Patrick HenBler • Josef Schmid Bevolkerungswissenschaft im Werden
Patrick HenBler • Josef Schmid
Bevolkerungswissens...
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Patrick HenBler • Josef Schmid Bevolkerungswissenschaft im Werden
Patrick HenBler • Josef Schmid
Bevolkerungswissenschaft im Werden Die geistigen Grundlagen der deutsclien Bevolkerungssoziologie
III
VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothel< verzeichnet diese Publil CZl CO
b) Heiratshaufigkeit-> c) Scheidungshaufigkeit -^
Idealtypisehe Bevolkerungsweisen vorindustriell industriell (1925 bis ca. 1960/70) (1800 bis ca. 1925) fur beide Geschlechter uneinheitlich gering, Heiratsbeschrankung
einheitlich fur beide Geschlechter hohe Heiratswahrscheinlichkeit
praktisch unbekannt
im Steigen begriffen
2. Struktur der Fruchtbarkeit a) eheliche hoch, 50% der Ehen mit 5 Kindem und Fruchtbarkeit -> mehr regionalspezifisch, b) uneheliche vergleichsweise hoch Fruchtbarkeit -> c) Gebaralter und ausgeschopfte FruchtGeburtenfolge ^^ barkeit der Ehefrau (durchschnittHcher Generationenabstand) von 15 bis 45 3. Struktur der SterbHchkeit a) Saughngssterblichkeit -^ b) KleinkindersterbHchkeit -> c) Jugendsterblichkeit -^ d) ErwachsenensterbHchkeit ^• e) GreisensterbHchkeit ->
sehrhoch: 100-300 auf tsd. Geborene des Jahres sehrhoch: 3 0 - 5 0 % bis zum 5. Lebensjahr hoch hoch (bes. Miittersterblichkeit/KindbettTod) beginnend mit 50. Lebensjahr
gering, TFR < 2 bis 2
Stadt-Land-Differenz Niedrige, zeitlich konzentrierte Paritat
Sinkend, gering 25 bis 50 a. Tsd. gering gering gering
beginnend erst mit ca. 65. Lebensjahr
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7. Bevolkenmgssoziologienach 1945
Sinnzusammenhange werden deutlich, wenn in ihnen Ziele der Gesellschaftsentwicklung angelegt sind, auf die sie - wie unterschiedlich auch immer - hinwirken. Eine geringe Heiratshaufigkeit und hohe Sterblichkeit koimen gleichzeitig nur in einer agrarisch-vorindustriellen Bevolkerungsweise vorkommen. Geringe eheliche Fruchtbarkeit, hohe durchschnittHche Lebenserwartung und hohe Scheidungshaufigkeit verweisen auf eine industrielle Bevolkerungsweise: „Nicht jede Heiratshaufigkeit kann mit jeder Fruchtbarkeit oder SterbHchkeit einhergehen. AUe generative Verhahensweisen bilden ein in sich gefugtes Ganzes, haben eine Gestalt. Das ist es, was wir die Struktur der generative Verhaltensweisen Oder kurz die generative Struktur einer Bevolkerung oder ihre Bevolkerungsweise nennen."^^^ Der Begriff der Bevolkerungsweise findet sich ursprunglich bei Gunther Ipsen, der auch haufig von „Gattungsvorgang" sprach. Der Ausdruck generative struktur findet sich erstmals bei Hans Linde 1950.^^^ Mackenroth ftihrt sie am weitesten aus: „Aufeinander abgestimmte demographische Werte soziologisch homogener Gruppen (...)"^^ „Das geschichtliche Zusammenspiel generativer Verhaltensweisen einer Menschengruppe wollen wir generative Struktur nennen."^^^ (...) „Der Bevolkerungsvorgang verlauft in historisch-soziologischen Bevolkerungsweisen, das sind soziologische Strukturen des generative Verhaltens, die mit dem Insgesamt des Sozialprozesses jeweils abgestimmt sind."^^^ Es erhebt sich die Frage, auf welche Population der Strukturbegriff zu begrenzen sei. BekanntermaBen weist eine Bevolkerung soziale, ethnische und religidse Gruppen auf, die iiblicherweise im generativen Verhaltenund Lebenserwartung differeieren. Welche Breite an differentieller Fruchtbarkeit und Sterblichkeit erlaubt es, noch von homogener Bevolkerung zu sprechen und die voile Aussagekraft demo-statistischer Mittelwerte zu beanspruchen. Es ist stets zu priifen, ob der Begriff der generativen Struktur oder Bevolkerungsweise auf gesamte Bevolkerungen angewendet werden kann oder nur auf soziale Schichten, Gruppen, in jedem Fall auf kulturelle Minderheiten. Karl Martin Bolte hat nun eine eigene
562 Mackenroth, Gerhard (1955): S. 69 und Bolte, Karl Martin (1964): S. 245 f. 563 Ipsen, Gunter (1933): S. 425-463 (hier 427); Linde, Hans (1950): S. 25 ff.; ders. (1959): S. 343350. 564 Mackenroth, Gerhard (1955a): Die generative Struktur von Bevolkerungen und Sozialschichten. In: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 75, Heft 1, S. 2. 565 Ders., (1953): S. 110. 566 Ders., (1953): S. 408.
7.3 Bevolkenmgssoziologie und „Generationenvertrag"
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Definition vorgeschlagen, die die wichtigsten Mackenroth'schen Aussagen umfasst: „Unter einer generativen Stmktur oder Bevolkerungsweise soil die in einer Bevolkerung fur eine bestimmte Periode typische Art des Zusammenwirkens jener Prozesse verstanden werden, die die naturliche Bevolkerungsbewegung bestimmen (des Sterbe- und Geburtenvorgangs, bzw. ehelichen und unehelichen Fortpflanzungsverhaltens, des Heiratsalters usw.)."^^^
Historisch-soziologischeBevolkerungstheorie Der Bevolkerungsvorgang hat nun eine historische und eine soziologische Dimension. Die historische Dimension richtet den Blick auf Regeln und strukturierte Verhaltensweisen, die der Geschichte der Menschheit und Menschengruppen ihren bisher bekannten Verlauf gegeben haben; die soziologische Dimension untersucht die Gesellschaftsbestimmtheit von Verhaltensweisen, die in den Bevolkerungsvorgang eingehen. Im ersten Fall steht das generative Verhalten zur Debatte, im anderen Fall die generative Stmktur. Konstruktion und Analyse dieses Wirkungsgefuges ist die Aufgabe der historisch-soziologischen Bevolkerungstheorie. Sie geht davon aus, dass der Bevolkerungsvorgang und das Fortpflanzungs- bzw. generatives Verhalten, jeweils in eine Gesellschaftsform eingebunden ist, und sie dann als hervorragender Bevolkerungsvorgang pragt. Generatives Verhalten wandert geradezu mit der Zivilisation. So stellte schon Werner Sombart fur die Zeit nach 1900 fest, dass im generativen Verhalten allgemeine Naturbedingungen allmahlich vom personlichen Willen abgelost werden und Empfangnisverhiitung eine Trennung von Sexualitat und Zeugungswillen herbeifixhrt. Die historisch-soziologische Bevolkerungstheorie wiest nach, dass dieser scheinbar individuelle Willensakt in der Sunrnie ein Epochenphanomen darstellt und eine Bevolkerungsweise oder generative Struktur charakterisiert. Mackenroths Unterteilung generativen Verhaltens in physisches Konnen, soziales Diirfen und personliches WoUen bindet schon an die Regelungen einer Zeit. Bevolkenmgssoziologie hat daher einen ungewohnlich hohen Ertrag fur die Analyse des Entwicklungsweges einer Gesellschaft, wie fur ihre gegenwartige und kiinftige Organisationsform. Mit zunehmender Vergesellschaftung und Ausbreitung industrieller Massenkultur soUen sich Bevolkerungen auf langere Sicht homogenisieren. Der industrielle Arbeitsprozess normiert Lebensformen, Einstellungen und Lebensentwiirfe; er schmilzt auch Differenzen, die lange Zeit im demographischen Verhal567 Bolte, Karl Martin (1964): S. 259.
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7. Bevolkerungssoziologie nach 1945
ten bestanden haben, ein. Die sinkende Kinderzahl bei siidlichen Einwanderergruppen in nordlichen Aufiiahmelandem liefert das Beispiel fiir diesen Vorgang.
Wamung vor „Theorielosigkeit" Anlasslich seiner Besprechung des Buches „Grundri6 der Bevolkerungswissenschaft (Demographie)" von Roderich von Ungem-Stemberg und Hermann Schubnell beklagt Gerhard Mackenroth die grundsatzliche Theorielosigkeit neuerer Werke der Bevolkerungswissenschaft. ^^^ Den beiden Autoren - zu ihrer Zeit auch von Mackenroth geschatzt - bescheinigt er, eigentHch nur eine Geschichte der herrschenden Lehrmeinungen verfasst zu haben, anstatt einer verwendbaren bevolkerungswissenschaftHchen Theorie. Von einer bevolkerungswissenschafthchen Theorie erwartet man die Zusammenschau der Einzeltatsachen zu einem geschlossenen Bild der generativen Vorgange. Nur eine solche bietet die MogHchkeit zur Orientierung iiber Einzelprobleme und deren Einordnung in einen „groBeren sozialen Kosmos". Eine bewahrte Theorie befreit schon im Vorfeld von einer simplen Ansammlung von Daten, bietet eine differenzierte Betrachtung derselben und einen einheithchen geistigen Hintergrund. Mackenroth glaubt im Werk der beiden Autoren eine Theorie implizit erkennen zu konnen. Roderich von Ungem-Stemberg (1885-1965) wurde bekannt, als er 1931 eine Preisfrage der amerikanischen Eugenischen Gesellschaft, welches die Ursache des Geburtenriickgangs in Westeuropa ware, am besten beantwortete und dafiir ausgezeichnet wurde: die allgemein verbreitete „streberische Gesinnung, ein Derivat des kapitalistischen Geistes'* hatte ihn herbeigefiihrt.^^^ Im genannten Werk, von der ,3evolkemngslehre" bald in den Schatten gestellt, sind jedoch keine zusammenhangenden Auffassungen zu erkennen. Es bleiben nur Bruchstiicke, denen vor allem der historische Kontext fehlt. Bevdlkerungsbzw. Sozialwissenschaft im AUgemeinen konnen nicht „ungeschichtlich" gedacht und geschrieben werden: ^Alle Gegenwart ist nur ein Punkt aufdem historischen Ort langfristiger Entwicklungslinien. "^'^^
568 Ungem-Stemberg, Roderich von, Schubnell, Hermann (1950): GrundriB der Bevolkemngswissenschaft (Demographie). Stuttgart; Mackenroth, Gerhard (1951): S. 49 ff. 569 naher ausgefuhrt in: Schmid, Josef (1976): Einfiihrung in die Bevolkerungssoziologie. Reinbek bei Hamburg, S. 68-70; Hermann Schubnell (1910-1996) promovierte wahrend des Krieges iiber Familien und Kinderzahlen im bauerlichen Schwarzwald und wurde einer der bekanntesten Bevolkerungsstatistiker in Westdeutschland. Er publizierte auBerdem zu Fragen der Bevolkemngspolitik, auch in der Volksrepublik China, wohin er selbst Exkursionen fiihrte. 570 Mackenroth, Gerhard (1951): S. 53.
7.3 Bevolkenmgssoziologie und „Generationenvertrag"
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Diese Entwicklungslinien fiihren zu einem Verstandnis der Gegenwart. In ihnen zeigen sich aber auch keine reinen einseitigen Handlungsmodelle und Strategien. AUe Erklarungen des ersten groBen Geburtenriickgangs sind rationalistische. Doch „Rationalismus" reicht bei Weitem nicht aus, ein generationsiibergreifendes Phanomen zu erklaren. „Patenterklarungen" liegen auf derselben Ebene. Sie treffen nur selten den Kern der Sache und sind ein Anzeichen dafiir, dass ein soziologischer Tatbestand nicht hinreichend erklart ist.^'^^
Absage an, JVEalthusianismus", „Naturalismus" und ,3iologismus" In der ,3ev61kerungslehre" finden sich ausfiihrHche Passagen zu Malthus und den Biologisten, um nicht zu sagen: gegen sie. Um die „naturalistische Denkgrundlage (...) aufzudecken und blofizulegen, lohnt es sich, so lange bei Malthus zu verweilen. ''^^^ Mackenroth wischt alle Rettungsversuche hinweg, wie etwa „fur seine Zeit" habe Malthus recht gehabt, denn ungebremstes Zeugungsverhalten hatte ein Zuviel an Menschen und ein Zuwenig an Nahrung gebracht. Hunger, Laster und Elend seien die klare Folge. Dies auch fiir alle Zukunft auszugeben, bedeutet, Naturkonstanten einen Theoriestatus zu verleihen: „Malthus folgert aus einer Situation von geschichtlicher und soziologischer Besonderheit ein allgemeines Gesetz. Dazu verfiihrt ihn seine naturalistische Denkweise. Hier muss klare Position bezogen werden und die Denkform des Naturalismus liberhaupt kritisiert werden (...) Das Problem des Zuviel hat sich teilweise in sein Gegenteil verkehrt und einige Volker sind heute im Begriff, das Elend wirklich auszurotten. (...) Die von seinen Sichten und Deutungen ausgehende Suggestion ist doch, dass es im Bevolkerungsverhalten eine Konstante gabe und dass diese ganz bestimmt Wirkungen hat und immer haben wird. Und dieser Suggestion ist er selber (...) zum Opfer gefallen.^^^ Malthus folgert aus einer Situation von geschichtlicher und soziologischer Besonderheit ein allgemeines Gesetz, das gerade von diesen Besonderheiten abstrahiert. Das ist nur moglich, wenn unwandelbare Eigenschaflen und Veranlagungen einem Lebewesen zudiktiert werden, also auch der Menschennatur - unbeeinflussbar von Menschenzahl und von Raum und Zeit. Der Naturalismus verwechselt - ,J