Bleib doch bis zum neuen Jahr Lindsay Armstrong
Julia Weihnachten
1/2 1998
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Bleib doch bis zum neuen Jahr Lindsay Armstrong
Julia Weihnachten
1/2 1998
gescannt von suzi_kay korrigiert von Dodoree
l. KAPITEL
"Merryn, es sind nur noch drei Wochen bis Weihnachten!" bemerkte Sonia Grey. Sie war selbst erstaunt, wie schnell die Zeit verging. Merryn Millar lächelte ironisch. "Du kannst wohl Gedanken lesen - genau das habe ich auch gerade gedacht." Sie saßen auf der hinteren Veranda des Hauses, von wo aus man einen herrlichen Blick über den Brisbane River hatte. Das Haus lag auf der Anhöhe von Hamilton Hill. Es war Merryns Zuhause, obwohl sie mit den Greys nicht blutsverwandt war. Im Alter von vier Jahren hatte sie ihre Eltern durch einen tragischen Verkehrsunfall verloren. Tom Grey, Sonias Mann, der vor einem Jahr gestorben war, war der beste Freund ihres Vaters gewesen. Sonia und er hatten die kleine Waise adoptiert und sie großgezogen, als wäre sie ihr eigenes Kind. Deshalb war Merryn jetzt auch hier, sie war ihrer Adoptivmutter einiges schuldig.
"Merryn", setzte Sonia ernst an. Sie war eine elegante Dame in den Sechzigern. Eine erst kürzlich überstandene komplizierte Hüftoperation hatte sie allerdings etwas aus der Bahn geworfen. "Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir für all das bin, aber ..." "Liebes", unterbrach Merryn sie geduldig. "Darüber haben wir doch nun wirklich schon oft genug gesprochen. Auch wenn du es nicht glauben willst, ich bin sehr froh, hier bei dir zu sein." "Aber du könntest statt dessen in der Weltgeschichte herumfliegen. Ja, womöglich wäre dir sogar ein schönes, verschneites Weihnachtsfest vergönnt." "Fliegen ist längst nicht so sensationell, wie die Leute immer denken, Sonia. Schon gar nicht für eine Stewardess. Nein, ich genieße lieber meinen wohlverdienten Urlaub hier bei dir." "Du siehst jedenfalls großartig aus, und ich freue mich sehr, dich in meiner Nähe zu haben. Aber wird es deiner Karriere nicht schaden, dass du sechs Wochen Urlaub genommen hast, um dich um mich zu kümmern? Ich wäre sicher auch mit Rox' und Michelles Hilfe ganz gut zurecht gekommen. "
Merryn runzelte die Stirn, als sie an Sonias leibliche Töchter Roxanne und Michelle dachte. Beide waren verheiratet. Langsam schüttelte sie den Kopf. "Das kann ich mir nicht so recht vorstellen." Dann verdrehte sie in gespieltem Ärger die Augen und fügte hinzu: "Willst du jetzt endlich aufhören, herumzulamentieren? Ich langweile mich nicht und sehne mich auch nicht danach, in der Gegend herumzufliegen. Im Gegenteil, ich bin vollauf zufrieden. Und außerdem steht Weihnachten vor der Tür. Du möchtest doch sicher die ganze Familie um dich herum versammeln?" "Natürlich. Das halten wir doch schließlich immer so. Wir haben ja auch genug Platz hier, nicht wahr?" Das kann man wohl sagen, dachte Merryn. Das zweistöckige Haus lag inmitten eines großen Gartens mit vielen Bäumen. Es gab einen Swimmingpool und einen Tennisplatz. Und die Lage auf dem Hügel über dem Fluss bot nicht nur eine phantastische Aussicht über Moreton Bay, sondern sorgte auch stets für eine frische Brise in dem hier herrschenden feuchtheißen Klima. Für Sonia allein war das Anwesen wirklich zu groß, aber Merryn wusste, wie
schrecklich es für ihre Adoptivmutter wäre, diesen Ort zu verlassen, an dem sie so viele glückliche Jahre mit ihrem Mann verbracht hatte. Außerdem hatte Tom Grey das Haus seinem Sohn Brendan vermacht, doch der hatte anscheinend nicht die Absicht, seine Besitzansprüche anzumelden ... "Ich habe überlegt, ob wir in diesem Jahr statt eines Festessens nicht lieber eine Art kaltes Büffet ausrichten sollten", erklärte Merryn ein wenig abrupt. Sonia lachte. "Meine Liebe, das habe ich euch auch schon so manches Mal angedroht." Sie hielt unvermittelt inne und seufzte. "Aber ..." "Ich weiß, du hast dich immer an das traditionelle Festmenü gehalten, mit Truthahn, Schinken und allen Beilagen. Aber was ist eigentlich auszusetzen an kaltem Braten und Salat, Meeresfrüchten, Eiscreme und Fruchtsalat? Das würde es für alle leichter machen. Die Feiertage an sich sind schon anstrengend genug." "Besonders jetzt, da ich immer noch an meinen Gehwagen gefesselt bin. Außerdem ist es wirklich viel zu heiß für ein traditionelles Festessen. Aber was ist mit der
Weihnachtstorte? Sollen wir darauf etwa auch verzichten? Das möchtest du doch sicher nicht. Ich habe da nämlich einen herrlichen Früchtekuchen in der Tiefkühltruhe, und ..." Merryn lächelte amüsiert und griff nach Notizblock und Kugelschreiber. "Natürlich gibt es eine Weihnachtstorte. Ich fange lieber schon an, eine Liste aufzustellen. Lass mich rechnen: Wir sind zwei, vier, sechs Erwachsene und sieben Kinder." Sonia zählte ihre vielköpfige Familie an den Fingern ab. "Rox und David, du und ich, Michelle und Ray, Damien und Dougal..." Sie hielt lächelnd inne, als sie an Michelles zehnjährige Zwillinge dachte - zwei richtige Banditen. "Dann Mandy und Alison, Sophie und Dix und Miranda - es wird ihr erstes Weihnachtsfest!" Traurig fügte sie hinzu: "Wenn doch Brendan bloß auch kommen könnte." "Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit?" hörte Merryn sich fragen. "Das hat er wenigstens behauptet. Wenn ich geahnt hätte, dass man als Bauingenieur derart beschäftigt ist, hätte ich ihm dieses Studium niemals gestattet."
"Aber das war immer sein großer Traum", verteidigte Merryn den jungen Mann, der immer wie ein Bruder zu ihr gewesen war. "Ich weiß", erklärte Sonia düster. "Aber in den letzten drei Jahren habe ich ihn nur viermal zu Gesicht bekommen, zuletzt bei der Beerdigung seines Vaters. Wie oft hast du ihn gesehen, Merryn? Du konntest ja leider nicht an der Beerdigung teilnehmen. Merryn seufzte bedrückt. Damals war sie gerade am anderen Ende der Welt gewesen und hatte es nicht geschafft, rechtzeitig zurückzukommen. "Ich glaube, es ist jetzt schon fast drei Jahre her, seit ich Brendan das letzte Mal gesehen habe." "Wie bedauerlich. Ich bete zu Gott, dass das Haus seiner Vorfahren noch einmal widerhallt vom Getrappel kleiner Kinderfüße. Von Brendans Kindern ..." "Hab nur Geduld, das kommt schon noch", tröstete Merryn ihre Adoptivmutter. "So, haben wir niemanden vergessen?" wechselte sie das Thema. "Wir brauchen mindestens vier Kilo Garnelen", murmelte sie und machte sich rasch ein paar Notizen. "Weißt du, ich habe mir überlegt, ob wir nicht auch Rays Bruder Steve einladen sollten. Ich
glaube, er ist ein sehr netter junger Mann. Michelle hält jedenfalls große Stücke auf ihren Schwager, und du magst ihn doch auch, nicht?" erkundigte sich Sonia beiläufig. Merryn verzog unmerklich das Gesicht - nicht etwa, weil sie Rox' Schwager nicht mochte, sondern weil sie sehr wohl wusste, dass Sonia sie ganz gern verkuppeln wollte. Vermutlich hatte Steve mal durchblicken lassen, dass er an ihr, Merryn, interessiert war. Doch sie war entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. "Okay, wir sind also sieben Erwachsene und ..." "Machen wir doch acht daraus, das ist eine schöne runde Zahl", erklang eine männliche Stimme hinter ihnen. Der Sprecher hatte bereits mehrere Minuten unbemerkt im Hintergrund gestanden und die friedliche Szene auf der Veranda über dem blühenden Garten mit den prächtigen Mangobäumen studiert. Seine besondere Aufmerksamkeit hatte dabei der jungen Frau an der Seite seiner Mutter gegolten, die sich so eifrig Notizen machte. Sie sah wunderschön aus in ihrem maisgelben Kleid, zu dem ihr dunkles Haar, das ihr wie ein seidiger Vorhang bis auf
die Schultern fiel, einen reizvollen Kontrast bildete. Er sah nur ihr Profil, aber er kannte ihre Gesichtszüge gut. Sie hatte sich kaum verändert, war lediglich reifer geworden, und ihre zierliche Gestalt wirkte fraulicher als vor drei Jahren, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Er fragte sich, inwiefern sie sich wohl noch verändert hatte. Nun, ihre grauen Augen wurden sicher noch immer von diesem dichten Kranz langer dunkler Wimpern umrahmt, und auch ihr energisches kleines Kinn würde immer noch dasselbe sein. Jetzt wandten sich die beiden Frauen erschrocken zu ihm um, dem hoch gewachsenen, kräftigen Mann mit dem dichten hellbraunen Haar und den spöttischen haselnussbraunen Augen. Brendan Grey. Der Mann, der für Merryn immer wie ein großer Bruder gewesen war, solange sie denken konnte ... "Bren!" Unsicher kam seine Mutter auf die Füße. Freudestrahlend rief sie aus: "O Bren! Bist du doch noch zu Weihnachten nach Hause gekommen?"
Brendan eilte an die Seite seiner Mutter und zog sie liebevoll in die Arme. "Ich fürchte ja", erwiderte er lachend. "Meinst du, dass du es die ganze Zeit mit mir aushalten kannst?" "O Bren", brachte Sonia mit tränenerstickter Stimme heraus. "Du weißt doch genau, wie viel mir dein Besuch bedeutet!" Sie vergrub das Gesicht an seiner breiten Brust. Über den Kopf seiner Mutter hinweg richtete er den Blick auf Merryn. "Alle Achtung, du bist erwachsen geworden!" Erwachsen geworden, wiederholte Merryn später in Gedanken, als sie das Abendessen zubereitete. Ich bin immerhin vierundzwanzig. Wie schafft Bren es nur immer wieder, mir das Gefühl zu geben, dass ich in seinen Augen immer noch eine schlaksige Göre bin? Ein Altersunterschied von neun Jahren spielt doch sicher kaum noch eine Rolle, wenn man älter wird, oder? Merryn nahm drei saftige Steaks aus dem Kühlschrank und versuchte sich auf das Dinner zu konzentrieren: die gebackenen Kartoffeln mit Sour Cream und Schnittlauch, das Ratatouille, das sie zu den Steaks servieren wollte, und die Bananencreme zum Dessert.
Brendan und seine Mutter saßen unterdessen in der Diele und genossen einen kühlen Aperitif. Eine Wiedersehensparty im großen Familienkreis hatte er lachend abgelehnt, einen Jetlag vorschützend. Außerdem brauchte er einen klaren Kopf, um der Armee seiner Nichten und Neffen gegenüberzutreten. "Lasst uns den Abend doch einfach ganz gemütlich zu dritt verbringen", hatte er gebeten, und seine Mutter hatte dieser Bitte nur zu gern nachgegeben. Mit einem Anflug von Bitterkeit überlegte Merryn, ob die beiden wohl lieber allein wären. Aber nein, das war ungerecht. Sonia hatte sie immer wie ihre leibliche Tochter behandelt. Also verscheuchte Merryn diesen unbequemen Gedanken und machte sich daran, den Tisch auf der Veranda zu decken. Sie entzündete eine dicke Kerze in einem Windlicht und platzierte eine Flasche Champagner in einem versilberten Flaschenkühler auf dem Tisch. Auch an die besten Sektgläser hatte sie gedacht. Zum Schluss trat sie prüfend einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Als sie zufrieden war, klingelte sie schließlich seufzend mit dem zarten Kristallglöckchen.
Zu ihrem größten Kummer stellte Sonia fest, dass ihr die ganze Aufregung den Appetit geraubt hatte. Sie fühlte sich so schwach, dass sie schon früh ins Bett gehen musste. Natürlich wollte sie ihre Schwäche nicht zugeben und protestierte. Nein, es gehe ihr phantastisch. Doch als Merryn sie in ihr Schlafzimmer begleitete, war Sonia deutlich die Erschöpfung anzusehen. Außerdem schien sie Schmerzen zu haben. "Wie geht es ihr? Sag mir bitte die Wahrheit", erklärte Brendan abrupt, als Merryn zurückkam und den Kaffee auf der Veranda servierte. "Sie ist auf dem Wege der Besserung. Aber es braucht seine Zeit", beruhigte Merryn ihn, während sie den Kaffee einschenkte. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen, aber es war noch immer heiß und windstill, so dass die Kerze ruhig herunterbrannte und ihr bleicher Rauch in die Dunkelheit aufstieg. "Es ist sehr lieb von dir, dass du dich so um Mom kümmerst, Merryn." Sie setzte sich und blickte ihm forschend in die Augen. "Ach, übertreib nicht. Das ist doch das mindeste, nach allem, was sie für mich getan hat."
"Trotzdem", setzte er an und zuckte mit den Achseln. "Ich fühle mich irgendwie schuldig." "Warum? Falls du Bedenken hast, weil ich eigentlich nicht wirklich zur Familie gehöre, dann gibst du mir das Gefühl, mich auszugrenzen." Seine Lippen zuckten. "Merryn, das ist wirklich das letzte, was ich dir vermitteln wollte. Habe ich dich etwa je wie einen Außenseiter behandelt?" "Nein", erwiderte sie aufrichtig. "Du hast mich immer wie deine kleine Schwester behandelt. Stimmt's?" Sie fragte sich, ob er die versteckte Anspielung, die in ihren Worten lag, wohl begriffen hatte. "Nun, ich habe dir deine kaputten Fahrradreifen geflickt, dir Schwimmen und Tennisspielen beigebracht und dich beschützt, wenn Rox und Michelle dich gehänselt haben", entgegnete er trocken. "Apropos, wie geht es meinen lieben Schwestern eigentlich? Sag mir ruhig die Wahrheit." Merryn konnte den Anflug von Belustigung nicht unterdrücken, den diese Frage in ihr weckte. "Tja, Michelle hat sich zu einer regelrechten Matrone entwickelt, aber das
passiert wahrscheinlich zwangsläufig bei vier Kindern. Andererseits ist Rox immer noch dieselbe wilde Hummel wie früher, trotz ihrer drei Sprösslinge. Ja, und die beiden streiten sich immer noch." Brendan Grey lächelte jungenhaft. "Vermutlich werden sich Rox und Michelle bis an ihr Lebensende in den Haaren liegen. Aber jetzt erzähl mir von dir, Merryn. Wie kommt es, dass du plötzlich so erwachsen aussiehst?" Diese Bemerkung versetzte ihr einen Stich, doch sie ließ sich nichts anmerken. "Nun, ich fliege jetzt bereits seit drei Jahren - und in den letzten achtzehn Monaten immer nach Übersee." "Das hat dich also so verändert", murmelte er, während er sie aufmerksam musterte. "Hat dir denn niemand davon erzählt?" "Doch, jetzt fällt es mir wieder ein, bei meinem letzten Besuch habe ich davon gehört. Vermutlich konnte ich es mir bloß nicht richtig vorstellen. Ich nehme an, dass sich in deinem Leben auch sonst noch einiges getan hat?" "Zum Beispiel?" "Ich muss gerade an deinen Abschlussball denken."
Merryn spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, und sie war froh über das schummrige Licht hier draußen. Damals mit siebzehneinhalb, hübsch ausstaffiert mit einem neuen Kleid, hatten die Nerven sie im Stich gelassen. Und das ausgerechnet am Abend ihres Abschlussballs. Eine heftige Attacke unüberwindlicher Schüchternheit hatte sie überkommen, und sie hatte sich in ihrem Zimmer verkrochen. Es war Brendan gewesen, der sie aus ihrem Schneckenhaus gelockt hatte. Brendan, der ihr mit seinen sechsundzwanzig Jahren Lichtjahre voraus an Erfahrung war. Er hatte sich die Zeit genommen, sie aufzubauen, hatte ihr versichert, wie umwerfend sie in ihrem neuen Kleid aussah und dass die Jungen sich bestimmt um sie prügeln würden. Brendan war es schließlich zu verdanken, dass sie doch noch zum Ball ging. Merryn zwang sich zu einem Lächeln. "Über solche Anwandlungen bin ich glücklicherweise längst hinweg." "Soll das heißen, dass es jetzt jede Menge Männer in deinem Leben gibt?" "Einige." "Irgendwas Ernstes?"
Seine Worte klangen beiläufig, wie die Frage eines Onkels an seine Nichte. "Nun, vielleicht", hörte Merryn sich schärfer als beabsichtigt antworten, was absolut nicht der Wahrheit entsprach. "Aber wie steht's mit dir? Deine Mutter erwähnte gerade heute ..." "Ich hab's gehört", unterbrach er sie reumütig. "Etwas über das Getrappel kleiner Füße in diesen altehrwürdigen Hallen. Ich muss sie enttäuschen, ich habe nicht die Absicht, eine Familie zu gründen." "Warum nicht?" Es war eigentlich eine dumme Frage, das war Merryn bewusst, aber sie wollte die Antwort darauf wirklich gern wissen. "Weil es keine Frau gibt, die ich heiraten würde", entgegnete er bissig. Merryn dachte an die Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, bevor er nach Übersee gegangen war. Immer schön oder zumindest aufregend, meist beides. Verwundert schüttelte sie den Kopf. Er hob fragend die Brauen. "Ist das so schwer zu begreifen?" "Nein, natürlich nicht", beeilte sie sich zu versichern. "Aber für deine Mutter ist es das vermutlich schon."
Er streckte die Beine aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. "Das ist auch der Grund, warum ich mich irgendwie schuldig fühle. Besonders, wenn ich an ihren Gesundheitszustand denke. Abgesehen von vielen anderen Dingen ist es nicht leicht, eine Frau zu überzeugen, meinen derzeitigen Lebensstil zu teilen. Sie hätte nur zwei Möglichkeiten: Entweder irgendwo am Ende der Welt zu leben oder hier in Brisbane, aber für lange Perioden allein." "Beabsichtigst du etwa, dein ganzes Leben so zu verbringen?" erkundigte sie sich stirnrunzelnd. Er starrte einige Sekunden ins Leere, bevor er lächelnd erwiderte: "Sicher nicht." Brendan stand abrupt auf. "Ich helfe dir mit dem Geschirr. Und dann würde ich gern dem Beispiel meiner Mutter folgen und früh ins Bett gehen, falls du nichts dagegen hast. Ich bin seit Tagen unterwegs." Wieder streckte er sich. "Ich kann einfach nicht mehr sitzen." Merryn stand ebenfalls auf und stellte die Tassen zusammen. "Mach dir keine Sorgen um das Geschirr", erklärte sie prosaisch. "Den Abwasch scharfe ich schon allein."
Brendan kam um den Tisch herum und umfasste zart Merryns Kinn. "Du warst schon immer ein süßer Fratz, Miss Merryn." So hatte er sie immer genannt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Er gab ihr einen leichten Kuss auf die Lippen. "Aber von morgen an werde ich mich bemühen, dir über die Feiertage wenigstens die Last meiner Schwestern und deren Nachkommen abzunehmen." Damit wandte er sich um und verschwand im Haus. Merryn berührte mit den Fingern zaghaft ihre Lippen und ließ das Geschirr stehen, um einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie setzte sich auf die alte Schaukel unter den Mangobäumen und schloss versonnen die Augen. Warum war Brendan nach Hause gekommen? Warum hatte er erst schriftlich angekündigt, dass er es unmöglich schaffen könne und war dann doch aus heiterem Himmel hier aufgetaucht? Und warum hatte er sich so gar nicht verändert? Nein, verbesserte sie sich. Warum habe ich mich nicht verändert? Wie kann man sich mit fünfzehn Jahren in einen Mann verlieben und dabei bleiben? Seufzend verwarf sie diesen
Gedanken wieder. Doch, natürlich hatte sie sich verändert. Sie hatte sich von dem scheuen Teenager, der sie gewesen war, zu einer selbstbewussten jungen Frau entwickelt. Nur diese geheime Sehnsucht nach dem einen, unerreichbaren Mann in ihrem Leben war dieselbe geblieben. Sie liebte und akzeptierte ihn mit allen Facetten seiner Persönlichkeit - seine Brillanz und Unbeschwertheit ebenso wie seine manchmal fast schwermütigen Stimmungen. Auch seine oft harsche Ungeduld mit anderen Menschen kannte sie zur Genüge. Und seine Dickköpfigkeit, die einen schweren Konflikt mit seinem Vater heraufbeschworen hatte, der aus einer Anwaltsfamilie stammte und sich sehnlichst gewünscht hatte, dass sein Sohn eines Tages in seine Fußstapfen treten würde. Doch das Jurastudium hatte Brendan nicht besonders fasziniert. Er interessierte sich für handfestere Dinge wie Straßen, Dämme, Brücken, und er entwickelte eine ausgesprochene Begabung für Physik und Mathematik. Für ihn gab es nur einen Berufswunsch: Er wollte Bauingenieur werden. Er hatte sich nicht nur gegen die Missbilligung
seiner Familie durchgesetzt, er hatte sich auch beruflich durchgekämpft, bis er schließlich Herr über eine eigene Firma in Übersee war. Bald genoss seine Firma einen weltweiten Ruf - das war auch der Grund, warum er sich meist in Übersee aufhielt, an Orten, die wenig verlockend waren für eine potentielle Ehekandidatin. Ich hätte nie geglaubt dass meine Gefühle für Brendan so lange anhalten würden, überlegte Merryn in einem Anflug von Melancholie. Ich hatte gehofft, eines Tages über ihn hinweg zu sein ... War es deshalb so ein Schock für mich, als er mir heute verkündete, ich sei erwachsen geworden, aber in einer Art, die vermuten ließ, dass ich nie erwachsen genug für ihn sein würde? Ebenso war es ein Schock für sie gewesen, dass er offenbar immer noch keine Lust verspürte, seine tiefsten Gedanken mit ihr zu teilen. Und dann erst dieses Verlangen, von ihm in die Arme genommen und geküsst zu werden ... Ja, überlegte sie erschauernd, du hast recht, Bren. Ich bin erwachsen geworden, und du hast nicht die leiseste Ahnung, wie erwachsen! Warum
bist du bloß nach Hause gekommen? Wie soll ich damit nur umgehen? Als Brendan am nächsten Morgen die Augen aufschlug, wusste er im ersten Moment nicht, wo er war. Dann registrierte er die vertraute Umgebung seines alten Zimmers. Das strahlende Sonnenlicht und die schwüle Luft waren so typisch für einen Hochsommer in Brisbane. Er war zu Hause. Brendan drehte sich auf die andere Seite und vergrub das Gesicht in seinem Kissen. Was die Geschäfte betraf, sollte er eigentlich gar nicht hier sein. Eigentlich hätte er sich bloß eine kurze Stippvisite hierher erlauben dürfen, um nach seiner Mutter zu sehen. Statt dessen hatte er ausgerechnet jetzt, mitten in den Verhandlungen für einen vertrackten Vertragsabschluß, einen Monat frei genommen. Und warum das? Diese Frage konnte er sich selbst nicht beantworten. Er hörte, wie draußen im Garten jemand in den Swimmingpool sprang. Als ihm bewusst wurde, dass er jetzt unmöglich noch einmal einschlafen könnte, stöhnte er kurz auf. Er rollte zurück auf den Rücken und verschränkte die Hände hinter
dem Kopf. Merryn. Das konnte nur Merryn sein, die da draußen in aller Herrgottsfrühe ihre Bahnen zog. Merryn, die eine schier unglaubliche Metamorphose durchlaufen hatte. Sie war nicht mehr der schüchterne Teenager mit Zahnspangen, Rattenschwänzen und schlaksigen Armen und Beinen. Sie war jetzt eine selbstbewusste und begehrenswerte junge Frau. Wie hatte sie sich so verändern können? Nein, das stimmt nicht ganz, berichtigte er sich sofort. Ihre großen grauen Augen hatten schon immer Intelligenz ausgestrahlt. Auch ihre Fähigkeit zu schweigen und ihre innere Stärke waren schon immer charakteristisch für sie gewesen. Auch früher schon musste sie einiges von der Persönlichkeit an sich gehabt haben, die sie jetzt darstellte. Warum war ihm das bloß entgangen? Er stand auf, ging zum Fenster und beobachtete die junge Frau, der er damals das Schwimmen beigebracht hatte und die jetzt dort unten ihre Bahnen zog. Hastig wandte er sich ab und holte seine Badehose aus dem noch nicht ausgepackten Koffer.
Merryn zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich Wasser aufspritzte und ein vertrauter kastanienbrauner Haarschopf neben ihr auftauchte. "Oh, du bist es! Ich dachte, du schläfst noch." "Ja, ich bin es. Du gehörtest schon immer zu den Frühaufstehern, nicht wahr?" "Willst du mir etwa vorwerfen, dass ich nicht bis spät in den Morgen schlafen kann?" "Ich habe dich gehört." Er musste lächeln, als er den indignierten Ausdruck in ihren Augen sah, Augen, die umrahmt waren von langen, dunklen Wimpern. "Ehrlich gesagt war ich schon wach, als ich dich in den Pool hüpfen hörte. Tja, und die Vorstellung eines erfrischenden Bads an so einem heißen Morgen war einfach unwiderstehlich." "Oh. Und ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass ich dich womöglich gestört haben könnte." "Und du bist ein bisschen sauer auf mich." "Warum sollte ich?" "Das weiß ich auch nicht, aber ich habe das Gefühl, dich irgendwie verärgert zu haben, Miss Merryn. Wenn ich bloß wüsste, wodurch." "Das ist doch lächerlich." Geschmeidig zog sie sich am Beckenrand hoch. "Du bist doch gerade
erst angekommen, und ich habe dich seit drei Jahren nicht mehr gesehen." Merryn griff nach ihrem flauschigen pinkfarbenen Handtuch. Brendan blieb, wo er war, und betrachtete bewundernd die braungebrannte, schlanke Gestalt in dem knappen schwarzen Bikini, bevor sie sich in das Handtuch hüllte. "Du bist also nicht sauer?" fragte er, während er sich ebenfalls aus dem Wasser zog. "Nein." Merryn ermahnte sich innerlich, ja nichts von ihren wahren Gefühlen preiszugeben. Sie frottierte sich die Haare und fuhr ordnend mit den Fingern hindurch. "Warum sollte ich?" "Vielleicht, weil du der Meinung bist, dass ich mich nicht genug um Mom kümmere?" Merryn seufzte erleichtert auf. "Das wäre im Augenblick sicher nicht angebracht, denn sie ist ganz aus dem Häuschen vor lauter Freude. Aber ich habe auch früher nicht so gedacht." Zu spät registrierte sie die Falle, in die sie getappt war. Sie stand auf und setzte sich auf eine Gartenbank. "Dann ist es etwas anderes", verkündete Brendan wie aus der Pistole geschossen. "Bren", schluckte sie. "Es ist nichts. Du bildest dir nur etwas ein. Oder vielleicht ist es die
Überraschung - du bist ja plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht." Er setzte sich neben sie. "Bist du sicher? Ich wünsche mir wirklich keine unterschwellige Missstimmung zwischen uns, Miss Merryn." Er nahm ihre Hand und betrachtete die sorgfältig manikürten Nägel und die schlanken Finger. Sie trug keinen Ring, wie er zu seiner Erleichterung feststellte. "Ganz sicher." "Und jetzt erzähl mir von diesem ganz besonderen Mann in deinem Leben." Sie versteifte sich. "Nun, noch ist es nicht soweit, aber er könnte es vielleicht werden", hörte sie sich sagen. "Er - nun, er ist Michelles Schwager, Rays Bruder Steve. Erinnerst du dich noch an ihn? Er war auch auf der Beerdigung deines Vaters." Brendan runzelte die Stirn. "Der Medizinstudent?" fragte er dann. "Er famuliert zur Zeit." "Ach ja?" Seine Worte klangen seltsam tonlos, und plötzlich fiel Merryn ein, dass Brendan Michelles Mann nicht besonders leiden konnte, genauso wenig, wie sie selbst. Er war Rechtsanwalt und hatte Brendans Platz in der
Greyschen Firma eingenommen, eine Position,
die sowohl ihm als auch seiner Frau erheblich
zu Kopf gestiegen war.
"Er ist ganz anders als Ray", beeilte sie sich zu
versichern.
"Das hoffe ich doch. Hoffentlich nicht noch so
eine arrogante Intelligenzbestie."
"Ich halte ihn nicht unbedingt für ein Ass, aber
du hast recht", lachte sie. "Ein wenig eingebildet
ist er schon."
"Das muss wohl in der Familie liegen."
"Ach, komm ..."
"Wie steht Michelle dazu?"
Ja, was würde Michelle dazu sagen, wenn sie
wüsste, dass Merryn das Interesse erwiderte, das
ihr Schwager Merryn entgegenbrachte? "Nun,
warum sollte sie etwas dagegen haben?"
"Woher soll ich das wissen? Vielleicht verrätst
du es mir?"
Sie entzog ihm ihre Hand und verzog spöttisch
die Lippen. "Sie liebt es, alles mögliche zu
organisieren."
Brendan verdrehte die Augen. "Sie hätte einen
prima Feldwebel abgegeben. Wie kommst du
mit ihr zurecht?"
"Ich ignoriere sie einfach", gestand Merryn. "Und, nebenbei gesagt, bin ich fest entschlossen, Weihnachten so zu gestalten, wie ich es mir vorstelle!" "Alles klar." "Aber findest du die Idee nicht auch gut?" fragte sie impulsiv. "Ein kaltes Büffet macht viel weniger Arbeit, und du weißt doch, wie deine Mutter ist. Ihrer Meinung nach kann keiner einen Truthahn so gut zubereiten wie sie, oder eine Walnussfüllung und so weiter. Es wäre unmöglich, sie aus der Küche fernzuhalten. Salate sind viel leichter zuzubereiten und bei dieser Hitze auch bekömmlicher. Ich kann das alles ganz allein vorbereiten. Wenn nötig sogar, bevor sie aus dem Bett ist", fügte sie lächelnd hinzu. "Das mit dem kalten Büffet ist eine ausgezeichnete Idee." Brendan betrachtete ihre glänzenden Augen und das energisch vorgereckte Kinn. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er fragte: "Und? Schläfst du mit ihm? Mit Steve?" Von einer Sekunde auf die andere zog Merryn sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück. Ihre Miene verschloss sich, und sie stand rasch auf,
wobei ihr Handtuch auseinander fiel und noch einmal den Blick auf ihren wohlproportionierten, sonnengebräunten Körper freigab. Hastig wickelte sie sich wieder in das Handtuch ein und erwiderte leise: "Das geht dich nichts an, Bren." "Nein? Wir haben uns zwar drei Jahre nicht gesehen, aber früher hast du mir immer alle wichtigen Ereignisse in deinem Leben anvertraut." "Ich bin aber nicht mehr deine kleine Schwester. Und ich bin es auch nie gewesen." Damit drehte sie sich um und ging wortlos ins Haus. Nachdenklich blickte Brendan ihr nach. Dann stand auch er auf und sprang noch einmal in den Pool.
2. KAPITEL
An diesem Abend ging Sonia erst spät zu Bett, und Merryn fühlte sich völlig erschöpft - es war ein sehr anstrengender Tag gewesen. Die ganze restliche Familie, das heißt Rox und Michelle mit ihren Kindern, jedoch ohne Männer, waren in das Greysche Anwesen eingefallen und hatten sich entzückt um Brendan geschart. Obwohl es häufig Streit gab, standen die Geschwister einander sehr nahe, was man an der äußerst herzlichen Begrüßung merkte, die Rox und Michelle ihrem Bruder angedeihen ließen. Doch diese von Wiedersehensfreude überstrahlte Stimmung konnte nur zu schnell umschlagen, und dann wäre alles wieder so wie gehabt. Natürlich wurde auch das bevorstehende Weihnachtsfest ausgiebig diskutiert, und natürlich hatten auch Rox und Michelle ihre ganz eigenen Vorstellungen davon, wie man es
am besten organisierte. Doch Merryn hatte sich nicht von ihrer Idee mit dem kalten Büffet abbringen lassen, und Brendan hatte ihr den Rücken gestärkt. Natürlich war das Ganze nicht ohne böse Worte und enttäuschte Blicke abgegangen, doch schließlich gaben sich Rox und Michelle irgendwann geschlagen. Damien und Dougal, beide mit einer Schere bewaffnet, hatten die Zeit genutzt, in der ihre Mütter abgelenkt waren, um den Kleinen Haarschnitte ganz besonderer Art zu verpassen, und der daraus entstandene Tumult mündete in einen handfesten Streit zwischen den beiden Schwestern darüber, wer die besser erzogenen Kinder hatte und die bessere Mutter sei. Merryn hatte lautlos in sich hinein gelacht. "Verflucht, ich brauche einen Drink", stöhnte Brendan, als er in die Küche kam, nachdem seine Schwestern samt Nachwuchs geschlossen abgerückt waren. "Wenn Ehe und Familienleben so sind, dann bleibe ich lieber solo." "Die Kinder sind nicht so schlimm, wenn ihre Väter dabei sind." "Das hoffe ich doch! Jetzt behaupte bloß noch, dass du nicht total ausgelaugt bist!"
"Mir geht es gleich wieder gut. Trink doch gemütlich etwas mit Sonia, während ich hier aufräume und das Abendessen zubereite." "Ich habe eine bessere Idee. Ich könnte uns doch eine Kleinigkeit aus dem Imbiss holen." " Das ist sehr nett von dir, aber mach dir keine Sorgen. Ich habe heute morgen einen Auflauf vorbereitet, den ich nur noch aufwärmen muss." "Gut überlegt", erwiderte er lächelnd. "Okay, ich bringe Mom einen Drink und setze mich ein bisschen zu ihr. Sag mal, würde es dir etwas ausmachen, wenn ich heute oben bei ihr im Zimmer esse?" "Natürlich nicht. Darüber freut sie sich bestimmt. Ich bringe euch zwei Portionen rauf." "Warum bringst du deine Portion nicht gleich mit? Es kommt nicht in Frage, dass du allein hier unten isst." "Bren", setzte sie behutsam an. "Nachdem du jetzt gekommen bist und Mom Gesellschaft leisten kannst, dachte ich, dass ich heute Abend vielleicht ausgehen könnte." Er hob fragend die Brauen. "Mit Steve?" "Nein." Sogleich ärgerte sie sich über ihre Ehrlichkeit. Hatte sie womöglich gerade eine Chance verpasst, Brendan eifersüchtig zu
machen? "Nein, heute Abend haben die Geschäfte lange geöffnet, und ich habe noch kein einziges Weihnachtsgeschenk, das ist alles." "Ich auch nicht. Aber natürlich habe ich nichts dagegen, wenn du ausgehst. Du kannst aber trotzdem erst noch mit uns essen." "Ich dachte, ich esse draußen schnell eine Kleinigkeit, um Zeit zu sparen." "Weißt du was? Warum schnappst du dir nicht deine Sachen und gehst jetzt? Du bist jetzt schon seit vierzehn Tagen in diesem Haus eingekerkert, und ich komme ganz gut allein mit dem Aufwärmen eines Auflaufs zurecht." "Tja ..." Zu ihrem größten Erstaunen beugte er sich vor und hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Stirn. "Tu, was ich dir gesagt habe, Miss Merryn raus mit dir." Drei Stunden später parkte Merryn ihren kleinen Sportwagen in der Garage und kämpfte sich schwer beladen ins Haus. Ein rascher Blick zum zweiten Stock hatte ihr gezeigt, dass Sonias Zimmer im Dunkeln lag. Aber im Wohnzimmer lief der Fernseher, und Brendan kam ihr im Flur entgegen.
"Meine liebe Merryn", neckte er sie, während er ihr die Tüten und Pakete abnahm. "Du brauchtest doch nicht alle Geschenke an einem Abend zu kaufen." Er stellte ihre Einkäufe auf den Boden, schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher aus und knipste eine der gemütlichen Stehlampen an. "Alle Geschenke? Das ist nur für die Kinder", erwiderte sie pikiert. "Es sind immerhin sieben an der Zahl, falls du das vergessen haben solltest." "Wie könnte ich? Darf ich dir etwas anbieten?" "Ich sterbe für eine Tasse Tee. Wie geht es Sonia?" "Bestens. Sie schläft schon. Der Tee kommt gleich." Als er wenige Minuten später mit der Teekanne zurückkam, fand er Merryn mitten auf dem Fußboden vor, umringt von all den schönen Sachen, die sie erstanden hatte. "Für Damien und Dougal habe ich etwas pädagogisch Wertvolles ausgesucht", erklärte sie mit einem Blick auf ein Lexikon für Kinder. "Ich weiß, dass sie gern lesen, wenn man sie nur dazu bewegen kann, endlich mal stillzusitzen. Und dieses Buch enthält unter anderem
Anweisungen, wie man ein einfaches Teleskop und ähnliche Dinge bastelt. Was hältst du davon?" "Ich denke, dass etwas mit ihnen passieren muss." Er goss den Tee in zwei exquisite Tassen aus feinstem chinesischen Porzellan. "Vielleicht eine Förderschule?" Merryn quittierte seine Bemerkung mit einem ironischen Lächeln und zeigte ihm die Geschenke für die anderen Kinder. "Und was ist damit?" Er deutete auf einen Haufen ungeöffneter Päckchen, nachdem er auch die anderen Geschenke gebührend gewürdigt hatte. "Das ist noch allerlei Kleinkram, um ihre Strümpfe zu füllen, die wir am Kaminsims aufhängen. Und da drin ist Geschenkpapier, Karten und so weiter." Sie nippte an ihrem Tee, während sie im Schneidersitz auf dem Teppich saß. Brendan setzte sich ihr gegenüber auf einen Fußschemel und sah sie fragend an. "Was ist?" murmelte sie verlegen. "Du wirkst außerordentlich zufrieden mit dir selbst."
"Es macht mir immer riesigen Spaß,
Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Besonders
für die Kinder."
"Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich
gebeten, meine Einkäufe gleich mit zu
erledigen."
"Das tu ich doch gern! Wenn du willst."
Er lachte. "Andererseits muss ich mich ja
irgendwie beschäftigen!"
Merryn musterte ihn nachdenklich. Brendan
hatte bei ihrer Rückkehr allein im Wohnzimmer
gesessen und ferngesehen. Das war eine
Beschäftigung, die so gar nicht zu ihm passte.
Unvermittelt runzelte sie die Stirn. "Wie lange
bleibst du eigentlich?"
"Einen Monat."
Ihre Augen weiteten sich. "So lange?"
"Ja, so lange. Jedenfalls habe ich meinen
Rückflug erst für nächsten Monat gebucht."
"Die Geschäfte stecken wohl in einer Flaute",
bemerkte sie nach kurzem Nachdenken.
"Nein, das tun sie beileibe nicht. Im Grunde
hätte ich nicht mehr als eine Woche frei nehmen
dürfen." Er senkte den Blick auf die Tasse in
seiner Hand.
"Und warum hast du dann einen Monat Urlaub genommen?" Er zögerte kurz, bevor er erwiderte: "Ich weiß selbst nicht recht. Irgendwie fühlte ich mich ruhelos. Andererseits hatte ich seit Jahren keinen anständigen Urlaub. Vielleicht ist das das ganze Problem." Er zuckte mit den Achseln. "Aber wie kommen deine Angestellten denn ohne dich zurecht, wenn ihr so viel zu tun habt?" erkundigte Merryn sich besorgt. "Ich habe ein Faxgerät angefordert. Dann bin ich nicht völlig aus der Welt." "Du brauchst ja nicht unbedingt den ganzen Monat hier zu verbringen. Ich meine, du könntest irgendwo hinfahren, wo du wirklich Urlaub machen kannst. Faul am Strand liegen und so weiter." "Du willst mich wohl unbedingt loswerden, was?" "Natürlich nicht", erwiderte sie kühl. "Aber ich kann mir gut vorstellen, dass es dir auf die Nerven geht, einen ganzen Monat hier festzusitzen." Er bedachte sie mit einem gedankenverlorenen Blick. Sie trug eine enge weiße Hose, eine khakifarbene Seidenbluse, und sie hatte sich die
Haare locker hochgesteckt. Und selbst nach ihrem anstrengenden, dreistündigen Einkaufsbummel brachte sie es fertig, kühle und unauffällige Eleganz auszustrahlen. Alles war perfekt an ihr: das dezente Make-up, ihre schick frisierten Haare, der tadellose Sitz ihrer Kleidung, die sorgfältig manikürten Nägel. Was für ein Leben sie jetzt wohl führen mochte? Offensichtlich hatte sie gelernt, in jeder Situation kühl und gefasst zu sein. "Dein Verehrer war vorhin hier", erklärte Brendan abrupt. "Mein was ...?" Ihre grauen Augen weiteten sich. "Steve." "Oh. Was wollte er denn?" Sobald die Worte heraus waren, zuckte sie auch schon unmerklich zusammen. "Nun, ganz offensichtlich war er nicht gekommen, um mich zu sehen", erwiderte er spöttisch. "Er hat von meiner Ankunft gehört und beschlossen, die Gelegenheit zu nutzen, um dich ins Kino auszuführen." "Er hätte zuerst anrufen sollen."
"Das habe ich ihm auch gesagt. Er hat mich gebeten, dir auszurichten, dass du ihn anrufen möchtest." Seine Augen blitzten spöttisch. Merryn fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und dachte völlig unzusammenhängend, wie ruhig und friedlich dieses alte Haus doch war. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund war Brendan ganz und gar nicht im Frieden mit sich selbst. Ist dafür womöglich eine Frau verantwortlich? schoss es ihr unvermittelt durch den Sinn. Eine Frau, die er ausnahmsweise einmal nicht haben konnte? Vielleicht resultierte daraus der Zynismus, mit der er ihre Beziehung zu Steve kommentiert hatte. Er würde Steve doch nicht einfach nur deshalb ablehnen, weil er Rays Bruder war. Außerdem, was ging ihn das alles überhaupt an? Irgendwie weckten diese Gedanken in ihr das Bedürfnis, ihn herauszufordern ... "Du magst ihn wohl immer noch nicht", versetzte sie. "Aber ..." "Aber das Ganze geht mich nichts an", vollendete er ihren Satz. "Das hast du mir schon mal gesagt. Es ist nicht so, dass ich ihn nicht mag, aber ich finde ihn ziemlich gewöhnlich."
Achselzuckend stellte er seine Teetasse auf dem niedrigen Tischchen neben sich ab. Merryn schürzte missbilligend die Lippen und vergaß völlig, dass auch sie Steve in Wirklichkeit für ziemlich uninteressant und gewöhnlich hielt. "Er nimmt seine Arbeit sehr ernst und kümmert sich aufopferungsvoll um seine Patienten ..." "Wenn du meinst, dass das genug ist, um ein Leben damit auszufüllen, dann bist du leider auf dem Holzweg, Miss Merryn. Das gibt ein böses Erwachen." "Sprichst du etwa aus eigener Erfahrung?" konterte sie. Er verzog das Gesicht. "Nun, zumindest aus einiger Erfahrung heraus." "Und das befähigt dich also, ungebetene Ratschläge auszuteilen, obwohl du nicht verheiratet, ja nicht mal liiert bist?" "Warum bist du eigentlich so zickig, Merryn?" Sie verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. "Und darauf lässt du dich natürlich nicht ein, stimmt's? Du sonnst dich einfach in deiner männlichen Überlegenheit. Hör mal, vielleicht ist diese Unruhe, die du vorhin erwähnt hast, nichts weiter als pure Langeweile.
Und deshalb maßt du dir jetzt an, dich wie eine
Vaterfigur aufzuspielen ..."
"Biologisch gesehen ist das völlig unmöglich.
Ich bin nicht alt genug, um dein Vater zu sein."
"Dann eben wie ein älterer Bruder, was du, wie
ich dir bereits erklärt habe, nicht bist", fuhr sie
ihn wütend an. "Je eher du dir eine Frau suchst,
um dich zu amüsieren, desto besser für uns
alle."
"Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich eine
Frau brauche?" fragte er herausfordernd.
Merryn atmete tief durch. "Die meisten Männer
brauchen eine Frau."
"Das hört sich ausgesprochen altjüngferlich an",
konterte er mit einem amüsierten
Augenzwinkern.
Merryn stöhnte gereizt auf und machte sich
daran, ihre Geschenke wieder in die Tüten und
Kartons zu packen.
"Aber du könntest dich natürlich zu einer
Expertin entwickelt haben, was Männer
betrifft."
Merryn hielt in ihrer Bewegung inne.
Vergeblich suchte sie nach Anzeichen von Spott
in seinem Blick und las nur eine ernste Frage in
den haselnussbraunen Tiefen.
"Ich ..." setzte sie an und wusste plötzlich nicht mehr, was sie sagen wollte. "Du bist mir böse über meine Bemerkung? Aber du solltest bedenken, dass du ziemlich unbekümmert Schlussfolgerungen ziehst, was mich betrifft." "Sieh mal..." Merryn zögerte. "Vielleicht war ich wirklich etwas unbedacht in meiner Äußerung, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum du sonst so aus dem Gleis bist. Ich ..." "Ungebändigt und vogelfrei, meinst du?" "Nun, also, ich habe mich gefragt, ob du dich womöglich in jemanden verliebt hast, den du nicht haben kannst." Sie machte eine hilflose Geste. "Tut mir leid, aber ich dachte, dass du deshalb so zynisch über Liebesbeziehungen im allgemeinen redest." "Ach, hast du das? Ich kann dich beruhigen. Ich verzehre mich nicht nach einer Frau, die ich nicht kriegen kann, und ich bin auch nicht auf der Suche. Ich bin einfach nur ..." Seine Augen blitzten. "Ja, tatsächlich bin ich ein bisschen aus dem Gleis, wie du dich ausgedrückt hast. Aber ehrlich gesagt bereitet es mir auch Kopfzerbrechen, dass der Schmetterling, der aus
dir geworden ist, sich ausgerechnet an diesen langweiligen Bruder von Ray hängt." Merryn musste sich notgedrungen eingestehen, dass ihre Strategie völlig fehlgeschlagen war. Weil Brendan recht hatte, was Steve betraf? Nein, verflixt, das hatte er nicht! Aber wie sollte sie jetzt weitermachen? "Deine Mutter mag ihn recht gern", bemerkte sie kühl. "Jede Gelegenheit, zwei Menschen miteinander zu verkuppeln, ist ihr nur recht. Bist du sicher, dass deine Vorbehalte gegen Steve nicht einfach nur daher rühren, dass du Ray nicht ausstehen kannst?" "Merryn ..." "Nein, lass mich bitte ausreden. Du kennst ihn doch kaum!" Sie stand auf und sammelte ihre Tüten und Pakete zusammen. "Außerdem, von Heirat kann doch im Moment noch gar keine Rede sein. Das ist nicht fair, Bren. So, ich gehe jetzt ins Bett." Er stand auf und befreite sie galant von der Last ihrer Einkäufe. Sorgsam stellte er die Tüten und Pakete auf der Anrichte ab. "Was tust du da?" protestierte Merryn. "Das." Damit zog er sie in die Arme. "Ich ... du ..." Merryn brach hilflos ab.
"Du hast mir vorgeworfen, dir ungebetene Ratschläge zu erteilen, du hast mir vorgeworfen, ein Macho zu sein, und du hast behauptet, dich in einen Mann verliebt zu haben, der dich offenbar nicht im mindesten anturnt!" "Woher willst du das denn wissen?" Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. "Nun, deine Reaktion auf seinen Anruf war wohl deutlich genug. Du hast absolut keinerlei Anzeichen von freudiger Erregung gezeigt bei der Aussicht, mit Steve auszugehen." Triumphierend sah er sie an und wartete auf ihren Protest, der jedoch ausblieb. "Also dachte ich mir, dir eine kleine Nachhilfestunde in Sachen Liebe zu geben, Miss Merryn. Weißt du, ein Mann mag noch so viele bewundernswerte Eigenschaften in sich vereinen, wenn er es aber nicht fertig bringt, deinen Pulsschlag zu beschleunigen, dann lass lieber die Finger von ihm", erklärte er sanft und beugte den Kopf hinunter, um sie zu küssen. Wie bin ich denn jetzt bloß da hineingeraten? schoss es Merryn durch den Kopf, gefolgt von der noch dringenderen Frage: Wie komme ich da wieder raus? Und warum macht er das? Diese Fragen wurden durch die Erkenntnis
verdrängt, dass ihr Körper plötzlich vor Verlangen zitterte. Brendan war der Mann ihrer Träume, und von ihm geküsst zu werden, war die Erfüllung all ihrer Wünsche. Natürlich war sie nicht vierundzwanzig Jahre alt geworden, ohne gewisse Erfahrungen gemacht zu haben. Aber obwohl ihre Bekanntschaften durchweg sehr nette Männer gewesen waren, hatten sie es nicht vermocht, eine Leere in ihr auszufüllen, die daher rührte, dass ihr Herz schon vergeben war. Jetzt war sie erstaunt über die Gefühle, die sie überschwemmten, das Verlangen, die Sehnsucht. Sie konnte kaum glauben, wie perfekt sich die Rundungen ihres Körpers an Brendans harte, männliche Gestalt schmiegten. Und noch weniger hätte sie es für möglich gehalten, sich derart lebendig zu fühlen. Ein wundervoll warmes Gefühl durchströmte sie, und sie war bereit, sich ihm zu öffnen ... Seinen Händen auf ihrer Hüfte, seinen Lippen auf ihren, seinem festen, starken Körper ... Brendan vertiefte den Kuss, und Merryn glaubte vor Wonne zu vergehen. Sie schmiegte sich dicht an ihn, schlang ihm die Arme um den Hals und vergrub die Finger in seinem dichten Haar.
Insgeheim sehnte sie sich danach, er möge ihre Bluse aufknöpfen und ihre Brüste streicheln ... Und nicht nur das, musste sie sich eingestehen. Das Verlangen, voll und ganz mit Brendan zu verschmelzen - und zwar nicht nur körperlich, sondern auch auf geistiger Ebene -, wurde fast übermächtig. Zwei Menschen, die einander brauchten, die sich danach sehnten, Körper, Seele und Geist des anderen zu entdecken ... Plötzlich überkam Merryn ein Anflug von Panik, und sie riss sich von Brendan los. Doch er zog sie sofort wieder an sich und hauchte mit leiser, rauher Stimme: "Wenn du jetzt sagen willst, dass ich das nicht hätte tun dürfen, dann hast du völlig recht. Aber vielleicht hat es dir ja die Augen darüber geöffnet, wonach du wirklich suchst." Merryn hielt es nicht länger aus. Sie ließ ihre Einkäufe auf der Anrichte liegen und stürzte nach oben auf ihr Zimmer. Mit fahrigen Händen verriegelte sie ihre Tür und warf sich dann verzweifelt aufs Bett. Sie war so wütend auf Brendan! Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, zog sie sich aus und legte sich schlafen.
"Ich mache mir ein bisschen Sorgen um Bren",
erklärte Sonia am nächsten Morgen beim
Frühstück.
Sie saßen allein auf der Veranda. Brendan hatte
schon früh das Haus verlassen.
Merryn unterdrückte eine bittere Bemerkung
und fragte statt dessen harmlos: "Warum?"
"Ich habe ihn noch nie so erlebt. Du etwa?"
"Ich habe ihn seit drei Jahren nicht mehr
gesehen."
"Aber früher hattet ihr beide doch einen ganz
guten Draht zueinander, nicht?"
Merryn lächelte melancholisch. "Er spielte die
Rolle des älteren Bruders und ich die kleine
Schwester. Ich glaube, ich habe ihm leid getan."
"Er war unerwartet liebevoll zu dir - nun,
eigentlich gar nicht unerwartet", verbesserte
sich Sonia. "Wir haben dich mit der Zeit alle ins
Herz geschlossen, wer hätte das nicht? Aber ich
dachte, bei Brendan sei es mehr als das."
"Und zwar?"
"Nun, ich hatte den Eindruck, dass du Bren
besser verstehst als seine eigenen Schwestern."
"Ich ..." Merryn brach ab und beschloss das
Thema zu wechseln. "Er hat mir erzählt, dass er
seit Jahren keinen richtigen Urlaub mehr hatte.
Was meinst du, könnte nicht darin das Problem liegen?" "Ich weiß nicht." Sonia runzelte die Brauen. "Er wirkt so nervös und unzufrieden." Merryn erschauerte, als sie daran dachte, was gestern Abend zwischen ihr und Bren vorgefallen war. Vielleicht war das alles nur passiert, weil Brendan sich langweilte. "Ich weiß!" rief Sonia plötzlich aus. "Ich werde Rox und Michelle bitten, für Bren eine Art Willkommensparty zu geben. Dann ärgern sie sich nicht mehr darüber, dass wir Weihnachten nicht bei einer von ihnen feiern, und Brendan hilft es vielleicht, auf andere Gedanken zu kommen und wieder ausgeglichener zu werden." Merryn wollte schon den Mund öffnen, um zu protestieren. Doch Sonias Augen glänzten vor Enthusiasmus wie schon lange nicht mehr, und Merryn wollte ihr den Spaß nicht verderben. "Aber wir verraten ihm nicht, was wir vorhaben - jetzt jedenfalls noch nicht." Das Geräusch eines parkenden Wagens in der Auffahrt ließ Sonia abrupt innehalten. Zwei Minuten später kam Brendan auf die Veranda geschlendert. Er musterte seine Mutter
und Merryn prüfend und sagte: "Also los, raus mit der Sprache." "Was um alles in der Welt meinst du, Bren?" fragte Sonia mit Unschuldsmiene. "Ich meine, dass ihr beiden so ausseht wie zwei kleine Mädchen, die man dabei ertappt hat, wie sie die Keksdose plündern." Sonia lachte. "So ein Quatsch!" "Tatsächlich? Das möchte ich bezweifeln", murmelte er. "Morgen, Merryn." "Morgen, Bren", erwiderte sie betont fröhlich. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen, und einen furchtbaren Moment lang fürchtete Merryn schon, er würde gleich eine Bemerkung über das machen, was gestern Abend zwischen ihnen vorgefallen war. Seinem Benehmen war jedenfalls keinerlei Schuldbewusstsein anzumerken. Sie hielt gespannt den Atem an, bis er weiter sprach, und sie wich seinem Blick aus. Er legte eine Broschüre auf den Tisch und fragte: "Was haltet ihr davon?" Sonia betrachtete irritiert die Abbildung auf dem Deckblatt. "Das ist ein Holzhaus." "Genauer gesagt, ein Spielhaus. Wir könnten es unter einem der Mangobäume aufstellen, damit
die Kinder nicht nur über die Treppe rein- und rausklettern können, sondern auch vom Baum aus." "Soll das heißen, dass du es gekauft hast?" fragte Sonia verblüfft. "Ich habe den Bausatz gekauft, ihr Lieben. Und ich beabsichtige, es mit Hilfe der beiden Monster Damien und Dougal zu bauen. Es war Merryn, die mich auf die Idee gebracht hat. Das Haus wäre doch ein prima Weihnachtsgeschenk für die ganze Rasselbande." "Das ist eine phantastische Idee, Bren!" rief Sonia begeistert aus. "Dann hast du wenigstens eine Beschäftigung. Wann wird der Bausatz geliefert?" "Heute Nachmittag." "Und ich habe noch eine brillante Idee! Ich werde für das Haus Möbel kaufen. Das ist dann mein Weihnachtsgeschenk für die Kinder." Sonia glühte förmlich vor Begeisterung, als sie aufgeregt fort fuhr: "Merryn, wie sieht es aus? Kannst du heute mit mir einkaufen gehen?" "Aber natürlich", erwiderte diese erfreut. Das war das erste Mal nach ihrer Operation, dass Sonia sich freiwillig bereit erklärt hatte, einkaufen zu gehen.
Die beiden Frauen kamen schwer beladen von ihrem Einkaufsbummel zurück. Sie hatten nicht alles dabei, was sie erstanden hatten. Die größeren Stücke würden in Kürze geliefert werden. "Ich sehe schon, dass vor uns noch eine Menge Arbeit liegt", bemerkte Merryn, während sie ihre Besorgungen auspackten, darunter Vorhangstoffe für das Holzhaus. "Ich weiß", erwiderte Sonia reumütig. "Aber jetzt bin ich erst so richtig in Weihnachtsstimmung. Übrigens", fügte sie verschwörerisch hinzu. "Ich habe schon alles mit Rox und Michelle besprochen. Die Party steigt am Samstagabend, und du bist natürlich eingeladen." "Und was ist mit dir?" "Nein, nein, ihr jungen Leute bleibt besser unter euch." "Aber ich lasse dich nur ungern allein." "Ich habe schon etwas für mich organisiert", verkündete Sonia stolz. "Meine Freundin Mary Eaves bleibt über Nacht. Sie ist Witwe wie ich, und wir machen es uns schon gemütlich. Vermutlich werden Rox und Michelle die Gelegenheit nutzen, um sich ordentlich in
Schale zu schmeißen. Warum kaufst du dir nicht
ein tolles Kleid? Das würde ich dir nämlich gern
zu Weihnachten schenken."
"Das brauchst du nicht", protestierte Merryn.
"Und außerdem ..."
"Aber ich bestehe darauf, Kindchen."
Merryn seufzte. Sonia konnte manchmal
genauso dickköpfig sein wie ihre
Nachkommenschaft. "Das ist wirklich sehr lieb
von dir. Aber hast du Bren schon von der Party
erzählt?"
"Das überlasse ich Rox und Michelle. Ich kann
mir nicht vorstellen, dass es Probleme gibt,
oder?"
"Nein", erwiderte Merryn zögernd. Insgeheim
hatte sie jedoch so ihre Zweifel.
Und wie das Schicksal es wollte, waren diese
leider nur allzu berechtigt.
3. KAPITEL
"Wer ist denn auf diese grandiose Idee gekommen?" wollte Brendan sechs Tage später wissen - dem Tag vor der Überraschungsparty. Ich wusste es, dachte Merryn. Natürlich war es ihnen nicht gelungen, die Party geheim zu halten, wie sie es geplant hatten. Dougal und Damien hatten die Bombe platzen lassen. Die beiden Rangen hatten die vergangenen Tage damit verbracht, ihrem Onkel zu helfen, das Spielhaus aufzubauen. Sie waren mit solcher Begeisterung dabei, dass der Rest der Familie geschlossen ein heimliches Dankgebet zum Himmel schickte. Auch Brendan schien die Beschäftigung gut zu bekommen, er wurde zunehmend entspannter, und seine Laune besserte sich spürbar. Bis jetzt jedenfalls, als er Merryn und seiner Mutter beim Lunch auf der Veranda gegenübersaß.
"Ich ... hm ... was gefällt dir daran nicht?" erkundigte sich Sonia kleinlaut. "Ich wette, das war Michelles Idee", erklärte er aufgebracht. "Das Ganze hört sich mal wieder nach ihr an. Warum, um Himmels willen, habt ihr das zugelassen? Das letzte, worauf ich Lust habe, ist eine Willkommensparty, auf der man sich in Schale schmeißen muss." Merryn stellte ihm einen Teller hin. Es gab kalten Braten und Salat, frisch gepressten Saft und mit Gemüse gefüllte Teigtaschen. "Warum nicht?" fragte Sonia erstaunt. Doch er ignorierte sie und wandte sich an Merryn. "Oder war das etwa deine Idee?" Merryn griff nach dem Salatbesteck und füllte sich Kartoffelsalat auf den Teller. "Merryn", knurrte Brendan. "Nein, ich war es nicht", erwiderte sie gelassen, obwohl sie innerlich vor Zorn kochte über das Theater, das er veranstaltete. "Wie kommst du darauf?" "Du hast mir schließlich den famosen Rat gegeben, mir eine Frau zu suchen", erwiderte er gepresst. "Ich dachte, du würdest die Party als passende Gelegenheit betrachten, mich zu verkuppeln."
"Bren!" rief Sonia schockiert aus. "Was, um Himmels willen, redest du da! Übrigens, die Party war meine Idee." Er sah seine Mutter ungläubig an. "Du - aber wozu das Ganze?" "Ich dachte, dass du dich womöglich langweilst. Ich habe mir einfach Sorgen um dich gemacht, das ist alles." Bren wollte etwas erwidern, aber seine Mutter achtete nicht darauf, sondern sprach weiter. "Bren, du wirst doch jetzt nicht etwa alles kaputt machen! Deine Schwestern sind so aufgeregt und freuen sich riesig auf die Party. Außerdem war es ein ganz schönes Stück Arbeit, eine solche Feier auf den letzten Drücker zu organisieren. Das hat die beiden auch ein bisschen von Weihnachten abgelenkt." "Okay, okay." In seinem Augen blitzte es amüsiert. "Ich gebe mich geschlagen. Aber versprich mir bitte, keine weiteren Überraschungen!" Sonia seufzte erleichtert. "Du kannst zusammen mit Merryn hingehen. Wir haben ihr ein umwerfendes Kleid ausgesucht - mein Weihnachtsgeschenk für sie."
Merryn hob den Blick von ihrem Teller und wünschte im selben Moment, sie hätte es nicht getan. Brendans Blick ruhte voller Ironie auf ihr. "Umwerfend ist genau das richtige Wort", erklärte Brendan spöttisch, als sie am nächsten Abend auf dem Weg zu Michelle waren. "Gefällt es dir nicht? Sonia hat es ausgesucht und darauf bestanden, es zu bezahlen - sie wollte mir unbedingt eine Freude machen, und ich wollte ihr den Spaß nicht verderben." Das Kleid war ein raffiniert geschnittener Traum aus elfenbeinfarbener Seide. Es war ärmellos, hatte einen tiefen Rückenausschnitt und umschmeichelte Merryns schlanke Figur wie eine zweite Haut. Die zarte Farbe brachte ihre sonnengebräunte Haut besonders gut zur Geltung. Als Schmuck trug Merryn Perlen dazu, und ihre Füße steckten in hochhackigen Wildledersandaletten. Das Haar hatte sie auf einer Seite mit einem Schildpattkamm zurückgesteckt, und in der Hand hielt sie eine elegante, elfenbeinfarbene Handtasche aus Wildleder. Wie immer hatte sie nur ein leichtes Make-up aufgelegt, lediglich die Augen hatte
sie heute stärker geschminkt, so dass sie besonders groß und dunkel wirkten. Die zartrosa Farbe ihres Lippenstifts passte genau zu ihrem Nagellack, und sie war umhaucht vom verführerischen Duft ihres Lieblingsparfums. Brendan trug einen schwarzen Gesellschaftsanzug, in dem er umwerfend vornehm aussah. "Zweifellos wird auch Steve seinen Spaß daran haben", erklärte er mit einem sardonischen Lächeln. "Er ist doch sicher auch zur Party eingeladen." "Aber er bleibt bloß bis Mitternacht. Danach hat er Bereitschaftsdienst. " "Ach so. Dann geht es dir ja wie Aschenputtel. Du musst bei mir Zuflucht nehmen, um nach Hause zu kommen." Merryn biss die Zähne zusammen. "Warum willst du unbedingt Streit anfangen?" "Tu ich das?" "Ja! Die Party war wirklich nicht meine Idee." "Nun, das Ganze entspricht weiß Gott nicht meiner Vorstellung von Vergnügen, vielleicht bin ich deshalb etwas gereizt." "Einen Abend lang wirst du es doch wohl aushärten!"
"Einen Abend lang Freiwild für jede ledige Frau, die meine Schwestern auftreiben konnten wie kannst du das Vergnügen nennen? Und behaupte jetzt ja nicht, dass das nicht der wahre Zweck dieser sogenannten Willkommensparty ist." "Bei deiner Laune wirst du wohl nicht lange Freiwild sein." Plötzlich entspannte er sich und begann laut zu lachen. "Weißt du was? Warum machen wir uns nicht einfach aus dem Staub?" Merryn starrte ihn entgeistert an. "Wir gehen irgendwo schick aus", erklärte er geduldig, als hätte er ein Kind vor sich. "Wir essen etwas Leckeres, gehen tanzen - und kommen gegen Mitternacht nach Hause." "Das meinst du doch nicht ernst!" Brendan stoppte an einer roten Ampel und wandte den Kopf zu Merryn. Er ließ den Blick über ihre schlanke Gestalt gleiten und meinte: "So gefasst. Ich nehme an, dass du mir meine Ungehörigkeit von neulich verziehen hast?" Sie versuchte gar nicht erst, so zu tun, als würde sie seine Anspielung nicht verstehen. "Was hast du denn erwartet?"
"Ich weiß nicht." Er wandte den Blick ab.
"Trotzdem versuchst du mir möglichst aus dem
Weg zu gehen, nachdem ich dich geküsst habe.
Glaub ja nicht, dass ich es nicht bemerkt habe",
fügte er neckend hinzu.
"Ich hielt das für das beste, da wir ja
offensichtlich völlig unterschiedliche Interessen
haben", erwiderte sie ruhig.
"Nun, so fühlte sich das aber gar nicht an."
"Du hast mir ja selbst gesagt, wie erfahren du in
solchen Dingen bist."
"Du glaubst also, dass das alles war?" Er
steuerte den Wagen in eine Parklücke vor
Michelles Haus, das hell erleuchtet war.
"Ich habe dir gesagt, was ich darüber denke",
entgegnete Merryn nach kurzem Zögern. Seine
unmittelbare Nähe machte es ihr schwer, einen
klaren Gedanken zu fassen und ließ die
Erinnerung an das, was sie bei seinem Kuss
empfunden hatte, wieder aufleben.
"Du hast kein Wort gesagt", murmelte er, den
Blick auf ihr seidig schimmerndes Haar
geheftet.
"Doch, du weißt ganz genau, was ich meine,
und ich habe meine Meinung nicht geändert.
Deine Mutter ist übrigens derselben Ansicht."
Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. "Du hast es ihr erzählt?" "Nein, natürlich nicht. Aber sie meint ebenfalls, dass du dich furchtbar langweilst." Merryn hatte leise und beherrscht gesprochen, obwohl ihr das Herz bis zum Zerspringen klopfte. Brendan verzog die Lippen zu einem amüsierten Lächeln. "Vielleicht hast du recht. Weißt du, du hast dich gar nicht so sehr verändert, Miss Merryn. Du warst schon immer eine ernsthafte, nachdenkliche Person. Und meist genügte ein Blick in deine großen grauen Augen, um zu wissen, dass du böse auf mich bist. Sollen wir jetzt reingehen? Ich verspreche dir, mich zu benehmen." Michelles und Rox' Party war ein wahres Kaleidoskop bunter Farben. Die Veranden, die das Haus umgaben, waren mit Weihnachtsschmuck und bunten Lichtern dekoriert. In der riesigen Diele, die zum Tanzen leer geräumt worden war, stand eine Tanne, die über und über mit bunten Kugeln und Lichterketten geschmückt war und bis zur Zimmerdecke reichte. Michelle sah umwerfend aus in apfelgrüner Seide, während Rox in goldgelbem Taft glänzte.
Die Ehemänner an ihrer Seite wirkten dagegen in ihren dunklen Anzügen völlig unscheinbar. Ray reichte seinem Schwager Brendan einen Drink. Man merkte den beiden nicht im geringsten an, dass sie einander nicht ausstehen konnten. Merryn, die in Gedanken immer wieder das Gespräch im Wagen durchging, entdeckte Steve und ging auf ihn zu. Die Art, wie seine braunen Augen aufleuchteten, sobald er sie entdeckte, verschaffte ihr ein Gefühl der Befriedigung. Er mochte zwar nicht der umwerfend aussehende Held sein, aber hässlich war er auch nicht gerade. So verbrachte sie die erste Hälfte des Abends zufrieden in Steves Gesellschaft. Nun, vielleicht nicht völlig zufrieden, verbesserte sie sich. Sie fürchtete, dass Steve mehr in ihr scheinbares Interesse an seiner Person hineininterpretierte, als wirklich da war. Außerdem war sie sich die ganze Zeit Brendans Gegenwart bewusst. Widerstrebend musste sie gestehen, dass sein Auftreten einfach brillant war. Kein Mensch käme auf die Idee, dass er absolut keine Lust auf diese Party hatte.
Wie schafft er das bloß? überlegte sie verblüfft. Und warum scharwenzelt er ständig um die ledigen Frauen herum und fordert sie zum Tanzen auf? Er stand zweifellos im Zentrum des Interesses aller - sowohl der Damenwelt als auch seiner alten Freunde. Wieso hatte er sich bis jetzt mit keinem von ihnen getroffen? Und obwohl sie sich über ihn geärgert hatte, tat es weh, dass sie nicht seine Partnerin sein konnte. Aber sie machte sich immer noch Sorgen um ihn. Sie spürte, dass irgend etwas in seinem Leben nicht in Ordnung war, und sie konnte einfach nicht anders, als sich darum zu sorgen ... Um elf Uhr wurde das Büffet eröffnet, und Steve erklärte bedauernd, dass er nicht länger bleiben konnte. "Aber wir sollten öfter mal etwas zusammen unternehmen, Merryn. Was hältst du von nächster Woche? Am Mittwochabend habe ich frei." "Steve ..." Merryn zögerte, dachte dann aber, warum eigentlich nicht? "Ich habe nichts dagegen, mit dir ins Kino zu gehen, aber ..." Lass es langsam angehen, Steve, ermahnte er sich im stillen. Dann sagte er: "Mach dir keine Sorgen, Merryn. Ich weiß, dass du nicht in mich
verliebt bist, aber das könnte sich ja schließlich noch ändern, oder? Gute Nacht." Er küsste sie zart auf die Wange. Ach, du liebe Güte! dachte Merryn, während sie ihm nachsah. Als sie sich schließlich abwandte, fand sie Brendan an ihrer Seite. Er musterte sie neugierig. Heiße Röte stieg ihr in die Wangen, und sie schloss in Erwartung eines spöttischen Kommentars verärgert die Augen. Doch er nahm nur ihre Hand und sagte: "Darf ich dich zum Nachtmahl geleiten, Miss Merryn?" "Ich ... warum?" "Nun, früher geleitete man doch die Dame seines Herzens zum Nachtmahl. Und da es eine solche nicht gibt, habe ich Angst, mich zu kompromittieren", erklärte er düster, doch seine Augen blitzten amüsiert. "Das ist ..." "Dummes Gerede? Glaub das ja nicht, Merryn. Man kann alle Arten von Luftschlössern darauf aufbauen. Oder auch einfach nur ins Kino gehen", fügte er sanft hinzu, während er ihnen einen Weg zum dicht umlagerten Büffet bahnte. "Hier. Wenn du die Teller hältst, werde ich dir
zu deinen Herzenswünschen verhelfen. Zu den kulinarischen jedenfalls." Merryn stieß einen leisen Seufzer aus. Wenn er in dieser Stimmung war, war es am besten, dass man ihn gewähren ließ. Gehorsam nahm sie die beiden Teller, die er ihr in die Hände drückte. Es gab jede Menge Köstlichkeiten. Kaltes Hähnchen, scharf gewürzte kleine Fleischbällchen, duftenden Reis, Garnelen, Currygerichte, zwei Sorten Pasta, Salate und Gemüsegerichte, Schinken und Ananas. "Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll", sagte sie. "Überlass das nur mir", erbot Bren sich. "Ich muss sagen, meine Schwestern haben sich selbst übertroffen." "Ja, das kannst du laut sagen", warf Rox ein, die seine Bemerkung gehört hatte. "Ich bin kaputt bis auf die Knochen." "Liebste Rox, ich bin dir ewig dankbar! Wie ich dir in Kürze beweisen werde. Hier entlang, Merryn." "Wohin?" "Ich habe keine Lust, mein Essen auf den Knien zu balancieren", entgegnete er spöttisch und dirigierte Merryn ins im Dunkeln liegende
Esszimmer. Hier war es still und friedlich. Bren schaltete das Licht an und sagte: "Warte hier, ich bin gleich zurück." Damit schloss er die Tür hinter sich. Nach kurzem Zögern stellte Merryn die Teller auf dem riesigen Esstisch ab. Die Vitrine zu ihrer Linken enthielt Michelles und Rays beachtliche Sammlung kostbaren Porzellans. Wahrscheinlich war der Raum deshalb nicht zur Benutzung freigegeben. Die Tür wurde geöffnet, und Brendan trat mit einer Flasche Wein und zwei Kristallgläsern in den Händen ein. "Hier." "Warum machst du das?" fragte Merryn neugierig. "Ich brauche eine Pause", erwiderte er lakonisch und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Er setzte sich und schüttelte seine Serviette auf. " Du musst zugeben, dass ich bis jetzt den perfekten Partylöwen gespielt habe." Merryn kicherte amüsiert und nippte an dem eiskalten Wein, den er ihr eingeschenkt hatte. Eine Weile aßen sie in einvernehmlichem Schweigen, dann stützte sie die Ellbogen auf den Tisch und sah ihn eindringlich an. "Was ist los, Bren?"
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Ich dachte, das hätte ich dir bereits erklärt." Sie spießte eine Garnele auf und aß sie, dann legte sie die Gabel nieder. "Ich denke, dass mehr dahinter steckt als eine allgemeine Ruhelosigkeit." Seine Augen verengten sich. "Warum sagst du das?" "Nun, ich weiß genau, dass du kein ausgesprochener Partylöwe bist, aber genauso wenig bist du ein Einzelgänger. Und obwohl du kein Weiberheld bist, hat es doch Frauen in deinem Leben gegeben ..." "Falls du auf meine wilden Jugendjahre anspielst, meinst du wirklich, dass du mir das noch vorwerfen könntest?" fragte er spöttisch. "Nein. Das habe ich ja auch gar nicht getan. Aber diese Art, nach Hause zu kommen, als geschähe es gegen deinen Willen, und wie du dich über diese Party aufgeregt hast, ist irgendwie ... seltsam." Er sagte nichts dazu, sondern drehte nur gedankenverloren das Weinglas. "Und du bist wirklich der letzte, von dem ich erwartet hätte, was neulich Abend passiert ist." "Dich zu küssen, meinst du?"
"Ich dachte immer, dass ich dir mehr als ein bisschen Zerstreuung bedeute." "Das tust du auch", erwiderte er fest. "Und wenn du mir beweisen kannst, dass Steve wirklich der richtige für dich ist ..." "Er ist sehr nett", unterbrach sie ihn. Plötzlich wünschte sie, dass sie erst gar nicht mit diesem Thema angefangen hätte. "Nett? Ist das alles, was du über ihn zu sagen weißt?" "Sieh mal." Sie schob ihren Teller beiseite. "Du versuchst schon wieder vom Thema abzulenken. Wir wollten doch eigentlich über dich sprechen." "Merryn." Brendan hielt inne und sah ihr in die Augen. Er fragte sich, ob ihr wohl bewusst war, wie umwerfend sie in ihrem schicken Kleid und mit ihren sorgenvollen grauen Augen aussah. Sie tat wirklich gerade so, als wäre er ihr großer Bruder. Konnte sie sich wirklich nicht vorstellen, dass ihn ein unwiderstehlicher Impuls dazu getrieben hatte, sie zu küssen? Aber warum war dieser Impuls so unwiderstehlich gewesen? Und warum störte ihn die Vorstellung, dass sie und Steve zusammensein könnten? Ob sie wohl ahnte,
dass er in gewisser Weise zwei verschiedene Menschen in ihr sah? Miss Merryn, an die er sich als ein mageres, ernsthaftes junges Mädchen erinnerte und diese Merryn hier? Nein, dachte er. Sie hat völlig recht. Er durfte seine Sehnsucht nach einer festen Beziehung nicht durch ein flüchtiges Abenteuer mit einer hübschen Frau kompensieren. Nein, das durfte nicht sein, wenn diese Frau Merryn hieß. Plötzlich erinnerte er sich an einen lange zurückliegenden Abend, als er eine heftige Auseinandersetzung mit seinem Vater gehabt hatte. Später war Merryn in sein Zimmer gekommen, im Pyjama, die Haare zu zwei braven Zöpfen geflochten, und hatte ihr Lieblingsspielzeug auf seinen Tisch gelegt: eine batteriebetriebene kleine graue Holzmaus mit weißen Ohren, roten Augen, pinkfarbenen Pfoten und rosa Schwanz. Sie besaß die Maus seit ihrer Babyzeit und schlief immer mit ihr unter dem Kopfkissen. Sie hatte nur gesagt: "Behalt sie für heute Nacht." Dann war sie so leise gegangen, wie sie gekommen war. Brendan hatte die Maus in die Hand genommen und sich sofort seltsam getröstet gefühlt.
"Schade, dass du keine Maus hast, die du mir geben kannst", sagte Brendan leise. Ihre Augen weiteten sich erstaunt. "Nein", fuhr er fort, bevor sie etwas erwidern konnte. "Du hast recht, Merryn. Mit mir ist soweit wirklich alles in Ordnung. Wahrscheinlich schlägt es sich allmählich nieder, dass ich zu oft an zu vielen verschiedenen Orten gelebt habe und nur meine Arbeit im Kopf hatte. Ich glaube, ich habe verlernt, mich zu entspannen. Deshalb bin ich wahrscheinlich zum Einzelgänger geworden. Und zu bösen Streichen aufgelegt - das ist alles", erklärte er reuevoll. "Ich möchte mich bei dir entschuldigen." Merryn lehnte sich zurück und fragte sich, warum ihr plötzlich so kalt war. Vielleicht, weil sie gehofft hatte, ihn dazu zu bringen, ihr seine Liebe zu gestehen? Du Dummkopf, schalt sie sich. Hast du wirklich diese heimliche Hoffnung gehegt? "Merryn?" sagte er leise und sah sie fragend an. Sie sah ihm offen in die Augen. "Du zitterst ja", bemerkte er besorgt. "In einer heißen Nacht wie dieser kann dir doch unmöglich kalt sein."
"Habe ich wirklich gezittert?" Sie stand auf und nahm ihren Teller in die Hand. "Ich kann mir nicht vorstellen, warum. Meinst du nicht, wir sollten langsam wieder zu den anderen gehen?" "Einen Moment noch." Er stand ebenfalls auf und heftete den Blick in einem Anflug von Spottlust auf sie. "Nur noch eine Frage. Während ich mich langsam wieder zu einem zivilisierten Menschen zurückentwickle, könntest du dich vielleicht dazu durchringen, dich nicht noch weiter von mir zurückzuziehen? " Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn dann aber wieder. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrieen vor Verzweiflung. "Du warst immer für mich da", sagte er. Die Spottlust war aus seinem Blick gewichen, und er sah Merryn ernst an. "Ich ... ja, Bren, natürlich", erwiderte sie leise. Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und Michelle stand im Türrahmen - eine sichtlich irritierte Michelle. "Warum um alles in der Welt habt ihr beiden euch hier drin verkrochen?" verlangte sie zu wissen, die Hände in die Hüften gestützt. "Um deine kostbaren Ming-Vasen zu stehlen", erwiderte Bren mit einem strahlenden Lächeln.
"Wir haben gerade ausgeknobelt, wie wir den Alarm ausschalten." "Bren, du bist wirklich verrückt!" Michelle lachte. "Hör mal, wir wollten gerade auf dich anstoßen ..." "Michelle, falls du irgendwelche schwesterlichen Gefühle für mich empfindest, dann tu es bitte nicht." Er führte seine Schwester nach draußen. "Drehen wir den Spieß doch um. Warum bringe ich nicht statt dessen den Toast aus?" "Aber Ray hat ein paar nette Worte vorbereitet..." "Das kann ich mir vorstellen", entgegnete Bren trocken. Er warf Merryn einen gespielt verzweifelten Blick über die Schulter zurück. "Aber ich bestehe darauf, euch allen für diese unglaublich tolle Party zu danken. Nein, keine Widerrede. Wir durchlaufen gerade eine für uns Greys erstaunlich konfliktfreie Phase, verdirb bitte nicht alles." Nach kurzem Zögern folgte Merryn ihm. Er brachte einen Toast auf seine Schwestern und deren Ehemänner aus und gab eine spritzige kleine Rede zum besten, die alle Anwesenden zum Lachen brachte. Anschließend dämpfte
man das Licht, die Musik wurde aufgedreht, und die Party ging weiter. Merryn jedoch schlüpfte in die Küche, band sich eine Schürze um und machte sich daran, sich durch Berge von schmutzigem Geschirr zu arbeiten. Als Rox die Küche betrat, protestierte sie energisch. "Du brauchst hier wirklich nicht den Abwasch zu machen, Merryn!" "Doch, das gehört sich so. Betrachte es einfach als meinen Beitrag zur Party", erwiderte sie energisch. "Du und Michelle, ihr habt wirklich phantastische Arbeit geleistet, und ihr habt es verdient, euch jetzt auch mal ein bisschen zu amüsieren." "Es läuft wirklich alles ganz gut, nicht? Ich glaube, Bren amüsiert sich prächtig. Also gut, wenn du darauf bestehst", meinte Michelle mit einem spitzbübischen Lächeln und drückte Merryn einen Kuss auf die Wange. "Steve ist schon weg", fügte sie noch hinzu, bevor sie verschwand. Etwas später betrat Ray die Küche und brach ebenfalls in demonstrativen Protest aus. "Das brauchst du wirklich nicht zu tun, Merryn!" "Ich wasche ab, weil ich es möchte, Ray. Übrigens, wo sind eigentlich die Kinder?"
"Die ganze Bande ist sicher unter der Obhut eines Babysitters bei Rox verwahrt. Na gut, wenn du darauf bestehst, dich hier nützlich zu machen. Michelle tust du damit einen großen Gefallen. Schade, dass Steve zur Arbeit musste", fügte er noch hinzu, bevor er wieder verschwand. Was geht hier vor? fragte sich Merryn, die Hände in Seifenwasser getaucht. Eine Verschwörung? Wie kommen sie nur plötzlich alle auf die Idee, dass ich an Steve interessiert bin? Verwundert schüttelte sie den Kopf. "Ah, hier bist du also, Aschenputtel! Wie passend. Ich glaube, wir können uns jetzt unauffällig aus dem Staub machen - es ist halb drei Uhr morgens." Brendan stand in den Türrahmen gelehnt und schien sie schon seit einer Weile zu beobachten. Merryn trocknete sich die Hände und nahm die Schürze ab. "Ich denke, ich habe meine Pflicht erfüllt", meinte sie lächelnd. "Bist du bereit?" Er richtete sich auf. "Bereit, willig und fähig." Ein mutwilliges Lächeln umspielte seine Lippen. "Um nach Hause zu gehen und ins Bett zu fallen."
Der Nachhauseweg führte sie eine ganze
Strecke am Fluss entlang und dann den Hügel
hinauf durch ruhige, verschlafene Straßen. Zu
dieser frühen Morgenstunde gab es kaum
Verkehr.
"Was mir gerade einfällt, wo haben eigentlich
meine süßen Nichten und Neffen gesteckt?"
wandte Brendan sich fragend an Merryn.
"Die Eltern haben in weiser Voraussicht einen
Babysitter angeheuert und die ganze Bande bei
Rox untergebracht."
"Ob sie dem Babysitter wohl eine
Gefahrenzulage bezahlt haben?"
Merryn lachte. "Nun, offensichtlich gab es
keinerlei Hilferufe per Telefon. Vermutlich ist
also alles glimpflich gegangen."
"Weißt du, was ich jetzt am liebsten tun
möchte?" Er bog in die Auffahrt zum Haus ein.
"Nein."
"Eine Runde schwimmen."
"Tu das. Ich gehe lieber gleich ins Bett."
Er steuerte den Wagen in die Garage, schaltete
den Motor aus, machte aber keine Anstalten,
auszusteigen. "Die Sache ist die, ich fühle mich
irgendwie schuldig, was dich betrifft, Merryn",
erklärte er nach kurzem Zögern.
"Warum? Das brauchst du nicht." "Tue ich aber trotzdem." Er schaltete die Innenbeleuchtung des Wagens ein. "Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dir nicht gerade einen unbeschwerten Abend bereitet zu haben." Merryn lachte leise auf. "Habe ich nicht recht?" insistierte er und warf ihr einen unergründlichen Blick aus seinen haselnussbraunen Augen zu. "Nun, ich bin schon mal in entspannterer Stimmung zu einer Party gegangen", stimmte sie mit einem schiefen kleinen Lächeln zu. "Darum fühle ich mich ja auch so schuldig. Wenn ich mir nur vorstelle, dass du in deinem schönen neuen Kleid den ganzen Abwasch gemacht hast!" Merryn lehnte den Kopf müde gegen die Kopfstütze. "Ich werde es schon überleben." "Jetzt fühle ich mich noch schlechter", erwiderte er leise. "Komm mit, wir schwimmen ein paar Runden. Du fühlst dich bestimmt heiß und verschwitzt." Sie wandte sich ihm zu und stellte fest, wie müde er aussah. Tiefe Linien hatten sich um seine Augen eingegraben. Doch sein Blick ruhte voller Zuneigung auf ihr. Das war typisch für
Brendan. Erst brachte er einen mit seinem Benehmen auf die Palme, und dann setzte er seinen unwiderstehlichen Charme ein, um alles wieder gut zu machen. "Du brauchst dich nicht so zu bemühen", erklärte sie. "Doch." "Ich vermute, du würdest ein Nein als Antwort nicht akzeptieren?" "Keinesfalls." Merryn seufzte ergeben. "Versprichst du, mich nach ein, zwei Runden ins Bett gehen zu lassen?" "Großes Indianerehrenwort." "Na gut. Aber wir müssen leise sein, damit wir deine Mutter nicht wecken." "Ich hatte nicht vor, zu schreien und zu kreischen." Das war eigentlich gar keine so schlechte Idee, dachte Merryn, während sie auf dem Rücken über das Wasser trieb und die Sterne am dunklen Himmel betrachtete. Das Wasser war erfrischend, wenn auch nicht richtig kühl - im Hochsommer kühlte es sich nie wirklich ab. Millionen von leuchtenden Sternen erhellten die Nacht, und Merryn spürte, wie die Anspannung des Abends allmählich von ihr abfiel.
"Merryn?" Bren saß am Beckenrand und ließ
die Füße lässig ins Wasser baumeln.
Sie drehte sich um und schwamm auf ihn zu.
"Ja?"
"Ich habe uns einen Schlaftrunk gemacht." Er
deutete auf ein Tablett neben sich.
Merryn fragte hoffnungsvoll: "Irish Coffee?"
"Ja. Komm her, bevor er kalt wird."
Sie stützte sich mit den Ellbogen am
Beckenrand auf und nahm sich eines der Gläser
in ihren silbernen Haltern. "Das ist eine tolle
Idee." Sie nahm einen Schluck und leckte sich
den Schaum von den Lippen.
Brendan sah lächelnd auf sie hinunter. "Eine
meiner wenigen kulinarischen Fähigkeiten,
wenn man das überhaupt so nennen kann.
Woran hast du gedacht, als du so versonnen in
den Himmel geschaut hast?"
Eine leichte Brise brachte die Blätter zum
Rascheln. "Ich habe mir vorgestellt, in
zehntausend Meter Höhe durch die Nacht zu
düsen."
"Macht dir dein Job Spaß, Merryn?"
"Ja. Sonst würde ich ihn ja nicht ausüben."
"Dumme Frage. Lass es mich anders
formulieren - wie bist du auf die Idee
gekommen, Stewardess zu werden? Deine Arbeit ist sicher nicht immer so reizvoll, wie man sich das gemeinhin vorstellt." Sie zuckte mit den Schultern. "Nein, das ist sie weiß Gott nicht. Aber mein Beruf bietet mir Gelegenheit zum Reisen, was ich schon immer gern wollte. Außerdem musste ich eine ganze Menge Fähigkeiten entwickeln, die mir immer gefehlt haben. Zum Beispiel die Fähigkeit, mit Menschen umzugehen." "Was sicher nicht immer leicht ist", warf er ein. "Ja. Besonders mit Kindern ist es oft schwierig. Man braucht Geduld und Durchsetzungsvermögen." "Und wie hältst du dir die männlichen Passagiere vom Leib? Ganz zu schweigen von der männlichen Crew." Sie sah spöttisch zu ihm auf. Bevor er den Kaffee gemacht hatte, war er geschwommen. Jetzt saß er da, nur mit einer Badehose bekleidet, mit feuchtem, krausen Haar. Plötzlich erinnerte er sie an einen viel jüngeren Brendan. "Oh, das ist gar nicht so schwierig, wie man immer denkt. Man muss nur energisch genug sein." "Hattest du bis jetzt immer Erfolg damit?"
"Bis jetzt ist es mir immer gelungen, diejenigen abzuweisen, mit denen ich kein Verhältnis wollte." Sie stellte ihr Glas ab und zog sich hoch, um sich neben Brendan zu setzen. "Und die anderen?" "Eigentlich hatte ich nie eine ernsthafte Beziehung", erwiderte sie zögernd. "Ein paar Männer mochte ich ganz gern. Aber dadurch, dass man ständig unterwegs bist, entwickelt sich meist keine wirkliche Bindung. Das ist einer der Nachteile an diesem Job." Brendan sah sie an. Statt ihres Bikinis trug sie heute einen dunkelblauen Einteiler. "Erfüllt dich deine Arbeit denn mit Befriedigung? Ständig unterwegs zu sein, sich permanent um die Bedürfnisse anderer Menschen kümmern zu müssen?" "Willst du damit sagen, dass du meine Arbeit für oberflächlich hältst?" brauste sie auf. "Ich wollte dich und deinen Job nicht kritisieren. Trotzdem würde ich gern wissen, wie du dir den Rest deines Lebens vorstellst." "Mir ist bewusst, dass ich nicht immer und ewig als Stewardess arbeiten möchte. Aber wenn man gut ist, kann man irgendwann mal zum Bodenpersonal wechseln oder Ausbilderin
werden. Es gibt da eine ganze Menge Möglichkeiten." "Kannst du dir kein Leben als Ehefrau und Mutter vorstellen?" Merryn erwiderte nichts darauf, und Brendan erkundigte sich besorgt: "Habe ich etwas Falsches gesagt?" "Nein. Aber manchmal frage ich mich, ob es nicht mein Schicksal ist, allein zu bleiben. Ich will niemandem die Schuld daran geben", beeilte sie sich hinzuzufügen. "Deine Familie hat alles in ihrer Macht Stehende für mich getan, und dafür werde ich ihnen ewig dankbar sein. Dennoch hatte ich nie jemanden, der wirklich zu mir gehört. Das macht es schwer, eine Beziehung einzugehen." Brendan sog scharf die Luft ein und fragte: "Nicht einmal mit Steve?" Am wenigsten mit Steve, dachte sie bekümmert und schalt sich wohl zum hundertsten Mal, dass sie dieses Gerücht in die Welt gesetzt hatte. Noch mehr bereute sie, dass sie sich auf diese romantische Zweisamkeit mit Brendan eingelassen hatte. Er brachte es womöglich noch fertig, ihr die geheimsten Gedanken und Gefühle zu entlocken.
"Ich weiß es nicht, Bren." Merryn sackte in sich zusammen, straffte aber sogleich wieder die Schultern. "Wenn der Mond scheinen würde, könnte ich es seiner Wirkung zuschreiben. Da wir aber Neumond haben, muss es wohl am Kaffee liegen. Ich gehe jetzt besser ins Bett. Aber du hattest recht, es war eine gute Idee, ein paar Runden zu schwimmen. Gute Nacht." Dann stand sie auf und ging ins Haus.
4. KAPITEL
"Nur noch eine Woche", sagte Merryn.
Sie hängte im Spielhaus Vorhänge auf, während
Brendan eine Tür installierte. Die Kinder waren
aus dem Umkreis des Hauses verbannt worden,
damit sie sich nicht selbst die Überraschung auf
das komplett eingerichtete Innere verdarben.
"Hmm", murmelte er, den Mund voller Nägel.
"Brauchst du Hilfe?"
"Wenn du die Tür nur mal halten könntest...
gerade so wie jetzt, das wäre eine große Hilfe."
Einige Minuten arbeiteten sie schweigend,
während Brendan die Tür in die Angeln hob.
Dann sagte er: "Das war's. Gut gemacht. Im
Gegensatz zu meinen anderen Helfern bist du
eine Musterassistentin."
"Wie bist du bloß mit deinen kleinen Helfern
klargekommen?"
"Weißt du, was das Schlimmste an ihnen war?
Sie haben pausenlos geredet", erwiderte er
lächelnd. "Ich bin sicher, dass sie auch unter Wasser noch sprechen können - ich höre sie ja selbst im Traum schon plappern. Ja, nur noch eine Woche bis Weihnachten ... hast du vielleicht mal eben einen Moment Zeit?" "Aber sicher." Merryn setzte sich an den kleinen Tisch und sah Brendan fragend an. Seit Rox' und Michelles Party waren die Tage ungewöhnlich friedlich verlaufen. Brendan hatte nicht noch einmal versucht, sich an sie heranzumachen. Er hatte sich intensiv mit der Konstruktion des Spielhauses beschäftigt und damit angefangen, daneben eine kleine Brücke und einen Wasserfall zu installieren. Das Wasser war gerade tief genug, um Modellboote darauf treiben zu lassen oder um sich nass zu spritzen, ohne Gefahr zu laufen, zu ertrinken, wie Brendan seiner besorgten Mutter erklärt hatte. Die restliche Zeit hatte er damit verbracht, friedlich zu Hause zu bleiben, zu lesen, mit Merryn Tennis zu spielen, abends mit seiner Mutter und Merryn Karten zu spielen, Musik zu hören, fernzusehen oder sich einfach nur zu unterhalten. Was er hingegen nicht getan hatte, war, sein früheres gesellschaftliches Leben
wieder aufzunehmen, wie seine Schwestern es mit ihrer Party beabsichtigt hatten. Dagegen verbrachte er täglich viel Zeit damit, Faxe zu senden und empfangene Faxe zu bearbeiten, und manchmal traf er sich auch mit Geschäftspartnern in der Stadt. Merryn war darüber zunächst ziemlich erstaunt gewesen, und sie hatte damit gerechnet, dass er sich bald langweilen würde. Doch er wirkte ausgeglichener als je zuvor, und er hielt sich sogar mit seinen boshaften Kommentaren zurück. Er machte keinerlei Anspielungen mehr auf Steve, selbst dann nicht, als dieser Merryn ins Kino ausführte. Zur Freude seiner Mutter besorgte Brendan sogar einen Weihnachtsbaum, der den von Michelle an Größe noch übertraf. Er kramte die alten Kartons mit der Weihnachtsdekoration hervor, und Merryn und er schmückten das ganze Haus. "Du hast doch hoffentlich dein freundliches Angebot nicht vergessen, mir bei meinen Weihnachtseinkäufen zu helfen?" "Natürlich nicht." "Nun, was meine Mutter und meine Schwestern betrifft, fällt mir absolut nichts ein."
"Ich helfe dir doch gern", meinte Merryn lächelnd. "Du kannst mir ruhig all deine Einkäufe überlassen, wenn du willst." "Meine Geschenke für Rox und Michelle kannst du gern besorgen, aber Sonia möchte ich doch etwas ganz Besonderes schenken. Aber du könntest mich begleiten und mir den einen oder anderen Ratschlag geben." "Natürlich. Hast du denn wenigstens schon eine ungefähre Vorstellung?" Brendan runzelte nachdenklich die Stirn. "Ich dachte an ein Gemälde. Sie ist doch eine Kunstliebhaberin." Merryn klatschte vor Begeisterung in die Hände, und ihre Augen leuchteten. "Als ob du Gedanken lesen könntest! Es gibt da einen Künstler, den sie sehr schätzt und der ausgerechnet jetzt eine Ausstellung in der Jabiru Galerie in Sanctuary Cove hat. Sonia war schon ganz traurig, dass sie nicht fit genug sein würde, um den weiten Weg zur Küste zu machen, solange die Ausstellung noch läuft." "Was hältst du von einem kleinen Trip nach Sanctuary Cove, Merryn?" "Wenn du sie wirklich überraschen willst, müssen wir uns eine plausible Ausrede einfallen
lassen", überlegte Merryn laut. "Aber wenn ich es mir recht überlege, ist Sanctuary Cove genau der richtige Ort, um dort Geschenke für Michelle und Rox zu kaufen." "Überlass das nur mir. Würde es dir morgen passen?" "Ja, warum nicht." "Weiß sie, wohin wir fahren?" fragte Merryn am nächsten Morgen, als sie neben Brendan in dem schwarzen BMW seiner Mutter saß. "Sie weiß nur, dass du mir bei meinen Weihnachtseinkäufen hilfst. Davon war sie völlig begeistert. Sie hat sich Mary Eaves eingeladen, um mit ihr zusammen zu backen. Wir brauchen uns also keine Sorgen um sie zu machen." Es war ein strahlend schöner Tag, und Merryn trug ein zart geblümtes, ärmelloses Viskosekleid und leichte Sandaletten. Den zum Kleid passenden, mit Seidenblumen dekorierten Strohhut hatte sie auf den Rücksitz des Wagens gelegt. Brendan war ebenfalls lässig elegant gekleidet. Er trug weiße Leinenhosen, ein blaues Polohemd und Espandrülas.
Die beiden unterhielten sich in gelöster Stimmung, während sie den Pacific Highway in Richtung Sanctuary Cove, einem hübschen kleinen Ferienort nördlich der Goldküste entlang brausten. "Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt hier war", sagte Brendan, während sie durch die bunten Einkaufsgassen schlenderten. "Es ist hübsch hier, nicht?" Er sah sie an und ergriff ihre Hand. "Ja." Merryn fühlte, wie ihr Herz plötzlich einen Freudensprung machte, doch sie zwang sich, ganz ruhig zu atmen. Ein Tag mit ihm allein kann doch .nicht schaden, überlegte sie. Besonders, da er sich wieder wie der alte Brendan benahm. Da dürfte es ihr wohl auch nicht allzu schwer fallen, sich ganz natürlich zu benehmen. Zwei Stunden später saßen Merryn und Brendan im Restaurant St. Tropez direkt am Strand inmitten einer Gruppe anderer zufriedener Einkaufsbummler. Das Gemälde, das sie für Sonia ausgesucht hatten, lag gut verpackt im Kofferraum des Wagens, und auf dem freien Stuhl an ihrem Tisch häuften sich exotisch bunte Einkaufstüten. Erschöpft erfrischte
Merryn sich an einem eisgekühlten Fruchtsaft, während Brendan ein Bier trank. "Das hat Spaß gemacht", stellte Merryn zufrieden fest. Sie nahm ihren Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, wobei sich der dünne Stoff ihres Kleides über ihren Brüsten spannte. "Du warst wirklich äußerst großzügig zu deiner Mutter und deinen Schwestern, Bren", fügte sie hinzu. Achselzuckend ließ er den Blick über die Marina mit ihren schneeweißen Yachten schweifen. Wieder einmal fragte er sich, ob Merryn wohl wusste, wie schön sie war. Ganz im Gegensatz zu sonst hatte ihm der Einkaufsbummel wirklich viel Spaß gemacht. Die Art, wie Merryn mit ihren schlanken Fingern kostbares Porzellan, feines Leder und exquisite Parfüms berührt hatte, hatte ihm auf dezente Weise ihre Vorlieben und Wünsche gezeigt. Sie war wirklich eine Augenweide. "Deine Anerkennung ehrt mich, aber letztlich hast ja alles du allein ausgesucht", gab Brendan zurück. "Wahrscheinlich fällt es einer Frau leichter, Geschenke für eine andere Frau auszuwählen", wehrte sie bescheiden ab. "Aber das Gemälde
war deine Idee und ebenso das Spielhaus beides sehr originelle Geschenke, wenn du mich fragst. Sonia wird begeistert sein. Sie liebt Landschaftsgemälde, und diese ganz besondere Bild der Gegend um Dalby ist gar nicht weit von dort, wo sie aufgewachsen ist." "Ich weiß. Da haben wir doch wirklich Glück gehabt, nicht wahr? Jetzt fehlt mir nur noch ein ganz bestimmtes Geschenk ..." Er unterbrach sich, als die Kellnerin an den Tisch trat, um ihre Bestellung zum Lunch aufzunehmen. "Dein Weihnachtsgeschenk." Merryn lächelte. "Da haben wir etwas gemeinsam - für dich habe ich auch noch nichts gefunden. Aber ..." Sie hielt inne und fügte schließlich leise hinzu: "Vielleicht wäre es das schönste Geschenk, das wir uns gegenseitig machen können, wenn wir wieder ganz ungezwungen miteinander umgehen könnten, Bren. Was meinst du?" "Bedeutet dir das denn soviel, Merryn?" fragte er nach einer kleinen Ewigkeit. "Ja. Und dir?" Sie holte tief Luft, wich aber seinem Blick nicht aus. "Bist du wirklich wieder glücklich und zufrieden?"
"Eigentlich schon." Brendan machte eine bedeutungsvolle Pause und schüttelte dann den Kopf. "Wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann fehlt mir etwas zum Glücklichsein." Er lächelte gezwungen. "Meine Arbeit allein füllt mich einfach nicht mehr aus. Ich sehne mich in letzter Zeit danach, eine Frau zu haben, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen möchte." Merryn atmete tief durch. "Komisch, nicht?" meinte er ironisch. "Überhaupt nicht", widersprach sie hastig. "Das ist ein ganz natürliches Bedürfnis. Hast du dir denn nie gewünscht, einmal Ehemann und Vater zu sein?" "Doch, aber ich kann mir ein solches Leben nicht für mich vorstellen. Da geht es mir genauso wie dir. Wir sind einander ziemlich ähnlich, nicht wahr?" fragte er augenzwinkernd. Darauf fiel Merryn beim besten Willen keine passende Erwiderung ein. "Aber welche Frau würde mein Vagabundenleben schon mitmachen? Bisher habe ich es nie lange an einem Ort ausgehalten." "Das ließe sich doch ändern, oder?" schlug Merryn vor. "Schließlich müssen auch hier in der Gegend Straßen, Brücken und Dämme
gebaut werden." Sie zögerte einen Moment.
"Darf ich dir meine Meinung sagen?"
"Ich bitte darum."
In diesem Moment wurde ihr Lunch serviert
gegrillter Fisch für Bren und Cesar-Salat für
Merryn. "Meiner Meinung nach", sagte sie
bedächtig, während sie in ihrem Salat
herumstocherte, "löst sich das Problem von ganz
allein, sobald dir die richtige Frau über den Weg
läuft."
Brendan zog erstaunt die Brauen in die Höhe.
"Vermutlich hast du recht, zumindest in der
Theorie."
"Aber du traust der Sache nicht recht?"
"Wahrscheinlich bin ich im Laufe der Jahre zu
einem Zyniker geworden - deshalb kommt diese
Erkenntnis für mich auch so schockierend."
"Ein Zyniker, was Frauen betrifft?" Merryn sah
ihn eindringlich an.
Ihre Blicke trafen sich. "Manchmal schon", gab
er schließlich zu.
" Ich bin davon überzeugt, dass sich viele
Frauen ein Leben an deiner Seite vorstellen
könnten."
"Das zahlt sich am Ende meist doch nicht aus",
entgegnete Brendan und verzog das Gesicht.
Um Merryns Mundwinkel zuckte es. "Du suchst also nach einer neuen Herausforderung und zugleich nach einer Frau, mit der du den Rest deines Lebens verbringen möchtest?" "Wahrscheinlich findest du das alles höchst amüsant." "Tut mir leid." Doch in ihrem Blick tanzten kleine Teufelchen. "Ich möchte dir eine Freundin sein und dir helfen. Aber manchmal ist man eben zuerst Frau - oder Mann, wenn du verstehst, was ich meine." Ein Lächeln umspielte seine Lippen. "Ja", entgegnete er. "Ich verstehe genau, was du meinst." Sie aßen eine Weile schweigend, aber Merryn kam es plötzlich vor, als hätte der Tag seinen Glanz verloren. Sie hätte nicht genau sagen können, was sich eigentlich geändert hatte, aber sie wusste, dass irgend etwas schief gelaufen war. Brendan wechselte abrupt das Thema. Er sprach über Boote und fragte Merryn, ob sie gern segelte. Sie erklärte, dass sie nur sehr wenig Erfahrung im Umgang mit Segelbooten hätte, woraufhin er ihr gestand, dass es sein größter Wunsch sei,
einmal um die ganze Welt zu segeln. Doch das würde wohl bloß einer dieser unerfüllbaren Träume bleiben. Brendan sah auf die Uhr und schlug vor, sich allmählich auf den Rückweg zu machen, da sie Sonia gesagt hatten, dass sie nicht zu spät kommen würden. Merryn stimmte leise zu. Als sie gerade von der Gateway-Brücke in eine belebte Straße einbogen, versuchte der Fahrer hinter ihnen, sie zu überholen, obwohl reger Gegenverkehr herrschte. Dadurch zwang er Brendan, auf den Bürgersteig auszuweichen, wobei Merryn zur Seite geschleudert wurde und mit dem Kopf gegen die Tür prallte. Dann wurde alles dunkel um sie herum. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Bürgersteig, und Brendan beugte sich besorgt über sie. Um sie herum herrschte ein wahres Chaos. Zwei weitere Wagen waren von der Fahrbahn abgekommen, ebenso wie jener Fahrer, der den Unfall verursacht hatte. Ein langer Stau hatte sich gebildet, und die wartenden Autofahrer hupten ungeduldig. "Bren", flüsterte Merryn und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. "Was ist passiert?"
Sie spürte, wie Brendan sich anspannte, als er sie an sich zog. Vorsichtig richtete sie sich auf und versuchte sich zu erinnern, was passiert war. "Bleib ruhig liegen", murmelte er und küsste sie sanft auf ihr Haar. "Beweg dich nicht." "Aber ..." "Kein Aber. Ich glaube, dass niemand ernsthaft verletzt ist, aber einigen Leuten droht gleich das Temperament durchzugehen. Die Polizei ist schon da und kümmert sich um alles. Wie fühlst du dich?" Vorsichtig tastete sie ihren Kopf ab und stöhnte leise auf, als sie die Beule entdeckte. Doch sonst schien sie keine weiteren Verletzungen davongetragen zu haben, wie sie erleichtert feststellte. "Gott sei Dank", murmelte Brendan erleichtert. Er sah sie weiterhin besorgt an. "Wir sollten es uns ein bisschen gemütlich machen. Das kann sich hier noch eine Weile hinziehen." Mit einer raschen Bewegung hob er sie hoch und trug sie zu der Bank einer Bushaltestelle. Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich, und so beobachteten beide das Chaos um sie herum.
Einmal vergrub Merryn den Kopf an seiner Schulter, weil sie lachen musste, obwohl die Situation eigentlich alles andere als komisch war. Endlich gelang es der Polizei, den Verkehr wieder zum Fließen zu bringen. Ein Polizist nahm Brendans Aussage zum Unfallhergang auf, und ein Sanitäter bestand darauf, Merryn zu untersuchen. Auch er konnte keine ernsthafte Verletzung entdecken, schärfte ihr aber eindringlich ein, beim kleinsten Anzeichen einer Gehirnerschütterung oder eines verspätet einsetzenden Schocks einen Arzt zu verständigen. Als Brendan den demolierten BMW wieder auf die Straße steuerte und sich langsam mit Merryn auf den Nachhauseweg machte, ging die Sonne langsam unter. Sonia hatte bereits auf sie gewartet. "Ich dachte schon, dass ihr beiden durchgebrannt seid", begrüßte sie die Heimkehrer erleichtert. Merryn holte tief Luft. Sie sah zu Brendan auf und begegnete seinem Blick, der voller Intensität auf ihr ruhte. Doch sie hätte nicht sagen können, was dieser Blick bedeutete. Als Sonia den verbeulten Wagen in der Einfahrt entdeckte, wurde ihr klar, was passiert war.
"Habt ihr einen Unfall gehabt? Seid ihr verletzt? Wie ...?" "Keine Sorge, uns geht es gut", beruhigte Brendan seine Mutter. "Merryn bekommt vielleicht ein bisschen Kopfschmerzen, aber das ist alles. Komm, wir gehen rein. Heute können wir sowieso nichts mehr machen." "Wenn du dir einbildest, dass ich mir Sorgen um meinen Wagen mache, dann kennst du mich aber schlecht, junger Mann", erklärte Sonia pikiert. Brendan lachte, nahm Merryn in seine starken Arme und trug sie ins Haus. Wollte er das etwa zur Gewohnheit machen? "Das brauchst du nicht", protestierte sie. "Du tust, was man dir sagt, junge Dame", konterte er grinsend. Er setzte sie auf einem Sofa im Wohnzimmer ab, sah einen Moment lang nachdenklich auf sie herunter und sagte dann: "Bleib du hier sitzen - ich kümmere mich heute abend um das Essen." "Ich dachte, dass du nur Irish Coffee zubereiten kannst." "Richtig, aber ich kann auch mit einem Telefon umgehen", erwiderte er. Merryn sah ihn fragend an.
"Pizzaservice", erklärte er. "Aber vielleicht bringe ich wenigstens noch einen Salat zustande." "Bren, bestell lieber keine Pizza", wandte Sonia ein. "Dann glauben noch alle, dass ich nicht einmal mehr kochen kann." "Meine Liebe", erwiderte ihr Sohn. "Ich weiß, dass du es als Todsünde betrachtest, dir Essen nach Hause bringen zu lassen. Aber es gibt Zeiten, da kann so ein Lieferservice äußerst nützlich und angenehm sein. Wenn du es nicht zur Gewohnheit werden lässt, wird eine gelegentliche Bestellung auch deinem guten Ruf als Köchin nichts anhaben. Außerdem habe ich einen richtigen Heißhunger auf Pizza. Du kannst ja den Salat machen, wenn das dein Selbstbewusstsein wieder stärkt." Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. "Was hat ihn denn in diese Laune versetzt?" flüsterte Sonia Merryn verschwörerisch zu. "Keine Ahnung", flüsterte Merryn zurück. "Aber ich denke, es ist besser, du lässt ihm seinen Willen."
Sonia lachte leise. "Damit könntest du recht haben. Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du siehst ein bisschen blass aus." "Keine Sorge, mir fehlt nichts." Merryn stand auf. "Ich gehe nur rasch nach oben, um mich frisch zu machen." Es wurde ein gemütlicher, wenn auch kurzer Abend. Zu Sonias großer Überraschung schmeckte die Pizza vorzüglich, und nach dem Essen holten sie das Weihnachtspapier hervor, um sich daran zu machen, den großen Berg Weihnachtsgeschenke einzupacken. "Ich finde nicht, dass wir sie unter den Baum legen sollten" , erklärte Merryn, als sie die fertig verpackten Geschenke aufstapelten. "Warum nicht?" wollte Brendan wissen. "Da lagen sie doch immer." "Nicht vor deinem zwölften Lebensjahr", wandte Sonia ein. "Merryn hat recht - unter dem Baum bedeuten die Geschenke eine schier unwiderstehliche Versuchung. Außerdem kommt der Weihnachtsmann doch mitten in der Nacht. Es sei denn - Bren!" Sie sah ihn aufgeregt an.
"Oh, nein." Brendan schüttelte entschieden den Kopf. "Wenn es das ist, was ich vermute, dann lautet die Antwort definitiv nein!" "Du weißt nicht ..." "Doch, ich weiß, und nichts auf der Welt bringt mich dazu, mich als Weihnachtsmann zu kostümieren. Dieses nette Vergnügen trete ich gerne an Ray oder David ab." Sonia schwieg kleinlaut. "Oder wie wäre es mit Steve?" fuhr er spöttisch fort. "Er muss sich erst noch die Sporen verdienen, um Mitglied dieser Familie zu werden." Sonias Enthusiasmus kehrte zurück. "Gute Idee! Ach nein, das geht doch nicht. Er hat ja gestern angerufen und erzählt, dass er Weihnachten arbeiten muss. Das ist wirklich zu schade, aber ich kann es nicht ändern, fürchte ich." Sie sah Merryn an. In diesem Moment entschied Merryn, dass sie genug hatte, aber sie ließ sich ihre Stimmung nicht anmerken. Doch vielleicht hatte nur eine kleine Bewegung genügt, um Brendan aufzuschrecken. Jedenfalls sah er unvermittelt auf die Uhr, stand auf und reichte Merryn die Hand. "Ab ins Bett, Miss Merryn. Es ist zwar
noch nicht allzu spät, aber du hast ja auch nicht
jeden Tag einen Unfall und fällst in Ohnmacht",
sagte er.
"Ja, natürlich", stimmte Sonia ihm besorgt zu.
Merryn ergriff seine Hand und ließ sich von ihm
hochziehen. Doch dann erklärte sie reserviert:
"Danke, aber die Treppen komme ich allein
hinauf. Mir geht es wirklich gut." Sie bückte
sich, um Sonia einen Kuss auf die Wange zu
geben, lächelte Brendan kurz zu und verließ das
Zimmer.
Doch dieser ließ sich nicht so leicht
abwimmeln. Er folgte ihr zur Tür ihres
Schlafzimmers.
"Du siehst so müde aus", sagte er sanft und hob
die Hand, um ihr über das Gesicht zu streicheln.
"Es war ..." Sie hielt abrupt inne.
"Ein anstrengender Tag?" vollendete er ihren
Satz.
"Tja, nein." Sie rang nervös die Hände in dem
Bemühen, die richtigen Worte zu finden.
"Eigentlich war es doch ein sehr schöner Tag.
Danke für das Essen."
"Merryn?" fragte er nachdenklich. "Wolltest du
mir etwas Bestimmtes sagen?"
"Was denn?" flüsterte sie.
Er streichelte zärtlich ihre Wange. "Woher soll ich das wissen, wenn du es mir nicht verrätst?" Am liebsten hätte sie ihn gebeten, bei ihr zu bleiben. Sie in den Armen zu halten. Sie in den Schlaf zu wiegen. Mit ihr zu schlafen. Sie mit sich zu nehmen, wohin er auch ging ... "Merryn?" Sie versuchte, etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort hervor. "Hör mal", sagte er leise. "Zieh deinen Schlafanzug an, und ich wiege dich in den Schlaf." "Nein ..." "Keine Widerrede, Merryn." Er machte auf dem Absatz kehrt. Als er mit einem Glas Milch und einer Tablette in der Hand zurückkam, lag sie schon im Bett. "Das schickt Sonia", sagte er, während er das Glas auf ihren Nachttisch stellte und ihr die Tablette reichte. "Die ist gut gegen deine Kopfschmerzen." "Du hast sie doch hoffentlich nicht beunruhigt? Das ist vermutlich nur eine etwas verspätete Reaktion auf den Unfall." "Nein, ich habe sie nicht beunruhigt. Aber ich habe das Gefühl, dass hinter deinem
Unwohlsein mehr steckt als bloß eine verzögerte Unfallreaktion. Es tut mir leid, wenn ich dich mit meiner Bemerkung über Steve gekränkt habe." Ihre Augen weiteten sich erstaunt. Ein leichtes Lächeln umspielte Brendans Lippen. "Das überrascht dich? Dass ausgerechnet ich mich entschuldige?" "Ja", erwiderte sie aufrichtig. Er verzog das Gesicht. "Ich muss wohl noch arroganter sein, als ich dachte. Aber als ich dich heute so gesehen habe, Merryn, ist mir bewusst geworden ..." "Warte, sprich es nicht aus. Du hast gemerkt, dass ich erwachsen geworden bin", vollendete sie seinen Satz spitz. "Nun, das bist du." Er strich über die Bettdecke. "Also, wer bin ich, dass ich es wage, mich einfach in dein Leben einzumischen und deine Entscheidungen anzuzweifeln?" Während er sprach, hatte er auf die Bettdecke gestarrt, doch jetzt hob er den Blick und sah Merryn direkt an. "Genau das ist mir heute aufgegangen", erklärte er mit jenem Anflug von Selbstironie, den sie schon einmal an ihm wahrgenommen hatte.
"Bren ..." Aber die Worte blieben ihr im Halse stecken - die Worte, die sie so gern ausgesprochen hätte, und sie fragte sich, warum. Doch sogleich traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag: Sollte sie jene bewussten Worte je aussprechen, und er würde erwidern, dass sie für ihn nicht als mögliche Ehefrau in Betracht käme, dann wäre ihre Beziehung für immer zerstört ... "Bren, ich weiß wirklich nicht, was heute Abend mit mir los ist", erklärte sie behutsam. "Aber ich verspreche dir, mich morgen wieder ganz normal zu benehmen." Er schien etwas darauf erwidern zu wollen, das ihm auf dem Herzen lag, sagte aber nur: "Trink deine Milch." Sie gehorchte, schluckte die Tablette und ließ sich müde in die Kissen sinken. "Schlaf gut, Merryn", wünschte er ihr nach kurzem Zögern und stand auf. "Danke." Ihre Stimme klang rauh. "Würdest du bitte das Licht ausmachen?" Das tat er und schloss dann leise die Tür hinter sich -rechtzeitig genug, wie Merryn hoffte, um nicht die Tränen zu sehen, die ihr plötzlich in die Augen schössen.
Merryn fiel sofort in tiefen Schlaf, aber kurz vor Mitternacht schreckte sie aus einem Alptraum hoch, der sie schon seit vielen Jahren nicht mehr heimgesucht hatte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, und ihr Mund war wie ausgetrocknet. Der Traum handelte davon, wie sie ihre Eltern durch einen Autounfall verlor. Sie stieß die Bettdecke beiseite und war an der Tür, bevor sie überhaupt richtig wach war. Benommen stolperte sie die Treppe hinunter, um die Bilder in ihrem Kopf zu verscheuchen. Im Wohnzimmer brannte noch Licht, und sie stürzte hinein. Brendan, noch immer angezogen, sprang auf und nahm sie schützend in die Arme. "Merryn, Merryn." Er zog sie dicht an sich. "Was um Himmels willen ...? Sag nicht, dass du immer noch unter diesen Alpträumen leidest?" "Bren ..." Sie zitterte wie Espenlaub in seinen Armen. "Du erinnerst dich daran? Nein, diesen Traum hatte ich schon seit Jahren nicht mehr." "Armes Mädchen." Er hob sie hoch und setzte sich mit ihr aufs Sofa. "Die Ereignisse des heutigen Tages müssen die alte Geschichte wieder aufgerührt haben. Warum habe ich daran nur nicht früher gedacht?"
"Es ist nicht deine Schuld." Sie zitterte am ganzen Körper und vergrub den Kopf an seiner Schulter. "Merryn." Beruhigend streichelte er ihr über das Haar. "Schon gut - versuch dich zu entspannen." Das tröstende Streicheln, die Wärme und Stärke, die Brendans Körper ausstrahlte, all das bewirkte, dass sie sich allmählich beruhigte. Ihr Atem kam wieder in ruhigen und gleichmäßigen Zügen, und sie brachte es sogar fertig, die Frage zu stellen, die sie in den letzten Minuten beschäftigt hatte: "Warum bist du eigentlich noch so spät auf?" "Ach, einfach nur so." "Du sitzt hier einfach so herum? Das sieht dir aber gar nicht ähnlich." "Nein?" Sie hob den Kopf und bedachte Brendan mit einem Lächeln. "Nein. Das passt gar nicht zu dem Brendan Grey, den ich kenne." Er hob zweifelnd die Brauen und küsste sie plötzlich leicht auf die Lippen, als sei es die natürlichste Sache der Welt. "War ich denn früher so ein unruhiger Geist? Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern."
"Warst du auch nicht. Du warst ein richtiges
Energiebündel. Es überrascht mich, dass du
nicht wenigstens eine deiner früheren
sportlichen Aktivitäten wieder aufgenommen
hast."
Er lachte, wurde aber sofort wieder ernst.
"Weißt du, ich habe beschlossen, meinen
Rückflug umzubuchen."
"Du willst zurück?" Merryn wurde blass.
"Warum denn nur?"
"Du hältst das also für keine gute Idee?"
Sie biss sich auf die Lippen. "Denk doch an
deine Mutter. Du willst doch nicht etwa schon
vor Weihnachten fliegen? Du ..." Sie brach
verstört ab.
"Natürlich nicht, aber ... Bitte sag ihr nichts. Es
war nur so ein Gedanke."
"O Bren." Sie sah zu ihm auf. "Ich wünschte,
ich könnte dir helfen."
Er betrachtete sie mit ernstem Blick.
"Unglücklicherweise bist gerade du dafür die
Falsche, Merryn. Hör mal, ich hab da eine Idee.
Was hältst du davon, wenn ich uns hier unten
ein Bett aufbaue? Dann können wir uns noch
zusammen das Spätprogramm im Fernsehen
ansehen", schlug er grinsend vor.
"Ich ..." Sie sah ihn unentschlossen an. Doch Brendan beachtete sie gar nicht. Er schleppte eine ausrangierte Matratze an, Kissen und Laken sowie eine Flasche Wein und eine Platte mit Käse, Crackern, Oliven und Obst. "Eine Pyjamaparty?" Merryn konnte nicht anders, sie war entzückt. "Nun, eine etwas gehobenere Variante unserer Teenagerpartys", bemerkte er trocken und schenkte den Wein ein. "Mach es dir gemütlich. Wie geht es deinem Kopf?" "Den habe ich vollkommen vergessen", gestand sie überrascht ein. "Okay." Brendan ließ sich im Schneidersitz neben ihr auf die Matratze sinken - immer noch vollständig bekleidet. "Nun, wir haben die Wahl zwischen ein paar richtig alten HollywoodSchinken, obwohl ..." Er grinste. "Was hältst du von Laurel und Hardy?" "O ja, bitte!" Zwei Gläser Wein später, als beide händchenhaltend nebeneinander lagen, schlief Merryn angenehm erschöpft ein. Brendan zog vorsichtig seine Hand weg und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher aus. Dann stand er auf und beseitigte die Spuren ihres
nächtlichen Gelages. Die Hand auf dem Lichtschalter, zögerte er und sah nachdenklich auf Merryn hinunter. Sie wirkte jung und verletzlich. Ihre langen dunklen Wimpern sahen wie Fächer aus. Eine Merryn, die sich grundlegend von der selbstbewussten jungen Frau unterschied, die sie so gern herauskehrte. Eine Waise, die traurig darüber war, keine eigene Familie zu haben. Und dennoch hatte er ihr heute voller Überzeugung bescheinigt, dass sie ihr Leben phantastisch meisterte. Das war gewesen, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte, erinnerte er sich. Und bevor sie angstgeschüttelt die Treppe hinuntergestürzt war. Und wenn sie ihr Leben auch fest in der Hand hatte, fiel es Brendan doch schwer zu akzeptieren, dass ihre Partnerwahl ausgerechnet auf Rays Bruder gefallen war ... Er stand minutenlang gedankenverloren da, bevor er endlich das Licht ausschaltete, sich leise neben Merryn legte und sie sanft in die Arme zog. Das sollte er nicht, er wusste das. Aber er konnte einfach nicht anders ...
Als Brendan am nächsten Morgen erwachte, war der Raum in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Aber das war es nicht, was ihn geweckt hatte. Das Geräusch eines unterdrückten Aufschreis und sich nähernder Schritte hatten ihn aus dem Schlaf gerissen. Er hob den Kopf und betrachtete das Paar Schuhe, das jetzt in seinem Gesichtsfeld sichtbar war. Weibliche Füße in Sandaletten, lackierte Fußnägel - Beine, die sich nur Zentimeter von seinem Kopfkissen entfernt aufgebaut hatten. Und Merryn erstarrte in seinen Armen. Da sprach die Besitzerin der Füße, und die Stimme seiner Schwester erklang aufgebracht: "Brendan! Wie konntest du nur! Abgesehen davon, dass es sich nicht gehört, aber wenn du sie unbedingt verführen musstest, dann doch bitte schön nicht in aller Öffentlichkeit!"
5. KAPITEL
"Was zum Teufel willst du damit sagen?" Merryn setzte sich schlaftrunken auf, als Brendan seiner Schwester diese Frage entgegenschleuderte. Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und rieb sich die Augen. "Ist das denn nicht ganz offensichtlich?" Michelle wandte sich an Merryn. "Das hätte ich nicht von dir gedacht", versetzte sie eisig. "Aber wahrscheinlich hast du dich mit Bren auf der Party neulich aus demselben Grund im Esszimmer verkrochen. Sag mal, Merryn, findest du es Steve gegenüber nicht ein bisschen unfair, mit ihm anzubändeln, wenn du in Wirklichkeit etwas mit Bren hast?" "Etwas mit mir haben?" wiederholte Brendan schneidend. Er sprang auf und baute sich drohend vor seiner Schwester auf. "Michelle, du verdammter Dummkopf, sieh mich doch an! Ich
bin vollständig angezogen, falls du das nicht bemerkt haben solltest!" "Das will nichts heißen ..." "Nimmst du etwa ernsthaft an, dass wir uns ausgerechnet den Wohnzimmerfußboden aussuchen würden, um uns miteinander zu amüsieren? Du musst völlig verrückt sein!" "Dann erklär mir, was das soll!" konterte Michelle. "Hör mal", Merryn rappelte sich hoch. "Wir hatten so eine Art Pyjamaparty, wie früher." Michelle lachte schrill auf und musterte Merryn in ihrem Seidenpyjama mit missbilligendem Blick. "Das ist eine schöne Umschreibung - du hast in seinen Armen geschlafen! Aber du warst ja schon immer in Brendan verknallt, nicht wahr, Merryn?" "Ich ... ich ..." Brennende Röte stieg Merryn in die Wangen. Abrupt drehte sie sich um und verließ fluchtartig das Zimmer. Doch der lautstarke Streit, der jetzt zwischen den beiden Geschwistern entbrannte, verfolgte sie bis in ihr Schlafzimmer. Brendan erklärte Michelle, dass er sie schon immer für einen Dummkopf gehalten hatte, ohne zu ahnen, dass sie seine kühnsten Erwartungen noch übertraf.
Michelle konterte, indem sie ihm jede einzelne seiner früheren Schandtaten vorrechnete. Ihr Wutausbruch gipfelte darin, dass sie androhte, Weihnachten mit ihrer Familie zu Hause zu bleiben, sofern ihr Bruder dann noch hier sein sollte. "Man soll auch für kleine Gefälligkeiten dankbar sein - deine Kinder sind völlig unerzogen, dein Mann langweilt mich zu Tode, und du, Michelle, bist unsensibel, dominant und völlig humorlos. Du tätest mir einen großen Gefallen, Weihnachten nicht hier auf der Schwelle zu stehen! Am besten sorgst du auch dafür, dass sich dein Hornochse von Schwager nicht hier blicken lässt!" In diesem Moment lief Sonia erschrocken zu Merryn ins Zimmer. "Was ... warum?" Merryn setzte sich aufs Bett und vergrub das Gesicht einen Moment lang in den Händen. Dann sah sie unglücklich zu Sonia auf und versuchte zu erklären, was passiert war. "Michelle dachte, dass Bren und ich ...", beendete sie hilflos ihre Geschichte. "Dass ihr zusammen geschlafen habt?" fragte Sonia. "Weißt du, manchmal benimmt Michelle sich einfach ganz unglaublich. Und das werde
ich ihr jetzt sagen." Damit verließ sie entschlossen Merryns Zimmer. Merryn starrte ihr sekundenlang nach und grübelte. Sie malte sich ein entsetzliches Weihnachtsfest aus und fragte sich, wie sie Brendan jemals wieder unter die Augen treten sollte. Dann stand sie auf und zog sich rasch an. Im Augenblick wurde sie nur von einem einzigen Gedanken beherrscht - so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Minuten später machte sie sich in ihrem Wagen auf den Weg in die Stadt. Wahrscheinlich hat überhaupt keiner mitgekriegt, dass ich weg bin, dachte sie bitter. Jedenfalls hatte niemand versucht, sie zurückzuhalten. Traurig und lustlos verbrachte sie den Tag mit Einkäufen in dem Bemühen, sich abzulenken. Als sie um vier Uhr nachmittags wieder nach Hause kam, war nur Brendan da. "Wo zum Teufel bist du gewesen?" fuhr er sie an, als sie die Küche betrat. "Weg", murmelte sie und stellte Einkaufstüten mit Obst und Gemüse auf den Tisch. "Und dir ist es nicht in den Sinn gekommen, dass meine Mutter krank vor Sorge um dich ist?"
Sie sah ihn an. Er saß am Tisch, eine Tasse Tee in der Hand und mit einem lässigen Hemd und khakifarbenen Shorts bekleidet. "Nein. Sie weiß, dass ich schon älter als einundzwanzig bin. Wo ist sie denn?" "Bei Rox. Miranda hat irgendeine Krankheit ausgebrütet." Merryn, die gerade dabei gewesen war, die Einkaufstüten auszupacken, hielt besorgt inne. "Schlimm?" "Ich glaube nicht. Jedenfalls hat der Arzt gesagt, dass es nichts Ernstes sei, aber sie wollte sich selbst davon überzeugen." Er hob ironisch die Brauen. Merryn wandte sich achselzuckend ab. Sonia sorgte sich stets über Gebühr um die Gesundheit ihrer Enkel und bestand darauf, jedes Mal gerufen zu werden, wenn eines der Kinder krank war. "Merryn?" "Ja?" entgegnete sie tonlos. "Ist es wahr?" Sie sah ihn fragend an, sagte aber nichts. Brendan stand auf und kam um den Tisch herum zu ihr. "Reg dich doch nicht länger über diese dumme Szene heute morgen auf."
"Die Sache ist durch, Bren", erwiderte sie leise. Er sagte nichts, wartete, dass sie weiter sprach, wobei er so dicht vor ihr stand, dass sie die kleinen goldenen Pünktchen in seinen braunen Augen bemerkte. "Was mich überrascht", fuhr sie in bemüht normalem Ton fort, "ist, dass ausgerechnet Michelle es gemerkt hat, und ..." "Alle haben es bemerkt. Alle außer mir", erwiderte er ernst. "Woher weißt du das?" "Nachdem du weg warst, haben wir uns wieder versöhnt. Darauf hat Sonia bestanden. Sie wollte sich nicht das erste Weihnachtsfest seit Jahren verderben lassen, an dem endlich mal wieder die ganze Familie beisammen ist. Sie hat angedroht, einfach irgendwohin wegzufahren, wenn wir uns nicht wieder vertragen. Das hat Michelle und mich natürlich nicht kalt gelassen." "So?" "Wir haben uns also zusammengesetzt und einmal richtig ausgesprochen. Es ist mir gelungen, Michelle davon zu überzeugen, dass wir beide nichts Unschickliches auf dem Wohnzimmerfußboden getrieben haben." Ein
Anflug von Ungeduld schwang in seiner Stimme mit. "Und ich habe all die unfreundlichen Sachen zurückgenommen, die ich ihr an den Kopf geworfen habe. Doch als ich ihr sagte, ihre Anschuldigung, dass du in mich verliebt seiest, sei doch lächerlich, wollte sie nichts davon wissen. Und Sonia gab ihr recht. Offensichtlich ist die ganze Sippschaft aus diesem Grund so froh darüber, dass du dich für Steve interessierst. Sie nahmen an, dass du endlich über mich hinweg gekommen bist." Merryn wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Es war ihr unmöglich, zu begreifen, wie die anderen ihre Gefühle erraten hatten. "Nun, da täuschen sie sich leider", erwiderte sie kühl. "Gut, ich gestehe ein, dass ich dich wohl immer ein bisschen vergöttert habe, Bren. Vielleicht zu sehr." Sie schluckte, "Aber ich habe dich immer so betrachtet wie eine kleine Schwester ihren großen Bruder." Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen ihnen. Schließlich bemerkte Brendan abrupt: "Das brauchst du jetzt aber nicht mehr."
"Warum nicht? Weil du plötzlich gemerkt hast, dass du eine Frau brauchst?" konterte sie spöttisch. "Lass mich bitte eines klarstellen, Merryn ..." "Nein, Bren." Sie machte Anstalten, ihn einfach stehen zu lassen. Doch er packte sie am Handgelenk. "Warum bist du so wütend?" fragte er mit rauer Stimme. "Weil es mir nie aufgefallen ist? Willst du mich jetzt dafür bezahlen lassen?" "Nein", stieß Merryn hervor. "Für so etwas würde ich mich nie hergeben. Und ich verachte dich dafür, dass du so über mich denkst, Brendan Grey!" schleuderte sie ihm entgegen und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. "Ah so! Es würde mich interessieren, ob du mich auch dafür verachtest!" Er zog sie in die Arme. "Bren ..." "Das - doch nicht - wir wissen doch beide, dass es dir gefällt", murmelte er, während er sie mit festem Griff umklammert hielt. "Davon haben wir doch gestern schon die eine oder andere Kostprobe genommen. Aber wie steht es damit?" Herausfordernd ließ er die Hände über ihren Körper gleiten. "Und damit? Wenn ich
fertig bin, sag mir ruhig deine Meinung dazu, Merryn", schlug er in einschmeichelndem Ton vor. "Nein, ich sage sie dir jetzt schon. Wage es ja nicht, Bren. Ich ..." "Ich darf dich nicht küssen, Merryn?" Sein Blick hielt sie gefangen. "Komisch, ich fürchte, ich kann mich nicht zurückhalten." Sie schnappte nach Luft. Ihre Augen funkelten vor Wut. "O doch, das kannst du - du hast ja selbst zugegeben, dass der Kuss neulich eigentlich gar nicht mir galt." "Das war, bevor ich deine Gefühle kannte." "Du kennst meine Gefühle nicht ..." "Nun, dies ist eine vortreffliche Möglichkeit, um mich zu informieren." Er streichelte über ihre Arme, ihren Rücken und ihre Hüften. "So schlank und weich", stieß er rau hervor. Seine Augen funkelten spöttisch. "Und so böse. Warum forderst du mich nicht auf, dich gehen zu lassen?" Doch er ließ ihr keine Zeit zum Antworten. Leidenschaftlich vergrub er die Hand in ihrem Haar und beugte sich über sie, um sie zu küssen. War es seine letzte Bemerkung, die sie dazu brachte, das Unvorstellbare zu tun? Das sollte
sie sich später noch oft fragen. Waren es wirklich diese Worte gewesen, die sie veranlassten, im Gegenzug ihre Zurückhaltung aufzugeben? Abrupt rissen sie sich voneinander los, schwer atmend, als wären sie gerade gerannt. Merryn musterte ihn feindselig, schmiegte sich jedoch in seine Arme. Brendan senkte erneut den Kopf herab, und sie küssten sich voll hungriger, wütender Leidenschaft - wütend jedenfalls, was Merryn betraf. Ihre Körper wanden sich, verflochten sich miteinander, sprachen eine so deutliche Sprache, dass Merryn wie elektrisiert war. Lautes Hupen draußen auf der Einfahrt zerstörte den Zauber, und die beiden lösten sich voneinander. Brendan hielt Merryn auf Armeslänge von sich ab und sah ihr tief in die Augen. "Du liebe Güte! Du bist wirklich und wahrhaftig erwachsen geworden." Merryn riss sich gerade rechtzeitig von ihm los, bevor Rox in die Küche stürmte.
"Ist da jemand zu Hause? Ich habe Mom zurückgebracht, aber leider keine Zeit für einen Schwatz." "Wie ...?" Merryn räusperte sich und stopfte sich die Bluse in den Hosenbund. "Wie geht es Miranda?" "Schon wieder besser. Es war nur eine kleine Kolik, nichts Ernstes. Ich habe gehört, was hier heute morgen los war." Sie zwinkerte Brendan zu. "Wusstest du denn nicht, dass Michelle das Recht abonniert hat, in diesem Clan über Sitte und Anstand zu wachen?" Brendan stieß einen unterdrückten Fluch aus, und Rox wandte sich lachend an Merryn. "Lass dich von ihr nicht fertig machen, Merryn. Weißt du noch, wie sie sich ausgerechnet in den verheirateten Mann nebenan verguckt hatte? Sie hat ihm ständig aufgelauert, so dass der Ärmste förmlich über sie stolpern musste. Alles rein zufällig natürlich. Und rein zufällig war sie jedes Mal aufgetakelt wie für eine Party und trug ihre verführerischsten Klamotten." "Ja, ich erinnere mich", erwiderte Merryn gepresst. "Entschuldigt mich, ich gehe jetzt, um Sonia zu helfen."
Das Dinner war eine ziemlich schweigsame und verkrampfte Angelegenheit, obwohl Sonia sich alle Mühe gab, die Situation zu retten. Sie war zur Zeit vollauf damit beschäftigt, der Inneneinrichtung des Spielhauses den letzten Schliff zu verleihen, und die Konversation bei Tisch drehte sich hauptsächlich um dieses Thema. Plötzlich verkündete Brendan überraschend und zu Merryns Erleichterung -, dass er beabsichtige, noch auszugehen. "Wie schön, mein Junge!" Sonia strahlte ihn an. "Mit wem denn?" "Mit einem meiner alten Freunde, die du mir so begeistert angepriesen hast - wir wollen eine Partie Tennis spielen." Mit spöttischem Unterton fügte er hinzu: "Dann waren deine Bemühungen wenigstens nicht umsonst." Merryn fragte sich, ob Sonia wohl den leicht boshaften Unterton in seiner Stimme registrierte. Aber die alte Dame ließ sich jedenfalls nichts anmerken und sagte nur: "Fein. Du könntest doch Merryn mitnehmen. Ich bin sicher, nach einem Tag wie heute könnte sie eine kleine Abwechslung gut gebrauchen."
Merryns und Brendans Blicke trafen sich. Seit Rox sie in der Küche unterbrochen hatte, waren sie nicht mehr allein zusammen gewesen. Doch Merryn hatte genug Zeit gehabt, um über das, was passiert war, nachzudenken. Und sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie bedenklich nahe daran war, ihn zu hassen, wenn ihm zu der Szene zwischen ihnen beiden nichts anderes einfiel, als ihr zu bescheinigen, wie erwachsen sie doch geworden sei. "Sicher", meinte er achselzuckend. "Wenn Merryn gern mitkommen möchte. Möchtest du denn?" Sie sah ihm direkt in die haselnussbraunen Augen und erwiderte kühl und wie beiläufig: "Tut mir leid, aber ich habe heute Abend schon etwas anderes vor." "Tatsächlich, Liebes? Das hast du mir gar nicht erzählt", kommentierte Sonia unschuldig. Merryn unterdrückte nur mühsam einen Fluch. "Erinnerst du dich denn nicht?" Sie wandte sich an Sonia. "Wir wollten doch die Weihnachtstorte heute Abend mit Zuckerguss überziehen." "Ach, das! Das kann ich doch auch allein."
"Nein, kannst du nicht. Du sollst noch nicht so lange stehen." "Dann können wir den Zuckerguss doch auch morgen Vormittag machen, Merryn." "Hört mal, ich denke nicht im Traum daran, Merryns Pläne zu durchkreuzen", unterbrach Brendan. "Liebste Mom", er wandte sich mit einem süffisanten Lächeln an Sonia. "Hast du denn den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstanden? Merryn will nicht mit mir ausgehen." "Da hast du vollkommen recht", bedeutete Merryn ihm spitz und stand auf, um den Tisch abzudecken. Doch auch der Rückzug in die Küche konnte nicht verhindern, dass sie Sonias traurigen Kommentar mitbekam, das diesjährige Weihnachtsfest sei wohl irgendwie verhext. Woraufhin ihr Sohn bekräftigte, sie solle sich keine Sorgen machen, es käme schon alles wieder in Ordnung. "Da." Merryn trat einen Schritt zurück und begutachtete die prächtige Weihnachtstorte auf dem Küchentisch. Die beiden Frauen hatten sie mit weißem Zuckerguss überzogen und mit
silbernem Filigranwerk, goldfarbenen Glöckchen und grünen und roten Bändern verziert. Gekrönt wurde die Torte von einem Marzipanweihnachtsmann mit seinem Schlitten und dem in Grün und Rot gehaltenen Schriftzug "Fröhliche Weihnachten". "Phantastisch", staunte Sonia. "Sie ist wirklich wunderschön." "Die Kinder werden begeistert sein. Wie es wohl Miranda geht?" Merryn sah die alte Dame voller Zuneigung an. "Wenn du möchtest, rufe ich Rox an und frage sie." "Oh, nein, du weißt ja, wie ich immer übertreibe, wenn es um die Kinder geht." Sonia rekelte sich gähnend. Dann nahm sie Merryns Hand. "Das Theater von heute morgen tut mir so furchtbar leid." "Ist schon gut. Es war ja nicht deine Schuld", entgegnete Merryn nüchtern. "Das nicht, aber es erschwert das Verhältnis zwischen dir und Brendan." "Ich kann mir kaum vorstellen, dass Brendan sich davon betroffen fühlt", versetzte Merryn ironisch.
"Das meine ich ja. Er fiel regelrecht aus allen Wolken, als Michelle behauptete, du ..." "Dass ich früher in ihn verknallt war? Er hat mir erzählt, dass du es bestätigt hättest." Merryns Stimme klang verletzt. Sonia stieß einen tiefen Seufzer aus. "Nein das habe ich nicht. Mir war nur immer bewusst, dass Brendan dir mehr bedeutete als jeder andere. Das ist nicht dasselbe, Merryn", fügte sie leise hinzu. Merryn dachte einen Moment über Sonias Worte nach, zuckte aber nur mit den Achseln. "Hat sich daran denn nie etwas geändert?" wollte Sonia wissen. "Doch, das hat es, und zwar jetzt", erklärte Merryn nach kurzem Schweigen. "Es ist ihm schließlich gelungen, mich zu überzeugen, dass es reine Verschwendung ist, mehr als nur Sympathie für ihn zu empfinden." Sonia hob erstaunt die Brauen. "Ich hatte absolut nicht den Eindruck, dass er so empfindet." "Dann hast du dich eben getäuscht. Können wir dieses Thema nicht ruhen lassen und ins Bett gehen? Ich hoffe, dass es dir nichts ausmacht, wenn ich morgen tagsüber nicht da bin. Ich
wollte mich vor Weihnachten noch mit ein paar alten Freundinnen treffen." Sonia wollte zunächst protestieren, registrierte dann aber Merryns verschlossene Miene. Also beschloss sie, dass es weiser sei, zu schweigen. "Natürlich macht es mir nichts aus, Liebes. Ich komme doch inzwischen schon wieder ganz gut allein zurecht, findest du nicht auch? Es ist wirklich nicht nötig, dass du die ganze Zeit wie eine Glucke um mich herum bist." Am nächsten Morgen verließ Merryn das Haus schon früh und fuhr zu ihrer Wohnung, die sie für die sechs Wochen, die sie bei Sonia verbringen wollte, sorgfältig abgesperrt hatte. Sie fühlte sich enorm erleichtert, endlich mal wieder die eigene Wohnungstür hinter sich schließen zu können. Merryn verspürte nicht das geringste Bedürfnis nach Gesellschaft - sie wollte nur allein sein und eine Bestandsaufnahme ihres Lebens machen. Ihre Wohnung war nicht besonders groß. Schlafzimmer, ein kombiniertes WohnEsszimmer, eine kleine Küche. Aber sie lag direkt am Fluss in einem modernen, neuen Apartmentkomplex. Merryn liebte es, auf ihrer
kleinen Veranda zu sitzen und den Schiffsverkehr vorbeiziehen zu sehen: Lastkähne, Fähren und Yachten. Zunächst einmal machte Merryn sich daran, zu lüften und staubzuwischen, wobei sie immer wieder innehielt, um diese oder jene Kostbarkeit zur Hand zu nehmen, die sie auf ihren Reisen um die Welt erstanden hatte. Als sie damit fertig war, spürte sie, wie die Spannung allmählich von ihr abfiel, doch sie erlaubte sich nicht, über Brendan nachzudenken. Sie nahm ein erfrischendes Duschbad und schlüpfte in ein kühles, weißes langes Gewand. Anschließend bereitete sie sich eine kleine Mahlzeit aus den wenigen Lebensmitteln zu, die sie auf dem Weg hierher besorgt hatte. Die Füße auf die kühle Marmorplatte ihres Couchtisches gelegt, saß sie auf dem Sofa und aß. Erschöpft rollte sie sich danach auf dem Sofa zusammen und schlief ein. Das Läuten der Türklingel weckte sie - das letzte, was sie erwartet hatte. Erschrocken stand sie auf. Es war doch hoffentlich nichts mit Sonia passiert? Vor der Tür stand Brendan. "Was willst du denn hier?" Sie stand in der nur halb geöffneten Tür und sah ihn erstaunt an. Sie
war noch ziemlich verschlafen und fühlte sich desorientiert, und es verblüffte sie, Brendan in geschäftsmäßiger Kleidung vor sich zu sehen: dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte. "Zäune reparieren", erwiderte er knapp. "Lass mich rein, Merryn." "Nein, es gibt nichts zu sagen." "Doch, das gibt es." Er musterte sie von Kopf bis Fuß, ihre bloßen Füße, das zerknitterte Kleid, die zerzausten Haare. "Es sei denn", fügte er sardonisch hinzu, "du bist nicht allein?" Es war nur zu klar, was er damit andeuten wollte. Merryn sah an sich hinunter und atmete resigniert durch. Wegen der Hitze hatte sie nach dem Duschen keinen BH angelegt, und das leicht durchsichtige dünne Kleid tat wenig, um diesen Umstand zu verbergen. Sie sah Brendan an und erklärte kalt: "Du solltest nicht von dir auf andere schließen, Bren. Mir war heiß, das ist alles. Hier ist niemand außer mir." "Dann kannst du mich ja ruhig hereinlassen, Merryn", sagte er brüsk. "Wir können einander doch nicht einfach ignorieren." "Das habe ich ja auch gar nicht vorgeschlagen." "Dann lass mich endlich rein."
Mit abweisendem Blick trat sie zur Seite und ließ ihn eintreten. Dann ging sie ins Schlafzimmer, zog die Tür hinter sich zu und nahm sich Zeit, um ein anderes Kleid anzuziehen, dunkelgrün mit weißen Punkten. Sie kämmte sich und schlüpfte in flache grüne Schuhe. Sie fand Brendan an der Verandatür. Er hatte das Jackett ausgezogen und die Krawatte abgenommen. Beides hing ordentlich über einer Stuhllehne. Die Ärmel seines weißen Hemdes hatte er lässig hochgekrempelt, und er stand da, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und beobachtete den Schiffsverkehr auf dem Fluss. Etwas an seiner Haltung jedoch drückte gezügelte Ungeduld aus. Nachdem er sich zu Merryn umgewandt hatte, sahen sie einander schweigend an. Die Atmosphäre knisterte geradezu vor unterdrückter Feindseligkeit. "Was willst du, Brendan?" erkundigte sich Merryn schließlich leise und setzte sich. "Keine Sorge, ich hatte nicht die Absicht, auf und davon zu gehen. Heute Abend wäre ich wieder zurückgekommen. Du glaubst doch wohl nicht
etwa, dass ich Sonia so kurz vor Weihnachten einfach im Stich lasse?" "Das sicher nicht, aber die Weihnachtsstimmung haben wir ihr wohl gründlich verdorben. Mit anderen Worten, Sonia ist kreuzunglücklich." Merryn schluckte. "Dann müssen wir eben Waffenstillstand schließen, bis das Fest vorbei ist." Er setzte sich in den Sessel ihr gegenüber. "Weitermachen, als ob nichts geschehen wäre? Meine liebe Merryn, hältst du das wirklich für realisierbar?" "Ja", stieß sie gepresst hervor. "Außerdem, was ist denn schon groß passiert? Jedenfalls nichts von Bedeutung." Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen. "Willst du damit etwa sagen, dass das, was zwischen uns vorgefallen ist, keine Bedeutung für dich hatte? Und dabei hatten wir kaum angefangen, wenn ich mich recht erinnere." Merryn atmete tief durch. Es gelang ihr nur schwer, ihre Wut zu unterdrücken. "Wenn du das so lustig findest ..." "Nein, ich finde es ganz und gar nicht lustig, Merryn. Weißt du, ich bin ja auch nur der
Mann, den du gestern zufällig voller Leidenschaft geküsst hast, und ..." Entrüstet sprang sie auf. "Was soll ich gemacht haben? Ist es etwa dein Privileg, die Initiative zu ergreifen, wann immer es dich überkommt?" "Willst du damit etwa behaupten, dass ich dich herausgefordert habe?" konterte er. "Ja, denn genau das hast du getan. Wie du zum Schluss so treffend bemerkt hast, bin ich erwachsen geworden. Ich bin nicht irgendeine gefügige dumme Gans, derer du dich bedienen kannst, wann immer es dich überkommt." Er stand abrupt auf und baute sich drohend vor ihr auf. "Wie viel Erfahrung hast du?" fragte er mit gefährlich sanfter Stimme. "Genug", schleuderte sie ihm entgegen. Seine Miene versteinerte sich, und Merryn registrierte, dass es ihr gelungen war, ihn zu schockieren. "Dann war also die Sorge meiner Familie umsonst, dass sich die arme kleine Merryn noch immer falschen Hoffnungen hingeben könnte?" "Ja." Er starrte auf sie herab und erklärte mit rauer Stimme: "In diesem Fall ergibt die Sache mit Steve noch weniger Sinn."
"Lass Steve aus dem Spiel." "Weil er im Grunde nie wirklich ins Spiel gekommen ist?" fragte er spöttisch. "Weil ..." Sie sank unvermittelt in sich zusammen. "Geh einfach, Bren, hörst du? Ich habe genug." "Das kann ich nicht." "Was soll das heißen, du kannst nicht?" "Das heißt, dass ich ohne Wagen hier bin. Ich hatte gehofft, du könntest mich mit zurück nach Hause nehmen." "Jetzt behaupte bloß noch, dass du bis hierher gelaufen bist. Woher wusstest du überhaupt, dass ich hier bin?" "Ich wusste es nicht, aber ich hätte wetten können, dass du dich hier verkrochen hast. Ich bin nicht gelaufen, sondern habe ein Taxi genommen. Ich hatte ein Geschäftsessen in der Stadt, wohin ich ebenfalls mit dem Taxi gefahren bin, nachdem ich den demolierten BMW in der Werkstatt abgegeben hatte. Vor morgen Nachmittag ist der Wagen nicht fertig." Merryn stemmte die Hände in die Hüften. "Und wer ist heute den ganzen Tag bei Sonia?" "Ich habe sie bei Rox abgeliefert. Sie wollte gern bei Miranda sein. Du glaubst doch wohl
nicht im Ernst, dass ich sie den ganzen Tag allein lassen würde." "Ich denke ..." Merryn hielt inne und zählte insgeheim bis zehn. "Na schön. Ich schließe nur eben schnell die Fenster." "Kein Grund zur Eile. Sonia verbringt die Nacht bei Rox. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir etwas Kaltes zu trinken anbieten würdest." Merryn setzte zu einer Antwort an, brachte aber kein Wort hervor. Er beobachtete sie einen Moment lang schweigend und sagte dann mit Grabesstimme: "Vielleicht könnten wir die Zeit nutzen, um unseren Waffenstillstand auszuhandeln, was meinst du, Merryn? Wie lange wohnst du eigentlich schon hier? Die Einrichtung passt zu dir." "Wie meinst du das?" "Falls du zufällig ein kühles Bier für mich hast, dann werde ich es dir verraten." "Ich ..." Seufzend sprang sie auf und verschwand in der Küche. "Hier, bitte." Sie stellte eine kühle Bierdose und ein Glas vor ihn auf den Marmortisch. Für sich selbst hatte sie ein Glas Fruchtsaft mitgebracht.
"Danke." Er öffnete die Dose und goss das Bier ein. "Willst du nicht auch lieber etwas Stärkeres?" "Es ist doch erst drei..." Sie blickte zur Uhr und sah überrascht auf. "Was, es ist schon fünf? Wie konnte ich nur so lange schlafen?" "Das weiß ich nicht." Er lehnte sich zurück und streckte die langen Beine aus. "Lebst du allein hier, Merryn? Keine Stewardess oder Freundin, die sich die Wohnung mit dir teilt?" "Nein. Als ich einundzwanzig wurde, konnte ich über das Geld meiner Eltern verfügen. Ich habe mir davon diese Wohnung gekauft. Tom hat mich darin bestärkt. Einerseits ist die Wohnung eine gute Investition, andererseits habe ich so immer ein Zuhause. Ich habe das Glück, unabhängig zu sein." Brendan hob die Brauen. "Du hast ein bisschen Glück verdient, nachdem du deine Eltern auf so schreckliche Weise verloren hast." "Vielleicht." Sie zuckte mit den Achseln. "Du hast mir noch nicht verraten, warum du findest, dass die Einrichtung zu mir passt." "Ah." Er sah sich um. "Alles ist von so vornehmer Zurückhaltung, so harmonisch. Es wirkt gemütlich, aber auch sehr klassisch."
Merryn errötete leicht und wünschte, sie hätte
nie gefragt.
"Es wundert mich, dass wir uns nie getroffen
haben", sagte er.
"Getroffen?" Sie sah ihn fragend an.
"Auf einem Flug."
"Oh, das wird sicher eines Tages passieren."
Er lächelte. "Und du wirst mich mit
professioneller und zurückhaltender
Freundlichkeit behandeln."
Merryn unterdrückte ein Lächeln.
"Es fällt dir schwer, dir das vorzustellen?"
"Ja." Sie konnte ihre Belustigung nicht länger
verbergen.
"So ist es schon viel besser", sagte er wie zu
sich selbst. "Wohin möchtest du gern essen
gehen?"
"Essen gehen? Ich ..." Sie sah ihn erstaunt an.
"Da Sonia nicht zu Hause ist, brauchst du auch
nicht zu kochen, habe ich recht?"
"Ja, aber ..."
"Kein Aber, Miss Merryn. Wie wär's mit
Riverside? Wenn wir die Fähre nehmen,
könnten wir uns die lästige Parkplatzsuche
sparen."
Merryn überlegte. Riverside war ein neu erbauter Komplex aus Restaurants und kleinen Läden auf der anderen Seite des Flusses. Er lag direkt neben dem Botanischen Garten und dem Heritage Hotel. Der nächste Fähranleger war nur wenige Schritte von ihrem Apartment entfernt, und die Fahrt über den Fluss dauerte nicht lange. "Nun ..." "Wir könnten uns doch mal ein bisschen verwöhnen", schlug er vor und nannte ein Restaurant, das berühmt für seine gute Küche war. "Vielleicht kriegen wir keinen Platz, und ich bin auch nicht dafür angezogen", wandte Merryn ein. "Wir können doch vorher kurz anrufen. Und du wirst doch hier wohl noch ein paar andere Kleider haben, oder?" "Aber ..." "Bitte lass mir dieses eine Mal meinen Willen, ja?" Sie sah ihn an und registrierte erstaunt, wie ernst es ihm war. "Na gut", gab sie schließlich nach. Brendan entspannte sich sichtlich. "Braves Mädchen. Jetzt geh und zieh dich an. Ich
reserviere uns inzwischen einen Tisch und sehe mir die Nachrichten im Fernsehen an." Merryn schloss ihre Schlafzimmertür und lehnte sich von innen dagegen. Sie hatte die Augen geschlossen. Was ist passiert? fragte sie sich verwirrt. Irgend etwas muss ich nicht mitbekommen haben. Wie konnte er so rasch seine Stimmung wechseln? Sie ging zum Schrank, um ihre Garderobe durchzusehen. Viel Auswahl hatte sie nicht, denn sie hatte fast alles mit zu Sonia genommen. Sie entschied sich für ein lachsfarbenes Seidenkostüm: eine Weste mit Perlmuttknöpfen und Satinrücken und einen passenden Rock, der ihr bis zum Knie reichte. Dazu wählte sie weiße hochhackige Schuhe und eine weiße Satinhandtasche mit silberfarbenem Kettenriemen. Das Haar steckte sie sich auf der einen Seite mit einem wunderschön gearbeiteten Perlmuttkamm zurück. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, sah Brendan sie bewundernd an. Schweigend musterte er sie von oben bis unten. "Zu aufgetakelt?" fragte sie zögernd.
"Nein, überhaupt nicht." Er stand auf und griff
nach seiner Krawatte. "Wann geht die nächste
Fähre?"
Sie sah auf ihre Armbanduhr und antwortete:
"In zehn Minuten."
"Fein." Er schlüpfte in sein Jackett. "Gehen
wir?"
"Hast du deine Meinung auch nicht geändert?"
hörte sie sich plötzlich fragen.
"Nein. Warum sollte ich?"
Merryn sah ihn gereizt an. "Ich hatte irgendwie
das Gefühl, dass dir die Situation plötzlich nicht
mehr behagt", sagte sie.
"Dann hast du dich geirrt, Merryn", erwiderte er
leise.
Doch sie glaubte ihm nicht. Sie war überzeugt,
dass sich irgend etwas geändert hatte - ob zum
Guten oder zum Schlechten wusste sie jedoch
nicht zu sagen.
6. KAPITEL
Schweigend genossen Merryn und Brendan die kurze Überfahrt mit der Fähre. Die untergehende Sonne spiegelte sich im Fluss wider. In den Gebäuden der City flammten erste Lichter auf. Es war immer noch drückend heiß, kein Lüftchen regte sich. Als sie die wenigen Stufen des Riverside-Ufers hinaufstiegen, sagte Brendan: "Brisbane zeigt sich von seiner besten Seite. Manchmal vergisst man, wie viel Charme diese Stadt hat." "Ich weiß", erwiderte Merryn. "Ich finde, Brisbane hat gerade die richtige Größe für eine Stadt. Nicht zu groß und nicht übervölkert." "Und wunderschön für Weihnachten geschmückt." Er deutete auf die Lichterdekorationen in den Straßen. "Ja. Nur noch drei Tage, dann ist es soweit." Er fasste sie leicht am Ellbogen und begleitete sie ins Restaurant. Offensichtlich war er hier gut
bekannt, denn sogleich sprang beflissen der Oberkellner herbei, begrüßte ihn mit seinem Namen und versicherte ihnen, dass man einen der besten Tische für sie reserviert hatte. Es war noch ziemlich früh, so dass sich nicht viele Gäste eingefunden hatten. Als Merryn an dem für sie reservierten Tisch am Fenster Platz nahm, ging es ihr durch den Sinn, dass ihr das eigentlich ganz recht war - ein bisschen Ruhe und Frieden kam ihr sehr gelegen. Sie gaben ihre Bestellung auf, und man servierte ihnen eine Flasche Wein. Merryn nippte an ihrem Glas und blickte verträumt über den Fluss. Brendan schien damit zufrieden, einfach nur dazusitzen und sie zu beobachten. So saßen sie schweigend, bis der erste Gang serviert und wieder abgeräumt worden war. Es war Brendan, der das Schweigen schließlich brach. "Ich habe dich aus einem ganz speziellen Grund hier hergebracht, Merryn." Ihre Augen weiteten sich erstaunt. "Warum?" "Ich dachte, dass ein Zusammensein auf neutralem Boden - dieses Restaurant scheint mir bestens dafür geeignet - und ein leckeres Essen dazu beitragen könnten, die gespannte
Atmosphäre zwischen uns ein wenig zu lockern." "Ach ja?" "Ja. Und ich denke auch, dass dies hier gerade der richtige Rahmen ist, um dich zu bitten, meine Frau zu werden." Merryns Hand zitterte, und sie verschüttete etwas Wein auf das Tischtuch. "Bren ..." "Würdest du bitte so nett sein und mich erst einmal ausreden lassen, Merryn?" Er betrachtete sie liebevoll und registrierte, wie nervös sie plötzlich war. "Ich verstehe nicht", brachte sie hilflos hervor. "Ich fürchte, das ist meine Schuld. Ich hatte es bis jetzt auch nicht verstanden. Weißt du, ich fühlte mich mit zwei verschiedenen Persönlichkeiten konfrontiert - deinem alten Ich und deinem neuen. Es hat eine Weile gedauert, bis sich diese beiden Persönlichkeiten für mich zu einer Person verschmolzen hatten. Und weil ich für dein altes Ich immer ein besonderes Plätzchen in meinem Herzen hatte, war das um so schwerer." Merryn fingerte nervös an ihrer Serviette herum und sah ihn an. "Willst du damit andeuten, du hast mein altes Ich bevorzugt?"
"Nein. Ich will sagen, dass du mir die ganze Zeit wie eine schöne Fremde vorgekommen bist. Mit einer Ausnahme - als du mir deine Sorgen um mich anvertraut hast. Das war wie ein ...", er hielt inne und lächelte fast ein wenig wehmütig, wie sie fand, "... ja, wie ein Erlebnis aus alten Zeiten." "Als du dich an die Maus erinnert hast?" "Ja, als ich mich an die Maus erinnert habe", stimmte er zu. "Da wart ihr beide plötzlich wieder eine Person. Ich hatte entsetzliche Schuldgefühle, denn mir war bewusst geworden, dass ich dich wollte. Doch mir war nie klar, wie sehr ich dich begehre und brauche." Merryn fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. "Ich hätte es daran erkennen müssen", fuhr Brendan fort, "dass mich der bloße Gedanke, du könntest mit Steve zusammen sein, schier zur Raserei brachte. Ich schob es darauf, dass ich ihn nicht mag." Er lächelte. "Doch jetzt weiß ich, dass es mir mit jedem anderen Mann genauso gehen würde."
"Aber das hatte doch alles gar nichts mit dir zu
tun. Ich war einundzwanzig, als wir uns zuletzt
gesehen haben." Sie brach abrupt ab.
"Wenn das als Eingeständnis gemeint ist, wie
ich hoffe", sagte Bren leise und legte seine Hand
auf ihre, "dann bleibt mir nur zu sagen, dass ich
ein unglaublicher Dummkopf gewesen sein
muss."
"Aber ..." Merryn hatte das Gefühl, als würde
ihre Zunge am Gaumen festkleben.
"Trink einen Schluck Wein."
Das tat sie. Sogleich fühlte sie sich besser.
"Aber?" hakte er nach.
"Du hast nicht die geringste Andeutung
gemacht, bis Michelle ..." Mit einer hilflosen
Geste brach sie ab.
"Da muss ich dir widersprechen. Weißt du, nach
der Party wurden mir die Dinge langsam klar.
Als ich erkannte, dass meine Unzufriedenheit
mit einer ganz bestimmten Person
zusammenhing."
"Wann?" hauchte sie. "Wann hast du versucht,
es mir zu sagen?"
"An jenem Tag in Sanctuary Cove."
In Gedanken ließ Merryn diesen Tag rasch noch
einmal Revue passieren.
"Ich dachte, dass du es mir schon zeigen würdest, wenn du meine Gefühle erwiderst", sagte er leise. "Ich ... ich ..." Merryn wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn aussprechen. "Nun, du hast es nicht getan", fuhr er mit leiser Stimme fort. "Du hast mich lediglich wie einen guten alten Freund behandelt. Und ich habe mich daran erinnert, dass es auf dieser verdammten Party ganz genau so gewesen war. Mein Verlangen nach dir steigerte sich Tag für Tag, und mir wurde bewusst, dass ich dich nie vergessen würde. Doch für dich existierte ich nicht als ein Mann, sondern nur als großer Bruder. Dir ist das alles nie bewusst geworden." "Oh ..." Merryn sah ihn verblüfft an. "Mir ist aufgefallen, in welchen geordneten Verhältnissen du lebst." Brendan drehte sein Weinglas zwischen seinen schlanken Fingern. "Und wie sprunghaft und chaotisch ich im Vergleich zu dir lebe. Vermutlich bin ich das letzte, was du in deinem Leben brauchst."
"Ihr Hummer, Sir, Madam!" Der Kellner
servierte diskret.
Merryn lehnte sich zurück und betrachtete das
delikate Mahl auf ihrem Teller: Hummer
Mornay, mit einer feinen Sauce überzogen, auf
einem Reisbett angerichtet. Dazu wurde eine
Platte gedünstetes Gemüse gereicht.
"Ich wusste es nicht", erklärte Merryn so laut,
dass ihr der Ober einen fragenden Blick zuwarf.
Sie schloss die Augen und hörte Brendan etwas
murmeln. Als sie die Augen wieder öffnete,
waren sie allein.
"Lass dein Essen nicht kalt werden", mahnte
Brendan besorgt.
"Ich habe überhaupt keinen Hunger mehr."
"Doch, hast du. Probier doch wenigstens mal."
Gehorsam nahm sie ihre Gabel und kostete von
dem Hummer, der köstlich schmeckte, wie nicht
anders zu erwarten. Nachdem sie aufgegessen
hatte, schob sie unwirsch den Teller beiseite und
fragte: "Warum erzählst du mir das erst jetzt,
Bren?"
Er überlegte einen Moment. "Und nicht schon
gestern Nachmittag?"
"Ja ..."
"Ich dachte, dass du mir doch nicht glauben würdest. Du warst wütend und ..." "Das war ich auch, aber ..." Sie brach ab. "Glaubst du mir jetzt, Merryn?" "Ich ... ist es dir denn gleichgültig, was ich heute Nachmittag gesagt habe? Du hast so schockiert ausgesehen." Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. "Um ehrlich zu sein, ich finde es äußerst angenehm, dass du keine dumme, gefügige Gans bist, die sich von jedem küssen lässt. Ich bewundere und liebe dich dafür", schloss er mit leiser Stimme. "Und was ist mit ...?" Sie wagte nicht, den Satz zu vollenden. "Mit deiner Behauptung, dass du sehr erfahren seiest? Ich gebe zu, dass mich das einen Moment ziemlich schockiert hat. Doch dann wurde mir bewusst, dass dir die Worte wohl in deiner Wut so herausgerutscht sind. Ich habe dich wohl ziemlich provoziert, nicht wahr? Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ich habe es nicht geglaubt, Merryn." "Weil ich mich so naiv benommen habe?"
"Nein." Sein Blick ruhte liebevoll auf ihr. "Du bist so frisch und lieblich, und das stellt jegliche Erfahrung weit in den Schatten." Merryn sagte nichts dazu. Vorsichtig hakte er nach: "Habe ich mich geirrt?" "Was meine Erfahrung betrifft? Nein, aber ..." "Fällt es dir schwer zu glauben, dass ich dich liebe?" "Es kommt so furchtbar plötzlich." "Nicht wirklich ..." Brendan zögerte. "Es sei denn, du hast entdeckt, dass das, wonach du dich so lange gesehnt hast, nur zu einer Art Gewohnheit geworden ist." Merryn spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Sie blickte verlegen zu Boden. "Du kannst es mir ruhig sagen, Merryn. Ich bin nicht so dumm und egoistisch, mir einzubilden, dass du genauso fühlst wie ich." Sie sah ihn an, und der schmerzliche Zweifel in seinem Blick tat ihr weh. "Aber vielleicht habe ich mich einfach noch nicht richtig ausgedrückt. Ich habe dir noch nicht gesagt, dass in dem Moment, als die zwei Merryns zu einer Person verschmolzen, dies die einzige Antwort war, die einen Sinn ergab."
"Sinn?" "Ja." Er lehnte sich zurück. "Der ganze Aufruhr hat sich plötzlich gelegt - meine innere Zerrissenheit, meine ich. Was auch immer passiert, und mit wem auch immer du Zusammensein wirst, wenigstens habe ich die Antwort auf die Frage gefunden, die mich so gequält hat. Ich habe nicht erkannt, dass du die Frau meines Lebens bist. Einerseits stand ich dir einfach zu nahe, andererseits war ich zu beschäftigt, um zu registrieren, wie du erwachsen geworden bist und all die Eigenschaften, die ich als Kind schon an dir liebte, zur Vollkommenheit entwickelt hast." Merryn nahm sein Geständnis völlig sprachlos zur Kenntnis. "Und da ist noch etwas", fuhr er fort, "was mir für den Rest meines Lebens inneren Frieden geben wird. Du wirst immer in meinen Gedanken und in meinem Herzen sein, Merryn." Sie sahen einander an, und plötzlich liefen Merryn Tränen über die Wangen. Mit rauer Stimme brachte sie hervor: "Könntest du mich bitte nach Hause bringen, Bren? Ich könnte platzen vor Glück."
Diesmal war die Fähre ziemlich voll, und sie fanden keinen Sitzplatz. Doch das war Merryn egal. Während der gesamten Überfahrt hielt Brendan sie in der sicheren Geborgenheit seiner Arme. Hand in Hand gingen sie danach zu Merryns Wohnung. Nachdem sie die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte Merryn: "Ich glaube, dass ich dich liebe, seit ich zurückdenken kann. Als du es schließlich erfahren hast, hatte ich solche Angst, dass du Mitleid mit mir haben würdest." "Mitleid? Wie kommst du denn darauf?" Brendan zog sie in die Arme. "Aber Hoffnung, ja - tiefe, verzweifelte Hoffnung. Und das absolute Unvermögen, klar zu sehen ... Merryn, Liebling, jetzt habe ich dich schon zweimal geküsst, und beide Male ohne deine Erlaubnis ..." "Bitte tu dir keinen Zwang an", flüsterte sie. Das ließ Brendan sich nicht zweimal sagen. Es war ein Kuss voll mitreißender Leidenschaft. Als Brendan sich schließlich schwer atmend von Merryn löste und sie voller Verlangen betrachtete, ergriff sie seine Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer.
"Wenn du möchtest, könnten wir damit warten, bis wir verheiratet sind", erklärte er liebevoll. "Apropos - willst du meine Frau werden?" "Natürlich. Aber ich glaube nicht, dass ich so lange warten kann. Da ist nur eine Sache." Sie hatten das Licht ausgeschaltet, und der silbrige Schein des Mondes tauchte das Zimmer in ein fast unwirkliches Licht. Brendan und Merryn standen eng umschlungen mitten im Raum. "Und das wäre?" fragte er. "Ich habe nicht nur wenig Erfahrung, ich habe sogar noch nie mit einem Mann geschlafen." "Tatsächlich nicht, Liebling?" Seine Stimme klang so sanft, dass es ihr den Atem raubte. Er küsste sie erneut, diesmal voller Zärtlichkeit. Dann setzte er sich aufs Bett und zog sie auf seinen Schoß. "Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest." "Das hatte ich auch nicht", gestand sie. "Ich konnte mir es nur nicht mit einem anderen Mann als dir vorstellen." Sie zögerte und bedachte ihn mit einem unsicheren Lächeln. "Ich habe mir immer eingeredet, dass meine Gefühle für dich irgendwann sterben würden,
aber das ist nie passiert." Ihre Augen blitzten mutwillig. "Was Steve betrifft ..." "War das etwa alles nur pure Erfindung?" "Ja. Ich hielt es für ungefährlich, nach Hause zu kommen, um mich um Sonia zu kümmern. Du warst ja nicht da. Und dann bist du plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht, und dir fiel nichts anderes ein, als mir zu sagen, wie erwachsen ich geworden sei ..." Merryn spürte, wie Brendan sich plötzlich anspannte. Sie streichelte ihm über die Wange "Also baute ich mir eine Art Selbstverteidigung auf. Ich ahnte ja nicht ..." "Du ahntest ja nicht, dass du damit meiner Familie direkt in die Hände spielen würdest, ganz zu schweigen von Steve", vollendete er ihren Satz. "Er wird schon darüber hinwegkommen. Übrigens, es tut mir leid", fügte er unvermittelt hinzu. "Was denn?" "Dass ich dich mit meiner blöden Bemerkung, wie erwachsen du geworden seiest, gekränkt habe. Das gehörte wahrscheinlich zu meiner Selbstverteidigung - gegen den Schock, nach Hause zu kommen und das, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte, auf meiner eigenen Türschwelle zu finden. Aber manchmal hatte
ich sogar das Gefühl, dass du mich gar nicht magst." Sie lachte hell auf, und Brendan umfasste ihr Kinn, um sie zu küssen. "Da gibt es etwas, was ich dir unbedingt sagen muss", erklärte er, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. "Dieses Essen, ich meine das Geschäftsessen heute Mittag, war von ziemlich großer Bedeutung." "Tatsächlich?" "Ja. Vor nicht allzu langer Zeit hat mir eine australische Firma ein Fusionsangebot unterbreitet. Damals wollte ich nichts davon wissen, doch vor ein paar Tagen habe ich mit der Geschäftsleitung Kontakt aufgenommen, um mich zu vergewissern, ob noch Interesse besteht. Und das tut es, wie es scheint." "Bren!" Merryn fiel ihm aufgeregt ins Wort. "Du brauchst doch nicht ..." "Doch, das muss ich. Ich komme nach Hause, mein Schatz." "Was ist mit deinem Fernweh?" "Das hat sich inzwischen ziemlich gelegt. Abgesehen davon wird es sich nicht vermeiden lassen, ab und zu vor Ort nach dem Rechten zu sehen. Aber ich werde keinesfalls ständig
unterwegs sein, so wie früher. In diesem Zusammenhang wollte ich dich etwas fragen." "Ob auch ich meinen Hang zu weiten Reisen aufgeben kann?" Er nickte. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. "Vielleicht. Du könntest mich ja immer mitnehmen. Jedenfalls, bis wir eine Familie gegründet haben ..." Und das waren die letzten vernünftigen Worte, die sie für eine ganze Weile sagte. "Wann werden wir es ihnen sagen?" murmelte Merryn viel später. Ihre Kleidungsstücke lagen überall auf dem Fußboden verstreut. Es war eine wundervolle Erfahrung gewesen, mit Brendan zu schlafen. Er strich ihr das Haar zur Seite und küsste sie verlangend auf die Schulter. Merryn kuschelte sich eng an Brendan. Sie fühlte sich unendlich glücklich und zufrieden. Wenn sie daran dachte, wie verzweifelt sie noch vor wenigen Stunden gewesen war ... "Wenn es nach mir geht, überhaupt nicht. Warum seufzt du?" Er streichelte ihr zärtlich über den Rücken. "Alles in Ordnung?"
"Mir ging es noch nie besser", hauchte sie.
"Was ist mit dir?"
Brendan drückte sie fest an sich. "Mir geht es
genauso. Glaubst du jetzt endlich, dass du einen
Menschen hast, der zu dir gehört, Merryn?"
"Ja, Bren."
"Also, wann werden wir es ihnen sagen?" nahm
Brendan den Faden wieder auf. "Wenn es nach
mir ginge, würde ich uns einfach wegzaubern
und darauf verzichten, es ihnen überhaupt zu
sagen."
"Ich weiß, was du meinst", stimmte sie lachend
zu. "Aber das können wir Sonia nicht antun."
"Nein. Sie wird so erleichtert sein. Was ist?"
Merryn hatte sich abrupt aufgesetzt. "Ich habe
eine Idee! Weißt du, Sonia war nie richtig
glücklich bei der Vorstellung, Weihnachten ein
kaltes Büffet zu servieren."
"Tatsächlich nicht?"
"Nein. Ich habe es ihr gewissermaßen
aufgezwungen."
"Das sieht dir aber gar nicht ähnlich, Merryn.
Abgesehen davon ist ein kaltes Büffet wirklich
viel praktischer bei diesem heißen Klima.
Außerdem ist Sonia durch ihre Hüftoperation ja
noch immer ziemlich gehandikapt."
Nach kurzem Zögern erklärte Merryn entschlossen: "Wie auch immer, tief in meinem Herzen weiß ich, dass Sonia der Familientradition gern treu bleiben möchte. Ich war es, die mit dieser Tradition brechen wollte." Brendan stützte sich auf die Ellbogen und sah sie interessiert an. "Warum?" Ein wenig unglücklich gestand sie: "Ich wollte nicht an all die anderen Weihnachtsfeste mit allem Drum und Dran erinnert werden - und damit auch an dich." "Merryn, Liebes." Er zog sie tröstend in die Arme. "Es tut mir leid." "Bren, das entschädigt mich für alles." "Ich verdiene es gar nicht, dass du so nett zu mir bist." Er küsste sie voller Leidenschaft und ließ sich zufrieden in die Kissen zurücksinken. Ihre Augen leuchteten plötzlich amüsiert auf. "Aber ich brauche deine Hilfe." "Oh?" Er betrachtete ihre vollen Brüste mit den zarten rosigen Spitzen, die schlanke Taille, ihre leuchtenden grauen Augen und schloss die Augen, innerlich ein Dankgebet zum Himmel schickend. "Sag mir, was ich machen soll. Aber ich muss dich warnen, Kochen gehört nicht unbedingt zu meinen größten Talenten."
Merryn lächelte. "Keine Angst, das Kochen übernehme ich. Ich brauche deine Hilfe beim Einkaufen. Und du musst mir helfen, das Ganze geheim zu halten - ich möchte Sonia nämlich gern überraschen. Nachdem wir ihr mit unserem Theater so zugesetzt haben, hat sie eine kleine Überraschung wirklich verdient. Außerdem halten wir sie so aus allen Vorbereitungen heraus und verhindern, dass sie sich überanstrengt. Ich kann übrigens eine ganze Menge hier in meiner Wohnung vorbereiten, sofern du mir den Rücken freihältst und nichts verrätst", erklärte sie. "Versprochen", antwortete er prompt. "Aber pass auf, dass du dich nicht völlig überarbeitest." Er zog sie in die Arme. Nach einem kurzen, süßen Zwischenspiel meinte er seufzend: "Bleibt nur noch eine Frage zu klären: Wann sagen wir es ihnen?" Merryn fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. "Wir könnten ihnen ja eine doppelte Überraschung bereiten!" Die kommenden Tage flogen nur so dahin, und es gab Augenblicke, da bereute Merryn ihren Entschluss beinahe. Ein aufwendiges
traditionelles Weihnachtsessen zu organisieren bedeutete hektische Einkäufe in letzter Minute in total überfüllten Geschäften. Merryn und Brendan fuhren meilenweit, um noch zwei frisch geschlachtete Truthähne zu ergattern, und glasierte Kirschen schienen plötzlich aus den Regalen sämtlicher Geschäfte verschwunden. Doch Heiligabend hatte sie alles in ihrer Wohnung beisammen, was sie brauchte. "Bist du sicher, dass du allein damit fertig wirst?" fragte Brendan zweifelnd, als er die voll gestopfte Küche betrachtete. "Ich erledige nur so viel, wie ich heute Abend schaffe." Sonia verbrachte Heiligabend bei Michelle, wo sich sämtliche Enkelkinder versammelt hatten. "Darf ich bleiben?" "Natürlich. Du darfst mir sogar helfen. Kannst du Kartoffeln schälen?" "Vermutlich, obwohl es sicher ein, zwei Dinge gibt, die ich besser beherrsche." "Oh?" Sie hob die Augenbrauen. "Ich dachte, du ..." "Zum Beispiel das." Er nahm ihr die Reibe aus der Hand, legte sie auf ein Netz Zwiebeln und zog Merryn in die Arme.
"Ah, das", murmelte sie zufrieden. "Du stimmst mir also zu?" Er streichelte ihren Rücken und verschränkte die Hände dann hinter ihrem Nacken. "Dass du das besser kannst als Kartoffeln schälen?" Sie überlegte einen Augenblick. "Vermutlich." "Dir ist doch bewusst, was du mit dieser unterkühlten Antwort herausforderst, Miss Merryn?" fragte er ernst, mit einem leicht spöttischen Unterton. "Eine Demonstration deiner größten Fähigkeiten?" erwiderte sie hoffnungsvoll. "Genau", stimmte er zu. "Es gibt nur eins, was mich daran stört, Bren." "Und das wäre?" "Allein der Gedanke daran lässt mich alles andere vergessen, und die Kartoffeln müssen warten." "Nun, das war gerade die richtige Antwort für eine zukünftige Ehefrau." "Ich bin froh, Bren, dass du so denkst." Sie seufzte verlangend. "Und du bist nicht auf die Idee gekommen, dass du mir damit schwere Gewissensbisse verursachen könntest? Ganz zu schweigen
davon, mich daran zu erinnern, dass du dann die
ganze Nacht hier in der Küche schuften musst?"
"Daran darf ich gar nicht denken."
Lachend umschloss er ihr Gesicht mit beiden
Händen und küsste sie. "Gib mir den
Kartoffelschäler - ich sehe schon, ich muss bei
klarem Verstand bleiben. Ich meine, wenn wir
erst mal verheiratet sind."
"Andererseits", Merryn lächelte verführerisch,
"kannst du ja übermorgen irgendwo mit mir
hinfahren und mit mir machen, was immer du
willst."
"Das ist ein Angebot, das ich unmöglich
ablehnen kann."
Der Weihnachtstag dämmerte klar und strahlend
herauf.
"Merryn, ich fühle mich entsetzlich, dass ich
alles dir allein überlasse!" lamentierte Sonia.
"Es ist gar nicht viel zu tun", log Merryn und
kreuzte die Finger hinter dem Rücken.
"Dann kannst du ja ruhig mitkommen!"
Merryn forderte Brendan mit einem Blick auf,
das Wort zu ergreifen und ihr zu Hilfe zu
kommen.
"Du hast doch mich, um dich zur Kirche zu begleiten und die entfernten Mitglieder unseres Clans zu besuchen", wandte er sich an seine Mutter. " Vergiss nicht, dass Merryn nach dem großen Familientreffen heute wieder alles aufräumen und abwaschen muss. Da hat sie doch jetzt ein bisschen Ruhe verdient." "O ja natürlich." Sonia gab nach und küsste Merryn auf die Wange, wobei ihr der verschwörerische Blick entging, den ihr Sohn und Merryn sich über ihren Kopf hinweg zuwarfen. Sobald Merryn hörte, wie der Wagen die Auffahrt hinunterfuhr, holte sie tief Luft und machte sich erneut an die Arbeit ... Gegen Mittag war Sonia zurück und schnupperte prüfend. Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, stand wie auf Kommando der Rest der Familie vor der Tür. Die Anwesenheit sechs aufgeregter Kinder und eines Babys genügte, um Sonia voll und ganz in Anspruch zu nehmen und von allem anderen abzulenken. Es gab eine große Geschenkorgie unter dem Weihnachtsbaum, und anschließend wurde das Spielhaus feierlich mit einer Champagnerdusche eröffnet.
Um eins knurrte bereits allen der Magen, und Sonia sagte: "Ich dachte, wir essen draußen, Merryn?" Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie den ungedeckten Tisch auf der Veranda. "Ich habe es mir anders überlegt", erklärte Merryn gelassen. "Kommt doch bitte alle rein." Rox und Michelle trieben die Kinder zusammen, was gar nicht so leicht war, denn sie mochten sich nicht von dem Spielhaus trennen. "Ich dachte auch, dass wir draußen essen", nörgelte Michelle. "Wenn ihr mich fragt, das wäre viel einfacher mit den ganzen Kindern. Warum sonst haben wir ein kaltes Büffet?" "Schwesterherz, nun sei endlich ruhig", befahl Brendan und öffnete mit großer Geste die Tür zum Esszimmer. Wie gebannt blieb die ganze Sippschaft auf der Türschwelle stehen. Ein schier atemberaubender Anblick bot sich ihnen. Der große alte Esstisch war festlich gedeckt mit einer wunderschönen Weihnachtsdecke, goldfarbenen Bändern und dem besten Porzellan. Das Tafelsilber und die Kristallgläser funkelten, und neben jedem Gedeck stand ein Schälchen mit Knallbonbons. Doch was Sonia die Tränen der Rührung in die Augen trieb, war der Anblick von zwei goldgelb
gebratenen Truthähnen und einem prächtigen glasierten Schinken, garniert mit Ananas und Kirschen. Der Tisch bog sich förmlich unter der Last von Schüsseln mit Röstkartoffeln, Kürbisgemüse, Blumenkohl, Bohnen und Erbsen. Auf der Anrichte stand ein wundervoller australischer Weihnachtspudding, gekrönt mit glasierten Kirschen und Nüssen ... "Merryn, meine Liebe!" "Frohe Weihnachten", wünschte Merryn und zog Sonia in die Arme. Alle - einschließlich Michelle - klatschten begeistert in die Hände. "Wie hast du das bloß alles allein geschafft?" rief Sonia entgeistert aus, als die Feier in vollem Gang war. "Kannst du plötzlich zaubern?" "Nein", lachte Merryn. "Bren hat mir geholfen. Alles andere, was ich bereits eingekauft hatte, habe ich der Heilsarmee zukommen lassen." "Oh, was für eine phantastische Idee - aber warum hast du deine Meinung geändert?" Merryn wandte sich zu Brendan, der auf ihrer anderen Seite saß. Unter dem Tisch nahm er ihre Hand und drückte sie aufmunternd. Dann stand er auf und klopfte mit dem Messer gegen sein Glas.
"Wenn ihr mir bitte einen Moment eure Aufmerksamkeit schenkt", sagte er, während der Tumult um ihn herum langsam abebbte. "Gerade ist mir aufgefallen, dass ich vergessen habe, Merryn, die heute so hart für uns gearbeitet hat, damit wir zu unserem Festessen kommen, ihr Weihnachtsgeschenk zu geben. Ich ..." "Du brauchst keine langen Reden zu halten, Bren!" protestierte Rox. "Doch, zufällig muss ich das. Also ..." "Du hast doch auch keine großen Reden geschwungen, als du mir mein Geschenk gegeben hast, das zugegebenermaßen sehr hübsch ist", unterbrach ihn Michelle lächelnd. "Mich würde interessieren, wer es ausgesucht hat." Sie ließ ein kehliges Lachen hören und nahm einen großen Schluck aus ihrem Weinglas. "Michelle", erklärte Brendan ernst. "Du gibst wahrhaftig kein gutes Beispiel für die Kinder ab. Das ist schon dein viertes Gas." Immer wieder die alte Leier, dachte Merryn, und Brendan schien das gleiche zu empfinden. Er fasste sie leicht unter dem Ellbogen und zog sie hoch. Dann zauberte er ein kleines
Samtkästchen aus der Jackettasche hervor, nahm einen Diamantring heraus und steckte ihn ihr an den Finger. Anschließend küsste er sie innig, bis ringsum alle in Schweigen erstarrt waren. Schließlich löste er sich von Merryn, wandte sich an seine Familie und verkündete strahlend: "Meine Damen und Herren, lasst uns miteinander anstoßen. Auf meine zukünftige Frau!" "Ich wusste es. Ich lag die ganze Zeit richtig!" Michelle fand als erste die Sprache wieder. Sie sprang auf und hielt ihr Glas zum Toast in die Höhe. "Auf Brendan und Merryn! Möge ihnen ein langes und glückliches gemeinsames Leben beschieden sein!" "Was sollte jetzt noch schief gehen?" kommentierte Brendan trocken und zog eine überglückliche Merryn in die Arme.
- ENDE