Der siebenjährige Henry läuft von zu Hause fort. Abends wird er in einem hohlen Baum gefunden. Überglücklich schließen ...
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Der siebenjährige Henry läuft von zu Hause fort. Abends wird er in einem hohlen Baum gefunden. Überglücklich schließen die Eltern den Sohn in die Arme. Niemand bemerkt, dass nicht dasselbe Kind zurückgekehrt ist. Geheimnisvolle Waldbewohner haben Henry ausgetauscht. Äußerlich gleicht er fast bis aufs Haar dem echten Sohn. Doch in Wahrheit ist er ein vor langer Zeit gestohlenes Menschenkind, ein altersloser Kobold, der nun aus der Schattenwelt zu den Menschen zurückkehrt. Vorsichtig tastet er sich in die unbekannte Familie hinein. Nur Henrys Vater beobachtet ihn manchmal ein wenig irritiert. Der wirkliche Henry, der nun Aniday heißt, erlebt wie im Fieber seine erste Zeit bei den Waldwesen. Er begreift nicht, was ihm geschieht, lernt aber schließlich, wie die Kobolde zu leben. Er beginnt wie sie zu sprechen und zu denken. Beide wachsen in ihre neue Welt hinein, und irgendwann scheinen die Bilder des alten Lebens gelöscht. Aber die tiefen Verbindungen sind nicht gekappt. Bei Henry ist es die Musik, die etwas in ihm zum Klingen bringt und eine namenlose Sehnsucht weckt. Bei Aniday sind es Traumspuren und das schmerzliche Gefühl, etwas unwiederbringlich verloren zu haben. Ohne dass sie voneinander wissen, treibt sie etwas aufeinander zu. Keith Donohue hat eine phantastische Geschichte von der Suche nach der eigenen Identität geschrieben. Dabei entführt er seine Leser an den Rand der Wirklichkeit, wo die märchenhafte Welt des Möglichen beginnt. Keith Donohue lebt mit seiner Familie in der Nähe von Washington D.C. Er war lange für die nationale Kulturstiftung der Vereinigten Staaten tätig, bevor er freier Schriftsteller wurde. Das gestohlene Kind ist sein erster Roman, eine Verfilmung ist in Vorbereitung.
Keith Donohue
Das gestohlene Kind Roman
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »The Stolen Child« Für Dorothy uni Thomas. Ich wollte, ihr wärt hier. »Wir schauen einmal auf die Welt, in der Kindheit. Der Rest ist Erinnerung.« LOUISE GLÜCK, »NOSTOS«
Kapitel I Bezeichnet mich nicht als Feenwesen. Wir wollen nicht mehr als Feenwesen bezeichnet werden. Vor langer Zeit war das ein vollkommer akzeptabler Sammelbegriff, aber heute hat er zu viele Bedeutungen angenommen. Etymologisch betrachtet sind wir verwandt mit den Najaden oder Wassernymphen, und was das Geschlecht angeht, sind wir von ganz eigener Art. Das Wort Fee ist abgeleitet vom altfranzösischen ße, das wiederum vom lateinischen/ßto, Schicksalsgöttin, abstammt. Die Feen lebten in Gruppen in einem Reich, Feenland genannt, zwischen den himmlischen und irdischen Sphären. In dieser Welt existiert eine ganze Reihe sublunarer Teufel oder Geister, die carminihus coelo possunt deducere lunam [durch ihre Beschwörungen können sie den Mond vom Himmel herabhexen]. Seit Vorzeiten unterteilt man sie in sechs Arten: in feurige, luftige, erdige, wässrige und unterirdische Teufel, wozu noch die Feen und Nymphen kommen. Von den Feuer-, Wasserund Luftgeistern weiß ich so gut wie nichts. Aber die irdischen und unterirdischen Teufel kenne ich nur allzu gut, sie gibt es in unendlicher Vielfalt, ebenso wie die mit ihnen einhergehenden Sagen über ihr Verhalten, ihre Gebräuche und ihre Kultur. Auf der ganzen Welt kennt man sie unter verschiedensten Namen — Laren, 3 Genien, Faune, Satyrn, foliots, Elben, Pucks, Wichtelmännchen, Pukas, Sidhe, Trolle —, und die wenigen, die es heute noch gibt, leben so versteckt in den Wäldern, dass der Mensch ihnen nur selten begegnet. Wenn ihr mir denn unbedingt einen Namen geben müsst, so nennt mich einen Kobold. Oder besser noch: Ich bin ein Wechselbalg, ein Changeling — ein Wort, das erklärt, wozu wir gezwungen sind, was wir beabsichtigen zu tun. Der Kobold wird zum Kind, und das Kind wird zum Kobold. Nicht jeder Junge oder jedes Mädchen kommt für diesen Austausch in Frage, sondern nur die einsamen Seelen, die ratlos vor ihrem jungen Leben stehen oder auf die Welt als Jammertal eingestimmt sind. Die Wechselbälger wählen sorgfältig aus, denn eine solche Gelegenheit bietet sich ihnen vielleicht nur ein einziges Mal im Laufe eines Jahrzehnts. Ein Kind, das Teil unserer Gemeinschaft geworden ist, muss vielleicht ein ganzes Jahrhundert warten, ehe es im Kreislauf unserer Ordnung an ihm ist, uns zu verlassen und wieder in die menschliche Welt einzutreten. Die Vorbereitungen sind aufwändig, sie fordern eine genaue Beobachtung des Kindes sowie seiner Freunde und Familie. Dies muss selbstverständlich unbemerkt vonstatten gehen, und am besten wählt man das Kind aus, ehe es zur Schule geht. Später wird es komplizierter, da man über die engste Familie hinaus sich unendlich viele Informationen einprägen und diese verarbeiten muss. Zudem muss man fähig sein, sich nicht nur die Persönlichkeit und Geschichte des Kindes anzueignen, sondern auch seinen Körperbau und seine Gesichtszüge. Mit Säuglingen geht das am leichtesten, doch für sie zu sorgen,
ist für die Kobolde ein Problem. Am besten sollten die Kinder sechs oder sieben Jahre alt sein. Ist das Kind älter, hat es bereits ein stärker entwickeltes io Ich-Gefühl. Doch gleichgültig, wie alt oder jung es ist, das Ziel besteht darin, die Eltern so zu täuschen, dass sie glauben, der Wechselbalg sei ihr Kind. Was leichter ist, als es sich die meisten vorstellen. Nein, die Schwierigkeit liegt nicht darin, sich die Geschichte eines Kindes zu eigen zu machen, sondern im schmerzhaften körperlichen Vorgang des Wechsels. Zuerst dehnt man seine Knochen und die Haut, bis man zitternd bei der annähernd richtigen Größe und Körperform einrastet. Dann beginnen die anderen mit der Arbeit am neuen Kopf und Gesicht, was ihnen die Fähigkeiten eines Bildhauers abverlangt. Da ist beträchtliches Zerren und Ziehen am Knorpel vonnöten, als wäre der Schädel ein weicher Lehm- oder Karamellklumpen, und dann die tückische Sache mit den Zähnen, das Entfernen der Haare und das mühsame Einweben der neuen. Die gesamte Prozedur verläuft ohne ein Gramm Schmerzmittel, nur einige wenige trinken widerlichen Alkohol aus vergorenem Eichelbrei. Ein scheußliches, aber äußerst lohnendes Unterfangen, wobei mir die komplizierte Umgestaltung der Genitalien erspart blieb. Am Ende ist man die exakte Kopie eines Kindes. Vor dreißig Jahren, 1949, war ich ein Wechselbalg, der wieder ein menschliches Wesen wurde. Ich habe mit Henry Day das Leben getauscht, einem Jungen, der außerhalb der Stadt auf einem Bauernhof lebte. An einem Spätsommernachmittag lief der siebenjährige Henry von zu Hause weg und versteckte sich in einer hohlen Kastanie. Die Spione unter uns Wechselbälgern folgten ihm und gaben Alarm, und ich verwandelte mich in sein perfektes Faksimile. Wir packten ihn, und ich schlüpfte in den hohlen Stamm, um mein Leben gegen seins auszutauschen. Als der Suchtrupp mich in dieser Nacht fand, waren alle glücklich, erleichtert und stolz — gar 4 nicht wütend, wie ich erwartet hatte. »Henry«, sprach mich ein rothaariger Mann in einer Feuerwehruniform an, als ich in meinem Versteck so tat, als schliefe ich. Ich schlug die Augen auf und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Der Mann wickelte mich in eine dünne Decke und trug mich aus dem Wald bis zu einer gepflasterten Straße, wo ein Feuerwehrwagen wartete, dessen rotes Licht wie ein Herzschlag pulsierte. Die Feuerwehrmänner brachten mich nach Hause zu Henrys Eltern, zu meinem neuen Vater und meiner neuen Mutter. Als wir in jener Nacht über die Straße fuhren, war mein steter Gedanke: Sollte ich diese erste Prüfung bestehen, würde die Welt wieder mir gehören. Eine weit verbreitete Legende besagt, in der Tierwelt erkenne die Mutter ihr Junges und lehne ein fremdes, das sich in den Bau oder ins Nest drängt, ab. Das stimmt nicht. Der Kuckuck legt seine Eier immer in fremde Nester, und obwohl das Kuckucksjunge auffallend groß ist und einen unbändigen Appetit zeigt, bekommt es genauso viel, nein, tatsächlich noch mehr mütterliche Zuwendung, die oft sogar so weit geht, dass sie die anderen Jungen aus ihrem
luftigen Heim stößt. Manchmal lässt die Vogelmutter ihre eigene Brut wegen der unersättlichen Ansprüche des Kuckucks darben. Meine erste Aufgabe bestand darin, den Anschein zu erwecken, ich wäre Henry Day. Leider sind Menschen gegenüber Eindringlingen in ihr Nest viel misstrauischer und weniger tolerant. Die Rettungsleute wussten nur, dass sie nach einem kleinen Jungen suchten, der sich im Wald verirrt hatte, also konnte ich stumm bleiben. Schließlich hatten sie einen gefunden und waren darüber sehr froh. Als der Feuerwehrwagen in die Auffahrt zum Haus der Days schlingerte, erbrach ich ein buntes Gemisch aus 5 Eichelbrei, Brunnenkresse und kleinen Insektenpanzern gegen die leuchtend rote Tür. Der Feuerwehrmann tätschelte mir den Kopf und hob mich mitsamt der Decke hoch, als wäre ich nichts weiter als ein gerettetes Kätzchen oder ein ausgesetztes Baby. Henrys Vater sprang von der Veranda, um mich in die Arme zu schließen, und mit einer kräftigen Umarmung und liebevollen, nach Rauch und Alkohol riechenden Küssen hieß er mich als seinen einzigen Sohn zu Hause willkommen. Die Mutter würde sehr viel schwerer zu täuschen sein. Ihr Gesicht verriet all ihre Gefühle: die fleckige, von salzigen Tränen rissige Haut, die blassblauen Augen rot gerändert, das Haar matt und zerzaust. Sie berührte mich mit zittrigen Händen und stieß einen kleinen schrillen Schrei aus, so wie ein Hase, der schmerzvoll in eine Falle gegangen ist. Sie trocknete sich die Augen an ihrem Blusenärmel und hüllte mich in das quälende Schaudern einer liebenden Frau. Dann begann sie in dieser tiefen Koloratur zu lachen. »Henry? Henry?« Sie schob mich zurück und hielt mich auf Armeslänge an den Schultern fest. »Lass mich dich anschauen. Bist du es wirklich?« »Es tut mir leid, Mom.« Sie strich mir die Strähnen, hinter denen sich meine Augen versteckten, aus der Stirn und drückte mich wieder an ihre Brust. Ihr Herz klopfte gegen meine Backe, und mir war heiß und unbehaglich zumute. »Du musst dir keine Sorgen machen, Schätzchen. Du bist zu Hause, gesund und munter, das allein zählt. Du bist zu mir zurückgekommen.« Vater legte seine große Hand auf meinen Hinterkopf, und ich dachte, diese Wiedersehensszene könnte ewig so weitergehen. *3 Ich entwand mich ihnen und zog das Taschentuch aus Henrys Hosentasche, wobei Krümel auf den Boden fielen. »Es tut mir leid, Mom, dass ich das Brötchen gestohlen habe.« Sie lachte, und ein Schatten verschwand aus ihren Augen. Vielleicht hatte sie sich bis jetzt gefragt, ob ich tatsächlich ihr eigen Fleisch und Blut sei, aber das Erwähnen des Brötchens führte zum gewünschten Erfolg. Henry hatte es vom Tisch gestohlen, ehe er von zu Hause weglief, und als ihn die anderen zum Fluss zerrten, hatte ich es ihm geklaut und eingesteckt. Die Krümel waren der Beweis, dass ich zu ihr gehörte.
Weit nach Mitternacht brachten sie mich ins Bett, und so ein Möbel ist vielleicht die größte Erfindung der Menschheit. Auf jeden Fall ist es weit bequemer, als in einem kalten Erdloch zu schlafen, mit einem modrigen Hasenfell als Kopfkissen und dem ängstlichen Stöhnen und Seufzen von einem Dutzend träumender Wechselbälger. Stocksteif streckte ich mich zwischen den kühlen Laken aus und sann über mein Glück nach. Es gibt viele Geschichten von Wechselbälgern, die gescheitert sind und von ihren vermeintlichen Familien entlarvt wurden. Ein Kind, das in einem Fischerdorf in Neuschottland aufgetaucht war, hatte seine armen Eltern so geängstigt, dass sie bei heftigem Schneesturm aus dem eigenen Haus flüchteten und man später ihre erfrorenen Leichen in den Wellen des Hafenbeckens auf und ab tanzend fand. Ein sechsjähriges Wechselbalgmädchen schockierte seine neuen Eltern dermaßen, als es den Mund zum Sprechen öffnete, dass sie sich in höchster Angst gegenseitig heißes Wachs in die Ohren gössen und nie mehr wieder einen Ton vernahmen. Andere Paare, die herausgefunden hatten, dass ihr Kind gegen einen Wechselbalg ausgetauscht worden war, bekamen über Nacht schlohweißes Haar, verfielen in ein irres Muskelzucken, erlitten Herzanfälle oder starben plötzlich. Schlimmer noch war — auch wenn es nur selten vorkam —, dass manche Familien das Wesen exorzierten, vertrieben, aussetzten oder umbrachten. Vor siebzig Jahren verlor ich einen guten Freund, weil er vergessen hatte, sich älter aussehend zu machen, als er heranwuchs. Da seine Eltern überzeugt waren, er sei ein Teufel, schnürten sie ihn wie ein unerwünschtes Kätzchen in einen Jutesack und warfen ihn in einen Brunnen. Doch meistens sind die Eltern über die plötzliche Veränderung ihres Sohns oder ihrer Tochter nur verblüfft, oder aber ein Ehepartner gibt dem anderen die Schuld an deren sonderbarem Wesen. Es ist ein riskantes Unterfangen, nichts für Feiglinge. Dass ich so weit gekommen war, ohne enttarnt zu werden, machte mich schon sehr zufrieden, dennoch war ich nicht völlig entspannt. Eine halbe Stunde nachdem ich zu Bett gegangen war, öffnete sich mit einem Mal langsam meine Zimmertür. Vom Flurlicht umrahmt, steckten Mr. und Mrs. Day die Köpfe durch den Spalt. Ich kniff die Augen zusammen und tat, als schliefe ich. Sie schluchzte leise, aber beharrlich. Niemand konnte mit solcher Gewandtheit weinen wie Ruth Day. »Wir müssen uns bessern, Billy. Du musst dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht.« »Ich weiß, ich verspreche es«, flüsterte er. »Schau doch, wie er schläft. >Den unschuldigen Schlaf, der des Grams verworren Gespinst entwirrte« Er zog die Tür zu und ließ mich in der Dunkelheit zurück. Da meine KoboldFreunde und ich den Jungen monatelang ausspioniert hatten, kannte ich bereits mein neues Zuhause am Wald'5 rand von außen. Henrys Blick auf die wenigen Acres und die Welt dahinter war zauberhaft. Uber die Tannenwipfel hinweg fiel das Licht der Sterne durch das Fenster. Durch seine offenen Flügel wehte eine Brise über die Laken, und Nachtfalter flatterten auf dem Rückzug von ihren Schlupfwinkeln gegen das Fliegengitter. Der fast runde Mond warf genügend Licht in das Zimmer,
sodass ich das blasse Muster der Tapete erkennen konnte, das Kreuz über meinem Kopf und Blätter aus Illustrierten und Zeitungen, die an die Wand geheftet waren. Ein Baseball und der passende Handschuh lagen auf dem Schreibtisch, und auf dem Waschtisch standen ein Krug und eine Schüssel, die weiß leuchteten. An der Schüssel lehnte ein kleiner Stoß Bücher, und ich konnte meine Aufregung bei dem Gedanken, sie lesen zu können, sobald es Morgen würde, kaum zügeln. Bei Tagesanbruch begannen die Zwillinge zu schreien. Dem Geräusch folgend, lief ich über den Flur, vorbei am Zimmer meiner neuen Eltern. Als die Babys mich sahen, waren sie auf der Stelle ruhig. Und hätten Mary und Elizabeth die Gabe der Vernunft und der Sprache besessen, hätten sie in dem Augenblick, als ich ihr Zimmer betrat, sicherlich gesagt: »Du bist nicht Henry.« Doch sie waren nur Knirpse, mit mehr Zähnen als Sätzen, und konnten die Erkenntnisse ihres jungen Verstands nicht in Worte fassen. Mit ihren klaren, großen Augen beobachteten sie jede meiner Bewegungen mit stiller Aufmerksamkeit. Ich versuchte es mit einem Lächeln, doch sie lächelten nicht zurück. Ich zog Grimassen, kitzelte sie unter ihrem speckigen Kinn, tanzte wie eine Puppe und zwitscherte wie eine Spottdrossel, doch sie betrachteten mich nur kühl und ohne jede Regung wie zwei stumme Kröten. Als ich mir den Kopf zermarterte, wie ich zu ihnen durchdringen könnte, erinnerte ich mich an andere Situa16 tionen, wo ich im Wald etwas ebenso Hilflosem und Gefährlichem wie diesen beiden Menschenkindern begegnet war. Als ich einmal durch eine einsame Klamm wanderte, war mir plötzlich ein junger Bär begegnet, der seine Mutter verloren hatte. Das verängstigte Tier stieß einen so gottverlassenen Schrei aus, dass ich schon nahezu darauf gefasst war, bald von allen Bären der Umgebung umzingelt zu sein. Trotz meiner magischen Kräfte bei Tieren konnte ich gegen ein Ungeheuer, das mich mit einem einzigen Hieb zerfetzen würde, nichts ausrichten. Mit Summen hatte ich es dann beruhigt, und als ich mich daran erinnerte, machte ich es mit meinen neuen Schwestern genauso. Der Klang meiner Stimme begeisterte sie, und plötzlich begannen sie zu gurren und ihre Patschehändchen zusammenzuschlagen, wobei ihnen lange Spuckefäden über das Kinn rannen. »Funkle, funkle, kleiner Stern« und »Schlaf, Kindchen, schlaf« beruhigten sie oder überzeugten sie davon, dass ich ihr Bruder sein könnte oder gar ihrem Bruder vorzuziehen war, aber wer weiß schon mit Bestimmtheit zu sagen, welche Gedanken ihnen durch ihre ahnungslosen Köpfchen huschten? Sie glucksten und kieksten. Um einen Kontrapunkt zu setzen, sprach ich zwischen den Liedern mit Henrys Stimme zu ihnen, und allmählich fingen sie an, es zu glauben — oder gaben ihre Ungläubigkeit auf. Mrs. Day eilte summend und trällernd in das Babyzimmer. Ihr Leibesumfang und ihre Fülle verblüfften mich; ich hatte sie schon oft gesehen, aber nie aus nächster Nähe. Vom sicheren Wald aus hatte sie mehr oder weniger wie alle erwachsenen Menschen gewirkt, aber so leibhaftig strahlte sie eine einzigartige Weichheit aus, obwohl sie etwas säuerlich — nach Milch und Hefe — roch.
Sie tänzelte durch den Raum und zog schwungvoll die Vorhänge auf, sodass goldenes Morgenlicht hereinflutete. 8 Und die Mädchen, erfreut, sie zu sehen, zogen sich aus eigener Kraft an den Gittern ihrer Kinderbettchen hoch. Auch ich lächelte sie an. Es war das Einzige, das ich tun konnte, um nicht in jubelndes Gelächter auszubrechen. Sie lächelte zurück, als wäre ich ihr einziger Sohn. »Hilf mir mit deinen Schwestern, Henry.« Ich hob das nächstliegende Mädchen hoch und verkündete meiner neuen Mutter sehr treffend: »Ich nehme Elizabeth.« Sie war schwer wie ein Dachs. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ein Kind auf dem Arm zu halten, ohne dass man die Absicht hat, es zu rauben; die ganz Kleinen strahlen eine wunderbare Zartheit aus. Die Mutter der Mädchen hielt inne und starrte mich an, für die Dauer eines Herzschlags sah sie verwirrt und unsicher aus. »Woher weißt du, dass es Elizabeth ist? Du hast sie doch nie auseinanderhalten können.« »Das ist einfach, Mom. Elizabeth hat zwei Grübchen, wenn sie lächelt, und ihr Name ist länger, und Mary hat nur eins.« »Bist du aber schlau.« Sie hob Mary hoch und ging die Treppe hinunter. Elizabeth schmiegte ihr Gesicht an meine Schulter, als wir unserer Mutter folgten. Der Küchentisch bog sich unter einem üppigen Festmahl — Pfannkuchen und Speck, ein Kännchen warmen Ahornsirups, ein glänzender Krug mit Milch und Schüsseln voller Bananenstückchen. Nach meinem langen Leben im Wald, wo ich gegessen hatte, was ich finden konnte, erschien mir diese einfache Kost wie eine bunte Mischung exotischer Delikatessen, reichhaltig, üppig, eine Garantie fürs Sattwerden. »Schau, Henry, ich habe all deine Lieblingsspeisen gemacht.« Ich hätte sie auf der Stelle küssen können. War sie bereits mit 8 sich zufrieden, weil sie sich die Mühe gemacht hatte, Henrys Lieblingsessen zuzubereiten, musste sie sich durch die Art und Weise, wie ich freudig das Frühstück verdrückte, äußerst belohnt gefühlt haben. Da ich nach vier Pfannkuchen, acht Scheiben Speck und fast der gesamten Milch aus dem Krug noch über Hunger klagte, machte sie mir noch drei Eier und toastete einen halben Laib selbstgebackenen Brots. Mein Stoffwechsel hatte sich offenbar umgestellt. Ruth Day deutete meinen Hunger als ein Zeichen der Liebe zu ihr, und die nächsten elf Jahre — bis ich das Haus verließ, um aufs College zu gehen — verwöhnte sie mich. Mit der Zeit sublimierte sie ihre Ängste und begann genauso viel zu essen wie ich. Jahrzehnte als Wechselbalg hatten meinen Appetit und meine Kräfte geprägt, sie jedoch war überaus menschlich und wurde mit jeder Jahreszeit, die verging, dicker. Im Laufe der Jahre habe ich mich oft gefragt, ob sie sich mit ihrem echten Erstgeborenen auch so sehr verändert hätte oder ob sie ihren nagenden Verdacht mit Nahrung zu ersticken suchte. An diesem ersten Tag hielt sie mich im Haus. Und wer konnte es ihr verdenken, nach allem, was geschehen war? Ich blieb dichter bei ihr als ihr
eigener Schatten und beobachtete sie mit äußerster Aufmerksamkeit, um noch besser zu lernen, wie ich ihr Sohn sein könnte, während sie Staub wischte, fegte, den Abwasch machte und den Babys die Windeln wechselte. Das Haus wirkte sicherer als der Wald, aber doch sonderbar und fremd. Kleine Überraschungen lauerten. Das Tageslicht fiel schräg durch die Fenster mit den Vorhängen, kroch über die Wände und warf seine Muster auf die Teppiche in einer völlig anderen Geometrie als unter einem Blätterbaldachin. Besonders interessant waren die kleinen Universen aus Staubkörnchen, die man nur in den Sonnenstrahlen sah. Im Gegensatz zum gleißenden Sonnenlicht '9 draußen hatte das Licht im Haus eine einschläfernde Wirkung, insbesondere auf die Zwillinge. Kurz nach dem Mittagessen — noch ein Festmahl mir zu Ehren — wurden sie müde und hielten am frühen Nachmittag ein Schläfchen. Als meine Mutter auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer schlich, fand sie mich geduldig am selben Fleck wartend, wo sie mich zurückgelassen hatte, wie ein Wächter stand ich im Flur. Ich war wie verhext von einem Stecker, der mir zuschrie, ich solle meinen kleinen Finger in ihn hineinstecken. Obwohl die Zimmertür der Zwillinge geschlossen war, klang ihr rhythmisches Atmen wie ein Sturm, der durch Bäume braust, denn mir fehlte noch die Übung, nicht hinzuhören. Mutter nahm mich bei der Hand, und ihr sanfter Griff erfüllte mich mit einer großen Wärme. Allein durch ihre Berührung vermittelte die Frau meinem Innersten einen tiefen Frieden. Mir fielen die Bücher auf Henrys Waschtisch ein, und ich fragte sie, ob sie mir eine Geschichte vorlesen wolle. Wir gingen in mein Zimmer und krabbelten gemeinsam ins Bett. In den letzten hundert Jahren waren mir Erwachsene völlig fremd geworden, und das Leben unter den Kobolden hatte meine Perspektive verschoben. Sie, die mehr als doppelt so groß war wie ich, schien mir zu stabil und robust, um echt zu sein, vor allem im Vergleich mit dem mageren Jungenkörper, den ich angenommen hatte. Meine Lage schien prekär und unberechenbar. Würde sie sich herüberrollen, konnte sie mich wie ein Reisigbündel zerbrechen. Andererseits bildete ihre bloße Größe einen Schutzwall gegen die Außenwelt. Sie würde mich vor all meinen Widersachern beschützen. Während die Zwillinge schliefen, las sie mir aus den Brüdern Grimm vor — »Das Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«, »Der Wolf und die sieben 9 jungen Geißlein«, »Hansel und Gretel«, »Der singende Knochen«, »Das Mädchen ohne Hände« und viele andere bekannte und unbekannte Geschichten. Meine Lieblingsmärchen waren »Aschenputtel« und »Rotkäppchen«, die sie mit wunderschönem Ausdruck in ihrem Mezzosopran las, in einem Singsang, viel zu heiter für diese grausamen Märchen. In ihrer melodiösen Stimme klang ein Echo aus alter Zeit an, und wie ich so neben ihr lag, schmolzen die Jahrzehnte dahin. Ich hatte diese Märchen schon einmal gehört, vor langer, langer Zeit, in Deutschland, aber auf Deutsch von meiner richtigen Mutter (ja, auch ich hatte vor langer, langer Zeit einmal eine Mutter), die mich mit Aschenputtel und Rotkäppchen aus dem Buch der Kinder- und Hausmärchen vertraut gemacht
hatte. Ich hatte vergessen wollen, glaubte, ich hätte vergessen, und dennoch vernahm ich recht deutlich ihre Stimme in meinem Kopf. »Es war einmal im tiefen, tiefen Wald.« Obwohl ich die Gemeinschaft der Wechselbälger bereits vor langer Zeit verlassen habe, bin ich in gewissem Sinne in diesem dunklen Wald geblieben, denn ich verberge meine wahre Identität vor denen, die ich liebe. Erst nach diesen merkwürdigen Ereignissen im vergangenen Jahr finde ich jetzt den Mut, die Geschichte zu erzählen. Dies ist mein viel zu lange hinausgeschobenes Geständnis, das ich Angst hatte abzulegen und das ich wegen der Gefahren, die nun auch meinem Sohn drohen, erst jetzt mache. Wir verändern uns. Ich habe mich verändert. 10 Kapitel 2 Ich bin weggegangen. Dies ist kein Märchen, sondern die wahre Geschichte meines Doppellebens, die ich da zurücklasse, wo alles begann, für den Fall, dass man mich wiederfindet. Meine Geschichte nimmt ihren Anfang, als ich ein siebenjähriger Junge war und von meinen jetzigen Wünschen noch nichts wusste. An einem Augustnachmittag vor fast dreißig Jahren lief ich von zu Hause fort und kehrte nie mehr zurück. Belanglose, längst vergessene Gründe führten dazu, dass ich wegrannte, aber ich weiß noch, dass ich mich auf eine lange Reise vorbereitete, denn ich stopfte meine Taschen mit Brötchen voll, die vom Mittagessen übrig geblieben waren, und schlich so leise aus dem Haus, dass meine Mutter womöglich gar nicht merkte, dass ich weggelaufen war. Unser Hof war von der Hintertür der Farm bis zum fließenden Übergang zum Wald in grelles Licht getaucht, es war, als überquerte man einen Grenzstreifen. Nachdem ich die Wildnis erreicht hatte, fühlte ich mich im tiefen, tiefen Wald sicher und geborgen, und als ich weiterging, legte sich Stille zwischen die Bäume. Die Vögel sangen nicht mehr und die Insekten verstummten. Ein Baum, müde von der Gluthitze, ächzte auf, als verschöbe 10 er seine Wurzeln. Das grüne Blätterdach über mir säuselte bei jedem seltenen, flüchtigen Windhauch. Als die Sonne hinter den Bäumen versank, kam ich an eine mächtige Kastanie, deren Stamm ein Loch hatte. Es war so groß, dass ich hineinklettern, mich darin verstecken und dort auf die Suchenden warten konnte. Und als sie nah genug waren und ich ihnen ein Zeichen hätte geben können, rührte ich mich nicht. Die Erwachsenen riefen immerzu »Henry« in den schwindenden Nachmittag, in das Halbdunkel der Abenddämmerung und in die kalte, sternenklare Nacht. Ich weigerte mich zu antworten. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen tanzten wie irre zwischen den Bäumen, und der Suchtrupp, der durch das Unterholz brach, über Baumstümpfe und umgefallene Stämme stolperte, lief an mir vorbei. Bald verklangen ihre Rufe in der Ferne, verebbten zu Echos, zu Flüstern und dann Stille. Ich war fest entschlossen, mich nicht finden zu lassen.
Ich verkroch mich tiefer in meine Höhle, presste das Gesicht gegen das Innere des Baums, sog seinen süßen Moder und seine Feuchtigkeit ein, die Maserung rau an meiner Haut. In der Ferne erhob sich ein leises Säuseln und verdichtete sich zu einem Surren. Als es näher kam, wurde es zu einem lauten Geraune und nahm an Tempo zu. Reisig knackte und Blätter raschelten, als es auf den hohlen Baum zujagte und kurz vor meinem Versteck zum Stillstand kam. Keuchendes Atmen, Gewisper, Schritte. Ich rollte mich ganz klein zusammen, als etwas halb in das Loch hineinkrabbelte und an meine Füße stieß. Kalte Finger umschlossen meine nackten Knöchel und zogen. Sie zerrten mich aus dem Loch und drückten mich auf den Boden. Ich stieß einen Schrei aus, ehe mir eine kleine Hand den Mund zuhielt und dann zwei andere Hände mir einen Knebel hineinschoben. In der Dunkelheit waren ihre Gesichter nicht zu erkennen, aber an Größe und Gestalt waren sie wie ich. Rasch zogen sie mir die Kleider aus und wickelten mich wie eine Mumie in ein hauchdünnes Spinnennetz. Kleine Kinder, ungewöhnlich starke Jungen und Mädchen, hatten mich entführt. Sie hoben mich hoch und rannten los. Von mehreren Händen und knochigen Schultern gehalten, schwebte ich in halsbrecherischer Geschwindigkeit, auf dem Rücken liegend, durch den Wald. Am Himmel zeigten sich die ersten Sterne, die wie ein Sternschnuppenregen vorbeisausten, und in der Dunkelheit wirbelte die Welt rasend schnell davon. Trotz ihrer Last kamen die muskulösen Geschöpfe behände voran; ohne zu straucheln oder zu stolpern liefen sie durch das dunkle Gelände, vorbei an Bäumen, die im Weg waren. Als ich wie eine Eule durch den nächtlichen Wald glitt, fühlte ich mich beschwingt und ängstlich zugleich. Derweil sprachen sie miteinander in einem Kauderwelsch, das sich wie das Fauchen eines Eichhörnchens oder das raue Husten eines Hirschs anhörte. Eine heisere Stimme flüsterte etwas, das wie »hierher« oder »Henry Day« klang. Die meisten schwiegen nun, nur hin und wieder heulte einer von ihnen auf wie ein Wolf. Als hätte jemand ein Signal gegeben, verfielen sie in einen langsameren Galopp und liefen über das, was ich später als ausgetretene Wildpfade der Bewohner des Waldes kennen lernen sollte. Mücken setzten sich auf meine nackte Haut, im Gesicht, auf Hände und Füße, stachen mich, wie es ihnen gefiel, und saugten sich mit meinem Blut voll. Es fing an zu jucken, und verzweifelt wollte ich mich kratzen. Uber das Zirpen der Grillen und Zikaden und das Quäken der Frösche hinweg plätscherte und gurgelte Wasser in der Nähe. Die kleinen Teufel sangen im Gleich 11 klang, bis die ganze Mannschaft plötzlich stehen blieb. Ich hörte den Fluss rauschen. Und gefesselt, wie ich war, warfen sie mich ins Wasser. Ertrinken ist eine schreckliche Art zu sterben. Es war nicht der hohe Bogen durch die Luft, der mir Angst machte, oder der Aufprall auf dem Wasser, sondern das Geräusch meines Körpers, der die Oberfläche durchstieß. Die abrupte Abfolge von warmer Luft und kaltem Wasser erschreckte mich am meisten. Der Knebel löste sich nicht aus meinem Mund; die Fesseln an meinen Händen lockerten sich nicht. Unter Wasser konnte ich nichts mehr sehen, und
einen Moment lang versuchte ich, die Luft anzuhalten, doch als sich meine Lungen rasch füllten, spürte ich den schmerzhaften Druck in der Brust und den Nebenhöhlen. Mein Leben blitzte nicht in Bildern vor meinem inneren Auge auf — ich war erst sieben —, und ich rief auch nicht nach meiner Mutter, meinem Vater oder nach Gott. Mein letzter Gedanke war nicht »Ich sterbe«, sondern »Ich bin tot«. Das Wasser umschloss mich, sogar meine Seele, die Tiefe umfing mich, und Seegras schlang sich um meinen Kopf. Als viele Jahre später die Geschichte meiner Wandlung und Reinigung zur Legende geworden war, hieß es, als sie mich wiederbelebten, sei ein Wasserstrahl mit Kaulquappen und winzigen Fischen aus mir herausgeschossen. Meine erste Erinnerung ist, dass ich in einer Art Bett aufwachte, mit krustigem Rotz in Nase und Mund, und unter einer Decke aus Schilf lag. Um mich herum saßen auf Gesteinsbrocken und Baumstümpfen die Elben, wie sie sich selbst nannten, und sprachen in aller Ruhe miteinander, als wäre ich gar nicht da. Ich zählte sie, und mit mir waren wir genau ein Dutzend. Einer nach dem anderen bemerkte, dass ich wach und am Leben war. Ich verhielt mich still, aus 12 Angst und ebenso aus Scham, denn ich war völlig nackt unter der Decke. Die ganze Szene kam mir wie ein Wachtraum vor, oder als wäre ich gestorben und neu geboren. Sie zeigten auf mich und sprachen ganz aufgeregt. Zuerst klang ihre Sprache völlig unmelodiös, voll gurgelnder Konsonanten und abgehacktem Rauschen. Doch nach und nach hörte ich ein moduliertes Englisch heraus. Vorsichtig näherten sich die Elben, um mich nicht zu verschrecken, so wie man sich einem aus dem Nest gefallenen Vögelchen nähert oder einem Kitz, das seine Mutter verloren hat. »Wir haben schon geglaubt, du schaffst es nicht.« »Hast du Hunger?« »Hast du Durst? Möchtest du Wasser?« Sie krochen näher, und ich konnte sie besser sehen. Sie sahen aus wie eine Schar verwilderter Kinder. Sechs Jungen und fünf Mädchen, geschmeidig und dünn, ihre Haut dunkel von der Sonne und überzogen mit einer Schicht aus Staub und Asche. Fast nackt waren sie, nur mit schlecht sitzenden, kurzen Hosen bekleidet oder mit altmodischen Bundhosen, drei oder vier trugen fadenscheinige Hemden. Keiner hatte Schuhe an, und ihre Fußflächen waren wie ihre Hände schwielig und hart. Ihr Haar war lang und struppig, wild gelockt oder knotig verheddert. Einige hatten ein komplettes Milchgebiss, während andere dort, wo ihnen Zähne ausgefallen waren, Lücken vorzeigten. Nur einer, der ein paar Jahre älter aussah als die anderen, hatte zwei neue Zähne im Oberkiefer. Ihre Gesichter waren sehr fein und zart. Als sie mich so eingehend musterten, zeigten sich leichte Krähenfüße in den Winkeln ihrer stumpfen, leeren Augen. Sie sahen nicht wie Kinder aus, die ich kannte, sondern wie Greise in Körpern wilder Kinder. 12
Sie waren Elben, wenn auch nicht von der Art, wie man sie aus Büchern, von Gemälden und aus Filmen kennt. Nicht wie die sieben Zwerge, die Wichtelmänner, die Dreikäsehochs, der Däumling, die Heinzelmännchen, Elfen oder diese nahezu nackten, fliegenden Geister am Anfang von Fantasia. Nicht wie die rothaarigen Männchen in grünen Kleidern, die einen an das Ende des Regenbogens führen. Weder wie die Helfer des Weihnachtsmanns noch wie die Ungeheuer, Trolle oder andere Scheusale der Brüder Grimm oder aus Mother Goose. Die Jungen und Mädchen waren in der Zeit stecken geblieben, ohne erkennbares Alter, unbändig wie eine Meute wilder Hunde. Ein nussbraunes Mädchen hockte sich zu mir und zeichnete Muster in den Staub neben meinem Kopf. »Ich heiße Speck.« Sie lächelte und sah mich an. »Du musst etwas essen.« Sie winkte ihre Freunde näher heran, die drei Schalen vor mich hinstellten: einen Salat aus Löwenzahnblättern, Brunnenkresse und wilden Pilzen; einen Berg Brombeeren, vor Morgengrauen von stachligen Ranken gepflückt; und verschiedene geröstete Käfer. Letztere verweigerte ich, aber die Früchte und das Grünzeug spülte ich mit klarem, kaltem Wasser aus einem ausgehöhlten Kürbis herunter. In Grüppchen beobachteten sie mich aufmerksam, flüsterten sich etwas zu, sahen mir immer wieder ins Gesicht und lächelten, wenn sie meinen Blick auffingen. Drei Elben kamen, um die leeren Schalen fortzunehmen; eine andere brachte mir eine Hose. Sie kicherte, während ich mich unter meiner Schilfdecke abmühte, und als ich dann versuchte, den Hosenschlitz zuzuknöpfen, ohne meine Blöße zu zeigen, brach sie in schallendes Gelächter aus. Ich war nicht in der Lage, die ausgestreckte Hand des Anführers zu schütteln, als er sich und seine Gefährten vorstellte. 2- 1 »Ich bin Igel«, sagte er und strich sich das blonde Haar zurück. »Das ist Beka.« Beka, ein Junge mit Froschgesicht, war einen Kopf größer als die anderen. »Und das ist Onions.« In einem gestreiften Jungenhemd und einer kurzen Hose, die von Hosenträgern gehalten wurde, trat sie nach vorne. Während sie mit einer Hand ihre Augen vor der Sonne schützte, blinzelte sie und lächelte mich an, und ich wurde rot bis zum Hals. Ihre Fingerspitzen waren grün, da sie immer wilde Zwiebeln ausbuddelte, die sie so gerne aß. Als ich fertig angezogen war, stützte ich mich auf die Ellbogen, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. »Ich bin Henry Day«, krächzte ich mit vom Schmerz rauer Stimme. »Hallo, Aniday.« Onions lächelte, und alle lachten bei diesem Namen. Die Elbenkinder begannen zu singen, »Aniday, Aniday«, und ein Schrei hallte in meinem Herzen. Von nun an wurde ich Aniday gerufen, und mit der Zeit vergaß ich meinen richtigen Namen, obwohl er manchmal als Andy Day oder Anyway auftauchen sollte. Neu getauft, schwand meine alte Identität, wie bei einem Säugling, der sich nicht an all das erinnert, was vor seiner Geburt geschah. Seinen Namen zu verlieren ist der erste Schritt ins Vergessen. Als der Jubel sich gelegt hatte, stellte mir Igel jeden Elb vor, doch der Namenswirrwarr dröhnte mir in den Ohren. Zu zweit, zu dritt gingen sie weg,
verschwanden in verborgenen Erdlöchern, die rundum die Lichtung säumten, und tauchten mit Seilen und Rucksäcken wieder auf. Einen Moment lang befürchtete ich, dass sie mich festbinden und noch einmal taufen wollten, die meisten nahmen jedoch kaum Notiz von meiner Panik. Sie liefen ¿14 umher und wollten gerne aufbrechen. Igel trat an mein Bett. »Wir gehen auf eine Schnitzeljagd, Aniday. Aber du musst hierbleiben und dich ausruhen. Du hast eine ziemliche Quälerei hinter dir.« Als ich versuchte, aufzustehen, spürte ich den Widerstand seiner Hand auf meiner Brust. Auch wenn er wie ein Sechsjähriger aussah, hatte er die Kraft eines ausgewachsenen Mannes. »Wo ist meine Mutter?«, fragte ich. »Beka und Onions bleiben bei dir. Ruh dich aus.« Er bellte einmal auf, und wie der Blitz sammelte sich die Meute um ihn. Ohne einen Laut und ehe ich protestieren konnte, verschwanden sie im Wald wie ein geisterhaftes Wolfsrudel. Speck, die ihnen hinterhereilte, drehte sich um und rief mir zu: »Du bist jetzt einer von uns.« Dann lief sie in großen Sprüngen davon, um die anderen einzuholen. Ich legte mich wieder zurück und kämpfte, in den Himmel starrend, gegen meine Tränen an. Wolken zogen über die Sommersonne, überrollten mit ihren Schatten die Bäume und das Lager der Elben. Früher war ich allein oder mit meinem Vater durch diesen Wald gestreift, aber nie war ich so tief zu einem so stillen, einsamen Ort vorgedrungen. Die vertrauten Kastanien, Eichen und Ulmen wuchsen hier höher, und der Wald, der die Lichtung umgab, schien dicht und undurchdringlich. Hie und da sah ich abgewetzte Baumstümpfe, Holzklötze und die Reste eines Lagerfeuers. Eine Glattechse sonnte sich auf dem Stein, auf dem Igel gesessen hatte. Eine Schildkröte schob sich durch das trockene Laub und zog sich in ihren Panzer zurück, als ich mich aufsetzte, um sie genauer zu betrachten. Aufzustehen erwies sich als Fehler und verursachte mir Übelkeit und Schwindel. Ich wollte zu Hause in meinem Bett liegen, 14 wollte den Trost meiner Mutter, wollte sie meinen Schwesterchen vorsingen hören, doch stattdessen spürte ich den kalten, kalten Blick von Beka. Neben ihm summte Onions, die sich auf ein Fadenspiel in ihren flinken Fingern konzentrierte, leise vor sich hin. Sie hypnotisierte mich mit ihren Mustern. Erschöpft legte ich mich wieder zurück und schlotterte trotz der schwülen Hitze. Der Nachmittag wollte kaum vergehen und machte mich schläfrig. Meine beiden Begleiter beobachteten mich, wie ich sie beobachtete, doch sie sagten nichts. Mal bei Bewusstsein, mal nicht, konnte ich meine müden Knochen nicht bewegen, während ich an die Geschehnisse zurückdachte, die mich in diesen Wald geführt hatten, mir Gedanken über die Probleme machte, die mir bevorstünden, wenn ich nach Hause käme. Mitten im Dämmerschlaf nahm ich plötzlich merkwürdige Bewegungen wahr und schlug die Augen auf. Beka und Onions rangen unter einer Decke miteinander. Er lag auf ihrem Rücken, stieß und ächzte, und sie lag auf dem Bauch und hatte mir ihr Gesicht
zugewandt. Ihr grüner Mund öffnete sich, und als sie merkte, dass ich hinüberspähte, warf sie mir ein zahniges Grinsen zu. Ich schloss die Augen und drehte mich weg. Faszination und Abscheu überlagerten sich in meinem verwirrten Kopf. Der Schlaf kehrte erst zurück, als die beiden ruhig wurden, sie summte leise vor sich hin, während das Froschgesicht zufrieden schnarchte. Mein Magen ballte sich zusammen wie eine Faust, und Übelkeit kam über mich wie ein Fieberkrampf. Angsterfüllt und voller Heimweh wollte ich weglaufen und diesen befremdlichen Ort verlassen. Kapitel 3 In den letzten beiden Sommerwochen bei meiner neuen Mutter Ruth Day brachte ich mir das Lesen und Schreiben wieder bei. Sie hatte beschlossen, mich im Haus zu halten oder in Rufweite oder in ihrem Blickfeld, und ich tat ihr den Gefallen von Herzen gerne. Natürlich ist Lesen nur das bloße Verbinden von Zeichen mit Klängen, das Einprägen von Kombinationen, Regeln und deren Auswirkungen, und, sehr wichtig auch, der Abstände zwischen den Wörtern. Schreiben erwies sich als deutlich schwieriger, weil man etwas zu sagen haben muss, ehe man sich vor das weiße Blatt setzt. Aber auch das eigentliche Malen des Alphabets stellte sich als ermüdende Aufgabe heraus. An den meisten Nachmittagen übte ich mit einem Griffel und einem Schwämmchen auf einer Schiefertafel, die ich über und über mit meinem neuen Namen voll schrieb. Da sich meine Mutter zunehmend Sorgen über mein zwanghaftes Verhalten machte, hörte ich schließlich damit auf, aber nicht, ehe ich so reinlich wie möglich niedergeschrieben hatte: »Ich liebe meine Mutter.« Sie freute sich riesig, als sie es später sah, und diese Geste trug mir einen ganzen Pfirsichkuchen ein, nicht ein einziges Stück für die anderen, nicht einmal für meinen Vater. Der Reiz des Neuen, in die zweite Klasse zu gehen, verschliss 3' sich rasch zu einer dumpfen Pein. Die Aufgaben fielen mir leicht, obwohl ich meinen Klassenkameraden beim Verstehen dieses anderen Systems zeichenhafter Logik etwas hinterherhinkte: dem Rechnen. Ich kämpfe bis heute mit den Zahlen, nicht so sehr bei den Grundrechenarten — Addition, Subtraktion, Multiplikation — als vielmehr bei abstrakteren Anordnungen. Die Naturwissenschaften und Geschichte offenbarten mir eine Art, über die Welt zu denken, die sich von meinen Erfahrungen bei den Wechselbälgern sehr unterschied. Zum Beispiel hatte ich keine Ahnung, dass George Washington, metaphorisch gesprochen, der Vater unseres Landes ist, auch wusste ich nicht, dass eine »Nahrungskette« aus einem System von Organismen einer ökologischen Gemeinschaft besteht, die der räuberischen Ordnung entspricht, in der jeder die nächsten, für gewöhnlich die untergeordneten Glieder, als Nahrungsquelle nutzt. Solche Erklärungen der natürlichen Ordnung erschienen mir zunächst höchst unnatürlich. Die Dinge im Wald waren weitaus existenzieller. Das Leben hing vom Schärfen der Instinkte ab, nicht vom Auswendiglernen von Fakten. Seit die letzten Wölfe getötet oder von
Prämienjägern vertrieben worden waren, blieb nur noch der Mensch als Feind. Blieben wir in Deckung, konnten wir überleben. Unsere Schwierigkeit bestand darin, das richtige Kind zu finden, mit dem sich der Platz tauschen ließe. Die Wahl durfte nicht dem Zufall überlassen bleiben. Ein Wechselbalg muss sich für ein Kind entscheiden, das genauso alt ist wie er selbst zur Zeit seiner Entführung. Ich war sieben, als sie mich verschleppten, und sieben, als ich sie verließ, obwohl ich fast hundert Jahre im Wald verbracht hatte. Die Qual jener Welt besteht nicht allein darin, in der Wildnis zu überleben, sondern vor allem im lan 16 gen, unerträglichen Warten, bis man in diese Welt zurückkehren kann. Nach meiner Rückkehr erwies sich diese gelernte Geduld als Tugend. Meine Klassenkameraden achteten jeden Nachmittag darauf, wie die Zeit dahinkroch, und warteten eine Ewigkeit auf das Drei-Uhr-Klingeln. Wir Zweitklässler saßen von September bis Mitte Juni in demselben geisttötenden Raum, und außer an den Wochenenden und während der glorreichen Freiheit in den Ferien erwartete man von uns, dass wir um acht Uhr morgens da waren und uns die nächsten sieben Stunden anständig benahmen. Spielte das Wetter mit, durften wir zweimal am Tag für eine kurze Pause und zur Mittagszeit auf den Schulhof. Rückblickend verblassen die Momente, die wir gemeinsam verbrachten, gegenüber der Zeit, die jeder für sich war, doch manches misst man am besten an der Qualität und nicht an der Quantität. Meine Klassenkameraden ließen mir jeden Tag zu einer Tortur werden. Ich rechnete mit einem gewissen Maß an Zivilisiertheit, doch sie waren schlimmer als die Kobolde. Die Jungen mit ihren schmuddeligen blauen Fliegen und blauen Schuluniformen waren durch die Bank weg grässlich — Nasenpopler, Daumenlutscher, Schnarcher, Nichtsnutze, Pupser, Rülpser, ungewaschen und heruntergekommen. Ein Raufbold namens Hayes hatte Freude daran, die anderen zu quälen, er klaute ihnen das Pausenbrot, drängelte sich vor, pinkelte auf Schuhe und rangelte auf dem Schulhof. Entweder schloss man sich den Schleimern an, die ihn anfeuerten, oder man wurde zum Opfer. Einige Jungen wurden ständig schikaniert. Sie reagierten schlecht, weil sie sich entweder ganz in sich zurückzogen oder, schlimmer noch, bei der geringsten Provokation weinten und schrien. Schon in jungen Jahren waren sie so für ihr ganzes Leben geprägt und würden 16 sicherlich als Verkäufer, als Geschäftsleiter, als Systemanalytiker oder Berater enden. Mit den Zeichen ihrer Demütigung — einem Veilchen, einer blutigen Nase und verquollenen, rot geweinten Augen — kamen sie aus der Pause zurück, und obwohl ich es vielleicht hätte tun sollen, kam ich ihnen nicht zu Hilfe. Hätte ich meine wahre Kraft eingesetzt, hätte ich die Raufbolde mit einem einzigen, gut platzierten Schlag leicht erledigen können. Die Mädchen litten auf ihre Art unter noch schlimmeren Kränkungen. Auch sie zeigten viele der gleichen enttäuschenden Angewohnheiten und mangelnde Hygiene. Sie lachten zu schrill oder gar nicht. Boshaft konkurrierten sie untereinander und mit ihren Gegnern, oder sie entwischten wie Mäuse. Die
Schlimmste von allen, sie hieß Hines, machte Tag für Tag das schüchternste Mädchen mit Spötteleien und Nichtbeachten zur Schnecke. Erbarmungslos erniedrigte sie ihre Opfer, wenn sie zum Beispiel während der Stunde in die Hose machten, wie es am ersten Tag kurz vor der Pause der darauf nicht gefassten Tess Wodehouse passierte. Sie lief feuerrot an, und zum allerersten Mal empfand ich fast so etwas wie Mitgefühl für das Missgeschick eines anderen. Bis zum Valentinstag wurde die Arme wegen dieses Vorfalls gehänselt. Um ihre Kämpfe zu gewinnen, verließen sich die Mädchen in ihren karierten Pullundern und weißen Blusen eher auf Worte statt auf Körperkraft. Im Vergleich mit den Kobold-Mädchen schnitten sie schlecht ab, denn die waren einerseits gerissen wie Raben und andererseits wild wie Luchse. Diese Menschenkinder waren insgesamt schwächer. In so mancher Nacht wünschte ich mir, ich könnte wieder durch den Wald streifen, schlummernde Vögel von ihren Schlafplätzen verscheuchen, Kleider von der Wäscheleine stehlen, unbeschwert in den Tag hinein leben, statt mich Seite für Seite durch meine Haus 17 aufgaben zu quälen und mich über meine Mitschüler zu ärgern. Doch trotz all dieser Kalamitäten glänzte die wirkliche Welt, und ich nahm mir vor, die Vergangenheit zu vergessen und wieder ein richtiger Junge zu werden. Mein Leben zu Hause entschädigte mich reichlich für die Ärgernisse in der Schule. Mutter wartete jeden Nachmittag auf mich, wobei sie so tat, als wischte sie Staub oder kochte, wenn ich triumphierend durch die Vordertür trat. »Da ist ja mein Junge«, sagte sie dann und schob mich rasch in die Küche, wo ein Imbiss mit Brot und Marmelade und einem Becher Ovomaltine wartete. »Wie war dein Tag, Henry?« Ihr zuliebe ließ ich mir ein, zwei erbauliche Lügen einfallen. »Hast du etwas Neues gelernt?« Ich sagte dann all das auf, was ich auf dem Heimweg eingeübt hatte. Sie schien überaus neugierig und erfreut, aber schließlich überließ sie mich den grässlichen Hausaufgaben, die ich für gewöhnlich kurz vor dem Abendessen fertig hatte. In der kurzen Zeit, bis mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, bereitete sie unser Essen zu, wobei ich ihr am Tisch sitzend Gesellschaft leistete. Im Hintergrund spielte das Radio ihre Lieblingssongs, und da ich die alle schon beim ersten Hören auswendig lernte, konnte ich sie, da sie ständig wiederholt wurden, beim nächsten Mal mitsingen. Bewusst oder unbewusst machte ich die Stimmen der Sänger perfekt nach und konnte Ton für Ton, Takt für Takt, Phrase für Phrase genauso singen wie Bing Crosby, Frank Sinatra, Rosemary Clooney oder Jo Stafford. Mutter deutete mein musikalisches Talent als eine natürliche Erweiterung meiner allgemeinen Großartigkeit, meines Charmes und meiner angeborenen Intelligenz. Da sie mir liebend gerne zuhörte, drehte sie oft das Radio ab und bat mich, ihr das Lied noch einmal vorzusingen. 17 »Sei ein braver Junge und sing uns noch einmal >There's a Train out for DreamlandKannst du mich nicht mal zum Tanzen ausführend Als ob eine Mutter von Zwillingen. . . Was soll das heißen, du hast nicht hingehört?« »Nicht so konzentriert, meine ich.« »Du sollst dich auf deine Hausaufgaben konzentrieren und deiner Mutter bei der Hausarbeit helfen.« »Wenn man genau zuhört, statt das Lied nur einfach so vorbeiplätschern zu lassen, hat man sich die Melodie ruckzuck eingeprägt.« Er schüttelte den Kopf und zündete sich eine neue Camel an. »Etwas mehr Respekt vor deinen Eltern, wenn ich bitten darf, Caruso.« Von da an hütete ich mich, den perfekten Stimmenimitator abzugeben, wenn mein Vater in der Nähe war. Mary und Elizabeth hingegen waren zu klein, um sich irgendwelche Fragen zu stellen, sie akzeptierten mein knospendes Imitationstalent einfach. Ja, sie bettelten immer um bestimmte Lieder, vor allem wenn sie in ihren Bettchen lagen, und wenn ich »Over the Rainbow« sang, schliefen sie ein, als hätte man sie bewusstlos geschlagen. Ich gab eine ziemlich gute Judy Garland ab. >18 Meine Tage bei den Days gingen schnell in eine behagliche Routine über, und solange ich mich im Haus oder in der Schule aufhielt, lief alles gut. Mit einem Mal wurde es draußen kälter, und fast im Handumdrehen nahmen die Blätter grelle Gelb- und Rottöne an, die so kräftig waren, dass der bloße Anblick der Bäume mir in den Augen schmerzte. Ich hasste diese strahlenden Erinnerungen an das Leben im Wald. Der Oktober erwies sich als Aufruhr für die Sinne und heizte diese schwindelerregenden letzten Wochen vor Halloween an. Ich wusste, dass dieser Tag mit Partys einhergehen würde, mit dem Erbetteln von Nüssen und Süßigkeiten, mit Feuern auf den Plätzen und mit Streichen, die den Städtern gespielt wurden. Glauben Sie mir, wir Kobolde waren an diesem Unfug immer bestens beteiligt — wir haben Tore ausgehängt, Kürbisse zerschmettert und die Fenster der Bibliothek mit Teufelskarikaturen beschmiert. Noch nicht erlebt hatte ich den Schabernack unter den Kindern, und dass sogar die Schulen mitmischten, wusste ich auch nicht. Zwei Wochen vor dem großen Tag begannen die Nonnen, ein Fest im Klassenzimmer mit Unterhaltungsprogramm und Getränken zu planen. Sie hängten orangefarbene und schwarze Krepppapiergirlanden oben über den Rand der Tafel und hefteten Kürbisse und schwarze Katzen aus Papier an die Wände. Gehorsam schnitten wir schaurige Dinge aus Bastelpapier aus und klebten unsere künstlerischen Ergüsse, so kläglich sie auch waren, zusammen. Mütter wurden angehalten, Plätzchen und Brownies zu backen, sowie Kugeln aus Popcorn und kandierte Äpfel zu machen. Kostüme waren erlaubt — ja, sie
wurden sogar erwartet. Ich erinnere mich genau an das Gespräch mit meiner Mutter über dieses Thema. »Wir feiern eine Halloween-Party in der Schule, und die Leh 19 rerin sagt, wir sollen statt der Schuluniform unsere Gruselkostüme anziehen. Ich möchte ein Kobold sein.« »Was war das?« »Du weißt schon, ein Kobold.« »Ich weiß nicht genau, was das ist. Ist das so etwas wie ein Monster?« »Nein.« »Oder ein Gespenst? Ein Unhold?« »Nein, das nicht.« »Vielleicht ein kleiner Vampir?« »Ich bin kein Blutsauger, Mutter.« »Ist das vielleicht ein Elb?« Ich heulte auf. Zum ersten Mal seit fast zwei Monaten verlor ich die Geduld und schrie mit meiner natürlichen, wilden Stimme. Das Gebrüll erschreckte sie. »Um Himmels willen, Henry. Du hast mich zu Tode erschreckt, heulst los wie diese Todesfee, diese Banshee. Es gibt kein Halloween für dich.« Der Schrei der Banshee, wollte ich ihr sagen, ist ein Jammern und Klagen, aber sie heult nie auf. Stattdessen fing ich an zu weinen und flennte wie die Zwillinge. Sie zog mich an sich und drückte mich an ihren Bauch. »Nicht doch, ich hab doch nur Spaß gemacht.« Sie hob mein Kinn an und schaute mir in die Augen. »Ich weiß einfach nicht, was ein Kobold ist. Wie wäre es, wenn du als Pirat gingest? Das würde dir doch gefallen.« Und so kam es, dass ich schließlich in Hosen und einem Hemd mit Puffärmeln, mit einem Tuch um den Kopf und einem Ohrring wie Errol Flynn gekleidet war. So stand ich am Halloween-Tag als einziger Pirat der ganzen Schule, womöglich des 19 ganzen Landes, vor einer Klasse aus Gespenstern, Hexen und Landstreichern. Die Lehrerin hatte mich auserkoren, »The Teddy Bears' Picnic« als Teil unseres Gruselprogramms zum Besten zu geben. Die Stimme, mit der ich normalerweise sprach, war piepsig wie die von Henry Day, doch als ich »If you go out in the woods tonight« sang, klang ich ganz genauso wie der sonore Bass von Frank DeVol auf der Platte. Diese Imitation schreckte fast alle. Das ganze Lied über schluchzte Caroline Hines voller Angst in der hintersten Ecke. Die meisten Kinder starrten mit sperrangelweit offenem Mund durch ihre Maske und Schminke und wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten. Ich weiß noch, dass Tess Wodehouse dasaß und mich ohne zu blinzeln ansah, als wüsste sie, dass hier eine grundlegende Täuschung vorliegen müsse, ohne den Trick dahinter enträtseln zu können. Doch die Nonnen wussten es besser. Am Ende des Lieds flüsterten sie sich wie verschworene Pinguine etwas zu, nickten dann übereinstimmend und bekreuzigten sich. Das Süßigkeiten-Sammeln ließ zu wünschen übrig. Bei Dämmerung fuhr mich mein Vater in die Stadt und wartete auf mich, während ich an den Häusern der Main Street entlangging und hier und dort ein anderes Kind in einem jämmerlichen Kostüm erspähte. Kein Kobold erschien, nur eine schwarze Katze machte Anstalten, meinen Weg zu kreuzen. In perfekter Katzensprache
zischelte ich dem Tier etwas zu, woraufhin es kehrtmachte und in Panik davonsprang, um sich unter einem Geißblattstrauch zu verstecken. Ein hämisches Grinsen flog mir übers Gesicht. Es war gut zu wissen, dass ich noch nicht all meine Tricks verlernt hatte. 20 Kapitel 4 In der Dämmerung kamen die Krähen herbeigeflogen, um sich für die Nacht in den kahlen Eichen zu sammeln. Vogel für Vogel schwebte heran, schwarze Schatten im schwindenden Licht. Meine Entführung, die mir noch frisch in Erinnerung war, hatte mich ängstlich gemacht und tief erschüttert, daher traute ich nicht einer einzigen Seele im Wald. Ich vermisste meine Familie, nun da schon Tage und Wochen, nur gegliedert vom täglichen Auftauchen der Vögel, vergangen waren. Ihr Heran- und Wegfliegen sorgte für eine beruhigende Stetigkeit. Als die Bäume mit der Zeit die Blätter abwarfen und ihre Äste sich nackt zum Himmel reckten, ängstigten mich die Krähen nicht mehr. Ich freute mich auf ihren anmutigen Anflug und ihre Silhouetten am Winterhimmel, die ein selbstverständlicher Teil meines neuen Lebens geworden waren. Die Elben nahmen mich als einen der Ihren auf und brachten mir bei, im Wald zu leben, und sie alle wuchsen mir ans Herz. Außer Speck, Igel, Beka und Onions waren da noch sieben andere. Die drei Mädchen waren unzertrennlich—Kivi und Blomma, blond, sommersprossig, ruhig und selbstsicher, und ihre ständige Begleiterin, das Plappermaul Chavisory, die aussah, als wäre sie 20 kaum fünf Jahre alt. Wenn sie grinste, schimmerten ihre Milchzähne wie ein Perlenstrang, und lachte sie, bebten und zuckten ihre mageren Schultern. Fand sie etwas wirklich lustig oder aufregend, so sprang sie los wie eine übermütige Fledermaus und tanzte Kreise und Achten über die ganze Lichtung. Die Jungen bildeten, abgesehen vom Anführer Igel und dem Einzelgänger Beka, zwei Paare. Ragno und Zanzara erinnerten mich, so wie ich sie vor Augen habe, an die beiden Söhne der italienischen Lebensmittelhändler in der Stadt. Die beiden dünnen, leicht dunkelhäutigen Jungen hatten wilde schwarze Locken auf dem Kopf, waren schnell in Rage zu bringen und verziehen noch schneller. Die anderen beiden, Smaolach und Luchog, verhielten sich wie Brüder, obwohl sie nicht unähnlicher hätten sein können. Smaolach, der alle außer Beka überragte, konzentrierte sich genauso unbeirrt und ernst auf eine bevorstehende Aufgabe wie eine Drossel, die einen Wurm aus der Erde zerrt. Sein guter Freund Luchog, der Kleinste von uns, strich sich immer wieder eine nicht zu bändigende, nachtschwarze Locke zurück, die sich wie ein Mäuseschwanz auf seiner Stirn ringelte. Seine Augen, so blau wie der Sommerhimmel, verrieten seine innige Zuneigung zu seinen Freunden, sogar wenn er versuchte, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Igel, der Älteste und der Anführer der Bande, übernahm die Aufgabe, mir das Leben im Wald zu erklären. Er zeigte mir, wie man Frösche und Fische mit
einem Spieß erlegt, wie man Wasser findet, das sich über Nacht in einer Laubmulde gesammelt hat, wie man essbare Pilze von tödlichen unterscheidet und Dutzende andere Überlebenstricks. Weil aber selbst der beste Lehrer kein Ersatz für eigene Erfahrung ist, wurde ich in meiner Anfangszeit sehr behütet. Mindestens zwei hatten mich unter stän 21 diger Beobachtung, man ermahnte mich, in der Nähe des Lagers zu bleiben und mich beim leisesten Hinweis auf Menschen zu verstecken. »Wenn sie dich fangen, werden sie dich für einen Teufel halten«, sagte mir Igel. »Dann sperren sie dich ein. Oder schlimmer noch, sie werden überprüfen wollen, ob sie recht haben, und werfen dich ins Feuer.« »Und du wirst brennen wie Kleinholz«, meinte Ragno. »Und es bleibt nur noch ein Rauchwölkchen von dir übrig«, ergänzte Zanzara, was Chavisory mit ihrem Tanz um das Lagerfeuer, der sie in großen Kreisen bis an den Rand der Finsternis trug, veranschaulichte. Als der erste harte Frost einsetzte, wurde eine kleine Gruppe auf nächtliche Exkursion ausgesandt, und sie kam mit Bündeln von Pullovern, Jacken und Schuhen zurück. Wir anderen, die wir zurückgeblieben waren, bibberten unter unseren Hirschfellen. »Da du der Jüngste bist«, sprach Igel zu mir, »darfst du dir als Erster Kleider und Stiefel aussuchen.« Smaolach, der vor dem Schuhberg stand, winkte mich heran. Ich bemerkte, dass seine eigenen Füße nackt waren. Ich stöberte in dem Sortiment aus Kinderlederschuhen, derben breiten Straßenschuhen, Leinenschuhen und dem sonderbaren einzigen Paar Stiefel, bis ich mich letztlich für ein Paar nagelneue schwarzweiße Schnürschuhe entschied, die meine Größe zu haben schienen. »Die werden dir die Knöchel aufreiben.« »Wie ist es mit denen hier?«, fragte ich und hielt ein Paar Tennisschuhe hoch. »Da könnte ich mich hineinzwängen.« Meine Füße fühlten sich feucht und kalt an auf dem gefrorenen Boden. 21 Smaolach wühlte herum und zog die hässlichsten braunen Schuhe hervor, die ich je gesehen hatte. Das Leder ächzte, als er die Sohle bog, und die Schuhbänder wanden sich wie Schlangen. Die Spitzen waren mit kleinen Stahlplatten beschlagen. »Glaub mir, die hier werden dich den ganzen Winter warm und trocken halten, außerdem sind sie robust.« »Aber die sind mir zu klein.« »Weißt du denn nicht, dass du geschrumpft bist?« Mit einem verstohlenen Grinsen zog er ein Paar dicke Wollsocken aus seiner Hosentasche. »Und die hier habe ich ganz speziell für dich mitgebracht.« Die ganze Schar japste anerkennend. Sie gaben mir den Zopfmusterpullover und eine Öljacke, die mich selbst an den nassesten Tagen trocken halten sollte. Als die Nächte länger und zunehmend kälter wurden, tauschten wir unsere Grasmatten und Einzelbetten gegen viele Tierhäute und gestohlene Decken ein. Nun schliefen wir alle zwölf zusammen, eng verschlungen zu einem wirren
Knäuel. Diese Behaglichkeit gefiel mir recht gut, auch wenn die meisten meiner Freunde einen fauligen Atem hatten oder einen üblen Geruch verströmten. Das lag sicherlich zum Teil an der veränderten Ernährung, von der sommerlichen Fülle über die Kargheit des Spätherbsts hin zu den Entbehrungen des Winters. Doch manche der armen Wesen hausten schon so lange im Wald, dass sie jegliche Hoffnung auf menschliche Gesellschaft aufgegeben hatten. Da einige sogar nicht einmal mehr den Wunsch danach verspürten, lebten sie wie Tiere, nur selten nahmen sie ein Bad oder reinigten sich die Zähne mit einem Stöckchen. Selbst ein Fuchs leckt sich das Hinterteil, doch manche Elben waren schmutzstarrende Biester. 4? Im ersten Winter sehnte ich mich danach, mit den Jägern und Sammlern morgens auf die Suche nach Nahrung und anderem Proviant zu gehen. Wie die Krähen, die sich im Morgengrauen und in der Abenddämmerung sammelten, genossen diese Diebe die Freiheit fern unserer Schlafstelle. Ich, der zurückblieb, musste Babysitter ertragen wie diese Kröte Beka und seine Freundin Onions oder die beiden Alten, Zanzara und Ragno, die sich den ganzen Tag zankten und Nussschalen und Steine nach Vögeln und Eichhörnchen warfen, die um unsere Vorräte herumstöberten. Mir war langweilig und kalt, und ich sehnte mich nach Abenteuern. An einem grauen Morgen hatte Igel sich entschlossen, im Lager zu bleiben und über mich zu wachen, und wie es das Glück wollte, leistete ihm mein Freund Smaolach Gesellschaft. Sie brauten einen Tee aus getrockneter Rinde und Minze, und wie wir so dem kalten Regen zuschauten, brachte ich hervor, was mir auf der Seele lag. »Warum lasst ihr mich nicht mit den anderen gehen?« »Meine große Angst ist, dass du davonläufst und versuchst, dorthin zurückzukehren, von wo du gekommen bist. Aber du kannst nicht zurück, Aniday. Du bist jetzt einer von uns.« Igel schlürfte seinen Tee und starrte auf einen entlegenen Punkt. Nach einer angemessenen Zeit, in der seine Weisheit in meinen Kopf sickern sollte, fuhr er fort: »Andererseits hast du dich als wertvolles Mitglied unseres Clans erwiesen. Du sammelst Brennholz, knackst Eicheln und gräbst ein neues Kloloch, wenn man dich darum bittet. Du lernst wahren Gehorsam und Ehrerbietung. Ich habe dich beobachtet, Aniday, du bist ein guter Schüler unserer Lebensart.« Smaolach sah in das erlöschende Feuer und sagte etwas in 22 einer Geheimsprache, in der alle Vokale und harten Konsonanten phlegmatisch klangen. Igel sann über jenen geheimen Satz nach, brütete dann über seinen eigenen Gedanken, bis er sie ausspuckte. Wie heute zerbrach ich mir schon damals ewig den Kopf, wie Leute denken, durch welchen Prozess sie die Rätsel des Lebens lösen. Nach Ende ihrer Beratung nahm Igel wieder die Erforschung des Horizonts auf. »Du kommst heute Nachmittag mit Luchog und mir«, ließ mich Smaolach mit einem komplizenhaften Zwinkern wissen. »Sobald die anderen zurückkehren, zeigen wir dir die nähere Umgebung.«
»Du solltest dich warm anziehen«, riet mir Igel. »Der Regen wird bald umschlagen.« Wie aufs Stichwort mischten sich die ersten Schneeflocken unter die Regentropfen, und innerhalb weniger Minuten fiel dichter Schnee. Wir saßen noch immer an unseren Plätzen, als die Elben-Schar, vom plötzlichen Wetterumschwung gejagt, sich zurück ins Lager schlängelte. Manchmal brach in unserem Landesteil der Winter früh ein, aber normalerweise hatten wir vor Weihnachten keinen Schnee. Als heftige Windstöße aufkamen, fragte ich mich zum ersten Mal, ob Weihnachten schon vorbei oder zumindest Thanksgiving schon verstrichen war, und bestimmt war Halloween schon gewesen. Ich dachte an meine Familie, die noch jeden Tag nach mir im Wald suchen würde. Vielleicht glaubten sie, ich wäre tot, was mich traurig stimmte und den Wunsch in mir weckte, ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen, dass es mir gut ginge. Zu Hause würde Mutter Schachteln mit Dekorationen auspacken, den Stall und die Krippe aufbauen und Girlanden um das Treppengeländer winden. Vor dem letzten Weihnachtsfest 23 hatte mich mein Vater mitgenommen, eine kleine Tanne für zu Hause zu schlagen, und ich überlegte, ob er nun ohne mich, ohne dass ich ihm dabei half, den richtigen Baum auszusuchen, traurig sein würde. Sogar meine Schwesterchen fehlten mir. Liefen sie schon, sprachen und träumten sie vom Weihnachtsmann; fragten sie sich, was aus mir geworden war? »Welcher Tag ist heute?«, fragte ich Luchog, als ich wärmere Sachen anzog. Er leckte an seinem Finger und hielt ihn in den Wind. »Dienstag?« »Nein, ich meine, welcher Tag des Jahres, welcher Tag des Monats?« »Keine Ahnung. Nach den Zeichen zu urteilen, könnte es Ende November, Anfang Dezember sein. Aber mit der Erinnerung ist es eine knifflige Sache. Wenn es um Zeit oder um das Wetter geht, kann man sich nicht auf sie verlassen.« Letztendlich war Weihnachten noch nicht vorbei. Ich nahm mir vor, von nun auf die Tage zu achten und die Feste auf angemessene Weise zu begehen, auch wenn die anderen sich um Feiertage und so etwas nicht scherten. »Weißt du, woher ich Papier und einen Stift bekommen könnte?« Er zwängte sich mühsam in seine Stiefel. »Was willst du denn damit?« »Ich möchte einen Kalender machen.« »Einen Kalender? Warum? Du brauchtest eine Menge Papier und unzählige Stifte, um hier draußen einen Kalender zu führen. Ich werde dir beibringen, wie man die Sonne am Himmel verfolgt und die Zeichen der Natur liest. Das reicht, um die Zeit zu erkennen.« 23 »Wenn ich aber ein Bild malen oder jemandem einen Brief schreiben will?« Luchog zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. »Schreiben? Wem? Die meisten hier haben völlig vergessen, wie man schreibt, und die es nicht vergessen haben, haben es überhaupt erst gar nicht gelernt. Es ist besser, zu
reden und nicht unentwegt aufzuschreiben, was du denkst und fühlst. Darin liegt eine Gefahr, Schätzchen.« »Aber ich male doch so gerne.« Wir gingen über die Lichtung auf Smaolach und Igel zu, die dort wie zwei hohe Bäume standen und sich berieten. Weil Luchog der Kleinste von uns allen war, hatte er Schwierigkeiten, mit mir Schritt zu halten. Während er neben mir herhopste, fuhr er mit seiner Rede fort. »Dann bist du also ein Künstler? Kein Stift, kein Papier? Weißt du, dass die Künstler früher ihr Papier und ihre Stifte selbst gemacht haben? Aus Tierhäuten und Vogelfedern. Und Tinte aus Ruß und Spucke. Genauso haben sie es gemacht, und noch früher haben sie in Steine geritzt. Ich bringe dir bei, wie du deine Spuren hinterlassen kannst, und dann beschaffe ich dir dieses Papier, wenn du willst, aber erst zu gegebener Zeit.« Als wir beim Anführer Igel angekommen waren, klopfte mir dieser auf die Schulter und sagte: »Du hast dir mein Vertrauen verdient, Aniday. Höre und beherzige, was die beiden dir sagen.« Als ich mit Luchog und Smaolach aufbrach, schaute ich mich noch einmal um und winkte. Die anderen Elben hockten eng beieinander, zusammengekauert wegen der Kälte, und ließen den Schnee auf sich herabrieseln, verrückte, der Natur ergebene Stoiker. 24 Endlich außerhalb des Lagers zu sein, war aufregend für mich, doch meine Begleiter gaben sich größte Mühe, meine Neugierde unter Kontrolle zu halten. Sie ließen mich eine Weile über die Pfade stolpern, bis meine Ungeschicklichkeit einen Taubenschwarm aus seiner Ruhe aufschreckte. Die Vögel stoben auf, ganz Kreischen und Federn. Smaolach legte einen Finger auf die Lippen, und ich verstand den Hinweis. Als ich ihre Bewegungen nachahmte, lief ich fast so anmutig wie sie, und wir schlichen so leise, dass ich das Fallen des Schnees lauter hörte als unsere Schritte. Die Stille hat ihren ganz eigenen Reiz, alle Sinne werden geschärft, vor allem das Gehör. Knackte ein Zweig in der Ferne, reckten sie sofort die Köpfe in die Richtung des Geräuschs und machten seine Ursache aus. Sie zeigten mir Verborgenes, das nur in der Stille zu entdecken war: einen Fasan, der sich den Hals verrenkte, um uns aus dem Dickicht zu beobachten, eine Krähe, die von Ast zu Ast hüpfte, und einen Waschbären, der in seiner Höhle schlummerte. Ehe das Tageslicht völlig schwand, stapften wir durch sumpfiges Gebiet zum moorigen Flussufer. Am Rande des Wassers sammelten sich Eiskristalle, und als wir genauer lauschten, hörten wir, wie es beim Gefrieren knisterte. Etwas weiter paddelte eine einsame Ente den Fluss hinunter, und jede Schneeflocke zischte, als sie auf die Wasseroberfläche traf. Die Helligkeit löste sich auf wie ein Raunen und verschwand. »Hör doch.« Smaolach hielt den Atem an. Plötzlich ging der Schnee in Graupel über, die auf das Laub am Boden, auf Steine und tropfnasse Äste aufschlugen, eine kleine Symphonie der Welt der Natur. Wir ließen den Fluss hinter uns und suchten Schutz in einem immergrünen Gehölz. Das Eis umschloss jede einzelne Nadel mit einer
durchsichtigen Hülle. Luchog zog einen Lederbeutel hervor, der an einem Bänd 25 chen um seinen Hals hing, zuerst kam ein winziges Stück Papier zutage und dann eine dicke Prise getrockneter, brauner, grasähnlicher Fasern, die wie Tabak aussahen. Mit geschickten Fingern und einem flinken Lecken rollte er eine dünne Zigarette. Aus einem anderen Fach des Beutels zog er ein paar Zündhölzer hervor, zählte sie in seiner Hand und steckte alle bis auf eines zurück in das wasserdichte Beutelfach. Sein Daumennagel setzte das Zündholz in Brand, und eine Flamme flackerte auf, die er an das Ende der Zigarette hielt. Smaolach hatte ein Loch gegraben, das so tief war, dass es eine Schicht trockener Nadeln und Zapfen freilegte. Vorsichtig nahm er das brennende Zündholz aus den Fingerspitzen seines Freundes entgegen, hielt es in das Loch, und kurz darauf hatten wir ein Feuer, an dem wir unsere Handflächen und Finger wärmen konnten. Luchog reichte die Zigarette an Smaolach weiter, der einen tiefen Zug nahm und den Rauch lange im Mund behielt. Als er schließlich ausatmete, setzte die Wirkung so jäh und schlagartig ein wie die Pointe eines Witzes. »Lass den Jungen mal ziehen«, schlug Smaolach vor. »Ich weiß nicht, wie man raucht.« »Mach' es einfach so wie ich«, sagte Luchog etwas steif. »Aber was auch immer du tust, erzähl Igel nichts davon. Erzähl niemandem etwas davon.« Ich zog an der glimmenden Zigarette und musste wegen des Rauchs husten und würgen. Sie kicherten, und lange nachdem der letzte Rest inhaliert war, lachten sie noch immer. Die Luft unter den Zweigen des Immergrüns war von einem sonderbaren Duft erfüllt, der mich benommen, wirr machte und mir leichte Übelkeit bereitete. Luchog und Smaolach waren dem gleichen Rausch erlegen, aber sie wirkten nur zufrieden, wa25 ren aufgeweckt und friedvoll zugleich. Allmählich hörte es auf zu graupeln, und die Stille kehrte zurück wie ein verlorener Freund. »Hast du das gehört?« »Was ist das?«, fragte ich. Luchog machte mir Zeichen, still zu sein. »Zuerst horchen, ich will wissen, ob du das hörst.« Und Sekunden später drang das Geräusch an mein Ohr, und obwohl es mir vertraut war, stellten mich das Gehörte und sein Ursprung vor ein Rätsel. Luchog sprang auf und trieb seinen Freund an. »Das ist ein Auto, Schätzchen. Bist du schon einmal einem Wagen hinterhergejagt?« Ich schüttelte den Kopf und dachte, er müsse mich mit einem Hund verwechselt haben. Meine beiden Begleiter griffen nach meinen Händen, und los ging's, wir rannten schneller, als ich es je für möglich gehalten hatte. Die Welt schwirrte vorbei, flecken-und schattenartige Dunkelheit, wo zuvor Bäume gestanden hatten. Matsch und Schnee wirbelten auf und besprenkelten unsere Hosen, als wir über einen irrsinnig glitschigen Pfad flitzten. Als das Unterholz immer dichter wurde, ließen sie meine Hände los, und wir jagten
hintereinander über diesen Pfad. Äste schlugen mir plötzlich ins Gesicht, ich strauchelte und fiel in den Matsch. Als ich mich kalt, nass und schmutzig wieder aufrappelte, merkte ich, dass ich zum ersten Mal seit Monaten allein war. Angst überfiel mich, ich starrte und horchte angestrengt in die Welt und suchte verzweifelt nach meinen Freunden. Ein stechender Schmerz der Konzentration schoss mir durch den Kopf, ich drängte ihn aber weg, und dann hörte ich sie in der Ferne durch den Schnee laufen. Ich verspürte eine neue, magische Kraft in meinen Sinnen, denn ich konnte sie ganz genau sehen, obwohl mir im selben 5o Moment bewusst war, dass sie viel zu weit voraus und außer Sichtweite waren. Ich nahm die Verfolgung auf, indem ich den Weg vor mir visualisierte, und die Bäume und Zweige, die mich zuvor noch beirrt hatten, waren mir nun kein Hindernis mehr. Ich jagte durch den Wald wie ein Spatz, der durch eine Lücke im Zaun fliegt und ohne nachzudenken im rechten Augenblick die Flügel anlegt und hindurchgleitet. Als ich sie eingeholt hatte, fand ich sie hinter den rauen Kiefern kurz vorm Waldrand. Vor uns lag eine Straße, und auf dieser Straße hatte ein Auto angehalten, dessen Lichter die neblige Dunkelheit durchschnitten, abgebrochene Teile des metallischen Kühlergrills glänzten auf dem Asphalt. Durch die offene Fahrertür schien ein kleines Licht im leeren Wagen. Das Ungewöhnliche an dem Wagen zog mich zu ihm hin, doch die starken Arme meiner Freunde hielten mich zurück. Eine Gestalt tauchte aus dem Dunkel auf und trat ins Licht, eine dünne junge Frau in einem leuchtend roten Mantel. Sie hielt sich eine Hand an die Stirn, beugte sich langsam nieder und streckte ihren anderen Arm aus, mit dem sie fast eine dunkle Masse, die auf der Straße lag, berührte. »Sie hat einen Hirsch angefahren«, flüsterte Luchog, in dessen Stimme Traurigkeit mitschwang. Sie grübelte über dem hingestreckten Tier, strich sich das Haar aus dem Gesicht, während sie die andere Hand auf den Mund gepresst hielt. »Ist er tot?«, fragte ich. »Der Trick ist«, sagte Smaolach leise, »ihm ins Maul zu atmen. Er ist überhaupt nicht tot, sondern nur im Schock.« Luchog wisperte mir zu: »Wir warten, bis sie weg ist. Dann kannst du ihm Luft einflößen.« »Ich?« 5i »Weißt du es denn nicht? Du bist jetzt ein Elb, so wie wir, und du kannst alles, was wir können.« Der Begriff überwältigte mich. Ein Elb? Ich wollte auf der Stelle wissen, ob es stimmte; ich wollte meine Kräfte ausprobieren. Darum riss ich mich von meinen Freunden los und näherte mich aus dem Dunkel dem Hirsch. Die Frau stand mitten auf der verlassenen Straße und hielt in beide Richtungen Ausschau nach einem anderen Wagen. Sie bemerkte mich erst, als ich schon da war, mich über das Tier duckte und meine Hand auf seine warme Flanke
legte, dessen Puls genauso schnell raste wie meiner. Ich legte meine Hände um das heiße Maul des Hirschs und atmete hinein. Fast unmittelbar darauf hob er den Kopf, stieß mich beiseite und kam schwankend zum Stehen. Einen Augenblick lang schaute er mich an; dann schnellte zur Warnung sein Stummelschwanz wie eine weiße Standarte in die Höhe, und er sprang in die Nacht. Wenn man sagt, wir — das Tier, die Frau und ich — seien vom Lauf der Dinge überrascht gewesen, wäre das eine kolossale Untertreibung. Da sie fassungslos aussah, lächelte ich sie an. In diesem Augenblick riefen meine Gefährten laut zischelnd nach mir. »Wer bist du?« Sie schlang ihren roten Mantel enger um sich. Oder zumindest dachte ich, dies seien ihre Worte gewesen, denn ihre Stimme klang fremdartig, als spräche sie durch Wasser. Ich schaute zu Boden, da ich merkte, dass ich die richtige Antwort nicht wusste. Ihr Gesicht kam mir so nah, dass ich den Ansatz eines Lächelns auf ihren Lippen und das blasse Blaugrün ihrer Iris hinter ihren Brillengläsern erkennen konnte. Ihre Augen waren wunderschön. »Wir müssen gehen.« Aus der Dunkelheit griff eine Hand nach meiner Schulter. Smaolach zerrte mich in die Büsche, und 27 mir blieb nur die Frage, ob all das wohl ein Traum gewesen war. Wir verbargen uns in einem Dickicht, solange sie nach uns suchte, und endlich gab sie auf, stieg in ihren Wagen und fuhr davon. Damals wusste ich es nicht, aber sie war der letzte Mensch, den ich für über ein Dutzend Jahre sehen sollte. Die Rücklichter leuchteten im Zickzack über die Berge und durch die Bäume hindurch, bis nichts mehr zu sehen war. In mürrischem Schweigen machten wir uns auf den Rückweg zum Lager. Auf halber Strecke riet mir Luchog: »Du darfst niemanden erzählen, was heute Nacht geschehen ist. Halte dich von den Menschen fern, und begnüge dich mit dem, was du bist.« Unterwegs dachten wir uns eine Geschichte aus, die unsere lange Abwesenheit erklären sollte, erfanden etwas über das Wasser und die Wildnis, und einmal erzählt, hielt unsere Story stand. Aber das Geheimnis mit der Frau im roten Mantel habe ich nie vergessen, und zweifelte ich später an der obigen Welt, so rief mir die Erinnerung an jene strahlende, einsame Begegnung ins Gedächtnis, dass sie kein Märchen war. 27 Kapitel 5 Das Leben mit der Familie Day hatte zu einem ruhigen Gleichmaß gefunden. Mein Vater ging zur Arbeit, ehe einer von uns aus dem Schlaf erwachte, und diese goldene Morgenstunde zwischen seinem Weggehen und meinem Fußmarsch zur Schule war herrlich. Meine Mutter rührte am Herd den Haferbrei oder brutzelte ein Frühstück in der Pfanne; und die Zwillinge erkundeten auf unsicheren Beinen die Küche. Die großen Fenster rahmten die Außenwelt und hielten sie fern. Das Zuhause der Days war früher eine bewirtschaftete Farm, und obwohl sie die Landwirtschaft vor langer Zeit aufgegeben hatten, waren noch Spuren davon vorhanden. Eine alte Scheune, in Rot gestrichen, das zu einem dunklen Mauve aussäuerte, diente nun als Garage. Der Holzzaun um
das Grundstück fiel Latte für Latte in sich zusammen. Das Feld, ungefähr ein Acre groß, das früher im Grün der Maispflanzen leuchtete, lag brach und war nun ein Dickicht aus Dornengestrüpp, das Vater sich nur einmal im Jahr, im Oktober, die Mühe machte zu mähen. Die Days waren die Ersten in der Gegend, die die Landwirtschaft aufgegeben hatten, und im Laufe der Jahre machten es ihnen die umliegenden Nachbarn nach, sie verkauften Höfe und Ackerflächen an Bauunternehmer. Doch in meiner Kindheit war der Ort noch still und einsam. 28 Der Trick beim Heranwachsen ist, das Wachstum nie zu vergessen. Der geistige Part, Henry Day zu werden, forderte von mir höchste Aufmerksamkeit für jedes Detail seines Lebens, aber keine noch so große Vorbereitung auf den Wechsel kann die Familiengeschichte des Kindes bis ins kleinste Detail ergründen — Erinnerungen an vergangene Geburtstagsfeiern und andere Intimitäten, an die man vorgeben muss, sich zu erinnern. Eine Vorgeschichte ist recht leicht aufzuspüren; hält man sich nur lang genug in der Nähe eines Menschen auf, kann man alles über jedes Ereignis in Erfahrung bringen. Doch Zufälle und andere Schwachstellen decken die Risiken auf, wenn man die Identität eines anderen heuchelt. Zum Glück hatten wir nur wenig Besuch, denn das alte Haus lag einsam auf einem kleinen Stück Farmland. Kurz vor meinem ersten Weihnachtsfest, als meine Mutter sich gerade oben um die schreienden Zwillinge kümmerte und ich faul am Kamin saß, klopfte es an der Vordertür. Im Windfang stand ein Mann mit seinem Filzhut in der Hand, der Geruch einer kürzlich gerauchten Zigarre mischte sich mit dem leicht medizinischen Duft seines Haaröls. Er grinste, als erkenne er mich auf der Stelle. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. »Henry Day«, sagte er. »Wie er leibt und lebt.« Ich stand wie angewurzelt auf der Türschwelle und suchte in meinem Gedächtnis nach einem Anhaltspunkt, wer dieser Mann sein könnte. Er schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich leicht, dann ging er an mir vorbei in den Flur und warf einen verstohlenen Blick die Treppe hoch. »Ist deine Mutter da? Ist sie präsentabel?« Fast nie erschien jemand mitten am Tag zu Besuch, außer hin und wieder Farmersfrauen aus der Nachbarschaft oder Mütter 28 meiner Klassenkameraden, die mit einem frisch gebackenen Kuchen und dem neuesten Klatsch aus der Stadt kamen. Als wir Henry ausspioniert hatten, betrat nie ein anderer Mann als sein Vater oder der Milchmann das Haus. Er schleuderte seinen Hut auf das Sideboard und wandte mir wieder sein Gesicht zu. »Wie lang ist es her, Henry? Vielleicht am Geburtstag deiner Mutter? Du siehst nicht so aus, als wärest du auch nur ein Haarbreit gewachsen. Gibt dir dein Vater nichts zu essen?« Ich schaute den Fremden an und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Lauf die Treppe hoch und sag deiner Mama, dass ich hier bin. Mach schon, mein Junge.« »Wen soll ich ihr ankündigen?« »Was? Deinen Onkel Charlie natürlich.« »Aber ich habe doch gar keine Onkel.«
Der Mann lachte; dann runzelte sich seine Stirn, und sein Mund wurde ein schmaler Strich. »Geht es dir gut, Henry, Junge?« Er beugte sich zu mir herunter, um mir in die Augen zu sehen. »Ich bin nicht dein richtiger Onkel, mein Junge, sondern der älteste Freund deiner Mutter. Ein Freund der Familie sozusagen.« Meine Mutter rettete mich, da sie unaufgefordert die Treppe herunterkam. Kaum sah sie den Fremden, warf sie die Arme in die Luft und stürzte auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Ich nutzte die Gelegenheit und stahl mich davon. Eine knappe Sache, aber nicht so schlimm wie der Schrecken einige Wochen später. In diesen ersten Jahren besaß ich noch alle Kräfte eines Wechselbalgs und hörte wie ein Fuchs. Von jedem Zimmer des Hauses aus konnte ich die ungestörten Gespräche 29 meiner Eltern belauschen und hörte zufällig Daddys Argwohn bei einem ihrer Kopfkissengespräche mit an. »Hast du in letzter Zeit irgendetwas Seltsames an dem Jungen beobachtet?« Sie schlüpfte neben ihn ins Bett. »Etwas Seltsames?« »All dieses Gesinge im Haus.« »Er hat eine hübsche Stimme.« »Und diese Finger.« Ich schaute auf meine Hände, und im Vergleich mit den Fingern anderer Kinder waren meine unverhältnismäßig lang. »Ich glaube, er wird Pianist, Billy, wir sollten ihm Unterricht geben lassen.« »Und diese Zehen.« In meinem Bett liegend, richtete ich die Zehen auf. »Und er scheint den ganzen Winter über nicht einen Zentimeter gewachsen zu sein, und zugenommen hat er auch nicht.« »Er braucht nur ein wenig Sonne, das ist alles.« Der alte Mann rollte sich zu ihr. »Er ist ein seltsamer Kerl, kommt mir vor.« »Billy. . . halt.« In dieser Nacht fasste ich den Beschluss, ein richtiger Junge zu werden, und achtete von nun an mehr darauf, wie ich als normal gelten könnte. Hatte sich erst einmal ein solcher Fehler eingeschlichen, konnte man nicht mehr viel tun. Ich konnte ja wohl schlecht meine Finger und Zehen kürzer machen und weitere Skepsis auf mich ziehen, aber ich konnte jede Nacht meinen übrigen Körper etwas dehnen und genauso groß werden wie all die anderen Kinder. Auch machte ich es mir zum Prinzip, Dad nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Der Gedanke an das Klavier faszinierte mich als Möglichkeit, 29 mich bei meiner Mutter einzuschmeicheln. Hörte sie im Radio nicht die Schlager, drehte sie auf Klassik, vor allem sonntags. Bach ließ in meinem Kopf verschüttete Träumereien aufwirbeln, die das Echo einer fernen Vergangenheit heraufbeschworen. Aber ich musste einen Weg ausknobeln, mein Interesse zu bekunden, ohne dass Mutter merkte, dass ihre privaten Gespräche, wie leise oder intim sie auch waren, belauscht wurden. Zum Glück lieferten die Zwillinge die Lösung. Zu Weihnachten schickten ihnen meine weit entfernt lebenden Großeltern ein Spielzeugklavier. Es war zwar nicht
größer als ein Brotkorb, brachte aber dennoch eine blecherne Oktave zustande, und vom Neujahrstag an überzog dicker Staub die Tasten. Ich rettete das Spielzeug und saß im Kinderzimmer, wo ich fast erkennbare Melodien aus ferner Erinnerung spielte. Wie üblich waren meine Schwestern begeistert, und wie zwei verzückte Yogis saßen sie da, während ich mein Gedächtnis auf der begrenzten Klaviatur auf die Probe stellte. Mit dem Staubwedel in der Hand kam meine Mutter hinzu, blieb im Türrahmen stehen und lauschte aufmerksam. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie mich beobachtete, und als ich mit einem Tusch endete, kam ihr Applaus nicht ganz unerwartet. In der kurzweiligen Zeit zwischen den Hausaufgaben und dem Abendessen klimperte ich mir auf den Tasten so etwas wie eine Melodie zusammen und ließ allmählich mein angeborenes Talent durchschimmern, doch sie brauchte noch mehr Ermutigung. Mein Plan war locker und simpel. Ich ließ die Bemerkung fallen, ein halbes Dutzend Kinder meiner Schule hätte privaten Musikunterricht, auch wenn es in Wahrheit nur ein oder zwei gewesen sein mochten. Auf Autofahrten tat ich so, als wäre der Rand unter meinem Fenster eine Klaviatur, und spielte mit den 30 Fingern Takte, bis mein Vater mir befahl, damit aufzuhören. Grundsätzlich pfiff ich die ersten paar Takte von etwas Bekanntem, wie zum Beispiel Beethovens Neunter, wenn ich Mutter beim Abtrocknen des Geschirrs half. Ich bettelte nicht, sondern wartete ab, bis sie glaubte, es wäre ihre eigene Idee. Mein Plan ging auf, als meine Eltern am Samstag vor Henrys achtem Geburtstag mit mir in die große Stadt fuhren, um dort wegen Klavierstunden einen Mann aufzusuchen. An diesem Frühlingsmorgen ließen wir die Zwillinge bei den Nachbarn und setzten uns zu dritt in unseren Sonntagskleidern in Vaters Coupé. Wir fuhren an dem Städtchen vorbei, in dem ich die Schule besuchte, wo wir einkaufen und zur Messe gingen, und bogen auf den Highway in Richtung Großstadt. Glänzende Autos rauschten über den Asphalt, als wir beschleunigten und uns in das Band reiner Energie, das in beide Richtungen floss, einreihten. Wir fuhren schneller, als ich je in meinem Leben gefahren war, und schon fast hundert Jahre war ich nicht mehr in der Großstadt gewesen. Billy lenkte den '49er De Soto wie einen alten Freund, eine Hand am Steuer und den anderen Arm hinter den Sitz mit meiner Mutter und mir gelegt. Der Eroberer blickte uns von der Mitte des Lenkrads an, und wenn Dad in eine Kurve fuhr, schienen uns die Augen des Eroberers zu verfolgen. Als wir uns dem Rand der großen Stadt näherten, tauchten zuerst die Fabriken auf. Deren hohe Schlote stießen dunkle Rauchwolken aus, in deren Innerem glühten Hochöfen. Dann eine Biegung der Straße — und mit einem Mal ein Blick auf Gebäude, die sich bis in den Himmel erstreckten. Die unermessliche Größe der Innenstadt raubte mir den Atem, und je näher wir ihr kamen, desto höher ragte sie auf, bis wir plötzlich in verstopften Straßen standen. Die Schatten wurden intensiver und 30
dunkler. In einer Querstraße quälte sich ein Trolleybus voran, aus dessen Leitungsmasten Funken nach oben zu den Drähten stoben. Seine Türen öffneten sich wie ein Blasebalg, und heraus strömte eine Menschenschar in Frühlingsmänteln und mit Hüten; sie standen auf einer Betoninsel mitten auf der Straße und warteten, dass die Ampel umsprang. In den Schaufenstern des Warenhauses überlagerten sich Spiegelungen von Einkäufern und Verkehrspolizisten mit den neuesten Waren: Damenkleider und Herrenanzüge auf Kleiderpuppen, von denen ich mich anfangs täuschen ließ, da sie so lebendig wirkten, obwohl sie vollkommen unbeweglich dastanden. »Ich weiß gar nicht, warum du es für nötig hältst, wegen dieser Sache den ganzen Weg in die Stadt zu machen. Du weißt doch, dass ich ungern in die Stadt fahre. Hier finde ich nie einen Parkplatz.« Mutters rechter Arm schnellte vor. »Da ist einer. Haben wir ein Glück.« Als uns der Aufzug nach oben trug, langte mein Vater in seine Manteltasche, um eine Camel herauszuziehen, die er, kaum öffneten sich im fünften Stock die Türen, anzündete. Wir waren einige Minuten zu früh, und während die beiden darüber debattierten, ob sie schon hineingehen sollten oder nicht, schritt ich auf die Tür zu und trat ein. Mr. Martin war vielleicht kein Elb, aber er wirkte übersinnlich. Der große, dünne Mann, dessen weißes Haar sich in eine zottelige Jungenfrisur legte, trug einen abgewetzten, pflaumenfarbenen Anzug. Ein ausgewachsener und vornehm heruntergekommener Christopher Robin ohne seinen Bären Pu. Hinter ihm stand das schönste Instrument, das ich je gesehen hatte. Der prachtvolle, schwarz lackierte Flügel zog die gesamte Vitalität des Raums auf sich. Seine hellen Tasten bargen 31 das Versprechen der schönsten Klänge in sich. Ich war so sprachlos, dass ich erst einmal seine Frage nicht beantworten konnte. »Kann ich etwas für dich tun, junger Mann?« »Ich heiße Henry Day, und ich bin hier, um alles von Ihnen zu lernen, was Sie wissen.« »Mein lieber junger Mann«, entgegnete er mit einem Seufzer. »Ich fürchte, das ist unmöglich.« Ich ging zum Flügel und setzte mich auf den Hocker, Der Anblick der Tasten löste eine ferne Erinnerung an einen strengen deutschen Lehrer aus, der mir befahl, ich solle das Tempo erhöhen. Ich spreizte meine Finger so weit wie möglich, prüfte meine Spanne und legte sie nun, ohne einen zufälligen Ton hervorzurufen, auf das Elfenbein. Mr. Martin glitt hinter mich, schaute mir über die Schulter und betrachtete meine Handhaltung. »Hast du schon einmal gespielt?« »Vor langer Zeit. . . « »Spiel mir das mittlere C, Mr. Day.« Und ohne zu überlegen, drückte ich die Taste mit der Seite meines linken Daumens. Als meine Eltern den Raum betraten, machten sie mit einem höflichen Räuspern auf sich aufmerksam. Mr. Martin wirbelte herum und ging auf sie zu, um sie zu begrüßen. Wahrend sie sich die Hände schüttelten und sich
einander vorstellten, spielte ich Tonleitern von der Mitte nach auswärts. Die Töne des Flügels weckten Erinnerungen an Partituren, die ich auswendig kannte. Eine Stimme in meinem Kopf forderte »heißblütig, heißblütig« — mehr Leidenschaft, mehr Gefühl. »Sie sagen, er sei Anfänger.« »Ja«, erwiderte meine Mutter. »Ich glaube nicht, dass er je ein richtiges Klavier gesehen hat.« 32 »Dieser Junge ist ein Naturtalent.« Aus Spaß klimperte ich »Funkle, funkle, kleiner Stern«, wie ich es für meine Schwestern spielte. Ich war darauf bedacht, nur einen einzigen Finger einzusetzen, als wäre der Flügel nichts anderes als ein Spielzeug. »Das hat er sich selber beigebracht«, erzählte meine Mutter. »Auf einem winzigen Klavier, das man vielleicht in einem Elfenorchester finden könnte. Und er kann auch singen, singen wie ein Vogel.« Dad warf mir rasch einen schrägen Blick zu. Mr. Martin, der allzu sehr damit beschäftigt war, meine Mutter zu taxieren, entging dieser wortlose Austausch. Meine Mutter plapperte über all meine Talente, aber es hörte ihr niemand zu. In extrem langsamen und zerdehnten Takten übte ich meinen Chopin, der aber so getarnt war, dass selbst der alte Martin die Melodie nicht erkannte. »Mr. Day, Mrs. Day, ich bin bereit, Ihren Sohn aufzunehmen. Meine Mindestvoraussetzung ist aber acht Wochen Unterricht am Stück, mittwochnachmittags und samstags. Ich kann diesen Jungen unterrichten.« Dann nannte er mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war, sein Honorar. Mein Vater zündete sich eine neue Camel an und trat ans Fenster. »Doch für Ihren Sohn«, wandte er sich nun an meine Mutter, »für Henry, einen geborenen Musiker, wenn ich denn je einen gehört habe, für ihn fordere ich nur den halben Stundensatz, aber Sie müssen sich für sechzehn Wochen verpflichten. Für vier Monate. Dann wissen wir, wie weit wir es bringen können.« Ich klimperte die Grundmelodie von »Happy Birthday«. Mein 6z Vater drückte seine Zigarette aus und klopfte mir auf die Schulter, um anzudeuten, dass wir uns nun verabschieden würden. Er ging zu meiner Mutter und zwickte sie sanft in den fleischigen Teil ihres Arms über dem Ellbogen. »Ich rufe Sie am Montag an«, sagte er. »Um halb vier. Wir werden darüber nachdenken.« Mr. Martin deutete eine Verbeugung an und sah mir gerade in die Augen. »Du hast Talent, junger Mann.« Auf dem Heimweg beobachtete ich im Rückspiegel, wie die Stadt zurückwich und schließlich verschwand. Mutter plauderte ohne Unterlass, erträumte eine Zukunft und plante unser Leben. Billy, dessen Hände das Steuer umschlossen, konzentrierte sich auf die Straße und sagte nichts. »Ich kaufe ein paar Legehennen, genauso mache ich es. Erinnerst du dich, dass du immer gesagt hast, du wolltest unser Haus wieder zu einer richtigen
Farm machen? Ich starte mit der Aufzucht von Küken, und dann verkaufen wir die Eier, damit geht die Rechnung bestimmt auf. Und Henry kann den Schulbus bis zur Straßenbahn nehmen, und die Straßenbahn bis in die Stadt. Könntest du ihn samstags zur Straßenbahn bringen?« »Ich könnte Hausarbeiten übernehmen, um die Fahrtkosten zu verdienen.« »Merkst du, Billy, wie gerne er lernen möchte? Er hat Talent, das hat Mr. Martin gesagt. Und der ist so kultiviert. Hast du jemals in deinem Leben so etwas wie diesen Flügel gesehen? Er muss ihn wohl jeden Tag polieren.« Mein Vater kurbelte sein Fenster ein Stück herunter, um tosende Frischluft hereinzulassen. »Hast du gehört, wie er >Happy Birthday< gespielt hat, so als 33 würde er schon immer spielen? Das ist es, was er will. Das ist es, was ich will. Liebling.« »Wann soll er üben, Ruth? Sogar ich weiß, dass man jeden Tag spielen muss, und ich kann mir vielleicht die Klavierstunden leisten, aber ein Klavier bestimmt nicht.« »In der Schule steht ein Klavier«, sagte ich. »Niemand spielt darauf. Ich bin sicher, wenn ich frage, ob ich bleiben dürfte nach. . . « »Was ist mit deinen Hausaufgaben und den Dingen im Haushalt, die du versprochen hast zu erledigen? Ich will nicht, dass deine Zensuren absacken.« »Neun mal neun ist einundachtzig. Separat buchstabiert sich S-E-P-A-R-A-T. Oppenheimer hat uns die Bombe gebaut, die die Japaner erledigt hat. Der Vater unseres Landes ist George Washington. Die heilige Dreifaltigkeit ist der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, und es ist ein heiliges Mysterium, das niemand kapiert.« »Gut, Einstein. Du kannst es versuchen, aber nur für acht Wochen. Nur um sicher zu sein. Und deine Mutter muss das Eiergeld dazulegen, und du musst ihr bei der Aufzucht der Hühner helfen. Bringen sie dir in deiner Schule auch so etwas bei?« Mit einem selten liebevollen und verwunderten Blick sah ihm Ruth ins Gesicht. Beide verzogen den Mund zu einem vertraulichen, verlegenen, angedeuteten Lächeln, dessen Bedeutung sich mir entzog. Zwischen ihnen sitzend, sonnte ich mich in der Wärme des Augenblicks und verspürte keinerlei Schuld, dass ich nicht ihr Kind war. Als die glücklichste aller glücklichen kleinen Familien brausten wir dahin. Als wir über eine hohe Brücke fuhren, die nicht weit von 33 unserem Zuhause den Fluss überspannte, sah ich weit unten am Ufer blitzartig sich etwas bewegen. Zu meinem Entsetzen entdeckte ich eine Schar Kobolde, die hintereinander her über eine Lichtung liefen, mit den Bäumen und Büschen verschmolzen und dann im Nu verschwanden. Diese merkwürdigen Kinder bewegten sich wie Rehe. Meine Eltern waren dafür blind, doch bei dem Gedanken an jene Wesen dort unten wurde mir heiß, und Schweiß brach mir aus, der mich rasch frösteln ließ. Dass es sie noch immer gab, versetzte mir einen Schreck, denn ich hatte sie fast vergessen. Dass sie meine Vergangenheit
aufdecken könnten, verursachte mir Übelkeit. Und ich war kurz davor, meinen Vater zu bitten, am Straßenrand anzuhalten. Doch er zündete sich eine weitere Camel an und kurbelte das Fenster weiter herunter, und die frische Luft linderte meinen Brechreiz, wenn nicht gar meine Angst. Mutter brach den Bann. »Hat Mr. Martin nicht von uns verlangt, dass wir uns für vier Monate verpflichten?« »Ich rufe ihn am Montag an und werde es mit ihm aushandeln. Lass es uns erst einmal zwei Monate ausprobieren. Wir müssen doch sehen, ob es dem Jungen gefällt.« Ich hatte die nächsten acht Jahre Klavierunterricht, und es war die glücklichste Zeit all meiner Leben. Wenn ich früh zur Schule kam, ließen mich die Nonnen freudig am Piano im Speisesaal üben. Später durfte ich auch in die Kirche, um Orgelspielen zu lernen, und ich wurde der jüngste Ersatzorganist, den die Gemeinde je hatte. Das Leben bekam eine Ordnung, die Disziplin bereitete mir Freude. Jeden Morgen schlüpfte meine Hand unter die warmen Hühnerbäuche und sammelte die Eier ein, und jeden Nachmittag perfektionierte ich mit den Fingern auf den Tasten meine Technik. Die Fahrten in die Stadt mittwochs und sams 34 tags, fern der Farm und der Familie, hinein in die Zivilisation, erwiesen sich als erfrischend. Ich war nun nicht mehr verwildert, sondern ein kultiviertes Geschöpf auf seinem Weg, ein weiteres Mal ein Virtuose zu werden. 34 Kapitel 6 Beim Niederschreiben dieser Erinnerungen an meine frühen Jahre, bislang aus ihrer weiteren Entwicklung herausgelöst, hält mich — und so geschieht es jedem — die Zeit zum Narren. Meine Eltern, die meine Welt schon längst verlassen haben, leben wieder. Die Frau im roten Mantel, die ich nur ein einziges Mal gesehen habe, ist mir gegenwärtiger als alles, was ich gestern gemacht habe, oder ob ich zum Frühstück Disteln mit Honig oder Holunderbeeren gegessen habe. Meine Schwestern, nun im mittleren Alter, sind für mich noch immer kleine Kinder, zwei gleich aussehende Engelchen, mit Ringellöckchen, pausbäckig und hilflos wie junge Tiere. Die Erinnerung, die unser Leben mittels Vorahnungen und Gewissensbissen durcheinanderbringt, ist wohl unser einzig wahrer irdischer Trost, wenn die Zeit aus den Fugen gerät. Mein erster nächtlicher Ausflug in den Wald hatte mich erschöpft. Ich verkroch mich unter einen Berg aus Mänteln, Decken und Fellen, und am Mittag des nächsten Tages glühte ich vor Fieber. Zanzara brachte mir eine Tasse heißen Tee und eine Schale mit ekligem Gebräu und befahl mir: »Trink, trink, schlürf es rein.« Doch ich konnte nicht einen einzigen Schluck hinunterwürgen. Ganz gleich, wie viele Schichten sie auf mich häuften, 34 mir wurde nicht warm. Als die Nacht anbrach, verfiel ich durch den Schüttelfrost in unkontrollierbares Zittern. Meine Zähne klapperten, und meine Knochen schmerzten.
Der Schlaf brachte mir sonderbare, schreckliche Albträume, in denen alles gleichzeitig zu geschehen schien. Meine Familie drang in meine Träume ein. Hand in Hand stehen sie im Halbkreis um ein Loch im Boden herum, stumm wie Steine. Mein Vater umfasst meinen Knöchel und zieht mich aus dem hohlen Baum, in dem ich mich verstecke, und setzt mich auf den Boden. Dann greift er noch einmal hinein und reißt beide Zwillinge an den Knöcheln heraus und hält sie in die Luft, wobei die Mädchen vor Angst und Vergnügen kichern. Und meine Mutter ermahnt ihn: »Geh mit dem Jungen nicht so hart um. Wo bist du gewesen, wo bist du nur gewesen?« Dann bin ich auf der Straße, stehe im Scheinwerferlicht eines alten Fords, der Hirsch liegt ausgestreckt auf der Fahrbahn, er atmet flach, und ich stimme meinen Atem auf seinen Rhythmus ein, und die Frau im roten Mantel mit den blassgrünen Augen fragt: »Wer bist du?« Und sie neigt sich zu meinem Gesicht hinunter, nimmt mein Kinn in ihre Hand, um mich auf die Lippen zu küssen, und ich bin wieder ein Junge. Bin ich. Aber ich kann mich nicht an meinen Namen erinnern. Aniday. Ein Mädchen namens Speck, ein verwildertes Kind wie ich, beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn, und ihre Lippen kühlen meine heiße Haut. Die Eichenblätter hinter ihr verwandeln sich in tausend Krähen, die sich alle gleichzeitig in die Lüfte schwingen und mit großen, wirbelnden, sirrenden Flügelschlägen davonfliegen. Stille kehrt wieder ein, nachdem der dröhnende Schwärm zum Horizont entschwindet und der Morgen anbricht. Ich jage den Vögeln hinterher, ich renne so schnell 35 und so verbissen, dass meine Haut auf beiden Seiten aufreißt und mein Herz gegen die Rippen trommelt, bis mich der totenähnliche Anblick eines trüb schwarzen Flusses bremst. Ich konzentriere mich mit ganzer Kraft und sehe auf die andere Seite hinüber, und dort am Ufer stehen Hand in Hand um ein Loch im Boden herum mein Vater und meine Mutter, die Frau im roten Mantel, meine beiden Schwestern und der Junge, der nicht ich bin. Sie stehen dort wie Steine, wie Bäume, und starren auf die Lichtung. Wenn ich meinen Mut zusammenreiße und ins Wasser springe, kann ich zu ihnen. Schwarzes Wasser hat mich einmal mitgerissen, daher bleibe ich am Ufer stehen und schreie mit einer Stimme, die man nicht hört, Worte, die niemand verstehen kann. Ich weiß nicht, wie lange ich im Fieberdelirium war. Eine Nacht, einen Tag oder zwei, eine Woche, ein Jahr? Oder länger? Als ich unter einem dampfigen, stählernen Himmel zu mir kam, fühlte ich mich geborgen und in Sicherheit, auch wenn meine Arme und Beine vor Steifheit pochten und meine Eingeweide sich kratzig rau und hohl anfühlten. Ragno und Zanzara, die über mich wachten, spielten Karten, wobei ihnen mein Bauch als Tisch diente. Weil es ihnen nicht gelungen war, ein vollständiges Kartendeck zu klauen, spielten sie ohne jede Logik. Sie hatten die Reste mehrerer Spiele zusammengeworfen, sodass sie letztendlich fast hundert Karten hatten. Beide hielten sie eine Unmenge in der Hand, die übrigen lagen wirr durcheinander auf meinem Bauch.
»Hast du eine cinque"!«, fragte Ragno. Zanzara kratzte sich am Kopf. Ragno, fünf Finger in die Luft haltend, rief ihm zu: »Cinque, cinque.« 36 »Fisch sie raus.« Und tatsächlich, er fischte, indem er Karte für Karte umdrehte, bis er die passende gefunden hatte, die er dann triumphierend hochhielt, bevor es wieder an Zanzara war zu spielen. »Du bist ein Schwindler, Ragno.« »Und du bist ein Blutsauger.« Ich hüstelte, um ihnen zu zeigen, dass ich bei Bewusstsein war. »Hey, sieh mal, unser Kleiner ist wach.« Zanzara legte seine feuchtkalte Hand auf meine Stirn. »Ich hole dir etwas zu essen. Vielleicht eine Tasse Tee?« »Du hast lange geschlafen, Kleiner. Das hast du davon, wenn du mit diesen Jungs einen Ausflug machst. Diese irischen Jungs taugen nichts.« Ich schaute mich um und suchte nach meinen Freunden, doch wie üblich waren zur Mittagszeit alle weg. »Welcher Tag ist heute?«, fragte ich. Zanzara ließ seine Zunge hervorschnellen und prüfte die Luft. »Ich würde sagen, Dienstag.« »Nein, ich meine, welcher Tag im Monat.« »Kleiner, ich weiß nicht einmal genau, welchen Monat wir haben.« Ragno warf ein: »Es muss auf das Frühjahr zugehen. DieTage werden länger, Zentimeter für Zentimeter.« »Habe ich Weihnachten verpasst?« Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten verspürte ich Heimweh. Die Jungen zuckten mit den Schultern. »Habe ich den Weihnachtsmann verpasst?« »Wen?« »Wie komme ich von hier weg?« 7" Ragno deutete auf einen Weg im Schatten zweier Immergrün. »Wie komme ich nach Hause?« Ihre Augen wurden glasig, sie nahmen sich bei der Hand, drehten sich um und hüpften davon. Ich wollte weinen, doch es kamen keine Tränen. Von Westen erhob sich ein Sturm, der dunkle Wolken über den Himmel jagte. Unter meine Decken gekauert, beobachtete ich das unbeständige Wetter, alleingelassen mit meinen Problemen, bis der Wind die anderen nach Hause wehte. Sie schenkten mir nicht mehr Beachtung als irgendeinem Klumpen am Boden, an dem man jeden Tag vorbeigeht. Igel machte ein kleines Feuer, indem er einen Feuerstein schlug, bis ein Funke das Anzündhölzchen in Brand setzte. Zwei der Mädchen, Kivi und Blomma, buddelten die beinahe leere Vorratsecke auf und zogen unsere kärgliche Kost hervor. Mit einigen wenigen geschickten Schnitten mit einem extrem scharfen Messer häuteten sie fein säuberlich ein halb gefrorenes Eichhörnchen. Speck bröselte getrocknete Kräuter in unsere alte Teekanne und füllte sie mit Wasser aus einer Zisterne. Chavisory röstete
Pinienkerne auf einem flachen Blech. Die Jungen, die nicht mit Kochen beschäftigt waren, zogen ihre nassen Schuhe und Stiefel aus und tauschten sie gegen die vom Vortag ein, die nun trocken und hart waren. Diese häuslichen Abläufe gingen ohne jede Hektik und mit spärlichster Unterhaltung einher; sie hatten aus den Vorbereitungen für die Nacht eine Kunst gemacht. Während das Eichhörnchen auf einem Spieß briet, sah Smaolach nach mir und war überrascht, als er mich wach und munter vorfand. »Aniday, du bist von den Toten zurückgekehrt.« Er reichte mir die Hand und zog mich auf die Beine. Als wir uns umarmten, drückte er mich so fest, dass meine Rippen 7i schmerzten. Den Arm um meine Schulter gelegt, führte er mich zum Feuer, wo einige der Elben mich mit Verwunderung und Erleichterung begrüßten. Beka warf mir ein höhnisches Grinsen zu, Igel zuckte bei meinem Hallo nur die Achseln und wartete, die Arme vor der Brust verschränkt, dass ihm serviert würde. Wir machten uns an das Eichhörnchen und die Pinienkerne, wobei unser Mahl wohl kaum den knurrenden Hunger aller Versammelten stillen konnte. Nach den ersten zähen Bissen schob ich meinen Blechteller beiseite. Alle Gesichter erglühten im Feuerschein, und das Fett auf den Lippen zauberte einen Glanz auf ihr Lächeln. Nach dem Abendessen gab mir Luchog ein Zeichen, ich solle näher rücken, und flüsterte mir ins Ohr, er habe eine Überraschung für mich versteckt. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen, die unseren Weg rosa färbten, verließen wir das Lager. Zwischen zwei großen Steinen klemmten vier kleine Umschläge. »Nimm sie«, ächzte er mit dem oberen schweren Stein im Arm, und schnell griff ich nach den Briefen, eher er seine Last wieder hinplumpsen ließ. Aus dem Inneren seines geheimen Beutels zog er einen gespitzten Bleistiftstummel, den er mir mit schicklicher Bescheidenheit überreichte. »Fröhliche Weihnachten, Schätzchen. Damit du anfangen kannst.« »Ist denn heute Weihnachten?« Luchog sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand zuhörte. »Du hast es nicht verpasst.« »Fröhliche Weihnachten«, sagte auch ich und riss meine Geschenke auf, wobei ich die wertvollen Umschläge ruinierte. Im Laufe der Jahre habe ich zwei dieser vier Briefe verloren, aber sie waren an sich und in sich nicht so wertvoll. In einem befand sich der Kontrollabschnitt eines Pfandbriefs mit einer Zahlungs 37 anweisung, und auf sein flehentliches Bitten hin bekam Luchog den Scheck, um ihn als Papierchen für seine selbst gedrehten Zigaretten verwenden zu können. Die andere verloren gegangene Post war ein geharnischter Brief an den Herausgeber der örtlichen Tageszeitung, in dem Harry Truman angeprangert wurde. Da Vorder- und Rückseite von Rand zu Rand mit einer unleserlichen Handschrift voll gekritzelt waren, erwiesen sie sich als nutzlos. Die beiden anderen boten viel mehr weißen Raum, und bei einem waren die Zeilen so weit auseinander, dass ich dazwischen schreiben konnte.
2. Febr. 1930 Liebster, unsere gemeinsame Nacht bedeutet mir so viel, dass ich nicht verstehen kann, warum du mir seit jener Nacht nicht geschrieben oder mich angerufen hast. Ich bin verwirrt. Du hast gesagt, dass du mich liebst, und ich liebe dich auch, aber dennoch hast du meine letzten drei Briefe nicht beantwortet, und bei dir zu Hause geht niemand ans Telefon und auch nicht im Büro. Es entspricht nicht meiner Gewohnheit zu tun, was wir im Auto getan haben, sondern weil du mir gesagt hast, du liebst mich und leidest solche Pein und Höllenqualen, wie du es immer wieder gesagt hast. Ich wollte dich wissen lassen, dass ich nicht eine solche Art Mädchen bin. Ich bin die Art Mädchen, die dich liebt, und die Art Mädchen, die auch von einem Gentleman erwartet, dass er sich wie ein Gentleman benimmt. Bitte schreib mir zurück, oder besser noch, ruf mich an. Ich bin nicht wütend, eher verwirrt, aber ich werde verrückt, wenn ich nichts von dir höre. Ich liebe dich, weißt du das? In Liebe Martha 38 Damals betrachtete ich diesen Brief als den wahrhaftigsten Ausdruck echter Liebe, der mir je begegnet war. Er war schwer zu entziffern, da Martha schräg schrieb, aber zum Glück in großen Buchstaben, die der Druckschrift ähnelten. Der zweite Brief verblüffte mich mehr als der erste, aber auch er nutzte nur drei Viertel der Vorderseite des Blatts. . Februar 1910 Liebe Mutter, lieber Vater, nur unzulänglich können Worte dem Kummer und dem Mitgefühl Ausdruck verleihen, die ich euch zum Verlust der lieben Nana übersende. Sie war eine gute Frau, und eine nette, und nun ist sie an einem besseren Ort. Es tut mir leid, dass ich nicht nach Hause kommen kann, aber ich habe nicht genügend Geld für die Reise. Daher muss ich euch all meinen aufrichtigen Schmerz durch diesen höchst unzureichenden Brief mitteilen. Kalt und unglücklich rückt das Ende des Winters näher. Das Leben ist nicht gerecht, denn ihr habt Nana verloren und ich nahezu alles. Euer Sohn Als die Mädchen im Lager von den beiden Briefen erfuhren, bestanden sie darauf, dass sie laut vorgelesen würden. Sie waren nicht nur neugierig auf ihren Inhalt, sondern auch auf meine angebliche Lesefähigkeit, denn fast niemand im Lager gab sich noch die Mühe zu lesen oder zu schreiben. Einige hatten es nie gelernt, und andere hatten es lieber vergessen. Wir saßen im Kreis um das Feuer herum, und ich las vor, so gut ich konnte, auch wenn ich nicht alle Wörter ganz begriff oder ihre Bedeutung verstand. »Was denkt ihr über >Liebster