RAINER KERNDL
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RAINER KERNDL
Blinkzeichen blieben ohne Antwort
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN 19 5 3
Alle Rechte vorbehalten Copyright 19S3 by Verlag Neues Leben, Berlin W 8 Veröffentlicht unter der Lizenz Nr. 303 des Amtes für Literatur und Verlagswesen der Deutschen Demokratischen Republik • Gen.-Nr. 305/29/53 Umschlagzeichnung: Heinz Rammelt, Bernburg Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30
Wenn nicht immer wieder ein Zweig geknistert hätte, dem die Schneelast zu schwer wurde, wäre es ringsum völlig still gewesen. Die Winternacht erstickte selbst das leiseste Geräusch. „Wie in einem Märchen“, raunte Klaus Brandner seinem Freund zu, der, vor sich hin schimpfend, an der Bindung seiner Skier nestelte. „Wenn ich Märchen höre“, knurrte Walter Eisen zurück, „denke ich an meine Großmutter und an einen warmen Ofen.“ Walter konnte sehr leicht „grantig“ werden, wenn ihm etwas „verquer“ ging, wie gerade jetzt mit der Skibindung. Noch vor einem Jahr arbeiteten die Freunde in einem volkseigenen Betrieb nebeneinander an der Drehbank. Sie hatten zur gleichen Zeit ihren Beruf erlernt, gemeinsam im Schuljahr der FDJ studiert und waren nach dem Mord an Philipp Müller in Essen in die Deutsche Volkspolizei eingetreten. Nun taten die Unzertrennlichen Grenzdienst an der Demarkationslinie. Klaus, der neben dem im Schnee knienden Freund stehengeblieben war, hob auf einmal das Gesicht und fixierte angestrengt einen im Sternenlicht gerade noch sichtbaren beweglichen Punkt. „Da! Sieh, dort unten!“ Alarmiert packte er Walter an der Schulter seiner weichen Wattejacke und deutete hinab in die kleine Schlucht. Dort etwa, wo der Bach sein mußte, stand eine Gestalt. Zwar hob sie sich deutlich von dem weißen Hintergrund des jenseitigen Abhanges ab, doch vermochten die Freunde nicht genau zu erkennen, ob es ein
Mann oder eine Frau war. Die Gestalt steckte sich jetzt eine Zigarette an und begann, nur wenig gebückt, den diesseitigen Abhang hinaufzuklimmen. Es war ein Mann, wie bald sichtbar wurde. Er trug eine halblange Winterjoppe, dazu eine reichlich zerdrückte Militärmütze. „Er kommt direkt auf uns zu“, stieß Klaus hervor. Ruhig und sicher machte er den Karabiner schußfertig. „Der Bursche qualmt seinen Glimmstengel, als wäre er auf einem Stadtbummel“, erboste sich Walter und nahm ebenfalls den Karabiner von der Schulter. Sie wußten genau, was nun zu tun war. Ohne weitere Worte zu verlieren, eilte Klaus etwa fünfzehn Meter weiter nach links und legte hinter einem breiten Baumstamm auf den Fremden an. Der Bach im Talgrund bildete an dieser Stelle die Grenze, wenngleich sich der Zehnmeterschutzstreifen etwas weiter links durch das Gelände zog. Der Mann hatte, vom jenseitigen Abhang kommend, den Bach überquert. Mithin war er zweifellos ein Grenzgänger! Bald konnten sie das Keuchen des gerade auf sie Zukommenden hören. Mit einem Ruck richtete sich Walter Eisen auf: „Halt! Stehenbleiben! Grenzpolizei!“ „Teufel!“ Der Mann rief so laut, daß es weithin durch den Wald hallte. – Als Klaus Brandner am nächsten Tag darüber nachdachte, fiel ihm ein, daß dieser Ruf zwar sehr laut, aber eigentlich nicht erschrocken geklungen hatte. „Bleiben Sie stehen, und nehmen Sie die Hände hoch!“ forderte Walter den Fremden auf. Er durch-
brach das Kieferngewirr, daß eine Schneewolke zu Boden stob und stapfte auf den Mann zu. Dieser blickte dem jungen Grenzpolizisten heftig atmend entgegen. „Unbequeme Gegend hier, diese Ekke!“ rief er und schien über seine Festnahme nicht besonders verblüfft zu sein. „Wird bei euch kein Schnee gefegt?“ Walter Eisen überhörte das Geschwätz. „Drehen Sie sich um!“ Er ließ den Karabiner sinken und tastete Hosen- und Jackentaschen des Mannes ab, dabei stets beachtend, daß Klaus, der den Verhafteten von der Seite her in Schach hielt, freies Schußfeld behielt, Bis auf ein Klappmesser fand er keine Waffe. Den Grenzgänger vorneweg, entfernten sie sich einige hundert Meter von der Demarkationslinie, um ihren Fang einer sicherlich bald hier vorüberkommenden Streife zu übergeben. Unterwegs sagte keiner ein Wort, wie stets, wenn man einen Verhafteten mit sich führte. Jedoch fiel den Freunden das Schweigen nicht leicht. Es war ihr erster Fang, den sie im Grenzdienst machen konnten und, wer weiß, vielleicht war es sogar ein besonders gefährlicher Bursche! Der Mann selbst schien sich allerdings herzlich wenig aus seiner Festnahme zu machen. Zwar beteuerte er immer wieder, nicht weniger laut als vorher, nur eine Schwester auf der anderen Seite besucht und dabei einige Päckchen Tabak gekauft zu haben. Erst als Klaus ihm bedeutet hatte, diese Dinge bei der Vernehmung vorzubringen, wurde auch er still. Streifenführer Klaus Brandner und sein Freund Walter Eisen mochten mit ihrem Grenzverletzer etwa zehn
Minuten auf das Streifenkommando gewartet haben, als, von ihnen unbeobachtet, sechs bis acht Männer über den gefrorenen Bach huschten, im Schütze des Strauchwerks den diesseitigen Hang hinaufkrochen und gebückt und lautlos im Wald verschwanden. Von ihnen rauchte keiner; sie hielten den Atem an und sprachen kein Wort. Die Ablenkung der Grenzstreife war gelungen. „Nee, Herr Offizier, ich hab’ das Paket noch gar nicht aufgemacht.“ Der Bauer rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Ich dachte, es wäre besser, wenn das einer von den Grenzern macht.“ Er nahm seine Pfeife aus dem Mund und stocherte umständlich die Asche heraus. Der Leiter des Grenzkommandos, Leutnant Brehm, schob ihm mit einem freundlichen Lächeln den Aschenbecher über den Schreibtisch zu. „Natürlich sehen wir uns das Paket mal an“, erklärte er dabei. „Im übrigen freuen wir uns stets, wenn die Bevölkerung so verständig ist und gleich zu uns kommt.“ Er nickte dem Bauern noch einmal zu und wandte sich an den Wachhabenden: „Bitte, Genosse, rufen Sie mir den Genossen Unteroffizier Paetzkow!“ „Sofort, Genosse Leutnant!“ Der Wachhabende stand auf und verließ den kleinen, wohlig durchwärmten Raum. „Äh, ja, was ich noch sagen wollte“, räusperte sich der Bauer. Er war aus dem Dorfe Mauersberg, an dessen Rand das Kommando seine Baracken aufgeschlagen hatte. Wenn er den Leutnant auch schon vom Se-
hen kannte, fiel es ihm doch nicht leicht, unbefangen zu sprechen. „Wie meinen Sie?“ half ihm der Offizier. Er hatte bereits gemerkt, daß sein Besucher noch etwas auf dem Herzen hatte. „Tja, als Sie dem Soldaten soeben sagten, daß er den Unteroffizier holen soll“, begann der Bauer sinnend, „fragte ich mich, war das eigentlich ‘ne Bitte oder ein Befehl?“ Gespannt sah er Brehm ins Gesicht. Dieser erwiderte den Blick zunächst verwundert, dann lachte er hellauf: „Nun, nennen wir es einen dienstlichen Auftrag.“ „Dann… dann gibt’s wohl bei Ihnen keine Befehle mehr?“ „Ist es nicht gleich, wie wir es nennen? Wenn ein Soldat des Volkes einen Auftrag erhält, wird er ihn ausführen, weil er weiß, daß es die Werktätigen so wollen. Muß ich ihn denn anschnauzen, wie das einmal“… er lächelte verstohlen… „zu Ihrer Soldatenzeit üblich war?“ Der Bauer nickte. „Sie haben’s jetzt leichter als wir damals, die jungen Soldaten“, sagte er nachdenklich. „Wie man’s nimmt. Freilich gibt es keine Rekrutenschinderei und keinen Kadavergehorsam mehr. Solche Methoden würden unsere Reihen nicht festigen. Aber ob sie es leichter haben, unsere Jungs…?“ Leutnant Brehm stand auf und trat ans Fenster. Einen Augenblick lang sah er hinaus auf die verschneiten Schieferdächer des Dorfes, dann wandte er sich wieder seinem Gast zu: „Ich weiß nicht, ob wir es leichter haben als die Soldaten früherer Zeiten, lieber Freund. Aber eines
weiß ich genau. Wir wissen, weshalb wir hier stehen! Unsere Jungs wissen genau, für wen sie acht Stunden und oft mehr bei jedem Wetter Streife laufen…“ Er trat wieder zum Schreibtisch und lehnte sich gegen die Holzkante: „Jeder von uns trägt ein Teil Verantwortung; die nimmt ihm niemand ab. Sehen Sie, das ist das Schöne in unserem anstrengenden Grenzdienst.“ „Ja, ich weiß“, bestätigte der Bauer nachdenklich. „Leicht habt ihr’s hier nicht an der Grenze.“ Leutnant Brehm saß wieder hinter dem Tisch. Gedankenvoll spielte er mit seinem Bleistift. „Stimmt, unser Dienst ist schwer. Aber wieviel schwerer würde es für uns alle sein, wenn Krieg wäre!“ Er warf mit einem Ruck den Kopf hoch und sah den Bauern mit einem zukunftsgewissen Lachen an. „So, und da ist der Unteroffizier Paetzkow, der sich auf Ihrem Feld einmal das komische Paket ansehen wird.“ Der Offizier stand auf, kam wieder um den Tisch herum und drückte seinem Besuch die Hand. „Haben Sie auf alle Fälle vielen Dank für Ihre Benachrichtigung.“ Er nickte dem Unteroffizier zu: „Genosse Paetzkow, begleiten Sie bitte den Kollegen. Er wird Ihnen etwas zeigen.“ Auf dem weißen Feld, das nur hier und dort von einer hartgefrorenen Erdscholle, die durch die Schneedecke brach, unterbrochen wurde, lag ein graues Paket. Man mußte schon auf wenige Meter herangegangen sein, um zu erkennen, daß es sich nicht um einen Stein handelte. „Wann haben Sie das Ding bemerkt?“ erkundigte sich Unteroffizier Paetzkow bei dem Bauern. Dabei schien
er sich aber viel mehr für eine schon etwas undeutlich gewordene Spur im Schnee zu interessieren als für das Paket selbst, das mit feldgrauer Leinwand umwickelt war. „Na, wohl vor ‘ner Stunde“, gab der Gefragte zur Antwort. „Da bin ich dann gleich zu Ihrem Offizier gegangen.“ „So, so“, meinte Paetzkow grübelnd. Er verfolgte mit langen Schritten eine Spur, die sich wie ein dunkler Strich über das Feld zog und auf der einen Seite im angrenzenden Wald, auf der anderen in einem Gemüsegarten verschwand. „Na, wollen mal sehen, was drin ist“, sagte er nach seiner Rückkehr, kniete nieder und riß beherzt die froststarre Segeltuchhülle vom Paket ab. „Zeitungen!“ sagte er dann und richtete sich auf. „Deutsche?“ fragte der Mann aus dem Dorfe. „Amerikanische. Aber in deutscher Sprache“, entgegnete Paetzkow trocken. Er war wegen seines Humors unter den Kameraden sehr beliebt. In allen Situationen fand er den passenden Ausspruch, der den abgespanntesten Gesichtern ein Lachen entlocken konnte. Ja, im Kommando Mauersberg wußte jeder, daß Unteroffizier Paetzkow ein prächtiger Kamerad war und bereitwillig die schwersten Aufgaben übernahm. Paetzkow überlegte wieder und fragte: „Wem gehört eigentlich der Garten dort vorn, der an den Acker stößt?“ „Meinem Nachbar, dem Paul Neubert“, erklärte der Bauer. „Aber glauben Sie bloß nicht, daß der mit Zeitungen von drüben handelt. Der bestimmt nicht!“ setzte
er eifrig hinzu. Und weil der Unteroffizier bereits wieder über etwas anderes nachzudenken schien und nicht antwortete, fuhr Neuberts Nachbar redselig fort: „Damals, als wir mit an dem Zehnmeterstreifen gearbeitet haben, da hat der Paul wie ein Zwanzigjähriger gewühlt.“ „Und wie alt ist er wirklich?“ erkundigte sich der Unteroffizier zerstreut. Er dachte noch immer an die Schneespur. „Zweiundsiebzig ist er. Aber wenn der zupackt, glaubt ihm das keiner. Wie wir damals am Grenzstreifen gearbeitet haben, da ist so’n feister Ami an ihn rangekommen, so auf zwei, höchstens drei Meter. Der hat ihn gefragt: ,Hä, warum ihr maken hier alles zu?’ Wissen Sie, was ihm der alte Neubert darauf zur Antwort gegeben hat?“ „Nun?“ „Zunächst gar nichts. Als aber der Ami frecher wurde und immer wieder fragte: ,Warum ihr maken hier zu?’, da hat’s dem Neubert gelangt. ,Damit du deine dreckige Schnauze nicht mehr hier rinsteckst’, hat er gesagt. War das nicht ‘ne richtige deutsche Antwort?“ Das Gesicht des Bauern glänzte noch jetzt vor Freude über die Schlagfertigkeit Neuberts. „Da hat ihr Nachbar ja fast das gleiche wie Stalin gesagt“, lachte Unteroffizier Paetzkow und dachte an Stalins Worte von der Schweineschnauze, die im Sowjetgarten nichts zu suchen hat; Worte also, die im übertragenen Sinne auch die Feinde der Deutschen Demokratischen Republik beherzigen sollten. „Stalin?“ überlegte der Bauer. „Hm, möglich, daß er
so etwas gesagt hat. Aber von dem hat’s der Neubert nicht.“ Vertraulich setzte er hinzu: „Der will nämlich überhaupt nichts von Politik wissen.“ „Wirklich nicht?“ Paetzkow lächle. „Von Politik will Ihr Nachbar nichts hören, aber am Zehnmeterstreifen hat er mitgearbeitet, und einem frechen Ami gibt er passende Antworten?“ „Na ja“, brummte der Bauer, „vom Ami will er erst recht nichts wissen.“ „Na schön. Trotzdem interessiert es mich, weshalb die Spuren ausgerechnet in Neuberts Garten verschwinden. Denn das Paket hier…“, der Unteroffizier trat mit der Stiefelspitze gegen den Zeitungspacken, „… und die Spuren, die gehören zusammen.“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter zum Grenzwald, der gleich hinter dem Feld emporragte: „Die Zeitungen kommen von drüben und die Spuren ebenfalls. Aber wo führen sie hin? Und weshalb ist das Zeug hier liegengeblieben?“ Wieder stieß er gegen das geöffnete Paket. Dann bückte er sich und lud sich die nicht unbeträchtliche Last auf die Schulter: „Werde das Zeug erst mal zum Kommando bringen. Und Sie, Kollege, versuchen bitte den Mund über die Sache zu halten, ja?“ Statt der Hand, mit der Paetzkow den Packen auf der Schulter balancieren mußte, hielt er dem Bauer den Ellbogen hin, den dieser lächelnd berührte. Gedankenvoll eilte der Unteroffizier mit seiner Beute zum Kommando zurück. In den Räumen der Bereitschaftsleitung der Grenzpolizei herrschte trotz der frühen Morgenstunde reges Treiben. Kuriere gingen ein und aus und überbrachten
Meldungen über den Streifen- und Postenverlauf der einzelnen Kommandos aus den letzten vierundzwanzig Stunden. Im Vorzimmer des Kommandeurs versammelten sich die Offiziere zur täglich stattfindenden Situationsbesprechung. Stühle wurden gerückt, Zigaretten in den Aschenbechern ausgedrückt. Der Oberstleutnant trat ein: „Guten Morgen, Genossen. Dann können wir wohl beginnen!“ Der grauhaarige Bereitschaftskommandeur setzte sich ans obere Ende des tafelförmigen Tisches und ließ seine Augen ruhig über die Gesichter der Offiziere gleiten. Oberstleutnant Kröner genoß die schrankenlose Verehrung aller Offiziere seiner Bereitschaft. Und wenn draußen in irgendeinem Kommando die Grenzpolizisten von ihm sprachen, dann sagte wohl einer: „Ja, unser Genosse Kommandeur, das ist’n Kerl!“ In diesem Ausspruch lag Achtung, Respekt und tiefe Zuneigung. Die versammelten Offiziere blickten erwartungsvoll auf den Offizier vom Dienst, einen stämmigen Unterleutnant mit temperamentvollen Bewegungen. In klaren, schnellen Sätzen gab dieser seinen Bericht. Tatsächlich schien nicht viel passiert zu sein. Aus keinem Kommando waren besondere Vorkommnisse gemeldet worden – bis auf das Kommando Mauersberg. „Gestern vormittag erstattete ein Bauer aus Mauersberg Meldung über ein Paket, das er auf seinem nahe der Grenze liegenden Feld fand. Es enthielt, wie ein Unteroffizier des Kommandos feststellte, amerikanisch lizenzierte Zeitungen. Die Genossen aus Mauersberg
vermuten auf Grund deutlich wahrnehmbarer Spuren, daß eine Gruppe von Grenzgängern das Paket verloren hat…“ Oberstleutnant Kröner hob die Hand. Der Offizier vom Dienst unterbrach seinen Bericht und sah fragend auf. „Verzeihen Sie, Genosse Unterleutnant! ‘Sie* sagten, diese Zeitungen wurden gestern vormittag gefunden?“ „Ganz richtig, Genosse Oberstleutnant.“ „Dann müssen also in der vorhergehenden Nacht Grenzgänger im Gebiet von Mauersberg herübergekommen sein?“ Einen Augenblick sah der Oberstleutnant überlegend durchs Fenster, worauf er weiter fragte: „Wurden in der vorletzten Nacht die gleichen Beobachtungen vom Mauersberger Kommando gemacht?“ Hauptmann Weite gab die Antwort: „Nein, nicht daß uns etwas bekannt geworden wäre… das heißt, doch!“ Er räusperte sich und fuhr fort: „In der vorletzten Nacht wurde von einer Streife des Kommandos Mauersberg ein Grenzgänger gestellt und festgenommen.“ Die versammelten Offiziere richteten gespannt ihre Gesichter auf den Hauptmann. „Kann man annehmen, daß dieser Mann mit den illegalen Zeitungsfritzen zusammenhängt?“ wollte Oberstleutnant Kröner nun wissen. Hauptmann Weite zuckte mit den Schultern. „Man fand bei ihm lediglich drei Päckchen amerikanischen Tabak; aus Armeebeständen, wie an der Verpackung ersichtlich war.“ Der Hauptmann besann sich kurz und setzte hinzu: „Ja, richtig, nach Angaben des Streifen-
führers benahm sich der Mann bei seiner Festnahme auffällig laut.“ „Na, und?“ Der temperamentvolle Unterleutnant sprang fast vom Stuhl: „Jetzt sagen Sie bloß noch, Genosse Hauptmann, die zwei Kameraden wären nicht durch das auffällige Gebaren des Mannes mißtrauisch geworden!“ „Leider fiel ihnen das tatsächlich erst auf, nachdem sie ihren Gefangenen einer Streife übergeben hatten.“ „Verdammt!“ Beinahe hätte der Unterleutnant seine Faust hart auf den Tisch fallen lassen. Der Bereitschaftskommandeur blieb sachlich: „Also ein gelungenes Täuschungsmanöver! Der Mann hat auf diese übrigens nicht sehr neue Weise die zwei jungen Genossen abgelenkt, um den Zeitungsschmugglern freie Bahn zu schaffen.“ Er schob den Stuhl zurück und trat zu einem Vorhang, der sich längs der Wand hinzog. Die Offiziere folgten ihm und scharten sich vor dem Geländeplan zusammen, der von dem jetzt zurückgerafften Vorhang freigegeben wurde. Es war eine sorgfältig gezeichnete Wandkarte vom Grenzbereich der Bereitschaft, die einen nicht unbeträchtlichen Teil der Wand einnahm. Oberstleutnant Kröner wies auf den Abschnitt Mauersberg: „Es ist auffällig, daß in den letzten Wochen immer wieder in dieser Gegend Grenzverletzungen vorkommen.“ Sein Finger ruhte auf einem Grüppchen dunkelblauer Stecknadelköpfe, die sich hier zusammenballten: „Nun können wir wieder eine Nadel hinzufügen.
Mauersberg scheint zu einem Schwerpunkt zu werden. Genosse Hauptmann Weite, würden Sie bitte veranlassen, daß die Genossen in Mauersberg alle erdenklichen Maßnahmen treffen, ihren Grenzstreifen abzuriegeln? Das beste wäre wohl, Sie lassen sich einen Wagen geben und fahren selbst hinaus. Man soll Alarmanlagen am Zehnmeterstreifen anbringen.“ Der Hauptmann richtete sich auf: „Dann möchte ich gleich losfahren, Genosse Oberstleutnant!“ Der Kommandeur gab ihm die Hand: „Grüßen Sie die Genossen und sagen Sie ihnen, was wir von ihnen erwarten. Mauersberg darf nicht zu einer Einfallspforte für Agenten und dergleichen Verbrecher werden.“ Als der Hauptmann bereits an der Tür war, rief ihn der Chef noch einmal zurück: „Wenn Sie einmal dort oben sind, dann kümmern Sie sich auch darum, in welcher Richtung die nächtlichen Zeitungshändler verschwunden sind!“ Seit gestern mittag hatte Tauwetter eingesetzt. Der Schnee pappte zusammen und überzog sich mit einer häßlichen grauen Schicht. Hier und dort schimmerte bereits wieder dunkler Waldboden unter der Schneedecke hervor. Auf den wenigen Wegen aber, die bergauf, bergab durch das zerklüftete Gelände führten, war vor zähem Schlamm kaum vorwärtszukommen. Überall, wo die Bäume einen Spalt für die Sonne freigaben, war der Schnee fast völlig weggetaut. Denn selbst noch in diesen Dezembertagen behielt die Sonne hier oben auf der Höhe des Thüringer Waldes ihre wärmende Kraft. Jetzt allerdings war es Abend. Das Tauwetter machte sich vor allem an den Schuhen bemerkbar. Sie
wurden schwer von den feuchten Erdklumpen, die sich bei jedem Schritt an die Sohlen pappten. „Grad’ wie im Frühling“, brummte Walter Eisen, der mit einem älteren Kameraden vor zehn Minuten das Kommando verlassen hatte, um mit ihm einen getarnten Doppelposten abzulösen. „Ich werde morgen mal losgehen und Schneeglöckchen suchen.“ „Weshalb nicht gleich Flieder“, knurrte sein Begleiter, der Grenzpolizist Höllinger, ärgerlich und hielt sich an einem starken, herabhängenden Fichtenzweig fest. Die aufgeweichte Erde, die den Weg grundlos machte, war nicht nur zäh, sondern auch schlüpfrig. „Fall nicht!“ spottete Walter. Flüchtig wischte er den Schnee von der Schulter, den der Kamerad vom Zweig geschüttelt hatte. Rechts von ihnen leuchteten einige Lichter zwischen den Stämmen auf. Walter beachtete sie nicht weiter, doch der andere ging langsamer. „In der Zichauer Mühle scheinen sie überhaupt nicht schlafen zu gehen“, sagte er übellaunig. „Da kannst du vorbeikommen, wann du willst, immer brennt dort Licht.“ „Auch am Tage?“ erkundigte sich Walter wenig geistreich. Sein Begleiter nuschelte ärgerlich etwas vor sich hin. Gleich darauf berührte er Walter an der Schulter: „Du, sag mal, war die Ochsensuppe heute abend nicht verdammt scharf?“ Walter wandte ein wenig verwundert den Kopf zu seinem Kameraden. Dann hob er gleichgültig die Schultern: „Na, und? Vielleicht haben sie in der Küche Angst, das Salz könnte ihnen schlecht werden, wenn sie es nicht verbrauchen.“
„Quatsch nicht so’n Blech!“ knurrte Höllinger. „Ich hab’ ganz einfach Durst.“ „Na, und?“ „Na, und, na, und!“ erboste sich Höllinger. „Dir ist’s wohl egal, wenn ein Kumpel…“ „Übertreib doch nicht! Wirst nicht gleich vor Durst umfallen!“ „Und weshalb sollen wir nicht rasch ein Glas Bier in die Figur schütten, wo wir doch einmal an der Kneipe vorbeilaufen?“ Er deutete wieder zur Zichauer Mühle hinüber, in der gleichzeitig eine kleine Gastwirtschaft betrieben wurde. Viel war dort allerdings nicht los. Höchstens kehrten dort einmal im Sommer ein paar Besucher ein, die durch die Wälder wanderten. Der bei den Bauern um Mauersberg sprichwörtlich gewordene Geiz des Besitzers und die abgelegene Lage der Mühle hielt sie im allgemeinen davor zurück, ihr Bier und ihren „Harten“ hier zu trinken. „Hör mal, Karl, wir sind im Dienst“, wehrte sich Walter gegen den Vorschlag Höllingers. „Daß man da nicht saufen geht, das muß ich Anfänger gerade dir als altem Grenzhasen sagen?“ „Wer spricht von saufen? Meinen Durst will ich löschen.“ „Wir müssen in fünfundzwanzig Minuten die Kameraden ablösen. Die wollen auch ins Bett“, gab Walter zu bedenken. „Schaffen wir!“ Höllinger winkte großartig ab. „Wir kürzen einfach den Weg. Ich kenn’ mich hier besser aus als ihr jungen Burschen.“ „Hm“, machte Walter, unschlüssig geworden. Er
mochte Klaus Brandner, seinen Freund, nicht warten lassen. Der lag seit dem frühen Morgengrauen mit noch einem Genossen in dem Erdloch, das an einer wichtigen Stelle nahe der Grenze angelegt worden war. Hauptmann Weite vom Bereitschaftsstab hatte, wie mit dem Chef besprochen, persönlich alle nur möglichen Maßnahmen getroffen, um den westlichen Agenten ein weiteres Einsickern in den Mauersberger Abschnitt unmöglich zu machen. Walter Eisen schob den Riemen des Karabiners auf der Schulter zurecht. Wirklich, Höllinger hatte recht! Die Bohnen mußten tatsächlich zu stark gesalzen gewesen sein. Auch er verspürte jetzt mehr und mehr das Bedürfnis, etwas zu trinken. Verboten war es zwar, aber anderseits würden sie bis morgen nichts mehr zu trinken bekommen. Und es brauchte ja auch grad’ kein Bier zu sein. Ein Glas Selters oder Limonade, die so herrlich in dem trockenen Mund prickelt, würde es ebenfalls tun. „Also los, mach keinen Quatsch und komm mit!“ drängte Höllinger und schob den Zögernden halb vorwärts. Da nickte Walter vor sich hin und ging mit, den hellgelben Fenstern entgegen, die zwischen den Zweigen und kahlen Sträuchern zu sehen waren. Leutnant Brehm blätterte nachdenklich in den vor ihm liegenden Papieren. Er zerdrückte seine Zigarette in dem Aschenbecher und sah Hauptmann Weite von der Bereitschaftsleitung an: „Der Kreis schließt sich, Ge-
nosse Hauptmann. Wenn wir aus dem vorliegenden Material die Personen aussondern, die aus zeitlichen und örtlichen Bedingungen für unseren Fall nicht in Frage kommen, dann bleibt nicht mehr viel übrig.“ „Gut.“ Der Hauptmann schob sein Koppel zurecht und beugte sich vor: „Rekonstruieren wir den Vorgang noch einmal. Eine größere Gruppe überschreitet die Grenze, nachdem sie durch einen vorausgeschickten Mann unsere Streife abgelenkt hat…“ „Was auf Erfahrung und somit öfteren Grenzübergang schließen läßt“, fiel der Leutnant ein. „Richtig. Unteroffizier Paetzkow verfolgte die Spuren bis zum Rande von Mauersberg. Dort waren sie nicht mehr zu erkennen, was bei dem ausgetretenen Boden in unmittelbarer Nähe des Dorfes kaum verwundert. Die am gleichen Tage angesetzten Ermittlungen zeigten jedoch, daß sich in dem wenig begangenen Wald eine breite, wenn auch schon undeutliche Spur fortsetzte.“ Hauptmann Weite machte eine Pause und stand auf. Er trat an den Schreibtisch des Kommandoleiters: „Sie haben sicher eine genaue Karte da!“ Leutnant Brehm schob die Papiere, Meldungen über einige Personen aus dem unmittelbaren Grenzgebiet, die in Verdacht einer ständigen, illegalen Verbindung mit dem Westen standen, beiseite. Unter der gläsernen Schreibplatte leuchtete eine bunte Landkarte hervor, die den Abschnitt Mauersberg wiedergab. Er legte seinen Zeigefinger auf den südlichen Rand der Häusergruppierung, die das Dorf darstellte. „Hier verschwand die von Unteroffizier Paetzkow verfolgte Schneespur in einem Weg, der zur Dorfstraße
führt. Und hier“, er wies auf eine Stelle, gleich nördlich des Dorfes, „… hier tauchte sie wieder auf.“ „Allerdings nur etwa dreihundert Meter lang wahrnehmbar.“ Der Leutnant zuckte mit den Schultern: „Leider. Der Neuschnee, der inzwischen eingesetzt hatte, war nicht vorauszusehen.“ Hauptmann Weite griff zu einem Bleistift und zog auf der Glasplatte eine Linie: „In dieser Richtung zogen die Grenzgänger also weiter. Wenn wir die Linie in jener Richtung verlängern würden, dann müßte sie auf, hm… Worauf müßte sie eigentlich stoßen? Ein Dorf kommt etwa erst nach acht Kilometern. Ob sie so weit laufen wollten? Glaub’s kaum! Es bleibt daher nur eines übrig: Wissen Sie, was ich meine?“ Abwartend blickte er Leutnant Brehm an. Dessen Hand glitt auf ein schwarzes Viereck, etwas abseits von der Linie, die der Bleistift angegeben hatte. Neben diesem dunklen Punkt stand in Druckbuchstaben: „Gastwirtschaft Zichauer Mühle“. Der Hauptmann nickte und ging wieder zu seinem Stuhl zurück: „Das wäre das Naheliegendste. Wie Sie ja vorhin selbst sagten, zählen wir die Bewohner der Mühle mit zu den sogenannten undurchsichtigen Leuten.“ Er winkte leicht mit der Hand zu den Papieren auf dem Schreibtisch: „Nehmen wir also an, daß die nächtlichen Zeitungsfritzen tatsächlich die Mühle angelaufen hätten, dann…“ „Wäre es durchaus möglich, daß wir dort nichts mehr finden, Genosse Hauptmann. Eine Mühle und Gastwirtschaft hat ständige Fahrzeugverbindungen nach
den nächsten Städten“, gab Leutnant Brehm zu bedenken. „Das aber erhöht den Verdacht, daß ein solcher Ort die geeignete Verbindungsstelle für Grenzgänger ist. Ich denke, wir benachrichtigen sofort die Kommandantur und können dann sicherlich morgen schon weiter sehen.“ Hauptmann Weite stand auf und strich seinen Uniformrock glatt: „Kommen Sie noch etwas mit hinüber in den Kulturraum, Genosse Brehm? Ich sitze gern mit unseren jungen Kameraden zusammen.“ Die beiden Offiziere betraten den großen Raum, aus dem ein froher Gesang auf den Flur klang. Hauptmann Weite winkte einem jungen Genossen, der ihm seinen Sessel anbieten wollte, abwehrend zu und setzte sich neben Leutnant Brehm auf eine Bank. Mit. kräftiger Stimme fiel er sogleich in das Lied ein und raunte zwischen zwei Strophen dem Leutnant zu: „Gut, daß ich schon mit achtzehn Jahren im Arbeitergesangverein war. Die Jungs hier können mir nichts vormachen!“ Leutnant Brehm hörte nur halb hin. Seine Augen glitten von einem der jungen Gesichter zum andern. Das war sein Kommando, seine Genossen. Ihm wurde warm ums Herz. Mit denen konnte und würde man die Republik schon schützen. Die Kriegshetzer da drüben auf der andern Seite sollen sich nur nicht einbilden, die Republik wäre ihren Anschlägen wehrlos ausgesetzt. Es war gewiß kein Vergnügen, acht Stunden lang in einem feuchten Erdloch zu liegen, aber es war ihre Aufgabe. In der vorigen Nacht hatte man in aller Stille das Loch ausgehoben, und seitdem lagen zwei Kameraden, von darübergelegten Zweigen verdeckt, in dem
Beobachtungsstand. Nein, ein Vergnügen war es wirklich nicht! Zwar hatten sie vier dicke Wolldecken unter sich ausgebreitet. Sie selbst trugen zudem warme Watteanzüge über den Uniformen. Doch bei dem grauen, nassen Wetter Stunde um Stunde zu liegen, ohne sich bewegen zu können, war alles andere als angenehm. Zum soundsovielten Male wischte sich Klaus Brandner einige Tannennadeln aus dem Genick, die von dem Tarngestrüpp in seinen Kragen gerutscht waren. Allein diese Bewegung erforderte beträchtliches Geschick, denn das Erdloch war gerade für zwei nebeneinanderliegende Personen mit ihrem Sprechfunkapparat berechnet. „Eigentlich müßte unsere Ablösung schon da sein“, sagte sein Nachbar Franz Lüttke und blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. „Es ist einhalb zehn durch.“ „Bei dem Dreck kann man sich leicht einige Minuten verspäten. Kommst ja kaum vorwärts auf dem schmierigen Boden.“ „Müssen die Genossen eben früher vom Kommando weggehen. Wir liegen schließlich nicht zum Vergnügen hier.“ „Reg dich bloß nicht auf, Franz!“ Klaus stieß den anderen mit dem Ellenbogen an. „Sie werden schon kommen. Spazieren gehen sie bestimmt nicht bei diesem Wetter.“ Sie schwiegen wieder. Klaus dachte nach, er mußte überhaupt viel und angestrengt nachgrübeln in diesen letzten Stunden. Man hatte übrigens genügend Zeit
dazu in dem Erdloch. Dabei ließ sich trotzdem das Gelände beobachten: das zerklüftete Tal vor ihnen, in dessen tiefstem Grund ein einsames Gehöft lag. Auch ohne Fernglas konnte Klaus die Fensterrahmen des Wohnhauses erkennen. Es waren ja kaum achtzig Meter bis zu diesem Bauernhaus, das wie alle Häuser dieser Gegend von oben bis unten mit graublauen Schieferplatten beschlagen war. Manchmal konnte Klaus Brandner das dumme Gefühl nicht loswerden, daß, solange da drüben die fremden Soldaten mit dem weißen MP am Helm umherlungerten, Deutschland eben doch erst diesseits der Grenze anfing, nämlich hier, wo er als Grenzpolizist stand. „Es ist komisch“, sagte er unvermittelt zu seinem Kameraden, „mitten durch Deutschland geht eine Grenze, wir bewachen sie und wissen dabei, daß diese Grenze nur dann einmal versehwinden wird, wenn wir sie heute gut bewachen.“ „Was ist da komisch?“ wunderte sich Franz Lüttke, „das ist nun mal so!“ „Und damit findest du dich einfach ab?“ begehrte Klaus hitzig auf. „Unsinn.“ Franz ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er überlegte und sagte: „Weißt du, Klaus, ich war als kleiner Junge mal in Oberbayern am Tegernsee. Eine schöne Gegend! Blieb zwar nur ein halbes Jahr dort. Aber ich möchte zu gern wieder mal hin. Und ich werde auch wieder hinkommen, verlaß dich drauf. Bloß, wir müssen auf Draht bleiben.“ Er hielt sich die Uhr vor die Augen: „Mensch, es ist schon drei Minuten nach zehn! Vor halb sollte die Ablösung hier sein.
Verdammt und zugenäht, die sollten sich beeilen!“ Sie lagen wieder einige Minuten schweigend nebeneinander, dann sagte Klaus: „Weißt du, eigentlich bin ich froh, daß bei uns augenblicklich ‘n bißchen was los ist. Machst du sonst deine acht Stunden Streife und es passiert nichts… Natürlich“, unterbrach er sich, als müsse er sich verteidigen, „weiß ich wie jeder, weshalb wir hier stehen. Und wenn ich daran denke, daß ich gleichzeitig den Betrieb bewache, in dem ich gearbeitet habe, dann werde ich gleich hellwach, obwohl meine Drehbank von diesem Loch immerhin mehr als hundert Kilometer entfernt steht.“ „Verstehe, Klaus“, beteuerte Franz Lüttke und erleichterte sich durch einen kleinen Seufzer. „Nicht so einfach, Grenzpolizist zu sein, wenn man vor Langeweile den Mond mit ‘ner Stange über den Berg schieben möchte. Wenn du weißt, daß sich diese Nacht ein Bandit von drüben in die Republik einschleichen will, dann kommst du ja von allein auf Draht. Wenn aber monatelang tiefste Ruhe herrscht… Tja, dann mußt du schon genau wissen, weshalb du hier stehst.“ „Stimmt.“ Klaus freute sich über die Worte des Kameraden. Ähnliches hatte er auch stets gedacht. Nun fand er in dem, was Franz aussprach, eine Bestätigung. Als es zwanzig Minuten nach zehn war, schreckte er hoch. Die beiden Genossen der Ablösung waren immer noch nicht in Sicht. „Wir müssen das Kommando verständigen“, schlug er beunruhigt vor. „Wenn den beiden in dieser unsicheren Gegend was passiert ist…“ Franz Lüttke nickte und griff zum Sprechfunkapparat, um das Kommando zu benachrichtigen.
Im Kulturraum der Kommandounterkunft war soeben das Licht ausgegangen. Die Grenzpolizisten gingen, die Melodie der „Burschen von Mystrina“ vor sich hin summend, in ihre Zimmer. Irgendwo klang noch eine Weile leise ein Akkordeon, bis auch dieses Geräusch verstummte. In wenigen Stunden mußten die nächsten Streifenablösungen wieder aufstehen, darum herrschte bald Ruhe, um den Kameraden nicht unnötig den Schlaf zu rauben. Im Dienstzimmer saßen Hauptmann Weite von der Bereitschaft, Leutnant Brehm und Unteroffizier Paetzkow zusammen. „Eure Jungs bilden schon ein gutes Kollektiv“, stellte der Hauptmann anerkennend fest. „Wie sie vorhin zusammensaßen und sangen, da merkte man, daß sie es ebensogut fühlen wie wissen: Wir gehören zusammen.“ Es klopfte. Gleich darauf erschien ein Gefreiter mit der roten Armbinde, die ihn als Diensthabenden kennzeichnete, auf der Türschwelle: „Genosse Leutnant, eine Meldung von dem Standposten beim amerikanischen Gehöft!“ Die Männer sahen den jungen Gefreiten erwartungsvoll an. „Obwohl die Ablösung 21.20 Uhr dort sein sollte, war sie 22.22 Uhr noch nicht zur Stelle“, meldete der Gefreite. „Moment mal“, mischte sich Hauptmann Weite ein. „Amerikanisches Gehöft? Wo ist das? Ich kenne die Gegend nicht so genau.“ Leutnant Brehm lächelte ein wenig verlegen: „Wir
nennen das einsame Gehöft auf der bayrischen Seite im Sternengrund so. Wir wissen, daß sich darin ständig Amis aufhalten. Außerdem besteht dort eine direkte Telephonverbindung zur nächsten amerikanischen Kommandantur.“ „Normalerweise müßten die beiden Genossen längst dort sein“, sagte Unteroffizier Paetzkow. „Sie haben etwa vierzig Minuten zu laufen. Rechtzeitig losgegangen sind sie. Ich war zufällig in der Wachstube, als sie sich abmeldeten.“ Leutnant Brehm hatte seinen Entschluß gefaßt. Schnell trug er ihn Weite vor: „Ich denke, Genosse Hauptmann, wir müssen sofort einige Leute losschikken und die zwei Ablöser suchen lassen. Sie wissen ja selbst, welche Situation in unserem Abschnitt besteht. Also müssen wir damit rechnen…“ „… daß ihnen etwas zugestoßen ist“, ergänzte Hauptmann Weite zustimmend. „Sie haben recht, Genosse Leutnant. Veranlassen Sie das Notwendige!“ Leutnant Brehm wandte sich dem Unteroffizier zu: „Genosse Paetzkow, Alarm für das ganze Kommando! Es bleiben lediglich die Ablösungen für die nächsten Streifen hier.“ Der Unteroffizier eilte hinaus. Drei Sekunden später gellte die Signalpfeife durch den breiten dunklen Gang, Lichter flammten auf, und schwere Nagelschuhe polterten auf den Holzdielen. „Die armen Jungs!“ bedauerte Hauptmann Weite. „Sie brauchen ihren Schlaf so dringend! Na, hilft nichts. Sagen Sie ihnen, Genosse Leutnant, was los ist. Sie werden es verstehen.“
„Bestimmt, Genosse Hauptmann… bei unserem Kollektiv!“ Es klang ein wenig stolz, wie Leutnant Brehm das sagte. „Teilen Sie mich bitte bei der Suchaktion mit ein!“ „In Ordnung, Genosse Hauptmann.“ Sechs Minuten nach dem Alarm stand das Kommando auf dem Flur der Baracke. Rasch war den jungen Grenzpolizisten – die meisten von ihnen waren kaum ein halbes Jahr im Dienst – der Grund des überraschenden Einsatzes bekanntgegeben worden. Zwei Kameraden wurden vermißt, waren womöglich in Gefahr. An Stelle der sonstigen Streifen wurden diesmal Suchtrupps von je drei Mann aufgestellt. Unteroffizier Paetzkow gab, an den Reihen entlanggehend, scharfe Munition und für jeden Trupp eine Stablampe aus. Dann rückten die Grenzpolizisten ab. Jeder Truppführer kannte das Gebiet, das er mit seinen Kameraden abzusuchen hatte. Auch die beiden Offiziere, Hauptmann Weite und Leutnant Brehm, nahmen wie vereinbart an der Suchaktion teil. Die stockfinstere Nacht hatte im Nu die Männer verschluckt. Nur das Quietschen der Stiefel in dem fußtiefen Schlick hörte der zurückbleibende Unteroffizier noch ein oder zwei Minuten lang, als er den Kameraden vom Eingang der großen Baracke aus nachblickte. Paetzkow war ein wenig ärgerlich über die Anordnung des Kommandoleiters, der es ihm untersagt hatte, mit hinauszugehen. Der Unteroffizier fühlte sich nun einmal draußen im Abschnittgelände wohler als in der Wachstube.
Aber das ist wieder mal typisch für Leutnant Brehm, dachte Paetzkow und war seinem jungen Vorgesetzten schon nicht mehr böse wegen des Befehls. Der sorgt sich so um seine Jungs… und ist dabei kaum älter als sie… daß es ihn einfach nicht im Bau hält, wenn zwei Kameraden vermißt werden… Paetzkow stand vor dem Eingang zur Mannschaftsbaracke, als der Diensthabende heraufkam. „Genosse Unteroffizier, eine neue Durchsage von dem Standposten.“ Paetzkow fuhr herum: „Ja, und?“ „Die vermißten Genossen sind soeben zur Ablösung eingetroffen. Sie haben sich nur verspätet.“ „Wieso verspätet? Um eine Stunde?“ Unteroffizier Paetzkow schob den Gefreiten eilig vor sich her in die Wachstube: „Verbinden Sie mich mit Posten Zwei!“ forderte er den Funker energisch auf. Während dieser die Verbindung herstellte, warf Paetzkow aufgeregt seine Mütze auf den Tisch. „Wie bekommen wir die Suchtrupps jetzt zurück?“ Der Funker rief ihn zum Apparat und reichte ihm die Kopfhörer. „Ja, Posten Zwei! Ich möchte bitte den Genossen…“ Verdammt! Noch ein Wort mehr, und er hätte den Namen genannt! Dann brauchte bloß die „andere Seite“ mitzuhören, und die drüben hätten wieder einen Namen für ihr Register gehabt. „Den Postenführer will ich! Sind Sie selbst am Apparat?… Weshalb kommen Sie eine Stunde zu spät?… Wie bitte?… Genosse, die Verständigung ist zwar sehr deutlich, aber das kann ich nicht verstehen… Das ist keine Entschuldigung, was
Sie da vorbringen. Ich kann nicht zulassen, daß dieser wichtige Posten derart verantwortungslos behandelt wird!… Hören Sie, sind die zwei abgelösten Posten noch da?… Geben Sie mir bitte den Postenführer… Hallo, hören Sie… Sie müssen noch eine Stunde aushalten. Ich schicke sofort eine neue Ablösung hinauf… Jawohl, und Sie selbst kehren mit den Genossen hierher zurück, die Sie warten ließen. Verstanden?… Jawohl, das ist ein Befehl, Genosse!“ Unteroffizier Paetzkow riß den Kopfhörer herunter und drückte ihn dem Funker heftig in die Hand: „Unmöglich, diese Einstellung zum Dienst! Und deswegen jagen wir das ganze Kommando aus den Betten und raus in die Nacht,“ Er besann sich: Richtig, die Genossen mußte man ja zurückholen… Der Diensthabende schien seine Gedanken zu erraten: „Genosse Unteroffizier, wenn wir vielleicht ein oder zwei Leuchtkugeln abschießen würden?“ „Gut, jagen Sie zwei rote in die Luft! Und dann wekken Sie zwei Mann von den Streifenablösungen. Sie sollen sich sofort fertig machen und den Standposten gegenüber dem amerikanischen Gehöft beziehen. Zur Streife müssen eben zwei andere eingeteilt werden.“ Paetzkow passierte es äußerst selten, daß er seine Ruhe und mit ihr den trockenen Humor verlor. Jetzt aber war es soweit. Da gehen die zwei Herren gemächlich spazieren und bringen durch ihre Bummelei das ganze Kommando in Aufregung, wütete er innerlich. Unteroffizier Paetzkow konnte viel vertragen. Eines aber brachte ihn in Hitze. Das war Nachlässigkeit im Dienst. Dazu war die Aufgabe der Volkspolizei hier an
der Grenze denn doch zu verantwortungsvoll. Ausgerechnet der Eisen, überlegte Paetzkow weiter, von dem hätte ich Bummelei am wenigsten erwartet. Er und sein Freund Klaus Brandner sind doch wirklich feine Kerle. Sollte ich mich in dem Jungen derart getäuscht haben? Paetzkow war gespannt, wie Walter Eisen auf die Kritik der Kameraden reagieren würde. Denn Kritik, harte und offene Kritik würde es geben, darüber war sich der Unteroffizier klar. „Die Genossen Höllinger und Eisen haben ihren Dienst sehr schlecht versehen. Sie kamen eine Stunde zu spät zur Ablösung, weil sie es für wichtiger hielten, erst ihr Bier zu trinken. Wir haben deshalb vom Standposten aus… und das war sehr richtig, Jugendfreunde!… Alarm gegeben. Wegen der zwei unzuverlässigen Kameraden mußte das ganze Kommando die Ruhe unterbrechen und auf Suchaktion gehen. Ich beantrage bei der Kommandoleitung, den Jugendfreunden Höllinger und Eisen eine strenge Rüge zu erteilen.“ Klaus Brandner setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Langsam wandte er den Kopf zu seinem Freund Walter Eisen. Doch dieser starrte brennenden Gesichts vor sich auf den Fußboden. Er wagte nicht mehr hochzusehen. Walter schämte sich die Seele aus dem Leib. Wie, zum Teufel, konnte er sich gestern abend von Höllinger nur verleiten lassen? Aus dem einen Bier in dieser verfluchten Mühlenkneipe waren drei geworden, obgleich er selbst nur seine Flasche Limonade getrunken hatte. War es ihm aber gelungen, den älteren Kamera-
den gleich wieder zum Aufbruch zu bewegen? Nein, noch nicht einmal versucht hatte er es! Und dann war er nach einer verbummelten Stunde wie im Traum mit Höllinger zum Kommando getrottet. Nun vertraute man ihnen den wichtigen Posten nicht mehr an. Ihm, Walter Eisen, wurde kein Vertrauen mehr geschenkt! Seltsam fremd sahen die Kameraden ihn die ganze Zeit an. Mit drängender Unruhe hatte Walter den Abend erwartet, vor dem er sich gleichzeitig fürchtete. Würden die Kameraden in der FDJ-Versammlung zu seinem und Höllingers Vergehen Stellung nehmen? Wie konnte er nur zweifeln? Natürlich wurde darüber diskutiert. Doch daß ausgerechnet Klaus Brandner, sein bester Freund, den Antrag stellen würde, daran hatte Walter nicht geglaubt. War Klaus nicht mehr sein Freund? Sicherlich. Walter zweifelte nicht einen Augenblick daran. Aber Klaus sah nur die Sache und wahrscheinlich hätte er ebenso heftig und ehrlich Selbstkritik geübt, wenn ihm etwas Ähnliches passiert wäre. Nur Klaus Brandner konnte man eben nie eine Nachlässigkeit vorwerfen, auch früher im Betrieb nicht. Walter wurde fast ein wenig neidisch auf die Zuverlässigkeit des Freundes. Doch er würde ihm schon zeigen, was er, Walter Eisen, für ein Kerl war! Sie sollten noch staunen über den Grenzpolizisten Eisen. Hatte er gestern abend in der Zichauer Mühle nicht insgeheim zwei Beobachtungen gemacht, denen auf den Grund zu gehen ihn unausgesetzt beschäftigte? Da war einmal das alte, zusammengeknitterte Zeitungsblatt unter dem Tisch. Als Walter es absichtslos aufnahm, erwies es sich als Kopfblatt einer
amerikanisch lizenzierten Tageszeitung aus Westdeutschland. Walter ließ es sofort unauffällig in der Tasche seiner Wattejacke verschwinden. Nicht einmal dem neben ihm sitzenden Höllinger war diese Bewegung aufgefallen. Und dann – was wollten die vier fremden Männer, die mit dem Müller an einem Ecktisch gehockt hatten, abends in der Kneipe? Es gab doch sonst bei Tage kaum Besucher in der kleinen Gastwirtschaft und zu dieser späten Stunde schon gar nicht. Standen diese Männer vielleicht mit dem Zeitungsblatt in Verbindung? Als die FDJ-Versammlung beendet war, zeigte die Uhr kurz nach sieben. Zum Abschluß wurde der Antrag Klaus Brandners einstimmig angenommen und von Leutnant Brehm als Kommandoleiter vorbehaltlich gutgeheißen. „Hat die grobe Nachlässigkeit der Kritisierten noch weitere Folgen“, begründete er seine Einschränkung, „dann bin ich verpflichtet, den Fall zur endgültigen Erledigung weiterzugeben.“ Walter Eisen überlegte fieberhaft. Wie kann ich die Scharte auswetzen? Ich werde mich abmelden und hinab zur Zichauer Mühle gehen… Als er nach dem Abendessen vor Leutnant Brehm seine Bitte um einen dreistündigen Urlaub aussprach, blickte ihn dieser verwundert an: „Sie wollen das Kommando verlassen, Genosse Eisen?“ „Nur für drei Stunden, Genosse Leutnant.“ Der Kommandoleiter überlegte. Eben war der Junge von den Kameraden kritisiert worden, und nun bat er er schon wieder um Urlaub? Ließ ihn die Kritik der Ge-
nossen so kalt? Wie beiläufig erkundigte sich Brehm, wo Walter denn hin wolle. Der junge Grenzpolizist zögerte einen Herzschlag lang. Durfte er dem Leutnant sagen, daß er wieder zur Mühle hinab wollte? In diese verflixte Kneipe, die den Anlaß für die dumme Geschichte mit Höllinger gegeben hatte? Nein, das durfte er nicht sagen. „Im Dorf wohnt ein Lehrling, Genosse Leutnant, der in der Kreisstadt im gleichen Beruf wie ich gearbeitet hat. Er will Dreher werden. Ich soll ihm bei einigen Fragen helfen.“ Leutnant Brehm sah Walter prüfend an. War der junge Grenzpolizist nicht soeben rot geworden? Der Kommandoleiter legte Walter die Hand auf die Schulter: „Sagen Sie, Genosse Eisen, sehen Sie ein, daß Ihre Kameraden berechtigte Kritik an Ihnen geübt haben?“ Verwirrt schaute Walter den Offizier an: „Ich… Ja, ich habe einen Fehler gemacht.“ „Sie waren Dreher in einem volkseigenen Betrieb?“ „Ja, Genosse Leutnant.“ „Dann haben Sie heute den gleichen Auftraggeber wie damals, als Sie noch an der Drehbank standen, nämlich das werktätige Volk, die Republik. Ihre Fehler fallen auf all diese Menschen zurück, schaden den Werktätigen, Genosse Eisen. Wissen Sie das?“ Walter wurde immer unruhiger. Was wollte der Leutnant noch von ihm? Eine strenge Rüge einzustecken, war das nicht bereits Strafe genug? Jedenfalls für ihn, den Grenzpolizisten und FDJler Walter Eisen langte es. Die Stimme des Leutnants drang wieder an sein Ohr: „Hätten Sie früher Ihre Drehbank während der Ar-
beitszeit verlassen, nur weil Sie Durst hatten?“ „Nein… natürlich nicht!“ „Sehen Sie, das ist hier das gleiche, Genosse Eisen. In der Produktion Ihres Betriebes wäre eine Lücke entstanden. Ihr schlechtes Verhalten im Dienst riß auch bei uns eine Lücke auf. Und zwar eine Lücke in der Grenze zur Republik, verstehen Sie? Zwar haben Ihre Kameraden für Sie weiter im Dreckloch an der Grenze ausgehalten, aber es hätte auch anders kommen können. Sie haben noch viel zu lernen, Genosse Eisen. Den gemachten Fehler müssen Sie doppelt und dreifach wiedergutmachen. Die Kameraden verlangen es, wie Sie in der Versammlung gehört haben.“ Leise gab Walter zur Antwort: „Ich habe mir das alles nicht richtig überlegt…“ „Der Dienst im Interesse der Werktätigen ist zu verantwortungsvoll, um unüberlegt zu handeln, Genosse Eisen! Denken Sie in Zukunft stets daran.“ Und in etwas versöhnlicherem Ton setzte Leutnant Brehm hinzu: „Sagen Sie das auch diesem Lehrling, wenn Sie zu ihm kommen. Es ist kein Unterschied zwischen seiner Drehbank und Ihrem Karabiner. Und nun können Sie gehen.“ Langsam, die Augen gesenkt, ging Walter zur Tür. Dort stockte noch einmal sein Fuß. Doch dann warf er den Kopf zurück und ging hinaus. „Ich muß alles wieder gutmachen“, raunte er eigensinnig vor sieh hin. „Alles wieder wettmachen… Staunen sollen die Kameraden und nicht zuletzt Leutnant Brehm…“ Draußen im Hof erwartete ihn Klaus Brandner. „Menschenskind, Walter“, begann der Freund vor-
wurfsvoll. „Wie konnte dir das bloß passieren? Hattest du einen über’n Durst getrunken?“ „Ja, Limonade“, gab Walter patzig zurück und setzte bitter hinzu: „Mußtest ausgerechnet du den Antrag auf strenge Rüge stellen? Bist mir ein schöner Freund!“ In Klaus’ offenes, jetzt bekümmertes Gesicht schoß eine Blutwelle. „Sag mal“, fragte er gedehnt, „was verstehst du eigentlich unter Freundschaft? Soll ich deine Fehler unterstützen, nur weil du mein Freund bist?“ Diese Frage traf Walter Eisen schwer. Er senkte schuldbewußt den Kopf und murrte: „Hast mir aber auch verdammt weh getan mit deinem Antrag.“ Klaus, mehr noch von dem aufgewühlten Ton als von den Worten ergriffen, schob seinen Arm in den des Freundes und zog ihn mit sich fort. „Komm, Walter“, bat er eindringlich, „laß uns mal alles gründlich bereden. Ich hab’ so das Gefühl, daß in unserer Versammlung nicht alles zur Sprache gekommen ist.“ Als die beiden eine gute halbe Stunde auf dem Fahrweg zum Kommandogebäude hin und her gewandert waren, wußte Klaus, wie sein Freund die Scharte wieder auswetzen wollte. Er hatte ihm den heimlichen Gang zur Zichauer Mühle leidenschaftlich ausgeredet und ihn beschworen, sich noch einmal bei Leutnant Brehm zu melden, um, wie es sich für einen FDJFreund gehört, die Wahrheit zu bekennen. Klaus brachte den Zerknirschten sogar bis vor die Tür des Dienstzimmers. Dort schlug er ihm freundschaftlich auf die Schulter und versicherte: „Sollst sehen, alles wird wieder gut.“ Walter blickte seinen Freund nochmals dankbar an
und trat ein. „Nanu?“ wunderte sich Leutnant Brehm, der hinter seinem Schreibtisch saß. „Ich denk’, Sie beraten Ihren Berufskollegen in Mauersberg, Genosse Eisen?“ Walter schluckte, schlug dann voll die Augen zu Brehm auf und stammelte: „Ich… ich habe Ihnen vorhin nicht die Wahrheit gesagt, Genosse Leutnant. Ich hatte gar nicht vor, ins Dorf zu gehen. Ich wollte zur Zichauer Mühle.“ Leutnant Brehm schien seltsamerweise gar nicht so überrascht. „So, so, Sie haben es sich anders überlegt?“ Und nun berichtete Walter, stockend zunächst, dann immer freier, seine Beobachtungen, Wahrnehmungen und heimlichen Pläne und schloß mit den leidenschaftlichen Worten: „Ich wollte die Scharte wieder auswetzen und…“ „In Partisanenmanier allein vorgehen, wie?“ fiel ihm der Kommandoleiter rasch ins Wort. „Damit hätten Sie womöglich noch Schlimmeres angerichtet, Genosse Eisen! Nun gut. Haben Sie das Zeitungsblatt hier?“ Walter zog es aus der Tasche und reichte es Brehm über den Schreibtisch hin. Der Leutnant warf nur einen Blick darauf. Hart preßte er die Lippen aufeinander. Dann legte er das zerknitterte Papier auf die Schreibtischplatte und griff zum Telephon: „Wachstube? Unteroffizier Paetzkow und alle Gruppenführer sofort zu mir!“ Während er den Hörer auf die Gabel warf, befahl er Walter: „Gehen Sie bitte in das Gästezimmer und bitten Sie Hauptmann Weite hierher. Und kommen Sie
ebenfalls sogleich wieder. Mit Hilfe Ihrer Kameraden, Genosse Eisen, können Sie nun wirklich die Scharte auswetzen. Allein wäre es Ihnen schwerlich gelungen.“ In der Zichauer Mühle brannten in dieser Nacht wiederum die Lichter der Gaststube. Ihr Schein warf helle Bahnen auf den Neuschnee, der seit dem Nachmittag vom Himmel rieselte. Wenn die Schneeflocken in die aus den Fenstern fallenden Lichtbahnen gerieten, schien es, als tanzten sie in einem Wirbel umeinander herum. „Wir werden möglichst lautlos vorgehen. Wir müssen das Überraschungsmoment für uns behalten“, flüsterte Leutnant Brehm den um ihn im Schnee kauernden Grenzern zu. „Und wenn der Hund anschlägt?“ fragte einer verhalten, „Sie haben keinen“, raunte Walter Eisen. „Was? Ein einsam gelegenes Haus und keinen Hund?“‘ Der Grenzer war skeptisch. „Kann schon stimmen“, ließ sich Hauptmann Weite leise vernehmen. „Wenn die Mühle tatsächlich eine Anlaufstelle für das Gesindel von drüben ist, würde ihnen das Hundegebell nur schaden. So ein Vieh weiß schließlich nicht, ob da ein Freund des sauberen Müllers kommt oder…“ „Oder wir“, fiel ein anderer Grenzpolizist ein. Es lag Spannung und Haß gegen die Feinde der Republik in seinen Worten, gleichzeitig aber auch die Gewißheit: Wir werden euch heute das Handwerk legen. Auch Hauptmann Weite fühlte eine steigende innerliche Spannung. War es doch erst wenige Tage her, daß ihn Oberstleutnant Kröner mit dem Auftrag betraute,
den Genossen im Abschnitt Mauersberg zu helfen. Gestern abend hatte er mit Leutnant Brehm eingehend die Aktion besprochen. Doch hätte er nicht geglaubt, daß sie schon einen Tag später genügend Anhaltspunkte besitzen würden, um gegen die Zichauer Mühle vorzugehen. Nun gut, schloß er mit grimmiger Genugtuung seine Überlegung, um so eher können wir das Kapitel abschließen… Der Hauptmann überblickte noch einmal die Reihe der sprungbereit wartenden Grenzpolizisten, dann nickte er dem Leutnant zu, „Los, jetzt!“ Leutnant Brehm winkle nach vorn: „Vermeidet trockene Zweige und haltet euch außerhalb des Lichtscheins!“ Einer hinter dem anderen huschten die Männer auf das Haus zu. Die Karabiner hatten sie von den Schultern genommen und hielten sie vor sich im Anschlag. Walter Eisen war neben Hauptmann Weite als erster an der Rückwand des Gebäudes. Er preßte sich dicht an die Hauswand und beobachtete, wie die Kameraden nacheinander heraneilten und hinter Holzstößen und an den Hausecken niederknieten. Etwa zwei Meter entfernt war eines der Fenster, aus denen heller Lichtschein fiel. Behutsam schob er sich, vom Hauptmann gefolgt, näher an das lichterfüllte Viereck heran. „Vorsicht, Genosse!“ raunte Hauptmann Weite hinter seinem Rücken. Walter nickte und nahm die Mütze ab. Zentimeter um Zentimeter schob er den Kopf hinter der Mauer hervor und gleich darauf blinzelte er geblendet in das Zimmer. Mit einem halblauten Ausruf fuhr er zurück: „Genos-
se Hauptmann, schnell, sehen Sie doch!“ Walter duckte sich direkt hinter dem Fensterbrett nieder, während der Offizier seinen Kopf an das Fenster drückte. „Das ist ‘n Ding!… Waffen!“ An der Innenseite einer Doppeltür, die gerade geschlossen wurde, hingen Karabiner und Jagdgewehre. Hauptmann Weite hatte sich nach der ersten Verblüffung sogleich wieder gefaßt: „Also Waffen! Laut Kontrollratsgesetz… illegaler Waffenbesitz. Steht Zuchthaus drauf. Glatte Rechnung. Ziehen wir den Schlußstrich!“ Er trat wieder zurück und warf einen Blick auf die Grenzpolizisten, die das Gebäude im Halbkreis umgaben. Walter langte mit der Hand nach dem Fensterbrett, um sich schnell hochzuziehen. „Ah, verflucht!“ Der Hauptmann fuhr herum. Walter kauerte im Schnee und preßte sein Taschentuch auf die blutende Hand: „Flaschenscherben, Genosse Hauptmann. Ich habe mich daran geschnitten!“ Bevor Weite antworten konnte, polterten drinnen im Haus mit einemmal Schritte. Ein Schatten fiel vom Fenster nach außen auf den Schnee. Leutnant Brehm raste mit großen Sprüngen auf die Haustür zu. Im Laufen zog er die Pistole. Die Grenzpolizisten stießen ihre Kolben gegen die Haustür. Wenige Sekunden später stürmten sie durch den langen Flur und standen aufgeregt hin und her rennenden Männern gegenüber: „Hände hoch! Alles in die Stube, und an die Wand!“ Die Stimme des Leutnants schnitt scharf durch den Raum: „Das Haus durchsuchen! Drei Posten bewachen
draußen das Haus!“ Schwere Skischuhe polterten, Fensterscheiben klirrten, Türen knallten. Ein Mann wurde hereingeführt, dazu die beiden Töchter des Müllers, die frech um sich blickten. Zwei Grenzer schleppten einige Packen Zeitungen herein. „Genosse Eisen!“ Leutnant Brehms Blicke suchten Walter, der sich um seine blutende Hand einen Notverband wickelte. „Ja, Genosse Leutnant?“ Walter ging zu den Offizieren hinüber. „Sind das die Männer, die Sie gestern abend sahen?“ Hauptmann Weite deutete mit dem Kopf nach dem Müller und den drei anderen Festgenommenen hin, die mit den Töchtern des Besitzers nebeneinander an der Wand standen. Eben zog ein Kamerad Walters dem zuletzt Hereingeführten einen Revolver aus der Hosentasche, den er zu den übrigen beschlagnahmten Waffen warf. „Einer fehlt noch, Genosse Hauptmann“, meldete Walter. „Gestern abend waren vier Fremde hier.“ Mit einer jähen Bewegung trat der Hauptmann vor den Müller hin: „Wo ist der vierte Mann?“ Der Müller drehte schulterzuckend den Kopf zur Seite. In seinem Gesicht kämpften Wut und Angst miteinander um die Oberhand. „Machen Sie keinen Unsinn, Mann!“ herrschte ihn Weite an. „Der Zirkus ist hier zu Ende.“ In diesem Augenblick peitschte hinter dem Haus ein Schuß auf. Gleich darauf ein zweiter und noch einer. Leutnant Brehm wirbelte auf dem Absatz herum, stürzte zur Tür, gefolgt von dem Hauptmann. „Drei
Mann bleiben zur Bewachung hier“, rief er noch zurück und verschwand. Hinter dem Haus kniete ein Grenzpolizist im Schnee und zielte gerade wieder hinüber nach dem schwarz aufragenden Waldrand. Als Brehm und der Hauptmann mit mehreren Männern herbeirannten, setzte der andere das Gewehr ab. „Zu spät! Ich sehe den Flüchtenden nicht mehr. Er ist dort oben aus der Holzluke gesprungen!“ Der Grenzer deutete mit dem Daumen zum ersten Stock des Gebäudes. Dort klappte eine Brettertür im Winde hin und her. Leutnant Brehm fluchte: „Das war unser vierter Mann, Genosse Hauptmann! Gestatten Sie, daß ich mit einem Mann die Verfolgung aufnehme? Bei dem Neuschnee ist das nicht schwer. Über die Spuren stolpert man ja.“ „Los, rennen Sie, Genosse Leutnant! Ich werde hier alles Weitere veranlassen. Aber nehmen Sie den Genossen Eisen noch mit, nicht nur einen Mann. Sie haben gesehen, daß die Kerle Waffen haben.“ „Vorsicht, Genosse Brandner!“ Unteroffizier Paetzkow ließ seine Taschenlampe aufleuchten. Hastig glitt der Lichtkegel über den Schnee, tastete über Steine und kahle Zweige. Paetzkow hatte Klaus Brandner zu einem Streifenkontrollgang mitgenommen. Nacht für Nacht war der Unteroffizier unterwegs, seitdem die Bereitschaftsleitung festgestellt hatte, daß im Bereich des Kommandos Mauersberg wiederholt Grenzverletzungen vorkamen. Teufel auch, damit sollte jetzt Schluß sein, ein für allemal! Die Ehre des Kommandos stand auf dem Spiel.
Oder sollten ihm, dem Unteroffizier Paetzkow, die Kameraden aus den Nachbarkommandos sagen dürfen, bei euch können die Agenten und Saboteure am hellen Tag über die Grenze spazieren? Und daß es Feinde der Republik waren, darüber gab es keine Zweifel mehr. Hatte Paetzkow nicht selbst die verlorenen Zeitungen sichergestellt? Und die Sache mit der Zichauer Mühle, zu der vorhin das Kommando aufgebrochen war? Man würde ja nachher erfahren, was da geschehen war. Kaffee- oder Christbaumschmuckhändler waren es bestimmt nicht, denen man dort nachstellte. Klaus dachte an Walter Eisen. Würde er sich bei dem Einsatz in der Zichauer Mühle bewähren? Ein harter Griff am Oberarm ließ den Unteroffizier aus seinen Gedanken aufschrecken. Klaus Brandner zog ihn nach der Seite: „Genosse Unteroffizier, sehen Sie doch, dort hinten!“ In der Richtung, aus der die beiden eben kamen, leuchtete ein heller Punkt, verschwand einen Augenblick und war gleich wieder da, wurde wieder von der Dunkelheit verschluckt, um abermals aufzuleuchten. So ging es ununterbrochen fort. „Blinkzeichen“, raunte Klaus erregt. „Nicht wahr, Genosse Unteroffizier?“ „Nee, eine Verkehrsampel, damit die Wildschweine nicht mit den Feldmäusen zusammenstoßen!“ spottete dieser trocken. Er riß Klaus vorwärts: „Los, rauf auf den Abhang! Wollen sehen, ob die Zeichen von drüben beantwortet werden.“ Keuchend hasteten die Grenzer den steilen glatten Hang hinauf. Ganze Schneewolken rissen sie von den
herabhängenden Zweigen. Kalt rutschte ihnen die weiße Masse in den Kragen. Immer wieder stürzten sie. Unter dem frischen Neuschnee verbargen sich heimtückische Wurzeln und große Steine. Als sie endlich auf der Höhe standen, war das Licht hinter ihnen verschwunden. Doch jenseits der Grenze… ,,Da! Das amerikanische Gehöft antwortet!“ Tatsächlich, aus einem Fenster der Giebelwand wurden, wohl mit einer starken Taschenlampe, die Blinksignale erwidert. „Verdammt! Ich kenne das Morsealphabet nicht“, stieß Unteroffizier Paetzkow erregt hervor. „Können Sie diese Illumination entziffern, Brandner?“ „Nein“, gab Klaus ärgerlich zu. Paetzkow sah sich noch einmal um. „Nichts zu machen. Hinter uns hat man sich beruhigt. Kommen Sie, Brandner, wir laufen rüber zum Posten Zwei. Vielleicht hat man dort eine auffällige Bewegung beim Ami entdeckt.“ Die beiden Grenzer waren keine hundert Meter mehr entfernt von dem Erdloch, in dem Klaus während der vergangenen Nacht auf Posten gelegen hatte. Vorsichtig näherten sie sich bis auf zwanzig Meter diesem getarnten Posten, da dröhnte von dort ein Schuß durch das enge Tal. Der Widerhall rollte im dreifachen Echo zwischen den bewaldeten Hängen hin und her. In gebückter Haltung hetzten Paetzkow und Brandner die letzten Meter auf das Erdloch zu. „Halt, Grenzpolizei! Parole?“ Der Ruf sprang sie fast körperlich an. Die Kameraden vom Beobachtungsstand waren auf dem Posten.
„Ostrowski“, rief Paetzkow atemlos und warf sich neben dem sorgsam mit Schnee bestreuten Tarngestrüpp zu Boden. Gleich darauf ließ sich Klaus neben ihn fallen. Aus dem Erdloch klang eine Stimme: „Genosse Unteroffizier?“ „Ja, ich bin’s und Soldat Brandner. Haben Sie geschossen?“ „Ja“, kam es unter den Tarnzweigen hervor. „Drei Mann sind aus dem Garten des Gehöftes heraus und direkt über die Grenze gelaufen. Ganz offen! Ich habe einen in die Hand getroffen. Darauf liefen sie zurück.“ „Konnten Sie das so deutlich erkennen?“ „Die dunklen Gestalten hoben sich gut vom Schnee ab.“ „Ja so, verstehe.“ Unteroffizier Paetzkow spähte hinunter zu dem Gebäudekomplex. Jetzt war dort alles still. Auch in dem Fenster war es wieder dunkel geworden. Was sollte das ganze Theater bedeuten? Er hielt wieder sein Gesicht an das Erdloch: „Sie sagten; die Leute sind ganz offen herübergelaufen?“ „Bestimmt, genau so, als ob sie gesehen werden wollten.“ Aufgeregt stieß Klaus den Unteroffizier mit den Ellenbogen an: „Ein Täuschungsmanöver, Genosse Unteroffizier. Mir ging es vor ein paar Tagen ähnlich. Da will bestimmt jemand an einer anderen Stelle herüberkommen.“ „Oder hinüber auf die andere Seite“, antwortete Paetzkow. „Sie vergessen die Blinkzeichen in unserem Rücken, Brandner! Passen Sie auf, ich hab’ das bestimmte Gefühl, die Flucht hängt mit der Sache in der
Zichauer Mühle zusammen.“ Er wandte sich wieder den beiden Männern im Erdloch zu: „Beobachten Sie weiterhin das Gehöft! Wir werden dem Kerl den Weg abschneiden, wenn er es wirklich hier versuchen sollte, über die Grenze zu kommen. Die Blinkerei deutet darauf hin.“ In diesem Augenblick zerriß ein harter Schlag die Stille, dem ein lautes Zischen folgte. Etwa sechzig Meter hinter ihnen stieg eine grüne Leuchtkugel pfeilgerade nach oben und übergoß die Landschaft mit ihrem ungewöhnlichen Licht. „Er kommt“, rief Klaus. „Find’ ich nett von ihm. Nun wissen wir wenigstens, woran wir sind“, spottete Paetzkow grimmig. „Sehen Sie, dort rennt der Strolch.“ Erbarmungslos gab der blaßgrüne Schein der Leuchtkugel den hastenden Mann den Augen der Grenzpolizisten preis. Er rannte etwa achtzig Meter rechts von dem Beobachtungsstand der Grenze zu. „Wir verlegen ihm den Weg, Brandner! Vorwärts!“ Jetzt sahen sie, daß hinter dem Flüchtenden noch jemand kommen mußte, wahrscheinlich Verfolger, denn immer wieder warf der Mann den Kopf zurück, um nach hinten zu spähen. Dann sprang er weiter der Grenze zu. Für Paetzkow und Klaus Brandner war es nicht schwer, den Punkt zu erreichen, an dem der Flüchtende vorüber mußte. Im Nu waren sie dort und warfen sich hinter eine junge Fichte, nun mit dem Rücken zur Grenze. Klaus erkannte rasch die Zusammenhänge. Der Mann
wurde verfolgt, hatte aber vorher durch Blinkzeichen seine Kumpane im jenseitigen Gehöft verständigt, sie sollten durch eine Provokation etwaige Streifen auf sich lenken, damit er weiter rechts ungefährdet die Grenze erreichen und sie überqueren könnte. Denkste, triumphierte Klaus innerlich. Einmal sind wir reingefallen, das reicht zum Klügerwerden. Paetzkow duckte sich zum Sprung. Noch einen Augenblick, dann hörten sie das heftige Atmen des Mannes. Entschlossen sprang der Unteroffizier auf: „Hände hoch! Stehenbleiben!“ Klaus schlüpfte um die Fichte herum und lief von der anderen Seite auf den Fremden zu. Den Bruchteil einer Sekunde starrte dieser Paetzkow an, schnellte plötzlich nach links und – und prallte gegen Klaus. Sofort wälzten sich beide am Boden. Bei dem jähen Zusammenprall war Klaus Brandners Karabiner seinen Händen entglitten. Der Mann drückte ihn mit seinem Körper in den nassen Schnee und zerrte eine Pistole aus der Brusttasche, die gleich darauf in hohem Bogen durch die Luft flog. Paetzkow war hinzugesprungen und hatte dem Mann mit dem derben Skischuh gegen die Hand getreten. Dann riß er ihm die Arme auf den Rücken und zerrte ihn in die Knie. Von neuem knirschten eilige Schritte im Schnee. Klaus riß das Gewehr an sich und entsicherte. Vor ihm tauchten Gestalten auf. „Halt, Grenzpolizei! Parole?“ „Ostrowski!“ Leutnant Brehm stürmte mit seinen beiden Begleitern heran: „Habt ihr ihn? Donnerwetter, gut gemacht! Ja,
das ist unser vierter Mann.“ Walter Eisen blickte freudig zu Klaus. Unteroffizier Paetzkow stieß den Gefangenen zum Leutnant hinüber: „Genosse Leutnant, ich melde eine Festnahme nach kurzer Gegenwehr. Der Verhaftete wurde entwaffnet. Sonst keine besonderen Vorkommnisse.“ „So, weiter keine“, lachte Leutnant Brehm. „Na, ich danke! Das Vorgefallene reicht für heute nacht. Und den letzten Strolch dieser häßlichen Komödie, den haben wir ja nun auch, scheint mir.“ Er warf einen schnellen Blick auf den gefaßten Banditen und reichte Paetzkow und Klaus die Hand: „Sie haben gute Arbeit geleistet, Genossen. Weiter so, dann ist die Republik in guter Obhut.“ Er wandte sich um: „Gehen wir!“ Walter ging neben Klaus. Er mußte Klaus etwas sagen – jetzt mußte er es. Er dachte an die FDJ-Versammlung. – Ja, Klaus war sein Freund! „Klaus, das war ein Lob von Leutnant Brehm. Ich bin stolz auf dich“, flüsterte er. Klaus drückte ihm die Hand. „Auch du hast deinen Mann gestanden“, entgegnete er leise. Als sie schon ein Stück zurückgegangen waren, den Festgenommenen in der Mitte, leuchteten vom jenseitigen Gehöft wieder die Blinkzeichen auf. Klaus machte den Leutnant darauf aufmerksam: „Die da drüben denken wahrscheinlich, der Bursche läuft immer noch frei herum und warten auf ein Antwortzeichen.“ „Lassen Sie den Kerlen ihr Vergnügen. Sie werden bei uns kein Echo mehr finden.“