und blickte auf die Uhr. Es war einige Minuten nach drei Uhr. Und da es in der Kabine hell war, musste es Nachmittags sein.
Coco bewegte sich leicht und wälzte sich auf den Rücken. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und gähnte herzhaft. »Morgen«, sagte sie. »Bist du schon lange wach, Dorian?« Er schüttelte den Kopf. »Eben erst aufgewacht. Wir haben fast vierzehn Stunden geschlafen. Lukretias Schlaftrunk hat seine Wirkung getan. Die Kabinentür ist nicht abgesperrt. Es ist uns also gestattet, die Kabine zu verlassen. Wenn es etwas Verdächtiges gegeben hat, wurde es sicher von Lukretia beseitigt.« Coco stieg aus dem Bett und streckte sich. Dorian nahm sie in die Arme und küsste sie sanft auf die Lippen. Dann ging er ins Badezimmer, duschte und rasierte sich. Seine Stimmung hatte sich gebessert, er pfiff vergnügt vor sich hin. Kurz darauf verließ er die Duschkabine, und Coco ging hinein. Dorian steckte sich eine Players an, schlüpfte in ein Hemd und Jeans und wartete, bis Coco mit ihrer Toilette fertig war. Gemeinsam verließen sie die Kabine. Niemand kam ihnen entgegen. Es war ruhig auf dem Schiff, nur das Geräusch der Motoren war zu hören. An Deck blieben sie stehen. Ein wolkenloser, tiefblauer Himmel spannte sich über dem Indischen Ozean. Die Sonne stand hoch am Himmel; eine laue Brise wehte ihnen ins Gesicht. Weit und breit war kein Schiff zu sehen. Sie blieben einige Minuten an der Reling stehen und genossen die friedliche Stimmung. Nach dem Stand der Sonne und der Uhrzeit schloss Dorian, dass die Jacht in Richtung Westen fuhr. »Gut geschlafen?«, fragte Lukretia spöttisch, die lautlos aus einer Tür getreten war. Dorian drehte sich rasch um. Lukretia hatte ihr langes Haar aufgesteckt, heute schimmerte es kastanienbraun. Sie trug eine offenherzig ausgeschnittene grüne Bluse und eine weite weiße Hose. »Dank deines Schlaftrunks«, sagte Dorian. Lukretia lächelte. Sie hatte vergeblich auf eine Nachricht des Dämons gewartet. Sollte ihr Dorian Fragen stellen, dann konnte sie ihm wie bisher nur ausweichende Antworten geben. »Habt ihr Hunger?«, erkundigte sich Lukretia. Dorian nickte. »Ich werde dem Koch Bescheid sagen. Irgendwelche besonderen
Wünsche?« »Nein«, sagte Dorian. Er kniff die Augen zusammen. »Nur eines. Ich würde sehr unfreundlich reagieren, wenn sich ein Schlafmittel in unserem Essen finden sollte!« »Keine Angst«, sagte Lukretia. »Ich will euch auch nicht vergiften. Kommt mit. Ich führe euch in den Salon.« Der Salon war geschmackvoll und aufwendig ausgestattet. Die holzgetäfelten Wände und die alten Stilmöbel verbreiteten eine anheimelnde Atmosphäre. Lukretia hatte die beiden allein gelassen. Einige Minuten später kehrte sie zurück, gefolgt von einem weiß gekleideten Inder, der sich leicht verbeugte. Dorian hatte schon viele Menschen gesehen, die von Dämonen beeinflusst worden waren, und der Steward gehörte dazu. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, seine Bewegungen wirkten unsicher. »Was wollt ihr trinken?«, fragte die Vampirin. Dorian bestellte einen Fruchtsaft für Coco und für sich ein Bier. »Wie viele Leute befinden sich an Bord?«, fragte Coco. »Acht Besatzungsmitglieder«, antwortete Lukretia und setzte sich nieder. »Und Nadir Shah, der Besitzer der Jacht.« »Die Besatzungsmitglieder sind wohl alle beeinflusst?«, fragte Dorian. »Erraten.« »Und was ist mit Nadir Shah? Ich möchte ihn gern sprechen.« »Er verträgt das Tageslicht nicht«, sagte Lukretia spöttisch. Plötzlich war Dorians gute Laune verflogen. »Du hast ihn zu einem deiner Opfer gemacht?« »Es blieb mir keine andere Wahl«, antwortete Lukretia lächelnd. In Dorian stieg die Wut hoch. Es war schon schlimm genug, dass er mit den Oppositionsdämonen einen Pakt eingegangen war. Doch er hatte ihn nur geschlossen, weil er allein im Kampf gegen Olivaro zu schwach war. Solange sich die Dämonen gegenseitig umbrachten, würde er nicht einschreiten, im Gegenteil. Doch er war dagegen, dass durch seinen Pakt Unschuldige sterben mussten, nur damit er und Coco gerettet wurden. Der Dämonenkiller hing an seinem Leben, jetzt mehr als je zuvor, da er wieder mit Coco zusammen war.
Doch er hing nicht so sehr am Leben, um dafür andere Menschen zu opfern. Der Gedanke, dass Lukretia auf jeden Fall Menschen getötet hätte, war ein Trost, den er nicht gelten lassen konnte. Lukretia merkte, wie Dorians Stimmung umgeschlagen hatte. Sie stand rasch auf und wollte aus dem Salon gehen, doch der Dämonenkiller war schneller. Er packte sie am rechten Handgelenk und riss sie an sich. Sein Gesicht verzerrte sich, als er die Vampirin hochhob und auf eine Couch schleuderte. Er riss sich die Abraxsgemme vom Hals und hielt sie Lukretia vors Gesicht, die ein wütendes Fauchen ausstieß, die Augen schloss und den Kopf abwandte. Dorian versetzte das Amulett in kreisende Bewegungen, und Lukretia stöhnte auf. »Ich kann es nicht mehr ungeschehen machen, dass du Nadir Shah in einen Untoten verwandelt hast, Lukretia«, sagte der Dämonenkiller hart, »aber ich kann verhindern, dass du dir noch weitere Opfer holst. Dies ist meine letzte Warnung, Lukretia. Wenn du dich noch an einem weiteren Besatzungsmitglied vergreifst, wird es dich das Leben kosten. Haben wir uns verstanden?« Die Wirkung des Amuletts hinderte Lukretia daran, ihre schwachen magischen Kräfte einzusetzen, und es war ihr auch nicht möglich, sich in eine Fledermaus zu verwandeln. Sie stöhnte und wand sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Couch hin und her. »Antworte!«, schrie der Dämonenkiller. »Ich verspreche es«, stammelte die Vampirin. »Ich habe einige Fragen«, sagte Dorian. »Deine Fälligkeiten reichen nicht aus, die Besatzung zu beeinflussen. Wer hat es getan?« »Tu das Amulett fort!«, flehte Lukretia. »Zuerst beantworte meine Fragen«, sagte Dorian. »Ich kann nicht, die Wirkung des Amuletts …« Dorian trat einen Schritt zurück, und Lukretia nickte erleichtert. »Auf deine Fragen kann ich dir keine Antwort geben …« Jetzt war es um Dorians Beherrschung geschehen. Er sprang einen Schritt vorwärts und drückte die Gemme auf Lukretias Stirn. Es roch nach verbranntem Fleisch. Als er die Hand zurückzog, war deutlich der Abdruck der Gemme auf Lukretias Haut zu sehen. Ein
blutiges Mal. Die Vampirin hatte für einen Augenblick das Bewusstsein verloren. Jetzt stöhnte sie vor Schmerzen und presste beide Hände gegen die Stirn. »Meine Geduld ist am Ende«, sagte der Dämonenkiller. »Ich will jetzt die Wahrheit hören. Von Beginn an. Erzähle!« Lukretias Lippen bewegten sich. Sie sprach leise, fast unhörbar. Sie erzählte Dorian alles. Von ihrer Begegnung mit dem unbekannten Dämon, über seine Befehle und ihre Ratlosigkeit. Als sie ihre Erzählung beendet hatte, steckte Dorian die Gemme ein und setzte sich. »Sie stellt eine Gefahr dar«, sagte Dorian zu Coco und musterte Lukretia. »Wir wissen nicht, auf welcher Seite sie steht. Und wir wissen nicht, welche Befehle ihr der unbekannte Dämon erteilen wird. Es bleibt uns nur eine Wahl. Wir müssen sie töten!« Lukretia richtete sich auf. Sie war noch benommen und nahm Dorians Worte nur undeutlich wahr. »Nein«, sagte Coco entschieden, »das wirst du nicht tun, Dorian. Im Augenblick ist Lukretia ungefährlich. Sie kann uns nichts anhaben. Und wenn wir sie nicht aus den Augen lassen, dann …« »Ich verstehe deine Skrupel nicht«, sagte Dorian kalt. »Sie ist ein Vampirin. Ein Vampir weniger, das ist ein Segen für die Menschheit.« »Trotzdem«, beharrte Coco auf ihrem Standpunkt. »Es wäre nicht fair, Lukretia zu töten.« »Nicht fair? Die Mitglieder der Schwarzen Familie spielten nie ehrlich. Und wenn ich Hemmungen habe, einen Vampir zu töten, dann kann ich den Kampf gegen die Dämonen aufgeben, mich irgendwo niederlassen und Rosen züchten.« Das Erscheinen des Stewards, der ein großes Tablett in den Salon brachte, ließ die Diskussion verstummen. Lukretia wollte die Gelegenheit zur Flucht nutzen, doch Dorian verhinderte es. Die Vampirin sah Dorian und Coco beim Essen zu. Ihre Augen funkelten böse. Während des Essens sprach niemand ein Wort. Dorian verarbeitete alle von Lukretia erhaltenen Informationen. Je länger er nachdachte, desto sinnloser und unverständlicher wurden
ihm die Ereignisse der vergangenen Tage. Im Augenblick stellte Lukretia ihre einzige Verbindung zu dem unbekannten Dämon dar. Es wäre unklug gewesen, die Vampirin jetzt zu töten. Wenn er sie ständig unter Beobachtung hielt, konnte sie nichts unternehmen. Nach dem Essen stand Dorian auf und reichte Coco das Amulett. »Ich sehe mich auf dem Schiff um. Coco, du bewachst Lukretia.« »Geh nicht in die Kabine Nummer sechs«, warnte Lukretia. »Da liegen Guido Sera und Nadir Shah. Das Tageslicht würde ihre Körper zu Staub zerfallen lassen.« Dorian gab keine Antwort. Zuerst ging er in seine Kabine und nahm zwei Amulette an sich. Danach untersuchte er das Schiff und beschäftigte sich mit den Besatzungsmitgliedern, die allerdings auf seine Fragen keine Antwort gaben. Den Steward versuchte er aus seinem tranceartigen Zustand zu lösen, aber der magische Bann, der den Mann gefesselt hielt, war zu stark. Der Dämonenkiller konnte ihn nicht brechen. Er kontrollierte abschließend den Kurs. Aus den Eintragungen des Kapitäns ging hervor, dass die Reise nach Basra im Persischen Golf gehen sollte. Für einen Augenblick spielte Dorian mit dem Gedanken, die Kabine Nummer sechs zu betreten und Sera und Shah zu pfählen, aber er entschied sich anders. Er wollte nach Einbruch der Dunkelheit mit Nadir Shah sprechen, vielleicht konnte ihm der Untote einige Auskünfte geben. Als er den Salon betrat, sahen ihn Coco und Lukretia erwartungsvoll an. »Hast du Guido und Nadir …« »Ich war nicht in ihrer Kabine.« Dorian warf die zwei Amulette auf den Tisch. Lukretia prallte zurück und wand sich wie in Krämpfen. Rasch steckte Dorian die Dämonenbanner in die Hosentasche. Lukretia verfügte tatsächlich über kaum ausgeprägte magische Fähigkeiten. Ein starker Dämon hätte beim Anblick der Amulette nicht einmal mit der Wimper gezuckt. »Was nun?«, fragte Coco. Dorian hob die Schultern. »Wir warten. Lukretia wird uns sofort
sagen, wenn sich der Unbekannte mit ihr in Verbindung setzt.« »Ich werde es euch sagen«, meinte die Vampirin tonlos. »Aber ich habe Angst davor.« »Ich auch«, schaltete sich Coco ein. »Der Unbekannte wird bei der Kontaktaufnahme Lukretias Gedanken lesen. Er wird so erfahren, was vorgefallen ist.« »Das spielt keine Rolle«, meinte Dorian grinsend. »Da wird sich der geheimnisvolle Unbekannte endlich zu erkennen geben müssen. Darauf warte ich ja. Es wird sich herausstellen, ob Lukretias Beherrscher auf unserer Seite steht oder ob er in Olivaros Auftrag handelt.« Nach Einbruch der Dunkelheit betraten die Drei den Gang, der zu den Kabinen führte. Dorian wollte sich mit Nadir Shah unterhalten. Das Schiff glitt noch immer mit Höchstgeschwindigkeit über die Wellen. Morgen sollten sie Basra erreichen. Dorian trat in seine Kabine, während Coco und Lukretia draußen warteten. Er knipste das Licht an, griff in seine Hosentasche und holte die beiden Amulette hervor. Er drehte sich um, und sein Blick fiel auf das Bett. Überrascht zuckte er zusammen: Auf dem Bett lagen zwei Köpfe! Er ging langsam hin und musterte sie. Er hatte sie schon einmal gesehen. Gestern. Im Hotel. Im Zimmer von Buanarotti. Der Gesichtsausdruck der Toten hatte sich erschreckend verändert. Es waren jetzt abstoßend hässliche Fratzen, die Augen und Münder weit aufgerissen, als hätten sie etwas Entsetzliches gesehen. »Kommt herein!«, rief Dorian und trat einen Schritt zur Seite. Coco schlug überrascht die Hände vor den Mund, während sich Lukretias Augen weiteten. »Das sind die Köpfe der beiden Toten aus dem Hotel«, sagte Dorian leise. »Wie kommen sie in unsere Kabine?«, fragte Coco. »Eine gute Frage«, meinte Dorian, »auf die ich leider keine Antwort weiß. Magie, das ist sicher. Aber wer steckt dahinter? Irgendjemandem macht es einen teuflischen Spaß, uns zu erschrecken. Und es gelingt ihm auch.« Der Gesichtsausdruck der Köpfe änderte sich plötzlich. Die Augen schlossen sich, dann pressten sich die Lippen zusammen. Die Köpfe
sahen jetzt ganz friedlich aus. »Was sollen wir mit ihnen tun?«, fragte Lukretia. »Ich werde sie nach oben bringen«, sagte Dorian. Er griff nach Carlo Buanarottis Kopf und wollte ihn aufheben. Das Haar spannte sich, doch der Schädel ließ sich nicht aufheben. Der Kopf riss Augen und Mund auf, und die Zähne versuchten Dorians Handgelenk zu erreichen. Der Dämonenkiller ließ das Haar los, und sofort schlossen sich Augen und Mund wieder. »Da hat jemand etwas dagegen, dass ich die Köpfe von hier wegbringe«, stellte Dorian fest. Er griff nach einem Amulett und ließ es über den beiden Köpfen kreisen. Dann packte er Maria Buanarottis Schädel. Ohne Mühe konnte er den Kopf vom Bett heben, ging an Lukretia und Coco vorbei, stieg die Stufen hoch und warf den Kopf über die Reling. Er hörte das Aufklatschen, doch der Kopf ging nicht unter. Die Jacht war hell erleuchtet, und das Licht spiegelte sich im dunklen Meer wider. Der Kopf schwamm neben dem Schiff her und Dorian schien es, als grinste er. Schaudernd kehrte er in die Kabine zurück, packte Carlos Kopf und warf ihn auch ins Meer. Er lehnte sich an die Reling. Die Köpfe tanzten auf den Wellen, eine unsichtbare Kraft ließ sie nicht untergehen. Dorian beobachtete sie mehr als fünf Minuten lang; sie schwammen weiterhin neben der Jacht her, was allen Naturgesetzen Hohn sprach. Aber Magie setzte sich über alle Naturgesetze hinweg, mit ihrer Hilfe konnte man das Unmögliche vollbringen. Der Wind war stärker geworden. Die Jacht musste gegen hochgehende Wellen ankämpfen. Dorian warf einen Blick zum Himmel. Er war mit dunklen Wolken bedeckt, nicht ein einziger Stern war zu sehen. Nachdenklich kehrte er zu den Kabinen zurück. Er sagte den beiden Frauen nichts davon, dass die Köpfe nicht untergegangen waren. »Jetzt unterhalte ich mich mit Nadir Shah.« Dorian blickte Lukretia scharf an. »Lass dir nicht einfallen, Guido und Nadir auf uns zu hetzen, Lukretia!« »Ich werde nichts tun«, versprach die Vampirin. Dorian griff nach dem Schlüssel, doch bevor er die Kabine Nummer sechs öffnen konnte, hörte er einen leisen Schrei. Er drehte sich
um und sah Lukretia an. »Ich habe Kontakt«, sagte die Vampirin und schloss die Augen. »Wir schweben in höchster Gefahr«, rief sie plötzlich. »Ein Boot nähert sich. Wir sollen getötet werden.« »Was hast du noch erfahren?«, fragte Dorian. »Der Unbekannte ist auf deiner Seite«, sagte Lukretia. »Du sollst ihm vertrauen.« »Jetzt bin ich genauso klug wie vorher«, brummte Dorian. »Wer befindet sich auf dem Boot, das sich angeblich nähert?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Lukretia unsicher. »Von der Besatzung haben wir keine Hilfe zu erwarten, doch Guido und Nadir werden uns helfen.« Dorian sperrte die Kabinentür auf, und Guido Sera und Nadir Shah sprangen aus den Kojen. Lukretia rief ihnen einige Befehle zu, und die beiden Vampirgeschöpfe beruhigten sich. Ihre rotglühenden Augen musterten verlangend Dorian und Coco. »Gehen wir an Deck!«, schlug Dorian vor und holte seine Pistole aus der Kabine. Sie hatten kaum das Deck betreten, als ein lauter Knall zu hören war. Irgendetwas war gegen die Jacht geprallt. Ein scharfer Lichtstrahl stach wie ein riesiger Lichtfinger durch die Nacht und tauchte das Deck in gleißende Helligkeit … »Geht in Deckung!«, schrie Dorian, duckte sich, entsicherte die Pistole und schoss auf den Scheinwerfer. Er musste ihn verfehlt haben, denn das Licht erlosch nicht. Er schoss nochmals. Geblendet schloss er die Augen. Zusammen mit Coco hatte er hinter einem Aufbau Deckung gefunden. Dorian lud nach und wartete. Für einen Augenblick hob er den Kopf. Das Deck war leer. Lukretia, Guido und Nadir hatten sich versteckt. Einige Minuten lang geschah nichts. Der Sturm wurde heftiger und die Jacht ordentlich durchgeschüttelt, doch sie drosselte ihre Geschwindigkeit nicht, sondern kämpfte sich unbeirrt durch die hohen Wellen. Der Scheinwerfer wurde schwächer. Das Deck lag jetzt im Halbdunkel. Der Dämonenkiller registrierte jeden Laut. Schritte näherten sich, doch er konnte nicht feststellen, aus welcher Richtung
sie kamen. »Da!«, rief Coco. »Eine Gestalt schwingt sich über die Reling!« Dorian reckte den Kopf. Coco hatte sich nicht getäuscht. Die schemenhafte Gestalt sprang auf das Deck – eine Gestalt ohne Kopf. »Das ist Carlo Buanarotti«, sagte Dorian entsetzt. »Ich erkenne ihn wieder.« Der zu neuem Leben erwachte Tote blieb stehen und hob beide Arme. Eine zweite Gestalt sprang auf Deck. Auch ihr fehlte der Kopf. Sie trug ein weißes, eng anliegendes Sommerkleid. »Maria Buanarotti«, sagte Dorian tonlos. »Gegen die beiden Toten kann ich mit der Pistole nichts ausrichten. Unsere einzige Chance ist, die beiden anzuzünden. Aber dabei geht wahrscheinlich das Schiff in die Luft.« Aus dem Schatten sprang ein Mann. Es war Nadir Sah, der sich auf die Tote stürzte. Ein völlig sinnloser Angriff. Die Tote wehrte das Schattenwesen spielerisch ab, riss es hoch und schleuderte es zu Boden. Carlo kam ihr zu Hilfe. Gemeinsam drückten sie den tobenden Nadir zu Boden. Carlo griff in seine Brusttasche und holte einen Pfahl heraus, den er an Nadirs Brust ansetzte. Mit der rechten Faust schlug er zu. Ein Zucken durchlief Nadirs Körper, die Haut wurde durchscheinend, und Sekunden später waren nur mehr seine Kleider übrig und dann ein Häufchen Asche, das rasch vom Wind verweht wurde. »Was sollen wir tun?«, fragte Coco. »Ich warte, was Lukretia unternehmen wird«, sagte Dorian. »Wir können im Augenblick überhaupt nichts tun. Da ist sie.« Lukretia hatte sich in eine menschengroße Fledermaus verwandelt. Und sie wusste, wie sie die beiden ausschalten konnte. Dorian und Coco sahen fasziniert zu. Lukretia schwebte über den Toten, die vergeblich versuchten sie zu erreichen. Lukretias rechter Flügel umspannte eine große Kanne. »Sie macht das einzig Richtige«, sagte Dorian. Lukretia ließ aus der Kanne Benzin auf die beiden lebenden Toten tropfen. Carlo und Maria versuchten der Flüssigkeit auszuweichen, doch innerhalb einer Minute waren ihre Kleider benzindurchtränkt.
»Jetzt bin ich nur gespannt, wie sie die beiden anzünden will«, meinte Dorian. »Vampire haben eine panische Angst vor Feuer. Und Vampiropfer genauso.« »Willst du nicht jetzt endlich eingreifen, Dorian?«, fragte Coco. »Okay.« Der Dämonenkiller sprang auf. Aber er brauchte nicht einzugreifen. Die beiden lebenden Toten erstarrten für einen Augenblick, dann setzten sie sich in Bewegung. Mit einem Hechtsprung sprangen sie über die Reling ins Meer. »Der Dämon, der hinter dem Überfall steckt, hat die Gefahr erkannt«, meinte Dorian befriedigt. »Er wollte nicht, dass Carlo und Maria in Flammen aufgingen. Wahrscheinlich befürchtete er, dass die Jacht Feuer fängt.« Lukretia war nicht mehr zu sehen. Statt auf die Jacht zurückzukehren, war sie aufs Meer hinausgeflogen. Plötzlich geriet die Luft auf dem Deck in Bewegung, schien zu flimmern, und für einen Augenblick verschwammen alle Konturen. Ein kleiner Mann stand an Bord. »Der Unbekannte aus dem Flugzeug«, sagte Coco. Er trug einen braunen Anzug, ein weißes Hemd und eine farbenfrohe Krawatte. Das schwarze Haar lag eng wie eine Kappe um seinen Kopf. Er trug wieder die seltsamen Stulpenhandschuhe aus weißem Rehleder. Der Unbekannte blickte kurz in Dorians Richtung, dann wandte er sich ab. Guido Sera sprang aus seinem Versteck: Er ging augenblicklich auf den kleinen Mann los, der sich blitzschnell umdrehte. Seine rechte Faust schoss vorwärts und bohrte sich in Seras Brust. Dieser schrie gequält auf, hob beide Arme und brach zusammen. In diesem Augenblick stieß Lukretia auf den kleinen Mann nieder, schlug ihre Krallen in seinen Rücken und riss ihn einen Meter hoch. Ihre Zähne schnappten nach seiner Kehle. Die Gestalt des Mannes war plötzlich in blaues Licht getaucht, das auf die Vampirin übersprang. Sie stieß einen unmenschlichen Laut aus, ihre Krallen lösten sich, und der Mann landete sanft auf dem Deck. Lukretia schlug wild mit den Flügeln, wollte sich in die Luft erheben, doch irgendetwas ließ sie taumeln. Sie prallte gegen die Re-
ling. Ihr Körper verwandelte sich, wurde wieder zu dem einer Frau. Für einen Augenblick hing sie über der Reling, dann stürzte sie in die Tiefe. Der Unbekannte hob die Hände, und der Scheinwerfer erlosch. »Sie können aus Ihrem Versteck herauskommen, Miss Zamis und Mr. Hunter.« »Gegen diesen Burschen haben wir keine Chance«, sagte Dorian leise und Coco nickte. Sie betraten das Deck. Der Unbekannte war nur undeutlich zu sehen. Dorians rechter Fuß verfing sich in Guido Seras Umhang, und der Dämonenkiller wäre fast hingefallen. Von Guido Sera war, so wie von Nadir Shah, nichts übrig geblieben. Die Asche war ins Meer geweht worden. »Sie gestatten, dass ich mich vorstelle«, sagte der kleine Mann. »Mein Name ist Abu'l-hawl.« »Das ist Ägyptisch«, meinte Coco. »Und es heißt Vater des Schreckens.« »Sie sagen es«, erwiderte der Kleine. »Sie sehen gar nicht so schrecklich aus, Abu'l-hawl«, bemerkte Dorian. Der Dämon lachte. Dorian spürte deutlich seine Ausstrahlung. Er musste ein uralter Dämon sein, der über gewaltige magische Kräfte verfügte. »Was ist mit Lukretia?«, erkundigte sich Coco. »Sie ist unwichtig«, sagte Abu'l-hawl. »Sie stürzte bewusstlos ins Meer. Irgendein Boot wird sie auffischen oder sie wird irgendwo an Land geschwemmt werden. Ich habe sie nicht getötet, da sie unschuldig in den Kampf zweier Gruppen verwickelt wurde. Wie Sie wissen, hat man sie dazu gezwungen, Ihnen zu helfen. Aber ich würde vorschlagen, wir gehen in den Salon.« Der Scheinwerfer flammte wieder auf. Einige Leute betraten das Deck, ganz normale Menschen, die aber unter dem Einfluss des kleinen Dämons standen. »Ich wechsle die Besatzung aus«, sagte der Dämon. Sie saßen im Salon, und Dorian ließ den Dämon nicht aus den Au-
gen. Lukretias Gegenwart war ihm schon unangenehm genug gewesen, aber Abu'l-hawls Anwesenheit war ihm fast unerträglich. »Die Besatzung ist ausgetauscht, und wir können unsere Reise fortsetzen. Zunächst fahren wir nach Basra. Von dort aus geht es per Flugzeug weiter nach Italien.« »Nach Italien?«, fragte Dorian überrascht. »Und von Italien aus kommen Sie nach London.« »Das ist doch alles recht umständlich.« »Leider geht es nicht anders. Um es ganz genau zu sagen, ich bringe Sie nach Pozzuoli in der Nähe von Neapel. Es ist die sicherste Reiseroute. Sie können es mir glauben.« Dorian schwieg einige Sekunden, dann blickte er den Dämon fest an. »Welche Rolle spielen Sie dabei eigentlich?« Abu'l-hawl lächelte. »Ich bin Ihr Begleiter. Ich soll Sie sicher an Ihren Bestimmungsort bringen. Und das werde ich auch tun. Ich kann mir denken, dass Sie eine Menge Fragen haben, aber so gern ich sie Ihnen auch beantworten würde, ich darf es nicht.« »Ich hätte gern einen Beweis dafür, dass Sie auf unserer Seite stehen«, sagte Dorian. »Ich fürchte, Sie …« »Ihre Fragen und Vermutungen sind völlig nutzlos, Mr. Hunter. Sie müssen mich als Begleiter akzeptieren. Es bleibt Ihnen gar keine andere Wahl.« Abu'l-hawl erhob sich, deutete eine Verbeugung an. »Ich ziehe mich in meine Kabine zurück. Ein Steward wird sich um Ihr leibliches Wohl kümmern. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Er verließ den Salon, und krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Coco und Dorian wechselten einen betretenen Blick. »Wir sind ihm ausgeliefert«, sagte Coco. »Würde ich über meine Fähigkeiten verfügen, dann hätten wir eine Chance. Aber so, wie es im Augenblick aussieht, können wir nichts gegen ihn unternehmen. Mit den armseligen Amuletten, die du bei dir hast, kannst du gegen ihn nichts ausrichten. Und die Beschwörungen, die du kennst, nutzen dir da ebenfalls nichts. Dieser Abu'l-hawl ist ein uralter Dämon. Er kann sein Äußeres beliebig ändern. Ich ahne, wer er tatsächlich ist.« »Was glaubst du?«
»In der Schwarzen Familie gibt es einen Dämon, der sich Kadron nennt«, erklärte Coco. »Bei Auseinandersetzungen innerhalb der Schwarzen Familie verhielt er sich immer neutral, außer er nahm einen Auftrag an. Dann stand er mit all seinen Fähigkeiten so lange treu hinter seinem Auftraggeber, bis er den Auftrag erledigt hatte. Und ich frage mich, auf welcher Seite er jetzt steht. Wurde er von den Oppositionsdämonen engagiert, dann geht es uns gut, dann kommen wir sicher bald nach London. Ist aber Olivaro sein Auftraggeber, dann sehe ich für unsere Zukunft schwarz.« »Bist du sicher, dass es Kadron ist?« »Ziemlich sicher«, sagte Coco. »Wenn du meine ehrliche Meinung hören willst, dann …« Coco brach ab und strich sich langsam über die Stirn. »Sag es!«, drängte Dorian. »Er steht auf Olivaros Seite«, sagte Coco tonlos. Dorian lachte freudlos. Genauso hatte auch er vermutet. Er verfiel in dumpfes Brüten, aus dem er erst gerissen wurde, als ein Steward den Salon betrat und nach ihren Wünschen fragte. Dorian bestellte eine Kleinigkeit zu essen, eine Flasche Bourbon, Eis und Wasser. »Wir haben schon in schlimmeren Situationen gesteckt«, sagte Dorian, als der Steward das Essen serviert hatte. »Und immer ist es uns gelungen, mit heiler Haut davonzukommen.« »Ja, du hast Recht. Aber sehr oft bekamen wir Hilfe von dritter Seite. Anfangs standen wir unter Olivaros Schutz. Er wandte sich erst gegen uns, als Asmodi tot war. Und auch Philip half uns sehr oft. Erinnere dich nur an das Abenteuer mit dem goldenen Drudenfuß. In vielen Fällen hätten wir uns aus eigener Kraft nicht befreien können. Eine Zeitlang verfügte ich wieder über einen Teil meiner Hexenkräfte. Wäre ich im Vollbesitz meiner magischen Kräfte, dann würde ich mich Abu'l-hawl zum Kampf stellen.« Dorian trank sein Glas leer, schenkte sich nach und aß ein Schinkenbrot. »Ein Fluchtversuch ist sinnlos. Wir können uns nur Abu'l-hawl entgegenstellen, und das ist, nach deinen Worten zu schließen, sinnlos. Was können wir dann tun?« »Auf die Oppositionsdämonen hoffen.«
»Wir legen also die Hände in den Schoß und warten auf ein Wunder«, meinte Dorian verdrossen. »Ein Engel wird kommen und uns in letzter Minute erretten. Ich halte nicht viel von solch vagen Hoffnungen. Wenn Lukretia tatsächlich die von den Oppositionsdämonen gesandte Hilfe war, dann besteht wenig Aussicht auf ein Happy End. Sie schwimmt irgendwo im Meer. Es muss eine Möglichkeit geben.« »Wir müssen versuchen, meine Fähigkeiten zu wecken«, meinte Coco. »Das ist unsere einzige Chance.« »Sie sagen es!« Es war Abu'l-hawls Stimme, die plötzlich aus dem Nichts zu kommen schien. Dorian sprang auf. Ein leises Lachen ertönte. »Es war recht interessant, Ihnen zuzuhören«, sagte der Dämon. »Eigentlich wollte ich mich nicht zu erkennen geben, aber ich gehe nie ein Risiko ein. Und ich verlasse mich nicht darauf, dass es Coco Zamis nicht gelingen wird, ihre Fähigkeiten wiederzuerlangen. Ich glaube zwar, dass es bis nach der Geburt ihres Kindes nicht dazu kommen wird, aber ich kann mich irren. Setzen Sie sich, Hunter! Trinken Sie in Ruhe einen Schluck und hören Sie mir gut zu. Wenn es Ihnen Spaß macht, Hunter, bitte. Ich habe nichts dagegen. Ich habe auch Zeit.« Dorian hatte versucht die Salontür zu öffnen. Er trat einige Schritte zurück und sprang mit voller Kraft dagegen, doch sie gab nicht nach. Er bemühte sich, die Luken zu öffnen, ein vergebliches Unterfangen. »Haben Sie jetzt eingesehen, dass Sie nicht fliehen können, Hunter?« Der Dämonenkiller setzte sich, steckte sich eine Zigarette an und schenkte sich Bourbon nach. »Sie gestatten mir doch eine persönliche Bemerkung, meine Herrschaften?« »Ich kann es Ihnen nicht verbieten«, erwiderte Dorian und hob sein Glas. »Persönlich habe ich gegen Sie beide überhaupt nichts«, sagte der unsichtbare Dämon. »Es ist ein Auftrag, nicht mehr. Ein reizvoller
Auftrag. Ich bin irgendwie Lukretia ähnlich, deshalb ließ ich sie auch am Leben. Sie und ich sind Außenseiter in der Schwarzen Familie. Sie waren auch eine Außenseiterin, Miss Zamis, als Sie noch zu uns gehörten. Sie waren aber anders – sie wollten den Menschen helfen. Das ist bei mir nicht so. Mir sind die Menschen gleichgültig, aber auch die Mitglieder der Schwarzen Familie. Ich amüsiere mich höchstens über ihre nichtigen Streitereien. Ihre Probleme interessieren mich nicht. Ich führe ein gleichförmiges, ja fast langweiliges Leben. Der einzige Spaß, den ich habe, sind Aufträge, schwierige Aufträge. Aber sie wurden in letzter Zeit immer seltener. Asmodi mochte mich nie besonders. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich von ihm nie den Auftrag erhalten hatte, auf den ich schon so lange wartete: Ich nahm an, dass er von mir verlangen würde, Sie zu töten. Asmodi war aber zu sehr von sich und seiner Macht überzeugt. Und er unterschätzte Sie, das war sein Verhängnis. Er starb auf eine eher billige Art, wenn Sie mich fragen, eine Schande für das Oberhaupt der Schwarzen Familie.« »Sie hören sich wohl gern reden, Kadron?«, meinte Dorian spöttisch. Der Dämon lachte. »Gönnen Sie mir doch dieses Vergnügen. Vor ein paar Tagen ließ mich Olivaro rufen. Wie Sie sich sicher denken können, steckt er bis zum Hals in Schwierigkeiten. Und wenn Sie mich fragen, dann sind seine Tage als selbsternannter Herr der Finsternis bald zu Ende. Die Opposition wird von Tag zu Tag mächtiger. Aber das ist nicht meine Sorge. Er gab mir den Auftrag, Sie beide zu fangen. Wenn das nicht möglich sei, sollte ich Sie töten. Über Ihre Taten, Hunter, wusste ich ja gut Bescheid, ich kenne Ihre Stärken und Schwächen. Und über Coco weiß ich natürlich noch besser Bescheid. Sie galt einmal als die mächtigste Hexe, die seit hundert Jahren auf die Welt gekommen war. Ihre Fähigkeiten waren unglaublich. Deshalb reizte mich der Auftrag, den ich von Olivaro bekommen hatte. Aber Sie können sich sicherlich meine Enttäuschung vorstellen. Ich beobachtete Sie. Ich hatte gehofft, es endlich nach so langer Zeit einmal wieder mit einem ernsthaften Gegner aufnehmen zu können. Aber was soll ich viel erzählen. Coco hat all ihre Fähigkei-
ten verloren. Es war alles so einfach, viel zu einfach für meinen Geschmack. Ich spielte mit Ihnen. Ich sandte die sechs Besessenen in Bangkok aus. Sie waren nicht fähig, sich dieses Angriffs zu erwehren. Im Flugzeug fiel Ihnen meine Anwesenheit nicht auf. Und so weiter. Sie erkannten mich nicht einmal, als ich als trauernder Buanarotti im Hotel auftrat. Vielleicht wäre alles etwas anders gekommen, wenn Sie Lukretia von meinem Auftauchen an Bord des Flugzeugs berichtet hätten. Diese Information hätte sie an die Oppositionsdämonen weiterleiten können. Viel hätte es zwar auch nicht geholfen, aber alles wäre etwas interessanter geworden. Der Überfall auf die Jacht war ein Kinderspiel. Und alles weitere ist auch einfach. Zu einfach. Ich bin enttäuscht, zutiefst enttäuscht.« »Mein Mitgefühl ist Ihnen sicher«, erwiderte Dorian trocken. »Auf Ihr Wohl!« Er hob das Glas, setzte es an die Lippen und trank es leer. »Ich werde Sie Olivaro übergeben«, sagte Kadron. »Was er mit Ihnen tun wird, weiß ich nicht, aber ich kann es mir denken.« »Weshalb haben Sie eigentlich das Theater mit den Leichen der Buanarottis inszeniert?«, erkundigte sich Coco. »Das werden Sie morgen erfahren. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass Sie im Salon übernachten müssen. Lassen Sie sich das Essen gut schmecken, es könnte ihr letztes Mahl gewesen sein. Und noch eines: Es ist mir zwar unangenehm, in Ihre Intimsphäre einzudringen, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich werde Sie die ganze Nacht über beobachten. Das sage ich Ihnen nur für den Fall … Nun ja, Sie verstehen mich?« Dorian stand auf. Er ließ sich noch nicht entmutigen. Mit ein paar schnellen Bewegungen malte er einige Zauberformeln auf den Tisch, sprach Beschwörungen und verfluchte Kadron. Doch alles war vergeblich. Der Dämon schien sich königlich über die Bemühungen des Dämonenkillers zu amüsieren. »So kommen Sie mir nicht bei, Hunter«, sagte er, als Dorian seine Bemühungen abgebrochen hatte. »Dabei bin ich recht leicht zu vernichten, man muss nur meine Schwäche kennen. Die kennen Sie aber nicht. Genießen Sie den Bourbon, Hunter.«
Dorian setzte sich neben Coco auf die Couch. Er griff nach ihren Händen. »Nur ein Wunder kann uns helfen«, sagte ihm Coco leise ins Ohr. »Nur ein Wunder.« Irgendwann waren sie eingeschlafen. Dorian wachte auf und drehte den Kopf zur Seite. Coco lag neben ihm auf der Couch. Er wollte aufstehen, aber er hatte keine Gewalt über seinen Körper. Er versuchte die Hände zu heben, sie waren wie gelähmt. Nur den Kopf konnte er bewegen. »Coco!« Die junge Frau bewegte sich und blickte Dorian an. »Ich kann nur den Kopf bewegen, Coco«, sagte Dorian. »Mir geht es nicht besser«, stellte Coco nach einem Versuch fest. Auch sie war gelähmt. Dorian blickte zur Seite und sah zwei leere Särge, die man in den Salon gebracht hatte, während sie schliefen. »Guten Tag«, sagte Kadron. Dorian blickte dem kleinen Dämon finster entgegen. »Ich habe vor einer Stunde eine kleine Beschwörung vorgenommen«, sagte Kadron. »In wenigen Minuten sind Sie vollständig gelähmt. Sie werden in einen scheintoten Zustand verfallen. Sie werden auch nicht atmen. Aber der Denkvorgang wird dadurch nicht ausgeschaltet. Wir landen bald in Basra. Von dort aus fliegen wir nach Neapel. Damit ich kein Risiko eingehe, werden Sie in den Särgen reisen. Als Carlo und Maria Buanarotti: Jetzt verstehen Sie auch, weshalb ich die Toten brauchte. Sie erleichtern mir meine Aufgabe.« Dorian schloss die Augen. Er spürte, wie die Lähmung auf seinen Kopf übergriff. Bald konnte er die Augen nicht mehr öffnen, und sein Gesicht wurde gefühllos. Er wollte etwas sagen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Aber er konnte alles hören. »Legt die beiden in die Särge!«, befahl Kadron. Dorian spürte nicht, wie er hochgehoben wurde. Er hörte jedoch, wie der Deckel auf den Sarg gelegt wurde und das Knirschen der Schrauben als er zugeschraubt wurde. Dann war alles still. Es war
nicht das erste Mal, dass sich der Dämonenkiller in so einer Situation befand. Er wusste ganz genau, dass er sich aus eigener Kraft nicht befreien konnte, und dieses Gefühl ließ ihn halb wahnsinnig werden. Dorian verlor jedes Zeitgefühl. Einmal hörte er für kurze Zeit Stimmen, die Arabisch sprachen, dann das Geräusch eines Autos. Wieder Stimmen, dann Stille. Und nach einer endlos langen Zeit war das Heulen eines Flugzeugs zu hören. Er hatte Zeit, um über alles nachzudenken. Seine ganze Hoffnung klammerte sich an die Oppositionsdämonen. Wenn sie nicht eingriffen, würden Coco und er Olivaro ausgeliefert werden. Und was das zu bedeuten hatte, wusste er. Olivaro würde sie töten.
Die beiden Särge waren von Neapel mit einem Leichenwagen in die Bergkapelle von Pozzuoli gebracht worden. Das kleine Bauwerk und der dazugehörende Friedhof lagen etwa fünfhundert Meter über der kleinen Stadt am Berghang. Wandte man den Blick nach links, so konnte man bis nach Neapel sehen. An klaren Tagen, so wie heute, erblickte man auch den Vesuv. Über die beiden Särge waren Bahrtücher gelegt worden, und überall standen Kandelaber herum. Die Särge waren mit unzähligen Kränzen und Blumen bedeckt. Rechts neben den Särgen hatten sich die Angehörigen der Verstorbenen versammelt, die mit ernsten Gesichtern die aufrichtigen Beileidswünsche entgegennahmen. Enrico Buanarotti war eine imposante Erscheinung, breitschultrig, mit einem wie aus Marmor gehauenen Gesicht, das von einem Kranz weißer Haare umrahmt wurde. Seine Frau Gina lehnte sich an ihn. Ihr Gesicht war von einem schwarzen Schleier verhüllt. Neben den beiden standen ihre Kinder, Giuliano, Paola und Constanza. Für Enrico war es ein schwerer Schlag gewesen, als er vom Tod seines Sohnes und seiner Schwiegertochter erfuhr. Die beiden hatten vor zehn Tagen geheiratet, sehr gegen Enricos Willen, der einer der reichsten und einflussreichsten Männer Pozzuolis war. Es hatte ihm überhaupt nicht gepasst, dass sein ältester Sohn ein einfaches Mäd-
chen heiraten wollte, noch dazu eine Waise. Und nicht einmal eine Italienerin war sie gewesen. Eine Deutsche, aus Köln. Aber Enrico hatte sich auch damit abgefunden, als er gemerkt hatte, dass er seinen Sohn Carlo nicht umstimmen konnte. Die Hochzeit war ein rauschendes Fest gewesen. Er hatte seinem Sohn eine Weltreise geschenkt. »Aufrichtiges Beileid«, sagte eine tief verschleierte Frau. Enrico drückte ihr die Hand, und seine Lippen bebten. Von all seinen Kindern hatte er Carlo am meisten geliebt. Seinen Humor, seine ausgelassene Freude, seine rasche Auffassungsgabe. Carlo hätte die Firma übernehmen sollen. Doch alles war anders gekommen. Ein Autounfall im fernen Indien, in Bombay, hatte seinem Leben ein Ende gesetzt. Enrico trat einen Schritt zur Seite, als der Pfarrer mit zwei Ministranten erschien. Der Priester sprach ein kurzes Gebet. Ich träume, dachte Enrico. Das ist alles nicht wahr. Ich wache auf und werde lachend feststellen, dass ich einen scheußlichen Albtraum hatte. Aber er träumte nicht. Undeutlich nahm er alles wahr. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt. Zusammen mit seiner Frau trat er in die Kapelle. Er setzte sich, faltete die Hände, betete. Die Worte des Pfarrers hörte er wie durch eine Wand hindurch. Sie sollten tröstlich sein, waren es aber nicht. Warum hat es gerade meinen Sohn treffen müssen? Warum gerade ihn? Tränen rannen über seine Wangen, die Hand seiner Frau verkrallte sich in der seinen. Das Dröhnen der Orgel riss ihn hoch, der Chor stimmte an, und die dunklen Stimmen erfüllten das Innere der Kapelle. Enrico wankte die Stufen der Kapelle hinunter. Auf zwei Wagen lagen die Särge, die die sterblichen Reste seines Sohnes und seiner Schwiegertochter enthielten. Giuliano war neben ihm. Enrico legte einen Arm um die Schultern seines Sohnes. Er fühlte sich alt, unendlich alt. Sein Stolz, seine ganze Hoffnung ruhte in dem ersten Sarg. Seine Lippen wurden schmal. Mühsam versuchte er, sich zu beherrschen. Sie kamen an Männern und Frauen vorbei, die den Kopf senkten und sich bekreuzigten. Irgendwo zwitscherten Vögel. Der Weg bis zum Grab schien endlos
weit. Jeder Schritt war für Enrico eine Qual. Er hörte das Schluchzen seiner Frau und seiner Töchter. Davon wird Carlo nicht lebendig, dachte er verbittert. Und dann sah er das Grab, die tiefe Höhlung, hineingefressen in den Sandboden. Ein Begräbnis, wie es täglich tausendmal stattfand. Die Träger hoben die Särge von den Wagen. In wenigen Minuten würde es soweit sein. Der Pfarrer sprach irgendetwas, das Enrico nicht verstand. Er hob den Blick, als eine schwarzgekleidete, hoch gewachsene Frau neben das Grab sprang. Ein dichter Schleier verbarg ihr Gesicht. In der rechten Hand trug sie einen großen Beutel. Sie stieß den Geistlichen zur Seite. Überraschtes Gemurmel war zu hören. »Hört mir zu!«, schrie die Verschleierte. »Ihr begrabt die Falschen!« Sie hob den Beutel und drehte sich um. Zwei Männer packten den Priester und warfen ihn ins Grab. Die verschleierte Frau öffnete den Beutel, und zwei Köpfe fielen zu Boden. Durch die Trauergesellschaft ging ein Entsetzensschrei. Enrico bückte sich und hob den Kopf seines toten Sohnes Carlo auf. »Carlo!«, schrie er. »Carlo!« Rücksichtslos drängten sich einige Männer zwischen den kreischenden Trauergästen hindurch, hoben die Särge hoch, trugen sie zu einem VW-Bus und schoben sie hinein. Der Bus fuhr los, einige beherzte Männer verfolgten ihn, doch plötzlich war er verschwunden. Er schien wie vom Erdboden verschluckt. Enrico Buanarotti ließ den Kopf seines Sohnes fallen. Er zitterte am ganzen Körper. Dann brach er ohnmächtig zusammen. Die verschleierte Frau, die den Aufruhr verursacht hatte, war nicht mehr zu sehen. Niemand hatte bemerkt, dass sie in den VW-Bus eingestiegen war.
Dorian wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Das Geräusch der Flugzeugmotoren war verstummt. Er hörte italienische Wörter, Lachen und das Dröhnen eines schweren Autos. Er war ein Gefan-
gener, gefangen in seinen trostlosen Gedanken. Irgendwann würde der Dämon sie Olivaro ausliefern, und dann würde alles vorüber sein. Er hatte keine Angst vor dem Tod, zu oft hatte er ihm ins Auge gesehen. Er wusste, dass es keine Wiedergeburt geben würde. Sollte sein Körper sterben, dann würde auch sein Geist, oder seine Seele, wie immer man es nennen wollte, aufhören zu existieren. Coco würde mit ihm sterben und mit ihr das ungeborene Leben, das in ihrem Leib wuchs. Dorian versuchte sich vorzustellen, wie er sich als Vater gefühlt hätte. Der Gedanke war so fremdartig, dass er sicher gelacht hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre, denn sein Körper war noch immer gelähmt. Das Motorengeräusch war verstummt. Der Sargdeckel wurde abgeschraubt. Jetzt müssten sie eigentlich merken, dass sie den Falschen im Sarg haben, dachte er. Nein, sinnierte er weiter. Für Kadron musste es ein Leichtes sein, ihm das Aussehen Carlo Buanarottis zu verleihen. Der Sarg wurde wieder verschlossen. Jetzt hörte der Dämonenkiller die Stimmen deutlicher. Die Arbeiter unterhielten sich miteinander. Aus ihren Worten entnahm er, dass das Begräbnis noch heute stattfinden sollte. Das verstand er nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, weshalb Kadron es zulassen sollte, dass er und Coco begraben wurden. Das würde doch nur alles umständlicher machen. Kurz darauf vernahm er die Stimme des Priesters und das Knirschen vieler Schritte auf einem Kiesboden. Dann Schreie. Wieder Motorengeräusch, das noch lange andauerte. Wieder Stille. Hoffnung stieg in ihm auf, als er hörte, wie der Sargdeckel geöffnet wurde.
Lukretia war rasend vor Wut geworden, als sie gesehen hatte, wie der kleine Mann sich auf ihren Gefährten Guido Sera gestürzt hatte. Unbeherrscht, von Rache beseelt, war sie auf den Unbekannten losgegangen. Sie hatte ihre Krallen in seinen Rücken geschlagen. Doch sie war an den Falschen beraten. Leicht hatte er sich aus ihrer Umklammerung befreit. Eine magische Flamme war auf sie übergesprungen. Wild hatte sie mit den Flügeln um sich geschlagen. Sie
wollte fliehen, doch es gelang ihr nicht, ihren Körper in die Luft zu heben. Zu ihrem Entsetzen hatte sie feststellen müssen, dass sich ihr Vampirkörper auflöste. Sie fiel mit voller Wucht gegen die Reling, versuchte sich festzuklammern, doch sie war zu schwach. Ihre Finger lösten sich vom Geländer, und sie fiel tiefer. Mit dem Hinterkopf schlug sie gegen eine Stange. Alles wurde schwarz vor ihren Augen. Sie landete im Meer, und eine Welle riss sie vom Schiff weg. Sie wurde bewusstlos. Stunden später erwachte sie. Von der Jacht war nichts zu sehen. Sie schwamm noch immer im Meer, der Himmel war mit Wolken bedeckt, und sie stand Todesängste aus. Einige Minuten ließ sie sich einfach treiben. Sie sammelte Kräfte. Plötzlich riss der Himmel auf, und der Mond war zu sehen. Seine Strahlen schienen auf sie überzuspringen. Sie spürte, wie ihre Kräfte zurückkehrten. Sie bäumte sich auf, versuchte sich in eine Riesenfledermaus zu verwandeln, was ihr nach kurzer Zeit gelang. Einmal erhob sie sich kurz aus dem Wasser, schlug wild mit den Flügeln um sich und fiel zurück auf die Wasseroberfläche. Doch sie versuchte es nochmals. Diesmal hatte sie mehr Erfolg. Sie konnte sich aus dem Wasser erheben und flog hoch in die Luft. Bald darauf setzte sich der unbekannte Dämon mit ihr in Verbindung. Aus ihren Gedanken las er, was geschehen war. Er befahl ihr, weiterhin in Richtung Iran zu fliegen. Eine Stunde danach meldete er sich wieder. Sie erhielt eine Reihe unverständlicher Befehle. Sie war völlig erschöpft, als sie einen Strand erreichte, und wusste nicht, wo sie sich befand. Sie lag erschöpft im Sand und wartete. Nach einer Weile näherten sich ihr zwei gesichtslose Gestalten, die sie zu einem Kombiwagen führten. Lukretia war so müde, dass sie keine Fragen stellte. Sie schlief sofort ein. In einem Haus in Teheran erwachte sie. Neben ihrem Bett fand sie frische Kleider, die ihr wie angegossen passten. Sie hatte sich kaum angezogen, als zwei gesichtslose Dämonen das Zimmer betraten. Nur ihre glühenden Augen waren zu sehen. Sie fiel in Trance. Lukretia merkte nicht, was die beiden Dämonen mit ihr taten. Sie konnte sich an nichts erinnern, als sie erwachte. Sie fühlte sich so schwach wie nie zuvor im Leben.
Sie konnte sich kaum an die vergangenen Tage erinnern. Ohne es zu wissen, war sie zu einem Werkzeug der Oppositionsdämonen geworden. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, von der sie nichts wusste. Lukretia bestieg ein Flugzeug nach Rom. Dort angekommen, nahm sie ein Taxi, das sie zum Hauptbahnhof brachte, und bestieg einen Zug nach Neapel, wo sie in einem kleinen Hotel am Hafen übernachtete. Am nächsten Morgen händigte ihr der Portier einen Koffer und einen Beutel aus. Als sie den Koffer öffnete, fand sie darin ein schwarzes Kleid, schwarze Strumpfhosen, flache schwarze Schuhe und einen kleinen schwarzen Hut mit einem riesigen Schleier. Lukretia zog sich um, nahm den Beutel an sich und ließ sich vom Portier ein Taxi rufen. Zu ihrem Erstaunen hörte sie sich zum Taxifahrer sagen: »Zum Bergfriedhof von Pozzuoli.« Nie zuvor hatte sie von einem Ort namens Pozzuoli gehört, und Italienisch hatte sie nie gelernt. Sie bezahlte den Taxifahrer, betrat den Friedhof und wartete geduldig. Als zwei Särge aus der Kapelle getragen wurden, schloss sie sich dem Trauerzug an. Kurz bevor die Särge in das Grab gehoben wurden, sprang sie vor und entleerte den Beutel. Verständnislos starrte sie die beiden Köpfe an, die auf den Boden kollerten. Sie wandte sich ab, von einem fremden Willen getrieben. Die beiden Särge wurden in einen VW-Bus gehoben. Lukretia setzte sich auf den Beifahrersitz, dann wurde alles schwarz um sie. Zu ihrer Überraschung fand sie sich in einem dunklen Gewölbe wieder, das nur der Schein einiger dicker Kerzen erhellte. Vor ihr standen zwei geöffnete Särge. Sie warf einen Blick hinein, und ihre Erinnerung kehrte zurück. Sie kannte die beiden erstarrten Menschen. Es waren Coco Zamis und Dorian Hunter. »Hört ihr mich?«, fragte Lukretia auf Englisch. Keine Antwort. Dorian und Coco bewegten sich nicht. Seltsamerweise wusste Lukretia ganz genau, was sie tun musste. Sie sah sich in der Höhle um. Die Wände waren rissig und schimmerten feucht. Ein modriger Geruch hing in der Luft. Zielstrebig betrat Lukretia eine Nische. Sie kannte ihre Aufgabe.
Sie musste Dorian und Coco aus ihrem Scheintod erwecken. Sie durfte keine Zeit verlieren. Lukretia blieb einen Augenblick stehen, als sie ein lautes Grollen hörte. Der Boden schien unter ihren Füßen zu beben. Die Tische, auf denen die Särge standen, bewegten sich. Das laute Krachen zersplitternden Holzes war zu hören. Wieder bebte die Erde. Lukretia lehnte sich gegen die Wand. Die Höhle schwankte. Steinbrocken fielen zu Boden. Einer der Tische brach zusammen, der Sarg krachte zu Boden, fiel zur Seite, und Dorian flog heraus.
Inspektor Riccardo Viviani hatte in seiner zwanzigjährigen Laufbahn einige seltsame Fälle bearbeiten müssen, aber noch nie war er mit dem Raub zweier Särge konfrontiert worden. Doch es gab mehr als zweihundert Zeugen. Er hatte sofort die Fahndung nach dem VW-Bus eingeleitet. Ein Zeuge hatte die Wagennummer notiert. Viviani sah die beiden Köpfe an und wandte sich schaudernd ab. Er betrat die kleine Kapelle, in der sich die Familie Buanarotti versammelt hatte. Enrico war aus der Ohnmacht erwacht. Er und sein Sohn machten einen ruhigen Eindruck, während seine Frau und die beiden Töchter haltlos schluchzten. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Viviani, »aber ich muss Ihnen einige Fragen stellen, Signor Buanarotti.« Enrico nickte und stand auf. »Gehen wir lieber ins Freie«, sagte er gefasst. Sie blieben vor der Kapelle stehen. Die Trauergesellschaft hatte sich aufgelöst. Nur wenige Menschen standen herum und sprachen über die ungewöhnlichen Ereignisse. »Ich bin über die Vorfälle unterrichtet«, sagte der Inspektor. »Mir wurde gesagt, dass eine halbe Stunde vor dem Begräbnis die Särge geöffnet wurden. Nur Sie und die engsten Angehörigen Ihrer Familie waren zugegen.« »Es stimmt«, sagte Enrico leise. »Und das macht ja alles so unfassbar, so unerklärlich. Ich wollte noch einen letzten Blick auf meinen Sohn und meine Schwiegertochter werfen. Es gab keinen Zweifel.
Ich sah meinen Sohn und meine Schwiegertochter.« Ein lautes Grollen war plötzlich zu hören, und die Erde bebte. »Sprechen Sie weiter!«, bat der Inspektor. »Ja, wie gesagt. In den Särgen lagen Carlo und Maria. Die Särge wurden geschlossen. Der Priester kam in die Aufbahrungshalle, und wir betraten die Kapelle. In der Zwischenzeit wurden die Särge auf die Wagen gehoben. Meiner Meinung nach konnte nur in dieser Zeitspanne …« Enrico brach ab. »Ich verstehe«, sagte der Inspektor. »Sie nehmen an, dass während Sie und die anderen sich in der Kapelle befanden, jemand die Särge geöffnet hat und …« »Genau das ist meine Vermutung. Ich will, dass Sie feststellen, wer meinem Sohn den Kopf abschlug.« »Ich habe mit den Sargträgern gesprochen, Signor Buanarotti. Es waren acht Männer. Sie behaupten, dass die Särge nicht eine Sekunde lang aus den Augen gelassen wurden. Ihrer Meinung nach ist es völlig unmöglich, dass jemand die Särge geöffnet hat.« »Das gibt es nicht!«, sagte Enrico ungehalten. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass sich mein Sohn …« Die Erde bebte stärker. Die Kapelle schwankte hin und her. Ein Fiat machte sich selbständig, fing zu rollen an, wurde immer rascher und krachte gegen die Kapelle. »Der Vulkan bricht aus!«, schrie Enrico entsetzt. Der Inspektor drehte sich um. Er warf dem etwa einen Kilometer entfernten Krater ›La Sofatara‹ einen Blick zu. Ein Knall ertönte, und eine kilometerhohe Wolke aus Asche und Dampf schoss aus dem Krater. Gesteinsbrocken rasten heran. Ein Stein traf den Inspektor an der rechten Hand. Er stieß einen Schmerzensschrei aus. »Wir müssen fliehen!«, brüllte Enrico und stürzte in die Kapelle. Seit langem hatten die Vulkanologen vor einem drohenden Vulkanausbruch gewarnt, doch ihre Warnungen waren nicht beachtet worden. Seit Jahren waren Hebungs- und Senkungserscheinungen rings um den Golf von Neapel festgestellt worden. Die Umgebung von Pozzuoli hatte sich allein im vergangenen Jahr um mehr als zwei Meter gehoben. Im Norden, rings um die Stadt Pozzuoli, liegen
die Phlegräischen Felder. Dort ist die Erdkruste über dem glutflüssigen Magma nur zwei Kilometer dick. Der westlich der Stadt gelegene Monte Nuovo war am 28. September 1538 schlagartig entstanden, als sich die ganze Gegend um fast zehn Meter gehoben hatte. Alle waren sich der Gefahr bewusst gewesen, doch nur wenige hatten die notwendigen Konsequenzen gezogen und waren aus Pozzuoli fortgezogen. Die Vulkanologen hatten nicht voraussagen können, wann und wo der Ausbruch stattfinden würde. Jetzt war es soweit. Die riesige Wolke, die aus dem Krater strömte, bestand aus Dampf mit einer Temperatur von über achthundert Grad. In den Dampf mischten sich giftige Gase, vor allem Kohlenmonoxyd und Schwefelwasserstoff. Enrico rannte zu seinem Wagen. Seine Hände zitterten, als er die Tür aufsperrte und sich hinter das Lenkrad fallen ließ. »Beeilt euch!«, schrie er seiner Familie zu. Seine Frau setzte sich neben ihn, während die Kinder im Fond des Mercedes Platz nahmen. Enrico fuhr los. Er sah, wie der Inspektor in seinen klapprigen Alfa Romeo einstieg. Überall hasteten Menschen zu ihren Autos, nur von einem Gedanken getrieben: Flucht! »Schließt die Fenster«, sagte Enrico. »Der Vulkan stößt giftige Dämpfe aus.« »Wohin fährst du, Papa?«, fragte Giuliano. »Ich versuche die Straße nach Neapel zu erreichen.« Er trat das Gaspedal durch. Der schwere Wagen raste die steile Straße hinunter, auf Pozzuoli zu. Aus dem Krater drang noch immer Dampf. Enrico bog nach links in eine schmale Straße ein, die rund um den Berg führte. »Rasch, Enrico!«, schrie Gina verzweifelt. Hundert Meter über der Straße öffnete sich der Berghang. Ein riesiger Schlund tat sich auf. Eine Explosion zerriss die Luft und rüttelte den Wagen durch. Flammen schossen aus der Öffnung hervor, dann folgte ein siedendheißer Schlammsturzbach. Ein Bauer, der mit einem Pferdefuhrwerk unterwegs war, wurde von den Schlammmassen getroffen. Er riss die Arme hoch und fiel den Abgrund hin-
unter. Die Pferde rasten weiter, kamen von der Straße ab und übersprangen die Leitschiene, wurden zu Boden gerissen und stürzten, sich immer wieder überschlagend, die Böschung hinunter. Plötzlich war es dunkel geworden. Die dichten Rauchschwaden hüllten die Sonne ein. Der Berg platzte auf, eine unsichtbare Kraft riss ihn der Länge nach auf. Rotglühende Lava quoll hervor. Enrico stieg auf die Bremse, riss das Steuer nach rechts und bog in einen schmalen, holprigen Feldweg ein. Der rotgelbe Strom des geschmolzenen Gesteins verfolgte ihn. Dampf stieg auf, und die Erde bebte. Ein umgekippter Leiterwagen versperrte Enrico den Weg. Verzweifelt versuchte er auszuweichen, riss das Steuer herum. Der Wagen brach nach links aus, streifte eine Hausecke, stellte sich quer und schlitterte gegen einen halb verfallenen Brunnen. Die glühende Lava hatte den Wagen erreicht und schob ihn zur Seite. Der dünnflüssige Feuerstrom hüllte den Wagen ein. Die Fensterscheiben platzten, und die Lava drang ins Innere des Wagens …
Lukretia hatte sich vom Erdbeben nicht aufhalten lassen. Mit geschlossenen Augen nahm sie die Beschwörung vor. Die Utensilien, die sie dazu brauchte, hatte sie in der Nische gefunden. Sie malte magische Kreise und Zauberformeln auf den Boden. Ihre Lippen formten Worte in einer fremden Sprache. Der Sinn der Worte war nur wenigen Dämonen bekannt. Die Erde zitterte noch stärker. Immer mehr Steine lösten sich aus der Decke, und die Wände neigten sich. Lukretia schloss die Beschwörung ab, dann stand sie auf und wartete. Kurz danach bewegte sich Dorian unsicher. Er hob die Hände, wälzte sich zur Seite und schlug die Augen auf. Lukretia hatte den Schleier abgelegt. Ihr langes Haar fiel locker über ihre Schultern. »Lukretia!«, sagte Dorian verwundert und stand schwankend auf. Im Boden bildete sich ein feiner Riss, der rasch tiefer wurde. »Wo sind wir?« Die Vampirin antwortete nicht. Dorian trat neben den Sarg, der auf einem kleinen Tisch stand.
Coco bewegte sich. »Aufwachen, Coco!«, rief Dorian. Sie öffnete die Augen und stand auf. Dorian hob sie zu Boden. Der Dämonenkiller verstand die Welt nicht mehr. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit Lukretias Erscheinen. Sie musste von den Oppositionsdämonen gerettet worden sein. Aber wie hatte sie es zuwege gebracht, sie zu befreien? Dafür waren ihre Fähigkeiten zu schwach. Sie hatte Kadron nichts entgegenzusetzen. Es gab nur eine Möglichkeit. Die Oppositionsdämonen verwendeten sie jetzt als ihr Werkzeug. Dazu mussten sie aber in ständigem Kontakt mit Lukretia stehen. »Lukretia!«, schrie der Dämonenkiller die Vampirin an, die noch immer reglos wie eine Statue in der Höhle stand. Er packte sie an den Schultern und rüttelte sie. Wieder erschütterte ein Stoß die Erde. »Wir müssen flüchten«, sagte Lukretia plötzlich. Sie hatte mit veränderter Stimme gesprochen, einer Stimme, die Dorian kannte. Sie gehörte einem der Oppositionsdämonen, mit dem er drei Mal gesprochen hatte. »Ihr befindet euch in Pozzuoli. Es ist uns gelungen Kadron abzulenken, ihn in einen Kampf zu verwickeln, der seine ganzen Kräfte erforderte. Er konnte sich nicht auf euch konzentrieren, und das nutzten wir aus. Lukretia und einige Helfer haben eure Särge geraubt und euch in diese alte Römerhöhle gebracht. Hier wäret ihr für einige Zeit sicher gewesen, doch Kadron konnte sich befreien und sich mit Olivaro in Verbindung setzen. Und sie taten etwas, womit niemand rechnen konnte. Ein wahrhaft teuflischer Plan: Sie ließen den Vulkan ausbrechen. Ihr seid in der Höhle nicht mehr sicher. Ihr müsst versuchen, die Stadt zu verlassen. Lukretia wird euch führen.« Die Starre fiel von der Vampirin ab. »Kommt mit«, sagte sie rasch. Sie lief voraus. Dorian schob Coco vor sich her. Sie ließen die Höhle hinter sich und betraten einen schmalen Gang. Die Decke war niedrig. Bald wurde es heller. Sie traten aus dem Gang und blieben auf einer Plattform stehen. Coco drängte sich entsetzt an Dorian. Die Stadt war von dunklen, stinkenden Dampfwolken eingehüllt. Gesteinsbrocken und glühende Lava wurden durch die Luft geschleu-
dert. Im Hafen zischte und kochte das Wasser. Immer wieder stiegen hohe Wasserfontänen in den dunklen Himmel. Ein bestialischer Geruch hing in der Luft. »Rasch«, rief Lukretia ihnen zu. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Sie stieg in einen VW-Bus. Dorian und Coco setzten sich neben sie. Lukretia fuhr los. Eine schmale Gasse lag vor ihnen. Kein Mensch war zu sehen. Immer wieder ging Ascheregen nieder. Die Windschutzscheibe überzog sich mit einer Staubschicht. Lukretia stellte die Scheibenwischer ein, doch das half nicht viel. Sie musste langsam fahren. Überall lagen riesige Gesteinsbrocken herum. Die Erde bebte ununterbrochen. Der Bus wurde hin- und hergeschleudert. Einige der Häuser erzitterten in ihren Grundfesten. Ziegel und Fensterscheiben flogen auf die Straße. Eines der Gebäude neigte sich zur Seite. Die Dachschindeln polterten herunter, dann brach das Haus in sich zusammen. Eine Staubwolke verhüllte die Sicht. Lukretia legte den Rückwärtsgang ein, fuhr langsam weiter und bog in eine steil abfallende Straße ein. Aber sie kamen nicht weit und mussten bald aussteigen. Drei Autos waren zusammengestoßen und blockierten die Gasse. »Wir müssen zu Fuß weiter«, sagte Lukretia und hielt sich ein Tuch vors Gesicht. Dorian und Coco folgten ihrem Beispiel. »Wohin bringst du uns?«, fragte Dorian. »Zu einem Höhlensystem. Dort befindet sich …« Das Krachen einer Explosion übertönte ihre Worte. Ein Haus brach zusammen, und sie warfen sich zu Boden. Nachdem sich der Staub verzogen hatte, gingen sie weiter. Sie kamen an unzähligen zerstörten Autos vorbei. Immer wieder stießen sie auf Leichen. Kurz darauf erreichten sie eine Stelle, die einen guten Überblick über die Stadt bot. Es war ein entsetzlicher Anblick. Fliehende Menschen, die verzweifelt um einen Platz in den Autos kämpften. Brennende Häuser, so weit man sehen konnte. Aus einem der die Stadt überragenden Berge floss ein breiter Strom roter Lava, der sich durch die schmalen Gassen schlängelte und Autos und Menschen mit sich riss. »Rasch.« Lukretia drängte zur Eile. »Wir haben keine Zeit zu ver-
lieren.« Coco konnte kaum mehr laufen. Ihre Beine schienen aus Blei zu sein. Sie rang verzweifelt nach Luft, torkelte und fiel zu Boden. »Ich kann nicht mehr«, keuchte sie. Dorian bückte sich und hob Coco hoch. Er legte sie über seine Schulter und folgte Lukretia. Ein glühender Stein traf ihn auf der rechten Wange. Er taumelte, stolperte aber weiter. »Ist es noch weit?«, fragte er verzweifelt. Lukretia antwortete nicht. Sie wandte immer wieder den Kopf. Ihre Augen waren aufgerissen. Sie hatte panische Angst vor dem Feuer und stieß einen schrillen Entsetzensschrei aus, als sie einen Lavastrom erblickte, der sich ihnen rasch näherte. Dorian biss die Zähne zusammen und rannte so schnell er konnte. Immer wieder prallten Steine gegen seinen Körper, und die heiße Asche hüllte ihn ein. Seine Augen waren verklebt, er sah alles wie durch einen Nebel. »Bald haben wir es geschafft«, rief Lukretia. Vor einer Treppe blieb sie stehen. »Da oben sind die Höhlen, von denen ich gesprochen habe.« Dorian setzte Coco ab. Er war völlig ausgepumpt. Am liebsten hätte er sich hingesetzt. Der Lavastrom kam näher – er warf Blasen, und die Hitze versengte ihre Kleider. Dorian glaubte ersticken zu müssen. Coco fiel auf die Knie. Er riss sie hoch. Die Treppe bebte, und ihre Stufen schienen kein Ende zu nehmen. Einmal wandte Dorian den Kopf. Den Anblick der verwüsteten Stadt würde er sein Leben lang nicht vergessen. Endlich hatten sie die letzte Stufe erreicht. Lukretia führte sie zwischen einigen Bäumen hindurch und blieb vor einer kleinen Höhle stehen. Coco legte sich auf den Bauch und kroch in die Höhle. »Jetzt du, Dorian«, sagte Lukretia. Er kniete nieder, schob den Kopf in die Höhle und kroch rasch hinein. Er spürte Cocos Füße. Immer wieder versuchte er sich aufzurichten, doch die Höhle war nicht höher als fünfzig Zentimeter. Sie führte ziemlich steil in die Tiefe. Stickige, faulige Luft schlug ihnen entgegen. Die Erde bebte immer noch. Kleine Steine und Sand fielen
auf sie. Doch sie ließen sich nicht aufhalten. Die Höhle wurde breiter, und bald konnten sie aufrecht stehen. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Dorian. »Ich gehe voraus«, sagte Lukretia. »Coco, gib mir deine Hand! Dorian, du hältst dich an Coco fest! Habt ihr verstanden?« Die beiden nickten. Je tiefer sie in den Berg kamen, desto heißer und stickiger wurde die Luft. Weit vor sich sahen sie es rot glühen. Rauchwolken trieben auf sie zu. Die Hitze war kaum noch zu ertragen. Nach hundert Metern wurde es heller. Die Höhle war riesig. Ein schmaler Weg lief die rechte Wand entlang. Sie blieben einen Augenblick stehen. Zweihundert Meter unter ihnen schob sich ein Lavastrom dahin. Ein falscher Schritt, dachte Dorian, und wir stürzen ab. Nach fünfhundert Metern wurde der Weg breiter. Sie konnten jetzt nebeneinander gehen. Die Erde bebte noch immer. Die Wände schienen zu zittern. Plötzlich war ein höhnisches Lachen zu hören, das immer lauter und schriller wurde. »Ich wusste, dass ihr kommen würdet!«, brüllte eine tiefe Stimme. »Abu'l-hawl!«, schrie Coco. »Erraten, Miss Zamis«, sagte der Dämon, der nirgends zu sehen war. »Ich habe es aber lieber, wenn man mich Kadron nennt.« Lukretia war stehen geblieben. Sie bewegte sich nicht. Im Schein des roten Lavastroms sah ihr Gesicht völlig entspannt aus. »Ich rechnete damit, dass die Olivaro feindlich gesinnten Dämonen etwas unternehmen würden«, sprach Kadron weiter. »Und ich irrte mich nicht. Sie verwickelten mich in einen Kampf, der mich länger beanspruchte, als ich erwartet hatte. Als ich zum Friedhof zurückkehrte, waren die Särge verschwunden. Ich versuchte festzustellen, wohin sie gebracht worden waren, doch es gelang mir nicht. Ich wusste nur, dass sie irgendwo in der Stadt steckten. Ich setzte mich mit Olivaro in Verbindung, und wir entwickelten einen sehr wirksamen Plan. Der Vulkanausbruch geht auf unser Konto – wir wollten Sie aus Ihrem Versteck treiben. Und es gelang.« Kadron lachte höhnisch. »Sie flohen und liefen mir genau in die Arme. Es gab nur einen Fluchtweg, und der führte in diese Höhlen.«
»Olivaro muss völlig übergeschnappt sein«, stellte Coco fest. »Nur um uns zu fangen, zerstört er Pozzuoli! Tausende sterben …« »Das hat Sie nicht zu kümmern, Miss Zamis«, sagte Kadron spöttisch. »Das einzige, was zählt, ist unser Plan. Und der klappte. Olivaro verzichtet darauf, dass ich Sie lebend zu ihm bringe. Sie werden hier den Tod finden. Blicken Sie in die Tiefe. Ich werde Sie hinunterstoßen, und Sie werden im Lavastrom sterben.« Wieder war das bösartige Lachen zu hören. Dorian ließ Lukretia nicht aus den Augen. Er war sicher, dass sie mit den Oppositionsdämonen in Verbindung stand. »Zeigen Sie sich, Kadron!«, schrie Dorian. »Gern«, sagte der Dämon. »Diesen Wunsch erfülle ich Ihnen mit dem größten Vergnügen.« Der Dämon war plötzlich zu sehen. Er stand fünfzig Meter vor ihnen. Sein olivfarbenes Gesicht schimmerte seltsam. Die Augen funkelten, und der Mund war verzerrt. Er stand breitbeinig da und hatte die Hände vor der Brust verschränkt. Wie immer trug er seine weißen Stulpenhandschuhe. Langsam kam er ihnen entgegen. »Zuerst werde ich Lukretia in die Tiefe stoßen. Ich werde mich ein wenig mit ihr amüsieren. Verwandle dich, Lukretia. Ich sehe es gern, wenn du dich in eine Fledermaus verwandelst. Dann kann ich dich auch leichter töten.« Lukretia bewegte sich noch immer nicht. Sie hob langsam den Kopf und starrte Kadron an. Der Dämon blieb etwa fünf Meter vor ihr stehen. »Du wirst mich doch nicht um mein Vergnügen bringen wollen, Lukretia? Wehre dich!« »Du hast einen gewaltigen Fehler begangen, Kadron«, sagte Lukretia plötzlich mit veränderter Stimme. Kadron hob die Hände. Aufmerksam blickte er die Vampirin an. »Olivaro und du, ihr habt endgültig den Bogen überspannt«, sagte Lukretia. »Ihr seid eine Gefahr für die Familie geworden.« »Du langweilst mich«, sagte Kadron. »Ich übernahm nur einen Auftrag, den ich jetzt beenden werde. Ich weiß, wer aus dir spricht, Lukretia. Aber ihr könnt mir nichts anhaben.«
Kadron schlug die Hände zusammen: Ein blauer Blitz raste auf Lukretia zu, prallte von ihr ab, kehrte zurück zu Kadron, der die Hände abwinkelte, und schlug in den Boden. »Du irrst dich, Kadron. Du hast selbst behauptet, dass du leicht zu töten seiest. Man muss nur deine schwache Stelle kennen. Das stimmt doch, oder?« Kadron antwortete nicht. »Und wir kennen deine schwache Stelle, Kadron«, sagte Lukretia. Sie trat einen Schritt vor. Mit einem Ruck riss sie sich das Kleid vom Leib und verwandelte sich in eine Fledermaus. Kadron stieß einen Entsetzensschrei aus und sprang einen Schritt zur Seite. Dorian packte Coco und zog sich rasch zurück. Kadrons Gestalt verwandelte sich langsam. Die Haare fielen ihm aus, und sein Körper wurde größer. Seine Haut wurde schneeweiß und die Augen dunkelrot. Für einen Augenblick sah Dorian die Brust Lukretias, in die seltsame Muster tätowiert waren, die der Dämonenkiller nie zuvor gesehen hatte. Die Muster schimmerten giftgrün. »Das ist ein uralter ägyptischer Bannspruch«, sagte Coco leise. »Es muss den Oppositionsdämonen gelungen sein, den richtigen, den echten Namen Kadrons zu erfahren. Sieh selbst! Er kann seine magischen Fähigkeiten nicht einsetzen.« Lukretia stieß auf Kadron nieder. Mit beiden Armen umschlang sie den Dämon, der wild um sich schlug. Kadron verwandelte sich weiter. Sein Schädel veränderte sich. »Lukretia trägt eine Skarabäengemme um den Hals«, sagte Coco. Kadrons Kopf flimmerte, nahm eine neue Form an, verwandelte sich in einen Krokodilkopf. Er riss das Maul auf und versuchte Lukretia zu zerreißen. »Weiche von dannen, krokodilfratziger Dämon Sui!«, schrie Lukretia. »Wahrlich, du hast keine Macht über mich! Denn ich lebe und wandle durch die magischen Worte in mir. Aus meinem Munde tretend, schafft die Magie undurchdringlich ein Netz. Meine Zähne gleichen Messern.« Kadron brüllte auf. Seine Bewegungen wurden schwächer. Lukre-
tia stieß sich ab, erhob sich in die Luft und flog in die Tiefe. Dabei rief sie weiterhin die Beschwörungsformel. »Weiche von dannen, Dämon mit der Krokodilfratze, du! Sieh, die skorpionköpfige Serket lebt in meinem Busen! Wahrlich, ich bin die smaragdäugige Göttin! Gepanzert bin ich mit magischen Sprüchen, gewaltig an Macht!« Lukretias Stimme wurde immer leiser. Sie flog über dem Lavastrom und ließ den leblosen Körper fallen. Der tote Dämon stürzte in die Glut und war nach wenigen Augenblicken nicht mehr zu sehen. Plötzlich schlug sie verzweifelt mit den Flügeln um sich, streifte die Felswand, geriet ins Taumeln. Dann stürzte sie mit einem Aufschrei in die Tiefe. Einige Sekunden war ihr Körper noch zu sehen, dann war sie verschwunden. Dorian und Coco standen wie versteinert. Sie warteten auf eine Nachricht der Oppositionsdämonen, doch diese meldeten sich nicht. Nach einer Weile gingen sie schweigend weiter. Der Weg führte tiefer in den Berg hinein. Als es nach einigen Schritten dunkel um sie wurde, griff Dorian nach Cocos Hand. Die Erde bebte noch immer, und dumpfes Grollen war zu hören. Doch dann hörte das Beben auf, die Hitze war nicht mehr zu spüren. Ein schwacher Lichtschimmer war zu sehen, auf den sie rasch zugingen. Sie traten aus der Tropfsteinhöhle und blieben überrascht stehen. Dämmriges Licht empfing sie. Die Landschaft war nebelverhangen. Keine Einzelheiten waren zu erkennen. Dorian blickte sich verwundert um. Eines stand mit Sicherheit fest: Sie waren weit von Pozzuoli entfernt. Aber wo? Er legte einen Arm um Cocos Schultern und zog sie an sich.
Viertes Buch
Die Höhle der Untoten von Gay D. Carson
Sie hatte Angst, schmiegte sich eng an ihn und schloss jedes Mal die Augen, wenn ein Blitz die Dunkelheit zerriss. Das Gewitter war genau über ihnen. Der krachende Donner schien die kleine Vorhöhle sprengen zu wollen. Sie hatten hier provisorisch Schutz gefunden und wichen immer tiefer in die dunkle und niedrige Höhle zurück, vor dem peitschenden Regen flüchtend. Er hielt sie fest, hatte seine Arme um sie gelegt und fühlte ihren Körper, der sich vor Angst verkrampft hatte. Über ihre Schultern hinweg sah er auf sein Motorrad, das er vorn am Höhleneingang zurückgelassen hatte. Er hieß Walter Dünhofen, war zwanzig Jahre alt und genoss seine Rolle als Beschützer. Der junge Mann war groß und kräftig, hatte dunkelblondes Haar und sah gut aus. Vor einer guten halben Stunde war er mit seiner Begleiterin losgefahren, um ihr diese Höhle zu zeigen. Er hatte sie erst vor wenigen Tagen ausfindig gemacht und war der Meinung, dass er ein besseres Versteck gar nicht hätte finden können. Hier oben im dichten Bergwald brauchte man nicht mit Überraschungen zu rechnen – hier war und blieb man ganz unter sich. Liesel Blattner war nur zu gern mitgefahren. Sie war etwas über achtzehn Jahre alt, zierlich und schwarzhaarig. Liesel arbeitete als Friseuse in dem kleinen Marktflecken, der im Moment unerreichbar für sie war. Natürlich hatte Liesel von Anfang an gewusst, dass es Walter nicht um die Höhle ging. Sie kannte ihn schließlich nur zu gut. Er war ein junger Mann, der sich seine Freundinnen aussuchen konnte. Als der einzige Sohn des Gastwirts unten in Greulingen – wie der Marktflecken hieß – galt er als attraktive Partie. »Momentchen mal, Liesel!«, sagte er und schob sie von sich. »Ich muss die Maschine reinholen. Die wird mir sonst nass.« Sie fuhr zusammen, als in diesem Augenblick wieder ein Blitz vom Himmel zischte. Der sofort nachfolgende Donner war wie eine schwere Sprengung in nächster Nähe. Der Boden unter ihren Füßen
vibrierte. Sie schloss geblendet die Augen, klammerte sich an Walter fest und hatte das Gefühl, die Höhle würde gleich einstürzen. Walter war ebenfalls beeindruckt, doch er zeigte seine Angst nicht. Er nahm sie wieder in die Arme und redete beruhigend auf sie ein. Es tat ihr gut, seine Stimme zu hören. Liesel stand mit dem Rücken zum Eingang. Sie sah in die unergründliche Dunkelheit der Höhle hinein und kam sich wie in einem riesigen und gefräßigen Maul vor, das jeden Moment zuschnappen konnte. Ihre Angst steigerte sich. Am liebsten wäre sie hinaus in das Unwetter gelaufen und hätte sich dort drüben im Wald in Sicherheit gebracht. »Nun hab dich doch nicht so!«, sagte Walter und schielte bereits wieder zu seiner Maschine hinüber. »Hier kann uns überhaupt nichts passieren.« Vorsichtig löste er sich aus ihren Armen und lief zum Motorrad hinüber. Er hatte sich die Maschine erst vor wenigen Tagen gekauft. Sie war sein ganzer Stolz und in diesen Sekunden wichtiger als Liesel. Der schräg einfallende Regen peitschte ihm ins Gesicht, als er das Motorrad erreicht hatte. Er warf einen kurzen Blick auf den Wald, dessen Konturen sich im Unwetter auflösten. Es konnte noch einige Zeit dauern, bis Liesel und er zurück nach Greulingen fahren konnten. Dieser Aufenthalt hier oben in der Höhle ließ sich nutzen. Walter war ja schließlich nicht hierher gefahren, um Liesel die Höhle zu zeigen. Die interessierte ihn nur am Rande. Nachdem er die Maschine geborgen hatte, bückte er sich nach der zusammengerollten Decke, die er vorsorglich mitgenommen hatte, schnürte sie auf und breitete sie auf dem Boden aus. Er lächelte Liesel an und deutete nach unten. »Setz dich doch! Hier müssen wir erst mal bleiben, Liesel.« Zögernd ließ sie sich nieder, sah aber immer wieder verstohlen in die Höhle hinein und hielt sich die Ohren zu. Plötzlich fuhr sie herum und starrte auf den Wald hinaus. Eine Fichte teilte sich gerade in zwei Hälften, als sei sie von einer riesigen Axt gespalten worden. Eine Flammengarbe schoss hoch und setzte den Baum in Brand. »Einschlag«, stellte Walter unnötigerweise fest und bemühte sich um Festigkeit in seiner Stimme. Liesel brauchte nicht zu merken,
dass auch er Angst hatte. Er sah aus zusammengekniffenen Augen auf die riesige Fackel, die der peitschende Regen nicht zu löschen vermochte.
Walter ließ sich auf der Decke nieder. Liesel fuhr zurück, als seine Hand nach den Knöpfen ihrer Bluse tastete. »Nicht!«, rief sie nachdrücklich. »Was hast du denn?«, wollte er wissen. Im Grunde war der junge Mann froh, dass sie auf seine Annäherungsversuche nicht einging. Er hatte sich zu dieser Geste nur verpflichtet gefühlt. Ihm stand jetzt gar nicht der Sinn nach Zärtlichkeiten. Auch er fühlte sich unsicher und bedrückt. Die Flammen der riesigen Baumfackel wurden vom Regen niedergedrückt und waren bereits teilweise gelöscht. Das Gewitter musste jetzt direkt über dem Berg stehen. »Lass uns gehen!«, hörte er Liesel sagen und drehte sich überrascht zu ihr herum. »Bei dem Wetter?«, fragte er ungläubig. »Mir ist es hier unheimlich«, sagte sie ängstlich. »Ich habe die ganze Zeit über das Gefühl, als würden wir beobachtet, Walter. Bitte, lass uns fahren!« »Du bist verrückt«, gab er zurück. »Wer sollte uns hier schon beobachten!« »Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise. »Lass uns fahren!« »Sieh doch mal raus!«, sagte er ein wenig heftig. »Wir können froh sein, dass wir hier sind. Wirklich.« Ihre Angst sprang auf ihn über. Walter wurde wütend auf sich. Er musste etwas tun, um seine Befangenheit abzuschütteln. Rasch öffnete er die Tasche, die auf dem Tank festgeschnallt war, holte die Taschenlampe hervor, schaltete sie ein und leuchtete in die Höhle. »Nichts«, stellte er – insgeheim erleichtert – fest. »Überhaupt nichts, Liesel. Mach jetzt bloß nicht die Pferde scheu, Mädchen! Hier oben sind wir ganz allein.« Seine Stimme klang etwas zu nachdrücklich. Walter gab sich einen inneren Ruck und ging ein Stück in die Höhle hinein. Er musste sich
beweisen, dass er keine Angst hatte. Liesel sollte wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Er näherte sich dem kleinen Geröllberg, den er bereits kannte. Tiefer war er noch nicht vorgedrungen. Er ließ den Lichtstrahl über die Kalksteine gleiten und war ehrlich überrascht. Der Geröllberg schien inzwischen ein wenig abgetragen worden zu sein. Es gab jetzt einen Durchschlupf, der etwa anderthalb Meter hoch war. Wer mochte die Steintrümmer weggeräumt haben? »Liesel, das musst du sehen!«, rief er seiner Freundin zu, während er mit der Taschenlampe die Grotte ableuchtete, die hinter den Steintrümmern zu erkennen war. »Das sieht wie 'ne Kapelle aus.« »Walter! Walter, komm zurück! Bitte!« Er hörte ihre Stimme, die ein wenig schrill vor Angst war, doch seine Neugierde war größer. Vergessen war die Angst. Entschlossen schob er sich in die Grotte hinein und erlag bereits dem magischen Zauber dieser Höhle. Er befand sich in einer Welt der Wunder und spürte nichts von der tödlichen Bedrohung, die ihn umgab.
Geliebt wurde sie nicht, doch man brauchte sie. Gewiss, es gab einen Arzt, der für Greulingen zuständig war; und man hatte auch einen Viehdoktor. Doch wenn man wirklich krank war und das Vieh nicht mehr fraß oder keine Milch mehr gab, dann ging man heimlich zur alten Martha. Martha lebte von einer bescheidenen, kleinen Rente und wohnte in einem niedrigen Steinhaus am Rande des Marktfleckens. Sie nannten sie eine Hexe, aber das war sie nicht. Sie sammelte mit Sachverstand Kräuter, trocknete sie und verkaufte sie an ihre Kunden weiter. Damit besserte sie ihre Einkünfte auf. Die alte Martha machte sich nichts daraus, dass man sie ein wenig fürchtete, vielleicht genoss sie es sogar. Mit sicherem Instinkt wusste sie, dass ihre Kunden Geheimnisvolles von ihr erwarteten. Sie kam diesem Wunsch gern nach und erhöhte dadurch die Wirksamkeit ihrer Kräuter und Tees. An diesem späten Nachmittag befand sie sich im Stall des Lobelbauern und besprach die Kühe, die seit zwei Tagen kaum noch Milch gaben. Die alte Martha verstand ihr Hand-
werk. Mit einem Reisigbund beschrieb sie magische Formeln, murmelte dazu Unverständliches und schritt die Kühe der Reihe nach ab. Aus einer flachen Flasche, in der einmal ein Kräuterschnaps gewesen war, versprengte sie Wasser. Sie hatte die Flasche bei sich zu Hause mit ganz normalem Leitungswasser gefüllt, doch die Flasche war mit seltsamen Zeichen bemalt, und darauf kam es an. Der Lobelbauer, ein untersetzter, vierschrötig aussehender Mann, stand achtungsvoll vorn an der Tür und schaute zu. Er war ein aufgeklärter Mensch, wie er am Stammtisch stets laut betonte. Hin und wieder sah er sich sogar politische Sendungen im Fernsehen an – er wusste, was in der Welt passierte. Doch er war fest davon überzeugt, dass seine Kühe verhext worden waren. Irgendeiner, der ihm Böses wollte, musste das getan haben. Er hatte auch schon einen bestimmten Verdacht, über den er allerdings nicht laut redete. Die alte Martha hatte die Reihe der Tiere abgeschritten. Sie zupfte einen dürren Zweig aus dem Reisigbündel und drückte ihn dem Bauern in die Hand. »Vergrab das, Bauer!«, sagte sie eindringlich. »Vergrab es tief unter der Schwelle! Der Bann müsste eigentlich reichen. Aber vergrab es erst um Mitternacht, sonst wirkt es nicht.« In diesem Moment erschien sie ihm tatsächlich wie eine Hexe. Die alte Martha war weit über sechzig Jahre alt, hatte ein schmales Vogelgesicht und kleine, flinke Augen. Ihr graues Haar war dünn und strähnig. Ein breites Schultertuch hüllte ihren schmalen Körper fast ganz ein. Sie ging gebeugt, was aber nichts mit Hexerei zu tun hatte – sie hatte Rheuma und oft starke Schmerzen. Daher trank sie auch recht gern. Ein klarer Schnaps war ihr am liebsten. Der Lobelbauer nahm den dürren Stecken achtungsvoll entgegen und wich ihren dunklen Augen aus. In ihrer Nähe fühlte er sich nicht wohl. Er hätte die alte Martha am liebsten sofort weggeschickt, doch das ging nicht, sie musste erst noch bewirtet werden. Zudem tobte draußen ein Unwetter, wie er es lange nicht mehr erlebt hatte. Er führte die Alte in die Küche und deutete auf die Eckbank. Dann öffnete er den Schrank und holte eine Flasche Schnaps hervor. Seine Frau, die ein wenig Angst vor der alten Martha hatte, war längst aus
der Küche, sie wollte mit der alten Kräuterhexe nicht unnötig zusammenkommen. Als er der alten Martha eingoss, zuckte ein Blitz über den Himmel, der von einem Donnerschlag begleitet wurde. »Das war dicht«, sagte der Lobelbauer. Er schaute zum Fenster hinaus, doch zu erkennen war nichts. Der Regen peitschte gegen die Scheiben. Es war fast dunkel vor dem Haus. Die alte Martha setzte das Glas an die Lippen und kippte den Schnaps gekonnt herunter. Sie schüttelte sich und streckte dem Bauern das Glas sofort wieder hin; sie wollte diese seltsame Unruhe vertreiben, von der sie seit dem Beginn des Unwetters erfasst worden war. Die Alte kannte das. Es hing mit ihrer Wetterfühligkeit zusammen. Doch heute war es viel stärker und schmerzhafter. Sie spürte, dass etwas in der Luft lag, das mit dem Unwetter nichts zu tun hatte. Eine seltsame Bedrohung erfüllte die Atmosphäre. Die alte Martha wusste aus Erfahrung, dass sie sich auf dieses Gefühl fest verlassen konnte. Sie redete niemals darüber und hütete es als ihr Geheimnis – ihre Gabe, Unglück und Tod vorauszuahnen. Allerdings hätte sie niemals sagen können, wen dieses Unglück traf, sie musste sich selbst immer wieder überraschen lassen. Die alte Martha griff hastig nach dem inzwischen gefüllten Glas und trank es in einem Zug leer. Der Tod hatte sich angekündigt. Irgendeiner hier im Marktflecken würde innerhalb der nächsten Stunde sterben, das stand mit letzter Sicherheit fest. »Du gehst aber ran, Martha«, sagte der Lobelbauer und füllte das Glas erneut. Die alte Frau antwortete nicht. Sie schien in sich hineinzuhorchen. Ihre dunklen Augen waren weit geöffnet, sie atmete schneller. Der Lobelbauer zog sich zum Ofen zurück und beobachtete sie mit einer Mischung aus Neugierde und Abscheu. Sie war wirklich eine Hexe. Deutlicher hatte er das noch nie wahrgenommen. Die alte Martha richtete sich stocksteif auf und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Sie schien irgendetwas zu sehen, was ihm verborgen blieb. Ja, sie sah tatsächlich etwas. Die alte Martha hatte so etwas noch nie zuvor erlebt. Sie sah durch
den Bauern und die Wand hindurch hinauf in den Bergwald, sah eine brennende Fichte, die der Blitz gerade erst gespalten haben musste, sah dichtes Strauchwerk vor einem Steilhang, dann zwei Gestalten. Die alte Martha hatte Angst. Solche Gesichter hatte sie noch niemals gehabt. Sie wollte nichts sehen, schloss die Augen, versuchte die Beklemmung abzuschütteln. Doch trotz der geschlossenen Augen sah sie nach wie vor die beiden Menschen hinter dem dichten Strauchwerk. Sie befanden sich in einer Höhle und redeten miteinander. Die Gesichter dieser beiden Menschen waren nicht zu erkennen. Wo Augen, Mund und Nase sein mussten, waren nur weiße Flecke. Die alte Frau am Tisch sah aber noch mehr. Da war noch etwas in der Höhle. Es hockte tief im Berg, schien tot zu sein, und dennoch ging von diesem schemenhaften Etwas eine gewaltige Kraft aus, die sie bis hierher spürte. Diese Ausstrahlung ergriff Besitz von ihr. Die alte Frau fasste mit beiden Händen nach ihrem Hals, rang nach Luft. Sie glaubte, ersticken zu müssen. Das Etwas bewegte sich. Zuerst begann es nur leicht zu zittern, dann schien es eine unsichtbare Hülle zu sprengen. Die alte Martha sah noch mehr. Sie sprang plötzlich auf, stieß einen heiseren Schrei des Entsetzens aus, lief aus der Küche, rannte auf ihren kurzen Beinen zur Tür, riss sie auf und verschwand nach draußen, bevor der Bauer sie daran hindern konnte. Er blieb in der geöffneten Tür stehen, wollte sie zurückrufen, fand aber nicht die Kraft dazu. Der peitschende Regen trieb ihn zurück. Als ein Blitz aufzuckte, konnte er die Alte für Sekundenbruchteile ausmachen. Die alte Martha war bereits unter den Obstbäumen. Sie war nur noch als Umriss zu erkennen. Das Schultertuch umflatterte ihre kleine, hagere Gestalt. Wie eine riesige Fledermaus sah sie aus, unheimlich und bedrohlich. Der Lobelbauer schlug die Tür zu, wischte sich den Regen vom Gesicht und holte tief Luft, bevor er hinüber zum Ecktisch ging, um sich einen Schnaps einzugießen. So etwas hatte er noch nicht bei der alten Martha erlebt. Wie von Sinnen war sie gewesen. Sicherheitshalber bekreuzigte er sich.
»So was habe ich noch nie gesehen«, flüsterte Walter. Wahrhaftige Andacht war in seiner Stimme. Mit der Taschenlampe leuchtete er die Wände der Grotte ab. Er hatte seinen rechten Arm um Liesels Schultern gelegt und führte sie an den Wandzeichnungen entlang. Sie waren lebensgroß und stellten menschenähnliche Figuren dar. Diese Felsbilder waren noch völlig unversehrt. Sie waren mit rotem Farbstoff auf den Kalkstein aufgetragen worden. Die Figuren waren gesichtslos, trugen spitze, hutähnliche Gebilde auf den Köpfen und hielten Schlangen in den Händen. Sie schritten offensichtlich alle auf einen ganz bestimmten Punkt in der Grotte zu. »Lass uns gehen!«, bat Liesel Blattner mit leiser Stimme. »Gleich«, sagte Walter, der von den Zeichnungen fasziniert war. »Das hier muss sehr, sehr alt sein. Vielleicht war das früher mal 'ne Opferstätte.« Er hatte ähnliche Bilder schon einmal im Fernsehen gesehen. Und plötzlich erinnerte er sich auch an seinen Schulunterricht. Sein Lehrer hatte von Kelten erzählt und von Druiden, jenen geheimnisvollen Männern in grauer Vorzeit, die das Wissen ihrer Zeit bewahrten und über magische Kräfte verfügten. War er auf solch eine Kultstätte gestoßen? »Hier ist es unheimlich«, hörte er Liesel sagen. »Komm, lass uns endlich gehen, bevor noch was passiert.« »Was soll denn hier passieren?«, gab er unwillig zurück. »Mensch, kapier doch! Das hier ist 'ne Sensation! Nach so was suchen sie doch schon seit vielen Jahren. Und ich hab's gefunden!« Nein, er ließ sich nicht umstimmen. Er wollte es jetzt ganz genau wissen. Liesel musste notgedrungen mitgehen. Sie hatte Angst, in der Dunkelheit zurückzubleiben, horchte nach draußen. Von dem Unwetter war hier kaum noch etwas zu hören. Aber es gab da ein anderes Geräusch: Tief unten im Berg knisterte es, schien sich etwas zu bewegen. Ein Rieseln und Rauschen war zu hören bis herauf in die Grotte, die vielleicht halb so groß war wie Bläsers Tanzsaal. Das Rauschen wurde lauter und schwoll an.
»Hörst du denn nichts?«, fragte sie verzweifelt und blieb störrisch stehen. »Klar, Liesel«, gab er beiläufig zurück. »Das ist das Regenwasser, das sich unten im Berg sammelt. Hier ist doch alles hohl.« Er ging weiter und blieb dann jäh stehen. Walter Dünhofen hatte eine kreisrunde Steinplatte erreicht, die ihn in ihrer Größe an einen alten Mahlstein erinnerte. Er beugte sich vor, um diesen Stein besser studieren zu können. Die Platte bestand nicht aus Kalkstein. Es schien Granit zu sein. »Da steht was drauf«, sagte er halblaut, »aber ich kann's nicht lesen. Sieh mal, richtig reingemeißelt!« Der runde Stein war mit Zeichen und Symbolen einer fremden Zeit und Welt bedeckt. Seiner Ansicht nach waren es Runen. Sie waren spiralförmig angeordnet und endeten in einem Loch, in das man einen Steinzapfen hineingetrieben hatte. »Rühr es nicht an!«, bat Liesel eindringlich, als er sich bückte. Er legte die Taschenlampe auf den kreisrunden Stein und griff mit beiden Händen nach dem Zapfen. Irgendetwas ließ ihn dies tun. Nichts in der Welt hätte ihn in diesem Augenblick davon abgehalten. Der Zapfen saß fest, ließ sich aber bald lockern. Liesel Blattner stand wie versteinert neben Walter. Sie fühlte, dass sich etwas Schreckliches ereignen würde, aber sie hatte nicht die Kraft oder Macht, das Unheil abzuwenden. »Na, bitte!« Walter hatte es geschafft. Mit einer letzten Anstrengung riss er den Steinzapfen aus dem Loch und hielt ihn triumphierend hoch. Dann legte er ihn vorsichtig neben sich, griff nach der Taschenlampe und leuchtete durch das Loch nach unten. Für ihn war es selbstverständlich, dass er etwas sehen würde. »Noch eine Grotte«, sagte er. »Aber viel ist da nicht zu erkennen. Moment mal, da scheint so was wie ein Grabhügel zu sein! Oder ein Lehmklumpen? Komisch sieht das aus. Willst du mal sehen, Liesel?« »Nein, nein!«, wehrte sie entsetzt ab. »Ich will überhaupt nichts sehen. Ich will zurück. Hör doch endlich auf mich!« In diesem Moment passierte das Schreckliche. Begleitet von einem donnernden Krachen fuhr ein zuckender
Lichtstrahl durch die Decke der Grotte. Es roch nach Schwefel und Feuer. Walter hatte sich instinktiv zurückgeworfen, wurde aber dennoch von herabfallendem Gestein getroffen und schrie unwillkürlich auf. Der Blitzstrahl schoss auf die kreisrunde Steinplatte und zischte dann durch das Zapfenloch hinunter in die tiefere Grotte. Das alles bekam Liesel gerade noch mit, bevor sie geblendet die Augen schließen musste. Sie taumelte zurück, bis ihr Rücken die Wand berührte. Steif vor Entsetzen blieb sie stehen. Die Taschenlampe brannte noch. Der Lichtstrahl hatte die Decke der Grotte erfasst. Liesel sah eine Art Kamin, dessen Wände aus geschmolzenem Glas zu bestehen schienen. Wohin er führte, war nicht zu sehen, denn er knickte in einigen Metern Höhe ab. Liesel schob sich durch den weißlichen Dunst, riss die Taschenlampe an sich und suchte nach Walter. Er erhob sich bereits wieder, kroch unter dem Gesteinsstaub hervor, schüttelte benommen den Kopf und tastete seine Beine ab. Um ihn herum lagen Felstrümmer, die aus dem Kamin herausgesprengt worden waren. »Alles in Ordnung«, stellte er fest. »Bei dir auch, Liesel?« »Bitte, Walter, wir müssen jetzt gehen«, sagte sie beschwörend. »Die ganze Grotte kann noch einstürzen.« »Hat das eingeschlagen!« Er stellte sich unter den Kamin und sah nach oben. Walter nahm zur Kenntnis, dass das geschmolzene Gestein magisch leuchtete. Dann drehte er sich um und ging vorsichtig auf den schweren Stein zu, dessen Steinzapfen er eben erst entfernt hatte. Er beugte sich vor und – erstarrte. »Schnell, Liesel, schnell!« Er winkte sie zu sich heran. Gegen ihren Willen folgte sie seiner Aufforderung und beugte sich ebenfalls vor. Die Öffnung war jetzt wesentlich breiter. Der Blitz musste auch dieses Gestein gesprengt haben. Das Zapfenloch war doppelt so groß wie vorher. Doch das war es nicht, was sein Erstaunen hervorgerufen hatte. Liesel sah jetzt, was er meinte. Die untere Grotte war in ein seltsames Licht getaucht, für dessen Ursprung es keine Erklärung gab. Dort unten war nun jede Einzelheit genau zu erkennen.
Walter kniete nieder, um sich nichts entgehen zu lassen. Im grabähnlichen Lehmhügel bildeten sich gerade Risse, die von Sekunde zu Sekunde immer breiter wurden. Unter diesem Hügel bewegte sich etwas, langsam und tastend. Die ersten Lehmschollen kullerten zur Seite. Dann platzte der Hügel vollends auf und gab den Blick frei in ein Grab. In diesem hockte eine unförmige Gestalt, von der bisher nur der Rücken zu sehen war. Die Haut über dem breiten Rücken war mumifiziert. Eine lange, weiße Haarmähne klebte auf der vertrockneten Haut. »Ein Keltengrab«, murmelte Walter. »Neben der Mumie scheint ein Schwert zu liegen. Klar, das ist ein Schwert. Und dort – der Gürtel! Das glaubt mir kein Mensch, Liesel! Das ist ja sagenhaft!« »Es bewegt sich«, flüsterte Liesel mit heiserer Stimme. »Es bewegt sich!« »Du bist verrückt.« Walter wollte seiner Stimme einen spöttischen Unterton geben, doch er schaffte es nicht so recht. Auch er hatte nämlich den Eindruck, dass die Mumie dort unten in der Grotte eine Bewegung gemacht hatte. Aber vielleicht hing das auch nur mit dem seltsamen Licht zusammen, das die Grabgrotte ausleuchtete und jetzt wieder matter wurde. »Es bewegt sich, Walter!« Liesel schrie es heraus. Vor Angst und Panik war sie fast von Sinnen. Sie hatte es jetzt ganz deutlich gesehen. Die Mumie drückte sich hoch, richtete sich auf. Die dicken Muskelstränge unter der mumifizierten Haut waren deutlich zu erkennen. Die letzten Lehmschollen rutschten zur Seite. Das Wesen stand nun auf seinen kurzen, stämmigen Beinen. Es drehte sich langsam um und – sah herauf zu ihr und Walter. Die weiße Löwenmähne teilte sich und gab den Mund des Scheusals frei. Es war ein Raubtiergebiss mit langen, kräftigen Reißzähnen. Die Nase verschwand fast zwischen den hochstehenden, hervortretenden Backenknochen. Aber das alles machte die Scheußlichkeit nicht aus. Es waren die drei Augen, die sie entsetzten. Über der Nasenwurzel befand sich ein drittes größeres Auge, aus dem nackte Gier und Bosheit leuchteten. Das schreckliche Wesen streckte seine stämmigen Arme hoch und schien nach den beiden jungen Menschen greifen zu
wollen. »Weg!«, keuchte Walter und richtete sich hastig auf. »Nichts wie weg!« Er griff nach Liesel, zerrte sie hoch und rannte mit ihr dem Ausgang der Grotte entgegen. Er dachte nur noch an Flucht, wusste plötzlich, dass es um Sekunden ging. Hinter sich hörte er ein lautes Scharren, dann einen entsetzten, gellenden Aufschrei. Gleichzeitig rutschte Liesels Handgelenk aus seinen Fingern. Walter fuhr herum, schrie auf. Sie rutschte nach unten weg, griff verzweifelt um sich, suchte nach Halt, schrie und sackte immer weiter in die Tiefe. Walter streckte eine Hand nach ihr aus. »Fass doch zu!«, brüllte er sie an. Das Loch im Boden der Grotte weitete sich. Liesel rutschte über eine Schräge unaufhaltsam nach unten. Walter hätte sich vielleicht weiter vorwagen können, um ihre ausgestreckte Hand doch noch zu erreichen, aber er traute sich einfach nicht. Er hatte Angst, nackte Angst. Er wollte nicht auch noch in die Grabhöhle abrutschen, denn er spürte, dass der Boden unter seinen Füßen bereits weich wurde und nachgab. Er hechtete vor und erreichte den Geröllberg. Auch hier war alles bereits in Bewegung. Die Felstrümmer rutschten durcheinander, schienen in eine mahlende, kreisende Bewegung geraten zu sein. Dann hörte er ihren wahnwitzigen Aufschrei. Walter blieb auf dem Geröll liegen und wandte sich noch einmal nach seiner Freundin um. Er konnte alles ganz deutlich sehen. Sie zappelte verzweifelt in den riesigen Händen des Ungeheuers, erinnerte an eine Gliederpuppe. Liesel hatte keine Chance mehr. Das dreiäugige Scheusal hatte sein Maul weit geöffnet. Die langen Reißzähne waren wie Dolche, die nur darauf warteten, in den Körper der Beute gejagt zu werden. »Walter!«, schrie Liesel, doch er sah nicht mehr hin. In panischer Hast kletterte und rutschte er über die Steintrümmer, erreichte den vorderen Teil der Höhle und rannte hinaus ins Freie. Regen peitschte ihm ins Gesicht, doch er spürte ihn nicht. Blitze
zuckten vom Himmel herab, der Donner krachte. Walter lief und lief, bis er vor Erschöpfung stolperte und zusammenbrach. Wie betäubt blieb er unter einer hohen Fichte liegen, bis ihn die Kälte aufweckte. Nein, er brauchte sich nicht zu erinnern. Er sah alles noch ganz genau vor sich und schüttelte sich, als er an das Untier dachte, das er dort unten in der Grabgrotte entdeckt hatte, und er schluchzte vor Scham und Trauer. Er hatte Liesel feige zurückgelassen und nur an seine eigene Sicherheit gedacht. Aber hätte er ihr wirklich helfen können? Konnte er vielleicht jetzt noch etwas für sie tun? War er nicht verpflichtet, zur Höhle zurückzukehren? Er merkte erst jetzt, dass er die Orientierung verloren hatte. Walter wusste wirklich nicht, wo er sich befand. Er schaute sich um und fand heraus, dass er sehr weit von dem Steilhang, in dem sich der Eingang zu den Grotten befand, entfernt sein musste. Jede Hilfe musste zu spät kommen. Nein, es hatte keinen Sinn, noch einmal zur Höhle zurückzukehren. Und dann dachte er plötzlich an sein Motorrad. Er hatte es vorn am Höhleneingang zurückgelassen. Wenigstens die Maschine musste er bergen. Er hatte sie sich doch gerade erst gekauft, und sie hatte eine Menge Geld gekostet. Walter dachte an das Motorrad und schämte sich. Die Maschine war ihm jetzt fast wichtiger als Liesel. Er musste noch einmal zurück zur Höhle. Er brauchte nicht lange zu suchen, er stolperte förmlich über sein Motorrad. Es lag auf einer Lichtung und wurde von einem herunterzischenden Blitz taghell angestrahlt. Es war nur noch ein abenteuerlich verbogener Blechhaufen, der von rasenden Urkräften derart zermalmt worden sein musste. Da wandte Walter sich ab und hetzte zurück in den Schutz des Waldes. Er spürte, dass er verfolgt wurde.
Er hieß Peter Laube und unterrichtete an der Volksschule in Greulingen. Peter fühlte sich wohl in dem kleinen Marktflecken am Fuße der Schwäbischen Alb. Der große, hagere Mann war beliebt bei der
Bevölkerung. Er hatte ein Gespür für die Leute und nahm sie ernst, wenn sie in vorgerückter Stunde verstohlen von unheimlichen und gespenstischen Dingen erzählten. Peter Laube sammelte diese Geschichten, die er später einmal veröffentlichen wollte. Es handelte sich um Erzählungen, in denen Kobolde und Höhlengeister eine wichtige Rolle spielten. Natürlich glaubte Peter Laube selbst nicht an diese Geister, aber er mokierte sich nicht über die Leute. Das fühlten die Menschen hier, die normalerweise recht verschlossen waren. In seiner Freizeit streifte Peter Laube durch das Gelände. Er interessierte sich besonders für die vielen Höhlen, die es hier gab. Hin und wieder beteiligte er sich an Exkursionen, die von Höhlenforschern unternommen wurden. Laube war ein sehr geschätzter Amateur, dem man schon manch wichtige Erkenntnis zu verdanken hatte. An diesem späten Nachmittag kam er von den Kalkfelsen am Bergwald. Er hatte dort wieder einmal einige Stunden verbracht und intensiv nach jener Höhle gesucht, von der Walter Dünhofen seinerzeit berichtet hatte. Diese Affäre lag jetzt gut drei Monate zurück, doch sie ließ den Lehrer nicht ruhen. Er kannte Walter Dünhofen, den er selbst einmal unterrichtet hatte. Walter war kein Lügner. Er musste so etwas wie ein dreiäugiges Ungeheuer gesehen haben. Diese geheimnisvolle Grabgrotte musste es irgendwo geben. Eine Geschichte, wie Walter sie erzählt hatte, konnte kaum erfunden sein. Vielleicht hatte der junge Mann sich in gewissen Details geirrt, doch der Kern seines Berichtes musste wahr sein. Laubes Ausflug hinauf zum Bergwald war wieder einmal ergebnislos verlaufen. Er konnte diese Höhle einfach nicht aufspüren, obwohl er den großen Bergwald mit seinen schroffen Kalksteinfelsen Zentimeter um Zentimeter abgesucht hatte. Peter Laube ging zu seinem VW hinunter, den er unten am Waldrand zurückgelassen hatte. Er wählte die steile Abkürzung und kam an den Sickerhöhlen vorbei, die man hier in der Gegend zwar kannte, jedoch mied. Sie gaben selbst im trockensten Hochsommer noch Wasser ab, das aber schon nach wenigen Metern wieder im porösen Kalkstein verschwand. Der große, hagere Mann hatte natürlich auch
diese Höhle untersucht, doch das lag schon Jahre zurück. Hier gab es keine Geheimnisse. Schon nach wenigen Metern wurde das Gestein brüchig und rutschte immer wieder nach. Aus Gründen der Sicherheit war darauf verzichtet worden, dieses Höhlensystem genauer zu durchforschen. Peter Laube vermutete, dass es sich um sehr ausgedehnte Höhlen handelte. Er hatte sich vorgenommen, diese Höhlen doch irgendwann einmal zu erforschen. Als er an diesem Nachmittag die Sickerhöhlen passierte, warf er einen beiläufigen Blick auf die niedrige Galerie mit ihren vielen kleinen Höhleneingängen. Er wollte schon weitergehen, als er plötzlich eine Entdeckung machte: Da waren Fußspuren im feuchten, schwammigen Moos, Spuren, mit denen er nicht gerechnet hatte. Die Bewohner von Greulingen mieden diese Sickerhöhlen und machten stets einen weiten Bogen um sie. Diese Fußabdrücke waren recht frisch. Peter Laube blieb stehen, schüttelte erstaunt den Kopf. Er betrat das nasse Moos und untersuchte die seltsamen Spuren genauer. Ein Irrtum war ausgeschlossen: Ein Mann und eine wahrscheinlich zierliche Frau mussten aus der Höhle gekommen sein. Es gab keine Spuren, die etwa darauf hindeuteten, dass diese beiden Personen die Höhle vorher betreten hatten. Peter Laube stand vor einem Rätsel. Die Zeit war bereits zu weit fortgeschritten, um sich die Höhle näher anzusehen. Er nahm sich aber vor, das am kommenden Nachmittag nachzuholen. Angst davor hatte er nicht, obwohl sich in den vergangenen drei Monaten Unheimliches getan hatte. Seit Walter Dünhofen seine Freundin in einer der Höhlen verloren hatte, ging die Angst in Greulingen um – auf geheimnisvolle Art und Weise waren Menschen verschwunden. Selbst die Polizei stand vor einem unlösbaren Rätsel. Peter Laube nahm den Fotoapparat hoch und schoss zwei Bilder. Als er die Tasche wieder schloss, sah er zufällig zur Galerie hinüber. Hatte sich dort nicht gerade etwas bewegt? Ihm war so, als hätte er eine Gestalt gesehen, die sich blitzschnell hinter die dichten Sträucher geduckt hatte. »Ist da wer? Hallo, ist da jemand?« Das Strauchwerk bewegte sich, doch eine Antwort blieb aus. Peter
Laube spielte einen Moment mit dem Gedanken, zur Galerie hinaufzugehen, doch plötzlich war da eine Angst in ihm, die er normalerweise nicht kannte. Irgendetwas warnte ihn nachdrücklich. Er fühlte sich belauert und dachte unwillkürlich an jenes dreiäugige Monster, von dem Walter Dünhofen damals erzählt hatte. Das Gefühl der Bedrückung und der Angst wurde stärker. Er sah noch einmal hinauf zur Galerie und setzte sich dann in Bewegung. Die warnenden Stimmen in ihm wurden immer beschwörender und eindringlicher. Er schalt sich einen Narren, als er sich dabei ertappte, dass er plötzlich lief. Energisch zwang er sich zur Ruhe, wandte sich immer und immer wieder um, blieb stehen und lauschte. Das Gelände war sehr unübersichtlich. Dichtes Strauchwerk wechselte ab mit niedrigen, verkrüppelten Bäumen, mit Wachholderbüschen und Brombeergestrüpp. Lief da etwas hinter ihm her? Wurde er verfolgt? Peter Laube redete sich ein, dass er sich das alles nur einbildete. Doch er vermochte sich nicht zu überzeugen. Er pfiff auf allen Heldenmut, nahm die Beine in die Hand und rannte weiter. Hinter ihm war das Rumpeln von Steinen zu hören, das Peitschen von Ästen. Er wurde eindeutig verfolgt. Möglich, dass es ein Tier war, das sich auf seine Spur gesetzt hatte, möglich aber auch, dass es das dreiäugige Ungeheuer war, das Walter Dünhofen gesehen haben wollte. Peter Laube, der sich der kühlen Vernunft verschrieben hatte, handelte nur noch kreatürlich. Er war völlig außer Atem, als er die ersten Wiesen und Weiden unterhalb des Bergwaldes erreicht hatte. Hier fühlte er sich sicherer. Er gönnte sich eine kleine Verschnaufpause, wischte sich den kalten Angstschweiß von der Stirn und beobachtete das Gelände, das er gerade hinter sich gebracht hatte. Nein, dort oben war wirklich nichts zu sehen. Im Licht der bereits versinkenden Sonne machte der Bergwald einen friedlichen Eindruck. Und doch stimmte dort etwas nicht. Eichelhäher zogen plärrend und verärgert ab, Dohlen flogen hoch und schienen durch irgendetwas aufgeschreckt worden zu sein. Sekunden später machte Peter Laube eine Entdeckung, die er nicht einzuordnen wusste: Für einen ganz kurzen Augenblick sah er eine
tierähnliche Gestalt, die sich aufrichtete, um dann sofort wieder zu verschwinden. Dieses unheimliche Wesen schien eine lange, weiße Löwenmähne zu tragen. Bevor Laube sein Fernglas vor die Augen halten konnte, war alles schon wieder vorüber. Hatte Walter Dünhofen nicht von dieser weißen Löwenmähne erzählt? Sollte es dieses Ungeheuer wirklich geben? Peter Laube schüttelte unwillkürlich den Kopf. Nein, er musste sich getäuscht haben. Es gab keine Toten, die von einem Blitzstrahl aufgeweckt wurden. In alten Mythen mochte so etwas möglich sein, doch niemals in der Realität. Er schritt weiter ins Tal hinab und erreichte das kleine Jagdhaus. Beim Näherkommen bemerkte er, dass die Blendläden vor einem der kleinen Fenster geöffnet worden waren. Rauch stieg aus dem Kamin. Während er oben im Bergwald gewesen war, musste der Jagdpächter Straubing gekommen sein. Peter Laube kannte den Mann, der in Tuttlingen wohnte und nur übers Wochenende Zeit hatte, sein Jagdrevier zu besuchen. Der Lehrer war eigentlich ganz froh, gerade jetzt mit einem Menschen reden zu können. Er bog sofort ab und steuerte auf die Jagdhütte zu. Vielleicht sollte er Straubing warnen. Der Jagdpächter musste wissen, dass sich im Bergwald ein seltsames Tier herumtrieb. Etwas Vorsicht konnte auf keinen Fall schaden. Als Peter Laube die Jagdhütte erreicht hatte, vermisste er den Wagen des Jagdpächters, der normalerweise vor der Hütte stand. War Straubing gar nicht gekommen? Hatte ein Landstreicher die Jagdhütte aufgebrochen und sich hier eingenistet? Die Tür öffnete sich. Ein Mann trat heraus, der auf den ersten Blick tatsächlich wie ein Landstreicher aussah. »Guten Abend!«, sagte Laube. Die scharfe Frage, die er auf der Zunge gehabt hatte, vermochte er nicht zu stellen. Dieser Mann dort war doch kein Landstreicher, wenn er auch auf den ersten Blick danach aussah. Laube hatte es mit einem Mann zu tun, der etwa dreißig Jahre alt sein mochte. Er war gut und gern ein Meter neunzig groß, schlank und besaß eine sportlich durchtrainierte Figur, und er hatte schwarze Haare, grüne Augen und einen dunklen Teint, der durch den Schnurrbart noch unterstrichen wurde. Der Mann trug
einen Overall, der aus der Jagdhütte stammen musste. Wenn Laube sich recht erinnerte, streifte Straubing ihn sich über, wenn er Reparaturen an der Hütte auszuführen hatte. Der Mann in diesem Overall sah ihn prüfend und wachsam an und nickte nur knapp zum Abendgruß. »Machen Sie hier Urlaub?«, erkundigte sich Peter Laube. Er ärgerte sich darüber, dass er befangen war. Von diesem Mann ging eine Ausstrahlung aus, der er sich nicht entziehen konnte. »Wir sind auf der Durchreise.« Sein Deutsch war ausgezeichnet. »Auf der Durchreise?«, wunderte sich Peter Laube. »Sie sind nicht allein?« Bevor der Fremde antworten konnte, tauchte aus der Hütte eine junge Frau auf, die den Lehrer höflich und zurückhaltend anlächelte. Peter Laube war sofort fasziniert von dieser Frau. Sie mochte etwas über zwanzig Jahre alt sein, war vielleicht ein Meter siebzig groß und hatte Augen, die das exotische Gesicht beherrschten. Es waren dunkle, unergründliche Augen mit einem leicht grünlichen Schimmer. Schwarze Haare umrahmten das Gesicht mit den hervorstehenden, hoch angesetzten Backenknochen. Sie trug Jeans, die zu groß waren. Darüber fiel locker ein großkariertes Hemd. Laube sah, dass diese junge Frau in anderen Umständen war, aber sie bewegte sich dennoch mit der Geschmeidigkeit eines jungen Tieres. »Das ist Miss Zamis«, stellte der Mann vor. »Mein Name ist Hunter. Dorian Hunter.« »Sie sind Engländer?« »Richtig. Und wir sind in einiger Verlegenheit.« »Was kann ich für Sie tun?« Peter Laube bot spontan seine Hilfe an. Nein, das waren ganz sicher keine Landstreicher. Er lächelte die schwarzhaarige Frau schüchtern an. »Wundern Sie sich nicht über meine Frage«, schickte Dorian voraus, »aber wir haben keine Ahnung, wo wir genau sind. Können Sie uns da mit einem Tipp dienen?« »Ein paar Kilometer von hier liegt Greulingen.« »Und wo liegt das?« Dorian stellte diese Frage mit einer Naivität,
als sei er durch Zufall auf einen fremden Kontinent geraten. Peter Laube hatte keine Ahnung, wie nahe er der Wahrheit kam. Dorian und Coco hatten ein Dämonentor durchschritten. Magische Kräfte hatten das Paar unmittelbar darauf in ein Höhlensystem transferiert, das sie vor knapp einer halben Stunde verlassen hatten. Dorian hütete sich verständlicherweise, seinem Gegenüber auch nur andeutungsweise davon zu erzählen. Er wäre ohnehin nicht verstanden worden. Wie hätte er diesem Mann begreiflich machen sollen, dass sie aus dem tiefen Schoß der Erde gekommen waren? »Dass Sie in Deutschland sind, dürften Sie wissen«, antwortete Peter Laube inzwischen lächelnd. »Unser Marktflecken Greulingen liegt in der Nähe von Blaubeuren, am Fuß der Schwäbischen Alb. Hilft Ihnen das weiter?« »Aber ja!«, meinte Dorian und lächelte zurück. Er fand diesen Mann sympathisch. Er schien Humor zu haben. »Haben Sie einen Unfall gehabt?«, fragte Peter Laube hilfsbereit weiter. »So könnte man es nennen. Das alles ist eine recht komplizierte Geschichte.« »Sie können sich mir anvertrauen. Mein Name ist Peter Laube – ich unterrichte an einer Volksschule. In meiner Freizeit beschäftigte ich mich mit den Höhlen. Soll ich Sie mit nach Greulingen nehmen? Wir haben dort ein paar recht nette Gasthöfe.« »Und da beginnen bereits unsere Schwierigkeiten.« Dorian hob ein wenig hilflos die Schultern. »Wir haben weder Geld noch Papiere.« »Mit Geld könnte ich Ihnen aushelfen, mit Papieren leider nicht.« Peter Laube wusste nicht, was er von diesem Paar halten sollte. Wieso hatte es keine Papiere? Wieso hatte der Mann keine Ahnung, wo er sich befand? »Wir nehmen Ihre Hilfe gern an«, schaltete sich in diesem Augenblick die junge Frau ein. Auch ihr Deutsch war ausgezeichnet. »Aber wir möchten Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten«, erklärte Dorian. »Setzen Sie sich doch mit Ihrer Botschaft in Verbindung!«, schlug Peter Laube vor. »Es kann doch nur ein paar Tage dauern, bis Sie
Papiere haben.« »Genau das haben wir vor«, meinte Dorian und nickte. »Mein Wagen steht unten auf dem Feldweg. Ich würde Sie übrigens gern zu mir einladen, doch ich habe nur eine kleine Wohnung. Der Platz reicht nicht aus.« »Kennen Sie den Eigentümer der Jagdhütte hier?«, erkundigte sich Dorian. »Ich habe die Tür aufgebrochen und werde natürlich für den Schaden aufkommen.« »Das lässt sich alles leicht regeln«, beruhigte Peter Laube den großen Mann. Der Lehrer war jetzt sicher, dass dieser Dorian Hunter und seine Begleiterin Kleidungsstücke trugen, die aus der Hütte stammten. Warum hatten sie ihre Kleidung gewechselt? Wie war das Paar hier herauf zur Jagdhütte gekommen? Eine Durchgangsstraße gab es nicht. Man musste sich schon recht gut auskennen, um die Jagdhütte überhaupt zu finden. »Wir wurden verfolgt«, sagte die junge Frau wie selbstverständlich. »Dabei blieben unsere Kleider auf der Strecke.« Peter Laube blickte verblüfft. »Verstehen Sie, bitte«, ließ Dorian sich vernehmen, »aus ganz bestimmten Gründen können wir nicht mehr sagen.« »Ich begreife.« Peter Laube dachte unwillkürlich an eine Geheimdienstgeschichte. Anders ließ sich das hier nicht erklären. »Sie brauchen aber nichts zu befürchten«, fügte Dorian hinzu. »Diese Sache ist abgeschlossen.« Peter Laube wollte antworten, doch das Verhalten der jungen schwarzhaarigen Frau hinderte ihn daran. Coco Zamis hatte ihren Kopf weit in den Nacken geworfen und schloss jetzt die Augen. Sie drehte sich langsam um und sah hinauf zum Bergwald. Ihre Lippen öffneten sich, ihre Nasenflügel bebten. Sie schien etwas wahrzunehmen. Peter Laube sagte kein Wort, dachte aber unwillkürlich an die seltsame Erscheinung, die er oben beobachtet hatte. Der Begleiter der jungen Frau war inzwischen ebenfalls aufmerksam geworden. Er kniff die Augen leicht zusammen und beugte sich vor. Plötzlich glich er einem Raubtier, das Gefahr witterte.
»Gehen wir«, sagte die junge Frau ohne jeden Übergang und öffnete wieder die Augen. Dorian entspannte sich. »Haben Sie es auch gefühlt?«, fragte Peter Laube die junge Frau. »Was?« »Dort oben im Wald treibt sich etwas herum, das mir Angst macht«, gestand Peter Laube. »Wissen Sie, was es ist?«, fragte Dorian. »Keine Ahnung«, erwiderte Peter Laube. »Können wir jetzt gehen? Ich bin doch recht müde«, sagte Coco. Sie gingen zum Feldweg hinunter, nachdem Dorian die Jagdhütte provisorisch wieder verschlossen hatte. Unterwegs drehte Coco Zamis sich verschiedentlich zum Bergwald um, doch davon merkte Peter Laube nichts.
»Ich muss Sie bitten, Greulingen vorerst nicht zu verlassen«, sagte Kommissar Roth, ein sehr freundlich aussehender Mann von etwa fünfzig Jahren. Er war kaum mittelgroß und zeigte bereits einen leichten Bauchansatz. Dass dieser Mann nicht nur freundlich war, bewiesen seine intelligenten Augen. Der Kommissar saß zusammen mit Dorian Hunter, Coco Zamis und Peter Laube an einem Ecktisch der großen Gastwirtschaft. Dorian und Coco hatten hier zwei Zimmer bekommen, die durch eine Tür miteinander verbunden waren. Laube hatte sich beim Gastwirt für die beiden Fremden verbürgt. Er wollte für alle eventuellen Kosten aufkommen. Kommissar Roth kannte inzwischen auch die etwas vage Geschichte von Dorian Hunter und Coco Zamis. Da sie wirklich keine Papiere besaßen, hatte er seine Dienststelle in Blaubeuren angerufen. Von dort aus sollte man sich um die Identität der beiden Fremden kümmern. Dorian selbst hatte sofort in der Jugendstilvilla angerufen und eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen – man solle ihn zurückrufen. Er hoffte, dass seine Freunde in Sicherheit waren … und dass er sie um Hilfe bitten konnte. Sullivan, Parker und Cohen
konnten wirklich keine Ahnung haben, wo er sich im Moment mit Coco aufhielt. »Ist es Zufall, dass sich ein Kriminalkommissar hier aufhält?«, erkundigte sich Dorian bei Roth. »Wie kommen Sie denn darauf?«, wollte der Kommissar wissen. »Ich kenne mich hier bei Ihnen nicht gut aus«, schickte Dorian lächelnd voraus, »aber dieser Ort dürfte normalerweise wohl keinen hohen Beamten ständig zur Verfügung haben, oder?« »Hat Herr Laube Ihnen noch nichts erzählt?«, fragte Kommissar Roth beiläufig. »Worüber?« Dorian schüttelte den Kopf, während Coco den jungen Mann hinter dem Tresen musterte. Sie schien die Unterhaltung der Männer nicht zu verfolgen, sondern hatte sich auf Walter Dünhofen konzentriert, der Bier zapfte und Schnäpse eingoss. Er war ganz eindeutig nicht bei der Sache. Zweimal schon war ihm das Bier übergelaufen. Verstohlen musterte er immer wieder Dorian und Coco. »Coco, das solltest du dir anhören.« Dorian berührte leicht ihren Arm und deutete dann auf den Kommissar, der ihr zunickte. »Der junge Mann dort hinter dem Tresen will vor drei Monaten ein dreiäugiges Ungeheuer in einer der Höhlen oben am Bergwald gesehen haben«, begann Roth. »Seine Freundin, eine gewisse Liesel Blattner, blieb in der Höhle zurück. Wahrscheinlich wurde sie verschüttet. Bergungsmannschaften konnten sie leider nicht finden. Die Männer standen schon nach wenigen Metern vor völlig eingestürzten Höhleneingängen, die nicht freigeräumt werden konnten.« »Ein dreiäugiges Ungeheuer?« »Er will es ganz deutlich gesehen haben«, wiederholte der Kommissar. »Und das deckt sich sogar mit dem, was die Leute sich hier so erzählen. Dieses Ungeheuer soll danach noch einige Male gesehen worden sein.« »Halluzinationen«, warf Lehrer Laube vorsichtig ein. »Wir von der Polizei dachten zuerst natürlich an Mord. Wie leicht kann man in den Kalksteinhöhlen einen Menschen umbringen und verschwinden lassen. Das ist eine Kleinigkeit.«
»Wurde der junge Mann nicht angeklagt?«, fragte Dorian weiter. »Er saß sogar in Untersuchungshaft«, sagte der Kommissar, »stritt aber hartnäckig ab, seine Freundin umgebracht zu haben. Doch wir glaubten ihm nicht.« »Bis die ersten Frauen verschwanden«, warf Lehrer Laube ein. »Nach der Freundin des jungen Mannes verschwanden noch weitere Frauen?« »Bis heute sind es zehn«, antwortete der Kommissar. »Das muss man sich mal vorstellen. Zehn junge Frauen sind spurlos verschwunden, als seien sie von der Erde verschluckt worden. Und zwei Männer dazu.« »Die wurden aber gefunden«, sagte Lehrer Laube. »Doch ihre Köpfe fehlten.« »Schrecklich«, murmelte Coco, die sich jetzt ganz auf die Berichte konzentrierte. »Das alles entlastete den jungen Mann«, berichtete der Kommissar weiter. »Er wurde also wieder auf freien Fuß gesetzt.« »Und ist jetzt von den Dorfbewohnern geächtet, nicht wahr«, vermutete Dorian. »Keineswegs.« Laube schüttelte den Kopf. »Die Leute hier nehmen ihm die Geschichte vom dreiäugigen Ungeheuer durchaus ab. Sie deckt sich mit gewissen Sagen.« »Kann man mehr darüber hören?« Dorian ließ erkennen, dass das Thema ihn interessierte. »Nach diesen Sagen leben in den Kalksteinhöhlen die Seelen verfluchter Menschen. Es soll dort einmal Opferstätten gegeben haben, deren Lage nur die Druiden kannten. In grauer Vorzeit soll ein menschenfressendes Ungeheuer sein Unwesen getrieben haben. Es kam über einen unterirdischen Fluss und muss im Wasserkessel gehaust haben. Diese Gegend wird noch heute von den Einheimischen gemieden.« »Gibt es hier unterirdische Flüsse?« Coco Zamis sah den Lehrer mit ihren geheimnisvollen Augen an. »Aber natürlich! Wir leben hier auf einer mächtigen Kalksteinschicht, die vielleicht vierhundert Meter dick ist. Vor etwa einhun-
dertfünfzig Millionen Jahren gab es hier ein Jura-Meer, auf dessen Boden sich im Laufe der Zeiten mehr oder weniger dicke Schichten von Schlick, Ton und Mergel ablagerten. Hinzu kam der Kalk, der von Schalentieren abgesondert wurde. Durch den starken Eigendruck sinterte das alles zusammen und wurde zu dem Kalkstein, den wir heute kennen.« »Nach einem Meeresboden sieht die Landschaft aber gar nicht aus«, sagte Dorian. Er wollte mehr über dieses Thema hören. Peter Laube brauchte jedoch kaum eine Ermunterung. Er war voll und ganz bei der Sache. »Der damalige Meeresboden hat sich im Laufe fast endloser Zeiten gehoben«, erklärte er, wobei er in einen leicht dozierenden Tonfall verfiel. »Die Wissenschaftler nehmen an, dass diese Hebungen und Faltungen anderthalb Kilometer betragen. Selbst heute noch hebt sich die Alb. Man rechnet mit einem Meter in zehntausend Jahren.« »Vergessen Sie nicht die unterirdischen Wasserläufe!«, erinnerte ihn Coco Zamis. »Kalk ist wasserdurchlässig. Die Hebungen, von denen ich gerade gesprochen habe, führten natürlich zu Rissen im Kalkfels. Das Regenwasser konnte einsickern und mit seiner Arbeit beginnen. In diesem Zusammenhang vielleicht ein ganz klein wenig Chemie.« Peter Laube räusperte sich. Er schien jetzt vor seiner Klasse zu stehen. »Das Regen- und Schmelzwasser verbindet sich selbstverständlich mit dem Kohlensäuregas, das in unserer Luft enthalten ist. Diese Wasser also werden zu Kohlensäure. Sie ist in der Konzentration zwar schwach, doch sie reicht aus, den Kalk aufzulösen und auszuwaschen. Gibt es erst einmal winzig kleine Hohlräume, kann das Wasser mit der darin enthaltenen Kohlensäure weiterarbeiten und so im Laufe der Zeit riesige Höhlensysteme auswaschen. Sand und kleine Steine werden dann vom Wasser wie Schmirgel benutzt, der seinerseits für eine Vergrößerung der Gänge und Grotten sorgt. Wenn Sie es wünschen, werde ich Ihnen die chemischen Formeln gern aufschreiben.« »Und wo enden diese unterirdischen Bäche und Flüsse?«, fragte Coco.
»Irgendwo im Untergrund. Oder aber auch in solchen Kesseln, von denen ich eben gesprochen habe. Das alles ist noch fast unerforscht. Es fehlen einfach die technischen Mittel, den Dingen im wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund zu gehen.« »Der Wasserkessel, den Sie eben erwähnten, ist solch ein Wasseraustritt?« Dorian war ehrlich froh, an diesen Mann geraten zu sein. Er hatte seine Gründe dafür, die er allerdings noch verschwieg. »Wie der Blautopf, um nur einen der berühmtesten Austritte zu nennen«, dozierte Lehrer Laube weiter. »Das Gegenstück dazu ist die Donauversickerung bei Tuttlingen, von der Sie vielleicht schon gehört haben. Die Donau verschwindet plötzlich im Erdboden und kommt erst nach etwa zwölf Kilometern wieder ans Tageslicht. Ein Beweis für die mächtigen unterirdischen Stromläufe.« »Und durch solch einen verborgenen Flusslauf soll das dreiäugige Sagenungeheuer hierher in die Gegend gekommen sein?« Kommissar Roth wollte mehr darüber hören. Walter Dünhofen hatte schließlich behauptet, dieses Ungeheuer gesehen zu haben. »Wer weiß, welch fremde Welt sich unter unseren Füßen verbirgt?« Lehrer Laube nickte langsam. »Allein schon die Vorstellung ist faszinierend. Finden Sie nicht auch?« »Bleiben wir auf der Erde«, sagte Kommissar Roth. »Sie wollten uns von diesem Wasserkessel erzählen.« »Er kann sich selbstverständlich nicht mit dem berühmten Blautopf vergleichen«, sagte Lehrer Laube. »Dieser Blautopf schüttet während der Schneeschmelze pro Sekunde etwa fünfundzwanzigtausend Liter Wasser aus. Und selbst im Hochsommer sind es immerhin noch dreizehn- bis fünfzehntausend Liter. Unser Wasserkessel hier bringt es im Schnitt auf vielleicht achttausend Liter. Aber das ist ja auch schon ganz schön.« »Sie sind wirklich ein Experte«, sagte Dorian bewundernd. »Sind diese wasserführenden Höhlen auch im Hochsommer unbetretbar?« »Welcher Taucher traut sich dort schon hinein?«, fragte Peter Laube. »Das Risiko ist zu groß. Das heißt, unser Wasserkessel hier bei Greulingen wird wohl bald eine Überraschung erleben.« »Will man ihm an den Kragen?« Kommissar Roth sah den Lehrer
überrascht an. »Das Taucherteam aus Göppingen ist bereits hier«, meldete Lehrer Laube stolz. »Sobald die Schüttung nachgelassen hat, wollen die Taucher einsteigen.« »Das ist ja lebensgefährlich!« Kommissar Roth sorgte sich. »Es sind sehr erfahrene Taucher und Höhlenforscher«, beruhigte Laube den Kriminalbeamten. »Sie haben sich auf wasserführende Höhlen spezialisiert. Wenn Sie wollen, mache ich Sie mit den Männern bekannt.« »Wollen die Taucher das Ungeheuer aufspüren?« Dorian fragte völlig ernst, ohne eine Spur von Ironie. »Diese alte Sage hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass sie sich den Wasserkessel vornehmen wollen«, meinte Peter Laube lächelnd. »Ich würde ihn mir auch gern einmal ansehen«, sagte Dorian. »Das lässt sich leicht machen«, antwortete Peter Laube. »Aber hoffentlich kommen Sie auf Ihre Kosten.« »Irgendwelche Einwände?«, fragte Dorian, den Kommissar anblickend. »Von mir aus nicht«, entgegnete Roth lächelnd. »Hauptsache, Sie kommen nach Greulingen zurück.« »Ich werde dem Ungeheuer sagen, dass es mich gefälligst in Ruhe lassen soll«, meinte Dorian. »Vielleicht geht es darauf ein.«
»Mir gefallen die beiden Fremden nicht«, sagte Otto Dünhofen zu seinem Sohn. »Hast du gesehen, wie sie aussehen?« »Klar«, erwiderte Walter Dünhofen. Er befand sich mit seinem Vater in der Küche des Gasthofes. »Und ich habe auch mitbekommen, was sie diesem Kommissar erzählt haben.« »Und?« Der Gastwirt sah seinen Sohn erwartungsvoll an. Otto Dünhofen war ein Mann von fünfundfünfzig Jahren, der ein wenig schwerfällig wirkte. »Die haben sich rausgeredet. Aber mir machen die nichts vor. Laube hat sie oben am Bergwald aufgelesen. So was kann doch kein Zufall sein. Ich hab mir die Schuhe von den beiden angesehen. Sie wa-
ren völlig zerfetzt und kalkverschmiert. Die beiden müssen sich in einer Höhle aufgehalten haben.« »Ich verstehe dich immer noch nicht, Walter.« »Über die Fremden will ich an das Biest ran.« »Gegen so eine Bestie kommst du niemals an, Junge. Mach dir nichts vor!« »Ich will wenigstens rausbekommen, wo die Höhle ist. Ich kann sie nicht wiederfinden – aber sie ist noch da. Die beiden Fremden … ich hab's im Gefühl, dass sie aus der Höhle gekommen sind. Wir dürfen sie keinen Moment aus den Augen lassen. Ich muss noch einmal in diese Höhle, sonst finde ich keine Ruhe.« »Und wenn das Scheusal dich erwischt, Junge?« Für Otto Dünhofen existierte dieses unheimliche Wesen. Er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, Zweifel anzumelden »Gib mir deinen alten Revolver, Vater!« »Den sollst du bekommen, Junge. Gleich jetzt. Aber da ist noch was, was ich einfach nicht begreife: Warum sind zehn Frauen verschwunden und nur zwei Männer? Was will der Dreiäugige mit den Frauen?« »Vielleicht müssen sie irgendwas für ihn tun.« Walter Dünhofen drehte den Kopf herum, lauschte, legte den Zeigefinger an die Lippen und schlich dann auf Zehenspitzen zur Tür – er riss sie ruckartig auf. Nichts. Doch! Dort am Ende des langen Korridors glaubte er flüchtig einen Schatten gesehen zu haben. Walter rannte los, doch der Hof war menschenleer. Nachdenklich ging er zurück, wobei sein Blick auf den Steinböden des Korridors fiel. Überrascht blieb er stehen, beugte sich vor, prüfte die Spuren, die ganz deutlich auf den sauber gescheuerten Steinplatten zu erkennen waren. Es waren die Abdrücke nackter Füße, die wahrscheinlich von einer Frau stammten. Und diese Fußabdrücke waren kalkverschmiert! »Komm her, Vater! Sieh dir das an!« Sein Vater, der in der geöffneten Küchentür stand, gab ihm verstohlen ein Zeichen. Walter drehte sich um und sah sich Coco Zamis
gegenüber, die vom Hof kam. Die schwarzhaarige Frau sah ihn mit ihren schwarzen, unergründlichen Augen fragend an. Diesem Blick vermochte Walter nicht standzuhalten. Er wandte sich um und ging kommentarlos in die Küche. Sein Vater folgte und schloss nachdrücklich die Tür. »Sie muss die Spuren hinterlassen haben«, sagte Walter eindringlich. »Sie hat an der Tür gehorcht.« »Aussehen tut sie wie eine richtige Hexe«, meinte Otto Dünhofen. »Wir hätten sie nicht ins Haus lassen sollen.«
Sie war verzweifelt und massierte sich die Schläfen. Unruhig ging sie in dem kleinen Gasthofzimmer auf und ab und blieb dann vor Dorian stehen. »Irgendetwas ist da. Ich spüre es, aber ich kann es einfach nicht fassen, Dorian. Was ist nur los mit mir? Früher war das alles viel einfacher für mich.« »Unser Kind«, erwiderte Dorian und nahm sie in die Arme. »Mach dir keine Sorgen, Coco!« »Ob Olivaro wieder hinter uns her ist?« »Damit ist immer zu rechnen. Obwohl ich nicht daran glaube, dass er weiß, wo wir sind. Wir haben es ja selbst erst vor ein paar Stunden erfahren.« »Er hasst mich bis aufs Blut«, sagte sie nachdenklich. »Unser Kind, Dorian, verzeiht er mir nicht.« »Sag mir, was du gespürt hast, Coco! Das dreiäugige Ungeheuer?« Er wollte sie ablenken und beschäftigen. Dorian wunderte sich keineswegs, dass ihre übersinnlichen Fähigkeiten gerade jetzt Schwankungen unterworfen waren. Das noch ungeborene Kind zehrte ganz sicher an ihren magischen Fähigkeiten. Er hatte sie selten so verzweifelt gesehen wie gerade jetzt. Auch das war verständlich. Sie sorgte sich um das Kind, wusste sehr genau, dass der Fürst der Finsternis alles daransetzen würde, es ihr abzujagen. Einen größeren Triumph hätte dieser Höllenfürst von eigenen Gnaden sich gar nicht ausdenken können. Traf er Coco, traf er auch den Dämonenkiller,
seinen ärgsten und zähesten Widersacher. »Ich habe mir die Geschichte dieses Lehrers sehr genau angehört, Dorian. Könnte dieses Scheusal nicht schon ein Werkzeug Olivaros sein?« »Falls Olivaro uns aufspürt, wird er den Dreiäugigen für seine Zwecke einsetzen. Davon bin ich überzeugt. Es hat keinen Sinn, dir etwas vormachen zu wollen.« »Glaubst du, dass dieser Dreiäugige existiert?« »Alte Mythen haben oft einen wahren Kern.« Er trat ans Fenster und sah in die hereinbrechende Dunkelheit. Dann drehte er sich langsam um und schüttelte den Kopf. »Was Olivaro anbetrifft, Coco, so können wir wohl vorerst beruhigt sein: Diese zehn Frauen und zwei Männer verschwanden innerhalb der vergangenen drei Monate. Der Dreiäugige arbeitet quasi auf eigene Rechnung.« »Ob Olivaro oder nicht, Dorian, von diesem Ungeheuer droht uns Gefahr, das spüre ich ganz deutlich.« »Du hast seine Ausstrahlung schon oben im Bergwald vor der Jagdhütte gespürt, nicht wahr?« »Da war sie sehr stark. Der Dreiäugige muss in den Höhlen hausen.« »Vom Regen in die Traufe«, erwiderte Dorian und lachte leise und spöttisch. »Eigentlich ist es kaum zu glauben. Das Dämonentor hätte uns auch anderswo hinschicken können.« »Da ist es wieder!« Coco Zamis hatte nicht hingehört. Sie hatte den Kopf leicht in den Nacken geworfen. Ihre Augen waren geschlossen. Sie bot das Bild höchster Konzentration. Der Dämonenkiller lief zum Fenster und sah nach draußen. In der jetzt herrschenden Dunkelheit erkannte er die Umrisse einer jungen Frau, die auf den Gasthof zukam. Er registrierte erstaunt, dass ihre Füße nackt waren. Coco wirkte jetzt sehr unruhig. Dorian lief zur Tür und riss sie auf. Der obere Korridor war leer. Als er die Tür wieder schließen wollte, hörte er seinen Namen. Er ging zur Treppe und sah nach unten. Der junge Sohn des Gastwirts stand am unteren Treppenabsatz. »Ein Mr. Sullivan aus London!«, rief er. Dorian lächelte und ging noch einmal zu Coco zurück.
»Sullivan ist wieder in London«, sagte er erleichtert. »Er kann die Dinge jetzt in die Hand nehmen. So etwas ist seine Spezialität. In Rekordzeit werden wir frei sein.« Dorian war ehrlich erleichtert. Wenn Sullivan wieder in London war, dann waren Jeff Parker und Marvin Cohen vermutlich auch in Sicherheit. Dorian lief die Treppe hinunter und nahm den Hörer hoch, der neben dem Apparat lag. Es störte ihn nicht weiter, dass der junge Mann in seiner Nähe herumhantierte und ganz offensichtlich mithören wollte. Es konnte nicht schaden, dass der Bursche begriff, dass er es nicht mit einem Landstreicher zu tun hatte. »Sullivan?«, fragte er. »Hören Sie genau zu und stellen Sie keine Fragen! Coco und ich sitzen hier in Süddeutschland fest. Wir haben unsere Papiere verloren und besitzen nicht einen Penny. Sorgen Sie bitte dafür, dass das alles umgehend geregelt wird. Wir sind in einem Ort namens Greulingen, in der Nähe von Blaubeuren. Haben Sie sich das aufgeschrieben? … Gut, sehr gut. Lassen Sie jetzt mal Ihre alten Verbindungen spielen … Wie wir dorthin geraten sind? Sagen wir's mal so: Hinter jedem Tor wartet eine Überraschung. Verstanden? … Fein, Sullivan. Und jetzt lassen Sie uns nicht unnötig schmoren. Wir sehnen uns nach London … Ja, Coco geht es ausgezeichnet. Und was machen meine Freunde? Auch alles in Ordnung? … Coco wird sich freuen, das zu hören … Natürlich werde ich sie grüßen … Moment, wie war das? Parker ist in Deutschland, in Frankfurt? … Das kann doch nicht wahr sein, Sullivan! Das ist fast Musik für meine Ohren. Verständigen Sie bitte auch ihn! Für ihn ist das doch nur ein Katzensprung bis hierher … Hallo, Sullivan? Sullivan, hören Sie mich noch?« Die Leitung war unterbrochen. Dorian legte den Hörer auf und suchte in seiner Hosentasche nach Zigaretten, merkte dann aber, dass er immer noch den ausgeliehenen Overall trug. Da geschah etwas Erstaunliches. Walter Dünhofen hatte die Geste sofort verstanden. Er griff in ein Regal, legte Dorian ein Päckchen Zigaretten hin und bekam einen roten Kopf, als Dorian ihn erstaunt ansah. »Na ja«, meinte Walter verlegen, »verrechnen Sie's später!«
»Vorurteile abgebaut?« Dorian riss das Päckchen auf und griff nach den Streichhölzern, die Walter nachlieferte. Obwohl es keine Players war, schmeckte ihm die Zigarette gut. »Wie hätten Sie sich denn verhalten?«, fragte Walter ohne jede Aggressivität. »Kaum anders«, räumte Dorian lächelnd ein. »Sie haben nicht zufällig einen Bourbon parat?« »Trinken Sie einen Obstler!«, schlug Walter eifrig vor. »Der wird Ihnen schmecken.« »Auf den Anruf gerade trinke ich alles«, gab Dorian zurück. »Wenn wir Glück haben, kann ich Ihnen morgen unsere Ersatzpapiere zeigen.« »Fahren Sie dann sofort wieder ab?« »Ich habe in London zu tun. Aber vielleicht komme ich irgendwann einmal zurück. Dieses Ungeheuer interessiert mich.« »Und ich dachte schon, der Dreiäugige hätte Sie losgeschickt.« »Schwindeln ist nicht Ihre Stärke, wie?« »Wenn Sie meine Geschichte meinen, die Sie ja inzwischen wohl längst kennen, dann kann ich nur sagen, dass ich …« »Ich nehme Ihnen die Geschichte ab«, sagte Dorian, den jungen Mann unterbrechend. »Ich bin davon überzeugt, dass Sie am Tod Ihrer Freundin keine Schuld haben.« »Aber wie soll ich das beweisen, wo ich diese verdammte Höhle noch nicht einmal wiederfinden kann? Sie ist einfach nicht mehr da, verstehen Sie das? Dabei weiß ich ganz genau, wo sie sein muss.« »Wieso? Haben Sie sich irgendein Zeichen gemerkt?« »Natürlich. Die Blitzeiche. Da ist die Höhle gewesen, aber jetzt ist dort nichts als glatter Kalkfels. Laube sagt, dass dort niemals eine Höhle gewesen sei.« Dorian trank den Obstler, den Walter Dünhofen ihm serviert hatte. Er schnappte nach Luft und schüttelte sich, lächelte dann aber überrascht. »Nicht schlecht«, sagte er anerkennend. »Wie war das gerade mit der Blitzeiche, von der Sie gesprochen haben?« Dorian fühlte sich rundherum wohl, nachdem er mit Trevor Sulli-
van gesprochen hatte. Darüber vergaß er ein wenig Coco, die für seine Begriffe oben im Gasthofzimmer sicher war. »Sie ist uralt«, antwortete Walter. »Sie steht vor dem Steilhang, in dem sich die Höhle befinden muss.« »Gibt es etwas Besonderes an dieser Blitzeiche?« »Sie ist hohl und schon oft von Blitzen getroffen worden, aber sie fällt einfach nicht. Man sagt hier in der Gegend, unter der Eiche hätten sich früher mal Hexen und Erdkobolde getroffen – so etwas wie ein uralter Tanzplatz.« Bevor Dorian dieses Thema weiterverfolgen konnte, war ein Schrei zu hören. Er dachte sofort an Coco und jagte los.
Coco war im ersten Moment wie gelähmt. Sie starrte auf das Zimmermädchen, das nach dem Anklopfen eingetreten war. Coco hatte sich nichts dabei gedacht. Erstaunlicherweise hatte sie auch erst nichts von der schrecklichen Ausstrahlung dieser jungen Frau verspürt. Doch das änderte sich. Die Wellen des Hasses und der Mordlust, die von ihr ausgingen, überfluteten Coco förmlich. Sie wurde davon derart überrascht, dass sie zu keiner Gegenwehr mehr fähig war. Das Zimmermädchen – es mochte vielleicht achtzehn Jahre alt sein – hatte ein seltsames, derb geschnittenes Gesicht. Licht und Sonne schien es schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen zu haben. Die Haut war fahlgelb, die Augen waren blind und leer. Die junge Frau schlich sich wie ein Tier an Coco heran. In die leeren Augen kam nun ein unheimliches Glühen. Coco hatte noch immer nicht die Kraft, etwas gegen diese Bedrohung zu tun. Wie hypnotisiert blieb sie neben dem Bett stehen. Erst als die Frau ihre Hände vorstreckte, erwachte Coco aus dem Bann, der sich ganz eindeutig um sie gelegt hatte. Sie stieß einen Schrei aus und warf sich zurück. Coco war trotz ihres Zustandes noch immer sehr geschmeidig. Sie entging gerade noch den Händen, die sich zu Klauen geformt hatten. Sie versuchte das Wesen zu bannen, aber sie merkte, dass ihre Kräfte dazu nicht ausreichten. Panik erfasste sie. Sie warf sich auf das Bett, rollte sich ab, griff nach dem Aschenbecher, der auf dem
Nachttisch stand, und schleuderte ihn auf das Zimmermädchen, dessen Gesicht zu einer wilden, hassverzerrten Fratze geworden war. Weißer, blasiger Schaum stand in den Mundwinkeln des Wesens, das jetzt langsam um das Bett herumkam. Dann warf es sich plötzlich vor und griff nach Cocos Haaren. Der stechende Schmerz in der Kopfhaut beflügelte Coco. Vorbei war es mit der panischen Angst. Sie dachte automatisch an ihr Kind und wurde zu einer Löwin. Es galt, das noch ungeborene Leben zu schützen. Coco benutzte ihre Handkante als Waffe, schlug gezielt auf das Zimmermädchen ein und trieb es zurück. Sie heulte vor Schmerz auf, duckte sich, wollte aber erneut angreifen. Doch da war wieder die bannende Kraft in den Blicken Cocos. Von ihren Augen ging eine Macht aus, der das Wesen nicht gewachsen war. Es heulte erneut auf und wandte sich hastig um. Sekunden später war der ganze Spuk vorüber. Die Tür fiel ins Schloss … Coco war wieder allein. Sie ließ sich auf der Bettkante nieder, rieb ihre Schläfen und entspannte. Als Dorian ins Zimmer stürzte, schaute sie kurz hoch. Er sah mit einem schnellen Blick, dass ein Kampf stattgefunden haben musste. Besorgt kam er näher und beugte sich über Coco. »Alles in Ordnung?« Sie schilderte ihm, was sich ereignet hatte. Inzwischen hatte sie sich wieder voll unter Kontrolle. »Sieh doch!«, rief sie plötzlich und deutete auf den gescheuerten Holzfußboden. »Fußspuren«, stellte Dorian fest. »Ton und Kalk. Das Zimmermädchen hatte keine Schuhe an?« »Darauf habe ich nicht geachtet, Dorian. Ich weiß nur, dass diese Frau unter einem fremden Willen stand. Und dieser Wille war sehr, sehr mächtig.« »Olivaro scheint uns doch aufgespürt zu haben«, meinte Dorian nachdenklich. »Damit hatte ich eigentlich nicht gerechnet.« Coco und Dorian sahen zur Tür hinüber, als angeklopft wurde. Dorian ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Als er Walter Dünhofen sah, ließ er ihn eintreten. Er sah den jungen Mann prüfend
und misstrauisch an. Nachdem Dorian sich mit dem Gedanken vertraut gemacht hatte, dass Olivaro ihnen schon wieder dicht auf den Fersen war, schaltete er auf höchste Wachsamkeit. »Ist etwas passiert?«, fragte Walter. »Ihr Zimmermädchen hat mich angegriffen«, antwortete Coco. »Zimmermädchen? Seit es verschwunden ist, haben wir keines mehr.« »Aber es war doch eben erst hier!« Coco deutete auf die kalkigen Fußspuren. Walter Dünhofen stutzte, beugte sich herab und sah sich die Spuren eingehend an. »Wie unten im Korridor«, murmelte er betroffen. »Sie kennen diese Art von Spuren?«, wollte Dorian wissen. Walter Dünhofen berichtete, was er entdeckt hatte. »Wer kann denn diese junge Frau gewesen sein?«, schaltete Coco sich ein. »Sie war mittelgroß, derb und hatte ein rundes Gesicht.« »War die Nase etwas schief?«, fragte Walter Dünhofen erregt. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Und sie trug über dem dunklen Rock eine grüne Schürze.« »Das muss Christine gewesen sein«, sagte Walter und holte tief Luft. »Nur sie kann es gewesen sein!« »Also kennen Sie die Frau?« Dorian ahnte schon, was nun kommen würde. »Christine ist vor zwei Monaten spurlos verschwunden. Sie muss jetzt aus der Opferhöhle gekommen sein.« »Sieht so aus«, sagte Dorian lakonisch und musterte den jungen Mann abschätzend. »Sind Sie mutig, Walter?« »Es geht«, antwortete Dünhofen ehrlich. »Zeigen Sie mir die Blitzeiche!«, forderte Dorian energisch. »Jetzt, Walter. Und ich glaube, dass wir uns sogar beeilen sollten.« Walter Dünhofen sah den Dämonenkiller einen kurzen Moment an, nickte und presste die Lippen fest aufeinander. »Ich hole den Wagen. In ein paar Minuten können wir losfahren.« Er nickte Coco zu und eilte dann aus dem Zimmer. Sie wusste sofort, dass sie Dorian nicht aufhalten konnte, sie
schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. »Pass auf dich auf! Ich komme schon zurecht, Dorian.« »Versiegele das Zimmer!«, schärfte er Coco ein. »Ich glaube zwar nicht, dass du noch einmal Besuch bekommen wirst, aber sicher ist sicher.« Als er das Zimmer verlassen hatte, schritt Coco die Fenster der beiden Zimmer und die beiden Türen ab. Ihre rechte Hand schlug magische Chiffren in die Luft, Bannzeichen gegen das Böse und gegen die fremden Mächte. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Zauber stark genug war, die Mächte der Finsternis abzuwehren.
Ein Horrorfilm hätte die Szene nicht perfekter liefern können. Auf der weiten Lichtung vor dem Steilfelsen war der riesige Baum genau zu erkennen. Das Mondlicht schien sich sogar auf ihn konzentriert zu haben. Die knorrigen Äste, ohne jedes Laub, ragten wie drohend erhobene Arme zum nächtlichen Himmel empor. Die Blitzeiche war nicht besonders hoch, aber sehr breit und gedrungen. Von ihr ging eine Bedrohung aus, die man fast körperlich spürte. »Die Steine«, flüsterte Walter Dünhofen. Er stand dicht neben dem Dämonenkiller, hatte Angst, unterdrückte sie aber, denn die Gegenwart dieses Engländers gab ihm Mut. Walter hatte längst erkannt, dass dieser Mann genau wusste, was er wollte. Dorian sah die Steine auch. Es waren Dolmen, die kreisförmig die Blitzeiche umstanden. Die mächtigen, unbehauenen Steine waren teils umgestürzt, teils überwuchert. Im Mondlicht war ihre Anordnung sehr gut zu erkennen. Die großen Felsen grenzten einen Platz ab, der früher einmal ein heiliger Ort gewesen sein musste. Als kleine Wolkenbänke sich vor den Mond schoben und das Licht filterten, schienen die Steine plötzlich zu leben. Sie veränderten ihre Formen, ja, sie schienen sogar zu tanzen. »So hab ich die Steine noch nie gesehen«, flüsterte Walter beeindruckt. »Hier oben muss eine Kultstätte der Kelten gewesen sein«, antwortete Dorian leise. »Zeigen Sie mir jetzt, wo Sie die Höhle gesehen ha-
ben!« »Drüben! Direkt unter dem Steilhang. Sehen Sie den leicht überhängenden Felsen? Dort war der Eingang.« »Glatter Stein. Aber das hat nichts zu sagen, Walter.« »Was machen wir jetzt?« »Wir werden warten. Dieses Mondlicht bedeutet für Geister und Dämonen Leben. Irgendwas wird sich bestimmt noch tun.« Dorian fingerte nach dem Kruzifix, das er aus seinem Zimmer mitgenommen hatte. Es war über der Tür angebracht gewesen und hatte sich förmlich angeboten. Zusammen mit der gnostischen Gemme, die an einer Silberkette um seinen Hals hing, besaß er damit zwei Waffen gegen die Dämonen. Der Tanz der Steine war beendet. Der Mond verschwand hinter dicken Wolken. Die Blitzeiche wurde wieder zu einem gewöhnlichen Baum, der von vielen Blitzen geschunden worden war. Die Spannung in Dorian ließ etwas nach. »Ist die Höhle vor Ihnen schon einmal gesehen worden?«, fragte Dorian seinen jungen Begleiter. »Noch nie«, lautete Walters Antwort. »Darum war ich ja auch so überrascht. Die Steine und die Blitzeiche kennen viele Leute, aber die Höhle hatte noch keiner vor mir gesehen. Und wenn, dann hat der Betreffende nichts davon erzählt.« »Sie sagten eben im Wagen, dass der Blitz den Dreiäugigen praktisch zum Leben erweckt hat. Woher kam der Blitz?« »Aus der Decke der ersten Grotte. Und er zischte durch das Spundloch hinunter in die tiefere Grotte.« »Versuchen Sie sich genau zu erinnern, Walter! Könnte der Blitz vielleicht durch die Eiche nach unten gekommen sein? Könnte die zweite Grotte dort unter dem Steinkranz liegen?« Walter Dünhofen richtete sich ein wenig auf, ging in Gedanken noch einmal durch die Höhle und versuchte sich zu erinnern. Dann schüttelte er ratlos den Kopf. »Eigentlich nicht. Der Eingang war drüben im Steilhang. Dann ging es ziemlich waagrecht weiter bis zur ersten Grotte. Und genau darunter befindet sich die zweite Grotte mit dem Grab.« »Wie groß diese zweite Grotte ist, können Sie aber nicht sagen?«
»Nein, durch das Loch sahen wir nur das Grab und das Ungeheuer. Jetzt verstehe ich Sie! Sie glauben, die untere Grotte könnte viel größer sein als die erste Grotte, nicht wahr?« »Sie könnte bis zur Blitzeiche reichen.« »Das wäre natürlich denkbar.« Walter Dünhofen nickte. »Der Blitz aber kam durch die Höhlendecke. Das weiß ich genau.« »Still!«, sagte Dorian in diesem Moment und legte eine Hand auf Walters Oberarm. »Sehen Sie doch!« »Das ist er!« Die Stimme des jungen Mannes wurde heiser vor Erregung und Angst. Selbst der Dämonenkiller war beeindruckt und vibrierte vor Spannung. Der eben noch glatte Kalkfels hatte sich gespalten. Ein riesiges Maul schien sich zu öffnen, der Rachen einer urweltlichen Bestie klaffte auf und spie dieses grauenerregende Wesen aus. Die drei Augen in dem wilden Gesicht waren furchteinflößend. Das Auge über der Nasenwurzel war doppelt so groß wie die beiden normal aussehenden Augen. Der mächtige, gedrungene Körper dieses Ungeheuers war spärlich mit einem zottigem Fell bedeckt. Das Haar des Dreiäugigen war weiß. Das Fell wurde von einem breiten Gurt gehalten, der aus Leder oder geflochtenem Metall bestand. Das breite Kurzschwert wirkte an dem massigen Körper fast nur wie ein Messer. Fahlgelb war die Haut des Monsters, das sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze bewegte. Das Scheusal lief auf den Kranz der Dolmen zu, spie aus und geriet in Erregung. Es langte mit mächtigen Händen nach einem der Steine, zuckte zurück, versuchte es erneut, wurde aber förmlich zurückgeschleudert, als sei es von einer riesigen, unsichtbaren Faust getroffen worden. Das Ungeheuer geiferte vor Zorn und Wut, tanzte stampfend um den Kreis der Steine herum, riskierte es aber nicht, noch einmal nach einem der Dolmen zu fassen. »Da!« Dorian wandte seinen Blick von dem dreiäugigen Scheusal ab und atmete scharf ein. Zwei, drei, dann vier junge Frauen kamen aus dem Höhlenrachen. Sie alle hatten nackte, kalkverschmierte Füße und schienen sich in einer Art somnambulen Zustand zu befinden,
bewegten sich mechanisch wie aufgedrehte Puppen. Sie gingen zu dem Dreiäugigen hinüber, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte. Er griff nach ihnen – es waren eindeutige Gesten: schamlos und gierig. Die Frauen ließen alles mit sich geschehen, reagierten kaum. Sie waren seelenlose Puppen, die wohl auch die schreckliche Wildheit und Scheußlichkeit des Dreiäugigen überhaupt nicht wahrnahmen. Alles deutete darauf hin, dass sie untot waren – unbeseelte, lebende Leichname. Das Ungeheuer stieß knurrende Töne aus, packte dann mit beiden Händen nach einer der jungen Frauen und warf sie sich über die Schulter. »Das ist Hanne Löser«, flüsterte Walter. »Ich kenne sie ganz genau. Mein Gott, warum kann man denn nichts tun?« Dorian verzichtete auf eine Antwort. Er würde dem jungen Mann schwerlich beibringen können, dass Hanne Löser längst nicht mehr am Leben war. Er beobachtete den Dreiäugigen, der mit der Untoten ins Unterholz verschwand. Wenig später war ein wildes und tierisches Keuchen zu hören. Walter wollte aufspringen, doch Dorian schien damit gerechnet zu haben. Er griff blitzschnell zu und drückte den jungen Mann auf den Boden zurück. »Still!«, sagte er eindringlich, fast beschwörend. »Helfen können wir jetzt nicht.« Walter presste sich gegen die Erde und hielt sich die Ohren zu. Dorians Gesicht war zu einer versteinert aussehenden Maske geworden. Nach einer Zeit, die ihm endlos vorgekommen war, erschien der Dreiäugige vor dem Unterholz. Er winkte die drei übrigen Frauen zu sich heran. Sie hätten den kürzesten Weg wählen können, über den Platz, den die Dolmen begrenzten, doch die Frauen machten einen weiten Bogen um diesen geheimnisvollen Ort, in dessen Mittelpunkt die Blitzeiche stand. Dann verschwanden sie mit dem Dreiäugigen im Unterholz. Es herrschte Stille. Der Dämonenkiller begriff zu spät. Der Dreiäugige kehrte nicht in seine geheimnisvolle, magische Höhle zurück. Der Schlund der Höhle hatte sich wieder geschlossen, ohne dass Dorian es bemerkt hatte. Der Dreiäugige war unterwegs, um neue Beute zu machen.
»Los, wir müssen nach Greulingen zurück!«, sagte Dorian hastig zu seinem jungen Begleiter. »Ich fürchte, wir sind übertölpelt worden.« Die beiden Männer rannten durch den Bergwald zurück, zu dem Wagen, der Walters Vater gehörte. Sie brauchten gut und gern eine Viertelstunde, bis sie ihn erreicht hatten. Betroffen blieben sie stehen, als sie das umgestürzte Wrack sahen. Urkräfte hatten den Wagen umgekippt und das Blech mit wuchtigen Schlägen eingedrückt. Die Wagenscheiben waren ohne Ausnahme zersplittert. Auf wessen Konto dieser Zerstörungsakt ging, war Dorian nur zu klar. Er wunderte sich über die gewaltigen Kräfte des Dreiäugigen. Wie würde er unten in dem kleinen Marktflecken wüten? Dorian dachte an Coco und rannte los.
Coco lag auf dem Bett und war eingeschlafen. Sie schreckte hoch, als sie dröhnende Axtschläge vernahm, die gegen ihre Zimmertür donnerten. Die Tür knarrte in den Angeln, das Schloss knackte, doch die Tür gab nicht nach. Erstaunlicherweise zersplitterte die Schneide der Axt noch nicht einmal die dünne Füllung: Cocos magischer Zauber wirkte. Schwelle und Tür waren hiebfest geworden. Derjenige, der die Axt führte, schien das inzwischen ebenfalls begriffen zu haben. Schreie hemmungsloser Wut waren jenseits der Tür zu hören. Coco stand längst neben dem Bett und nährte den Bann. Ihre Hände bewegten sich in Kreisen durch die Luft, wehrten den Angriff noch zusätzlich ab. Plötzlich herrschte Stille. Das Wesen im Korridor hatte von der Tür abgelassen. Sammelte es nur neue Kräfte? Oder suchte es sich ein neues Opfer? Dann hörte Coco jemand auf dem Korridor herumhuschen. Nackte Fußsohlen trippelten über die Dielenbretter. Ekstatischer Gesang schwoll an, ebbte wieder ab, ging in eine monotone Melodie über und schwoll dann wieder an. Und dazwischen dröhnten die Axthiebe. Jetzt splitterte auch Holz. Coco schloss vorsichtig ihre Zimmertür auf, spähte nach draußen – und fuhr entsetzt zurück. Der Dreiäugige!
Am Ende des langen Korridors stand das Ungeheuer und drosch mit einer schweren Axt auf die Tür ein. Durch die gespaltenen Holzbretter hindurch erkannte Coco den Wirt des Gasthofes. Der Mann war bis an die gegenüberliegende Wand zurückgewichen und hatte seine Arme abwehrend ausgestreckt. Sein Gesicht war nur noch eine von Grauen und Schrecken verzerrte Fratze. Coco wollte helfen. Sie hob ihre Arme, schrieb Zeichen in die Luft, um das Ungeheuer zu bannen, und erreichte wenigstens, dass das Ungeheuer sich plötzlich blitzschnell umwandte. Es schien Cocos Kräfte gespürt zu haben. Drei blutunterlaufene Augen starrten Coco an. Das breite Maul öffnete sich, zeigte spitze Reißzähne. Das Schreckenswesen brüllte auf und – schleuderte die Streitaxt auf Coco. Coco hätte wohl kaum eine Chance gehabt, sie wäre nicht schnell genug gewesen. Aber die Axt prallte dicht vor ihrem Gesicht wie an einer unsichtbaren Mauer ab. Der Bann der Schwelle und der Tür hatten seine Wirkung erneut unter Beweis gestellt. Coco hatte die Bannzeichen nicht überschritten. Jetzt schlug sie die Tür zu, schloss ab und lehnte sich gegen die Wand. Sie hörte das Ungeheuer näher kommen. Doch die Schritte entfernten sich wieder. Der schaurige Gesang der Frauen schwoll erneut an. Dann hörte sie wieder die Axthiebe, wildes Gebrüll und einen entsetzlichen Schrei, den nur ein Mensch in Todesangst ausstoßen konnte. Der Gesang der Frauen wurde zu einem entfesselten Kreischen. Erst viel später merkte Coco, dass im Haus eine unheimliche Stille herrschte. Sie musste sich überwinden, die Tür zu öffnen. Auf dem Korridor entdeckte sie den Wirt auf der Schwelle seiner zertrümmerten Tür. Der Mann hatte keinen Kopf mehr.
»Aber das gibt es doch gar nicht!«, sagte Kommissar Roth etwas zu nachdrücklich. »Ich weigere mich einfach, Ihnen diese Geschichte abzunehmen. Ein dreiäugiges Ungeheuer, das Menschen den Kopf abschlägt. Dreiäugig! Das muss man sich mal vorstellen!« Sie befanden sich in Dorians Zimmer, der Kommissar, Coco, Walter Dünhofen und natürlich der Dämonenkiller. Zwei Stunden wa-
ren verstrichen, seit das Scheusal im Gasthof aufgetaucht war. Die verstümmelte Leiche des Gastwirts war inzwischen weggeschafft worden. Die Beamten der Mordkommission hatten sich gerade verabschiedet. Walter Dünhofen konnte sich mit dem Tod seines Vaters nicht abfinden, stierte zu Boden und schüttelte immer wieder den Kopf. Der Polizeiarzt hatte ihm Beruhigungstabletten gegeben. »Sie haben die Leiche doch gesehen«, sagte Dorian. »Und Walter und ich haben oben vor der Blitzeiche das Ungeheuer beobachtet: Dieses Wesen ist nicht wegzudiskutieren.« »Und ich sah es auf dem Korridorgang«, warf Coco ein. »Wir können uns doch nicht alle getäuscht haben.« »Irgendeine Sagengestalt kann doch nicht plötzlich leben«, meinte Kommissar Roth erregt. »Ich kann es mir nur so vorstellen, dass Sie alle einer Massensuggestion unterliegen. Eine andere Möglichkeit gibt es überhaupt nicht.« »Der Dreiäugige lebt«, sagte Walter Dünhofen. »Ich habe nicht gelogen. Und Liesel ist von diesem Scheusal in der Höhle festgehalten worden.« »In einer Höhle, die nicht existiert«, sagte Kommissar Roth scharf. »Es hat doch keinen Sinn.« Walter wandte sich müde dem Dämonenkiller zu. »So was glaubt ja auch kein normaler Mensch.« »Hier handelt es sich um einen offensichtlich Geistesgestörten«, meinte der Kommissar. »Vielleicht ist es ein Einsiedler, der sich wie ein Ungeheuer ausstaffiert hat.« »Und was werden Sie jetzt tun?«, fragte Dorian. »Eine zweite Großfahndung. Diesmal müssen wir diesen Kerl finden.« »Die erste Fahndung war eine einzige Pleite«, stellte Walter Dünhofen fest. »Und die zweite wird auch eine werden. Wie wollen Sie eine solche Höhle erforschen? Vor meinen Augen öffnete sie sich, vor meinen Augen verschwand sie wieder. Das ist Zauberei.« »Entspricht das den Tatsachen?« Roth wandte sich an Dorian. »Es kann natürlich auch eine Sinnestäuschung gewesen sein«, meinte der Dämonenkiller und schüttelte unmerklich den Kopf, als der junge Mann heftig antworten wollte. Walter Dünhofen begriff
augenblicklich, presste die Lippen zusammen und schaute wieder zu Boden. »Natürlich war das eine Sinnestäuschung.« Der Kommissar gab sich mit dieser Erklärung sofort zufrieden. »Nach dem, was mit Liesel Blattner passierte, haben wir doch die ganze Gegend Meter um Meter auf den Kopf gestellt. Diese Höhle gibt es nicht.« »Man irrt sich leicht in der Dunkelheit.« Dorian lächelte entschuldigend. »Nimmt Ihnen ja auch kein Mensch übel«, sagte Roth beschwichtigend. »Ich denke, wir sollten Schluss machen. Morgen ist auch noch ein Tag.« Er verabschiedete sich und ging. Walter war aufgestanden und schloss hinter dem Kommissar die Tür. Dann drehte er sich langsam zu Coco und Dorian um. »Wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte er überraschend ruhig, was nicht allein mit den Tabletten zusammenhängen konnte – er machte sogar einen sehr konzentrierten Eindruck. »Sie wollen Ihren Vater rächen, nicht wahr?« Dorian verstand den jungen Mann sofort. »Ich muss dieses Ungeheuer vernichten … auch wenn ich selbst draufgehen sollte.« »Ich werde Ihnen helfen, Walter«, erklärte Dorian. »Aber wir sollten das nicht an die große Glocke hängen.« Als Walter gegangen war, wanderte Dorian im Zimmer auf und ab. Er dachte darüber nach, wie man den Dreiäugigen stellen und vernichten konnte. »Arbeitet er nun für Olivaro?«, fragte Coco. »Das Scheusal ist ein Dämon. Damit gehört es auf Olivaros Seite. Inzwischen wird Olivaro gespürt haben, dass hier eine mächtige Kreatur ist, die er für seine Zwecke einspannen kann. Olivaro wird nicht lange auf sich warten lassen.« »Bestimmt nicht«, seufzte Coco und dachte an ihr Kind. »Wir könnten natürlich verschwinden. In ein paar Stunden könnten wir weit weg sein.« »Olivaro wird uns überall aufspüren. Warum also weglaufen, Dorian? Er würde das nur als Schwäche auslegen und seine Anstren-
gungen noch verdoppeln. Hilf dem jungen Mann! Wenn du das Ungeheuer vernichtest, triffst du gleichzeitig Olivaro.« »So sehe ich es auch. Weglaufen hat keinen Sinn. Dass es aber auch um dich geht, weißt du, nicht wahr?« »Der Dreiäugige wollte zuerst zu mir. Nur der Bann hat ihn zurückgehalten.« »Ich bin mir immer sicherer, dass Olivaro bereits hier ist.« »Auch ich spüre das«, gestand Coco. »Darum wäre eine Flucht ja auch sinnlos.« »Wenn ich nur wüsste, wie ich in diese Höhle komme. Ich kenne die magische Formel nicht, um den Steilhang öffnen zu können. Es muss einen anderen Weg geben.« »Mit dem du dich bereits beschäftigst?« Sie kannte Dorian nur zu gut und lächelte unwillkürlich. »Ich denke an den Wasserkessel, von dem der Lehrer gesprochen hat. Die Höhlen stehen untereinander in Verbindung. Und denke doch mal an die alte Sage, nach der das dreiäugige Ungeheuer in dem Wasserkessel gehaust haben soll, bevor es verschwand.« Dorian hatte noch andere Ideen, aber über die sprach er nicht. Er wollte Coco nicht unnötig beunruhigen. In ihrem Zustand befand sie sich in einer gewissen Ausnahmesituation und musste geschont werden. Er dachte an die Blitzeiche, die Walter Dünhofen ihm gezeigt hatte. Der junge Mann hatte gesagt, dass sie hohl sei. War diese Eiche vielleicht der getarnte Zugang zu der Grabhöhle? Nachdem Coco sich niedergelegt hatte, ging Dorian hinüber in sein Zimmer und legte sich angekleidet aufs Bett. Die Verbindungstür blieb geöffnet. Als er in den Schlaf hinüberglitt, hörte er draußen vor den Fenstern hastige Schritte. Er stand sofort auf, trat vorsichtig an eines der Fenster und zuckte zurück, als eine Handvoll kleiner Steinchen gegen die Scheibe prasselte. Zuerst konnte er unten nichts erkennen, als seine Augen sich aber an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er die junge Frau. Sie trug einen dunklen Rock, darüber eine grüne Schürze – sie war barfuss. Er sah es ganz deutlich, als sie in den Lichtkreis der Lampe trat, die über dem Eingang zum Gasthof brannte. Die nackten Füße waren
ton- und kalkverschmiert. Sie winkte herauf, doch sie meinte nicht ihn, wie Dorian erst jetzt herausfand. Er hörte das Öffnen eines benachbarten Fensters. Walter Dünhofen! Der Dämonenkiller wusste sofort, was er zu tun hatte. Die junge Frau musste das vor zwei Monaten verschwundene Dienstmädchen Christine sein. Sie wollte sich mit Walter in Verbindung setzen. Dorian lief zur Tür und öffnete. Der Korridor war dunkel. Dort irgendwo konnte das dreiäugige Ungeheuer hocken. Dorian lief los, erreichte die Nebentür, klopfte gegen die Türfüllung und rief Walters Namen. Im Zimmer rührte sich nichts. Entweder hatte der junge Mann es bereits verlassen und lief seinem Tod direkt in die Arme oder er war gar nicht mehr in der Lage, auf das Klopfen zu reagieren. Dorian trat zurück, nahm einen kurzen Anlauf und warf sich gegen die Tür, die sofort aus dem Schloss sprang. Er taumelte ins Zimmer, fing sich ab und sah Walter Dünhofen, der bereits rittlings im geöffneten Fenster saß und nach unten klettern wollte. Dorian hechtete auf den jungen Mann zu, zerrte ihn zurück, stieß aber auf verzweifelten Widerstand. Dorian tat es nicht gern, doch es musste sein. Mit einem kurzen, harten Hieb schaltete er den jungen Mann aus, zerrte ihn von der Fensterbank ins Zimmer zurück und schleppte ihn aufs Bett. Dann lief er zum Fenster und sah nach unten. Die junge Frau hob drohend ihren rechten Arm, geiferte, bückte sich und schleuderte eine weitere Handvoll Kies nach oben. Sekunden später war sie in der Dunkelheit verschwunden.
Coco hatte die Schrecken der Nacht vergessen. Sie war in das einfache Kleid geschlüpft, das Dorian mitgebracht hatte. Nach der Dusche fühlte sie sich wie ein neuer Mensch. Sie stand vor dem Spiegel und legte ein diskretes Make-up auf. Dann drehte sie sich zu Dorian um, der sie lächelnd beobachtete. »Wer hat uns denn den großzügigen Kredit eingeräumt?«, fragte sie. »Dieser nette Lehrer?«
»Er und Walter Dünhofen haben sich darum gestritten«, berichtete Dorian. »Um sie nicht zu beleidigen, habe auch ich mich neu ausstaffiert.« Er trug eine Manchesterhose, ein großkariertes Hemd und derbe Schuhe. Er sah aus wie ein eleganter Holzfäller. »Der Kommissar und Laube warten. Nimm sicherheitshalber die Strickjacke mit. Das Wetter könnte umschlagen. Passen die Schuhe?« Er hatte für sie flache Schuhe ausgesucht. Sie nickte und lächelte ihm zu. Er nahm sie in seine Arme und küsste sie zärtlich. In dem einfachen Kleid sah sie wunderbar aus. »Man wartet auf uns«, sagte sie mahnend und schlüpfte aus seinen Armen. Sie lief zur Tür und wartete an der Treppe auf ihn. Als sie in der Gaststube waren, erschien eine gebeugte Frau unten im Korridor, hob lauschend den Kopf und stahl sich dann nach oben. Es war die alte Martha, die jetzt das Zimmer von Coco erreicht hatte. Sie öffnete die Tür und zuckte leicht zusammen, als sie die Türschwelle passierte. Es war, als hätte sie einen elektrischen Schlag erhalten. Sie stutzte, beugte sich keuchend nieder, strich dann mit der flachen Hand über die Schwelle. Nein, Martha war ganz sicher keine Hexe, aber sie spürte Schwingungen, die ein normaler Sterblicher nicht bemerkte. Beim Überschreiten der Schwelle hatte sie eine Ausstrahlung gespürt, die intensiv schmerzte. Ihr Wissen um geheimnisvolle Kräfte der Natur hieß sie das Bannzeichen machen. Sie hatte es von ihrer Mutter gelernt und die wiederum von ihrer Mutter. Seit vielen Generationen wurde diese Kenntnis weitergereicht. Die alte Martha war eine Frau, bei der alles seine Ordnung haben musste. Sie ging noch einmal prüfend zurück über die Schwelle und nickte danach zufrieden. Die schmerzende Ausstrahlung war jetzt nicht mehr spürbar. Die alte Frau sah sich in Cocos Zimmer um und entdeckte auf dem Waschtisch die Schminkutensilien: ein Lippenstift, eine Puderdose und ein Schächtelchen mit flüssigem Lidschatten. Das Kräuterweiblein interessiert sich für die kleinen Wattebäusche, die neben dem Schächtelchen lagen. Spuren abgewischten Lidschattens waren darauf deutlich zu erkennen. Sie hob mit spitzen,
gichtverkrümmten Fingern eines dieser Wattebäuschchen hoch, schnupperte daran, holte aus ihrem Kleiderausschnitt ein kleines, runzeliges Ledersäckchen hervor, öffnete es und schob die Watte vorsichtig hinein, als handelte es sich um einen kostbaren Schatz. Dann sah sie sich den Lippenstift an, schnupperte auch an ihm herum, schüttelte aber den Kopf. Die Watte – das war es. Ihr Auftraggeber würde mit ihr zufrieden sein. Mit dieser Watte ließ sich sehr viel anfangen. Als sie nach der Puderdose griff, hörte sie Schritte auf der Treppe. Die alte Frau legte die Puderdose schnell zurück und lief zur Tür. Sie sah Walter Dünhofen, der die Treppe hinaufkam, sie aber nicht bemerkte. Die alte Frau drückte sich dicht an die Wand und wartete, bis der Gastwirtssohn in seinem Zimmer verschwunden war. Dann huschte sie auf den Korridor und eilte ächzend die Treppe hinunter. Sie hatte noch einen weiten Weg vor sich, musste hinauf zum Bergwald.
Der sagenumwobene Wasserkessel lag unter einem leicht hervorstehenden Felshang und war fast kreisrund. »Wir haben Glück«, sagte Gerd Stuefer, der Leiter des Tauchteams, das außer ihm noch aus fünf Sporttauchern bestand. »Die Strömung wird nicht besonders stark sein. Das spart Zeit und Luft.« Dorian und Coco hatten sich mit Stuefer und dem Team bereits bekannt gemacht. Lehrer Laube hatte Dorian und Coco als seine Freunde vorgestellt, was den Kontakt erleichterte. Kommissar Roth hielt sich bewusst im Hintergrund, er wollte die Taucher nicht verunsichern. Es passte ihm gar nicht, dass die Taucher die unterirdische Wasserführung erkunden wollten. Ein Mann seiner Profession glaubte selbstverständlich nicht an Höhlengeister oder dreiäugige Monster, doch er wusste natürlich, welches Risiko die Taucher eingingen. Sie wollten in Regionen vorstoßen, die bisher noch kein Mensch betreten hatte. Selbst bei allem Training war mit Schwierigkeiten oder Zwischenfällen zu rechnen. Einladend sah dieser Wasserkessel gewiss nicht aus. Das hing mit dem überhängenden Felsen
zusammen, zum anderen aber auch mit dem dichten, wuchernden Strauchwerk. Etwas Unheimliches ging von diesem Wasserloch aus. Die Taucher schienen das allerdings nicht so zu empfinden. Während sie die letzten Vorbereitungen trafen, lachten und witzelten sie miteinander. Angst hatten sie ganz sicher nicht. Dorian verfolgte die Vorbereitungen für das Tauchmanöver mit größter Aufmerksamkeit. Die drei Männer, die den ersten Abstieg wagen sollten, legten bereits ihre Pressluftflaschen um und setzten die Schutzhelme auf, an denen je zwei große, leistungsstarke Taschenlampen befestigt waren. Sie trugen Taucheranzüge, deren Knie- und Ellenbogenpartien besonders verstärkt waren. Mit glatten Felswänden war da unten nicht zu rechnen. Nachdem sie ihre Sicherungsleine eingehakt und die Taucherbrillen aufgesetzt hatten, stiegen sie ins Wasser. Sie ließen sich noch zusätzliche Handscheinwerfer reichen, rutschten von einer vom Wasser überspülten Sitzbank aus Stein tiefer und waren wenig später verschwunden. Teamleiter Stuefer überließ seinen beiden Freunden die Sicherung. Sie hielten den dünnen, fast unzerreißbaren Stahldraht in Händen und gaben immer nur so viel Draht frei, wie die Taucher brauchten. Sie wollten dadurch vermeiden, dass der Führungs- und Sicherungsdraht sich irgendwo verhakte. Gerd Stuefers Spannung ließ nach, als die Sicherungsdrähte reibungslos abspulten. Die Taucher schienen sehr schnell und gut voranzukommen. »Die ersten hundert Meter kennen wir bereits. Probleme sind da eigentlich nicht zu erwarten. Die Höhle teilt sich dann in drei Gänge. Der Mittlere führt über die Wasserlinie hinauf in eine Tropfsteinhöhle, die man relativ bequem begehen kann, die beiden anderen führen Wasser. Wo sie enden, wollen wir herausfinden.« »Wie breit ist die Haupthöhle?«, erkundigte sich Dorian. »Etwa zwölf Meter. Die Höhe beträgt etwa zwischen achtzehn und zwanzig Metern. Man kommt sich da ziemlich klein und verloren vor.« »Und wie ist die Sicht?« »Hervorragend«, sagte Gerd Stuefer begeistert. »Die Scheinwerfer
leuchten gut und gern zwanzig Meter weit. Das Wasser ist sehr klar.« »Und wie tief senkt sie sich?« »Sie haben sich mit der Materie befasst«, stellte Stuefer fest. »Sie sprechen da unser Hauptproblem an. Unter fünfundzwanzig Metern kann bereits der berüchtigte Tiefenrausch auftreten. Je tiefer wir runtergehen, desto länger dauert das Auftauchen, weil wir die Dekompression beachten müssen. Sie kennen wahrscheinlich diese Geschichte. Unter Druck – also in größerer Tiefe – löst sich der Stickstoffanteil im Blut und perlt wie Sekt aus, wenn der Druck zu schnell gemindert wird.« »Je tiefer Sie tauchen, desto kürzer ist also die eigentliche Vorstoßzeit.« »Nun, wir wollen später zwei Zwischendepots mit Pressluftflaschen anlegen. Wir müssen nur erst noch Erfahrungen sammeln. Dieser Zweig der Höhlenforschung befindet sich ja noch am Anfang. Aber Moment mal! Da scheint sich was verheddert zu haben.« Gerd Stuefer ging zu seinen Freunden hinüber und redete mit ihnen. Um einen ernsthaften Zwischenfall konnte es sich nicht handeln. Die Männer machten einen vollkommen ruhigen Eindruck. Dorian wandte sich Peter Laube zu. Der Lehrer hatte bisher schweigend und fasziniert zugesehen. Er seufzte jetzt. »Wie gern würde ich auch da unten sein. Die Männer müssen einen phantastischen Blick haben.« »Wo befindet sich eigentlich der Bergwald?«, erkundigte sich Dorian beiläufig. »Den können Sie von hier aus nicht sehen. Er liegt schräg oberhalb von diesem Punkt hier. Dazwischen gibt es noch ein Plateau.« »Wissen Sie die Luftlinie?« »Es mögen vierhundert Meter sein. Schwer zu schätzen.« »So nahe liegt das alles zusammen?« »Luftlinie«, wiederholte der Lehrer. »Von hier aus können Sie nicht an den Bergwald heran, da müssen Sie schon einen weiten Umweg machen.« Coco wusste nur zu gut, warum Dorian diese Frage stellte. Er war
fest entschlossen, die Grotte des Dreiäugigen aufzuspüren. Sie kannte seinen Gesichtsausdruck, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Coco fuhr zusammen, als einer der Männer am Wasserkessel plötzlich einen warnenden Ruf ausstieß. Es musste etwas passiert sein. Sie holten die Sicherungsdrähte ein. Gerd Stuefer ließ sich das dritte Seil reichen und holte es ebenfalls ein. Die Männer arbeiteten konzentriert, waren schnell, vermieden aber jede unnötige Hast. Natürlich stellte Dorian keine Fragen. Er wollte nicht stören. Kommissar Roth erschien neben ihm und zündete sich nervös eine Zigarette an. Coco schmiegte sich unwillkürlich an Dorian. »Blut«, sagte der Kommissar plötzlich und deutete auf die rosarot gefärbten Schwaden, die im sonst klaren Wasser zu erkennen waren. »Schon gesehen«, sagte Dorian leise. Er dachte unwillkürlich an das Scheusal aus der alten Sage. Hatte es sich dem Eindringen der Taucher widersetzt? Der erste Taucher erschien, watete ins seichte Wasser, riss sich die Taucherbrille vom Gesicht. »Schnell, schnell!«, schrie er seinen Freunden zu. »Beeilt euch doch! Die Bestie bringt sie sonst um!« Dorian lief ins Wasser und half dem erschöpften Mann auf trockenen Boden. Er schnallte ihm die schweren Pressluftflaschen ab und führte ihn zu einem kleinen Felsbrocken, auf dem er Platz nehmen konnte. »Sie haben eine Bestie gesehen?«, fragte er. »Nicht genau«, lautete die keuchende Antwort, die auch der Kommissar zur Kenntnis nahm. »Helmut und Rolf waren vor mir und tauchten in einer großen Halle auf. Und plötzlich war da ein riesiger Schatten. Ich sah, dass sie angegriffen wurden. Sie wehrten sich, und Helmut sprang zurück ins Wasser. Da ist er ja!« Der Taucher sprang auf, riss sich die Schwimmflossen von den Füßen, lief seinem Freund entgegen und half ihm aus dem Wasser, wobei er von Dorian unterstützt wurde. Gerd Stuefer hielt noch immer den dünnen, biegsamen Sicherungsdraht in Händen und holte jetzt zusammen mit einem anderen Taucher den dritten Mann aus dem Höhlensystem.
»Was war los?« Kommissar Roth hatte sich eingeschaltet. Die Färbung des aus der Höhle strömenden Wassers war nun eindeutig und ließ leider keinen Zweifel mehr zu: Es handelte sich um Blut. Man bemühte sich um den gerade geborgenen Taucher, der aber die auf ihn einstürmenden Fragen nicht beantworten konnte. Er zitterte am ganzen Leib, schluchzte und stammelte sinnlose Worte. Es war offensichtlich, dass der Mann unter einem starken Schock stand. Warum das so war, sollte sich bald darauf zeigen. Stuefer und ein Mitglied seines Teams zogen den dritten Taucher hoch. Als er auftauchte, fehlte der Kopf.
Die alte Martha war völlig erschöpft. Sie hatte sich hinauf in den Bergwald geschleppt und konnte sich kaum noch auf den schmerzenden Beinen halten. Unterwegs hatte sie sich keine Ruhe gegönnt. Da hatte etwas Besitz von ihr ergriffen, dem sie völlig ausgeliefert war. Eine geheimnisvolle Kraft trieb sie an, der sie nur zu gern folgte. Sie war glücklich, dieser inneren Stimme gehorchen zu dürfen, die sie auch in das Zimmer dieser jungen schwarzhaarigen Hexe geschickt hatte. Die alte Frau hatte den Grat ihres früheren Bewusstseins überschritten. Was bisher nur in Spuren vorhanden gewesen war, hatte sich in ein neues Sein verwandelt. Vielleicht waren ihre Vorfahren in grauer Vorzeit einmal Hexer und Hexen gewesen? Sie ließ den Bergwald hinter sich und stand bald vor dem Steilfelsen. Martha war in einem weiten Bogen um die Dolmensteine herumgegangen, hatte sie mit misstrauischen Blicken gemustert. Jetzt lagen sie und die Blitzeiche hinter ihr. Sie kniete vor dem Steinfelsen nieder und senkte ergeben den Kopf. Als sie ihn nach langen Minuten wieder hob, sah sie vor sich das weit geöffnete Maul einer Kalkhöhle. Wie selbstverständlich stand sie auf und schritt auf den Eingang zu. Angst hatte sie keine. Dass die Höhle sich hinter ihr schloss, bekam sie überhaupt nicht mit. Die Dunkelheit schien ihr nichts auszumachen. Mit sicherem Schritt fand sie ihren Weg, der sie in die Tiefe der Höhlen hineinführte. Die alte Frau stieg über Geröll und brüchiges Gestein, ohne sich
auch nur einmal anzustoßen. Sie erreichte eine Grotte, legte sich flach auf einen kreisrunden Stein, schob ihren Kopf an das Spundloch heran und sog gierig die Luft ein, die aus der unteren Höhle nach oben stieg. Sie roch feucht und modrig, doch für die alte Frau war sie reine Erquickung. Sie stammelte Wortfetzen, die sie selbst nicht verstand, die aus ihrem Innersten kamen. Es waren Beschwörungen und Lobpreisungen des Bösen. Ein magischer Lichtschein flammte in der unteren Höhle auf, traf ihre Augen. Sie richtete sich auf und überstieg den Stein. Andächtig ging sie weiter und verschwand in einem engen Höhlengang, der steil nach unten führte. Sie glitt auf dem lehmigen Boden nicht aus, stand fest auf ihren jetzt nicht mehr schmerzenden Beinen und war dann plötzlich in der Grotte. Die Tropfsteingebilde glühten in einem grünlichen Licht. Groß war diese Grotte. Sie erinnerte in ihren Ausmaßen an ein Kirchenschiff. Und es gab tatsächlich so etwas wie einen Altar, der von Tropfsteinen gebildet wurde. Links davon sah sie einen kleinen See, dessen Wasser vollkommen ruhig und kristallklar war. Weit im Hintergrund der riesigen Höhle war das Rauschen eines unterirdischen Flusslaufes zu vernehmen. Zwischen den Tropfsteingebilden traten jetzt junge Frauen hervor. Ihre Gesichter waren fahlgelb, die nackten Füße ton- und kalkverschmiert. Schweigend umringten sie die alte Frau, berührten sie in einem feierlichen Zeremoniell und öffneten dann den Kreis. Und da sah sie ihn. Der Dreiäugige hatte seinen Platz auf dem Altar eingenommen. Er hockte dort wie ein riesiger Frosch, hatte die Beine unter den Leib geschoben und seine Augen auf die alte Frau gerichtet. Wild und strähnig war das schlohweiße Haar, von abgrundtiefer Abscheulichkeit das Gesicht. Der Dreiäugige streckte einen muskulösen und blutverschmierten Arm aus. Die alte Frau griff in den Ausschnitt des Kleides und reichte dem Dämon den Lederbeutel. Er drückte ihn gegen seine flache Nase und warf ihn dann den jungen Frauen zu. Sie hockten sich im Kreis nieder, zu Füßen des Scheusals. Die alte Frau setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Altar. Sie emp-
fand ihren Platz als Auszeichnung und war glücklich. Aufmerksam sah sie zu, was die jungen Frauen taten. Zuerst teilten sie mit geschickten Händen eine schwarze Haarsträhne. Sie zupften sie auseinander und schienen sie zu einem kleinen Zopf flechten zu wollen. Doch es wurde ein kleines, hauchdünnes Band daraus, kaum länger als zwanzig Zentimeter. Sie legten es vorsichtig auf die Seite und öffneten dann den Lederbeutel. Flinke Hände zerpflückten die Watte, die die alte Martha aus Cocos Zimmer gestohlen hatte. Sie wurde in einen kürbisgroßen Mörser aus Granit gegeben und sorgfältig darin verteilt. Das dreiäugige Scheusal glitt vom Altar herunter und hielt seine mächtige Streitaxt in Händen. Es streckte die Mordaxt zur Decke empor und rammte den Stiel dann mit einer fast jähzornigen Bewegung in den Mörser hinein. Die Watte wurde zu Staub zerrieben. Das kleine, geflochtene Haarband wanderte anschließend in den Mörser und wurde ebenfalls zerrieben. Der Dreiäugige richtete sich auf. Sein fast nackter Körper war schweißnass. Er griff nach dem schweren Steinmörser und trug ihn in die Tiefe der Höhle. Sekunden später war ein lautes Aufklatschen im fließenden Wasser zu hören. Er musste den Mörser samt Inhalt in den unterirdischen Fluss geworfen haben. Als er zurück in den magisch-grünen Lichtkreis kam, sangen die Frauen eine monotone Melodie und wiegten ihre Oberkörper wie in Trance. Das Scheusal stieg zurück auf den Altar und senkte den Kopf. Es bot den Anblick höchster Konzentration. Die alte Frau erhob sich und verließ mit nachtwandlerischer Sicherheit die große Höhle. Sie hatte noch einen weiteren Auftrag zu erledigen.
Während der Rückfahrt hatte Coco Schmerzen. Sie begannen harmlos, wurden aber von Minute zu Minute stärker. Die Schmerzen waren nicht zu lokalisieren, waren eigentlich überall. Es war ein Reißen und Ziehen, als würden dünne, scharf einschneidende Stricke um ihren Körper geschlungen und fest angezogen. Sie brachte kein Wort über die Lippen, sie blieb auch dann noch stumm, als sie ihre
Umgebung nur noch wie durch einen milchigen Schleier wahrnahm. Dieser Schein wurde langsam dichter, nahm ihr immer mehr die Sicht. Coco lehnte sich zurück und kämpfte gegen das Gefühl der Wehrlosigkeit an. Wie von weither hörte sie die Stimmen von Dorian, dem Kommissar und Laube. »Bald ist die Bereitschaftspolizei hier«, sagte der Kriminalkommissar. »Ich habe einige Hundertschaften angefordert. Diesmal werden wir das Gelände noch sorgfältiger absuchen. Wir müssen dieses Ungeheuer finden.« »Ungeheuer?« Der Lehrer, der neben Coco saß, beugte sich ein wenig vor. »Glauben Sie jetzt auch, dass es existiert?« »Natürlich nicht«, erwiderte Roth scharf. »Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass wir es mit einem Irren zu tun haben.« »Wollen Sie Ihre Hundertschaften tauchen lassen?« Der Dämonenkiller saß vorn neben Roth, der den Dienstwagen steuerte. »Es sind erstklassige Taucher darunter«, meinte der Kommissar. »Die aber keine Höhlenerfahrung haben«, warnte Dorian. »Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag, Kommissar. Besorgen Sie sich Dynamit und sprengen Sie die Höhle, von der Walter Dünhofen erzählt hat!« »Eine Höhle, die es erwiesenermaßen nicht gibt.« Roth lachte bitter. »Hoffentlich erscheint nicht die Presse in Greulingen. Sonst macht die Geschichte noch Schlagzeilen in aller Welt.« »Achtung!«, rief Dorian in diesem Moment und deutete nach vorn auf die Straße. Sie kamen um eine Biegung herum und sahen mitten auf der gut ausgebauten Straße einen mächtigen Steinbrocken liegen. Kommissar Roth trat auf die Bremse, fing den schleudernden Wagen ab und rutschte um Haaresbreite an dem Felsbrocken vorbei. Dann ließ er den Wagen ausrollen, öffnete die Tür und stieg aus. Ratlos schüttelte er den Kopf. Er begriff einfach nicht, wie dieser Felsbrocken auf die Straße gekommen sein konnte. Die Hügel links und rechts von der Straße waren sanft ansteigend, ihr Gefälle hätte niemals ausgereicht, solch einen Stein nach unten rollen zu lassen.
»Selbst ein Dutzend Männer könnten einen solchen Stein nicht tragen.« Lehrer Laube sah Dorian nachdenklich an. Der Dämonenkiller verzichtete auf jeden Kommentar. Für ihn war es klar. Der Dreiäugige hatte seine Visitenkarte abgeliefert. Er spielte offensichtlich mit seinen magischen Fähigkeiten. Es sah alles danach aus, dass Olivaro das Ungeheuer steuerte. Der Fürst der Finsternis von eigenen Gnaden liebte skurrile Späße dieser Art. Er hatte das in der Vergangenheit schon oft bewiesen: Immer dann, wenn er glaubte, sein Ziel erreicht zu haben, brach bei ihm die satanische Freude aus, dann musste er seinen Gegnern einfach prahlerisch zeigen und beweisen, wie unbesiegbar er war, über welche Kräfte er verfügte. »Ich muss die Gefahrenstelle absichern«, sagte der Kommissar und öffnete den Kofferraum seines Dienstwagens. »Die Taucher werden gleich nachkommen. Warten Sie einen Moment!« Er holte das Warndreieck hervor und lief zurück zur Straßenbiegung. Dorian zündete sich eine Zigarette an. »Was sagen Sie dazu?«, fragte Laube. »Ich denke, wir werden noch einige böse Überraschungen erleben.« »Und wenn Roth eine Armee auf die Beine stellt, er wird den Dreiäugigen nicht finden«, sagte Laube. »Wie soll das alles noch enden?« »Lassen wir uns überraschen.« Dorian verriet nicht, was er plante. »Es muss doch Menschen geben, die gegen Geister und Dämonen ankommen können«, redete Laube weiter. »Wir können diesen Wesen doch nicht hilflos ausgeliefert sein.« Der Lehrer ging zu dem Felsbrocken hinüber und betrachtete ihn. Zögernd streckte er seine rechte Hand aus – und zuckte sofort zurück, als sei er von einem elektrischen Schlag getroffen worden. »Sehen Sie doch!«, rief er. »Das ist übernatürlich!« Dorian hatte es natürlich schon bemerkt. Der mächtige Steinbrocken löste sich auf, zerfiel vor ihren Augen. Zuerst zeigten sich feine Risse, die den Stein zerteilten. Dann löste er sich in viele kleine Brocken auf, die zu Staub wurden. Dieser unerklärbare Vorgang dauerte nur Sekunden. Als Kommissar Roth zurückkam, war alles schon vorbei.
»Was – was ist denn das?« Er schluckte, schüttelte ungläubig den Kopf, beugte sich vor, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, schluckte erneut. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Der tischgroße Felsbrocken existierte nicht mehr, war zu einem Haufen aus Sand und Staub geworden. Der Kommissar wollte den Sandhaufen mit der Schuhspitze berühren, doch eine warnende Geste Dorians ließ ihn davon Abstand nehmen: »Tun Sie's lieber nicht! Man kann nie wissen. Moment! Nehmen wir lieber einen Zweig.« Dorian lief zum Straßengraben und riss von einem Strauch einen langen, dünnen Zweig ab. Damit fuhr er in den Staub hinein und sprang sofort zurück. Er ließ den Zweig fallen, als hätte er ein glühendes Stück Eisen in der Hand gehabt. Der Zweig loderte blitzartig auf und wurde innerhalb von Sekundenbruchteilen zu Asche. Der Kommissar wurde bleich und trat unwillkürlich einen weiten Schritt zurück. »Woher wussten Sie das?« »Misstrauen. Nichts als Misstrauen, Kommissar.« »Das glaubt mir kein Mensch. Wenn ich das erzähle, wird man mich für verrückt halten. Das ist doch physikalisch unmöglich!« Der Kommissar war außer sich. »Fahren wir weiter!«, drängte der Lehrer und schaute sich ängstlich um. Das Gelände hier war unübersichtlich. Die hohen Wacholdersträucher schienen verwunschene Wesen zu sein. Hinzu kam jetzt noch, dass die Sonne von Wolken verdeckt wurde. Ein fahles Zwielicht lag über der Landschaft. Sie setzten sich in den Wagen. Dorian sah Coco prüfend an. Mit ihr schien alles in Ordnung zu sein. Sie hatte die Unterhaltung der Männer zwar Wort für Wort mitbekommen, doch wie aus weiter Entfernung. Dorians Gesicht war für sie zu einem weißen Oval geworden. Irgendetwas hinderte sie daran, ihm das zu sagen. Kommissar Roth fuhr langsam an, steuerte den Wagen um den Staubhaufen herum und gab dann Vollgas. Von rechts kam plötzlich ein heftiger Windstoß, der den Staub hoch wirbelte und gegen den Wagen warf. Unmittelbar darauf roch es nach verbranntem Lack. »Halten Sie an!«, bat Dorian.
Er hatte sich umgedreht und sah, dass die Staubwolke ins freie Gelände hinausgewirbelt worden war; sie senkte sich gerade herab. Der Kommissar hielt und sah den Dämonenkiller fragend an. Dorian hob die Schultern, stieg aus und musterte den Wagen von außen. Dort, wo der Staub ihn getroffen hatte, wölbte sich der Lack in kleinen und großen Brandblasen. Ein Gluthauch schien den Wagen getroffen zu haben. Kommissar Roth erschien neben Dorian und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn Sie einverstanden sind, werde ich weiterfahren«, schlug Dorian vor. »Könnte sein, dass noch weitere Überraschungen auf uns warten.«
Coco war verzweifelt. Die Sehkraft ihrer Augen ließ von Minute zu Minute nach. Sie sah alles nur noch wie durch dichte Gaze. Sie befand sich jetzt in ihrem Zimmer, lag auf dem Bett und war froh, dass sie allein war. Der ziehende und bohrende Schmerz in ihrem Körper war noch stärker geworden. Sie wunderte sich, dass sie ihr Zimmer überhaupt noch hatte erreichen können. Dorian war unten in der Gaststube zurückgeblieben. Sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde, und richtete ihren Oberkörper mühsam auf. »Ich will dich holen«, sagte eine Frauenstimme. »Ich weiß, dass du auf mich gewartet hast.« Die alte Martha hatte sich in das Zimmer geschoben und blieb am Fußende des Bettes stehen. Ihr Gesicht zeigte einen triumphierenden Ausdruck. Sie sah bannend auf die junge, jetzt hilflose Frau herab. Für einen Augenblick bäumte Coco sich auf. Tödliche Gefahr umgab sie. Das Böse war im Raum, hüllte sie ein. Coco wollte ihre Abwehrkräfte aktivieren, fiel jedoch sofort wieder in die Lethargie zurück. Seit die Sehkraft ihrer Augen nachgelassen hatte, war sie mehr und mehr zu einem hilflosen Opfer geworden. Sie erhob sich, tastete suchend umher, doch sie hatte jede Orientierung verloren. »Hier ist meine Hand«, hörte sie die alte, etwas brüchig wirkende Stimme der Frau. Coco zuckte zusammen, als sie die eiskalte Hand spürte, die sich
um ihr linkes Handgelenk schloss. »Ganz ruhig!«, sagte die Stimme. »Bald wirst du keine Schmerzen mehr haben. Komm jetzt!« Coco leistete keinen Widerstand. Sie ließ sich aus dem Zimmer führen und merkte zu ihrer Überraschung, dass ihr jeder Schritt Erleichterung brachte. Die Schmerzen wurden schwächer, wenn auch nur um Nuancen. Sie hatte nur noch den einen Wunsch, weitergehen zu dürfen. Wie sie die Treppe hinter sich gebracht hatte, wusste sie nicht. Sie sah nun absolut nichts mehr, spürte aber auf ihrer Gesichtshaut die kühlere Luft. Die alte Martha führte sie durch einen zweiten Ausgang, durch die große Scheune, die an den Gasthof anschloss. Sie kannte den Weg genau, war schlau, sorgte dafür, dass keine Spuren hinterlassen wurden. Sie schritten auf das weite Wiesengelände zu, das mit Sträuchern und Büschen bewachsen war. Schon nach wenigen Minuten waren die beiden Frauen im unübersichtlichen Gelände nicht mehr zu sehen. Coco folgte der Alten wie ein hilfloses blindes Kind. Einen eigenen Willen besaß sie längst nicht mehr, und sie genoss es förmlich, dass die Schmerzen mit jedem Meter, den sie hinter sich brachte, immer schwächer wurden. Wie ein williges Opfer ließ sie sich zur Schlachtbank führen.
»Coco!« Dorian stand in der geöffneten Tür und sah auf das leere Bett. Angst stieg in ihm auf. Er lief in das Nebenzimmer, fand seine Gefährtin auch hier nicht und begriff, dass man sie entführt hatte. Er jagte die Treppe hinunter, durch den langen Korridor, hinüber in den Hinterhof und suchte nach Spuren. Walter Dünhofen kam aus der Küche. Er sah, dass etwas nicht stimmte. »Haben Sie sie gesehen?« »Nein«, gab Walter zurück, der sofort verstanden hatte. »Ich hole den Kommissar.« »Auf keinen Fall!« Dorian schüttelte energisch den Kopf. Der Kri-
minalbeamte wäre jetzt keine Hilfe gewesen. Mit seiner fortwährenden Skepsis würde der Kommissar nur eine Belastung sein. »Ich werde seinen Wagen nehmen«, sagte Dorian. »Lenken Sie ihn ab! Erfinden Sie irgendeine Erklärung!« Walter Dünhofen nickte und lief in die Küche zurück. Dorian rannte um das Haus herum, hoffte, Coco hier vielleicht doch noch finden zu können und stand dann vor dem Dienstwagen des Kommissars. Es war eine Kleinigkeit für ihn, die Zündung kurzzuschließen. Dazu brauchte er weniger als eine halbe Minute. Sobald der Motor heulte, legte Dorian den ersten Gang ein und preschte los. Olivaro hatte zugeschlagen. Auf irgendeine Art und Weise war es ihm gelungen, Coco in seine Gewalt zu bringen. Er hatte ihre Hilflosigkeit geschickt ausgenutzt. Vielleicht wusste der selbsternannte Fürst der Finsternis, dass die magischen Fähigkeiten der jungen Hexe mit Beginn der Schwangerschaft nachgelassen hatten, dass sie sogar zeitweilig überhaupt nicht mehr vorhanden waren. Er hatte diese Schwäche konsequent einkalkuliert. Dorian verlangte dem Wagen alles ab. Jetzt, da er allein war, brauchte er keine Rücksicht zu nehmen. Er jagte das Auto durch die Kurven, schleuderte, fing es immer wieder geschickt ab und brauste hinauf zum Bergwald. Dort oben an der Blitzeiche hoffte er, Coco noch abfangen zu können. Vielleicht reichte die Zeit gerade noch aus. Dass er sich selbst in höchste Lebensgefahr brachte, zählte überhaupt nicht. Olivaro und seine Kreaturen warteten sicherlich darauf, ihn schnappen zu können. Sie mussten ja wissen, dass er kam. Ein Mann wie Dorian Hunter würde seine Gefährtin niemals im Stich lassen. Als er auf eine kleine Holzbrücke zuraste, war sie plötzlich nicht mehr vorhanden, sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Dorian trat kurz auf die Bremse, schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. Dann gab er wieder Vollgas und jagte weiter, als sei überhaupt nichts passiert. Seine Gedanken überschlugen sich. Würde sich Olivaro mit solch einem billigen Ende seines permanenten Widersachers begnügen? Reichte ihm ein gebrochenes Genick? Das war so gut wie ausgeschlossen. Der Dämon wollte mehr, wollte sich an den Qualen seines
Erzfeindes ergötzen. Die Brücke war plötzlich wieder da, schien nie verschwunden gewesen zu sein. Die Stahlgürtelreifen des Dienstwagens rumpelten über ihre Bretter. Der Wagen jagte hinauf zum Bergwald.
»Herr Laube, Sie wissen mehr«, sagte Kommissar Roth und sah den Lehrer prüfend an. Die beiden Männer standen vor dem Gasthof. Roth hatte gerade von Walter Dünhofen erfahren, dass Dorian sich den Dienstwagen ausgeliehen hatte. »Ich weiß kaum mehr als Sie, Kommissar – aber ich glaube an Dinge, über die Sie lachen würden.« »Kommen Sie mir nicht wieder mit diesem dreiäugigen Ungeheuer!« Der Kommissar war gereizt, verunsichert, wütend. Er musste immer wieder an den Felsbrocken denken, der ihnen den Weg versperrt und sich dann in Staub aufgelöst hatte. Sein Weltbild war ins Wanken geraten. »Dieses Ungeheuer existiert, Kommissar. Wenigstens für mich.« »Mann, wir leben in einem aufgeklärten Jahrhundert!« »Wie erklären Sie sich dann die Staubwolken?« »Verlassen Sie sich darauf, dafür gibt es eine Erklärung, auch wenn ich sie jetzt noch nicht kenne. Warten Sie ab, bis die Bereitschaftspolizei hier ist! Ich schwöre Ihnen, dass ich diesen Irren fassen werde.« »Ich wünsche Ihnen viel Glück dazu, Kommissar!« »Wohin ist Hunter gefahren?« »Vielleicht hinauf zum Bergwald.« »Zu der Höhle, die es nicht gibt, wie?« »Möglich, Kommissar.« »Also, ich weigere mich, an solchen Unsinn zu glauben. Sie finden mich bei den Tauchern.« Er wandte sich abrupt ab und überquerte den kleinen Marktplatz. Kurz darauf ging er in jenen Gasthof, in dem die Taucher abgestiegen waren. Vor dem Eingang standen die Wagen der Taucher.
Laube fiel auf, dass sowohl auf dem Marktplatz als auch auf den wenigen Straßen kaum ein Mensch zu sehen war. Das Schicksal des Tauchers hatte sich herumgesprochen. Die Einwohner der Ortschaft hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Hier und da waren bereits die Fensterläden geschlossen worden. Laube konnte die Menschen sehr gut verstehen. Auch er fühlte sich bedroht, hatte Angst. Er beeilte sich, hinüber in seine Wohnung zu kommen. Der Fleischer schien ihn gar nicht zu sehen. Er ließ gerade die Rollläden herunter. Der Kaufladen hatte bereits geschlossen. Bäcker Schober, ein dickbauchiger, großer Mann, stand auf einem Stuhl und befestigte über seiner Tür zum Laden einen Reisigstrauch, in dessen Zweige ein rotes Band eingeflochten war. Schober nickte dem Lehrer nur knapp zu, stieg hastig vom Stuhl und verschwand in seinen Laden. Laube hörte, wie er absperrte. Angst und Erwartung lagen über dem kleinen Marktflecken, der sich zu ducken schien.
Walter Dünhofen hatte sich einen Schnaps eingegossen und wollte gerade trinken, als sich die Tür neben dem Tresen öffnete. Entgeistert starrte er auf die junge Frau, die wie selbstverständlich eintrat und ihm zunickte. »Liesel?« Walter schluckte, glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Es war tatsächlich Liesel, die er vor drei Monaten oben in den Kalksteinhöhlen zurückgelassen hatte. Sie machte einen erschöpften Eindruck. Ihre Haut war fahlgelb, aber sie lebte. Ihre nackten Füße waren bis zu den Knien hinauf lehm- und kalkverschmiert, das Kleid war zerrissen und zeigte nasse Flecken. »Walter!«, stöhnte sie und brach dann zusammen. Der junge Mann war sofort bei ihr, richtete sie auf, schob sie auf den Schemel neben dem Tresen. »Trink das hier!«, sagte er und griff nach dem gefüllten Schnapsglas. »Nein, nein«, wehrte sie ab und sah ihn aus weit geöffneten Augen an, in denen das Grauen und die Angst nisteten. »Du musst mir helfen, Walter. Du musst!«
»Wo kommst du her?«, fragte er eindringlich. »Mensch, Liesel, dass du lebst! Es ist nicht zu fassen. Du ahnst ja nicht, wie froh ich bin.« »Es war schrecklich«, sagte sie mit leiser Stimme und schüttelte sich. »Ich dachte, ich würde nie wieder zurückkommen.« »Warst du in der Höhle? Die ganze Zeit über?« »Er hat mich festgehalten.« »Der Dreiäugige?« »Ich wollte mich schon umbringen«, redete sie leise weiter. »Ich konnte es nicht mehr ertragen.« »Was ist denn gewesen, Liesel? Red doch! Mein Gott, wird der Kommissar Augen machen! Wissen deine Eltern schon, dass du wieder hier bist, dass du lebst?« »Noch dürfen sie es nicht wissen, Walter. Und sag auch dem Kommissar nichts! Ich muss denen da oben in den Höhlen helfen.« »Wem, Liesel?« Er ahnte bereits, was sie meinte. »Den anderen Frauen«, sagte sie. »Ich habe Christine gesehen. Und auch Hanna«, antwortete er. »Sind sie auch oben in den Höhlen?« »Und noch viele andere, Walter. Er hält uns wie Sklavinnen. Wir müssen tun, was er von uns verlangt. Er ist ein Teufel.« »Wie kommt man in die Höhle?« »Das sage ich dir unterwegs«, antwortete sie hastig. »Wir müssen rauf, Walter. Ich hab's ihnen versprochen. Ich kann sie nicht im Stich lassen.« »Natürlich nicht.« Walter nickte entschlossen. »Und wie kann man ihnen helfen?« »Wir brauchen Stricke, Walter. Sie stecken in einem tiefen Schacht, aus dem sie allein nicht herauskommen. Und wir brauchen Fackeln.« »Soll ich wenigstens Laube Bescheid sagen?« »Keinem Menschen«, schärfte sie ihm hastig ein. »Dich kann ich in die Höhle schmuggeln, Walter, mehr aber nicht.« »Und wo steckt der Dreiäugige?« »Im Wasserkessel«, sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit, die
ihn überzeugte. »Er hat dort wieder ein Opfer gefunden. Vor Abend wird er nicht in seine Höhle zurückkommen. Es kommt auf jede Minute an.« »Wir fahren sofort los. Warte hier einen Moment!« »Nein, nicht hier!«, fuhr sie auf. »Wenn man mich sieht, wird es Fragen geben. Dann verlieren wir nur Zeit. Ich laufe in die Scheune. Aber beeil dich jetzt, Walter!« Der junge Mann sah nicht ihren schiefen Blick, mit dem sie ihn betrachtete, sah nicht das höhnische Glitzern in ihren Augen. Liesel lebte – sie war der Beweis dafür, dass er sie nicht umgebracht hatte, sie war der Beweis dafür, dass er unschuldig war! Er fühlte sich wie ein neuer Mensch und kam nicht auf die Idee, dass der Dreiäugige auf ein neues Opfer wartete.
Sie hatten ihn erwartet. Als Dorian mit dem Wagen am Rand der Lichtung erschien, kamen sie aus dem Schlund der Höhle, die sich weit geöffnet hatte. Sie waren fast nackt, diese jungen Frauen, die vor Hass und Wut geiferten. Sie hielten spitze Tropfsteingebilde in den Händen und trommelten damit auf den Wagen ein. Dorian hatte sich während der Fahrt seine Taktik zurechtgelegt. Ohne Rücksicht auf die gellenden Schreie der besessenen Frauen fuhr er weiter und hielt auf den Kreis der Dolmen zu, in dessen Mittelpunkt die Blitzeiche stand. Er hatte sich an die Machtlosigkeit des Dreiäugigen erinnert, der in rasender Wut versucht hatte, in diesen Bannkreis hineinzukommen. Der Zauber der Druiden war immer noch mächtig und wirksam. Das Scheusal war zurückgeschleudert worden … Es kam gegen diesen heiligen Bann nicht an. In diesem Kreis wollte der Dämonenkiller Schutz suchen. Es war kein Übermensch mit übersinnlicher Kraft, er kannte sich in den Dingen der Magie aus, gewiss, aber er war und blieb ein Mensch, der diesen Kräften ausgeliefert war – er brauchte Hilfsmittel, um gegen Dämonen ankämpfen zu können, er brauchte sie zusätzlich zu seinem Verstand und seiner List. Jetzt, hier oben vor dem Steilfelsen, hatte
er nichts anderes als das kleine Kruzifix bei sich. Ob es stark genug sein würde, musste sich erst noch zeigen. Wenn Olivaro selbst mitmischte, sah es nicht gut aus für ihn. Das Glas der Wagenscheiben splitterte. Die Besessenen schienen zu ahnen, was er vorhatte. Sie bildeten eine Mauer aus Leibern, wollten ihn an der Weiterfahrt hindern. Mit ihren Tropfsteingebilden schlugen sie wütend auf den Wagen ein, wollten an Dorian herankommen und ihn erschlagen. Der Dämonenkiller riss das kleine Kruzifix hoch und hielt es den Megären entgegen. Keine Wirkung! Die Frauen schienen das heilige Kreuz überhaupt nicht zu sehen. Dorian begriff in diesem Augenblick. Er hatte es nicht mit Untoten zu tun. Diese Frauen lebten also doch noch – sie waren wahrscheinlich nur hypnotisiert worden. Untote hätten auf das Kruzifix anders reagiert, wären schreiend davongerannt, hätten sich in grenzenlosen Qualen gewunden. Diese Frauen aber schlugen weiterhin auf den Wagen ein, warfen sich jetzt sogar vor die Vorderräder, wollten seine Weiterfahrt um jeden Preis blockieren. Untote hätte Dorian bedenkenlos überfahren – aber diese Frauen hier lebten. Was sollte er tun? Anhalten und aussteigen? Konnte er das Risiko eingehen, zu Fuß hinüber zu den Dolmen zu laufen? Während er noch überlegte, reagierte er bereits automatisch. Er bremste jäh ab, legte den Rückwärtsgang ein und jagte um die Frauen herum auf die Dolmensteine zu. Sie begriffen zu spät, konnten sich auf diese Taktik nicht mehr einstellen. Sekunden später schon knirschte das Wagenblech gegen einen der mächtigen Steine. Dorian sprang aus dem Wagen, sah kurz zu den Frauen hinüber, die ihn doch noch zu erreichen versuchten und betrat den magischen Kreis, den die Druiden in grauer Vorzeit angelegt hatten. Der Dämonenkiller hielt unwillkürlich den Atem an, als sich die Frauen anpirschten. Jetzt würde es sich zeigen, ob der Zauber der Druiden noch wirkte. War das nicht der Fall, brauchte er sich kaum noch eine Chance auszurechnen. Besessene besaßen übermenschliche Kräfte, gegen die er nichts würde ausrichten können. Die Frauen kreischten grell, blieben stehen, stießen und behinderten sich gegen-
seitig. Sie warfen die Tropfsteingebilde in ohnmächtiger Wut in Dorians Richtung und sahen, wo sie an einer unsichtbaren Wand abprallten. Wie blutgierige Raubkatzen kreisten die Frauen um die Steine, suchten vergeblich nach einem Durchschlupf und rannten dann plötzlich zum Waldrand hinunter. Dorian sah Coco. Sie war an der Hand einer alten Frau und schien blind zu sein. Zögernd und unsicher waren ihre Schritte. Jetzt war sie nur noch ein zerbrechliches Wesen, dem Bösen hilflos ausgeliefert. »Coco!«, rief Dorian, doch sie reagierte nicht. Er stand neben einem der Steine und überlegte krampfhaft, wie er ihr helfen konnte. Die Tatsache, dass er es nicht mit Untoten zu tun hatte, erschwerte die Situation. Er schalt sich einen ausgemachten Narren, dass er nicht früher darauf gekommen war. Die fast nackten Frauen hatten Coco in ihre Mitte genommen und gingen mit ihr auf das weit geöffnete Maul der Höhle zu. Ihm kam eine Idee. Er konnte den magischen Kreis verlassen, zu Coco hinüberrennen, sie aus dem Kreis der Frauen ziehen und dann blitzschnell in die Sicherheit der Steine zurückbringen. Damit waren das dreiäugige Ungeheuer und Olivaro erst einmal mattgesetzt. Später würde man weitersehen. Jetzt galt es nur, sehr schnell zu sein. Er musste die Frauen überraschen. Sie schienen seine Gedanken erraten zu haben, gaben Coco frei, ließen sie mit der alten Frau allein weitergehen, eilten zurück zu den Steinen und bauten sich dicht vor Dorian auf. Sie verfolgten jede seiner Bewegungen, waren auf der Hut, warteten nur darauf, dass er den magischen Kreis verließ – sie waren bereit, ihn in Stücke zu reißen. Doch für eine Verzweiflungstat war es bereits zu spät. Und das wussten die Frauen vor der unsichtbaren Wand. Sie lachten schrill und höhnisch und wandten Dorian ihre Rücken zu. Im Eingang zur Höhle stand der Dreiäugige, um Coco in Empfang zu nehmen. Das Scheusal gierte nach der jungen, schwarzhaarigen Frau, breitete die Arme weit aus, geiferte vor Triumph. Coco erschrak nicht. Die alte Frau drückte Coco in die Knie, und sie gehorchte augenblicklich und küsste dem Scheusal die Füße. Dorian schloss die Augen. Wie
sollte er Coco jetzt noch helfen? Er war sein eigener Gefangener geworden. Er brauchte im magischen Bann der heiligen Steine nichts zu befürchten, doch diesen Bannkreis konnte er nicht verlassen. Gegen Untote hätte er eine Chance gehabt, nicht aber gegen diese Frauen, die nur von einem fremden Willen gesteuert wurden. Coco war bereits im Schlund der Höhle verschwunden. Die Frauen waren zurückgeblieben und umschlichen sein freiwilliges Gefängnis. Sie warteten darauf, dass er die Verzweiflungstat doch noch beging, dass er den Bannkreis verließ. Dorian ließ sich seine Verzweiflung nicht anmerken. Diesen Gefallen wollte er dem selbsternannten Fürsten der Finsternis nicht tun. Olivaro musste irgendwo in der Nähe sein und die Situation genießen. Er hielt alle Trümpfe fest in der Hand, denn er besaß zweifellos die Mittel, Dorian aus diesem Bannkreis herauszulocken. Sollte Coco ein Leid geschehen, dann würde Dorian handeln, und es war nur eine Frage der Zeit, bis Olivaro zum nächsten Schlag ausholte. Dorian zog sich tiefer in den Bannkreis zurück und erreichte die Blitzeiche. Nach seinen Überlegungen stand sie über der zweiten tiefen Grotte, in der der Dreiäugige entdeckt worden war. Bot die Eiche einen Weg, um hinunter in das Labyrinth der Höhlen zu gelangen? Laut Walter Dünhofen sollte sie hohl sein. Das Gekreische der rasenden Frauen brach ab, als er aus dem Stand heraus hochsprang, einen der mächtigen unteren Äste ergriff und sich hochschwang. Die Frauen bauten sich vor den Zaubersteinen auf und beobachteten ihn weiter. Er sah hinüber zum immer noch geöffneten Schlund der Höhle, in der Coco verschwunden war. Er war gespannt, ob sich dort eine Reaktion zeigte. Nein, der Dreiäugige ließ sich nicht sehen. Dorian kletterte weiter nach oben und erreichte das Ende des eigentlichen Stamms. Geschwärzt war das Holz, wo die Blitze eingeschlagen hatten. Der Stamm war hohl und breit genug, einen erwachsenen Menschen aufzunehmen. Dorian beugte sich vor, schnupperte nach unten und stellte feuchtmodrigen Geruch fest. Stand die Eiche tatsächlich über einem Felskamin? War es mög-
lich, durch sie nach unten in die Höhlen zu kommen? Was erreichte er damit, wenn er es schaffte? Besaß er irgendwelche Waffen, um es mit dem Dreiäugigen aufnehmen zu können? Würde das Kruzifix ausreichen? Dorian testete die Reaktion der Frauen. Er stieg in die Aushöhlung, hielt sich am Rand fest, ließ sich nach unten. Mit den Schuhen suchte er nach einem festen Halt, fand ihn im rissigen Holz, schob sich noch weiter nach unten und war dann von außen nicht mehr zu sehen. Durch einen Spalt im Stamm konnte er die Frauen beobachten. Sie waren zusammengelaufen, aber sie redeten nicht miteinander – sie schienen auf einen Befehl zu warten, wurden jetzt unruhig und liefen wie gehetzt hinüber zur Höhle. Das dreiäugige Scheusal schien sie gerufen zu haben. Ja, sie warteten darauf, dass er durch die Eiche nach unten stieg. Sie wollten ihn in den Höhlen empfangen. Sie waren davon überzeugt, dass er alles daransetzen würde, einen letzten Versuch zu wagen. Vorsichtig schob er seinen Kopf über den Rand und sah hinüber zum Eingang der Höhle, er hatte sich noch immer nicht geschlossen. Dorian wartete noch einen Moment, dann handelte er blitzschnell. Er stieg aus dem hohlen Baum, sprang hinunter auf die Erde, verließ den Kreis der heiligen Steine, rannte hinunter zum Bergwald und verschwand ins dichte Unterholz. Er nahm sich nicht die Zeit, sich nach den Frauen umzusehen. Er wollte so schnell wie möglich zurück nach Greulingen. Nur von dort aus konnte er einen Versuch wagen, Coco zu befreien. Er wollte den Wald gerade verlassen, als er zwei Gestalten ausmachte, die die Bäume soeben erreichten. Sie mussten aus dem kleinen Marktflecken gekommen sein und schienen es sehr eilig zu haben. Dorian pirschte sich an die beiden Gestalten heran und erkannte Walter Dünhofen. Er befand sich in der Begleitung einer jungen Frau – der Dämonenkiller sah auf den ersten Blick, dass er es mit einer der Frauen aus der Höhle zu tun hatte. Walter Dünhofen schleppte sich mit Seilen, Kletterhaken und eini-
gen Fackeln ab. »Hallo!«, begrüßte Dorian den jungen Mann und trat hinter dem Baum hervor, in dessen Schatten er sich versteckt gehalten hatte. »Sie wollen zur Höhle?« Die junge Frau neben ihm sah den Dämonenkiller gereizt und unruhig an. »Stellen Sie sich mal vor, wer das hier ist!« Walter Dünhofen zeigte auf die junge Frau. Er strahlte. »Sie brauchen sich nicht zu beeilen«, sagte Dorian der Frau. »Die Höhle ist noch weit geöffnet.« »Das ist Liesel Blattner«, redete Walter Dünhofen unbeirrt weiter. »Sie wissen doch – meine Freundin, die ich vor drei Monaten in der Höhle zurücklassen musste.« »Der Dreiäugige wartet«, sagte Dorian – er sah ausschließlich die junge Frau an. »Meine Freundinnen sind in Gefahr«, sagte sie abweisend. »Halten Sie uns nicht auf!« »Ihr Freund hier ist in Gefahr«, widersprach Dorian und wies auf Walter Dünhofen. »Ich werde ihn mit zurück ins Dorf nehmen.« Bevor Walter Einwände erheben konnte, verlor sie die Kontrolle über sich. Sie sprang den Dämonenkiller an, fauchte wie eine gereizte Wildkatze, wollte ihn kratzen und beißen, war wie von Sinnen und sah wie eine wilde Furie aus. Dorian hatte alle Mühe, sie sich vom Leib zu halten. Doch noch hütete er sich, sie mit einem schnellen Hieb außer Gefecht zu setzen. Ihm kam es darauf an, dass Walter Dünhofen deutlich sah, unter welchem Einfluss sie stand. Er wollte den jungen Mann nicht überreden, sondern überzeugen. Liesel Blattner spuckte, hatte Schaum vor dem Mund, schrie gellend und wütend. Dorian wollte sie nicht unnötig verletzen und dosierte seinen Schlag. Wie vom Blitz getroffen, sackte die junge Frau in sich zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Dorian blickte zu Walter Dünhofen hinüber, der kreidebleich geworden war. Er sah, dass Walter begriffen hatte. »Und ich habe nichts gemerkt«, sagte Dünhofen entsetzt. »Weil Sie sie lieben, Walter.« Dorian nickte verständnisvoll. »Mit
etwas Glück sehen Sie sie bald wieder – und zwar gesund.« »Was haben Sie vor?« »Ich will den Dreiäugigen vernichten.« »Und ich werde dabei sein.« Walter Dünhofen zeigte auf die regungslos am Boden liegende Frau. »Nehmen wir sie mit zurück ins Dorf?« »Sie sollte zurück in die Höhle gehen«, meinte Dorian. »Sie steht unter kollektiver Hypnose – nur gemeinsam mit den anderen Frauen kann sie daraus erwachen.« »Sollen wir sie einfach liegen lassen?« »Sie wird ganz allein zurück in die Höhle finden«, beruhigte Dorian den jungen Mann. »Aber wir sollten gehen. Wenn sie aufwacht, darf sie uns nicht sehen. Kommen Sie, Walter! Ich glaube, dass wir es schaffen werden.« »Hoffentlich wissen Sie, was Sie sich da vorgenommen haben«, sagte Gerd Stuefer, der Leiter des Tauchteams. »Sehr genau sogar«, gab Dorian zurück. »Und falls etwas passiert, brauchen Sie sich keine Vorwürfe zu machen. Walter Dünhofen wird das bezeugen können.« Die drei Männer saßen in dem Kombi, den Stuefer steuerte. Hinter ihnen, auf der Ladefläche des Wagens, lagen Pressluftflaschen, Schwimmflossen, Taucheranzüge und Drahtseile. Sie hatten sich eben erst getroffen, nachdem Walter Dünhofen den Leiter des Teams informiert hatte. Stuefer war auf Dorians Vorschlag recht schnell eingegangen. Der Mann wurde nur von dem einen Gedanken beherrscht, seinen ermordeten Freund zu rächen. Vielleicht war er im Grunde sogar froh, dass er etwas unternehmen konnte. »Hinter uns ist immer noch nichts zu sehen«, meldete Walter, der auf dem Rücksitz saß. »Kommissar Roth scheint nichts gemerkt zu haben.« Stuefer nutzte die Fahrt, um Dorian in das Tauchverfahren einzuweihen. Er hämmerte ihm immer wieder die wichtigsten Dinge ein und ließ sie sich von ihm wiederholen. Dorian unterwarf sich dieser Prozedur, die ihn von Coco ablenkte. Zudem wollte er später das Tauchen nicht unnötig behindern.
Als sie den Wasserkessel erreicht hatten, bereiteten sie sofort alles für das Tauchen vor. »Kann ich nicht doch mitkommen?«, bat Walter. »Einer von uns muss hier bleiben«, wiederholte Dorian noch einmal. »Ich traue Ihnen durchaus zu, dass Sie an meiner Stelle tauchen könnten, Walter, aber es geht oben in der Höhle um einen mordgierigen Dämon, und mit einem solchen Wesen komme ich bestimmt besser zurecht. Verständigen Sie den Kommissar, falls wir nicht zurückkommen sollten!« Stuefer und Dorian hatten sich die Tauchanzüge übergestreift und hingen die Pressluftflaschen um. Stuefer zeigte Dorian noch einmal, wie die Ventile zu bedienen waren, dann schob er sich die Taucherbrille vor und stieg ins Wasser. Auf die Sicherungsleine verzichteten sie absichtlich. Sie hätte ihnen bei diesem Unternehmen kaum von Nutzen sein können. Dorian ließ sich von Walter Thermitfackeln nachreichen und stopfte sie in seinen Bleigürtel. Er atmete noch einmal tief durch und folgte dann Stuefer in die Tiefe. Der Dämonenkiller war überrascht, wie gut die Sicht war. Seine erste Aufregung hatte sich bereits gelegt. Er war wieder kühl bis ans Herz, obwohl er sich in einer völlig fremdartigen Umgebung befand. Vor sich sah er Stuefer, der mit gleichmäßigen Schwimmbewegungen nach unten tauchte. Dorian atmete tief und regelmäßig, blieb dicht hinter dem erfahrenen Taucher und merkte schon bald, dass sie es mit einer recht beachtlichen Strömung zu tun hatten. Nach einem engen Durchschlupf, durch den sie sich mit ihren Händen ziehen mussten, wurde die völlig unter Wasser stehende Höhle breiter. Dorian spürte den Druck auf seinen Trommelfellen, schluckte einige Male, bis es knackte, schloss dichter zu Stuefer auf und hob eine Hand. Für Stuefer war das das Zeichen, dass mit seinem Begleiter alles in Ordnung war. Dorian warf einen Blick auf seine Taucheruhr: Sie waren jetzt gut dreißig Meter tief. Der Wasserdruck machte sich stark bemerkbar. Die Uhr sagte ihm aber auch, dass sie bereits seit einer Viertelstunde unterwegs waren. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und war überaus heiter. War das bereits der gefährliche Tiefenrausch, von dem
Stuefer gesprochen hatte? Er vergaß fast, warum er sich in dieses geheimnisvolle Gewässer begeben hatte. Er hätte sich am liebsten von Stuefer getrennt und wäre ziellos und grenzenlos neugierig herumgeschwommen. Seine Heiterkeit wurde zur Euphorie. Er erschrak, als Stuefer plötzlich dicht vor ihm auftauchte und nach seinem Arm griff. Stuefer griff sehr hart zu. Der Schmerz ernüchterte Dorian. Er nickte, als der Taucher in die Dunkelheit der Höhle hineinzeigte, doch er merkte nicht, dass Stuefer ihn angeseilt hatte. Dem Taucher war nicht entgangen, dass sein Begleiter ein wenig außer Kontrolle geraten war. Langsam stiegen sie auf. Dorian wurde ungeduldig, hätte sich am liebsten von dem Felsvorsprung abgedrückt, auf dem sie Halt gemacht hatten. Und wieder war es Stuefer, der das ahnte. Er schüttelte den Kopf, griff nach Dorian, schüttelte erneut den Kopf. Natürlich, die Dekompressionen! Dorian erinnerte sich der eindringlichen Warnungen. Wenn das Stickstoffgas erst einmal im Blut ausperlte, dann war es um ihn geschehen; dann konnte er noch von Glück reden, wenn er mit harmlosen Lungenrissen davonkam. Er rief sich zur Ordnung, bezwang seine Ungeduld, folgte Stuefer, der die nächste Etappe des Auftauchens einleitete. Und wieder mussten sie eine Wartepause einlegen, bis sie die letzte Etappe angehen konnten. Dann war es endlich soweit. Sie tauchten auf und befanden sich in einer riesig anmutenden Höhle, die zu einem Drittel mit Wasser gefüllt war. Rechts gab es eine breite Felsgalerie, auf die sie zuschwammen. »Hier muss die Sache mit Rolf passiert sein«, flüsterte Stuefer. »Nach meinen Berechnungen ist er bis hierher gekommen.« Dorian war wieder voll da. Er richtete den Schein der Helmscheinwerfer auf den lehmigen Boden und brauchte nicht lange zu suchen. Er entdeckte deutliche Blutspuren, die auf einen schmalen Felsspalt zuliefen. Der Boden zeigte, dass hier gekämpft worden war. »Lassen Sie mich jetzt vorgehen!«, sagte Dorian. »Spuren sind meine Spezialität.« Stuefer war einverstanden. Sie streiften sich die Schwimmflossen ab und stellten die Pressluftflaschen auf den Boden. Der Taucher
prüfte den Vorrat in den Flaschen. »Damit kommen wir problemlos wieder zurück«, sagte er. »Sie haben sich prima gehalten.« »Hoffentlich bleibt das so«, murmelte Dorian. Er fieberte vor Erregung und Spannung, hatte keinen Blick für die bizarre Welt der Tropfsteingebilde. Er dachte nur an Coco und den Dreiäugigen. Hoffentlich war seine List nicht durchschaut worden. Er löste den Plastikbeutel vom Gürtel und schnürte ihn auf. Dann reichte er Stuefer die Schusswaffe, die Walter Dünhofen ihm mitgegeben hatte. »Für den Fall des Falles«, meinte er. »Ich werde auch ohne Waffe zurechtkommen.« Die Blutspuren auf dem Boden wurden schwächer und undeutlicher, je mehr der enge Höhlengang sich anhob. Doch die Abdrücke nackter, riesiger Füße waren einfach nicht zu übersehen. Dorian war fest davon überzeugt, dass sie von dem Ungeheuer stammten.
Er führte sie an den Rand des breiten Brunnens und ließ sie hineinsehen. Coco leistete keinen Widerstand. Sie sah, ohne die Augen öffnen zu müssen, mit den Augen des Dreiäugigen, der triumphierend schmatzende Töne von sich gab. Der Brunnenschacht schien geradewegs in die Hölle hinunterzuführen. Die glatten Kalksteinwände glänzten magisch, zeigten das Gewirr von Schädeln und Knochen tief unten am Boden des Brunnens. Coco sah nicht nur mit den Augen des Ungeheuers – sie dachte und fühlte auch mit seinem Hirn. Sie verstand jetzt, warum der Dreiäugige in diese Höhle verbannt worden war. Jahrhunderte lag das alles zurück. Damals war das Scheusal ein schrecklicher Krieger gewesen, der die Herzen seiner Feinde verschlang, um noch stärker und mächtiger zu werden. Furcht und Schrecken hatte dieser Krieger verbreitet, bis er sich an einem Druiden vergriffen hatte. Die Strafe war fürchterlich ausgefallen. Das ehedem menschliche Ungeheuer war mit einem magischen Bann belegt worden. Lebendig eingeschlossen in der Höhle, sollte es für seine Taten bis in alle Ewigkeit büßen. Doch der so Verdammte konnte
sich in dem unterirdischen Labyrinth frei bewegen. Die Rächer hatten ihm ein drittes Auge zugebilligt, damit er sich orientieren konnte. Vielleicht war es die Absicht der Druiden gewesen, ihn dadurch noch zusätzlich zu bestrafen. Der Verfluchte sollte stets wissen, wo er sich befand. Sie wollten ihm nicht die Gnade der Blindheit gewähren. Und sie ließen ihm eine vage Hoffnung, irgendwann einmal den Fluch wieder abschütteln zu können. In gewissen Zeitabständen konnte er etwas für seine Befreiung aus der Finsternis tun. Dann nämlich durfte der Dreiäugige Jagd auf Menschen machen, mit deren Gebeinen er den Brunnenschacht ausfüllen sollte. Würde es ihm gelingen, den Schacht zu füllen, dann durfte er in ein neues Leben zurückfinden. Die Strafe der Druiden war ausgeklügelt. Bis in alle Ewigkeit hinein konnte der Dreiäugige diese Bedingung nicht erfüllen. Unergründlich war der Brunnenschacht. Doch dem Dreiäugigen blieb die Hoffnung und damit auch die Qual der Erwartung. Riesig groß waren die Zeiträume, die zwischen seinen Menschenjagden lagen. Und selbst dann hing alles noch von einem blinden Zufall ab. Erst ein Blitz konnte den Dreiäugigen kurzfristig wieder zum Leben erwecken. War diese Frist abgelaufen, musste er zurück in den Lehmhügel und dahindämmern. Eine schreckliche Existenz zwischen Hoffnung, grenzenloser Enttäuschung, zwischen Lebensgier und Verzweiflung. Die Druiden hatten diesen einstigen Krieger grausam bestraft. Coco sah mit den Augen des Dreiäugigen. Er hatte sein Kurzschwert gezogen und winkte die willenlosen Frauen zu sich heran. Seine Absicht war klar. Er wollte sie der Reihe nach umbringen und in den Brunnenschacht stoßen. Diese Menschen sollten dazu dienen, den Schacht ein wenig mehr auszufüllen. Coco hörte das scharfe Zischen des Schwertes.
»Hören Sie!« Dorian blieb jäh stehen, hob warnend einen Arm. Von weither war ein monotoner Singsang zu vernehmen. Er wusste sofort, was das
zu bedeuten hatte. Sie näherten sich der Höhle des Dreiäugigen. Dorian schritt noch schneller aus. Er hielt eine der Fackeln griffbereit in Händen. Der Gang weitete sich und endete vor einem kleinen See, dessen Wasser kristallklar war. Die beiden Männer schoben sich um eine Felswand herum und sahen den Dreiäugigen, der gerade eine Frau in einen Brunnen oder Schacht stieß. Wo war Coco? Sie stand ein wenig abseits von den übrigen Frauen, die monoton und feierlich sangen, die Worte formten, die Dorian nicht verstehen konnte. Der Dreiäugige winkte eine der Frauen zu sich heran. Bevor Dorian begriff, stach das Scheusal bereits zu. Die tödlich getroffene Frau gab keinen Ton von sich. Sie knickte in sich zusammen, wurde von den muskulösen Armen des Dreiäugigen aufgefangen und dann ebenfalls in den Schacht gestoßen. Coco stand da und sah zu. Sie hatte Dorian den Rücken zugewandt, schien von seiner Anwesenheit nichts zu ahnen. Angst zeigte sie nicht. Sie sah ungerührt zu. Die nächste Frau! Gerd Stuefer, der sich neben Dorian aufgebaut hatte, reagierte automatisch. Er riss die Schusswaffe hoch und feuerte. Ohrenbetäubend war das vielfältige Echo in der riesigen Höhle. Das Scheusal, das gerade hatte zustoßen wollen, brüllte wie ein verwundetes Tier auf und ließ die Frau los. Es fasste nach seinem linken Oberschenkel, warf sich herum, suchte die Höhle ab. »Bleiben Sie hier!«, schrie Dorian dem Taucher nach, der nur von dem einen Wunsch beseelt war, seinen Freund zu rächen. Stuefer lief auf den Dreiäugigen zu und feuerte Schuss um Schuss auf das Ungeheuer ab, traf aber nur noch einmal – in der Aufregung vermochte er nicht exakt zielen. Der Dreiäugige hatte Stuefer ausgemacht, schleuderte die Frauen zur Seite und lief geschmeidig auf den Taucher zu. Er hatte das Kurzschwert weggeworfen und hielt seine mächtige Streitaxt in einer Hand. Stuefer hatte kaum noch eine Chance. Dorian musste das Scheusal ablenken. Er riss die Zündung der Unterwasserfackel an, die sofort gleißend hell aufflammte und ein
blauweißes, strahlendes Licht verbreitete. Dorian selbst, der die Wirkung dieser Fackel kannte, schloss für einen kurzen Moment geblendet die Augen. Der Dreiäugige hatte Stuefer zwar fast erreicht, konnte aber plötzlich nichts mehr sehen. Er schlug mit der schweren Streitaxt wie rasend um sich. Dorian warf sich auf Stuefer, riss ihn zu Boden und brachte ihn aus der Reichweite der Axt. Sofort war er aber wieder auf den Beinen. Er musste die offensichtliche Verwirrung des Dreiäugigen nutzen. Mit der funkensprühenden Fackel stieß er in das Gesicht des aufheulenden Ungeheuers, stieß erneut zu und traf das linke Auge. Das Scheusal brüllte auf, schien aber plötzlich wieder sehen zu können. Es riss die Axt hoch und wollte sie auf den Gegner niedersausen lassen. Dorian war schneller. Er stieß ein drittes Mal zu und traf das mittlere Auge. Der Schrei war unmenschlich. Der Dreiäugige ließ die Streitaxt fallen, riss die Hände hoch vor sein Gesicht, tapste herum und konnte nun wirklich nichts mehr sehen. Coco warf sich herum und erwachte gleichzeitig – mit der Blendung des Dreiäugigen – aus ihrer tiefen Hypnose. Erstaunt sah sie sich um, versuchte sich zu erinnern, sah Dorian und lief auf ihn zu. »Weg hier!«, rief er, sie an sich reißend. »Kommen Sie, Stuefer! Zurück!« Nicht nur Coco war aus ihrer Hypnose erwacht. Die Frauen, die ihren Gebieter eben noch mit monotonem Singsang gefeiert hatten, liefen in panischer Furcht durcheinander, schrien, waren völlig verwirrt. Der Geblendete aber brüllte, stieß gegen schroffe Tropfsteingebilde, fuhr zurück, streckte seine Arme tastend aus und näherte sich dem Rand des Brunnens. Dorian winkte den Frauen zu, machte sie auf sich aufmerksam, erreichte jedoch nichts. Sie wussten vor Angst und Panik weder ein noch aus. Eine der Frauen geriet in die Reichweite des Scheusals. Die Arme fegten die junge Frau gegen eine Felswand. Wie eine leblose Puppe rutschte die Unglückselige mit gebrochenen Gliedern und verdrehtem Hals zu Boden. »Hierher!«, schrie Dorian den Frauen zu. »Keine Furcht! Hierher!«
Nur drei Frauen nutzten ihre Chance, darunter auch Liesel, die Freundin Walters. Die Übrigen rannten in die Gänge und Felsspalten hinein, die von der Riesenhöhle abzweigten. Der Dreiäugige hatte die Stimme gehört. Das Scheusal konzentrierte sich. Das Unwesen reagierte, tapste auf Dorian zu, der um den Brunnenschacht herumlief und sich erneut bemerkbar machte. »Hierher! Oder traust du dich nicht?« Der Geblendete stand dicht vor dem Brunnenschacht, doch plötzlich schien er zu ahnen, dass er in eine Falle gelockt werden sollte. Er zögerte. Dorian warf ihm die Fackel gegen die mächtige Brust. Er konnte auf sie verzichten, da Stuefer die Zweite entflammt hatte. Das Scheusal heulte auf, reagierte automatisch, warf die Arme vor und wollte Dorian packen. Der nächste Schritt musste es abstürzen lassen. Dorian hielt unwillkürlich den Atem an. Würde das Ungeheuer diesen nächsten Schritt tun? Es tat ihn! Es war beklemmend, dass das abstürzende Untier nicht entsetzt aufbrüllte oder schrie. Es stürzte stumm nach unten … und es dauerte sehr lange, bis der dumpfe Aufschlag zu hören war.
Sie standen vor der Höhle, die sich nicht wieder geschlossen hatte, nicht wieder zu glattem Fels geworden war. Dorian hatte seinen Arm schützend um Coco gelegt. Stuefer stand hinter den Frauen, die entsetzt auf den Schlund starrten, durch den sie eben erst ins Freie gelangt waren. Der hohle Berg bebte. Sie alle spürten die Bewegung des Bodens unter ihren Füßen. Risse bildeten sich im Kalkstein, und dann schoss plötzlich eine graue Staubwolke aus dem Eingang der Höhle. »Seht, die Blitzeiche!« Coco war auf sie aufmerksam geworden. Die mächtige Eiche im Kranz der Dolmen fiel in sich zusammen. Und die Steine, von den Druiden errichtet, kippten langsam im Zeitlupentempo zur Seite. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die eben noch gewaltige Eiche zu einem Haufen Asche geworden war. Mit dem Tod des Dreiäugigen erlosch auch der Bann der Druiden. Als
der Staub sich gelegt hatte, war von dem Eingang nichts mehr zu sehen. Der Kalkfelsen bildete nur noch einen flachen Krater. Aus dem Berg heraus aber war noch ein dumpfes Grollen und Donnern zu hören. Das unterirdische Reich des Dreiäugigen löste sich auf, würde bald nicht mehr existieren. »Das alles glaubt uns kein Mensch«, sagte Stuefer, das Schweigen durchbrechend. »Genau das sagte auch schon Kommissar Roth.« Dorian lächelte andeutungsweise. »In einigen Jahren ist das alles hier nur noch Legende.« »Ich werde das niemals vergessen können.«
Walter Dünhofen stand am Wasserkessel und wartete auf die Rückkehr von Dorian Hunter und Stuefer. Er rauchte aus Nervosität Kette und schaute in immer kürzer werdenden Zeitabständen auf seine Armbanduhr. Jetzt waren die beiden seit gut einer Stunde in der Höhle. Was mochte darin passiert sein? Hatten sie Liesel gefunden? Hatten sie sich gegen den Dreiäugigen durchsetzen können? Er sprang zurück, als plötzlich oben von den Bergen her ein knirschendes Reißen und Dröhnen zu hören war. Bevor er wusste, was eigentlich passierte, spie der Wasserkessel eine gewaltige Woge aus, die explosionsartig aus dem Kessel schoss. Dünhofen brachte sich in Sicherheit, lief zum Wagen hinüber, setzte sich ans Steuer und fuhr den Kombi auf einen kleinen Hügel. Woge auf Woge ergoss sich aus dem Wasserkessel, überschwemmte die nähere Umgebung und ließ das kleine Rinnsal zu einem reißenden Bach anschwellen. Da wusste Walter Dünhofen, dass er nicht zu warten brauchte. Er ließ den Motor an und fuhr in rasender Eile zurück nach Greulingen, doch kurz vor dem Marktflecken bog er ab und steuerte den Bergwald an. Er sah die Menschen, die aus dem Wald kamen und stieg aus. Und dann sah er seine Freundin, die sich von der Gruppe löste und auf ihn zulief. Er hielt sie noch wortlos in den Armen, als Dorian, Coco, Stuefer und die anderen Frauen ihn erreicht hatten.
»Hoffentlich werden wir das innerlich alles heil überstehen«, sagte Dorian.
Coco befand sich wieder in ihrem Zimmer und richtete sich her. Unten in der Gaststube warteten Dorian und Jeff Parker auf sie. Ihr gemeinsamer Freund war aus Frankfurt gekommen und hatte alle notwendigen Ersatzpapiere bei sich. Gegen eine Abfahrt konnte nun auch die Polizei nichts mehr einwenden. Als Coco einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel warf, hörte sie die Stimme. Sie war plötzlich da, füllte den Raum, klang ein wenig resigniert und müde. »Olivaro gibt auf«, sagte die Stimme. »Die Dämonen erkennen ihn nicht mehr an. Zu groß sind seine Fehler, zu groß die Anzahl seiner Misserfolge.« »Wer spricht?«, fragte Coco, die nicht erschrak, sondern die Stimme wie selbstverständlich zur Kenntnis nahm. »Der Anführer der Oppositionsdämonen«, kam die Antwort. »Olivaro gibt sein angemaßtes Amt wieder zurück. Und damit wird der Stuhl frei für den wahren Fürsten der Finsternis.« »Wird es keine Hilfe mehr für uns geben?« »Frei sind wir, frei seid ihr«, sagte die Stimme ohne Nachdruck oder Drohung. »Die Mächte der Finsternis werden siegen.« Coco nickte. Sie hatte verstanden. Der Kampf gegen das Böse ging weiter, vielleicht in einer völlig anderen und neuen Form. Das Böse war überall und ließ sich nicht ausrotten. Man konnte es nur eindämmen und bekämpfen. Als sie das Zimmer verließ, nahm sie sich vor, Dorian vorerst nichts zu sagen. Aber sie wusste, dass sie ihr noch ungeborenes Kind in Sicherheit bringen musste. »Alles in Ordnung?«, fragte Dorian, als sie die Gaststube betrat und ihm und Jeff Parker zunickte. Coco lächelte. »Alles in Ordnung.« Sie dachte an ihr Kind und schmiegte sich an Dorian. Zusammen würden sie auch in Zukunft den Dämonen trotzen. Das Böse durfte nicht weiterwuchern und sich ausdehnen.
Fünftes Buch
Das Kind der Hexe von Ernst Vlcek
Die Hexe hielt noch im Schlaf den Kopf der enthaupteten Schlange fest. Der Daumen presste sich gegen den Giftzahn, und auf seiner Kuppe perlte ein Tropfen des tödlichen Giftes. Sie lag mit leicht gegrätschten Beinen auf dem schwarzen Inlett. Nackt. Das andere Leinentuch, das weiße mit dem großen Blutfleck, spannte sich wie ein Baldachin über das Bett. Der Brustkorb mit den alten, schlaffen Brüsten hob und senkte sich, während sie schwer und seufzend atmete. Betäubt durch die berauschenden Kräuterdämpfe, rief sie in ihren Träumen nach IHM. Schon seit Wochen vollführte sie tagtäglich das gleiche Ritual, auf dass er sie erhöre. Bei Einbruch der Dunkelheit öffnete sie das Fenster ihres Schlafzimmers, kochte Kräuter und schöpfte den Sud in Opferschalen, die sie aufs Fensterbrett stellte und über ihr Schlafzimmer verteilte. Alles nach dem ewig gleichen vorbestimmten Ritual. Und sie entzündete Räucherstäbchen, die sie, jeweils eine Handspanne voneinander entfernt, in einer Reihe vom Fenster bis zu ihrer Schlafstätte aufstellte. Damit ER am Duft der dämonischen Gerüche den Weg zu ihr finde! Als sie mit ihren Vorbereitungen soweit gekommen war, hatte sie unter Beschwörungen jeden Abend eine Schlange oder eine Kröte geköpft. Doch das alles war ohne Erfolg geblieben. ER war nicht gekommen. ER hatte den Weg zu seiner gehorsamen und hörigen Dienerin nicht gefunden. Geduldig und voller Erwartung hatte sie weiterhin ihre Opfer dargebracht, den schwarzen Altar – aus den Beckenknochen einer Jungfrau – geschmückt. Sie hatte all ihre Träume nur IHM gewidmet. ER würde bestimmt wiederkommen. Das fühlte sie mit jeder Faser ihres verbrauchten, runzeligen Körpers. Und wenn ER da war, würde ihr Körper wieder in Schönheit erblühen. Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust der Hexe. Ihr Körper erschauerte. Aber nicht etwa unter der Kälte, die mit dem Nebel durchs Fenster eindrang. O
nein, der Traum hatte ihr etwas mitgeteilt. Sie hatte Zeichen gesehen, Leuchtfeuer des Teuflischen, die ihr zu verstehen gaben, dass heute die Nacht der Nächte sein würde. Nach wochenlanger Abwesenheit würde ER endlich wieder den Weg zu ihr finden. Vor dem offenen Fenster wirbelten die Nebel unruhiger als zuvor, drangen in den Raum ein, der mit schwarzem Stoff ausgeschlagen war. Das Feuer der schwarzen Kerzen begann zu flackern. Die Räucherstäbchen verbogen sich wie Wachs in großer Hitze, zerflossen, wurden zu bizarren Klumpen. Und da – aus dem Nebel tauchte ein Schemen auf. Eine Gestalt, wie ein Bock durch die Luft springend und tanzend wie ein Faun. Die Stille der Nacht wurde von schallendem Gelächter durchbrochen. Es kam von weit her, direkt aus der Unterwelt, und war doch wiederum ganz nahe. Es war das gemeine, lüsterne Lachen eines Satyrs. Die Gestalt hatte sich verdichtet, doch ihre Konturen blieben verschwommen. ER war da! Die Hexe bäumte sich auf, ihre Hände krallten sich um den Schlangenschädel. ER stieg durch das Fenster, setzte einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt brachte ihn von einem Räucherstäbchen zum anderen. Er hob eine Opferschale mit dem Gebräu aus Hexenkräutern hoch und schlürfte schmatzend, so dass es durch das ganze Haus hallte. Und jeder Schritt von ihm ließ den Raum erbeben. Um seine Schultern schwebten die Dämpfe der Räucherstäbchen wie ein wallender Umhang, und sie erstrahlten in einem grünlichen Licht. Er atmete tiefe Schwärze, und die Schwärze hüllte die Hexe ein wie der Arm eines Riesen. Und sein Kuss war Gewalt. Seine Stimme ein Grollen. »Margarita …« Magus, Magus, Magus! Warum hast du mich verstoßen? Mein Leben war ohne Inhalt, schrecklicher als die Kälte des Todes, eine Kette von Entsagungen. »Margarita Voisin. Ich vergesse meine Dienerinnen nie, wenn sie mir die Treue bewahren. Und du bliebst mir treu. Ich habe deine Opfer nicht übersehen, doch war es mir versagt, sie anzunehmen. Jetzt bin ich da, und du gehörst wieder mir.«
Die Hexe spürte, dass eine lange nicht mehr gekannte Kraft ihren Körper durchströmte. Sie fühlte sich schweben, durch die Ewigkeit taumeln, und sie suchte nach Halt. Ihre Hände verfingen sich in seinen Haaren. Und auf einmal war ihr, als spüre sie unter den borstigen, stacheligen Strähnen ein zweites Gesicht auf dem Hinterkopf. Der Magus fauchte und schüttelte seinen mächtigen Körper, und ihre haltsuchenden Hände wurden fortgeschleudert. Noch lange stampfte er wütend mit den Beinen und äußerte seinen Groll in einem Donner, der sie erbeben ließ: Magus, Magus, nicht erzürnen will ich dich, sondern dich entzücken und dir hörig sein! Die Hexe spürte, dass seine Wut verrauchte wie der Dampf der Opferschalen. Der Magus beruhigte sich wieder unter ihrer beschwörenden, besänftigenden Stimme. Es gelang ihr, seine Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was sie ihm zu bieten hatte … ihre Seele. Sie war sein. Er konnte damit spielen, wie es ihm beliebte. Und er nahm sie in sich auf wie ein Sterblicher den Atem. »Seit ich zuletzt bei dir war, hat sich viel zugetragen in dieser Welt und in der anderen. Es gab für mich Niederlage und Triumph, Voisin. Den Triumph habe ich ausgekostet, die Niederlage aber nicht vergessen.« Magus – nimm mich als Werkzeug deiner Rache! »Wie klug du bist, Voisin. Ha, du bist mir mehr wert als alle Schwarzblütigen, die mir Treue schworen und mich dann feige verrieten. Ich wollte einst Macht über die Sterblichen und meine dämonischen Brüder. Ich wollte herrschen. Doch werde ich mich mit der Macht allein begnügen, Schicksal spielen, ohne Herrscher zu sein. Und du wirst meinen Willen ausführen, Voisin.« Sage mir, was ich zu tun habe, Magus! »Es ist nicht viel. Nein, nein, du hast nur eine Kleinigkeit zu tun. Die Hauptaufgabe fällt einem anderen zu – einem, der über uns allen steht. Der mir Freund und Feind zugleich ist. Dem ich viel geopfert habe, den ich aber nie ganz befriedigen konnte. Denn er ist unersättlich in seiner grenzenlosen Gier. Er ist der ständige Begleiter eines jeden, und selbst ich muss mich vor ihm hüten. Er ist auch jetzt
hinter mir – hinter dir, Voisin. Wenn er mir über die Schulter blickt, dann heißt es sich vorsehen! In diesem Augenblick noch mein Verbündeter, kann er im nächsten schon mein Widersacher sein. Er ist – unberechenbar. Und doch liebe ich ihn in dieser Zeit. Denn er wird ernten, was ich säe. Errätst du, wen ich meine, Voisin? Du hast Angst, geschätzte Hexe? Ja, ich gestehe sie dir zu. Denn er könnte auch Geschmack an dir finden, Voisin. Auch du bist vor ihm nicht gefeit, denn, wie gesagt, er ist unberechenbar. Wenn man mit ihm spielt, dann weiß man nie, wie es endet. Und doch hat das Spiel mit ihm einen unbeschreiblichen Reiz, den ich nicht missen möchte. Und sooft er auch mein Gegner war, ich lasse ihn dennoch leben – den Tod.« Die Hexe spürte, dass sie von einer unheimlichen Kälte erfasst wurde. Ein Hauch des Todes strich über sie hinweg, der sie ahnen ließ, wie das Danach sein würde. Aber dann war alles wieder vorbei. Sie spürte erneut eine unbändige Kraft, die ihren schönen jungen Körper durchströmte, zu dem ihr Magus verholfen hatte. Vergessen war die Todesahnung. Sie klammerte sich fester noch als zuvor an ihren Meister und Beschützer, dessen Macht einzig und allein sie vor den Zugriff der kalten Knochenhand bewahren konnte. Die unirdische Stimme ihres Meisters bekam etwas Schwärmerisches, als er ihr seinen Willen kundtat. »Ich habe einen Fluch ausgesprochen, Voisin, der einen bestimmten Kreis von Personen betrifft. Es sind alles Sterbliche, wenngleich es einige aus dem Kreis der Schwarzblütigen ebenfalls verdient hätten, darin aufgenommen zu werden. Aber ich habe Zeit und werde mich ihnen später widmen. Auch du gehörst in den Kreis der Verdammten, Voisin, und dein Schicksal ist so ungewiss wie das der anderen. Ich liebe es, mich selbst zu überraschen, denn die Existenz eines Wesens, das alles Zukünftige selbst vorher zu bestimmen vermag – abgesehen von der Stunde, in der der unersättliche Tod es holt – eine solche Existenz ist schal. Der Kreis der Verdammten ist groß. Es gehören dazu viele, die mir dienen wollen wie du, Voisin. Und es gehört eine Sterbliche dazu, die mich verschmähte. Dann ist da ein Mann, dem ich einiges ver-
danke, der aber meinen Dank nicht will und ein erbärmliches Dasein im Unglück ewigem Glück vorzieht. Er soll es bekommen – grenzenloses Leid und Unglück. Er wird hilflos zusehen müssen, wie der Tod, der jetzt schon über dem Kreis der Verdammten schwebt, wahllos zuschlägt. Und ich werde mich daran ergötzen, wie sie fallen, einer nach dem anderen. Es wird ein bitteres Sterben sein, Voisin. Der besondere Reiz für mich ist, dass ich selbst nicht weiß, welcher Verdammte zu welchem Zeitpunkt an die Reihe kommt. Ich habe nur die Saat ausgeworfen, ernten wird der unberechenbare Tod. Nur eines habe ich verfügt: Es wird ein Kind geboren, und das möchte ich haben. Und es muss an einem bestimmten Tag geboren werden, zu einer bestimmten Stunde und an einem vorbestimmten Ort. Nur wenn sich das erfüllt, bekomme ich mein Opfer. Du bist dazu ausersehen, es mir zu überreichen, Voisin. Somit liegt es auch an dir, zu bestimmen, wo und wann unser Verbündeter und Widersacher mit seiner Sense ernten wird. Denke stets daran, Voisin, ihr seid alle verflucht. Nur indem ihr das Böse sät, könnt ihr der Verdammnis entrinnen. Es wird ein faszinierendes Schauspiel sein, wenn sie alle versuchen werden, ihrem zugedachten Schicksal zu entrinnen. In diesem Sinne also, Voisin: Es lebe der Tod!«
Coco erwachte durch die Bewegung in ihrem Leib. Sie öffnete die Augen. Draußen dämmerte der neue Morgen. Es war diesig und trübe. Die Bäume im Park der Jugendstilvilla waren längst kahl. Ihre Äste reckten sich wie die Arme von Ungeheuern aus dem Nebel. Es war ein kalter, unfreundlicher Oktobertag. Vor dem Grau des Fenstervierecks hob sich die Silhouette einer Gestalt ab. Dort stand Dorian und rauchte. Die Glut seiner Zigarette leuchtete auf. Er stieß hörbar den Atem aus und hüllte sich in Qualm. Ein Bild der Trostlosigkeit. Dorian blickte kurz zu ihr. Sie stellte sich schlafend. Dann starrte er wieder in die nasskalte Morgendämmerung hinaus. Coco zuckte unwillkürlich zusammen, als wieder das Leben in ihr
mit Füßen und Fäusten gegen ihren Leib trommelte. Und sie hörte die lautlose Stimme aus ihr. So kalt und eng … So eng … Will hinaus … Es wird bald geschehen. Nur Geduld, mein Kleines. In wenigen Tagen schon ist deine Zeit gekommen, dachte sie. Und dann?, fragte die schwache, ängstliche Stimme in ihr. Wie wird es sein? Wie sieht es außerhalb der Enge aus? Ich möchte es wissen. Du wirst es früh genug erfahren, dachte sie für ihr Kind. Und für sich allein: Du wirst noch früh genug die Schrecken dieser Welt kennen lernen. Und dann wirst du mich vielleicht verfluchen, weil ich dir den Schutz meines Körpers nicht länger gewährt habe. Aber so sehr sie sich auch bemühte, ihre Ängste zu unterdrücken, ihre sorgenvollen Gedanken für sich zu behalten, das Ungeborene spürte die Vibration ihrer Emotionen. Coco bekam einen leichten Krampf, als sich das Kind in ihrem Körper fester zusammenrollte, seine Gliedmaßen an den unfertigen Körper presste. Und die lautlose Stimme wurde noch ängstlicher. Was lauert dort hinter der Wärme? Es ist dunkel und groß und drohend. Ich habe Angst. Eine schwarze Wolke ist über uns und drückt auf mich. Sie macht alles noch enger. Und sie ist so kalt. Jetzt kommt sie näher. Es – wird kälter. Sie lastet so schwer. Du musst mir beistehen, Mutter. Mutter, beschütze mich! Die schwarze Wolke! Coco hatte diesen Ausdruck für das drohende Unheil geprägt, das über ihnen schwebte. Schon als sie mit ihrem Ungeborenen zum ersten Mal in Gedankenkontakt getreten war, hatte es über eine Schwärze geklagt, die nach ihm griff. Das Kind hatte mit seinem Urinstinkt schneller als sie mit ihren magischen Fähigkeiten erkannt, dass Olivaro einen unheilvollen Fluch auf sie geladen hatte. Aber Coco versuchte, ihr Kind zu beruhigen, indem sie sagte: »Das ist nur eine schwarze Wolke. Sie zieht schnell wieder vorbei.« Doch die schwarze Wolke blieb, überschattete ihr Leben. Wann würde die Wolke das Gewitter über ihnen entladen, das sie in sich trug? Du hast nichts zu befürchten, besänftigte Coco ihr Ungeborenes. Ich sorge dafür, dass alles gut wird.
Die Gedanken des Kindes wurden ruhiger. Coco fühlte, dass es sich in ihrem Leib entspannte. Es war eingeschlafen. Coco spürte einen Luftzug. Durch die geschlossenen Lider bemerkte sie eine Bewegung. Sie hielt die Augen weiterhin geschlossen. Dorian beugte sich über sie – von ihm ging der widerwärtige Geruch kalten Rauchs aus. Sein Atem wurde ihr unerträglich. Er küsste sie zaghaft auf die Stirn. »Warum verstellst du dich, Coco? Ich weiß, dass du wach bist. Ich möchte mit dir reden.« Sie schlug die Augen auf. Er saß am Bettrand. In seinen grünen Augen spiegelten sich die knorrigen Äste der Bäume, wie Tentakel, die sich auf sie zuschlängelten … »Worüber?« »Über ihn.« Er strich mit der Hand zärtlich über die Bettdecke, die sich über ihrem gewölbten Leib spannte. »Wieso glaubst du, dass es ein Junge wird?« »Du müsstest es eigentlich wissen, Coco«, meinte er mit einem leisen Lächeln. Sie erwiderte es nicht. »Das ist doch nicht von Bedeutung.« »Natürlich nicht.« Sein Gesicht wurde sofort ernst, verfinsterte sich. »Wir haben über die Dinge von Bedeutung noch nicht gesprochen, Coco. Weil du mir immer ausgewichen bist. Aber meinst du nicht, dass es an der Zeit ist, uns über das Schicksal unseres Kindes Gedanken zu machen?« Sie drückte seine Hand. »Glaubst du, ich könnte noch an etwas anderes denken?« Als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, legte sie ihm schnell den Finger auf die Lippen. »Ich weiß so gut wie du, dass Olivaro uns keine Ruhe lassen wird. Er will seine Rache, das steht fest. Und er weiß, dass er uns am härtesten trifft, wenn er unserem Kind etwas antut. Das alles habe ich längst schon bedacht.« »Aber warum willst du dann nicht mit mir darüber sprechen?« »Ich möchte dich damit nicht belasten.« »Es ist auch mein Kind!«, sagte er aggressiver, als er beabsichtigt hatte. Sie nickte. »Es ist unser beider Kind. Ich weiß, wie sehr es uns bei-
de verbindet. Aber ich möchte nicht, dass du wegen ihm sein Leben änderst. Du sollst bleiben, wie du bist. Vertraue mir, Dorian! Ich bewältige die Probleme allein. Du hast im Augenblick Sorgen genug. Werde erst einmal damit fertig.« »Du meinst Lilian.« Er sprang auf, ging im Zimmer auf und ab und gestikulierte nervös, wie es sonst nicht seine Art war. Er zündete sich wieder eine Zigarette an, drückte sie sofort wieder aus und sagte: »Lilian ist kein Problem mehr für mich. Längst nicht mehr. Wir sind uns fremd geworden, seit sie sich Marvin an den Hals geworfen hat.« »Warum diese Verbitterung, Dorian?«, fragte Coco. »Verbittert?« Er lachte gekünstelt. »Ich bin Marvin dankbar. Eigentlich verdanke ich ihm mein Glück. Ich weiß nicht, ob er Lilian glücklich machen kann – aber meinen Segen haben sie. Wäre er nicht gewesen, wäre ich wohl nie von Lilian losgekommen. Ich bin sicher, dass sie ihre Einwilligung zu einer Scheidung geben wird. Ich werde noch heute …« Dorian unterbrach sich. Er bildete sich ein, vor der Tür das Geräusch schleichender Schritte gehört zu haben. Er gebot Coco durch eine Handbewegung Schweigen und wandte sich der Tür zu. Mit zwei lautlosen Sätzen war er bei ihr und riss sie auf. Draußen stand Marvin Cohen in Mantel und Hut. Seine Rechte war erhoben, als hätte er gerade anklopfen wollen. »Sieh an«, sagte Dorian spöttisch. »Der Lauscher an der Tür!« Cohens Gesicht rötete sich. Seine Lider zuckten nervös. »Du irrst«, sagte er verlegen. »Ich wollte gerade …« »Was immer du auch wolltest, du kannst es nachholen«, unterbrach ihn Dorian sarkastisch. Seine Augen funkelten. »Sieh dich nur um. Du hast uns in flagranti ertappt. Hast du eine Kamera dabei? Dann kannst du ein Familienfoto schießen. Das käme Lilian doch sehr gelegen, oder?« »Was soll das, Dorian? Ich wollte nur …« Dorian packte ihn beim Mantelkragen und schüttelte ihn. »Du stotterst ja, Marvin. Was mag der Grund dafür sein? Ein schlechtes Gewissen? Wie du duftest, Marvin! Das Parfüm kenne ich doch.
Warte, sage mir die Marke nicht, ich möchte raten … Hm, ich komme wohl doch nicht drauf. Aber ich weiß, dass Lilian es verwendet. Habe ich Recht? Was gibt es denn Neues in der Abraham Road?« »Jetzt habe ich aber genug«, rief Cohen wütend und befreite sich aus Dorians Griff. Mit einem Seitenblick auf Coco sagte er: »Du hast es gerade nötig, den Moralapostel …« Weiter kam er nicht – Dorian schlug mit der geballten Faust zu. Cohen flog über den Korridor und prallte gegen die Wand. Seine Oberlippe war geplatzt, und Blut sickerte aus der Wunde. In seiner ersten Wut wollte er sich auf Dorian stürzen. Aber dann besann er sich. Er schüttelte verständnislos den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund. Er betrachtete Dorian, der schweratmend und mit geballten Fäusten in der Schlafzimmertür stand. »Nein, ich tu dir nicht den Gefallen, dich zu verprügeln, obwohl du es verdient hättest«, meinte Cohen ruhig. »Ich zweifle sogar daran, dass Prügel etwas nutzen würden. Mit dir ist einfach nichts mehr anzufangen.« Damit wandte er sich abrupt der Treppe zu. »Marvin, es tut mir Leid …«, rief Dorian ihm zaghaft nach. Aber Cohen hörte nicht mehr. Dorian kehrte mit hängenden Schultern ins Zimmer zurück. »Musste das sein?«, fragte Coco. Dorian zuckte die Schultern und massierte seine Schläfen. »Ich weiß selbst nicht, was mit mir los war. Ich habe einfach die Nerven verloren. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.« Coco betrachtete ihn zweifelnd. Ob es wirklich nur die Nerven waren? Er legte sich bäuchlings neben sie aufs Bett. Sie massierte ihm den Rücken, während sie in unergründliche Fernen starrte. Sekunden später war er eingeschlafen.
Frank Gilmore hätte nicht geglaubt, dass er noch einmal mit dieser unheimlichen Frau zu tun bekommen würde. Er hatte sie schon längst vergessen … Nein, das stimmte nicht. Er hatte sie nur aus sei-
nem Gedächtnis verbannt, die Erinnerung an sie verdrängt. Und nun wurde er plötzlich nachhaltig an sie erinnert. Sie hatte ihm eine Nachricht zukommen lassen, in der sie ihn bat, sich um Mitternacht bei einer bestimmten Adresse einzufinden. Außerdem hatte sie geschrieben, dass sie ihm einmal einen großen Gefallen getan habe und er nun Gelegenheit habe, sich zu revanchieren. Sonst nichts. Nicht einmal eine Unterschrift. Aber er wusste sofort, wer der Absender war. Denn er kannte die Adresse. Er war schon oft in diesem Haus gewesen, um Kräuter und Tinkturen für seine todkranke Frau abzuholen. Lag das alles schon ein Jahr zurück? Plötzlich erschien es ihm, als sei das alles erst gestern gewesen, wenngleich er sich eingeredet hatte, diese Dinge schon längst vergessen zu haben. Ja, es war ziemlich genau vor einem Jahr: Er saß am Bett seiner Frau, bei der die Kunst der Ärzte versagt hatte. Sie wimmerte unter Schmerzen, die nicht einmal mehr durch Morphiumspritzen gelindert werden konnten. Frank rechnete jeden Augenblick mit ihrem Tod. Und da stand die Fremde auf einmal in der Tür. Sie gab keine Erklärung darüber ab, wie sie ins Haus gekommen war. Und Frank fragte sie nicht danach. Er war in einer scheußlichen Verfassung. Er hörte nur, dass die Frau behauptete, helfen zu können. Und Frank klammerte sich verzweifelt an diese letzte Hoffnung. Er erinnerte sich an eine bestimmte Szene so genau, als sei es erst gestern gewesen: Die Fremde ging – fast schien es, als schwebe sie – zum Bett seiner todkranken Frau und berührte sie kurz an der Stirn. Und seine Frau verstummte, schlief friedlich ein. Dabei hatte sie schon seit Tagen keinen Schlaf mehr gefunden. Selbst wenn sie im Koma lag, wimmerte, stöhnte und phantasierte sie. Und auf einmal war sie ganz ruhig. Die Fremde fragte, ob er ihre Heilung wünsche. Und Frank sagte, ja, unter allen Umständen. Unter allen Umständen?, fragte die Fremde – und dabei bekam ihr Gesicht einen ganz seltsamen Ausdruck. Ja, sagte Frank, ja, ja, er würde alles nur mögliche tun, um seine geliebte Frau zu retten. Und sie wurde gerettet.
Die seltsame Frau bestellte ihn dann einige Male in ihr Haus – ein unheimliches Haus. Er fragte bei jedem Besuch, was er denn schuldig sei. Aber die unheimliche Frau wollte von Geld nichts wissen. Er hatte damals vierhundert Pfund gespart gehabt, doch sie nahm sie nicht an. Er solle gehen, sagte sie. Irgendwann, eines Tages, in einem Jahr oder in zehn, morgen oder dann, wenn er selbst auf dem Sterbebett läge, werde sie zu ihm kommen und ihn bitten, dass er seine Schuld bei ihr abgelte. Jetzt war es soweit. Es hatte nicht ganz ein Jahr gedauert. Margarita Voisin verlangte ihren Lohn. Aber was konnte er ihr schon bieten? Er, ein kleiner Buchhalter mit bescheidenem Gehalt und ohne überragende Fähigkeiten? Nun, dass sie kein Geld wollte, das wusste er. Aber was dann? Diese Frage quälte ihn. Und sie ließ ihn auch frösteln. Er hatte schon damals, vor einem Jahr geahnt, dass Margarita Voisin, wenn sie sich einmal an ihn wenden würde, etwas ganz und gar Ungewöhnliches von ihm verlangen würde. Und er hatte gehofft, dass sie nicht mehr auf ihn zurückkommen würde. Jetzt stand er vor ihrem Haus. Vor ihm hastete eine schlanke Frau, in einen schwarzen Umhang gehüllt, über den Kiesweg zum Eingang der Villa. Sie trippelte auf hochhackigen Schuhen und mit kleinen Schritten einher, den Umhang fest um die Schultern gezogen, so als sei ihr kalt. War auch sie eine von jenen, die in der Schuld der Voisin standen und von der nun verlangt wurde, dass sie sie tilge? Frank hatte Lust, schnellstens wieder umzukehren. Aber die Angst, dass etwas Schreckliches mit ihm – oder mit seiner Frau – passieren würde, trieb ihn weiter. Dann hatte er hinter dem zierlichen zitternden Geschöpf die Villa erreicht. Die Tür ging wie von Geisterhand bewegt auf, und die junge Frau vor ihm drückte ihm die Türklinke in die Hand. Ein kurzes Kopfwenden. Große, ängstlich blickende Augen streiften ihn oberflächlich. Dann tauchte die Frau in die Dunkelheit der Empfangshalle ein. Frank folgte ihr. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Verhaltenes Stimmengemurmel ertönte. »Hier entlang, Bruder!«
Er wurde flüchtig am Ellenbogen gestreift, aber unmissverständlich in eine bestimmte Richtung gedrängt. »Achtung! Stufen, Bruder!« Der unsichtbare Sprecher sprach abgehackt. Wer waren diese Leute? Was hatte man mit ihm vor? Waren außer ihm und der jungen Frau noch andere hergerufen worden? Frank kam der unheimliche Verdacht, dass Margarita Voisin viele Personen in ihre Abhängigkeit gebracht hatte und sie nun alle um sich versammelte, um eine Verschwörung anzuzetteln. Frank blieb stehen. Sein Herz klopfte wie rasend. »Weiter, Bruder, weiter!« Hinter ihm drängte jemand nach. Frank wurde weiter die Treppe hinuntergeschoben. Es war eine Wendeltreppe. Aber er wehrte sich nicht dagegen. Er hatte überhaupt nicht die Kraft dazu. »Da, trink, Bruder!« Ein eiskalter Metallbecher, dem heiße Dämpfe entströmten, wurde ihm an die Lippen gehalten. Er versuchte, den Kopf fortzudrehen. Aber da wurde er mit festem Griff im Genick gepackt. Sein Kopf wurde nach hinten gebogen, und gleichzeitig musste er den Mund öffnen. Er spürte, dass die dampfende Flüssigkeit ihm den Atem raubte. Er musste das Gebräu schlucken … Seltsam – so sehr ihn zuerst davor geekelt hatte – jetzt empfand er den Trank als Labsal. Auf einmal fühlte er sich viel gelöster. Und als hätte ihm der Trank seine Sehkraft zurückgegeben, konnte er auf einmal seine Umgebung wahrnehmen. Er befand sich in einem von Fackeln erhellten Kellergewölbe. Die Wände waren schwarz bemalt und mit einigen ungerahmten Bildern behangen. Sie stellten antike Szenen dar – zumindest dachte Frank das zuerst. Aber bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass es sich um Teufelsbildnisse der Gegenwart handelte. Der Teufel, wie er ein Menschenopfer entgegennahm, der Teufel, wie er auf dem Altar kauerte, der eine lebendige Frau war … Frank begegnete dem Blick der zierlichen jungen Frau. Sie trug nicht mehr den Umhang und zitterte auch nicht mehr … in ihren Augen war nicht Angst, sondern – Begierde. Ihre Hand fand kurz die seine, drückte sie … Aber sofort wurde sie ihm wieder entrissen.
Grölen – wie bei einem Gelage – wurde laut. Irgendjemand trommelte, ein anderer zupfte ein Saiteninstrument, und ein dritter blies eine Art Flöte. Frank fühlte sich in Hochstimmung. Er war enthemmt. Angst? Wovor? Ihm war, als hätte er noch nie so etwas wie Angst gekannt. Dreißig oder vierzig Frauen und Männer waren hier versammelt. Und so wie Frank wusste, dass er hier niemanden kannte, war ihm bekannt, dass sich auch die anderen fremd waren. Dennoch spürten sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft – waren alle Diener der Voisin. Die zierliche Frau tanzte mit einem Zwerg, keinen Meter groß, der ein Greisengesicht und hervortretende Glotzaugen hatte. Andere Männer und Frauen gesellten sich zu den Tanzenden und rissen sich in Ekstase die Kleider vom Leibe … Und dann erschien die Voisin. Frank erkannte sie sofort, obwohl sie viel jünger aussah als vor einem Jahr. Aber sie war es, zweifellos. Sie war eine Frau von atemberaubender Schönheit. Und sinnlich. Der Ausdruck ihres Gesichts zeugte davon, dass sie gerade erst die Leidenschaft ihres Liebhabers gespürt hatte … der der Teufel war! Das wurde Frank augenblicklich bewusst. Aber der Gedanke erschreckte ihn nicht. Das war die Wirkung des Zaubertranks, der ihn enthemmt hatte. Beim Anblick der Hexe trennten sich die Paare und zogen sich ehrfürchtig an die Wände zurück. Die Voisin stieg zum Altar hinauf, der aus den Beckenknochen eines Weibes gebildet war. Die Fackeln erloschen – ihr Feuer erstickte förmlich, als wäre ihnen der Sauerstoff entzogen worden. Und so musste es tatsächlich sein, denn auch Frank hatte plötzlich mit Atemnot zu kämpfen. Aber dann drückte ihm jemand etwas Weiches, Glitschiges in die Hand und befahl: »Press es aus! Zerquetsche es mit aller Kraft!« Und indem Frank es tat, fiel ihm das Atmen wieder leichter. In einem Winkel röchelte eine Frau – gleich darauf seufzte sie erleichtert. »Ihr alle seid gekommen, um IHM zu huldigen, der euch in höchster Not geholfen hat«, sprach nun die Hexe Voisin. »Ihr alle seid IHM zu Dank verpflichtet, weil ER euch eure geheimsten Wünsche erfüllt hat. Dem einen stillte er die Geldgier, dem anderen verlängerte er das Leben – unser aller Magus, Herr über unsere Seelen!«
Und der Chor murmelte: »Herr unserer Seelen!« Frank stimmte unwillkürlich mit ein. Ihm wurde etwas Knochenhartes in die Hand gedrückt. »Brich es!«, forderte eine zischende Stimme. Und Frank brach das unbekannte Ding in seiner Hand entzwei. »Magus verlangt ein Opfer von euch«, fuhr Margarita Voisin fort. »Im Verhältnis zu dem, was ihr von ihm bekommt, soll eure Gegenleistung gar bescheiden sein. Magus ist in seiner Großmut unübertroffen. Also huldigt ihm.« Magus, Magus!, gellte es in Franks Kopf. Nimm unser bescheidenes Opfer! Ich träume, redete sich Frank ein. Und weil er alles nur für einen Traum hielt, machte er mit. Im Traum konnte man dem Wahnsinn verfallen und dem Teufel dienen – ohne dass dies Einfluss auf die Realität hatte. Und deshalb ging Frank ganz aus sich heraus. Jemand stopfte ihm etwas in den Mund, das sich wie rohes, blutiges Fleisch anfühlte. Und Frank kaute gierig. Sein Körper stand wie unter Feuer. Er brannte lichterloh. Aber der siedende Schmerz war ihm nicht Qual, sondern Befriedigung. Die Hexe Voisin reckte sich vor dem Altar für den Teufel. »Unzählige Leben hat euch der Magus aus der Schwarzen Familie gegeben – aber nur eines braucht ihr ihm zu opfern.« Eine Hand tauchte auf und dann klatschte etwas gegen Franks Brust. Er verrieb sogleich den ätzenden, stinkenden Brei auf seinem Körper. »Jeder von euch wird ein Teil dazu beitragen, dass die Opferung ein voller Erfolg wird«, rief wieder die gellende Stimme der Voisin. »Doch nur einer kann auserwählt werden, das Opfer darzubringen. Die anderen werden seinen Namen nicht erfahren. Nur der Auserwählte selbst wird um seine Bestimmung wissen. So verlangt es Magus.« »Und so wollen es deine Diener, Magus!«, rief der Chor der Teufelsdiener. Becher mit dampfendem Gebräu wurden gereicht. Qualm vernebelte das Gewölbe, berauschte die Teufelsdiener, brach ihren Wider-
stand, machte sie willenlos. »Das Kind!«, sagte die Hexe Voisin vor. »Das Kind!«, wiederholte der Chor monoton. »Es wird geboren, um zu sterben!« »… geboren, um zu sterben.« »Am achtundzwanzigsten Oktober!« »… diesem achtundzwanzigsten Oktober …« »In der Webber-Klinik.« »In unserer Mitte wird es sterben.« Frank Gilmore hörte sich auf einmal wie ein Verrückter schreien. Er wusste nicht, was er tat, als er um sich schlug und zur Wendeltreppe rannte. Niemand hielt ihn auf, obwohl er es sich insgeheim wünschte, dass sich ihm jemand in den Weg stellte. Aber alle wichen ihm aus. Sahen ihm mit erwartungsvollen Blicken nach. Als er oben in der Empfangshalle war, öffnete ihm jemand die Tür. Der Kies spritzte unter seinen Schuhen, als er den Weg zur Straße hinunterrannte. Er wusste, dass er sich beeilen musste, wenn er sein Ziel erreichen wollte … und dabei flehte er, dass irgendetwas ihn aufhalten möge. Aber der Zauber der Hexe war stark. Er erreichte die Straße, als ein silbergrauer Rolls-Royce um die Ecke bog. Frank sah ihn aus dem Augenwinkel wie ein großes, behäbiges Ungetüm herangleiten. Lautlos. Tödlich. Er zögerte nur kurz – ein schwaches Aufbäumen gegen die überirdischen Mächte, die ihn beherrschten, bevor er auf die Fahrbahn sprang. Er hörte noch das Kreischen der blockierenden Räder. Dann wurde es schwarz um ihn. Er nahm es nicht mehr wahr, dass ein elegant gekleideter, jugendlich wirkender Mann aus dem Fond sprang und dem Fahrer zurief: »Mein Gott, Robert, verständigen Sie sofort über Autotelefon die Webber-Klinik! Sie sollen einen Krankenwagen schicken!« Der Mann aus dem Rolls-Royce war Amerikaner. Er hieß Jeff Parker. Der erste magische Kreis war geschlossen. »Entschuldigt«, sagte Parker abgehetzt, als er in die Jugendstilvilla stürzte. »Aber ich wurde durch einen Unfall aufgehalten. Irgend so ein Idiot sprang direkt vor den Kühler meines Mietwagens. Aber ich glaube, es ist nicht viel passiert.«
Er küsste Coco auf die Stirn, schüttelte Dorian die Hand, drückte auch der verdutzten Miss Pickford einen schmatzenden Kuss auf die Backe und winkte dem völlig apathisch wirkenden Phillip zu. »Tut mir Leid. Aber ich werde nicht lange bleiben können. Meine Maschine geht in zwei Stunden. Es reicht gerade für eine Flasche Champagner … Nanu, wo sind denn Sullivan und Cohen?« »Sullivan ist im Keller«, antwortete Coco. »Ich glaube, er würde dort am liebsten für immer sein Lager aufschlagen.« »… und Marvin hat Minnedienst in der Abraham Road«, fügte Dorian giftig hinzu. Parker warf ihm einen prüfenden Blick zu. Dann fragte er Coco: »Was ist denn mit Dorian los? Ich dachte, in dieser Beziehung sei alles klar.« Coco hakte sich bei ihm unter und führte ihn zur Kellertür. »Es sind die Nerven. Er schläft fast keine Nacht mehr, aus Sorge um das Kind. Er – wir alle spüren, dass irgendetwas in der Luft liegt.« »Glaubst du, dass Olivaro irgendetwas im Schilde führt?« Coco nickte langsam. »Ich bin ganz sicher, dass er noch einen Versuch unternehmen wird, unser Glück zu zerstören. Er wird versuchen, uns an unserem wunden Punkt zu treffen. Und das ist das Kind.« Parker drückte ihr warm die Hand, als sie die gewundene Treppe in den Keller hinunterstieg. »In der Webber-Klinik bist du sicher. Ich habe mit Professor Marlowe das Problem durchdiskutiert. Er gehört der Londoner Loge der Okkult-Freimaurer an – und ist absolut zuverlässig. Er stellt dir einen eigenen Trakt zur Verfügung, und dort kannst du mit Dorian schalten und walten wie du willst.« »Danke. Aber wir werden einige zusätzliche Vorkehrungen treffen.« »Das habe ich vorausgesetzt. Professor Marlowe hat jedenfalls Anweisung, auf alle eure Wünsche einzugehen. Verrätst du mir, wie ihr euch gegen schwarze Magie absichern wollt?« »Ich werde die Geburt unseres Kindes vorverlegen.« »Ach – natürlich, du kannst das steuern. Und sonst?« Coco biss sich auf die Lippen. »Es ist besser, wenn ich die Einzel-
heiten für mich behalte.« Parker verstand. Er ging nicht näher darauf ein und wechselte das Thema, als sie das Ende der Treppe erreichten. Der Keller war völlig umgebaut worden. Einige der Trennwände waren niedergerissen worden, so dass zwei gleich große Räume von fünfzehn mal zwanzig Metern entstanden waren. Die Grundmauern hatte man trocken gelegt, und Leuchtstoffröhren spendeten ein helles, für Parkers Geschmack jedoch etwas zu nüchternes Licht. Im ersten Raum war Dorians ›Horrorsammlung‹ untergebracht. In Regalen an den Wänden lagen Hexenschriften, Tagebücher und andere Aufzeichnungen von ›Hexenjägern‹ und deren Opfern. Daneben standen Schwarzbücher aller großen Magier, von denen aber viele nur Liebhaberwert hatten. Die Anleitungen für Teufelsbeschwörung waren meist nicht zu gebrauchen. Über den Regalen hingen an den Wänden Folterinstrumente, Henkersschwerter, Teufelsmasken und sogar das Messer einer Guillotine aus der französischen Revolution, mit dem Dorians Schicksal eng verknüpft war. In Vitrinen waren Amulette, Gemmen und andere Reliquien der weißen und der schwarzen Magie untergebracht. Viele von ihnen besaßen große magische Wirksamkeit und konnten als Dämonenbanner eingesetzt werden. Jeff Parker betrachtete die ausgestellten Reliquien fasziniert. Aber sein eigentliches Interesse galt an diesem Tag dem zweiten Raum, obwohl er auf den ersten Blick viel nüchterner und eigentlich alltäglich wirkte – beinahe wie ein normales Büro. In der Mitte stand ein großer Arbeitstisch mit Zeichengeräten, Video- und Diaprojektor und Fotokopiergerät. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand hing eine riesige Weltkarte, die mit verschiedenfarbigen Stecknadeln bespickt war. Links vom Eingang war Trevor Sullivans Arbeitsplatz mit Computer und Faxgerät. Er stand dort wie der Kapitän eines Schiffes auf seiner Kommandobrücke. Der kleine, zerknittert wirkende Mann mit dem Geiergesicht, von dem man sonst meist wie auf einem Barometer übelste Laune ablesen konnte, strahlte in diesem Moment etwas Feierliches aus. Er war so ergriffen und gerührt, dass er kein Wort über die Lippen brachte, als er bei Parkers Eintreten auf diesen
zustürzte und impulsiv seine Hand drückte. »Na, werden Sie nicht gleich weich, Trevor«, sagte Parker unbehaglich. »Ich habe schließlich nur einen Bruchteil von dem Geld vorgestreckt, in dem ich förmlich schwimme. Es liegt an Ihnen, etwas daraus zu machen, damit sich die Investitionen im Kampf gegen die Dämonen amortisieren.« Sullivan räusperte sich und sagte: »Sie haben mir einen alten Wunsch erfüllt, Parker. Seit die Inquisitions-Abteilung des Secret Service aufgelöst worden ist, hatte ich kein Betätigungsfeld mehr. Ich fühlte mich nutzlos und konnte auch Hunter im Kampf gegen die Schwarze Familie nicht unterstützen, denn ich bin eben kein Mann der Tat. Jetzt hat mein Leben wieder einen Sinn bekommen. Ich weiß, dass ich mich hier nützlich machen kann. Als Leiter der Presseagentur für unerklärliche Vorfälle kann ich Hunter wertvolle Schützenhilfe leisten.« »Haben Sie schon einen Namen für die Presseagentur gefunden?« »Ja – Mystery Press.« »Dann wollen wir auf die Mystery Press trinken.« Miss Pickford war mit einem Tablett nachgekommen, auf der Sektflöten und ein Eiskübel mit einer Champagnerflasche standen. Parker nahm die Flasche aus dem Eiskübel, köpfte sie an der Tischkante und ließ sie dann über den Sektflöten kreisen. »Also – auf die Mystery Press.« Sie stießen miteinander an. Parker überreichte auch Phillip ein Glas. Der nahm es zwar lächelnd entgegen, hielt es aber dann unschlüssig in den Händen, als wisse er nicht, was er damit anfangen sollte. Parker stellte auch vor den Puppenmann Donald Chapman eine Sektflöte auf den Tisch. Chapman fragte zu ihrer Erheiterung, ob er darin ein Bad nehmen solle. Diese Bemerkung entlockte sogar Dorian Hunter ein schwaches Lächeln. Als die anderen jedoch ihre leeren Gläser ausgelassen gegen eine der Regalwände schleuderten – und Miss Pickford es sich nicht verkneifen konnte, darüber zu klagen, dass sie diese ›Schweinerei‹ aufräumen müsse –, schloss sich Dorian nicht an, sondern zerdrückte sein Glas zwischen den Fingern. Damit zerstörte er die allgemeine Hochstimmung.
»Ja«, meinte Parker betreten. »Ich muss mich leider sofort wieder verabschieden. Mein Flugzeug …« »Und ich habe gehofft, dass ich Ihnen den Computer vorführen und Sie mit meiner Arbeitsweise vertraut machen könnte«, sagte Sullivan bedauernd. »Ein andermal«, vertröstete ihn Parker. »Jetzt bin ich leider sehr in Eile. Begleitest du mich noch zum Wagen, Dorian?« Dorian nickte und ging voraus. Er erwartete Parker im Freien vor dem Hauseingang. »Was ist denn los mit dir, altes Haus?«, fragte Parker, als sie nebeneinander zum Rolls-Royce gingen. »Ich kann ja verstehen, dass du in Sorge um dein Kind bist. Aber es haben schon andere Männer vor dir unter ungünstigeren Vorzeichen einer Vaterschaft entgegen gesehen, ohne gleich durchzudrehen. Ich glaube, du solltest Coco diesbezüglich volles Vertrauen entgegenbringen. Sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um Olivaro zu überlisten.« »Vertrauen«, sagte Dorian langsam. »Vertrauen – eben das kann ich ihr nicht.« »Fängst du schon wieder damit an?«, sagte Parker ungehalten. »Ich glaube, sie hat dir in der Vergangenheit oft genug bewiesen, dass sie bedingungslos zu dir steht.« »Das ist es doch gar nicht. Was ihre Liebe zu mir betrifft, habe ich überhaupt keine Zweifel. Ich habe das Gefühl, dass sie mir etwas verheimlicht.« Als Parker schwieg, fuhr er fort: »Wir haben alles durchgesprochen, was zu tun ist, um das Kind vor Olivaro zu retten, falls er es an sich reißen möchte. Der Plan ist gut, und es müsste eigentlich gelingen, Olivaro zu überlisten. Aber ich werde den Verdacht nicht los, dass Coco nicht ganz ehrlich … Vergiss es, Jeff! Ich will nicht darüber sprechen.« »In Ordnung.« Sie waren beim Wagen angelangt. Der Fahrer startete, stieg aus und rannte um den Wagen herum, um die Tür für Parker zu öffnen. Dieser zögerte einzusteigen. »Du solltest Coco dennoch blind vertrauen, Dorian«, sagte er,
während sie sich die Hände schüttelten. »Ich werde ihr die Entscheidung überlassen«, versprach Dorian. »Das freut mich. Sollte es unerwartet Schwierigkeiten mit der Webber-Klinik geben, dann bin ich in Rom zu erreichen – oder in den Filmstudios von Cinecitta. Du verständigst mich doch sofort?« Dorian versprach es. Er wartete nicht erst, bis Parker in den Wagen gestiegen war und dieser losfuhr, sondern ging voraus, um das schmiedeeiserne Tor zu öffnen. Gerade als er es erreichte, tauchte auf dem Bürgersteig Marvin Cohen auf. Er blieb wie elektrisiert stehen, als er Dorian erblickte. Dorian nahm von Cohen überhaupt keine Notiz, weil er sofort merkte, dass dieser nicht ganz sicher auf den Beinen war. Dorian öffnete das Tor. Cohen stand wankend da und stierte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. Der Rolls-Royce rollte langsam die Abfahrt hinunter. Parker gab dem Fahrer ein Zeichen, den Wagen anzuhalten, und beugte sich aus dem Fenster. »Hallo, Marvin«, rief er Cohen fröhlich zu. »Wo warst du zur Einweihung der Mystery Press?« Cohen deutete anklagend auf Dorian: »Ich habe der Frau Trost gespendet, deren Leben dieser Schweinehund zerstören will. Nicht genug, dass er sie ständig betrogen, belogen und gequält hat. Jetzt will er sie nicht einmal ihre eigenen Wege gehen lassen. Was hast du denn mit Lilian vor, Hunter? Wünschst du ihren Tod? Möchtest du sie umbringen?« »Du bist betrunken, Marvin«, sagte Dorian. Auf der anderen Straßenseite war eine Gruppe von fünf älteren Damen interessiert stehen geblieben. »Betrunken? Pah!« Cohen richtete sich auf und stapfte auf Dorian zu. »Du solltest erst Lilian sehen. Sie hat ihren Kummer förmlich in Whiskey ersäuft. Daran bist du schuld. Aber ich werde dich …« Cohen rannte geradewegs in Dorians vorschnellende Faust. Die Frauen auf der anderen Straßenseite schrien auf und riefen nach der Polizei. Dorian beugte sich über den auf dem Boden liegenden Cohen, um ihn aufs Grundstück zu bringen. Aber Cohen wehrte sich – und dann fiel Dorian auf ihn, und die beiden wälzten sich auf dem Asphalt. Bevor Jeff Parker schlichtend eingreifen konnte, traf ein Strei-
fenwagen der Polizei ein. Die fünf sensationslüsternen Damen waren sofort zur Stelle. Sie boten sich als Zeugen an und ergriffen für Marvin Cohen Partei. »Dieser Rowdy mit dem hässlichen Schnurrbart hat angefangen!«, rief eine von ihnen gellend und fuchtelte mit ihrem Schirm vor Dorians Gesicht herum. »Er hat dem anderen plötzlich die Faust ins Gesicht geschlagen. Es ging um eine Frau. Wir haben es alle gehört, jawohl. Und von Mord war die Rede. Wenn Sie nicht gekommen wären, Inspektor, dann hätte er den anderen sicher umgebracht …« Dorian fühlte sich wie ein Zuschauer bei einem absurden Theater. Das alles klang so unecht – wie gestellt. Und doch war es Realität. Er überlegte sich, ob es von Bedeutung sein mochte, dass er Marvin Cohen zwei Mal innerhalb kurzer Zeit geschlagen hatte. Nicht, dass Marvin nicht schon öfter eine Abreibung verdient hätte. Aber warum musste er, Dorian, das ausgerechnet jetzt nachholen?
Nancy Breen war nicht besonders hübsch, aber dafür eine tüchtige Kraft. Deshalb war es ihr zwar noch nicht vergönnt gewesen, mit Professor Marlowe ein ausgedehntes Weekend zu verbringen, doch sie hatte es auf der Entbindungsstation zur Oberschwester gebracht. Daher gefiel ihr gar nicht, was auf der Geburtsstation der Webber-Klinik vor sich ging: Noch vor wenigen Stunden hatte Professor Marlowe dem amerikanischen Playboy mit Namen Parker versprochen, für eine von ihm protegierte Patientin einen ganzen Trakt freizuhalten. Und nun wurde hier ein Mann eingeliefert, der bei einem Autounfall verletzt worden war. Auf Oberschwester Nancys ersten Einwand antwortete der Professor: »Parker selbst war es, der den Mann in unsere Klinik einlieferte. Er zahlt alles. Also wird er auch nichts dagegen haben, wenn wir den Patienten hier unterbringen.« »Aber der Mann hatte einen Autounfall, Herr Professor«, wandte sie ein. »Er bekommt doch kein Baby.« »Wir sind überbelegt.« Damit war für den Professor der Fall abgeschlossen. Wenig später rief er die Oberschwester zu sich ins Büro. Sie sah so-
fort, dass etwas nicht stimmte. Er war kreidebleich und stützte sich kraftlos auf seinen Schreibtisch. Sie wagte nicht, ihn anzusprechen. Und es vergingen einige Sekunden, bis er merkte, dass sie im Raum war. »Ich habe einen Anruf bekommen, Nancy«, sagte er tonlos. »Meine Mutter ist gestorben – sie ist tot. Ich muss sofort nach Birmingham. Es wird einige Tage dauern, bis ich alles geregelt habe. Vor dem achtundzwanzigsten Oktober bin ich bestimmt nicht zurück. Sie werden hier so lange ohne mich auskommen müssen.« Warum betonte er das Datum – den 28. Oktober? »Es tut mir Leid für Sie, Herr Professor«, sagte sie laut und fragte: »Werden Sie zurück sein, wenn Miss Zamis an die Reihe kommt?« »Wer?« »Nun, Coco Zamis, die Ihnen Mr. Parker ans Herz gelegt hat und die Anfang November bei uns entbinden soll.« »Ach so.« Der Arzt wischte sich über die Augen. »Anfang November bin ich wieder zurück. Bis dahin wird mich Dr. Wright vertreten.« »Dr. Wright?«, wiederholte die Oberschwester. »Ich kenne keinen Dr. Wright.« »Er ist ein guter Freund von mir«, erwiderte Professor Marlowe gereizt. »Habe ich Ihnen noch nicht von ihm erzählt? Und wenn auch nicht – jetzt werden Sie ihn kennen lernen.« »Entschuldigung, Herr Professor«, wandte die Schwester ein. »Aber wieso ziehen Sie einen fremden Arzt Dr. Ashton vor, der immerhin …« »Weil Dr. Ashton ausgefallen ist – Beinbruch«, unterbrach der Professor sie. »Was nehmen Sie sich überhaupt heraus? Ständig kritisieren Sie meine Entscheidungen. Ich habe jetzt ganz sicher keine Lust, mich mit Ihnen über solche Belanglosigkeiten zu streiten. Lassen Sie mich allein.« Professor Marlowe war eine Stunde später weggefahren, ohne sich von ihr zu verabschieden. Am nächsten Morgen lernte sie Dr. Wright kennen. Und das war der größte Schock ihres Lebens. Sie war gerade im Zimmer des Unfallpatienten – der im wahrsten Sinne
des Wortes völlig einbandagiert war, so dass nichts von ihm zu sehen war außer den Augen. Und die flößten ihr Furcht ein. Als sie aus dem Zimmer kam, stand sie einem Zwerg gegenüber. Er war bestimmt nicht größer als einen Meter und hatte ein knochiges Greisengesicht mit vorspringendem Kinn, das ständig in Bewegung war. Seine Lippen waren eingefallen, als besäße er keine Zähne. Aber das Furchtbarste an ihm waren die Augen – große, stark hervortretende Glotzaugen, deren Blick man nicht lange standhalten konnte. Hinter ihm erschien die relativ zierliche Schwester Susanne wie ein Riese. Sie deutete mit einer hilflosen Handbewegung auf den geckenhaft elegant gekleideten Zwerg und stellte ihn vor: »Das ist Dr. Wright, Professor Marlowes Stellvertreter. Dr. Wright – unsere Oberschwester Nancy Breen.« »Auf gute Zusammenarbeit«, sagte der Zwerg mit quakender Stimme und streckte Nancy eine viel zu große Hand hin. Sie hätte am liebsten danach geschlagen, aber dann überwand sie sich doch dazu, sie zu schütteln. Der Zwerg zerquetschte ihr beim Händedruck fast die Finger. Er grinste, ohne die Lippen zu öffnen, und sein Mund wurde dabei so breit, dass die Winkel fast die tief herabhängenden Ohrläppchen berührten. Und dabei bewegte sich sein Kinn ständig im Kreis. Es kam überhaupt nie zum Stillstand, auch nicht, als er sprach. »Sie sind mir dafür verantwortlich, dass die Geburtsstation gut in Schuss ist, Oberschwester«, quakte er. »Kommen Sie nicht mit jeder Kleinigkeit zu mir. Ich werde mich voll und ganz auf die eine, alles entscheidende Entbindung konzentrieren. Sie wissen wohl, wovon ich spreche?« Oberschwester Nancy nickte nur. Sie hätte jetzt kein Wort über die Lippen gebracht. Der Zwerg fuhr fort: »Wenn die versnobte Dame kommt, die einen ganzen Trakt für sich allein haben möchte, so bin ich vorerst nicht für sie zu sprechen. Verstanden, Oberschwester? Unter keinen Umständen möchte ich sie vor der Entbindung zu Gesicht bekommen. Ich überlasse alles Ihnen. Sie werden schon mit ihr zurechtkommen. Oder?«
Wieder nickte Nancy. »Dr. Marlowe teilte mir mit, dass Sie Schwierigkeiten wegen des Unfallpatienten gemacht haben. Hätten wir ihn etwa auf der Straße verrecken lassen sollen, äh?« »Es ist nur, weil …« Der Zwerg machte eine wegwerfende Handbewegung – und wieder fiel Nancy auf, dass seine Hände im Verhältnis zu seinen Körpermaßen riesengroß waren. »Wir können es uns nicht leisten, einen ganzen Trakt für eine einzige Patientin freizuhalten«, schimpfte er. »Aber das werden Sie ihr nicht auf die Nase binden. Im Gegenteil, Sie werden ihr gegenüber behaupten, dass alles nach ihren Wünschen geschieht. Und wenn sie verlangt, in einem rosafarbenen Kreißsaal zu entbinden, versprechen Sie ihr auch das. Verstanden, äh?« Nancy nickte eingeschüchtert. »Das wär's, äh – beinahe.« Dr. Wright hatte sich schon zum Gehen gewandt, doch dann drehte er sich noch einmal um. Die Blicke seiner Glotzaugen schienen sie zu durchdringen, als er sie anstarrte. »Und wenn weitere dringende Fälle an uns herangetragen werden, dann kümmern wir uns auch darum. Wir nehmen jeden Hilfsbedürftigen bei uns auf, Oberschwester!« Fast sah es so aus, als hätte der Zwerg die zukünftigen Ereignisse vorausgesehen. Denn im Laufe der Nacht wurden insgesamt fünf schwangere Frauen eingeliefert. Sie wurden auf Dr. Wrights Anordnung hin alle in jenem Trakt untergebracht, der für Coco Zamis reserviert war. Oberschwester Nancy war die Angelegenheit mehr als suspekt, denn keine der Frauen stand knapp vor der Entbindung. Drei von ihnen klagten darüber, dass sie Blutungen hatten und eine Frühgeburt befürchteten. Die beiden anderen waren bereits über vierzig und wahrscheinlich nur hysterisch, wenn nicht gar scheinschwanger. Um alle diese Fälle kümmerte sich der Zwerg persönlich. Er zog nur zwei Krankenschwestern hinzu, die er selbst mitgebracht hatte. Das kränkte Nancy, die immerhin schon seit fünfzehn Jahren in Professor Marlowes Diensten stand. Da er diesem Dr. Wright – den
Nancy bei sich nur als Zwerg titulierte – aber alle Vollmachten gegeben hatte, konnte sie gegen diese Diskriminierung nichts unternehmen. Aber es war nicht nur gekränkter Stolz, der sie den Zwerg hassen und auch fürchten ließ. Er hatte es innerhalb einer einzigen Nacht geschafft, die ganze Station derart zu verändern, das sie ihr fremd geworden war. Die seit fünfzehn Jahren vertraute Umgebung erschien ihr auf einmal so eigenartig, als sei sie zum ersten Mal hier. Zwar stand noch immer alles an seinem Platz, und wenn sie den gekachelten Gang hinunterblickte, dann schien er denselben Anblick zu bieten wie seit Jahr und Tag … Und doch – die Ausstrahlung der Dinge war eine andere. Sie waren nicht mehr steril, unpersönlich und doch vertraut. Auf einmal schienen sie mit geballter Energie geladen, schienen wie unter elektrischer Spannung zu knistern. Ja, alles war elektrisierend, selbst die Luft – unheimlich. Als Nancy in der Morgendämmerung aus der Station schleichen wollte – sie schlich sich tatsächlich wie ein Dieb durch den Korridor –, um ihre Unterkunft im Schwesternhaus aufzusuchen, da ging plötzlich die Tür zu Professor Marlowes Büro auf. Der Zwerg stand darin. Sein Kopf reichte nicht einmal bis zur Klinke. »Oberschwester!« Sie zuckte beim Klang seiner quakenden Stimme zusammen. Am liebsten wäre sie davongerannt. Aber aus irgendeinem Grund hatte sie nicht den Mut dazu. Sie wäre sich auch lächerlich vorgekommen. Der Zwerg machte einen Schritt zur Seite und wies einladend ins Büro. Als Nancy es betrat, sah sie in Professor Marlowes Ohrensessel eine fremde Frau in einer Schwesterntracht sitzen. »Das ist Schwester Margarita«, erklärte der Zwerg. »Sie hat von nun an die Aufsicht über alle unsere Patienten und Patientinnen – bis auf eine. Coco Zamis wird weiterhin von Ihnen betreut, Oberschwester. Bei Ihnen ist sie am besten aufgehoben.« »Tag, mein Kind«, sagte die fremde Frau in der Schwesterntracht. Sie war von zauberhafter Schönheit. Sie wirkte erhaben, als stünde sie über allen Dingen – über allen! Sie hatte etwas Abstoßendes und doch Faszinierendes an sich. Sie war überirdisch und unnahbar –
und doch schien sie alles magnetisch an sich zu ziehen. Hinter Nancy fiel die Tür ins Schloss. »Sie werden weiterhin Ihren Dienst versehen wie bisher – als sei überhaupt nichts Außergewöhnliches vorgefallen, Nancy, mein Kind«, sagte ›Schwester Margarita‹, die alles andere als eine Krankenschwester war. »Seien Sie doch nicht so ängstlich! Sie brauchen nur zu tun, was wir von Ihnen verlangen. Dann wird Ihnen nichts geschehen. Und keine Angst – Sie werden tun, was ich will.« Plötzlich veränderte sich der Gesichtsausdruck der Fremden. Ohne den Blick von Nancy zu lassen, sagte sie an den Zwerg gewandt: »Wie gefällt sie dir, Basil?« Zum Glück für Nancy ließ ein gnädiges Schicksal sie alles vergessen, was danach geschah.
Frank Gilmore hörte manchmal nachts das Kreischen der Räder, und dann war ihm, als spürte er wieder den Stoß, den ihm die Kühlerhaube des Rolls-Royce versetzt hatte. Er litt nur unter diesen Albträumen. Körperliche Schmerzen hatte er keine. Warum war er dann verschnürt wie ein Paket, einbandagiert wie eine Mumie? Er konnte durch schmale Augenschlitze sehen. Und was er gesehen hatte, versetzte ihn in Panik: ein Krankenzimmer, das nach Lysoform stank. Unter der weißen Decke ragten seine beiden Gipsbeine hervor. … Gummi rieb mit infernalischem Geräusch über den Asphalt, etwas wie Hammer und Amboss zugleich traf ihn, schleuderte ihn fort … »Schwester!« »Nur ruhig, Frank!«, sagte eine vertraute Stimme. »Es ist ja alles in Ordnung. Du bist in guter Obhut, Frank.« »Schwester …« Er öffnete die Augen, aber er sah seine Umgebung nur noch verschwommen. Er sog die Luft durch die Nase ein. Es roch nun nicht mehr nach Lysoform, sondern mehr nach Schwefel und verbranntem Ozon. »Ich bin Schwester Margarita«, flüsterte ihm die vertraute Stimme
zu. Vor seinen Augen tanzte ein helles Oval, festigte seine Formen und Umrisse. Ein Mund, eine Nase und Augen bildeten sich. Der Mund lächelte seltsam, und die Augen sprühten Feuer. Und er erkannte das Gesicht. Es war das der Voisin. Er schnellte in seinem Bett hoch – und das verursachte ihm überhaupt keine Mühe. Seine Glieder waren nur etwas schwach, und seine Muskeln waren kraftlos – aber er hatte den Eindruck, völlig unverletzt zu sein. Eine Hand drückte ihn sanft, aber bestimmt auf das Kissen zurück. »Du hast mich erkannt, Frank? Dann ist alles in Ordnung. Dir fällt eine wichtige Aufgabe zu.« Er erinnerte sich wieder der Satansmesse, an das wüste Treiben der Besessenen – und an die Beschwörungen, die sie alle geraunt und geschrien und gebrüllt hatten. »Wo bin ich?« »In der Webber-Klinik. Und dir geht es gut.« »Warum bin ich dann so vermummt?« »Tarnung ist alles, Frank.« »Was soll ich hier?« »Erinnere dich, Frank, was wir vereinbart haben. Was soll in der Webber-Klinik geschehen?« Ein Krächzen kam über seine Lippen. Und dann murmelte er kaum hörbar: »Das Kind – hier wird das Kind geboren.« »Sehr richtig, Frank. Wir warten hier auf die Geburt des Kindes.« Eine furchtbare Ahnung stieg in ihm auf. Und panische Angst bemächtigte sich seiner. »Bin ich derjenige, der …« »Nein, Frank. Du bist nicht der Auserwählte«, sagte die Voisin. »Aber deine Aufgabe ist nicht minder wichtig. Du bist dazu ausersehen, den zweiten magischen Kreis zu schließen. Sieh nur, ich habe dir Blumen gebracht.« Er wandte den Kopf und zuckte zurück. Dort stand eine Vase – mit Unkraut. Disteln mit garstigen Blüten, Blätter von Nachtschattengewächsen. »Atme ihren Duft ein, Frank«, beschwor ihn die Hexe. »Er macht dich stark für deine Aufgabe. Blicke in die Blüten, tief in sie hinein … Was siehst du?«
Frank Gilmore gehorchte. Plötzlich verschwammen die hässlichen Blüten. Neue Muster bildeten sich. Und dann war ihm, als blicke er in einen Kristall, in dem sich Geschehnisse reflektierten, die an einem anderen Ort abrollten. Ein Mann mit einem Schnurrbart kristallisierte sich heraus. Er war groß, stattlich, wenngleich etwas nachlässig gekleidet. Und neben ihm eine Frau. Sie trug ein Cape, das wohl ihre Körperfülle etwas kaschieren sollte. Sie war schwanger. Beide folgten, sich an den Händen haltend, einer Krankenschwester, die sie durch die Korridore eines Hospitals führte. »Sieh dir diesen Mann genau an, Frank!« Die beschwörende Stimme der Voisin drang in seinen Geist. »Er heißt Dorian Hunter! Du wirst ihm begegnen, musst sein Mitleid erregen … Mache dich an ihn heran, klammere dich wie hilfsbedürftig an ihn – fest, ganz, ganz fest … Du fällst und suchst bei ihm Halt …« »Und die Frau?« »Um sie brauchst du dich jetzt noch nicht zu kümmern. Konzentriere dich auf Dorian Hunter … Ich lasse dich jetzt wieder allein, Frank. Denke an deine Aufgabe! Denke daran, dass du deiner Voisin zu großem Dank verpflichtet bist …« Frank versuchte sich von dem Bann loszureißen, den die Blüten des Unkrauts auf ihn ausübten. Endlich gelang es ihm. Er war noch immer ganz schwindlig und sank ins Bett zurück. Ich muss aufstehen, sagte er sich. Und er warf die Decke zurück … schwang die beiden Gipsbeine aus dem Bett. Er hätte am liebsten laut und hysterisch aufgelacht. Seine Beine waren vollkommen gesund. Und dennoch steckten sie bis zu den Knien im Gipsverband. Er konnte mit ihnen fast mühelos gehen. Aber eben nur fast, weil der Gips sie steif machte. Es war eigentlich kein Gehen, sondern mehr ein Stelzen, mit dem er das Krankenzimmer durchquerte. Er erreichte die Tür. Draußen auf dem Korridor wurden Stimmen laut. Frank riss die Tür auf und stolperte hinaus. Da war der Mann mit der Schwangeren. In ihrer Begleitung eine Krankenschwester. »Mein Gott, Mr. Gilmore.«
Ihre Worte verursachten ihm Schmerzen. Wenn man den Teufel beschworen hatte, dann tat es einem weh, jemanden den Gegenspieler des Höllenfürsten anrufen zu hören. Frank taumelte quer durch den Korridor. »Wasser!«, krächzte er. Er stützte sich an die gegenüberliegende Wand. Glitt an ihr herab. Der Boden fiel langsam wie in Zeitlupe auf ihn zu. »Ich dachte, Miss Zamis hat diesen Trakt für sich allein«, sagte Dorian. »Mr. Parker hat angeordnet, dass dieser Mann hier untergebracht wird«, erklärte die Krankenschwester. Frank Gilmore fühlte sich von starken Armen gepackt, bevor er auf dem Boden landete. »Mr. Parker sagte, er hätte Mr. Gilmore überfahren …« »Ja, er hat mir von dem Unfall erzählt«, sagte Dorian keuchend, während er versuchte, Frank wieder auf die Beine zu bringen. »Das geht schon in Ordnung, Schwester … Helfen Sie mir, den Mann zurück in sein Bett zu bringen, Schwester Nancy. Wo ist sein Zimmer?« »Hier …« Das war die Stimme der Oberschwester, die Frank auch schon kennen gelernt hatte. »Ich weiß gar nicht, wie er sein Bett verlassen konnte. Aber Sie können sicher sein, Mr. Hunter, ich werde Schwester Margarita zur Rede stellen.« »Sparen Sie sich Ihre Entschuldigungen!« Franks Hände tasteten suchend über den Körper des Mannes, der ihn stützte. Wie zufällig glitt seine bandagierte Hand in seine Manteltasche. Er fühlte kaltes Metall durch den Verband und schloss seine Finger darum. »Hier hinein, bitte, Mr. Hunter …« Frank fühlte sich in waagrechter Lage gebracht. Seine flache metallene Beute hatte er bereits unter dem Verband versteckt. »Wie fühlen Sie sich?«, fragte Dorian. »Besser – viel besser«, murmelte Frank mit einem Seufzer der Erleichterung. »Nur etwas trocken – im Mund. Ich habe Durst …« »Schwester Nancy wird sich um Sie kümmern.«
»Aber ich soll Sie doch durch die Geburtsstation führen …« »Nicht nötig. Wir haben genug gesehen. Es ist alles zu unserer vollsten Zufriedenheit. Es bleibt dabei – Miss Zamis kommt am siebenundzwanzigsten Oktober in die Klinik …« Frank sah durch die schmalen Augenschlitze die Schwangere in der Tür. Sie wirkte irgendwie verloren … Und das war sie wohl auch. Der Mann ging. Schwester Nancy brachte Frank ein Glas Wasser. Er trank das kühle Nass gierig. Endlich war er wieder allein. Er holte seine Beute unter dem Verband hervor und betrachtete sie etwas enttäuscht. Es war nur ein Feuerzeug. Aus Silber. Er ließ den Deckel aufschnappen. Auf der Innenseite stand eingraviert: Für Rian von Lilian.
»Hast du den Blumenstrauß neben dem Bett des Patienten gesehen?«, fragte Dorian, als er für Coco den Beifahrersitz des MiniCooper öffnete. »Von wegen Blumen!«, antwortete Coco, nachdem er um den Wagen herumgegangen war und hinter dem Lenkrad Platz genommen hatte. »Eben«, meinte Dorian und suchte in seinen Taschen nach seinem Feuerzeug. Er war sicher, es eingesteckt zu haben, konnte es aber nicht finden. »Wer stellt einem Kranken schon Unkraut ans Bett! Das gefällt mir nicht.« »Mir hat noch einiges andere stutzig gemacht«, erwiderte Coco gleichmütig. Schließlich startete Dorian den Wagen und fuhr los. Er hatte die Suche nach seinem Feuerzeug aufgegeben. Coco fuhr nachdenklich fort: »War es Zufall, dass Professor Marlowe plötzlich fort musste? Und warum hat sich uns sein Stellvertreter nicht gezeigt? Etwa, weil er etwas vor uns zu verbergen hat?« »Jeff hat damit bestimmt nichts zu tun«, sagte Dorian. Er hielt den Mini beim Portierhäuschen an der Ausfahrt an und reichte dem Torwächter den Passierschein. Der Schlagbalken wurde geöffnet, und Dorian fuhr hinaus. »Natürlich hat Jeff von all dem keine Ahnung«, stimmte Coco zu.
Dorian blickte sie von der Seite an. »Wenn du ein schlechtes Gefühl hast, dann disponieren wir einfach um. Dann gehst du eben einfach in ein anderes Hospital, ohne dich in der Webber-Klinik abzumelden.« »Und du meinst, dieses Täuschungsmanöver würde nicht entdeckt werden?«, fragte sie mit leichtem Spott. »Wenn meine Befürchtung stimmt und Olivaro dahintersteckt, dann hat das alles keinen Sinn.« »Du resignierst doch nicht?« Dorian ergriff ihre Hand, die sie kraftlos im Schoß liegen hatte. »Nein.« Sie lächelte ihm tapfer zu. »Ich meine nur, dass wir unseren ursprünglichen Plan nicht ändern sollten. Wir müssen Olivaro in Sicherheit wiegen. Deshalb werde ich in die Webber-Klinik gehen. Er – oder seine Handlanger – sollen glauben, dass wir keinen Verdacht geschöpft haben.« »Aber in der Webber-Klinik bist du in größter Gefahr!« »Mir geht es in erster Linie um das Kind. An ihm ist Olivaro hauptsächlich interessiert. Aber er wird es nicht bekommen. Dafür sorge ich.« Dorian schwieg eine Weile und konzentrierte sich auf den Straßenverkehr. Dann sagte er: »Coco, ich werde das Gefühl nicht los, dass du mir etwas verschweigst.« »Sei kein Narr, Liebling«, erwiderte sie, aber es klang nicht ganz aufrichtig. »Ich halte mich an unseren Plan, wie wir ihn gemeinsam besprochen haben. Und ich bin sicher, dass nichts schief gehen kann, wenn ich mich zur verabredeten Zeit in der Webber-Klinik einfinde. Und davon hängt alles ab. Ich muss in die Webber-Klinik. Bitte, jetzt kein Wort mehr darüber.« Eine Ampel zeigte Rot. Dorian bremste etwas zu abrupt, so dass Cocos Oberkörper nach vorn geschleudert wurde. Er tätschelte ihre Hand. Er wusste, was Coco durchmachte. Selbst wenn sie sich scheinbar so unbefangen unterhielten, war sie ständig angespannt. Sie musste auf der Hut sein, dass ihr Gespräch nicht mittels schwarzer Magie belauscht wurde. Und dieses ständige Absichern und Sondieren aller möglichen Ausstrahlungen – das kostete Kraft. Coco ließ sich müde gegen die Rückenlehne sinken. Sie lauschte auf die
Gedanken ihres Kindes. Doch sie schwiegen. Das Kind in ihrem Leib schien zu schlafen. Coco hörte nur seine regelmäßigen Herztöne, spürte das nervöse Zucken seiner Gliedmaßen. Wenn dem Kind etwas zustoßen würde, wollte sie nicht mehr weiterleben. Das schien Olivaro zu wissen, und darauf schien er seinen teuflischen Plan auszurichten. Das Kind musste gesund zur Welt kommen! Und Coco wollte alles tun, um seine Zukunft zu sichern. Das konnte sie aber nur, wenn sie den Geburtstermin vorverlegte. Das kleine hilflose Wesen durfte den Schutz ihres Körpers nicht bis zum ersten Vollmond im November – dem vorbestimmten Geburtsdatum – genießen, sondern musste früher geboren werden. Coco hatte es bereits beschlossen. Nun musste sie das Kind nur noch darauf vorbereiten. Sie schreckte aus ihrem Halbschlaf hoch, als sie die einförmigen Reihenhäuser rechts und links der Straße erblickte. »Was suchst du in der Abraham Road?« Er fuhr den Mini an den Bordstein und parkte ein. »Wir haben verabredet, dass wir gemeinsam zu Lilian gehen und uns mit ihr aussprechen. Hast du das vergessen? Oder fühlst du dich jetzt nicht dazu in der Lage?« Coco nickte müde. »Doch, doch. Es liegt mir sehr viel daran, mit deiner Frau zu sprechen. Ich bin sicher, dass wir uns besser verstehen werden als du und Marvin. Ich muss mit ihr reden. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich dadurch großes Unheil verhindern kann …« Sie stiegen aus und gingen nebeneinander zum Reihenhaus, in dem Dorian so viele Jahre mit seiner Frau Lilian gelebt hatte. Aber seit damals schienen Jahrhunderte vergangen zu sein. Und in gewisser Weise war das auch der Fall. Dorian hatte inzwischen seine Erinnerung zurückerhalten. Die Erinnerung daran, dass er in früheren Jahrhunderten schon viele Leben gelebt hatte – und dass er in jedem Leben einen aussichtslosen Kampf gegen die Dämonen dieser Welt geführt hatte. Nun setzte er diesen Kampf als Dorian Hunter fort. Das war der Grund, warum er mit Lilian nicht mehr glücklich sein konnte.
Aber es war besser so. Er zog dieses Leben in ständiger Furcht und Anspannung der heilen Welt und dem scheinheiligen Glück an Lilians Seite vor. Sie war der Belastung, die das Leben an der Seite eines Dämonenkillers mit sich brachte, einfach nicht gewachsen. Coco dagegen kannte als Hexe nur zu gut die Macht des Bösen … Dorian klingelte. Nichts rührte sich. Schließlich holte er den Schlüssel hervor. Es war ihm peinlich, unangemeldet in sein eigenes Haus einzudringen. Wenn Cohen hier war … Dorian stieß die Tür auf und ließ Coco den Vortritt. »Es ist niemand da«, stellte sie fest. Und Dorian wusste, dass sie sich nicht täuschte. Er ging an ihr vorbei, durchquerte die Diele und ging geradewegs ins Wohnzimmer. Dort lag ein Kuvert. Darauf stand in Lilians braver, konservativer Handschrift: Für Dorian. Er riss den Briefumschlag hastig auf und entfaltete den mit wenigen Zeilen beschriebenen Papierbogen. Ohne hinzusehen sagte Coco: »Wir sind zu spät gekommen. Stimmt's?« Dorian nickte, als er fertig gelesen hatte. »Ich weiß zwar nicht, wofür es zu spät ist … Aber Lilian ist mit Marvin durchgebrannt.« Er zerknüllte den Brief und schlug die Faust auf den Tisch. »Es war alles ein Missverständnis. Lilian hätte das gar nicht nötig gehabt. Ich hätte sie freiwillig gehen lassen. Aber ich weiß, ich hätte ihr das deutlich machen müssen. Jetzt erst sehe ich, wie verzweifelt sie gewesen sein muss. Brennt einfach durch!« »Es war alles vorherbestimmt«, murmelte Coco. »Du hättest es auch nicht ändern können, wenn du dich mit Lilian gestern oder vor einem Monat ausgesprochen hättest. Die Weichen für diese Geschehnisse wurden schon vor Jahren von den Dämonen gestellt, als du Lilian zur Frau nahmst.« »Belaste dich nicht auch noch damit«, bat Dorian. Dann brachte er Coco aus dem Haus. Während sie zum Wagen gingen, fragte sich der Dämonenkiller besorgt, wohin Marvin und Lilian geflüchtet waren und was aus ihnen geworden war.
»Marvin, Marvin! Da biegt ein Rover von der Straße ab. Er hält vor dem Motel.« Lilian hatte die ganze Zeit über durch einen Spalt des Vorhangs gespäht. Jetzt ließ sie den Vorhang los, rannte durchs Zimmer und schaltete die Beleuchtung aus. Cohen sprang vom Bett und kam zum Fenster. Er blickte ins Freie. Draußen war es bereits dunkel. Die Scheinwerfer eines Wagens durchschnitten die Finsternis und beleuchteten das Verwaltungsgebäude des Flamingo Motels. Es war tatsächlich ein Rover. Aber der Mann, der ausstieg, war ein mickriges Männchen mit Glatze. In seiner Begleitung war eine aufgedonnerte Blondine. »Du machst mich noch verrückt, Lil«, sagte Cohen seufzend und griff nach einer Bierdose. »Du siehst überall Gespenster.« »Was soll ich denn tun?«, fragte sie weinerlich. Ihre Hände, die mit dem feuchten Taschentuch spielten, presste sie gegen die Brust. »Ich habe solche Angst, dass Dorian uns hier finden könnte.« »Unsinn.« »Aber ich bin sicher, dass er uns beobachten lässt«, sagte sie. »Er wartet doch seit Wochen nur auf eine solche Gelegenheit. Er sucht nach einem Scheidungsgrund.« Cohen ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Er sah in der Dunkelheit, dass ihre großen Augen ängstlich zur Tür schielten. »Nicht, Marvin, bitte … Wenn jemand hereinkommt und uns so sieht.« »Ja, natürlich!«, rief er wütend und ließ sie los. »Es könnte ja draußen ein Spitzel mit einer Kamera lauern und einen Schnappschuss machen.« »Ist das so absurd? Du selbst hast mir erzählt, wie gemein sich Dorian dir gegenüber benommen hat.« »Aber es ist nicht seine Art, einen Detektiv für eine so schmutzige Arbeit einzuspannen.« »Dann hat er es eben selbst übernommen – und wartet nur darauf, uns zu erwischen.« Cohen seufzte. Mit Lilian war einfach nicht vernünftig zu reden. Sie sah überall Gespenster. Schon als sie in der Abraham Road in
den Wagen gestiegen war, hatte sie behauptet, dass Dorian sie aus einem Fenster des gegenüberliegenden Hauses beobachtete. Und dann hatte sie ihn in einem Wagen gesehen, der sie angeblich verfolgte. Dabei hatte Cohen gehofft, dass Lilian auf dem Lande ruhiger werden und wieder zu sich selbst zurückfinden würde. Aber sie war nur noch nervöser geworden, geradezu hysterisch. Sie litt unter Verfolgungswahn. Sie sah Dorian überall. Nun, vielleicht waren ihre Befürchtungen doch nicht so absurd. Dorian benahm sich in letzter Zeit tatsächlich etwas seltsam, ganz anders als früher. »Ich gehe Bier holen«, sagte Cohen und schlüpfte in seinen Mantel. Er wusste, dass es eine lange Nacht werden würde. Und er wollte sich für die Wache an Lilians Bett mit einigen Dosen Bier eindecken, um über die Runden zu kommen. Vielleicht würde sich später ihre Verkrampftheit lösen … »Bleib nicht lange weg, Marvin!«, bat Lilian. Er drückte sie kurz, aber zärtlich an sich und küsste sie sanft auf den Mund. Dann wandte er sich abrupt ab und eilte hinaus. Dabei vergaß er, die Tür hinter sich zu schließen. Lilian hörte seine Schritte auf dem Beton. Sie ging zur Tür und sah ihm nach, als er in Richtung Bar verschwand. Als sich Lilian ins Zimmer zurückziehen wollte, sah sie auf der anderen Seite eine Bewegung. Sie riss den Kopf herum und bemerkte gerade noch, dass eine Gestalt hinter einem Pfeiler verschwand. Ihr Herz blieb für einen Moment stehen. Sie war sicher, Dorians Gesicht erkannt zu haben. Ihre ganze Kraft und all ihren Mut zusammennehmend, wandte sie sich in die Richtung. Hinter ihr schaukelte die Bungalowtür quietschend im Luftzug. »Dorian?«, rief sie verhalten. Die Gestalt löste sich aus dem Schatten des Pfeilers, lief geduckt zu den Garagen und machte sich ganz klein. »Dorian, bitte laufe nicht davon!«, flehte Lilian bange. »Es ist so wichtig, dass ich mit dir spreche!« Sie erreichte die Auffahrt zu den Autoboxen und zuckte zusammen, als sich eines der Garagentore hob. Die Gestalt verschwand in der Garage. Lilian eilte hin und erkannte, dass es jene Garage war, in der Marvin seinen Wagen unter-
gebracht hatte. Lilian näherte sich dem dunklen Raum und versuchte, Einzelheiten darin zu erkennen. Für einen Moment spiegelte sich im Lack und Chrom des Austin das Licht der Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Wagens. Wieder bemerkte sie eine Bewegung. »Dorian – warum versteckst du dich vor mir?«, rief sie in die Dunkelheit. »Quäle mich doch nicht so!« Sie zuckte erschrocken zurück, als die Beifahrertür langsam aufschwang. Für Sekundenbruchteile sah sie eine Hand auftauchen, die etwas in ihre Richtung warf. Es fiel ihr genau vor die Füße. Sie bückte sich danach und hob es auf. Es war das silberne Feuerzeug, das sie Dorian zu ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. »Ist das alles?«, fragte sie mit Tränen in den Augen und näherte sich wieder der Garage. »Warum sprichst du nicht? Empfindest du solche Verachtung für mich, Dorian? Das ist ungerecht von dir.« Sie war jetzt schon so nahe, dass sie aus dem Innern des Wagens bereits schweres Atmen hören konnte. Aber es war zu dunkel, um irgendetwas erkennen zu können. Jetzt erreichte sie die Wagentür und blickte ins Innere. »Dorian, bitte …« In diesem Moment strichen die Scheinwerferkegel eines Wagens durch die Garage. Lilian sah die Gestalt, die auf dem Beifahrersitz kauerte. Sie kniete. Nun richtete sie sich auf. Es war gar nicht Dorian, sondern ein Zwerg mit einem Greisengesicht und unheimlichen Glotzaugen. Sein Kinn machte mahlende Bewegungen, und sein geschlossener Mund dehnte sich in die Breite, grinste satanisch. Lilian schrie erschüttert auf und prallte zurück, bis sie die Garagenwand im Rücken hatte. Der Zwerg grinste noch immer, als er mit seiner riesigen Faust, in der ein Stilett blitzte, nach ihr stieß. Und sein Kinn machte mahlende Bewegungen …
Cohen erreichte gerade den Bungalow, als er Lilians Schrei hörte. Er ließ die Bierdosen einfach fallen und rannte los. Er erreichte die offene Garagentür – und dort lag Lilian. Blutüberströmt. Tot. Mit unzähligen Stichwunden. Ihr Mörder hatte längst das Weite gesucht. Cohen bückte sich nach dem glitzernden Etwas, das sie in der Hand
hielt. Es war ein silbernes Feuerzeug. Er ließ es aufschnappen und las im Feuerschein, was dort eingraviert war: Für Rian von Lilian! Er schluchzte laut vor Schmerz, Wut und Hass und rannte zur Rezeption, um die Polizei zu verständigen. Kaum waren seine Schritte verhallt, kletterte ein Zwerg unter dem Wagen hervor, wischte die blutige Klinge seines Stiletts an Lilians Kleid ab und verschwand in der Dunkelheit.
Peter MacCallum war einer der geduldigsten Taxifahrer von London. Ihn konnte nichts so rasch aus der Ruhe bringen. Doch was ihm an diesem frühen Morgen des 26. Oktober widerfuhr, brachte ihn an den Rand der Verzweiflung. Und das Schlimmste daran war, dass er später niemandem davon erzählen konnte – weil er alles wieder vergaß. Dabei war er alles andere als ein vergesslicher Mensch. Es war etwa sechs Uhr morgens, als ein schnauzbärtiger Mann mit stechendem Blick das Taxi irgendwo südlich der Themse anhielt. In seiner Begleitung war eine Frau, die knapp vor der Entbindung zu stehen schien. Sie war schön, wirkte aber sehr geschwächt – als hätte sie viel durchgemacht. Der Mann dirigierte das Taxi zuerst kreuz und quer durch London. Dabei wandte er sich immer wieder an die Frau und fragte: »Bist du sicher, dass wir auf diesem Weg nicht beobachtet werden können?« Der Taxifahrer sah im Rückspiegel, dass die Frau nickte. Dann schien sie wieder in Trance zu verfallen. Doch gleich darauf flüsterte sie dem Mann etwas zu. Der gab dann die Anweisungen an den Taxifahrer weiter. Auf diese Weise ging es etwa eine Stunde kreuz und quer durch London. Einmal sagte der Mann: »Bist du beruhigt, Coco? Ich meine, glaubst du, dass wir einen guten Platz gefunden haben?« »Es sind reizende Leute. Ich bin sicher, dass Olivaro sie nicht ausfindig machen kann. Ich weiß jetzt auch, dass er nicht selbst Jagd auf unser Kind macht, sondern seine willenlosen Diener ausgeschickt hat. Das ist unsere Chance.«
Kurz darauf bekam die Frau einen Schwächeanfall, und der Fahrer fragte besorgt: »Sind das die Wehen? Sollten wir nicht schnellstens in ein Hospital fahren? Ich meine, wenn Ihre Frau das Kind bei mir im Wagen bekommt …« Der Taxifahrer begegnete dem stechenden Blick des Mannes im Rückspiegel und verstummte. »Wir sind in Sicherheit«, sagte die Frau, nachdem sie ihren Schwächeanfall überwunden hatte. »Du kannst dem Fahrer Bescheid sagen, dass er in die Jugendstilvilla fahren soll, Dorian.« »Baring Road«, trug Dorian dem Fahrer auf. Peter MacCallum atmete auf. Endlich hatte er ein festes Ziel vor Augen. »Bist du auch wirklich sicher, alle magischen Einflüsse abgeschüttelt zu haben, Coco?«, erkundigte sich Dorian besorgt. »Es ist vorbei«, antwortete Coco schwach. »Man kann unsere Spur nicht mehr zurückverfolgen.« Der Taxifahrer war froh, als er in die Baring Road einbog. Doch hier begann erst das eigentliche Spektakel. Der Wagen war kaum um die Ecke gefahren, als eine ältliche Dame wild gestikulierend auf die Straße gerannt kam. Keine zehn Meter hinter ihr kam Bewegung in einen Mann, der unschwer als Kriminalbeamter in Zivil zu erkennen war. »Miss Pickford!«, rief Dorian überrascht und befahl dem Taxifahrer: »Anhalten!« Peter MacCallum bildete sich etwas auf sein schnelles Reaktionsvermögen ein. Er bremste augenblicklich und sah, dass die ältere Dame – sie war um die sechzig – die hintere Wagentür aufriss und in den Wagen sprang. »Fahren Sie weiter, schnell!«, rief sie dem Fahrer zu. Peter MacCallum gehorchte. Es war vor allem seine Neugierde und der Nervenkitzel, die ihn veranlassten, den Verfolger der Alten einfach zu ignorieren. Dieser lief dem Wagen nach und hielt wild schreiend seine Polizeimarke in die Höhe. »Was hat denn das alles zu bedeuten, Miss Pickford?«, fragte Dorian. »Sie werden wegen Mordes an Ihrer Frau gesucht.« Miss Pickford
erzählte in kurzen Zügen, was sie wusste, und schloss mit der Bemerkung: »Ich traue Ihnen so manches zu, Mr. Hunter, aber das nicht. Deshalb dachte ich daran, Sie zu warnen, bevor Sie der Polizei in die Hände fallen. Sie hat das gesamte Grundstück umstellt.« »Mord?« Peter MacCallum stellten sich die Haare zu Berge. Er trat auf die Bremse. »Damit will ich nichts zu tun haben.« Dorian kümmerte sich vorerst nicht um ihn. Er wandte sich Coco zu. »Kehre du mit Miss Pickford in die Villa zurück. Ich werde versuchen, bei den Freaks von Soho unterzutauchen. Von dort melde ich mich dann. Kümmere dich nicht um mich, Coco. Ich weiß mir schon zu helfen. Denke an unser Kind. Ich werde den wahren Mörder Lilians finden.« An Miss Pickford gewand fragte er: »Wieso hält man eigentlich mich für den Mörder und nicht Cohen, der doch mit Lilian zusammen war?« »Man hat bei Ihrer Frau Ihr Feuerzeug gefunden«, antwortete Miss Pickford, während sie aus dem Wagen kletterte. Coco küsste Dorian schnell, bevor sie ihr folgte, und bat ihn: »Sei vorsichtig, Dorian. Diese Falle hat dir bestimmt Olivaro gestellt.« »He!«, rief Peter MacCallum, als er sah, dass Dorian nicht ausgestiegen war. »Verschwinden Sie, Mann! Ich will keine Scherereien mit der Polizei.« Aber statt der Aufforderung zu folgen, hielt Dorian dem Fahrer plötzlich seine gnostische Gemme vors Gesicht und ließ sie pendeln. Der Taxifahrer konnte nicht anders, als der Bewegung mit den Augen zu folgen. Und das war der Zeitpunkt, von dem an er alles vergaß, was er mit diesen Fahrgästen erlebt hatte und noch erlebte. »Bringen Sie mich nach Soho, in die Livonia Street«, befahl Dorian, nachdem er den Fahrer hypnotisiert hatte. »Sehr wohl, Sir.« Später, als Peter MacCallum seinen Wagen am Standplatz in der Nähe des Palladium abstellte und seine Kollegen ihn ausfragten, antwortete er: »Der Tag hat stinklangweilig begonnen. Seit zwei Stunden keine einzige Fuhre.« Als er dann in seine Jackentasche griff und plötzlich eine 20-Pfund-Note in der Hand hielt, konnte er dafür keine Erklärung finden.
Dorian wartete, bis der Wagen um die Ecke verschwunden war. Dann lief er in eine Nebenstraße. Er brauchte nicht zu befürchten, beobachtet und später identifiziert zu werden. Um diese frühe Stunde war in Soho nichts mehr los … und die letzten Nachtschwärmer hatten mit sich selbst genug zu tun. Dennoch blickte sich er sicherheitshalber um, bevor er in einem Hauseingang verschwand. Das Tor war verschlossen, und er drückte wahllos auf einen der Klingelknöpfe. Als sich nicht sofort etwas rührte, läutete er Sturm. Wenig später meldete sich aus der Sprechanlage eine verschlafene und kaum verständliche Stimme. Dorian antwortete ebenfalls so undeutlich. Die Haustür sprang mit einem Klicken auf. Dorian trat ein und drückte die Tür hinter sich ins Schloss. Er wandte sich der Treppe zu, die in den Keller führte. Nach zehn Stufen endete sie vor einer Tür. Bevor er anklopfen konnte, ging die Tür auf. Ein verwachsener Zwerg mit viel zu kurzen Armen und einem Buckel stand vor ihm. In seinem großporigen Gesicht zuckte es, als er Dorian erkannte. »Sie, Mr. Hunter?« Dorian ging wortlos an dem Zwerg vorbei. Er kam in eine lange Halle, die mit allerlei Gerümpel vollgestopft war. Dazwischen lagen verkrüppelte Gestalten auf Matratzen. Dorian blickte sich um. Durch die schmutzigen Kellerfenster fiel diffuses Licht. Er konnte kaum etwas erkennen. »Ist Wilbur Smart hier?«, fragte er den verwachsenen Zwerg, der an seine Seite gewatschelt kam. »Nein, Mr. Hunter«, antwortete der Zwerg und kicherte. »Wilbur ist sich schon längst zu fein für dieses Loch …« »Ich weiß, dass das nicht sein Hauptquartier ist«, unterbrach Dorian ihn unwillig. »Ich bin jedoch hierher gekommen, weil ich für eine Weile untertauchen will. Man sucht mich wegen Mordes.« »Haben Sie wieder mal einen Dämon gekillt?«, fragte der verwachsene Zwerg ängstlich. »Sind sie deshalb hinter Ihnen her?« »Keine Sorge, von der Schwarzen Familie droht euch keine Gefahr. Ich werde von der Polizei gesucht.« Der Gnom atmete auf. »Wenn es nur das ist …«
»Ich stecke dennoch in der Klemme. Wilbur muss mir helfen. Ich möchte mich mit ihm treffen.« Inzwischen waren die anderen Freaks durch die Geräusche geweckt worden. Es waren ihrer vier, die sich von ihren Lagern erhoben. Einer hatte keine Beine und ging auf den Händen. Ein anderer hatte verkrüppelte Gelenke, so dass er sich nur mit wiegendem Körper und seitwärts bewegen konnte. Der Dritte trug eine Gesichtsmaske, wahrscheinlich deshalb, weil er selbst für seine Leidensgenossen einen zu schrecklichen Anblick bot, und der vierte Freak hatte eine gelbliche Haut, die rötlich gefleckt war. Zudem schien er nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Als er sich streckte, krachte es, und Dorian fürchtete, er würde sich die Knochen brechen. Die Freaks hatten keine Scheu vor ihm. Obwohl er keinen von ihnen persönlich kannte, wussten sie, dass er ihr Freund war. Sie waren durchwegs ehemalige Dämonen, die aus der Schwarzen Familie ausgestoßen und mit körperlichen Makeln bestraft worden waren, weil sie irgendwann einmal allzu menschliche Regungen gezeigt hatten. Entweder hatten sie Skrupel gehabt, eine abscheuliche Tat zu begehen, oder sie hatten Mitleid mit einem ihrer Opfer gehabt. Diese Freaks waren nicht nur Ausgestoßene der Schwarzen Familie, sie waren auch von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Dorian aber wusste längst, dass ihr ungewöhnliches und oftmals abstoßendes Äußeres nichts zu bedeuten hatte. Er hatte in ihnen wahre Freunde gefunden, die ihm schon oft wertvolle Dienste geleistet hatten. »Wenn es Ihnen lieber ist, dann lassen wir Sie hier allein, Mr. Hunter«, sagte der Knochenmensch mit der gefleckten Haut. »Ihr stört mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich könnte etwas Gesellschaft brauchen – Schlaf aber noch dringender. Ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir.« »Was sollen wir Wilbur ausrichten, Mr. Hunter?«, erkundigte sich der verwachsene Zwerg. »Ich möchte ihn gegen Abend sehen. Einzelheiten werde ich dann selbst mit ihm besprechen. Aber ihr könntet euch inzwischen ein wenig umhören. Irgendjemand hat meine Frau umgebracht und will
es mir in die Schuhe schieben. Es könnte Marvin Cohen gewesen sein – aber selbst in diesem Fall ist nicht ausgeschlossen, dass schwarze Magie dahintersteckt. Was passiert ist, weiß ich nicht. Aber ihr werdet das leicht herausfinden können. Jedenfalls möchte ich erfahren, wer mir das eingebrockt haben könnte. Aber, was immer ihr auch herausfindet, lasst die Finger von der Webber-Klinik. Wenn man dort Verdacht schöpft, könnte das fatale Folgen haben. So, und jetzt möchte ich nur noch schlafen.« Die Freaks zogen sich unaufgefordert zurück, als sich Dorian aus einigen unbenutzten Matratzen ein Lager herrichtete. Er wusste, dass er beruhigt einschlafen konnte, denn sie würden Wache halten und ihn vor allen Gefahren rechtzeitig warnen. Dabei glaubte Dorian gar nicht, dass seine Sicherheit bedroht war. Die Polizei würde ihn hier ohnehin nicht finden. Und die Dämonen hatten mit diesem Manöver wahrscheinlich nur bezweckt, ihn von Coco zu trennen. Sie wollten, dass jeder in einem anderen magischen Kreis gefangen wurde, und konnten es sich erlauben, darauf zu warten, bis sich ihr Schicksal von selbst erfüllte.
Nancy Breen hatte schreckliche Angst vor der Wahrheit. Und doch wollte sie sie herausfinden. Sie wollte den Dingen auf den Grund gehen, die auf der Geburtsstation passierten, seit Dr. Wright – dieser schreckliche Zwerg – die Vertretung von Professor Marlowe übernommen hatte. Und sie wollte herausfinden, was mit ihr selbst passiert war. Sie wusste, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Was war in jenem Morgengrauen mit ihr geschehen, als der Zwerg sie ins Büro gerufen und sie zum ersten Mal ›Schwester‹ Margarita gesehen hatte? Warum hatte sie mitgespielt, als der Zwerg von ihr verlangte, dass man Miss Zamis nichts von den anderen Patientinnen sagen sollte, die außer ihr auf dieser Station lagen? Diese Patientinnen waren Nancy unheimlich. So unheimlich wie ›Schwester‹ Margarita und ›Dr.‹ Wright. So sicher sie nun war, dass diese fünf Patientinnen alles andere denn schwanger waren, so bestimmt wusste sie auch,
dass der Zwerg kein Arzt und Margarita keine Krankenschwester war. Was bezweckten diese Leute? Und wie war es ihnen überhaupt gelungen, von der Kreisstation Besitz zu ergreifen? Es war ungeheuerlich und unvorstellbar. Doch andererseits war es ganz simpel. Wie es ihnen gelungen war, sie – Nancy Breen – relativ leicht in ihre Gewalt zu bekommen, so hatten sie sich hier eingenistet. Aber Nancy war entschlossen, sich nicht widerstandslos in ihr Schicksal zu fügen. Sie hatte schon mit dem Gedanken gespielt, die Polizei zu verständigen. Aber was hätte sie den Beamten melden sollen? Sie hatte nur ganz nebulöse Vorstellungen über eine geheimnisvolle Verschwörung. Sie konnte nicht einmal triftige Verdachtsmomente nennen, geschweige denn Beweise erbringen. Sie könnte Professor Marlowe anrufen und ihm davon berichten, wie unverhohlen Dr. Wright seine Position ausnutzte. Als Nancy sich zu diesem Schritt entschlossen hatte, fühlte sie sich plötzlich von allen beobachtet. Die fünf Patientinnen standen vor der Tür ihres Krankenzimmers und warfen ihr spöttische Blicke zu. Eine von ihnen presste plötzlich beide Hände fest gegen ihren Leib. Nancy gefror das Blut in den Adern, als sie das pfeifende Geräusch hörte und aus den Augenwinkeln sah, dass der gewölbte Leib der Frau unter dem Druck ihrer Hände zusammenschrumpfte. Nancy tat, als sehe und höre sie nichts, und ging weiter. Hinter ihr tuschelten und kicherten die fünf Patientinnen. Wenn sie noch einen Beweis benötigt hätte, dass sie nur scheinschwanger waren – jetzt hatte sie ihn. Nancy hatte die Tür zu ihrem Zimmer schon fast erreicht, als sie plötzlich Geräusche aus dem Krankenzimmer vernahm, in dem der vermummte Mr. Gilmore lag. Sie hörte ein lüsternes Kichern – und glaubte Schwester Margaritas Stimme zu erkennen. Dann hörte sie Dr. Wrights quakende Stimme ganz deutlich sagen: »Oh, Voisin, lass uns nicht in den Keller gehen … Ich will es gar nicht lernen. Ich bin kein Bauchaufschneider … Lass ihm seine Ruhe, Voisin.« Doch Schwester Margarita sagte unerbittlich: »Es muss sein. Im
Keller wirst du deine Prüfung ablegen …« Die Stimmen verstummten abrupt, und Nancy war froh, als sie die Tür mit der Aufschrift Oberschwester erreicht hatte. Sie riss sie auf, stürzte in ihr Zimmer und schloss hinter sich ab. Sie setzte sich an den Schreibtisch und wartete einige Minuten, um sich zu sammeln. Dabei lauschte sie ängstlich auf die Stimmen der falschen Krankenschwester und des Zwerges. Aber es blieb still. Unheimlich still. Schnell griff sie zum Telefonhörer und wählte die Zentrale. »Verbinden Sie mich mit Birmingham«, sagte sie verstohlen in die Sprechmuschel und nannte die Nummer von Professor Marlowes Mutter. Sie musste sie noch zwei Mal wiederholen, weil die Telefonistin ihr Flüstern nicht verstand. Während Nancy darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam, ließ sie die Tür nicht aus den Augen. Einmal war ihr, als bewege sich die Klinke. Aber das mochte Einbildung sein. »Hallo?« Nancy zuckte zusammen, als die krächzende Frauenstimme aus dem Hörer ertönte. Sie kam ihr verräterisch laut vor. »Wer ist da?« »Hier ist die Webber-Klinik«, flüsterte Nancy. »Wer?« »Die Webber-Klinik.« »Ah, die Webber-Klinik. Sie müssen schon lauter sprechen, Miss, wenn ich Sie verstehen soll. Ich bin eine alte Frau, müssen Sie wissen, und mit meinem Gehör ist es nicht mehr zum Besten bestellt. Die Webber-Klinik, so so … Rufen Sie wegen meines Sohnes an? Hallo?« Nancy erstarrte. Ihre Hand wurde so kraftlos, dass ihr der Hörer beinahe entfiel. Ihr war, als lege sich eine Schlinge um ihren Hals, die langsam zugezogen wurde. Und sie hörte von fern ein spöttisches Lachen – und Margaritas Stimme sagen: »In den Keller müssen wir – in den Keller …« »Hallo, Miss! Was ist denn los?« Nancy fasste sich ein Herz und fragte: »Ist dort Mrs. Marlowe?« »Ja, natürlich. Wer denn sonst? Ist etwas mit meinem Sohn?«
»Ist er nicht bei Ihnen in Birmingham, Mrs. Marlowe?« »Er soll bei mir sein? Lächerlich. Wenn das ein Scherz …« Der Hörer entfiel Nancys Hand und fiel auf die Gabel. Hatte sie eben mit Professor Marlowes Mutter gesprochen oder war das Ganze nur ein teuflischer Trick gewesen? Nancy wählte Marlowes Privatnummer. Gleich nach dem ersten Läuten wurde abgehoben. »Hier bei Dr. Marlowe!« Nancy erkannte sofort die Stimme seiner Frau. »Ich rufe aus der Klinik an«, sagte Nancy stockend. »Es geht darum … Wir möchten wissen, wann der Herr Professor wieder zum Dienst kommt, weil …« Nancy verschlug es die Stimme. Sie hörte im Hörer das schwere Atmen von Professor Marlowes Frau. Es hörte sich an, als müsse sie um ihre Fassung ringen. Dann sprach sie endlich. »Gehe ich richtig in der Annahme, dass ich das Vergnügen mit Schwester Margarita habe? Dann hören Sie mir einmal zu. Ich weiß ganz gut über die Seitensprünge meines Mannes Bescheid. Und ich weiß auch, was es zu bedeuten hat, wenn er – so wie diesmal – in der Klinik unabkömmlich ist. Ich kümmere mich nicht darum. Aber wenn Sie billiges Flittchen glauben, mich zum Narren halten zu können, dann werden Sie mich kennen lernen. Ich verbitte mir Ihre lästigen Anrufe ein für allemal …« Die Leitung war tot. Nancy legte den Hörer nicht auf die Gabel. Einer Eingebung folgend rief sie beim Pförtner an. Sie erkundigte sich, ob Professor Marlowe an dem Tag, an dem angeblich seine Mutter gestorben war, das Klinikgebäude verlassen hatte. Es dauerte eine Weile, bis der Pförtner in seinem Buch nachgeschlagen hatte. Nancy erschien es wie eine Ewigkeit, bis er sich endlich wieder meldete. »Seltsam«, sagte er verwundert. »Da hat mein Kollege sicher Mist gebaut. Nach den Eintragungen müsste sich der Herr Professor noch auf dem Gelände der Klinik befinden …« In der folgenden Stille glaubte Nancy wieder das spöttische Lachen zu hören. Sie sprang auf, rannte zur Tür, riss sie auf und rannte in den Korridor. Etwas Ungeheuerliches war geschehen! Die Verschwörung, de-
ren Anzeichen sie seit langem bemerkt hatte, nahm immer konkretere Formen an. Jetzt konnte sie endlich die Polizei verständigen. Als sie über den Korridor lief, waren nur ihre hallenden Schritte zu hören. Es war unheimlich still auf der Geburtsstation. Niemand war zu sehen. Nancy war froh, dass sich die Verschwörer auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten. Sie stieß die Flügeltür zur Treppe auf und rannte die wenigen Stufen zum Ausgang hinunter. Die Tür war verschlossen. Nancy zerrte wie verrückt an der Klinke, aber sie bekam die Tür nicht auf. Es gab noch eine Hintertür, die aber nur über die Kellertreppe zu erreichen war und die im Souterrain lag. Wenn auch sie versperrt war, würde sie einfach ein Fenster öffnen und um Hilfe rufen. Nancy stürzte wieder die Treppe hoch, brachte das kurze Gangstück hinter sich und hastete die Kellertreppe ins Souterrain hinunter. Sie ließ sich einfach gegen die kleine Hintertür fallen, während sie die Klinke mit beiden Händen hinunterdrückte – und fiel geradezu mit der Tür ins Freie. Gerettet! Einige Atemzüge lang stand sie mit zitternden Knien da und sog die feuchte Herbstluft gierig ein. Langsam glätteten sich die Wogen ihrer Erregung wieder. Sie blickte hinter sich. Da war zwölf Stufen tiefer der Keiler. In den Keller!, pochte es in ihrem Kopf. Aus dem dunklen Viereck des Kellereinganges drang fernes Gemurmel zu ihr hinauf. »Zeige mir, wie du es machst …« »Zeige es ihm«, echote ein Chor. »Lehre mich, die Hand beim entscheidenden Schnitt zu führen wie du«, leierte eine quakende Stimme in monotonem Singsang. »Lehre ihn dein Können«, bekräftigte der Chor. Die geheimnisvollen Stimmen hatten etwas Lockendes an sich. In ihrem Kopf war plötzlich ein Rauschen. Wenn sie jetzt in den Keller ging, dann konnte sie Antwort auf alle ihre Fragen erhalten, so machten ihr die Stimmen glauben. Vielleicht fand sie sogar den Professor … Vorsichtig schlich sie die Treppe hinunter. Stufe um Stufe. Die Stimmen wurden lauter – aber gleichzeitig auch unverständlicher. Sie überwand die letzte Stufe und schlich Lautlos weiter. Als
sie den Kopf durch die Tür steckte, wurde sie plötzlich an den Haaren gepackt und nach vorn gerissen. Vermummte Gestalten wichen zur Seite, und Ruten und Dornenstöcke sausten auf sie nieder. Immer wenn sie stehen blieb, wurde sie vorwärts gestoßen. Das Spießrutenlaufen ging weiter. Endlich war die Gasse aus vermummten Gestalten zu Ende. Nancy fiel zu Boden, hinein in einen Kreis aus schwarzer Kreide, den ebenfalls schwarze Kerzen umstanden. Sie fiel auf etwas Weiches. Auf einen menschlichen Körper. Links davon kniete Margarita. Rechts stand der Zwerg – mit einem Skalpell in der Hand. Nancy wollte schreien, aber sie hatte auf einmal keine Stimme mehr. Stumm vor Grauen erhob sie sich – und dann sah sie, auf wessen Körper sie gefallen war. Seine Arme und Beine waren unnatürlich verrenkt, die Augen gebrochen, der Kopf war zur Seite abgewinkelt. Es war Professor Marlowe! »Er ist tot«, hörte sie die quakende Stimme des Zwerges sagen. »Aber auch Tote können gute Lehrmeister sein. Sein Wissen wird auf mich übergehen …« Um Nancy wurde es schwarz. Sie fiel in eine bodenlose Tiefe.
Marvin Cohen wusste sich nicht anders zu helfen, als seinen Kummer in Whiskey zu ersäufen. Und er hatte großen Kummer. Er fühlte sich hundeelend. Er hatte immer auf der Schattenseite des Lebens gestanden. Dann endlich hatte er geglaubt, sich an die Sonnenseite absetzen zu können – und da schlug das Schicksal erbarmungsloser denn je zu … Er konnte das Bild Lilians, wie sie blass und blutüberströmt, als sei sie nur Schlachtvieh, dagelegen war, nicht aus seinem Kopf verscheuchen. »Weißt du, Baby, ich habe mich immer für einen harten Burschen gehalten, und ich habe auch so gelebt«, sagte er zu der abgetakelten Schönen an der Theke einer Bar, in Soho. Er hatte ihr schon mehrere Drinks spendiert. »Na, weißt du, Mac«, krächzte sie mit ihrer vom Nikotin und Al-
kohol aufgerauten Stimme und befühlte durch den Mantel seinen Bizeps. »Du bist auch wirklich ein toller Mann.« »Ein Scheißer bin ich«, sagte er inbrünstig. »Ein armes Würstchen. Und wahrscheinlich habe ich es auch nicht anders verdient. Hör mal, Baby, mein Lebenslauf … Eine traurige Geschichte. Ich bin der Sohn eines versoffenen Dockarbeiters und einer Schlampe. Mit zehn landete ich im Erziehungsheim und kam erst mit achtzehn wieder heraus. Dort habe ich fighten gelernt. Ich musste jede Brotkrume gegen die anderen verteidigen. Und ich habe mich durchgesetzt. Die anderen haben mich fürchten gelernt, und das hat mich gezeichnet. Auch später. Alle fürchteten mich, und keiner mochte mich. Ich musste diese Rolle weiterspielen, und dann spielte ich sie nicht mehr, sondern lebte sie. Als ich zum Secret Service kam, da dachte ich: ›Na, Marvin, alter Junge, jetzt fängt ein neues Leben an‹. Aber dann war ich auch beim Geheimdienst bald nur noch der Schläger. Keiner wollte an mich ran. Dabei hätte nur jemand kommen müssen, um an meiner harten, aber dünnen Schale zu kratzen … Glaubst du mir, Baby, dass ich manchmal, im Urlaub oder zum Wochenende, hinausgefahren bin, in irgendeinen Park ging, Süßigkeiten und Spielsachen einkaufte und sie dann an Kinder verteilte? Das glaubst du nicht von mir, was? Und doch, ich schwöre es, es ist wahr. Aber …« Cohen hieb plötzlich auf die Theke und wischte mit einer ungeschickten Bewegung die Gläser von der Platte. »… dann kam irgend so ein mieser Spießer, und in seinem Schlepptau kam eine Meute von Müttern, die mit dem Finger auf mich wiesen und schrien: ›Da ist der Sittenstrolch!‹ – Sie sahen mir den harten Burschen schon von weitem an und dachten, dass ich ihre Kinder beschenke, weil ich was mit ihnen anstellen wollte … Das ist typisch für mich. Was ich auch tue, alles wird mir angekreidet … Und dann trat Lilian in mein Leben.« Er lachte brutal. »Wie blöd ich das formuliere. Aber auch das ist typisch für mich – ich falle von einem Extrem ins andere … Lilian war für mich der Inbegriff von Glück … Und sie war der einzige Mensch, der an meiner Schale kratzte. Sie liebte mich wirklich. Ja, ich weiß sehr wenig, aber, dass
sie mich liebte, das weiß ich. Und jetzt hat Hunter, dieser Schweinehund, dieser gemeine Bastard, sie gekillt. Dafür nehme ich ihn auseinander.« »Du hast großen Kummer, Mac. Komm mit mir, ich habe die richtige Medizin für dich.« »Was?« »Na, du verstehst schon.« Cohens Mund verzog sich zu einem gemeinen Grinsen. »Klar verstehe ich. Aber glaubst du, ich würde nach Lilian noch so etwas wie dich auch nur angreifen? Hau ab!« »Sei nicht albern, Mac. Bei mir vergisst du deine Lilian.« »Hau ab, habe ich gesagt!« Im nächsten Moment flog das Animiermädchen durch das Lokal. Sie riss einige Tanzpaare mit sich, bevor sie auf dem Parkett landete. Cohen hätte sich auf sie gestürzt, wenn nicht plötzlich drei Männer über ihm gewesen wären, um ihn zu bändigen. Sie beförderten ihn kurzerhand an die frische Luft. Nachdem sich Cohen soweit erholt hatte, dass er wieder auf den Beinen stehen konnte, suchte er das nächste Lokal auf … Irgendwann stand er auf einmal in der Baring Road vor dem schmiedeeisernen Tor mit den Dämonenbannern. Er ließ eine Schimpftirade über Dorian Hunter vom Stapel und rüttelte so lange am Tor, bis es den Kriminalbeamten in ihren Verstecken zuviel wurde und sie ihn zur Raison brachten. Er schlief auf einer Wachstube seinen Rausch aus. Dann setzte er seine Tour durch Soho fort – von dem Gedanken beseelt, Dorian Hunter zu finden, der seiner Meinung nach Lilian auf dem Gewissen hatte und ihm, Cohen, damit die letzte Chance genommen hatte. Eine zweite Chance würde er nicht mehr erhalten. Aber diesmal betrank sich Cohen nicht sinnlos. Er ging methodischer vor. Zuerst rief er in der Jugendstilvilla an, gab sich ganz unschuldig und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge. Aber Sullivan, mit dem er sprach, konnte oder wollte ihm nicht sagen, wo Dorian sich versteckt hielt. Cohen aber wusste, dass Dorian nicht allzu viele Möglichkeiten hatte, um unterzutauchen. Entweder er war be-
reits außer Landes – was jedoch unwahrscheinlich war, denn er wollte sicher in der Nähe sein, wenn Coco ihr Kind bekam. Oder aber er hatte bei den Freaks von London Unterschlupf gesucht. Dort war er vor den Dämonen und der Polizei nahezu sicher. Aber nicht vor ihm! Hier hakte Cohen ein. Er durchstreifte stundenlang Soho und suchte alle Lokale auf, in denen die Freaks verkehrten. Aber es war, als sei ihm ein Herold vorausgeeilt, der sein Kommen ankündigte. Jedenfalls waren die Freaks wie vom Erdboden verschwunden. Einmal entdeckte er einen von ihnen in der Menge. Aber der Freak entwischte ihm. Cohen suchte auch einige Verstecke der Freaks auf, die ihm bekannt waren. Aber auch sie waren vor seinem Eintreffen geräumt worden. In ihr Hauptquartier wagte er sich nicht, weil sie dort zu stark waren. Sie hätten ihn schnell überwältigt, so dass er keine Gelegenheit gehabt hätte, auch nur den Mund aufzutun. Wer wusste schon, welche Lügen Dorian ihnen über ihn erzählt hatte? Und da er die Freaks nie mit Samthandschuhen angefasst hatte, glaubten sie Dorian mehr als ihm. Deshalb mietete sich Cohen in einem Stundenhotel ein. Er nahm sogar eine Frau mit aufs Zimmer und legte sich auf die Lauer. Da ihm die Frau mit der Zeit aber lästig wurde, fesselte und knebelte er sie einfach. Dann konnte er seine Position am Fenster, von wo aus er die Straße beobachtete, wieder ungestört einnehmen. Und seine Geduld wurde belohnt: Plötzlich entdeckte er unter den Passanten einen der ihm bekannten Freaks. Er schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen und hatte eine gefleckte Haut. Er verkaufte Lose, und manche Leute waren abergläubisch genug zu glauben, sein exotisches Aussehen würde Glück bringen. Er war der geschickteste Losverkäufer, den Cohen kannte. Cohen kannte sogar seinen Namen – Teddy Sword. Und er wusste auch über seine Achillesferse Bescheid. Cohen machte sich nicht erst die Mühe, in seinen Mantel zu schlüpfen, sondern rannte so, wie er war, auf die Straße hinunter. Er holte den Knochenmenschen an der nächsten Kreuzung ein. Teddys hellere Hautflecken verfärbten sich vor Schreck dunkel, als er Cohen
erkannte. Der machte nicht viel Umstände mit ihm, denn er wusste, dass Teddy eine Art Gummihaut besaß. Cohen zog ihm einfach die Brusthaut über den Kopf – und spannte sie ihm solange über Mund und Ohren, bis der Freak kurz vor dem Ersticken war und bewusstlos zusammenklappte. So brachte er ihn auf sein Zimmer. Dem Nachtportier hinter der Rezeption sagte er, dass der Freak ein Freund von ihm sei, um den er sich kümmern wollte. Als der Freak im Hotelzimmer wieder zu sich kam, war er an Hautlappen seiner Hände und Füße ans Bettgestell gefesselt. »Warum tust du das, Cohen?«, fragte er ängstlich. »Erinnerst du dich, dass du mir einmal gesagt hast, warum man dich aus der Schwarzen Familie verstoßen hat, Teddy?«, sagte Cohen und fuhr fort: »Du hast einem sehr, sehr rachsüchtigen Dämon eine schwarze Messe vermasselt. Dieser Dämon hat sich nie damit abfinden können, dass du nur ausgestoßen worden bist. Was, glaubst du, würde er mit dir machen, wenn ich ihn anriefe?« Der Freak zerrte an seinen Fesseln. Es gelang ihm nur, sich aufzurichten, und dabei dehnte sich seine Haut bis an die Grenze der Belastbarkeit. Als ihn die Kräfte verließen, schnellte er wie an einem Gummiband aufs Bett zurück. »Das würdest du nicht tun, Cohen.« »Möchtest du es darauf ankommen lassen?« »Was hast du denn vor?«, fragte der Freak zähneklappernd. »Ich möchte mit Dorian zusammenkommen.« »Aber ich weiß nicht, wo er sich aufhält«, beteuerte der Freak. »Na, dann machen wir eben eine kleine Beschwörung …« Cohen hatte sich für diesen Fall einige Reliquien beschafft. Während seiner Zusammenarbeit mit dem Dämonenkiller hatte er sich genug Kenntnisse der schwarzen Magie angeeignet, um einen Dämon beschwören zu können. Cohen hatte aber nie daran gedacht, sich auf einen Pakt mit der Schwarzen Familie einzulassen, denn aus Erfahrung wusste er, dass man dabei immer den Kürzeren zog. Doch jetzt war er dazu entschlossen – wenn auch nur, um dem Freak Angst einzujagen. Er
wusste, dass er nicht soweit zu gehen brauchte, um den Dämon wirklich hier erscheinen zu lassen. Der Knochenmensch beobachtete Cohens Vorbereitungen mit ängstlichen Blicken. Er zerrte immer wieder an seinen Fesseln, ohne sich befreien zu können. Am Ende hatte sich die Haut an seinen Fingern und Zehen so ausgedehnt, dass sie fußlange, wurmartige und runzelige Lappen bildete. Er war am Ende seiner Kräfte, als Cohen den schwarzen Kreis mit den magischen Symbolen um ihn gezogen hatte. »Es dauert nicht mehr lange, Teddy«, sagte Cohen im Plauderton. »Dann werde ich ein unvergessliches Schauspiel zu sehen bekommen.« »Du bist ein Teufel, Cohen«, sagte der Freak keuchend. »Was willst du denn von Hunter? Er ist unschuldig – und das weißt du.« »Das eben möchte ich von ihm selbst hören. Wo ist er?« Während er das fragte, schüttete er aus einer kleinen Tüte sein graues Pulver auf die Kreislinie. Wenn er dieses entzündete, würde ein magisches Feuer entfacht werden – und dann konnte er mit der Beschwörung des Dämons beginnen. Cohen ließ sein Feuerzeug aufschnappen. »Nein!«, schrie der Freak. »Tu es nicht! Hunter ist bei Wilbur Smart. Du kannst ihn dort anrufen.« Cohen stellte das Telefon zum Bett. »Du wirst ihn anrufen, Teddy«, sagte er, »und ihm auseinandersetzen, wie ernst deine Lage ist. Das wird Dorian Beine machen …«
Nachdem Sheldon Young den Tod gefunden hatte, hatte Wilbur Smart die Führung der Freaks von London übernommen. Wilbur Smart war mit 1,75 Meter durchschnittlich groß, aber sein Körper war völlig unproportioniert. Sein nur einen halben Meter großer Körper saß auf langen dünnen Beinen. Die Arme dagegen waren so kurz, dass es ihm trotz aller Verrenkungen nicht möglich war, sich am Hinterkopf zu kratzen. Sein Gesicht wurde von dem völlig haarlosen überdimensionierten Kinn beherrscht und dem dichten Ge-
sichtspelz, der auf der Höhe der Nasenflügel zu wuchern begann und nahtlos in sein Haupthaar überging. Nur rund um die Augen war er wieder kahl, so dass sie größer und eindrucksvoller wirkten. Als Dorian Hunter nachts in Wilburs Hauptquartier gebracht wurde, wartete dieser bereits mit einigen Neuigkeiten auf. »Die Polizei hat den wirklichen Mörder Ihrer Frau noch nicht gefunden, Mr. Hunter. Die Fahndung nach Ihnen läuft auf Hochtouren. Mr. Sullivans Interventionen waren ohne Erfolg. Solange Sie flüchtig sind, sind Sie der Hauptverdächtige. Haben Sie denn kein Alibi?« »Doch«, sagte Dorian. Er hatte genügend Zeugen, die bestätigen konnten, dass er zur Tatzeit meilenweit vom Flamingo Motel entfernt war: Coco, Mr. und Mrs. Hampton und deren zwei Söhne. Er und Coco waren die ganze Nacht über bei dieser Familie gewesen. Doch davon durfte niemand etwas erfahren. Der Dämonenkiller lächelte bitter. Ihm war der nicht unbegründete Verdacht gekommen, dass Lilian nur deshalb sterben musste, damit die Dämonen auf diese Weise erfahren konnten, wo Dorian gewesen war. Doch vielleicht ahnten sie nichts von seinen und Cocos Absichten und planten nur, sie voneinander zu trennen, damit Coco allein auf sich gestellt war. Wie dem auch war – Dorian war nicht so naiv, sich zu verraten. Und Coco brauchte seine Hilfe nicht mehr, denn sie hatten alle erforderlichen Vorbereitungen bereits abgeschlossen. Der Plan war bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Alles Weitere konnte Coco auch allein erledigen. Und wenn sie erst einmal in der Webber-Klinik war, würde Dorian Mittel und Wege finden, zur Geburtsstunde einzutreffen. »Das heißt – ich habe kein Alibi anzubieten«, berichtigte sich Dorian. Seine Überlegungen hatten nur Sekundenbruchteile in Anspruch genommen. »Aber wo waren Sie dann zur Tatzeit?«, bohrte Wilbur Smart weiter. »Etwa doch in der Nähe des Motels?« Dorian schüttelte den Kopf. »Darauf kommt es doch im Augenblick gar nicht an. Die Polizei bereitet mir überhaupt kein Kopfzer-
brechen. Wenn es an der Zeit ist, werde ich meine Unschuld beweisen. Aber im Augenblick geht es um andere Dinge. Ich bin sicher, dass der wahre Mörder im Kreise der Schwarzen Familie zu suchen ist. Und es ist gut möglich, dass er auch dazu bestimmt wurde, mein Kind bei der Geburt zu töten. Deshalb muss ich ihn finden.« »Die gleichen Überlegungen habe ich auch schon angestellt«, sagte Wilbur Smart. »Die schwarze Magie hat strenge Regeln und Gesetze. Nehmen wir nun an, Olivaro strebt nur ein Ziel an, nämlich die Geburt Ihres Kindes zu einem Sabbat zu gestalten, bei dem es geopfert werden soll. Dann war die Ermordung Ihrer Frau nur ein Teil des Rituals – und es werden noch weitere Menschen sterben müssen.« »Das ist mir klar. Und wenn wir herausfinden könnten, wo die Handlanger Olivaros stecken, dann könnten wir die Verschwörer unschädlich machen und zumindest weitere unschuldige Opfer retten.« »Es gibt einige Hinweise. Da ist zum Beispiel die Hexe Margarita Voisin. Sie ist keine Schwarzblütige, sondern eine normale Sterbliche, die im Sog des Teufelwahns groß und mächtig geworden ist. Sie war in letzter Zeit wieder recht aktiv, nachdem sie sich vorher für einige Zeit zurückgezogen hatte. Es ist uns nicht gelungen herauszufinden, welchem Dämon sie dient. Mir erscheint es jedoch recht bedeutungsvoll, dass sie während Olivaros Machtkampf freiwillig im Exil gelebt hat. Das könnte damit zusammenhängen, dass Olivaro keine Zeit gefunden hat, sich ihr zu widmen. Hinter der Voisin steht zudem noch eine große Anhängerschaft von Teufelsanbetern, die ihr hörig sind. Nun ist es um diesen Teufelskult nach einer Reihe von Exzessen abermals still geworden. Die Teufelsjünger, nach außen hin alles biedere Bürger, haben sich aus dem Berufsleben zurückgezogen und sind von der Bildfläche verschwunden.« »Wohin?«, fragte Dorian. Der Anführer der Freaks schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Wir kennen ihren Aufenthaltsort nicht genau. Aber Sie selbst haben uns aufgetragen, keiner Spur nachzugehen, die …« »Sind sie in der Webber-Klinik?«, fragte Dorian alarmiert.
»Es scheint so.« »Ich habe es geahnt.« Dorian zog mit einer Handbewegung einen Schlussstrich unter diese Angelegenheit. »Vergessen Sie das am besten wieder, Wilbur. Stellen Sie keine weiteren Nachforschungen mehr an. Wir können den Lauf der Dinge nicht mehr ändern.« »Dann wollen Sie nicht mehr versuchen, die Opferung weiterer Unschuldiger zu verhindern?« »Die Sache hat sich bereits zu weit entwickelt. Der Kreis um alle Beteiligten hat sich geschlossen. Olivaros Saat ist aufgegangen, und der Tod wird ernten.« Dorian hörte im Nebenzimmer das Läuten eines Telefons. Kurz darauf stürzte ein Freak durch die Tür und meldete: »Marvin Cohen dreht durch. Er hat Teddy gefangengenommen und droht, ihn an die Dämonen auszuliefern.« »Marvin?«, fragte Dorian erstaunt. »Wir haben es Ihnen bisher verschwiegen, Mr. Hunter«, sagte Wilbur Smart schuldbewusst. »Cohen ist schon die ganze Zeit hinter Ihnen her. Auch er hält Sie für den Mörder Ihrer Frau.« »Ich hätte es mir denken können«, meinte Dorian und machte sich auf den Weg ins Nebenzimmer. »Ich werde mit ihm sprechen.«
In Professor Marlowes Büro brannte nur eine einzelne schwarze Kerze. Sie stand drei Krötenlängen neben dem Telefon, um das die Hexe Voisin Symbole der schwarzen Magie malte. Daneben saß der Zwerg Basil auf der Tischkante und ließ die Beine herunterbaumeln. Sein Kinn machte unablässig mahlende Bewegungen. Seine Augen quollen wie riesige Glaskugeln hervor und drohten, aus den Höhlen zu fallen. Die Hexe Voisin ritzte um die Tischplatte einen Drudenfuß, dessen Schenkel an einigen Stellen unterbrochen war. In der Mitte des unfertigen Drudenfußes stand das Telefon. In die unterbrochenen Linien malte sie magische Zeichen. Dann hob sie den Telefonhörer ab. Der Zwerg sah ihr gebannt zu, als sie den Hörer an ihre Lippen presste und dann gegen die Sprechmuschel hauchte, als wolle sie sie beseelen.
»Magus, fahre in mich!«, rief sie dann. »Magus, gib mir die Kraft! Erhöre deine treue Voisin.« Sie beugte sich weit zurück, den Hörer hoch über dem Kopf erhoben. Plötzlich erschauerte sie. Ihr Körper zuckte konvulsivisch, als habe ein Blitz in sie eingeschlagen. Im nächsten Atemzug war alles vorüber. Die Hexe überreichte den Telefonhörer dem Zwerg, der ihn ans Ohr presste. Unzählige Stimmen drangen auf ihn ein. Er hörte Tausende von Telefongesprächen gleichzeitig mit. Das Stimmengewirr ging in ein Rauschen über, das langsam verebbte. Dann waren nur noch zwei verschiedene Stimmen zu hören. Sie wurden immer lauter, bis sie gespenstisch verzerrt durch den Raum hallten. »Marvin, bist du total übergeschnappt? Was hat die Drohung zu bedeuten, den Freak an die Dämonen auszuliefern?« »Eigentlich solltest du an Teddys Stelle sein, Dorian.« »Glaubst du wirklich, dass ich Lilian auf dem Gewissen habe? Sei doch kein solcher Narr, Marvin. Du weißt so gut wie ich, dass Lilian ein Opfer der Dämonen geworden ist. Sie wollen uns doch nur gegeneinander ausspielen.« »Möglich – dann warst du eben besessen, als du Lilian umgebracht hast. Das enthebt dich aber nicht der Verantwortung. Und wenn du für die Tat nicht gerade stehen willst, dann muss Teddy für dich büßen.« »Was verlangst du?« »Ich will mich mit dir treffen. Wenn du unschuldig bist, dann kannst du es mir ja beweisen.« »Also gut …« An dieser Stelle des Gesprächs machte die Hexe Voisin eine Bewegung. Ihre Handkante durchschnitt die Luft. Und tatsächlich war danach die Verbindung unterbrochen. Dorian und Marvin Cohen hatten keinen Kontakt mehr miteinander, sondern nur noch mit dem Telefon in Professor Marlowes Büro. Und dann begann der Zwerg zu sprechen. Zu Dorian sprach er mit Cohens Stimme, und Cohen glaubte, Dorian sprechen zu hören. »Treffen wir uns«, sagte der Zwerg zu Cohen. »Du glaubst doch nicht, dass ich mich in eine Falle locken lasse?«,
meinte Cohen höhnisch – und diese Worte wurden unzensiert an Dorian weitergeleitet. »Schlag einen Treffpunkt vor!«, bot Dorian an. Doch Cohen bekam zu hören: »Ich verspreche dir, allein zu kommen. Wie wäre es mit dem Abbruchgebäude in der Follow Street? Die Penner, die in der alten Mietskaserne unterkriechen, werden uns nicht stören.« Und Dorian bekam zu hören: »Ich wäre für die Mietskaserne in der Follow Street.« »Einverstanden«, sagten Dorian und Marvin Cohen fast gleichzeitig, doch das hörte nur der Zwerg. Er führte sein Simultangespräch fort und ließ Cohen sagen: »Ich erwarte dich dort in einer Stunde.« Und Cohen bekam zu hören: »Ich bin in einer halben Stunde bei unserem Treffpunkt, Marvin.« Dann unterbrach der Zwerg die Verbindung. Er blickte die Hexe aus seinen Glotzaugen an und begann plötzlich, schrill zu lachen. Dabei verschwand seine Hand unter seinem Sakko und kam mit dem Stilett zum Vorschein. »Eile, Basil, eile«, sagte die Hexe. »Magus will sein Blutopfer. Ich werde inzwischen die Polizei verständigen und verlangen, dass man Dorian ins Haus gehen lässt, bevor man einschreitet. Beeile dich, Basil. Gib dem Tod, was sein ist.« Marvin Cohen schaffte es, zehn Minuten früher beim Treffpunkt zu sein. Das alte Haus in der Follow Street war seit langem unbewohnt. Eingeweihte wussten jedoch, dass es immer einige Obdachlose beherbergte. Die Fenster im Erdgeschoss waren ebenso mit Brettern vernagelt wie der torlose Hauseingang. Die meisten oberen Fenster hatten keine Füllungen mehr, weil das zwielichtige Gesindel, das hier logierte, sie zu Brennholz gemacht hatte: Es gab nur einen einzigen Einstieg, soviel Cohen wusste. Das war ein Kellerfenster. Cohen hob mühelos das Eisengitter vom Fenster, kletterte hindurch und ließ sich hinuntergleiten, bis er auf einer Kiste zu stehen kam. Er langte auf den Gehsteig hinaus und schob das Gitter wieder an seinen Platz. Er lauschte. Von irgendwoher drang lautes Schnarchen an sein Ohr. Er konnte jedoch nicht sagen, aus welcher Richtung es
kam. Es war ihm auch gleichgültig: Für ihn war nur wichtig, dass Dorian noch nicht hier sein konnte, weil der Weg vom Hauptquartier der Freaks einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Cohen wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Durch die Kellerfenster fiel etwas Straßenlicht herein. Zwischen Schutthalden und Gerümpel sah er zwei in Lumpen gewickelte Gestalten. Er überlegte sich, ob er Dorian gleich hier erwarten sollte, entschied sich dann aber dagegen: Er wollte sich erst einmal umsehen und dann die günstigste Position wählen. Er verließ das Gewölbe und drang in einen Gang ein. Die rohen Ziegelwände waren feucht. Neben seinen Füßen raschelte etwas. Eine Ratte … Sie huschte quietschend davon. Cohen ging weiter. Plötzlich stieß sein Fuß gegen etwas Weiches. Als sich die Gestalt zu seinen Füßen bewegte, holte er sofort die Pistole unter seiner Achsel hervor. »Hau ab, Idiot!«, schimpfte der Penner und drehte sich grunzend auf die andere Seite. Mit der Pistole in der Hand schlich Cohen weiter. Er hätte statt der Waffe lieber eine Taschenlampe gehabt. Dorian konnte er mit bloßen Händen erledigen, aber ohne Licht konnte sich hier ein Uneingeweihter nur schlecht zurechtfinden. Wieder kreuzten Ratten seinen Weg. Cohen trat nach ihnen, doch er trat ins Leere. Er erreichte das Ende des Ganges. Vielleicht konnte er Dorian in dieser Sackgasse festnageln? Er kehrte wieder um, bis zum nächsten Quergang. »Mr. Cohen?«, raunte eine Stimme. Cohen entsicherte sofort die Pistole. »Nicht schießen«, bat der unsichtbare Sprecher. »Mr. Hunter hat mich geschickt.« »Wieso ist er nicht selbst gekommen?«, fragte Cohen und richtete die Pistole in den dunklen Gang. »Er wollte sichergehen«, sagte die Stimme aus der Dunkelheit. Ein widerliches Kichern folgte. »Er traut Ihnen nicht, Mr. Cohen. Verständlich, äh?« Cohen war sicher, dass vor ihm ein Freak war. Kein normaler Mensch hatte eine solche Stimme, die sich wie das Quaken eines Frosches anhörte.
»Zeige dich mir oder ich ballere dir eine auf den Pelz«, sagte Cohen drohend. Er hörte noch ein verhaltenes Kichern. Dann war es still. Cohen fühlte sich nicht recht wohl in seiner Haut. Wer konnte sagen, wie viele Freaks hier lauerten? Er war ein Esel gewesen, weil er an Dorians Versprechen, allein zu kommen, geglaubt hatte. Mit schussbereiter Pistole drang er vorsichtig in den Quergang ein. Er zählte die Schritte und schätzte die zurückgelegte Entfernung auf etwa sieben Meter. Der Gang endete in einem Vorhang, hinter dem ein größeres Gewölbe lag. Durch ein Fenster fiel Dämmerlicht herein, und Cohen blickte durch sie hindurch in einen grauen Hinterhof. Hier fühlte er sich schon wohler, denn er war nicht mehr so hilflos. Er blickte sich suchend um. Das Gewölbe hatte keinen anderen Ausgang. Also musste der Freak noch hier sein. Allerdings wäre es einem Zwerg möglich gewesen, durch die Gitter der Kellerfenster zu schlüpfen. Aber warum hätte er ihn herlocken sollen, wenn er dann verschwand? Cohen entdeckte insgesamt drei Bündel aus Lumpen, unter denen sich menschliche Gestalten abzeichneten. Bei einem der Penner musste es sich um den Freak handeln, den Dorian geschickt hatte. Cohen ging zu dem Ersten hin und riss die Lumpen zur Seite. Er blickte in ein aufgedunsenes Gesicht und eine Alkoholfahne schlug ihm entgegen. Das war bestimmt nicht sein Mann. Cohen durchquerte den Raum und näherte sich der zweiten Gestalt. Er griff nach einer zerlumpten Decke und riss sie fort. Aber darunter sah er nur weitere Lumpen. Er wollte sich schon abwenden, als er unter den Fetzen einen kleinen Schuh herausragen sah. Grinsend trat er mit dem Fuß den Lumpenhaufen zur Seite. Darunter kam der greisenhafte Schädel eines Zwerges zum Vorschein. Cohen bückte sich hinunter, die Pistole lässig in der Hand wiegend, und sagte: »Ja, wen haben wir denn da?« Der Zwerg war so verschreckt, dass sein Kinn mahlende Bewegungen machte. Aus seinen Glotzaugen sprach nackte Todesangst. Plötzlich veränderte sich jedoch der Ausdruck seiner Augen. Cohen sah noch die Hand, die blitzschnell unter den Lumpen hervorschoss.
Ihm entging auch nicht das metallene Schimmern des Stiletts. Aber bevor er eine Abwehrbewegung machen konnte, traf das eiskalte Metall seine Hand, die die Pistole hielt. Und dann war der Zwerg wieselflink auf den Beinen und verschwand hinter Cohens Rücken. Cohen wollte herumwirbeln. Da fuhr ihm etwas elektrisierend zwischen die Rippen. Und noch einmal. Cohen sprang auf. Das kostete ihn keine Mühe. Aber als er stand, vibrierte plötzlich sein ganzer Körper. Er sah den Zwerg wieder auftauchen und wollte nach ihm treten und schlagen. Aber seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht mehr. Und der Zwerg sprang auf ihn zu, wich zurück, tänzelte von einer Seite zur anderen. Und jedes Mal, wenn er sich Cohen näherte, spürte dieser, dass etwas in seinen Körper eindrang. Seltsamerweise bereitete das keine Schmerzen. Aber die Einstiche hatten eine andere, viel fatalere Nebenwirkung. Als werde jedes Mal ein Ventil geöffnet, aus dem seine Lebensenergie entströmte, fühlte er sich immer schwächer werden. Der Keller drehte sich um ihn. Er spürte den Aufschlag nicht, als er auf dem Boden aufprallte. Von fern quakte es: »Bald schon bald wirst du bei deiner Lilian sein.« Cohen wälzte sich auf dem Boden. Er konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen, aber eines wusste er genau: Er war gerade Lilians Mörder begegnet. Und mehr noch als die Tatsache, dass er nun sterben, hilflos verbluten würde, machte es ihn wütend, dass er Lilian nicht gerächt hatte. »Marvin, um Himmels willen, was ist geschehen?« Cohen fühlte sich emporgehoben, öffnete die Augen und erblickte vor sich Dorian. Aus der Ferne erklang Musik. »Dorian …« »Still, sage mir lieber, wer es war.« Cohen lauschte der Musik, die sich als eine Polizeisirene entpuppte. »Wer war es, Marvin?« »Lilians Mörder … Dorian!« Er klammerte sich am Mantelkragen des Dämonenkillers wie ein Ertrinkender fest. »Dorian … Ich habe
Lilian … geliebt …« Cohen war tot. Dorian ließ ihn los und stand auf. Die Polizeisirene erstarb. Gleich darauf war eine Lautsprecherstimme zu hören. »Kommen Sie heraus, Hunter. Das Gebäude ist umstellt. Sie können uns nicht entkommen.« Dorian ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste. Derjenige, der Lilian und Marvin getötet hatte, hatte auch ihn in diese Falle gelockt. Es hatte keinen Sinn, das Gebäude nach dem Mörder zu durchsuchen. Er war sicher schon längst über alle Berge. »Mein verhasster Bruder Dorian«, sagte da eine krächzende Stimme hinter seinem Rücken. Dorian wirbelte herum. Dort stand Jerome Hewitt. Der letzte seiner noch lebenden ›Brüder‹, die unter denselben Konstellationen wie er geboren waren. Die anderen hatte er alle schon getötet, weil er sie für Lilians geistige Umnachtung verantwortlich gemacht hatte. Jerome Hewitt, der von Asmodi zu einem Freak gemacht worden war und der in seinem entstellten Körper Höllenqualen litt. Jerome Hewitt, der ihm seit langem nachstellte und ihn um den Gnadenstoß anflehte. Denn nur der Tod allein konnte ihn von seinen Schmerzen erlösen. Und nur Dorian Hunter konnte ihm den Tod bringen. »Du sitzt in der Klemme, Dorian«, keuchte Hewitt und rieb sich den eiternden Rücken an der Wand. Zwischendurch stöhnte und wimmerte er. »Die Polizei erwartet dich draußen, und ich bin der Einzige, der dich von hier fortbringen könnte.« »Und als Gegenleistung erwartest du wohl, dass ich dich umbringe«, mutmaßte Dorian. »Aber lieber stelle ich mich der Polizei.« »Es muss nicht sofort sein, Dorian«, erwiderte Hewitt. Er verschwand kurz hinter dem Vorhang, und als er zurückkam, war eine seiner Schultern ganz blutig. »Irgendwann wird es sich schon ergeben, dass du dich revanchieren kannst. Komm, ich habe ein Loch durch die Feuermauer zum anderen Keller geschlagen. Das war recht mühsam, aber es hat sich gelohnt. Komm, Dorian!« Dorian ertrug kaum das Wimmern und Stöhnen dieser gequälten Kreatur. Er wollte sich außerdem nicht in Hewitts Schuld begeben.
»Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus, Hunter!«, bellte wieder die Lautsprecherstimme. Im Keller des abbruchreifen Hauses wurde es lebendig. Finstere zerlumpte Gestalten liefen fluchend und schimpfend durcheinander. »Was ist, Dorian?« »Und du stellst keine Bedingungen, wenn du mir hilfst?« Aber Hewitt gab ihm keine Antwort mehr. Er war hinter dem Vorhang verschwunden, und Dorian hörte, dass sich seine schlurfenden Schritte und sein Gestöhne entfernten. Dorian folgte ihm. Einmal stieß er gegen einen am Stock gehenden Alten, der aus einem Seitengang kam. Aber er holte Hewitt bald ein. »Hier entlang, Dorian.« Hewitt verschwand durch ein Loch in der Mauer. »Wir müssen durch die Kanalisation«, erklärte ihm Hewitt, während sie durch die Dunkelheit hasteten. »Die Polizei hat nämlich den ganzen Häuserblock umstellt.« Dorian begann sich zu fragen, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich der Polizei zu stellen. Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Warum auch? Hewitt hatte ihm geholfen, ohne irgendwelche Bedingungen zu stellen. Hewitt kletterte in einen Schacht hinunter und gelangte in ein mannshohes Abflussrohr. Bis über die Knöchel durch die Kloake watend, legten sie zweihundert Meter zurück, bis Hewitt endlich wieder einen Schacht hinaufkletterte. In der Finsternis konnte Dorian nichts sehen. Er musste sich allein an den Geräuschen orientieren. Als er einmal gegen Hewitts schwammigen Körper stieß, zuckte er angewidert zurück. Hewitt kicherte schadenfroh. Durch den senkrechten Schacht erreichten sie wieder einen Keller. »So, Dorian«, sagte Hewitt blubbernd, während er mit seinen langen tentakelartigen Armen den Schachtdeckel über die Öffnung schob. »Jetzt werden wir einmal Licht machen.« Wenig später entzündete Hewitt ein Streichholz und mit diesem eine Fackel, die er in einen Mauerriss klemmte.
»Schau dich nur um. Es wird das Letzte sein, was du in deinem Leben siehst, Dämonenkiller«, sagte Hewitt hasserfüllt. »Das hier ist mein Unterschlupf. Ich habe ihn in eine Todeskammer umgebaut. Eine Todeskammer für dich, Dorian.« Dorian erblickte zwischen Bergen von Gerümpel auch eine Art Guillotine. Hewitt musste sie selbst gebastelt haben, denn sie wirkte einfach und improvisiert. Aber Dorian zweifelte nicht daran, dass das scharfe Messer in den Führungsschienen seinen Zweck erfüllen würde. »Von hier gibt es kein Entrinnen, Dorian«, fuhr Hewitt fort. »Ich sehe, du bist beeindruckt. Ich habe mich zu diesem Schritt entschlossen, weil ich die Hoffnung aufgegeben habe, dass du mir jemals helfen wirst. Du weidest dich an meinen Schmerzen. Aber wenn ich schon nicht den Tod finden kann, dann sollst du wenigstens sterben.« »Du bluffst nur, Hewitt«, sagte Dorian ohne Überzeugung. »Ach, glaubst du?« Hewitt näherte sich Dorian drohend, so dass dieser zur Guillotine zurückweichen musste. »Dann will ich dir noch mehr verraten. Ich habe lange Zeit gehabt, um alles vorzubereiten. Es durfte nichts schief gehen, wenn ich den Plan ausführen wollte. Zuerst habe ich Lilian getötet und den Verdacht auf dich gelenkt. Und als du dich mit Cohen telefonisch in Verbindung gesetzt hast, genügte eine kleine Beschwörung, um euch in die Follow Street zu locken.« Dorian betrachtete den Freak mit den Eiterbeulen und Geschwüren ungläubig. »Du willst auch Lilian auf dem Gewissen haben?« »Ich habe sie wie Cohen massakriert«, bestätigte Jerome Hewitt mit undeutlicher Stimme. Seine Schmerzen mussten wieder so überhandgenommen haben, dass er fast um den Verstand kam. »Und jetzt, Dorian – jetzt bist du an der Reihe.« Hewitt stieß sich mit einem Aufschrei vom Boden ab und sprang nach vorn. Aber Dorian hatte den Angriff erwartet und war ausgewichen. Der Dämonenkiller hatte sich während des Gesprächs umgesehen und dabei einen Benzinkanister entdeckt. Auf diesen stürzte er sich jetzt. Der Verschluss war abgeschraubt, und als er den Ka-
nister in die Höhe hob, hörte er das Gluckern der Flüssigkeit und wusste, dass er halbvoll war. Hoffentlich enthielt er auch wirklich Benzin! Dorian dachte in diesem Moment nicht so sehr an Selbstverteidigung als an Rache für Lilian und Marvin. Als sich Hewitt erneut mit einem animalischen Schrei auf ihn stürzte, schleuderte er ihm den Benzinkanister entgegen. Er traf ihn damit voll ins Gesicht, und das Benzin ergoss sich auf Hewitt. Dadurch gewann Dorian genügend Zeit, um die Fackel an sich zu reißen. Durch den Schmerz, den ihm das Benzin auf seinen offenen Wunden bereitete, wurde Hewitt blind vor Wut. Er schien es nicht einmal zu merken, als ihn Dorian mit der Fackel traf. Augenblicklich stand der Freak lichterloh in Flammen. Und während er als lebende Fackel dastand, tat er etwas Seltsames – er begann zu lachen. Er drehte sich im Kreise, als vollführe er einen Freudentanz, und er rief triumphierend: »Ich habe dich doch überlistet, Dämonenkiller.« Da erkannte Dorian die Wahrheit, und er war erschüttert. Hewitt war gar nicht der Mörder. Er hatte das alles nur inszeniert, um von seinen Qualen zu erlöst zu werden. Er hatte sogar das Benzin bereitgestellt. Dorian wandte sich ab und flüchtete aus dem Keller. Als er ins Freie trat, fand er sich in der Dryden Street wieder. Es war bereits heller Tag. Der 27. Oktober! Es war Zeit, sich auf den Weg zur Familie Hampton machen, wo Coco wahrscheinlich bereits auf ihn wartete.
Schmerz und Glück und Wonne lagen so dicht beieinander. Und es gab so etwas wie Wonneschmerz – das Wonnegefühl, das man empfand, wenn der Schmerz abklang. Coco hatte dieses Gefühl kennen gelernt. Als sie mit dem Mini-Cooper, den Trevor Sullivan steuerte, das Tor der Webber-Klinik passierte, versuchte sie, mit ihrem Kind in Gedankenkontakt zu treten. Liebes, wie fühlst du dich?, rief sie. Frei, so frei – behütet und sicher. Und mir ist so warm!
Coco lächelte gerührt. Gleichgültig, was nun kam, Hauptsache, ihr Kind fühlte sich wohl. Es wird alles gut, Liebes, dachte sie. Glaube mir, dir wird kein Leid geschehen. Ich bringe dieses Opfer, um dein Leben zu beschützen. Nein, Mutter. Geh nicht von mir! Keine Angst, Liebes. Ich werde auch auf mich aufpassen. Coco spürte auf einmal, dass der Gedankenkontakt zu ihrem Kind abriss. Unwillkürlich griff sie sich an den Leib. Aber das war nur eine Reflexbewegung. Sie war sicher, dass ihrem Kind kaum mehr etwas geschehen konnte. Dorian und sie hatten alles Menschenmögliche getan – und mehr noch, viel, viel mehr –, um ihrem gemeinsamen Kind die besten Überlebenschancen zu geben. Nur sie selbst befand sich noch in Gefahr. Aber dieses Risiko musste sie eingehen. »Wir sind da«, sagte Sullivan, als er den Wagen vor der Geburtsstation anhielt. »Coco …« »Still, Trevor«, unterbrach sie ihn und legte ihm die Hand auf den Mund. Sie küsste ihn flüchtig auf die hellere Gesichtshälfte. »Sie dürfen jetzt nichts sagen. Beten Sie für mich! Das ist alles, was Sie für mich tun können. Aber versuchen Sie bitte nicht, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Ich muss das durchstehen.« Sie stieg aus dem Wagen. Sullivan reichte ihr die Reisetasche. Neben Coco erschien Schwester Nancy. »Willkommen, Miss Zamis!«, sagte die Oberschwester und nahm ihr die Tasche ab. »Sie sehen sehr gut aus. Kaum zu glauben, dass sie schon morgen entbinden sollen. Haben Sie Beschwerden?« »Mir geht es gut, Schwester Nancy. Und ich bin so glücklich.« Coco warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Sie hatte schon an der Ausstrahlung der Oberschwester gespürt, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Und der etwas stupide, unpersönliche Ausdruck ihrer Augen bestätigte ihren Eindruck, dass Schwester Nancy magisch beeinflusst wurde. Aber Coco ließ sich nichts anmerken. Es hing viel davon ab, dass niemand merkte, dass sie Verdacht geschöpft hatte. Coco blickte dem Mini nach, bis er hinter den kahlen Sträuchern des Parks verschwunden war. Dann wandte sie sich dem Gebäude der Geburtsklinik zu, das sich
drohend in den grauen Himmel erhob. Coco war bemüht, sich weiterhin unbekümmert zu geben. »Bringen Sie mich bitte auf mein Zimmer, Schwester Nancy!« Sie betraten das Gebäude. Es herrschte eine ungewöhnliche Stille. Der Gang, der zu den Krankenzimmern führte, war verlassen. »Bin ich die einzige Patientin?«, erkundigte sich Coco. »Ja.« Schwester Nancy lächelte falsch. »Daher können wir uns eingehend um Sie kümmern, Miss Zamis.« Plötzlich ging die Tür zum Kreissaal auf. Zwei Männer in weißen Mänteln, die ein Bett mit Rädern zwischen sich schoben, kamen heraus. Coco entging es nicht, dass sie von ihnen verstohlen beobachtet wurde. »Wer sind diese Männer?« »Hier ist Ihr Zimmer, Miss Zamis«, sagte die Oberschwester und öffnete eine Tür. Dann erst beantwortete sie Cocos Frage. »Es sind Krankenhelfer. Auch sie stehen zu Ihrer Verfügung.« »Ihr Benehmen war äußerst seltsam«, sagte Coco, als sie das große Krankenzimmer betrat, das, abgesehen davon, dass Wände und Möbel in klinischem Weiß gehalten waren, eher wie ein Luxusappartement aussah. »Finden Sie nicht auch?« Schwester Nancys Augen bekamen plötzlich einen gehetzten Ausdruck. Sie spähte kurz auf den Gang hinaus und schloss dann schnell die Tür hinter sich. »Ich habe Sie belogen, Miss Zamis«, sagte sie schuldbewusst. »Ich möchte Sie warnen. Diese beiden Männer sind von Scotland Yard – sie hoffen, dass Mr. Hunter hier auftauchen wird.« »Sie haben also von dieser Geschichte gehört?«, sagte Coco tonlos. »Alle Zeitungen sind voll davon. Sie haben sogar ein Bild von Mr. Hunter gebracht. Aber, glauben Sie mir, Miss Zamis, ich bin von der Unschuld Mr. Hunters überzeugt. Er würde so etwas nie tun.« Schwester Nancy druckste eine Weile herum, als suche sie nach den richtigen Worten. »Sie müssen Mr. Hunter warnen, Miss Zamis. Er darf unter keinen Umständen in die Klinik kommen. Die Polizisten würden ihn auf der Stelle verhaften.« Aha, daher wehte also der Wind. Die Dämonen waren wohl recht froh über die Anwesenheit der
Polizisten, denn sie hofften, dass Dorian sich dann nicht hertrauen würde. Und mit zwei Kriminalbeamten konnten sie leichter fertig werden als mit dem Dämonenkiller. »Sie müssen Mr. Hunter warnen!«, wiederholte die Oberschwester. »Ja, schon gut«, sagte Coco geistesabwesend. »Danke für die Warnung. Lassen Sie mich jetzt allein. Ich bin müde und möchte etwas schlafen.« Schwester Nancy zog sich zurück. Coco legte sich aufs Bett, legte die Hände wie schützend auf ihren Leib und schloss die Augen. Aber sie schlief nicht. Sie konzentrierte sich auf die Gedanken ihres Kindes … Diesmal jedoch gelang es ihr nicht, sie zu erreichen. Es gab zu viele störende Einflüsse. Das ganze Gebäude stand unter magischen Spannungen. Die Atmosphäre war vergiftet von der Ausstrahlung des Bösen. Coco fühlte sich beobachtet. Sie durfte sich nicht so sorglos geben, sonst würden die Dämonen Verdacht schöpfen. Olivaro war alles andere als ein Narr. Er würde in jedem Fall damit rechnen, dass Coco Schutzmaßnahmen ergriff. Und deshalb durfte sie ihn nicht enttäuschen. Coco erhob sich und öffnete ihre Reisetasche. Sie holte ein Kruzifix hervor und vertauschte es mit einem Landschaftsbild, das über ihrem Bett hing. Dann streifte sie ein silbernes Armband über ihr Handgelenk, das aus lauter kleinen Drudenfüßen bestand. Und sie hängte sich einen Rosenkranz um den Hals. Diese Reliquien hatten keine große Wirkung. Man konnte Dämonen mit ihnen nur kurze Zeit abwehren. Die Dämonen mussten sich nun sicherer als zuvor fühlen. Sie gingen davon aus, dass Coco zwar mit irgendeinem magischen Zauber rechnete, aber nicht wusste, dass die ganze Geburtsstation von Dämonensklaven besetzt war. Coco entkleidete sich vor dem Spiegel und betrachtete ihren vorgewölbten Leib. Sie konnte sich vorstellen, wie dieser Anblick die Dämonen zur Raserei brachte. Nachdem sie sich lange genug den unsichtbaren Blicken zur Schau gestellt hatte, schlüpfte sie in ihr Nachthemd, ließ die Rollläden vor den Fenstern herunter
und legte sich ins Bett. Wieder stellte sie sich schlafend und versuchte, mit ihrem Kind in Gedankenkontakt zu treten. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte die Gedanken des Kindes nicht erfassen. Es gab zu viele fremdartige Einflüsse. Es lag ein Knistern in der Luft, als käme es ständig zu elektrischen Entladungen. Ein Raunen und Wispern war zu hören, das immer stärker und eindringlicher wurde. Coco öffnete scheinbar ihren Geist für diese Einflüsse. Die Stimmen wurden immer deutlicher. Sie schienen aus den angrenzenden Zimmern durch die Wände zu dringen. Das Böse begann sich zu manifestieren … »Schlafe tief, im Namen des Magus … Schlafe traumlos und fest, entspannt und mit offenem Geist. Magus ist bei dir …« Eine grazile Hand schwebte durch die Luft, mit Fingern wie Schlangen. Die Hand entzündete die schwarzen Kerzen, die an der Wand standen. In der Dunkelheit erglühten fanatische Augen. Angespannte Gesichter formten sich. »Der Rauch der schwarzen Kerzen hüllt sie ein …« Die Gesichter, die mitten in der Luft zu schweben schienen, öffneten die Münder und stießen Klagelaute aus. Zungen schossen hervor, gierig gereckte Zungen, die gelblich belegt waren. Und die Schlangenfinger brachen eine schwarze Hostie aus Tierinnereien und Kräutern. »Hier, nimm das Herz von Magus in dich auf …« Die Schlangenfinger legten die schwarze Hostie mit dem satanischen Symbol auf eine Zunge, die sofort in einem Mund verschwand. »Nimm auch du die Kraft unseres Magus in dich auf.« Schmatzen. Keuchen. Die Gesichter tanzten in der Luft. Auf und ab. Hin und her. Auf und ab. »Hier wird das Kind geboren.« Und der Chor wiederholte die Worte. »Hier wird es sein. Das Kind. Wir setzen es ins Leben. Und wir nehmen es an uns. Das Kind.« »Das Kind. Das Kind!«, echote der Chor. »Es ist unser. Das Kind. Wir holen es und schenken es Magus. Das Kind. Das Kind. Wir nehmen es. Das Kind. Es ist unser.« Unser, unser, unser!, hallte es schaurig nach.
»Es wird geboren. Unser Kind. Magus' Kind. So wird es geschehen. Hier wird es geboren. Für Magus geboren. Ein Geschenk für den Teufel. Geboren, um zu sterben. Das Kind …« »Das Kind, das Kind. Das Kind! MAGUS' KIND!« Coco wälzte sich unruhig im Bett. Sie konnte sich den Beschwörungen kaum mehr entziehen. Die schweißnassen Hände gegen ihren Leib gepresst, rollte sie sich zusammen, während die dämonische Beschwörung weiterging. »Magus schenkt es dem Tod.« – »Es lebe der Tod!« Cocos anfängliche Sicherheit schwand dahin. Angst bemächtigte sich ihrer. Und in den umliegenden Räumen brannten die schwarzen Kerzen. Sie brannten in die Höhe, und anstatt immer kleiner zu werden, wuchsen die schwarzen Kerzen, nahmen bizarre Formen an. Früchte des Bösen. Es wurde Nacht. Die Beschwörung ging weiter.
Einer der Kriminalbeamten hatte sich in den Keller geschlichen. Er fand auf einem ausrangierten Operationstisch die verstümmelte Leiche von Professor Marlowe. Als er sich über den Toten beugte, reckte dieser die Arme in die Höhe, umfasste mit den Händen den Hals des Beamten und erwürgte ihn. Der andere Beamte ging den unheimlichen Stimmen nach, die aus den Krankenzimmern kamen. Als er eine Tür öffnete, sprang ihn ein Zwerg an, kletterte auf seinen Rücken, schlang die Füße um seinen Hals und ritt auf ihm. Der Polizist versuchte verzweifelt, den Zwerg abzuschütteln, doch dieser hatte sich wie ein Polyp an ihm festgesaugt. Und er trieb ihn wie ein Tier durch den Raum und auf den Korridor hinaus, gefolgt von der Meute der Furien, deren Gesichter geifernde Fratzen waren. Und die Furien trommelten auf ihre aufgeblähten Leiber und drückten sie, so dass pfeifende Geräusche entstanden. Das Pfeifen und Trommeln vereinigte sich zu einer schaurigen Melodie, zu der der Polizist mit seiner Last auf den Schultern zu tanzen begann, umringt von der entfesselten Meute. Und als die Kräfte des Beamten nachließen, hieb der Zwerg auf ihn ein. Er tat es
mit dem Stilett in der Hand, das er wie eine Peitsche gebrauchte … Als er endlich von seinem Träger stieg, lag dieser auf den Boden hingestreckt in seinem Blute. Da schlug von Ferne eine Turmuhr. Die Hexe Voisin trat in die Mitte des Kreises und hob die Hände. Es wurde still. Die Turmuhr schlug zwölfmal. Sie läutete den neuen Tag ein. Den 28. Oktober! »Das Kind soll geboren werden!«, rief die Voisin. »Das Kind, das Kind. Wir holen es. Das Kind!«, hallte der schaurige Chor. Und die Prozession der vom Bösen Befallenen setzte sich in Bewegung.
»Möchte zu gerne wissen, was sich auf der Geburtsstation tut«, sagte der eine Beamte, der mit seinem Kollegen im Park hinter einem Strauch auf der Lauer lag. »Sie haben alle Lichter gelöscht. Nicht einmal die Notbeleuchtung brennt.« »Vielleicht soll es ein Zeichen für Hunter sein, dass alles in Ordnung ist«, meinte der andere Beamte und zog fröstelnd die Schultern hoch. Es hatte Nieselregen eingesetzt, und die beiden waren trotz ihrer Regenmäntel bereits bis auf die Haut durchnässt. »Glaubst du wirklich, dass Hunter kommt?«, sagte der erste Beamte zweifelnd. »Der kann sich doch ausrechnen …« »Liebe macht blind«, unterbrach ihn der andere. »Wofür, glaubst du, hat er seine Alte umgebracht? Um frei zu sein für seine Geliebte. Sie hat ihm total den Kopf verdreht. Der ist ihr hörig. Und er wird sein Kind sehen wollen.« »Und was ist, wenn es erst in einigen Tagen zur Welt kommt?« »Das weiß Hunter sowenig wie wir.« Sie hörten links ein Geräusch und duckten sich tiefer. Eine Gestalt näherte sich, kam geradewegs auf sie zu. Aber es war nur Inspektor Goddard. »Er ist da«, hörten sie ihn sagen. »Auf der Westseite ist er über die Mauer geklettert. Jetzt haben wir ihn in der Falle.«
»Worauf warten wir denn noch? Schlagen wir zu!« »Nichts überstürzen«, mahnte der Inspektor. »Jenkins und Hall sind im Haus, das dürfen wir nicht vergessen.« »Wann werden sie sich melden?« »Sie sind längst überfällig. Wir haben schon seit einer Stunde keine Nachricht erhalten.« »Vielleicht ist etwas passiert. Hunter hat Freunde …« »Wir warten noch fünf Minuten, dann machen wir ernst«, sagte der Inspektor. »Aber keine Schießerei, meine Herren. Wer auch nur einen Schuss abgibt, der kann sich auf was gefasst machen.« »Sollen wir uns von Hunter abschlachten lassen? Er ist gemeingefährlich.« »Ach, ja«, sagte der Inspektor wie nebenbei. »Beinahe hätte ich es vergessen. Wir haben eine Meldung bekommen, wonach Hunter ein Alibi für die Mordnacht hat. Bei einer Gegenüberstellung werden wir Gewissheit bekommen. Ich bin fast selbst schon davon überzeugt, dass Hunter unschuldig ist.«
Coco schrie und schlug um sich. Schwester Nancy beugte sich über sie. »Gleich ist es vorbei, Miss Zamis«, sagte sie mit seltsamer Stimme. »Helft mir!«, schrie Coco mit schriller Stimme. »Ich ertrage es nicht mehr!« »Gleich ist alles vorbei«, versicherte Schwester Nancy und schob Coco mit dem Bett auf die Tür zu. Dort standen die fünf Scheinschwangeren und hielten bis zur Unkenntlichkeit verformtes Kinderspielzeug in den Händen. Eine schüttelte eine Rassel, die Zweite biss einem Gummitier den Kopf ab, die Dritte schwenkte ein Stehaufmännchen mit einer Teufelsfratze. Die anderen beiden lachten hysterisch. Aber es war ein lautloses Lachen. Eine zweite Frau in einer schwarzen Schwesterntracht hatte Cocos Bett am Fußende ergriffen und zog es auf den Gang hinaus. Es war dunkel auf dem Gang. In Cocos Gesichtskreis tauchten immer wieder Gesichter auf, die wie durch eine Froschaugenlinse verzerrt waren. Die Gesichter
schnitten Grimassen. Gestalten flankierten Cocos Bett zu beiden Seiten. Sie waren nackt, und ihre Körper waren mit stinkenden Salben und dunklen Farben bemalt. »Hier hinein! Dort ist der Altar!« Coco merkte, dass das Bett herumgedreht wurde. Sie spürte einen Luftzug, als eine Tür aufging. Sie wurde hindurchgeschoben. Sie kamen durch einen niedrigen Gang, und Coco hatte das Gefühl, von der Decke erdrückt zu werden. Die unheimliche Prozession, die sie auf ihrem Weg begleitete, war in Schweigen verfallen. Nur das Rasseln der Kinderklapper war zu hören. Coco wimmerte leise vor sich hin. Vor ihnen tat sich eine Schwingtür auf, und sie kamen in den Kreissaal. »Auf den Altar mit ihr!«, befahl die vorangehende Schwester in der schwarzen Tracht. »Es muss sein.« »Es muss sein«, wiederholten die anderen wie aus einem Munde. Coco wurde brutal hochgehoben und auf eine Erhöhung gelegt. Es war das Entbindungsbett – aber es war durch fremdartige Aufbauten völlig verändert worden. Cocos Beine wurden mit Salben eingerieben und mit stinkenden Flüssigkeiten besprengt, bevor man sie auseinander bog und auf die Beinkloben legte. »Was macht ihr mit mir?« »Wir erlösen dich von deinen Qualen, Coco Zamis«, sagte die schwarze Schwester. »Wo ist Professor Marlowe? Ich möchte ihn sehen! Er soll mir beistehen!« Die anderen wichen zurück. Und über ihr erschien ein greisenhafter Schädel mit Glotzaugen und einem vorspringenden Kinn, das ständig mahlende Bewegungen machte. Dieser hässliche Kopf saß auf dem kleinen schmächtigen Körper eines vierjährigen Kindes. »Ich vertrete Professor Marlowe«, sagte der hässliche Zwerg mit quakender Stimme. »Ich muss einen Schnitt machen, mein schönes Kind …« Er hob eine seiner großen Hände, in der ein langes Stilett lag. Die Teufelsanbeter schoben sich näher an das Entbindungsbett heran. Die schwarze Schwester hatte sich ans Kopfende gestellt und
riss sich die Kleider vom Leib. »Höre mich an, Magus – und sieh, welches Opfer dir deine treue Dienerin darbringt!« Coco ließ nun ebenfalls die Maske fallen. Sie brauchte nicht mehr die werdende Mutter zu spielen, die im Schmerz ihrer Wehen dalag. Sie verhielt sich auf einmal völlig ruhig und konzentrierte sich auf das Kommende. Mutter! Ein gedanklicher Schrei, der sie über Meilen hinweg erreichte. Der Angstschrei ihres Kindes, das sie bei einer Familie im Bezirk Croydon geboren hatte, bevor sie die Webber-Klinik aufgesucht hatte. Ruhig, Liebes, dachte sie, um ihr Kind zu besänftigen, das auf magische Weise spürte, in welcher Gefahr sie schwebte. Mir kann hier nichts geschehen. Und du bist weit fort von diesem Ort des Schreckens. Verschließe deinen Geist, ziehe dich zurück. Schlafe. Es gibt niemanden, der deiner Mutter ein Leid antun könnte. Und über Meilen hinweg erreichten ihre besänftigenden Impulse ihr Kind – einen Sohn, der tags zuvor das Licht der Welt erblickt hatte. Bei einer einfachen, hilfsbereiten und frommen Familie in Croydon. Mr. und Mrs. Hampton hatten, ohne irgendwelche Fragen zu stellen, Beistand geleistet, und sie hatten das Kind vorübergehend bei sich aufgenommen. Dorian war bei ihr gewesen. Er hatte zusammen mit ihr den ersten Schrei ihres gemeinsamen Sohnes vernommen. Ihr war, als erlebte sie den Schmerz und das Glück noch einmal, als spürte sie Dorians warmen Händedruck – und als sähe sie das Kind, dessen Kopf vom Schreien gerötet war … Dieses Kind, das Olivaro als Opfer haben wollte. »Ja, höre und siehe, mächtiger Magus! Diese Opferung wird nicht zu einer Huldigung an dich, sondern zu einer Verspottung alles Dämonischen, alles Bösen!«, rief Coco. Die Teufelsanbeter wichen schreiend zurück, als sie sahen, dass Cocos Leib völlig flach war. Die Wölbung ihres Bauches, unter der sie ihr Opfer vermuteten – sie war nur Trug und Illusion gewesen. Der Zwerg stand wie erstarrt mit dem erhobenen Stilett da. Er zögerte, den alles entscheidenden Stich auszuführen. Die Hexe Voisin
hielt ebenfalls inne. Ungläubig blickte sie auf Coco hinunter, die triumphierte, weil ihre List gelungen war. »Margarita Voisin!«, sagte Coco abfällig. »Was bist du doch für eine erbärmliche, unwissende Närrin, dass du glaubtest, dich im Glanz von Magus' Macht mit Schwarzblütigen messen zu können. Ich, eine Hexe echten Geblüts, habe deine Grenzen aufgezeigt.« Die Hexe Voisin ertrug diese Verhöhnung nicht länger. Mit einem Schrei stürzte sie sich auf Coco – und im selben Moment entschloss sich der Zwerg zu dem tödlichen Dolchstoß. Coco versetzte sich augenblicklich in einen schnelleren Zeitablauf. Die Hexe Voisin, halb über sie gebeugt, erstarrte in dieser Stellung zur Bewegungslosigkeit. Das Stilett des Zwerges hatte sich nur um eine Handbreit gesenkt und schwebte nun bewegungslos in der Luft. Während auch die Teufelsanbeter ringsum zu Säulen erstarrten, in ihrer Verkleidung grotesk und wie lächerliche Zerrbilder des Dämonischen, glitt Coco schnell vom Entbindungsbett, das der Opfertisch für ihren Sohn sein sollte. Sie verschwand im Hintergrund des Kreissaales. Und hinter ihr wich die Erstarrung von Olivaros Dienern. Die Hexe Voisin stürzte sich auf das Bett, auf dem eben noch Coco gelegen hatte, und das Stilett des Zwerges bohrte sich tief in ihren Rücken. Coco kümmerte sich nicht darum. Sie sah Dorian, der gehetzt durch die Schwingtür stürzte, und fiel ihm in die Arme. »Es ist alles vorbei«, sagte sie erleichtert. So gefasst sie die ganze Zeit gewesen war, so tapfer sie die abscheuliche Prozedur über sich hatte ergehen lassen, so meisterlich sie ihre Rolle gespielt hatte – jetzt war sie am Ende ihrer Kräfte. Und als Dorian sie fest an sich drückte, da ließ sie den Tränen der Erleichterung freien Lauf. Von den Teufelsanbetern drohte keine Gefahr mehr. Nach dem Tod der Hexe Voisin fiel der Bann von ihnen. Die dämonische Verzückung wich der Ernüchterung – sie waren nur noch ein aufgeschreckter Haufen. Als die Lichter angingen und Polizisten in das Entbindungszimmer stürzten, war das Chaos unter den Teufelsanbetern vollkommen. Die Polizisten standen dieser Situation nicht minder unvorbereitet
gegenüber: Sie hatten mit allem gerechnet – nur nicht damit, dass sie mitten in eine schwarze Messe platzen würden. Dennoch waren sie sofort Herr der Lage. Sie trieben die Teufelsanhänger, die im grellen Licht lächerlich und völlig hilflos wirkten, auseinander und durchsuchten sie nach Waffen. Eine oberflächliche Untersuchung ergab, dass die Frau auf dem Opfertisch tot war – ihr vormals schönes, jugendfrisches Gesicht war nun greisenhaft. Zwei Polizisten postierten sich bei Dorian. Er wurde von Coco getrennt und der eine untersuchte ihn nach Waffen. Als der Zweite ihm Handschellen anlegen wollte, erschien Inspektor Goddard. »Das ist nun doch nicht nötig, denke ich«, sagte er und verscheuchte den Beamten mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Danke«, sagte Dorian. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich keinen Fluchtversuch unternehmen werde. Ich wollte nur solange auf freien Fuß sein, bis Miss Zamis außer Gefahr war. Sie können mich verhaften, Inspektor.« »Davon ist keine Rede. Ihre Unschuld ist so gut wie bewiesen. Ich frage mich nur, warum Sie nicht gesagt haben, wo Sie zum Zeitpunkt des Mordes an Ihrer Frau gewesen sind.« Dorian blickte Coco fragend an, doch diese schüttelte nur überrascht den Kopf. »Ich verstehe nicht«, sagte Dorian mit belegter Stimme. »Waren Sie etwa zur Tatzeit nicht in Croydon, Pidgeon Street 30?«, fragte der Inspektor stirnrunzelnd. »Wie kommen Sie denn darauf?« Dorian begann zu schwitzen. Wenn die Polizei diese Adresse herausgefunden hatte, dann konnte dies den Dämonen noch eher gelungen sein. »Was soll das, Mr. Hunter?«, sagte Inspektor Goddard ungehalten. »Bei uns hat sich eine Mrs. Hampton gemeldet, die Sie anhand des Zeitungsfotos erkannt hat. Und sie behauptet, dass Sie nicht der Mörder sein können, weil Sie zur fraglichen Zeit mit Miss Zamis in ihrem Haus waren. Oder stimmt das nicht?« Dorian hatte nicht daran gedacht, dass die Hamptons ihr sorgsam gehütetes Geheimnis unabsichtlich preisgeben konnten. Aber nun war es passiert.
Coco hatte die gleichen Überlegungen angestellt. »Achten Sie darauf, dass Ihnen niemand von der Bande entwischt, Inspektor!«, sagte sie. Und an Dorian gewandt: »Du brauchst nicht gleich das Schlimmste annehmen, Liebling. Olivaro wird sich nicht persönlich einschalten, denn sonst hätte er die Opferung von Anfang an selbst in die Hand genommen. Und die Voisin ist tot.« »Wollen Sie mir nicht erklären, wovon Sie sprechen?«, fragte Inspektor Goddard. »Im Augenblick ist es nur wichtig, dass Sie niemanden entkommen lassen«, erwiderte Coco. »Sie haben wohl selbst schon bemerkt, dass diese Leute einem Teufelskult angehören. Passen Sie vor allem auf den Zwerg auf. Die Morde gehen auf sein Konto.« »Welcher Zwerg?«, erkundigte sich ein Beamter, der gerade zu ihnen stieß. »Er ist nur einen Meter groß und hat ein Greisengesicht!« Coco schrie es fast. Der Beamte schüttelte den Kopf. »Nein, ein solches Monstrum ist nicht dabei.« Coco taumelte mit einem Aufschrei zurück. Dorian packte den Inspektor. »Wir müssen sofort zu den Hamptons! Bringen Sie uns hin! Unser Kind ist in Gefahr!«
Es war leicht für ihn, sich vor den Polizisten zu verstecken. Zum Glück wartete er solange, bis er vom Inspektor hörte, wo Hunter in jener Nacht gewesen war, in der seine Frau ermordet worden war. Es lebe der Tod! Somit wusste er auch, wo Coco ihr Kind geboren hatte. An diesem Ort musste es immer noch versteckt sein. Und er würde seine Bestimmung doch noch erfüllen können. Es erwies sich wieder, wie vorteilhaft seine geringe Größe war. Er konnte den Polizisten zwischen den Beinen entwischen. Einmal aus dem Gebäude, würden sie seine Spur nicht mehr finden. Im Park stand ein Krankenwagen. Der Fahrer saß abwartend hinter dem Lenkrad und rauchte lässig. Basil kletterte auf der anderen
Seite durch das offene Fenster in den Wagen. Als der Fahrer herumfuhr, blickte er auf die Spitze eines Stiletts. »Fahr los!«, quakte der Zwerg. »Und fahre, als sei der Teufel hinter dir her!« Um die Lippen des Fahrers zuckte es spöttisch. Doch ein blitzschnell geführter Schnitt über den Handrücken ließ den Fahrer erkennen, dass mit dem Zwerg nicht zu spaßen war. Ohne weitere Aufforderung startete er den Wagen und fuhr los. »Nach Croydon, Pidgeon Street 30«, befahl Basil, als sie das Tor passiert hatten. Der Fahrer gab sein Bestes. Der Zwerg war mit ihm zufrieden. Er hockte wachsam auf dem Beifahrersitz, das Stilett hochhaltend. Als sie in die Pidgeon Street kamen, dirigierte der Zwerg den Wagen in eine dunkle Seitenstraße. Er merkte, dass der Fahrer Todesängste ausstand und mit allem rechnete. »Anhalten!«, befahl Basil. Der Fahrer trat auf die Bremse und riss gleichzeitig die Wagentür auf, um sich durch rasche Flucht zu retten. Doch der Zwerg reagierte schneller. »Es lebe der Tod!«, quakte er vergnügt vor sich hin, als er zur Pidgeon Street zurückrannte und dabei die blutige Klinge an seiner Hose abwischte. Es lebe der Tod! Ja, ja, er würde in dieser Nacht noch reichlich ernten dürfen. Da war das Haus. Hinter allen Fenstern war es dunkel. Der Zwerg kletterte flink über den Gartenzaun. Plötzlich verharrte er, als er im Haus das Läuten eines Telefons hörte. Beim dritten Läuten ging im oberen Stockwerk hinter einem Fenster das Licht an. Verhaltene Stimmen wurden laut. Durch das offene Schlafzimmerfenster war das Knarren eines Betteinsatzes zu hören. Und dann wurde im Stiegenhaus das Treppenlicht angeknipst. Der Zwerg hatte ein Kellerfenster erreicht und schlug mit dem Griff des Stiletts das Glas ein. Das weithin hörbare Klirren störte ihn nicht. Er war am Ziel. Nur noch wenige Meter trennten ihn von seinem Opfer. Es war in die-
sem Haus. Ha, diese Narren! Sie wollten klüger sein als er! Durch das Fenster klettern, den Keller flink durcheilen, die Treppe hinauf, sich auf die Zehenspitzen stellen, die Klinke niederzudrücken, die Tür langsam öffnen – das alles ging in Sekundenschnelle vor sich. Er lauschte. »… jawohl, Mr. Hunter … Nein, Mr. Hunter, wir lassen niemanden ein … Ich werde sofort nach dem Jungen sehen. Er schläft. Es geht ihm gut. Er ist ganz still …« Bald für immer. Es lebe der Tod! Nachdem der Mann den Hörer auf die Gabel gelegt hatte, sprang Basil in den Korridor hinaus, ohne dabei ein Geräusch zu verursachen. Er sah einen Mann, der ihm den Rücken zuwandte. Jetzt drehte er sich langsam um. Basil ging hinter einer Kommode in Deckung. »Ethel! Ethel, schnell! Wir müssen nach dem Kind sehen!«, rief der Mann. Er rannte an Basils Versteck vorbei zur Treppe und diese hinauf. Der Zwerg hatte einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen können. Der Mann war noch nicht vierzig, aber sein Gesicht war von Sorge und Angst gezeichnet. »Ethel, mein Gott, wie furchtbar!« Mr. Hampton hatte das obere Ende der Treppe erreicht. Basil verließ sein Versteck und folgte ihm die Treppe hinauf. Als er das obere Stockwerk erreichte, sah er den Mann durch eine Tür verschwinden. Aus einer anderen kam eine Frau. Sie war recht hübsch, wenn sie in ihrem einfachen Nachthemd auch nicht gerade attraktiv aussah. »Was ist denn in dich gefahren, John?«, rief sie verstört. »Mitten in der Nacht so einen Krach zu machen! Du weckst noch Danny, Billy und das Baby!« Aus dem Zimmer, in das der Mann verschwunden war, kam ein unartikulierter Laut. »Ethel, ich muss sofort Mr. Hunter anrufen! Hoffentlich erreiche ich ihn noch …« »John, so sage mir doch endlich, was los ist!« Eine weitere Tür ging auf, und ein verschlafener Junge von etwa acht Jahren kam auf den Korridor heraus. »Was macht ihr denn, Ma?«
Die Frau nahm ihn an den Schultern, drehte ihn herum und drängte ihn ins Zimmer zurück. »Nichts, Billy. Schlaf weiter.« Sie schloss hinter dem Jungen die Tür. Jetzt kam der Mann aus dem Zimmer. Er war aschfahl im Gesicht und wirkte um zehn Jahre gealtert. Plötzlich weiteten sich seine Augen vor Schreck, als er Basil auf der Treppe kauern sah. Die Frau folgte dem Blick seiner Augen – und schrie. Dabei bekreuzigte sie sich. »Was ist das?«, rief der Mann. Basil zuckte vor der sakralen Bewegung der Frau zurück, verlor den Halt und kollerte die Treppe hinunter. Als er am Treppengeländer endlich Halt finden konnte, tauchte der Mann auf der Treppe auf. »Das ist der Mörder, den Mr. Hunter beschrieben hat!«, schrie der Mann aufgeregt. Basil sah vorerst keine andere Möglichkeit, als sein Heil in der Flucht zu suchen. Er musste nach oben, aber zuerst wollte er den Mann von der Treppe fortlocken. Der Keller! Die Tür stand immer noch offen. Basil rannte darauf zu, schlug aber, als er aus dem Blickfeld des Mannes war, einen Haken und verbarg sich wieder hinter der Kommode. Mr. Hampton fiel auf den Trick herein. Er stürzte sich auf die Kellertür, schloss sie und sperrte ab. Inzwischen schlich der Zwerg an ihm vorbei, erreichte die Treppe und huschte unbemerkt hinauf. Er hätte den Mann spielend leicht töten können. Aber zuerst kam das Kind an die Reihe. Oben schrie die Frau. Sie taumelte, sich an der Wand abstützend, den Korridor entlang, riss nacheinander alle Türen auf und schaltete in den dahinterliegenden Räumen das Licht an. »Was werden wir nur Mr. Hunter und Miss Zamis sagen?«, jammerte sie. »Ma, warum drehst du denn das Licht an?«, fragte eine weinerliche Stimme. »Ach, Danny …« Die Stimme der Frau erstarb im Schluchzen. Der Zwerg kam auch unbemerkt an Mrs. Hampton vorbei und erreichte das Zimmer, in dem er das Baby wusste. Und da stand die
Wiege. Eigentlich eine recht einfache und gewöhnliche Wiege für ein so begehrtes Kind. »Ich habe das schreckliche Monstrum im Keller eingeschlossen!«, rief Mr. Hampton von unten. Basil kicherte. Er legte sich nun keine Zurückhaltung mehr auf. Er kreischte vor Vergnügen, während er sein Stilett hob und zu der Wiege eilte. Er schob den spitzenbesetzten Baldachin beiseite, bereit zuzustoßen. Die Wiege war leer! Kein Kind darin. Er betastete die Decke und das weiße Kissen. Es war noch warm. Er schlitzte das Kissen auf, schleuderte es fort, heulte vor Wut, stampfte auf, stieß die Wiege um. Wo war das Kind? Wo? Er rannte durch das Zimmer. Wo hatte es Mr. Hampton versteckt? Wo? Basil heulte wieder. Er raste, war wie von Sinnen. Er sprang auf den Korridor hinaus, wo Mrs. Hampton mit ihren beiden Kindern stand und sie fest an sich drückte. »John!«, schrie sie beim Anblick des geifernden Zwerges. »Jetzt seid ihr dran – alle vier!«, kreischte Basil. Er trieb die Mutter und ihre beiden Söhne mit dem Stilett in das elterliche Schlafzimmer. Rückwärtsgehend stolperten sie zum Bett. Die Kinder begannen zu weinen. Mrs. Hampton verlor den Halt und riss ihre beiden Kinder mit auf das Bett. Der Ältere ihrer Söhne konnte sich aus ihrer Umarmung befreien und kroch unters Bett. »Wo ist das Kind?«, schrie Basil und sprang auf das Bett. Mit dem Stilett hielt er Mrs. Hampton in Schach. »Wo habt ihr es versteckt?« Die Frau war so eingeschüchtert, dass sie keinen Ton über die Lippen brachte. Sie schüttelte immer wieder stumm den Kopf. Da tauchte Mr. Hampton in der Tür auf. »Komm herein – und leg dich zu deiner Familie aufs Bett!«, befahl Basil. »Wenn du nicht tust, was ich verlange, schlitze ich ihnen die Kehlen auf. Wo hast du das Kind versteckt?« »Ich weiß nicht, wo es ist«, beteuerte Mr. Hampton. »Als ich nach ihm gesehen habe, war es fort.« Mr. Hampton gehorchte und legte sich so hin, dass der jüngere Sohn zwischen ihm und seiner Frau lag. Basil sprang dem Mann auf den Rücken und hielt ihm die Spitze
des Stiletts an den Nacken. »Und jetzt rede! Wo hast du das Baby versteckt?« »Es ist fort. Bei allem, was mir heilig ist, ich schwöre …« »Kein solches Wort mehr«, kreischte Basil und schüttelte sich vor Ekel. Er wollte dem Mann schon die Klinge in den Nacken stoßen, doch dann überlegte er es sich anders. Er sprang vom Bett, unter dem das haltlose Schluchzen des älteren Sohnes hervordrang. »Ich will es gar nicht wissen. Es genügt, dass es irgendwo im Haus ist. Und wenn ihr wollt, könnt ihr euer Geheimnis in den Tod mitnehmen. Dann werdet ihr alle mit diesem verdammten Balg verbrennen. Ich brauche nur das Haus anzuzünden …«
Dorian sah das Feuer schon von weitem, bevor der Streifenwagen in die Pidgeon Street einbog. »Das ist bei den Hamptons!«, rief er entsetzt. »Fahren Sie schneller, Mann!« Der Wagen ging auf zwei Rädern in eine Kurve, und Dorian wurde gegen Inspektor Goddard gedrückt. Endlich erreichte der Polizeiwagen das Grundstück. Dorian hatte sich nicht geirrt. Es war das Haus der Hamptons, das in Flammen stand. Dorian war froh, dass Coco nicht mitgekommen war und nicht Zeuge dieser Schreckensszene sein musste. Aus dem Haus drangen Hilferufe. Zugleich gellte schrilles Lachen, und dann rief eine quakende Stimme die Dämonen der Finsternis an. Die Bewohner der Nachbarhäuser liefen aufgeregt durcheinander. Jemand rief nach der Feuerwehr. Andere Stimmen versicherten, dass sie schon unterwegs sei. Ein beherzter Mann versuchte, mit einem Gartenschlauch das Feuer zu bekämpfen. Aber der dünne Wasserstrahl war nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Zwei Burschen kamen mit einer Leiter angerannt und lehnten sie gegen die Hausmauer. »Die Hamptons sind im Schlafzimmer eingeschlossen!«, behauptete jemand. »Ist das das Schlafzimmerfenster?«, fragte einer der Burschen, während der andere bereits die Leiter hinaufkletterte.
»Ja. Dort ist das Feuer am stärksten! Ihr müsst es auf der Rückseite des Hauses versuchen.« Dorian rannte in den Garten, die Leute zur Seite stoßend, die ihm im Weg standen. »Hunter, bleiben Sie hier!«, rief ihm der Inspektor nach. Dorian erreichte die Leiter. Gerade als er sie erklimmen wollte, hörte er von oben einen Schrei. Er blickte hoch und sah, dass aus dem Fenster eine Hand mit einem spitzen metallenen Gegenstand nach dem Gesicht des Burschen stieß. Dieser wich mit einem Aufschrei zurück, verlor den Halt und rutschte die Leiter herunter – genau auf Dorian zu. Der Dämonenkiller fing ihn auf. Er sah, dass eine Gesichtshälfte des Burschen eine tiefe, stark blutende Wunde aufwies. Dorian überließ es den anderen, ihn zu versorgen. Er nahm die Leiter und lief mit ihr zur Rückseite des Hauses. Er stellte sie unter ein Fenster, aus dem die Flammen noch nicht so hoch schlugen wie im Schlafzimmer, kletterte hinauf und schlug das Glas mit dem Ellenbogen ein. Als er durch die Öffnung griff und den Riegel öffnete, tauchte im Gang vor ihm der glotzäugige Zwerg auf. Dorian stieß die Fensterflügel auf und sprang ins Haus. Der Zwerg stand breitbeinig da – das Stilett in der ausgestreckten Hand. In seinen Glotzaugen spiegelte sich der Flammenschein. »Du rettest dein Kind nicht mehr«, sagte der Zwerg boshaft. »Es schmort bereits in den Flammen.« Dorian verlor für einen Moment die Beherrschung. Er trat nach dem Zwerg. Der war jedoch auf diese Attacke gefasst, sprang nach Dorians Bein: Dieser spürte es kaum, dass die Klinge seine Wade durchbohrte. Als er jedoch mit dem verwundeten Bein auftreten wollte, fuhr ein siedendheißer Schmerz durch seinen Körper. Obwohl es um Sekunden ging, musste Dorian seinen kühlen Verstand bewahren. »Der Tod hat sich geholt, was sein ist«, stichelte der Zwerg weiter. »Komm, Dämonenkiller, und folge auch du seinen Spuren!« Dorian täuschte einen Angriff vor und holte gleichzeitig seine gnostische Gemme hervor. Er riss einfach die Kette ab und wirbelte die
Gemme daran vor dem Gesicht des Zwerges durch die Luft. Im ersten Moment zuckte Basil erschrocken zurück. Doch dann erkannte er, dass die Ausstrahlung des Dämonenbanners ihm nicht viel anhaben konnte. Er lachte und duckte sich zum Sprung … Da brach der Holzboden unter ihm ein. Flammen schossen in die Höhe, Funken stoben in alle Richtungen – und mit einem letzten Schrei versank der Zwerg in dem Inferno aus Feuer und Rauch. In der Tür des Schlafzimmers war Mr. Hampton erschienen. Er hustete und wischte sich über die tränenden Augen. Er hielt seinen jüngeren Sohn in den Armen, der das Bewusstsein verloren hatte. Dorian geleitete ihn zum Fenster, wo Helfer aufgetaucht waren. Mrs. Hampton folgte. Ihr Nachthemd war zerschlissen, ihr Gesicht von Ruß geschwärzt. Sie schob ihren älteren Sohn vor sich her. »Wo ist das Baby?«, schrie Dorian die Frau an, die am Rande eine Nervenzusammenbruchs stand. »Wo ist mein Kind?« Aber Mrs. Hampton schüttelte nur immer wieder den Kopf. Dorian drang in den qualmenden Gang vor. Unter seinen Füßen ächzte der Holzfußboden. Rauch stieg durch die Ritzen, Funken stoben hoch. Dorian konnte kaum etwas erkennen. Er bekam keine Luft und taumelte gegen eine Tür, die unter seinem Gewicht nachgab. Durch die dichten Rauchschwaden sah er die Wiege. Er wankte darauf zu. Sie lag umgekippt auf dem Boden. Hinter ihm barst klirrend ein Fenster. »Kommen Sie, Mann!«, schrie jemand. »Die Bude kann jede Sekunde in sich zusammenfallen!« Dorian versuchte, die Hände abzuwehren, die ihn packten und zum Fenster zerrten. Aber er hatte nicht mehr die Kraft, seinem Widersacher ernsthaften Widerstand zu leisten. »Mann, o Mann«, sagte der Unbekannte mit dem Feuerwehrhelm keuchend, als er Dorian endlich beim Fenster hatte. Mehr erfasste Dorian nicht mehr. Vor seinen Augen wurde es schwarz, und er glaubte, endlos lange zu fallen. Doch er spürte keinen Aufprall. Er schwebte im Nichts. Aus dem Nichts wuchs das alte Fachwerkhaus in Croydon. Mr. und Mrs. Hampton standen mit ihren beiden Söhnen in der Tür. Do-
rian und Coco näherten sich ihnen zögernd. Es waren schließlich Fremde, die sie vorher noch nie gesehen hatten. Coco hatte diese Familie nach magischen Gesichtspunkten ausgewählt, ebenso wie sie das Geburtsdatum ihres Kindes anhand einer Formel, die nur ihr bekannt war, festgelegt hatte. Dorian spürte eine gewisse Beklemmung, als er den fremden Leuten gegenübertrat. Doch der Empfang, den sie ihnen boten, war so herzlich, als seien sie uralte Bekannte. Es erschien Dorian sehr bemerkenswert, dass die Hamptons erfreut zugestimmt hatten, als Coco gebeten hatte, ihr Kind in ihrem Haus zur Welt zu bringen und es für einige Tage bei ihnen lassen zu dürfen. Und doch hatte Coco versprochen, diese arglosen, frommen und auch abergläubischen Leute nicht magisch zu beeinflussen. Und während sie im Hause der Hamptons ihre erste und einzige Nacht gemeinsam verbracht hatten, war Lilian nördlich von London von Olivaros Zwerg ermordet worden. Dorian übersprang in seinem Traum die Zeit, verdrängte es, dass weitere Menschen ihr Leben hatten lassen müssen, weil Olivaro es in seinem Fluch so bestimmt hatte. Und als dann im Haus der Hamptons das Kind geboren worden war, war der magische Kreis längst geschlossen. Nur – Coco, Dorian und ihr Sohn standen bereits außerhalb dieses Teufelskreises. Der Fluch war mit dem ersten Schrei des Kindes – einem lautstarken Lebenszeichen – von ihnen genommen worden. Das Sterben aber ging weiter. Und – im Traum – hatte der Geburtshelfer, der sich über die Wiege des Neugeborenen beugte, plötzlich ein hässliches Greisengesicht; mit Glotzaugen, viel zu breitem Mund und einem hervorspringenden Kinn, das ständig mahlende Bewegungen vollführte. Und auf einmal war die Wiege leer. Und Dorian wusste, warum der Zwerg kaute. Und das Haus der Hamptons stand in Flammen – und sie alle waren wieder im Teufelskreis eingeschlossen. Das Grundstück der Hamptons wurde zu einem Friedhof. Über dem Gottesacker schwebte der purpurne Tod mit seiner Sense. Es lebe der Tod! Und er schwang die Sense – und mit jedem Schwung löschte er ein
Leben aus. Mähte immerfort, erntete, was Olivaro gesät hatte. Als sich die Schneide unaufhaltsam dem Kind näherte, das Coco ihm geschenkt hatte, da schrie er und lehnte sich gegen die dämonische Macht auf, die die Sense des Todes leitete … Die schrecklichen Bilder verblassten. Er fand sich in seinem Bett wieder, in dem vertrauten Zimmer in der Jugendstilvilla. Coco saß im Morgenmantel bei ihm und kühlte seine schweißnasse, fiebrige Stirn mit einem kühlen Lappen. Draußen dämmerte der neue Tag. Welcher Tag? »Es ist alles vorbei, Liebling«, sagte Coco. »Ich hoffe, du kannst mir meine Eigenmächtigkeit verzeihen. Aber ich konnte nicht anders handeln.« Wovon redete sie eigentlich? Er stellte die ihn bedrängenden Fragen nicht. Coco würde ihm die Antworten von selbst geben. Sie erhob sich, wanderte langsam zum Fenster und blickte ihn an. »Ich habe immer versucht, dir eine gute Gefährtin zu sein, Dorian. Und ich weiß, dass ich stets mehr war als nur deine Geliebte. Wäre ich mir dessen nicht so sicher gewesen, hätte ich mir nie einen Sohn gewünscht. Erinnerst du dich an die Stunde, in der wir beschlossen haben, ein Kind zu bekommen? Es war ein ernster und feierlicher Moment. Wir wussten beide, welches Risiko wir eingingen. Aber ich bilde mir ein, noch weiter vorausgedacht zu haben als du. Ich sah dich damals in einer Vision als pflichtbewussten Familienvater – und ich liebte dieses Bild nicht. Sage nichts, Dorian. Du hast viel Liebe zu geben, ich weiß das. Aber du gibst sie auf deine Art. Und dann ist da noch etwas. Es wäre ungerecht von einem Einzelnen, dich für sich allein zu beanspruchen. Ungerecht und unfair der Menschheit gegenüber. Du bist dazu auserwählt, deine Kraft und deine Zeit dem Kampf gegen die Dämonen zu opfern. Und deshalb habe ich damals schon beschlossen, dich nicht zusätzlich zu belasten. Ich hatte neun Monate Zeit, mir alles gut zu überlegen, und ich bin zu dem Entschluss gekommen, unser Kind an einem sicheren, unbekannten Ort aufwachsen zu lassen, den nur ich kennen werde. Sage nicht, das sei egoistisch. Stell dir stattdessen vor, unser Sohn wäre hier in der Jugendstilvilla. Du müsstest ständig um ihn ban-
gen, müsstest dich jedes Mal, wenn du die Welt von einem Dämon befreien möchtest, fragen, ob dieser durch seinen Tod nicht einen Fluch gegen deinen Sohn wirksam werden lässt …« Coco machte eine längere Pause, damit er sich ihre Worte durch den Kopf gehen lassen konnte. Dorian brauchte nicht lange zu überlegen. Er wusste, dass sie Recht hatte. In allen Punkten hatte sie Recht. »Du hast die ganze Zeit gefühlt, dass ich dir etwas verschweige, Dorian. Das ist mir nicht entgangen«, fuhr sie fort. »Jetzt weißt du, was ich dir verheimlicht habe. Ich hatte schon immer vorgehabt, unseren Sohn nach der Geburt an einen Ort zu bringen, den nur ich kenne. Nun kannst auch du ermessen, wie weise dieser Entschluss war. Hätte ich ihn bei den Hamptons belassen, wäre er nicht mehr am Leben. Der Zwerg hätte ihn Olivaro geopfert. So aber kam ich ihm zuvor. Unser Sohn lebt. Und er ist in Sicherheit.« Dorian ließ sich erleichtert zurückfallen. Ihm brannte die Frage förmlich auf den Lippen, wohin sie ihr Kind gebracht hatte. Doch er stellte sie nicht, weil er wusste, dass sie es ihm nicht sagen würde. Und es war wirklich besser so. Stattdessen fragte er: »Wie geht es den Hamptons?« »Sie sind alle wohlauf. Es geht ihnen gut. Von ihrem Schock konnte ich sie heilen. Und den materiellen Schaden ersetzt die Versicherung.« Er winkte sie mit dem Zeigefinger zu sich. »Komm her, und heile auch mich.« »Ich weiß aber nicht, ob ich die richtige Medizin für dich habe.« »Aber ich weiß, was ich brauche.« Als sie das Bett erreicht hatte, zog er sie zu sich herunter. ENDE
Vorschau Der Gast aus dem Totenreich von Ernst Vlcek, Neal Davenport u. a.
Coco Zamis ist wohlbehalten in die Jugendstilvilla zurückgekehrt. Olivaro hat eine erneute Niederlage erlitten. Und doch quälen Dorian Hunter Zweifel. Hat Coco die richtige Entscheidung gefällt, indem sie ihr gemeinsames Kind an einen geheimen Ort gebracht hat, den nicht einmal der Dämonenkiller kennt? Auch wenn der Entschluss nachvollziehbar ist, sprechen die Gefühle dagegen. Die Ungewissheit macht Dorian zu schaffen. Seine Sorge, dass Coco einen schlimmen Fehler begangen haben könnte, wird von Tag zu Tag größer. Und dann schickt die Schwarze Familie den Gast aus dem Totenreich …