STOLL / DREWS
Bomben ohne Zünder
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Tatsachenbericht Reproduktione...
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STOLL / DREWS
Bomben ohne Zünder
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Tatsachenbericht Reproduktionen: Archiv der Autoren
1.—70. Tausend © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) — Berlin, 1977 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 LSV: 7002 Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Erhard Schreier Vorauskorrektor: Ingeborg Kern Korrektor: Dietlinde Woitschig Hersteller: Michael Haase Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
DDR 0,50 M
Treff in der Pathologie Ein Abend in Toulouse. Ein Mann und eine Frau gehen durch die menschenleeren Straßen der Stadt. Plötzlich verharrt die Frau und zerrt den Mann in einen dunklen Hauseingang, legt ihre Arme auf die Schultern des Begleiters, drückt ihren Kopf an sein Gesicht und flüstert erregt: „Eine-Streife, Emile!" Fest preßt sich die Frau an den Mann. „Sie kommen!" Emile spürt, wie sie zittert. „Hab keine Angst, Isabelle. Unsere Papiere sind in Ordnung." Isabelle ist Schwester im Krankenhaus in der Rue Dalbade. Zwei Tage hat Emile bei ihr gewohnt. In dieser Zeit hat er sie nicht ein einziges Mal mutlos oder ängstlich gesehen, dabei droht jedem, der Illegale aufnimmt, die Todesstrafe. Was ist nur mit ihr los? denkt er. Er möchte die junge Frau gern trösten, obwohl auch er innerlich erregt ist. Stiefelschritte kommen näher. Emile weiß, daß die faschistische Streife ihnen nicht gefährlich werden kann. Isabeiles Identitätskarte ist in Ordnung, und mit seiner hat er bereits einige Kontrollen der Feldgendarmerie und der französischen Miliz gut überstanden.
„Drei sind es, Emile. Was wird geschehen?" „Nur ruhig. Wir spielen jetzt ein schönes Liebespaar und warten ab." Unweit des Hauseingangs bleiben die drei Faschisten stehen. Sie zünden sich Zigaretten an. Einer flucht, weil ihn seine MPi beim Anzünden behindert. Plötzlich liegt ein harter Lichtstrahl auf dem Hauseingang. Geblendet kneifen Emile und Isabelle die Augen zusammen. Während der eine Feldgendarm weiter mit der Taschenlampe den Hauseingang bestreicht, stellen sich die beiden anderen hinter ihn und entsichern ihre MPis. Einer sagt: „Ihre Papiere!" Isabelle löst sich von Emile. Beide gehen auf die Faschisten zu. „Stehenbleiben!" Metall klirrt. Wieder streicht der Lampenstrahl über sie hinweg, bleibt auf ihren Gesichtern liegen. „Los! Ihre Papiere!" Langsam greift Emile in die Brusttasche, zieht seine Identitätskarte heraus, reicht sie dem einen. Während Emile die Karte förmlich aus der Hand gerissen wird, hört er: „Name, Vorname. Los, los! Mach schon!" „Scheffer, Emile." Isabelle wird höflicher gefragt. Der mit der Taschenlampe tastet währenddessen mit dem Lichtstrahl ihren Körper ab, grinst und meint: „Der Kerl hat Geschmack!"
So plötzlich, wie sich die Streife für Isabelle und Emile interessiert hat, so schnell erlahmt auch ihre Aufmerksamkeit. Beide erhalten ihre Ausweise. „Verschwindet!" Emile tut so, als verstünde er nicht Deutsch. „Ihr sollt abhauen! Marsch, marsch, ins Bett!" Emile legte seinen Arm auf Isabeiles Schulter und führt sie langsam in jene Richtung, aus der die Faschisten gekommen sind. Nach mehreren Schritten bleibt die junge Frau stehen und lehnt sich erschöpft an den Mann; sie weint. Ihre Nerven antworten auf die Anspannung der letzten Monate. Emile hat den Gesprächen mit Isabelle entnommen, daß auch sie der Kommunistischen Partei angehört. Und die französischen Genossen leisten den deutschen Faschisten seit 1940 am entschlossensten Widerstand. Emile weiß aus eigenem Erleben sehr gut, was sich in diesen vier Jahren getan hat. Anfangs waren es bewaffnete Gruppen, die Organisations Speciales de Combat, die von der FKP gebildet worden waren. Sie führten Sabotageakte und Aktionen gegen Einrichtungen und Angehörige der Besatzungsmacht durch und bereiteten den bewaffneten Kampf vor. Daneben gab es Bataillone kommunistischer Jugendlicher, die Bataillons de la Jeunesse, und die Gruppen der MOI, der antifaschistischen Emigranten. Mit den Francs-Tireurs et Partisans Francais
(FTPF), den französischen Freischärlern und Partisanen, entstanden 1941 die von der FKP gebildeten ersten bewaffneten Einheiten der Resistance. Erst vor kurzem wurden die französischen Streitkräfte des Innern gebildet, die die verschiedenen Formationen der Widerstandsund Partisanenbewegung zu einer einheitlichen, zentral geleiteten Armee, der FFI, zusammenschlossen. In diesen Forces Francaises de l'Interieur gehören die FTPF zu den stärksten und schlagkräftigsten Einheiten. Neben dem bewaffneten Kampf und vielen einzelnen Aktionen, so weiß Emile, leisten die französischen Genossen eine ungeheuer schwierige und umfangreiche Kleinarbeit. Sie arbeiten beispielsweise unter den deutschen Wehrmachtangehörigen, um ihnen die Augen über den verbrecherischen Krieg zu öffnen und sie für die antifaschistische Arbeit zu gewinnen. Kontaktaufnahme mit Soldaten und Offizieren, Verteilung von Flugschriften in Lokalen, Straßenbahnen, Wehrmachtstellen, das Sammeln von Informationen — all das bedroht das Leben dieser Mutigen täglich, ja stündlich. Emile faßt die Frau fest unter. Seine Tochter könnte sie sein, denkt er. Emile weiß, welche Kräfte ein Mensch aufbringen muß, um über Jahre hinweg
Widerstandsarbeit zu leisten. In diesen Minuten fühlt er sich Isabelle sehr nah. Unauffällig schaut er sich um. „Die Gefahr ist vorüber." „Dennoch müssen wir vorsichtig sein. Wir machen einen kleinen Umweg, Emile. Sicher ist sicher!" Beide atmen erleichtert auf, als sie in eine dunkle Nebenstraße verschwinden können. Nach einer Weile sagt die junge Frau: „In wenigen Minuten sagen wir uns ,Au revoir!'. Vielleicht sehen wir uns niemals wieder. Sag mir doch bitte, wie du wirklich heißt. Erzähl mir etwas von dir, Emile." Der Mann lächelt. „Aber Isabelle, du weißt doch, daß ich das nicht kann. Du kennst doch unsere Gesetze. Sie sind streng und deshalb gut für uns. Behalte den Emile in deinem Gedächtnis. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder, nach dem Krieg oder vielleicht schon in den nächsten Wochen." Isabelle seufzt. „Ja, unsere Gesetze sind streng, müssen auch streng sein, aber manchmal möchte man sie brechen." Was soll Emile darauf antworten? Es wäre schön, denkt er, wenn ich ihr sagen könnte, daß ich Wilhelm heiße. Es würde mir gut tun; sie ist ein prima Mädel, eine gute, aufrechte Genossin. Und er! Seit acht Jahren keinen Brief, keine Karte, kein noch so kleines Lebenszeichen von seiner Familie. Emile muß unwillkürlich lächeln, als ihm die Jahreszahl 1931 in den Sinn
kommt. Dreizehn Jahre ist das schon wieder her, als er. der Suhler Waffenmeister, das große Abenteuer einging: Die Kommunistische Partei Deutschlands forderte erfahrene Facharbeiter auf, beim sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion zu helfen. Emile sprach mit seiner Frau. Sie bedachten die Zukunft ihrer Söhne. Dann packten sie die Koffer und reisten nach Tula bei Moskau. Der Thüringer arbeitete in der Tulaer Waffenschmiede. Er gab all seine Fachkenntnisse weiter, aber noch mehr wurde ihm gegeben. Seine Erfahrungswelt war der kapitalistische Betrieb, und nun erlebte er eine völlig andere Atmosphäre der Arbeit und des Lebens: die sozialistische. Gewiß, die Menschen lebten einfach, sehr einfach sogar, Kleidung und Schuhwerk waren teuer, Lebensmittel rar. Und doch, sie fühlten sich wohl, ja reich. Sie waren frei, Menschen unter Menschen. Seine Söhne wurden Lehrlinge in einem Betrieb, in dem der Meister streng, jedoch auch Freund und Berater war. Stolz war Emile schon immer auf sein Handwerk und sein Fachwissen. Jetzt aber machte ihm die Arbeit erst richtig Spaß. Im Kollektiv die Norm überbieten, nicht für den Profit einer Clique, sondern für den Reichtum der Gesellschaft, das war schon etwas! Was er schuf, nutzte allen. Die sowjetischen Genossen sorgten sich um ihn und seine Familie, und sie wollten, daß er auch für die kommenden Zeiten in seiner Heimat lernte. Später
besuchte Emil die Leninschule und absolvierte einen halbjährigen Offizierslehrgang. 1936 verabschiedete er sich von seiner Frau und den beiden Söhnen, ohne ihnen sagen zu dürfen, welchen Auftrag ihm seine Partei gegeben hatte. Sein Ziel war Spanien. Isabelle, ich war Interbrigadist, denkt der Mann, Batteriechef, für Antifaschisten aus neun Staaten verantwortlich. Wir konnten den Faschismus in Spanien nicht besiegen, aber die Niederlage zerbrach uns nicht. Emiles Wissen und sein Wille, den faschistischen Gegner zu bekämpfen, waren größer und fester geworden. 1939 hatte er dann mit Tausenden von Antifaschisten vieler Staaten über die Pyrenäen Spanien verlassen müssen. Die französischen Behörden internierten die Interbrigadisten. In Nordfrankreich mußte Emile Schützengräben und Panzersperren gegen den drohenden deutschen Angriff bauen. Am 10. Mai 1940 überfielen die Faschisten die Republik Frankreich. Emile spricht gut russisch. In Spanien lernte er die Sprache des Landes, und seit der Internierung kann er sich auch auf Französisch verständigen. Emile floh im Frühjahr 1940 aus einem Lager und fand bald Gleichgesinnte. Französische Genossen nahmen ihn auf. Die ersten Jahre der Okkupation waren unendlich schwer. Die deutschen Faschisten stießen weit nach
Osten vor. Die Moskauer hörten schon den Gefechtslärm. In Westeuropa hatten sich die Faschisten fest eingenistet. So war es, sinniert Emile und schreitet neben Isabelle durch das nächtliche Toulouse. Ja, so war es. Doch jetzt sieht die Lage schon ganz anders aus. Im Winter 1942/1943 war die Rote Armee zu großen Angriffsoperationen übergegangen. In Stalingrad erlitt die faschistische Wehrmacht eine vernichtende Niederlage; von da an wurde sie unaufhaltsam nach Westen zurückgetrieben. Natürlich wirkten sich diese Erfolge auch auf die Widerstandsarbeit und auf die Partisanenbewegung in Westeuropa aus. Viele Widerstandsorganisationen und -gruppen, die bisher einzeln gekämpft hatten, schlossen sich zusammen und verstärkten ihre Aktionen. Nun warten alle auf die schon längst fällige Eröffnung der zweiten Front durch die westlichen Alliierten. Plötzlich bleibt Isabelle stehen, stellt sich vor Emile, so daß er nicht weitergehen kann. „Es war dumm von mir, vorhin. Vergiß meine Fragen!" Sie lächelt ein wenig. Emile bemerkt in diesem Lächeln nicht nur Freundlichkeit, sondern mehr. „Emile, du bist mir sehr sympathisch, so anders, so ..." Sie sucht nach einem passenden Wort, findet es nicht, sagt trocken: „Ja gehen wir, wir haben genug Haken geschlagen. Wir sind gleich am Ziel."
Nach ein paar Metern stehen sie vor einem Nebeneingang des Krankenhauses in der Rue Dalbade. Isabelle zieht einen Schlüssel aus der Tasche ihrer Jacke und schiebt ihn durch den Briefschlitz; klirrend fällt er auf der anderen Seite zu Boden. Sekundenlang herrscht Ruhe. Endlich wird die Tür wie von unsichtbarer Hand geöffnet. Isabelle schiebt Emile in den dunklen Hausflur. Tastend setzt er seinen Fuß über die Türschwelle. Eigenartig diese Situation, denkt er. Hinter ihnen wird die Haustür von einer Gestalt fast lautlos geschlossen. Danach blitzt eine Taschenlampe auf. Isabelle nimmt Emile an der Hand und führt ihn durch einen langen, schmalen Gang. Hinter ihnen geht der Mann, der sie zuvor begrüßt hat. Mehrere Etagen steigen sie hinauf, gehen in einem Seitenflügel wieder Treppen hinunter. Der schweigende Begleiter weist mit seiner Taschenlampe auf eine Flügeltür. Der Lichtkegel huscht über Glasschränke und große, geflieste Tische. Isabelle flüstert: „Die Pathologie." „Was soll denn das? Mein Blinddarm gehört mir schon längst nicht mehr", meint lächelnd Emile. „Und nach einer Amputation steht mir nicht der Sinn." „Das ist doch der Seziersaal und nicht der Operationssal."
Der schweigsame Begleiter hat in der Zwischenzeit eine kleine Tür geöffnet. Der Durchgang ist von der anderen Seite mit einer Decke verhängt. Nur an einigen Stellen schimmert etwas Licht. Isabelle fordert Emile auf, in den Raum zu treten. Sie folgt ihm. „Salut, Isabelle! Herzlich willkommen, Wilhelm!" Emile fällt dem Sprecher ins Wort, sagt seinen Kriegsnamen. Er kann im ersten Augenblick nicht erkennen, wem er gegenübersteht. Die Helle des Raumes blendet ihn. Tabakqualm fährt ihm beißend in die Augen. Wer hat ihn begrüßt? Die Stimme kam ihm bekannt vor. Da wird er von einem untersetzten Mann umarmt. „Teniente! So sieht man sich wieder. Wir brauchen dich!" Emile, der sich langsam an das grelle Licht gewöhnt hat, erkennt nun mehrere Männer, unter ihnen Werner, seinen ehemaligen Verbindungsoffizier. Das Wiedersehen erleichtert ihm die Begegnung mit den unbekannten Genossen. Bloß gut, denkt er, Werner wird ihnen schon alles Notwendige von mir erzählt haben. Werner klopft ihm auf die Schulter. „Entschuldige, ich vergaß dir zu sagen, wie mich die Freunde hier getauft haben: Eugen." Eugen nennt nun die Namen der anderen Männer. Zum Schluß sagt er: „Und das hier ist Jean, unser Leiter. Unsere deutsche Gruppe arbeitet eng mit der französischen Organisation zusammen und handelt nur dann, wenn es mit den französischen Genossen abgesprochen ist."
Emile blickt auf einen großen, breitschultrigen Mann. Neben ihm steht Jeans Bruder, Pierre genannt, der auch in Spanien war. Beide stammen aus Bayern. In der Toulouser Widerstandsorganisation genießen sie großes Ansehen. In SSUniformen gekleidet, wirkten sie bisher bei der Befreiung von Patrioten aus Gefängnissen mit, sicherten jene Genossin, die aus einem Bankhaus eineinhalb Millionen Francs holte; beide dirigierten einen Wehrmachtskonvoi mit Waffen, Munition und Lebensmitteln in eine Falle des Maquis, steuerten anschließend zwei LKW, auf die sie Flugblätter gepackt hatten, in die Nähe einer Kaserne — der Wind übernahm die Verteilung. Ein älterer, auffallend gut gekleideter Mann tritt aus dem Hintergrund auf Emile zu, reicht ihm die Hand, begrüßt ihn, aber seinen Namen nennt er nicht. Jean erklärt: „Ohne ihn wären wir schlicht und einfach handlungsunfähig. Wir sind nur ein Rädchen im Toulouser Widerstand." Mit schneller Handbewegung schiebt er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Kommen wir zur Sache. Emile ist da, wir können weitermachen." Plötzlich sieht er Isabelle, entschuldigt sich. „Wir haben dir noch gar nicht gedankt. Du hast uns sehr geholfen." „Ach, ihr Deutschen, immer diese Worte." Unwillig schüttelt sie den Kopf. „Warum? Schließlich kämpfen wir für ein und dasselbe Ziel. So ist das!"
Jean, durch Isabelles Antwort etwas unsicher geworden, meint: „Also dann einen guten Heimweg ohne Zwischenfälle." Er schaut in die Runde. „Möchtest du, daß dich einer begleitet? Es ist schon recht spät geworden." „Natürlich nicht!" Wieder schüttelt sie ihren Kopf, daß die rotbraunen Haare wir Flammen wirken. „Ich bin ein Kind dieser Stadt. Ich kenne den besten und sichersten Weg! Warum noch jemand gefährden?" Emile umarmt die Gefährtin. „Au revoir! Und am Tag des Sieges, Isabelle, beantworte ich dir deine Fragen." „Schon gut!" Schalkhaft lächelt sie ihn an. „Wilhelm, ich werde dich erwarten." Stolz geht sie hinaus und zieht den Vorhang schwungvoll vor die Tür. Jean blickt auf die Uhr und schimpft. „Die Zeit rennt uns davon. Wir müssen uns noch verständigen, und schlafen müssen wir schließlich auch." Er schließt die Augen, reibt sich mit den Fingerspitzen die Schläfen, fährt sich über die Augenlider und sagt schließlich: „Die französischen Genossen planen eine größere Aktion. Daß wir uns daran beteiligen, wurde von der Leitung beschlossen. Das zur Information, Einzelheiten besprechen wir gleich. Zuvor hat uns sicher Emile etwas zu sagen." Ein wenig unsicher ist Emile nun doch. „Ich habe mich um einige Tage
verspätet. Es tut mir leid, doch ich konnte nicht früher kommen." Dann berichtet er, wie sorgfältig die Resistance seine Fahrt nach Toulouse vorbereitet hat. Ein deutscher Genosse, auch wenn er eine französische Identitätskarte besaß, konnte ohne Unterstützung und Hilfe der Widerstandsbewegung kaum durch Südfrankreich reisen. Überall wurde kontrolliert, überall lauerte Gefahr: Gestapo, Miliz, Feldgendarmerie, Kollaborateure. Emile sprach zwar französisch, aber schon Mißtrauen konnte ihn gefährden. Und Fremde erhielten im Frühjahr 1944 kein Quartier mehr. Anfangs lief alles planmäßig ab; Emile wurde von Station zu Station durch Südfrankreich gelotst. Doch die Busfahrt vor zwei Tagen war Ursache seiner Verspätung. „Zwei junge Franzosen zwangen den Busfahrer, auf freier Landstraße zu halten. Sie forderten danach einen Insassen auf auszusteigen. Ihren Landsleuten sagten sie, daß es sich um einen Verräter handele, der für die deutschen Faschisten Spitzeldienste leiste, Informationen an sie liefere und französische Patrioten denunziere. Einer der beiden richtete eine Pistole auf ihn. Der andere erklärte, daß der Maquis ihn wegen Kollaboration zum Tode verurteilt habe. Darauf führten sie ihn auf die Wiese. Dann fiel der Schuß; der Mann brach zusammen. In diesem Moment raste ein Beiwagenkrad der Wehrmacht auf den Bus zu. Feldgendarmen sprangen ab. Doch
bevor sie überhaupt ihre Waffen gebrauchen konnten, waren sie schon erledigt. Schnell wurden die drei Faschisten auf die Wiese gezerrt. Bevor sich die beiden jungen Leute auf das Motorrad schwangen, erklärten sie den Insassen, daß es jetzt wohl besser sei, einzeln oder in kleinen Gruppen zu verschwinden. Jedenfalls rieten sie von der weiteren Benutzung des Busses ab. Kurz darauf waren sie mit dem Krad auf und davon. Was blieb mir denn nun übrig? Ich konnte mich ihnen doch nicht zu erkennen geben! Hätten sie mir überhaupt geglaubt? Jedenfalls beeilte ich mich, schnell in den Ort zurückzukommen, wo ich vor einer halben Stunde in den Bus gestiegen war. Ich brauchte ja am nächsten Anlaufpunkt Kontakt. Das Resultat: Die französischen Genossen mußten den Reiseplan für mich neu fixieren." „Hauptsache, du hast das Ziel erreicht." Pierre geht auf Emile zu. „Mit deiner Hilfe werden wir auch unser großes Ziel erreichen, eines Tages wieder nach Hause zu gelangen, in ein antifaschistisches Deutschland." Jean schaltet sich ein. „Das hängt nicht allein von uns und den französischen Kameraden ab. Bis dahin muß noch einiges geschehen. Die sowjetischen Truppen jedenfalls lassen den Armeen Hitlers keine Ruhepause. Sie kämpfen bald nicht mehr nur um die Befreiung ihres eigenen Landes, dabei haben sie bisher die Hauptlast
getragen. Und was machen ihre westlichen Verbündeten? Sie verzögern die Eröffnung der schon längst fälligen zweiten Front!" Er blickt sich um, streicht sich mit der Hand über die Stirn. „Aber ich wollte euch nicht vom Thema abbringen." „Wißt ihr, ich kann den Mut dieser beiden jungen Männer nicht vergessen", sagt Emile. „Ja, um gegen die Faschisten zu kämpfen, braucht man Mut. Man muß bereit sein, das eigene Leben einzusetzen", fügt Jean gedankenvoll hinzu. „Für die Verräter ist solch eine Aktion eine Warnung. Und die Leute im Bus haben mit eigenen Augen gesehen, daß es Menschen gibt, die nicht aufgeben, die ihre Heimat lieben und deshalb etwas für ihre Befreiung tun. Bloß gut, daß alles so gut verlief." Während der Beratung erfährt Emile, daß sich die deutsche antifaschistische Gruppe in Toulouse vor allem damit beschäftigt, unter den deutschen Wehrmachtangehörigen aufklärend zu wirken. Das geschieht durch Flugschriften und Flugblätter, die sie ausarbeitet, herstellt und verteilt. Man begann mit einem einfachen Kinderdruckkasten. Nun stehen den Genossen Apparate, wenn auch recht primitive, zur Verfügung. Schon im September vorigen Jahres haben sie beispielsweise viele tausend Exemplare des Manifests der Bewegung „Freies Deutschland" mit der Hand abgezogen. Die Arbeit ist mühselig und die Verteilung lebensgefährlich. Trotzdem legen sie ihr Leben dafür in
die Waagschale, um den Krieg schneller beenden zu helfen. Auf jede erdenkliche Art wird den deutschen Soldaten und Offizieren ihre wirkliche Lage und die an der Front vor Augen geführt, sie werden mit den Zielen der Bewegung „Freies Deutschland" bekanntgemacht und eindringlich aufgefordert, Soldatenkomitees dieser Bewegung zu bilden und den antifaschistischen Kampf zu unterstützen. Ja, sehr viele Antifaschisten sind an der Verteilung beteiligt, und das ist immer mit großen Gefahren verbunden. Darüber hinaus sammeln die deutschen Genossen Informationen, die für den Widerstandskampf, für die Partisanen wichtig sind, und sie beteiligen sich auch an direkten militärischen Aktionen. „Ich höre immer .Aktionen'", meint Eugen ironisch. „Wir werden mehr und mehr zu Journalisten. ,Gute Artikel mußt du schreiben können, Genosse. Lesbar und überzeugend.' Und anschließend darfst du sie auch selbst vervielfältigen, aber mit Sorgfalt, die Exemplare vierhundertneunundneunzig und fünfhundert müssen technisch so gut sein wie das erste." Jean unterbricht ihn unwillig. „Was du redest! Du weißt doch selbst, wie wichtig es ist, die Wehrmachtangehörigen aufzuklären." Eugen fällt ihm ins Wort. „Das weiß ich doch, aber handfeste Aktionen reizen mich nun einmal mehr." Jean lacht über Eugens letzte Äußerung. „Dir kann geholfen werden. Die französische Leitung hat be-
schlossen, innerhalb einer größeren Aktion auch einen Straßenbahnzug im Zentrum von Toulouse zu sprengen. Versteht richtig! Einen Nachtwagen, der ausschließlich von der Wehrmacht benutzt wird. Die Faschisten müssen wissen, daß sie nicht ungestraft ein Land besetzen und ausplündern dürfen. Sie sollen sich nirgends mehr sicher fühlen. Und die Toulouser Einwohner? Auch mit solchen Aktionen demonstriert die Resistance, daß sie lebt und kämpft. Und neue Verschworene werden zu ihr stoßen." „Das will aber genau bedacht und gut vorbereitet sein", unterbricht Pierre nachdenklich seinen Bruder. „Die Sprengung, aber auch die Folgen. Die Faschisten lassen solche Aktionen doch nicht unerwidert!" „Pierre", sagt Eugen fast zu laut, „so kenne ich dich ja gar nicht. Ich jedenfalls kann mir vorstellen, was die in der Nielkaserne, in der Caffarellikaserne und auf dem Flugplatz für Gesichter machen, wenn die Ausgänger nicht zum Zapfenstreich da sind, dafür aber eine riesige Stichflamme aus dem Stadtzentrum aufsteigt!" Ein anderer wirft ein: „Vielleicht schauen sie sich dann unsere Flugblätter etwas aufmerksamer an, statt sie ungelesen dem NS-Führungsoffizier abzuliefern." Jean, der eben noch sehr müde war, verfolgt nun das Gespräch mit wachem Verstand. Politische Klarheit ist für das Handeln der Widerstands-
kämpfer lebensnotwendig. Die Beweggründe, die seinen Bruder und Eugen beschäftigen, kann er verstehen. Jean zieht kräftig an seiner Zigarette. Nicht jede Zeitung und jedes Flugblatt, das in die Hände der faschistischen Soldaten gelangt, wird gelesen. Die deutschen Genossen haben unter den Schreibkräften, Telefonistinnen und Küchenkräften der Wehrmacht einige, die sie mit Informationen versorgen. Und Tatsache ist nun mal, daß viele in Frankreich stationierte Soldaten alles unternehmen, um nicht an die Ostfront kommandiert zu werden. Er weiß auch, daß die Sprengung dieser Straßenbahn gründlich durchdacht worden ist, auch die Gefahr von Vergeltungsaktionen. Jean billigt den Entschluß der französischen Genossen. Der Terror der Faschisten ist ungeheuer, und die geplante Aktion ist ein Steinchen im Mosaik des antifaschistischen Widerstandskampfes. Jean freut sich über seinen Bruder. Pierre, eigentlich mehr ein Draufgänger, der von Flugblättern und Zeitungen nicht viel hält, zeigt jetzt sein reiferes politisches Verantwortungsgefühl. Wir alle, stellt Jean für sich fest, sind klüger und weitsichtiger geworden. Die Parteibeschlüsse von Brüssel und Bern haben allen geholfen, die Zusammenhänge und das Ziel der antifaschistischen Arbeit klarer zu sehen. Der Krieg muß beendet und der Faschismus für alle Zeit zerschlagen werden. Jean weiß, daß sich nach der Bildung des
Nationaikomitees „Freies Deutschland" in der Sowjetunion im September 1943 auch in Frankreich ein solches Komitee für Westeuropa konstituiert hat. Jean blickt lächelnd in die Runde. „Also, Freunde, wie ich sehe, habt ihr euch bereits mit der Aufgabe vertraut gemacht." Während an jenem Märzabend 1944 in Toulouse die Genossen zusammensitzen, blättert der Oberbefehlshaber West der faschistischen Wehrmacht, Generalfeldmarschall von Kluge, in seinem Tagebuch. Auf einem Blatt liest er: „Zwischen September 1943 und Februar 1944 haben französische Banditen 473 Kabelleitungen zerstört, 848 Brände in Wehrmachtdepots gelegt, 638 Wehrmachteinrichtungen überfallen, 3619 Sabotageakte auf Eisenbahnanlagen und 2025 andere Sabotageakte ausgeführt." Emiles neuer Auftrag Nachdem Jean die Zusammenkunft aufgehoben hat, verlangt er von Pierre und Emile, noch einige Minuten zu bleiben. Jean unterrichtet Emile davon, daß sein neues Wirkungsfeld der faschistische Flugplatz Toulouse sein wird. Humorvoll meint er: „Wir sind davon ausgegangen, daß. du nicht als Bombenschütze arbeiten willst, deshalb wirst du als Zivilarbeiter eingestellt." Emile hört noch, daß auf
dem Flugplatz bereits ein Genosse arbeitet, mit dem er später zusammentreffen wird. Emiles Aufgabe ist es, so schnell wie möglich, aber überlegt und nicht überhastet, eine illegale Gruppe aus Luftwaffensoldaten zu bilden. Diese Gruppe soll, sobald sie stabil genug ist, gezielte Sabotageakte ausführen. Emile schaut Jean erwartungsvoll an. Er nimmt an, noch mehr zu hören. Jean schweigt, gibt mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sich Emile äußern soll. Der sagt: „Das also ist mein Auftrag, einfach ist er nicht." „Nein, bestimmt nicht", bestätigt Jean ernst. „Für diesen nicht ungefährlichen und schwierigen Auftrag brauchen wir einen Genossen, der nicht aus Toulouse stammt. Gestapo und Miliz haben ihre Agenten bestimmt auch auf dem Flugplatz. Man wird dich überprüfen. Du darfst bei der Gestapo keinen Verdacht erregen. Die Zeit arbeitet für uns. Zudem braucht die Resistance dort einen Mann, der mit Waffen und Munition umgehen kann. Und das kannst du, Emile. Außerdem sind dir auch militärische Gepflogenheiten nicht unbekannt; du entsprichst einfach allen unseren Anforderungen." „Ich nehme den Auftrag an, Jean. Nur: Wie bekomme ich denn einen Arbeitsplatz auf dem Flugplatz?" „Morgen früh zehn Uhr erwartet dich Personalreferent Müller im Hauptarbeitsstab der Wehrmacht für
Südfrankreich. Das Gebäude befindet sich in der Rue des Changes, Nummer zwei. Du meldest dich im Zimmer neunundzwanzig." Emile ist verblüfft. Das verrät sein Gesicht. Jean boxt ihn auf den Oberarm. „So ist das. Die Resistance ist überall. Bürokratie kann sie dir allerdings nicht ersparen. Herr Müller erwartet dich, und er benötigt drei Paßbilder von dir. Du gibst dich zu erkennen, indem du ihm deine Uhr zeigst. Alles klar?" Jean schaut seinen Genossen an. Emile nickt. Jean sagt: „Also morgen früh zur Rue des Changes. Du nimmst deinen Weg über den Hauptbahnhof; dort, in dem Fotoatelier, bekommst du in fünfzehn Minuten sechs Paßbilder. Hast du noch ein paar Francs?" „Wirklich nur noch ein paar." „Das genügt. Der Personalreferent zahlt dir tausend Francs Handgeld aus, wenn du den Arbeitsvertrag unterschrieben hast. Das war's Emile! Ich wünsche dir und uns Erfolg!" Er lächelt. Emile geht zum Bett, das er im Hintergrund sieht Auf ihm wird er die wenigen Stunden noch ruhen. Jean entschuldigt sich bei Emile, aber er möchte noch schnell mit seinem Bruder sprechen. Gleich habe er Ruhe. Während sich Emile das Lager zurechtmacht, hört er Pierre zu Jean sagen: „Bruderherz, mach's nicht so spannend. Ich ahne, es geht um die Aktion Straßenbahn. Was habe ich zu tun?"
Jean sagt seinem Bruder, daß die Leitung sie mit diesem Auftrag betraut hat, weil sie sich viel sicherer in deutschen Uniformen bewegen als ein französischer Widerstandskämpfer. Sie sprechen deutsch, können also gut verstehen, was im Wagen gesprochen wird. „Die Aktion findet, vom heutigen Tage an gerechnet, in zehn Tagen statt. Die französischen Genossen wissen, daß der Straßenbahnzug in jener Nacht von einem Fahrer geführt wird, der als Spitzel für die Miliz und die Gestapo arbeitet." Pierre soll sich in den kommenden Nächten mit den Einzelheiten vertraut machen. Genaue Abfahrtszeit. Fahrtroute, ungefähre Zahl der Wehrmachtangehörigen, günstigster Punkt der Sprengung. „Uniform und Papiere erhältst du morgen hier." Toulouser Genossen werden Pierre rechtzeitig den Sprengsatz übergeben und ihm erklären, wie er mit ihm umzugehen hat. Hat Pierre dann noch Fragen, so werden diese Männer ihm helfen, sie zu klären. Jean packt seinen Bruder bei den Schultern. „Schlafe trotzdem gut! Du kriegst das schon hin!" „Worauf du dich verlassen kannst, und in zehn Minuten schlafe ich wie ein Murmeltier. Salut!" Gruß an Major Johnson „Guten Tag, Herr Müller!" sagt Emile freundlich und schließt die Tür des Zimmers 29 von innen.
„Heil Hitler!" Der Mann hinter seinem Schreibtisch beachtet den Eintretenden mit keinem Blick. Emile ist innerlich erregt. Sein Herz pocht stark. Schon an der Wache hatte er Rede und Antwort stehen müssen. Mißtrauisch überprüfte man seine Identitätskarte. Und nun? Dieser unfreundliche Herr soll ein Mann des Widerstands sein? Nicht einmal auf seinen freundlichen Gruß hin gab es eine entsprechende Reaktion! Emile zweifelt, im richtigen Zimmer zu stehen. Andererseits ist er sich sicher, denn der Mann hinter dem Schreibtisch hat nicht widersprochen, als er ihn beim Namen nannte. " Emile benetzt sich mit der Zungenspitze die trockenen Lippen. Es ist 10 Uhr. Pünktlichkeit ist eine strenge Regel der konspirativen Arbeit. Der Mann am Schreibtisch könnte sich zusammenreimen, wer da das Zimmer betreten hat. Noch einmal holt Emile tief Luft und sagt entschlossen: „Vielleicht sehen Sie mal auf meine Uhr, Herr Müller." Emile streift seinen Jackenärmel zurück und zeigt auf seine Armbanduhr. Der Personalreferent sieht von seiner Schreibarbeit auf, schaut Emile an, mustert die Armbanduhr. Emile glaubt, nochmals auf das Erkennungszeichen hinweisen zu müssen. „Uhren zu betrachten, finde ich, ist immer wieder interessant. Von der Uhr kann man auf den Besitzer schließen. An der Uhr zeigt sich irgendwie der Charakter eines Menschen. Natürlich auch dessen Vermögensverhältnisse."
Emile unterbricht seinen Wortschwall und sieht den Personalreferenten erwartungsvoll an. Müller macht keine Anstalten, sich dem Besucher in irgendeiner Weise zu erkennen zu geben. Endlich, Emile erscheint die Pause so lang, als wären viele Minuten vergangen, räuspert sich der Personalreferent und sagt: „Nehmen Sie doch erst einmal Platz. Wir werden uns sicherlich verständigen. Welche Arbeit interessiert Sie denn? Feldpostamt, Großtankstelle, Flugplatz, Lazarett, Wehrmachtskasino, Beschaffungsamt? Der Hauptarbeitsstab bietet Ihnen Möglichkeiten, Ihre Arbeitskraft in den Dienst des Großdeutschen Reiches zu stellen. Ausnahmsweise dürfen Sie wählen. Allerdings, ich muß einschränken, wir beschäftigen im Feldpostamt und im Kasino keine Ausländer." Emiles Mißtrauen ist noch nicht ganz geschwunden. Warum macht der Mann solche Umwege? Es soll doch alles vorbereitet worden sein? Er nimmt zwar nicht mehr an, im richtigen Zimmer dem falschen Mann gegenüberzusitzen, aber sehr geschickt scheint er nicht zu sein. Müller verlangt die Identitätskarte. Mit Daumen und Zeigefinger nimmt er sie entgegen, läßt sie auf und ab schnippen, sagt dabei: „Fällt Ihnen die Entscheidung so schwer?" Emile lächelt Müller an. Der Personalreferent verzieht keine Miene. Emile sagt: „Natürlich zum Flugplatz!" Müller atmet auf. Er war sich bis jetzt nicht sicher,
den angekündigten Mann vor sich zu haben. Der hatte zwar die Uhr gezeigt, gleichzeitig machte er aber so viele Worte dabei, daß sich Müller fragte, ob er es nicht mit einem Verräter zu tun habe. Der Hauptarbeitsstab nimmt in diesen Wochen zwar jeden einigermaßen Arbeitsfähigen, denn jeder Zivilist macht einen Soldaten für die unmittelbare Front frei. Aber Müller muß sehr vorsichtig sein, will er weiterhin für die Widerstandsbewegung etwas leisten. Jetzt sind jedoch seine Zweifel weggeräumt. Emile hat die Arbeit gewählt, für die ihm der Genosse avisiert wurde. Das besagt zwar nicht alles, aber ohne Risiko ist Widerstandsarbeit nun mal nicht. Müller legt Kohlepapier zwischen drei Karteikarten und spannt die Formulare in die Schreibmaschine ein, legt dann Emiles Identitätskarte neben sich. Er vermittelt nicht nur für die Widerstandsbewegung jene Arbeitsstellen, die für die betreffenden Genossen gewünscht werden, er schützt die Genossen gleichzeitig, indem er nur zwei der drei fortlaufend numerierten Karteikarten weitergibt. Ein Exemplar verbleibt im Hauptarbeitsstab. Ein zweites geht in die Dienststelle, in die der Zivilist vermittelt wird. Die dritte Karteikarte ist für die Gestapo oder die französische Geheimpolizei bestimmt. Sie erreicht den Empfänger jedoch nur, wenn Müller sie weitergibt. Die Arbeit des Personalreferenten ist für die Toulouser Widerstandsorganisation von unermeßlichem Wert.
Informationen aus dem Offizierskasino, den Lazaretten, dem Feldpostamt und den Beschaffungsämtern laufen ein, weil Müller die richtigen Genossen an wichtige Stellen vermittelt hat. Der Personalreferent dreht die Formulare aus der Schreibmaschine und sagt dazu: „Das hätten wir. Ihre Unterschrift, und Sie sind uns auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Allerdings stehen Sie künftig unter dem Schutz der deutschen Wehrmacht." Emile unterschreibt. „Ich mache Sie darauf aufmerksam", wird er belehrt, „daß Sie sich mit dieser Unterschrift verpflichtet haben, sich noch heute auf dem Flugplatz zu melden. Das ist für Sie auch deshalb wichtig, weil Ihnen Major Johnson das Handgeld auszahlen lassen wird. Ich gestatte Ihnen, Major Johnson von mir zu grüßen. Wir kennen uns gut." „Auf Wiedersehn!" grüßt Emile beim Verlassen des Raumes. „Heil Hitler!" ruft der Personalreferent laut. Zünddauer zehn Minuten Pierre steht an einem späten Märzabend in einer spärlich beleuchteten Straße im Toulouser Stadtzentrum. Heute abend wird er nochmals die Strecke abfahren; übermorgen dann mit dem Sprengsatz. Pierre geht, ungefähr fünfzig Meter von der
Straßenbahnhaltestelle entfernt, ziellos und langsam auf und ab. Mit der Schuhspitze schiebt er eine Zigarettenkippe die Bordsteinkante entlang. Von Anfang 1933 bis Ende 1935 war Pierre in seiner Geburtsstadt Grenzführer für gefährdete Genossen. Zweimal in der Woche brachte er mehrere Verfolgte über die Grenze des Nazireiches. Mut gehörte dazu, und Pierre konnte sich sehr gut ausmalen, wie ihn die Faschisten behandelt hätten, wären sie ihm auf die Spur gekommen. Im Dezember 1935 zog sich das Netz über ihm zusammen. Pierre ging den Weg vieler deutscher Kommunisten und Antifaschisten. Verhaftung, Folter, Haft im Konzentrationslager Dachau. Ihm gelang es, aus dem KZ zu fliehen. Nach einer Zeit des Umherirrens in Europa stellte er sich an die Seite der spanischen Patrioten. Die älteren Interbrigadisten mahnten ihn oftmals, mit seinem Leben überlegter umzugehen: Ein lebender Kommunist kann mehr tun als ein toter Held. Pierre wollte leben, nicht fallen. Trotzdem mahnten ihn auch hier in Frankreich immer wieder die Genossen: „Pierre, sei vorsichtiger, Draufgängertum schadet!" Pierre schiebt den Ärmel seiner Wehrmachtjacke ein wenig hoch, hält die Uhr nahe an die Augen. 23.07 Uhr. Immer mehr Soldaten eilen im Laufschritt auf die Straßenbahn zu. Pierre zieht die Uniformjacke straff, rückt das Koppelschloß zurecht.
Pierre ist vor zwei Stunden in die verhaßte Uniform geschlüpft. Auch die Papiere — Soldbuch und Ausgangskarte — sind in Ordnung. Nur eben gefälscht, aber gut. Die französischen Kameraden verstehen sich auch auf diese Art Widerstandsarbeit. Er mischt sich unter die Soldaten. Nur sie und Kollaborateure sind zu dieser Zeit noch auf den Straßen. Franzosen und Bürger anderer Staaten haben von 21 bis 6 Uhr Ausgangssperre. Pierre springt auf den vorderen Perron auf. Zum letztenmal will er überprüfen, was er bereits beobachtet hat. Der Fahrer ist durch einen halbhohen, dunkelgrünen Vorhang von den Straßenbahninsassen getrennt. Für Pierres Vorhaben ein unentbehrliches Stück Tuch. Der Fahrer kann, döst er im Halbdunkel an der Endhaltestelle, nicht in das Wageninnere schauen. Der deutsche Widerstandskämpfer weiß bereits genau, wo er den Sprengsatz legen wird. Der beste Platz ist der Bremssandkasten unter dem rechten vorderen Sitz im Fahrgastraum. Pierre wird in der entscheidenden Nacht vor den Soldaten in die Straßenbahn einsteigen. Er wird den Sprengsatz in dem Augenblick in den Kasten schieben, in dem ihm keiner zuschaut. Vielleicht muß er den angetrunkenen und fröhlichen Unteroffizier spielen, der alles anschaut und untersucht. Der Sprengsatz, eine kleine stählerne Schachtel, kommt an den vorgesehenen Platz. Das ist sicher. Pierre
beschäftigt, während die Bahn zum erstenmal hält, die Zünddauer. Zehn Minuten sind sechshundert Sekunden. Es dauert ein Weilchen, von eins bis sechshundert zu zählen. Sechseinhalb Schreibmaschinenseiten können in zehn Minuten vorgelesen werden. Zehn Minuten braucht ein durchschnittlicher Leichtathlet für dreitausend Meter. Zehn Minuten sendet eine Radiostation Nachrichten. Zehn Minuten mit der Freundin allein, das sind zehn Minuten Glück. Zehn Minuten können aber auch, ist der Knopf des Zünders gedrückt, verdammt kurz sein — nur sechshundert Sekunden bis zur Detonation! Bei vierzig Minuten Zünddauer könnte die Straßenbahn direkt vor der Caffarellikaseme in die Luft gehen. Doch das Risiko wäre zu groß. Pierre beißt die Zähne zusammen. Die Backenknochen treten hervor. An der Haltestelle Pont Neuf muß er aussteigen, unbedingt! Bis hierher sind es sechs Minuten. Pierre wird übermorgen als erster einsteigen. Bis zur Abfahrt vergehen rund drei Minuten. Er hat es wiederholt geprüft, ihm bleibt eine Minute Sicherheit. Sie muß ihm und den Toulouser Genossen, die ihn mit einem „ausgeborgten" Kraftwagen der Miliz erwarten, genügen. Gestern abend kam zur Sicherheitsminute noch eine weitere Minute hinzu. Der Triebwagenführer hat sie mit drängelndem Klingeln herausgefahren.
Mitgliedskarte der PCF während der Resistance von Genossen Scheffer
Ausweis Wilhelm Hollands (Emile Scheffer), Mitglied des Komitees „Freies Deutschlands" für den Westen
Der Gestapospitzel hat nicht dieselbe Fahrweise. Vielleicht? Aber Widerstandsarbeit ohne Risiko gibt es nicht. „Pont Neuf!" Pierre steigt aus und saugt tief und zufrieden die Märzluft ein. Treff auf dem Flugplatz Emile war am Flugplatz angekommen. Noch am selben Abend traf er mit Julien zusammen, einem Genossen aus Ludwigshafen, der auch unter falschem Namen in der Stadt lebte. Emile, immer bemüht, sich von den Menschen, mit denen er arbeitete, ein genaues Bild zu machen, wurde sich über Julien schnell klar. Der mittelgroße, blonde, ruhig und ausgeglichen wirkende Mann informierte ihn, ohne auch nur ein einziges überflüssiges Wort zu sagen. Auf dem Flugplatz gebe es eine kleine und recht aktive Widerstandsgruppe unter den Zivilarbeitern. Sie sammle Informationen und bringe Flugblätter in Umlauf. Für große Aktionen, Sabotage oder ähnliches komme jedoch niemand in Frage. Allerdings sei da ein Unteroffizier der Technischen Kompanie. Julien habe bereits mit diesem Fred Sauerbrunn Verbindung aufnehmen können, möchte sie aber nicht selbst halten, da das für ihn als Leiter der Gruppe zu gefährlich sei. Deshalb
solle Emile mit Sauerbrunn ins Gespräch kommen. Die deutsche Widerstandsgruppe von Toulouse habe bereits etwas vorbereitet: Bomben ohne Zünder. Dazu brauche man aber einen Soldaten des Bodenpersonals, der die Flugzeuge aufmunitioniert. Zünderattrappen seien bereits da und für Nachschub sei gesorgt. Die echten sollten, wenn möglich, an den Sprengmeister der Gruppe gegeben werden, der sie funktionsuntüchtig machen würde — wieder für die Bomben. Seit diesem Gespräch sind Tage vergangen. Emile ist jenem Unteroffizier mehrmals begegnet. Er hat ihm Grüße von Julien übermittelt und Vertrauen gesucht, und auch gefunden. Emile sitzt heute abend in der Flugplatzkantine. Der Kaffee, der vor ihm steht, ist dünn, die Luft zum Zerschneiden dick. Heute abend will er dem Unteroffizier Sauerbrunn die entscheidende Frage stellen. Emile ist sich trotz guter Vorarbeit durch Julien gar nicht so sicher. Sauerbrunn, gebürtiger Wiener, trägt das EK I und das EK II. Emile will versuchen, Freddy für das Einklinken von Bomben ohne scharfen Zünder zu gewinnen. Gefährlich ist das Gespräch, er weiß es, doch der Kampf im Untergrund ist nicht risikolos. Außerdem hat er von Freddy den Eindruck, daß er nicht nur den Krieg satt hat, sondern bewußt etwas gegen ihn tun möchte. Und trotzdem...
„Guten Abend! Ich bin überpünktlich." Sauerbrunn zieht einen Stuhl zurück. „Guten Abend, Freddy. Schön, daß du gekommen bist. Ich bin am Ersticken, halte es in dieser Kantinenluft einfach nicht aus. Kommst du ein Stück mit raus?" „Kumpel!" entgegnet Freddy Sauerbrunn, „du glaubst ja nicht, wie viele Kilometer ich heute schon marschiert bin! Wir können jetzt die Maschinen nicht schnell genug aufmunitionieren." „Du übertreibst sicher. Ihr macht doch die Kilometer nur motorisiert." „Heute eben nicht. Kraftstoff spartag! Aber ich habe trotzdem gute Laune. Ich nehme die Einladung eines lausigen Zivilisten an, weil er mir sympathisch ist." Anfangs gehen sie schweigend nebeneinander. Emile beginnt schließlich das Gespräch. „Was meinst du denn zu der Landung? Nun wird Deutschland in die Zange genommen." „Bisher sah es schon nicht gut aus, doch jetzt?" Sauerbrunn läuft schweigend weiter. Emile lenkt nun das Gespräch geschickt auf die Bomben, die hier auf dem Flugplatz eingeklinkt werden. Der Unteroffizier geht schweigend, den Kopf rhythmisch nach links und rechts bewegend, neben Emile einher. Emile sagt fordernder: „Der Krieg ist für die Faschisten längst verloren. Das war er bereits, als
sie russisches Territorium unter ihre Stiefel nahmen. Viele sagten das damals, aber nur wenige haben es denen geglaubt. Der Krieg war und ist heller Wahnsinn. Und jetzt noch die Landung der Engländer und Amerikaner. Freddy, wir könnten etwas tun, damit dieser Wahnsinn schneller zu Ende geht!" Der Unteroffizier bleibt stehen, mustert Emile lange, sagt dann: „So, so..." Er schiebt sich nachdenklich das Käppi auf den Hinterkopf. „Und wie genau?" Emile holt tief Luft. „Ja, wie genau? Ich habe da etwas vor, ganz genau durchdacht. Ihr schraubt da täglich an den Maschinen Zünder in die Bomben. Den Ausgang des Krieges könnt ihr mit diesen Bomben nicht beeinflussen. Aber der Krieg geht schneller zu Ende, wenn die Bomben, die ihr einklinkt, nicht mehr detonieren." Bei diesen Worten bleibt Emile stehen und sieht Freddy prüfend an. Wie nimmt er das auf? Auch der Unteroffizier ist stehengeblieben und packt Emile an den Oberarmen. Emile sieht förmlich, wie er mit sich ringt. Sauerbrunn läßt Emile wieder los und fingert nervös am Koppelschloß. Schließlich sagt er: „Die Sache kann mich Kopf und Kragen kosten. Und ich habe eine Frau und einen Sohn." „Die Entscheidung ist sicher nicht einfach", antwortet Emile. „Doch du mußt sie selbst für dich treffen."
Eine Weile laufen sie schweigend nebeneinander her. Plötzlich sagt Freddy: „Gut." Emile weiß in diesem Augenblick, daß er Sauerbrunn für die Sache gewonnen hat. Er erklärt ihm, daß sich die Zünderattrappen äußerlich überhaupt nicht von den echten unterscheiden. „Wirst schon sehen. Es sind echte, nur innen klappt das mit ihnen nicht. Morgen bekommst du die ersten zwei." „Nur zwei?" „Immer langsam mit den jungen Pferden, Freddy! Probier sie erst einmal aus." Er legt ihm noch ans Herz, nur dann diese Zünder auszutauschen, wenn er sich wirklich unbeobachtet fühlt. „Ist bei euch einer, der den Eindruck macht, daß auch er die Nase voll hat vom Krieg?" „Gefreiter Heintze, glaube ich. Bestimmt hat er es satt! Vielleicht können wir ihn gewinnen." Emile ist überzeugt, daß sich Freddy schnell einarbeiten wird, bald wird er in jede zweite Bombe eine Attrappe schrauben. „Also, wenn alles klappt, dann werden wir weitersehen. Morgen bekommst du die ersten beiden Dinger." Sauerbrunn schlägt Emile auf den Rücken. „Du gehst aber 'ran! Doch was mache ich mit den echten Zündern?" „Vorläufig verstecken. Auf keinen Fall bei dir behalten. Ich brauche die Dinger. Da lassen wir uns noch etwas einfallen." „Verstanden. Und nun will ich dir mal etwas sagen,
mein Lieber. Emile oder wie du heißt, mit Leuten wie dir sollte man sich gar nicht erst einlassen. Da zieht man immer den Kürzeren." Er lacht. „Aber nichts für ungut. Morgen die Dinger." „Also, Freddy, morgen zum Treff. Und jetzt kein Wort mehr. Du kannst ja noch etwas trinken gehen. Ich bin müde. Gute Nacht." „Gute Nacht, Emile." „Gute Nacht, Freddy!" Aktion Straßenbahn Gaston, ein Genosse der Toulouser Leitung der Widerstandsorganisation, drückt Pierre die Hand. „Toi, toi, toi, so sagt ihr Deutschen doch. Wir drücken dir die Daumen. In dreißig Minuten zündest du den Sprengsatz. In vierzig Minuten erwarten wir dich an der Haltestelle Pont Neuf. Mach's gut!" „Salut, Gaston." Pierre wendet sich um und geht mit langsamen Schritten zur Endhaltestelle der Straßenbahn. Er ist hellwach, nur ein wenig aufgeregt. Unter dem Arm fühlt er das Paket mit dem Sprengstoff. Pierre denkt an die nächste halbe Stunde, überprüft noch einmal in Gedanken die Details seines Vorgehens. Zehn Minuten nach dem Daumendruck auf den Zünderknopf wird eine Straßenbahn der Toulouser Verkehrsgesellschaft durch eine
Explosion zerstört. Menschen werden getötet, verwundet. Unter ihnen auch der Toulouser Straßenbahnführer, über den die Leitung der Widerstandsorganisation ihr Urteil gesprochen hat. Pierre weiß, daß er mit seinem Kampf dazu beiträgt, den Krieg schneller zu beenden und Tausende von Menschen vor dem Tode zu retten. Das allein zählt! Toulouse ist eines der Ausbildungszentren der Wehrmacht. Stark dezimierte Einheiten von der sowjetisch-deutschen Front sind hier, werden mit neuen Soldaten aufgefüllt. Die Caffarelli- und die Nielkaserne sind Durchgangsstationen für Einheiten, die an die Front im Osten geworfen werden. Die meisten Soldaten sind froh, wenn sie für einige Zeit in Toulouse bleiben können. Obwohl viele kriegsmüde sind, über manches schimpfen, sind sie doch nach wie vor bereit, auch den sinnlosesten Befehl auszuführen. Noch immer unterliegen sie der faschistischen Propaganda. Pierre schiebt mit der Schuhspitze einen kleinen Stein, den er im Dunkeln kaum ausmachen kann, vor sich her. Er denkt an jenen Feldwebel, der Dorfkommandant im Randgebiet der südwestfranzösischen Großstadt ist. Dieser deutsche Feldwebel informiert die Resistance regelmäßig über Maßnahmen der Faschisten. Die Widerstandsorganisation hat ihm bereits mehrmals angeboten, zu den Partisanen zugehen. Doch der Feldwebel hat Furcht, diesen endgültigen Schritt zu vollziehen.
Pierre fährt sich über die Stirn, befühlt die Narbe seiner Kopfverletzung. Vor Madrid war er aus einem Bomber beschossen worden — von einem Deutschen. Oft hat Pierre gräßliche Kopfschmerzen. Da hört er die Straßenbahn kommen. Bremsen quietschen. Die Straßenbahn hält. Soldaten sind noch nicht an der Haltestelle. Er ist zum richtigen Zeitpunkt eingetroffen. Pierre beschleunigt seine Schritte. Hinter ihm hört er die trunkenen Laute von Soldaten, die ihren Sold bereits ausgegeben haben. Bedächtig steigt Pierre auf den hinteren Perron des Triebwagens, da er bemerkt hat, daß die vordere Tür geschlossen ist. Hinter dem halbhohen Vorhang raucht und hustet der Fahrer. Pierre kann sich keine bessere Situation vorstellen. Er blickt auf die Uhr. Noch ist Zeit. Pierre setzt sich auf den Platz, den er kurz darauf wieder verlassen wird. Den Fahrer wird er jedenfalls zwingen, auf die Minute genau abzufahren. Der Straßenbahnfahrer öffnet die vordere Tür, wirft seine Zigarettenkippe aus dem Wagen und lehnt sich gegen die Tür. Dann betätigt er mit dem Fuß die Signalglocke. Die Abfahrtzeit rückt näher. Pierre beherrscht seine Nerven ausgezeichnet, nicht einmal das Klingeln bringt ihn dazu, den Sprengsatz zu zünden. Er hält das „Heimatpäckchen" griffbereit auf den Knien, und während er den Schlafenden markiert, konzentriert
er sich aufs Hören. Stimmen und Schritte kommen näher. Wieder klingelt der Fahrer. Risiko gegen Risiko, denkt Pierre und blickt wieder auf die Uhr: Zündzeit! Kräftig drückt er den Daumen auf die Briefmarke. Er fühlt, wie der Knopf mit der Fläche eine Ebene bildet, und weiß, daß jetzt die Chemikalien zu wirken beginnen. Pierre erhebt sich fast unmerklich vom Sitz, hebt das Sitzbrett mit der linken Hand etwas an — noch hat keiner die Straßenbahn bestiegen —, schiebt mit der rechten Hand das Paket in den Bremssandkasten. Noch zehn Minuten bis zur Detonation. Langsam steht Pierre auf, reibt sich die Augen, dehnt sich, geht zur Tür, öffnet sie. Dann stellt er sich hinter den Fahrer und zeigt ihm die Armbanduhr. Der Mann fingert seine Taschenuhr hervor. Sie vergleichen. Noch eine halbe Minute. Im herrischen Ton sagt Pierre: „Pünktlich! Ohne Verspätung wird gefahren! Klar?" Er wartet die Antwort nicht ab und geht wieder an die Tür. Innerhalb von wenigen Sekunden ist die Straßenbahn voll. Stimmengewirr. Nun klingelt der Straßenbahnfahrer noch einmal. Er löst die Bremse, betätigt die Kurbel und sagt: „Jetzt fahre ich! Nach Fahrplan!" Pierre hat wahrgenommen, wie gut der Fahrer ihn verstand, wie gut er deutsch antworten konnte. Wer weiß, welche Informationen er schon an die
Gestapo gegeben, wie viele aufrechte Menschen er bereits denunziert hat. Die Straßenbahn rollt. Pierre lehnt sich mit dem Oberkörper hinaus. Die feuchte Nachtluft bekommt ihm gut. Noch zwei Haltestellen, denkt er, bis jetzt verlief alles gut. Aber es kann noch manches geschehen. Warum soll gerade heute jemand vor die Bahn laufen, warum gerade heute der Strom ausfallen? Schon ist Pont Neuf erreicht. Pierre springt ab. Die Straßenbahn rollt noch. Ohne sich umzuwenden, läuft er zu einer Seitenstraße, biegt in sie ein, entdeckt den schwarzen Peugeot und hastet auf ihn zu. Der hintere Wagenschlag wird geöffnet. Pierre läßt sich in die Polster fallen. Man reicht ihm eine glimmende Zigarette. Das Fahrzeug entfernt sich über die Garonnebrücke. Wohltuend empfindet Pierre, wie der Druck von ihm weicht. Er kurbelt das Fenster ein wenig herunter, und während er an seiner Zigarette zieht, hält er die Uhr in den Schein der Glut. In einer dreiviertel Minute muß die Bahn hochgehen. Der Kraftfahrer beschleunigt das Fahrzeug. Eine starke Detonation klingt über die Garonne herüber. Pierre läßt sich in seinen Sitz zurückgleiten und kurbelt die Scheibe wieder hoch. Am nächsten Tag erfahren alle, daß es bei dieser Aktion 18 Tote und 40 Verletzte gegeben hat.
Die Warnung Emile will in der Rue Dalbade Nr. 3 einen Posten Flugblätter übernehmen. In anderthalb Stunden muß er dort sein. Doch vor dem Eingang zum Barackenlager der Zivilarbeiter läuft schon seit fünfzehn Minuten ein französischer Polizist auf und ab und mustert jeden, der das Lagergelände verläßt. Was tun? Emile weiß nicht, was er machen soll. Er überlegt, ob er sich irgendwie auffällig benommen hat. Von Minute zu Minute schiebt er seinen Aufbruch hinaus. Er wird langsam nervös. Ist man mir auf die Spur gekommen? Hat man etwa Freddy erwischt? Habe ich etwas falsch gemacht? Immer wieder gehen seine Gedanken jeden Tag der Woche ab. Aber ich muß die Flugblätter in Empfang nehmen! Ich muß raus hier, zu Eugen gehen! Schließlich schüttelt er alle Sorgen von sich und geht auf die Straße. Scharf mustert ihn der Polizist. Emile schlägt den Weg zur Straßenbahnhaltestelle ein! Der Polizist folgt ihm. Verdammt, denkt Emile und lächelt grimmig. Den werde ich mir schon vom Halse schaffen! Ich muß zum Treff, da beißt die Maus keinen Faden ab. Vielleicht kann ich ihn... Entschlossen biegt Emile in einen Parkweg ein. Er weiß, daß hier zu dieser Zeit kaum jemand entlanggeht. Er fühlt sich dem Polizisten gewachsen.
Der Polizist läßt von Emile nicht ab und folgt ihm in den Park. Na, dem werde ich es zeigen! Ich muß mich dieses Mannes entledigen. Freddy braucht morgen wieder falsche Zünder. Plötzlich ist der Polizist dicht hinter ihm. Emile dreht sich nicht um. Energisch geht er weiter. „Folgen Sie mir!" sagt der Franzose leise, aber kategorisch. „Kein Aufsehen!" Emile läuft weiter. Er muß noch ein paar Meter gehen, dann kommen die dichten Büsche vor der Wegbiegung. „Mensch, bleiben Sie stehen! Fragen Sie nicht. Bleiben Sie doch stehen!" Emile denkt: Noch zwei Meter! Der Mann ist direkt hinter mir. Plötzlich dreht er sich um, will schon mit der Faust ausholen, da bleibt auch der Polizist stehen, weicht einen halben Schritt zurück. In seinem Gesicht liest Emile, daß er weder kontrolliert noch verhaftet werden soll. In diesem Moment sagt der Polizist: „Emile!" Emile läßt seine Rechte fallen. „Wie bitte?" „Laß das jetzt! Dreh dich um und lauf weiter!" Was soll denn das? Emile dreht sich verwundert um und geht langsam weiter. Der Polizist rückt auf, ist neben ihm. Nach einer Weile hört ihn Emile sagen:,,Jetzt ist das Lager außer Sicht. Emile, du darfst nicht in die
Rue Dalbade gehen. Eugen wurde heute morgen verhaftet." Emile durchzuckt es bei diesen Worten wie ein elektrischer Schlag. Eugen verhaftet! Die Resistance hat wieder einen Kämpfer verloren. „Verdammt!" Das ist alles, was er von sich gibt. „Man kann das Fell eines Bären erst dann verkaufen, wenn man den Bären erlegt hat, Emile. Eugen ist noch in Toulouse. Wir werden alles unternehmen, ihn zu befreien!" Der vermeintliche Polizist gibt Emile die Hand. „Auf Wiedersehen. Julien wird dir morgen auf dem Flugplatz sagen, an wen du dich nun zu wenden hast wegen der Flugblätter! Mach's gut!" Während Emile zum Lager zurückgeht, denkt er an Eugen, den deutschen Genossen. Ein Zimmer im Krankenhaus in der Rue Dalbade war Eugens Reich. Hier entstanden die Flugblätter „Gebt Frankreich frei, schießt nicht auf Franzosen!", „Stürzt Hitler, ihr rettet damit Deutschland" und „Sag es weiter, Soldat: Frieden oder Friedhof!" Eugen leitet die Herstellung und die Verteilung dieser Informationen. Bisher hat alles geklappt. Sie spürten unter den deutschen Soldaten Resonanz. Durch Eugens Arbeit und die der vielen Kämpfer, die die Flugblätter in die Hände von Wehrmachtangehörigen spielten, konnte auch Freddy auf eine kleine Gruppe in seiner technischen Kompanie zahlen. Und nun? Die
Zuversicht des Mannes von vorhin klingt zwar in Emile nach, doch er weiß, wie schwierig die Befreiung von Häftlingen ist. Und er denkt an die deutschen Antifaschisten in der Stadt. Von Monat zu Monat hatten sie mehr Flugblätter gedruckt. Sie fanden immer bessere Methoden der Verteilung. Eugen, Jean, Michel, Pierre, ja auch er, Emile, setzten ihr Leben dafür ein, um die in Toulouse stationierten Wehrmachtangehörigen von der Sinnlosigkeit des Krieges zu überzeugen. Dazu nutzen sie immer mehr die Materialien, die das Komitee „Freies Deutschland" für den Westen herausgibt. Emile ballt unwillkürlich die Hand zur Faust. Fieberhaft bemühen sich die Gestapo und die französische Miliz, der Widerstandsgruppe auf die Spur zu kommen. Unlängst — Emile muß lächeln — führten seine Genossen „Fahrzeugkontrollen" durch. Jean und Pierre spielten Streife. Sie sahen sich die Papiere an. Währenddessen wurden auf die Fahrzeuge Flugblätter geworfen. In der Niel- und der Caffarellikaserne tauchten diese Flugschriften plötzlich auf. Als dann Emile zu seiner Baracke geht, hat er sich wieder völlig gefaßt. Er weiß, daß die Toulouser Gruppe alles für Eugen tun wird. In seinem Zimmer wirft sich der Mann auf die Pritsche. Morgen wird er wissen, wie es weitergehen soll.
Die Idee Blitze zucken, erhellen für Bruchteile von Sekunden die Kantine; ein betäubender Schlag — Stille. Die wenigen Gäste, meist Angehörige des Bodenpersonals und Zivilarbeiter am Flugplatz Toulouse, sind erschrocken. Da grölt einer; „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus..." Lallend und lautstark fallen ein paar trunkene Stimmen iri die Melodie ein. Andere schlagen mit Händen und Füßen den Takt dazu. Man kann kaum den Regen hören, der draußen auf den Asphalt und gegen die Barackenwand trommelt. Wieder blitzt es, noch in die bläulich-kalte Helle kracht ein kalter Schlag; der Radau im Raum zerfällt flatternd. Der Regen trommelt ans Fenster. Freddy und Emile sitzen an einem Juniabend 1944 an einem Ecktisch, jeder einen Schoppen Wein vor sich. Die Karaffe mit der roten Flüssigkeit ist kaum halb geleert. Wieder grölen die Betrunkenen. Emile meint, nach draußen deutend: „Das gibt fettes Futter fürs Vieh." Freddy streicht sich durchs Haar, verwundert blickt er seinen Gefährten an. „Mensch, Emile!" sagt er dann. „Das ist genau das Richtige — fettes Futter!" „Wie bitte? Hast wohl schon einen sitzen?" Der Unteroffizier lacht. „Ach wo. Mir gehen bloß diese verdammten Zünder nicht aus dem Kopf. Ich
bring' sie kaum noch unbemerkt weg!" „Was hat denn das mit dem Regen zu tun?" „Eine ganze Menge. Du, ich hab' eine Idee." Ziemlich laut sagt Sauerbrunn. „Eine tolle Idee, Emile!" „Vielleicht kannst du etwas leiser brüllen. Man muß ja nicht unbedingt hören, daß hier zwei sitzen, die etwas auskochen." „Hm." Freddy rückt seinen Stuhl etwas näher heran. „Also, der Johnson hat doch eine Kuh." „Willst du dem ,heiligen Vieh' eures Kommandanten etwa die Zünder unters Futter mischen?" „Ach was! Aber könnten wir nicht irgend etwas machen, daß man diese Kuh das Gras an den Pisten fressen läßt?" Da fällt ihm Emile ins Wort. „Oder einer geht mit Sense und Kiepe..." „...die Zünder wegbringen. Genau das, Emile!" vollendet Freddy Emiles Gedankenblitz, den er, Sauerbrunn, ja schon vor ihm hatte. Eine Weile sitzen sie ruhig da, ziemlich vertieft in diese, wie ihnen scheint, grandiose Idee. Sie lächeln sich an. Emile stützt den Kopf in seine Hände, wird ernst. „Du, wie willst du denn an das Rindvieh herankommen?" „An Johnson?" „An den auch." Wieder Stille zwischen den beiden Gefährten. Wie
von fern hören sie den Radau um sich, gedämpft, wie unter einer Käseglocke. Krampfhaft überlegen beide, suchen einen Weg, um an das Maskottchen des Flugplatzkommandanten heranzukommen. Freddy brummt: „Vielleicht Heintze? Ich hab' dir doch von dem Gefreiten erzählt, der mit mir die Maschinen bestückt." „Ja. Und der soll...?" Freddy zuckt mit den Schultern. „Gestern hat er einfach ein paar von den Zündern eingesteckt, mich angegrinst und gesagt, er gehe mal aufs Klo." „Sag bloß! Und? Ist etwas passiert?" „Würde ich dann hier sitzen?" Freddy lacht. „Nein. Aber ich glaube, Heintze meint es ernst." „Bist du dir sicher, daß uns dieser Gefreite helfen würde?" „Emile, was heißt sicher. Aber Heintzes Freundin ist die Tochter von den Leuten, bei denen Johnson in Quartier ist. Außerdem wohnt dort ein Soldat, der sich auch um das Rindvieh zu kümmern hat. Ich werde mal mit Heintze reden." „Du meinst..." „Ja. Vielleicht ließe sich da etwas machen." Die Start- und Landeanlagen des Flugplatzes werden streng bewacht. Zivilisten ist das Betreten des Sperrgebiets streng verboten. Einer aber scheint es geschafft zu haben: Emile. Seit einer Woche hat er eine Bescheinigung zum Betreten des Geländes. Morgens, gegen fünf Uhr,
führt er Johnsons Maskottchen auf die Weide, pflockt es in der Nähe einer Piste an, stellt die Kiepe daneben, denn mittags wird er etwas Futter mitnehmen, dann, wenn er die Kuh holt. Bis dahin sind auch jene Maschinen aufmunitioniert, die gegen vierzehn Uhr zu ihrem Einsatz starten; somit sind auch einige Zünder im hohen Gras, neben der Kiepe. Abends, wenn der späte Tau das Gras angefeuchtet hat, zieht Emile wieder hinaus, nun aber nur mit der Kiepe — Sense und Harke hat er draußen liegen, dort, wo Sauerbrunn die Zünder hinlegen soll. Auch heute stapft er durch das hohe Gras, bevor er an die Piste gelangt. Dann läuft er auf dem Betonband bis zu jener Stelle, an der am späten Nachmittag drei Maschinen gestartet sind. Sechs echte Zünder müßten also im Gras liegen, denkt Emile, denn Sauerbrunn hat in jede zweite Bombe eine Attrappe eingeschraubt: Bald hat er die Stelle erreicht und wirft den Tragekorb von der Schulter, bückt sich nach der Sense, die er mit dem Blatt in die Erde gespießt hat. Dann stellt er den Holm an seinen linken Fuß, umfaßt das Blatt mit der linken Hand und reibt mit einer Handvoll Gras die Spitze sauber. Er nimmt den Wetzstein aus dem Wasserhorn am Gürtel und zieht den Stein gleichmäßig über den Stahl. Schallend fliegt das kratzende Geräusch über das Gelände. Während Emile die Sense schärft, suchen
seine Augen die sechs echten Zünder. Schon hat er sie erspäht. Es sind elektrische Aufschlagzünder C 50, die man bequem transportieren kann. Bedächtig steckt er den Wetzstein zurück in das Horn und mäht einen breiten Schwaden direkt neben den Zündern. Es riecht nach frischem Gras, herrlich, friedlich. Emile lacht. Wie im Elsässischen, wie bei meinem Onkel, denkt er. Schnell blickt er sich noch einmal um, dann geht er zur Kiepe und stellt den Tragekorb direkt neben die „Fundstelle". Während er einen Armvoll Gras zusammenrafft, greift er zwei C 50 und legt sie vorsichtig unter den leeren Zementsack im Korb, dann stopft er das Gras fest. So macht er es noch zweimal — die Zünder sind verstaut. Den Rest des Grases harkt er zu einem Haufen und lädt die Kiepe voll. Er streckt den Rücken, blickt hinüber zur Flugzeughalle, vor der eine He 111 steht und gerade betankt wird. Geschäftig laufen ein paar Soldaten um die Maschine herum. Da schießt Emile ein Gedanke durch den Kopf: Man müßte den Flugplatz in die Luft jagen! Ihm wird ganz heiß bei diesem Gedanken. Der Hangar müßte drankommen, dann das Munitionsdepot, und wie steht es um die elektrischen Flugsicherungsanlagen? Die sind zu sehr verstreut, denkt er. Na, und die Stromleitungen? Immer klarer formieren sich seine Gedanken zu einem Plan, und während er die Kiepe auf den
Rücken hievt, weiß er bereits, daß er noch am Abend mit Jean sprechen muß; mal sehn, was die Leitung dazu sagt. Die Entführung In Toulouse ist der Teufel los; kaum geht man hundert Schritte, da trifft man auf eine Streife. Doch nicht nur für die Widerstandskämpfer ist es in der Stadt gefährlich, sondern auch für Hauptmann Weinmeyer von der Transportkommandantur der Besatzer. Dieser Faschist hat zu viel in die eigene Tasche geschoben, nun hat er Angst, daß alles entdeckt werden könnte. Seit drei Wochen steht diesem Mann das Wasser bis zu den Kragenspiegeln. Seit die zweite Front am 6. Juni 1944 eröffnet wurde, sind die Faschisten noch nervöser geworden. Toulouse steht zwar nicht „auf der Abschußliste der Alliierten", wie sich Weinmeyer auszudrücken pflegt, aber er weiß von Kommandounternehmen gegen Dienststellen und Ämter der Wehrmacht. Deshalb sind auch so viele Feldgendarmen in der Stadt. Vor Kommandotrupps hat der Hauptmann weniger Angst als vor den eigenen Leuten. Liegt er in seinem Quartier betrunken auf dem Bett, dann spürt er seit Tagen oft einen Kloß in der Kehle, und Tränen rollen unwillkürlich. Er sucht einen Strohhalm in dieser
Stadt, an den er sich klammern kann, um nicht zu ertrinken. Und wenn es Banditen wären! schießt es ihm durch den Kopf. Der Zufall wollte es, daß Hauptmann Weinmeyer vor vierzehn Tagen mit einem „Banditen" bekannt geworden ist, mit Emile. An einer Straßenbahnhaltestelle fragte ihn der Hauptmann nach einer Straße. Weinmeyer war über die freundliche Art des sehr gut Deutsch sprechenden Unbekannten so erfreut gewesen, daß er sich mit ihm unterhielt. Dabei erfuhr er, daß auch Emile den Flugplatzkommandanten Johnson kenne. Man verabredete sich. Solche Zufälle muß man nutzen, hatte damals Emile gedacht und mit der Leitung gesprochen. Die Genossen waren der gleichen Ansicht und besorgten Emile einen guten Anzug, ein festliches Hemd, Schuhe und Krawatte, damit er auch dem Äußeren nach Weinmeyers Einladung entsprach. Seit diesem Essen im besten Speiselokal der Stadt widmete sich Emile diesem ominösen Hauptmann. Vorgestern war es dann soweit. Weinmeyer lallte Emile seine Sorgen vor. „Und wenn es selbst der Teufel wäre!" schrie er am Ende seiner Beichte und schlug mit der Faust auf den Tisch. Ruhig meinte Emile: „So, so. Der Teufel, Herr Hauptmann, bin ich." Aus verquollenen Augen blickte Weinmeyer ihn blöde an, kicherte dann kindisch und murmelte
plötzlich sehr klar und verständlich: „Du bist der Teufel? Dann bringe mich sofort zu den Franzosen!" Unsicher blickte er Emile an. Er schien überhaupt nicht mehr berauscht zu sein. „Herr Hauptmann, zu Befehl! Aber so schnell schießen auch die Franzosen nicht. Etwas müssen Sie dafür schon ausgeben." „Geld? Soviel du willst!" „Geld benötige ich nicht. Ich brauche Formulare, Fahrbefehle, Dienstaufträge, Stempel, Benzinmarken und so weiter und so fort!" „Das kannst du alles haben, einen Haufen von dem Kram. Aber ich fordere vom Teufel, daß er mich entführt und direkt zu seiner Großmutter schafft! Ist das klar?" „Nicht ganz, Herr Hauptmann!" Weinmeyer erklärte es ihm. Man solle eine Entführung organisieren, und er wolle unbedingt „führenden Herren" der französisichen Widerstandsbewegung vorgestellt werden. Emile setzte sich danach sofort mit Jean in Verbindung. Die Leitung beriet und entschied sich für eine „Entführung". Es ging dabei gar nicht um diesen Faschisten, sondern um jene Sachen, die er mitzubringen bereit war. Am nächsten Morgen versicherte sich Emile in Weinmeyers Quartier noch einmal. Schlaftrunken und noch etwas benommen meinte der Hauptmann: „Alles klar. Zu Teufels Großmutter!"
„Es ist alles vorbereitet, Herr Hauptmann. Ein Wagen wird Sie vor Ihrem Quartier hier erwarten." „Ich habe schon Vorsorge getroffen", meinte Weinmeyer und blinzelte Emilie zu. „Wann holen Sie mich?" „Achtzehn Uhr dreißig, Herr Hauptmann. Nicht ich hole Sie, Sie verstehen. Es wird ein Unteroffizier der Waffen-SS sein. Der Wagen ist ein deutscher Kübel." „Gut, sehr gut." Lächelnd fuhr sich Weinmeyer durch das rötlichblonde Haar, als hätte er all das vollbracht. „Übrigens, sollte es Sie interessieren: Betritt danach jemand mein Dienstzimmer, wird ihn ein Feuerzauber empfangen; ich werde alles verminen." Vor dem Haus, in dem Hauptmann Weinmeyer seit fast einem Jahr wohnt, hält ein Kübelwagen der Transportkommandantur. Der Abend ist mild, ein Wetter zum Spazierengehen. Der Fahrer Michel denkt an Jeannette, die schwarzhaarige Sanitäterin. Ein herrlicher Abend. Doch kaum jemand ist auf der Straße zu sehen. Der Unteroffizier springt aus dem Wagen, geht ein paar Schritte auf dem Trottoir hin und her und steckt sich eine Zigarette an. Michel blickt sich genau um, ob die Luft rein ist. Nichts ist zu sehen, kein Mensch, nicht einmal einer dieser Besatzer. Jeannette müßte hier sein, jetzt, denkt er, und es müßte Frieden sein. Er geht zurück zum Kübel und setzt sich bequem hinter das
Lenkrad. Er blickt auf die Armbanduhr. Hoffentlich ist der Vogel pünktlich! Noch drei Minuten. Da kann viel passieren. Plötzlich kommen aus einem Hausflur zwei Feldgendarmen, die einen älteren Soldaten in der Mitte führen. Das fehlt gerade noch! Michel ist wütend. Die führen einen ab! Und noch eine Minute. Zornig wirft er seine halbaufgerauchte Zigarette auf das Pflaster und läßt den Motor an. Sicher ist sicher, denkt er und blickt auf die Haustür von Weinmeyers Quartier. Dann blickt er wieder in die Straße vor sich. Die beiden Kettenhunde sind mit ihrem Opfer höchstens fünfzig Meter weit weg. Endlich kommt der Hauptmann! Michel springt aus dem Wagen, salutiert. „Los! Machen Sie schon! Ich bin in Eile!" fährt ihn der Hauptmann an. Michel nimmt ihm einen Koffer und eine dicke Aktentasche aus den Händen und verstaut sie im Wagen. Mit kühnem Schwung findet er seinen Platz hinter dem Steuer. Na, dem werde ich zeigen, was eine Harke ist! Michel startet. Schnell schießt der Wagen vor und schleudert den Hauptmann fast vom Sitz. Kuppeln, schalten. Der Hauptmann fällt nach vorn, kann sich gerade noch am Sitz festklammern. Er flucht. Michel blickt nach rechts, lächelt. „Fahren Sie ordentlich, Mann!" brüllt Weinmeyer. „Zu Befehl!" Wieder gibt er Gas, nimmt es wieder
zurück. „Hauptmann, so ist die Fahrt zur Großmutter des Teufels!" Weiß, kalkig weiß im Gesicht hockt Hauptmann Weinmeyer in dem Kübel, blickt nicht rechts noch links, schreit nur: „Verdammt noch mal! Bringen Sie mich endlich aus der Stadt!" Bald hat der Wagen das Stadtzentrum hinter sich, biegt in eine Ausfallstraße ein, Richtung Süden. Am Ausgang der Stadt werden sie kontrolliert. Die Papiere sind in Ordnung. Während Michel den Wagen seinem Ziel näherbringt, pfeift er den Refrain des „Partisanenliedes". Hauptmann Weinmeyer ist aus den Listen der faschistischen Wehrmacht zu streichen. Das Feuerwerk Zwei Tage hatten Emile, Heintze und Sauerbrunn Zeit, das Feuerwerk vorzubereiten. Emile und Heintze schmuggelten die Sprengsätze in das Sperrgelände. Das war nicht so schwer, sie hatten ja Kiepe und Aktentasche. Weit schwieriger war es, die kleinen Pakete an die vorgesehenen Objekte zu bringen, sie zu befestigen. Sauerbrunn und Heintze schwitzen, als sie, unbemerkt von den Posten, das Munitionsdepot zur Sprengung fertigmachten. Während dieser Zeit hatte Emile vier Sprengsätze gelegt, sie mit einer Sprengkapsel versehen und Telefondraht bis zu einem
Haselnußstrauch am Rande des Flugplatzes gezogen. Sie hatten alles genau abgesprochen. Am gefährlichsten war es für Heintze, der allein, ohne aufzufallen, den Hangar mit einer Werkzeugkiste betreten mußte, in der sich zweieinhalb Kilogramm Sprengstoff befanden. An einem Mittelpfosten der Flugzeughalle hatte er die Kiste abzustellen und die Sprengkapsel in die für diesen Zweck vorbereitete Öffnung zu schieben. Das waren Minuten voller Angst, denn wie schnell hätte sich diese kleine Patrone entzünden können — in der Uniformjacke oder wenn sie Heintze hätte fallen gelassen. Auch beim Einführen in den Sprengsatz hätte ihm ein Mißgeschick passieren können. Aber bis heute abend, zwei Stunden vor der Sprengung, hat alles geklappt. Sogar die Sprengschnur zur Verteilerleitung hinter dem Hangar zu verlegen und das Umwickeln der Sprengkapsel sind Heintze vor zehn Minuten gelungen. Sauerbrunn hat die Verbindung zum Hauptkabel, einem normalen Telefondraht, unauffällig legen können. Emile sitzt am Raride des Flugplatzes hinter dem dichten Haselnußstrauch und wartet auf Jean und den Sprengmeister. Dieser alte Arbeiter aus dem Bergbaugebiet Grand Combe will eine Zündrnaschine mitbringen. Obwohl der Alte mit Emile an jenem entscheidenden Abend vor ein paar Tagen alles genau durchgesprochen hatte, wie und
an welchen Stellen man geeignete Sprengsätze anbringen sollte, wollte der Sprengmeister am liebsten die wichtigsten Stellen selbst noch einmal kontrollieren. Doch das ist unmöglich. Es wird für ihn und Jean gefährlich genug sein, überhaupt das Gelände zu erreichen. Der Sprengmeister soll in einer Feldwebeluniform und Jean als Feldgendarm kommen. Emile will gar nicht daran denken, was alles passieren kann! Die Wachen, Doppelposten, laufen am Stacheldraht ihren Postengang. Und alle dreihundert Meter steht ein Doppelposten! Emile lauscht in die Nacht. Sand knirscht, trockenes Gras bricht. Emile verhält den Atem. Nach einer Weile hört er die ersten zwei Takte eines Liedes. Das Erkennungszeichen. Emile pfeift leise die nächsten zwei Takte. Schon ist Jean im Gebüsch. „Wo ist der andere?" „Konnte nicht kommen. Hier ist die Zündmaschine. Los, mach den Draht dran!" „Aber..." „Kein Aber, Emile, wir müssen uns beeilen. In zehn Minuten fliegt ein Eisenbahnschuppen in die Luft, acht Lokomotiven! Da muß auch hier Feuerwerk sein!" Schon lange liegen die beiden Enden der Verbindungsschnur, die zu jenen fünf Sprengkapseln führt, in Emiles Hand. Nun klemmt er die beiden Phasen an die Zündmaschine. „Fertig, Jean!"
„Gut! Ich stoße dich an, wenn du sprengen sollst. Klar?" „Ja." Eine Weile herrscht Ruhe. „Wieviel Minuten noch?" flüstert Emile. „Fünf. Bleib ruhig." Beide lauschen ins Dunkel des späten Abends. Jean weiß, daß ein gewisser Hauptmann Weinmeyer jetzt außerhalb der Stadt sein müßte und daß der alte Sprengmeister noch den Lokschuppen „abnimmt". Dort hatten sie keinen vom Fach, deshalb blieb der Alte dort. Er hatte zu Jean gesagt: „Auf Emile ist Verlaß. Der weiß, wie man das macht." Und so ist Jean allein zum Flugplatz gegangen. Emiles Herz klopft wie rasend. Ob alles funktioniert? Hoffentlich klappt es! Er holt tief Luft, hält den Atem eine Weile an und atmet dann langsam aus. Sein Herz schlägt wieder normal, Emile ist ruhig. Vom Hangar dringen Geräusche herüber. Emile weiß, daß Heintze und Sauerbrunn in der Kantine sitzen und mit anderen Soldaten Wein trinken; sie sind nicht gefährdet. Er lächelt. Da schallt es von den Unterkünften herüber: „Erika, zwo, drei, vier!" Wieder tiefe Stille. Emile fühlt einen Stoß im Rücken. Automatisch dreht seine rechte Hand den Griff der Zündmaschine nach rechts weg.
Flammen, Stichflammen erhellen die Nacht, Detonationen hallen über den Platz. Das Terrain gleicht dem Abschnitt einer Hauptkampflinie. Vom Munitionsdepot hämmert, knallt und donnert es. Ein Feuerwerk steht über ihm und schwarzer, träger Qualm. „Wir haben uns richtig entschieden", schreit Jean Emile ins Ohr. „Ihr habt gut gearbeitet! Und nun nichts wie weg!"