Detlef Gaus · Elmar Drieschner (Hrsg.) ‚Bildung‘ jenseits pädagogischer Theoriebildung?
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Detlef Gaus · Elmar Drieschner (Hrsg.) ‚Bildung‘ jenseits pädagogischer Theoriebildung?
Detlef Gaus · Elmar Drieschner (Hrsg.)
‚Bildung‘ jenseits pädagogischer Theoriebildung? Fragen zu Sinn, Zweck und Funktion der Allgemeinen Pädagogik Festschrift für Reinhard Uhle zum 65. Geburtstag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
.1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Tanja Köhler Redaktion: Bettina Ziegler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17125-8
Inhaltȱ ȱ ȱ BildungȱundȱallgemeinpädagogischeȱTheoriebildungȱ ElmarȱDrieschnerȱundȱDetlefȱGausȱ..................................................................... 9 I.ȱȱ KonjunkturenȱdesȱBildungsbegriffsȱ Vernunft,ȱBildungȱundȱKritik.ȱȱ AnmerkungenȱzurȱDialektikȱderȱAufklärungȱ JürgenȱOelkersȱ ................................................................................................... ȱ35ȱ Bildungȱ–ȱtheȱformationȱofȱaȱgenteelȱcharacter?ȱ MonikaȱBotheȬScharfȱ ......................................................................................... ȱ67ȱ ȱ DieȱEntwicklungȱdesȱDeutungsmustersȱBildungȱimȱMediumȱ vonȱKonversationslexika.ȱEineȱinhaltsanalytischeȱUntersuchungȱ MartenȱKirschnerȱ .............................................................................................. ȱ79ȱ ȱ ȱ
II.ȱȱ PositionsbestimmungenȱderȱAllgemeinenȱPädagogikȱ/ȱȱ ȱȱ HistorischȬsystematischenȱErziehungswissenschaftȱ ȱ
DieȱphilosophischeȱDimensionȱderȱPädagogikȱ KlausȱPrangeȱ ..................................................................................................... ȱ95ȱ ȱ VonȱderȱUnentbehrlichkeitȱzurȱEntbehrlichkeitȱ ‚allgemeinerȱWissenschaft‘ȱimȱFalleȱvonȱErziehungȱundȱBildungȱ DietrichȱHoffmannȱ .......................................................................................... ȱ107ȱȱ ȱ UngeliebtesȱKind?ȱZurȱRolleȱderȱempirischenȱPädagogikȱalsȱ Pädagogikȱ MatthiasȱvonȱSaldernȱ ...................................................................................... ȱ123ȱ ȱ
PädagogischeȱoderȱerziehungswissenschaftlicheȱHistoriographie?ȱ SkizzeȱeinesȱVermittlungszusammenhangsȱimȱAnschlussȱanȱ ideengeschichtlicheȱÜberlegungenȱvonȱQuentinȱSkinnerȱ MarcusȱErbenȱ .................................................................................................. ȱ145ȱ ȱ ȱ
III.ȱȱProfessionelleȱundȱinstitutionelleȱBezugsfelderȱdesȱȱ ȱȱ Bildungsbegriffsȱ ȱ
BildungȱalsȱSelbstbildungȱoderȱKompetenzentwicklung?ȱȱ ZurȱAmbivalenzȱvonȱKindȬȱundȱKontextorientierungȱ inȱderȱfrühpädagogischenȱBildungsdebatteȱ ElmarȱDrieschnerȱ ............................................................................................ ȱ183ȱ ȱ LernenȱinȱKonzeptionenȱderȱAllgemeinenȱDidaktik.ȱȱ EineȱkritischeȱAnalyseȱ HanaȱKiperȱ....................................................................................................... ȱ221ȱ ȱ Öffentlichkeit,ȱSchulbildungȱundȱProfessionalitätȱvonȱLehrkräften.ȱ ZurȱkommunikationstheoretischenȱNeubegründungȱ vonȱLehrerprofessionalitätȱ ShinjiȱNobiraȱ ................................................................................................... ȱ243ȱ ȱ ProfessionswissenȱalsȱZentrumȱderȱDiskurseȱüberȱLehrerbildungȱ KarlȱNeumannȱ ................................................................................................. ȱ269ȱ ȱ Subjektorientierteȱ(offene)ȱKinderȬȱundȱJugendarbeitȱalsȱȱ Bildungsarbeit.ȱMöglichkeitenȱundȱGrenzenȱallgemeinȬȱ pädagogischerȱReflexionsȬȱundȱBegründungsformenȱ außerschulischerȱBildungsarbeitȱ MichaelȱBosselmannȱundȱHannahȱDenker........................................................ 283ȱ ȱ ȱ ȱ
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ZuȱwelchemȱZweckȱstudiertȱmanȱErziehungsȬȱundȱBildungstheorien?ȱ ZurȱLehrgestaltȱderȱAllgemeinenȱPädagogikȱinȱȱ modularisiertenȱStudiengängenȱ PeterȱVogelȱ....................................................................................................... ȱ311ȱ ȱ KonzepteȱzumȱBildungsauftragȱderȱHochschule.ȱZurȱhistorischenȱ undȱsystematischenȱRekonstruktionȱeinesȱToposȱzwischenȱ bildungstheoretischenȱIntentionenȱundȱhochschulȬȱ organisatorischenȱFunktionenȱ DetlefȱGausȱ ...................................................................................................... ȱ323ȱ ȱ BildungȱinȱMuseen?ȱ MartinȱFrommȱ................................................................................................. ȱ361ȱ ȱ ȱ
IV.ȱBildungsfähigkeitȱausȱhistorischerȱPerspektiveȱ ȱ
LernfähigkeitȱundȱGeschlechtȱ HartmutȱTitzeȱundȱCorinnaȱM.ȱDartenneȱ...................................................... ȱ381ȱ ȱ ZurȱDeutungȱvonȱ‚Bildsamkeit‘ȱimȱProzessȱderȱ ‚Kommunikationsspirale‘ȱdesȱ‚Ideenprofils‘ȱ AxelȱNathȱundȱAlexanderȱGriebelȱ................................................................... ȱ401ȱ ȱ DisziplinäresȱImportverhalten.ȱDieȱRezeptionȱfremddisziplinärenȱ WissensȱinȱderȱErziehungswissenschaftȱamȱBeispielȱ derȱgenetischenȱErkenntnistheorieȱ TorbenȱKneisler................................................................................................. ȱ435ȱ ȱ ȱ
VerzeichnisȱderȱAutorinnenȱundȱAutoren.................................................. 457ȱ
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Bildung und allgemeinpädagogische Theoriebildung Elmar Drieschner / Detlef Gaus
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Einleitung
Zu Beginn des neuen Jahrtausends befindet sich das gesamte Bildungssystem vom Kindergarten bis zur beruflichen Weiterbildung in einem fundamentalen Wandel. Aufgrund der Herausforderungen des globalisierten Wirtschaftslebens soll das Bildungssystem in seinen verschiedenen Teilbereichen reformiert werden. Ein Motor dieser Reformambitionen sind die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsforschung, die dazu verwendet werden, dem deutschen Bildungssystem zu bescheinigen, dass es die nachwachsenden Generationen für die Herausforderungen der Zukunft nicht hinreichend vorbereite. Die derzeit beobachtbaren gesellschaftlichen und politischen Anstrengungen um Bildungsförderung sind im historischen Vergleich beachtlich. Bildung hat, so scheint es, wieder Hochkonjunktur. Die hohe Priorität von Bildungsfragen lässt sich u.a. an zahlreichen Maßnahmen zur Bildungsförderung erkennen, die vor allem seit den letzten sechs Jahren eingeleitet wurden. Dazu zählen z.B. die jährlich vorgelegten Bildungsberichte, die empirisch den Stand des Bildungswesens von der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung bis zur beruflichen Weiterbildung aufzeigen. Evaluiert werden auch die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten von Schülerinnen und Schülern auf der Basis nationaler Bildungsstandards, welche verbindlich erwartete Kompetenzleistungen curricular festlegen. Auch auf internationaler Ebene werden im Schul- und Hochschulbereich von renommierten und mit Millionenbeträgen ausgestatteten Forschungsinstituten in regelmäßigen Zeitabständen vergleichende Erhebungen und Analysen zu den Bildungsstrukturen in den einzelnen Ländern durchgeführt. Das prominenteste Beispiel ist die von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) durchgeführte PISA-Studie (Programm for International Student Assessment). Parallel legen Stiftungen der Wirtschaft wie z.B. die BERTELSMANN-STIFTUNG oder die ROBERT BOSCH STIFTUNG und privatwirtschaftliche Initiativen wie ‚MCKINSEY bildet‘ Programme und Förderkonzepte auf, um z.B. die Bildungsqualität im Kindergarten zu verbessern, Hauptschüler gezielt auf
ihren Schulabschluss oder das Berufsleben vorzubereiten oder akademische Exzellenz zu fördern (vgl. MELVILLE 2009). Bildung ist also allem Anschein nach wieder ein Thema. Ist ‚Bildung‘ aber tatsächlich wieder ein Thema? Und wenn ja, in welcher Weise wird Bildung thematisiert? Am Anfang der Überlegungen zu diesem Band stand eine gewisse Ratlosigkeit im Angesicht der Unübersichtlichkeit des Feldes. Zwar wird derzeit in allgegenwärtigen Diskursen wieder von ‚Bildung‘ gehandelt. Dieser Begriff war mit den sozialwissenschaftlichen und kritischen Wendungen der Wissenschaftslandschaft im Allgemeinen und der Erziehungswissenschaft im Besondern in den 1960er und 1970er Jahren als metaphysisch überfrachteter und ideologisch entlarvter durch Begriffe wie Lernen, Sozialisation oder Identität ersetzt worden (vgl. UHLE 1997). In der Gegenwart aber ist er, so scheint es auf den ersten Blick, präsenter denn je. Wird aber auch nur etwas genauer hingeschaut, so fällt eines auf: ‚Bildung‘ wird, diskursanalytisch ausgedrückt, im allfälligen Diskutieren und Reformieren, Kritisieren und Konzeptionieren nur mehr als ‚Container-Begriff‘ verwendet. In den aktuellen Diskursen zeigen sich die unterschiedlichsten Verwendungsformen des Bildungsbegriffs, denen z.T. völlig konträre Motive, Annahmen und Prinzipien zugrunde liegen. Diese Tendenz wird an den zahlreichen neuen Komposita deutlich, die ‚Bildung‘ als Grund- oder Bestimmungswort enthalten. Um es provozierend auf den Punkt zu bringen: Die ‚Bildungsrepublik‘ diskutiert das ‚Bildungsklima‘ im ‚Bildungssystem‘, die ‚Bildungspolitik‘ beauftragt die ‚Bildungsforschung‘, über ‚Bildungspanels‘ und ‚Bildungsstudien‘ ‚Bildungsmonitoring‘ zu betreiben, um ‚Bildungspläne‘ entwickeln zu können, die ‚Bildungsschichten‘ zueinander aufschließen lassen, wozu auch die ‚Lehrerbildung‘ reformiert werden muss, damit die ‚Kompetenzbildung‘ hin zur ‚Persönlichkeitsbildung‘ unter dem regulierenden Wirken von ‚Bildungsstandards‘ möglich werde, usw. Der inflationäre Gebrauch des Bildungsbegriffs führt zu terminologischer Unschärfe und definitorischer Unklarheit. Ein Interesse an einer semantischen Bestimmung des Kerns dieses Begriffs scheint offenbar nicht mehr zu bestehen. Wie im Auge dieses verbalen Hurrikans scheint jene Wissenschaft zu liegen, die doch einmal den Bildungsdiskurs dominierte. Scheinbar mittendrin im Diskursgetümmel als Teil eines neuen Konglomerats Bildungswissenschaften herrscht doch merkwürdige Ruhe um jenes Fach, das, je nach Ausprägung, mal als Allgemeine Pädagogik, mal als Historisch-systematische Erziehungswissenschaft figuriert. Inmitten des diskursiven Sturms scheint dieser Bereich an Bedeutung zu verlieren. Strukturell schlägt sich dies im Abbau oder in der Umwidmung von Stellen im Zuge des Generationenwechsels an Hochschulen nieder, um Platz zu machen für neue, andere Bereiche der ‚Bildungsforschung‘.
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Dabei ist die Allgemeine Pädagogik / Historisch-systematische Erziehungswissenschaft doch einst als Antwort auf derartige Pluralisierungsprozesse im pädagogischen Diskurs wie im pädagogischen Feld entstanden. Die Geschichte der Pädagogik als Profession wie als wissenschaftlicher Disziplin ist in der Moderne, insbesondere im 20. Jahrhundert, durch vielfältige Ausdifferenzierungsprozesse gekennzeichnet (vgl. HORN/TENORTH 1998; TENORTH 1989, 1997). In diesem Zusammenhang begründen sich der Anspruch und die Funktion der Allgemeinen Pädagogik / Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft, als sozialer und kommunikativer Zusammenhang eine disziplinäre Klammer zu bilden. Ihre zugeschriebene Aufgabe wie ihr Selbstverständnis bestanden darin, die Breite des pädagogischen Feldes und die Tiefe der pädagogischen Diskurse philosophisch auszuleuchten, theoretisch zu definieren, zu erforschen und weiter zu entwickeln. Seit den 1960er Jahren kann eine immer weitergehende Aufgliederung der Erziehungswissenschaft in hochgradig spezialisiert arbeitende Subdisziplinen mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen des Bildungsverständnisses beobachtet werden. Sie bilden neuerdings jenes Konglomerat ‚Bildungswissenschaften’, zu dem auch die Teilgebiete der Psychologie, Politologie und Soziologie gezählt werden, die sich mit Fragen der Bildung beschäftigen (vgl. LENZEN 2004; KIPER 2009, S.119f.). Damit einher geht seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Entgrenzung der pädagogischen Handlungsfelder über den gesamten Lebenslauf in seiner Länge und inzwischen durch nahezu alle Lebenslagen in ihrer Breite (vgl. HEISE 2002; GRUNERT/KRÜGER 2004; LÜDERS/KADE/ HORNSTEIN 2007). Die dadurch bedingte heterogene Struktur des professionelldisziplinären Feldes führte zur Frage nach dessen Einheit bzw. Identität. Zu Zeiten des Beginns dieses Ausdifferenzierungsprozesses wurden der Allgemeinen Pädagogik der Sinn und die Funktion einer besonderen Integrationsleistung zugeordnet. Ihre zentrale Aufgabe und zugleich fortwährende Problematik bestand in der Entwicklung eines ‚pädagogischen Grundgedankengangs‘, der die auseinanderstrebenden Bereichspädagogiken verbindet, zu einer gemeinsamen Identität des Faches beiträgt und ein einheitliches Verständnis und Ethos des pädagogischen Handelns und Reflektierens begründet (vgl. FLITNER 1950, S.9). Allgemeine Pädagogik gründete sich nach diesem traditionellen Selbstverständnis auf dem Anspruch, Grundfragen pädagogischen Denkens übergreifend über Subdisziplinen und Diskurse zu bearbeiten. Rekurriert wurde dabei auf eine universale, gleichsam ahistorische Idee ‚des Pädagogischen‘, auf die Vorstellung einer paedagogia perennis, wie OTTO WILLMANN sie einst genannt hat, welche transzendentalphilosophisch, subjektphilosophisch oder mit konstanten sozialen Strukturbedingungen des pädagogischen Verhältnisses begründet wurde. Versuche solcher Grundlegungen pädagogischen Denkens und 11
Handelns sind im Kern anthropologisch ausgerichtet: Transzendentalbezug, autonome Subjektivität und Sozialität des Individuums erscheinen als Grundtatsachen des Menschseins (vgl. KOERRENZ 1999, S.394). Die Adressaten pädagogischer Prozesse werden daher in einer solchen allgemein pädagogischen Perspektive nicht nur in ihren institutionell definierten Rollen etwa als Schülerinnen und Schüler, Beratungsbedürftige oder Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Weiterbildungsveranstaltungen wahrgenommen. Vielmehr werden sie als bildungsfähige Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihren soziokulturellen, generationenspezifischen und familiären Lebenszusammenhängen, ihren alters- und geschlechtstypischen wie auch biographisch bedingten Problemen, Sorgen, Anliegen und Interessen gesehen. Über die Konzepte, Verfahren und organisatorischen Bedingungen von Bereichspädagogiken hinaus wird der Blick geweitet auf die schon von FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER paradigmatisch ausformulierte Frage nach dem Verhältnis der Generationen und, damit verbunden, auf die grundlagentheoretische Frage nach den Bedingungen, Antinomien, Ambivalenzen und Paradoxien pädagogischen Handelns. So wird – um nur ein Beispiel zu nennen – als fortwährende Reflexionsaufgabe die erziehungsethische Grundfrage gestellt, ob die Gegenwart des Kindes für seine Zukunft aufgeopfert werden darf (vgl. SCHLEIERMACHER 1826/1957, S.48). Die allgemeinpädagogische Frage nach ‚der Gestaltung‘ ‚der pädagogischen Grundfragen‘ ‚des Lebens‘ in Familie und pädagogischen Institutionen ist bis heute unbestritten gesellschaftspolitisch von besonderer Relevanz. Zugleich aber erscheinen alle tatsächlichen Versuche der Formulierung universalistischer und die Bereichspädagogiken integrierender Antworten angesichts beschleunigter gesellschaftlicher Pluralisierungs- und Differenzierungsprozesse einerseits sowie vor dem Hintergrund sozialhistorischer Relativierungen von Ideen in der modernen Historiographie andererseits als schwer realisierbare Zielstellung. Nicht zuletzt darf der grundlegende Ertrag der kritischen Diskussionen zum Ende der 1960er Jahre nicht vergessen werden. Es war der berechtigte Hintergrund vielfältiger Kritik an einem solchen traditionellen Konzept, dass schon damals die ‚Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche‘ erkannt worden ist (vgl. DAHMER/KLAFKI 1968). Vor diesem Hintergrund kann der traditionelle Anspruch der Allgemeinen Pädagogik, als übergeordnete Leitdisziplin an der Ausarbeitung eines integrierenden pädagogischen Grundgedankengangs zu arbeiten, heute nur mehr kontrovers diskutiert und vielfach kritisiert werden. Bestritten wird zuweilen die Notwendigkeit eines solchen Unternehmens überhaupt. Dem liegt eine Wertschätzung der Pluralisierung pädagogischer Konzepte und der Entgrenzung pädagogischer Handlungsfelder zugrunde. Bei einem solchen Fokus erscheinen Reintegrationsversuche nur mehr als Einschränkungen. 12
Deshalb wird heute zumeist ein bescheideneres Selbstverständnis des Faches vertreten. Als Historisch-systematische Erziehungswissenschaft versteht sich das Fach nicht mehr als Leitdisziplin, sondern als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin. Diese findet ihren Gegenstandsbereich in der historischen Rekonstruktion und systematischen Reflexion der begrifflichen, kategorialen und strukturellen Grundlagen pädagogischen Denkens und Handelns. Der Anspruch des ‚Allgemeinen‘ artikuliert sich in der diachronen (historischen) sowie der synchronen (systematischen) Analyseperspektive im Unterschied zum Speziellen der Bereichspädagogiken. Grundannahmen, die in verschiedenen pädagogischen Praxis- und Forschungsfeldern z.T. unhinterfragt vorausgesetzt werden, sowie Begriffsverwendungen, in denen implizit Wertungen und Beziehungsstrukturen enthalten sind, werden historisch-systematisch sowie wissenschaftstheoretisch erhellt, problematisiert und präzisiert. Insbesondere die in der aktuellen Diskussion häufig voraussetzungslos gebrauchten Begriffe ‚Erziehung‘ und ‚Bildung‘ werden im Kontext systematischer Erziehungs- und Bildungstheorien theoretisch hinterfragt und auf ihre Bedingungsgefüge hin problematisiert (vgl. HANSMANN/MAROTZKI 1988, 1989; MAROTZKI/WIGGER 2008). Die Historisch-systematische Erziehungswissenschaft ist zudem diejenige Instanz, die zwischen dem allgemeinen Bildungsbegriff und den formalen, nonformalen und informellen Bildungsverständnissen in verschiedenen institutionellen Kontexten wie z.B. der Familie, dem Kindergarten, der Schule, der Kinder- und Jugendhilfe oder der Hochschule analytisch trennt, diese aber gleichwohl in ihren geschichtlich gewordenen und logisch aufeinander verwiesenen Bezügen erläutern kann. Insgesamt bietet die Allgemeine Pädagogik als Historisch-systematische Erziehungswissenschaft heute begriffliche und historische Reflexionen zu den Grundbegriffen pädagogischen Denkens und den Grundformen pädagogischen Handelns. Insofern sollte davon auszugehen sein, dass in einer Hochphase eines immer weiter um sich greifenden Jargons von Bildung diese fachliche Expertise eine Hochkonjunktur erleben müsste. Das Gegenteil ist aber der Fall: Das Fach ist schon im disziplinären Rahmen in der Defensive; im Konstituierungszusammenhang der Disziplin findet es immer weniger Beachtung und Anerkennung. Außerdisziplinär aber findet es so gut wie überhaupt kein Gehör. Die so genannten ‚Bildungsexperten‘, die sich im – mit JEAN BAUDRILLARD – allfälligen ‚Rauschen‘ der medialen Inszenierung versenden, sind in aller Regel kaum je Allgemeine Erziehungswissenschaftler von Profession oder auch nur von Neigung. In dieser Zustandsbeschreibung mag ein Paradox erblicken, wer es mag – erkannt werden kann in ihr auch ein dialektischer Zusammenhang. Erst die schon angesprochene Unschärfe und mangelnde Tiefe bei der heutigen weiten Verwendung des Bildungsbegriffs sichert dessen breite Anschlussfähigkeit. ‚Bildung‘ 13
taugt nur so lange zur Klammer semantischer Inklusion, wie niemand so genau nachfragt, was diese Benennung denn eigentlich meinen könnte. Demgegenüber ist es die zentrale Aufgabe der Allgemeinen Pädagogik / Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft, die neuerliche Hochschätzung des Bildungsbegriffs einer historischen, systematischen und kritischen Analyse zu unterziehen. Insofern liegt ihre Aufgabe in Bezug auf dieses derzeitige Thema gerade in der Leistung einer Exklusion. Sie hat den Bildungsdiskurs einzuhegen, abzugrenzen, zu klären und zu reinigen; sie muss, um die Metapher des Rauschens aufzunehmen, jene Frequenz trennscharf ‚entstören‘, auf der die Bildungsbotschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen versendet wird. Einem solchen Anliegen ist die Konzeption des vorliegenden Bandes geschuldet. 2
Bildungsfähigkeit, Bildsamkeit und Bildung
Auseinandersetzungen mit der Theorie von Bildung gehören zu den wichtigsten Kernaufgaben der Allgemeinen Pädagogik / Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft. Auf der Ebene des Allgemeingültigkeitsanspruchs gilt dieser Satz unabhängig davon, ob ein universell pädagogischer Grundgedankengang ‚des Bildenden‘ formuliert werden soll oder ob dieser Grundbegriff und die ihm anhängenden Grundfragen historisch-systematisch für ‚die Bildungswissenschaften‘ erhellt werden sollen. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Theorie der Bildung kann als Kernstück des Faches gelten. Allgemeinpädagogisches / historisch-systematisches Nachdenken über Bildung fokussiert den Zusammenhang von Bildungsfähigkeit als naturgegebener Voraussetzung und Möglichkeit von Lernprozessen, Bildsamkeit als grundlegendem Prinzip pädagogischer Praxis und Bildung als Selbsthervorbringung des Individuums in Interaktion mit seiner Umwelt. Diese Dimensionierung gründet sich auf der pädagogisch-anthropologischen Bestimmung des Menschen als erziehungsbedürftigem Lernwesen, ebenso auf seiner Bestimmung als Kulturwesen, dessen Verhalten weniger durch genetisch verankerte Programme instinktreguliert gesteuert, sondern vielmehr über Lernprozesse den jeweiligen Umweltbedingungen angepasst wird. Die Lernfähigkeit und mithin die Instinktreduzierung des Menschen ist demnach die anthropologische Voraussetzung für die Herausbildung von Kultur. Dabei gilt grundsätzlich: „Ob nun der Mangel oder der Reichtum des Menschen zum anthropologischen Ausgangspunkt genommen wird, was seine Mängel ausmacht, ist gleichzeitig sein Reichtum: die Kehrseite seiner Lern- und Erziehungsbedürftigkeit ist seine unendliche Lernund Erziehungsfähigkeit“ (ROTH 1966, S.166).
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Bildungsfähigkeit ist zwar eine Naturanlage, zugleich aber auch ein sozialhistorisches Konstrukt im Wandel, das je nach gesamtgesellschaftlichem Kontext und struktureller Entwicklung des Bildungssystems Personengruppen ab- und zugesprochen wird. Im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess kann eine Entwicklung von statischen hin zu offenen Vorstellungen von Bildungsfähigkeit festgestellt werden. So wurde etwa in der mittelalterlichen Gesellschaft Bildungsfähigkeit als Korrelat sozialer Positionierung aufgefasst. Eingelassen in die ontologisch manifestierte geschlossene Gesellschafts- und Naturdeutung war ein statisch-anlageorientierter Begriff von Bildungsfähigkeit, der soziale Ungleichheit genetisch legitimiert, gewissermaßen – mit MICHEL FOUCAULT – in die Körper einschreibt. Mit der gesellschaftlichen Modernisierung verschwand eine solche Zuweisung gesellschaftlicher Positionen qua Geburt und eine solche Exklusion breiter Bevölkerungsteile von institutionalisierter Bildung. Demgegenüber basiert funktionale Differenzierung als Strukturierungsform der Moderne sowohl funktionell als auch legitimatorisch auf universellen Inklusionsangeboten. Wie TALCOTT PARSONS und NIKLAS LUHMANN hervorheben, ist Inklusion ein normatives Prinzip der Moderne. Es resultiert aus der Verknüpfung von Gleichheits- und Fortschrittsidee (vgl. SCHIMANK 2005, S.242). Folglich mussten sich in der Tiefenstruktur der Kultur die Vorstellungen über Bildungsfähigkeit öffnen. Dementsprechend ist für die grundlegenden Dimensionen ein fundamentaler Wandel von einem statischen hin zu einem dynamischen Begriff der Bildungsfähigkeit zu konstatieren. Ein Beispiel für den grundlegenden Neubezug der Allgemeinen Pädagogik / Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft auf ein solches offenes Verständnis von Bildungsfähigkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ihre Rezeption des dynamischen Begabungsbegriff HEINRICH ROTHs (vgl. LEHBERGER 2009). Mit Bezug auf lernpsychologische und sozialisationstheoretische Forschungen aus dem angloamerikanischen Raum überführt ROTH den passivischen und endogen bestimmten Begriff ‚Begabung‘ in eine weitgehend offene und dynamische Form, um „die Bedeutung der kumulativen Wirkung früherer Lernerfahrungen, die Bedeutung der sachstrukturell richtigen Abfolge der Lernprozesse, die Entwicklung effektiver Lernstrategien, kurz: die Abhängigkeit aller Lernprozesse von Sozialisations- und Lehrprozessen“ gegenüber genetischen Einflüssen auf Bildungsprozesse zu betonen (ROTH 1969, S.22). HARTMUT HACKER sieht in diesem offenen Verständnis von Bildungsfähigkeit die Grundlage eines auf individuelle Förderung angelegten Bildungssystems: „Erziehen und Unterrichten sind keine Aktivitäten, die die Entwicklung begleiten, [...], Erziehung und Unterricht sind vielmehr entscheidende, die Entwicklung beeinflussende und prägende Faktoren“ (HACKER 2008, S.25f.).
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Ein aktuelles Beispiel eines offenen Begriffs von Bildungsfähigkeit entstammt der neueren Hirnforschung. Offene Bildungsfähigkeit wird hier durch das Konzept der Neuroplastizität neu begründet. In Abgrenzung zum verhaltensgenetischen Determinismus betonen die Forschungen zur Plastizität die Wechselwirkungen zwischen Sozialisation und morphologischen bzw. physiologischen Veränderungen der Gehirnarchitektur. Der Begriff der Neuroplastizität bezeichnet in diesem Prozess die „Fähigkeit des Nervensystems zur permanenten Anpassung seiner Verbindungen an ihren Gebrauch“, welche die neurophysiologische „Grundlage für jede Form von Lernen und Gedächtnis“ bildet (SPITZER 2008, S.57). Interdisziplinär beruht diese These auf der gemeinsamen Einsicht von Hirnforschung, Evolutionstheorie und Kulturanthropologie, dass der Plastizität des menschlichen Gehirns eine wichtige Überlebensfunktion zukommt, weil dadurch Anpassung an wechselnde Umwelten möglich wird. Im Unterschied zu anderen Organen des Körpers ist das Gehirn besonders deutlich durch einen nutzungsabhängigen Aufbau gekennzeichnet, weshalb der Neurobiologe GERALD HÜTHER Gehirne als „zeitlebens programmierbare Konstruktionen“ bezeichnet. Er verdeutlicht, dass das überlebensrelevante Wissen und Können, je nach historischen und soziokulturellen Umweltbedingungen, in die ein Mensch hineingeboren wird, ontogenetisch durch die Art der Nutzung bestimmter Verschaltungen im Gehirn verankert wird. Die Anpassungsflexibilität des Gehirns ist so gesehen die anthropologische Voraussetzung für die Herausbildung von Kultur als evolutionärer Überlebensstrategie (HÜTHER 2004, S.53). CHRISTIAN RITTELMEYER wendet diesen Befund bildungstheoretisch und spricht von einem Plastizieren an der eigenen Leiblichkeit. Ebenso wie die Sinnesorgane wird die Architektur des Gehirns durch das gezielte Aufsuchen bzw. Ermöglichen von Erfahrungen gebildet (vgl. RITTELMEYER 2002). Bildungsfähigkeit anzunehmen ist eine notwendige Bedingung, über Bildung nachzudenken. Sie ist aber noch nicht deren hinreichende Bedingung. Der weiterreichende Gedanke der Bildsamkeit setzt zwar Bildungsfähigkeit als Grundannahme voraus, unterscheidet sich jedoch von der Frage nach der statischen oder offenen Bildungsfähigkeit bzw. der Anlage- oder Umweltbestimmung der menschlichen Entwicklung. Bildsamkeit bezeichnet vielmehr ein universal gültiges Grundprinzip pädagogischer Praxis, das darin besteht, das Kind unabhängig vom empirischen Ausprägungsgrad seiner Bildungsfähigkeit als Akteur seines Bildungsprozesses in den Mittelpunkt zu stellen. Pädagogisches Handeln oszilliert demnach zwischen der Gegenwart und der Zukunft des Kindes und stützt sich auf die unhintergehbare Prämisse, dass das Kind in unterstützten Lernprozessen selbsttätig seinen Bildungsprozess auf Basis seiner je individuellen Voraussetzungen gestaltet, um Selbstbestimmung zu erlangen. Wie JÜRGEN REKUS erläutert, unterstellen pädagogische Handlungen „unbescha16
det der faktischen, naturgegebenen Voraussetzungen und Möglichkeiten ..., dass der im Lernprozess Geführte das zu Lernende sich selbst aneignen kann. Die Unterstellung als pädagogische Grundvoraussetzung gilt selbst dann, wenn der Lernprozess am Ende nicht gelingt, weil es an der rechten Begabung mangelt. Bildsamkeit muss in jedem Fall vorausgesetzt werden, wenn die Interaktion pädagogisch sein soll“ (REKUS 2006, S.114). DIETRICH BENNER verschränkt in diesem Sinne das Prinzip der Bildsamkeit mit dem der Aufforderung zur Selbsttätigkeit. Erziehung, die im Dienst der Bildung steht, kann demnach nur über das selbsttätige Mitwirken des Zu-Erziehenden verstanden werden. Bildsamkeit entfaltet BENNER relational als Anerkennung des Zu-Erziehenden. Dieser muss verstanden werden als jemand, „der an der Erlangung seiner humanen Bestimmtheit mitwirkt“ (BENNER 1991, S.57). Mitwirkung ist als pädagogische Begegnung in wechselseitiger Anerkennung „produktiver Freiheit“ zu verstehen. Diese Freiheit erschließt sich für das Kind nicht bereits im Zugeständnis von Freiräumen, sondern erst in der Aneignung dieser Freiheit durch eigenständiges Denken und Handeln (ebd., S.62). Deshalb hat Erziehung den Charakter einer ‚Aufforderung zur Selbsttätigkeit‘. Für sie ist es erforderlich, produktiv an die bereits vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Kindes anzuknüpfen, diese in erzieherischen Aufforderungen zu überschreiten, ohne das Kind dabei zu überfordern. Pädagogisches Handeln ist angesichts der hier in Rede stehenden Prinzipien durch eine so genannte Als-ObStruktur gekennzeichnet. Diese liegt darin, „den Heranwachsenden zu etwas aufzufordern, was er – noch – nicht kann, und ihn als jemanden anzuerkennen, der er – noch – nicht ist. Diese Dialektik der beiden ersten Prinzipien führt keineswegs in einen Widerspruch pädagogischen Denkens und Handelns mit sich selbst, sondern bestimmt jene Grundparadoxie pädagogischer Praxis, der diese ihre spezifischen Wirkungsmöglichkeiten verdankt. Daß pädagogische Praxis, an die Bildsamkeit des Zu-Erziehenden anknüpfend, zur Selbsttätigkeit auffordert, besagt gerade, daß der Zu-Erziehende ohne eine entsprechende Aufforderung noch nicht selbsttätig sein kann, daß er dies auch nicht aufgrund einer solchen Aufforderung wird, sondern nur vermittels seiner eigenen Mitwirkung werden kann“ (ebd. 1991, S.71). Bildungsfähigkeit und Bildsamkeit gemeinsam sind die Voraussetzungen, deren Betrachtung erst eine systematische Erörterung von Bildung ermöglicht. Auf einer ersten allgemeinen Bedeutungsebene bezeichnet der Begriff ‚Bildung‘ die Entfaltung der Möglichkeiten und Potenziale eines Individuums in aktiver Auseinandersetzung mit seiner sozialen und materiellen Umwelt über den gesamten Lebenslauf mit der Aufgabe und dem Ziel, einen individuellen Welt- und Selbstbezug im Denken, Fühlen und Handeln zu entwickeln. Die Frage nach dem reflektierten Selbst-Welt-Verhältnis bildet das Zentralthema der Bildungstheorie. 17
Im neuhumanistischen Bildungsideal wird dieses Selbst-Welt-Verhältnis im Kontext der Herausbildung von Individualität und Personalität unter den Auspizien von Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit reflektiert (vgl. REICHENBACH 2007, S.113ff.). So heißt es etwa bei WILHELM VON HUMBOLDT: „ … so drängt ihn [sic. den Menschen] doch seine Natur beständig, von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, daß er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er außer sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Innres zurückstrahle“ (HUMBOLDT 1986, S.32). Auch im Zeitalter der modernisierten Moderne wird dieses Ideal von Bildung immer wieder als Paradigmatisches formuliert, so z.B. bei WINFRIED BÖHM: „Bildung meint ... den eminent spannungsreichen dialektischen Prozeß der Auseinandersetzung von Mensch und Welt in der Weise, daß das menschliche Individuum von seiner natürlichen Selbstbezogenheit abläßt, sich von der Befangenheit seiner sinnlichen Erfahrungswelt befreit, sich auf die Welt einläßt und in der Hingabe an seine ihm eigentümlichen Berufung zum Weltdienst sich selbst als sich in Raum und Zeit zusammenfassende Person findet und sich quasi auf einer höheren Stufe auf sich zurücknimmt“ (BÖHM 1988, S.404). Auch REINHARD UHLE akzentuiert diesen traditionellen Gedanken von Bildung als Höherentwicklung des Ichs, wenn er darauf verweist, dass Bildungsphilosophie, die sich dem Projekt der Moderne verpflichtet, einerseits darauf basiert, „Entwicklung im Sinne PIAGETs als eine über Stufen sich steigernde Wechselwirkung zwischen Ich und Welt aufzufassen, und anderseits zwar kein genaues ‚Perfektionsziel’ des Individuums zu benennen, wohl aber Forderungen für Aneignungsprozesse von Kultur durch das Ich angeben zu können, die eine erhöhte Chance für Emporbildungsprozesse bieten können“ (UHLE 2002, S.88; vgl. grundlegend UHLE 1993). Jenseits solcher grundsätzlichen, auf überzeitliche allgemeinpädagogische Gültigkeit abzielenden Thematisierungen von Bildung können aus historischsystematischer Perspektive Veränderungen bildungstheoretischer Leitkonzeptionen im gesellschaftlichen und kulturellen Wandel konstatiert werden. Im Zuge von Modernisierung, Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft lässt sich zum einen ein langfristiger Trend feststellen, in dem der Bildungsbegriff selbst immer pluralere Verwendungsweisen findet. In diesem Prozess bricht einerseits die relativ geschlossene Einheit des klassisch-neuhumanistischen Bildungsideals zugunsten vielfältig formulierter Bildungsideale auf. Der zugleich kritische und affirmative Bildungsbegriff wird dabei in den immer vielfältigeren Diskursen zugleich affirmiert und kritisiert. Andererseits ist auch die Pluralisierung der Sinnzuschreibungen und Funktionsweisen des Bildungsbegriffs in unterschiedlichsten Zusammenhängen zu konstatieren.
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Damit verbunden ist, insbesondere im Bezug auf das Bildungssystem und die Schulpädagogik, auch die historisch-systematische Untersuchung, Rekonstruktion und Aufhellung einer langfristigen Tendenz zu immer pragmatischeren Bildungskonzeptionen, die das Selbst-Welt-Verhältnis instrumentell in den Blick nehmen. In der klassischen Bildungstheorie wurde die Aneignung von Weltwissen noch in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Bildung von Persönlichkeit und Individualität gesehen. Gemäß den Lehrplantheorien in der Tradition HUMBOLDTs vollzieht sich Bildung im Medium der kulturellen Tradition, die in Form des abendländischen Bildungskanons nicht nur Inhalte, sondern auch unterschiedliche Zugänge zur Welt verkörpert, die als historisches, mathematisches, sprachliches und ästhetisch-expressives Lernfeld curricular ausgewiesen werden. Im Zuge der beschleunigten Produktion und damit zusammenhängenden Pluralisierung und im immer schnelleren Veralten von Wissensbeständen wurde eine fachsystematische und inhaltsbezogene Ausrichtung von Curriculartheorie und Didaktik zunehmend schwieriger. Bildungstheoretische Didaktik in der Tradition der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik reagierte auf die Pluralisierung des Wissens mit besonderen Akzentuierungen in der Auswahl der Bildungsinhalte: ‚Fundamental‘, ‚klassisch‘ und ‚exemplarisch‘ sollte das in der Schule vermittelte Wissen sein (vgl. BLANKERTZ 1975). In seiner kritisch-konstruktiven Weiterentwicklung dieses Verständnisses von Schulunterricht formulierte WOLFGANG KLAFKI mit der Frage nach der ‚Zugänglichkeit‘, ‚Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung‘ weitere Auswahlkriterien für Bildungsinhalte, die sowohl aktuelle Interessen und Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen, als auch ihren in die Zukunft hineinreichenden Emanzipationsprozess. Fachsystematik und Kindorientierung sind in dieser Lehrplanung grundlegend immer noch aufeinander bezogen (vgl. KLAFKI 1996). Der grundlegende pragmatische Wandel in der Bildungstheorie wurde in den 1970er Jahren mit dem zuerst in der Berufsbildung aufkommenden Konzept der ‚Schlüsselqualifikationen‘ eingeleitet (vgl. z.B. ROBINSOHN/THOMAS 1968; MERTENS 1974). Hiermit wurde die vergangenheitsbezogene Orientierung traditioneller Lehrpläne an kulturellen und geistigen Traditionen zugunsten des Blicks auf gegenwärtige und vor allem zukünftige Lebensanforderungen verlassen. Dieser Übergang von der traditionellen bildungstheoretischen zur qualifikationstheoretischen Curriculartheorie und Didaktik ging mit einer verstärkten Rezeption der Ergebnisse der Qualifikationsforschung einher. Diese verweist auf den schnellen technologischen und organisatorischen Wandel beruflicher Anforderungen und die Schwierigkeiten ihrer inhaltlichen Konkretisierung. Formale Qualifikationen wie Problemlösefähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Flexibilität, Transferfähigkeit, Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisationsfähigkeit, die als ‚Schlüssel‘ zur Erschließung sich schnell verändernder 19
beruflicher Problemlagen sowie fachlicher Wissensbestände angesehen werden, hielten im Gefolge dieser Befunde Einzug in Lehrpläne beruflicher Bildung und greifen auch auf die schulische Bildungsdiskussion über. So wurde in der Curriculumtheorie der 1970er Jahre die funktionale Verwertbarkeit schulischen Lernens in den Mittelpunkt gerückt. Lernziele sollten zu diesem Zweck exakt operationalisiert und überprüfbar gemacht werden (vgl. MAGER 1971). Nicht so sehr die Inhalte, sondern die zu erwerbenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, die im Anschluss an den Diskurs der Wirtschaftsdidaktik ‚Qualifikationen‘ genannt wurden, rückten in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Damit war eine neue Lage gegeben, in der das traditionale Ideal von Bildung als umfassender, zweckfreier und subjektorientierter Prozess zusehends aus dem Blick geriet. Gleiches gilt auch für die kontinuierliche Diskussion über das Konzept der Schlüsselqualifikationen in den 1980er und 1990er Jahren. Schlüsselqualifikationen wurden z.B. als wichtiges Bildungsziel in der politisch einflussreichen Expertise der BILDUNGSKOMMISSION NRW herausgestellt und definiert als „erwerbbare allgemeine Fähigkeiten, Einstellungen und Strategien, die bei der Lösung von Problemen und beim Erwerb neuer Kompetenzen in möglichst vielen Inhaltsbereichen von Nutzen sind“ (vgl. BILDUNGSKOMMISSION NRW 1995). Die funktionalen Anforderungen dominierten hier eindeutig gegenüber fachlichen Inhaltsvorgaben in der Lehrplanentwicklung. Weitere Stationen dieses Trends sind die Entwicklung konstruktivistischer Konzepte selbstorganisierten Lernens vorwiegend in den 1990er Jahren sowie neuerdings die Durchsetzung von Bildungsstandards, die in Form von Kompetenzbeschreibungen die gegenwärtige bildungspolitische und bildungswissenschaftliche Debatte bestimmen. Wie UHLE in mehreren Publikationen zur aktuellen Bildungsdebatte ausführlich analysiert, bezieht sich die Kompetenzorientierung der Bildungsstandards nicht auf qualifikationstheoretische Ansätze. Vielmehr knüpft sie konzeptionell an Literacy-Konzepten an, die in der Tradition des angloamerikanischen Pragmatismus stehen und in der empirischen LehrLernforschung entwickelt wurden. Diese den internationalen Schulvergleichsstudien zugrunde liegenden Konzepte basieren auf einem ‚funktionalpragmatischen Bildungsverständnis‘ (vgl. z.B. UHLE 2006, 2007). Der Begriff Literacy steht im angloamerikanischen Bildungsdiskurs für die Alltags- und Anwendungsorientierung grundlegender Kulturtechniken (vgl. DRIESCHNER/ GAUS 2007). Kompetenzen als übergreifende Ziele schulischen Lernens sollen demnach nach Maßgabe eines „funktionalistisch orientierten Grundbildungsverständnisses“ operationalisiert werden, „für das die Anwendung – oder vorsichtiger: die Anschlussfähigkeit – erworbener Kompetenzen in authentischen Lebenssituationen den eigentlichen Prüfstein darstellt“ (DEUTSCHES PISAKONSORTIUM 2001, S.17). Alltagspraktische Problemlösungskompetenz, d.h. die 20
Verwertbarkeit von Wissen in multiplen Situationen, bildet das PISA zugrunde liegende Leitbild schulischen Lernens. Aufgabe der Schule ist die Vermittlung von „Basiskompetenzen“, so heißt es in der PISA-Studie weiter, „die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendig sind“ (ebd.). Gemeint ist damit „eine funktionale Sicht auf Kompetenzen als basale Kulturwerkzeuge“ (ebd., S.78). Auf dieser lehrlerntheoretischen Grundlage haben die PISA-Autoren entschieden, „die Anwendbarkeit schulunterrichtlich erworbenen Wissens auf die Lösung konkreter Probleme zum ausschlaggebenden Kriterium für die Qualität von Schulleistungen zu wählen“ (HEID 2005, S.5). Das hinter der PISA-Studie stehende angloamerikanische Literacy-Konzept erweist sich als hochgradig kompatibel mit der zentraleuropäischen Diskussion um den Begriff der ‚Kernkompetenz‘. Dieser Zusammenhang ist für die Einführung von Bildungsstandards bedeutsam, insofern beide Diskurse – der bildungswissenschaftliche über Literacy und der didaktische über Kernkompetenzen – seit dem ‚PISA-Schock‘ zu Beginn des neuen Jahrtausends interagieren und gleichermaßen in die Erarbeitung von nationalen Kompetenzstandards eingeflossen sind. Als grundlegend gilt in der Literatur die Definition von Kompetenz durch den Pädagogischen Psychologen FRANZ-EMANUEL WEINERT. Kompetenzen versteht er als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortlich nutzen zu können“ (WEINERT 2001, S.27f.). Somit ist der heutige auf Schule zielende Diskurs durch einen ‚bildungstheoretischen Pragmatismus’ gekennzeichnet. Dieser steht auch im Verdacht eines ökonomischen Reduktionismus, weil sich die Schwerpunkte der Reflexion verlagert haben von der Bildung der Individualität und Persönlichkeit im Sinne HUMBOLDTs zugunsten ‚funktionaler Qualifikationsanforderungen‘ der modernisierten Lebens- und Arbeitswelt. Dennoch ist festzustellen, dass für diesen Prozess seit den 1990er Jahren wieder verstärkt die Benennung Bildung Verwendung findet. Dahinter steht aber keine exakte und wissenschaftlich fundierte Begriffsverwendung mehr, sondern vielmehr die Umnutzung eines Traditionsbegriffs zu einem Label. Eine andere, aber nicht minder bedeutsame Auferstehung des Wortes Bildung als Label ist insbesondere bezüglich der bildungsreformerischen Debatten auf der bildungspolitischen Ebene sowie auf den nichtschulischen Ebenen, insbesondere der Hochschulausbildung sowie der Personalentwicklung und Weiterbildung zu erkennen. Hier geht es in der Gegenwart um die ‚Bildung‘ der ‚Persönlichkeit‘, welche in ‚lebenslangem Lernen‘ ihre ‚soft skills‘ auszuprägen 21
habe. In diesen Debatten werden, sehr assoziativ, wenig theoretisch fundiert, harte und weiche Faktoren der Bildungsfähigkeit, der Bildsamkeit und der Kompetenzentwicklung zusammengewürfelt. Nach diesem Verständnis fügen sich in den ‚Kompetenzen‘ eines Menschen sein deklaratives Wissen, seine prozeduralen Fertigkeiten und seine allgemeinen kognitiven Fähigkeiten so mit Aspekten seiner Persönlichkeit zusammen, dass er Fähigkeiten zur Orientierung in unübersichtlichen kulturell-sozial bestimmten Umwelten beweist (vgl. PONGRATZ/ REICHENBACH/WIMMER 2007). Als kleinster gemeinsamer Nenner der auf Schule wie der nicht auf Schule bezogenen Debatten bleibt aus historisch-systematischer Perspektive derzeit nur die auf Viabilität zielende pragmatische Verkürzung und Vernebelung des Bildungsbegriffs zu konstatieren. Die aus allgemeinpädagogischer Sicht zu fordernde Perspektive auf die kritische Widerständigkeit des Bildungsbegriffs findet in diesen Diskursen derzeit keinen Platz. Einer solchen nachdenklichen und kritischen Perspektive einige Anregungen zu bieten, ist das Anliegen des vorliegenden Bandes. 3
Beiträge
Der vorliegende Band gliedert sich in vier Abschnitte. Der erste Abschnitt über Konjunkturen des Bildungsbegriffs im pädagogischen Diskurs wird mit einer grundlegenden Abhandlung von JÜRGEN OELKERS eröffnet. Er verdeutlicht, dass und wie das Projekt einer sich über sich selbst und über ihre Zustände kritisch aufklärenden Moderne nur als ein Bildungsprojekt gedacht werden kann. Aus allgemeinpädagogischer Perspektive erläutert er ausgehend insbesondere von VOLTAIRE, dass und wie objektive Kulturentwicklung und subjektiver Bildungsgang unentrinnbar aufeinander bezogen sind, dass die Überwindung von Barbarei und Beschränktheit aller Lebenskreise, die doch immer schon vorauszusetzen sind, nie anders als durch Lernen möglich sein kann. Nur durch Kritik sind Grenzen gedanklich zu weiten, nur durch Bildung ist die immer mögliche Barbarei zu bannen. Aus historisch-systematischer Perspektive ergänzen die beiden folgenden Artikel diese Grundsatzerörterung. – MONIKA BOTHE-SCHARF vergewissert sich in ihrer historischen Rekonstruktion des Begriffsursprungs von ‚Bildung‘ im englischen ‚formation‘ bei ANTHONY ASHLEY COOPER, dem dritten Earl of SHAFTESBURY. Sie rekonstruiert diesen Begriff in seiner zeitgenössischen Schicht- und Geschlechtsgebundenheit, ohne ihn seiner innovativen und kritischen Dimension zu entkleiden. Zwar brauchen neue Ideen, so wäre ihr Grundansatz mit M. RAINER LEPSIUS zu erläutern, immer Trägerschichten zu ihrer Verwirklichung, jedoch ist damit dennoch nichts über ihr andauerndes und über22
dauerndes kritisches Potenzial ausgesagt. – Einen ganz anderen Ansatz wählt MARTEN KIRSCHNER. Inspiriert vom Deutungsmusteransatz nach GEORG BOLLENBECK stellt er Ergebnisse einer sequenziellen Inhaltsanalyse zum Bildungsbegriff im Medium von Konversationslexika vor. Er kann zeigen, inwiefern die Verwendung des Bildungsbegriffs langfristigen Entwicklungen unterliegt, die diesen bis zu einem Höhepunkt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem Kernbegriff der Pädagogik verdichteten. Demgegenüber ist seit dessen zweiter Hälfte eine gegenläufige Entwicklung empirisch nachweisbar. In dieser werden die Begriffsverwendungen der Benennung ‚Bildung‘ nicht nur immer pluraler, sondern auch immer kontingenter. Die Pädagogik, so das Fazit seiner Untersuchung, hat alle Deutungshoheit über ihren einstigen Zentralbegriff verloren. Der zweite Abschnitt des Bandes befasst sich mit der Positionsbestimmung der Allgemeinen Pädagogik bzw. Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft. In einem ersten Beitrag wendet sich KLAUS PRANGE Fragen nach Sinn und Funktion einer Systematischen Pädagogik zu. Der Autor lehnt eine bloß historisch kontextualisierende Positionierung ab und hält demgegenüber, in gewisser Nähe zu JOHANN FRIEDRICH HERBARTs Grundlegung der Allgemeinen Pädagogik vor gut 200 Jahren, an einer grundsätzlich gültigen Aufgaben- und Positionsbestimmung des Faches fest. Diese erblickt er nicht mehr in einer ‚pädagogischen Grundidee‘, wohl aber in einer spezifischen Systematisierungsund Kategorisierungsleistung von Grundbegriffen und Grundfragen unter eigenen Prämissen, welche weder in den Logiken von Referenztheorien noch in den Aktualisierungen in Anwendungsproblemen aufgehen. – Eine ganz andere Position nimmt DIETRICH HOFFMANN ein. Er rekonstruiert diskursanalytisch wichtige Etappen des erziehungswissenschaftlichen Disziplinbildungsprozesses, um zu verdeutlichen, dass und wie die ‚Allgemeine Pädagogik‘ im Zuge der ‚Normalisation‘ der Erziehungswissenschaften immer mehr an Beachtung und Einfluss eingebüßt hat. Bedeutung kann sie in der Gegenwart bei realistischer Betrachtung für HOFFMANN nur mehr haben, wenn sie sich nicht mehr nach einer originellen ‚Systematik‘, sondern nach einer originären ‚Pragmatik‘ ausrichtet: Eine Funktion im Feld der Erziehungswissenschaften wird ihr nur noch zukommen, wenn sie sich daraufhin ausrichtet, zwischen Theorie und Praxis, genauer: zwischen unterschiedlichen Theorien und Praxen sachgerecht zu integrieren, zu vermitteln und diese fachgerecht zu reduzieren und zu transformieren. – Eine wiederum andere Herangehensweise wählt MATTHIAS VON SALDERN, der die Lage ausgehend von der Disziplin der Empirischen Erziehungswissenschaft aufarbeitet. Er verdeutlicht, dass die typische Polarisierung zwischen Allgemeiner Pädagogik bzw. Historisch-systematischer Erziehungswissenschaft einerseits und Empirischer Erziehungswissenschaft andererseits unzutreffend ist. Eine solche Dichotomie ist historisch betrachtet falsch, weil beide Richtungen im 23
Prozess der Ausdifferenzierung des Faches mehr und mehr unter Druck geraten. Dieses Ergebnis ist insofern zu vertreten, als dass der Autor nicht so sehr auf oftmals eher naive, an Wissenschaftstheorie und Methodologie nicht interessierte Forschungspraxis, sondern vielmehr auf ernsthaft reflexive Wissenschaftsprogrammatik achtet. Unter diesem Blickwinkel ist eine generelle sowohl Theorieals auch Empirie-Vergessenheit der Erziehungswissenschaften als Gesamtzusammenhang zu konstatieren, der sich nur in der Trias von eigenständiger Theorie, Empirie und Pragmatik erhalten lassen wird. – Einen wiederum anderen Ansatzpunkt wählt MARCUS ERBEN. Ihm geht es um die wissenschaftstheoretisch angelegte Auslotung der Möglichkeit, den Hiatus zwischen einer Allgemeinen Pädagogik als handlungsanleitender Reflexionskunst pädagogischer Grundideen und einer Historisch-Systematischen Erziehungswissenschaft als handlungsentlasteter Forschungsdisziplin zu überwinden. Der Autor entwickelt ausgehend von QUENTIN SKINNERs Konzept ‚neuer Ideengeschichtsschreibung‘ einen metatheoretischen Überlegungsrahmen, der zwischen pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie in ideengeschichtlicher Absicht vermittelt. Damit entgegnet er wissenschaftstheoretischen Tendenzen, pädagogische Geschichtsschreibung als thematische Spezialdisziplin der Geschichtswissenschaft einzugliedern. In seiner Abhandlung liefert er Argumente, warum pädagogische Geschichtsschreibung als integrale Aufgabe einer die pädagogischen Grundfragen im Blick behaltenden Allgemeinen Pädagogik bewahrt und ergänzt werden kann und muss. Der dritte Abschnitt des Bandes thematisiert professionelle und institutionelle Bezugsfelder des Bildungsbegriffs. Die hier versammelten Beiträge sind entlang der Lebensalter der Adressaten pädagogischer Prozesse gegliedert. – In der gegenwärtigen Bildungsreformdiskussion wird der Kindergarten in seiner institutionellen Funktion als Ort elementarer Bildung wiederentdeckt. Vor diesem Hintergrund greift ELMAR DRIESCHNER den Bildungsdiskurs in der Pädagogik der Frühen Kindheit auf. Im Kontext der Frage nach dem institutionellen Selbstverständnis des Kindergartens rekonstruiert er vergleichend Ansätze frühkindlicher Bildung als Selbstbildung und Kompetenzentwicklung. Der Autor gibt einen systematischen Überblick über die unterschiedlichen Kernthesen der beiden Ansätze, ihre zentralen theoretischen Grundannahmen, praktischen Konzeptualisierungen sowie bildungstheoretischen Implikationen in der Verhältnisbestimmung von elementarpädagogischer und schulischer Bildung. Auf dieser Basis verweist er auf mögliche allgemeinpädagogische Perspektiven in der Vermittlung von Selbstbildungsprozessen und gezieltem Kompetenzerwerb. – Dem Bereich der schulischen Bildungsarbeit als professioneller Lehreraufgabe sind drei Beiträge gewidmet, deren Reigen HANNA KIPER eröffnet. Die Autorin erinnert aus didaktischer Perspektive daran, dass Bildung 24
zuallererst als gelingender Lernprozess zu operationalisieren ist. Sie bietet eine Zusammenschau von Lernvorstellungen und zeigt darauf aufbauend, dass die Entwicklung didaktischer Theorien und Modelle durch den Wandel von einer bildungstheoretischen hin zu einer lernpsychologischen Fundierung gekennzeichnet ist. Auf dieser Basis argumentiert sie dafür, Unterrichtstheorie heute nicht mehr auf bildungstheoretischen Überlegungen, sondern auf Konzepten und Operationalisierungen zur Lernwirksamkeit von Lehrarrangements hin anzulegen. – In völlig anderer Weise und Perspektive argumentiert hingegen SHINJI NOBIRA. Er eröffnet einen fundierten Einblick in die bildungspolitischen Entwicklungen zur Schulreform in Japan, die, wie die deutschen Entwicklungen, durch die Einführung von Bildungsstandards geprägt sind. In diesem Rahmen bietet er eine professionssoziologische Analyse der Lehrerrolle, die er als von vielfältigen Gefahren der Deprofessionalisierung umstellt erläutert. Dagegen entwickelt er eine alternative Konzeption von Lehrerprofessionalität, welche sich nicht den engen Kompetenzrahmen heutiger Lehrerausbildungs- und -anstellungskonzepte unterordnet, sondern vielmehr erneut, diesmal kommunikationstheoretisch basiert, die Freiheit der Bildung und die Freiheit des Kindes als bildungstheoretische Grundannahmen in den Mittelpunkt stellt. – Eine ebenfalls kritische Perspektive auf das Thema der Lehrerprofessionalität wählt KARL NEUMANN. Er geht, wie der vorangehende Autor, von der grundlegenden Beobachtung aus, dass die derzeitige Diskussion um Lehrerprofessionalität international auf Kompetenz- und Standardorientierung ausgerichtet ist. In Bezug auf die universitäre Lehrerausbildung ist dabei eine Verengung und Verkürzung des Kompetenzbegriffs auf ein rein domänenspezifisches Kompetenzkonzept zu kritisieren. Demgegenüber sollte, so das Plädoyer des Autors, die notwendig holistische Dimension pädagogischer Handlungskompetenz in den Blick genommen werden. Dieses bedeutet in der konkreten Umsetzung eine Berücksichtigung des Aufeinanderfolgens unterschiedlicher Ausbildungsphasen. Dabei kommt der ersten, universitären, Ausbildungsphase wesentlich die Funktion zu, Reflexionsangebote bereit zu stellen, die eine ganzheitliche Reflexionskompetenz fördern. Insofern sind Angebote Allgemeiner Pädagogik bzw. Historischsystematischer Erziehungswissenschaft für ihn nach wie vor unabdingbare Elemente pädagogischer Ausbildung. – Der offenen Kinder- und Jugendarbeit wenden sich MICHAEL BOSSELMANN und HANNAH DENKER zu. Sie erläutern, dass dieser Bereich zeitgebunden der Sozialen Arbeit mit ihren zentralen Codierungen ‚Hilfe‘ oder ‚Prävention’ zugeordnet wurde. Demgegenüber verweisen sie darauf, dass er tatsächlich als zentrales Feld informeller Bildung zu verstehen ist. Begründungen und Operationalisierungen dieses Bildungsbereichs, so die Autoren, sind nach wie vor nur auf der Basis allgemeinpädagogischer Grundsatzund Grundlagenreflexionen möglich. Zugleich mahnen sie aber auch an, dass 25
sich allgemeinpädagogische Theoriearbeit aus ihrer professionellen wie disziplinären Isolierung befreien muss: Nur auf der Basis einer Berücksichtigung von und Verzahnung mit empirischer Forschung kann Allgemeine Pädagogik auch zukünftig noch bzw. wieder eine klare Orientierungsfunktion übernehmen. – Der Lage der Allgemeinen Pädagogik / Historisch-systematischen Erziehungswissenschaft im Rahmen der Hochschule widmen sich zwei weitere Beiträge. PETER VOGEL geht in seinem Aufsatz von der Notwendigkeit aus, allgemeinpädagogische Inhalte im Zuge der Kompetenzorientierung der modularisierten erziehungswissenschaftlichen Studienprogramme nach ‚Bologna‘ neu zu konzeptionieren, zu organisieren und abzuprüfen. Er verweist auf die Gefahr einer zu eng gefassten Vorstellung pädagogischer Kompetenz, in deren Folge es durchaus möglich ist, dass allgemeinpädagogische, bildungstheoretische und historische Inhalte gänzlich aus den Studienprogrammen und damit auch aus dem fachlichen Kanon der Erziehungswissenschaften verschwinden können. Gegen diese Gefahr stellt er ein weiter gefasstes Kompetenzverständnis in Rede, als es derzeit insbesondere in der Lehrerbildung Verwendung findet. In Bezug auf allgemeinpädagogische Inhalte sieht er insbesondere deren Verknüpfung mit Kompetenzen der Reflexion und der Kritik als wichtig an. Ein mögliches Modell einer solchen systematischen Verknüpfung stellt er in den Mittelpunkt seines Strukturvorschlags für die zukünftige Ausgestaltung allgemeinpädagogischer Module. – Einen historisch-systematischen Zugriff wählt demgegenüber DETLEF GAUS in seiner diskursanalytisch angelegten Rekonstruktion der Redeweise vom Bildungsauftrag der Hochschule. Er zeigt auf, dass und wie in immer wiederkehrenden Modewellen die Vorstellung, Hochschulen dienten nicht der Lehre, nicht der Forschung, sondern einer Art von Persönlichkeitsbildung, seit etwa 100 Jahren zum Grundrepertoire der Hochschulkritik gehört. Der genaue Blick auf paradigmatische Konzepte macht deutlich, dass auf der Konzeptebene Topoi und auf der Organisationsebene Verwaltungsstrukturen immer wieder in ganz ähnlicher Weise aufkommen, diese aber auf der Legitimationsebene jeweils immer wieder ganz anders verknüpft werden. Dabei ist festzustellen, dass sich im Laufe der Zeit dieses ursprünglich aus dem Kern der Allgemeinen Pädagogik stammende Konzept gegenüber jener verselbständigt und sie schließlich überflüssig macht. – Dem Bereich der kulturellen Bildung in der Dimension der Museumspädagogik wendet sich schließlich MARTIN FROMM zu. Der Autor erläutert die vielfältigen Bezüge von Diskursen über die Einheit von ‚Bildung‘ und ‚Kultur‘, die in dieser Bildungs- und Kultureinrichtung geradezu prototypisch inzwischen seit Jahrhunderten zusammen kommen. Am Beispiel der Museumspädagogik erblickt er ein zentrales Problem solcher Art von ‚Stratosphärenpädagogik‘, die zu ihrer Begründungen wie zu ihrer Konzeptualisierung mit wohlmeinenden und wohlklingenden Begriffen jongliert. Für ihn liegt die 26
einzige Möglichkeit, solchen Schwierigkeiten zu entgehen, darin, zur exakten Operationalisierung von Begriffen und empirischen Evaluation von Eindrücken, Erlebnissen und Erfahrungen vorzudringen. Vor dem Hintergrund erster entsprechender Forschungen, die zwar individuelle Wirkungen der Museumsarbeit nachweisen, welche sich aber als multifaktoriell und multiperspektivisch darstellen, plädiert er dafür, den in der Tradition zumeist eher erratisch genutzten Bildungsbegriff zu meiden und an seiner Stelle mit kleinteiligeren, konkreteren Begriffen zu operieren. Der vierte Abschnitt fasst Forschungsergebnisse zu Thematisierungen der Bildungsfähigkeit aus historischer Perspektive zusammen. Die in diesem Abschnitt versammelten Autoren sind allesamt Vertreter der historisch-empirischen Bildungsforschung. – HARTMUT TITZE und CORINNA MARIA DARTENNE stellen der Öffentlichkeit erstmals empirische Forschungsergebnisse über die negative Selektion in Hilfsschulen vor. Hierbei wird der Blick insbesondere auf die Geschlechterdifferenz von Schülerinnen und Schülern gelegt. Diese Ergebnisse werden in langfristige Tendenzen eingeordnet und mit zentralen Entwicklungen der Bildungsbeteiligung im Höheren Schulwesen sowie im Hochschulwesen in Verbindung gesetzt. Im Ergebnis lässt sich die These vertreten, dass die Geschichte des modernen Bildungssystems als Inklusionsgeschichte zu immer mehr Geschlechtergerechtigkeit erkannt werden kann. In ihrem Verlauf ist auf der Deutungsebene eine völlige Umkehrung von einer grundsätzlich negativen Sicht auf die Bildungsfähigkeit von Mädchen hin zu einer immer positiveren Sicht festzustellen. Zugleich sind auf der Systemebene eine immer weitergehende Bildungsbeteiligung sowie ein immer größerer Bildungserfolg von Mädchen und Frauen festzustellen. – AXEL NATH und ALEXANDER GRIEBEL wenden sich dem pädagogischen Grundbegriff der Bildsamkeit zu. Sie problematisieren eben jenes pragmatische Verständnis von Bildsamkeit als universalem Grundprinzip pädagogischer Praxis, das oben mit Bezug auf JÜRGEN REKUS und DIETRICH BENNER erläutert wurde. Dagegen setzen NATH und GRIEBEL eine Interpretation, die sozial- und ideengeschichtliche Perspektiven miteinander verschränkt. Ausgehend vom Konzept der Kommunikationsschleife zwischen Entwicklungen auf der Ebene pädagogischer Deutungsmuster und der Situationsentwicklung auf der Ebene des Bildungssystems können sie nachweisen, dass das moderne Verständnis von Bildsamkeit eng mit der Frage nach der Bildungsfähigkeit des Subjekts verknüpft ist. Bildsamkeit basiert auf einem offenen Verständnis von Bildung, das sich vor allem in der Phase der Bildungsreform um 1800 entwickelte. Die je nach sozialhistorischem Kontext unterschiedlich beantwortete Frage nach genetischer Bestimmung bzw. Plastizität der menschlichen Entwicklung ist demnach zentral für pädagogisches Denken und Handeln und kann nicht aus der Theorie der Bildung ausgeklammert werden, wie die Autoren 27
anhand von Interpretationen verschiedener Texte aus unterschiedlichen Perioden der Entwicklung des modernen Bildungssystems verdeutlichen. – Der Band schließt mit einem Beitrag von TORBEN KNEISLER. Seine Erörterung der Konjunkturen in der Rezeption JEAN PIAGETs durch die Pädagogik hat eine schließende Funktion für den gesamten Band. Im qualitativen Teil seiner Abhandlung zeigt der Autor, dass und wie die Forschungsergebnisse dieses bedeutenden Entwicklungspsychologen für eine zeitgemäß aktualisierte Diskussion über Bildungsfähigkeit und Bildsamkeit zentrale Bedeutung haben. Von besonderem Interesse auch im Hinblick auf den Bildungsdiskurs ist zudem der quantitative Teil seines Aufsatzes. Er rekonstruiert aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung – auch verallgemeinerbar zu verstehende – Mechanismen und Funktionsweisen pädagogischer Rezeptionen, welche die pädagogische Theoriebildung in ihr selbst kaum bewussten Konjunkturzyklen schwingen lassen.
* Dieser Band ist REINHARD UHLE zugeeignet. Zu seiner Entpflichtung anlässlich seines 65. Geburtstages danken ihm Freunde, Schüler, Kollegen und Weggefährten für die Jahre seiner Kritik und seiner Anregung, seiner Zustimmung und seines Widerspruchs, seines aufmerksamen Interesses und seiner Förderung. Der Geehrte hat sich in all‘ den Jahren seines Arbeitens immer wieder zentral mit Fragen der Bildungstheorie und Bildungsphilosophie als Forscher, als Hochschullehrer, als Mitglied diverser Fachkommissionen der DGfE sowie, gerade in den letzten Jahren nach Bologna, als Studiengangsplaner beschäftigt: Jetzt, da er die Bühne hauptberuflichen Auftretens verlässt, muss er zur Kenntnis nehmen, dass tatsächlich oftmals über ‚Bildung‘ nur mehr ‚jenseits pädagogischer Theoriebildung‘ verhandelt wird. Dieser Band sei ihm eine Erinnerung daran, dass jenseits des diskursiven Sturmtiefs mit seinen tief dahinziehenden Slogangewittern zumindest noch kleine Inseln fachlichen Austausches liegen. Die Beitragssammlung sei ihm Einladung dazu, sich auf diesen Inseln, nunmehr entpflichtet, auch zukünftig heimisch zu fühlen und dort im herrschaftsfreien Ringen um das bessere Argument, das ihm immer wichtig war, auch weiterhin nicht nachzulassen.
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I. KonjunkturenȱdesȱBildungsbegriffsȱ
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Vernunft, Bildung und Kritik. Anmerkungen zur Dialektik der Aufklärung Jürgen Oelkers
Aufklärung hat mit der Verknüpfung von Transparenz und Vernunft, in diesem Sinne mit einer neuen Form von Bildung zu tun. Die Welt wird durchsichtig und das Okkulte verschwindet, mindestens in dem Sinne, dass es nicht mehr Grundlage einer öffentlich akzeptierten ‚Vernunft‘ sein kann. Forschung setzt keine geheime, sondern eine unbekannte Welt voraus, die sich vernünftig beschreiben lässt. Vernunft muss mit Erfahrungsdaten kompatibel sein und kann sich nicht länger auf obskure Gegenwelten beziehen. Meine beiden Kronzeugen für die Unterscheidbarkeit der Aufklärung sind ROBERT FLUDD und ATHANASIUS KIRCHER, zwei Vernunfttheoretiker des 17. Jahrhunderts, denen ein Jahrhundert später die Vernunft ihrer Theorien abgesprochen werden musste. FLUDD war ein bekannter englischer Arzt und Paracelsist, der in Oxford Medizin studiert hatte und in London praktizierte. KIRCHER war einer der angesehensten Gelehrten des 17. Jahrhunderts. Er leitete das ‚Collegium Romanum‘ des Jesuitenordens in Rom. Die Beiden kannten einander nicht. FLUDD war ein Vierteljahrhundert älter als KIRCHER, dieser aber wiederum hatte Kenntnis von den Schriften FLUDDs. Vernunft heißt bei beiden Annäherung an das verborgene ‚Wesen‘ der Dinge, das verstanden wird, als sei es unabhängig von der sich selbst korrigierenden Erfahrung oder der Methode der Erkenntnis. Das ‚Wesen‘ (substantia) wird vorausgesetzt und ist nicht sichtbar, kann also beliebig behauptet werden. Diese Einstellung zur Wirklichkeit hat Folgen. FLUDDs ‚Meteorologica Cosmica‘ von 1626 führt die Bewegung des Wetters auf den Atem der Engel zurück, wobei friedliche Winde von stürmischen zu unterscheiden sind, die je mit göttlicher Belohnung und Bestrafung korrelieren (vgl. GODWIN 1979, S.54). Meteorologie ist die Lehre von den Meteoren oder den Himmelserscheinungen,1 die 1 Meteoriten sind vom Himmel gefallene Steine, die die Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellen. Das griechische Wort meteoron lässt sich mit ‚Himmelserscheinung‘ oder ‚Lufterscheinung‘ übersetzen. Meteoros heisst ‚in der Höhe‘ oder ‚in der Luft schwebend‘.
ihrerseits die Engel unterstützen: Der Erzengel Michael besiegt den Drachen, der Erzengel Gabriel deutet Daniel seinen Traum der vier Tiere2. Das eine Symbol steht für die besiegte Bedrohung, das andere für die drohenden Mächte der Natur. Der Mensch, schließlich, verstanden als Mikrokosmos, ist mit allen seinen Sinnen den himmlischen Einflüssen ausgesetzt. Der Körper reagiert mit seinen Organen auf den Kosmos, dessen Kräfte – Wind und Strahlen – daher unmittelbar Einfluss nehmen auf die Gesundheit oder Krankheit des Menschen. Man sieht Milz (spleen), Magen, Leber und Gallenblase, die jeweils direkt mit kosmischen Kräften verbunden sind. Der homo sanus muss in der Festung der Gesundheit zwischen den vier Winden knien (vgl. ebd., S.56). Die Winde aber entstehen nicht durch Bewegungen des Wetters, sondern sie sind Handelnde, die Gottes Willen auf der Erde ausführen (vgl. ebd., S.55). Die Theorie ist widerspruchsfrei, weil alles zusammenpasst und dabei das Wesen der Dinge erfasst wird. Hinter den Erscheinungen stehen ‚Wesen‘, also Kräfte oder Agenten, die die Erscheinungen verursachen und zugleich als ihre Ursache oder ihr Potenzial anzusehen sind. Ohne die vier Erzengel kann es nicht die zwölf Winde geben (vgl. ebd., S.57). Die Winde aber kommen aus vier Richtungen, was sie nicht könnten, gäbe es nicht hinter ihnen stehende Agenten, die jeweils auslösen und bestimmen, was den Wind ausmacht. Dabei stehen Uriel für den Wind Meridies, Michael für den Wind Oriens, Raphael für den Wind Occidens und Gabriel für den Wind Septentrio.3 Die Engel geben den göttlichen Atem ein. Demgemäß lässt sich Wind als Hauch der Engel verstehen, der keine eigene Ursache hat. Er kann daher auch Wunder bewirken und ist eine lebensspendende Kraft, der die Gesundheit anvertraut werden kann. Das war im 17. Jahrhundert für viele Gelehrte alles anderes als ‚unvernünftig‘. Ebenso wenig war es ‚unvernünftig‘, mit JOHANNES BAPTISTA MORINO den Himmel als Teil der Natur auffassen, in der die Prima Causa, also Gott, mit den Menschen kommuniziert, vermittelt durch die Kräfte seines Wesens, die sich astrologisch berechnen lassen und die dann vernünftig sind (vgl. MORINO 1623,
2 Der Traum (Dan 7, 1-14) bezieht sich auf „großmächtige Tiere“, die aus dem Meer herausstiegen, nachdem die „Winde aus den vier Himmelsrichtungen plötzlich das große Meer“ aufgewühlt hatten (Dan 17, 2). Es handelt sich um Bestien, die aus verschiedenen Gattungen gebildet waren, also um Traum-Ungeheuer; Gott nimmt diesen Bestien in einem „Strom von Feuer“ die Macht (Dan 7, 10). 3 Septentriones (= ‚die sieben Dreschochsen‘) bezeichnet die sieben Sterne des Himmelswagens oder des großen Bären. Daher steht die Bezeichnung Septentrio für Norden (septentrional für nördlich). Die Windmetapher ist also auf den Kopf gestellt, der nördliche Wind bläst von Süden, der südliche (Meridies) von Norden; das gleiche gilt für die Seiten, Oriens bläst von Westen, Occidens von Osten.
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S.13). Man sieht freilich nicht wirklich die Kräfte, sondern nur die Bilder dieser Kräfte, die nicht geprüft werden, ob oder wie sie die Natur darstellen. Der Schluss vom Bild auf die Wirklichkeit ist mit diesem Vernunftbegriff leicht möglich und nicht erschütterbar, weil ein unabhängiges Kriterium fehlt. Die Welt kann nach einem vorausgesetzten Erkenntnisprogramm konstruiert werden, aber der Mensch kann nicht zwischen seinem Programm und der Welt unterscheiden. Man glaubt an die überzeugende Konstruktion, und hat dann die Welt erfasst, während die Naturwissenschaft seit FRANCIS BACON genau diesen Zirkel durchbricht. Diese neue Art, Wissenschaft zu betreiben, hat Erfolg, weil sie nicht die Natur aus dem vorausgesetzten Bild, aus dem Text oder aus der Vorstellung erzeugt. Die Wirklichkeit muss nicht in Übereinstimmung gebracht werden mit irgendeiner Form von Glauben. Nur deswegen verändert sich das Wissen und rationalisiert sich die Bildung. KIRCHER hat diesen empirischen Weg der Erkenntnis noch 1671 in der ‚Ars Magna Lucis‘ als atheistischen Irrweg markiert, der die entscheidende Wissensbedingung nicht beachtet und daher auch keine wirklichen Aussagen über das Wesen der Welt und die Potenziale der Schöpfung machen kann (vgl. GODWIN 1979a, S.78)4. Ohne auctoritas sacra, also ohne die Autorität der Heiligen Schrift, ist menschliche Erkenntnis gar nicht möglich, ihr fehlte die eigentliche Legitimität. Für KIRCHER gilt: Das innere Auge muss erleuchtet sein, wenn Ratio eigene Aufzeichnungen in Übereinstimmung mit der Wahrheit machen soll. Die Sonne erleuchtet die Sinne, der Sternenhimmel reflektiert sie. Nur der reflektierte Strahl erreicht die Erde, und dies auch nur an sakraler Stelle; die auctoritas profana bleibt davon unerreicht, sie erwächst aus einer Wolke des Unwissens, die den Abglanz des göttlichen Lichts verdunkelt. Man sieht, wie eine erbärmliche Laterne mit flackerndem Kerzenlicht das weltliche Buch der Erkenntnis erleuchten soll, während die wirkliche Erleuchtung diese profane Randzone gar nicht erreicht. Wissenschaft wäre so nicht etwa nur Anmaßung, sondern armseliges Verkennen der Kräfte. Das Titelbild des ersten Bandes von FLUDDs 1617 erschienenen ‚Utriusque Cosmi‘, also der Geschichte der ‚beiden Welten‘, der kleinen wie der großen,5 zeigt im äußeren Kreis den ptolemäischen Macrocosmus, dessen Spiegelbild in allen seinen Teilen der Microcosmus, also der Mensch, ist (vgl. ROOB 1996,
4 ATHANASIUS KIRCHERs Buch ‚Ars magna lucis et umbrae‘ erschien erstmals 1643 in Rom; die zweite Ausgabe wurde 1671 in Amsterdam veröffentlicht. 5 ROBERT FLUDDs Schrift ‚Utrisque Cosmi maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica atque Techica Historia...‘ erschien in zwei Bänden, die erstmals 1617 und 1621 gedruckt wurden.
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S.543). In den innersten Ringen finden sich in Entsprechung zu den Elementen die vier Säfte oder Temperamente des Menschen. Der zentrale schwarze Kreis soll die saturnische Melancholie darstellen; ihm entspricht die äußerste Begrenzung des Makrokosmos durch ChronosSaturn, der das große Weltenjahr ablaufen lässt. Er zieht die beiden Welten, die große wie die kleine, getrieben durch das Stundenglas, in dem die Zeit abläuft. Die beiden Welten und so das Universum werden von polaren Kräften beherrscht, die in permanenter Spannung stehen, ohne von der menschlichen Vernunft erreicht zu werden. Die Welt ist sozusagen ohne Vernunft vernünftig. Oder anders: Ratio ist Teil des Systems, eine abhängige und keine selbständige oder gar vorrangig überragende Größe (vgl. ebd., S.560). In KIRCHERs ‚Ars Magna Lucis‘ findet sich eine Darstellung der genauen Korrespondenzen von Mikro- und Makrokosmos, die nicht den kleinsten Teil vage oder unbestimmt erscheinen lassen (vgl. GODWIN 1979a, S.80). Die Relationen zwischen Organen und Kräften, zwischen Sternen und Gefühlen, zwischen Innen und Außen, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem sind präzise beschrieben, ohne dass irgendetwas sie verändern könnte. Mit jedem Monat korrespondiert eine bestimmte Konstellation, somit eine bestimmte Charaktereigenschaft, eine bestimmte Möglichkeit und letztlich ein bestimmtes Schicksal. Autonomie und Freiheit der einzelnen Person sind ausgeschlossen, Unabhängigkeit durch Bildung wäre unerwünscht, aber gilt ohnehin als unmöglich. Im ‚Museum Hermeticum‘ – in der Frankfurter Ausgabe von 1749 betrachtet – sieht man, wie der Baum der Erkenntnis vorgestellt werden soll, als Wiedergeburt und so als Wiederholung, ohne die Möglichkeit, in das Schicksal einzugreifen (vgl. ROOB 1996, S.308)6. Eine solche Form der Weltdeutung wird erreicht durch Ausschluss von Kritik und so von eigenem Lernen. Die Ordnung der Welt ist gottgegeben, aber sie ist nicht transparent. Ein Abrücken von den einmal gefassten Prämissen soll auf Dauer ausgeschlossen werden. Damit ist eine Drohung verbunden, die mit einer berühmten Metapher verdeutlicht wird: Außerhalb der christlichen Rationalisierung von Welt und Mensch, so KIRCHER, findet der Mensch, der unabhängig
6 Umgeben von den Symbolen der vier Elemente sieht man am Baum die sieben Phasen der inneren Entwicklung des Werks, das von der Putrefactio (= Fäulnis) ausgeht. Links ist Saturn, der alte, rechts Lapis, der junge Mann zu sehen. Das Einhorn symbolisiert die vorletzte Phase der Weisung, aus der die roten Rosen der endgültigen Fixierung sprießen.
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erkennen will, nur das Labyrinth7, das zu enträtseln er immer vergeblich versuchen wird (vgl. KERN 1995, S.263). Ohne vorausgesetzte und verbindlich dargestellte göttliche Ordnung kann die Welt nur unerkennbar sein. Die Erkenntnis und so die Vernunft wird ständig auf die falsche Fährte geführt. Sie verirrt sich im Wirrwarr der vielen Möglichkeiten oder kommt dorthin zurück, wo sie angefangen hat. Der Zugang zur Schöpfung, die sich auf einem, dem richtigen Wege offenbart, bleibt verschlossen. Geistliche Irrgärten oder Labyrinthe der Erkenntnis sind im Jahrhundert der Aufklärung beliebte Symbole für die Grenzen der Rationalität oder die Unmöglichkeit der Vernunft (vgl. ebd., S.306ff.). Nicht nur ist, wie z.B. ANTONI ANDREJ DE KRZESIMOVVSKYs ‚christlichem Wanders-Mann‘ anzusehen ist die Welt ein Labyrinth, durch das man ohne Hilfe des Himmels aussichtslos herumirren würde (vgl. KRZESIMOVVSKY 1756). Viel mehr noch ist auch der menschliche Geist ein Irrgarten, aus dem nur die Gnade herausführt. ‚Geistliche Labyrinthe‘ sollen diesen Zusammenhang darstellen. Sie thematisieren die Überwindung des menschlichen Irrtums durch angestrengtes Suchen. Dieses bewegt sich in einem Labyrinth, das zur Wahrheit führt. Diese Wahrheit aber kann nur der Glaube erschließen. Wer ohne Glaube sucht, wird sich auf dem Weg zur Wahrheit verirren. Die Welt ist hier ein Irrgarten und der Glaube ist eine Suche. Diese gelangt nur dann durch die Wirrnis hindurch ans Ziel, wenn und soweit sich eben dieses Ziel offenbart und der Weg plötzlich erleuchtet ist. Wahrheit ist kein Prozess der Annäherung. Vielmehr entsteht sie in der herausgehobenen Situation des Glaubens. Eine solche wiederum setzt voraus, dass alle anderen Wege zur Wahrheit versperrt oder falsch sind. Im Verlaufe eines Prozesses könnte man sich an jeder Stelle irren. Wahrheit aber ist immer das Gegenteil von Irrtum, also müssen riskante Prozesse ausgeschlossen sein. Nur das Leben ist riskant, nicht der Glaube, er ist geradezu die Garantie der Risikobewältigung, ohne dass er vorab oder gar unabhängig von den himmlischen Mächten bestimmt werden könnte. In ALBRECHT WAGNERs Irrgartenmodell von 17588 wird dieser Zusammenhang von Labyrinth und Gnade wie folgt dargestellt: „Geistlicher Irrgarten, mit vier Gnaden-Brünnen, welche vorstellen (1). Die vier Ströhme des Paradieses, und den glücklichen Stand des Menschen vor dem Sünden-Fall.
7 KIRCHER nimmt das Bild des ‚kretischen Labyrinths‘ auf. Die Argumentation hier bezieht sich auf eine Darstellung auf S.84 in KIRCHERs Schrift ‚Turis Babel Sive Achrontologie, die 1679 im Amsterdam erschien. 8 ALBRECHT WAGNER verfertigte einen Einblattdruck ‚Geistlicher Irr-Garten. Labyrinthe Spirituel‘, der 1758 in Bern gedruckt wurde.
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(2). Durch das verkehrte Lesen wird angedeutet die vielen Mühseeligkeiten, welchen der Mensch in seinem Leben unterworffen ist nach dem Sünden-Fall. (3). Dass sich dieser Irr-Garten bey seinem Anfang endiget, will anzeigen, wie der menschliche Leib am Anfang von GOTT aus Erde gemacht, also auch wiederum zu derselbigen, durch die Verwesung, als zu seiner Mutter eilet. (4). Das Wasser der vier Gnaden-Brünnen gibt uns zu erkennen die teure Gnaden-Mittel, durch welche GOTT die verderbte menschliche Natur wieder zu Gnaden annimmt“ (vgl. Nachdruck in KERN 1995, S.317).
Der wahre Weg wird als zweisprachiger Textweg dargestellt: Die richtige Lektüre führt durch verschlungene Wege zu den vier Gnaden-Brünnlein. Diese sind jeweils durch Bibelstellen charakterisiert. Wer bis hierhin vorstößt, hat die Gewähr, Wahrheit oder Gewissheit zu finden, ohne die menschliche Vernunft bemühen zu müssen. Vernunft dient dem Erschließen des Textes, aber unabhängig davon kann sie nur den Irrtum verstärken. Diese Fixierung der Wahrheit hat ein bestimmtes Bild der Welt und des Lebens zur Voraussetzung. Dieses Welt- und Lebensbild wird gut auf einer Tafel veranschaulicht, die der Augsburger Kupferstecher GOTTFRIED EICHLER 1760 für eine Neuausgabe von CESARE RIPAs ‚Iconologia‘ anfertigte. Diese Ikonologie war ein Handbuch von Allegorien und Symbolen der christlichen Welt, das schon im Jahre 1593 zuerst gedruckt worden war und die Gattung der Emblematik entscheidend geprägt hat9. In EICHLERs Darstellung sieht man den Kreislauf des Lebens durch das Labyrinth der Welt. Dieser Welt- und Lebenslauf dient allerdings nur als Hintergrund für die Teufelsdrohung und somit für die Verführbarkeit und Sündhaftigkeit des Menschen (vgl. KERN 1995, S.325). Aus der Erbsünde heraus betritt das neugeborene Kind den Kreislauf des Lebens, das heißt, es tritt durch das Tor ins Labyrinth, blumenbeschmückt und doch schicksalsbehaftet. Das Leben hat Stationen und ist vorhersehbar: Im äußersten Kreis sieht man einen Jüngling mit Sichel und Ähren, der die Energie der Jugend andeutet, im nächsten Kreis sieht man eine Frau mit Trauben, die Fruchtbarkeit darstellt, daneben sitzt ein alter Mann vor einem Feuer, das Leben ist kurz, die guten Jahre sind schnell zu Ende, das Ende naht, in der Mitte steht der Tod, auf einem Podest mit Stundenglas und Sense. Die Zeit verrinnt, im Labyrinth des Lebens erschöpft sich die Kraft, Jugend und Alter sind Korrelationen ebenso wie Kindheit und Tod. Letztlich ist das Leben eine Kreiserfahrung. Man kehrt dorthin zurück, wo man angefangen hat, als sei dazwischen nur die Überbrückung von Anfang und Ende (vgl. PRAZ 1964, Vol. I/S.472ff.). Wenn man Aufklärung unterscheiden will, dann mit dem Durchbrechen dieser Schicksalsbilder. Sie sind nur dann überzeugend, wenn auch die Erkenntnis 9 Schon die erste Ausgabe in Rom erschien mit Illustrationen. RIPAs ‚Iconologia‘ wurde vom Augsburger Verleger JOHANN GEORG HERTEL für das Publikum des 18. Jahrhunderts neu aufbereitet.
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in sich selbst kreist, also ein Fortschritt des Geistes ausgeschlossen werden muss. Man betritt die Welt als Labyrinth (vgl. KERN 1995, S.323)10, und das gilt auch und gerade für die Liebe, die nichts ist als Bewegung in Kreisen, welche nicht sagen, ob die Mitte je erreicht wird (vgl. ebd., S.340)11. Kreise verweisen auf geschlossene Welten, die den Geist gefangen halten, weil die Erkenntnis nur der gegebenen Ordnung folgen kann, ohne je eigene Fortschritte zu machen. Die Erkenntnis würde so den Kreis spiegeln, unter der Voraussetzung, ihn nicht durchbrechen zu können. Und jedes Labyrinth ist mächtig genug, die eigene Ordnung zu verhüllen, so dass kein Wissen wirklich weiterführen würde. Genau dagegen richtet sich die Aufklärung. Sie geht vom Fortschritt der Erkenntnis und Nutzen des Wissens aus, ohne die Schwächen der menschlichen Natur zu negieren. Nicht alle Autoren der Epoche gehen, wie JEAN-JACQUES ROUSSEAU, von der perfectibilité des Menschen aus, also von dessen guter Natur und deren uneingeschränkter Entwicklungsfähigkeit. Ende 1766 schrieb VOLTAIRE12 eine Reihe von Aphorismen und Fragmenten zu philosophischen Problemen, die im darauf folgenden Jahr unter dem Titel ‚Le philosophe ignorant‘ veröffentlicht wurden.13 Die kurzen Stücke thematisieren die untilgbaren Schwächen der Menschen, die begründete Verzweiflung, die Grenzen der Freiheit und des Lernens, die Abhängigkeiten des Lebens, die Absurditäten hinter sophistischen Argumenten, die Macht der Ignoranz und bei alledem doch den Wunsch zu wissen,
10 HERMANN KERN zeigt JUSTUS REIFENBERGs Emblem 8 aus ‚Emblemata politica‘, die 1623 in Amsterdam erschienen. 11 KERN zeigt ‚Weg-Weiser zur Heirat aus dem Labyrinth der Liebelei‘, eine IIlustration zu JACOB CATS’ ‚Houwelyck, dat is de gantsche gelegenheyt der echtenstaets‘ von 1625. 12 FRANÇOIS-MARIE AROUET (1694-1778), der sich VOLTAIRE nannte, war Sohn eines wohlhabenden Pariser Notars und besuchte das jesuitische Collège Louis-le-Grand. 1710 erhielt er Zutritt zur mondänen Gesellschaft des ‚temple‘, hier begann er mit satirischen Dichtungen, die ihm 1717 ein Jahr Gefängnis in der Bastille einbrachten. In der Bastille entstand 1718 mit ‚l’Oedipe‘ die erste erfolgreiche Tragödie. VOLTAIRE erhielt eine königliche Pension und begründete durch erfolgreiche Finanzspekulationen seine persönliche Unabhängigkeit. 1728 erschien in England die endgültige Fassung des Epos ‚La Henriade‘, das die Zeit der Glaubenskriege unter HENRI IV. darstellte und VOLTAIRE als Kritiker des Fanatismus beider christlicher Konfessionen einen Namen einbrachte. 13 Entstanden sind diese Reflexionen gegen Ende des Jahres 1766. Erstmalig erwähnte VOLTAIRE sie in einem Brief von HORACE WALPOLE am 4. Januar 1767. Sie erschienen im sechsten Band der ‚Nouveaux Mélanges‘ (vgl. VOLTAIRE 1961, S. 859-912).
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damit Lernen sich in Prinzipien der Moral übersetzen kann (vgl. VOLTAIRE 1961, S.862, 891f.). Les philosophes wurden in Frankreich die ‚Aufklärer‘ genannt, jene Intellektuellen der Pariser Salons, die oft Aristokraten oder Abbés waren. Sie trugen den Diskurs des éclaircissement oder des siècle des lumières und beförderten ihn. VOLTAIRE war ihr prominentester Vertreter, der sein Leben fasste als Bildung oder Überwindung von Ignoranz (vgl. ebd., S.909ff.). Dabei übersah er freilich weder die Schwächen der Menschen noch glaubte er an deren bedingungslose Rationalität. Aber Bildung ist verbunden mit einem Anspruch oder gar einem intellektuellen Recht auf Kritik, das VOLTAIRE mit seiner Person wie kein zweiter Autor des 18. Jahrhunderts repräsentierte. Bereits mehr als zwanzig Jahre vor ‚Le philosophe ignorant‘ erschien im Jahre 1745 im ‚Mercure de France‘ VOLTAIREs ‚Nouveau Plan d’une histoire de l’esprit humain‘. Aus diesem sollte im Jahre 1753 der ‚Abregé de l’histoire universelle depuis Charlemagne, jusqu’à Charlequint‘ hervorgehen. Ein Vorbild dieser universellen Geschichte des menschlichen Geistes wiederum war SAMUEL FREIHERR VON PUFENDORFs ‚Histoire générale et politique de l’Univers‘ von 172114. Weltgeschichtliche Darstellungen waren zu Beginn des 18. Jahrhundert in vielen Varianten vorhanden, aber VOLTAIRE gab dem Genre eine neue Wendung. Aus dem ‚Abregé‘ entstand sein ‚Essai sur les moeurs‘, eine großangelegte „Histoire moderne“ (VOLTAIRE 1963, T.I/S.195). Diese sollte den Abstand und Unterschied zu den barbarischen, also den unaufgeklärten Epochen der Menschheit deutlich machen und darstellen, dass und wie die historische Zivilisierung des Menschen stattgefunden hat (vgl. ebd., S.201f.). Die Fortschrittsannahmen des 18. Jahrhunderts gehen wesentlich auf diese Kritik der barbarischen Vorgeschichte zurück, welche nachweisen sollte, dass in geistiger und moralischer Hinsicht keine vergangene Epoche der damals gegenwärtigen – also dem 18. Jahrhundert – überlegen sei. Ursprünglich hieß der Essay ‚histoire universelle‘ (vgl. ebd., S.LXVII). VOLTAIRE wollte die gesamte Geschichte der Menschheit als Fortschritt des Geistes darstellen, welcher die Jahrhunderte der Irrtümer hinter sich gelassen hat (vgl. ebd., T.II/S.801). Überwunden worden seien die absurdesten Annahmen des Aberglaubens, die immer wieder die „fureur dogmatique” angestachelt hatten (ebd., S.802), jene Raserei der religiösen Dogmen, die wie ewige Wahrheiten 14 Diese wiederum war die französische Übersetzung von SAMUEL FREIHERR VON PUFENDORFS Schrift ‚Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten, so itziger Zeit in Europa sich befinden‘ von 1682/1685. PUFENDORF (1632-1694) war einer der Begründer des modernen Naturrechts. Er wurde 1661 in Heidelberg erster deutscher Professor für Natur- und Völkerrecht. 1668 wurde er nach Lund und später nach Stockholm berufen, bevor er 1688 kurbrandenburgerscher Geheimrat und Historiograph in Berlin wurde.
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behandelt wurden und doch nur Kriege auslösten (vgl. ebd., S.804). Die Kulturen der Menschheit sind verschieden (vgl. ebd., S.810), aber in allen geht es um Fortschritte der Bildung und der Zivilisierung. Die Entwicklung der Sitten, so die Basisidee des ‚Essai sur les moeurs‘, hängt von den Revolutionen des menschlichen Geistes ab (vgl. ebd., S.816). Geschichte ist nicht einfach die Folge von Ereignissen oder gar nur von Herrschern. Vielmehr speichert und bearbeitet sie kulturelle Erfahrungen, die ihrerseits auf Institutionen und handelnde Personen zurückwirken. Irrtümer werden erkannt (ebd., S.844)15 und Verbesserungen des Geistes sind möglich, selbst wenn die Imperfektion des Menschen auch den größten Genies ihren Stempel aufdrückt (vgl. ebd., S.840). Die Kultur selbst kann dem entgegen wie ein Bildungsprozess betrachtet werden, der barbarische Sitten überwindet (vgl. ebd., S.847ff.). VOLTAIRE bezieht sich im Jahre 1753 in einem Brief16 ausdrücklich auf die Entwicklung der Naturwissenschaften, welche die riesigen Labyrinthe der metaphysischen Dogmen und philosophischen Absurditäten endlich – im 17. und 18. Jahrhundert – überflüssig gemacht haben (ebd., S.867). In diese Absurditäten muss nicht mehr eintreten, wer für den Fortschritt des Geistes besorgt sein will. Die Ausgabe der Essays war 1756 vorläufig abgeschlossen17. Im März dieses Jahres veröffentlichte VOLTAIRE sein berühmtes Gedicht ‚Sur le désastre de Lisbonne‘ über das Erdbeben von Lissabon. Er reagierte damit auf eine Naturkatastrophe, die die gesamte europäische Intelligenz erschüttert hatte (vgl. GÜNTHER 1994; Texte in: BREIDERT 1994). Dieses Gedicht wurde von den Zeitgenossen VOLTAIREs als Absage an den Fortschrittsglauben gelesen. Freilich hatte dieser selber Fortschritt nie als naive Erwartung der Vollkommenheit oder der ‚perfectibilité‘ verstanden. Die Natur wirkt immer als Begrenzung der menschlichen Aspirationen und dabei nicht zuletzt durch ihre Katastrophen. Aber das ist kein Einwand gegen die Fortschritte der Bildung und auch nicht
15 Das Beispiel an der zitierten Stelle ist die Metaphysik RENÉ DESCARTES‘. Diese enthalte zwei Irrtümer, die in der Nachfolge korrigiert worden seien, „les idées innées et la prétendue perception de l'înfini“. Aber auch die Physik DESCARTES‘ sei voller Irrtümer, deren größter wie folgt formuliert werden könne: „Donnez-moi de la matière et je fais un monde“ VOLTAIRE 1963, T.II/S.844). 16 ‚Lettre de M. de V*** A M. De***, Professeur en Histoire‘ (vgl. ebd., T.II/S.865-870). 17 Die ‚Essay sur l‘histoire générale et sur les moeurs et l'esprit des nations depuis Charlemagne jusqu‘à nos jours‘ erschienen als Bände XI bis XIV der ‚Collection complète des oeuvres de Mr. de Voltaire‘ 1756 in Genf. Eine ‚Nouvelle édition, revue, corrigée et considerablement augmentée‘ erschien 1761 in fünf Bänden an gleicher Stelle. Die definitive Ausgabe erschien schließlich 1769 in Genf unter dem Titel ‚Essai sur les moers et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII‘.
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gegen die Idee des Fortschritts durch Bildung. Fortschritt ist nicht Erlösung von der Natur, sondern nur Beherrschung mancher ihrer Kräfte. Am 1. November 1755, am Tag von Allerheiligen, bebte die Erde, auf der die Stadt Lissabon stand. Das Epizentrum lag vor der Küste der Stadt, das Beben wurde nachträglich mit einer Stärke von 9,0 auf der Richterskala bestimmt. Die Erschütterungen reichten von Nordafrika bis Skandinavien, dem ersten Erdstoß folgen unmittelbar danach zwei weitere, vor allem aber eine gigantische Flutwelle, die vom Ozean her riesige Wassermassen in die Mündung des Tejo presste. Dreißig Minuten nach dem Beben brachen die Kirchen der Stadt unter dem Tsunami zusammen und begruben die zu den Messen an Allerheiligen versammelten Gläubigen unter ihren Trümmern. Die Flut überschwemmte die tiefer gelegenen Teile der Stadt. Unmittelbar nach dem ersten Beben brachen Feuer aus, die Lissabon über das hinaus, was Beben und Flut angerichtet hatten, vollständig vernichteten. Noch größer waren die Schäden an der Algarve-Küste südlich von Lissabon. Die Schätzungen der Opferzahlen schwanken zwischen 20.000 und 60.000, vermutlich sind mehr als 30.000 Menschen umgekommen. Hier war eine Katastrophe geschehen, die tatsächlich als Menetekel der Aufklärung verstanden wurde (vgl. WEINRICH 1971; GENNRICH 1976; NEIMAN 2002). VOLTAIRE sah, wie andere auch, den Optimismus in Frage gestellt, in der ‚besten aller Welten‘ zu leben (vgl. BESTERMAN 1956; BRAUN/RADNER 2005). Die Philosophie eines GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ oder eines ALEXANDER POPE sei mit der katastrophalen Macht der Natur nicht vereinbar, anders würden die Opfer von Lissabon das Gute bestätigen. Das Axiom dieser Philosophie, ‚tout est bien‘, nehme sich angesichts des Desasters von Lissabon seltsam aus, so schreibt VOLTAIRE (VOLTAIRE 1756, S.3). Wir leben nach dieser Erfahrung offenbar nicht in der besten aller Welten, kann doch jede unserer Welten durch Katastrophen der Natur erschüttert werden, die niemand vorhersieht und keiner bannt. Aber niemand kann zum Guten beitragen, wenn er das Böse oder das Unheimliche nicht beherrscht (vgl. ebd., S.6f.). Man muss daher eingestehen, so VOLTAIRE, dass das Gute und das Böse koexistent sind und bleiben: Man muss eingestehen, dass die Philosophen niemals die Herkunft des Bösen expliziert haben, weder des moralisch noch des physikalisch Bösen. Man muss auch eingestehen, dass PIERRE BAYLE, der „größte Dialektiker, der je geschrieben hat”, nur gelernt hat, zu zweifeln und mit sich selbst zu kämpfen. Und man muss zugestehen, dass es so viele Schwächen in der Erleuchtung des Menschen gibt wie Miseren in seinem Leben (ebd., S.7). Man kann nicht, so heißt es im Gedicht selbst, von der Notwendigkeit auf die Güte der Natur schließen, und schon gar nicht darauf, die Notwendigkeit der 44
Natur beherrschen zu können, also die Schöpfung selbst in die Regie des Menschen zu nehmen. Desaster wie das von Lissabon zeigen, wie eigenmächtig die Natur ist und wie wenig es gelingt, sie unter die Herrschaft des Menschen zu stellen (vgl. ebd., S.9f.). Aufklärung heißt wohl Bildung des Menschen, aber nicht prometheische Bildung18. Es geht eben nicht um die Ablösung Gottes durch sein eigenes Geschöpf. Die Welt kann nie frei von Irrtümern gehalten werden, sie ist ein Theater der Leidenschaften und des Unglücks, das zu keinem Zeitpunkt einen nur guten Ausgang nehmen wird. Was wir ‚gut‘ nennen, das plaisir des Menschen, ist flüchtig und ohne Halt, der Augenblick des guten Erlebens kann über die Fatalität des Lebens nicht hinwegtäuschen,19 es kann nicht ‚gut‘ sein, weil es vergeht und nichts und niemand das Leiden des Menschen an sich selbst aufheben kann. „Le passé n‘est pour nous qu‘un triste souvenir; Le présent est affreux, s‘il n'est point d‘avenir, Si la nuit du tombeau détruit l‘être qui pense. Un jour tout sera bien, voilà notre espérance; Tout est bien aujourd'hui, voilà l‘illusion. Les Sages me trompaient, & DIEU seul a raison (ebd., S.16ff.).
Man kann, heißt es am Schluss des Gedichts, Hoffnung hinzufügen, aber das bleibt angesichts der Gewalt der Natur eine vage Größe (vgl. ebd., S.17). ROUSSEAU, der Intimfeind VOLTAIREs, reagierte heftig auf das Poem20. Immerhin stellte doch VOLTAIRE die Güte der Natur in Frage, also auch die Prämisse der natürlichen Erziehung, wonach nur die Gesellschaft den Menschen verderben könne. Dass die Natur dem Menschen schaden kann (oder gar will), wollte und konnte ROUSSEAU nicht wahrhaben, anders nämlich ließ sich der allgemeine Optimismus der Erziehung nicht verteidigen. Daher verlagert ROUSSEAU das Problem:
18 Prometheus ist in der antiken Mythologie einer der Titanen. Nach HESIOD bringt Prometheus den Menschen das Feuer, das Zeus ihnen vorenthalten wollte. Zur Strafe (oder zum Ausgleich) sandte Zeus den Menschen Pandora; Prometheus wird an den kaukasischen Felsen gefesselt und mit einer absurden Qual bestraft. Ein Adler frisst ihm jeden Tag die Leber aus dem lebendigen Leib, die jede Nacht nachwächst. Erst Herakles befreit Prometheus von dieser Qual. 19 Die Idee des partiell Bösen und des ‚universal Good‘ geht auf ALEXANDER POPEs Epistel I/290 im ‚Essay on Man‘ zurück. Ihn greift VOLTAIRE an (vgl. VOLTAIRE 1756, S.6). 20 ROUSSEAU schreibt VOLTAIRE einen längeren Brief über dessen Gedicht; VOLTAIRE bestätigt den Eingang dieses Briefes am 1. September 1756. ROUSSEAUs Brief wird entgegen der Absicht des Verfassers in den Nummern 44 und 53 des 1760er Jahrgangs der Zeitschrift von SAMUEL FORMEY, des Sekretärs der Berliner Akademie, veröffentlicht. ROUSSEAU berichtet über diesen Vorfall ausführlich in seinen ‚Bekenntnissen‘ im neunten Buch (vgl. ROUSSEAU 1959, S.429ff.).
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„Es ist nicht davon die Rede, zu wissen, ob jeder von uns leidet oder nicht, sondern ob die Schöpfung des Weltalls gut war und ob in der Anordnung dieses Weltalls unsere Übel unausweichlich waren. Also würde, wie mir scheint, der Zusatz eines Artikels den Lehrsatz [Tout est bien; J.O.]‘ richtiger bestimmen, und statt Alles ist gut wäre es vielleicht besser zu sagen: Das Ganze ist gut, oder Alles ist gut für das Ganze. Alsdann ist es augenscheinlich, dass kein Mensch weder dafür noch dawider bündige Beweise geben könnte, denn diese Beweise hängen von einer vollkommenen Kenntnis der Anordnung der Welt und des Endzwecks ihres Urhebers ab, und diese Kenntnis übersteigt unstreitig den menschlichen Verstand“ (ROUSSEAU 1978, S.325; Hvhbg. J.O.).
In dieser Frage dürfe nicht die Vernunft, sondern müsse die Vorsehung tätig werden (vgl. ebd., S.327f.)21. An das Gute der Natur könne man nur glauben, während VOLTAIREs skeptische Vernunft ohne Ertrag bleibe für die Menschen. Wer das ‚Gute‘ und das ‚Böse‘ einfach als Relation betrachtet, die angesichts der Erfahrungen in Natur und Gesellschaft nicht für das Gute entschieden werden kann, trägt zur Erziehung und so zum Glück der Menschen nichts bei. „Eine Unmenschlichkeit [liegt; J.O] darin ..., friedfertige Seelen zu verwirren und die Menschen ohne irgendeinen Nutzen zu bekümmern, wenn das, was man sie lehren will, weder gewiss noch nützlich ist“ (ebd., S.329). Optimismus muss gleichermaßen gewiss und nützlich sein, was nur gelingt, wenn Natur seine Grundlage ist. Dass ‚das Ganze‘ gut sei, kann man nur glauben. Der Glaube muss aber unabhängig von der Erfahrung gehalten werden, wenn der Satz der Güte überzeugen soll. Wendet man ihn auf die Erfahrung an, dann sind zu schnell zu viele Gegenbeispiele bei der Hand, um die Naivität des gläubigen Optimismus lange bewahren zu können. Katastrophen beweisen die Kontingenz der Welt und die Unberechenbarkeit der Natur, während der Glaube annehmen soll, dass alles – Welt und Mensch – an sich und in seinem Wesen vollkommen sei. Davon ist die intellektuelle Redlichkeit, die Zivilisierung durch Wahrheitssuche, zu unterscheiden. Aufklärung wäre im Wesentlichen dies, die Chance, durch Bildung oder fortgesetztes Lernen Wahrheit selbst bestimmen zu können, darunter auch jede unangenehme oder moralisch anstößige Wahrheit. Am Ende von ‚Le philosophe ignorant‘ schreibt VOLTAIRE: „Ich sehe, in diesem Jahrhundert, das von der Vernunft erleuchtet wurde [ce siècle qui est l‘aurore de la raison], wie die Köpfe der Hydra des Fanatismus nachwachsen“ (Voltaire 1961, S.911). 21 „Um diesen Punkt richtig zu denken, scheint es, die Dinge sollten in der physischen Ordnung nur relativ und in der sittlichen Ordnung absolut betrachtet werden, so dass der größte Gedanke, den ich mir von der Vorsehung machen kann, ist, dass jedes materielle Wesen relativ auf das Ganze und jedes vernünftige und empfindende Wesen relativ auf sich selber bestmöglich eingerichtet ist, was in anderen Ausdrücken sagen will, dass es für den, der sein Dasein fühlt, besser ist, dazusein, als nicht dazusein” (ROUSSEAU 1978, S.327).
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Die Wahrheit aber dürfe sich vor diesen Monstern nicht verstecken (vgl. ebd., S.912). Jede Form von Fanatismus hebe Freiheit auf, und das gelte auch für die ‚Vorsehung‘ nach ROUSSEAU. Frei sei der Mensch aber nur, wenn er vernünftig zu handeln versteht, ohne dass dafür die Welt an sich gut sein müsse oder der Optimismus durch die Natur selbst garantiert werde (vgl. ebd., S.868ff.). Mit ANTHONY COLLINS (1713)22 und anderen Freidenkern des frühen 18. Jahrhunderts23 forderte VOLTAIRE die Freiheit des Denkens, das Recht auf Kritik und die Unabhängigkeit der Bildung vom religiösen Dogma, nicht aber eine Emanzipation des Menschen von allen seinen Schwächen, die erreicht werden soll durch eine Angleichung der Erziehung an die Natur des Menschen. Die Schwächen der Natur sind für VOLTAIRE unaufhebbar24. Das aber bedeutet nicht, dass Bildung unmöglich ist, Kritik sinnlos und Fortschritte des Geistes ausgeschlossen werden müssen. Dafür gibt es eine berühmte Formel, die sich nicht ‚dialektisch‘ verstehen lässt: „Ich habe gedacht, dass die Natur jedem Wesen zugeteilt hat, was zu ihm passt; ich habe geglaubt, dass die Dinge, die wir nicht erreichen können, nicht zu uns gehören. Aber, trotz dieser Verzweiflung [désespoir] lasse ich nicht von dem Wunsch ab, unterrichtet und belehrt zu werden, und meine betrogene Neugier ist immer unersättlich“ (VOLTAIRE 1961, S.861f.).
Aufklärung hat mit Lernen zu tun, nicht mit einer Fortschrittsgarantie; wenn es Unterschiede zwischen barbarischen und zivilisierten Kulturen gibt, dann ist das lediglich eine historische Hypothese. Irgendeine automatische Bewegung der Geschichte selbst ist damit nicht verbunden. VOLTAIRE führt diesen Komplex wie folgt zusammen: Die Intelligenz des Menschen ist ebenso beschränkt wie seine körperliche Kraft. Die Fähigkeiten sind unterschiedlich verteilt, auch ist der Gebrauch der Intelligenz nie gleich. 22 ANTHONY COLLINS (1676-1729) studierte Jura, übte aber nie ein juristisches Amt aus. 1703 traf er JOHN LOCKE und knüpfte an seine Philosophie an. COLLINS war reich und unabhängig. Er verfasste 1707 ‚An Essay Concerning the Use of Reason‘, 1713 erschien sein kontroverses Buch ‚A Discourse of Free-Thinking‘, das ihn auch auf dem Kontinent bekannt machte. Einer seiner Leser war VOLTAIRE.. 23 Dazu gehörten neben JOHN TOLAND englische Deisten des frühen 18. Jahrhunderts wie THOMAS WOOLSTON (1669-1733) oder WILLIAM WOLLASTON (1659-1724). VOLTAIRE selber war ein Bewunderer von WOOLSTON, den er London traf. 24 „Ce qui est impossible à ma nature si fallible, si bornée, et qui est d‘une durée si courte, est-il impossible dans d'autres globes, dans d‘autres espèces d'êtres? Y a-t-il des intelligences supérieures, maîtresses de toutes leurs idées, qui pensent et qui sentent tout ce qu‘elles veulent? Je n‘en sais rien; je ne connais que ma faiblesse, je n‘ai aucune notion de la force des autres“ (VOLTAIRE 1961, S.867).
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Der eine kommt früher an seine Grenzen, der andere später, aber jeder hat und erreicht Grenzen (vgl. ebd., S.865). Daraus ergibt sich folgende Bestimmung: „Wir sind eingeschlossen in einem engen Lebenskreis, warum lernen wir nicht zu unterscheiden, wo wir zum Nichtwissen verdammt sind und wo wir tatsächlich etwas lernen können. Wir haben schon gesehen, dass es kein erstes Mittel gibt, ebenso wenig kann es ein erstes Prinzip geben, das wir ergreifen können“ (ebd., S.865f.).
Wissen und Nichtwissen unterscheiden zu können, wäre so das wahre Signum für Aufklärung. Jede Vernunft muss damit rechnen, dass hinter jeder Ursache, von der sie ausgeht, andere stehen, die unbekannt sind, am Ende gar das Unendliche (infini), das jeden Verstand überfordert (vgl. ebd., S.866). Man sucht ständig und findet niemals etwas auf definitive Weise, nichts ist abschließend erklärbar, aber unablässig werden Erklärungen notwendig. Ein Zustand vollkommener Transparenz – totaler Erklärbarkeit – der Welt hätte zur Folge, dass jeder Mensch der Gott seiner selbst wäre. Genau solches aber ist unvereinbar mit der menschlichen Natur. Man müsste das erste Prinzip kennen, das die Menschen zu denken und handeln veranlasst, während man immer nur denken und handeln kann aufgrund dieses Prinzips. Dieses erste Prinzip entzieht sich der Erkenntnis und bestimmt sie zugleich. Die menschliche Intelligenz kann der Frage nach dem Unendlichen nicht entkommen, aber sie muss sich mit ihm an sich selbst abarbeiten, ohne dass Erlösung garantiert wäre (vgl. ebd., S.873f.). In diesem Sinne behält die Aufklärung ein Grenzbewusstsein. Dieses basiert auf der Bedingung des Lernens: Das Große oder das Letzte ist unerkennbar, also müssen sich Erkenntnis und Wissen auf das Erkennbare in der Erfahrung beziehen. Man kann nicht die christliche Trinität mit der Physik erklären (vgl. ebd., S.883). Was aber Aufklärung kann, ist, diesen Versuch als absurd zu entlarven. Schließlich, so VOLTAIRE, verrät auch die Algebra nicht, wie die Regeln des Lebens zu bestimmen sind. Aus den wenigen Wahrheiten, die man lernen kann, leiten sich nicht einfach moralische Prinzipien ab. Von daher bleibt in jedem Falle ein praktisches Problem bestehen, das nicht mit Wissenschaft allein bearbeitet werden kann (vgl. ebd., S.891ff.). Was „gerecht“ ist und was „ungerecht“, muss aus der Handlungspraxis heraus je neu bestimmt werden (ebd., S.892). Die Wissenschaft kann nur verhindern, dass dabei die „chimères“ des Aberglaubens ihren Einfluss zurückerlangen und übermächtig werden (ebd., S.895). Das Prinzip der Gerechtigkeit ist universell, in dem Sinne, dass alle bekannten Kulturen darauf reagiert haben; die Praxis der Moral dagegen ist verschieden (vgl. ebd., S.901). Eine Annäherung aller Gesellschaften an einen Zustand muss daher ausgeschlossen werden, so dass auch ein Fortschritt zum letztendlich Guten ausgeschlossen werden muss. Das 48
Gute ist kein Endziel, sondern nur ein Maßstab, er soll das Handeln leiten, das aber immer mit der Fehlbarkeit des Menschen rechnen muss. Eine der historischen Quellen für VOLTAIREs Geschichte der Sitten von 1756 ist JEAN CHARDINs ‚Voyages en Perse‘.25 Das Motto auf dem Titelblatt ist ein Bekenntnis zur Aufklärung: Libertas sine scientia licentia [Licentia = Göttin der Willkür; J.O.] est – Freiheit ohne Wissenschaft ist Willkür! VOLTAIRE verarbeitete diverse Reiseberichte, um die kulturellen Abstände zwischen Europa und den anderen Welten bestimmen zu können. Gleichzeitig war die Metapher der Reise eine gute Veranschaulichung seines philosophischen Problems. Man sieht auf einem Bild in CHARDINs ‚Reisen nach Persien‘ eine Karawanserei26, die VOLTAIRE als Metapher nutzt: „Le monde est un caravansérail, et nous sommes une caravane“ (VOLTAIRE 1963, T.I/S Lf.). Jede Karawane hat nur zwei Möglichkeiten: Sie kommt ans Ziel oder verpasst die Richtung. Zudem sind Karawanen ökonomische Unternehmungen, sie dienen weder allein dem Vergnügen noch ausschließlich der Bildung. Die Metapher der Reise steht daher nicht lediglich für die ewige Suche, sondern zugleich für wirtschaftliche und politische Interessen, die mit Macht und Gewalt zu tun haben (vgl. ebd., T.II/Abb. zw. S.374/375)27. VOLTAIREs Europa ist auch eines der christlichen Mission und der imperialen Politik, die sich im 17. und frühen 18. Jahrhundert die technischen Fortschritte zunutze macht, nicht um die Bildung zu befördern oder der Aufklärung zu dienen, sondern um politische Herrschaft auszuüben, die oft genug gerade mit der Vernunft der Aufklärung begründet wurde. Die Barbaren sollten ausgerottet oder missioniert werden (vgl. ebd., Abb. zw. S.348/349, S.334/35)28. So sollte der westlichen, der christlich geprägten Rationalität zum Durchbruch zu verholfen werden. Nur so konnte auch der Kontinent Amerika erschlossen werden
25 JEAN CHARDINs Tome Premier von ‚Voyages de Monsieur le Chevalier Chardin, en Perse, et autres lieux de l‘orient ()‘ erschien 1711 in Amsterdam. VOLTAIRE zitiert ihn an mehreren Stellen (vgl. VOLTAIRE 1763, T1/S.62, passim.). CHARDIN (1643-1713) war Sohn eines wohlhabenden Juweliers, der, statt das Erbe seines Vaters anzutreten, die Welt bereiste. Von 1664 bis 1670 war er in Persien und Indien, beide Länder besuchte er erneut zwischen 1671 und 1680. 26 Das persische Wort ‚karwan‘ steht für ‚Kamelzug‘ oder ‚Reisegesellschaft‘. Die ‚Karawanserai‘ ist die Unterkunft für Karawanen an den Karawanenstraßen, also den großen Handelswegen durch die Wüsten. ‚Sérails‘ sind auch Harems. 27 Frontispiz zu: OEXMELINs ‚Histoire des aventuriers, des boucaniers et de la chambre des comptes, établie dans les Indes‘ in der Ausgabe von 1669-1705, 1686 (die Erstausgabe erschien in Paris 1636 (vgl. VOLTAIRE 1963, T.II/Abb. zw. S.375/376). 28 Darstellung ‚L‘idole Viztzilipztli‘ aus SOLIS Y RIBADENEIRAs ‚Histoire de la conquête du Pérou‘ in der Ausgabe von 1692 (vgl. VOLTAIRE 1963, T.II/Abb. zw. S.348/349), desweiteren LAFITAU: ‚Moeurs des sauvages américain‘s‘ in der Pariser Ausgabe von 1724 (vgl. ebd., Abb. zw. S.334/335).
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(ebd., S.306/307)29. Nur so entstand schlussendlich die moderne europäische Gesellschaft, wie etwa am Beispiel der Niederlande abgelesen werden kann oder muss (vgl. ebd., S.728/729)30. Der Reichtum ist auf Gewalt aufgebaut, die Vernunft hat eine blutige Seite, Bildung setzt Ausbeutung voraus, weil nur so Abstand von der eigenen Lebensnot erreicht werden kann. Gibt es also trotz aller intellektuellen Selbstbegrenzung so etwas wie eine Dialektik der Aufklärung, die die Aufklärer selbst gar nicht bemerkt haben? Und wäre das Licht der Aufklärung dann einfach die Funktion der Dunkelheit, die nicht etwa überwunden wird, sondern als moderne Barbarei im Namen der Aufklärung bestehen bleibt? Wäre dem so, könnte man ‚Aufklärung‘ nur als leichtsinnigen Irrtum bezeichnen, der befördert, was er vermeiden will. Das Barbarische hinter der Zivilisation verschwindet nicht, sondern erhält mit der Veränderung der Rationalität neue und zusätzlich bessere Chancen. Die Guillotine wäre dann tatsächlich das Symbol für die wirklichen Möglichkeiten der Aufklärung. Dialektik der Aufklärung – so nannten MAX HORKHEIMER31 und THEODOR WIESENGRUND ADORNO32 philosophische Fragmente, die zwischen 1941 und 29 Frontispiz zu BANDINI ‚Vita e lettere di Amerigo Vespucci‘ in der Florentiner Ausgabe von 1745 (vgl. VOLTAIRE 1963, T.II/Abb. zw. S.306/307). 30 Frontispiz zu Le Clerc, ‚Histoire des Provinces unie‘s‘ in der Amsterdamer Ausgabe von 1728 (vgl. VOLTAIRE 1963, T.II/Abb. zw. S.728/729). 31 MAX HORKHEIMER (1895-1973) studierte in München, Freiburg/Br. und in Frankfurt/M. 1922 promovierte er in Philosophie und wurde Assistent von HANS CORNELIUS in Frankfurt. 1925 habilitierte sich HORKHEIMER mit einer Arbeit über IMMANUEL KANTs ‚Kritik der Urteilskraft‘. 1927 unterzog er sich einer psychoanalytischen Behandlung, 1930 wurde er Ordinarius für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt/M. 1931 wurde HORKHEIMER Direktor des der Universität assoziierten ‚Instituts für Sozialforschung‘, dem Nukleus der Frankfurter Schule. 1933 floh HORKHEIMER in die Schweiz, 1934 ging er ins amerikanische Exil. Das Institut für Sozialforschung wurde an der Columbia University neu eingerichtet. 1940 ging HORKHEIMER nach Kalifornien, um mit THEODOR WIESENGRUND ADORNO die ‚Dialektik der Aufklärung‘ zu schreiben. 1943 wurde HORKHEIMER Direktor der wissenschaftlichen Abteilung des American Jewish Committee, während dieser Tätigkeit entstanden die ‚Studies in Prejudice‘. Unter diesem Titel wurden umfangreiche empirische Forschungen zum Antisemitismus und seinen gesellschaftlichen Ursachen durchgeführt. 1949 kehrte HORKHEIMER auf den Lehrstuhl für Sozialphilosophie nach Frankfurt zurück, 1950 wurde dort das ‚Institut für Sozialforschung‘ neu eröffnet (vgl. WIGGERSHAUS 1986). 32 ADORNO (1903-1969) promovierte ebenfalls bei HANS CORNELIUS in Frankfurt. 1925 studierte er Musiktheorie und Komposition bei ALBAN BERG und ARNOLD SCHÖNBERG in Wien, 1930 habilitierte er sich bei PAUL TILLICH in Frankfurt. 1934 emigrierte ADORNO nach Oxford und arbeitete am Merton College. 1938 ging er in die Vereinigten Staaten und wurde Mitglied des ‚Instituts für Sozialforschung‘. 1941 folgte er HORKHEIMER nach Kalifornien, im Anschluss an die Fertigstellung der ‚Dialektik der Aufklärung‘ übernahm er die Leitung eines Forschungsprojektes über soziale Diskriminierung in Los Angeles. 1949 kehrte Adorno nach Deutschland zurück, aber erst 1956 erhielt er ein Ordinariat für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt/M. 1958 übernahm er die Leitung des ‚Instituts für Sozialforschung‘ (vgl. WIGGERSHAUS 1986).
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1944 im kalifornischen Exil verfasst und 1944 zum ersten Mal veröffentlicht wurden. Das Buch erschien in einem kleinen amerikanischen Verlag und hinterließ zunächst keinerlei Spuren. Auch die geringfügig veränderte zweite Ausgabe, die 1947 in Amsterdam herauskam, blieb zunächst ohne große Wirkung. Fast zwanzig Jahre lang blieb das Buch weitgehend ungelesen. Im Jahre 1968 erschien ein nicht autorisierter Nachdruck im Verlag De Munter, dem ein Jahr später die autorisierte zweite Auflage im Verlag S. Fischer folgte. Erst zu dieser Zeit fand das Buch im Zuge der nachträglichen Konstitutierung der ‚Kritischen Theorie‘ breite Beachtung. Dabei machte schon das Vorwort von 1944 auf ein epochales Problem aufmerksam. Es diskutierte nichts weniger als die „Selbstzerstörung der Aufklärung“ (HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.7). In der Aufklärung selbst, so die These, sei bereits der Keim ihres Untergangs enthalten. Indem sie nämlich dem Fortschritt dienen sollte, wurde sie blind gegenüber der durch Fortschritt bewirkten Zerstörung (vgl. ebd.). Aufklärung ist ein Mythos, so wie Mythos Aufklärung ist (vgl. ebd., S.10) – dieses war die generelle These, die HORKHEIMER und ADORNO entfalten wollten. Die Abhandlung beginnt mit einer Zitatenfolge, die nicht zufällig zuerst VOLTAIRE und dann BACON anführt. VOLTAIRE wird zitiert mit den frühen ‚Lettres philosophiques par M. de V.‘, die 1734 in Amsterdam veröffentlicht wurden (vgl. VOLTAIRE 1961, S.1ff.). VOLTAIRE war zu diesem Zeitpunkt vierzig Jahre alt und zog in diesen zuerst auf Englisch erschienenen Briefen33 die Bilanz seines mehrjährigen Aufenthaltes in England. VOLTAIRE hatte 1726 Frankreich verlassen müssen und lebte bis 1729 in London; die ‚philosophischen Briefe‘ beschreiben den Stand der Entwicklung von Wissenschaft und Gesellschaft in England, die als vorbildlich für den Kontinent und speziell für Frankreich galt. In diesem Zusammenhang skizziert VOLTAIRE zum Beginn des ‚Douzième lettre: Sur le Chancelier Bacon‘ Einfluss und Leistung von BACON wie folgt: „Il est père de la philosophie expérimentale; il est bien vrai qu’avant lui on avait découvert des secrets étonnants34 ... Qui ne croirait que ces sublimes decouvertes eussent été faites par les plus grands philosophes, et dans le temps bien plus éclairés que le nôtre? Point du tout: c’est dans le temps de la plus stupide barbarie que ces grands changements ont été faits sur la terre; le hasard seul a produit presques toutes ces inventions“ (VOLTAIRE 1961, S.32).
33 Tatsächlich war die Amsterdamer Ausgabe bereits eine Übersetzung einer Ausgabe, die im August 1733 in London veröffentlicht wurde. Die Übersetzung war schon im Juni 1733 im ‚Mercure de France‘ angezeigt worden. 34 „On avait inventé la boussoule, l‘imprimerie, la gravure des estampes, la peinture à l’huile, les glaces, l’art de rendre en quelque façon la vue aux vieillards par les lunettes qu’on appelle bésicles, la poudre au canon, etc.“ (VOLTAIRE 1961, S.34).
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BACONs Theorie des experimentellen Lernens ermöglichte die methodische Entwicklung der Naturwissenschaften (vgl. ebd., S.35). Was zuvor erfunden worden war, etwa der Kompass, der Buchdruck, das Kupferstechen, die Ölmalerei, die Augengläser oder das Schießpulver, war eine Angelegenheit von Versuch und Irrtum, wobei der Zufall der glücklichen Lösung zu Hilfe kommen musste. Erst nach BACON war es möglich, systematisch – oder besser: methodisch – Erkenntnisfortschritte zu erzielen. In der ‚Dialektik der Aufklärung‘ wird dieser Gedanke verkürzt. Es wird lediglich zitiert, dass BACON - nach VOLTAIRE – der „Vater der experimentellen Philosophie“ gewesen sei (HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.13). Vorgeschichte und Folgen werden ausgeblendet, insbesondere das, was VOLTAIRE am meisten interessierte. Jenem war es nämlich tatsächlich insbesondere um den historischen Rationalisierungsgewinn nach BACON zu tun, also um die Mechanik und Optik ISAAC NEWTONs (vgl. VOLTAIRE 1961, S. 58ff., 66ff.). Diese erst erlaubten es überhaupt, die Natur unabhängig von der Dämonie des Zufalls zu betrachten. BACON selber wird mit der kleinen Arbeit ‚In Praise of Knowledge‘ zitiert (vgl. HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.13/14), aus der VOLTAIRE seine Beispiele der vorwissenschaftlichen Erfindungen übernommen hatte. Das verwendete Zitat dient also der Denunziation. HORKHEIMER und ADORNO lassen ‚Aufklärung‘ mit BACON beginnen und verstehen darunter eine von Anfang an notwendige oder folgerichtige, aber zugleich falsche und mindestens verhängnisvolle Weichenstellung. Die Grundthese der ‚Dialektik der Aufklärung‘ bezieht sich in bestimmter Hinsicht auf ROUSSEAU, insofern Wissenschaft unterstellt wird, sie sei das „Patriarchat“ über die „entzauberte Natur“. Der wissenschaftliche Verstand, der den „Aberglauben“ besiegen soll, hat genau in dem Maße keine Grenzen mehr, wie er dieser Aufgabe erfolgreich nachgekommen ist. Die hemmende Gegenseite fehlt, die Überwindung des Mythos rächt sich: „Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt“. Genauer: „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt. Rücksichtslos gegen sich selbst hat die Aufklärung noch den letzten Rest ihres eigenen Selbstbewusstseins ausgebrannt. Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut“ (ebd., S.14). ‚Die‘ Aufklärung allerdings gibt es nicht. HORKHEIMER und ADORNO, beeinflusst vor allem durch MAX WEBERs These von der ‚Entzauberung der Welt‘ durch rationale Verfahren, unterstellen eine Einheit, die historisch an keiner Stelle je bestanden hat. Wenn es aber nicht ‚die‘ Aufklärung gibt, kann es auch keine Dialektik ‚der‘ Aufklärung geben. Die Einheit muss konstruiert werden, 52
um überhaupt den Gegensatz zum Mythos profilieren zu können. ‚Mythos‘ ist die welthistorische Gegenmacht zur ‚Aufklärung‘, beides verstanden als Pole, die auf die Antike zurückgeführt werden. Interessant ist, dass hier die ‚Weltgeschichte‘ des 17. Jahrhunderts in neuer Form zurückkehrt. Der zentrale Gegensatz überrascht, weil Aufklärung – deren Verschiedenheit unterstellt – zwar gegen den zeitgenössischen Aberglauben zu Felde zog, nicht jedoch gegen die antike Mythologie. Diese war überhaupt nie Objekt ihrer Kritik. BACON streitet gegen die Scholastik. Sein Argument ist, dass man aus Begriffen oder Texten keine Kenntnis über die Natur ableiten könne. Diese müsse unabhängig beobachtet und experimentell erforscht werden. Experiment und Beobachtung sind beides Verfahren, die sich der Dogmatik entziehen und insofern der freien Erkenntnis dienen. Die Kritik der Magie schließt hier an, und sie ist immer gerichtet auf zeitgenössische Autoren und deren Traditionen, nicht auf eine weltgeschichtliche Polarität, wie HORKHEIMER und ADORNO sie sehen wollen. Ihnen geht es nicht primär um die historische Epoche ‚Aufklärung‘, sondern um einen damit verbundenen, tiefer liegenden Konflikt. Nur in dieser eigentümlichen Neuauflage von Weltgeschichte kann gelten: Aufklärung ist der Gegenspieler zum Mythos. Sie entrinnt ihm aber nicht, weil Mythos selbst Aufklärung gewesen ist. Diese an GEORG WILHELM FRIED35 RICH HEGEL angelehnte Denkfigur ist kühn. Sie hat aber kaum etwas zu tun mit den Figuren und Texten des 17. und 18. Jahrhunderts, die doch irgendwie den Korpus der Aufklärung ausmachen sollen. HORKHEIMER und ADORNO konstruieren, anders gesagt, einen weltgeschichtlichen Gegensatz, der sich als ‚Dialektik‘ der Aufklärung im 18. Jahrhundert gar nicht fassen lässt: „Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den Mythen um sie zu zerstören und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann. Sie will dem Prozess von Schicksal und Vergeltung sich entziehen, indem sie an ihm selbst Vergeltung übt. In den Mythen muss alles Geschehen Buße dafür tun, dass es geschah. Dabei bleibt es in der Aufklärung: die Tatsache wird nichtig, kaum dass sie geschah. Die Lehre der Gleichheit von Aktion und Reaktion behauptete die Macht der Wiederholung über das Dasein, lange nachdem die Menschen der Illusion sich entäußert haben, durch Wiederholung mit dem wiederholten Dasein sich zu identifizieren und so seiner Macht sich zu entziehen. Je weiter aber die magische Illusion entschwindet, umso unerbittlicher hält Wiederholung unter dem Titel Gesetzlichkeit den Menschen in jenem Kreislauf fest, durch dessen Vergegenständlichung im Naturgesetz er sich als freies Subjekt gesichert wähnt“ (ebd., S.22/23).
35 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL (1770-1831) war zum Beginn des 19. Jahrhunderts Professor in Jena, bevor er 1808 Rektor des Aegidiengymnasiums in Nürnberg wurde. 1816 wurde HEGEL nach Heidelberg, 1818 nach Berlin berufen.
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Die Lehre vom Wiederholungszwang geht auf SIGMUND FREUD zurück, der in seiner Schrift ‚Jenseits des Lustprinzips‘ den Wiederholungszwang triebtheoretisch erklärt. Überhaupt ist die Konstruktion der ‚Dialektik der Aufklärung‘ stark psychoanalytisch inspiriert. Das durch die Aufklärung Verdrängte kann jederzeit zurückkehren, es stellt nur die andere Seite der Vernunft dar. Die Vernunft wird so niemals unabhängig von dem, das sie überwunden glaubt. Die moderne Wissenschaft wäre demnach dem antiken Mythos keinen Schritt voraus. Dieses gilt nicht nur, weil sie selbst dem Mythos von Rationalität und Fortschritt folgt, sondern auch, weil sie keine andere Denkfigur zur Verfügung hat. „Das Prinzip der Immanenz, der Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt, ist das des Mythos selber“ (ebd., S.23). HORKHEIMER und ADORNO sagen nicht, wo, an welchen Stellen und mit welchen Argumenten ‚die‘ Aufklärung das Prinzip der Immanenz entwickelt hat. BACON selbst unterscheidet zwischen Physik und Magie: Jede Form von Magie hat metaphysische Voraussetzungen, die Physik aber ist mechanisch und bezieht sich nicht auf ‚verborgene‘, sondern auf sichtbare Prozesse, auf den, wie es heißt, „gemeinen und gewöhnlichen Lauf der Natur“ (BACON 1990, Bd.II, S.299). Erst wer beides trennt, Physik und Magie, kann überhaupt Metaphysik als Metaphysik erkennen. Wer nur magisch denkt, ist außerstande, neben sich zu treten und die eigene Denkform zu verlassen. Insofern gibt es wirklichen Zwang zur Wiederholung nur im Mythos; keine Stammeskultur wäre imstande, eine Dialektik der Aufklärung zu erfinden. HORKHEIMER und ADORNO, anders gesagt, setzen voraus, was sie ablehnen. Selbst wenn man ‚Aufklärung‘ als Mythos bestimmen könnte, so wäre dieser Mythos nicht derselbe, den die Kulturanthropologie für Stammesgesellschaften beschrieben hat36. Man kann also Aufklärung nicht auf frühere Formen des Denkens zurückführen oder gar eine Art verhängnisvoller Gegenwart dieses Mythos in der Aufklärung annehmen. Zudem ist die Beweisführung unzulässig: BACON spricht wohl vom ‚Gesetz‘ der Natur, aber er versteht unter wissenschaftlicher Erkenntnis die Erfassung des Entstehungsgrundes (fontem emanationis) der Körper und ihrer Bewegungen, die nicht einfach als Wiederholung des Immergleichen37 dargestellt werden können (ebd., S.281, 278). BACON beschreibt
36 Die Quelle für HORKHEIMER und ADORNO ist ROBERT LOWIEs ‚An Introduction to Cultural Anthropology‘ in der New Yorker Ausgabe von 1940. Erwähnt werden von ihnen zudem SIGMUND FREUDs ‚Totem und Tabu‘ sowie Studien von MARCEL MAUSS und EMILE DURKHEIM. 37 Hierbei handelt es sich um eine Denkfigur FRIEDRICH NIETZSCHEs. Diese wird von FREUD ausdrücklich zitiert: Der Wiederholungszwang ‚ist‘ für ihn „die ewige Wiederkehr des Gleichen“ (FREUD 1975, S.232).
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sehr ausführlich das Erkenntnisverfahren, das ausdrücklich Übereinstimmung und Abweichung vorsieht38, also nicht einfach das ‚Prinzip der Immanenz‘. Dieses Prinzip müsste jede Form von Bewegung wie einen exakten Kreislauf oder einen präzisen Pendel betrachten. Eine solche Annahme aber widerspricht der Naturbeobachtung. Die Natur schafft ständig neue Formen und wiederholt nicht lediglich alte oder einmal geschaffene. Der Beobachter steht somit vor dem Problem, Vielfalt ordnen zu müssen, ohne den Prozess je beschließen zu können. Hinzukommt, dass im 18. Jahrhundert die Mechanik nur als eine Theorie der Bewegung verstanden wird, nie als die ganze, was dem Augenschein widersprechen würde. Man kann zudem vom Erkenntnisverfahren nie auf die Erkenntnis selbst schließen, wer Ordnung anstrebt, muss sie nicht auch erreichen, und die Ordnung der Erkenntnis ist nie zugleich die Ordnung des Objekts. Klarheit und Übersichtlichkeit sind Notwendigkeiten der Forschung. BACON verweist darauf, dass „die Wahrheit eher aus dem Irrtum als aus der Verwirrung hervorgeht“ (ebd., S.361). Irrtümer aber treten ständig auf und Wahrheiten sind gerade im Prozess der Naturforschung nie abgeschlossene Größen. Für HORKHEIMER und ADORNO ist die Wissenschaft der Aufklärung die mechanische Physik. Sie betrachten diese wie die Disziplin fester Gesetze, deren Sätze nie weiterentwickelt wurden und ewig unbestritten sind. Diese philosophische Konstruktion, die durch manche Aussagen etwa der Enzyklopädisten auch gestützt wird, hat jedoch nichts mit den Lernprozessen der Wissenschaften selbst zu tun. Daher lässt sich schließen: HORKHEIMERs und ADORNOs ‚Aufklärung‘ ist die der Philosophie, nicht die der Forschung. Aus diesem Grunde werden die Lernprozesse der Wissenschaft selbst vernachlässigt und wird stattdessen ein welthistorischer Gegensatz beschworen, welcher für die Entlarvung eines Heils- oder Glücksversprechens verwendet wird, das es jedenfalls für die Naturwissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts nie gegeben hat. Die Aufklärung hat auch nie wirklich ein ‚Prinzip der Immanenz‘ formuliert, wenigstens nicht als ausschließliche Bedingung für die Beschreibung der Naturgesetze. Man kann von den Gesetzen der Mechanik nicht auf die Erkenntnisse der Medizin oder der Biologie schließen. Diese lösen sich nämlich um die Mitte des 18. Jahrhunderts von mechanischen Systemen und stellen ‚Leben‘ oder die 38 Die Untersuchung der Formen betrifft die „gegebenen Eigenschaften“ der Körper. Genau zu untersuchen ist demnach, welche Fälle in der „gleichen Eigenschaft“ übereinstimmen, in welchen Fällen eine bestimmte Eigenschaft fehlt und wo sie „in verschiedenen Graden auftritt“ (BACON 1990, Bd.II/S.301ff., 307ff., 331ff.).
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Entwicklung der Natur in den Mittelpunkt (vgl. ROGER 1971, S.482ff.). Entwicklung ist nicht Wiederholung, wenigstens nicht mechanische Wiederholung, weil Leben immer auch als individuelle Form verstanden werden muss. Der genaue Zusammenhang aber ist nie abschließend klar. Von daher kann auch nicht von Ergebnissen oder Resultaten ‚der‘ Aufklärung gesprochen werden, sondern nur von Lernprozessen, die sich an den eigenen Irrtümern abarbeiten müssen. Um das in Rechnung zu stellen, müsste die Geschichte der Wissenschaften betrachtet werden, nicht lediglich bestimmte philosophische Prinzipien. HORKHEIMER und ADORNO müssen sich aber auf Prinzipien beziehen, um überhaupt den Verdacht einer welthistorischen ‚Dialektik‘ erhärten zu können: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen. Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation. Unter der nivellierenden Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht, und der Industrie, für die sie es zurichtet, wurden die Befreiten schließlich selbst zu jenem ‚Trupp‘, den Hegel als das Resultat der Aufklärung bezeichnet hat“ (HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.24).
Für diese deutschen Philosophen ist nicht PIERRE BAYLE, wie für VOLTAIRE, sondern eben HEGEL der Meister der Dialektik. Der im schwäbischen Pietismus aufgewachsene HEGEL versteht ‚Aufklärung‘ aus dem Gegensatz zum christlichen Glauben heraus. Indem die Aufklärung sich rein negativ gegen den Glauben verhält, ist sie nicht „über sich selbst aufgeklärt“ (HEGEL 1970, S.418). Sie erkennt nicht, „dass dasjenige, was sie am Glauben verdammt, unmittelbar ihr eigener Gedanke“ ist (ebd.), das heißt, sie verkennt die eigene Dialektik. Der Glaube ist „unbefriedigte Aufklärung“, wenn und soweit er unter den Bann ihrer Metaphysik gerät, also die Vorstellung eines „prädikatlosen, unerkannten und unerkennbaren Absoluten“ übernimmt, das die christliche Gottesvorstellung ersetzen soll. Es wird sich jedoch zeigen, ob die Aufklärung „in ihrer Befriedigung bleiben kann; jenes Sehnen des trüben Geistes, der über den Verlust seiner geistigen Welt trauert, steht im Hinterhalte“ (ebd., S.423f.). ‚Aufklärung‘ wird von HEGEL nicht mit experimentellem Lernen und Fortschritten der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern vielmehr mit dem Angriff auf den christlichen Glauben gleichgesetzt. Die Konsequenz daraus nennt HEGEL die absolute Freiheit des Geistes, die einhergehe mit dem „reinen Schrecken des Negativen“ (ebd., S.439). „Kein positives Werk noch Tat kann... die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens“ (ebd., S.435f.). Dieses aber ist ein theologisches Problem: Der „Schrecken des Todes“ ist die Anschauung des „negativen Wesens“ der Freiheit (ebd., S.437). HEGEL wirft der Aufklärung vor, dass sie für diese Erfahrung keine Einstellung hat, wohl aber den Glauben vom Geist des 56
Christentums trennt und ihn so zu einer hilflosen Größe werden lässt, die sich irgendwann einmal rächen wird. „Die Aufklärung, die sich für das Reine ausgibt, macht ... das, was dem Geiste ewiges Leben und heiliger Geist ist, zu einem wirklichen vergänglichen Dinge und besudelt es mit der an sich nichtigen Ansicht der sinnlichen Gewissheit - mit einer Ansicht, welche dem anbetenden Glauben gar nicht vorhanden ist, so dass sie ihm dieselbe rein anlügt“ (ebd., S.409).
Zwei Gegner werden hier deutlich. Der eine Gegner sind der Sensualismus und die mit ihm verknüpften Konzepte der natürlichen Religion oder der undogmatischen Göttlichkeit, die HEGEL mit dem „Wesen des reinen Denkens“ konfrontiert (ebd.) oder einer Theorie des Geistes, dessen Spitze das Absolute ist, ein persönlicher Gott, der sich nicht in sinnliche Anschauung auflösen soll. Die Christen verehren kein „zeitliches sinnliches Ding“, sondern Gott; der Glaube kann daher nicht historisch relativiert werden (ebd., S.410f.), sondern muss ein „Bewusstsein ... des absoluten Wesens“ voraussetzen (ebd., S.411). Der zweite Gegner ist der Utilitarismus, also die Idee, dass alles „nützlich” zu sein hat (ebd., S.415). In diesem Zusammenhang ist von ‚Trupp‘ die Rede: „Wie dem Menschen alles nützlich ist, so ist er es ebenfalls und seine Bestimmung ebensosehr, sich zum gemeinnützlichen und allgemein brauchbaren Mitgliede des Trupps zu machen“ (ebd., S.416). Das französische Wort troupe verweist von seinem galloromanischen Wortstamm her auf ‚Herde‘. Wer ‚brauchbar‘ gemacht wird oder allgemein nützlich sein soll, erhält ein Herdendasein, ohne dass die Theorien der Aufklärung imstande gewesen wären, diese ihre Rückseite zu erkennen. Diese Theorien sind dualistisch gebaut und schließen somit aus, was sie selbst betrifft. Aufklärung ist außerstande, sich über sich selbst aufzuklären. HORKHEIMER und ADORNO übernehmen die Denkfigur der hegelschen Dialektik, aber sie trennen sich von der für HEGEL noch maßgebenden protestantischen Religion. Die Stelle aber muss besetzt werden, wenn irgend von einer ‚Dialektik‘ der Aufklärung gesprochen werden soll. Sie gibt es bei HEGEL nur, soweit die Aufklärung sich selbst als Gegensatz zum Glauben auffasst. Die These ist dann, dass dieser selbstverschuldete Gegensatz die Aufklärung einholt, weil sie letztlich nur der schlechtere Glaube ist. Diese Figur benutzen auch HORKHEIMER und ADORNO, nur dass nicht der christliche Glaube, sondern der Mythos als die andere Seite der Aufklärung angesehen wird. Weil sie verdrängt, was sie konstituiert, ist Aufklärung der schlechtere Mythos. HEGEL war freilich näher am Geschehen: Für ihn ist Aufklärung keine historische Erfahrung, sondern die Summe der vorangegangenen Epoche, die zu Recht vom Gegensatz zum dogmatischen Glauben her verstanden wird. Der Gegensatz ist besonders in der deutschen Publizistik des 18. 57
Jahrhunderts an vielen Stellen greifbar, nur dass HEGEL 1807 in seiner ‚Phänomenologie des Geistes‘ philosophisch nachweisen wollte, dass seine Behauptung gleichermaßen unglücklich und überflüssig ist. Der Gegensatz ist aber nicht der zwischen Aufklärung und Mythos, sondern der zwischen der Geltung der christlichen Dogmen und der Sätze und Lehren der Wissenschaften. HORKHEIMER und ADORNO machen aber aus diesem epochalen einen welthistorischen Gegensatz. Dieser wird selbst magisch formuliert, als Verhängniszusammenhang, der sich unausweichlich vollzieht und wie ein selbst gewähltes Schicksal anzusehen ist. Das ist nur plausibel, wenn sich ‚Mythos‘ und ‚Physik‘ letztlich nicht unterscheiden. ERNST CASSIRER39, zu der Zeit der Abfassung ebenfalls Emigrant in den Vereinigten Staaten, hatte bereits 1927 im zweiten Teil seiner ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ dargelegt, dass und wie zwischen mythischer und empirischer Kausalität zu unterscheiden sei (vgl. CASSIRER 1964, S.57ff.). Nur weil sie dies nicht tun, können HORKHEIMER und ADORNO Weltgeschichte als Verhängniszusammenhang konstruieren. Was dann ausgeblendet wird, sind vor allem die Vorteile der ‚isolierenden Abstraktion‘ im Erkenntnisverfahren der Wissenschaft. Das mythische Denken ist, folgen wir CASSIRER, kausal, Die mythische Kausalität aber ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht „aus einem Gesamtkomplex ein bestimmtes Einzelmoment als ‚Bedingung‘“ erfassen und herausheben muss, sondern vielmehr alles mit allem verbinden kann. Im mythischen Denken wird Berührung in Raum und Zeit „unmittelbar als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung genommen… Für die mythische Ansicht ist es tatsächlich die Schwalbe, die den Sommer macht“ (ebd., S.59f.). Genau dieser Unterschied zwischen einem mythischen und einem aufklärerischen Wirklichkeitsverständnis aber verbietet jene Gleichung, die HORKHEIMER und ADORNO ziehen wollen: Nach CASSIRER gilt: „Während die Denkform der empirischen Kausalität... wesentlich darauf gerichtet ist, eine eindeutige Beziehung zwischen b e s t i m m t e n ‚Ursachen‘ und b e s t i m m t e n 39 ERNST CASSIRER (1874-1945) studierte zunächst in Berlin, später in Marburg. Er promovierte 1899 bei HERMANN COHEN mit einer Arbeit über RENÉ DESCARTES, die als erster Teil einer großen Studie über GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ diente. Danach verfasste er die ersten beiden Bände seiner Geschichte des Erkenntnisproblems. Den ersten Band reichte er der Berliner Universität als Habilitationsschrift ein. Die venia legendi wurde erst nach massiver Intervention durch WILHELM DILTHEY erteilt. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm CASSIRER einen Ruf an die neu gegründete Universität Hamburg an. Hier entstanden die ersten Bänder der Philosophie der symbolischen Formen, die nicht zuletzt durch die Nutzung der privaten Bibliothek ABY WARBURGs in Hamburg begünstigt wurden. 1930 wurde CASSIRER zum Rektor der Universität Hamburg gewählt, 1933 trat er unmittelbar nach dem 30. Januar von seinem Lehramt zurück. Er erhielt innerhalb weniger Wochen drei Rufe aus dem Ausland, folgte zunächst einem Ruf nach Oxford, dann einem nach Göteborg, um 1941 nach Yale zu gehen und 1944 an die Columbia University zu wechseln (vgl. LIPTON 1978).
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‚Wirkungen‘ herzustellen, stehen dem mythischen Denken auch dort, wo es die Ursprungsfrage als solche stellt, die ‚Ursachen‘ selbst noch in völlig freier Auswahl zu Gebote. Hier kann noch alles aus allem w e r d e n, weil alles mit allem sich zeitlich oder räumlich berühren kann“ (ebd., S.61).
Der böse Blick ist keine psychische Verirrung, sondern die Ursache für das böse Ereignis. Diese Ursache aber ist nie eine letzte Größe, sondern kann mit beliebig weiteren Ursachen verknüpft werden. Die Kometen bringen Unheil, aber hinter ihnen kann der strafende Gott oder der verlockende Teufel vermutet werden. Im Wind spricht sich die Seele aus, aber sie ist gleichzeitig in jeder Person und außerhalb, weil sie nicht als feste Größe beschrieben werden kann, was die ‚isolierende Abstraktion‘ voraussetzt, die HORKHEIMER und ADORNO denunziert sehen sollen. Sie befreit, so CASSIRER, von ‚mythischen Metamorphosen‘, also von inneren Bildern der Entwicklung, die für die Bewegung der Natur selbst gehalten werden. „Die Welt wird aus der Tiefe des Meeres herausgefischt oder aus einer Schildkröte gebildet, die Erde wird aus dem Körper eines großen Tieres oder aus einer auf dem Wasser schwimmenden Lotosblume geformt; die Sonne entsteht aus einem Stein, die Menschen aus Felsen oder Bäumen” (ebd., S.62). Das sind „Erklärungen“, nur keine analytischen, sondern ganzheitliche. Es sind Bilder, die für den „einfachen Ablauf des Geschehens selbst“ gehalten werden können, insofern poetische Kausalitäten, die ihren Zauber verlieren, wenn sie als Bilder durchschaut werden. Sie sind dann nur noch schön, nicht mehr oder nur ästhetisch wahr. Andererseits: Nur wer sie durchschaut, kann dem Zauber entrinnen, und das verlangt eine allgemeine, vom Betrachter unabhängige Gesetzmäßigkeit, die nicht auf einen „persönlichen Willensakt“, sei es der von Menschen, sei es der von Göttern, zurückgeführt werden kann (ebd., S.64f.). Nur so kann die „sympathische Magie“ überhaupt unterschieden werden und ist nicht die Welt immer schon ihr gleich (ebd., S.67). Diese historische Differenz – ich könnte auch sagen: dieser Fortschritt der Erkenntnis, der eben nicht ‚dialektisch‘ ist – wird von HORKHEIMER und ADORNO in Abrede gestellt. Man versteht ihren Schritt nur dann, wenn man ein Thema ROUSSEAUs aufgreift, das besonders in den marxistischen Theorien der 1920er Jahre eine zentrale Rolle spielte. Es ist dieses das Thema der Entfremdung des Menschen von seiner Natur. ROUSSEAU hatte behauptet, die Gesellschaft als solche, ihr Zustand gegenüber dem der Natur, entfremde den Menschen mit Notwendigkeit, sodass ihn nur eine natürliche Erziehung stark machen könne, in der Gesellschaft gegen sie zu überleben. Diese Theorie der Entfremdung wird von den marxistischen Theoretikern historisch gedeutet. Bei ihnen ist sie Erscheinung einer bestimmten Gesellschaft, die sich politisch wie pädagogisch überwinden lasse. ‚Dialektisch‘ wäre dann dieser Zusammenhang, die praktische Aufhebung einer Negation durch eine höhere Stufe der sozialen 59
Organisation. HEGEL steht bei diesem Gedanken Pate, nur dass die Dialektik nicht mehr auf den absoluten Geist bezogen wird, in dem alle Dialektik endet. Die neue Gesellschaft, nach Plan und mit Revolution errichtet, kann nur noch positiv wachsen. Gegen dieses geschichtsphilosophische Versprechen, das auf den deutschen Idealismus und nicht auf die Aufklärung zurückgeht, wenden sich HORKHEIMER und ADORNO. Ihr eigentliches Motiv ist die Kritik der sozialistischen Prognose, die an den Tatsachen der modernen Gesellschaft vorbeigehe. Sie hebt nicht die Entfremdung auf, sondern bestätigt sie, weil sie der Aufklärung folgt und sie zur Norm erhebt, der auch und gerade die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft zu folgen habe. Sozialistische Gesellschaftsentwürfe sind charakterisiert durch Gleichheit, nicht durch Distanz. Die Gleichheit aber setzt rationale Organisation voraus, so einen sozialen und kulturellen Industrialismus, in dem HORKHEIMER und ADORNO gerade die Ursache des Übels sehen: „In der aufgeklärten Welt ist Mythologie in die Profanität eingegangen. Das von den Dämonen und ihren begrifflichen Abkömmlingen gründlich gereinigte Dasein nimmt in seiner blanken Natürlichkeit den numinosen Charakter an, den die Vorwelt den Dämonen zuschob. Unter dem Titel der brutalen Tatsachen wird das gesellschaftliche Unrecht, aus dem diese hervorgehen, heute so sicher als ein dem Zugriff sich ewig entziehendes geheiligt, wie der Medizinmann unter dem Schutze seiner Götter sakrosankt war. Nicht bloß mit der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten wird für die Herrschaft bezahlt: mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes einzelnen zu sich. Er schrumpft zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammen, die sachlich von ihm erwartet werden. Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen“ (HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.41).
‚Industrialismus‘ ist aber nicht einfach die Folge von ‚Aufklärung‘, wie HORKHEIMER und ADORNO fälschlich annehmen. Eine solche Gleichung verlangt eine radikale Vereinfachung, die den historischen Tatbeständen nicht gerecht wird: Aufklärung ist Rationalisierung, das Paradigma dafür ist die mechanische Physik, Physik ist Gesetzeswissen, die Anwendung von Gesetzen führt zum Industrialismus, in ihm entfremdet der Mensch soweit, dass selbst seine Beziehungen industrialisiert werden. ‚Industrialismus‘ ist ein überragendes Thema der künstlerischen Avantgarde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und dies nicht nur zwischen Berlin und Moskau. Die Bilder, wie etwa eine russische Plakatierung von FRITZ LANGs Film ‚Metropolis‘ von 1926, zeigen gleichermaßen Faszination und Angst (vgl. ANTONOWA/MERKERT 1995, S.310). Die anonyme Großstadt schafft Freiheiten und ist eine Bedrohung, 60
sie bewältigt Angst durch überlegene Organisation, imponiert durch Wachstum und Höhe, scheint nach allen Seiten und mit allen Seiten verbunden und bedroht doch Freiheit und Individualität. Die sozialistische Prognose veranschaulicht ein anderes Filmplakat aus dem Jahre 1926 zu ALEXANDER RODTSCHENKOs ‚Panzerkreuzer Potemkin‘ (vgl. ebd., S.311). Angst wird durch Macht bearbeitet, im Vertrauen auf das letzte Gefecht. Hier erhält man unmittelbar eine Ahnung, dass und wie diese Ästhetik instrumentiert werden konnte für die politische Diktatur der dreißiger Jahre (vgl. TAYLOR/SPRING 1993). Darauf vor allem reagieren HORKHEIMER und ADORNO 1941 in Kalifornien unmittelbar vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Die ‚Dialektik der Aufklärung‘ bezieht sich nicht nur auf die amerikanische Kulturindustrie allein. Vielmehr impliziert sie auch und wesentlich eine radikale Kritik an der bolschewistischen Gesellschaft, die von vielen Intellektuellen der dreißiger Jahre mit dem Sozialismus und so der Zukunft der Gesellschaft überhaupt gleichgesetzt wurde. Der Kritik der bürgerlichen Entfremdung wurde so die Alternative genommen, weil nur noch ein Modell die sozialistische Utopie verkörperte und weil dieses Modell dem glich, was es abschaffen sollte, nämlich der ‚Versachlichung des Industrialismus‘, Diesem aber stellte die neue Sowjetunion nicht nur keine Alternative gegenüber, vielmehr überbot sie noch seine amerikanische Ausprägung. Nicht um die bessere Gesellschaft sollte es dort gehen, sondern um die effektivere Industrie. Die dreißiger Jahre, also die politische Erfahrung, die bei der ‚Dialektik der Aufklärung‘ vorausgesetzt werden muss, sind zudem von zwei radikalen Versuchen der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet, die beide gleichermaßen ROUSSEAUs Entfremdungstheorem ignorierten. Mindestens die Intellektuellen schienen nur noch die Wahl zu haben zwischen Bolschewismus auf der einen, Faschismus auf der anderen Seite. 1933 beteiligte sich der sowjetische Architekt BORIS MICHAILOVITCH JUOFAN am Wettbewerb für den Palast der Republik in Moskau (vgl. ANTONOWA/MERKERT 1995, S.348). Sein Entwurf treibt den Sozialismus in die gigantischen Höhen einer persönlichen Diktatur, die auf Industrieproduktion aufgebaut und von Massenorganisationen geprägt ist. Er erinnert an die Propagandabilder der Französischen Revolution, nur dass die Zitate des Klassischen ein wenig Jugendstilornat erhalten und eben Flugzeuge fliegen, jene, gegenüber dem Panzerkreuzer des Jahre 1917, wirklichen Symbole moderner Macht. Faschistische Massen hingegen werden anders inszeniert (vgl. ebd., S.353). Hier sind es nächtliche Aufmärsche, die die Führer aus dem Dunkel heraus ins Licht setzen und nicht einfach als die höchsten Wesen der Revolution darstellen. Aber, wie im Bolschewismus: Es sind eben Massen, die choreographisch bewegt wer61
den, und es sind Diktatoren, denen die Aufmärsche gelten. Man erkennt auch in den Idealisierungen der jeweiligen Systemwerte – Arbeit und Einsatz für das Ganze – kaum einen ästhetischen Unterschied, ausgenommen, dass Faschisten Männlichkeit und Weiblichkeit getrennt (oder nur familiär verbunden) inszenieren müssen (vgl. ebd., S.356/357)40. Der sozialistische Realismus ist kaum einen Deut anders als der völkische (vgl. ebd., S.403/405)41, und die Industriekultur wird in dem einen System so verherrlicht wie in dem anderen (vgl. ebd., S.419/420)42. In dieser Situation war es schwer, eine Alternative zu erkennen. Dieses gilt zumal, wenn zugleich die bürgerliche Gesellschaft mit einer kapitalistisch und konsumistisch missratenen Aufklärung gleichgesetzt wird. Damit schließt die Analyse von HORKHEIMER und ADORNO, welche geschrieben wurde unter dem Bann zweier Diktaturen, die je humane Fortschritte der Gesellschaft versperrten. Gesellschaft, das ist die eigentliche Botschaft, kann auch nach dem Ende der Diktaturen des 20. Jahrhunderts nicht bewegt werden, weil sich in ihr gar keine politischen Optionen mehr durchsetzen, welche die ‚bürgerliche Warenwirtschaft‘ außer Kraft setzen könnten. Die Versuche sind mit dem Faschismus auf der reaktionären und dem Bolschewismus auf der progressiven Seite gescheitert. Das zeigt gerade der Sieg der ‚bürgerlichen Warenwirtschaft‘, der 1941 nicht absehbar war, sich aber 1989 vollzog. Es gibt zu dieser Gesellschaft keine Alternative: „Das Wesen der Aufklärung ist die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft ist. Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst. Mit der Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft wird der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisige Strahlen die Saat der neuen Barbarei heranreift. Unter dem Zwang der Herrschaft hat die menschliche Arbeit seit je vom Mythos weggeführt, in dessen Bannkreis sie unter der Herrschaft stets wieder geriet“ (HORKHEIMER/ADORNO 1947, S.45f.).
40 Die Abbildungen zeigen zum einen VERA MUCHINAs ‚Arbeiter und Kolchosbäuerin‘ (1936), zum anderen JOSEF THORAKs ‚Kameradschaft‘ (1937). Beide Bilder entstanden für die Pariser Weltausstellung von 1937. Die Ausstellung war eine Inszenierung des Wettbewerbs zwischen Bolschewismus und Faschismus. 41 Die beiden Abbildungen zeigen WASSILI SWAROGs, ‚I.S.Stalin und Mitglieder des Politbüros inmitten von Kindern im Gorki-Park‘ (1939); OTTO HOYERs, ‚Am Anfang war das Wort‘ (1937). 42 Die ersten drei Fotos zeigen GEORGI PETRUSSOWs ‚Flugzeug ANT-20 ‚Maxim Gorki‘ beim Flug‘ (1935); ANATOLI SKURICHINs, ‚Dampflok der Kommunistischen Internationale‘ (1931); Arkadi Schaichet, ‚Schnellzug‘ (1939). Die letzten Fotos zeigen HANS RETZLAFFs, Arbeitsmaid in Arbeitstracht‘ (um 1939); W. KOBIEROWSKIs, Gletscherstrasse ... ‘ (vor 1938); HANS RETZLAFFs: ‚Die Arbeitsmänner auf dem Weg zur Arbeit durch das Dünengelände‘ (um 1941).
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‚Herrschaft‘ wird wiederum dämonisch gebraucht, undifferenziert nach politischem System und verstanden als allgemeines Verhängnis: die ‚kalkulierende Vernunft‘ wird mit dem Kapitalismus gleichgesetzt, die ‚Unterwerfung‘ der Menschen unter die Natur ist eine Notwendigkeit ohne jeden Wandel, ihre Alternative, die Herrschaft des Menschen über die Natur, ist kein Fortschritt, sondern nur die Wiederholung des alten Fehlers. Das gilt generell und absolut, wobei ein großzügiges Schema der Weltgeschichte gleichsam den Rechtsgrund der Behauptung abgeben soll, die mehr oder weniger nur die Psychoanalyse für sich hat: „An den Wendestellen der westlichen Zivilisation, vom Uebergang zur olympischen Religion bis zu Renaissance, Reformation und bürgerlichem Atheismus, wann immer neue Völker und Schichten den Mythos entschiedener verdrängten, wurde die Furcht vor der unerfassten, drohenden Natur, Konsequenz von deren eigener Verstofflichung und Vergegenständlichung, zum animistischen Aberglauben herabgesetzt und die Beherrschung der Natur drinnen und draussen zum absoluten Lebenszweck gemacht. Ist am Ende Selbsterhaltung automatisiert, so wird die Vernunft von denen entlassen, die als Lenkerin der Produktion ihr Erbe antraten und sie nun an den Enterbten fürchten“ (ebd., S.45).
Alles das klingt überzeugend – aber nichts davon ist historisch haltbar. Die Furcht vor der drohenden Natur ist in der Aufklärung präsent, wie VOLTAIREs Erdbeben-Gedicht zeigt. Der animistische Aberglaube kann überwunden werden, ohne dass die Furcht vor dem Unfasslichen verschwindet. Solches aber geschieht in verschiedenen Epochen verschieden, sodass es nicht einheitliche Reaktionen an den ‚Wendestellen der westlichen Zivilisation‘ gibt, abgesehen von der Frage, was diese ‚Wendestellen‘ für sich genommen sein sollen. Aber wichtiger ist, dass ökonomische Rationalität nicht theoretische oder praktische Vernunft auflöst, aber auch nicht mit ihnen gleichgesetzt werden kann. Zudem ist die ‚Produktion‘ nur in der sozialistischen Propagandasprache eine Frage von Lenkung und Kommando; Selbsterhaltung kann daher nie ‚automatisiert‘ werden. Wenn etwas die moderne Gesellschaft auszeichnet, dann sind es die Risiken ihrer Systeme, nicht deren Automatisierung. Ein solches Bild ist FRITZ LANG nachempfunden ist, erfasst aber das Differenzierungsproblem der modernen Gesellschaften nicht. Aber ist die These deswegen falsch? Man muss die Behauptung einer ‚Dialektik der Aufklärung‘ von der Soziologie der Entfremdung unterscheiden, die HORKHEIMER und ADORNO bewusst nicht voneinander trennen. Die historische Aufklärung soll in das moderne Unheil führen. Dieser Gedanke überzeugt aber nur dann, wenn Wissenschaft zur Mechanik reduziert wird und die Gesellschaft als ein mechanisiertes System erscheint, während sowohl die Natur als auch die Gesellschaft hochbeweglich sind und einer puren Mechanik oder den faits bruts 63
widerstreiten. Moderne Gesellschaften sind gerade nicht dem Kommando von starren Gesetzen unterworfen, und vermutlich macht das ihre Gefährlichkeit aus. Man kann keine Prognosen geben bzw. man kann nur Prognosen geben. Unter dieser Prämisse aber sind Szenarien des grenzenlosen Untergangs nicht besser als solche des grenzenlosen Fortschritts, man kann sich immer nur entscheiden, nie aber hat man eine wirkliche Wahl. PETER BLUME, ein in Russland geborener Amerikaner, beobachtete 1932 als Guggenheim-Stipendiat in Rom die Folgen der faschistischen Revolution. Zwischen 1934 und 1937, nach Rückkehr in die Vereinigten Staaten, entstand eine große Impression der ewigen Stadt (vgl. HARTEN/SCHMIDT/SYRING 1987, S.233). Sie zeigt die richtige Prognose, den Tanz um die faschistischen ‚Werte‘ im Hintergrund. Im Vordergrund figurieren die Ruinen der klassischen Zitate und das erwartbare Elend, BENITO MUSSOLINI als lächerlicher ‚Jack-in-the-Box‘, mit Kopf aus Pappmaché, der nicht einmal den elenden Altar der neuen Götzen zu erreichen vermag. Diese Gesellschaft kann keinen Bestand haben, weil ihr ökonomische und politische Vernunft fehlt und sie rein aus Inszenierungen bestehen soll. Dass dieser Gesellschaft Vernunft fehlte, heißt aber nicht, dass Vernunft überall abhanden gekommen ist. Ebenso wenig kann man von den Grenzen der Aufklärung auf diese selbst schließen. Sie schlägt nicht einfach in Mythos zurück, wie nichts besser zeigt, als das Ende der beiden politischen Mythen des 20. Jahrhunderts. Davon zu unterscheiden ist die ‚Aufklärung‘, die sich immer nur selbst begrenzen kann. Es ist verfehlt, mit Verfahren der Bildung, des Lernens und der Kritik allgemeine Erlösungserwartungen zu verbinden. Soweit die politischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts dies versucht haben, sind sie gerade durch Aufklärung widerlegt worden. HORKHEIMER und ADORNO schreiben keinen Mythos, sondern ein Buch der Aufklärung. Es entspricht ihrem Verfahren, dass man über die Aufklärung aufklären kann. Freilich ist es nicht zureichend, mit einer an HEGEL angelehnten Denkfigur auf das Gesamt der Aufklärung zu schließen. Dieses ist vor allem deshalb unzulässig, weil so sämtliche Differenzierungen von ‚Aufklärung‘ unterschlagen werden und die eigentliche Rezeptionsgeschichte gar nicht berührt wird. Aufklärung ist vor allem im Selbstverständnis von Intellektuellen ein Mythos, aber zugleich ein für die moderne Gesellschaft unverzichtbarer Lernprozess, der nicht einfach in sein Gegenteil umgeschlagen ist. Der Archipel Gulag und Auschwitz sind nicht die Folgen der Aufklärung, sondern ihre größte Herausforderung.
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Bildung – the formation of a genteel character? Monika Bothe-Scharf
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Einleitung
In einem Beitrag mit dem Titel ‚Aufklärung – Ein Tableau und drei Worte zu ihrer Zukunft insbesondere in der Pädagogik‘ konstatiert MICHAEL WINKLER eine Erfolgsgeschichte der Pädagogik, die jedoch auf ein rasches Ende zu gehe. Als ein wesentliches Problem der Pädagogik seit der realistischen Wendung in den 1960er Jahren benennt er die Tatsache, dass in der Phase ihrer Expansion aufgrund der disziplinären Ausweitung ohne ausreichenden Personalbestand nicht wenige in die wissenschaftliche Pädagogik eingewandert seien, die die Vorgeschichte dieser Disziplin nicht kennen. Da sie in anderen Disziplinen wie der Psychologie oder der Soziologie ausgebildet sind, „war und ist ihnen ein historisch und philosophisch aufgeklärter Blick auf die Gegenwart kaum vertraut“ (WINKLER 2004, S.162). Die hierdurch entstandene sozialwissenschaftliche Ausrichtung der Pädagogik gebe daher ihre bislang „noch bestehende Bindung an eine historische Tradition und die damit eingegangene Verpflichtung auch gegenüber den eigenen Reflexionsbeständen der Pädagogik auf“ (ebd.). Damit löse sie sich nicht nur von Begriffen und Theorien, wie sie in der Geschichte pädagogischer Reflexion verfügbar seien, sondern auch „von den Erfahrungen, die im Blick auf institutionelle wie pragmatische Zusammenhänge des Erziehens und Unterrichtens zugänglich werden“ (ebd.). Als Ergebnis sieht WINKLER eine auf eigentümliche Weise geschichts- und theorielos gewordene sozialwissenschaftliche Erziehungswissenschaft und stellt die Diagnose, „dass noch die elementaren Vorstellungen wie die von Erziehung und Unterricht als den Grundsachverhalten im Gegenstandsverständnis von Pädagogik zur Disposition gestellt wurden und werden“ (ebd., S.162f.). Diese Diagnose hält er für kaum übertrieben und führt aus, dass sich vielerorts Belege finden ließen, die von der „zunehmenden Vorherrschaft der soziologischen und entwicklungspsychologischen Zugänge bei der Beschreibung und Analyse pädagogischer Vorgänge bis hin zu deren radikaler Auflösung durch sozialkonstruktivistische Ansätze“ reichten (ebd., S.163). Der von WINKLER konstatierten Geschichtslosigkeit soll an dieser Stelle mit einer Erinnerung an die Zeit, in welcher der Begriff der Bildung Eingang in die
Pädagogik fand, entgegen gewirkt werden. Dabei geht es zum einen um einen Blick auf den Zusammenhang, in dem dieser Begriff in der Zeit der Aufklärung in die Literatur, die sich mit Erziehung befasste, eingegangen ist, zum anderen soll durch einen Blick auf den Urheber des Begriffs, den englischen Philosophen ANTHONY ASHLEY COOPER, den dritten Earl of SHAFTESBURY, versucht werden, diesen Begriff im Hinblick auf die Zeit seiner Entstehung mit Inhalt zu füllen. 2
Was bedeutete für Shaftesbury die Bildung eines ‚genteel character‘?
Die deutschen Begriffe ‚Bildung‘ und ‚bilden‘ gehen – soweit sie die Pädagogik betreffen – auf eine Übersetzung der englischen Begriffe formation, bzw. inward form und to form zurück. Diese finden sich bei SHAFTESBURY in seiner Schrift ‚Soliloquy or Advice to an Author‘ aus dem Jahre 1710 und wurden schon in der ersten Übersetzung 1738 durchgehend mit ‚Bildung‘ oder ‚bilden‘ übersetzt (vgl. BOLLENBECK 1996, S.115f.; LIEBSCH 2001, S.183). So heißt es zum Beispiel in einer Fußnote dieser Schrift: „It seems indeed somewhat improbable that, according to modern erudition and as science is now distributed, our ingenious and noble youths should obtain the full advantage of a just and liberal education by uniting the scholar part with that of the real gentleman and man of breeding. Academies for exercises, so useful to the public and essential in the formation of a genteel and liberal character, are unfortunately neglected. Letters are indeed banished, I know not where, in distant cloisters and unpractised cells, as our poet has it, confined to the commerce and mean ‘fellowship’ of ‘bearded boys’” (Shaftesbury 1999, S.148).
SHAFTESBURY hält es also – der Gelehrsamkeit seiner Zeit entsprechend und obwohl die Wissenschaften weitere Verbreitung gefunden haben – für unwahrscheinlich, dass die kreative und edle Jugend eine gerechte und aufgeschlossene Erziehung genießen kann, dadurch dass der gelehrte Anteil und der des echten Gentleman vereint werden. Höhere Schulen, die er als nützlich für die Öffentlichkeit und wesentlich für die Bildung eines vornehmen und aufgeschlossenen Charakters ansieht, würden unglücklicherweise vernachlässigt. Der gelehrte Teil der Erziehung umfasste zu seiner Zeit Sprachen, klassische und moderne Literatur und die aufblühenden Naturwissenschaften. Was aber verstand SHAFTESBURY unter einem echten Gentleman? 3
Das Gentleman-Ideal
In einer Zeit und Gesellschaft, in der das Bürgertum aufgrund wirtschaftlicher Erfolge immer selbstbewusster wurde, und gleichzeitig der Adel aufgrund 68
politischer Veränderungen immer mehr von seiner Vorrangstellung verlor, vereinigte der ideale Gentleman in sich sowohl bürgerliche als auch aristokratische Verhaltensnormen. Er bewegte sich in gehobenen Gesellschaftsschichten, musste belesen sein und neben ästhetischer Urteilsfähigkeit auch soziale und moralische Sensibilität besitzen. Wesentliche Elemente des Gentleman-Ideals waren benevolence – Wohlwollen, politeness – Höflichkeit, good breeding – eine „gute Kinderstube“ und simplicity – Schlichtheit und Natürlichkeit. Die Geisteshaltung der benevolence entwickelte sich in England zu einer der bedeutendsten Strömungen des 18. Jahrhunderts. Sie wurde maßgeblich von SHAFTESBURY propagiert und dominierte vor allem in der bürgerlichen Diskussion der manners. Während im 17. Jahrhundert gesellschaftliches Benehmen noch vorwiegend als auf äußere Eleganz und Kunstfertigkeit bedachte Etikette verstanden wurde, wollten die bürgerlichen manners auf der Grundlage von wohlwollender Vertrautheit und Herzlichkeit ein tieferes Verständnis für die Mitmenschen ermöglichen (vgl. BERGER 1978, S.195). Der schwierigste und umstrittenste Begriff ist in diesem Zusammenhang sicherlich jener der Höflichkeit, verweist er doch seiner Herkunft nach in den Bereich des Hofes, also des Adels, dessen Verhaltensideale vom aufstrebenden Bürgertum einerseits kritisch hinterfragt, andererseits zum Teil nachgeahmt, zum Teil umgedeutet wurden. Ursprünglich stammt der Begriff politeness aus der Welt der Juweliere und Steinmetze und bezeichnete das Schleifen und Polieren von rohen Edelsteinen oder Marmor zum Zwecke ihrer Veredelung. Von SHAFTESBURY wurde er in den philosophischen Diskurs eingebracht. Für ihn umfasste politeness alle Stärken einer verfeinerten Kultur: ihren leidenschaftlichen Sinn für den Verstand, ihre blühende Kunst und Literatur, ihr Selbstbewusstsein, ihre Achtung der Wahrheit, die Bedeutung intellektueller Kritik und, am wichtigsten, eine Wertschätzung der humanen Seite unseres Charakters (vgl. HERMAN 2003, S.72). Politeness wurde jedoch auch kritisch gesehen, so ist sie für BERNARD DE MANDEVILLE, den wichtigsten Gegenspieler SHAFTESBURYs, nur eine Form der „Schmeichelei, die der Befriedigung des Stolzes und der Selbstliebe einer korrupten Gattung dient“ (PHILLIPSON 1996, S.18). Seiner Meinung nach führt das Vertrauen in natürliches Wohlwollen und Tugend nur zu Heuchelei (vgl. ebd.). Eine kritischere Auseinandersetzung mit der Sprache der Höflichkeit fand auch in Schottland statt, denn die Schotten betrachteten die Höflichkeit „als Teil einer whig-bourgeoisen, englischen Ideologie, die die Schotten immer noch als kulturelle Vereinnahmung durch England empfinden“ (ebd.). Der Terminus good breeding ist im 18. Jahrhundert ein Schlüsselbegriff in der englischen Benimmliteratur. Zwar unterliegt er Bedeutungsschwankungen, aber im Wesentlichen greift er auf die good manners zurück. Dieser Begriff wird 69
jedoch um eine ethische Komponente ergänzt. Good breeding ist der sichtbare Ausdruck der menschlichen Gutmütigkeit. „Es ist die Kunst der gesellschaftlichen Etikette“. Diese ist zwar normativen Regeln äußeren Verhaltens unterworfen, mit denen das Ziel „Vergnügen“ erreicht werden kann, sie ist aber niemals von der „Herzensgüte und den davon ausstrahlenden Charakterwerten“ zu trennen. So warnt JOSEPH ADDISON in seinen Essays davor, die gesellschaftliche Etikette auf reine Äußerlichkeiten zu beschränken, denn good breeding wird ohne die korrespondierende moralische Einstellung „zu einer bloßen Maske, zur gesellschaftlichen Verstellung, die ähnlich wie die Hypokrisie als ausgesprochenes Laster einzuschätzen ist“. Die Gefahr, dass good breeding als rein äußerlich sichtbare Verhaltensform missverstanden werden könnte, sah ADDISON durch die Weiterentwicklung des Konversationsideals und damit auch des Gentleman-Ideals „von steifer Förmlichkeit zu ungezierter Natürlichkeit“ als erheblich verringert an (BERGER 1978, S.192f.). Äußere Manifestationen des good breeding und des gesunden Menschenverstandes (good sense) sind die bürgerlichen Ideale der Schlichtheit und Natürlichkeit – simplicity (vgl. ebd., S.193). In der bürgerlichen Konversation geht es nach Meinung RICHARD STEELEs nicht mehr um einen Konkurrenzkampf um die spektakulärste Formulierung, „sondern um einen auf Kommunikation bedachten Gedankenaustausch, der nach den Prinzipien der Klarheit und Einfachheit ausgerichtet ist“ (BERGER 1978, S.195). Ins Deutsche wurde good breeding von den Pietisten JOHANN SPALDING und CHRISTOPH OETINGER mit Selbstbildung übersetzt (vgl. LIEBSCH 2001, S.183). Zur Heranbildung eines genteel character genügte es also nach Auffassung SHAFTESBURYs keineswegs, sich mit Sprachen, Kunst, Literatur und Naturwissenschaften auseinanderzusetzen. Vielmehr gehörte zu ihm auch und zentral das ethische Moment der Sorge um die Mitmenschen. Die Entwicklung einer moralischen Haltung war mindestens genauso wichtig wie die Aneignung von Wissen und die Ausbildung eines guten Geschmacks. Dem Geschmack aber kam für ihn eine besondere Bedeutung zu. Er war kein Selbstzweck, sondern eher Mittel zum Zweck der Herausbildung einer moralischen Gesinnung. Wer war aber dieser dritte Earl of SHAFTESBURY, welche Art von Erziehung hatte er selbst genossen? 4
Shaftesbury und Locke
SHAFTESBURY lebte von 1661 bis 1713. Sein Großvater, der erste Earl of SHAFTESBURY, hatte JOHN LOCKE beauftragt, die Erziehung des jungen ANTHONY anzuleiten. Diese Erziehung war privilegiert, weil sie auf die „Heraus70
bildung von Individualität und Förderung der Selbstachtung“ angelegt, „im Praktischen wie im Theoretischen“ gewaltlos war und die intellektuellen Fähigkeiten des Zöglings förderte (BAUM 2001, S.43). Diese Ansprüche an Erziehung erscheinen heute selbstverständlich, waren aber im ausgehenden 17. Jahrhundert keineswegs gängig und auch danach noch lange nur für eine kleine Schicht üblich. Von 1683 bis 1685 besuchte SHAFTESBURY das berühmte Winchester College. Diese 1382 gegründete Public School war die erste Eliteschule in England und diente später bei der Gründung von Eton als Modell. Beide Schulen überstanden die Reformation wegen ihrer engen Beziehungen zu den Universitäten von Oxford und Cambridge (vgl. TREVELYAN 1976, S.66f). Winchester College besteht ebenso wie Eton noch heute. Von 1687 unternahm SHAFTESBURY die damals übliche Bildungsreise auf den Kontinent, bei der er sich der Musik, Malerei und Architektur widmete, sowie sich in literarischen Landschaftsbeschreibungen versuchte. Neben einer philosophischen Begabung prägten ihn „ein ausgesprochener Wille zur Unabhängigkeit“ und „die Liebe zur Kunst, vor allem zur Malerei und Literatur“ (BAUM 2001, S.43). Zwar hat sich SHAFTESBURY später in Fragen der Philosophie von seinem Lehrer LOCKE abgewandt, in Fragen der Erziehung ist der Einfluss LOCKEs jedoch deutlich. Aus dessen praktischer Tätigkeit als Tutor und Hauslehrer entstand die Schrift Some thoughts concerning education, mit der er sehr bewusst auf die Herausforderungen reagierte, die der gesellschaftliche Umbruch in Großbritannien mit sich brachte. Die Glorreiche Revolution, die Einschränkung der Macht der Monarchie durch die – ungeschriebene – Verfassung, der wirtschaftliche Erfolg und die ausgedehnten Handelsbeziehungen führten bei der neu entstandenen selbstbewussten Schicht der Kaufleute zu einer Verunsicherung in Fragen der Erziehung. Einige von ihnen wandten sich an LOCKE, dessen Erfolge als Erzieher bekannt waren, um von ihm zu erfahren, welche Erziehungsmethoden sie anwenden müssten, um ihre Kinder möglichst früh auf die neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen vorzubereiten (vgl. OVERHOFF 2009, S.32). Die Antwort, die LOCKE gibt, ist überraschend unaufgeregt. Er hält es nicht für erforderlich, Kinder frühzeitig für spezielle ökonomische Fragestellungen zu sensibilisieren. Auch sollten Eltern oder Lehrer ihre Schützlinge nicht unentwegt auf die Härten und Herausforderungen des späteren Lebens hinweisen, wenn sie sie zu fleißigen und strebsamen Schülern erziehen wollten. Denn solche ständigen Hinweise machten den Schülern das Lernen und den Unterricht zur Last oder unangenehmen Pflicht, die auch noch mit Druck und Strenge eingefordert werden müssten, sodass am Ende keine engagierten, sondern allenfalls stille Schüler ohne Energie produziert würden. LOCKEs Vorstellung von einem gelingenden Unterricht zielt vielmehr auf ein gelingendes und glückliches Leben, das 71
mehr umfasst als beruflichen Erfolg. Um dieses zu erreichen, sollten Kinder nicht mit unnötigen Zukunftssorgen belastet werden. Vielmehr sollte ihre natürliche Wissbegierde durch die Erzieher so sorgfältig wie möglich gepflegt werden. Dazu sei es wichtig, den kindlichen Appetit nach Wissen täglich neu zu befriedigen sowie das Vergnügen am Erkennen von Dingen wachzuhalten und zu fördern. Es geht ihm also darum, eine durch nichts getrübte Lust am Lernen zu wecken und das Lernen selbst als eine sinnvolle Beschäftigung schmackhaft zu machen. Dabei sollte nicht zu früh danach gefragt werden, wozu das Erlernte später einmal dienen könnte. Das Ziel des Unterrichts kann auch nicht sein, Kinder „alles lehren“ zu wollen, „was Menschen überhaupt wissen können“. Vielmehr sollten sie eine „Liebe zur Wissenschaft“ entwickeln, die sie in die Lage versetzt, allein zu immer umfassenderem Wissen zu kommen und dabei ihren Neigungen und Talenten gerecht zu werden und sich selbst zu vervollkommnen. Dann werde sich alles Weitere, auch der berufliche Erfolg, schon finden. Diese Gedanken entfaltet LOCKE nicht nur theoretisch, sondern er gibt auch zahlreiche konkrete Beispiele dafür, wie fröhliches, lustvolles Lernen aussehen könnte. In allen angeführten Beispielen kommt LOCKEs Auffassung zum Ausdruck, dass Lernen im Idealfall „vergnügliches Spiel und Kurzweil“ sein sollte. Das bedeutet jedoch nicht, dass Kinder sich nicht anstrengen müssten, denn auch das echte Spiel ist anstrengend, trotzdem lerne ein spielerisch unterwiesener Zögling leichter als ein Schüler, der zum Unterricht gezwungen werde, da Kinder „in dem, was wir Spiel nennen“ ihrem eigenen Erleben und Selbstverständnis nach „in Freiheit“ handeln und „freien Gebrauch von ihrer Anstrengung“ machen (vgl. Overhoff 2009, S.33ff. Anführungszeichen dort). 5
Selbstbildung
Da die Gedanken LOCKEs über Erziehung keine rein theoretischen Konstrukte, sondern aus seiner Erfahrung als Erzieher und Tutor destillierte Hinweise sind, kann man annehmen, dass auch SHAFTESBURY die Erziehung genossen hat, die sein Tutor beschrieben hat. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei jener der Selbstbildung. LOCKE war der Überzeugung, dass Kinder von sich aus lernen wollen und dies bei entsprechenden Anregungen von außen auch tun (zur heutigen Diskussion über Selbstbildung vgl. DRIESCHNER in diesem Band). Wenn sie zum Beispiel spielerisch lesen gelernt hätten – die Methode dafür illustriert er sehr konkret –, dann wären sie am ehesten in der Lage, eine echte und dauerhafte „Liebe zum Buch“ zu entwickeln, welche die wichtigste Voraussetzung für weiteres Lernen im Erwachsenenalter sei (vgl. OVERHOFF 2009, S.35f).
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Die Gedanken, die sich LOCKE über Erziehung gemacht hat, zeigen, dass ihm daran gelegen war, Kinder so zum selbstständigen Lernen anzuregen, dass ihnen die Freude am Lernen erhalten bleibt und sie sich mit dieser Freude ihr Leben lang weiterbilden. Zum Erreichen dieses Ziels schlägt er die verschiedensten Methoden vor. SHAFTESBURY hingegen geht es bei seinen Überlegungen nicht so sehr um Methoden der Erziehung von Kindern, und den Wunsch nach lebenslangem Lernen setzt er voraus. Ihm geht es um die Bildung von Heranwachsenden oder auch Erwachsenen durch Verbesserung des Geschmacks als Voraussetzung für eine moralische Gesinnung und moralisches Handeln. Wenn die Bereitschaft zum Lernen als Voraussetzung zur Selbstbildung erst einmal gegeben ist, kann jeder Mensch seinen eigenen Geschmack und damit seinen genteel character weiterentwickeln. Die sehr stark von SHAFTESBURY beeinflussten Essayisten STEELE und ADDISON geben in ihren Zeitschriften vielfältige Hinweise für die Selbstbildung ihrer Leser. In Fragen des Geschmacks trauen sie ihren Lesern zu, dass sie diesen selbst weiterentwickeln. Sie gehen davon aus, dass der Geschmack schon in jedem einzelnen Menschen angelegt sei, er müsse aber durch ständige Übung entwickelt werden. Literarischer Geschmack ist ADDISON zufolge die Fähigkeit der Seele, das Schöne, das ein Autor schreibt, mit Vergnügen und die Fehler und Mängel mit Ablehnung wahrzunehmen. Um diesen Geschmack zu kultivieren, böte es sich an, regelmäßig zu den Werken der anerkannt besten Autoren zu greifen, Umgang in literarischen Kreisen zu pflegen und sich außerdem mit den besten antiken und modernen Kritiken zu beschäftigen (vgl. STÜRZER 1984, S.190). Zu diesem Zweck gaben die Autoren von moralischen Wochenschriften immer wieder Leselisten heraus, und es war bekannt, dass sich literarische Kreise in Kaffeehäusern – die auch als Penny-Universities bezeichnet wurden – zusammen fanden, wo auch bekannte Literaturkritiker anzutreffen waren. So hatte also jeder Bürger die Möglichkeit, sich durch Lektüre, im Gespräch mit anderen oder auch durch die Auseinandersetzung mit Werken der bildenden Kunst, selbst zu bilden. Jedoch war diese Möglichkeit längst nicht allen Einwohnern Großbritanniens gegeben. SHAFTESBURYs Leitbild des Gentlemans war immer noch sehr stark an aristokratischen Vorgaben ausgerichtet, obwohl es in allen Gesellschaftsschichten akzeptiert wurde. Diese Akzeptanz bedeutet jedoch nicht, dass es auch für alle Gesellschaftsschichten angestrebt wurde. Zwar hatten die religiösen Gesellschaften der Dissenters, die sich die Reformation of manners zum Ziel gesetzt hatten, in England die Gründung von Elementarschulen für die unteren Stände betrieben und auch bis Mitte des 18. Jahrhunderts die öffentliche Auseinandersetzung darüber dominiert, aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde das Interesse daran zusehends geringer. Während die höhere Bildung ins Zentrum der Debatte der gebildeten Öffentlichkeit trat, nahmen 73
finanzielle Zuwendungen und Schulgründungen sowie auch literarisches Interesse an der elementary education der unteren Klassen mit einer Ausnahme ab. Diese Ausnahme war ADAM SMITH, der im fünften Buch seines Werkes über den Wohlstand der Nationen die Wichtigkeit der Bildungsinstitutionen herausstellte (vgl. SCHMITT/HORLACHER/TRÖHLER 2007, S.26f.). 6
Smiths Überlegungen zur Notwendigkeit von Volksbildung
Eine Überlegung SMITHs betrifft die durch die Industrialisierung bedingte Urbanisierung der Gesellschaft. Während der man of low condition in einer vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Umgebung auf Grund des engen Zusammenlebens in dörflichen Gemeinschaften einen Ruf zu verlieren hat, entfällt dieser soziale Druck in urbanen Gesellschaften. Da die arbeitende Bevölkerung nach SMITHs Verständnis in der Anonymität großer Städte nicht mehr gesehen wird, fällt sie aus dem moralischen Selbstregulierungsprozess heraus. Diesen hatte er schon in einer früheren Untersuchung darauf zurückgeführt, dass der Mensch die Fähigkeit zur ,Sympathie’ hat. Die Relevanz der Sympathie liegt darin, dass andere Menschen die Handlung Einzelner und deren soziale Folgen unbeteiligt beobachten und mitfühlen, wenn diese sozial handeln. Diese Sympathie führt zur moralischen Beurteilung des Handelns. Aus dem Austausch, den öffentliche Beobachter vornehmen, entstehen dann die Normen der öffentlichen Moral, die stetig neu ausgehandelt werden. Wenn nun Menschen nicht mehr gesehen, also in der Anonymität einer Großstadt nicht mehr beachtet werden, fallen sie auch aus diesem moralischen Selbstregulierungsprozess heraus. Um dieses zu verhindern, fordert SMITH eine Volksbildung (vgl. SCHMITT/HORLACHER/TRÖHLER 2007, S.28). Bei dieser Volksbildung im Sinne SMITHs käme es nicht darauf an, Berufskenntnisse zu unterrichten oder das Volk in die große Ordnung der Nation einzupassen, zu sozialisieren oder zu disziplinieren. Vielmehr sollen diejenigen, die in den Städten nicht gesehen werden und in der Fabrik kaum etwas lernen, jene Sprache erlernen, welche die unbeteiligten Beobachter sprechen, wenn sie Normen aushandeln und die Ordnung festlegen, nach der sie leben wollen. Da diese Ordnung nicht fest und ein für alle Mal gegeben ist, wird sie in der Öffentlichkeit immer wieder neu rational ausgehandelt. Die Bildung des Volkes in den Grundkenntnissen, in Geschichte und in Wissenschaften sollte nach den Vorstellungen SMITHs nicht dazu dienen, eine feste Ordnung aufrecht zu erhalten. Vielmehr sollte durch sie die bürgerliche, rational-distanzierte Öffentlichkeit, die die Regeln für öffentliches Verhalten durch Aushandlung und Übereinstimmung bestimmt, erweitert werden. Volksbildung im Sinne SMITHs zielte 74
also auf Partizipation der unteren Schichten an diesem Prozess (vgl. SCHMITT/HORLACHER/TRÖHLER 2007, S.29). Hier geht SMITH in seinen Überlegungen also viel weiter als SHAFTESBURY, der als Aristokrat immer noch die Erziehung adliger Sprösslinge vor Augen hat, wenn er über die Bildung eines genteel character, also eines vornehmen Charakters nachdenkt. Zwar sind seine Überlegungen durch die Moralischen Wochenschriften einer breiteren bürgerlichen Öffentlichkeit zugänglich geworden und haben auch auf diese eingewirkt, seine Vorstellungen von der Kultivierung eines moralischen und ästhetischen Geschmacks, bei dem das Individuum nicht mehr auf die Anleitung durch Staat, Gesellschaft oder Religion angewiesen ist, setzt jedoch damals wie heute Muße voraus, die einer gesellschaftlichen Elite vorbehalten war und ist (vgl. ENGBERS 2001, S.12). Die so entstandene Spannung zwischen der Notwendigkeit einer Ausbildung, die es Menschen ermöglicht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und der Möglichkeit einer Selbstbildung, die darüber hinaus darauf ausgerichtet ist, den Charakter und das moralische Bewusstsein von Menschen weiterzuentwickeln, ist bis heute nicht aufgelöst worden und bestimmt weiterhin die Diskussionen um die Bedeutung des Bildungsbegriffs. 7
Vorstellungen von Erziehung und Bildung im 18. Jahrhundert – relevant für das 21. Jahrhundert?
In seiner kürzlich erschienenen Schrift ‚Vom Glück, lernen zu dürfen – Für eine zweckfreie Bildung‘ macht JÜRGEN OVERHOFF in der derzeitigen Diskussion um Bildung eine Überbetonung der ökonomischen Bedeutung lebenslangen Lernens aus. Zwar sei diese Betonung wohl angesichts der wirtschaftlichen Lage nicht ganz falsch, sie klinge jedoch wenig verheißungsvoll, ja vielleicht sogar bedrohlich. Im Vordergrund stehe „die Last, nicht die Lust des Lernens“ (OVERHOFF 2009, S.12). Er stellt die Fragen, ob das Lernen seinem innersten Wesen nach tatsächlich eine Art Überlebenstraining sei, das notgedrungen absolviert werden müsse, um die wirtschaftliche Existenz zu sichern, und ob man wirklich gezwungenermaßen jeden Tag aufs Neue lernen müsse oder ob es nicht vielmehr ein Zeichen der persönlichen Freiheit und damit ein Privileg und großes Glück sei, lernen zu dürfen. Eine Möglichkeit für europäische und deutsche Bildungspolitiker sieht er darin, „den gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel mit durchaus ähnlichen Entwicklungen der europäischen Geschichte zu vergleichen“ (ebd., S.13). Er verweist darauf, dass die Autoren des im Jahr 2000 von der Europäischen Kommission verabschiedeten Memorandums über Lebenslanges Lernen beiläufig erwähnen, dass „Europa heute einen Wandel erlebe, 75
dessen ‚Ausmaß‘ allenfalls mit dem der – Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden – ‚industriellen Revolution‘ zu vergleichen“ sei (ebd., S.13). „Der Wunsch, effektiv, flexibel, wettbewerbsfähig und wirtschaftlich erfolgreich zu sein“ sei dem 18. Jahrhundert keineswegs fremd gewesen (ebd., S.14). Allerdings sei die Argumentation der „überzeugendsten Verfechter eines gesteigerten gesellschaftlichen Lernwillens“ damals eine völlig andere gewesen als die der Mehrheit der heutigen Bildungspolitiker (ebd.). Lernen war für die Aufklärer in erster Linie eine große Verheißung. Sie postulierten, dass „der Mensch nur durch beständige Weiterbildung dazu befähigt würde, die in ihm angelegten intellektuellen und emotionalen Möglichkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen, sein Leben sinnvoll zu meistern und damit seiner Bestimmung gerecht zu werden: Erst als ein sich über seine Welt immer neu verständigender Lernender würde sich der Mensch seines Daseins so recht erfreuen können“ (ebd., S.14f.).
Aus diesem Grund rät OVERHOFF allen, die ein echtes Interesse daran haben, das Lernen und besonders lebenslanges Lernen als „ein für alle verbindliches gesellschaftliches Ziel zu deklarieren“, sich den wichtigsten Aufklärern des 18. Jahrhunderts zuzuwenden (ebd., S.17). Was die Freude am Lernen angeht, weist er besonders auf LOCKE hin; aber auch auf IMMANUEL KANT, welcher betonte, dass ein gewisser Zwang bisweilen nötig sei, um zu erreichen, dass die Menschen ihrer Pflicht zum Lernen nachkommen. Trotz dieses Zwangs stand für ihn außer Frage, dass das Lernen geistige Freuden bereit hielt (vgl. ebd., S.15f.). Es sei daran erinnert, dass LOCKE seine ‚Gedanken über Erziehung‘ vor mehr als dreihundert Jahren niedergeschrieben hat – die der Schrift vorangestellte Widmung ist auf den 7. März 1692 datiert (vgl. LOCKE 1980, S.6). Die Überlegungen SHAFTESBURYs und SMITHs stammen aus dem 18. Jahrhundert. Sind alle diese Gedanken deshalb überholt? Oder anders gefragt, sind die vielen ‚neuen‘ Ideen über Erziehung wirklich so neu? In der aktuellen Diskussion um die Individualisierung des Unterrichts, in der das Kind mit seinen Interessen, Begabungen und Fähigkeiten im Mittelpunkt stehen sollte, finden sich durchaus Parallelen zu den Gedanken LOCKEs. Jedoch ist Schulunterricht und Bildung unter heutigen Bedingungen sicher nicht vergleichbar mit dem Ideal von Muße in Privatunterricht und ausgedehnten Bildungsreisen für einen jungen Adligen im 17. oder 18. Jahrhundert. Was allerdings vergleichbar ist, ist die Aufgabe, die der persönlichen Bildung innerhalb des Projekts der Moderne zukommt, wie REINHARD UHLE betont. Die moderne Pädagogik hebt in diesem Zusammenhang die Eigenleistung der Person zur Persönlichkeitsstrukturierung hervor, entweder aufklärerisch als Anregung von Selbsttätigkeit, Selbstständigkeit und Mündigkeit oder romantisch als Anregung von ästhetisch geformter Innerlichkeit (vgl. UHLE 1993, S.82). 76
Entsprechend der Rekonstruktionen des Bildungsbegriffs von UHLE werden also bis heute Fragen aufgeworfen, die den Menschen in der Moderne genauso betreffen wie den Menschen in der Zeit der Aufklärung. Allerdings stellen sie sich umso mehr, als sie sich inzwischen von der Verknüpfung mit einer sozialen Trägerschicht gelöst haben. Insofern ist die Beschäftigung mit ihren eigenen Grundlagen nach wie vor Aufgabe der Bildungstheorie. Als gemeinsames Ziel von Bildung seit der Zeit der Aufklärung über die Weimarer Klassik, den Neuhumanismus und die Moderne bis hinein in die Gegenwart kann nach UHLE festgehalten werden: „Gemeinsam ist diesen Bildungsvorstellungen die Ablehnung von Entwicklung und Ausbildung des Menschen zu bloßer Brauchbarkeit und zu partikularer Lebensführung. Diese Vorstellungen beziehen sich nicht nur auf Selbstsozialisation, sondern auch auf Schulbildung. Über den Allgemeinbildungsauftrag von Schule als Aufgabe allgemeiner Menschenbildung (als Bildung zur Humanität) soll die Möglichkeit geboten werden, den werdenden Menschen nicht nur für bloße Zwecke und Funktionen eines bürgerlichen Erwerbslebens und eines gesellschaftlichen wie staatlichen Zusammenlebens, so wie es jeweils ist, zu vereinnahmen“ (UHLE 2006, S.50).
Bei allen Schwierigkeiten, die eine Übertragung der pädagogischen Ideen der Aufklärung, die nur auf einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft bezogen waren, in die Gegenwart mit sich bringt, und bei allen berechtigten Forderungen nach einer Schulbildung, die junge Menschen befähigt, den Anforderungen ihres späteren Berufslebens gerecht zu werden, dürfen ethische und ästhetische Aspekte nicht als überflüssig und überholt abgetan werden, wenn über Bildung nachgedacht wird. Literaturverzeichnis BAUM, ANGELICA (2001): Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. Stuttgart-Bad Cannstadt: Fromann-Holzboog BERGER, DIETER A. (1978): Die Konversationskunst in England 1660 – 1740. München: Fink BOLLENBECK, GEORG (1996): Bildung und Kultur: Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/Main: Suhrkamp ENGBERS, JAN (2001): Der ‚Moral-Sense‘ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland, Heidelberg: Winter HERMAN, ARTHUR (2003): The Scottish Enlightenment. The Scots' invention of the modern world. London: Fourth Estate LIEBSCH, DIMITRI (2001): Die Geburt der ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen Diskurs zwischen 1750 und 1800, Hamburg: Meiner LOCKE, JOHN (1980): Gedanken über Erziehung, Stuttgart: Reclam OVERHOFF, JÜRGEN (2009): Vom Glück, lernen zu dürfen. Für eine zweckfreie Bildung, Stuttgart: Klett-Cotta
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PHILLIPSON, NICHOLAS (1996): „Die Schottische Aufklärung” in: Brühlmeier, Daniel (Hrsg.) (1996): Schottische Aufklärung „A Hotbed of Genius“, Berlin: Akademie Verlag SHAFTESBURY, ANTHONY A.C. OF (1999): Characteristics of men, manners, opinion, times. Ed. by Lawrence E. Klein. Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press SCHMITT, HANNO/HORLACHER, REBEKKA/TRÖHLER, DANIEL (Hrsg.) (2007): Pädagogische Volksaufklärung im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext. Rochow und Pestalozzi im Vergleich. Bern [u.a.]: Haupt STÜRZER, VOLKER (1984): Journalismus und Literatur im frühen 18. Jahrhundert. Die literarischen Beiträge in Tatler, Spectator und den anderen Blättern der Zeit. Frankfurt/Main [u.a.]: Lang TREVELYAN, GEORGE M. (1976): English Social History. Harmondsworth: Penguin UHLE, REINHARD (1993): Bildung in Moderne-Theorien. Weinheim: Deutscher Studien Verlag UHLE, REINHARD (2006): Wie viel Bildung braucht der Lehrer? In: FISCHER, ANDREAS et al.: Lehrerbildung – ein universitäres Kaleidoskop, Bielefeld: Bertelsmann, S.40-52 WINKLER, MICHAEL (2004): „Aufklärung – Ein Tableau und drei Worte zu ihrer Zukunft insbesondere in der Pädagogik“, in: HOPFNER, JOHANNA/DERS. (Hrsg.): Die aufgegebene Aufklärung Experimente pädagogischer Vernunft, Weinheim [u.a.]: Juventa, S.155-174
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Die Entwicklung des Deutungsmusters Bildung im Medium von Konversationslexika. Eine inhaltsanalytische Untersuchung1 Marten Kirschner
1
Einleitung
Unter dem erheblichen Einfluss ANTHONY SHAFTESBURYs auf die deutsche Aufklärungspädagogik wurde der Begriff der ‚Bildung‘ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem wichtigen Terminus. Insbesondere FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCKs religiös gespeiste Verwendung des Begriffs fand weit reichenden Anklang. Eine neue Stufe dieser Entwicklung wurde in den Jahren um 1800 erreicht. Vertreter der Spätaufklärung, der Frühromantik und insbesondere des Neuhumanismus wie WILHELM VON HUMBOLDT etablierten ‚Bildung‘ als den Zentralbegriff philosophischer Debatten. In den Mittelpunkt der Diskurse rückte in erster Linie ein Ideal von Bildung. Diese Diskussionen waren getragen von einem Reformoptimismus, der, bei allen Unterschieden im Einzelnen, die Erziehbarkeit des Menschen ebenso wie die Reformfähigkeit des Staates fraglos unterstellte. Besonders typisch für die Zeit war an HUMBOLDTs Überlegungen, dass diese die Vorstellung einer freien, dialektisch einander bereichernden Entfaltung von Menschen – von Bildung eben – erst im zweiten Schritt als verfassungsrechtliches, primär jedoch als individuelles Phänomen in den Blick nahmen. Für HUMBOLDT mit seinem Bildungsindividualismus war klar, dass Bildung und Freiheit unentrinnbar aufeinander bezogen seien; dementsprechend konzentrieren sich seine politischen Überlegungen zur Beförderung der Bildung darauf, ‚die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen‘ (vgl. HUMBOLDT [1792]/1978). Bis heute werden Positionen wie die HUMBOLDTs als paradigmatische immer wieder diskutiert (vgl. zuletzt: ERBEN 2009). REINHARD UHLE hat aus systematischer Perspektive auf die Unhintergehbarkeit solcher grundlegenden 1 Die nachfolgende Studie ist ein kleiner, herausgelöster Teilaspekt aus meiner Bachelor-Thesis über die Entwicklung des Bildungsbegriffs. Ihre repräsentativen Bedingungen sind daher nur theoretische; die Studie ist diskussions- und forschungsanregend gemeint. Eine vollständige Analyse aller relevanten Enzyklopädie- und Lexikonbestände konnte im begrenzten Rahmen eines solchen Einzelprojekts nicht geleistet werden.
Thematisierungen auch noch im Zeitalter der modernisierten Moderne hingewiesen (vgl. UHLE 1993). Solche Problematisierungen von ‚Bildung‘ sollen in diesem Aufsatz aber nicht weiter begriffsanalytisch diskutiert werden. Stattdessen soll die Entwicklung des Terminus ‚Bildung‘ im Sinne GEORG BOLLENBECKs als Ausdruck eines Deutungmusters verfolgt werden. BOLLENBECK spricht im Bezug auf den Bildungsbegriff für die Zeit seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert von dessen Leistungsfähigkeit zu einer „ideelle(n) Integration“. Deren enormer Einfluss ist durch die Möglichkeit der Sprache bedingt, „gesellschaftliche Verhältnisse zu aktualisieren, zu bestätigen und auszufüllen“ (BOLLENBECK 1994, S.193). Der große Erfolg des Begriffs ‚Bildung‘ verweist aus dieser Perspektive auf dessen Potenzial, gemeinsame Handlungen und Wissensbestände bestimmter Individuen zu koordinieren. Speziell bezieht sich BOLLENBECK bei dieser Annahme auf die Inklusion akademisch gebildeter Kreise, auf jene Beamten und Freiberufler insbesondere, die unter dem heuristischen Kompositum ‚Bildungsbürgertum‘ zusammengefasst werden (vgl. ebd., S.194f.; zur Diskussion um Bildungsbürgertum und Bildungsbürgerlichkeit vgl. CONZE 1985-1989). Im Zuge der historischen Entwicklung dieser sozial wie kulturell vergesellschafteten Figuration rekonstruiert BOLLENBECK ‚Bildung‘ auf symbolischer Ebene nicht länger als Begriff, sondern als integrativ wirksame Chiffre. Sein Deutungsmusteransatz geht zurück auf das Verständnis ROLF ARNOLDs. Dieser schreibt Deutungsmustern aus sozialkonstruktivistischer Perspektive eine gesellschaftliche Vermittlerfunktion, eine komplexe Strukturiertheit in systematischer wie hierarchischer Hinsicht sowie eine besondere Pragmatik des Alltagswissens zu (vgl. ARNOLD 1983, 1990). Deutungsmuster sind demnach „nicht lineares Ergebnis wissenschaftlicher Reflexion, sondern umfassen kollektive vor- und/oder nachwissenschaftliche … Bewusstseins-, Wissens- und Gefühlsbestände“ (GAUS 1998, S.32). Auch wenn der Neuhumanismus ‚Bildung‘ – wie auch ihre Komplementärbenennung ‚Kultur‘ – einst so emphatisch als Medium der Selbstverwirklichung proklamierte, blieben diese Benennungen in ihrer jeweiligen pragmatischen Verwendung über die Jahrhunderte seit 1800 „inhaltlich hochgradig unbestimmt“. Gerade diese Tatsache jedoch führte erst dazu, dass das Medium dieser Benennungen „sozial äußerst wirkungsvoll“ wurde. Die im vagen bleibende Benennung wurde selbst zu einem „kommunikativen Inhalt …, in dem sich eine neue bildungsbürgerliche Öffentlichkeit selbst spiegeln und damit als Einheit definieren konnte“ (ebd., S.34).
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2
Konversationslexika als Medien von Deutungsmustern
In dieser Darstellung soll der Versuch unternommen werden, anhand eines Beispiels die Angemessenheit einer Modellannahme auszuloten, ‚Bildung‘ als Deutungsmuster aufzufassen. Zu diesem Zweck wird hier einem der greifbarsten Medien bildungsbürgerlicher Kommunikation besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ende des 18. Jahrhunderts entstand – nach dem Scheitern des französischen Großprojekts einer allumfassenden ‚Enzyklopädie‘, der neue Medientypus des Konversationslexikons (vgl. BACHLEITNER 2001, S.206f.). Mit dem Beginn der Moderne wurde offenbar, dass die immer weiter expandierende Komplexität der Erkenntnis- und Wissensstrukturen in zweierlei Hinsicht nicht mehr zu bearbeiten war. Einerseits war es – im Medium objektiver Kultur – nicht mehr möglich, alles Weltwissen widerspruchsfrei zusammenführen zu können. Andererseits war es – im Medium subjektiver Bildung – nicht mehr möglich, wissenschaftliche Forschungsergebnisse und individuelle tiefe Durchdringung miteinander zu vereinbaren (vgl. BOEHM 2000, S.102ff.). Die durch die Dynamik der Moderne einsetzende Notwendigkeit zu stetiger Ausdehnung der Darstellungsweiten und zur stetigen Aushebung der Darstellungstiefen ließ die großenzyklopädischen Werke anschwellen und verlängerte ihre Bearbeitungszeit dermaßen, dass ihr Anspruch scheiterte, ganz im aufklärerischen Sinne alles Weltwissen zu dokumentieren. Vor diesem Hintergrund wurde Anfang des 19. Jahrhunderts die Form des Konversationslexikons konzipiert. Da gebildete Bürger zum Zwecke ihrer (Selbst-)Verständigung Wissensfundamente zur Konversation – beispielsweise im Salon – suchten, gleichzeitig jedoch als Zeichen der Bildung und des Sozialstatus gehobene Schriftsprache anwenden wollten – beispielsweise im Briefverkehr –, vereinten die Konversationslexika mehrere Eigenschaften: Sie erschienen als für den individuellen Besitz und Gebrauch proportionierte Nachschlagreihen in Buchform. In ihrer zur Hand gehenden Reihenartigkeit, fassten sie die aktuell bedeutenden, kontroversen Begriffe und Themen übersichtlich und vom Umfang her angemessen zusammen. Die Zusammenfassungen sollten ebenso dem jeweiligen Verständnis des Zeitgeistes wie dem elaborierten Sprachniveau zur jeweiligen Zeit des Erscheinens gerecht werden. Auf der Basis dieser Faktoren sollten für die bildungsbürgerlichen Rezipienten eine zitier- bzw. paraphrasierbare Adaption der Inhalte möglich sein (vgl. hierzu ausführlich: SPREE 2000). Dementsprechend standen Konversationslexika als zentrale Medien bildungsbürgerlicher Vergesellschaftung vor der Aufgabe, die jeweilige Schnittmenge gemeinsamer Nenner eines geteilten Deutungshorizontes zu einem Artikel aufzubereiten. Der jeweilige Umgang von Konversationslexika mit dem Lemma ‚Bildung‘ kann also verstanden werden als konkret-anschaulich 81
gewordener, kristallin geronnener Ausdruck eines allgemeinen Verständnisses jenes Deutungsmusters, das als Vehikel zur Positionierung der eigenen Kulturidentität zu nutzen gedacht war. In einer Sequenz von Lexikonartikeln soll nachfolgend überprüft werden, wie sich musterhaft geteilte Deutungen von ‚Bildung‘ über den Zeitraum vom Aufkommen des Begriffs bis zum jetzigen Zeitpunkt inflationären Bildungsbegriffsgebrauchs entwickelt haben. 3
Lexikasequenz
Im Rahmen dieser Sequenzanalyse von Lexikonartikeln bietet es sich an, von ‚Meyers Konversations-Lexikon‘ als der am umfangreichsten zur Verfügung stehenden Quelle den Ausgangspunkt zu nehmen. JOSEPH MEYER, der Gründer des Bibliographischen Instituts, gab zwischen 1839 und 1855 das ‚Große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände‘ heraus. Dieses war mit 52 Bänden das größte deutsche Lexikon des 19. Jahrhunderts. Mit ihm wollte er eine breites, ‚gebildetes‘ Publikum und nicht lediglich bestimmte (fachlich interessierte) Zielgruppen ansprechen. Nach seinem Tod erschien die zweite Auflage unter dem Titel ‚Neues Konversations-Lexikon für alle Stände‘. Das regelmäßige Erscheinen neuer Auflagen wurde nur durch die beiden Weltkriege unterbrochen. Die Reihe wurde 1986 zugunsten der ‚Brockhaus Enzyklopädie‘ eingestellt, nachdem das Bibliographische Institut mit dem Brockhaus Verlag zum Bibliographischen Institut & F.A. Brockhaus fusioniert war (vgl. SARKOWSKI 1976, S.54ff. u. S.75f.; BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT 2009, online). Diese Entwicklung berücksichtigend, wurde der letzte Teil der nachfolgenden Untersuchungssequenz der ‚Brockhaus Enzyklopädie‘ entnommen. Als weiteres Werk wurde, um auch frühe Zeiträume des 18. Jahrhunderts abdecken zu können, das ‚Grosse vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste‘ ausgewertet. Dieses Lexikon wurde in den Jahren 1732 bis 1754 von JOHANN HEINRICH ZEDLER herausgegeben. Es war das umfangreichste enzyklopädische Projekt des 18. Jahrhunderts und gleichzeitig eine der ersten nach dem Alphabet lemmatisierten Enzyklopädien in (nicht-lateinischer) Nationalsprache. Außerdem wurde das ‚Allgemeine Conversations-Lexicon für alle Stände‘ herangezogen, dessen dritter Band (‚Baumgarten bis Bzura‘) 1834 erschien (vgl. BAYRISCHE STAATSBIBLIOTHEK 2009, online). Diese zwei Berücksichtigungen ermöglichen es, die relevanten Zeiträume vor und während der idealistisch-neuhumanistischen Wende des Bildungsdenkens in den Analyseprozess mit einzubeziehen (vgl. REICHENBACH 2007, S.113ff.; TENORTH 2000, S.122ff.). Da die für die Lexikasequenz vorrangig genutzten Ausgaben von ‚Meyers Konversations-Lexikon‘ ursprünglich darauf abzielten, für das Gespräch zwi82
schen Bildungsbürgern anregendes Wissen in aufbereiteter Form bereit zu halten, ist eine floskelhafte Sprache anstatt einer differenzierten Darstellungsqualität kennzeichnend für die Lexikonartikel. Diese Floskelhaftigkeit bleibt bei den Lemmata bis ins 20. Jahrhundert deutlich erkennbar. Erst in dessen zweiten Hälfte erfolgt eine schrittweise Umstellung des Schreibduktus auf Sprachverwendungsformen, die den Ansprüchen wissenschaftlich objektiver Darstellung folgt. Die nachstehende Quellen-Analyse wird diese Wandlung belegen. Die Untersuchung fasst die das Deutungsmuster ‚Bildung‘ betreffenden Artikel aus zwölf Lexikonausgaben von 1733 bis 2006 in einer typisierenden Skala nominalstrukturiert zusammen und resümiert diese Zusammenfassungen abschließend. Eine solche typisierende Skalierung will Aussagen über ein Material treffen, „indem sie besonders markante Bedeutungsgegenstände“ herauszieht und genauer beschreibt (MAYRING 2008, S.90). Typisierungen dieser Art bergen immer das Risiko von Generalisierung und Deformation bestimmter Inhalte, da sie Uniformität oder Polaritäten unterstellen, die das Material so nicht wiedergibt. Als Vorteil dieses zur Methode der qualitativen Inhaltsanalyse zählenden Strukturierungsverfahrens gilt dagegen das Herausfiltern markanter Ausprägungen, die in einer Art idealtypischer Übersteigerung substanziellen Charakteristiken eines Materials ein stärkeres Gewicht verleihen, als es die Rezeption des gesamten Materials offenbaren würde. Hinsichtlich des Erkenntnisinteresses dieser Untersuchung habe ich nach einer ersten Lektüre aller Artikel fünf Typisierungsdimensionen bzw. Schwerpunktkategorien bestimmt:
Angabe von Quellen (siehe zweiter Absatz dieses Abschnitts) Naturwissenschaftliches vs. pädagogisches Verständnis von Bildung Bildung als ein unter die Praxis der Erziehung fallender Begriff Fremdgesteuerte vs. vom Individuum selbst gesteuerte Bildung Kritik am Bildungsverständnis zur Zeit der Artikelveröffentlichung
Um nicht zu stark vom Inhalt der verhältnismäßig kleinen Materialmenge abzuschweifen, habe ich jedem der chronologisch vorgestellten Inhaltsanalyseergebnisse (es wird jeweils das Erscheinungsjahr des Lexikonartikels gelistet; die vollständigen Angaben sind im Quellenverzeichnis aufzufinden) ein Ankerzitat pro Schwerpunktkategorie zur Seite gestellt.
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Tabelle 1: Angabe von Quellen 1733 1834 1845 / 58 (Artikel identisch) 1890 / 95 (Artikel identisch) 1904 1925 1936 1972
-
-
-
-
Ja Ja Ja
1981 2006
Ja Ja
PAULSEN, WILLMANN HITLER: ‚Mein Kampf‘, KERSCHENSTEINER, KRIECK 15 Quellen von HUMBOLDT über NIETZSCHE, SPRANGER, KERSCHENSTEINER, ADORNO bis hin zu zahlreichen 1972 wirkenden Geisteswissenschaftlern. Hinzu kommt der Aufsatz ‚Bildungsforschung – Aufgaben und Methoden‘ von HELLMUT BECKER, dem damaligen Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung 9 Quellen 18 Quellen; der Artikel ist als ‚Schlüsselbegriff‘ klassifiziert
Tabelle 2: Naturwissenschaftliches (Nat. Vers.) vs. pädagogisches Verständnis (Päd. Vers.) von Bildung 1733 1834 1845 / 58 1890 / 95
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Nat. Vers. Päd. Vers. Päd. / Nat. Vers. Päd. / Nat. Vers.
„Bildung, Formatio, hat bei den Medicis zweyerley Bedeutung …“ „… die Entwicklung des menschl. Geistes zur Selbstthätikeit.“ „Hauptsächlich aber wird Bildung dem Menschen zugeschrieben …“ „Bildung, dem ältern Sprachgebrauch nur in der eigentlichen Bedeutung von Gestaltung oder Gestalt (Bild) geläufig, wird in der neuern Sprachweise … vorwiegend im übertragenen Sinn von der … geistigen Entwicklung des Menschen gebraucht.“
1904 1925 1936
1972 / 81 (Artikel beinahe identisch) 2006
Päd. / Nat. Vers. Päd. Vers. Nat. / Päd. Vers.
Gleiche Formulierung wie 1890/95 „Grundbegriff der Erziehungswissenschaft“
Päd. Vers.
„Darüber hinaus ist aber das B.sziel des neuen Deutschland … die Herausbildung des rassisch einwandfrei geborenen deutschen Menschen mit all seinen Fähigkeiten und Kräften zur vollentwickelten willensstarken und charakterfesten Persönlichkeit im Rahmen der Volksgemeinschaft.“ „… sowohl der Prozeß, in dem der Mensch seine geistig-seel. Gestalt gewinnt, als auch diese selbst.“
Päd. Vers.
„… ein Grundbegriff insbes. der Philosophie und Pädagogik …“
Tabelle 3: Bildung als ein unter die Praxis der Erziehung fallender Begriff 1733 1834 1845 / 58
Ja
1890 / 95
Ja
1904 1925
Ja Ja
1936
Ja
1972 / 81 2006
-
„Diese Herausbildung geschieht mittelst der Erziehung …“ „… von der durch Erziehung und Unterricht bedingten geistigen Entwicklung des Menschen …“ Gleiche Formulierung wie 1890/95 „… seit dem 18. Jh. gebräuchlich 1) für die erziehende Tätigkeit, 2) für das Ziel oder Ergebnis derselben.“ „… spricht aber in diesem Sinne nicht von B., sondern von Erziehung …“ -
85
Tabelle 4: Fremdgesteuerte (Fremd) vs. vom Individuum selbst gesteuerte (Selbst) Bildung 1733 1834
Selbst
1845 / 58
Fremd
1890 / 95
Fremd
1904 1925
Fremd Fremd
1936
Fremd
1972 / 81
Fremd
2006
Selbst / Fremd
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„Aber es müssen sich viel glückliche Umstände vereinigen, um den Menschen zum Menschen zu machen, und seine Freiheit über die Nothwendigkeit siegen zu lassen … Diese Bildung muß Allen gemein werden, und dem Vergeistigungs-Prozesse, in welchem die Menschheit begriffen ist, eine entschiedene Richtung geben, um die frommen Wünsche der Weltbürger und Menschenfreunde zur glücklichen Erfüllung zu bringen.“ „… in diesem Sinne gibt der Mensch gewissermaßen den Stoff her, aus welchem etwas herausgebildet werden soll …“ „Daß unter B. sowohl die Thätigkeit des Bildens (Unterrichtens, Erziehens) als auch das Ergebnis dieser Thätigkeit verstanden werden kann …“ Gleiche Formulierung wie 1890/95 „… diejenige seelische Verfassung, die während der Jugendzeit durch planmäßige Übertragung von solchen Kulturgütern erzeugt wird, die dem Zweck der Erziehung … entsprechen.“ „… dies vermag nur der schöpferische und führerische große Erzieher …“ „Durch ein staatlich sanktioniertes Berechtigungswesen sicherte die Bürokratie das B.sprivileg der ‚höheren Stände‘. Bildung wird so zur ‚Qualifikation‘ und zum Vehikel des sozialen Aufstiegs.“ „Bildung steht für den Prozess der Selbstkonstruktion des Menschen im Lebenslauf …“ / „Bildung wird benutzt, um die Prinzipien der institutionellen Ordnung gesellschaftlich organisierter Lehr- und Lernprozesse von der Elementarbildung bis ins Erwachsenenalter vorzugeben.“
Tabelle 5: Kritik am Bildungsverständnis zur Zeit der Artikelveröffentlichung 1733 1834 1845 / 58 1890 / 95
Ja
1904 1925 1936
Ja Ja
1972
Ja
1981
Ja
2006
Ja
„Minder berechtigt ist die Unterscheidung zwischen materialer B. … und formaler B. …, da eigentlich ausschließlich die letztere den Namen B. beanspruchen und die erstere nur als Hilfsmittel der B. angesehen werden kann …“ „Sein Gebrauch schwankt noch heute …“ „Somit wird der Begriff der Bildung kritisch betrachtet von einer Zeit wie der heutigen, die das Ziel der Erziehung nicht in erster Linie in Verstandesschulung und Kenntniserwerb, sondern in Willensschulung und Charakterformung erblickt …“ „Das Wort ‚Bildung‘ ist zu einer historisch-ideolog. Reminiszenz verkümmert, die der Erkenntnis höchst komplexer anthropolog. Zusammenhange im Wege steht.“ „Die veränderten sozialen und polit. Verhältnisse haben zu Kritik an dem überkommenden B.sbegriff geführt, der den Erfordernissen einer Industriegesellschaft immer weniger gerecht wird.“ „… wird er auch heute nicht im Konsens bestimmt, sondern höchst kontrovers in seiner Sinnhaftigkeit und Bedeutung diskutiert.“
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4
Ergebnisse
Die Lexikasequenzanalyse bestätigt die zu Beginn (und von MONIKA BOTHESCHARF in diesem Band) angesprochenen historischen Entwicklungen zum Aufkommen des Bildungsbegriffs. Noch bevor SHAFTESBURY und KLOPSTOCK die Vokabel ‚Bildung‘ der (inneren) menschlichen Entwicklung zuordneten, galt diese als der Medizin und den Naturwissenschaften entlehnt. Hundert Jahre später, um 1830, lässt sich hingegen – entsprechend der von SHAFTESBURY (resp. von seiner deutschen Übersetzung) und KLOPSTOCK angestoßenen Auffassung – ‚Bildung‘ als eine pädagogisch konnotierte Benennung ausmachen. Von diesem Zeitpunkt an gibt es indessen eine ambivalente Charakterisierung von ‚Bildung‘. Einerseits wirkt eine alte Bedeutungszuweisung fort, welche der Biologie entnommen ist. Andererseits tritt immer stärker eine neuere Bedeutungszuweisung hinzu, welche auf pädagogische Zusammenhänge abzielt. Eine Zuspitzung der langfristigen Entwicklung im Medium des Konversationslexikons stellt die Periode der Reformpädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts dar. Diese war von, wenn auch poröser, politischer Demokratie begleitet. Im pädagogisch relevanten Zusammenhang brachte sie einerseits eine Rückbesinnung auf JEANJACQUES ROUSSEAUs Aufklärungspädagogik und rückte dabei die Werdung der Persönlichkeit verstärkt in den Vordergrund. Andererseits muss sie aber auch als Auffangbecken nationalistisch-kulturpessimistischer Strömungen gedeutet werden. In diesem Sinne wurde ‚Bildung‘ in dieser Zeit zum ersten Mal explizit als ‚Grundbegriff der Erziehungswissenschaft‘ benannt. Demgegenüber tendiert die Begriffsausdeutung zur Zeit des Nationalsozialismus wieder deutlich stärker in die andere Richtung. Diese zielt, im Kontext der Zeit, auf ein biologistisches sozialdarwinistisches Verständnis. Die Zurückdrängung der geistigen Dimension von ‚Bildung‘ zugunsten charakterlicher ‚Willensschulung‘ unter Berücksichtigung körperlicher Vervollkommnung spielt hierbei die zentrale Rolle. Eine neue Entwicklung zeigte sich erst nach den Entwicklungen der 1960er Jahre. Die im Anschluss vollzogene Etablierung einer Zuschreibung des Wortes ‚Bildung‘ als eines allein von den Sozialwissenschaften zu verhandelnden Terminus konnte sich erst zu einem Zeitpunkt durchsetzen, als sich in Deutschland auch eine Demokratie kontinuierlich durchgesetzt hatte. Ein paralleler Verlauf kollektiven Verständnisses ist der Typisierungsdimension von ‚Bildung‘ als Unterkategorie der Erziehungspraxis zu entnehmen. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Erziehungsdiktatur im nationalsozialistischen Deutschland wird ‚Bildung‘ als Prozess- und Ergebnismuster des Erziehens und Unterrichtens gedeutet. Erst danach lockert sich in den Darstellungen diese Verkrustung von Aspekten der Bildung einerseits und Aspekten der Unterweisung andererseits wieder. Dies ist als Hinweis darauf zu 88
interpretieren, dass Bildung im Allgemeinverständnis erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als etwas Dauerhaftes, Lebenslanges, den Lebenslauf Durchwanderndes und somit tendenziell Individuelles aufgefasst wird. Hier zeigt sich eine Abkehr: Die lange bestimmende Koppelung von ‚Bildung‘ und ‚Erziehung‘ wird gelockert. So ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise eine Rückbesinnung auf den schon im Neuhumanismus einmal relevanten Aspekt der Selbstbestimmung, des Selbstlernens, der Selbstentfaltung zu erkennen. Sowohl der Artikel von 1834 als auch der von 2006 heben die Selbststeuerung als Weg und Ziel eines individuellen Bildungsprozesses hervor. Dass letztgenannter Artikel aber, im Gegensatz zu dem von 1834, zugleich auf die fremdgesteuerten Dimensionen von ‚Bildung‘ aufmerksam macht, deutet für die Gegenwart auf eine Diffusität des Deutungsmusters ‚Bildung‘ hin, welche den Versuch einer Systematik immer schwieriger macht. Analoge Erkenntnisse lässt ein Blick auf die in Lexika geäußerte Kritik erahnen. ‚Bildung‘ ist ein vielfältig ge- und benutzter Begriff, genauso differenziertanalytisch diskutiert wie politisch-populistisch verwendet, als bedeutungslos oder arrogant verschrien und dann wieder exzessiv gebraucht. Die Quellen-Analyse verdeutlicht, dass sich das Konzept der Lexika insbesondere seit den 1960/70er Jahren grundlegend gewandelt hat – vom Konversationslexikon hin zu einer Enzyklopädie mit wissenschaftlichem, faktenbasiertem Profil, das nicht länger sprachlich anregende Beschreibungen als Grundlage für kontrovers zu diskutierende Themen anbietet, sondern inhaltlich divergierende Positionen aneinander reiht. Die Sequenzanalyse der Lexika legt nahe, dass sich das einheitliche Deutungsmuster ‚Bildung‘ schon in der Zeit des Nationalsozialismus aufzulösen begann. Dieser Prozess hängt mit dem sozialgeschichtlich nachgewiesenen Untergang der Trägerschicht ‚Bildungsbürgertum‘ zusammen, die sich über dieses Deutungsmuster vergesellschaftete (vgl. CONZE 1985-1989). Schon der rassistisch-appellartig formulierte Artikel zum Bildungsbegriff aus dem Jahre 1936 nimmt von zuvor zentralen Positionen älterer Ausgaben Abschied. Später, in den 1960/70er Jahren, verbindet sich die sozialwissenschaftliche Neuorientierung umgekehrt mit einer expliziten Elitenkritik am Bildungsbegriff. Solche Ergebnisse sind Indizien dafür, dass ‚Bildung‘, entstanden als Deutungsmuster einer bildungsbürgerlichen Leistungselite, nicht mehr funktioniert. Diese Aussage gilt spätestens für den Zeitraum seit der Überwindung des europäischen Faschismus und der Etablierung einer ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘ – so der entsprechende Begriff HELMUT SCHELSKYs –, erst recht unter den Bedingungen einer Zwei-Drittel-Gesellschaft. Folglich lässt sich konstatieren, dass BOLLENBECKS Operationalisierung eines Bildungsdeutungsmusters keine Gültigkeit mehr besitzen kann. Die letzte 89
Ausgabe der ‚Brockhaus Enzyklopädie‘ von 2006 führt 21 mit dem Lemma ‚Bildung‘ verbundene Artikel – von ‚Bildungsbürgertum‘ bis ‚Bildungswesen‘ – auf. Sie entstammen den unterschiedlichsten Systemfeldern und weisen daher keine Trennschärfe auf. ‚Bildung‘ ist zum Container-Begriff geworden. Einerseits sind dabei wieder disziplinäre Bezüge erkennbar. So treten naturwissenschaftliche Begriffsverwendungen wieder in den Vordergrund (‚Bildungsdotter‘, ‚Bildungsgewebe‘, ‚Bildungsenthalpie‘, ‚Bildungswärme‘, etc.). Daneben stehen sozialwissenschaftliche und politikwissenschaftliche Begriffsverwendungen (,Bildungsgefälle‘, ‚Bildungssoziologie‘, ‚Bildungsgesamtplan‘ etc.). Daneben finden geisteswissenschaftliche Begriffsverwendungen ihren Platz (‚Bildungsroman‘, ‚Bildungssprache‘, etc.). Auch pädagogische Begriffsverwendungen treten noch auf (‚Bildungswesen‘, ‚Bildungsstandards‘, etc.). Andererseits aber sind alle diese Begriffe schon durch einen mehrperspektivischen Zugriff gekennzeichnet, der eben nicht mehr in einer Fachdisziplin alleine verortet ist (‚Bildungsökonomie‘, ‚Bildungsurlaub‘, ‚Bildungsforschung‘, ‚Bildungspolitik‘, etc.). So müssen diese Begriffsverwendungen als synkretistische Wortprodukte interpretiert werden, die gerade durch ihre Unbestimmtheit hohe Potenziale der Anschlussfähigkeit in alle möglichen Richtungen garantieren. Diese Anschlussfähigkeit zielt aber nicht mehr die soziale Inklusion einer Trägerschicht; sie markiert nicht einmal mehr eine disziplinäre Inklusion einer, ob geisteswissenschaftlich, ob sozialwissenschaftlich verstandenen, Pädagogik. Die mit der Vokabel ‚Bildung‘ verschmolzenen und in gegenwärtigen Enzyklopädien unter dem Lemma ‚Bildung‘ additiv gelisteten Wortproduktionen bieten eine Verwendungsfläche, die inzwischen nicht nur weit über pädagogische, sondern auch über sozialwissenschaftliche sowie naturwissenschaftliche Bereiche hinausragt. Sie ragt hinein in jede kulturell verankerte und reflektierte Gesellschaftsdimension und macht ‚Bildung‘ somit nicht länger deutbar. Quellenverzeichnis BAYRISCHE STAATSBIBLIOTHEK (2009): Johann Heinrich Zedlers Grosses und vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. URL: www.zedler-lexikon.de/index.html, (Stand 04.11.2009) BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT (Hrsg.) (1845): Das Große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. Bd. 4: Beauforts - Bona pace. Hrsg. Joseph Meyer. Hildburghausen [u.a.]: Bibliographisches Institut, S.983 BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT (Hrsg.) (1858): Neues Konversation-Lexikon für alle Stände Hrsg. von Herrmann Julius Meyer. Bd. 3: Bayeux - Buchhaltung. Hildburghausen [u.a.]: Bibliographisches Institut, S.537 BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT (Hrsg.) (1890): Meyers Koversations-Lexikon. Bd. 2: Atlantis Blatthornkäfer. 4., gänzlich umgearb. Aufl. Leipzig [u.a.]: Bibliographisches Institut, S.947
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II.ȱȱ Positionsbestimmungenȱderȱ AllgemeinenȱPädagogikȱ/ȱ HistorischȬsystematischenȱ Erziehungswissenschaftȱ
Die philosophische Dimension der Pädagogik Klaus Prange
I. Die Pädagogik als akademische Disziplin ist eine späte Tochter der Philosophie. Noch bis weit in das 20. Jahrhundert waren die maßgebenden Pädagogik-Lehrer an den Universitäten im Hauptamt Philosophen, seltener Theologen, und legten auch Wert darauf, als Philosophen und Theologen zu gelten. Das gilt für EDUARD SPRANGER und THEODOR LITT, für OTTO FRIEDRICH BOLLNOW und EUGEN FINK. Anders die Fachvertreter an den Lehrerbildungsanstalten und, wie sie nach dem Kriege genannt wurden, an den Pädagogischen Hochschulen. Aber eben deshalb gehörten diese Nur-Pädagogen eher zum clerus minor der akademischen Welt, ganz unabhängig von ihrem fachlichen Rang. Als dann an den Universitäten eigene Professuren für Pädagogik eingerichtet wurden, rangierten die Pädagogen am unteren Ende in der Hierarchie der philosophischen Fakultäten, bis dieser Platz von den nachrückenden Sportwissenschaftlern eingenommen wurde. Das mögen inzwischen historische Betrachtungen sein, seitdem sich nun auch die Pädagogik unter dem neuen Namen der Erziehungswissenschaft in eigenen Fachbereichen organisiert und so die Orientierung an Philosophie als Leitdisziplin obsolet geworden ist. Bestenfalls in der Allgemeinen Pädagogik hat sich die Erinnerung an die philosophische Herkunft präsent gehalten; aber gerade deshalb hat sie als eine der erziehungswissenschaftlichen Disziplinen neben der Schul- und der Sozialpädagogik, vor allem aber gegenüber Bildungsforschung und Lernpsychologie einen prekären Stand. Dieser legt es nahe, sie zu den bedrohten Arten des akademischen Betriebs zu rechnen. Bei dieser vielleicht etwas vereinfachten Lagebeschreibung, stellt sich die Frage, welcher Sinn und welche Funktion der Allgemeinen Pädagogik in philosophischer Perspektive noch zukommt. Zunächst: Es ist alles andere als klar, in welchem Sinne die Pädagogik als akademische Disziplin philosophisch genannt werden kann. Dass sie einmal wie andere Wissenschaften aus der Philosophie hervorgegangen ist, reicht nicht aus, die philosophische Dimension eines Faches zu begründen, das inzwischen auch den Weg empirischer Forschung und zunehmender Differenzierung beschritten hat. Im Curriculum eines durchschnittlichen Pädagogikstudiums erscheinen eher
psychologische und soziologische Kenntnisse geeignet, das Phänomen der Erziehung angemessen zu erfassen. Demgegenüber erscheint es als beinahe schon nebensächlich, Zeit an die überlieferten Themen der Philosophie und ihre aktuellen Fragestellungen zu vergeuden. Hinzu kommt eine Schwierigkeit, die sich aus dem Zustand dessen ergibt, was unter dem Titel ‚Philosophie‘ erörtert und behandelt wird. Diese ist inzwischen selber zu einer reich differenzierten Disziplin von Spezialphilosophien geworden. Von daher wird es schwer, einen eindeutigen Anschlusspunkt zu finden, auf den sich die Pädagogik insgesamt oder eine ihrer Spezialdisziplinen beziehen könnten. In einem von ANNEMARIE PIEPER herausgegebenen Handbuch der ‚Philosophischen Disziplinen‘ finden sich allein 18 Gebiete und Bereiche aufgeführt, die einerseits herkömmliche Themen behandeln wie ‚Anthropologie‘, ‚Ethik‘, ‚Ästhetik‘ und ‚Erkenntnistheorie‘, aber auch akademische Neulinge wie die ‚feministische Philosophie‘ und die ‚Technikphilosophie‘ neben schon länger etablierten Bereichsphilosophien wie der ‚Sprachphilosophie‘, der ‚Naturphilosophie‘ und der ‚Rechtsphilosophie‘ (PIEPER 1998). Eine besondere ‚Erziehungsphilosophie‘ findet sich in diesem Handbuch zwar nicht, ließe sich aber leicht im Blick auf die angelsächsische philosophy of education ergänzen. Angesichts dieser Vielfalt sowohl auf Seiten der ‚Erziehungswissenschaften‘ wie auf Seiten der ‚Philosophien‘ mag die Frage nach der philosophischen Dimension der Pädagogik, oder entschiedener noch: nach der philosophischen Fundierung der Pädagogik, überholt erscheinen, auch wenn sie gelegentlich noch mit Emphase vorgetragen wird (vgl. KOCH 2002). Tatsächlich kann man sehen, dass als ‚philosophische Pädagogik‘ der mehr oder minder enge Anschluss an eine der großen Richtungen der philosophischen Überlieferung oder an einen ihren maßgebenden Repräsentanten verstanden und als Zeugnis einer philosophisch orientierten Pädagogik ausgegeben wird (vgl. REICHENBACH 2007). Ob es sich dabei um IMMANUEL KANT oder LUDWIG WITTGENSTEIN, MAURICE MERLEAU-PONTY oder andere Meisterdenker handelt, in allen Fällen sorgen der Rang und das Ansehen der Bezugsautoren dafür, dem pädagogischen Denken durch die Teilhabe an bedeutenden Theorieentwürfen eine Bedeutung zuzuspielen, die es offenbar aus sich selbst nicht zu gewinnen vermag. Entsprechend verhält es sich mit der Berufung auf ‚Phänomenologie‘ oder ‚Pragmatismus‘, auf ‚Kritische Theorie‘ oder neuerdings auf die sozialphilosophisch bedeutsame Systemtheorie. Sie tragen die Beweislast für pädagogische Argumente als Anwendungen und Folgerungen aus Großtheorien und Betrachtungsweisen, welche sich ihrerseits zunächst keinem spezifisch pädagogischen Grundgedanken verdanken. Vielmehr wird im Rahmen etablierter Antworten das ‚Pädagogische‘ herausgefiltert oder zur weiteren Behandlung an die Subdisziplinen der Erziehungswissenschaft, wenn nicht gleich an die ‚Praktiker‘ delegiert, die vor Ort zusehen 96
müssen, wie sie die großen Scheine der Theorie in die kleine Münze des Alltags einwechseln können. Der Sinn und die Leistung solcher Rezeptionen mag im Einzelnen umstritten sein. Nicht strittig dürfte aber das Bestreben sein, von anderen zu lernen und die Ergebnisse anderer Disziplinen zu beachten, seien sie empirisch fundiert wie die neuere neurologische Forschung, seien sie unter der alten Adresse der Philosophie oder einer ihrer neueren Spezialdisziplinen aufzufinden. Diese Rezeptionen gehören zu dem „wohltätigen Verkehr unter allen [Wissenschaften; K.P.]“, den JOHANN FRIEDRICH HERBART in der Einleitung zu seiner ‚Allgemeinen Pädagogik‘ ins Auge gefasst hat (HERBART 1989b, S.8). Die Frage ist aber, wie diese Rezeption erfolgt. Relevant ist, ob sich die Pädagogik als Subunternehmerin und Anhang anderer Disziplinen versteht oder ob sie das Wissen und die Wissensformen anderer Disziplinen systematisch und unter eigenen Prämissen verarbeitet. Im ersten Fall benutzt sie andere Theorien als Systemersatz und bewegt sich in der Botmäßigkeit von Fragen und Antworten, die sie nicht selbst entwickelt und ausgearbeitet hat. Im zweiten Fall hat sie ihre eigenen Fragen und einheimischen Begriffe zu artikulieren, um gewissermaßen verdauen zu können, was ihr aus anderen Wissensbezirken entgegenkommt und worauf sie dann unterscheidend, nicht folgsam und ihrer eigenen Sache entfremdet reagiert. Um diese Sache der Pädagogik soll es im Folgenden gehen, nicht darum, den pädagogischen Anhang philosophischer Positionen zu ermitteln oder etwa eine besondere Philosophie für Pädagogen zu formulieren, geschweige denn darum, den Bemerkungen und obiter dicta von Fachphilosophen über die Erziehung nachzuspüren. Der Gedanke ist vielmehr: Die Pädagogik ist philosophisch nur insoweit, als sie systematisch ist und es versteht, ihren Grundgedanken selbstständig zu fassen. Unter dieser Voraussetzung kann sie in ein freies und wechselseitig relevantes Gespräch sowohl mit anderen Disziplinen als auch mit der Philosophie insgesamt oder einzelnen ihrer Spezialthemen und Bereichsphilosophien treten. Das ist aber zunächst nur eine Forderung oder Behauptung. Das so Unterstellte versteht sich nicht von selbst, sondern bedarf eines Nachweises, dass es wirklich so etwas wie Systematische Pädagogik schon gibt oder zumindest geben kann, auch wenn die gegenwärtig vorherrschenden Fachinteressen das systematische Motiv nicht begünstigen, sei es, weil es für überflüssig angesehen, sei es, weil es für uneinlösbar gehalten wird. In der Tat lässt sich eine resolute Indifferenz, wenn nicht Abwehr gegenüber Bemühungen feststellen, die mit gesamtpädagogischem Anspruch auftreten, und zwar nicht nur in den Differenziellen Pädagogiken, sondern auch in der dafür eigentlich zuständigen Allgemeinen Pädagogik, die sozusagen als Platzhalter für das Systeminteresse fungiert. Dabei sind zwei Gedankenlinien erkennbar, deren Zusammenwirken geeignet ist, die ‚Allgemeine Pädagogik‘ selbst in Frage zu 97
stellen. Die erste kann sich auf das neo-positivistische Frageverbot stützen. Dieses lässt als Frage nur zu, worauf sich eine Antwort in Ausdrücken beobachtbaren und messbaren Verhaltens geben lässt. Die zweite Gedankenlinie besteht in der historischen Relativierung allgemeiner Antworten. Diese hat zur Folge, dass noch die aktuellen Erörterungen selbst wieder kontextualisiert und um ihren Wahrheitsanspruch gebracht werden. Reduziert auf die Geschichte der Erziehung und des Erziehungsdenkens einerseits und auf die Propädeutik forschungstechnischer Methoden andererseits verzichtet die Allgemeine Pädagogik darauf, systematisch zu sein, und beschränkt sich auf die Darstellung von pädagogischen und anderen Theorien. Sie begnügt sich gewissermaßen mit einem teils historisch orientierten, teils aktualitätsbezogenen Theoriensurfing, ohne sich selbst noch bündige Antworten zuzutrauen oder sie in Angriff zu nehmen. Positivismus und Historismus kommen darin überein, die philosophisch-systematische Dimension des pädagogischen Wissens zu diskreditieren. Wer dennoch daran festhält, ihr im pädagogischen Diskurs eine Stimme zu verschaffen, hat dann aber auch die Frage zu beantworten, ob es überhaupt möglich ist, dem pädagogischen Wissen eine systematische Form zu geben und worin diese besteht. II. Es ist eines, die Beliebigkeit der pädagogischen Raison zu bedauern, das Schwanken in den grundbegrifflichen Bestimmungen und die Beflissenheit, sich an andere anzuschließen. Es ist ein anderes, eine überzeugende Systematik oder, wie WILHELM FLITNER es genannt hat: einen spezifisch pädagogischen Grundgedankengang zu formulieren (vgl. FLITNER 1970). Immerhin gibt es neben dem von FLITNER selbst gelieferten Beispiel durchaus eindrucksvolle Belege für einen solchen Grundgedankengang in Schriften, die tatsächlich eine allgemeine, systematisch orientierte Pädagogik präsentieren. Aber es gibt auch gewichtige Gründe dafür, das Phänomen der Erziehung nur bedingt für theoriefähig und systematisierbar anzusehen. Dieses gilt deshalb, weil Lernen und Erziehen sich in einer unabsehbaren Vielfalt von Situationen und Lebenslagen zeigen, und insofern einen Individualitätsindex enthalten, der es zu verbieten scheint, ihre gemeinsame Struktur in einer überzeugenden Weise zu erfassen. Das dürfte damit zusammenhängen, dass uns das Erziehen nicht einfach in der Beobachtung, gewissermaßen von außen, gegeben ist, sondern zugleich auch von innen: unser eigenes Lernen und die Erfahrung der Erziehung spielen in den Begriff hinein, den wir uns von der Erziehung machen. Die Erziehung ist durch ihre Nähe verdeckt. Es gibt eine dem Erziehungsdenken eigentümliche Befangenheit und Verstrickung in biographische und zeitgeschichtliche Bin98
dungen, die es nahe legen, eher narrative Zeugnisse und vor allem auch Selbstzeugnisse für den angemessenen Ausdruck der Erfahrung der Erziehung anzusehen und zu würdigen (vgl. PRANGE 2002). Diese Ansicht macht sich auch darin bemerkbar, dass nach wie vor in der Ausbildung von Pädagogen der Rückgriff auf die erzählerisch vergegenwärtigte Erziehungserfahrung gang und gäbe ist, ob es sich nun um die Schulen der Reformpädagogik oder aus früherer Zeit um den Stanser Brief von JOHANN HEINRICH PESTALOZZI oder überhaupt um fiktionale Präsentationen nach dem Muster des ‚Emile‘ handelt. Das Erzählen steht für die Einheit des Begriffs ein, der dabei jedoch selbst nicht explizit wird und Anspruch auf allgemeine Geltung erheben kann. Erst auf der Ebene der Interpretation stellt sich eine größere, aber auch dann nur komparative Allgemeinheit her. Der Grund dafür ist, dass das Verhältnis zum Thema selbstreferenziell-zirkulär ist. Wenn wir über Erziehung, über Kindheit und Lernprozesse sprechen, sprechen wir zugleich immer auch über uns selbst. Dieses hat zur Folge, dass die ‚objektive‘ Beobachtung des Erzieherischen an die Vertreter anderer Disziplinen fällt, deren Ergebnissen dann nachgängig noch eine pädagogische Krone aufgesetzt wird. Diese Verstrickung der Erziehung in das ‚Leben‘ lässt sich auch noch anders fassen: Das Erziehen als die Form, wie wir auf das Lernen reagieren, erscheint nicht als ablösbare Handlung wie etwa die Praxis eines Arztes, der einen Patienten behandelt, oder eines Richters, der einen Streitfall entscheidet. Vielmehr ist das Lernen eingemischt in die immer schon laufende Lebenspraxis, vielfach unbeachtet und unbemerkt, sodass sich ein Begriff des Erziehens von zureichender Schärfe erst dann und dort hat gewinnen lassen, wo es eigens im Unterricht thematisiert und in Schulen organisiert wird. Das ‚Leben‘ aber lässt sich nicht wie eine Schule oder sonst eine Einrichtung auffassen, sodass die Systematisierung der Erziehung am Modell des Schulunterrichts nur um den Preis einer entschiedenen Reduktion der Erziehungswirklichkeit zu haben ist. Diesem Nachteil steht indes ein entschiedener Vorzug gegenüber. Die Erziehung kann unter den Limitationen des organisierten Unterrichts genauer in den Blick genommen werden. Das Lernen wird methodisch erschlossen; es zeigt sich im Verhältnis zu beobachtbaren Themen und beschreibbaren sozialen Konstellationen. Die Lehre von den Formen des Unterrichts hat so einen Leitfaden dafür geliefert, wie wir uns das Verhältnis von Lernen und Erziehen vorzustellen haben. Was immer gegen diese Orientierung am Unterrichtsmodell der Erziehung vorgetragen und als ‚Reform‘ ins Spiel gebracht werden mag, es ist noch im Gegenzug an der Didaktik des Unterrichts orientiert und bezieht seine Kraft aus deren Überbietung. Nur sind es dann andere Verfahrensweisen und andere Themen, und es sind andere Inszenierungen, die dabei vor Augen geführt und angewandt werden. Dass sie aber überhaupt formuliert werden können, verdan99
ken sie dem ersten Versuch, den Zirkel von Lebenspraxis und Lernen aufzulösen, indem Thema, Lernen und Lehren voneinander unterschieden und in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden. In der Tat kann man sehen, dass sich die grundlegenden Konzepte und Paradigmen der Erziehung darauf zurückführen lassen, welchem Aspekt innerhalb der Trias von Thema, Lernen und Erziehen sie den Vorrang einräumen und wie von daher die anderen Aspekte der pädagogischen Inszenierungen bestimmt werden. So steht das schulpädagogische Modell dem familien- und sozialpädagogischen und beide dem lerntheoretisch-anthropologischem Modell gegenüber. Sie zeichnen jeweils vor, wie die erzieherischen Maßnahmen gedacht und von wem sie initiiert werden. Im ersten Falle sind es die Themen und der themenkompetente Magister, die die Führung haben, im zweiten Fall ist es die soziale Konstellation, im dritten die Selbstbewegung des Lernens, die den die Erziehung organisierenden Gesichtspunkt abgeben. Die triadische Struktur bleibt dabei unverändert. Sie macht die Varianten der pädagogischen Artikulation untereinander vergleichbar und erlaubt die Kompromisse und Übergänge, wie sie die unterschiedlichen Erziehungslagen erfordern. Wo das Lernen im sozialen Kontext einigermaßen problemlos gelingt, verstehen sich die Themen wie von selbst. Wo der soziale Kontext sich differenziert und problematisch wird, richtet sich das Interesse der Reflexion zuerst auf den thematischen Aspekt, meist unter dem Titel der ‚Bildung‘. Sobald aber beides in den Sog der generellen Selbstproblematisierung von Individuum und Gesellschaft gerät, erscheint das Lernen als Notanker der Besinnung auf Erziehung, von dem erwartet wird, die Maßgaben für das Erziehen zu bestimmen. Wie das im Einzelnen aussieht und welche Leitgedanken sich dabei herausbilden, ist Sache einer systematisch unterbauten Geschichte der Pädagogik und soll hier nicht weiter verfolgt zu werden. Wichtiger ist die Frage, wie sich das idealtypisch unterstellte Grundmodell der Erziehung begründen lässt. Das ist das eigene Thema der allgemeinen als systematische Pädagogik; es ist zugleich die Stelle, an der die philosophische Dimension der Pädagogik sich zeigt. Problemgeschichtlich gesehen lässt sich der Einsatz der systematischen Pädagogik dort beobachten, wo der Zirkel von Erziehungspraxis und Erziehungsreflexion sich endgültig aufgelöst hat und das Erfordernis einer Besinnung auf die Differenzen unterschiedlicher Pädagogiken sichtbar wurde. Der erste, der diese Aufgabe gesehen und eine Antwort gegeben hat, war HERBART. Nicht zufällig nennt er seine Abhandlung über die ‚Ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung‘ eine ‚allgemeinpädagogische‘ und hat insofern das Muster vorgegeben, wie eine systematisch orientierte Pädagogik aussieht (vgl. HERBART 1989a).
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III. Im Einzelnen ist die Antwort HERBARTs nicht wiederholbar. Wohl aber zeigt sie, worauf eine systematisch begründete Pädagogik zu antworten hat. Es sind drei Aspekte, die dabei zusammengebracht werden: der ethische in Hinsicht auf die Aufgaben der Erziehung und der Erzieher – von HERBART Moralität als die „eine und ganze Aufgabe der Erziehung“ genannt (HERBART 1989a, S.259) –; der anthropologische Aspekt in Hinsicht auf die Verfassung der Lernenden - von HERBART Bildsamkeit genannt –; und der didaktisch-operative Aspekt in Hinsicht auf die Frage, wie beides koordiniert werden kann. Das Entscheidende und Lehrreiche an HERBARTs Vorschlag besteht nicht in seinen Aussagen über die einzelnen Hinsichten, nicht in seiner Psychologie und auch nicht in seiner Bestimmung des Erziehungsziels. Vielmehr besteht es darin, die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Koordination zu untersuchen. Darin ist HERBARTs Pädagogik philosophisch, nicht etwa, weil er auch oder vornehmlich ‚Philosoph‘ gewesen ist und ‚philosophische Schriften‘ vorgelegt hat; oder deshalb, weil sich die Form seiner Überlegungen jenseits empirischer Bestätigungen bewegt. Philosophisch ist diese Frühschrift dadurch, dass sie den Grund pädagogischer Begründungen ins Auge fasst und damit im Blick auf das Phänomen der Erziehung einen pädagogischen Beitrag zur Ethik und zur Ästhetik erbringt. Was die Ethik angeht, so liegt der philosophische Ertrag darin, das kantische Konzept der transzendentalen Freiheit in Frage zu stellen. Hinsichtlich der Ästhetik liegt es im Aufweis, dass ihr im Gefüge der grundlegenden Fragestellungen eine zentrale Stellung zukommt: sie vermittelt zwischen dem reinen Gedanken und empirischen Gegebenheiten, zwischen Reflexion und Motivation, eine Einsicht, die sich genau daraus ergibt, dass die Ausbildung der Bildsamkeit im Prozess des Erziehens zum Thema gemacht wird. HERBARTs Einwände gegen KANT sind zugleich philosophisch und pädagogisch. Dabei handelt es sich aber nicht nur um eine zufällige, historisch-einmalige Koinzidenz des philosophischen mit dem pädagogischen Interesse. Vielmehr ergibt sich diese Koinzidenz daraus, dass in dem Grundmodell der Erziehungskomponenten die Fragestellungen enthalten sind, die ursprünglich der Philosophie angehören und in ihren Antworten den Lehrbestand ihrer Tradition bestimmt haben. Noch bei KANT erscheinen sie in den bekannten Fragen, die für jenen den Kern der philosophischen Reflexion über den Menschen ausmachen: 1. Was kann ich wissen 2. was soll ich tun? 3. was darf ich hoffen? (KANT 1781, A 805; 1787, B833).
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In diesen Fragen modernisiert KANT ein altes Schema der Grundfragen, indem er ihm gewissermaßen eine transzendentale Wendung gibt. Es sind die traditionellen Transzendentalien des Wahren, des Guten und des Schönen als der vollendeten Form, die sich ihrerseits in einer überlieferungsfesten Einteilung der Philosophie in ‚Physik‘, ‚Ethik‘ und ‚Logik‘ wiederfinden. Historisch geht diese Einteilung auf den Lehrbetrieb der aristotelischen Schule zurück; doch sie bringt dabei etwas zur Sprache, das nicht an den Ort der Hervorbringung gebunden ist. Worauf auch immer wir uns beziehen, es ist entweder das, was unser Verhältnis zu der Welt außer uns betrifft, oder das Verhältnis zu unseresgleichen oder das Verhältnis zu uns selbst. In einer noch aktuelleren Wendung hat DONALD DAVIDSON dieses Grundgefüge von Beziehungen als Dreiklang von ‚subjektiv, intersubjektiv und objektiv‘ formuliert und in den Fragen ausgedrückt, ‚was da draußen los ist‘ (objektiv), ‚was die anderen denken‘ (intersubjektiv) und ‚was ich selbst denke‘ (subjektiv) (vgl. DAVIDSON 2004). Offenbar handelt es sich bei diesen Fragen nicht um eine beliebige Ordnung, die nur noch historisch zu verorten und im Übrigen als überholt anzusehen ist. Vielmehr kann man sich klarmachen, dass mit diesen Fragen die prinzipiell möglichen Beziehungen umrissen sind, in denen wir uns bewegen. Da ist zum einen die Beziehung auf die ‚Welt‘ als Inbegriff dessen, was der Fall ist, zum anderen die Beziehung auf die anderen, mit denen wir diese Welt teilen, und schließlich die Beziehung auf uns selbst, in der die beiden anderen Beziehungen sich noch einmal wiederholen. Worauf auch immer wir uns beziehen, was immer uns betrifft und begegnet, es lässt sich auf diese Grundbezüge zurückführen und sich mit unterschiedlichen Akzentsetzungen darin ausdrücken. Das trifft für die von CHARLES SAUNDERS PEIRCE vorgeschlagene pragmatische Kategorienlehre der Erstheit, Zweitheit und Drittheit ebenso zu wie für die daraus abgeleitete semiotische Trias von Pragmatik, Semantik und Syntaktik. Gleichermaßen gilt es für die systemtheoretische Version der maßgebenden Unterscheidungen, durch die ein System sich erstens von seiner Umwelt, zweitens von anderen Systemen abhebt und wie es drittens sich selbstreferenziell organisiert. Weltbezug, Sozialbezug, Selbstbezug: in diesen drei Dimensionen artikuliert sich das Systeminteresse, und zwar unabhängig davon, auf welchen besonderen Bereich es sich bezieht. In der Tradition sind diese Dimensionen in einer christlich variierten Fassung als Fragen nach der Welt, nach dem Menschen und nach Gott unter dem Titel der metaphysica specialis thematisiert worden, überboten und gegründet in der Ontologie als metaphysica generalis, die nach dem Zusammenhang des Unterschiedenen fragt. In diesem Rahmen bewegen sich die Antworten darauf, was wir wissen, was wir sollen und wer wir sind. Eben weil es diesen Rahmen gibt, ist es auch möglich, zumindest die europäisch-abendländischen Antworten als ein zusammenhängendes Gespräch darzustellen und als eine Geschichte zu lesen. 102
Das gilt auch für den Alleszermalmer KANT, der für seine Kritik der Vernunft immer noch ein unabweisliches metaphysisches Bedürfnis in Anspruch genommen hat (KANT 1787, B21), doch mit dem Ergebnis, dass die Themen der speziellen Metaphysik als metaphysische der Kritik zum Opfer fallen und der empirischen Forschung Platz machen. Das ist die gleichermaßen destruktive und produktive Leistung KANTs. Sie ist möglich geworden, indem zugleich die nichtempirischen Bedingungen der Sachforschung aufgewiesen worden sind, und zwar als Reflexion auf die Formen von Anschauung und Denken, die aller empirischen Erkenntnis voraufgehen. Im Gedankenkreis dieser doppelten Leistung KANTs bewegt sich alles, was nach KANT intellektuell von Bedeutung ist. Er hat die Unersetzbarkeit der empirischen Forschung einerseits und der transzendentalen Vergewisserung ebendieser Empirie gezeigt. Dem ersten verdanken wir die Dekomposition und Ausdifferenzierung des gegenständlichen Wissens und dem zweiten die Thematisierung der Formen, unter denen dieses Wissen möglich ist. In der Pädagogik kommen beide Tendenzen zur Geltung: sie wird unvermeidlich philosophisch, wenn sie sich darauf besinnt, wie sie den Formgedanken mit den Bezügen auf Welt, auf die anderen und auf sich selbst zusammenbringt (vgl. PRANGE 2004). IV. Um diese These verständlich zu machen, ist noch einmal auf die oben schon angegebene Trias von Thema, Erziehen und Lernen zurückzukommen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als handle es sich hier in einer allgemeineren Fassung ‚nur‘ um das herkömmlich bekannte didaktische Dreieck von Lehrer, Schüler und Unterrichtsthema. Das ist nicht zu bestreiten und braucht auch nicht bestritten zu werden. Doch nicht richtig und zu kurz gegriffen ist die Ansicht, es gehe bei dieser Trias und dem didaktischen Dreieck um nicht mehr als eine nachgeordnete Formation zum Zwecke der didaktischen Instruktion, begrenzt auf schulischen Unterricht und insofern ungeeignet, den Reichtum und die Mannigfaltigkeit pädagogischer Beziehungen und Situationen auszuschöpfen. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt. Das didaktische Dreieck hebt die die Erziehung kennzeichnende Struktur mit besonderer Klarheit hervor und zeigt, um welche Beziehungen es geht, wenn wir uns auf das Lernen anderer beziehen, und was wir dabei mindestens zu beachten haben. Anders gewendet: das didaktische Dreieck spiegelt den fundamentalen Zusammenhang des Welt-, Sozial- und Selbstbezugs und zeichnet die Operationen vor, durch die sich die Erziehung von anderen Praxen unterscheidet, unter anderem auch von der Reflexionspraxis der Philosophie. 103
Im Einzelnen bedeutet das: Wann und wo immer wir lernen, sei es durch andere oder mit anderen, sei es autodidaktisch für uns allein, wir lernen etwas. Das Lernen hat einen thematischen Pol, durch den der Weltbezug in Abhängigkeit davon artikuliert wird, wie wir uns zu uns selbst verhalten, sei es ausdrücklich reflexiv bei Vorhaben und Plänen, sei es unausdrücklich dann, wenn uns etwas zustößt oder sich unabweisbar in der Lebenserfahrung meldet. Was es nicht gibt, ist ‚das Lernen‘ an sich, auch dann nicht, wenn sich das Lernen darauf bezieht, wie gelernt wird und das Lernen gelernt werden soll. In diesem Grenzfall erscheint das Lernen als Thema, auf das sich das Lernen richtet. Er macht in besonders herausgehobener Weise deutlich, dass das Lernen prinzipiell den Bezug des Lernenden auf sich selbst voraussetzt. Wir können nicht für andere und an deren Stelle lernen; es ist unvertretbar individuell, auch dann, wenn wir mit anderen und von anderen lernen. Die Operation des Lernens verdankt sich dabei nicht einer vorgängigen Reflexion; sie ist vielmehr die Bedingung dafür, dass wir uns im Zuge der Anforderungen und Aufgaben, die die ‚Welt‘ an uns stellt, auf uns zurückwenden können und uns im Verhältnis dazu positionieren können. Kurz gefasst: Ohne Lernen kein Selbstbezug. Doch das Lernen ist nur eine notwendige, keine zureichende Bedingung für das Erziehen. Dabei haben wir es mit einer ganz anderen Beziehung und Operation zu tun, nämlich mit Kommunikation, in der wir uns auf das Lernen anderer beziehen, es stützen und fördern, aber auch begrenzen und im Grenzfall verhindern. Ob es sich um das Unterrichten oder das Ermahnen, um das Aufmerksammachen oder um das Missbilligen handelt, ob das erzieherische Handeln eingelagert ist in andere Tätigkeiten oder, wie etwa in der Strafe, als isolierte Maßnahme hervortritt: immer geht es um Operationen, durch die wir uns über Themen darauf beziehen, wie sich der Lernende im Einzelfall oder Gruppen von Lernenden zu diesen Themen und zu sich selbst verhalten. Kurz gefasst: ohne Weltbezug kein Thema und ohne Selbstbezug keine Adresse für das Erziehen. Was wir ‚Erziehung‘ nennen, ist insofern als ein Gefüge von Beziehungen zu verstehen, die sich in unterschiedlichen Operationen darstellen und in der je gegebenen Situation zusammenzuführen sind. Der Begriff der Erziehung, wie auch immer er konkret gebildet wird, hat diese Verhältnisse zu berücksichtigen, sei es, dass der Ausgang von den Themen oder im Blick auf die Lernvoraussetzungen gewählt wird, sei es, dass die Koordination der angegebenen Beziehungen selbst aufgegriffen und zum Leitfaden der Besinnung auf die Erziehung gemacht wird. In jedem Falle hat die Pädagogik als das Bewusstsein, das die Erziehung begleitet, prüft und selbst wieder anleitet, in sich die triadische Struktur von Welt-, Sozial- und Selbstbezug darzustellen, der sie sich verdankt. Geschieht es explizit, so ist sie ebendadurch philosophisch. Sie wiederholt unter dem Gesichtspunkt des Lernens und des Erziehens diejeni104
gen Dimensionen der Erfahrung, die in der ausdrücklich philosophischen Reflexion erstens als die Frage nach unserer Stellung zur Welt und dem, was wir von ihr wissen können, zweitens als die Frage nach unseren sozialen Verhältnissen und den Regeln, die dabei gelten sollen, und drittens als die Frage nach dem Verhältnis zu uns selbst entfaltet werden. Wie immer die Antworten dazu ausfallen, es sind Antworten auf die angegebenen Fragen und ihren Zusammenhang. Genau dies gilt auch für die Pädagogik, mit der Besonderheit, dass das angegebene Frageschema inhaltlich im Blick auf das Verhältnis von Lernen und Erziehen expliziert wird. Das bedeutet: die Antworten der Pädagogik sind Antworten auf die Frage, wie Welt-, Sozial- und Selbstbezug voneinander unterschieden und aufeinander bezogen werden können. Die Differenzen der Begriffs- und Theoriebildung stellen sich so gesehen als Differenzen und Variationen innerhalb eines Rahmens dar, der ihnen gegenüber invariant ist. Dadurch sind nicht nur in historisch beobachtender Einstellung Theorievergleiche möglich; wichtiger ist, dass dadurch ein Referenzsystem der Kritik gegeben ist und es möglich wird, die leitenden Begriffe der pädagogischen Diskussion zu prüfen und Vorschläge zu ihrer Revision zu machen. Mit dieser Funktion der internen Begriffsklärung, durch die der pädagogische Diskurs sich selbst organisiert und von anderen Diskursen und Praxen abhebt, geht eine andere Funktion einher, die gewissermaßen die Regelung der Außenbeziehungen betrifft. Indem die Pädagogik sich auf ihre eigenen Operationen besinnt und diese Besinnung der Form nach damit übereinstimmt, wie andere Praxen und Semantiken sich formieren, verfügt sie über ein Maß, wie sie das einarbeitet und berücksichtigt, was andere Disziplinen über die Welt, über soziale Beziehungen sowie darüber sagen, wie die Menschen sich zu sich selbst verhalten. Die Rezeption psychologischen und soziologischen, ethnographischen und geschichtlichen Wissens, aber auch die Rezeption der Ergebnisse der Wissenschaften, die für die Themen der Erziehung von Bedeutung sind, erfolgt unter den Bedingungen der pädagogischen Organisation des Welt-, Sozial- und Selbstbezugs, aber auch nur dann, wenn sie als diese Struktur gewusst und formuliert ist. Solange indes die Systembindung der Rezeption verkannt oder übersprungen wird, dürfte es dabei bleiben, dass zufällig und marktabhängig aufgegriffen wird, was die verschiedensten und unterschiedlichsten Wissenschaften an Resultaten anbieten. Nur wenn die Pädagogik pädagogisch rezipiert, das heißt: wenn sie selbstreferenziell auf das reagiert, was in ihrer akademischen und ihrer allgemeinen Umgebung sich ereignet, kann sie dazulernen und sich die Erkenntnisgewinne anderer Disziplinen zu eigen machen. Zusammengefasst ergibt sich daraus folgendes Ergebnis. Die philosophische Dimension der Pädagogik besteht weder darin, das ethische Vorwort zum sauren Geschäft des Erziehens und seiner empirischen Erforschung zu liefern, 105
noch darin, den bedürftigen Pädagogen eine Vorstellung vom Reichtum der ‚geistigen Welt‘ zu verschaffen. Ihre Bedeutung betrifft vielmehr erstens die Selbstorganisation und Identifizierung des pädagogischen Wissens und des darauf gegründeten Könnens. Insofern macht sie empirische Forschung in ihren verschiedenen Varianten überhaupt erst möglich und verortet diese im System der Pädagogik. Zweitens ermöglicht die philosophische Dimension der Pädagogik die Einarbeitung und den Anschluss an anderes Wissen, sei es empirisch gewonnen, sei es als Reflexionswissen. Damit ist sie erste Voraussetzung für die Möglichkeit einer Orientierung für die Erfahrung der Erziehung. Literaturverzeichnis DAVIDSON, DONALD (2004): Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. Frankfurt/Main: Suhrkamp FLITNER, WILHELM (1970): Allgemeine Pädagogik. 13. Aufl. Stuttgart: Klett HERBART, JOHANN F. (1989a): Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung. In: HERBART, JOHANN F.: Sämtliche Werke, Teil 1, hrsg. v. Karl Kehrbach u. Otto Flügel. Aalen: Scientia S.259-274 HERBART, JOHANN F. (1989b): Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. In: HERBART, JOHANN F.: Sämtliche Werke, Teil 2, hrsg. v. Karl Kehrbach u. Otto Flügel, Aalen: Scientia, S.1-139 KANT, IMMANUEL (1781): Kritik der reinen Vernunft. Riga: Hartknoch KANT, IMMANUEL (1787): Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. Riga: Hartknoch KOCH, LUTZ (2002): Pädagogik als angewandte Philosophie. In: BÖHM, WINFRIED (Hrsg.): Pädagogik – wozu und für wen? Stuttgart: Klett-Cotta, S.138-156 PIEPER, ANNEMARIE (1998): Philosophische Disziplinen. Leipzig: Reclam (Reclam-Bibliothek; 1643) PRANGE, KLAUS (2000): Die Erfahrung der Erziehung. In: DERS.: Plädoyer für Erziehung. Baltmannsweiler: Schneider, S.29-77 PRANGE, KLAUS (2004): Form. In: BENNER, DIETRICH/OELKERS, JÜRGEN (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim [u.a.]: Beltz, S.393-408 REICHENBACH, ROLAND (2007): Philosophie der Bildung und Erziehung. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer
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Von der Unentbehrlichkeit zur Entbehrlichkeit ,allgemeiner Wissenschaft‘ im Falle von Erziehung und Bildung Dietrich Hoffmann
I. Im Rahmen der von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen veranstalteten ‚Steinhorster Gespräche‘ ist im Herbst 1997 die ,gegenwärtige Struktur der Erziehungswissenschaft‘ analysiert worden (HOFFMANN/ NEUMANN 1998a). In der Einleitung zu dem Dokumentationsband ist davon die Rede, dass dabei „die Entstehung und Entwicklung der Teildisziplinen … und ihr Verhältnis zur Allgemeinen Pädagogik sowie die Beziehungen der Subdisziplinen untereinander und – gegebenenfalls – [die; D.H.] zu den Nachbarwissenschaften“ reflektiert werden sollten (HOFFMANN/NEUMANN 1998b, S.8). In den Beiträgen wurde deutlich, dass der Erziehungswissenschaft im Ganzen die ‚integrierende Idee‘ fehlte, ‚inzwischen‘ muss man im Hinblick darauf sagen, dass jahrzehntelang die Geltung eines ,pädagogischen Grundgedankengangs‘ beschworen worden war. Freilich geschah dies überwiegend in der ‚Epoche‘ der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, d.h. zur Zeit paradigmatischer Eindimensionalität (vgl. u.a. FLITNER 1957, S.9), die von einer ‚pädagogischen Idee‘ getragen wurde, von der man annahm, dass sie sich in der Geschichte entfalte. Was sich seitdem ereignet hatte, habe ich seinerzeit in meinem einleitenden Beitrag unter dem Titel ‚Wie die Disziplin ihr Wissen strukturiert – und wie sie es strukturieren sollte‘ fast gänzlich im Dunkeln gelassen. Damals ging es mir – im Sinne des Programms des Symposiums – in der Hauptsache um die Beschreibung des Ist-Zustandes, und zwar in seiner Empirie. Dafür genügte der Hinweis auf die Verwendung des Plurals ,Erziehungswissenschaften‘ seit Beginn der 1990er Jahre (vgl. MACKE 1990, ROEDER 19901), verbunden mit dem auf die Existenz verschiedener ,Kommunikationsgemeinschaften‘ (vgl. TENORTH 1990, vgl. insgesamt HOFFMANN 1998, S.15f.). Ich bin dann zwar noch auf die Vorschläge von JÜRGEN OELKERS und HEINZ-ELMAR TENORTH im 27. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik aus dem gleichen Jahr eingegangen, mit denen sie 1 Allerdings schlägt PETER MARTIN ROEDER im Schluss seines Beitrages eine Volte rückwärts zum Singular (ROEDER 1990, S.668f.).
das Problem des ,pädagogischen Wissens‘ eingeführt hatten, da mir die klare Unterscheidung von ,Erklärungswissen‘ und ,Handlungswissen‘ daran unmittelbar anschlussfähig zu sein schien (vgl. DEWE et al. 1992, S.74). Diese Unterscheidung hat zur Konsequenz, dass eine Strukturierung des Wissens nach seiner ‚sozialen Geltung‘ als ‚Professionswissen‘ geeignet ist, zumindest eine relative Übersichtlichkeit zu schaffen.2 Freilich kommt dann alles darauf an, wie man ‚sozial‘ interpretiert. HERMANN GIESECKE hat vor Kurzem eingewendet, dass das erziehungswissenschaftliche Wissen immer mehr, statt in nachvollziehbar systematischer Weise geordnet, in ‚Lagertheorien‘ gegliedert vorgefunden wird. Schon die erwähnte Diagnose, nicht erst ihre Kritik, spricht dafür, dass einer Allgemeinen Pädagogik/Erziehungswissenschaft schrittweise die Grundlagen entzogen werden, wenn man darunter nicht eine vollkommen unabhängige, weder auf genau angegebene Gegenstände, Methoden und Aufgaben noch auf konkret bezeichnete Verwendungen gerichtete (Teil-)Disziplin, also etwas gänzlich Neues, verstehen will. Da dies nicht der Fall zu sein schien, bin ich darauf nicht weiter eingegangen.3 Dieses hole ich im Folgenden nach. In der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft haben die Herausgeber des ersten Bandes, DIETER LENZEN und KLAUS MOLLENHAUER, augenscheinlich die nämlichen Schwierigkeiten gehabt, wenn auch aus einem anderen Grunde. Anfang der 1980er Jahre beruhigte sich der Streit um das ‚richtige‘ Paradigma der Erziehungswissenschaft zwar bereits, aber eine Gliederung nach Handlungsfeldern stand damals noch nicht zur Debatte. Da innerhalb des geplanten Abschnitts ‚Konzepte und Positionen der Erziehungswissenschaft‘ eine allgemeine Erziehungswissenschaft oder Pädagogik nicht behandelt werden konnte, wird diese (nur) im ersten Beitrag des Teils ‚Die historische Dimension von Erziehung und Bildung‘ erwähnt: Hier beschäftigt sich ULRICH HERRMANN mit der ‚Erziehung und Bildung in der Tradition Geisteswissenschaftlicher Pädagogik‘. Diese Traditionslinie galt den Beteiligten als die Vorgängerin aller
2 Ich übergehe, dass dies nicht zugleich bedeuten kann, dass in Studiengängen zu verfolgende ‚Studieninteressen‘ ausschlaggebend sein durften. Wo dies eintrat, obschon die Logik der Forschung und die Logik der Lehre nichts miteinander zu tun haben, sind ‚pädagogische‘ bzw. ,erziehungswissenschaftliche Wechselbälger‘ entstanden, „in denen Unvereinbares verbunden und Zusammenhängendes getrennt wurde“ (HOFFMANN 1998, S.26). Dieser Sachverhalt gibt einen Grund dafür ab, dass ich bisher uneingeschränkt für den Erhalt ‚allgemeiner Wissenschaft‘ eingetreten bin. Es müsste meiner Ansicht nach möglich sein, ‚abweichende‘ Meinungen auf eine ‚herrschende‘ zu beziehen, um zumindest Widersprüche zu erkennen und aufzulösen. Die Frage ist aber, ob sich die Bedingungen nicht derart geändert haben, dass eine solche Erwartung illusionär geworden ist. 3 Auf dem Symposium und in dem entsprechenden Buch hat sich REINHARD UHLE mit dem Problem beschäftigt (UHLE 1998). Ich komme weiter unten darauf zurück.
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anderen Paradigmen, die unter geschichtlicher Perspektive gerechterweise erwähnt werden musste4. Bei HERRMANN heißt es: „Gegenstand der Systematischen Pädagogik (gewöhnlich Theoretische oder Allgemeine Pädagogik genannt) ist die Bestimmung der Voraussetzungen von Erziehungs- und Bildungsvorgängen, von Lehr-, Lernund Sozialisationsprozessen, zum einen ausgehend von der Erziehungs- und Bildungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Menschen … Zum anderen wird der zu Erziehende als zu vergesellschaftendes Subjekt betrachtet … Gegenstand … ist die Entwicklung einer umfassenden Theorie der Genese der Person als sittliches und des Individuums als vergesellschaftetes Subjekt und die dialektische Vermittlung beider …“ (HERRMANN 1995, S.29f., ähnlich TENORTH 1984, S.50; Hervorhebungen im Original). Nimmt man den Katalog der in der Definition genannten Aufgaben ernst, die ich nur verkürzt zitieren konnte, bleibt kein Zweifel möglich, dass die Allgemeine Pädagogik/Erziehungswissenschaft unabhängig von dem ,konventionellen‘ Rahmen5 sowohl quantitativ als auch qualitativ an Forschung und Lehre ebensolche Anforderungen stellt wie andere Subdiziplinen auch. Da jene die betreffenden Fragen nicht beantworten und die damit entdeckten Probleme nicht lösen können, ist evident, dass sie der Sache nach unentbehrlich ist, es sei denn, man kümmert sich nicht um die Grundlagen des Handelns und Denkens – und belässt es bei der Wahrnehmung der empirischen Elemente und Einzelheiten der ,Erziehungswirklichkeit‘ bzw. der pädagogischen Realität. Wenn man die Veröffentlichungen betrachtet, die unter den vielen Allgemeinen Pädagogiken seit ihrem ersten Erscheinen ,bedeutungsvoll‘ überdauert haben – und nimmt man die hinzu, deren Verschwinden von den einschlägigen Listen nicht der eigenen Schwäche, sondern der Stärke der jeweiligen Moden zu verdanken ist, entsprechen diese Schriften nicht nur der damit verbundenen theoretischen oder praktischen Intention, sondern erfüllen zugleich eine metatheoretische Funktion. 4 „Die Renaissance des Historischen verläuft nach einer Abklärung der Konzepte erziehungswissenschaftlicher Geschichtsschreibung“ (LENZEN/MOLLENHAUER 1995b, S.18). Dieser Hinweis kann so missverstanden werden, als sei die Historiographie eine isolierbare Intention der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, und nicht ihr wesentliches Motiv (DILTHEY o.J., S.15), nämlich die notwendige ‚Auffassung der historischen Schule‘. Das Missverständnis wird möglicherweise dadurch befördert, dass die Geisteswissenschaftliche Pädagogik im zweiten Abschnitt des Bandes von HANS THIERSCH noch einmal gesondert dargestellt wird. Auch ULRICH HERRMANN ist der Meinung, dass das betreffende Konzept bis heute nicht zurückgenommen wurde, zumal es einen ‚Reflexionshorizont‘ besitzt, „innerhalb dessen unterschiedliche Theoriekonzepte samt ihren methodologischen und praxisbezogenen Implikationen in ihrer Komplementarität erkennbar und kritisierbar werden“ (HERRMANN 1995, S.29). 5 Im Sinne der ,Vereinbarungen‘ paradigmatischer Art, von denen THOMAS S. KUHN spricht (KUHN 1976, S.186, 199), in allen möglichen Paradigmen (vgl. LENZEN/MOLLENHAUER 1995a Abschnitte B und C).
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JOHANN FRIEDRICH HERBART wollte mit seiner ‚Allgemeinen Pädagogik‘ von 1806, noch mehr aber wohl mit dem ,Umriss pädagogischer Vorlesungen‘ von 1841 eine Neubestimmung der Pädagogik und deren Absicherung durch die Erhebung zur Wissenschaft erreichen (MICHAEL 1987, S.64, bes. S.68). WILHELM DILTHEY beabsichtigte mit seiner Abhandlung ‚Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft‘ aus dem Jahre 1888, HERBARTs – aus seiner Sicht gescheiterten – Versuch durch einen im Sinne der ‚historischen Schule‘ zu ersetzen, da die Pädagogik „eine Wissenschaft im modernen Verstande noch gar nicht sei“ (DILTHEY o.J., S.16). Und WILHELM FLITNER legte 1950 eine „systematische Behandlung der pädagogischen Fragen“ vor, da „die Pädagogik“ nach seiner Auffassung „ihre selbständige Stellung unter den praktischen Geisteswissenschaften eingenommen“ und „ihren philosophischen Charakter wiedergefunden hat“, so dass sie „das Material der positiven Forschung in die philosophische Reflexion hineinnehmen und damit zugleich der erzieherischen Praxis dienen“ kann (FLITNER 1957, S.10, 15). Seine Allgemeine Pädagogik (weitere vgl. UHLE 1998, S.111) sollte die Teildisziplin wieder zur herrschenden erziehungswissenschaftlichen Richtung nach dem Stand von 1933 machen, der zur damaligen Zeit allerdings nur in Ostdeutschland wirklich gefährdet war. II. Schon ein Jahrzehnt später war die Lage eine völlig andere. Diese Tatsache ist auf drei Ebenen zu rekonstruieren: Erziehung und Bildung wurden nicht mehr nur als ,Erziehungswirklichkeit‘ in der Perspektive der Geisteswissenschaften, sondern auch aus dem Blickwinkel der Natur- und der Sozialwissenschaften wahrgenommen, außer Hermeneutik sind methodologisch Empirik und Kritik als Analyseinstrumente eingeführt worden (vgl. ROTH 1962). Vor allem aber wurde aus der singularen bzw. ‚monogenen‘ Pädagogik die plurale bzw. ,multiple‘ Erziehungswissenschaft, innerhalb derer die neuen Richtungen bzw. Paradigmen in alter Manier um die Vorherrschaft stritten (vgl. z.B. BREZINKA 1971, HOFFMANN 1980, auch noch KÖNIG/ZEDLER 1998). Niemand konnte damals mit gutem Gewissen eine Allgemeine Pädagogik verfassen, aber alle Positionen entfalteten metatheoretisch die Grundbegriffe und Theorien ihrer Konzepte bzw. solcher, denen sie zuneigten. Als Beispiele nenne ich nur WOLFGANG BREZINKAs ,Metatheorie der Erziehung‘ von 1978 (vgl. BREZINKA 1978), eigentlich die vierte Auflage der erwähnten Veröffentlichung von 1971, aber bereits mit der deutlichen Tendenz zur ,Praktischen Pädagogik‘ von 1986, die am ehesten als Allgemeine Pädagogik nach dem Gusto des Autors gelesen werden 110
kann, meine eigene ,Kritische Erziehungswissenschaft‘ (vgl. HOFFMANN 1978) und ECKARD KÖNIGs ,Erziehungswissenschaft als praktische Disziplin‘, vor allem im dritten Band seiner ,Theorie der Erziehungswissenschaft‘ (vgl. KÖNIG 1978). In den genannten Büchern6 werden im Wesentlichen die Punkte behandelt, die HERRMANN in seiner Definition des Gegenstandes der Allgemeinen Pädagogik aufzählt, genauer: jene, die nach der Eigenart des betreffenden Konzepts darin vorkommen können: BREZINKA lehnt den wissenschaftlichen Diskurs über Normen und Regeln ab, den KÖNIG ausführlich begründet – und ich selbst habe die bloße ,Rekonstruktion‘ der Gesellschaft durch die Sozialisation, die HERRMANN für notwendig hält7, als ,ideologisch‘ kritisiert8. Aus Göttinger Sicht ist erwähnenswert, dass HANS THIERSCH in einem Buch einer von MOLLENHAUER herausgegebenen Reihe im Jahre 1978 ,Die hermeneutisch-pragmatische Tradition der Erziehungswissenschaft‘, die er einst zusammen mit anderen 1968 zu Grabe getragen hatte (vgl. DAHMER/KLAFKI 1968), augenscheinlich WILHEIM FLITNER zuliebe zur ,Klammer‘ der Entwicklung von 1800 bis ,nach 1950‘ erklärt, wobei er diese Perspektive noch bis hin zur ,realistischen Wende‘ HEINRICH ROTHs weitet (vgl. THIERSCH 1978). Für mich ist dieses ein befremdlicher Vorgang, auf den ich mit meiner Einführung geantwortet habe (vgl. HOFFMANN 1980). Es liegt auf der Hand, dass die perspektivischen Darstellungen keine verbindende oder gar vereinheitlichende Wirkung haben konnten. Sie waren sozusagen ‚besondere‘ Pädagogiken – mit der Folge der Unübersichtlichkeit sowohl 6 Ich habe die vorliegende Auswahl getroffen, da die genannten Autoren sowohl Überblicke über alle zur damaligen Zeit erwähnenswerten ‚wissenschaftstheoretische Richtungen‘ vorgelegt haben (s.o.), als auch zu der von ihnen bevorzugten bzw. selbst vertretenen. Bei KÖNIG ist dieses Verhältnis besonders auffällig, da er die Richtungen im ersten Band bespricht, den zweiten den ‚Normen und ihrer Rechtfertigung‘ widmet und erst im dritten auf sein eigenes, an die ‚Erlanger Schule‘ der Philosophie anknüpfendes Konzept eingeht. Auch BREZINKA ist später noch einmal konkreter geworden – in Richtung auf eine ‚praktische‘ Allgemeine Pädagogik (BREZINKA 1986). Einer der Wenigen, die vergleichbare Texte der DDR-Pädagogik in ähnliche Überlegungen einbezogen haben, ist ROLF HUSCHKE-RHEIN (vgl. HUSCHKE-RHEIN 1984, S.37f.). Es versteht sich von selbst, dass die ‚Schulpädagogik‘ im anderen deutschen Staat, auf der der Schwerpunkt lag, einer ‚ideologischen‘ Absicherung z.B. durch Pädagogen der UdSSR (vgl. KOROLJOW/GMURMAN [1967] 1973), aber auch durch die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR bedurfte (vgl. NEUNER 1973 bzw. 1989). Der zur Verfügung stehende Raum gestattet es mir nicht, darauf genauer einzugehen. 7 Aus den oben zitierten Arbeitsrichtungen ergibt sich für ULRICH HERRMANN als Aufgabe der Allgemeinen Pädagogik „die systematische Rekonstruktion und Verknüpfung aller wesentlichen Faktoren, Strukturen, Instanzen und Institutionen – seien es kulturelle Normen, wissenschaftliche Theorien, Personen(gruppen), schulische und außerschulische Einrichtungen –, die … pädagogisch intendiert, relevant oder bedingt sind“ (HERRMANN 1995, S.30, vgl. HOFFMANN 1998, S.23; Hervorhebungen im Original). 8 Ein Beispiel für den direkten Anspruch des Besonderen aufs Allgemeine sind KLAUS MOLLENHAUERs ,Theorien zum Erziehungsprozeß‘ von 1972, erschienen als Band 1 der Reihe ,Grundfragen der Erziehungswissenschaft‘.
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für die Erkenntnis- als auch für die Handlungsinteressen.9 Für diejenigen, die daran festhielten, dass die Pädagogik/Erziehungswissenschaft nicht nur die Theorie einer Praxis ist, sondern dass sie „als Theorie der Erziehung auch Besinnung auf die Gestaltung einer Praxis“ einschließt (ROTH 1962, S.484), war das nicht hinnehmbar. ROTH schlug deshalb vor, um dem in den Gegensätzen der Paradigmen begründeten Streit entgehen zu können, die Pädagogik/Erziehungswissenschaft als ‚Integrationswissenschaft‘ zu begreifen. Die Aufgabe der Pädagogik ist komplex; die historisch begründete Differenzierung der Einzelwissenschaften im Allgemeinen und die der Erziehungswissenschaft(en) im Besonderen stimmt mit keinem ihrer Probleme derart überein, dass durch sie geeignete Lösungen gleichsam linear abgeleitet werden können: „Pädagogik kann diese ihre Aufgabe nur in Kooperation einerseits mit den Wissenschaften vom Menschen, andererseits mit den Sachwissenschaften lösen“ (ebd.). Da diese insbesondere als Natur- und Sozialwissenschaften die Wirklichkeit aber jeweils unter ihren eigenen Erkenntnisinteressen analysieren, interpretieren und gegebenenfalls kritisieren, muss die Pädagogik die notwendige Integration der unterschiedlichen Perspektiven unter einer ,pädagogischen Fragestellung‘ vornehmen. Sie untersucht – exemplarisch gesprochen – „nicht primär die Natur des Menschen, wie sie ist, was Biologie und Psychologie tun, sondern sie fragt nach der Veränderlichkeit dieser Natur, nach der Kultivierbarkeit und Bildsamkeit des Menschen …“ (ebd., S.482)10; sie berücksichtigt die ,Entwicklungstatsache‘. Im Vorwort zum ersten Band seiner ‚Pädagogischen Anthropologie‘, der 1966 erschien, weist ROTH darauf hin, dass er diese „als eigenständigen pädagogischen Integrationsversuch der Wissenschaften vom Menschen unter der pädagogischen Fragestellung“ betrachtet (ROTH 1966, S.12). Eine so verstandene pädagogische Anthropologie dachte er als einen Zusammenhang, der zwar der Allgemeinen Pädagogik zugehöre, aber prinzipiell ausgliederungsfähig sei (vgl. ebd., S.11). Nach seiner Auffassung konnte eine Allgemeine Pädagogik nach Lage der Dinge in den 1960er Jahren nur noch so konzipiert sein. Die Tatsache, dass er für dieses Konzept einen ersten Band von etwa 500 und – fünf Jahre später, 1971 – einen zweiten mit 650 Seiten benötigte, zeigt allerdings, dass auch seine von ihm selber 1961 in seiner Antrittsvorlesung geforderte Vorgehensweise nicht zur Übersichtlichkeit der Pädagogik/Erziehungswissen9 S.o. auch ‚Erklärungs-‘ und ‚Handlungswissen‘. 10 Hinweise auf die Eigenart der ,pädagogischen Fragestellung‘, die wissenschaftstheoretisch betrachtet an die Stelle des ,pädagogischen Grundgedankengangs‘ tritt, der z.B. für WILHELM FLITNER für die (Allgemeine) Pädagogik und ihre Systematik konstitutiv ist, durchziehen die Äußerungen HEINRICH ROTHs bis in das Vorwort des 50. Bandes der Gutachten und Studien der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates zur ,Bildungsforschung‘ (ROTH/FRIEDRICH 1975, S.30), sind aber auch schon in früheren Veröffentlichungen (1958ff.) vorhanden (zur Darstellung der Erziehungswissenschaft als ‚Integrationswissenschaft‘ vgl. HOFFMANN 1980, S.132-142).
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schaft führen konnte (vgl. ROTH 1962).11 Dabei hat er selbst erhebliche Reduktions- und Transformationsleistungen erbracht. Jedoch war der Gegenstand ‚intern‘ nicht zu begrenzen, wie das von einer metatheoretischen Position her zumindest möglich gewesen wäre; ROTH musste alle ‚extern‘ verfügbaren Informationen auf ihre Möglichkeit der Integration hin überprüfen – und gegebenenfalls berücksichtigen. Und dabei hat er schließlich darauf verzichtet, die Thematik – wie er sagt – „mit einer Gesellschaftstheorie zu verbinden“ (ROTH 1976, S.65)12: der geplante dritte Band wurde nicht ausgeführt. Der Versuch ROTHs war konsequent, aber die Entwicklung ging über seine Anthropologie hinweg, gleichgültig, ob dies geschah, weil die Adressaten sie als Allgemeine Pädagogik lasen oder nicht. Ähnliche Bemühungen z.B. von KARL DIENELT und HELMUT DANNER hatten ebenfalls keinen Erfolg (vgl. DIENELT 1970, 1999; DANNER 1985).13 Jemand hätte sich das Konzept zu Eigen machen müssen, und zwar in der skizzierten Funktion. Genau das geschah nicht, da sich in den 1980er Jahren jenes Prinzip ,radikaler Pluralität‘ durchsetzte, das in einer ungefestigten Disziplin wie der Erziehungswissenschaft jeglichen, d.h. auch den vernünftigen Konventionalismus auflöste, ohne den Denk- bzw. Kommunikationsgemeinschaften nicht wirksam werden können (vgl. ROEDER 1990). Die sogenannte Postmoderne hub an. Wenn jede Form eines mehr oder weniger angestrengten Nachdenkens als ‚Schaffung von (relevantem) Wissen‘ gilt und Unübersichtlichkeit zum Wissenschaftsprinzip wird, ist Allgemeine Pädagogik – im geschilderten Sinne – nicht nur entbehrlich, sondern sogar störend (vgl. HOFFMANN/UHLE 1994). Paradox an diesem Vorgang war, dass die (teilweise) Verwissenschaftlichung der Ausbildung für die pädagogischen Berufe und die (oberflächliche) Pädagogisierung verschiedener Lebensbereiche weiterging, zugleich damit aber die Verantwortung der Theorie für die entsprechende Praxis – unter Berufung auf ein vorgeblich zwingendes Prinzip der Zweckfreiheit der
11 Dass es sich um ein umfassendes, bei Gelegenheit ausuferndes Gebiet handelt, ist nicht neu. Schon bei HERBART muss man genaugenommen die ‚Lehrbücher‘ zur Psychologie (zuerst 1816) und der Philosophie (in der dritten verbesserten Auflage 1834) hinzunehmen, bei FLITNER das ‚Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart‘ (1957) und die ‚Europäische Gesittung‘ (1961), wenn man einen vollständigen Eindruck erhalten will (s.o.). Und auch bei DILTHEY sollte man die bei der Neuausgabe der ‚Pädagogischen Schriften‘ rekonstruierte ,Systematische Allgemeine Geisteswissenschaftliche Pädagogik‘ zu Rate ziehen (HERRMANN 1995, S.29), weil die sogenannte Allgemeingültigkeitsabhandlung lediglich einem Ausschnitt gewidmet ist. 12 Dies betrifft den nach HERRMANNs Definition ‚zweiten Teil‘ der Aufgabe: „Zum anderen wird der zu Erziehende als vergesellschaftetes Subjekt betrachtet …“ (HERRMANN 1995, S.30). 13 Auf die Länge der Zeit wurde die Pädagogische Anthropologie durch die Historische Anthropologie ersetzt, auf deren Eigenart ich hier nicht eingehen kann (beispielhaft WULF 1997). Der Vorgang ist aber bezeichnend für die ‚Normalisierung‘ der Erziehungswissenschaft, auf die ich weiter unten kurz zu sprechen komme.
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Wissenschaft – zurückgewiesen wurde (vgl. HOFFMANN 1992).14 Die daraus folgende ‚Entlastung‘ machte es möglich, auf die Verfolgung eines ‚pädagogischen Grundgedankengangs‘ oder einer ,pädagogischen Fragestellung‘ sowie auf die Verwicklung in das aufs Handeln gerichtete Denken von Hilfs- oder Nachbarwissenschaften zu verzichten. III. Vor knapp 20 Jahren veröffentlichten LUDGER HELM, HEINZ-ELMAR TENORTH, KLAUS-PETER HORN und EDWIN KEINER unter dem Titel ‚Autonomie und Heteronomie. Erziehungswissenschaft im historischen Prozeß‘ eine Untersuchung, deren Ergebnis für die Geltung des bzw. eines Allgemeinen in der Pädagogik/Erziehungswissenschaft aufschlussreich war – und nach der Lage der Dinge wohl auch heute noch sein müsste: „Die wissenschaftliche Pädagogik ist … in vielen Dimensionen nicht nur eine besondere, sondern auch noch eine fremdbestimmte Disziplin, sowohl in der Rekrutierung wie in der Ausbildung von anderen Fächern abhängig“ (HELM et al. 1990, S.45). Die Selbstrekrutierungsquote des Faches lag damals (und ab 1962) bei 11,4 Prozent, wird ein ‚hartes‘ Kriterium angelegt, und bei immer noch mageren 60,5 Prozent, wird ein ‚weiches‘ Analysekriterium angelegt (ebd., S.44f.). GERD MACKE hat zur gleichen Zeit untersucht, wie es sich mit dem ‚Gesamtgewicht‘ der Allgemeinen Pädagogik zu dem aller spezialisierten Teildisziplinen verhielt. Er fasst die Ergebnisse über vier Zeiträume von 1945 bis 1985 so zusammen: „Die Allgemeine Erziehungswissenschaft ist zwar über den gesamten Untersuchungszeitraum stärkste Teildisziplin, ihr Gewicht im Spektrum der Gesamtdisziplin ist jedoch kontinuierlich zurückgegangen, von einem Anteil von fast zwei Drittel auf
14 Das geschah, obschon die Wissenschaftlichkeit u.a. der (naturwissenschaftlichen) Medizin (Heilen), der geisteswissenschaftlichen Jurisprudenz (Rechten), der sozialwissenschaftlichen Politologie (Beraten) von niemandem in Zweifel gezogen wird, von den diversen Technikwissenschaften ganz abgesehen, die ihre Existenz überhaupt nur einem praktischen Interesse verdanken. EDWIN KEINER hat in seiner Untersuchung der Kommunikation innerhalb der Disziplin darauf hingewiesen, dass die Behandlung der Praxis durch Praktiker schon in den Jahren um 1960 auffällig nachlässt (KEINER 1999, S.161), da offenbar an ihrer Beteiligung kein Interesse mehr besteht. Entscheidend ist, dass trotz gegenteiliger Beteuerungen augenscheinlich zunächst niemand den entsprechenden Part übernimmt; erst „in der Phase personeller Expansion ist es insbesondere der publizierende akademische Mittelbau, der diesen Rahmen besetzt und sichert“ (ebd., S.259). Sein Fazit insgesamt: „Die Erziehungswissenschaft … entledigt sich der pädagogischen Profession und übt zugleich Distanz zu den Nachbarwissenschaften, um in dieser Differenz ihr disziplinäres … Profil ausbilden zu können“ (ebd.). Wie sollte sie auf diese Weise zu einer ‚integrativen Handlungswissenschaft‘ o.ä. werden?
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zuletzt weniger als ein Drittel15; d.h. die Allgemeine Erziehungswissenschaft hat im Verlauf der Entwicklung über die Hälfte ihres ursprünglichen Gewichts eingebüßt“ (MACKE 1990, S.63). Die Gewichte von ‚Allgemeinem‘ und ‚Spezialisiertem‘ sind vertauscht. PETER M. ROEDER vermutet unter Hinweis auf die Angaben von HELM et al., dass „in dem ungewöhnlich hohen Anteil von aus anderen Disziplinen rekrutiertem wissenschaftlichen Nachwuchs16… eine Schwächung der Identifikation mit der Erziehungswissenschaft als ganzer“ folgen könne, zumal die „unterschiedliche methodologische Orientierung von Erziehungswissenschaftlern … so weit fortgeschritten ist, daß man von Verständnisbarrieren sprechen muß“ (ROEDER 1990, S.658). REINHARD UHLE hat aus diesen und wohl auch aus anderen Gründen TENORTHs den historischen Wandel berücksichtigende Bemerkung aufgegriffen, die in Rede stehende ,Betriebseinheit‘ sei die der ,Spezialisten für das Allgemeine‘ (UHLE 1998, S.105, vgl. TENORTH 1984, S.62). UHLE geht sogar noch einen Schritt weiter: Er spricht von der Allgemeinem Pädagogik als von einem ,Restgebiet‘. Aus der Existenz der approbierten Spezialdisziplinen sei demnach zu folgern, dass die Allgemeine Pädagogik vieles gar nicht tun dürfe, so z.B. historisch oder vergleichend verfahren (s. Historische und Vergleichende Erziehungswissenschaft). Inzwischen hat sich die Lage – pessimistisch gedeutet – weiter verschärft. Wird die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft angeschaut, so gibt es zwar eine Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft. In dieser aber bestehen vier selbstständige Kommissionen, nämlich Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Pädagogische Anthropologie, Wissenschaftsforschung und Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Die Übereinstimmung mit der zitierten Definition bzw. Differenzierung von HERRMANN ist frappierend. Nach dem Selbstverständnis der für die Strukturierung Verantwortlichen aber wird das Restgebiet von denen gebildet, die nicht zur selbstständigen Sektion taugen oder nirgends sonst zuzuordnen sind. Hier sammelt sich sozusagen der ‚zusammengekehrte Rest‘ – unter der Führung der Philosophie. Ein Rückfall in die Zeit vor 1806?17 15 Exakt waren es 63 : 37% versus 23:73% „mit den größten Anteilen bei der Schulpädagogik (23%), bei den speziellen ‚Pädagogiken (18%), der Sozialpädagogik (über 8%) und der Vergleichenden Erziehungswissenschaft (knapp 8%) (MACKE 1990, S.62). Es versteht sich von selbst, dass daraus nicht geschlossen werden kann, alle zu den 73% Gehörigen seien an den Inhalten einer Allgemeinen Pädagogik als Abbreviatur eines Konzepts uninteressiert. KEINER erwähnt, dass die Schulpädagogik von den Vertretern außerschulischer erziehungswissenschaftlicher Bereiche häufig als ‚geheime Allgemeine Erziehungswissenschaft‘ betrachtet wird (KEINER 1999, S.180). 16 Je nach dem Anspruch liegt deren Anteil zwischen 55,6 und 70,4%. Man stelle sich das bei den oben erwähnten Medizinern und Juristen oder in Bezug auf irgendeine andere Wissenschaft vor. 17 Niemand hätte die Allgemeine Pädagogik früher ‚zerlegt‘. In dem Protokoll der konstituierenden Sitzung der Sektion ist festgehalten: „Alle vier Kommissionen verstanden sich nicht an ein spezielles Handlungsfeld angebunden“ (Erziehungswissenschaft 10 [1999]. H.20, S.71).
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UHLE weist in einer Aufzählung neuerer Veröffentlichungen zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft darauf hin, dass inzwischen die Spezialisten die traditionellen Inhalte selbst behandeln, statt sie sich von den Generalisten vorgeben zu lassen (UHLE 1998, S.110). Aus meiner Sicht wäre dagegen nichts zu sagen, wenn sie sich dabei an Gemeinsames hielten oder Trennendes überwänden. Doch das geschieht nicht: sie fühlen sich im Ernstfall nicht an ein allgemeines Theoriefeld ‚angebunden‘ (s. Anmerkung 17). Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Bei den einschlägigen Veröffentlichungen, denen man nur mit sorgfältiger Rezension gerecht werden könnte, zu der hier der Raum fehlt, handelt es sich meist um Lehrbücher, die auf den Anteil Allgemeiner Pädagogik in den diversen Studiengängen abgestellt sind, der – vorsichtig gesprochen – aus traditionellen Gründen darin festgelegt oder dafür empfohlen worden ist (vgl. bezüglich ihrer Festsetzung u.a. DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT 2001, 2006, 2008): Grundlagen der Erziehungswissenschaft, Bedingungen von Bildung, Ausbildung und Erziehung, Bildungsforschung und Forschungsmethoden etc. Die Antworten, die in den betreffenden Einführungen gegeben werden, sind eher subjektiv als objektiv, eher pragmatisch als systematisch, da die Verfasser bereits zu den Generationen von Erziehungswissenschaftlern gehören, in deren Sozialisation die Allgemeine Pädagogik als disziplinäres Bewusstsein eine immer geringer werdende Rolle gespielt hat. Was auf dieser dürftigen Grundlage zustande kommt18, ist zum ‚Wissenschaftsbekenntnis‘ – in säkularer Analogie zum ‚Glaubensbekenntnis‘ versteht sich – wenig geeignet. Es kommt hinzu, dass einige dieser Bücher ihre Existenz offensichtlich einer ökonomischen Hoffnung sowohl der Autoren als auch der Verlage verdanken. Hinter ihnen steht wohl die Idee, man könne mit den auf die betreffenden Studienstandards – oder Standard-Studien, wie man will – abgestellten Texten jenes Geld verdienen, das die zwangsläufig immer kleineren Auflagen der Studientexte für die spezialisierten Studiengänge, die überall angezettelt werden, um die ,Profile‘ der Fakultäten bzw. Hochschulen ,zu schärfen‘, nicht einbringen können. Ich habe an anderer Stelle meine Bedenken gegen die Hoffnung einer Verbesserung des erziehungswissenschaftlichen Studiums durch ein Kerncurriculum vorgetragen (vgl. HOFFMANN 2005)19. Auch die Forderung nach einem Fortbestand der Allgemeinen Pädagogik hat nur dann einen Sinn, wenn es 18 Vieles erinnert an den Vorwurf THEODOR W. ADORNOs, die Pädagogen ergingen sich „mit Tiefsinn aus zweiter Hand über das Sein des Menschen“, den ROTH polemisch zitiert hat, um die Gegenposition deutlich zu machen (ROTH 1962, S.483). 19 Vgl. insbesondere den Abschnitt ,Von der „paradigmatischen Mehrdeutigkeit zur individualistischen Vieldeutigkeit‘“ in HOFFMANN 2005, S.174ff.
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einerseits Personen gibt, die sich angemessen und umfassend „mit wissenschaftstheoretischen und methodologischen Grundlagen der Erziehungswissenschaft, mit Fragen20 von Anthropologie, Sozialisation und Erziehung und mit den institutionellen Bedingungen und Voraussetzungen von Bildung und Erziehung“ sowie den Aspekten21 „der Problemgeschichte und des internationalen Vergleichs von Bildung und Erziehung“ auseinandersetzen können (KRÜGER 1996, S.310). Diese notwendige muss um eine hinreichende Bedingung ergänzt werden. Die so zu führende Auseinandersetzung muss, darüber hinaus, für die Adressaten – im handlungswissenschaftlichen Dreisprung von ErmittlungVermittlung-Verwendung – des entsprechenden Wissens bedeutsam sein. Wer aber solche Arbeit auf sich nimmt, der wird angesichts der einseitigen empirischen Forschungsorientierung von den Spezialisten nicht selten der Oberflächlichkeit verdächtigt. UHLE hat deshalb eine völlig neue Orientierung vorgeschlagen, und zwar im Anschluss an WOLFGANG WELSCH und wohl in Anlehnung an das überkommene akademische Prinzip des Zweifels. Er empfiehlt eine Ausrichtung am ,Widerstreit‘: Die Aufgabe, so schreibt er, „besteht … darin, Identifikationssysteme oder Konzepte zu analysieren – aber auch zu entwickeln –, die Theoriestringenz zeigen … Dies verlangt zugleich, innerhalb gewählter Konzepte Annahmen über Erziehung und Bildung zu entwickeln und konsequent zu Ende zu denken“ (UHLE 1998, S.114). Da es sich dabei genau genommen um das handelt, was HERBART, DILTHEY, FLITNER, ROTH – und viele Unbekannte davor, dazwischen und danach – getan haben, die damit der alten Funktion der Allgemeinen Pädagogik Rechnung trugen, halte ich den Vorschlag – mit Verlaub – für nicht ,neu‘ genug, um das bestehende Problem zu lösen. Diese Strategie hätte man wohl beibehalten, wenn sie weiterhin nützlich gewesen wäre. Könnte man sie erneuern, hülfe das vielleicht der Disziplin, aber wohl nicht den erwähnten Adressaten. Jedes gute Studium verunsichert seine Studierenden zunächst und demotiviert sie wegen der ständigen Präsenz des Zweifels – und es ist fraglich, ob die Studierenden sich mit der Belastung durch den andauernden Widerstreit abfinden würden. UHLE wendet selbst ein: „Inwieweit dieser Widerstreit aber noch in einem Verständnis von Pädagogik als Wissenschaft für die Profession von Interesse ist, darüber entscheidet die Frage, wie es gelingt, solche Konzepte auch als lebensbedeutsam und hilfreich aufzuzeigen …“ (ebd.). Da aber gerade der Zweifel und der Widerstreit die Modalitäten sind, die in den oben erwähnten Kompendien zu kurz kommen, und zwar wegen der fehlenden ‚umfassenden‘
20 Das ist eine auffällige Einschränkung. 21 Und dieser Begriff bedeutet ebenfalls eine solche.
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Kompetenzen, macht der Vorschlag die Sache nur noch schwieriger.22 Die sachgerechte Erfüllung der Aufgaben im Sinne der Definitionen von HERRMANN und HEINZ-HERMANN KRÜGER macht die Verwendung der genannten Kategorien bzw. Strategien ohnedies notwendig. IV. Ich möchte ebenfalls einen Vorschlag machen, der allerdings ein grundsätzliches Umdenken verlangt. Vertreterinnen und Vertreter der Pädagogik/Erziehungswissenschaft müssen sich eingestehen, dass die weitgehende Veränderung der Disziplin zu einer ‚normalen‘, d.h. auf Forschung gestützten und entsprechend differenzierten und spezialisierten Wissenschaft, in deren Praxis zu einer ‚Entpädagogisierung‘ geführt hat. Wir kritisieren zwar weiterhin und zu Recht die unzureichenden didaktischen und methodischen Zurüstungen anderer Wissenschaften, z.B. bei der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, aber wir verhalten uns bezüglich der eigenen Studieninhalte hochschuldidaktisch und hochschulmethodisch selbst nicht anders. Es gilt – wiederum ,zum Beispiel‘ – immer noch als genügend ,fortschrittlich‘, Studierende der verschiedenen Lehrämter an erziehungswissenschaftlichen Forschungsprojekten zu beteiligen, die weder etwas mit der Schule im Allgemeinen noch etwas mit der Schulform im Besonderen zu tun haben, in der sie später arbeiten wollen. Und man hält es immer noch für zulässig, in Lehrveranstaltungen über eng begrenzte Sachgebiete ‚widersprüchliches‘ Wissen zu präsentieren, ohne es auf die anzunehmenden Verwendungsinteressen hin zu reduzieren und zu transformieren, wie es in Bezug auf den Schulstoff selbstverständlich wäre. Die inzwischen grassierende Überbetonung der – oft belanglosen – empirischen Forschung als Synonym für Wissenschaft, die mit einer Abwertung der Allgemeinen Pädagogik einhergeht, könnte durch eine Aufwertung der nicht weniger legitimen Aufgaben der hermeneutischen bzw. der kritischen Forschung sowie einer der professionell durchdachten Vermittlung ausgeglichen werden. Dieses gilt zumal, als – wie HANNA KIPER unter Berufung auf GIESECKE schreibt –, die Erziehungswissenschaft bei dem „Versuch, eine … Disziplin unter vielen zu werden …, das Verständnis für ihre genuine Aufgabe … verliert“ und „eine Lücke hinterlässt, die von anderen – 22 Auch HEINZ-HERMANN KRÜGERs Anregung, die Allgemeine Pädagogik solle herausgefordert werden, „einen [neuen; D.H.] pädagogischen Grundgedankengang zu formulieren, der für die Konzeptualisierung des pädagogischen Gegenstandfeldes richtungsweisend [sei; D.H.] und der für alle speziellen Subdisziplinen Geltung beanspruchen kann“, ist wenig realistisch (KRÜGER 1996, S.315). Es kann nicht zweckmäßig sein, Probleme, die nicht existieren, ausdrücklich zu schaffen, um eine durch Spezialisierung ja nicht verschwundene, sondern vielmehr in ihr aufgehobene Teildisziplin zu retten.
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in unzureichender, problematischer Weise und ungeprüft – geschlossen wird“ (KIPER 2009, S.217). GIESECKE hat deshalb den ‚Zwischenhandel‘ als Aufgabe der Erziehungswissenschaft propagiert, und zwar der Sache nach seit 1969 in seiner ‚Einführung in die Pädagogik‘.23 Wörtlich heißt es da allerdings noch: „,Spezialisierung‘ … kann es sinnvollerweise nur als eine solche der einzelnen Wissenschaftler geben, die sich in bestimmte Probleme einarbeiten, da sie heute nicht mehr alles in gleichem Maße verstehen können. Erziehungswissenschaft aber kann es trotzdem heute nur als ‚allgemeine Pädagogik‘ geben, auf die hin die ,Spezialisten‘ … ihre Forschungen und Interpretationen formulieren“ (GIESECKE 1972, S.206).24 Er hat den Gedanken danach weiter verfolgt (GIESECKE 1979, 2000, S.222ff., 2005, S.104) und in der Frage konkretisiert25: „Was muss einer können und gelernt haben, wenn er eine Tätigkeit in einer pädagogischen Einrichtung beginnt?“ (GIESECKE 2005, S.105). Dazu bedarf es keiner Systematik, sondern nur einer Pragmatik, nämlich jener der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede der Handlungsfelder, „etwa: Schule, Lehrer, Schüler, Unterricht, pädagogischer Bezug, Erziehung, Bildung, Sozialisation (und deren Scheitern). Diese Gegenstände waren vor allem von den ihnen immanenten Problemen und Widersprüchen aufzuklären. So verstandene Theorien würden den wissenschaftlichen Forschungsstand gleichsam ‚filtern‘ unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen strukturellen und insoweit eigenständigen Fragestellungen“ (ebd., S.104).26 Dieses Programm geht allerdings über einen bloßen ‚Zwischenhandel‘ hinaus. Es zielt auf eine Verständigung der Praxis über die Theorie ebenso wie der Theorie über die Praxis. Wenn diese als wissenschaftliche Leistung anerkannt würde, müsste man sie auch benennen. ‚Allgemeine Pädagogik‘ bezeichnete bis in die 1960er Jahre die Kriterien und Kategorien, die die Pädagogik zur Wissenschaft bzw. zur paradigmatischen Spielart einer solchen qualifizieren sollten. Derartiger ‚Vorgaben‘ bedarf die Erziehungswissenschaft nicht mehr, sodass die Allgemeine Pädagogik eine neue Funktion übernehmen kann. Vakant 23 Ich gestehe, dass mir diese Forderung lange Zeit suspekt zu sein schien, da ich ein Anhänger der konsequenten Verwissenschaftlichung der Pädagogik war. Erst die Folgen dieser Entwicklung und die schlüssige Zusammenfassung der Argumentation des Autors durch HANNA KIPER haben mich überzeugt. 24 Vergleiche mit Stellen, an denen der Autor auch die Nachbar- und Hilfswissenschaften einbezieht, zeigen, dass seine Position (synthetisch) bis auf die bei ihm nicht so benannte ,pädagogische Fragestellung‘ mit der ROTHs (integrativ) identisch ist, zumal er dessen Ziel einer ,Handlungsorientierung‘ teilt. Das Zitat findet sich auch bei KRÜGER 1996, S.303. 25 Der Kontext, in dem es geschieht, macht mehrere möglich; mir erscheint der zitierte Ansatz als günstigster. 26 Um nicht einen weiteren Diskurs zu entfachen, übergehe ich, dass HERMANN GIESECKE die Erziehungswissenschaft für diese Pädagogik (s.o.) ausdrücklich – und aus meiner Sicht folgerichtig – als ,Hilfswissenschaft wie andere Humanwissenschaften auch‘ bezeichnet.
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sind die sachgerechte Integration und Mediation und die fachgerechte Reduktion und Transformation. Wenn dergleichen bei anderen Disziplinen, die weniger ‚widersprüchlich‘ und nicht ausdrücklich handlungsorientiert sind, entbehrlich ist, mag man sie glücklich schätzen. Pädagogisch betrachtet aber ist es notwendig, mit Hilfe erziehungswissenschaftlicher Vergewisserung – notfalls ‚nachträglich‘ – zu prüfen, was mit dem Anspruch auf Richtigkeit oder gar Wahrheit an Meinungen und Überzeugungen veröffentlicht und verwendet wird. Mit einem naiven Zwischenhandel, bei dem alles verkauft und verwertet wird, was auf den ‚Markt‘ kommt, ist weder der Wissenschaft noch der Gesellschaft gedient. Literaturverzeichnis BERG, CHRISTA/HERRLITZ, HANS-GEORG/HORN, KLAUS-PETER (2004): Kleine Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Eine Fachgesellschaft zwischen Wissenschaft und Politik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften BREZINKA, WOLFGANG (1971): Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Weinheim [u.a.]: Beltz BREZINKA, WOLFGANG (1978): Metatheorie der Erziehung. München: Ernst Reinhardt Verlag BREZINKA, WOLFGANG (1986): Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft. Beiträge zur Praktischen Pädagogik. München [u.a.]: Reinhardt DAHMER, ILSE/KLAFKI, WOLFGANG (Hrsg.) (1968): Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger. Weinheim [u.a.]: Beltz DANNER, HELMUT (1985): Verantwortung und Pädagogik. Anthropologische und ethische Untersuchungen zu einer sinnorientierten Pädagogik. 2. Aufl. Königstein/Ts.: Forum Academicum DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (2001): Empfehlungen für ein Kerncurriculum Erziehungswissenschaft. In: Erziehungswissenschaft 12(23): S.20-31 DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (2006): Personelle Mindestausstattung im Fach Erziehungswissenschaft. In: Erziehungswissenschaft 17(32): S.8-17 DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT (2008): Kerncurriculum Erziehungswissenschaft. Empfehlungen der DGfE. Opladen [u.a.]: Budrich. (Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der DGfE. Sonderband; 19) DEWE, BERND/FERCHHOFF, WILFRIED/RADTKE, FRANK-OLAF (1992): Das ,Professionswissen‘. In: DIES. (HRSG.): Erziehen als Profession. Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Feldern. Opladen: Leske + Budrich, S.70-91 DIENELT, KARL (1970): Pädagogische Anthropologie. Wien [u.a.]: Österreichischer Bundesverlag DIENELT, KARL (1999): Pädagogische Anthropologie. Eine Wissenschaftstheorie. Köln [u.a.]: Böhlau DILTHEY, WILHELM (o.J.): Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft. Berlin [u.a.]: Beltz. (Kleine pädagogische Texte; 3) FLITNER, WILHELM (1957): Allgemeine Pädagogik. 4. Aufl. Stuttgart: Klett GIESECKE, HERMANN (1972): Einführung in die Pädagogik. 4. Aufl. Weinheim [u.a.]: Juventa GIESECKE, HERMANN (1979): Lob des Zwischenhandels – Überlegungen zum Verhältnis von Erziehungswissenschaft und pädagogischer Praxis. In: Neue Sammlung 19(5), S.489-501 GIESECKE, HERMANN (2000): Mein Leben ist lernen. Weinheim: Juventa GIESECKE, HERMANN (2005): Lob des Zwischenhandels 2. In: HOFFMANN, DIETRICH/GAUS, DETLEF/UHLE, REINHARD (Hrsg.) (2005): Pädagogische Theorien und pädagogische Praxis.
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Ungeliebtes Kind? Zur Rolle der Empirischen Pädagogik als Pädagogik Matthias von Saldern
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Einleitung
INGRID GOGLIN und HANS MERKENS beobachteten im Vorwort zur ‚Kleine[n] Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft‘ das „beständige Ringen des Faches um den eigenen Ort und um Anerkennung im Konzert der wissenschaftlichen Disziplinen, die wiederkehrende Auseinandersetzung über das eigene Selbstverständnis“ (BERG 2004, S.7). Dies scheint nicht nur für die Erziehungswissenschaft als Ganze, sondern insbesondere auch für die Empirische Pädagogik innerhalb der Erziehungswissenschaft gültig zu sein. Die Empirische Pädagogik führt ein Nischendasein. Geht man von der Rezeption der Vorläufer der Empirischen Pädagogik aus, dann zeigt sich dies bereits deutlich: „Welch geringe Bedeutung diese Pädagogik für die einschlägige Historiographie und die disziplinierte Selbstdarstellung bis heute anscheinend hat, lässt sich aber nicht nur an iterierenden Formen der Reduktion ihrer Sozialgestalt, sondern auch daran sehen, dass sie gelegentlich in historischen Darstellungen samt ihrer Bezugsphilosophie ganz ignoriert wird ..., oder – sogar in systematischen Vergewisserungen ‚kritisch-rationaler Erziehungswissenschaft‘ – als Tradition gar nicht mehr vorkommt ... bzw. randständig plaziert wird“ (TENORTH 1989b, S.320). HORST WEISHAUPT vermutet eine Ursache: „Schon in der Zeit nach der Jahrhundertwende hatte sich die geisteswissenschaftliche Richtung bei der Besetzung der pädagogischen Lehrstühle an den Universitäten gegen die erfahrungswissenschaftliche durchgesetzt. … Dies mag die Ursache dafür sein, daß in den Darstellungen zur Geschichte der Pädagogik die erfahrungswissenschaftliche Tradition meist völlig unzureichend behandelt wird“ (WEISHAUPT 1992, S.60). Gemessen an der Zahl ihrer Vertreter scheint die Empirische Pädagogik ein eher randständiges Gebiet: „Ein Spezifikum der deutschsprachigen Pädagogik besteht darin, dass die Empiriker gegenüber den nichtempirisch arbeitenden Pädagogen deutlich in der Minderheit sind“ (DINTER 2001, S.117). Noch schärfer: „Zu fragen wäre also, ob die empirische Forschung überhaupt nennenswert an Raum innerhalb der Disziplin gewonnen hat“ (ROTHLAND, 2008).
Es fällt allerdings auch auf, dass die geisteswissenschaftliche Pädagogik stellenweise ebenso zu kämpfen hatte. So heißt es bereits in einem Gutachten der Deutschen Gesellschaft für Philosophie im Jahre 1953: Pädagogen brauchen kein Promotionsrecht, sie könnten in Philosophie oder Psychologie promovieren (SCHEUERL 1994, S.107). Auch später noch lehnte sich die Pädagogik an andere Wissenschaften an: „Wenden wir uns nach dieser Vorbesinnung dem Wissenschaftsgespräch der Pädagogik zu, so scheinen die Vertreter der pädagogischen Lehrstühle an den Universitäten die Zuordnung der Pädagogik zu ‚Philosophie und Nachbarwissenschaften‘ im wesentlichen zu bejahen“, so HANS SCHEUERL weiter. Im Weiteren beruft sich WILHELM RÖßLER auf WILHELM FLITNER, der den Wesenskern der Pädagogik in der philosophischen Anthropologie sehen würde (RÖßLER 1961, S.346). Gerade heute scheint auch die geisteswissenschaftliche Pädagogik, insofern sie sich eher philosophisch versteht, vor ganz anderen Herausforderungen zu stehen: „Dass der längst an den Rand der Stellenund Strukturpläne gedrängten philosophisch inspirierten Allgemeinen Pädagogik eine das Fach prägende Wirkung unterstellt wird, hat mehr Kampf- als Erkenntniswert“ (GRUSCHKA 2004, S.12). Vor dem Hintergrund der vermuteten prekären Lage dieser beiden Richtungen der Erziehungswissenschaft stellt sich die Frage, warum das Verhältnis gerade dieser beiden Ausprägungen von stellenweise beherzter Abneigung gekennzeichnet ist. Im Folgenden soll am Beispiel einiger Themen beziehungsweise Diskurse gezeigt werden, wie die Empirische Pädagogik verortet wird. Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Die Abgrenzung der Empirischen Pädagogik von den anderen Pädagogiken ist inhaltlich wie wissenschaftssystematisch nicht zu rechtfertigen. 2
Die Sprachlosigkeit der Empirischen Erziehungswissenschaft
Eine faire Behandlung der Empirischen Pädagogik durch die anderen Pädagogiken setzt voraus, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Empirischen Pädagogik sich an diesem Diskurs aktiv beteiligen. Sie ist – und das muss man ihr selbst vorhalten – allerdings in mancherlei Hinsicht sprachlos geworden oder vielleicht immer schon gewesen. Debatten über Voraussetzungen und Methoden dieser erziehungswissenschaftlichen Richtung werden häufig von anderen geführt. Wenn man sich z.B. die Autorinnen und Autoren vergegenwärtigt, die etwas zur Metatheorie der Empirischen Erziehungswissenschaft publizieren, dann fällt auf, dass sich kaum ein Empiriker der eigenen Geschichte und den wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen seiner Arbeit zuwendet. Dies hängt naturgemäß mit dem eigenen Forschungsinteresse zusammen, das sich eher der 124
Objektebene zuwendet. Das führt aber dazu, dass Empiriker die Beschreibung ihres Arbeitsfeldes nicht mitgestalten, sondern Anderen überlassen, die ihre Arbeitsweise häufig kaum kennen. Die Beobachtung der Beobachtung, wie man sie mit NIKLAS LUHMANN nennen kann, muss auch durch Empiriker erfolgen. Und dies ist auch notwendig, wenn man REINHARD UHLE folgen will: „Unabhängig allerdings von der Frage, ob Pädagogik als in Innovation oder Rekonstruktion engagiert anzusehen ist, verlangen die Bedingungen der Wünschbarkeit und der Erfüllbarkeit im Versprechen zweierlei: 1. Programmdiskussionen innerhalb von wissenschaftstheoretischen Richtungen der Pädagogik sind nicht als Streit um ‚Slogans‘ oder als Chaos von ‚Wenden‘ aufzufassen, sondern als notwendige Erörterungen der Wünschbarkeit von Zukünftigem. Als Fragen nach dem wünschbaren Sinn des Versprochenen sind sie unverzichtbar. 2. Der Rückgriff auf Traditionen und Wissensbestände von Programmen und Methoden ist nicht das Gegenteil von auf Zukunft gerichteten Tätigkeiten, sondern ein notwendiger Rekurs, um die Chance zu erhalten, das versprochene Futurische auch erfüllen zu können.“ (UHLE 1991, S.149)
MARC DEPAEPE geht davon aus, dass empirisch arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht über sich selbst schreiben sollten, weil sie von ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit so sehr überzeugt seien, dass eine objektive Darstellung nicht möglich sei (vgl. DEPAEPE 1993). Die Frage, wer auf dem Richterstuhl für eine objektive Beschreibung sitzen darf, scheint hier für andere Richtungen der Pädagogik unwesentlich zu sein (vgl. TENORTH 1990). DEPAEPE formuliert mit seiner Haltung das alte Problem der Subjekt-Objekt-Trennung. Und dieses Problem gilt für alle Wissenschaftsbereiche, wenn sie über sich selbst schreiben müssen. Denn Beschreibung und Diskussion über unterschiedliche erziehungswissenschaftliche Paradigmen sind bisher teilweise dadurch gekennzeichnet, dass die Paradigmen gar nicht von Vertretern oder Vertreterinnen ihrer Zunft beschrieben werden. Ein Beispiel ist der Band 9 der ‚Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft‘. In diesem Sammelband werden unter anderem das empirische, das hermeneutische und das kritische Paradigma beschrieben. Während die letzten beiden Paradigmen von Vertretern ihrer Zunft bearbeitet werden, wird das empirische Paradigma von einem Historiker und einem Philosophen diskutiert: „Es würde kaum jemandem, der von der medizinischen Wissenschaft keine Ahnung hat, in den Sinn kommen, an einem Kongreß für Krebsforschung teilzunehmen und dort mitsprechen zu wollen. Auf pädagogischem Gebiet scheint dies, ähnlich wie in philosophischen Fragen, nicht so selbstverständlich zu sein. Vielmehr glaubt hier eigentlich jeder, mitreden zu dürfen und zu können, so daß auf Grund dieser Tatsache die Reaktion der exakten Wissenschaften nicht sonderlich überrascht“ (MÄRZ 1965). Vielleicht war es 125
über Jahre hinweg gesehen ein Fehler, dass empirisch arbeitende Erziehungswissenschaftler und Erziehungswissenschaftlerinnen sich in diesem Diskurs nicht beheimatet fühlten. Sie müssen sich aber vermehrt in die Selbstbeschreibung der eigenen Wissenschaft einbringen. Sonst kommt es zu Fremdbeurteilungen über Sachverhalte, wie z.B. zur Geschichte der Empirischen Pädagogik, die Empiriker ganz anders deuten würden. So wird z.B. WOLFGANG BREZINKA häufig der Empirischen Erziehungswissenschaft zugeordnet, obwohl er selbst keine einzige empirische Arbeit vorgelegt hat. Diese Zuordnung erfolgt nicht durch empirisch arbeitende Pädagogen, sondern meist eben von Vertretern der sog. Allgemeinen Pädagogik, die sich eine solche Kategorisierung erlauben. BREZINKA würde heute nicht einmal Mitglied der Arbeitsgemeinschaft empirische pädagogische Forschung (AEPF der DGfE) werden können. Etwas genauer arbeitet UHLE. Er schreibt: „Obschon es bereits im 18. Jahrhundert Ansätze zu einem empirischen Erziehungswissenschaftsverständnis gibt, erhält dieser Ansatz erst in diesem Jahrhundert als experimentelle Pädagogik (MEUMANN, LAY), Tatsachenforschung (PETERSEN), realistische Pädagogik (ROTH), empirisch-analytische Pädagogik (BREZINKA) besonderes Interesse“ (UHLE 2000, S.805). Immerhin unterscheidet UHLE hier zwischen dem Beitrag von HEINRICH ROTH und dem Beitrag von BREZINKA. Noch genauer wäre es, wenn man BREZINKA auf die Metaebene hieven könnte, denn die anderen genannten Personen oder Richtungen haben tatsächlich empirisch geforscht, während BREZINKA eher als Metatheoretiker einzuordnen ist.1 Man kann des Weiteren feststellen, dass die Empirische Erziehungswissenschaft von Vertretern der historischen Pädagogik anders behandelt wird als von den Vertretern anderer Teilpädagogiken. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel von HEINZ-ELMAR TENORTH, der die unterschiedlichen Schulen und Richtungen der Erziehungswissenschaften darstellt (vgl. TENORTH 1997). Dabei werden in der Darstellung der hermeneutischen Pädagogik und aller weiteren Richtungen namhafte Personen benannt, die jeder Richtung jeweils zuzuordnen sind. Die empirische Erziehungswissenschaft hingegen scheint nicht durch bekannte Personen repräsentiert zu sein. Ein Blick in die Mitgliederliste der AEPF hätte hier weitergeholfen.2 Diese ungenauen Fremdbeschreibungen führen auch dazu, dass man die Empirische Erziehungswissenschaft gerne in die Nähe der Psychologe rückt. Historisch kann man tatsächlich nachweisen, dass die psychologische Pädagogik 1 Im Übrigen könnte man ihn auch einer philosophischen Pädagogik oder der normativen Pädagogik zuordnen. Gerade zum letzten Bereich hat er viel publiziert. 2 HEINZ-ELMAR TENORTH stellt sich andernorts allerdings gerade gegen die etwas plumpe Darstellung der Geschichte der Empirischen Pädagogik (vgl. TENORTH 1989b).
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des Jahres 1880 später zur pädagogischen Psychologie geworden ist: „Mit ‚experimenteller Pädagogik‘ meine ich den Versuch der Aufnahme naturwissenschaftlich akzentuierter Kinder- und Jugendpsychologie in die Wissenschaft von der Erziehung, nicht als Hilfswissenschaft, sondern als deren Kernbestand“ (UHLE 1991, S.143). Mit der Zuweisung der Empirischen Erziehungswissenschaft zur Psychologie wird allerdings übersehen, dass gerade in der Methodenentwicklung die Soziologie viel häufiger Referenz für die Erziehungswissenschaft war. Dies gilt insbesondere für statistische Verfahren, die Kontexteffekte berücksichtigen. 3
Zur Definition Empirischer Erziehungswissenschaft
Ein Teil dieser Darstellungs- und Wahrnehmungsprobleme ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass immer noch unklar ist, was Empirische Pädagogik genau ist. Zuvorderst wäre zu klären, ob man in diesem Kontext den Begriff Pädagogik oder den Begriff Erziehungswissenschaft verwendet. Wenn man Pädagogik definiert als die Selbstreflexion des Praktikers über seine eigene Tätigkeit und Erziehungswissenschaft als (sozial-)wissenschaftliche Reflexion über das Erziehungsfeld, dann wird man nicht umhin kommen, zukünftig von Empirischer Erziehungswissenschaft, aber auch z.B. von Geisteswissenschaftlicher Erziehungswissenschaft zu schreiben. Darin sehen Vertreter der Allgemeinen Pädagogik aber durchaus Probleme: „Die Verstümmelung der Pädagogik, die darin besteht, daß Erziehungswissenschaft unter die Methoden der Sozialwissenschaft subsumiert wird“ (CLAUSSEN 1975, S.712). Hier wäre freilich zu fragen, was der Autor unter Sozialwissenschaft versteht und welche Methoden er ihr zuschreibt. Außerdem stellt sich immer noch die Frage, was eigentlich unter dem Begriff empirisch zu verstehen ist. Man kann dazu den definitorischen Rahmen sehr eng ziehen, z.B. auf der Basis des Kritischen Rationalismus, wie es WOLFGANG LEMPERT bereits 1967 getan hat: „‚Empirische Forschung‘ steht hier für alle Operationen, durch die Protokollsätze, die raumzeitliche Vorkommnisse beschreiben, gewonnen und ausgewertet werden“ (LEMPERT 1967, S.238). Diese Haltung ist nicht unumstritten, weil LEMPERT die Empirische Pädagogik mit dem Kritischen Rationalismus gleichsetzt: „Es ist hier nicht das Anliegen zu zeigen, dass die einfache Formel „empirische Erziehungswissenschaft = kritisch-rationale Erziehungswissenschaft“ eher ein (Selbst)-Missverständnis markiert als die wissenschaftstheoretische Orientierung der Empirischen Pädagogik kennzeichnet, weil sich kritisch-rationale Methodologie in der aktuellen Forschungspraxis kaum wiederfindet“ (DINTER 2001, S.114). Auf ähnliche Probleme stößt man allerdings auch, wenn man eine Metatheorie der Allgemeinen Pädagogik 127
skizzieren möchte: Sie definiert sich selbst als historisch, als philosophisch, als hermeneutisch, weniger als empirisch. Gerade wegen dieser erwünschten Allumfassendheit ist es aus heutiger Sicht unverständlich, warum die Empirische Pädagogik nicht integraler Bestandteil der Allgemeinen Pädagogik ist. Zur weiteren Eingrenzung der Zuschreibung ‚empirisch‘ kann man auch die Empfehlungen der AEPF, also der zuständigen Kommission der DGfE, aus dem Jahre 1975 heranziehen (vgl. ARBEITSGEMEINSCHAFT EMPIRISCHE PÄDAGOGISCHE FORSCHUNG 1976). Unter der Überschrift ‚Empirisch-methodische Ausbildung‘ wurden allerdings ausschließlich Inhalte empfohlen, die einer sog. quantitativen Methodenausbildung sehr nahe kommen. Qualitative Verfahren, die einen Bezug zur Realität suchen, sucht man vergebens. Wenn man so vorgeht, wird man schnell auf Fragen stoßen, die einer Beantwortung bedürfen: In diesem Sinne wäre z.B. Handlungsforschung oder Aktionsforschung nichtempirisch, obwohl dort auch mit empirisch erhobenen Daten gearbeitet wird, die dann allerdings auch in Aktionen einmünden. Die Grenze zwischen empirischen und nicht-empirischen Vorgehensweisen ist bisher noch nicht klar gezogen. 4
Unterschied zwischen empirischen und hermeneutischen Verfahren
Ein weiterer Indikator für die Notwendigkeit, zu Selbstbeschreibungen der Empirischen Pädagogik durch Empiriker beizutragen, ist die ständig wiederkehrende Behauptung, dass es einen Unterschied zwischen empirischen und hermeneutischen Verfahren gäbe. Auch hier scheint Abgrenzung oberste Motivation zu sein. Dieses Motiv äußert sich meistens in Diskussionen um die Frage, wie man qualitative von quantitativen Forschungsmethoden trennen könne. Bis heute werden in der Erziehungswissenschaft zumeist eher methodische oder theoretische Kategorien herangezogen, um die pädagogische Diskussion zu systematisieren: „In den letzten Jahren hat es sich in Texten zu Einführungen in die Pädagogik eingebürgert, von wissenschaftstheoretischen und methodologischen Differenzen her die Vielfalt von pädagogischen Reflexionen zu systematisieren, nicht von anthropologischen, ideengeschichtlichen oder anderen Gesichtspunkten ... Verstehende oder hermeneutische Pädagogik in verschiedenen Variationen geisteswissenschaftlicher, phänomenologischer, dialektischer, interpretativer etc. Orientierung wird in ihrer Frontstellung zu anderen Zugriffsweisen auf Erziehungswirklichkeit und ihren jeweiligen Besonderungen dargestellt“(UHLE 1989b, S.179).3 3 REINHARD UHLE selbst bleibt sich allerdings treu: Seine ‚Pädagogik des Verstehens‘ versteht er gerade nicht als erziehungswissenschaftliche Richtung, sondern als Begründungsform der Pädagogik (vgl. UHLE 1989a, S.7).
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Diese ganze Diskussion ist deshalb erstaunlich, weil es nämlich ein prominenter Vertreter der Allgemeinen Pädagogik war, der recht früh darauf hingewiesen hat, dass auch die Empirische Pädagogik nicht ohne hermeneutische Verfahren auskommt: „Ich bin auf diese verschiedenen sprachlichen Funktionen nur aus dem einem Grunde näher eingegangen, um zu zeigen, in welchem Ausmaß der empirische Forscher auf sprachliche und damit auf hermeneutische Leistungen angewiesen ist, wenn er Beobachtungen machen will, die seine theoretischen Konzepte bestätigen sollen. Die Präzision seiner Beobachtungen, Messungen, Experimente steht und fällt mit der Präzision seiner sprachlichen Instrumente. … Damit ist, ob die Empiriker das wahrhaben wollen oder nicht, die Hermeneutik selbst als empirische Methode beansprucht. Sie wird zu einem zentralen Problem des empirischen Erkenntnisinteresses. Und an der Frage, ob das hermeneutische Verfahren den strengen Forderungen des empiristischen Sinnkriteriums zu entsprechen vermag, wird es sich letztlich entscheiden, ob die Sozialwissenschaften und damit auch die Erziehungswissenschaft überhaupt als empirische Disziplinen im strengen Sinne möglich sind“ (LOCH 1967, S.462). Diese weitreichende Analyse scheint ebenso völlig in Vergessenheit geraten zu sein wie die folgende ausgleichende Feststellung von UHLE: „Interpretation, Deutung oder Verstehen von Unterrichtsdokumenten gelten auch für zunächst empirisch-analytisch orientierte Unterrichtswissenschaftler als legitime Verfahren in solchen Studien“ (UHLE 1983, S.173). Wer empirische Forschungsprozesse verantwortlich geleitet hat, kann also mit einer heute derartig polarisierenden künstlichen Dichotomie nicht umgehen, weil in der Forschungspraxis beide Verfahren untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. SALDERN 1995). Der Kampf um dieses Anerkenntnis scheint allerdings bereits verloren: Zahlreiche Hand- und auch Lehrbücher grenzen sich durch den Begriff ‚qualitativ‘ im Titel klar ab. ‚Qualitativ‘ bedeutet aber nicht automatisch ‚nicht-empirisch‘ (siehe oben). Forscherinnen und Forscher, die sich dem sog. qualitativen Ansatz zuordnen, findet man allerdings nicht oder nur selten in der Mitgliederliste der AEPF. Die Abgrenzung läuft also trotz aller gegenteiligen Analysen munter weiter: „Die sog. ‚empirische Pädagogik‘ hat in der Vergangenheit fast alles getan, sich selbst zu desavouieren. Hier wurde und wird auf dem Hintergrund einer zum Teil erstaunlichen theoretischen Enthaltsamkeit in weiten Bereichen in ungebrochener Naivität mit Ratingskalen, Mittelwerten, Signifikanzen und – gemessen an der Komplexität anstehender Probleme – mit grobgeschneiderten Designs gearbeitet. Eine Koordination der Forschung findet faktisch nicht statt, Replikationsuntersuchungen sind meist nicht möglich, eine das Experiment vorbereitende phänomenologische Problemanalyse findet sich nur in Ausnahmefällen“ (WALTER 1979, S.308). 129
Aber die Wende scheint ja in Sicht: „Auch hier sind es die kommunikationsorientierten Sozialforscher, die das Zurückdrängen der klassisch-quantitativen Verfahren durch qualitative, im weiteren Sinne hermeneutisch-interpretative Verfahren begünstigen“ (HAFT/KORDES 1995, S.16f.). Und das sieht dann wie folgt aus: „Aber auch jene Minderheit von etwa 20 Prozent der ErziehungswissenschaftlerInnen, die sich einem quantitativ orientierten empirisch-analytischen Forschungsansatz verbunden fühlen, räumen konzeptionelle und methodische Schwächen der bislang durchgeführten Untersuchungen ein. Sie seien zumeist durch Theoriearmut gekennzeichnet und in ihren Fragestellungen zu sehr auf die Schule fixiert“ (KRÜGER 2000, S.330). Hier sei nur angemerkt, dass die Vertreter des sich selbst so bezeichnenden qualitativen Ansatzes bis heute keine Antwort auf die Probleme der Repräsentativität ihrer Untersuchungen gefunden haben. Auch ist die Fixierung auf Schule doch kein Methodenproblem. Und ausgerechnet dem quantitativen Ansatz Theoriearmut vorzuwerfen ist fast schon komisch, denn zum qualitativen Ansatz gehört auch die Grounded Theory, die von einer völligen Theorielosigkeit am Anfang des Forschungsprozesses ausgeht. Gegenüber der angedeuteten Auffassung, dass die nicht-empirische Pädagogik hinsichtlich ihrer Theoriebildung gehaltvoller sei, muss man skeptisch gegenüberstehen: „Die wissenschaftsgeschichtliche Verspätung, mit der die Pädagogik sich zu einer modernen Sozialwissenschaft zu entwickeln begann, erzeugte bei ihren Vertretern auch den Eindruck, dass nicht nur im Bereich empirischen Wissens, sondern auch im Bereich theoretischer Konstrukte vieles nachzuholen sei. Andere Wissenschaften – so schien es – waren immer schon einen oder mehrere Schritte weiter. Die letzten 20 Jahre unserer Diskussionen lesen sich in Teilen deshalb wie eine Kette immer neuer Rezeptionen, allzu häufig mit Hoffnung verbunden, nun erst werde die Pädagogik kritisch werden“ (MOLLENHAUER 1982, S.253f.). Diese ganze Entwicklung hat zwar nicht unbedingt zu einer Ordnung innerhalb der Pädagogik geführt, allerdings hat sie dazu beigetragen, die methodische Vielfalt innerhalb der Pädagogik zu erhöhen: Nach DIETRICH BENNER hat sich nämlich gezeigt, dass nicht das eine Paradigma das andere abgelöst hat, sondern, dass Forschungsmethoden konstitutiv für den Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sind. Die Integrationsbemühung zwischen empirisch-analytischer und historisch-hermeneutischer Forschung hätten zwar zu Logiken sozialwissenschaftlicher Forschung, aber nicht zu einer systematischen Pädagogik geführt4 4 „Zum ersteren treten nicht nur dem Studierenden ein verwirrendes Knäuel von einander durchdringenden Teilgebieten, von einander nicht ergänzenden und sich widersprechenden Ansätzen, Begriffen, Inhalten gegenüber, das sie meist selbst lösen müssen bei sehr unklaren Angaben über Umfang, Inhalt und Niveau der Anforderungen. Auch der Erziehungswissenschaftler kann Unbehagen empfinden, wenn es gilt, bei Prüfungen und Berufungen, bei der internen Organisations-
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(BENNER 1989, S.365). BENNER hat also schon früher die positive Entwicklung in der Methodendiskussion gesehen. So betrachtet ist der Rückzug auf ein qualitatives oder quantitatives Paradigma ein Rückfall. Warum dann noch diese fortgesetzte Stereotypisierung? Vielleicht kommt die deutsche Erziehungswissenschaft mit ihrer Vielfalt nicht zurecht. UHLE schreibt allein schon über seine Teildisziplin: „Zunächst kann Rezeptionsforschung darauf aufmerksam machen, dass spätestens seit Mitte des vorigen Jh. kein geisteswissenschaftlicher Forscher über sein näheres Gebiet den Markt lesend verfolgen kann“ (UHLE 1994, S.95). Diese Aussage kann man getrost auf jede Forscherin oder Forscher in den Erziehungswissenschaften generell erweitern. So bleibt die Haltung unversöhnlich und die Formulierung scharf: „Das imperialistische Paradigma führt zu einer Dominanz naturwissenschaftlicher, quantitativer Sichtweisen. Ich halte es für einen Irrtum anzunehmen, dass eine solche Sichtweise in der pädagogischen Praxis überwunden ist“ (MAROTZKI 1991, S.121). Und weiter: „In diesem Einführungsbuch in die Erziehungswissenschaft wird der Unterschied zwischen qualitativen und quantitativen Methoden auf schärfste Weise herausgearbeitet“ (MAROTZKI/ORTLEPP/NOHL 2006, S.173f.). Man glaubt immer noch, die eigene Position zu erhöhen, indem man eine andere abwertet. PETER MARTIN ROEDER stellte bereits vor einiger Zeit fest: „Eine weitere Trennungslinie ist durch die unterschiedliche methodologische Orientierung von Erziehungswissenschaftlern gesetzt. Hier ist die Spezialisierung teilweise so weit fortgeschritten, daß man von Verständnisbarrieren sprechen muß“ (ROEDER 1990, S.658). Und er scheint damit heute noch richtig zu liegen. Man kann es auch als eine Form der Ausgrenzung betrachten. Dies hemmt Kommunikation. Sinnvoll wäre es, unvoreingenommen zu agieren. So tun es z.B. DETLEF GAUS und UHLE, die auf Probleme der geisteswissenschaftlichen Pädagogik hinweisen und festhalten: „Daran anknüpfend wird die Prognosefähigkeit, die tatsächlich ein wesentlicher Vorteil empirischer Verfahren gegenüber verstehenden Verfahren ist, in den Mittelpunkt gerückt ...“ (GAUS/UHLE 2006, S.8). Diskussionsgegenstand, so ist den beiden zuzustimmen, sollten also die Gütekriterien von Forschung sein, nicht die Zuordnung ihrer Methoden in ein künstlich dichotomisierendes Kontinuum qualitativ-quantitativ. Nur so wird es gelingen können, Stereotypen abzubauen: „Weder ist der empirisch-analytische Forscher ein unbedarfter Positivist, der sich in schlichter Gewißheit seines Lebens und der Tatsachen erfreut und zugleich in lebengefährlicher Blindheit nicht sieht, was sich außerhalb seines umzäunten Wissenschaftsbetriebs abspielt – noch ist der Geisteswissenschaftler der traditionellen Hermeneutik ein und Ressourcenverteilung, beim Einordnen von Forschungsergebnissen und schließlich in Einführungsveranstaltungen systematische Kriterien anzuwenden“ (PASCHEN 1981, S.21).
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wohlmeinender Alles-Versteher mit leicht musealen Zügen, dem man nur vertrauen kann, wenn es darum geht, den ordentlichen Park der Geschichte unter freundlicher Führung zu durchwandeln. Und derjenige, der Kritik mit Emanzipation und Interesse verbindet, ist nicht schon dadurch vor den empirischen und hermeneutischen Positivisten ausgezeichnet, daß er ein Vokabular liefert, dessen Modernität wie selbstverständlich die Suggestion des Fortschrittlichen erzeugt“ (SCHÜTZ 1981, S.107f.). 5
Empirische Erziehungswissenschaft als Disziplin
Wenn man die unterschiedlichen Fremdbeschreibungen und Selbstbeschreibungen heranzieht, kann man vermuten, dass die Empirische Erziehungswissenschaft eine eigenständige Disziplin innerhalb der Erziehungswissenschaft ist. Man könnte nun weiter fragen, ob und ggfs. wie andere Nachbardisziplinen ihre empirisch arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einordnen bzw. kategorisieren.Beim näheren Hinsehen fällt auf, dass es so etwas wie empirische Psychologie oder empirische Soziologie als ausgewiesene Teildisziplin nicht gibt. Auffällig ist, dass diese beiden Nachbarwissenschaften andere Grenzziehungen für ihr eigenes Tun innerhalb der eigenen Disziplin gefunden haben, die nicht auf der Ebene empirisch vs. nicht-empirisch zu finden sind. Allerdings haben die Psychologie wie auch die Soziologie erhebliche Veränderungen hinter sich. Die Entwicklung der Psychologie von einem eher metaphysischspekulativen System im Sinne von JOHANN FRIEDRICH HERBART hin zu einer ‚wissenschaftlichen‘ Psychologie ist insbesondere mit dem Namen WILHELM WUNDTs verbunden; seine Ansätze und deren Wirkungen sind in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu datieren. Dessen Neuorientierung drückte sich z.B. in seiner Begeisterung für das Experiment und insbesondere für die Statistik aus. „Das Bedauerlichste für die tatsächliche Geschichte der Psychologie: Alle diese vom jungen Wundt für wichtig erachteten Aspekte psychologischer Forschung sind entwickelt und ausgearbeitet worden, nur zum großen Teil außerhalb der Psychologie und, nicht selten, in Absetzung von und Ablehnung der Psychologie. Die nachfolgende Verselbständigung des Evolutionskonzepts hat zu einer Ethologie geführt, die sich ironischerweise auch Verhaltensforschung nennt. Die nachfolgende Vernachlässigung der historischen Dimension ist nach wie vor unbewältigt; nach dem Scheitern der ‚Verstehenden Psychologie‘ sind gegenwärtig historische Psychologie, kritische Psychologie, psycho-history entsprechende Versuche, z.T. wieder mit der Gefahr der Sezession. Die naturgeschichtlich arbeitende ‚Völkerpsychologie‘ hat eher auf Ethnologie, Kultur132
anthropologie, Ethnographie gewirkt als auf die Psychologie, incl. Sozialpsychologie. Die nachfolgende Vernachlässigung statistischer Erhebungstechniken zu demographischen Zwecken bzw. zur Bestimmung des „sozialen Zustandes“ eines Volkes hat der sich ja erst später entwickelnden Soziologie ein Hauptinstrument und einen zentralen und stattlichen Forschungsbereich eingebracht“ (GRAUMANN 1980, S.75f.). Aber auch gerade in der Soziologie wurde heftig über diese Fragen diskutiert, allerdings in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: „Die Sozialforschung soll im wesentlichen empirische Forschung des sozialen Lebens sein, mit den folgenden drei Aufgaben: Erstens: die Erforschung der Ordnungsprobleme für das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft, zweitens: die Analyse der Störungsfaktoren und ihrer Ursachen, vor allem in den kleinsten Einheiten: der Familie, der Gemeinde und den Betrieben. Drittens: die Erkenntnis von Mitteln und Wegen für Empfehlungen zur Beseitigung sozialer Störungen. Um das zu realisieren, muß die Sozialforschung vor allem drei Bedingungen erfüllen: 1. Sie muß den Mut zum Experiment haben und den empirischen Methoden den Vorzug geben ... [Diese Forderungen erweckten aber auch Ängste, sodass es zu; MvS] „Warnungen vor einer Hypotrophie der empirischen Forschung“ kam (NEULOH et al. 1983, S.73). Vielleicht sind ja Psychologie und Soziologie so weit von der Pädagogik entfernt, dass man hier die Empirie systematisch abgrenzen darf. Daher zurück zur Frage: Liegt denn nun im Falle der Empirischen Erziehungswissenschaft eine Disziplin vor oder nicht? Zur Beantwortung dieser Frage muss man auf Kriterien zurückgreifen, die sich bei LUDGER HELM bereits andeuten: „Konzeptionell und historiographisch wird der Disziplinbegriff also dadurch eingeführt, daß sich thematisch verselbständigtes und abgrenzbares Wissen seit dem späten Mittelalter auch sozial emanzipiert, und zwar tendenziell irreversibel, ohne die Rückkehr in den Schoß von Theologie oder Philosophie. ... Die Konstitution einer Disziplin ist vielmehr ein Prozeß sowohl der Ausdifferenzierung, gegenüber dem Alltagswissen, wie der Binnendifferenzierung, gegenüber bereits disziplinförmigem Wissen“ (HELM et al. 1990, S.30f.). Die damit notwendigen Beschreibungen der eigenen Disziplin wurden in der Soziologie bereits mehrfach angewendet: „Soziologische Theorie interpretiert die Binnendifferenzierung sozialer Kommunikationsnetze in thematisch spezifiziertere Untereinheiten unter dem Gesichtspunkt der damit erreichbaren Steigerung von Problembearbeitungskomplexitat. Wissenschaftssoziologische Analysen haben diese allgemeine Theoriefigur auf die Prozesse der Aus- und Binnendifferenzierung einzelwissenschaftlicher Arbeitsfelder oder Disziplinen übertragen, und zwar auf der Ebene der Modellbildung wie auf der Ebene empirischer Untersuchungen“ (SCHRIEWER, 1991, S.121). 133
Rein institutionell betrachtet kam es in der Erziehungswissenschaft nach deren sog. ‚Realistischer Wende‘ zügig zu weitreichenden Entwicklungen: „Die Aufnahme des ‚Arbeitskreises für empirische pädagogische Forschung‘ in die DGfE geht auf einen Vorstandsbeschluss vom 8./9.11.1968 zurück, in dem die Bereitschaft erklärt wurde, den Arbeitskreis ‚dem Status einer Kommission der Deutschen Gesellschaft gleichzusetzen‘ und die Aufnahme nicht daran zu binden, daß alle Mitglieder des Arbeitskreises auch Mitglieder der Deutschen Gesellschaft werden ... In der Reihenfolge der Kommissionsgründungen liegt die AEPF damit auf Platz 3“ (BERG 2004, S.41). Später gab es aber im Vorstand der DGfE kaum Empiriker (vgl. SALDERN 2010). Die Frage ist, ob derartige Konstitutionsprozesse einen Abschluss finden, besonders vor dem Hintergrund, dass neue Begriffe Konjunktur haben wie z.B. Bildungsforschung. Mit KLAUS-PETER HORN muss man skeptisch sein: „Eine allgemein anerkannte allgemeine oder systematische Pädagogik gibt es aber nicht, die Pluralität der Entwürfe ist vielmehr der Ausgangspunkt der Diskussion über die Möglichkeit und Notwendigkeit einer systematischen Pädagogik“ (HORN/WIGGER 1994, S.25). In der Inhomogenität liegen aber auch Gefahren: „Die Verwissenschaftlichung der Pädagogik in ausdifferenzierten Teildisziplinen scheint ihr Allgemeines pädagogisch uninteressant, und das pädagogisch Interessante nicht pädagogisch allgemein gemacht zu haben“ (PASCHEN 1998). Diesem Problem wird man sich verstärkt zuwenden müssen – gleichgültig, welcher Teildisziplin man sich zurechnet oder zugerechnet wird. Auf der Basis dieser Analyse könnte man von der These ausgehen, dass derartige Prozesse letztlich fließend sind und immer wieder Dynamiken der Aushandlung zu ihrer notwendigen Folge haben: „In ihrer Wirklichkeit ist jede wissenschaftliche Disziplin nämlich nicht die zeitlose Manifestation einer gültigen Idee, sondern das Ergebnis einer gesellschaftlichen Anstrengung; und auch die wissenschaftliche Pädagogik ist letztlich nur Produkt einer historisch gegebenen und sich verändernden erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Kommunikation“ (TENORTH 1990, S.24). Gerade diese pädagogische Kommunikation ist es, die viel Aufwand darauf verwendet, die empirische Erziehungswissenschaft zu kritisieren. Die damit verbundenen Abgrenzungsversuche sind – wie bereits gezeigt – in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen nicht mehr zu finden. Es mag ein Zeichen der Unreife der deutschen Erziehungswissenschaft und damit insbesondere der Allgemeinen Pädagogik sein, die Empirische Erziehungswissenschaft immer noch als solche zu benennen.
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Kritik an der Empirischen Pädagogik
Neben den genannten wissenschaftssystematischen Überlegungen und den eher psychologisch zu interpretierenden Abgrenzungsversuchen gibt es auch substanzielle inhaltliche Kontroversen. Diese Auseinandersetzungen mit der Empirischen Pädagogik haben eine lange Geschichte, die hier nicht vollständig wiedergegeben werden kann. Sie führte letztlich dazu, dass die Empirische Pädagogik nicht systematisch in das System der Pädagogik integriert wurde, sondern bis heute theoretisch und institutionell eher als ausgegrenzt zu bezeichnen ist. Häufig werden dabei Kriterien zur Beurteilung herangezogen, die für andere Wissenschaften in dieser Schärfe nicht Berücksichtigung finden. PETER VOGEL nennt z.B. vier Argumente, die gegen die empirische Erziehungswissenschaft sprechen sollen. Das erste Argument ist, dass mit der Bestimmung des Gegenstandes Erziehungswirklichkeit Vorentscheidungen einhergehen würden. Diese seien wiederum selbst nicht empirisch überprüfbar. Dieser Kritikpunkt geht deshalb ins Leere, weil dies für jede Art von Wissenschaft gilt. Zudem findet man in keinem Lehrbuch die Aussage, dass es in der Empirischen Erziehungswissenschaft keine Voraussetzungen für Forschung gibt. Man findet einen ähnlichen Gedanken bereits bei FLITNER: „Pädagogik wird dann wie Politik eine Wissenschaft der reinen Tatsachenforschung. Wenn das so möglich und sinnvoll wäre! Es ließe sich dann unmittelbar an die Tatsachenforschung anknüpfen, die seit Jahrzehnten in der Psychologie vorhanden ist und vielfach schon pädagogische Tatbestände zum Gegenstand hatte. Gegen die Tendenz ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen eine unkritische Auffassung dieser Tendenz und dessen, was hier eine pädagogische Tatsache ist. Sie wird immer dadurch sichtbar, dass Teile des erzieherisch relevanten Geschehens aus ihren tieferen und weiteren Zusammenhängen isoliert werden. In dieser Abstraktion vollen und wirklichen Geschehens innerhalb des isolierten Raumes werden dann Reaktionen auf erzieherische Einwirkung beobachtet, beschrieben und verständlich gemacht“ (FLITNER 1964, S.138). Diese Kritik ist allerdings schon vor langer Zeit aufgegriffen worden und äußert sich z.B. durch den Nachweis der sog. Ökologischen Validität einer empirischen Untersuchung. In seinem zweiten Argument behauptete VOGEL, dass der Zögling zum Objekt technischer Manipulation würde. Im Kausalschema würden dem Zögling Handlungsmächtigkeit und Intentionalität abgesprochen werden. Dies übersieht, dass das Kausalschema natürlich auch interne Faktoren des Zöglings zum Gegenstand der Analyse machen kann. VOGEL steht mit seiner Haltung nicht allein. Er schließt hier nahtlos an die Kritik an der experimentellen Methode in den Erziehungswissenschaften an: „Im Handlungsvollzug muß der Lehrer auch den Zusammenhang mit einer internen Theorie der Bildung, mit Lernen und 135
Selbstorganisation herstellen. Ich halte es von Seiten der pädagogischen Theoriebildung aus für feige, wenn sie dieses komplizierte Geschäft dem Praktiker allein überläßt. Will sie dabei aber verantwortliche Hilfe leisten, kann sie nicht mit dem Experiment und der Erfahrung beginnen, sondern wie es eh und je die Theoriebildung getan hat: sie muß mit dem Denken anfangen“ (LASSAHN 1981, S.432). Denken ohne Fakten? Sein drittes Argument gegen die empirische Erziehungswissenschaft ist, dass diese pädagogisches Handeln nicht begründen könne. Hier trennt VOGEL nicht sauber zwischen Ursache (die man kennen muss, um Effekte zu erreichen) und Grund (für das eigene pädagogische Handeln). Auch diese Kritik greift deshalb nicht, weil niemand behaupten würde, dass normative Fragen durch die Ergebnisse von Empirie zu beantworten wären. Das Vermischen von Grund und Ursache findet sich aber auch schon bei EDUARD SPRANGER: „Der Wille zur Objektivität kann nicht soweit getrieben werden, dass überhaupt keine formende und gestaltende Seele mehr übrig bleibt“ (SPRANGER 1964, S.18). Diesen Satz schreibt ausgerechnet derjenige Pädagoge, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg für eine erneute Einführung jenes gegliederten Schulsystems landauf-landab eingesetzt hat, welches sich bei und schon vor PISA als leistungsschwach und sozial hochselektiv erwiesen hat. Ein bisschen Empirie hätte diesen schweren Fehler vielleicht verhindern können.5 VOGELS viertes Argument ist, dass man Pädagogik als Wissenschaft durch empirische Methoden nicht begründen könne. Diese Aussage ist richtig, gilt aber für jede Pädagogik, z.B. auch die geisteswissenschaftliche (VOGEL 1989, S.432). Wissenschaften können grundsätzlich nicht auf Objektebene begründet werden. KARLHEINZ INGENKAMP, PETER S. JÄGER, HANNS PETILLON und BERNHARD WOLF weisen in ihrer direkten Antwort auf VOGEL zusammenfassend darauf hin, dass (der Theoretiker) VOGEL kein „zutreffendes Bild empirisch-analytischer Forschungspraxis“ zeichne (INGENKAMP et al. 1992, S.11f.). Ähnlich positioniert sich schon früher TENORTH: „Sowohl theoretisch wie politisch war nämlich die Praxis der empirisch-pädagogischen Forschung weitaus ambivalenter, auch selbstreflexiver und kritischer, als es viele ihrer Opponenten heute wahrhaben wollen“ (TENORTH, 1989a). Dennoch beobachtet auch TENORTH Probleme in und mit der Empirischen Pädagogik. Ihm zufolge „zerfällt die empirische Erziehungswissenschaft gerade5 „Mit ihrer hohen politischen, öffentlichen und universitären Akzeptanz setzten diese ‚philosophischen‘ Pädagogen sich erneut für das humanistische Gymnasium ein oder hielten etwa am dreigliedrigen Schulsystem fest. Litt allerdings war aufgrund der hohen Kompromittierung der akademischen Elite im NS skeptischer gegenüber der klassischen Bildung (wie auch Schmittlein, der ‚Erziehungsminister‘ der Französischen Besatzungszone), was sich bald in seinen Publikationen niederschlagen sollte“ (KERSTING 2008, S.76).
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zu in zwei Teile: in Programm und Praxis – die kaum etwas miteinander zu tun haben. Etwas genauer: die dem empirisch-analytischen Paradigma zurechenbaren Erziehungswissenschaftler bilden zwei Gruppen; einerseits die Programmatiker und (Wissenschafts-)Theoretiker, andererseits die empirisch arbeitenden Forschungspraktiker“ (DINTER 2001, S.115). Die aus dieser Trennung entstammende Schwierigkeit bestehe „in den Thesen, - dass es wohl ein Programm, aber kein ausgearbeitetes System der empirischen Erziehungswissenschaft gehe; - dass die vom Programm veranschlagte Wissenschaftstheorie grundsätzliche, also metatheoretische Mängel habe und Forschungspraxis nicht normieren könne; - dass sich die Forschungspraxis an den gängigen Statistik- und Methoden-Lehrbüchern orientiere, darin aber kein Programm spezifisch erziehungswissenschaftlicher Empirie zu erkennen sei. Der entscheidende Punkt der Bilanz TENORTHS ist der Hinweis auf die weitgehend unabhängig voneinander operierenden Funktionsgruppen der Programmatiker und Theoretiker ohne empirische Forschungspraxis auf der einen Seite und der praktischen Empiriker ohne Interesse an einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung ihrer Forschungspraxis auf der anderen Seite“ (DINTER 2001, S.118). Dieser Analyse muss man uneingeschränkt zustimmen, wobei zu fragen ist, was eine ‚spezifische erziehungswissenschaftliche Empirie‘ sein soll. Einer der weiteren Kritikpunkte liegt in dem Vorwurf der Übernahme von Methoden aus Nachbarwissenschaften. Dies scheint der running gag in der Kritik an der Empirischen Erziehungswissenschaft zu sein: „Es ist eine bekannte Schwäche der Erziehungswissenschaft, daß sie sich bisher ausschließlich solcher empirischer Methoden bedient, die nicht aus dem Bereich der Erziehungswissenschaft stammen, sondern aus anderen Bereichen der Sozialwissenschaften übernommen werden“ (FAUSER/SCHWEITZER 1979, S.628). Diese Einschätzung geht davon aus, dass es überhaupt disziplinspezifische Methoden gibt. Dies darf bezweifelt werden. Methoden sind abhängig von den Fragen und Zielen von Forschung. Es geht aber weiter: „Die Pädagogik [hat sich; MvS] an solchen Wissenschaften orientiert, die in systematischer Erarbeitung von Tatsachen durch empirische Methoden einen Wirklichkeitsbereich des Menschen zu erhellen trachten. Solche Erfahrungswissenschaften sind die Anthropobiologie, die Medizin, die Ethnologie, die Geschichte, die Philologie, die Psychologie, die Sozialwissenschaften, die sich in der Ausrichtung auf die Wirklichkeit Mensch ineinander verschränken und die streng voneinander zu trennen nicht mehr gelingt.“ (MENZE 1966, S.27) Hier deutet sich bereits an, dass vielleicht nicht nur die Empirische Erziehungswissenschaft, sondern die gesamte Pädagogik von Übernahmen betroffen ist: „Es wird die Frage gestellt, ob die Pädagogik überhaupt eigene Methoden habe oder nicht vielmehr je nach Bedarf mit philosophischen, historischen, 137
psychologischen, soziologischen Methoden usw. arbeite“ (SCHEUERL 1994, S.108). Die Kritik an der Übernahme von Methoden ist also nicht haltbar, was schon früh zu differenzierteren Stellungnahmen führte: „Zwar hat sich die Erziehungswissenschaft, ausweislich ihrer Argumentationsstrukturen und Arbeitsweisen an die anderen Sozialwissenschaften angeglichen. Aber auch diese ‚realistische Erziehungswissenschaft‘, die wir also haben und nicht erst fordern müssen, ist in einem deutlichen Sinne Erziehungswissenschaft geblieben.“ (MÜLLER/TENORTH 1979, S.863) DINTER urteilt zusammenfassend: „Die Herabsetzung der Experimentellen Pädagogik durch die Geisteswissenschaftler in der Zeit um die und nach der Jahrhundertwende wiederholt sich bei der Renaissance empirischer Vorgehensweisen in der Erziehungswissenschaft in den 60er und 70er Jahren“ (DINTER 2001, S.121). Der Konflikt scheint damit aber noch nicht beendet. 7
Ein neues Konfliktfeld - Bildungsforschung
Versuche, die Empirische Erziehungswissenschaft zu kritisieren, setzen sich offenbar fort. Es ist in jüngster Zeit ein (alter) Begriff wieder belebt worden, der aktuell die Kritik auf sich zieht: die Bildungsforschung. Begriff und Ansatz der Bildungsforschung sind nicht neu, allerdings ist durch die vermehrte Umwidmung von Professorenstellen in der Bundesrepublik in Richtung auf ‚Empirische Bildungsforschung‘ die kritische Diskussion verstärkt worden. Bildungsforschung ist schon früh begründet worden: „Die Notwendigkeit exakterer Leistungsbeurteilungen nach einheitlichen, über den Rahmen der einzelnen Klasse oder Schule hinaus anwendbaren Maßstäben wird mit der weitergehenden Vereinheitlichung der Schule immer deutlicher hervortreten“ (HYLLA 1948). Die Argumente dagegen ziehen sich durch ein halbes Jahrhundert, wofür drei Beispiele stehen sollen: „Erziehungswissenschaft im Sinne der realwissenschaftlichen Konzeption ist eine restringierte Wissenschaft.“ ... „Angesichts der höchst komplexen Bedingungsgefüge pädagogischer Probleme, ihrer Abhängigkeit von der historisch- gesellschaftlichen Situation und der subjektiven Beeinflussung durch die betroffenen Personen, ist es kaum denkbar, die geforderte Überprüfung der Gesetze und die exakte Beschreibung der Randbedingungen unter experimentellen Versuchsbedingungen kontrollieren zu können.“ Und weiter: „...bleibt der gesamte Bereich bildungspolitischer Probleme praktisch außerhalb der erklärenden und technisch-prognostischen Möglichkeiten dieser Konzeption“ (ZENKE 1972, S.188). „Die empirische Bildungsforschung befindet sich noch in einem frühen Stadium ihrer Entwicklung. Einerseits unterliegt sie in ihrem Arbeitsstil und ihren Erwartungen noch immer in mancher Beziehung den Einflüssen der spekulativen pädagogischen Tradition, die die Dinge oft recht einfach erklärte. Andererseits lehnt sie sich in ihren Methoden noch zu sehr an
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Naturwissenschaft und Technik an, die sich meist mit leichter abgrenzbaren, klareren und weniger komplexen Strukturen befassen.“ (PETRI 1975). „Dass die Konjunktur wissenschaftlicher Paradigmen nicht notwendigerweise die Überlegenheit bestimmter Theorien, sondern eher die Marktkompetenz ihrer Vertreter dokumentiert, ist seit Kuhn unter Wissenschaftshistorikern bekannt. Die empirischen Methoden und Theorien der Erziehungswissenschaft sind in Deutschland häufig unterschätzt und manchmal auch überschätzt worden. Zurzeit erleben wir einen starken Bedeutungsgewinn dieser Forschung, der Erwartungen weckt, die vermutlich nicht erfüllt werden können“ (RAUIN 2004, S.48).
Die letztgenannte Unterstellung ist, wie oben gezeigt, typisch gewesen auch in der Kritik gegenüber der Empirischen Erziehungswissenschaft generell. Interessant an der Kritik zur Bildungsforschung ist allerdings das Bedeutsamwerden einer ganz neuen Perspektive. Erstmals rückt der Blick das Verhältnis von Staat und Forschung in den Mittelpunkt. In den 1970er und 1980er Jahren war das Verhältnis zwischen Bildungsforschung und Staat von einseitiger Abneigung gekennzeichnet: Der Staat konnte sich jahrzehntelang nichts daran gewöhnen, dass das größte soziale System – die Schule – systematisch erforscht und evaluiert wird. Insbesondere wurden immer wieder Datenschutzgründe vorgeschoben, worauf insbesondere INGENKAMP immer wieder hingewiesen hat (vgl. AVENARIUS/INGENKAMP/OTTO 1980). Auch wurden seitens der Administration international hochkarätig besetzte Tagungen zu überregionalen Lernerfolgsmessungen nicht wahrgenommen (vgl. INGENKAMP/SCHREIBER 1989). Inzwischen (genauer: seit der ersten PISA-Studie) hat sich das Verhältnis zwischen Staat und Bildungsforschung allerdings stark verändert. Es deutete sich bereits Ende des letzten Jahrhunderts an, dass dieses Verhältnis vielleicht sogar zu eng sein könnte: „Die empirisch-pädagogische Forschung wird innerhalb der Erziehungswissenschaft nicht selten mit dem zweifachen Vorwurf konfrontiert, in ihrem Ertrag praxisfern und technologisch sowie in ihrer politischen Funktion affirmativ und korrumpierbar zu sein“ (TENORTH 1989a). TENORTH stellte sich etwas später die Frage, ob sich die Erziehungswissenschaft „allein aus einer eigentümlichen Spannung, zwischen Staatsabhängigkeit und disziplinärer Autonomie, theoretischen Ambitionen und ideologischer Deformation, zwischen genuinem Forschungsanspruch und dem Status einer Legitimationswissenschaft angemessen beschreiben lässt.“ Diese Dichotomisierungen könnte man mit einiger Fantasie auch der Bildungsforschung am Anfang des dritten Jahrtausends auferlegen. TENORTH meinte damit nämlich die Beschreibung der Erziehungswissenschaft in der SBZ und DDR (TENORTH 1997, S.134). Die Rolle der Bildungsforschung scheint nach den bisherigen ersten Analysen irgendwo zwischen Nicht-Anerkennung – durch die ‚anderen‘ Pädagogiken – und Prostitution – gegenüber dem Staat – zu liegen. Der Gedanke an Prostitution liegt nahe, weil Empirische Bildungsforschung fast nur noch staatliche Aufträge erfüllt und so auf die Rolle eines politisch gesteuerten Datenlieferanten zurecht139
gestutzt worden ist. Der Gedanke der Nicht-Anerkennung drängt sich auf, weil die zahlreichen Stellen für Empirische Bildungsforschung kaum noch von Erziehungswissenschaftlern besetzt werden. Geschieht so etwas überhaupt noch, dann sind oftmals Berufungen von solchen zu beobachten, welche die notwendige Breite in erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung nicht nachweisen können und somit hinter jenem Niveau zurückbleiben, das schon ROTH eingefordert hat. 8
Fazit
Zum Abschluss soll erneut einer der ‚Alten‘ zu Worte kommen: „Die theoretischen Konzepte falsifizierbar zu machen, das ist das sokratische Motiv, mit dem der Empirismus das hermeneutische Gespräch bereichert und durch das er die Hermeneutik praktisch macht. Das bedeutet für die Pädagogik: Nur wenn sie als hermeneutische Wissenschaft auch empirisch verfährt, kann sie zu einer pragmatischen Wissenschaft werden, d.h. zu einer Wissenschaft für eine Praxis. In ihrem ‚Selbstverständnis‘ als ‚hermeneutischpragmatische‘ Wissenschaft fehlt das Bindeglied der Empirie. Die Pädagogik muß eine ‚hermeneutisch-empirisch-pragmatische‘ Wissenschaft sein, oder sie wird überhaupt nicht sein.“ (LOCH, 1967)
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Pädagogische oder erziehungswissenschaftliche Historiographie? Skizze eines Vermittlungszusammenhangs im Anschluss an ideengeschichtliche Überlegungen von Quentin Skinner1 Marcus Erben „…jeder Mensch und jedes Volk braucht…eine gewisse Kenntnis der Vergangenheit, bald als monumentalische, bald als antiquarische, bald als kritische Historie: aber nicht wie eine Schaar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern, nicht wie wissensgierige, durch Wissen allein zu befriedigende Einzelne, denen Vermehrung der Erkenntnis das Ziel selbst ist, sondern immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter der Herrschaft und obersten Führung dieses Zweckes.“ (Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben)
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Einleitung und Problemstellung
Von einer Einheitlichkeit ihrer wissenschaftstheoretischen und methodologischen Fundamente und Prämissen kann in der gegenwärtigen pädagogischen Geschichtsschreibung keine Rede sein (vgl. beispielhaft: TENORTH/BOEHME 1990; CASALE/TRÖHLER/OELKERS 2006; GAUS 2006). Einheitlichkeit ist aus wissenschaftssoziologischen Gründen nicht wünschbar und vor disziplingeschichtlichem Hintergrund nicht möglich. Wissenschaftssoziologisch ist sie nicht wünschbar, weil die durch Vielfalt der Methoden, Verfahren und Annahmen gekennzeichnete historische Erforschung von Erziehung und Bildung fortschreitend Wissen und Erkenntnis nicht nur für wissenschaftsimmanente, sondern auch für institutionelle Praxisansprüche methodisch generiert, durch spezifische Darstellungsformen aufbereitet und so durch Publikationen verfügbar macht. Disziplingeschichtlich ist sie nicht denkbar, weil die sich beschleunigende, von der ‚Moderne’ initiierte, seit den 1970er Jahren geradezu explosionsartige Ausdifferenzierung der Pädagogik/Erziehungswissenschaft in immer zahlreichere Subdisziplinen, Fachrichtungen und pädagogische Lehren und damit die Ausdifferenzierung ihrer Methoden, Verfahren, und Ansätze auch vor jenem Teilzweig der Allgemeinen Pädagogik nicht Halt macht, der sich mit dem 1 Dieser Aufsatz basiert auf Vorarbeiten für mein Dissertationsprojekt ‚Begriffswandel als Sprachhandlung: Der Beitrag Quentin Skinners zur Methodologie der Historischen Bildungsforschung. Zugleich ein Beitrag zu einer Kontroverse in der Historischen Pädagogik’ und stellt erstmals Argumentationsfiguren daraus der Fachöffentlichkeit vor.
historischen Werden pädagogischen Denkens und erzieherischen Handelns befasst und der üblicherweise unter dem Sammelbegriff Historische Pädagogik firmiert (vgl. KRÜGER 2002, S.308ff.; LENZEN 2004, S.48ff.). In seinem Aufsatz ‚Quo vadis – Pädagogik?’ hat WINFRIED BÖHM den virulenten Richtungsstreit innerhalb der Fachdisziplin Pädagogik anhand des Konflikts zwischen einer überwiegend ideengeschichtlich argumentierenden Geschichte der Pädagogik und einer sich vornehmlich an den Sozialwissenschaften orientierenden und deren Methoden übernehmenden erziehungswissenschaftlichen Historiographie innerhalb der Historischen Pädagogik in fantasiereichster Kriegsmetaphorik scharfsinnig konturiert und pointiert zusammengefasst (vgl. BÖHM 2005). Dieser Streit hat seinen Ursprung und Grund in dem von WOLFGANG BREZINKA Anfang der 1970er Jahre ausgerufenen Transformationspostulat in der Pädagogik. Es sollte sich in der Wende von einer philosophisch-praktischen Pädagogik zu einer empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft verwirklichen, was auch tatsächlich geschah. In der Zwischenzeit sind, entgegen den Intentionen BREZINKAS, beide Wissenschaftstypen – befördert durch die von NIKLAS LUHMANN getroffene Unterscheidung und Scheidung von Erziehungssystem und Wissenschaftssystem – auseinandergefallen. Auf der einen Seite steht eine Pädagogik, die ihren Charakter als praktische Wissenschaft bewahren will und daher stets an ihre Urväter IMMANUEL KANT, JOHANN FRIEDRICH HERBART und FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER erinnert. Auf der anderen Seite steht eine Erziehungswissenschaft, die ihren orientierenden Praxisbezug weitgehend ausklammert und sich der ‚reinen Forschung‘ widmet, denn nur diese sei Wissenschaft im szientistischen Sinn. Diese kommt aktuell im Gewand empirisch-psychologischer Bildungsforschung mit ihren kompetenzindizierenden Bildungsstandards und messenden Evaluationen vor allem bildungspolitisch wirkungsmächtig daher. Um sich von der Geschichte der Pädagogik scharf abzugrenzen, spricht die erziehungswissenschaftliche Historiographie jener dezidiert den Wissenschaftscharakter ab. Dabei engt sie simplifizierend den Begriff ‚Wissenschaft‘ auf ‚reine Forschung‘ ein. Während jene ‚pädagogisch‘, d.h. im Blick auf die Lehrerbildung moralisch erziehend sei, ist diese ‚wissenschaftlich‘, d.h. Forschung und damit den „dem Leben nur zusehenden Denkern“ (NIETZSCHE 2009, S.35) zugehörig. Die auf die Unterscheidung von Erziehung und Wissenschaft gegründete Trennung von Geschichte der Pädagogik einerseits und erziehungswissenschaftlicher Historiographie andererseits schließt erkenntnistheoretisch wie methodisch die Bewusstmachung eines möglichen Vermittlungsproblems beider Ansätze a priori aus. Die Frage, inwieweit erstere Wissenschaftscharakter besitzt und letzter Pädagogikcharakter annimmt, wird dabei – ob bewusst oder geflissentlich sei dahingestellt – ausgeblendet. Denn sie stellt sich erst gar nicht. 146
Sie zöge nämlich eine synthetisch-dialektische Begriffsarbeit nach sich und entlarvte somit die ideologisierende Gleichschaltung von Pädagogik (= Erziehung = moralische Belehrungswirkung) einerseits und Wissenschaft (= wertneutrale Forschung = Zweckungebundenheit) andererseits als bloße Scheinopposition. Die Arroganz einer Vermittlungsproblemverweigerung würde zur Anerkennung eines Vermittlungsproblembewusstseins weiterentwickelt. Ein solches Bewusstsein wäre Bedingung, um die Grabenkämpfe zwischen den beiden Parteien zu befrieden und einen produktiven Dialog in Gang zu bringen. Das aufgestellte dualistische Raster ist aus bildungspolitischen wie aus wissenschaftsethischen Gründen fragwürdig. Es entzieht sich der Infragestellung der durch die Erziehungswissenschaft erhobenen Definitionsmacht darüber, was wissenschaftlich sei und was nicht. Was Pädagogik jedoch als Wissenschaftscharakter ihrer Disziplin versteht, wird in der Engführung auf Alternativentscheidungen leichthin übergangen, weshalb sich im Effekt eine Erziehungswissenschaft ohne Pädagogik als „Holzweg erweisen könnte, also als ein Weg, der ins Nichts führt“ (BÖHM 2005, S.418). In der gegenwärtigen Methoden-Debatte der Historischen Bildungsforschung / erziehungswissenschaftlichen Historiographie scheint dieser Holzweg zementiert zu werden, wenn und sofern sie ihre methodologische Überlegungen an jenen der modernen Historiographie ausrichtet (vgl. LANGEWAND 1999; CASALE/TRÖHLER/OELKERS 2006). Ziel solcher Ausrichtung ist es, die pädagogische Geschichtsschreibung weniger als allgemeinpädagogische Subdisziplin zu festigen denn als thematische Spezialdisziplin der Geschichtswissenschaft einzugliedern. Zu Unrecht wird in der Einleitung von RITA CASALE der Aufsatz von BÖHM als Bekräftigung einer „national eingeengte[n], moralische[n] Bildungswirkung“ beurteilt (CASALE/TRÖHLER/OELKERS 2006, S.7). Dementsprechend wird BÖHMs instruktiver Vorschlag einer Synthese zwischen pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie schlichtweg ignoriert. Stattdessen wird unbeirrt an der trivialen Dichotomie Pädagogik und Wissenschaft festgehalten. In dieser Diskussion wird als Gewährsmann für eine geschichtswissenschaftliche Ausrichtung der pädagogischen Geschichtsschreibung häufig jener britischer Historiker und Politiktheoretiker genannt, der neben JOHN GREVILLE AGARD POCOCK das Gesicht der so genanten ‚Cambridge School’ der History of 2 Ideas (im Plural!) zeigt: QUENTIN SKINNER. Er übt auf die politische Ideenge2 Beide Autoren konzentrieren sich – so HARTMUT ROSA – auf zwei verschiedene, komplementäre Aspekte einer theoretischen Konzeption: „Während Pococks Studien die historische Rekonstruktion von in einzelnen Epochen der Geschichte dominierenden Paradigmen zum Ziel hat, untersucht Skinner die Umbrüche, Veränderungen und Rechtfertigungen dieser Paradigmen in Krisenzeiten“ (ROSA 1994, S.201).
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schichte großen und inspirierenden Einfluss aus. Seine Methode der Kontextualisierung von illokutionären Sprechakten in sprachkonventionell bzw. ideologisch dingfest zu machenden Diskurszusammenhängen wurde in der Historischen Bildungsforschung an mehreren Stellen bereits fruchtbar gemacht (vgl. zum Überblick: OVERHOFF 2004). So betont beispielsweise DANIEL TRÖHLER in seiner von POCOCKs und SKINNERs Methode der Kontextanalyse inspirierten Habilitationsschrift, dass JOHANN HEINRICH PESTALOZZIs politische Sprache der Pädagogik krisenintervenierende Antwort auf den Verfall klassischer republikanischer Tugenden wie Gemeinnützigkeit und Patriotismus war. Dieser Kontext war insbesondere während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirkmächtig, da in dieser Zeit die Züricher Gesellschaft mehr und mehr der Kommerzialisierung anheim fiel. PESTALOZZIs Pädagogik ist aus dieser Perspektive eine staatsbürgerlichrepublikanische zu nennen (vgl. TRÖHLER 2006). Hiermit korrigiert TRÖHLER in der dokumentarischen Qualität antiquarischer Historie ein an PESTALOZZIs ‚Methode‘ und ‚Elementarbildung‘ fixiertes Geschichtsbild des Schweizers, der über den bekannten, gleichwohl verdrehten, Slogan von ‚Kopf, Herz und Hand‘ sowie den von der ‚Wohnstubenpädagogik‘ zum verehrenswerten Vorbild ganzer Generationen von Erziehern geworden war. TRÖHLER argumentiert im Fahrwasser der „Dekonstruktion [pädagogischer] Mythen“ (TRÖHLER 2001, S.32) gegen eine angeblich hagiographische und idyllisierende „Pädagogisierung der pädagogischen Historiographie“, wie sie typisch für pädagogische Lehrbücher à la ALFRED REBLE sei (ebd., S.27). Mit den Methodologismen der Poststrukturalisten und der ‚Cambridge School‘ im Schlepptau plädiert er für eine veränderte, d.h. historisierende, entpädagogisierende und entmoralisierende pädagogische Geschichtsschreibung, die auch zu einer „neuen[n] Basis pädagogischer Theoriebildung“ werden solle (ebd., S.32). In Wirklichkeit betreibt die neue pädagogische Historiographie nicht Dekonstruktion, sondern Destruktion ihrer Klassiker. Solches tut sie beispielsweise, wenn sie das Konzept des pädagogischen Bezugs geisteswissenschaftlicher Pädagogik als romantisierend verunglimpft und dagegen das diffuse, pragmatistische Konzept einer im öffentlichen und staatlichen Auftrag stehenden Pädagogik stellt (vgl. ebd.). Dabei steht schon im Falle PESTALOZZIs außer Frage, dass er jenseits der zu Slogans geronnenen ‚ganzheitlicher Erziehung‘ und gesellschaftsferner ‚Wohnstubenpädagogik‘ bleibende Beiträge für jede pädagogische Theoriebildung geleistet hat. Solche grundlegenden Beiträge sind etwa in der dreifachen Bestimmung der anthropologischen Wurzel des Menschen als ‚Werk der Natur‘, ‚Werk der Gesellschaft‘ und ‚Werk seiner selbst‘ die biologisch-natürlichen, soziologisch-gesellschaftlichen und personal-ethischen Dimensionen von Entwicklung, Sozialisation und Erziehung zu erblicken. Auch 148
auf der Ebene pädagogischer Theoriebildung wird so das von der neuen Historiographie bekannte Muster der Schwarz-Weiß-Malerei prolongiert. Mit diesem Aufsatz soll dagegen eine pointierte These entfalten werden: Behauptet wird, dass sich SKINNERs methodologischer Ansatz für die pädagogische Ideengeschichtsschreibung gerade nicht als schroffe Abgrenzung von einer traditionellen zugunsten einer modernen Ideengeschichte instrumentalisieren lässt. Dieser Ansatz ist in seiner separatistischen Funktion kaum dazu geeignet, ein Schisma zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Ideengeschichte zu konstruieren. Vielmehr und demgegenüber bietet er sich selbst als dialogisches Moment eines Vermittlungszusammenhangs von pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie an. Die Antwort auf die Frage, wie dieser Vermittlungszusammenhang zwischen ideengeschichtlich orientierter ‚philosophischer‘ Pädagogik und ideengeschichtlich orientierter erziehungswissenschaftlicher Forschung zu denken ist, liegt dabei nicht in einer zur bloßen Begriffsopposition geronnenen Gegenüberstellung von ‚Erziehung‘ oder ‚Wissenschaft‘. Die Ant3 wort liegt – horrible ductu! – im Begriff der ‚Bildung‘! Nach einer kurzen Darstellung des wissenschaftlichen Profils SKINNERs soll zunächst das Motiv seiner Beschäftigung mit methodologischen Problemen der Geschichtsschreibung erhellt werden (Abschnitt 2). Danach geht es um die aus dieser Beschäftigung erwachsene Gegenüberstellung von traditioneller und neuer Ideengeschichte. Deren voneinander divergierenden grundlegenden Annahmen werden in Abschnitt 3 konturiert. Anschließend wird in Abschnitt 4 der sprachphilosophische und sprechakttheoretische Hintergrund von SKINNERs methodologischen Grundannahmen nach LUDWIG WITTGENSTEIN und JOHN LANGSHAW AUSTIN beleuchtet. Auf dieser Basis soll dann das genuin Neue an der so genannten ‚neuen‘ Ideengeschichte à la SKINNER aufgezeigt werden (Abschnitt 5). Diese Ausführungen nehmen sich zum Ziel, SKINNERs Methodik abstrakt zu formulieren und beispielhaft zu veranschaulichen. (Abschnitt 6). Die Darstellung insgesamt hat die Erfüllung eines Desiderats zum Ziel, nämlich „eine eingehende Auseinandersetzung mit seinen methodologischen und historiographischen Ar4 beiten“ (HEINZ/RUEHL 2009, S.285). Abschließend soll auf dieser Grundlage ein Vermittlungszusammenhang zwischen pädagogischer und erziehungswissen3 Ich bedanke mich an dieser Stelle ganz herzlich bei FRITHJOF GRELL. Ihm verdanke ich den entscheidenden Wink, subjektive Geschichte (historia rerum gestarum) sei Bildung und nicht Erziehung. Sein unveröffentlichter Habilitationsvortrag mit dem Titel ‚Braucht die Pädagogik noch Klassiker?‘ wirkte inspirierend für mein Dissertationsvorhaben. 4 Für die erste Übersetzungswelle der maßgeblichen Texte der ‚Cambridge School’ wird der Band von MARTIN MUSLOW und ANDREAS MAHLER bedeutsam sein, der bei Drucklegung vorliegenden Aufsatzes noch nicht erschienen und für Dezember 2009 angekündigt war (vgl. MUSLOW/MAHLER 2009).
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schaftlicher Historiographie in ideengeschichtlicher Absicht skizziert werden (Abschnitt 7). 2
Skinner zwischen ‚Textualismus‘ und ‚Kontextualismus‘
SKINNERs thematisches Profil kreist um seine drei wissenschaftlichen Schwerpunkte als Historiker, Methodologe und Politiktheoretiker (vgl. PALONEN 2004, S.61ff.). Insgesamt ist er im Zusammenhang der so genannten Intellectual History zu verorten. Diese betreibt eine der Geschichte der Philosophie und der History of Ideas engverwandte Variante der Ideengeschichte. Ihre Besonderheit ist, dass sie sich auf schriftliche Diskurse intellektueller Kontexte bezieht, in denen Personen Ideen (Gedanken) mit bestimmten Absichten argumentativ artikulieren und propagieren (vgl. LANDWEHR 2008, S.40ff.; SCHORN-SCHÜTTE 2007, S.559ff.; SKINNER 1985). SKINNER, lange Historiker in Cambridge, verteidigt einen strikt historischen Forschungsansatz. Er richtet sich gegen Philosophen idealistischer Provenienz, welche versuchen, (politische) Ideen in ein kohärentes System zu zwingen, statt diese zu historisieren. Als Methodologe nimmt er expliziten Bezug auf die Diskussionen über die sprachanalytische Philosophie im Anschluss an WITTGENSTEIN sowie auf die Sprechakttheorie AUSTINs. Als Theoretiker des Politischen untersucht er schließlich die politischen Theorien des Mittelalters im Übergang zur Neuzeit, in seinem zentralen Werk ‚The Foundations of Modern Political Thought‘ vor allem am Beispiel von NICCOLÒ MACHIAVELLI und THOMAS HOBBES (vgl. SKINNER 1978, 1996). SKINNERs Interesse an einer Methodologie zur Interpretation historischer Klassiker des politischen Denkens resultiert aus seiner Kritik an der Art, wie in Großbritannien der 1960er Jahre politische Ideengeschichte betrieben wurde: Seine „vehemente Kritik“ richtet sich gegen zwei konträr zueinander stehende, zur Orthodoxie verkommene Richtungen der Textinterpretation (HELLMUTH/ EHRENSTEIN 2001, S.153). Diese bezeichnet er dichotomisierend als ‚Textualismus‘ und ‚Kontextualismus‘. Prämisse der ‚textualistischen‘ Richtung war die Autonomie des Textes. Diese sei der Schlüssel zu seiner eigenen Bedeutung. Solche Textualität ist dem klassisch werkimmanenten Ansatz der Literaturwissenschaft, ebenso dem ideengeschichtlichen der Philosophiegeschichtsschreibung eigen. Prämisse der ‚kontextualistischen‘ Richtung war hingegen die Annahme eines Kontextes religiöser, politischer, ökonomischer und weiterer Fakten und Faktoren. Erst ein solcher Kontext bestimme die Bedeutung eines Textes. Eine solche Lesart ist etwa dem klassisch marxistischen Literaturansatz und dem Ansatz der Sozialge150
schichtsschreibung verwandt. Der ‚Textualismus‘ lässt sich wie folgt charakterisieren: „The whole point, it is characteristically said, of studying past works of philosophy (or literature) must be that they contain (in a favoured phrase) ‚timeless elements’, in the form of ‚universal ideas’, even a ‚dateless wisdom’ with ‚universal application’“ (SKINNER 1988, S.30). Über den ‚Kontextualismus’ lässt sich dagegen sagen: „If it is true that the relations between the context of any given statement (or any other action) and the statement itself do take the form, in this way, of a relation between antecedent causal conditions and their results, then it is clear that the independent life of ideas in history must be correspondingly in danger“ (ebd., S.58). Während also der ‚Textualismus‘ der Frage nachgeht, was ein Autor zu einer bleibenden Idee oder einem bleibenden Problem zu sagen hat, fragt der ‚Kontextualismus‘ nach den sozialen Faktoren, welche die Herausbildung bestimmter Ideen verursacht haben. Kritisch formuliert: Im einem Fall wird der Autor zum Kommentator überzeitlicher Ideen degradiert, im anderen zum Ausfluss sozialer Umfeldfaktoren. Wie allerdings PRESTON KING in seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit SKINNERs Kritik am ‚Textualismus‘ und ‚Kontextualismus‘ gezeigt hat, ist die ausschließende Gegenüberstellung von ‚Text‘ und ‚Kontext‘ nicht sachlich begründet (KING 1983, S.290ff.). Vielmehr ist sie – so meine weitergehende These – funktional-rhetorischer Natur. Das Verständnis von Texten ist immer nur in der Ausbalancierung beider Dimensionen zu suchen, die jeweils schwerpunktmäßig betont und vertreten werden. Die Funktion von SKINNERs schismatisch idealtypisierender Kritik besteht meines Erachtens in der Verdeutlichung der Tatsache, dass und auf welche Weise beide Ansätze die gewichtige Position des individuellen Autors und seiner Intentionen ausblenden. Somit dient seine Kritik als Folie für die Legitimation seiner intentionalistischen Methodologie, die zwischen Text und Kontext angesiedelt ist, um der „Stimme des Verfassers im Verständnis eines Textes zu ihrer eigenen Berechtigung [zu] verhelfen“ (PALONEN 2004, S.71).
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Skinners ‚neue‘ Ideengeschichte und ihr Verhältnis zur ‚alten‘ Ideengeschichte
Das Aufgeben einer traditioneller Ideengeschichte geht bei SKINNER mit einer fundamentalen Überzeugung einher: „Die Überzeugung, die Leistung klassischer Autoren bestehe darin, Kommentare zu einem wohldefinierten Arsenal ‚grundlegender Begriffe’ zu liefern …[habe; M.E.] … zu einer Reihe von die Ideengeschichte schon allzu lange belastenden Verwirrungen und exegetischen Absurditäten geführt“ (SKINNER 2009, S.22). Diese Absurditäten gehen auf ein dieser Überzeugung zugrunde liegendes Dilemma (dilemma) zurück. Dieses leuchtet SKINNER wie folgt aus: Die Erscheinungsformen einer intellektuellen Aktivität sind Begriffsbildungen. Diese sind durch Familienähnlichkeiten (family resemblances) miteinander verbunden – der Rekurs auf WITTGENSTEINS Begriff der Familienähnlichkeit ist hier unübersehbar. Um die „Erscheinungsformen einer bestimmten intellektuellen Aktivität“, wie die Aktivitäten von Moral, Politik, Religion, Ästhetik, Pädagogik etc., zu erkennen und von jenen Erscheinungsformen anderer Aktivitäten abzugrenzen, müssen wir „einen Vorbegriff von dem haben, was wir zu finden erwarten“ (ebd., S.23). Diese von einem Forscher im Verlaufe seines Forscherlebens angeeigneten, weil einer Forschungstradition zugrunde liegenden Vorbegriffe oder – mit THOMAS S. KUHN – ‚Paradigmata‘ umgreifen im Blick auf bestimmte Forschungsprobleme und -methoden ein kohärentes System von Familienähnlichkeiten und Nachbildungen vorhandener Begriffe (vgl. KUHN 1976, S.57ff.). Sie determinieren wiederum das, was wir „‚tatsächlich‘“ im Text eines Autors finden – „selbst wenn der Betroffene nicht zustimmen würde oder gar nicht zustimmen könnte“ 5 (SKINNER 2009, S. 23). Diese erkenntnistheoretische Annahme postuliert die Unausweichlichkeit der ‚Priorität von Paradigmen‘, d.h. der Priorität von traditionsstiftenden Familienähnlichkeiten und Nachbildungen etablierter Leistungen innerhalb eines Bezugsystems vor breit und weithin akzeptierten Regeln und Annahmen einer Forschungsgemeinschaft, beim Verstehensprozess. Von ihr ausgehend, weist SKINNER seiner neuen Ideengeschichtsschreibung eine wesentlich bescheidenere Aufgabe zu. Diese gebe sich damit zufrieden, „den Wandel der Absichten und Konventionen aufzuzeigen“ (ebd.). Dieses allerdings sei eine wichtige Aufgabe. Denn dieser Wandel steht selbst im Zeichen eines Paradigmas jener ‚normalen Wissenschaften‘, in denen konventionell etablierte Leistungen eines Bezugssystems nicht mehr für die Lösung von wissenschaftlichen Rätseln 5 SKINNER reformuliert mit dem psychologischen Begriff der mentalen Prägung (mental set) die aus der transzendentalphilosophischen Hermeneutik bekannte Grunderkenntnis, dass jedem Verstehen als Bedingungsmöglichkeit Vor-Begriffe und Vor-Urteile vorausgehen.
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hinreichen, so dass es zu einem Wechsel, einem Bruch oder einer Veränderung des zuvor herrschenden Paradigmas kommt. Vor dem Hintergrund erneuerter erkenntnistheoretischer und wissenschaftstheoretischer Überlegungen ist deshalb die Hinwendung zum Paradigmenbegriff in der Ideengeschichte aus der Sicht SKINNERs unumgänglich. Die Untersuchung des kontingenten Wandels von auktorialen Intentionen und sprachlich-sozialen Konventionen ist somit das spezifische Instrumentarium seiner Ideengeschichtsschreibung. Deren Programmatik verbürgt einen kohärenztheoretischen Wahrheitsbegriff. Dieser weist „überzeitliche Weisheiten (dateless wisdoms)“ (CATLIN 1950, zitiert nach SKINNER 2009, S.21) in Gestalt „universaler Ideen (universal ideas)“ (BLUHM 1965; zit. nach ebd.) skeptisch zurück. Neue Ideengeschichtsschreibung will sich demgegenüber dem Ideal der Objektivität annähern. Hierzu versucht sie, Koordinaten einer kontextuell bestimmten, zeitgenössisch diskursiven „general social and intellectual matrix“ aufzufinden (SKINNER 1966, S.213; vgl. SKINNER 1978). In ihr sucht sie die Funktion einer Idee zu lokalisieren. Eine solche Programmatik grenzt sich entschieden von einer Geschichtsschreibung ab, bei der es sich „genau besehen gar nicht um Geschichtsschreibung, sondern um Mythen handelt“ (SKINNER 2009, S.24). Sie sitzt demnach in ihrer narrativ angelegten Struktur den erkenntnistheoretischen Fallstricken der Paradigmen kritiklos auf. Dadurch verfällt sie einer anachronistischen Fiktionalität, wie sie eben Kennzeichen von Mythen oder Geschichten (stories) ist. An dieser Stelle ist einzuwenden, dass es auch für bloß Geschichtsinteressierte mittlerweile eines zum Allgemeingut geworden ist: Jedwede Art von Geschichtsschreibung hat den zeitlich unüberbrückbaren Hiatus zwischen vergegenwärtigter Vergangenheit und vergangener Gegenwart hermeneutisch zu überbrücken. Hierdurch kommt Geschichtsschreibung zwangsläufig ein fiktionaler Charakter zu. Schon ROBIN GEORGE COLLINGWOOD und später HANSGEORG GADAMER weisen, wenn auch mit unterschiedlicher Aktzentsetzungen, auf die divinatorische Aufgabe des Interpreten hin. Diese liege darin, die Gedanken des Autors / Handelnden zu rekonstruieren bzw. deren in geistigen Objektivationen oder in Handlungen, Taten und Ereignissen gefassten Gedanken und Ideen subjektiv, in den Worten COLLINGWOODs ‚nachzudenken‘ (vgl. COLLINGWOOD 1955a; GADAMER 1986). Für COLLINGWOOD kann der hermeneutische Hiatus allein schon dadurch überbrückt werden, dass der Interpret das Denken der Vergangenheit in seinem eigenen Geiste nachvollziehen kann. Dieses gilt für ihn deshalb, weil Subjekt (Interpret) und Objekt (Autor) prinzipiell das Menschsein gemeinsam haben (vgl. COLLINGWOOD 1955a, S.226). Demgegenüber ist für GADAMER dieser Hiatus selbst Grenze und Bedingungsmöglichkeit von Verstehen: Es ist der durch das Überlieferungsgeschehen 153
gestiftete Erfahrungsraum des „wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins“, in dem der Interpret unhintergehbar steht. Dieses ist in Form von Vor-Urteilen, Meinungen und Sinnzuschreibungen konstitutiv für jedes Verstehen. Das Überlieferungsgeschehen oder die Tradition, in welcher der Interpret steht, ist der Horizont, der in den gemeinten Sinn eines Textes hineinragt. Dessen Horizont (historische Identität) wiederum verschmilzt mit jenem des Interpreten (Horizontverschmelzung). „Der wirkliche Sinn eines Textes, wie er den Interpreten anspricht, hängt eben nicht vom Okkasionellen ab, das der Verfasser und sein ursprüngliches Publikum darstellen. Er geht zum mindesten nicht darin auf. Denn er ist immer auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt und damit durch das Ganze des objektiven Geschichtsganges“ (GADAMER 1986, S.301). SKINNER jedoch will diese hermeneutische Limitation nicht „zum Prinzip“ erheben, sondern fordert gemäß seinem strikt kontextanalytischen Programm konstruktiv, „daß wir gegen diese Begrenztheit mit all jenen Waffen kämpfen sollten, die von Historikern in ihrem Bemühungen um eine nicht-anachronistische Rekonstruktion der fremden mentalités früherer Epochen geschmiedet worden sind“ (SKINNER 2009, S.147). Dabei geht er so weit zu fordern, dass das Pradigmata „selbst aufgegeben“ werden solle, um einer „neue[n] und angemessenere[n] Interpretation der Geschichte“ Bahn zu brechen (ebd., S.31). Solches fordert er, obschon er – und hier tut sich ein eklatanter Widerspruch in seiner Argumentation auf – solche Paradigmata zuvor für „unvermeidlich“ erklärt (ebd., S.23). Dass SKINNER diesen Widerspruch in Kauf nimmt, ist seiner radikal an einem methodologisch-methodischen Erkenntnisinteresse ausgerichteten Argumentationsweise geschuldet. Diese nimmt zwar transzendentalhermeneutische Grundlagenreflexion zur Kenntnis. Sie lässt jene aber zugunsten eines auf ein methodisches Regelwerk zielenden methodologischen Programms fallen, „the context itself in the greatest detail“ zu beschreiben (SKINNER 1966, S.211). Solcher Anspruch setzt nämlich voraus, dass der Interpret, jenseits aller VorUrteile, als jemand aufgefasst wird, der außerhalb des untersuchten Gegenstands steht und damit eine Beobachterfunktion inne hat. Die Fiktionalität der ‚alten‘ historistischen Ideengeschichte ist insofern anachronistisch zu nennen. Demnach hat sie es versäumt, die Idee in ihrem Kontext zu historisieren. Stattdessen behandelte sie die ‚Idee‘ logisch wie eine überzeitliche Größe. Diese kann aufgrund ihres ahistorischen Charakters für die Lösung gegenwärtiger Probleme verwendet werden. SKINNER erblickt in der traditionellen Ideengeschichte eine zentrale Gefahr: In der Darbietungsform der Synopse werden „verstreute und eher zufällige Bemerkungen eines klassischen Theoretikers zu einer konsistenten ‚Lehre’ über die erwarteten Themen zusammengefasst“ (SKINNER 2009, S.25). Diese konsistente Lehre abstrahiert vom 154
denkenden Bewusstsein des Autors und seinen Intentionen und wird somit vergegenständlicht. Daher nimmt es nicht wunder, wenn sich eine solche Art von Geschichtsschreibung „auf Hinweise zu frühen ‚Vorwegnahmen‘ späterer Lehren und die Würdigung verschiedener Autoren im Hinblick auf ihre hellseherischen Fähigkeiten beschränkt“ oder der Frage nachgeht, ob eine Idee bei einem Autor ‚tatsächlich‘ auftauche oder nicht (ebd., S.29). SKINNER interessiert jedoch nicht, was ein Autor zu einer bestimmten Idee zu sagen hatte. Ihm geht es vielmehr um die Frage, was ein Autor mit dem, was er sagte, gemeint hat. Mit seinem methodischen Ansatz fragt er vielmehr nach angemessenen Verfahren, mit denen es gelingen kann, die Intention des Autors in einem historisch zu verortenden Diskurs aufzuspüren (vgl. SKINNER 1988, S.29). SKINNER grenzt sich explizit vom ideengeschichtlichen Ansatz von ARTHUR ONCKEN LOVEJOY ab, der als eigentlicher Begründer der ‚alten‘ Ideengeschichte gilt. LOVEJOY fokussiert eine reifizierte Elementaridee (unit idea). Diese will er „durch alle Bereiche der menschlichen Geschichte … verfolgen, in denen sie eine größere Rolle spielt“ (LOVEJOY 1993, S.26). Ideengeschichte ist demnach der Versuch einer historischen übergeordneten Synthese im Bannstrahl einer Elementaridee. Sie ist definitorisch „etwas, das enger und doch zugleich umfassender ist als Philosophiegeschichte“ (ebd., S.11). Sie ist insofern enger als Philosophiegeschichte, als sie „sich nur mit bestimmten geschichtlichen Faktoren“ beschäftigt (ebd., S.27). Ihr Gegenstand sind Denkformen, -weisen, motive, Gedanken und Triebkräfte. Diese so genannten Elementarideen werden in einer bestimmten Epoche wirksam. Ideengeschichte ist zugleich umfassender als Philosophiegeschichte, als diese geschichtlichen Faktoren gleichzeitig in normalerweise als getrennt angesehenen Bereichen des Geistesleben wirksam sind (ebd. S.27). LOVEJOY nennt als solche Bereiche des Geisteslebens Metaphysik, Religion, moderne Wissenschaftsgeschichte, Ästhetik, Moral und politische Strömungen (vgl. ebd. S.33). Methodisch geht die Ideengeschichte analytisch vor: „So bricht sie etwa bei der Behandlung der Geschichte philosophischer Theorien in die festgefügten Systeme ein und zerteilt sie für ihren eigenen Zweck in ihre Bestandteile, in das, was man ihre letzten gedanklichen Bestandteile, ihre Elementarideen nennen könnte“ (ebd. S.11). Ein Resultat der Ideengeschichte soll also sein, „daß die Originalität oder Eigenart der meisten philosophischen Systeme nicht in ihren gedanklichen Bestandteilen selbst, sondern in deren Anordnung und Verknüpfung liegt“ (ebd. S.11f.). Nicht die Qualität der gedanklichen Bestandteile eines philosophischen Systems ist maßgebend, sondern die ihrer Anordnung und Verknüpfung. Denn „in Wahrheit ist ... die Anzahl der eigenständigen und originellen philosophischen Gedanken oder Motive sehr begrenzt“ (ebd, S.12).
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Eine Elementaridee besteht dann lediglich aus einem „ausgesprochenen Satz oder ‚Prinzip‘ und aus einigen weiteren Sätzen, die aus dem ersten, ob wirklich oder angeblich, sei dahingestellt, folgen“ (ebd., S.25). Die Elementaridee der „großen Kette der Wesen“ besteht in dem erstmals bei PLATON formulierten „Prinzip der Fülle“ seiner Ideenlehre: Alles denkbar Mögliche muss auch wirklich werden. Anders ergäbe die Rede von einer autarken vollkommenen Ideenwelt keinen Sinn. Denn sie ist auf die reale Manifestation ihrer Ideale (Urbilder) angewiesen, in der sie sich erfüllt. Somit ergibt sich aus dem Seienden der Ideenwelt die Vielfalt des Daseinden im Universum. Diese Vielfalt konkretisiert sich einerseits in der Vorstellung einer „Anordnung aller Dinge in einer einzigen aufsteigenden Hierarchie der Vollkommenheit“ (ebd., S.77) und andererseits in der Vorstellung, dass „es zwischen zwei natürlichen Arten eine (denkmögliche) weitere Art gibt“ (ebd., S.76), die ihrerseits verwirklicht (erfüllt) werden muss, ad infinitum. Aus dem Prinzip der Fülle, der Idee aller Ideen, leiten sich deshalb die Sätze oder Prinzipien von der linearen Abstufung aller Wesen (von Gott bis zu den niedersten Tierarten) und von der Kontinuität dieser Fülle ab. Dieses platonische und von ARISTOTELES zur Reife gebrachte Prinzip und die aus ihm abgeleiteten Sätze verfolgt LOVEJOY durch die Ideengeschichte des abendländischen Denkens. Er spürt es dort auf, wo es seine historische Wirksamkeit entfaltete. Beispiele sind für ihn der Neuplatonismus, die Theologie und Kosmologie des Mittelalters, JOHN LOCKE, die Monadologie von GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ oder die Ontologie BARUCH SPINOZAs, die Ethik der ‚klugen Mittelmäßigkeit‘ der Aufklärung und schließlich die Klassiker und Romantiker FRIEDRICH VON SCHILLER, FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER und FRIEDRICH VON SCHLEGEL, welche alle nur erdenklichen Erfassungen und Wiedergaben des Mannigfaltigen und der Möglichkeiten, insbesondere in Ästhetik und Poesie, beschwören und feiern. Für die Vermittlung von pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie in ideengeschichtlicher Absicht ist es aufschlussreich, dass BÖHMs ‚Geschichte der Pädagogik‘ ebenso mit einer solchen Elementaridee aufwartet. Diese nennt er die Idee der Pädagogik (im Singular): „Der Mensch ist jenes Wesen, das seine Bestimmung nicht von außen empfängt, sondern sich selber gibt und selber geben muss, um auf diese Weise zum authentischen Autor seiner eigenen Lebens- und Sinngeschichte zu werden“ (BÖHM 2004, S.10). Diese im Denken der griechischen Antike erstmals grundgelegte Idee der paideia verfolgt BÖHM in ihrer „‚schichtweise[n]‘ Anreicherung“ (ebd., S.8) von ‚Platon bis zur Gegenwart‘. Die metaphorische Rede von der schichtweisen Anreicherung ist typisch für die aus der biologischen Organologie entlehnte Vorstellung der Verfahrensweise traditioneller Ideengeschichte. Die historische Rekonstruktion der aus personalistischer Perspektive zu entfaltenden Idee der Pädagogik 156
sucht expliziten Anschluss an die History of Ideas à la LOVEJOY und andere diese Methode verwendenden Autoren wie GEORGE BOAS, JOHN PASSMORE, ISAIAH BERLIN und MORTIMER J. ADLER. Insofern verweist HEINZ-ELMAR TENORTH in seiner Rezension BÖHMs zu Recht darauf, dass dieser „die seit, wegen und nach Lovejoy inzwischen entfaltete historiographische Kritik der alten history of ideas“ ignoriere. „Die Pointe dieser Kritik bestand ja darin, dass die Idee selbst historisiert und kontextualisiert wurde, und zwar radikal, in ihrer Begründung und Form ebenso wie in ihrer Genese und Funktion, und die Cambridge School hat uns seit 30 Jahren demonstriert, warum es schwierig ist, so rigide den Kontext auszublenden, wie es hier geschieht“ (TENORTH 2005, S.737). Es ist an dieser Stelle zu vermerken, dass die Kritik an der ‚alten‘ Ideengeschichte nicht pauschal gefällt werden darf. Vielmehr muss sie bedingt eingeschränkt werden. Denn die ‚neue‘ Ideengeschichte entwickelte einen Ansatz weiter, der auch in LOVEJOYs Buch als eine Art, Ideengeschichte zu betreiben, theoretisch durchaus vorgestellt wird. Freilich aber wird sie von ihm nicht praktiziert. Es geht bei dieser Art um eine philosophische Semantik. Diese geht von der Vielfalt der Bedeutungen historischer Wörter und Begriffe aus. Solchen Wörtern und Begriffen wird allerdings „die Eigenschaft selbständig wirksamer geschichtlicher Kräfte“ zugeschrieben (vgl. LOVEJOY 1993, S.25). Diese historischen Kräfte werden durch den Gebrauch neuer, bisher jeweils unbeachteter Bedeutungsnuancen der Wörter und Begriffe in einer bestimmten Situation historisch entfesselt und wirksam. Dergestalt führen sie zu einem Wandel von Überzeugungen, Wertmaßstäben und Geschmäckern. Die ‚neue‘ Ideengeschichte strebt freilich dezidiert eine entscheidende Wende an: Diese unterstellte historische Wirksamkeit wird als nichts den Wörtern und Begriffen Immanentes angesehen. Vielmehr wird Wirksamkeit von bewussten Wesenheiten (Personen) initiiert. Diese auktoriale Wende, wie man den linguistic turn in der Geschichtswissenschaft ergänzend nennen könnte, wird zum Kristallisationspunkt der Kritik an jenem Modus jener der Entitätslogik verhaftenden Ideengeschichte zugespitzt, die von einer eindeutigen und eigenlogischen Elementaridee ausgeht. 4
Skinner zwischen Wittgenstein und Austin
Nach SKINNER darf in keinem Fall interpretatorischer Bemühungen die Einsicht ignoriert werden, „niemals [zu] behaupten, ein Akteuer (agent) habe etwas gemeint oder getan, das er selbst unter keinen Umständen als zutreffende Beschreibung dessen akzeptieren würde, was er gemeint oder getan hat“ (SKINNER 2009, S.48). Daraus folgt als Voraussetzung für ein „adäquates 157
Verständnis der in der Ideengeschichte untersuchten Texte … dass wir nicht nur die Bedeutung des Gesagten erläutern können, sondern auch das, was der jeweilige Autor gemeint haben könnte, indem er sagte, was er sagte“ (ebd., S.51). Hieraus erwächst für die Ideengeschichte die doppelte hermeneutische Aufgabe des Verstehens einer zweifachen Bedeutung von ‚Bedeutung‘. Diese gleich näher zu erläuternde Unterscheidung überträgt SKINNER auf die Ideengeschichte im Anschluss an seine Auseinandersetzung mit der sprachanalytischen Philosophie WITTGENSTEINs und der aus ihr indirekt hervorgegangenen Sprechakttheorie AUSTINs (vgl. zum Einfluss WITTGENSTEINs auf AUSTIN: HACKER 1997, S.185). SKINNER zielt auf eine Synthese der Einsichten WITTGENSTEINs zum Erfassen von Bedeutungen und der Einsichten AUSTINs zum Zusammenhang von Bedeutung und Gebrauch. In dieser Synthese sieht er „einen äußerst vielversprechenden hermeneutischen Ansatz … für die Ideengeschichte im besonderen wie für die Kulturwissenschaften im allgemeinen“ (ebd., S.64). SKINNER setzt in sprachanalytischer Tradition die Begriffe Bedeutung und Verstehen in ein korrelatives Verhältnis. Man muss die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks (verstanden als Vorgang und Ergebnis einer sprachlichen Äußerung (utterance) kennen, um diesen zu verstehen. Der Begriff der Bedeutung ist allerdings selbst schillernd, komplex und mehrdeutig. Bedeutung ist, wie man in Anlehnung an AUGUSTINUS meinen könnte, nicht einfach der Gegenstand, den der sprachliche Ausdruck bezeichnet. Vielmehr umfasst sie ebenso seinen Gebrauch (use). Diese sowohl semantische als auch pragmatische Bedeutung von ‚Bedeutung‘ entfaltet WITTGENSTEIN wie folgt: „Kann denn aber nicht die Bedeutung eines Wortes, die ich verstehe, zum Sinn des Satzes, den ich verstehe, passen? Oder die Bedeutung eines Wortes zur Bedeutung eines andern? – Freilich, wenn die Bedeutung der Gebrauch ist, den wir vom Worte machen, dann hat es keinen Sinn, von so einem Passen zu reden. Nun verstehen wir aber die Bedeutung eines Wortes, wenn wir es hören, oder aussprechen; wir erfassen sie mit einem Schlage; und was wir so erfassen, ist doch etwas Anderes als der in der Zeit ausgedehnte ‚Gebrauch‘!“ (WITTGENSTEIN 1984, S.308).
Zwischen dem Erfassen des in unserer Vorstellung vergegenwärtigten Gegenstands bei der Äußerung eines Wortes und seinem Gebrauch besteht ein für die Bedeutung des Wortes konstitutiver Unterschied. Der Begriff Sprachspiel verdeutlicht in diesem Kontext, dass es verschiedene, durch explizite Regeln konventionell bestimmte Arten und Weisen gibt, wie Sprache gebraucht werden kann (z.B. als Behauptung, Frage, Befehl). Sprache ist eingebettet in eine umfassendere Lebensform. Diese macht den nichtsprachlichen Kontext von Sprache aus und ist dennoch gleichzeitig für ihre Bedeutung konstitutiv. Dass z.B. ein Ausruf wie ‚Platte!‘ als Befehl im Sinne von ‚Hol’ mir eine Platte‘ verstanden wird, hängt entschieden vom Kontext ab, in dem dieser Ausruf fällt, 158
also z.B. vom Wissen um das Verhältnis zwischen einem Altgesellen und einem Lehrling des Pflastererhandwerks. Die Bedeutung eines Wortes als seinen Gebrauch in der Sprache zu interpretieren, heißt für WITTGENSTEIN nichts anderes als mit diesem Wort etwas zu tun, also mit Sprache zu handeln. Da zwar nicht jedes Tun eine Handlung ist, aber jede Handlung ein Tun, gehören zu den begrifflich und sachlich geformten Bausteinen der intentionale und regelhafte bzw. konventionale Charakter von Handlungen, um sie als solche von einem beliebigen, versehentlichen Tun (z.B. Gähnen, Niesen etc.) abzugrenzen. AUSTIN versucht in seiner ‚Theorie der Sprechakte‘ WITTGENSTEINs Sprachspiel-These systematisch zu rekonstruieren. Ihn interessiert, was exakt es heißt, Sprache zu gebrauchen. Dabei räumt er Sprache grundlegend den Vorrang der Performanz ein. Dieses meint, dass mit einer Aussage, Behauptung etc. jederzeit eine performative Äußerung, mithin ein Sprech-Akt vollzogen wird: Indem wir etwas sagen, tun wir etwas. AUSTIN gibt die dichotomische Differenz zwischen konstativen und performativen Äußerungen, zwischen Sagen (wie aussagen und behaupten) und Tun (wie befehlen, warnen und heiraten) zugunsten der triadischen Unterscheidung von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten auf. Alle drei Akte bezeichnen drei verschiedene Dimensionen des Gebrauchs von Sprache; dass man etwas sagt; indem man etwas sagt und dadurch, dass man etwas sagt. Übertragen auf das Beispiel gibt es drei Gebrauchsarten des rudimentären Satzes ‚Platte!‘. Ausgesprochen hätte er auch auswerden können als ‚Hol mir die Platte!‘. 1. Lokutionärer Akt: A sagt, dass B die Platte holen solle. 2. Illokutionärer Akt: Indem A sagt, dass B die Platte holen solle, befiehlt er. 3. Perlokutionärer Akt: Dadurch dass A sagt, dass B die Platte holen solle, bewirkt A Unwille, Verweigerung, Motivation etc. Während der lokutionäre Akt mit einer bestimmten sprachkonventionellen Phonetik, Morphematik und Grammatik die Tatsache beschreibt, dass B die Platte holen solle, und der Sprecher mit ihm etwas Bestimmtes (sense) über etwas Bestimmtes (reference) sagt, verleiht der Sprecher dem illokutionären Akt die Rolle oder Kraft (force) eines Befehls. Mit dieser Unterscheidung weist AUSTIN darauf hin, dass es völlig klar sein kann, was die Bedeutung (als sense und reference) eines Satzes oder Äußerung in einem neutralen Kontext sein kann, hier: dass von A gesagt wird, dass B die Platte holen solle; ohne dass klar ist, mit welcher Kraft sie vollzogen wird. Dementsprechend unterscheidet er zwischen der lokutionären Bedeutung einer sprachlichen Äußerung und ihrer illokutionären Kraft. Die Kraft von 2. ist ein Befehl. Sie ist das Instrument, um die Intention des Sprechers auszudrücken; die Intention 1. das Verständnis zu sichern (secure uptake), 2. mit Hilfe eines konventionellen Verfahrens (conventional procedure) einen konventionalen Effekt (conventional effect) zu erzielen und 3. zu einer Antwort herauszufordern (vgl. AUSTIN 1997, S. 133). In 159
einem spezifischen Kontext wird ein konventionaler Zusammenhang aus Sprachund Sozialkonventionen hergestellt, hier: im Rahmen von Bauarbeiten wird ein Befehl von A an B gerichtet. Die perlokutionäre Wirkung hingegen ist das, was beim Hörer kausal bewirkt wird: innere Einstellungen, wie Widerwille, Zustimmung, Vorbehalte etc., worüber der Sprecher, im Gegensatz zum illokutionären Akt, kaum Kontrolle hat. Es ist der illokutionäre Akt, dem AUSTIN überwiegend sein Interesse zuwendet, weil er seiner konventionalistischen Auffassung von Bedeutung beträchtlich nahe kommt. Dies wiederum grenzt ihn von WITTGENSTEIN ab, der von der Bedeutung als einen regelgeleiteten Zweck (s.o.) ein eher intentionalistisches Bedeutungsverständnis verficht. Hierzu ist zu sagen, dass weder WITTGENSTEIN ein reiner Intentionalist noch AUSTIN ein bloßer Konventionalist zu nennen ist. Vielmehr widmen sie sich verstärkt einem Aspekt der Bedeutungskonstitution von Sprache zu. SKINNER macht sich diese jeweilige Schwerpunktverlagerung zu nutze, indem er später auf Akte verweist, die verstanden werden, wenn man sie im Lichte des Wechselspiels von Intentionen und Konventionen untersucht. 5
Skinner zwischen Intentionen und Konventionen
Vor diesem sprachtheoretischen Hintergrund entfaltet SKINNER die Annahme einer doppelten hermeneutischen Aufgabe für das Verstehen der Texte der (politischen) Ideengeschichte. Er bewegt sich im Zuge dieses linguistic turn der politischen Ideengeschichte der ‚Cambridge School’ (vgl. IGGERS 1995). Dabei rückt für SKINNER der in der Hermeneutik GADAMERs stark vernachlässigte Begriff der Intention zum Herzstück seiner Methodologie auf: Er unterscheidet zwischen dem, was der Autor zu sagen beabsichtigte, und dem, was der Autor mit dem, was er sagte, beabsichtigte, indem er es sagte. Diese Unterscheidung basiert „on the fact that authors actually do things with words“ (BOUCHER 1985, S. 193). Die eine Absicht betrifft die semantische Ebene: Mit ‚Hol mir die Platte!‘ beabsichtigt A zu sagen, dass B die Platte holen solle. Die andere Absicht betrifft die auktoriale: Indem A sagt, dass B die Platte holen solle, befiehlt er. Was ein Autor also meinte, indem er etwas schrieb, ist seine Absicht. Die hieraus abgeleitete hermeneutische Herangehensweise ist einerseits das Erfassen und Verstehen dessen, was ein Autor sagte (Lokution) und dessen, was er mit dem, was er sagte, meinte (Illokution). Die Dimension der individuellen Mitteilung wird dadurch verstärkt exponiert: „Wir müssen auch herausfinden, was der Sprecher getan haben könnte, indem er sagte, was er sagte; was er also gemeint haben könnte, als er einen Satz mit einem ganz bestimmten Sinn (sense) und einer ganz bestimmten Bedeutung (reference) äußerte“ (SKINNER 2009, 160
S.65). Die Bedeutung eines Textes (im Sinne lokutionärer Bedeutung und illokutionärer Kraft) ist mutatis mutandis dann bekannt, wenn die semantische und die auktoriale Absicht des Autors verstanden sind (vgl. ebd. S. 9ff.). Aus diesem Grund unterscheidet SKINNER zwischen drei Dimensionen von Bedeutung (meaning), in denen sich die drei Gebrauchsarten von Sprache im Sinne AUSTINs reflektieren: Meaning (1): Bedeutung von Wörtern und Sätzen (Semantische Bedeutung). Meaning (2): Bedeutung für den Leser (Wirkungsbedeutung). Meaning (3): Bedeutung als Differenz zwischen Sagen und Meinen (Intendierte Bedeutung) Der dreidimensionale Bedeutungsbegriff zieht entsprechend drei hermeneutische Fragen nach sich, die sich für den Interpreten eines Textes ergeben: 1. 2. 3.
„What do the words mean, or what do certain specific words or sentences mean in this work?” 6 „What does this work mean to me?“ „What does the writer mean by what he says in this work?” (vgl. SKINNER 1988b, S.70; SKINNER 2007, S. 91ff.)
Um seinen Ansatz zur Rehabilitierung des Autors und des Aufspürens seiner Intentionen zu präzisieren, geht es SKINNER um die Klärung des Verhältnisses der sprachlichen Dimension der illokutionären Kraft (illocutionary force) zu der Fähigkeit des Sprechers, „sich diese Dimension zunutze zu machen, um die Art von Sprechakten – insbesondere illokutionäre Akte – auszuführen, an deren Bestimmung er vornehmlich interessiert ist“ (SKINNER 2009, S.66). Die Unterscheidung zwischen illokutionärem Akt und illokutionärer Kraft ist eine zwischen der Äußerung des Aktes und seines Vollzugs, der im Auffassen seiner Rolle bei einem Hörer besteht. Den notwendigen Bestandteil eines solchen Vollzugs erblickt SKINNER anders als AUSTIN überwiegend in den konventionellen Effekten, die der Sprecher mit seinem Sprechakt intendiert. Illokutionäre Akte betrachtet er strikt als Handlungen. Solche Handlungen sind mit einer willlentlichen und überlegten (deliberate) Absicht verknüpft, mit der ein illokutionärer Akt nicht nur einfach geäußert, sondern auch vollzogen wird. Diese Absicht tut sich in der illokutionären Kraft kund. Daher spricht SKINNER von 6 SKINNER vernachlässigt diese Bedeutungsdimension im Hinblick auf die Erfassung der AutorenIntention, weil klar sei „that the question of what a given work of litarary art may meant to a given reader can be settled quite independently of any consideration of what its creator may have intended.“ (SKINNER 1988, S.75) Die Interpretation von meaning (2) ist nicht kontextspezifisch wie meaning (3). Vielmehr sei ihre Interpretation „equivalent to appropriating it for our own purposes“ (SKINNER 2007, S.92). Applikationshermeneutische Tendenzen verstellen für SKINNER prinzipiell den Blick auf die Autoren-Intention.
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einer solchen Absicht als einer intendierten illokutionären Rolle (intended illocutionary force). Wenn die intendierte Bedeutung irgendeines Werks „in terms of its intended illocutionary force“ (SKINNER 1988b, S.76) rekonstruiert wird, dann ist diese Bedeutung (meaning 3.) eines Werks gleichbedeutend mit dem, was die Intention des Schreibers hätte sein können: „To gain ‚uptake‘ [Erfassen, Begreifen, Verstehen] of these intentions is equivalent to understanding the nature and arrange of the illocutionary acts which the writer may have been performing in writing in this particular way“ (ebd.). Der Autor tut etwas, indem er schreibt. Darin kommt jenes zum Ausdruck, was SKINNER als illokutionäre Intention bezeichnet. Was er beispielsweise tut, ist, „to attack or defend a particular line of argument, to criticize or contribute to a particular tradition of discourse, and so on. [Herv. M.E.]“ (ebd., S.76). Argumentative und diskursive Verben bezeichnen dieses intentionale Tun. Eine Bedeutung eines Werks ist, um im Beispiel zu bleiben, dass sein Autor intendierte, ein Argument anzugreifen oder zu verteidigen oder eine bestimmte Tradition eines Diskurses zu kritisieren oder zu ihr beizutragen. Das Werk mit diesen Verben als eine soziale Aktivität (social activity) zu charakterisieren, heißt seine Bedeutung als illokutionäre Kraft zu bestimmen. Indem der Autor diese oder jene Äußerung schrieb, tat er dieses (angreifen, verteidigen) oder jenes (kritisieren, beitragen). Die intendierte illokutionäre Kraft ist nichts der Aussage Äußerliches. Sie ist kein Motiv oder kausaler Beweggrund, etwas zu tun, sondern eine Intention, indem man etwas tut und damit integraler Bestandteil der Aussage selbst (vgl. auch SKINNER 1971, 1974). Die illokutionäre Kraft ist also ein sprachliches Mittel, mit der ein Sprecher seine Intention expliziert. Der illokutionäre Akt hingegen ist die Fähigkeit, sich dieses sprachlichen Mittels auch zu bedienen und seine Intention als solche kenntlich zu machen. „Das Verstehen von Texten setzt voraus, daß wir sowohl die beabsichtigte Bedeutung dieser Texte erfassen als auch das beabsichtige Verständnis dieser Bedeutung. Um einen Text zu verstehen, müssen wir also sowohl die Absicht verstehen, die verstanden werden sollte, als auch die Absicht, daß diese Absicht verstanden werden sollte, die der Text als intentionaler Akt der Mitteilung beinhalten muss“ (SKINNER 2009, S.60). Hiermit offeriert SKINNER einen komplexen Begriff von Intention. Dieser führt die Bedeutung auf eine Autoren-Bedeutung im Sinne der Post-Austinianer PAUL GRICE und PETER FREDERICK STRAWSON zurück (vgl. STRAWSON 1974). Es geht also um eine intendierte Bedeutung, die nicht allein auf eine konventionale eingeschränkt ist. Ein illokutionärer Akt, verstanden als „nicht-wesentlich konventionaler Akt“ (vgl. ebd.), braucht nicht, wie AUSTIN unterstellt hat, immer konventional zu sein, wenn er nur mit der offenkundigen und komplexen Intention vollzogen wurde. Solches ist etwa dann der Fall, wenn der Sprecher nicht nur den illo162
kutionären Akt vollzieht, sondern auch explizit macht, was er beabsichtigt. Performative Verben übernehmen diese Explizierung, indem sie angeben, mit welcher Kraft der illokutionäre Akt geäußert wurde. (‚Ich warne Dich, das Eis dort drüben ist dünn!‘) Ein Autor hat nicht nur irgendeine Absicht, sondern auch die Absicht, dass diese Absicht verstanden wird. Erst vor dem Hintergrund dieser Voraussetzung kann er auch als Autorität über seine Intentionen auftreten, die er innerhalb eines spezifischen Diskurszusammenhangs, -gefüges oder -netzes von Autoren repräsentiert und mit der er in dieses Diskursgeschehen eingreift. Daher insistiert SKINNER auf das Verstehen von Absichten und das Verstehen der Absicht, dass diese Absicht verstanden werden soll. SKINNER schränkt aber in Abgrenzung zu STRAWSON die Behauptung ein, dass eine Intention dann schon verstanden ist, wenn sie mit der notwendigen Offenkundigkeit und Komplexität vollzogen wird. Er betont jene Fälle, in denen die illokutionäre Kraft nichtoffenkundig (non-avowable) oder indirekt (oblique) zum Ausdruck kommt. So kann ein Akt ‚Das Eis dort drüben ist dünn‘ ohne performativen Zusatz als nichtoffenkundiger illokutionärer Akt (non-avowable illocutionary act) geäußert werden. Auch gibt es indirekte illokutionäre Akte (oblique illocutionary act). Deren Kräfte – andeuten (adumbrate), anspielen (allude) oder ignorieren (ignore) – können nicht auf eine performative Formulierung reduziert werden. Des Weiteren gibt es Akte, deren Explizierung paradoxe Ergebnisse zeitigen würden, nämlich die Zerstörung der Intention selbst (‚Hiermit verspotte ich dich.‘) (vgl. SKINNER 1983, S. 269ff.). Demnach müssen zwei wesentliche Komplexe zusammenkommen. Erst in ihrem Zusammenspiel wird geregelt, was in dieser bestimmen Situation als Warnung, Andeutung, Anspielung und Ignoranz zählt. Zum einen braucht es soziale Konventionen wie Lebens- und Handlungsformen, Einstellungen, Haltungen und Tätigkeiten. Zum anderen müssen Sprachkonventionen wie Vokabulare, Konzepte und Kriterien von Richtig/ Falsch gegeben sein. Diese Konventionen müssen nicht niedergeschrieben, vereinbart oder kodifiziert sein. Sie bilden sich vielmehr im Wandel der Sozialund Sprachgeschichte heraus. Erst auf ihrer Basis ist es möglich, einer Kommunikationssituation zwischen Sprecher und Hörer wechselseitig intuitiv folgen zu können. Damit ein Autor verstanden wird, kommt er nicht umhin, sich bestimmter sprachlich-sozialer Konventionen zu bedienen. Diese bilden zugleich den Horizont alles dessen, was er auch hätte sagen können: „[I]f S[peaker]’s speech act is also an act of social and linguistic innovation which S nevertheless intends or at least hopes will be understood, the act must necessarily, and for that reason, take the form of an extension or criticism of some existing attitude or project which is already convention-governed and understood. It seems a necessary truth that unless the innovation either takes such a form, or can be reduced to it, it will 163
stand no chance of being understood, and so can hardly count even as an intended act of communication“ [Herv. M.E.] (SKINNER 1983, S.279). SKINNERs Methodologie setzt an der Tatsache an, dass sprachliche Bedeutung zwischen Intention und Konvention konstituiert wird (vgl. weiterführend EICKER 2005). Zugleich aber lässt sie sich unter Berücksichtigung beider Pole idealiter als komplexe Intention oder regelgeleiteter Zweck näher differenzieren. Im ersten Extremfall ist die Bedeutung eines Satzes dann verstanden, wenn er mit der notwendigen komplexen Intention geäußert wurde. Im zweiten ist sie dann verstanden, wenn er den intendierten konventionellen Zweck erfüllt. Für illokutionäre Akte ist es jedoch typisch, dass in ihnen beide Dimensionen präsent sind: Intentionen und Konventionen. 6
Zwischen Ideologie (Sprache) und Praxis (Politik): Skinners Methode der Kontextanalyse
Für SKINNERs Methode des Aufspürens auktorialer Intention ist es unabdingbar, die konventionelle Sprache (ideology) eines Diskurses weitestmöglich zu erfassen. Es wird der linguistische oder ideologische Kontext (linguistic oder ideology context)7 eruiert, in dem die Ideen kursieren. „An ideology is a language of politics defined by its conventions and employed by a number of writers“ (TULLY 1988, S.9). Der ideologische Kontext ist weiter gefasst als der linguistische, dafür aber klar umgrenzt. Er ist „… the collection of texts written or used in the same period, addressed to the same or similar issues and sharing a number of conventions“ (ebd.). Eine konventionelle ideologische Sprache ist das, was eine Anzahl von Texten durch relevante sprachliche Gemeinplätze eint. Zu ihrem Corpus gehören „shared vocabulary, principles, assumptions, criteria for testing knowledge-claims, problems, conceptual distinctions and so on“ (ebd.). Ein Interpret, der die von einem Autorenkollektiv geteilten sprachliche Konventionen eines bestimmten Themas ignoriert, wird also weder die Absicht des Autors verstehen, noch dessen Absicht verstehen, das Verständnis dieser Absicht zu sichern. Denn nur mit Blick auf Konventionen lässt sich ausmachen, ob ein Autor diese angreift oder befürwortet, ablehnt oder unterstützt. Stimmt er 7 SKINNERs Methode fokussiert nicht nur einzelne klassische Texte. Vielmehr verortet sie diese im Rahmen abseitiger, weniger bekannter, zeitgenössischer Texte, wie Pamphlete, Streitschriften und Flugblätter, die einen eher ‚ideologischen‘ Charakter haben und daher den vorherrschenden normativen Vokabular unterliegen. Somit kommt diese Berücksichtung normalerweise als nichtklassisch betrachteter Texte seinem Anliegen zu pass, eine „history of ideologies“ in einem „ideological context“, eine politische Geschichte „with a genuinely historical charakter“ zu schreiben (SKINNER 1978, xi).
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gegen die Konventionen, indem er etwa einen Begriff oder ein Konzept oder eine zeitgenössische Vorstellung umdeutet, so hat man durch die Methode der diskursiven Kontextualisierung das erfasst, was SKINNER die Pointe (the point) nennt (SKINNER 1988b, S.61). Der Autor hat diese Sprachhandlung vollzogen, weil er eine herrschende konventionale Auffassung angriff. Dies ist eine – mit KARI PALONEN – „non-causal point-explanation“ der Sprachhandlung (PALONEN 2003, S.45). Diese tritt komplementär zum Verstehen, sodass die altbekannte Dichotomie von Erklären und Verstehen für SKINNER obsolet wird. Die zu erklärende Intention verhält sich zur Handlung nicht wie die externe Ursache zu einer internen Wirkung, weil die Intention Teil der Handlung selbst ist, die der Autor im Schreiben vollzieht. Zur deutlicheren Abgrenzung schlage ich deshalb vor, komplementär zum Begriff der auktorialen Intention, den Terminus der intrinsischen Intention zu verwenden. SKINNER nennt seine Methodik eine „intertextual approach“ (SKINNER 1988c, S.232). Er fasst sie wie folgt zusammen: „Im wesentlichen fordere ich, daß bei der Interpretation von Texten zunächst die Bedeutung der relevanten Äußerungen erfaßt wird [meaning (1)]; dann sollte sich der Interpret dem diskursiven Kontext dieser Äußerungen zuwenden, um zu bestimmen, in welcher Beziehung sie zu anderen Äußerungen zum selben Gegenstandsbereich stehen. Geling es ihm, diesen Kontext mit ausreichender Genauigkeit zu bestimmen, können wir schließlich daraus ablesen, was der jeweilige Sprecher oder Autor tat, indem er sagte, was er sagte [meaning (3)]“ (SKINNER 2009, S.79). Hat man eruiert, was ein Autor getan hat, indem er etwas schrieb, so bleibt die Frage nach dem Erklärungs-Grund, die Frage also nach dem: ‚Warum‘. „Wir müssen verstehen, warum jemand eine bestimmte Äußerung macht, wenn wir die Äußerung verstehen wollen“ (ebd., S.78). Dahinter steht die von COLLINGWOOD beschriebene Logik von Frage und Antwort. Diese stellt das Prinzip der ‚Gedankeneinheit‘ (unit of thought) der Aussagen-Logiken in Abrede. Nach jener Logik besteht das hermeneutische Anliegen nicht darin, die Bedeutung einer Aussage zu suchen, die in sich entweder falsch oder richtig ist. Vielmehr liegt die hermeneutische Aufgabe darin, jene Frage zu suchen, auf welche die Aussage/der Text die Antwort war. Eine Aussage hat nur dann Sinn bzw. ist richtig, wenn die bestimmte Frage verstanden wird, auf die sie die Antwort ist (vgl. COLLINGWOOD 1955, S.35). Zwei Aussagen, die sich scheinbar widersprechen, sind demnach zwei Antworten auf zwei bestimmte Fragen. Damit müssen auch widerstrebende Aussagen nicht unbedingt als widersprüchliche gedeutet werden. Zur Erläuterung: Die metaphysischen Aussagen ‚Die Welt ist Eines‘ und ‚Die Welt ist Vieles‘ sind logisch nicht widersprüchlich, weil und insofern sie auf verschiedene Fragen antworten. Die eine beantwortet die Frage: ‚Gibt es auf der Welt eine Art von Ding oder mehrere Arten von Ding? Die andere aber gibt 165
Antwort auf die Frage: ‚Gibt es auf der Welt ein Ding oder mehrere Dinge?‘ Diese Frage-Antwort-Logik ist ihrerseits COLLINGWOODs epistemologische Antwort auf die geschichtsphilosophische Frage, wie historische Erkenntnis möglich sei. Diese geht davon aus, dass sich die Lösungen für Probleme zu unterschiedlichen Zeiten voneinander unterscheiden. Dieses geschieht deshalb, weil sich mit den ständig sich wandelnden Problemen auch deren Lösungen wandeln. Wird diese Logik auf das Verstehen der Texte der Ideengeschichte übertragen, wird zunächst vorausgesetzt, dass Ideengeschichte keine „Geschichte verschiedener Antworten ist, die auf ein und dieselbe Frage gegeben wurde“ (ebd., S.62). Demgemäß werden die untersuchten Texte als in einer Kommunikationssituation aufgehoben betrachtet. In dieser stehen die argumentativen Äußerungen der Autoren nicht isoliert nebeneinander, sondern stehen „als Manöver, Positionierung oder Stellungnahme“ in Konfrontation oder Einklang zueinander (SKINNER 2009, S.78). In diesem Zueinanderstehen sind sie stets im Hinblick auf die in einer Zeit gesellschafts-politisch relevanten Fragen verknüpft: „Denn aus einem Text, der die Lösung eines Problems bietet, kann zugleich nachgewiesen werden, wie das Problem lautet, und die Tatsache, daß wir sein Problem identifizieren können, ist daher Beweis genug, daß es auch gelöst ist. Wir kennen also ein Problem nur dann wirklich, wenn wir von der Lösung her darauf zurückschließen“ (COLLINGWOOD 1955, S.69).
Darum reicht der allgemeine diskursiv-intellektuelle Kontext nicht aus. Er dient, wie eben gesehen, zum Aufspüren der intendierten illokutionären Kraft. Seine Rekonstruktion muss um einen zweiten, den sozialen, Kontext erweitert werden. Diesem weist SKINNER jedoch in ‚Bedeutung und Verstehen‘ zunächst eine nur sekundäre Rolle zu. Diese liegt in seiner Funktion für die nähere Bestimmung der in einer Gesellschaft vorherrschenden sozialen Konventionen: „Der soziale Kontext fungiert als grundlegender Bezugsrahmen (frame of reference), von dem her zu entscheiden ist, welche der konventionell möglichen Bedeutungen jemand überhaupt mitzuteilen beabsichtigt haben könnte“ (SKINNER 2009, S.61). Darüber hinaus aber ist er noch mehr. Diesen Surplus erläutert JAMES TULLY: Der soziale Kontext, genauer: der praktisch-politische Kontext „is the problematic political activity or ‚relevant characteristics‘ of the society the author addresses and to which the text is a response. Skinner believes that in advancing answers to questions of ideological debate the political theorist is responding to the political problems of the age“ (TULLY 1988, S.10). Es ist in der Zusammenführung des sprachlich-ideologischen Kontextes des „intertextual approach“ sowie des praktisch-politischen Kontextes des „historical approach“ (ebd., S.232) zu fragen, was 1. ein Autor getan hat, indem er einen Text schrieb und 2. was ein Autor getan hat, indem er einen Text schrieb im Verhältnis zu einer belegbaren und problematischen politischen Handlung, die den praktischen Kontext bildet. 166
Um diese Methode zu exemplifizieren, verweist SKINNER auf den Politiktheoretiker und –praktiker MACHIAVELLI. In dessen Abhandlung ‚Il Principe’/‚Der Fürst‘ findet sich folgende Sprachhandlung: „Daher muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und dies anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Stunde“ (MACHIAVELLI 2007, S.119). Es gibt zwei alternative Wahrheiten zu dieser Aussage. Entweder tauchte dieser zynische Ratschlag in den moralischen Abhandlungen der Renaissance-Zeit häufig auf, oder jemand hatte kaum jemals öffentlich einen solchen Ratschlag als Richtschnur (precept) für moralisches Verhalten eines Fürsten gegeben. SKINNER erläutert: „If the answer is the first alternative, the intended force of the utterance itself in the mind of the agent who uttered it can only have been to endorse or emphasize an accepted moral attitude... But if the answer is the second, the intended force of the utterance becomes more like that of rejecting] or repudiating an established moral commonplace“ (SKINNER 2009, S.61f.). Man kann sich für das Verständnis der Äußerung MACHIVALLIs weder einzig auf die wörtliche Bedeutung der Aussage noch allein auf den sozialen Kontext beziehen. Der erste Bezug ergäbe, dass MACHIAVELLI behauptete, ein Fürst habe nicht tugendhaft zu sein. Der zweite Ansatz würde behaupten, dass die Praktik der Gewalt ein in den italienischen Renaissance-Fürstentümern übliches Mittel der Machterhaltung war. Vielmehr gilt: „The further point which must still be grasped for any given statement is how, what was said, was meant, and thus what relations there may have been between various different statements even within the same general context“ (ebd., S.62). Nach SKINNER ist also im Rahmen des ideologisch-linguistischen Kontextes einen Blick auf das zu MACHIAVELLIs Zeit um 1513 verbreitete literarische Genre der humanistischen Fürstenspiegel zu werfen. Werden Texte dieser Gattung betrachtet, so wird in ihnen ein humanistisches Tugend-Ideal deutlich. Sie orientieren sich an den in der griechisch-römischen Antike formulierten Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit und Mäßigkeit, ergänzen diese aber um die Fürstentugenden Freigebigkeit, Milde und Wahrhaftigkeit. Im Unterschied zu solchen Fürstenspiegeln lehnt MACHIAVELLI die Vorstellung ab, ein Fürst habe tugendhaft zu sein. Daraus ist aber noch nicht der interpretatorische Fehlschluss zu ziehen, MACHIAVELLI habe einer brutalen, rücksichtslosen Politik das Wort geredet. Zwar „unterstützt [er] die konventionelle Annahme, daß virtù der Name jener Sammlung von Eigenschaften ist, die einen Fürsten dazu befähigen, mit Fortuna ein Bündnis einzugehen und Ehre, Ruhm und Prestige zu erlangen. Aber er trennt die Bedeutung dieses Begriffs von jeder notwendigen Verbindung mit den Kardinal- und Fürstentugenden. Stattdessen argumentiert er, daß das definie167
rende Merkmal eines wahrhaft virtuoso Fürsten die Bereitwilligkeit ist, alles zu tun, was die Notwendigkeit verlangt, um seine Ziele zu erreichen – unabhängig davon, ob seine Handlungen niederträchtig oder tugendhaft sind. Auf diese Weise bezeichnet virtù schließlich genau die erforderliche Eigenschaft moralischer Flexibilität bei einem Fürsten…“ (SKINNER 1988a, S.69). Der Grund dieses Begriffswandels von Tugend wird aus dem praktischpolitischen Kontext erklärlich. Die Ausleuchtung dieses Hintergrundes macht klar, dass MACHIAVELLI den herrschenden MEDICI eine Legitimationsgrundlage verschaffen wollte. Es ging darum, gewalttätige Aktivitäten gegen spanische und französische Volksangehörige in ihrem Fürstentum zu legitimieren, damit diese aus dem Land getrieben werden (vgl. TULLY 1988, S.11). Die politische Pointe MACHIVAELLIs besteht somit darin, dass er, indem er einen konventionellen Begriff der Theorie der Fürstentugenden zugleich anerkannte und für seine Zwecke ablehnte, die politische Wirklichkeit veränderte. Diese durch Begriffserweiterung erfolgte kritische Umdeutung ermöglichte es ihm, praktisch in eine konkrete politisch-soziale Wirklichkeit einzugreifen. Diese Möglichkeit verdankte er seiner Veränderung des hinter dem Begriff stehenden Konzeptes von Tugend als moralischer Flexibilität. So ist ein reflexiver Verweisungszusammenhang zwischen politischer Theorie und politischer Praxis, zwischen politischem Text und sozialhistorischen Kontext, zwischen (politscher) Sprache und (politischer) Realität aufgezeigt. Nicht nur nimmt sozial-politische Wirklichkeit Einfluss auf politische Theorie. Vielmehr beeinflusst politische Theorie auch umgekehrt Wirklichkeit. Über Begriffswandel als Sprachhandlung nimmt sie Einfluss auf jene Wirklichkeit, die sie neu erzeugt: Politische Begriffe haben zugleich konstituierende und legitimierende Funktion für politische Praxis. Deren institutionelle Strukturen und Handlungenweisen werden durch veränderte Begriffsbedeutungen in einem neuen Lichte wahrgenommen und bewertet. (vgl. ROSA 1994, S.200; SKINNER 1988a, S.132). Indem MACHIAVELLI schrieb, ein Fürst seiner Zeit habe zu lernen, wann er nicht tugendhaft zu sein habe im Sinne des Tugend-Ideals, meinte er nicht, dass Fürsten Tugendideale überhaupt aufgeben sollten. Wohl aber insinuierte er, ein Fürst solle das rigoristische Tugend-Ideal aufgeben, sobald es die politische Notwendigkeit der Machterhaltung gebietet. Potenzielle Gewaltausübung erscheint vor diesem Hintergrund einer Umdeutung eines konventionellen Begriffs legitim. In dem Maße, in dem Gewalt tatsächlich vollzogen wird, wird sie zur Bestätigung des so etablierten Begriffsmusters. Die Pointe seiner Schrift verdankt sich einer indirekten Form oder Strategie (oblique strategy) des illokutionären Aktes. „There are thus two levels at which speech action can be identified – the conventional and the subversive, which is of course parasitic on the existence of the conventional, and which is of course itself then 168
liable itself to become conventional“ (HAMPSHER-MONK 1998, S.44f.). Diese zweidimensionale Sprach-Handlung ist der Redeweise der Ironie verwandt: Jemand sagt etwas (konventionell), meint aber (subversiv, innovativ) das Gegenteil oder etwas anderes (vgl. JAPP 1983, S.37). MACHIAVELLI meinte etwas anderes, als er sagte. In der hier vorgestellten ‚neuen‘ Ideengeschichte nach SKINNER wird die Idee als Sprachhandlung begründet, welche sich in Form eines illokutionären Aktes ausdrückt. Die Entstehung und Entwicklung von Ideen wird durch auktoriale Kritik und Erweiterung eines konventional bestimmten Begriffs oder Konzepts bewirkt. Diese Kritik und Erweiterung gilt es in von einem vom Interpreten historisch zu umreißenden Kontext zu erfassen. Nach Auffassung SKINNERs ist die Bedeutung eines historischen Satzes, Arguments oder Textes dann verstanden, wenn die Intention eines Autors in einem sprachlich-ideologischen und politisch-praktischen Kontext rekonstruiert wird. Als Agent/Akteur tut der Autor etwas mit seiner schriftlichen kontextabhängigen Äußerung oder Handlung. 7
‚Bildung‘ oder: Von der Aufgabe des Geschichtsschreibers und dem Wert (pädagogischer) Geschichtsschreibung
Begriffe und Konzepte sollen im Bezugsrahmen von Intentionen und Konventionen historisch identifiziert werden. Damit kommt dem Geschichtsschreiber eine doppelte Aufgabe zu. Einerseits sei der Historiker „so imbued with the concepts and conventions available to S[peaker] at t[ime](1) that he can elucidate not simply the question of how far (or whether) S’s utterance makes any sense at t(2) but can also explain what exact meaning and force S’s utterance of his utterance at t(1) must have registered.“ Andererseits scheint vor dem Hintergrund dieser Erklärung der intendierten Bedeutung „indispensabel that A should be capable of performing some act of translation of the concepts and conventions employed by S at t(1) into terms which are familiar at t(2) to A himself, not to mention others to whom A at t(2) may wish to comunicate his understanding“ (SKINNER 1983, S.280). Nach seiner eigenen bildenden Durchdringung gilt es für den Historiker, im kommunikativen Akt der Übersetzung die für ein zeitgenössisches Publikum fremden Intentionen und Konventionen verständlich zu machen. Hierfür sollte er über erfinderisches Gespür verfügen und die Fülle der Informationen im Griff haben (ebd., S.281). Aus dieser Charakterisierung der Aufgabe des Geschichtsschreibers lässt sich zugleich der Wert der Geschichtsschreibung ableiten. Jede Zeit muss eigene Lösungen für sich wandelnde Probleme generieren. Demnach aber kann für SKINNER der Wert der Geschichtsschreibung nicht darin liegen, 169
„[v]on der Geschichte des Denkens eine Lösung unserer unmittelbaren Probleme zu fordern“ (ebd., S.63). Den Wert des Geschichtsstudiums sieht SKINNER vielmehr in der Verdeutlichung der Kontingenz der Gegenwart (vgl. BELLMANN/EHRENSPECK 2006, S.253). SKINNERs Methodologie besticht insofern nicht nur durch ihren retrospektivischen Scharfsinn, sondern zudem durch ihre prospektivische Brisanz. So „besteht die ‚Relevanz‘ der beschriebenen ideengeschichtlichen Untersuchungen gerade darin, daß sie uns mit fremden Denk- und Lebensformen konfrontieren und es uns so ermöglichen, eine gewisse Distanz zu unseren eigenen Überzeugungen und Wertesystemen zu gewinnen“ (SKINNER 2009, S.88). Damit würden solche Untersuchungen unsere Bildungshorizonte erweitern: „Above all, we can hope to acquire a perspective from which to view our own form of life in a more self-critical way, enlarging our present horizons instead of fortifying local prejudices. It would be good to be able to refer at once to a long list of scholarly works from which it is possible to improve one’s education in just these ways“ (SKINNER 2007, S.125). Die Konfrontation mit fremden Denk- und Lebensformen führt zur Entfremdung von der unmittelbaren Gegenwart und zur kritischen Selbstreflexion. Solche Entfremdung ist für SKINNER ein konstitutives Moment von Bildungsprozessen. Idealtypisch kann er im Anschluss an WILHELM VON HUMBOLDT und THEODOR BALLAUFF wie folgt beschrieben werden: „Bildung meint den unabschließbaren wechselwirkend-zirkulären Prozess der selbsttätigen Auseinandersetzung des Menschen mit einer mit ihm nicht-identischen, mithin eigenständigen Welt, die ‚dem Eigensinn unsres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt‘, in der Weise, dass er sich von seiner natürlichen Ich-Bezogenheit (Subjektivität) löst, auf Welt (Objektivität) als geistige und Du als personale Form übergeht, sich in ihr entfremdet, sich von ihr löst und bereichert auf einer höheren Stufe – Humboldt schreibt metaphorisch vom ‚erhellenden Licht‘ und von der ‚wohlthätigen Wärme‘, die ‚in sein Innres zurückstrale‘ – auf sich selbst zurücknimmt und dergestalt gehoben wiederum auf Welt und Du übergeht usw.“ (ERBEN 2009, S.428f.). Gerade dieser Bildungsgedanke aber wurde im kontextualisierenden Ansatz ‚dekonstruiert‘, historisiert und relativiert. Gerade in der bildenden Auseinandersetzung mit fremden Ordnungsentwürfen und Lebensformen der Vergangenheit aber können wir in Distanz und kritische Selbst-Reflexion zu unseren eigenen Ordnungsentwürfen treten, denen wir angesichts ihrer ummittelbaren Vertrautheit oftmals distanzlos und unreflektiert gegenüberstehen. „Die Aspekte der Vergangenheit … können es uns erlauben, von unseren eigenen Überzeugungen und den Begriffen, mit denen wir diese zum Ausdruck bringen, zurückzutreten; und sie können uns dazu zwingen, manchen unserer gegenwärtigen Überzeugungen im Lichte dieser erweiterten 170
Perspektiven zu überdenken, umzuformulieren oder gar … fallenzulassen…“ (SKINNER 2009, S.146). Umgekehrt entfremden wir uns von der Vergangenheit, weil das, mit dem wir konfrontiert werden, nicht wir selbst sind. Somit weist das Vergangene eben jene Widerständigkeit auf, die Konstituens von gelingender Bildung ist. Sich in diesem zirkulären Prozess historischer Bildung auf einer höheren Stufe auf sich selbst zurücknehmen würde nach SKINNER bedeuten, „zwischen dem, was notwendig ist, und dem was das kontingente Ergebnis unserer eigenen Formen des sozialen Zusammenleben ist“ zu unterscheiden. Dieses wiederum „bedeutet, einen Schlüssel zur Selbsterkenntnis in den Händen zu halten“ (ebd., S.63). Selbsterkenntnis wächst aus doppelter Entfremdung und Distanznahme von und zu Vergangenheit wie Gegenwart. Wenn Selbsterkenntnis dem wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein entspringt, von dem GADAMER annimmt, es sei das Bewusstsein von Vergangenem bzw. von Tradition, dann bedeutet Selbsterkenntnis in der Erfahrung solcher Geschichtlichkeit, dass wir uns kraft eines fremden Diskurses aus unserem alten Selbst herausholen. Das Selbst kann sich dann nicht darauf beschränken, bloße Spiegelung gegenwärtiger Wirklichkeit zu sein. Daher ist es ein Trugschluss und eine Selbsttäuschung par excellence zu meinen, das gegenwärtige Vokabular, die gegenwärtige Moral und das gegenwärtige Urteil, mit denen wir unser Selbst zu konzeptualisieren versuchen, hätten einen privilegierteren Zugang zur Wirklichkeit als das vergangene Vokabular, die vergangene Moral und das vergangene Urteil. Daraus folgt, dass sich die Aufgabe des Historikers nicht darauf reduzieren lässt, den Horizont der Vergangenheit adäquat zu vermessen, ohne dabei Vergangenheit auf Gegenwart zu beziehen und beide miteinander zu verknüpfen. Die Gegenwart ist wiederum Wirkung oder Nachhall der Vergangenheit und bildet den Ausgangspunkt des fragenden Forschungsinteresses, das in Vergangenheit nach Erhellung und verbesserter Einsicht in unsere gegenwärtigen Standpunkte sucht (vgl. ebd., S.88). Will erziehungswissenschaftliche Historiographie weiterhin die pädagogischen Klassiker mit dem Verweis auf ihre – mit NIETZSCHE – ‚monumentalische Rezeptionsweise‘ kontextualisieren, um auf dem so planierten Boden der Tradition eine neue Basis pädagogischer Theoriebildung zu errichten, entzieht sie sich paradoxerweise selbst ihrer Legitimierung. Denn ohne pädagogische Theoriebildung mit historisch-systematischem Bewusstsein und Anspruch kein Begriff von Bildung. Ohne einen Begriff der Bildung aber gibt es keinen Begriff vom Wert der Geschichtsschreibung. Nur dieser aber kann Antworten auf die Sinnfrage bereit stellen, warum wir pädagogische bzw. erziehungswissenschaftliche Historiographie überhaupt betreiben. SKINNER hat mit seiner ideengeschichtlichen Methode und Untersuchungen diesen Wert darzulegen versucht, ohne ihn aber recht eigentlich begrifflich fassen zu können. Dieser aus 171
dem Bildungsbegriff sich erschließende Wert gilt indes für jene Geschichtsschreibung, die als ‚pädagogisch‘ verstanden wird. Hiermit erweist sich der Vermittlungszusammenhang zwischen pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie in ideengeschichtlicher Absicht als begründet. Erstens gilt festzuhalten, dass, wie eben angemerkt, die Bildungsfunktion der Geschichte auch für die als dekontextualisierend verunglimpfte Pädagogikgeschichtsschreibung gilt. Es sei, um diese Geltung und Gültigkeit zu erhärten, auf KARL VON RAUMERs ‚Geschichte der Pädagogik‘ verwiesen, in der sich die triviale Gegenüberstellung von ‚Erziehung‘ und ‚Wissenschaft‘ bereits in der Vorrede auflöst: „Wenn in dieser Geschichte Ideal und Methode so verschiedener Pädagogen geschildert werden, so drängt sich, besonders den praktischen Schulmännern, eine Vergleichung mit ihrer eignen Ansicht und Verfahrungsweise auf. Übereinstimmendes erfreut und giebt ein befriedigendes Gefühl, daß man das Rechte thue Abweichendes treibt zur Prüfung des Eignen wie des Fremden: eine Prüfung, deren Resultat entweder Beharren aus verschärfter Überzeugung oder Ändern ist. Ich gestehe gern, daß mich vorzüglich ein praktischer Zweck, wie ich ihn eben angedeutet, zu dieser Arbeit getrieben und bei derselben geleitet habe“ (RAUMER 1897, S.Vff.).
Hierin eine verklärende Belehrungsfunktion pädagogischer Klassiker für Erzieher und Lehrer zu entdecken, leuchtet nicht ein. Vielmehr ist hier eine aufklärende Bildungsaufgabe im Sinne historischer Bildung angesprochen. Der wissenschaftliche Grund für die Annahme, pädagogische Geschichtsschreibung habe praxisorientiert und -orientierend zu sein, rührt von der Annahme jener – mit SCHLEIERMACHER – Dignität der Praxis her, deren Dekonstruktionsversuche bislang – nach meinem Kenntnisstand – fehlgeschlagen sind. Zweitens unterbreitet SKINNER hinsichtlich der Ideengeschichte selbst einen Vermittlungsvorschlag. Er muss, vom Ansatz her, im Diskurs der Historischen Pädagogik berücksichtigt werden: „Der Dialog zwischen philosophischer Analyse und historischen Erkenntnissen eröffnet noch unausgelotete, aber vielversprechende Möglichkeiten. Das Verständnis vergangener Aussagen wirft Probleme auf, die zu Einsichten von weitreichendem, auch philosophischem Interesse führen könnten. So könnte etwa das Phänomen der begrifflichen Innovation oder die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Veränderungen der Sprache und denen der Ideen zu den Themen gehören, die in einer strikt diachron ausgerichteten Untersuchung mit besonderem Gewinn zu bearbeiten wären“ (SKINNER 2009, S.61). Bisher scheint es jedoch so, dass die unter dem Vorzeichen der sprachlichen Wende in der Geschichtswissenschaft stehende Ideengeschichte der als ‚philosophisch‘ diskreditierten Bildungsgeschichte etwas zu sagen hat, nicht aber umgekehrt. Denn es zeugt seinerseits von philosophischer Blindheit, wenn SKINNER die Existenz der Idee in der Geschichte kategorisch abstreitet und sie 172
stattdessen in einem instrumentalistischen Mittel-Zweck-Nexus aufgehoben sieht: „Sobald wir erkennen, daß es keine festumrissene Idee gibt, zu der verschiedene Autoren beigetragen haben, sondern lediglich eine Vielzahl von Aussagen von einer Vielzahl verschiedener Akteure mit einer Vielzahl verschiedener Absichten, erkennen wir, daß es keine Geschichte einer solchen Idee gibt, die zu schreiben wäre. Es gib nur eine Geschichte ihrer verschiedenen Verwendungsweisen und der verschiedenen hinter ihnen stehenden Absichten“ (ebd., S.58). Per se bestreitet SKINNER zwar keineswegs, „daß es in der Geschichte der westlichen Moral-, Sozial- und politischen Philosophie lang anhaltende Kontinuitäten gibt“ (SKINNER 2009, S.59). Gleichzeitig aber legt er eine auf solche Kontinuitäten ausgerichtete Geschichtsschreibung ad acta, die doch gerade auf die begriffliche Schärfung einer einheitlichen Idee im Verlaufe ihrer Geschichte abzielte. Metaphorisch ausgedrückt: Der auf dem Baum der historischen Erkenntnis sitzende Historiker sägt am eben jenem Ast, der ihm eigentlich als erste Stufe zu höherer Erkenntnis dienen sollte. Gesetzt sei demgegenüber ein echtes Gespräch zwischen ‚philosophischer‘ und ‚historischer‘ Ideengeschichte. Dieser Gedanke sei übertragen auf die oben vorgestellte Kontroverse in der Historischen Pädagogik. Solches getan, muss umgekehrt für die historische Wissenschaft von der Erziehung dasjenige gelten, was im tumultuarischen Chaos der Vielfalt von Ideen, Konzepten und Sprechakten mitunter übersehen wird: dass nämlich Vielfalt Einheit und Vielzahl Einzahl voraussetzt, aufgrund derer es überhaupt erst Sinn macht von Vielfältigem und Vielzähligem zu sprechen. Daher kommt die Pädagogik nicht umhin, in ihrer pädagogischen Geschichtsschreibung eine historische Darstellung der conditio sine qua non, der Idee der Pädagogik zu unternehmen, so viel kritischer Gegenwind von geschichtswissenschaftlicher Warte ihr auch entgegenschlagen mag. „Diese Idee der Pädagogik“ – so VOLKER LADENTHIN – „muss es (auch für die Erziehungswissenschaften (Plural) also für jene Wissenschaften, die sich mit dem pädagogischen Problem (Singular) beschäftigen) im Singular geben, weil alle Mehrzahl von Ideen wiederum nach der einigenden Idee fragt, die diese Mehrzahl überhaupt als einander zugehörig erweisen kann. Differenz setzt Einheit voraus, angesichts derer man überhaupt von Differierendem sprechen kann“ (LADENTHIN 2005, S.105). Der hier vorgeschlagene Vermittlungszusammenhang zwischen ‚philosophisch‘ orientierter Geschichte der Pädagogik und ‚historisch‘ orientierter erziehungswissenschaftlicher Forschung in ideengeschichtlicher Absicht nobilitiert im Anschluss an SKINNER Bildung zum zentralen Moment und Medium beider Dimensionen. Er versteht sich nicht als romantisches Versöhnungs- und Harmonisierungsprojekt. Er bringt sich vielmehr in einem dialektisch-interaktiven Spannungsverhältnis zwischen den beiden Ansätzen zur Sprache. Der 173
historische Ansatz wird betrachtet als Regulativ des konstitutiv philosophischen; der philosophische Ansatz umgekehrt als Regulativ des konstitutiv historischen. Eine philosophisch orientierte pädagogische Historie erforscht die Kontinuität der pädagogischen Idee (im Singular) im Wandel der Zeit. Ihr wird eine historisch orientierte erziehungswissenschaftliche Forschung korrektiv und komplementär zur Seite gestellt, welche die Kontinuität des zeitlichen Wandels von pädagogischen Ideen (im Plural) untersucht – und vice verca. In Rahmen dieses dialektischen Zusammenhangs ist zu unterscheiden zwischen dem in einer eindeutigen Idee sich aussprechenden Gedanken und der von ihm unterschiedenen Sache. Auf der einen Seite wird die pädagogische Idee von der individuellen Selbstbestimmung des Menschen in sozialen Handlungskontexten im Hinblick auf die authentische Autorschaft seiner eigenen Lebens- und Sinngeschichte betrachtet. Diese Betrachtung findet ihr Gegenstück in der Untersuchung konkreter Erziehungswirklichkeit vielgestaltiger Phänomene, die einer solchen Idee nicht, nur zum Teil oder – coincidentia oppositorum – ganz entsprechen. Beispielsweise standen in der Epoche der Reformpädagogik des beginnenden vorigen Jahrhunderts im Zeichen einer allgemeinen Schulkritik primär die Eigengesetzlichkeit kindlicher Spontaneität und ihre Einbettung in funktionale Praxis- und Berufszusammenhänge im Vordergrund. Dieser Blickwinkel schlug sich institutionell in der Gründung alternativer Schulformen (z.B. Arbeitsschulen, Waldorfschulen) nieder. Damit wird zwar der individuellen Dimension der pädagogischen Idee Rechnung getragen, diese Dimension aber zugleich auf einen besonderen Bereich des sozialen Lebens (‚Gemeinschaft‘, Arbeit) eingeschränkt und somit um ihren Authentizitätscharakter verkürzt. Zwischen der eindeutigen Idee der Pädagogik und der Vorstellung oder Konzeption von Erziehung sowie ihrer konkreten Ausgestaltungsformen in der Erziehungswirklichkeit gibt es einen deutlich benennbaren Unterschied und beide stehen daher stets in einem nur in seltenen Fällen zur Deckung kommenden kontrafaktischen Spannungsverhältnis. Aus diesem Kontrafaktum aber ein unversöhnliches Gegenüber von pädagogischer Ideengeschichte einerseits und erziehungswissenschaftlicher Sozialgeschichte von Ideen8 andererseits zu destillieren bzw. letzterer ihre Legitimation abzustreiten, geht an einem gewichtigen Argument vorbei: Es muss eine pädagogische Idee geben, die sowohl ein konstitutives als auch regulatives Prinzip abgibt, erzieherische Praxis als Praxis sui generis zu bestimmen und zu leiten, ohne in ihr gänzlich aufzugehen. „Pädagogische Handlungen sind“ nach MICHAEL WINKLER „…jenseits von pädagogischen Sinnbestimmungen gar nicht
8 Aufgrund der Unterscheidung zwischen Gedanke und Sache bzw. der in einem Gedanken ausgesprochenen Idee und dem eine Sache bezeichnenden Begriff schlage ich vor, von einer Sozialgeschichte der Begriffe statt von einer der Ideen zu sprechen.
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als solche identifizierbar, damit auch nicht verfügbar, um Reflexion und Anschlusshandlungen möglich werden zu lassen“ (WINKLER 2001, S.81). Unabdingbar ist damit sowohl die Einsicht in die (wahrscheinliche) Idee oder Natur eines pädagogischen Grundgedankenganges. Ihn braucht es, um hieraus erzieherisches Handeln abzuleiten. Zugleich aber ist auch die Erkenntnis unabweisbar, dass in die Sachen praktischer Erziehung immer zeitlich kontingente Vorstellungen, Deutungsmuster9, Haltungen und Handlungen eingehen. Aus ihnen erst entwickeln sich unterschiedliche Gestaltungsformen und -normen des Sozialen (z.B. Erziehungsinstitutionen). Nimmt man daher den Unterschied zwischen einheitlicher Idee und kontingenter Sache ernst, dann kann man sich weder allein auf einen unbedingten Absolutheitsanspruch einer pädagogischen Idee berufen noch auf den Standpunkt zurückziehen, es gab hier und da diese und jene durch soziale Entwicklungen bedingte Anhäufung verschiedener Gebrauchsarten einer Idee, die dann doch eher unterschiedliche Vorstellungen, Deutungsmuster, Mentalitäten, Haltungen und Handlungen von Erziehung meinen. Der Vermittlungszusammenhang zwischen pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Historiographie wäre somit als wechselseitige Kenntnis- und Bezugnahme in Formen der Interaktion, Korrektur und Komplementarität vorzustellen. Diese dürfte die Autonomie beider Arten, pädagogische Ideengeschichte zu schreiben, nicht gefährden. Ein solcher Vermittlungszusammenhang nimmt die Möglichkeit von Gemeinsamkeiten statt (nur) von Unterschieden, von Bezugnahmen statt (nur) von Trennungen in den Blick. Eine adäquate, diesem Vermittlungszusammenhang Rechnung tragenden Darstellungsform einer ideenpädagogischer Geschichtsforschung, welche die Erforschung der Geschichte ebenso ‚der‘ pädagogischen Idee wie der ‚pädagogischen Ideen‘ in den Blick nimmt, steht allerdings noch aus. Damit trägt auch dieser Text den Zug einer nachträglichen Rechtfertigung einer noch zu schreibenden Geschichte der Pädagogik (vgl. BÖHM 1997). Man mag grosso modo einen solchen Vermittlungszusammenhang metatheoretisch schelten, wenn er nur zur Schärfung des eigenen Nachdenkens über 9 Dass Gegenstand Historischer Bildungsforschung weniger ‚Ideen‘ als vielmehr Deutungsmuster sind, zeigt sich schon in einer Zweideutigkeit, in welcher der Begriff des ‚Deutungsmusters‘ verwendet wird: In der historisch-empirischen Bildungsforschung, wie sie etwa von AXEL NATH betrieben wird, unterscheidet man in einem rein sozialgeschichtlichen Zugriff analytisch zwischen Deutungsmustern (Diskursen) und Situationsentwicklungen (Handlungsergebnissen). Beide werden in ‚Kommunikationssschleifen‘ reziprok aufeinander bezogen, um somit ‚Zyklen‘ in den ‚Langen Wellen des Bildungswachstums‘ beschreiben zu können. In einer kulturhistorischen Betrachtung von Bildung nach GEORG BOLLENBECK wird hingegen in einem begriffsgeschichtlichen Zugriff ‚Deutungsmuster‘ als Selbstbeschreibungsmodus für eine bestimme Sozialschicht verstanden. ‚Bildung‘ entstand demnach als ein spezifisches Deutungsmuster zur Selbstlegitimierung einer freischwebenden Intelligenz um 1800 (vgl. NATH/DARTENNE 2008; BOLLENBECK 1996).
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Sinn (Warum?), Zweck (Wozu?) Funktion (Welche Aufgabe?) und über die Adressaten pädagogischer Geschichtsschreibung dient. Der Sinn pädagogischer Geschichtsschreibung liegt in ihrem praktischen Zweck, für das Handeln der Erzieher und Lehrer in erzieherischer Praxis prinzipientheoretisches Orientierungswissen zu bieten. Aus diesem Grund bedarf es systematischer Pädagogik, welche, will sich erzieherische Praxis ihres historischen Grundes versichern, ohne Historie nicht auskommt – sei sie betrieben in einem Verbund „bald als monumentalische, bald als antiquarische, bald als kritische“ d.h. als im Medium der Bildung betriebene Historie (NIETZSCHE 2009, S.34). Gerade in diesen von NIETZSCHE offerierten drei Idealtypen der Geschichtsschreibung, die den drei menschlichen historischen Bedürfnissen nach Verehrung, nach Bewahrung und nach Zerstörung entsprechen, liegt jene Möglichkeit, über den beschränkten Horizont dezisionistischer Alternativentscheidungen hinauszuweisen und die Unterordnung der Geschichte unter das höchste Telos, den kulturellen Lebenszusammenhang, zu betonen, in dessen Dienst sie steht: historia est magistra vitae. Eine solche Reflexion der Reflexion (Reflexion 2. Grades) ebnet dem so geschulten historischen Bewusstsein jenen Weg, der in die geschichtliche Reflexion über Sinn, Zweck und Funktion von Erziehung und Bildung (Reflexion 1. Grades) im Horizont von Natur, Gesellschaft und Person mündet: in historische pädagogische Erkenntnis. Solch ein Nachdenken in einem zweifachen Sinn bezieht sich stets auf eine zu bewahrende vergangene Gegenwart, auf eine sich in personalen Monumenten vergegenwärtigende Vergangenheit sowie auf eine gegenwärtige Wirklichkeit, die den Richtspruch über Vergangenheit fällt, um sich von ihr zu distanzieren. Hieraus zieht ein solches Nachdenken Maßstäbe und Orientierung, um in Gestalt eines prospektiven Perspektivismus den Entwurf und die Gestaltung der (erzieherischen) Zukunft vorzudenken. Dieser nur in groben Zügen dargebotene und seiner breiteren Entfaltung noch harrende Vermittlungszusammenhang ist zwar kein Königsweg, aber zumindest kein Weg, der ins Nichts führt.
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III. Professionelleȱundȱinstitutionelleȱ BezugsfelderȱdesȱBildungsbegriffsȱ
Bildung als Selbstbildung oder Kompetenzentwicklung? Zur Ambivalenz von Kind- und Kontextorientierung in der frühpädagogischen Bildungsdebatte Elmar Drieschner
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Der elementarpädagogische Bildungsauftrag in der fachlichen Kontroverse
Die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung ist durch eine sukzessive, jedoch unter konjunkturellen Schwankungen verlaufende Akzentverschiebung von der nebenfamilialen Erziehungs- und Betreuungsfunktion zur eigenständigen Bildungsfunktion gekennzeichnet. Obgleich der Kindergarten in der Tradition FRIEDRICH FRÖBELs (1782-1852) seit jeher dem Gedanken der Bildung verpflichtet ist, standen die frühkindlichen Institutionen bis hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen der ‚Kinderaufbewahrungs-’ und der ‚Bildungsfunktion’, wobei der Gedanke der familienergänzenden Betreuung dominant blieb und durch die rechtliche und organisatorische Zuordnung der Einrichtungen zum Bereich der Kinder- und Jugendhilfe verfestigt wurde (vgl. ERNING/NEUMANN/REYER 1987). In der Bildungsdiskussion der 1970er Jahre wurde die formale Anerkennung des Kindergartens1 als Elementarbereich des Bildungssystems erreicht. Die Ausgestaltung des Kindergartens als erste Stufe des Bildungssystems erweist sich jedoch aufgrund seiner traditionellen Trennung von der Grundschule (Primarbereich) faktisch als bis heute noch nicht hinreichend gelöste Aufgabe (vgl. REYER 2006). Im Jahre 1996 wurde der Bildungsauftrag von Kindertagesstätten im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) als Teil der Aufgabentrias ‚Bildung, Betreuung und Erziehung’ verankert. Seither besteht eine zentrale theoretische und praktische Aufgabe der Elementarpädagogik darin, diesen im KJHG nicht näher definierten und konkretisierten Bildungsauftrag konzeptuell umzusetzen und mit Leben zu füllen. In der Folge entwickelte sich eine z.T. kontrovers geführte Fachdiskussion über das adäquate
1 In Anlehnung an HANS-GÜNTER ROßBACH wird der Begriff ‚Kindergarten’ gegenüber begrifflichen Äquivalenten wie ‚Kindertagesstätte’ präferiert, weil er in der Tradition FRIEDRICH WILHELM AUGUST FRÖBELs seit jeher als Ort elementarer Bildung verstanden wird (vgl. ROßBACH 2008, S.283).
Verständnis und die darauf bezogene Anregung und Förderung frühkindlicher Bildung. Diese Diskussion stößt zunehmend auf innerwissenschaftliches und gesamtgesellschaftliches Interesse, seitdem in den letzten Jahren die große Bedeutung früher Bildung für die gesamte Entwicklung des Menschen hervorgehoben wird. Diese neue Wertschätzung des frühen Lernens findet Ausdruck in pädagogischen und bildungspolitischen Programmformeln wie ‚Auf die ersten Jahre kommt es an!‘ oder ‚Bildung von Anfang an!‘ (vgl. zur Funktion solcher pädagogischer Slogans HOFFMANN/GAUS/UHLE 2007). In diesem Kontext ist als erstes auf die Expansion der Grundlagenforschungen zu frühkindlichen Bildungsprozessen zu verweisen. Dieses Forschungsfeld ist inter- und transdisziplinär strukturiert. Es umfasst derzeit u.a. Zugänge aus der Hirnforschung, Entwicklungspsychologie, Verhaltensforschung, Evolutionsbiologie, Wahrnehmungsforschung, Neugierforschung, Interessenforschung, Säuglings- und Kleinkindforschung, Bindungsforschung, Resilienzforschung, Kindheitsforschung und Sozialisationsforschung (vgl. FTHENAKIS 2003). Diese Forschungen liefern eine Fülle von Erkenntnissen über das Wissensprofil und die Kompetenzentwicklung von Kindern im vorschulischen Alter. Die große Fülle unterschiedlicher Forschungsergebnisse wird in einem neuen Bild vom Kind zusammengefasst. Es ist das Bild des kompetenten und wissbegierigen Kindes, das durch Formulierungen wie das ‚Kind als Wissenschaftler‘ bzw. ‚Forschergeist in Windeln‘ (GOPNIK/MELTZOFF/KUHL, 2006), ‚Kinder als Naturforscher‘ und ‚Erkenntniswesen‘ (ELSCHENBROICH 2005) sowie den Begriff des ‚kompetenten Säuglings‘ (DORNES 1994) zum Ausdruck gebracht wird. Frühe Bildung ist aus der Perspektive dieser Forschungen eine wichtige Aufgabe von Familie und Kindergarten, damit Kinder im vorschulischen Alter ihre genetisch privilegierten Lernpotenziale voll ausschöpfen können. Vom Forschungsansatz völlig unterschiedlich, in der Aussage sowie im öffentlich hervorgerufenen Interesse jedoch ähnlich, verweist auch die international vergleichende Schulforschung auf die besondere Bedeutung frühkindlicher Bildung. So indizieren die bisherigen Ergebnisse der Schulleistungsstudien die förderliche Wirkung eines verpflichtenden Kindergartenbesuchs auf die Entwicklung und damit auf die Bildungsbiographie von Kindern. So konnte etwa in den IGLU-Studien aus den Jahren 2001 und 2006 eindrücklich belegt werden, dass Kinder, die länger als ein Jahr in einem Kindergarten gefördert wurden, Kindern mit einer geringeren Kindergartenverweildauer in ihrer Lesekompetenz am Ende der vierten Klasse um bis zu einem Schuljahr überlegen sind (vgl. BOS et al. 2007). Bereits die erste PISA-Studie konnte bei 15-jährigen Jugendlichen, die als Kinder über einen längeren Zeitraum vorschulische Einrichtungen besucht hatten, bessere mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen nachweisen (vgl. PRENZEL/HEIDEMEYER 2004, S.274f.). Diese positiven Effekte, 184
die in diversen weiteren Studien bestätigt wurden, gehen nach einer von HEINER RINDERMANN vorgelegten Metaanalyse darauf zurück, dass durch einen umfangreichen Kindergartenbesuch „neben schulischen Grundtechniken (Zuhören beim Vorlesen, Umgang mit Papier und Bleistift, Kenntnisse von Buchstaben und Zahlen, Beginn von Lesen, Schreiben und Rechnen) auch allgemeine kognitive Kompetenzen (über Puzzle, Vorlesen u.Ä. Stimulierung von Wahrnehmung, Abstraktion und Denken), Wissen (Vokabeln, Grammatik, Allgemeinbildung) und psychomotorische Fertigkeiten (Auge-Hand-Koordination) gefördert werden, umso mehr, je stärker der Bildungsauftrag im Kindergarten wahrgenommen wird. Noch deutlicher sind wahrscheinlich die Effekte auf Verhalten und Persönlichkeit bei Kindern und oft Eltern, etwa Regelmäßigkeit des Tagesablaufes, Sozialverhalten, ethisches Handeln usw. (allgemeines Regellernen), die für späteren Schulbesuch günstig sind“ (RINDERMANN 2008, S.19). In diesem Zusammenhang lassen sich auch kompensatorische Wirkungen einer frühen Förderung im Kindergarten gegenüber herkunftsbedingten Bildungsbenachteiligungen nachweisen (vgl. z.B. SCHÜTZ/WÖßMANN 2005). Der in internationaler Perspektive belegten positiven Wirkung des Kindergartenbesuchs steht das nur mittelmäßige Zeugnis gegenüber, welches Studien zur Bildungsqualität deutschen Kindergärten ausstellen. Demnach werden die Kindertageseinrichtungen weder den Bildungsbedürfnissen der Kinder noch den Bedürfnissen und Interessen der Erwachsenengesellschaft bezüglich einer frühen schulvorbereitenden Förderung gerecht. Der Erziehungsalltag erscheint nicht hinreichend durch die Anregung und Förderung von Bildungsprozessen gekennzeichnet. Vielmehr zieht sich das frühpädagogische Fachpersonal auf die Betreuung und Beschäftigung der Kinder zurück und räumt dem Freispiel einen großen Raum ein. Dieser laissez-faire Erziehungsstil widerspricht jedoch einer professionellen und konzeptionell geleiteten Gestaltung von Bildungskulturen, die alterstypische und individuelle Bildungsprozesse anregen (vgl. TIETZE 1998, TIETZE/ROßBACH/GRENNER 2007). Am Missverhältnis zwischen der frühen Lernfähigkeit des Kindes und der unzulänglichen Bildungsqualität der deutschen Kindergärten wird der enorme Reformbedarf dieser Stufe des Bildungssystems erkennbar. Obgleich Konsens über die frühe Lernfähigkeit des Kindes besteht, ist der gegenwärtige Fachdiskurs zur Umsetzung des elementarpädagogischen Bildungsauftrages durch eine kontroverse Diskussion über das angemessene Verständnis frühkindlicher Bildung entweder als Selbstbildung oder als Kompetenzentwicklung gekennzeichnet. Während der Selbstbildungsansatz ein kindorientiertes Verständnis von Bildung als Eigenkonstruktion von Wissen und Wirklichkeit vertritt, problematisiert der kompetenzorientierte Ansatz ein solches kindzentriertes Bildungsverständnis und hebt dagegen die soziale Prozesshaftigkeit und die Kontext185
gebundenheit von Bildung als Vorgang der Ko-Konstruktion hervor. Beide Positionen operieren demnach mit unterschiedlichen theoretischen Grundlegungen frühkindlicher Bildung sowie daran anschließenden heterogenen Auffassungen über pädagogische Aufgaben, Methoden und Interaktionsverhalten des pädagogischen Fachpersonals. Dieser heterogene, auf unterschiedliche Theorieansätze referierende Diskurs um Grundlagen und Aufgabenbestimmungen institutionalisierter Bildung, um Annahmen frühkindlicher Entwicklung sowie um Didaktik und Methodik vorschulischer Erziehung steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Im Folgenden werden seine Kernthesen herausgearbeitet (Abschnitte 2 und 3) und anschließend in den Kontext der allgemeinpädagogischen Reflexion über das Verhältnis des Gegenwartsbezugs und der Zukunftsbedeutung früher Bildung gestellt (Abschnitt 4). 2
Frühkindliche Bildung als Selbstbildung
2.1 Anregung der Selbsttätigkeit als erzieherisches Grundprinzip Zu den bekanntesten Vertretern der in der aktuellen Diskussion unter dem Sammelbegriff ‚Bildung als Selbstbildung‘ zusammengefassten Ansätze zur Weiterentwicklung der elementarpädagogischen Arbeit zählen u.a. die Frühpädagogen GERD E. SCHÄFER, LUDWIG LIEGLE, HANS-JOACHIM LAEWEN sowie der Pädagogische Anthropologe und Psychologe CHRISTIAN RITTELMEYER. Übereinstimmend knüpfen diese Autoren an eine für das pädagogische Denken in der Moderne grundlegende Einsicht an: Erziehung mit dem Anspruch der Förderung von Bildung ist nicht ohne die Selbsttätigkeit des Kindes denkbar. Dies wird an dem Zusammenhang von pädagogischem Handeln als Lernhilfe und dem Lernen bzw. Lernprozess gut sichtbar. Das Lernen ist eine Eigenaktivität des Kindes, die pädagogisch durch die Gestaltung einer Bildungsumwelt und die Anwendung von Methoden und Techniken des Lehrens und Erziehens angestoßen, nicht aber bewirkt werden kann. Das Kind muss selbst aktiv seine Potenziale verwirklichen. Es braucht dafür die Auseinandersetzung mit anderen, mit Welt, um sich entfalten zu können. Kinder wenden sich daher von Anfang an aktiv, explorativ und neugierig ihrer Umwelt zu, sind dabei aber auf erzieherische Begleitung und Hilfe angewiesen. In der Anthropologie wird das Kind daher seit der Aufklärung als selbsttätiges, lernbegieriges, zugleich aber auf erzieherische Anregungen angewiesenes Wesen gesehen (vgl. LASSAHN 1983). Da eine Lehrerin bzw. Erzieherin von der Eigentätigkeit, der Lernbereitschaft und dem Mitwirken der Kinder in ihrer Lerngruppe abhängig ist, wird die Anknüpfung an deren ‚Selbsttätigkeit‘ als konstitutive Bedingung von Erziehung 186
betrachtet. Erziehung ist demzufolge nicht nur fremdbestimmt als pädagogische Einwirkung und Lenkung durch Erzieherinnen und Erzieher zu verstehen, sondern zugleich als reflexive und eigenbestimmte Selbsterziehung der Kinder (vgl. RÖHNER 2004). In klassischer Wendung bringt DIETRICH BENNER diese Bisubjektivität des erzieherischen Handelns mit den ineinander verschränkten Prinzipien der Bildsamkeit und der Aufforderung zur Selbsttätigkeit zum Ausdruck. Bildsamkeit ist für BENNER ein universal gültiges, apriorisches Prinzip pädagogischer Praxis. Dieses Prinzip entfaltet er bezogen auf pädagogische Interaktionen relational als Anerkennung des Zu-Erziehenden als einen, „der an der Erlangung seiner humanen Bestimmtheit mitwirkt“. Die pädagogische Begegnung ist somit durch die wechselseitige Anerkennung „produktiver Freiheit“ gekennzeichnet. Diese Freiheit hat ihre Voraussetzung im Zugeständnis von Freiräumen, sie erschließt sich jedoch erst in der Aneignung durch die Heranwachsenden, indem sie selbsttätig denken und handeln. Erziehung hat folglich den Charakter der Aufforderung zur Selbsttätigkeit (BENNER 2001, S.71ff.). Im frühpädagogischen Selbstbildungsansatz spiegelt sich dieses allgemeine erzieherische Grundprinzip wieder. So schlägt z.B. LAEWEN vor, „Bildung im Sinne Humboldts als Selbst-Tätigkeit des Kindes zur Aneignung von Welt zu verstehen und Erziehung als Tätigkeit des Erwachsenen mit dem Ziel, alle Kräfte des Kindes dafür anzuregen“ (LAEWEN 2002, S.41). Da der Prozess der selbsttätigen Weltaneignung das zentrale Strukturmerkmal von Bildung darstellt, kann Erziehung mit LIEGLE auch als ‚Aufforderung zur Bildung‘ bestimmt werden (vgl. LIEGLE 2008). LIEGLE ist es mit Bezug auf die bildungstheoretische Tradition wichtig, dass der Begriff der (Selbst-)Bildung im Unterschied zu neueren funktionalen Äquivalenten wie Lernen und Kompetenzerwerb nicht nur die aktive Konstruktionsleistung des Individuums im Aufbau seines Bildes von Welt betont. ‚Bildung‘ steht darüber hinaus für Persönlichkeitsideale, die vor allem in der Entwicklung von Selbstreflexivität, Autonomie und Ich-Identität bei gleichzeitiger kritikfähiger Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen bestehen, und übersteigt somit einen bloßen Erwerb von gesellschaftlich verwertbaren Kompetenzen (vgl. LIEGLE 2008, S. 96f.). Der Fokus auf zu vermittelnde Kompetenzen entspricht SCHÄFER zufolge einem Warenmodell von Lehren und Lernen, das Instruktion und nicht Selbstbildung in dem Mittelpunkt stellt (vgl. SCHÄFER 2007, S.16ff.). 2.2 Selbsttätigkeit als Strukturmerkmal frühkindlicher Bildungsprozesse Der traditionelle, in der (Früh-)Pädagogik richtungsweisend von JEAN-JAQUES ROUSSEAU, JOHANN HEINRICH PESTALOZZI, FRIEDRICH WILHELM AUGUST 187
FRÖBEL und MARIA MONTESSORI ausformulierte Grundgedanke, dass Erziehung auf den selbsttätigen Bildungsprozess des Kindes bezogen ist, steht im Zentrum der Ansätze, die unter dem Label ‚Bildung als Selbstbildung‘ firmieren. In Anlehnung an HANS-GÜNTER ROßBACH können sie jenem Typus von öffentlicher Kleinkinderziehung zugeordnet werden, der als ‚Kindergartentyp‘ bezeichnet wird. Dieser Erziehungstyp ist durch ein offenes Curriculum und einen ganzheitlichen, die Bedürfnisse des Kindes fokussierenden Erziehungs- und Bildungsansatz gekennzeichnet. Er unterscheidet sich somit vom so genannten ‚Vorschultyp‘, der eine Vorverlagerung schulförmigen Lernens in den elementarpädagogischen Bereich intendiert (vgl. ROßBACH 2008, S.312). Übereinstimmend wird im Selbstbildungsansatz davon ausgegangen, dass die Anknüpfung an die Selbsttätigkeit, in der die individuellen Interessen und Lernbedürfnisse der Kinder sichtbar werden, eine zentrale Gelingensvoraussetzung für das kooperative Handeln zwischen den Erzieherinnen und den Kindern zur Ermöglichung anschlussfähigen Lernens darstellt. Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang der programmatische Ausspruch HARTMUT VON HENTIGs, dass das „kleine Kind in ungleich höherem Maße sein eigener Lehrmeister (ist), als es später der Schüler sein wird [Hvhbg. im Original, E.D.]“ (HENTIG 2004, S.37). Entsprechend formuliert z.B. SCHÄFER: „Je früher [frühkindliche Bildungsprozesse, E.D.] ansetzen, desto mehr Spielraum müssen sie den individuellen Erfahrungswegen geben“ (SCHÄFER 2006, S.65). Die Annahme, frühkindliche Entwicklungsprozesse seien im Vergleich zu anderen Lebensaltern durch ein besonders hohes Maß an Selbsttätigkeit gekennzeichnet, wird im Spannungsfeld konstruktivistischer Theoriemodelle sowie neurobiologischer und entwicklungspsychologischer Forschungsbefunde begründet. Aus konstruktivistischer Sicht akzentuiert LIEGLE die Autopoiesis und Selbstorganisation von Erkenntnis- und Lernprozessen. Die aus dem Griechischen stammende Wortbildung Autopoiesis bezeichnet hier die Selbsterzeugung und Selbsterhaltung biologischer und psychischer Systeme, wobei anzumerken ist, dass das Konzept der Autopoiesis darüber hinaus auch auf soziale Systeme übertragbar ist (vgl. LUHMANN 1995, S.12). Autopoiesis bringt ein stark individualistisches Wirklichkeitsverständnis zum Ausdruck. Selbsttätigkeit (ich selbst = auto, bin tätig = poiesis) wird zum konstitutiven Merkmal alles Lebendigen erhoben; Bildung ist demnach ein Prozess der Selbstaneignung von Welt, durch den sich das Kind zugleich selbst hervorbringt. Aus diesem Grunde wird ein streng technologisches Erziehungsverständnis, das die prinzipielle ‚Machbarkeit‘ des Menschen durch Erziehung voraussetzt, zurückgewiesen und durch das Theorem der Selbstorganisation ersetzt. Autopoietische Systeme organisieren sich selbst und entziehen sich der direkten pädagogischen Einflussnahme (LIEGLE 2006, S.38; vgl. auch DRIESCHNER 2007a). Dementsprechend 188
bestimmt der konstruktivistische Pädagoge ROLF HUSCHKE-RHEIN Erziehung als „Hilfe zur Selbstorganisation“ (HUSCHKE-RHEIN 2003, S.26). Ebenfalls aus konstruktivistischer Sicht spezifiziert SCHÄFER, worin die besondere Individualität der autopoietischen Wirklichkeitskonstruktion von Kindern im vorschulischen Alter besteht. Ihr alterstypisch begrenzter Erfahrungsschatz bedingt, dass die mentalen Repräsentationen und Deutungen von Welt, welche die Grundlage für den weiteren Wissens- und Kompetenzerwerb bilden, bei Kindern in diesem Alter als ‚Kulturneulingen‘ weitaus individueller strukturiert sind als bei den älteren Schulkindern, die bereits über mehr akkumuliertes Weltwissen verfügen und sich sukzessive den kulturellen und intersubjektiv geteilten Erklärungs- und Deutungsmustern annähern (SCHÄFER 2006, S.65). Lernen wird in diesem Zusammenhang als Anschlusslernen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Anlagen und Entwicklungstempi verstanden. Solches meint, dass ein aktiver Organismus in der Auseinandersetzung mit der Umwelt eigene Vorstellungen von Welt generiert und diese in Zuge neuer Erfahrungen ausdifferenziert. Aus der Partikularität der kindlichen Erfahrungen resultieren aber unterschiedliche Wege der kognitiven Entwicklung. Diese sollen im Kindergarten nicht durch schulförmiges Lernen behindert, sondern vielmehr durch die Schaffung von Spielräumen zur Selbsttätigkeit ermöglicht werden. Die Selbsttätigkeit des kleinen Kindes zeigt sich auch in seiner Eigeninitiativität im Aufbau seines Selbst-Weltbezuges, die Forschungsbefunde aus der Neurobiologie und der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung verdeutlichen (vgl. LIEGLE 2006, S.97f.). Durch die Analyse der Prozesse der Gehirnentwicklung konnte gezeigt werden, dass die entwicklungsphysiologische Angewiesenheit der höheren Hirnfunktionen auf Erfahrungsbildung eng korrespondiert mit der angeborenen Lernmotivation des kleinen Kindes. So sieht WOLF SINGER die wichtigste Botschaft der Hirnforschung für die Frühpädagogik darin, dass „das Gehirn eines jungen Menschen von sich aus aktiv an die Umwelt heran(tritt) und ... seine Fragen (stellt)“ (SINGER 1999; zit. nach LIEGLE 2006, S.98). Dies wird z.B. am Muttersprachenerwerb als selbstorganisiertem Lernprozess deutlich. RITTELMEYER hebt an diesem Punkt hervor, dass selbstgesuchte Erfahrungen neurophysiologisch dem natürlichen Explorationsbedürfnis des Kindes entsprechen. Sie regen die Entstehung neuer neuronaler Verbindungen besser an als von außen gesetzte pädagogische Lernziele, weil so an bestehende neuronale Verbindungen im Sinne des Anschlusslernens angeknüpft werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn Erfahrungen leiblich mit positiven Gefühlen aufgeladen werden, wenn also ohne Angst und Druck gelernt wird. Daraus zieht RITTELMEYER die Schlussfolgerung, dass die „an konkreten und anschaulichen Beispielen eigentätig gefundene Regel“ bei „engagierter Aufmerksamkeit und Emotionalität zu Lernergebnissen führ(t), die sich langfristig einprägen“ 189
(RITTELMEYER 2002, S.107). In Übereinstimmung mit dieser neurophysiologischen These konnte in der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung durch direkte Beobachtung gezeigt werden, dass Säuglinge nach Maßgabe ihrer Erfahrungen und ihres Entwicklungsstandes aktiv Reize auswählen, evozieren oder ignorieren, weshalb auch hier von einem hohen Selbststeuerungsanteil ihrer Entwicklung ausgegangen wird (vgl. LARGO 2006, S.79; weiterführend vgl. GOPNIK/MELTZOFF/KUHL 2006). Dieses „implizite“ und „zufällige“ Lernen durch Spiel und Erkundung grenzt LIEGLE vom „intentionalen“ und „strategischen“ Lernen ab, das sich erst ab dem sechsten Lebensjahr herausbildet und zur Bezugsgröße des schulischen Lernens wird. Aufgrund der fehlenden kognitiven Voraussetzungen werden die pädagogischen Wirkungsmöglichkeiten einer Vorverlagerung intentionalen und strategischen Lernens in den Elementarbereich als gering erachtet (LIEGLE 2008, S.108). Da die frühkindliche Weltaneignung in der neueren Forschung insgesamt als aktive, lern- und reifungsgebundene Exploration von Welt beschrieben wird, bei der Kinder ihre Erfahrungen zu funktionalen Eigentheorien organisieren und diese im weiteren Lern- und Reifungsprozess verwerfen, modifizieren oder ausbauen (vgl. DRIESCHNER 2007b; FRIED 2008a), nehmen die Vertreter des Selbstbildungsansatzes an, dass die Wirkungen pädagogisch ermöglichter Bildungsprozesse dann am höchsten sind, wenn die Selbsttätigkeit des Kindes explizit wahrgenommen, aufgegriffen, unterstützt und kulturell herausgefordert wird (vgl. SCHÄFER 2008, S.125). Die Annäherung an soziale, sprachliche und kulturelle Konventionen verläuft demnach nicht systematisch und strukturiert, sondern in einem vom Kind ausgehenden eigeninitiativen, dynamischen und selbstreferenziell-rekursiven Prozess. 2.3 Das Spiel als Form des frühkindlichen Bildungsprozesses Forschungsbefunde, welche die Selbsttätigkeit als Wesensmerkmal der frühkindlichen Entwicklung ausweisen, werden in der Elementarpädagogik zum Bild vom Kind als Akteur seiner Entwicklung verdichtet. In diesem als Paradigma der neueren Kindheitsforschung geltenden Kindheitsbild treten tendenziell Reifungsprozesse sowie Umweltfaktoren, die zu einer Fremdsozialisation führen, gegenüber der Betonung der Selbstsozialisation, d.h. der selbstinitiierten, aktiven und selbstgesteuerten Auseinandersetzung des Kindes mit seiner materiellen und sozialen Umwelt, in den Hintergrund (vgl. GRIESE 2001). Wie SCHÄFER nachweist, wurde der Begriff vom Kind als Akteur seiner Entwicklung bereits Ende der 1970er Jahre von HANSJÖRG KAUTTER in die pädagogische Diskussion eingeführt. Er richtete sich gegen funktionsorientierte Trainingsprogramme, die 190
zu jener Zeit in der Vorschulpädagogik florierten und dem damals präferierten Bild der ‚Anleitungs- und Erziehungskindheit’ entsprachen. Der Begriff der Akteurskindheit steht dagegen bis heute für eine kindorientierte Perspektive in der Frühpädagogik, die ihre Wurzeln in der pädagogischen Aufforderung zur Selbsttätigkeit in der Aufklärung und der Reformpädagogik hat. Diese Perspektive wurde in den 1970er Jahren mit Bezug auf die Psychoanalyse und die Kognitionspsychologie JEAN PIAGETs neu formuliert und erfährt gegenwärtig eine aktuelle Legitimation und Fortentwicklung im Kontext konstruktivistischer, neurobiologischer, anthropologischer und entwicklungspsychologischer Forschungen und Theoriebildungen. Im aktuellen Diskurs wird dieses Bild des Kindes neben der Metapher des Akteurs auch durch andere Metaphern wie etwa ‚Kind als Wissenschaftler‘, ‚Forschergeist in Windeln‘, ‚Kinder als Naturforscher‘, als ‚Erkenntniswesen‘ oder ‚kleine Entdecker‘ sowie den Begriff des ‚kompetenten Säuglings‘ zum Ausdruck gebracht (vgl. DRIESCHNER 2007b). Die Kontinuität zwischen klassischen und aktuellen Ansätzen der so genannten kindorientierten Pädagogik wird darin gesehen, dass „die Tätigkeit des Kindes als wesentlicher Aspekt in das pädagogische Handeln“ einbezogen wird (SCHÄFER 2006, S.58). Auf diese Weise sollen die Erfahrungsweisen, das Erleben, Denken, Fühlen und Handeln der Kinder in den Mittelpunkt des pädagogischen Denkens und Handelns rücken. In der Ausrichtung am individuellen Tätigsein der Kinder sollen ihre besondere Lebenssituation, ihre Bedürfnisse und Interessen sowohl im Hinblick auf lebensphasenspezifische Besonderheiten als auch inter- und intrapersonelle Differenzen berücksichtigt werden. Für die frühpädagogische Forschung und Praxis ist daher die Frage zentral, worauf sich die Tätigkeit des Kindes richtet, genauer worin die spezifischen Bildungsaufgaben und -prozesse in der frühen Kindheit bestehen. Ausgehend von der Unterscheidung PIAGETs zwischen der invarianten Funktion des Bildungsprozesses, die in der Regulation des Verhältnisses zwischen Person und Umwelt besteht, und seinen lebensphasenspezifischen Strukturen geht LIEGLE dieser Frage nach. Mit Bezug auf Klassiker und aktuelle Fachvertreter der Frühpädagogik sieht er die Strukturmerkmale des frühkindlichen Bildungsprozesses (1) in der anschauungsbetonten, sinnes- und leibgebundenen bzw. sensomotorischen Erkenntnis (JOHANN HEINRICH CAMPE, PIAGET), (2) der Selbstentwicklung des Kindes durch freie Selbsttätigkeit (FRÖBEL, KARL GROOS) und (3) in der Persönlichkeitsentwicklung von einem emergierenden Selbsterleben zu eigenständigem Selbstempfinden, Intersubjektivität und symbolischem Weltbezug (MARTIN DORNES). Diese Strukturmerkmale kennzeichnen die Tätigkeitsformen des frühkindlichen Bildungsprozesses, die in der Literatur vor allem im Spielen, Gestalten, Bewegen, Konstruieren, Forschen und Entdecken gesehen werden. Herausgestellt wird immer wieder die besondere 191
Bildungsbedeutsamkeit des Spiels, das z.B. im „Orientierungsplan für Bildung und Erziehung für die baden-württembergischen Kindergärten als „die dem Kind eigene Art, sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen, sie zu erforschen, zu begreifen, zu ‚erobern‘ “ beschrieben wird (MINISTERIUM FÜR KULTUS, JUGEND UND SPORT BW 2006, S.32ff.). Das Spiel wird hier nicht vom Lernen getrennt, sondern als originäre Form des kindlichen Bildungsprozesses betrachtet. Alle Formen der selbstinitiierten und selbstmotivierten Begegnung mit der Umwelt tragen Merkmale des Spielerischen. SCHÄFER zufolge gestaltet das Kind im Medium des Spiels eine besondere Form der Beziehung zur Welt, indem es sich mit Menschen und Dingen seiner realen Umwelt auseinandersetzt, zugleich aber die Wirklichkeit gemäß seiner Wünsche, Gedanken, Vorstellungen und auch magischen und animistischen Weltdeutungen überschreiten kann. Das Spiel bildet somit einen Schonraum im Sinne eines „Möglichkeitsbereich(s), in dem Kinder ihr Verhältnis zur Welt so balancieren können, dass ihre eigenen Erwartungen, Wünsche, Vorstellungen oder Wirklichkeitsentwürfe dabei nicht zu kurz kommen“ (SCHÄFER 2006, S.59). Wie LIEGLE erläutert, stellt das Spiel somit „einen auch sozial geschützten Rahmen dar, in dem die Kinder ein sehr persönliches Mischungsverhältnis zwischen Realität und Phantasie herstellen können und mit keinen realen Folgen rechnen müssen, wenn sie sich zu weit von der Realität entfernen“ (LIEGLE 2006). Die Bildungsbedeutsamkeit des Spiels kann in sozialer, kognitiver und emotionaler Hinsicht konkretisiert werden: Die bildenden Momente des Kinderspiels sieht RITTELMEYER vor allem in der Entwicklung der Fähigkeit zum sozialen Rollenhandeln, zum sozialen Verstehen, zu Empathie und Kreativität (vgl. RITTELMEYER 2002). INGRID PRAMLING SAMUELSSON betont die kognitiven Herausforderungen des Spiels: Kinder müssen im Gruppenspiel die Spielrollen, -gegenstände, -abläufe und -regeln miteinander in Beziehung setzen und so vieles kognitiv parallel verarbeiten und kommunikativ aushandeln. Das Spiel ist deshalb nicht nur eine Verarbeitung früherer Erfahrungen, sondern zugleich eine Interaktion, in der die Kinder neue Erfahrungen hervorbringen, die für ihren Bildungsprozess entscheidend sind. Als Beispiel berichtet PRAMLING von zwei Kindern im Alter von fünf und sechs Jahren, die in der Interaktion folgende Spielszene hervorgebracht haben: „Da sitzen die beiden, nachdem sie alle Schirme im Haus nach Farben und Mustern geordnet haben und mein dänisches Service aus dem Schrank genommen haben, und ‚machen Party’. Wir können nur beginnen, uns vorzustellen, wie ihre Dialoge und Verhandlungen ausgesehen hatten, als sie diese Situation geplant und produziert haben. Hat Frida etwa von Hjördis gelernt oder umgekehrt? Es war wohl das erste Mal, dass sie dieses spezifische Arrangement produziert hatten. Was haben sie miteinander erfunden? Wie kamen sie auf diese Idee und wie nahm sie Gestalt an? Obwohl wir dies nicht wissen, können wir sehen, wie kreativ sie waren.
192
Und sehr wahrscheinlich hatte es eine ,Als-Ob’-Dimension gegeben, und zwei aufmerksame Kinder haben sich von ihrem Denken in Möglichkeiten leiten lassen“ (PRAMLING 2009, S.40).
Diese Spielszene verdeutlicht das Bildungspotenzial des kindlichen Spiels. Spielend-lernende Kinder sind ein zentrales Bestimmungsmerkmal des eigenständigen, non-formalen Bildungsauftrags des Kindergartens, der spielerisch, offen und situativ an den Eigeninteressen der Kinder anknüpft. In der Schule wird hingegen stärker zwischen Spielen und Lernen getrennt. Die hier dominierende lernzielorientierte Didaktik fasst systematisch-curriculares Lernen in Unterrichtsstunden und -einheiten einerseits und implizites und zufälliges Lernen im Spiel anderseits als zwei weitgehend getrennte Erfahrungsbereiche auf. Daher sehen viele Erzieherinnen und Erzieher in Verschulungstendenzen des Kindergartens einen Verlust seines eigenständigen pädagogischen Profils (vgl. TEXTOR 2008). 2.4 Schaffung von Umwelten und Gelegenheitsstrukturen für frühkindliche Bildungsprozesse als erzieherische Kernaufgabe Eine eigenständige, systematische und vollständig wissenschaftlich fundierte Didaktik der frühen Kindheit ist aus dem Selbstbildungsansatz bisher nicht hervorgegangen. Begründet werden vielmehr Perspektiven und Prinzipien didaktischen Denkens, die ihren Bezugspunkt in Strukturmerkmalen und Tätigkeitsformen des frühkindlichen Bildungsprozesses finden. Diese konsequente Ausrichtung an der Selbstbildung des Kindes geht didaktisch einher mit einer grundsätzlichen Ablehnung instruktionslogischer Lehrformen sowie verbindlicher curricularer Fixierungen von Wissensinhalten und zu erwerbenden Kompetenzen. SCHÄFER erläutert am Beispiel der sensorischen und der sprachlichen Entwicklung, dass wichtige lebensphasenspezifische Bildungsprozesse von Kindern im vorschulischen Alter nicht der Instruktion bedürfen: „Man muss Kindern weder das Sehen, das Hören, die Körper- oder die emotionale Wahrnehmung, das Sprechen in einem differenzierten Sprachsystem ‚beibringen‘. Sie lernen es aufgrund ihrer Ausgangspotenziale im tatsächlichen Umgang mit ihrer sozialen und kulturellen Umwelt“ (SCHÄFER 2006, S.63). Daraus folgert SCHÄFER, dass „Kinder ... für ihre frühen Bildungsprozesse also keinen Unterricht in Krippe und Kindergarten [brauchen], sondern eine vielfältige und differenzierte Umwelt“ (ebd., S.65). Je mehr pädagogisch geplant und zur Verfügung gestellt werden muss, desto weniger können Kinder ihren eigenen Lernwegen folgen. Im Unterschied zu Formen direkter pädagogischer Einwirkung wird Erziehung hier non-direktiv als Gestaltung einer sozialen und materiellen Umwelt verstanden, die als Anregungspotenzial für kindliche 193
Selbstbildungsprozesse dient: „Erziehung entscheidet darüber, welchen Ausschnitt der Welt sich das Kind konstruierend aneignen kann“ (LAEWEN 2002, S.43). In diesem Sinne sprachen bereits FRÖBEL vom ‚zufälligen Unterricht‘, MONTESSORI von der ‚vorbereiteten Umgebung‘ und LORIS MAGALUZZI vom ‚Raum als drittem Erzieher‘. Ausgehend von der möglichst genauen wissenschaftlichen Kenntnis sowie der praktischen Beobachtung und Dokumentation der kindlichen Bedürfnisse und Explorationsbestrebungen wird intendiert, „frühund elementarpädagogische Umwelten so zu gestalten, dass diejenigen Lernbedingungen gewährleistet werden, die junge Kinder für ihre Wissensaneignung benötigen“ (FRIED 2008b, S.7). LIEGLE betont in diesem Zusammenhang besonders die reaktive Funktion dieser indirekten Form von Erziehung auf die Selbstentwicklung des Kindes: Die Pädagogik der frühen Kindheit „muss in Theorie und Praxis – in radikalerer Weise als die Pädagogik späterer Lebensalter – ihren Ausgangspunkt in der Umwelt des Kindes und deren Anpassung an die Signale, Fragen und Handlungen des Kindes suchen. Mehr und anders als in späteren Lebensaltern muss Erziehung verstanden und gestaltet werden als angemessene Reaktion auf die Tatsache der Selbstbildung und des Selbstunterrichts des Kindes in seinem Aufbau des Subjekt-Welt-Bezugs“ (LIEGLE 2006, S.99). Eine solche pädagogische Umwelt ist nach RITTELMEYER so zu gestalten, dass sie Kindern erlaubt, sich „möglichst vielseitig zu bilden, ihren sinnlichen Reichtum, ihre gedankliche Tiefe, ihre Urteilskraft, ihre ästhetischen Vermögen, ihr handwerkliches Können umfassend zu schulen“ (RITTELMEYER 2007, S.100f.). Bildung wird in diesem Zusammenhang als individueller biographischer Prozess verstanden, Kindergärten und Grundschulen schaffen Arrangements und Anregungen für vielfältige und selbsttätige Erfahrungen. Das klassische Bildungsideal der „vielfältigen Berührung des Individuums mit der Welt“ interpretiert RITTELMEYER bezogen auf die frühe Kindheit als Erschließung der Welt über „möglichst vielfältige sinnliche Erfahrungen“, die mit steigendem Alter des Kindes „zunehmend auch denkend ergriffen“ werden. Als Bildungsideal gilt ihm die „ästhetische Weltbetrachtung“ im Sinne FRIEDRICH VON SCHILLERs, in der „sinnliche Zuwendung zur Welt und geistige Tätigkeit zugleich tätig werden“ (ebd., S.107). Erziehungspraktisch stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie eine solche bildungsförderliche soziale und materielle Umwelt in den Räumen und auf dem Außengelände des Kindergartens konkret gestaltet werden kann. Für diese Aufgabe kann der Selbstbildungsansatz den Erzieherinnen und Erziehern zwar kein gesichertes Anwendungswissen zur Verfügung stellen, möglich ist aber die Formulierung empirisch fundierter Leitlinien normativer pädagogischer Praxisentscheidungen (vgl. DRIESCHNER/ GAUS 2009). ‚Gute‘ Bildungsumwelten, die den kindlichen Forschergeist wecken und zur Selbsttätigkeit auffordern, werden in der Literatur allgemein als ‚vielfältig‘, 194
‚reichhaltig‘, ‚differenziert‘, ‚komplex‘ und ‚anregungsreich‘ beschrieben (vgl. z.B. SCHÄFER 2006, S65; LAEWEN 2002, S.50; ROMBERG 2002, S.21). Begründet werden diese allgemeinen Gütemerkmale vor allem mit Bezug auf konstruktivistische und neurobiologische Erkenntnisse zum Selbstbildungsprozess von Kindern (vgl. KLATTE 2007). Solches geschieht in einem komplexen Übersetzungsverhältnis zwischen empirischen Tatsachenbeschreibungen, empirisch fundierten möglichen Leitlinien normativer Praxisentscheidungen und konkret auszuhandelnden pädagogischen Handlungskonsequenzen. So begründet z.B. der Neurophysiologe WOLF SINGER die Schaffung von hinreichend anregenden Bildungsumwelten mit dem Befund, dass die Ausbildung der „funktionellen Architektur der Großhirnrinde ... in erheblichem Umfang durch Sinnessignale geprägt [wird], weshalb Kinder mit einem qua Geburt mitgegebenen Welterkundungsdrang aktiv Erfahrungen suchen“ (SINGER 2003, S.70). Wie Umwelten beschaffen sein sollen, die den Kindern geeignetes sinnlich zugängliches Material für ihre Weltkonstruktionen bereitstellen, fällt jedoch in den Bereich der von den Bildungsverantwortlichen auszuhandelnden pädagogischen Konsequenzen. Mit Bezug auf den Forschungsbefund, dass Sinnessignale vor allem dann strukturierend Einfluss auf die Entwicklung nehmen, wenn sie Folge aktiver Interaktionen mit der Umwelt sind, kann spezifiziert werden, dass die Bildungsumwelten Möglichkeiten zu komplexen Bewegungs- und Handlungserfahrungen bereitstellen sollen (vgl. ebd.). Welche Erfahrungen sich bei den einzelnen Kindern einer Einrichtung am günstigsten auswirken, kann mit Bezug auf allgemeine Forschungsergebnisse jedoch nicht gesichert ausgesagt werden. Dies ist vor allem darin begründet, dass sich SINGER zufolge Hirnstrukturen in je individuellen kritischen Phasen entwickeln, d.h. dass das Gehirn in verschiedenen Entwicklungszeiträumen unterschiedliche Informationen aus der Umwelt zur Optimierung seines Strukturaufbaus benötigt (vgl. ebd.). Um die pädagogische Umwelt so zu arrangieren, dass die Kinder die richtigen Anregungen zum richtigen Zeitpunkt erhalten, ist in der Praxis eine sorgfältige Beobachtung und angemessene Interpretation der Entwicklungsprozesse der einzelnen Kinder notwendig. Aus diesen grundlegenden Überlegungen wird deutlich, dass klar zwischen der Ebene wissenschaftlich generierter Erkenntnisse und der Ebene der wissenschaftlichen Grundlegung elementarpädagogischer Handlungsentscheidungen zu unterscheiden ist. Wie genau eine anregungsreiche Umwelt gestaltet werden kann, welche sinnlichen und interaktiven Erfahrungsmöglichkeiten sie beinhaltet, wie reichhaltig die Angebote und Anforderungen sein sollen und welche Strukturierungen geordnete, vertiefte Erfahrung in angemessenen Zeitrhythmen ermöglicht, kann nicht aus Forschungsbefunden abgeleitet werden: Dies fällt in den Bereich konsensuell auszuhandelnder Handlungsentscheidungen. Solche 195
Handlungsentscheidungen können wissenschaftlich begründet und reflektiert werden, sie sind jedoch auch zentral durch das Erfahrungswissen der Praktiker sowie durch das institutionelle, kontextuelle und personelle Bedingungsgefüge des Handelns beeinflusst. In diesem Sinne werden in den Modellkindergärten des am Berliner Forschungsinstitut Infans durchgeführten Projekts ‚Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen‘ auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und praktischer Erprobungen Konzepte zur Gestaltung pädagogischer Räume entwickelt, in denen reichhaltige sensorische und psychomotorische Erfahrungsmöglichkeiten eine zentrale Rolle spielen. Positive Effekte auf die Entwicklung der Motorik und der körperbezogenen Sinne wurden z.B. durch die Schaffung von komplexen Bewegungsumwelten erzielt, in denen schiefe Ebenen, Podeste, Schaukeln, Werkräume, responsive Spielmittel sowie die Animation zu Tanz, Mimik, Pantomime etc. den kindlichen Bewegungsdrang herausfordern. Die visuelle und akustische Wahrnehmungsfähigkeit wird durch die Begegnung mit Kunst stimuliert. Darstellungen bildender Kunst, Fotographie, Architektur, klassische und moderne Musik etc. sind ein wichtiger Teil der Bildungsumwelt der Infans-Kindergärten (vgl. LAEWEN 2002, S.50). Darüber hinaus werden Freiräume für komplexe Aktivitäten geschaffen. Dies verdeutlicht JOHANNA ROMBERG am Beispiel des malerischen Gestaltens. Kinder gestalten nicht wie in der traditionellen Kindergartenpraxis zu vorgegebenen Themen mit vorgegebenem Material, sondern sie erhalten z.B. Töpfe mit Grundfarben mit dem offenen Impuls: Was fällt euch dazu ein? Was kann man mit diesen Farben machen?“ (ROMBERG 2002, S.26). Charakteristisch für die Infans-Kindergärten ist des Weiteren die besondere Sensibilität für die Bildungsbedeutsamkeit des kindlichen Spielens und Forschens. Beide Prozesse werden grundsätzlich unterstützt und es wird nur dann interveniert, wenn Kinder z.B. bestimmte Konflikte im Spiel noch nicht selbst regeln können oder Gefahren im spielerischen Experimentieren noch nicht einzuschätzen vermögen. Einige Beispiele können eine solche Wahrnehmung von kindlichen Bildungsprozessen recht gut veranschaulichen: Im Umwerfen von Bauklötzen wird weniger aggressives und erzieherisch zu unterbindendes Verhalten gesehen, als vielmehr eine selbstinitiierte Schulung des Wissens über Gravitation. Kinder, die in Pfützen herumstapfen, tun dies sicherlich aus unmittelbarer Freude an dieser Aktion und ihrer Wirkung, sie experimentieren aber zugleich mit dem Prinzip der Wasserverdrängung. Indem Kinder kreisförmig um Gegenstände oder Personen herumlaufen, entwickeln sie ihre Bewegungskoordination und Raumorientierung (vgl. ebd.). Am Beispiel einer Badezimmerüberschwemmung bringt auch DONATA ELSCHENBROICH diese pädagogische Wahrnehmung der Bedürfnisse und Interessen der Kinder einprägsam zum Ausdruck: „Wir hätten Schweinerei sagen können. Aber wir haben es Experiment genannt“ (ELSCHENBROICH 2005, S.34). 196
Die genannten Beispiele zeigen, dass gute pädagogische Umgebungen den Kindern so genannte „Gelegenheitsstrukturen“ (LIEGLE 2006, S.103) bzw. „Möglichkeitsspielräume“ (SCHÄFER 2006, S.76) für Bildungsprozesse eröffnen. Das gilt auch für die Einführung der Kinder in Symbolsysteme einschließlich der Schriftsprache sowie der Zahlen und Mengen (ebd. S.150). Zuförderst aber gilt dieses für die Gestaltung des Alltags. Dieser ist für SCHÄFER das „wahrscheinlich einflussreichste ‚pädagogische Angebot‘“ (ebd. 2006, S.75) [Hvhgb. im Original, E.D.]. Neben der sensiblen Wahrnehmung, Beschreibung, Dokumentation und Interpretation der kindlichen Bildungsprozesse besteht eine weitere erzieherische Aufgabe in ihrer entwicklungsangemessenen Verstärkung. LAEWEN spricht hier von den Fragen, Interessen und Themen der Kinder, die pädagogisch zu beantworten sind (vgl. LAEWEN 2002). So ließe sich z.B. auf das Entwicklungsthema ‚Erfahrungen mit der Gravitation‘ (s.o.) durch pädagogische Angebote zum Spielen mit Bällen (speziell mit Flummis) reagieren. Die oben angesprochene erzieherische Antwort auf die das Kind interessierenden Themen verdeutlicht den engen Zusammenhang zwischen der Gestaltung der dinglichen und der personalen Umwelt, genauer der ErzieherinKind-Interaktion, der eine Katalysatorwirkung für den frühkindlichen Bildungsprozess beigemessen wird. In diesem Kontext spielt das Konzept der Bindung im Selbstbildungsansatz eine wichtige Rolle. Die bekanntesten deutschen Bindungsforscher KARIN und KLAUS GROSSMANN definieren Bindung als „imaginäres Band, das in den Gefühlen einer Person verankert ist und das sie über Raum und Zeit hinweg an eine andere Person, die als stärker und weiser empfunden wird, bindet“ (GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S.71). Die Erfahrung von Verbundenheit, psychischer Sicherheit und Orientierung, aber auch von Kompetenz und Autonomie, die Kinder in guten, sicheren Bindungsbeziehungen machen, wird als biologisch-psychisch-soziale Voraussetzung des kindlichen Selbstbildungsprozesses beschrieben (vgl. LIEGLE 2006, S. 40ff.; LIEGLE 2008, S.97; LAEWEN 2002, S.52ff.; BECKER-STOLL 2008). Die einschlägige Forschung hat gezeigt, dass Kinder nicht nur zu ihren Eltern, sondern auch zu ihren Erzieherinnen und Erziehern Bindungen aufbauen, die allerdings gegenüber den Bindungen mit den primären Bezugspersonen nachrangig sind (vgl. AHNERT 2007). Sicher gebundene Kinder zeigen ein aktives Erkundungsverhalten; sie vergewissern sich bei Unsicherheit und Überforderung der Unterstützung der Bindungsperson – wobei teils deren Präsenz im Interaktionsraum genügt – und entwickeln eine hohe Bereitschaft und Fähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen (vgl. z.B. GROSSMANN/GROSSMANN 2005). Eine sichere Bindung bildet somit eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Kinder die Gelegenheitsstrukturen und Möglichkeitsspielräume für Bildungsprozesse in einer pädagogischen Umgebung und in ihrem weiteren Leben auch tatsächlich wahrnehmen können. 197
Bindungen dienen aus evolutionsbiologischer Sicht der Lebenserhaltung, denn Bindungsbeziehungen gewährleisten Versorgung, Schutz und psychische Sicherheit. Die Bindungsbereitschaft des Kindes ist umweltstabil, die jeweilige Ausgestaltung der Bindung als ‚sicher‘ versus ‚unsicher‘ oder ‚desorganisiert‘ wird allerdings in Interaktionen mit den primären Bezugspersonen erlernt. Als gut belegt gilt der Befund, dass sich sichere Bindungen im Rahmen liebevoller und entwicklungsangemessener Interaktionen zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen herausbilden. Personell hängen sie von der Feinfühligkeit, Responsivität, Bereitschaft zur Zuwendung und Beobachtungs- und Interaktionskompetenz der Bezugspersonen ab (vgl. BECKER-STOLL/TEXTOR 2007). Strukturell erfordern sie im Kindergarten einen möglichst niedrigen Betreuungsschlüssel, damit Raum und Zeit für individuelle und feinfühlige Zuwendung zu den einzelnen Kindern einer Gruppe gewährleistet ist (vgl. DOLLASE 2006, S.88). Das Konstrukt Feinfühligkeit (‚Sensitivität‘) umfasst das Verstehen der signalisierten Bindungs-, Sicherheits- und Autonomiebedürfnisse des Kindes, die realistische Deutung seiner Äußerungen sowie die Bereitschaft zu adäquaten und prompten Reaktionen. Spielfeinfühligkeit meint darüber hinaus die Unterstützung der kindlichen Neugier sowie die kind- und entwicklungsgemäße Kooperation bei der Bewältigung von Herausforderungen bei gleichzeitiger Vermeidung direkt eingreifender und vorwegnehmender Hilfe (vgl. HOPF 2005). Feinfühligkeit bildet somit eine zentrale Grundlage für ein Verständnis von Erziehung als Anpassung der Umwelt an die Bedürfnisse des Kindes. Die aus der Verarbeitung der Interaktionserfahrungen entstehende Bindung steht in einem engen Zusammenhang mit der Aktivierung oder Hemmung der kindlichen Motivation, aktiv einen Weltbezug herzustellen. Erst auf Basis einer sicheren Bindung kann das Explorationsverhalten des Kindes voll aktiviert werden und das Kind darüber zur Autonomie gelangen, weshalb Bindung eine zentrale Voraussetzung von Bildung darstellt. Hierzu äußert LIEGLE: „Die Neugierde des Kindes, sein Interesse, sein Lernen- und Begreifen-Wollen, seine Eroberung der Welt und seine Entwicklung von Kompetenzen – auch jener Kompetenzen, die in der viel diskutierten PISA-Studie erfasst worden sind –- , all dies hat seinen Boden, gewinnt seine Energie aus der grundlegenden Erfahrung von Verbundenheit und Autonomie [...] Die Bindungserfahrungen des Kindes und seine selbsttätigen Bildungsprozesse stehen in einem gar nicht auflösbaren Zusammenhang“ (LIEGLE 2006, S.93). Obgleich Erziehung im Selbstbildungsansatz grundsätzlich als Umweltgestaltung in Reaktion auf die Selbstbildung des Kindes verstanden wird, stellt LAEWEN ausgehend vom Konzept der Bindung einen dialektischen Zusammenhang zwischen den Prozessen der Konstruktion und Instruktion her, wobei der Selbststeuerung des Bildungsprozesses gegenüber der pädagogischen Lenkung 198
eine prinzipielle Priorität beigemessen wird. LAEWEN geht davon aus, dass frühpädagogische Fachkräfte als Bindungspersonen nicht nur auf die Entwicklungsthemen, Fragen und Interessen der Kinder reagieren, sondern per se auch Themen an die Kinder herantragen. Solchermaßen zugemutete Themen sollten für die Kinder bildungsbedeutsam sein und können z.B. durch das im Situationsansatz ausgearbeitete Verfahren der Situationsanalyse bestimmt werden. Ist ein zugemutetes Thema mit den Eigeninteressen des Kindes kompatibel, kann eine Erzieherin sicher sein, kraft der Bindung und des Lernens durch Nachahmung und Identifizierung die Aufmerksamkeit des Kindes zu erzielen (LAEWEN 2002, S.54). Da die Selbstbildung der jeweiligen Kinder einer Einrichtung die Leitlinie für zumutbare Themen darstellt, ist nach LAEWEN eine über die konkrete Einrichtung hinausgehende curriculare Fixierung von Themen und Lernzielen nicht zu empfehlen; offene Rahmen- und Orientierungspläne sind dagegen mit dem Selbstbildungsansatz kompatibel (vgl. z.B. SCHÄFER 2007). Bei der Themenerarbeitung werden dialogische Kooperationsformen befürwortet. Das bedeutet für LAEWEN, „dass die Antwort der Kinder auf die Zumutung in das weitere Gespräch zum Thema, seine weitere Bearbeitung eingehen muss, damit kein fruchtloser Monolog der zumutenden Erzieherin daraus wird. Denn dann käme es entweder zum Fassadenbau durch die Kinder, hinter denen sich ihre eigentlichen Interessen und Konstruktionsleistungen verbergen würden, zum Abbruch der Arbeit am Thema oder zu halbherzigen Initiativen aus Höflichkeit oder Zuneigung der Erzieherin gegenüber“ (ebd., S.58). 2.5 Anschlussfähige vorschulische und schulische Bildungsprozesse durch Anerkennung des eigenständigen elementarpädagogischen Bildungsauftrags RAINER DOLLASE verweist auf das grundsätzliche Dilemma, in dem sich die Frühpädagogik befindet: Einerseits wurde die frühe Lernfähigkeit des Kindes hinreichend belegt, andererseits gelingt es nicht, sie mit den Mitteln der Schulpädagogik angemessen zu fördern (DOLLASE 2006, S.92). Aus diesem Grund akzentuiert der Selbstbildungsansatz den eigenständigen, non-formalen Bildungs- und Erziehungsauftrag des Kindergartens als Elementarbereich des Bildungssystems. Dieser findet Umsetzung in einer alltagsnah und familienähnlich gestalteten Bildungsumgebung und orientiert sich an den lebensphasenspezifischen Strukturen und Formen frühkindlicher Bildungsprozesse, die vom schulförmigen Lernen differieren; eine Vorverlagerung schulischer Lernziele und Lernmethoden wird somit abgelehnt. Hierzu leisten die Vertreter des Selbstbildungsansatzes z.B. folgende Stellungnahmen: „Es ist zumindest kurz199
schlüssig, aus dieser frühen Empfänglichkeit von kleinen Kindern für Lernprozesse allgemein zu schließen, Kinder müssten früher und gezielter lernen“ (SCHÄFER 2006, S.65). „Es wird vielmehr erwartet, dass eine entwicklungsangemessene Unterstützung und Anregung der Bildungsprozesse einen kontinuierlichen Übergang zu den schulischen Lernanforderungen gewährleistet“ (LIEGLE 2006, S.143). Daran ist folgende bildungsoptimistische Einschätzung geknüpft: „Wenn der Kindergarten seinen eigenständigen Bildungs- und Erziehungsauftrag angemessen wahrnimmt – und zwar dadurch, dass er die Bildungsprozesse der Kinder entwicklungsangemessen (d.h. insbesondere mit Betonung von Spiel und Kreativität) unterstützt und anregt, herausfordert und individuell fördert (und dies in enger Partnerschaft mit den Familien der Kinder) –, dann kann prinzipiell jedes Kind die Voraussetzungen dafür erwerben, mit Lust und entwickelten Fähigkeiten in das schulische Lernen einzutreten“ (ebd., S.149). Vor diesem Hintergrund sieht LIEGLE die Chance einer Verbindung zwischen Kindergarten und Schuleingangsstufe in der reziproken Kenntnis und Anerkennung der unterschiedlichen institutionsspezifischen Bildungskulturen und Didaktiken. Auf der Basis eines solchen Verständigungshorizonts können Verbindungen der beiden Bildungsorte erprobt werden. Dabei ist es wichtig, einerseits das eigenständige Bildungspotenzial der beiden Institutionen sowie andererseits mögliche Formen des Zusammenspiels in den Blick zu nehmen. In diesem Prozess kann sich die Grundschule gegenüber elementarpädagogischen Prinzipien öffnen und Schulanfänger verstärkt ausgehend von ihrer Selbsttätigkeit fördern. Eine wichtige Aufgabe des Kindergartens ist wiederum, Wert auf die Anschlussfähigkeit der Bildungsinhalte zu legen, ohne schulische Lehr-Lernformen vorwegzunehmen. Insgesamt setzen Kindergärten und Grundschulen ihre eigenständigen Bildungsaufträge altersgerecht auf je eigene Weise um und verstehen die Schulfähigkeit des Kindes als gemeinsame Förder- und Entwicklungsaufgabe. 3
Frühkindliche Bildung als Ko-Konstruktion und Kompetenzentwicklung
3.1 Kontexte des Bildungsprozesses als zentrale Bezugsgrößen der Frühpädagogik Das Verständnis von Bildung als Ko-Konstruktion und Kompetenzentwicklung ist der Ausgangspunkt eines sich international abzeichnenden Trends in der Frühpädagogik, vorschulische Bildungsprozesse zum Gegenstand systematischer curricularer und didaktischer Planungen zu erheben und so dem Modus schulförmigen Lernens anzunähern (vgl. KONRAD 2009, S.2). Daher kann diese 200
Konzeptualisierung frühkindlicher Bildung, die im Folgenden abgekürzt als kompetenzorientierter Ansatz bezeichnet wird, mit Bezug auf ROßBACH dem ‚Vorschultyp’ zugeordnet werden, der traditionell vor allem im angloamerikanischen Raum und in Frankreich vorherrscht (ROßBACH 2008, S.285). Dieses Bildungskonzept wurde in Deutschland in Anlehnung an internationale Entwicklungen unter der Leitung von WASSILOS F. FTHENAKIS am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München theoretisch entwickelt, praktisch konzeptualisiert und dem Bayerischen und Hessischen Bildungsplan zugrunde gelegt (vgl. z.B. FTHENAKIS/OBERHUEMER 2004; FTHENAKIS 2003, GISBERT 2003). FTHENAKIS grenzt sich hierbei klar vom ‚Instruktionsverdikt‘ des Selbstbildungsansatzes ab: „Wir begreifen Bildung nicht, wie bislang, als Selbstbildung, wonach sich das Kind allein durch Eigenaktivität die Welt aneignet. Ein solches Bildungsverständnis Piaget‘scher Tradition eignet sich kaum für eine moderne Konzeption von Bildung“ (FTHENAKIS 2004a, S.15). FTHENAKIS geht es darum, diesen kindzentrierten – und dem historisch-kulturell-sozialen Kontext enthobenen – Fokus der traditionellen Frühpädagogik im Hinblick auf die gesellschaftlichen Kontexte des Bildungsgeschehens neu zu orientieren. Der enge Fokus auf das Individuum vernachlässige die sozialen Prozesse des Bildungsgeschehens, Bildung müsse vielmehr in ihrer jeweiligen situativen und gesellschaftlichen Einbettung betrachtet werden (vgl. FTHENAKIS 2004b, S. 3; 2004c, S.390). KRISTIN GISBERT, eine ehemalige Mitarbeiterin von FTHENAKIS am Münchener Staatsinstitut, fordert daher, Bildung auf die „heutige Gesellschaft mit ihren spezifischen Möglichkeiten und Anforderungen“ auszurichten, „die sich im Wesentlichen unter Stichwörtern wie ‚Postmoderne’ und ‚Wissensgesellschaft’ prägnant zusammenfassen lassen“ (GISBERT 2003, S.86). Aus diesem Grund konzentriert sich der kompetenzorientierte Ansatz auf die vom gegenwärtigen und zukünftigen Leben an das Kind gestellten Anforderungen und „legt besonderen Wert auf den Erwerb von Basiskompetenzen wie lernmethodischen Kompetenzen, Resilienz als Fähigkeit, sich belastenden Lebenssituationen effektiv anzupassen, und Transitionskompetenz als Fähigkeit zur Bewältigung der in Übergangssituationen gestellten Anforderungen“ (ROßBACH 2008, S.312). So sollten die Kinder z.B. durch die Vermittlung lernmethodischer Kompetenzen auf das Leben in einer Gesellschaft vorbereitet werden, in der das lebenslange Lernen angesichts beschleunigter gesellschaftlicher Transformationsprozesse immer mehr an Bedeutung gewinne. Hinter dem Versuch, den Bildungsprozess auf den Kontext auszurichten, steht im Kern die bereits von HEINRICH ROTH vertretende Einsicht, dass nicht nur die pädagogische Situation als Arrangement von Erzieherin und Kind, von pädagogischer Umgebung und Lerngegenständen in den Bildungsprozess eingehen, sondern dass dieser mindestens ebenso durch die Handlungsbedingungen 201
in der Institution, familiäre Hintergründen der Kinder, bildungspolitische Rahmenvorgaben, gesamtgesellschaftliche Einflussgrößen, kulturelle Bezugsnormen und anthropologische Voraussetzungen bedingt ist. Erst diese Gesamtheit ergibt das Kontextgefüge des Bildungsprozesses (ROTH 1966, S.71ff., S.91ff.). Obgleich der kompetenzorientierte Ansatz keine mit den Ansprüchen ROTHs vergleichbare Systematik der Kontextebenen des Bildungsprozesses entwickelt, lassen sich mindestens drei Ebenen voneinander unterscheiden, die als zentrale Kontexte frühkindlicher Bildung betrachtet werden: die Ebene der pädagogischen Situation, der gesellschaftlich-kulturellen Einflussgrößen und Bezugsnormen sowie der institutionellen und bildungspolitischen Rahmenvorgaben. Anhand dieser Ebenen können die theoretischen Hintergründe des kompetenzorientierten Bildungsansatzes dargestellt werden. Sie bestehen im Wesentlichen aus einer Kombination sozialkonstruktivistischer Interaktionstheorien, postmoderner Kindheits- und Gesellschaftstheorien und bildungswissenschaftlicher Kompetenzkonzepte (vgl. REICHERT-GARSCHHAMMER 2009). Dieser insgesamt mehr heuristisch als wissenschaftstheoretisch-systematisch angelegte Theorieverbund wird in den folgenden Überlegungen und Thesen konkretisiert. 3.2 Bildung als sozialer Prozess der Ko-Konstruktion Auf der Ebene der pädagogischen Situation wird das konstruktivistische Verständnis von Selbstbildung durch ein sozialkonstruktivistisches Konzept von Bildung als Ko-Konstruktion ersetzt (vgl. REICHERT-GARSCHHAMMER 2009, S.154). Je nach theoretischem Blickwinkel kann der soziale Konstruktivismus entweder als Teil des konstruktivistischen Paradigmas oder als eigenständiger Ansatz betrachtet werden. Einerseits stimmt er mit anderen konstruktivistischen Ansätzen in der grundlegenden These der Konstruktivität von Wissen und Wirklichkeit überein. Andererseits wird Wirklichkeit jedoch nicht, wie z.B. im radikalen, systemtheoretischen oder entwicklungspsychologischen Konstruktivismus nach PIAGET, auf den sich der Selbstbildungsansatz bezieht, als Hervorbringung autopoietischer, geschlossen operierender bzw. auf Äquilibration ausgerichteter psychischer Systeme verstanden, sondern als soziale Konstruktionsleistung. Dies führt KENNETH GERGEN zur klaren Abgrenzung der Ansätze, auf die auch der kompetenzorientierte Ansatz rekurriert: „Für Konstruktivistinnen und Konstruktivisten ist der Prozess der Konstruktion der Welt ein psychologischer; er spielt sich ‚im Kopf‘ ab. Für Sozialkonstruktionistinnen und -konstruktionisten ist dagegen das, was wir für real halten, eine Folge sozialer Beziehungen“ (GERGEN 2002; zit. nach AMELN 2004, S.184). Im Mittelpunkt des Interesses steht daher die kontextuelle, kulturelle und sozialhistorische Einbettung und Genese der 202
Erklärungs-, Deutungs-, Begründungs- und Verhaltensmuster, mit denen Menschen sich selbst beschreiben, ihre Umwelt wahrnehmen und sich zu dieser in Beziehung setzen. Solche in sozialen Bezügen und Interaktionen hervorgebrachten Bedeutungssysteme nutzt das Individuum für seinen Aufbau als Person. Da es diese sozialen Bedeutungssysteme mit konstituiert, wird in der sozialkonstruktivistischen Soziologie die Reziprozität zwischen Individuum und Gesellschaft hervorgehoben: „Society, conceptualized as a web of symbolic interaction, creates the person; but it is persons who through interaction create society. Thus society and person are reciprocally related in a most fundamental way: They prepose one another in that neither exists except in relation to the other“ (STRYKER/STATHAM 1985, S.314; vgl. auch BERGER/LUCKMANN 1969). Im Rahmen dieses Denkmodells wird aus psychologischer Sicht der Einfluss sozialer Prozesse auf die Entwicklung des Menschen genauer betrachtet. Bereits LEV WYGOTSKI stellte die sozialen Ursprünge des Denkens und Sprechens in der geistigen Entwicklung des Individuums heraus (vgl. WYGOTSKI 1977). Wie GISBERT zeigt, wird der soziale Einfluss in der neueren Diskussion z.T. als so gewichtig erachtet, dass Kognition als ‚kollaborativer Prozess‘ (BARBARA ROGOFF) und die kognitive Entwicklung als ‚Entstehung des sozial vermittelten Geistes‘ (KATHERINE NELSON) beschrieben wird: „Die Bedeutung der Dinge entsteht dieser Auffassung zufolge in einem ko-konstruktiven Prozess der Interaktion, und individuelle Bedeutung wird aus sozialer Übereinkunft abgeleitet“ (GISBERT 2003, S.88). Diese Position widerspricht der gängigen psychologischen Sicht, dass Wissen und psychische Dispositionen im Individuum lokalisierbar sind und aus dessen Verhalten und sprachlichen Äußerungen erschlossen werden können. GERGEN geht sogar so weit, eine „zweite oder geheime Ebene von ‚Bewusstsein’, die, wiewohl unvollkommen, auszuleuchten wäre“ neben den kulturellen Bedeutungssystemen zu negieren. Er vertritt die provokative These, dass sich „die Sprache des Sich-Selbst-Verstehens ... nicht aus dem spezifischen Charakter des individuellen Selbst entwickelt, sondern aus Metaphern, bildlichen Ausdrücken, Sprachfiguren und anderen Konventionen des kommunalen Diskurses“ (GERGEN 1991, 1985; zit. nach AMELN 2004, S.181). Die Wirklichkeit des Einzelnen ist dieser Auffassung zufolge vollständig durch den sich historisch und kulturell herausbildenden Diskurs geprägt, wobei der Einzelne wiederum als Ko-Konstrukteur dieses Diskurses betrachtet wird. Aus systemtheoretischer Sicht ist an dieser Theorieanlage die Verwischung der Grenzen zwischen psychischen und sozialen Systemen, zwischen Individualität und Sozialität problematisch, weil individuelles Bewusstsein und soziale Kommunikation mit unterschiedlichen Medien, Funktionslogiken und Codierungen operieren. Erst auf der Grundlage einer klaren Systemunterscheidung kann das Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft, das ja der Gegenstand des 203
Sozialkonstruktivismus sein soll, trennscharf beschrieben und analysiert werden. Aus systemtheoretischer Sicht wird dieses Wechselspiel dadurch konstituiert, dass sich psychische und soziale Systeme reziprok ihre Komplexität für ihren eigenen Strukturaufbau zur Verfügung stellen (vgl. LUHMANN 1984) – eine Vorstellung, die aus der Sicht des Individuums dem traditionalen Verständnis von Bildung als Strukturaufbau der Person in aktiver und produktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt entspricht. Mit Bezug auf den sozialkonstruktivistischen Gedanken der Ko-Konstruktion hebt FTHENAKIS die Bedeutung des sozialen Vermittlungsprozesses, die interaktive Konstruktion von Sinn und Bedeutung und mithin die kontextuelle Eingebundenheit des aktiv handelnden Lerners hervor: „Im Sozialkonstruktivismus wird das Kind als von Geburt an in soziale Beziehungen eingebettet betrachtet. Lernen und Wissenskonstruktion werden als interaktionaler und kokonstruktiver Prozess aufgefasst.“ Daraus ergibt sich für die pädagogische Interaktion, dass „Kinder und Pädagogen … als aktive Ko-Konstrukteure von Wissen und Kultur und als Bürger mit Rechten, Pflichten und Möglichkeiten verstanden [werden]“ (FTHENAKIS 2004b, S.3). Bildung wird in diesem Sinn als sozialer Interaktionsprozess begriffen, der durch das gemeinsame Handeln der Kinder, der Eltern, der Erzieherinnen und Erzieher und anderer erwachsener Bezugspersonen konstituiert ist. Die Interaktion ist gerahmt durch den soziokulturellen Kontext sowie die individuellen Lebensbezüge, die die Kinder und die Erwachsenen in die pädagogische Situation einbringen. Das entsprechende Bild des Kindes ist das des „Co-constructor of Knowledge, Identity and Culture“ (DAHLBERG/MOSS/PENCE 1999, S.50). Dieser Begriff wurde von GUNILLA DAHLBERG, PETER MOSS und ALAN PENCE in die internationale frühpädagogische Diskussion eingebracht und basiert auf folgender sozialkonstruktivistischer Grundthese: „Learning is a cooperative and communicative activity, in which children construct knowledge, make meaning of the world, together with adults and, equally important, other children: that is why we emphasize that the young child as learner is an active co-constructor“ (ebd.). Im Unterschied zum Selbstbildungsansatz vertritt der frühpädagogische Sozialkonstruktivismus somit in erster Line die Sozialität des kindlichen Bildungsprozesses, wobei die Eigenaktivität des Kindes vorausgesetzt wird (vgl. KONRAD 2009, S.12). EVA REICHERT-GARSCHHAMMER vom Münchener Staatsinstitut für Frühpädagogik sieht in diesem Bildungsansatz das Potenzial, den Gegensatz der Lernkulturen im Kindergarten und in der Grundschule – hier ‚Selbstbildung‘ dort ‚Wissensvermittlung‘ – zu überwinden, der in Zeiten der didaktischen und organisatorischen Verzahnung der beiden Institutionen von Erziehung und Bildung nicht mehr tragfähig sei (REICHERT-GARSCHHAMMER 2009, S.154). Vielmehr gehe es darum, Bildung als gemeinsame und wechselseitige Bewegung des 204
Lehrens und Lernens neu zu konzeptualisieren, um die traditionale Trennung zwischen ‚Selbstbildung als Eigentätigkeit des Kindes’ und ‚Erziehung als Aufforderung zur Bildung‘ zu überwinden. Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen begreifen sich als Lernende: „Ko-Konstruktion bedeutet Lernen durch Zusammenarbeit und erfordert die Bildung lernender Gemeinschaften von Kindern und Erwachsenen, die sich durch gemeinsames Lernen stetig weiterentwickeln. Das gemeinsame Erforschen von Bedeutungen ist wichtiger als der Erwerb von Fakten“ (ebd., S.163). Für die Qualität dieses Interaktionsprozesses kommt den Erwachsenen eine besondere Moderatorenrolle und Steuerungsfunktion zu. Als wichtigste Moderationstechniken und -methoden werden ‚Kindern zuhören‘, ‚Kindern Fragen stellen‘ sowie ‚Lernprozesse visualisieren und dokumentieren‘ genannt, um diese gemeinsam zu reflektieren und weiterzuentwickeln (ebd.). Für hier anschließende Fragen einer darauf aufbauenden frühkindlichen Didaktik ist es entscheidend, dass die soziale Interaktion entwicklungs- und kompetenzfördernd gestaltet wird. Im Unterschied zur eigenaktiven, aber gleichsam solitär erscheinenden kindlichen Exploration, Entdeckung und Aneignung der Welt im Selbstbildungsansatz argumentiert REICHERT-GARSCHHAMMER noch einmal für die in allen Aspekten soziale Konstitution des Bildungsprozesses, in der Kinder in der Kommunikation mit ihren erwachsenen Bezugspersonen und anderen Kindern ihre Wirklichkeit hervorbringen: „Vor allem die soziale Interaktion bewirkt eine stärkere Förderung der Kinder in ihrer geistigen, sprachlichen und sozialen Entwicklung. In Lerngemeinschaften mit Erwachsenen und anderen Kindern lernt das Kind, gemeinsam Probleme zu lösen, die Bedeutung von Dingen und Prozessen gemeinsam zu erforschen und miteinander zu diskutieren und zu verhandeln“ (ebd., S.154). Im Unterschied zum kindzentrierten Fokus der konstruktivistischen Bildungstheorien lässt der sozialkonstruktivistische Bezugsrahmen den Gedanken einer systematischen Förderung der Kinder sowie die Angabe konkreter Bildungsziele in Form zu erwerbender Kompetenzen eher zu (vgl. BECKER-STOLL 2008, S. 116). 3.3 Postmodernismus als philosophische Bezugstheorie für frühe Bildung Das sozialkonstruktivistische Verständnis von Bildung als Ko-Konstruktion im kompetenzorientierten Ansatz wird auf der Ebene des gesellschaftlichen und kulturellen Kontextes des Bildungsprozesses mit postmodernen Theorieperspektiven auf das Leben und Aufwachsen von Kindern in der modernisierten Gesellschaft verbunden (vgl. z.B. GISBERT 2003; FTHENAKIS 2003). Als leitbildgebend für den internationalen frühpädagogischen Diskurs im Allgemeinen und den deutschen kompetenzorientierten Ansatz im Besonderen sieht FRANZ-MICHAEL 205
KONRAD das von DAHLBERG, MOSS und PENCE bereits im Jahre 1999 verfasste Buch „Beyond Quality in Early Childhood Education and Care: Postmodern Perspectives“ (vgl. DAHLBERG/MOSS/PENCE 1999, KONRAD 2009, S.9). Die Zusammenführung sozialkonstruktivistischer und postmoderner Theorieansätze ist in erster Linie daran zu erkennen, dass die Autoren das oben beschriebene Kindheitskonzept des ‚Co-constructor of Knowledge, Identity and Culture‘ als postmodernes Kindheitsbild ausweisen. Zunächst ist zu konstatieren, dass ‚Postmoderne‘ und ‚Postmodernisierung‘ uneinheitliche Begriffe mit unterschiedlicher Verwendung sind. In Abhängigkeit vom jeweiligen Theoriekontext, in dem diese Begriffe fallen, wird unter Postmoderne ein Zustand der Moderne, eine Gesellschaftsform nach der Moderne oder eine Theorie der Moderne verstanden. Postmoderne-Reflexionen richten ihren Fokus vor allem auf die kulturellen und personalen Folgen des Strukturwandels der Moderne, der durch beschleunigte Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung, Differenzierung und Enttraditionalisierung gekennzeichnet ist. Auf der Ebene kulturphilosophischer Reflexionen artikuliert sich im Begriff Postmoderne das Empfinden, dass die in der Aufklärung wurzelnde Vision von Gesellschaft ihr Ende erreicht hat. Die schwedische Frühpädagogin DAHLBERG bezeichnet diese Vision im Anschluss an Jürgen HABERMAS als das ‚Projekt der Moderne‘ und charakterisiert dies durch die Zielvorstellung „kontinuierlicher und linearer Fortschritt, Gewissheit und Universalität, die Entdeckung von ‚nachweisbaren’ Wahrheiten durch die Anwendung von ‚objektiven‘ wissenschaftlichen Methoden“ (DAHLBERG 2004, S.13; vgl. auch DAHLBERG/MOSS/PENCE 1999, S.19ff.). DAHLBERG und DAHLBERG, MOSS und PENCE beziehen sich auf die postmodernen Denker FRANÇOIS LYOTARD und MICHEL FOUCAULT (vgl. DAHLBERG 2004; DAHLBERG/MOSS/PENCE 1999). Generell schließen Postmodernisten an Varianten moderner Selbstkritik von so unterschiedlichen Theoretikern wie FRIEDRICH NIETZSCHE, SIGMUND FREUD, JACQUES LACAN oder THEODOR W. ADORNO an, radikalisieren diese Kritik aber insofern, als sie zentrale Begriffe und Reflexionskategorien wie Individuum, Subjekt, Objektivität und Utopie, an denen Modernisten noch festhielten, nicht mehr akzeptieren. So konstatiert z.B. LYOTARD: „Die Postmoderne ist keine neue Epoche, sondern das Redigieren einiger Charakterzüge, die die Moderne für sich in Anspruch genommen hat, vor allem aber ihre Anmaßung, die ganze Menschheit durch die Wissenschaft und die Technik zu emanzipieren. Doch dieses Redigieren ist, wie gesagt, schon seit langem in der Moderne selbst am Werk“ (LYOTARD 1989, S.68). In seiner Kritik an den Einheitsperspektiven der modernen Erfahrungswissenschaft weist LYOTARD die Paradigmen der Moderne, er nennt explizit die Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns und die Emanzipation des Subjekts, als ‚große Erzählungen‘ zurück. In seinem Hauptwerk ‚Das postmoderne Wissen‘ ver206
deutlicht er, dass Pluralität im Zuge wissenschaftlicher Ausdifferenzierung zum Grundprinzip von Wissenschaft wurde. Angesichts der Pluralisierung von Wissensformen kann es für LYOTARD keine Metadiskurse mehr geben, die den Sinn einzelner Wissensbestände bestimmen und diese untereinander zu universellen Bedeutungseinheiten verbinden, sondern nur gleichberechtigt nebeneinander bestehende Wissens- und Sinnsysteme, die jeweils entsprechend ihren Eigenregeln und Ansprüchen in ihren Differenzen wahrgenommen werden müssen (LYOTARD 1986; in Bezug auf Pluralismus in der Erziehungswissenschaft vgl. UHLE/HOFFMANN 1994). Wie WOLFGANG WELSCH im Anschluss an LYOTARD erläutert, kennzeichnen „Pluralität und Dissens [...] – in heutiger naturwissenschaftlicher ebenso wie geisteswissenschaftlicher Sicht – die Grundstruktur von Wirklichkeit. Diese ist nicht homogen, sondern heterogen, nicht harmonisch, sondern dramatisch, nicht einheitlich, sondern divers verfasst“ (WELSCH 1988, S.33). Heterogenität und Differenz werden im postmodernen Wissen begrüßt: „Die Postmoderne bejaht den Übergang in die Pluralität und bewertet ihn positiv, sie erprobt den Gedanken, dass Vielheit vielleicht eine Glücksgestalt sein könnte. Dieser Wechsel von Einheitssehnsucht zum Vielheitsplädoyer ist die einschneidendste der Veränderungen im Übergang von Moderne zu Postmoderne.“ (WELSCH 1987, S.26). Auf dieses postmoderne Wissenschafts- und Wirklichkeitsverständnis, das Ungewissheit, Komplexität, Diversität, Multiperspektivität und Relativität betont, beziehen sich DAHLBERG/MOSS/PENCE (1999) und im Anschluss FTHENAKIS (2003) und GISBERT (2003). Dieser Gedankengang erweist sich als außerordentlich kompatibel mit dem sozialkonstruktivistischen Verständnis von Bildung als Ko-Konstruktion, denn in der gemeinsamen Akzentuierung der kulturellen Relativität von Wissen und Wirklichkeit zeigt sich eine grundsätzliche Affinität zwischen sozialkonstruktivistischem und postmodernem Denken. Denn die im Sozialkonstruktivismus vertretene These, dass Wirklichkeit als soziales Konstrukt in Interaktionen herausgebildet wird, entspricht der postmodernen Vorstellung von der Pluralität, Vielfältigkeit sowie räumlicher und zeitlicher Gebundenheit des Wissens in Gesellschaften im Zeitalter der Modernisierung und des Reflexivwerdens der Moderne, weshalb GISBERT auch vom „postmodernen Konstruktivismus“ spricht (GISBERT 2003, S.89). In der frühpädagogischen Rezeption erfüllen Postmoderne-Reflexionen eine Doppelfunktion als wissenschaftstheoretische und zeitdiagnostische Legitimation für eine frühe systematische Bildung von Kindern im vorschulischen Alter. Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive dient das postmoderne Wissenschaftsverständnis vor allem als Bezugsgröße für die Kritik an der klassischen wie auch an der neueren experimentellen Entwicklungspsychologie, die Daten, Theorien, Modelle und Stufenkonzepte liefern, auf die sich dann eine ‚kindzentrierte‘ Früh207
pädagogik auszurichten habe. In ihrer Argumentation beziehen sich DAHLBERG/ MOSS/PENCE auf die Machtanalysen FOUCAULTs, um zu zeigen, dass mit Bezug auf naturalistische, dekontextualisierte und z.T. normativ gewandte Theorien aus der Entwicklungspsychologie und Pädagogik ein schematisiertes Bild vom Kind gezeichnet werde. Macht, so die Grundannahme, werde hier insofern ausgeübt, als Individualität keine Berücksichtigung finde, indem die ‚wirklichen‘ Kinder in ihren vielfältigen Lebenskontexten unter abstrakte und an statistischen Mittelwerten orientierte entwicklungslogische Gesetzmäßigkeiten subsumiert werden. Dieses schematisierte Bild (‚abstract map‘), das sich vor allem in Stadien- und Stufentheorien der kindlichen Entwicklung widerspiegele, entspreche gleichzeitig dem Bild des „armen Kindes“, das in adultomorpher Terminologie als defizitär und von den Erwachsenen isoliert beschrieben werde (DAHLBERG/ MOSS/PENCE 1999, S.35ff.). In verkürzter und einseitiger Rezeption nennt GISBERT als Beispiele das „unschuldige Kind bei J.J. Rousseau“, „das Kind ohne sozialen und kulturellen Kontext bei J. Piaget“ und auch das „sich selbst bildende Kind von Laewen und Schäfer“ (GISBERT 2003, S.88). Unter erstaunlicher Ausblendung des neuen Verständnisses vom Kind als Akteur seiner Entwicklung, das gerade auch durch die moderne Entwicklungspsychologie mitkonstituiert wurde (vgl. Abschnitt 2), entwickeln DAHLBERG/ MOSS/PENCE in Anlehnung an den Reggio-Pädagogen MAGALUZZI das postmoderne Verständnis des ‚reichen Kindes‘, das in eine Vielfalt von Beziehungen in verschiedenen Kontexten eingebunden ist. „Our image of children no longer considers them as isolated and egocentric, does not see them only engaged in action with objects, does not emphasize only the cognitive aspects, does not belittle feelings or what is not logical and does not consider with ambiguity the role of the affective domain. Instead our image of the child is rich in potential, strong, powerful, competent and, most of all, connected to adults and other children“ (MALAGUZZI 1993; zit. nach DAHLBERG/MOSS/PENCE 1999, S.48). Eine solche Konstruktion reicher und kompetenter Kinder ist für DAHLBERG/ MOSS/PENCE eine produktive Basis für pädagogisches Handeln: „The rich child produces other riches. If you have a rich child in front of you, you become a rich pedagogue and you have rich parents, but if you have a poor child, you become a poor pedagogue and you have poor parents” (ebd., S.50). Die offensichtliche Differenz des Denkens, Fühlens und Handelns von Kindern und Erwachsenen wird in diesem Ansatz nicht ausgeklammert, sondern neu gedeutet. Anders als bei PIAGET wird sie nicht auf strukturell unterschiedliche Stadien der kognitiven Entwicklung zurückgeführt, sondern auf die Differenz des Erfahrungsschatzes zwischen Kindern und Erwachsenen. Mit der Dekonstruktion der strukturellen Differenz zwischen dem Weltbild des Kindes und der Weltsicht des Erwachsenen sowie durch das Bild des reichen, in vielfältigen Beziehungen einge208
bundenen Kindes wird ein Legitimationshorizont eröffnet, mit dem es möglich ist, eine Pädagogisierung der frühen Kindheit im Sinne einer Vorverlagerung systematischen Lernens in den Elementarbereich zu begründen (vgl. die Analyse von KONRAD 2009, S.12). Aus zeitdiagnostischer Sicht findet der Topos ‚Postmoderne‘ Verwendung, um frühkindliche Bildungsprozesse auf unsere Gegenwartsgesellschaft mit ihren spezifischen Herausforderungen und Anforderungsstrukturen auszurichten. Der Akzent wird somit auf den Zukunftsbezug des frühkindlichen Lernens gesetzt und nicht so sehr auf dessen anthropologischen Sinn, der dagegen im Selbstbildungsansatz im Zentrum des pädagogischen Denkens steht. Der Übergang von der Moderne zur Postmoderne zeigt sich für FTHENAKIS in einem beschleunigten Transformationsprozess, der die Lebenswelten aller Lebensalter, gesellschaftlicher Schichten und Milieus betrifft. Neue Anforderungen an die Individuen zeigen sich in diesem Prozess u.a. im Umgang mit kultureller Diversität, sozialer Komplexität, Diskontinuität, Verlusterfahrungen und schnellen Veränderungen. In dieser Welt, in der sich das Leben aus soziokulturell prädeterminierten Bahnen mehr und mehr herauslöst, ist das Individuum in besonderer Weise auf sich selbst zurückverwiesen. Es muss sein Leben ‚in die eigenen Hände‘ nehmen. FTHENAKIS zufolge sollen Kinder bereits im Elementarbereich Kompetenzen erwerben, die sie auf die veränderten gesellschaftlichen Anforderungsstrukturen vorbereiten. Mit Bezug auf internationale Curricula nennt er als wichtige Bereiche des frühkindlichen Kompetenzerwerbs u.a. ‚interkulturelle Kompetenz‘, ‚Fremdsprachenkompetenz‘; ‚geschlechtsspezifische Kompetenz‘ (FTHENAKIS 2003). GISBERT betont im Hinblick auf die vermehrte Wissensproduktion, die Flexibilitätserwartungen im Erwerbsleben und den gesellschaftlichen Imperativ zu lebenslangem Lernen die besondere Bedeutung des Erwerbs lernmethodischer Kompetenz (vgl. GISBERT 2004). Zu den gegenwartsdiagnostisch begründeten Anforderungen an das frühkindliche Lernen gehört auch der Erwerb von Resilienz und Transitionskompetenz, um Unsicherheiten, Umbrüchen und Diskontinuitäten schon früh Stand halten zu können. 3.4 Bildung als zielgerichteter Prozess des Kompetenzerwerbs Im Vorigen wurde bereits erkennbar, dass der kompetenzorientierte Ansatz klarere Vorstellungen über Bildungsziele entwickelt als der Selbstbildungsansatz. Während GISBERT als Vertreterin des kompetenzorientierten Ansatzes fordert, auch im Kindergarten „Lernziele klar zu definieren und Erfahrungsbereiche einzugrenzen, die einer Evaluation unterzogen werden können“ (GISBERT 2003, S.84), akzentuiert der Selbstbildungsansatz die ‚Offenheit‘, ‚Dynamik‘ und ‚He209
terogenität‘ von Bildungsprozessen so stark, dass jeglicher Versuch einer ‚Verplanung‘ der Kindheit als illegitim erscheinen muss. Auf Basis sozialkonstruktivistischer und postmoderner Theoriebezüge wird das Verständnis von Bildung als Selbstbildung zugunsten einer Perspektive auf die Ko-Konstruktivität des Lernens abgelehnt, die nicht Erziehung und Bildung voneinander trennt, sondern die Erziehenden mit in die Bildungsdefinition integriert und ihnen somit auch größere pädagogische Interventions- und Gestaltungsmöglichkeiten zuspricht. Für den frühpädagogischen Diskurs bisher ungewohnt, sollen hier die im Prozess der Ko-Konstruktion zu erreichenden Bildungsziele als Kompetenzen ausgedrückt und curricular ausgewiesen werden: „Ein kompetenzorientierter Bildungsansatz, dem ein weites, ganzheitliches Verständnis von Allgemeinbildung zugrunde liegt, ... stellt die Entwicklung von Basiskompetenzen und Werthaltungen in den Mittelpunkt und verknüpft diese mit dem Erwerb von Basiswissen“ (REICHERT-GARSCHHAMMER 2009, S.155). Damit wird das in der gegenwärtigen Schulpädagogik vertretene Verständnis von Bildung als Kompetenzerwerb auf den frühpädagogischen Bereich übertragen. Die Verknüpfung von Sozialkonstruktivismus und Postmoderne mit Konzepten und Modellen von Kompetenz ist allerdings theoretisch fragwürdig: Das postmoderne Verständnis von Bildung als interaktivem, ko-konstruktivem und je nach beteiligten Personen verschiedenartigem Prozess erscheint als nicht hinreichend geeignet, um auf Seiten der Frühpädagogik in die Debatte des Planens und Evaluierens von Bildungsgängen einzusteigen, weil diese nicht vom Paradigma der Ko-Konstruktion, sondern der Instruktion ausgeht (vgl. KONRAD 2009, S.14; SCHÄFER 2007, S.49f.). Unter Ausklammerung dieses Problems schließt der kompetenzorientierte Ansatz an neuere Modelle und Instrumente der Bildungssystementwicklung an, die bisher vor allem im schulischen Bereich implementiert wurden. Sie sind gekennzeichnet durch die Verknüpfung von Kompetenzorientierung und Standardisierung in der Entwicklung der Bildungsqualität und können als Reaktion auf unbefriedigende TIMSS- und PISA-Ergebnisse und bildungspolitische Impulse der OECD betrachtet werden. Zentral in diesem Zusammenhang ist der Grundsatzbeschluss der Kultusministerkonferenz aus dem Jahre 2002, „für ausgewählte Schnittstellen der allgemeinbildenden Schularten Bildungsstandards zu erarbeiten, diese als verbindliche Vorgaben für die schulische Arbeit in den Ländern einzuführen und ihr Einhalten von den Ländern überprüfen zu lassen“ (MANNSFELD 2004, S.297). Mit diesem Reformprogramm soll trotz der Kulturhoheit der Länder die bundesweite Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit der schulischen Bildungsqualität gestärkt und gesichert werden. Die Bildungsstandards dienen der Klärung und Präzisierung der verbindlichen Ziele schulischen Lernens und liegen seit dem Schuljahr 2005/2006 für die Kernfächer der meisten Schulformen vor. Sie definieren, welche fachbezogenen Kompetenzen 210
Schülerinnen und Schüler bis zum Ende bestimmter Jahrgangsstufen erworben haben sollen, und werden auf der Ebene der Länder durch Kerncurricula bzw. Bildungspläne konkretisiert (vgl. DRIESCHNER 2009). Dieses Programm zur Entwicklung der Bildungsqualität wird bereits ansatzweise auf den Elementarbereich übertragen, auch wenn die Diskussion hier noch nicht so weitreichend geklärt und systematisiert ist wie in der Schulpädagogik. Die bildungspolitische Vorgabe ist der „Gemeinsame Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen“, der im Jahre 2004 von der Jugendund der Kultusministerkonferenz gemeinsam beschlossen wurde. Mit diesem Dokument verpflichten sich die Länder, elementarpädagogische Bildungs- und Erziehungspläne oder auch bildungsstufenübergreifende Pläne für Kinder bis zum 10. Lebensjahr zu erarbeiten, um anschlussfähiges Lernen zwischen Kindergarten und Grundschule zu ermöglichen. Die inzwischen vorliegenden Pläne erfüllen – wie auch die schulischen Bildungsstandards und Kerncurricula – eine Doppelfunktion als pädagogische Orientierungshilfe und bildungspolitisches Steuerungsinstrument (vgl. NAGEL 2009, S.13). Auch wenn die elementarpädagogischen Bildungspläne offener gehalten sind und zwischen den Ländern stärker differieren, ist auch hier die politische Absicht zentral, die bisher weitestgehende „Deregulierung des Bildungs- und Erziehungsauftrages“ zu überwinden, wobei allerdings keine Standardisierung im engeren Sinne, sondern eine verbindliche Orientierung der pädagogischen Arbeit intendiert ist, die vor Ort Raum für methodische Vielfalt, Adaptivität und Kreativität lässt (FTHENAKIS 2004b, S.4). DETLEF DISKOWSKI sieht die zentrale Innovation der Bildungspläne insgesamt im eingeleiteten Abschied von der Unverbindlichkeit, der in der Tendenz auf eine formale Homogenisierung der Bildungsarbeit im System der Kindertageseinrichtungen zulaufen soll (vgl. DISKOWSKI 2008). Die in den Ländern erarbeiteten Bildungspläne unterscheiden sich jedoch im Grad ihrer curricularen Verbindlichkeit; je nach dem, ob sie auf dem Selbstbildungsansatz oder dem kompetenzorientierten Ansatz beruhen. Während die dem Selbstbildungsansatz verpflichtete nordrheinwestfälische Bildungsvereinbarung ein Beispiel für ein offenes Curriculum ist, das konsequent von der Selbsttätigkeit und dem Forschergeist des Kindes ausgeht, beschreibt der kompetenzorientierte Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan verbindliche Lernwege und zu erreichende Lernziele. Die Tatsache, dass mit dem kompetenzorientierten Paradigma eine partielle Vorverlagerung des curricular strukturierten, systematischen Lernens in den Elementarbereich erfolgt, wird u.a. an der gemeinsamen Zielsetzung des Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplans für den Elementarbereich und der schulischen Bildungsstandards sichtbar. Beide stellen die Stärkung der Basiskompetenzen als Leitziel heraus. Während die Bildungsstandards aufgrund der 211
Fächerorientierung schulischen Lernens fachspezifische Basiskompetenzen wie Lese- und Schreibkompetenz, mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz fokussieren, versteht der Bayerische Bildungsplan Basiskompetenzen angesichts der Alltags- und Projektorientierung elementarpädagogischen Lernens umfassender als „grundlegende Fertigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale, die das Kind befähigen, mit anderen Kindern und Erwachsenen zu kommunizieren und zu kooperieren und sich mit seiner dinglichen Umwelt auseinanderzusetzen. Zu stärken sind jene Basiskompetenzen, die sich auf die individuelle Autonomie und die soziale Mitverantwortung beziehen sowie auf das Lernen lernen und den Umgang mit Veränderungen und Belastungen (Resilienz)“ (REICHERT-GARSCHHAMMER 2009, S.156). Trotz des Unterschieds in der Weite des Kompetenzbegriffs ist das Leitbild beider Dokumente ein auf die ‚PISA-Studie’ und den angloamerikanischen ‚Literacy-Diskurs‘ zurückführbares funktional-pragmatisches Bildungsverständnis, das die gesellschaftliche Bedeutung, Anwendbarkeit und Anschlussfähigkeit der vorschulisch oder schulisch erworbenen Kompetenzen in den Fokus stellt. Das Gliederungsprinzip besteht in beiden Fällen im Ausweis von Kompetenzbereichen. Der Bayerische Bildungsplan unterscheidet hier individuumsbezogene, soziale und lernmethodische Bereiche, denen dann jeweils einzelne Kompetenzen zugeordnet sind. Darüber hinaus spielen u.a. Resilienz, Transitionskompetenz sowie interkulturelle, religiöse, sprachliche, mathematische, naturwissenschaftliche, ästhetische, musikalische und mediale Kompetenz eine signifikante Rolle. 3.5 Anschlussfähige vorschulische und schulische Bildungsprozesse durch Vorverlagerung systematischen und zielorientierten Lernens in den Elementarbereich Eine gängige Kritik an der Kindergartenpädagogik im Allgemeinen und am Selbstbildungsansatz im Besonderen betrifft das Kinderspiel. Die untrennbare Verknüpfung von Spielen und Lernen in kindlichen Bildungsprozessen wird auch zwar auch von Kritikern grundsätzlich anerkannt, dennoch wird den Selbstbildungspotenzialen des Kinderspiels nicht hinreichend vertraut (vgl. ELSCHENBROICH 2007). In diesem Sinne ist auch das Statement der derzeitigen Bundesministerin für Bildung und Forschung ANNETTE SCHAVAN zu verstehen, das die Intention zur Vorverlagerung zielexpliziten und systematischen Lernens in den Elementarbereich formuliert: „Lange Zeit herrschte die Auffassung vor, Bildung‘ beginne in der Schule, der Kindergarten sei zum Spielen da. Das hat sich geändert. Heute verstehen wir den Kindergarten als Lernort, alle Bundesländer haben entsprechende Bildungspläne erlassen“ (SCHAVAN 2007, S.35). In 212
diesem Zusammenhang war im Vorigen vom Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan die Rede, der analog zu schulischen Bildungsstandards Kompetenzbereiche bzw. Kompetenzen ausweist, die die Kinder erwerben sollen. Der Erwerb lernmethodischer Kompetenz ist ein prototypisches Beispiel für eine politisch erwünschte und formulierte Verschulungstendenz, die vom kompetenzorientierten Ansatz ausgeht. Mit Blick auf die Zukunftsbedeutung des Lernens steht für FTHENAKIS fest, dass „nicht nur Wissenserwerb gefragt sei, sondern darüber hinaus Lernkompetenz und andere Metakompetenzen, auf die das Bildungssystem die Kinder bislang nur unzureichend vorbereitet habe“ (FTHENAKIS 2004b, S.2). „Ziel ist es, dem Kind die Kompetenz zu vermitteln, Wissen zu organisieren, es zur Lösung komplexer Problemsituationen einzusetzen und seine Erkenntnisse auch sozial zu verantworten“ (ebd., S.5). Kinder sollen ein reflexives Bewusstsein ihres eigenen Lernens erwerben, indem die pädagogische Interaktion so gestaltet wird, dass Kindern (eigene) Lernprozesse bewusst werden und elementare Lerntechniken eingeübt werden können. So ist es das Anliegen von GISBERT, lernmethodische Kompetenz in der Elementarpädagogik ausgehend von einem metakognitiven Ansatz zu vermitteln. „Dieser zielt darauf ab, das Bewusstsein der Kinder für ihre Lernprozesse durch soziale Lernarrangements zu fördern und ihnen auf diese Weise zum einen die zu vermittelnden Inhalte effektiv nahe zu bringen und zum anderen ihre Fähigkeit zu lernen zu erhöhen (GISBERT 2003, S.79; 2004). GISBERT überträgt damit ein Lernmodell, das bisher vor allem für ältere Schülerinnen und Schüler sowie für Erwachsene entwickelt wurde, auf den elementarpädagogischen Bereich. Als Legitimationshintergrund dieser Übertragung fungiert das so genannte Bild des ‚reichen Kindes‘ der ‚Postmoderne‘, das durch die Dekonstruktion der strukturellen Differenz zwischen der Weltaneignung und dem Weltbild von Kindern und Erwachsenen gekennzeichnet ist (vgl. Abschnitt 3, Abs. 3). In der modernen Anthropologie des Kindes werden dagegen entwicklungspsychologisch die anschauende und sinnesbezogene Erkenntnis und didaktisch gerade die Ausklammerung des Erwerbs von Metakompetenzen vertreten. Deutlich wird, dass hinter der postmodernen Abwendung von der modernen Anthropologie des Kindes das Kalkül steht, den Erwerb basaler und gesellschaftlich funktionaler Kompetenzen so früh wie möglich beginnen zu lassen. In diesem Prozess wird das moderierte und strukturierte Lernen (systematische Lernen) aus dem Primarbereich in den Elementarbereich vorverlagert und tritt hier neben das selbstinitiierte, zufällige und implizite Lernen der Kinder durch Spiel und Erkundung.
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Schlussbemerkung
Beide hier vorgestellten Bildungsprogramme gehen von der gleichen Grundfrage aus: Wie lässt sich angesichts der frühen genetisch privilegierten Lern-, Handlungs- und Interaktionskompetenz von Kindern frühkindliche Bildung theoretisch verstehen und praktisch fördern? Gemeinsam ist dem Selbstbildungsund dem kompetenzorientierten Ansatz, das Kind als aktiven Gestalter seines Bildungsprozesses in den Mittelpunkt zu stellen. Konsens besteht ebenfalls in der Wahrnehmung des Kindes als einzigartige Persönlichkeit, die das Bedürfnis hat, sich als geborgen und kompetent zu erleben. Unterschiede zwischen den Ansätzen zeigen sich dagegen in ihrer theoretischen Grundlegung. Einem konstruktivistisch und bindungstheoretisch fundierten Selbstbildungsbegriff steht ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Bildung als Ko-Konstruktion gegenüber. Die Trennung zwischen Bildung als ‚Selbstbildung‘ und Erziehung als ‚Anregung der Selbsttätigkeit‘ wird im kompetenzorientierten Ansatz in einem Verständnis von Bildung als sozialer Interaktion aufgehoben. Die von der Selbsttätigkeit des Kindes ausgehende Perspektive des Selbstbildungsansatzes findet ihr Gegenstück in der Kontextualisierung des frühkindlichen Bildungsprozesses in der pluralen, komplexen und diskontinuierlichen Struktur der postmodernen Gesellschaft. Dem entspricht der Gegensatz zwischen dem Bild des Kindes als eigenständiger Akteur seiner Entwicklung und dem postmodernen Verständnis des Kindes als Ko-Konstrukteur, der sein Wissen und seine Wirklichkeit erst in der Interaktion mit anderen hervorbringt. Der zentrale bildungstheoretische Unterschied, der aus diesen heterogenen Bezugstheorien hervorgeht, betrifft die Frage der Bildungsziele. Aus der Perspektive des Selbstbildungsansatzes werden Strukturmerkmale, Tätigkeitsformen und Ziele der frühkindlichen Bildung historisch und kulturell dekontextualisiert aus dem anthropologisch gefassten Sinn frühkindlichen Lernens und den Bedürfnissen von Kindern abgeleitet. Der kompetenzorientierte Ansatz fokussiert dagegen primär den Zukunftsbezug des frühen Lernens und leitet aus den vermuteten Anforderungsstrukturen der zukünftigen Gesellschaft Basiskompetenzen ab, die eine Grundlage für das lebenslange Lernen bilden sollen. Am Unterschied zwischen Bindung als anthropologischem Bedürfnis und Resilienz als Kompetenz kann diese Differenz noch einmal sichtbar gemacht werden: Der Selbstbildungsansatz hebt die Sicherheits-, Bindungs- und Geborgenheitsbedürfnisse von Kindern als bio-psycho-soziale Voraussetzung von Bildung hervor, der kompetenzorientierte Ansatz akzentuiert indessen die Bedeutung von Resilienz als Basiskompetenz für den Umgang mit Unsicherheit und Diskontinuität in der pluralisierten Gesellschaft. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Das Spiel gilt im Selbstbildungsansatz als Ausdrucksform des kind214
lichen Lebens in seiner Gegenwart, in der Logik des kompetenzorientierten Ansatzes kann es hingegen zum gezielten Erwerb zukünftig als notwendig erachteter Kompetenzen funktionalisiert werden. Die kontroverse Frage über das angemessene Verständnis und die Förderung frühkindlicher Bildung wurde meines Wissens noch nicht außerhalb der Grenzen der Elementarpädagogik thematisiert und von Vertretern der Allgemeinen Pädagogik aufgegriffen. Dies ist erstaunlich, denn die Frage nach dem Gegenwarts- und dem Zukunftsbezug des Lernens, die die Vertreter des Selbstbildungs- und des kompetenzorientierten Ansatzes trennt, ist eine Grundfrage allgemeinpädagogischer Reflexion, der bereits FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER und in der Folge die Vertreter des Geisteswissenschaftlichen Pädagogik nachgingen. In seinen Vorlesungen über Pädagogik stellt SCHLEIERMACHER die erziehungsethische Grundfrage, ob die Gegenwart des Kindes für dessen Zukunft aufgeopfert werden darf. Da der Zukunftsbezug konstitutiv für Erziehung ist, kommt SCHLEIERMACHER zu folgender dialektischer Vermittlung: „Die Lebenstätigkeit, die ihre Beziehung auf die Zukunft hat, muß zugleich auch ihre Befriedigung in der Gegenwart haben; so muß auch jeder pädagogische Moment, der als solcher seine Beziehung auf die Zukunft hat, zugleich auch Befriedigung sein für den Menschen, wie er gerade ist“ (SCHLEIERMACHER 1826 [1957], S.48). In der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wurde diese Frage mit derjenigen nach dem Status der Pädagogik als autonome Wissenschaft verknüpft. Pädagogik erlangt demnach Autonomie, indem sie gegenüber anderen Kulturbereichen, die ihre Interessen auf Heranwachsende richten, die entwicklungsbedingten Eigenrechte der Heranwachsenden vertritt und sich zu deren Anwalt macht. Dabei ist die nicht hintergehbare Ambivalenz zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Aspekt von Erziehung zu beachten. HERMAN NOHL prägte in diesem Zusammenhang den Ausdruck der Grundantinomie des pädagogischen Lebens, d.h. der Spannung zwischen der Orientierung am Recht des Kindes auf Selbstbildung und der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung. Den Prüfstein aller gesellschaftlichen Anforderungen an den Erwerb funktionaler Kompetenzen durch Heranwachsende bilden die entwicklungsbedingten Eigenrechte der Kinder (NOHL 1978). Dieser Antinomie folgend stellt ANDREAS FLITNER folgenden Anspruch an die dialektische Vermittlung zwischen der Gegenwart des Kindes und der Vorbereitung auf seine Zukunft in der Gesellschaft als Erwachsener: „Da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und mit ihnen die Lebensbedingungen der Kinder wie der Erziehenden weiter rapide verändern, ist immer wieder ‚Reform‘ gefordert: Antwort auf die Modernisierungsprozesse, nicht nur als Zustimmung oder Widerspruch, sondern als Suche nach neuen Möglichkeiten der Erziehungsarbeit, Suche nach einer Sphäre,
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die den Kindern bekömmlich ist und die ihnen den Weg in die komplexe Welt der Erwachsenen erleichtert“ (FLITNER 2001, S.265). In Sinne einer reflexion engagée könnte die Allgemeine Pädagogik in der frühpädagogischen Bildungsdebatte die Aufmerksamkeit für diese nicht zu vergessende Antinomie schärfen. Sie könnte somit Versuche einer Vermittlung zwischen Selbstbildung und dem Erwerb funktionaler Kompetenzen erarbeiten. Als Ansatzpunkt für allgemeinpädagogische Beiträge zu dieser Debatte soll abschließend die Frage nach dem Sinn des Spiels vorschlagen werden. Das Besondere des Spiels besteht darin, dass es per se sowohl den Gegenwarts- als auch den Zukunftsaspekt umfasst: Es „erfüllt die Gegenwart des Kindes bei sich und in der Welt, bereitet aber gleichzeitig – ungewollt und unbewusst – Zukunft vor, indem es – unter anderem – der Einübung von körperlichen und geistigen Funktionen dient“ (LIEGLE 2006, S.97). Wenn eine erfüllte Gegenwart zugleich die beste Voraussetzung für eine glückliche Zukunft ist, dann kann eine Vermittlung zwischen Bildung als Selbstbildung und Kompetenzerwerb z.B. durch den Rückbezug auf den FRÖBELschen Gedanken der Spielpflege angestrebt werden. Diese ist durch die gelenkte Anregung der Selbsttätigkeit des Kindes gekennzeichnet und kann somit zwischen der Spontaneität und Eigeninitiativität sowie der Planung und der sozialen Konstruktivität von Bildungsprozessen vermitteln. Literaturverzeichnis AHNERT, LIESELOTTE (2007): Von der Mutter-Kind- zur Erzieherinnen-Kind-Bindung? In: BECKERSTOLL, FABIENNE/TEXTOR, MARTIN (Hrsg.): Die Erzieherin-Kind-Beziehung. Zentrum von Bildung und Erziehung. Berlin [u.a.]: Cornelsen Scriptor, S.31-41 AMELN, FALKO VON (2004): Konstruktivismus. Tübingen [u.a.]: Francke BECKER-STOLL, FABIENNE (2008): Welche Bildung brauchen Kinder? In: THOLE, WERNER et al. (Hrsg.): Bildung und Kindheit. Pädagogik der Frühen Kindheit in Wissenschaft und Lehre. Opladen [u.a.]: Budrich, S.115-124 BECKER-STOLL, FABIENNE/TEXTOR, MARTIN (Hrsg.) (2007): Die Erzieherin-Kind-Beziehung. Zentrum von Bildung und Erziehung. Berlin [u.a.]: Cornelsen Scriptor BENNER, DIETRICH (2001): Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 4. Aufl. Weinheim [u.a.]: Juventa BERGER, PETER L./LUCKMANN, THOMAS (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/Main: Fischer BOS, WILFRIED et al. (Hrsg.) (2007): IGLU 2006. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann DAHLBERG, GUNILLA (2004): Kinder und Pädagogen als Co-Konstrukteure von Wissen und Kultur. Frühpädagogik in postmoderner Perspektive. In: FTHENAKIS, WASSILOS E./OBERHUEMER, PAMELA (Hrsg.): Frühpädagogik international. Bildungsqualität im Blickpunkt. VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.13-30
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Lernen in Konzeptionen der Allgemeinen Didaktik. Eine kritische Analyse Hanna Kiper
1
Einleitung
Lehrerinnen und Lehrer erwerben im Kontext von Studium und Referendariat Wissen über didaktische Konzeptionen, die ihnen beim Beobachten von Unterricht und bei seiner Planung, Durchführung und Reflexion Hilfen geben sollen. In jüngster Zeit wird der eigentlich selbstverständliche Anspruch neu formuliert, dass Unterricht lernwirksam sein soll. Der Fokus der Aufmerksamkeit wird auf die Frage gerichtet, ob Lernen durch den Unterricht induziert wird. Von daher stellt sich die Aufgabe, sich zunächst mit dem Lernen auseinanderzusetzen, um dann nach seiner Konzeptionalisierung in verschiedenen didaktischen Modellen zu fragen. 2
Lernen
In verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen findet eine Auseinandersetzung mit Lernen statt. In den Biowissenschaften wird der Fokus der Aufmerksamkeit auf die Prozesse im Gehirn gerichtet; man versucht, Lernen auf ein materiales Substrat im Gehirn zurückzuführen. Die Auffassung vom Lernen in der Psychologie lässt sich grob unterscheiden in einen behavioristischen, kognitivistischen und konstruktivistischen Diskurs. Im Behaviorismus wird das Lernen im Kontext von Reiz-Reaktions-Ketten beschrieben. Im Kognitivismus wird Lernen als Informationsverarbeitungsprozess, im Konstruktivismus als eigentätiges Konstruieren von Wissensstrukturen verstanden. CHRISTINE SCHWARZER und PETRA BUCHWALD stellen die grundlegenden Annahmen zu Lerntheorien zusammen, die von mir, als erste Skizze, hier übernommen werden:
Tabelle 1: Grundlegende Annahmen zu Lerntheorien (vgl. SCHWARZER/BUCHWALD 2007, S.219) Wissen ist Paradigma Lernsetting Lehrer ist Lehrstrategie
Lernziel
Behaviorismus Input-OutputRelation Reiz-Reaktion Darbietung Vermittler Verstärken, löschen
Kognitivismus Interner Verarbeitungsprozess Problemlösung Dialog Anleiter Instruieren, vorstrukturieren, vormachen
Erinnern, wiedererkennen
Problem lösen, verstehen
Konstruktivismus selbstaktiv konstruiert Konstruktion Interaktion Moderator, Trainer Kooperieren; Wissen als Rohmaterial vorbereiten Reflektierend handeln; ausdenken
Die Frage nach dem Lernbegriff in der Pädagogik verweist auf eine umfangreiche und z.T. nicht genügend aufgearbeitete und kritisch reflektierte Tradition. Der Fokus richtet sich auf die Inhalte des Lernens, auf die Frage, wie sich die Lernenden als Subjekte durch das Lernen verändern oder verändert werden und wie sie in ein verändertes Verhältnis zur Welt treten (Bildung), den Zeitraum und Raum des Lernens, seine Modalitäten und seine Modi (vgl. GÖHLICH/ WULF/ZIRFAS 2007, S.7). Während in der Psychologie Lernen als Veränderung des Verhaltens verstanden wird, richtet sich das Interesse der Pädagogen auf die Veränderung von Wahrnehmung-, Denk- und Handlungsstrukturen, auf Bewusstseinsstrukturen, Intentionalitäten und Erkenntnisse (vgl. ebd., S.13). Nach dieser Perspektive sind derzeit folgende Varianten des Lernens in der pädagogischen Diskussion: Tabelle 2: Pädagogische Vorstellungen vom Lernen (vgl. GÖHLICH/WULF/ZIRFAß 2007) Bereich des Lernens
222
Aspekte des Lernens Theorie Kontemplation Verifikation
Teilgebiete des Lernens in den Bereichen
Orte des Lernens
Lernprozesse
Schule
Kognitive Prozesse, Reflexive Prozesse, Lernen aus Erfahrungen, Aufnehmen,
KönnenLernen LebenLernen
LernenLernen
Praxis Poeisis Mimesis Techné Biographisches Lernen soziales Lernen kulturelles Lernen
Werkstätten Sportstätten Labore Ateliers Überlebensbefähigung Lebensbefähigung Lebensbewältigung Biographisches Lernen Lebenskunst
Verknüpfen, Behalten, Analysieren Synthetisieren Versuchen Üben Handeln Experimentieren
Erfahrung Erinnerung Reflexion
MICHAEL GÖHLICH, CHRISTOPH WULF und JÖRG ZIRFAß zeichnen das sich verändernde Verständnis vom Lernen im Kontext der Geschichte pädagogischen Denkens nach. Ihre Überlegungen verweisen darauf, dass die Pädagogik einen eigenen, weit gefassten Lernbegriff hat. Als Problem zeigt sich jedoch, dass – mit Blick auf die Texte der Klassiker der Pädagogik und ihre Rezeption – z.T. ein Verständnis von Lernen transportiert wird, das – mit Blick auf die heutigen Erkenntnisse aus Psychologie und Pädagogik – unhaltbar erscheint. Gleichwohl werden sie im Kontext der Vermittlung pädagogischer Gedanken und ihrer Rezeption angeeignet, ohne sie kritisch zu hinterfragen (vgl. AEBLI 1963). Von SOKRATES inspiriert ist die Idee des Lernens als Erinnerung (DQDPQHVLV) und des Lernens als Aufklärungsprozess des eigenen Wissens. Von HUGO VON ST. VIKTOR beeinflusst stellt sich Lernen als Lesen dar, wobei es auf die richtige Reihenfolge der Lektüre und die Differenzierung der Textsorten ankommt. Von COMENIUS mit beeinflusst ist ein sensualistisch-spiritualistisch inspiriertes Lernmodell. Lernen als Gewöhnung findet sich bei JOHN LOCKE. Lernen, ermöglicht durch die Gestalten einer Umgebung, die dann ein Lernen nach eigenen Wünschen ermöglicht, geht auf JEAN JACQUES ROUSSEAU zurück. In der Reformpädagogik findet sich die Konzeption eines Lernens aus Erfahrung etwa bei JOHN DEWEY. Bei MARIA MONTESSORI erscheint Lernen als etwas Äußeres, 223
das einem inneren Bauplan nur nachfolgt; in einer solchen Auffassung zeigt sich das Extrem einer Perspektive, die nur mehr bildungs- und nicht mehr lerntheoretisch ausgerichtet ist. Angesichts dieser vielfältigen Vorstellungen von Lernen stellt sich die Aufgabe, hier – im Sinne eines Verständnisses von Pädagogik als Zwischenhandel – Klärungsprozesse vorzunehmen (vgl. GIESECKE 2000, S.222). Welcher Lernbegriff ist für Lehrerinnen und Lehrer sinnvoll? In jüngster Zeit hat, aus der Perspektive der analytischen Philosophie, ROBERT KREITZ eine Theorie pädagogischen Handelns vorgelegt. Hier entfaltet er auch einen tragfähigen Lernbegriff, dem ich mich anschließe. Lernen bezeichnet keinen – nicht zu beobachtenden – Prozess, der irgendwo ‚in uns‘ stattfindet, sondern „eine relationale Eigenschaft (…), über die wir verfügen, nachdem wir bestimmte Erfahrungen gemacht haben und durch sie in die Lage versetzt wurden, bestimmte Dinge zu tun. Lernen bezeichnet zudem das, was wir dafür tun, um solche Eigenschaften zu erwerben“ (KREITZ 2008, S.12). Von daher müssen Lehrkräfte durch pädagogisches Handeln – Lehren – darauf hin wirken, dass Rezipienten Lernhandlungen vollziehen. Lernen richtet sich dabei auf den Erwerb von Kenntnissen, Wissen und Können (vgl. ebd., S.16f.). Pädagogische Handlungen setzen gezielt „an den Lernhandlungen verhindernden Faktoren an, um die Adressaten zum Lernen zu befähigen. Typischerweise sind dies Aktivitäten des Zeigens, des Vorführens oder Erklärens, die mit nach nachvollziehbaren Handlungen des Adressaten verknüpft sind“ (ebd., S.17). Schülerinnen und Schüler werden durch Lehrkräfte in die Lage versetzt, etwas zu lernen, indem sie etwas dafür tun. Lernen ist insofern durchaus beobachtbar. „Wenn man Lernen als Handeln versteht, dann interessiert weniger die Modellierung innerer Prozesse (seien sie nun psychischer oder neuronaler Art), sondern das, was man dafür tun kann, dass man etwas lernt. Zunächst heißt dies festzustellen, dass man etwas nicht weiß, kennt oder kann (Diagnose). Im zweiten Schritt geht es darum, sich mit den Dingen zu beschäftigen, durch die man etwas lernt, also Erfahrungen mit ihnen zu machen, ihre Eigenschaften festzustellen und sie anhand dieser Eigenschaften einzuordnen bzw. mit ihnen auf verschiedene Weise umzugehen und dabei zugleich zu beobachten, was man tut und was dabei geschieht (Elaboration). In einem dritten Schritt geht es darum, das auf diese Weise erworbene Verständnis, die Dinge als Dinge bestimmter Art anzusehen und mit ihnen auf bestimmte Weise umgehen zu könne, auch anzuwenden (Applikation). Diese dritte Phase ist deshalb notwendig, weil das einmal Erarbeitete in uns nicht stabil in Form von Informationen gespeichert wird, sondern bei Nichtgebrauch wieder verloren geht“ (ebd., S.262).
Lernfähigkeit ist daher Resultat pädagogischen Handelns. Die Lehrperson muss daran interessiert sein, Schülerinnen und Schülern zu zeigen, wie sie die zum Lernen erforderlichen Lernhandlungen durchführen können (vgl. ebd., S.261). „Eine pädagogische Akteurin ermöglicht dem Adressaten ihres Tuns, eine der Lernhandlungen durchzuführen, durch die er lernen kann, was er lernen möchte, indem sie durch ihr Tun den imperienden Faktor außer Kraft setzt, der den 224
Adressaten daran hindert, eben dieser Lernhandlung durchzuführen. Der Adressat macht dadurch eine Erfahrung, die er verwenden kann, um Lernhandlungen dieser Art auch ohne Unterstützung durch eine pädagogische Akteurin zu vollziehen“ (ebd., S.262). KREITZ nennt als widerständigen Faktoren gegen das Ausführen von Lernhandlungen sachliche Gegebenheiten, äußere Umstände oder konkurrierende Wünsche, das Fehlen von praktischem Wissen, das Nichtverfügen über handlungssteuernde Muster, körperliche Beeinträchtigungen und Faktoren, die die Handlungskontrolle untergraben (vgl. ebd., S.263). Er lehnt einen Lernbegriff ab, der sich auf Prozesse im Gehirn bezieht; dieser sei zur Fundierung von Lehr- und Lernprozessen und für pädagogisches Handeln ungeeignet. 3
Didaktische Modelle
Im Begriff des didaktischen Modells wird sowohl ein Bezug zum Unterricht und seinen Faktoren als auch zur Unterrichtsplanung der Lehrperson hergestellt. FRIEDRICH W. KRON hat die Vielzahl der didaktischen Modelle nach den ihnen zugrunde liegenden Leitbegriffen ‚Bildung‘, ‚Interaktion‘ und ‚Lernen‘ unterschieden. Im Folgenden soll geprüft werden, welche jeweiligen Vorstellungen vom Lernen den didaktischen Modellen eingeschrieben sind. Es geht also weniger um die Frage, welche beiläufigen Lernprozesse (z.B. durch Lernen am Modell) durch Unterricht organisiert werden (obwohl das für die Gestaltung von Unterricht und Schule als förderlichen Sozialisationsmilieus bedeutsam ist), sondern darum, welche Lernhandlungen zur Aneignung von Wissen und zum Aufbau von Können im Rahmen verschiedener didaktischer Modelle in den Blick genommen werden. Ich möchte im Folgenden kurz je ein didaktisches Modell vorstellen, das auf je einem der genannten Leitbegriffe (Bildung, Interaktion, Lernen) basiert. Auf dieser Basis frage ich nach der Vorstellung von Lernen in der Bildungstheoretischen Didaktik, der Kommunikativen Didaktik und der Lerntheoretischen Didaktik. Anschließend setze ich mich mit neueren Ansätzen auseinander, die vorgeben, dem Lernen verpflichtet zu sein, und stelle die Vorstellung über Lernen in der Konstruktivistischen Didaktik und in der Neurodidaktik vor. Ich ende mit einer Auseinandersetzung mit Überlegungen in Konzeptionen einer Psychologischen Didaktik und gehe hier besonders auf FRANZ E. WEINERT und HANS AEBLI ein. Nach einem Verweis auf eigene Arbeiten, die den Versuch der Integration verschiedener Überlegungen darstellen, schließe ich mit einem Hinweis auf die didaktischen Herausforderungen der Gegenwart.
225
3.1 Bildungstheoretische Didaktik Der Begriff Bildung beruht auf umfassenden Überlegungen über das Verhältnis des Menschen zur Welt. „Das Zentrum des Bildungsbegriffs ist durch die Einzigartigkeit des Menschen bezeichnet. Der Mensch wird dabei in seiner bildenden Tätigkeit, d.h. in seiner Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden kulturellen Wertwelt gesehen. Das Ziel dieser individuellen geistigen Tätigkeit liegt in der wertvollen Persönlichkeit“ (KRON 1994, S.119). Ein bildender Unterricht zielt darauf, Menschen durch die Begegnung mit wertvollen Kulturgütern in einen kulturellen Vermittlungsprozess zu stellen, in welchem sie sich zu wertvollen Persönlichkeiten heranbilden. Im Mittelpunkt des Bildungsprozesses steht Sinnverstehen, das sich nicht nur an den vorgegebenen Kulturgütern orientiert, sondern auch an deren Sinnstruktur, die auf ein höchstes Gut (z.B. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Demokratie) bezogen ist. Der Mensch soll zu einer besonderen und unverwechselbaren Persönlichkeit werden, die prinzipienorientiert denkt und handelt (vgl. ebd.). Die bildungstheoretische Didaktik von WOLFGANG KLAFKI (geb. 1927) zielt auf die bildungstheoretisch begründete Auswahl der Lernstoffe. Der Grundgedanke in KLAFKIs Schrift ‚Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung‘ (1958) besteht darin, das Heben des Bildungsgehaltes der Lehrgegenstände als relevanten Teil der Unterrichtsvorbereitung zu begreifen. KLAFKI knüpft an OTTO WILLMANNs ‚Didaktik als Bildungslehre‘ (1882) und GEORG KERSCHENSTEINERs ‚Theorie der Bildung‘ (1926) an. Gegenüber deren Objektivismus geht KLAFKI mit HERMAN NOHL und ERICH WENIGER davon aus, „dass eine doppelte Relativität für das Wesen der Bildungsinhalte bzw. ihrer Bildungsgehalte oder Bildungswerte geradezu konstitutiv ist: Was ein Bildungsinhalt sei oder worin sein Bildungsgehalt oder Bildungswert liege, das kann erstens nur im Blick auf bestimmte Kinder und Jugendliche gesagt werden, die gebildet werden sollen, und zweitens nur im Blick auf eine bestimmte, geschichtlich-geistige Situation, mit der ihr zugehörigen Vergangenheit und der vor ihr sich öffnenden Zukunft“ (KLAFKI 1969, S.11f.). Kernstück der Anleitung zur didaktischen Analyse sind fünf Fragen mit dazugehörenden Unterfragen: „I. Welchen größeren bzw. welchen allgemeinen Sinn- oder Sachzusammenhang vertritt und erschließt dieser Inhalt? Welches Urphänomen oder Grundprinzip, welches Gesetz, Kriterium, Problem, welche Methode, Technik oder Haltung lässt sich in der Auseinandersetzung mit ihm ‚exemplarisch‘ erfassen? (...) II. Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt bzw. die an diesem Thema zu gewinnende Erfahrung, Erkenntnis, Fähigkeit oder Fertigkeit bereits im geistigen Leben der Kinder meiner Klasse, welche Bedeutung sollte er – vom pädagogischen Gesichtspunkt aus gesehen – haben? (...) III. Worin liegt die Bedeutung des Themas für die Zukunft der Kinder?
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IV. Welches ist die Struktur des (durch die Fragen I und II und III in die spezifisch pädagogische Sicht gerückten) Inhaltes? (...) V. Welches sind die besonderen Fälle, Phänomene, Situationen, Versuche, in oder an denen die Struktur des jeweiligen Inhaltes den Kindern dieser Bildungsstufe, dieser Klasse interessant, frag-würdig, zugänglich, begreiflich, ‚anschaulich‘ werden kann? (...)“ (ebd., S.15ff.)
An die didaktische Analyse schließt sich die methodische Vorbereitung des Unterrichts an. Diese umfasst folgende Aspekte: 1. Die Gliederung des Unterrichts in Abschnitte oder Phasen oder Stufen 2. Die Wahl der Unterrichts-, Arbeits-, Spiel-, Übungs-, Wiederholungsformen 3. Der Einsatz von Hilfsmitteln (Lehr- und Lern- bzw. Arbeitsmitteln) 4. Die Sicherung der organisatorischen Voraussetzungen des Unterrichts (vgl. ebd., S.23) Betrachtet man die Akzentsetzung in der didaktischen Analyse, geht es KLAFKI um die begründete Auswahl der Bildungsinhalte und um die Rekonstruktion ihres geistigen Gehalts. In seinen Überlegungen kommt ein Nachdenken über das Lernen aus psychologischer Perspektive nicht vor. Es wird mit Blick auf die Struktur des Inhalts, mit Blick auf die Wahl der Lern- und Arbeitsmittel und mit Blick auf die Gliederung des Unterrichts in Abschnitte, Phasen oder Stufen indirekt mitgedacht, ohne dass aber Überlegungen zum Lernen explizit aufgenommen würden. Die Grenzen dieses Ansatzes werden von HEINRICH ROTH und AEBLI markiert. ROTH fragt in seinem Aufsatz ‚Die Kunst der rechten Vorbereitung‘ danach, was eine Lehrkraft zur Vorbereitung ihres Unterrichts leisten muss, und stellt heraus, dass sie nicht nur den Stoff beherrschen, sondern zu ihm in ein eigenständiges Verhältnis treten muss. Neben der Erfassung des sachlichen Gehalts müsse sie – durch pädagogische Besinnung – das eigentlich Bildsame des Gegenstandes erschließen (ROTH 1967, S.120f.). Über KLAFKIs Überlegungen hinausgehend aber fordert ROTH eine psychologische Besinnung auf der Grundlage der Schülerkenntnis; sie soll dabei helfen, positive Anknüpfungspunkte zwischen dem Lerner und dem Gegenstand zu finden; dabei sei die spezifische Verstehensfähigkeit einer Altersstufe zu berücksichtigen. ROTH erwartet, dass die Lehrkraft die Stationen auf dem Weg zum Ziel aufzufinden vermag. Das Untergliedern des Ziels in Teilziele sei abhängig von der Eigenart und Logik des Gegenstandes und der Eigenart und Logik jeder Behandlungsstufe im Verlauf des Unterrichts. Nach ROTH benötigt die Lehrperson Fachkenntnisse, sie muss nach der Bildsamkeit der Inhalte fragen und überlegen, wie der Inhalt verstanden und gelernt werden kann. Nach AEBLI müssen Lehrpersonen nicht nur darüber nachdenken müssen, „wie die Schüler einen Stoff ‚kennen‘, sondern auch wie sie ihn lernen“ (AEBLI 1963, S.15). Im Gegensatz zur herkömmlichen Didaktik muss die wissenschaftliche Didaktik „aus der psychologischen Kenntnis der Vor227
gänge geistiger Formung“ diejenigen methodischen Maßnahmen ableiten, welche für die Entwicklung der Lernprozesse am besten geeignet sind (vgl. ebd.). Die Bedeutung der bildungstheoretischen Didaktik liegt in der bildungstheoretischen Auswahl und Reflexion der Inhalte; sie gibt nur begrenzte Hinweise zu den Lernprozessen, die ermöglichen, diese Inhalte anzueignen. Die Bildungsgangdidaktik im Sine von MEINERT A. MEYER und UWE HERICKS, die von manchen als Fortsetzung der Anliegen KLAFKIs verstanden wird, basiert auf dem Kernanliegen einer Subjektivierung der Idee des Bildungsgangs. Während mit Blick auf verschiedene Schulformen Bildungsgänge unterschieden werden, die unter einer bildenden Perspektive Inhalte begründet auswählen, um dem Individuum zu ermöglichen, über den Weg eines Durchlaufens dieses Bildungsgangs das gesellschaftlich und individuell erforderliche Wissen und Können zu erwerben, wird auf der Basis schulkritischer Überlegungen eine Subjektivierung eingeleitet. Es erfolgt eine Abwendung vom objektiven Bildungsgang und eine Hinwendung zu den Lernenden, ihren Entwicklungsaufgaben und persönlichen Bildungsprozessen. Zwar taucht in den Überlegungen der Autoren der Begriff der Lernerbiographie und der Lernprozesse auf; sie werden jedoch nicht auf das Wissen und Können bezogen, das eine Generation an die nächste weitergeben will. Der Begriff der Bildungsgangdidaktik verdeckt, dass hier keine Bildungsgänge mehr antizipiert werden, sondern eher auf informelle Lernprozesse gesetzt wird. Diese Didaktik löst sich von der Aufgabe, Inhalte auszuwählen, zu begründen, zu strukturieren und Lernwege zum Aneignen dieser Inhalte anzugeben. Es wird darauf gesetzt, dass die Lernenden in ihren Biographien zum richtigen Zeitpunkt sich selbst die Sachverhalte erschließen. Die Aufgabe der Didaktiker wird auf die Rekonstruktion dieser Prozesse oder auf deren Begleitung beschränkt. Lehren und Lernen wird einseitig zugunsten der Lerner aufgelöst, wobei das, was gelernt werden muss, nicht markiert, angeleitet und überprüft wird. 3.2 Kommunikative Didaktik Der Begriff Interaktion bezeichnet die wechselseitige Bedingtheit sozialen Verhaltens, wobei Personen sich durch Kommunikation bzw. Verständigung gegenseitig beeinflussen. Ihr Verhalten wird als Ergebnis ihrer Interaktionen begriffen. Wird der Begriff Interaktion in didaktischen Modellen verwandt, so wird die grundsätzliche Einbindung des Menschen in soziale Beziehungen herausgestellt. Versteht man Unterricht als Interaktionsprozess, geht es um den sinnverstehenden „Austausch von kulturellen Bedeutungen“. Unterricht wird als gegenseitiger
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Verständigungsprozess begriffen, der entsprechend zu gestalten ist (KRON 1994, S.21). Die kommunikative Didaktik akzentuiert Interaktion und Kommunikation. In ihrer Schrift ‚Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien‘ von 1969 stellen PAUL WATZLAWICK, JANET B. BEAVIN und DON D. JACKSON dar, dass „Kommunikation“ nicht nur als Bezeichnung eines Wissensgebietes, sondern als Name für eine „noch nicht näher begrenzte Verhaltenseinheit“ gefasst werden muss (WATZLAWICK/BEAVIN/JACKSON 1990, S.50). Kommunikation geschieht nicht nur mit Worten, sondern ist an paralinguistische Phänomene (wie z.B. Tonfall, Schnelligkeit oder Langsamkeit der Sprache, Pausen, Lachen und Seufzen), Körperhaltungen, Ausdrucksbewegungen (Körpersprache) gebunden. KARL-HERMANN SCHÄFER und KLAUS SCHALLER beschreiben in ihrem Band ‚Kritische Erziehungswissenschaft und kommunikative Didaktik‘ Unterricht als ´“kommunikativ-soziale Realität“ (SCHÄFER/ SCHALLER 1971, S.125). Der Unterrichtsprozess wird als edukativ-kommunikativer Vollzug sozialer Handlungen verstanden, bei denen – über Kommunikationsprozesse – die Inhaltsdimension und die soziale Beziehungsdimension vermittelt werden. Da Unterricht keine ‚person-to-person‘-Kommunikation sei, müsse ein Gruppenmodell entwickelt werden. „Die Gruppenmitglieder erscheinen als Kommunikatoren bzw. als Kommunikanten, die über die Sprache als Kommunikationsmedium durch Informationsprozesse auf der Grundlage einer Gruppensituation spezifische Kommunikationswirkungen erzielen (...)“ (ebd., S.126). Die Didaktiker entwickeln die Kategorie der ‚Klassengruppe‘ und verstehen darunter die Tatsache, dass sich Lehrer und Schüler auf der Basis der Gleichheit um das gruppieren, was im Unterricht verhandelt wird. „Im Blick auf die Sachgerechtigkeit der zu verhandelnden Inhalte sind Lehrer und Schüler gleich, d.h. sie unterstehen gemeinsam den Regeln der zu bearbeitenden Aufgabenfelder“ (ebd., S.144). Sie arbeiten das Besondere an der unterrichtlichen Kommunikation heraus: „Von der inhaltlichen Seite her erweisen sich kommunikative Handlungen als Informationsprozesse, welche Sachverhalte und einzelne Sachzusammenhänge der Unterrichtsfächer in den kommunikativen Ver-Handlungsprozess der Klassengruppe einbringen. Die Fächer wiederum werden inhaltlich durch curriculare Entscheidungen konturiert und gefüllt … Die kommunikativen Handlungen aller Kommunikationsteilnehmer bauen eine Beziehungswirklichkeit von besonderer Art auf, die (...) ein komplementäres bzw. symmetrischer Interaktionsgefüge darstellt“ (SCHÄFER/SCHALLER 1971, S.129f., 153). In diesem didaktischen Ansatz kommt Lernen nur indirekt vor. Das Lehren wird auf ein Informieren verkürzt, das Lernen auf ein Aneignen von Informationen. Die kommunikative Didaktik macht darauf aufmerksam, dass im Unterricht interagiert und kommuniziert wird und dass die Qualität der Beziehungen zwischen den Schüler/innen untereinander und zwischen Lehrkräften 229
und Schülerinnen und Schülern für die Atmosphäre und vielleicht auch für Fragen der Angstfreiheit im Lernprozess bedeutsam ist. Jedoch gelingt es nicht, die Gestaltung der Interaktions- und Kommunikationsprozesse auf die Beförderung der Lernhandlungen durch die Schülerschaft rückzubeziehen. Ein Gefälle im Wissen und Können (und die darin eingeschriebene Verantwortung der älteren für die jüngere Generation im Kontext pädagogischer Interaktion) wird geleugnet; die Aufgabe der Lehrperson, Lernhandlungen der Schüler/innen auszulösen, negiert. Die Beziehungen werden als symmetrisch angelegte gedacht, Interaktions- und Kommunikationsbeiträge erscheinen als potenziell gleichberechtigt. Eine fachliche Auseinandersetzung mit der Sache, ihre fachliche Vorstrukturierung scheint ebenso überflüssig wie ein Nachdenken über Lernwege der Schüler/innen zur Förderung der Auseinandersetzung mit der Sache. Das Nachdenken über Unterricht als Interaktions- und Kommunikationsprozess führt zu einer Erweiterung verschiedener didaktischer Modelle, so z.B. zu den Überlegungen der Hamburger Didaktik nach WOLFGANG SCHULZ, zur kommunikativen Didaktik RAINER WINKELs sowie generell zu didaktischen Diskussionen von Störungen im Unterricht und derer Prävention bzw. Bearbeitung. In jüngster Zeit werden erneut Überlegungen zur Interaktion und Kommunikation im Unterricht mit Fragen der Möglichkeit einer Beförderung des Lernens verknüpft. Mit Blick auf die Aufgabe der Lehrpersonen wird auf die Bedeutung des gemeinsamen Herstellens (Ko-Produktion), des Abstimmens von Handlungen aufeinander (Koordination) und des Berücksichtigens der Wünsche und Bedürfnisse anderer (Kooperation) bedacht. Auch pädagogisches Handeln mit dem Ziel, Lernhandlungen beim Adressaten auszulösen, erfolgt im Rahmen pädagogischer Kooperationen. In Modellen zum kooperativen Lernen wird gezeigt, inwiefern Lernhandlungen der Schüler durch gegenseitiges Erklären, Abfragen, Feedback-Geben befördert werden und welche Bedingungen dafür gegeben sein müssen. Darüber hinaus wird gefragt, wie Interaktion und Kommunikation für beiläufige und gezielte soziale Lernprozesse im Rahmen der Schule (z.B. beim Erlernen von Klassengesprächen für fachliches Lernen, für das Klären von Konflikten oder für das Aushandeln von Interessen) genutzt werden können (vgl. KIPER/MISCHKE 2008). Das Fördern von Kompetenzen zur Selbststeuerung, zur Interaktion und Kommunikation wird mit dem Erarbeiten fachlicher Kompetenzen gezielt verknüpft. In diesen Programmen werden die dabei relevanten Lernprozesse genau durchdacht.
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3.3 Lerntheoretische Didaktik Die Berliner Didaktik, auch lerntheoretische Didaktik oder Strukturmodell der Didaktik genannt, wurde auf dem Hintergrund einer veränderten Organisation der Lehrerbildung an der damaligen Pädagogischen Hochschule Berlin 1962 erstmals publizistisch vorgestellt. In einem praktischen Halbjahr zwischen dem dritten und dem fünften Semester sollte durch Hospitationen, Unterrichtsanalysen und eigene Unterrichtsversuche eine Verbindung von Theorie und Praxis im Studium ermöglicht werden. Das entwickelte didaktische Modell hatte den Zweck, Unterrichtsanalysen und eigene praktische Unterrichtsversuche der Studierenden anzuleiten. Das Berliner Modell der Didaktik sollte darüber hinaus einen Beitrag zur Erkenntnis des Unterrichts leisten. Das Modell vom Unterricht sollte so angelegt sein, „daß es eine wertfreie theoretische Betrachtung von Unterricht auf kategorial-analytischer Grundlage ermöglicht“ (HEIMANN/OTTO/ SCHULZ 1968, S.9). Dabei wurde das Modell aus der Perspektive der Lehrkräfte konzipiert, die im Unterricht handeln müssen. Betrachtet man das Phänomen Unterricht, so tritt eine spezifische formale Struktur hervor, in der mindestens sechs Momente in ihrem Zusammenwirken Unterricht als absichtsvoll pädagogisches Geschehen konstituieren. „Die pädagogischen Intentionen (Absichten), die Themen des Unterricht (Inhalte, Gegenstände), mit denen die Absichten verfolgt werden, die Methoden (Verfahren), die zur Bewältigung von Intentionen und Themen dienen sollen, schließlich die Medien (Mittel) der Verständigung zwischen den am Unterricht Beteiligten über Absichten, Gegenstände und Verfahren sind Sinnstrukturmomente, über deren Auswahl der Unterrichtende (...) entscheiden müssen" (SCHULZ 1968, 23). Tabelle 3: Die Strukturmomente von Unterricht (vgl. SCHULZ 1968, S.23): Anthropogene Voraussetzungen
Intentionalität Thematik Methodik Medienwahl
Sozial-kulturelle Voraussetzungen
Die Strukturanalyse vermittelt ein Gesamtbild des gegebenen Unterrichts und hilft als Beschreibungsmodell dabei, Ordnung in Eindrücke zu bringen. In der Berliner Didaktik wird davon ausgegangen, dass die Intention des Unterrichts darauf gerichtet ist, Lernprozesse in der kognitiven, emotionalen oder pragmatischen Dimension anzuregen und zu steuern (vgl. SCHULZ 1968, 27).
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Tabelle 4: Die Zieldimensionen von Unterricht (vgl. SCHULZ 1968, S.27): Qualitätsstufe Anbahnung Entfaltung Gestaltung
Kognitive Dimension Kenntnis Erkenntnis Überzeugung
Pragmatische Dimension Fähigkeit Fertigkeit Gewohnheit
Emotionale Dimension Anmutung Erlebnis Gesinnung
Neben die theoretische Erfassung des Unterrichts durch die Beschreibung der elementaren Strukturen (Strukturanalyse) soll eine Faktorenanalyse treten. Hier geht es darum, die anthropogenen und sozial-kulturellen Voraussetzungen des Unterrichts zu erfassen. In diesem didaktischen Modell wird Lernen nicht nur als kognitives Lernen gefasst, sondern mit Blick auf weitere Dimensionen ausdifferenziert. Dabei werden, mit Blick auf die Qualität der Erkenntnis, der Handlungsfähigkeit und des emotionalen Erlebens resp. Verarbeitens, verschiedene Qualitätsstufen unterschieden. Die Erweiterungen der Berliner Didaktik zur Hamburger Didaktik geschahen ohne Weiterführung der Überlegungen zum Lernen und unter starker Akzentuierung der Interaktion und Kommunikation im Unterricht. 3.4 Konstruktivistische Didaktik In verschiedenen Überlegungen zu einer konstruktivistischen Didaktik wird, vor dem Hintergrund von Kritik an Wissenschaft, Bildungsvorstellungen und am Schulsystem, nur noch auf das Individuum gesetzt. Es soll befähigt werden, sich mit Wissens- und Bildungsstoffen seiner Wahl eigenständig auseinanderzusetzen und sich diese zu erschließen. Anknüpfend an reformpädagogische Überlegungen wird darauf abgehoben, dass Wirklichkeit erfunden wird (Konstruktion), dass sie entdeckt wird (Rekonstruktion) und dass sie, weil sie auch anders sein könnte, enttarnt wird (Dekonstruktion). Es wird daher auf Erfahren, Ausprobieren, Experimentieren, zirkuläres Fragen, Beobachten, Prüfen, Erkunden gesetzt (vgl. REICH 1996). EDMUND KÖSEL und HELIUS SCHERER begreifen den Wissenserwerb als aktiven, selbstgesteuerten, konstruktiven, situativen und sozialen Prozess und wenden ihre Aufmerksamkeit dem Lernenden, seiner Biographie, seinem jeweiligen Milieu zu (vgl. KÖSEL/SCHERER 1996, S.105). Sie interessiert, wie die Lernenden Lern-Gestalten in ihrer Lebensgeschichte entfalten und diese in konkreten Situationen inmitten einer organisierten LernUmwelt im Hier und Jetzt konstruieren (ebd., S.111). Sie untersuchen, in welchem Wertsystem, aus welchen Gewohnheiten und innerhalb welcher Postu232
lats-Hierarchien Handlungsimperative organisiert werden. Sie fragen nach den Skripts, den geheimen Lebensplänen der Kinder und deren Vortheorien. In KERSTEN REICHs Vorschlägen wird das anzueignende Wissen, die Sache, schließlich gar nicht mehr benannt. Es gibt auch keine Prüfprozesse, um festzustellen, ob ein angemessenes Verständnis von einem Sachverhalt aufgebaut wurde. Lernen, als individuelles Lernen verstanden, zeigt sich in Aktivitäten. Ob Wissen und Können angeeignet wird, wird nicht geprüft. Was gelernt wird, scheint weniger bedeutsam. Ethischen und normativen Fragen kommt in diesen Ansätzen kaum mehr Bedeutung mehr zu. Die von GABI REINMANN-ROTHMEIER und HEINZ MANDL formulierten Prinzipien sollen beim Organisieren des Lernens von Individuen oder kleinen Gruppen beachtet werden (vgl. REINMANNROTHMEIER/MANDL 2001). Wie die komplizierte Vermittlung zwischen der Auswahl eines Bildungsstoffes, seiner fachlichen Strukturierung und dem Weg zur Aneignung des Wissens aussehen könnte, wird nicht bedacht. 3.5 Neurodidaktik In den letzten Jahren gibt es vielfältige Versuche, die Aufmerksamkeit von den Lernhandlungen der Schülerinnen und Schüler sowie den pädagogischen Handlungen der Lehrkraft, die diese auslösen, stimulieren und unterstützen, auf Prozesse im Gehirn zu lenken. Darauf basierend sollen Vorschläge für das Lernen entwickelt werden. Den biologischen Grundlagen von Entwicklung, Lernen und Verhalten kommt Aufmerksamkeit zu. Während renommierte Forscher darauf aufmerksam machen, dass aus der bisherigen Gehirnforschung nur bedingt weiterreichende Erkenntnisse für das Lehren und Lernen gewonnen werden können (vgl. STERN 2004, SCHUMACHER 2006), versuchen andere, ihre Annahmen über Lehren und Lernen mit den Ergebnissen der Gehirnforschung in Verbindung zu bringen oder gar aus diesen abzuleiten. RALPH SCHUMACHER zeigt, dass, mit Blick auf das Lernen, eine physikalische, eine funktionale und eine intentionale Ebene zu unterscheiden sind. Welche Ebene gewählt wird, um etwas zu untersuchen, ist nur mit Blick auf die Erklärungsziele sinnvoll zu entscheiden (vgl. SCHUMACHER 2009, S.125). Er zeigt, dass es verschiedenstufige Zustände gibt, die zueinander in einer Relation stehen; bei Beschreibungen sind die jeweiligen Erklärungsebenen zu unterscheiden. Weitergehend weist er darauf hin, dass bei den Erklärungen „mit den Begriffen der jeweils höheren Erklärungsebene“ zu beginnen ist (ebd., S.126). Hat man angemessene psychologische Begriffe von bestimmten Phänomenen, kann nach den neuronalen Korrelaten gefragt werden; umgekehrt lassen sich kognitionswissenschaftliche oder pädagogische Konzepte nicht auf neurophysiologische Begriffe 233
reduzieren. „Da kognitive Prozesse stets durch entsprechende Vorgänge im menschlichen Gehirn realisiert werden, lassen sich im Rahmen neurophysiologischer Untersuchungen Erklärungen (…) entwickeln, die in kognitionswissenschaftlicher und pädagogischer Hinsicht relevant sind“ (ebd., S.127). Dazu zählt SCHUMACHER neurophysiologische Erklärungen für entwicklungsspezifische kognitive Defizite, für kognitive Leistungsstörungen und ihre verschiedenen Ursachen. SCHUMACHER zeigt, dass neurophysiologische Untersuchungen hilfreich sein können, weil mit ihnen Ursachen für Phänomene herausgefunden werden können, die auf der Verhaltensebene nicht beobachtbar sind und erkannt werden können. Mit Blick auf die Gestaltung des normalen Schulunterrichts können durch Gehirnforschung jedoch keine Hinweise gewonnen werden. SCHUMACHER verdeutlicht, dass der Schulunterricht, der Wissen in Bereichen vermitteln muss, in denen kein privilegiertes Lernen stattfindet, eher auf die Wissensvoraussetzungen und auf die Vermittlung einer gut organisierten Wissensbasis abheben muss (vgl. ebd., S.131). Für didaktische Überlegungen ist dabei die Unterscheidung von privilegiertem und nicht privilegiertem Lernen bedeutsam. „Privilegiertes Lernen liegt dann vor, wenn durch biologische Entwicklungsprogramme festgelegt ist, durch welche Umweltbedingungen bestimmte Lernprozesse ausgelöst werden, und auf welche Weise diese Lernprozesse anschließend ablaufen. Das Sprechen sowie viele motorische Fähigkeiten wie das aufrechte Gehen werden auf diese Weise erlernt. Beim nichtprivilegierten Lernen hingegen ist nicht biologisch festgelegt, welche Faktoren bestimmte Lernprozesse auslösen und wie diese Lernprozesse ablaufen. Das nicht-privilegierte Lernen betrifft alle Inhalte und Fähigkeiten, um deren Vermittlung es im Schulunterricht geht – wie zum Beispiel Lesen, Schreiben und Mathematik. Auf den Erwerb dieser Fähigkeiten hat die Evolution unser Gehirn nämlich nicht vorbereiten können (…)“ (ebd., S.130).
Mit Blick auf diese Unterscheidung geht es um das Erfassen der Voraussetzungen für erfolgreiches nicht-privilegiertes Lernen, z.B. um Wissensvoraussetzungen, um den Aufbau einer gut organisierten Wissensbasis. Von daher besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Aufgabe der Lehrkräfte im Nachdenken darüber, wie sie Lernhandlungen von Schüler/innen befördern können. Nur im Einzelfall können medizinische Untersuchungen über neuronale Prozesse dazu verhelfen, aus den möglichen und denkbaren Interventionen die jeweils passenden auszuwählen. Von daher kann zumindest zur Zeit keine Didaktik auf der Basis neurokognitiver Forschungen allein entwickelt werden.
234
3.6 Unterrichtstheoretische Überlegungen auf lernpsychologischer Grundlage EWALD TERHART, der schon früher in einem viel beachteten Aufsatz das Verhältnis von Allgemeiner Didaktik und Lehr-Lernforschung diskutiert (vgl. TERHART 2005), stellt in jüngster Zeit die Lehr-Lernforschung der Allgemeinen Didaktik gegenüber. Abhebend auf die Notwendigkeit, dass Didaktik immer Antworten auf die Frage nach der Begründung von Inhaltsauswahlen bieten muss, dass sie wertbezogene Fragen klären und Handlungsmöglichkeiten der Lehrkraft antizipierend entwerfen muss, sowie basierend auf einer Gegenüberstellung von Forschung und Handeln, Labor und Unterricht, betont er die Grenzen einer nur psychologisch basierten Didaktik (vgl. TERHART 2009). Dabei verkennt er die Tatsache, dass zumindest von einigen Autoren, zu denen ich ROTH, WEINERT und AEBLI zähle, bedeutsame Beiträge zu einer Theorie des Unterrichts und zum Lehren und Lernen im Kontext von Unterricht geleistet wurden. Während WEINERT ein komplexes Modell für den Unterricht entwarf, zeigte AEBLI, wie – aufsetzend auf einer fachlichen Strukturierung der Inhalte – über die je spezifischen Lernprozesse nachgedacht werden muss, um diese Inhalte angemessen zu lehren und zu lernen. 3.6.1 Überlegungen von Franz Emanuel Weinert Lernpsychologische Überlegungen wurden in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts kritisch auf ihre Relevanz für das Lernen im Kontext von Unterricht in der Schule überprüft. Im Gegensatz zu Laborexperimenten zum individuellen Lernen, seinen Erfolgsbedingungen und Effekten, betont WEINERT (1930-2001), dass es in der Schule um langfristige, komplizierte, didaktische gesteuerte Lernvorgänge gehe (vgl. WEINERT 1974, S.660). Durch die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Lernens sei nicht automatisch eine Kenntnis über die Bereitstellung und Optimierung von Lernbedingungen vorhanden. Eine Theorie des Unterrichts habe diejenigen Erfahrungen zu bestimmen, die im Individuum Voraussetzungen zum Lernen schaffe. Sie müsse festlegen, wie ein größerer Wissensbereich strukturiert werde, müsse die einzelnen Schritte definieren, in denen ein Wissensstoff am effektivsten gelernt wird, und Arten und Bedingungen der Bekräftigung des Lernens festlegen. Empirische Lehr-Lern-Forschung sei nicht automatisch unterrichtsrelevant. Die Komplexität des Unterrichts werde oftmals nicht hinreichend erfasst, dagegen würden Bedingungs- und Wirkungs-Zusammenhänge vorschnell vereinfacht (vgl. ebd., S.746). WEINERT betont, dass es notwendig sei, sich mit komplexeren Formen des Lernens (z.B. Begriffsbildung, Problemlösen) und mit dem Auf- und 235
Ausbau kognitiver Strukturen durch den Lernenden als aktivem Wesen, das Informationen aufnimmt, verarbeitet und anwendet, zu beschäftigen (vgl. ebd., S.661). WEINERT verweist auf das komplexe Wechselverhältnis zwischen Didaktik und Lernpsychologie. „Lehren stellt in gewisser Hinsicht immer einen Vermittlungsversuch zwischen der Struktur des zu lernenden Gegenstandes und der jeweiligen Struktur des Lernenden bzw. des Lernens dar“ (ebd., S.800). Lehren und Lernen unter institutionellen Bedingungen unterscheidet er von individuellem Lernen durch einen Einzellerner, das sich für bestimmte Inhalte interessiert und in diesem Interesse Unterstützung erfährt. Lehren und Lernen in einer Schulklasse, in der festgelegte Wissensbestände erworben werden sollen, ist demgegenüber völlig anders zu bedenken. Ein Wissensbereich ist fachlich zu strukturieren, ebenso sind, über diese fachliche Strukturierung hinaus, effektive Lernwege zur Aneignung dieses Wissens zu bedenken. Das fundierte psychologische Wissen über Lernen, z.B. als Lernen am Modell oder durch Verstärkung, ist für Lernen in der Schule furchtbar zu machen. WEINERT verweist auf anspruchsvolle Formen des Lernens wie Begriffsbildungsprozesse oder Problemlösen und legte ein Modell für die Planung von Unterricht mit dem Ziel der Verbesserung der Instruktion vor. In diesem versucht er, die relevanten Prozesse zur Überwindung der Soll-Ist-Differenz zu denken. Heutige Überlegungen für einen Unterricht, der sich dem Ziel des Kompetenzaufbaus verschreibt, können an diese Überlegungen anknüpfen (vgl. auch KIPER 2008). 3.6.2 Psychologische Didaktik von Hans Aebli AEBLI (1923-1990) führt in seiner Psychologischer Didaktik, im Jahr 1963 in deutscher Sprache erschien, eine differenzierte Auseinandersetzung mit didaktischen Traditionen vor. Er zeigt, dass vielfach Aussagen über den Unterricht auf unzureichenden Überlegungen über Lernen basieren. Er plädiert für einen Unterricht, der auf das Entwickeln des Denkens setzt, z.B. durch das Stellen von Aufgaben zum Anleiten der kindlichen Such- und Forschungsprozesse, für problemorientiertes Arbeiten, für das Gestalten von fortschreitenden Verinnerlichungsprozessen und für die „operatorische Übung“ (AEBLI 1963, S.110). Er denkt über basale Lernprozesse wie Begriffsbildung, Handeln, Operieren und Problemlösen nach und sucht nach einem Vorgehen im Unterricht, das auf die jeweils zu organisierenden Lernprozesse abgestimmt ist. Er fundiert seine didaktischen Überlegungen mit Blick auf die jeweiligen kognitiven Operationen, die erforderlich sind. AEBLI interessiert sich daher nicht nur dafür, wie Lehrkräfte Lernhandlungen bei ihren Schülern auslösen können. Er versucht, unter Analyse der fachlichen Struktur des Inhalts, das Wissensgebiet anzugeben, das Schülerin236
nen und Schüler kennen müssen, und sich Rechenschaft über die Art der Lernhandlungen zu geben, die jeweils geboten sind, damit Inhalte erschlossen werden können. Heutige Überlegungen zu den Operationen, die bei der Bearbeitung von Lernaufgaben bedeutsam sind, schließen daran an. AEBLI fragt nach der Lernhandlung, die jeweils notwendig ist, um sich Wissen anzueignen. Er präzisiert seine Überlegungen für den Erwerb von Wissen durch Begriffsbildungsprozesse, für den Aufbau von Handlungskompetenzen, für geistiges Handeln (Operieren) und für das Problemlösen. Er richtete mit seinen Überlegungen das Nachdenken darauf, dass Unterricht nicht nur mit Blick auf Oberflächenmerkmale zu planen, durchzuführen und zu analysieren ist. Er lenkt die Aufmerksamkeit demgegenüber auf die Denkoperationen, die durch die Schülerinnen und Schüler zu vollziehen sind. In ihrer Betonung liegt für ihn das Fundament für Erkenntnisse über die Notwendigkeit, nicht nur darüber nachzudenken, was sich an der Oberfläche des Unterrichts, auf der Sichtstruktur abspielt, sondern vielmehr die Tiefenstruktur des Unterrichts in den Blick zu nehmen. Diese Überlegungen werden von FRITZ OSER und FRANZ BAERISWYL weiterführt. „Distinctions should be made especially between (a) creating conditions for concrete activities of students, which we call the visible or sight structure of lesson, and (b) creating conditions for inner, non-visible constructive activities, namely, the learning process itself or the mental operations that refer to the deep structure of learning (basic-model). (…) A choreography of teaching, therefore, is composed of the planning and processing of teaching (sight structure) and of the planning und processing of the learning process (basis-model) in the classroom”. (OSER/BAERISWYL 2001, S.1032).
Nach OSER und BAERISWYL geht es darum, das Nachdenken über die geplanten und aufeinander folgenden Schritte beim Unterrichten mit einem Nachdenken über die jeweiligen Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler, die induziert werden sollen, zu verbinden. Als Basismodelle des Lernens nennen sie u.a. erfahrungsbezogenes und entdeckendes Lernen, problemlösendes Lernen, Begriffsund Konzeptbildung, Lernen von Strategien, soziales Lernen und Werteerziehung. An diesen Überlegungen knüpfen HANNA KIPER und WOLFGANG MISCHKE mit ihrer Integrativen Didaktik an (vgl. KIPER/MISCHKE 2004, 2006, 2009). Sie stellen heraus, dass es neben der bildungstheoretischen gegründeten Auswahl der Bildungsinhalte und derer fachlichen Strukturierung, neben einer Angabe der aufzubauenden Kompetenzen zentral darum geht, Lernwege zum Aufbau dieser Kompetenzen zu antizipieren und diese durch geeignete Lernarrangements zu befördern. Notwendig dafür ist eine Lernstrukturanalyse, die mit Blick auf die fachlichen Inhalte und mit Blick auf die Eigenschaften der Schüler/innen passende Lernwege konzipiert. Für eine Präzision des Lehrens und Lernens hilft der Bezug auf Basismodelle des Lernens, deren Durchdenken dazu führt, Unterricht angemessener zu planen, durchzuführen und auszuwerten. Die 237
erforderliche Kompetenz der Lehrkräfte besteht darin, auf der Basis einer fachlichen Strukturierung der Inhalte Aufgaben zu bedenken, die ein Inhaltsgebiet abdecken, und dabei die Lernprozesse anzustoßen, die für die Aneignung dieser fachlichen Inhalte bedeutsam sind, und dabei relevante Basismodelle des Lernens zum Tragen zu bringen. 4
Ein neues Nachdenken über Lernen
Die Formulierung von Bildungsstandards durch die KMK sowie die Erarbeitung von Kerncurricula oder Kernlehrplänen in den einzelnen Bundesländern hat eine neue Diskussion um die Orientierung des Unterrichts begründet. Es wird darauf gesetzt, dass eine solide Wissensbasis durch schulischen Unterricht zu vermitteln ist. Über die Schuljahre hinweg soll ein Wissensaufbau stattfinden. Dabei wird verdeutlicht, dass Kompetenzen in verschiedenen Anforderungsbereichen (Reproduktion des Wissens, Interpretieren, Anwenden und Beurteilen/Bewerten) erforderlich sind. In diesem Zusammenhang wird nach der Lernwirksamkeit des Unterrichts gefragt. Darüber hinaus wird nicht nur darauf gesetzt, dass Ziele für den Unterricht formuliert, sondern dass überprüft wird, ob diese Ziele auch erreicht werden. Der Überprüfung der Wirksamkeit der Bildungsgänge durch vergleichende Schulleistungsstudien und evtl. auch durch Abschlussprüfungen am Ende des jeweiligen Bildungsgangs sowie der Überprüfung der Wirksamkeit von Lehr-Lernprozessen in der Schule (Vergleichsarbeiten) kommt daher zunehmend Bedeutung zu (vgl. MAIER 2009). In diesem Kontext werden vorliegende Modelle über Unterricht auf ihre Angemessenheit kritisch überprüft. In den Modellen zur Angebotsnutzung von HELMUT FEND und ANDREAS HELMKE wird verdeutlicht, von welchen Faktoren Schulleistungen abhängig sind (vgl. FEND 1998, HELMKE 2003). Andere Modelle von Unterricht, die mit Blick auf das Lehrerhandeln entwickelt wurden, werden daraufhin befragt, ob sie die Komplexität jener Unterrichtsfaktoren abbilden, die im Unterricht zu bedenken sind. Die Benennung von Merkmalen für lernwirksamen Unterricht reicht nicht aus. Eine Unterrichtstheorie muss ein angemessenes Modell über Unterricht geben und relevante Faktoren des Unterrichts benennen. Mit Blick auf die geforderte Planungs- und Handlungskompetenz der Lehrkräfte, um Unterricht zu beobachten, zu planen, durchzuführen, zu analysieren und zu evaluieren, werden theoretisch vollständige Modelle gefordert. Dieses gilt auch, um erfolgreich die Bedingungen für das Unterrichten herzustellen (Klassenmanagement) und jene Lernhandlungen der Schülerinnen und Schüler zu initiieren, die für den Erwerb von Wissen und Können erforderlich sind. 238
Ein Unterricht, der dazu beitragen will, die gewünschten Kompetenzen der Lernenden aufzubauen, muss also Lehrkräfte befähigen, Kompetenzmodelle zu entwerfen oder vorliegende zu durchdenken. Lehrerinnen und Lehrer müssen überlegen können, durch welche Sorte von Aufgaben erfasst werden kann, ob diese Kompetenzen nach dem Unterricht vorhanden sind, sowie sodann dazu diagnostisch relevante (Prüf-)Aufgaben entwerfen. Sie müssen mit Blick auf das Ziel des Unterrichts Lernprozesse antizipieren, also Wege zum Aufbau dieser Kompetenzen durchdenken. Dazu ist der Lernweg in denkbare Teilschritte zu untergliedern und festzulegen. Nur so können Lehrkräfte sehen, ob die Schüler tatsächlich erfolgreiche Lernhandlungen durchführen, welche zum gewünschten Ergebnis führen. Dieses gelingt durch die Konstruktion geeigneter Lernaufgaben und das Durchdenken der Operationen, die anhand dieser Lernaufgaben vollzogen werden sollen. Die geplanten Lernhandlungen sind durch geeignete Lernarrangements zu initiieren. In diesem Prozess spielen Lernaufgaben eine besondere Rolle, die auf der Grundlage einer psychologischen Aufgabenanalyse zu konstruieren sind. Die Lehrkraft muss also ein Verständnis über die zu organisierenden Lernprozesse haben und die erforderlichen Lehrprozesse auf diese abstimmen (vgl. KIPER/ MISCHKE 2006, 2009). Unterricht zu planen, durchzuführen und – mit Blick auf das Erreichen der gesetzten Ziele – zu evaluieren ist eine komplizierte Angelegenheit. Lehrer haben dabei die Aufgabe, die relevanten Lernhandlungen der Schülerinnen und Schüler zu initiieren. Dabei reicht es nicht aus, Schülerinnen und Schüler zu aktivieren sowie als Indikator für erfolgreiches Lernen den Grad der Aktivierung zu wählen (Schüler malen, basteln, kleben, diskutieren, tragen vor). Ob erfolgreich gelernt wurde, kann nur durch diagnostisch relevante Prüfaufgaben festgestellt werden, die darauf verweisen, ob eine (vorher nicht vorhandene) Kompetenz aufgebaut wurde. Mit Blick auf den Lehr- und Lernprozess sind Lernmaterialien und Lernaufgaben bereitzustellen, die es ermöglichen, die notwendigen Lernprozesse auszulösen. Je nach erforderlichem Basismodell des Lernens sind auf dieser Basis Denkoperationen durch Lernaufgaben auszulösen. Literaturverzeichnis AEBLI, HANS (1963): Psychologische Didaktik. Stuttgart: Klett AEBLI, HANS (1967): Grundformen des Lehrens. 4. Aufl. Stuttgart: Klett AEBLI, HANS (1997): Grundlagen des Lehrens. Eine allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. 4. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta AEBLI, HANS (2001): Zwölf Grundformen des Lehrens. Eine allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Medien und Inhalte, didaktische Kommunikation, der Lernzyklus. 11. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta
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