Beteiligung – ein Programm für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Hans-Peter Meister · Felix Oldenburg
Beteiligung – ein Programm für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Physica-Verlag Ein Unternehmen von Springer
Dr. Hans-Peter Meister IFOK GmbH Berliner Ring 89 64625 Bensheim
[email protected] Felix Oldenburg, M.A., M.P.M. IFOK GmbH Reinhardtstraße 58 10117 Berlin
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ISBN 978-3-7908-1601-3
e-ISBN 978-3-7908-1935-9
DOI 10.1007/978-3-7908-1935-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. c 2008 Physica-Verlag Heidelberg Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Herstellung: LE-TEX Jelonek, Schmidt & Vöckler GbR, Leipzig Einbandgestaltung: WMX Design GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier 987654321 springer.com
Während der Arbeit an diesem Buch haben wir vom Tod unseres Freundes, Mentors und Beirats Dr. Frank Niethammer erfahren. Er war eine starke Führungspersönlichkeit mit klaren Überzeugungen. Durch seinen Respekt vor Menschen mit anderen Meinungen und seine Offenheit zum Gespräch mit ihnen hat er uns gelehrt, wie durch Dialog Blockaden überwunden werden können. Seinem Andenken widmen wir dieses Buch.
Inhalt
Einleitung
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Die Wiederentdeckung der Beteiligung: Wie Gesellschaft gestaltet werden kann
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Konflikte bewältigen: Politische Mediation gegen erstarrte Rituale
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Mehrsektorale Partnerschaft: Umsetzen, was ich nicht verordnen kann
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Diskursive Politikgestaltung: Besser entscheiden
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Exkurs: Wie man künstlich Relevanz erzeugt
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Vom Stakeholdermanagement zu CSR: Glaubwürdig kommunizieren
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Foresight und Innovation: Zukunft denken – Heute gestalten
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Modern regieren: Neue Wege der Bürgerbeteiligung
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Danksagung
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Über die Autoren
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Einleitung
Beteiligung und Vertrauen Wir leben in einer Zeit, in der Gegenwartsdiagnosen nur geringe Halbwertszeiten haben. Die meisten Diagnostiker beklagen Barrieren, die wir überwinden müssten, um unsere gesellschaftlichen Probleme lösen zu können. Je nach Perspektive ändern sich freilich die Schuldzuschreibungen, warum dafür die Bereitschaft fehlt. Diese Diagnosen zeigen jedoch zumeist eines: Die größte Barriere, die es zu überwinden gilt, ist der gegenseitige Vertrauensverlust. Denn: „Mangelndes Vertrauen ist nicht das Ergebnis von Schwierigkeiten. Schwierigkeiten haben ihren Ursprung in mangelndem Vertrauen.“ (Seneca) Wozu benötigen wir Vertrauen? Vertrauen ermöglicht es uns, nicht jede politische oder wirtschaftliche Handlung aufs Neue hinterfragen zu müssen. Denn wenn wir das tun, blockieren wir uns durch ständige und unendliche Verhandlungen. Wir kommen nicht mehr zum Arbeiten, sondern verharren in Debatten. So kostet Misstrauen Kraft und Geld. Deshalb ist Vertrauen eine Frage der wirtschaftlichen und politischen Wettbewerbsfähigkeit. Das Vertrauen in unsere Institutionen und Verfahren ist die Voraussetzung dafür, dass wir in einer modernen Gesellschaft mit starker Arbeitsteilung handeln und gestalten können. Mehr noch: Der Vertrauensverlust gefährdet den gesellschaftlichen Frieden und den sozialen Zusammenhalt, wenn in unserer ausdifferenzierten Massengesellschaft mit unterschiedlichsten Lebenswelten und Lebensentwürfen zentrale Voraussetzungen der Demokratie in Frage gestellt werden. Deshalb ist die Aufgabe, Vertrauen wieder zu verdienen, eine zentrale Herausforderung für den Wirtschaftsstandort, aber gleichermaßen für den Lebens-Standort und die Demokratie in Deutschland.
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Einleitung
Vom Vertrauensverlust sind in besonderem Maße die Entscheider betroffen. Ihnen schlägt viel Misstrauen entgegen: Politiker erleben, wie populistische Angriffe gegen sie auf fruchtbaren Boden fallen. Unternehmer sehen sich zunehmend dem Generalverdacht der Gier ausgesetzt. Und auch viele Engagierte aus zivilgesellschaftlichen Organisationen spüren den wachsenden Zynismus gegenüber ihren gesellschaftlichen Vertretungsansprüchen. Sie alle merken, dass sie mit ihren Institutionen nicht wie früher den Weg vorgeben können. Die „formierte Gesellschaft“ der Massenorganisationen, der Vertretungsmonopole starker Verbände und Gewerkschaften liegt unwiederbringlich hinter uns. Wo sich früher Entscheidungen im kleinen Kreis aushandeln ließen, finden sich Entscheider heute mit professionalisierten Anspruchsgruppen, öffentlichen Inszenierungen und der Erosion des Vertrauens konfrontiert. Was ist geschehen? Für uns ist vor allem ein Phänomen ausschlaggebend: Wenn Organisationen den Wandel der Gesellschaften nicht nachvollziehen und ihn mitgestalten, dann wächst die Distanz zwischen ihnen und den Menschen innerhalb ihrer Organisation. Das gilt für Unternehmen wie für die Politik oder Verbände. Die Welt hat sich schneller verändert als viele der Institutionen. Das sorgfältig über unsere Republik gelegte Puzzle von Institutionen bildet nicht mehr das darunter liegende Bild ab. Das eigene Puzzleteil zurechtrücken und neu aufstellen reicht nicht – die Teile müssen zueinander passen, die Institutionen müssen sich im Geflecht der bestehenden Systeme erneuern. Diese Institutionen erleben einen Teufelskreis: Im selben Maße wie die Steuerungsfähigkeit abnimmt, wächst die Distanz – und umgekehrt. Wir vertrauen nach wie vor Institutionen wie dem ADAC, Caritas, Diakonie oder der Familie, deren Leistung oder wenigstens Präsenz wir in unserem unmittelbaren Umfeld erleben können. Eltern vertrauen den Schulen ihrer Kinder viel mehr als dem Schulsystem insgesamt. Bürger vertrauen ihren Stadtverordneten, aber nur jeder Fünfte traut dem Bundestagsabgeordneten zu, meistens die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es ist schwerer, Fremden zu vertrauen. Viele der gesellschaftlichen Schlüsselinstitutionen sind indes für die Menschen zu Fremden geworden. Was können die Entscheider tun? Sie können die Herausforderung aussitzen und abwarten, bis die Stimmung wieder umschlägt. Oder sie können Autorität zeigen und mit „starker Hand“ regieren. Mit beiden Reaktionen werden sie kaum etwas erreichen. Sie haben aber eine dritte Möglichkeit: Entscheider können den Vertrauensverlust an der Wurzel packen: Sie können dem schwindenden Verständnis dafür, wer mit wem nach welchen
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Verfahren verhandelt und der fehlenden Zustimmung der Menschen zu den so erreichten Entscheidungen entgegenwirken. Entscheider können akzeptieren, dass Macht keine Frage einer zentralen Instanz mehr ist, die das zerstreute Wissen um Bedürfnisse, Möglichkeiten und Lösungen in sich versammelt. Heute ist Macht eine Frage der gelungenen Koordination der verteilten Zentren des Wissens. Die Ansprüche der Bürger, Mitarbeiter und Mitmenschen an Einbindung und Transparenz haben sich verändert und gehen einher mit einer gewachsenen Bereitschaft sich einzubringen. Wer diese Entwicklung statt als Bedrohung als Chance begreift, wird an Anerkennung und Autorität gewinnen. Der moderne Weg, Vertrauen zu verdienen, heißt Beteiligung. Denn Vertrauen kann nicht verordnet werden, sondern entsteht durch Mitwirkung und Mitgestaltung. Wenn wir in diesem Sinne unsere Kommunikationsverfahren reformieren, können unsere Institutionen wieder die Akzeptanz zu erreichen, die sie brauchen, um den Wandel klug zu gestalten. Um die Distanz zu überwinden, müssen unsere Entscheider neue Verfahren der Beteiligung nutzen. Dafür geben wir in diesem Buch Beispiele. Wir sind stolz darauf, mit IFOK seit 1995 nicht nur eine unternehmerische Erfolgsgeschichte geschrieben zu haben und mittlerweile mit über einhundert Beratern international in zahlreichen gesellschaftlichen Problemfeldern zu arbeiten – sondern wir haben außerdem im Auftrag von Entscheidern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft immer wieder neue Instrumente entwickelt, mit denen sie Verbündete für die Wiedererlangung von Vertrauen gewinnen. Darunter sind so umfangreiche und dauerhafte Projekte auf allen denkbaren Ebenen, wie die „Initiative für Beschäftigung!“, die größte konzertierte Initiative der deutschen Wirtschaft, regionale Kooperationen wie die erfolgreiche Regionalentwicklung im Rhein-Neckar-Dreieck, der deutsche Forschungsdialog FUTUR zur Orientierung der Wissenschaftspolitik, das Mediationsverfahren um den Frankfurter Flughafenausbau oder mehrsprachige Bürgerdialoge auf EU-Ebene und vieles mehr. Heute gehört Beteiligung noch eher zu den Innovationen mit enormem Potenzial als zum Standardrepertoire der Entscheider. Allerdings hat das „Mainstreaming“ der Beteiligung bereits begonnen. In den vergangenen Jahren ist vieles geschehen, was zuvor „Science Fiction“, dann Pioniertat war und heute Standard ist. Wenn, wie Truman Capote sagt, die Utopien des Vormittags der Alltag des Nachmittags sind, was mögen dann erst die Verfahren sein, nach denen wir als Gesellschaft morgen unsere Probleme lösen?
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Einleitung
Dieses Buch zeigt: Entscheider können heute schon gesellschaftliche Herausforderungen unserer Zeit bewältigen, ihre Handlungsspielräume erweitern und ihre Institutionen erneuern, indem sie durch innovative Beteiligungsverfahren das Vertrauen und die Mitarbeit von Partnern gewinnen. Viel hängt davon ab, dass diese Beispiele Schule machen.
Die Wiederentdeckung der Beteiligung: Wie Gesellschaft gestaltet werden kann Das Wichtigste in Kürze Unser größtes Problem in Deutschland ist: Wir lösen unsere Probleme nicht. Wohin wir blicken: Sand im Getriebe, unnötige Hürden, sinnentleerte Verfahren. Unterschiedliche und konkurrierende Interessen, eigentlich der Motor für die Suche nach besten Lösungen, blockieren sich gegenseitig in unfruchtbaren Ritualen. Um den Motor wieder flott zu machen, brauchen wir bessere Verfahren der Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung. Der Schlüssel zu diesen Verfahren heißt Beteiligung. Beteiligung löst drei Grundprobleme des Entscheidens gleichzeitig: Sie liefert die notwendige Orientierung, sie sorgt für die erforderliche Akzeptanz und sie schafft neue Spielräume in der Steuerung. Wir brauchen Beteiligung, weil das notwendige Wissen zur Lösung unserer Probleme nicht an einer allwissenden Stelle gebündelt vorhanden, sondern breit in der Gesellschaft verstreut ist. Wir brauchen Beteiligung, weil Wandel in der Gesellschaft nicht von einer einzigen Stelle verordnet werden kann, sondern Verbündete und Allianzen erforderlich macht. Deshalb setzen wir auf Beteiligungs-Verfahren, mit denen Fakten als Grundlage von Entscheidungen gemeinsam geklärt, faire Lösungen in Konflikten gemeinsam gesucht und gefundene neue Lösungen gemeinsam umgesetzt werden. Die Methoden der Beteiligung, wie wir sie bei IFOK entwickelt haben, gibt es nicht als Standardlösungen von der Stange, sondern erfordern eine individuelle Maßanfertigung. Erfolge wie beispielsweise die Initiative für Beschäftigung! zeigen, wie viel Beteiligungsverfahren erreichen können. Beteiligung als Problemlösungsstrategie gehört heute in das Repertoire eines jeden modernen Entscheidungsträgers.
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Die Wiederentdeckung der Beteiligung
„Nicht erst seit den Erfolgen der Initiative für Beschäftigung! bin ich überzeugt: Wer beteiligt, erreicht mit den Beteiligten mehr und schafft damit Vertrauen und Dynamik, die wir für unsere Wettbewerbsfähigkeit dringend brauchen. Die frische Luft offener Beteiligungsverfahren regt zum gemeinsamen Handeln an.“ Prof. Dr. Dr. h.c. Jürgen Strube Zur Person: Der Aufsichtsratvorsitzende der BASF Aktiengesellschaft war Vorstandsvorsitzender der BASF von 1990 bis 2003 und hat für IFOK besondere Bedeutung. Er war es, der 1995 Hans-Peter Meister zur Gründung eines Beratungsunternehmens ermutigte.
Symptome des Reparaturstaus: Ein stotternder Motor Ende der neunziger Jahre. Der Rückblick auf vier ganz unterschiedliche Beispiele verdeutlicht die Situation des stotternden Motors in Deutschland, in dem die Teile mehr gegeneinander zu arbeiten scheinen als ineinander zu greifen: Erstes Beispiel: Der Vorstandsvorsitzende des weltgrößten Chemieunternehmens hat ein Problem: Am Heimatstandort Ludwigshafen arbeiten mehr Mitarbeiter, als der Konzern sich langfristig leisten kann. Andere Standorte arbeiten effizienter, Konkurrenten und Investoren setzen die Traditionsfabrik am Rhein unter Druck. Jürgen Strube weiß seit Jahren, dass die Zukunft darin liegt, ein „atmendes Unternehmen“ zu schaffen, also ein Unternehmen, das sich mit seinen Arbeitskräften flexibel an die Bedingungen der globalen Nachfrage anpassen kann. Die BASF ist aber kein Unternehmen, das Mitarbeiter einfach vor die Tür setzt. Mit zahlreichen Projekten zur Sicherung von Beschäftigung und zur Qualifikation von Mitarbeitern ist sie sogar Pionier bei der Gestaltung des gewandelten Arbeitsmarkts. Ludwigshafen und das Umland sind vom Engagement der BASF noch aus einer Zeit geprägt, als „Corporate Responsibility“ in Deutschland mehr gelebt als mit großer angloamerikanischer Geste beschworen wurde. Auch für andere Branchen gibt es Anlass zur Sorge: Nehmen wir als zweites Beispiel die unendliche Geschichte der Reform des Dosenpfands. Hier erleben wir, wie eine Regelung für ein einfaches und für alle einsichtiges Problem nach vielen Jahren der erbitterten politischen und juristischen Auseinandersetzung derart kompliziert ausfällt, dass sie am Ende für
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niemanden funktioniert. Kämen Außerirdische nach Deutschland und sähen die Regelung des Dosenpfands mit ihren Insellösungen, Ausnahmen und Kennzeichnungen, sie hätten kaum eine Chance nachzuvollziehen, für welches Problem diese Regelung eigentlich eine Lösung bedeuten sollte. Und das Dosenpfand ist nicht einmal ein Kompromiss, der von allen Beteiligten getragen wird. Im Gegenteil: Obwohl jede Gruppe ihren eigenen kleinen Sieg errungen hat, nützt die Regelung niemandem und die Verbraucher werfen die Dosen resigniert in den Restmüll. Szenenwechsel zum dritten Beispiel: Der Ort der Handlung könnte überall in Deutschland sein. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung um den Ausbau eines internationalen Flughafens geht in eine weitere Runde. In der Stadthalle spielt sich der bekannte Reigen der Anhörungen verschiedener Interessengruppen ab. Bereits in der dritten Generation und oft mit im Laufe des Verfahrens wechselnden Zugehörigkeiten tragen betroffene Bürger, anliegende Unternehmen sowie Kommunen unter den Einflugschneisen nacheinander ihre vorbereiteten Statements vor. Die Sitzungsleitung hört geduldig zu und gibt am Ende des Tages eine bereits am Vortag geschriebene Erklärung zum Ergebnis des Verfahrens an die Presse. Der Saal kostet für diese Anhörungen allein mehrere hunderttausend Euro. Zeitgleich finden in anderen Sälen zum selben Problem juristische Prozesse statt. Es fehlt nur der Kopf des Tigers, über den der Butler jedes Jahr wieder stolpert.
Deutschland auf dem letzten Platz? Im internationalen Standort-Ranking der Bertelsmann-Stiftung von 2006 liegt Deutschland auf dem letzten Platz von 21 Industrienationen. Genau dort lagen wir bereits 2004. Auch im sogenannten „Aktivitätsindex“, ein Maß für die „Erneuerungsfähigkeit“, steht Deutschland schlecht da, nämlich auf Platz 15, nach Platz 20 in 2004. Da gibt es keinen Grund zu Euphorie – immer noch ist Deutschland im „Abstiegskampf“ der ersten Liga. Die strukturellen Probleme bleiben eine Hypothek für jede zukünftige Entwicklung seine RankingPosition in naher Zukunft wieder verbessern zu können.
Unser Beispiel Nummer vier: Im Rhein-Neckar-Dreieck, einem der größten und wirtschaftlich wichtigsten Ballungsräume Deutschlands, gibt es für einfache Planungsverfahren sieben konkurrierende Planungsbehörden auf vier Ebenen – ein Entscheidungsweg, der fragen lässt, wie überhaupt noch neue Standorte gegründet werden können. Und die neuen EU-
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Umweltverträglichkeitsprüfungen verpflichten Planer, diesen Hürdenlauf noch einmal zu absolvieren, auch wenn sie ihn gerade überstanden haben. Wir könnten die Liste von Beispielen endlos fortsetzen. Fazit: Unsere D-Klasse, die Bundesrepublik Deutschland, versucht am Berg anzufahren – mit einem vierzig Jahre lang zu wenig modernisierten Getriebe, das heute kaum noch ein Auto aus der Ära des Wirtschaftswunders ans Meer bringen würde. Zahnräder arbeiten in unterschiedliche Richtungen, Übersetzungen funktionieren nicht, die Keilriemen ächzen, der Motor stottert. Konkurrenten ziehen vorbei (und die Anhalter unserer Zeit, die internationalen Investoren, fahren lieber mit Anderen mit).
Das Dilemma und die Irrtümer der Reformer Wir kehren zum Beispiel der BASF zurück. Alle wissen: Das Unternehmen kann den Standort Ludwigshafen nur dann langfristig sichern und neue Beschäftigung ermöglichen, wenn Arbeitsplätze abgebaut werden. Jürgen Strube ist besorgt, dass er diese Maßnahmen nicht vermitteln kann, besonders nicht in Zeiten guter Erträge. Er möchte schmerzhafte und letztlich fruchtlose Auseinandersetzungen vermeiden. Die Arbeiter der BASF brauchen nachhaltige Beschäftigungsperspektiven dringender als lauten Protest und die eingefahrenen Rituale des Arbeitskampfs. Daher führt das Unternehmen seit Jahren freiwillig viele kostspielige Projekte zur Beschäftigungssicherung und Qualifikation der Mitarbeiter durch. Aber der Vorstandsvorsitzende weiß: Diese Projekte sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein, solange die Rahmenbedingungen im deutschen Arbeitsmarkt zeitgemäße flexible Lösungen behindern. Wie kann er die überfälligen Reformen am Arbeitsmarkt fördern, um für seine Werke in Deutschland dauerhaft Beschäftigung zu sichern? Wie kann er branchenübergreifend und mit Gewerkschaften, Verbänden und der Bundespolitik ein Forum finden, in dem jenseits der gut eingeübten Standardforderungen über Lösungen gesprochen werden kann? Jürgen Strube steht nicht allein. Hunderte Wirtschaftschefs in Deutschland teilen seine Sorgen und versuchen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und die Grundlagen für neue Arbeitsplätze zu schaffen. Und natürlich beschäftigen sich nicht nur Unternehmen mit der Zukunft des Arbeitsmarkts – das Thema entscheidet Wahlen, elektrisiert die Verbände. Allen in Deutschland sind die Trends klar.
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Aber wenn es tatsächlich so ist, dass die BASF nur das Beste will, warum dringt sie dann nicht durch mit ihren Forderungen? Und die Gewerkschaften, die Verbände und die Bundespolitik? Wenn alle wissen, in welche Richtung es gehen muss, woran liegt es dann, dass die Reformen am Arbeitsmarkt zuerst jahrzehntelang verschleppt wurden, um dann nur in winzigen Schritten beschlossen und umgesetzt zu werden? Reformer aller Richtungen haben dieses Gefühl in den letzten Jahren immer häufiger auf den Punkt gebracht: „Wir wissen alle, was passieren muss, es fehlt nur an der Umsetzung.“ Das hört sich im Wahlkampf gut an, ist aber falsch! In den letzten zehn Jahren haben wir für unsere Kunden häufig die Motorhaube der vielbewunderten D-Klasse Bundesrepublik geöffnet und nach Wegen gesucht, den stockenden Motor wieder in Gang zu bringen. Gemeinsam mit unseren Partnern gelang es, neuartige Lösungen für die vielfältigen Sorgen verschiedener Beteiligter zu finden. Dabei hat sich immer herausgestellt, dass die scheinbar einfachen Diagnosen von außen in die Irre führen.
Die falschen Analysen der Stammtische „Es ist allen Fachleuten klar, was geschehen muss, die Politik ist nur unfähig oder zu feige zu entscheiden.“ „Statt sich ständig nur zu streiten, sollten die da oben sich mal zusammensetzen und sich einigen.“ „Wenn die alle nicht nur ihre eigenen Vorteile im Kopf hätten, sondern sich am Gemeinwohl orientierten, dann ließen sich alle Probleme lösen.“ „Die zeigen immer nur auf, wie schlecht alles ist, aber sagen nicht, wie es besser gemacht werden sollte.“ „Wenn ich Minister wäre, wüsste ich genau was zu tun ist. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock. Sehen die da oben das denn nicht?“
Worin bestehen die häufigsten Diagnosefehler? An erster Stelle ist folgender Irrtum zu nennen: Es ist kein Betriebsunfall, sondern Normalzustand, dass es unterschiedliche Meinungen und Interessen gibt. Dazu kommt, dass sowohl Fachwissen als auch gute Ideen nicht zentral, etwa in einer allwissenden Behörde, vorliegen, sondern in der Gesellschaft verteilt
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sind – eben das nutzen Demokratien als produktive Kraft. Zweitens: Politiker sind nicht unfähig oder dumm, sie gehorchen vielmehr den Regeln des politischen Geschäfts und handeln konsequent so, wie es ihrem Erfolg dient, nämlich indem sie ihren potenziellen Wählern zu gefallen suchen. Genauso verhalten sich die Vertreter von Interessengruppen. Auch sie wollen erfolgreich sein, in ihrem Job, für ihre Auftraggeber. Drittens: Es gibt keine Person oder Institution, die allein das Gemeinwohl verkörpert. Wer etwas Derartiges von sich behauptet, der täuscht etwas vor, was nicht sein kann. Deshalb lassen sich nachhaltige Lösungen nicht einfach nur durch Direktiven einer zentralen Instanz oder einfach nur mit gutem Willen herbeiführen. Zu oft hören wir, dass sich „die Politiker doch einfach einmal zusammensetzen sollen“ und abgehoben von Einzelinteressen eine Lösung finden sollen. Wie soll das geschehen, wenn der Erfolg eines jeden davon abhängt, dass er sich persönlich durchgesetzt hat? Wenn nicht an all dem, woran liegt es dann? Warum blockieren sich Entscheider mehr als sich zu befruchten? Warum wird die Motorhaube nach langem Palaver und einem Austausch unbeschädigter Kleinteile wieder zugeklappt und alles bleibt bestenfalls beim Alten? Warum erlauben die Mechanismen der öffentlichen Verfahren in Deutschland nicht oder nur in Ausnahmen, tragfähige Reparaturen durchzuführen?
Der neue Weg: Beteilige mich! Und dann: Entscheide! Unsere Antwort lautet: Die Entscheidungsverfahren in unserer Gesellschaft sind reparaturbedürftig. Was die Väter unserer Verfassung im Sinn hatten, müssen wir mit neuen Verfahren wiederentdecken. Die Grundgedanken unserer Demokratie sind: Schafft ein faires Forum des Gedankenaustauschs, diskutiert verschiedene Möglichkeiten, bezieht alle Interessen in die Diskussion ein – und trefft dann eine klare Entscheidung! Vertraut diesen Verfahren und sorgt dafür, dass diese Entscheidung dann auch umgesetzt werden kann. Um diesem Anliegen heute gerecht zu werden, brauchen wir eine Modernisierung der Verfahren. Nur damit kann Vertrauen zwischen Politik, Wirtschaft und Bürgern wiederhergestellt werden, Vertrauen in die Entscheidungen und Vertrauen in die Entscheider und auch zwischen ihnen. Hier und da aufbrandende Reformdebatten nützen letztlich wenig. Nur mit modernen Verfahren der Entscheidungsvorbereitung und der Entscheidungsfindung werden wir die besten Ideen identifizieren und umsetzen.
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Dies ist die erste Botschaft unseres Buches. Die zweite Botschaft: Das geht – ohne Revolution, ohne Grundgesetzänderung, ohne politikwissenschaftliche Traktate oder langwierige und dabei fruchtlose Debatten. Dieses Buch berichtet von Wirtschaftslenkern, Politikern, Wissenschaftlern und Bürgern, die sich mit neuen Verfahren selbst zum Motor für Veränderungen gemacht haben. Wir stellen Entscheider vor, die mit ihren Organisationen selbst zu Gestaltern politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen wurden, statt passiv Entwicklungen unterworfen zu bleiben, die nicht von ihnen ausgingen. Zu den Fragen: „Was können neue Verfahren leisten? Was bedeutet das in der Praxis? Wie kommen wir zu neuen Verfahren?“ eine Vorbemerkung: Wir sind Berater, keine Wissenschaftler. Das bedeutet: Wir sind immer mit individuellen Problemen von Entscheidern in konkreten Situationen konfrontiert. Wir haben bei IFOK analysiert, warum Entscheider aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft seit zehn Jahren zu uns kommen. Welche Anliegen haben sie? Welche Probleme möchten sie lösen? Wir haben Gemeinsames gefunden. Unsere Kunden formulieren drei Erwartungen: 1. Sich im Vorfeld einer Entscheidung zu orientieren, 2. Akzeptanz für getroffene Entscheidungen zu finden, 3. Veränderungsprozesse zu steuern. Am Beispiel der beschriebenen Sorgen von Jürgen Strube wird deutlich, wie diese drei Anliegen konkret aussehen – und was getan werden kann.
Neue Verfahren liefern Orientierung Jürgen Strubes Problem lautet folgendermaßen: Welche seiner freiwilligen Projekte zur Beschäftigungssicherung sind wirkungsvoll? Worin genau besteht der Bedarf in der Region? Was machen andere Unternehmen, was andere Institutionen am Standort? Mit wem kann man sinnvoll zusammenarbeiten und mit wem nicht? Wie können Ressourcen auf die Maßnahmen konzentriert werden, die am effektivsten zur nachhaltigen Stärkung des Arbeitsmarkts in der Region beitragen?
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Die Herausforderung Orientierung: Beispiel Reforminitiativen Wer 2003 die damals tobende Debatte um die Reformen im Arbeitsmarkt und Sozialsystem in Deutschland mitgestalten wollte, stand vor einem Phänomen, das inzwischen für die meisten Politikfelder gilt: Der Diskurs spielte sich nicht primär in den formellen Verfahren der parlamentarischen Demokratie ab, sondern in Kommissionen und zivilgesellschaftlich gewandeten Reforminitiativen. Eine IFOK-Analyse aus demselben Jahr ergab, dass in diesem „vorpolitischen“ Raum allein über fünfzig Initiativen mit Unterstützung von Unternehmen sowie gesellschaftlichen und akademischen Institutionen unterwegs waren – von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ bis hin zum „Kronberger Kreis“. Sich in diesem Umfeld zu orientieren und die richtigen Partner zu finden, ist ein Problem für Entscheider. Viele Initiativen arbeiten weitestgehend unabhängig voneinander an denselben Themen und ähnlichen Zielen, oft sogar mit denselben Personen.
Die beschriebene Situation ist nicht untypisch: Ähnliche Fragestellungen kennen viele Entscheider aus ihrer täglichen Arbeit: Ihr Bedarf an verlässlichem Orientierungswissen steigt. Die Herausforderung der Orientierung besteht darin, sich in der modernen Landschaft von Institutionen, Trends und Akteuren zurecht zu finden und sich dabei auf das Wesentliche zu konzentrieren. Außerdem verlangen komplexe Probleme die Nutzung verteilten Wissens, das zusammengeführt werden muss. Folgenabschätzungen erfordern regelmäßig nicht nur Kenntnis des unmittelbaren Zusammenhangs, sondern auch der technischen Umsetzungskosten und -risiken, der genauen Dissens- und Konsenslinien und der wahrscheinlichen Reaktionen zahlreicher Stakeholder. Die Aufgabe lautet demnach, Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen, Kurzfristiges von Nachhaltigem zu unterscheiden, Kompetenz von Schaumschlägerei abzusetzen und einzelne Mosaikbausteine des Wissens zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Das geht nicht durch eine Internet-Recherche, sondern erfordert langfristige und kontinuierliche Präsenz in den verschiedenen gesellschaftlichen Szenen – und es erfordert neue, intelligente Methoden der Sammlung und Interpretation von Informationen. Denn zum einen soll das entworfene Bild der gemeinsamen Sichtweise aller gesellschaftlichen Akteure entsprechen. Zum anderen muss der für den Orientierungssuchenden passende Bildausschnitt exakt getroffen werden.
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Neue Verfahren liefern Akzeptanz Hat Jürgen Strube sich so weit orientiert, dass er eine Entscheidung fällen kann, steht er vor dem nächsten Problem, dem der Akzeptanz. Die BASF braucht Verständnis dafür, dass Arbeitsplätze abgebaut werden müssen, um den Standort zu sichern. Sie will die Zustimmung der Menschen für ein gemeinsames Vorgehen gewinnen und braucht ihr Engagement, um den Wandel zu gestalten.
Die Herausforderung Akzeptanz Entscheider treffen immer häufiger auf Zynismus und Misstrauen. Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage in 2006 sind 82 Prozent der Deutschen der Ansicht, dass „auf die Interessen des Volkes keine Rücksicht genommen wird“. 47 Prozent meinen, dass sie die Politik durch Wahlen „gar nicht“ beeinflussen können, weitere 48 Prozent glauben an „etwas“ Mitgestaltung und nur 5 Prozent antworten, dass man durch Wahlen die Politik „in starkem Maße“ mitbestimmen könne. Auch eine Emnid-Studie spricht diese Sprache: Etwa 50 Prozent der Befragten schenken Bundesregierung und Bundestag „kein bis überhaupt kein Vertrauen“. Das ist ungefähr die gleiche Prozentzahl wie für „Fremde, denen man das erste Mal begegnet“ – und für „große Wirtschaftsunternehmen“. Das Vertrauen in Unternehmen und Unternehmer ist allerdings noch geringer als das in die politischen Institutionen. Nur 11 Prozent der Befragten bekundeten ihnen ihr Vertrauen. Diese Zahlen zeugen von einem weit vorangeschrittenen Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in unser politisches System und in die Wirtschaft. Wir misstrauen vor allem denjenigen, die Verantwortung in unserer Gesellschaft tragen.
Die Herausforderung der Akzeptanz liegt darin, Anerkennung und Verständnis für die eigenen Interessen und Ideen sowie für das eigene Handeln zu finden. Damit ist Akzeptanz mehr als Toleranz, aber weniger als Zustimmung. Warum ist das für unsere Kunden wichtig? Fast alle erleben eine Zunahme öffentlich ausgetragener Konflikte um Themen, die früher ausschließlich interne Resonanz fanden: Die Austragungsorte für Auseinandersetzungen haben sich geändert. Das liegt wesentlich an der höheren
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Durchlässigkeit von Organisationen, die immer mehr Einsichts- und Einflussmöglichkeiten eröffnet, interne Probleme nach außen zu tragen. Einmal öffentlich, ändern sich die Austragungsregeln und die kommunikativen Anforderungen radikal. Die Professionalisierung zahlreicher Anspruchgruppen und Kritiker führt dazu, dass Ideen und Kritik wesentlich schneller und effektiver als früher mobilisiert werden können. Im Ergebnis ist in allen gesellschaftlichen Bereichen ein Druck zur Legitimierung von Entscheidungen gegenüber kritischen und kompetenten Dritten zu spüren. Daher wird Akzeptanz zu einem Werttreiber im wirtschaftlichen Wettbewerb. Damit steigen allerdings im gleichen Maße auch die Chancen. Die gestiegene Bereitschaft zum Engagement in eigener Sache ist eine Quelle von Kreativität und Zustimmung, wenn sie kompetent und fair genutzt wird. Im Beispiel gibt die BASF das Ziel vor, ist aber bereit, sich auf einen offenen Entscheidungsprozess über den Weg dorthin einzulassen. Damit werden Politik, Verbände, andere Unternehmen und vor allem die Mitarbeiter zu Problemlösungspartnern.
Neue Verfahren liefern Steuerungsfähigkeit Die dritte Hürde, die Jürgen Strube überwinden muss, ist vielleicht die höchste. Er muss neue Wege der Durchsetzung seiner Anliegen finden, einerseits, um in der Region um Ludwigshafen Konkretes zu bewirken, andererseits, um seine Erfahrungen und Interessen wirksam in den Reformdialog einzubringen. Die Herausforderung der Steuerung in unserer Gesellschaft bedeutet, etwas umzusetzen, was niemand alleine verordnen kann. Das ist heute nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Was kann ein Unternehmen an seinem Standort alleine erreichen? Was kann ein Politiker alleine anordnen? Und was hilft selbst ein Parlamentsbeschluss, wenn die Anreize zur Umsetzung in Verwaltung und Gesellschaft gegenläufig gesetzt sind? Wer etwas in der Gesellschaft verändern möchte, erreicht dies heute in der Regel nur durch kooperative Verfahren. Dies hat eine wichtige Konsequenz: Die Bedeutung von Partnern für die Umsetzung eines Vorhabens ist gestiegen. Nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihre Ressourcen sind im Dickicht unserer Verfahren zentral. Ihre Einbindung wird umso schwieriger, je mehr die Ansprüche der Stakeholder, also der Kunden, Bürger, Mitdenker und Mitgestalter steigen. Eben diese Stakeholder bringen gro-
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ßen Institutionen und ihren Kommunikationsangeboten häufig Misstrauen entgegen. Sie wollen verstehen, mit wem sie es zu tun haben und wie ihre Beiträge genutzt werden – auch sie wollen ihren Mehrwert sehen. Das Wissen um Steuerung kooperativer Prozesse ist zur zentralen Anforderung zur Bewältigung der Komplexität moderner Sachthemen und Verfahren und damit zum Schlüssel für alle geworden, die etwas in der Gesellschaft bewirken möchten.
Die Herausforderung Steuerung Die Wissenschaft hat den Blick schon seit Mitte der neunziger Jahre immer weniger auf das Management-Paradigma des schlanken Staates gerichtet. Stattdessen fragt sie zunehmend, wie öffentliche Leistungen in „Koproduktion“ mit anderen Sektoren erbracht werden können. Statt Public Management also Public Governance. Damit wird die „ausgehandelte Steuerung“ (F. W. Scharpf) zur Schlüsselherausforderung für die Einbindung von Bürgern, Unternehmen oder Stiftungen. Die Steuerung von Akteuren außerhalb der eigenen Institutionen erfordert ein neues Selbstverständnis, das mit zahlreichen Begriffen versehen wird, die alle nicht nur für den Staat gelten, sondern für alle Institutionen mit gesellschaftlichem Gestaltungsanspruch: • • • • •
Der moderierende Staat Der aktivierende Staat Der kooperierende Staat Der verhandelnde Staat Der motivierende Staat
Diese Rollen erfordern aber auch neue Werkzeuge, die Werkzeuge der Beteiligung. Richtig angewendet werden sie zum Hebel, mit dem externes Engagement auf ein gemeinsames Ziel gelenkt wird.
Das wissen heute viele: Die Sorgen des Vorstandsvorsitzenden der BASF Ende der neunziger Jahre sind damals und heute mit Variationen die Sorgen unzähliger Entscheider, die für sich und ihre Partner in Deutschland etwas bewegen wollen – sei es in Kommunen oder Ministerien, in Unternehmen oder Verbänden, in Bildungseinrichtungen oder anderen Institutionen. Auch Bürger und Konsumenten formulieren gestiegene Ansprüche an ihre Einbindung. Wo alte Ansätze an den verkrusteten Mechanismen unserer öffentlichen Verfahren scheitern, hilft eine Strategie: Beteiligung.
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Beteiligung in der Praxis: Die Initiative für Beschäftigung! Jürgen Strube hat die Herausforderung angenommen. Und er erreichte damit, was er sonst nicht hätte erreichen können. Er beteiligte andere Unternehmen daran, die effektivsten Strategien für die Sicherung von Beschäftigung zu finden. Er beteiligte Mitarbeiter, um gemeinsam den besten Weg für den Wandel am Standort zu gehen. Und er beteiligte die Politik, um einen koordinierten und konstruktiven Beitrag zur Reform des Arbeitsmarkts zu liefern. Mit der Hilfe von IFOK gründete er die Initiative für Beschäftigung!, ein Netzwerk, an dem sich eine Rekordzahl von Unternehmen beteiligten. Und er fand rasch Verbündete: Reinhard Mohn, Mitglied des Kuratoriums der Bertelsmann Stiftung und Hubertus Schmoldt, Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie standen als Initiatoren in vorderster Front der Unterstützer. Rasch wurde ihre Idee zu einem Renner: Innerhalb von wenigen Monaten nach der Einladung hatte die Initiative regionale Netzwerke in ganz Deutschland aufgebaut und war dabei, in diesen Netzwerken zahlreiche regionenspezifische Projekte zur Beschäftigung und Qualifizierung umzusetzen. Wirtschaftsführer wie Ernst Baumann (BMW AG), Hermann Borghorst (Vattenfall Europe), Tessen von Heydebreck (Deutsche Bank AG), Manfred Krüper (E.ON AG), August Oetker (August Oetker Nahrungsmittel KG), Michael Otto (Otto Versand GmbH), Tilman Todenhöfer (Robert Bosch GmbH) und viele mehr engagieren sich als Initiatoren von Regionalnetzwerken. Der Einladung zur Initiative folgten deshalb so viele Partner, weil die Idee einfach und einleuchtend war: Jeder Akteur wird unmittelbar beteiligt, ohne Verbände oder Makler dazwischen. Und vor allem: Das Handeln steht im Mittelpunkt, nicht Debatten über politische Programme. Mitinitiator Hubertus Schmoldt fasste diesen Anreiz für die Teilnehmer zusammen: „Mit positiven Beispielen können wir mehr bewegen als mit bloßen Forderungen.“ Die ineinander greifenden Zahnräder des Emblems der Initiative für Beschäftigung! deuten es an: Koordinierte Entscheidungen sind tragfähiger, nachhaltiger und haben eine wesentlich höhere Hebelwirkung. Die Gemeinsamkeit der verschiedenen Beteiligten bot die Chance, das Wissen, den Einfluss und die Ressourcen zu bündeln. Schnell wurden lokale Projekte ausgeweitet und Modelle für weiteres gemeinsames Enga-
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gement umgesetzt. Selbst Akteure, die in der traditionellen Arena der Arbeitsmarktpolitik Konflikte miteinander hatten, konnten hier als Partner zusammenarbeiten, weil sie ihre Positionen in ihren traditionellen Netzwerken nicht aufgeben mussten. Sie konnten in einem von fairen Regeln geschützten Raum voneinander lernen.
Projektsteckbrief: Initiative für Beschäftigung!
Initiatoren und Beteiligte 1998 gründen die BASF, Bertelsmann und die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie die Initiative für Beschäftigung! (IfB!). Heute tragen sechs Unternehmen die bundesweite IfB!: BASF Aktiengesellschaft, Bertelsmann AG / Bertelsmann Stiftung, Deutsche Bahn AG, Deutsche Bank AG, Dr. August Oetker Nahrungsmittel KG, Vattenfall Europe Mining & Generation. Dazu kommen zahlreiche regionale Netzwerke. Ziel • •
passgenaue und innovative Lösungen mit hohem Praxisbezug für die Herausforderungen am Arbeitsmarkt und in den Unternehmen entwickeln und multiplizieren den Dialog zwischen Wirtschaft und Politik als wichtige arbeitsmarktpolitische Plattform der deutschen Wirtschaft positionieren stärken Ergebnis
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•
Mehr als 300 Projekte zur Beschäftigungssicherung in 400 Unternehmen und 2.000 Partnern in 19 Regionen umgesetzt Zukunftsfähigkeit kooperativer Arbeitsmarktpolitik u.a. durch gemeinsame Konzepte („Berliner Botschaften“), Innovationsplattformen („Zukunft Jugend“) und Wettbewerbe („Beschäftigung gestalten“) bewiesen Als fester Dialogpartner der Politik zum Modell für sektorenübergreifende Reforminitiativen geworden Methoden
Netzwerkmanagement, Multiprojektmanagement, Öffentlichkeitsarbeit, Dialogveranstaltungen
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Am eindrucksvollsten aber ist die Wirkung der Initiative mit Blick auf Jürgen Strubes Steuerungsproblem. Die in der Initiative diskutierten Ideen, wie man durch kooperatives Handeln noch besser Arbeitsmarktprobleme lösen könnte, wurden als „Berliner Botschaften“ an die Politik gerichtet und erhielten ihre Glaubwürdigkeit wesentlich durch die Erfahrung aus hunderten konkreter Projekte – eine Wirkung, die keiner der Netzwerkpartner allein hätte erzielen können. Heute ist Jürgen Strubes Konzern als eine der kompetentesten und konstruktivsten politischen Stimmen in bundesdeutschen Beschäftigungsfragen etabliert und hat nicht zuletzt durch die Initiative im Rücken eine erhebliche Rolle in der Hartz-Kommission und als Kooperationspartner der Bundesregierung in weiteren Beschäftigungsprojekten. Gunter Thielen, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann AG und von 2002-2005 Sprecher der Initiative, schlägt in die gleiche Kerbe: „Die IfB! ist die größte konzertierte Aktion der deutschen Wirtschaft, eine Marke, die für Verantwortung und Mitgestaltung steht. Auf unsere Vorschläge kann sich die Politik verlassen, denn sie wurden im Gespräch mit Mitarbeitern und Gewerkschaften entwickelt, sie wurden auf Praxistauglichkeit überprüft und sie spiegeln besser als alle Papiere, wo der Wirtschaft der Schuh drückt.“
Projektbeispiel der Initiative für Beschäftigung! Berufsorientierung und betriebliche Ausbildung für Hauptschulabgänger/innen in Hamburg Seit 1999 arbeiten im Hamburger Netzwerk der ‚Initiative für Beschäftigung!’ inzwischen mehr als 70 Unternehmen, alle Hamburger Schulen mit Hauptschulzweigen, Arbeitsagentur und Behörden zusammen, um mit Hauptschulabgängern betriebliche Ausbildungsplätze zu finden, die ihren Stärken und Interessen entsprechen. Die individuelle Feststellung von Eignungspotenzialen für die Berufsausbildung unabhängig von Schulnoten bewirkt, dass sich inzwischen Betriebe um die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler bewerben, die sonst kaum Hauptschüler ausbilden. Durch dieses mit dem Carl Bertelsmann-Preis im Jahr 2005 ausgezeichnete Projekt wird Hauptschülern nicht nur ein besserer Start ins Berufsleben ermöglicht, sondern es werden auch Millionen für öffentliche Fördermaßnahmen eingespart.
Was ist in der Initiative für Beschäftigung! geschehen, was vorher nicht möglich war? Durch Beteiligung haben die Partner erreicht, was sie alleine nicht konnten. Aber war Beteiligung wirklich der einzige Weg zu diesem
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Ziel? Hätte man dasselbe Ergebnis nicht auch mit konventionellen Methoden erreichen können? Was ist so besonders an der Art und Weise, in der Beteiligung wirkt?
Projektbeispiel der Initiative für Beschäftigung! Lieferantennetzwerk Kleinteile in Thüringen – LINAT In Thüringen standen zahlreiche Zulieferunternehmen für die Automobilindustrie wegen schlechter Auftragslage davor, Fachleute entlassen zu müssen. Durch die Gründung eines Zulieferernetzwerks im November 2002 konnten die mittelständischen Unternehmen ihre technologischen Kompetenzen bündeln, Synergien nutzen und abgestimmte Verbundprodukte anbieten. Dadurch konnten sie als starker Partner mit einem breiten Leistungsspektrum für Automobilhersteller auftreten. Das Ergebnis: die Firmen wurden stabilisiert, Kurzarbeit wurde verhindert und die betrieblichen Prozesse wurden optimiert.
Beteiligung, die wir meinen: Erfolgskriterien Beteiligung, die wir meinen, ist eine kommunikative Strategie zur Lösung gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen – dafür steht das Beispiel der Initiative für Beschäftigung! – und darum dreht sich auch der Rest dieses Buchs. Beteiligung – dabei geht es um das Teilen von Kompetenzen und Ressourcen für ein gemeinsames Ziel. Das ist das Besondere. Damit lassen sich zwar nicht alle Probleme dieser Welt lösen, aber wir haben im Laufe der Jahre eine Reihe von Kriterien gefunden, die uns helfen zu verstehen, wann Beteiligung tatsächlich eine Erfolgsstrategie ist. „Beteiligung“ ist eine Strategie mit der ...
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... auf Initiative eines gesellschaftlichen Akteurs mit einem konkreten Anliegen ... Also nicht: sich selbst organisierende Prozesse ohne Mandat und klare Aufgabenstellung.
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... eine nicht bereits gelöste Frage beantwortet werden soll, ... Also nicht: Manipulation durch Scheinpartizipation, bei der die Entscheidungen schon getroffen sind.
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Die Wiederentdeckung der Beteiligung
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... dazu alle wesentlichen betroffenen Interessen an einen Tisch geholt werden, ... Also nicht: Willkürlicher Ausschluss von Interessen oder einseitige Abwälzung der Lasten einer Problemlösung auf nicht beteiligte Dritte.
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... um sie durch einen moderierten Dialog ... Also nicht: ohne professionelles Handwerkzeug.
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... auf eine gemeinsame Antwort und/oder gemeinsames Handeln zu verpflichten ... Also nicht: Ergebnisse, die unverbindlich sind und bleiben.
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... und diese Antwort in die legitimierten Entscheidungsprozesse der beteiligten Institutionen einbringt. Also nicht: Als Boykott der demokratischen oder innerunternehmerischen Zuständigkeiten.
Wenn Beteiligung nach den sechs von IFOK entwickelten Prinzipien ermöglicht wird, setzt sie die Potenziale der Partner frei, ohne dass diese ihre Entscheidungskompetenz abgeben oder aus ihren etablierten Strukturen aussteigen müssen. Ihre besondere Wirkung, die sie von anderen Verfahren abhebt, liegt in der gleichzeitigen Lösung von drei Grundproblemen heutigen Entscheidens: Orientierung, Akzeptanz und Steuerung. Beteiligung unterstützt Entscheider bei der Orientierung durch effektives Umgehen mit Komplexität, verlässliche Identifikation von Konsensund Dissensbereichen und Ermittlung von Prioritäten unabhängig von Einzelperspektiven. Wie durch das Beispiel der BASF besonders deutlich wurde, kann Beteiligung Akzeptanz schaffen. Sie kann Fakten und Ergebnisse gegenüber großen Zielgruppen und gegenseitiges Vertrauen sowie Verständnis für die Interessen der Partner vermitteln. Im Ergebnis kann sie selbst für so kontroverse Vorhaben wie das von Jürgen Strube Zustimmung erreichen. Und schließlich ermöglicht Beteiligung die kooperative Durchsetzung von Zielen durch den Aufbau neuer Entscheidungswege, die an Blockaden vorbei führen und so verkrustete Strukturen aufbrechen. Alle Partner gewinnen an Schlagkraft und Effizienz, wenn sie nutzlose etablierte Verfahren vermeiden können.
Beteiligung – Ein Programm für Dynamik in Deutschland
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Beteiligung – Ein Programm für Dynamik in Deutschland Wenn wir die bisher gesammelten Bausteine zusammenfügen, wird folgendes deutlich: Viele der althergebrachten Verfahren zur Bewältigung politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen in Deutschland erweisen sich als hinderlich und führen allerorts zu Blockaden. Entscheider, die an gemeinsamen Lösungen interessiert sind, haben kaum noch eine Chance, sich im Dickicht der vielen Akteure und der komplexen Verfahrens- und Sachfragen zu orientieren. Verantwortungsträger in allen Bereichen der Gesellschaft treffen statt auf Akzeptanz immer mehr auf Misstrauen und Zynismus gegenüber der Macht, wenn sie Bürgerinnen und Bürger, Verbraucherinnen und Verbraucher einbinden wollen. Die demokratisch-faire Steuerung der Auseinandersetzung der vielen legitimen Interessen in unserer Gesellschaft versagt, der Funke guter Ideen springt nicht mehr von den Zündkerzen auf die Kolben unserer D-Klasse über. In dieser Situation erleben wir in den letzten zehn Jahren aber etwas völlig Überraschendes: Statt Resignation und Politikverdrossenheit treffen wir immer wieder auf Enthusiasmus und Bereitschaft zur Mitarbeit. Nicht nur an der Initiative für Beschäftigung!, sondern an vielen anderen Projekten beteiligen sich Entscheider, Wissenschaftler, Unternehmer, Arbeitnehmer, Konsumenten, Bürger, Schüler mit großem persönlichen Einsatz. Weil sie die Dynamik spüren und den frischen Wind riechen. Weil sie gestalten und handeln können und nicht beim Reden stehen bleiben.
Wann funktioniert Beteiligung nicht? Wenn sie Ersatz oder Konkurrenz für legitimierte Entscheidungswege sein soll. Wenn sie sich einseitig zu Lasten unbeteiligter Dritter einigen soll. Wenn sie ohne konkrete Umsetzungsvereinbarungen und Verbindlichkeiten auskommen soll. Wenn sie ohne professionelle Erfahrung und das nötige Handwerkszeug ausgeführt werden soll. Wenn sie ungefragt, als selbstorganisierende Basisdemokratie ohne Motor und institutionelle Anbindung funktionieren soll.
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Die Wiederentdeckung der Beteiligung
Auch wenn eine Mehrheit der Rhetorik der Kooperation oft noch skeptisch gegenübersteht: moderne Beteiligungskonzepte werden zum Trend. Bürgerforen, Zukunftskonferenzen, Diskursverfahren und viele andere Verfahren machen den traditionellen Auseinandersetzungen in Chefetagen, Hinterzimmern und Nebensälen von Parlamenten Konkurrenz. Wettbewerb ist ein Such- und Entdeckungsverfahren. Beteiligung ist eine intelligente Möglichkeit, schneller zu finden und besser zu entdecken als andere. Beteiligung ist ein Wettbewerbsvorteil – für die Wirtschaft und für die Politik. Aber: Niemand wird behaupten, dass Beteiligung ein Allheilmittel ist. Als Beratungsunternehmen haben wir in den letzten zehn Jahren mit unseren Kunden und Partnern gelernt. Wir haben vor leeren Sälen gestanden, wir haben eine Pressekonferenz mit sieben Geschäftsführern und ohne Journalisten abgehalten, wir haben Teilnehmer in Veranstaltungen aufgebracht den Saal verlassen sehen. Alle diese Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass wir unsere Methoden gemeinsam mit unseren Kunden ständig weiter entwickelt und für ihre Umfelder angepasst haben. Beteiligung als Strategie ersetzt nicht alle anderen etablierten Kommunikationsverfahren – aber wir haben durch Beteiligungsverfahren für unsere Kunden Ergebnisse erzielen können, die wir und sie nicht für möglich gehalten hätten. Beteiligung ist als Verfahren nicht mehr grün hinter den Ohren, aber noch hat sie längst nicht alle Ohren erreicht. Diejenigen jedoch, die in ihr eine neue Strategie zur Beantwortung von Fragen einer gewandelten, komplexen Welt erkennen, werden mehr. Sie werden die Erfolgreichen sein. Die Zeit der Politikverdrossenheit und der reinen Konsumentenhaltung ist vorbei, wie wir aus zahlreichen erfolgreichen Beteiligungsprojekten wissen. Bürger, Experten, Mitarbeiter und andere Stakeholder sind bereit, sich konstruktiv in ihre Umfelder einzubringen. Gestalter aus allen Bereichen brauchen jetzt die richtigen Werkzeuge, um in diesen neuen Umfeldern ihre Chancen nutzen zu können. Die Zeit ist reif. Beteiligung als Problemlösungsstrategie gehört in den Mainstream und ihre Methoden in das Repertoire jedes Entscheidungsträgers.
Beteiligung – Ein Programm für Dynamik in Deutschland
Was Sie mit Beteiligung erreichen (und in diesem Buch lesen) Orientierung: Wie Sie ... aufhören, sich um Fakten zu streiten (Kap. 2) viele Projektbeteiligte auf eine Linie bringen (Kap. 3) aus dem Lärm die wichtigen Stimmen heraushören (Kap. 4) verstehen, woher welche Kritik kommt (Kap. 5) zukünftige Entwicklungen voraussehen (Kap. 6) die stärkste Botschaft für Ihr Anliegen finden (Kap. 7) Akzeptanz: Wie Sie ... Zustimmung zu Kompromissen erreichen (Kap. 2) Unterstützung für eine Vision bekommen (Kap. 3) im Dialog überraschende Verbündete finden (Kap. 5) sich an einer gemeinsamen Zukunft orientieren (Kap. 6) die rational Uninteressierten für sich interessieren (Kap. 7) Steuerung: Wie Sie ... im Streit gemeinsame Regeln etablieren (Kap. 2) schlagkräftige Umsetzungsnetzwerke aufbauen (Kap. 3) politische Blockaden lösen (Kap. 4) die Spielräume für Ihr Unternehmen erweitern (Kap. 5) Risiken und Chancen managen (Kap. 6) Mehrheiten für Ihre Anliegen schaffen (Kap. 7)
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Konflikte bewältigen: Politische Mediation gegen erstarrte Rituale
Das Wichtigste in Kürze Der Frankfurter Flughafenausbau steht seit den 70er Jahren für gewaltsame Auseinandersetzungen, schleppende Verfahren und unübersichtliche Entscheidungssituationen. Nicht die Sachfragen, sondern Ängste, grundsätzliche Auseinandersetzungen und deren mediale Inszenierung stehen im Mittelpunkt des Konflikts. Auch jenseits von Frankfurt sind diese Kennzeichen zum Normalfall für öffentliche Konflikte geworden. Über Jahrzehnte wurde das Methodenrepertoire zur Bearbeitung von Konflikten und zur Beschleunigung von Entscheidungen in Deutschland nicht erweitert – dabei sind neue Räume abseits der Anhörungstermine, Planfeststellungsverfahren und Gerichtssäle dringend erforderlich. Mit dem Verfahren der Politischen Mediation wurde in Frankfurt eine Alternative entwickelt. Mit unabhängigen Mediatoren, gemeinsamer Klärung der Fakten, klaren Regeln für Entscheidung und Umsetzung sowie dem Dialog mit der Bevölkerung hat sich ein neues Modell etabliert. Nachahmungen gibt es bei Flughafenkonflikten, aber auch im Umweltbereich, bei Gesundheits- oder Forschungsfragen oder bei umstrittenen Verteilungen knapper Ressourcen.
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Konflikte bewältigen: Politische Mediation gegen erstarrte Rituale
„Ich bin überzeugt: Mediation eröffnet neue Wege, über den Dialog der Konfliktparteien institutionelle Arrangements zu finden, die von den Bürgerinnen und Bürgern auf breiter Basis akzeptiert werden können. Mediation erweist sich somit als ein wichtiges Element praktisch gelebter Demokratie.“ Hans Eichel Zur Person: Der ehemalige Bundesminister der Finanzen Hans Eichel startete 1998, damals noch als Ministerpräsident des Landes Hessen, das Mediationsverfahren Flughafen Frankfurt. „Das Regionale Dialogforum ist in dieser Situation besonders gefordert, den Menschen der Region, die unterschiedliche Interessen und Sichtweisen haben, eine Stimme zu geben. Die Menschen brauchen Sprecher, die ihre Gefühle artikulieren, damit aus der Wut keine Isolation wird. Die Brücke zur anderen Seite darf nicht abgebrochen werden.“ Roland Koch Zur Person: Der Ministerpräsident des Landes Hessen setzte das Mediationsverfahren Frankfurter Flughafen fort und verpflichtete die Landesregierung, das Mediationsergebnis zu unterstützen.
Alte Konflikte: Aufbrechende Wunden der Gesellschaft Im Gesicht des hessischen Ministerpräsidenten Hans Eichel kann man ablesen, wie längst verdrängte Bilder wieder an die Oberfläche kommen. Es ist Winter 1997, gerade hat der Lufthansa-Chef Jürgen Weber einen erneuten Ausbau des Frankfurter Flughafens gefordert und damit ein politisches Tabu gebrochen. Erinnerungen werden wach, an Wyhl und Wackersdorf, Gorleben und eben auch an den Frankfurter Startbahnwald: Die Massenkundgebungen, das Hüttendorf im Flörsheimer Wald und die beiden 1987 von Demonstranten erschossenen Polizisten. Der frühere hessische Ministerpräsident Holger Börner hatte schon 1984 nach den erbitterten Auseinandersetzungen festgelegt: Kein weiterer Ausbau, das kann die Region nicht noch einmal durchmachen. Der Flughafenausbau ist die Sollbruchstelle der Wiesbadener Landespolitik.
Alte Konflikte: Aufbrechende Wunden der Gesellschaft
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Quadratur des Kreises: Das Dilemma „Flughafen Frankfurt“ Anliegen der Ausbaugegner Anwohnerrinnen und Anwohner haben bereits jetzt unter der Lärmbelastung zu leiden. Ein weiterer Ausbau würde jedes bisher formulierte Limit der Zumutung überschreiten. Ein weiterer Ausbau ist geeignet, den sozialen Frieden zu gefährden, da die Frage des Ausbaus bereits eine lange konfliktträchtige Geschichte hat. Frühere Ausbauten wurden als endgültiges Limit dargestellt. Anliegen der Ausbaubefürworter Die gegenwärtigen Kapazitäten des Flughafens reichen bereits jetzt nicht mehr aus. Ein definitives Ende aller Ausbaumöglichkeiten nimmt dem Flughafen Frankfurt seine Zukunft als Standort weiterer notwendiger Investitionen. Die Alternative zum Ausbau wäre nicht Beibehaltung des Status quo, sondern eine allmähliche Verlagerung hin zu anderen Standorten, also mittelfristig eine Gefährdung aller mit dem Flughafen verbundenen Arbeitsplätze der Region. Widersprüchliche Expertenmeinungen „Es geht um 600.000 Jobs“ – „Es geht um 60.000 Arbeitsplätze“ „Fluglärm macht krank“ – „Gesundheitliche Auswirkungen sind nicht nachgewiesen.“
Zwar haben sich das Land und die Protestbewegung verändert in der Zwischenzeit, aber der Zündstoff ist noch drin. Ministerpräsident Eichel koaliert mit einem grünen Partner, dessen Vertreter sich damals im Widerstand politisiert haben. Und der Anlass zum Protest ist eher größer geworden: Seit den frühen Achtzigern hat sich die Anzahl der Flüge über den Köpfen der Nachbargemeinden von Mainz bis Hanau verdoppelt. Über 50 Bürgerinitiativen kämpfen gegen die Lärmbelastung und stehen in den Startlöchern, nicht nur um einen Ausbau zu verhindern und den Status quo zu erhalten, sondern weil sie schon jetzt weniger Lärm wollen. Kein Bürgermeister in der Region wird gewählt, ohne sich öffentlich als Ausbau-
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Konflikte bewältigen: Politische Mediation gegen erstarrte Rituale
gegner zu profilieren. Lärm ist zum Gesundheitsthema Nummer eins geworden und der Frankfurter Flughafen zum Symbolfall Nummer eins. Die hessische Staatskanzlei steht nicht alleine unter Druck. Auch für Wilhelm Bender, den Vorstandsvorsitzenden des Flughafenbetreibers Fraport AG, ist der Ausbau von zentraler Bedeutung. Die Lufthansa braucht Frankfurt als zentrales Drehkreuz mit Wachstumsmöglichkeiten für die Zukunft. Wenn Frankfurt das nicht liefern kann, wird die Lufthansa auf andere Standorte verlagern. Dann sind tausende Arbeitsplätze in Gefahr. Anders als mit einer neuen Landebahn geht es nicht. Entweder Lärm und Wohlstand oder Ruhe und Arbeitsplatzverlust – und immer schwingt die Konfliktgeschichte mit. Solche Abwägungen sind der Alptraum jedes Unternehmers und jedes Politikers.
Konfliktlösung in Deutschland: Veraltete Verfahren Konflikte wie in Frankfurt gibt es überall und sie schreien nach neuen Verfahren. Denn normalerweise ziehen sie erbitterte öffentliche Auseinandersetzungen nach sich – die aber dauern zu lange, kosten zu viel und nutzen zu wenig. Warum? Die „formierte Gesellschaft“ der alten Bundesrepublik gibt es nicht mehr. Die Entscheidung über einen Landebahnausbau wäre vor fünfzig Jahren vielleicht durch einen Verwaltungsakt, einige Telefonate mit den richtigen Personen und einen offenen Schlagabtausch von pro und contra im Landtag „eingetütet“ und beschlossen worden. Heute gibt es weniger Vertrauen in die Entscheidungen von Politik und Verwaltung, weniger Bindungswirkung großer Organisationen, mehr Macht der Gerichte, erhebliche Eigeninteressen der Verwaltung, viele kleine und bunte Interessengruppen, komplexe Abhängigkeiten zwischen den involvierten Personen und Institutionen, bis ins letzte Detail verfeinerte Genehmigungsverfahren mit zahlreichen Mitwirkungsmöglichkeiten für gesellschaftliche Akteure und – nicht zu vergessen! – eine ausgeklügelte mediale Inszenierung mit ganz eigenen Spielregeln. Insgesamt also eine hochkomplexe Gemengelage, die kaum noch zu durchschauen ist. Obwohl das alles nicht über Nacht gekommen ist, hat die Bundesrepublik ihr Methodenrepertoire für die Bearbeitung von Konflikten bis heute nicht erweitert. Zum Beispiel bei Genehmigungsverfahren: Noch immer quälen wir uns durch das Schauspiel von Anhörungsterminen und die Tor-
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tur ineinander verschlungener Teilverfahren – oft völlig abgekoppelt von den tatsächlichen Interessenlagen vor den Glastüren der Rathäuser und den Säuleneingängen der Gerichte. Ergebnis: oft unbefriedigend! Auch im Frankfurt der 90er Jahre ist die Lage unübersichtlich und komplex. Unterschiedliche Vorstellungen gibt es nicht nur zwischen Sozialdemokraten und Grünen in der Landesregierung. Auch Umweltministerium, Wirtschaftsministerium und Staatskanzlei sind sich nicht einig in der Beurteilung der Fakten. Über 60 Bürgerinitiativen debattieren untereinander heftig über die richtige Strategie. Widersprüchliche Positionen gibt es in den Verbänden, Kirchen und Gewerkschaften. Und die Bürger selbst? Henry Kissinger wird das Bonmot zugeschrieben, er wisse nicht, wen er anrufen solle, wenn er mit Europa verhandeln wolle. Die deutsche Öffentlichkeit hat auch keine Telefonnummer. Und alle Beteiligten unterliegen ihren eigenen internen Zwängen. Die Spitzen von Bürgerinitiativen müssen Rücksicht auf ihre Basis nehmen. Vorstände börsennotierter Unternehmen können nur eingeschränkt von der Linie abweichen, die von globalen Allianzen, internationalen Investorenansprüchen und großen Kunden vorgegeben werden. Bürgermeister wollen wiedergewählt werden und die Landesregierung kämpft mit der Opposition. Diese Situation beim Konflikt um den Frankfurter Flughafen ist jedoch kein Einzelfall, sondern typisch für viele Genehmigungsverfahren und Themen, sei es bei der Gentechnik, beim Straßenbau, bei der Einführung von Sparprogrammen oder in der Debatte um notwendige Reformen: Für alle ist die Lage unübersichtlich und es gibt, wenn überhaupt, zu wenige systematische Gelegenheiten und Orte des Austauschs und der Diskussion, aber auf der anderen Seite zu viele Arenen des Aufeinanderprallens. Was war zu tun? In der Vergangenheit scheiterten Versuche alternativer Konfliktlösungen regelmäßig, weil angelsächsische Rezepte nicht zu unserer Rahmenordnung passen. Deshalb galt es, aus diesem Scheitern zu lernen und innovativ zu sein. Wie kann Mediation auch unter den bundesdeutschen Bedingungen funktionieren?
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Die Alternative: Das Beispiel Flughafen Frankfurt So entstand die Geschichte eines neuen Verfahrens der Konfliktlösung im öffentlichen Raum – die „Politischen Mediation“. Das von IFOK unterstützte Mediationsverfahren wurde im Sommer 1998 vom damaligen Ministerpräsidenten Hans Eichel in Gang gesetzt und nach dem Regierungswechsel im Frühjahr 1999 von seinem Nachfolger Roland Koch weitergeführt. Den Kern des Verfahrens bildete die Mediationsgruppe: der Ort des Verhandelns. Darin waren neben drei prominenten Mediatoren 21 Vertreterinnen und Vertreter von Städten und Gemeinden, der Wirtschaft (inklusive Flughafen AG – heute Fraport AG –, Lufthansa und Deutscher Flugsicherung), der Gewerkschaften, der Landes- und Bundesregierung, Naturschützern sowie einer Bürgerinitiative vertreten.
Projektsteckbrief Flughafen-Mediation Initiatoren und Beteiligte Staatskanzlei Hessen, Fraport AG, Lufthansa, Städte und Gemeinden im Umland, Experten, zivilgesellschaftliche Akteure, Bürger Ziel • Nachhaltige Schlichtung des Konflikts um den Ausbau des Frankfurter Flughafens mit allen Beteiligten • Umsetzung und Sicherung des Mediationsergebnisses (RDF) • • •
Ergebnis Konsens für Mediationspaket – unter anderem mit Ausbau und Nachtflugverbot – erreicht Mehrere tausend Akteure in den Dialog über Lärmauswirkungen und die Zukunft der Flughafenregion eingebunden Pionierverfahren für Politische Mediation entwickelt, das vielerorts kopiert wird Methoden
Mediatoren-Coaching, Gutachtenmanagement und Hearings, Zukunftswerkstätten und Fokusgruppen, Szenario-Prozesse, Kommunikation mit kommunalen, regionalen und landesweiten Gremien, Dialog- und Informationsveranstaltungen, Öffentlichkeitsarbeit, Geschäftsstelle
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Die Verhandlungsphase dauerte 15 Monate. 24 Sitzungen der Mediationsgruppe waren erforderlich, 35 mal trafen sich die drei Arbeitsgruppen, 20 Gutachten wurden vergeben und 15 Hearings mit Experten durchgeführt. Bald war klar: Für den hessischen Arbeitsmarkt ist der Flughafen als „Jobmotor“ unersetzbar. Und für die unmittelbar betroffenen Anwohner ist der zusätzliche Fluglärm unzumutbar. Das „Mediationspaket“ Aus diesem Dilemma heraus wurde das Ergebnis der Mediation entwickelt, das „Mediationspaket“. Es besteht aus fünf unauflöslich miteinander verbundenen Elementen: Auf der einen Seite Optimierung des Flugverkehrs innerhalb der bestehenden Grenzen des Flughafens und Bau einer neuen Landebahn, um die wirtschaftlichen Vorteile des Flughafens zum Tragen zu bringen, auf der anderen Seite ein Anti-Lärm-Pakt für aktiven und passiven Schallschutz sowie ein Nachtflugverbot zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm. Dazu kommt als fünfte Komponente die Einrichtung des „Regionalen Dialogforums (RDF)“, um die Betroffenen des Konflikts auch weiter an einem Tisch zu halten.
Abb. 1 Das Frankfurter Mediationspaket
Dieses Paket stieß in weiten Teilen der Politik, vor allem im Landtag und in der Landesregierung, bei der hessischen Bevölkerung allgemein, ob bei Kirchen oder in Gewerkschaften, in Medien oder bei den politischen Parteien auf breite Zustimmung und wurde als fair für alle Seiten eingeschätzt.
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Konflikte bewältigen: Politische Mediation gegen erstarrte Rituale
Für diesen erfolgreichen Abschluss war mehr erforderlich als die Arbeit in der Mediationsgruppe. Es galt, die verschiedenen Institutionen, die Vertreter in die Mediationsgruppe entsandt hatten, genauso im Boot zu halten wie die Politik und die Administration des Landes. Also gab es mehr als 60 Veranstaltungen und zahllose Gespräche, um Landtagsabgeordnete, Bürgermeister, Fraktionsvorsitzende, Unternehmensvorstände oder Bürgerinitiativen über die Beratungen und Ergebnisse von Gutachten auf dem Laufenden zu halten. Doch damit nicht genug: Schließlich ging es im Konflikt um die Interessen der zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger in der Region. Die durften nicht draußen vor der Tür bleiben. Von Anfang an sollten sie über möglichst alles informiert werden – und sie sollten Gelegenheiten erhalten, sich einzumischen. Hier betrat die Mediation Neuland: Bereits vor der Vergabe von Gutachten erhielten die Bürger in zahlreichen, eigens dafür konzipierten Veranstaltungen Gelegenheit, ihre Fragen zu formulieren, die sie von den Gutachtern beantwortet haben wollten. Darüber hinaus gab es Möglichkeiten, sich über eine Internet-Homepage zu beteiligen und zu informieren. Und natürlich erläuterten am Ende des Verfahrens die Mediatoren persönlich den Bürgerinnen und Bürgern die Ergebnisse und vor allem das „Mediationspaket“. Die Umsetzung: Das Regionale Dialogforum Mit dem von IFOK begleiteten Regionalen Dialogforum wird seit 2000 genau dieser Dialog in der Region fortgesetzt und die Umsetzung des Mediationsergebnisses begleitet. Unter dem Vorsitz des Präsidenten der TU Darmstadt, Prof. Dr. Johann-Dietrich Wörner, dient es nicht nur als zentrales Forum für die Region. Es hat sich außerdem als europaweite Vordenkerinstitution zu den Themen Fluglärm und Lebensqualität etabliert. Zum Beispiel beauftragte das Forum die europaweit größte Studie zur Frage, welche Folgen die Belästigung durch Lärm für die Anwohner hat – eine in Wissenschaft und Politik vielbeachtete Pionierarbeit. Auch die bis dato weithin unerforschten externen Kosten des Flugverkehrs oder Fragen des Risikomanagements hat das Regionale Dialogforum erstmals einer gesellschaftlichen Diskussion zugänglich gemacht. Ein eigens eingerichtetes Bürgerbüro informiert, gibt Lärmpegelmessgeräte aus, bindet mit speziellen Unterrichtseinheiten die Schüler der Region in die Diskussion ein und verbindet Bürgerinnen und Bürger durch Information und Dialog auf Marktplätzen und Rathäusern mit den laufenden
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Genehmigungsverfahren. Mit diesen Maßnahmen gelang es, schätzungsweise 10.000 Bürgerinnen und Bürger der Region direkt in den Dialog einzubinden, insgesamt wurde fast jeder der zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger auf die eine oder andere Weise erreicht. Die Anatomie des öffentlichen Konflikts: Chaos-Orchester oder symphonische Harmonie? Die Situation des Ministerpräsidenten im Fall des Frankfurter Flughafens lässt sich mit einem Dirigenten vergleichen, der eine etwas ungewöhnliche Aufführung zu organisieren hat. Es gibt weder eine Partitur noch Proben. Das Stück muss also improvisiert werden. Der Dirigent hofft, sich wenigstens auf ein erfahrenes Ensemble stützen zu können, aber auch hier stößt er auf Schwierigkeiten: Die Musiker sitzen zum ersten Mal zusammen. Während der Aufführung kommen neue hinzu und manche verlassen gar den Saal. Jeder will den Solopart spielen. Damit ist es aber noch nicht genug: Der eine Teil des Publikums will einen strengen Barocksatz hören, der andere Teil lieber Romantik. Die Fehler aber, die hören sie alle. Absurd? Nicht ganz. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass viele aktuelle Konflikte eine solche schier unmögliche Steuerungsaufgabe für Entscheider darstellen. Das Problem der fehlenden Noten ist im Frankfurter Verfahren offensichtlich – niemand hatte eine Anleitung für das Verfahren in der Tasche. Zwar gibt es Vorbilder für alternative Konfliktlösungsverfahren im angloamerikanischen Raum (dort Alternative Dispute Resolution – ADR – genannt), diese sind aber nur sehr eingeschränkt auf deutsche Verhältnisse übertragbar. In Deutschland selbst ist die Skepsis gegenüber informellen Verfahren zwar am Bröckeln, aber besonders in der Politik noch oft anzutreffen. „Uns war klar: Wir betreten bei der Dimension des Projekts in vielfältiger Hinsicht Neuland“, reflektiert Hans Eichel heute. Die Musiker sind die Konfliktbeteiligten – sie sind bei öffentlich ausgetragenen (anders als bei privaten) Konflikten Vertreter von institutionellen Interessen und daher oft nicht kontinuierlich beteiligt. Bürgermeister werden gewählt und abgewählt, Aktivisten wechseln, Verantwortliche in Unternehmen bekommen neue Zuständigkeiten. Die Konfliktlinien sind nur vordergründig an Personen gebunden, nicht selten hört man ein und dieselbe Stimme im Laufe der Jahre auf der anderen Seite wieder.
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Das Publikum ist sich, wie die Öffentlichkeit nicht einig, erwartet aber, dass sich die Musiker einigen und dass diese Einigung dem eigenen Geschmack entspricht. Und wie beim Musikgeschmack lassen sich auch in öffentlichen Konflikten die Meinungsverschiedenheiten nicht allein durch Richtigstellung von Fakten lösen. Es geht oft um grundsätzliche Werte und Identitäten sowie um Emotionen aus langjährigen Konfliktgeschichten. Für manche Anwohner des Flughafens ist ihr Widerstand gegen den Ausbau im Laufe der Jahre auch zu einem Widerstand gegen „brutale Staatsgewalt“ und „Turbokapitalismus“ geworden. Sie sehen sich nicht nur als Vertreter einer Meinung, sondern auch als Kämpfer für ein Prinzip. Dieses sind Merkmale moderner öffentlicher Konflikte. Bei großen Infrastrukturprojekten wie dem Frankfurter Flughafen oder dem Umbau der Emscher im Ruhrgebiet können wir sie genauso beobachten, wie bei der Suche nach Atomendlagern, der Auseinandersetzung um Mobilfunkmasten, um Fischfangquoten oder um Abwasserzuleitungen in die Donau, um nur einige der Konflikte zu nennen, mit denen wir ähnliche Erfahrungen gesammelt haben. Die gesetzlichen Verfahren der Parlamente, Ausschüsse, Behörden und Gerichte scheitern vor diesen Herausforderungen. In endlosen Schleifen greift ein Verfahren in das andere ein, werden Entscheidungen gefällt und wieder angefochten, dominieren Prinzipienreiterei, Parteigrenzen und Eitelkeiten die Debatten. Alte Konflikte wie der FlughafenAusbau schleppen sich in die nächste Generation, und neue kommen ständig hinzu. Unsere Politiker befinden sich genau in der Situation wie der Dirigent des geschilderten Orchesters.
Kennzeichen moderner öffentlicher Konflikte •
Intransparente Interessen hinter offiziellen Positionen
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Mediale Inszenierungen und Verstärkungen
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Faktenlage ist Teil der Auseinandersetzungen
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Begegnung von Konfliktpartnern und deren Repräsentanten auf unterschiedlichen Ebenen
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Überlappende Verfahren
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Verschiedene Entscheidungszentren
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Tief liegende Ängste, Prägungen und Grundsätze
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Hohe Emotionalisierung aller Beteiligten
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Lange Konfliktgeschichten
Die neue Partitur: Politische Mediation
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Die neue Partitur: Politische Mediation Mit der Politischen Mediation haben wir bei IFOK ein Verfahren entwickelt und erprobt, das in zahlreichen öffentlichen Konflikten besser geeignet ist als herkömmliche Mechanismen, um Konsens herzustellen und nachhaltige Ergebnisse zu produzieren – und zwar nicht nur für die öffentliche Hand, sondern überall, wo unter den kritischen Augen der Öffentlichkeit komplexe Interessenkonflikte gelöst werden müssen. Politische Mediation ist ein Beteiligungsverfahren zur Schlichtung öffentlicher Konflikte, das darauf zugeschnitten ist, den Beteiligten neue Spielräume zu erschließen, Kompromisse zu erreichen und diese politisch umzusetzen. Wenn man sich die neue Partitur genauer ansieht und mit herkömmlichen Partituren vergleicht, wird das Neue rasch offensichtlich. Der erste Satz: Die Konfliktparteien an einen Tisch bringen Schon hier wird der Unterschied zur klassischen Mediation deutlich. Wenn sich Ehepartner oder Unternehmen streiten, ist es klar, wer miteinander reden muss. Bei gesellschaftlichen Konflikten ist das meist viel weniger deutlich. Weil so viele betroffen sind, muss ausgewählt werden – zum Beispiel: Welche Kommunen vertreten die Kommunen? Wer wählt aus, nach welchen Kriterien, und was geschieht mit denen, die vor der Tür bleiben müssen? Also benötigen wir eine Vorphase zur Auswahl der Teilnehmer. In Frankfurt gab es einen Vorbereitungskreis, an dem alle Konfliktparteien auf Einladung des Ministerpräsidenten zusammen kamen und gemeinsam die Teilnehmer festlegten. In anderen Fällen gibt es Interessen- und Konfliktanalysen mit Empfehlungen für Teilnehmer oder Kommissionen innerhalb der Institution, die andere zu einer Mediation anregen will. Auf alle Fälle: Intensive Vorgespräche mit allen beteiligten Konfliktpartnern sind vonnöten! Der zweite Satz: Die Mediatoren installieren Die herkömmlichen Mediationsbücher beschreiben den „neutralen“, den „allparteilichen“ Mediator ohne eigenes Interesse und eigene Positionen im Konflikt. Der Politischen Mediation eröffnen sich hier mehr Möglichkeiten. Bleiben wir beim Beispiel Frankfurt: Hier, wie in jedem öffentlichen Konflikt, werden die Interessen durch Repräsentanten vermittelt, die sich rückbinden müssen und sich nicht unabhängig bewegen können. Man
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kann sie nicht in eine „black box“ einsperren und auf die Kräfte der höheren Einsicht oder der Ermüdung vertrauen. Stattdessen müssen sie vertrauen können, dass sie mit ihren Positionen sichtbar bleiben. In Frankfurt wird dieses Problem durch die Berufung von drei unabhängigen, prominenten und ehrenamtlichen Mediatoren gelöst, wobei zwei jeweils bei den beiden Hauptkonfliktparteien besonderes Vertrauen genießen, ohne ihnen verpflichtet zu sein. Ein Dritter ist vollständig neutral. Im Fall des Frankfurter Verfahrens stammten die Mediatoren aus der Region: Pfarrer Prof. Dr. Kurt Oeser, mit besonderer Glaubwürdigkeit in der Widerstandsbewegung und Dr. Frank Niethammer, damals Präsident der Industrie- und Handelskammer Frankfurt, der die Sicht der Wirtschaft in besonderer Weise repräsentierte. Als neutraler Dritter fungierte Prof. Dr. Klaus Hänsch (ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments). Dieses Mediatorenteam garantierte von Beginn an eine konstruktive Atmosphäre innerhalb der Mediationsgruppe und außerhalb des Sitzungsraums. Sich durch einen prominenten Vermittler auf der Verfahrensseite verstanden zu fühlen, ermöglichte es den Konfliktparteien, sich nicht auf die möglichst starke Artikulation ihrer Überzeugungen, sondern auf die Sache zu konzentrieren. Natürlich gab es Kritik, hier nur einige Beispiele: Sind die drei wirklich neutral? Können die überhaupt Mediation, verfügen sie über das notwendige Handwerkszeug? Geht es nicht eher um eine Schlichtung, statt um eine Mediation? Auf alle diese Fragen gab es überzeugende Antworten. Die wichtigste betraf die Neutralität der Dreiertruppe. Die wurde zwar vor allem in der Presse und von Außenstehenden, jedoch von niemandem innerhalb der Mediationsgruppe bezweifelt. Das aber ist das Entscheidende, denn die Frage des neutralen Verhaltens der drei stand auf jeder einzelnen Sitzung auf dem Prüfstand und wurde von jeder Konfliktpartei argwöhnisch beobachtet. In diesem Fall hat es funktioniert – aber das Frankfurter Vorgehen ist nicht das einzig denkbare, für andere Situationen mögen andere Optionen besser sein. Aber: es gibt diese Optionen – auch wenn es den ausgebildeten Mediator, der gerne unersetzlich wäre, manchmal ärgert! Der dritte Satz: Die offene Frage formulieren Eine Trivialität in der klassischen Mediation, ein umstrittenes Politikum bei der Politischen Mediation: Die richtige Frage, die präzise Aufgabenstellung für die Diskussion muss gefunden werden. Worüber genau wird verhandelt, wo sind die Grenzen, welche Ergebnisse sind von vorne herein ausgeschlossen? Diese Rahmensetzung, das „Framing“, darf keinem Kon-
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fliktpartner vor den Kopf stoßen, denn es ist wichtig, dass die Antwort auf die gestellte Frage tatsächlich offen ist. Die Aufgabe in Frankfurt lautete: „Das Mediationsverfahren soll klären, unter welchen Voraussetzungen der Frankfurter Flughafen dazu beitragen kann, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaftsregion Rhein-Main im Hinblick auf Arbeitsplätze und Strukturelemente dauerhaft zu sichern und zu verbessern, ohne die ökologischen Belastungen für die Siedlungsregion außer acht zu lassen.“ Dies war einigen zu offen. Die Umweltverbände und die meisten Bürgerinitiativen lehnten diese Fragestellung ab. Ihre Antwort: Sie machen nicht mit, wenn nicht der Nicht-Ausbau des Flughafens festgeschrieben ist. Die Mediatoren mussten also gleich zu Beginn einen Rückschlag hinnehmen. Klaus Hänsch fasste die Situation so zusammen: „So wie keiner der teilnehmenden Konfliktparteien die Durchsetzung allein ihrer Interessen zugestanden werden konnte, stand auch den Vertretern der Bürgerinitiativen und Umweltverbänden ein ‚Vetorecht’ gegen das gesamte Verfahren durch Nichtteilnahme zu. Es musste also ohne sie stattfinden.“ Der vierte Satz: Die Geschäftsordnung festlegen In den Lehrbüchern findet man darüber wenig Konkretes. Jedoch legt bei einer Politischen Mediation die Verständigung auf Regeln der Zusammenarbeit bereits den Grundbaustein des Erfolgs. Die Verabschiedung einer gemeinsamen Geschäftsordnung schafft den Protagonisten einen Raum, der abseits der Konfliktarena liegt, in dem sie nicht die üblichen Rituale der öffentlichen Auseinandersetzung bedienen müssen. Wenn klar ist, wie entschieden wird, wenn klar ist, dass die Mediationsgruppe nur im Konsens entscheidet, wird die Angst beseitigt, überfahren zu werden. So wurde zum Beispiel in Frankfurt auch das Prinzip der personellen Kontinuität geregelt. Das ist eine Hilfestellung für die Teilnehmer: Keines der Mitglieder der Mediationsgruppe kann sich vertreten lassen – was für eine enorm hohe Anwesenheitsquote sorgt. Außer den Mitgliedern der Mediationsgruppe durfte niemand an den nichtöffentlichen Sitzungen teilnehmen. Dadurch konnte über den gesamten Zeitraum nicht nur ein gleicher Kenntnisstand der Teilnehmer bewahrt, sondern auch eine Gruppenidentität gefördert werden. Wer den Anderen persönlich schätzen lernt, entwickelt eher auch neue Lösungsstrategien für die Sachfragen. Ein weiterer Bonus: Alle Mitglieder der Frankfurter Mediationsgruppe lobten die ausgezeichnete Arbeitsatmosphäre und das gemeinsame Lernerlebnis.
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Der fünfte Satz: Gemeinsame Faktenbasis herstellen Zunächst geht es darum eine gemeinsame Faktenbasis zu schaffen. Je größer, komplexer und älter der Konflikt ist, desto häufiger erleben wir, dass alle Seiten mit völlig unterschiedlichen Zahlen und Analysen argumentieren. Hier Klarheit zu schaffen, eine Klarheit, die von allen Konfliktparteien getragen wird, ist die Aufgabe dieses Satzes, des „Joint Fact Finding“. Allein dies zu erreichen, ist mehr, als oft in medial geprägten politischen Diskussionen gelingt – und es ist die Grundlage gemeinsamen Entscheidens. Der sechste Satz: Das gemeinsame Ergebnis formulieren Im Finale schließlich geht es darum, das Ergebnis zu verhandeln, ein Paket, in dem sich alle Seiten wiederfinden. Hier kommt es leicht zu furiosen Nachtsitzungen und alles wird noch einmal durcheinandergewirbelt. Jetzt zeigt sich das Geschick der Mediatoren, in diesem Wirbel eine klare Linie beizubehalten: Die bisherigen Ergebnisse sollten stark genug sein, um nicht hinweggeweht zu werden und sie müssen detailliert genug sein, um nicht widersprüchliche Interpretationen zu ermöglichen. Vor allem aber müssen die Mediatoren den harmonischen Schlussakkord selbst setzen: In politischen Konflikten dürfte es zumeist unrealistisch sein, dass die Betroffenen selbst den Lösungsvorschlag formulieren. Da sie nach wie vor die Interessen ihrer Institutionen vertreten müssen, benötigen sie den Impuls eines Vorschlags. Den müssen die Mediatoren auf den Tisch legen – in der klassischen Mediation ein handwerklicher Fehler, in der Politischen Mediation oft unumgänglich. Wenn so am Ende tatsächlich ein Konsens erreicht wird, kann die Aufführung vom Publikum einen heftigen Applaus erwarten. Die Belohnung: Der Applaus des Publikums Die klassische Mediation braucht die Akklamation des Publikums nicht. Sie hat gar kein Publikum. Die Politische Mediation ist ohne Applaus wirkungslos. Das ist ein weiterer, ein entscheidender Unterschied zu anderen Formen der Mediation: Die Teilnehmer am Tisch sind nicht diejenigen, die persönlich ihren Konflikt austragen. Sie vertreten Institutionen und deren Interessen. Daher sind sie nur begrenzt entscheidungs- und umsetzungsfähig. Sie müssen sich als Stellvertreter und Repräsentanten immer wieder rückversichern, um nicht den Rückhalt ihrer Auftraggeber zu verlieren. Deswegen braucht der Mediator die Zustimmung dieser Institutionen und
Die neue Partitur: Politische Mediation
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des breiten Publikums. Die Politische Mediation ist ohne deren langfristige Zustimmung wirkungslos. Nach dem Konzert: Die Umsetzung sicherstellen Aber selbst dann, wenn der Prozess ein Erfolg war, gilt: Nichts ist erreicht, wenn das Ergebnis eine informelle Absprache bleibt. Politische Mediation ist ein informelles Verfahren, es steht in keinem Gesetzestext und in keiner Verwaltungsvorschrift. Gleichwohl müssen die Ergebnisse politisch umgesetzt werden, damit der Dialog nicht post hoc zum Scheindialog wird. Die informell erreichte Einigung in den vorgeschriebenen formellen Verfahren, in Behörden und Gerichten wirksam zu machen und die Parteien auf ihre Einhaltung zu verpflichten, ist die entscheidende Herausforderung. Der Dirigent: Macht beim Mediator! Viele Lehrbücher der Mediation versehen die Rolle eines Mediators nicht mit eigener Durchsetzungskraft. Im Gegenteil, ein direkter Einfluss des Mediators auf ein zu erreichendes Ergebnis ist im klassischen Verständnis ausgeschlossen. Dies ist mit ein Grund, weshalb in der Vergangenheit so viele Versuche scheiterten, Mediation in Deutschland einzuführen. Ein Mediator, der bei jedem einzelnen Schritt den einstimmigen Konsens in der Gruppe suchen muss, ist zum Scheitern verurteilt. Denn dann hätte jeder bei allem ein Veto-Recht, jeder Einzelne könnte allein schon mit der Drohung seines Ausstiegs aus der Verhandlung den Prozess platzen lassen. Anders bei der Politischen Mediation. Hier hat der Mediator einen Einfluss, er hat Macht. Worin besteht diese? Zum Beispiel darin, dass er einen Auftraggeber hat, der die Fragestellung vorgibt und zu einem bestimmten Termin eine Antwort erwartet. So wird der Ausstieg aus den Verhandlungen schwieriger. Wer sich vom runden Tisch verabschiedet, bringt nicht die Mediation zum Scheitern, sondern sich selbst um jede Einflussmöglichkeit auf das Ergebnis. Außerdem muss der Mediator die einzelnen Prozessschritte auch auf eigene Faust durchführen können. Er allein vertritt die Mediation und seine (Zwischen-)Ergebnisse nach außen. Auch das stärkt seine Position. Nur in dieser Rolle als Mittler und Walter kann der politische Mediator seine eigentliche Aufgabe bewältigen: die Organisation des Dialogs. Ein effektiver Dialog stellt sich nicht von selbst ein. Wie in allen Beteiligungsverfahren muss er professionell und planvoll organisiert werden. Der Diri-
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gent muss dafür sorgen, dass aus der Vielzahl der unterschiedlichen Stimmen eine harmonische Symphonie entsteht, bei der jede Einzelstimme gebraucht wird, aber nur ein Bestandteil der gesamten Aufführung darstellt. Der Mediator muss, kurz gesagt, orchestrieren. Seine Befähigung hierzu entscheidet, ob die Zuhörer gleich wieder aufstehen und enttäuscht den Saal verlassen oder der Aufführung bis zum Schluss beiwohnen. Und noch etwas: Bei einer typischen Mediation vereinbaren die Konfliktparteien einen Waffenstillstand für den Zeitraum ihrer Verhandlungen. Den gibt es bei der Politischen Mediation nicht. Zwar wird hinter geschlossenen Türen verhandelt, aber draußen geht der Kampf weiter – in der Presse, bei Veranstaltungen oder im Zuge laufender Genehmigungsverfahren gibt es kein Moratorium. Vielen Bürgern fällt es schwer, dies zu verstehen. Wie kann ich als Fluggesellschaft einerseits über ein Nachtflugverbot verhandeln, andererseits aber in der Öffentlichkeit lautstark dagegen sein? Wie kann ich als Bürgermeister an einem Mediationspaket arbeiten, das eine neue Landebahn vorsieht, zugleich aber Klagen dagegen vorbereiten? Hier wird deutlich: In unserem System muss die Politische Mediation nicht nur die Regeln eines, sondern gleich mehrerer Spiele berücksichtigen. Und daran wird sich ohne Veränderung der Rahmenbedingungen, ohne Reformen im Entscheidungssystem nichts ändern!
Politische Mediation: Der Werkzeugkasten für den Konsens Politische Mediation geschieht nicht hinter verschlossenen Türen. Die Öffentlichkeit weiß, dass die Mediation stattfindet und kennt den Konflikt. Im letzten Absatz wurde deutlich: Während des Mediationsprozesses geht es zwischen den Akteuren in der Öffentlichkeit immer noch hart zur Sache. Und oft sind die Ergebnisse der Mediation zunächst für keinen der Partner rechtlich bindend. Deshalb verläuft nicht nur der Verhandlungsprozess anders als bei traditioneller Mediation, er reicht auch nicht aus. Politische Mediation, die verändern will, braucht außerdem: • •
Partizipation, um Optionen zur Mitwirkung für alle Betroffenen zu schaffen PR-Aktivitäten, um Transparenz des Vorgehens durch Information der breiten Öffentlichkeit sicherzustellen
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Bildung einer „Institution“, einer zentralen Anlaufstelle, um alle Diskussionen zum Thema möglichst an einem einzigen Ort zu bündeln Wirkungsvolle Vertretung der Resultate in den formellen Entscheidungsprozessen von Parlament und Verwaltung, um die Umsetzung der erarbeiteten Ergebnisse in den Gesetzgebungs- und Genehmigungsverfahren sicherzustellen
Was sollen wir uns darunter im Einzelnen konkret vorstellen? Partizipation Optionen zur Mitwirkung für alle Betroffenen schaffen – das geschieht zum Beispiel durch Serien von Fokusgruppen, bei denen zufällig ausgewählte Bürger Gelegenheit haben, ihre Fragen als Input für Gutachten zu stellen, deren Antworten zu kommentieren und das Arbeitsprogramm der Mediation mitzugestalten. Jeder Betroffene sollte sich am besten via Internet nicht nur informieren, sondern auch äußern können. Darüber hinaus ist besonders an Multiplikatoren zu denken. Eigene Veranstaltungen zu deren regelmäßiger Information über den Verlauf der Diskussionen in der Mediationsgruppe und über die Ergebnisse der Gutachten sind einzuplanen. PR Transparenz des Vorgehens durch Information der breiten Öffentlichkeit sicherstellen – das bedeutet: Unmittelbare Information der Presse, Veröffentlichung aller Ergebnisse im Internet, die Nutzung des breiten PRSpektrums von Broschüren, Postwurfsendungen, Bürgersprechstunden oder die Einrichtung eines Bürgerbüros als Anlaufstelle für alle Anfragen aus der Bevölkerung. Schaffung einer zentralen Anlaufstelle Bündelung aller Diskussionen zum Thema an einem zentralen Ort – dies muss durch eine Institution sichergestellt werden, in der alle Informationen zusammenlaufen und in deren Rahmen die Beteiligten systematisch alle Konflikte und Interessen verhandeln. Sie ist der einzige Ort, an dem die relevanten Institutionen in der Region regelmäßig zusammenkommen und alle Themen im Zusammenhang mit dem Verfahren miteinander besprechen. Dieser Ort war in Frankfurt zunächst die Mediationsgruppe selbst,
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später wurde das „Regionale Dialogforum Flughafen Frankfurt“ der Ort, an dem die Region alle flughafenrelevanten Diskussionen führt.
Politische Mediation ist keine Fortsetzung der klassischen! Was unterscheidet Politische Mediation von der klassischen? Der Begriff „Mediation“ weckt bei vielen Assoziationen an die Konfliktschlichtung im privaten Bereich. Von manchen Fachleuten wurde das Frankfurter Verfahren vor diesem Hintergrund als Etikettenschwindel bezeichnet. Tatsächlich gibt es entscheidende Unterschiede zwischen Politischer und privater Mediation. Die drei wichtigsten sind: 1. Teilnehmer und Öffentlichkeit In der privaten Mediation gibt es eine kleine Anzahl von direkt Beteiligten. In der Politischen Mediation gibt es unterschiedliche Ebenen der institutionellen und informellen Interessenvertretung, deren Vertreter sich im Laufe der Auseinandersetzung ändern. Die Politische Mediation darf sich durch Nichtteilnahme oder Ausstiegsdrohungen nicht erpressbar machen. Dies ist besonders schwierig, weil es – anders als im privaten Kontext – eine Öffentlichkeit gibt, die von den Konfliktpartnern immer wieder für ihre Interessen in Stellung gebracht wird. 2. Interessen und Identitäten Mediatoren im privaten Bereich versuchen meist, Konflikte durch Rekurs auf Interessen zu lösen, die sich von den Gefühlen trennen lassen, und so eine Einigung zu ermöglichen, der jeder zustimmen kann. Öffentliche Konflikte erfordern eine ständige Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ebenen der Repräsentation und institutionellen Abhängigkeiten, die eine Trennung von Interesse und Konfliktverhalten in der Praxis erschweren. 3. Prozess- und Ergebnisverantwortung In der privaten Mediation tragen die Beteiligten selbst die Initiative und Verantwortung für ihr Schlichtungsverfahren. In der Politischen Mediation gibt es einen Prozessmotor mit einem Mandat zur Beilegung des Konflikts. Dieser setzt die Rahmenbedingungen und muss die Ergebnisumsetzung vorantreiben.
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Vertretung der Resultate nach außen Umsetzung der erarbeiteten Ergebnisse in den formalen Gesetzgebungsund Genehmigungsverfahren sicherstellen – es gibt keinen Automatismus der Akzeptanz des Mediationsergebnisses. Stattdessen ist es erforderlich, aktiv bei den betroffenen Institutionen für die Ergebnisse zu werben, und zwar mit zielgruppenspezifischen Mitteln, für die Politik genauso wie für Unternehmen und Bürgergruppen. So stellen die Mediatoren sicher, dass eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung und bei den relevanten gesellschaftlichen Gruppen für die Ergebnisse der Mediation vorhanden ist. Die richtigen Erwartungen: Entscheidungsvorbereitung, nicht Entscheidung! Politische Mediation kann in diesem Raum abseits der offiziellen Politik viel erreichen – wenn sie keine Illusionen erzeugt. Die wichtigste Klarstellung: Politische Mediation dient nur zur Vorbereitung einer Entscheidung durch demokratisch legitimierte Gremien, sie ist nicht selbst Ort der endgültigen Entscheidung. Dadurch wird sie nicht weniger wichtig, sondern eher wichtiger, weil glaubwürdiger. Aber das klappt nur, wenn die richtigen Voraussetzungen geschaffen sind. Jetzt wird klar, warum für die Partitur eine offene Frage oder Aufgabe gestellt werden muss. Die Ratsuche des Entscheiders muss glaubhaft sein und darf zu keiner Zeit zu einem Scheindialog werden, während in Wahrheit hinter den Kulissen bereits alles entschieden ist. Zweitens muss der Ergebnisrahmen realistisch abgesteckt sein, so dass die Einigung auch politisch umsetzbar ist. Geschieht dies nicht, droht das Ergebnis des Gesprächs ignoriert zu werden, und die Beteiligten haben Angst, dadurch erst richtig zu verlieren. Ein solches Mediationsergebnis hätte in Frankfurt keine realistische Chance gehabt und wäre zu Recht von den Bürgern als Feigenblatt der Landesregierung empfunden worden. Der Kern: Wie man eine gemeinsame Faktengrundlage schafft Die Fluglärmpegel im Rhein-Main-Gebiet versus die Arbeitsmarktwirkung des Flughafenausbaus, die Strahlenbelastung von Mobilfunkmasten versus die zukünftige Nachfrage nach Netzbandbreite – diese Abwägungen haben eines gemeinsam: Sie sind komplex und in all ihren Abhängigkeiten kaum vollständig erfassbar. Gutachten stehen gegen Gutachten, Meinungen gegen Meinungen, berechtigte Sorge gegen legitimes Geschäftsinteresse. Die
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Suche nach den besten Lösungen ist nicht nur eine Suche nach Kompromissen, sondern auch eine Suche nach den Fakten. Wer sich nicht auf die sachlichen Voraussetzungen eines Konflikts einigen kann, wird sich auch nicht über seine Lösung einigen können. In der Politischen Mediation findet ein sogenanntes „Joint Fact Finding“ statt, also eine gemeinsame Identifizierung der Fakten, die bewertet werden müssen. Hier liegt ein weiterer zentraler Unterschied zur traditionellen Mediation. Es reicht nicht aus, wenn sich die Konfliktparteien gegenseitig verstehen lernen – sie müssen die Sachlage so klären, dass sie neue Lösungsräume erschließen. In Frankfurt hatten sich im Laufe der Jahre zahlreiche widersprüchliche Zahlen in der Diskussion festgesetzt. Die Schätzungen zur Anzahl der Lärmopfer gingen ebenso weit auseinander wie die zur Anzahl der Arbeitsplätze, die auf dem Spiel standen. Gutachter wurden je nach ihren Ergebnissen von der einen oder anderen Seite beauftragt und zitiert. Ein neues Verfahren musste her, um Fakten von Meinungen zu trennen und eine Konzentration auf die verbleibenden Streitpunkte zu ermöglichen. Wie wurde das in Frankfurt angegangen? Für ihr Joint Fact Finding holte die Mediationsgruppe Gutachten ein, die jeweils von mindestens zwei weiteren Experten begleitet und kommentiert werden mussten. Dadurch waren die von allen Seiten benannten Gutachter gezwungen, sich direkt mit ihren unterschiedlichen Positionen auseinanderzusetzen – und Abweichungen klar in die Mediationsgruppe zu kommunizieren. Diese Art der Qualitätssicherung führte in fast allen strittigen Fragen dazu, dass sich die vorher so unterschiedlich von den streitenden Parteien ins Feld geführten Gutachter plötzlich durchaus einig waren! Parallel zu den Gutachten fanden Hearings statt. Teilnehmer waren auch hier die von den Konfliktparteien benannten Experten. Diese hatten einen Fragenkatalog so zu bearbeiten, dass am Ende der Veranstaltung klar war, worin sie sich wirklich unterscheiden. Auch hier wurde meist deutlich, dass die Differenzen weit weniger gravierend waren als erwartet. Mit diesen Vorbereitungen gelang es der Mediationsgruppe, die auf diese Weise identifizierten Fakten im Konsens zu verabschieden. Nach und nach stellte sich heraus, dass sich beide Seiten in vielen ihrer Annahmen korrigieren mussten. Nicht nur lag die Anzahl der Lärmopfer in der Region mit 200.000 zehnmal höher als selbst von den lautesten Bürgerrechtlern behauptet. Auch an die Größenordnung der betroffenen Arbeitsplätze musste eine Null drangehängt werden.
Was kann Politische Mediation (noch) nicht erreichen?
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Die Auswirkung dieser Klärungen war auch außerhalb des Sitzungsraums spürbar. Die Diskussionen konzentrierten sich immer weniger auf einen Expertenstreit, sondern auf die wahren Konfliktlinien. Unsinnige Behauptungen hatten keine lange Halbwertszeit mehr. Roland Koch fasste die Wirkung so zusammen: „Ein Verfahren von dieser Größenordnung ist ein Verfahren mit unglaublich vielen Details und Aspekten, über die man alle gut streiten kann. Jeder sucht sich heraus, worüber er am liebsten und mit der größten Innbrunst streitet. Und je weniger Gutachten es gibt, umso länger macht der Streit Spaß. Das Mediationsverfahren hat uns in 90 Prozent der Fälle diese Streitmöglichkeit genommen. [...] Das ermöglicht uns darüber zu streiten, was wirklich wichtig ist, welches die zentralen Fragen sind. Denn wir müssen nicht mehr darüber streiten, ob ein Punkt überhaupt diskussionswürdig ist, sondern wir müssen nur noch über konkrete Fragen entscheiden.“ Joint Fact Finding identifiziert also die tatsächlichen Konfliktlinien abseits von der medialen Verstärkung. In der Öffentlichkeit kann niemand mehr die alten Argumente vorbringen. Der Konflikt wird in einem kollektiven Lernprozess auf seinen Kern reduziert. Das wird nicht immer funktionieren, und der Konflikt ist damit auch keineswegs ganz aus dem Weg geräumt. Weiterhin fühlen sich Anwohner gesundheitlich gefährdet. Weiter wird es Klagen geben – von Bürgern oder von Luftfahrtgesellschaften. Aber das Joint Fact Finding in Frankfurt brachte beide Seiten voran – neben Konsenspunkten wurden auch die Dissenspunkte herausgearbeitet. Im bleibenden Dissens muss abgestimmt werden, das ist in der Demokratie so. Aber es ist wichtig, dass man weiß, worüber man abstimmt.
Was kann Politische Mediation (noch) nicht erreichen? Die Welt ist nicht perfekt. Was immer die Mediatoren in Frankfurt herausfinden und empfehlen, ihre Ergebnisse sind nicht bindend für Parlamente und Genehmigungsbehörden. Das heißt konkret: Trotz Mediation muss beispielsweise Fraport noch einen Antrag auf Planfeststellung beim Regierungspräsidium Darmstadt stellen. Dieser wird bewertet von Personen, die in das Mediationsverfahren nicht eingebunden waren, und auf Basis von neu erhobenen Daten.
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Daher darf Politische Mediation auch keine falschen Erwartungen wecken. Sie ist kein Ersatz für diese formalen Verfahren. Das heißt: •
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Formale Verfahren haben Vorfahrt. Die Mediation muss sich danach richten, was in den formalen Verfahren wichtig ist oder wichtig wird. Die Ergebnisse der Mediation müssen, wie alle anderen Aspekte auch, in die Antragsunterlagen eingefügt werden und unterliegen dann der Abwägung der Behörden. Der Aufwand für informelle Verfahren muss in einem vertretbaren Kosten-Nutzen-Verhältnis zu den Aussichten seines Ergebnisses in formalen Verfahren stehen. Wenn Politische Mediation nicht im Vorfeld, sondern parallel zu laufenden formalen Verfahren stattfindet, ist es weitaus schwieriger, eine Einigung zu erzielen. Dann beschränkt sich der Dialog häufig darauf, Controlling und Monitoring zu leisten.
Was kann Politische Mediation, was sind falsche Versprechen? was sie kann:
was sie (allein) nicht kann:
- Konfliktparteien an einen Tisch bringen - Entscheidungen vorbereiten
- Formale Verfahren ersetzen - Von Entscheidungen entbinden
- Faktenlage klären
- Wissenschaftliche Analysen überflüssig machen
- Proteste kanalisieren
- Proteste generell verhindern
- Interessentransparenz schaffen
- Tief liegende Ängste auflösen
- Neue Verhandlungsoptionen freilegen - Handlungsspielräume öffnen
Aber was kann getan werden, damit die Mediation nicht am Ende wirkungslos bleibt? In jedem Fall gibt es gute Möglichkeiten, den Dialog und seine Ergebnisse in den formalen Verfahren zu verankern:
Was kann Politische Mediation (noch) nicht erreichen?
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Schnittstellen: Zwischen den Verfahren können Schnittstellen geschaffen werden, die sicherstellen, dass Informationen, Argumente und Abwägungsprozesse wahrgenommen und berücksichtigt werden können. Leider ist es heute noch so, dass beispielsweise die Ergebnisse der Gutachten, auf die sich die Konfliktparteien in Frankfurt einigen konnten, in der notwendigen Umweltverträglichkeitsprüfung nicht verwendet werden können. Die Gutachter freut es. Konsistente Anträge: Durch quasiformale Erklärungen und Vereinbarungen wie Moratorien oder Selbstverpflichtungen kann und muss die Bindungswirkung der informellen Übereinkünfte gestärkt werden. Wenn beide Konfliktparteien in den formalen Verfahren ihre Positionen im Einklang mit dem Mediationsergebnis vertreten, ist es weniger wahrscheinlich, dass das Ergebnis der Behörden anders lautet.
Verfahrensreformen – Was sich verändern muss Ineffiziente, doppelte und geschachtelte Genehmigungsverfahren mit anschließenden gerichtlichen Auseinandersetzungen sind Gift für einen wettbewerbsfähigen Standort. Um das beschleunigende Potenzial Politischer Mediation ausnutzen zu können, brauchen wir in Deutschland Reformen der Verfahrensketten. Drei Beispiele: Wir müssen Mediationsverfahren besser ankoppeln, zum Beispiel durch die Schaffung formaler Anker (wie Moratorien oder öffentliche Erklärungen), die für ein konsistentes und konstruktives Verhalten von Konfliktpartnern in formellen wie informellen Verfahren sorgen. Wir müssen eine größere Bandbreite diskursiver Verfahren im Vorfeld und während Genehmigungsverfahren zulassen, damit Bürger und Experten nicht immer wieder befragt werden. Wir müssen Gutachten, die im Rahmen eines Mediationsprozesses erstellt wurden, auch in formalen Verfahren nutzen können, um die bisherige Doppelarbeit abzuschaffen.
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Die Abwägung beeinflussen: Viele dieser Verbindungen müssen sich noch bewähren und müssen in den kommenden Jahren ihren Niederschlag in Reformen finden (siehe Abbild 17). In Frankfurt wurde mit Moratorien und Selbstverpflichtungen getan, was getan
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werden konnte. Die Fraport AG hat in ihrem Planfeststellungsantrag für den Ausbau das Nachtflugverbot fest eingebaut, und das Dialogforum beteiligt die Bürger der Region kontinuierlich an der Umsetzung des erreichten historischen Kompromisses.
Das Ergebnis: Neue Spielräume für konstruktive Politik Ein Jahr nach Beginn der Verhandlungen in Frankfurt haben alle Seiten am Tisch gewonnen. Alle Beteiligten wissen mehr, haben sich bewegt. Es ist Zeit für ein Ergebnis – und zwar für eines, das ein Jahr zuvor niemand vorausgesehen hätte. Die Mediatoren schnüren ein Paket aus fünf Elementen, die unauflöslich miteinander verbunden sind, und alle Teilnehmer stimmen zu. So kann es gehen: Ein Ausbau ist nur dann möglich, wenn ein Nachtflugverbot eintritt und die Fraport AG alle Optimierungsmöglichkeiten für den Flugbetrieb ausnutzt. In einem Anti-Lärm-Pakt mit der Region wird festgelegt, dass sich die Lärmbelastung insgesamt kontinuierlich reduzieren muss. Im Regionalen Dialogforum, einer weiteren Verfahrensinnovation, soll der begonnene Dialog über Wirtschaftsentwicklung und Lebensqualität im Umfeld des Flughafens fortgesetzt und die Umsetzung des Mediationspakets begleitet werden. Das Land atmet auf. Der Konflikt wird nicht mehr mit Gewalt am Bauzaun ausgetragen.
Erfolgsfaktoren Politischer Mediation Benennung eines angesehenen und unabhängigen Mediatorenteams Definition einer offenen Frage mit Mediatoren und Beteiligten Joint Fact Finding, unterstützt durch Gutachtenmanagement mit doppelter Expertenkommentierung Verzahnung des informellen Verfahrens mit obligatorischen formalen Verfahren Professionelles Prozessmanagement und Moderation Transparente Öffentlichkeitsarbeit und langfristige Dialogangebote an die gesamte Region
Hans Eichel wurde bei seiner Entscheidung für das Mediationsverfahren nicht nur bestätigt, sondern auch kritisiert. Er wolle nur Zeit gewinnen und das Problem delegieren, sagten manche Wirtschaftsvertreter. Aber
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auch vielen Umweltgruppen konnte er es nicht recht machen: Die Entscheidung stünde ohnehin fest und nun wolle Eichel auf durchsichtige Weise Legitimation dafür herbeischaffen. Der tatsächliche Wert des Frankfurter Verfahrens für den Ministerpräsidenten stellte sich aber heraus, als Roland Koch mitten im Prozess an die Spitze der Landesregierung gewählt wurde. Er war nicht durch Koalitionsabsprachen mit den Grünen in seinen Entscheidungen gebunden. Dennoch setzte er das Verfahren nicht nur fort, sondern legte seine Regierung auf die Umsetzung des Mediationsergebnisses fest. Warum? Weil es sowohl sein Orientierungsproblem der widersprüchlichen Faktenlage um Fluglärm und Wirtschaftsdynamik lösen half, weil die Beteiligung in der Entscheidungsvorbereitung Akzeptanz schuf für die Entscheidung, die er letztlich fällen musste, und weil es ihm ermöglichte, einen Konflikt zu steuern, der vorher nur durch das Gewaltmonopol des Staates in den Griff zu bekommen war. „Es wurde gezeigt, dass es in einer kommunikativen modernen Welt, die von der Vernunft geleitet ist, Instrumente gibt, mit denen eine Zustimmung nicht nur vom Formalen her, sondern auch beim Inhaltlichen erlangt werden kann. Denn eine Gesellschaft, die inhaltlich zufriedener ist mit den Entscheidungen, die formal getroffen worden sind, ist eine stabilere Demokratie“, sagt Roland Koch in der Rückschau. Politische Mediation ist also eine konkrete Antwort auf konkrete Fragen von politischen Entscheidern, aber sie ist noch mehr: ein Beitrag zur demokratischen Kultur. Politische Mediation nimmt den Wert unterschiedlicher Überzeugungen ernst und hilft den Konfliktparteien, die öffentliche Auseinandersetzung informiert und konstruktiv zu führen, ohne ihre Identitäten und Bindungen aufzugeben. Sie hilft, die Glaubwürdigkeits- und Kreativitätslücke zu schließen, die sich in langen ungelösten Konflikten oft auftut. Damit ist sie ein Stück bessere Politik. Sie kann Wissensgewinne, Aufklärung und Mobilisierung mit einer Auseinandersetzung um Überzeugungen verbinden. Dabei ist festzuhalten: Demokratisch legitimierte Politik darf und kann durch informelle Verfahren wie dasjenige in Frankfurt nicht ersetzt werden. Aber um den politischen und demokratischen Wert der informellen Einigung zu erhalten, muss die Politik sie ernst nehmen. Der Konsens ist eine Chance, die nicht verspielt werden darf.
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Konflikte bewältigen: Politische Mediation gegen erstarrte Rituale
Zeittafel Frankfurter Flughafenausbau und Vorläuferkonflikte 23. Februar 1975: Wyhl – erste große Protestaktion gegen den Bau von AKWs. 10.000 Demonstranten besetzen den Bauplatz. 24. September 1977: Kalkar – 50.000 Menschen demonstrieren gegen das geplante AKW. Starke Aufgebote von Polizei und BGS hindern weitere 20.000 Menschen an der Teilnahme. 14. März 1979: Gorleben – Demonstranten besetzen den Bauplatz der Wiederaufbereitungsanlage und proklamieren zeitweise die „Freie Republik Wendland“. 28. Oktober 1980: Frankfurt – Die Flughafen-Gesellschaft beginnt mit den Bauarbeiten für die Startbahn West. 2. November 1981: Frankfurt – Blitzräumung des Hüttendorfes im Flörsheimer Wald unter Einsatz von starken Polizeikräften. 7. November 1981: Frankfurt – Großdemonstration im StartbahnWald mit 30.000 Teilnehmern. 14. November 1981: Wiesbaden – 100.000-150.000 Menschen demonstrieren friedlich gegen den geplanten Ausbau der Startbahn 18-West. 12. April 1984: Frankfurt – Inbetriebnahme der Startbahn 18-West. 2. November 1987: Frankfurt – Am 6. Jahrestag der Räumung werden bei einem nächtlichen Zusammenstoß von Demonstranten und Polizei zwei Polizisten erschossen und zwei weitere schwer verletzt.
Zeittafel Mediationsverfahren Winter 1997: Frankfurt – Lufthansa-Chef Jürgen Weber fordert zusätzliche Start- und Landebahn am Frankfurter Flughafen. Frühjahr 1998: Wiesbaden – Die Idee eines Mediationsverfahrens wird im „Gesprächskreis Flughafen“ des Ministerpräsidenten Hans Eichel geboren. 16. Juli 1998: Frankfurt – Die Mediatorengruppe nimmt unter Beratung von IFOK ihre Arbeit auf, das Mediationsverfahren startet. 31. Januar 2000: Frankfurt – Die Mediatorengruppe legt den Abschlussbericht vor, der im Konsens ein 5-Punkte-Paket u.a. mit Ausbau und Nachtflugverbot vorsieht. 2000 bis heute: Rüsselsheim/Frankfurt – Das Regionale Dialogforum setzt den Dialog mit der Region fort und begleitet die Umsetzung des Mediationspakets.
Mehrsektorale Partnerschaft: Umsetzen, was ich nicht verordnen kann
Das Wichtigste in Kürze Wie können verschiedene Institutionen gemeinsam erreichen, was keine alleine schaffen kann? Eine Herausforderung, die häufig in Deutschland anzutreffen ist, denn einfach von oben verordnen, das funktioniert kaum mehr. Die Kooperation für ein gemeinsames Ziel zwischen Politik, Verwaltung, Unternehmen, Universitäten und Verbänden ist angesichts von Trittbrettfahrern, Vermittlern mit Eigeninteressen und unterschiedlichen Entscheidungskulturen nicht einfach, aber ein starker Motor und wohlgesteuerte Beteiligungsverfahren ermöglichen erfolgreiches gemeinsames Handeln. Die Profilierung des Rhein-Neckar-Dreiecks als Spitzenstandort im Wettbewerb der Regionen hat bewiesen, dass derartige Partnerschaften möglich sind – und ein konkretes Beispiel geliefert, wie man alle Akteure zusammenschweißen kann. Heute ist die „Metropolregion Rhein-Neckar“ ein Erfolgsmodell. Auch bei kommunalen „Familien-Tischen®“ und internationalen Entwicklungsprojekten wurden durch innovative Kooperationen Ideen mobilisiert, Ressourcen gebündelt und Strukturen verändert – mit denjenigen, die umsetzen statt reden wollen.
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Mehrsektorale Partnerschaft: Umsetzen, was ich nicht verordnen kann
„Uns ist es gelungen, ein bundesweites einmaliges regionales PublicPrivate-Partnership zu initiieren. Und das über drei Bundesländer hinweg! Dieses Erfolgsmodell des kooperativen Föderalismus kann beispielhaft für Deutschland sein.“ Eggert Voscherau (am 22. Februar 2005) Zur Person: Eggert Voscherau ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender der BASF Aktiengesellschaft. Seit vielen Jahren setzt er sich für das RheinNeckar-Dreieck ein und rief 2003 die Initiative Zukunft Rhein-Neckar-Dreieck ins Leben. „Nur noch die unwichtigen Probleme können Regierungen alleine lösen. Für alles andere brauchen wir Unternehmen und andere Organisationen als Partner.“ Maria Mutagamba Zur Person: Die Staatsministerin für Wasser in Uganda ist eine der vielen Partnerinnen und Partner bei internationalen Wasserkooperationsprojekten, die vom World Economic Forum und IFOK organisiert werden. “In meiner Gemeinde ziehen wir in der Familienpolitik an einem Strang. Die Familien-Tische® sind ein ideales Verfahren, um die Chancen für Familien konkret zu verbessern.“ Josef Maierhofer Zur Person: Der Bürgermeister der Marktgemeinde Pilsting in Bayern führte mit lokalen Unternehmern, Bürgern und Vereinen Familien-Tische® durch und setzte erfolgreich gemeinsam mit ihnen Projekte um.
Regionen: Zwischen allen Stühlen Es handelt sich um den siebtgrößten Ballungsraum Deutschlands. In ihm finden sich nicht nur Deutschlands meistbesuchtes Schloss und drei Stätten des UNESCO-Weltkulturerbes, sondern auch mehrere Weltmarktführer. Angesehene Hochschulen und Forschungsinstitutionen sind hier angesiedelt. Man ist in der Mitte Europas und in Rufweite zu einem großen internationalen Flughafen. Wenn Sie nicht wissen, von welcher Region die Rede ist, dann geht es Ihnen genauso wie den meisten im Jahr 2003. Diese Region taucht in keinem Ranking auf, sie steht auf keinem Briefbogen und wird von keinem Quizkandidaten im Fernsehen als Heimat genannt. In dieser Quizshow würde die große Mehrheit daran scheitern, Mannheim,
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Ludwigshafen und Heidelberg auch nur grob in derselben Gegend anzusiedeln – im Rhein-Neckar-Dreieck. Was für die meisten Bewohner zwischen Pfälzer Wald, Odenwald und Hockenheimring kein Problem ist, ist für zahlreiche Unternehmenschefs und Kommunalpolitiker Grund zur Sorge. In den Chefetagen von SAP, Heidelberger Druck, Bilfinger Berger, Fuchs Petrolub, MLP und nicht zuletzt beim größten Arbeitgeber der Region, der Ludwigshafener BASF, hat sich längst die Erkenntnis eingestellt: Wenn der Quizkandidat nicht weiß, dass diese Unternehmen in einer wirtschaftsstarken Region mit hoher Lebensqualität und ausgezeichneter Verkehrsanbindung liegen, dann weiß das auch kaum ein Investor und kaum eine qualifizierte Fach- oder Führungskraft. Die Bekanntheit der Region und ihrer Attraktivität ist aber 2003 noch nicht einmal das schlimmste Problem. An allen Ecken und Enden funktioniert es nicht. Sieben behördliche Planungsebenen, mehr als irgendwo sonst, verzögern jede Investitionsentscheidung. In der Forschungsförderung bekriegen sich die Universitäten, dem ICE-Anschluss von Mannheim droht der Bypass, und erst vor kurzer Zeit hat ein Großunternehmen entnervt vom Entscheidungsstau einen eigenen neuen Güterhafen gebaut, obwohl wenige Kilometer rheinaufwärts ausbaufähige Häfen bereit liegen. Im Rhein-Neckar-Dreieck kommt noch eines hinzu: Die Region ist getrennt durch drei Ländergrenzen. Im Westen Rheinland-Pfalz, im Osten Baden-Württemberg und im Norden die hessische Bergstraße. Drei Länder, das bedeutet nicht etwa dreimal so viel Förderung, sondern dreimal so viele Entscheider in Landeshauptstädten – weit weg von der Region. Oft scheint es, als ob das Rhein-Neckar-Dreieck für sie ein ungeliebtes Ziehkind sei. Für die Unternehmer der Region ist das anders. Für sie ist die Regionenfrage gleichzeitig die Standortfrage. Wenn es um Planungsverfahren für Investitionen geht, geht es um regionale Entscheidungen. Wenn es um attraktive Lebensräume für Familien oder um Kinderbetreuungsplätze geht, geht es darum, was die Region zu bieten hat. Wenn es um Wirtschaftsnetzwerke und Forschungskooperationen geht, ist die Region der Ort, an dem man miteinander arbeitet. Wenn es um Verkehrsanbindungen für Güter- und Personenverkehr geht, zählt die regionale Geographie. Die Wirtschaft braucht daher eine Region, in der politisch unkompliziert günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden, eine Region, in die man Führungskräfte nicht zweimal bitten muss, eine Region mit kurzen Wegen
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Mehrsektorale Partnerschaft: Umsetzen, was ich nicht verordnen kann
zu Technologiepartnern und Zulieferern, kurz gesagt: eine Region mit Zukunft. Im internationalen Wettbewerb spielen Regionen und nicht Länder oder Städte zunehmend eine Schlüsselrolle. Das hat auch Konsequenzen für die Förderpolitik – sowohl die Europäische Union als auch die Bundesregierung vergeben Fördermittel zunehmend für Regionen statt für Städte oder einzelne Unternehmensbranchen. Jeder der Unternehmer in der Region könnte formulieren, was der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der BASF, Eggert Voscherau, auf den Punkt bringt: „Das führende Chemieunternehmen der Welt mit Stammsitz in dieser Region braucht das beste Team, um im globalen Wettbewerb weiterhin Spitze zu sein. Und Spitzenleute kommen aus einem attraktiven Umfeld und wollen in einem ebensolchen arbeiten und leben. So einfach ist das.“
Was sich nicht verordnen lässt Wenn die Topmanager in den Vorstandsetagen der Heidelberger Druckmaschinen, der SAP und der Fuchs Petrolub wollen, dass in ihrem Unternehmen etwas passiert, reicht meist eine Aktennotiz oder ein Telefonat. Aber welches Dokument können sie unterschreiben, welche Nummer sollen sie wählen, damit das Rhein-Neckar-Dreieck zu der Region wird, in der sie ihre Standorte halten können? Für jeden allein ist die Aufgabe zu groß, und dennoch muss sie bewältigt werden. Im Rhein-Neckar-Dreieck muss umgesetzt werden, was niemand allein verordnen kann. Wie machen es andere Regionen? Alle speziell geförderten „europäischen Metropolregionen“ in Deutschland haben eines gemeinsam: Sie sind die politischen Zentren ihrer Bundesländer. Mit Millionenetats und mächtiger Unterstützung können sie Marketingkampagnen und Förderprogramme, Olympiabewerbungen und Regionenvertretungen in Brüssel umsetzen. Im Rhein-Neckar-Dreieck wird es nicht ausreichen, nur Geld auszugeben. Dies tun die Unternehmen der Region bereits – für die Renovierung von Stadtvierteln genauso wie für Arbeitsmarktinitiativen, für Museen genauso wie für die Forschungsförderung. Aber selbst mit viel Geld können sie zwei Dinge nicht steuern: Die Mittel von allen Seiten müssten
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erstens gebündelt und auf die regionalen Prioritäten gerichtet werden, um nicht zu verpuffen. Und zweitens müssten alle dabei an einem Strang ziehen und die gleichen Prioritäten vor Augen haben. Zusätzlich zu diesem Steuerungsproblem präsentiert sich das Akzeptanzproblem. Niemand hat die Wirtschaftsbosse gewählt, um die notwendigen Entscheidungen der regionalen Reformen und Investitionen zu treffen. Wenn Einzelne vorpreschen ohne alle anderen mitzunehmen, sind Ressentiments auf der jeweils anderen Rheinseite sowie in der Politik vorprogrammiert und ihr Anliegen könnten sie gleich begraben.
Projektsteckbrief Initiative Zukunft Rhein-Neckar-Dreieck Initiatoren und Beteiligte BASF Aktiengesellschaft; Raumordnungsverband Rhein-Neckar, Rhein-Neckar-Dreieck e.V., Unternehmer, Bürgermeister, Universitätspräsidenten und weitere Prominente der Region • •
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Ziel Positionierung des Rhein-Neckar-Dreiecks als Spitzenstandort Bündelung der Regionalentwicklung auf ein Zielprofil und Weiterentwicklung der Regionalmanagement-Strukturen Ergebnis Umsetzung von über 40 Projekten und zahlreichen Veranstaltungen Ausrichtung aller wichtigen regionalen Institutionen auf eine gemeinsame Projektagenda Beteiligung von 10.000 Bürgern an einer „Zukunftswerkstatt“ Einrichtung eines unternehmerischen Förderfonds für Schlüsselprojekte Anerkennung des Rhein-Neckar-Dreiecks als speziell geförderte „Metropolregion“ Methoden
Multiprojektmanagement, Großveranstaltungen, Gruppenmoderation, Zukunftswerkstatt, Regionalanalyse, Öffentlichkeitsarbeit
Im Rhein-Neckar-Dreieck muss also etwas Außergewöhnliches passieren. Eggert Voscherau von der BASF hat einen besonderen Problemdruck,
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Mehrsektorale Partnerschaft: Umsetzen, was ich nicht verordnen kann
denn er hat den Auftrag, das Umfeld des Unternehmens zu gestalten. Er muss nicht nur sein Steuerungs- und Akzeptanzproblem lösen, sondern auch das seiner Partner, und zwar mit schnellen Erfolgen und langfristigen Perspektiven. Ziel ist eine breit angelegte Projektoffensive in allen Bereichen der regionalen Entwicklung, eine effektive Dialog- und Entscheidungsplattform und ein neuer Staatsvertrag, der im Rhein-Neckar-Dreieck die rechtlichen Rahmenbedingungen schafft, die ein moderner Standort braucht. Sonst kann man Europas größtes Industrieareal im Norden Ludwigshafens irgendwann nur noch als Industriedenkmal besichtigen.
Dilemmata der Kooperation in Deutschland Heute sind Entscheider überall damit konfrontiert, Veränderung schaffen zu müssen, die sie nicht verordnen können. Und das wird besonders deutlich bei der Bewältigung der drängendsten gesellschaftlichen Herausforderungen, für die es naturgemäß aus den verschiedenen Interessengruppen unterschiedliche Lösungsvorstellungen gibt. Viel zu häufig gilt aber: Was einer nicht kann, das können viele erst recht nicht. Ein jeder kennt diese Kooperationshürden aus der Praxis. Die Eigeninteressen und Anreize laufen kreuz und quer, verordnet durch Gesetze, verkompliziert durch institutionelle Konkurrenzen und verschärft durch Persönlichkeiten. Diese Probleme kann man bereits in kleinen und vertrauten sozialen Gruppen beobachten. Besonders drastisch wirken sie aber, wenn sie durch unterschiedliche Kommunikationskulturen noch verstärkt werden, wie bei Kooperationen über die Grenzen der Politik, der Wirtschaft oder der Zivilgesellschaft hinaus. Ein jeder sieht zuerst das Schlechteste in seinen Partnern: das kurzfristige top-down-Denken von Entscheidern aus der Wirtschaft, die resignierte Grabenkampfhaltung kommunaler Verwalter und die Eitelkeit von Aktivisten. Hinzu kommt, dass es nicht nur zu gewinnen gibt, sondern auch zu verlieren. Wer sich zu weit aus der Verschanzung vorwagt, der lebt gefährlich: Das Unternehmen, das als erstes viel Geld für gemeinsame Aktivitäten in die Hand nimmt, weiß keinesfalls, ob die anderen Unternehmen nachziehen oder lieber passiv profitieren. Vielen nutzt die Investition, aber nicht alle Nutznießer beteiligen sich an den Anstrengungen. Für dieses sogenannte „Free Rider“-Problem ist Regionalentwicklung ein Paradefall.
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Wichtiger noch ist aber das „Gefangenendilemma“, das auf die Regionalentwicklung angewendet etwa so funktioniert: Der Oberbürgermeister, der zuerst zugibt, dass eine Theaterlandschaft mit einer Handvoll Mittelklassetheater schlechter ist als eine gemeinsam finanzierte Spitzenbühne mit mehreren Spielorten, der ist sein eigenes Theater los, und zusätzlich sicher auch ein paar Stimmen bei der nächsten Gemeinderatswahl. Hochschulrektoren, Wirtschaftsförderern und Versorgungsunternehmen geht es bei der Konkurrenz um die Mittelverteilung genauso: „Vorwärts, Kameraden, ich bleibe zurück!“, lautet das Motto. Und für viele ehrenamtlich Engagierte bedeutet besser koordiniertes regionales Sponsoring nicht mehr Geld, sondern weniger Nischen für das Mittelmaß. Das Problem besteht darin, dass die Region und die meisten ihrer Institutionen von Kooperation zwar profitieren würden, aber das gilt nicht für jeden Akteur innerhalb dieser Institutionen. Für den mittleren Manager oder Leiter einer Kulturinitiative kann bessere Koordination zwischen Institutionen weniger Macht für ihn innerhalb seiner Institution bedeuten. Am schwierigsten ist die Kooperation oft paradoxerweise genau für diejenigen, die sie eigentlich befördern sollen – die Unternehmensverbände, die Planungsverbände, die Kulturnetzwerke. Wenn die Kooperation zwischen ihren Mitgliedsinstitutionen reibungslos läuft, laufen sie Gefahr, für überflüssig gehalten zu werden. Was aber können Bürgermeister oder Unternehmenschefs tun, wenn neue Kooperationsstrukturen nicht zuletzt von denjenigen behindert werden, die sie eigentlich mit Leben füllen müssten? Wenn sie zur Keule greifen, dann gefährden sie das bisschen Projektarbeit, das immerhin läuft und schaffen schlechte Stimmung. Nein, sie müssen einen Bypass legen, eine Umgehungsstraße mit Vorfahrt für Kooperation, die sie so fördern, dass niemand zurückbleibt. Haben sich die neuen Wege erst mal bewährt, dann wird kaum noch jemand Widerstand leisten, wenn die alten ineffektiven Strukturen verändert werden.
Und sie bewegt sich doch! Wie es funktioniert Die geschilderten Dilemmata sind keine Naturgesetze, sondern können überwunden werden. Wenn Ressourcen und Engagement in bestehenden Kommunikationsstrukturen versickern, muss eben hier der Bypass angelegt und Strukturen verändert werden. Diese Einsicht stand am Anfang des von IFOK begleiteten Planungs- und Umsetzungsprozesses für eine neue
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Regionalinitiative im Rhein-Neckar-Dreieck, in der Unternehmen, Politik, Wissenschaft, Verwaltung und Kultur ihre Kräfte für die Region bündeln sollten. Es galt, Gewinner eines besser abgestimmten regionalen Managements zusammenzubringen und die Verlierer durch spezielle Anreize zu Gewinnern zu machen. Ein „Mapping“ dieser Interessen und Akteure in der Region zeigte, dass die Region reich an Engagement ist. Mit vielen Partnern hatte IFOK bereits in anderen Projekten zusammengearbeitet. Die Geschichte der mehr oder weniger erfolgreichen regionalen Koordinierungsversuche war lang. Zuletzt hatte ein sogenanntes „Regionalgespräch“ in einer großen Runde wichtige Persönlichkeiten der Region zusammengebracht. Der ausbleibende Erfolg hatte viele frustriert zurückgelassen. Die avisierte neue Initiative konnte nicht einfach das Alte neu beleben, wenn sie ernst genommen werden wollte. Sie musste mehr versprechen als Gespräch, sie musste Umsetzung garantieren. Sie musste mit einem Paukenschlag signalisieren: Hier ist ein neuer Handlungsraum, mit neuen Spielregeln, professionellem Management, einheitlicher Stimme und den harten Zielen, um die es in der Region tatsächlich geht – aber es gibt diesen Raum nur auf Zeit. Abwarten gilt nicht. Hier ist die beste Chance, die Region voranzubringen. Dennoch kann ein neuer Anlauf nicht aus dem Nichts kommen, sondern muss inhaltlich an die Arbeit derjenigen anknüpfen, die man einbinden möchte. Daher schrieb sich die neue Initiative die 2002 von einer Vorgängerinitiative verabschiedete „Vision 2015“ auf die Fahnen. Dieser Rückbezug stellte sich als wichtiger Hebel für die Akzeptanz heraus. Alle, die damals unterschrieben hatten, konnten sich schlecht einem ernsthaften neuen Anlauf verweigern – sobald eine kritische Masse von Persönlichkeiten hinter dem neuen Anlauf steht. Um diese kritische Masse wichtiger Akteure zu erreichen, konnte man sie aber nicht einfach an einen Tisch beordern. Eine der wichtigsten Lektionen bei multisektoralen Partnerschaften ist, dass Akteure so eingebunden werden müssen, wie es ihren Bedürfnissen entspricht. Kein Unternehmenschef wird regelmäßig mehrere Stunden in basisdemokratischer Großrunde verbringen und ein Politiker braucht eine repräsentative Rolle, die ihm am nächsten Morgen eine Pressemeldung einbringt. Wie sah der Bypass konkret aus? Er kam ganz unauffällig im Mantel eines Lenkungskreises daher. Der aber hatte es in sich. In ihm saßen die
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Oberbürgermeister und andere hochrangige Persönlichkeiten der Region öffentlichkeitswirksam zusammen und setzten sich gegenseitig Ziele. Jedem „gehörte“ eines der neun Ziele für die regionale Entwicklung, die in der Vision 2015 aufgestellt wurden. Die Oberbürgermeisterin von Heidelberg konnte sich zum Beispiel mit ihrem Ziel, die Internationalität des Rhein-Neckar-Dreiecks zu stärken, in einem Bereich profilieren, der für Heidelberg eine besondere Bedeutung hat, in dem sie aber andererseits keine Hürden zu überwinden hat, die ihr Engagement gefährden würden. Das Ziel der „beschleunigten Behörden“ wäre dagegen nicht ideal für einen Bürgermeister – zwei profilierte Professoren der Verwaltungshochschule Speyer kümmerten sich stattdessen darum. Das Ziel der verbesserten Außendarstellung schrieb sich der Chef des regionalen Fernsehsenders RNF auf die Fahnen und vereinte so seine Ressourcen mit seinem Geschäftsinteresse. Jeder dieser „Themenpaten“ steuerte konkrete Projekte bei, die sein Ziel innerhalb des kommenden Jahres voranbringen würden. Und jeder hatte sich Ziele gesetzt, die er/sie allein nicht erreichen konnte, sondern die zur Keimzelle von Kooperationen in der Projektarbeit werden mussten.
Kein normaler Arbeitskreis: Die Ziele der Themenpaten Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Region analysieren Stärkung der regionalen Einheit vorantreiben Leistungsfähige und bürgernahe Verwaltung schaffen Einbindung in das europäische Verkehrsnetz sichern Exzellenz in Bildung und Wissenschaft erreichen Internationalität und Weltoffenheit verstärken Vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten ausbauen Hohe Lebensqualität in gesunder Umwelt entwickeln Gutes Image kommunizieren
Die öffentliche Festlegung, in jeder Sitzung über die Projektfortschritte zu berichten, sorgte für den Ergebnisdruck. Unterhalb der Ebene des Lenkungskreises wurden die Projektaktivitäten von einem eigens von IFOK eingerichteten Projektbüro unterstützt und immer wieder in moderierten Projektteamsitzungen vorangetrieben. In fast allen Themenbereichen, von
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der Verzahnung der S-Bahn-Takte über Landesgrenzen bis zu symbolträchtigen Regional-Events, von der pilothaften Zusammenarbeit der Arbeitsagenturen bis zur Karrieremesse für Medizin und Forschung sammelten sich über vierzig Projekte. Manche waren bestehende Aktivitäten, die der Initiative aber schnelle Erfolge bringen würden und manchen griff die BASF finanziell unter die Arme, um Fortschritte zu sichern. Professionelle Pressearbeit aus dem Projektbüro versorgte die Medien.
Projektbeispiele der Initiative Zukunft Rhein-Neckar-Dreieck „Verwaltungsdurchklick“ Mit diesem deutschlandweit einmaligen Portal werden länderübergreifend alle Behörden der Region für die Bürger zugänglich. Das Angebot ist gegliedert nach Lebenslagen, in denen sich alle Zuständigkeiten und Ressourcen in der Region jeweils spezifisch zur Situation des Benutzers auf einen Blick präsentieren. Das Portal schafft durch Transparenz auch einen Wettbewerb unter den Kommunen, immer mehr Vorgänge online abzuwickeln. Kulturvision 2015 Das Rhein-Neckar-Dreieck hat eine enorme Dichte an Kultureinrichtungen, die sich aber traditionell nicht als eine Kulturregion sehen. Eine mehrsektorale Arbeitsgruppe schuf mit der Kulturvision die erste ganzheitliche Analyse der kulturellen Leistungsfähigkeit der Region und konzentriert die strategische Entwicklung der Einrichtungen auf weithin sichtbare Leuchtturmprojekte. Initiative Familie und Beruf Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist für das Rhein-NeckarDreieck ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Länderübergreifend werden die Angebote zum Beispiel zur Ferienbetreuung von Kindern optimiert und für Eltern dargestellt. Unternehmen schaffen neue und koordinieren bestehende Betreuungsangebote, so dass die Attraktivität der Region für Fach- und Führungskräfte systematisch ausgebaut wird.
Nach bereits drei Monaten zeigte das Presseecho, dass sich die junge „Initiative Zukunft Rhein-Neckar-Dreieck“ auf dem richtigen Weg befand. Sie wurde ernst genommen. Bisher noch skeptische Entscheider sprangen auf den Zug auf. Um eine weitere zentrale Gruppe, die Unternehmer, ins Boot zu holen, brauchte es allerdings mehr als gute Presse und gutes Auftreten.
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Ein informelles Treffen half – die fünfzehn wichtigsten Unternehmer wurden ein Vierteljahr nach dem Start der Initiative zur Weinprobe eingeladen. Wichtiger aber war die von IFOK vorbereitete Analyse, die ihnen vorgelegt wurde: ein wasserdichter „Business Case“ für regionales Engagement. Darin wurden die Zusammenhänge zwischen der Leistungsfähigkeit der Region und den darin ansässigen Unternehmen an Hand von über einhundert bewerteten Indikatoren aufgezeigt. Die anfänglichen Projekte der Initiative, so wird deutlich, erfüllen genau den erwünschten Zweck: einen systematischen Ausbau der regionalen Attraktivität zu starten. Die Unternehmer können durch ihr finanzielles Engagement in der Region den Treibstoff dafür liefern und den Bypass dort anlegen, wo das Kirchturmdenken regiert. Durch die Kooperation kann jeder Unternehmer Einfluss nehmen auf Entscheidungen, die er vorher nicht beeinflussen konnte. Auch wenn jeder in der Runde nur in einem der drei Bundesländer Steuern zahlt, gibt es jetzt Verbündete, die für die Region auf allen Ebenen links und rechts des Rheins Einfluss haben. Insbesondere ziehen die Oberbürgermeister und die Unternehmer jetzt an einem Strang und schaffen so die kritische Masse, um auch die strukturellen Fragen anzugehen. Alle Unternehmenschefs unterzeichneten bald darauf eine „Unternehmererklärung“ mit starken Forderungen, die erstmals auch die im Lenkungskreis ausgeklammerten politischen Streitfragen der Region auf die Tagesordnung setzte. Regionalflughafen und Zusammenlegung von Kulturensembles können von den Bürgermeistern schlecht angesprochen werden. Die Unternehmer aber können es, und läuten so die nächste, härtere Runde der regionalen Kooperation ein. Die Initiative zieht Kreise. In dieser nächsten Runde musste es um mehr gehen als eine einheitliche Öffentlichkeitsarbeit für einige Dutzend Projekte, die sich eher zufällig zusammen gefunden hatten – oft nicht zuletzt, um die Person einzubinden, die hinter einem Projekt stand. Es musste um mehr gehen als um Bekenntnisse für die Region, wenn das Rhein-NeckarDreieck tatsächlich bis 2015 eine der zehn wettbewerbsfähigsten Regionen Europas werden wollte. Innerhalb der nächsten Monate trieben die Motoren der Initiative die gemeinsame Arbeit in verschiedenen Dimensionen gleichzeitig voran. Die Stärken (und Schwächen) der Region wurden von IFOK systematisch im Vergleich zu Konkurrenzregionen analysiert und auf ein „Erfolgsprofil“ konzentriert. Für jeden Entwicklungsschwerpunkt wurde darge-
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stellt, wo die Region steht, wo sie nach Umsetzung der laufenden Projekte stehen wird und wie die dann noch bestehende Lücke zum Ziel aussieht. Dieses Erfolgsprofil wurde diskutiert, angepasst und so zur gemeinsamen Steuerungsgrundlage. Die Themenpaten waren jetzt nicht mehr nur für die Umsetzung ihrer anfangs eingebrachten Lieblingsprojekte verantwortlich, sondern für den demonstrierbaren Fortschritt auf ihr größeres Ziel hin.
Erfolgsfaktoren der Initiative Zukunft Rhein-Neckar-Dreieck „Jeder gewinnt“: Jedem Beteiligten die ihm wichtigen Ziele kommunizieren und ihn diese erreichen lassen, Kommunikation mit Erfolgen ausweiten, für problematische Themen erst eine AvantgardeGruppe kommunizieren lassen „Zentral antreiben“: Priorisieren, kontinuierlich Umsetzung vorantreiben und überprüfen, aber durch zentrale Dienstleistungen auch Freiräume und Motivation für ehrenamtliches Engagement lassen, zentralen Motor stärken, rechtzeitig gemeinsame Ressourcen für Umsetzung bündeln „Klein anfangen“: Zuerst Projekte zu weichen Standortfaktoren, dann politischer Druckaufbau für „harte“ Aushandlungsthemen, nicht gleich 100%-Lösungen suchen „Alle einbinden“: Sogeffekt durch Vorreiter erzeugen, aber anschlussfähig bleiben, bestehendes Engagement mit Fokus auf Umsetzung einbinden, durch Erfolge Vertrauen schaffen, Angebote für Engagement schaffen „Kontinuierlich erweitern“: Mit Bestehendem anfangen, Blockaden durch Fortschritt in anderen Feldern und durch AvantgardeGruppen aufbrechen, kontinuierlich alle Aktivitäten ausdehnen
Auch bei der Einbindung weiterer Engagierter machte die Initiative schnelle Fortschritte. Um die politische Schlagkraft zu erhöhen, kontaktierte das Projektbüro die kleinen und mittleren Unternehmen der Region. Innerhalb von wenigen Wochen traten fünfzig dieser Unternehmen der Unternehmererklärung bei. Die Initiative war erfolgreich und hatte breiten Rückenwind. So konnten die drei Ministerpräsidenten Erwin Teufel, Roland Koch und Kurt Beck für den öffentlichen Schwur auf die Region gewonnen werden. Ein neuer Staatsvertrag für die Region, noch ein Jahr zuvor ein kaum beachtetes Lobbyprojekt des Raumordnungsverbandes Rhein-Neckar, konnte nun auf den Weg gebracht
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Rhein-Neckar, konnte nun auf den Weg gebracht und ein Jahr später unterzeichnet werden. Es gibt viele Initiativen, die versuchen, ausgehend von einem Anfangsimpuls Kreise zu ziehen. Was lief in der Metropolregion Rhein-Neckar anders und besser? Wie kam es zu der außergewöhnlichen Dynamik, der sich letztlich selbst Landesregierungen nicht entziehen konnten? Eine gemeinsam mit den Projektpartnern nach etwa einem Jahr erarbeitete Analyse wies auf fünf Erfolgsfaktoren hin, deren Kombination einen guten Teil der Erklärung liefert.
Warum es funktioniert: Bedingungen des Erfolgs Im Zentrum der Initiative steht das Prinzip des Umsetzens. Reden ist Silber, Taten sind Gold, und niemand muss mitmachen. Insbesondere durch die plastischen Erfolge der Anfangszeit setzt sich die Initiative von ihren Vorgängern ab. Zudem war die Initiative vom ersten Tag an bescheiden und visionär zugleich: Bescheiden in den Projekten der ersten Stunde, visionär in Bezug auf die Ziele der Region Rhein-Neckar. Allen war klar: Wenn nicht erst einige Projekte zu den relativ „weichen“ Themen wie Kultur und Sport gelingen, dann muss man mit den härteren Konfliktthemen gar nicht erst anfangen. Ein anderes zentrales Element bestand in der Balance zwischen zentralem Antreiben und dezentralem Engagement. Während es ohne den Motor der BASF und der von ihr finanzierten Leistungen zur Projektunterstützung nicht gelungen wäre, die Hürden zu überspringen, wäre es ohne das verteilte freiwillige Engagement und der aktiven Mitwirkung der demokratisch legitimierten Gremien und Institutionen nicht zu dieser Bewegung gekommen, die letztlich den Sogeffekt erzeugte. Weil die Initiative sich bewusst keinen Endpunkt und kaum thematische Grenzen gesetzt hatte, konnte sie all jene einbeziehen, die die Region Rhein-Neckar zum Thema machten. Der schwierigste Balanceakt der Initiative war die Institutionalisierung schlagkräftiger regionaler Managementstrukturen. Einerseits muss die Initiative die wichtigsten Probleme der Region glaubwürdig angehen, andererseits darf sie die bestehenden Institutionen und Verbände der Region nicht ersetzen, ohne ihre Mitarbeit zu gefährden. Nachdem das Projektbüro ein umfangreiches Controlling für alle Projekte eingerichtet hatte – das al-
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lein war ein Novum für viele Beteiligte – wurden Finanzbedarf und Fortschritte einzelner Vorhaben so transparent, dass ein Fonds ins Auge gefasst werden konnte, der die Gelder der Unternehmen für die Region auf die wichtigsten Projekte konzentrieren sollte.
Erfolge der Initiative Zukunft Rhein-Neckar-Dreieck •
Alle wichtigen Unternehmen der Region unterzeichnen die Unternehmererklärung zur Zukunft des Rhein-Neckar-Dreiecks.
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Die Entscheider der Region einigen sich auf eine scharfes „Erfolgsprofil Rhein-Neckar-Dreieck“.
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Über 40 Projekte der Initiative werden nach diesem Profil umgesetzt.
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In der weltweit größten Zukunftswerkstatt beraten simultan in neun Städten Bürgerinnen und Bürger über ihre Region.
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Ein neuer Staatsvertrag zwischen Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen schafft schlagkräftige Strukturen der Regionalverwaltung.
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Das Rhein-Neckar-Dreieck wird als erste Bundeslandübergreifende Region offiziell als „Metropolregion“ anerkannt.
Die einheitliche Außendarstellung der Region hatte besondere Erfolge zu verzeichnen, mit immer wieder symbolträchtigen Veranstaltungen, die im ganzen Dreieck sichtbar waren. Die größte Zukunftswerkstatt der Welt brachte 2004 an einem Junimorgen 10.000 Bürgerinnen und Bürger gleichzeitig an neun Standorten zusammen, um ihre Zukunftswünsche in die Arbeit der Initiative aufzunehmen. Durch eine Partnerschaft mit den wichtigsten Medien der Region konnten vergünstigte Anzeigen geschaltet werden. Das Rhein-Neckar-Dreieck-Logo tauchte plötzlich an allen Ecken und Enden auf und wurde mit immer gleichen Botschaften für die Profilierung der Region kombiniert. Wir werden sehen, ob die Metropolregion Rhein-Neckar ihr ehrgeiziges Ziel erreichen wird, sich als handlungsfähiger und moderner Standort aufzustellen und schon bald nicht nur nach innen, sondern auch nach außen als eine der attraktivsten Wirtschaftsregionen Europas wahrgenommen zu werden. Wichtige Etappenziele, wie die Aufnahme in den Kreis der europäischen Metropolregionen in Deutschland hat die Region schon erreicht. Vor allem aber hat sie sich selbst bewiesen, dass Politik, Wirtschaft, Wis-
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senschaft und Kultur tatsächlich miteinander ein großes Rad drehen können.
Kommunen und Familien: Standortfaktoren ohne Lobby Multisektorale Kooperation findet nicht nur auf der großen Bühne der DAX30-Unternehmen oder der Ministerpräsidenten statt. Auch auf der lokalen Ebene haben wir mit vielen Kunden erfolgreich die Dilemmata der Zusammenarbeit und die Forderungsmentalität überwunden. So zum Beispiel in einer ganzen Reihe bayerischer Kommunen, die heute über eine bessere Infrastruktur und Unterstützung für Familien verfügen als die meisten Städte und Gemeinden in Deutschland. Kommunale Familienpolitik gehört genau wie die Regionalentwicklung nicht zu den klassischen Politikfeldern, an denen sich Programme orientieren und Wahlen entscheiden. Sie findet in der Frauenpolitik, Jugendpolitik, Schulpolitik, Wohnungsbaupolitik, Verkehrsplanung, Naherholung, Kinderbetreuung, Verwaltungspolitik und Wirtschaftsförderung statt, alles Felder mit eigenen Apparaten und etablierten Aufgaben. Familienpolitik ist eine Querschnittsaufgabe an der Spitze der politischen Agenda und nicht nur dort. In der Nachwuchspolitik von Unternehmen ist sie zum Schlüssel für einen wettbewerbsfähigen Standort geworden. Für Schulen, Kirchen und Vereine spielt die Familienfreundlichkeit von Kommunen ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Parallele zur Regionalentwicklung wird schnell klar: Das Thema hat übergreifende Bedeutung, ist aber nur für wenige Akteure Kernaufgabe. Jeder profitiert von einem attraktiveren Umfeld für Familien, aber niemand wird allein eine spürbare Verbesserung erreichen. Wer also soll den ersten Schritt machen?
Familien-Tische® Wie aus seinem Namen deutlich wird, hat das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen viele Aufgaben. Gerade deshalb erkannte die Staatsministerin das Potenzial der Idee, mit der IFOK an die Tür klopfte: Die Familien-Tische®. Einige Jahre zuvor war es mit den „Energie-Tischen®“ gelungen, praktische Lösungen durch Kommunalpolitiker, Unternehmer und Wissenschaftler für ihre Kommune zu erarbeiten. Alle waren überzeugt: Das würde angepasst auch in der Familienpolitik funktionieren. Nach einem Jahr und Familien-Tischen® in sieben
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Pilotkommunen war der Beweis erbracht, dass professionelle Strategieund Fachberatung sowie Moderation die lokalen Entscheidungsträger zu konkreten gemeinsamen Projekten anleiten konnten.
Projektsteckbrief Kommunale Familien-Tische® Initiatoren und Beteiligte Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen; Hunderte Familien in Pilotkommunen Ziel • Verbesserung der Familienfreundlichkeit der Kommunen durch Zusammenarbeit aller relevanter Akteure vor Ort Ergebnis • Erarbeitung und Umsetzung von über 30 Projekten in sieben bayerischen und hessischen Kommunen • Etablierung der Familien-Tische® in der landespolitischen Familienförderung in Bayern und anderen Bundesländern Methoden Familienpolitische Analysen, Akteursmappings, Gruppenmoderation, Publikation Leitfaden
In jeder Kommune begann das Projekt mit einer Klausur von Verwaltungs- und Fraktionsspitzen, in der festgestellt wurde, ob ein FamilienTisch® von allen unterstützt wird, und welche Grundsätze die Arbeit leiten sollen. Dieser „Buy-In“ der Politik ist enorm wichtig, denn immerhin geht es am Familien-Tisch® um politische Entscheidungen. Wer sich an den Tisch setzt, kann nicht ohne Not einfach wieder aufstehen und gehen. Und nicht immer ist der Tisch allein die beste Lösung. Wollen die kommunalen Spitzen in erster Linie gute Ideen und Öffentlichkeit für ihre existierende Politik erhalten, dann sind sie mit einer Zukunftswerkstatt besser beraten. Gibt es bereits eine starke Zusammenarbeit mit mittelständischen Unternehmen und Schulen, dann ist ein dauerhaftes Bündnis für Familien mit eigenem Strategieprozess angemessener. Der Familien-Tisch® dient zur Zusammenführung von Entscheidern aus allen kommunalen Bereichen, um gemeinsam mit engagierten Familien konkrete Projekte umzusetzen. In den sieben bayerischen Kommunen entfalteten die Tische überdies eine enorme Strahlkraft über die Gemeinden
Partner zusammenbringen: Wasserprojekte in Afrika und Südasien
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hinaus und schafften die dauerhafte Einbindung vieler Partner in die Familienpolitik.
Partner zusammenbringen: Wasserprojekte in Afrika und Südasien Die Kooperationsbarrieren bei denen sich Verantwortungen überschneiden, gibt es mitnichten nur in Kommunen oder Regionen. Auf internationaler Ebene liefert die Herausforderung des Wassermanagements ein besonders dringliches Beispiel dafür, wie Unternehmen, Behörden, Wissenschaft und lokale Bürgergruppen neue Wege der Zusammenarbeit finden müssen. Hier kann niemand allein etwas erreichen: Private Finanzmittel, staatliche Rahmenbedingungen, Projektideen und -erfahrungen, internationale Zusammenarbeit, Infrastrukturentwicklung, Bildung, Wirtschaftsförderung und noch viele Faktoren mehr müssen zusammen wirken. Auch für Unternehmen ist das ein wichtiges Anliegen: ohne Wasser kein Business. Und für die Bevölkerung vor Ort heißt es ohnehin: ohne sichere Wasserver- und -entsorgung keine dauerhafte Entwicklung. Während in anderer Hinsicht oftmals Interessengegensätze vorherrschen, gibt es hier ein gemeinsames Interesse am Schutz und Erhalt der Ressource Wasser. Wie kann man dieses gemeinsame Interesse produktiv nutzen und die richtigen Partner zusammenbringen? Diese Aufgabe hat sich die Wasserinitiative des World Economic Forums zu eigen gemacht und uns gebeten, ein geeignetes Konzept zum Vorgehen zu entwickeln und zugleich konkrete Pilotaktivitäten in Afrika und in Asien auf den Weg zu bringen. Unser Ergebnis war die neue „Global Water Project Exchange Platform“, mit der Mitgliedsunternehmen des World Economic Forums mit ihren Projekten und Potenzialen im Bereich Wasser sowohl miteinander als auch mit Entwicklungsorganisationen, Partnern und Nichtregierungsorganisationen vor Ort vernetzt werden. Dadurch erhalten die besten Ideen die erforderlichen Finanzmittel und optimale Umsetzungsbedingungen. Der Grundgedanke: Im World Economic Forum kommen die größten Unternehmen der Welt zusammen, diese Kraft gilt es zu nutzen, um im Wasserbereich gemeinsam etwas zu bewegen. Die Logik: Wenn ein wasserintensiver Produktionsstandort eines Unternehmens neue Wasserzuleitungen schafft, dann kann davon auch die Bevölkerung vor Ort profitieren. Und: Wenn sich mehrere Unternehmen in einem Flussgebiet mit den Stakeholdern vor Ort zusammenschließen, dann können integrierte und nachhaltige
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Nutzungskonzepte umgesetzt werden, die allen Beteiligten zu gute kommen. Doch die Netzwerke und das nötige Vertrauen für solche Aufgaben müssen stufenweise aufgebaut werden. Deshalb haben wir zunächst - wie im Rhein-Neckar-Dreieck - diejenigen identifiziert, die durch Zusammenarbeit im Wasserbereich in Afrika und in Asien gewinnen können. Dafür ermittelte IFOK bestehende Aktivitäten der Mitgliedsunternehmen des World Economic Forums sowie von staatlichen und nicht-staatlichen Entwicklungsorganisationen und identifizierte potenzielle Synergieeffekte. Darauf aufbauend galt es, kooperative Projektideen und entsprechende „Matching“-Vorschläge zu entwickeln. Diese wurden dann mit Hilfe individueller Ansprache, multilateraler Gespräche und moderierter Sitzungen im Rahmen der Regionalen Wirtschaftsgipfel des World Economic Forums in Afrika und in Indien jeweils auf den Weg gebracht.
Projektsteckbrief Projektplattform „Wasser für Afrika“ Initiatoren und Beteiligte World Economic Forum; Unternehmen, Regierungen und Organisationen der Zivilgesellschaft in Afrika und Asien, Universitäten • •
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Ziel Verbesserung der Qualität, Quantität und Verfügbarkeit von Wasser in Entwicklungsregionen Afrikas und Asiens Etablierung von Netzwerken und Plattformen zur nachhaltig besseren Koordinierung von Wasserprojekten zwischen den Sektoren Projektbeispiele Ein schweizerisches Textilunternehmen führt Dialoge mit seinen Zulieferern in Indien, um das Wassermanagement entlang der gesamten Produktionskette zu verbessern Ein Aluminiumkonzern bietet Communities in Afrika die Nutzung von geklärtem Abwasser (mit höherer Qualität als das Eingangswasser) für die Feldbewässerung an Methoden
Akteursmappings, Kooperationsmanagement, Projektdesign
Die Projekterfahrungen zeigen: Moderierte Plattformen für die multisektorale Zusammenarbeit und Vernetzung im Wasserbereich sind der viel
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versprechendste Weg, um die gemeinsamen Interessen von Unternehmen, Staat und Bevölkerung in Handeln zu übersetzen. Und die „Water Project Exchange Platform“ stellt die dafür notwendige soziale Infrastruktur bereit – damit sich umsetzen lässt, was niemand allein erreichen kann.
Ein Praxismodell für mehrsektorale Kooperationen Die beschriebenen Beispiele weisen eine außergewöhnliche Dynamik auf. Diese ist weder zufällig noch selbstverständlich. Sie ist das Ergebnis der Umsetzung eines Modells für multisektorale Kooperationen, das Erfahrungen vieler Projekte zusammenfasst. Im Kern gibt es vier Aufgaben, die miteinander synchronisiert werden, um eine Initiative zu entwickeln, die wie ein Flugdrachen (engl. „kite“) mit Bodenhaftung hoch hinaus kommt.
Das „KITE“-Modell: Vier Achsen mehrsektoraler Initiativen Kommunikation Akteure ins Boot holen durch Anknüpfen an bestehende Vereinbarungen; dann mit der Avantgarde weiter gehende Forderungen stellen und Druck machen; erst wenn eine gute Projektbasis vorhanden ist, eine breitere Offensive auch in den Medien beginnen. Institutionalisierung Zunächst nur Unterstützungsleistungen für bestehendes Engagement; schrittweise stärkere Kontrolle, z.B. über Fördergelder; neue Institutionen lösen alte dann ab, wenn sie ihre Wirksamkeit beweisen Themenarbeit Start mit bestehenden Projekten; Start neuer Projekte, wo Lücken sind; gemeinsame Definition von übergreifenden Zielen, die Bündelungen möglich machen.
Einbindung Schaffung attraktiver Rollen für bereits Engagierte; Einbindung von neuen Antreibern; Nutzung der Medien zur Mobilisierung von politischen Unterstützern; zum Schluss die große Politik.
Abb. 2 Das „KITE“-Modell: Vier Achsen mehrsektoraler Kooperation
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Kommunikation „K“: Bühnen schaffen – jeden gewinnen lassen Kooperationsprojekte scheitern oft an der falschen Kommunikation. Häufig entsteht dann ein Missverständnis, wenn vermittelt wird, dass unbedingt alle Partner dieselben Ziele haben müssten. Dies muss aber nicht sein. Vielmehr können alle Beteiligten als Einzelakteure mit durchaus unterschiedlichen Zielen gewinnen. Wichtig ist, dass sich die Ziele ausreichend überlappen und gemeinsam das abdecken, was insgesamt geleistet werden muss. Es ist die erste zentrale Aufgabe der Kommunikation, dies zu vermitteln. „Jeder gewinnt“ bedeutet nicht, dass alle auf gleiche Weise profitieren, sondern dass sie auf die ihnen wichtige Weise profitieren – und dazu zählt die Kosten- wie die Nutzenseite. Für viele Unternehmer sind die monetären Kosten einer Kooperation weniger wichtig als die Zeit, die sie in lange Sitzungen stecken müssen. Also bewährt es sich, sie nicht kontinuierlich in Gremien einzubinden. Für sie bemisst sich Erfolg, anders als für gewählte Politiker, kaum in öffentlichen Auftritten. Dagegen sind Verwaltungsvertreter meist sensibel, was ihre kommunizierte Rolle in Institutionen angeht. Entsprechend solcher Unterschiede sind die interne und die externe Kommunikation zu gestalten. Selbst wenn das aber der Fall ist, scheitert Zusammenarbeit häufiger als nötig: An der Asymmetrie der Erwartungen und an unterschiedlichen Anreizen und Kommunikationsbedürfnissen der Beteiligten. Ein Unternehmer beispielsweise ist einen anderen Kommunikationsstil gewöhnt und ist anders zu motivieren als ein Politiker. Er muss seinen Erfolg auch anders darstellen. Auch hier spielt die richtige Kommunikation die Schlüsselrolle. Von dieser Kommunikation hängt es ab, ob nach einem guten Start weitere Akteure dazu gewonnen werden können. Da kommt es dann zusätzlich auf die Wahl der richtigen Zeitpunkte an: Erst wenn die Avantgarde geschlossen mitmacht, überzeugt vom weiteren Vorgehen ist und gute Projekte existieren, dann kann eine breitere Offensive auch in den Medien beginnen.
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Institutionalisierung „I“: Zentral antreiben – dezentral Raum für Kooperation schaffen Die Energie zur Gestaltung kommt nicht von alleine. Auch Kooperationen, bei denen alle gewinnen, kommen ohne einen zentralen Motor nicht aus. Dieser muss zunächst eine Institution schaffen – ein Raum, in dem die Arbeit nach klaren Regeln vorangetrieben wird. Denn eine der wichtigsten Barrieren für Kooperationen besteht aufgrund unterschiedlicher Erwartungen an Regeln, Tempo und Prioritäten der gemeinsamen Arbeit. In der Region Rhein-Neckar war die Initiative mit ihrem Lenkungskreis und dessen regelmäßigen Treffen in der Anfangsphase diese Institution. Der Motor hat die Aufgabe, in dieser neuen Institution alle Beteiligten mit seiner persönlichen Energie und seinem Einfluss auf Ressourcen oder Öffentlichkeit „auf Linie“ zu bringen. Dazu benötigt er Fingerspitzengefühl für die richtige Geschwindigkeit. In der ersten Phase eignen sich Unterstützungsleistungen für bestehendes Engagement am besten. Erst schrittweise gelingt es, stärkere Kontrolle, zum Beispiel über Fördergelder oder größere gemeinsame Projekte zu erlangen. Und erst ganz zum Schluss können neue Institutionen alte ablösen. Themenarbeit „T“: Klein anfangen – plastisch umsetzen Beim Start von Kooperationen bieten sich Themen an, die als „weiche“ Projekte mit wenig Konfliktpotenzial eine hohe symbolische Wirkung haben. Das können auch Vorhaben sein, für die man die Kooperation eigentlich noch nicht bräuchte, die aber auf der gemeinsamen Plattform als erste Erfolge sichtbar werden. Gelingen diese, können sie auch in Felder mit Interessenkonflikten oder höheren Kosten ausgeweitet werden. Zu jedem Zeitpunkt gilt es, anfassbar zu bleiben. Viele Initiativen scheitern an der Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, denn früher oder später wird der Erfolg am Fortschritt einzelner Projekte gemessen und nicht an den Zielen und Erklärungen. Für mehrsektorale Zusammenarbeit gilt das ganz besonders, und daher muss sie in aller Regel klein anfangen, um schnell Handlungsfähigkeit demonstrieren zu können. Aber dann kann es rasch und sprunghaft weitergehen. Wenn die ersten Schwellen des Erfolgs erreicht sind, dann laufen plötzlich auch neue Projekte in Lücken, die gemeinsam gefunden und zu Zielen, die gemeinsam definiert wurden.
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Einbindung „E“: Alle einbinden – Vorreiter nutzen Eine Partnerschaft steht und fällt mit ihren Partnern. Aber auch hier gilt, dass nicht alle auf die gleiche Art und Weise beteiligt werden wollen und sollen. Entscheidend ist, dass das Angebot zur Mitarbeit attraktiv ist. Personen und Institutionen aus verschiedenen Sektoren haben unterschiedliche Dinge beizutragen. Was die einen nicht liefern können, müssen die anderen bereitstellen. Dabei beginnt eine Initiative am besten mit denen, die bereits engagiert sind, sei es in Projekten mit ähnlichen Zielen oder in Institutionen, die sich ähnliche Ziele auf die Fahnen geschrieben haben. Vergisst man die offensichtlich Beteiligten, werden sie sich später verweigern. Der Wert einer Kooperation zeigt sich schließlich daran, ob es gelingt, auch diejenigen einzubinden, die sich bisher nicht beteiligen wollten, ohne deren Mitarbeit ein langfristiger Erfolg aber nicht möglich ist. Hier kommen die Vorreiter ins Spiel, die in einem bestimmten Bereich voranpreschen können, in dem andere Akteure gezwungen sind, vorsichtiger zu Werke zu gehen. So können zum Beispiel Unternehmer Fakten schaffen, wo Politiker zögern müssen. Das „KITE“-Grundprinzip: Unterschiedlichkeit nutzen Unser Modell hat ein Grundprinzip: Es nutzt Unterschiedlichkeit. Das ist entscheidend, um den KITE, den Flugdrachen zum Fliegen zu bringen. Denn häufig fallen mehrsektorale Kooperationen den unterschiedlichen Motivationen, Ressourcen und Spielregeln der vielen Beteiligten zum Opfer. Wie kann man dies vermeiden und im Gegenteil aus dieser Schwierigkeit eine Stärke machen? Das gelingt nur durch die richtige Steuerung und das richtige Timing. Denn die beschriebenen vier Eckpunkte der Kooperation sind voneinander abhängig. Der Fortschritt bei der Kommunikation ist abhängig vom Fortschritt in der Projektarbeit, und der Fortschritt beim Aufbau von Institutionen ist nichts ohne die Einbindung der jeweils dafür zentralen Akteure. Sie können einander blockieren, aber eben auch unterstützen, ja sogar Blockaden lösen. Der Erfolg im Rhein-Neckar-Dreieck und bei anderen multisektoralen Kooperationen war möglich, weil jeder Akteur an jeder Stelle im Laufe
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des Prozesses mehr gewonnen hat, als wenn er nicht beteiligt gewesen wäre. Durch die Unterschiedlichkeit entstand eine Arbeitsteilung. Jeder tat das, was er am besten kann, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Jeder erreichte so seine Ziele und alle gemeinsam schafften es schließlich, in die Champions League der Regionen aufzusteigen. Dabei war es die Unterschiedlichkeit der Beteiligten, die den Fortschritt ermöglichte, wo andere gescheitert wären: Für die Unternehmen stand die Schaffung günstiger infrastruktureller und arbeitsmarktpolitischer Rahmenbedingungen im Vordergrund, aber das allein macht eine Region nicht top. Für die regionalen Verbände dagegen war ihre Aufwertung im Rahmen eines neuen Staatsvertrags zentral, was für andere Beteiligte eher unwichtig war. Ohne diese Partikularziele hätte die Initiative aber keinen Treiber für die institutionelle Reform der Region gehabt. Wenn es stimmt, dass die drängendsten unserer gesellschaftlichen Projekte kaum noch von einem Sektor allein bewältigt werden können, dann muss das niemanden entmutigen. Im Gegenteil, die scheinbar so problematischen unterschiedlichen Interessen, Bedürfnisse und Ressourcen sind geradezu eine Voraussetzung dafür, dass wir gemeinsam umsetzen können, was niemand allein anordnen könnte.
Diskursive Politikgestaltung: Besser entscheiden
Das Wichtigste in Kürze Kluge Politik braucht gute Beratung. Politische Entscheidungen werden heute in der Regel nicht angemessen vorbereitet und treffen auf mehr Misstrauen als je zuvor – trotz über 500 Expertengremien allein für die Bundesregierung und Tausender verschiedener Interessenorganisationen. Deshalb müssen unsere Institutionen saniert und modernisiert werden: Eine moderne diskursive Politikberatung schafft für die Vorbereitung von Entscheidungen neue Räume und Foren, in denen Vertreter unterschiedlicher Positionen fruchtbar miteinander nach Wegen zur Überwindung vorhandener Konflikte und neuen besten Lösungen suchen. Durch diskursive Beratungsverfahren erhalten politische Entscheider optimale Orientierung, sie gewinnen neue Steuerungsfähigkeit und sie schaffen die Grundlage für eine breite Akzeptanz ihrer Politik. Erfolgreiche politische Führer reservieren sich in diesen Verfahren die entscheidenden Rollen: Zunächst als Motor und Moderator der gesellschaftlichen Debatte, dann als Entscheider auf der Basis der optimalen Information und schließlich als Inszenierer des gesellschaftlichen Wandels. Zwei Diskursprojekte, eines für den Verband der Chemischen Industrie (VCI), das andere für den Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE), zeigen, wie überlegte Entscheidungsvorbereitung zu überlegenen Entscheidungen führt.
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Diskursive Politikgestaltung: Besser entscheiden „Politik braucht in einer veränderten Landschaft neue Räume für die Entwicklung angemessener Strategien. Die Anbieter von politischer Beratung müssen lernen, solche Räume zu schaffen.“ Matthias Machnig Zur Person: Matthias Machnig ist Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Unter anderem vor dem Hintergrund seiner Jahre als Büroleiter von Franz Müntefering und Bundesgeschäftsführer der SPD hat er den Reformbedarf in den politischen Zentren immer wieder deutlich formuliert. „Nachhaltige Entwicklung kann nicht von einer Regierung verordnet werden – sie ist nur mit einem breiten gesellschaftlichen Engagement realisierbar.“ Dr. Frank-Walter Steinmeier Zur Person: Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier begann seine Karriere in der niedersächsischen Staatskanzlei im Bereich Medienpolitik, bevor er Kanzleramtschef wurde, kennt also die Inszenierungsformen moderner politischer Beratung. Mit dem Rat für Nachhaltige Entwicklung hat er die Einsicht umgesetzt, dass Politik die Ideen gesellschaftlicher Akteure aufnehmen muss, um mit ihrer Mitarbeit zu rechnen. „Die politischen Ergebnisse wurden dadurch am Ende immer besser.“ Dr. Klaus Töpfer (zum Thema konstruktive Kritik von Bürgerinitiativen und Verbänden bei der politischen Entscheidungsfindung) Zur Person: Dr. Klaus Töpfer war bis 2006 Generaldirektor des Büros der Vereinten Nationen in Nairobi und Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP). Von 1987 bis 1994 war er Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. „Die Menschen in Deutschland haben Anspruch nicht nur auf Verteilungs-, sondern auch auf Beteiligungsgerechtigkeit.“ Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, 2005
Die ratlose Vielstimmigkeit der Ratgeber Allein auf Bundesebene gibt es weit mehr als 500 Expertenkommissionen und -beiräte, die der Regierung als Berater zur Seite stehen. Wollte man ein Gebäude finden, das die Mitglieder dieser Kommissionen alle gleich-
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zeitig aufnehmen sollte, so stünde der Reichstag dafür aus Platzgründen schon bald nicht mehr zur Verfügung. Fügte man dann noch die Experten der Ministerien hinzu sowie die Vertreter der 1700 akkreditierten Lobbygruppen, bräuchte man als Konferenzzentrum einen Turm, der in den Himmel wächst. Die Pyramide politischer Beratung in Deutschland gleicht buchstäblich jenem alten Bild des Turms zu Babel, der zugleich ein Labyrinth ist, eine Addition zusammenhangsloser Etagen und ein als Ganzes sich selbst widersprechendes Projekt. Auch die Sprache der Beratung gleicht dem zerstreuten Gewirr der Stimmen, eher einer babylonischen Sprachverwirrung denn einer zusammenpassenden Architektonik. Um es gleich zu sagen: Das Gewirr der Stimmen ist kein Nachteil, es ist ein notwendiges Merkmal der Vielfalt von Interessen, Erfahrungen und Lebenswelten. Die Aufgabe, die nicht aus dem Inneren der Beratungspyramide selbst gelöst werden kann, ist das Unterscheiden und Gewichten der Stimmen, die Orientierung im Gewirr der Meinungen und Empfehlungen und in der Folge ihre Orchestrierung. Dies ist eine Kunstfertigkeit, die von Seiten des Entscheiders eingebracht werden muss. Das Bild verdeutlicht: „Durchregieren“ durch die Instanzen, das geht nicht. Auf jeder Etage warten Baumeister, die fleißig vor sich hinbauen, Allianzen schmieden, Meinungen zurechtklopfen und Gutachten auftürmen. Gute Vorschläge machen es nicht weit auf dem Weg nach oben. Entscheidungen werden nach Zufall oder Lautstärke der Anweisungen getroffen und nicht nach sachlichen Gesichtspunkten. Dort wie hier bauen die Baumeister Stockwerk um Stockwerk ohne Plan, bis niemand mehr wissen mag, wo oben oder unten ist. Dort wie hier werden im Turm unterschiedliche Sprachen gesprochen, und im Stimmengewirr gibt es nur zwei Chancen, sich hörbar zu machen: Entweder durch die stille Post, dem Gang durch die Behörden, bei dem die Nachricht durch zig Hände geht und schließlich völlig entstellt ankommt, oder durch den Sieg des Lautesten. Viele, wenn nicht sogar die meisten politische Entscheidungsprozesse laufen heute so ab.
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Diskursive Politikgestaltung: Besser entscheiden
Die Vielfalt des politischen Beratermarkts Politische Beratung ist ein Wachstumsmarkt, sogar einer der in Deutschland seit 1999 am schnellsten wachsenden Märkte. Dabei hat sich die Beratungslandschaft durch die wachsende Präsenz kommerzieller Berater, aber auch durch die wachsende Bedeutung indirekter Beratung (durch Interessenverbände, Reforminitiativen etc.) diversifiziert und professionalisiert.
Abb. 3 Die Vielfalt des politischen Beratermarkts
Politiker rufen in den Turm mit ihren Fragen und bekommen ein vielfältiges Stimmengewirr aus unterschiedlichsten Etagen und am ehesten wird derjenige Gehör finden, der gerade auf der dem Politiker gegenüberliegenden Balustrade oder in der nächstgelegenen Lobby seine Stimme erhebt. Ein differenziertes Profil der Meinungen und Stimmen ist bei ihrer schieren Gleichzeitigkeit ohne professionelle Hilfe nicht zu erwarten. Und die Bevölkerung? Ihr ist das Betreten der Baustelle verboten. In ihr gibt es ein Gefühl dafür, dass es weder der Regierung noch den zahlreichen Interessenvertretern gelingen will, alleine das „Gemeinwohl“ zu erkennen und gar zu repräsentieren. Einzelnen Lösungsvorschlägen kommt dabei nicht unbedingt das Gewicht ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz zu, sondern dasjenige des Experten, der es vorgeschlagen hat oder der Institution, die hinter ihm steht. Beide Seiten, sowohl die ratsuchenden Politiker
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wie die ratgebenden Experten, haben es schwer, sich gegen die daraus resultierenden Vorwürfe zu wehren.
Konstruktionsfehler der politischen Beratung Vom Bild in die Praxis: Eine IFOK-Studie von 2004 analysierte die Beratungsstrukturen des Bundes im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Ergebnis: Allein auf diesem Gebiet gibt es mehrere Dutzend institutionalisierte Beratungsgremien auf Bundesebene, die sich nicht nur in ihrer Aufgabenstellung, sondern auch in der Besetzung überschneiden. Die Ratgeber haben vor allem vier strukturelle Probleme: •
• •
•
Den Expertengremien fehlt es am Auftrag und an Kompetenz, die „programmatische Lücke“ zwischen kurzfristiger Tagespolitik und langfristigen Theoriegebäuden zu schließen. Was Entscheider brauchen, liegt dazwischen und lässt sich nur im Diskurs erschließen. Viele Gremien vermischen Kontroll-, Aufklärungs- und Legitimierungsauftrag. So werden sie wie die Wirtschaftsweisen politisiert oder wie die meisten anderen Gremien missachtet. Doppelstrukturen und Mehrfachbesetzungen sorgen für Ineffizienz – zwar arbeiten die meisten Experten ohne Honorar, aber der Aufwand zu ihrer Unterstützung ist oft enorm. Zusätzliche Gremien werden eingerichtet, aber keines wird je abgeschafft. Die öffentlichen Beratungsgremien werden auch von der Bundespolitik zunehmend zugunsten kommerzieller Berater übergangen.
Dazu kommt, dass viele Entscheider in der Politik noch immer ein veraltetes Führungsverständnis haben: Sie leben in der Vorstellung, sie selbst müssten in allen Fragen die besten Experten sein. Dahinter steht nicht weniger als der Anspruch, selbst die zentrale Sammelstelle aller in der Gesellschaft zerstreuten Intelligenz zu sein. Innerhalb des traditionellen Führungsverständnisses bedeutet dies: Wenn ich wissen will, was relevant ist, lese ich ein Buch oder frage einen Experten und dann bin ich gerüstet für die Entscheidung. Die Qualität der Entscheidung hängt somit von Zufällen ab: Was habe ich gelesen, wen habe ich gefragt, welche Implikationen und Schlüsse sind mir dazu eingefallen? Gute Entscheidungen sollten aber von derartigen Zufällen möglichst unabhängig sein. Modernes Managementverständnis setzt nicht auf Füh-
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rungskräfte, die alles selbst am besten wissen, sondern auf solche, die in der Lage sind, Mitarbeiter zu führen, die fachlich besser sind als sie selbst. Es ist eine überholte Einstellung – vor allem in der Politik – dass die Spitze auch immer in Hinsicht auf den Wissensstand allen anderen weit überlegen sein muss. Denn wir brauchen auch dann gute Entscheidungen, wenn unsere Spitzenpolitiker völlig unerfahren im betreffenden Gebiet sind. Und hier findet sich der Hauptgrund, warum wir gute und moderne Beratungsverfahren benötigen: um Entscheidungen möglichst optimal von Zufälligkeiten unabhängig qualitativ abzusichern.
Warum und wozu Beratung benötigt wird Zwar ist der weit verbreitete Zynismus gegenüber politischer Beratung nicht ganz unangebracht. Aber er ist schlimm für alle Beteiligten. Politische Entscheider brauchen den besten Rat, den sie finden können, ohne dass sie sich dafür entschuldigen müssen. Und auch die Ratgeber auf eigene Rechnung oder auf Rechnung von Interessenverbänden verdienen es, ihre Anliegen und Vorschläge einbringen zu dürfen, ohne sich dem Verdacht der ungerechtfertigten Einflussnahme aussetzen zu müssen. Denn wir brauchen Beratung, um wohlinformierte und faire Politik zu machen. Eine Demokratie, die den Wert von Beratung und Mitsprache nicht schätzt, gibt auch die ehrliche Suche nach besseren Entscheidungen auf. Schon die Väter unseres Grundgesetzes waren sich der Bedeutung einer guten Beratung bewusst. Sie stellten sich das so vor: Die politischen Debatten und Entscheidungen finden im Parlament statt. Das Parlament sollte der Ort sein, an dem alle Fakten zusammengetragen und gemeinsam bewertet werden und an dem anschließend entschieden wird. Denn damals wie heute gilt dasselbe Grundprinzip: Erst in der transparenten Auseinandersetzung, im Austausch von Positionen, im gemeinsamen Ringen um die bessere Lösung findet Politik zu angemessenen Entscheidungen. Demokratie braucht die Arena dieser transparenten Auseinandersetzung. Dieses Grundprinzip ist noch viel älter. Entscheidungsträger in allen Phasen der Geschichte wussten um die Bedeutung guter Beratung. Schon vor über 4000 Jahren fand in Griechenland etwas seinen Anfang, das wir heute gut gebrauchen könnten: die Agora. Der „runde Tisch“ der Antike: Ein zentraler Ort der Versammlung, an dem alle Bürger geladen waren, um ein gemeinsames Forum aller Meinungen und Argumente zu haben. Erst
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nach dieser Beratung, an der alle teilnehmen konnten, fällte der weise Herrscher seine Entscheidung.
Der Wert des Zuhörens ist eigentlich nichts Neues Audiatur et altera pars! (Auch die andere Seite soll gehört werden) Römischer Rechtsgrundsatz Sooft etwas Wichtiges im Kloster zu behandeln ist, soll der Abt die ganze Gemeinschaft zusammenrufen und selbst darlegen, worum es geht. Er soll den Rat der Brüder anhören und dann mit sich selbst zu Rate gehen. Was er für zuträglicher hält, das tue er. Aus der Ordensregel des Benedikt von Nursia Wir alle sind Narren, aber keiner hat das Recht, seine eigentümliche Narrheit den anderen aufzudrängen. Georg Büchner, Dantons Tod Die grundlegende Annahme ist hier wie überall die unbegrenzte Vielfalt der menschlichen Begabungen und Fähigkeiten und folglich die Unkenntnis des einzelnen Individuums um den größten Teil dessen, was sämtlichen weiteren Mitgliedern der Gesellschaft zusammengenommen bekannt ist. Friedrich August von Hayek
War der Idealstaat nach Aristoteles noch von einem Hügel aus überblickbar, reichen dafür heute, in der Zeit ausdifferenzierter Massengesellschaften, nicht mal mehr Fernsehtürme oder die mit ihnen vermittelten medialen Versammlungen aus. Aber die Möglichkeit des Dialogs miteinander ist eine der Grundannahmen der Demokratie. Wieder einmal in seiner wechselvollen Geschichte muss diese allerdings neu definiert, organisiert und prozessual umgesetzt werden.
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Das neue Modell: Mit diskursiver Beratung den Wandel gestalten Der demokratische Grundansatz, mit organisierten Dialogen zu guten Entscheidungen zu kommen, lässt sich mit neuen, diskursiven Verfahren realisieren. Diese können akute Defizite unserer Demokratie lindern. Denn unsere formalen demokratischen Institutionen sind zwar als Ort der Entscheidung unanfechtbar, aber als Ort der Entscheidungsvorbereitung und -findung sind sie oft ungeeignet. Den Anforderungen komplexer gesellschaftlicher Wandlungsprozesse können sie nur ein begrenztes Repertoire an Verfahren entgegensetzen.
Argumente für diskursive Beratungsverfahren Bessere Steuerung Moderne Führungskräfte nutzen partizipative Verfahren als festen Bestandteil ihrer politischen Strategien. Netzwerke lösen immer mehr hierarchische Politikelemente ab. Mehr Effizienz Breit akzeptierte Maßnahmen sind gut umsetzbare Maßnahmen. Besserer Umgang mit Komplexität Klimaschutz, Gentechnik, Finanzmärkte – nur durch Beteiligung können Fachthemen heute in ihrer Vielschichtigkeit erfasst und für Entscheider zu realistischen Politikoptionen verdichtet werden. Bessere Motivation der Bürger Wer Bürger in moderierte Verfahren einbindet, erlebt ihren Ideenreichtum und Enthusiasmus. Souveräne Entscheidungsverantwortung Diskursive Politikgestaltung ist nicht Basisdemokratie, und niemand nimmt den Verantwortlichen ihre Entscheidungen ab. Ein gutes Ergebnis eines fairen Beteiligungsverfahrens hat aber zu Recht hohe Bindungswirkung.
Das neue Modell: Mit diskursiver Beratung den Wandel gestalten
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Mit diskursiven Beratungsverfahren wird Beratung noch mehr selbst zum Teil des gesellschaftlichen Wandels. Denn es sind nicht erst die Entscheidungen der demokratischen Institutionen, die den Wandel erzeugen – diese Entscheidungen sind in der Regel Ausdruck eines Wandels, der bereits stattgefunden hat. Will man Entscheidungen besser vorbereiten, kommt es darauf an, den Wandel zu gestalten, der in Diskussionen, Einstellungen und Positionen zum Ausdruck kommt, lange bevor irgendein Gesetz formuliert ist. Eine unmögliche Aufgabe, mögen viele Entscheidungsträger sagen. Wie kann man als einzelner Akteur den Ausgang gesellschaftlicher Debatten beeinflussen? Indem man die Beratung über die notwendigen Entscheidungen inszeniert und damit den Wandel prägt. Was in etablierten formalen Verfahren und auf den eingefahrenen Wegen bestehender Institutionen nicht im eigenen Sinne voran geht, das kann durch informelle Verfahren der Meinungsbildung gestaltet werden. Dann ist erfolgreiche Entscheidungsvorbereitung – und die Steuerung des gesellschaftlichen Wandels – nicht in erster Linie eine Frage des Sachverstands, sondern der Organisation von Kommunikation. Die erste Aufgabe dieser Verfahren lautet, diejenigen Akteure zu identifizieren, die für die Rahmenbedingungen eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses verantwortlich sind – gerade jenseits der üblichen Verdächtigen in der Verwaltung. Zu solchen change agents gehören zum Beispiel: • • • •
Multiplikatoren der Zivilgesellschaft (Einzelpersonen genauso wie pressure groups) Zivilgesellschaftliche Institutionen (Kirchen, Vereine, etc.) Medien Unternehmen sowie Wirtschafts- und Interessenverbände
Hier darf man allerdings nicht aufhören. Für viele Themen reicht der Dialog der Entscheider allein nicht aus, sondern es kommt darauf an, die Betroffenen selbst einzubinden. Sie geben der Inszenierung des Wandels oft erst die Energie. Unabhängig davon, ob sie auch ein moralisches Recht haben am Tisch zu sitzen, wenn es um ihre Zukunft geht, ist ihre Rolle weit mehr als Dekoration. Sie können den Diskussionspartnern helfen, immer wieder die realen Auswirkungen des Wandels vor Augen zu haben und die Prioritäten derjenigen zu kennen, in deren Namen sie letztlich meist agieren.
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Je nach Verfahren kann man drei Kreise von Betroffenen einbinden: • • •
Direkt von einem Problem betroffene Personen (Potenziell) betroffene Personen, die „breite Bevölkerung“ Einfach nur interessierte oder beteiligungswillige Personen
Zusätzlich ist es manchmal sinnvoll, sozusagen als „Kontrollgruppe“, auch dezidiert unbeteiligte oder uninteressierte Personen einzubinden.
Die fünf P’s diskursiver Beratung - ein Modell für gesellschaftlichen Wandel 1. Partizipation der Betroffenen Wenn nicht vorhanden: Verweigerung, Widerstand, nicht praktikable Lösungen 2. Politikeinbindung Wenn nicht vorhanden: folgenlose „Verpuffung“ der Ergebnisse, Motivationsverlust 3. Public Relations Wenn nicht vorhanden: fehlende Information und unzutreffende Interpretationen in der Öffentlichkeit 4. Permanenz Wenn nicht vorhanden: unverbundene Einzelmaßnahmen, fehlende Orientierung, Fehlen einer gemeinsamen Anlaufstelle 5. Prozessmotor Wenn nicht vorhanden: fehlende Legitimität, Blockaden, Debatten über den Prozess statt über die Inhalte plus: Emotionen Wenn nicht vorhanden: Energieverlust, fehlende Identifikation, schmale Zielgruppeneinbindung
Was aber tut man nun mit all diesen Akteuren? An den berühmten „Runden Tisch“ mit Entscheidern und Bürgern denken noch viele. Hier geht es aber um mehr: um die Inszenierung des Wandels mit klarem Ergebnis oder mit klarem Ziel. Es geht weder um eine breite „schön, dass wir mal darüber gesprochen haben-Runde“ noch um eine „geschlossene Gesellschaft“. Am besten illustriert das folgende Beispiel, wie es gehen könnte.
Chemie und Nachhaltigkeit: Von der Brechstange zur Beteiligung
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Chemie und Nachhaltigkeit: Von der Brechstange zur Beteiligung Es passt gut zu unserer Analogie des Turmbaus, dass eines der eindrucksvollsten Beispiele für gut organisierte politische Beratung 1997 einen Bericht ausgerechnet mit dem Namen „Bausteine für ein zukunftsfähiges Deutschland“ vorlegte. Mitte der neunziger Jahre in Deutschland: Umweltthemen spielen eine große Rolle im politischen Bewusstsein (und nach dem Ende des Kalten Kriegs gibt es auch international Hoffnung darauf, dass verantwortliches wirtschaftliches Wachstums in der Welt wirksam gesteuert werden kann.) − Deutschland ist ein reiches und gerade wiedervereinigtes Land. Hier wird die Debatte beherrscht vom sogenannten Primat der Ökologie, also der Vorstellung, dass Umweltbelange Vorrang gegenüber dem Wachstum und anderen konkurrierenden Ansprüchen haben sollten. Umweltgerechtes Wirtschaften – was sollte das anderes sein als eine gesteuerte Reduzierung des Ressourcenverbrauchs? Das Wuppertal-Institut bringt diese Vorstellung mit seiner Studie „Nachhaltiges Deutschland“ und seinem Konzept des StoffstromManagements nicht nur auf den Punkt, sondern legt auch eine Grundlage für die politische Realisierung nachhaltiger Entwicklung vor. Das Konzept für die ressourcensparende Lenkung von Energie und Rohstoffen wird von prominenten „Wuppertalern“ wie Ernst Ulrich von Weizsäcker als nationales, wenn nicht gleich globales Regulierungskonzept gehandelt. Vereinfacht dargestellt: Die für Deutschland im Sinne nachhaltiger Entwicklung und globaler Ressourcengerechtigkeit erlaubten Ressourcen werden durch die Anzahl der Konsumenten geteilt und auf die Wirtschaft verteilt. Die Nachhaltigkeitsdebatte ist keine Wachstumsdebatte, sondern eine über die Grenzen des Wachstums. Worauf es hier ankommt, ist nicht die Frage, ob diese Idee der Nachhaltigkeit letztlich die „richtige“ ist, sondern ob der Bundespolitik umfassend informierte Politikoptionen zur Verfügung stehen. Das Modell des Stoffstrommanagements drückt die völlig legitime Position eines Teils der Wissenschaft und Zivilgesellschaft aus. Zu diesem Zeitpunkt gibt es aber keine effektiv formulierte Alternativposition anderer Stakeholder, allen voran der Wirtschaft.
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Dabei hat der Weltgipfel in Rio de Janeiro 1992 eine Interpretation der Nachhaltigkeit geliefert, die erstmals auch für die Industrie anschlussfähig war. Seine Botschaft war, dass Ökologie, Ökonomie und Soziales zusammen gedacht werden müssen. Besonders die Wirtschaft wird in die Pflicht genommen, konstruktiv am Wandel von Rahmenbedingungen für umweltgerechtes Wachstum mitzuarbeiten. Für Wirtschaftsführer in Deutschland ist diese Debatte natürlich viel anschlussfähiger als eine defensive Auseinandersetzung über das Stoffstrommanagement. Drei Jahre lang versuchen Industrieverbände und Lobbyisten, die dominante Position der Umweltschützer mit aufwändigen Studien und allen anderen Mitteln der Kunst politisch zu schwächen. Aber der Erfolg bleibt aus. Erstens, weil keine überzeugende Alternative deutlich wird, und zweitens, weil nicht nur verschiedene Branchen, sondern auch Arbeitnehmer und Arbeitgeber unterschiedliche Vorstellungen haben. 1995 wird Wilfried Sahm, Chef des Verbands Chemischer Industrie (VCI) und Hubertus Schmoldt, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik (später aufgegangen in der IG BCE) klar, dass nur ein breit geteilter Entwurf politisch wirksam werden kann. Ein gemeinsamer Anlauf von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist nötig, um eine alternative Grundlage für die neue Enquête-Kommission „Zum Schutz des Menschen und der Umwelt“ zu schaffen. Gemeinsam mit dem gerade frisch gegründeten IFOK entwerfen sie eine Strategie, die nicht nur zu einem schlüssigen politischen Nachhaltigkeitsprogramm führen soll. Zusätzlich kommt es darauf an, einen neuen Weg für die eingefahrene politische Kommunikation der Verbände in dieser Frage zu versuchen. Wenn die Chemische Industrie wirklich alternative Konzepte vorlegen und umsichtige politische Entscheidungen befördern möchte, dann muss sie in einem Dialog überzeugen und Verbündete gewinnen. Das allerdings gelingt ihr nur dann, wenn sie auch das Risiko eingeht, ihre Standpunkte offen zu diskutieren und gegebenenfalls zu ändern, wenn sich keine Mehrheiten dafür finden. Sowohl Arbeitgeberverband als auch Arbeitnehmerverband mussten ihre eingeübten Positionen auf den Prüfstand einer ergebnisoffenen gesellschaftlichen Diskussion stellen.
Neue Bausteine und ein Beispiel geglückter Beratung Der Einladung der Industrie folgen fast 250 Teilnehmer aus allen gesellschaftlichen Bereichen von Industrie zu Umweltgruppen, von Forschungs-
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institutionen zu Kirchen, von internationalen Organisationen bis zu Bürgergruppen. Im moderierten Diskurs werden die Meinungen der Teilnehmer immer wieder durch wissenschaftliche Kurzanalysen ergänzt. Schnell schält sich durch Trennung von Konsens- und Dissensbereichen ein Kern gemeinsamer Überzeugungen heraus. Was in der öffentlichen Debatte oft überspitzt oder nur um drei Ecken herum wahrgenommen wurde, ist in Wirklichkeit nicht weit voneinander entfernt. Weil der Veranstalter sich kritisieren lässt, wird auch an Kritik anderen gegenüber nicht gespart. Weil der Veranstalter zum Lernen bereit ist, sind es auch andere. Für die Auftraggeber Sahm und Schmoldt war der entscheidende Faktor in der Rückschau die offene Einladung zur Kritik an der Chemieindustrie und ihrer Haltung zur Nachhaltigkeit. Erst auf dieser Basis konnte auch die Frage gestellt werden, was andere Akteure beitragen müssen. Das Ergebnis lautet dementsprechend: Nachhaltigkeit darf nicht – übertrieben dargestellt – als technokratisch-planwirtschaftliche Reduktionsstrategie verstanden werden, sondern als marktnaher gesellschaftlicher Suchund Lernprozess, in dessen Verlauf die Ansprüche des wirtschaftlichen Wachstums, der Ökologie und der sozialen Erneuerung vereinbart werden müssen – nicht als Aufgabe an die Politik allein, sondern gleichberechtigt auch an die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft. Nachhaltigkeit bedeutet nicht mittelfristig das Ende des Chemiestandorts Deutschland, sondern Transparenz, Selbstverpflichtung und konstruktive Teilnahme an ergebnisoffenen Reformprozessen für nachhaltige Rahmenbedingungen. Ebenso wichtig für den Erfolg war: Das Ergebnis ist nicht nur ein Abschlussbericht unter vielen, sondern ein Lernerlebnis für 250 Multiplikatoren. Weniger als eine Handvoll Teilnehmer sprachen nach dem Abschlussworkshop noch von einem unbedingten Primat der Umwelt – das sah zu Beginn des Dialogs mit verhärteten Fronten ganz anders aus. Die politische Debatte wurde nach Auskunft der meisten Mitglieder der Enquête-Kommission von diesem Beispiel geglückter Beratung konstruktiv beeinflusst. In ihrer zweiten Sitzungsperiode griff die Kommission die meisten der Empfehlungen auf und schrieb dem Parlament eine lange To Do-Liste konkreter Forderungen. Unter den Empfehlungen finden sich unter anderem die Einrichtung eines Nachhaltigkeitsrats mit diskursiver Einbindung von Bürgern sowie eine Berichtspflicht für die Umweltbilanzen von Unternehmen.
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Projektsteckbrief Bausteine für ein zukunftsfähiges Deutschland Initiatoren und Beteiligte Verband Chemischer Industrie, Industriegewerkschaft ChemiePapier-Keramik; 238 Experten aus Industrie, Umweltgruppen, Forschungsinstitutionen, internationalen Organisationen, Bürgergruppen, Kirchen und anderen Bereichen • •
• • •
Ziel Dialogische Überprüfung der Positionen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Chemischen Industrie zur Nachhaltigen Entwicklung Einbringung eines gesellschaftlich mehrheitsfähigen und international anschlussfähigen Modells für Nachhaltige Entwicklung in die politische Debatte Ergebnis Übernahme einer politischen Meinungsführerschaft und Positionierung der chemischen Industrie als glaubwürdiger Vordenker Etablierung des Integrationsmodells der Nachhaltigkeit Publikation eines weit beachteten Schlüsselbeitrags zur Entwicklung der Nachhaltigkeitsdebatte in der Enquête-Kommission und darüber hinaus Methoden
Großgruppenverfahren, Moderation, Fachberatung zum Thema Nachhaltigkeit, Akteursmapping, politische Kommunikation
Wir wissen nicht, welche Nachhaltigkeitsstrategie Deutschland ohne das Bausteine-Projekt eingeschlagen hätte. Es ist müßig nachzuvollziehen, welche Argumente aus genau welcher Feder stammten. In der Diskussion wurden vorhandene Erkenntnisse verschiedener Akteure miteinander in ein sinnvolles Verhältnis gesetzt. Dadurch ist Stoffstrommanagement nicht überflüssig geworden, im Gegenteil: Heute ist es zum Beispiel in der kommunalen Abfallwirtschaft und zur Optimierung von Energiekreisläufen enorm wichtig. Aber die Grenzen des Konzepts wurden ebenso deutlich: als internationales Steuerungskonzept funktioniert es nicht. Eine der wichtigsten Lehren, die alle Beteiligten gezogen haben, ist es zu sehen, wie notwendig es ist, die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft in die Arbeit der Politik zum Thema Nachhaltigkeit einzubeziehen. Seit den
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späten Neunzigern wird die Nachhaltigkeitsstrategie im Diskurs mit Bürgern erarbeitet, und der Rat für Nachhaltige Entwicklung hat auch in 2004 gemeinsam mit IFOK und mehreren hundert Experten eine Momentaufnahme zur Umsetzung des damals verabschiedeten Nachhaltigkeitskonzepts durchgeführt. Heute legt die Mehrheit der DAX-Unternehmen jährlich Nachhaltigkeitsberichte vor und bindet Experten wie Bürger in die Diskussion um Nachhaltigkeit vor Ort ein. Die Wirkung des Diskursprojekts und vieler vergleichbarer Projekte geht mittlerweile über das Politikfeld Nachhaltigkeit hinaus. Nicht nur in der Nachhaltigkeitsstrategie, sondern inzwischen auch in Strategiepapieren zur Innovationsfähigkeit, Regionalentwicklung und sogar der Föderalismusdebatte finden wir immer stärker die zentralen Forderungen, die das Diskursprojekt der Chemieindustrie 1997 erstmals zu einem breiten Konsens bündeln half: Lernen, Dialog, gemeinsame Verantwortung von Politik, Wirtschaft und Bürgern für die faire Gestaltung der Rahmenbedingungen für nachhaltigen Erfolg. Dialog statt ‘shouting match’.
Ein Diskurs für alle Fälle: Drei Möglichkeiten Die vielen Beispiele lassen sich in drei unterschiedliche Kategorien von Problemen einteilen. Beteiligungsformen können für alle diese Fälle geeignet gestaltet werden – allerdings eignet sich nicht jede Methode für jede Fragestellung. Welches partizipative Verfahren am besten ist, hängt davon ab, wie im konkreten Fall Lösungskompetenzen und Umsetzungsverantwortungen verteilt sind. Dies wird im Folgenden an drei unterschiedlichen, aber für Entscheider typischen Entscheidungssituationen erläutert: Orientierung: Gemeinsam Einigkeit über die Fakten schaffen Die Situation: Es herrscht noch Unklarheit über die Fakten, die von den verschiedenen Interessenparteien und Gutachtern völlig unterschiedlich dargestellt werden. Dann greift das in Kapitel 2 vorgestellte „Joint Fact Finding“ Verfahren. Die Verständigung über eine gemeinsame Faktengrundlage spielt für die politische Entscheidungsfindung eine besonders wichtige Rolle. Dem Widerstreit der Interessen entspricht oft genug ein Widerstreit der Informationen. Bereits hier kann professionelle Mediation einsetzen und entscheidend dabei helfen, eine faktenbasierte Grundlage gemeinsamen Entscheidens zu schaffen. Primäre Methoden: Expertenpanels, Mediationsverfahren
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Akzeptanz: Entscheidungen absichern und erklären Die Situation: Die Entscheidung ist bereits getroffen, und muss nun erklärt und vermittelt werden. In diesem Fall liegt die Problemlösungskompetenz innerhalb der dafür zuständigen politischen Institutionen. Dialoge wie Bürgerkonferenzen dienen dazu, politische Abwägungen verständlich und den undurchsichtigen Entscheidungsprozess transparenter zu gestalten. Wenn der politische Entscheider also sowohl über das notwendige Wissen als auch über die erforderlichen Hebel zur Umsetzung verfügt, dann können ihm diskursive Verfahren bei der Akzeptanz seiner Entscheidungen helfen. Primäre Methoden: Bürgerkonferenzen, Stakeholderdialoge Steuerung: Problemlösung organisieren und gemeinsame Lösungen finden Die Situation: Der Entscheider kann seine Vorstellungen nicht alleine umsetzen, sondern benötigt Partner, die mitziehen müssen. Die allerdings haben auch eigene Ideen. Das ist ein erhebliches Steuerungsproblem. Dieser Fall beschreibt Aufgaben, die von politischen Institutionen nicht alleine bewältigt werden können. Hier geht es vordringlich darum, die relevanten Mitentscheider aus verschiedenen Bereichen gemeinsam an einen Tisch zu bringen, um zu einer koordinierten Lösung zu gelangen. Primäre Methoden: Runde Tische, Dialogprozesse, Mediation In allen drei Fällen ist es zweitrangig, ob die Diskurse vom politischen Entscheider selbst oder von anderen, wie beispielsweise von einem Industrieverband initiiert werden. Sie funktionieren von beiden Richtungen: Topdown als Methode für politische Entscheider zur Identifikation der besten Vorschläge und zur Gewinnung von Umsetzungspartnern. Bottom-up als Werkzeug zur Beeinflussung der politischen Agenda und zur Gewinnung von neuen Verbündeten für gemeinsame Interessen.
Reformvorschläge: Kein Politikersatz, sondern Dienst für die Politik
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Entscheider Kompetenz liegt Entscheidungen beim politischen absichern und Entscheider erklären Gemeinsam Kompetenz ist Lösungen verteilt finden Problemlösung Kompetenz organiliegt außerhalb sieren der Politik
Abb. 4 Stufen der diskursiven Politikberatung
Reformvorschläge: Kein Politikersatz, sondern Dienst für die Politik Beratung dient der Vermittlung von Wissen. In den meisten wichtigen politischen Entscheidungen ist das erforderliche Fachwissen nicht nur über verschiedene Gruppen innerhalb und außerhalb der Politik verteilt. Vielmehr entscheidet sich das Schicksal der Entscheidungen daran, ob jeder seinen Lösungsbaustein auch in der Umsetzung beiträgt. Beides zusammengenommen macht die Qualität einer Entscheidung aus: wohlinformiert und wohlvorbereitet. Häufig leisten unsere etablierten politischen Beratungsmechanismen genau das nicht, wie wir dies zu Beginn des Kapitels mit dem Bild des Turmbaus beschrieben haben. Diskurse können helfen, aus ineffektiven und eigenanreizgesteuerten Vermittlungsstrukturen auszubrechen, ohne sie gleich vollständig in Frage stellen zu müssen. Aus unserer Erfahrung ist der Erfolg dann am größten, wenn in den bestehenden Beratungsstrukturen eine sachorientierte, ergebnisoffene und glaubwürdige Kommunikation stattfinden kann. Dadurch, dass sie auf relativ kurze Zeit und auf ein klares Ziel ausgerichtet sind, stoßen sie nur selten auf Widerstand. Dass solche Dialoge bitter nötig sind, um zu lernen und um belastbare Konsense zu bekommen, ist eine unserer zentralen Lernerfahrungen der letzten zehn Jahre.
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Wo geht die Reise nun hin? Müssen wir mit einem Ausgang wie in Babel rechnen, oder können wir die Strukturen durch Diskurse klug ergänzen, wo möglich und ersetzen, wo nötig? Auf alle Fälle muss sowohl an der Nachfrage nach politischer Beratung durch politische Entscheider als auch am Angebot durch die Lobbyisten, Experten und kommerziellen Berater gearbeitet werden. Erst in der gemeinsamen Lösungssuche bedeuten Diskurse gegenseitige Beratung – und beidseitiges Lernen, um die beste Wissensgrundlage zu garantieren. Gegenseitige Verpflichtung und beidseitige Selbstverpflichtung, um die beste Umsetzungsgrundlage zu schaffen. Auf dem Weg zu modernen diskursiven Beratungssystemen können drei Maximen helfen: 1.
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Initiative: Der Impuls zur gemeinsamen Problemlösung kann von überall her kommen. Dieser Impuls muss aber auch zugelassen und sollte nicht unter Verweis auf verfahrensmäßige Exklusiv-Verantwortlichkeiten blockiert werden. Organisation: Statt Beratungsaufträge an Gremien nach dem Motto ‚fire and forget’ zu delegieren, müssen Entscheider in Beratungsprozessen denken, die je nach Aufgabenstellung anders aussehen können. Moderation: Statt als Auftraggeber muss sich der Initiator als Moderator verstehen. Dafür Kompetenzen zu entwickeln, ist eine der zentralen Aufgaben für Institutionen, die an der Gestaltung von Politik Anteil haben wollen.
Diese Vision eines modernen Beratungssystems bedeutet ein verändertes Selbstverständnis für viele Institutionen, die sich daran gewöhnt haben, ein Monopol auf die Beschäftigung mit „ihren“ Themen zu haben. Als Moderator gesellschaftlicher und politischer Lernprozesse müssen sie umdenken. Laufend arbeiten wir mit Entscheidern zusammen, die das tun. Sei es im Rat für Nachhaltige Entwicklung, im Bundesministerium für Umweltschutz, in der Zeitarbeitsbranche, in den Freiwilligenagenturen oder im Bundespräsidialamt – wer heute politisch mit seinen Anliegen Erfolg hat, hat oft andere eingeladen, diesen Erfolg gemeinsam zu erreichen.
Exkurs: Wie man künstlich Relevanz erzeugt Eine fast wahre Geschichte aus der Ministerialbürokratie
„Wir haben doch unsere demokratisch legitimierten und kontrollierten Verfahren.“, und „In der Gesetzgebung findet bereits Beteiligung statt.“ hören wir oft. Die Wirklichkeit zeichnet freilich ein anderes Bild. Die Suchscheinwerfer der demokratischen Kontrolle und der kritischen Öffentlichkeit leuchten nur auf wenige Vorgänge, und die tatsächlichen Spielräume zur Manipulation von Entscheidungen sind oft enorm. Beteiligung kann missbraucht werden, und zwar keineswegs nur in der Verwaltung, sondern auch in großen Unternehmen oder Drittsektor-Organisationen. Dieses Zwischenwort erzählt eine fast frei erfundene Geschichte zur Entscheidungsvorbereitung in der deutschen Ministerialbürokratie – frei nach Martin Walser.
Finks Bruder – Wie der Schwanz mit dem Hund wedelt Finks Bruder war schon immer der ehrgeizigere von beiden. So traf ihn seine Versetzung durch den neuen Minister in ein Referat ohne politische Bedeutung hart. Sein neues Tätigkeitsfeld fand schon seit Jahren keinerlei Resonanz mehr, weder im Parlament noch in der Presse. Wahrscheinlich wäre das Referat längst geschlossen worden, wenn man es nicht als Auffangbecken für nicht mehr einsetzbare oder nicht mehr erwünschte Beamte benötigt hätte. Dort also landete Finks Bruder. Jeder andere wäre in Depressionen verfallen oder hätte angefangen, Bücher zu schreiben. Finks Bruder aber hatte sich geschworen, Karriere zu machen, und davon würde er auch unter schwierigeren Bedingungen nicht abrücken. Wie also kann man einem bedeutungslosen Referat neues Leben einhauchen? Nach einigen Tagen Überlegung stand sein Plan fest und er begann, ihn Schritt für Schritt umzusetzen.
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Exkurs: Wie man künstlich Relevanz erzeugt
Als Erstes unternahm er eine Rundreise bei einschlägigen Professoren und Verbänden, die genau wie sein Referat vor sich hindümpelten und sich nach Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der öffentlichen Geldgeber sehnten. Gemeinsam entwarf er auf der Reise mit seinen Gesprächspartnern ein medienwirksames dramatisches Szenario der künftigen Entwicklung – mit phantasievoller Ausschmückung einiger weniger wissenschaftlicher Hypothesen wenig bekannter Experten, die bisher als Außenseiter galten. Aber galten sie vielleicht nur deshalb als Außenseiter, weil sich gewisse Kreise gegen sie verschworen hatten, um so einen Skandal unter der Decke zu halten? Finks Bruder wusste: Das war der Stoff, auf den die Medien fliegen und aus dem sich Gesetze machen ließen, auf die ansonsten nie jemand gekommen wäre. Zurück im Ministerium begann Phase zwei: Er legte mit den immer zahlreicher eintreffenden Schreiben seiner Verbündeten ein Dossier an und begann, das Ministerium über den ihm übermittelten Sachverhalt zu informieren, nicht ohne zu vermerken, dass er bereits Überlegungen zu vorsorglichen Maßnahmen des Gesetzgebers anstelle. Mit Bedacht wählte er die Adressaten seiner Vermerke aus: Möglichst viele mussten es sein, möglichst unterschiedliche Parteigänger. Viele, die bei der Hausleitung als „unzuverlässig“ galten und vor allem: Einige, von denen gute Pressekontakte bekannt waren. So dauerte es denn auch nicht lange, bis die Medien das Thema aufgriffen. „Verschweigt Ministerium Skandal?“ „Tote durch Schlamperei des Ministers?“ So und ähnlich wurde gedichtet. Die Reaktion des tobenden Ministers kam blitzschnell: Finks Bruder wurde ins Allerheiligste zitiert und musste sich rechtfertigen, warum er bisher noch nichts unternommen habe. Er nahm alle Schuld auf sich, gelobte Besserung und schon eine Woche später lag ein Gesetzesentwurf vor. Wie setzt man seinen Entwurf gegen die Hierarchie durch? Auch hier erwies sich Fink als Meister seines Fachs und wandte eine neue Variante der Verteilung an. Diesmal ließ er seinen Vorschlag tatsächlich nur wenigen betroffenen Referaten zur Abstimmung zukommen, darunter waren aber zwei, die der Opposition als treu ergeben und daher als unzuverlässig galten. Dann spielte Fink seinen Entwurf einem bekannten politischen Wochenmagazin zu. Natürlich vermutete niemand Fink als U-Boot. Der Rest lief nach Schema F ab: Artikel über die Inhalte des geplanten Gesetzes („Der Minister plant ...“), wildes Protestieren von allen Seiten gegen unsinnige Regelungen, mehr Bürokratie, überzogene Reaktionen. Der öffentliche Widerstand schweißt den Minister mit dem neuen Gesetz (und seinem Urheber) zusammen. Natürlich verteidigt er „seine“ Pläne, natürlich kann er nicht zugeben, dass er den Entwurf noch gar nicht kennt.
Finks Bruder – Wie der Schwanz mit dem Hund wedelt
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Finks Verbündete funktionieren brav: Sie unterstützen öffentlich das Vorhaben – endlich muss gehandelt werden! Die Presse ist einige Wochen voll vom „Skandal“, vor allem von der Frage, wer wie politisch reagiert. In dieser Stimmung gelingt es, das Gesetz durch die parlamentarischen Instanzen zu peitschen: Natürlich lässt die Fraktion ihren Minister mit seinem Vorhaben nicht im Stich! Und so gibt es am Ende nur Gewinner: Der Minister hat die Krise bewältigt und ein neues Gesetz geschaffen. Finks Verbündete haben wieder Einfluss, öffentliches Ansehen und durch einen Fonds im Gesetz auch Geld gewonnen, Fink hat das Wohlwollen des Ministers erworben, die Regierung hat ihre Handlungsfähigkeit gezeigt, aber auch die Opposition freut sich über ein potenzielles neues Wahlkampfthema – und dafür wird das Volk es ja wohl aushalten, ein weiteres unnötiges Gesetz zu haben.
Vom Stakeholdermanagement zu CSR: Glaubwürdig kommunizieren
Das Wichtigste in Kürze Unternehmen sprechen heute mehr denn je mit ihren Stakeholdern. Um aus der Kommunikation aber Wettbewerbsvorteile abzuleiten, müssen sie die zunehmend professionalisierten Anspruchsgruppen stärker beteiligen: Als Partner für wichtige Unternehmensfunktionen wie Risikomanagement, Trendermittlung oder politisches Lobbying. Um Glaubwürdigkeit zu gewinnen, müssen sich Unternehmen ihrer kommunikativen Wirkung bewusster werden – und zwar jenseits ihrer dafür vorgesehenen Abteilungen auch im operativen Geschäft. Dialoge allein reichen nicht aus. Unternehmen, die ihr Umfeld mit neuen Verfahren kreativ an der Gestaltung des Wandels beteiligt haben, können Kritik entschärfen, neue Freiräume erhalten oder auf diesem Weg neue Märkte erschließen. Deshalb setzen erfolgreiche Unternehmen zunehmend auf Strategien zur Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft (Corporate Social Responsibility). Glaubwürdig ist dies allerdings nur, wenn Gesellschaft und Stakeholder den Bezug zum legitimen Geschäftsinteresse erkennen können.
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Vom Stakeholdermanagement zu CSR: Glaubwürdig kommunizieren
„Durch einen offenen Dialog mit Stakeholdern haben wir gelernt, Chancen und Risiken unseres unternehmerischen Handelns besser zu verstehen und zukunftsfähige Lösungen zu erarbeiten. Akzeptanz von Produktinitiativen und dadurch Stärkung unserer Marktposition sind das Ergebnis unserer Investition in Stakeholderdialoge.“ Dr. Detlef Schermer Zur Person: Dr. Detlef Schermer war über 20 Jahre in der Kommunikation bei Procter & Gamble in West- und Osteuropa für Themen des Umwelt- und Verbraucherschutzes sowie der Produkttechnologie zuständig. Bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 2004 war er als Director External Relations verantwortlich für die gesamte Unternehmenskommunikation in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war seit Beginn der achtziger Jahre aktiv an der Planung und Durchführung zahlreicher Stakeholder-Dialogprozesse beteiligt. Als Beirat begleitet er IFOK bereits seit vielen Jahren. „Unternehmen hatten schon immer Verantwortung für ihr Umfeld. Im veränderten Umfeld muss sich auch der Unternehmer neu definieren – nicht als Goldesel oder Mäzen, sondern als Partner mit mehr als Geld in der Tasche.“ Dr. Frank Niethammer Zur Person: Dr. Frank Niethammer war Unternehmer und langjähriger Präsident sowie später Ehrenpräsident der IHK Frankfurt/Main. Nach einer Karriere als Geschäftsführer und Aufsichtsratsvorsitzender zahlreicher mittelständischer Unternehmen war er besonders stolz darauf, seit der Wende hunderte Arbeitsplätze im sächsischen Kriebstein vor Spekulation und Flut gerettet zu haben. Als Beirat hat er IFOK viele Jahre lang begleitet.
Drei harte Lektionen Im Ausbildungszentrum eines großen deutschen Industrieunternehmens stehen die edlen Häppchen bereit, die Broschüren liegen aufgefächert auf den Stühlen, die Praktikanten der Abteilung Unternehmenskommunikation noch im Kreis arrangieren, bevor sie kommen – die Stakeholder. Nachdem sie sich am Buffet bedient und die Broschüren gewissenhaft in der Tüte mit dem Logo verstaut haben, schauen sie in die Runde. Da sind die Anwohner, die sich um den Lärm sorgen, die Eltern, die sich ein Bild vom Unternehmen machen wollen, in dem ihre Tochter gerade eine Ausbildung macht, da sind die Vertreter einer lokalen Künstlergruppe, die auf Geld für eine Ausstellung hoffen, und da sind die Neugierigen, die den Vorstands-
Drei harte Lektionen
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chef schon einmal im Fernsehen gesehen haben und auf die anschließende Werksrundfahrt mit Mittagessen schielen. So weit, so gut. Aber dann sind da auch noch die scharfen Kritiker, die das Forum nutzen, um Missstände anzuklagen und die in der gefährlicheren Variante auch gleich die Presseinformation und das Expertengutachten dabei haben. Die wollen sie sofort der letzten Gruppe in unserer Runde überreichen – den Reportern, die dankbar dafür sind, dass sie nicht nur die langweilige vorbereitete Presseerklärung des Gastgebers abschreiben, sondern über einen Konflikt berichten können. Zwei Stunden lang monologisiert der Vertreter der nationalen Umweltgruppe über ein Investitionsprojekt, das die lokale Froschpopulation möglicherweise von ihren Laichgründen abschneidet. Mit Applaus wird die Forderung quittiert, die Umweltgruppen müssten in die Investitionsentscheidungen einbezogen werden. Es könne ja nicht angehen, dass der Vorstand einfach selbstherrlich Entscheidungen träfe, die immerhin das Gemeinwohl angehen.
Stakeholder – Wer sind die eigentlich? Für die meisten Unternehmen sind Stakeholder diejenigen, die unangenehme Ansprüche erheben, die mit Leserbriefen und Presseerklärungen mobil machen – eben die, die zu den StakeholderDialogen auftauchen. Die Ziele dieser Veranstaltungen richten sich dann danach, was die Stakeholder auf die Agenda bringen. Das Dilemma: Von selbst kommen jene Stakeholder, die sich einen bedeutenden Platz auf der gesellschaftlichen und politischen Bühne erarbeitet haben, sehr selten – sie wollen sich oft nicht vereinnahmen lassen. Glaubwürdigkeit kostet mehr als ein Mittagessen und ein Pressefoto.
Nach der Veranstaltung stöhnt der Leiter der Unternehmenskommunikation: „Da sitzen diese modernen Anklageprofis im Anzug als selbsternannte hauptamtliche Beschwerdeführer und werden als legitime Hüter des Gemeinwohls wahrgenommen. Warum werden wir das nicht? Wir schaffen doch die Arbeitsplätze, finanzieren die Umweltschutzprojekte und investieren in die Kultur am Standort. Ich habe ein halbes Studium in Kursen zur Unternehmensethik und Nachhaltigkeit verbracht, und diese Leute können einfach auftauchen und von uns fordern, dass wir sie vor jeder Entscheidung fragen? Wer hat diese Nichtregierungsorganisationen, diese NGOs gewählt? Wie sollen wir die einbeziehen, ohne völlig handlungsun-
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fähig zu werden? Manchmal denke ich, wir sollten einfach aufhören, uns öffentlich dieser Obstruktion auszusetzen. Oder wir sollten einfach selbst austeilen.“ In der Kneipe gegenüber hört man ähnliche Töne: „Warum verstehen die Unternehmen immer noch nicht, dass sie uns systematisch in ihre Überlegungen einbinden müssen und uns nicht erst dann holen, wenn sie längst alles entschieden haben? Das Problem mit der Froschpopulation hätte man doch wunderbar lösen können, wenn die bloß gewollt hätten.“, beschweren sich die Umweltgruppen. „So ein Pseudo-Dialog bei gutem Essen nach dem Motto - gut, dass wir zumindest mal wieder miteinander gesprochen haben - das bringt doch nichts.“ Natürlich weiß der Manager: Ein Unternehmen, das auf die Zusammenarbeit mit zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Gruppen angewiesen ist, kann sich weder in die Schmollecke zurückziehen, noch kann es mit gleicher Münze zurückzahlen. Würde dieser Unternehmer zu uns kommen, würden wir ihm drei Dinge sagen: •
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Das Leben ist hart und ungerecht. Als Unternehmer können Sie lange darauf warten, dass alle Ihre Entscheidungen als gesellschaftlich legitimiert angesehen und gegen Einwände abgesichert werden. Man muss Dialoge richtig machen, dann kann man nicht nur Glaubwürdigkeit bei wichtigen Stakeholdern erreichen, sondern aus dem Dialog auch für andere Unternehmensfunktionen Wert schöpfen. Dialoge reichen heute nicht mehr aus. Erfolgreiche Unternehmenskommunikation redet nicht nur mit Stakeholdern, sondern handelt gemeinsam mit ihnen.
Vor allem müssen wir uns zunächst die Fragen stellen, die so viele Kommunikationschefs umtreiben: Wie bekomme ich die Stakeholder an meinen Tisch, die mir bei der Gestaltung meiner Verantwortung auch wirklich helfen können? Warum sind oft sogar diejenigen Nichtregierungsorganisationen so effektiv mit ihrer Kritik, die selbst so mancher Kritik nicht standhalten würden? Und: Wie werde ich mit meinen gesellschaftlichen Anliegen und Projekten so glaubwürdig wahrgenommen wie die NGOs? Vor allem aber: Wie kann ich die Zusammenarbeit mit diesen Organisationen so gestalten, dass ich handfeste wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile davon habe?
Die Währung Glaubwürdigkeit
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Die Währung Glaubwürdigkeit Es ist wahr: NGOs fällt es meist leichter als Unternehmen, mit ihren Positionen gesellschaftliche Akzeptanz zu finden – selbst wenn die Positionen identisch sind. Die Berufsstakeholder brauchen keine demokratische Legitimität im Sinne einer formalen Absicherung durch Wahlen, sie haben etwas viel Besseres: Sie sind in die Glaubwürdigkeitslücken vorgestoßen, die durch den Vertrauensverlust von Unternehmen und Politik entstanden sind. NGOs befinden sich permanent auf einer Glaubwürdigkeitsmission. Oft ist der Auswahlprozess bis zur Spitze sogar erheblich weniger hart als in Unternehmen. Aber sie können mit diesen Widersprüchen leben, werden als legitim wahrgenommen, weil oft schon die Kritikmission selbst und das angenommene Fehlen finanzieller Interessen ausreichen, um in den Augen der meisten glaubwürdig zu sein.
Weiße Schafe, schwarze Schafe ... hybride Schafe Die NGO-Szenen werden zunehmend unübersichtlich, und es wird schwieriger für CSR-Manager, die inhaltliche Kompetenz und strategische Sprechfähigkeit der vielen Akteure einzuschätzen. Manche der großen und viele neuere kleine Organisationen sind nicht (mehr) nur Sprachrohre einer kritischen Öffentlichkeit, sondern haben veritable geschäftliche Eigeninteressen. Solche ‚hybride NGOs’ nutzen etwa ihre Mitglieder, um in der Fußgängerzone Geld für unternehmenskritische Kampagnen zu sammeln, bieten denselben Unternehmen dann aber teuer Nachhaltigkeitsberichte an. Oder sie definieren mit aller Macht Standards für nachhaltige Investitionen und verdienen dann nicht nur mit der Bewertung von Unternehmen Geld, sondern auch noch mit der Beratung und sogar dem Asset Management selbst. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. NGOs fragen oft zu Recht nach den ‚Chinese Walls’, wenn sie bei einer Veranstaltung als kritische Ratgeber für Unternehmen auftreten, dann aber in der PR als legitimierend vereinnahmt werden. Unternehmen müssen lernen, diese Frage auch umgekehrt zu stellen, und auf hybride NGOs Druck ausüben, ihrerseits Kritik und Finanzierungsinteresse nicht miteinander zu vermischen.
Unser Leiter der Unternehmenskommunikation hat also teilweise Recht: Manche mögen diese Glaubwürdigkeit nicht verdienen (siehe Abbild 35). Aber der realistische Schlüssel für Unternehmen, zu einem selbstbewussten und durchsetzungsstarken Partner gesellschaftlicher Gruppen zu wer-
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den, liegt gleichfalls nicht in der Legitimation durch Mitsprache, sondern darin, Glaubwürdigkeit zu gewinnen und Vertrauen zu erwerben. Stakeholderdialoge können und sollen keine demokratische Legitimität verleihen. Wer auf diesem Weg danach sucht, wird enttäuscht. Stakeholder aber durch Kommunikation am Unternehmen und seinen Entscheidungen zu beteiligen, kann Glaubwürdigkeit schaffen. Wie wir in den vorangegangenen Kapiteln (siehe besonders Kapitel 1) gezeigt haben, bedeutet solche Beteiligung mehr als folgenloses Reden. Sie bedeutet, • • • • •
eine offene und relevante Frage zu stellen, keine Beteiligten willkürlich auszuschließen, für professionelle Prozesssteuerung und Moderation zu sorgen, das Ergebnis des Dialogs auf transparente Weise in ein Entscheidungsverfahren einfließen zu lassen, und möglichst gemeinsam die erarbeiteten Ergebnisse umzusetzen.
Unternehmen haben zwar nebenbei Geld zu verdienen und die Kommunikation jenseits vom Produktmarketing mag für viele noch Neuland ohne besondere Priorität sein – dennoch: Ein glaubwürdig kommunizierendes Unternehmen kann aus seiner Stakeholderkommunikation mehr machen als eine Pflichtübung. Wer Vertrauen aufbaut und erhält, hat es leichter, Verbündete zu finden und sich in Diskussionen gegen Institutionen durchzusetzen, die über weniger Vertrauen verfügen. Wie in der Einleitung beschrieben, wirkt Vertrauen in eine Organisation wie ein permanenter sozialer Investitionskredit. Wer über diesen Kredit verfügt, kann in die Lösung unternehmerisch-gesellschaftlicher Probleme investieren oder in Krisensituationen auf den aufgebauten Goodwill zurückgreifen. Ein Stakeholderdialog ist seinerseits glaubwürdiger, wenn das Verfahren in einem Unternehmen schon eine gewisse Tradition besitzt und nicht erst als Notnagel einer singulären Krisensituation herhalten muss. Wie beim folgenden Vorgehen beschrieben, können Stakeholderdialoge einen wichtigen Beitrag zu Krisenprophylaxe, Produktkommunikation und Trendermittlung leisten sowie die politische Durchsetzungskraft stärken.
Reden ist Silber: Was beim Dialog zu beachten ist
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Warum Stakeholderdialoge für Unternehmen wichtig sind Werttreiber Glaubwürdigkeit Goodwill gewinnen, Unternehmenswerte und -kultur leben, vor Imageschaden schützen, High Potentials anziehen und halten, den Stolz der Mitarbeiter auf ihr Unternehmen steigern. Ansprüche der Märkte Neuen Standards in Kapitalmärkten wie dem Konzernlagebericht §315 HGB entsprechen, auf erweiterte Anlagestrategien und Ratings eingehen, Ansprüchen von Versicherern und Rückversicherern entgegenkommen. Druck der Regulierer und Stakeholder ISO Normen und europäische Empfehlungen zu CSR einbetten, neue Erwartungen der Kunden erfüllen, neue CSR-Kriterien der Stiftung Warentest annehmen, mit aktiven Stakeholdergruppen (z.B. Umweltverbänden, Verbraucherverbänden, Menschenrechts-NGOs) umgehen. Industrietrends In CSR- und Nachhaltigkeits-Rankings sowie bei gegenseitigen Bewertungen von Unternehmen zur Nachhaltigkeitsorientierung gut dastehen, selbst neue Branchenstandards entwickeln, bevor andere es tun, dem Ethik-Trend in den Vorstandsetagen folgen.
Reden ist Silber: Was beim Dialog zu beachten ist Bevor zum Dialog eingeladen wird, müssen zunächst die Hausaufgaben gemacht werden. Oft werden diese jedoch nur unvollständig erledigt, und eine Dialogveranstaltung mit der Maxime begonnen, man selber wolle ja nur zuhören. Wer jedoch nur zuhören will, hat die Natur eines Dialogs nicht verstanden. Um die anspruchsvollen Bedingungen der Beteiligung zu erfüllen, muss die Vorbereitung des Dialogs mit externen Stakeholdern weit vor der Einladung der Beteiligten beginnen. Und es ist keineswegs so, dass am Ende eines Vorbereitungsprozesses immer genau das stehen muss, was man sich am Anfang vorgenommen hat. Oft müssen die Formate den Zielen ange-
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passt werden. Aus der Erfahrung mit zahlreichen Unternehmen und ihren jeweiligen Stakeholdern haben sich fünf Schritte bewährt, mit denen die optimalen Antworten auf die individuellen Herausforderungen gefunden werden können. Diese Schritte können nicht nur auf Unternehmen, sondern auch auf die öffentliche Verwaltung und auf zivilgesellschaftliche Organisationen übertragen werden. 1. Schritt: Integrative Zieldefinition Viel Zeit und Geld wird in Kommunikationsabteilungen für Aktivitäten aufgewendet, die in keinem demonstrierbaren Zusammenhang mit aktuellen und langfristigen Anliegen operativer Abteilungen stehen. Aus den Bedingungen für Beteiligung wird bereits deutlich, warum solche Aktivitäten in aller Regel wirkungslos aufgewandte Ressourcen bedeuten: Wenn es kein ernsthaftes und relevantes Anliegen für die Kommunikation gibt, kann auch keine offene Frage gestellt werden, deren gemeinsame Antwort Aussicht auf Umsetzung hat. Im besten Fall ist die Beteiligung dann überflüssig, im schlechtesten Fall wird sie die Beteiligten verärgern und von zukünftiger Zusammenarbeit abschrecken. Zu Beginn eines erfolgreichen Dialogs steht daher die Definition von unternehmerischen Zielen, aus denen dann Dialogziele abgeleitet werden können. Drei Beispiele: 1. Krisenprophylaxe ist ein Bereich, in dem viele Unternehmen mit Nachbarschaftsforen messbare Fortschritte bei der Vorbeugung und Begrenzung von Imageschäden und juristischen Verfahren gemacht haben. Ein Chemieunternehmen wollte den Schaden minimieren, der aus Unfällen entsteht. Daraus wurde ein klares Ziel für die Kommunikation mit Anwohnern formuliert. Nach einigen Jahren professionell moderierter Nachbarschaftsforen entsprechend den IFOK-Kriterien für Beteiligung stieg das Vertrauen in die Krisenpolitik des Unternehmens. Ressourcen aus der Nachbarschaft wurden in die Krisenreaktionspläne eingebunden, eine gemeinsame Problemlösung kam voran. Die höhere politische Glaubwürdigkeit vor Ort macht es dem Unternehmen heute auch leichter, die kommunalpolitischen und genehmigungsrechtlichen Verhandlungen zu neuen Investitionsvorhaben zu verkürzen.
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2. Produktkommunikation kann ebenfalls vom Wissen um die Erwartungen der Stakeholder profitieren, etwa um Schwierigkeiten bei Produkteinführungen vorzubeugen. Procter & Gamble verlor Millionen, als deutsche Umwelt- und Verbrauchergruppen gegen ein neuartiges Waschhilfsmittel mobil machten. Trotz wissenschaftlicher Widerlegung der KritikerArgumente hatte ein gutes Produkt zum falschen Zeitpunkt mit der falschen Positionierung keine Chance – weil Stakeholder es nicht wollten. Das Unternehmen lernte zwei Lektionen: Erstens, Wissen über Produktinnovation kann wertlos sein, wenn es nicht mit der interessierten Öffentlichkeit und Behörden geteilt wird. Zweitens, die Stakeholder Communities haben großen Einfluss auf Politik und Marktgeschehen und müssen deshalb bei der Planung und Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Nie wieder wollte Procter & Gamble von Kritik an Produktinnovationen zuerst aus dem Fernsehen erfahren. Ein glaubwürdiger Zugang zu diesen Stakeholdern war aber nicht einfach: Erst eine strategische Initiative der Geschäftsleitung, unterstützt durch professionelle Beratung und Mediation, machte die neu eingeführten Stakeholderdialoge zu einem wirksamen Instrument der Früherkennung von Konflikten. Heute ist das respektvolle Verhältnis, das Procter & Gamble mit seinen einstigen Kritikern hat, einer der wichtigsten Wettbewerbsvorteile. 3. Trendermittlung ist eine dritte Unternehmensfunktion, die von einem professionell moderierten Austausch mit externen Stakeholdern profitieren kann. Ein namhaftes Pharmaunternehmen bringt seit einigen Jahren Experten in einem "Foresightkreis" zusammen, um für das Unternehmen wichtige Trends frühzeitig zu erkennen. Kaum eine Branche ist so stark von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen beeinflusst wie die Arzneimittelbranche. Welche Krankheiten werden in den nächsten Jahren besonders stark zunehmen? Wie sieht die institutionelle Zukunft der EU-Regulierung aus? Wie wird sich die Preispolitik im Arzneimittelmarkt entwickeln? Mit den Experten aus verschiedensten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen werden Szenarien entwickelt, die dann als Grundlage für Produktentwicklungen genutzt werden.
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Ein internationales Chemieunternehmen geht noch weiter: Hier wurde kürzlich die strategische Planung in der Konzernzentrale um eine neue Kernfunktion erweitert, um die Frage beantworten zu können, wie die verteilt in den unzähligen Fachszenen vorhandenen Hinweise auf bevorstehende Innovationen gesammelt und ausgewertet werden können. Die Planungsabteilung hat gelernt: Innovationsfelder zu erkennen, bevor sie auf dem Radar der Konkurrenz auftauchen, ist nicht in erster Linie eine analytische, sondern eine kommunikative Herausforderung. Inzwischen lassen die Strategen die wichtigsten Think Tanks moderiert unter sich die wichtigsten Trends ausdiskutieren und sparen sich so auch den enormen Aufwand der Aggregation und Priorisierung der vielen Informationen.
2. Schritt: Klassifikation relevanter Stakeholder Aber wie findet man heraus, wer eingeladen werden soll? Wie aus den unübersichtlichen Geflechten von Experten und Meinungsmachern die wenigen Stimmen herausfiltern, denen zuzuhören es sich lohnt? Wer sind denn eigentlich diese ominösen Stakeholder? Stakeholder sind Anspruchsgruppen, und davon gibt es viele. Der Begriff ist nur sinnvoll im Zusammenhang. Es hängt vom Ziel ab, das im ersten Schritt definiert wurde, ob bestimmte Kundengruppen, Zulieferer, Kritiker, Regulierer, Nachbarn oder Mitarbeiter Stakeholder in einem gegebenen Zusammenhang sind. Das Wissen darüber, wer und wo diese Stakeholder sind, ist genauso in der Gesellschaft verteilt wie die Stakeholder selbst. Wenn ein Kommunikationschef sagt, er oder sie habe eine Liste aller seiner Stakeholder in der Schublade, irrt er sich wahrscheinlich. Nur mit großem Aufwand kann man ständig darüber auf dem Laufenden sein, wer sich gerade in welcher Rolle mit welchem Thema beschäftigt. Die Stakeholder zu identifizieren ist oft nicht so einfach. In vielen Bereichen kommen zum Orientierungsproblem noch zwei neue Schwierigkeiten hinzu. Erstens können sich viele Stakeholder vor Dialogangeboten oft kaum noch retten. Manche Experten aus der Forschung könnten ihren gesamten Kalender damit füllen, mit Unternehmen zu plaudern. Umsonst geht da nichts mehr. Aber auch die Bürger auf der Straße reißt das Angebot zum Gespräch nicht mehr vom Hocker. Überall möchte jemand ihre Meinung hören. Vielleicht waren es die Feedbackbögen mit Gewinnspiel, mit denen professionell Adressen für Infopost gesammelt werden, vielleicht aber auch die Nachbarschaftsdialoge, bei denen das vom Unterneh-
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men bezahlte Regionalfernsehen vorbeikommt – potenzielle Stakeholder sind skeptischer, ja manchmal sogar zynisch gegenüber professionalisierter Kommunikation geworden.
Akteursmappings – Landkarten für die Navigation der Szenen Akteursmappings bestehen aus einer kriteriengeleiteten Analyse relevanter Personen oder Gruppierungen zu einem Thema sowie aus einer visuellen Aufbereitung. So können Entscheider schnell einen Überblick über die wichtigen Akteure und ihr Verhältnis zum Unternehmen oder zum Problem gewinnen, um Entscheidungen über das Verhalten gegenüber diesen Gruppierungen zu treffen. So könnte ein Unternehmen seine primären Stakeholder über die folgenden Merkmale in einem Akteursmapping identifizieren: Macht- und Einflusspotenziale (Mitglieder, Budget, Pressepräsenz, Prominente) Inhaltliche Kompetenz (anerkannte Experten oder Gutachter) Kooperationsfähigkeit (strategische Bindungen, Erfahrungen)
Zweitens verfolgen gerade viele NGOs zunehmend finanzielle Eigeninteressen, sei es in Gestalt von Beratungshonoraren oder Teilfinanzierung in Public Private Partnerships. In der Grauzone befinden sich Organisationen, die sowohl kritisieren als auch – gut bezahlt – beraten. Jenseits dieser Grauzone gibt es sogar Organisationen, die nur kritisieren, um zu beraten, die kritisieren, wenn sie nicht beratend zum Zuge kommen, oder die nicht kritisieren, solange sie beraten. Vor einigen Jahren beauftragte uns deshalb ein großes Versicherungsunternehmen mit einem aufwändigen Akteursmapping deutscher NGOs unter der Leitfrage: Mit wem können wir eigentlich langfristig zusammenarbeiten? Die Lösung für das Problem liegt bei den Stakeholdern selbst. In themenorientierten Auswahlverfahren können sie diejenigen empfehlen, die für das jeweilige Unternehmensziel wichtig sind. Wie eine Landkarte, die nicht grob aus dem All aufgenommen wird, sondern von ortskundigen Entdeckerteams auf dem Boden mit Blick fürs Detail gezeichnet wird. Solche „Mappings“, erstellt auf der Grundlage von Telefoninterviews, Kurzworkshops und Szenekenntnis, haben sich für viele Kunden als wichtiges
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Hilfsmittel bei der Bewältigung der Komplexität gesellschaftlicher Akteursnetzwerke bewährt. 3. Schritt: Einbeziehung der betroffenen Abteilungen Ein häufig übersehener Erfolgsfaktor für Stakeholderkommunikation besteht darin, nicht nur im Unternehmensumfeld die richtigen Beteiligten auszuwählen, sondern auch im Unternehmen selbst. Gerade in großen Unternehmen gibt es für praktisch jedes Thema auch interne Stakeholder, die – wenn sie nicht einbezogen werden – schnell zu Gegnern werden. Das gilt insbesondere dort, wo die externe Kommunikation weit von den operativen Unternehmensteilen entfernt ist. In einem Automobilkonzern haben wir erlebt, dass eine auf Nachhaltigkeitskommunikation konzentrierte Stabsabteilung immer wieder gezielt prominente Kritiker einlud, um ihre eigene Agenda im Vorstand voranzubringen. Wenn externe Kommunikation nicht von allen betroffenen Unternehmensteilen gemeinsam betrieben wird, werden Stakeholder oft als Mittel interner Grabenkämpfe missbraucht. „Schau mal, wer alles hinter mir steht“, heißt es dann regelmäßig. 4. Schritt: Bereitstellung von Information und Schaffung von Transparenz Wenn geklärt ist, warum sich wer miteinander an den Tisch setzt, muss für Gesprächsstoff gesorgt werden. Wer einmal hinter den Kulissen eine Aktionärshauptversammlung miterlebt hat, weiß, dass ordentlich aufbereitete Informationen alles sind. Genau wie Aktionäre merken auch Nachbarn und Experten, wenn sie nur häppchenweise und unehrlich abgespeist werden. Als es ihn noch gab, hat der Chemiekonzern Hoechst auf Störfälle regelmäßig zu spät, zu wenig und oft auch noch falsch kommuniziert. Die Umweltberichte malten ein rosiges Bild, während die Anwohner pulvrige gelbe Regenablagerungen in ihren Gärten hatten. Hätte Hoechst für die nötige Transparenz gesorgt und die Nachbarn regelmäßig mit Veranstaltungen und Postwurfsendungen über die Maßnahmen zum Risikomanagement informiert, dann hätten es die Verantwortlichen leichter gehabt, Ausmaß und Auswirkungen der Störfälle glaubhaft zu erklären. Transparente Berichterstattung wirkt nach Innen und nach Außen. Nach Innen stellt sie die Informationen bereit, die jedes Unternehmen ohnehin
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braucht, um auf kritische Fragen reagieren zu können. Nach Außen sorgt sie für mehr Vertrauen und konstruktive Fragen.
Kreative Formate für Stakeholderveranstaltungen Zukunftswerkstatt Rhein-Neckar Unternehmen im Rhein-Neckar-Dreieck suchten die Unterstützung von Bürgern und organisierten Gruppen in der Region, um Projekte in den Bereichen Wirtschaftsförderung, Kultur, Internationalität, Bürokratieabbau und vielen anderen umzusetzen. In den Fußgängerzonen beteiligten sich gleichzeitig Tausende Bürger an den politischen Forderungen und brachten ihre Ideen für die Projekte ein. Schreiben eines Zukunftsberichts Die Unternehmen der Zeitarbeitsbranche litten unter einem schlechten Image, das auch ihren Einfluss auf die Reformen des Arbeitsmarkts einschränkte. Gemeinsam mit Kritikern entwarfen sie statt eines Berichts über vergangene Aktivitäten einen Zukunftsbericht, in dem sie eine anspruchsvolle Vision über die Zeitarbeit im modernen Arbeitsmarkt aufzeigten. Mit diesem Konsens lässt sich verhandeln. Innovationsspiel Jugend denkt Zukunft Bereits über 200 Unternehmen veranstalten im Rahmen der bundesweit größten Schule-Wirtschaft-Kooperation jeweils an Partnerschulen Innovationsspiele, bei denen es sowohl darum geht, Jugendliche für Berufsfelder in Unternehmen zu begeistern, als auch das Denken der Verbraucher und Stakeholder von Morgen besser zu verstehen. Unter den zahlreichen inzwischen umgesetzten Innovationskonzepten der Jugendlichen war beispielsweise eine neuartige Volksbankfiliale für die Bedürfnisse der neuen Generation.
5. Schritt: Auswahl und Anpassung des Formats A propos Fragen – wie im ersten Kapitel ausgeführt, beginnt jede Form der Beteiligung mit einer Frage, deren Antwort nicht bereits vorgegeben ist. Stakeholderdialoge machen dabei keine Ausnahme. Die Definition einer sinnvollen Frage ist nicht trivial, immerhin steckt sie den Ergebnisraum für das Gespräch ab. Am besten sind Fragen, die bereits direkt auf mögliche Vereinbarungen abzielen, zum Beispiel. „Was kann das Unternehmen tun, um die Kinderbetreuungssituation in der Region zu verbessern?“.
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Dass die Fragestellung für den Wert des Dialogs entscheidend sein kann, hat auch die BASF vor einigen Jahren in ihren Nachbarschaftsdialogen herausgefunden. Als die Fragen in den bereits lang etablierten Veranstaltungen auf das weitere Lebensumfeld geöffnet wurden, stellte sich heraus, dass die Anwohner nicht die Emissionen, sondern vielmehr den Fabrik- und Verkehrslärm als die Hauptbelastung empfanden. Niemand in der Konzernkommunikation hatte sich vorher auf dieses Feld konzentriert. Wenn wir uns das Eingangsbild der etwas missglückten Dialogveranstaltung in Erinnerung rufen und uns ein Unternehmen vorstellen, das alle vier vorangegangenen Schritte gewissenhaft erledigt hat – dann bleibt immer noch die Möglichkeit einer recht langweiligen Veranstaltung. Dabei finden sich zuhauf Beispiele für kreative Formate.
Umsetzen ist Gold: Vom konsistenten Handeln Professionell vorbereitete und zielgerichtete Stakeholderkommunikation kann also nicht nur mehr Akzeptanz erreichen. Der Dialog kann auch wichtige Unternehmensfunktionen wie die Produktkommunikation oder die Trendermittlung unterstützen. Eines ist aber auch klar: Stakeholderdialoge reißen heute niemanden mehr vom Hocker. Es ist heute keine Sensation, wenn man mit seinen Kritikern redet, und Vorstandsbeschlüsse wie in den Achtzigern, Prominente wie Ernst-Ulrich von Weizsäcker als persona non grata zu behandeln, gehören auch in konservativen Unternehmen längst der Vergangenheit an. Die Zeit bleibt aber nicht stehen. Die Vielzahl an Dialogangeboten bringt es mit sich, dass gut beratene Unternehmen den nächsten Schritt gehen, um aus ihrer externen Kommunikation Wettbewerbsvorteile abzuleiten. Nachdem sich kluge Unternehmer von der Einbahnstraßenkommunikation hin zum echten Dialog geöffnet haben, müssen sie jetzt vom Reden zum Handeln kommen, von der Kommunikation zur Kooperation, vom Erklären zum Umsetzen von Unternehmensstrategien. Einige deutsche Energieversorger hatten sich bereits inmitten der Deregulierung Ende der neunziger Jahre ihren Stakeholdern nicht nur in Dialogen über die Energieversorgung gestellt. Auf der lokalen Ebene gingen sie in zahlreichen von IFOK organisierten sogenannten „Energie-Tische®“ den beschriebenen nächsten Schritt. Gemeinsam mit den Kunden hatten sie in diesen Foren die Idee der Energiepässe geboren. Durch die Regulierun-
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gen an einem breiten Einsatz gehindert, setzten sie gemeinsam mit den Kunden und Kommunen Pilotprojekte um. Mit diesen Projekten traten die beteiligten Unternehmen den Beweis an, dass sich die Energieeffizienz von Häusern so transparenter gestalten lässt. Heute, einige Jahre später, haben diese Projekte dazu beigetragen, dass viele Energieunternehmen nicht nur besser über die Bedürfnisse ihrer Kunden bescheid wissen, nicht nur engere Beziehungen zu Experten und Meinungsmachern pflegen, nicht nur in vielen Bereichen als umweltbewusste Innovatoren wahrgenommen werden, sondern dazu, dass die alte Idee der Energiepässe in Form von „Wärmepässen“ auch bundesweit vom Gesetzgeber umgesetzt wurde. Und wir sprechen hier von Energieversorgern – nicht gerade die typischen Gewinner von Popularitätswettbewerben. Vertrauen und Glaubwürdigkeit entstehen, wenn man gemeinsam Lösungen erarbeitet und umsetzt, also im anspruchsvollen Sinne beteiligt.
Der Königsweg: Corporate Social Responsibility Die „Energie-Tische®“ stehen beispielhaft für einen Trend. Unternehmen gehen zunehmend über reine Stakeholderkommunikation hinaus. Sie beziehen die Ergebnisse der Kommunikation in ihre unternehmerischen Entscheidungen ein, ja sie stellen sogar ihr ganzes Unternehmertum in einen weiteren gesellschaftlichen Zusammenhang – und sprechen dabei von ihrer Corporate Social Responsibility. Hinter dem Modebegriff der Corporate Social Responsibility, oder kurz CSR, verbergen sich viele verschiedene Konzepte von „Corporate Citizenship“ bis „Corporate Sustainability“, und auch viele Vorurteile. „Nur ein weiteres amerikanisches Management-Label“, denken die Einen. „Nur eine kommerzielle Beratermasche“, denken Andere. Dementsprechend gibt es auch die typischen Abwehrreflexe: „Solange wir nicht kritisiert werden, brauchen wir auch kein CSR.“, heißt es dann, oder: „Das interessiert doch nur Großkonzerne und Rating-Agenturen.“ In der Beratungspraxis für Unternehmen vieler verschiedener Größenordnungen und Branchen zeigt sich eines deutlich: CSR greift einen Bedarf auf, der für viele Unternehmer zunehmend wichtig geworden ist. Um dauerhaft erfolgreich zu sein, müssen sich Unternehmen zunehmend mit gesellschaftlichen Veränderungen auseinandersetzen, die ihr Regulierungsund Wettbewerbsumfeld meist langfristig, oft aber auch kurzfristig verän-
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dern. Wer über den reaktiven Dialog mit Stakeholdern hinaus ein solches Umfeld aktiv gestalten kann, schafft sich Wettbewerbsvorteile. CSR entdeckt die Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels aus einer neuen Perspektive – der Perspektive der Wirtschaft. Für Unternehmer geht es um die gleichen Problemlagen und Lösungsstrategien wie für diejenigen, die wir in diesem Buch bereits ausführlich beschrieben haben. Aber er muss Beteiligungsverfahren und den Einfluss von Stakeholdern auf die eigenen Entscheidungen anders begründen als es ein Politiker oder Stiftungs-Geschäftsführer tun muss. Erfolgreiche CSR-Strategien haben etwas gemeinsam: Es gelingt ihnen, Lösungen sowohl aus der Perspektive des Unternehmens als auch aus der Perspektive der Gesellschaft überzeugend zu formulieren. Sie können die unternehmensinternen Entscheider mit einem „Business Case“, also einer Wirkung auf den Geschäftserfolg überzeugen. Und sie können den gesellschaftlichen Stakeholdern einen klaren Beitrag zur Lösung eines Problems zeigen. Diese Übersetzungsaufgabe ist ein Spagat. Und einen Spagat schafft man besser nicht auf Anhieb, sondern indem man die beteiligten Muskeln Schritt für Schritt an die neue Haltung gewöhnt. Die „natürlichen Themen“ finden Zuerst gilt es, die Spielfelder zu finden, die für das Unternehmen wichtig sind oder werden. Das ist deshalb eine besondere Herausforderung, weil die Themen und Trends, die hier wirken, jenseits der traditionellen Kernkompetenzen in der Wertschöpfungskette liegen. Auch eine FastfoodKette, die von Zulieferern über Produktion bis Marketing alles im Griff hat, muss sich damit auseinander setzen, dass ein gesellschaftlicher Realitäts- und Wahrnehmungswandel im Hinblick auf Fettleibigkeit massiv das Geschäft beeinflussen kann. Und oft sind die Zusammenhänge weniger offensichtlich: Ein Klebstoffhersteller musste reagieren, nachdem bekannt wurde, dass sein Klebstoff in lateinamerikanischen Vorstädten von Jugendlichen als Droge geschnüffelt wurde. In beiden Beispielen liegt das Spielfeld für CSR jenseits der unmittelbaren Geschäftstätigkeit und auch jenseits traditioneller Lobbying- oder PRStrategien, also außerhalb der „Komfortzone“ des Unternehmens. Dennoch sind die Themen vorhersehbar. Sie sind „natürliche Themen“, die an der Schnittstelle der spezifischen unternehmerischen und der breiteren gesellschaftlichen Verantwortung liegen. In anderen Worten: Natürliche Themen
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liegen dort, wo gesellschaftliche Folgen der Geschäftstätigkeit liegen. Und dort, wo im gesellschaftlichen Wandel unternehmerische Chancen stecken. CSR-Strategien, die sich außerhalb der natürlichen Themen bewegen, bleiben unternehmerisch bedeutungslos und höchstens schöne ImageProjekte.
Einige Branchenbeispiele für natürliche Themen Informationstechnologien: Gesundheitsschäden, Vereinsamung, Verschuldung, Sicherheit, Strahlungsschäden, Recycling. Textil: Kinderarbeit, Rohstoffverbrauch, Gesundheitsverträglichkeit, Umweltbelastung. Tourismus: Umweltschutz, Weltkulturerbe, Armutsbekämpfung, Fremdenfeindlichkeit, Arbeitsstandards. Versicherungen: Unfallopfer, Klimawandel, Gesundheitsvorsorge, Korruptionsbekämpfung.
Den Business Case formulieren Oft gelten für CSR-Projekte eher die Messlatten des Leiters der Kommunikationsabteilung als die des Vorstandsvorsitzenden. Mag sein, dass dies der Grund dafür ist, dass sich Sport- und Kultursponsoring unter den am häufigsten in entsprechenden Berichten angepriesenen CSR-Maßnahmen finden – immerhin bringen sie dicke Pressespiegel und ZielgruppenEvents. Mit den natürlichen Themen, in denen der unternehmerische Wert liegt, haben sie selten zu tun. Gutes CSR-Management lässt sich auf den genannten Spagat ein und demonstriert den Wert einer Maßnahme in mehreren Sprachen und mit verschiedenen Erfolgsindikatoren. Für die externen Stakeholder in einem natürlichen Thema wird der Wert im Hinblick auf den Lösungsbeitrag zum gesellschaftlichen Problem formuliert, seien es Menschenrechte, Arbeitsstandards oder Korruption. Ein solcher Projektplan überzeugt außerhalb des CSR-Stabs allerdings kaum jemanden im Unternehmen. Deshalb muss auch der Business Case formuliert werden, und zwar mit geschäftsrelevanten Wirkungen.
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Beispiele für die Übersetzungsaufgabe CSR-Management Natürliches Thema: Menschenrechte Business Case: Erhalt der License to Operate, Kommunikationsbudgets, Streiktage, Gerichtskosten. Natürliches Thema: Unternehmenswerte Business Case: Brand Equity, Produktbewertungen, Bewerberzahlen und – qualifikation, Kündigungen, Krankenstand.
Die Problempartner beteiligen Anders als bei Geschäften innerhalb der „Komfortzone“ sind Unternehmen in CSR-Projekten nicht in erster Linie mit anderen Unternehmen, sondern mit Partnern aus der Öffentlichen Hand und der Zivilgesellschaft konfrontiert. Kooperationen über diese Sektorengrenzen hinweg sind für die meisten Unternehmer eine ungewohnte Erfahrung, denn nicht nur das Vokabular ist, wie oben beschrieben, anders. Viel fundamentaler sind die unterschiedlichen Vorstellungen von den zwei wichtigsten Dingen, über die sich Partner einig sein sollten: Das Ziel und die Zeit bis zum Ziel. Für den Unternehmer ist die Währung klar, mit dem er die Zielerreichung misst. Für einen gewählten Politiker ist diese Währung nicht der geschäftliche Erfolg des Unternehmens, sondern zum Beispiel die Größe der Öffentlichkeit, die er erreicht. Eine erfolgreiche Partnerschaft gibt jedem das, was er am dringendsten braucht, um die Investition zu rechtfertigen. Beim Thema CSR ist es aber schwieriger, jedenfalls in Deutschland. Allein die Tatsache, dass ein Unternehmen mit einem gesellschaftlichen Engagement einen geschäftlichen Vorteil erreicht, reicht oft, um das Projekt in den Augen einer kritischen Öffentlichkeit zu diskreditieren. Das ist aber kein Grund, ein lohnendes gesellschaftliches Kooperationsprojekt einzustellen – denn damit misst man CSR allein an den Maßstäben der Kommunikationsabteilung. Jeder möchte geliebt werden. Richtig verstandenes CSR macht sich davon aber nicht abhängig, sondern trägt dazu bei, die Rahmenbedingungen der Geschäftstätigkeit zu verbessern, indem das Unternehmen einen aktiven Beitrag zur Bewältigung eines gesellschaftlichen Problems leistet. Wer das schafft, braucht vielleicht manchmal einen langen Atem und ein dickes Fell in einer Partnerschaft, gewinnt letztlich aber – in jeder Währung.
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Die Komfortzone ausweiten Die Investition in CSR lohnt sich. 56 Prozent der von der Bertelsmann Stiftung in einem von IFOK unterstützten Projekt befragten Manager gesellschaftlich aktiver Unternehmen erwarten steigende Gewinne – gegenüber nur 42 Prozent bei den nicht aktiven Unternehmen. Die Börsenkurse der vierzig Unternehmen, die im Dow Jones Sustainability Index verzeichnet sind, liegen ein Viertel über den Entwicklungen der nicht dort notierten Unternehmen. Dieser Index fragt zahlreiche CSR-Aktivitäten ab. Aber diese Zahlen bilden nicht die Einzelerfolge von Unternehmen ab, die durch CSR-Strategien teils enorm gewonnen haben: Die BASF, die durch das Engagement in der Heimatregion eine neue politische Steuerung des Rhein-Neckar-Dreiecks erreicht hat und so die Rahmenbedingungen für die Gewinnung von Fach- und Führungskräften verbessert. Oder die Allianz, die mit der Gründung der rehacare GmbH sowohl Unfallopfern zu besserer Rehabilitation verhilft als auch sich selbst zu geringeren Kosten. Oder die Telekom, die mit „Schulen ans Netz“ genauso sich selbst wie den finanziell klammen Kultusministerien half. Vom einzelnen erfolgreichen CSR-Projekt bis zu einem Unternehmen, das systematisch nach der Verbindung des eigenen Erfolgs und des gesellschaftlichen Mehrwerts sucht, ist es ein weiter Weg. Ein Weg, bei dem sich Unternehmen selbst auf eine neue Weise betrachten müssen, und zwar auch aus der Perspektive derer, deren Mitarbeit sie suchen, um ihre unternehmerischen Zukunftsherausforderungen zu bewältigen. Tun sie das nicht, laufen sie Gefahr, sich wie ein Elefant im Porzellanladen zu benehmen.
Der Elefant hinter dem Feigenblatt Um in diesem Bild zu bleiben, gibt es noch eine letzte Herausforderung, die möglicherweise für die meisten der Schwierigkeiten von Unternehmen mit ihren Stakeholdern verantwortlich ist. Unternehmen kommunizieren nicht nur mithilfe ihrer bewussten Stakeholderkommunikation, nicht nur mit ihrer Produktwerbung und den PR-Abteilungen. Im Umfeld werden sie mit dem ganzen Spektrum ihrer Geschäftstätigkeit wahrgenommen. Wer die Lektionen der Stakeholderkommunikation nicht auf diese Wahrnehmungsbereiche ausdehnt, dessen Kommunikation gleicht dem Versuch, einen Elefanten hinter einem Feigenblatt zu verstecken.
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Vom Stakeholdermanagement zu CSR: Glaubwürdig kommunizieren
Stellen wir uns eine große Bank vor. Diese Bank engagiert sich in der Kunstförderung, und ihr Logo ist auf Golfturnieren und anderen Veranstaltungen mit vielen potenziellen Privatkunden zu sehen. Sie umwirbt die Eliten, wirbt mit Leistung und die Arme ihrer Vorstände reichen tief in die Wirtschaft hinein. So weit, so gut, aber diese Bank hat ein Problem. Ihre strategisch auf Wohlhabende ausgerichtete Unternehmenskommunikation mag gewissenhaft und kreativ den Dialog mit einer bestimmten Gruppe von Stakeholdern betreiben – aber sie deckt nur einen winzigen Teil der Aktivitäten ab, mit denen sie kommuniziert. Mit ihren Filialen ist sie in jeder Kleinstadt präsent. Wer nicht Kunde ist, kennt jemanden, der es ist. Wer niemanden kennt, kennt die Bilder der Vorstandsvorsitzenden, aus deren Statements und Handzeichen die Arroganz der Macht spricht. Diese Bank kommuniziert für viele Bürger vor allem dies: Euch Fußvolk brauchen wir nicht. Die Konsequenz ist klar: Diese Bank wird Empörung auslösen, sie wird auf Widerstand und Unverständnis stoßen, wo sie das Verständnis und die Mitarbeit derjenigen braucht, die sie entfremdet hat. Im Porzellanladen der öffentlichen Meinung und der politischen Unterstützung wird man so auch in Bezug auf andere Anliegen weniger Unterstützung erhalten. Unternehmer stehen vor einer Vielzahl von Herausforderungen in ihrem Umfeld. Die Verantwortungszuweisungen haben sich verschoben, und sie werden von einer unübersichtlichen Landschaft von NGOs für immer mehr problematische Entwicklungen mitverantwortlich gemacht. Die meisten wollen und fast alle müssen sich auf die Entdeckungsreise der Stakeholderdialoge einlassen – aber viele machen ernüchternde Erfahrungen. Unternehmen kommunizieren mit mehr als ihrer Unternehmenskommunikation. Sie kommunizieren mit dem, was sie sind. Mit ihren Produkten, an ihren Standorten, über ihre Mitarbeiter. Stakeholderdialoge allein sind nicht genug. Wie aber kann diese Menge von unkontrollierter und unkontrollierbarer Kommunikation sinnvoll gesteuert werden? Die Antwort ist so einfach wie herausfordernd: Unternehmen müssen Kommunikation zu ihrer zweiten Natur machen, und zwar nicht nur im x-ten Stock der Konzernzentrale, sondern in jedem Aspekt ihrer Operationen. Dieses ‚Mainstreaming’ der Stakeholderkommunikation ist keine leichte Aufgabe, aber wenn es sich konsequent an den aufgezeigten Schritten orientiert, wird es von einer reaktiven Rolle als Ende einer Einbahnstraße von Stakeholderansprüchen hin zu einer Wahrnehmung des beteiligenden Unternehmens als eines glaubwürdigen Problemlösungspartners führen, dessen
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gesellschaftliche Handlungsspielräume dadurch erheblich ausgeweitet werden.
Mainstreaming: Bei den ‚natürlichen Themen’ anfangen Gesteuerte Stakeholderkommunikation ist an allen Ecken und Enden des Unternehmens angesagt. Aber sie kostet nicht nur Geld, sondern oft auch die knappe Ressource der Aufmerksamkeit des Top-Managements. Wo also beginnen? Die ‚natürlichen Themen’ eines Unternehmens sind gesellschaftliche Problemfelder, an denen es durch seine Geschäftstätigkeit nicht vorbei kommt. Gas- und Stromunternehmen werden sich beispielsweise mit dem Problem Ressourcenknappheit beschäftigen müssen, und Telekommunikationsunternehmen können nicht dauerhaft die Verschuldung Jugendlicher ignorieren. Hier wird die rechtzeitige Beteiligung von Stakeholdern für einen Vorsprung sorgen, der sich auf jeden Fall auszahlt.
Erst eine Unternehmenskommunikation, die sich strategisch mit operativen Zielen verbindet, die natürliche Themen abdeckt und quer durch immer mehr Unternehmensbereiche echte Beteiligung praktiziert, wird auch die Wettbewerbsvorteile realisieren, die im Dialog stecken. Ein Unternehmen, das auf die gezeigte Weise vielschichtig beteiligt, hat sich auch das Recht verdient, selbst als glaubwürdiger Stakeholder gesellschaftliche Schlüsselentwicklungen mitzugestalten.
Foresight und Innovation: Zukunft denken – Heute gestalten
Das Wichtigste in Kürze Die moderne Innovationsforschung zeigt: Innovation entsteht an den Schnittstellen von unterschiedlichen Disziplinen, Technologien und Anwendungen. Sie findet dort die besten Bedingungen, wo mehr als die Addition von Einzelperspektiven stattfindet, wo durch Austausch Neues geschaffen wird. Wer Innovation fördern will, muss diesen kommunikativen Prozess organisieren. Zukünftige Entwicklungen und ihre Auswirkungen vorauszusehen ist eine Kernaufgabe von Entscheidern in allen Bereichen. Das Zukunftsschau- oder englisch ‚Foresight’-Instrumentarium kann durch Beteiligungsverfahren entscheidend verbessert werden. Mit solchen Verfahren können die Konsequenzen bekannter und neuer Trends präziser erkannt und Organisationen besser auf die Zukunft ausgerichtet werden. Am Beispiel eines der europaweit führenden Forschungsdialogs zeigt sich, wie die Politik durch Beteiligung Legitimation für die Neuausrichtung der Fördermittel auf Forschungsfelder mit besonderem Innovationspotenzial gewinnen kann. Ein Fallbeispiel aus der Industrie demonstriert dazu, wie die Einbeziehung von Dritten in die Zukunftsanalyse die Qualität der strategischen Information über die Zukunft zu einem Wettbewerbsvorteil machen kann.
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Foresight und Innovation: Zukunft denken – Heute gestalten
„Heute die richtigen Fragen stellen. Morgen die passenden Lösungen für wichtige Herausforderungen parat haben. Mit diesem Anspruch habe ich im Frühjahr 2001 den deutschen Forschungsdialog „Futur“ initiiert. Nur wenn wir unsere Zukunftschancen frühzeitig erkennen und nutzen, können wir auf die Herausforderungen von morgen optimal reagieren. Deshalb braucht Deutschland einen partizipativen Foresight-Prozess wie „Futur“.“ Edelgard Bulmahn Zur Person: Edelgard Bulmahn startete als damalige Bundesministerin für Bildung und Forschung im Jahr 2001 den „Futur“-Prozess und hat damit seitdem über zweitausend Bürger an der Bundesforschungspolitik beteiligt. „Durch den Blick in die Zukunft kann man in der Gegenwart viel verändern.“ Professor Dr. Heinz Riesenhuber Zur Person: Als einer von Ministerin Bulmahns Vorgängern verbindet er in seinem Nachdenken über Innovation seine Erfahrungen aus Politik und Wirtschaft. Er war schon vor der Gründung von IFOK von der Grundidee Beteiligung überzeugt und begleitet das Unternehmen seitdem mit seinem Rat.
Mehr Fragen als Sterne am Himmel „Siehe gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen?“ Die Prophezeiung Gottes an Abraham im Buch Genesis gilt für uns in Deutschland nicht. Wir werden kaum genug Kinder haben, um unsere Renten zu zahlen. Zwar haben wir in etwa so viele Studien darüber publiziert wie Sterne am Himmel stehen – aber es bleiben mindestens so viele offene Fragen. Der demographische Wandel ist der vielleicht am besten zahlenmäßig erfasste Zukunftstrend, den wir kennen. Wir kennen die Form der Alterspyramide in 20 Jahren, wir wissen, dass wir 180 Millionen Einwanderer bräuchten, um die Renten der heute Zwanzigjährigen zu bezahlen – jedenfalls, bis diese Einwanderer ebenfalls Renten beziehen. Dennoch ist vieles, was wir über diesen Wandel wissen, ebenso wertvoll wie der Spruch „Man wird ja auch nicht jünger.“ Denn was uns alle Extrapolationen nicht sagen können, das sind die wichtigen Dinge über den demographischen Wandel: Wie werden wir in einer alternden Gesellschaft tatsächlich leben? Wie gestalten wir die
Mehr Fragen als Sterne am Himmel
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schrumpfenden Städte? Wo werden wir die Ersatzfamilien finden? Welche Versorgungsstrukturen werden wir für Senioren auf dem Land benötigen? Hier haben die Debatten kaum begonnen. Dementsprechend ist auch das gestalterische Potenzial in der Diskussion weitgehend ungenutzt. Wie steht es mit Nachbarschaftszentren als Familienersatz? Welche Rolle können Roboter in der Altenpflege spielen? Hier liegt die interessante Ebene von Fragen. Es geht also bei der Analyse der Zukunft um mehr als um die möglichst akkurate zahlenmäßige Beschreibung von Trends. Die Zukunft ist kein Excel-Modell. Es geht um die dahinter liegenden Realitäten, Herausforderungen und Chancen. Um bessere Entscheidungen für die Zukunft treffen zu können, brauchen wir ein detailreiches Bild, das sich nicht durch Computersimulationen erschließt, sondern durch das Zusammenführen von vielfältigen Erwartungen, kreativen Ideen und ambitionierten Visionen derjenigen, die selbst an der Zukunft beteiligt sind. Auch wenn John Maynard Keynes vorläufig mit seiner zentralen wirtschaftstheoretischen Zukunftseinsicht „langfristig sind wir alle tot“ noch Recht hat – die Zukunft birgt für uns Deutsche wahrscheinlich ein Ausdünnen des demographischen Sternenhimmels. Dafür müssen wir diese Zukunft aber mit neuen Optionen für die Gestaltung unseres Lebens bevölkern.
Knapp daneben: Prognosen berühmter Experten “Eine Uhr, die auf Schiffen pro Tag auf ca. 3 Sekunden genau geht, ist undenkbar.” (Newton, 1714) “Das Radio hat absolut keine Zukunft.” (Lord Kelvin, Mathematiker und Erfinder, 1897) “Meines Erachtens gibt es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer.” (IBM Präsident Thomas Watson, 1943) „Das Internet wird kein Massenmedium, weil es in seiner Seele keines ist." (DIE WELT, 24.03.2001) „Es gibt nicht den geringsten Hinweis, dass Atomenergie jemals nutzbar sein wird.“ (Albert Einstein)
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Foresight und Innovation: Zukunft denken – Heute gestalten
Die Zukunft: Management-Aufgabe der Gegenwart Die Zusammenführung dieser Ideen zu steuern, ist keine leichte Aufgabe. Innovatoren von heute verstehen die Zukunft als Management-Aufgabe der Gegenwart. Um dabei erfolgreich zu sein, orientieren sie sich an folgenden vier Eckpunkten: Innovation benötigt Austausch an Schnittstellen Innovationen werden nicht als gesteuerter Prozess entlang von Hierarchien und nicht in geschlossenen Systemen geschaffen, sondern über die Grenzen von Industriesektoren, Disziplinen und Kulturen hinweg. Denn Innovation ist nicht einfach als Fortschritt in der Beherrschung einzelner Technologien wie zum Beispiel der Mikroelektronik oder der Gendiagnostik zu begreifen. Was technologisch möglich ist, muss noch lange nicht zu marktrelevanten Innovationen führen, und umgekehrt finden sich Innovationen oft nicht am ‚cutting edge’ der Technologie, sondern in der überraschenden Verbindung verschiedener Technologien und Disziplinen. Wenn es zum Beispiel um die Innovation Nachbarschaftszentren als Familienersatz geht, müssten wir Stadtplaner mit Architekten, Sozialwissenschaftlern, Psychologen und Bürgern zusammen bringen. Die Zukunft der Pflege müssen Altersforscher, Kenner der Pflegepraxis, Ärzte, Pharmazeuten, aber auch Sozialwissenschaftler, Psychologen oder auch IT- und Roboterexperten (Wie könnte eine zukünftige Rolle von IT oder Robotern in der Altenpflege aussehen?) miteinander debattieren – und auch dann kommt noch nicht zwingend eine Innovation heraus. Aber indem man grenzüberschreitende Strukturen und Gelegenheiten zum Austausch schafft, erhöht sich dafür die Wahrscheinlichkeit. Innovation erfordert Klarheit über die Unsicherheit Zukunft ist nicht gleich Zukunft. Es gibt ganz verschiedene Typen davon. Diese reichen von linearen Entwicklungen, die sich verlässlich extrapolieren lassen, bis hin zu völlig offenen Entwicklungen, deren Richtung kaum abzusehen ist. Jeder dieser Zukunftstypen erfordert eine ganz unterschiedliche Herangehensweise. Je weiter die zu bestimmende Zukunft entfernt liegt oder je unklarer sie ist, desto breiter ist die Menge von Daten, Trends und Ereignissen, die auf diese Zukunft Einfluss haben können – und desto breiter die Akteurskreise,
Die Zukunft: Management-Aufgabe der Gegenwart
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die einzubeziehen sind, um diese Informationen beizusteuern und aufeinander zu beziehen.
Vier Zukunftstypen
Lineare Zukunft Klare Entwicklungsrichtung, Gesetzmäßigkeiten bekannt, Korridore für Zukunftsausgänge definierbar. A B C
Alternative Zukünfte
Verschiedene gleichermaßen mögliche, aber bekannte Ausgänge von Entwicklungen, wenige kritische Interaktionen. Halboffene Zukunft Nur schwer eingrenzbare Entwicklungen innerhalb eines definierten Spektrums, viele kritische Interaktionen und Schnittstellen.
Offene Zukunft Echte Unsicherheit, Bestimmungsfaktoren kommen aus wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereichen, breite geografische Rahmen, nur schemenhafte Trendumrisse.
Innovation erfordert einen modernen Werkzeugkasten Anders als die Bibelprophezeiung stützt sich Foresight auf ein etabliertes Repertoire an Methoden, um Einsichten in die Zukunft aus der Gegenwart heraus abzuleiten. Mit dem englischen Modeausdruck werden verschiedenste Verfahren zusammengefasst, die eine systematische Zukunftsanalyse zum Ziel haben. Einfache Analysen gehen von besonders aufschlussreichen Indikatoren für die Entwicklung von Innovationen wie etwa Patentanmeldungen aus. Es gibt aber auch wesentlich komplexere Analysen wie etwa Trendanalysen (zum Beispiel die Extrapolation von Trends an den Aktienmärkten), Erwartungsanalysen (Experten formulieren aus ihrer
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Foresight und Innovation: Zukunft denken – Heute gestalten
Sicht, welche zukünftigen Entwicklungen sie erwarten) oder Szenarioanalysen (Beschreibung mehrerer alternativer Zukunftsvarianten).
Der Werkzeugkasten der Zukunftsexperten Indikatorenanalysen
niedriger Mehrwert durch Beteiligung
Basieren auf der Auswertung von Daten mit besonderer Zukunftsrelevanz, zum Beispiel durch Bibliometrik oder Patentanalyse. Trendanalysen
hoher Mehrwert durch Beteiligung
Interpretieren quantitative (und qualitative) Daten mit Blick auf die Zukunft, z.B. durch Extrapolation von Trends, S-Kurven, Statistiken. Erwartungsanalysen
sehr hoher Mehrwert durch Beteiligung
Bringen Experten zusammen, um in dynamischen Gruppenverfahren Erwartungen an die Zukunft zu fokussieren. In Deutschland sind hier vor allem die Delphi-Verfahren prominent, die wiederholte Umfragen zu Zukunftshypothesen mit Diskussionen verbinden. Szenarioanalysen
sehr hoher Mehrwert durch Beteiligung
Verwenden alternative, plausible Zukunftsvisionen, oft in fantasievoller narrativer oder grafischer Form, um Entwicklungen und Abhängigkeiten auf dem Weg dorthin zu untersuchen.
Innovation erfordert technology push und demand pull Zur Betrachtung dessen, was die Technik an Möglichkeiten anbietet, muss auch die Analyse dessen treten, welche Anwendungen auf den Märkten nachgefragt werden. In der Sprache der Innovationsforscher: Zum ‚technology push’ muss der ‚demand pull’ kommen. Die beiden treffen sich meist nicht bei einer linearen Fortschreibung technologischer Entwicklungspfade, sondern wiederum an den Schnittstellen verschiedener Entwicklungen.
Warum Innovation Beteiligungsverfahren braucht Der entscheidende Unterschied zwischen Foresight und Prophezeiung ist ein anderer, einer, der nicht auf der Hand liegt. Foresight ist keine Aktivität eines Einzelnen. Im Gegenteil. Je schwieriger die Fragen und je vager
Warum Innovation Beteiligungsverfahren braucht
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die Zukunft, desto weniger können einzelne Experten Antworten geben. Zwar gibt es Trendexperten und Zukunftsgurus, Innovationsforscher und Modescouts, aber sie sind eigentlich nur Sammler, Aggregatoren von Informationen. Weil das benötigte Wissen in der Gesellschaft verteilt vorliegt, kommt es entscheidend darauf an, die richtigen Meinungen zu den richtigen Fragen zu kombinieren. Hätten z. B. die Geschäftsführer der Babynahrungshersteller das getan, wären sie jetzt nicht so überrascht davon, dass sich eine völlig neue Käuferschicht für ihre Produkte interessiert – die Senioren. Die interessanten Schnittstellen finden sich nicht von selbst. Es bedarf aller Register professioneller Moderation und Prozessgestaltung, um die verschiedenen Kommunikationskulturen von Akteuren aus Forschung, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu überbrücken und sie auf die offene Suche nach den überraschenden Schnittstellen der Einzelperspektiven zu schicken. Die Beteiligten müssen ihr vorhandenes Wissen in ungewohnten Handlungszusammenhängen immer wieder aufs Neue entdecken, statt sich in Expertenmanier zurück zu lehnen und Vorträge zu halten. Anspruchsvolle Zukunftsanalysen sind kommunikative Verfahren und ihre Qualität hängt davon ab, ob die richtigen Akteure zusammenkommen und wie gut der Austausch der Beteiligten organisiert ist. Je nach der Art der Analyse können die Methoden der Beteiligung einen mehr oder weniger entscheidenden Beitrag leisten. Jedes Verfahren hat seine Vor- und Nachteile: Mit rein datengetriebenen Verfahren lässt sich die abgeleitete Zukunft zwar lückenlos und gewissermaßen empirisch herleiten, aber es werden jeweils nur winzige zweidimensionale Ausschnitte der vieldimensionalen Zukunft erfasst. Die wichtigen Interdependenzen und Überschneidungen verschiedener Entwicklungen kann man erst in den Griff bekommen, wenn man kreativere Mittel einsetzt. So sieht man in einigen Zentralen internationaler Konzerne beispielsweise gestandene Manager mit Wachsstiften auf dem Boden knien, um aus zusammenhanglosen Assoziationen Zukunftsvisionen zu erstellen. Nachdem sie sich so fast völlig von der Gegenwart gelöst haben, gehen sie von dem Zukunftsbild aus, um sich Schritt für Schritt wieder an das Heute zurück zu tasten. Was hätte passieren müssen, um diese Zukunft eintreten zu lassen? Mit diesem ‚Backcasting’ genannten Verfahren kann man auch sehr fantasievolle Bilder zu realistischen Plänen machen.
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Foresight und Innovation: Zukunft denken – Heute gestalten
Fallbeispiel: Welche Schäden werden wir versichern wollen? Ein großes Versicherungsunternehmen will wissen, wie sich der Krankheitsbegriff verändern wird und welche Konsequenzen das für sein Versicherungsgeschäft haben wird. Immerhin wird der „Schadensfall“ von der Gesellschaft und dann auch vom Gesetzgeber in verschiedenen Zeiten unterschiedlich interpretiert. Während vor nicht allzu langer Zeit beispielsweise niemand daran dachte, Fettleibigkeit zu einem Haftungsproblem für Lebensmittelproduzenten zu machen, so müssen diese sich heute auf völlig neue Geschäftsrisiken einstellen. Um diese Entwicklungen verlässlich beurteilen zu können, muss die Blende bei der Beleuchtung gesellschaftlicher Entwicklungen weit aufgemacht werden. Gemeinsam mit dem ‚Global Risk Network’, einer von IFOK initiierten Allianz führender Risikoexperten sowie zahlreichen Stakeholdern aus unterschiedlichsten Bereichen, wurde für den Versicherer eine weit in die Zukunft weisende Analyse möglicher neuer Felder für Personenschäden sowie ein Instrument zur systematischen Beobachtung neuer Risiken erarbeitet.
Der Mehrwert, den die Ausrichtung von Foresight-Verfahren an unseren Kriterien für erfolgreiche Beteiligung erreichen kann, ist abhängig von zwei Kompetenzen: dem Fachwissen sowie dem Handwerk der Beteiligung. Man braucht das Fachwissen, um die Bedeutung der Zukunftsanalysen zu erkennen, um die wirklich relevanten Trends von den kurzfristigen Modeerscheinungen zu trennen und um die Bedeutung allgemein erwarteter Trends mit den überraschenden Außenseitermeinungen zu balancieren. Zusätzlich zur Voraussetzung des Fachwissens muss man das Handwerk der Beteiligung selbst beherrschen. Die Auswahl der Teilnehmer ist eine erste Hürde: Welche Personen/Institutionen sind seriös, kreativ, gut angesehen, haben im Gegensatz zu effekthascherischen Schaumschlägern wirklich etwas zu sagen? Wie schiebt man die begnadeten Selbstdarsteller ohne inhaltliches Niveau zugunsten der leisen Klugen beiseite? Wen fragt man nach den wichtigen Trends? Bittet man jemanden, ein Panel zur Zukunftsschau zusammen zu stellen, kommt in der Regel eine peer community aus Insidern zustande, die alle ähnliche Voreingenommenheiten haben. Verlässt man sich dagegen auf traditionelle Instrumente wie die DelphiBefragung, dann stehen oft viele Trends unverbunden und ungewichtet nebeneinander, ohne ein stimmiges und verlässlich priorisiertes Gesamtbild zu ergeben. Jeder verzerrt das Zukunftsbild ja ein wenig nach den eigenen
Warum Innovation Beteiligungsverfahren braucht
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Interessen: Die Mitarbeiter einer Organisation sind davon genauso wenig frei wie die bezahlten Experten. Wie wir in den Praxisbeispielen später sehen werden, kommt es wie bei allen Beteiligungsverfahren darauf an, aus vielen Einzelbeiträgen ein Ergebnis zu schmieden, das niemand allein hätte erreichen können. Der entscheidende Schritt aber ist, die Gegenwart mit Hilfe der im Foresight gewonnenen Erkenntnisse zu gestalten. Schließlich nützt es nichts, wenn eine Organisation die Zukunft besser versteht, sich aber nicht an ihr ausrichten kann. Der Einsatz von Beteiligungsverfahren in der Zukunftsschau bietet beides – die Chance auf besseres Wissen und die Chance zur Gestaltung veränderungsbedürftiger Strukturen. Und beides haben wir bereits bewiesen: Zuerst schildern wir einen Fall aus der Industrie, bei dem eine Planungsabteilung durch tieferes Verständnis der Innovationsfaktoren Wettbewerbsvorteile erreichte. Danach stellen wir Europas größtes Foresight-Verfahren vor, mit dem es gelang, die Einspeisung innovativer Themen in die Forschung zu legitimieren.
Fallbeispiel: Eine Region an der Zukunft ausrichten Das Land Mecklenburg-Vorpommern und das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW) starteten 2002 für die Profilierung des nordöstlichen Bundeslands als Gesundheitsstandort einen Prozess des ‚regional foresight’. Dabei werden Entscheider aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zusammen gebracht, um in einer Serie von Zukunftsworkshops eine gemeinsame Vision von der Gesundheitswirtschaft in 20 Jahren zu erschließen. Die positiven Effekte sind bereits nach wenigen Monaten enorm: Die Vernetzung und Entdeckung von Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Sektoren, die viele Jahre durch traditionelle Mittel der Regionalförderung nicht erreicht wurden, stellten sich hier wie von selbst und nebenbei ein. Die gemeinsam entwickelte Zukunftsvision ist der Startpunkt für neue Projekte zum Beispiel zwischen Forschern und Unternehmern.
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Foresight und Innovation: Zukunft denken – Heute gestalten
Strategieentwicklung im Nebel? Ein Fallbeispiel aus der Wirtschaft Für Unternehmen bedeutet besseres Wissen über die Zukunft einen klaren Marktvorteil. Die Fragen nach zukünftigen Entwicklungen von Konsumentenverhalten und Marktbewegungen sind dabei nur der Anfang. Dazu kommt ein immer größerer Informationsbedarf im Hinblick auf technische Innovationen, gesetzliche Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Trends – nicht nur in den eigenen Absatzmärkten, sondern zunehmend entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Wenn ein Bekleidungshersteller für die Einhaltung von Arbeitsstandards bei seinen Zulieferern verantwortlich gemacht wird, dann hat er ein Interesse, auf die Entwicklung der Standards in seinen Zuliefermärkten Einfluss zu nehmen. Wenn ein Reiseveranstalter über die Kundenwünsche der Zukunft nachdenkt, muss er auch die Wettbewerber aus ganz anderen Feldern wie zum Beispiel Unterhaltungselektronik im Auge behalten, mit denen er um das für Freizeit verfügbare Geld der Kunden buhlt. Wenn ein Versicherungsunternehmen wissen will, welche Schäden in seine Kalkulationen von morgen eingehen werden, dann steht es vor der Frage, was unsere Gesellschaft künftig als Schaden verstehen wird. Das Problem liegt auf der Hand: Ein Großteil dessen, was ein Unternehmen über die Zukunft wissen muss, liegt erstens nicht in Form eindeutig auswertbarer Daten und zweitens nicht innerhalb des Unternehmens oder seines unmittelbaren Umfelds vor. Die Fülle roher und mehr oder weniger verlässlicher Informationen macht eine kosteneffektive Auswertung im Hinblick auf die wenigen entscheidungsrelevanten Trends zu einer Managementherausforderung erster Klasse. Die Planungsabteilung eines breit aufgestellten und global aktiven Industrieunternehmens hat uns angesichts dieser Fülle von verstreuten und diffusen Informationen gefragt, inwiefern Beteiligungsverfahren helfen können, einen Großteil dieses Aufwands zu externalisieren. Der Grundgedanke: Nicht nur das wichtige Wissen ist da draußen verteilt, sondern auch die strategische Intelligenz, dieses Wissen zu bewerten und für uns effizient auf die wesentlichen Informationen zuzuspitzen. Das Interesse der Planungsabteilung lag insbesondere im Innovationsbereich. Den traditionellen Werkzeugkasten von Patentanalysen über Expertengespräche bis hin zu kleineren Szenarioverfahren hatten die Strategen bereits ausgeschöpft. Viele Themen konnten sie aber mit den bisherigen
Strategieentwicklung im Nebel? Ein Fallbeispiel aus der Wirtschaft
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Ansätzen nicht mit einem vertretbaren Aufwand bearbeiten. Sie wollten weiter vorstoßen – sehen, was andere nicht sehen, marktbedeutende Neuerungen früher als die Konkurrenz erkennen und sich daran ausrichten.
Ich sehe was, was du nicht siehst Eine Krankheit, an der alle leiden: Betriebsblindheit Nur wer einen Standpunkt hat, kann etwas sehen. Aber: Jede Perspektive ist begrenzt, vor allem dann, wenn sie dauerhaft eingenommen worden ist. Gib mir einen Punkt außerhalb der Welt, und ich hebele sie aus Der Blick von außen ist überlebensnotwendig: Er kann scheinbar selbstverständliche Gewissheiten aushebeln und den Blick für neue Optionen öffnen. Durch kluge Beteiligung von unterschiedlichen Außenperspektiven gewinnen daher auch Prognosen und Zukunftsszenarien an Validität.
Die Antwort auf die Fragen des Kunden hatte zwei Teile: Um das eigene Zukunftswissen zu einem Marktvorteil zu entwickeln, muss die Organisation die Entstehung von Innovationen in ihren Themenfeldern besser verstehen als die Konkurrenz. Zweitens braucht sie ein praktisch anwendbares System, mit dem sie die Entstehungsgeschichte von Innovationen nicht ex post nachvollziehen, sondern ex ante vorausahnen kann – um sie also bereits dort zu erkennen, wo sie für andere noch nicht als Innovation sichtbar ist. Diesen Bereich ganz am Anfang der Innovationskette nannten wir „Fuzzy Front End“, also das unscharfe vordere Ende des Prozesses, in dem die Dinge nur schemenhaft erkennbar sind. Um den Schleier der Zukunft zu lüften, muss man also im Nebel der Gegenwart herumstochern. Zum Glück lässt sich die Erfolgsquote beim Stochern erheblich erhöhen. Denn mit den Instrumenten professioneller Diskursgestaltung gelingt es, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und die Diskussion stufenweise auf immer klarere Ergebnisse zu führen. Dabei hilft es, dass sich der Austausch zwischen den Innovationsagenten nicht erst in geplanten Beteiligungsverfahren einstellt, sondern dass die alltäglichen Kommunikationswege bereits viel Aufschluss über die wichtigen Schnittstellen geben. Um den Planern bei der Beobachtung dieser Schnittstellen zu helfen, führten wir zahlreiche Interviews mit Innovationsexperten, Szenekennern und Forschern in interdisziplinären Forschungsfeldern.
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Die Informationen aus diesen Gesprächen ermöglichten es uns, eine Art Landkarte der Innovationsagenten zu erstellen, ein differenziertes Mapping von Institutionen, die für die Märkte des Auftraggebers richtungsweisend sind. So wurde sichtbar, mit wem die Planer arbeiten mussten, um große Gegenden dieser Karte abzudecken. Mit diesem Mapping konnten wir zeigen, wo die Knoten (oder englisch ‚hubs’) liegen, an denen sich höhere Konzentrationen von Innovationspotenzialen fanden. Mit verschiedenen inhaltlichen Filtern werteten wir die Hinweise an diesen Stellen aus. So ergab sich ein Radar an Themen, die für den Auftraggeber bereits überraschende Resultate zeigte und ihn auf blinde Flecken in der eigenen Wahrnehmung hinwies. Jetzt musste die Planungsabteilung nur noch lernen, wie sie mit den verschiedenen Themen weiter umgehen sollte, um sie im richtigen Moment in den eigenen Strategien zu berücksichtigen. Daher ergänzten wir das Tool noch um ein Methodenhandbuch für die Behandlung der verschiedenen Zukunftstypen: Sieht man sich in einem Innovationsfeld ‚alternativen Zukünften’ gegenüber, wurde ein ‚Backcasting’ aus Szenarien empfohlen. Bei einer ‚halboffenen Zukunft’ kommt man dagegen mit kleinen Planspielen weiter. Das Strategie-Instrument, das die Planungsabteilung letztlich in der Hand hielt und in den kommenden Jahren fortführt, beantwortete die drei Fragen, die sich viele Planungschefs stellen: Wie erkenne ich, was wichtig ist? Wo liegen die Chancen und Risiken? Und: Was sehe ich bisher nicht? Durch die Beteiligung von Externen stellte sich indes ein weiterer Mehrwert ein: Das Unternehmen lernte zahlreiche neue Akteure in wichtigen Innovationsfeldern kennen, die heute auf verschiedenste Art und Weise in gemeinsame Aktivitäten einbezogen werden.
„Futur“, der deutsche Forschungsdialog: Ein Fallbeispiel aus der Politik „Meerestechnik, Schifffahrt“ „Optische Technologien“ „Mikrosystemtechnik“ „Internet“
„Das Denken verstehen“ „Zugang zu Lernwelten von morgen“ „Gesund und vital durch Prävention“ „Leben in der vernetzten Welt“
Der Unterschied zwischen der linken und der rechten Gruppe von Themen markiert eine Veränderung, wie sie von der modernen Innovationsfor-
„Futur“, der deutsche Forschungsdialog: Ein Fallbeispiel aus der Politik
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schung seit langem schon gefordert wird: Von festgelegten Disziplinen hin zur Entdeckung von Verbindungen, vom Denken in Fachsilos hin zum Denken in interdisziplinären Anwendungszusammenhängen. Sie illustrieren aber auch noch eine weitere Veränderung: Von einer Forschungsförderung, die entlang der Trennlinien der Disziplinen organisiert ist, hin zu einer Politik, die sich konsequent auf die Forschungsfragen mit hohem Innovationspotenzial einlässt. Die Themen der ersten Gruppe sind Namen von Referaten im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die die traditionellen Denkeinheiten der bundesdeutschen Forschungsförderung spiegelten. Die Themen des zweiten Blocks sind Leitvisionen für dieselbe Forschungsförderung. Diese Leitvisionen wurden von 2000 Fachleuten Europas im Rahmen des Foresight-Prozesses „Futur“ erarbeitet. Zwar machen die Mittel für die neuen Leitvisionen nur einen winzigen Bruchteil des acht Milliarden Euro schweren Forschungshaushalts aus, aber dass es sie überhaupt gibt und dass sie gefördert werden, ist ein politisches Phänomen, das genauere Betrachtung verdient. Warum braucht die Bundesministerin ein solches Verfahren? Gibt es nicht schon genug Expertengremien, die unsere Forschungspolitiker beraten? Sind die Themen nicht zu komplex, um sie öffentlich zu diskutieren? Kann und soll man Forschern überhaupt vorschreiben, was sie „entdecken“ sollen? Der Reihe nach: Die Ministerin hat den politischen Auftrag, Innovation möglichst gezielt zu fördern. Dabei will die Bundesregierung nicht nur anders fördern, sondern auch mehr. Der Forschungsetat hat seit 1998 um fast 38 Prozent zugelegt, in den Augen der meisten allerdings ganz im Gegensatz zur Leistung des Forschungsapparats. Die weit verzweigten Gremienstrukturen von Experten sind dabei genauso Teil des Problems wie Teil der Lösung – einerseits lassen sie ein Umsteuern entlang der Anforderungen moderner Innovationsforschung kaum zu, andererseits liegt hier wertvolle Expertise. Mit dem Beteiligungsverfahren „Futur“ kann die Forschungsministerin ein schnelles, flexibles und interdisziplinäres Planungsverfahren durchführen und die Bewilligung von Fördermitteln aus eingefahrenen Gleisen herausholen. Dieses neue Steuerungsmodell sorgt auch für mehr Transparenz, denn statt in kleinen Gruppen von Experten hinter verschlossenen Türen findet die Diskussion über die Verteilung der öffentlichen Mittel nun weitgehend offen statt. Und letztlich hilft „Futur“ der Bundesministerin auch, eine interessierte Öffentlichkeit für die Innovationsagenda der Regierung zu gewinnen.
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Foresight und Innovation: Zukunft denken – Heute gestalten
Zur nächsten Frage: Die Realität der Forschungsförderung ist bislang kaum geeignet, Begeisterung zu wecken. Das Ministerium und insbesondere seine politische Leitung haben über den Selbstzuteilungsmechanismus vieler Forschungsinstitutionen nicht den strategischen Einfluss, den sie benötigen, um in der Forschungspolitik ernsthafte Summen zu bewegen. Bei der Begutachtung von Förderanträgen wäscht oft eine Forscherhand die andere. Die Positionen in den Beiräten, die das Ministerium um Stellungnahmen für die umfangreichen und für Generalisten kaum zu durchschauenden Anträge bittet, sind begehrt: Wer einmal hier Platz genommen hat, der ist im Selbstzuteilungsprozess ein „VIP“. Auch auf den Arbeitsebenen zeigen sich die lähmenden Wirkungen falscher Anreize: Die Budgetregeln sind für interdisziplinäre Zusammenarbeit und für programmübergreifende Ideen nicht geeignet, und wer es dennoch versucht, dem droht Budgetverlust. Das Resultat ist fehlende Transparenz, und das bedeutet meist auch ein Defizit an demokratischer Legitimation. Millionenschwere Förderprogramme werden jahrzehntelang in kleinen Verteilungsgremien von Verwaltung und wenigen Professoren fortgeschrieben. Wer es sich also politisch auf die Fahnen geschrieben hat, besonders potente Innovationsfelder gezielter zu fördern als bisher, der muss in manchen Aspekten auch gegen die Eigeninteressen des Apparats handeln. Zur Frage der Komplexität der Themen: Es ist wahr, die hermetischen Fachsprachen der Forschungspolitik sind oft kaum verständlich und die Förderung von Projekten weit jenseits der Lebensrealitäten schwer zu erklären. Die bessere Vermittlung öffentlich geförderter Wissenschaft ist aber nicht nur ein legitimes Interesse der Bürger – sie führt auch zu einer stärkeren Innovationsorientierung. Die technologischen Möglichkeiten müssen auf eine gesellschaftliche oder wirtschaftliche Nachfrage treffen, und erst dieser Austausch sorgt für die interessanten Anwendungen. Kluge Innovationspolitik schafft diese Schnittstellen so früh wie möglich. Ein Forschungsdialog muss keine Fachsprachen verwenden, um die Bedeutung der Forschungsergebnisse für die Lebens- und Wirtschaftswelt aufzuzeigen. Im Gegenteil schafft die Konzentration auf die Nachfrageseite der Innovation für viele Diskussionen auch neue Perspektiven für die Forscher. Wenn Fachleute für Arbeitsorganisation mit Materialforschern und Architekten über das Büro der Zukunft nachdenken, zwingen sie einander zur Vereinfachung und entdecken Anknüpfungspunkte, die sie vorher nicht gesehen haben.
„Futur“, der deutsche Forschungsdialog: Ein Fallbeispiel aus der Politik
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Bei all dem gilt es – und darauf zielt ja auch die letzte Frage – die Illusion der Planbarkeit von Innovation zu vermeiden. Bei „Futur“ soll es nicht darum gehen, die Forschung an die kurze Leine zu nehmen, sondern sie in einen fruchtbaren Dialog mit der sie nachfragenden Gesellschaft zu bringen. Letztlich darf die Komplexität moderner Forschungsfelder ja nicht dazu führen, dass diese sich nicht mehr der Öffentlichkeit erklären müssen – jedenfalls nicht, solange sie von ihr finanziert werden.
Projektsteckbrief „Futur“
Initiatoren und Beteiligte Bundesministerium für Bildung und Forschung; über 2.000 Experten und Interessierte aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Ziel • •
Verstärkung der Innovationsorientierung durch neue, interdisziplinäre Themen an den Schnittstellen von Technologien und zukünftigen Nachfragebereichen Legitimierung der Forschungsförderung durch Einbindung in den gesellschaftlichen Dialog Ergebnis
• • •
Mit über 2.000 Akteuren Leitvisionen von rohen Ideen bis hin zur Umsetzung in Forschungsprogrammen erarbeitet Interdisziplinäre Öffnung des BMBF und seiner Expertenbeiräte und Vernetzung mit breiten Akteurskreisen erreicht Innovatives Foresight-Modell international als Vorbild etabliert Methoden
Prozessmanagement, unterschiedlichste Veranstaltungen von Kreativworkshops bis zur Großkonferenz, Öffentlichkeitsarbeit, Fachberatung zu Innovationssystemen, Akteursmappings, Szenariodarstellungen, Trendanalyse.
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Foresight und Innovation: Zukunft denken – Heute gestalten
Von 2.000 Einzelmeinungen zu einer Förderpolitik Die Logik von „Futur“ ist einfach: Um die Förderstrukturen stärker auf die Schnittstellen zwischen Technologien und gesellschaftlichem Bedarf auszurichten, soll eine nie da gewesene Zahl von Akteuren aus allen gesellschaftlichen Bereichen miteinander eine Reihe von speziell finanzierten, neuen Forschungsthemen erarbeiten. Im Kern geht es darum, das schwer steuerbare Zuteilungssystem für einen Teil des Budgets außer Kraft zu setzen. Der Prozess wirkt dabei in zwei Richtungen – einerseits werden breite gesellschaftliche Gruppen für die Forschung begeistert und andererseits erhält das Wissenschaftssystem innovationsorientierte Nachfrageimpulse. Und dies, ohne den etablierten Apparat aus den Angeln zu heben. Wie geschieht das konkret? Zunächst kommen in einer ersten Diskursrunde 400 Expertinnen und Experten zusammen, um Stichworte und Schlüsselfragen zu künftigen gesellschaftlichen Herausforderungen zu sammeln. Die Kernfrage: Woran müssen wir heute forschen, damit wir in 20 Jahren gut leben können? Bei den Veranstaltungen treffen Wissenschaftler auf Künstler, Aktivisten auf Jugendliche und Unternehmer auf Journalisten. Durch ein Schneeballverfahren nominieren die Beteiligten weitere Interessierte, das ist effizienter als jede Akteursrecherche. Die Datenbank der ‚Futur-Akteure’ wächst schnell und mobilisiert nicht nur Unterstützung, sondern schafft Aufmerksamkeit. Fast alle nominierten Personen fühlen sich privilegiert, von der Bundesregierung um ihre Meinung zu interessanten Anwendungsfeldern der Zukunft befragt zu werden, und sie erzählen es weiter. Danach kommt die Phase der Kreativ-Veranstaltungen quer durch Deutschland. Dort geht es heiß her. Da stehen Hochschulrektoren mit Managementberatern auf einer imaginären Bühne und stellen pantomimisch den zukünftigen Alltag im Haushalt vor. Da werden aus mitgebrachten Gegenständen Fußbodencollagen zur Stadt der Zukunft erstellt. Ein stellenweise experimenteller Mix von Moderationsmethoden sorgt dafür, dass sich alle auf Augenhöhe treffen und ihre Ideen ohne Barrieren einbringen können – und dass alle Beteiligten ihr Wissen durch ungewohnte Aktivitäten in einem neuen Licht bewerten können. Einer der wichtigsten Anreize besteht jedoch in der Umsetzungsorientierung – was hier erarbeitet wird, wird nicht in der Schublade eines Referenten verschwinden, sondern hat ernsthafte Chancen auf Förderung. Entsprechend genau sehen die Beteiligten hin, wenn im Newsletter über den Stand „ihrer“ Themen berichtet wird.
Von 2.000 Einzelmeinungen zu einer Förderpolitik
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Das so gesammelte umfangreiche Material wird daraufhin zu Themenbündeln zusammengefasst und bildet die inhaltliche Basis für die erste „Futur“-Konferenz im September 2001. Hier wird es methodisch besonders komplex: Interdisziplinäre Arbeitsgruppen erarbeiten gleichzeitig 25 Vorschläge für gesellschaftlich relevante Themen, die als Förderschwerpunkte umgesetzt werden könnten. Der Wettbewerb der Themen beginnt: Nur vier Kandidaten sollen dem Ministerium zunächst als Leitvisionen vorgelegt werden. Weitere Fokusgruppen und Zukunftswerkstätten dienen dazu, die favorisierten Themengebiete zu vertiefen und als Szenarien verständlich aufzubereiten. Mit Sinn für öffentliche Inszenierung werden die vom Ministerium ausgewählten Leitvisionen im Sommer 2002 dem Innovationsbeirat der Bundesregierung mit den Chefs von Max-Planck-Gesellschaft, BDI, DGB, Infineon und vielen anderen vorgestellt und für gut geheißen. Ab sofort steht für die Leitvisionen ein sogenannter „Priorisierungsfonds“ zur Verfügung, der ein wichtiges Anreizinstrument für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Referaten darstellt. Es passt der Regierung dabei gut, dass der „Futur“-Prozess in internationalen Evaluierungen generell als Vorbild und als Vorreiter für moderne Innovationspolitik bezeichnet wird.
Das Ergebnis der ersten Futur-Runde: Vier Leitvisionen „Das Denken verstehen“ Ziel der Leitvision ist es, die Funktionsweise des menschlichen Hirns zu verstehen und die Erkenntnisse für Informationstechnologie, Medizin und Lernforschung nutzbar zu machen. „Den offenen Zugang zu den Lernwelten von morgen schaffen“ Die Leitvision skizziert die lernende Gesellschaft von morgen, in der jedem der Weg zu einer lebensbegleitenden Weiterbildung offen steht. „Ein Leben lang gesund und vital durch Prävention“ Mit umfassender Gesundheitsvorsorge, so die Leitvision, wird die Lebensqualität für alle sozialen Gruppen bis ins hohe Alter gesichert. „Leben in der vernetzten Welt: individuell und sicher“ Der Mensch soll in der vernetzten Welt sicher und selbstbestimmt leben können.
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Bei allen Erfolgen gibt es allerdings auch neue Herausforderungen: Je erfolgreicher ein politisches Programm ist, desto mehr Nebenziele werden im Laufe der Zeit hinzu definiert. So sollte „Futur“ beispielsweise auch helfen, Begeisterung für Innovation und Technik bei Jugendlichen zu wecken – ein passendes Ziel, aber eben auch in Konkurrenz mit ursprünglichen Zielen. Auch gilt es, die feine Linie zwischen Beteiligungsverfahren und politischer PR genau im Auge zu behalten. Das gelang durch eine Großkonferenz mit über 600 Jugendlichen. Und schließlich muss sich gerade ein Zukunftsmodell mit seiner eigenen Vergänglichkeit auf der kurzlebigen politischen Bühne auseinandersetzen. Die Frage, die sich alle Beteiligten stellen müssen, lautet: Was ist der gesellschaftliche Bedarf und was sind die neuen politischen und methodischen Möglichkeiten für ein weiter entwickeltes Foresight-Verfahren, mit dem Deutschland wieder Anschluss an die internationale Spitze hält?
Fazit: Mehr als die Summe der Einzelteile Was Innovationsforscher schon seit langem wissen, kommt auch langsam in der Managementpraxis an: Das Wissen über die Zukunft ist verteilt, und es kommt auf die Kompetenz an den Grenzen der eigenen Disziplin an, wenn man die interessanten Innovationen erkennen möchte. Wir sehen die Konsequenz dieser Einsicht schon an vielen Orten. Nahe von Universitäten bilden sich neue Generationn von Business-Parks mit Wissenschaftlern und Investoren im ständigen Austausch. Unternehmen sammeln um sich Kreise von Experten aus allen möglichen Disziplinen. Mehr Regierungen starten eigene partizipative Foresight-Verfahren. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie gewinnen durch das geplante genauso wie durch das ungeplante Zusammenbringen mehr als die Summe der Einzelmeinungen und -ideen. Erst durch den systematischen und professionell begleiteten Austausch an den Schnittstellen, durch die Konfrontation von Experten mit Laien, durch die Neuformulierung von Bekanntem, lässt sich dieses Potenzial abrufen. Jeder, der schon einmal an solchen Verfahren teilgenommen hat, weiß: Das passiert nicht von selbst. Um diese Chancen voll auszunutzen, stellen Beteiligungsverfahren überlegene Methoden bereit. Wem es beispielsweise gelingt, Think Tanks, Marketingexperten, Lebensmitteltechnologen, Verbraucher und Regulierer zu den Konsumtrends mit den richtigen Anreizen systematisch miteinander ins Gespräch zu bringen, der kann mit einem Minimum an Aufwand einen
Fazit: Mehr als die Summe der Einzelteile
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ebenso klaren Blick für die eigenen Herausforderungen entwickeln wie ein Großkonzern mit Dutzenden von Strategieexperten in der Planungsabteilung.
Vier Prinzipien für partizipative Foresight-Verfahren LANGfristige Ergebniserwartung
HOCHrangige Unterstützung
TIEFE Interaktion BREITE Beteiligung
(Adaptiert von Luke Georghiou, Policy Research in Engineering, Science and Technology, University of Manchester, 2001)
Abb. 5 Vier Prinzipien für partizipative Foresight-Verfahren
Entscheidend ist dabei: Kommunizieren bedeutet Gestalten. Genauso wie der Messvorgang selbst die Entwicklung des beobachteten Systems in der Quantenmechanik beeinflusst (das ‚Messproblem’), so beginnt man bereits mit der Kommunikation über die Zukunft, diese zu gestalten und sie im Sinne eigener Vorstellungen zu verändern. Die Einsichten, die Akteure miteinander erarbeiten, werden ganz anders wirksam als allein formulierte Einsichten. Wer einen Blick auf kommunikativ entwickelte Zukunftsszenarien geworfen hat, kann sich den Konsequenzen für sein aktuelles Handeln nur noch schwer entziehen. Es ist diese transformatorische Wirkung von partizipativen Verfahren, die es einer Bundesministerin ermöglicht, verkrustete Förderstrukturen in Frage zu stellen, die es einem Unternehmenschef ermöglicht, seine nach Risikotypen siloartig aufgestellten Abteilungen neu auszurichten und die es einem Regionalförderer ermöglicht, Kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft in seiner Region zu etablieren.
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Foresight und Innovation: Zukunft denken – Heute gestalten
War „Futur“ erfolgreich? „Futur“ war nicht nur der größte europäische Foresight-Prozess. Darüber hinaus wurde „Futur“ auch mehrfach von einem hochrangigen, internationalen Panel evaluiert und als internationaler Vorreiter herausgestellt. Die Experten kamen zu dem Ergebnis, dass „Futur“ außerordentlich erfolgreich war und die Erwartungen weit übertraf. Denn „Futur“ - ... hat konkrete, für die Forschungspolitik unmittelbar verwertbare Ergebnisse erarbeit, statt lediglich „visionäre“ Inhalte zu entwickeln. - ... hat durch eine hochgradig interdisziplinäre Arbeitsweise klassische Denk- und Förderansätze des BMBF aufgebrochen. - ... hat den Innovationsgehalt von Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Branchen und Disziplinen ausgelotet. - ... hat rund 150 Mio. € an Forschungsmitteln in der Allokation maßgeblich und direkt beeinflusst. - ... hat Themen formuliert, die so noch nicht geplant waren, hat bestehende Planungen verstärkt sowie vorhandene Förderprogrammentwürfe qualifiziert.
...und weitere Erfolgsfaktoren Konominationsverfahren Schneeballsystem der Nominierung von Akteuren führt zu einer breiten Streuung mit gleichzeitig hoher inhaltlicher Relevanz und Commitment für die Themen. Neue Fragen Backcasting von Anwendungsmöglichkeiten statt Technologiefortschreibung fordert Beteiligte heraus, auch ihre Antworten neu zu formulieren und herkömmliche Denkmuster beiseite zu legen. Erfahrene Moderation bringt interdisziplinäre Diskussion auf den Punkt und ermöglicht Begegnungen auf Augenhöhe. Methodenmix Instrumente umfassen Online-Diskussionen mit Abstimmungen, Kreativworkshops, Open-Space-Konferenzen und viele mehr. Szenarioarbeit Durch narrative Szenarios wird die Zukunft auch ohne wissenschaftliche Vorbildung in Geschichten diskutierbar. Umsetzungsfokus Die hohe Bandbreite an Themen wurde so lange gefiltert und priorisiert, bis genau die Themen übrig blieben, die in hohem Maße strategierelevant für das BMBF waren.
Modern regieren: Neue Wege der Bürgerbeteiligung
Das Wichtigste in Kürze Die klassische politische Kommunikation funktioniert meist noch nach dem Prinzip der Einbahnstraße: Mit Informationen werden Bürgerinnen und Bürger zur Zustimmung aufgefordert. Das aber geht an den veränderten Kommunikationsbedürfnissen der Menschen vorbei. Sowohl das Beispiel der Reformkommunikation in Deutschland als auch der Vertrauenskrise der Europäischen Union zeigen: Wer Entscheidungen mit gesellschaftlichen Auswirkungen wie fertige Produkte durch Werbung ‚verkauft’, darf sich über die Apathie oder die Verweigerung der Unbeteiligten nicht wundern. Modern zu regieren bedeutet, Bürgerinnen und Bürger zu Beteiligten zu machen und so Mitarbeit und Zustimmung zu gewinnen. Bürgerbeteiligungsprozesse waren in der Vergangenheit für die Bedürfnisse politischer Entscheider zu akademisch, methodenorientiert, langsam und kleinformatig. Heute stehen Verfahren und Technologien zur Verfügung, die medial inszeniert und professionell gesteuert auch große Zielgruppen konstruktiv einbinden können. Beteiligungsverfahren haben Grenzen – aber wir haben noch nicht einmal begonnen, ihr Potenzial auszuschöpfen. Für viele der anstehenden gesellschaftlichen Debatten zu Schlüsselreformen tun sich neue Chancen auf.
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Modern regieren: Neue Wege der Bürgerbeteiligung
„Reformen, Reformen! Ist die Lage denn nicht schon ernst genug?“ Henry John Temple, 3rd Viscount Palmerston Zur Person: Lord Palmerston war britischer Premierminister von 1855-1858 und von 1859-1865. Das Zitat des bedeutendsten konservativen Politikers seiner Zeit belegt, dass die heutige Krise der Reformkommunikation durchaus ihre Vorläufer hat. „Ich hoffe, dass dies der Beginn einer Bewegung zur Wiederbelebung der Demokratie in ganz Europa ist. Ich verspreche, dass die Kommission Ihnen zuhören und von Ihnen lernen wird.“ Margot Wallström, bei den European Citizens’ Consultations, Oktober 2006 in Brüssel Zur Person: Die stellvertretende Präsidentin der Europäischen Kommission ist als Kommissarin für Institutionelle Beziehungen und Kommunikation für den Dialog Europas mit seinen Bürgern zuständig. Mit ihrem „Plan D“ hat sie die Werbekampagnen der Vergangenheit scharf kritisiert und stattdessen Beteiligungsverfahren vorgeschlagen, um die Bürger wieder für die EU zu gewinnen. „Die meisten Politiker halten ständig den Finger in die Luft, um zu prüfen, woher der Wind in gesellschaftlichen Debatten bläst. Es gewinnen aber nur diejenigen, denen es gelingt, die Richtung des Windes zu verändern.“ Ed Grefe Zur Person: Edward J. Grefe ist ein Pionier sogenannter Grassroots-Verfahren. In den USA gehört er zu den wichtigsten Vordenkern und Politikberatern, wenn es darum geht, bisher Unbeteiligte für die Politik zu aktivieren. Er ist Autor zahlreicher Bücher und lehrt heute unter anderem an der George Washington University in Washington, DC.
Die verkaufte Politik: Kampagnen in der Sackgasse Die Slogans begegnen uns in Fernsehspots, auf Bahngleisen, Litfasssäulen und Stellwänden. ‚Du bist Deutschland’, ‚Chancen für Alle’ ‚TeamArbeit für Deutschland’, ‚Deutschland. Das von morgen’, und wie sie alle heißen. Dies sind keine Wahlkampfparolen, es sind Kampagnen zur Gewinnung der öffentlichen Meinung für – ja, wofür eigentlich? Für Deutschland? Für Reformen, für Innovation, Beschäftigung, für Zukunft? Der Betrachter rätselt, was er jetzt kaufen, mögen oder unterstützen soll.
Die verkaufte Politik: Kampagnen in der Sackgasse
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Längst betreiben nicht nur die Parteien das mediale Wettrüsten im Kampf um die Reformwilligen. Auch Wirtschaftsinitiativen und andere Gruppen geben Unsummen aus, um ihre Aufrufe für mehr Opferbereitschaft und langfristiges Denken zu verbreiten. Sie finanzieren Reforminitiativen und ihre aufwändigen Kampagnen, um so Unterstützung für schmerzhafte Reformprozesse der Entscheider zu schaffen. Sie gehen unterschwellig davon aus, dass Reformen erstens notwendig sind, zweitens, dass es diese sein müssen, und dass die Frage, ob sie überhaupt die erwünschte Wirkung haben, als beantwortet gilt. Eine IFOK-Analyse von 2003 identifizierte über fünfzig Reforminitiativen, die mit Expertisen, Anzeigen und prominenten Botschaftern in die Öffentlichkeit drängten, um auf diese Art und Weise Einfluss auszuüben. Die Grenzen zwischen öffentlicher Aufklärung, Parteinahme und Wahlkampf sind dabei fließend. In der allgemeinen kommunikativen Aufrüstung überbieten sich Botschaften, die sich oft kaum noch ihren Urhebern zuordnen lassen. Das Anliegen vieler Informations- und Motivationskampagnen ist legitim: In einem optimistischen und vertrauensvollen Meinungsklima können schwierige Reformentscheidungen leichter getroffen werden, ohne die Wähler abzuschrecken. Sie sollen über zentrale Sachverhalte informiert werden. Wohlwollend könnte man sagen: Die Wohlfühlkampagnen sollen die Angst vor dem Wandel nehmen und jenseits der Berichterstattung in den Medien einen zusätzlichen Kommunikationskanal zu den Bürgern einrichten. Die konsensbildende und reformfördernde Wirkung bleibt allerdings aus. Dass man schlecht gegen die allgemein formulierten Ziele von Wachstum, Beschäftigung und Innovation sein kann, heißt noch lange nicht, dass die konkreten Maßnahmen nicht mehr zu diskutieren wären. Aber genau weil der Diskussionsbedarf vollkommen ausgeblendet wird und stattdessen die Kampagnen den Eindruck erwecken, der Missmut der Deutschen sei das Problem, verärgern sie mehr als sie mobilisieren. Nicht die komplexe steuer-, finanz- oder verwaltungspolitische Lage erscheint als das Problem, sondern der Bürger, der beharrend auf seinen Besitzständen hockt und sich gegen den Wandel wehrt. Die Konzepte stehen und sind alternativlos, so scheint es, und der Bürger soll nur noch zustimmen. Die Dauerberieselung zur Vermittlung von Lust auf Reformen erreicht freilich eher das Gegenteil. Der Bürger schätzt es nicht, zum gutgelaunten politischen Akklamationsmännchen gemacht zu werden. Statt des Rucks
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Modern regieren: Neue Wege der Bürgerbeteiligung
erzeugt das ständige PR-Staccato der ‚Reformer’ eher Frustration – und genau den Verlust an Vertrauen, den die Reformer so beklagen. Die politische Werbung ist in einer Sackgasse: Nirgends ist der Reformbedarf so groß wie in der Art und Weise, in der wir Reformkonzepte finden und kommunizieren. Woran liegt das? Im Kern haben wir es mit einem Missverständnis im Verhältnis der Politik zu ihren Bürgern zu tun. Entscheidungen sind keine Produkte. Entscheidungen in einer Demokratie müssen ausgehandelt werden. Produkte kann man als Kunde aussuchen oder nicht, politische Entscheidungen aber betreffen auch diejenigen, die sie gar nicht wollen. Wenn die Kampagnen so tun, als seien Reformen nur eine Stimmungsfrage, entpolitisieren sie die Demokratie – und sie respektieren nicht, dass jemand gute Gründe haben kann, einer Reform nicht zuzustimmen. Die Werbekampagnen, die ihr Publikum mit den Mitteln des Produktmarketing suchen, sind nur Ausdruck einer Politik, die sich selbst gern als alternativlos darstellt – als gäbe es nicht verschiedene Wege, die Ziele der Innovation, des Wachstums, der Sicherheit zu erreichen. Die Schlussfolgerung daraus muss sein, die Bürger nicht als Abnehmer von Produkten, sondern als Betroffene von Entscheidungen ernst zu nehmen. Und das heißt, sie in den Prozess der Entscheidungsfindung einzubeziehen.
Die Europäische Union: Ein Elitenprojekt auf der Suche nach den Bürgern Mit ihren Bürgerinnen und Bürgern hat die Europäische Union besondere Erfahrungen gemacht. In Brüssel fühlt es sich nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Sommer 2005 an, als sei man – ohne gemeinsames Tempolimit – gegen „Europas Grenzen“ gefahren. Ein Unfall mit Ansage freilich, denn immerhin verzeichneten selbst die von der Europäischen Kommission finanzierten EurobarometerUmfragen schon lange die fehlende Verbindung der Bürger mit „ihrem“ Europa – nicht nur bei der Bevölkerung der beiden Gründungsmitglieder, die schließlich mit „Nein“ abgestimmt haben. Ein Unfall aber auch scheinbar zunächst ohne Wirkung auf den Fahrer. Noch benommen verkündet der Kommissionspräsident am nächsten Tag: Kein Problem, die EUKarawane zieht weiter. Kurz legt man den Rückwärtsgang ein, um wieder genauso anzufahren.
Europas „Plan D“: Dialog, Demokratie – und Bürgerbeteiligung
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Das Projekt Europa hat kein ganz einfaches Verhältnis zu seinen Bürgern. Immer mehr wird die Tatsache, dass es sich um ein Elitenprojekt handelt, zum Hindernis für die Weiterentwicklung. Ein ums andere Mal haben die Strategen der EU gehörige Lektionen lernen müssen bei den Versuchen, sich die Zustimmung zu Integration und Erweiterung von den Bürgern direkt „abzuholen“. Dabei ist nichts faul im Staate Dänemark und ebenso wenig in Irland, Norwegen und Schweden – den Staaten, in denen bereits vorher Referenden zu Europa gescheitert sind: Wer die Bürger nur mit Ja oder Nein antworten lässt, der kann sich ausrechnen, auf welche Weise sie einer vorhandenen Kritik Ausdruck geben. Wer keine Wege für das konstruktive „Ja, aber“ schafft, der darf sich nicht wundern, wenn er nur Pauschalkritik bekommt.
Europas „Plan D“: Dialog, Demokratie – und Bürgerbeteiligung Nach der Vollbremsung könnte aber auch das Wenden leichter fallen. Die neue Kommunikationsstrategie der Europäischen Union gibt eine Richtung vor, die von der Kommissions-Vizepräsidentin Margot Wallström auf einen einfachen Nenner gebracht wird: Es ist Zeit für den „Plan D“ – für Dialog und Demokratie. Aber was meint die Schwedin mit ‚Dialog’? Selbstkritisch analysiert ein „Weißbuch zur Europäischen Kommunikationsstrategie“ die Einbahnstraßenkommunikation der vergangenen Jahre. Aber auch hier finden wir noch die fatale Fehlannahme, der auch die deutschen Reformkommunikatoren unterliegen: Man müsse die fertige Politik nur besser erklären, dann komme die Zustimmung von ganz allein. Die Rolle der Betroffenen in den meisten Kommunikationsprojekten der EU ist eine Rolle von Zuhörern, nicht von sprechfähigen Bürgern. Auch in der Praxis ist die Kehrtwende schwierig. Viele der Europaprojekte mit dem Wort „Dialog“ im Namen haben Startschwierigkeiten. Im Internet startete ausgerechnet eine Woche nach dem „Nein“ der Franzosen eine Dialogplattform, die „tausend Debatten zur Verfassung“ führen wollte, in deren virtuellen Räumen aber gähnende Leere herrscht. In Brüssel rauchen auch ein Jahr nach dem Kommunikationsdebakel die Köpfe der Kommunikationsexperten über der Frage, wie man über vierhundert Millionen Bürger an der Gestaltung „ihres“ Europas teilhaben lassen kann.
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Modern regieren: Neue Wege der Bürgerbeteiligung
Zwischenfazit: Sowohl die Grenzen des Werbens für Reformen in Deutschland als auch die Bemühungen der Europäischen Kommission um ihre Bürger zeigen Grenzen eines traditionellen Regierungsstils auf. Wenn es darum geht, die Unterstützung von Bürgern für politische Vorhaben zu gewinnen, dann reicht das Arsenal der Kampagnen heute oft nicht mehr aus. Auch die repräsentative Demokratie ist ein Beteiligungsprojekt – und zwar eines, das sich ebenso an den Erfordernissen der Entscheidungen als auch an den Bedürfnissen der Beteiligten ausrichten muss. Und die Bedürfnisse verändern sich: Europa zum Beispiel braucht die Zustimmung der Bürger in dem Maße, in dem Europa den Anspruch erhebt, ihr Leben mitzubestimmen. Die Konsequenz: Wenn die Bürger als Betroffene von Entscheidungen nicht auch zu Beteiligten an Entscheidungen werden, dann werden die Unbeteiligten ihre Zustimmung verweigern, sobald sie die Gelegenheit dazu haben. Quod erat demonstrandum. Dabei waren die Verfassungsreferenden gerade als ein Mittel eingesetzt worden, das Bürgern mehr Einsicht und Einfluss geben sollte. Das Ergebnis legt den Entscheidern nahe, dass dies nur schief gehen kann. Um es besser zu machen, müssen drei entscheidende Herausforderungen bewältigt werden. Sie lassen sich als Fragen formulieren: Die nach dem „Ob“ der Beteiligung von Bürgern, die nach dem „Wer“, und die nach dem „Wie“. Wie kann dem Akzeptanz- und Vertrauensverlust entgegengewirkt werden? Vertrauen Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen mehr, wenn sie sich aktiv in den Prozess der Entscheidungsfindung einbezogen fühlen? Wer ist Betroffener einer Entscheidung? Sind Bürgerinnen und Bürger Experten in allen Fragen, deren Entscheidung sie betrifft? Welchen Rahmen kann man finden für die Beteiligung großer und größter Gruppen von Betroffenen, um das Versprechen der Beteiligung auch einzulösen? Welche Beteiligungsvarianten sind denkbar bei unterschiedlichen Betroffenheitssituationen?
Das „Ob“ der Bürgerbeteiligung: Eine Frage der Macht „Das funktioniert doch hinten und vorne nicht“, schüttelt der erfahrene Parlamentarier den Kopf. „Bürger sind weder kompetent noch motiviert genug, um selbst Politik zu machen. Es ist ja schon schwierig genug, sie
Das „Ob“ der Bürgerbeteiligung: Eine Frage der Macht
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alle vier Jahre an die Wahlurne zu bekommen und sie dort informiert entscheiden zu lassen.“ Falsch. Die Wahlbeteiligung drückt keineswegs die Bereitschaft der Bürger aus, sich einzubringen. Wir haben in Beteiligungsverfahren auf allen politischen Ebenen immer wieder gesehen: Wer Bürgerinnen und Bürgern ein ernsthaftes Angebot macht, sich in die Vorbereitung von Entscheidungen einzubringen, die ihr Leben betreffen, der wird überrascht sein von der Qualität und Ernsthaftigkeit ihrer Beiträge. Im Vergleich zu anderen Ländern nutzt Deutschland das Mobilisierungspotenzial kaum. Während in den USA beispielsweise jeder Wähler zu Wahlkampfzeiten damit rechnen muss, mehrfach direkt angesprochen zu werden, geschah das beispielsweise während des Landtagswahlkampfs in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 nach Angaben von Infratest dimap gerade einmal jedem Siebten. Davon aber meldete sich fast jeder Vierte, um mehr Information zu bekommen oder sich sogar aktiv einzubringen – eine außerordentliche hohe Quote, die das ungenutzte Potenzial zeigt. Bürgerbeteiligung zwingt die Politik, sich besser zu erklären. Es ist eines der ungeklärten politischen Phänomene, dass das allgemeine Bildungsniveau der Bevölkerung stetig zunimmt, aber dass sich dieser Trend nicht in anspruchsvolleren politischen Wahlkampfinhalten widerspiegelt. Übrigens: Immerhin waren die Bürger klug genug, um Sie zu wählen, Herr Abgeordneter! „Aber wir bieten doch bereits Beteiligungsverfahren. Wenn sich Bürger einbringen wollen, können sie in die öffentlichen Anhörungen kommen!“ Natürlich. Anhörungen sind beliebt, denn sie bedeuten keine Herausforderung für die Verfahrensautorität. Sie sind ein schneller und günstiger Weg, einer Verpflichtung nach Einbindung der Öffentlichkeit nachzukommen – aber leider von begrenzter Wirkung. Anhörungen sind eng eingeschränkt, was ihre Reichweite und ihre Unabhängigkeit angeht. Es werden, wenn überhaupt, nur institutionalisierte Interessen repräsentiert. Wo zum Beispiel sind in den Anhörungen zur Rentenreform die Stimmen der Jugend und der Familien? Zudem ist der Expertendialog stark vom Interesse des Veranstalters abhängig. Sie können den Gegenstand der Anhörung so eingrenzen, dass unliebsame Punkte ausgegrenzt oder marginalisiert werden.
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Um Anhörungen zu echten Beteiligungsverfahren zu machen, müssten sie barrierefreie Foren zum Meinungsaustausch mit Konsequenzen bieten. Sie müssten breit einladen und die erforderlichen Sachinformationen rechtzeitig und in sprachlich zugänglicher Form verbreiten. Eine gute Moderation wäre erforderlich, um möglichst verschiedene gesellschaftliche Gruppen effektiv einzubeziehen.
Die Konsensuskonferenz als alternatives Anhörungsformat Konsensuskonferenzen gibt es seit den achtziger Jahren, und weltweit wurden seitdem an die hundert solche Verfahren durchgeführt. Besonders in Dänemark haben Konsensuskonferenzen Prominenz erlangt und sind dort zu einer Art Standardverfahren der öffentlichen Deliberation geworden – vor allem aber sind sie ein fest verankerter Bestandteil mancher parlamentarischer Erörterungen. In einem ersten Schritt werden 10-20 Laien ausgewählt, die einen Querschnitt der Bevölkerung darstellen und nur sich selbst repräsentieren sollen. Diese werden zunächst von ebenfalls repräsentativ ausgewählten Experten in die Details der Sachfragen eingeführt und erforschen im Dialog mit ihnen die zugrunde liegenden Konflikte. In einer letzten Phase, meist hinter geschlossener Tür, verabschieden die Bürger im Konsens eine Erklärung mit Empfehlungen.
„Aber das ist viel zu aufwändig und teuer. So ein Dialog müsste ja ewig dauern, bis sich die Bürger einigen!“ Keineswegs. Ein Bürgerbeteiligungsverfahren ist kein Treffen unter dem Lindenbaum und keine Plauderparty. Innerhalb eines gesetzten Zeitraums werden durch professionelle Moderation und den Einsatz moderner Technik Informationen vermittelt, Ideen entwickelt und bewertet, Diskussionen vom Dissens zum Konsens geführt und Empfehlungen formuliert. Zur Beteiligung gehört die Verpflichtung der Beteiligten, ein Ergebnis zu erreichen, genauso wie die Verpflichtung der Einladenden, dieses Ergebnis ernst zu nehmen. Wenn das für alle ministeriellen Expertenrunden und politischen Beraterkreise gälte, dann wären die Entscheidungen nicht nur breiter abgesichert, sondern es könnte nebenbei viel Geld gespart werden. „Aber wozu haben die Bürger mich denn gewählt? Wollen Sie etwa die repräsentative Demokratie in Frage stellen?“
Das „Wer“ der Bürgerbeteiligung: Betroffene zu Beteiligten machen
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Hier steckt also des Pudels Kern. Es geht um die Angst vor dem Machtverlust. Manchmal fragt man sich, was wir darunter verstehen, dass Wähler ihre Stimme „abgeben“. Ist eine Wahlstimme etwa ein Verzicht des Bürgers aufs Sprechen zugunsten seines Abgeordneten? Viele Bürger wollen auch zwischen den Wahlterminen eine Chance haben, ihre Meinungen und Ideen einzubringen. Auf ihre Kreativität und ihre Unterstützung zu verzichten, ist ein Verlust, den wir uns nicht weiter leisten sollten. Aber die Frage trifft natürlich auf einen sehr ernst zu nehmenden Punkt. Eines muss als Bedingung gelingender Beteiligung immer klar sein: Beteiligung ist keine Basisdemokratie. Nach wie vor entscheiden die legitimierten Institutionen, die Bürger leisten nur unersetzliche Hilfe bei der Vorbereitung. Zwar ist die direkte Einbeziehung von Bürgern in die Politik eine zusätzliche Anforderung im ohnehin schon schwierigen Prozess der Entscheidungsvorbereitung, aber es gibt auch viel zu gewinnen. Wer sich zum Motor einer ernsthaften Einbindung macht, der wird nicht Macht verlieren, sondern gewinnen.
Das „Wer“ der Bürgerbeteiligung: Betroffene zu Beteiligten machen Wenn der politische Entscheider überzeugt ist, dass er oder sie in einem bestimmten Thema durch Beteiligung von Bürgern mehr zu gewinnen als zu verlieren hat, steht gleich die nächste Hürde bereit. Wer soll beteiligt werden? Gibt es Gewichtung in der Mitsprache, wie es Unterschiede in der Intensität der Betroffenheit gibt, oder müssen immer gleich alle mitreden dürfen? Können ein paar zufällig ausgewählte Bürger alle anderen stellvertreten? Was ist der Status der Einflussgruppen und Experten? Da ist zunächst das Problem der Menge von Bürgern, mit denen es zu sprechen gilt. Die häufigen Verweise vieler Politiker auf das, was sie in ihren Bürgersprechstunden gehört haben, sind ja eher rhetorische Stilmittel als eine Basis für Mehrheiten. Wie kann zum Beispiel Margot Wallström die Brüsseler Verwaltung dahin führen, einen echten Dialog mit fast 500 Millionen Europäern in 27 Mitgliedstaaten zu führen? Die Logik des traditionellen Politikmarketings ist klar: Über Fernsehspots, Anzeigen und Plakate können sie große Zielgruppen mit positiven Botschaften bombardieren. Wie viele Bürger können dagegen durch Beteiligungsverfahren erreicht werden? Wie groß kann man einen Runden Tisch
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machen, ohne dass sich die Teilnehmer nur noch mit Megaphon unterhalten können? Stoßen Beteiligungsverfahren, wie wir sie in den vorhergegangenen Kapiteln beschrieben haben, nicht an ihre Grenzen, wenn es darum geht, den gewachsenen Ansprüchen und Kompetenzen der Bürger auf Einbindung auch auf breiter Ebene gerecht zu werden? Ist die Gestaltung gesellschaftlicher Entscheidungen im kleinen Stakeholderkreis nicht etwas ganz anderes als das Schaffen von breiten Wählermehrheiten? Natürlich. Zuerst gilt es für eine anstehende Entscheidung die Anforderungen an Beteiligung mit der Bereitschaft zur Beteiligung zusammen zu bringen. Für die Festlegung neuer Emissionsgrenzwerte wird ein verantwortlicher Minister die Unterstützung einiger weniger Expertengruppen und nicht die von Laien benötigen. Die Einführung der LKW-Maut wird dagegen größere Gruppen der Fürsprecher oder Gegner mobilisieren, aber wohl immer noch überschaubare Kreise. Man kann sich jeden Entscheidungsprozess als ein System konzentrischer Kreise vorstellen, in dessen Mitte eine je nach Kontext unterschiedliche, aber immer winzige Gruppe von Entscheidern sitzt, ob es um die Reform des Arbeitsmarkts oder um den Standort des neuen Fußballstadions geht. In aller Regel ist noch eine zweite Gruppe beteiligt, die den zweiten konzentrischen Kreis bildet: die Experten. Sie kennen die Fakten oft besser als die Entscheider selbst und haben darüber hinaus das wichtige Orientierungswissen: Wer wird sich wie zu einem Vorhaben stellen, und welchen Zwängen sind die Entscheider ausgesetzt? Die Experten finden sich in führenden Rollen etwa in Ministerien, Beiräten oder in den Stäben der Vorstände. In der Regel reicht bereits die Feststellung, dass ein Thema komplex ist und Fachwissen erfordert, um einen Ruf nach breiterer Beteiligung gar nicht erst laut werden zu lassen. Gehen wir mit den Kreisen weiter nach außen, stoßen wir auf immer breitere Bevölkerungsschichten, die immer weniger beteiligt sind – aber nicht aus eigener Wahl, sondern weil es so für sie entschieden wird. So wie dem Parlamentsabgeordneten von eben geht es nämlich vielen Entscheidungsträgern. Sie beklagen, dass sich die Bürger zu wenig für ihre Politik interessieren. Denn wie sonst sei der Mitgliederschwund der Parteien, wie sonst die geringe Wahlbeteiligung von Jugendlichen, wie sonst das mangelnde Medieninteresse an wenig auflagenfördernden politischen Sachfragen zu deuten? Damit macht es sich die politische Elite freilich zu einfach: Dass wachsende und inzwischen kritisch große Bevölkerungsschichten sich den tradi-
Das „Wie“ der Bürgerbeteiligung: Neue Formate und Chancen
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tionellen Wegen politischen Engagements enthalten, heißt noch lange nicht, dass sie nicht zu aktivieren wären. Um dies zu erreichen, müssen wir uns Mühe geben, die zu Beteiligenden besser zu verstehen. Eine wichtige Einsicht ist dabei die, dass man Interesse nicht einfach einfordern kann. Immerhin treffen Menschen ständig völlig rationale Entscheidungen, sich für etwas zu interessieren oder nicht zu interessieren. Von derart Unbeteiligten zu verlangen, sie müssten sich beteiligen, ist eine Missachtung ihrer Wahl. Jeder von uns ist in Bezug auf den größten Teil aller Themen, und damit auch aller Entscheidungen zu diesen Themen, unbeteiligt. Allerdings nicht immer auch unbetroffen, und das ist der springende Punkt. Und wo Bürger betroffen sind, sind sie auch zu aktivieren, das ist nur eine Frage der Glaubwürdigkeit der Beteiligung. Wer aber die Erfahrungen, die Einsichten und die Kreativität der Bürger für sein Thema gewinnen möchte, muss die Einladung zum Dialog auf eine Art und Weise gestalten, die respektiert, dass sich nicht jeder mit allem beschäftigen kann. Die Räume der Beteiligung müssen so geschaffen werden, dass sie die Eingeladenen nicht überfordern. Das betrifft den Zeitaufwand, die Vermittlung der notwendigen Fakten und – entscheidend – die Konsequenzen des Dialogs. Bürger merken sehr wohl, wenn sie zur Dekoration eingeladen werden und der Dialog sich in Wirklichkeit nur auf das Gästebuch und das Foto mit dem prominenten Politiker beschränkt. Sie merken, wer den Dialog zu einer Entscheidung simuliert, ohne bereit zu sein, den Beiträgen der Bürger auch tatsächlich Einfluss auf die Entscheidung einzuräumen. Damit kommen wir zur oben genannten dritten Frage an effektive Bürgerbeteiligung: Wie kann man Dialoge mit mehreren hundert bis mehreren tausend Laien so gestalten, dass sie zu informierten und relevanten Ergebnissen führen, die sowohl Aussicht auf Einbindung in Entscheidungsprozesse haben als auch die Qualität dieser Entscheidungen erhöhen?
Das „Wie“ der Bürgerbeteiligung: Neue Formate und Chancen Die letzte Hürde besteht im Format des Dialogs. Selbst wenn es gelingt, die „richtigen“ Beteiligten zu finden, wie kann man einen Dialog mit ihnen so führen, dass ein nützliches Ergebnis dabei herauskommt? Immerhin handelt es sich bei den Themen oft um komplexe Probleme und bei den
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Bürgern nicht um Fachleute. Und noch etwas kommt hinzu: Je höher die Anzahl der Beteiligten, desto größer die Vielfalt der Meinungen. Wie können Beteiligungsverfahren dafür sorgen, dass sich die vielen Einzelansichten zu einem wirkungsvollen Resultat addieren, statt sich gegenseitig zu neutralisieren? Auch die Erfahrung mit Bürgerbeteiligungsprojekten hilft vielen Entscheidern nicht unbedingt, diese Fragen für sich zu beantworten. Oft schon sind gute Absichten an den unterschiedlichen Erwartungen von Veranstaltern und Teilnehmern gescheitert. Häufig standen die Meinungen am Ende genauso unverbunden nebeneinander wie bei einer Meinungsumfrage. Viele Verfahren haben mehr versprochen, als sie halten konnten. Manche Beispiele der Vergangenheit waren so organisiert, als könne man die Dorfversammlung unter dem Lindenbaum einfach einberufen und sich selbst überlassen. Es geht auch anders. Professionell geplante und umgesetzte Bürgerbeteiligung ist kein Vabanquespiel. Es kommt zunächst wie in jedem Beteiligungsverfahren darauf an, die bereits vorgestellten Sechs Regeln für erfolgreiche Beteiligung ernst zu nehmen: Beteiligung gelingt 1. auf Initiative eines gesellschaftlichen Akteurs mit konkretem Anliegen 2. für die Beantwortung einer offenen Frage 3. wenn alle wesentlichen Interessen an einen Tisch geholt werden, 4. wenn sich alle Beteiligten in einem professionell moderierten Dialog... 5. ...und auf eine gemeinsame Antwort oder gemeinsames Handeln verpflichten 6. und wenn ihre Ergebnisse intelligent mit formalen Entscheidungsprozessen verkoppelt werden. Über diese Regeln hinaus gibt es eine Vielzahl von spezifischen Verfahrensformaten, Blaupausen für die unterschiedlichsten Situationen der Bürgerbeteiligung. Statt das Rad neu zu erfinden, lohnt sich der Blick nicht nur auf die in Deutschland erprobten Methoden, sondern auch auf die Vielfalt der Formate, die sich in den USA, Großbritannien oder Dänemark bewährt haben.
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Drei Beispiele moderner Bürgerbeteiligung aus den USA 1. Bürgerkonferenz im Turbomodus 2004 halten in Charlotte, NC, eintausend Bürger eine Konferenz zur Schul- und Jugendpolitik ab. An jedem Tisch sitzen zehn zufällig ausgewählte Bürger, die über Videoleinwände mit dem Podium und allen anderen Tischen vernetzt sind. Ein Moderator führt die Teilnehmer in die wichtigsten Fakten ein und startet die Diskussion an den Tischen. Durch den Einsatz moderner Computertechnik und eines Thementeams werden die Inhalte der Diskussion immer wieder aufbereitet und zur elektronischen Abstimmung vorgestellt. Nach acht Stunden steht die neue politische Agenda in zehn priorisierten Forderungen an regionale Entscheider. Damit wurde mehr an Information und Aktivierung der Bürger erreicht als mit zigtausend Broschüren und allen Bürgersprechstunden zusammen. 2. Politikentwicklung unter Strom Die National Commission on Energy Policy gründet sich 2004 angesichts steigender Ölpreise, einer Blockade beim Klimaschutz sowie verheerenden Stromausfällen. Ihr gegenüber steht ein unüberschaubares Geflecht aus Akteuren und je nach Bundesstaat variierenden Regeln. Es gibt keine Behörde, die zentral entscheiden könnte, und jeder Präsident der letzten Jahrzehnte hat sich an diesem Politikfeld einen ordentlichen Stromschlag geholt. Deshalb nehmen über fünfzig Institutionen an dem breit angelegten Diskurs teil, der von einer achtzehnköpfigen Kommission mit Mitgliedern aus allen gesellschaftlichen Bereichen geleitet wird. Die erste kohärente nationale Energiestrategie wird im Konsens verabschiedet. 3. Standortdebatte in Fesseln Nach dem Fall der Sowjetunion müssen die amerikanischen Streitkräfte zuhause Standorte schließen. Aber welcher Kongressabgeordnete kann dem Verlust von Arbeitsplätzen in seinem Heimatbezirk zustimmen? Ein klassisches Dilemma. 2001 kann das Department of Defense aber verkünden, dass seit 1991 einvernehmlich fast zwanzig Prozent der Standorte geschlossen wurden, mit Einsparungen von sieben Milliarden Dollar, dank eines diskursiven Verfahrens. Der Defense Base Closure and Realignment Act (BRAC) von 1990 sieht vor, dass eine unabhängige Kommission nach Beratung mit den Bürgern der betroffenen Kommunen eine Liste von Standorten vorlegt, die der Kongress nur im Ganzen annehmen oder ablehnen kann. Die Politik bindet sich also selbst die Hände in der Verhandlung. Mit Erfolg!
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Das Repertoire moderner Bürgerbeteiligung So zeigt beispielsweise das „Bürgergipfel“-Verfahren (eine moderne Interpretation der traditionellen neuenglischen ‚Town Hall Meetings’), wie sehr große Zahlen von Teilnehmern so ins Gespräch gebracht werden können, dass jeder eine Stimme hat und dennoch ein gemeinsames Ergebnis erreicht wird.
Großverfahren: Millionen Bürger am Runden Tisch Beteiligungsverfahren mit großen Teilnehmerzahlen sind methodisch eine besondere Herausforderung – die sich aber durch Kombination verteilter und simultaner Veranstaltungen, und durch Kombination von Online und Offline-Elementen in Zukunft meistern lassen wird. Element 1: Online-Beteiligungsverfahren Dezentral, barrierefrei und fast unbegrenzt skalierbar binden sie große Mengen von Beteiligten in einen vorbereitenden und begleitenden Dialog ein. Element 2: Integrierte lokale Foren Einfach zu organisieren und flexibel werden sie inhaltlich miteinander verbunden, um ein breites Bild lokaler Meinungen und Unterschiede zu erhalten. Element 3: Deliberative Großveranstaltungen Groß und medial attraktiv inszeniert bringen sie Tausende Bürger gleichzeitig zusammen, um ihnen eine Stimme für ihre Meinung zu geben. Element 4: Simultanveranstaltungen und Fernbeteiligung Per Fernseh-Livekonferenz miteinander verbunden können Zehntausende gleichzeitig in echte Dialoge miteinander eintreten und zusätzliche Impulse von den Beteiligten im Internet und den Fernsehzuschauern aufnehmen.
Wie funktioniert das? In einem ausreichend großen Veranstaltungssaal nehmen die Bürger an Tischen mit jeweils etwa zehn Teilnehmern Platz. An diesen Tischen findet der Großteil der inhaltlichen Arbeit statt. An jedem Tisch sorgt ein professioneller Moderator dafür, dass jeder Teilnehmer gehört wird und die Gruppe miteinander zu Ergebnissen kommt. Alle
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Tische durchlaufen gleichzeitig einen vorstrukturierten Diskussionsablauf, der von der Bühne aus moderiert wird. Die Diskussionsergebnisse an den Tischen werden ständig in Computer eingegeben, die mit einem zentralen Redaktionsteam verbunden sind. Dieses Team fasst laufend die Zwischenergebnisse aller Tische zusammen und stellt sie in kurzen Plenarphasen zur Abstimmung. Dafür hat jeder Bürger ein kleines elektronisches Abstimmungsgerät ähnlich einer Fernbedienung. (Ein eingangs durch elektronische Eingabe gewonnenes, anonymes demographisches Profil jedes Bürgers macht so auch eine anspruchsvolle Auswertung von Meinungsprofilen möglich.) Auf diese Art und Weise ist jeder Bürger in eine überschaubare und professionell unterstützte Kleingruppe eingebunden und gleichzeitig Teil einer sich stetig inhaltlich voran bewegenden Gesamtdiskussion. Dieses Verfahren hat sich bereits auf vielen verschiedenen Ebenen bewährt: Von einer Gemeindekonferenz mit zweihundert Teilnehmern an der hessischen Bergstraße über eine Stakeholderkonferenz für den Rat für Nachhaltige Entwicklung bis hin zu einer Diskussion mit viertausend Teilnehmern über die Neugestaltung des zerstörten World Trade Center in New York lassen sich moderne und elektronisch unterstützte Bürgergipfel beinahe beliebig skalieren. Eine entscheidende Überlegung bei der Auswahl des richtigen Beteiligungsformats ist die Rolle, die den Bürgern zugewiesen wird. Bürgerbeteiligungsverfahren erlauben es, Bürger jenseits ihrer traditionellen Rollen – als Empfänger von Informationen oder als Wähler einzubinden. So kann es für einen Entscheider beispielsweise in einer frühen Phase einer politischen Entscheidung wichtig sein, ein detaillierteres Meinungsbild zu erhalten als es durch Meinungsumfragen möglich ist. Hier könnte er ein Format wie das Deliberative Polling nutzen. Will er dagegen gemeinsam mit Bürgern neue Ideen generieren, nutzt er das Format der Zukunftskonferenz. Bei beiden liegt der Schwerpunkt darauf, eine Vielfalt von Meinungen zu generieren, ohne dabei ein konsensuales Ergebnis mit ihnen erzielen zu wollen. Geht es dagegen darum, mit Bürgern in einen Dialog über die Prioritäten der Stadtentwicklung oder über den Entwurf einer neuen Gesetzesregelung zu treten, dann wäre ein Bürgerpanel oder der eben geschilderte Bürgergipfel die Methode der Wahl. Hier wird Raum geschaffen für eine informierte Debatte, die zu einem gemeinsamen Ergebnis führt, etwa einer Reihe von Empfehlungen oder sogar einer eigenen politischen Erklärung.
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In einer dritten Rolle können Bürger auch als Mitplanende eingebunden werden, etwa durch Bürgerhaushalte oder durch eine sogenannte Charette, die in kurzer Zeit viele konkrete Projektvorschläge gleich mit den Bürgern zur gemeinsamen Umsetzung bringt. Bürger können mehr als informiert werden und alle vier Jahre zur Wahl gehen. Zahllose Erfahrungen aus dem In- und Ausland beweisen, wie erfolgreich die gemeinsame Gestaltung von Politik sein kann – und sie stellen ein breites Repertoire von Methoden zur Verfügung, an denen sich Entscheider orientieren und von denen sie lernen können. Rolle der Bürger
Volksentscheid
Bürger planen
Bürger beraten
Bürger werden gefragt
Einfluss auf Entscheidungen
Bürger entsc heiden
Charette
Bürgerhaushalt
Planungszelle Citizen Jury
Planning4Real CommonsCafé Bürgergipfel
Bürgerpanel Konsenskonferenz Zukunftskonferenz Fokusgruppe
Deliberative Polling
Delphi-Studie
Bürger werden infor mi ert
Meinungsumfragen
Informationskampagnen
10
50
500
5000+
Anzahl Teiln ehmer
Abb. 6 Typologie von Beteiligungsverfahren
Reformen gestalten durch Bürgerbeteiligung Wir haben die Frage geklärt, ob es gehen kann, mit wem es gehen kann und wie es gehen kann. Offen ist die Frage, in welchen Fragen sich der Entscheider dieser ganzen Mühe unterziehen und in einer ohnehin schon komplizierten Entscheidungsvorbereitung noch mehr Akteure beteiligen sollte.
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Kein Thema zu komplex: Bürgerberatung zur Hirnforschung Die erste Reaktion der meisten Politiker: Unmöglich. Zu komplex die Materie, zu ungebildet die Bürger, zu verschieden die nationalen Rahmenbedingungen. Zwei Jahre später versichern die Skeptiker: „Das war ein Blick in die Zukunft der Bürgerbeteiligung.“ (Die Zeit) Meeting of Minds – Ein europäischer Politikberatungs-Diskurs mit zufällig ausgewählten Bürgern aus neun Mitgliedsstaaten, in sieben Sprachen, resultierend in gemeinsamen, fachspezifischen und europäischen Politikempfehlungen, und zwar zu den gesellschaftlichen Folgen der Erkenntnisse moderner Hirnforschung. Im Auftrag eines Konsortiums europäischer Wissenschaftsstiftungen unterstützte IFOK die multilingualen europäischen Konferenzen dieses Verfahrens, in denen die Ergebnisse der nationalen Bürgergruppen zu gemeinsamen europäischen Ergebnissen zusammengeführt wurden. Als die Bürger ihre Empfehlungen im Januar 2006 im Europäischen Parlament vor wichtigen Entscheidern vorstellten, hatten sie die Beteiligungsskeptiker gleich mehrfach widerlegt: •
Mehrsprachige Bürgerdialoge sind möglich – indem LiveÜbersetzung und innovative Moderationsformate kombiniert werden.
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Laiendiskurse über „Expertenthemen“ sind möglich – indem lebensnahe Information (zum Beispiel als Szenarien formuliert) mit abrufbarem Expertenwissen kombiniert wird.
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Anspruchsvolle europäische Ergebnisse sind möglich – indem Inhalte immer wieder zusammengefasst, durch elektronische Abstimmung bewertet und priorisiert werden. (weiterführende Informationen: www.meetingmindseurope.org)
Politische Entscheidungen sind meist komplex. Neben Sachinformationen fließen auch die Bewertung von Mehrheiten, von Stimmungen sowie einer Reihe von Faktoren außerhalb der Dinge, die sich öffentlich diskutieren lassen mit ein. Für all dies haben Entscheider reichlich fachlichen Rat. Aber bereits bei der Bewertung von Informationen gibt es mehr als eine richtige Antwort. Auch die Haltung der Bürger wird meist eher intuitiv bewertet. Hier liegt der Wert einer professionellen und neutralen Moderation, durch den man auf viele Aspekte (Erkenntnisse) kommt, die sonst nicht möglich gewesen werden. Nicht trotz der Komplexität, sondern wegen der Komplexität der Politik macht Bürgerbeteiligung Sinn.
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Unsere erste These: Es macht einen enormen Unterschied, ob ein Politiker in seiner Bürgersprechstunde mehr oder weniger zufällige Meinungsfragmente bekommt oder ob sich ausgewählte Bürger unter professioneller Anleitung mit den Argumenten auseinander setzen und miteinander um eine gemeinsame Position ringen. Sozialwissenschaftler sprechen von der „Weisheit der Vielen“, nach der Gruppen meist gemeinsam intelligenter und effizienter sind als die klügsten Individuen. Diese Weisheit ist natürlich nicht neu, und weitaus mehr politische Entscheider nutzen heute auf ganz andere Weise das Potenzial der Beteiligung als das noch in der Vorgängergeneration der Fall war. In der Regel handelt es sich dabei aber noch um Einzelprojekte zu klar eingrenzbaren Einzelaspekten politischer Entscheidungen. Unsere zweite These aber ist: Bürgerbeteiligung kann mehr als kleine Einzelaspekte von Entscheidungen unterstützen. Durch Bürgerbeteiligung ergeben sich neue Chancen für die eingangs kritisierte Reformkommunikation. Bürgerbeteiligung kann auch die großen Themen des gesellschaftlichen Wandels für Politiker gestaltbar machen.
Der Beteiligungs-Werkzeugkasten von Morgen: Vier Merkmale Merkmal 1: Größer und schneller • Simultanveranstaltungen mit mehreren Zehntausend Bürgern • Fernsehformate zu politischen Fragen mit TED-Abstimmungen • Schnellverfahren zu tagesaktuellen Problemen Merkmal 2: Mehr Technologie • Online-Beteiligung durch Wikis und andere kollaborative Tools • Computerunterstützte Moderation und Dokumentation • Ortsunabhängige Ad-hoc-Beteiligung über das Mobiltelefon Merkmal 3: Weniger Barrieren • Multilinguale Dialoge mit computerunterstützter Übersetzung • Beteiligung artikulationsschwacher und schwer aktivierbarer Zielgruppen • Selbstmoderierte zu-Hause-Dialoge Merkmal 4: Integriert mit demokratischen Verfahren • Agenda Setting für Parlament und Regierung • Mitgestaltung von Parteiprogrammen • Gesetzlich vorgeschriebene Beteiligungsverfahren
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Wer als Entscheider die großen Probleme gestalten will, muss aber auch den Mut haben, sich und den Bürgern die großen Fragen zu stellen. Wieder der Fall Europa: Es ist unter Politikern zum Allgemeinplatz geworden zu sagen, dass es in der aktuellen Krise um eine Neubegründung Europas geht. Richtig stellen sie fest, dass die seit vier Jahrzehnten gültigen Begründungen des Friedens- und Wohlstandsprojekts keine Selbstläufer mehr sind, dass sie in den Generationen junger Europäer schon längst keine Begründungen für „mehr Europa“ sind. Inzwischen stellt eine Mehrheit von Europäern an Europa Fragen, die vielen Europapolitikern bislang eher fremd oder gar lästig waren. Das ist die Frage nach dem „Was“ der Bürgerbeteiligung. Die Reformdebatten der vergangenen Jahre drehten sich darum, ob durch Kürzung von Leistungen das Rentensystem sicher gemacht, das Wachstum angekurbelt, die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt oder das Gesundheitssystem zukunftsfähig gemacht werden kann. Für viele Menschen steckte aber hinter der Frage, ob auf den vorgeschlagenen Wegen die Ziele erreicht werden können, die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Viele alte Vorstellungen dessen, was als sozial gerecht angesehen wird, wurden durch die Reformen herausgefordert. Ein erstes Beispiel: Besteht unter den Bedingungen des Wandels die Herausforderung wirklich darin, dass Rentner möglichst hohe Renten bekommen, oder vielleicht vielmehr darin, dass die Zukunftsfähigkeit des Rentensystems nicht mit zu hohen Lasten der jungen Generation bezahlt wird? Oder eine andere Frage: Ist angesichts des analysierten Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und einer hohen Arbeitskostenbelastung durch Sozialversicherungsbeiträge die Entkopplung der Sozialversicherungsfinanzierung von den Arbeitslöhnen der gerechte Weg, oder soll am alten System festgehalten werden? Oder: Sind möglichst hohe Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit zwar vielleicht gerecht gegenüber den Arbeitslosen, aber unfair gegenüber den Steuerzahlern mit kleinen Einkommen? Viele alte Parameter und Werteentscheidungen für eine sozial gerechte Gestaltung der Gesellschaft haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verschoben. Das Zusammenleben der Menschen hat sich verändert, ihre ökonomische Lage hat sich verändert, und auch ihre Werte haben sich verändert. Manche Reform in den letzten Jahren hat versucht, dem Rechnung
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zu tragen, und ist dabei zu leichtfüßig darüber hinweggegangen, dass das Gerechtigkeitsideal unserer Gesellschaft diesen Veränderungen nicht einfach gefolgt ist. Vielleicht wäre der Unterstützung von Reformvorhaben viel mehr als mit werbetechnischen Maßnahmen damit gedient, dass Bürger die Chance erhalten, neue Ideen von Gerechtigkeit unter den veränderten Bedingungen zu entwickeln.
Eine neue Dimension: Die „European Citizens’ Consultations“ In einem bisher einmaligen Prozess ermöglichten die „European Citizens’ Consultations“ (ECC) zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern, gemeinsam über die Zukunft der Europäischen Union zu debattieren. In gleichzeitig stattfindenden Veranstaltungen in allen 27 Mitgliedstaaten entwickelten sie gemeinsame Visionen für Europa und brachten ihre Empfehlungen in die anstehenden politischen Entscheidungen zur Zukunft Europas ein. Dieses von IFOK entwickelte und im Auftrag der belgischen König-Baudouin-Stiftung koordinierte Projekt gewann den größten Förderetat von Margot Wallströms „Plan D“ und hat in Brüssel bereits eine systematische Wirkung in der Planung zukünftiger Dialogstrategien entfaltet: Ab 2008 sollen ECC-Bürgerkonferenzen nach Vorstellung der Kommissarin die europäischen Ratsgipfel mit Bürgermeinungen vorbereiten. Die „European Citizens’ Consultations“ werden von der breitesten in Europa je zustande gekommenen Partner- und Fördererallianz in allen Mitgliedsstaaten umgesetzt – ein Konsortium, dass europaweit politische Dialoge mit Laien umsetzen kann. Das Projekt begann gleich mit einer Pionierleistung: Im Oktober 2006 einigten sich 200 durch Meinungsforschungsinstitute zufällig ausgewählte Bürger aus allen Mitgliedsstaaten in einer Konferenz mit 20 Sprachen auf eine „Europäische Bürgeragenda“ mit Energie und Umwelt, Familie und sozialer Sicherung, globaler Rolle und Einwanderung als Themen für die folgenden 27 Nationalen Bürgerkonferenzen. Die „Europäische Bürgerkonferenz in Deutschland“ fand im Februar 2007 in Berlin unter Schirmherrschaft von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und gefördert von der Robert-BoschStiftung statt. Ergänzt und vertieft wurde der deutsche Dialogprozess in zahlreichen weiteren Regionalen Bürgerforen, die den Prozess in die deutschen Kommunen weitertrugen. Im Herbst 2007 gewannen die „Europäischen Bürgerkonferenzen“ den höchsten Preis der PR-Branche, den Deutschen PR-Preis in der Kategorie Public Affairs und Lobbying.
Und am Ende wird entschieden
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All diesen Fragen ist eine Einsicht gemein: Gerechtigkeit ist nichts, was irgendwo festgeschrieben ist. Sie muss immer neu ausgehandelt werden. Die Gesellschaft muss immer neu bestimmen, was sie gerecht findet. Tut sie es nicht, bewegen sich einzelne Reformkonzepte auf dünnem Eis, und fertige politische Konzepte brechen in der Diskussion ein. Mit Bürgerbeteiligungsverfahren kann es dagegen gelingen, gemeinsam feste Fundamente von gesellschaftlichen Vorstellungen auszuhandeln. Dabei ist mitnichten zu befürchten, dass Bürger den Aufbruch und die Veränderung scheuen, sondern im Gegenteil zeigt die Erfahrung, dass sie ein feines Gespür für diese Veränderungen haben und oft weit mutiger sind als in der Aushandlung ihrer Repräsentanten und Interessengruppen sichtbar wird. Mit den verschiedenen skizzierten Formaten der Bürgerbeteiligung haben wir heute endlich ein Repertoire an Methoden, die es uns erlauben, dieses Potenzial auch zu heben. Natürlich gibt es dabei Grenzen der Beteiligung, aber wir haben sie noch lange nicht erreicht – im Gegenteil: wir haben noch nicht einmal begonnen, ihr Potenzial für die Revitalisierung unserer Demokratien zu nutzen.
Und am Ende wird entschieden Die Herausforderung an die nächste Generation politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entscheider lautet: Entscheidungen so vorzubereiten, zu treffen und umzusetzen, dass sie dafür Unterstützung erhalten und verdienen. Beteiligung ist ein wichtiger Teil der Antwort auf diese Herausforderung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie schafft ein tieferes und differenzierteres Verständnis für kontroverse Sachverhalte, indem Beteiligte die Begründungen für unterschiedliche Perspektiven erfahren. Sie ist aber auch ein Entdeckungsprozess, in dessen Verlauf neue Lösungsräume und Kompromisse erschlossen werden, die vorher nicht sichtbar waren. Dieses Verständnis mag die Vorstellungen vieler herausfordern, die sich auf ihren eingefahrenen Gleisen noch wohlfühlen. Aber dieses Verständnis stellt auch ein aus dem Gleichgewicht geratenes Gefüge wieder her – der ernsthafte Austausch von politischen und gesellschaftlichen Meinungen gewinnt über das Einbahnstraßen-Marketing fertiger politischer Produkte.
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Die Europäische Union hat mit dem Ausgang der Abstimmungen über die neue Verfassung genau die Erfahrung mit diesem Ungleichgewicht gemacht. Die wichtigste politische Herausforderung besteht jetzt in der Wiedergewinnung von Vertrauen in die Richtung der europäischen Entwicklung. Das viel zitierte „Mitnehmen“ der Bürger drückt dabei durchaus aus, was schon Lao-Tse wusste: „Sag es mir, und ich werde es vergessen, zeige es mir, und ich werde mich daran erinnern. Beteilige mich, und ich werde es verstehen.“ Es gilt, mit den Bürgern gemeinsam zu gestalten. Wer einmal Bürger erlebt hat, die sich – mit professioneller Moderation freilich – über ein ihnen fremdes Politikfeld unterhalten und ihre klugen Empfehlungen den Entscheidern vorgestellt haben, der bekommt eine Ahnung davon, wie viel Sozialkapital noch vor den Türen der Rathäuser und der Konzernzentralen zu gewinnen ist. Das bedeutet mitnichten, dass wir weniger Führung bräuchten. Politische Führung besteht genau darin, das Potenzial der Beteiligung zu nutzen. Einem Beteiligungsverfahren zuzustimmen bedeutet dabei nicht, sich der eigenverantwortlichen Bewältigung von Problemen zu entziehen. Der Beteiligende drückt mitnichten aus, er habe keine Meinung und alles sei offen. Wann und wer beteiligt werden soll, ist die zentrale Lernfrage für Entscheider, die ihre Spielräume erweitern und Herausforderungen annehmen wollen. Niemand kann ihnen diese Entscheidung abnehmen. Auch wenn die Entscheidung zur Beteiligung gefallen ist, bleibt der Entscheider selbst zentral. Der Rahmen muss verlässlich vorgegeben werden und steckt die möglichen Ergebnisse der Beteiligung ab. Und am Ende wird entschieden – nicht von den Beteiligten, sondern vom Entscheider selbst.
Danksagung
Dieses Buch gäbe es nicht ohne das Vertrauen unserer Kunden. Sie haben uns beauftragt und uns die Gelegenheit gegeben, die Überlegenheit von Beteiligung zu beweisen. Dieses Buch gäbe es nicht ohne die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von IFOK in Bensheim, Berlin, Brüssel, Düsseldorf und München. Sie haben die Erfahrungen gesammelt, von denen wir hier berichten. In besonderer Weise hat sich Andrea Fischer in viele der Texte eingebracht. Dieses Buch gäbe es nicht ohne die geduldige und vorbildiche Unterstützung unserer Agentin Erika Stegmann, unserer Lektoren Andreas Hohlt und Daniela Wolf-Hornig sowie des Springer-Verlags. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank!
Über die Autoren
Dr. Hans-Peter Meister Der promovierte Biologe (Würzburg), geboren 1959, gründete 1995 das Institut für Organisationskommunikation (IFOK) und leitet es seitdem. Zuvor war Meister Pressesprecher im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, anschließend in der Öffentlichkeitsarbeit der BASF AG tätig. Diese Erfahrungen führten ihn zur Geschäftsidee von IFOK: der Steuerung von Kommunikation sowie der Moderation von Konflikten innerhalb und zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren und Interessengruppen. Felix Oldenburg Der studierte Philosoph (Bonn, Tübingen, Oxford) und Politikmanager (Georgetown), geboren 1976, ist seit 2002 bei IFOK. Zuvor arbeitete er als Gründer eines Internetunternehmens sowie als Managementberater bei McKinsey&Company in London. Für IFOK leitet er in Berlin die Geschäftsfelder New Governance und Corporate Social Responsibility.