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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Henusgegeben von Helmut Berding,Jürgcn Kocka Hans-Pctcr Uilmann, Hans-Ulrich Wchler
Ballcl147
Jürgcn Osterhammcl Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
00048371
Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich
von
Jürgen Osterhammel
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
2001.
33669
U,ngltlagabbildutlg: Golkonda Rene Magritte C VG Bild-Kunsl, Bonn 2001
OsImuJlmttd,jii'Y'" : GesclllchbOWlsscnschaftJenseits des N;monalswlS;
StudIen zur Ikzlchungsgcschichlc und
Z'Vlh~UOIIS\'ergbch.
GötullS\"1I : Vandcnhoeck und Rup~dll. 2001
(Knuschc SlUdlClI zur GcschichlSWl~lIsch.. ft : Bd. 147) ISUN 3-525-35162-3
Cl 2001, Vandcnhoc..'Ck & Ruprcclu. GöttiTlb'ClI. InterncI: hnpJ/www.vandcnhocck-ruprt'Chtode Alle Rcdllc vorlxhahcn. D:as Werk einschließlich seiner T('ilc ist urhcbt'rrecltdich !:;('schützl. Jede Verwertung außcrh:llb der cllb'l"n Grenzen des Urhcberrccht%onclZcs ISI ohne Zustimlllung des Vcrbb'CS ullzulässig und stnfhu. D:as gilt msbesondere rur \'c;rvicll1ihigungen. Ülxrselzungcn,
Mlkroverfilmungcn lind die Einspeichcnlllg und ,*n~ltung1Il elektronischen S}'Stcmcn. Prim«! in ~mlaIlY, Umschbg:Jürgc:n Kochink I-Iolle. S2tt: Tat & Form, 1'oOlc. Druck und ßllldung: Guldc-Druck GmbH. Tübin~n. Gedruckt ~lIfslurcfrctcrn lind chlorfrcl ~bklChlffll P:aPKf.
Ba)1"""
ftn '4.11'"
00048371
Inhalt
Vonvort I.
Transkulrurell vergleichendc Geschiclltswisscnschaft
2. Sozialgcschichte im Zivilisationsvcrgleich
7 11
46
3. DifTerellzwahrnchmungen. Europäisch-asiatische Gesichtspunkte
4.
5.
zur Neuzeit
73
Neue Welten in der europäischen Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit
91
Nation und Zivilisation in der britischen Historiographie von I-turne bis Macaulay
103
6. Raumerfassung und Universalgeschichte
15\
7. .Höherer Wahnsinn«. Universalhistorische Denkstile im 20. Jahrhundert
170
8. EIltdeckung und Eroberung, Neugier und Gewalt. Modelle frühneuzeitlichen Kulturkont:a.kts
183
9. Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas
203
10. Wissen als Macht. Deutungen interkulturellen Nichtvcrstchens bei Tzveun Todorov lind Edward Said
240
11. Mukt und Macht in der Modemisierung Asiens: J3pan, China und Indien im Vergleich
266
12. Kneg im Frieden. Zu Fonn und Typologie imperia.ler Interventionen
283
5
13. Der europäische Nationalstaat des 20. Jahrhunderts. Eine globalhistorische Annäherung
3?2
14. Aufstieg und Fall der neuzeitlichen SkJavcrei. Oder: Was ist ein weltgeschichtliches Problem?
342
Abkürzungen
370
Nachweise
371
ncgister
372
6
48371
VOIwort
Die in diesem Band gesammelten Aufsätze sind in einem besonderen Sinne kritiK/re Studien zur Geschichtswissenschaft. Im Verlaufe der neunziger Jahre ohne planvollen ZUS:lmmenhangentsunden, werden sie verbunden durch den Einspruch gegen eine national historische Selbstbezogenheit und einen Europ3zentrismus, wie sie die deutsche Neuzeithistorie von den Historiographien vergleichbarer Wissenschaftsnationen bnge unterschieden haben. Zugleich sollen sie die jüngst erkennbaren zagl13ften Bemühungen unterstützen, über diesen Zustand hinausfinden. Nun gibt es zwar leicht einsehbare real- und wisscnschaftsgcschichtliche Ursachen der gegenwärtigen Verhältnisse, aber immer weniger Gründe, sich mit ihrer Fortexistenz 3bzufinden. Es genügt, auf zwei Argumente zugunsten eincr Erweitcrung des geschichtswissensch3ftlichen Aufmerksa.mkcitsfeldes zu verweisen. Zum einen bildet die Universität heute Geschichtsstudemen für sich rasch »globalisierende. Berufsfelder aus, etwa die Medien oder das kulturelle Management, in denen man mit den Erträgen eines kleineuropäischen Geschichtsstudiums nicht allzu weit kommt und wo zumindest eine universalhistorische Grundbildung hilfreich wäre. Zum anderen ist es eben die itGlobalisierung. selbst, vor der Historiker um so hilfloser verharren, je eifriger die Sozialwissenschaften, einstmals Waffenbrüder im Streit mit einer verstaubten »Politikgcschichte., sich des Themas bemächtigen. Gewiß wäre es töricht, mit volltönenden Globalitätsparolen die postmoderne Kritik:m den .großen Erzählungen. vom TIsch zu fegen oder die zarte Empirie gelungener Mikrogeschichte durch Makro-Schemata zu überrollcn. Im Gcgcntcil: gerade die Skepsis gegenüber Ilgroßen Erzählungen. sollte einen Raum zur wissenschaftlichen Befassung mit denjenigen öffnen, die durch eben jene Großentwürfe ins weltgeschichtliche Abseits gestellt wurden. Nur ist es mit dem Aufblättern eines kulturgeschichtlichen Bilderbuches nicht getan. Eine allzu überschwengliche Hinwendung zu den .Anderenll in ihrer angeblich nur durch anthropologische Erkenntnisweisen zu erfahrenden .Fremdheit. vef'W3ndelt die Geschichte Amerikas, Asiens und Afrikas in das gehobene Äquivalent eines Hochglanzreisemagazins. So zieht sich durch die folgenden Kapitel, die von der Wirtsehaftsüber die Sozial- und Kulturgeschichte bis zur Geschichte der internationalen Beziehungen die verschiedensten Bereiche historischen Wissens berühren, nicht nur eine Abneigunggegen überscharfe Richrungsfornlierungen, sondern
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auch eine unterschwellige Polemik gegen binäre Klassifikationen: Europa / Außereuropa, Wir I die Anderen, das Eigene / das Fremde. Da auch die eingefuhrten Epochengrenzen mit einer gewissen Nonchalance behandelt werden, wird mein Plädoyer ror die Einheit der Geschichtswissenschaft hoffentlich durch das Beispiel Ubcrzeugungskraft gewinnen. Die hier zusammengestellten Texte summieren sich nicht zu einem Programm, begründen kein neues .Paradigmatt,ja, können noch nicht einmal mit einem griffigen Richtungsetikett dienen. Sowohl.transnationab, als auch .interkulturelle« GeschichtsSChreibung kämen dem Gemeinten nahe, auch .Globalgeschichte« wäre nicht ganz unpassend, wenn es nicht allzu unbescheiden klänge. Unerläßlich ist es aber, so deutlich wie möglich festzustellen: Es geht nullt darum, die Sache der »Außereuropäischen Geschichte.. als eines weiteren institutionalisierten Teilbereichs der Geschichtswissenschaft zu stärken und zu ver(echten. Die Bezeichnung llAußereuropäische Geschichte.. ist eher Teil des Problems als seiner Lösung. Sie bündelt allzu Heterogenes: ZivilisationeIl, die wenig mehr miteinander gemeinsam haben, als irgendwann im Laufe der Neuzeit einmal Zielgebiete der curopäischen Expansion gewesen zu sein.Je mehr die Forschung die jeweils ganz spezifische Handlungsf;ihigkeit (lfagency..) der Kolonisierten und dic Begrenztheit europäisch-imperialer Einflußnahmcn herausstellt, desto mehr enthüllt sich der pauschale Sammelname des lIAußereuropäischen.. als nützliches EntsOrgungskonstrukt.•Außereuropäische Geschichte.. ist eine eurozentrische Restkategorie, ein großer Sack, in dem das angeblich Fremde, E.xotische. weniger Geschiehtsmächlige verschwindet, eine modernisierte Y.:ariame der Rede von den ..geschichtsloscn Völkern .., die sich das 19. Jahrhundert ausgedacht haue. Wenn es also in diescm Band nicht darum geht, für die .Außereuropäische GeschichtelC um Ansehen und Ressourcen Zll werben, worum geht es sonst? Das Ziel, das heute aufder Tagesordnungsteht, ist dic Integration von Amerika, Asien, Afrika und Oze:mien in den Horizont der lInormalenlC Geschichtswissenshaft, die erst dadurch eine wirklich lIallgemeine~ würde. Diese Intcgr:uion müßte zwei Seiten haben, die untrennbar zusammengehören. Auf der einen Seite ist eine institutionellc Öffnung unerläßlich: neben der stärkeren Verankerung des Nicht-Okzidcntalen in der Forschung und - am wichtigsten! - der Lehre etwa auch eine Öffnung der maßgebenden ZeitsChriften und Schriftenreihen fur Themen aus unkollVentionellen Zusammenhängen, die Organisation von ..tr.mskominenulenlC Tagungen oder Sektionen auf Historikertagen, usw. Auf der anderen Seite bliebe eine selche institutionell: Ein\'erleibung unvollständig,ja, geradezu bodenlos, ohne eine nur langsam entstehende Kultur kosmopolitischer Aufmerksamkeit. Anleihen bei weltläufigen N:aehbarfaehern wie der Kulturanthropologie und der vergleichenden Makrosoziologie sind hier unerläßlich, g:arantieren aber keineswegs den Erfolg. ltOrder methodi-
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schen Zurichtung von Wissen steht, wie jedennann im Proseminar lernt, ein llll~. Es ldme daraufan, eine I-Ialtungder Offenheit und Neugier entstdten zu lassen, die sich über die Einstellung hinwegsetzt, nur die Modernitäts- und Machtentfaltung des neuzeitlichen Europa (und die Dimension seiner Verbrechen) rechtfertigten historische Aufmerksamkeit. Sagen wir es also altmodisch lind beherzt: An die Seite einer Historie mit nationalgeschichtlicher auch nationalpädagogischer Selbstbcauftragung und einer solchen, die sich die historische Idemitätsstärkung Europas vornimmt, muß eine Gesr1liduf ill ,veltbiirgmitlluAbsil"/11 treten. Sie sucht im Normalfall nicht nach global gültigen Antworten auf höchstmöglicher Abstraktionsswfe, tellt aber ihre Fragen in einem universalen Horizotlt. Auch bemüht sie sich - eines der fruchtbarsten der möglichen Resultate des 1I1inguistic turnl< - um ein Gcspür fiir das Generalisierungspotential gcschichtswisscnschaftlicher Begriffe. Weder mit dem verstchenden Nachvollzugderje besonderen Selbstbeschreibung von Kulturen ist es allein getan, noch mit einer vorgeblich allgemeingiiltigen und kulturneutralen Tenninologie. Hier Mittelwege zu finden, ist eine der großen Aufgaben der Zukunft. Im UmertitcJ des Bandes finden sich die Begriffe .Zivilisationsvergleichl< und lIBeziehungsgcschichtelirellllcs Einfluß auf ßraudcl vgl. 1>. BII""t. Offene Gcschichte. Die Schulc der .Allnalcsll.A. d. Eng!. v. M. Ficnbork. ßcrlin 1991. S. 42f. IJ Daß begriffsb'Cschichtlich zwischen .Kultur(cn)_ und .Zivilis;lIion(cn)_ niehl kbr untcrselm'den werden k:mll. zeigt). Fisth • • Zivilis;alion, Kultur_, in: O. Bnm'ltf U.:L (I-Ig.), Geschidllliehe Gnllldbcgriffe. I-listorischn lc,nkon zur politisch-sozialen Sprache in DeulSChland, Bd.7, SlUllgan 1992. S. 679-n4, bes. S. 681. Die bcidcn Begriffc "''erdcn fomn tt'iI.....l':isc synonym vt:rv,t>lldet. J.4 R. W·dlwms. KC}""'O«ts: A VOClbul.uy ofCulture and Soc:~ty, London 1976. S. 87. I'; Vor allcm durch die Schriftcn ,-on C. Gmtt Iutdlesc Konzl:'pClon Clll bcuichdiches Prestige unter Hislankern gewonocn. Vgt zu G«nz' mehrfachen Dcfilllllonsvasuchen von _Kultur_: R.. G. W.JIm. Clifford G«nz ;l.lld thc HlSton2r1S, in: Social Rcse,outsiders of Europe« betrachtcn. 19 Japan hingegen schcint in jeder Beziehung der Inbegriff des Außereuropäisch-Frcmden zu sein, als den es schon 1565 der portugiesischeJesuitenmissio-
16 Diese Übcrlegtlngt>n werdell am Ende dieses Aufsatzes fortb'CSCtZt werden. 17 Innereuropäisch stellt sich ein :allllliches Problem bei der Dem~rkation von Sub-Kulturen gegeneinander. Vgl. P. Bmkt, History and Sodal Thcory. Cambridgc 1992, s. 124f. Zum Problem der kulturel1~n Grcr.z(,ll :n .'\sicn Vb!. die oc,m::rkcllswerlet1 Üb.:-riegilllgen bei K. 1'..'. Ch.mJlmri. Asia bcfore Europe; Economy aud Civilis:atioll ofthc Indian Qcean from thc Rise oflsbm tO 1750. Call1bridgc 1990. bcs. K.:ap. I. 2 und 5. 18 Vgl. T. N'!iJ. Thc OttorTUn Empire :wd the Europcall Starcs System. in: H. BIllI u.A. W"UOII (I-Ig.). The Expansion oflmernational Sociesy. Oxford 1984. S. 143-169, hier S. 163, S. 169. 19 Vgl. etwa R. &m,,/')', Thc Europcan Dyn:mic Stares 1494-1660. Qxford 1991, S. 242ff.
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nar Luts Fr6is in einem kulturvergleichenden Traktat darstellte. 20 Nach seiner »Öffnung« 1854 und vor allem seit der Meiji-Rescauration von 1868, die ihrem Wesen nach ein PUlSch von Reformkräften innerhalb der alten Machtelite war, übernahm es jedoch in vielen Bereichen seiner staatlichen und gesellschaftlichen Organisation Elemente des Westens und verwandelte sich,je nach zeitgenössischer Perspektive, in ein »Briuin of the East« oder ein »Preußen Asiens«. Die von Marc Bloch (und einigen Vorgängern) rur Mittelalter und Frühe Neuzeit festgestellte west-östliche Homologie der Gesellschaftsformen findet in der Moderne ihre Fortsetzung. Deshalb ist Japan trotz all seiner kulturellen Fremdheit in Sprache, Religion und kollektiven Wertorientierungen seit etwa 1880 westlichen Industriegescllschaften strukturell nahe verwandt und auf Gebieten wie der wirtschaftlichen oder der staatlichen Entwicklung mit Hilfe eines kaum modifizierten Instrumentariums intra-kultureller Komparatistik mit europäischen Nationalstaaten relativ gut vergleichbar?1 Ungeachtet aller geographischen und kulturellen Distanz steht etwa das Deutsche Reich im frühen 20. Jahrhundert in seiner sozialökonomischen Beschaffenheitjapan näher als zum Beispiel den agrarischen Gesellschaften des europäischen Balkan. Die Problematik interkultureller Abgrenzung und das Fragwürdige der geläufigen Ordnungskategorien ließe sich an zahlreichen weiteren Beispielen illustrieren. Dürfen die IIneo-europäischen~ Gesellschaften in Nordamerika, Australien und Neuseeland einem Makro-Typus IIwestliche Zivilisatiolw subsumiert werden, oder soll man sie, in Tocquevillescher Tradition und eincm starken Strang ihres Selbstvcrständnisses folgend, als Gesellschaften eigener kultureller Prägung auffassen? Ist ein Vergleich zwischcn russischer leibeigenschaft und amerikaniseher Planugensklaverci dahcr cincr innerhalb kultureller Grcnzcn oder über sie hinweg?23 Weiterhin: Wie wäre Lateinamerika einzuordnen? Üblicherweise wird, jcdenfalls in Deutschland, seine wissenschaftliche Behandlungder IIAlIßcrcllropäischen Geschichte« zugewiesen. Worin aber liegt die fTcmdkultuTelle Andersartigkeit von Ländcrn wie Argentinien, Uruguay,
20 Auszüge in P. Kapilza (Hg.),Japan in Europa. Texte und BilddokumclUc zur europhschcn Japankenmnis von Marco Polo bis Wilhdrn von HurnOOlde, München 1990. ßd. I. S. 132-139. 21 Vgl. e~ ~us einer umfangreichen Uter.lIIur: D. S. Lot/da, Die Industrialisicrung in Japan und Europa. Ein Vcrgleich. in: W. Fislht'r (Hg.). Wirtschafts· und sozialb'Cschiciltliche Probleme der frühen Industrialisierung. Ikrlin 1968, S. 29-117: R. P. Dorr, ßrilish FaclOry - Japanese Factory: Thc OriginsofNaeional Diversity in Induserial nelations. Ikrke1cy 1973; B. S. Silbmrnm, Cages ofneason: The Rise ofehe Radonal Seate in France,J3p~n, lhe United S[lIees and Great ßri[llin, Chingo 1993J. P. Pawdson, CcIUUriCS ofEconomic Endcavour: Parallel Paths in Jap~n ~nd Europe and Thcir Contrase with ehe Third World, Ann ArOOr 1994. 22 Der Ikb'1"ifTwird erBiutcn bei A. Crosby. Ecologicallmperi~lism: The ßiologic:r.1 Expansion ofEurope. 900-1900. Cambridgc 1986. S. 2(. 23 Vgl. P. KDkhin, Unfrce: ubor: Amcrican Sla\'cry and nussian Serfdom, Cambridge, Mass. 1987. sowie S. D. BawlIlan, Masters and lords: Mid-l9t.h-Ce:mury U.S. Planters and Prussian Junkers. NewYork 1993.
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Chile oder selbst Venezuela, die katholisch und hispanophon sind und in denen (anders als etwa in Peru, Bolivien oder Guatemala) ein indianisches Bevölkerungselement kaum ins Gewicht fallt? Erfordern daher ein Balkan-Lateinamerika-Vergleich unter dem Gesichtspunkt peripherer Sta3tenbildung oder ein Vergleich der argeminischen und der australischen Exportökonomien die besondere Umsicht einer 'ra1lskulturellen Methodik? Das Fazit dieser fragenden Oekonstruktion des »Anderenw und »Außereuropäischenw ist die Warnung vor einem verdinglichenden Mißverständnis kultureller Besonderheiten und vor einer Verabsolutierung eher gradueller und immer erst aus der wechselnden Perspektive spezifischer OeUlungsinteresscn zu bestimmender Unterschiede. Solche Unterschiede müssen überdies• selber historisiert und zu Gcgenständen historischer Forschung werden; MakroKategorien und »asymmetrische GegenbegrifTe;4 wic EuropalNicht-ElIropa, OkzidenriOricnt, cntwickelt/unterentwickelt, Erstc/Zweitc/Oritte Welt, usw., haben ihreje eigene Ideologie- und Mythengcschichte. 25 Zu den begleitenden Vorsichtsmaßregeln des transkulturellen Vergleichens gehört die ständige Aufmerksamkeit auf die beweglichen Verläufe solcher Abgrenzungen und auf die wechselnden Wahrnehmungen ihrer Tiefe und Intensität. Die Eigcn- und Fremddefinitionen kultureller Identi~t unterliegen einern unablässigen Wandel. Mit ihm verändern sich auch die Konfigurationen des Vergleichs. Dies hat man bislang zu wenig gesehen. Vergleiche über kulturelle Grenzen hinweg sind überhaupt eher methodisch robust und ohne kulturthcorctische Vorklärungen unternommen worden. Selbst die Bezeichnung des Unternehmens ist definitorisch ungeklärt geblieben. "KulturverglcichlC, der in der Soziologic bevorzugtc Begriff, empfiehlt sich wenig fur gcschichtswissenschaftliche Zwecke, weil damit suggeriert wird, es würden in holistischer Manier autonome Kulturell miteinander verglichen. Auch kann dadurch eine konventionelle Aufgabenverteilung bekräftigt werden, »(hat sets a Europe of nations against a
24 Vgl. R. Korn/er/.:. Zur historisch-politischen Semantik asymmeuischer Gegenbegriffe. in: Dm.. Verg;1I1~:ene Zukunft. Zur Semantik b'eschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1984. S. 211259. 25 Vgl. etwa di~' polemischen Anreb'\llIgcn bei E. w. Said. Orienulism, Landon 1978, sowiedie sich daran anschließende ausgedehnte Debatte, teilweise rekonsuuierbar aus: M. Spn"llkrr (Hg.). Edwa.rd S150. Sugl sprKht \"On ein~lll _Solipsismus der soz.o-kuhurdlen Sys~me.:). SlDgI. Ein~ Widerkgung des Kulturellen Rel2tlVismus, in:). MIJttM (Hg.). ZWIschen den Kullun:n? Dj(- SOv21....isscnscluften vor dem Problem
Synchrone oder diachrone Vergleiche? Es gibt gelegentlich faszinierende Konstellationen von transzivilisatorischer Gleichzeitigkeit, die ideale Bedingungen fUr den Vergleich bieten. Der erfahrenste Globalkompar.ltist des späten 20. Jahrhunderts, S. N. Eisenstadt, hat in der Nachfolge von Karl Jaspcrs eine solche Konstellation in dcn zivilisatorischen Neubildungen der lIAchsenzeit« zwischen der Mitte des ersten Jahrtausends v. ehr. und dem Auftreten des Isl3m gefunden. 2• Jack Goldstone konzcmrien sich in einer methodisch beispielhaften Studie auf das 17. und 18. Jahrhundert, wenn er die englische lind die französische Revolution mit der Etablierung der Tokllgawa-Ordnung in Japan nach 1600, dem Zusammenbruch der chinesischen Ming-Dynastie 1644 und der gleichzeitigen Krise des Osmanischen Reiches vergleicht und hinter all dicscn Staatskriscn lind -zusammenbrüchen einen gemeinsamen, letztlich demographisch fundierten KauSJ.lzusammenhang idcntifiziert.25 Noch präziser simultan verliefen Vorgänge, die bisher noch nicht in ganzer Breite komparativ diskmien worden sind. Die deutsche Nationalstaatsbildung seit etwa 1866, die Intcgration Italiel1s seit 186\, die Rekonstruktion der USA nach dem Ende des Bürgerkrieges 1865, die lIRevolution von oben« in Japan nach 1868 und der Refonnschub in SiamIThailand nach der Thronübcrnahme durch den visionären König Chulalongkorn im gleichen Jahr, daneben Z'\vei mittelfristig weniger stabile Versuche: die mit der Bauernbefreiung von 1861 (eigentlich schon den Reformen seit 1855) beginnende Umw:mdlung der russischen Gesellschaft sowie die Neuordnung Mexikos ulller Porfirio Diaz nach 1877: Sie alle waren in der Substanz ähnliche, nach Umständen und Ausfiihrung verschiedenartige Prozesse von lInationbuilding« und gesellschaftlicher Neuformierung. Sucht man allerdings weitere
24 S. N. EisnUIadl (Hg.). Kuhuren der Achscnzeil. Ihre UrspTÜUgt' und Ihre V"lClfalt. 2 1Xk.. Frankfurt a.M. 1987. Elscnsudts bC'ispll."Uosrs komparaususch" Programm WIrd ",or~;csldl[ In W .. A SoclOkJgical t\pprox:h loComparaU\'c c.vilizallons: Thc Deveiopmelll and Dlrecuonsof.a Research Prognm.Jeruglenl 1986.!Ils ""Ofljiufi~ Resümee ..'Sl.lJnJ.. Europc:m Cmhzallon In.a Comparauve PeßpccU\'e: A Study tn Ihe RdariOll bcrw«n Cuhure and SOClal Siructure. 0s1o 1987: Dm.. DIe Dimension kompar.tUvcr Analyse und dIe Erforschungsozlalcr DynamIk. VOll dcr vergleichenden PolirikwtS5enschafl zum Zivili.uuonsverglelch. in: Kadbk u. &II~ (Hg.). Diskurst" und ElUwlcklungspfadc. S. 3-28. 25 J. A. GoJdJkJl~. Rl....olution and Ilcbcllion in the Early Modem World. ßcrkcley 1991.
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Vergleichsfalle, so muß man die Epoche wechseln und auf Synchronie zugunsten von funktionaler Äquivalenz verzichten. Dann jedoch verraten zum Beispiel die Refonnen Kemal Aatürks in der Türkei der frühen dreißigerJahre des 20. Jahrhunderts oder politische Zentralisierung und soziale U,mvälzung m.ch der kommunistischen Machtergreifung von 1949 in China ihre strukturelle Nähe zum Nationsbildungsmuster des späten 19. Jahrhunderts. 26 Synchronie und Diachronie lassen sich bei dieser Thematik relativ mühelos verbinden. Der Vergleich zwischen synchronen Phänomenen erlaubt es, die Frage nach einer gemeinsamen Verursachung recht genau zu stellen und im Prinzip ohne gcschichtsphilosophische Hilfskonstruktionen empirisch zu bcantworten. Z7 Er kommt damit Van den Braembussches »makrokausalem Typ« nahe. Derdiachrone Vergleich über Epochengrenzen hinweg hingegen kann, je nach Erkennmiszwcck, sowohl dem aufscharfe Profilierung einzelner Fälle zielenden »kontrastiven. als auch dem aufsich wiederholende Grundmuster abhebenden »generalisierenden. Gesamttypus korrespondieren. Ein Beispiel rür die zweite Möglichkeit \\f.ire Theda Skocpols »struktureller-: Versuch, hinter der französischen Revolution des 18., der russischen des frühen 20. Jahrhunderts und der nurwenigjüngeren chinesischen Revolution über Zivilisationsgrenzen hinweg ein ähnliches Ursachenbild zu erkennen. 211 Der transzivilisatorische Vergleich offenbart seinen Übcrraschungswen vielleicht am besten dann, wenn er - wie in Goldstones Vergleich der frühneuzeitlichen Staatskräche - verborgene Kausalvernetzungcn zwischen scheinbar unverbundenen, sich in unterschiedlichen Zivilisationen gleichzeitig zutragenden Vorgängen aufdeckt. Bei diachronen Vergleichen kann der Wechsel von Epoche ,md Zivilisation zu einer Sch\\f.ichung der analytischen Stringenz und zu einem Vergleichbarkeitsproblem ruhren. Vor allem lassen sich europäische Industriegesellschaften 3ußcrhaibeines evolmionären Kominuums- Van den Braembussches "inklusivem« Vergleichstyp - nur schwer zu vormodernen nicht-okzidcmalen Gesellschaften in eine sinnvolle Beziehung setzen. Ergiebiger als die retrospektive bnn die prospektive Zeitorientierung sein: der Versuch, die nicht-wesdiche Welt etwa der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts im Lichte der europäischen Frühen Neuzeit zu betrachten. So \\f.ire ein Vergleich der Institutionen und Mentalitäten in europäischen Agrargesellschaften vor der Mitte des 18. Jahrhunderts mit asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Ilpcasant societieste des späten 19. und frühen 20. Ja.hrhunderts ein Hir beide Seiten lohnendes
26 Vgl. E. F. VpgrI. Nal1on.Building in Modem Usl Asia; Early Mc:iji Japan (1868-1wx) and Mao's Chill;l (1949-1971), in: A. M. Craig (1-Ig.),Japan: A Compat:oIIivc: Vic:w, PrinCC:lOn 1979, S. 130-153. 27 Vgl. dazu auch ColdslO~, nevolution. S. 57, S. 59. 28 T. Skotpcl, Stiles and Social RevolUliolls; A Compar.oIIivc: Analysis of Francc:, nussia and China. Cambridge 1979.
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Unternehmen. 29 Suu empirisch begründeter Kausalzusammenhänge wird man sich davon eher Analogiebeobachtungcn oder die Umerscheidung von Variarionen verspredlen - legitime Ziele des imer- wie des intldzivilisamrischen Vergleichs. In jedem Fall muß es dabei eine methodische Selbstverständlichkeit sein, die ~außereuropäischc. Chronologie ebenso sorgfaltig zu beachten wie die europäische. Noch Max Weber verzichtete in seinellmaßstäblichen Studien zur Winschaftscthik der Weltreligionen vielfach - meist notgedrungen infolge einer noch elemenuren Forschungslage - aufepochale Spezifizierung und arbeitete etwa mit dem Konstrukt eines über zweitausend Jahre hinweg unverindenen ~alten China., das heure die meisten Sinologen nicht mehr akzeptieren ...vürden. JO Spuren der alten Legende von der ~Gcschichtslo sigkeih des Oriellts sind immer noch anzutreffen und verhindern einen präzisen Zeitbezug, wie er zur Situierung der Vergleichsf.'ille auf den Koordinaten des Gleichzeitigen und des Ungleichzeitigen unerläßlich ist.
Strukturvergleich oder Bcziehungsgeschichtc? Seit 1889 ist der ethnologischen Theoriediskussion IIGahons Problcm. bekannt, eine Art von Unschärferelation, die besagt, daß man beim KultuTVergleich nicht gleichzeitig die Fälle in ihrer isolierend herauspräparienen Reinheit und in der Geschichtc ihrer wcchselseitigen Bceinnussung in den Blick nehmen kann. Dieses l1-oblcm gewinnt im historischen Prozeß stctig an Bedeutung. DerJapan-Europa-Vcrgleich ll1agdies veranschaulichen. Schon Mare Bloch wies auf die erstaunlichen Strukturähnlichkciten zwischen der westeuropäischen Gesellschaft des Hochmiuelaltcrs ulld der etwa gleichzeitigen japanischen hin, Ähnlichkeitcn, dic es in Blochs Sicht zuließen, aufbcide den Begriff _Feudalismus. anzuwenden, der Hir China etwa völlig unpassend wäre. JI
29 Es !xdürfte dun ellll~r \ocrbmdender Konzepte ~nz 2l1b~melller N2IUr Im SlIlne \"01'1 P. Cremt'. Pre·lnduslrlal Socierics. Oxford 1989. oder sJX'ziellen'r Theonen von Agr.argcsellschaftcn. Vgl. dazu als Überblick T. Slumi" (11g.). Pea~nts and Peas.lrll Socicues. 1brIllOl1dsv.'Orth 1971. Dm.• Ddining PeaS31115. Oxford 1990. Wic stark die Forschung zu Landwirtschaft und l:indlicher Gesellschaft in Asielllllzwischen thC'Oricorientiert und danlil implizit aufVerglclchlxtrkeu ausb'C· riehlet Ist. I:ißt slch.ln Cliina lIud japan gut zelb'Cn. Vgl. die Lucramrbcnehtc:J. Oslt'rlrammd. ß,I.tIem und l:indliche Gcsdlsch.:aft IIIl Clnn2 des 20. j2hrhundertS. ZWischenblbnz emer IJt-b.tttc. 111" lAF.jg. 24. 1993. S. 311-329; B. MOOfr.),.. j2~nCS(: Pe2Sa1ll Protests 2nd nC'\'Olts 111 Corn~r.lIUw H,slorlel Persp«lIve. 11I: IltSll.jg. 33. 1988. S. 312-328. 30 Vgl. die Knuk bei IV. Ebmldm. Oll." lIlSlItutloncllc AIl2,I)'S(" des vormodcmcn Chili"'. Eme Einsch.lilzung \'on Max WebcrsAn~lz. in: IV. St/II,uhln (1Ig.). Max Webers Studlc über KonfUZ12nisnHls lind T201SIllIIS. [merprelatlOIl und KritIk. Frankfurt 2.M. 1983. S. 56-90. hier S. 57. 31 M. Bloch. L:a soci~t~ fCodalc 11939-401. Paris 1969. S. 610--612. ZUlU geb'Cllw.lirub'Cn 015kussionsSl3nd resümierend: P. Dillu. Feudallsll1 in japan. Ncw Vork 1993). Aus "('rgleichender SialhsofModemny: Tbc I'oculiariliesofjapancse Feud.:a·
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Diese Ähnlichkeit kann unmöglich auf Komakte zwischen Europa und Japan zurückgcfuhrt werden, denn kein Europäer hat vor 1543 japanischen Boden betreten. Auch um 1920 wiesen Japan und Westeuropa beträchtliche Gemeinsamkeitcn auf Sie jedoch sind vor dem Hintcrgrund einer allgemeinen Verwestlichung Ostasiens und spezifischer einer seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zielbcwußt und wählerisch betriebenen japanischen Politik des Lernens von Europa zu sehen. 32 Die Zurechnung einheimischer Entwicklungen zu exogenen EinOüssen ist dabei freilich schwierig, gerade im Falle Japans, das eine außergewöhnliche Fähigkeü zur modifizierenden Anverwandlung westlicher Kulturelemente ohne Aufgabe des eigenen Identitätskerns bewiescn hat.Jede holistische Vorstellungvon einer »Gcsamtgcscllschafttl, über dic generalisierende Aussagen möglich seien, fuhrt hier in die Irre. Die Analyse muß sich nach Ebenen und Sektoren mehrdimcnsional differcnzieren; sie muß, wic Goldstone sagt, )lfraktaltl werdcn. 33 Allgemein gilt, daß der Kolonialismus und die weit über den Bereich formeller Fremdherrschaft hinausreichende weltweite Verwcsdichung kaum eine Gesellschaft der Erde unbcrührt gelassen haben. In der Neuzeit kann der transkulturclle Strukturvergleich deshalb nicht mchr, wie zu Eisenstadts »AchscnzeitlC oder in den Abstra"''tionen von Max Webers zeitenthobenem Orient, mit der E.xistenz distinkter und jeweils autochthoner, sozusagen »chemisch reinerlC Analyseeinheiten rechnen. Der Vergleich muß beziehungsgeschichtlich abgefedert, bewußte kulturelle Transfers und nicht-intendierte Akkulturationsprozessc müssen aufgespürt, lIinvented traditions« identifiziert, Synkretismen entschlüsselt werden. Dazu ist ein Verständnis der Zusammenhängc zwischen Europa und der übrigen Welt erforderlich, das über die herkömmlichen politischen und ökonomischen Interessen der Kolonialismus- und Imperialismusforschung hinausgeht. Der StrukttllVcrgleich zwischen Zivilisationen und das Studium interzivilisatorischer Bcziehungen sind zwei Scitcn derselben Medaille.
lism. in: G. M(Comuuk ll. Y. Sug;mO'O (Hg.), ModcnJiution :l.Ild Beyond: Thc japanesc Tnjectory, C:'lIubridge 1988, S. 235-263. 32 Vgl. M. B.jlluJnI.japan and Its World: Two Cemurics ofCha.nge, PrincclOll 1980, S. 28ff.; Dm.. Oll Foreign Borrowing, in: Cnrig (Hg.),japan, S. 18-48; D. E. Wt.stru'y, Imitation and Innovation: The Tnnsfer ofWestem Organiutional Patterns 10 Meiji jap;iI1. Cambridge. Mass. 1987 (mit einer wichtigen theoretischcn Einleitung, S. 9-32); E. PIlUcr. Der Technologietransfer nach japan. Strukturcn und Stntegien. in: Dm. (Hg.). Technologictr.l.nsfer Deutschland -japan von 1850 bis zur Gegenwart. München 1992. S. 48-72; A.W. Burks (Hg.). The ModenJizers: Overseas Studcnts, Foreign Employecs, and Meijijapan, Bouldcr, Co\. 1985. 33 Golt!.sIOlI(', Revolution, S. 46.
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Totalvergleich oder Panialvergleich? Der Totalvergleich kontrastiert ganze Zivilisationen - etwa den Okzident und China - oder komplette Nationalstaaten. Der Partialvergleich greift aus zwei oder mehreren solcher Zivilisationen jeweils ein Element heraus, etwa eine besondere Institution oder ein Segment der Gesellschaft; er ist selektiv und perspektivisch angelegt, muß dabei aber die jeweilige Stellung der zu vergleichenden Elemente innerhalb größerer Zusammenhänge im Auge behahen.3ol Max Weber ist fiir heide Arten des Vergleichs der maßstabsetzende Pionier gewescn: fiir den Totalvergleich in den Abhandlungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, fur den Partialvergleich in vielen Abschnitten von »Wirtschaft und GesellschaftlI, etwa in den Studien zur okzidentalen und orientalischen Stadt. In der Mitte zwischen beidem steht Webers hermetischste, aber logisch zwingendste und im Detail ihrer Analysen immer noch erstaunlich gültige komparatistische Schrift: die nachgelassene Studie »Die rationalen und gesellschaftlichen Grundlagen der Musiktc. Hier erscheint die Musik nicht als ein Kulturelement unter mehreren, sondern als dasjenige, bei dem sich die Einzigartigkeit - damit nicht zugleich auch, wie Wcber betont, die Höherwertigkeit westlicher Rationalisierung bis in die Mathematik der Tonrelatiollcn verfolgcn läßt. J5 Der Teilaspekt erhellt hier das Ganzc. Gegen den Totalvergleich als Aufgabe der Cesr!lirlltslvissfUSdwjl sprechen praktische Gründe. Max Weber erarbeitctc seine ungemein ins einzelne gehenden Untersuchungen über China und Indien, in denen er überraschend sehen zu explizitell Vergleichen mit Europa (das er nicht zufallig niemals totalisierenden Analyseprozeduren umerwirft)J6 gelangt, mit staunenswerter Urtcilskraft und Intuition in der Frühphase der Orientforschung. Es war ihm noch möglich - was heure völlig undenkbar wäre - den neuesten Forschungsstand nahezu lückenlos zur Kenntnis zu nehmen. Seit Weber ist der totalisierende Vergleich durch universalhistorischen Dilettantismus in Verrufgeraten. Heute ist er eine Domäne nicht nur der zeitkritischen Popularliteratur, sondern auf höhercm Niveau vor allem der historischcn Makroziologie, ohne daß freilich alle ihrer Vertreter komparativ arbeiten würden; zwei der heutc einflußreichsten unter ihnen, Immanuel Wallerstcin und Michael ManII, verwenden den Vcrgleich mit großer Zurückhaltung.J7 Die professionelle Geschichtswissenschaft - lind 34 Vgl. M. Espognt. Sur 1cs limites du compantisme en histoirc culturcllc, in: Gcncscs,Jg. 17, 1994, S. 113f. 35 Vgl. dazu grundlegend: C. Brllllll. Max Webers .Musiksoziologie., Laaber 1992. 36 Vgl. S. N. Eismsflldl, Some Ilcf1ccrions on the Signific:lnce of Max Wcbds Sociology of Ilcligions for th(' Analysis ofNon-Europ't:h hinaus ungemein einflußreichn Buch. das diese lXnkwci!lC entwickelt. war R. BmnJin, Pattcrns o(Culturc, BostOll 19J4. Dic Anwt'ooung dn KonzeptsofJapan - R. &ncdin. ThcChrysanthcmum aod the Sword. Boston 1946-prigte nuß... gcbheh dlc Jap;l.lIStudicn ckr Nachkrkgszeit. 48 Shimxia eN'1 \-crgleicht Europa und Japan nach den drei ~ichtspunkten dn j=weiligcn Verhilmissn zur Zell. zum Raum und zum Körper.
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transzivilisatorischen Komparatistik weiterhin bestehen. Denn der Zivilis:uionsvcrgleich kann sich noch weniger als die etablierte Sozialgeschichte mit einern strukturell-objektiven GesellschaftsbegrifTbegnügcn. Das Minimum an kultureller Neutraliüt markiert eine Untersuchung, die der japanologe und Historiker Bernard Silberman vorgelegt hat. 49 In einem partial, synchron, symmetrisch und gemischt divergenrlkonvergent vorgehenden Institutionenvergleich untersucht er die Entstehung moderner Staatsverwaltungen in Frankreich, Großbritannien, den USA und japan während der zweiten Hälfte des 19. jahrhunderts. Silbennan verwendet ein Challcnge-response-ModeJl, das bei den Eliten aller vicr untersuchten Länder ähnliche rationale Reaktionen auf ähnliche Herausforderungen annimmt. Er fngt konvergent nach den Ursachen und Umsünden der Henusbildung einer ,.administntive rolell im Sinne von Max Webers legal-rationaler Bürokratisierung. Die Antwort fallt divergent aus: Es gibt unterschiedliche Pfade solcher Bürokratisierung, und der Weg dorthin verlief in Großbritannien und den USA einerseits, in Frankreich und japan andererseits verhältnismäßig ähnlich. Japan wird in dieser Untersuchung in keiner Weise exotisicrt; eines ihrer Ergebnisse bestcht darin, daß sich Webers Ideal typ der legal-rationalen Verwaltung bei keinem der vier Fälle so dcutlich ausprägte wie in Japan.so Nirgends bemüht Silbcrman als Explanans spezifisch japanische pattems of (IIllure, mN/laUtts oder Traditionen; er begrenzt seine elegante Analyse aufform31e Organisationssoziologie und die Darstellung strategischen Elitehandelns unter Bedingungen von Unsichcrheiten in der jeweiligen politischen Umwelt. Silbcrmans Analyse erreichtjedoch den Punkt, wo er vermuten muß, daß die enorme Effizienz der höheren japanischen Swtsbürokr.l.tie letztlich ohne die Berücksichtigung informeller -r'. Grttn Impt'rialism; Colomal ~nsM>n. Tropial bland Edem Jlld tht' Origins of Envlronrnt:nt2lIism. 1600-1860. umbndgc: 1995. S. 73([ 36 Möglich wurde dlcs durch t'ine sorgfliltigc Auswenullg zeugeJlÖSslscht'r Reisebeschreibungen. Vgl. M. DoddJ, Lt's rfcits de ...~; sourct'S dt' I'Esprit des Lais dc MOlllesquietl. Puis 1929.
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Manche Reisende - an erster Stelle der grandiose Arabienschilderer Carsten Niebuhr, der Vater des Historikers - W3ren frei von jeder europäischen Arroganz und bewiesen eine erstaunliche Einfuhlung in die Weitsicht der orientalischen Gastgeber. J7 EdW3rd Gibbons diskursive Gerechtigkeit und ironische Equilibristik der Urteile löste die Grenzen zwischen lnnen- und Außensicht auf: Die schlimmsten Barbaren auf mehr als dreitausend Seiten ltDecline and Fall of the Roman Empire. sind keine _asiatischen Hordem, wie sie die Geschichwchreibungdcs 19.JahrhunderlS unentwegt gegen Europa _anbr.mdelu sieht, sondern die christlichen Kreuzritter, die Muslime·und Juden massakrierten und Byzanz verwüsteten. Es fehlte nicht an Warnungen vor ethnozemrischer Befangenheit und an Vorschlägen, sie zu venneiden. Der Schotte Adam Fcrguson skizzierte 1767 eine Art von Wissenssoziologie des Ethnozemrismus.)/l All das genügt selbstverständlich nicht den strengen und vielleicht unerfüllbaren Anforderunb'Cll jeller, die heute von sich behaupten, das Fremde ltaus sich selbst herausK verstehen zu können. Jedoch unterscheidet sich das relativierende transkulturelle Perspektivenspiel der Aufklärung, die Prismatik ihrer Kulturauffassullg ganz unübersehbar von der späteren Platzanweisermentalität eines triumphierenden Europa. Im 18. Jahrhundert verglich sich Europa mit Asien; im 19. hielt es sich für unvergleichlich - und W3r mit sich selbst allein.
111. Die Annähemngeuropäischer Intellektueller an Asien bliebeinscitig. Als Europa sich am weitesten öffnete, war das asiatische Interesse an ihm gering. Ocr große Wissenstransfer l\vischen den KultUren, von dem Lcibniz um 1700 nicht nur träumte, den er, der erfahrene Wissenschaftsmanagcr, vielmehr zu organisieren versuchte - er ist nicht zustandegckommcn. Die Jesuiten in Pcking, auf die Lcibniz baute, waren nur halbherzig bei der Sache. Die chinesischen Kaiser und ihre konfuzianischen Beamtengclehnen nutzten die Fachkompetenz der Missionare als Astronomen, Kartographen und Baumeister, ohne von ihnen viel über Europa erfahren zu wollen, 30m wenigsten über das Christcntull1.J09 Einzig und allein Japan, das seitJahrhullderten VOll China gelernt hatte, betrieb 37 C. Ninmlrr. nciscbeschreibung n~ch Arabien und ~ndcrcn umlicb"C'ndcll ündcrn.3 Bde.. Kopcnh:agcn u. I-I~mbllrg ITI4-I837. 38 VgI.A. Fnguson. Versuch über die Geschidlle der bürgerlichen Grscllsch~ft 11767). hg. v. Z. Baurlw u. H. Mtditlr, Frankfurt ~.M. 1986. S. 120-12839 ulbniz entwickehe seine Plä~ vor ~lIclll 1111 ßriefWechsellllit P~tcr jO,ldllm BouveL Vgl. C. IJ. CAlLJni (Hg.). Eim wisscnsduftllchc Akademk fiir Chnu. Dnefe des Cllln~missionu5j~ chim 80uvet SJ. ~n Goufrkd Wilhdlll ulbmz und jC:l.II-P,ml ßIgnon über dir Erforschung der dUl1csischen Kultur. Sprxhe und GeschIChte. Stuttgan 1989; R. IVwmQitr (Hg.). l..cibniz korrespondiert mit Chim.. Der Brie"'-a:hselmil den jcsuitenmlssao.uren. Fr.lIIIkfun .J.M. 1990.
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schon seit dem 17. Jahrhundert so etwas wie eine Okzidentalistik. Nur die I-Iolländerdurften mit ihren Schiffen nachJapan kommen. Sie mußten Bücher mitbringen, zunächst in holländischer Sprache, später auch auf Englisch, Französisch, Russisch. Ein richtige Übersetzerbürokratie wertete diese Literarur aus. 40 Als in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die ersten japanischen Delegationen nach Europa und Nordamerika reisten, glaubten ihre Gastgeber, die pittoresken Samurai mit ihren Schwcrtern und I-Iaarknotcn durch Fabrikführungen verblüffen zu können. Weit gefehlt: Man kannte in Japan bereits viele der technologischcn Handbücher des Westens und reagierte weniger mit sprachloser Überwältigung als mit sachlichem Interesse am Det:ail.(1 Die Auseinandersetzung Asiens mit Europa begann, von Japan abgesehen, erst im 19. Jahrhundert, im Zeit:alter des Imperialismus. Niemals war sie eine gelassene Betrachtung des Fremden aus sicherer Distanz, stets stand sie unter dem Dmck von Bedrohung und Kulrurverlust, von Rettung und Reform des Eigcnen. 42 Gewiß kann man ein Spektrum von Einstellungen abstecken, wie sie sich, wenn man nur stark genug verallgemeinert, in den meistcn außereuropäischen Zivilisationen finden lassen. 43 Dieses Spektrum reicht von der völligen Abwehr des Westens bis zur unbegrenzten kulturellen Kapitulation vor ihm. Aber ein solches Repertoire von Reaktionsweisen zu entwerfen, wäre eine ziemlich akademische Übung von fraglichem Nutzen: Jede Begcgnungssiruation war eine ganz besondere, jede asiatische Reaktion bleibt undurchschaut ohne die Kenntnis ihres Hintergrundes. Was läßt sich da Allgemeines sagen? Asiaten hatten selten die Absicht, zur Selbstbestimmung Europas beizutragen. Heute haben sie diese Absicht weniger denn je. Die Kontraktion Europas sctZt sich fort. Sein politischer Einfluß reicht nicht einmal aufden Balkan oder bis Zypern. Postkoloniale Sonderbeziehungen sind verschwunden; selbst Australien und Neusecland sehen sich nicht länger als Brückenköpfc des Britentums, sondern als pazifische Under. Die europäische Asienpolitik, jedenfalls die deutsche, geht über exporrpflegcrische Dienstleisrungen kaum hinaus; sie hat sich konsularisiert. Europas wirtschaftlicher Einfluß hat mit historischen Traditionen nurmehrwenig zu tun; er ergibt sich unmittelbar aus der konjunkturellen Tagesforrn. Die Interventionslllöglichkeiten, die sich während dergroBen asiatischen Finanz- und Währungskrise vom Herbst 1997 eröffncten, nutz40 vgl. G. K Good"um. J~P;U1: Th~ oUich Expc:rience. London 1986; Hind:tlw'fl SltAtthiro. Ja~n's Turn to the: WCSI, in; M. B.Jarunt (Hg.). The Cambridb'C HislOry of Jap~n. ßd. 5; Th~ NIII~[~mh Cc-mury. Cambridgc 1989. S. 435fT: 41 Vgl. ~lW:l Fwkuz./lwIIJ Yukirlli. Ein~ aUlol)lographisc~ l...C'bcnsschllderung. dt. w. G. LinzbKhI~r. Tokio 1971. S. 133-137. 42 VgI.J. OnnIwmmd u. N. P. PtImson. Oswic:ns J~hrhund~"wende.Ullle:rw~rfungund ErIleuenlllg in .....'CSt-östlich~1l Sichr.....·eiscn. in; U. Frrwn (I-Ig.). Du Neue J~hrhunde".Europlisch~ Ztildiagnoscn und Zukunftsentwilrfe um 1900. Göningcn 2000. S. 265-306. 43 Einen solchen Versuch unternimml D. C. GoniOrl. Images of lhe West; Third World P~r spcctiwes. TotoWöl. NJ. 1989.
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tc vor allem der Intemationale Wahrungsfond, dessen Politik eng mit derjenigen der USA abgestimmt ist. Daß auch die kulturelle Ausstrahlung Europas in Asien, vielleicht mit Ausnahme Indiens, an Kraft verliert, kann nicht verwundern. Chinesische Schüler lernen Englisch und Japanisch, dann mit großem Abstand Russisch, selten Französisch oder DeutsCh. Die bem'erkenswerte japanische Gennanistik muß ~it einigen Jahren in großem Umfang Stellen an die China- und die Nordamerikakunde abgeben; der Romanistik ergeht es ähnlich. Auch eine einfallsreichere auswärtige Kulturpolitik hätte dies verrnllt~ich nicht verhindern können. Was läßt sich lIislorisl1, zu den asiatischen Differenzwahmehmungen feststellen? In der frühen Neuzeit, als sich in Europa selbst ein Europabegriff erst langsam und unstetig herausbildete, hane man in Asien selbstverständlich kein -.Europabildtl, sondern alJenf.alls ein diffuse Vorstellung von einem geographischen Westen, aus dem .Barbarem einer besonderen Spezies angereist kamen, gezwungenermaßen friedlich in China und Japan, bewaffnet überall sonst. An den gelehrten Jesuitenmissionaren des 16. und 17. Jahrhunderts fiel ihre Andersartigkeit - etwa der Zölibat oder ungewöhnliche religiöse Riten - weniger auf, als ihre Bereitschaft zur Mimikry an die einheimische Kultur. Als deUtlich verschieden erschien Europa zuerst in der Gestalt des Militärs. Daß seine militärische Überlegenheit - allerdings fur lange Zeit nur eine lok.-lle, punktuelle, aufKüstenbascn begrenzte - aufSchießpulver und Artillerie beruhte, verstand man schnell. Indische Rajas, malaiische Fürsten, später auch Sultane im geschwächten Osmanischen Ileich versicherten sich der Dienste europäischer Waffenschmiede und Militärbcrater. Auch im 19. Jahrhundert, als cin früh industriellcs Europa in Asien vom bewaffneten Handel zur Kriegfuhrung überging, war der erste AbwehrreOex in Ländern \vie China und Ägypten der Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie. Was außer den Japanemjedoch niemand begriffund nachahmen konnte, w;u die An von Staatlichkeit, die die westeuropäische Expansion ermöglichte: der aufständige KriegsbcreitsChaft hin organisierte Steuerstaat. Mit ein paar vereinzelten, kaum regulär zu finanzierenden Kanonenfabriken war es nicht getan. Auch die wenigen orientalischen Ileisenden, die vor etwa 1860 nach Europa kamen und darüber schrieben - zunächst vor allem osmanische Diplomaten wie der scharfsichtige Mehmed Efendi, der 1720 Paris besuchte -, entschleierten nicht die tiefsten Geheimnisse Europas, notierten aber eine Reihe von aufschlußreichen Beobachtungen. Ihnen fielen vor allem das öffentliche Auftreten von Frauen und überhaupt die fehlende Trennung zwischen männlicher und weiblicher Sphäre auf, die religiöse Intoleranz der Christen gegenüber Fremden und untereinander, das Sclbstbcwußtsein der Aristokraten und ihr nahezu familiärer Umgang mit ihren Monarchen. daneben die Sonderrechte .freier. Städte. der perfekte Drill des Militärs, der hohe Stand der Medizin, die Inszenierungf,"Cmeinschaftlichen Essens (etwa eines aristokratischen Diners) als öf-
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femliches Ereignis sowie dic erstJunliche Einrichtung der Oper, in der, so schien es, privateste Emotionen hemmungslos zur Schau geStellt wurden. Mehmed Efendi war auch höchst erstaunt über die große Zahl ar.llbischer und türkischer Manuskripte und Koranexemplare in der Bibliothek des französischen Königs. In seiner Heimat gab es keine vergleichbaren Sammlungen europäischer Litcrdtur. 4ol Diese frühen Europaberichte dienten einer eher naiven H.echenschaftsIcgung fiir die Obrigkeiten zu Hause. Manche davon wurden zeitgenössisch nicht veröffemlicht. Die Suche danach, was aus der Europaerfahrung anwendbar zu lernen sei, lag ihren Verfassern noch fern. Seit etwa der Mitte des 19. JahrhundertS änderten sich die Bedingungen der asiatischen Wahrnehmung Europas dann fundamental. Die Gründe dafür waren zum einen die um sich greifende Kolonialherrschaft und eine sehr aktive christliche Mission, zum andercn die Tatsache, daß nunmehr eine wachsende Zahl von Asiatcn die maßgebenden Autoren Europas im Original zu lesen verstand und viele der philosophischen und gesellscllaftstheoretischen Klassiker - von Montesquieu und Adam Smith über Fran~ois Guizots ungemein einflußreichc ItHistoire de 1a civilisation en Europc41 von 1828 bis zu Zeitgenossen wie John Smart MiIl, Herbert Spencer oder Ernst Haeckel - ins Japanischc, Chinesische oder Osmanische übersetzt wurden. Die entstehende Intelligentsia in nicht kolonisierten Ländern wie Japan und China hatte am ehesten noch die Chance, die europäische Geisteswelt breit kenncnzulernen und eigene Vorlieben zu emwickeln."s Aber was übersetzt und rezipiert wurde, hingdennoch von Zufallen des Kulturtransfers ab: eben Hackkcl und nicht Hegel, nicht Kam, sondcrn ein Neukanti:mcr wie Friedrich Paulscn, dcr mit seiner Lehrc vom Willen den jungen Mao Zcdong ticfbeeindrucktc. 4ft In der kolonialen Welt gab das staatliche Erziehungswesen, dem eine hauchdünne Elite ausgeselZt war, die Richtung an. Die Inder und Ceylonesen wurden britisch, die Vietnamesen fr::anzösisch, die Indonesier holländisch geprägt. Jeder sah seit! Europa. In Japan und China war der amerikanische Kultureinfluß bereits seit den funfziger Jahren des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich stark. Hier entstand zuerst das neue Konzept cines euro-amerikanischcnItWcstcns«, in dem sich die nationalen Kulturprofile und erst recht das ohnehin schwer greifbare Gesamteuropäische verschliffen. Noch komplizierter '\vurdc die Lage dadurch, daß China dcn Westen weithin durch eine japanische Brille 44 F. M. GD{tIr. Eut Encouß[~rs West Fr.mc~ and th~ Duornan Empire in thc Eigtllttmh Omury. Oxford 1987. S. 7f[ 45 Vgl. ausfUhrlicherj. OSlnIwmmd. Transfcr und Migration \'Onldttn. China und der W(St~n im 19. und 2O.Jahrhundcn. in: U. Faa u. B. Zitgkr (Hg.). Das Eigenc und chs Fremdc. F(Stsehnfl rur Urs Biu~r1i. Zürich 2(8). S. 97-115. 46 Vgl. F. W11t is my Business to set the Matter in a c1ear Light, the Readcr's to judgc.~ Der Historiker muß sich bei orientalischen Gegenständen von Stil und Darstellungskonventionen der klassischen Tradition lösen und sich seinem Objekt anpassen: 25 S. Ockky, Thc History ofthc Sanccns [1708-181,2 ßdc., Dmbridge 1757J . Das Wcrk wurde zuletzt 1847 IlCU aufgelegt. Zur historischcn Erfassung dcs Vordercn Oricnts vgl. ulllfas* send B. UuIß u. P. M. HoIl (Hg.), Hisloriansofthc Middlc East. London 1962. 26 Etwa in einem der berülullIestcn Geschiclltswerke des Aufldärungszeitaltcrs: W. Robtrrsoll, The History ofAmcrica. London I Es beruht aber stärkcr. als nobertson aufdcn erstcn B1iek crkcnncn läßI. aufder _amtlichcn_ Darstcllungdcr Conquisu: dcr I-listoria gencral de los he'lVid Humc. Oxford 19802., S. 314f 12 IVaitr. Da\11d Hume. S. 95. bnngl dies aufdIe Fom~l; .frotn OUlast philosopher tO r~now 1IC'd hIStoriall_. 13 In seiner ltezensloll von HUlllcs .l-lislOry_ 111 der Gazelle Llltcraire ....01'112. Mal 1764. VoIta;". CEuvres complctes, Bd. 25. Paris 1879. S. 169. 14 G. GQu'li(k u. L. Krtinl(llJ(lhI. H\lIl1c in der dcUlschen AurkUirung. Umrisse einer Hezeprionsgcschichre, Stungart-ßad Cansuu 1987. S. 162. Zur Rezeption der ...HisIOry_ auch ebd.. S. 72-
74. 15 Im Grunde WC'lli~r zu HUllle selbst als zu scillen deutsChen Nachahmen!. VgI. P. H. Rtill. Tlle German Enligillenmelll ~nd thc Risc of HistonOsm. ßcrkdey 1975. S. 56: Dm.• Die Gescillchtswissenscliaft UIII d~ Mitte des 18. Jahrhundens. in: R. VwrlwlU (I-Ig.). Wissenscluften im Zciuher der Aufklärung. Göttinb'Cll 1985. S. 167. Ü~rdie Relepuon der britischen HIStoriker bei Ihrc:n deutsChen Fxhkollegcn im 18.Jahrhundcrt ....g!. auch G. G. The Europcan ContO« of ElglllCCllth-OnturyGemlan Enlighlenlllcnt I-listonography. in: 1-1. E. B6dt*rr u. ~ (11g.). Aufklärung und Gesclucllle. 5mdicn zurdeutsChcn GCSClllchlSWisscnschafl im 18.Jahrhunden. Göttingen 1986. S. 234--238; H.-W. HlQllkr u. D. F1tiKlltr. Emleitung. in: Dia. (I-Ig.). Thcoreukcr der deUfschen Aurklärungshistoric. ßd. I. Slungm-Bad Cansurt 1990. S. 3Of. 16 MOSSPlff. Life ofDavid I-IulI1c. S. 555.
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ness« empfanglieh war. Publizisten wie Daniel Defoe,Joseph Addison und Richard Steele hatten diesem Diskurs am Beginn des Jahrhunderts den Boden bereitet. 17 Humes »History of Englandll W2r auf ambiv:aJente An ein überaus gegcnW3rtSbezogenes Werk. Einerseits hatte sie wcniggcmein mit den Zwecken und Darstellungsweisen des gclehrsamell und schwerfalligcn AntiquarianislTIlis des späten 16. lind frühen 17.Jahrhllnderts, der niemals eine narrative Form und eine breitere leserschaft gefunden hatte. 'Sthr Stilideal war eingängige Eleganz, ihre Absicht politische Pädagogik. Andererseits distanziene sich Hume von dem, was er als historiognphisch bemäntelte P:meipolemik im politischen Tageszwist empfand. Seinen Ruf als »Tory«-Historiker verdankte er nicht 3I1ein substantiellen Einwänden gegen die »Whig«-Deuwng der englischen Geschichte, besonders gegen die Dämonisierung der ersten beiden Stuan-Königel9, die er selbst eher als Opfer ihrer Umgebung und ihres eigenen Unvermögens denn als handlungsstarke Täter zu sehen geneigt warlO, sondern auch seiner Kritik an der verbreiteten Funktion31isicrung historischer Mythen im Dienste politischer Richtungen. Wie J. G. A. Pocock gezeigt h3t, sank in England nach 1688 das Niveau historischer Analyse. An die Stelle einer präzisen Rechtsgeschichte, die d~ Entstehen der Prä.rogative historisch genau und teilweise im gcsamtcuropäischen Vergleich zu erklären suchte, trat in der Geschichtsauff~sungder politisch dominanten Whigs der Rückgriff auf die legenden von einer seitjeher bestehenden »ancient constitutionll, einem in graue 17 Zu Addison vor ~lIcm: E. A.lJloom u. L. D. Bloom,Joscph Addison's Soci~b1e Anim~1. Pro-vidcncl:, 11..1. 1971: M. G. Ktu:1ulrll. Tr~nsparelll Designs: Reading. Performance, and Form in the lOSpecutOr_ Papers, Athens, Ga. 1985. Zur publizistischcn und lilerarischen Organisalion der ncuen ÖlTenthchkeit vgI. W. A Sp«k. Sociery and Litenture m England 1700-60. Dublin 1983. S. 186ff.:). Enhmarrn, Joumalismus und Lilentur. Zum Verh:ilmis \'00 üllung!i"~n. LilC~tur und Entwicklung bürgc-rlicher ÖlTenthchkrn in England im 17. und 18. Jahrhunden, Tüblllgen 1983. . 113fT. Zum sozialgcsc:hichlhchcn HmlCrgrund dic vorzügliche Untersuchung von P. &rsay. nie English Urban Renaissance: Culturt and Scxicry in thc Provincial Town 1660-1TIO. Oxford 1989. bes. S. 257-283. Einc idecngcschichlliche Fallstudie ist). GucoigtW'. Cambndgc 111 the Ageofthe Enlightenlnent: Science. Religion and Politics from the Resloration to the Frt'nch RevolUlion, Cambridge 1989, bes. S. 71 fT. Über den Forschullgsstand: L. O>Iky. The Politics ofElgh· tttnth·Celltury British HislOry. in: JBS.Jg. 25. 1986, S. 370f. Als Zusammenfassung P. LAn,dOrd. A Polile and Commercial People: England 1727-1783. Qxford 1989, S. 59-121. Für die üit nach 17fIJ: E. Hrllmulh (Hg.), Thc Tnnsfonnalion ofPolitieal Culrure: England and Gennany in lhc ule Eightecnth Century, Oxford 1990, darin bes.j.lrrlfl'S. Politic:s and Monls: The Rcformauoll of Manncrs M~mcm in ute Eightccmh-Cenrury England. S. 58-118. 18). M. Lr"i~, Humanism and HislOry: Origins ofModem English HISIOriognphy, hhx:a t 987. S. 102f. Zu denken ist dabei an Autol"C'n wieJohn Ldand. William Camden.John Seiden oder Richard Ikndey. 19 Diese Auffassung vertnl am wirkungsvollsten der französische Hugenotte Paul de Ibpin. Thoyns in seiner Histoil"C' de I'AnglelCfTC. Den Haag 1723-1725. die 172~1731 in einer fUnfzehnbändigen cnglischcn Überseuung erschicn und danach große Verbreitung fand. 20 Etwa: Hu~. History ofEngland, ßd. 5, 121f.. 542-544.
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Frühzeit zurückreichenden Parlament und einem der kontinentalen Rechtsentwicklung überlegenen, ebenfalls in seinen Ursprüngen nicht f:aBbaren Common UW. 21 Indem Hume die Haltlosigkeit dieser Konstruktionen nachwies, knüpfte er zum Zwecke historischer Aufklärung in seiner Gegenwart an die Rechtshistoriker des voraufgegangenen Jahrhunderts an. In einer literarischen Form, die publikumswirksam aufder Höhe der Zeit stand, schmuggelte er die unzeitgemäßen Einsichten eines konserv.ltiven Skeptikers. Trug Humes »History. deutlich die Spuren ihrer Herkunft aus den politischen und historiographischen Problemlagen des minieren 18. Jahrhunderts, so reichte ihre Wirkungweit über ihre Entstehungszeit hinaus. Bis 1894 war das Werk ohne Unterbrechung im Buchhandel greifbar. 22 Noch derjunge Winston Spencer Churchill, später selbst ein bedeutender Geschichtsschreiber, las es als sein »boyhood manual •. n Bis ins dritte Quart:al des 19. J:ahrhunderts wurde es als verbindliches Standardwerk an den Universitäten studiert. Keine Darstellung neueren Datums vennochte ihm seinen maßstäblichen Rang streitig zu machen. John Lingards im Detail akkuratere, viel umfasscnder aus den Quellcn gearbeitete, aufjeglichen >'philosophischen.. Kommentar nach Art der AufkJärullgshistorie verzichtende lIHistory ofEngland.., die zwischcn 1819 und 1830 erschicnZt , galt im protestantischcn Milieu als kaum akzeptabel, war ihr Verfasser doch katholischer Dorfpfarrer in Lancashire. Obwohl Lingard sich bemühte, in seiner Darstellung protestantischc Geflihle und Überzeugungen nicht zu verletzen, blieb seine Wirkungweiterhinaufdas katholische Publikum in England und Irland beschränkt.l5 Von einer anderen möglichen Alternative zu Hume, Henry Hallams solider und priiziser,jcgliches rhetorische Ornament verschmähender Geschichte der englischen Verfassung zwischen Heinrich VII. und George 11., die sich durch eine weitgehende Transzclldierung der Parteistandpunkte von Whigs und Tories auszeichnete1h, hieß es, die Sprödigkeit der Darstellung überfordere das 21 J. G. A. P««k, TheAndem Constitudon and the Feudal Law: A StudyofEngiish HislOrical Thoughl in dle Sevellleemh Cclllury. A Reissue wilh a nelrospect. Cambridb'C' 1987. S. 228, 234237. 22 N. P/JiI/iPlOlI, Hmne. London 1989. S. 139. Ralll~ stellte 1864 fest: _1 ... 1die Engländer lemell noch heute die Geschidlle ihres Landes d;u-alls [;tuS dem HUIllt.oschen Werk 1_. Aus Werk lind Na.ehlaß, ßd. 4. S. 367. 23 Zilien in T. P. PrilnJOI1. The Tr.ansiuon in English Hislorical Writing, 1760-1830. NewYork 1933, S. 20, AllITI. 23. 24 J. UI1g<JnJ. A l-lisloryofEngiand from the Fin:llnvuion by Ihe Romans 10 Ihe Revolution in 1688. 8 Bde., London 1819-1830. Zu Lingard vor allem PranJ,,,,,. Tr.ansiuon, S. 2n-283; mit ü~"rcibendelTl Anspruch fiir Ungards Rang: D. F. O'SMG, The Enghsh Rankt: John Ungatd, Ncw York 1969. 25 j. Kntyort, 1be History Men: The Hisloriol Profession in England since the Renaissance, london 1983. S. 86f. 26 H. Htl/lam, Thc Consirulional HislOC)' of Engbnd from thc Acccssion ofl-lenry VII to Ihe Death of Gco~ 11.,2 Ode., London 1827. Zu l-Iallam vgI. P~nkm, Tra.nsilion, S. 207-213. 271-
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studentische Fassungsvermögcn.27 Auch Macaulay, der HaHam als seinen einzigen auch nur annähemd ebenbürtigen Vorläufer ansah und ihn besonders als den Amor einer »critial and argument3tive history« schätzte:!ll, ohne freilich seine Scheu vor moralischen Urteilen zu billigen, kam nicht umhin, .the extreme austerity. von Hallams Stil zu beklagen, die einer breiteren Wirkung im Wege stehe. 29 Erst mitJohn Richard Greens .Shon Historyofthe English People« von 1874 fand Humes Darstellung eine fachlich seriöse wie literarisch ansprechende Nachfolge. Bis zur jahrhunderrwende wurden von Greens Buch, das als erste allgemcine Darstellung der englischen Geschichte den gesellschaftlichen und geistigen Entwicklungen ein größeres Gewicht beimaß, fast eine Viertclmillion Exemplare verkauft.30 Sein Verfasser errcichte beinahe die Popularität Macaulays. Thomas Babington Maaulays monumcnt3lc .HislOry of England.cl ' , be",..ußt gegen die angebliche Humesche Tory-Tcndenz und den Humeschen Ruhm geschrieben32 , hatte um die Mitte desJahrhunderts das Werk des Schottcn überschattet, ohne es doch ersetzen zu können. Denn Lord Macaulay war eine neue alio"algeschichte schuldig geblieben..)) I-latte cr nach früheren,
276; G. P. Gooth. Geschichtc und GeschIchtsschreiber Im 19. J;lhrhundcrl. Ff;ll1kfurl ;I. M: 1964. S. 304f., 313-315;). R. I-Ialt, IlIIrOOuction. in: Dm. (Hg). The Evolution ofBritish I-lisloriognphy: From Bacon to N:ull1er, Loudon 1967, S. 38-40. Die einflußreichslc Wilrdlgung iSI Mac;lulays ßcspredlllng VOll I bllams .Collsliwlioll:al Hislory. in der .Edinburgh Review.. VOI1l Seplembcr 1828. wledef;lbbocdruda in: T. B. MQ(a,lIay. Works. ßd. 7, London 1898, S. 221-326. Zu H:all:ams bcmerkcnswtrt kbrtt Sicht dts Mittelalters, bcsondcrs des englischen Parl:amellts. vgI. :auch P. B. JU. BlaaI, Conllnuil)' :and Anxhromsm: P:arh:ament:lry and ConSlllUlioml [)cvelopmellllll W1ug Hisloriogtaphy :and lht Anll-Wlng Rexlioll bctwttn 1890 and 1930, Den Hug 1978, S. 94--100. 1-I:albll1. der in lIlsU!ulionclltll. k:aum III pcrson:alcn K:ucgonen dachte und steh IIIcm:a1s m bloBcr Fakten:anlüufung verlor. war tlll .Suuklurlustotiker.. :av::l.llI b. leute. & schrieb zv,'C1 ....'Clle~ brdcutende WcrkC': VlC'W ofthC' St:lIC ofEuropc dunng thc MKkllc Agcs. London 1818; hnroducuon tO mC' Lltef;llUl'(' ofEuropc In IhC' Flflttmh. Soo:ttnth :and $c\'Cl1tlXnm Cemuries. 4 ßde.• london 1837-1839. 27 Belegt' bei P. Uvi~, The Am:atcur :and lhe ProfCSSlon;ll: Anllquari:ans, "llston:ans and Archaeologist5 in Victon:an Engbnd, 1838-1886. C:ambridb'C 1986. S. 138. 28 MlUaillay, Hall:arn's ConSlimtion:a1 History, in: [krs.. Works. Ud. 7, S. 223. 29 Ckrs., Sir J:uncs Mackilllosh's I-lislory of Ihe Revolution, in: cbd .. Bd. 8, S. 423. 30 R. j(lmr, The Arl ;ll\d Sciencc ofViClori:an HislOry, Colull1hus, Ohio 1985, S. 141: hier :auch eine Würdigung Greens. S. 141-169. 31 T. B. MQ(a,j!ay. nlC HislOry ofEngl;lnd from the AccC'ssion ofJ:amcs lhc Sccond, 5 Bdc.. londen 1848-1861. Im folgenden WIrd die scchsbändlb'C Ausg:abe, hg. v. C. H. Firth, london 191:>-1915. zitiert. 32 Vgl. Mx'lUl:ay an ThollW FlO'o\'Cr E1hs, 8. Mjrz HH9, 111: T. B. MatauJoy. Thc leiters. hg. v. T. Finnq. 6 ßde., C:ambridgr 1974-1981. hlcr Bd. 5. S. 32. 33 BcmerltcnS\W'rt ist diC' Parallele zuJC'llCm deutsChen Iltstonker. nm dem Mx:auby sich :am ehenen verglclChen I;JH; Auch !Unke schneb menu.ls S('Ul(' DeutsChe GeschKlue \101I den Anfoingrn bis zur Gegenwart. Vgi. E. SrhNtirr, Um\'Crs:algcschIChlC.' und Nalion:a1grschlchlC' brl ~Id von !Unkc, 111: W.). Mom/"I'IXn (Hg.), Lcopold von IUnke und dlc moderne GeschichtsWisscnsch:aft, SUlUg;m 1988. S. 38, S. 61.
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noch ehrgeizigeren Absichten immerhin eine Gesamtdarstellung der Zeit von 1688 bis 1832 geplant, von der Versöhnung, wie er es ausdrückte, der Krone mit dem Parlament bis zur Harmonie zwischen Parlament und Nation J4 , so beschrieb er in den funfBänden, die zwischen 1848 und 1861 erschienen, doch nur die Zeit vom RegierungsantrittJames n. 1685 bis zum Tode Williams 111. im Jahre 1702; selbst zu einer Würdigung der Folgen der sogenannten Glorious Revolution ist er nicht mehr gekommcn ..l5 Die Epochen der Tudors und Stuans, die bei Hume im Mittelpunkt stehen, hat er gar nicht behandelt. Dreitausend Seiten benötigte Macaulay rur die Schilderung von siebzehn Jahren, wo Hume auf weniger Raum VOll 1688 bis zur römischen Invasion zurückgegangen war. Obwohl Macaulay im stark raffenden ersten Kapitel der »HistorylC sowie verstreut in vielen seiner Essays zu Fragen der englischen Geschichte vor und nach der Periode 1685-1702 Stellung nah11lund obwohl sich seine Sicht der wichtigsten national historischen Probleme zumindest im Umriß aus solchen verstreuten Äußerungen rekonstruieren läß~, ist sein Werk doch im thematischen Umfang mit demjenigen Humes kaum kongruent. Macaulay schrieb nicht die Geschichte der Nation in ihrer kontinuierlichen Entwicklung, er schrieb die Geschichte jener Wendezeit, in der die Nation - nach seinem Urteil- unwiderrunich zu sich selber fand. Macaulays IIHistory ofEnglandlC war ein Triumph von Rhetorik und Dramaturgie, von Stil kunst und Detailtreue.37 Sie wurde zu einem der Bestseller des 19. Jahrhunderts in der gesamten englischsprachigen Welt und weit darüber hinaus und hat ihren Rang als ein Haupcwerk der viktorianischen Literatur bis heUle bewahrt. Ihr Akzent aufdem Fortschritt von Freiheit und Wohlfahrt traf die Stimmung eines bürgerlichen Publikums in der Ära der Reform. Doch als der Schriftsteller und Staatsmann am 9.Januar 1860 in Westminster Abbey zu Grabe getragen wurde MJ, war das Werk unvollendet und eine Epoche abgeschlossen. Schon den Historikern der nächsten Generation erschien Macaulay als Fossil.
34 MacaulaY;1I1 Macvcy Napicr. 20. Juli 1838, in: MlItall/ay. Leltcrs, Bd. 3, S. 252. 35 Über d;r,s Wesen der Revolution von 1688, einet .preserving rcvolution_ im Unterschied zur .odesrroying rcvolution_ dcr Franzoscn, äußert sich MlUalllay nur knapp am Schluß dcs 10. Kapitels: I-listory of Engl:md. ßd. 3, S. 1304-1312. Ocr Versuch einer Einbettung dcr Glorious Revolution in dcn wcilcrcn Zusammcnhang dcr cnglischcn Geschichte findcl sich ;r,llein in dcm kurz \'or Beginn der Arbeil an dcr .I-listory_ geschriebencn Essay über das fragmcntarische Wcrk cines Vorgängers: MIUl1l1lay. Sir James Mackintosh. S. 444ff. 36 Daraufwcist hin: 1-1. Trtllilf-Ro/H'f, Lord Macauby: Inrroduclion. in: Dm. (I-Ig.), Lord Macaul;r,y: The l-lislOry ofEngl:md, Harmondsworth 1979, S. 25. 37 Zu dcn lilCr:lrischCII Qualitiircn des Wcrkes vgl. P. Gay. Style in l-listOry, Ncw York 1974, S. 97-138;). Millgalt', Macaulay, London 1973. S. 116([; M. Cmikshallk, Thomas ßabinb'ton Macaulay, Boston 1978, S. 115-121. 38 Dic Szcnc schildcrl G. O. Trrvd)'ll'I, Thc Lifc and lcncrs ofLord Macaulay. Bel. 2, Qxford 1876, Reprint Ch.ford 1978. S. 4QOf.
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Keineswegs zerfiel sein Renommee so plötzlich wie das des unzeitgemäßen und originellen Henry Thomas BuckJe, der bei seinem Tode 1862 in Damaskus ebenfalls ein Monulllentalwerk, die in manchem dem positivistischen Wissenschaftsbegriff Auguste Comtes nahestehende IJHistory of Civilization in England4C, als Torso hinterlassen hatte.19 Waren Buckles umständliche und eigen",~I lige Bände zu einem ungünstigen Zeitpunkt erschienen, kurz vor CharIes Dar\vins IJThe Origins of Speciesll, einem Buch, das in Großbritannien dem evolutionistischen Denken, auch außerhalb der Naturwissenschaft, rasch eine ganz neue, von Buckle wegftihrende Richtung gab, so beruhte Macaulays anhaltender Erfolg keineswegs auf intellektuellem Avantgardismus, sondern :mf einer literarischen Virtuosität und aufder fortdauernd breiten Zustimmung zu seinen politischen Ansichten. Macaulay, der seine schriftstellerische Kunst unter anderem am Vorbild der Romane Sir Walter Scotts geschult hattc..:l, lebte fort als der Ahnherr jener publikumsfreundlichen narrativen~l Richtung der englischen Geschichtsschreibung, deren Programm sein Großneffe George Macaulay Trcvclyan 1913 im TItel eines Aufsatzes formulierte: ~C1io, a Muse«.42 Diejenigen hingegen, die in KJio die Göttin strenger Wissenschaftlichkeit sahen, wandten sich gegen all das, woftir die ItHistory of England« stand. In Cambridge verdammte Sir John See1ey, seit 1869 Regius Professor ofModern History, Macaulay, Carlyle und überhaupt alle Praktiker einer literarisch TO39 H. T. Blltl.:lt. The HislOry ofCivilizalion in England, 2. ßde.. London 1857-1S61; luer benUlzl in der Ausgabe London 1869 (3 ßde.). Buekles History _f101shed like a meieor across the f'innamenl and disappcared•. So 1·1.). Hell/lwm, EdilOr's Illlroductioll. in: Dt>rs. (Hg.). Henry Tho-mOls Buckle: On Scotland and lhe Scolch Imellttl, ChicOlSO 1970. S. XXXVl. Über Buckle vgl. G. St. Auby", A Victorian Eminence: Thc Life and Work ofHenry ThOlllas Buckle. London 1958; E. Flj(hs, I-Icnry ThOlllas Buckle. Geschidllsschreibung und POSilivislllus in England und Deutschland. Leipzig 1994. Zur Wirkung immer noch:). M. RoJHoruoll. Buckle and His Crilics: A SlUdy in Sociology. London 1895. 40 Vgl. M. Plrillips. Macaulay, Seou, and the Literary Challengc to I-liswriognphy. 111: J H I.Jg. SO. 1989. S. 117-133; Milfgott, MacOlulay, S. 1201: Auch der junge Ranke war zunichSI von SCOll beeindruckt. Vgl. E. SrllIIlill. Tndilionskrilik und Rekonstruklionsversllch. Sludien zur EmwlCk· lung von Geschichtswissenschaft lind historischem Denken, Göttingcn 1979, S. 37, S. 53. Wenn Droysen spiter Macaulay JtCIen beSlen Waltcr SCOll tllller den jetzigen Geschichtsschreibern~ nenlll. so iSI dies Ausdruck scharfer Mißbilligung. Droyscn an Heinrich von Sybcl. 5. August 1853. in:). G. Drrrysm, Briefwechsel. hg. v. R. Hiibru!r. Bd. I, Stuttg:lrl 1929. S. 169. 41 Hier wire zu ulllerscheiden zwischen einem sich bcWlIßlliterarischer Mittel bedienenden ilfllluirlitrmd narralivell Verfahren in Mac3ulays Manier und einerrtkorl$mlifftru/narr.niven Melho-de, ~'ill('r schmucklos·präziscn, strikt chronologischen hiSloire fvfnclI1cmielle. die keinerlei Z ugc· st:indnissc an den Publiklllllsgcschmack macht. Ihr wichtigster britischer VerlTcter war S. R. Gardilltr mit seiner gigalllischen Geschidlte des 17. JahrhundertS: HislOry of England from the Accession ofJames I tO thc Qlltbreak ofthe Civil War. 10 Udc., London 1863-1884; Dm.. l-liSIOry of the Great Civil War, 3 Bde.. London 1886-1891; Dtn.. History of lhe Commonwealth and PrOteclOrale,3 ßde., Landon 1894-1903. Als Ercignisschildenlllg iSI dieses Werk nie erselzl worden. Vgl. P. Wtlltk, Probleme der englischen RevolUlion, Darmstadl 1980. S. 4;). S. A. AJQIII$(lII, Eminenl Vietorians: S. R. Gardincr and die Liberal as Hero, in: I-IJ. Jg. 33, 1990, S. 641. 42 G. M. Trtvtlyall, Clio. a Musc, and Other Essays Lilen.ry and Pedesuian. London 1913.
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mantisierenden Geschichtsschreibung als Scharlattne. 4J In Oxford veranlaßte der dortige Regius Professor, William Stubbs, der erste bedeutcnde englische Hisroriker überhaupt, der an einer Universifätlehrte 44 , eine Übersetzung von Rankes >lEnglischer Geschichte«, um mit ihrer Hilfe den angeblichen efTekthaseherischen Dilettantismus Macaulays zu exorzieren. 45 Solch heftige Reaktionen richteten sich durchaus nicht nur gegen Macaulays Forschungsmethoden und Darstcllungsweisen, sondern auch gegen seine Deutung der Nationalgeschichte: Stubbs etwa, becinflußt durch die deutsche historische Rechtsschule, sah ein langsames, von anonymen Volkskräftcn getragenes Werden der Institutionen als die Substanz der englischen Geschichte. 46 Er hatte wenig Sinn für Macaulays theatralische Inszenierungen derTittnenkämpfe zwischen Tyrannei und Freiheit, personifiziert in den feindlichen Schwägern James und William, und übersah dabei die Spuren eines durcl13us romantisch-konservativen Common-Law-Denkens und eines burkeanischen Respekts fUr das Herkommen, wie sie sich bei Macaulay durchaus finden. 47 Noch fremder war Stubbs und der Fachhistorie die radikale Institutionenfeindlichkeit des zweiten großen >lliterary historial1ll, Thomas Carlyle.48 So bedeutsam diese Differenzen der historischen Intcrprctttion waren - entscheidcnd ist, daß man Macaulay, Carlyle und ihre Anhänger im Namen eines neuen forschenden Professionalismus ablehnte. Macaulay hatte zur Nation undfiir sie gesprochen. Sein erstes Ansehcn hatte er sich als polemischer Essayist in der >lEdinburgh Review«, dem Organ der schottischen Spätaufklärung, erworben.4'.l Durch eigencs Talent und durch die 43 BIOlU, o,ntinuity. S. 37; D. Wonr/t:Il, Sir Jollll Seeley ;tud the Uses ofl-lislOry, C;tmbridge
1980. S. 82, 126-128. Besonders heftig m;tclcienen die Venrcter der FachhiSlorie C;trlyles Frcund, Biographen und NachlaßverwalterJ. A. Froude, den Verf;uscr einer stilistisch brillanten. durchaus seriös recherchicrlen .HislOry ofEngl:md from Ihe Fan ofWolsey to the Defeat ofthe Spanish Armada_, 12 ßde., London 1856-1870. Vgl. W. H. Oll/lll,Jamcs Anthony Froude: A Biography, Bd. 2: 1857-1894. Oxford 1963, S. 456fT. 44 KrIlYOI1, l-lislOry Men, S. 149. 45 Vgl. Ltviur. Amateur, S. 27. Die Ausg:lbe erschien 1875: L. v. Rill1kt, The HistoryofEllgbnd. Principally in the Sevcmecmh CClltury, 6 Bde., Oxford 1875. Zur Ranke-Rezeption bei 5mbbs vgl. K. [)lJdtl,om. Der Deutsche Hislorismus in England. Ein ßeitt;tg zur Englischen GeisIesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1950, S. 141-155. 46 VgI.j. W. B'lrroW, A Liberal Descenl: ViClOrian l-liSlOrians and the English Past, Cambridge 1981, S. 107f. 47 Zu diesem Aspekt bei M;tc;tuby vgl.]. G. A. Poaxk. The Varieties ofWhiggism from eolusioll to Refonn: A HislOry of Ideology and Discourse, in: Dm., Vinuc, Cornmerce, ;tnd Hislory: Essays Oll Politiol Thought and Hislory. Chidly in Ihe Eighlttnth Century. Cambridgc 1985, S.
304. 48 Vgl. H. Trevor-Roprr. Thom;u Charlylc's Historieal Philosophy. in: Timcs Lilcl'3ry Supplement, 26.Juni 1981, S. 731-734, bcs. S. 731f. 49 Die maßgebende Biographic MaColubys bis 1838 ist]. Clivt, Maoulay: The Sh;tping of the HislOri;tn. Ncw York 1973. Zu seiner Mitarbeit an der .Edinburgh Review_ vgl.j. Millgatt, Fatber and Son: Macaulay's ~Edingburgh_ Debut, in: RcviewofEnglish Sludies,Jg. 21, 1970, S. 159-167.
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Patronage der Whig-Aristokratie warer ins Unterhaus gelangt und hatte don als einer der glanzvollsten Parlamentsredner Aufsehen erregt. Von 1834 bis 1838 war er Law Member of the Govemor General's Supreme Council, also elejwo Justizminister Britisch-Indiens, später mehrfach Mitglied des Londoncr Kabinetts. Auch wenn kein anderer britischer Geschichtsschreiber seiner Generation ein ähnliches öffentliches Profil erlangte, so waren sie doch alle »men of leuerslC, die entweder, wie Hallam und BuckJe und vorher schon Edward Gibbon, auf sicherem Erbschaftspolster privatisierten oder sich. wie Carlyle und früher in gewissem Sinne auch David Hume, von der gesellschaftlichen Peripherie her in den literarischen Markt hineingeschrieben hatten. Namentlich Macaulay und Carlyle, die Generationsgenossen der großen akademischen Lehrer Ranke und Michelet, vertraten weit ins 19.Jahrhundert hinein den älteren sozialen Typus des Essayisten und »reviewcr((, der sich publizistisch zu politischen ebenso wie zu ästhetischen Gegenwartsfragen äußeneso, institutionell nicht dauerhaft gebunden war und statt in engen Fachzirkeln in weiteren künstlerischen und politischen Kreisen vcrkehrte. Es ist charakteristisch, daß Macaulay die ßerufungaufdcn Regius Chair ofModern History in Cambridge ablehnte, als Prinz Alben sie ihm 1849 anbot: »I cannot bear the Collar, and I have got rid ofmuch finer and richer collars than this.lCsl AJlein die Vertreter der >lconjectural historylC in Edinburgh und Glasgow waren - unter den ganz anderen Bedingungen der schottischen Wissenschaftskultur- Univcrsitätsgelehrte, allerdings auf Lehrstühlen der Moralphilosophie (Adam Smith, Adam Ferguson) oder der Jurisprudenz Uohn Miliar). Doch auch sie lehrten und schrieben für ein weit über Fachkreise hinausreichendes Publikum.~
Zum Kontcxt:). Cliw. Scotch Rcviewers: Thc Edinbmgh Review, London 1957: C. Gro.ffy, Die Edinburgb Review 1802-1825. Formcn der Spätaufklärung. Heidelberg 1981:). Slwlflxk. Politics and Reviewers: The .Edinburgh. and the .Quarterly. in the Early Victorian Aboc. Lcicesler 1989. und \·or allem B. FOfl/llIla, Rethinkillg thc Polities OfCollllllercial Society: The .Edinburgh Ilevicw. 1801-1832, Cambridgc 1985. 50 Vgl. N. Kimlt. Die Liter,llurkritik Thomas ßabillb>toll Macaulays und ihre !lezeplioll. Frankfun a. M. 1979. S. 147fT. 51 Matau/ay, Tagcbucht'imrag vorn I. Juli 1849. zitiert in TrnJ('I)'D/l. Life and Lcllcrs. ßd. 2. S. 197. 52 Über das schottische Geistesleben im späten 18. Jahrhunderl vgl. N. T. Plri/lipso/l. Cultme ,md Society in ,he 18th Celltury Province: The Casc ofEdinburgh alld ,he Scottish Enliglll(~l1mellt. in: L. StOllf (Hg.). The University in Socicty. Princeloll 1974. S. 407-448; A. C. Cllilllis. Tht· Sconisll EnliglltcnlllclH and Early ViClorian English Society, London 1986, S. 1-78; R. G. CaUl. Origins ofthe EnlightenlllcllI in Scotland: The Universities. in: R. H. Cumpbfll ll. A. S. Skirlllt'f (Hg.). Thc Origills and Nature orthe Scouish EntiglllenmcllI, Edinburgh 1982. S. 42-64; R. 11 Shfr, Church and Univcrsity in thc Scotlish Enlightcnment: Thc Moderate Li,er.lli od Edinburgll. Edinburgll 1985; A. Murdoflt u. R. IJ. Shfr. Litcrary and Learned Culture. in: T. M. fHvi,rf u. R. MiU"lrisoll (Hg.). People and Sociery in Scotland. Bd. 1; 1760-1830. Edinburgh 1988. S. 127-142;j. Dltrytr, Virltlous Discourst': Scnsibility and COlllllluniry in L:lIe Eigluccmh-Century Scotb.nd. Edinburgh 1987, S. 10-37. Zur neueren Forschung über die schottische Aufklärung lind ihren
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11. Die soziokulturellen Umstände der Produktion und Verwendung historischen Wissens in Großbritannien änderten sich tiefgreifend seit den sech zigerJahren des 19. Jahrhunderts.SJ Umfassendere gesellschaftliche Prozesse standen dabei im Hintergrund, vor allem die Expansion dcr elementaren und höheren Bildung und die beginnende Auflösung einer homogenen hochvil..-torianischen Elitenkultur.3oI Langsam und gegen große Widerstände etablierte sich in Oxford lind Manchester, später in Cambridge und London eine Fachhistorie, die sich Ranke und seine Schule zum mcthodischen Vorbild erkor, ohne indessen die Verankerung des deutschen Historismus in der idealistischcn Philosophie zu vcrstehen lind daraus Schlußfolgerungen fur die Problem:uik eines reinen Mcthodcl1transfers zu ziehen.S5 Sie strebte nach der Produktion exaktcn historischen Wissens durch Experten rur Experten; wie die Ranke-Schule bezweckte sie den kumulativen Fortschritt historischer Erkenntnisse durch kollektivc Forschungsarbeit.!16 Sie verschmähte den Erfolg in der brcitercn Öffentlichkcit, mißbilligte die marktbcvroßte Geschäftstüchtigkeit eines Macaulay und suchte Anerkennung und Sozialprestige im Erreichen selbstgesteckter professioneller Normen des Umgangs mit der Überlicferung.S7 ln schroffer Abgrenzung von soziokuhurdle:n Kontext vgl. K. Craf&/ksJmn. Die: schottische: Aufltljrung. Ein Bericht ubcrden Sund der Forschung. in: H. Did«rlrof(Hg.). Fcstg2br He:inz Hune:n zum 60. Gebunsug. Fnllkfun a. M. 1988. S. 317-334. 53 Dazu grundkgcnd uvirtt'. J\nme:ur: cb.ndX'n R. jllnn. From Amate:ur to Professional: The: Ca.sc: ofthe Oxbridge Historians. in:JBS.Jg. 22. 1981183. S. 122-147; D. S. Goldskin. The Professionallution on'hstory in ßriuin in the: L:a~ Nine:tttnth and E:arly Twentieth Cemurics. in: Storia ddla stonognJia.Jg. 3. 1983. S. 3-27; Die.• The Org:aniutional Devdopmemoflhe British Hist"'11skonsums von der Ursache staatsbürgerlicher lIKorruption« zur Triebkraft wirtschaftlichen Wachstums, raubte Smith der pessimistisch-zyklischen Geschichtsbetrachtung der lICivic humanists« ein wichtiges Argumcnt. Zum anderen ließen sich, wie Smith in Übereinstimmung mit Hurne lehrte, vormoderne Gesellschaftsformen nicht länger, wie bei den Ideologen eines nebulös-früh historischen lIgothic origin« der englischen Freiheit, als unmittelbarc Lcgitimitätsquellen der Gegenwart betrachtcn. Ein langer sozialökonomischer Wandlungsprozeß trennt die moderne Gesellschaft von jcnen Zuständcn, die im politischen Diskurs der verschiedensten Richtungen immer wieder als maßstäblich zitiert wurden. Smith, Ferguson und Miliar entwickelten im Detail unterschiedliche Vorstellungen vom Verlaufder universalcn Gesellschaftsentwicklung. Gemeinsam war ihnen jedoch eine Historisierung vormoderner Formen, die sich gleichermaßen vom Anachronismus der im Bannc einer idealisierten kommunal-republikanischen Antike verharrenden »civic humanistsll abgrenzte wie von den Naturzustandskonstruktionen des naturrechtlichen Vertragsdenkens. Von ihrem Freund und Lehrer David Hume unterschieden sich Smith, Ferguson und Miliar indessen dadurch, daß ihnen die vorm odernen Gesellschaftszustände mehr waren als ein roher, in der Darstellung bewußt grob gestrichelter Hintergrund, vor dem sich, wie bei Hume vor der Primitivität des englischen Mittelalters, die »politenessll der Modcrne um so schärfer abhob. In der »conjcctural historyll der schottischen Aufklärung finden sich in einem auch bei dem verehrten und uncntwegt zitierten Anreger und Vorläufer Montesquieu unbekannten Maße Ansätze zu einer universalen Gcschichte der gesellschaftlichen Institutionen wie der sozialen Verhaltensweise der Menschen. Die vormodernen Formen erscheinen dabei in mancher Hinsicht als Vorstufen der Moderne und evolurionäre Durchgangsstadien, in anderer hingegen als gesellschaftliche Organisationsmuster von eigener innerer Gesetzlichkeit, als in sich geschlossene FunktionsZllsammenhänge von Herrschaft, Tausch und Weltbildstrukturen, die jeweils auch isoliert VOIll lIvcrtikalen« Evolutionsprozeß, in den sie eingebettet sind, »horizontal. studicrtwerden können. Damit war die Grundlage geschaffen ftireine universale historische Soziologie.
An Introduclory Esuy, in: DitJ. (Hg.). Wc~hh ~nd Vittue, S. 1-44. Ober Fcrguson: Z. &lSlJUl u. H. Mroil'k, Einleitung, in: DitJ. (Hg.), Ad~m Ferguson: Versuch über die Geschichte der bügcrlichcn Gescllsch~r!. cl!. v. H. Medick, Frankfurt~. M. 1986, S. 7-91, bes. S. 39, 73--81.
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Die britische Geschichtsschreibung hat aus diesen wegweisenden Ideen der schottischen Juristen und Moralphilosophen zwei unterschiedliche Typen von Schlußfolgerungen gezogen. Der eine Typus betont die horizontale oder synchrone, der andere die vertikale oder diachrone Dimension des Stadien modelis. Erstens eröffnete das Vier-Stadien-Schema die Möglichkeit zu einer Analyse der >lbarbarischen« Formen nach ihrer sozialökonomischen Elgt>nlogik, einer Analyse, deren zweite Inspirationsquelle Montesquieu war. Diesen Weg ging Edward Gibbon, auf den kein anderer moderner Denker so intensiv einwirkte wie Montesquieu und den man umgekehrt zu Recht als den bedeutendsten Schüler des President a monier bezeichnet hat. l40 In Gibbons Sicht erlag die durch Despotie und Luxus innerlich geschwächte, vordcn logistischen Problemen ihrer Ausdehnungversagenden und durch außerweltliche Heilsreligionen unterminierte Zivilisation Roms in letzter Instanz dem Ansturm von Völkern einer niederen Gesiuungsstufe. Anders als die Schonen interessierte sich Gibbon mehr für dcngleicJlzeitigell Konflikt von Gesellschaften unterschiedlichen Zivilisationsstandes als für den evolutionären Übergang von einer Stufe zur nächsthöheren. Der immerwährende, erst im neuzeitlichen Europa zum Ende gekommene Zusammenstoß zwischen mobilen Barbaren und seßhaften Zivilisierten war jener thematische Komaktpunkt, an dem die Geschichte des Untergangs Roms zur Weltgeschichte wurde. Sein Studium von Tacitus' >lGermania«, seine umfassende Kenntnis der Reiseliteratur und des proto-orientalistischen Schrifttums des lB.Jahrhunderts'·', schließlich die Anregungen, die er - in etwa dieser Reihenfolge der Wichtigkeit - durch Robertson, Ferguson und Smith empfing 1• 2, ermöglichten es Gibbon, über die bloße Dämonisierung der aggressiven Reiterstämme hinaus zu einer bcispicJlosdifferenzierten, auch weit über die vergleichbaren Analysen in Vohaires "Essai sur les mceurs« (1751) hinausführenden Soziologie des Nomadentums vorzudringen. l.j Beispielhaft da140 CrllddiXk, Echward Gibbon, S. 8JOrdll", GiblxlIl, S. 71, auch S. 183-212. Vor allem fiber den Einfluß \"On Momesquieus hislorischem Hauptwerk, den .considcratiolls sm lescluscsde la grandeur des nomains et dc !cm dccadence. (1734) lufGibbon: Wllnrrmlf)', Transformation, S. 9-19. 141 Das herausragende Werk dieser Kalegorie U!1l(). de Glligrrts, Histoire generale des HUIIS 1...1,4 Bde., P;rris 1756--1758. 142 Über die Beziehungen Gibbons zur schottischen Aufklärung vgl. P. B. CrllddiXk, VOllng Edward Gibbon: GCllIleman orLcuers, Blllimore 1982, S. 258f.: DitJ., Edward Gibbon, S. 34-37, S. 67-69, S. 74;M. A. Wtbtr, David Hume und Edward Gibbon. ndigionssoziologie in der Aufklärung, Frankfurt.1. M. 1990, S. SOff. 143 Im 26. Kapitel: E. Gibbotr, The I-listory of the Dedine and Fall ofthe Roman Empire. hg. v.J. B. BIlf}', 7 Bde., London 1896-1900, hier Bd. 3, S. 72-139. Wichlig iSI daneben vor allem das 9. Kapild (Bd. I, S. 213-236) über die Germanen bis zur Völkerwanderung. Zur Imerpreution besonders). G. A. PiXiXk, Gibbon and the Shepherds: The Stages ofSociety in the _Dedine and Fll1., in: HEI.Jg. 2, 1981, S. 193-202; dm. Gibbon's _Dedine and Fall. and Ihe World View oflhe Late Enlightenmenl, in: Dm., Virtue, Commerce and History, S. 143-156;]. W. Bllrrow, Gibbon, Oxford 1985, S. 67-79: R. Pon". Edward Gibbon: Making HislOry, Landon 1988, $. 135([:
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rur ist Gibbons Behandlung der Ursprünge des Islam. Auch Gibbon beteiligt sich an der das ganze 18. Jahrhundert bewegcndcn Debatte um den Propheten Muhammad -dcmagogischer Scharlatan oder weiser Gründer einer rationalen Religion? -, und er tut dies in excmplarisch unpolcmischcr und abgewogencr Weisc. Aber cr bcgTeift die islamische Religionsstiftung kcineswegs allein als einen prophetischen Akt, sondern deutct sie quasi-matcrialistisch vor dcm HintergTund der egalitär verfaßten, bis zum Stadium von Städtebildung und Blüte >.bardischenl Poesie entwickelten, dabei jedoch auf ordncnde RechtsbcgTiffe vcrzichtcnden Hirtcngesellschaft der arabischen Halbinsel. 1.... Am Beispiel von Htlllnen und Mongolen wiederum entwickelt Gibbon cine Art von Theorie der strukturellen Aggressivität pastoralcr Gesellschaften: Der raumgTeifenden Subsistcnzweise entsprechc die Abwesenheit jeglicher Vorstellung vom Nutzen der ßegTellzung sowie das Fchlen einer Furcht vor Vergeltung..Es bcdürfe dann nur noch der bündelnden Organisationskunst eines Auila, Dschingis Kahn oder Timur, um die militärische Dynamik des Pastoralismus freizusetzcn. 14s Der ~cxterne~ Faktor der abendländischen Geschichte wird in Gibbons Kapitel über Hunnen und Türken, Germanen und Araber zum erstcn Male nicht nur in seinen Wirkungen, sondern auch in seincn Ursprüngen und Ursachcn umfassend untersucht. l46 Gibbon vcrachtete eincn modischcn Primitivismus, niemals verklärte cr das Leben dcr Barbaren, er stilisiertc sie nicht zu ~cdlen Wildem. Aber cr sah, ganz in Übereinstimmung mit Adam Ferguson, das Barbarennull auch nicht als bloße Durchgangsstation einer aufstrebenden Entvlicklungoder als Residuulll des Zivilisationsprozesses. Dabei waren die Kriterien, die er zur AbgTcnzung zwischcn Hirten- und Ackerbaukulturen vcrwandte, ganz. und gar »schottisch«: der Gebrauch der Schrift, dcr Grad der Arbeitsteilung, die Einfiihrung des Geldes, dic Herausbildung einer sozialen Schichtung, die Verdichtung der »gTcat chain ofmutual dependenccll.147 Gcwiß begTüßtC Gibbon den Zustand, den Europa im späten 18. Jahrhundert, zumindest bis zur Französischen Revolution, cr-
M. &ridotl. Edwud Gibbon et le mythe de Rome: J-1iSlOire er ideologie an si~de des Lurnitre$.• ßd. 2. Lilie 1975. S. 490fT: 144 Im SO. K2pitcl (Dcdine aud Fall. ßd. 5. $. 333lT.). Zu Gibbons Deutung der Araber vgl. G. GÜlriao. Eduard Gibbon C la cultura europca dcl scneccmo, NeapcI1954. S. 478-512. Über Gibbons Mllhamn13d-Portät auch W. B. Canlodum. Gibbon's Solimde: The Inward World of rhe I-listonan. Stan(ord 1987. S. 117-121. 145 Gibbon. Dcclineand Fall. ßd. 3. S. 418lT.. 43fT: 146 Das hat SChOll/Hti,l«kt, EllIstehulIg des Historismus. S. 2291:. gewOrdigt: ,.Du ist einmal die llnivcmlhisrorischc Umgreifnng. Durchdrinb'l.lng und Gliederung seines GCbocnstandes, die siell nirgends mit der 2ußcrlich-kriegcrisch "erherrendell Einwirkung frcmder Völker auf das Schicks41 Roms begnügt, sondem jcdesdicscr Völker auch mit seinem eib'llell Wescn und Schicksal auftreten läßt.~ Gib/xm selbsf sctzte sich das Ziel. ,.to inrroduce the nations. the inllllcdi:HC or remo-fC :mthers of fhe fall of fhe IlOlm.n ernpite~ (lkc1ine aud Fall. Bd. 5, S. 273). 147 Ebd., Bd. I. S. 212(, $. 215.
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reicht h:me;ja, der langsame Aufstieg der Zivilis,ation im Europa der Neuzeit W3r ein Thema, das ihn zum Ende seines Lebens und Werks hin immer mehr beschäftigte. Von Robertson übcmahm er die Vorstellung, das plurale europäische Staatensystem schütze vor einem militärischen Despotismus, von Adam Smith den Gedanken, die IKommercial society« sei stabiler als frühere Gesellschaftsformen, beruhe sie doch mehr aufden handfesten Interessen als aufden prekärcn Tugendcn ihrer Mitgliedcr. Gleichzeitig billigtc er dem Leben der ltBarbaren_ nicht nur, mit relativistischcr Tolcranz, einen eigenen Wcn zu. Er vcrsuchtc, ihre Lebensform aus den Bedingungen der natürlichen Umwelt ursächlich zu erklären. Bei den Schottcn ist die von ihnen entdeckte und so genanntc pastorale Subsistcnzweise jcnc auf den Zustand der ltWildheitll folgcnde Stufc der Gescllschaftscntwicklung, in der sich Privateigentum, politische Unterordnung, arisfOkr.uische Hierarchie und eine Milderung vonlJmanners_ herausbilden: ein Schritt zu llpoliteness_ und Kapitalismus. Bei Gibbon bleiben die Hinengt.--sellschaften ohne teleologisches Potential; die Zivilisierung beginnt ftir ihn erst im Stadium des Ackerbaus. Eben wegen dieser Isolierung eines .Stadiums_ aus dem EntwickJungsprozeß kann Gibbon es als geschlossene Gesellschaftsformation analysieren.l~ Dies macht ihn - mehr noch als Ferguson oder Miliar - zu einem historischen Ethnographen. Die Geschichte der europäischcn Zivilisation wird verbunden mit ciner Analysc ihres wirkungs mächtigen Gegenteils. So trägt Gibbon eine größere Kontingenz in dic Gcschichte, und es gelingt ihm in dcr Komplexität sciner Erzählung einc Verdichtung der Erklärung. Der jüngste Aufstieg der Zivilisation in Europa wird UIIl so crstaunlichcr,je weniger cr heilsgeschichtlich verbürgt und evolutionär vorbestimmt ist. Darin, daß cr es nicht ist, stimmt Gibbon mit Hume überein.
v Sucht Edward Gibbon, der nicht allein einer der größten Historiker Roms und der kunsrvollste Artist unter dcn curopäischen Geschichtsschreibern des 18. Jahrhunderts war, besonders auch ein theoretisch versiertcr Vertreter der IIphilosophischen« Geschichtsschreibung dcr Aufklärung, in einer Synthese von Montcsquieu, Tacitus und schonischer Sozial- und Geschichtstheorie nach den inneren Bewegungskräftenjeweils besonderer vonnoderner Gesellschafts148 Nach einer Mt'thode. die spi~r Mill t'lIlpfehkn sollte: _1 .•. 1bt-fOf'(' Wt' Cln tnC(' Ihe filiarion of WICS ofsoOety one from anothast, Oxford 1989, S. 75fT.
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So verteilten sich nach 1860 die Probleme neu auf der Matrix des Wissens. Die Nationalgcschichte, entblößt von ihren universelleren zivilisationshistorischen Beiklängen, wurde zum Reservat der Fachhistorie. Das Thema der Zivilisation fiel teils in die Zuständigkeit einer wcithin historisch indifferenten, unmittclbar gcgcmV3nsbczogencn Kulturkritik, teils in das einer neuen Wisscnschaft vom Primitiven. l97
197 Wi~ du Th~mll ZivilioUuon gq;en El1d~ des 19. JlIhrhundens - bei Nlelzsch~ und andercn Autoren KOnlillcllult'uropas -wu:dcrau(gcgriffC'tl wurden, wie es dann in die Soziologie hinflbcr'N.lndcrte (vgl. A. Bog'lrr. Zivilisation und Ralionalisierung. Die ZivilintiollSlhcoricll Max Webers.. Norbcrl Elias' und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opllldcn 1989) -das wäre die Fonsctzung der hlCf lIufgczeiglcn Enr\l,;cklung.
ISO
6. Raumerfassung und Universalgeschichte
1. Das universalgeschichtliehe Denken wird im 20. Jahrhundert von vier Uß{CTschiedlichen Betrachtungsweisen bestimmt: (1) ZyklenmodelleIl des Aufstiegs und Niedergangs großer Kollektive, seien es ganzheitlich-morphologisch aufgeraßte Zivilisationcn (Oswald Spengler, ArnoldJ. Toynbec), seien es nach dem Vorbild der konjunktunheoretischen »langen Wellen« kausaJmechanisch interpretierte Imperien und Großmächte (George Modelski, Paul Kennedy); (2) Stufenmodellen der Menschheitsgeschichte, wie sie jenseits eines teils marxistisch, teils modemisierungstheorerisch inspirierten Evolutionismus etwa von Kurt Brcysig und Ernest Gellner entworfen wurden; (3) dem von Ma;< Weber, Ono Hilltzc und Mare Bloch kJassisch ausgeprägten rypologisicrenden Vergleich zwischen (Teil-) Strukturen in distinkten zivilisatorischen Einheiten; (4) einer räumlich-beziehungsgeschichtlichen Perspektive, die eine .vorgeschichte des gegenwärtigen globalen Zusammenhangs«' anstrebt. Ernst Schulin hat 1974 in seinem großen Überblick über die Universalgeschichtssehreibung des 20. Jahrhunderts die dritte und die vierte dieser ltGrundformen« als die in der Gegenwart maßgebenden herausgestellt, und er hat insbesondere die strukturell-vergleichende Betrachtungsweise als die »weitest anerkannte universalgeschichtliche Methode (oder Ersatzform einer gesamten Weltgeschichte)« hervorgehoben. 2 Diese Richtung hat unterdessen ihre Position weiter festigen können. Ein neues Interesse an historischer Soziologie universalen ZuschnittS, das um 1974 erst in Spuren zu beobachten war, hat während der letzten zwanzig Jahre zu einer Reihe von bemerkenswerten Entwürfen auf dem Gebiet transkultureller historischer Komparatistik geruhrt.3 Allerdings haben Vertreter der strukturellvergleichenden Betrachtungsweise Mühe, drei Fragen überzeugend zu beantworten: Wie lassen sich die Einseit.igkeiten einer Sicht ltvon oben« vermeideneiner Definition von Kulruren durch ihre »großen Texte«, einer Deurung politischer Verhälmisse von den Machtkonfigurationen im jeweiligen Zentrum
I E. &Iw/in, EinleilUllg, in: Dm. (Hg.). Univemlgeschichte, Köln 1974, S. 11--65, hier S. 44.
2 Ebd., S. 43. 3 Vgl. zur Übersicht ober diese Litef:aruf Kapilel 1 in dic:scm 8~nd.
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her? Wie können sodann die unterschiedlichen Chronologien und diachronen Verlaufsmuster regionaler Kulturen in einen Zusammenhang zueinander gebracht werden, der sie nicht einer europäisch bestimmten Weltzeit und Einheitsperiodisierung unterwirft? Schließlich: Wie ist eine isolierende Abgrenzung von Analyseeinheiten -lIEdlllienll, .Kulturcnit, .Zivilisationell41, lIKuhurkreisen41, »Nationalsu:ucnli, lISW. - möglich, die sowohl der im neuzeitlichen Geschidnsprozeß zunehmenden Berührung und Durchdringung zwischen ihnen gerecht wird als auch die Fallstricke einer IICssentialistischen« Kultur3uffassung umgeht, welche sich allzu selbstsicher zutraut, in höchster Verallgemeinerung das Wesen zum Beispiel lider islamischen Zivilisatiollll oder »es. S. 199([ 53 L. ftblJrl, La tcrre Ct revolution humaine, Paris 1922 (vor al1clI1 S. 58fT. zur Krilikan Ratzcl).
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Fernand Braudei, der maßgebende Universalhistoriker der »Annales«-Gruppe, ist über Luden Febvres vorsichtige Kompetenzabgrenzung weit hinausgegangen und hat sich dessen Vorbehalten gegen einen geographischen Determinismus nur bedingt: angeschlosscn. BraudeI haue umer anderem bei Emmanuel de Martonne srudiert, dem Schüler und Schwiegersohn Paul Vidal de la Blaches. Er war mit dcr deutschen geographischen Literatur vertraut und nutzte bei seincn Srudicn über das Mitte!meer ausgiebig die Forschungcn dcs vielleicht wichtigsten historischen Geographen in der Generation nach RatzeI, Alfrcd Philippson. Es mag durchaus sein, daß Ratzcls Ausftihrullgen über Räume und Grenzen Braude! beeinOußt haben;S4 ohne Zweifel trägt: die im großen Einleirungsteil von »La Mediterranec et Je mondc mcditcrranccn a I'epoque de Philippe 11« entwickelte historische Geographic dcs Nomadisierens, der Inseln und dcr Küstcn RatzeIsche Züge. Aber die Behandlung dcr Gcographie durch den Historiker Braudcl ist in seinen drei großen Werken ganz originell, in keiner Weise schulorthodox oder epigonal. Als »u Mediterranee« 1949 veröffentlicht wurde, war sie einzigartig.
v Genealogien von Wirkungen und Einnüssen sind von begrenztcm Erkenntniswert, und so mag es müßig sein, in der neue ren Liter.ltur nach Ratzcl- (und vielleicht Lamprecht-) Spuren zu fahnden. In Friedrich RatzeIs Schriften wurden vicle dcr Zusammenhänge zwischen menschlichen Gesellschaften und ihren natürlichen Umweltcn von.veggcnolllmcn, die in neueren universalhistorischen Studien wicdercmdcckt und zum Teil ausgearbeitet worden sind. Dies verdiem bemerkt zu werden, auch wenn Ratzcls speziellere theoretische Beiträge, etwa der von ihm erstmals seriös vorgetragene ethnologische »Diffusionismus«, zumeist der wissenschaftlichen Kritik nicht standhalten konnten. Von Ratze! stammt dic erstc VlSioll, keineswegs aber eine zureichende Ausftihrung eincr transkontinentalen Universalgeschichtsschrcibung vom räumlich-beziehungsgeschichtlichen Typ. In der Gegenwart versprechen mindestens vier Ausprägungen einer solchen Geschichtsschreibung diskutable Ergebnisse: Erstem hat Braudcls liLa MediterrancetIreinen Raumest( zurückgeht und der seither in der Siedlungs- und Wirtschaftsgeographie eine gewisse Rolle gespielt hat, flir die Universalgeschichtsschreibung nutzbar gemacht. 56 Hier geht es nicht um dcn »Einflußt( der Natur auf die Geschichtc und um die spezifische
55 BI/rAlt, Offene Geschichte, S. 46. 56 0, H. K. Spart, The Pacific sincc Magcllan, 3 ßde.. Canbcm. 1979-88; D. W. Mti"ig, The Shaping of Amerin: A GeognphiC21 Perspeclive on 500 Years of HislOry, 4 Ode., New I-laven, bisher erschienen: Bd. I (1986), ßd, 2 (1993), ßd. 3 (1998); K. N. Chlllldlnln', Tn.deand Civitisa!ion in the Indian O(('an: An Economic History from !he Rise oflslam 10 1750, Cambridgc 1985; Dm.. Asia bcfore Europc: Economy and Civilisation of!he Indian Deean from the Rise oflslam 10 1750, Cambridgc 1990. Zum Atlantik vgI. die Problem- und Litcraturiibcrsicht: 1-1. Pktsthmollll. Geschichte des atlantischen Systems, 1580-1830, Ein historischer Versuch zur Erläuterung der .Globalisierung. jenseits nationalgeschichtlicllcr Perspektivcn, Hamburg 1998; Dm.. Geschichte der europ:iischcn Expansion - Geschichte des allantischen Raumes - Globalgeschichle, in: T. &11 tu. (Hg.), Übcrseegcschichte, ßcitrige derjüngeren Forschung, Stungarl 1999, S. 21-39. Grund· legend zum Al1alllik bleibt C. Vtrlirrdtrl, l...es orib';nes de Ja civilisation atlantique: De la Renaissance !I1'AI,-e des Lumieres, NeucMlcll966. 57 C. O. StllIl'f, The Early Spanish Main, Bcrkc1ey 1966. Sauer (1889-1975) war allerdings viel weniger ein .cnvirQnmenulisl. als Br.ludcl; ihn interessiene vor allem die Einwirkung des Menschen auf die Natur, nicht die umgekehne Prägung. Vgl. D. N. LivillgSfOlJt, The Geographical Tr2dition: Episodes in the HislOry ofa ConteStl-d Enterprisc, Oxford 1992, S, 294-298. 58 J. Will/rn/tin, The Modern World-SYSlel1l, New York. bisher 3 Bde.: Bd. I (1974), Bd. 2 (1980). Bd.3 (1989); F. Brolldtl, Civilisalion malerielle, &onomie et capiulisme, XVc-XVIl1e si~c1e, Paris 1979, bcs. Bd. 3: l...e Temps du monde. Zu heiden wichtige Bcill'igc in: H.-}. Ni12 (Hg.), The Early-Modern World-Sys!el1l in Geographical Perspcaivc, Stuttgm 1993. Die zunächst eher versleckte geographische Dimcnsion seiner Theorie hat Wal1ers!ein im Tilel eines seiner neue ren Aufsa!zbändedeutlich ZUIll Ausdruck gebracht: Geopolitics and GcocultUre: Essays on the ChangingWorld-System, Cambridge 1991.
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Wechsclwirkungen zwischen Menschen und Landschaften, sondern um die Verteilung ökonomischer Funktionen in Räumen jeglicher Größenordnung. Beinahe geomctrisch unterscheidet Wallcrstein zwischen den funktionalen, ihre geographischen Orte von Epoche zu Epoche wechselnden Positioncn von Zentrum, Semiperipherie, Peripherie und ~external arena«, und ßraude! Stellt sogar sehr allgemein gehaltene .Regeln« auf - etwa die der ~hierarchischen(( Staffelung der Zonen der Weltwirtschaft -, die Ratzcls räumlichen »Gesetzen(( verblüffend ähnlich sehen. Drittem hat das klassische RatzeIsche Thema der Wanderungen einen neuen Sinn durch die Entdeckung der Historiker- Naturwissenschaftlern waren solche Gedanken geläufig - erhalten, daß nicht allein Völker, Gruppen und menschliche Individuen ihre Lebcnsräume wechseln, sondern auch Tiere, Pflanzen, Mikroorganismen und Viren. Die Einfuhrung von Pferd und Schwein in Amerika, die des Schafes in Australien und Neuseeland, die Ansiedlung der Kartoffel in Europa oder die Ubcrtragung des Zuckerrohres in die amerikanischen Tropen waren Transfervorgänge von außerordentlicher Bedeutung rür die Geschichte der Menschheit. Nicht weniger wichtig und überhaupt nur im interkontinentalen Maßstab erfaßbar ist die Geschichte der Epidemien und ihrer parasitären Erreger. S9 Der entstehende globale Zusammenhang ist auch ein solcher der pathologischen Konvergenzen. Vienens hat sich die Vorstellung der ~Grcnze« (frontier/frontiere, boundary) als eines der fruchtbarsten geo-historischen Gedankenbilder erwiesen. Ihren Ursprung hat die Idee der Grenze als einer beweglichen Zone der Interaktion und Interpenetr:ttion von Gesellschaften bei den humangcographischcll Klassikern des Fin de siede. Sie findet sich dann breit ausgefUhrt in Braudels Portrait des llgrößeren(( Mittelmeerraumes und vcrsteckt bei Wallerstein dort, wo von der »Inkorporation« ex'terner Gebiete in das expandierende kapitalistische Weltsystem die Rede ist. Grenzbildungen und Grenzsituationen lassen sich an den Rändern aller Expansionsprozesse beobachtcn: nicht nur der europäischcn Überseekolonisation und imperialen Landnahme, sondern auch weltweit der Ausbreitungvon Religionen, Sprachen, Lebensformen (»urban frontier((), politischen Ordnungen, usw. Expansionen können auch zu langfristig relativ stabilen grenzartigen Gleichgewichtszustände fiihren, die ZUIll Teil geographischen Gegebenheiten folgen: zu denkcn wäre an die Polarität VOll st.ldtischcm Leben und Wüstenexistenz im nahöstlichen Raum, wie sie Ibn Chaldun im 14. Jahrhundert tief durchdachte, oder an das von Owen Lattimore mustergültig analysierte Verhältnis von chinesischer Ackerbaukultur und innerasiatischem Nomadislllus. 60 Grenzsituationen eignen sich besonders gut fiir einen kom59 Vgl. w. H, MrNtill. Pbgues ~nd Pcople, G~rdcn City 1976:A. W. Crosby. EcolObrjc~llmpe ri~[iSIll: Thc ßiologic~1 Exp~l\sion ofEuropc. 9(X)-1900. C~ll1bridge 1986. 60 Vgl. O. Laltimo", Inner Asi:lI1 FrOlltiers of China. LondOIl 1940: seither vor altem T. j. &rfrAd. The Pcrilous Froruicr: Nomadic Empires and China, Oxford 1989.
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parariven Zugang.61 Die numlich-bcziehungsgeschichdiche Spielart universalhistorischer Betrachtung kann sich zumindest an dieser Stelle mit der zweitell in der Gegel1\\ldn maßgebenden Grundfonn verbinden: dem strukturellen Vergleich.
61 Slchc Kapitel 9 in dicsem Ihnd.
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7. "Höherer Wahnsinn«: Universal historische Denkstile im 20. Jahrhundert
I. Don, wo er;l.m Ende des Mcthodillipitels seiner Trilogie die .vollendung der Forschung in der Geschichtsschreibung.,; erönert, weist Jöm Rüscn der Historik die Aufgabe zu, die Exzesse der Praktiker zu korrigieren. Die blindwütigen Szientisten und forschenden Maulwürfe bringt sie zur kommunikativen Raison, verweist aber auch den Erzeugern wurzellosen Sinns ihre Unarten. So schreibt nämlich jöm Rüscn: .Umgekehrt bnn die Historik eine Vorstellung narrativer Sinnbildung, die von der Anstrengung theoriegeleiteteT lind methodisch geregelter Erkennmisprozesse dispensiert (zumindest abstrahiert), nur als die Form eines höheren W1hnsinns kritisieren, in der man glaubt, den methodischen Verstand verlieren zu müssen, um die Vergangen.
heit historisch lebendig werden zu lassen.tl l Nur wer Verstand besit2t, kann ihn verlieren. Man sicht: die Historik geht freundlich und pädagogisch mit Dilettanten und Phantasten um. Solche Nachsicht haben die wissenschaftlichen Richter keineswegs immer geübt. 'iX'enn der Historiker, Macaub.y zufolge, das Amt des »hangingjudgcOl verwaltet, dann nicht allein im nachträglichen Vollzugan den Verbrechern und Dummköpfen der Vergangenheit. Auch Kollegen oder, unfreundlich gesagt, Konkurrenten auf dem Buchmarkt und in der Publikumsgunst, mußten sich Kapitales sagen lassen. Einige Historiker, allen voran der Amerikaner J H. Hexter, der sich fur »the (unniest historian of his agc" hieh,2 haben Ruf und Laufbahn geradezu auf Kritik und Polemik aufgebaut. Niemandem haben solche historiographischen Inquisitoren im 20. Jahrhundert schlimmer mitgespielt als den Universalhistorikern, Leuten, die Bücher schrieben, deren Thema -wenn auch nicht immer ihr agierendes Subjekt- die Menschheit als ganze war.' 1Ur! umprecht fiel nicht allein wegen seiner universalhistorischen InterI J. Rihm. Rekonstruktion Ikr Verpngcnhclt. Grundzüge emcr HislOrik 11: Die Pnnzipicn der hislOrischen Forschung. Göttingen t 986. $. 150. (I-Ig.). 11lc Blx:lcwdl DlCtiorury ofHislorians. Oxford 1988. $. 187. 2 J. 3 Im Hintergrund des folgenden SlC:hl die allgemeine Übersichuliter.uur: E. Schulin. Univcr~ salgeschichlS5Chrdbung im 20. Jahrhundert. in: DnJ.. Tndiuonskritilc und Iklconslruktionsversuch. $mdien zur Entwicklung von Gcschichtswisscllschafl und hislOrischem IXnkCIl, Göttingen
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essen in Ungnade, aber sie lagen erschwerend auf der Wagschale. Arnold J. Toynbce, der Verfasser von '/tA Study of History. (1934--61), war, als Forschungsdircktor am Royal Institute ofIntcrnational AfTairs außerhalb der historischen Zunft tätig, von der Fachhistorie lange kaum beachtet worden, wurde jcdoch seit et\va 1947 zum Ziel einer oft rabiaten Kritik. ~ Es war nicht einfach, ihm, einem der belesensten Menschen seiner Zeit, wirklich gravierende Sachfehler nac.hzuweisen. Aber ein immer deutlicher zur Schau getragenes Überlegcnheitsgefuhl über den ameiscnhaft begrenzten Gesichtskreis historischer Spezialisten und der seherische GestuS seiner späteren Bände, die zudem Spuren hastiger Produktion trugen, zogen gestrenge Zurechtweisung an. Dabei gab Toynbce seinen Kritikern, deren Urteil ihn stets berührte, oft erstaunlich weit nach. Die Korrektur durch Experten war ihm wichtig, die Haltung eines '/tUm so schlimmer fiir die Tatsachen. fremd. Oswald Spengler allerdings, desscn "Untergang des Abendlandes« (1918-22) in cinem maßgebenden Lexikon immerhin noch zu den 228 ItHauptwcrken der Geschichtsschreibung« gerechnet wird,s stand mit seinem lebcnsphilosophischen Willen zu Schau und Ausdruck und seiner Selbststilisierung als gocthescher Dilettant der Fachhistorie so fcrn, daß ihre Einwände ihm wenig anzuhaben vermochten. Für die gedichtete Geschichte galten Maßstäbe, die sich dcm Fassungsvermögen der Kathederhist0riker zu emzielten schienen. Mit großem Takt hat kein geringerer als Mare Bloch die Urteilskritericn fur Wcltgcschichtsschreibung fonnuliert. Bloch, der \vie kaum ein zweiter Historiker des Jahrhunderts Forschung und Gedanke, Arbeit und Anmut zu verbinden wußte, bespricht 1922 die einbändige Weltgesehichte .An Outline ofl-listory« des englischen Romanciers H. G. Welk' Mare Bloch begegnet dem Werk nicht ohne Sympathie, keincswegs mit der Herablassung des Meisters gegenüber eincm geschwätzigen Amateur. Er würdigt WeHs' aufklärcrische Motive, den ernsten Pazifismus, mit dem einer der meistgelesenen Intellektuellen EuTopas nach dcn Schrecken des Weltkriegs Lehren aus der Geschichte zu ziehen
1979, S. 163-202; P. Cosltllo, World HistoriallS alld Their Go;als: Twenticlh·Cclltury Ans.....-cr"S to Modernism. DcK:alb. 111. 1993;). Gal/lwg u. S. illayallillall (I-Ig.). Macrohislory and MacrohislOrians: Perspectivcs on Individual. Social and Civilizational Change, Ncw Vork 1997: R. 1. Moorr. World l-lislOry. in: M. &mlt')' (I-Ig.). Companion to Hisloriogn,phy. Landon 1997. S. 941-959: W: j. MOIIIIIIStrI. GeschicJlIc und Geschichten. Über die Möglichkeilcll und GrenzclI dcr Univers.:algesclllcJlIsschreibung, in: S:aeculum,Jg. 43. 1992. S. 124-135. Die marxistische UnivefS20lgeschichtsschreibung. im ~sfen Fall der übrigen illldlcklUell e«llbünig. iSI ein Fall fiir SIch. der hier leider vern:achlissigr: werden muß. 4 DIe niveau..'OlIsre Kriuk summl VOll P. Ct}'i. vgI. dcsscn Dcb:au:s wnh HIStori:ans. Groningtll 1955. IUp. >-8. Vgl. auch W: H. MrNnU. AmoIdJ. Toynbtt: A Life. Oxfotd 1989. 5 V. RnnNm/1 (l-Ig.). H:auptv.-erke Y. Crosby. Ecological Impcri:Jhsm: Thc Biologieal &':p;tllsioll ofEuropc. 900-1900. Cambrid!,.'C 1986. Schon l;ingcr gibt es eml' historische Klim;tforschung. Vgl. etwa E. Li' R"1' lAdlln·t. Histoirc du c1lnm dcpuis ran llIil. P;trlS 1967; 11. H. LI/nb, Klinu lind Kultllr~..e schichtc. Reinbek 1994; W. Wrislltrl. Die ökolO!:,t1schc lk· nKhtcIIIgtingder Tropen. Tüblllgt'li 1m; R. Rupptn. Klima und die Entstehung industn;t!lsIencr Volkswmsdl;tfll:n. in: Zeitschrift fiir Wirtsehaftsgt.-ugJaphk.Jg. 3 I. 1987. S. I-li. 37 IV. v. HumNldI.lkuxhtungcn über dIe Weltgeschichte. in: Drrs.• Werke- in fUnflUnde-ll. hg. v.A. Runn u.K.. Gin. Bd. J. Dannsudl 196Cr. S. 567-sn. hlC"r S. 576. 38 Dks tut auch die- uni\ocrsallustonsch angelegte Um\looclll,"CSChlCllte. Vgl. kritisch symhclIslc· n:nd:J. RJMJhtll. Natur und Macht. Eine Wthgcschichte der UI1I~oclt. München 2000. 39 F. FYmdnJa-ArrMIo. Mlllclllum. London 1995. S. 6.
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rungsschub den nächsten vorbereitet. Ebenso interessant sind abgebrochenen Ent\vicklungcn, kulrurelle Verluste oder GedächtnisbTÜche und das Überleben alter Strul.-mren - etwa der katholischen Kirche - in dynamischen Umwehen. Man könnte hier von einem vierten, dem divugtru-kotJIJft'gefJletl Denkstil sprechen. McNeills )tRise ofthe West.c war in m:mcher Hinsicht ein prägendes Beispiel daHlr, allerdings mit starker konvergenter Tendenz zu einer Großen Erzählung, die sich il11merwieder durchsetzt. Ein bemerkenswerter Repräsentant dieses Denkstil ist heute Fclipe Fernalldez-Armesco. Man hat seine Weltgeschichte der letzten tausend Jahre - )tMillenium.c (1995) - als postmodern bezeichnet, weil der Autor eine Geschichte der Sieger im Stile von H. G. WeHs oder, weniger extrem, auch des frühen McNeill durch ein Augenmerk aufAußenseiter, kleine Zivilisationen, entlegene Wcltgcgenden und ungewöhnliche Qucllen auszugleichen verstcht. Bei Fcrnandez-Anncsto ist von Äthiopien im 15. Jahrhundert, von den Biographien deutscher Amerikaauswanderer oder von Argenrinien unter Pcron die Rede. Der Gefahrdisp:uater Zerstreuung und bloß anekdotischer Veranschaulichung versucht Fernandez-Armesto dadurch 111 entgehen, daß er Expansions- und Kolonisationsvorgängc besonders stark betOnt, ohne dabei die formale Theorie des Weltsystcms zu bemühen. Expansionen von der AusbreiUlngdes Islam in Zentr.llasien bis zur Amerikanisierung der Welt im 20. Jahrhundert folgen in dieser Sicht keinen wiederkehrenden .patterns.c, wie sie die Sozialevolmionistcll zu sehen glauben. Der divergentkonvergente Ansatz fuhrt nicht 1lI Modellen der Wcltgeschichte. Er ist eine Dcnk- und Darstellungsweise, die bewußt in der Spannung zwischen unverbundener Gleichzeitigkeit des Partikularen und übergreifenden, verknüpfenden Prozessen verharrt. oIO Eine solche Balance zwischen Geschichte und Geschichten ist nur durch literarische Kunstgriffe auf der Grundlage außerordentlicher Quellenkenntnis möglich. Erreichbar ist sie nur einzelnen, etwa auch Fernand BraudeI in seiner Trilogie zur Weltgeschichte der Frühen Neuzeit... l Der vierte Denkstilläßt sich daher ebensowenig "vie die philosophische Geschichte in ein Brevier lernbarer Regeln gießen. Anders verhält es sich, fiinftens, bei der ölwmeuistherl Perspektive, wie sie der spätcre McNeill und die heutigen Vertreter der .global history« empfehlen. Hier wird nicht vordringlich nach dem Innenleben von Zivilisationcn gefragt, sondern nach den Vernetzungen, nach Diffusion, Austausch und lernprozessen zwischen ihnen - oft mit dem Ziel, der Geschichte der heute offenkundigen .Globalisierung.c auf die Spur zu kommen. c Dies geschieht in der Regel 40 Auch E. HobJba....".. Ace ofExtremes: The Shon Twt:ntlcth Ccntury 191 ......19'91. Loodon 1994. könnte tller gcn':l.Ilnl wt'rdcn. Hobsbawm stell! skh wl dcudicher .:l.ls Fcminda-Armt-sto .:l.ufdIe Seite der Konvergenz. 41 F. Brnudd. Civlliurion m.:l.h~ncllc. eoonomic C1 apiulismc.XVc-XVTIIc sik:lc. 3 ßdc.. Puis 1979. 42 Ein frOhes Ikispicl ist E. R. Wolf, Europc and Ihe Pcople wilhollt l-liSlOry. Bcrkeley. Ca!. 1982.
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nicht mit der Absicht, epochale Gesamtbilder zu zeichnen. Einzelne Vernctzungsbcreiche ...v erden mit den in der GeschichtsWissenschaft allgemein üblichen Methoden weltweit untersucht: Handel, Migration, Verkehr, Kommunikation, Kulturrransfer, usw. 4J Die Vorgehensweise ist vornehmlich synchron in dem Sinnc, daß langfristige Systcmbildungsvorgänge, wic sie der soziale Evolutionismus thematisiert, außcrhalb der Betrachwng bleiben. Dieser Denkstil ist nicht genuin univcrsalgeschichtlich, da er die langfristige Diachronie hintanstellt, vom gattungsgeschichtlichen Pathos der klassischen Universalgeschichtsschreibung, das noch bei Autoren wie McNeiJl, Gcllner und Diamond kräftig zu spüren ist, wenig übrigläßt und die _großen. Fr.agcn, etwa die nach dem europäischen Sonder.....eg in der Neuzeit allenfalls deskriptiv in Angriff nimmt. Vom niederen Wahnsinn gerih man hier in die Nähe der normalen Geistesverfassung professioneller Historikerinnen und Historiker. Vemetzungsanalyscn erfordern keine Allwissenheit, keine visionäre Begabung und keine hcr.ausragcnden schriftstellcrischen Fähigkeiten. Sie erfiil1en zu einem erheblichen Teil William H. McNeills Anforderungen 311 einen nüchternen und selbstkritischen global historischen Professionalismus. Legitimität als Teilbereich der Geschichtswisscnschaftcn kann sich Weltgeschichtsschreibung heute am besten durch die methodisch disziplinierte Denkform des ökumenischen Ansatzes er..vcrben. Sie sollte sich indessen nicht zu beflissen disziplinieren lassen. Die größten intellekwellen Hcr.lUsfordcTUngen gehen am Ende des 20. Jahrhunderts von naturwissenschaftlich-ökologischen Geschichtsinterpretationen aus. Historiker können sie freilich nicht in all ihren Aspekten sachkundig beurteilen."" Dem sozialen Evoltltionismus, der sich überwiegend der Forschungsergebnisse von Historikern bedient, kommt man leichter auf die Schliche. Er ist vielseitig anregend, gelangt aber letztcn Endes über schematische Makromodelle kaum hinaus und erreicht nicht die geschmeidige Argumentationsqualität der Gellnerschen Itphilosophical history•. Die ansprechendsten Werke universaler Geschichtsschreibung dürften nach dcm Vorbild FeTl1and Br.audels und Fclipe Fernandez-Armestos auch in Zukunft dcm diverf,'Cnt-konvcrgcntcn Denkstil entspringen, der letztlich in dialektischen Traditionen stcht. Es wird sich dabei immer um forschungsbcrrieblich nicht organisierbare Einzcllcistungcn handeln: oft oder meist um tlllinspiriertc Datcllkollagcn, im Ausnahmefall um maßgebende Te:tl:te der historischen Literatur.
43 Auch P. BurW sichl In elllcm uanskuhurellen lOC!lCOunter modcl.. dK' größte Zukunftseh:m«der Kullurgeschichte: V:metlC'S ofCullur.aJ HIstory. Call1brld~ 1997. S. 201fT. 44 Dies glh besonders ruf solche anspruchsvollen Bereiche wie dIe histOrische Genetik. dIe eine beispIellose Genauigkell etwa in der Rekonstruktion VOll Wanderungen lind DifTuslonspro%C'SSCIl erreichi: L L Cow/li-SJOT'ZQ u. a., The I-lislory and GcognphyofHuman Genes. PrilleelOn. N.J. 1994.
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8. Entdeckung und Eroberung, Neugier und Gewalt. Modelle frühneuzeitlichen Kulturkontakts
I. Kaum war der große Mann gestorben, da erschienen in ganz Europa nicht bloß
Nachrufe auf ihn: Broschüren, Bücher schienen nötig, um seine Lebensleistung zu erfassen. Auch in Ocutsdtland griff man unverzüglich zur Feder. W;as hcr.auskam, klang dann ecwa so: .von wessen Unternehmungen und Taten, kann man (ragen, haben neuerlich alle Menschen von Erziehung uber ganz Europa mit so vieler Teilnahme gelesen und gesprochen als von den seinigen? Wc~n Mannes Bildnis, der weder ein Prinz. noch ein Eroberer. noch ein Rcbel1e war, hai man mit so allgemeiner Neugierde angesehen und angeS[;I,UI1I? Alles. was er get:l.n hat, hat er zum Dienst seines V:l.lcrlandcs und zur Erweiterung nützlicher Ktnntnisse: getan. Feuer und Schwen haben keinen Anteil. Daher auch mancher, der ihm in unscren Tagen an Ruf gleichkam, ihm an Il.uhm nachstehen möchte, und wessen Tod, läßt sich also endlich fr.agen, ist neuerlich SO allgemein beklagt worden als der seinigd. l
Das Vaterland war Großbritannien, der Verewigte war der Sohn eines Tagelöhners aus Yorkshire und hieß Jamcs Cook, und sein Tod war etwas ungewöhnlicher, als Gcorg Christoph Lichtenberg hier zu verstehen gibt, denn der Kapitän war am 14. Februar 1779 in einem Handgemenge mit Einheimischcn an der Bucht von Kealakekua auf Hawaii ums Leben gekommen. Cooks Reisegefahrten brannten zur Str:l.fe ein Dorf nieder und entfernten sich, nachdem sie die bereits nach hawaiischen Tmenbräuchen zugerichteten sterblichen Überreste ihres Chefs an sich genommen h:men. 2 An eine Kolonisierung Hawaiis - ge1 G. C. Liclltnlbttg. Einige l..cbcnSUl1lsUnde VOll eapt. jamc5 Cook, grÖ551cnleiis aus schrift!. Nachrichten einiger seiner Bebnnten gezogen von G.C.L I t 780). in: Schriflen und Briefe. hg. v. ~v. PromiD. Bd. 3. DannSQch 1972. S. 57. 2 Capuin Cooks Ende beschreibt). C. &.rgIdwk. The Life ofCapuin James Coole. London 1974, S. 637f[ Zur Imerprcution des Vorfalls von einheimischer Sc=ite vgI. At. Sdh1illS. Der Tod des iUpiuin Cook.. Geschichte als Meupher und Mythos als Wirklichkeit in der Frühgeschichte des Königreiches Haw:aii. dt. v. H. Medick u. M. Schmidl. Bcrlin 1986: kritisch duu C. Obf)'tSlkm'. The Apotheosis ofCaptain Cook: European Mythmaking in die Pacific, Princeton 1992. Vgl. auch D. lGmjitltl/"'. Die .Wilden_ in Geschichtsschreibung und Anthropologie der .Zivilisierten_. Hislorische und akruclle Kontroversen um Cooles Südsurcisen und scinen Tod aufHa~ii 1779. in; I-IZ.Jg.260, 1995, S. 49-73.
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nauer: der Sandwich-Inseln, wie Cook sie nach dem Ersten Lord der Admiralität genannt hatte - dachte niemand. Dazu h:me die Expedition ohnedies kein M:mdat. Der Kolonialismus kam später nach Hawaii: 1820 aufmissionarischen SamtpfOten, 1887 in Gestalt der amerikanischen Kriegsnone. Die unvenneidliehe Annexion folgte 1898.) james Cook also: ein EJHdecker, aber kein Eroberer; ein Europäer, der, wie lichtenbergsagt, IIOhne Feuer und Schwert~ in die Ferne hinausfuhr, der Leiter einer von gelehrten Männern begleiteten wissenschaftlichen Expedition. Waren die Zeiten sanfter geworden seit der spanischen Mordbrennerei in Amerika, lIwhere a world conquered was sosoon to be a world desrroyed.~ Hatten dic Briten jener Gewalttätigkeit abgeschworen, die sie im Umgang mit Iren lind nordalllerik;lI1ischen Indianern an den Tag gelegt hatten?~ In gewisscm Sinne schon.jamcs Cook und seine Gefjhrtcn besaßen eine militärische Überlegenheit gegenüber den Einheimischen der pazifischen Inseln, die sie nicht einsctzten. Im Zeitalter der Aufklärung war nun bereit. auch mit den lIWilden. zivilisiert umzugehen. Dennoch wäre es übereilt, fur die jahrhunderte der frühen Neuzeit generell eine stetige Milderung europäischen Verhaltens gegenüber dem Rest der Welt anzunehmen. Neugier lind Gewalt blieben Zeitgenossen. Während Cook die geographisch-naturkundlichen Kenntnisse vertiefte, lagen Briten und Inder, Russen und Türken im Krieg; der Transport afrikanischer Sklaven überdcn Atlantik erreichte seinen Höhepunkt;' und die Lage der nordamerikanischen Indianer verschlechterte sich in dem Maße, wie sie als Bundesgenossen bei den Konnikten der Weißen untereinander entbehrlicher wurden. Das .zweite Zeitalter der Entdeckungen« war zugleich eine Epoche fortgesetzter europäischer Ge"valtanwendung in Übersee. Die Spannung zwischen Entdeckung und Eroberung ist somit ein Thcma, das die ganze Zcitspanne vom späten 15. jahrhundert bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts UJHer sich faßt. Zu welchen Mischungen von friedfertiger Neugier und raubendem Zugriffes im einzelnen kam, hing mehr noch als von den Absichten der Europäervon den militärischen und kulturellen Widerständen ab, die sie in Amerika. Asien und
3 19S9wurde Haw;lii der SO. BUl1desSl"at der USA. Vgl. den Überblick bd I. C. umpbtll, A History of the r"dfic Isl:lnds, Ikrkcley 1989: C. DaW1, Shoal ofTillle: A 1-lislOry of dl(~ I-f"w;lian Isl;mds, Honululu 1974. Ein äher($ Sunwrth';erk über die Region als ganze ISt W: P. Monril. ßncun 111 Ihe PXlfic Islands. Oxford 1%0. Zur inneren Gcschkhle Haw;liis insbcs. D. &a". Thc I-IISlory or die PXlfic Isbnds: Kmgdoms of die [(cers. Mclboumc 1990. S. 124ff. " J. H. Blioff. ~ Spamsh ConqUCSf "od Sctuknlellt of Amena.. 111: L &thtIJ (Hg.), The Ounbndb'C Hislory ofutin Amena. Bel. 1, Call1brid~ 1984. S. 172. S Dabei nahmelIsIch bnusche -empire blllldeT$« in Nordamerib blli\~..ellcn ausdriickJich die Methoden der verhaßten Spanier zum Vorbild. VgI.N. Sillislmry, ManitOll and Providencc: Indians, Europcans. :lnd the Making of Ncw England, 1.500-1643, New York 1982. S. 99. 6 Nach den Schättungcn bei I). D. Cunin. The Atblllic Slave Tr.Kle: A Cellsus, M:l.dison, Wisc. 1969. S. 266.
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Afrika antrafen. So erklärt sich das breite Formenspektrum des europäischüberseeischen Kontakts in der Frühen Neuzeit. 7
11. Im Anfang waren Koll1mbus und CorteS, der Seefahrer und der Conquistador. Das Alllerika"i.sche Muster prägt unser Verständnis von frühneuzeitliclter europäischer Expansion. Es ist freilich ein von historischen Sachverhalten kaum ablösbarer Mythos, ein erst im frühen 19. Jahrhundert im Spannungsfeld älterer »schwarzerll und »weißerl( Legenden gehärteter imaginativer Komplex. Die romantischen Schriftsteller Washington lrving (1783-1859)8 und William H. Prescon (1796--1859),9 bezeichnenderweise heide Nordamerikaner, sind im wesentlichen seine Urheber. Mindestens runf untrennbar miteinander verbundene Merkmale, die sich fest in der Vorstellungswclt Europas eingenistet haben, kennzeichnen dieses Amerikanische (genauer miuc1- und südamcrikanische) Muster. Sie sind zugleich Grundkategorien, auf die stets wieder zurückzukommen sein wird: (I) das Pathos des Uflverllo.Jfte'I, des Ent-Deckens im engsten Sinne: der Entdecker findet, was er in dieser Form gar nicht gesucht hat; (2) der atlthropologisdle SchOlk: die Europäer treffen auf llnackte WildelI, auf Menschen, fiir die im eigenen Weltbild keine Leerstelle vorgesehen war, auch wenn antike und mittelalterliche Lesefrüchte eine erste Hilfestellung leisten konnten; (3) die Kormpliotl des Erstko1ltakts: allffriedliche Entdeckung folgt gewaltsame Eroberung, ja, schon im Falle des Aztekenreiches wird beides geradezu identisch ,.10 (4) die Magie der Millderheit: eine winzige Zahl von Europäern treibt komplex organisierte und menschenreiche Staatswesen in kurzer Zeit in Niederlage und Zusammenbruch; die Cortes-Romantik, etwa bei Prescott, nährt sich großenteils aus diesem Wunder der kleinen Zahl; 7 Vgl. dazu auch in anderer Perspektive IUpitcl9 in diesem Band. 8 W. Twirrg. Tbc Life and Voyages ofColumbus, 4 ßde.. Landon 1828. Vgl. dazu K. Salt, Tbe Conquest of Paradisc: Christopher Coll1mbus and the Columbian l..cgacy, Landon 1991, S. 342348. 9 W. H. f'rtseOIl, I-listory ofthe Conql1eSf ofMexico, 3 ßde., New York 1843: Dm., I-listory of the Conquest ofPeru. 2 ßdc.. New York 1847. Vgl. R. A. HlImpllrrys. Wil1iam HickJing Prescon: The Man and the Historian, in: I-IAI-IR,Jg. 39,1959, $.1-19. 10 U. Bil/trli nennt dies den.Umschlagvon der Kuhurberührungzum Kulturzusarnmellstoßo:: Die .Wilden, und die .Zivilisiertem. Grundzüge einer Geistcs- und KultUrgeschichte dereuropi. isch·übcrsccischen ßcb~nung, München 1976. $. 130; vgI. auch Dm., Alte Weh - Neue Weh, Fonnen des europäisch-iiberseeischen KululrkoTlukt vom 15. bis zum 18.Jahrhundert, München
1986. s. nff.
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(5) die Verstaarlidultlg ,md ldeologisienmg der Erobenmg: sie erfolgt durch umgehende Errichtung territorialer Kolonialherrschaft und das Ingangsetzen eines Legitimationsapparates (der im 16. Jahrhundert naturgemäß ein theologischjuristischer sein mußte); neben den Seefahrer und den Conquistador treten im expansionshistorischen Typenkabinen der Priester und der Kronbürokrat Dieses Amerikanische Muster wäre auf seine weltgeschichtliche Venllgcmeinerbarkeit zu überprüfen. Die Schwierigkeiten beginnen mit dem Begriff der IlEmdeckung((. Verfasser von sogenannter elHdeckungsgeschichdicher Literatur definieren ihn in der Regel nicht, und sie mögen gut daran tun. Denn zwischen zwei extrem unterschiedlichen Begriffen von »Entdeckung~, cinem sehr engen und einem sehr weiten, bewegen wir uns in einer Zone semantischer Anarchie. In einem cngen und cmpiristischen Sinne bedcUlet ItEntdeckung« den reisend gewonnenen geographischen Augenschein, der zur Korrektur kosmographischer oder noch konkreter: kartographischer Unsicherheiten und Irrtümcr ftihrt. Idealiter ist dies eine geradezu Popperi:mische Laborsiruation, in der auch eine Nicht-Entdeckung wertvoll sein kann: James Cook falsifizierte durch Beobachtung die alte Hypothese »Es gibt eine Terra Australis((, einen Riescnkontinellt südlich von Afrika. 1I Das oft bewußt expcrimcmelle Suchen nach brauchbaren Schiffahrtsrouten und die entsprechende Präzisierung von Scekarten ist ein anderes klares Beispiel. Einige der besten Entdeckungshistoriker haben neben Dokumentenkenmnis auch eine solche Sinnlichkeit der Raumerfassung angestrebt. Der große Sal1luel Eliot Morison (1887-1976) erwa, übrigens ein Bewunderer Prcscons, ist (1st sämtliche frühen Amerikareisen persönlich nachgesegelt. 12 Am anderen Ende des Spektrums steht der ganz weite Begriff von IlEntdekkung«, wie ihn 1983 der Historiker Daniel J. Boorstin, in seinem Buch IIThe Discoverers« verwendet, wenn auch nicht ausdrücklich erläutert, hat: »Man the discoverer«.!J Hier wird der kolumbianische Moment zu einer geradezu anthropologischen Metapher gesteigert. Welterfassung ist kühne Ausfahrt ins Unbekannte: in den Makrokosmos des Weltraums, den Mikrokosmos der Elementarteilchen, die liefen der Erdgeschichte. Dieser gleichsam gesamtabendländische Begriff ist selbstverständlich älteren Ursprungs. Wir finden ihn im frühen 17. Jahrhundert bei dem englischen Philosophen Francis Bacon: Die Neue Philosophie segele aus der geschlossenen mittelmeerischen Welt verstaubter Gelehrsamkeit zu einem Neufund-Land der Naturerkennmis. 11 Zum Motiv der Tcrn Austnlis \,&1. N. BrrK. U gtogr.tphic des philosophes: G€ogr;lphC'S el voy;l.b'Curs frall~;ljS;tU XVllle siecle. Puis 1975, S. 173-185. 12 Dies bereichen seine klassische Dustellllng der Entdeckung Amcribs: S. E. Metriso". The Europcan Discovcry ofAmcrica. Bd. 1: The Northern VO)"lgcs. A.D. 500-1600, New York 1971; Dm.. The Europcan Discovcry ofAmerica. Bd. 2: The Southern VO)"lges. 1492-1616. Ncw York 1974. sowie Dm., Admiral ofthc QcC;l.11 SC;l.: A LifcofChristophcrCollimbus. London 1942. Vgl. G. M. PjiIZ". Samucl Eliot Morison·s HistoriC1l1 World: In QueslOh New P;trklll;l.ll. Boston 1991. 13 D.J. Boomin. Thc Oiscovcrers. NewYork 1983.
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Zwischen diesen beiden Extrcmbcgriffcn bedarf es sorgfaltigcr Abwägung. Ist schon der ein Entdcckcr, der sieht, oder erst derjenige, der begreift? Im weiten Fall wärc wohl, wie Boorstin vorschlägt, am ehestcn Amerigo Vespucci als der wahre Entdecker Amerikas zu bezeichnen. Hilft uns die Unterschcidung, wie sie oft getroffen wird, zwischen primärer, eher zufalliger und naiv verarbeiteter l'Entdeckungll und sekundärer, planvollcr und rcnckticrter llErkundungll?14 Wird »Entdeckung« dann nicht zu cincm punktuellen Spczialfall solcher »Erkundung« und solltcn wir viellciclu John H. Parry folgen, der »discovcry« und lIcxploration« ohne genauc DilTcrenzicrungdclll Oberbegriff»reconnaissance« unterordnet?IS Oder hatte nicht vielleicht schon Alexander von Humboldt die angemessene philosophiscbe Anschauung gewonnen, als cr im lIKosmos« nicht die Stufen von primärer und sekundärer Wahrnebmung betonte, sondern gerade die Einhcit von cmpirischer Fülle und synthetischer Zusammenschau? Schcn und Begreifcn wären dann sowohl individual wie cpochal kaum voneinander zu trennen. Humboldt schreibt über das späte 15. und frühe 16.Jahrhunden: .Wie in Alexanders Heerzügen, aber mit noch überwältigenderer Macht, drängte sich jetzt die Weh der Objekte in den Einzelformen des Wahrnehmbaren wie im ZusaJllmenwirken lebendiger Kräfte dem kombinierenden Geist auf Die zerstreuenden Bilder sinnlicher Anschauung wurden trotz ihrer Fülle und Verschiedenartigkeit allmählich zu einem konkreten Ganzen verschmolzen, die irdische Natur in ihrer Allgemeinheit allfgcfaßt, eine Frucht wirklicher Beobachtung, nicht nach bloßen Ahnungen. die in wechselnden Gestalten der Phantasie vorschwebelu 16 I-1umboldt stellt übrigens dic crsten Amcrikareiscn in einen Zusammenhang, der sie cntschieden relativiert. Er betont dic vorbereitenden Leistungen dcr arabischcn Astronomie und Erdbescheibung, verfolgt die cmpirische Erkenntnishaltungder Entdeckergeneration in die Spätscholastik zurück und zeigt, wie Europa durch die Asicnberichte Marco Polos und der Mönchsdiplomaten im Mongolenreich auf Nachrichten vom Fremden schon vorbereitet war. Und Humboldt sieht auch, bei aller geschichtsphilosophischcn Bestimmtheit, das Kontingente am Verlauf des Entdeckungsprozesses: die »wundersame Verkettung kleiner Begebenheiten und den nicht zu verkennendcn Einfluß einer solchen Verkettung auf große Weltschicksalcll 17 • Ware nicht am Abend des 7. Oktober 1492 eine Schar Papageien über die Schiffe der Spanier hinweggeflogen, hätte Martfn Alanso Pinz6n sie nicht gesehcn und hätte Kolumbus nicht auf 14 So bei U. Billtrii, Die Entdcckung Amcribs. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, Mlinchen 1991,5. 11-24,jedoch ohne kbre Ddinitioncn. 15 J. H. Parry, The Ase' ofReconnaisunce: Discovcry, Exploration and Settlement 1450-1650, London 1963, bcs. S. 17. 16.1.11. Humboldl, Kosmos. hg. v. H. &tk (= Studienausgabe. Bd. 7. Teilbd. 2). Dammadt 1993. 5. 209. 17 Ebd., S. 243.
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den Rat des Kapitäns der IJPintal< gehön und den Kurs nach Südwesten korrigiere, dann wäre man vermutlich in Florida oder Virginia gelandet, und Nordamerika wäre katholisch-romanisch besiedelt worden. IB Die Annäherung der Alten an die Neue Welt stand, so Alexander von Humboldt, aufder historischen Tagesordnung, aber wie sie geschah, blieb sie vom Zufall regiert. Wenn der Begriff der Entdeckung sich in Wolkendunst zu verflüchtigen scheint, so birgt ein robusteres Merkmal des Amerikanischen Modells, die Erobenltlg, weniger Schwierigkeiten. Charakteristisch fiir das europäische Vorgehen in allen Teilen Amcrikas, einschließlich 'der Karibik, war, wie Urs Bitterli sagt, die "Gleichsetzung von Entdeckung und Aneignung«.19 Aneignung hieß stets VerfUgung über Menschen und Sacllen. Der herrschaftsfreie Kulturkontakt, von dem irenisch gesinnte Geister immer wiedcr getrnumt haben, die paradiesische Frische beiderseitiger Frcundlichkeit: Es hat dergleichen in Amerika nicht gegeben und spätcr als einen länger andaucrndcn Zustand nirgends, wo Europäer in zielstrebigen Kollektiven auftraten. Humboldt hat dies gesehen: "Oic Fortschrittc des kosmischen Wissens wurden durch alle Gewalttätigkeiten und Grellcl crkauft, welche die sogenannten zivilisierenden Eroberer über den Erdball verbreiten.~ Er selbst kritisierte in seincm großen Reisewcrk, das aufder Grundlage seines Amerika-Aufenthalts der Jahre 1799 bis 1805 CJ1(stand, das spanische Kolonialsystcm mit ciner Detailkundigkeit und Präzision, die seine Analyse viel geHihrlicher mach tc als noch so volttönende antikolonialistischc Gcsinnungsbckulldungen. Die cnglische East India Company wußte, was sie tat, als sie Humboldts Gesuch lun Genchmigung einer Reise nach Indien und Zenrralasicn abschlug. 21
111 . Humboldt hätte in/lldiell koloniale Zustände angetroffen, die sich bei manchen Gemeinsamkeiten von denen in Spanisch-Amerika erheblich untcrschieden. Auch war im europäischen Bewußtsein und in der europäischen Literatur eine Auffassung von Indicn verankert, die derjenigen von Amerika nicht nur inhaltlich kaum nahest3nd. Denn es hatte kein indisches Gegenstück zu den bcidcn großen Amerikadebatten der frühen Neuzeit gegeben: der theologisch-juristischen Mönchskomroverse des 16. JahrhundertsU und der Diskussion unter 18 Ebd.. S. 244. 19 Bi/ltrfi, Entdcd:ungAmcrikas. S. 14. 20 HumbolJl, Kosmos, S. 276. 21 Vgl. zu dIeser strilligcn Episode: l-f. &tk, Akx:.mdcr von Humboldl. Bd. 2: Vom Ueiscwcrk zum .Kosmos«, 1804-1859. Wiesbaden 1961. S. 52. 22 Vgl. aus einer umfangrcichcncn Litcr.nur zusammcnfasscndA. Pup", The Fall ofNawral Man; Thc Amcrican Indian and the OriginsofComparative ElhnoIOb'Y. Canlbridgc 1982.lxs. Kap.
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Aufklärullgsphilosophen um die physische und anthropologische Minderwert.igkeit Ameribs. 21 Die EroberunggroBerTeile Indiens durch die Briten, die um t 8 t 8 einen vorläufigen Abschluß fand, war von eher kolonialpragmatischen Meinungsverschiedcnheiten begleitet, bei dcnen es weniger um das Wesen der Inder und ihrer Kultur als darum ging, wle man sie zum Nutzen der britischen Nation behandeln solle.2A Erst nach der ]ahrhundenwende, als man mit dem Sanskritsrudium hinreichende fortSChritte machte, entbrannte ein ins Grundsätzliche gehender Streit zwischen den romantischen Lobrednern des alten brahmanischen Indien und seinen utilitaristischen Veräcluern.lS Ocr indische Fall weicht so deutlich vom lateinamerikanischen ab, daß man von einem zwciten »Muster. der europäischen Expansion sprechen kann. Gemeinsam ist beiden die militärische GewaltJnwendung großen Stils,26 verbunden mit der vorübergehenden Prominenz von Conquistadortypen, die vom Streben nach Ruhm und Reichtum getrieben wurden. noben Clive, der den Höhepunkt seiner Ludbahn zwischen 1757 und 1765 erreichte, ist das prägt13llteste britisch-indischc Beispiel. Das demographische Netto-Ergebnis solcher Gewalranwendung war freilich weniger dramatisch als im amerikanischen Fall. Ein wichtiger Grund liegt darin, daß sich in Indien - wie überall in der Alten Welt - der ItMikrobcnschoc.h oder überhaupt die schädlichen Folgen eines »ökologischen Imperialismus. viel weniger krass bemerkbar machten als in Amerika, wo mehr Indianer durch Krankheiten als durch das Schwen umkamen. Auch vennieden die Briten in der Regel solche genozidähnlichen Greue1tJten, wie ihre eigene Propaganda sie den Spaniern gerne vorwar(
4-5. Grundlegend immer noch: L U. Hllnkt. Anslode :md Ihe Amenam Indians. Bloomington 1959J. H«jfnn, Kolonialismus und Ev.mgclium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zciulter, Trier 1972'1. Ein bedeutender interpretierender Aufsatz iSI). H. Blioll. The Disco\lcry ofAmeric:a and the DiscoveryofMan. in: Dm.. Sjnin and IIs World 1500-1700: Sc:lcclCd Essays, Ncw Ha\len 1989, S. 42-64. 23 VgI.A. Gnbi, Thc Dispme ofthc New Wodd: The I-lisloryofa Polemie, 1750-1900, trans!. by J. Moyle. Pinsbllrgh 1973; S. Lmdl,({;, I filosofi c i scl\laggi 1580-1780. Ihri 1972, bcs. Kap. 5. 24 Nielli zuf;i11ig wurdc diese Diskussion weithin auf dem Felde der Polilischell Ökonomie geführt. Vgl. W.). lJarbf'r. British Economic Thougln ~Ild India 1600-1858: A Study in thc Hislory of lk\lel0plllellt EcoTlomics, Oxford 1975: S. Ambiflljtlll. Classic~1 Polilical Economy and ßrilish Policy in India. Cambridb'e 1978: R. Glllltl, A Rule ofPropcrty for Ikllgal: An E.ssayon Ihe Idca of Pcrmancl1I Sc:ulemelll. Paris 1963. 25 Vgl. c. SlOkts, Thc English Ulilil2rians alld lndia, Oxford 1959: G. D. 8aJrrt. Brilish AtrifUdes towards Il1di~ 1784-1858, Landen 1961: L. .l.a.uoupil.John Sfwn Mill and India, Sunford 1994, S. 31-50: Dm. u. M. MtI~(Hg.), ThcGrcallndian Eduolion DemlC': Documents Rdafing tO Ihe OnC'llulisl-Anglicisl Comrovcrsy, 1781-1843, Landon 1999:). Qi,lC', Mxaulay: Tbe Shaping cf 1M HIslorian. Ncw Vork 1973. S. 342-399:). RlWC'Ili, Lord William IkmilKk: TIle Maklllg of a LibC'nllmpc:rU1ist. 8C'rkdey 1974. S. 208-221. 26 Vgl. für Indien S. rorstn, Die mxhligc:n Diener der Easl India COl\l}»ny. Unachc:n und HimC'rgrOnUsncss: ~yson Cultunl Decok>mullon. LoodOfl 1978.
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Werke gegangen wird,I6 zirkulär in den Bcfangenheiten der zeitgenössischen europäischen Bcobachtungsquellen. Zieht man jedoch, wie einige Autoren des ltnew historicism«, aus dieser Schwierigkeit den Schluß, europäische Texte über Außereuropäisches überhaupt nicht mehr auf ihren möglichen Sachgehalt hin zu lesen, sie also ausschließlich als Spiegelkabinett okzidentaler Vorurteile und Phantasmagorien aufzufassen, als eine Sonderfonn von Itfictionti, dann verschwindet die Realität des Kulrurkontakts hinter dem Vorhang ihrer textlichen Verschleierung. Was in der Tendenz der wertenden Aussage zu einer ungemildenen Verurteilung europäischer Verblendung fuhrt, resultiert methodisch dann häufig in nichts als deren Verdoppelung: einem Narzißmus, der nicht länger nach der WirkJichkeitsadäquathcit europäischer Fremdbilder und nach ihren realen Folgen fragt, sondern nur noch nach ihren innerteAlUellen Generierungsregeln und ihrem ideologischcn Gdlalt. Selbst wcnn eine solche ltrcduction of eA-perience to the meanings that shape it«17 mit der Brillanz ihrer virtuosesten Praktiker geschieht,I8 läßt sich darauf schwerlich eine Kulturgeschichte der europäisch-außereuropäischen Begegnung aufbauen. Die historische Untersuchung ursächlicher Konukte zwischen Europäern und Nicht-Europäern umer dem Gesichtspunkt ihrer kulturellen Voraussetzungen und Konsequenzen bedarf anderer konzeptioneller Hilfen, als der Itnew historicismlC sie anbieten kann. Ein bewährter Ausgangspunkt ist die Taxonomie von Formen der ItKulturbegcgnungll, die Urs Bitterli vorgeschlagen hat. I') Bitterli unterscheidet t. die »KulturbcrührunglC, d.h. den punktuellen Erstkontakt, Itdas in seiner Dauer begrenzte, erstmalige oder mit großen Unterbrechungen erfolgende Zusammentreffen eincr Gruppe von Europäern mit Vertretern einer überseeischen Kulturti;2Il 2. den aus der friedlichen Kulturberührung oft durch unmittelbare oder von den Einheimischen (venneindich) provozierte Gewalunwendungder Europäer hervorgehenden ItKulturzusammenstoß«;
16 A.JOlla. Zur Qucllenproblematik der Geschidnc Wes12fribs 1450-1900. SlUllgart 1990. S.3OfT. 17 j. E. Totu'1. Intelleetual History after the Linguistic Turn: The AUlOnOnlY ofMeaning and the IlTCducibilityofExpcrie.nce, in: AHflJg. 92,1987. S. 879-907, hie.r S. 906. 18 Für den Ikrdch iOlerkulturdler Wllhmehmung e~ S. Crlm'fflm. Man~k>us Posscsstons: TheWonde.rofthe NewWorld.Oxford 1991. 19 U. Biunli. Die _Wilden_ und die .Zivilislenen... Grundzüge einer Geistes- und Kultur· geschIChte der europ:iisch-übenecisc:hen Begegnung. München 1976, S. 811T.; 1JaJ.• Ahe Welt Neue Weh. Formc:n tein dauerndes Verhältnis wechselseitiger Kontakte auf der Basis eines m3chtpolitischen Gleichgewichts oder einer Pan-Situatiol14l.;21 schließlich 4. als selten erreichten irenischen Extremzusund die aus Akkultufationsprozesscn hervorgehende ltKultUiverflechtungtl.Z2 Bitterli benutzt, ohne größere theoretische Ambitionen dann zu knüpfen, diese Klassifikation von Konukttypen, um ein weltweit gesammeltes, zumeist aus einer naiven, also auf die Raffinessen von Diskursanalyse und dekonstruktivistischer Literaturwissenschaft verzichtenden Lektüre von Reiseliteratur geschöpftes Belegmaterial zu ordnen. Innerhalb dieses 'lasters lassen sich dann die Geschichten einzelner Kulrurbegegnungen erzählen. Den Chancen einer durchkomponierten Gt'Satt/tgcschidlt'e der europäischen Expansion muß Bitterli von seiner typisierenden VorgehenS\yeise her skeptisch gegenüberstehen, wenngleich aus anderen Gründen, als die Kritiker von lunaster narrariveslf sie vorbringen. Seine Perspektive ist beltJl!ßt europazemrisch; Kulturkomakte werden vor dcm Hintergrund der europäischen Geistesgeschichte betrachtet. Binerlis einf.lche und einleuchtende Taxonomie, die im Hinblick auf die Epoche zwischen Kolumbus und Cook entwickelt wurde und deren Brauchbarkeit fur spätere Phasen stabiler Kolonialverhälmisse noch nicht geprüft worden ist, unterscheidet Grundformen des Kulturkomakts nach den beiden Kriterien von Dauer und GC'walcsamkeit. Die Skala reicht vom genozidalen Überfall bis zur dauerhaften Symbiose der Kulturen. Die Trennung zwischen Europa und Nicht-Europa, die den Rahmen aller erfaßten Konuktsiruationen bildet, wird dabei als unproblematisch vorausgesc[Zt. Die Abgrenzung zwischen Europäern und den ltAnderentl scheint den Zeitgenossen wie auch dem Historiker unmittelbar evident zu sein. Der Kontakt findet statt zwischen den Angehörigen deutlich identifizieroorer zivilisatorischer Einheiten. Gerade dies jedoch müßte überprüft werden. Differenzen und Distanzen zwischen Kulturell sind historisch variable Größen, Konstrukte wechselnder Selbst- und Frerndwschreibungcn. Aufbeiden Seiten des interkulturellen Zusammentreffens kOllllllt es zu Prozessen von Identitätsveränderung und Gruppcnbildung, von Abgrenzung und Annäherung. Imaginative Entwürfe vom Anderen - »Bilderll kcinest:llls im schlichten Sinne VOll Abbildungen - unterliegen, was auch ßitterli anerkennt, keinem langfristigen Enn....ickJungsgesetz der allmählichen ment:l.lcll Annäherung zwischen Kulturen im Zuge der Herausbildung eines kommunikativen Globalzusammenhangs. Mit zunehmcndem Wissen voneinander kann die Verständnislosigkeit wachsen. Kulturelle Unterschiede, darauf hat Fredrik ßarth in einem einflußreichen Aufsalz hingewiesen, können durchaus trotz intensiver illlerkuhurcller Beziehungen und Abhängigkeiten dauer21 Ebd.• S. 42. 22 BilltTli. Die _WikIen... S. 161-173.
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haft fonbestehen. 23 IlKulwrbeziehung« kann leicht Zum IlKulturzusammellstoß« regredieren. IlBilder« vom jeweils Anderen formieren und verändern sich in einem engen Wechselverhältnis mit den tatsächlichen Umgdngsweisen. Perzepüonen und Imeraktionen bedingen einander auf eine Weise, die nicht in lineare Kausalitätsrelationen aufzulösen ist. Zum Spektrum der Möglichkeiten gehän sowohl die Stabilisierung und lernpathologische Radikalisierung anfanglicher IlMißverständnisselC im Sinne von 'IIself-fulfilling prophecics«, die Umsetzung also von Differenzwahrnehmungen in Differenzierungspraktiken, als auch umgekehn die nachträgliche Ideologisierung konkreter Macht- und Herrschaftsverhältnisse; bcides läßt sich etwa an den verschiedenen Ausprägungen von Rassismus beobachten. Urs Binerlis Typologie von Kulturbegegnungen im Zuge der neuzeitlichen E.xpansion Europas kann in dreifacher Weise weitergedacht werden: in Richltlllg auf I. eine Verfeinerung der Mischformen und Übergänge zwischen den Grundtypen, 2. die historisierende Problemaüsierung von Ver- und Emfremdungsprozessen zwischen Kulturell und 3. die flexiblere Zuordnung zueinander von Perzeptionen und Praktiken. Als theoretischer Fokus kann dabei das Konzept der »kulturellen GrenzelC dienen.
11. Drei Begriffe von »Grenze« Die Vorstellung von »GrenzenlC - mit dem semantischen Feld Begrenzung, Entgrenzung, Grenzüberschreitung - gehört zu den schillerndsten Metaphern-Konzepten in den heutigen Sozial- und Kulturwissenschaften, zugleich zu denen, von welchen man sich neuerdings zusammenfassende Oriemierungen in der Gegenwart zu erhoffen scheint. Als Begriff ist sie teils der Philosophie, teils der Geographie entlehnt worden. Gcorg Simmcl, der wiederholt auf die Idhumbedelltung der Dinge und VorgängelC hinwies,2. übersetzte die Vorstellung räumlicher Begrenzung in die Idee der Ilsoziologischen Grenze« und postulierte in einem oft ziüerten Satz: /lDie Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.~ Die Systemtheorie, insbesondere bei Niklas Luhmann, sicht die Bestimmung von Grenzen als lIdas wichtigste Erfordernis der Ausdifferenzierung von SystemenlC. 216 Eine solche Grcnzbcstimmung sei nicht 23 F. &nll, Imroduction. in: fXn. (Hg.), Ethnic Groups :md BOllnd:lries: The Soci:ll Organization ofCultural Difference, Ikrgcn 1969, S. 9-38, hier S. 10. 24 G. SimIlIrI, Soziologie. Umersuchungcn üocr die Formell der Vergcscllsch:lfwlIg [19081, hg. v. 0. RllmrnsteJt (= Georg Simmcl Gesallltausg;ioc, ßd. 11), Frankfurt :I.M. 1992, S. 689. 25 EIxI .. S. 697. 26 N. Lulmlllrlll, Soziale Systeme. Gnmdriß einerallgemeineIl Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 54. lnr. Vgl. die übersichtliche Darlegung bei H. Willkt, SysteTluheorie. Eille Einflihrung in die Gmndprobleme der Theorie sozialer Systeme, Stuug;trt 1993', S. 56-75.
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allein eine analytische Leistung des unterscheidenden Betrachters, sondern werde bereits von den Systemen selbst geleistet. Der Ed1l10loge Fredrik Banh sieht in »boundary maintenance« die wichtigste Anpassungsstrategie einer ethnischen Gruppe; charakteristisch fiir eine solche sei ihr Grenzverhalten, nichl so sehr ihre durch konstante Merkmale beschreibbare kulturelle Substanz.?? Es ist wichtig, sich solche allgemeinen und abstrakten Bestimmungsmöglichkeiten vonllGrenze« zu vergegenwärtigen, wenn man nach den spezielleren Verwendungen des Begriffs als geschichtswissenschafdiche Kategorie fragt. Vor allem drei Grenzformen sind zu unterscheiden, auch wenn sich in historischen Situationen die Reinheit der Typen selbstverständlich nicht durchhalten läßt: die imperiale IIBarbarengrenze«, die nationalstaatliche Territorialgrenze und die Erschließungsgrenze. 28 Die imperiale IIBarbarel/grenze, wie sie sich an der Peripherie des Imperium Romanum, an der durch die Große Mauer gesicherten Nahtstelle zwischen chinesischer Ackerbau- und innerasiatischer Hirtenkultur, in Gestalt der habsburgischen Militärgrenze gegenüber dem osmanischen Reich 29 oder am nordwestlichen Rand Britisch-Indiens (der lINorth-West frontier« gegenüber Afghanistan) findet,30 ist eine defensive Sicherheitszone, durch welche sich Imperien am Punkt ihrer maximalen Ausdehnung gegen zumeist tribaI organisierte, eine hochmobile Kriegfiihrung praktizierende Nachbarvölker zur Wehr
27 &"'1, IntroduClion, S. 14(. Vgl. auch R.)l'lIkins, Social AnthropolOl,01cal Models ofllllerethnic Hclations, in:]. Rtx u. D. MIUOJI (Hg.), Theories ofRaee and Ethnic Relations. Cambridge 1986, S. 170-186, hier S. 170-178. Auch Turners Theorie des Liminalen und des Liminoidell ist in diesem Zusammenh:mgvon Iilteres~: V. Tunm, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. dt. v. S. M. Schomburg·ScherfT, Frankfurt a.M. 1989. S. 28-94. 28 Andere. wesentlkh kompliziertere Typologien sind vor~schlagen""'Orden, SO etwa in einer noch immer anregenden Abhandlung von S. B. )OIlI'S. Boundary COllcepts in lhe Setling of Place and Time, in: AllIlais of the Association ofAmerican Geographers. Jg. 49, 1959, S. 241-255. Zur GrenzlitCT;l.tur vgl. auch]. OSlCrlUlltlllld, Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistorie und hislorische Geogr:lphie, in: NPL.Jg. 43, 1998, S. 374-397. bcs. S. 375-379; Dm.. Raumbeziehungen. Internalionale Geschichte, Geopolilik und historische Geographie. in: W. 1...0111 u.]. OSlmIQI1Inrd (I-Ig.). Internationale Geschichle. Themen, Ergebnisse. Aussichlen. München 2000. S. 287-
308.
29 Die Militärgrenze wurde von österreichischer Seile vielfach als ~Barbuellgrellze. interpretiert. war aber t:.ltsächlich ein Verteidigungsgürtcl gegenüber einem hochorganisierten NachbarimpcriuTIl. Vgl. G. E. RCl/lll'lfbng. Die &terTeichische Militärgrellze in Krootien 1522 bis 1881. Wien 1970;]. NOllzillt. I-listoire des frontieres: L'AUlriche et rErnpire ouornan, Puis 1991. bes. S. 57([ In manchen der neuzeitlichen Imperien treten die drei Grcnzforlllell nebencinander auf. So besonders ausgcpr.igt im Falle des Russischen Reiches. Vgl. D. R. BrolWf (I-Ig.), nllssia's Orielll: Imperial Borderlands and Peoples, 1700-1917. Bloomington, lud. 1997;j. P. LtDoII/lt, The Hus· sian Empire and lhe World, 1700-1917: The Geopolitics of Expansion and Cont:.linment, Ncw York 1997. 30 Die Nortll-West Frontier war allerdings nicht mit durchgehenden Vertcidigungsanlagell befestigt. Sie war ~a zone or belt of moullt:.linOIlS COUlllry of varying width, suclching over a dist:.lncc ofabout 1.200 miles from Ihe Pamirs 10 thc shores of the Arabian ~a•. P. Mtll'Q. A Diclionary of Modern Indian I-lislory 1707-1947. Delhi 1985, S. 525.
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setzen. Diese Grenze kann über längere Zeiträume stabil sein, muß also nicht als Sprungbrett zu weitercn Eroberungen dienen. Sie ist oft durch aufwendige militärische Grenzanlagen vom linearen ~Limes\(-Typ charakterisiert, denen, unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirksamkeit, eine hohe symbolische Bedeutung als Trennungslinie zwischen imperialer, kosmisch geordnetcr "Zivilisation\( und frei schweifendem, anarchischem »Barbarentum« zugemessen wird. J ! Trotz ihrer spektakulären Undurchdringlichkeitssymbolik ist die impcriale IlBarbarengrcnzc« in der Praxis meist durchlässig für kleincn Grenzverkehr aller Art; ohnehin stalTeh sie sich diesseits sichtbarer Mauern, Walle und Palisaden in die liefe eines bikulturcll durchdrungenen Hinterlandes. In Phasen, die auf imperiale Expansion und erste Grenzsicherung folgen, kann es zum wichtigsten Zweck linearer Barrieren werden, die MBarbaren.c jenseits der Grenze von denjenigen auf imperialem Gebiet zu trennen, die im BegrilTe sind, sich kulturell zu romanisieren, zu sinisieren, usw..l2 Schon fiir die römische H.epublik ist bemerkt worden, »daß die H.ömer eher versuchten, die Einheimischen in Römer zu verwandeln, als ihre eigencn Leute in verlassene L'lI1dstrichen zu bringenll.l l Ähnliches ließe sich Hir China sagen. Oft dienen One entlang der Grenze als diplomatische Stützpunkte fiir ein lIManagement« militärisch nicht dauerhaft pazifizierbarcr tribaler Nachbarn, die als KJienten in Reziprozitätsverhältnisse eingebunden werden; Ziel solcher Politik ist oft die Transformation von militärischem Gleichgewicht in kulturelle Abhängigkeit. Die imperiale IIBarbarengrcnzc\( ist kein antiquarisches Konzept, Sie ist Anfang der ncunziger Jahre als geopolitische Leitmetapher zum Verständnis der Wc1tlage nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wiederbelebt worden: der reiche Norden rcpräscntiere das neue, sich vom Elend des Südens abschottende und sich zugleich normativ auf einen halbierten Universalismus zurückziehende Imperium.J.I Die lIatiotlafstolltlic1le 7i?rriton'algrenze ist dcmgegenüber eine Demarkationslinie zwischen zwei im Prinzip ähnlich organisierten politischen Gebilden. Grenzen sind in diesem Verständnis nicht Distanzierungszoncn zwischen Imperien und ihren Umwchcn, sondern Staatsgrcnzen,35 genauer: durch Ho31 Die - je nach ZlIschreibuug wechselnde - symbolische Bedeutung der Grellzbauwerke betont am chinesischen lkispiciA. Wllldrofl, The Great Wall ofChina: From I-lislory 10 Myth, C'llnbridgc 1990. 32 E. N. Lllllwak, The Grand Str:ltcgy of the n.oman Empire: From the First Ccmury A.I). 10 Ihe Third. Baltimore 1976, S. 78, 33 S. L. Dy50II. The Crealion orthe n.omall FrOlHier, Princcton 1985. S. 5, 34 j.-.c. Rlifitl, L'empire elles nOll\'eaux barharcs: Hllpture Nord-Sud, Paris 1991 (5.225 über den halbierten Universalismus des Nordens). Ähnlich S. Hll/llillgloll, The Clash ofCivitiulions?, in: Foreib'11 Aff:lirs,Jg. 72,1993, S. 22-49, 35 Diesen Grcnzbcgriffverv.'enden die meislen Ikitngc in A. [Hmalldf (Hg.). DClIlSChbllds Grenzen in der Geschichte, München 1991 1. Eine weltweile historische Übersicht über den .ocl.ecoupagc du monde« gibt M. FOlldll'f. FlOms Cl fronti~rcs: Un tour du monde gtopoliliquc, Paris
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heitssymbole und Organe staatlicher Machtpräscnz nurkiene Linien zwischen territorialen politischen Verbänden, oder noch anders: Maximalpunkte durchsetzbarer Jurisdiktions- und Souveränitätsansprüche - spätestens seit dem 19. Jahrhundert in der Regel von Nationalstaaten.J6 Ihre Festlegung erfolgt als Kodifizierung der Ergebnisse von Wanderung, Krieg und Staatsbildung meist durch rechlSformigc Übereinkünfte zwischen Regierungen. Schon der Gcognph Fricdrich Ratzel machte jedoch darauf aufmerksam, daß neuzeitlichI.' politische Grenzen trOlZ mitunter früher vertraglicher Festlcgungsich vielfach erst allm.ählich von .Grenzs2umcn. zu eindeutigen und allgemein anerkannten Grenzlinien pr.izisieren. l7 Ratzel betOnte auch die vielf;iltigen Funktionen der Grenze als _peripherisches Organ. eines zentralisierten Staatsgebildes: .Durch diese Funktionen wird die Grenze zu einem höchst eigentümlichen Organ dcs Gcbictes, das von ihr umschlossen wird, und nimmt zu seinen anderen Teilen eine Stellung ein, die sich durchaus nicht in der Vorstellung erschöpft, daß in ihr die äußersten Punkte des Gebietes gelegen seien.~ Der Grenzc wird damil als randständigcm Raum trotz des Bezugs auf dominierende Zemralstaatlichkeil ein gewisses Eigenleben als Folge lIperipherischer Aunockerung~ zuge· sprochen. Oft sind es solche sch\vächcr kontrollierten Zwischengüncl, an denen sich politische und ethnische Neubildungen ergeben und mitunter zu Herausforderungen fiir die beidcrseitigen Zcntren entwickeln. In Auseinandersetzung mit RatzeI und scinen Nachfolgern in der deutschen politischen Geogr.aphie und Geopolitik haben besonders Lucien Febvre und die französischen Geogr.aphcn Albert Demangcon und Jacques Ance1 ein umfassendes kulturhistorisches Konzept der Z\vischensta.atlichcn Grenze entwickeIt..t(l Neu19912. S. 99-LH: Wnd,.,.n nunter noch P. Cllillumnn lL C. R4Jfrstm. Grognphie des fronuercs. P~ns 1974. S. 82-145. SO\lo'lC ws klassische Werk emes Grenun Ziehenden Pn.ktikc.rs: Si, 1JtomIu Holdilh, Pohtic~1 Fronlicrs alld Uounwry M~king, londoll 1916. 36 Cmndlcgcnd 1'. &hlins. IJoundaries: Tbc Making of France alld Sp~m in the Pyrellccs. lkrkc.ley 1989: fkrs.. N~lUral FrontIers Rrvisitcd: Francc's BounwnesSllIcc lhe Se"c-ntC'Cllth Qntury. 111: Al-lltJg. 95, 1990, S. 1423-1451. F1711th" (Fronts ct froiltlhes. S. 115) weiSt dn:lUfhm, daß im Zciu.lter des ImlX'nallsmus ....'('Itere Typen politischer Grenzcn cntstanden: zwischen KoIOlllen verschiedener Mächte (z.B. Nigcria-lUmcrun), zwischen lksu.ndtl'ikn desselben Kololll· ~Irelchs (z.B. lndicn-lJunm). ZWIschen Kolonien und selbsländlgen Sluten (z.B. Vietmrn·Clu11~). Zu neUl'n kuhurwisscllschafdichen Gesichtspunkten vgl. T M. l.vjl,wll u. H. DoII/IIlIl (Hg.). Horder Idcntitics: Nation ~nd State al IIlIerna60nai Frontiers, Ounbridge 1998. 37 F IWlztl. Polilische GCQbrr:tphic, Miinchen 1897, S. 457-468. Von Grellzs:tlllllcn spricht ~lIchJ. R. V. 1'rr:stOiI. Eillftihrung III die polilische Gcogr.tphie. Milncheil 1975 (eng!. Im). S. 70f[ 38 RtJlZtI. Politische Geographie. S. 510. 39 Ebd.. S.513. 40 Aufdie Bedeutung der französischen Ikllrigc Vl't'ISI H. "'-Itdilk hm: Zur politischen Sozl~l gtsehlChte der Grt'nzen III der Neuzell Europas. 11I: SozlalW1sscnschafdlChe Illfonnauonen Rh Wisscnsch~fi und Umemchl. Jg. 20. 1991. S. 157-163. bcs. S. ISS( 0ies of Western Dominance, ithaC3 1989. 78 Vgl. grundlegend: R. Stlwmb, La renaissance orienl':llc. Paris 1950. 79 Vgl. den konzisen Ü~rbliek ~iA. Offir. The First World War; An Agrarian Illterprel':ltion. Oxford 1989, S. 164--175. 19S-214. 80 Vgl. fiir Großbritannien P. B. Rieh. Race and Empire in ßritish Politics. Cambridgc 19902. S. 120fT. 81 Vgl. E. &rkau. Thc Retreal ofScientific Ibcism: Changing Concepts oflbce in Britain aud lhe United StatCS betwecn the World Wars. Cambridgc 1992. 82 Ich greife modifizierend ein Schema auf. das Christoph Marx vorgeschlagcn hat (in: Brtlmill~r u. Bmwillgt'f [Hg. I. Der Umgang mit dem FremdeIl. Anhallg).
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1. seine lllklusjOtl (oder Jmegration): das friedliche, mit keinem Bekehrungsoder Anpassungsdruck verbundene Hineinnehmen des Fremden, wie es ist, unter Sicherung seiner Rechtssphäre: gastfreundliche Aufnahme, strukturelle (nicht unbedingt auch gesinnungsmäßige) Toleranz, ethnisch-kultureller Pluralismus; 2. seine Akkomodatioll: die Herausbildung eines auf gegenseitigem Nutzen beruhenden modus lIilIClldi zwischen selbständig bleibenden Gruppen, die sich lernend aufeinander einstellen, aber ihre jeweilige Idemität im Kern nicht aufgeben; 3. seine Assimifienmg: die Angleichung des Fremden an das Eigene bis mitunter hin zur Aunösung einer eigencn Identität der Fremdgruppe: religiöse Missionierung, weltliche Zivilisierung- nicht immer mit gewaltlosen Mitteln;83 4. seine Exklllsion: die Abschonungdereigencn Gesellschaft durch Abwehrvon Fremden, obrigkeitliche Schließung der Grenzen (so Japan zwischen 1639 und 1854), scharfe ausländerrechtliche und frel11denpolizeiliche Maßnahmcn,Immigrationskontrollen; 5. seine Segregmioll: die Ausgrenzung des Fremden, seine Isolierung von der einheimischen Umwelt - typischerweise unter Bedingungen rechtlicher und materieller Benachteiligung: also Vertreibung, Zwangsumsiedlung, Ghenoisierung, Apartheid, Einrichtung von Reservaten, uS\.v.; manchmal aber auch in konfliktmildernder Absicht die Einkapselungdes Fremden z.B. in Handelsenklaven (wie den chinesischen Treaty Ports des 19. Jahrhunderts), die zum beiderseitigen Vorteil den Austausch zwischen inkompatiblen Wirtschaftskulturen ermöglichen; 6. seine E.wen"itltltioll: durch Pogrome und Genozid (z.B. die fast vollständige Vernichtung der Tasmanicr oder zahlreicher indigener Völker in Nord- und Südamerika), aber auch - schwächer - Kulturzerstörung durch radikale kulturelle ReproZwangsassimilation oder durch Entzug der Chancen duktion der Gruppe (»cuhural genocidc«),84 ein Schicksal, das bis in diejüngsce Vergangenheit etwa den australischen Aborigincs widerfahren ist; A.l1leri-
rur
83 _Assimilierung. wird hier :tls Oberbegrirrrlireine g:mze Klasse VOTl Angleiclmnß!>vorgiingcn ein~,.efiihrt. Üblicher iSI die Verwendung von oAkkultUn.tion. :tls übergeordneter K:lIegorie. Vgl. die Diskussion bei F. HtckFllallll, Ethnische Minderheiten, Volk und N:tlion. Soziologie inter· ethnischer Beziehungen, SUlI!g:m 1992, S. 167-172, S. 176-78. Gegen den Ikgrirrder .Akkultuntion. spricht nielli :tHein der b;lbylollische Dcfinilionswirrwur, der ihn umgibt, sondern :tuch seine Belastung :tls Teil der Ideologie eiTles o:tufgek15rten. Koloni:tlismus in der Zwischenkriegszeit. Vgl. G. Ln/tri", Anthropologie und Kolonialismus, Fr:tnkfurt a.M. 1976 (fn. 1972), S. 52--61. 84 L. 11,ompJ
I. Der Begriff des interkulturellen Mißverständnisses läßt sich jenseits der Ebene individueller Orientierung in zwei Weisen auffassen. Wir wollen sie das aufklärerische und das romantische Modell nennen. Nach dem AufkJärungsmodell kann mm Mißverständnisse als siruative Fehlvcrständnisse betrachten. Man nimmt Einverständnis oder korrektes Verstehen zwischen einzelnen und Gruppen als den Normalfall an und hebt davon vorübergehende Kommunib.tionsstörungen oder hennenclltische Pannen als Ausnahmen ab. Mißverständnisse in diesem Sinne sind beweglich und flüchtig. Sie können sich rasch aufbauen und vermögen ebenso schnell wieder zu verschwinden. Im besten Fall genügt einc Nachfrage, um ein solches Mißverständnis zu korrigiercn. Die LernHihigkeit und Lcrnwilligkeit aller Beteiligten wird in diesem Modell der vorübergehenden Verständnistrübung vorausgesetzt. Selbst Gerücht und Lüge sind verderbliche Güter. Nur dann gewinnen sie ein alphaftes Eigengewicht. wenn sie sich wahnhaft stabilisiercn. Doch sogar in solchen Fällen ist Korrektur durch Belehrung und vernünftiges Zureden nicht unmöglich. Die Idee des situativen Fchlverständnisses setZt die Thcrapierbarkeit von Mißverständnissen, so schwer sie ::auch zu verwirklichen sei, immer schon voraus. Dies betrifft ::auch Mißverständnisse zwischen Angehörigen unterschiedlicher .Kulturen., also von Menschen. deren Erw::artungshorizonte weiter voneinander entfernt sind als das, was der einzelne ::als den Norrn::alfall seiner Lebcnspraxis betrachtet. Aus dem aufklärerischen Modell folgt das Ideal des Auf-einander-Zugehens. Da die anthropologische Beschaffenheit des Homo sapicns im Prinzip überall die gleiche ist. kann nach dieser Auffassung der .zivilisierte. Europäer den »Barbaren. oder .Wilden. durchaus verstehen - wenn er es nur will, wenn er von Unarten wie der Reduktion von Komplexität durch ~Stereotypisierenl(abläßt, wenn er sich selbstkritisch aufEthnozentrismus und Vorurteile prüft_ Zog der Entwicklungsstand europäischer Welterfassung solchen Bemühungen Grenzen, die der einzelne in früheren Epochen nicht übersteigen konnte, so ermöglicht doch zumindest der Fortschritt in den Kulturwissenschaften die allmähliche Annäherung an das unverstellte Verständnis des Anderen. Das höchste lde::al eines solchen pädagogisch abgestützten transkulrurellen Konvergenzglaubens ist die Fähigkeit. sich in Angehörige fremder Kulturen Ithineinzuversctzem. Toleranz steigert sich zu Identifikation: Man 5 IXr Verfnscrwar von den Henusgebem des fundes. in dem dieser Aufna zuefSl erschKn. um lhcorerische Überlegungen zum Thenu .imerkullUrelle Mißvenlindnissec gebeten wonten. Ocr Text varikn 2150 dn gestelltes Them:ll.
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läßt im Idealfall den anderen nicht nur leben, wie diescres will, sondern erwirbt sogar die Fähigkeit, die Welt lKIurch die Brille« des anderen zu betrachten und dadurch die Gründe fur dessen Verhalten zu erkennen. Wo durch beliebigen Pcrspcktivenwcchsel alles relativ \vird, bestätigt sich der absolute Glaube an die Einfönnigkeit der menschlichen Natur. Die Welt tendien zur Transparenz des völligen Einverständnisses. Ein solches Ergebnis ist indessen interpretierbar. Es kann sich mit tiefstem weltbürgerlichem Humanismus verbinden, aber auch mit der Überzeugung, im Zeicaltervon Globalisierung, amerikanischer Kulturhegemonie und schrankenloser Kommunikation nivellierten sich die Unterschiede zwischen den Kulturen bis zur Unkenntlichkeit. Anhänger dieses Modells vertreten die Auffassung von der Universalität zumindest eines Grundstocks von Werten, aus heutiger Sicht besonders der Menschenrechte. Das zweite Modell, das romantische, geht von anderen Voraussetzungen aus. Es findet Mißverständnisse nicht erst im situativen Handlungsvollzug, sondern bereits in den Tiefenkodierungen der einzelnen Kulturen. Statt um situatives Verständnis geht es hier um subst.1nticllc Kulturdistanz. Imerkulturalität und Mißverständnis sind in dieser Sicht unauflöslich miteinander verbunden. Während Modell I sich nicht ohne weiteres zutraut, die Grenzen zwischen Kulturen deutlich zu erkennen und eher Vorstellungen wie Durchlässigkeit, Anpassungsfahigkeit und Akkulturation betOnt, nimmt das romantische Modell die Ganzheitlichkeit und Geschlossenheit von Kulturen an. Jede Kultur ist einzigartig, deutlich profiliert, nach innen homogen und von der Spezifik von Sprache, Religion und Ritus geprägt, kurz: ein in sich abgerundetes Ganzes. Kulturen sind von außen klar voneinander unterscheidbar, doch gibt es keinen kultuTÜbcrgrcifenden Wertc- und Sinnkosmos. Der kulturellen Pluralität auf der Phämonenebene entspricht ein Relativismus der Werte. Jede Kultur weiß selbst. was rur sie gut und richtig ist, und sie hat ihre eigenen Rationalitätsstrukturen. Überlegenheitsansprüche gegenüber anderen sind illegitim. Keine Religion, keine Rechtslehre. keine Ethik, kein Begriff von Wissen und Wissenschaft ist wertVoller als andere, obwohl sich selbstverständlich im realen Kampfder Kulturen Starke und Schwache herausbilden. Jede Kultur pnegr ihren eigenen Ethnozentrismus. Die Geltungsansprüche der einzelnen Ethnozemrismen neutralisieren sich gegenseitig und lassen keinen Raum des Universalen jenseits der Relativität der Normen und Lebensformen. Wenn Angehörige unterschiedlicher Kulturen aufeinander treffen, sind nach diesem Modell Mißverständnisse der Normalfall; sie sind durch unterschiedliche zivilisatorische Codes »vorprogrammiertll.. Harmonische Koexistenz und verstehende Würdigung der Eigenart des Fremden kann nur unter seltenen und meist nicht dauerhaften Ausnahmebcdingungen gelingen. Dergleichen ist eher eine Leistung besonders einfuhlsamer Ausnahmepersönlichkeiten als eine Kulturkonvergenz, die von ganzen Völkern getragen würde. Kulrurkontakt manifestiert sich selten ,mders denn als Kulturkonnikt. Ein .dash of culrures« 243
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wird sich allenfalls dämpfen und aufschieben, aber nicht verhindern lassen. Mißversündnis ist nach dem romantischen Modell kein behebbares Fehlverständnis, sondern ein unumgängliches Unverständnis. Die Kulturen schweigen sich an. Im schlimmsten Fall werden sie Opfer ihrer Wahnbilder vom Anderen und fallen geWdItÜtig übereinander her. In inviduelle Wahmehmung und individuelles Handeln nach dem zweiten Modell viel sürker als nach dem ersten kulmrell determiniert sind, lassen sich Kontakte bum simationslogisch interpretieren. Das Primäre an einem Europäer ist danach, daß er .europäisch« wahmimmt, denkt und handelt, an einem Chinesen, daß er aH dies -chinesisch« tut. Es gibt keine gemeinsame Schnittmenge einer llllmrneutralen Rationaliüt. Das erste Modell tendien dazu, kaum ver.inderliche kulturelle Prägunb"Cn zu unt'erschätzen, das zweite Modell, sie zu verabsolutieren. Da das romantische Modell deterministischer ist und daher wenig Raum fiir erklärbares Handeln vorsicht, läßt es sich weniger gut mit der eingangs ellrworfenen Infonnationsperspektive aufdie Geschichte des Imperialismus verbinden. Wenn die Menschen an den Marionenenfaden ihrer jeweiligen Kulrur zappeln, hält ihr Verhalten kaum Überraschungen bereit. Ereignisgeschichte ist daher in diesem Konzept nur am Rande vorgesehen. Umgekehrt kann das aufklärerische Modell die Kollision von Weltbildern, verkörpert in den handelnden Personen, nur unzureichend erfassen. Mißversündnisse wcrden d:mn leicht zu kurzannig gedcutct, zu sehr aus Zufallen. persönlichen Eigenarten, aus der Taktik des Augenblicks, zu wenig vor dem Hintergrund stabiler Ideologien, Dogmen und Werthaltungen. Historiker düften solche Überlegungen, die eher in das Ilevier von Philosophen und Anthropologen gehören, selten ansrellen. Sie mögen aber hilfreich sein. weil sie davor schütZen können, einen schillernden Begriffwie den des ltkulturcllell Mißverständnisses« allzu sorglos zu verwenden. Es gibt, wie zu zcibocn versucht wurde, mindestens zwei ganz verschiedene Auffassungen von Mißversündnis, die sich bei genaucrcr Betrachtungdurch die gesamte europäische Ideengeschichtc verfolgen ließen. Dabei macht cs einen nicht unwichtigen philosophischen Unterschicd aus, ob man annimlllt, Mißverständnissc seien Ausnahmen oder sie seien der Normalfall im Kontakt dcr Kulturen. Was unter Kultur zu verstchen wärc, ist einc weitere, noch viel schwierigere Fragc, an die sich Folgeprobleme anschließen: Wie bnn man Grenzen zwischen Kulturen erkennen? Wie cindcutig ist die Zuordnung von Subjekten zu lIihrer~ Kultur? Wie wichtig sind ltkulturellc. im Kontrast zu anderen Unterschieden zwischen dcn Menschen? Wie lassen sich die einzelnen Differenzkriterien voneinander unterscheiden: Sind wir uns z.B. deutlich darüber im Klaren, wann wir von ltkulturellen., wann von JtCthnischen« oder ~rassischenlC Konflikren sprechen sollen? Die suggestive Knft des Begriffs ltkulrurelles Mißvcrsündnis« sollte nichtvergesscn machen. daß er recht Unterschiedliches bedeuten kann.
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11.
Es lohnt zu fragen, wo in der bisherigen Literatur Zusammenhänge zwischen Imperialismus auf der einen, kulrurellen Mißverständnissen auf der anderen Seite mit besonderer Eindringlichkeit und öffentlicher Wirkung aufgezeigt worden sind. Dies ist nicht bei Fachhistorikern geschehen: Eine Kulturgeschichte des Imperialismus steckt erSt in den Allf:ingcn. Vielmehr wird die Debatte seit geraumer Zeit im Zeichen eineT Postmoderne, die Fächergrenzen nonchalant mißachtet, von Literaturwissenschaftlern bestimmt. Zwei international besonders cinOußrcichc Entwürfe sollen im folgenden diskuticn werden. Sie sUmmen von Tzvct:lll Todoroy und Edwud Said. Beide Autoren vertreten Spielarten des »romantischen. Dcutungsmodclls. ßcidc gelangen dabei an die Grenzen dieses Modells. In seinem Buch _Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen* (im Original t 982)6 hat der bulgarisch-französische Litcraturtheoretiker und Philosoph Tzvetan Todorov nicht als Historiker, wie er sagt, sondern als ~Moralish unter anderem die Frage nach den Ursachen der Übcrwältigungeiner komplexen Kriegerkultllr w;e derjenigen der Azteken durch eine kleine Schar spanischer Ritter gestellt. Eremwickclt dabei einen Erklärungsansatz, der mit ge"vissen Anpassungcn auch auf Fälle imperialer Reichsbildung in Asien und Afrika übertr.lgen werden könnte. Todorov ist sich der Gründe, denen üblicherweise der spanische Erfolg zugeschrieben wird, wohl bewußt:? das zögernde Verhalten des Aztekenherrschers Moctezuma, die Überlegenheit der spanischen Bewaffnung und insbesondere die SchockwirklIng der in funerika unbekannten Pferde, die Ausnutzung der inneren Streitigkeiten der Illexikanischen Völker durch Cortes, die Schwächung der amerikanischen Bevölkerung durch Epidemien, usw. Als Semiotiker konzentriert er aber seine Aufmerksamkeit aufeinen einzigen Aspekt: die Beherrschung der Zeichen. Cortes begreift r.lSCh, daß die Azteken, durch Prophezeiungen vorbereitet, die Wiederkehr des Goues Quetzalcoatl elW3nen, und er nutzt die Chance,diese Rolle Hirsich zu reklamieren.' Auch in vielen anderen Situationen entdeckt Todorovdie Fähigkeit der Spanier und vor allem die ihres genialen fulHihrers, Wone strategisch einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Mehr noch als Concs der Kämpfer ist es Cortcs der RhetOr, der nil' die Spanier den Sieg erringt. Die Spanier besitzen ein Übergewicht an kommunikativer Kompetenz, nicht zuletzt durch ihre Schriftlichkeit; stets übernehmen sie die aktive Rolle im Kommunikarionsprozeß; sie inszenieren mit großer Verschlagenheit ein Machttheater, das die Azteken blufft
6 T. ToOOWI'. Die ErobrnlllgAllleribs. Das I~lem des Anderen. dl. v. W. ßöhrmgcr. Fn.nkfun ;I.M. 1985. Ich kommentiere nur K.:Ipitd 2 dieses Iluchcs. 7 Ebd.. S. 71-79. 8 Ebd.. S. 92-95.
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und blendet und sie von der realen Schwäche der Invasoren ablenkc 9 Alles bei Cortes ist Kalkül und Manipulation, alles bei den Azteken Naivität und HiJnosigkeit. So kommt Todorov, ein lupenreiner Vertreter des .romantischenModells des Mißverständnisses, zu dem Schluß, daß die Azteken zwangsläufig unterliegen mußten. lhre eigene Kultur ließ ihnen keine Chance.•Den Indianern wird nicht bewußt, daß Worte eine ebenso gcHihrliche Waffe sein können wie Pfeile.te lO Denn fhr sie ist Sprache Ausdruck. nicht Instrument. Ihre Kultur bindet, ja, lähmt sie durch Rituale, während die Spanier freie, handlungsfahige Al"teure sind. Allein die Spanier agieren, sie diktieren den Gang der Dinge; die Indianer, die keine offensiven Ziele haben, keille andere Vision als die, daß der spanische Albtraum zu Ende gehen möge und alles wieder so werde. wie es war, können nichts als reagieren. 11 Eine geschlossene und "übcrdeterminiene.,;12 wird von einer offenen Zivilisation notwendigcrweise bezwungen. Nur die Spanier durchschauen das kulturelle Mißverständnis und sctzen es listig ftir ihre Zwecke ein. Bei den Indianern reduziert sich das Mißverständnis aufeine dumpfe Irritation durch das lInbegriffene Fremde. Cortes aber, der Hermeneut lind Anthropologe, versteht alles. Die Idee siegt über die Mentalität. Soweit Todorovs auf den ersten Blick sehr überzeugende Interpretation. Dank Todorovs großer literarischer Begabung ist ihm eine unb"Cmein plausible Erklärungsskizze gelungen, die immer wieder als Beweis fiir die leistungsfähigkeit einer semiotischen Analyse zitien wird. 'T.1tsächlich ist kein besseres Beispiel denkbar air die Vervielfachung dürftiger eigener Machtmincl durch Erringung von Hegemonie im H.eich der Symbole. So ähnlich. möchte man glauben, muß Kolonialerobcrung und später koloniale Herrschaft überall funktiOlliert haben: als gigantischer Bluff Ein Unbehagen an Todorovs Interpretation wird jedoch schon den beschleichen, der sich nicht die Mühe macht, die Quellen. die Todorov gründlich studien hat, selber zu prüfen. Denn man staunt, alle jene selbstgefälligen anthropologischen Mythen von der angeborenen Uberlegenheit des Renaissance-Europäers und umgekehrt von der naturhaften Befangenheit des »primitiven Denkens«. die seit Jahrhunderten die Kolonialapologie bestimmen, nunmehr im Modcgcwand semiotischer Theorie wiederholt lind bekräftigt zu finden. Nur in Nuancen untcrscheidet sich Todorov etwa von William H. Prescotts hochdramatischcIll Bestseller llHistory of the Conquesl of Mexicoll von 1843. Waren aber die Azteken wirklich so irrational, wie Todorov sie d,ustcllcn muß, damit sie in seine Theorie passen? Öffnete sich z'\vlschen den bciden Kulmren (oder vielmehr ihren Vertretern) 9 10 11 12
Ebd.• S. 138-51. Ehd.. S.112. Ehd.. S. 135. Ebd.. S. 83. Zur Knuk:m Todoro\' vgt auch B. Mitlnvslt. u. S. M. Stho,"bu~hnff. Das Probl~m des Anderen In der Innldlung ethnologischC'n V~nl~hC'ns. In: Anthropos.Jg. 85. 1990. S.558-564.
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•
tatsächlich ein derart tiefer a.nthropologischerGraben? Könnte die Asymmetrie zwischen naiven Eingeborenen und sentimentalisch-reflektierten Europäern nicht viellcicht doch weniger kraß gewesen sein? Und waren, wie Todorov meint, die kulturellen Mißverständnisse nach 1519 von einer Art, die die Azteken geradezu zum Untergang verdammte? Eine bedenkenswerte Kritik an Todorov, in die sympathische Form einer voll ausgearbeiteten Alternative gekleidet, summt von Inga Clendinnen. Da sie ein vielgelobtes ethnologisches Standardwerk über die Azteken geschrieben hat lJ , steht sie über dem Verdacht, es fehlc ihrdas Verständnis ftir historische Anthropologie.'· Clendinnen geht kritischer an die Quellen heran als Todorov. So kommt sie zunächst zu der Vennutung, die Theorie von der .Rückkehr der Göner«, die sich so elegant in Cortes' Selbstimcrpretation einftigte, sei auch in den auf indianischen Infornurionen beruhenden Quellen, etwa der EnzykJopädie des Bernardino de Salugiin, eine erst nach der Eroberung ernstgenommene Rationalisierunggewesen.,sVor allem gelingt es Inga Clendinnen, dic Logik hinter dem Verhalten des Aztekenherrschers und seiner Aristokratie sichtbar zu machen. So kann auch Cortes seinerseits alsjemand erscheincn, der die von dcn Azteken ausgesandten Signale mißdeutet. .ln diesem Durcheinandcr vcrpaßter Hinweise und falsch verstandener Botschaften,« folgert Clendinnen, Ilscheim die )Kontrolle über die Kommunikation( [ein TodorovZiutJ beidcn Seiten gleichernußen entglitten zu sein.•'6 Damit ist die Symmetrie zwischen Spanicrn und Indianern wiederhergestellt und Todorovs einseitige Aktion-Reaktion-These korrigiert. In den ersten Phasen des Konflikts manipuliertcn die Azteken die Spanier mindestens ebenso erfolgreich wie umgekehrt. Todorov übersieht dies, weil er der geschickten Ex-post-Sclbststilisierung des Cort~s aufsitzt. Die Azteken, so Clendinnen, waren keineswegs durch die Rigiditäten einer andersartig-exotischen Kultur gelähmt; rationalcs uktisches Kalkül gehörte durchaus zu ihrem Verhaltensrepertoire. So war der Sieg der Spanier auch keineswegs durch EntwickJungsdifferenz zwischen den Kulturen schon garantien - wie eine Geschichtsschreibung der Triumphatoren es allzu gerne sieht. Er war weitgehend ereignisgeschichtlich kontingent, also vom Zufall bestimmt: Ila very dose-run thing•. 17 Was schließlich am Ende einer langen Auseinandersetzung den Ilmoralischen Zusammenbruch«18 dcr aztekischen Vcrteidiger auslöste, war nicht ihre menule Unbeweglichkeit, sondern die schiere Bruulität und Hemmungslosigkeit der spanischen Kriegfuhrung, 13 I. OmdillnDl. Thc AzICCS: An Inlcrprct:uion. Cambridgc 1991. 14 Dia.• • Ficrcc and UnnalUral Cruchy.: Conb and ehc Conqucst ofMcxico. in: S. Crm'fblatt (Hg.). Ncw World EncoulIlcrs. Bcrkc1cy 1993. S. 12--47. 15 Ebd.• S. 16. 16 Ebd.. S. 18. 17 Ebd.. S. 24. 18 Ebd.• S. 33.
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die jeden aztekischen Begriff von militärischer Auseinandersetzung verletzte: Schlächtereien unter der Zivilbevölkerung, Mißachtung einer rituellen Zeitordnung (z.B. durch nächtliche Angriffe), Hungerblockaden und eine Taktik der verbrannten Erde. Daß Cortes immer mehr seine Zuflucht zu solchen Exzessen nahm, daß er ohne militärische Notwendigkeit die glanzvolle Stadt Ten6chtitlan, die er eigentlich seinem Kaiser unversehrt darbietcn wolltc, dem Erdboden gleichmachte, deutet Clendinllen eben nicht als Ergebnis b'Ckonnter Manipulation, sondern als das genaue Gegenteil: Die Aztekcn hatten sich als geschickte, der Manipulation letztlich unzugängliche Gegner crwiesen; dcr Herr dcr Zcichen war am Ende seiner Kunst angelangt. Nur der schrankenlose Terror, den Cortes mit Hilfe seiner einheimischcn Hilfstruppcn entfesseltc, schien als ultima ralio zu bleiben. 19 Die Eroberung Mexikos war die Ursituation des neuzeitlichen europäischen -empire-building_, Cortes der Prototyp aller spätcren Konquistadoren. Deshalb sind die Kontroversen, die sich an den Ereignissen von 1519-21 entzündetell, auch unmittelbar für die Thelll3tisicrung kultureller Mißverständnisse in Asien lehrreich. Ob nun Todorov ooer Clcndinncn ooer vielleicht keiner von beiden ..recht hat_, ist für unseren Zweck unerheblich. Es kam darauf an, zwei ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen nebencinandcTZustellen: hier die -romantische_ Position eincs Holismus, der geschlossene und einandcr VOll A,!fallgall fremde Kulrurwelten 3ufcinanderprallen sicht, don eine lIaufklärcrischeu Auffassung, die Andersartigkeit und vorgegebene Konfliktpotemialc nicht leugnet, aber eine kulturalistischc Argumcntation apriori zugunsten einer Untersuchung der sich von Situation zu Situation entwickelndcn Auseinandersetzung vermcidet. Hier wird, was Urs Bittcrli den lIUmschlag der Kulturberührung in den Kulturzusammenstoß« nennt,2'Q 31s Prozeß deutlich. Die Mißverständnisse nehmen zu, und sic gewinnen erst mit der Zeit einc stärker kulturelle Akzentuiemng. Nicht am Anf.ang, sondern am Ende einer längeren Phase der Interaktion steht die Selbst3bschotrllllg der Kulturen. Dies ist fraglos llicht überall so gewesen. Doch ergeben sich, wie die historische Forschung zu bestätigen scheint, kulturelle Mißverständnisse nicht schon aus dcr Zerstreuung und Panikularisierung der Völker, wie sie der Mythos vom Turmbau zu Babel ausdrückt. Mißverständnisse sind nicht zwangsläufige Produkte einer zersplittertcn Welt. Sie werdcn - lind darall erinnert uns das lIatl(klärcrische~ Modell - von Menschen gemacht.
19 Ebd.• $. J6--.11. 20 U. Bi,,",i. Alte Weh - neut" Wdt. FormIschen« im Orient nur, was sie zuvor bei den Orientalisten gelesen haben. So kommt Said zu dem Schluß, lKiaß [im 19. Jahrhundert Jjeder Europäer, in dem, was er über den Orient sagen konnte, ein Rassist, ein Imperialist und ein fast vollkommener Ethnozentriker warll. 3S Zweitens: Konstruktion, nicht Abbild. Die selbstgeschaffenen Prillzipien des Orielltalismus sind solche der Objektivierung und Distanzierung. ObjektivieTUng bedeutet, die östlichen Kulturen ohne jeden persönlichen Enthusiasmus auf den Sezienisch der Wissenschaft zu legen. Die Schlüsselprozedur des orientalistischen Monologs aber ist die Konstruktioll von Differenzen. Die allgemeinste dieser Differenzen ist die zwischen uns und dem Fremden, zwischen »West(! und »Ost((, »Abendland« und »Morgenland«, »Okzidentll und II0rient«.36 Diese Erfindung eilles Erkenntnisobjekts namens »Orient« erfolgt nicht willkürlich, subjektiv und regellos. Der Orient der Orientalistcn ist kein reines Wahngebilde. Er entsteht nach 1800 - Said sicht Napoleons Invasion Ägyptens (1798) als einen epochalen Einschnitrl7 - vor dem doppelten Hintergrund einerseits der realen Beherrschung östlicher Völker durch die europäischen Großmächte, andererseits eines neuartigen Wissenschaftsbegriffs, der, wie Ronald Inden später präzisiert, am Vorbild der positivistischen Naturwissenschaften orientiert ist. Jll Wenn Edward Said den Orient der Orientalisten als Konstrukt begreift, dann impliziert er, was dieser /licht ist: ein Abbild der Wirklichkeit. Aus Saids Sicht ist dies kein Einwand gegen die Orientalisten; einige der erfolgreichsten unter ihnen waren selbst stolz darauf, den Orient aus Trümmern und Texten überhaupt geschaffen oder re-konstruiert z.u haben. 39 Er 33 E. w. Said. Oricll(:llism Rcconsidcrcd. in: S. K. Parwrm (Hg.), Anb Socicty: Colllinuity :lud C1mlgc. London 1985. S. 105-122. hicr S. 109. 34 Said. Oricnulislll. S. 204.
35 Ebd.. S. 204. 36 37 38 39
Ebd.. S. 43f. Ebd., S. 79-88. 122. Vgl. R./tldtn, Irnagining Indi:l, Ox(ord 1990. S. 12-21. &lid, Oricmalism. S. 86f.
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wirft ihnen vieles vor, aber nicht, die Realität verzerrt oder verkehrt wiedergegeben zu haben. Die in der Literatur über Fremdbilder beliebte Konfrontation von europäischen Te>...1:en, ctwa älteren Reiseberichten, mit dem ~tatsächli ehen« Oricnt, wic wir ihn heute zu kenncn glauben, wäre im Rahmen des Saidschen Denkens absurd. Denn nach dem DiskursbegrifT Michel Foucaults, dem Said hier folgt,-lO ist es unzulässig, eine Aussage über den Orient als empirisch )lfalschll zu bewerten. Wo es keine Bilder gibt, kann auch nicht von falschen Bildern und Fehlrepräsemationen die Rede sein. Saids Erkenntnistheorie ist konstruktivistisch; sie ist also gegen die Vorstellung eines subjektiven Bewußtseins gerichtet, das sich einen bild lichen Eindruck von einer unabhängig von ihm existierenden Realität schafft. Übrigens berührt sich Said hier mit einem gleichzeitig erschienenen vielbeachteten philosophischen Entwurf: Richard Rortys lIPhilosophy and the Mirror of Naturell (1979), einer Kritik am cartesianischen Dualismus von subjektivcm Bewußtsein und objektiver Außenwclt.~l
Drittens: Essenz, nicht Kontingenz. Saids Dcnken - und noch konsequenter das von Ronald Inden in seinem Buch llimagining lndia«, das Saidsche Analysemethoden auflndien zu übertragen versuche2 - ist ami-essentialistisch. Was ist daruntcr zu vcrstehen? Zu den Axiomen des orientalistischen Diskurses gehört die Vorstellung, es gebe durch unveränderliche Attribute bezeichenbare kulturelle Substanzen, die sich eindeutig voneinander abgrenzen und womöglich in Relation zueinander bewerten ließen; sie gingen dem Handeln der Menschen bindend und gleichsam tr:1I1szendelHal voraus. Überall, wo z.B. von der seinsmäßigen Andersartigkeit des Morgenlandes, vom llWesenll der indischen Zivilisation, vom »islamic mind« oder von der »konfuzianischen PersönIichkeit(( die Rede ist, stellt sich der Verdaclu auf solches verdinglichende Substanzdenken einY Es ist ein Markenzeichen ftir das, was oben das »romantische« Modell des kulturellen Mißverständnisses genannt wurde; Tzvet:l.11 Todorovs Aussagen über die Besonderheiten der aztekischen Zivilisation sind ein gutes Beispiel dafUr. Über mögliche Alternativen zu einer solchen Denkweise äußern sich Said und die übrigen Orientalismuskritiker nur höchst vage: Ronald Inden will mit vielen anderen nhuman agcncyocans and Other Pcoples in the Early Modern Era. Cambridgc 1994. VgJ. auch T. Nagrl (Hg.), Asien blickt aufEllropa.lkgcgnungen und Irriutionen, Bcirlll 1990;A. 811,lall, Al thr Hean ofthe Empire: Indians and lhe Colonial Encotlllter;n ule-Vietorian Londoll.
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sich aufdie Gegcnwan zubewegt. Wo einheimische Quellen rar sind oder ganz fehlen, kann, wie Inga Clendinnens Interpretation der Aztcken zeigt, die Ethnohismrie zwischen den Zeilen westlicher Texte Aufschlüsse über die Beschriebenen finden, die den rein liter.nurwissenschaftlich geschulten lIIuer ihren Lesern entgehen. Über Said hinauszukommen, heißt auch, kulturelle Mißverständnisse nicht nur zum zahllos wiederholten Male in den Imümern, Befangcnheiten und Obsessionen von Europäern zu suchen, sondern ebenso in Begegnungssituationen, in denen jede Seite das Recht auf ihre tigt'tlerr Mißverständnisse behält.
Ikrkclcy 1998: N. l'"nom, King Kh~m~, ElIllXror joc:, aud th~ Gr~'H Whit~ Quttn: Victori'lI1 ßriuin through Mnan Eycs. ChictgO 1998: SOW~ nhlr~ich~ Ar~iten von M. 1-I"rlmPlNr, vor ~1I~m: SduUSpKI Europ~: Die ~ußc~uropilsche Entdeckung EuTOJW' Im 19.j~hrhund~n~m Bei· spid afnblllsch~r Texte, in: I-listonsch~ Anthropologir.Jg. 2. 1995. S. 331-350: Inuoduetion: Eu~~n Mrol~ 1Il thr Eycs of 19th Cclltury Muslim Qbservcrs. m: Cuhu~ & HistoTy.Jg. 16, 1997, S. S-28;M. H,,~u.l'. U.MMkr. Europcas~thl'lOgDphicobjctt J-I()'lNj~p~n dl~rai thc West. In: Folk. Joum~1 of th~ Oanish Ethnognphic Soc:Kty,Jg. 34, 1992, S. 5-41.
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11. Markt und Macht in der Modernisierung Asiens: Japan, China und Indien im Vergleich'
l. Die vier Innovationsschübe der Moderne Die we1t\veite wirtschaftliche Entwicklung während des letzten halben Jahrtausends ist vor allem durch vier InnoV.'tilien) miteinander verknüpfte. Die globalen Warenströme - auch Sklaven zählten allein als Waren - waren in der damaligen Welt unübersehbar: Sie materialisierten sich in militärisch geschützten Handelsflotten auf den Weltmeeren, in dem lebhaften Treiben in den Überseehäfen aller Kontinente, in den Kolonialwaren, die die Europäer nun konsumierten. Daneben gab es aber auch nahezu unsichtbare Zusammenhänge, die den Zeitgenossen verborgen blieben. Ein gutes Beispiel sind die Silberzunüsse nach Ostasien, die auf unterschwellige Weise etwa die chinesische Binnenkonjunktur des 16. bis 18. Jahrhunderts regulierten und deren vorübergehendes Stocken man sogar für die terminale Krise der 1644 gestürzten Ming-Dynastie mitverantwortlich gcmacht hat. Dic Industrialisierung, also der zweite Innovarionsschub, führte zunächst dazu, daß die Produkte der europäischen Lei(htindustrie, vornehmlich Textilien, in alle Welt verkauft wurden. In einer zweiten und folgenreichercn Phase e>.-portierten Europa und die USA dic Erzeugnisse ihrer Sdllvenndustrie: Fertigungsmaschinen und komplette Fabriken, Dampfschiffe, Artillerie sowie die weltgeschichtlich wichtigste Apparatur des 19. Jahrhunderts: die Dampfmaschine auf Rädern, die Eisenbahn. 1906, am Ende der heroischcn Phase der Schienenerschließung des Inneren aller Kontinente, besaßen nur wenige kleine, randsrändige oder dünn besiedelte Länder keine Bahnen: Finnland, das Baltikum, Albanien, Britisch-Bomeo, Französisch-Marokko, Neukaledonien. Nach den USA (dcm nach dem Umfang seines Strcckennetzes mit Abstand fUhrenden Land), Deutschland, Rußland und Frankreich verftigte Indien über das fUnftgrößte Eisenbahnsystem der Welt: ein Beispiel massiven Tedltljktransfers in ein lIunrerentwickcltes« Land. Von Tedltlologietransfer kann allerdings weniger die Rede sein. Zwar waren indische Werke seit 1865 imstande, Lokomotiven herzustellen, doch kam es nicht zum Aufbau eincr nennenswertcn indischen Eisenbahnindustrie. Bis 1941 wurden nur siebenhundert
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Loko1l1oriven in Indien gefertigt, aber zwölftausend aus Großbritannien importlert. Prozesse Nummerdrei und Nummervierwaren und sind weniger anschaulich faßbar. Die Jlcorporate revolution« kann man, wenn man den Begriff sehr weit faßt, schon in der frühen Neuzeit beginnen lassen: die am weitesten ausgebauten unter den europäischen ~Chartered Companies«, nämlich die englische East India Company (Eie) und die holländische Verenigde Oostindische Compagnic (VOC), waren auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, etwa in dem Jahrhundert nach 1680, die größten und am kompliziertesten organisierten Einrichtungen des nichtstaatlichen Handels aufder Welt. Sie waren bereits bürokratisch organisiert, multinational und sogar transkontinental tätig und durch Finanzierung über Frühformen des K1pilahnarktes von Familienvermögen und politischer Gunst unabhängig. Mit anderen Wonen: Sie konnten nicht ohne weiteres bankrott gehen. Die eigentliche »corporate revolutionll war jedoch diejenige, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Entstehen riesiger Industriekonzerne fUhrtc. Sie waren nicht länger Familienbctriebc, sondem wurden von angestellten Managern im Namen und Auftrag einer oft breitgef.i.cherten Eigentümerschaft geruhrt. Diese Konzerne mußten nicht nocwendig »multinational« sein, wurden es aber häufig im Zuge der enormen Expansion der Weltwirtschaft, die im achten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzte. Anders als die Charter-Kompanien in der Epoche des frühneuzeitlichen Merkantilismus, verfiigten sie nicht über staatlich verbriefte Monopole, konnten sich aber oft durch schiere Marktmacht monopolartige oder oligopolistische Stellungen sichern. Im Unterschied zu Eie und VOC brachten sie nicht nur den Handel, sondern vielfach auell die Urproduktion unter ihre Kontrolle, indem sie selber in die Gewinnung und Herstellung von Handelsf,riitcm investierten. Mit oft erheblichem KapitalaufWand legten sie Plantagen und Fabriken an, Bergwerke und Ölförderinstallationen. Die frühen multinationalen Konzeme der Zeit zwischen et\va 1880 und 1920 tätigten also in großem Umfang Direktinvestitionen in den Ländern, die man um die Mitte des 20. Jahrhunderts als liDritte Welt« bezeichnen würden. Spezielle Kolonial- und Übersecbanken wurden gegründet, um neben dem Handel mit Lateinamerika, Asien und Mrib auch das Anleihengeschäft mit diesen Ländern und den direkten K:tpitalexport in sie zu organisieren. Schließlich waren diese multinationalen Konzerne viel besser als frühere Unternehmcnsformen geeignet, überseeische Märkte tiefen wirksam zu lIerohernK Zu diesem Zweck bauten sie eigene große Vermarktungsnetze auf Dadurch wurden sie von einheimischen Händlern unabhängig und konnten zugleich durch Reklame und Serviceangebote ihre Markenanikelnamen bekannt machen und durchsetzen. Imperial Chemicallndustries (ICI) unterhielt fUr den Verkaufvon Kunstdünger und Farben in Indien Mine der dreißigerJahre des 20.Jahrhunderts über den ganzen Subkontinent verstreut 1.500 Depots und beschäftigte 2.500 Angestellte und 15.000
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Verteiler. Die British-American Tobacco Corporation (BAT) betrieb in China ein noch umfangreicheres Vertriebssystem fiir Zigaretten. Sie verkaufte aufdiesem Wege in zunehmendem Maße Produkte, die sie in sieben großen Tabakfabriken in Shanghai und anderen chinesischen Städten herstellte - ein Lchrbuchbcispiel konzerninterner Importsubsirution. Die neue Gewohnheit des Zigarettenrauchens brachte sie den Chinesen in aufV"rendigen Werbekampagnen nahe. Mao Zcdong, eincr der rabiatesten Anti-hnperialisten des 20. Jahrhunderts, war bekanntlich ein großer Freund des Nikotins. Ob er ausländische Zigaretten konsequent verschmähte, ist nicht bekannt. Der vierte der großen Innovatiollsschübe, die elektronische Revolution der letzten Jahrzehme, bedarfkeiner näheren Erläuterung und fallt auch aus dem Rahmcn unserer Diskussion. Es mag aber dar.1.I1 erinnert werden, daß die rur diesen Prozeß charakteristische Reduzierung des Zeitfaktors in der weltweiten Informationsübermittlung, die es heute ermöglicht, große Datenmengen innerhalb von Sekunden um den Globus zu schicken, einen Vorläufer hat: die Verkabelung des Erdballs durch transozeanische Tiefseeleirungen rtir den Telegraphenverkehr. Sie begann 1866 mit einer Verbindung zwischen Irland und Neufundland, also zwei britischen Besitzungen. Einen wichtigen Anstoß zur Einrichtung von Te1egraphenverbindungen zwischen den Kontinenten gab ein offen imperiales Motiv: der Wunsch, die Verbindung zwischen Landon und Indien zu verbessern. Dies gelang 1870. WenigeJahre späterwurdcn Australien und Neuseeland, also der fUnfte Kontinent, von Indonesien (Holländisch-Indien) aus an das Kabclnetz angeschlossen, nach 1879 schließlich die Zentren des europäischen Kolonialismus in Afrika. Die Einfiihrungdcr interkontincntalen Telegraphie kam einer frühen Nachrichten revolution gleich: Waren Briefe von London nach Hongkong 1860 noch im günstigsten aBer Fälle - aufeinem schnellen Teeklippcr bei guten Winden43 Tage unterwegs, so verkürzte sich nach der Verkabclungder südchinesischen Kronkolonie im Jahrc 1871 die Übermittlungszeit auf wenige Stunden. Die telegraphische Erreichbarkeit der außereuropäischen Peripherien legte eigenwillige Kolonialbcamte an die Kandare ihrer Vorgesetzten in den Hauptstädten; es war nun schwieriger, Willkürlichkeitcn durch das Fehlen von Instruktionen aus Landon oder Paris zu entschuldigen. Sie verbesserte die Chancen aktueller Reportage: Über den gigantischen Taiping-Aufstand, der in den Jahren 1850 bis 1864 das Chinesische Kaiserreich erschütterte, erfuhr man in Europa verhältnismäßigwenig; spektakulärc Ereignisse derJaluhundertwcndc wie der chinesische Boxeraufstand von 1900, der Burenkrieg oder der Spanisch-amerikanische Krieg von 1898 konnten hingegen dank ncißig kabelnder Korrespondenten in den neuesten Ausgaben der TageszeitUngen mirverfolgt werden. Auch rur den Wirtschaftsverkehr bedeutete die Telegraphie einen tiefen Einschnitt. Die Märkte in Übersee reagierten fortan weitaus schneller und empfindlicher auf Signale aus den Metropolen; Zahlungsmodalitäten ließen sich 269
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durch telegraphische Anweisung erheblich vereinfachen; und die Möglichkeit des raschen BestelIens beim Erzeuger verminderte die Kosten teurer Lagerhaltung und öffnete manche Geschäftszweige fur gering kapitalisierte Neueinsteiger. So trug auch schon die ))kleine~ - die elektrische vor der elektronischen Kommunikationsrevolution des spätcn 19. Jaluhundcrts dazu bei, daß Europa und die USA ihren ZugriffaufLateinamerika, Asien und Afrika um einen weiteren Schritt verstärken konmen. Es gibt keine anschaulichere Illustration der Macht des britischen Empire als eine Weltkarte, die zeigt, daß 3m Vorabend des Ersten Weltkriegs 6O%der Seekabel, darunterdie wichtigsten, zwischen Stationen verlicfen, die dem Schutz der Royal Navy unterstanden.
11. Kolonie - Halbkolonie - souveräne Nation Der zweite und der dritte Innovationsschub sind besonders wichtig und interess:mt, weil sie in engem Zusammenhang mit der Entstehung und Entwicklung eines einheimischen Kapitalismus in den größeren Ländern Asiens steheil. Unter Universalhistorikern ist es ein beliebtes Gedankenspiel darüber zu spekulieren, warumllOr Nordwesteuropa nicht zum Beispiel die Region am Unterlaufdes Y.1.ngzi, also das Hinterland Shanghais und Naltiings, den Durchbruch zur Industrialisierung schaffte. Oder man mag Phantasien darüber ausspinnen, was passiert wäre, wenn in den dreißigerJahren des 15.Jahrhunderts die großen See-Expeditionen des chinesischen Admirals Zheng He im Indischen Ozean fortgesetzt und zum Aufb3u eines chinesischen Überseeimperiums vorangetrieben worden wären: Hätte China, nicht Europa das »moderne Weltsystemu (Immanucl Wallerstein) geschaffen? Solche Überlegungen sind reizvoll, bringen aber letztlich keinen größeren Erkenntnisgewinn. Es bleibt eine Tatsache, daß die Industrialisierung asiatischer Llnder erst durch die Einwirkung Europas während des 19. Jahrhunderts angestoßen wurde. Dies freilich geschah nicht im Kunstraum eines L.1.borexperimcnts, sondern auf der Grundlage jeweils besonderer Voraussetzungen: zum einen der Verhältnisse in den einzelnen Regionen Asiens vor dem Kontakt mit dem europäischen Kapitalismus, zum anderen der spezifischen Formen des politischen Vorgehens der WestIn3chte. In dieser zweiten Hinsicht finden sich große Unterschiede zwischen den historischen Erfahrungen lndiens, Chinas tlndJapans. Indien (im Sinne von Südasien, also unter Einschluß der nachkolonialcn Staaten Pakistan und Sri Lanka) wurde zum Prototyp der tropischen Kolonie. Es war nicht nur die bevölkerungs- und ressourcenreichste aller europäischen Kolonien, sondern auch ein besonders lange von Fremden regiertes Land. Nach einer Periode sich stetig verstärkender Handelsbeziehungen erlangten die Briten in den sech ziger Jahren des 18. Jahrhunderts den unmittelbaren Zugriff auf die Reichtümer Bengalens und begannen dann von dort alls eine
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Politik des Krieges und der Intrige, die sic gegen 1820 zu Herren über die wirtschaftlich leistungsfahigsten Regionen des Subkontinents gemacht hatte. Sie blieben es bis 1947. China konnte sein Territorium länger und erfolgreicher gegen die Europäer verteidigen. Bis zum Opiumkrieg von 1840-42 gestattete es den europäischen Ostindienkompanien cinen regen Handel, aber zu seinen eigenen Konditionen. Die europäischen Kaufleute, die vorwiegend an Tee, Seide und Porzellan interessiert waren, mußten sich in der südlichen Hafenstadt Kanton aufualten, durften das Landesinnerc nicht betreten und hanen es mit einem halbstaatlichen chinesischen Monopol zu tun, das im allgemeincn die cigene Position zu wahren verstand. Nach seiner Niederlage im Opium krieg wurde China lIgeö[fneh,jedoch nur in kleinen Schritten. In IIUngleichen Verträgen 11 ließen sich die Ausländer Sonderrechte verbriefen: Zulassung ausländischer Handelstätigkeit in einigen genau festgelegten Städten, den sogenannten IITreacy Ports«; Extraterritorilität, d.h. die Immunität von Angehörigen der Vertragsmächte gegenüber chinesischem Recht und gegenüber Steuerforderungen des chinesischen Staates; Einräumung von städtischen Gebietsenklaven, den llKonzessionen« oder IINiederlassungen«, die de facto von ausländischen Behörden regiert wurden; Verzicht Chinas aufselbständige Festlegung seiner Außenzölle, also Freihandel. Dieses Privilegicnsystem wurde in seinen Grundzügen bis 1860 aufgebaut. Es galt mit seinen Kernbestimmungen zumindest auf dem Papier bis 1943. Auch wenn sich nach der Niederlage Chinas im Krieg gegen Japan 1895 der Zugriff der Ausländer festigte und man fur die Zeit von da an bis zum japanischen Überfall aufdas chinesische Küstenland 1937,ja, bis zum Zusammenbruch des japanischen Raubimperiums im Sommer 1945 ohne Übertreibung von der Epoche des Imperialismus in China sprechen kann, wurden nur Randgebiete des chinesischen Reiches fur längere Zeitoffener Kolonialherrschaft unterworfen: Hongkong (1842-1997), Talwan (1895-1945), die Mandschure; (1905/311945). China war nicht, wie Indien, eine Kolonie, sondern ein eigentümliches Gebilde gemischter Souveränitäten, das man mangels einer besseren Alternative als lIHalbkoloniell bezeichnen kann. Kein Teil Japans - sieht man von den Kurilen ab, um die Rußland und Japan sich seit langem streiten- ist jemals kolonial besetzt worden. Auch eine »Halbkoloniell im chinesischen Sinne ist Japan nie geworden. Es hatte sich unter den Shogunen aus dem Hause Tokugawa (1603-1868) während der frühen Neuzeit eher noch stärker von der Außenwelt abgeschottet als das Reich der Qing-Dynastie (164+-1911) und war nach einer friedlichen KOllukuufnahme amerikanischer Kriegsschiffe im Jahre 1853 dann 1858 ebenfalls )lgeöffnet~ worden. Auch Japan mußte Ungleiche Verträge unterzeichnen, Treaty Ports einräumen sowie Extraterritorialität und Freihandel zugestehen. Doch schon 1895 war es dieser Bürden so gut wie ledig und konnte sich mit seinem Vorgehen gegen seinen alten kulturellen Lehrmeister China selber unter die imperialistischen 271
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Mächte einreihen. Der Chinesisch-japanische Krieg von 1894/95 war ein Scheidepunkt in der Entwicklung heider Länder. Sie drifteten nun nicht mehr, wie in den Jahrzehntcn zuvor, langsam auseinander, sondern gerieten aufeinen Konfrol1tationskurs, der im Grunde erst mit der Normalisicrung der diplomatischcn Beziehungen 1972 becndet wurde. Die Befreiung von ausländischcm Druck war Japan aus mehrercn Gründen möglich gewesen: Die Westmächtc erhofften sich von dem klcinenjapanischen Markt weniger als von dem großen chinesischen und vertraten daher ihre Forderungen mit geringerer Nachdrücklichkcit. Die japanischcn Machthaber hatten das Schicksal Chinas nach 1840 vor Augcn und vcrhandeltcn deshalb von Anfang an vorsichtiger. Vor allem nutzte Japan nach einem Machtwechsel inncrhalb seiner politischen Klasse, dcr sog. Meiji-Restauration von 1868, das Intcrmczzo eines vorübergehend nachlassenden curopäisch-amerikanischen Interesscs an Ostasien, um sich durch Reformen dcm Westen ähnlicher zu machcn und sich ihm als Partncr cher denn als Umerdrückungs- und Ausbcuttlngsobjekt anzubicten. Diese Strategie gelang. Drei Fälle also: eine Kolonie, eine Halbkolonie und ein im wescntlichen souverän bleibendes asiatisches Land, das in dcn Jahren seiner größten wirtschaftlichen Transformation selber zur Kolonialpolitik überging. Das langfristigc Resultat ist bek.1nm: Japan, das um 1850 scinc "industriclle Lehrzcit~ begonnen hatte, überschritt Mitte der achtziger Jahre dcs 19. Jahrhundcrts die Schwelle zu »modernem~, industricll angetriebencm Wirtschaftswachsttllll und wurde inncrhalb eincs Jahrhundcrts zum größten industriellen Produzenten der Erde, zu cincm Land, das seinc )/nachholendc!! Modcrnisierung längst abgeschlossen hat und inzwischen die Konkurrcnz einer ncucn Generation asiatischer Aufstciger - Süd korea, Taiwan, Singapore, Malaysia, u.a. - furchtcn IllUß. Indien hat sich aus dem schlimmsten Elcnd befreit, k..'mpft aber seit den siebzigcr Jahren des 20. Jahrhunderts weiterhin ohne hofTnungerweckelldc Wachstumsperspektiven mit Problemen, die nicht mehr aUe dem Erbe dcs Kolonialismus angelastet werden könncn. China - gcnaucr: dic Volksrepublik China - hat nach Jahrzehnten von Kricg, Bürgcrkrieg und wirtschaftlich ruinöscn kommunistischen Expcrimenten Wachstumsratcn crreicht, die Respekt, abcr noch kein Vertrauen in ihre Dauerhaftigkeit und in die Stabilität der sie tragenden Strukturen einflößen. Das relative Gewicht der Industrie innerhalb scincr Volkswirtschaft ist größer als in Indien, das Bruttosozialprodukt pro Kopf liegt geringfiigig höher als don, beträgt: aber nur ein Sechzigste! des japanischen. Nach dcmllHuman Developmcl1t IndexlI dcr Vereintcn Nationen, dcr die Mcrkmale Lebensdauer der Menschcn, Bildung und matericllen lebensstandard kombinicrt, rangierte Japan 2000 auf Platz 9 der Weltliste, die vn. China auf Platz 99, Indien an 128. Stellc. Seit China in erheblichcm Umfa.ng markt'..virtschaftliche Elementc zugelassen hat und voml)Sozialismus« zu einer Art von fragtnel1tiertem Staatskapitalismus übergegangen ist, unterscheiden 272
sich die drei Länder nicht mehr grundsätzlich nach der An ihrer wirtschaftlichen Systeme: Es handeh sich um drei Spielarten vor organisiertem Kapitalismus.
111. Kaufleute Es kann in einem kurzen Aufsatz nicht darum gehen, komplette Erklärungen daftir anzubieten, warum Japan die Impulse aus dem Westen nahezu umgehend verarbeitete und zur Übcrwindungeiner Krise nutze, in die das Ancien Regime des Tokugawa-Feudalisllllls seit etwa dem Ende des 18. Jahrhunderts geratcn war, warum hingegen in Indien und China im 19. und frühen 20.Jahrhundert fur ähnliche Krisen keine konstTliktiven und tragf:ihigcn Lösungen gefunden wurden. Diese höchst diffizilen Fr.lgen sind unter Fachlemen nach wie vor heftig umstritten. Es sollen hier allein einige vergleichende Überlegungen zum Thema "Macht« und _Markt« angestelh werden. Sofern man den polyzentrischen, multikulturellen Flickenteppich Indien, das nur mit größter Anstrengung von einer kleinen Bürokratie zentralistisch regierte Kaiserreich China und den ethnisch und kulturell homogenen, relativ wohlgcordncten InsclstaatJapan mit seiner Bevölkerung von weniger als einem Zehntcl der chinesischen überhaupt miteinander vergleichen kann, läßt sich feststellen: Alle drei Länder konntcn im 18. Jahrhundert ihre Bevölkerung auf demjenigcn niedrigen Niveau auskölllmlich ernähren, das man auch vom vormodernen Kontinentaleuropa kennt. Demjapanischen oderchinesischen Bauern ging es um 1750 nicht schlechter als dem französischen. Alle drei Länder kannten starke markC\Virtschaftliche Elemente. Ein erheblicher Teil der bäuerlichen Produktion ging aufden Markt; Fcrnhandel 'wurde von leistungsfahigcn Kaufm3nnsfamilien lind -organisationen über große Distanzen erfolgreich organisiert. In Indien waren die I-Iandelsnetze vielfach infolge der chaotischen politischen Zustände zerrissen worden, die nach dem Tod des letzten zentralisierenden Mogulkaisers, Aurangzcb, im Jahre 1707 um sich gegriffen hatten. Die indische Marktwirtschaft war daher stärker lokalisiert, während sich in den innerlich befriedetcn Herrschaftsgebietcn derQing- und derTokugawa-Dynastie (samt der ihr untertänigen Territorialfursten) gegenläufige Tendenzcn in Richtung aufdie Intcgration eines ~nationalen Marktes« abzeichneten. In allen drei Ländcrn kann von einem ~asiatischen Dcspotismus«, der den Handel systemansch unterdrückt und ausgesaugt hätte, im 18.Jahrhunden keine nede sein. Überall griff der Staat allcnfalls punktuell in die Wirtscllaft ein, gab es große Spic1r.iume fur die freie Entfaltung von Privatinteressen. Innerhalb der japanischcn Gesellschaft der Tokugawa-Zeit bereiteten sich zahlreiche Entwicklungen vor, die sich sp:iter beim Kontakt mit dcm Westen günstig auswirken solltcn. Vier davon sind besonders wichtig. Erstens erlebtc 273
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Jap:m seit ctw:l der Mitte des 17. Jahrhunderts einen Urbanisierungsboom, der es nach England und den Niederlanden zu der Gegend der Welt mit dem driuhöchsten Anteil von städtischer Bevölkerung machte. Die großen Städte, besonders EdcVTokyo und Osaka, wurden zu dynamischen Kraftpunkten des WirtSChaftslebens. In China hingegen waren die großen Städte meist primär Verwaltungssitze. Das kommerzielle Leben spielte sich eher in Städten kleinerer Größenordnung ab, es war weniger konzentriert, breiter verteilt. Zweitens war die Kaufmannschaft, die in den Städten saß, in Japan eine stabilere soziale Schicht als in China. Die chinesischen Kaufleute waren meist Zuwanderer von auswärts: Die einzelnen Branchen des Fernhandcls lagen in den I-länden von Händlern aus jeweils besonderen Landesteijen: Die meisten Bankiers stammten aus der Provinz Shanxi, die meisten Salzhändler aus der Stadt Yangzhou, usw. Außerhalb ihrer Heim:atprovinz waren sie daher nur Gäste und konnten sich nicht zu einem ortsansässigen Patrizi:at entwickeln. Auch wollte der chinesische Kaufmann nicht Kaufmann bleiben. Er strebte für sich selbst, zumindest aber für seine Söhne nach Lebensstil und Prestige eines grundbesitzenden Gelehnen, der in den st:l:ltlichen BcamtenpTÜfungcn einen litel erlangt oder ihn sich gekauft haue. Pan.doxerweise rührte das in unseren Augen moderner erscheinende chinesische Gesellschaftssystem, in dem es keine feudale Aristokratie gab und sozialer Auf- wie Abstieg an der Tagesordnung war, dazu, daß eine Kaufmannschaft kaum Profil gewinnen konnte. Sie war eine flüchtige Zwischenschicht. Drittens war der japanische Handel ohne die vielen Zwischenhändler und Makler organisiert, die in Indien lind China die I-I:mdelskctten in die Länge streckten und jede Übersicht verhinderten. In japan hingegen gab es integrierte Systeme: Ein und dasselbe Handelshaus besorgte sidl die Ware beim Erzeuger und bn.chte sie ohne zusätzliche Makler und Vermittler an den Endverbn.ueher. Die Folge war ein hohes Maß an Markttransparenz. Dies "virkte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders günstig auf Produktion und Export von Seide aus, einen der großen Wachstumsmotoren der Meiji-Zeit: Durch niedrige Preise, regelmäßige Lieferung und gleichbleibend hohe Qualität fegte japan die bis dahin dominierende chinesische Seidenwirtschaft, die all das nicht bieten konnte, vom Weltmarkt. Viertens schließlich lagein wichtiger Vorteil japans darin, daß ein größerer Teil der bäuerlichen Bevölkerung als in China lind Indien Bekanntschaft mit Itproto-industriellemll Hausgewerbe gemacht hatte. Die Initiative dazu lag hauptsächlich bei eher ländlichen Händlern, die sich eine neue Betätigung als scmi-kapitalisrische »Verleger« schufen. Dadurch entstand ein Reservoir an erfahrenen Arbeitskriften, aufdas die Industrie des 19. JahrhundertS zurückgreifen konnte.
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rY.Japan Lange herrschte die Ansicht vor, die wirtschaftliche Modernisierung Japans nach der Landesöffnung sei ausschließlich eine Leistung des Staates, also einer kleinen Gruppe weitsichtiger Ex-Samurai, die 1868 als Parteigänger des bis dahin machtlosen Kaisers die Macht ergriffen hatten. Das ist nicht falsch. Aber es muß gesehen werden, daß zum Zeitpunkt dieser .Meiji-RescauratioIHI in Japan als einzigem Land Asiens eine soziale Schicht existierte, die starke Ähnlichkeiten mit dem westeuropäischen Bürgertum aufwies. Um überzogene Parallelen zu vcnncidcll, ist es vielleicht besser, sich mit der Vorsicht des Ökonomen auszudrücken: In Japan gab es eine relativ große Anzahl von Menschen, überwiegend Kaufleuten und reichen Farmern im südtischcll Umfeld, die gelernt hauen, tmtt'me"merisd, zu handeln, sich also (im Sinne joseph A. SChUlllpcters) neue "vinschaftliche _Kombinationentl auszudenken. Zugleich verfugten viele von ihnen über angehäufte Kapitalien oder über Zugang zu den InstitutiOTlen des ßankgc'\verbes. Es \Y:lren vornehmlich diese _bürgerlichentl Proto-Untcrnehmer und erst an zweiter Stelle wirtschaftlich \Y:lgemutigc Mitglieder des niederen Adels, der Samurai, aus denen die erste Generationjapanischer Unternehmer hervorging. Als die LandesäfTnung neue Chancen des Außenhandels bot und als man in japan direkten Kontakt mit westlicher Technologie fand, die man bis dahin hauptsächlich über holländische und englische Bücher kennengelernt hatte, da war in höherem Maße als in China und Indien das ulllcrnchmerische Potential vorhanden, um eigene moderne Wirtschaftsorganisationen aufzubauen. Die Impulse des industriellen Innovationsschubs fanden daher rasch ein Echo in derjapanischen Wirtschaftskultur. Ohnehin war der Sta:n in der letzten Phase (1853-1868) des Tokugawa-Shogunats kaum mehr handlungsF.lhig. Die frühesten \virtschaftlichen Reaktionen aufdie LandesöfTnung bcruluen nahezu alle auf privaten Initiativcn. Freilich darfder Gegensatz _staatlich-privattl nicht übertrieben werden. Man neigt dazu vor dem Hintergrund der europäischen Erfahrung. Weder vor noch nach 1868 gab es in japan eine neutral über den Niederungen der Privatgeschäfte schwebende Bürokratie. Die wirtschaftlich aktiven (Ex-) Samurai und die um politische Protektion ersuchenden Kaufleute und Finanziers brauchten einander; es kam im letzten Drittel des 19. jahrhunderts zu einer in ganz Asien einmaligen Symbiose von Geschäft und Politik. Die fur Meiji-Japan charakteristischen großen Familicnkonzerne, die zaibatsll (der berühmteste war und ist Mitsubishi), gingen überwiegend auf politisch besonders wohlverbundene Kauneute zurück. Ihnen übertrug der Staat zeitlich befristete Monopole. In der nächsten Phase betrieb er dann eine aktive Industriepolitik: Der Staat initiierte und finanzierte Pilotprojekte, um sie preiswert zu verbufen, sobald sie in Gang gekommen waren lind das Interesse privater Geschäftsleute gefunden hatten. Weiterhin kümmerte sich der Staat im Rahmen einer umfassenden Reform, die
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auch rur die Modemisierung der Verwalrung, des Ilechtswesens, des Militirs, des Bildungssystems und vieler anderer Berciche sorgte, um den Ausbau der Infn.struktur. Die Meiji-Regierungen setzten zudem geld- und mhrungspolitische Instrumente bereits zu ciner Zeit gezielt ein, als dies in Europa noch keineS\vegs üblich war. So wurde Anfang der achtziger Jahre des 19. JahrhundertS das Mittel der Deflation benutzt, um die Wirtsehaftsstruktur auf eine gesunde Basis zu stellen. Trotz solcher Interventionen lag der Schwerpunkt der Mciji-Reformen auf der Bereitstellung eines institutionellen Rahmens, der möglichst günstige Bedingungen für die Privatwirtschaft schaffen solltc. Die Mciji-Pol itik war also nicht dirigistisch im heutigen Sinne, und sie strebte 11 icht nach staatlicher WirtsChaftsmacht als Selbstzwcck. In China hingegcn haben Regierungen immer wieder versucht, die ihnen verdächtige Sphärc des privaten Unternehmertums unter ihre Kontrolle zu bringen. Da dies vor 19491licht mit positiven Vorstellungen von einer Entwicklungs:aufgabc des Staates verbunden war, löste es unweigerlich Verwirrung aus. Zu den erstaunlichsten Seiten Japans im 19.Jahrhundert gehön die Fähigkeit eines unkorruptcn Staates, bei allcr Nähe zu privatcn Interessen immer wieder eine Politik zu konzipieren und auszuruhrcn, die gemeinwohloriemien war, also - sowcit das in einer K1asscngesellschaft möglich ist - den nationalcn Vorteil im Auge behielt. Um dies zu erklären, muß man über die Ökonomie hinausblicken: Die Meiji-Oligarchcll segelten geschickt unter dcm Banner der wiedcrbelebten kaiserlichen Institution, konmcn aber dcnnoch nicht vcrgesscn machcn, daß sie die Macht im Grunde ohne Mandat usurpiert hatten. Niemand hatte sie beauftragt oder gewählt, und um ihre Lcgltimität stand es keinen Deut besser als um dicjenige der abgescrzten Tokugawa-Dynastie. Dieses Defizit versuchten die kleinen Herrscherzirkel der frühen Meiji-Zcit dadurch auszugleichen, daß sie sich als Lristllugselite definicrten. Ein weiteres kommt hinzu: Der japanische Nationalismus prägte sich früher .aus als der indische und erst recht .als der chinesische und stellte schon bald den Gedanken in den Mittelpunkt, daß die Kräfte der Nation auf den wirtschaftlichen Aufb.au konzentriert werden müßten. Dahererhieltjedes staatliche Reformdekret und jede private Firmengründung die Weihc einer patriotischen Tat. Dicse Verbindung von Kapitalismus und Nationalismus findet sich in keinem der andcrcn großen Länder Asiens. Dcn ersten, dCII industricllen Innovationsschub nutztc Japan, um zu lerncn. Ausländische Fachlcute wurdcn ins Land gchoh, aber nicmals in Positionen installiert. von denen sie wirklichc Macht hätten ausüben könncn. Sie blieben hochbezah Ite Berater. Anders als gleichzeitig die ägyptischen oder osmanischen Modernisierer, hüteten sich dic Meiji-Strategcn vor der Abhänglgkeit von ausländischen Krediten. Bis zurJahrhundertwende finanzierte sich dasjapanische WirtsChaftswunder weitgchend selbst. Als die ltCorporate revolutionll Asien erreichte, traf sie in Japan auf beträchtlichen Widerstand. Die großen zaibarsll276
OOOticg dC's ameribnischC'n Imperialismus. Studien zur EnfWicklungd~ Imperium An~flOllum 1865-1900. Göttlllb't'n 1914: Dm.• Grundzü~ der ameribnischcn Außenpolitik 17~ 1900. Fr.lukfun a.M. 1983: D. Cryrr. Der russischC' Imperiahsmus. SlUdiC'n übC'r dC'n Zusammenhang von innC'rer und aus~nib'Cr Politik 1860-1914. Göl:lingcn Im: W.). MolPlmsnt (Hg.). Der modC'mC' ImperialisITIUS. Snm~rt 1971: Dm.. Der europ~ischC' Imperialismus. Auf~t'Zc und Abhandlungen. Göltingen 1979: G. Sr/Imid,. Der europ~ischC' Imperialismus. München 1989. 5 W. Rri"lumJ. Geschidue dC'r europ~ischC'1l Expansion. 4 Bde.• StIlll~rl 1982-1990. Mehr als eine ZUs;J.rnmenfassung ist lXn.. Kleine Geschiehte des Kolonialismus, Stuugart 1996. 6 Vgl. neue Aufgabcnstellungen beiA. G. HopkillS, Back tO the FuturC': From National HislOry to Imperial History. in: P&P. Nr. 164. August 1999. S. 198-243. 7 Vgl. lUs;J.tllll1enfassendj. OSfffllOlPlmtl. Kolonialismus. GeschichtC'. FormC'n. Folgen. Mün· ehen 2(~W. S. 89-99. 8 Zum Sund der Illlperialismusforschung vgl. P. Woljt,l-listory .lind Imperia1ism: ACcmury of Theory from Man; tO Postcolonialism. in: AI-IR. Jg. 102. 1997, S. 388-420:). ~rlwmlPltl. JC'nseits ckrOnhodoxiC'. Imperium. Raum. Herrschaft und Kultur als DimC'nSKmcn von ImperialismustheoriC'. in: Periplus,Jg. 5. 1995. S.119-131: Dm.• lmpenalgeschKhtC'. in: C. ComtIgkn (I-Ig.). GeschKhtswissenschaflCn. Eine Einfilhrung. Fnnkfun a.M. 2000. S. 221-232; B. &1th, IntC'tlUtionalC' GcschichlC und C'UropiischC' Expansion: Die ImperialistnC'n des 19.Jahrhunckns. ill: 1...,,11, u. OsItrIwmnvl (Hg.). InlCmauonak GeschlchlC. S. 309-327. Vorbildhch ist die AufarbC'i· tUng der LilCr.llUr zum gröBlCn der f'lC'uttithchcn ImperiC'n in: IV. R. I...ouis (Hg.). TbC' Oxford
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von KoloPliell durch die industrialisierten Nationalstaaten im Zeitalter des IJHochimperialismus« spielt heute längst nicht mehr die dominierende Rolle, die ihr in dcn sechziger und siebzigcr Jahren zukam. Stärker beachtet als das Problem des »ni~n. p.. d~rborn 1991 1, S. 68 ( 122 Vgl. R. K Btas. ThC' Dclusion oflmtnm..llmc....-ention. in: FA,Jg. 73:6., Nov./Dc:z. 1994.
S.20-33.
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der Itchirurgische. Zugrin~ der mit möglichst geringem Mineleins3lz die Machtverhältnisse zugunsten des Intervenienten korrigiert. Dieses Ideal ist nicht allzu häufig verwirklicht worden. Daß, wie 1956 in Ungarn oder 1989 in Panama, die Hauptziele innerhalb weniger Stunden errcicht wurden, ist uncharakteristisch. Interventionen haben sich zuweilen über Jahre oder gar Jahrzehnte hingezogen und zu hohen Opferzahlen geftihrt: Die USA verloren in Viernam 58.159 Soldaten, die Sowjetunion in Afghanistan vennutlich um die 75.000. 123 Die Verluste unter der einheimischen Bevölkerung der betroffenen Under wa.ren um ein Vielfaches höher. Man rechnet mit bis zu 1,7 Millionen vietnamesischen Toten durch Kriegseinwirkung fiir die Jahre zwischen t 964 und t 975. 124 Sofern länger andauernde militärische Interventioncn aufeinheimischen Widerstand stoßen, ist GuerilIa- oder Partisanenkrieg dic vorherrschendc Form. Besonders im städtischen Umfeld treten - vor allcm im 20. Jahrhundert - daneben passiver Widerstand und ziviler Ungehorsam. Das Gewaltprofil der Intervention unterscheidet sich zwar nicht eindeutig, aber doch erkennbar von dcm des zwischcnstaatlichen Krieges. Die Intervention ist einc Art von Krieg im Frieden. Sie wird nicht unternommcn, um die Gewichte innerhalb einer gegebenen internationalen Ordnung deutlich zu verändern, sondern überhaupt nur dann, wenn kriegerische Reaktionen anderer Großmächte nicht zu erwartcn sind. Dies eben ist das Imperiale an der Intervention: Der Intervenient handelt nicht im spieltheoretisch faßbaren Interdependenzsystem von ungefahr gleichrangigen machtswtlichen Akteuren; er verhält sich vielmehr als Zentrum zu einer Peripherie. Handelt es sich gar um eine innere Peripherie, der gegenüber ausschließliche Kontrolle oder gar Souveränität beansprucht wird - Rußland im Verhälmis zu Tschetschenien \.'I2re ein Beispicl-, dann kann die Intervention im Inneren durch das Beharren aufNicht-Intervcmion von außen abgcschitlm werden. Sie erscheint dann propagandistisch als intra-imperiale Polizeiaktion. Auch besitzergreifende Interventionen sind bisweilen aufdiese Weise gcreclnfertigt worden. So versuchteJapan, seine Okkupation der Mandschurei im Herbst 1931 als gleichsam stellvertretendes Eingreifen einer »zivilisicrten. Ordnungsmacht in das .Chaos. und die »Barbarei« Chinas anzupreisen. Teile der Öffentlichkeit im Westen folgten ihm dabei und wiegten sich in der Illusion, die eigenen Interessrn durch das japanische Militär angemessen vertreten zu schcn. l25
123 S. J. Kudu (Hg.). Encyck>pedl:l of the Vietn:lOl W:ar. Ncw York 1996, S. 104: B. W Jmdtsotl 1I./t E. l..nitt, Thc An:llYSls ofProtlXtcd FOrC'ign Miliury Intervention, In;A. E. Uvi" lI.:I. (Hg.), Fordgn Miliury Im('rv('mion; TI'l' Dytumics of Protractcd ConfliCl. Ncw York. 1992, S. 1-22. hi('f S. 10. 124 j. P. H,miSOfl, 11lc Endlcss W:lr; FiftyYe:anofStrugglc '" V~m:llll, Nl'WYor-k 1982. S. 301. 125 Dies zeigt:lm 8dsp~1 FnllkrC'lChsj. ~VI«Jr, Wl'ß in d)(' .Decxknc('_. Fnnkreich und dIe nundschurischl' KriS(' 1931-1933. Bonn 1995.
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Der alte Streit zwischen politischen und sozio-ökonomischen Deutungen des Imperialismus ließe sich entschärfen, würde man der imperialen Intcrvention größere Aufmerksamkeit schenkcn.lnterventionen gehen mitunter aufdie lokale Initiative von .men on thc spot. zurück, die sich von Tatendrang und Ka.rrierehoffnung antreiben lassen; der Überfall aufdie Mandschurei vom IR September 1931 wäre dafür ein lkispicl. l26 lntervenrionen können aber ebensogm explizit der Veneidigung und Auswcirung wirtSChaftlicher Interessen dienen, zumal dann, wenn diese sich als Interessen der nationalen Sicherheit zu camouflicren verstehen. Die Intcrvenrion ist in der geschidnlichen Wirklichkeit oft ein polyvalenter Akt. Eben das macht sie gecignct, dogmatisch und mit Ausschlicßlichkcitsanspruch verfochtene Interprctationsmuster zu relativlcren.
126 Vgl. d.... kl.lSSisc~ Studk s.~. Ddiana: in Manchuria: Thc MilingofJlpancsc Forcign Policy 1931-1932. Bcrkelcy 1964.
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13. Der europäische Nationalstaat des 20. Jahrhunderts. Eine globalhistorische Annäherung
Zu Nation, Nationalstaat und Nationalismusscheint einstweilen alles gesagt zu sein. Ein reichhaltiges Instrumentarium theoretischer Analyse, das zu eklel1:ischem Umgang einlädt, liegt bereit.' Daß der Nationalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Höhcpunkt seiner lveltlveilen Bedeutung erreicht hat, wird allgemein anerkannt. Zugleich haben der Zusammenbruch der DDR und die Osterweiterung der Bonner Republik das Problem des deutschen Nationalstaates und damit die Kominuitätsfrage wieder aufdie Tagesordnung politisch-historischer Dcbaucn gesetzt, ohne daß sich gänzlich neue Bewertungen offcnbart hätten. Die folgende Betrachtung will weder der Nationalismusforschung, die der Autor nur in Ausschnitten überblickt, ein ncucs Glanzlicht 3ufstecken noch zur Urteilsbildung über Nation und Nationalismus der Deutschcn beitragen. Sie verdankt ihre Entstehung der ungewöhnlichen Idee Christian Meiers, einen Historiker Außereuropas und dcr Imperien U111 einen Kommentar zu Europa und seinen Nationalstaaten zu bittcn. Ich nähere mich dieser nicht untückischen Herausforderung mit der respektlosen Naivität des Dilettanten, lIwelcher sich cin Vergnügen aus dem macht, woraus Andere sich eine Qual machen. (Iacob Burckhardt).2
I. Anl 20. Mai 2000 schrieb das Londoner Wochcnmagazin 71u' &otlomisl in einem Leitartikel: .Evell the founding fathers ofthe Ellrope:m Union, Francc and Germ:my. sceln 1I1lSlire now what they want from il. The old imperative of post-war rcconciliation has fadcd aud Ilothing comparablc has taken its place.~
1 Es gIbt mzwischen bereits dne umf:mgreiche Einfuhrungslltef2tur. Ein ~nden breltC'S Spektrum an thcoretischen Positionen priscntienJ. Huu:hinsoJ1 u.A. D. Smuh (Hg.). N:nionallsm. Oxford York 1994. Unembchrhch in D. UJ1grwitslllC'. Nalion. Nationalismus. N:ltion:llstur: Forschungsstand und Forsc:hungs:pc:rspc.kti\"~n.in: NPl.Jg. 40,1995, S. 190-236. 2 ]. BurrHumlz, Ük'r das Studium der Geschichte. h. v. P. GDru', Münchenl982. S. 1223 Tbc Economisl, 20. Mai 2CXXl. S. 39.
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71.e Etonomist vertritt seit jeher eine europafreundliche linie. Es spricht hier also nicht die Stimme des »British euroscepticismlC. Auch spiegeln diese Sätze nicht allein die jüngste in einer langen Reihe unvenneidlicher Krisen der europäischen Gemeinschaftsbildung. 4 Das Ziut, umfassender interpretiert, macht an der JahrhundertWende deutlich, daß das 20. Jahrhundert keineswegs durch eine kontinuierliche und stetige Entwicklung vom Nationalswt zu suprastaatlichen Verbünden gekennzeichnet wu. s Obwohl es einen solchen Trend unzweifelhaft gibt und er aus europäischer Sicht sogar als eine der bedeutendsten und erfreulichsten Entwicklungslinien der Epoche betrachtet werden könnte, besteht auch hier - wie in vielen anderen Hinsichten - kein Anlaß zu selbstgerilliger Fortsehrittszufriedenheit. Es ist nämlich während des gesamten 20. JahrhundertS weltweit zwar zu Verflechtungen aller Art. und zur Entstehung unzähliger intemationaler Organisationen gekommen, in keinem spektakulären Fall jedoch zu einer dauerhaft beständigenJreiu/illige" Amalgamation von Nationalstaaten und nur in Westeuropa seit den frühen ftinfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu der historisch beispiellosen Erscheinung von SupranationaliÜt, also der institutionell verankerten »verfassungsrechtlichen Durchsetzbarkeit öffentlicher Gemeinschaftsgewah gegen SuatsgewahlC,6 anders gesagt: der Herausbildung einer bürokratisch teilautonomen H:mdlungssphäre oberhalb der Einzclstaaten, die Gesamtimeressen vertritt, Souveränitätsbefugnisse wahrnimmt, ohne dabei aber die Mitgliedsgesellschaften einem größeren soziokulturellen Homogenisierungsdruck zllllnterwerfen. 7 Man wird bei einem Thema wie diesem nicht ohne begrimiche Vorklärungen auskommen. Sie betreffen zum einen den »Nationalsta.atlt, ZUIll anderen das Konzept dersuprasuadichen oder supranationalen Integration. Damit wird bereits etw3S von der Argumenutionsstrategie deutlich, die hier verfolgt werden soll: Ausgangspunkt sind nicht »Nation« und ItNationalismus«, von denen dann, \v1e es oft oder gar meist geschieht, »Nationalstaatlt abgeleitet werden würde. Wir beginnen beim Nationalstaat. 4 Soeben halle der französische IllllenministerJe:m.Cbude Chcv~nelllentaufeiTle Europan:de des deutsChen AußenministersJoschka Fischer vom 12. Mai 2000 mit der Ikmerkung reagien. himerden deutsChen Föclerationswünschcn verberge sich der alte Traum von Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. ja sogar der Nations~grifTdes Nationalsozialismus. Vgl. Frankfurter Allb't'l1leine ZeilUng. 23.5.2000. Kurzfassung der Rede des Bundesaußellmillisters in: ebd .•
15.5.2000. 5 Das diskominuierliche Verlaufsmuster der wirtsChaftspolitischen Integration Europas macht z.B. deutlich: G. Ambmrius, Winschaftsraum Europ.:a. Vom Ende der Nationalökonomien. Fnnkfun a.M. 1996. S. 641I 6 So die Definition von Supranationaliut durch den Europ.:arcchtlcr H. P. lpxn. zit. nach G. ~,Supr:uutionaliut als NO\IUm in derGeschKhtc der internationalen Politik der fiinfzigcr Jahre. in:Joumal ofEuropcan Imcgr:ation History,Jg. 4,1998, S. 5-21. hier S. 5f. 7 Vgl. auch M. R. Lqnius. Die Europäische Gemeinschaft und die Zukunft des Natioru.lsw· tes, in: Dm.. Demokratie in Deutschland. Sozio&ogisch.hi5torische Konstelbtionsanalyscn. Ausgcwi1hc Aufs3tze, Gö«ingcn 1993. S. 249-264.
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Mit welcher der zahlreichen Definitionen von ItNationalstaatll man anfangt, ist ziemlich gleichgültig. Kritik fuhrt in jedem Fall zum Ziel. 1995 hat OttO Dann eine, wie er sagt, Itdefinitorische Umschreibunglldes Nationalstaates vorgeschlagen, die folgendermaßen lautet: liDer moderne Nationalstaat ist ein Staat, in dem die Nation als die Gesamtheit der Staatsbürger der Souverän ist, jdcr} die politische Herrschaft festlegt und kontrolliere. Die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger an den Institutionen, Leistungen und Projekten des Staates ist sein leitendes Prinzip. i! Das ist eine wohldurchdachte und ftir viele Zwecke brauchbare Begriffsbestimmung, aber doch eine, die mit solch hohen nonnativen Ansprüchen an politische Partizipation daherkomlllt, daß sie eine übergroße Zahl von Fällen ausschließt. Polen uIHer kommunistischer Herrschaft, Spanien unter Franco, Süd afrika bis zum Ende der Apartheid: das wären dann alles keine Nationalstaaten gewesen - eine Kategorisierullg, die der Intuition zuwiderläuft. Und wie wäre Großbritannien einzusrufen, das erst 1928 das allgemeine Wahlrecht fiir Frauen einftihrte, und das Frankreich der 111. Republik, das dies erst 1944 tat?9 Für manche Argumentationszusammenhänge empfiehlt sich eine formalere und zugleich historisch konkrcter verortete Definition. Hagen Schulze hat dargelegt, wie in Europa zuerst der »modeme Staat« auf den Plan tritt, wie sich in einer zweiten Phase lIStaarsnarionen« und dann . N olksnationen« herausbilden oder sich selbst als solche definieren und wie erst in der Zeit nach der Französischen Revolution ein gesellschaftlich breit fundierter Nationalislllus - Schulze sagt ItMassennationalislllus« - das Formgchäuse des Staates annektiert. Hagen Schulze vermeidet eine explizite Definition von »Nationalstaatl~, verdeutlicht aber, was er meint, in einem ,..grand rccit«, das in säubcrlicher Pcriodisicrung den Itrevolutionären« (1815-1871), den »imperialen*( ( 1871-1914) und schließlich den »totalen« Nationalstaat (1914-1945) aufeinander folgen läßt. lO Injedem Fall erscheint der Narionalstaar hier als das Kompositprodukt oder die aufhehcnde Synthese von Staat und Nation: nicht einer virtuellen, sondern einer mobilisierten Nation. Wolfgang Reinhard hat der Diskussion um den historischen Ort des Nationalstaatesjüngst eine andere Wendung gegeben, wenn er, im Einklang mir einer offenbar erstarkenden Srrömung in der neueren Nationalismustheorie, formulien: »Die Nation war die abhängige, die Staa[Sgewalt aber die unabhängige 8 O. DiJllII. Zur Theorie des Narionalsu;nes. in: Deutsch-Norwegisches StilX'ndicnpro~ gramm rur Geschichtswissenscharten. Bericht über du 8. deutsch-non\lcgischc l-lislOrikertrdTen in München, Mai 1995. Oslo 1996. S. 59--70. hier S. 69. Eine solche IXfinition fehlte noch umer den ~GrundbegrifTen. in O. Ofl,lll. N;;l!iOll und Nationalismus in Deutschland 1770-1990. MÜII~ ehen 19942, S. 11-21. 9 In lulien und Belgien mußten Frauen sogar bis in die Nenitätsansprüche werden dort zum Beispiel erhoben? Dies fUhrt zur zweiten VorkJärung, derjenigen des Integrationsbegriffs. Hier muß man grundsätzlich zwischen zwei Formen der Zusammenftihrung politischer Großverbände unterscheiden: von -objektiven_, nidll.askr;pt;ven FaktoreTlulUerscheide ich mich von W. Corrrror (Elhnon:uionalism: The Quest for Undemanding, Princelon 1994), mil dessen reslriktivem Ikgriffvon .Nalio-nalSI""h es ansonsten manche Berührungspunkte gibt. Vgl. die faire Einsch~lzung ConTlors bei LAngtWitsfht, Nation. S. 202-204. 17 ReirrlumJ, Geschichle der Sl:latSgew:ah, S. 443. 18 VgI.elW:a H. KM/bit, Europäische und nalionale Idemität seit dem ZWclten Weltkrieg, in: W. 11. Kir.snitzky u. K.·P. Siek (Hg.), Demokratie in DeUtschland: Chancen und Gcfahrdungcn im 19. und 2O.Jahrhundert. Historischt': Ess:ays. München 1999, S. 394--419 (mit ausführlichen Literaturan~ben). Vgl. aber auch die grunds:i12liche Kritik am IdelllitätSbcgriffbei L Nietmllnmer. Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unhcimlicht':n Konjunklur, Rt':inbek 2000 (zu Europ:a
S.525-551).
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(1) Die erste Form ist die Zwangsimegration »von oben«, die im übrigen niemals ganz ohne die Mithilfe von einigen der Integrierten auskommt. Man kann sie die impen'ale lmegratioll nennen. Sie geht bei Lockerung der Bindung und größerer Selbständigkeit der Teileinheiten fließend in den Typus der hegemollialen Integration über. (2) Die zweite Form ist freiwilligen und assoziativen Charakters und zeigt größerere Anteile einer Initiative lIvon unten«, wobei auch hier meinungsbildende und organisierende Eliten unerläßlich sind. Es bietet sich daflir verfassungsgeschichtlich der Name der fdderaletl ltlfegratiotl an. Beide Formen kommen in der historischen Wirklichkeit oft in Verbindung miteinander vor. So haben sich in Kanada schrittweise seit 1867 und in Australien imJahre 1901 unter dem imperialen Schirm des britischen Weltreichs einzelne Kolonien zu Föderationen zusammengeschlossen, die sich - in Austnlien deutlicher als in Kanada - von Anfang an als Nationalstaaten verstanden. Ähnlich vollzogen sich die Anfange der europäischen Wirtschaftsintegration nach 1945 im Zusammenhangder hegemonialen Integrationspolitikder USA. deren Beginn man auf die Schaffung des Systems von Bretton Woods datieren kann. Geir Lundesud hat treffend von It«empirell by integration« gesprochen. 19 Auch die deutschen und italienischen Nationalstaatsbildungen des 19.Jahrhunderts, die Theodor Schieder in einer vielverwendeten Typologie als »unifizierendelC Nationalstaatsbildungen gekennzeichnet hat,2l'l geschahen im Zusammenspiel beider Integrationsrypen: die preußischen lIEinigungskriege« trugen einen deutlich imperialen Charakter und flihrten nicht grundlos zu einem deutschen liRe ich«, nahmen aber Bestrebungen eines assoziativen deutschen (nicht preußischen) Nationalismus auf, so daß das Endresultat ein föderativ geordnetes Reich war. Alle diese Beispiele belegen auch, daß Integrationsvorgänge stets von innen wie von außen betrachtet werden müssen. Die europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts definierten sich maßgeblich durch souveräne Handlungsfreiheit im internationalen Raum, locker gebunden durch das ungeschriebene Regelwerk eines Gleichgewichtssystems, welches nach der Jahrhundertmitte zunehmend an Verbindlichkeit verlor. 21
19 G. LUlldtsflld, .Empire" by Integr.alion: The United SUles and European Integralion, 19451997. Oxford 1998. 20 Vg. Th. Sthinkr, Naliomlismus und Naliomlsual. Sludien zum nationalen Problem im modernen Europ:l.. hg. v. O. ~1l11 und I-l.-U. Wthln-, Göuingcn 1991, S. 69f. 21 VgI.A. Dotring-Mmlltllffd, Vom Wiener Kongreß zur P:l.tiscr Konferenz. England, die dcmsehe Frage und das Mächlcsystcm 1815-1856, Göttingen 1991, S. I87ff.
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11. Das 19. Jahrhundert gilt im Rückblick der Historiker weithin als das »klassische« Zeitalter des Nationalstaates. Man denkt vor allem und zu Recht an die staatlichen Aspirationen von Nationalbewegungen22 und daran, wie sich innerhalb des europäischen Staatensystems den lIalten(( Nationalstaaten England und Frankreich die Neugründungen Deutschland und Italien hinzugesellten. Blickt man aber über diesen Kern hinaus, dann fallt es schwerer, eine Dominanz des Typus ~Nationalstaat« festzustellen. Zum europäischen Staaten-»SystemlnllBusiness in Ih~ Nin~lttmh Ccnrury: Th~ RiS(' md Fll1 of1Cosmopoliun Bourgroisie, ßrighton 1987. 33 Vgl. K Hildtbrand. Du t Der transatlanfische Seeweg ermöglichte ein bedeutend höheres Transporrvolumen. Voraussetzung dafür war ein hinreichendes afrikanisches Sklavenangebot. Europäcr wurden zwar zu Sklavenhändlem, die bei der Überfahrt, der berüchtigten »middle passage« oft mit äußerster Herzlosigkeit vorgingen, aber sie taten so gut wie nie den Schritt, die Sklaven selbst zu fangen. J5 In Afrika gab es selbstverständlich bereits zahlreiche Gesellschaften mit Sklaven, ohne daß Sklaverei, die don, wosie existierte, keinesfalls bagatellisiert oder gar idealisiert werden sollte, die alles prägende Grundbcziehung der sozialcn Organisation gewesen wäre.lI> Erst die europäische Nachfnge intensivierte die Sklaverei auch im Inneren Afrikas; seit etwa der Mine des 18. JahrhundertS wurden sogar zahlreiche Kriege mit dem einzigen Ziel geftihn, SkJaven für den Export zu erbemen,:J7 Der transatlamische Sklavenhandel war daher von Anfang an eine kollaborativc Veranstaltung, bei der afrikanische Fürsten und Händlerdie lebende Ware beschafften und bei den europäischen HandeIsfaktoreien entlang der Küste anlieferten.,M Afrika lieferte verlJ.ßlich die in Amerika benötigte Muskelkraft und dies zu Preisen, die auffreicn Märkten ausgehandelt und den Afrikanern keineswegs diktiert wurden. J9 Die einheimische Dominanz auf afrikanischer Seite läßt sich als Zeichen der Abwehrstärke gegen eine europäische koloniale Invasion lesen. 40 Hätte diese Sti:rke gefehlt, dann wäre es unter Umsti:nden möglich gewesen, den Planugenkomplex in Westafrila oder 34 Vgl. IV. D. PhiDipsjr., SbV'C"ryfrom HOlmn Times tO thc EarlyTnn~t1:mticT~. Manchc-s~r 1985. S. 81-87: R.. A. Austm. Tnns· alunn Trade. in: Drr:K1tcr u. E"ft""'ln (Hg.). HIstonal GuKk. S. 367-370. 35 Zur afrikanischen Seite des Sklavenhandds n:Kh wk vor grundlegt'nd: A. IVin. SklavereI und bpialistischcs Weltsystem. Fnnkfun a.M. 1984. Kap. 2. 36 Zu Formen indigcner Skbvcrd in afribnischcn Gescllschaften vgl.). Thomfon. Afrin and Afrinns in the Making ofthe Atlantic World. 1400-1680. S. 72-97; P. E. Lm'9o'Y. Tnnsfonnations in Slavery: A HislOry ofSbvery;n Africa. C:uTlbridge 1983; P. Mllr",;ttg. Sbvcry and Mnan Llfe; Occidcnal. Or;cl1al, and African Slave Tooc:s. Cambridge 1990. 37 K1~in. Atlamic SIa\'C Tr;l.de. S. 58. S. 71 f. Ebd .. S. 90([. 103fT. lIbcl' die ;l.rribn;sche Kontrolle des Handels. 38 Eine weniger monlisiertnde als sozlalgcsdüchdich akzentulene Interpreation. die die Intercsscn vermiuclndt'r Kaufmannsgruppcn betont: ebd.• S. 54f. Thomlon. Afrio and Afncans. kommt zu dem Schluß: _( ... 1 we must :KUpt that Afrinn panlcipatioll in the slave trade W,;b;k 39,188,226,228f.,267.306,317. 347f., 351, 360 Kenia 229 Kongo 336 Korea 35,50,53, 191,224, 2n. 278, 308f. Kosovo 290,293,316 Kuba 290,307,309.349,357
Habsburgerreich 13,210.328,331 Hai li 307,348,350,357 Hawaii 183(,201,204
Hellas siehc Griechenland Hdsinki 73 I-liroshima 332 Holland siehe Niederlande Hongkong 269.271, 278. 2BO Indien 17.20,28,34-7.50(,58,60,65. 71f.. 79-S3, 8&-92. 94fT., 102, 112, 119, 122. 138, 140fT., 147f.. 174, 178, 18893, 199,202[,210.221, 227fT., 235fT., 254f., 263, 266-82, 303[, 307, 331. 339. 345f.,363 Indonesien 37, ffl. 91, 269, 345
Innensicn siehe Zentralasien
Lateinamerila siehe Amerika Leipzig 156, 163f. Libanon 250. 290, 309 lolldon 112f., 128, 144,269,280, 301f.. 314,322,329
M3C3U 225 M3dagaslar 361 M3nchcster 113 M3ndschurei 271, 28 I, 32Of, 332 Martinique 347 Mesopoumien 96 Mexiko 36,54.74, 102, 190,227,230, 239f, 245-8. 263, 295, 306, 310, 317, 329,340,347 Mexiko-Sudt 219 379
Minelmcer 13,73. 101, 166, 168, 186, 196(. 2Il2, 314[, 337, 345ff, 352 Mittlerer Osten siehe N.aher Osten Mogulreich siehe Indien Moz.ambique 40.345,351 Münster 295 Naher Osten 75.88. 196-9,260,331 Nanjing 270,279 Navarino 299 NC:lipel 300 Neucngland 231.346 Ncusecland 15.74,85,168,269.33\ Nicaragua 307 Niederlande 23.85, 192fI. 196fI. 221. 224, 240. 268, 301. 305, 332. 335. 345ff, 350[, 354, 363ff Nordamcrika siehe Amerika Nordirland 73 ÖSterreich 296, 298, 300C. 314 Osaka 274 Osmanisches ncich 11-4,28.39.54,77. 83, 86ff, 92ff, 102, 19&-9,210, 218ff, 225,239,264,276.299,305,312-6. 319,32&-31,337 Osn:libmck 295 Oswicn siehe Asien Osteuropa 23. .30, 72[. 333, 365 Oxford 111,113 Oze.anien 8. 100.224,237.269.329 ~Iäs{in.a
196, 198. 331. 334 P.lluma 307, 310. 320 Paris 86,129.269,331,337 Pazilik 46, SO, 74, 78, 83((, 101, 180. 184,
199-202,222.4,9,264 l'earl Harbor 294 Pelcing (!k;j;ng) 84, 192,311 Persien siehe Iran Persischer Golf 331, 345 ''''ru 16, 36, 161, 190 I'olen 294[,300(.311[,324,326,333 1'0"uga1 39,74,92, 192[,221,298,304 336,347,354.365 fuußen 296,298,301,327
380
Rom 42, 76, 84, 101, 122, 135. 137, 145, 195,210.286,303[,308.318352, 354 Rußland 1t, 14(, 32, 51. 54(, 61. 6;, 76, 155. 162. 184,219[,267, 271. 2l4-7, 296-9,301,305.307. 312ff, 316 320, 328-33. 349,357,365[ S.aint-Domingue 307.348.357 Sansibar 319 Sar:Jjevo 219 Schottland 112, 119-22, \25-49,219. 238,326.329,350,357 Schwarzes Meer 76 Schweden 14,51,366 Schweiz 90, 300, 366 Serbien 289 Shandong 68,310 Shangh.ai 269f..2n( Shanxi 274 Siam siehe Thailand Sibirien 96,157,264 Singapore 53, 75,272.278 Sizilicn 11,40,197,300 Slowenien 289 Somalia 294 Sowjetunion 288ff., 293. 307. 311. 320. 332ff.364 Spanien 11. 13. 40. 74, 99, 101 (, 184. 187-93, 196ff. 201, 214. 218. 221. 226[,237,240, 245ff, 269. 300.306. 313,324,337,347,351,353,365 Sri Lanka (Ceylon) f5],270 Sulingnd 332 Süd.afrika 53. 101,229,295.324,348. 351. 355, 358 Südamerilu siehe Lateinamerika Südosusien siehe Asien Süd,Stt siehe ~zilik Syrien 290 T.aiwan SO, 53. 72, 271 (. 278. 280 T.anunia 317 Th.ailand 54,65,90, 100,308.363 TIanjin 278 TIbcl 333
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To~"yo
33,49,75,194,274 Tschechoslowakei 293,311, 332( Tschetsehenien 312, 320, 334 Türkei 13,55,65,82,90,94, 100, 136, 184,196[,226,236,279,290,299,314, 316, 326fI, 331, 337 Turkesun 40,333 UdSSR siehe Sowjetllnion Uganda 317 Ukraine 36,331 Ungarn 11,320,333 Ura! 76 Uruguay 15
USA 22-5, 36, 47, 49-54, 62, 64, 74fI, 86, 155, 177, 196,214,250,267-71, 284-92, 295, 299, 305-11, 320, 327fI, 334-9,348fI,3S6-9,368 siehe auch Amerika
Venedig 28 Venezuela 16 Vietnam 36,74,87,289-93, 307fI, 311,
316[,320,336 Virginia 188,348,355 Wales 219 Wesufrika siehe Afrika Westeuropa 11, 14,30,40, 52f., 56f., 60,
72(,82,86, 128, 138,215,270,275, 301,312,323,331-7,340,351 Yangzhou 274 Zarenreich siehe nllßland Zcntr.l.lamerika siehe Lateinamcrika Zclltr.l.lasiell siehe Asien Zimbabwe 229 Zypern 85,290
Bcgriffs- und Sachregister Abgrenzullgsdiskursc 232-39,2490: Abgrellwllgspraktikell 222-24 Abolition 348f., 355-59, 367-69 Aehscllzeit 42,54, 57 Agrargesellschaft 15, 35f., 55f., 68f. Akkomodalion 223 Amerikanischer Bürgerkrieg 329, 349,
359,368 Anthropologie 66-69 Anti-HumaniurislllllS 360 Anti.lmpcrialislllus 85 Asiatische Produktionsweise 19 Assimilierung 223 Atlantik als Interaktionsraum 345([ Aufklärung 17,83, 1171I, 238, 242f, Außereuropäische Geschichte 23, 41 f.,
49 Authentizität 14, 152 Barbarei, Barbaren 133, 1381I, 194,205,
220
BegrilTsbildllllg 45,66-72 Beziehungen, interkulturelle 12f. ßeziehungsgeschichte 13, 40, 43, 56f.,
1SI fI, 206, 346 BoIIl/dary maimet/allll' 210 Bourgeoisie siehe Bürgertum Boxeraufsund 67f.. 228, 241, 269, 311 Burenkrieg 269 Bürgerkrieg 291 Bürgertum 40,72,273-75, 279f. Chartergesellschaften 268 Christentum, Mission 88f., 192-95, 197,
219,225,236[ Chronologie, Zeit 56, 163(,348 Comparatiw me//uxl 18 COPll]XtratilJt poU/ia 22 Corpora/e revolutioll 266, 268, 276f., 281 Cross-wltl/ral srudies 22 CIII/ural a1ltllropology 18,44,67 Dekolonisation 22,37,74,335-37
381
Demographie 33 Demokratie 89( Despotie: 273 Diaspons, Enklaven 40. 223, 225. 326 Diskursanalysc= 252fT. Disunz 216fT. Doppdre:volutlon 348 Dritte Welt 50 Eigc=llIum 237(,354 Eisenbahn 157(, 267( Entdeckung 186-S8, 197, 199-201 Erklänmg 30-34,44(,55(,362 Esscntialisienillg 254-56,258-62 Ethnisierung von Politik 228 Ethnohistorie: 41( Ethnologie, Ethnographie 27.99-100,
149. 203. 235f. siehe auch Anthropologie. Cultunl anthropology, Sodal anthropology Europabild von Nicht-Europäern 84-90. 195(, 264( Eurozemrismus, Europnentrismus 18.
82f., 174. 176,208.262 Evolutionismus 18(,21.179, 181( Exklusionllnklusion 22OC.223 Expansion. europäische: 36(, 183-202. 205,218 Expansion, islamische 196-98 Extermination 223 Familie: 26( Feudalismus 12,20,26.274 Freihandel 271, 2n. 280, 330 Freiheit 121fT,348fT Fremdcnabwchr 224( Fremdheit 217(, 220. 234 GcgtnbcgrifTe, asymmetrische 16.234 Genozid 223,316(,319 Ge:ntry (China) 69-71,279 Geographie: 94L 153fT Geopolitik 286--88 Gcsamtgc'sdlschaft 57 Gc=sc:hichtslosigkeit 91L 94.101(,23 Gc=sc:hichlSphilosophie 18
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Geschichtsschreibung, britische 103-5