HEINRICH EISEN
Bahnhof Russkinaja
meldet sich nicht ...
ROMAN
LANZENREITER VERLAG
FRANKFURT A. M.
Umschlage...
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HEINRICH EISEN
Bahnhof Russkinaja
meldet sich nicht ...
ROMAN
LANZENREITER VERLAG
FRANKFURT A. M.
Umschlagentwurf: Meyer-Wagner, Arnoldshain
Alle Rechte vorbehalten!
Copyright 1954 by Lanzenreiter Verlag, Frankfurt a. M.
Gesamtherstellung: H. G. Gachet & Co., Langen Bez. Frankfurt a. M.
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VORWORT
Am Anfang dieses Buches muß ein Wort des Dankes stehen an die Arbeiter und Beamten der Deutschen Bundesbahn, die mir ermöglichten, es zu schreiben. Vom Bahnunterhaltungsarbeiter bis zum Abteilungspräsidenten, vom Süden bis zum Norden unseres Bundesstaates, haben sie große Opfer an „Zeit und Mühe gebracht, um mich in die Materie Eisenbahn einzuführen. Sie haben mir ihre persönlichen Erlebnisse erzählt und zum Studium Berichte und Meldungen aller Art, Karten, Pläne, Fotos — einen Berg von authentischen Unterlagen zur Verfügung gestellt. Aus ihnen wurde Dieses Buch geformt. Die Schwierigkeit war, Hunderte von Erlebnissen von Hunderten von „blauen“ und „feldgrauen“ Eisenbahnern an Hunderten von verschiedenen Orten nicht einfach reportagenhaft in loser Folge aneinanderzureihen, sondern — wie es ein Roman erfordert — zu einer zusammenhängenden Handlung mit einer kleinen Gruppe von Hauptfiguren zu verdichten, in der sich gleichwohl das Ganze widerspiegeln sollte. So mußte ich in diesem und jenem Bahnhof eine ganze Reihe von Bahnhofsanlagen und ihre Umgebungen zusammenfügen, um sie zum Schauplatz weit verstreuter Ereignisse machen zu können. Diese Bahnhöfe haben daher auch „Künstlernamen“ erhalten. In seltenen Fällen war eine Zeitverschiebung notwendig und viele Personen mußten in einige wenige ausgeprägte Charaktere zusammengefaßt werden. Daß auch sie nicht ihre wirklichen, sondern Romannamen tragen, ist selbstverständlich. Der vorgesehene Umfang des Buches reichte nicht aus, um aus der Fülle des Sachmaterials auch nur das Wesentlichste der Handlung einzufügen. So mußte dieses Buch auf die Ereignisse bis zum Jahresende 1942 beschränkt werden, dem Ende des Vormarsches und des Aufbaues. Die Jahre des Rückzuges und der Zerstörung sollen in einem zweiten Band „Der Schienenwolf“ gestaltet werden. Ich werde mich glücklich schätzen, wenn es mir 3
gelungen ist, nicht nur den Landsern der stählernen Straßen selbst mit diesem Buche Freude zu bereiten, sondern ihr in der Stille durchgekämpftes und durchgelittenes Frontschicksal, und damit den Beruf des Eisenbahners überhaupt, unserem Volke nahe zu bringen. München, im Herbst 1954 Der Verfasser.
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1. KAPITEL
Das größte Glück auf der Erde ist für den Verdurstenden ein Schluck Wasser, für den Verhungernden ein Stück Brot, für einen Dummkopf seine Einbildung und für den Frontsoldaten die Fahrt in den Urlaub. Günther Racke fuhr wie ein Glücksprinz im Tal der südlichen Morawa durch das serbische Gebirge, von Saloniki herauf Belgrad entgegen. Dann kam Agram. Laibach war nicht mehr weit. Und dann Deutschland. Was ist es für eine Lust zu leben! Er hatte sich im Fronturlauberzug einen Fensterplatz erobert. Er konnte nicht müde werden hinauszusehen, die Schönheit der Landschaft und ihren Frieden in die Seele zu trinken. Voraus hing sein Auge an den Windungen des in der Sonne blitzenden Schienenwegs, an der Lok und an den Signalen. Das Auge des Eisenbahners. Dem Bahndamm und der Lokomotive hatte sein Herz gehört, so weit er sich zurückerinnern konnte. Die Lok war das bewunderte Geschöpf seiner Kindheit gewesen, das, was für andere Dreikäsehochs der Bernhardiner oder das Pony war. Daran war der Großvater schuld, der ihn auf den Knien schaukelte, wenn er vom Dienst nach Hause kam und ihm von der Fahrt erzählte, ihm die Lok nahebrachte, als ob sie ein lebendes Wesen wäre. Der ihn auch manchmal auf seine Rangierlok mitgenommen hatte. Er wußte mit 12 Jahren besser auf ihrem Führerstand Bescheid als in seinen Schulbüchern. Dann kam der Bahndamm dazu mit den honigsüß duftenden gelben und blauen Lupinen; mit den summenden Telegraphenstangen, auf denen im Frühjahr in langen Reihen die Stare und im Herbst die Schwalben saßen; mit den blitzenden Schienen, auf denen seine Knabensehnsüchte in die Ferne zogen. Er war nicht Eisenbahner geworden, weil es der Großvater, der Vater und auch der acht Jahre ältere Bruder waren, sondern weil die Eisenbahn seine große Liebe war. Zwar hatte er zu seinem 5
Leidwesen das Abitur machen müssen, um die gehobene nichttechnische Laufbahn ergreifen und es bis zum Amtmann, vielleicht bis zum Reichsbahnrat bringen zu können, wäre aber am liebsten schon mit 14 Jahren aus der Schule davon und, so wie andere zur See, zur Lok gelaufen. Inzwischen war er im Betriebsdienst Inspektor geworden, aber zweimal hatte er in seinen Ferien freiwillig Heizerdienst gemacht und dabei den Lokführer Bunz zum Freunde gewonnen. Man gewann solche Freundschaft nicht leicht, wenn man sie aber besaß, konnte man auf sie bauen wie auf Fels. Er hatte seiner Wehrpflicht genügt und zwei Jahre bei der Panzerabwehr gedient, war im August 1939 zu einer Übung einberufen worden und aus den vier Wochen Manöver waren nun schon über eineinhalb Jahre Krieg geworden, aus dem Unteroffizier ein Feldwebel, im Knopfloch das rote Band des E.K. Jetzt erst wußte er, was Leben ist. Ein stündliches, wunderbares Geschenk am Rande des Todes. Der SF-Zug aber trug ihn auf der stählernen Straße in eine kleine Ewigkeit des Lebens hinein. Die Räder klangen, die Schienen sangen und in seinem ganzen bisherigen Dasein hatte ihn noch nie ein solcher Sturm der Freude durchbraust. Hinter einer Bergnase tauchte eine Station auf. Herein! Herein! winkte der hochstehende Signalarm. Die Ausfahrt war nicht frei; der Zug hielt mit kreischenden Bremsklötzen. Und in diesem Augenblick gab es eine kurze Knallerei. Die Urlauber drängten an die Fenster, nicht ängstlich oder besorgt, nur neugierig. Man fuhr in Urlaub, was ging einen da eine Knallerei an! Sie war auch schon vorbei. Man konnte nichts Besonderes feststellen, und sie wandten sich lachend und Witze reißend ab, um gemächlich auszusteigen. Der Zug hatte 30 Minuten Aufenthalt, es gab warme Verpflegung. Der Pak-Feldwebel Racke aber blieb am Fenster stehen und musterte aus verkniffenen Augen den Güterzug auf dem Geleise zur Front. Mit Eisenbahner äugen. Das war doch ein Munitionszug! Und der dritte Wagen hinter dem Tender brannte — Das schien niemand zu sehen oder es schien niemand zu stören. Die Lok hatte Dampf, sogar Überdruck. Es zischte wild
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aus dem Sicherheitsventil. Die Fahrstraße war frei — warum fuhr der Lokführer nicht raus!? Jenseits des Bahnhofs knallte es wieder. Racke wartete nicht, bis er durch den von den Kameraden verstopften Gang zur Türe kam, er schwang sich durchs Fenster. Einen Augenblick dachte er daran, den Zugteil hinter dem brennenden Wagen abzukuppeln. Aber dadurch ging vielleicht die rettende Zeit verloren. Außerdem wußte er nicht, ob nicht noch mehr Wagen brannten, ohne daß es vorläufig zu sehen war. Er rannte also auf die Lok los, turnte hinauf. Der Lokführer hing auf der anderen Seite weit zum Fenster hinaus. „Sakrament nochmal!“ schrie Racke, „warum fährst du denn nicht?“ Der Mann rührte sich nicht. Racke riß ihn herum — er war tot. Von der Stirne bis zum Kinn eine blutige Masse. Handgranate. Der Heizer war nicht da, auch Zugbegleitpersonal weit und breit nicht zu sehen. Drüben sah er ein Dutzend Kerle in den Bergwald laufen, hinter ihnen her stolperten und knallten ein paar Landser. Jetzt schienen auch die Landesschützen der Bahnhofswache lebendig zu werden, jedenfalls liefen sie mit den Knarren in den Händen, den Stahlhelm auf den Schädel stülpend, aus ihrem Wachlokal heraus. Racke packte mit einem Blick auf Steuerung und Instrumente den Regler, mit der anderen Hand den Griff der Dampfpfeife, fuhr mit gellendem Pfiff und Getöse los. Schon nach einer Zuglänge begann die enge Kurve um die Bergnase. Wenn er nur 500 Meter weit kam, war der Bahnhof außer Gefahr. Er überlegte sich, ob er nicht noch abspringen, den Zug einfach seinem Schicksal überlassen sollte? Jetzt konnte er sich noch in eine Deckung werfen und sein Leben retten. Wenn der Zug aber aus irgend einem Grunde nicht in die Luft flog und dann führerlos und mit immer größerer Geschwindigkeit auf die nächste Station zuraste? Racke blieb, aber er kletterte auf den Tender, er wollte wenigstens frei stehen, wenn das Feuerwerk anging. Er war ein Fantast; er meinte, es bestünde dann die Möglichkeit, daß er vom Explosionssturm getragen, zappelnd, aber vielleicht wohlbehalten durch die Gegend flöge. Er konnte nun einmal nicht untätig auf ein Unglück warten. Auch an der Front hatte er in solchen Lagen irgend etwas anstellen müssen und wenn es noch so zwecklos 7
oder lächerlich erschienen war. Dann trieb ihn eine solche Unruhe, daß er nicht dagegen ankam. Die brave Lok zog, als wüßte sie, um was es ging. Bahnhof und SF-Zug verschwanden um die Kurve. Racke turnte herunter vom Tender — Regler zu — Schnellbremse — der Zug bockte wie irrsinnig. Racke dachte, er reißt auseinander. Dann stand der Zug. Jetzt hangelte er sich die Eisentreppe hinunter, rannte zum brennenden Wagen. Der flammte schon ganz lustig. Sprengstoff war da wohl nicht drin, sonst wäre die Höllenfahrt längst vorüber gewesen. Racke kuppelte den Zug hinter ihm ab, hörte Getrappel. Zwei Schaffner kamen angelaufen. Sie blickten den Feldwebel dumm an, aber sonst waren sie im Bilde. „Lauf und hol Leute her!“ sagte er zum einen, und zum anderen: „Komm mit!“ Schon war er mit ihm auf der Lok, fuhr mit der lodernden Fackel hinten dran los. Er war noch nicht hundert Meter weit, da sagte der andere: „Wo willst du denn hin? Jetzt kann doch nichts mehr passieren. Die drei Wagen hier vorne sind nämlich leer.“ „Mensch!“ Racke lachte, so blöd wie man eben lacht, wenn einem der Tod freundlicherweise mal wieder nur einen Schrecken eingejagt hat. „Da pressiert's ja nicht mehr!“ Diesmal bremste er mit Gefühl und hielt so sanft, daß der Schaffner Maul und Augen aufriß. „Du bist ja vom Fach!“ stellte er fest. „Sicher. Ich bin im Nebenberuf Reichsbahninspektor und das Lokfahren hat mir mein Großvater schon beigebracht, als er mich noch auf den Knien schaukelte.“ Sie lachten beide und stiegen gemächlich ab, machten den brennenden Wagen, der jetzt fast zur Hälfte in Flammen stand, mit einiger Mühe los. Und da passierte doch noch etwas: es zerriß ihn mit Krachen. Entweder hatte das Begleitkommando eine Kiste Handgranaten darin gelagert oder einer der serbischen Banditen eine Zeitmine angebracht. Der Schaffner sackte ohne einen Laut zusammen und Racke warf es vor Schmerz um. Auf der Station kam er wieder zu sich. Ärzte, Sanitäter, Rotkreuzpflegerinnen bemühten sich um ihn. Er hatte einen
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eisernen Haken an den Schädel bekommen und ein glühender Holzriegel hatte ihm den linken Ellenbogen zerschmettert. Es war das kleinere Unglück. Der vierte Wagen hatte 15 cmGranaten geladen. Und so weiter. Die Ärzte bedauerten ihn: Der Arm wird leider steif bleiben. Die Kameraden beglückwünschten und die meisten beneideten ihn: Mensch! Für dich ist der Krieg aus! „Ohne Sie wären wir in die Luft geflogen“, sagte ein General aus dem Urlauberzug, schüttelte ihm die Hand, ließ sich seine Personalien geben und machte sich Notizen über den Vorfall. Der Urlauberzug fuhr mit tausend Geretteten pünktlich weiter in die Heimat, der Munitionszug mit einstündiger Verspätung zur Front. Günther Rackes Denken und Empfinden war in diesen Stunden und noch viele Tage lang von den Schmerzen und den Betäubungsspritzen völlig benommen. Wenn er über die unerwartete und. jähe Wendung seines Schicksals nachsann, wußte er nicht, ob er sich freuen oder darüber klagen sollte. Er grollte wegen des Armes, aber mußte er nicht dankbar und glücklich sein, daß er dafür die Heimat und das Leben nicht nur für eine kleine Ewigkeit von vierzehn Tagen, sondern für unausdenkbar lange gewonnen hatte, für ,immer' im Sinne der natürlichen Begrenzung? Manchmal packte ihn jene merkwürdige Liebe zur Front, das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit seinen Männern draußen, oder die mancherlei Erscheinungen menschlicher Eigensucht, Feigheit, Verlogenheit und sonstiger Minderwertigkeit, die in den heimatlichen Kriegsverhältnissen eine üppige Brutstätte fanden, widerten ihn so sehr an, daß er am liebsten mit dem nächsten Zug wieder hinausgefahren wäre. Dagegen gewöhnte er sich rascher, als er geglaubt hatte, daran, daß das Ellenbogengelenk steif blieb und auch die Hand kaum zu gebrauchen war. Der Krieg mit der Sowjetunion begann. An diesem Tage überreichte ihm der Chefarzt des Lazaretts feierlich im Rahmen eines Appells, der Racke peinlich war, das Verdienstkreuz und das EK I. Er ging noch einige Wochen zur ambulanten Behandlung in eine orthopädische Klinik. Dort war Eva. Und als er sie zum ersten Male sah, erlosch alles, was vor ihr gewesen war. Wie die Sterne 9
verlöschen, wenn die Farben des Morgens vor der Sonne her über den Himmel ziehn. Sie sahen sich jeden Tag, Woche um Woche, nie jedoch fiel ein Wort über ihre Gefühle zwischen ihnen. Nur aus dem tieferen Licht der Augen, wenn sie einander ansahen, aus dem weicheren Klang der Stimmen, wenn sie miteinander sprachen, aus dem feineren Hauch des Glücks in den „Winkeln des Mundes wußten sie von ihrer Liebe. Aber an dem Tage, als seine Behandlung zu Ende war, sagte sie: „Ich habe heute nachmittag frei.“ Sie fuhren ein Stück hinaus, wo es schön und einsam war. Eva hatte nicht die Tracht an, sondern ein rotbuntes, im Winde wehendes Sommerkleid. Wortlos fast wanderten sie Hand in Hand durch den Wald und küßten sich tausendmal. Sie kamen an einen See und legten sich ans Ufer. Und das erste Wort, das von Liebe gesprochen wurde, war seine Frage: „Willst du meine Frau werden?“ „Wäre ich sonst bei dir?“ „Trotz des Armes?“ „Dummkopf.“ „Wann?“ „Wenn wir uns nach einem Jahre noch so lieben wie heute.“ „Weißt du, daß ein Jahr 365 Tage und Nächte hat?“ „Ja. Und jeder Tag 24 Stunden, um mich auf dich zu freuen.“ „24 Stunden“, antwortete er, „um vor Sehnsucht nach dir zu vergehen.“ Er bedrängte sie. Sie schüttelte den Kopf. „Laß mir das Unberührte. Ich liebe es als Schönheit und Glück.“ Aber dann zog sie sich aus. Mit ruhigen Gesten, als wäre sie ganz allein. Das Herz stand ihm still vor Andacht und Bewunderung. Sie ging ins Wasser und schwamm weit hinaus, kam zurück und stieg aus dem See und tanzte. Und hatte ihn ihr Gesichtchen seit je entzückt, so erschien ihm jetzt der ganze Leib so vollendet und von so strahlender Süße, daß sich in Günther Racke jene merkwürdige Wandlung vollzog, die dem Verzicht den Stachel nahm, der Sehnsucht die schmerzende Ruhelosigkeit. Nie hatte sich ihm ein Mädchen so wunderbar und so für immer gegeben, wie Eva im Versagen. Von dieser Stunde an liebte auch
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er ihre Reinheit, empfand sie als Schönheit und Glück wie sie selbst. Er verließ sie, um in seine Vaterstadt zu fahren, und nahm sie doch mit. Sie füllte sein ganzes Herz aus. Ihm war, als hätte es zuvor niemals einen so blauen Himmel und so leuchtende Sterne gegeben. Feldwebel Günther Racke wurde aus der Wehrmacht entlassen. Er freute sich darüber; er würde nicht unerreichbar Jahr und Tag von ihr getrennt sein. Und hatte doch das Gefühl, als hafte seiner Freude ein Makel an. Es war einsam im elterlichen Heim geworden. Der Vater war nach Polen versetzt, der Bruder zu den Feldeisenbahnern eingezogen. Nur seine Schwester Else, die den Racke'schen Haushalt führte, seitdem die Mutter gestorben war, jetzt aber in einem Rüstungsbetrieb arbeiten mußte, war am Abend da. Er meldete sich bei seiner Direktion. „Betriebsdienst mit Ihrem Arm? Ausgeschlossen! Büro, Fahrkartenschalter, Auskunft — ja.“ „Danke“, sagte er. „Das liegt mir nicht. Dann lieber Streckenwärter.“ Er machte eine Eingabe an das Reichsverkehrsministerium: „Ich brauche den lebendigen Atem der Eisenbahn.“ Ein paar Tage später läutete es. Else führte eine schwarz gekleidete Frau herein. „Frau Bunz hat gehört, daß du da bist“, sagte sie. Wie blaß Anne war! Wie vergrämt sie aussah! Günther erschrak. „Ist etwas mit Karl?“ fragte er. Sie schluchzte auf. Sie konnte nicht antworten. Er dachte: Bunz ist tot. Und zum ersten Male, seit er Eva kannte, verdüsterte sich der blaue Himmel seines Herzens. Nein, tot war er nicht. Vielleicht noch nicht. Aber ein Kriegsgericht hatte ihn zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, abzubüßen in der Strafkompanie. Günther wußte, das kam in 95 Prozent aller Fälle einem Todesurteil gleich. Und vier Kinder! Aber warum denn? Er habe ein Haltsignal überfahren. Günther fuhr auf. „Ausgeschlossen!“
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Mehrere Wehrmachtsangehörige waren getötet worden und großer Sachschaden entstanden. Anne Bunz zog einen Brief aus der Tasche. Es war Karls Schrift. „Ich bin unschuldig“, schrieb er darin. „Es war vor St. Denis. Es dämmerte schon etwas, aber ich sah deutlich das grüne Licht und im Vorbeifahren auch, daß der Signalarm auf freie Fahrt stand. Die beiden Kollegen im Stellwerk aber beschworen, daß sie die Durchfahrt nicht freigegeben und sich nach dem Unglück sofort überzeugt hätten, daß der Signalarm waagrecht stand und rotes Licht brannte. Mein Heizer, ein Franzose, konnte keine Aussage machen, er war in der fraglichen Zeit mit der Feuerung beschäftigt. Ich konnte noch so sehr meine Unschuld beteuern, der Kriegsgerichtsrat erklärte meine Angaben kurzerhand für eine feige und freche Lüge. Der Ankläger beantragte sogar die Todesstrafe.“ Der Brief war mehr mit Tränen als mit Tinte geschrieben. Vielleicht waren es auch die Tränen der Frau. Racke war am folgenden Tage schon zu Beginn der Dienststunden bei der Direktion. Ja, die Herren waren unterrichtet. „Und warum unternahmen Sie nichts dagegen?“ „Weil es unmöglich ist. Bunz' Beteuerungen stehen zwei Eide gegenüber.“ „Ich kenne Bunz. Und sie kennen ihn auch. Er ist die Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit selbst! Es ist ausgeschlossen, daß er fahrlässig ein Haltsignal überfährt.“ „Die Tatsachen sprechen gegen ihn.“ „Wurde geprüft, ob nicht Dritte die Hand im Spiele hatten?“ „Das ist doch wohl kaum anzunehmen. Das Unglück hat sich in Frankreich abgespielt, nicht im Osten.“ „Auch Frankreich ist Feindesland und hat Chauvinisten und Kommunisten und Deutschenhasser in rauhen Mengen.“ „Es hätten sich doch sicher irgendwelche Anhaltspunkte für einen Eingriff von außen ergeben.“ „Das ist gar nicht sicher, weil man wahrscheinlich überhaupt nicht daran gedacht hat, einen solchen Fall anzunehmen und sofort nach solchen Anhaltspunkten zu suchen.“ 12
„Jedenfalls ist es jetzt zu spät.“ „Solange Bunz noch nicht tot ist, ist es auch nicht zu spät, wenigstens den Versuch zu machen, seinen Tod zu verhindern.“ „Nach Lage der Dinge sind wir leider machtlos.“ Racke verabschiedete sich höflich, obgleich er gerne mit der Faust auf den Schreibtisch gehauen hätte, fuhr nach Hause, packte ein Köfferchen und fuhr nach Berlin. Der Minister selbst mußte helfen. Unterwegs sank seine Zuversicht allerdings erheblich; wahrscheinlich würde er ihm auch keine andere Antwort geben als die Herren der Direktion. Lange Zeit ging er unschlüssig in der Voß- und der Wilhelmstraße hin und her und als er schließlich alle Bedenken und allen Kleinmut verjagt und das Reichsverkehrsministerium betreten hatte, kostete es einen zähen Kampf, zu Dr. Dorpmüller selbst vorzudringen. Aber er dachte an Bunz und seine Frau und seine Kinder; er gab nicht nach. „Ich muß den Herrn Reichsminister selbst sprechen, es geht um das Leben eines Eisenbahners und um das Vertrauen der Wehrmacht zu allen, die den blauen Rock tragen.“ Mit diesen Worten bat er, als es ihm endlich gelungen war, auch den Minister selbst um Entschuldigung wegen seines Vordringens. „Fünf Minuten“, sagte der Minister, bot ihm mit einer freundlichen Geste Platz an. Günther Rackes Auge lag in tiefer Verehrung auf dem ernsten, ruhigen Antlitz des wohl größten Eisenbahners, den Deutschland bisher besessen hatte. „Ich danke Ihnen, Herr Minister, aber ich bitte, stehen bleiben zu dürfen. In Ihrer Gegenwart kann ich mich nicht setzen“, sagte er leise. Nicht einen Augenblick hatte er das Empfinden, daß er als ganz kleiner Inspektor seinem Generaldirektor und Minister gegenüberstand, so rein menschlich und gütig war der Ausdruck dieser Züge. Er beeilte sich, seine Zeit nicht länger als unbedingt nötig in Anspruch zu nehmen, in drei Minuten hatte er alles gesagt. Der Minister erhob sich, trat zum Fenster, kam dann zurück: „Ich werde mir überlegen, ob noch etwas getan werden kann und was.
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Wollen Sie mir jetzt kurz etwas über Ihre Familie, Ihren Werdegang und Ihre Auszeichnungen erzählen?“ Racke berichtete in knappen Worten. Das ernste Antlitz des Ministers gewann einen warmen Schein der Freude. Er gab Racke die Hand, hielt sie lange. „Ich freue mich, daß Sie zu mir gekommen sind. Ich bin glücklich über einen solch interessierten und tapferen Eisenbahner. Sprechen Sie morgen vormittag 11 Uhr bei meinem persönlichen Referenten vor.“ Punkt 11 Uhr war Günther Racke zur Stelle. Der Referent eröffnete ihm: „Sie fahren zunächst im besonderen Auftrag des Herrn Reichsverkehrsministers nach St. Denis. Vielleicht können Sie an Ort und Stelle doch noch eine Erklärung für den „Widerspruch zwischen den Angaben des Lokführers Bunz und den beiden Stellwerksbeamten finden.“ Er händigte ihm die notwendigen Papiere aus. Racke fuhr, sich auf das Wenige beschränkend, was er in seinem Köfferchen hatte, mit dem nächsten Zug nach Frankreich. Er ging zum Stellwerk, sprach mit dem einen der beiden Zeugen, der andere war versetzt worden. Er ging zum Signalmast, untersuchte ihn von unten bis oben wie ein Detektiv, ohne etwas Auffälliges finden zu können. Er kehrte in der Nacht zurück, fragte den Zeugen wieder aus. „Haben Sie das rote Licht gesehen, als es der Zug überfuhr?“ „Nein. Es war ein Gewitterregen niedergegangen und sehr neblig geworden.“ „Aber es ist Ihnen doch aufgefallen, daß der Zug das ,Halt' nicht beachtete, sondern durchfuhr.“ „Der Zug bremste, als er bei uns durchfuhr, seine Geschwindigkeit stark ab. Wir hörten ihn dann kaum noch rollen und ein paar Minuten später erfuhren wir auch schon durchs Telefon den Zusammenstoß.“ „Sie sind doch auch der Ansicht, daß bei entsprechender Vorbereitung vom Mast selber aus die Stellung des Signalarmes verändert werden kann, ohne daß sich dadurch die Hebelstellung im Stellwerk verändert?“ „Ja, das kann man schon machen.“ „Wie zum Beispiel?“ 14
„Man müßte den Verbindungsbolzen zwischen Antrieb und Flügelzugstange lösen. Er ist durch Splint oder Nietstift gesichert. Ein Splint läßt sich mit einer Zange ohne weiteres beseitigen, ein Nietstift mit Durchschlag und Hammer. Nach der Trennung von Antrieb und Stange braucht diese nur von Hand angezogen zu werden, dann geht der Signalflügel in Fahrstellung und bei Nacht erscheint das Grünlicht.“ Günther war alles klar. So hatten es die Saboteure gemacht. Sie brauchten ja dann nur die Stange festzuhalten oder am Mast festzubinden und nach der Vorbeifahrt des Zuges alles wieder in Ordnung zu bringen, wie es vorher gewesen war. „Warum haben Sie das Gericht nicht auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht?“ fragte er. „Wir sind gar nicht auf einen solchen Gedanken gekommen. Und überhaupt — dieses ganze Militärgericht war so bedrückend und einschüchternd, daß man sich schon als Zeuge wie ein Verbrecher vorkam und froh war, wenn man die scharfen Fragen so beantwortete, daß sie einen nicht gleich auffraßen. Sogar Bunz selber hat, so viel ich weiß, keine derartige Andeutung gemacht.“ Racke erkannte betrübt, daß ein Nachweis für die Unschuld seines Freundes nicht mehr erbracht werden konnte. Er verständigte das Reichsverkehrsministerium telefonisch davon, daß er unverrichteter Dinge zurückkehren müsse. Da erfuhr er kurz vor seiner Abreise zufällig bei der Wehrmachttransportleitung in Paris, daß auf einem kleinen, erst behelfsmäßig wiederhergestellten Bahnhof bei Lisieux erst vor wenigen Tagen ein Anschlag auf einen Truppenzug, der von Caen nach dem Dösten abgegangen war, nur durch einen glücklichen Zufall verhütet worden war. Einer Streckenstreife war der unweit eines wegen Zerstörung der Sicherungsanlage eingerichteten Außenweichenpostens an der Telefonleitung angebrachte zweite Anschluß aufgefallen. Die beiden gingen dem Draht nach. Er führte in eine nahe gelegene Ruine. Sie sahen zwei Männer davonlaufen, ahnten den Zusammenhang, rannten zum Bahnkörper zurück. Eben bog der Truppenzug im Vierzigkilometertempo um die Kurve. Das Einfahrsignal zeigte ,Fahrt frei'. Sie sprangen in die Schienen, 15
kreisten die Arme wie zwei Verrückte, hörten endlich vergnügt den gellenden Warnpfiff und sprangen zur Seite, brüllten, was sie brüllen konnten, zum Lokführer hinauf, der mit wütendem Gesicht aus dem Fenster hing. Aber er bremste und noch rechtzeitig brachte er den Zug zum Stehen. Hundert Meter weiter kreuzte ein Brennstoffzug seinen Weg. Kurz vorher war der Befehlsstelle vom Weichenposten fernmündlich gemeldet worden, der Fahrweg sei eingestellt und frei, worauf der Fahrdienstleiter das Einfahrsignal auf Fahrt gestellt hatte. Der Weichenwärter war aber gar nicht auf seinem Posten, sondern bei dem Brennstoffzug beschäftigt gewesen, der von einem unübersichtlichen Anschlußgleis aus eben quer über das Einfahrgleis auf den Bahnhof hereinrangierte. Wer konnte die Falschmeldung abgegeben haben, die eine furchtbare Katastrophe heraufbeschworen hätte, wenn jene Streckenstreife weniger aufmerksam und weniger mißtrauisch gewesen wäre und nicht so rasch gehandelt hätte? Darauf gab es nur eine Antwort: Der Maquis. Der französische Partisan! Den niemand recht ernst nahm, weil man noch kaum etwas von ihm wahrgenommen hatte, mit der Bevölkerung im allgemeinen ein gutes Verhältnis bestand und in den Kabaretts die Offiziere der Wehrmacht und der SS mit offenen Armen und kußwilligen Lippen aufgenommen und mit liebenswürdiger Eleganz dem Pariser Charme verbunden wurden. Das war die Lösung auch für St. Denis, die Rettung für Bunz! Racke ermittelte den Vorsitzenden des Kriegsgerichts, das Bunz verurteilt hatte, beantragte die „Wiederaufnahme des Verfahrens. „Dazu besteht keine Veranlassung“, lehnte der Kriegsgerichtsrat kühl ab mit einem so arroganten Ausdruck in seinem roten, groben Nußknackergesicht, daß ihm Racke am liebsten an die Gurgel gefahren wäre und er sich vorstellen konnte, daß schon der Anblick dieser Fratze Bunz die Kehle zugeschnürt hatte. „Es kann nicht bewiesen werden, daß auch in der Sache Bunz der Maquis am Werke war.“ Racke mußte sich Mühe geben, ihn nicht anzuschreien. „Das ist aber mit neunzig Prozent Sicherheit anzunehmen“, sagte er erregt. „Wie von vornherein mit ebenso großer Sicherheit anzunehmen war, daß ein so makellos pflichttreuer, zwanzig Jahre bewährter Beamter wie Bunz nicht schuldig sein konnte! 16
Das Gericht hätte die Pflicht gehabt, auch diese Tatsache in Erwägung zu ziehen.“ „Wenn täglich tausend Soldaten sterben, kommt es auf einen Eisenbahner auch nicht an“, erwiderte der raupenschleppende Wehrmachtsbeamte d. Res. obenhin. „Und wenn Bunz wirklich nicht selbst schuldig wäre, dann wurde er eben an Stelle derer bestraft, die durch mangelhafte Überwachung der Strecke das Unglück verschuldet haben.“ Racke dachte Dreckhund und sagte: „Ich werde dem Herrn Reichsverkehrsminister Ihre Auffassung übermitteln“. Er knallte ohne Gruß die Türe hinter sich zu. Der drin riß sie wieder auf und schrie ihm nach: „Dann können Sie ihm gleich mit ausrichten, daß ich mich gar nicht genieren werde, trotz Ihres Auftrags und trotz Ihrer Kriegsbeschädigung und Auszeichnungen auch Sie vor ein Kriegsgericht zu stellen. Wegen Meuterei.“ Racke fuhr nach Berlin zurück. Dr. Dorpmüller war ins Führerhauptquartier befohlen. Er hatte eben noch Zeit, Rackes Bericht anzuhören und sah plötzlich gar nicht mehr menschenfreundlich aus. Er nahm den Hörer ab und sagte: „Den Wagen, bitte.“ Und zu Racke sagte er: „Ich werde den Fall zur Sprache bringen. Ich kann um meiner Eisenbahner willen nicht dulden, daß die Auffassung dieses Herrn Schule macht. Kommen Sie auf alle Fälle mit.“ Hinein kam Racke allerdings nicht. Es wurde ein halbes Dutzend mal gesiebt. An der dritten Sperre blieb er hängen. Als sie zurückfuhren, sagte der Minister: „Bunz kommt heraus. Er wird zu den Feldeisenbahnern versetzt. Und für Sie habe ich auch etwas. Wenn Sie Lust haben und die Gefahren auf sich nehmen wollen, fahren Sie nach dem Osten. Dort muß das denkbar Äußerste geleistet werden unter den schwierigsten Verhältnissen. Klappt es nicht, dann hängt über den Verantwortlichen das Damoklesschwert. Ich werde Sie als Frontberichter meines Ministeriums einsetzen. Sehen Sie, daß Sie an die Brennpunkte kommen, machen Sie Augen und Ohren auf und berichten sie laufend meinem Pressereferenten. Vielleicht sehen Sie auch im Osten manches und können dort auch Unheil verhüten. Besprechen Sie Ihren Einsatz mit der Betriebsleitung
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Osten in Warschau, die ich verständigen und über die Sie gegebenenfalls bestimmte Weisungen erhalten werden. Inspektor Racke brachte vor Freude über diesen Auftrag kein Wort heraus. Dr. Dorpmüller fuhr fort: „Und noch ein Gedanke bewegt mich dabei: Die Kriegsberichter schreiben über alles, über die Front und alle Waffengattungen, selbstverständlich auch über die Sonnenblumenfelder, die Städte, die Katen und die Matkas, aber kaum über die Leistungen und die Schicksale auf den stählernen Straßen. Sammeln Sie Eindrücke, Erlebnisse bei Blau und Grau, führen Sie ein Tagebuch darüber und schreiben Sie dann einmal, wenn der Krieg vorüber ist, das Buch von der Vierten Waffe.“ „Herr Minister — ich — danke Ihnen.“ „Mit dem Transportchef habe ich bereits geredet. Morgen erhalten wir den von ihm gegengezeichneten Ausweis.“ Er lächelte. „Mit meinem Ausweis allein kämen Sie außerhalb unserer blauen Dienststellen nicht durch. Beide zusammen werden Ihnen die Möglichkeit der Durchführung Ihrer Aufgabe als einer Art Sonderbeauftragter sichern, obgleich Sie keine Befugnisse gegenüber den Dienststellen haben. Beruht natürlich auf Gegenseitigkeit. Ihre Verpflegung können Sie bei allen Ausgabestellen in Empfang nehmen oder durch jede Dienststelle mitempfangen lassen.“ Günther Racke fuhr noch in der Nacht zu Eva, um Abschied von ihr zu nehmen. Sie lag mit Scharlach im Krankenhaus. Isolierbaracke. Er durfte nicht zu ihr. „Wann? Wenn alles gut geht in drei Wochen. Er schickte ihr Rosen. Seine Sorge um sie und die Liebesnot seines Herzens waren so groß, daß er ihr auf dem weißen Blatt seines Briefes nicht nur seine brennenden Wünsche für die Genesung und seine brennenden Küsse, sondern auch seine brennenden Tränen schickte. Wie dunkel konnte der strahlende Himmel der Liebe werden! Als er nach Hause fuhr, um sich für seinen Einsatz im Osten auszurüsten, fühlte er nichts mehr von dem Stolz und der Freude über seinen Auftrag. Er war ihm zur Pflicht geworden. Eva litt und war bedroht von Siechtum und Tod. Darum war seine Seele krank. Es gab für ihn kein Glück mehr ohne Evas Glück. 18
Drei Tage später fuhr er nach Warschau. Und in diesen Tagen hatte er sich zum dritten Male gewandelt. Ein Telegramm war gekommen: „Sei ohne Sorge. Ich will und werde ganz gesund werden für unseren Himmel auf Erden. Und nicht mehr töricht sein.“ Glück auch des Menschen ist nicht das Immerwährende, sondern der Wandel. Der Wechsel von Sehnsucht und Erfüllung, der Wechsel von Lust und Leid. Glück ist nicht die Liebe allein. Glück ist die Tat. Die Tat über die Existenzfragen, über das Ich hinaus. Sie ist der Grund, in dem des Mannes größeres Leben wurzelt. Die Liebe aber ist der Kranz der Seligkeit um seine Stirne. Die Räder klangen, die Schienen sangen. Das merkwürdige Gefühl der Beschämung und Schuld gegenüber den Kameraden der Front war von ihm gewichen. Eva flog mit ihm über die stählerne Straße. Sie war in ihm mit ihm eins geworden. Wenn er die Augen schloß, war sein Leib ihr Leib, fühlte er seinen Atem als den ihren. Sie war das Lächeln hinter seinen schwersten Gedanken, sie war der süße Zauber in seinem Blut. Liebe und Tat — sie vereint nur sind das Glück.
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2. KAPITEL
Es war Nacht und es regnete. Dächer und Straßen troffen. Es platschte aus den Traufen, gurgelte in den Gassen, rauschte auf dem Strom. Die Nässe wusch den Geruch der Zerstörung aus den Ruinen, aus den Trümmerbergen und Schutthalden, und der Wind trieb ihn mit dem Geruch des Schmutzes aus den Gassen der Armut durch die Millionenstadt. Die Verdunklung wurde in dieser Nacht lässig gehandhabt. Aus manchen Fenstern der Dienstgebäude und Quartiere der Militärund Zivilverwaltung, der Besatzungseinheiten und Wehrmachtsgefolge fiel Licht, zauberte ein Stückchen Glanz aus dem toten Stein- und Asphaltgrau. Das war jedesmal wie eine kleine, kühne Befreiung aus der Verhüllung, in die Vorsicht und Furcht das Leben zwangen. Abgesehen von dem lebhaften Treiben im Bereich der Bahnhöfe, die den Vorteil stärkerer Beleuchtung zur Erzielung höherer Leistungen nutzten, war Warschau wie ausgestorben; die Posten und Streifen, die spärlichen Trupps von Landsern, Offizieren und Beamten, einzelne LKW und PKW waren nicht mehr als Tropfen in der Stille und Verlassenheit des steinernen Meeres. Das Gebäude der Betriebsleitung Osten beim Chef des Transportwesens des Generalstabes des Heeres, das ehemalige polnische Verkehrsministerium im Stadtteil Praga, lag scheinbar in tiefem Schlafe. Wer aber genauer forschte, erkannte da und dort schmale Lichtstreifen an den Seiten der Fensterstöcke und wer eingetreten wäre, würde selbst jetzt noch in manchem der Zimmer brennende Lampen, Tabaksqualm und heiße Köpfe mit gefurchten Stirnen und übermüdeten Augen über Akten, Plänen und Zeichnungen gefunden haben. Der technische Reichsbahnamtmann Werner Racke schob seufzend den Bericht der Haupteisenbahndirektion Mitte zurück. Die HBD hatte endlich die Erlaubnis erhalten, von dem 20
abgelegenen Brest in das Herzstück ihres Bezirkes, Minsk, überzusiedeln, die notwendige Zahl leitender Beamter und noch vieles andere hatte sie jedoch immer noch nicht, die Befehlsmaschine aber lief auf vollen Touren. Nicht aus Unverstand, nicht aus Böswilligkeit. Hinter jeder Forderung stand der eiserne Zwang, das Problem der sprunghaft wachsenden, ungeheuren Entfernungen zur Front zu meistern. Der motorisierte Transportraum allein war nach zweijähriger Überbeanspruchung trotz aller Neubauten den inzwischen vervielfachten Ansprüchen erst recht nicht mehr gewachsen. Dazu setzte das einzige „Paradiesische“ im Sowjetreich, der Zustand seiner Straßen, bei denen man die brauchbaren an den Fingern abzählen konnte, dem Kraftverkehr Hemmnisse ohne Ende entgegen. Die stählernen Straßen waren zum Schlüsselpunkt der Kriegsführung, die Eisenbahner zum vierten Wehrmachtteil geworden. Der Amtmann erhob sich, knipste die Lampen aus, trat zum Fenster, zog den schwarzen Papiervorhang hoch und öffnete beide Flügel. Wie ein Wehr rauschte der Regen. Die kalte, nasse Luft tat ihm wohl. Aber wie stets, wenn die Last der Arbeit sich von ihm löste und das Gemüt freigab, fühlte er den heimlichen feindlichen Atem dieser Stadt, dieses Landes. Er nahm den Polen diese Feindschaft nicht übel. War sie vor dem Kriege politisch töricht und sachlich so wenig begründet wie die der Franzosen gewesen, dem Eindringling, dem Zerstörer, dem Bedrücker gegenüber war sie selbstverständlich. Gewiß, Zerstörung, Besetzung und Bedrückung waren zumeist nicht bösartig gewollt, sondern unvermeidliche Folgen des Krieges. Aber für den Betroffenen bleibt sich das gleich. Und ein Volk als Ganzes hat Kriegen gegenüber kein Schuldbewußtsein, kann es gar nicht haben. Es fragt nicht warum ihm Böses geschieht. Es ist dem feind, der es ihm antut, einfach weil er's ihm antut. Tief sog Racke die Luft ein und die regendurchrauschte Stille. Er empfand das Hungerelend und seelische Leid der vielen Hunderttausende der polnischen Hauptstadt, als wäre er selbst Pole und ihm preisgegeben. Er empfand Mitleid mit der Bevölkerung des besetzten Landes, obgleich er nicht vergessen hatte, welche Greueltaten schon vor Kriegsausbruch und besonders in den ersten Jahren nach dem ersten Weltkrieg 21
begangen worden waren und er nicht daran zu denken wagte, was den Deutschen geschähe, wenn der polnische Haß einmal die Möglichkeit haben würde, über sie hereinzubrechen. Und wie er, fühlten viele, wohl die meisten, die das Reich auf einen Posten im Gefolge der Wehrmacht im Osten gestellt hatte. Das in aller Welt verschrieene deutsche Volk war nun einmal so: Nicht einmal der nationalsozialistischen Schulung war es gelungen, es hart zu machen, es zur Mitleidlosigkeit, zum Haß zu befähigen. Wie hatte es aufgeatmet, als es durch die Konferenz Chamberlains und Daladiers mit Hitler in München die Gefahr eines Krieges gebannt glaubte. Bei nur einer Spur Gerechtigkeitssinn seiner Gegner würde es zu jeder Stunde die Hand ausstrecken, um sich mit ihnen zu versöhnen, um in aufrichtiger Freundschaft mit allen Völkern eine schönere und glücklichere Welt für alle zu schaffen. Die bürgerliche Schicht in der Heimat war dem Kriege so abhold, daß sie sogar an den Siegen zu leiden schien, obgleich sie natürlich froh war, daß sie ihr den Krieg vom eigenen Leibe fernhielten. Racke schien es wenigstens so. Vielleicht irrte er sich. Vielleicht sah er alles zu sehr im Spiegel seines eigenen Herzens. Er hörte die Türe gehen, ganz leise nur, aber der Luftzug ließ keinen Zweifel, daß sie geöffnet worden war. „Einen Augenblick“, sagte er, schloß das Fenster, verdunkelte und wandte sich um: „Jetzt können Sie Licht machen.“ „Ja, wenn ich wüßte, wo der Schalter ist.“ Racke erstarrte. Das war nicht der erwartete Kollege, das war doch — „Links“, sagte er halblaut und hielt sich hinter seinem Rücken an der Fensterbank fest. Seine Knie waren schwach geworden. Er hatte seit der Trennung von daheim ein sehr nervöses Herz bekommen. Es gab einen kleinen Knacks und das Licht ging an. An der Türe stand ein junger Eisenbahner ohne Mantel und Mütze, in hohen regennassen Stiefeln, auf dem dunkelblauen Rock die schlichten Schulterstücke des Inspektors, im Knopfloch das Band des EK II und des Verdienstkreuzes und unter der linken Brust das EK I. Der linke Ellenbogen war merkwürdig steif angewinkelt.
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Es war wirklich Günther. Lachenden Gesichts stand er da, als wäre das die selbstverständlichste Sache und sagte: „Servus Papa!“ Der Papa sagte nichts. Es schoß ihm vom Herzen her heiß in die Augen. Dann hielten sie sich in den Armen und da hatte auch der Junge nasse Backen. „Ganz unsoldatisch!“ lachte er, noch schluckend, „aber schön“. Ja, es war schön, wenn die Freude eines unerwarteten Wiedersehens zwischen Vater und Sohn so groß war, daß sie das Herz umdrehte. Aber dann war die Erschütterung vorüber und nur das tiefe Glücksgefühl da. Amtmann Racke zog seinen Günther zum Schreibtisch, sagte: „Darauf müssen wir erst einen trinken“, holte eine Flasche Kognak und zwei Gläschen heraus. Sie tranken einander zu. Jetzt lachten ihre Augen ohne Schleier. Und sie mußten sich noch einmal an beiden Händen fassen und sie pressen und noch einen trinken. „Wieso bist du hier und wie lange kannst du bleiben? Hast du Hunger?“ „Danke, gegessen habe ich schon. Ein gutes Quartier habe ich auch und ein, zwei Tage werde ich hier sein. Wenn du Zeit hast, erzähle ich dir alles.“ „Das wäre in meinem Quartier bei einer Flasche Wein gemütlicher gewesen, aber ich muß hier noch warten, bis mein Assistent die rechnerische Auswertung eines Berichtes der Haupteisenbahndirektion Süd vorgelegt hat. Sie muß bis morgen früh durch Fernschreiber bei der 2. Staffel der Planungsabteilung des Transportchefs sein. Also schieß los!“ Racke stopfte sich seine kurze Pfeife, Günther Racke steckte sich aus einer väterlichen Packung eine Zigarette an und erzählte. Der Alte unterbrach ihn mit keinem Wort, aber der Stolz auf seinen Jungen sprach aus seinen Zügen. Daß es für Günther keine größere Belohnung hatte geben können, als Julius' Händedruck, sein Vertrauen, seinen Auftrag — das konnte er ihm nachfühlen. Nach einer Stunde kam der Assistent, brachte die Berechnung, Racke überprüfte noch einmal kurz das Material, schrieb quer und gab es wieder mit zur Unterzeichnung durch den Referenten für den Fernschreiber. 23
„So, Günther, nun können wir in mein Quartier gehn und noch einer Flasche den Hals brechen.“ Günther sah auf die Uhr. „Seit wann bist du heute im Dienst?“ „Seit halbneun.“ „Also fünfzehn Stunden. Da ist es höchste Zeit für dich zu schlafen. Die Flasche werden wir morgen trinken.“ Arm in Arm — ohne Rücksicht auf militärische Form — gingen sie durch die nächtliche Stadt. Günther hatte noch viel zu erzählen und ehe sie sich's versahen, waren sie vor Racke Seniors Quartier. „Willst du nicht doch noch mit hinaufkommen?“ „Nein, Papa. Du mußt jetzt schlafen. Ich bin ja heute den ganzen Tag bei dir oder in deiner Nähe, weil ich den Apparat der Betriebsleitung Osten und ihre Aufgaben ein wenig studieren will und mit dem Chef des Näheren meinen Einsatz besprechen muß. Wir essen zusammen Mittag und wenn du am Abend ausnahmsweise zeitig Schluß machst, dürfen aus der Flasche ruhig zwei werden.“ „Dann also Gute Nacht, Günther!“ „Gute Nacht, Papa.“ Sie gaben sich die Hand und der ausgewachsene Reichsbahninspektor Günther Racke küßte seinen Vater, wie er es von klein auf gewohnt war. Der sah ihm, unter der Türe stehend, nach, bis ihn die Dunkelheit verschluckt hatte. Noch einmal so jung sein! Wenigstens innerlich so jung sein können! Trotz aller Not, aller Gefahr, all des Sterbens ringsum diesen Glauben an das Leben haben! Nicht von hundert Skrupeln gepeinigt werden! Zu solch selbstverständlicher Hinnahme der Aufgabe, die einem das Schicksal in dieser ernsten Zeit stellte, fähig sein! Eine herrliche Jugend hatte das Hitlerreich, das mußte ihm der Neid lassen. Sie sah nur ein leuchtendes Ideal, ein großes Ziel. Nicht die Tragödien am „Wege, die Dramen der Mißgriffe, Irrtümer und der Gewalttaten. Nicht die hirnverbohrte Unduldsamkeit, den Ungeist großer und kleiner Machthaber. Was sind aus der Ferne die Flecken auf der Sonne? Nur, wenn man ihnen ganz nahe
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kommt, werden sie so groß und furchtbar, daß man keine Sonne mehr sieht. Günther Racke ging mit dem federnden Schritt des körperlich gesunden, seelisch klaren und durch sein Erleben beschwingten jungen Mannes dem Bahnhof zu. Nicht einmal dieser immerwährende Regen konnte ihn mißmutig machen. „Regentropfen, die an mein Fenster klopfen“, summte er und lachte in sich hinein, pfiff leise ein paar Takte und summte wieder: „Sie sind ein Gruß von dir ...“ Mißtönig schlurfte ein Haufen Landser daher, die Stahlhelme als Schirme auf den in die Schultern gezogenen Köpfen. Die Gasmasken schepperten gegen all das Zeug, das am Koppel hing. Einer stieß ihn fast um, knurrte, ohne aufzusehen: „Paß doch auf, Rindvieh!“ „Danke gleichfalls“, gab Racke trocken zurück. Näher kam der dumpfe Lärm des Bahnhofs. Hier war nicht kriegsmäßiger Behelfs-, hier war Friedensbetrieb. Polens Eisenbahner standen nahezu vollzählig im Dienst. 70.000 waren es schon im April vorigen Jahres gewesen. 3.000 polnische Lok und 150.000 polnische Güterwagen waren dem deutschen Kontingent eingefügt worden. 20.000 polnische Eisenbahner hatten im russisch besetzten Teil ihres Vaterlandes Dienst gemacht, nun arbeiteten auch sie auf deutscher Seite, soweit sie nicht mit nach dem Osten verschleppt worden waren. Was aber hatte geleistet werden müssen, ehe dies alles so weit war! Hinter der kämpfenden Truppe waren die Eisenbahner vorgestoßen. Sie schüttelten nicht die Köpfe vor den zerstörten Gleisanlagen, Bahnbetriebs- und Fernsprecheinrichtungen, vor den ausgebombten, ausgebrannten Gebäuden. Sie packten zu, stellten mit primitivsten Mitteln her, was am dringendsten gebraucht wurde, was am raschesten wieder in Ordnung gebracht werden konnte. Die Gleis- und Weichenbautrupps, die Brückenbautrupps der Eisenbahnpioniere, diese feldgrauen Stoßtrupps des Fronteisenbahnverkehrs, waren überall, wo Schienen das Land durchzogen. Kaum rollten die ersten Räder auf einer Strecke wieder, so waren Bauzüge zur Stelle, Rammpfähle, Träger für Hilfsbrücken, Eisenbahnbrückenbaukräne. Und den grauen 25
Bautrupps folgten die blauen Eisenbahner auf dem Fuße, Bahnhofs-, Fahr- und Werkstättenpersonal. Sie übernahmen Bahnhöfe, während am Horizont noch die Brände der Kämpfe leuchteten, und sie fuhren in den Donner der Geschütze hinein. Spezialtrupps stellten die unbrauchbar gemachten Fernmeldeanlagen wieder her. Sie warfen 8.000 zerstörte Güterund Personenwagen aus den Geleisen oder drängten sie in toten „Winkeln zusammen. 25.000 Waggons wurden in die Ausbesserungswerke gebracht. Die Hälfte aller polnischen Loks war betriebsunfähig; man kuppelte sie zu Dutzenden aneinander und fuhr sie zur Reparatur. Lok! Lok! Lok! begeisterten sich die Generalstäbler des Transportwesens, wenn sie die schwarzen Schlangen stehen sahen. Schrott! Schrott! Schrott! grinste und fluchte der Eisenbahner. Dabei waren die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Beamten und Arbeiter im allgemeinen äußerst unzulänglich und unangenehm. Die ursprünglich in Lodz eingerichtete EisenbahnDirektion und ihre Betriebsabteilung Krakau, die nun ja inzwischen zur Generaldirektion der Ostbahn ausgebaut und erhoben worden war, taten was sie konnten, um die vielerlei Widerwärtigkeiten, die der Behelfsmäßigkeit des Einsatzes entsprangen, wenigstens zu lindern, bessere Unterkünfte zu gewinnen, die ungenügende Verpflegung zu verbessern, die Einrichtungen für einen geregelten Betrieb zu beschaffen. Aber die Truppe selbst, die kämpfende Front ging vor. Die Eisenbahner waren und blieben fast ganz auf sich selbst gestellt, was die leibliche Existenz und die berufliche Leistung betraf. Sie meuterten gegen die Zustände mit den Mäulern und meisterten sie mit Köpfen und Fäusten. Jäh aus der Sicherheit und der selbstverständlich gewordenen Ordnung und Annehmlichkeit ihres bürgerlichen Lebens herausgerissen, verfluchten sie Hitler und seinen Scheißkrieg, wie es auch der Landser tausendfach tat, waren wütend vor Heimweh nach Weib und Kind, nach einem geregelten, vernünftigen Essen und einem anständigen Bett — und münzten Zorn, Schmerz und Trotz, Entbehrung und Schwierigkeiten in eine erstaunliche Leistung um.
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Günther Racke lachte halblaut vor sich hin. Ja, nüchtern gesehen, waren sie alle Narren. Und der größte von all diesen Narren war er, weil er sich freute, jetzt, da die Eisenbahner seit zehn Wochen die härteste Prüfung zu bestehen, das größte Verkehrsproblem zu lösen hatten — Rußland! —, mit dabei sein zu dürfen, während sich Tausende glücklich schätzen würden, nicht dabei sein zu müssen! Vielleicht freute er sich auch darum besonders, weil er eine so vielseitig interessante Aufgabe zu erfüllen hatte und nicht an eine Dienststelle, einen einförmigen Tageskreislauf gebunden, sondern freizügig war. Heute hier, morgen dort. Heute im Stellwerk, morgen auf der Lok. Heute auf der Verladerampe, morgen beim Brückenbau. Bald im rastlosen Getriebe eines wichtigen Knotens, bald mit der Draisine auf der Strecke oder in der Einsamkeit einer weltverlorenen Station in endlosen Wäldern... Inspektor Racke stand vor dem Bahnhof und hätte nicht sagen können, wie er hergekommen war, so tief war er in die Gedanken seiner närrischen Eisenbahnliebe versunken gewesen. Lokomotiven qualmten, keuchten leise und zischten ab und zu. Es stank nach Kohlenrauch. Rufe waren laut. Wagentüren wurden geschlagen. Läutewerk schlug an. Racke ging nicht in sein Quartier hinüber, er ging durch zwei Kontrollen auf den Bahnsteig. Es roch nach nassen Kohlen und nach Schmiere, nach nassen Schwellen, Schotter und Stahl. Ja, auch Stahl hat einen Geruch. Und er atmete diesen Geruch mit Freude. So verrückt war er! Was war denn schon ein Eisenbahner? Geplagt, voller Verantwortung, in seiner Masse schlecht bezahlt und ohne besonders verlockendes Vorwärtskommen. Pension — na ja, keine unmittelbaren Sorgen im Alter, wenn man sich nach der Decke streckte. Auch die Liebe zum Beruf geht in der Regel und meist notwendigerweise durch den Magen. Und doch hingen die Lokführer an ihren Lokomotiven wie an lebenden Wesen! Und doch waren den Heizern Kohle und Dampf, Öl und Schmiere Elemente ihres seelischen Wohlbehagens! Und doch bediente der Fahrdienstleiter die Hebel der Weichen und Signale mit derselben inneren Hingabe, mit der ein Kapellmeister die 27
Instrumente seiner Kapelle dirigiert! Der Rangierarbeiter setzte seinen Stolz darein, daß er so federnd wie möglich vom Trittbrett sprang und so rasch wie möglich an- und abkuppelte, der Ladeschaffner seinen Ehrgeiz, daß auch bei unvorhergesehenen Schwierigkeiten alles pünktlich klappte und der Zugführer mit dem roten Lackbandelier empfand seine Bedeutung und Verantwortung nicht geringer als ein Kapitän auf irgend einer Kommandobrücke. Ja, der Streckenarbeiter hörte dem Takt und Klang der Stopfhacken die gute oder schlechte Stimmung der Rotte ab. Sie waren alle, trotz ihrer vermeintlichen Distanz, mit ihrem Eisenbahnerberuf stärker verbunden, als sie wahr haben wollten. In einem Zipfelchen ihres Herzens liebten sie ihn eben doch, selbst wenn sie sich im Alltag des Dienstes dieser Liebe nicht bewußt waren. Auch unter ihnen waren viele heimliche Romantiker. Ohne diese großen, tragenden seelischen Kräfte wären ihre Pflichttreue und ihre Leistungen im entsagungs- und gefahrvollen zweijährigen Kriegseinsatz undenkbar... Racke lief um die Züge herum, ließ sich von den Schienensträngen hinauslocken. Er war ja nicht müde. Er hatte den ganzen Tag gesessen und geschlafen. Die Bewegung tat ihm gut. Er hörte und sah Signale klappen, „Weichen schnappen, Weichenlaternen sich drehen, wich anrollenden Zügen aus. Ab und zu wurde er barsch angerufen, von Bahnschutzmännern oder einer Streife der Bahnhofswache kontrolliert. Er stieg auf steiler Eisentreppe in ein Stellwerk hinauf. Es war nicht anders als daheim. Ein paar Worte nur; zu langer Unterhaltung war keine Zeit. Dem polnischen Gehilfen mit den Hungeraugen steckte er ein paar Marken zu und dachte: wenn der Hunger nicht wäre, könnten die Polen eigentlich froh sein, sie haben den Krieg hinter sich. Auf dem Rückweg kam er an einem kleinen Schuppen vorbei. Die Türe war nur angelehnt und er glaubte, ein Geräusch zu hören, obgleich es drinnen Nacht war. Mehr aus Neugier als aus Mißtrauen stieß er die Türe weiter auf und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Der Schein fiel auf Geräte, meist Schaufeln und Hacken, wanderte langsam weiter und da stand ein Mädchen, ganz zurück an die Wand gedrückt. Eine Sekunde sah 28
er ein rundliches blasses Gesicht, zwei dunkelumrandete Augen, dann hielt sie geblendet beide Arme davor. Sie war vom Kopf herab in ein buntes Umschlagtuch gehüllt, unter dem ein dürftiges Röckchen gerade bis über die Knie reichte. Sie hatte goldglänzende, mehrfach gestopfte Seidenstrümpfe und rissige Lackstöckelschuhe an. Racke blieb unter der Türe stehen und knipste die Lampe aus. „Was tun Sie hier?“ fragte er ruhig. Er konnte sie nicht mehr erkennen, hörte aber, daß sie sich bewegte. „Co?“ fragte sie. Was? „Verstehen Sie nicht deutsch? — Nie rozumiesz?“ „Klein etwas.“ „Dobrze — Was da machen?“ „Czekac. Ich warten.“ Er ging einen Schritt hinein und knipste die Lampe, sie gegen die Decke haltend, wieder an. Nun sah er sie genau, ohne sie zu blenden. Sie hatte ganz reizvolle, ein wenig katzenhafte Züge, von einer Art hilflos trauriger Verworfenheit und Furcht gezeichnet. „Auf wen warten?“ „Mezczyzna“. „Was ist das? Co to jest?“ „Pan. Mann.“ „Was für Mann?“ Sie zuckte die Achseln. Vielleicht verstand sie die Frage nicht, vielleicht wußte sie nicht, was sie darauf antworten sollte. „Warum Mann? — Dlaczego?“ Sie gab wieder keine Antwort. „Antworte!“ verlangte er. „Odpowiedz!“ Sie zögerte, als er aber einen Schritt auf sie zumachte, sagte sie hastig: „Pan Brot. Pan.....“ Es war ein häßliches Wort. „Haben Sie den Schlüssel hier? Klucz?“ fragte er und zeigte auf das Schloß. „Nie. Pan hat.“ Gut, er werde warten.
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Er unterhielt sich weiter mit ihr. Sie verstand schon recht viel deutsch und er suchte sein Landserpolnisch aus den ersten Kriegsmonaten vollends zusammen. Sie verlor die anfängliche Furcht, der Offizier Eisenbahn würde sie der Gestapo übergeben. Sie schützte schon seit einem Jahr auf diese Weise ihre kränkliche Mutter und die drei jungen Geschwister vor dem Hunger. Erst sei es sehr schlimm gewesen und sie habe viel geweint, aber Hunger war schlimmer. Der Hunger der anderen noch mehr als der eigene. Jetzt sei es ihr gleich. Manchmal tue sie es gerne. Ob immer die gleichen Männer zu ihr kämen? Mal der eine, mal der andere. Meist Soldaten von den Transporten. Woher die es wüßten? Sie zuckte die Achseln. Sie dürfe doch bei Nacht nicht auf der Straße sein? Sie komme schon am Abend und bleibe, bis wieder Tag sei. Die ganze Nacht? So herumstehn? Sie schüttelte den Kopf, deutete auf die hinterste Ecke. Ein Strohsack mit einer alten Decke lag dort. Auch konnte sie ja zu Hause den ganzen Tag schlafen. Sie löste sich von der Wand und kam langsam zu Racke her. „Bißchen Brot? Bißchen Maslo? Buttärr?“ Er schüttelte den Kopf. „Leider nein. Nur bißchen Czekolada.“ Er kramte in seiner Tasche und gab ihr die in Stücke gebrochene halbe Tafel. Sie flüsterte „danke“, steckte hastig ein Eckchen in den Mund, den Rest irgendwohin unter das Umschlagtuch. „Harr Offizier gutt. Sär gutt“, sagte sie leise. „Ja ciebie lubie. Ich dich lieben.“ Er fühlte ihre Hand. Er stieß sie nicht fort. Er hielt es nicht für Rasseethik, sondern für Irrsinn, den Verkehr mit Polinnen als Rassenschande zu diskriminieren. Er streichelte einen Augenblick ihre Hand. „Mich brauchst du nicht zu bezahlen“, sagte er ruhig. Sicher hatte sie ihn falsch verstanden, denn sie schlang die Arme um ihn und sagte eifrig: „Nie, nie! Nix bezahlen. Ich dich serr lieben. Ich serr gutt......!“ 30
Sie sagte wieder das vulgäre Wort. Er schob sie freundlich von sich und erklärte ihr, daß sie dieses Wort nicht sagen dürfe. „Alle sagen“, meinte sie erstaunt. Nur weil sie nicht polnisch können, entschuldigte er und lenkte ab. „Hat dir heute Nacht noch keiner Brot gebracht?“ Im gleichen Augenblick wurden langsame schwere Schritte hörbar, sie sagte lebhaft: „Pan!“ und er dachte: wenn man vom Esel spricht, kommt er. Er mußte mit ihm reden, aber er wollte es nicht vor der Polin tun. Rasch grüßte er: „Dobranoc“ und war mit drei Schritten draußen, hörte hinter sich ihr leises, bedauerndes „dowidzenia“, da tauchte schon der Kommende vor ihm auf, verzögerte den Schritt, sah Racke, der jetzt stehengeblieben war, mißtrauisch von der Seite an, murmelte etwas Unverständliches und wollte weitergehen. Er hatte ein halbes Brot unter den Arm geklemmt. Racke hielt ihn auf: „Einen Augenblick, bitte. Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen reden.“ Der Mann war einen halben Kopf größer, hager, mindestens fünfundvierzig Jahre alt. Er sagte nichts, wartete nur. „Sie haben den Schlüssel zu dem Geräteschuppen dort, nehme ich an. Ich will Ihnen einen kameradschaftlichen Rat geben: Schließen Sie den in Zukunft ordnungsmäßig ab. Das Mädel hat auf dem Bahngelände nichts verloren.“ Der Mann sagte zunächst nichts. Aber um so deutlicher stand in seinem verfinsterten und geröteten Gesicht geschrieben, was er gesagt haben würde, wenn er gewußt hätte, was er sich diesem fremden Inspektor gegenüber herausnehmen konnte. Endlich meinte er verächtlich: „Was ist schon dabei. Kein Mensch hat sich bisher darum gekümmert. Man wird doch so ’nem armen Ding 'n bißchen helfen dürfen.“ „Sicher darf man das. Man dürfte es sogar, ohne dafür so ein armes Ding zur Hure zu machen.“ „Na, na! Was heißt da schon Hure? Sind Sie immer so moralisch, Inspektor? Ich denke doch, eine Liebe ist die andere wert. Das ist auf der ganzen Welt so und nicht nur bei uns Proleten, sondern je höher hinauf, je schlimmer. Bei dem Mädel da geht's um ein Stückchen Brot, bei denen in den Illustrierten um 31
Glanz und Ruhm. Das wissen Sie doch auch, daß der Weg des Mannes zum Erfolg über Leichen, der Weg der Frau durch die Betten geht.“ „Sie scheinen belesener zu sein, als man Ihnen ansieht“, sagte Racke aufgeräumt. „Aber Sie sollten nicht verallgemeinern. Und mit dem Bahnschuppen hat das nichts zu tun. Daß die Sache hier nicht in Ordnung geht, darüber sind Sie sich ja auch selbst klar. Wenn einmal der Unrechte dahinter kommt, kann das sehr unangenehme Folgen für Sie haben. Gute Nacht.“ Während Günther Racke wieder dem Empfangsgebäude und vom Bahnhof seinem Quartier zuging, stand neben dem Bild der Polin Evas Bild. Er hatte Mitleid mit dem Mädchen im Schuppen, er verachtete es auch nicht. Aber Eva hätte niemals diesen Weg gewählt. Das Los eines Menschen wird nicht allein von den äußeren Ereignissen, sondern von deren geistiger Verarbeitung bestimmt, vom Charakter des Menschen. Es ist das Produkt aus beiden Komponenten. Und noch entscheidender waltet das Filter der Seele zwischen dem Schicksal eines Weibes und seinem Leibe. Günther Racke ging leise durch den schlafenden Barackenbau in seinen Verschlag, nahm das dicke Tagebuch aus dem Gebirgsjägerrucksack und der wasserdichten Hülle, setzte sich auf den harten Stuhl an den kleinen wackeligen Tisch, blätterte in seinen Aufzeichnungen, füllte ein paar neue Blätter, löschte das Licht und öffnete das Fenster. Er zog sich aus, ging in den Duschraum, schlüpfte in den Trainingsanzug und legte sich auf das schmale Feldbett in dem Gefühl, mit dem Dasein und dem lieben Gott recht gut zu stehen. Seit sein Herz Eva gehörte, wußte er auch, daß nicht nur das Weib ohne den Besitz des Mannes sein, sondern auch der Mann die Vereinigung mit dem Weibe entbehren kann, ohne körperliche und seelische Schäden zu erleiden, mit denen er seinen „Anspruch“ auf die Befriedigung der Begierde so gerne begründete. Liebe und Liebe ist nicht dasselbe. Die echte große Liebe kennt keine Untreue, sie kennt nicht einmal die Versuchung. Und ihre Sehnsucht ist nicht Pein, sondern erfüllt das Blut mit einem zauberhaften Licht, dem Morgenlicht eines immerwährenden, lebenfüllenden Glücks. 32
3. KAPITEL
„Lieber Dornberg, man muß eben auch mal alle fünf gerade sein lassen können, wenn man bei diesen Verhältnissen überhaupt weiterkommen will.“ Der Chef der Haupteisenbahndirektion Mitte sah seinen Dezernenten, der neben seinem eigenen Ressort auch die Aufgaben des noch immer nur auf dem Papier vorhandenen Betriebsleiters und Bahnbevollmächtigten zu erfüllen hatte, besorgt an. Der schwere Ostpreuße überragte den schnittigen, höchstens fünfunddreißigjährigen Reichsbahnrat an Höhe und Breite. „Seien Sie vernünftig“, setzte er leise mahnend hinzu. „Das müssen Sie dem Transportchef sagen, Herr Präsident,“ kam es prompt und keineswegs ängstlich zurück. Der Präsident blickte schräg hinüber zu dem jungen Inspektor, diesem ein wenig verdächtigen Sonderbeauftragten des Ministeriums und auf den Leiter der Transportkommandantur. Inspektor Racke sah so liebenswürdig heiter und objektiv interessiert drein wie zu Beginn der Unterredung und Hauptmann Lohrmann lachte nur. Dr. Dornberg fuhr heftig fort und er wandte sich mehr an den fremden Besucher: „Man fordert und fordert, aber hat man uns auch instandgesetzt, unserer Aufgabe überhaupt gerecht zu werden? Mit leeren Händen hat man uns losgeschickt, als ob wir hexen könnten. Ich kann aber nicht kommandieren: Bahnhof stillgestanden! Lok marsch, marsch! und dann geht alles wie am Schnürchen! Mit dem größten Maul kann man keine Bahnhöfe ordnungsmäßig bedienen, die von den meisten Betriebsmitteln noch entblößt sind, kann man auch keine Breitspur mit Normalbahn befahren und umgekehrt.“ Der Hauptmann sagte gemütlich: „Na, dort wo die Blauen hinkommen, ist ja vorgearbeitet und der Betrieb schon in Gang. Sie brauchen ihn nur auszubauen und so zu mehren, daß
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gefahren werden kann, was nun einmal gefahren werden muß, um den besetzten Raum nachschubmäßig zu bemeistern.“ „Richtig, Herr Hauptmann. Und“ — Dornberg wandte sich wieder vorwiegend Racke zu — „das ist eben das Schwierigere. Ich bin der letzte, der die Bedeutung und Leistung der Eisenbahnpioniere und der Feldeisenbahner auch nur mit einem entfernten Gedanken herabsetzen möchte. Aber sie fahren eben, so gut es geht, und nicht schneller und nicht mehr Züge als möglich. Sie bessern und mehren die betriebliche Leistung nicht aus dem Nichts, sondern im Zuge des laufenden Wiederaufbaues der Einrichtungen und der vermehrten und vollkommeneren Betriebsmittel. Wir Blauen aber sollen auf einmal Regelbetrieb machen, wie wenn alles in friedensmäßiger Ordnung wäre. Bei uns soll es gleich wie am Schnürchen gehen. Sie wissen, Herr Präsident, daß uns keine russischen Fahrpläne zur Verfügung standen, aus denen man sich ein Bild hätte machen können. Als wir in Brest anfingen, wußten wir überhaupt nicht, wie es auf den Bahnhöfen und Strecken aussah. Die Feldeisenbahner mußten der Front auf den Fersen bleiben, die, von unserer Aufgabe aus gesehen, viel zu rasch nach Osten stieß. In wochenlanger Arbeit mußten wir uns erst einmal durch Erkundungstrupps die nötigen Angaben verschaffen, um überhaupt einen Überblick zu gewinnen, wo für den Wiederaufbau des Eisenbahnnetzes die Hebel anzusetzen waren. Dieser Tage habe ich im Fieseler Storch persönlich die Strecke nach Smolensk erkundet. Ich müßte drei Köpfe, drei Paar Hände und dreimal vierundzwanzig Stunden im Tag haben, um mit friedensmäßiger Gründlichkeit die Arbeitslast bewältigen zu können, die auf der Betriebsleitung ruht. Meine Mitarbeiter tun, was sie können, aber mehr als das Menschenmögliche können sie nicht tun. Dabei ist zu berücksichtigen, daß wir schon zahlenmäßig nicht ausreichen. Daß aber außerdem viele der Beamten auf den Posten, die sie hier zu versehen haben, noch nie beschäftigt waren, vermehrt noch unsere Schwierigkeiten. Selbst der beste Wille und der unermüdlichste Fleiß vermögen mangelnde Sachkunde und praktische Erfahrung nicht zu ersetzen. Sie lernen mit Eifer, aber eben, sie lernen erst.“
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Der Präsident benutzte die Atempause Dr. Dornbergs, um dessen erregten Ton zu entschuldigen: „Sie sind überreizt, durchaus verständlich bei Ihrer Überarbeitung“. Und zu Lohrmann und Racke gewendet, fügte er hinzu: „Seit Wochen ist mir ein Rätsel, wann dieser Mensch eigentlich schläft!“ „Weiß ich“, nickte der Hauptmann. „Sein einziger Fehler ist seine übermäßige Gründlichkeit und seine Offenherzigkeit über die eisenbahntechnisch unzulängliche Vorbereitung dieses Russlandfeldzuges, mit der er die oben vor den Kopf stößt.“ „Es ist doch aber so, Hauptmann! Ohne Kohle und Wasser kann man keinen Dampf machen. Und man kann eine Lok nicht an die Wand stellen, weil sie defekt auf der Strecke liegen bleibt, und zwei andere für sie vorspannen, die man nicht hat. Das hat die Vorsehung nun einmal nicht vorgesehen.“ „Der Transportchef müßte eben selbst einmal an Ort und Stelle die Verhältnisse studieren“, bemerkte der Präsident. „Unser Streckenbereich umfaßt jetzt schon über 100.000 Quadratkilometer und fast täglich kommen neue Streckenteile nach Norden und Osten dazu. Wir stehen vor der Übernahme bis Polozk—Witebsk—Smolensk und Bobruisk—Shlobin—Gomel. Jetzt haben wir insgesamt etwa 13.000 Mann im Dienst, in acht Tagen werden es vielleicht 15.000 sein.“ „Aber es herrschen durchaus keine Friedensverhältnisse bei uns“, warf Dr. Dornberg wieder ein. „Luftangriffe da und dort und auch Partisanen behindern die Leistungen. Fünf bis zehn Überfälle verschiedenster Art mit mehr oder weniger großen Schäden und längeren oder kürzeren Verkehrsunterbrechungen werden uns täglich gemeldet. Und ich fürchte, das ist nur ein Anfang und wird noch viel schlimmer werden.“ „Wird auch alles umgehend und schleunigst weitergemeldet,“ sagte der Präsident lebhaft. „Die militärischen Transportdienststellen sind unterrichtet“, bestätigte Lohrmann. „Aber sehen Sie, meine Herrn, der Transportchef wird schließlich genau so getreten, wie er uns tritt. Er ist nicht Urheber der Forderungen, sie werden von der militärischen Führung gestellt. Von ihrer Erfüllung hängt, zumal jetzt, bei der Verschlammung der Straßen die Entscheidung ab, ob wir unseren Siegeslauf fortsetzen, die Frontlage meistern 35
können oder nicht. Es kommt alles darauf an, daß das Transportwesen funktioniert und wenn der Teufel auf Stelzen kommt! Dafür ist der Transportchef verantwortlich. Bekanntlich sind auch Generale gegen das Erschossenwerden nicht gefeit. Vom höchsten Truppen- oder Eisenbahnbefehlshaber bis zum letzten Landser und Eisenbahner steht jeder unter dem eisernen Zwang, den die Notwendigkeit auferlegt, den Krieg zu gewinnen. Nur daß der Anschiß von oben nach unten, die Wut jedoch von unten nach oben geht. Sie, Herr Reichsbahnrat, setzen sich zu leidenschaftlich ein und sind zu empfindlich. Man muß beim Kommiß ein gewisses Mittelmaß pflegen, sich mit Gleichmut in Unvermeidliches fügen lernen, auch einmal ein X für ein U gelten lassen können und um Gotteswillen nichts tragisch nehmen. Am Kommiß zerbrechen nur zwei Typen von Charakteren: Äußerlich der Rebell, weil er keine Chance hat, und innerlich der glücklicherweise nur selten vorkommende übersensible Schöngeist und seine eingebildeten Talmiausgaben in körperlich schlapper Hülle und ohne ausgleichenden Humor. Sie aber sind doch ein Mordskerl, Dornberg! Sie nehmen die Verhältnisse nur zu ernst und neigen zum Rebellen aus überlegener Sachkenntnis, Leistungswillen und Gründlichkeit. Nach den Gründen wird jedoch wenig gefragt. Mit etwas weniger Gründlichkeit, aber etwas mehr Konzession an die stramme Haltung auf der Grundlage einer doppelten Portion Humor kommen Sie weiter. Im zivilen Leben ist das doch auch nicht viel anders.“ Hauptmann Lohrmann zog sein goldenes Etui und bot eine selten gewordene gute Zigarette an. Alle vier rauchten. Dornberg blies zwei dünne Rauchstreifen durch die Nase. Sein finsterer Ausdruck hatte sich etwas entspannt. Aber jetzt, eben im Zustand der Entspannung, wurde seine übergroße Müdigkeit deutlich. „Ich meine, Sie sollten sich schlafen legen“, sagte der Präsident. „Ich bin sicher, Sie sind wieder einmal die ganze Nacht nicht aus den Kleidern gekommen.“ „Stimmt leider. Es mußten neue Bahnhöfe übernommen werden. Ich habe auch den immer dringlicheren Hilferufen der Station Nowy Wiezyczy stattgegeben, die nur mit drei Beamten besetzt ist, und ihr drei weitere Beamte zugeteilt. Sie kommen aus Lida und werden dort von neu zugegangenen Kräften, die sich erst in 36
Brest etwas eingewöhnen sollten, ersetzt. Was mir, auch von anderen Bahnhöfen an den Strecken durch die Rokitnosümpfe, über Wahrnehmungen verdächtiger Personen und Vorkommnisse berichtet wird, will mir gar nicht gefallen. Wiederholt wurde in letzter Zeit in der Dunkelheit auf Bahnbeamte geschossen. Nach Aussagen aus der Bevölkerung stecken die entfernteren und schwer zugänglichen Dörfer voll von versprengten russischen Soldaten und Partisanen. Viele Offiziere und auch Kommissare sollen sich unter ihnen befinden. Dabei sind die Strecken selbst in dieser zweifellos besonders bedrohlichen Gegend militärisch völlig unzureichend, meist überhaupt nicht gesichert.“ „Das wird durchaus eingesehen, ließ sich jedoch bisher nicht ändern“, sagte der Hauptmann. „Eben aber kommt zusätzlich ein Landesschützenbataillon nach Baranowicze und Luniniec.“ „Das ist ein Tropfen mehr auf einen heißen Stein. An den Strecken Zabinka—Luniniec und Baranowicze—Luniniec sind rund 30 Stationen zu schützen. Mit einer Handvoll Leute mehr kann man immer noch keine Anschläge größerer Banden verhindern, da man ja nicht weiß, wo sie stattfinden werden.“ „Richtig. Darum wird das überhaupt nie möglich sein, außer wir könnten das Hundertfache an Abwehrkräften einsetzen. Aber Ihre Eisenbahner selbst werden sich nicht mehr ganz so ausgesetzt und verlassen fühlen, die Heckenschützen werden nicht mehr so unbesorgt frech und das Minenlegen auf der Strecke wird nicht mehr so ungestört einfach sein.“ „Zugegeben. Es ist klar, daß ich keine hundert Mann einsetzen kann, wenn ich nur drei habe. Ich überlege mir aber, was daraus werden soll, wenn der Krieg noch lange dauert und die Partisanen Zeit haben, sich unter einheitlicher Führung zu großen Verbänden und taktisch gelenktem Einsatz zusammenzuschließen? Dann muß es ihnen ja gelingen, den Nachschub lahmzulegen, die Front gewissermaßen vom Hinterland zu isolieren. Und dann?“ „Sie sehen zu schwarz. Einer solchen Entwicklung würde natürlich rechtzeitig in vernichtenden Sonderaktionen entgegengetreten werden. Ich halte sie aber nicht für wahrscheinlich. Denn wie wollen die Banditenhaufen zu einer ausreichenden Bewaffnung und laufendem Munitionsersatz kommen? Und auf welch sicherer Grundlage wollen sie sich 37
verpflegen? Die Partisanenplage ist höchst widerwärtig, zugegeben. Sie kostet leider manchem das Leben, gerade auch manchem Eisenbahner. Sie verursacht Verluste an Nachschubgut und rollendem Material, Zerstörungen, Verzögerungen der Transporte, unaufhörliche Wiederinstandsetzungsarbeiten, Ärger über Ärger und Papierkrieg bei den leitenden zivilen und militärischen Stellen des Transportwesens, im Großen gesehen, handelt es sich aber doch mehr um ein lästiges Unwesen, im Einzelfall oft blutig und tragisch, aber nicht um eine ernstliche Gefahr. Die ganze Partisanentätigkeit ist, von höherer Warte aus beurteilt, auch nur ein Tropfen auf einen heißen Stein.“ „Ihre Aufmunterung tut gut, Hauptmann. Hoffentlich bleibt es wirklich bei dem Tropfen. Mir und denen, die ins Gras beißen müssen und ihren Familien reicht der schon.“ „Es ist eben Krieg und in diesem verfluchten Osten leider auch die Etappe ein unsicheres Pflaster. Der Eisenbahner, auch der friedliebendste blaue, muß in seinem eigensten Interesse zum Soldaten werden. Ich bin gewiß kein ziviler oder uniformierter Schreibtischmilitarist, der von sicherer Warte aus den Heldentod anderer fordert und womöglich noch als Schokolade anpreist, und es liegt mir nicht, den harten Zwang des Einsatzes der Eisenbahner mit großen Worten zu verbrämen, aber ich kann es nicht anders sagen: Wir brauchen zu den stählernen Straßen auch stählerne Herzen.“ Eine Weile schwiegen alle vier, dann sagte Dornberg leise: „Unglücklicherweise ist das Menschenherz aus Fleisch und Blut.“ Jetzt sah der eine, der bisher stumm, aber aufmerksam das Gespräch verfolgt hatte, der junge Inspektor mit der hohen Tapferkeitsauszeichnung, von einem zum anderen und ein einziges Wort kam von seinen Lippen, heiter und klar: „Glücklicherweise.“ Wieder schwiegen sie alle vier und alle vier dachten das Gleiche, ohne es von einander zu wissen. Sie dachten: Die drei Auffassungen widersprechen sich und doch sind sie alle drei richtig. Und sie ahnten dunkel, daß darin die Erkenntnis einer der großen tragischen Ursachen der menschlichen Passion verschlüsselt war.
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Zu bereden war nichts mehr. Die vier gaben sich die Hände und trennten sich. Der Präsident machte sich über die neuesten Befehle, Beanstandungen und Berichte her. Dr. Dornberg mußte wirklich ein paar Stunden schlafen, sonst fiel er jetzt einfach um. Hauptmann Lohrmann hatte es eilig, in seine Dienststelle zu kommen. Nur Racke schlenderte gemächlich aus dem Haus und über den freien Platz zwischen den weit vorspringenden Seitentrakten des gewaltigen Bauwerks zum leeren Sockel des Denkmals Lenins, dessen Namen der Minsker Riesenbau trug. Er war in seiner weitläufigen, mit breiten Freitreppen belebten Anlage, seiner acht bis zwölf hohe Stockwerke umfassenden, starken vertikalen Gliederung imposant, aber wie alle diese Monumentalbauten der staatlichen Machthaber und der Parteibonzokratie in ihrem schreienden Kontrast zu der Masse der dürftigen Häuser, liederlichen Hütten und miserablen Straßen der Städte, eine groteske Enthüllung der ungeheuerlichen Lüge vom Sozialismus und der Herrschaft des Volkes in der Sowjetunion. Jetzt waren unter anderem im Westflügel die HBD, im Mitteltrakt die deutsche Dienstpost und im Ostflügel die Luftwaffe untergebracht. Racke sah lange nachdenklich auf die Fensterreihen, hinter denen die Büroräume der Haupteisenbahndirektion lagen. Um diesen temperamentvollen Reichsbahnrat hatte er Sorge; höherer Gewalt gegenüber mußte man sich biegen, um nicht zerbrochen zu werden. Das war auf der ganzen Welt so. Langsam ging Racke die Moskauer Straße hinaus bis zum Stadtgarten, an dessen einer Ecke das Stadttheater lag, bog ab zum sehr einfachen Marktplatz mit den Kirchen, die als Kino oder Lager benutzt worden waren, besah sich den dreistufigen, aber ziemlich plumpen Rundbau der Oper am Ostende der Stadt auf dem Hochufer des Swislocz, warf einen Blick hinüber zu den Lazaretten an der äußeren Moskauerstraße und ging am Soldatenkino vorbei, der ehemaligen russischen Militärakademie, in der es auch ein Schwimmbad gab, zurück. Ganze Häuserviertel, ganze Straßenzeilen waren zerstört von Bomben, Beschuß und Bränden, andere daneben und dazwischen fast unberührt. Die größten Gebäude, meist frühere Ämter, waren von der Wehrmacht belegt, in vielen anderen lagen 39
die Eisenbahner. Die Quartiere waren unterschiedlich, aber im allgemeinen für zivile Ansprüche dürftig, für Frontschweinansprüche fürstlich. Es kommt immer auf die Perspektive an. Wer nur noch Krautsuppen kennt, dankt Gott für ein trockenes Stück Brot, über das der andere, der täglich seinen Fleischgang mit Beilagen hat, die Nase rümpft. Wer die Behaglichkeit von Klubsesseln und Teppichen, Sprungfedermatratzen und Daunensteppdecken zu seinem Glück benötigt, wird sich bei Feldbett, nacktem Tisch und Stuhl zwischen vier kahlen Wänden trostlos fühlen. Ist er aber ein paar Wochen kämpfend durch Sonne, Wind und Regen gestapft, tageund nächtelang unter feindlichem Feuer in Schützenlöchern gelegen, dann wird ihm eine friedliche trockene Kartoffelmiete mit einer Schütte Stroh ein Stück vom Himmel sein. Als Racke zum Bahnhof kam, war auch Dornberg da. „Na nu, Herr Rat! Das war aber eine kurze Bettruhe! Wollen Sie verreisen?“ „Nein, das nicht, aber die drei Beamten für Nowy Wiezyczy möchte ich kurz selber noch sprechen. Sie sind jetzt eben mit dem Lazarett-Leerzug angekommen. Sie stehen auf meiner privaten Liste derjenigen Beamten der HBD, die den Ruf haben, ganz besondere Kerle zu sein. Sie haben sich bei der Aushebung von russischen Soldaten in Brest, die erst einige Zeit nach der Inbetriebnahme in den Kellern des Bahnhofs entdeckt wurden und sich nicht ergaben, als unerschrockene Draufgänger bewiesen. Genau genommen nur zwei von ihnen, aber der dritte ist ihr auserkorener Schützling, wie mir der Amtsvorstand mitteilte, und das Kleeblatt läßt sich nicht trennen; wäre ja psychologisch auch völlig falsch.« Da traten die drei auch schon ein. Dornberg war enttäuscht, als er sie nun vor sich sah. Er wußte allerdings, daß man von der Fassade eines Menschen nicht so ohne weiteres darauf schließen kann, was hinter ihr steckt, obgleich man sagt: In jedes Menschen Gesichte steht seine Geschichte. Die meisten Wahrheiten sind eben nur halbe Wahrheiten. Weil sie aber vom homo sapiens — ausgerechnet vernunftbegabt! — für voll genommen werden, geht immer alles erstens anders und zweitens als man denkt. 40
Der Reichsbahnrat gab ihnen der Reihe nach die Hand. Der ziemlich aufgeschossene, schlaksige Semmelblonde mit dem schmalen helläugigen Gesicht, der langen, auch seitlich ein wenig gekrümmten Nase, dem etwas zu kleinen, leicht zurückweichenden Kinn und dem vorspringenden Adamsapfel war der Sekretär Liebedorn, mit Vornamen Sigismund, geboren in Berlin 1911, im Jahre der außergewöhnlichen Hitze und Dürre, der tektonischen Erdbeben in Württemberg und des tausendsten, nun aber endgültigen Weltuntergangs, als Sohn eines Sachsen und einer Rheinländerin. Er schwor auf alle drei Stämme, obwohl Berlin kein Stamm, sondern eine Weltstadtschöpfung Zugereister war. Wie jeder zweite Deutsche war Sigismund Liebedorn mit der Berufung zum weltverbessernden Dichter und Denker, gekoppelt mit der Eignung zum Marschierer inklusive Marschallstab, zur Welt gekommen. Er hatte es in dieser Hinsicht bereits bis zum SA-Scharführer gebracht, aber es vorgezogen, statt lebenslang als Poet zu hungern, sich als einfacher, aber lebenslang freundlich versorgter Eisenbahnbeamter ausreichend zu ernähren. Sein Lieblingslied war natürlich: „Was kann der Sigismund dafür, daß er so schön ist“ und mit Bezug auf das weibliche Geschlecht hielt er es mit Hans Albers, seinem Lieblingsfilmschauspieler: „Greif zu, wenn man dir gibt und nimm! 's ist alles halb so schlimm!“ Doch besaß er einen ausgesprochenen Widerwillen gegen die Ehe und demzufolge einen besonderen Instinkt, der ihn bisher — auch für die Gegenseite ziemlich schmerzlos — vor dem Standesamt bewahrt hatte wie einen Fuchs vor der Falle. Vom Wehrdienst war er noch nicht erfaßt worden und als er eines Tages zur Ostbahn in Krakau versetzt wurde, hatte er nur gesagt: „Na ick weeß doch, dat et ohne mir nich jeht“, hatte den mittelgroßen Koffer gepackt und nach Beginn des Rußlandfeldzuges die Fahne Berlins zunächst in Brest, kurz darauf in Lida gehißt. Das wußte der Reichsbahnrat natürlich alles nicht, aber mit einem Blick sah er, daß der neben dem Preußen der Münchner Vorort-Betriebswart Josef Schepperl war, zu erkennen an der, einschließlich des Kopfes und Nackens, gedrungenen Gestalt, der ganzen gedrungenen Art sozusagen. Er hatte unter dichten 41
struppigen Brauen zwei dunkle ruhige Augen, denen gleichwohl nichts zu entgehen schien, und eine fast schwarze Bartbürste unter der gemütlichen Stumpfnase. Übermäßig liebenswürdig sah er nicht aus, eher auf „grantig“ eingestellt. Er ließ sich zweifellos nur im äußersten Notfall aus seiner privilegiert bayerischen Ruhe bringen, aber wenn es auf Zuverlässigkeit und Beharrlichkeit ankam, war er bestimmt am Platze und wo er mit seinen klobigen Fäusten hinschlug, wuchs wahrscheinlich so schnell kein Gras mehr. Schepperl war 35 Jahre alt, der jüngste von vier Bauernsöhnen und Eisenbahner im wörtlichen Sinne von der Pike auf. Er hatte alles in allem zwanzig Dienstjahre auf dem Rücken und war im Stande, jede Tätigkeit auszuüben, die auf einem kleinen Bahnhof anfiel, gleich ob als Rangiermeister, Lademeister, Aufsichtsbeamter oder Fahrdienstleiter. Er hatte eine Nachbarstochter geheiratet, in christlichen Ehren zwei Knaben und ein Mädchen gezeugt und ein rechtschaffenes und zufriedenes Leben geführt, in dem bei aller Bescheidenheit dank der beiderseitigen bäuerlichen Verwandtschaft weder die Schweinshaxe und das Geselchte, noch die täglichen zwei Maß gefehlt hatten. Für die Partei hatte er keine Sympathie aufbringen können; ihr ewiges Geschrei war ihm zuwider. Es wurde allerdings auch mancherlei geleistet. Man konnte weder recht ja, noch recht nein sagen. Außerdem war ein offenes Nein für einen Beamten nicht ganz so einfach wie für den Herrn Pfarrer, der es im übrigen auch meist verschleierte. Als aber dann der Krieg ausgebrochen war, hatte der Schepperl Sepp bedenklich den Kopf auf dem Stiernacken gewiegt: Deifi, Deifi! Itza war's gfeit! Aber ehe es mit dem Stalin losgegangen war, hatte man daheim noch ziemlich ungestört und ohne fühlbare Einschränkungen leben können. Als auch er sein Graffl packen mußte, in einer umfangreichen alten, aber unverwüstlichen Ledertasch'n versteht sich, hatte er ihm g'stunken wie noch nie in seinem Leben. Außerdem hatte ihn das Abschiedsweh so gepackt, wie er es überhaupt nie für möglich gehalten hätte. In der letzten Nacht hatte er an der Anni ihrem Busen „g'flennt wia a kloana Bua.“ Daß ihn der Hitler so weit gebracht hatte, das verzieh er ihm nie! 42
Es hatten noch mehr Männer, ältere und jüngere, ihre Koffer packen müssen, die einen mit einem Gestellungsbefehl zur Truppe, die anderen zur Organisation Todt oder für irgend einen fernen Rüstungsbetrieb. Die zusammengeschrumpfte Kapelle der Ortsgruppe hatte am Bahnhof gespielt und der Ortsgruppenleiter, der Simmerl, der Gastwirt, der Lackl, eine siegbegeisterte Rede gehalten, wie sie jeder Pimpf schon auswendig konnte, und die nur ein gezwungenes, schwächliches Sieg-Heil-Ende gefunden hatte. Denen mit den Koffern und den vielfach vom Abschied geröteten Augen und zusammengepreßten oder verlogen lachenden Mäulern war es nicht nach heroischem Einsatz zu Mute gewesen, noch weniger den Frauen und Müttern, die sich auf dem Bahnsteig die Tränen von den Backen wischten und xmal die Nase putzten. Aber man mußte eben den Parteirummel über sich ergehen lassen und auch den Arm heben. Als dann jedoch im Kupee ein gewisser Schepperl Sepp die Ledertasche ins Netz gefeuert und deutlich vernehmbar „leckts mi am Arsch!“ geknurrt hatte, war es wie ein Aufatmen durch den ganzen Haufen gegangen. Er hatte sichtlich den meisten aus der Seele gesprochen und es war mit einemmal alles gar nicht mehr so schwer gewesen. Nachdem der Abschied und das dürftige Geschwätz des sogenannten Hoheitsträgers überstanden war, hatte man garnicht mehr so trübe in die Zukunft gesehen. Dazu war bei solchen Heeresberichten auch wirklich kein Grund. Schade, daß einem das Parteimaul alles verleidete! Die braunen Uniformen sollten an die Front verschwinden! Das war Schepperls Auffassung! Goebbels voran! Das müßte doch die allerunbesiegbarste Kerntruppe des Führers geben! So hatte sich der Bahnhofsvorstand Josef Schepperl zwar mit einigen mißtrauischen Vorbehalten, sonst aber in solider seelischer Verfassung bei seinem neuen Amt gemeldet und nun seit Wochen seinen Dienst in dieser polnischen Wirtschaft mit der gleichen Pflichttreue getan wie all die Jahre in der Heimat. Außer der letzten Tatsache wußte Dr. Dornberg nichts von all dem, hätte es aber ruhig wissen dürfen, denn er war aus dem gleichen Holze geschnitzt, wenn auch in schwäbischer Form. Nur bot ihm seine höhere geistige und damit auch weitere politische Ebene einen umfassenderen Überblick über die Entwicklungen im 43
Leben der Völker und die weltpolitischen Zusammenhänge nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Er sah klar, daß der einzelne Mensch des 20. Jahrhunderts unentrinnbar eingeschlossen ist, gefangen ist im weltumspannenden Kampf der Völker um ihre freie Existenz, der entstanden ist aus Schuld und Tragik, Irrtum und Betrug und verbrecherischer Niedertracht zusammen. Und der dritte des Kleeblatts war der Assistent Glück. „Ihren Namen sieht man Ihnen nicht an“, lag es Dornberg auf der Zunge, aber er unterdrückte den Scherz, denn mit diesem Manne war ernsthaft etwas nicht in Ordnung. Und es sah so aus, als drücke ihn nicht nur eine vorübergehende seelische Depression, sondern ein immerwährender zehrender Gram. Eigentlich paßte er gar nicht zu den beiden andern. Oder im Gegenteil: er war ohne sie überhaupt nicht denkbar. Nicht lebensfähig. Wenigstens hier draußen nicht. Wahrscheinlich war das auch der tiefere Grund des Zusammenhalts der drei. Daß Glück mit Vornamen auch noch Hans hieß, war Dornberg im Augenblick nicht geläufig. Aber eben darunter hatte Hans Glück von seiner Schulzeit an gelitten. Alle Welt nannte ihn Hans im Glück und dabei war er ein ausgesprochener Pechvogel. Zweimal war er in der Schule sitzengeblieben und hatte es dann nur bis zum Einjährigen gebracht. Trotz des Einjährigen kam er im Beruf nicht vorwärts und in der Liebe erst recht nicht. Er hatte sich immer nur schwer an andere angeschlossen, obgleich ihn sehr nach Geselligkeit und Freundschaft verlangte. Andererseits war es, obwohl er, ungeachtet der über der Nasenwurzel fast zusammengewachsenen Brauen, ein recht hübscher Mensch war, schwer für ihn, einen steten Bekanntenkreis zu finden. Man fand ihn langweilig und trübsinnig. Und dann war seine unsinnige Verliebtheit in Hella gekommen. Sie war die Tochter seines Erfurter Hauswirts, eines Metzgermeisters. Zwanzig Jahre alt, eine rötlichblonde Katze. Pralles Fleisch, blühendes Antlitz und der Ausdruck einer verwirrenden Mischung von lebenslustiger Frische und unbekümmerter Verderbtheit im Gesicht. Er wußte von Mitbewohnern, daß sie von ihrem 16. Lebensjahre an, beginnend mit Studenten, Männer gehabt hatte. Jetzt waren 44
es Herrn, die braune oder schwarze Uniform trugen oder in einem mehr oder weniger teueren Wagen fuhren. Hans Glück nahm das als den Rechtsanspruch eines jungen Mädchens an den Glanz des Lebens und haßte die Nachbarinnen, die sich darüber die Mäuler zerrissen. Sie hätte aus dem Bordell kommen können, er hätte sie genau so geliebt. „Laß die Finger von ihr, du verbrennst sie!“ riet ihm jeder, der davon wußte. „Ich bin machtlos dagegen“, sagte er zu ihnen. Und zu ihr. Sie lachte ihn aus. Nicht so, daß es weh tat, nein, so war sie nicht. In netter Art lachte sie ihn aus, und sie lehnte nicht ab, auch mit ihm einmal ins Kino oder in eine Tanzbar zu gehen. „Sie sind eigentlich ein sehr hübscher und angenehmer Mensch“, sagte sie. Wenn er an ihrer Seite sein durfte, war er es auch. Sie ließ sich kleine Gefälligkeiten von ihm erweisen und schließlich auch küssen. „Aber nur freundschaftlich“, sagte sie. Nur Geduld, Hans im Glück! frohlockte er heimlich. Steter Tropfen höhlt den Stein. Er sprach hinter ihrem Rücken mit ihrem Vater. „Ich wäre ja froh, wenn sie vernünftig würde“, sagte der. „Eine anständige Aussteuer bekommt sie.“ Aber sie wurde nicht vernünftig, zumal die Frau Metzgermeister meinte: „Unsere Hella kann es weiterbringen, als zur Frau eines kleinen Eisenbahners.“ Hella wurde selbst dann nicht vernünftig, als Hans Glücks Mutter gestorben war, er das kleine Vermögen geerbt und ein SportKabriolett in Elfenbein und Schwarz gekauft hatte. Erst als sie der erste, bei dem sie auch mit dem Herzen stark beteiligt war, nach wenigen Wochen des bisher schönsten Rausches plötzlich verlassen hatte, war sie mitten in der Nacht zu Hans gekommen und hatte sich in seinem Bett ausgeweint. „Du bist doch der Einzige, der mich wirklich liebt und es ehrlich mit mir meint.“ Und weil mit dem Vater kein Auskommen mehr war, er ihr täglich drohte, sie hinauszuwerfen, sie aber vor dem Schicksal einer Geliebten am laufenden Band doch instinktiv zurückschreckte, stellte sie sich trotz aller Freiheitsliebe nicht auf eigene Füße, sondern ging mit Hans im Glück nach vier Wochen
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aufs Standesamt und in einer Wolke von blütenreinem Weiß in die Kirche. Eine Woge von Seligkeit schlug über ihm zusammen. Außerdem war sie zu seiner Verwunderung eine ebenso tüchtige wie charmante Hausfrau. Er glaubte an ihre Liebe, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, wenn auch sein kleines Vermögen dabei vollends dahinschwand. Er zwang sich, nie auch nur einen eifersüchtigen Gedanken aufkommen zu lassen und wenn ihm das aus besonderem Anlaß einmal nicht ganz gelingen wollte, stürzte er sich mit verdoppelter Heftigkeit in die Rauschgiftbetäubung, die ihm ihr Besitz zu jeder Stunde bei Tag und Nacht gewährte. Die Marter unaufhörlicher Eifersucht begann mit dem ersten Jahrestag ihrer Hochzeit. Ein Dienstmann brachte eine große Kiste. Aus der Verpackung kam ein gußeisernes Hirschgeweih zum Vorschein. Ein Sechzehnender. Und dabei war eine „Widmung in Blockschrift auf Bütten gemalt: „Dem glücklichen Ehemann als Schlafzimmerschmuck gewidmet. Die mitfühlenden Nachbarn.“ Hella war vor Zorn scharlachrot geworden, er vor Scham und Leid weiß wie ein Leintuch. Dann hatte er zwei Koffer gepackt und war mitten in der Nacht wie ein Dieb mit ihr aus dem Haus in ein kleines Hotel in der Nähe des Bahnhofs gezogen. Er hatte bei seinem Amtsvorstand um Versetzung in eine andere Stadt gebeten. Obwohl er keine Gründe angegeben hatte, hatte der Vorstand ihm schweigend die Hand gedrückt. Und schon vierzehn Tage später waren sie nach Halle gezogen. Die Wohnung hatten sie getauscht, ohne sie und ohne einen Nachbarn oder eine Nachbarin wiedergesehen zu haben; den Umzug hatten Hellas Eltern besorgt. Auf Hans Glücks Antlitz war der Ausdruck chronischer Schwermut zurückgekehrt. Seine Liebe war unzerstörbar, aber jede Stunde, die er nicht bei ihr sein konnte, flatterte sein Herz in seiner Brust wie ein Vogel über seinem Nest auf brennendem Dach. Der Krieg war gekommen und man hatte ihnen das Auto genommen. Vor einem Vierteljahr hatte ihn dann der k. o.-Schlag des Schicksals getroffen: er mußte nach dem Osten. Seither
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japste und zappelte sein Herz wie ein gefangenes Fischlein in einer brutalen Faust. Das war es. Das war die Gemütskrankheit, die man Glück beim ersten Blick ansah, ohne ihre Ursache zu kennen. Der Reichsbahnrat wußte das alles natürlich auch nicht. Ungefähr aber wußten es Schepperl und Liebedorn, bei denen dieser Hans im Unglück aus unklaren Empfindungen heraus wortlos Halt und Schutz gesucht hatte, und die aus ebenso unklaren Empfindungen heraus ebenso wortlos diesen Halt und Schutz übernommen hatten. Erst durch den seelisch umgekippten Kollegen waren sich auch Schepperl und Liebedorn näher gekommen und allmählich war aus allen dreien das unzertrennliche Kleeblatt geworden. Jetzt sahen sie gleichermaßen nicht gerade freundlich auf den Vorgesetzten mit den komischen rotumrandeten goldenen Querlappen auf den Schultern. Kaum hatten sie sich nun in Lida eingewöhnt, mußten sie schon wieder wandern! Daß er ihre dienstliche Tüchtigkeit und besondere Mannhaftigkeit anerkannte, dafür kauften sie sich gar nichts. Wenn man dafür mit Versetzungen bestraft wurde, mußte man in Zukunft eben weniger tüchtig und weniger mannhaft sein. „Also hören Sie genau zu“, sagte Dr. Dornberg: „Der Bahnhof Nowy-Wiezyzcy ist nur mit 3 Mann besetzt. Das ist in dem partisanenverseuchten Gebiet zu wenig. Ihre Kollegen brauchen daher unbedingt Hilfe. In nächster Zeit soll dort, was weiß ich wozu, ein Baubataillon ausgeladen werden. Auch mit einer Anzahl Baumaterialzügen ist zu rechnen. Sie können sich denken, was dann los ist! Das kann der kleine Bahnhof nur schaffen, wenn alles wie am Schnürchen klappt. Sonst stauen sich vor ihm die durchgehenden Züge und verstopfen mir die Strecke. Für diese Aufgabe brauche ich tüchtige und unerschrockene Männer, die improvisieren können und sich zu helfen wissen. Nach Ihren bisherigen Leistungen in Brest und Lida scheinen Sie mir die richtigen für diesen schwierigen Posten zu sein. Und noch eins! Die selbständigen Eingriffe der Truppe in den Betrieb müssen aufhören! Wenn jeder Offizier, Feldwebel oder SS-Mann, der nichts von der Eisenbahn versteht, befiehlt, wie 47
seine Wagen bevorzugt behandelt werden sollen, dann kann natürlich die Eisenbahn das nicht leisten, was von ihr verlangt wird. Berichten Sie mir sofort telefonisch, wenn Sie besondere Schwierigkeiten in dieser Beziehung haben. Und nun sehen Sie zu, daß Sie so schnell wie möglich an Ort und Stelle kommen! Fahren Sie mit dem ersten erreichbaren Zug, sobald Sie Ihre Verpflegung geholt haben!“ Mit diesen Worten schloß Dr. Dornberg seine eingehende Schilderung der besonderen Schwierigkeiten ihres neuen Bahnhofes. 49 „Oiso, schiab'n ma ab an Arsch da Welt“, meinte Schepperl und da weder Wortlaut noch Tonstärke Eindruck auf den Reichsbahnrat zu machen schienen, setzte er herausfordernd hinzu: „Größte Depp'n ham's leicht net g'fund'n?“ „Um diesen Gesichtspunkt hab' ich mich nicht gekümmert“, war die gleichmütige Antwort. „Aber wenn Sie der Meinung sind, daß das schwer gewesen wäre, möchte ich natürlich nicht widersprechen.“ Oha! dachte Schepperl. D'Fotz'n ist guat, bloß a bisserl gschwoll'n. Aber weil er Vorgesetzten grundsätzlich nur Grobheiten sagte, behielt er diese Schmeichelei für sich. „Und was den Arsch der Welt betrifft“, fuhr der Reichsbahnrat heiter fort, „so ist der hierzulande bekanntlich überall außerhalb der größeren Städte, wo ein Landser oder Eisenbahner hinverschlagen wird, gleich ob Molodetschno, Wiesitschi oder sonst ein Kaff.“ Liebedorn lachte. Allerdings war sein Lachen eine besondere Sache, eine fast weibisch klingende Tonfolge zwischen Meckern und Kichern. „Wir werden det Kind schon schaukeln, Herr Rat!“ versicherte er munter und sein Gurgelknopf hüpfte beschwingt auf und ab. Glück sagte nichts. Für ihn blieb es sich gleich, ob Brest oder Lida oder sonst ein Ort. Er war dort so unglücklich wie hier. Nur daß es nun einen Tag länger dauern würde, wenn er einmal in Urlaub fuhr, bis er daheim war. 48
„Also sehen Sie zu“, meinte Dr. Dornberg noch einmal, „daß Sie möglichst vor Mittag noch wegkommen.“ Und dann konnten sie losgehen. Sie sahen dann auch zu — nämlich um was für Züge es sich handelte. Da ihnen der nächst erreichbare zu unsympathisch war, weil es sich ausgerechnet um einen vollgepfropften Gefangenenzug handelte, der folgende mit einem Truppentransport überfüllt war und der dritte Baumaterial geladen hatte und fast auf jeder Station rangiert wurde, erkoren sie sich den vierten aus, der ein aus Wilna abgezogenes Landesschützenbataillon brachte. Der Stab und eine Kompanie blieben in Minsk, eine Kompanie kam nach Baranowicze, zwei waren für Luniniec und Pinsk bestimmt. In diesem Zug hatten sie genügend Platz und fuhren unter ausreichendem militärischen Schutz. Es sah recht originell aus, als die drei Eisenbahner, der lange hagere, der kurze feiste und der normalfigürliche daherkamen, in beiden Händen Gepäck schleppend, die steife goldblechstrotzende Prunkmütze auf dem Kopfe, Stahlhelm am Koppel, Gasmaske am Tragband auf dem Rücken baumelnd, ein langes polnisches Gewehr mit dem Lauf nach unten umgehängt, denn es regnete und sie hatten keine Mündungsschoner. Es fehlte nicht an gutmütigem Spott der Landser, die ihre Köpfe aus den Fenstern streckten. Aber der Berliner und der Bayer waren alles andere, als auf den Mund gefallen und das Gelächter war gegenseitig. Das Ausfahrsignal stand schon auf Fahrt, da kam mit dem Aufsichtsbeamten noch ein Blauer an. Der hatte keine Schirmmütze auf, sondern ein Schifferl, und weder Knarre noch Gasmaske, sondern Pistole 08, weder Koffer noch Bündel, sondern einen Gebirgsjägerrucksack mit Kochgeschirr und Feldflasche, Decke und Zeltbahn tadellos gerollt aufgeschnallt. Und, was sich ein Soldat nicht so ohne weiteres hätte leisten können, über dem Mantel und allem Drum und Dran trug er noch einen durchsichtigen Regenumhang. Den Rucksack schien er überhaupt nicht zu spüren. Er sah so gelassen heiter aus, als wäre diese beschissene Welt in schönster Ordnung. Dabei war er, dem bescheidenen Schulterstück zur Folge doch gar kein 49
großes Tier, auch nur ein Inspektorchen oder so und dazu war der eine Arm offenbar futsch. Es gab keinen Zuruf außer einem: „Wo haben Sie denn Ihr Schiff, Herr Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän?“ „Das kommt nach, wenn's so weiterregnet, sobald statt der Züge Schiffe auf der Strecke verkehren.“ Der Wagen, den ihnen der Zugführer gesagt hatte, besaß kleine geschlossene Abteile. „Hoppla, wer kommt denn da?“ rief Liebedorn aus und reckte den Hals, als Racke draußen vorbeiging. Die drei waren schon mitten drin, sich häuslich einzurichten. Racke tat das gleiche nebenan, dann kam er herüber, eben als Liebedorn sich entschlossen hatte, zwecks Befriedigung seiner Neugier über das Woher und Wohin dem fremden Nachbarn einen Besuch abzustatten. Ihre Augen hafteten auf dem EK I und dem Arm. „Tag, Kollegen“, grüßte Racke, nannte seinen Namen und gab ihnen die Hand. Liebedorn schüttelte sie kräftig, Glück nahm sie höflich, Schepperl zögerte. Er gab nicht jedem Dahergelaufenen gleich die Hand. Das ging nicht so schnell bei ihm. „Hob die Ehr“, brummte er. Er fahre auch nach Nowy Wiezyczy, sagte Racke. „Da schaug her! Der Herr Stationsschöff“, brummte Schepperl. Davon habe ja der Herr Reichsbahnrat gar nichts geflüstert! staunte Liebedorn. „Stimmt ja auch nicht“, sagte Racke. Was er denn dann dort wolle? „Ach, nur so —“ Nur so? Aha! Schepperl merkte sich das. Wieso er mit dem steifen Ellbogen überhaupt noch da sei? fragte Liebedorn. „Auf eigenen Wunsch.“ „Geh weita! Ja gibt's denn dös a? fuhr es Schepperl heraus und Liebedorn schrie: „Wat, uff eechenen Wunsch? Dolle Sache, Mensch!“ „Na—a, spinnat!“ erklärte Schepperl, ungeachtet der höheren Stellung des anderen.
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Glück sagte nichts. Er sah mit einem so merkwürdig traurigen Ausdruck der Verwunderung auf Racke, daß er gar nichts zu sagen brauchte. Sein ganzes heulendes Heimweh lag bloß. Racke lachte und bot Zigaretten an. „Rauchen wir erst mal eine zusammen“. Und dann erklärte er ihnen kurz die Geschichte mit Bunz und wie alles gekommen war. Liebedorns Nase wurde immer länger, das Kinn immer kleiner, der Gurgelknopf immer lebendiger. „Mensch, da sin Se ja ne Kanone!“ Aber Schepperls Auffassung war nicht zu erschüttern: Andere würden ihr Seelenheil dafür geben, wenn sie heim könnten. Dieser Racke verging sich gegen die Solidarität der allgemein menschlichen Interessen! Und als Racke wieder in sein Abteil hinübergegangen war, weil der kluge Mann vorbaut und schläft, solange er Zeit hat und er damit außerdem im Rückstand war, sagte Schepperl grimmig: „Und an Aafpasser brauch'n ma ieberhaupts net.“ Dann spielten sie Karten. Aber Glück war noch weniger bei der Sache als sonst. Er war verstörter, als die anderen merkten. Immer wieder packte es ihn, am Tage, in der Nacht, schüttelte ihn wie mit Fäusten. Immer wieder mußte er sich verzweifelt dagegen wehren, daß er nicht einfach davonlief, sich im erstbesten Zug verkroch, der in die Heimat fuhr! Ach, zu Fuß würde er gehen, wenn sie ihn nur gehen ließen! Auf Krücken würde er sich hinschleppen! Aber sie würden ihn bald haben und an die Wand stellen. Und da kam einer freiwillig! Wie war das nur denkbar? Fast auf jedem Bahnhof gab es einen kurzen, manchmal auch weniger kurzen Aufenthalt. Glück hatte unverschämte Karten; er gewann im Schlaf. Liebedorn wechselte den Platz mit ihm; es half nichts. Nicht weil der Sepp und der Sigi ständig verloren, sondern weil es deshalb für alle drei reizlos war, hörten sie auf, als es dämmerte. Der Zug klapperte über Weichen und in einen Bahnhof hinein. „Wo sind wir denn?“ Liebedorn streckte den langen Hals zum Fenster hinaus. „Po — gor — zel — ce heeßt det Kaff“, buchstabierte er.
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Sie hatten keine Karte. Wo sollten Karten für alle Eisenbahner herkommen? Aber der Zugführer oder der Lokführer mußten einen Buchfahrplan haben. Sie brauchten nicht nachzufragen. Racke kam herüber; er hatte etwas viel Besseres: eine Karte des Eisenbahnnetzes von Wilna bis über Woronesh und von Lemberg bis über Charkow hinaus. Er hatte sie bei der Betriebsleitung Osten in Warschau nachgezeichnet. Sie hatten jetzt in fünf Stunden ohne besondere Verzögerungen rund 120 Kilometer zurückgelegt. Nach Baranowicze waren es noch rund 25 Kilometer. Dort hatten sie länger Aufenthalt! Es war Lokwechsel und eine der Landesschützenkompanien wurde ausgeladen. Lange standen sie vor Baranowicze. Es war Nacht geworden. Züge in Richtung Luniniec konnten nicht abgefertigt werden. Sie wurden auf das letzte verfügbare Stückchen eines Abstellgeleises gelotst. Der Bahnhof war verstopft bis in den hintersten Winkel. Nur die Gleise nach und von Brest waren freigehalten worden. „Will mir den Laden draußen mal ansehen und hören, was eigentlich los ist“, sagte Racke. Liebedorn begleitete ihn. Viel zu sehen war nicht. Zug hinter Zug und Zugreihe neben Zugreihe. Die Feuer der Lok waren gedämpft. Zugführer und Schaffner, auch einige Lokführer und Heizer — soweit sie die Lokfeuer nicht überwachen mußten — hatten sich in die Personalaufenthaltsräume begeben, oder sich, wo Platz und eine Liegestatt war, schlafen gelegt. Auch die Arbeiter und Beamten des Bahnhofs benutzten den Umstand, die Hände in die Taschen stecken zu müssen, um zusätzlicher Ruhe zu pflegen. Nur der Bahnhofsvorsteher selbst und ein Assistent, der ohne Ende am Telefon hing, hielten sich im Dienstraum des Fahrdienstleiters auf. Auch der Bahnhofsoffizier kam seit Stunden nicht mehr von der Strippe, obgleich Baranowicze mit dem Ereignis selbst gar nichts zu tun hatte; es war aber neben Luniniec transporttechnisch am meisten in Mitleidenschaft gezogen. Viel zu erfahren war auch nicht. Auf die kleine Station Nowy Wiezyczy — Racke und Liebedorn bekamen große Augen und öffneten beide den Mund, ohne etwas zu sagen — sei am hellen Tage ein großangelegter Partisanenanschlag verübt worden, der 52
zu einem schweren Eisenbahnunglück geführt habe. Näheres war nicht bekannt. Die Smiercbrücke bei Lachwa sei auch zerstört worden und wie durch Funk von den Feldeisenbahnern in Kalinkowitschi in Erfahrung gebracht worden sei, auch die Brücke ostwärts über den Lan. Ziemlich betreten kehrten die beiden in ihren Wagen zurück. „Nowy Wiezyczy antwortet nicht“ verkündete Liebedorn. Diesmal war Glück der erste, der etwas sagte. „Fängt gut an“, sagte er. „Wieso?“ grollte Schepperl. „Partisanenanschlag. Zugunglück. Brücken zerstört.“ „Schauermärchen“, sagte Schepperl verächtlich. „48 Stunden mindestens sitzen wir hier fest.“ Liebedorn wußte das nicht, aber er schätzte so. „Wir müßten sehen, daß wir auf andere Weise hinkommen“, sagte Racke nachdenklich. „Na—a“, antwortete Schepperl. „I net.“ Und weil Liebedorn recht unschlüssig dreinsah, knurrte er: „Dir tat's einfall'n, du spinnata Deifi!“, breitete ostentativ seine Decke aus auf der Bank und entschied: „Schlaffa damma!“ Achtavierzg Stund laß i mi gar niemals net wecka! Host mi?“ Liebedorn meinte, vom Bahnhof verschwände er schon ganz gerne. „Stellt euch vor: jetzt ein paar Bomber!“ Racke lachte. „Da habe ich keine große Sorge. Nach den Heeresberichten hat die sowjetische Luftwaffe bisher mindestens 6.000 Flugzeuge verloren. Was sie noch hat, braucht sie sicher dringender vor Moskau, bei den Rückzugskämpfen zwischen Gomel und Kursk und vor allem zwischen Kiew und Charkow.“ „Sagen Sie das nicht“, meinte Glück. „Vor kurzem haben sie in Minsk Bomben geworfen, auf Smolensk, Borisow, Newel, Witebsk, Polozk waren auch Luftangriffe.“ „Aber hier sind wir inzwischen sehr weit weg von den russischen Luftbasen.“ „Wenn die wüßten, was hier Züge stehen!“ „Na, das werden sie wohl nicht so schnell erfahren. Aber daß wir hier ein, zwei Tage herumliegen sollen, vielleicht noch länger, gefällt mir gar nicht.“ „Det is mich nu egal“, grinste Liebedorn. „Sicher läßt sich's hier ooch nich schlechter leben als anderswo.“ 53
„Wahrscheinlich besser als in diesem Nowy Wiezyczy“, stimmte Glück zu. „Zum Schuttaufräumen kommen wir noch früh genug.“ „Aber die Kollegen dort warten auf uns. Wir wissen gar nicht, was mit ihnen los ist und wie dringend wir dort nun erst recht gebraucht werden.“ Schepperl beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Für ihn war die Angelegenheit erledigt. Er streckte sich jetzt demonstrativ auf der Decke aus. „Woll'n Se vielleicht latschen?“ keckerte Liebedorn. „Es gibt auch eine andere Möglichkeit. Wir könnten auf der Strecke nach Brest weiterfahren bis Zabinka und von dort über Pinsk nach Luniniec.“ Liebedorn machte ein dummes, Glück ein abweisendes Gesicht. Schepperl ließ gegen allen Respekt einem Inspektor gegenüber einen höchst unfeinen Ton hören. Vielleicht nur versehentlich. Auch dadurch ließ Racke sich nicht beirren. „Das ist allerdings der dreifache „Weg, rund 330 Kilometer, schätze ich. Aber wir sind dann auf jeden Fall morgen früh in Luniniec und bestimmt 24 Stunden früher an Ort und Stelle, als wenn wir hier warten.“ „Es pressiert doch aber gar nicht. So lange kein Betrieb ist, braucht uns dort keiner“, entgegnete Glück. „Das kann man nicht wissen, Kamerad. Außerdem fängt der Betrieb in unserem Nest mindestens 12 Stunden früher an, als wir hier überhaupt wegkommen.“ Racke ging noch einmal zum Fahrdienstleiter. In dreißig Minuten gehe ein Leergüterzug nach Brest. Racke bedankte sich, steckte sich zufrieden eine Zigarette an und suchte den Leerzug. Er hatte eine polnische Lok und polnische, tschechische, deutsche und französische Güterwagen, offene und geschlossene. Auch Kesselwagen waren dabei. Die Lok qualmte. Der Heizer riß eben die Feuertüre auf, warf Schaufel um Schaufel pechschwarzer Kohle ins flackernde Feuer auf den langen Rost. Er sah im Glühlicht dämonisch aus und über der Lok färbte sich der grauschwarze Rauch violett und der weiße Dampf tiefrosa. Der Lokführer hing halb unter der Lok und hämmerte an ihr herum. Auch er war Pole. „Nur Zugführer deutsch“, sagte er. 54
Das Zugbegleitpersonal schien noch nicht da zu sein. Der zweite Wagen war ein Gepäckwagen, dessen eine Hälfte mit hölzernen Bettschragen, je zwei übereinander, und Strohsäcken ausgestattet war. Auch ein kleiner Tisch und ein paar Hocker waren da. Na also, dachte Racke, der reinste Salonwagen, und begab sich zum Transportzug der Landesschützen zurück, die bis auf weiteres in den Ort gegangen waren. Die Fenster des SchepperlAbteils waren verhängt. In seinem Abteil war Liebedorn bei einem kleinen Imbiß, weil er mit leerem Magen, wie er behauptete, nicht einschlafen könne. „Ich fahre also über Zabinka“, sagte Racke leichthin und packte seine Sachen in den Rucksack.“ „Aber Inspektor, det 's doch Unsinn“, wehrte Liebedorn ab. „Wo gerade Sie im Grunde genommen jar nischt dort zu such'n hamm. Außerdem wissen Se jar nich, ob Se da nich irchendwo unnerwechs noch länger liechen bleib'n.“ „Außergewöhnliches kann immer und überall geschehen. Wenn man alle Wenn und Aber bedenken wollte, wäre der ganze Krieg lahmgelegt.“ „War doch och det Beste!“ keckerte Liebedorn. „Sicher, falls das auch für den Gegner gelten würde.“ Racke rollte Decke und Zeltbahn. „Also, Se woll'n wirklich?“ „Ja.“ Liebedorn fing sein Lieblingslied zu pfeifen an, brach ab und verschwand nebenan. Nach einer kleinen Weile klangs ganz deutlich durch die Wand: „Ja so a Saggramentskrampfbruada, so a miserabliga!“ Und gleich darauf: „Loss'n halt fahr'n, den Bazi, den vadächtign!“ Und noch ein Wutschrei: „Mei Ruah!“ Racke war so weit. Er huckte den Rucksack und drückte sich am Nachbarabteil vorbei; es war noch immer dunkel, er konnte nichts erkennen. „Machts gut! Auf Wiedersehn!“ rief er. Zehn Minuten später war er im ,Salonwagen' des Leerzugs nach Brest bereits wieder eingerichtet; eben kletterte der Zugführer herauf. Die zwei Schaffner gingen weiter. „ Willicke“, stellte sich der angejahrte Graukopf vor. Er wußte bereits von seinem Fahrgast und sollte ihm vom Assistenten 55
ausrichten, daß einer der Beamten von Nowy Wiezyczy erschossen worden sei. „Und was ist mit den beiden andern?“ Über die sei nichts durchgegeben worden. „Na, dann wird mit ihnen wohl alles in Ordnung sein.“ Vor der Lok schnappte die Weiche, drehte sich die Laterne. Ein Weichenwärter hatte sie umgestellt. Aber am Ausfahrtgleis war noch rotes Licht. Es fehlten auch noch drei Minuten an der Abfahrtszeit. Einer der Schaffner kam zurück. Die Wagen waren alle ordnungsgemäß gekuppelt. Auch er war Pole und setzte sich schweigend in eine Ecke. Willicke stieg wieder hinunter. Neben der Lok stehend, wartete er auf die Freigabe des Fahrwegs. Da trappte es zwischen den Zügen her. Eine kleine Gruppe Soldaten oder — nein, die hatten ja Koffer! Da waren sie auch schon. Eisenbahner! Wo wollten denn die hin? „Abend, Kolleche! Is det der Leerzug nach Brest? „Det is' r.“ „Un hamm Se da vielleicht n' Inspektor drin?“ „Hab ick ooch. Im zweet'n Wach'n.“ „Mi leckst, no a Preiß!“ brummte Schepperl. Das Ausfahrsignal wurde grün. „Rasch einsteig'n“, drängte Willicke und sah auf die Uhr. Noch eine Minute. Die drei wuchteten sich die Tritte hinauf, polterten in den Wagen hinein. Racke verzog keine Miene. Draußen klang die Trillerpfeife des Zugführers. „Prima Schlaffwag'n“, stellte Schepperl fest. „Kemma glei weitaruaseln.“ Die Lok pfiff kurz, fauchte, es gab einen Ruck, Geklirr, einen Stoß, die Räder rollten, Achse um Achse klackte über die Weiche, über eine zweite. Rascher und rascher keuchte die Lok, Dampf zischte, die klirrende, klappernde, hackende Wagenkette lärmte in die schwarze, schweigende Nacht. „Wecken Sie uns eine Station vor Zabinka“, bat Racke den alten Willicke, zog Rock, Stiefel und Hose aus, schlüpfte in seinen Trainingsanzug und wickelte sich in die Decke. „War mr gnua“, meinte Schepperl abfällig, „zweg'n vier Stund.“
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Ohne sich herumzudrehn, antwortete Racke: „Lieber eine Stunde behaglich, als aus sturer Trägheit vier Stunden unbequem und dauernd in zerknüllten Kleidern herumlaufen!“ Daß der Schepperl Sepp nun erst recht in Uniform und sogar in Schuhen auf den Strohsack flackte, war Ehrensache. Und Glück tat es ihm gleich. Nicht aus Überzeugung, sondern um ihn nicht zu kränken; vielleicht auch aus Mangel an Selbständigkeit. Liebedorn jedoch folgte Rackes Beispiel. Er hatte zwar keinen Trainingsanzug, aber Hemd und Unterhose genügten auch. Dagegen besaß er einen zusammenklappbaren Leichtmetallkleiderbügel mit Patenthosenspanner. Daran hängte er nun die blaue Montur auf und Racke sagte: „Respekt!“ Sie waren müde und schliefen gut. Der Lärm des fahrenden Zuges, das Stoßen des Wagens störte sie nicht. Das heftige Kreischen und Klirren beim Halten und Anfahren, das Rufen auf den Bahnhöfen, das Keuchen der anziehenden Lok drang nur verschwommen im Halbschlaf in ihr Bewußtsein. Als sie geweckt wurden, waren sie guter Laune. In Zabinka verflog sie im Nu. Seit zehn Minuten war auch von hier aus der Verkehr in Richtung Luniniec eingestellt. Vor einer halben Stunde war der letzte Zug nach Pinsk abgegangen. „Wat hab ick jesacht?“ triumphierte Liebedorn. Schepperl schwieg in sehr sprechender Weise. Glück war alles gleichgültig. Racke sah zum ersten Mal, seit sie ihn kannten, nicht heiter aus. Jetzt war es 2 Uhr 30 und es regnete. „Wenigstens ist hier ein trockener Wehrmachtsaufenthaltsraum“, tröstete Liebedorn. Heißer Kaffee, wenn auch kein Mokka double, floß in Strömen und Marmeladebrote gab es auch, so viel man essen konnte. Racke trieb sich nach dem nächtlichen Frühstück schon wieder draußen herum. „Was er jetzt wohl wieder ausheckt?“ fragte Glück besorgt. „Geht uns ja nix an“, sagte Schepperl. Nach dreiviertel Stunden kam Racke zurück. „Ich war bei der Kommandantur. Wir sind hier an der Straße Brest-Pinsk. Sie ist miserabel, aber befahrbar. 160 Kilometer. Um 4 Uhr 30 rückt eine motorisierte Nachschubkolonne ab. Spätestens 10 Uhr will sie in Pinsk sein. Sie nimmt uns mit.“
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Racke wartete auf die Explosion des Schepperlschen Wortschatzes. Schepperl schwieg, er hatte nur das Genick etwas eingezogen und die Nasenlöcher blähten sich stärker über der Bartbürste; ein ganz böses Zeichen. An seiner Stelle sagte Liebedorn rasch: „Nee, det mach ick nu nich mehr mit.“ „Warum denn nicht?“ fragte Racke. „Eisenbahnfahren können wir immer. Man sieht doch gerne auch mal was anderes!“ „Schmarrn!“ knurrte Schepperl, schlug aber mit den Fäusten statt auf den Tisch vorsichtshalber nur auf die Oberschenkel. „Gar nix wann i sehn müßt von dem Scheißkrieg, dem g'schissena, war mir dös liabere!“ Racke stand auf. „Kinder, seid ihr fad! Auf Bahnhöfen hockt ihr noch das ganze Leben. Ich fahre jedenfalls mit der Kolonne, weil uns nämlich ein paar Kameraden dringend brauchen und erwarten. Das heißt — nicht mich — euch. Ich werde ihnen also vorläufig schöne Grüße bestellen.“ Er huckte so geschickt den Rucksack, daß Liebedorn schon zu spät kam, als er ihm helfen wollte, tippte mit dem Zeigefinger an die Schläfe und ging. Als er auf die Straße einbog, traf ihn ein Scheinwerfer. Der PKW hielt, hinter ihm ein Motorrad mit Beiwagen. „Wenn Sie allein sind, können Sie gleich mit mir fahren“, rief eine Stimme heraus. Racke stieg ein. Nur ein Leutnant und ein Fahrer saßen darin; er konnte sich mit seinem Rucksack hinten breit machen. „Danke, Herr Leutnant“, sagte er und lachte in sich hinein. Aus dem Saupech war ein Saudusel geworden. Der Leutnant war alte Frontgarnitur aus dem ersten Weltkrieg. Er wollte voraus erkunden, ob die Kolonne überall durchkam. Zunächst war der Weg miserabel, aber von Kobrin ab führte er bald diesseits, bald jenseits der Bahn in einigermaßen brauchbarem Zustand bis Lipnika. Inzwischen war es Tag geworden. Das Auge schweifte über stark gegliedertes Hügelland mit Waldstücken, Wiesen und Äckern. Moor und Schilfseen waren nur nach Süden hin von Krancy und Drogiczyn aus zu sehen. Hinter Lipnika entfernte sich die Straße in weitem Bogen nach Norden von der Bahn, um erst wieder kurz vor Duboja unter ihr durchzuführen. 58
Überall hatten die Kämpfe ihre Spuren zurückgelassen, Ruinen, Bombentrichter, Granatlöcher, zerschossene Fahrzeuge, zerfetzte Panzer, Pferdegerippe, obgleich hier keine große Schlacht stattgefunden hatte. Pinsk lag ja an der Spitze des Bergwaldkeiles, der sich zwischen der Jasiolda im Norden und Dnieprowsko-Bugsky-Kanal-Pina im Süden weit nach Osten in die Rokitnosümpfe hineinschob. Die großen Armeen waren naturgemäß nördlich und südlich dieses unwegsamen und gefährlichen Raumes vorgestoßen, wie er auch im ersten Weltkrieg ausgespart war. Hier war nur von schwächeren Kräften entlang der wichtigen Bahnlinie Brest-Pinsk-Luniniec-Gomel um deren Besitz gekämpft und der Sumpfwald selbst nur da und dort, soweit überhaupt möglich, unter schlimmsten Strapazen durchstoßen worden. 75.000 Quadratkilometer umfaßte dieses Waldland, die Polosje. Es war von zahllosen Flüssen und Bächen durchzogen, die sich von Norden nach Süden und von Süden nach Norden in den westöstlich ziehenden Pripet ergossen. 30.000 Quadratkilometer davon waren unbegehbarer Sumpf, Schilfseen, Rohrdschungel, seichte Wasserflächen über grundlosem Moor mit inselhaft eingestreuten Wald- und Ackerhügeln und weltverlorenen Dörfern, die oft nur auf Schleichwegen zu finden waren. Und mitten durch, von Norden nach Süden etwa, verlief die frühere polnisch-russische Grenze. Günther Racke hatte die wechselnden Landschaftsbilder dieser Fahrt in freudiger Stimmung in sich aufgenommen. Und er freute sich doppelt, daß er schon um 9 Uhr auf dem Bahnhof Pinsk stand. Züge fuhren noch nicht; das hatte er auch nicht anders erwartet. Der Smierc- und der Lan-Übergang würden nicht vor dem Abend befahrbar sein und bis dann der Rückstand in Luniniec abgefahren sei und von Pinsk aus nachgerückt werden könne, würden noch Stunden vergehen. Gewiß, das hatte er sich gedacht. Ob sie nicht eine Draisine hätten? Das schon, aber die kleine, zweisitzige sei unterwegs, könne auch nicht entbehrt werden, und die Bahnmeisterdraisine — der große schwere Kasten, wer sollte ihn denn dauernd von den Schienen heben und ohne Geleise durch den Dreck schieben? 59
Da brächte er die 70 Kilometer bis Lachwa zu Fuß rascher hinter sich. Racke ging zum Transportkommandanten. Ob er ihm keinen Rat wisse? „Aber lieber Freund!“ rief der Major aus. „Warum denn so stürmisch? Sie allein machen den Kohl auch nicht fett! Wenn erst wieder gefahren wird, sind Sie ja bald dort. Wenn's bisher ohne Sie ging, wird's die kurze Zeit auch noch gehen.“ Racke dachte: wie's bisher gegangen ist, erleben wir ja gerade. Vielleicht hätte der Anschlag verhindert werden können, wenn drei Eisenbahner mehr zur Stelle gewesen wären. Aber wozu sollte er sich mit dem Major streiten? Ein höherer Dienstgrad hat immer recht. Nicht schlimm, wenn man's weiß und der Klügere ist, der nachgibt. Es war im Gegenteil sehr bequem, der höhere Dienstgrad trägt ja auch die Verantwortung. „Versuchen Sie's doch mal bei der Wasserpolizei!“ rief ihm der Major nach, als er schon unter der Türe war. „In der Hauptstraße neben der Ortskommandantur!“ Wasserpolizei? dachte Racke. Was ist denn das? Davon hatte er bisher nur in Kriminalromanen gelesen, die in Hafenstädten spielten. Aber was der Transportkommandant damit hatte sagen wollen, war ihm klar. Natürlich hatte eine Wasserpolizei Wasserfahrzeuge. Na — sie würden ihn glatt hinauswerfen. Diesmal irrte er sich. Es ginge gleich los! Er müsse sich beeilen, sein Gepäck zu holen und zum Hafen zu kommen. Natürlich, Pinsk war eine Flußhafenstadt. Es hatte sogar eine Frachtkahn-Reederei. Als Ortsfremder und aus der Bahnhofsperspektive hätte er nie daran gedacht. Ein Blick auf die im großen Maßstab gezeichnete Karte, auf der zwischen wenig Grün alles blau von Wasser war, breite und schmale, hundertfach verästelte Flüsse, Kanäle, Bäche, Seen, machte ihm alles klar. Da war die Pina und der Pripet, die Jasioldia und der Strumien, Bobrik, Cna, Smierc und Lan, Styr, Stuba, Wietlika und Horyn. Die Wasserpolizei hatte Motorboote, einige kleine, offene und gedeckte, und ein großes Passagierfahrzeug. Sie hatte vor einer Stunde den Auftrag erhalten, das Pripet-Wietlika-Horyn-Gebiet im Bereich Lachwa-Nowy Wiezyczy-Mikaszewicze zu durchforschen, 60
weil angenommen werden mußte, daß die nach Hunderten zählenden Partisanen aus der Sumpf- und Wasserwüste gekommen waren. Zunächst galt es, am Tatort selbst die notwendigen Anhaltspunkte für den Einsatz zu erkunden. Diesen Auftrag hatten das Motorboot „Hecht“ mit dem Ziel Smierc-Brücke-Lachwa und die „Wasserratte“ mit dem Ziel LanBrücke-Nowy Wiezyczy. Die Boote waren je mit fünf Mann und einem LMG besetzt. Sie fuhren bis zur Smierc-Mündung zusammen, auf Sichtweite. Es konnte dennoch gefährlich werden, wenn man wirklich auf Banden stieß, denn sie hatten keine Panzerplatten. Racke lachte nur. In längstens drei Stunden war er auf seiner Station! „Laufschritt, marsch-marsch!“ befahl er sich fröhlich und hielt ihn bis zum Bahnhof durch. Jung sein! Sportlich sein! Die Gesundheit und Kraft des Körpers spüren — wie war das herrlich! Auf dem Weg zum Hafen, mit einem Viertelzentner am Leibe und fast einem halben Zentner auf dem Rücken, ging es mit schweren Schritten! Eine LKW-Kolonne torkelte die Straße herein, ein PKW voraus. Eine Hand winkte. Das war ja der Leutnant, mit dem er gefahren war! Die Kolonne hatte es also nun auch geschafft. Racke winkte lebhaft zurück. Er war froh, als das Geratter und Geknatter an ihm vorbei war, da traf ihn eine wohlbekannte Stimme von hinten, riß ihn herum: „Ja, da schaugt's her! Da is er ja, der Spitzbuamheiptling, der eiskoite!“ Unter der Plane des letzten Wagens starrten die Gesichter Schepperls, Glücks und Liebedorns vor. „Steigt gleich ab!“ schrie Racke. „Navigare necesse est!“ „Red’ deitsch! Hammi g'scherta!“ schrie Schepperl zurück. Und Racke dachte: sie können ja aus dem fahrenden Wagen mit ihrem Gepäck nicht raus und bis der Fahrer verständigt war, würde nichts mehr von ihnen zu sehen sein! Wahrscheinlich würde er aber überhaupt nicht halten, um den Anschluß an die Kolonne nicht zu verlieren. Er aber konnte nicht zum Bahnhof zurückgehen, wo er sie natürlich treffen würde, sonst riskierte er, daß die Motorboote weg waren, bis er zum Hafen kam. Er formte aus der Hand einen Schalltrichter und brüllte ihnen nach, so laut er brüllen konnte: „ Wasserpolizei! Was—ser—po—li—zei!!“ 61
Ob sie ihn verstanden hatten, konnte er nicht mehr feststellen. Er winkte noch einmal, drehte sich um und lief weiter. Lachte in sich hinein. Also doch! Es war wunderbar. Und der eiskalte Spitzbubenhäuptling und der gescherte Hammel bewiesen ihm, daß er Schepperls Freundschaft gewonnen hatte. Er kam zum Bootshafen. An der Spitze des langen Steges lagen die beiden Motorboote. Eines stieß eben ab. Racke winkte und beeilte sich, stieg schnaufend über auf die ,Wasserratte'. Vergnügt erstaunt begrüßten die Wasserpolizisten den fremden Fahrgast, auf den sie laut telefonischem Anruf hatten warten müssen. Sofort legte das Boot ab, der Motor begann zu singen, die Schraube drehte sich, rascher und rascher. Leicht schaukelnd glitt es hinaus, legte sich schräg in die Kurve, brauste, von schreienden Möwen umflogen, ins Kielwasser des ,Hecht'.
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4. KAPITEL
Dunkel sang der Motor. Der Bug der ‚Wasserratte' stand weit und steil aus dem lehmfarbigen Wasser und rasch schoß sie im träge treibenden Strom nach Osten. Oft versanken beide Pripetufer in seenartiger Weite, manchmal teilten sich die Wasser zwischen bewaldeten Wällen, flache Inseln tauchten auf, zogen vorbei, tauchten wieder unter. Dann und wann dehnte sich undurchdringliches Gestrüpp, so weit das Auge reichte, ein andermal begrenzten Hügel mit Steilufern das Bett des Flusses, hin und wieder verlor sich das Auge über Schilfseen in der Weite, oder Urwald zu beiden Seiten, meilenweit auch Schilfwände und Rohrdickichte engten den Blick. Häufig sah man die feinen Kielwasserstreifen unsichtbarer Schwimmer; große Haubentaucher und kleine Wasserhühner belebten stille Lagunen; Reiher standen wie leblos in der Ferne hell gegen den dunklen Himmel. Unter den Wolken kreiste eine Weihe. Einmal hastete eine Kette Wildenten mit langgestreckten Hälsen und aufgeregtem Flügelschlag über den Fluß. Ein Bussard schrie, hoch und dünn. Der Motor brummte und schnurrte, das Wasser zischte am Bug, gluckste an den Bordwänden, schäumte rauschend unter der Schraube am Heck. Die Stille und Einsamkeit der Fluß- und Moorlandschaft war so stimmungsvoll, daß die rauhen Gespräche verstummt waren und die Männer schweigend rauchten. Racke empfand den Reiz und Zauber der Fahrt wie ein Entdecker in unbekannten Landen, die nie eines Menschen Fuß betreten hatte. Er dankte dem Leben für das Erlebnis dieser Stunden. Dämme und Brücke der Bahnlinie Sarny-Luniniec tauchten auf und am Nordufer, im Mündungswinkel des Bobrik, der Ort Wolginskaja. Sie blieben in der Strommitte, passierten den Zufluß des Cna und der Wietlika. Bald darauf bog der ‚Hecht' in den Smierc ein. Eine knappe halbe Stunde später mündete rechter Hand der Horyn und zum ersten Male, seit sie Pinsk verlassen 63
und wohl an die 100 Kilometer zurückgelegt hatten, glaubte Racke ein großes Boot zu sehen, auf dem sich mehrere Personen befanden. Noch ehe er aber die Stelle mit dem Glas gefunden hatte, war es im Kulissengewirr des Flußrandes verschwunden. Es hätte keinen Sinn gehabt, nach ihm zu suchen. Im Sumpf stecken zu bleiben, war eine üble Sache. Überdies mochte das Fahrzeug harmlos sein oder ihm wenigstens kein Zusammenhang mit dem Partisanenanschlag nachgewiesen werden können. Und außerdem galt es erst einmal, authentisch festzustellen, was überhaupt geschehen war. Die ,Wasserratte', die kurze Zeit gestoppt hatte, setzte in langsamerer Fahrt im Lan, der von Norden her einmündete, ihren Weg stromaufwärts fort. Längs der beiden Ufer dehnte sich Sumpf, nur selten von Gruppen schwacher Birken und Erlen und kleinen Gehölzen unterbrochen. Erst als man schon nahe der Bahnlinie sein mußte, gewann die Landschaft den Charakter einer festgründigen Flußau. Am Ostufer stieg eine bewaldete Höhe an und zwischen ihr und zwei gegenüberliegenden Hügeln tauchte die Bahnstrecke auf und die Lanbrücke. Dumpfes Dröhnen übertönte das Geräusch des Motors, wurde rasch lauter, deutlicher. Man hätte es für die fernen Abschüsse schwerer Geschütze halten können. Aber das Wumm-Wumm-Wumm folgte aufeinander mit der Gleichmäßigkeit des Uhrtickens, nur langsamer, setzte nach einiger Zeit aus und begann nach kurzer Pause wieder. Und jetzt hörten sie es nicht nur, sondern sahen auch, daß an der Brücke noch gearbeitet wurde. Eine Dieselramme, wie eine sechsstockwerkhohe Feuerwehrleiter anzusehen, war aufgerichtet und mit Drahtseilen nach allen Seiten verankert; sie trieb dreimannshohes und fast mannsdickes Rundholz in die Uferböschung. Auch der Motor lärmte für drei, wie nun zu vernehmen war. Die ‚Wasserratte' machte an einem der Pfähle der Behelfsbrückenpfeiler fest. Oben tauchten zwei Landser auf und starrten herunter. Racke und der Führer der Polizeistreife, der auf den seltenen Namen Müller hörte und einen Kopf größer und zwei Schultern breiter war, sprangen in den Bauschutt, der bis ins Wasser reichte und stapften die steile Böschung hinauf. Die Landser kamen ohne Eile her und gaben die erste Auskunft. Neu 64
daran war nur, daß es sich um einen Proviantzug handelte, den die Partisanen durch Verstellung der „Weiche in voller Fahrt auf einen abgestellten, glücklicherweise leeren Hilfskrankenzug hatten fahren lassen, um ihn dann auszuplündern. „Was ist mit den Stationsbeamten?“ fragte Racke. Einer sei tot. Von den anderen wisse man nichts. Ihre Kompanie sei schon wieder abgerückt. Die Smiercbrücke sei bereits wieder instandgesetzt und Pendelverkehr eingerichtet. Die Bewachung sei jetzt verstärkt. Ein Unteroffizier, ein Gefreiter und sechs Mann je bei den beiden Brücken und extra ein Unteroffizier und drei Mann je bei den Stationen. In Nowy Wiezyczy könnten sie alles genau erfahren. Der Obersturmführer, der die SD-Kompanie führe, habe den ganzen Hergang bereits protokolliert. „Wie weit ist es?“ „Drei Kilometer“. Sie konnten mit einer Draisine fahren, die der Führer des Luniniecer Bauzuges der blauen Eisenbahner benutzt hatte, um nachzusehen, ob und wie er mit seiner Rotte den Eisenbahnpionieren, die mit der Ramme von Kalinkowitschi her zur Lanbrücke gekommen waren, helfen konnte. Racke schüttelte den blauen Kollegen und den Landsern die Hand, dann fuhr er mit dem Wassermüller los. Der lachte über das ganze Gesicht, als er so in das zwei Mann-Kanapee gelehnt, mit immerhin 25 Stundenkilometern über die Schienen rasselte und war bereit, der Bequemlichkeit halber den Kameraden von der Eisenbahn auf den Schoß zu nehmen. Als aber nach wenigen Minuten die Station auftauchte, verging ihnen das Lachen. Auch Rackes Gemüt verfinsterte sich. Vom Stationsgebäude war außer zwei hohen, rauchgeschwärzten Kaminen, Steinsockeln und verkohlten Balkenresten nichts mehr zu sehen. Der Brandgeruch hing noch über dem Schutt der Ruine. Auf dem Überholungsgleis standen die wenigen noch erhaltenen Wagen des einstigen Hilfskrankenzuges, der weitaus größere Teil war ineinandergekeilt, quergestellt und zusammengedrückt, der Schluß des Zuges überhaupt nur noch ein wilder Haufen aus Wagentrümmern und Achsen. Quer über ihn geworfen und hochgebäumt, lag eine Lok mit zerfetztem Rahmen, Treib- und 65
Kuppelstangen, die wie Streichhölzer zerbrochen oder wie dünner Draht verbogen waren, und aufgerissenen Dampfrohren. Der Tender stand auf dem Kopf. Von hier ab säumte ein Wall von kleinen und großen Trümmern, auch unbeschädigten oder nur wenig beschädigten, aber auch ausgebrannten Wagen, halben Achsen, einzelnen Rädern und Eisenformen aller Art das Rangier- und weiterhin noch das Hauptgleis. Noch waren die Aufräumungsarbeiten nicht beendet. Auch eine große Zahl Zivilisten, meist Frauen und halbwüchsige Knaben und Mädchen, waren damit beschäftigt. Allen lief der Schweiß über die Gesichter. Sie arbeiteten neben und zwischen den deutschen und polnischen Eisenbahnarbeitern mit verbissenem Eifer und wagten kaum aufzusehen. Nur manchmal mußte sich eine Frau vor Erschöpfung niedersetzen. Unter einer Baumgruppe neben der Bahnhofsruine war ein frischer Grabhügel mit einem Kreuz aus einem Birkenstamm. Auf einer provisorischen Tafel stand: „Hier ruhen die Leichen und Überreste von 16 Eisenbahnern und Soldaten, Opfer der Partisanen.“ An den beiden Telegraphenstangen, links und rechts der Stationsruine hingen je drei Leichen übereinander. Männer. Unter den Gehenkten, hüben und drüben, stand eine Gruppe Männer und Frauen, jede von einem SD-Mann bewacht. Der eine, auf der Seite des Grabes, stand in drohender Haltung, die Maschinenpistole auf sie gerichtet. Manchmal schrie er sie an, dann mußten sie zu den Gehenkten aufsehen. Von Zeit zu Zeit brüllte er: „Partisan Schwein, darum hängen!“ und sie mußten es nachbrüllen. Geschah es nicht laut genug, stieß er ihnen den Lauf der Maschinenpistole in die Rippen. Der andere SD-Mann tat das nicht. Er stand hinter den Polen, die er bewachte. Ab und zu sagte er etwas, ruhig, dann sahen sie eine Weile hinauf zu den Leichen. Racke ging nahe an ihm vorbei, sah ihm ins Gesicht und nickte ihm schweigend zu. Er hatte gute Augen. „Gott sei Dank“, sagte der Wassermüller befriedigt, „ein paar von den Banditen haben sie doch schon erwischt.“ SS-Obersturmführer Krugenberg hatte den mit dem Schrecken davongekommenen Sanitäterwohnwagen des Hilfskrankenzugs 66
als Quartier für sich und seine Truppführer und als Dienstraum mit Beschlag belegt. Ein Stoß Kanzleipapier, Aktendeckel, beschriebene Blätter, Tintenstifte und Füller waren auf dem Tisch verstreut. Telefon war auch schon da. Daneben lagen griffbereit Pistole, Stahlhelm, Mütze. Ein mädchenhaft aussehender Unterscharführer saß am schmalen Tischende und schrieb. Krugenberg hatte ein hübsches, von Klugheit und Energie geprägtes Gesicht, nur eine steile Falte zwischen den Brauen und der kalte Ausdruck der großen blauen Augen verrieten die Härte seines Wesens. „Heil Hitler! Was kann ich für Sie tun?“ begrüßte er die beiden Besucher. „Nehmen Sie Platz.“ Er lachte kurz auf, als er von dem geplanten Einsatz der Wasserpolizei hörte. „Gut gemeint, aber illusorisch. Spuren? Hier gibt es nur Spuren. So viel Sie wollen. Aber Sie werden nicht einen Partisanen erwischen, aus dem geplünderten Proviantzug nicht ein Brot, nicht eine Fleischbüchse entdecken. Dazu sind Sie erstens viel zu spät daran, wie wir es heute Nacht schon waren, und zweitens können Sie mit den Motorbooten nicht von den eigentlichen Flüssen weg in die tausend sonstigen Wasserläufe und die Moorseen hinein. In dem Dschungelgewirr tanzen Ihnen die Partisanen auf ihren flachen Kähnen oder einfach auf Balken und Holzplanken vor der Nase herum, ohne daß Sie auch nur einen zu Gesicht bekommen. Und wenn Sie an Land gehen, müssen Sie auf den festen Wegen oder Pfaden bleiben, die die Dörfer verbinden, die Gesuchten aber verschwinden ohne Hast ins Moor. In den Dörfern finden sie keinen Mann und kein junges Weib, nur alte Frauen, auf dem letzten Loch pfeifende Greise und Kinder, weil die wissen, daß sie nicht aufgehängt werden. Wenn Sie dann zu Ihren Booten zurückkommen, sind sie versenkt, falls sie zu nahe am Ufer gelegen waren. Eine Aktion der Wasserpolizei also ist sinnlos, weil sie von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Hier hülfe nur eine Großrazzia unter Mitwirkung von Kampftruppen, nicht nur von knochensteifen, gottes- und todesfürchtigen Landesschützenpapas, von denen höchstens jeder Dritte anständig schießen kann und alle miteinander nur defensiv eingestellt sind, weil sie 67
selbstverständlich nur einen Gedanken haben: lebendig wieder nach Hause zu kommen. Die ganze Gegend steckt auf 200 Kilometer im Quadrat voll von Polen, die anfangs vor den Russen getürmt sind, und jetzt dazu noch von versprengten russischen Soldaten, Offizieren und wie gemunkelt wird, auch einigen Kommissaren, die sich vor unseren Truppen in das Sumpfland gerettet haben. Es müßte vollkommen eingeschlossen und nach der Mitte aufgerollt werden. Alles andere ist Quatsch. Aber dazu brauchten wir eine Division SS und ein paar Polizeiregimenter. Und die haben wir nicht. Wir haben kein anderes Gegenmittel, als kurzerhand die Verdächtigsten herauszugreifen und aufzuhängen. Das schreckt zwar die Banditen nicht, aber veranlaßt wenigstens die Bevölkerung, alles zu tun, damit in der Nähe ihrer Dörfer keine Anschläge verübt werden.“ „Da wissen Sie wohl auch gar nicht, ob die sechs draußen an den Telefonmasten zu den Partisanen gehört haben oder nicht?“ „Bei einem ist es sicher, bei den anderen wahrscheinlich.“ „Es könnte also auch sein, daß es sich um keine Banditen handelt?“ „Es gibt hier überhaupt nur Banditen.“ „Ich bin anderer Meinung. Zehntausende von Polen stehen zum Beispiel in den Diensten der Reichsbahn. Die Beamten der polnischen Behörden, soweit sie tätig sind, machen unter deutscher Leitung ihren Dienst, die polnische Bevölkerung arbeitet in den Fabriken und überall, wo sie nur Arbeit bekommen kann, um nicht ganz zu verhungern. Und kämpfen die Partisanen nicht schließlich für ihr Vaterland?“ „Kämpfen nennen Sie das? Lieber Inspektor, man merkt Ihnen deutlich an, daß Sie noch nicht viel mit ihnen zu tun gehabt haben und mit den laienhaften Vorstellungen bürgerlicher Gutherzigkeit belastet sind. Der Partisan kämpft nicht, sondern mordet, stört und zerstört aus dem Hinterhalt. Und in Wirklichkeit steckt der größte Teil der Bevölkerung, die arbeitende so gut wie die herumlungernde, hinter ihm. Jetzt jammern und heulen sie da draußen zum Herzerweichen und wenn sie könnten, würden sie uns allen, Ihnen mit, Herr Inspektor, die Hälse abschneiden. Das können Sie mir glauben.“ 68
„Ist ihre Feindschaft nicht begreiflich?“ „Die Feindschaft vielleicht, aber die Bestialität nicht.“ „Das sind gewiß nur einzelne.“ „Sie sollen uns diese einzelnen ausliefern.“ „Sie werden sich vor den Verbrechern genau so fürchten, wie vor euch.“ „Das ist ihre Sache. Vor uns brauchte sich niemand zu fürchten. Nicht wir haben mit dem Aufhängen angefangen, sondern die Bevölkerung mit den Verbrechen. Wenn wir nicht brutal durchgreifen, wächst uns diese Seuche über den Kopf. „Was dann? Das polnische Volk hätte statt des Krieges in Freundschaft mit uns leben und sich nach unserem Siege diese Freundschaft auch noch zurückgewinnen können, aber es ist in seiner Masse unbelehrbar und unverbesserlich. Und wenn unter den herrschenden Verhältnissen Unschuldige mit den Schuldigen oder auch statt der Schuldigen die Schandtaten büßen müssen, so hat es sich das selbst zuzuschreiben.“ Racke wollte etwas erwidern, aber er kam nicht dazu. Krugenberg griff in die Rocktasche, legte einige Fotos vor Racke auf den Tisch. „Nur eine kleine Auswahl“, sagte er. »Das eine waren einmal drei SS-Männer. Das andere ein alter Major der Landesschützen. Auf dem dritten sehen Sie die verschleppte Begleitwache und den Lokomotivführer eines überfallenen Zuges. Und das letzte ist eine verschleppte Volksdeutsche Dolmetscherin, schon ein paar Stunden nach ihrem Verschwinden in einem Keller aufgefunden. Schauen Sie es nicht so genau an, damit ihnen nicht übel wird.“ Der Wassermüller knirschte mit den Zähnen. „Das ganze Pack müßte man ausrotten“, stieß er heraus. Racke war bis ins Innerste erschüttert. Er wußte nichts zu sagen, denn was er dachte, hätte er in diesem Augenblick nicht über die Lippen gebracht. Er dachte: Es ist der ewige Kreislauf. Wer mit dem Unrecht und mit der Unmenschlichkeit begonnen hat, ist gleichgültig. Wenn nicht einer einmal, der die Macht dazu haben wird, mit dem Verzeihen und Versöhnen beginnt, werden die Völker ein furchtbares Los haben und viele ein entsetzliches Ende nehmen.
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Der Obersturmführer wurde abberufen, die Kommandos waren von der Razzia zurückgekommen. Er schob Racke und Müller die beschriebenen Blätter zu. „Hier haben Sie den Hergang des Überfalls, wie ich ihn aus den Aussagen des Unteroffiziers Häsgen von der Landesschützenwache rekonstruiert habe.“ Er steckte die Pistole ein, setzte die Mütze auf und verließ den Wagen. Racke und Müller lasen zusammen. „... um 14 Uhr 11 wurde der von drei Beamten besetzten Station Nowy Wiezyczy der Abgang des Regelzuges 61 22 aus Lachwa gemeldet. Dieser Zug, ein Proviantzug für das Heeresverpflegungslager ,Lilie', hatte ohne Aufenthalt durchzufahren. Weil auf dem Überholungsgleis infolge Defekts der Lokomotive ein Hilfskrankenleerzug in Richtung Gomel abgestellt worden war, überzeugte sich der Weichenwärter Berner auf Weisung des Fahrdienstleiters Funke, daß die Weiche 2, die sich 300 Meter vom Empfangsgebäude entfernt befindet, richtig gestellt war und zog das Ausfahrbehelfssignal in Fahrtstellung. Alsbald begab er sich zur entgegengesetzten Weiche 1 und stellte auch das Einfahrsignal auf freie Fahrt, nachdem er sich von der richtigen Lage der Einfahrweiche überzeugt hatte. Er kam zurück, unterhielt sich einen Augenblick mit Unteroffizier Häsgen, der vor das Stationsgebäude getreten war, und meldete durchs offene Fenster dem Fahrdienstleiter Funke, der inzwischen den Fernsprecher bediente, während der um 12 Uhr abgelöste Stitzenbacher schlief. Als der Zug in der Ferne auftauchte, machte er sich erneut zur Weiche 1 auf den Weg, um sie örtlich zu bewachen und nach Durchfahrt des 61 22 die Einfahrt in den Bahnhof gleich wieder zu sperren, denn die Signale konnten vom Betriebsgebäude aus noch nicht mechanisch gestellt werden. Berner war noch wenige Schritte von der Weiche entfernt, als Unteroffizier Häsgen den Zug vom Durchgangs- auf das Überholungsgeleise abbiegen sah. Er hörte einen Schrei, hörte Bremsklötze knallen und Räder kreischen, Geklirr, Gepolter, dann krachte die Lokomotive, die ersten Wagen zerschmetternd, sich aufbäumend und über sie werfend, in den abgestellten Zug hinein. Der Zug hinter ihr schnellte wie eine Schlange hin und her, 70
die vordersten Wagen schoben sich in einen einzigen zusammen, die nächsten stülpten sich auf und hingen wie eine Brücke über dem Bahnkörper. Die hintere Hälfte des Zuges riß in mehrere Teile auseinander. Wagen stürzten um, zertrümmerten die Gleisanlagen, verwüsteten den Bahnkörper. Die beiden letzten wurden, sich überschlagend, 30, 40 Meter weit fortgeschleudert. Das Getöse war furchtbar. Aber nur ein paar Atemzüge lang. Dann war dies alles geschehen. Auf den nervenzerreißenden Lärm folgte lähmende Stille. Nur noch das Zischen von Dampf war zu hören und ein unaufhörlicher, immer gleicher, gellender Hilferuf. Häsgen sah den Weichenwärter Berner schwanken und steif ausgestreckt, wie vom Blitz getroffen, niederstürzen. Er selbst stand wie erstarrt, sich mühend, der Lähmung Herr zu werden, die seine Beine erfaßt hatte. Er glaubte, er sähe Gespenster, als auf dem Bahngelände plötzlich Menschen waren, wie aus dem Boden gezaubert. Zwanzig, fünfzig, hundert, im Bruchteil einer Minute. Männer, Frauen, Kinder. Die meisten Männer mit Gewehren, russische und polnische Uniformen darunter. Nun wich der Bann des Entsetzens über das Unglück von ihm. Er fuhr herum, um zu seinen zwei Männern ins Stationsgebäude zu kommen, als diese eben mit schußbereiten Gewehren herausstürzten, zugleich aber auf beiden Seiten eine Horde Bewaffneter auftauchte, die auch Schnellfeuergewehre und Maschinenpistolen besaß, und sie zusammenschoß. Für den waffenlosen Häsgen gab es nur Flucht. Mit wenigen Sprüngen war er über das Gleis, verkroch sich in den Trümmerbergen des Leerzuges, während die Geschosse um ihn pfiffen und ins Holz klatschten, auf Eisenteilen klirrten und davonjaulten. Er sah noch, wie die beiden Eisenbahner, der eine in Unterwäsche und barfuß, mit Schlägen und Tritten aus dem Dienstraum heraus- und nach dem Wald davongetrieben wurden. Inzwischen war der gellende Hilfeschrei in röchelnde Laute der Qual übergegangen, die nun verstummten. Es roch nach Brand und qualmender Kohle. Wenige Minuten später erfolgte in der Ferne im Westen eine Detonation und gleich darauf drang von Osten her der Donner einer zweiten Sprengung. Später glaubte Häsgen mehrmals, Gewehrfeuer zu hören, aber es brach immer 71
nach kurzer Zeit wieder ab. Als er glaubte, es wagen zu können, einmal Umschau zu halten, sah er das ganze Bahngelände voller Menschen, überwiegend Frauen, auch größere Kinder, die den Verpflegungszug plünderten, das weit und breit herumgeschleuderte Proviantgut zusammenlasen, Säcke und Kisten, oder die Beute in Körbe geworfen oder auf Rückentraggestelle gepackt, davonschleppten. Häsgen sah nun auch, daß bei der Lokomotive die Trümmer des Leerzuges in Brand geraten waren, eine Rauchwolke strich von dort querab. Als es dämmerte, hörte man von Westen her ein länger anhaltendes Feuergefecht. Es näherte sich allmählich. Ein paar scharfe polnische, vielleicht auch russische Rufe erklangen. Rasch wurde es stiller und nach wenigen Minuten lag das Bahngelände wie ausgestorben. Fast sechs Stunden waren seit dem Überfall vergangen. Als Unteroffizier Häsgen sicher schien, daß sich keine Bewaffneten mehr im Bereich der Unglücksstätte befanden, kroch er aus seinem Versteck und torkelte im Halbdunkel zunächst zu der Stelle, wo Berner liegen mußte. Er lag noch da und er war nicht vom Schlag, wie es den Anschein gehabt hatte, sondern von mehreren Kugeln tödlich getroffen worden. Im Getöse des Zugzusammenstoßes hatte man die Schüsse nicht hören oder nicht unterscheiden können. Der Brand bei der Lokomotive war offenbar von selbst erstickt, aber jetzt schlugen die Flammen aus dem Stationsgebäude. In ihrem Schein entdeckte Häsgen, daß der Heizer, ein Pole, wie inzwischen festgestellt wurde, zwischen der Lok und dem hochgestellten Tender fast völlig von der niederstürzenden Kohle verschüttet und offenbar später bei dem schwelenden Brand verschmort war. Der deutsche Lokführer, ein ergrauter Mann, hing in das zusammengepreßte Fenster geklemmt, die linke Hand noch um das Bremsventil geklammert, das Fleisch von der Hüfte abwärts vom ausgeströmten Dampf oder kochendem Wasser von den Knochen gelöst. Häsgen brachte nicht mehr die Kraft auf, nach dem Zugbegleitpersonal und der Zugbewachung zu forschen. Eine Viertelstunde später traf die Spitzengruppe der SD-Kompanie und einer Polizeieinheit ein.“
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Racke und Müller machten eine Pause. Müller steckte sich eine Zigarre, Racke eine Zigarette an. Der Eindruck, den diese Schilderung des furchtbaren Dramas noch stärker auf sie gemacht hatte, als das, was sich ihren Augen selbst geboten, spiegelte sich in dem düsteren Ernst ihrer Züge wieder. Dann lasen sie die Ergänzungsberichte. Der eine lautete: „Als dem Fahrdienstleiter der Station Lachwa der Zug 61 22 sechs Minuten nach Ablauf der planmäßigen Fahrzeit nicht zurückgemeldet, der nachfolgende Regelzug — Kohlen — aber bereits eingefahren war und auf die Ausfahrt wartete, rief er drüben an. Nowy Wiezyczy antwortete nicht. Nach mehrmals vergeblich wiederholtem Versuch war es klar, daß die Leitung gestört sein mußte. Er wollte sofort die Zugleitung in Luniniec verständigen. Auch in der Westrichtung war die Leitung unterbrochen. Damit war ziemlich klar, daß es sich um einen Sabotageakt handelte. Er alarmierte die ganze Bahnhofsbesatzung und das Personal des eingefahrenen Zuges und schickte zunächst je zwei erfahrene Beamte, von denen der eine Telegraphenmechaniker, also Fachmann für die Fernmeldeanlagen war, in beiden Richtungen zur Erkundung, veranlaßte ferner die beiden auf der Station befindlichen Landesschützen, nach ihren Kameraden an der Brücke zu sehen. Die vier Männer hatten die Brücke eben erreicht, als die Osthälfte in die Luft flog, mit ihr der Kamerad, der ihnen von drüben noch hatte entgegenkommen wollen. Zugleich schoß es von der anderen Seite des Flusses her. Sie suchten zusammen mit dem diesseitigen Posten schleunigst Deckung und erwiderten das Feuer, ohne ein Ziel erkennen zu können. Nur mit Mühe gelang es ihnen, sich zur Station zurückzuziehen. Dort wurden schleunigst nach allen vier Seiten, vor allem auch um die Lokomotive des Kohlenzugs, Deckungen geschaffen und besetzt. Nach einer Stunde kehrte einer der beiden in Richtung Luniniec ausgeschickten Beamten zurück. In einer Entfernung von zwei Kilometern waren zwei Telefonmasten umgesägt und die Drähte dazwischen beseitigt. Als sie sich den Schaden eben näher besahen, erhielten sie aus nächster Nähe von beiden Seiten Feuer. Sie waren geflüchtet, denn wie hätten sie es mit ihren 73
Polenflinten mit einem Gegner aufnehmen können, der nach jedem Schuß seinen Standpunkt wechselte. Sein Kamerad war durch Kopfschuß gefallen.“ „Ergänzung II: Da Luniniec weder eine Rückmeldung des Kohlenzuges aus Lachwa erhielt, noch überhaupt telefonische Verbindung mit einer östlichen Station herzustellen vermochte, schickte es einen Erkundungstrupp, bestehend aus einem Telegraphenwerkmeister, einem Telegraphenmechaniker, zwei Streckenarbeitern und zwei Bahnschutzbeamten per Draisinen auf die Strecke. Sie teilten nach einer Stunde von ihrem Apparat, den sie auf der Strecke angeschlossen hatten, mit, daß sie zwei Kilometer vor Lachwa angeschossen worden seien, das Feuer erwidert, sich aber vor der Übermacht zurückgezogen und vorläufig an einem günstigen Geländepunkt verschanzt hätten, weil der Tank der einen Draisine durchlöchert worden sei. Hiernach schien es sich also um einen Sabotageakt größeren Ausmaßes zu handeln. Der Transportkommandant wurde in Kenntnis gesetzt, der gesamte Bahnschutz in Stärke eines Zuges alarmiert, auf Befehl der Feldkommandantur noch ein Zug Landesschützen zugeteilt. Man stellte einen kurzen Dienstzug zusammen, dem auch gleich eine kleine Rotte Streckenarbeiter mit dem nötigen Material und mehrere Betriebsbeamte mitgegeben wurden, für den Fall der Notwendigkeit, Ausfälle in Lachwa oder auf anderen Bahnhöfen auszugleichen. Vor die Lok wurden vorsichtshalber schadhafte, mit Sand beladene Güterwagen gekuppelt und richtig fuhr man schon auf halbem Wege auf eine Mine. Der erste Wagen wurde zertrümmert, das Gleis aufgerissen, der zweite Wagen entgleiste. Nur weil der Lokführer, ein alter Hase, der sich noch auf einen schönen Lebensabend freute, mit größter Vorsicht gefahren war, hatten, außer einigen Beulen, weder die Maschine noch Menschen Schaden erlitten. Man verständigte Luniniec, besserte den Schaden wieder aus und setzte die Fahrt, nach allen Seiten die Gewehre im Anschlag, zwei Scharfschützen mit auf der Lok, den einen verbliebenen Sicherungswagen voraus, langsam fort. Vier Kilometer vor Lachwa wurde der zurückgegangene Telegraphenbautrupp aufgenommen und bei den umgelegten Telegraphenstangen zwecks Erneuerung der Leitung wieder 74
abgesetzt. Selbst den vereinten Kräften von Landesschützen, Bahnschutz und Eisenbahnern war es, wenn man nicht hohe Verluste in Kauf nehmen wollte, nicht möglich, den Übergang über den Smierc zu erzwingen. Die Partisanen, deren Zahl unbestimmbar war, hatten sich drüben, weithin flußauf und -ab so ausgezeichnet gedeckt, daß man sie kaum mit dem Glase ausmachen konnte. Es gab in kurzer Zeit auf deutscher Seite zwei Tote und mehrere Schwerverwundete. Man mußte die Nacht abwarten oder Unterstützung, mindestens mit Maschinenwaffen, erhalten. Entsprechende Meldungen wurden sofort nach Wiederherstellung der Leitung telefonisch nach Luniniec gegeben. Inzwischen waren von dort aus bereits Pinsk, Brest und Baranowicze wegen des Rückstaues verständigt worden und nun wurde der Haupteisenbahndirektion in Minsk ein eingehender Bericht durchgegeben. Noch ehe es dämmerte, waren die beiden anderen Züge der Landesschützen, eine Abteilung Polizei und eine SD-Kompanie zur Stelle. Sie fetzten mit Maschinengewehren die Partisanenstellung ab. Als die Bereitstellung zum umfassenden Angriff auf den jenseitigen Brückenkopf beendet war, hatte die Dunkelheit schon begonnen, und als die Stoßtrupps auf kleinen Fahrzeugen den Smierc überquerten, fiel kein Schuß. Die Partisanen waren so unhörbar und unsichtbar verschwunden, als hätte sie der Boden verschluckt. Große Blutlachen an manchen Stellen bewiesen, daß auch sie Verluste erlitten hatten, aber sie hatten ihre Toten und Verwundeten ohne Ausnahme mitgenommen. Eine halbe Stunde später war ein Bauzug zur Stelle, der sofort die Wiederherstellung der Brücken in Angriff nahm. Die Truppe stieß gegen Nowy Wiezyczy vor, ohne jeden Widerstand und ohne überhaupt einer Menschenseele zu begegnen. Sie sah von weitem den Brand der Station, aber nicht ein Laut war zu vernehmen in der Stille der Nacht. Von Osten her waren nur geringe militärische Kräfte zur Verfügung gestanden. Es war an der gesprengten Lanbrücke zu keinem Kampf gekommen, aber am Morgen ein Bauzug der Feldeisenbahndirektion 2 mit einer Dieselramme angerückt.“ 75
Racke schob die Blätter schweigend zurück. Auch der wuchtige Wassermüller sah stumm ins Leere. Die Zigarre war ihm ausgegangen, er setzte sie mechanisch wieder in Brand. Der mädchengesichtige SS-Unterscharführer mit dem SD auf dem Kragenspiegel gab ihnen das Blatt über den Tisch, auf das er Notizen von losen Zetteln übertrug. Da lasen sie noch: „Schlußfolgerung: Es handelte sich unbestreitbar um einen von langer Hand vorbereiteten Anschlag, der nicht eigentlich der Station Nowy Wiezyczy galt, sondern dem Verpflegungszug, der seit drei Wochen stets montags und donnerstags nach festem Fahrplan von Brest kommend über Luniniec nach Kalinkowitschi gefahren wurde. Die Unterbrechung der Telefonverbindungen in beiden Richtungen und die Sprengung der beiden Brücken ostwärts und westlich der Station sollten den Partisanen die Zeit verschaffen, die zur Ausplünderung des Zuges und Fortschaffung der Beute erforderlich war. Dabei halfen, wahrscheinlich teils freiwillig, teils gezwungen, Hunderte von Frauen und auch Kindern. Der Zusammenstoß mit dem abgestellten Zug wurde zweifellos dadurch herbeigeführt, daß die Einfuhrweiche, nachdem der kontrollierende Beamte in entgegengesetzter Richtung des Bahnhofsgebäudes weggegangen war, von im Hinterhalt lauernden Partisanen auf das Überholungsgleis umgestellt wurde, ohne daß dies von der Station aus wahrgenommen worden war. Auch für diesen Fall wären aber, was aus der ganzen Organisation des Unternehmens hervorgeht, bestimmt anderweitige Vorkehrungen für das Gelingen des Anschlages getroffen gewesen. Opfer des Zusammenstoßes selbst sind der Lokführer und der Heizer, die auf besonders schauerliche Weise ums Leben gekommen sind, aber auch das Begleitpersonal, 1 Zugführer und 3 Schaffner, sowie die Bewachungsmannschaft, 1 Unteroffizier und 6 Mann. Der Zugführer und 1 Schaffner, sowie die Hälfte der Soldaten, einschließlich des Unteroffiziers, hatten sich im mittleren der drei vordersten Wagen, die vollkommen ineinandergestoßen worden waren, befunden. Die Leichen waren unkenntlich zerquetscht, zerfetzt und zerschnitten. Die zweite Hälfte der Soldaten befand sich mit den beiden anderen Schaffnern im letzten Wagen, der 30 Meter weit fortgeschleudert, 76
und, sich überschlagend, zertrümmert worden war. Sie waren teils an schweren Schädelbrüchen, teils an Genickbrüchen gestorben. Der einzige, der nur Knochenbrüche aufwies und nach dem Unglück noch gelebt haben muß, wurde von den Partisanen durch Schüsse in den Kopf getötet. Ferner fielen oder wurden schwer verletzt im Zusammenhang mit dem Anschlag und den anschließenden Kämpfen“ — Hier brach der Bericht ab. Rackes Kiefern spielten nervös. Müller zerknautschte die wieder erloschene Zigarre. Draußen wurde Geschrei und Gejammer laut, eine wütende, heisere Kommandostimme, ein peitschender Schuß, dann war es wieder still. Nun klangen rasche heftige Schritte, der Wagen schwankte etwas, Krugenberg kam herein. Wütend warf er eine halbgerauchte Zigarette weg, zertrat sie, stand mit angewinkelten Armen, die Hände zu Fäusten geballt und starrte durchs Fenster. „Was mach ich nun mit ihnen?“ stieß er mit mühsam beherrschter Stimme heraus. „Ich kann sie nicht einfach alle wieder laufen lassen! Ich muß ein Exempel statuieren!“ Er drehte sich um, nahm die Mütze ab. Schweiß stand auf seiner Stirne. Sein Blick blieb an dem Jungen am Tisch hängen. „Was würden Sie machen?“ „Ein Maschinengewehr aufstellen.“ Mehr verblüfft als empört sah Racke in das mädchenhafte Gesicht, das unverändert nett und sympathisch war wie zuvor. Dann fragte er Krugenberg: „Wie viele sind es denn?“ „Zweihundert, Dreihundert. Ich weiß es nicht. Achtzig Prozent Frauen.“ „Und wie viele davon sind Partisanen?“ „Schwer zu sagen. Vielleicht ein Dutzend, vielleicht die Hälfte. Vielleicht auch alle.“ „Wie viele wurden mit einer Waffe betroffen?“ Krugenberg runzelte die Stirne. Man sah ihm an, daß ihm die Fragerei lästig wurde und daß er sich besann, wie er überhaupt dazu kam, einem Eisenbahner Rede und Antwort zu stehen. „So dumm wird keiner sein, daß er sie nicht vorher wegwirft“, sagte er kurz und scharf.
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Racke wußte, daß es nun um die Entscheidung ging, wenn er sich nicht einfach vom Schicksal der vielen, zweifellos meist schuldlosen Menschen da draußen abwenden wollte. Er mußte versuchen, seine Position zu verbessern. „Bitte, Herr Obersturmführer, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich weiß, daß Sie mir keine Rechenschaft schuldig sind. Ich unterhalte mich ja nur als Kamerad mit dem Kameraden — wenn auch meine Kriegsbeschädigung meinen Einsatz als Frontsoldat beendet hat.“ Rackes Stimme klang sehr warm, aber auch sehr männlich sicher. Er hatte schon vor einiger Zeit, weil es ihm zu unbehaglich geworden war, abgeschnallt und den Mantel geöffnet. Jetzt schlug er ihn nicht ohne Absicht zurück, um seine Ausweise aus der Tasche zu holen. „Ich habe“, fuhr er dabei fort, „allerdings auch ein dienstliches Interesse an den Vorgängen als Sonderberichter des Reichsverkehrsministers mit Vollmacht des Generals des Transportwesens.“ Krugenberg hatte einen kurzen Blick auf Rackes Tapferkeitsauszeichnungen geworfen, jetzt wehrte er ab. „Ausweise sind gar nicht nötig. Wir können uns selbstverständlich weiter über die Sache unterhalten. Was möchten Sie denn nun noch wissen?“ Racke lachte: „Nur noch ein paar Kleinigkeiten.“ Er dachte, eine heitere Tonart wird es mir leichter machen und ihn zugänglicher stimmen. „Wurden überhaupt irgendwo Waffen gefunden?“ Krugenberg machte eine Bewegung, als ob er sagen wollte: Mensch, was bist du blöd! und er antwortete ziemlich heftig: „Natürlich nicht!“ Racke fragte ruhig weiter: „Wurden Lebensmittel entdeckt, die von der Plünderung stammen?“ Krugenberg parierte mit einer Gegenfrage: „Glauben Sie, daß Sie hinter die Verstecke der Banditen kommen?“ „Von wem können Sie mit Sicherheit behaupten oder auch nur mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er geplündert und die Beute versteckt hat?“ Jetzt lachte auch Krugenberg. Die Unterhaltung schien ihn allmählich zu amüsieren.
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„Sie sind der reinste Untersuchungsrichter. Mit Sicherheit von keinem, mit Wahrscheinlichkeit von den meisten.“ „Sehen Sie!“ lachte Racke. „Sie können nicht einem einzigen Mann und nicht einer einzigen Frau nachweisen, daß sie an dem Anschlag und der Plünderung beteiligt waren. Und nun beantworten Sie mir noch meine letzte Frage ganz ehrlich: Besteht nicht die Möglichkeit, daß von den dreihundert da draußen überhaupt niemand beteiligt war?“ „Gewiß, auch diese Möglichkeit besteht.“ Racke nickte und wandte sich langsam dem andern zu. „Sie würden es also über sich bringen, dreihundert Unschuldige zusammenzuschießen?“ „Ich glaube nicht an ihre Unschuld.“ „Doch. Sie wissen genau so gut wie Ihr Obersturmführer und ich und wie es auch unserem Freund von der Polizei hier klar ist, daß es sich um keine, höchstens um ganz wenige Schuldige handelt.“ „Es ist bedauerlich, aber nicht von uns so eingerichtet, daß man sie nicht auseinanderhalten kann.“ „Sie könnten also mitleidlos mit ansehen und mit anhören, wie ein paar hundert Männer und Frauen im Kugelregen zusammenbrechen und schreiend und in Qualen sterben? Das könnten Sie junger, netter Mensch ertragen?“ Der mädchengesichtige SS-Mann erhob sich. Ohren, Wangen und Stirne hatten sich gerötet und in seinen Augen stand Haß. Nicht nur Haß, auch Schmerz. „Obersturmführer, haben Sie eine Zigarette?“ fragte er leise. Racke war rascher, bot ihm an und gab ihm Feuer. „Danke.“ Er ging zur Türe, sah hinaus, kam zurück, blieb vor Racke stehen und sah ihm voll in die Augen. „Ich habe schon mehr ertragen müssen. Wenn der Kommunismus schon Deutsche zu Verbrechern machen konnte, wie viel mehr mußte er das bei vielen geistig primitiveren Menschen des Ostens erreichen. Haben Sie denn vergessen, weshalb wir hier sind? Was hier geschehen ist? Haben Ihnen die netten Bildchen nicht gesagt, um was es hier in diesem Kriege geht? Eben um die Menschlichkeit. Der Bolschewismus hat die
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Bestie freigelassen, er verkündet ihr den Mord als Evangelium. Entweder, wir rotten sie aus — oder wir werden ausgerottet.“ Er wandte sich ab und setzte sich wieder an seinen Platz, rauchte schweigend weiter. Der Wassermüller stand auf; es war höchste Zeit, daß er zu seinem Boot und nach Pinsk zurückkam. Er verabschiedete sich mit Handschlag von jedem. Zu Racke sagte er: „Wir werden uns ja wohl nicht mehr sehen.“ „Das kann man nicht wissen“, scherzte Racke. „Die Welt ist klein und Rußland nicht größer.“ Der Wagen schwankte unter dem Gewicht des Mannes, als er ihn verließ. „Haben Sie nun noch eine Frage?“ spöttelte Krugenberg. „Nein. Zu fragen habe ich nichts mehr, aber zu sagen noch manches.“ „Wollen Sie immer noch Gnade vor Recht ergehen lassen?“ „Sagen Sie Recht vor Terror, dann stimmt es.“ „Sie sind tatsächlich in Ihrer Auffassung immer noch nicht erschüttert?“ Es klang ganz ungläubig. „Ich bin von allem menschlich erschüttert, aber meine Haltung gegenüber den armen Teufeln da draußen ist dieselbe geblieben. Sehen Sie, unser junger Kamerad, Sie und ich sind uns im Ziel völlig einig: Die Größe, die Freiheit, der Frieden, das Glück unseres Volkes. Wir stehen Seite an Seite, um unser Volk vor der Bedrohung aus dem Osten zu schützen. Dennoch streiten wir uns über eine Einzelheit in diesem Falle. Und wenn wir drei als Soldaten — und im letzten Grunde auch in menschlicher Hinsicht — unsere Zusammengehörigkeit nicht so stark empfänden, wäre es zweifellos längst — sagen wir einmal zum Ausbruch offener Feindseligkeiten zwischen uns gekommen. Zugegeben: Die allgemeine Mentalität des Ostens steht der Gewalttätigkeit, der Grausamkeit, dem Mord näher als die des Westens, aber auch die Mentalität des Westens ist nicht frei von ihnen. Nur — im Osten werden sie noch geschürt, im Westen gebändigt. Laßt uns den Krieg verlieren, dann brechen die Haß-, und Racheinstinkte überall aus. Aber auch im Osten lebt neben dem Bösen das Gute, neben dem Verbrecher, vielleicht jetzt von ihm terrorisiert und durch all die Nöte des Krieges verbittert, der 80
anständige Mensch, der sich genau so nach Frieden sehnt, nach Freiheit und Glück und einer besseren und gütigeren Welt wie wir Deutschen und wie alle Völker. Die Methode, die Masse der Polen und der Russen dafür büßen zu lassen, was uns ein Teil von ihnen antut, ist falsch. Man kann Tausende, Zehntausende umbringen, aber nicht Millionen und aber Millionen. Man kann kein Volk ausrotten. Vor allem wir nichtbolschewistischen Deutschen können das nicht. Darum sollten wir von vorneherein den Weg der Repressalie nicht beschreiten. Wir können uns verhärten, soviel wir wollen, wir können einen solchen Weg nicht zu Ende gehen, denn die brutalen, herzlosen, verbrecherischen Charaktere unter uns reichen bei weitem nicht aus dazu.“ Krugenberg schwieg. Racke fuhr fort: „Gut. Wir statuieren Exempel. Wir hängen zehn auf. Wir hängen hundert auf, erschießen tausend. Aber wir schrecken diese Banditen und Banden, die nationalen Freiheitskämpfer und die bolschewistischen Mörder damit nicht ab, sondern wir gießen Öl in das Feuer, das wir löschen wollen, beschwören immer mehr herauf, was wir unterdrücken wollen. Wir treiben ihnen immer neue Tausende und Zehntausende in die Arme, schüren Haß und wieder Haß und machen unsere Herrschaft für das ganze Volk schon seiner Furcht wegen zum unerträglichen Schrecken. Sehen Sie nicht einen Mörder in jedem, suchen Sie den Menschen und Sie werden ihn finden. Auch nicht jeder Partisan ist ein Verbrecher. Wer die Hand gegen die Besatzungsmacht erhebt, muß bestraft werden. Aber lassen Sie durch das böse Beispiel des Feindes nicht die guten Sitten der deutschen Gegenwehr verderben. Bitte, Kamerad Krugenberg — — “ Racke sprach nicht weiter. Er konnte nicht mehr. Eine Weile war es still, dann antwortete Krugenberg: „Ich handle nach meinen Vorschriften, nach meiner Überzeugung und nach meinen Erfahrungen.“ „Ich glaube aber, wenn diejenigen, die vom grünen Tisch ihrer Ideologie und Strategie diese Terroraktionen befehlen, ihre Opfer selbst erhängen und erschießen müßten, würde es nicht geschehen.“ Wieder war eine Weile Schweigen, dann sagte Krugenberg: „Man würde mich zur Verantwortung ziehen, wenn dieser 81
unverschämte und furchtbare Anschlag nicht aufs schärfste gesühnt würde.“ „Sie haben sechs aufgehängt und Sie können melden, daß die Partisanen nicht in den leicht zugänglichen Dörfern in der Nähe der Bahnlinie zu suchen sind, sondern in ihren weitabgelegenen Verstecken im Sumpfgebiet. Sie können eine Großrazzia anregen.“ „Ich werde mich hüten, meiner Kompanie allein eine solche sinnlose Strapaze auf den Hals zu laden, die außerdem verlustreich werden könnte und auch zu nichts anderem führen würde.“ „Dann habe ich nur noch eine Bitte: Bedenken Sie, daß Sie den Haß der Angehörigen im besonderen gegen die Stätte dieses Strafgerichts heraufbeschwören. Die Rache wird nicht Sie treffen, sondern die Beamten, die in Zukunft auf diesem Bahnhof Dienst machen müssen. Der einsame, fast ungeschützte Eisenbahner auf der Strecke und den kleinen Stationen ist ohnehin der Hauptgefährdete und Hauptleidtragende des Partisanenunwesens. Um des Lebens der Eisenbahner willen muß ich Sie in aller Form ersuchen, Ihr Strafgericht nicht auf Bahngebiet, sondern an irgend einem neutralen Ort zu vollziehen.“ Krugenberg ging hin und her, er schien unschlüssig zu sein, vielleicht hatte er die Forderung des letzten Satzes gar nicht klar erfaßt. Er blieb stehen und sagte: „Sie haben Ihren Standpunkt glänzend vertreten, aber wenn Sie objektiv sind, werden Sie zugeben, daß auch meine Auffassungen, zumal sie der Haltung meiner Vorgesetzten entsprechen, ihre Berechtigung haben. Die Bevölkerung muß wissen, daß ihr kein Haar gekrümmt wird, wenn sie sich nicht feindselig verhält, daß wir aber andernfalls mit der größten Rücksichtslosigkeit durchgreifen. Sie muß vor uns zittern. Tut sie es eines Tages nicht mehr, wird sie uns und allen Deutschen den Garaus machen. Heute retten Sie ein Dutzend wirklich oder vermeintlich Unschuldige vor dem Galgen und morgen schlagen sie Ihnen den Schädel ein. Der Einsatz Ihres guten Herzens wäre einer besseren Sache wert.“
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„Krugenberg, mein Herz ist nicht besser als das Ihre, Ihr Herz hat es nur viel schwerer. Ihr Sondereinsatz gegen Partisanen und Verbrecher, die einseitige, dauernde Berührung mit all den Scheußlichkeiten muß es Ihnen ja fast unmöglich machen, noch Mitgefühl mit diesem Volk zu haben. Aber versuchen Sie es doch einmal jetzt, in dieser Stunde. Denken Sie sich einmal in diese bedauernswerten Menschen da draußen hinein. Vielleicht ist ein Schuldiger unter ihnen, aber was können all die andern dafür, was hier geschehen ist? Was können sie für diesen Krieg? Gar nichts. Beides ist über sie hereingebrochen durch die Schuld anderer. Sind sie nicht schon dadurch gestraft genug, daß sie den Krieg, seine Gefahren, seine Zerstörung, den Hunger, sein ganzes furchtbares Elend im Lande haben und am eigenen Leibe erleben müssen? Sie sagten, der Einsatz meines Herzens wäre einer besseren Sache wert. Nein, Kamerad. Es gibt keine bessere Sache, als seinem Herzen zu gehorchen und, allen äußeren und eigenen inneren, noch so begründeten Widerständen zum Trotz für die Menschlichkeit zu kämpfen, damit die Unmenschlichkeit nicht den Sieg über die Erde gewinnt.“ „Herrgottsakrament!“ fluchte Krugenberg, „dann kommen Sie!“ Er setzte mit einer heftigen Bewegung die Mütze auf und ging mit ebenso heftigen Schritten hinaus. Racke nahm sich nicht die Zeit, nach dem Schifferl zu greifen und umzuschnallen; barhaupt, mit offenem Mantel sprang er ihm nach. Es war auch ohne Belang; die Wolkendecke war aufgerissen. Es war so hell geworden, als begänne der Tag noch einmal von vorne. Hinter sich her hörte er noch jemand kommen; er wandte sich um, dachte, es wäre der SS-Unterscharführer. Es war ein Eisenbahner; ein Rottenführer wohl. Die Polen standen noch immer in zwei Gruppen vor den beiden Telefonmasten, aber die Gruppen waren jetzt dreimal so groß wie zuvor. Und vor jeder Gruppe standen vier Männer und zwei Frauen, und alle zwölf hatten eine Schlinge lose um den Hals gelegt. Die beiden großen dichten Menschenhaufen waren von einer Kette SD-Männer umstellt, die ihre Maschinenpistolen oder Karabiner schußfertig unterm Arm hielten. Die übrige Mannschaft war in drei Gliedern angetreten. Ein Hauptscharführer kam auf 83
seinen Kompaniechef zu und meldete, daß zwölf ausgesucht und in die Kamine der Bahnhofsruine Haken geschlagen seien, weil sie nicht gewußt hätten, wo die Partisanen sonst aufgehängt werden sollten. Dieser Mann schien seinem Gesichtsausdruck nach mit Geist und Menschenliebe wenig gesegnet, dafür mit um so mehr Brutalität ausgestattet zu sein; Racke konnte sich leicht vorstellen, wie seine Unterhaltung verlaufen wäre, wenn der Obersturmführer unglücklicherweise auch einem solchen Typus angehörte. „Treibt mal alle hierher!“ befahl Krugenberg und ging vor die Mitte der Bahnhofsruine bis an das Überholgleis zurück, das an dieser Stelle von den Wagentrümmern bereits freigemacht war. Der Befehl wurde rasch und entsprechend unsanft ausgeführt. Die fast durchweg stämmigen Kerle in der schwarzen Uniform mit dem SD-Spiegel waren von der Grobheit, mit der Bauern ihre störrischen oder trägen Ochsen behandeln. Einige Eisenbahnarbeiter, die in der Nähe beschäftigt waren, hörten auf und näherten sich langsam, blieben ein Stück hinter Krugenberg und Racke stehen. Ein paar Schritte vor dem, wie eine verängstigte Herde sich zusammendrängenden Haufen, standen die zwölf Todgeweihten, ebenfalls dicht nebeneinander. Eine Frau schluchzte, daß es sie schüttelte, einer anderen lief langsam Träne um Träne über das Gesicht, ohne daß es sich rührte. Die beiden anderen Frauen hatten die Hände vor dem Schoß gefaltet und murmelten vor sich hin, offenbar Gebete. Bis auf zwei, die trotzig in die Gesichter der Deutschen starrten, hielten die Männer die Köpfe gesenkt. Man konnte ihnen nicht in die Augen sehen. Ein Graukopf zitterte wie Espenlaub, seine beiden Nebenmänner mußten ihn halten. „Wer von euch spricht deutsch?“ fragte Krugenberg. Es kam keine Antwort. „Die können doch alle deutsch!“ schrie der Hauptscharführer, der gemeldet hatte. „Haut ihnen eine in die Fresse, dann wird's gleich gehen!“ Schon klatschte und krachte es, da trat ein Eisenbahner zu Krugenberg und sagte, aber sehr achtungsvoll: „Das hat keinen Sinn, Herr Kommandeur. Die können doch vor lauter Angst nicht
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reden. Lassen Sie mich dolmetschen, ich bin Volksdeutscher aus Polen.“ Racke sah, es war der Rottenführer, der hinter ihm hergekommen war. Krugenberg sah den Mann in seiner Arbeitskluft einen Augenblick scharf prüfend an, dann fragte er: „Wie heißen Sie?“ „Jendik.“ „Gut.“ Krugenberg fragte: „Wer von euch gesteht jetzt endlich, daß er das Verbrechen hier mitbegangen hat?“ Jendik übersetzte die Frage. Es kam keine Antwort. „Wenn sich die Schuldigen melden, können alle anderen nach Hause gehn.“ Ein Greis trat vor, sagte ein paar ruhige Worte. Jendik übersetzte. „Herr, niemand aus meinem Dorf war hier.“ „Wer gesteht, daß er mit geplündert hat?“ Eine Frau drängte sich aus dem Haufen, warf sich vor Krugenbergs Füße, schrie schluchzend: „Nix Frau, nix Mann, nix Kind hier sein! Wir nix wissen — Soldaten kommen und mitnehmen!“ „Hab ich's nicht gesagt? Sie können!“ rief der Hauptscharführer aus, riß die Frau empor und stieß sie in die Menge zurück. „Neun friedliche Eisenbahnbeamte“ sagte Krugenberg — er rechnete die beiden Verschleppten auch dazu — „und neun Soldaten sind bei dem Anschlag umgekommen. Sühne muß sein.“ Die Polen schwiegen. Es war ja sinnlos, daß sie immer wieder ihre Unschuld beteuerten. Aber nun trat ein Mädchen vor, ein Kind auf dem Arm. Vielleicht war es auch eine junge Frau. Sie hatte eine plumpe Jacke an und darunter sah ein Hemd vor. Sie war bleich wie der Tod und flüsterte ein paar Worte. Es war so still geworden, daß man sie trotzdem verstand. Aus der Menge kamen erregte Rufe, Gemurmel. Jendik erklärte: „Sie sagt: Ich allein habe es getan. Die andern rufen, sie lüge. Sie sei krank zu Bett gelegen.“
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Der Hauptscharführer schimpfte halblaut: „Natürlich Quatsch! Sieht man ja, wer hat denn die mitgenommen?“ „Sie soll nach Hause gehn“, sagte Krugenberg zu Jendik. In diesem Augenblick fiel sie um. Der Hauptscharführer fing sie auf mitsamt dem Kind. Er bekam einen roten Kopf, man sah ihm an, daß er sie am liebsten hätte fallen lassen. „Na los! Nehmt sie weg!“ schrie er. Zwei Sturmmänner faßten sie unter, ein dritter nahm das weinende Kind. „Ein Sanitäter soll nach ihr sehen!“ sagte Krugenberg. Er sah hinter der Gruppe her. Die Sonne drückte durch die Wolken. Angesichts der Unglücksstätte des Bahnhofs, der Gehenkten an den Masten, des Haufens der Verzweifelten hinter dem Dutzend mit den Stricken um den Hals, tat das Licht fast weh. Krugenbergs bisher gleichmütig kaltes Gesicht verfinsterte sich. Er trat langsam vor die zwölf, es sah aus, als ob er sie persönlich erdrosseln wollte. Vor dem ersten blieb er stehen, bohrte ihm den Blick in die Augen. „Du schwörst, daß Du nicht dabei warst?“ Die Frage war nur geflüstert, aber die Stimme so schneidend scharf und unerbittlich, als wäre es die des Todes selbst. Und jeder verstand sie. Auch der Mann, der nicht deutsch konnte, begriff. Jendik brauchte nicht zu übersetzen. Der Mann hob die rechte Hand, stammelte etwas mit zitterndem Mund. Krugenberg ging zum nächsten. Es war eine Frau. Mit aufgerissenen Augen ertrug sie seinen Blick. „Wieder die leise, drohend brennende Frage: „Du schwörst, daß du nicht dabei warst?“ Die Frau griff in den Ausschnitt, zog ein Medaillon heraus, sank in die Knie, preßte die Lippen darauf und hob die Hand. Das Medaillon ging von einem zum andern, alle küßten es, sanken in die Knie und schworen. „Was soll denn das Theater?“ flüsterte der Hauptscharführer dem neben ihm stehenden Unterscharführer zu. „Wenn's um Kopf und Kragen geht, schwört jeder.“
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Der andere zuckte die Achsel. Krugenberg trat wieder zurück. „Hauptscharführer, lassen Sie die Kompanie in die Wagen rücken. Wir hauen ab.“ „Jawohl, Obersturmführer!“ „Jendik“, — Krugenberg hatte den Namen behalten — „sagen Sie den Leuten: Wenn in dieser Gegend noch einmal was passiere, würden sie alle gehängt und ihre Dörfer abgebrannt. Jetzt könnten sie nach Hause gehen.“ Der Hauptscharführer starrte seinen Kompaniechef an, als hätte er nicht recht gehört. „Alle, Obersturmführer?“ „Ja. Wir wollen es einmal auf diese Weise versuchen.“ Er wandte sich ab und ging mit Racke zum Wagen zurück. Er sah keineswegs heiter aus. „Sind Sie nun zufrieden?“ fragte er. Es klang unfreundlich. Um so herzlicher antwortete Racke: „Ja. Ich danke Ihnen. Ich habe nur den einen Wunsch, daß auch Sie zufrieden sind.“ „Nein! Sie werden lachen: Ich habe zum ersten Mal ein schlechtes Gewissen.“
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5. KAPITEL
Racke ließ von einer Rotte den Sanitätswohnwagen aus dem Gleis wuchten, vor das ausgebrannte Empfangsgebäude schieben. Er stellte mit Befriedigung fest, daß ein kleiner, aber handfester Kochofen feuersicher eingebaut war, packte seinen Rucksack aus und verstaute seine Sachen in einem der Regale, vor dem sogar rotweißkarierte Vorhänge waren. Decke, Zeltbahn, Trainingsanzug legte er auf eines der Feldbetten in der abgetrennten anderen Hälfte des Waggons und stellte den Rucksack ans Fußende; das besagte klar und deutlich: hier schlafe ich. Sechs Feldbetten waren vorhanden, paarweise übereinander und durch Zwischenwände abgetrennt. Die Herren Arztgehilfen hatten für wohnliche Unterkunft Vorsorge getroffen; man brauchte sich nur noch mit den eigenen Mitteln der Behaglichkeit einzurichten. Jetzt kam das den Stationsbeamten zugute. Der Wagen mußte sicher wieder abgegeben werden, wenn er nicht auch als zerstört gemeldet wurde, aber vorläufig hatte man jedenfalls nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern eine regelrechte Heimstätte, bis das Stationsgebäude wieder aufgebaut oder sonst ein Ersatz geschaffen war. Auch die Landesschützen hatten einen der ganz gebliebenen Wagen bezogen und — wie die Eisenbahnarbeiter, meistens Polen — einen ganz netten Vorrat zusammengehamstert. Aus dem Trümmerhaufen zerstörter Verpflegszugwagen war noch mancherlei geborgen worden und da der Herr Zahlmeister oder Intendant nicht zur Stelle war, wurde nicht buchgeführt. Nach dem Abzug der SS wurden auch die Toten von den Masten abgenommen und von ihren Angehörigen fortgebracht. Man konnte wieder freier atmen. Racke war hundemüde. Die Lanbrücke würde nicht vor Mitternacht in Ordnung sein. Er würde jetzt schlafen, bis der Fahrbetrieb wieder aufgenommen wurde. Bis dahin war das Kleeblatt sicher auch zur Stelle. 88
Er hatte eben die Stiefel ausgezogen, als es klopfte und der dolmetschende Rottenführer hereinkam. „Was gibt's?“ fragte Racke. „Wie heißen Sie gleich?“ „Jendik.“ „Ja, richtig. Übrigens, wenn Sie gerade da sind, Sie haben zum Schluß noch mancherlei zu Ihren Landsleuten gesagt. Die haben Ihnen sehr aufmerksam zugehört und dabei immer auf mich gesehen, hatte ich den Eindruck. Das kam mir merkwürdig vor.“ „War ganz natürlich, denn ich habe ihnen gesagt, sie hätten es dem Eisenbahnoffizier da zu verdanken, daß sie mit dem Schrecken davonkämen.“ Racke stutzte. „Woher wußten Sie denn das?“ „Ich bin zufällig an dem Wagen vorbeigekommen, als Sie sich mit dem Kompanieführer unterhielten. Es waren ja zwei Fenster halb auf; man konnte jedes Wort verstehen. Es interessierte mich. Da bin ich eben stehengeblieben.“ „So. — Und was wollen Sie jetzt?“ „Nur mal fragen, warum sich keiner um die verschleppten Kollegen kümmert?“ „Was heißt, nicht kümmert? Von der Bevölkerung will niemand sie noch gesehen haben. Von den Landesschützen und der SS wurde die ganze Gegend abgesucht, auch nach Süden bis weit ins Moor hinein. Es war alles umsonst.“ „Ein Dutzend Unschuldige aufzuhängen ist natürlich leichter, als einen Schuldigen oder einen Verschleppten zu finden.“ „Das ist in dieser Gegend ja auch unmöglich. Ich war sehr beunruhigt über das Schicksal der Bahnhofsbesatzung und habe alles getan, um so schnell wie möglich herzukommen, aber die Verschleppten suchen zu wollen, wäre für mich doch erst recht eine aussichtslose Sache und wenn ich die ganze Rotte des Bauzugs mitnehmen würde.“ „Mit der Rotte sicher.“ „Na, trauen Sie sich das vielleicht zu?“ Der Rottenführer sah aus, als ob er ja sagen wollte. „Jendik, ich würde Sie natürlich sofort begleiten. Nur eine Tasse Kaffee muß ich mir vorher machen, damit ich unterwegs nicht einschlafe.“ „Das Einschlafen würde Ihnen schon vergehen.“ 89
„Ist es Ihr Ernst?“ „Ja.“ „Und Sie hoffen wirklich, daß wir sie finden?“ „Ja.“ „Lebend?“ „Das bin ich zu viel gefragt.“ Racke zerrte die Stiefel wieder an. „Wissen Sie, wo es hier trinkbares Wasser gibt?“ „Hinter der Station ist ein Brunnen. Geben Sie mir Ihr Kochgeschirr. Ich hole Ihnen.“ Racke verständigte die Aushilfsbeamten aus Luniniec, die sich im Bauzug aufhielten. „Wäre nett, wenn von euch immer einer im Stationswagen bliebe, damit von meinen Sachen noch etwas da ist, wenn ich zurückkomme.“ „Mit Vergnügen.“ Jendik war schon wieder da, wollte mit Trümmerholz Feuer machen. „Nicht nötig — geht bei mir rascher“, wehrte Racke ab und packte seinen kleinen Primus aus. In fünf Minuten brodelte das Wasser. „Trinken Sie einen Becher voll mit?“ fragte Racke. „Gerne, ich kann's auch brauchen.“ Sicher, dachte Racke. Er sieht nicht gut aus. So ein scheußliches Unglück ging eben auch dem Grobschlächtigen an die Nerven. „Zu Kaffee komme ich selten“, sagte Jendik. „Schnaps haben wir immer.“ „Mir ist Kaffee lieber“, meinte Racke. „Schnaps ist wichtiger. Er betäubt und feuert an. Läßt vergessen und macht toll. Er läßt alles ertragen und er macht selbst den Feigen zum Rebellen. Wie man's gerade braucht. Auch Schnaps ist eine Weltmacht.“ Racke sah forschend in das bärtige Gesicht. Irgend etwas an diesen Worten erschien ihm merkwürdig. Aber er kam nicht dazu, sich darüber klar zu werden, Jendik hatte ausgetrunken und steckte schon seinen Becher in den Brotbeutel, den er am Band über die Schulter trug. Es war ein russischer Brotbeutel. „Wir
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dürfen keine Zeit verlieren“, sagte er. „Auch, damit wir nicht in die Nacht kommen“, und ging schon hinaus. Racke trank rasch aus, zog den Mantel an, schnallte um, schob noch ein Päckchen Patronen in die Tasche, stülpte die Mütze auf und lief nach. Jendik tauchte eben jenseits der Bahn in die Büsche und als sich Racke auf dem wild getretenen Pfad durchgewunden hatte, verschwand sein Führer jenseits eines schmalen Kartoffelackers im Wald. An einem zerfahrenen Querweg waren Schützenlöcher und ein MG-Stand; zerschlagene verrostete Gewehre, zerbrochene Seitengewehre, Patronen und Patronenhülsen lagen herum. „Bleiben Sie doch endlich mal stehen!“ rief Racke. „Ich verliere Sie ja aus den Augen!“ Jendik wartete, ging aber weiter, ehe Racke ihn ganz erreicht hatte. Der konnte nicht ganz aufholen. Jendik blieb immer zehn, zwanzig Schritte voran. Dabei war er mindestens fünfzig Jahre alt. Verrückter Kerl! dachte Racke. Der Wald lockerte sich auf, zerfiel in kleine Gruppen, zwischen denen hohes Schilfgras und Gestrüpp wuchs. Ein Weg war nicht mehr zu erkennen. Verdammt einsame Gegend, ging es Racke durch den Kopf. Wenn das nur gut geht! „Ich würde mich wohler fühlen“, rief er hinter seinem Führer her, „wenn wir doch ein paar Soldaten oder wenigstens ein paar von Ihrer Rotte bei uns hätten.“ Jendik drehte sich kurz um, legte den Finger auf den Mund. An einem Wassergraben holte Racke ihn endlich ein. Jendik hatte ein Brett aus dem Gesträuch gezogen, warf es drüber. Racke sah zum ersten Mal seit ihrem Weggang vom Bahnhof sein Gesicht wieder und wunderte sich, wie stark sich dessen Ausdruck verändert hatte. Es war nicht mehr das Alltagsgesicht des Arbeiters. Der Mund war schmäler, der Blick schärfer, der ganze Ausdruck selbstbewußter und gespannter geworden. Er wurde sich plötzlich noch stärker der Gefahr bewußt, in die er sich begeben hatte. „Wenn Sie sich so gut hier auskennen und ein bestimmtes Ziel verfolgen, wie es mir scheint“, fragte er beim Weitergehen, als Jendik die Behelfsbrücke auf der anderen Seite ins Gestrüpp gesteckt hatte, „warum haben Sie dann nicht gleich den SD 91
geführt? Das wäre doch weniger gefährlich für Sie gewesen und hätte sicherer zur Befreiung der Kameraden geführt.“ „Im Gegenteil“, antwortete Jendik kurz und entschieden. Er sah nicht aus, als ob er darüber große Erklärungen abzugeben gedächte und Racke blieb nichts übrig, als ihm zu glauben und sich auf ihn zu verlassen. Es kamen Wassergräben, die übersprungen werden konnten, große und kleine Lachen, die umgangen werden mußten. Aus dem grauen und gelben, steppenartigen Gras wurde niedriges Schilf. Unter den Füßen begann es zu knatschen. Hinter einem flachen, breiten, von dichtem Erlen- und Weidengehölz gesäumten Graben, in dem eine unheimliche Masse von wässerigem Schlamm und dickem Schlick stand, dehnte sich unabsehbar nach allen drei Seiten eine schwarzgrüne Mooswiese, auf weite Strecken hin wasserbedeckt. Ein Damm aus hineingeworfenen Bäumen und Strauchwerk führte hinüber. Drüben lachte Jendik kurz auf, als er Rackes Gesicht sah. „Keine Angst, junger Mann! Sie werden nasse Füße bekommen, wenn Ihre Stiefel nicht wasserdicht sind, aber sonst ist es nicht so gefährlich, wie es aussieht. Das Moos ist zäh verflochten, dehnt sich wie Gummi, aber es reißt nicht. Man muß nur mit leichten, raschen Schritten gehn. Nicht stapfen, nicht lange zögern, nicht stehen bleiben. Treten Sie nicht in meine Fußtapfen. Kommen Sie jetzt neben mich.“ Racke war kein Feigling, aber er wurde bleich und zögerte, und als er die ersten Schritte gemacht, schon nasse Füße hatte und dabei auf und ab schwankte, als ginge es über eine Luftmatratze, kehrte er um. Jendik wandte sich nach ihm zurück, blieb aber nicht stehen. „Das Schaukeln werden Sie bald gewöhnt sein. Aber wenn Sie nicht wollen, na ja, dann gehn Sie eben.“ Racke schämte sich und lief ihm nach, hielt sich neben ihm. Es federte scheußlich, es quirlte und schmatzte bedrohlich. Dann ging's durch die erste Lache und er fühlte das kalte Wasser in den Schuhen bis an die Knöchel stehn. Immer wieder schaute er hilflos auf Jendik, aber der blickte mit leicht zusammengekniffenen Augen gerade aus. Nur einmal sagte er: „Hier sind schon viele gegangen und nur selten ist einer 92
umgekommen. Man muß natürlich wissen, wo man gehen kann und wo nicht. Es gibt sogar feste Inseln, große und kleine, auf denen Hütten stehn, die in besonderen Fällen auch bewohnt werden.“ Rackes Furcht verlor sich allmählich, das Unbehagen blieb und das Erstaunen darüber, wie ein Mensch behalten konnte, wo man hier zu gehen hatte, denn es ging durchaus nicht ständig geradeaus, sondern häufig in ganz unterschiedlichen Schlangenbögen und auch engen Kurven. Er konnte keine Anhaltspunkte entdecken und dieser Jendik ging, als wäre der Weg gezeichnet. Manchmal brach das Moor in unergründlich scheinende Wasserlöcher ab, daß Racke zurückschauderte. Jendik lachte leise: „Sie sind doch Soldat!“ „Aber kein Sumpfbiber!“ Racke war wütend, dann mußte auch er lachen, und von diesem Augenblick an hatte er seine Nerven wieder in der Gewalt, der Bann des Unheimlichen wich mehr und mehr von ihm. Und es kam ihm, als er plötzlich viel sicherer und ruhiger ging, in den Sinn, daß vielleicht viele Menschen, die in Gefahr gerieten, nicht umkamen, weil die Gefahr unüberwindlich war, sondern weil sie die Nerven verloren. Sie kamen ihrer Angst wegen um. Und noch etwas ging ihm jetzt, da sich Leib und Seele aus ihrer Verkrampfung lösten, durch den Kopf. „Hören Sie mal! Sie kennen sich verdammt genau aus“, sagte er. „Ich lebe seit Jahren in dieser Gegend“, antwortete Jendik gleichmütig. „Richtig, Sie sind ja Pole. Aber sie sprechen selbst für einen Volksdeutschen ein merkwürdig akzentfreies Deutsch.“ „Ich bin Schlesier von Geburt.“ „Sie haben für einen Arbeiter auch einen sehr ungewöhnlichen Wortschatz.“ „Ich bin erst seit dem Kriege Arbeiter.“ „Und was waren Sie vorher?“ „Redakteur.“ Racke stockte. „Bleiben Sie nicht stehen“, meinte Jendik. „Wenn Sie durchbrechen, kann ich Sie nicht herausziehen.“ 93
Racke ging hastig weiter; er sagte nichts mehr. Endlich ging das Moormoos zu Ende. Lange, gras- und heidebewachsene Erdwulste begrenzten es im Südwesten, der Hauptrichtung, die sie eingehalten hatten. Runde Hügel tauchten in der Ferne auf und geringe Birken, Erlen und Föhren standen wie verloren umher. Kaum hatte Racke festen Grund unter den Füßen, blieb er ein paar Schritte zurück und zog die Pistole. „Jendik!“ Es klang scharf. Jendik blieb stehen und drehte sich langsam um. Er zeigte sich weder erschrocken, noch erstaunt. „Ich dachte mir, daß das jetzt kommen würde. Aber was wollen Sie mit dem Ding?“ „Jendik, Sie sind Partisan!“ stieß Racke rasch und drohend aus. „Und darum wollen Sie Selbstmord begehen?“ „Mir ist nicht zum Scherzen!“ „Das ist kein Scherz. Wenn Sie mich umlegen, kommen Sie doch nie wieder zurück.“ „Sie werden jetzt sofort mit mir zurückkehren.“ „Machen Sie sich doch nicht lächerlich.“ „Ich komme auch ohne Sie zurück.“ „Nein. Ich habe Sie doch als vernünftigen Menschen kennen gelernt, warum wollen Sie auf einmal so unvernünftig sein? Außerdem wollen Sie doch Ihre beiden Kollegen retten.“ „Ich habe mich leider hinters Licht führen lassen.“ „Wieso?“ Jendik setzte sich ins Kraut und lehnte sich an ein Erlenstämmchen. „Das war nur eine Finte von Ihnen, um auch mich in Ihre Gewalt zu bekommen.“ Jendik zog eine Zigarre aus der Brusttasche seiner Joppe und steckte sie an. „Ich habe im Gegenteil, wie ich Ihnen schon sagte, dafür gesorgt, daß Ihnen, wenn Sie nicht gerade selbst auf Partisanenjagd gehen, in dieser Gegend kein Mensch ein Haar krümmen wird.“ „Ich glaube Ihnen nicht.“ Racke schlug um sich; es gab viele Stechmücken. 94
„Setzen Sie sich doch endlich auch“, forderte ihn Jendik auf. „Sie haben eine Rast dringend nötig. Der Weg ist noch weit und beschwerlich. Sie brauchen Ihre Kräfte und Ihre Nerven noch.“ Racke setzte sich Jendik gegenüber; die Pistole tat er nicht aus der Hand. „Ist es nicht bequemer, wenn Sie sie weglegen?“ mahnte Jendik freundlich. „Sie müssen sich doch sagen, daß Sie schon lange nicht mehr am Leben wären, wenn ich Sie umbringen wollte. Ich bin auch nicht zufällig an Ihrem Wagen vorbeigekommen, sondern hatte eine Zeitmine unter ihm angebracht. Wären die zwölf gehenkt worden, wären Sie mit den SS-Lumpen in die Luft geflogen. Aber um Sie hätte mir's leid getan. Wir haben natürlich kein Interesse daran, Menschen zu töten, die sich bemühen, die unbeteiligte Bevölkerung vor der Terrorjustiz der Schergen zu schützen. Und wenn Ihren beiden Kollegen noch nichts geschehen ist, werde ich mich dafür einsetzen, daß sie gewissermaßen aus Ritterlichkeit gegen die zwei Frauen und den Mann ausgetauscht werden, die zu uns gehören und schon den Strick um den Hals hatten.“ „Also waren doch Partisanen unter ihnen!“ „Ich sagte es ja schon.“ „Und sie haben geschworen!“ „Seien Sie nicht kindisch. Selbstverständlich.“ „Und bei den schon Gehängten?“ „Einer.“ Racke zernagte sich die Lippen. Also auch da hatte Krugenberg recht gehabt. „Rauchen Sie lieber eine Zigarette. Das beruhigt, ohne weh zu tun.“ Racke steckte die Pistole ins Futteral und eine Zigarette in den Mund. Jendik gab ihm Feuer. Racke starrte vor sich hin. „Was denken Sie?“ fragte Jendik. „Daß ich mich nie wieder einmischen werde, wenn Polen oder Russen aufgeknüpft werden sollen.“ Und er dachte noch mehr. Er dachte: Ich muß Jendik töten, ohne Rücksicht auf das Schicksal der verschleppten Kollegen. 95
Denn wenn sie sterben müssen, so sind das zwei, wenn Jendik am Leben bleibt, wird das vielleicht noch hundert Soldaten und Eisenbahner das Leben kosten und unabsehbarer Schaden angerichtet werden. Und er selbst? Wenn er dann nicht zurückfand? Ach, Jendik würde ihn zweifellos zu einem Dorfe bringen und von dort aus mußte es ja auch einen gefahrloseren „Weg aus dem Sumpfland heraus geben. Den würde er schon finden oder irgend jemand zwingen, ihn zu führen. Aber diese Gedanken sprach Racke nicht aus und Jendik meinte jetzt leichthin: „Es kann sein, daß Sie sich im Augenblick einfach abwenden würden, um es nicht sehen zu müssen. Aber auf die Dauer würden Sie doch in Ihre Weichherzigkeit und Ihren Gerechtigkeitssinn zurückfallen. Kein Mensch kann aus seiner Haut.“ „Aber daß ich einen Partisanen genau so umlegen würde, wie die Polizei oder die SS, ist Ihnen doch klar.“ „Natürlich. Das geht völlig in Ordnung.“ „Auch Sie, Jendik, wenn Sie mir wieder begegnen.“ „Dann sehen Sie sich vor, daß ich nicht zuerst zum Schuß komme. Ich werde aber versuchen, eine Begegnung mit Ihnen vorsorglich zu vermeiden.“ „Heißen Sie überhaupt Jendik?“ „Wir wollen es dabei lassen. Sie können auch Jozef sagen.“ Der Himmel hatte sich wieder stärker bezogen. Die Sonne stand schon tief. Jendik erhob sich. „Wir müssen sehen, daß wir weiterkommen.“ Er schritt kräftig aus. Racke folgte ihm, über Dutzende von Rinnen und Gräben, die voller Schlick und Binsen standen. Hinter einem Streifen Röhricht sperrte ein breiter und unergründlich scheinender, still stehender Wasserlauf den Weg und das gegenüber liegende Ufer war kein Ufer, sondern ein Riesenschachbrett von braunen Wasserflecken und maulwurfshaufenartigen teils kahlen, teils mit niedrigem Schilfgras oder hohem und zerbrochenem Röhricht bedeckten Erhebungen. „Was! Hier soll es weitergehen?“ fragte Racke. „Nur hier.“ „Wie denn?“ „Das werden Sie gleich sehen.“ 96
Jendik kramte im Gestrüpp herum, dann zog er ein fußbreites, mannslanges Brett heraus und noch ein zweites, und legte das erste ins Wasser, es tauchte wenige Zentimeter unter und schwamm nicht weg, sondern blieb liegen. „Es liegt auf Pfählen auf, man sieht es nur schlecht im Wasser“, grinste er, nahm das zweite Brett auf die Schulter, tastete sich hinüber und legte es auf eine wiederum unsichtbare Unterlage vor sich hin. Nun ging er bis an dessen Spitze vor und winkte Racke. „Los, kommen Sie!“ Racke wäre lieber umgekehrt. „Für zwei ist es etwas schwieriger als für einen, aber dennoch einfacher, als es aussieht“, ermunterte ihn Jendik. Im schlimmsten Fall müssen Sie eben mal schwimmen. Aber sofort auf den Rücken werfen, damit Sie nicht in den Schlamm kommen, der ist tiefer als das Wasser und läßt Sie nicht mehr los.“ Racke riß sich zusammen und ging mit dem Mut der Verzweiflung. „Sie sind ein verteufelter Kerl“, sagte er, als er hinter Jendik stand. „Schön, dann geben Sie mir mal das Brett hinten vor.“ „Mensch, das kann ich doch nicht mit einem Arm!“ „Natürlich können Sie das. Drehen Sie's auf die Kante — aber festhalten! — Und ziehen und schieben Sie's zwischen Ihren Beinen durch.“ Racke zitterten die Knie. Kalter Schweiß rann ihm über das Gesicht und aus den Achselhöhlen. Aber es ging und Jendik packte das Brett und legte es nach halbrechts vorwärts, ging hinüber und stellte sich neben das Ende. Racke hätte beinahe aufgeschrien, aber Jendik sank nur knapp bis über die Knöchel ein, rief ihm zu: „Kommen Sie her, hier ist eine kleine Plattform. Sie können sich neben mich stellen und ich kann das hintere Brett selbst holen.“ Nun konnte es schon auf einen festen Landwulst gelegt werden. Als Racke sich wieder bücken wollte, sagte Jendik: „Liegen lassen. Wir brauchen’s jetzt nicht mehr.“ Racke atmete auf. „Wie alt sind Sie eigentlich?“ fragte er. „Fünfunddreißig“, antwortete Jendik. „Habt ihr auf diesem Weg die zwei andern hergsschleppt?“ 97
„Natürlich nicht, sondern ganz gefahrlos, aber fünfmal so weit über Wasser und Land.“ Die Wasserlöcher — manche waren umfangreich wie Weiher und mußten umgangen werden — sahen zwar heimtückisch aus, aber die Maulwurfshügel waren so zahlreich und dicht, daß Racke die Springtour, gemessen an der bisherigen Gefährlichkeit des Weges, wie ein Kinderspiel erschien. Wolken von winzigen Mücken tanzten in der Luft. Allmählich schloß sich der feste Grund zusammen, bedeckte sich immer dichter mit übermannshohem Röhricht, über das nur der Wipfel einer einsamen jungen Birke ragte. Auf diese zu brach sich Jendik Bahn und dann standen sie am Rande eines ziemlich rasch ziehenden Wasserlaufes, dessen anderes Ufer ebenfalls von weg- und steglosem Röhricht gesäumt war. Bin gespannt, was jetzt kommt, dachte Racke. Jendik nahm beide Hände vor den Mund und stieß mehrere Male in bestimmten Interwallen einen schrillen, vogelartigen Laut aus. Derselbe Schrei antwortete. Wenige Minuten später tauchte etwas oberhalb, aus einer kleinen Bucht im Röhricht ein Schlauchboot auf. Ein Mädchen saß darin; nicht älter als fünfzehn Jahre, holte, ohne daß ein Wort gesprochen wurde, zuerst Racke, dann Jendik über. Das Mädchen hatte ein buntes Kopftuch auf, aber eine zerlumpte Männerjacke an, die ihr bis über die Knie reichte. Sonst vielleicht nichts. Es schien wenigstens so. Ein enger Durchlaß, überwachsen wie ein Tunnel, führte in eine kleine Bucht. Eine winzige Schilfhütte lag da. Jendik hielt sich nicht auf. Durch Schilf, Röhricht, Erlen- und Weidengestrüpp war ein schmaler Pfad gebrochen. Ihm folgte er und Racke hielt sich dicht hinter ihm. Die Bucht, die Schilfhütte und das Kind mit den illusionslos wissenden Frauenaugen waren schon so unsichtbar geworden, als er sich nach wenigen Atemzügen noch einmal umwandte, wie hinter einer dichten Wand. Zehn Minuten mochten vergangen sein, als sich vor Racke kilometerweit ein Schilfsee dehnte. Nach allen Seiten war er von Röhricht begrenzt, nur nach Südosten stieg Land an, ein wenig Wald, ein paar Streifen Acker und Wiese.
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Jendik zog ein Kajak unter einem Haufen Schilf und Rohr vor. Er führte das Paddel, Racke das Steuer. „Richtung die drei Föhren“, befahl Jendik. Das Gewölk zerteilte sich zum zweiten Male an diesem Tage. Die untergehende Sonne setzte es in Brand. Das Licht brach sich im Wasser. Über dem von einer leichten Brise gekräuselten Seespiegel, aus dem Millionen sanft sich wiegende Schilfspitzen stachen, rann goldener Glanz. Zartrosa und Smaragdgrün färbten den Himmel, Scharlachrot und Moosgrün das Wasser. Langsam wandelten sich die Farben. Blaugrau und silbern, weinrot und elfenbein zogen die Wolkenburgen am verblassenden Firmament und über den See ergossen sich Blaugrün und Schwefelgelb, Blutrot und Violett. Niemals hatte Racke solche Farben erlebt, ein solches Farbenfest der Natur. Vielleicht gebar die Zeit eine solche Stunde wie diese nur alle hundert Jahre. Eva, daß du das sehen könntest! Welche Zauberin ist das Licht! Was ist alle Kunst gegen die Schöpfung selbst! Aber vor ihm saß nicht Eva, sondern Jendik. „Du da vorne“, knurrte Racke, „wie kann in einer Welt solch göttlicher Wunder der Mensch ein solch unglückseliger Esel und Verbrecher sein!“ „Halt's Maul und paß aufs Steuer auf“, antwortete Jendik. Er führte das Paddel rasch und fast lautlos. In der Ferne tauchten Blesshühner. Einmal rauschten Enten aus einer Schilfinsel, kehrten in weitem Bogen zurück und fielen an der gleichen Stelle wieder ein. Zwei Raubvögel, ein Bussardpaar wohl, kreisten über den Uferhügeln, drehten ab und gingen hinter einem Waldstück dem Auge verloren. Das Schilf wurde dichter, höher, voll Geraschel und Geplätscher, verstummend, wo sie vorbeiglitten. Jendik legte das Paddel ins Kajak und zog es, mit den Händen ins Schilf greifend, vorwärts. Ein schmaler, halb zerfallener Steg tauchte auf. Jendik legte an. „Steig aus“, sagte er zu Racke. „Geh zur Hütte, ich komme später wieder.“ Racke zog sich vorsichtig hinaus. Jendik drückte das Kajak wieder ab, schürchend verschwand es im Schilf.
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Racke tastete sich langsam mit prüfenden Schritten über den wackligen Steg. Unter ihm und zu beiden Seiten waren Lachen und schwarzer Schlamm zwischen Schilfnestern und Rohrwurzelstöcken. Amselgroße braune Vögel, schlanker nur und mit spitzen Köpfen, huschten hin und her, dazwischen ein kleiner brauner, rötlich, mit weißer Brust. Aufatmend betrat Racke das erhöhte, sandige Ufer. Flechte bedeckte es und blühende Heide. Ein flacher, zerbeulter Hügel lag vor ihm. Zwischen den drei Föhren, an seiner höchsten Stelle kauerte eine windschiefe, röhr- und schilfgedeckte Bretterbude. Sie hatte nur einen niederen Eingang und eine fensterlose Luke und war mit fußhohem, zerlegenem Schilf angefüllt. Vor der Hütte waren noch zwei dicht aus Binsen geflochtene Matten übereinander an vier Pfosten aufgehängt, darunter auf einem Stück verrostetem Blech bröckelige Steine mit einem rußverkrusteten Rost darüber zu einer Feuerstätte geschichtet. Ein Häuflein dürres Astzeug und Föhrenzäpfchen lag dabei. Man sah über eine offensichtlich unpassierbare Sumpfsenke auf Waldhügel mit eingestreuten kleinen Äckern und Wiesen, auf einzelne Obstbäume und eine Handvoll Katen. Aber keine Menschenseele war zu sehen. Nur ein paar Hühner liefen herum und ein kleiner Hund. Wenn Jendik nicht mehr zurückkehrte, oder wenn er ihn vom Steg aus erschossen hätte, müßte er hier verhungern. Ohne fremde Hilfe kam er hier nie wieder weg. Racke machte Feuer, zog die Stiefel ab, goß das Wasser aus, zog die Socken aus, hängte Stiefel und Socken rings an die Pfosten um den Herd. Er setzte sich an eine der Föhren auf den vergilbten Nadelteppich, rieb die nassen, kalten Füße mit den Mantelzipfeln trocken und hielt sie gegen die heiß werdenden Ofensteine. Jetzt fühlte er seine Erschöpfung. Langsam verlöschten die Abendlichter des Himmels und die Farbenspiele des Wassers. Dunkelheit verhing die Ferne, umfing die Nähe, da war Jendik wieder da. „Es war Zeit, daß ich kam“, sagte er. „Der Kommissar wollte sie ins Moor werfen lassen. Wegen der sechs an den Masten. Vielleicht auch überhaupt. Er meinte: um so besser, wenn auch
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Unschuldige gehenkt werden. Das ist „Wasser auf unsere Mühlen.« Racke dachte: Hätte ich Jendik erschossen, hätten die beiden Kollegen einen schauerlichen Tod erleiden müssen. Und sicher ich ebenso. Und es wäre nutzlos gewesen, wenn man sich's genau überlegte. Was bedeutete einer von hundert oder tausend! Ob mit oder ohne Jendik blieb sich völlig gleich. Ohne ihn würde nicht weniger Schlimmes geschehen! Vielleicht sogar mehr. Jendik hatte Brot, eine Fleischbüchse und eine Flasche Arrak mitgebracht. Zweifellos stammte alles aus dem Proviantzug. Racke hatte einen Bärenhunger. Jendik setzte sich dicht an seine Seite und sie aßen gemeinsam aus der Büchse, tranken abwechselnd aus der Flasche. Jendik wischte mit der Hand darüber, Racke sagte: „Laß das, die ist auch nicht sauberer als dein Maul.“ Er aß wie ein Drescher, trank wie ein Säufer. Das Schwächegefühl verließ ihn. Nur noch behagliche Müdigkeit erfüllte seine Glieder. Es war wirklich ein unglaublich dummer Einfall gewesen, unter solchen Umständen Jendik erschießen zu wollen. Wie schwer war es doch, aus dem Stegreif einen richtigen Entschluß zu fassen! Man glaubt im einen Augenblick, ein Gedanke ist richtig und eine Weile später erkennt man, wie falsch er war. Hat man dann schon gehandelt, kann man es nicht mehr ungeschehen machen. Wieviel Ärger und Kummer, wieviel unnützes, vermeidbares Leiden und Sterben, wieviel Tragödien wurden wohl nur durch Dummheit, die man für Weisheit hielt, durch Unwissenheit, derer man sich nicht bewußt war, durch Denkfehler, Irrtümer und durch Gefühlsimpulse verursacht. Wieviel Schuld und wieviel Tragik würden vermieden, wenn jeder sich selbst, seine eigenen Gedanken und Einfalle und seine Triebkräfte mit demselben feindseligen Mißtrauen prüfte, mit der er seiner Mitwelt gegenübersteht. Wenn sich die Einseitigkeit schwacher oder prinzipvernarrter Gehirne mit dem totalitären Gültigkeitsanspruch des Faustrechts paarte oder gar in Gesetzen verankert wurde, war zu allen Zeiten und bei allen Völkern der Weg des Unheils und des Unrechts beschritten, der irgendeinmal im Verderben enden mußte.
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Racke war satt; er lehnte sich wieder zurück an den Stamm der Föhre. Jendik tat das gleiche. Er hatte auch Zigaretten. Racke konnte die seinen sparen. Sie rauchten. Schwarz standen die Wipfel über ihnen gegen das Graudunkel des wieder stark bedeckten Himmels. Nur wenige Sterne glänzten. „Ich will dir erzählen“, sagte Jendik. „Mein Vater war Arbeiter. Fabrikschlosser. Kommunist, seitdem es eine KPD gab. Ist es ein Verbrechen, wenn man als armer Teufel wünscht und sich dafür einsetzt, daß nicht die einen schuften und darben müssen, damit die andern faulenzen und prassen können? Das ist doch die Grundidee. Angeblich auch bei euerem Lügenpack. Oder nicht? — — Sie haben ihn mit sechzig Jahren hinter Stacheldraht gesteckt und eines Tages wurde er auf der Flucht erschossen. Du weißt doch, wie das gemacht wird. Meine Schwester ging mit einem Juden. Das ist plötzlich ein Verbrechen. Weil irgendein größenwahnsinniges Arschloch daherkommt und seine geistige Krüppelhaftigkeit und Tobsüchtigkeit zum Gesetz erhebt. Und weil er Schweine genug findet, die nach solchen Schandgesetzen anklagen und urteilen.“ „Die findet jedes System“, warf Racke ein. „Mag sein. Der Jude bekam Zuchthaus und ist verschollen. Meine Schwester kam ins K.Z. zur Umerziehung. Als ihr Trotz zerbrochen war, gab sie sich zu Rassebereinigungszwecken den mit wenigen Ausnahmen im allgemeinen ganz umgänglichen kleinen und großen Herrn des Lagers hin. Sie war hübsch und sie schrie nach dem Leben. Sie kam heraus und war's gewohnt und es ging nun eben weiter von Bett zu Bett. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.“ Jendik beugte sich vor, warf eine Handvoll Reisig aufs Feuer. „Mein Bruder war nie Kommunist. Er sympathisierte sogar in vieler Hinsicht mit der Partei. Er war Sozialist, ohne Sozialdemokrat zu sein, und er war Nationalist, seitdem er einmal an der tschechischen Grenze gearbeitet hatte. Aber er wog das Richtige und das Falsche, das Gute und das Schlechte, und war nicht so klug oder so feige wie Millionen andere — er sagte seine Meinung. Merkwürdigerweise kam er nicht kurzerhand ins K. Z., sondern zunächst vor Gericht. Und da war es inzwischen auch gleichgültig, ob man Jude war oder nicht. Es gab ja auch Gesetze 102
gegen die freie Meinung. Ich war in der Verhandlung und erlebte einmal unmittelbar, was es unter Staatsanwälten und Richtern für Subjekte gibt. Anscheinend lernen sie auf den Universitäten, wie man das Recht verdreht und für den weltanschaulichen Meinungskampf mißbraucht. „Wie man aus einem X ein U, aus Weiß Schwarz, aus Schwarz Weiß macht. Wie man aus der Gerechtigkeit eine Hure macht, die immer dem zu Willen ist, der die Hand auf der Krippe hat, aus der sie fressen.“ Jendik wartete, aber Racke wiedersprach nicht, da fuhr er fort: „Ich hatte nie etwas mit einer Partei zu tun. Ich hatte immer das Gefühl: sie sagen Volk und Vaterland und meinen sich und ihre Einnahmen. Wenn sie nämlich das Wohl des Volksganzen gemeint hätten, müßten sie sich ja auf einer mittleren Linie gefunden haben. Aber sie erhielten die Gegnerschaft, um sich selbst zu erhalten. Vielleicht kam mir das durch meinen Beruf besonders zum Bewußtsein. Ich hatte Buchdrucker gelernt und war an einem Kleinstadtblättchen Redakteur geworden. Damals hatte ich mich dem Parteihader und den Interessenklüngeln beugen müssen, jetzt mußte ich die simpelhafte Gleichschaltung über mich ergehen lassen. Um des täglichen Brotes willen hatte ich versucht zu begreifen, was geschah, und mich in das zu fügen, was man als einzelner sowieso nicht ändern konnte. Jetzt aber konnte ich mich nicht mehr ständig vor mir selber entschuldigen. Der Vater, die Schwester, der Bruder! Gegen dieses System des Terrors half nur eine Gegenbewegung, die eines Tages stark genug zur Revolution sein würde. Ich ging in den Untergrund. Sie kamen mir auf die Spur und ich mußte über die Grenze. Ich will gegen Hitler kämpfen, sagte ich.“ Jendik griff nach der Flasche. „Jetzt weißt du, warum ich hier bin und warum ich Partisan wurde.“ Jendik steckte sich eine frische Zigarette an. Racke schwieg. „Warum sagst du nichts?“ „Was soll ich sagen?“ „Daß du mich jetzt verstehst.“ „Menschlich ja — sachlich nein.“
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Jendik sprang auf, zerdrückte das Feuer seiner Zigarette und steckte sie in die Tasche. „Und ich sage dir, du hättest genau so gehandelt! Jeder hätte so gehandelt, wenn er nicht der allerfeigste und schmierigste Hund wär!“ „Jeder. Oder fast jeder. Mag sein. Ich nicht.“ Jendik stand vor Racke, die Fäuste in den Taschen, starrte ihn wild an. „Du hättest das hingenommen, ohne dich aufzulehnen? Ohne diesem Idioten- und Verbrecherpack den Kampf anzusagen? Hättest dich noch vor den Wagen gespannt, der über das Glück und die Leichen ging, die dein Fleisch und Blut waren? Racke nein! Ein solch dreckiges Schwein bist du nicht!“ „Gib mir noch eine Zigarette“, sagte Racke ohne Erregung, zündete sie an und machte ein paar ruhige Züge. „Paß auf Jendik. Was ich getan hätte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich würden mich Schmerz und Wut getrieben haben, den Staatsanwalt und den Richter zu erwürgen und Hitler über den Haufen zu schießen. Und ich würde es doch nicht getan haben, wie du es nicht getan hast und wie es eine Million anderer nicht getan haben. Weil es das eigene Leben gekostet hätte. Weil man zu feige ist, das Leben zu sehr liebt, um sich selbst zu opfern. Manche Menschen werden Märtyrer wider Willen, aber nur selten wird einer geboren, der um des Rechts und der Freiheit willen in heroischer Größe seinen Kopf in die Schlinge steckt oder unterm Fallbeil legt.“ „Ja, das ist wahr, rief Jendik. „Wir verrecken alle einmal, aber man sträubt sich dagegen. Man klammert sich an dieses Scheißdasein, wie ein hungriger Säugling an den letzten Tropfen in der Mutterbrust. Das Totsein fürchtet man nicht, höchstens die Irrsinnigen, die sich von den Pfaffen ins Bockshorn jagen lassen, man fürchtet das Sterben. Aber weißt du, was ich nie begriffen habe? Daß es Menschen gibt, die sich dennoch eines Unrechts, eines grausamen Leides wegen, das Leben nehmen, ohne auch die umzubringen, die es ihnen angetan haben.“ Jendik holte die ausgedrückte Zigarette aus der Tasche, hielt sie in die Glut, zog und setzte sich wieder.
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„Das wird damit zusammenhängen“, antwortete Racke langsam, „daß sie eben in einem Augenblick geistiger Agonie oder hilfloser Verzweiflung Selbstmord begehen. Also in einer Anwandlung von Lebensüberdruß, die ihnen das ganze Dasein und auch die Vergeltung sinnlos und nicht der Mühe wert erscheinen läßt. Oder daß sie einen anderen Menschen einfach nicht töten können und wenn es ihr schlimmster Feind ist. Vielleicht erscheint ihnen auch die praktische Ausführung der Tat zu schwierig oder sie fürchten die Strafe Gottes.“ Jendik lachte. „Dann dürften sie auch nicht Selbstmord begehen.“ „Sie vertrauen eben darauf, daß ihnen diese Sünde vergeben wird, weil sie ja nicht aus Lust, sondern aus Leid geschieht.“ „Na, dann Prost!“ Jendik griff nach der Flasche, trank und gab sie Racke. Sie war bald leer. „Da sauf! — Du weißt also nicht, was du an meiner Stelle getan hättest?“ „Ich weiß, was ich nicht getan hätte.“ „Na und?“ „Ich hätte mich unter keinen Umständen aus Haß gegen Hitler vor den Wagen Stalins gespannt. Wenn mir schon die Eselei der nazistischen Gleichschaltung widerlich ist, kann ich erst recht nicht ins Lager der sowjetischen Gehirnverblödung überlaufen. Ich kann auch nicht aus Gegnerschaft gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft der noch viel totalitäreren Gewaltherrschaft des Bolschewismus, aus Haß gegen die nationalsozialistische Justiz der noch ungleich niederträchtigeren Justiz des Sowjetsystems die Welt erobern helfen. Welcher Narr läuft, um dem Regen zu entgehen, unter die Traufe? Und ebensowenig kann ich ein so ungeheuerer Lump sein, mich, ganz gleich aus welcher persönlichen Verbitterung oder weltanschaulichen Ablehnung, auf die Seite jener verlogenen Demokratien zu stellen, die Hitler sagen und ihre Rüstungsgewinne, die Vernichtung unseres Reiches und die Ausplünderung des deutschen Volkes meinen.“ „Wenn ich nicht über die Grenze wäre, hätten sie mich geschnappt. Wenn dich einer aufhängen will, hältst du ihm dann den Hals hin?“ 105
„Nein.“ „Na also. Alles andere ist die Folge davon. Wer ist nun schuld, daß ich nicht deutscher Soldat, sondern polnischer Partisan bin?“ „Konntest du dem nicht ausweichen?“ „Nein. Ich wollte auch nicht. Das deutsche Volk hatte mich ausgestoßen, nun gehöre ich zu denen, die mich auf genommen haben.“ „Nicht das Volk.“ „Jawohl, das Volk!“ Zum ersten Mal klang Jendiks Stimme unversöhnlich wütend. „Denn bis auf die paar hunderttausend persönlich Verfolgter stand es, zum größten Teil zustimmend, auf jeden Fall gehorsam passiv hinter Hitler.“ „Das stimmt. Weil ihm nämlich einerseits die Schreckensseite der Hitlerherrschaft, die sich ja auch erst im Laufe der Jahre stärker entwickelte, entweder nicht zur Kenntnis oder nicht in entscheidendem Maße zum Bewußtsein kam, andererseits aber viele Anschauungen und Ziele auch gut und richtig waren und mit Recht die überzeugte Zustimmung der überwiegenden Mehrheit des Volkes fanden. Weil mit einer so mitreißenden Kraft so beispiellose Leistungen auf materiellem und ideellem Gebiet erzielt wurden, daß sie Anerkennung und naturnotwendig die positive Mitarbeit der Volksmehrheit finden mußten.“ Jendik stieß die Flasche so heftig mit dem Fuße fort, daß sie gegen den Stamm der Föhre gegenüber prallte und in Scherben zerklirrte und sprang wieder auf. Von den Katen herüber klang wütendes Gekläff. Nicht weniger wütend klang Jendiks Stimme. „Aber wie man Hitler und seine Kamarilla vernichten soll, ohne die Mauer zu zerschlagen, die das deutsche Volk, die deutsche Wehrmacht und alles, was dazu gehört, und auch ihr Eisenbahner, teils freiwillig, teils gezwungen um ihn bildet, das weißt auch du nicht!“ Er wandte sich um und stapfte davon, war nach wenigen Schritten in der Nacht verschwunden. Das Feuer war ausgegangen. Es war kein Stern mehr am Himmel und es war kalt geworden. Racke war hundemüde. Es gibt keinen Weg aus diesem Labyrinth, dachte er, stellte sich hinter den Baum, nahm Stiefel und Socken von den Pfosten, ging 106
in die Hütte. Er zog den Mantel aus, um sich mit ihm zuzudecken und warf sich aufs Schilf, schlief ein. Mitten in der Nacht erwachte er halb, fragte, ohne die Augen aufzubringen, schlaftrunken lallend: „Ist jemand da?“ und schlief schon wieder. Sein erster Blick am Morgen fiel auf das Mädchen. Er erkannte es sofort. Es lag an der Türe. Durch ihre Fugen und die Risse der Wände und die offene Luke drang der frühe Tag. Ein leises, gleichmäßiges Geräusch war draußen und auf dem Dach; es regnete. Racke dachte: sie ist sehr schmal und blaß, vielleicht muß sie viel hungern. Er setzte sich auf. Das Schilf raschelte. Das Mädchen öffnete die Augen, sah ihn einen Augenblick stumm an, erhob sich und ging hinaus. „Bleibe hier“, sagte er, „du wirst naß“, und unterstützte seine Worte durch Gesten. Sie kam zurück. Sie war barfuß wie am Tage zuvor und hatte das Kopftuch umgebunden, aber unter der Männerjacke trug sie nun einen alten schlechten Rock, der ihr bis an die Knöchel ging. „Bist du in der Nacht gekommen?“ fragte er; er entsann sich nicht mehr, daß er daran aufgewacht war. „Nie rozsumie.“ Sie verstand ihn nicht. Vielleicht stellte sie sich auch nur so. Hatte sie nicht Augen, die alles zu verstehen schienen? „Wohnst du hier? Oder hat dich Jendik geschickt?“ „Tak, Jendik. Jozef.“ „Warum? — Dlaczego?“ Sie sagte ein paar Sätze. Nach einigem Hin und Her und vielen Gesten glaubte er verstanden zu haben, daß sie eine. Art Schutzengel war für den Fall, daß in der Nacht Partisanen gekommen wären, die nicht von ihm wußten, was Jozef wußte. Er wunderte sich nachträglich, daß er sich ohne Furcht und ohne Mißtrauen schlafen gelegt hatte. Ob Jozef nicht käme? Sie zuckte die Achseln, ging nun doch hinaus, kauerte sich vor den Herd, auf dem jetzt ein kleiner Kessel stand und machte Feuer. Eigentlich hatte sie ein nettes Gesicht. Der Widerschein
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des Feuers überglühte seine Blässe und belebte seine freudlose Verschlossenheit. Racke zog Socken und Stiefel an; sie waren trocken. Er sah ihr durch den Regenvorhang, der vom unregelmäßig überstehenden Rand des Schilfdaches rann, zu. „Wie heißt du?“ fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Er zuckte gleichmütig mit den Achseln. Na, dann nicht! Aber er ärgerte sich doch, daß sie ihren Namen nicht sagte. Verboten war ihr das sicher nicht und verstanden hatte sie ihn bestimmt. Sie blieb neben dem Feuer sitzen, bis das Wasser kochte, dann nahm sie den Topf ab, holte eine kleine Büchse Tee aus der Jackentasche und schüttete davon hinein. Sie hatte auch eine große Emailletasse mitgebracht, alt und zerschunden. Jetzt hätte er gerne den Rest in der Flasche gehabt, die der blöde Kerl — — Er dachte den Gedanken nicht zu Ende, sondern ging hinaus, um nach den Scherben zu sehen und richtig, das untere Viertel der Flasche war ganz geblieben und lag schräg mit dem Boden nach unten an einen Wurzelwulst gelehnt. Der Rest Arrak war noch drin, vielleicht ein bißchen Regen dazu. Man soll nie etwas unversucht lassen, nahm sich Racke für alle Zukunft vor und mischte den Tee mit dem feurigen Getränk. Das Mädchen mußte sich neben ihn setzen — er zog sie einfach her — und mit ihm trinken und von dem Brot mit ihm essen, das noch da war. Er hätte ihr gerne etwas Gutes getan, etwas geschenkt. Er hatte nichts. Es war immer so. Mit wieviel Schicksalen war er in den fremden Ländern schon in Berührung gekommen, oft ganz flüchtig nur, und immer war es ihm gewesen, als sei er für sie alle verantwortlich. Als müßte er alle diese Menschen, deren Lebensschiffchen hilflos im Sturmmeer des Krieges trieben, an der Hand nehmen und hinausretten an eine Stätte, wo Frieden war und keine Not. Und er hatte nichts tun können, als einen Augenblick mit seinem Herzen bei ihnen sein. Er hatte nichts und konnte auch für dieses armselige Geschöpf nichts tun, als von ganzem Herzen wünschen, daß es der wilde Stiefel des Roboterriesen Krieg nicht zertreten möge.
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Er hätte es ihr gerne gesagt, aber sie würde ihn nicht verstanden haben; mit den paar polnischen Vokabeln, die er kannte, war das nicht auszudrücken. Und doch hing ihr Blick ein paar Atemzüge lang mit einem Ausdruck an ihm, als hätte sie ihn auch ohne jedes Wort verstanden. Der Tee war getrunken, das Brot gegessen. Der Regen hatte nachgelassen, hörte auf. Das Mädchen schob Kessel und Tasse neben der Türe unter die Schilfschütte. „Isc“, sagte sie. Das hieß gehen. Racke zog den Mantel an, schnallte um, setzte die Mütze auf, folgte ihr. Jendik war nicht gekommen; vielleicht brachte sie ihn zu ihm. Sie ging nach dem Steg. Da lag das Schlauchboot. Sie paddelte lange neben dem Ufer her. Manchmal sah er eine Hütte liegen, ein paar Schafe weiden, eine Ziege, hörte einen Hund bellen, aber kein Mensch war zu sehen. Das Mädchen bog in eine versteckte tiefe Bucht ein und in ihrem hintersten Winkel, neben der Einmündung eines Baches, stieß sie an Land. Sie stieg aus, um das Boot für ihn zu halten. Er war ungeschickt, das Boot drohte zu kentern. Um nicht ins Wasser zu fallen, stieß er sich ab, erreichte auch das Ufer, aber er riß das Mädchen dabei um und die Leine entglitt ihrer Hand. Schon schaukelte das Boot einige Meter weit ab und die Strömung zog es fort. Racke entschuldigte sich, wollte ins Wasser gehen, um es zurückzuholen. Sie schüttelte heftig den Kopf, rief halblaut, erschrocken: „Nie! Nie!“ schlüpfte aus der Jacke, ließ den Rock fallen, hatte nur einen verflickten Fetzen von Hemd darunter, warf sich flach aufs Wasser und schwamm dem Boot nach. Racke starrte selbstvergessen auf den überschmalen und doch in seinen weiblichen Formen so überraschend süß entwickelten Körper, bis sie das Boot erreicht und sich geschickt hineingezogen hatte, das Paddel ergriff. Da erst drehte er sich fast erschrocken um. Warum schämte er sich? Warum glaubte er, in Gedanken Eva ganz leise um Verzeihung bitten zu müssen? Er ging ein Stück durch das Röhricht, hörte sie kommen, wartete. Sie war noch blasser als zuvor und ihr Mund blau vor Kälte. 109
„Du mußt laufen“, sagte er und machte ihr vor, was er meinte. Dabei hob er die Knie ganz hoch, damit es anstrengte und auch richtig warm machte. Es sah gewiß sehr komisch aus, denn sie lachte, ein kleines schüchternes Lachen. Und sie lief mit ganz kurzen flinken Schritten, er konnte ihr ohne große Eile folgen. Nach zwei, drei Minuten schon hörte sie auf, sie hatte keinen Atem mehr, aber ihr Mund und das Gesichtchen wieder mehr Farbe. Mehr Farbe und mehr Leben als überhaupt, seit er sie kannte; fast so etwas wie eine Spur Heiterkeit. Nach einer halben Stunde stießen sie auf einen Pfad, der nicht nur getreten, sondern ausgerodet und künstlich gefestigt, zum Teil mit Knüppelholz belegt war. Oft federte er unter den Füßen. Die Landschaft war überaus reizvoll. Birken, Erlen und schwarze Moortümpel zwischen Binsen und Sandwellen mit Heidekraut, in der Ferne Hügel und Waldstücke und ein Dorf. Der Fußpfad mündete auf einen Fahrweg. „Tarn“, sagte das Mädchen. Dort, und zeigte den Weg entlang. Er führte einen Hang hinauf und oben hoben sich drei Männer gegen den Himmel ab. Einer von ihnen trug eine Eisenbahnerschirmmütze; das war deutlich zu erkennen. Das waren die beiden Kollegen und Jendik! Racke atmete auf und schritt lebhaft aus. Als er sich zurückwandte, war das Mädchen verschwunden. Er nahm die Hände vor den Mund und rief in der Richtung des im Gehölz sich verlierenden Fußpfades: „Dziekuje, dziewczyno!“ Danke Mädchen. „Dowidzenia!“ Auf Wiedersehn. Er hätte nicht so laut zu rufen brauchen; sie stand ganz nahe, nur ein wenig gebückt hinter einem Strauch. Sie sah ihm mit einem abwesenden Ausdruck in den Augen nach, so lange noch etwas von ihm zu sehen war... Das erste Wort, das aus dem Munde der beiden stoppelbärtigen Kameraden kam, noch während er ihnen die Hände schüttelte, war: „Haben Sie etwas zu rauchen?“ Der Größere in Uniform und mit Mütze hatte ein fast zugeschwollenes Auge, der barhäuptige Kleine eine blutunterlaufene Beule auf dem Schädel und mehrere Risse daneben. Er hatte, wie zu sehen war, den Mantel des anderen an und darunter sahen nackte Füße und Beine in Unterhosen vor.
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Sie nahmen erst ein paar Züge, dann sagte der Kleine: „Ich heiße Stitzenbacher. Betriebsassistent. Und das ist Funke. Ebenfalls. Wir sind ziemlich fertig. Das sehen Sie ja, Herr Inspektor. Also schönen Dank. Man hat uns nämlich gesagt, wir hätten Ihnen unser Leben zu verdanken. Sie hatten uns gestern abend schon die Füße zusammen- und die Hände auf den Rücken gebunden. Was sie mit uns vorhatten, wissen wir nicht. Zum Aufhängen ist das ja nicht nötig. Vielleicht wollten sie uns auch nur einen Schrecken einjagen. Ist ja auch alles gleich. Hauptsache, wir sind da und kommen bald auf die Station und dann ist erst einmal ein Erholungsurlaub fällig.“ Sie setzten sich in Marsch, denn der Bauer war, als Racke näher gekommen, schon vorausgegangen. Es war nicht Jendik. Racke bedauerte Stitzenbacher der nackten Füße wegen. Der meinte zufrieden: Sie seien zwar wundgelaufen, aber glücklicherweise sei ja der Boden hier überall weich, und ins Leben zurück würde er über Glasscherben gehen. Wie er denn ihre Freilassung fertigbekommen habe? fragte Funke. Er habe eigentlich nichts dazu getan, das habe ein Partisan gemacht. Nun ja, weil ihm eine Anzahl Polen zu verdanken hatten, daß sie nicht auch gehängt worden seien. Die beiden sagten nichts dazu. Sie wußten, wie es einem zum Tode Verurteilten vor der Hinrichtung zu Mute ist. Sie redeten von jetzt an überhaupt fast nichts mehr. Sie hatten mit sich selbst zu tun, um ihr seelisches Gleichgewicht wieder zu finden. Sie waren schwach und mußten bald eine Rast machen. Man hatte ihnen am Morgen nur ein Stück nasses, schimmeliges Brot gegeben, vorher überhaupt nichts, seit sie weggeschleppt worden waren. Sie waren ziemlich weit weg von der Station auf einen riesigen Kahn gebracht worden. Man hatte ihnen die Hände zusammengeschnürt und die Augen verbunden. Wenn ihr schreit, habt ihr ein Messer zwischen den Rippen, wurde ihnen gedroht. Sie hatten sich gehütet, auch nur den Mund aufzumachen. Etwa nach einer Stunde schon waren viele Menschen gekommen und ein ständiges Hin und Her gewesen. Es sei nur geflüstert, aber viel gepoltert worden, und der Kahn habe unaufhörlich geschaukelt. 111
Plötzlich war es still und der Kahn fuhr. Später hatte man ihnen die Binde abgenommen; es war Nacht geworden. Nur ein paar Frauen waren auf dem Kahn, nicht ein einziger Mann, aber er war so beladen, daß er fast bis an den Rand im Wasser lag. Beute aus dem Verpflegungszug natürlich, das war ihnen klar. Eine der Frauen hatte ein Gewehr und die trieb sie dann, als der Kahn in der Morgendämmerung nach einer schauderhaften Kreuz- und Querfahrt endlich an Land stieß, noch stundenlang meist ohne Weg und Steg vor sich her. Dabei waren sie keinem Menschen begegnet. Auf einmal waren ein paar Bretterbuden dagewesen, einen Meter über dem Boden auf Pfahlgerüsten gebaut, auf allen Seiten Wasser und Sumpf. Das Weib hatte sie in eine der Hütten gebracht, in der es gestunken hatte von Fäulnis und Moder und war verschwunden. Bald darauf waren ein paar Kerle gekommen, richtige Räubergestalten. Einer von ihnen hatte sie ausgefragt. Lauter Dinge hatte er wissen wollen, die sie selbst nicht wußten. Sie hatten abwechselnd erzählt. Wie es auf der Station weitergegangen war, hatte Racke gleich anfangs berichtet. Jetzt drängte der Bauer zum Weitergehen. Es ging vom „Weg, an dessen Ende ein Dorf auftauchte, in nordwestlicher Richtung ab auf einer getretenen Fährte, die bald in ein ganzes Dutzend auseinanderlief. Das Gelände senkte sich, Wassergräben kamen, Sumpfmulden, Lachen und Schilfseen. Manchmal dachten sie, sie gingen im Kreise und suchten nach ihren Fußtapfen, ohne sie zu finden. Ein rasch strömendes Flüßchen kam. An einem Pflock lag ein alter Kahn ohne Sitze; zwei lange Stangen lagen drin und handhoch bedeckte Wasser den Boden. Ihr Führer stieg hinein, Funke folgte, ohne zu zögern. Seine Knobelbecher waren wasserdicht. Stitzenbacher bekam von der Vorfreude auf das kalte Dauerfußbad schon Schüttelfrost und Racke wußte, daß es ihm nicht viel besser gehen würde. Er würde die Reitstiefel nach Hause schicken zum Salongebrauch und von jetzt ab die Skistiefel mit den kurzen Wickelgamaschen tragen. Er war aber nicht gesonnen, vielleicht stundenlang im Wasser zu stehen. Sein Bedarf an diesem Vergnügen war gedeckt. „Czekaj!“ rief er dem Bauern zu. Warte! — zog sein Messer, schnitt Röhricht, Stitzenbacher warf es armweise Funke zu und der
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schichtete es in der Kahnmitte zu einem Rost, bis der so hoch war, daß man trocken auf ihm stehen konnte. Wieder ging es scheinbar kreuz und quer und im Kreise herum. Nach Stunden tauchte über das Moor hinweg ein breiter Flußlauf auf, dem sich der Bach, in dem sie nun trieben, in sanftem Bogen näherte. Schließlich war nur noch eine schmale, nach der Spitze zu ansteigende, mit alten Kiefern und jungen Erlen sich verschönende Landzunge zwischen den beiden Gewässern. Der Pole trieb den Kahn an Land, rammte die Stange flußabwärts tief in den Grund und bedeutete ihnen auszusteigen, folgte ihnen aber nicht, sondern drückte das Fahrzeug schleunigst wieder ab, es mit aller Kraft flußaufwärts stakend. „Verflucht nochmal!“ schimpfte Stitzenbacher. »Jetzt geht uns der Kerl durch die Lappen!“ „Natürlich!“ lachte Racke. „Oder haben Sie geglaubt, er würde uns bis zum nächsten Galgen begleiten?“ „Sie haben eine Pistole! Schießen Sie ihn doch nieder!“ „Fällt mir gar nicht ein. Erstens wäre das undankbar und zweitens habe ich nicht die geringste Lust, mich, und vielleicht noch ein paar Kameraden dazu, morgen oder übermorgen durch Heckenschützen umlegen zu lassen.“ Funke stimmte Racke entschieden zu. „Es ist auch gar nicht sicher, ob der Bauer selber Partisan ist. Vielleicht wurde er nur gezwungen, uns hierherzubringen.“ Der Pole rief ihnen etwas zu. „Patrol policyjny“, verstand Racke Das hieß sicher Polizeipatrouille. „Wann kommt sie? Stunde? Godzina?“ „Niewiem“. Weiß nicht. „Jeden? Dwa? Try?“ Der Pole zuckte nur die Achseln. „Dzisiaj? Heute?“ „Tak, tak! Dzisiaj — jutro.“ Wir sollen hier auf die Wasserpolizei warten“, erklärte Racke. „Prima“, sagte Stitzenbacher und freute sich. „Wann kommt sie?“ Es war dieselbe Frage, die Racke an den Bauern gerichtet hatte. Und er gab dieselbe Antwort: „Weiß nicht. Heute — morgen.“
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Stitzenbacher war wütend. „Was? Morgen? Da können wir ja vollends verhungern!“ Funke sagte: „Wäre unangenehm, aber besser, als im Moor ersäuft zu werden“, und Racke fügte hinzu: „Verhungern tut man nicht so schnell, außerdem ist es trotz der anfänglichen Qual ein leichter Tod. Und man braucht bis zum letzten Atemzug die Hoffnung nicht aufzugeben, daß der liebe Gott noch rechtzeitig seinen Raben schickt.“ „Dann schaun wir eben, daß wir zu Fuß hier wegkommen.“ „Ich habe leider nicht gelernt, übers Wasser zu gehn“, antwortete Racke trocken. „Oder glauben Sie, daß wir nur hinten herum einen Umweg zu machen brauchten? Lieber Mann, hinter uns ist Sumpf und Wasser und wieder Sumpf und noch einmal Wasser.“ Stitzenbacher ließ den Kopf hängen. Auch Funke. Racke konnte ihren Mägen die Enttäuschung nachfühlen. Trotz der nahrhaften Abendmahlzeit und des Frühstücks knurrte ja auch der seine sehr deutlich. Eine heiße Kohlsuppe wäre jetzt ein Labsal gewesen. Er tröstete. „Es braucht ja nicht Tage, es kann auch nur Stunden oder Minuten dauern. Und vielleicht können wir Fische fangen.“ Jetzt lachten die beiden andern. Ruhig erklärte Racke: „Wir flechten aus Binsen eine Reuse. Dann haben wir auch gleich einen Zeitvertreib.“ Zunächst gingen sie bis zur Spitze der Landzunge vor. Hinter ihnen verschwand eben der Kahn mit dem Bauern um die Biegung des Zuflusses. Alles niedrige Wachstum war noch naß vom Regen in der Frühe und es sah so aus, als ob es bald wieder anfangen würde, aber Schilf, Binsen, Röhricht und das Gezweig der Föhren waren vom Winde getrocknet. Sie schnitten und schichteten sich zunächst ein dickes Lagerpolster, bauten aus dicken Weidenruten und Erlenstangen eine Art Kuppelgerüst darüber, über das sie noch ein Schilfdach decken oder die Mäntel legen konnten, falls es zu regnen begann. Dann beschlossen sie, sich vor weiteren Taten erst einmal gründlich auszuruhen. Der Fluß war breit, aber das andere Ufer war deutlich zu sehen. Welcher es war, wußten sie nicht. Auch ein kleines Boot würde trotz des lehmfarbigen Wassers bis hinüber zu erkennen sein, außerdem hörte man den Motor. Auch drüben am Land waren 114
weit und breit weder Weg noch Steg, noch Mensch noch Vieh, noch eine einzige Wohnstätte zu erkennen. Und nun fing der Regen wirklich an. „Auch das noch“, maulte Stitzenbacher. „Aber man bekommt wenigstens keinen Sonnenbrand.“ Der Regen hatte jedoch noch eine unangenehme Seite: er verschleierte die Ferne immer mehr, sie versank allmählich bis fast zur Flußmitte herüber. Kam jetzt da draußen das Polizeiboot vorbei, würden sie es wahrscheinlich nicht mehr sehen und vielleicht auch nicht hören können, weil das Rauschen des Regens im Verein mit dem Plätschern und Gurgeln der Wasserstrudel das Motorgeräusch verschlingen würde. „Rauchsignal“, sagten sie alle drei wie aus einem Munde. Sie schnitten und schleppten schleunigst einen Berg Rohr und Schilf herbei, zündeten mit Hilfe ihres trockenen Lagerbestandes einen kleinen Scheiterhaufen an und warfen alle paar Minuten einen Arm voll von dem halbnassen und nassen Zeug darauf. Unten war Glut, die bis über ihr Lager hin Wärme gab und darüber stieg weiß und grau eine dicke Qualmsäule auf, wurde in geringer Höhe vom Winde niedergedrückt und als gewaltige Rauchfahne quer über den Fluß getrieben. „Wie Schiffbrüchige!“ stellte Stitzenbacher ganz vergnügt fest, bediente den Scheiterhaufen und brüllte von Zeit zu Zeit: „Schiff ahoi!“ auf den Fluß hinaus. Die beiden anderen holten nun Binsen und begannen zu flechten, aber sie erkannten bald, daß allerhand dazu gehörte, um eine Art Reuse zustande zu bringen und daß es wahrscheinlich erst zu einem Weihnachtskarpfen reichen würde. Über seinem Jungenspiel war Stitzenbacher der fröhlichste von ihnen geworden. „Ein Dutzend Brote und Fleischbüchsen, ein paar Flaschen Schnaps und tausend Zigaretten, dann kann's meinetwegen noch drei Tage dauern.“ Sie waren allmählich gesonnen, ein Schläfchen zu machen und hatten eben beschlossen, eine Feuerwache einzuteilen, als hinter ihnen eine tiefe Stimme erklang: „Das ist ja eine recht merkwürdige Eisenbahnerstation hier!“ Ihre Köpfe fuhren herum. Da stand ein Mordskerl in der Racke bekannten Uniform. Der Wassermüller war es nicht, aber beinahe sein Doppelgänger. Zwei Schritte schräg hinter ihm hob sich der 115
Kopf eines zweiten über das Schilf und so heiter sie selbst, so ernst schienen ihre schußbereiten Maschinenpistolen gestimmt zu sein. „Goldecht!“ schrie Stitzenbacher und fiel dem Großen fast um den Hals. Die Pistolen verschwanden. „Habt ihr Betriebsausflug oder seid ihr desertiert.“ „Nein, entlassen. In Gnaden entlassen von den Partisanen.“ „Donnerwetter — jetzt geht mir ein Licht auf! Ihr seid die beiden Verschleppten von Nowy Wiezyczy! Aber der dritte?“ „Das ist unser Befreier.“ „Wie ging denn das zu?“ Jetzt antwortete Racke: „Das erzählen wir Ihnen besser auf dem Boot. Oder seid ihr heute durch die Luft gekommen?“ „Sehen Sie sich um!“ Da trieb wahrhaftig das Motorboot, der ,Hecht', auf Armlänge lautlos am Ufer. Nein, es trieb nicht. Das Boot lag still, von einem Polizisten mit einer Art langen Enterhaken am Ufer festgehalten. Zwei andere Polizisten sahen ihnen mit einem Maschinengewehr zusammen aus dem gedeckten Raum freundlich entgegen. Als sie die Rauchwolke gesehen und ihre Herkunft festgestellt hatten, war der Motor abgestellt worden. Die zwei waren ausgestiegen, sobald es möglich war, und neben dem mit der Strömung treibenden Boot am Ufer hergegangen; sie mußten ja damit rechnen, daß es sich um eine Falle handelte, weil das Feuer an so ausgesetzter Stelle und mit einem solch auffallenden Aufwand an Rauch unterhalten wurde. Natürlich konnte es sich auch um ein Verständigungszeichen für andere Partisanen handeln oder eben um ein Notsignal. Auf dem Boot gab es handfeste Dinge zu essen und zu trinken. Es gab auch zu rauchen. Man saß trocken und warm. Die Erde war ein Paradies! Der Bootskommandant nahm ein Protokoll auf. Zwei Stunden später stiegen sie nach geräuschvoll herzlichem Abschied beim Lanübergang aus. Die Brücke war fertig, eben fuhr langsam ein Zug darüber, Richtung Heimat. Von Dieselramme und Pionieren war nichts mehr zu sehen. An jedem Ende stand ein Wachtposten; sie machten große Augen über Stitzenbachers 116
Aufzug. Auch die beiden andern sahen nicht aus, als ob sie aus einem Herrensalon kämen und zu einem Klamottenappell unterwegs wären. Zwanzig Minuten später lag der Bahnhof vor ihnen. Als sie sich den beiden Kaminen, dem davorstehenden Wohnwagen und dem mit rußender Lok auf dem Überholungsgleis wartenden Zug näherten, stellte Schepperl eben die Weiche und das Signal auf Fahrt. Hinten stand Liebedorn und hob den Befehlsstab, ganz wie auf seinem Heimatbahnhof, nur die rote Mütze fehlte, dafür hatte er eine prächtige Armbinde. Die Lok pfiff und hustete ein paar Mal, stieß dicken Dampf dazu aus und die Räder begannen zu rollen und zu hacken. „Seid ihr auf der Walz?“ schrie der Lokführer zu ihnen herunter und über seine Schulter wurde auch das kohlenschwarze Heizergesicht sichtbar. Sie winkten lachend hinauf und dann Wagen für Wagen den Soldaten zu, die nach diesem originellen Eisenbahnertrio vergnügt die Hälse reckten. Jetzt sah sie Schepperl. Erst riß er nur den Mund auf, doch dann sagte er klar und mit Nachdruck: „Ja mi leckst.“ Und dann machte er kehrt und brüllte, weil es der Liebedorn sonst nicht gehört hätte und der Glück im Dienstraum erst recht nicht: „Da schaug her Sigi! Pfeigroad kimmta, da Deifi, da geschwoin! Hanse! Schau aussa!“ Es fiel ihm gar nicht etwa ein, zu warten und die Ankömmlinge zu begrüßen. Er stapfte vor ihnen her, ohne sich noch umzusehen. Aber Liebedorn lief ihnen entgegen und Glück kam heraus und als sie den Wagen betraten, hatte Schepperl schon sechs Stamperl gefüllt. „Prost gsuffa!“ sagte er. „s“ Kaibi wird hernach gfressn.“ Und dann tröstete er die beiden Abgebrannten über den Verlust ihrer Habe mit Redensarten, über die sie auf dem Totenbett noch hätten lachen müssen. Das Kleeblatt war am Abend von Pinsk gekommen. Nicht als neumodische Seefahrer, sondern, wie es sich für einen Eisenbahner gehört, mit einer Kastendraisine, in der ein ganzer Stab hoher Herrn an die Stätte des Dramas gefahren war. Seit Mitternacht rollte der Verkehr wieder. Anfänglich hatte man immer drei Züge hintereinander auf Sicht fahren lassen, um überhaupt 117
erst einmal Luft zu bekommen. Und Richtung Front war natürlich vorgegangen. Seit dem frühen Vormittag ging alles wieder ordnungsgemäß, nur in dichterer Folge und schon in ein paar Stunden würde man wieder auf dem Laufenden sein. Daß einer in der Nacht mal irgendwo etwas zu erledigen hatte und mit irgendeiner Ausrede verschwand, sei ja kein Grund zu besonderer Besorgnis, wenn er sich anschließend beim Sanitäter melde, meinte Liebedorn anzüglich, aber als der hohe Herr Inspektor auch im Laufe des Vormittags nicht wieder auf der Bildfläche erschienen sei, hätte er den wieder abrückenden Kollegen aus Luniniec den Auftrag gegeben, ihn als vermißt zu melden. Wenn er nicht immer davongelaufen, sondern bei ihnen geblieben wäre, hätte er auch nichts versäumt. „O doch“, sagte Racke. „Sehr interessante und lehrreiche Erlebnisse, die ich nicht missen möchte. Und wir alle die Bekanntschaft mit Funke und Stitzenbacher.“ „Weil wir dann nämlich nicht mehr am Leben wären“, erklärte Funke. Zunächst wurde die Nachricht von der Rückkehr aller drei nach Luniniec telefoniert, von dort lief sie weiter durch den Draht nach Minsk zur Haupteisenbahndirektion Mitte und nach Warschau zur Betriebsleitung Osten. Von der H. B. D. wurde ein genauer schriftlicher Bericht innerhalb 24 Stunden angefordert. Funke und Racke machten sich seufzend an die Arbeit, Stitzenbacher in großer Form ans Erzählen. Es war eine schwierige Sache, denn zum Zuhören stand ihm längere Zeit jeweils nur einer, die andern nur minutenweise zur Verfügung. Minsk ließ ihnen mitteilen, daß für Stitzenbacher eine vollständige Uniform und für alle beide dreimal neue Wäsche bereits unterwegs sei. Auch die Ersatzbeschaffung für die persönlichen Verluste werde man ihnen erleichtern. Von einer Reihe benachbarter Bahnhöfe brachten die Lok- oder die Zugführer der nächsten Züge Eßwaren, Trinkwaren und Rauchwaren als Spenden der Kameraden für die Feier der glücklichen Heimkehr. „Eisenbahnern sollte man das gar nicht zutrauen“, sagte Stitzenbacher. Aber als Schepperl auf ihn losfuhr und fragte: „Wos host gsagt? Mir epper a net?“ da gab er klein bei und nahm sich vor, die Kameradschaft der Eisenbahner 118
untereinander in Zukunft nicht geringer einzuschätzen, als die anderer. Sie schwelgten wie Fürsten, bis ihnen die Müdigkeit die Augen schloß. Auch noch in der Nacht machte das Kleeblatt den Dienst allein und lange vor Morgen kam ein Anruf, den Schepperl abnahm. „Ich möchte Inspektor Racke sprechen“, sagte eine rauhe Stimme. „Der schlaaft“, antwortete Schepperl kurz. „Wie bitte?“ „Er schlä — ä — ft!“ verpreußte Schepperl grimmig. „Können Sie ihn nicht wecken?“ Aha! Können Sie... da war also keine vorgesetzte Dienststelle am Apparat. „Naa,“ sagte er grob. „Wie bitte?“ „Nei — i — n!“ „Dann richten Sie ihm folgendes aus —“ Schepperl unterbrach: „Gehn's weita. I hob itza ka Zeit net. Rufens halt späta no amoi an.“ „Wie bitte?“ „Noch — ein — mal — an — ru — fen — sol — len — Sie!“ „Das kann ich nicht. Hören Sie zu, es wird Sie auch interessieren.“ „Oiso, was gibt's?“ „Sagen Sie dem Inspektor, der schwere Zusammenstoß sei nicht beabsichtigt gewesen. Der leere Hilfskrankenzug war erst eine Stunde vorher abgestellt worden. Wir hatten angenommen, das Überholungsgleis sei frei und hätten dann an der Ausfahrweiche zwischen die abstehende Weichenzunge und die Backenschiene ein Schienenstück eingeklemmt, damit die Lokomotive die Weiche nicht einfach aufschneiden konnte, sondern entgleisen mußte. Bei der voraussichtlichen mäßigen Geschwindigkeit hätte ja dabei kaum viel passieren können. Es war dann aber zu spät, um den Anschlag noch absagen zu können. Die Leute hätten sich auch nicht mehr davon abbringen lassen; dazu war die ganze Sache zu groß aufgezogen.
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Tausende hungerten, sie mußten zu essen haben — — Hallo! hören Sie noch?“ „Jawoi.“ „Haben Sie alles verstanden?“ „Naa. Ja. Verstand'n scho. Wer spricht denn dort?“ „Jendik.“ „Was hoaßt Jendik? Bist eppa a Partisan?“ „Du merkst auch alles.“ „Ja, wie kimmst denn du in d'Leitung eini? Du Hadalump, nixiga!“ Ein schallendes Gelächter antwortete. Der Schepperl ging auf, lief rot an und seine Faust umkrallte den Hörer, wie wenn es die Gurgel seines Gesprächspartners wäre. „Sie! Do gibt's fei gor nix z' lacha! Moanst eppa, i laß mi dableck'n? Gäh hera, boist wos magst! Du Saggramenta, du windiga, stinkata, gschissna, vareckta!“
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6. KAPITEL
Es war Oktober geworden. Die Front war immer weiter ostwärts gerückt. Die Eisenbahn mußte nach. Ihre Aufgabe wuchs sprunghaft ins Gigantische. Sie zu meistern erschien unmöglich. Und doch erstand, als besäßen die Organisatoren in den Haupteisenbahn- und Feldeisenbahndirektionen, als besäßen die Leiter der Außendienststellen, der Bahnmeistereien und Betriebsämter Zauberstäbe, in Tagen neues Leben aus der Zerstörung. Die rollenden Räder überwanden alle Hindernisse. Mitte September hatten sich die deutschen Armeen Brückenköpfe über den Dnjepr erkämpft. Während noch um Kiew gerungen wurde, stießen nach der Schlacht bei Gomel frei gewordene starke deutsche Kräfte nach Süden. Sie reichten einer anderen Kräftegruppe, die beiderseits Krementschug, schon 250 Kilometer ostwärts der Hauptstadt der Ukraine, auf einer Breite von 120 Kilometern den gewaltigen Fluß überschritten hatte und nach Norden geschwenkt war, die Hand. Damit schloß sich ein feuerspeiender Ring um vier Sowjetarmeen; sie wurden in den folgenden Tagen vernichtet. Noch war Kiew nicht gefallen, als am 18. September bereits Poltawa, 300 Kilometer weiter ostwärts, eingenommen wurde; doch herrschten im Raume der ukrainischen Metropole chaotische Zustände. Verzweifelte Ausbruchsversuche scheiterten, zu Zehntausenden liefen die roten Soldaten zu den Deutschen über. Die Riesenschlacht war Ende September beendet, die Zahl der Gefangenen ungeheuerlich: 665.000. Fünf Armeen vernichtet, 884 Panzerkampfwagen und 3.718 Geschütze erbeutet. Zur selben Zeit standen deutsche und italienische Verbände schon nordostwärts Dnjepropetrowsk und vernichteten weitere 3 Divisionen. Auf der Verfolgung der geschlagenen Armeen ging es unaufhaltsam dem Raume von Charkow zu. Im Süden wurde das Asowsche Meer erreicht, Melitopol fiel. Da begann auch schon, 121
am 2. Oktober, der große Durchbruch im Mittelabschnitt; acht Tage später waren bei Wjasma und Briansk mehrere rote Armeen eingeschlossen. Vom Asowschen Meer bis hinauf zum Waldaigebirge, auf einer Breite von über 1.100 Kilometern war die deutsche Front im Vormarsch, die neuen Kessel von Briansk und Wjasma sich selbst überlassend. Ein Strom von 500.000 Gefangenen ergoß sich aus ihnen nach Westen; und damit belief sich die Gesamtzahl der in deutsche Hände gefallenen russischen Soldaten und Offiziere auf drei Millionen. Leningrad war eingeschlossen. Der Ring um Moskau zog sich enger zu; Kalinin und Kaluga wurden genommen. Orel und Kursk im Mittelabschnitt, Charkow und das Donezbecken im Südabschnitt waren die nächsten Ziele des deutschen Vorstoßes. Und diese vorwärtstreibende Front schrie nach der Eisenbahn. Dem unersättlichen Moloch, der ungeheure Massen an Menschen und Material fraß, mußten die Nachschubbasen nachgerückt werden. Unaufhörlich war ihm der Rachen zu stopfen mit Proviant, Waffen, Munition, Treibstoff. Und mit Reserven, mit Soldaten. Ohne Bahn ging das nicht. Stalin hatte unliebenswürdigerweise seinem Widerpart Hitler keine Autobahnen zur Verfügung gestellt. Die bespannten und die motorisierten Nachschubkolonnen des Heeres und der Luftwaffe versanken im Sand oder blieben im Morast stecken. Die Achsen brachen, die Motoren erlagen der Überanstrengung. Und die russischen Truppen hatten ihren Verfolgern, die russischen Eisenbahner ihren anrückenden deutschen Kollegen gleich unliebenswürdigerweise auch kein guterhaltenes Eisenbahnnetz, keine brauchbaren Bahngebäude und Betriebseinrichtungen für einen ungehemmten Friedensbetrieb vom Rhein bis zum Dnjepr hinterlassen, sondern fortgeschleppt, was sie konnten und zerstört, was nicht oder nicht mehr fortzuschleppen gewesen war. Genau so unfreundlich war es von den deutschen Eisenbahnern, daß sie wie mit Herkulesbesen den rollenden Rädern Gassen bahnten durch die Zerstörung, über Nacht kleine Übergänge flickten, kilometerweit neue Geleise legten und ohne Telefon und ohne Signale, ohne Betriebsgebäude und ohne Unterkünfte Züge fuhren in immer weitere Bezirke des russischen 122
Raumes. Breitspur zunächst mit russischem Material. Güterwagen aller Art waren in großer Menge unbeschädigt oder wenig beschädigt vorhanden. Mit ihrer Zerstörung hatte sich der Gegner nicht lange aufgehalten. Wo keine Lokomotiven vorhanden sind, fahren selbst die besten Wagen nicht. Aber es fanden sich doch noch eine ganze Anzahl, die einen ersten Nachschubbetrieb bis hinter die Front ermöglichten. Dann waren auch schon die Umspurzüge da und im Stundenkilometertempo nagelten die Bauzugrotten, allmählich verstärkt durch Hunderte von Einheimischen, die russischen Gleise von 1,524 m Spurweite auf 1,435 um. Dabei mußten viele morsche Schwellen ausgewechselt werden. Umpreßzüge waren ebenfalls schon zur Stelle, um die Achsen der russischen Wagen und auch der Draisinen auf deutsche Regelspur umzupressen. Es gab wohl keinen, weder bei den militärischen Transportdienststellen, noch bei den Reichsbahnämtern selbst, der die eisenbahntechnische Eroberung der neuen Gebiete so umfassend erlebte, an so viel Strecken und Orten, auf so vielen frontnahen Betriebsspitzen und Baustellen mit eigenen Augen sah, selbst miterlebte, manchmal für Stunden nur, manchmal tagelang, wie der Sonderbeauftragte Inspektor Günther Racke. Er lag mit den Feldeisenbahnern am Rande des Kessels von Briansk, stieß auf einem erbeuteten russischen Panzerzug mit einer Handvoll Draufgänger einer Eisenbahnpionier-Kompanie in einen Bahnhof vor, der noch in russischer Hand war, wodurch die Abfuhr einer langen Kette von Lokomotiven und die Zerstörung der Betriebseinrichtungen verhindert wurden. Er gelangte mit der Kraftwagenkolonne eines Eisenbahnpionier-Bataillons hinter der dröhnenden Front nach Norden und an der Strecke SmolenskMoskau zum Kampfgebiet bei Wjasma. Er staunte über die Ausrüstung. Man hätte glauben können, einen Treck verschiedener Industriewerke vor Augen zu haben. Da gab es Dieselrammen, Brückenkräne, elektrische Holzbohrmaschinen, Aggregate, Drucklufterzeuger, Aufreißhämmer, Bohrhämmer, Kraftsägen, Feldschmieden. Und was er nicht sah, erfuhr er in der Unterhaltung mit Mannschaften und Offizieren, die den blauen Eisenbahner mit Verwunderung, mit Glossen und doch mit Achtung und kameradschaftlicher Freude aufgenommen hatten. 123
Er erlebte einen überraschenden Luftangriff auf einen parkenden Pioniermaschinenzug, dem ein Drittel der Mannschaft und die Hälfte der Ausrüstung zum Opfer fiel. Er geriet mit einer Stahlbaukompanie, die dabei war, neben einer erst am Vortage gesprengten Brücke zunächst eine Behelfsbrücke zu bauen, in einen Feuerüberfall russischer Ferngeschütze. In Fußmärschen, auf PKW und LKW, auf Panjekarren schlug er sich neben dem verwüsteten Bahnkörper her wieder rückwärts durch zu den oft auf freier Strecke liegenden Ausladespitzen. Dort wurden Rampen und Lagerschuppen gebaut, auch an den Umschlagplätzen vor und hinter zerstörten Fluß- oder Straßenübergängen. Man baute sie möglichst dort, wo Wald bis an die Gleise reichte, oder günstige Umstände für künstliche Tarnung gegeben waren. Auch auf den Bahnhöfen, in denen von Normal- auf Breitspur und umgekehrt gewechselt werden mußte, waren sie notwendig. Er war dabei, wo die Stellwerksanlagen zerstörter Bahnhöfe neu gebaut, erste Signalanlagen wieder geschaffen, wo Wassertürme, Wasserkräne und Pumpstationen wieder brauchbar gemacht oder durch behelfsmäßige Einrichtungen ersetzt wurden. Er erlebte den Beginn des Aufbaues der Betriebsanlagen, der Betriebswerke und Bahnmeistereien, der Ausbesserungswerke, der Lok- und Wagenfabriken, die Tätigkeit der Betriebsämter, Maschinenämter und Werkstättenämter bei Grau und Blau. Er lag bei den Gleisbauzügen, den Weichenbauzügen, den Telegraphenbauzügen auf der Strecke, suchte die Umpreßzüge und die Werkstättenbauzüge auf, sah Tausende von Händen bei der Arbeit, und es waren dennoch nicht genug. Was an Betriebsstoffen, Werkstoffen, Werkzeugen, Geräten, Ersatzteilen vorgefunden und im Lande selbst beschafft werden konnte, war ein Nichts, gemessen am Bedarf. Und was über den Instanzenweg aus der Heimat kommen sollte, kam und kam nicht oder in völlig unzureichender Menge. Und doch wuchs allenthalben neues Leben aus den Ruinen. Züge fuhren, oft in tagelangen Pausen, oft einer hinter dem andern. Was gab es für Hindernisse, auch dort, wo die Fahrstraße in Ordnung war! Breitspurmaterial verstopfte Bahnhöfe, Bauzüge die Ausweichgeleise, die Strecke selbst. 124
Entgleisungen waren an der Tagesordnung. Zerstörte Lokomotiven, Personen- und Güterwagen säumten den Bahnkörper. Deutlich erkennbar waren die Übergänge vom wilden Betrieb nach Maß der frontnahen Gegebenheiten zum geordneteren, verbesserten und vermehrten, noch weiter rückwärts zum fahrplanmäßig geregelten Betrieb. Deutlich erkennbar war auch von vorne nach hinten die Zunahme der Spannungen zwischen militärischen Transportdienststellen und den Eisenbahnern beider Farben. Je näher am Feind, um so größer das gegenseitige Verständnis, die Berücksichtigung der höheren Gewalt, der Ausschlag des Praktikers, je weiter zurück, um so unnachgiebiger die Kommandantur des grünen Tisches. Rackes Geist füllte sich mit Eindrücken, sein Notizbuch mit Aufzeichnungen. Das Wetter hatte sich wieder gebessert, die Nächte waren kalt geworden. Man fing an zu frieren. In Smolensk erfuhr er beim Stabe der Feldeisenbahndirektion 2 von einer Betriebsleiterbesprechung, die von der Betriebsleitung Osten nach „Warschau einberufen war; es sollten alle Umstände erörtert werden, die zu den Beanstandungen höheren Orts führten und Möglichkeiten beraten werden, der Schwierigkeiten besser Herr zu werden. Er beschloß an ihr teilzunehmen, denn sie würde nicht nur im Hinblick auf seine besondere Aufgabe überaus wichtig, sondern überhaupt eine Fundgrube beruflichen Wissens und beruflicher Erfahrung für ihn sein. Außerdem freute er sich darauf, bei dieser Gelegenheit seinen Vater wiederzusehen und vielleicht auf dem Rückweg mal zu den Dreien in Wiezyczy hineinzuschauen. Sogar Jendik und das Mädchen und ein Spaziergang ins Moor spukten in seinen Gedanken herum. Fünf Wochen etwa lag jenes Ereignis zurück, aber es schien ihm ebensoviele Monate her zu sein; dennoch stand es in seiner Erinnerung klarer vor ihm als alles bisher Erlebte. Was wohl los war mit dem Kleeblatt? Glück hatte ihm nicht gefallen. Als Funke und Stitzenbacher tatsächlich in Urlaub gefahren waren, hatten sie sich von Glück nicht verabschieden können; er war verschwunden gewesen. Nachher hatte er Augen gehabt wie ein armes, hungriges Kind, wenn es eines, dem es besser geht, Schokolade essen sieht. Und als Schepperl zu ihm 125
gesagt hatte: „Di dafrißt es no ganz“, war Glück aufgesprungen und in die Nacht hinausgelaufen. Racke war ihm nachgegangen. Im strömenden Regen war er weitab an den Schienen gelegen und hatte geheult und geschrien und mit den Fäusten auf die Schwellen getrommelt. Vielleicht würde ihn auch einmal Schepperls und Liebedorns Kameradschaft nicht mehr halten können, dann aber war er reif für das Erschießungskommando, mindestens für die Strafkompanie. Und für einen, der einfach davonlief, würde man nichts tun können. Wo Bunz jetzt war und wie es ihm ging, wußte er auch nicht. Er hatte ihn nirgends gefunden und auch nirgends etwas über ihn erfahren können, vielleicht hatte es ihn schon erwischt, ehe der Versetzungsbefehl gekommen war. Racke nahm sich vor, von Minsk aus über Wolkowysk— Bialystok zu fahren, um auch diese Strecke kennen zu lernen. Als er bei Morgengrauen in Baranowicze ankam, war sie gesperrt. Kurz vor Polanka war ein Kohlenzug auf eine Mine gelaufen. So fuhr er eben doch über Brest-Litowsk. In Zabinka wurden noch einige Wagen angehängt. Auch Feldgendarmen stiegen zu. Vor der Einfahrt in Koszytowo blieben sie liegen. Plötzlich gab es Lärm. Schüsse fielen. Racke öffnete das Fenster. Er sah einen laufen, auf eine Häusergruppe zu, die unweit zwischen Bäumen lag. Wenn er sich nicht täuschte, war es ein Eisenbahner. Hinter ihm her rannten, haltschreiend und knallend, zwei Feldgendarmen. Der Zugführer kam aufgeregt am Zug entlang. „Was ist denn los?“ rief ihm Racke zu. „Das weiß ich auch nicht“, antwortete der Graubart. „Ich weiß nur, daß der Teufel los ist, wenn ich hier warte, anstatt meine Fahrzeit einzuhalten. Die müssen eben mit dem nächsten Zug nach Brest weiterfahren.“ Er sah ihnen unentschlossen nach. „Ist die Gendarmerie dort stationiert?“ fragte Racke. „Ja.“ Der Verfolgte verschwand eben beim ersten Haus. Die Einfahrt wurde frei. Die Lokomotive pfiff durchdringend. Die Gendarmen kehrten sich nicht daran, liefen weiter. Der Zugführer hob schon die Hand mit der Pfeife, da hatte Racke das Trägheitsmoment 126
überwunden, sagte rasch: „Warten Sie noch eine halbe Minute, Kollege. Ich will aussteigen. Lassen Sie, bitte, mein Gepäck in Brest zum Bahnhofsvorstand bringen.“ Er packte Mütze, Mantel, Koppel, machte, daß er hinauskam. Die Lok pfiff schon wieder wütend, der Zug rollte an, der Zugführer kletterte hinauf. Racke schlüpfte in den Mantel, schnallte um, lief den beiden Feldgrauen nach. Als er um das erste der Häuser bog, kamen sie schon wieder zurück, den Verfolgten in der Mitte. Sie hatten ihn im Polizeigriff, sein Gesicht war verzerrt, auf seinem Munde stand Schaum. Es war Glück. Racke ahnte, was geschehen war und suchte nach einer Rettung. Langsam ging Racke auf die drei zu, grüßte und sagte in einem Tone, als fiele ihm ein Stein vom Herzen: „Gut, daß ihr ihn habt.“ Jetzt erst schien Glück ihn zu erkennen, starrte ihn an, als sehe er ein Gespenst, fing wie ein Kind zu weinen an. „Ha no!“ sagte der eine der Feldgendarmen mißbilligend. Racke zwinkerte ihm bedeutungsvoll zu: „Mein Kollege ist schwer nervenleidend. „Wir sind eben auf dem Weg zum Facharzt in Warschau.“ „Ach so — o — “ antwortete der Obergefreite mit dem Gendarmenschild an der Kette auf der Brust, „'s isch wohl e Schreible locker?“ Racke fiel ein Stein vom Herzen, er drehte sich ein wenig ab von Glück, nickte kurz und legte dabei den Finger auf den Mund. Der wackere Schwabe begriff. „Isch 'r Ehne durchgange?“ fragte er halblaut. „Er war mal verschwunden“, sagte Racke, „aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich bin nur froh, daß ihm bei der Schießerei nichts passiert ist.“ „Mir henn bloß onser Pflicht to“, entgegnete der Obergefreite. „Wie mr d' Babier verlangt henn, isch er auf ond davo.“ „Natürlich, es trifft Sie gar kein Vorwurf. Ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen. Aber wer denkt denn an so etwas!“ „No kenne mr'n jo wieder loslasse“, meinte der andere der Feldgendarmen, also auch ein Schwabe. „Aber 'n Bericht miess mr scho mache.“
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„Sell scho“, nickte der Obergefreite. „Derf e mol om Ihre Ausweis bitte?“ sagte er zu Racke. „Selbstverständlich“, antwortete Racke sehr freundschaftlich und sehr kameradschaftlich. „Aha“, stellte der Gendarm fest, „Sie kenne jo nafahre, wo Se wellet. Henn Se au n' Ausweis für da andere?“ „Sie nehmen's gründlich!“ lachte Racke. „Aber Sie haben recht. Der Ausweis für den ändern bin ich selbst. Wenn sie Bedenken haben, wird Ihnen das die Direktion in Brest bestätigen.“ „Von mir aus isch des net nötig. Aber 's ka nadierlich sei, daß mei Scheff den Fall näher ondersuche will. Wo macht denn der do Diensucht?“ „In Nowy Wiezyczy.“ Die beiden erinnerten sich. Das war ja eine elende Sauerei gewesen. Sie glaubten gerne, daß da einer die Nerven verlor. Auf dem Weg zum Bahnhof und auf der Fahrt nach Brest erzählte ihnen Racke alle Einzelheiten und sie gingen als gute Kameraden auseinander. Glück hatte kein Wort gesprochen, immer nur vor sich hingestarrt. „Machen Sie jetzt keine Dummheiten mehr“, sagte Racke und gab ihn in die Obhut einiger Kollegen, die den Assistenten von seiner Brester Dienstzeit kannten, sah nach seinem Rucksack, der mit den noch herumgelegenen Sachen richtig abgegeben war, dann ließ er sich beim Amtsvorstand melden und sprach längere Zeit unter vier Augen mit ihm. Das Ergebnis war eine Anweisung, Glück dem Amtsarzt vorzuführen. Bahnhof Nowy Wiezyczy wurde auf einigen Umwegen telefonisch über den Verbleib des Assistenten Glück verständigt. Eine anschließende Unterredung mit dem Kommandeur der Feldgendarmerie ergab, daß unter diesen Umständen natürlich zu Weiterungen keine Veranlassung bestand. Der Amtsarzt in Brest wollte die Verantwortung nicht übernehmen, weil es sich gewissermaßen um einen Präzedenzfall handle. Racke mußte Glück mit nach Warschau nehmen zum militärischen Facharzt für Nervenleidende. Sie standen auf dem Bahnsteig und warteten auf den Zug. „Das war eine große Dummheit“, sagte Racke und es klang nicht gerade freundlich. Es war Nachmittag geworden und bis er die 128
Geschichte mit Glück in der Klinik erledigt hatte, würde die Betriebsleiterbesprechung wahrscheinlich schon zu Ende sein. Glück zuckte die Achseln. Nachdem er in der Nacht abgelöst worden war, hatte es ihn plötzlich so gepackt, daß er ein Stück an den Schienen entlang gegangen war, ohne eine klare Vorstellung, wozu. „Und vor Partisanen hatten Sie keine Furcht?“ „Es war mir alles gleich.“ „Und dann stiegen Sie einfach in den ersten, besten Zug, der Richtung Heimat fuhr! Dachten Sie nicht daran, daß Sie irgendeinmal kontrolliert werden würden und daß es dann aus mit Ihnen war?“ „Ich klammerte mich an den Gedanken, daß ich als Eisenbahner vielleicht unbehelligt durchkäme bis nach Hause.“ „Und wenn! Das hätte doch auch nur kurze Zeit dauern können!“ Glück schwieg. Natürlich war es verrückt. Aber schon wochenlang war er versucht gewesen davonzulaufen; er war einfach nicht mehr dagegen angekommen. Einer, in dem es nicht gerade so aussah wie in ihm, konnte das natürlich nicht begreifen. Racke war unerbittlich. „Und die Sorge Schepperls und Liebedorns, daß Sie verschleppt worden wären, war Ihnen auch egal? Und das Geschrei bei den Wehrmachtstellen: Die Eisenbahner laufen davon, wie's ihnen gerade so paßt! Und der Makel auf dem blauen Tuch!“ In Glücks Gesicht zuckte es heftig, dann wich die Erregung dem Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit. Er kämpfte eine Weile mit sich, dann sagte er leise: „Ich fahre zurück.“ „Das geht nicht mehr. Nun müssen wir bei der Nervenkrankheit bleiben. Und was käme auch schon dabei heraus? Über kurz oder lang liefen Sie wieder fort und dann wäre ich bestimmt nicht noch einmal da, um Sie herauszulügen.“ Der Zug kam. „Also, passen Sie auf, Glück! Ich werde mit dem Arzt reden. Vielleicht sieht er ein, daß man einen seelisch so kranken Menschen nicht von zu Hause losreißen kann und veranlaßt Ihre Zurückversetzung nach Halle.“ Der Arzt sah es nicht ein. 129
„Wo kämen wir hin, wenn wir jeden krank schreiben oder nach Hause schicken wollten, der Angst oder Heimweh hat?“ „Das kann man natürlich nicht, Herr Oberstarzt. Glück ist aber ein Sonderfall. Er hat durchaus keine Angst, im Gegenteil, und sein Heimweh ist nicht das Heimweh, das jeder Gatte und Vater hat. Diesen Menschen verzehrt eine krankhafte Sehnsucht, die ihn völlig unzurechnungsfähig macht. Er bedeutet seines Zustandes wegen auch eine ständige Gefahr für den Verkehr. Geschieht durch sein plötzliches Versagen ein Unglück, dann trägt nicht er die Verantwortung, sondern wir, die es dabei bewenden ließen. Man kann ihn vielleicht bestrafen, aber das macht weder die eventuellen Toten wieder lebendig, noch ersetzt es den materiellen Schaden. Oder er legt sich eines Tages auf die Schienen. Dann muß er auch durch einen anderen ersetzt werden, kann aber nicht an dessen Stelle den ebenso nötigen Dienst in der Heimat tun.“ „Würde man solchen Erwägungen Raum geben“, erwiderte der Arzt, „dann müßte man jeden Drückeberger nach Hause schicken. Das würde die Auflösung der Front bedeuten. Denn jeder anständige Soldat oder Eisenbahner würde mit Recht sagen: Fällt mir auch nicht ein, den Kopf hinzuhalten, wenn es so ein Tropf nicht zu tun braucht. Ein Krieg verlangt nun einmal das im Einzelfall mehr oder weniger große Opfer persönlichen Glücks und man kann sich noch glücklich schätzen, wenn es dabei bleibt, wenn man nicht auch noch die gesunden Glieder oder das Leben hingeben muß. Ich würde ein Unrecht an der Gesamtheit der Einberufenen begehen, wenn ich einzelne irgendwelcher Depressionen wegen von ihrem Einsatz entbinden wollte. Seelische Depressionen sind kein Nervenleiden, das die Kriegsverwendung ausschließt. Im Sinne Ihres Kollegen sind Hunderttausende leidend. Er kann sich noch glücklich schätzen, Eisenbahner zu sein und dadurch der Einberufung zur Wehrmacht entgangen zu sein.“ „Ich teile Ihre Auffassung vollkommen, Herr Oberstarzt. In Lebensgefahr befindet sich allerdings hier im Osten auch der Eisenbahner draußen auf der Strecke oder in kleinen, militärisch nicht oder ungenügend geschützten Bahnhöfen ständig. Wenn ich Sie dennoch nochmals bitte, schicken Sie meinen Kollegen für 130
einige Zeit nach Hause, so geschieht es, weil ich weiß, daß dieser Entschluß nicht nur seine seelische Gesundung nach sich ziehen wird, sondern eben auch, wie gesagt, für die Sicherheit des Verkehrs hier notwendig und für seine Heimatdienststelle nutzbringend ist.“ „Sie sind ein geschickter und zäher Anwalt“, sagte der Oberstarzt, halb erheitert, halb verärgert. „Also gut. Vierzehn Tage Erholungsurlaub; anschließend ein halbes Jahr Dienst in der Heimat; dann erneute Untersuchung durch den zuständigen Sanitätsoffizier.“ Glück war wie verwandelt. „Bis das halbe Jahr um ist, ist der Krieg aus!“ flüsterte er. Seine Augen glänzten unter den schwarzen Brauen und langen schwarzen Wimpern wie im Fieber. Gut, daß ihn der Arzt so nicht mehr sieht, dachte Racke, sonst würde er wahrscheinlich erklären „Simulant“ und seinen Entschluß rückgängig machen. „Nun sagen Sie ja nicht wieder, daß Sie ein Pechvogel seien“, knurrte er ihn an. „Heute haben Sie das verwirkte Leben geschenkt bekommen.“ „Ja. Sogar in doppeltem Sinne“, erwiderte Glück. „Ich werde Ihnen das nie vergessen. Und jetzt werde ich's auch ganz anders anpacken daheim.“ „Man möchte es Ihnen glauben“, sagte Racke. „Ich werde mich freuen, wenn ich Sie mal in herzhafterer Verfassung wiedersehe.“ Glück rannte zur Straßenbahn, um zum Bahnhof zu fahren. Sein Gepäck würde er sich nachschicken lassen. Racke fuhr zur Betriebsleitung Osten. Die Konferenz ging dem Ende zu. Amtmann Racke war in den Park gegangen, um frische Luft zu schöpfen; er hatte sich schon den ganzen Nachmittag nicht wohlgefühlt. Günther beschloß, nach dem Vater zu sehen, weil ihm sowieso peinlich war, jetzt noch bei den hohen Herren hineinzuschneien; er mußte sich eben mit dem Protokoll begnügen. Sie beschrieben ihm den Weg. Bei gutem Wetter sitze der Herr Amtmann oft dort über die Mittagszeit; auch andere Beamte und das weibliche Personal ergingen sich gerne in den Anlagen. Es war einer jener letzten schönen Abende, die ein schon dem Winter zuneigender Herbst zu verschenken hat. Baumwipfel und 131
Buschwerk und die gefallenen Blätter auf Rasenflächen und Wegen leuchteten in Gold und Rot. Das Licht der Abendsonne lag in breiten Streifen zwischen den langen Schatten der Stämme. Der Park war nur mäßig belebt und Günther sah seinen Vater schon von weitem auf einer Bank sitzen. Er hatte die Mütze neben sich gelegt, das Koppel über die Lehne gehängt, den Mantel geöffnet. Seine Hände lagen auf den Knien, sein Gesicht war der Sonne entgegengehoben. Günther blieb zwischen hohen Ziersträuchern stehen und sah glücklich auf das friedliche Bild. In einer heißen Aufwallung überströmte seine ganze Liebe zum Vater sein Herz. Wie mit einem Bande fühlte er sich, seit er selbst zum Manne gereift war, mit ihm verbunden. Lächelnd sah er über das weite Rondell auf den Menschen, der ihm der nächste war von allen auf der Welt. Wie ein Gelübde stieg mächtiger als je der Wunsch in ihm auf, das Alter des Mannes, dem er das Leben verdankte und der seit dem frühen Tode der Mutter nie wieder ganz vom Schmerze gesundet war, von Kummer frei und von Freuden froh zu machen. Ein paar Polen schlenderten drüben den Weg daher, an der Bank vorbei. Günther dachte eben etwas besorgt, die gefallen mir nicht, als der letzte der kleinen Gruppe sich plötzlich umwandte, mit einem Griff das Koppel an der Bank packte, die Pistole herausriß und mehrere Schüsse auf den friedlich Sitzenden abgab. Noch ehe sich der Schrei verspäteter Warnung und des Schreckens aus Günthers Kehle gerungen hatte, sah er den Vater langsam umsinken, von der Bank gleiten und regungslos liegen bleiben, während der Mörder Koppel und Pistole wegwarf und im nächsten Augenblick, seinen Begleitern gleich, in einem dichten Gehölzstreifen verschwand. Günther zog noch die Pistole, aber es war zu spät und die Entfernung auch zu groß. Mit weiten Sprüngen setzte er über den Rasen, legte die Pistole aus der Hand, warf sich neben dem Vater auf die Knie. Der alte Racke lag auf dem Gesicht. Er drehte ihn vorsichtig um, unter halb niedergesunkenen Lidern starrte ihn das Weiß gebrochener Augen an. Aus dem in jähem Schmerz geöffneten Munde troff schaumiges Blut.
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Günther Racke hob den Kopf. In der Ferne waren noch ein paar aus Angst flüchtende Frauen und Kinder zu sehen. Er allein konnte den schweren Mann nicht fortschaffen. Er wollte eben Alarmschüsse abgeben, als zwei Offiziere, die Pistolen in den Händen, auf dem Parkweg eilig näherkamen, von der anderen Seite her donnerte eine Beiwagenmaschine quer durch Dick und Dünn: drei Mann grüne Polizei. Beifahrer und Sozius hatten die Maschinenpistolen im Anschlag. Der Sozius flankte vom Sattel. Noch ehe ein weiteres Wort gefallen war, sagte er kurz „Sanitätswagen!“ und die Maschine stob mit den beiden andern wieder davon. „Wie war das?“ fragte der Polizeimeister. Günther Racke schilderte kurz den Vorfall; er kniete noch immer. Inzwischen waren die beiden Offiziere auch da. „Wollen Sie nicht aufstehen?“ sagte der alte Hauptmann. „Er ist doch wohl tot? Höherer Reichsbahnbeamter, wenn ich mich nicht irre?“ Günther gehorchte und gemeinsam legten die vier den leblosen Körper auf die Bank. „Sie sind ja ganz weiß im Gesicht“, sagte der Hauptmann. „Sind Sie etwa verwundet?“ „Nein.“ „Ach so — der Schreck. Kennen Sie den Herrn?“ „Es ist mein Vater.“ Günther schluckte. Die Tränen vermochte er zurückzuhalten, aber seine Stimme schwankte. „Oh — das tut mir leid.“ Beide Offiziere und der Polizeimeister legten die Hand an die Mütze. Racke machte noch die weiteren erforderlichen Angaben, der Streifenführer notierte, dann holte er das Koppel, die Pistole wickelte er vorsichtig ein, steckte sie in seine Manteltasche. Hier könne er nichts mehr tun, er wolle gleich den Fluchtweg der Verbrecher feststellen. Günther zeigte ihm die Richtung. Ob er wünsche, daß sie noch hier blieben? fragte der Hauptmann. Nein, danke. Es sei nicht nötig. Und nun war Günther Racke wieder allein mit der Leiche des Vaters. Er sah auf ihn nieder, wunderte sich, daß er hatte 133
sprechen können, daß er, bis auf den dumpfen Druck im Kopf, so ruhig dastand, als gehe es um irgendeine dienstliche Sache. Gewiß, er hatte schon viele Tote gesehen, in Polen und Frankreich, in Serbien, Griechenland und nun hier im Osten, aber das hier war sein Vater! Und dennoch hatte ihn schon jene Starre ergriffen, die wie eine Art automatischer Selbstschutz das Herz gegen die ständige Erschütterung durch die Bilder des Schreckens und des Todes feit. In diesem Augenblick empfand er instinktiv die Gefährdung, die Zertrümmerung des menschlichen Mitempfindens überhaupt durch den allen im Kriege Stehenden obliegenden Zwang, sich an Qual und Tod anderer zu gewöhnen, um der Selbsterhaltung willen. Um nicht seelisch zusammenzubrechen. Die Polizeikraftfahrer kamen zurück. Racke schickte sie ihrem Führer nach. Kurz darauf schaukelte das Sanitätsauto über den Rasen. Im Lazarett wußte Günther nach zehn Minuten, daß sein Vater einen Herzschuß, einen Lungensteckschuß und einen, infolge innerer Verblutung ebenfalls tödlichen Bauchschuß hatte. Er telegraphierte dem Bruder. Dann saß er noch lange an der Leiche und dachte über die Heimtücken des Schicksals nach. Wäre Glück nicht davongelaufen oder hätte er ihn einfach den Folgen solchen Irrsinns überlassen, dann würde der Vater noch leben, denn dann wären sie schon seit den Morgenstunden zusammengewesen und er wäre nicht allein in den Park gegangen. In der Nacht ging Günther Racke zur Wohnung des Vaters. Da waren sie vor sechs Wochen noch guter Dinge zusammengesessen. Des Krieges Mühlen mahlten rasch und grob. Er packte die Sachen des Vaters und dabei löste sich die Starre des Gemüts. Immer wieder liefen ihm Tränen über die Wangen und immer wieder mußte er aufhören, weil ihn das Schluchzen zu sehr schüttelte. Am anderen Tage leitete er die Überführung ein. Der Vater sollte seine letzte Ruhestätte nicht im Lande des unversöhnlichen Hasses, sondern im Familiengrab in der Heimat haben. Den Rest des Tages verbrachte Günther über dem Protokoll der Betriebsleiterbesprechung und den Eintragungen in sein Notizbuch. Am Nachmittag wurde im Amt eine Trauerfeier für den 134
Ermordeten abgehalten. Wolf Dieters telegraphische Antwort kam. Er lag an Ruhr im Lazarett in Krementschug und war noch nicht reisefähig. Am späten Abend wurde der mit Kränzen bedeckte Sarg verladen. Alle Kollegen gaben ihm das Geleit, auch Vertreter der militärischen Transportdienststellen. Eine Nacht, einen Tag und noch eine Nacht machte der technische Reichsbahnamtmann Karl Racke die letzte Fahrt auf den stählernen Straßen, die sein Leben bedeutet hatten, und in deren Dienst er es nun lassen mußte. An seiner Seite saß der junge Inspektor Günther Racke und bewegte in seinem Herzen die Tragödie des menschlichen Daseins. Er begriff nicht, daß sie die Menschen nicht größer und brüderlicher machte, nicht auf der ganzen Welt zusammenschweißte zu einer gegen Krieg und alles Unglück überhaupt verschworenen Gemeinschaft! Die Beisetzung fand in aller Stille statt, wie es immer des Vaters Wunsch gewesen war. Seit man die Mutter zur ewigen Ruhe gebettet hatte, hatte er gewußt, daß es für die nächsten Angehörigen eines Verstorbenen nichts Qualvolleres gibt, als die Zeremonie seiner Beerdigung. In der Stunde, in der man sein Haupt verhüllen, in der man sich selbst mit seinem Leid im dunklen Schoße der Erde bergen möchte, muß man wie am Pranger stehn und ungeschützt tausend glühende Pfeile des Schmerzes erdulden. Aber neben Günther stand nur die Schwester und ein Häuflein naher Verwandter und Freunde. Sie hielten sich an den Händen, fühlten den Toten in ihrer Mitte und ließen ihre Tränen fließen. Ein Männerquartett sang die trostvolle Weise „Wie sie so sanft ruhn...“ Vor Günthers innerem Gesicht standen die Bilder des Grauens und Sterbens der Front. Der Geistliche betete ohne Worte und alle standen schweigend vor dem Geheimnis Gottes und der schwarzen Pforte der Ewigkeit. Schon am Tage darauf fuhr Günther Racke nach Warschau zurück. Er hatte wohl daran gedacht, zu Eva zu fahren, hatte aber keine dienstliche Berechtigung dazu, er wollte auch nicht mit seiner Trauer, wollte nicht im Chaos seiner Empfindungen jenes Wunder der Seligkeit erleben, das sie ihm nach ihrer Krankheit verheißen hatte.
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Zwei Wagen des Wehrmachtszuges waren mit Eisenbahnern aller Kategorien besetzt. Grau herrschte vor. Racke belegte zwar für die Nacht einen Platz in der zweiten Klasse, hielt sich aber während des Nachmittags bei den Kameraden der nicht polsterklasseberechtigten niederen Dienststufen und Dienstgrade auf. Zwischen der Stimmung, aus der und mit der er kam, und der Stimmung, in die er kam, war ein solcher Gegensatz, daß alles Weiche und Nachdenkliche in ihm überrannt und fortgerissen wurde. Es herrschte ein rauhfröhlicher Ton; man hätte meinen können, sie führen alle einem handfesten Vergnügen entgegen. Hier hätte Glück mal ein wenig Anschauungsunterricht nehmen können! Auch diese Männer wären, ein paar jugendliche Abenteurer ausgenommen, sicher lieber in ihren Ehebetten oder bei ihren heimischen Junggesellenbräuchen geblieben. Auch hier klopfte wohl manches Herz hinter der lauten Männlichkeit trüb und schmerzlich und widerwillig gegen die Brust. Aber da der Mensch — überall auf der Welt — nun eben einmal ohne Möglichkeit einer Auflehnung vom Willen und der Macht des Staates vergewaltigt wurde, hatte es keinen Sinn, sich's durch Kopfhängen und Klagelieder selber noch schwerer zu machen. Eine ganze Reihe Eisenbahnpioniere waren da. Sie waren alle gediente Soldaten; Racke kannte einen Teil ihrer Formationen ja schon vom Fronteinsatz her, nun lernte er sie nachträglich theoretisch noch umfassender kennen. Was gab es da neben den allgemeinen Baukompanien alles für Spezialeinheiten: Stellwerks , Stahlbau-, Wasserbau-, Seilbahn-, Nachrichtenkompanien. Abends hatte man sich noch als ziviler Eisenbahner schlafen gelegt und am Morgen hatte man den Gestellungsbefehl in der Hand und war Soldat. In Langenberg im Rheinland waren Ende Februar 1940 als letzte die vier Betriebskompanien zusammengestellt worden. Man hatte zwar darauf geachtet, nach Möglichkeit die Dienstgrade entsprechend dem Vorgesetztenverhältnis im Bahndienst auszusuchen, aber das war nur teilweise möglich gewesen. Man hatte auch auf ungediente Eisenbahner zurückgreifen müssen und so herrschte der eigentümliche, sich oft höchst komisch auswirkende Umstand, daß zum Beispiel ein Inspektor, der als Lokdienstleiter eines Betriebsamtes vorgesehen war, ganz gewöhnlicher Landser, 136
einer seiner Lokführer aber Unteroffizier und ein Heizer sogar Feldwebel war. Andererseits war bei dieser Eisenbahnertruppe auch eine ganze Reihe Nichteisenbahner, soweit die Männer nur in Schreibstuben und Küchen, als Bahnunterhaltungsarbeiter oder Handwerker eingesetzt waren. Im übrigen stammten sie aus allen Gauen des Reiches. Die Spitze des Ganzen war der Befehlshaber der Eisenbahnpioniertruppe beim Oberkommando des Heeres, genannt Bedeis, ihm unterstanden die Gruppenkommandeure bei den Heeresgruppen, genannt Grukodeis, diesen die Kommandeure der den einzelnen Armeen zugeteilten Eisenbahnpionierregimenter, genannt Kodeis. Langenberg war eine große Scheiße gewesen. Stroh auf den Holzböden ehemaliger Eisenbahnwerkstätten - das war das Quartier. Die kurze militärische Ausbildung fand bei den Neulingen in diesem Dienstzweig selbstverständlich kein Wohlgefallen, abgesehen von der lebenswichtigen Unterrichtung und Übung in Gebrauch und Pflege der Waffen. Ende März kam man nach Rüdesheim in Privatquartiere und gleich sah das Leben wieder ganz brauchbar aus, zudem war Frühlingsanfang. Mit der militärischen Fortbildung ging die fachliche Hand in Hand. Neben dem soldatisch Formalen, ohne das es keine Freude am eigenen höheren Dienstgrad gäbe, wurde auch etwas Kampf- und Körperertüchtigung exerziert, Verladeübungen wechselten mit Alarmübungen ab. Am 10. Mai, als die Welt in Blüten ertrank, waren sie verladen worden und über Trier an die luxemburgische Grenze gerollt. „Es ist so schön, Soldat zu sein, Rosemarie“, hatten sie gesungen, der eine mit unternehmungslustigem Gemüt, der andere mit bedenklichen Trau-schau-wemVorbehalten und alle zusammen hatten es gesungen nicht des Soldatseins, sondern der Rosemarie wegen. Es war nichts passiert. Die Kompanie des Eisenbahnpioniers und außerplanmäßigen Inspektors Georg Blümlein hatte die Strecke Wasserbillig-Luxemburg-Kleinbettingen betrieben, bis sie von blauen Eisenbahnern abgelöst worden war. Im Februar des neuen Jahres, das nun schon wieder zu Ende ging, mußte ‚umspuren' geübt werden. Von Normalspur auf Breitspur und zurück natürlich. Hm — dachten sie. Parolen liefen um am 137
laufenden Band. Der Balkanfeldzug begann und am 11. Mai ging die Reise nach Ostpreußen. Siehste woll! Auf dem Bahnhof eines kleinen Ortes, der nur aus einem riesigen Rittergut mit Molkerei und einem Haufen Katen bestand, wurde ihr Wohnzug abgestellt. Flüchtlinge aus den baltischen Staaten berichteten von dem furchtbaren Los der estnischen, lettischen und litauischen Bevölkerung unter dem bolschewistischen Mord- und Verschleppungsterror, von ihrer letzten Hoffnung auf Befreiung durch die Deutschen. „Seit einem Jahr bereiten die Russen bei uns den Krieg gegen euch vor“, sagten sie. „Wollt ihr warten, bis sie in Deutschland einfallen?“ Am 21./22. Juni begann der Krieg gegen die Sowjetunion. Am 22. brachten LKW die Eisenbahnpionierkompanie Surfleisch über Insterburg nach der Festung Dünaburg in Lettland. Surfleisch hieß der Chef, der aber zugleich Hauptmann d. Res. war und diesen Dienstgrad mit der äußeren Haltung eines Kommandierenden Generals und dem dienstlichen Gebaren eines eingefleischten Rekrutenschleifers bekleidete. Sie setzten hinter der kämpfenden Truppe her die Bahnstrecken instand, durchfuhren bald darauf in einem russischen Wohnzug eine der Grenzpforten ins Paradies der Werktätigen, und machten so viel Nachschubbetrieb wie möglich. Nowo Sokolniki, wo sie mangels Kohlen Schneezäune und Schwellen in den Lok verbrannten, Welikie Luki, wo von einer Eisenbahn nicht einmal mehr eine Schraube zu entdecken war, und die Zeit südlich des Ilmensees waren die wesentlichsten Erinnerungen dieses ersten Einsatzabschnittes. Vor ihnen hatte unablässig die Front rumort. Ende September wurden sie von Feldeisenbahnern abgelöst und nach dem Mittelabschnitt in Marsch gesetzt. Das war nicht so mir nichts-dir nichts Richtung Süden möglich. Auf einem Riesenumweg über Ostpreußen erreichten sie endlich Lublin, mußten in Chelm noch warten und rollten dann ratenweise, mal Normal-, mal Breitspur, über Schepetowka - Berditschew Kasatin - Fastow, über das ganze rückwärtige Gebiet der Heeresgruppe Süd nach Krementschug und von dort über Lochwiza nach Gadjatsch. Dort sollte Umschlagbetrieb gemacht und der Nachschub auf Kolonnen- und Panjefahrzeugen rund 80
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Kilometer nach Achtyrka gebracht werden zum Weitertransport mit der Bahn nach Charkow. Sie waren aber vier Wochen unterwegs gewesen, inzwischen hatte die Regenzeit eingesetzt und die Wege zwischen Gadjatsch und Achtyrka waren grundlos geworden. Mit Lasten war überhaupt nicht mehr durchzukommen, der Plan mußte aufgegeben werden. Man schickte sie nun über Bachmatsch nach Woroschba-Belopolje und sie machten Breitspurbetrieb zwischen Woroschba und Darniza, dem Umschlagbahnhof ostwärts der großen zerstörten Dnjeprbrücke bei Kiew. Das alles erfuhr Racke bruchstückweise von Eisenbahnpionier Blümlein, dem lebendigen Sachsen, und von Feldwebel Huckle, dem schwäbischen Lokführer, mitten im allgemeinen Unterhaltungslärm des Wagens. Dazwischen erschallte Musik. Eine Zither war da, ein halbes Dutzend Mundharfen. Sie sangen. Volksweisen, Soldatenlieder, Tanzschlager bunt durcheinander und, etwas weniger laut, ein paar Schweinereien. Dann kamen Witze. Zoten. Und dann die Erlebnisberichte. Wenn man sie so hörte, war Casanova ein Waisenknabe gegen sie gewesen. Racke wußte, daß das meiste erfunden oder anderen Sexualmaulhelden nacherzählt war. Die international besetzten Orgien, deren Zuschauer sie in Paris oder Brüssel oder in Kaschemmen gewesen sein wollten, hatten nie oder höchstens in pornographischen Büchlein oder auf pornographischen Zeichnungen stattgefunden. Die braunen, schwarzen, blonden und roten Madeleines, Raymondes und Jacquelines von Paris und Le Havre waren nie serienweise in ihren Landserarmen gelegen. Wenn schon der eine oder andere von seinem Junggesellenrecht Gebrauch oder einen unerlaubten außerehelichen Seitensprung gemacht hatte, so hatte doch wahrscheinlich keiner von allen mehr erlebt, als man in irgendeiner großen Stadt Deutschlands genau so erleben konnte. Die überwiegende Mehrheit dieser biederen Deutschen war, genau so wie er, weder zur sexuellen Ausschweifung veranlagt, noch überhaupt ernstlich in der Treue zu ihrem Weibe, ihrer Braut oder Freundin in der Heimat gefährdet. Es wurde Abend, es wurde verdunkelt. Die Beleuchtung war schwach, es wurde stiller und die Luft schlechter. 139
Racke ging in seinen Wagen. Im Abteil war nur noch ein ergrauter Hauptmann, dem viele Sorgen im Gesicht standen. Racke zog den Rock und die neuerstandenen, garantiert wasserdichten, auf Kosakenart mit weitem, weichen Schaft gearbeiteten Stiefel aus und legte sich schlafen. Besser als ausgestreckt auf der Polsterbank konnte man gar nicht liegen. Der gut federnde Wagen schaukelte ihn wohlig ein, obgleich nun, nachdem es still um ihn geworden war und er sich wieder in seine Gedanken und Empfindungen versenken konnte, der Verlust des Vaters sein Gemüt noch immer mit einer ungewöhnlichen Schwere belud. Nur scheu umschmeichelten seine Gefühle das Bildnis der Geliebten, als strafte das Glück der Liebe im Grunde seines Herzens seine Trauer um den Toten Lügen. Günther Racke schlief und weder das Halten, noch das Anfahren, weder das Ausrufen der Stationen, noch das Schlurfen schwerer Schritte, Türenknallen und Gepäckgepolter konnten ihn völlig wecken. Sein Bewußtsein kam nie bis an die Oberfläche, es dämmerte nur ein wenig herauf aus dem dunklen Schoße des Schlafes, um alsbald wieder verlöschend in ihm zu versinken. Als er dann ohne erkennbaren äußeren Anlaß erwachte und die Augen öffnete, schloß er sie sofort wieder. Träumte er? Unsinn! Selbstverständlich träumte er nicht. Er öffnete die Augen wieder und setzte sich auf. „Guten Morgen, Herr Inspektor.“ Racke gab Glück die Hand: „Nun sagen Sie bloß, Mensch, wo kommen Sie her?“ „Von Halle.“ „Richtig, da wohnen Sie ja.“ „Wohnte“, antwortete Glück. „Nicht mehr? Wo wohnen Sie jetzt?“ „Nirgends. Und überall.“ „Und wo fahren Sie hin?“ „Nach Nowy Wiezyczy.“ Racke sah sein Gegenüber prüfend an. Der Gedanke streifte ihn, daß es mit Glück wirklich nicht ganz geheuer war. Der aber sah völlig klar und überlegen ruhig aus. Er zeigte weder das einstige Gepräge dumpfer Schwermut, noch den fast hektischen Frohsinn, der ihn vor wenigen Tagen in Warschau so verblüffend 140
und eigentlich auch in krankhafter Art verändert hatte. Man sah jetzt erst, wie hübsch das Gesicht war und ein ganz neuer Zug zeichnete es um Augen und Mund. Er war nicht leicht zu deuten. Etwas verächtlich Spöttisches mit frivol Sinnlichem gemischt. Ein gefährlich interessanter Zug für Frauen, mußte Racke denken. Sein Blick schweifte zum Gepäcknetz. Glück war tatsächlich feldmarschmäßig ausgerüstet. Er hatte außer einem großen Koffer noch einen Akkordeonkasten und einen dick gepackten Rucksack bei sich. Daß er sich's, ohne dazu berechtigt zu sein, in der zweiten Klasse bequem gemacht hatte, sprach auch für einen gründlichen Wandel seines Wesens. Zögernd sagte Racke leise: „Machen Sie schon wieder Unsinn? Sie haben doch erstens vierzehn Tage Krankheitsurlaub und zweitens —“ Glück machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und erwiderte heiter: „Ist alles überflüssig geworden. Ich bin bereits geheilt. Ein bißchen Roßkur, aber sie hat geholfen.“ Racke zog die Brauen zusammen, weil der andere wirklich robust gesund geworden zu sein schien. Die offenbar vergnügliche Roßkur des Reichsbahnbetriebsassistenten Glück hatte aber den Reichsbahnamtmann Racke das Leben gekostet. Allerdings, dachte Günther einschränkend weiter, war der Vater häufig in jenen Park gegangen und wäre vielleicht eben ein andermal das Opfer eines nationalistischen oder kummunistischen Meuchelmörders geworden. Glück sah die Verstimmung in Rackes Gesicht und ohne zu ahnen, welch tieferen Grund sie hatte, wurde er unsicher. Mit einem Seitenblick auf den grauhaarigen Hauptmann, der, in die andere Ecke gedrückt, mit vornübergesunkenem Kopf und hörbar rauhem Atem schlief, sagte er halblaut: „Ich weiß, ich habe Ihnen viele Umstände und großen Ärger gemacht und jetzt denken Sie, es wäre alles nicht nötig gewesen. Aber glauben Sie mir, es war nötig. Meine irrsinnige Liebe und Sehnsucht hätte mich um ein Haar den Kopf gekostet. Aber das ist vorbei. Ich bin endgültig fertig damit, bin wieder ein Mann wie jeder andere. Das habe ich Ihnen zu verdanken und werde es nie vergessen.“ Racke zündete sich eine Zigarette an. Jetzt fiel Glück der schwarze Flor auf. „Haben Sie Trauer?“ fragte er. 141
„Ja, mein Vater“, sagte Racke kurz. Sonst nichts. Es war ihm zu schmerzlich zu erzählen. Glück aber schien erzählen zu wollen, zögerte jedoch mit einem wiederholten Seitenblick auf den Offizier in der Ecke, der aufzuwachen schien. „Wir können ja ein bißchen in den Gang gehen“, schlug Racke vor und tat es. Glück folgte ihm. Wie laut hier das Brausen des Zuges war! Der Morgen dämmerte. Sie standen dicht nebeneinander am Fenster und starrten hinaus. Sie waren in Polen. Glück sagte: „Ich war darauf gefaßt, einen andern bei meiner Frau zu finden. Es war noch — anders. Sie war ohne mein Wissen ausgezogen und führte im Hause eines berüchtigten Nachtlokales einen — hm — einen Club. Verstehen Sie? Sexuelle Gesellschaftsspiele. Ich hatte es instinktiv schlau angefangen, ohne Lärm hineinzukommen. Ein Mädel aus dem Lokal unten nahm mich mit hinauf. Was ich dann eine Zeitlang unbemerkt mit ansah, nun, das eben war die Roßkur. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis ich meine süße Hella herausgefunden hatte.“ Glück schwieg, drückte die Stirne gegen die kalte Scheibe und schloß die Augen. Bisher hatte er in gleichmäßig ruhigem Tone gesprochen. Als er wieder zu reden begann, geschah es sehr leise und sehr langsam. „Ich habe keinen Skandal gemacht. Nicht geschrien, nicht geschossen. Ich fühlte gar keine Ursache dazu, weder Eifersucht, noch Schmerz, noch Zorn. Hella war für mich nicht mehr als die andern. Eine fremde Hure. Als hätte ich nie etwas für sie empfunden. Ich half den Herrn lachend über die erste Peinlichkeit der Situation hinweg, ließ sie vorsorglich eine Erklärung für den Scheidungsrichter unterschreiben, dann konnten sie gehen. Sie brauchten sich nicht zu beeilen. Die Frauen behielt ich bei mir. Auch am anderen Tag und noch eine Nacht. Bis zum Kotzen. Nur Hella rührte ich nicht an.“ Racke bot Glück eine Zigarette an. Sie rauchten. Er verstand ihn, wie wenn er es selbst erlebt hätte. Es war wahrhaftig eine Roßkur. „Ich hatte dann noch einiges zu tun,“ fuhr Glück nach einer Weile fort, „um meine Ehe und das bisherige Leben praktisch abzuschließen. Dann rüstete ich mich auf Grund meiner 142
bisherigen Felderfahrung für meinen weiteren Dienst im Osten gründlich aus und packte. Und da bin ich nun wieder.“ Glück machte ein paar tiefe Lungenzüge. Racke nahm Glücks Hand und behielt sie in der seinen. „Ich hätte vor ein paar Tagen in Warschau nicht geglaubt, daß ich Sie so bald zu Ihrer seelischen Wiederherstellung würde beglückwünschen können. Aber sind Sie auch sicher, daß es keinen Rückfall gibt?“ „So sicher, wie einer sicher ist, daß er keine Blinddarmentzündung mehr bekommt, weil er keinen Blinddarm mehr hat.“
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7. KAPITEL
Sie trennten sich in Warschau. Glück fuhr über Brest auf seinen Bahnhof zurück, Racke wollte in den Südabschnitt und bei dieser Gelegenheit den Bruder in Krementschug im Lazarett besuchen. Er folgte über Lublin-Rowne dem Wege, den die Feldeisenbahner, bei denen Wolf Dieter stand, genommen hatten. Da machten nun überall längst die Blauen der Haupteisenbahndirektion Süd Betrieb, aber in seinen Aufzeichnungen konnte er die Geschichte des Vormarsches nachlesen. Der war für jeden einzelnen der 1.000 Mann des Feldeisenbahnbetriebsamtes gewesen, wie wenn man aus dem warmen Bett jählings unter eine kalte Brause getrieben wird. Am 11. Juli war der Transportzug in Rowne eingetroffen. Sie hatten sofort die Strecken von Zdolbunow nach Schepetowka und nach Krasne besetzt und alsbald einen Begriff vom Unterschied der Betriebsführung daheim und den schwierigen, primitiven Anfangsverhältnissen hier draußen bekommen. Vier Tage nach ihrer Ankunft ereignete sich das erste schwere Unglück. Ein Benzinzug fuhr bei der Einfahrt in den Bahnhof Zdolbunow mit einer Rangierabteilung zusammen und brannte bis auf wenige Wagen aus. Lokführer und Heizer, zwei Ukrainer, und das deutsche Zugpersonal verbrannten. Von ihnen wurde nichts mehr gefunden. Bei Leichenresten, die aus den Trümmern geborgen wurden, mußte es sich um ukrainische Flüchtlinge handeln, die den Zug schwarz benutzt hatten oder vom deutschen Personal aus menschlicher Hilfsbereitschaft mitgenommen worden waren. Diesem furchtbaren Ereignis der Nacht folgte am anderen Tage eine freudige Begebenheit: Eisenbahnpioniere hatten Zdolbunow als Umschlagbahnhof von Normal- auf Breitspur umgebaut und am 16. Juli war ein Breitspurgleis bis Schepetowka befahrbar. In den Wäldern aber steckten noch versprengte Feindtruppen und Schießereien waren an der nächtlichen Tagesordnung. Auch 144
ohnedies war es unmöglich, die von Westen auf Normalspur anrollenden Züge flüssig bis zum Spitzenbahnhof weiterzubringen, weil das Umladen und weil das Ausladen am Ziel zu viel Zeit erforderte. Die Lokomotiven wurden zu lange aufgehalten und da ihre Zahl bei weitem nicht ausreichte, war ein beträchtlicher Rückstand unvermeidbar. Dennoch war es unaufhaltsam weitergegangen. Schon am 18. Juli konnte man bis Miropol Normalspur fahren, Polonnje, Michajlewski waren die rasch folgenden Abschnitte, nur vor Berditschew war man noch aufgehalten, bis ein zerstörter russischer Panzerzug, der bei Dembzin die Strecke sperrte, mit Hilfe des Gerätezuges eines Feldeisenbahn-Maschinenamtes nach Kasatin abgeräumt war. Trotzdem konnte bereits am 24. Juli der Betrieb bis Berditschew aufgenommen werden, allerdings litt er zunächst unter dauernden Stockungen, weil die KodeisBauzüge das Normalspurgleis verstopften. Man fuhr mal Breitspur, mal Normalspur, was eben ging, lud aus, wo es gerade notwendig und für die Truppe am günstigsten war; in Polonnje, Chudno, Dembzin, Michajlewski. Benzin und Munition für das Heer, Benzin und wieder Benzin für die Luftwaffe, Verpflegung und wieder Verpflegung. Schließlich in Berditschew selbst. Kurz darauf war die Betriebsspitze in Richtung Kiew in Fastow, einem riesigen Bahnhof, der nur ganz schwach besetzt werden konnte, zwei Tage später in Biala Zerkow. Nun wurde schon täglich ein Verwundetenzug westwärts gefahren. Günther Racke konnte nicht anders: er, der Eisenbahner selbst bewunderte seine Berufskameraden. Vom grünen Tisch oder gar vom Biertisch aus betrachtet, mochten diese Orts- und Zeitangaben nicht viel bedeuten. Setzte man aber die Betriebseroberung der Strecken dem jeweiligen Frontverlauf gegenüber, die Namen der Bahnhöfe den Namen der Städte und Dörfer, um die knapp nördlich und ostwärts die Schlacht von Kiew tobte, oder über die im Süden die rumänischen und deutschen Verbände gegen das Schwarzmeergebiet vorstießen, dann erkannte man, daß der glühende Brodem der Vernichtung bis an die Bahnhöfe, bis an die Züge schlug. Bis an den Leib und in die Seele der Eisenbahner. Ob gedienter Soldat oder nur kurz ausgebildet, wie die meisten auch dieser feldgrauen 145
Eisenbahnbeamten und -arbeiter, der Befehl, unter dem sie standen, paarte sich mit dem Rausch des Gigantischen, der den Mann ergreift. Auch gegen seinen Willen und trotz aller natürlichen Furcht vor der Gefahr und dem selbstverständlichen Widerstreben gegen den Tod und seine Schrecken, von denen das Land gezeichnet war und die einem Tag und Nacht auf den Fersen saßen. Dessen ungeachtet fühlte man sich geborgen, weil man trotz allem nicht im Zentrum des Kampfgewitters stand, sondern nur vom Rande der Unwetterzone sein Wetterleuchten sah, das ferne Donnerrollen vernahm. Und man war auch von einem neuen Wertgefühl erfüllt: Man stand zwar hinter der Front und dennoch war man ihr Wegbereiter. Man verwünschte den Krieg und stand trotzdem zu der Aufgabe, die er einem stellte, setzte seine Mannesehre ein oder wurde von der eigenen Freude an der außergewöhnlichen Leistung mitgerissen. In fieberhafter Eile wurden in Kasatin mit seinem riesigen Bombentrichter, den Hunderten von gesprengten Weichen, dem zerstörten Lokschuppen und der unbrauchbar gemachten Drehscheibe die Wiederherstellungs- und Umspurarbeiten betrieben. Schon richtete man in Schepetowka und Berditschew Zugleitungen ein, stürmte auf der eingleisigen Breitspurstrecke von Schepetowka über Nowograd mit Zügen für die 6. Armee bis Shitomir. Dabei war das Personal eigentlich ausverkauft, war nur noch durch strengste Rationierung zu gewinnen. 4 Mann in Nowograd, 4 Mann in Shitomir mußten es schaffen. Wer lacht da? Sie schafften es! Mit 100 ukrainischen Hilfskräften und 100 Gefangenen wurde die Umschlaganlage in Schepetowka so um- und ausgebaut, daß täglich drei bis vier Züge mit Munition, Benzin und Verpflegung nach Shitomir abgefertigt werden konnten. Bei unbesetzten Zwischenbahnhöfen, ohne Fernsprechverbindung fuhren sie und sie kamen an. Und für die Kämpfe und Siege der so belieferten Truppenkontingente waren diese Lokführer und Heizer und die paar Zugbegleiter, waren die paar einsam auf sich selbst gestellten Bahnhofsdiensttuer in Nowograd und Shitomir, waren die Umschlagsleistung in Schepetowka, die unermüdlichen Arme und Hände wichtiger als sämtliche militärischen Etappendienste und rückwärtigen Stäbe zusammengenommen. Wenige Tage 146
später wurden auch schon die Strecken Shitomir - Fastow und Shitomir - Berditschew befahren. Sie lagen im Bereich starker Banden versprengter Feinde. Auf den Zügen fuhr man, auf den Stationen arbeitete man stets in dem Gefühl, das ein kalter Pistolenlauf im Genick verursacht. Die meisten Züge wurden beschossen und am 1. August gelang es einer Bande, einen Versorgungszug mit Benzin und Munition auch noch mit Brandfackeln zu bewerfen. Es war 40 km ostwärts Shitomir auf der Strecke nach Fastow. 12 Benzinwagen brannten aus, aber das Personal gab nicht auf. Mit seinen windigen Schießprügeln verteidigte es den Zug so zäh, daß es mit dem Rest der Wagen entkam. Und so war man weiter vorgerückt, in kleinen Stücken Tag für Tag, nach Süden, nach Norden, nach Osten. Man hatte ganze Abschnitte, deren hoffnungslos scheinendes Chaos zunächst nicht zu bemeistern war, übersprungen oder auf Umgehungslinien ausgeschaltet. Und inzwischen waren die Grauen in Charkow und Stalino und am Schwarzen Meer, und hinter ihnen waren die Blauen aufgerückt, da und dort auch in überschlagendem Einsatz über sie hinaus auf neue Strecken geworfen worden. Racke langweilte sich auf dieser Fahrt, so lange sie auch dauerte, nicht eine Minute; er wartete ja nicht ungeduldig darauf, endlich am Ziele zu sein. Für ihn war jeder Gleiskilometer, jede Brücke, jede Station von dem Leben erfüllt, von dem seine Notizen erzählten. Auch daß Oberinspektor Wolf Dieter Racke, Sonderführer im Hauptmannsrange, vor wenigen Stunden aus dem Lazarett entlassen worden war, verstimmte ihn nicht nachhaltig. Krementschug war ein interessantes Pflaster. Am stärksten aber beeindruckte ihn der Dnjepr selbst. Wie ungewöhnlich war das weite Landschaftsbild des Stromes, wie still und vertraut hier, wie fremd und wild dort! Wie unberechenbar sein Lauf — ein Spiegelbild östlichen Wesens? Von den Waldaibergen bis Kiew, wo ihm die ebenfalls mächtige Desna zuströmt, fließt er mit einer leicht östlichen Tendenz im großen Ganzen nach Süden. Hier aber biegt er, nur noch mit geringem südlichen Ausschlag nach Osten ab. Und von hier ab, hauptsächlich zwischen Tscherkassy-KrementschugDnjepropetrowsk, bildet er oft über Hunderte von Kilometern ein 147
ganzes Bündel von Flüssen, einem, ungezählte langgestreckte Inseln, Eilande und Sandbänke umfassenden See gleichend. Als besänne er sich plötzlich wieder auf sein Ziel, wendet er sich bei Dnjepropetrowsk, wo er, eingeengt, seine Mächtigkeit verliert, erneut nach Süden. Schließlich bahnt er sich von Saporoshje an, wieder weiter um sich greifend und von Nikopol an erneut in viele Arme sich verzweigend, seinen Weg sogar nach Südsüdwesten, also schräg rückwärts, um bei Cherson das Schwarze Meer zu erreichen. „Ihr Bruder wollte zunächst nach Poltawa, wo vor kurzem die Feldeisenbahndirektion eingezogen ist“, hatte man Racke gesagt. „Vielleicht erreichen Sie ihn noch dort.“ Er fuhr noch in der Nacht. Im Zuge zu schlafen, war ihm auf den Tausenden von Kilometern seit Kriegsbeginn und zumal seit seinem Sondereinsatz in Fleisch und Blut übergegangen, ob im Personenzug oder Güterzug, ob liegend oder sitzend, war ihm gleich. Hauptsache war eine Decke als Unterlage und die hatte man ja. Er war ein Genie geworden im Stellungswechsel der Knochen, ein Muskelentlastungsartist, ein wahrer Jogi in der willensmäßigen Ausschaltung körperlicher Empfindungen. Am frühen Morgen stand er vor dem Betriebsleiter der Feldeisenbahndirektion, einem Hauptmann der Res., aber Wolf Dieter war ihm wieder entwischt. „Vielleicht erreichen Sie ihn in Dnjepropetrowsk, sonst in Saporoshje oder auf einem der neuesten Spitzenbahnhöfe. Wir erfahren von ihm selbst oft erst nach Wochen, wo er sich aufhält oder aufgehalten hat. Telefonische Fernverbindungen gibt es noch nicht und die HektorVerbindungen der Wehrmacht, die uns theoretisch ebenfalls zur Verfügung stehen, sind meist durch die Truppe selbst überbelegt.“ Auch Poltawa lieferte neues und interessantes Material für Günther Rackes Chronik der stählernen Straßen. Er konnte seine Aufzeichnungen über alle Betriebsabteilungen, Maschinenabteilungen und Werkstättenabteilungen der Direktion nach dem neuesten Stand vervollständigen. Die durch Kuriere übermittelten Einsatzberichte der Eisenbahner erschienen unwahrscheinlich, wenn man bedachte, daß seit Charkows Fall noch nicht vierzehn Tage verflossen waren und 148
daß im Donezbecken trotz deutscher Panzerdurchbrüche der Russe dank des Hundewetters seine Stellungen im allgemeinen halten konnte, ja die Kämpfe noch unentschieden hin- und herwogten. Wenn nun einmal umgekehrt der Russe durchbrach? In zwei, drei Tagen unerwartet 50, 100, 200 Kilometer im rückwärtigen deutschen Frontgebiet stehen würde? Was würde aus den Eisenbahnern? Gefallene, Ermordete, Verstümmelte und bestenfalls raschem Siechtum ausgelieferte Sklaven in russischen Bergwerken und Rüstungsbetrieben, in Straßenbaulagern am Eismeer und in sibirischen Wäldern. Wie Tiere gepeitscht, wie Hunde getreten, von Hunger und Frost ausgezehrt, bis sie elender als Vieh verendeten, wie seit 25 Jahren ungezählte Millionen von Bürgern und Bauern, Arbeitern, Beamten und Soldaten all der „freien und glücklichen“ Völker des Sowjetparadieses selbst. Günther Racke schüttelte diese Gedanken ab. Man durfte sich solche Fragen nicht stellen, mußte stur an den guten Ausgang glauben, wenn man auf des Krieges Schneide bestehen, wenn man nicht in einen Abgrund von Angst und Sorge und Mutlosigkeit stürzen wollte. Er sah sich Poltawa an. Hier hatte einst Peter der Große, bei allem Herrscherformat ein barbarischer Gewaltmensch, den Schwedenkönig Karl XII. besiegt. Mit diesem Sieg war endgültig Rußlands Eintritt in die Reihe der Großmächte vollzogen. 100.000 Einwohner hatte die Stadt gehabt. Jetzt gaben Wehrmacht und Wehrmachtsgefolge, Organisation Todt und Reichsarbeitsdienst den Straßen das Gepräge. Der Befehlshaber der Heeresgruppe Süd und viele andere Stäbe hatten hier ihren Sitz und vor wenigen Tagen war auch die Haupteisenbahndirektion Ost übergesiedelt. Racke konnte für die Nacht im Quartier des Oberleutnants Renaud, eines Dezernenten, unterschlüpfen, der Wolf Dieter ein wenig näher gekommen war. Aber erst als sie schon in dem weißgetünchten Zimmerchen auf den Feldbetten lagen, deren Füße in Konservenbüchsen standen, die mit Petroleum gefüllt waren, sprach er von ihm.
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„Ich bin in Sorge um ihn, weil er ausspricht, was er denkt. Als der Kommandeur darauf zu sprechen kam, daß auch bei den Eisenbahnern die Führerpersönlichkeiten ohne Rücksicht auf Dienstalter und Laufbahnregeln gefördert werden müßten, antwortete Ihr Bruder: Der Begriff der Führerpersönlichkeit ist bei der Partei in aller Munde, vom Reichsleiter herab bis zum letzten Parteistümper. In Wirklichkeit bedeutet das Hitlersystem aber die Massenzüchtung der Charakterlosigkeit und der Feigheit, die Ausrottung der Persönlichkeit. Es gibt in der Partei selbst nicht eine, von ganz unten bis ganz oben nicht. Wenn es eine gegeben hat, mußte sie verschwinden, wurde erschossen oder sitzt im KZ. Sie sind ja alle nur auf Nachbeten der Hitlerschen Auffassungen dressiert, auf stupiden Gehorsam, und als Führerpersönlichkeit gilt der bei ihnen, der in der Ausrottung eigenen Denkens und Empfindens im Kreise der Partei- und Volksgenossen die sturste Brutalität entwickelt.“ Günther Racke atmete schwer. „Ich weiß. Ich habe schon immer versucht, auf ihn einzuwirken. Er ist auch meist verschlossen. Aber immer wieder bricht sein geistiges Temperament durch den Maulkorb.“ „Wenn er einmal an einen Denunzianten kommt, ist er erledigt“, fuhr Renaud fort. „Der Kommandeur überging in seiner diplomatischen, immer vornehm kameradschaftlichen Art zunächst den Einwurf, sagte aber zum Schluß in einem anderen Zusammenhang: Es hat ja keinen Sinn, meine Herren, sich den Kopf an einer Mauer einzurennen. Der Mauer macht das gar nichts.“ Günther schlief nicht gut. Er war ein Bett, auch wenn es nur ein Feldbett war, nicht mehr gewöhnt. Er erhob sich sehr früh, hatte Glück mit den Zügen und kam gegen Abend nach Dnjepropetrowsk. Hier war gerade die Brücke fertig geworden und ein zügiger Verkehr nach Charkow hatte eingesetzt. Er durchstöberte alle Bahngebäude und Eisenbahnerquartiere, brach in sämtliche Dienststellen ein, aber niemand wußte, wo der Betriebskontrolleur Racke geblieben war. „Es ist immer so“, sagten sie ihm: „Plötzlich ist er da, keiner weiß, woher, und ebenso plötzlich ist er wieder fort und keiner weiß, wohin.“ 150
Auch nach Saporoshje kam Günther zu spät, fand aber besonders reichliches und interessantes Material für seine Aufzeichnungen. Hier hatte die feldgraue Betriebsabteilung vor vier Wochen auf Fischerkähnen den Dnjepr überschritten. Mit Lastkraftwagen der Truppe, auf Panjewägelchen und in Fußmärschen hatte man die weiten Wege zu den Einsatzbahnhöfen der Strecke nach Wolnowacha-Mariupol zurückgelegt, bei meist scheußlichem Wetter und auf Wegen, die diesen Namen nur trugen infolge der hundert tiefen Räderrinnen, die sich nebeneinander in die zerwühlte Sand-, Sumpf- und Seenlandschaft gegraben hatten. Nachdem die Behelfsstraßenbrücke über die Mokraja gebaut war, konnte der Nachschub von Westen her umgeschlagen werden und schon am 28. Oktober war der erste Breitspur-Nachschubzug für die Panzerarmee 1 gefahren worden. Günther Racke fuhr nach Stalino, nach Wolnowacha, nach Mariupol. Er sah das Asowsche Meer, aber keinen Betriebskontrolleur namens Racke. Wo er auch nach ihm fragte, überall war er gewesen, aber niemand wußte, wo er sich im Augenblick aufhielt. Vielleicht im Getriebe der großen Knoten Lesowaja oder Jasinowataja oder Taganrog, auf die man die Feldeisenbahner mit Flugzeugen gebracht hatte, noch bevor die Eisenbahnpioniere angerückt waren. Was war da geleistet worden! Nur dank ihrem raschen Zugriff und organisatorischen Talent konnte das Elektrizitätswerk in Mariupol noch so rechtzeitig versorgt werden, daß die Stromlieferung nicht zu lange aussetzte und die Bergwerke im Donezbecken vor dem Ersaufen bewahrt blieben. Wie Löwen hatten sie das bahneigene Gut, das doch für die Wiederaufnahme des Betriebs unerläßlich war, gegen den verständlichen, aber unvernünftigen Zugriff der Landser, insbesondere auch ihrer Spieße und Einheitsführer verteidigt. Sie hatten augenblicklich entbehrliche Anlagen und Industriegleise abgebaut, um die frontlebenswichtigen Strecken instandzusetzen. Mit viel guten, aber auch mit bösen Worten, wenig Brot, viel Kohl und entwerteten Rubeln war es ihnen gelungen, russische Eisenbahner, auch höhere Beamte zur Hilfe heranzuziehen und aus der Bevölkerung Arbeitskräfte zu Tausenden zu gewinnen. 151
Hier war mit der Offensive der Truppen die Offensive der Eisenbahner Hand in Hand gegangen. Dem rechtzeitig in Gang gekommenen Nachschubbetrieb, wenn er auch, wie überall den Frontspitzen zu, mit noch so viel Umschlag verbunden war und unter den auf kurze Sicht nicht zu beseitigenden Unzulänglichkeiten und Hindernissen und vor allem auch Fliegerangriffen zu leiden hatte, war es auch zu danken, daß trotz der russischen Gegenangriffe nicht nur der eroberte Teil des wichtigen Kohlen- und Industriegebietes gehalten, sondern auch die Offensive um den Besitz Rostows begonnen werden konnte. Unter den Bahnbrechern dieser Erfolge stand der Feldeisenbahner Betriebskontrolleur Racke an erster Stelle. Er war überall bekannt, allerdings nicht überall beliebt. Wer für mäßigen Dienst war, wer der Bequemlichkeit und Behaglichkeit wegen vor größeren Schwierigkeiten von vornherein kapitulierte, wer sich gerne darauf berief, daß dies und das nicht seine Aufgabe sei, sich auf Zuständigkeit versteifte usw., der konnte Formen der Zurechtweisung und Aufmunterung erleben, daß ihm Hören und Sehen vergingen. Der Sonderführer (K) Racke scheute sich auch nicht, mit Beamten höheren Ranges und selbst mit Truppenoffizieren genau so grob umzuspringen wie mit dem geringsten Bua, dem Bahnunterhaltungsarbeiter, oder einem Landser. Man sah ihn also auf den Bahnhöfen und Arbeitsstellen in der Mehrzahl lieber gehen als kommen, aber die Hochachtung vor seiner Persönlichkeit, seiner fachlichen Routine, seinem beispielhaften eigenen Einsatz und die Anerkennung seiner bei aller Heftigkeit kameradschaftlichen Art, die keinen Unterschied nach der Kluft und den Gehaltsstufen machte, war allgemein. An einem der letzten Novembertage saß Günther Racke bei irgendeinem „Dschingiskaja“ im wirr verzweigten Eisenbahnnetz des Donezbeckens südostwärts von Jasinowataja in einer Baracke, die sie, vorsichtig getarnt, zwischen den Trümmern der einstigen Bahnhofsgebäude aufgestellt hatten. Die Sonne war schon untergegangen; es war 16 Uhr vorbei und stockdunkel, zumal es durcheinander regnete und schneite. Die Front sei nur etwa 9 Kilometer entfernt, hatte es geheißen. Wo sie war, wußte kein Mensch. Man hörte sie im Süden und im
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Norden donnern; wo sie eigentlich verlaufen sollte, im Osten, war es still. Die Eisenbahner waren hier bunt zusammengewürfelt: Ein Dutzend Feldeisenbahner als Vorauskommando zur vorbereitenden Bahnhofsbesetzung mit einer starken Rotte feldgrauer Streckenarbeiter für die Aufräumungsarbeiten, ein Gleisbauzug blauer Eisenbahner, der der F. E.-Direktion unterstellt und auf Breitspurwagen umgesiedelt worden war. Sie hatten die Strecke von Jasinowataja her instandgesetzt. Außerdem eine motorisierte Brückenbau-Abteilung der Eisenbahnpioniere, sowie ein Fernmeldetrupp, der die Strippe schon gelegt hatte. Der Bahnhof war ein wüstes Trümmerfeld, noch getränkt vom Modergeruch der Vernichtung. Dagegen war von hier ab bis dicht hinter die deutschen Stellungen, wo der Bahnkörper infolge der unmittelbaren Kampfhandlungen selbstverständlich restlos zerstört war, die Strecke befahrbar, wie ein Erkundungstrupp der Eisenbahnpioniere festgestellt hatte; einige kurze schadhafte Stellen und eine gesprengte kleine Unterführung ausgenommen. Andere Soldaten gab es in dem Kaff nicht. Die rückwärtigen Dienste waren erst bis auf die Linie Jasinowataja-StalinoWolnowacha nachgerückt. Von der Bevölkerung war bisher auch nichts zu sehen gewesen; sie schien ausgestorben zu sein. Ein paar Häuser lagen in der Gegend herum, teils ganz, teils zerschossen, zwei spitze Abraumkegel, ein Förderturm, zwei hohe Essen und ein Kirchturmfragment gaben dem Gesamtbild vor ihren Augen das Gepräge. Sie waren zwar alles in allem eine stattliche Zahl, rund 200, aber recht viele „alte Knochen“ darunter. Ihre Bewaffnung war auch Altersklasse, dürftige Schießprügel und Pistolen, mit denen die meisten ihrer Träger mehr ins Blaue, als ins Schwarze zu treffen pflegten. Sie hatten, dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb gemäß, fast ausnahmslos eine starke Abneigung gegen Kampfhandlungen und sich so unmittelbar am Rande der Gefahr zu wissen, setzte ihrer Stimmung und ihrem Treiben einen spürbaren Dämpfer auf. Sie segneten im Hinblick auf unerwünschten Fliegerbesuch den Himmel für das 153
ununterbrochene Sauwetter und wünschten sich, daß es weiter so bliebe. Einige spielten noch Karten, andere schrieben Briefe, die meisten aber wickelten sich früh in ihre Decken. Sie hatten seit Tagesanbruch angestrengt gearbeitet und was konnte man ohnehin Besseres tun als schlafen? Gelegentliche Träume ausgenommen, gab es im Schlaf keine Angst und keine Sorgen. Racke war ebenfalls schon dabei, sich neben den feldgrauen Kameraden auf die Bretter zu legen, die das Bett bedeuteten, obgleich noch kein Stroh als Unterlage beschafft war, als ein kurzer Feuerschein durch das Dunkel des Raumes flammte, ein heftiger Donnerschlag folgte, die Fenster klirrten und die ganze Baracke erzitterte. Alles sprang auf, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Auch Racke lauschte einen Augenblick, den Atem anhaltend, dem Klange nach, dann rief er, den zum Teil fast unbekleidet Hinausstürzenden oder aufgeregt in Hosen und Stiefel Fahrenden beruhigend zu: „Ihr braucht nicht zu rennen! Nur ein Abschuß!“ Sie rannten dennoch. Bis sie sich zwei Minuten später beim nächsten Blitz und Donnerschlag selbst überzeugten, daß es sich weder um Bomben, noch um Artilleriebeschuß ihres Bahnhofs handelte. Der Feuerschein kam von dort, wo sie am Tage die schneebesprenkelten, schwarzen Pyramiden gesehen hatten. „Schwerer Mörser“, sagte Racke. „Schießt sich ein.“ Die Abschüsse folgten einander in ungleichen Zeitabständen und es kam ihm vor, als sei der Feuerschein nicht genau an derselben Stelle, auch der Klang der Abschüsse nicht ganz der gleiche. Es mußten mindestens zwei Geschütze sein. Der Soldat in ihm wurde lebendig. Die Burschen mußte er sehen! Er machte sich auf den Weg. Begleiten wollte ihn keiner; sie waren nicht so verrückt, den Haufen zu verlassen und in der Nacht im verschlammten Gelände herumzutappen. Es war auch wirklich kein Vergnügen. Racke war jenseits des Bahngeländes schon nach wenigen Minuten versucht, wieder umzukehren. Der Wind trieb ihm einen mit Graupeln vermischten kalten Sprühregen ins Gesicht, der sich rauh wie Sand anfühlte. Der Weg, den er schließlich in ungefährer Richtung auf den Standort der Mörser gefunden hatte, war mit Schlamm bedeckt 154
und so dicht mit Rinnen und Löchern durchsetzt, daß er trotz größter Vorsicht immer wieder bis ans Knie versank. Er tastete sich schließlich nur noch vorwärts, denn wenn er in ein großes Granatloch oder einen Bombentrichter geriet, nahm er ein Schlammbad bis über den Kopf und es war höchst fraglich, ob er sich wieder herausarbeiten oder bis zum nächsten Sommer verschollen sein würde. Die Taschenlampe zu Hilfe zu nehmen, hatte auch keinen Sinn, denn auch sie beleuchtete nur die Oberfläche des Schlammes und nicht, was sie verdeckte. Vielleicht war es überhaupt nicht ratsam, sie anzuknipsen, denn man konnte nie wissen, wer um den Weg war. Racke wäre jetzt wirklich umgekehrt, wenn er nicht, wie er glaubte, die größere Wegstrecke schon hinter sich gehabt hätte. Beim Feuerschein orientierte er sich jedesmal schnell, was vor ihm lag. Aber als schon zwanzig Minuten verstrichen waren, schien er noch keinen Schritt näher gekommen zu sein und jetzt schwiegen die Mörser. Himmelkreuzdonnerwetter! Hoffentlich gelang es ihm, in der Richtung zu bleiben. Früher, als er gehofft hatte, tauchte dann eine dunkle Wand auf; das war einer der Spitzberge und die Geschütze standen zweifellos auf dieser Seite. Er schnupperte, man roch sie jetzt sogar, der Pulvergestank lag noch in der Luft. Er ging der Nase nach, begann zu rufen, ohne Antwort zu bekommen. Jetzt sah er seitwärts Buschzeug, Baumwipfel, über die ein kurzer, dicker Schlot ragte. Wo ein Schlot war, mußte ein Haus sein oder gewesen sein. „He! Hallo! Kameraden! Wo steckt Ihr denn?“ Er tappte auf den Schlot im Busch los, blieb irgendwo hängen, faßte nach den Zweigen. Aber das waren keine Zweige, sondern ein Netz von Schnüren und Lappen. Im nächsten Augenblick packte ihn eine Faust im Genick und vor seinen Augen erschien ein recht anständiges Kaliber von Pistole. „Laß doch los, Mensch!“ fuhr er wütend auf, denn der Griff im Genick war reichlich schmerzhaft. „Ich habe euch doch angerufen.“ „Ja, Freundchen, auf den Leim von den Kameraden gehn wir schon lange nicht mehr.“
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Eine Taschenlampe leuchtete in Rackes Gesicht, über seine Uniform. „Wachtmeister, das ist ja ein Eisenbahner“, sagte eine andere Stimme. Die Faust ließ los, die Lampe erlosch und statt der Pistole erschien ein Stahlhelm und ein bärtiges Gesicht darunter dicht vor Rackes Augen. „Mich laust der Affe!“ brummte der Artillerist. „Wo kommst du denn her? Oder bist du ein verkleideter Heckenschütze?“ Racke lachte. Er war froh, da zu sein und klärte sie kurz auf. Der Schlot war kein Schlot, sondern das aus dem Tarnnetz aufragende Rohr des Mörsers. „Ihr habt doch zwei. Wo steckt denn der andere?“ Der Geschützführer brachte Racke zum Alten. Sie hatten in den Abraumberg einen niederen Stollen getrieben mit scharfem Knick und hinter dem Knick, den Raum gut abgestützt, das Zelt eingebaut. Es roch unangenehm nach Sonnenblumenöl, das an Stelle von Petroleum für die Beleuchtung sorgte, und nach Kohlenrauch, der aus dem wärmeverströmenden Schützengrabenöfchen drang, und es roch angenehm nach Braten. Der ,Alte' war ein jugendlich wirkender Oberleutnant heiterer Natur. Er begrüßte seinen Gast ebenso erstaunt wie launig und lud ihn gleich zum Abendessen ein. „Prima, Kinder“, sagte er lachend. „Da können wir gleich hier einsteigen, wenn nächste Woche der Friede ausbricht.“ Sein Zugführer, ein Leutnant mit grauen Schläfen und Auszeichnungsspange aus dem ersten Weltkrieg, rümpfte die Nase und sagte mit trockenem Ernst: „Warum nächste Woche erst?“ Sie waren gegen Mittag von einer nördlicheren Frontstelle hergekommen. Sechs Kilometer hinter den russischen Stellungen lag ein Bahnhof so dicht hinter mehreren steilen, sich überschneidenden Abraumkegeln, daß ihm die Artillerie des Abschnitts nicht beikommen konnte. Sie fetzte nur in die Dreckberge oder über sie und damit auch über den Bahnhof weg. Die Zufahrtsgeleise wurden zwar täglich unter Feuer genommen, aber das kostete zu viel Munition und gab es auch ein paar Volltreffer, so wurden sie doch von den Russen laufend wieder geflickt. 156
Trotz aller Feuerüberfälle kamen allnächtlich mehrere Versorgungszüge drüben an und waren im Bahnhof jedem Zugriff entzogen. Der Iwan versorgte von hier aus auf nächste und bequemste Weise seinen ganzen Frontabschnitt. Das wußte man von Gefangenen, auch daß zum Beispiel heute Nacht wieder ein Treibstoffzug erwartet wurde. Die 21er Mörser würden dem Iwan den Spaß jetzt aber gründlich verderben. Sie hatten sich zum Schein auf eine Brücke eingeschossen, die genau in der Schußrichtung des Bahnhofs 800 Meter weiter ostwärts lag. Ab 19 Uhr 29 aber würde alle 55 Minuten ein Feuerüberfall auf den Bahnhof selbst erfolgen. Außer einem Trichterfeld und Trümmern und Brandschutt würde am Morgen nichts mehr von ihm vorhanden sein. Dafür garantiere er. „Ein Jammer“, bedauerte Racke. „Ihr schießt alles kurz und klein und wir müssen es wieder aufbauen.“ „Ob wir den Bahnhof zusammenschießen, oder der Iwan alles zerstört, ehe er sich zurückzieht, bleibt sich gleich“, sagte der Oberleutnant. „Aber ein Jammer ist, daß wir die Versorgungszüge vernichten, die wir hier so nötig brauchen könnten. Darüber ist auch der Abschnittskommandeur wütend. Den Brennstoffzug für unseren Abschnitt haben Bomber in die Luft gejagt. Drei Panzer und ein halbes Dutzend andere Kraftfahrzeuge haben noch Benzin für einen Einsatz. Alles andere, was Motoren hat, liegt lahm und muß gesprengt werden, falls der Russe durchbricht. Wenn die Strecke nicht zusammengeschossen wäre und er ein paar Leute hätte, die was von Lokomotiven verstünden, sagte der la der Division noch vor einer Viertelstunde am Telefon, ließen sie versuchen, durch Handstreich wenigstens den Spritzug herauszuholen.“ Der Batterieführer verlor sein heiteres Aussehen für ein paar Augenblicke. „Zweifellos bereitet der Iwan eine Entlastungsoffensive für Rostow vor. Unser ganzer Spritnachschub wandert aber für die Rostowoffensive Richtung Uspenskaja-Taganrog. Was nützt es jedoch, wenn wir dort siegen und hier mangels Treibstoff und Munition überrannt werden? Der Iwan kommt natürlich mit einer Masse Panzer und wir haben nicht einmal Reserven zu einem Gegenstoß.“ 157
Racke sah düster aus. Der grauschläfrige Leutnant lachte: „Sie sehen aus, als ob die Verantwortung für das Schicksal der Division auf Ihren Schultern läge.“ Racke hatte keine Ruhe mehr, ein Gedanke bohrte in ihm. Er verabschiedete sich, machte den Rückweg unbedenklich mit der Taschenlampe und mit Tasthilfe eines langen Stockes, wie sie die Artilleristen immer zur Hand hatten. Er lachte sich aus. Statt fast einer Stunde brauchte er jetzt zehn Minuten. Er ging nicht in die Baracke zum Bahnhofspersonal, sondern suchte Kleinschmitt auf, den Führer der Eisenbahnpioniere, einen behäbigen Oberleutnant d. Res. z. V. aus dem ersten „Weltkrieg, bautechnischer Reichsbahnoberinspektor. Seine Abteilung hatte sich in einem rasch zusammengeflickten und mit Notdach versehenen Schuppen eingenistet, er selbst war Gast im Wagen seines Kollegen vom Bauzug der Blauen. Racke zog bei der Türe die Stiefel aus, ehe er hineinging; mit einem solchen Schlamm konnte er ihnen nicht die Bude versauen. Hinter ihm trat noch jemand ein, er achtete nicht darauf. Er wurde mit freudigen Zurufen begrüßt und mußte von seinem Gang zu den Mörsern erzählen. Der ganze Bauzugstab, alle Dienstgrade der Pioniere und auch ein Teil der Feldgrauen, waren da und hörten ihm mit Interesse und Dazwischengerede zu. Dann waren sie mit einem Male kleinlaut und bekamen lange Gesichter. Racke hatte gesagt: „Wir sollten versuchen, die Züge herauszuholen.“ Oberleutnant Kleinschmitt schüttelte den Kopf. „Wenn Sie sich durchaus zum Heldentod drängen wollen — bitte. Aber von uns glaube ich, hat keiner Lust dazu.“ „Den Handstreich führen ja nicht wir aus, sondern die Truppe. Unter ihrem Schutz wird unser Risiko kaum größer sein, als es immer ist. Wir brauchten nur die Strecke in Ordnung zu bringen.“ „Nur ist gut“, unterbrach ihn der Bauzugführer und ein anderer sagte lachend: „Wenn wir schön bitte-bitte machen, hilft uns der Iwan noch dabei.“ Racke ließ sich nicht beirren. „Eines könnten wir auf alle Fälle tun, ohne besonders gefährdet zu sein: wenigstens die Strecke bis hinter die deutschen Stellungen in Ordnung bringen. Dann können wir uns immer noch überlegen, ob wir der Truppe den Handstreich vorschlagen sollen oder nicht.“ 158
„Da ist gar nichts zu überlegen,“ warf der Bauzugführer ein, „weil die Strecke, auf die es in erster Linie ankommt, nämlich von den Stellungen bis in den russischen Bahnhof, auch nicht von Heinzelmännchen in Stand gesetzt wird. Oder fliegen da die Züge?“ Die Truppe muß uns selbstverständlich einen Korridor öffnen und den Feind vom Leibe halten.“ „Weil das so einfach ist!“ „Wenn sie's nicht fertig bringt, rücken wir eben wieder ab.“ „Wenn wir noch abrücken können: Bei all dem behält doch die russische Ari auch nicht die Hände in der Tasche.“ „Vielleicht doch. Sie kann ja von all dem nichts sehen und die Truppe muß verhindern, daß den Russen der Zweck des Angriffs klar wird. Nimmt er dennoch die Bahnlinie unter Feuer, muß ihn unsere Artillerie ablenken und niederhalten.“ „Und wenn er sich nicht ablenken läßt, sind die toten und zum Krüppel geschossenen Eisenbahner unsere Sache. Ich werde jedenfalls eine solche Verantwortung nicht übernehmen“, protestierte Kleinschmitt und der Bauzuginspektor fügte hinzu: „Wir sind schließlich Eisenbahner und keine Kampftruppe. Sturmtruppe schon gar nicht.“ „Ich denke, wir sind beides: Eisenbahner und Soldat, wenn es die Lage erfordert. Auf jeden Fall, so weit wir Feldgrau tragen.“ Das war eine neue Stimme. Eine auffallend schöne, tiefe Stimme. Sie kam nicht aus ihrem Kreis, sondern vom Eingang her und die Köpfe flogen nach ihr herum. Da stand ein kräftig gewachsener Mann, die Offiziersmütze in der Hand, die Schulterstücke eines Sonderführers im Hauptmannsrang auf dem grauen Ledermantel, die große Pistolentasche mehr vor als neben der Hüfte. „Behalten Sie Platz, meine Herrn“, fuhr er fort, „und entschuldigen Sie, daß ich, ohne mich bemerkbar zu machen, Ihrer Unterhaltung gefolgt bin. Mit Ausnahme der Pioniere kennen Sie mich ja wohl alle. Ich billige Inspektor Rackes Vorschlag und ich hoffe, daß Sie sich, Herr Oberleutnant, mit Ihrer Brückenbauabteilung der gemeinsamen Aufgabe nicht entziehen werden. Gerade weil wir hier die Russen so dicht auf der Nase haben, liegt es auch im Interesse unserer Selbsterhaltung, daß 159
die motorisierten schweren Waffen und Truppen des Abschnitts bewegungsfähig bleiben und die Front gehalten wird.“ Er trat näher. „Ob sich der Plan des Inspektors überhaupt durchführen läßt, ob der Vorstoß der Truppe gelingen wird, ist natürlich fraglich. Offensiv nehmen wir nicht teil. Aber unsere Aufgabe werden wir erfüllen, auch wenn die näheren Umstände gefährlicher erscheinen und, wir wollen uns das garnicht verhehlen, wahrscheinlich auch gefährlicher sein werden als gewöhnlich. Freiwilliges Lokpersonal werde ich noch herbringen, möglichst auch einige Loks vom Betriebswerk Jasinowataja. Wir wissen ja nicht, wie es um die russische Bespannung bestellt sein wird.“ „Ganz abgesehen von der erhöhten Gefahr“, wandte der Führer des Bauzuges ein, „unsere Männer haben den ganzen Tag gearbeitet, nun sollen sie das auch noch die ganze Nacht tun, ohne Schlaf, und noch einmal einen Tag. Das ist unmöglich und dagegen werden sie sich mit Recht auflehnen.“ „Ich werde mit ihnen reden. Wir werden drei Schichten einteilen, damit jeder nach 4 Stunden Arbeit 2 Stunden Ruhe hat. So werden sie's durchhalten können. Wenn jetzt der Iwan käme, würden sie ja auch nicht nach ihrer Nachtruhe fragen, sondern bis zum Morgen laufen und noch den ganzen Tag dazu, wenn es sein müßte. Statt dessen sollen sie eben mithelfen, daß sie überhaupt nicht zu laufen brauchen, sondern wieder ohne Sorge ihren Dienst machen können. Selbstverständlich haben nach diesem Einsatz alle einen freien Tag. Außerdem ist anzunehmen, daß bei den Russen auch einiges für die Verbesserung unserer Verpflegung in Empfang genommen werden kann.“ Der Sprecher war inzwischen ganz in ihren Kreis getreten. Er hatte dichtes, gewelltes dunkelbraunes Haar. Wenn die kurze Bartbürste nicht gewesen wäre, hätte man ihn mit Attila Hörbiger verwechseln können. Ja, die Feldeisenbahner und auch schon die vom zugeteilten blauen Bauzug kannten ihn fast alle. Am besten kannte ihn Günther. Ihre Augen lagen jetzt ineinander, einen Augenblick später ihre Hände. Kurz, kräftig. „Tag, Günther.“ „Tag, Wolf.“ Das war ihre Begrüßung. Dann sagte Wolf Racke sofort: 160
„Du mußt gleich nochmal zu der Ari und dem Divisionskommandeur telefonieren. Wir seien bereit, die Züge zu holen, wenn die Wehrmacht die Möglichkeit dazu schafft. Bis hinter die Stellungen wird die Strecke mit Tagesanbruch auf jeden Fall befahrbar sein. Nimm zwei Telegraphenarbeiter mit, die gleich den Bahnhof an die Mörserstellung anschließen.“ Der Batterieführer schlief. Günther Racke ließ ihn gar nicht wecken. Der Funker stellte die Verbindung her. „Es klingt zu schön, um wahr zu sein“, sagte der Adjutant des la der Division. „Wir müssen genauer darüber reden. Können Sie zu uns kommen? Gut, ich lasse Sie holen.“ Nach einer halben Stunde war draußen ein Motor zu hören. Ein Kübelwagen war zur Stelle. Er sah aus, als ob er in Schlamm gebadet worden wäre. Die Fahrer machten aus ihrer Wut über die nächtliche Fahrt keinen Hehl. Auch noch wegen eines Eisenbahnonkels! Die sollten doch erst mal das Fressen und den Sprit herbringen. „Was Racke heimlich beunruhigte, sprach der General, der ihn persönlich erwartet hatte, offen aus. Wenn die Truppe die Opfer brachte, die der Handstreich kosten würde, durften die Eisenbahner unter keinen Umständen versagen, damit nicht alles umsonst war. Würden aber die Gleise von den deutschen Stellungen bis zum russischen Bahnhof rechtzeitig fertig werden? Würden die Eisenbahner durchhalten, auch wenn es einmal krachte und pfiff? Der General wollte keinen Befehl von oben herab geben, sondern die Entscheidung dem Kommandeur des Einsatzregiments überlassen. Der Oberstleutnant sagte am Telefon: „Wenn die Chance, den Sprit zu bekommen, nur fünfzig zu fünfzig steht, muß der Versuch gemacht werden. Für das Gelingen des Handstreichs garantiere ich. Macht mein III. Bataillon. Gerade eine Sache für den Normann. Wenn Sie mir den Eisenbahner schicken, bringe ich ihn persönlich zu ihm; er soll ihn selber erst mal unter die Lupe nehmen.“ Zum Regimentskommandeur ging es noch einmal im Kübelwagen, zum Bataillonsgefechtsstand nur ein Stück weit, dann zu Fuß durch Wald, den in breiter Schneise die Bahn 161
durchquerte, und schließlich durch die gespenstische Silhouettenlandschaft eines zertrümmerten Dorfes. Major Normann war eine junge, rassige Erscheinung, das Ritterkreuz am Kragen. Das rechte Auge war immer leicht zugekniffen, der rechte Mundwinkel etwas verzogen. Günther Racke hätte im kurzen, scharfen Verhör der beiden erfahrenen Frontoffiziere versagt, wenn er nicht die Autorität des Bruders hinter sich gewußt hätte. Er hatte an dem acht Jahre älteren stets halb gezweifelt und halb emporgesehen, erst das Zusammentreffen in diesem Dschingiskaja hatte ihm gezeigt, was in ihm steckte. Er wünschte, Wolf selbst stünde an seiner Stelle hier. Nach der Besprechung faßte Major Normann noch einmal alles zusammen. „Also, passen Sie auf, Racke! Im Bereich unserer und der feindlichen Stellungen ist der Bahnkörper auf rund 1.000 Meter verwüstet. Sie sagen, Ihre Männer schaffen das in 10 Stunden. Auf den weiteren 6 Kilometern bis zum Russenbahnhof sind dann nur noch kurze Gleisstücke durch einige Bomben- und Granattreffer zerstört, ausgenommen ein etwa 100 Meter langes, von einem kleinen Durchlaß unterbrochenes Stück direkt vor den Abraumhalden, zwischen denen die Strecke in den Bahnhof führt. Wie es seit der letzten Fliegeraufnahme im einzelnen im Bahnhof selbst aussieht, wissen wir nicht, jedenfalls ist Betrieb. Mein Bataillon wird also bei Tagesanbruch an der Bahn entlang die russischen Stellungen durchbrechen und nach beiden Seiten so weit aufrollen, daß der Bahnkörper von den Russen nicht mehr eingesehen werden kann und nicht mehr im Bereich ihrer Infanteriewaffen liegt. Dabei kommen uns das unsichtige Wetter und die mehrfachen Geländewellen zugute. Die wichtigsten strategischen Punkte werden von uns besetzt, so daß Angriffe russischer Reserven bei Tage abgewiesen werden können. Dazu stehen uns noch einige Pak und Infanteriegeschütze zur Verfügung. Unsere drei noch aufgetankten Panzer stoßen mit aufgesessener Infanterie und einem MG-Zug sofort zum Bahnhof durch, schließen ihn ein und halten ihn so lange, bis ihr Eisenbahner wenigstens den Spritzug draußen habt. Um
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Überraschungen niederzuhalten, die wir nicht voraussehen können, haben wir noch unsere Artillerie.“ „Hoffentlich ist der Spritzug auch wirklich im Bahnhof und der Sprit noch nicht abgefüllt und abgefahren,“ sagte Racke. „Das ist allerdings Glückssache“, antwortete der Oberstleutnant. „Wir werden aber die Chance durch taktischen Einsatz der Artillerie erhöhen. Ab sofort wird alle Stunde die Strecke jenseits des Bahnhofs zehn Minuten lang unter Feuer genommen. Auf die Brücke sind die Mörser bereits eingeschossen. Die draußen auf der Strecke oder im nächsten Bahnhof wartenden Züge können erst einfahren, wenn wir das Störfeuer eingestellt haben. 4 Uhr dürfte der richtige Zeitpunkt sein, dann werden sie ihre Züge noch bei Dunkelheit in den Bahnhof bringen, aber nicht mehr ausladen können, denn um 8 Uhr wird er in unseren Händen sein. Was meinen Sie zu dieser Zeiteinteilung?“ Racke stimmte zu. „Instruieren Sie also Ihre Eisenbahner“, schloß der Major die Besprechung. „Sorgen Sie dafür, daß mit möglichst wenig Lärm gearbeitet wird. Der Russe darf nicht merken, um was es uns geht.“ Günther Racke ließ sich nicht zurückfahren, er ging auf dem nächsten „Weg zum Bahndamm. Am Ausgang des Wäldchens stand eine Draisine. Wolf Dieter war schon da. Noch ein kurzes Stück weit, den Stellungen zu, waren die Gleise in Ordnung; dann kamen die ersten Trichter, Schienen wie Fragezeichen geformt oder wie Streichhölzer geknickt. Immer wieder dachte er auch: da steht doch einer, aber jedesmal war es nur der Stumpf eines Telefonmastes, ein aufrecht in die Erde gespießtes Schienenstück oder eine Schwelle. Von Zeit zu Zeit stieg eine Leuchtkugel auf. Selten einmal fiel ein Schuß oder ein MG tuckerte ein paar Sekunden lang. Fern blitzten Abschüsse wie Wetterleuchten, sie klangen sanft und die Einschläge waren nur als kurzes Murren zu hören. Hätte Günther nicht gewußt, daß die Front unmittelbar vor ihm lag, so wäre ihm keine Gefahr bewußt gewesen, weil er es aber wußte, glaubte er, sie geradezu körperlich zu spüren. Er mußte einen zusammengeschossenen Güterzug umgehen. Die Wagen waren teils ausgebrannt, teils abgeholzt, die meisten 163
lagen kopfüber neben dem Bahndamm. Der Lokkessel hatte einen Volltreffer, sah aus wie eine Badewanne und stand voll Wasser. „Paß doch auf, du Krummstiefel! Du trittst uns ja die Salondecke ein!“ Da war ein Loch im Bahnkörper mit zwei Schienen darüber und auf den Schienen eine zersplitterte Güterwagentüre. Darunter saß ein Feldwebel und sein Zugtrupp. Ein Kopf kam zum Vorschein, schaute schräg, dann folgte ein überraschter Ausruf: „Jetzt da legst di nieder! 'n Eisenbahner!“ Ob hier nicht schon einer vorbeigekommen sei? fragte Racke. „Eisenbahner nicht, aber ein Hauptmann. Übersieh' aber den vorderen Graben nicht, sonst nimmt dich nach 100 Schritten der Iwan in Empfang.“ Racke brauchte nicht weiter zu gehen, eben tauchte eine Gestalt aus dem Dunkel. Es war Wolf Dieter. Der stapfte hier wie ein altes Frontschwein zwischen den Stellungen herum und war noch keine Stunde seines Lebens Soldat gewesen. Noch nie im Feuer gelegen. Vielleicht gerade darum. Sie gingen zusammen zur Draisine zurück, berichteten sich gegenseitig. Eine Batterie begann zu schießen, erst Einzelfeuer, dann Salven. Die Feuerüberfälle auf die Bahnlinie drüben hatten begonnen. „Es wird alles fertig“, sagte Wolf Dieter. „2.000 Meter Schienen und 3.000 Schwellen werden bis zum Morgen angefahren sein. Lok konnte ich leider nur eine bekommen. Sie wird als Reserve in Dschingiskaja abgestellt. Auch falls die Russen alle ihre Lok noch sprengen, werden wir doch wenigstens den Spritzug abfahren können. Wir brauchen aber für die Arbeit hier zusätzlich 1.000 Arbeitskräfte zum Schienen- und Schwellenschleppen. Muß die Bevölkerung machen.“ „Ob das klappen wird?“ „In den Nestern hinten steckt eine ganze Menge Leute. Alles, was aufgetrieben werden kann, auch Frauen, die ja meist schwere körperliche Arbeit gewöhnt sind, soll hier im Wald gesammelt werden. Bis Mittag wird aus einer Kolchose mit 164
Genehmigung des Wirtschaftskommandos in Charkow Brot und Fett da sein, damit wir den Leuten etwas geben können. Kenne den Wirtschaftsrat gut. Wir holen auch Vieh heraus, hab ich behauptet. Das hat gezogen.“ Die beiden Brüder hatten noch kein Wort persönlicher Art gesprochen. Auch jetzt war keine Zeit dazu. Sie hatten beide Eile, ihre Aufgabe vollends zu lösen. Es war eine Stunde vor Mitternacht.
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8. KAPITEL
Wolf und Günther Racke trafen sich nach sieben Stunden an der Waldecke wieder. Es war noch Nacht und doch spürte man die Nähe des Morgens, ohne daß man hätte sagen können, woran. Vielleicht nur, weil man eine Uhr hatte. Vielleicht auch war da eine besondere Frische in der naßkalten Luft. Sie hatten beide ein paar Stunden geschlafen. „Wolf im Bauzug, Günther in einem Bunker des Regimentsstabes. Auch heißen Kaffee hatte es gegeben und Gelegenheit, sich die Augen auszuwaschen und ein Kochgeschirr voll kaltes Wasser über den Kopf zu gießen. Etwas hinter der Ostspitze des Wäldchens stand der Materialzug mit den Schienen und Schwellen, der Gleisbauzug dahinter; sie hatten in Dschingiskaja umrangiert. 300 Meter konnte man noch fahren, dann begannen die 1.000 Meter vor und hinter den Stellungen, die durch Artilleriebeschuß durchgehend zerstört waren. 120 Eisenbahner, blaue und feldgraue, waren in zehn gleichstarke Gruppen gegliedert. Sie würden gleichzeitig über das ganze zerstörte Streckenstück verteilt werden. Jeder Gruppe waren je nach der Entfernung vom Materialzug 50 bis 100 Russen, leider meist Frauen und Jugendliche, zugeteilt und jede Gruppe hatte in längstens 10 Stunden 100 Meter Bahnkörper aufzubereiten und 100 Meter Geleise zu legen. Nicht nach Vorschrift, nein, nur behelfsmäßig, daß eben ein paar Züge vorsichtig darüber fahren konnten. Günther Racke war nervös. Als Soldat bei ungleich gefährlicheren Einsätzen, war er es nicht gewesen, nur ernst und gespannt. Hier aber war er mit der moralischen Verantwortung nicht nur für das Leben der Kameraden, sondern für den ganzen Handstreich überhaupt belastet, denn er war der Vater des Gedankens gewesen. Eine kleine Gruppe Eisenbahner kam über die breite Schneise der Bahn herüber. Wolf Racke schüttelte jedem die Hand. „Das 166
sind drei Feldeisenbahner“, sagte er dabei zu Günther, „ein Lokführer und zwei Heizer. Sie haben sich freiwillig gemeldet, wollen gleich mit dir zusammen voraus in den Bahnhof, um die Lok anzuheizen, falls sie kalt stehen. Und das hier sind zwei Pioniere, Weichenwärter, die gleich die Fahrstraße einrichten sollen. Ich komme mit einem größeren Trupp Pioniere und Feldeisenbahner nach, sobald die Streckenarbeiten überall im Flusse sind.“ Auch Günther Racke gab einem nach dem andern die Hand. Der letzte war der Lokführer. Der sagte: „Nur weil du's bist.“ Jetzt erst erkannte ihn Günther. „Mensch — Karl!“ sagte er leise. Bunz hatte weiße Haare bekommen. Das Gesicht war mager geworden, auf beiden Seiten eine tiefe Falte um den Mund eingegraben. In diesem Augenblick schwankte Günther Racke mehr denn je zuvor während dieser Nacht. Ob man nicht doch die ganze Geschichte abblasen sollte? Wie kam er dazu, Eisenbahnern eine solche Strapaze aufzuzwingen, sie in ein solches Wagnis zu reißen? Sie hätten alle zusammen dahinten in Dschingiskaja die ganze Nacht friedlich schlafen und bei Tagesanbruch gemächlich die Arbeiten dort fortführen können, wo sie gestern stehen geblieben waren. Er hielt noch immer Bunz' Hand. „Karl“, sagte er noch einmal, sonst nichts. Bunz düstere Augen lagen stumm in denen des Freundes. Zwischen den Bäumen tauchte eine kleine Gruppe Landser auf, Major Normann an der Spitze. „Nun, wie steht's?“ fragte er. Günther stellte ihm den Bruder vor. Normann schüttelte ihm die Hand. „Noch ein Racke? Freut mich!“ Wolf sagte: „Wir Eisenbahner sind zur Stelle, Herr Major. Was wir bei dem Handstreich zu tun haben, ist vorbereitet und kann in Angriff genommen werden.“ „Ich danke Ihnen, meine Herrn. Damit Ihre Leute nicht nervös werden, wenn's jetzt zu krachen anfängt, sagen Sie ihnen und auch den russischen Arbeitskräften, daß unsere Artillerie auf die russischen Stellungen beiderseits der Bahn trommeln wird. Erstens wird der Iwan mürbe und zweitens geht in dem Lärm der Anmarsch unserer Kampfwagen unter. Sie sollten ihn auch 167
benutzen, um Ihre Züge vollends so weit wie möglich vorzubringen.“ „Das wird ohnedies geschehen“, antwortete Wolf Racke. „Die Strecke hat hier leichtes Gefälle. Man wird die Züge drüben kaum hören. Notfalls können wir sie teilen und die Wagen einzeln schieben. Wir sind über 900 Menschen.“ „Ausgezeichnet! Also weiter: Sobald unsere Bereitstellung durchgeführt ist, verlegt die Artillerie das Feuer auf die russischen Stellungen vor dem Nachbarregiment, das dann auf breiter Front einen Scheinangriff durchführt. Der Iwan aber wird annehmen, das bei uns hier wäre nur ein Scheinmanöver gewesen. Er wird seine Aufmerksamkeit dem Nachbarabschnitt zuwenden, seine Gegenmaßnahmen in jener Richtung ansetzen und da stoßen wir hier dann überraschend durch. Wir werden auch heute höchstens 300 Meter Sicht haben, genau das, was wir brauchen. Das Nachbarregiment wird ihn im Verein mit der Artillerie drüben unablässig so beunruhigen, daß er unseren Vorstoß selbst nur für ein Ablenkungsmanöver halten wird. Inzwischen haben wir den Bahnhof und den bekommt er, so lange es Tag ist, nicht wieder. Aber, wenn es dunkel wird, müssen die Züge abgefahren sein. In der Nacht sind wir einem Massenansturm nicht gewachsen, müssen also rechtzeitig in unsere Stellungen hier zurückgehn. Wenn Ihre Leute bei der Arbeit nicht zu viel Lärm machen, kommt der Iwan nicht darauf, um was es sich eigentlich handelt und der Bahndamm wird dann wohl kein Artilleriefeuer erhalten. Denn daß deutsche Eisenbahner die Frechheit besitzen, 6 Kilometer Strecke vor seiner Nase instand zu setzen und aus einem Bahnhof hinter seinen eigenen Linien Züge abzufahren — das wird er nie für möglich halten. Uns zurückzuwerfen, wird ihm aber gar nicht eilen, weil er sicher ist, daß ihm das in der Nacht mit viel geringeren Verlusten ohne weiteres gelingt.“ Der Major wandte sich Günther zu: „Sie wollten auf einem Panzer gleich mit in den Bahnhof eindringen. Das ist nicht nötig. Sie können mit mir kommen. Sobald die russische Linie weit genug geöffnet ist, fahre ich den Panzern nach.“ „Ich habe aber noch diese fünf Kameraden bei mir“, sagte Günther Racke.
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„Um so besser. Sie haben alle Platz. Wir fahren mit einem geländegängigen LKW meiner motorisierten Infanterie und haben meinen Gefechtsstab, 2 LMG, Funk- und Telefontrupp bei uns. Es kann uns also nichts passieren.“ Er zögerte, dann lachte er kurz auf: „Irrtum vorbehalten. — Also kommen Sie!“ Günther drehte sich kurz nach Wolf Dieter um. Eine Sekunde lagen ihre Blicke ineinander. „Hals- und Beinbruch, Kleiner!“ sagte Wolf leise. Normann und Günther Racke stapften mit ihren Leuten durch den Wald dem Bataillonsbunker zu. Es dämmerte; in einer knappen Stunde ging die Sonne auf. Der Adjutant sah seinen Kommandeur fragend an. Normann nickte. „Alles fertig?“ Jawohl, Herr Major.“ „Gut. Fangen wir an.“ Der Adjutant nahm den Hörer vom Apparat, sagte ein paar Worte, legte ihn wieder auf. Der Major bot den Eisenbahnern Zigaretten an. Sie rauchten schweigend. Ein leichtes Zittern ging durch den Bunker, zugleich zerbarst die Stille vom hell schmetternden Krachen einer Abschußserie. Kurz darauf folgte das dumpfe Gepolter der Einschläge. Aber schon klang beides ineinander, vermischte sich zu einem nicht abreißenden, wütenden Donnerrollen. Die Eisenbahner duckten sich unwillkürlich in sich zusammen, obgleich das nicht sie, sondern die Russen drüben anging. Rackes Gemüt bedeckte sich mit jener dumpfen Trauer, die dann über ihn kam, wenn er andere, ob Freund, ob Feind, in der Feuermühle des Todes wußte. Sein Auge blieb an Bunz hängen. „War es so schlimm, Karl?“ Bunz gab keine Antwort. Ein anderes Geräusch mischte sich minutenlang in den tobenden Lärm der Geschütze. Ein dunkles Summen, Brummen. Es kam näher, verklang wieder. Das mußten die Panzer gewesen sein. Dann war mit einem Mal Totenstille. Das Artilleriefeuer hatte aufgehört. Aber schon fing es in der Ferne an. Auch Gewehr- und MG-Feuer hörte man. 169
Major Normann sah auf die Uhr, ging zum Funkkasten, stülpte den Kopfhörer über, nahm die Sprechmuschel vor den Mund. „Achtung — Achtung! — Hier Saturn — Sa — turn. Mars kommen. Mars — kommen.“ Mars kam sofort. „Panzer marsch!“ befahl Normann. Gleich darauf hörte man sie brummen. Im gleichen Augenblick lief auch Gewehrknattern die Stellung entlang. Leuchtraketen stiegen, in SMG-Stöße mischte sich das Scheppern von Handgranaten. Gebrüll kam von vorne, eine rauhe, häßliche, quälende Lautwelle, verstummte, brach wieder auf, versickerte. Eine Minute später trommelte die russische Artillerie. Das Feuer lag auf den Stellungen. Man konnte nur schwache Blitze zucken sehen, es war noch zu dunkel. „Schadet nichts“, versicherte Normann. „Meine Kompanien sind längst draußen.“ Meldungen kamen. Es ging alles nach Wunsch. Dann tanzte der Bunker, dröhnten die Trommelfelle von schweren Einschlägen. Den Eisenbahnern wurde unheimlich. Die Feuerwelle wanderte weiter rückwärts, schlug in die Ruinen der einstigen Ortschaft, in den Waldrand dahinter. Neue Meldungen kamen. „Der Iwan ist weit genug von der Bahn weggetrieben“, sagte Normann. „Die Panzer und unsere Stoßtrupps sind schon im Gefecht mit schwachen Kräften, die ihnen vom Bahnhof her entgegengestoßen sind. Wir können nachfolgen.“ Der Adjutant sprach ins Telefon. „Abbauen“, sagte der Major zu den Funkern. Das schwere russische Feuer verlagerte sich in den Abschnitt des Nachbarregiments. Motorgeräusch wurde vernehmbar, kam näher, brach ab. Sie gingen hinaus. Die Wagen standen hinter einem Erdwall. Sie stiegen rasch ein, fuhren dem Bahndamm zu. Obgleich man noch nicht weiter als hundert Schritte sah, erkannten sie schon bald die Silhouette der Züge; sie waren bereits vorgefahren. Eine unabsehbare Kette von Gestalten, die Schienen und Schwellen trugen, bewegte sich am Bahnkörper entlang. Zu hören war fast nichts. Der Raupenketten-LKW fuhr langsam vor, zwischen dem System von Grabenstücken und Schützenlöchern durch. Voraus und seitwärts bummerte oder knallte es ab und zu. Dem Blick 170
aber blieb verborgen, was geschah, obgleich es nun schnell heller geworden war, verschwammen schon die Ränder der nächsten Geländewelle mit dem stumpfen Schneegrau des Himmels. Der Funker hielt die Verbindung mit den Panzern. Auch ein VB der Mörser war vorsorglich mitgekommen. Geschützfeuer kam auf. Das mußten die Panzerkanonen sein, das hellere Peitschen der Pak klang dazwischen. „Drei T 34 greifen vom Stadtrand her an“, meldete der Funker. Der Geschützlärm wurde heftiger, die Fahrer stoppten. „Weiterfahren!“ befahl Normann. Sie kamen näher. Nach zehn Minuten war es wieder ruhig. „Zwei T 34 abgeschossen, einer entkommen, eine Pak ausgefallen“, sprach der Funker laut die Meldung des Panzerkommandanten nach. Nach weiteren zehn Minuten sagte er: „Der Bahnhof ist von den Stoßtrupps genommen, wird von den Panzern und SMG abgeriegelt.“ Normann nickte nur, den Eisenbahnern schlug das Herz hoch vor Erleichterung und Freude. Aber einige Bangigkeit war immer noch dabei. Eine Kolonne kam ihnen entgegen. Gefangene. Wenigstens hundert, einige Zivilisten, auch Frauen darunter. Ein einziger Landser kam hinter ihnen her, ein russisches Schnellfeuergewehr unterm Arm, seine eigene Knarre umgehängt, am Koppel Stahlhelm und Stielhandgranaten, den Kopf mit einem blutigen Verband umwickelt. „Heil, Herr Major!“ brüllte er herüber. „Wird's denn gehn?“ rief der zurück. „Klar!“ kam heiter die Antwort. „Iwan nix mehr wojna! Gutt Kamradd.“ Die Kolonne verschwand in einer Geländefalte, voran tauchten riesige dunkle Schatten auf. Das waren die Abraumhalden, die es der deutschen Artillerie unmöglich gemacht hatten, den Bahnhof zu treffen. Gestaffelt und sich überschneidend umlagerten sie ihn, ein halbkreisförmiger, lückenloser Wall. Dafür waren um sie herum die Werke dem Erdboden gleich gemacht und das Gelände, einschließlich des Bahnkörpers ein wüstes Trichterfeld. Hier mußten die Pioniere sofort angesetzt werden. Was sie an Oberbaustoffen brauchten, mußten sie sich im russischen 171
Bahnhof beschaffen. In zwei engen Kurven mit leichtem Gefälle führte die Strecke zwischen zweien der Pyramiden durch. Auf jeder hatte sich eines der SMG eingenistet. Sie beherrschten die ganze Gegend, soweit die Sicht reichte. Racke schlug das Herz höher vor Freude, als er den Bahnhof überblicken konnte. Er war nicht groß, zehn Gleise alles in allem, aber es waren eine ganze Reihe Züge da, der Kesselwagenzug vor einem langen Güterschuppen. Auf der breiten Rampe parkten allerdings schwere Spritautos an ihm entlang, auch andere Kraftfahrzeuge und Pferdegespanne standen herum. Verdammt noch mal, wenn der Treibstoff schon abgefüllte und abgefahren war? Der Führer der Stoßtrupps, die bei den Panzern aufgesessen waren, berichtete dem Kommandeur: Als die T 34 angetost waren, hatten sie sich dünn gemacht und den Bahnhof schon überraschend genommen, während sich 2.000 Meter rückwärts die Panzer noch gerauft hatten. Gleich darauf war der MG-Zug hinter den Dreckkegeln aufgefahren und hatte die Gewehre auf ihnen in Stellung gebracht, kleine Trupps russischer Soldaten, die aus der Stadt vorgestürmt waren, hatten sich schleunigst wieder zurückgezogen, als sie Feuer bekommen hatten. Inzwischen hatten die eigenen Panzer die nach der Stadt zu offene Seite des Bahnhofs abgeriegelt; sie waren gut getarnt. Vorläufig ausreichende Flankensicherung waren die beiden Pak, die beiden LG. und die SMG auf den äußeren Abraumhalden. Im Bahnhof selbst war Vorsicht geboten; er war noch nicht völlig durchgekämmt. Man mußte damit rechnen, daß sich noch Zivilisten und feindliche Soldaten versteckt hielten. Ab und zu fielen auch Schüsse und immer wieder trieb ein Landser einen oder mehrere Russen vor sich her. Sie wurden in einem Kellerwinkel des Empfangsgebäudes, von dem Stukabomben vor zehn Tagen nur noch einige Innenmauerreste übrig gelassen hatten, gesammelt; man wollte sie gleich als Arbeitskräfte einsetzen. Der Raupen-LKW wurde als Gefechtsstand beibehalten und nach Beseitigung von Trümmern und Geröll splittersicher zwischen Mauerwerk geparkt; gegen Volltreffer war weit und breit doch kein Schutz zu finden. 172
Racke lief mit seinen Männern sofort zum Kesselwagenzug. Kurz darauf kam Major Normann mit einem seiner Unteroffiziere. Ein Stein fiel ihnen vom Herzen. Nur die beiden letzten Kessel waren leer, ein dritter zur Hälfte; die Spritautos waren gefüllt. Vor dem Spritzug stand ein kurzer Zug, der alles Mögliche geladen hatte, unter anderem Feldküchen, Maschinen, zwei Traktoren, in der Hauptsache aber Bauholz aller Art, sowie in Bündel gepreßtes Heu. Er mußte weggezogen werden, ehe der Spritzug ausgefahren werden konnte. Er war auch der einzige bespannte Zug, alle ändern waren abgespannt. Auf dem Nebengleis stand noch ein Proviantzug, in der Hauptsache amerikanische Fleisch- und Wurstkonserven, Fett und Zucker, auch Rüben, Kohl, Bohnen, Sonnenblumen, Hirse und zwei Wagen mit lebendem Vieh. Die Bahnhofsgebäude waren übel zugerichtet. Außer dem wieder aufgebauten Güterschuppen und dem Wasserturm lag alles in Trümmern. Der kleine Lokschuppen bestand nur noch aus Teilen der Umfassungsmauern und einem Dach, das aussah wie ein aufgespannter Schirm, von dem der Stoff gerissen ist. Ein Haufen Schrott, ehemalige Lok, lag in der einen Hälfte, daneben aber standen drei Lokomotiven, zwei noch mit warmem Kessel, die andere kalt, die Roste entschlackt, die Tender hochauf bekohlt und das Wasser stand bis an den Rand. Bunz und die Heizer machten sich sofort ans Anheizen und an die Überprüfung aller Einzelheiten, ans Schmieren und Ölen. Nur bei einer war das Führerbremsventil nicht in Ordnung. Das Zusatzbremsventil funktionierte aber. Bei vorsichtiger Fahrt konnten sie zur Not auch diese Lok vorspannen. Es würde also keine Schwierigkeiten geben. Drissel und Hensch waren genau so vergnügt wie Bunz. Sobald Dampf genug und die Bahnhofsgleise frei waren, fuhren sie die Züge in der Reihenfolge Bauzug — Drissel, Spritzug — Bunz, Proviantzug — Hensch vorläufig hintereinander zwischen die Dreckkegel, dort konnten sie abwarten, bis die Strecke in Ordnung war. Inzwischen überlegte sich Inspektor Racke mit seinen beiden Weichenwärtern, wie die Lokomotiven am günstigsten zu rangieren waren und dem Brennstoffzug am schnellsten die Fahrstraße freigemacht werden konnte, denn in der Westrichtung 173
waren die Geleise und Weichen mit Leermaterial verstopft, andere mit Wällen von zerschlagenen Wagen bedeckt. Es mußte mancherlei abgeräumt und nach dem Ostausgang des Bahnhofs abgeschoben werden. Aber nach ein paar Stunden Arbeit würde man Luft und freie Bahn haben. Sonderführer Wolf Racke und Oberleutnant Kleinschmitt kamen auf einer kleinen Draisine an. Bis spätestens 15 Uhr konnte mit der Fertigstellung des über 1.100 Meter sich erstreckenden Gleisneubaus im Bereich der Stellungen gerechnet werden, falls der Gegner die Eisenbahner und ihre russischen Hilfskräfte nicht vorher vertrieb oder durch Artilleriefeuer aufhielt. Mit der Ausbesserung der weiteren, meist kleinen Schadenstellen auf der Strecke war auch schon begonnen, außerdem der LKW-Bauzug der Pioniere im Anmarsch! Die zusammengeschossenen 100 Meter Bahnkörper vor den Abraumkegeln würden also ebenfalls rechtzeitig befahrbar sein. Der Telefontrupp war schon dabei, eine Leitung bis zum Bahnhof her zu legen. Man hatte dann über Dschingiskaja Verbindung bis Jasinowataja und auch mit den Mörsern. Trotzdem waren sie sich mit dem Major einig, daß man sofort damit beginnen sollte, nach hinten zu bringen, was ohne Bahn möglich war. Die Schar der im Bahnhofsgebäude noch auftauchenden Zivilisten und Soldaten war immer größer geworden. Eisenbahner und Kraftfahrer waren darunter. Froh darüber, daß ihnen nichts geschah, arbeiteten die meisten eifrig nach Anweisung und unter Aufsicht der wenigen Deutschen. Major Normann ließ zunächst alle Motorfahrzeuge, einschließlich der Panzer auftanken, die drei Spritautos wieder vollfüllen und durch seine Fahrer abfahren, Ziel Regimentsfahrzeugpark. Die übrigen LKW und Pferdefuhrwerke im Bereich des Bahnhofs wurden mit einer Auswahl der wichtigsten und willkommensten Lebensmittel aus dem Proviantzug beladen. Das Vieh wurde ausgeladen, gefüttert und getränkt, dann trottete es willig in dem ordnungsmäßig zusammengestellten, von den Russen geführten, von einer Handvoll Landsern begleiteten Treck nach Westen. Ab und zu fiel ein Schuß, ab und zu tuckerte eines der Pyramiden-MG. Von Zeit zu Zeit zogen hoch im Unsichtbaren schwere Koffer, teils dumpf heulend, teils in hohen Tönen wie 174
kleine Kinder weinend, herüber und hinüber, sonst aber blieb alles friedlich. Nur aus weiter Ferne murrte die Front. Die Arbeiten an der Strecke gingen rüstig vorwärts. Unter den Kesseln aller vier Lok brannten helle Feuer, aus den Kaminen kräuselte sich blauer Rauch, der von Zeit zu Zeit von dickem schwarzgrauem Qualm abgelöst wurde. Das erste zum Rangieren benötigte Gleis war schon freigelegt, eine zerschlagene Weiche ausgebaut und durch eine gute von anderer Stelle ersetzt. Die Eisenbahnpioniere kamen mit einer Gruppe Blauer vom Gleisbauzug und einer Schar russischer Frauen. Alles was Hände hatte, half mit, um überflüssige Gleise frei zu machen, so weit sie von Leerzügen besetzt oder Trümmern überlagert waren; sie wurden für die Hundertmeterlücke draußen gebraucht, ausgebaut und dann auf offenen Güterwagen mit Muskelkraft abgeschoben. Major Normann unterhielt sich mit den beiden Racke. Er war sarkastisch guter Laune. Das hieß, er stellte sich die Freude der Frontschweine in der Kampflinie vor, wenn das Gebrüll anfing: ein Vorschuß auf den Sprit ist da! Und wenn dann hinterher der nahrhafte Treck ankam! Und er stellte sich zugleich vor, daß im letzten Augenblick eine russische Batterie die ganze Herrlichkeit zusammenschoß! Heiter sah er auf das friedliche Etappenbild des Bahnhofsbetriebes, grinste bei dem Gedanken, daß das ein Bahnhof auf der russischen Seite war. Schüttelte den Kopf über die Eisenbahner, die ihren Kram machten, als wären sie hundert Kilometer vom Schuß und malte sich aus, daß jeden Augenblick die Hölle eines massierten Feuerüberfalls oder eines Massenangriffs von allen Seiten über diesem Idyll zusammenschlagen konnte. Auch Günther Rackes Freude über das bisherige Gelingen war nicht rein. Unaufhörlich trieb ihn der Gedanke, ob nun auch alles richtig bedacht war und betrieblich alles klappen würde, ob nicht noch mehr geschehen konnte, geschehen mußte, um den eisenbahnseitigen Erfolg des Handstreichs zu sichern? Er ließ russische Schnellfeuergewehre, Maschinenpistolen, Handgranaten und Munition auf die Lokführerstände bringen. Der bei Major Normann im Unterbewußtsein versteckte, abwehrbereite Gedanke, es könne doch noch alles schief gehen, arbeitete in Günther Racke noch stärker und weckte eine von 175
Stunde zu Stunde sich steigernde Unruhe in ihm. Er wünschte sich, daß Gott ihn wachsen ließe, bis er ein Riese wäre, für den der ganze Bahnhof nicht größer als ein Spielzeug war, daß er ihn mit seinem Leibe decken und die ganze Strecke mit den ausgestreckten Armen schützen könnte. Dagegen war Wolf Dieter, der Skeptiker von Geblüt, die Ruhe selbst. Entschlossen und verschlossen. „Komm“, sagte er, „es ist Mittag. „Wir haben noch nichts im Leib und hier gibt es nahrhafte Genüsse.“ Es gab keinen Eisenbahner und keinen Landser, der nicht längst ausgestopfte Taschen hatte. Die Pioniere und blauen Gleisbauer draußen auf der Strecke waren verproviantiert worden, alle Wehrmachtsfahrzeuge, einschließlich der Panzer waren vollgepackt. Man hatte auch den arbeitenden Russen reichlich zu essen gegeben. „Stalin kaputt“, grinsten sie, „deutsch Soldatt gutt.“ Vier Stunden saß man schon im Bahnhof. Die Lok hatten genügend Dampf, man konnte mit dem Rangieren anfangen. Die beiden Brüder hatten gegessen, nun saßen sie rauchend. Und nun fiel zum ersten Mal ein persönliches Wort. Günther sagte: „Vor drei Wochen wollte ich dich im Lazarett besuchen, aber du warst am gleichen Tag entlassen worden. Seitdem bin ich hinter dir her gewesen.“ „Erzähl mir von Vaters Tod“, sagte Wolf. Günther erzählte. Als er schwieg, murmelte Wolf: „Und warum liegt er nun unter der Erde?“ Und er gab selbst die Antwort auf diese Frage: „Weil er in seinem Mitgefühl mit den Polen ihren Haß nicht bedacht hat. In keinem Land der Erde kann der eingedrungene Feind mit Vergebung und Menschlichkeit rechnen.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Außer in einem. In Deutschland. Bei uns unverbesserlichen Eseln!“ Eine Pak bellte hell. Dunkel donnerte das Geschütz eines Panzers. In rascher Folge klang draußen das Krachen krepierender Granaten und Geschrei. Fünf Minuten hämmerten die Maschinengewehre von den beiden stadtnächsten Abraumkegeln. Dann war es wieder ruhig.
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Der Iwan hatte versucht, vom Stadtrand aus mit Unterstützung zweier Ungetüme von Sturmgeschützen vorzubrechen. Inzwischen war es 13 Uhr geworden. Das Wetter hatte etwas aufgeklart. Vom östlichen Abraumkegel wurde gemeldet, sie hörten einen Zug. Major Normann wünschte sich, er könnte statt 300 Meter für eine Minute 3000 weit sehen. Wenn sich seine Kerle nicht irrten war es jetzt eigentlich Zeit, den Rückzug anzutreten. Denn, da es sich beim Iwan inzwischen auch weiter herumgesprochen haben mußte, daß der Bahnhof von Deutschen besetzt war, bedeutete diese Frechheit, daß sich der Zug sicher fühlte. Es handelte sich also entweder um einen Panzerzug oder einen, der mit schweren Waffen und Soldaten bis an den Hals voll war. „Sehen Sie mal nach“, funkte Normann dem Panzerkommandanten. Artilleriefeuer wollte er nicht gleich anfordern; vielleicht war es doch ein harmloser Zug mit brauchbarer Ladung, den man noch mitschnappen konnte. Leider trog diese Hoffnung. Der Panzer hatte sofort Granatfeuer erhalten, als er in Sichtweite gewesen war und schleunigst wieder den Rückzug angetreten. Der Kommandant besprach sich persönlich mit Normann. Der Zug stand 900 Meter vor dem Bahnhof. Es wimmelte von Soldaten und Maschinengewehren und sie hatten mindestens ein Dutzend schwere Granatwerfer und Sturmgeschütze gezählt. „Wir müssen sie unter allen Umständen in der Bereitstellung zerschlagen“, entschied der Major nach kurzer Überlegung. „Ich werde unsere Artillerie rufen; sie ist auf die Strecke eingeschossen. Sie schießen noch nicht, damit der schwere Feuerüberfall den Gegner noch konzentriert überrascht. Sobald aber die ersten Koffer kommen, nehmen alle drei Panzer und die Pak ebenfalls das Feuer auf und im rechten Augenblick greifen Sie an. Sie erhalten einen Zug meiner Infanterie. Aber lassen Sie sich unter keinen Umständen vom Bahnhof trennen. Seine Verteidigung ist die Hauptaufgabe. Der VB der Mörser geht bereits vor, bis er Sicht hat und leitet dann deren Feuer.“ Eine Minute später setzte schlagartig das eigene Artilleriefeuer ein. Und nach einer kleinen Weile war in Richtung Dschingiskaja ein matter dumpfer Laut zu hören. Dann aber kam es orgelnd 177
durch die Lüfte, ging Sekunden später in heulendes Sausen über und endete in der Ferne mit höllischem Krachen. „Noch etwas zu, dann dürfte das stimmen“, dachte Normann vergnügt. Schon kam der zweite Koffer. Leider krepierte er wesentlich näher. Nun, der Vorgeschobene Beobachter würde schon berichtigen. Da kamen bereits die beiden nächsten. Man hörte, daß sie einen höheren Bogen beschrieben und dem Klang der Einschläge nach mußten sie gesessen haben. Die Panzer brummten, entfernten sich. Wieder kamen zwei Mörsergranaten. Auch die Panzer schossen jetzt, die Panzerabwehrkanonen, die Infanteriegeschütze. Der Spitzenpanzer funkte: „Wir ha — ben — sie. Mör — ser lie — gen gut. Zwei Voll — tref — fer.“ Kurz darauf kam eine neue Meldung. „Sie lassen alles liegen und stehen und hauen ab oder laufen zu uns herüber.“ Wolf Racke fuhr mit der Draisine fort. Er wollte die Pioniere hinten davon unterrichten, damit sie sich nicht beunruhigten. Günther Racke war mit Bunz und einem russischen Weichensteller auf der Lok. Sie rangierten den Zug um, der dem Spritzug die Fahrstraße versperrte; es war das beste, man fuhr ihn einfach als ersten hinaus. Der Kampflärm von der Stadt her und ostwärts nahm zu. Vom Winde getrieben, wehten Schleier von Dreck und Rauch und Pulvergestank in den Bahnhof. Die Eisenbahner wurden unruhig, die russischen Arbeitskräfte hoben die Köpfe und ließen die Hände sinken. „Du, ich glaube, es gibt dicke Luft“, sagte Bunz zu Racke, ohne sich weiter stören zu lassen. Günther war nervöser. „Will mal den Major fragen, was los ist.“ Er stieg von der Lok. „Komm doch mit!“ Bunz schüttelte den Kopf. „Bin kein Freund vom Barras.“ Major Normann lachte Racke in das besorgte Gesicht: „Im Gegenteil“, rief er. „Wir machen Beute und Gefangene! Hauptsache, Ihr seid bald fertig, dann kann's nicht mehr schief gehen!“ Er hängte sich an die Strippe. Man hörte zwei Abschüsse der Mörser. „Stellen Sie das Feuer ein!“ rief er in die Sprechmuschel.
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„Sie haben hervorragend geschossen. Danke. Meine Panzer rollen weiter vor. Wir holen —“ Weiter kam er nicht. Ein jähes Geheul, sekundenschnell ins Grauenhafte sich steigernd, schaltete Hör-, Denk- und Sprechfähigkeit aus. Der Luftzug riß den Atem weg. Noch ehe die Granate krepierte, hatte es ihn umgeworfen; vielleicht war es auch eine instinktive Willenshandlung gewesen. Dann bebte die Erde. Es blitzte, donnerte, krachte, polterte, splitterte, kreischte; der ganze Bahnhof schien zu bersten. Günther Racke war zurückgetaumelt. „He Günther! Kommst du nicht mehr?“ hatte eben noch Bunz vom Führerstand der Lok herübergerufen. Doch! Ich komme! hatte er zurückrufen wollen; er war nicht mehr dazu gekommen. Er hing, in die Knie geschleudert, hinter derselben Mauerecke, um die es Normann geworfen hatte, an die Kanten geklammert. Es schüttelte den Boden unter ihm, daß er glaubte, den Halt zu verlieren. Die Mauer riß ihm die Hände auf, aber er krallte sich fest, mit schreckgeweiteten Augen auf die ungeheuerlichste Szene starrend, die er je in seinem Leben und in diesem Kriege gesehen hatte: Über einer Lawine von feuerdurchzucktem schwarzen und schwefelgelben Rauch, die nach allen Seiten Erde und Gestein, Schwellen, Schienenstücke, Wagentrümmer und Ballen von Heu aus sich herausschleuderte, tanzte haushoch ein mit Holzriegeln beladener Güterwagen in der Luft, gaukelte auf und ab, bis er niederbrach und die Lok, die mit einem lustigen weißen Dampffähnchen und dem sanften Schnaufen arbeitswilliger Kraft unversehrt vor dem aufgerissenen Tender gestanden hatte, mit seiner ganzen Ladung unter sich begrub. Die Lok, auf der Bunz auf ihn gewartet hatte. Und noch etwas taumelte durch die Luft, in weitem Bogen, eine Frau, der die Orkanwirbel der Explosion wie rasende Fäuste die Kleider vom Leibe rissen und sie über die Lücke der abmontierten Gleise auf einen der Kesselwagen warfen, wo der leblose Körper, aus allen Poren blutend, liegen blieb. Da und dort setzten die Luftwirbel das Heu wie spiralförmig gewundene Türme ab. Was sich an Russen und Eisenbahnern in lebensrettender Entfernung vom Einschlag der Granate befunden hatte, verkroch sich, wo irgend ein Loch, eine Wand, ein Wall zur Deckung zu 179
finden war; die meisten jedoch liefen, was sie laufen konnten, nach allen vier Himmelsrichtungen vom Bahngelände weg, den nächsten Einschlag erwartend. Selbst die MG-Trupps auf den Abraumbergen kamen innerlich ins Wanken, aber erstens hielt sie nicht nur der Befehl fest, sondern auch das Gewissen und die Kameradschaft gegenüber den Eisenbahnern, die sie ja gegen einen etwaigen Angriff zu sichern hatten. Und zweitens wußte man auch gar nicht, wo man ins Verderben geriet und wo nicht. Rote Leuchtkugeln stiegen. Günther Racke zog sich an der Mauerecke hoch, die Knie trugen ihn kaum. Gewaltsam überwand er Lähmung und Schwäche. Einem betrunkenen Seemann auf schaukelnden Planken gleich, bewegte er sich auf den Bauholzhaufen zu. Der sah wie ein groteskes Bauwerk aus. Achsen und Eisenträger starrten heraus. Der Kesseldeckel thronte ganz oben und auf einem aufrechten Balken hing einer der Dome wie ein schiefer Hut. Karl — Karl —, sagte Racke unablässig, ohne daß das Wörtchen hörbar von seinen Lippen kam. Hilflos stand er mit hängenden Armen und gebeugtem Nacken, dann fing er an, so sinnlos es auch war, das Holz dort wegzuziehen, wo etwa der Führerstand der Lok stecken mußte. Inzwischen half Normanns Gefechtstrupp seinem Kommandeur, sich aus dem Dreck und Schutt herauszuwühlen. Er war im Augenblick wieder Herr über Gehirn und Glieder und mit ein paar Schritten am Telefon. Es blieb tot, der Draht mußte gerissen sein. Sie funkten: Volltreffer in Bahnhof. Sie flickten die Eisenbahnerleitung wieder zusammen. Normann nahm einen Schluck Schnaps, zündete sich eine Zigarette an. Er fühlte sich, als wäre er durch eine Knochenmühle gedreht worden. Unaufhörlich ging ihm durch den Kopf: Wie war das nur möglich? 1.000 Meter zu kurz! Die Treibladung dieser Granate war schwächer gewesen. Entweder hatte der Kanonier zu wenig Pulversäckchen in die Kartusche getan, oder es war nasses Pulver dazwischen. Oder Saboteure hatten einzelne Pulversäcke mit irgend einem anderen Zeug gefüllt. Die Eisenbahner, Landser, Russen kamen gelaufen, Verletzte schrien um Hilfe. Man holte sie, half den Sanitätern Notverbände anlegen. Einem Pionier hatte ein Eisenstück beide Unterschenkel 180
gebrochen. Einem Russen war die ganze Schädeldecke abgehoben; das Gehirn lag frei. Er hielt das haarige Ding im Schoß und grinste darauf hin. Sie trugen die Toten zusammen und die verstreuten Körperteile. Auch ein Kopf war darunter, zu dem der Körper fehlte. Sie fanden den Heizer Drissel quittengelb, aber ohne die geringste Verletzung, der Luftdruck hatte ihn getötet. Sein Kollege Hensch neben ihm war gespickt mit Holzund Eisensplitterchen, aber, von den Nachwirkungen des Schocks abgesehen, munter wie ein Fisch im Wasser. Sie holten auch den auf den Kesselwagen geklatschten Frauenleib herunter. Er war jung und schön und der Sanitäter sagte: „So ein Quatsch.“ Sonderführer Racke war wieder zurückgekehrt. Er zog sofort Pioniere und einen Trupp der Gleisbauer zu den Aufräumungsarbeiten und der Wiederherstellung der Gleise mit heran. Dann kam er zu seinem Bruder und griff mit zu. „Wer?“ fragte er kurz. „Bunz und ein Russe.“ Neben ihnen arbeitete Major Normann mit seinem Gefechtsstab, die Funker ausgenommen, obgleich sie wußten, daß es hoffnungslos war. Der Holzberg rauchte, es roch nach Brand und unter ihm floß dampfendes Wasser vor. Als endlich der Teil der Lok zum Vorschein kam, der als ehemaliger Führerstand zu erkennen war, schauderten sie insgeheim. Er sah aus wie eine Büchse Konserven, die ein Elefant zertreten hat. Hier konnte man nichts mehr bergen. Die Eisenteile mußten auseinandergeschweißt werden. Und das war sinnlos. Normann ging mit seinen Leuten zu seinem Gefechtswagen zurück. Wolf Dieter faßte den Bruder am Arm: „Komm weg, Kleiner! Dazu hast Du keine Nerven. Du brauchst sie noch. Du mußt jetzt den Spritzug fahren, wenn wir noch so weit kommen.“ Günther gehorchte. Er konnte nichts denken, als immer nur ,Bunz'. Wozu hatte er nun den Freund aus der Strafkompanie herausgeholt? Die Panzer kamen zurück. Sie trieben lose Haufen russischer Soldaten, auch Offiziere unter ihnen, vor sich her, die diesmal nicht mit hochgehobenen Armen gingen, sondern eine Anzahl schwerer Waffen schleppten oder zogen. Maschinengewehre, Granatwerfer, Infanteriegeschütze, Munitionskarren. Was nicht
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hatte mitgenommen werden können, war unbrauchbar gemacht worden, soweit das noch nötig gewesen war. Normann ließ alles verladen, damit die Gefangenen noch als Arbeitskräfte verwendet werden konnten. Sie griffen willig zu, es war ja bedeutend angenehmer, als gegen deutsche Stellungen anstürmen zu müssen oder gefallen zu sein. 14.30 Uhr. In einer guten Stunde ging die Sonne unter. Das war der letzte Termin, denn mit der Nacht kam der Russe. Zum ersten Male drängte Normann: „Wann fahren die Züge?“ Wolf Dieter rief die Großbaustelle hinten an. „Eine Stunde mindestens brauchen wir noch“, hieß es. Wolf Racke fluchte. „Ich werde mal zurückfahren und den Burschen Feuer unter den Schwanz machen“, sagte er zu Normann und lief zur Draisine. Der Major kniff das leicht zugekniffene Auge noch ein wenig mehr zu. Nahm der Druckpunkt? Hm — er sah eigentlich nicht so aus. Aber mancher Schein trügt. Aus der Stadt heraus wurde geschossen. Erst vereinzelt, dann lebhafter. Auch schwere Werfer hörte man. Die Granaten krepierten in der Gegend der Panzer. Sie erwiderten das Feuer, aber die Werfer standen so weit zurück und so gedeckt, daß ihnen nicht beizukommen war. Russische Schützenrudel zeigten sich. Die Maschinengewehre auf den Abraumhalden begannen zu tacken. Auch fern rückwärts, aus der Richtung der Stützpunkte, die den Bahnkorridor sicherten, kam Gefechtslärm auf. „Iwan greift an“, wurde von allen Seiten gemeldet. Der Iwan schien schon Ernst zu machen. „Halten!“, befahl Normann, „bis die Züge durch sind.“ Die Panzer brummten; sie wechselten ihre Stellungen. „Es wird Zeit, die Gefangenen zurückzubringen“, befahl Normann. „Sie tragen unsere Verletzten. Als Bewachung genügen die zwei leichtverletzten Feldeisenbahner. Meine Landser brauche ich jetzt dringender hier.“ Wurfgranaten schlugen in die Abraumberge, begannen sie umzuwühlen. Die SMG-Trupps wichen aus. Oberleutnant Kleinschmitt kam angehastet, mit ihm ein ganzer Haufen seiner Leute. Er wischte sich trotz der Kälte den Schweiß
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von der Stirne. Aber man sah ihm an, daß er eine gute Nachricht brachte. „In zehn Minuten sind wir draußen fertig“, meldete er. „Hier auch“, sagte Günther Racke. Auf seine Freude darüber drückte die dumpfe Trauer um Bunz. Es wurde ruhiger um den Bahnhof herum. Alle Hände griffen noch einmal in heißem Bemühen zu. Sie waren jetzt, wo es gleich geschafft war, in großer Stimmung, obgleich man einen Tag und eine Nacht und noch diesen zweiten Tag mit nur kurzen Pausen gearbeitet hatte. Es war doch eine tolle Sache! Sie bespannten zunächst den neu zusammengestellten gemischten Zug und Hensch fuhr ihn im Fußgängertempo zwischen die hinteren Abraumkegel. Nun war die Fahrstraße für den Spritzug frei. Günther Racke lief zur zweiten Lok, um sie auf den Kesselwagenzug zu stellen. Für den hatte Bunz die beste ausgesucht. Er zerbrach sich den Kopf dabei, wie sie den Proviantzug noch fortbringen könnten. Lokpersonal war nicht mehr da. Wenn wenigstens die dritte Lok in Ordnung wäre! Ein Lokführer würde allenfalls mit Gegendampf geben einen mit ihr bespannten Zug meistern, vielleicht auch er selbst, aber andern, und wenn sie auch Eisenbahner waren, konnte er das Wagnis nicht anvertrauen. Ja, wenn die Strecke nach Westen statt des langen Gefälles eine leichte Steigung aufwiese! Was aber, wenn der Proviantzug in den vorausgehenden Spritzug raste, falls er nicht vorher aus den nur behelfsmäßig gelegten Gleisen flog? Die Eisenbahner waren wütend. Den Proviantzug stehen lassen, kam gar nicht in Frage! Sie würden es schon riskieren, auch mit der defekten Lok. „Daß ihr vor dem Benzinzug fahrt, ist ausgeschlossen,“ entschied Racke. „Und nach ihm auch nicht, bevor ich nicht die Gefällstrecke mindestens 1.000 Meter hinter mir habe.“ Oberleutnant Kleinschmitt gab den Befehl zum Sammeln und Abrücken. Er hatte keine Lust, länger hier zu bleiben, als unbedingt nötig war. Jeden Augenblick konnte der Teufel wieder los sein. Die Eisenbahner jedoch, blaue und graue, fielen erst noch über den Proviantzug her, um sich wenigstens selbst zu versorgen, so viel sie schleppen konnten.
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Normann ärgerte sich ebenfalls. Pech — aber leider nicht zu ändern. Es war ja auch in erster Linie um den Benzinzug gegangen. Im übrigen hatte der Treck schon allerhand weggebracht. Und ehe die Landser das Feld räumten, würden sie noch sämtliche Fahrzeuge vollstopfen. Aber viel Zeit war nicht mehr dazu. Wenn der Benzinzug nur erst mal losführe! „Das haben wir geschafft“, sagte Kleinschmitt. Er sagte es jetzt zum dritten Mal. Er war sehr unruhig, setzte energisch die Trillerpfeife an die Lippen. Die Eisenbahner tröpfelten nur langsam an, jeder beladen. Kleinschmitt brüllte: „Euch soll wohl der Iwan Beine machen!“ Von diesem Augenblick seines Lebens an war er abergläubisch und als er später wieder zum Denken kam, nahm er sich vor, niemals mehr, nicht einmal mit dem leisesten Gedanken, den Teufel oder den Iwan an die Wand zu malen. Denn in diesem Augenblick fauchte, blitzte und krachte es und ein Dutzend Granateinschläge spritzten im Bahnhofsgelände hoch. Die meisten Eisenbahner lagen auf der Nase, sprangen wieder auf. Wie sie nun laufen konnten! Irgend einer schrie: „Artillerie schießt zu kurz!“ Armer Irrer, dachte Normann, das sind nicht die unseren, das sind russische Batterien. Und nicht die leichtesten. Und sie schießen genau richtig. Für Augenblicke hofften sie alle, daß es nur ein vereinzelter Feuerüberfall sei, da krachte auch schon die zweite Lage in und um die Bahnhofsgebäude und Ruinen. Eine Ecke des Güterschuppens, vor dem der Spritzug stand, brannte. Der große Teil der Eisenbahner lief dem Westausgang des Bahnhofs zu, stolpernd, fallend, wieder aufspringend. Was sie trugen, entfiel ihren Händen, oder sie warfen es weg. Andere verschwanden in irgendwelchen Löchern, Gräben, zwischen Mauerresten, rannten wieder los, wenn sie sich verschnauft und die nächsten Einschläge gekracht hatten. „Raus!“ schrie Kleinschmitt. „Die Verwundeten mitnehmen!“ Die Stimme schnappte ihm über. Raus! war der innere Schrei jedes Eisenbahners. Zurück! In die Fahrzeuge und ab!
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Manche liefen in ihrer Angst um das eigene Leben an Verwundeten vorbei, ließen die Schreienden liegen, andere aber holten sie, halfen ihnen, schleppten sie mit, atmeten auf, als sie zwischen die Abraumberge kamen und die Hölle hinter ihnen blieb. Da stand auch der Zug. Sie schafften die Verletzten auf Wagen, wo sie noch Platz finden konnten, kletterten dazu, russische Zivilisten dabei, Frauen, Männer. Sie enterten die Lok. „Mensch, fahr los!“ Hensch wußte nicht, sollte er fahren? Durfte er fahren? „Wenn du nicht fährst, werf ich dich 'runter und fahr selber!“ schrie ihn ein Unteroffizier an. „Auf was willst du noch warten?“ brüllte ein anderer. „Bis es bei uns hinten auch Zunder gibt und wir überhaupt nicht mehr durchkommen?“ Hensch fuhr langsam an. „Tempo! Tempo!“ drängten sie ihn. Nun wurde er aber fuchsteufelswild. „Nein!“ schrie er. „Oder soll der Zug entgleisen, ihr Simpel?“ „Er wird schon nicht“, drängte der Unteroffizier. „Halt's Maul! Fahren tu' ich!“ Er fuhr sehr vorsichtig, zumal nicht sicher war, ob das Streckenstück draußen inzwischen wirklich ganz fertig geworden war. Die größere Schar ging weiter, ruhiger jetzt; zwischen und in den steilen Abraumhalden und hinter ihnen waren sie geschützt. Mit ihren Kraftfahrzeugen würden sie wahrscheinlich rascher und sicherer aus der Gefahr herauskommen, überlegten sie. Aber diesen Racke, der ihnen das eingebrockt hatte, sollte der Teufel holen! Keuchend und wieder in Schweiß gebadet, kam der wohlbeleibte Kleinschmitt an. Er dachte dasselbe. Aber er war gerecht, er erinnerte sich, daß sie eine viertel Stunde vorher noch vortrefflicher Laune gewesen waren. Das war nun einmal so: Ging eine gefährliche Sache gut, war man hinterher froh und stolz auf sie und sich selber, ging sie schlecht, verfluchte man sie und den an ihr Schuldigen. Der Bahnhof war in einem dichten Schleier von Dreck und Rauch untergegangen. Man hatte keine Sicht mehr über das Bahngelände. Immer noch krachten und spritzten die Einschläge. Major Normann war grau vor Wut. Er knirschte mit den Zähnen. 185
„Es hat keinen Sinn, daß wir hier auf einen Volltreffer warten“, brüllte er seinem Häuflein zu. „Die Eisenbahner sind über alle Berge! Wir bringen den Spritzug nicht raus! Ich glaube, er brennt schon. Wir fahren an der Strecke zurück bis in den toten Winkel.“ Die MG-Männer auf den Dreckbergen waren trotz ihrer Jugend alte Hasen. Sie hatten schleunigst abgebaut und das Bahngelände nach dem Stadtrand abgeriegelt. Als gleich darauf die russischen Granatwerfer und Geschütze die Abraumhalden umzuwühlen begannen, grinsten sie und lauerten darauf, daß die russische Infanterie irgendwo auftauche. Sie tat ihnen nicht den Gefallen, statt dessen kam der Befehl, gewehrweise auf die Fahrzeuge zurückzugehen. Während auch Major Normann mit seinen Männern das Bahngelände verließ, rangierte Günther Racke in Dreck und Rauch und Gekrach und Gesplitter seine Lok vor den Spritzug. Als das Artilleriefeuer begonnen hatte und was Beine hatte getürmt war, hatte auch ihn der Drang gepackt, alles stehen zu lassen und sein Heil in der Flucht zu suchen. Aber vielleicht, hatte er überlegt, würde er gerade dann in sein Verderben rennen. Gegen einen Einschlag selber gab es nirgends Deckung und gegen Splitter war er auf dem Lokstand so gut oder so schlecht geschützt wie sonstwo. „Wenn aber inzwischen die Rangiergleise oder die Fahrstraße zusammengeschossen waren, dann gab es überhaupt keine Möglichkeit mehr, den Zug, dessentwegen alles unternommen, geschuftet und geblutet worden war, noch hinauszubringen. Also blieb er, fuhr in dem Lärm und Rauch und Gestank langsam weiter. Wenn er eine Weiche stellen mußte, wartete er jedesmal die nächste Serie ab, ehe er abstieg. Jetzt hatte er die Lok vor dem Zug. Der Schuppen brannte und der Flammenschein geisterte über die riesigen schwarzgrauen Kessel. Er schloß die Bremsluftschläuche zusammen; sonst waren sie gleich am Vormittag vom ersten bis zum letzten Wagen nachgesehen und dicht gemacht worden. Er schaltete krampfhaft jeden Gedanken aus und doch packte ihn die Furcht, daß die Lok oder die Fahrstraße in den letzten paar Minuten noch einen Treffer bekommen könnte, wie ein Fieber. Da kam es auch schon angeheult, krepierte nur wenige Meter seitlich voraus, fegte einen 186
der grotesken Heutürme zur Seite und verstreute ihn bis auf ein kleines Bündel in alle Winde. Vor Rackes verblüfften Augen begann dieses Bündel, eine Puppe aus Heu, sich zu bewegen. Aber es war keine Puppe, sondern ein Mensch, und dieser Mensch zerrte mit zornigem Gebrumm an dem Heu herum, in das er eingewickelt war, und kam dann geradenwegs auf Racke zu. Es war Bunz. „Mach' kein so dummes Gesicht!“ brummte Bunz. „Was ist hier eigentlich los?“ „Ich dachte, du wärest dein Geist“, flüsterte Racke und fügte, noch immer fassungslos und nur gehaucht hinzu: „Mensch — Karl!“ Jetzt machte Bunz ein dummes Gesicht, aber zu Erklärungen war keine Zeit. „Später“, sagte Racke. „Erst den Zug raus! Ich glaube, die Wehrmacht ist auch schon weg und wir haben gleich den Iwan auf dem Hals.“ Das schien Bunz keine Sorge zu machen. Er sah sich seelenruhig um und sagte: „Sieht ja niedlich aus hier. Hab wohl alles verschlafen? Mensch, das war komisch, kann ich dir sagen! So scheußlich hab ich's noch nie heulen hören. Dann hat's fürchterlich gekracht und mich aus der Lok herausgerissen und in eine dicke Wolke von Heu gewickelt. Ich dachte, ich ersticke. Von da an weiß ich nichts mehr. Wo ist denn der Zug hingekommen?“ Hinten am Lokschuppen krachte es, spritzten die Einschläge hoch. „Den hat Hensch rausgefahren. Mit einer neuen Lok.“ „War die andere beschädigt worden?“ „Zerdrückt, wie wenn sie aus Pappe gewesen wäre.“ „Und der Russe?“ „Auch. Und wir dachten natürlich —“ Er sprach nicht aus, was sie gedacht hatten. Bunz starrte eine Weile ins Leere, dann stieg er auf die Lok. Ein paar Kugeln pfiffen. Sie deckten sich, konnten aber nicht feststellen, wo die Schützen steckten. „Kannst du den Zug allein fahren?“ fragte Racke. „Komische Frage. Ist doch klar.“ „Dann schau zu, daß du ihn rasch rausbringst.“ „Und du?“ 187
„Ich bringe den Proviantzug.“ „Du bist verrückt. Den lassen wir stehen. Oder willst du dir unbedingt eine verpassen lassen?“ „Nicht unbedingt.“ „Und mit der defekten Lok? Du fährst mir auf der Gefällstrecke in den Arsch.“ „Nein. Ich lasse dir für alle Fälle genügend Vorsprung, aber ich würde mir den Arsch rausreißen, wenn wir den Haufen Fressen daließen.“ Es pfiff wieder und peitschte in der Gegend umher. „Gut. Wir nehmen ihn mit. Aber dann fährst du den Sprit und ich —“ Racke unterbrach: „Quatsch nicht so viel! Der Spritzug muß unter allen Umständen zurückkommen, also fährst du ihn. Hau ab!“ Bunz sagte nichts mehr. Es hätte auch keinen Zweck gehabt, Racke lief schon weg, war gleich darauf zwischen den Leerzügen verschwunden. Bunz horchte noch einen Augenblick, wartete darauf, daß Schüsse fielen. Es blieb alles still. Er fluchte leise auf den Freund. Aber der Fluch war wie ein Gelübde: „Wenn dir etwas passiert, schlage ich den ganzen Himmel zusammen. Er stellte die Steuerung ein, öffnete behutsam den Regler; es war nicht leicht, mit einer fremden Lok ohne Geruck und Gezerr und wildem Gekeuch 800 Tonnen anzufahren. Der Dampf strömte in die Zylinder, bewegte die Kolbenstangen, die Räder begannen sich zu drehen. Bunz griff wieder nach der Steuerung, noch eine kleine Drehung, dann wieder zurück. Noch einmal der Regler, ein wenig mehr auf. Er fühlte sich ein. Ohne viel Lärm kam der Zug ins Rollen. Er hörte die Räder über die „Weichen hacken, dann glitt die Kesselschlange über das Ausfahrtsgeleise. Aus der Lok pufften weiße Dampfballen wie Flakwölkchen. Er hörte es hinten knallen und klingen, Stahl auf Stahl oder Eisen. Er wußte nicht, galt es ihm oder Racke. Er wußte nicht, daß Kugeln in den letzten Kessel schlugen, andere vom Fahrgestell abprallten; es war auch belanglos. Hinten waren die drei leeren Wagen; sie hatten sie absichtlich nicht abgehängt. Der Spritzug 188
bog nach drei Minuten in die erste Kurve, war im tiefen Tal der Abraumberge den Feindwaffen entzogen. Und eigentlich bin ich ein Rindvieh! dachte Bunz und verlachte sich selbst: mit Herz und Hand fürs Vaterland! Damit ihm irgend eine Etappensau, die im Krieg mehr vom Leben hatte, als im Frieden und in ihrem nun mit Kommiß-Machtrausch gepaarten, akademisch erworbenen Eigendünkel schier platzte, gelegentlich wieder zu Strafkompanie verurteilte. Wenn auch er jetzt als blutiger Brei zwischen dem Lokschrott klebte, wäre das nur die verdiente Strafe für seine charakterlose Dummheit! Aber er hatte es ja nicht für die dreckige Sippschaft getan, die sich wie zu allen Zeiten an den Futterkrippen des Staates breit machte und für seine ‚heiligsten Güter' den kleinen Mann fallen ließ! Er hatte es für den Freund getan. Günther hatte zwar nicht darüber gesprochen, aber er wußte von daheim, daß er ihm die Rettung aus der Strafkompanie zu verdanken hatte. Und seinetwegen fuhr er jetzt nicht mit Volldampf die ersten hundert Meter Behelfsgleise gleich wieder in Grund und Boden, sondern schmeichelte über sie hin, als wären sie aus Porzellan. Günther Racke hatte sich zwischen den Trümmerhaufen und Leerzügen durch nach den Russen umgesehen. Sie hatten sich offenbar noch nicht in das Bahngelände selbst hereingewagt. Wahrscheinlich trauten sie dem Frieden nicht, sie fürchteten eine Falle. Es schien auch, als knurrten draußen noch die Panzer herum. Das letzte Stück zur Lok mußte Racke ohne Deckungsmöglichkeit zurücklegen. Die Sonne war untergegangen, aber er konnte nicht warten, bis es vollends dunkel war. Er schöpfte tief Atem, dann lief er. Als die ersten Schüsse fielen, warf er sich nieder, sprang nach Sekunden wieder auf. Er schlug Haken, machte einen regelrechten Kasernenhofsturmangriff auf die Lok. Vielleicht hätte er es als Eisenbahner nicht gewagt, wenn er nicht als Frontsoldat gewußt hätte, daß längst sämtliche Armeen auf beiden Seiten begraben wären, wenn jede Kugel träfe. Aber sein Herz schlug wie mit Hämmern, als er endlich auf der Lok stand. Und doch auch freudig, vertrauend. In periodischen Stößen zischte Dampf aus dem Ventil. Er riß die Feuertüre auf. Helle Glut strahlte ihm 189
entgegen. Es konnte nicht fehlen. Auch die Maschinenpistole und die Handgranaten in der Ecke gaben ihm jetzt mehr Sicherheit. Racke mußte noch ein paarmal herunter. An den Weichen und dann, um den Zug anzuhängen. An den Weichen ging alles gut. Er stellte sie hinter der Lok gleich für die Ausfahrt. Er wunderte sich, es knallte nicht ein einziges Mal. Es war allerdings auch kaum noch Büchsenlicht. Der Artilleriebeschuß hatte jetzt ganz aufgehört. Die Dreck- und Rauchfahnen hatten sich gelegt. Die Gleise, die er brauchte, hatten keinen Treffer erhalten, obgleich das Bahngelände mit frischen Trichtern übersät war. Er konnte die Lok im Schutz abgestellten Leermaterials auf den Proviantzug stellen. Als er abstieg, um sie anzukuppeln, sah er hinten beim Lokschuppen einen ganzen Schwarm Russen vorstürmen. Er kroch zwischen Tender und Wagen, legte den Bügel in den Haken und zog die Schraubenkupplung fest. Da gab es in nächster Nähe einen Feuerschein mit Gekrach. Die Mütze wurde ihm weggerissen, glühendes Eisen fuhr ihm über die Stirne, über die Schulter, in den Schenkel. Das war eine Handgranate. Karl, dachte er, du hast doch recht gehabt: es war Blödsinn. Er fühlte das Blut strömen, es lief ihm in die Augen, über das Gesicht. Es lief ihm über den Rücken herunter. Gut — wenn er das fühlte, konnte es nicht so schlimm sein. Dieser Gedanke und zugleich die Vorstellung von dem, was mit ihm geschah, wenn er in die Hände der Russen fiel, bewahrten ihn davor, sich aufzugeben und liegen zu bleiben. Seine Willenskraft ballte sich zusammen, entriß ihn der Schwäche, die ihn umfangen wollte. Er wankte zur Loktreppe vor, zog sich hinauf, griff mechanisch nach einer Handgranate, zog mit den Zähnen ab, schluckte das Blut, das ihm in den Mund lief und warf sie auf der einen, zog eine zweite ab und warf sie auf der anderen Seite hinaus, steuerte vorwärts, packte den Regler, hörte Dampf zischen, die Räder rollen, Kupplungen klirren, Wagen rucken, hörte den stoßweisen hohlen, rascher werdenden Atem der Lok — — Gebrüll erschallte hinter ihm, Geknall begleitete den Zug noch ein Stück weit. Das hörte er nicht mehr. Seine Hände hatten den Regler losgelassen, er war niedergesunken.
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Führerlos polterte der Zug über die Weichen, gefährlich schlingerten die letzten Wagen, in der Ausfahrgeraden nahm er rasch an Geschwindigkeit zu, eine lange weiße Dampfwolke über sich herziehend. Wolf Dieter Racke kam auf der Draisine zurück. Er zerrte sie von den Schienen, um den Zug, den Hensch führte, vorbeizulassen. Vergnügt rief er hinauf, staunte nur, daß so viele Eisenbahner auf dem Führerstand waren. Da sah er auch schon die LKW der Pioniere kommen, lief zu ihnen hin, sah die Verbände. „Was ist denn los?“ „Die Russen schießen den Bahnhof zusammen.“ „Und der Spritzug?“ „Der mußte zurückbleiben.“ „Wo ist mein Bruder?“ Sie wußten es nicht. „Und der Major?“ „Die sind auch zurück. Schlagen sich da hinten auf allen Seiten mit den angreifenden Russen herum.“ Wahrscheinlich ist Günther bei Normann, dachte Wolf. Er hob seine Draisine wieder auf die Schienen und fuhr weiter. Nun hatte er die zwei Kilometer lange Steigung hinter sich und war bis kurz vor die Abraumkegel gekommen, deren Spitzen bereits in der einbrechenden Dunkelheit verschwammen. Da spürte er durch die Draisine hindurch an der Vibration des Bahnkörpers, daß noch ein Zug im Anrollen war. Das konnte nur — Er wollte seinen Sinnen nicht trauen. Aber dann erfaßte ihn ein heißes Gefühl der Freude. Das war Günther! Günther brachte den Brennstoffzug! Wieder hob er sein Fahrzeug von den Schienen, stellte es zur Seite. Der Zug tauchte auf. Die großen Kesselwagen wurden sichtbar. Er riß die Mütze vom Kopf, wedelte lebhaft mit ihr in der Luft herum. Ohne ihre Geschwindigkeit zu verringern, kam die Lok daher. Warum hing Günther nicht aus dem Fenster? Er hatte ihn doch trotz der Dunkelheit sehen müssen! Jetzt war die Lok da, erdrückend gewaltig, donnerte vorbei. Da stand auch einer am Fenster und hob kurz den Zeigefinger an die 191
Stirn überm Auge, weil er keine Mütze auf hatte. Aber das war doch nicht Günther! Bunz?! Wolf Racke riß den Mund auf. „Sie sind doch tot?“ wollte er brüllen, nahm aber trotz seiner Verblüffung die gegenteilige Tatsache zur Kenntnis und schrie statt dessen: „Wo ist Günther?“ Schon war auch der Tender vorbei. Sicher hatte Bunz die Frage nicht verstehen können, aber er schien sie ihm vom Munde abgelesen oder als selbstverständlich erwartet zu haben, er winkte immer wieder lebhaft mit dem Arm nach hinten, riß auch den Mund auf. Zweifellos brüllte er etwas, aber Wolf konnte nichts verstehen, die Kesselwagen machten einen gräßlichen Lärm. Auf jeden Fall: Günther war noch nicht vorbei, also würde er feststellen, wo er steckte. Er hob die Draisine wiederum auf die Schienen und summte weiter. Auf beiden Seiten und auch aus der Richtung des Bahnhofs hörte er Gewehr- und MG-Geknatter. Nun war's schon so dunkel, daß er sogar Mündungsfeuer sah und gleich darauf blitzten Abschüsse aus größeren Rohren. Das mußten, dem Donner nach, die Panzer sein. War es nicht sinnlos, weiterzufahren? Der Gefechtswagen Normanns krebste ja auch irgendwo im Gelände herum und kam nicht auf den Schienen daher! In zehn Minuten würde man nichts mehr sehen und dann rollte der Sonderführer Racke wahrscheinlich geradenwegs dem hocherfreuten Iwan in die Arme. Wolf war entschlossen, umzukehren, da hörte er nahendes Motorgeräusch; es kam auf den Bahndamm zu. Nun sah er auch das Fahrzeug auftauchen. Es war Normann. Schon von weitem rief er herüber: „Jetzt sagen Sie bloß, war das nicht der Spritzug?“ „Jawohl, Herr Major!“ „Donnerwetter! Das ist ja großartig!“ Der Wagen war da und hielt. Günther war nicht dabei. „Da hat ihn Ihr Bruder doch noch herausgeholt! Ich dachte, er wäre auch schon über alle Berge.“ „Und ich dachte, ich träfe ihn bei Ihnen“, sagte Wolf. „Den Benzinzug fährt nämlich nicht mein Bruder, sondern Bunz.“ „Erzählen Sie keine Auferstehungsmärchen!“ 192
„Ich habe ihn an Stelle meines erwarteten Bruders mit eigenen Augen gesehen. Wissen Sie, wo mein Bruder sein könnte?“ „Wenn er den Zug nicht fährt, ist er sicher mit den Eisenbahnpionieren zurückgefahren.“ „Nein“, sagte Wolf kurz. „Bei denen ist er nicht.“ „Sie meinen — “ fragte Normann zögern — „er ist noch — da hinten?“ „Ich kann mir nichts anderes denken.“ Normann runzelte die Stirne. „Im Bahnhof sind die Russen“, sagte er langsam. „Ich habe bereits das Feuer der Mörser angefordert, daß sie vollends zusammenhauen, was noch ganz ist.“ „Ich will versuchen, ihn zu finden“, sagte Racke. „Das hat keinen Sinn. Sie haben nicht die geringste Aussicht auf Erfolg. Wenn Ihr Bruder gefallen oder verwundet im Bahnhof geblieben ist, können Sie ihn nicht mehr holen. Sie begehen Selbstmord, weiter nichts.“ „Wenn er noch lebt?“ „Dann haben ihn die Russen schon weggebracht.“ Racke überlegte. „Er kann sich auch fortgeschleppt haben und irgendwo am Bahnkörper liegen geblieben sein. Ich fahre, so weit es eben möglich ist.“ „Tut mir leid, daß wir das nicht machen können. Unsern Kasten hört der Iwan von weitem und ehe wir daran denken, sind wir abgeschossen. Ich gebe Ihnen aber ein LMG mit.“ Unaufgefordert packten zwei Männer Spritze und Trommeln und stiegen zu Racke auf die Draisine. Er zeigte ihnen für alle Fälle, wie man sie fuhr. Leise summten sie weiter. Obgleich die Abraumhalden näher kamen, wurden sie immer undeutlicher, so rasch wurde es ganz Nacht. Ihre Augen suchten voraus und zu beiden Seiten unablässig den Bahnkörper ab. Manchmal dachten sie, hier liegt einer, dann waren es alte Schwellen oder Schienenstücke. Man vernahm links und rechts in der Ferne Kampflärm; rückwärts, die Hauptkampflinie entlang, lief Gerassel und Gemurr in immer neuen Böen. Dann hörten sie jene sanften Abschußlaute, die sie vom Nachmittag her kannten. Die Mörser. 193
Sie zählten langsam die Sekunden, bis das Jaunern der schweren Geschosse über ihnen war und in das wilde Geheul des steilen Absturzes überging. Die Abraumhalden vor ihnen fingen das Einschlaggetöse dahinter ab, aber sie wußten, daß der Bahnhof und alles, was sich dort noch befand, in kurzer Zeit nur noch ein brennendes, qualmendes Trümmerfeld sein mußte. Sie waren hinter der Hundertmeterflickstelle angekommen, wo die Strecke sich sanft in die Doppelkurve zwischen den Bergkegeln zu neigen begann, da vernahmen sie das neue Geräusch. Alle drei stutzten. Ein Zug kam. Sie sahen sich fragend an. Aber es konnte kein Zweifel sein. Günther! durchfuhr es Racke wie ein Schreck. Er hielt. Ohne ein Wort stiegen sie ab, zerrten die Draisine zur Seite. Das schwere Keuchen der Lok, das singende Rauschen der Räder auf den Schienen kam so langsam näher, daß sie dachten, der Zug wird jeden Augenblick stehen bleiben. „Es können auch Russen sein“, meinte der eine Landser. „Sicher“, spottete der andere. „Die bringen uns jetzt den Proviantzug, weil wir Hammel ihn stehen ließen.“ Man sah Funkenbüschel sprühen, dann tauchte darunter der schwarze Koloß aus dem Dunkel. Er hatte die Steigung hinter sich, sein Atem wurde rascher, leichter. Racke ging ihm entgegen. „Hallo! Günther!“ schrie er. Es kam keine Antwort, so oft er auch schrie. Er trat ein paar Schritte zur Seite, um besser in den Führerstand sehen zu können. Brüllte. Niemand zeigte sich. Er lief mit, brüllte wieder. Der Fensterausschnitt blieb leer. Der Zug wurde rascher. Er spürte den heißen Leib der Lok, den Dampf, der aus den Zylindern zischte. Da stimmte was nicht! Er mußte hinauf. Je länger er wartete, um so unmöglicher wurde es. Er schrie den Landsern im Vorbeihasten zu: „Fahrt mit der Draisine nach!“ Auf diesem Bahnkörper zu laufen, war allein schon Akrobatik. Nur mit Mühe hielt er sich neben der Lok. Seine Augen suchten nach den Treppengeländerstangen. Er spurtete, fühlte den Sog der Eisenmasse. Wenn er dagegenprallte, schleuderte es ihn unter die Räder. Er klammerte sich mit den Augen an der 194
vorderen Griffstange fest, stieß den Arm vor, packte zu, fühlte den Ruck, bewegte die Beine, so schnell er konnte, packte die hintere Griffstange, stieß sich mit den Füßen ab, zog wie beim Klimmzug die Arme an, zugleich die Knie hoch, stieß sie heftig an, tastete mit den pendelnden Füßen und stand im nächsten Augenblick auf dem untersten Tritt. Sein Atem flog und kalter Schweiß stand auf seiner Stirne. Nun brauchte über dem Türchen nur ein Russe aufzutauchen und ihm den Gewehrkolben über den Schädel zu hauen. Vielleicht war der Gedanke lächerlich, denn wenn Russen droben wären, hätten sie ihn die Maschine gar nicht erst entern lassen. Dennoch zog er die Pistole und schob den Kopf nur langsam hoch, bis er in den Führerstand hineinsehen konnte. Beim Iwan mußte man mit dem Unerwartesten rechnen. Wolf Racke sah den Bruder liegen, kniete im nächsten Augenblick neben ihm, umfaßte seine Schultern, hob seinen Kopf, starrte in das blutüberströmte Gesicht. Tot? Kalter Zorn überlief ihn. Er betastete ihn, faßte die Hände. Nein, das war nicht das Gesicht eines Toten, das waren nicht die Hände eines Toten. Günther lebte. Zunächst mußte der Zug seine Geschwindigkeit verringern. Er war schon auf der Gefällstrecke. Er verstand zwar nichts von einer Lok, hatte sich nie um ihre technischen Einzelheiten gekümmert, aber daß da ein Hebel war, mit dem man die Zufuhr des Dampfes regulierte, wußte er. Und daß man einen Zug mit einer Luftdruckbremse abbremste und zum Stehen brachte, wußte er selbstverständlich auch. Als er aber nun diese Unzahl von Hebeln, Griffen und Griffchen, Rädern und Rädchen und Apparaten sah, erschrak er. Er nahm die Taschenlampe zu Hilfe, erfaßte instinktiv, daß es sich beim Regler um den langen Hebel handeln mußte, und bewegte ihn langsam. Das Dampfgepruste aus dem Kamin, das Zischen der Zylinderkolben wurde rasch schwächer, hörte allmählich ganz auf. Die Geschwindigkeit wurde geringer. Na also! dachte er. Das wäre ja auch gelacht! Er hätte gar nicht geglaubt, daß es ihm gelingen würde, die Kraft des Zuges zu bändigen. Die Bremse würde er gar nicht brauchen. Nach dem Gefälle auf der ebenen Strecke würde der Zug ohnehin zum
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Stehen kommen, wenn er den Regler nicht wieder öffnete, um ihn gleich noch bis Dschingiskaja zu bringen. Wolf Racke sah wieder nach dem Bruder. Er zog den Mantel aus — es war warm genug hinter dem Kessel — und legte ihn unter Günthers Kopf. Dann aber richtete er sich schleunigst wieder auf. Die Räder rollten wieder rascher. Die Fahrgeschwindigkeit nahm erneut zu. Er mußte bremsen. Aber welcher von den vielen Griffen war der richtige? „Was geschah, wenn er falsche Hebel bewegte? Eigentlich war man kein Eisenbahner, wenn man keine Lok fahren konnte, dachte er und bedauerte, bisher so wenig Interesse dafür gehabt zu haben. Aber etwas zu bedauern, war sinnlos, weil man ja eben erst bedauerte, wenn es zu spät war. Es mußte befohlen werden, daß jeder Fronteisenbahner Lokfahren lernte. Er versuchte es hier, versuchte es dort, löste alles mögliche Gezisch und Geschürche aus, aber keine Spur von Bremswirkung. Mittlerweile fuhr der Zug mit mindestens 40 Stundenkilometern. Noch 3.000 Meter, dann kam die große Streckenbaustelle und er wußte nicht, ob sie inzwischen fertig geworden war. Wenn nicht, dann standen da zwei Züge und der hintere war der Spritzug. Günther mußte aufwachen, sonst war der Zug verloren. Wenn es ihn nicht vorher aus den Schienen warf, raste er in fünf Minuten in den Spritzug hinein, dann war die Katastrophe vollkommen. Und dann kamen die, die es nachher schon immer vorher besser gewußt hatten! Die sich mit dem Unternehmen gebrüstet hätten, wenn es geglückt wäre, nun sich aber entrüsteten, daß es ein Verbrechen gewesen sei, und über den Schuldigen herfielen, diesen irrsinnigen Eisenbahner! Ihn am liebsten lynchen würden, wenn er noch am Leben wäre! Vorsichtig hob Wolf des Bruders Kopf wieder hoch. Ja, er atmete. Er faßte seine Hände und schüttelte sie leicht, rief ihm ins Ohr: „Günther, du mußt aufwachen!“ Günther rührte sich nicht. Wolf nahm den Eimer, in dem noch Wasser schwappte. Er erschrak über das Tempo des Zuges, über das Schlingern der Lok, das Gepolter. Er spritzte dem Bruder aus der hohlen Hand
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Wasser ins Gesicht, immer wieder, tauchte seine Hände in den Eimer. Günther stöhnte, schlug die Augen auf, aber es war kein Ausdruck in ihnen. „Günther!“ drängte Wolf, „steh auf, du mußt den Zug abbremsen!“ Günthers Augen fielen wieder zu. Wolf griff verzweifelt nach anderen Hebeln. Ein gellender Pfiff fuhr ihm selber in die Knochen. Um Gotteswillen, das hörten auch die Russen! Sicher würden sie jetzt die Bahnlinie unter Feuer nehmen! Günther war hochgefahren, sackte stöhnend wieder zusammen. Wolf nahm den Eimer, goß dem Bruder rücksichtslos Wasser über den Kopf. „Günther! Wach auf! Halte den Zug an! Er entgleist! Die Bremse funktioniert nicht!“ Er packte ihn unter den Armen, richtete ihn hoch, hielt ihn aufrecht vor das Gewirr von Hebeln und Apparaten. „Bremsen! Günther! Bremsen! Wir rasen in den Spritzug!“ Günther hob die Hand, faßte wie im Schlafe den Griff des Ventils der Zusatzbremse, bewegte ihn langsam. Bremsklötze kreischten. Er murmelte etwas. Wolf verstand es nicht, so lärmend begannen die Kupplungen zu klirren, die Puffer zu prallen, die ganze Wagenkette zu rumpeln und zu rasseln. Langsam verebbte der Krawall, ließ das Gerüttel nach, der Zug fuhr ruhiger und er wurde fühlbar langsamer. Die Gefällstrecke mußte schon hinter ihm liegen. Aber noch immer neigte sich die Lok manchmal so stark zur Seite, daß Wolf fürchtete, sie werde kentern. Manchmal stieß sie heftig auf und nieder, als führe sie über Löcher oder Höcker. Wolf Rackes Atem ging allmählich ruhiger und seine Sinne nahmen auch wieder andere Eindrücke auf. Zu beiden Seiten wurde heftig geschossen. Überall stiegen Leuchtkugeln in die Nacht, sanken langsam nieder, ihr gespenstisches Licht verbreitend, schwarze Silhouetten tauchten auf, versanken wieder. Und hoch über dem Zug zogen mit geisterhaftem Heulen Granaten ihre Bahn. Hinüber, herüber. Er sah sie manchmal, wenn sie aufglühten. Jetzt krachten auch schwere Einschläge 197
unweit hinter ihnen. Die Russen beschossen nun tatsächlich den Bahnkörper. Und dann erschrak Wolf Racke noch einmal. Unweit voraus tauchte im Scheine einer Leuchtkugel ein großer schwarzer Schatten auf, versank wieder in der Nacht. Kesselwagen! „Günther!“ schrie Wolf. „Günther! Der Zug hält noch nicht! Wir prallen auf!“ Günther rührte sich stöhnend, versuchte aufzustehen. Wolf mühte sich, ihn hochzuziehen. Da hörte er ein Geräusch hinter sich, fuhr herum. Es war Bunz. Bunz grinste. Er hatte den Wurfhebel für die Tenderbremse umgelegt. Griff nun nach der Steuerung, drehte das Rad flink auf Rückwärtsgang, öffnete den Regler und den Sandstreuer. Eine Loklänge vor dem Spritzug kam der Proviantzug zum Stehen. Bunz war nach dem Signal, das Wolf wider Willen ausgelöst hatte, dem Zug entgegengelaufen, weil er ihm nicht hatte davonfahren können. Noch zwei Paar Schienen fehlten da vorne. Es war ihm gelungen, auf die Loktreppe zu springen. Vorne wurden die letzten Schrauben angezogen. Der Schienenweg war fertig. Wenige Minuten später rollten in kurzen Abständen zwei Züge langsam Dschingiskaja zu. Der Proviantzug war an den Spritzug angehängt worden. Dort, wo sie gewartet hatten, wühlten russische Granaten zehn Minuten später den Bahnkörper um. Aber die Räder rollten und immer weiter blieb die donnernde Front hinter ihnen zurück.
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9. KAPITEL
Günther Racke lag in dem schmalen, weißen Lazarettfeldbett und starrte auf die Decke über sich, als sähe er durch sie hindurch der Schöpfung mitten ins Herz. Auf seinen Zügen lag die Heiterkeit eines stillen Glücklichseins. Da war es wieder, das Leben! Und da war auch wieder jenes seltsame Empfinden, daß ein unsichtbares, überirdisches Wesen schützend die Hand über ihn halte. Als hätte Gott, an den er glaubte, nicht einer Lehre, sondern einfach der eigenen inneren Stimme wegen glaubte, einen Schutzengel an seine Seite gestellt. Er wußte, daß die, trotz ihres offiziellen Bekenntnisses zum Christentum geistig kalte, der Seele feindliche moderne Welt des Intellekts sein Empfinden lächerlich finden würde, er aber fühlte sich in ihm geborgen, als hätte er selbst Gott geschaut von Angesicht zu Angesicht und aus seinem Munde die Worte vernommen: „Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir alle Tage, bis an der Welt Ende.“ Dabei war er sich ganz klar, daß auch ihm einmal die Stunde schlagen würde, aber der Tod war für ihn kein Ende in Finsternis und Qual, kein Tor zu einer Hölle, sondern die Rückkehr in den ewig zeugenden, empfangenden und gebärenden Schoß des Alls. Der Anfang eines neuen unbekannten Lebens in einer neuen unbekannten Form. Vielleicht auf einem anderen der ungezählten Sterne Gottes. Ihm war das Leben noch immer das gleiche unlösbare Rätsel wie in seinen Knabenjahren. Einfach war es nur für den, der in seinem ständigen Kampf, es zu erhalten oder seinem unablässigen Streben, es mit möglichst viel Hab und Gut, Unterhaltung und Vergnügen anzufüllen, nicht dazu kam, über es nachzudenken. Das Rätsel des Seins aber, das Unbegreifliche und Unerforschliche der ewigen Verwandlung ängstigte und bedrückte ihn nicht. Es war verbunden mit dem großen Gefühl: einmal wirst du alles sehen und erkennen. 199
Seit er nach dem Spritzugunternehmen auf dem Truppenverbandsplatz bei der Tetanusspritze aus seiner Ohnmacht aufgewacht war, erfüllte ihn dieses stille Glücklichsein. „Wie damals, als er durch Griechenland und Serbien in die Heimat gefahren war, als Urlauber und dann mit dem zerschlagenen Arm. So und noch stärker. Dreizehn Löcher hatten sie ihm verbunden und dann hatte ihn Wolf Dieter in seinem Dienstwagen mit vorgespanntem SchienenL.K.W. gleich bis Poltawa ins Lazarett gefahren. Die „Wunden waren an sich nicht lebensgefährlich gewesen, hatten aber trotz operativer Entfernung vieler Handgranatensplitter und Stoffstückchen hartnäckig geeitert. Wochenlang hatte man die Wunden offenhalten, durch Glasröhrchen den Eiter ableiten müssen und immer wieder waren neue Splitter und Splitterchen ausgestoßen oder entdeckt und beseitigt worden. Anfängliches hohes Wundfieber hatte ihn hart mitgenommen und, wenn man es schon überwunden glaubte, immer wieder befallen. Nun konnte er endlich auch wieder auf dem Rücken liegen, der am meisten abbekommen hatte, und heute nach der Mittagsruhe durfte er zum ersten Male aufstehen. Das linke Bein war aber noch an eine Schiene bandagiert und er würde bis auf weiteres am Stock gehen müssen. Das Lazarett war überfüllt gewesen. Wolf Dieter hatte durch persönliche Bekanntschaft mit einem der Ärzte erreicht, daß ein kleiner, einfenstriger Nebenraum im obersten Stockwerk, der als Abstellkammer gedient hatte, frei gemacht und sein Bruder provisorisch darin untergebracht worden war. Als es dann möglich gewesen wäre, ihn in einen der Säle zu verlegen, hatte er inständig darum gebeten, bleiben zu dürfen. Es verlangte ihn nicht nach Gesellschaft. Das Alleinsein war ihm ein Labsal, die Stille um ihn eine Quelle der Gedanken und Träume. Anfänglich hatten ihm zwar Schmerzen viele Stunden schwer und lang gemacht, aber kein Tag und keine Nacht hatten ihn mit Langeweile geplagt. Was mochten die Kollegen in Nowy Wiezyczy inzwischen erlebt haben? Wie mochte es um Glücks seelische Verfassung bestellt sein? Brauchte man wirklich keine Sorge mehr um ihn zu haben?
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Und von dem Kleeblatt schweiften seine Gedanken zu Jendik und zu dem Mädchen im Moor, das in seinen Kinderaugen schon den Ausdruck der Illusionslosigkeit und seelischen Enttäuschungen des Alters und die Müdigkeit des Hungerns hatte. Immer wieder tauchte ihr Bild so vor ihm auf, wie er sie eine Minute lang gesehen hatte, knabenhaft mager und doch mädchenhaft verwirrend, und immer verscheuchte er es scheu in einem leichten inneren Erröten vor dem Bilde Evas. Er empfand auch den Unterschied zwischen jenem Mädchen und der Geliebten und die Quelle der leisen Unruhe in seinem Blute: Hier die in ihrer Vollkommenheit ruhende Dreieinigkeit von Körper, Geist und Seele, zu der er aufsah und die seine Sehnsucht nach Eva, seine ganze Liebe so licht und schön machte, wie sie selber war, und dort das junge Geschöpf, verlangend nach Licht, Wärme, Zärtlichkeit, näher noch dem triebhaft Ursprünglichen und in einen fast tierhaften Kampf ums Dasein mit der Natur und menschlichen Feinden verloren. Günther Racke hatte aber auch seine Aufgabe nicht vergessen. Er begleitete im Geiste Wolf Dieter auf seinen Fahrten, verfolgte die baulichen und betrieblichen Fortschritte im Streckennetz der Direktion und auch die Rückschläge, Auswirkungen des endgültigen Wintereinbruchs, feindlicher Fliegerangriffe und Kampferfolge, von denen ihm Wolf Dieter bei seinen kurzen Besuchen in Poltawa erzählte. In Charkow war in den ersten Dezembertagen so hoch Schnee gefallen, daß man von Quartier zu Quartier Gräben schaufeln mußte. Sobald das Fieber gewichen war, ging Günther an die Sichtung seiner Notizen und ihre Ausarbeitung, an die Gestaltung der Erlebnisse und Erfahrungen zu jener Kriegschronik der stählernen Straßen, die zu schreiben der Erste Eisenbahner des Reiches ihm aufgetragen hatte. Seine Ausbeute auch an Anekdoten, die den Vorzug hatten, wahr zu sein, an teils betrüblichen, teils erfrischenden Begebenheiten, mehrte sich von Tag zu Tag. Die blauen Kollegen der Eisenbahnbetriebsdirektion Poltawa besuchten ihn. Sie hatten mancherlei darüber zu klagen, daß sie von der Wehrmacht häufig nicht für voll genommen, über die Achsel angesehen wurden. 201
Aber da war auch mancher Dienstvorsteher und Amtsvorstand, der Haare auf den Zähnen hatte. Kam zum Beispiel ein Oberrat und Maschinenamtsvorstand, ein kerniger Niederbayer aus der Passauer Gegend, als es Winter wurde zu einem Ortskommandanten, einem Rittmeister von Kinkerlitz oder so ähnlich und erklärte: „Jetzt brauchma Haisa für unsre Leit!“ Worauf ihn der elegant beuniformte Offizier aus nördlichem Gau etwas von oben herab belehrte: „Wat heeßt hia Häusa für unsere Leute? Sie wollen woll saachen: Sie benöt'chen Unterkünfte for Ihre Männa!“ „Jo, Haisa brauch' ma holt bei dera Koit'n!“ Der Rittmeister gab es vernünftigerweise auf, die Ausdrucksweise des Beamten auf militärische Form umschulen zu wollen, aber er fragte: „Wieso brauchen Sie überhaupt Unterkünfte? Sie haw'n doch Waggons!“ „Sie!“ antwortete der Oberrat, „dees is a saudumms G'red. Des is grad so, wie wann i sag'n tät: Was brauch'n denn Sie a Roß, Sie hamm ja so scheene Stiefel!“ Eines Tages erhielt Günther den Besuch eines auf äußeren Augenschein hin ziemlich originell anmutenden Mannes. Er war sehr klein von Gestalt und auch nicht mehr der Jüngste, trug Raupenschulterstücke und statt Pistole zur langen Hose den Dolch. Das war Oberrat Lob, der Leiter der Werkstättenabteilung der Feldeisenbahndirektion 3. „Ich hörte durch Ihren Bruder von Ihnen“, sagte er. „Ich will Sie über den Einsatz meiner vier Werkstättenämter unterrichten. Sie haben eine große Aufgabe; ich will Ihnen helfen.“ Günther wurde ganz heiß vor Freude. Das gab es, daß ein Oberrat zu einem kleinen Inspektor kam und mit ihm redete, als wäre er seinesgleichen! Die Orte solcher Werkstätten zu erfahren, war mühselig gewesen. Man hatte einheimische Ingenieure, soweit man sie ausfindig machen konnte, befragt, auch Gefangene ausgehorcht und aus den Akten der Eisenbahndirektion Lemberg einiges erfahren, aber die Angaben widersprachen sich häufig und waren teilweise falsch. Vielfach lagen die Gebäude ganz oder teilweise in Trümmern oder waren ausgebrannt. Maschinen, Stoffe, Ersatzteile, Werkzeuge waren unter Trümmern und Brandschutt 202
begraben; nur das Wenigste davon konnte in wieder tauglichen Zustand versetzt werden. Was an Ausbesserungswerken baulich in brauchbarem Zustand geblieben war, besaß meist keine Einrichtung mehr. Dennoch war es bisher gelungen, 12 Eisenbahnausbesserungswerke, 4 Fahrzeugfabriken, eine Fabrik für Weichen und eine Fabrik für Oberbaubedarf einigermaßen in Ordnung zu bringen und in Betrieb zu nehmen. Man hatte außerdem 30 Fabriken erkundet, die Eisenbahnbedarf gefertigt hatten oder dazu herangezogen werden konnten oder Stoffe und Maschinen besaßen, die für die Eisenbahnwerke benötigt wurden. Nahezu 1.100 Maschinen hatte man aufgebracht und Berge von Werkzeugen, Geräten und Werk- und Baustoffen, um sie damit auszustatten. Aber die Zufuhr nach den Werken mußte mit völlig unzulänglichen Fahrzeugen bewerkstelligt werden, da schwerere und Speziallastkraftwagen nicht zur Verfügung standen. Aus den Plänen der Abteilung ersah Racke, in welchen Städten sich die in Betrieb genommenen Lok- und in welchen sich die Wagenausbesserungswerke befanden, wo die Lokfabriken und wo die Wagenfabriken waren. Er bekam außerdem einen Überblick über die Eisenhütten, die Stahl- und Walzwerke, die Werkzeugmaschinenfabriken und Traktorenwerke. Aus den Statistiken ersah er die Art und Stärke der Belegschaften und die geleistete Arbeit. Die Leistung war nach deutschen Maßstäben, rein äußerlich betrachtet, gewiß nicht überwältigend und dennoch voller Anerkennung wert, wenn man bedachte, unter welchen Umständen sie erzielt wurde: Mangel an Kohle, eine Kälte bis zu 30 Grad unter Null, Mangel an Strom und Wasser, völlig unzureichende Ernährung der einheimischen Arbeiter, deren Arbeitsleistung an sich schon weit hinter der in deutschen Werkstätten zurückblieb! Außerdem hatten die F.W.Ä. auch Hilfskommandos für den Betriebsmaschinendienst stellen, beim Wiederaufbau von Pumpwerken helfen und am laufenden Band Ausbesserungen an Lazarettzügen, Spezialwagen und auch Kraftwagen für die Wehrmacht vornehmen und verschiedenen sonstigen Eisenbahn- und Wehrmachtsbedarf fertigen müssen.
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Als der kleine Lob, der zwar im Personalkörper der Reichsbahn ein hoher und wichtiger Beamter, aber ohne besondere Bedeutung für das Weltgeschehen gewesen war, und der seine Raupenschulterstücke mit so bescheidener Selbstverständlichkeit trug, seine Akten wieder abholte, erwies ihm Günther Racke eine aufrichtige innere Ehrenbezeugung. Denn hinter dem Kopfe dieses Ingenieurs sah er den Plan der über ein Riesengebiet verstreuten Werke, deren Chef er war, größer und mächtiger, als die Trustmilliardäre der USA. Auch Oberrat Brandner, Leiter des Betriebsmaschinendienstes der FED, ebenfalls Sonderführer im Majorsrange, hielt es nicht für unter seiner Würde, den jungen Inspektor im Lazarett aufzusuchen, der die Chronik vom Landser der stählernen Straßen schrieb und ihr persönlich schon mehr als ein Ruhmesblatt eingefügt hatte. Sofort verband Günther mit dem lebendigen, in der Sicherheit seines fachlichen Könnens wie auch gegenüber persönlichen und dienstlichen Widerwärtigkeiten gleichmütigen Mannes bayerisch-österreichischen Gepräges eine lebhafte Sympathie. Aus seinen Schilderungen erwuchs ihm das Winterbild auf den Strecken, das er noch nicht selbst erleben konnte. Die Reichsbahnräte der Direktion, die Amtsvorstände, aus der in Jahrzehnten gewachsenen Ordnung der Heimat heraus vor die Aufgabe gestellt, aus dem Tohuwabohu der Zerstörung neuen Betrieb, aus den Ruinen neues Leben zu stampfen, wuchsen über sich selbst hinaus. Vor dieser Aufgabe erst hatten sie Gelegenheit, ihr Wissen und Können in schöpferisch aufbauende Leistung umzusetzen, über den Beamten hinauszuwachsen, ihren eigenen Einfallsreichtum, ihren fachlichen Mut und ihre menschliche Energie zu entfalten. Wer dabei einerseits vor schlechterdings unüberwindlichen Schwierigkeiten mit einem Lächeln kapitulieren konnte, andererseits der höheren militärischen Führung und Gewalt mit der formell vorgeschriebenen Haltung zu begegnen wußte, wer schließlich der Verschiedenartigkeit der Charaktere seiner Kollegen und Kameraden in weiser Toleranz Rechnung trug, durfte sich glücklich schätzen, denn er war den Mißhelligkeiten der Kriegsverhältnisse einigermaßen gewachsen.
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Auch eine Fülle persönlicher Erlebnisse und Eindrücke erschloß sich Günther Racke. Dem großen Charakter des kleinen Lob konnte er in seinen Aufzeichnungen zwei Glanzlichter aufsetzen, die seine Hochachtung vor ihm noch vertieften: Beim Kommandeur war Besprechung der Amtschefs und Dezernenten. Eine Strecke, die so rasch wie möglich in Betrieb genommen werden mußte, war von einer großen Anzahl beschädigter Lokomotiven und Hunderten von Wagen blockiert. „Wenn wir das alles abschleppen wollen“, sagte der Kommandeur, „haben wir in 14 Tagen noch keinen Betrieb! Wir werfen einfach Lok und Wagen von den Gleisen, dann rollt der Nachschub in 3 Tagen.“ „Sie!“ empörte sich da Lobs altes Eisenbahnerherz, „des will aber der Herr Reichsverkehrsminister fei net habe!“ Oberstleutnant Freiherr von Bergen, einst Flügeladjutant des deutschen Kaisers und eines Hauptes höher als alles Volk, Soldat von Geblüt und nach dem Zeugnis seiner Eisenbahner Mensch von echtem Adel, antwortete schmunzelnd: „Wir müssen aber im Felde nun einmal die Lebensinteressen der Truppe sinngemäß den Gesichtspunkten friedensmäßiger Verwaltung in der Heimat voranstellen.“ Der gleiche Lob fährt eines Tages im Kraftwagen mit einem Erkundungsauftrag hinter der kämpfenden Truppe her ins Niemandsland. Da erhält der Wagen Feuer. Der Fahrer will umkehren. „Das geht uns gar nichts an“, erklärt Lob. „Das ist eine rein militärische Angelegenheit. Wir sind Eisenbahner. Sie fahren weiter!“ Und er führt seinen Auftrag durch. Wieviel Interessantes, wieviel Hübsches, wieviel Häßliches, wieviel Gutes, wieviel Böses hatten die Eisenbahner erlebt! Racke erfuhr von dem Sanitätsoffizier der FBD, Stabsarzt Dr. Runge, der das Abzeichen für die Fahrzeuge erfunden hatte, eine gelbe Lebensrune auf rotem Grund, und seitdem den freundlichen Namen ,Blütenstengel' trug, daß es in Lemberg fast keine Ansteckungen gegeben habe, weil die Russen geschlechtskranke Frauen und Mädchen kurzerhand erschossen hätten. Juden, die Ukrainer an die Russen verraten hatten, wurden von den Ukrainern aus ihren Verstecken geholt und totgeprügelt.
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Kinder, die Erdbeeren und Blumen gebracht hatten und von Läusen wimmelten, verhungernde Katzen und grellgeschminkte Weiber mit vielen goldüberkronten Zähnen, zahllose Störche in den Wiesen, zahllose Eichhörnchen in den Wäldern, Wildschweinjagden mit den feudalen rumänischen Offizieren, bildeten das Mosaik der galizischen Erinnerungen. Ein Rubel war gleich zehn Pfennigen und ein Kalb kostete 5 Mark, eine Kuh 40, ein großes Schwein 100. Zehn Pfund Kirschen bekam man für drei Zigaretten. Ein Feldwebel erklärt sich zum Besitzer einer großen Anzahl auf einer Nebenstrecke abgestellter Güterwagen und verkauft ihren Inhalt zu niedrigen Preisen an die Bevölkerung. Ein Landser muß 15 Gefangene zur Arbeit führen, bei der Rückkehr ins Lager fehlt einer. Um der Bestrafung zu entgehen, packt er den nächsten Ukrainer, stößt ihn in die Reihe: es sind wieder 15. Gut. Da kam ein Russe und beklagte sich verzweifelt, daß er leider keine große Tochter habe, die Soldaten hätten seine kleine Tochter aber nicht gewollt, sondern dafür das Schwein mitgenommen. Ein alter Hauptmann, schon jenseits aller fleischlichen Versuchungen, bestellte eine Ukrainerin zu sich, die er als Putzund Waschfrau beschäftigen wollte. Sie solle ihren Mantel ausziehen und an den Nagel hängen, sagte er zu ihr und fuhr in seiner Arbeit fort. Als er sich wieder nach ihr umwandte, hatte sie nicht nur den Mantel, sondern alles, was sie angehabt hatte, an den Nagel gehängt. Er errötete bis unter sein in bürgerlichen Ehren grau gewordenes Haar, dann fluchte er und sie fuhr erschrocken wieder in ihre Sachen. Sie hatte geglaubt, er wolle zuerst eine Gesundheitsbesichtigung vornehmen, wie sie bei der einheimischen Bevölkerung, ehe sie zum Arbeitseinsatz kam, amtlicherseits meist durchgeführt wurde. Günther Racke hätte mit Episoden ernster und heiterer, tragischer und komischer Art allein ein dickes Buch füllen können. Auf dem schmalen Feldbett in der kleinen kahlen Kammer wurden ihm in ein paar Tagen und Wochen mehr Erlebnisse zuteil, als ein einzelner in ebensoviel Monaten und Jahren zu erleben pflegte. Und jetzt war die Zeit der ständigen Bettlägerigkeit zu Ende. Nachher würde die Schwester kommen und dann würde er, wenn 206
auch wohl recht wackelig, zum ersten Male wieder auf den Füßen stehn. Bald würde der erste Ausgang folgen, Besuch bei den Dienststellen, in den Werken und in fünf oder sechs Wochen würde er wieder von Knoten zu Knoten, von Betriebsspitze zu Betriebsspitze fahren und auch einmal hinauf in den Nordabschnitt, den er noch nicht kannte. An die Stelle der fremden Episoden am Rande des Krieges würde wieder das eigene Erlebnis an den Brennpunkten des eisenbahnerischen Einsatzes treten. Günther Racke löste das Auge von der weißgetünchten Decke über sich, von den Gedanken und Bildern, die, wie ein Film über die Leinwand, auf ihr vorübergezogen waren. Er setzte sich auf und warf einen Blick aus dem Fenster auf die nach einer kurzen Tau- und Schmutzperiode wieder weiß gewordenen Dächer und Türme von Poltawa. Es klopfte. Ein wenig hart. Er kannte dieses Klopfen. Das war Wolf Dieter. „Na, wie geht's Kleiner? Ich habe Post für dich.“ Günther nahm den Brief, legte ihn auf die Decke. Mit zarter Hand geschah das. Er war von Eva. „Lies ihn nur“, sagte Wolf. Günther schüttelte leicht den Kopf. „Es eilt nicht.“ Seit vierzehn Tagen wartete er auf diesen Brief. Gleich nachdem das Fieber gewichen war, hatte er Eva geschrieben, daß er hier im Lazarett lag. Aber nun kam es auf ein paar Minuten oder Stunden nicht mehr an. Wenn er den Brief las, mußte er allein sein. So wie damals, als ihn drei von der Betriebsleitung Osten an ihn weitergesandte Briefe der Geliebten zugleich endlich in Jasinowataja erreicht hatten. Er würde warten, bis es dämmerte, so wie damals, und dann seine letzte kleine, rote Kerze anzünden, in ihrem Schein den Umschlag öffnen, Wort für Wort langsam lesen und Wort für Wort mit Küssen bedecken. Die Nachrichten, die Wolf Dieter von der Lage an der Front brachte, waren nicht erbaulich, obgleich er vermied, den Bruder ernstlich zu beunruhigen. Die deutschen Truppen, für einen so harten Winter nicht ausgerüstet und infolge des immer schleppenderen Bahnverkehrs und des katastrophalen Ausfalls ihrer Kraftfahrzeuge unter Mangel an Nachschub auf allen Gebieten leidend, standen fast ohne Reserven in unablässigen, 207
schwersten Abwehrkämpfen. Immer wieder errang der Gegner Teilerfolge, warf er die Front durcheinander, zwang deutsche Kontingente zum Rückzug, brachte andere durch Einkesselung in schwerste Bedrängnis. Es war erstaunlich, welch sturen Widerstand der Landser der Katastrophe entgegensetzte, von der er an allen Ecken und Enden bedroht war. Auch die Eisenbahn hatte durch Vorstöße der Russen Spitzenbahnhöfe und infolge Durchbrüchen wichtige Streckenteile verloren, hatte Tote, Verletzte und Vermißte zu beklagen. Wolfs schon immer scharf gezeichneten Züge schienen Günther noch tiefer eingeprägt zu sein, als bei des Bruders letztem Besuch. Stärker als bisher empfand er auch die gebändigte Leidenschaftlichkeit des Wesens des Bruders, der gegenüber er sich von Klein an schlapp und ein wenig betrübt gefühlt hatte. „Wie verschieden doch unsere beiden Buben sind“, hatte er die Mutter kurz vor ihrem Tode einmal zum Vater sagen hören. „Günther ist klaren und freundlichen Gemüts und Wolf wild und düster. Wolfram von Eschenbach und Tannhäuser.“ Gerade als sich Wolf verabschiedet hatte und zur Türe ging, klopfte es leise und sie öffnete sich. Auf der Schwelle stand eine Schwester. Wolf blieb stehen. Er hatte sie noch nie gesehen. „Ein neuer Stern“, wollte er zuerst sagen, im gleichen Augenblick erschien es ihm zu seicht. Seine Augen hatten sich in ihrem Antlitz verfangen. Er hatte den Mund zu einem Gruß geöffnet, aber er schwieg. Es gab kein Wort für sein jähes, heftiges Empfinden. Oh! Wer bist Du? dachte er. Du bist mein Schicksal. Wie eine heiße Welle brach dieses Gefühl, dieses Wissen aus seinem Herzen. Aber sagte man so etwas zu einem Mädchen in der Sekunde, da man es zum ersten Mal sieht? Klang es nicht überspannt? Müßte sie es nicht lächerlich finden? Wolf Racke sagte kein Wort, doch fühlte er, daß sein ungestümes Empfinden seine Züge durchwühlte. Er sah in ihren klaren, großen Augen ein kurzes Erschrecken, Staunen, Verwirrung. Er verbeugte sich schweigend und gab ihr den Weg frei, ging fast heftig hinaus, zog, ohne sich umzusehen, die Türe hinter sich zu. Er stand eine Weile, als wüßte er nicht weiter. Dann ging er 208
langsam den endlos langen Gang vor und Stufe um Stufe die Treppe hinab, ohne etwas denken zu können. Als hätte er einen Nebel in seinem Kopfe. Er grüßte niemand, denn er sah niemand, aber alle, die ihm begegneten, blickten ihm nach. Wolf Racke hatte aus dem Raum, den er verlassen hatte, keinen Laut vernommen. Er hätte auch innen, außer den paar leisen, flüchtigen Schritten der Schwester, keinen Laut mehr vernehmen können, denn Günther blieb der Atem stehen und dann lagen Evas Lippen auf den seinen. Es fiel kein Wort und das Hämmern seines Herzens gegen ihre Brust hörte man nicht. Es fiel noch lange kein Wort. Ihre Lippen lösten sich nur, um den Augen zwischendurch Raum zu geben, das Antlitz des andern ganz zu umfassen. Es war kein Wort möglich, denn das Glück ihres Zusammenseins war stumm in seiner Unbegreifbarkeit und Größe. Sie brauchte ihm auch nichts zu erklären. Es war alles ganz klar. Als seine Nachricht gekommen war, hatte sie sich freiwillig für den Dienst im Feld gemeldet unter der ausdrücklichen Bedingung, in Poltawa und in diesem Lazarett eingesetzt zu werden. Das stand gewiß auch in dem Brief, der noch auf der Decke lag. Günther Rackes erstes Aufstehen verzögerte sich, bis es schon fast dämmerte, und jetzt erst wandten sich beider Gedanken den Dingen und Fragen der Gegenwart und Zukunft zu, und sie redeten, was Menschen zu reden pflegen, die sich kennen und lieben und einander lange nicht gesehen haben. Evas Schwesterndienst begann erst in drei Tagen. Bis dahin würde sie nur ihn pflegen. Die Stationsschwester habe gesagt, sie werde nicht stören, nur mit dem Arzt zur Visite. An Evas Arm hinkte er zum ersten Mal durch den Gang und auf dem Balkon auf und ab. Es war bitter kalt; er war es nicht gewohnt und nach zehn Minuten gingen sie wieder hinein. Nicht nur, weil es drinnen wärmer war oder weil ihn die Viertelstunde Aufsein zu sehr angestrengt hätte. Er hatte auch die bewundernden und verliebten Blicke aller Männer gesehen, die ihnen begegnet waren. „Hältst du das denn aus, dieses unablässige Umworbenwerden?“ 209
„Frauen sind das gewohnt. Es berührt mich gar nicht.“ Es war ihm plötzlich unbegreiflich, daß seine Augen den Weg in ihr Herz gefunden hatten. „Wie kommt das? Warum liebst du mich?“ fragte er. „Ich glaube, die große Liebe weiß nie, warum.“ „Und hat dein Herz nie für einen anderen geschlagen, seit ich es gewann?“ „Nie zuvor und nie seitdem.“ Als sie es gesagt hatte, erschrak sie. Sie hatte gelogen. Nein, eine Lüge war es nicht, aber es war auch nicht die volle Wahrheit. Sie rettete sich vor dem leichten Angriff eines fremden Gefühls an seinen Mund. Als sie das Licht gelöscht hatten und er nicht mehr in ihrem Antlitz lesen konnte, fragte sie einmal nebenbei: „Wer war der Mann?“ „Welcher Mann?“ „Der ging, als ich kam.“ Er lachte. „Ja so etwas! Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Das war mein Bruder! Wolf Dieter.“ Ehe sie sich zum letzten Male in dieser Nacht „gute Nacht“ sagten, fragte er: „Eva, es ist erst ein halbes Jahr vergangen, seit ich dich gefragt habe, ob du meine Frau werden willst. Brauchst du wirklich noch ein halbes Jahr Bedenkzeit?“ „Du fragst aber dumm. Bin ich es denn nicht schon?“ Gleich am frühen Morgen hatte Eva eine kurze Unterredung mit dem Chefarzt. „Selbstverständlich bin ich einverstanden, Schwester Eva. Die standesamtliche Trauung kann auf telegraphischem Wege vollzogen werden. Sobald die Bestätigung da ist, längstens in fünf bis sechs Tagen, wird Sie der Feldgeistliche der Standortkommandantur dann kirchlich trauen, wenn Sie den Wunsch haben. Das würde gerade noch vor dem Weihnachtsfest sein. Vielleicht sprechen Sie beide mal mit dem Pfarrer, wenn er im Laufe des Tages die Kranken besucht.“ Eva ließ es gar keine Ruhe so lang, sie wollte den Geistlichen gleich selbst aufsuchen. Zum ersten Male empfand sie die wunderbar selige und auch ein wenig bange Aufregung eines Mädchens, das sich selbst aufgibt, um fürs ganze Leben eines 210
Mannes Eigentum zu sein. Sie fühlte, daß man ihr das Glück ihres Leibes und ihrer Seele ansah; es war ein neuer Glanz in ihren Augen. Sie entdeckte ihn im Spiegel. Unter dem Portal des Krankenhauses prallte sie fast mit Wolf Dieter zusammen. Da er Günthers Bruder war, wich sie nicht aus, sondern blieb einen Augenblick stehen, aber eine ganz feine, seltsame Furcht beschlich sie dabei. Wolf legte die Hand an die Mütze und verbeugte sich, lachte leichthin, sagte leichthin: „Es scheint, daß wir bestimmt sind, einander zwischen Tür und Angel zu begegnen.“ Seine Augen lachten nicht. Sie hatten einen heißen Glanz. Als wäre es ganz selbstverständlich, wandte er sich um und ging neben ihr her auf die Straße. „Sicher hat Ihnen mein Bruder gesagt, wer ich bin. Aber mir hat der Duckmäuser nicht verraten, daß er eine so — ich meine, daß er eine neue Schwester hat.“ „Das konnte er auch noch nicht verraten, weil ich gestern sein Zimmer zum ersten Mal betrat, als Sie es verließen.“ „Ach!“ rief er aus. „Da sind Sie wohl noch gar nicht lange in diesem Lazarett?“ „Ich bin gestern gekommen.“ „Doch nicht etwa aus der Heimat?“ „Ja. Warum denn nicht?“ „Was? Jetzt, wo die Front auf so wackeligen Füßen steht und der Russe auch hier unversehens auftauchen kann!“ Ein flüchtiger Schatten glitt über ihre Züge. „Steht es wirklich so schlimm?“ „Jedenfalls weiß niemand, was werden wird, und es ist eine bodenlose Gemeinheit, hier noch Frauen herzuschicken, statt alle, die hier sind, so schnell wie möglich westwärts in Sicherheit zu bringen.“ „Ich habe mich freiwillig gemeldet.“ „Was haben Sie?“ Es klang ganz zornig. Er sah sie von der Seite an. Herrgott, wie süß sie war! Ihre Augen waren verändert seit gestern. „Vielleicht glaubten Sie, nach Paris zu kommen?“ „Nein. Ich wollte nach Poltawa.“ O, dieses irrsinnigmachende Lächeln! 211
„Aber warum denn?“ „Ganz einfach. Weil Günther hier liegt.“ Racke blieb mit einem Ruck stehen, starrte sie an, sah jetzt aus, als hätte sie etwas sehr Böses gesagt. Dann streckte er langsam die Hand aus. „Sie sind — Eva?“ Sie nickte. Er ließ ihre Hand sinken. „Ich freue mich, Sie kennen zu lernen“, sagte er leise. Es klang ganz anders als Freude klingt. Sie gingen weiter. „Wohin darf ich Sie begleiten?“ „Zum Standortpfarrer.“ „Was wollen Sie denn bei dem?“ „Günther und ich lassen uns ferntrauen.“ „Ach so! Ja. Natürlich.“ Sie schlug einen heiteren Ton an: „Bei der kirchlichen Trauung müssen Sie mein Brautführer sein.“ „Leider — ich glaube — das wird nicht möglich sein. Ich habe längere Zeit auf unseren Strecken im Donezbecken zu tun. Ich wollte mich eben von Günther verabschieden.“ Es war nicht wahr; sie fühlte es. „Das wird ihm aber leid tun“, antwortete sie langsam. Und dann gingen sie schweigend nebeneinander her, bis er unvermittelt den Schritt verhielt. „Wir sind hier“, sagte er. Es klang kühl, sachlich. Auch das war Lüge; sie fühlte es. Sie standen vor einem großen, mit Schildern bepflasterten Gebäude. Der Posten hatte das Gewehr angezogen und hörbar die Absätze zusammengeschlagen. Wolf winkte ab, „Leben Sie wohl, Fräulein Eva“, sagte er zurückhaltend freundlich und legte die Hand an die Mütze. Sie zog die Pelzhandschuhe aus, sah ihn dabei lächelnd vorwurfsvoll an: „Warum sagst du nicht Eva zu mir? Du bist doch mein Schwager.“ Sie legte ihre Hände an seine Arme, hob sich, ungeachtet des Postens und der Passanten auf die Fußspitzen und küßte ihn auf die Wange. Ganz leicht nur, aber lieb. Das fühlte er. Und er hörte auch die feine, begütigende Zärtlichkeit in ihrem leisen, hellen: „Auf Wiedersehn, Wolf!“ Da ging sie schon, verschwand im Eingang. 212
Racke starrte auf die Türe, die sich hinter ihr geschlossen hatte. Zwischen Tür und Angel — — Aus. Oder sollte er warten? Nein. Er durfte es nicht. Sie war Günthers Braut. Er riß sich zusammen, riß sich los von der Stelle, auf der er wie festgewachsen stand, ging mit so großen und raschen Schritten fort, als fürchtete er, daß er wieder umkehren würde, wenn er auch nur einen Atemzug lang zu zögern begann. Ähnlich erging es Eva, als sie nach einer Viertelstunde wieder aus dem Hause trat. Sie mußte sich gestehen, daß sie gefürchtet und gehofft hatte, er würde gewartet haben und sie war befreit und enttäuscht zugleich, daß er nicht mehr da war. Sie wollte die Gedanken, die sich um Wolf Racke drehten, verscheuchen; es gelang ihr nicht. Und dann sagte sie sich: es hätte auch keinen Sinn, du mußt es durchdenken. Du mußt Klarheit darüber gewinnen, was das ist zwischen dir und ihm. Er liebt dich mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Wesens, nun flieht er dich um des Bruders willen. Und du? Du! Warum fürchtest du ihn? Lüge dich nicht an! Er ist der erste Mann, der gegen deinen Willen deine Sinne erregt. Gesteh' es dir nur: deine Seele bangt, weil sie fühlt, wie schwach du wärest vor seiner Begierde. Du würdest dich wehren und dennoch erliegen. Liebst du ihn? Nein. Ja. Das ist nicht möglich. Doch. Es ist beides wahr. Es ist eine andere Liebe, als die Liebe zu Günther. Die Liebe zu Günther war sanftes Sichhingeben und Sichgeborgenfühlen, geistiges Einssein und holde, friedliche Glückseligkeit des Leibes. Von anderen Empfindungen hatte sie nichts gewußt. Nun war auch Wolf. Und er war Flamme. Gewalt. Rausch. Und es glitt nicht ab von ihr, sie wurde davon berührt.
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„Wenn sie noch ohne Bindung an den einen oder anderen wählen könnte? Günther! Nicht einen Augenblick zögerte ihr Herz mit der Antwort. Günther war das Beständige, der Hafen, die Heimat. „Wolf das Meer, der Aufruhr der Elemente. Des Blutes. „War das nicht Betrug an dem Manne, dessen Frau sie nun wurde? Nichts hatte sich geändert an ihren Gefühlen zu Günther, an ihrem eigenen „Willen. Aber da war nun noch etwas. Daneben. Unversehens. „War das Schuld? Daß sie plötzlich wußte, daß auch in ihres Blutes Tiefe der Aufruhr schlummerte? Daß sich die Sinne nicht befehlen ließen? Man konnte ihnen den Mund zuhalten und sie hörten doch nicht auf zu reden. Warum waren Günther und „Wolf nicht eins? Beider Wesen in einem vereint! Daß sie in den Armen dieses einen die vollkommene Erfüllung als Weib besäße: Das Meer und den Hafen, den Sturm und die Stille, die friedliche Glückseligkeit und den wilden Rausch. Eva wußte nicht, daß sie mit ihren Empfindungen und Gedanken an das Rätsel der ewigen wechselseitigen Untreue zwischen den Geschlechtern rührte. Daß sie am Rande der Erkenntnis stand, warum Liebe immer wieder an Liebe zerbricht. Sie hatte schweigen wollen, aber nun saß sie zur Nacht mit Günther am Fenster. Das Mondlicht lag auf ihnen. Sie hielten einander bei den Händen. Ihre Augen umfingen einander mit unsagbarer Zärtlichkeit. Sie dachten daran, wie viele von Glück beseligte, wohl auch wie viele von Leid gepeinigte Paare so unter Poltawas Dächern saßen, unter den Dächern von tausend Städten, über denen jetzt der Mond schien, Sterne leuchteten, Wolken zogen, Schnee fiel oder Regen. Da brach es aus ihr heraus. Wolf! In den ersten Minuten, als Eva sprach, war es Günther, als zöge sie eines Messers Schneide durch seinen ganzen Leib. Aber je länger sie sprach, stammelnd, schluchzend, lächelnd, mit tränennassen Küssen sein Antlitz, seine Brust, seine Hände überschwemmend, umsomehr fühlte er die Wunde sich 214
schließen, fühlte er sich erhoben durch sie, hineinwachsend in ein so großes Gefühl, daß er ohne Groll an Wolfs Leidenschaft zu denken vermochte und an den Bann, in den sie Evas Herz geschlagen hatte. Und als sie aus einem Meer von Küssen auftauchten, sagte er: „Quäle dich nicht. Ich verstehe Wolf. Wie könnte es auch anders sein — er muß dich ja lieben! Und ich verstehe auch dich. Ich habe ihn selbst immer bewundert und ein wenig gefürchtet. Er ist härter als ich, entschlossener und stärker in allem. Wenn ich denke, du lägst in seinen Armen, bleibt mir der Atem stehn. Aber das ist töricht. Du bist doch unausschöpflich an Glück für mich. Ich will es überwinden, denn es ist Eigensucht. Du machst mich so vollkommen selig, daß auch dein vollkommenes Glück der heißeste meiner Wünsche sein muß.“ Eva nahm Günthers Gesicht in beide Hände, als suchte sie in seinen Zügen die Erklärung für die Seltsamkeiten des Herzens, dann sagte sie: „Du bist doch der Stärkere. Durch deine Güte Ich fühle mich schon wieder klar und frei.“ „Du sollst dich immer frei fühlen. Treue, die nicht aus der Freiheit, sondern nur aus der Pflicht oder aus dem Mitgefühl kommt oder aus der Sorge um den Bestand der Ehe, ist keine Treue, sondern Feigheit und Lüge. Was du auch sehnen und tun magst, nichts, was aus der Gewalt des Schicksals kommt, wird mich von dir trennen. Du bist der blaue Himmel meines Lebens. Was sind ein paar Wolken, die der Wind über ihn treibt? Sei fröhlich, Eveli, wie ich es bin! Die Wolken kommen und gehn, der Himmel bleibt.“ Nach fünf Tagen kam die telegraphische Bestätigung ihrer standesamtlichen Trauung. Günther versuchte, es auf telefonischem Wege über Charkow - Lesowaja - Jasinowataja Wolf mitteilen zu lassen, mit der Bitte, er möge sofort zur Hochzeit kommen. Am anderen Morgen war die Antwort da. Er war tatsächlich gefunden worden. „Vorläufig unabkömmlich. Viel Glück!“ Da ließen sie ihren Lebensbund noch am gleichen Tage im freundlich geschmückten Gemeinschaftsraum der Schwestern des Lazarettes einsegnen. Es war eine schöne Feierstunde. Die Landser Bunz und Hensch waren da und die Raupenschlepper Lob und Brandner und sie waren zwar Eisenbahner 215
verschiedenen Bildungsgrades, sehr verschiedener Laufbahn und Gehaltsstufen, aber Kamerad unter Kameraden, Mensch unter Menschen. Bunz und Hensch trugen das Eiserne Kreuz; es war ihnen am Morgen überreicht worden und aus diesem Grunde hatte man sie nach Poltawa gerufen. Auch Wolf Racke war es verliehen worden; man hatte es ihm als Dienstpost geschickt. Nach einiger Zeit ging die Türe auf und mit dem Chefarzt kam der Vertreter des Präsidenten der Haupteisenbahndirektion Ost und überreichte Günther das Verdienstkreuz erster Klasse mit Schwertern. Dazu lag ein Handschreiben der ostwärts Jasinowataja kämpfenden Division vor, das in Abschrift auch an den Transportchef und das Reichsverkehrsministerium gegangen war und in dem es hieß: „Der Brennstoffzug, der durch Ihre kühne Initiative und Ihren persönlichen hervorragenden Einsatz aus dem Bahnhof hinter den russischen Linien herausgeholt wurde, hat es der Division ermöglicht, alle Angriffe des Gegners in beweglicher Taktik abzuschlagen und auch die Nachbarabschnitte zu unterstützen. Dafür gebührt Ihnen und allen Eisenbahnern, die dabei unter Einsatz ihres Lebens mitgewirkt haben, besondere Anerkennung und Auszeichnung.“ „Ich bin überzeugt“, meinte der Vertreter der H.B.D. Ost im Laufe des Gespräches, „daß Einsatz und Leistung des Eisenbahners im Felde nicht nur solche ideelle, sondern später im Frieden ihre verdiente reale Belohnung durch entsprechende Beförderungen und Ernennungen im Amte finden werden.“ Bunz sagte trocken: „Die Botschaft hör' ich wohl, jedoch mir fehlt der Glaube.“ „Gut“, warf der Pfarrer ein, „daß sich Ihr Faustzitat nur auf den Staat bezieht und nicht auf das Evangelium.“ „Woher wissen Sie das?“ war die Antwort. „Morgen ist der Heilige Abend. In allen christlichen Ländern läuten die Glocken: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Na und?“ „Ich weiß, was Sie damit sagen wollen“, erwiderte der Pfarrer. „Aber Ihr unausgesprochener Vorwurf trifft ja nicht Gott. Er trifft die Völker und ihre Regierungen. Die Voraussetzung für die Erfüllung der Weihnachtsbotschaft ist die Erfüllung der Zehn Gebote Gottes durch die Menschen und durch ihre Staaten. Von 216
der Stunde ab, wo sie befolgt werden, wird auch Frieden sein und Wohlgefallen unter den Menschen und Völkern.“ Als Günther und Eva am anderen Abend nach der Lazarettweihnachtsfeier wieder in ihrer kleinen Kammer am Fenster saßen, kamen ihnen die Worte des Pfarrers in den Sinn. Es sah böse aus an der Front und ihre Herzen empörten sich gegen die düstere Bedrohung ihres Lebens und Lebensglücks durch den Krieg. Wie ungeheuerlich war diese Vergewaltigung der Menschen über die ganze Erde hin! Sie waren beide noch aufgewühlt von dem, was ein einfacher Soldat, Student der Philosophie und Philologie, dem beide Beine hatten abgenommen werden müssen, eine halbe Stunde lang vorgetragen hatte: Kurze Auszüge aus einem Sammelwerk der großen geistigen Werte der Menschheit, deren Schöpfer und Verkünder die echten Dichter und Denker aller abendländischen Nationen und der vergangenen Kulturen aller Erdteile waren. Wie aber reimte sich dieses hohe Geistesgut der Nationen mit der Niedrigkeit ihrer politischen Praxis zusammen? „Ach Eveli!“ stöhnte Günther und preßte seine heiße Stirne in die kühlen Hände der Geliebten, „wer vermag noch das Knäuel der Tragödie unserer Welt zu lösen? Wer hat das Neunte Gebot aus der Politik gestrichen und in sein Gegenteil verkehrt? Wer hat den Völkern die Vernunft und die Gerechtigkeit aus der Brust gerissen? Verlangt es sie denn, zu töten, zu rauben, zu versklaven? Hat denn die Masse der Menschen in allen Völkern, die den Krieg zu durchleiden, zu durchbluten und zu durchweinen hat, nicht gemeinsam die große Sehnsucht, in Frieden zu leben und glücklich zu sein? Welche satanischen Mächte haben jenen Zustand auf Erden heraufbeschworen, der die Völker zwingt, unablässig voreinander auf der Hut zu sein und einander immer wieder zu zerfleischen? Wer sind die Teufel, die es einem Volke unmöglich machen, die Waffen niederzulegen, weil es befürchten muß, von den andern ausgeplündert und an Leib und Seele versklavt zu werden? Wird die Welt denn wirklich von Räubern, Mördern, Sklaventreibern, Lügnern und Narren regiert?“ Draußen war Finsternis und Frost. Eva und Günther suchten Schutz und Trost vor aller Furcht, Sorge und Not eines am
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Herzen des andern. Sie bargen sich in die Wärme ihrer Leiber, in die Wohltat ihrer Liebe. — Die Feiertage kamen und gingen. Bomben fielen. Die Betriebslage wurde zunehmend schlechter. Überall waren die Russen im Angriff. Stationen gingen verloren. Verzweifelt krallten sich die kleinen Häuflein der Landser in die Erde, um zu schützen, was hinter ihnen war. Eisenbahner mußten alles liegen und stehen lassen, mußten laufen, um das nackte Leben zu retten. Die Sabotageakte mehrten sich. Es wurde der Bevölkerung bei Todesstrafe verboten, Bahnanlagen zu betreten. Wer es dennoch tat, wurde gehängt. Auf den Bahnhöfen und an den Masten neben den Strecken rappelten die steifgefrorenen Leichen im Wind. Die Züge nach der Krim kamen nicht mehr durch. Kertsch und Feodosia sollten gefallen sein. Gruppen von Eisenbahnern kamen an, oft ohne Uniform, wild anzusehen, mit nichts mehr, als was sie auf dem Leibe trugen, teils in russischen Fetzen. So endete das alte, so begann das neue Jahr. Eva hatte ihren Schwesterndienst angetreten. Günther arbeitete an seinen Aufzeichnungen, beschrieb Männer und Ereignisse, zeichnete Pläne nach, kopierte Statistiken, Befehle, Meldungen, Berichte. Und langsam schlossen sich seine Wunden. Am 3. Januar sank das Thermometer auf 39 Grad unter Null, am 4. auf 42. In Poltawa! In der Ukraine! Drei Tage später setzte Tauwetter ein. Man konnte vor Glatteis nicht mehr gehen. Und 48 Stunden später waren wieder 10 Grad Kälte. Die Nachrichten über unvorstellbare Greuel- und Racheakte der vordringenden Russen mehrten sich. Viele Eisenbahner wurden vermißt, von vielen anderen wußte man, daß sie als Gefangene oder Verwundete niedergemetzelt worden waren. In Feodosia wurden Tausende von einheimischen Männern, Frauen und Mädchen abgeschlachtet, weil sie für die Deutschen gearbeitet oder auch nur mit ihnen gesprochen hatten. Wo blieb da die wilde Entrüstung bei den westlichen Kulturnationen? Der Aufschrei der Menschlichkeit bei den Neutralen?
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Nun wurde auch die Lage im Räume Charkow bedrohlich. Die Feldeisenbahner in Poltawa stellten eine freiwillige Kampfgruppe auf. Sie trug den Namen „Jagdkommando“. Die Strecken Lesowaja - Slawjansk und Lesowaja - Ljubotin wurden unterbrochen. Was noch zu räumen ging, wurde geräumt, bei einer Kälte von wieder 42 und 45 Grad. Der Bahnhof Beskalowka wurde von russischen Truppen überfallen, die Besatzung niedergemacht. Die Besatzung von Lesowaja entging diesem Schicksal mit knapper Not, sie vermochte in südlicher Richtung zu entkommen. Ein Dienstzug der Direktion, in dem sich auch Wolf Racke befunden hatte, war ostwärts nach Jasinowataja entwischt, wo sich weit und breit kein Russe sehen ließ. In Poltawa herrschte Alarmzustand. 150 Kilometer waren für Panzer ein Tagesausflug. Günther Racke fuhr aus seinem Traumreich der Liebe auf. „Ich müßte dabei sein!“ grollte er gegen sich selbst. „Du hast doch keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen“, meinte Eva sachlich. „Oder bist du vielleicht völlig wiederhergestellt und felddienstfähig?“ „Nein.“ „Wer hat dir gesagt, daß du dich stets dort aufzuhalten hast, wo gerade geschossen wird und der Eisenbahner die Beine unter die Arme nehmen muß?“ „Niemand.“ „Wer tut so etwas ohne zwingenden Grund oder Befehl?“ „Keiner.“ „Hast du hier nicht viel mehr Zeit und Ruhe und Quellen genug für die Arbeit, die dir aufgetragen ist?“ „Doch.“ „Und ist es nicht anerkennenswert, daß wir unsere Flitterwochen verbringen, ohne an die Adria zu reisen?“ „Hm.“ „Du zweifelst?“ „Ich denke an Millionen andere, denen auch Flitterwochen lieber wären als Zitterwochen.“ „Aber daß wir zusammenbleiben, solange uns das Schicksal dieses Glück vergönnt, ist doch nicht mehr als recht und billig!
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Oder meinst du, ich habe mich zum Vergnügen hierhergemeldet?“ „Wie man's nimmt!“ lachte er und sie fiel ihm mitlachend um den Hals. In dieser Nacht schlug er um sich und wachte stöhnend auf, und mit ihm Eva. Er hatte schrecklich geträumt und es hing mit dem Kleeblatt zusammen, mit dem sein Rußlanderlebnis begonnen hatte. Sie konnten nicht mehr einschlafen. Es war so viel Unruhe in der Stadt und auch im Hause. Er erzählte ihr von Schepperl, Glück und Liebedorn. „Ich habe in den letzten Wochen oft an sie denken müssen. Die Kerle sind mir mehr ans Herz gewachsen, als ich geglaubt hatte. Wäre ich nicht verwundet worden, hätte ich längst einmal nach ihnen gesehen. Seit November weiß ich nichts mehr von ihnen. Vielleicht hätten sie mich manchmal brauchen können.“ Schlaftrunken murmelte Eva: „Du kannst dich doch schließlich nicht um jeden kümmern.“ „Ich wollte, ich könnt's.“ Eva hörte die leisen Worte schon nicht mehr, sie war wieder eingeschlafen. Günther starrte mit offenen, trockenen Augen ins Dunkel. Es klopfte leise, er stand behutsam auf, um Eva nicht zu wecken und öffnete. Es war die Oberschwester. Sie sah sehr ernst aus. Er wurde bleich, dachte an Wolf. „Ihre Frau muß sofort kommen“, sagte sie. „Sie müssen sich anziehen und packen. Das Lazarett wird geräumt.“ „Ja. Danke“, sagte er leise. Langsam ging er zum Bett zurück. Das war die Trennung. Denn er würde bleiben. Wenn er auch noch am Stock ging. War die Not so groß, dann war sein Platz bei der Eisenbahn. Bei den Kameraden. Sekundenlang sah er in das süßeste und geliebteste Antlitz der Welt. Dann weckte er sie.
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10. KAPITEL
Der Bahndamm war so hoch, daß ein Mensch, der unten stand, wie ein Zwerg aussah. Der Zwerg war Liebedorn. Er angelte. Schepperl sah zu ihm hinunter. Der Fuß des Dammes stand breithin im Wasser. Das war Blödsinn. Aber Schepperl dachte nicht weiter darüber nach, er freute sich über den Blick von der Höhe ins Tal, in das sich der See erstreckte. Und wenn er nach Westen hin über den Damm blickte, sah er Wald, nur Wald. Auf der anderen Seite war noch ein Damm. Fast ebenso gewaltig. Das war die von Süden her einbiegende Strecke. Dieser Damm wurde von einer breiten Pfeilerbrücke unterbrochen. Auch das war Blödsinn, denn die Öde zwischen den beiden Dämmen war wohl von einem gewundenen Flußlauf ausgewaschen, aber das eigentliche Bett war gering an Breite und Tiefe wie das eines Baches und außerdem so gut wie trocken, obgleich die Herbstregenzeit schon ihrem Ende zuging. Eine einsame Kate lag im langgezogenen Grund zwischen den beiden Dämmen. Vor der Türe saß eine alte Frau und um sie herum spielten zwei kleine Kinder, ein Mädchen und ein Junge. Eine Ziege weidete im Gestrüpp. An der Brücke wurde noch gearbeitet. Die Russen hatten sie bei ihrem Rückzug gesprengt und die Kodeis-Brückenbauer hatten zwei Hilfspfeiler errichten müssen. In zwei Tagen würde sie nun wieder befahrbar sein. Die beiden Strecken liefen bei der Abzweigstelle Malenka Russkinaja zusammen, eineinhalb Kilometer vor dem Bahnhof Russkinaja. Die Abzweigstelle war dem Kleeblatt Liebedorn, Glück, Schepperl anvertraut. Mit 120 Mann Belegschaft des Betriebswerkes und einigen 70 Mann Bahnhofsbelegschaft waren sie am Vorabend von Minsk eingetroffen. Mit LKW. Zwei Tage hatten die Karren zu den 300 Kilometern gebraucht. Nicht allein
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der Schlammperiode, sondern mehr noch ihres Zustandes wegen. Auch Pneus haben keine unbegrenzte Lebensdauer. Liebedorn, Glück und Schepperl waren diesmal nicht betrübt über die Veränderung. Die Strecke durch die Pripetsümpfe nach Gomel hatte wieder aufgegeben werden müssen. Sie hatten Nowy Wiezyczy ohne Kummer den Rücken gekehrt. Der Tausch mit einer Stadt wie Russkinaja war ihnen auf alle Fälle vorteilhaft erschienen. Glück besonders war Feuer und Flamme gewesen. Menschenskinder! Da gibt es wenigstens nicht nur verwanzte Katen und Bauernweiber! Da gibt es Soldatenheime und Stäbe mit weiblichem Zubehör! Und Kino und Fronttheater! Wie der sich verändert hatte! Aber sie hatten kein Wort darüber verloren. Keine Frage, warum er einfach davongelaufen war. „Wann i dean amoi begegna tua, kriegt'r a Watschn, daß'r n Himmi für a Baßgeig'n oschaugt!“ hatte sich Schepperl geschworen. Er hatte sie ihm nicht gegeben. Liebedorn hatte Maul und Augen aufgerissen, als Glück plötzlich wieder dagestanden war und vor Überraschung sowieso kein Wort herausgebracht, aber Schepperl hatte Glück einen Schmalzler angeboten und gleichmütig gesagt: „Geh weita, Hanse, tu glei a Holz mach'n.“ Damit war der ganze Zwischenfall abgetan. Nun, ein Schleckhafen war dieses Russkinaja auch nicht, wenigstens nicht seine Abzweigstelle. Sie bestand aus einem leeren, ebenerdigen Mauergeviert mit Türausschnitt, Fensterhöhlen und Kamin, ohne Dach. Auf der einen Seite stand ein Telefonmast ohne Leitung, auf der anderen ein eiserner Beleuchtungsmast mit stolz geschwungenem Lampenarm ohne Lampe. Hinter diesem einstigen Stellwerk hing noch eine windschiefe Bude mit lückenhaften Bretterwänden und ebensolchem Dach. Sie hatten Zigeuner, die sich darin eingenistet hatten, hinausgeworfen, ausgemistet, frisches Stroh geholt, in einer Ecke ein Lager aufgeschüttet und drum herum und darüber die Löcher verstopft. Auch die Reste eines Örtchens primitiv russischer Art hatten sie unverzüglich in brauchbaren Zustand gebracht, überdacht und als Männer von Kultura in Strauchwerk versteckt. Sie waren gleich da geblieben, weil es im und beim Bahnhof selbst mit Quartieren fast noch schlechter bestellt war. Von der 222
Kommandantur hatte man die Eisenbahner in ein größeres kahles Steingebäude und weit verstreut liegende, vielfach zerfallene Holzhütten voll Ungeziefer verwiesen. Dabei waren vier günstig gelegene neuere Steinhäuser, die der russischen Bahnverwaltung gehörten, russischen Zivilisten zugewiesen worden, aber längst nicht voll belegt. Vorläufig mußten sich die Blauen mit dem Flügelrad fügen und behelfen, so gut es ging, aber sie wären Waschlappen und keine Eisenbahner mit Osterfahrung gewesen, wenn sie nicht sofort zur Selbsthilfe entschlossen und sich über Ziel und Weg, zu anständigen und zweckmäßigen Unterkünften zu gelangen, klar gewesen wären. Betrieb hatte es in Russkinaja bisher erst in ganz geringem Umfange gegeben und zwar nur auf der Strecke nach Ustscha. Vor Ustscha aber war Schluß; eine große zerstörte Brücke war noch nicht wieder hergestellt. Von Feldeisenbahnern war in der ganzen Gegend nichts zu sehen. Den Pendelbetrieb hatte der Bahnhofsoffizier geleitet und russische Eisenbahner und Arbeiter hatten ihn durchgeführt. Das würde jetzt lebhaft anders werden, aber zuerst muß der Mensch leben, dann kann er arbeiten. Die drei Unzertrennlichen lagen mit dieser Auffassung an der Spitze und eigentlich hatten sich Liebedorn und Schepperl nicht aufgemacht, um den zwar winterlich kalten, aber erstaunlicherweise regenlosen, ja sogar beinahe sonnigen Novembertag am Busen der Natur zu genießen, sondern um in der Umgebung Mittel und Wege zu suchen, auf der Abzweigstelle M. P. die nötigen Lebensgrundlagen zu schaffen. Die Buchstaben M. P. prangten nämlich noch an der Mauerfront und waren nicht die Abkürzung für Maschinenpistole, sondern für Malenka Russkinaja, weil das R im Russischen wie ein P gemalt wurde. Leider kehrten sie ziemlich unverrichteter Dinge zurück, denn außer der zerfetzten Hälfte eines Filzstiefels, einem durchschossenen Kochgeschirrdeckel und einem aufgeweichten Pappkarton hatte an Sigis Weidengerte mit Nagelhaken nichts angebissen. Darum nannten sie den See ,Das tote Meer'! Daß Schepperl durchs Glas in weiter Ferne eine Kolchose oder Sowchose, wie die staatlichen Güter bezeichnet wurden, und auf halbem Wege zu ihr einen Riesenstrohberg gesehen hatte, war 223
auch nicht von Bedeutung. Wenn sie noch einmal Stroh brauchten, konnten sie das auch im Dorf Klein-Russkinaja wieder bekommen. Glück, der Dienst gemacht, das heißt, Haus, Häuschen und Gepäck bewacht und nebenbei dem Weichenbautrupp beim Einbau der drei neuen Weichen, die sie künftig zu bedienen hatten, zugesehen hatte, sagte: „Na, wenn ihr nicht könnt, laßt mich mal.“ Er dachte an das Näherliegende und schlug die Richtung zum Bahnhof ein. Schepperl sagte: „I geh mit“, und wenn er das sagte, war nichts dagegen zu machen. Also blieb Liebedorn nichts anderes übrig, als dazubleiben und den herumstreunenden Zigeunern deutlich zu machen, daß sie hier in der Nähe nichts mehr zu suchen hatten. Ihr Lager war in der Ferne zu sehen; mit dem Glas erkannte man einen tollen Verhau von Behausungen. Glück und Schepperl gingen einträchtig miteinander zwischen den Gleisen, die bereits in Ordnung waren, dem Bahnhof zu. Früher hatte ihnen das Bild eines Bahnhofs, über den die Kriegsfurie hinweggebraust war, das Gemüt verdüstert, jetzt waren sie es längst gewöhnt, als ob die Zerstörung der normale Zustand auf Erden wäre. Sie interessierten sich nur noch für gelegentlich außergewöhnliche Erscheinungsformen oder die Möglichkeit des Organisierens notwendiger oder brauchbarer Dinge für private Zwecke. In diesem Sinne waren ihre Augen auch jetzt stetig auf der Reise, aber trotz aller Sachkunde entdeckten sie nichts, was dazu beitragen konnte, aus ihrer Ruine eine im russischen Herbst und Winter bewohnbare Unterkunft zu machen. „Wie denken Sie sich das?“ fragte Glück den Bahnhofsvorsteher. „Helft euch selbst wie wir auch.“ „Nach dem Rezept, man nehme ein Loch und mache Blech darum, dann hat man einen Ofen.“ Weder von der Belegschaft des Bahnhofs, noch der des Betriebswerks konnten sie Hilfe bekommen. Sie sahen es ein. Alle hatten genug zu tun, um selbst einmal Platz zu finden. „In zwei, drei Tagen schicke ich ein paar Leute raus, damit ihr ein Dach über den Kopf bekommt“, tröstete sie der Bw-Vorsteher. 224
„Bis dahin samma im Reg'n dasoffa“, brummte Schepperl. Der Oberinspektor lachte: „Zum Regnen ist's viel zu kalt geworden.“ Schepperl knurrte: „Dafror'n is a net g'scheita“, drehte sich mit „hob di Ehr“ weg, was aber genau so klang wie ein ganz anderer Gruß und zog Glück mit sich fort: „Genga ma, Hanse!“ Während sie noch unschlüssig, ob sie die Stadt selbst heimsuchen sollten, zwischen den Gleisen des Güterbahnhofs herumschlenderten, hörten sie zornentbrannte Stimmen, von denen die eine wohl einem militärischen Dienstgrad zugehörig sein mußte. Auf Schepperl wirkte Streit wie ein Magnet. Glück machte auch gar keinen Versuch, ihn zurückzuhalten. An der Rampe eines ausgebrannten Güterschuppens standen ein Eisenbahner und ein Offizier wie zwei Kampfhähne vor einander. Der Eisenbahner war ein Lademeister und der Offizier ein Stabszahlmeister. Beide hatten puterrote Köpfe und schrien aufeinander ein. Drei Schritte hinter dem Stabszahlmeister stand ein großer, breitschultriger Landser mit einem runden, rosigen Gesicht; er hatte nicht nur eine Knarre umgehängt, sondern auch einen Mordstrumm-Maschinenpistolenkasten an der Seite baumeln. „Ich befehle Ihnen“, donnerte der Stabszahlmeister den Lademeister an, „die beiden Wagen stehen zu lassen, wie sie bisher auch gestanden sind!“ „Sie haben mir gar nichts zu befehlen!“ schrie der Lademeister zurück. „Die Gleise müssen frei gemacht werden und die Wagen werden gebraucht. Wenn sie bis morgen Mittag nicht ausgeladen sind, werden wir das besorgen!“ „Das will ich mal sehen! — Kuficke!“ „Hier!“ schrie der Landser und spritzte vor. Aus seiner sonnigen Miene war ein erstklassiges Gehorsamsgesicht geworden. „Sie bleiben hier, Kuficke! Niemand rührt an meine Wagen! Notfalls machen Sie von der Waffe Gebrauch!“ „'B'fehl, Herr Stabszahl!“ Schepperl lachte schallend. Der Stabszahlmeister fuhr nach ihm herum. „Haben Sie über mich gelacht?“
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„Geh weita“, sagte Schepperl gemütlich. „Üba'n Witz darf ma ja woll no lach'n.“ „Ich werde Sie vor ein Kriegsgericht stellen!“ Schepperl lachte noch mehr: „Soll i glei mitkemma?“ Der Stabszahlmeister erstarrte mit offenem Munde, dann wich der Zorn in seinem Gesicht dem Ausdruck herablassenden Hohnes. „Ach, Sie sind Bayer! Da steht Ihnen natürlich der Paragraph 51 zu.“ Er wandte sich um und ging sporenklirrend davon. Einen Augenblick stand nun Schepperl mit offenem Munde, dann schob er nur den Stierkopf vor und wollte hinterher! Glück packte ihn am Rockkragen und stieß ihm mit aller Wucht das Knie in den Hintern. „Du bist wohl verrückt, Mensch!“ Aber das Nachschreien konnte er nicht verhindern. Schepperl unterdrückte immerhin auch alle persönlichen Bezeichnungen und formte seine Worte, so vornehm er konnte: „Heh! Sie —! Soll dieses vülleucht oine Stammesbeleidigung sein?“ Der Stabszahlmeister hielt es jedoch — zu Schepperls Glück — für unter seiner Würde, diesem Zivilistenlümmel darüber Rechenschaft zu geben; als hätte er überhaupt nichts gehört, stampfte er weiter. Schepperl sah statt dessen das rosige, über seine ganze Breite grinsende Gesicht Kufickes vor sich. Kuficke knallte ihm kameradschaftlich die Faust vor den Latz: „Junge, Junge! Dat haste großartig gemacht! Darauf werd'n wr eenen heben! Wat?“ Er winkte ihn mit einem zugekniffenen Auge in Deckung und zog eine Flasche aus der linken Manteltasche. Es war zwar nur eine von kleinem Format und nicht mehr ganz voll, aber um einer besonderen Sympathie Ausdruck zu geben, genügte das. Außerdem hatte Kuficke in der anderen Manteltasche Zigarren, wie sie nur von Zahlmeistern und ihren Ordonnanzen und vom Oberst an aufwärts geraucht werden. Das waren Morgengaben einer Männerfreundschaft, denen selbst Schepperl nicht wiederstehen konnte. „Bist a Viech!“ sagte er anerkennend und aus der weiteren Unterhaltung ergab sich, daß es sich bei den beiden umstrittenen Waggons gewissermaßen um privaten Lagerraum des Herrn 226
Stabszahlmeisters handelte. Der eine war noch halb voll mit Hirse, einer für nicht ganz durchsichtige Zwecke angelegten Reserve. Der andere beherbergte ein zerlegbares Holzhaus, das sich der Herr Stabszahlmeister gegen gewisse Sonderzuweisungen an eine Technische Kompanie vorsorglich hatte bauen lassen und das er immer mit sich führte. In Russkinaja benötigte er es nicht; hier hatte er eine auch für westlichen Lebensstandard komfortable Wohnung gefunden, in der Kuficke Leibwächter und Ordonnanz oder Mädchen für alles war. „Saggra, saggra!“ staunte Schepperl. Wie armselig war doch der Hintertreppenfrontluxus, den sie sich bisher dann und wann und leider meist nur kurzfristig auf mehr oder weniger krumme oder geniale Art verschafft hatten! Schepperl war keineswegs so, daß er dem Stabszahlmeister seinen Vorteil neidete. Wer ko, der ko! Das war nun einmal menschlich und auf der ganzen Welt so. Wer seine Chancen nicht nutzte, war ein Depp. Und die, die sich am meisten die Mäuler darüber verrissen, würden sich wahrscheinlich noch ganz andere Annehmlichkeiten leisten, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Im Grunde genommen hatte er sogar Respekt vor diesem Etappenschweinluxus! Die Freundschaft mit diesem Kuficke mußte aufrecht erhalten werden, denn zweitens war er ein prima Kerl und erstens saß er an der Quelle. Ob er denn nun die ganze Nacht die beiden Wagen bewachen werde? fragte Schepperl; er fragte es ganz ohne Absicht. Falle ihm gar nicht ein. Wenn ihn aber der Hanswurscht kontrolliere? Der gehe, wenn's mal dunkel sei, keinen Schritt mehr vor sein Quartier. Außerdem sei der Befehl natürlich nur befristet gedacht gewesen. Die dicken Bauchbindenzigarren zwischen den Zähnen, machten sich Schepperl und Glück nach einem letzten Schluck geistig gestärkt auf den Weg, Taten entgegen, zu denen sie entschlossen waren, ohne zu wissen, wie sie beschaffen sein würden. „Besuch uns doch mal!“ rief Glück noch zurück und Kuficke schrie ihnen „Hummel-Hummel!“ nach. Sie stöberten noch da und dort herum, aber die eigenen Kameraden konnte man nicht bestehlen. Es würde ihnen wohl
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nichts anderes übrig bleiben, als tatsächlich bis auf weiteres in der strohverstopften Bretterbude zu hausen. „Do schtinkt a ma aba“, knurrte Schepperl und schlug vor, daß sie sich mal trennten, er werde links der Bahn zurückgehen, Glück solle rechts drüben sehen, ob nichts zu holen sei. Schon nach wenigen Minuten kam Glück in einen großen Bestand dürftiger Fichten, der offenbar allen voreinst über den Bahnhof gekommenen Völkerscharen als Freilichtlatrine gedient hatte. Er war wütend darüber, daß er auf Schepperls Vorschlag eingegangen war, obgleich das Panorama einer gewissen Großartigkeit nicht entbehrte. Vorsichtig stelzte er dahin. Er wagte nicht mehr, das Auge vom Boden zu erheben, zumal der alles andere als eben war. Tausend Wurzeln durchzogen ihn, es gab Granattrichter verschiedener Größen, ausgerissene, zerfetzte Bäume und geknickte Stämme. Als er schließlich stehen blieb, um sich umzusehen, war er ziemlich weit vom Bahnkörper abgekommen und befand sich am Rande einer langgestreckten, sandgrubenartigen Mulde. Eis schimmerte an den tiefsten Stellen im Grunde, in einer nicht gefrorenen öligen Lache lagen ein paar Blechfässer und Kanister. Glück ging am stark gebuchteten Rande weiter, war schon am anderen Ende, als er sich wie auf einen Befehl umwandte. Was ihm der Wind plötzlich so appetitlich um die Nase geweht hatte, war der Geruch von Petroleum. Er ging langsam, immerzu schnuppernd zurück, starrte auf die Fässer und Kanister, als wenn er sie hypnotisieren wollte und dachte dabei immerzu: vielleicht ist noch was drin. Fünfzig Meter weit zerrte er eine ausgerissene Fichte herbei, denn er hatte keine Lust, bis ans Knie durchs eiskalte, verschmutzte Wasser zu waten. Er richtete sie am Tümpelrand hoch und stieß sie so um, daß der Wipfel auf und zwischen die Fässer fiel, dann turnte er hinüber. Er hob die Kanister an, einige waren offen und leer oder halbvoll mit Wasser, andere verschlossen und schwer. Er stemmte sich gegen die Fässer; bis auf zwei rührte sich keines, sie mußten voll sein. Glück war zu Mut wie einem Schatzgräber, der plötzlich auf eine Kiste Gold stößt. Er balancierte über das Fichtenstämmchen zurück, stürmte durch das Latrinenwäldchen dem Bahndamm zu, 228
geradeaus, soweit das die Bäume und Granatlöcher zuließen. Er segnete jetzt die Verwendung dieses Fleckchens Erde, denn wenn ringsum Veilchen geblüht hätten statt der Kakteen, dann wäre die Gegend nicht so gemieden und das wertvolle, wahrscheinlich von wenigen Eingeweihten verschleppte Gut längst entdeckt und abgeführt worden. Glück überquerte die Gleise. Auf dem gewundenen, zerfurchten Geländestreifen neben der Bahn, der zur Abzweigstelle führte, sah er Schepperl gehen; er trug einen dicken Sack auf der Schulter. Aha! dachte Glück. Er wollte einen Besen fressen, wenn in dem Sack nicht Hirse war. Darum hatte ihn dieser Erzsepp auf die andere Seite geschickt. Aber er würde die beiden noch ganz anders überraschen! Er ging querab auf die nächsten Katen von Malenka Russkinaja zu. Das Dorf schien ausgestorben zu sein. Es war niemand zu sehen und er konnte rufen, so viel er wollte, niemand kam. Niemand gab Antwort. Schließlich wurde es ihm zu dumm. Die Katen lagen weit auseinander. Er wollte seinen Fund noch bergen, ehe es Nacht war. Bei der nächsten Kate stürmte er, als sich auf sein Rufen wieder nichts rührte, die paar Stufen einer wackeligen Holztreppe auf das kleine Podium hinauf, das auf vier Pfosten vor dem Eingang des baufälligen Häuschens errichtet war. Da ging die Türe spaltbreit auf und ein halbes Kleid, ein Gesicht unter einem Kopftuch wurde sichtbar und neben dem Leibe der Frau noch ein Gesicht, noch ein Kopftuch — ein kleines Mädchen. „Sdrasst“, sagte Glück; er kürzte ‚guten Tag' immer ab. „Ich brauche Wagen und Pferd.“ Die Frau schüttelte den Kopf. Er zog sein kleines, deutsch-russisches Soldatenwörterbuch aus der Rocktasche, sagte, nachdem er alles zusammengesucht hatte: „Mnje — nada — pawoske — i — loschad.“ Die Frau schüttelte wieder den Kopf. „Wo?“ fragte er. „Gdje?“ Sie schüttelte zum dritten Mal den Kopf. Er hatte genug, verzichtete auf das Wörterbuch und schrie sie auf gut Deutsch an: „Du Rindvieh, du blödes, du sagst mir, wo ich ein Fuhrwerk bekomme, oder ich hau dir den Arsch voll!“ 229
Sie stieß einen Schrei aus und wich erschrocken zurück. Das Kind fing zu weinen an. Glück lachte, griff in die Tasche und hielt ihm ein paar Drops hin. Noch nie hatte er eine so blitzschnelle Veränderung eines Gesichtes erlebt, vom Schrecken zur glücklichen Gier, noch nie eine Hand so rasch zugreifen und etwas so rasch in den Mund stecken sehen, außer in Affengehegen. Ruhig fragte er noch einmal: „Pferd? — Wagen?“ Die Frau gab wiederum keine Antwort, obgleich ihre Augen voller Angst standen, die Kleine jedoch zeigte eifrig nach einer Gruppe von drei Häusern, die stattlicher als alle andern abseits des Dorfes unter einer Gruppe alter, mächtiger Bäume lagen. Die Frau hatte ihr noch wehren wollen, war aber zu spät gekommen. „Tarn!“ sagte die Kleine. Dort. Glück gab ihr noch eine Handvoll Drops und fragte: „Wie heißt du?“ „Sinaida“, sagte sie ohne zu zögern. Sie hatte ein schmutziggraues Sommerfähnchen an und nackte Beine und Füße. Dabei schätzte Glück 3 Grad unter Null. Er ging eilig zu den drei Häusern. Sie bildeten, halb aus Stein, halb aus Holz gebaut, zwischen sich einen großen dreieckigen Platz, auf dem sich ein Ziehbrunnen befand. Zu sehen war niemand. Glück drehte sich langsam um sich selbst. Er kam sich wie eingeschlossen vor und dachte, wenn dich jetzt einer über den Haufen schießt und sie verscharren dich gleich, wird nie jemand wissen, wo du hingekommen bist. Er war eigentlich verdammt leichtsinnig. Er öffnete die Pistolentasche und ging vor das stattlichste der Häuser. Er glaubte am Fenster den Bruchteil einer Sekunde lang ein Gesicht zu sehen, fuhr im gleichen Augenblick herum — ein abgrundtiefer Baß hatte hinter ihm „sdrass-dwuitje“ gesagt. Guten Tag. Der Mann mit dem Baß stand unter der jetzt offenen Türe des bescheidensten der drei schmucken Häuser. Ein strupphaariger, vollbärtiger Goliath. Glück war einerseits versucht, vorsichtshalber gleich die Pistole zu ziehen, andererseits war es ihm peinlich, vor dem Russen Furcht zu zeigen, zudem das Gesicht am Fenster da hinten einer Frau gehört hatte. Auch flößte das Gesicht des
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Mannes trotz seiner wilden Verfassung Vertrauen ein. Vielleicht kam das von dem ruhigen Ausdruck seiner Augen. Langsam ging Glück auf ihn zu, fragte: „Sprechen Sie deutsch?“ „Feodorowna!“ rief der Mann zu dem Fenster hinüber. Gleich darauf traten zu Glücks Verwunderung zwei Frauen aus der Türe dort, kamen auf ein paar Worte des Riesen herüber. Glück grüßte höflich, lächelte freundschaftlich, rückte das Koppel gerade und richtete sich höher auf. Sie waren bildhübsch. Beide. Obgleich sie ganz verschieden waren. Das runde, mattweiße Antlitz der älteren, mit dunklen Augen und dunklem Haar, war fraulich weich und von einer leisen Schwermut still. Die jüngere war schmalgesichtig, ihr Mund hellrot gemalt, von einem verborgen lockenden Lächeln leicht geöffnet, die Augen waren Lichter, ständig flimmernd, ihre Farbe wechselnd wie Sterne. Der mädchenhaft straffe Körper schien heimlich zu federn im Rhythmus des Blutes. Glück riß Auge und Herz gewaltsam von der Verzauberung los und brachte sein Anliegen vor. Die ältere sagte: „Iwan Michailowitsch“ und ein paar Sätze, von denen Glück nicht eine Silbe verstand. Ihre Stimme war dunkel und sanft. Das Gesicht des Goliath, der fast den ganzen Rahmen seiner Türe ausfüllte, zeigte nicht die geringste Veränderung, während er zuhörte, und auch nicht, während er antwortete. Von der Antwort verstand Glück außer dem Namen Nina Feodorowna ebenfalls nichts. Die junge Frau übersetzte: „Gruschkin kann Ihnen kein Pferd geben, weil er kein Pferd hat.“ Glück überlegte, ob er fluchen, drohen, die Pistole ziehen sollte. Die dunkle Frau sah ausdruckslos vor sich hin, aber die jüngere musterte ihn aus den Augenwinkeln, ein wenig lauernd, schadenfroh wie es schien. „Bitte, übersetzen Sie“, sagte Glück gleichbleibend freundlich zu Nina und ging die paar Schritte noch dicht vor Gruschkin, legte dem ohne eine Bewegung Verharrenden die Hand auf die Schulter. „Ich weiß, daß du noch ein Pferd hast.“ „Njet“, log Gruschkin und sah dabei so treuherzig ehrlich aus, daß ihm jeder Deutsche geglaubt hätte.
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„Ich begreife, daß du es leugnest“, sagte Glück. „Du fürchtest, ich wolle dir das Pferd wegnehmen. Glaube mir, Iwan Michailowitsch, ich bitte dich nur, mit Pferd und Wagen etwas für mich zu holen.“ „Ihr habt doch selbst Wagen und Pferde und viele Automobile.“ „Ich bin nicht Soldat. Ich bin bei der Eisenbahn.“ „Ja“, — Gruschkin wurde jetzt aufgeschlossener — „ich habe noch nie eine solche Uniform gesehen.“ „Wir haben Kraftwagen, aber damit kann ich nicht dort fahren, wo das ist, was ich holen will. Es ist auch nur für mich und die andern brauchen es nicht zu wissen.“ Gruschkin nickte, sagte „komm“ und führte Glück durchs Haus in den Stall. Glück sah sich um, aber die Frauen waren nicht mitgekommen. Der Wagen stand da, ein Pferd war nicht zu sehen. Gruschkin räumte Stroh zur Seite, eine Tür kam zum Vorschein. Ganz unter Stroh begraben war eine Box, gerade groß genug, daß der kleine Gaul liegen konnte. Hoffentlich war das Tier kräftig genug. Gruschkin spannte ein, führte das Fuhrwerk aus dem Stalltor. Glück suchte eine starke Bohle, warf sie auf den Wagen. Dann stiegen sie beide nebeneinander auf den Bock. Die Frauen waren nicht mehr da, aber Glück glaubte, wieder ein Gesicht an jenem Fenster zu sehen. Er zog sein Notizbuch aus der Tasche, zeichnete Geleise, den Bahnhof, das Wäldchen, sagte „sdessj“ und machte ein Kreuz dort, wo die Fässer etwa liegen mußten. Gruschkin schnalzte mit der Zunge und fuhr querab los. Erst kurz vor der Bahn kamen sie auf einen Weg, der ohne Schranken über die Geleise führte. Bei seinem Gang mit Schepperl zur Station war Glück der schienengleiche Bahnübergang gar nicht aufgefallen. Der Weg brachte sie an das Westende des Waldstücks. Sie stiegen ab. Gruschkin führte den kleinen Braunen und Glück ging voraus, um das Gefährt zwischen den Bäumen und Granatlöchern durchzulotsen. Es war schon so dunkel geworden, daß er auf die kreatürliche Verminung keine Rücksicht nehmen konnte. Er glaubte, sich dieses widrigen Umstandes wegen entschuldigen zu müssen. Gruschkin verstand, sagte nur „nitschewo“. Weiter ab vom Waldrand wurde es auch besser. 232
Sie hörten einen Zug kommen, von Norden, wenige Minuten später einen anderen abfahren, nach Norden. Glück hatte Mühe, in der Dunkelheit den Geländeeinbruch wiederzufinden. Glücklicherweise trug ihm nach einigem Herumirren der Wind den Petroleumgeruch zu; gleich darauf sah er das Wasser blinken. Sie ließen den Wagen am Rande der Grube stehen und stiegen hinab. Glück brauchte keine Erklärungen abzugeben. Gruschkin war sofort im Bilde, zog die Fichte weg und platschte ins Wasser. Mit einer Handbewegung hielt er Glück davon ab, ihm zu folgen, packte die Kanister, die im Wege waren und warf die vollen heraus. Drei mit Petroleum und zwei- mit Benzin. Glück trug sie zum Wagen, dann packte er bei den Fässern mit an, sobald Gruschkin sie aus dem Wasser heraus hatte. Zwei waren geöffnet und leer oder halb leer; die ließ er liegen. Über die mitgebrachte Bohle rollten sie die schweren Dinger den steilen Hang hinauf, in der gleichen Weise auf den Wagen. In Richtung des Bahnhofs fielen Schüsse. Sie lauschten dicht nebeneinander stehend, und zum zweiten Male kam Glück sein unglaublicher Leichtsinn zum Bewußtsein. Konnte sich hinter Gruschkin nicht auch ein Partisan verbergen? Oder konnte ihn der Russe nicht einfach erschlagen, weil er in dem Deutschen seinen Feind sah? Oder weil er auf den naheliegenden Gedanken kam, daß 800 Liter Petroleum einen unvorstellbaren Schatz für ihn bedeuteten? Mit einem einzigen Faustschlag oder Griff nach der Gurgel würde ihn der Goliath erledigen. Er brauchte ihn nur in den Tümpel zu werfen und mit dem Fichtenwipfel zuzudecken und der Reichsbahnassistent Glück stand auf der Liste der Vermißten. Hätte er Schepperl geholt, könnte immer einer von ihnen mit der Hand an der Pistole den Russen im Auge behalten. Das kam von dem kindischen Ehrgeiz, die kleinlauten Gesichter der Kameraden zu sehen, wenn er mit einer solchen Beute ankam! Glück betrachtete zwar seit der Hella'schen Roßkur Leben, Liebe und noch einiges mehr mit verächtlich spöttischer Überlegenheit, aber in dem nächtlichen Wald mit dem russischen Riesen zusammen beschlich ihn doch das Unheimliche der Situation so stark wie einst als Knaben die Furcht der Fantasie, 233
wenn er mit einem Kerzenlicht in den schwarzen Keller der Mietskaserne hinunter mußte. Er öffnete insgeheim wieder die Lasche der Revolvertasche und atmete auf, als alles auf dem „Wagen war und er hinter ihm hergehen konnte. Glück war von der Anstrengung und Aufregung in Schweiß gebadet. „Warum hatte er Esel auch den Mantel nicht ausgezogen? Jetzt jagte ihm der kalte „Wind Frostschauer über den Rücken. Man war eben trotz aller bisherigen Erfahrungen und praktischen Übungen immer noch viel zu bürgerlich plump und ungeschickt, um den Anforderungen eines solchen Naturdaseins gewachsen zu sein. Er begann zu schieben, als käme ohne ihn der „Wagen nicht mehr weiter, ließ dabei alle Muskeln spielen und stampfte mit den Füßen auf, als gälte es, den ganzen Wald in seinen beschissenen Grund und Boden zu trampeln und allmählich verlor sich das Frösteln. Als sie nahe des „Weges waren, hielt Gruschkin und kam auf Glück zu. Glück tastete nach der Pistole, ging, sich den Anschein gebend, als prüfte er, ob die Ladung noch in Ordnung sei, um den „Wagen herum, ihn so zwischen sich und dem Russen haltend. Gruschkin blieb stehn, sagte ein paar Worte, bewegte den Arm in der Richtung des Bahnübergangs. „Patroll — bum-bum“, sagte er und wies auf sich und das Fahrzeug. Verdammt noch mal! Natürlich! Auch daran hatte Glück nicht gedacht. Bei Nacht gingen Streifen. Das Fuhrwerk hörte man weit. Bekamen sie eine Kontrolle auf den Hals, war's mit dem Petroleum Essig! Sekundenlang stand er ratlos, bis ihm die einfache Lösung kam. Tarnen. Aus der Petroleumfuhre mußte eine Holzfuhre werden. Auch ohne deutsche Sprachkenntnisse war Gruschkin sofort im Bilde. „Da, da“, nickte er eifrig und grinste. Offenbar war ihm jetzt erst richtig klar geworden, daß der Deutsche etwas Unerlaubtes tat. Nach einer halben Stunde knarzte eine hochaufgeschichtete Holzfuhre auf die Bahnlinie zu. „Weil man trotz des anderen Gestankes an den Rädern, Hufen und Stiefeln deutlich roch, daß auf dem „Wagen Petroleum und Benzin sein mußte, hatte Glück zwei Kanister leicht greifbar zwischen die Stämmchen gesteckt, 234
alle anderen Lücken aber so dicht mit Geäst verstopft, daß einer schon den ganzen Wald abladen mußte, um die Fässer zu entdecken. Er zündete sich eine Zigarette an, gab Gruschkin Tabak für die Pfeife. Unbehelligt kamen sie über die Bahn, holperten über die gefrorenen Furchen der Abzweigstelle zu. Die große Sorge und Schinderei mit der Tarnung wäre nicht nötig gewesen, dachte Glück. Er hatte zu früh gedacht. Gleich darauf hörte er's hinten trappeln. Das waren Kommisstiefel. Und jetzt schrie es aus mehreren Kehlen zugleich: „Halt! Schtoj! Parole!“ Glück wußte keine Parole. Woher denn? Und da außerdem das Fuhrwerk nicht sofort stand, weil es gerade über eine kleine Bodenwelle hinabrutschte, knallte es im gleichen Atemzug. Einmal, zweimal, dreimal. Gut, daß Erde und Himmel, Roß und Wagen, Russe und Eisenbahner die gleiche Farbe hatten, schwarz wie die Nacht, und daß es sich um Landesschützen und nicht um Kunstschützen handelte. Glück brüllte auch schon, was er brüllen konnte: „Himmelkreuzdonnerwetter! Was für ein Arschloch schießt denn da auf Eisenbahner!“ Das war sicher Parole genug. Umgehend brüllte es zurück: „Was für e Arschloch fahrt denn do bei Nacht schbaziere?“ Aber geschossen wurde nicht mehr und dann waren sie da. Drei Mann, den Stahlhelmriemen unterm Kinn, die Gewehre mit beiden Händen in Bauchhöhe haltend. Zwei stellten sich ein paar Schritte seitwärts, der dritte legte den Sicherheitsflügel um, hängte das Gewehr über die Schulter. „Henn' Se en Ausweis?“ fragte er. „Sehen Sie nicht auch so, daß ich Eisenbahner bin?“ „Aufs Eißere gäbbe gar nem“, antwortete der Streifenführer. „'S gibt Partisane, die laufet en Leitnantsuniform rom.“ „Aber Sie hören doch an der Sprache“, sagte Glück, während er seine Papiere aus der Tasche holte, „daß ich —“ Der andere unterbrach ihn: „Auf d' Schbroch gäbbe au nex. Außer wenn oiner Schwäbisch schwätzt. Hochdeitsch kennet die Lumpe besser wie'n i.“ „Ja, eigentlich haben Sie recht, Herr Obergefreiter“, pflichtete ihm Glück aus diplomatischen Gründen betont achtungsvoll bei 235
und erklärte ihm alles. Bloß ein Loch von einem Quartier und nichts zu brennen! „Und der Russ?“ „Gruschkin ist bei uns angestellt.“ „No baßt no auf, daß er nex aschdellt.“ „Gruschkin ist in Ordnung.“ „Dess woiß mr beim Iwan nie. Obends sauft'r Briederschaft mit dr ond morgens wachscht uff ond bischt he.“ Während der ganzen Unterhaltung hatte der Obergefreite immer wieder hörbar geschnuppert, auch seine beiden Männer, die ebenfalls vollends herangekommen waren. Jetzt fragte er: „Sage Se mol, henn Sie d'Hose voll?“ Glück antwortete lachend: „Nein, nur die Stiefel.“ „Desch jo no Schlemmer, wenn's so weit nonderglaufe isch! Sie kennet wohl 's Schieße net vertrage?“ Sie lachten alle drei. Glück lachte mit und empfahl ihnen das Latrinenwäldchen für ihren nächsten Sonntagsspaziergang. Sie sollten aber keine Damen mitnehmen, zum Hinlegen sei es nicht recht geeignet. „Du bischt scho a Sauviech“, lobte der Obergefreite erfreut und Glück dachte heiter, die Kontrolle sei überstanden, da meinte einer der anderen Schwaben: „Du Lemmle, do schtenkts doch aber au schwer nach Petroleum“, und machte sich suchend am Wagen zu schaffen. „Sicher“, sagte Glück sofort und zog die beiden Kanister vor. „Die sind im Wald gelegen.“ „Schad, daß mir's net gfonde henn“, bedauerte Lämmle. A Petroleum kenntem'r au brauche.“ „Kommt doch mal zu uns. Ich gebe euch gerne ein paar Liter ab.“ Die drei freuten sich, schüttelten ihm einer nach dem andern die Hand. „Also nex fir ogut wägge denne drei Kiegele“, bereinigte der Streifenführer den Zwischenfall noch und dann stapften sie in die Nacht hinein. Glück hätte einen Luftsprung machen können: jetzt konnte nichts mehr passieren. Schepperl stand im Weg, als das Gespann vorfuhr. Als ob er den hochbeladenen Wagen gar nicht sähe, pfiff er Glück an wie
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ein erboster Vater seinen ungeratenen Sohn: „Wanns d'no amoi so lang vaschwindst, kriagst a Watschn. Host mi?“ Er verschwand im Dunkel, an seiner Stelle tauchte Liebedorn auf, schwenkte das lange Nasenzipfel hin und her, geräuschvoll die Luft einziehend, ein paar Mal stieg der Adamsapfel auf und nieder, dann stieß er ein empörtes „Pfui Deibel!“ aus und zog sich in die Bretterbude zurück. Glück lachte nur in sich hinein, begann mit Gruschkin den Wald vom Wagen zu werfen. „Wos magst mit dean noss'n Zeig?“ kam eine Stimme aus dem Dunkel. „Hau ab mit dean Gschtank!“ Glück packte einen Kanister, holte ein paarmal aus und warf ihn in die Gegend, wo Schepperl stehen mußte. Es schepperte und dann war's still. Als die Fässer kamen, näherte Glück sein Gesicht Gruschkin und legte den Finger auf den Mund. Leise. Aber da tauchten auch schon zwei helle Kleckse aus dem Dunkel, zwei Gesichter, und dann griffen noch zwei Paar Hände mit zu. Ohne ein Wort. Und ohne ein Wort rollten Schepperl und Liebedorn die Fässer in den Schuppen. Es konnte für Glück keine größere Anerkennung geben als ihr Schweigen. Gruschkin führte das Fuhrwerk ein Stück weg in der Windrichtung, dann spannte er das brave Rößlein aus, packte den Kanister, den ihm Glück gab, sagte „sspassibo“ und „sspokoijnoij notschi“ und tauchte in der Nacht unter. Rasch verklangen Schritt und Hufschlag. Schepperl brachte Glücks Schnürschuhe heraus, einen alten Lumpen und die Laterne, sagte: „Ziag deine Stiefel aus, Hanse. I mach se dir sauba“. Liebedorn kam mit einem halben Marmeladeeimer voll Wasser, brachte Glücks Waschzeug und eine Kiste, die Tisch oder Hocker war, je nach Bedarf. Und als Glück hineinkam, war im Scheine der zweiten Laterne auf dem zu einem Behelfsherdchen umgebastelten Marmeladeeimer bereits Tee gekocht und zwar echter aus Liebedorns letztem Liebesgabenpäckchen. Schepperl opferte seine eiserne Ration Wodka und holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. Er hatte sie außer dem Zentner Hirse bei einer zweiten Unterhaltung mit dem Hummel-Hummel geerbt. Und dann lauschten sie 237
sachverständig Glücks anschaulicher Darstellung seines Raubzugs, Liebedorn mit glitzernden Augen und offenem Munde, wie Kinder der Großmutter lauschen, wenn sie Märchen erzählt. Aber das Märchen von Hans im Glück war noch viel schöner, weil die vier Fässer Petroleum Wirklichkeit waren. Sie schwelgten in Fantasien. 800 Liter! Das bedeutete auf lange Zeit hinaus alles, was das Herz begehrte. Wodka, Hühner, Eier, Speck, Zwiebeln. Das bedeutete noch mehr: Hilfskräfte, Arbeitskräfte. Den Krieg um die Existenz hatten sie bis auf weiteres gewonnen. Glück war hundemüde, er schlief trotz des Erdölgeruchs sofort ein. Liebedorn redete im Schlaf in der Art eines Betrunkenen. Schepperl aber konnte keine Ruhe finden. In seinem dicken Schädel wälzten sich schwere Gedanken. In seinem Gemüt wechselten Böen von Tatendrang und Flauten von Kleinmut. Er hatte ein dickes Fell, aber er fror trotz allen Strohs, so gemein zog der kalte Wind noch durch den Verhau der dünnen Bretterwände. Wut und Ehrgeiz jagten durch seine Seele wie Nervenschmerzen durch einen hohlen Zahn. Mit einem entschlossenen „wer ko, der ko!“ setzte er sich schließlich über letzte Hemmungen und Befürchtungen hinweg. Er machte Licht, drehte leise die Tischkiste um und leerte die Hälfte der Hirse hinein, hängte die Knarre um den Hals, legte sich den schlaff gewordenen Hirsesack ins Genick, nahm die Laterne und tappte, so geräuschlos er konnte, hinaus. Es war fünf Uhr und finstere Nacht. Im schwachen Schein der Lampe suchte er den Weg nach dem Lager der Zigeuner. Er würde es glänzend verfehlt haben, wenn ihm nicht von Zeit zu Zeit das traurige Geheul eines Hundes die Richtung gewiesen hätte. Dann schlug ein Hund an und ein ganzer Chor fiel kläffend ein. Zornige Stimmen wurden laut, Schläge fielen, ein fragender Ruf klang. Schepperl rief zurück. „Gutt Kamerad!“ Er hatte keine Spur von Furcht. Die Hunde bellten wieder, bekamen wieder Prügel und verstummten jaulend. Ein weißköpfiger Alter tauchte auf. Die beiden Männer musterten sich eine Sekunde im Schein der Laterne. Dann neigte der Zigeuner, in dessen Ohrläppchen kleine goldene Knöpfe glitzerten, tief grüßend und doch wie ein König stolz den 238
zerfurchten Kopf, drehte sich um und ging voraus. Gleich darauf stand Schepperl vor einer Hütte. Hütte war übertrieben; es war ein Gerümpelhaufen aus Holz, Blech, Lumpen und Stroh mit einem Loch als Eingang. Schepperl zog vor, außen zu bleiben und sich auf den Hirsesack zu setzen. Er band ihn auf, griff hinein, zeigte dem Alten eine Handvoll, sagte: „Für euch. Zigeuner bißchen arbeiten. Rabotat. Dann mehr. Auch Petroleum. Host mi? Ponnimaj?“ Der Alte sagte: „Ich sprechen ville Sprachen. Deitsch und Polnisch, Kroatisch und Ungarisch, Russisch, Georgisch und Tatarentürkisch.“ „Ja da schaug her!“ lobte Schepperl. „Büst a ganz a gführiga Spitzbuamheiptling“, und bot ihm mit einer Geste, die wie eine höfliche Verbeugung aussah, eine Zigarette an. Der Alte starrte mit Wunschaugen auf das Feuerzeug. Schepperl gab es ihm. „Kannstes b'halt'n. I hob no oans.“ „Zigeuner alles für dich arbeiten“, sagte der Alte. Wenige Minuten später ging Schepperl mit einem Dutzend Männer zum Bahnhof Russkinaja. Es war allerhand los dort, obgleich man noch kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Deutsche und russische Eisenbahner und Hilfskräfte wimmelten durcheinander. Bis zum Morgen mußte der Knoten zur Aufnahme und Weiterleitung einer Truppenbewegung klar sein, die aus dem Raume um Ustscha und Nischkowo nach Naroskoje sollte. Schepperl mischte sich mit seinen Zigeunern zielbewußt in den Trubel. Niemand konnte sich um sie kümmern, denn jeder hatte mit seiner eigenen Aufgabe zu tun. Er vergewisserte sich, daß zwei bestimmte „Wagen ohne Kufickesche Aufsicht noch am alten Platze standen, machte ihnen, ohne Rangierlok zu beanspruchen, mit den vierundzwanzig Armen und Händen, die ihm zur Verfügung standen, und der praktischen Routine eines in allen Zweigen des Fahrdienstes erfahrenen Praktikers die Fahrstraße in Richtung M. P. frei und ließ sie, an der Handbremse stehend, in aller Seelenruhe zur Abzweigstelle schieben. Als Glück und Liebedorn, von den unvermeidbaren Geräuschen aufgeschreckt, auf der Bildfläche erschienen, wurden gerade die einzelnen Teile eines zerlegbaren Holzhauses über die Mauern weg — weil die Türe zu klein war — ins Innere der 239
Stellwerksruine gebracht. So wie Schepperl und Liebedorn zu Beginn der Nacht beim Anblick der Petroleumfässer Glücks vor Hochachtung verstummt waren, so standen jetzt Glück und Liebedorn wortlos erstarrt vor Schepperls Tollkühnheit, aber nicht nur von Hochachtung, sondern auch von einem gelinden Grauen erfüllt. „Der Mensch versuche die Götter nicht“, ging es Glück aus einem Rest seiner literarischen Kenntnisse durch den Sinn und als Schepperl auch noch die Hirse ausladen wollte, da erhoben sie entschiedenen Einspruch. Ein paar Säcke voll, ihretwegen, die man schließlich gut genug verbergen konnte, aber dann schleunigst wieder ab mit den beiden „Wagen! „Meinst du nicht, daß der Stabszahlmeister nach seiner Villa suchen und suchen lassen wird?“ „Moan i scho“, gab Schepperl zu. „Und es wird nichts leichter sein, als sie zu finden, weil nämlich das Teerpappedach über die Mauern herausschauen wird.“ „So. Werds rausschaugn? Moanst? Des werd nia net aussa schaugn. „Weil über oiss zamm no a Strohdach kimmt. Vaschehst!“ Um die beiden „Wagen in den Bahnhof zurückzurollen, genügte die Hälfte der Männer. Es wurde eben Tag. Der erste Truppenzug war angekommen, Militär bevölkerte das Bahngelände, bestaunte die blauen Eisenbahner so tief in Feindesland, hatte aber wenig Respekt vor ihnen. „Was hatten Zivilisten einem Landser zu sagen, der schon die halbe Welt niedergekämpft hatte? Schepperl war's recht. Organisierungslüstern fragte ein gerissener Spieß: „Was habt ihr denn Schönes in den Wagen?“ Das wisse er nicht, antwortete Schepperl ängstlich. Ein Verpflegungslagerstabszahlmeister habe die Hand drauf — sozusagen privat. „So, so — privat? Aha. Kann man nicht mal hineinschaun?“ Schepperl war entsetzt. Es würde ihm den Kopf kosten! „Verschwind eben“, sagte der Spieß, „dann weißt du von nichts.“ Schepperl hatte noch nie einer Aufforderung anderer so widerspruchslos sanftmütig Folge geleistet. Er ließ die „Wagen stehen, wo sie standen, und verschwand mit seinen Zigeunern. 240
Auf Nimmerwiedersehn. Denn auch an einer nochmaligen Begegnung mit dem Spieß hatte er kein Interesse; vielleicht war der über die Leere des einen Wagens und die schäbige Hirse im andern so enttäuscht, daß er ihm die Säcke einzeln um die Ohren schlagen ließ. Eines aber war geglückt: „Wenn es eine Untersuchung gab, würde sie einer falschen Spur folgen. „Wie ein Büblein klein an der Mutter Brust, so unschuldsvoll kam Schepperl zu den beiden Gefährten zurück. Zugleich mit ihm kamen vom Dorf her unter Glücks und Gruschkins Führung einige von einem Rößlein und zwanzig Männern und Frauen gezogene und geschobene Fuhrwerke mit dem schwarzgrauen Stroh, den Sparren und Latten eines alten Scheunendaches an und noch ehe die Holzvilla, den Außenfenstern angepaßt, in die vier Mauern eingefügt war, hatten ihnen viele und geschickte Hände, befeuert vom verheißenen Lohn, ein Strohdach aufgestülpt, das sie schon seit Jahrzehnten gehabt zu haben schienen. Liebedorn hatte ganz wässrige Äuglein von der Erleichterung und sein Gurgelknopf tanzte eine Polka stummen Vergnügens. Ein Telefonbautrupp brachte die Fernsprecher; er hatte die Strippe vom Bahnhof her gezogen und legte nun die Leitung weiter auf der Strecke nach Naroskoje. Die Brücke war fertig, die Belastungsprobe gemacht, der erste Zug konnte kommen. Der Dienst der Abzweigstelle M. P. begann. „Wer fängt an?“ fragte Glück. „Wir losen die Reihenfolge aus“, sagte Liebedorn. „Geh weita! Spinnst?“ protestierte Schepperl. „Nee. Ick will man bloß nich derjen'che sein, der über euer Schicksal entscheidet, sondern det dem lieben Jott iberlassen.“ Er zog schon drei Streichhölzer heraus und biß sie verschieden lang ab. Glück lachte ihn aus. „Das ist doch völlig gleichgültig, Sigi!“ „Nee! Da bin ick nu mal abergleeb'sch. Et kann doch for's Sterben oder sonst 'n Vajnüchen entscheidend sein, ob man jrade Dienst hat oder nich. Is doch klar, nich? Also, der mit dem längsten ist der erste, der mit dem kürzesten der dritte.“ „Schön“, sagte Glück. „Wozu dann noch Streichhölzer? Ich fange an, dann kommt der Sepp.“
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„Müßte erst mal jenau nachgeprüft wer'n, du Anjeber! Da wir keen ausreichendes Bandmaß haben, bleibt's bei den Streichhölzern.“ Die Reihenfolge ergab Liebedorn-Glück-Schepperl. Liebedorn sagte: „Die Würfel sind gefallen“, ging hinaus, sah die Weichen und Blocksignale nach. Die Weichen waren in der richtigen Stellung und verschlossen. Er legte das Zugmeldebuch zurecht, schrieb Abzweigstelle Russkinaja-West darüber und trug das Datum ein. Das Telefon klingelte. Bahnhof R. bot ihm den Truppenzug an. Er nahm ihn an und trug die Uhrzeit ein. 11 Uhr 11. Bot ihn Guratschewo an, der ihn ebenfalls annahm. Es war alles in Ordnung. Er ging hinaus und stellte das Signal auf Fahrt. Der Zug konnte durchfahren. Er kam. Der erste Zug auf der neuen Dienststelle! Es wurde ihnen ganz feierlich zu Mut. Liebedorn und Glück standen draußen, winkten zur Lok hinauf, als sie in die Weichen ratterte, nahmen wie zwei Generale den Vorbeimarsch der Wagen ab. Schepperl hielt sich etwas im Hintergrund bei den Russen und Zigeunern; er wollte für alle Fälle vermeiden, von einem gewissen Spieß oder einem seines Haufens gesehen zu werden. Liebedorn ging wieder hinein, trug die Durchfahrtszeit 11.21 Uhr ein und meldete den Zug zurück. Nach 28 Minuten kam die Rückmeldung aus Guratschewo. In Russkinaja traf der nächste Truppenzug ein; mit seiner Weiterfahrt war in etwa einer Stunde zu rechnen. Gut. Sie konnten sich wieder ganz der Bauarbeit widmen. Der zweiräumige Holzbau füllte nicht das ganze Stellwerkmauerrechteck aus; es blieb an der Seite der Türe, vom äußeren Eingang her, gerade so breit wie dieser, ein Gang frei, der auch noch um die hintere, fensterlose Seite ging. Der zweifrontige Umgang bot als Windfang, Entschmutzungs- und Abstellraum große Vorteile. Sie ließen nach kurzer Beratung auch gleich den Schuppen abbrechen und, zwar kleiner, aber nun dicht gefügt, zumal auch eine Längswand eingespart wurde, an die hintere Mauer anbauen. Im hinteren äußeren Winkel wurde eine Grube gegraben und das Örtchen darübergesetzt. Ein schmaler Durchbruch in der Mauer verschaffte ihnen noch direkten Zugang. 242
An praktischem Hauskomfort blieb ihnen nichts zu wünschen übrig. Zwischendurch fertigte Liebedorn die Züge ab. Gegen Abend wurde er unruhig. Oft ging er hinaus und starrte in die sinkende Dämmerung. Als es schon ganz dunkel war, sagte er zu Glück: „Lös mir mal ab, ick bin jleich wieder da.“ Nach einer Stunde fuhr er, einen halbwüchsigen Bengel an der Seite, mit einer flachen zweirädrigen Karre vor. Auf der Karre lag, in Stroh gebettet, ein Möbelstück. „Helft mich mal abladen“, sagte er in einem Tone, der besagte: So, jetzt werdet ihr Augen machen. „Aber Vorsicht!“ Das Ding war nicht sehr schwer. Schepperl hätte es allein hineintragen können. Es ging der Länge nach gerade durch die Türen. Liebedorn rückte eifrig die wieder als Tisch verwendete Kiste weg, machte einen abschätzend schiefen Kopf und sagte mit der Geste eines, seiner überragenden Fähigkeiten sich bewußten Regisseurs: „Hier!“ Sie stellten also das Möbel dort an die Wand neben das Fenster. Sie beleuchteten es mit beiden Laternen. Es war eine Art Schreibtisch mit Aufsatz, geschwungenen Beinen, gewundenen Verzierungen, kleinen und großen Schubfächern, dunkel poliert, die Politur vielfach ölig matt oder abgesprungen. Auch Glück und Schepperl hielten die Köpfe schräg und zerbrachen sie sich darüber, was an dem alten Graffl Besonderes sein sollte. Liebedorn schien ihre Verständnislosigkeit zu fühlen. „Antik“, sagte er im dumpfen Tone einer Beschwörung. „Aus einem Schloß des Zaren.“ Mit verklärter Miene nahm er die beiden Telefonapparate hoch, stellte, der Kiste einen verächtlichen Stoß versetzend, den einen links, den ändern rechts auf die Tischplatte, in deren Mitte ein grünes Tuch eingelassen war, und legte das Zugmeldebuch zwischen sie, in genau gleichem Abstand und säuberlich ausgerichtet. Immer noch schienen sich die beiden andern nicht zu Ausbrüchen der Begeisterung hingerissen zu fühlen, aber ihr Schweigen war, nach den Gesichtern zu schließen, auch nicht 243
jenes Schweigen einer nicht mehr mit Worten auszudrückenden Anerkennung. „Was hat's denn gekostet?“ fragte Glück mißtrauisch. „Nicht der Rede wert. Fünf Liter.“ „Dös Glump?“ protestierte Schepperl. In Sigis Augen trat die hoheitsvolle Trauer eines großen Geistes, der sich vom Pöbel nicht verstanden sieht. Er strich zärtlich mit der Hand über das grüne Tuch, über das Holz. „So ein Ding ist auch bei meiner Großmutter gestanden“, sagte Glück. „Schade, dat ihr keenen Sinn for olle Kultur nich habt. Ick werd et mich als wertvolles Andenken mit nach Zuhaus nehmen. Und wie praktisch et is!“ Er zog rasch hintereinander die Schubladen auf. Zwei, drei, fünf, sechs. Und dann erbleichte er. Zwei, drei, fünf, sechs Kolonnen marschierten auf. Wanzen. Schepperl traten die Augen aus den Höhlen, dann stieß er einen Laut aus wie ein gereizter Bulle, schob die Schubladen vorsichtig wieder zu, riß die Telefone, das Zugmeldebuch fort, keuchte: „Hanse, dawai, dawai! Faß mit o! Aba paß auf!“ Und trug Liebedorns antikes Prunkmöbel aus dem Zarenschloß mit Glück ganz vorsichtig 50 Meter vom Hause fort, übergoß es mit Petroleum und zündete es an. Mit geknickter Seele übernahm Liebedorn seinen Dienst wieder. Aber die beiden andern trösteten ihn freundschaftlich. Zwar war es um die Einrichtung mehr als dürftig bestellt, sie hatten nicht einmal einen richtigen Ofen, aber das würde sich geben. Sie waren wenigstens hinter einer Steinmauer und doppelter Holzwand und unter doppeltem Dach vor dem gefürchteten sibirischen Frost geborgen. Für ihren Teil konnten sie der Offensive des Generals Winter in Ruhe entgegensehen. Ein antikes Stück aus einem einstigen Zarenschloß war nicht unbedingt dazu erforderlich. Diese Gewißheit war ein besseres Ruhekissen als das beste Gewissen.
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11. KAPITEL
Schepperl schloß geblendet die Augen, ehe er aus der Türe trat. Die „Welt war weiß geworden und dieses Weiß strahlte das Licht der Sonne wieder. Zwanzig Zentimeter hoch lag der Schnee auf dem Strohdach, auf den Kuppen der Telefonmasten. Die Bahnkörper waren weich geformte, blütenweiße Wallstraßen geworden, von Gleisen, von Weichen nichts zu sehen. Die Drähte hatten sich in fast handbreite weiße, schimmernde Hängegirlanden verwandelt. Schepperl ging zum Schuppen, sog mit Behagen den Geruch des flüssigen Goldes ein und fertigte, die geeignetsten Zweige aussuchend, bäuerlich geübt einen Reisigbesen an, stapfte von einer Weiche zur andern und machte sie von Schnee frei, kehrte auch die Signale ab. Dann rieb er sich die rasch klamm gewordenen Finger, die kribbelnden Ohren und die Nase, die es inwendig zusammengezogen hatte. Da traf ihn etwas Hartes, Kaltes zwischen Mütze und Mantelkragen und weil er seinen Hinterkopf für einen edlen Körperteil hielt, fuhr er herum, sah Glück grinsend unter dem Eingang stehn und knurrte ihn wütend an: „Rotzbua nixiga! Wanns d' an Schneid hast, geh hera!“ Glück hatte das SA-Sportabzeichen, er konnte nicht kneifen, da er aber wußte, daß er trotz aller leichtathletischen Leistungen gegenüber den schwerathletischen Armen Schepperls den Kürzeren ziehen würde, verpaßte er ihm noch einen gut gezielten Schneeball vor den Blechadler. Dann sprang er ihn an. Der Sepp empfing ihn wie ein Rammbock, drei Sekunden später wälzten sich beide im Schnee, daß es stäubte und nach weiteren drei Sekunden war der Hanse zweiter Sieger. Liebedorn steckte die lange Nase aus dem Fenster, stieß einen Klageruf aus: „Och, der schöne Schnee!“ „Kimm aussa, Sigi! Kannst'n glei wegfeg'n. Ums Haus rum kenn' mrn an so net braucha.“
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Liebedorn kam zwar heraus, aber im Ausgehanzug und es fiel ihm gar nicht ein zu kehren. „Melde gehorsamst, Herr Betriebswart, Zweigstellenvorsteher Sekretär Liebedorn hat heute dienstfrei.“ Schepperl zimmerte einen Schneeräumer. Zwischendurch klingelte das Telefon. Es war Guratschewo. Die Nachbarstation bot einen Kohlenzug an. „Was tue ma mit Kohl'n, du Nas'nbohra“, redete Schepperl den Kollegen freundlich an, „wo ma no koan Of'n net hamm?“ Der Nasenbohrer war Stitzenbacher. Wenn Schepperl aber grantig war, redete er ihn mit Gauleiter an, weil der Unterhosenheld von Nowy Wiezyczy überzeugter Pg. und KdFAmtswalter war. Indem es sich indessen bei diesem ersten Zug von Naroskoje um ein historisches Ereignis handelte, nahm er ihn mit Zustimmung des Fahrdienstleiters in Russkinaja Hbf. gnädig an und stellte ihm die Fahrstraße. Sie standen alle drei draußen, als der Zug kam. Er war von einer Schneestaubwolke halb verhüllt und zog eine gewaltige Dampffahne hinter sich her. Die Maschine hatte nicht mehr viel Lokähnliches an sich, sie glich eher einem Polarungeheuer, schneebepelzt und eisbebartet. „SOS — Eisberg!“ stotterte Liebedorn, als sie vorbeischnaufte. Sie standen nahezu stramm vor dem Lokführer, der, einer der wenigen schwarzen Flecken an der Lok, ohne eine Miene zu verziehen, gleichmütig von seiner eisumgürteten Höhe zu ihnen heruntersah. „Wird's denn gehn?“ rief Glück hinauf. Er erhielt keine Antwort. Schepperl gab sie dann, als der Zug vorbei war. „Wann's Faia ausgeht oder wann's lang stehn bleib'n muaß, is aus mit'm Foahrn, moan i.“ Und Liebedorn fügte hinzu: „Ick seh schwarz.“ Sie hätten sich die Richtigkeit Ihrer Befürchtungen bereits vom Vorsteher des Betriebswerks bestätigen lassen können. Die Strecke von Ustscha her war bis zum Morgen wieder in Ordnung gebracht, aber die Züge kamen nicht. Die Lok lagen fest. Ersatzlok mußten geschickt und die vereisten Maschinen im Betriebswerk behandelt werden.
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„Wird eine nette Bescherung geben“, sagte der Bahnhofsvorsteher, als der Kohlenzug an der Bekohlungsanlage stand und der Eisberg abgespannt wurde. Jetzt konnte die blaue Generalität in Minsk mal zeigen, was sie drauf hatte und den Wehrmachtgeneralen des Transportwesens endlich einmal klar machen, daß die Bahn den Vorrang haben mußte bei allen Bauvorhaben, bei der Zuteilung von Baustoffen und Arbeitskräften. Der Vorsteher des Bw sagte: „Wenn wir warten, bis von unten nach oben hinauf die Anträge und von oben bis unten die entsprechenden Anordnungen ergehen, können wir den Betrieb bis auf weiteres stillegen!“ Er suchte den Transportoffizier auf. „In drei Tagen läuft keine Lok mehr, wenn Sie mir nicht helfen. Alle Arbeiten, die von der O. T. und der Technischen Kompanie hier ausgeführt werden, sind zu Gunsten der Bahnbedürfnisse zurückzustellen. Wir brauchen Auftaustände, nicht nur hier, sondern auf allen Bahnhöfen mit Bw.“ An diesem ersten eisigen Tag des Wintereinbruchs ging bereits der gleiche Hilfeschrei von sämtlichen Betriebswerken aller drei Haupteisenbahn- und der Feldeisenbahndirektionen durch den Draht, soweit schon durchgehend vorhanden, und in eingehend begründeten Anträgen durch Kurierpost an die Direktionen und weiter an die Betriebsleitung Osten und von dort an den Transportchef und seine Planungsabteilung. Überall unternahmen die Amtsvorstände gleichzeitig örtliche Vorstöße, um auch ohne Befehl von oben sofortige Hilfe für die dringendsten Maßnahmen zu erhalten. Mal klappte es, mal klappte es nicht. Entscheidend war eben stets die Wesensart des Menschen, der in der Uniform jenes Dienstgrades steckte, jener Kommandostelle, auf die es gerade ankam. Manchmal nutzte allerdings auch deren bester Wille nichts, weil die notwendigen Baumittel und Fachkräfte einfach nicht vorhanden waren, oder im Augenblick für einen noch frontlebenswichtigeren Zweck gebraucht wurden. Die kämpfende Truppe selbst war ja unversehens in neuen Schwierigkeiten und Nöten. Mehr als je hing jetzt Sein oder Nichtsein der Front im Osten davon ab, daß alle Teile der Maschinerie des Krieges, daß 247
alle Rädchen im Gange blieben und ineinandergriffen. Daß Sonderinteressen der einzelnen Dienststellen und Befugnisrechte zurückgestellt wurden, daß sie dem Grundziel untergeordnet wurden, unter allen Umständen den Angriff des Winters abzuschlagen. Gegenseitiges Verständnis über die eigenen Leiden und Sorgen hinaus, Erkenntnis der gemeinsamen Voraussetzungen für ihre Meisterung, das war der Befehl der Lage. Man hätte denken sollen, daß es nicht schwer sei, über alle Kompetenzen rückwärtiger Dienste des Heeres und der Wehrmachtgefolge hinweg eine Einheit des Willens zu erzielen, da man ja doch das gleiche Schicksal hatte: miteinander zu siegen oder miteinander zu Grunde zu gehen. Aber wieviel Eigendünkel, wieviel Kurzsichtigkeit, wieviel Bürokratismus, wieviel feige Flucht vor der Verantwortung und wieviel faule Ausreden, in den Brustton des Verantwortungsbewußtseins gehüllt, mußten überwunden werden! Immer wieder mußte der Befehl von oben das Gegeneinander in das Miteinander aller erzwingen. Aber ,oben' das war weit und der Dienstweg lang. Und auch unter goldenen Schulterstücken schlug nicht immer ein goldenes Herz, wie selbstverständlich weiter abwärts in der Rangliste erst recht und oft in gröberen Formen alles Raum hatte, was menschlich war. Auch die Eisenbahner waren weder Genies noch Heilige und bildeten sich auch nicht ein, es zu sein. Denn der Mensch in seiner Masse, gleich welcher sozialen Stufe und welcher Uniform, mangelte nun einmal des Ruhmes, den er vor den Idealen der Dichter und Denker haben sollte. Doch alle persönliche, geistige und fachliche Mangelhaftigkeit und alle Verschiedenheit der Auffassungen, der Aufgaben, der Uniformen, der Dienstgrade müßte und könnte überbrückt werden durch das Große, allen Gemeinsame: das Vaterland. Alle Für und Wider müßten getragen sein von dem lebendigen Bewußtsein, das den General vor dem Landser genau so erfüllen müßte, wie den Landser vor dem General, den Transportoffizier vor dem Eisenbahner genau so wie umgekehrt: Wir sind Kameraden. Die drei von Malenka Russkinaja waren's jedenfalls zufrieden, daß sie nicht in der Haut eines der Verantwortlichen der 248
Wehrmacht-Transportdienststellen oder der blauen Generalstäbe zu stecken brauchten. Daß ihnen nicht das Ganze durch den Kopf zu gehen brauchte, daß sie sich nicht um ungezählte Gleiskilometer, Bahnhöfe, Betriebswerke, Reparaturwerkstätten, Zuggarnituren und Zehntausende von Eisenbahnern und ihren Einsatz zu kümmern und zu sorgen, sondern nur in ihrem kleinen Bereich ihre Pflicht zu tun und vernünftige Kerle zu sein hatten. Daß sie nicht mit Autoritätsabstand und goldenen Passanten auf einem Befehlsposten mehr oder weniger vereinsamten, sich mit der Pseudokameradschaft des Herrn- und Sie-Verhältnisses begnügen mußten, sondern in der rauhen, aber herzlichen DuAtmosphäre des großen Haufens geborgen waren. Sie sahen an diesem ersten zauberhaft weißen Morgen heiter ihren Russen und Zigeunern entgegen, die angerückt kamen, um ihre bauhandwerkliche Tätigkeit zu Ende zu bringen und die Einrichtung für den Dienstraum zu schreinern: ein Wandbrett für die beiden Telefone und ein etwaiges drittes dazu, und für die Zugmeldebücher, davor einen Hocker — aus. Tisch, Bank und Stühle und Geschirrbrett für die Wohn-Eß-Herrenzimmer-Küche. Ein dreistockiges Strohsack-Bettgestell, drei Hocker in Form von kleinen Truhen und einen dreiteiligen Schrank für den Schlafsalon. Die einzige Sorge machte ihnen noch ein anständiger Kochofen an Stelle des Marmeladeeimerherdchens. Liebedorn faßte den Entschluß, mit Gruschkins Wagen und einem Kanister Petroleum zum Markt nach Russkinaja zu fahren. „Mägst eppert antike Wanz'n holn?“ fragte Schepperl. „Zweng da Kultura?“ Liebedorn gab keine Antwort. Er wußte selbst nicht, was er holen wollte, aber ein nahezu düsterer Heldensinn hätte ihm fast die großen Worte aus der Brust getrieben: „Sigi wetzt seine Scharte aus oder ihr seht ihn niemals wieder.“ Brüderchen Genosse Gruschkin peitschte von Zeit zu Zeit ein Dutzend lustige Pistolenschüsse in die frostklare Luft und der kleine Braune trabte schellenklingelnd vor dem Schlitten. Vom Dorf her kam eine Frau durch den Schnee gestapft. Liebedorn bedeutete Gruschkin, zu halten und sie mitzunehmen. Obgleich sie einen abgeschabten Herrenulster aus der Zeit Nikolaus II. trug 249
und zwischen dem unscheinbar dunklen Kopftuch nur ein schmales Stück Gesicht sich zeigte, sah Liebedorn, daß sie jung und schön war. Er hörte Gruschkin sagen „dobroje utro, Nina Feodorowna.“ Die Frau nickte dem Riesen zu, sagte halblaut „Iwan Michailowitsch“ und dann zu Liebedorn: „Ich danke Ihnen.“ Er wußte nicht, ob er sich mehr darüber freuen sollte, daß sie deutsch sprach, oder daß sie eine so dunkelsamtene Stimme hatte. Er hatte eine ausgesprochene Schwäche für tiefe schöne Frauenstimmen und der einzige Fall, daß ihm eine sogar mehrere Jahre ältere Frau beinahe zum lebenslänglichen Verhängnis geworden war, hing mit ihrer Kunst zusammen, Marlene Dietrich und Zarah Leander tongetreu zu imitieren. Er bat sie, ob sie ihm, wenn ihre Zeit es erlaube, auf dem Markte dolmetschen wolle und sie sagte zu. Sie wollte sowieso auch auf den Markt und einen schweren silbernen Samowar verkaufen. Sie war Lehrerin und die Frau des Starost Pokow. Er war Soldat in der Roten Armee. Sie wußte seit Sommer nichts mehr von ihm und es war keine Schule und gab kein Geld. Liebedorn bedauerte, nicht so viel Rubel zu haben, um das wertvolle Stück kaufen zu können. Nina Feodorowna Pokowa meinte, Petroleum sei so gut wie Geld, ja besser. Auf dem Markt würde sie ihn eintauschen gegen ein Feuerzeug, Streichhölzer, Benzin, Salz, Zucker. Wenn sie wolle - Petroleum könne sie von ihnen bekommen. Auch ein Feuerzeug, Benzin und Streichhölzer. Aber dann brauchten sie auch echten Tee, denn Schepperl werde der Meinung sein, daß für Himbeerblätter mit Wasserpfefferminz auch das Kochgeschirr gut genug sei. Russischen und auch chinesischen Tee könne sie ihm gegen Petroleum immer besorgen. Aber drei Täßchen müßten sie dann auch noch haben, weil der echte Tee aus Aluminiumtrinkbechern nicht schmecke. Sie sagte lächelnd zu und so ging schon auf der Fahrt der alte silberne Samowar in den Besitz der Abzweigstelle M.P. über. Sie kamen durch Reihen elender Hütten ins Stadtinnere. Mitten aus einem Hundertmeterquadrat, dessen einstige Häuser in ein ebenerdiges Trümmerfeld verwandelt waren, das wie ein Sturzacker unter der Schneedecke lag, ragte ein Denkmal auf. 250
Eine vierkantige, über mannshohe und eineinhalb Gruschkinschultern breite Säule. Liebedorn ließ halten und tastete sich durch die beinbrecherischen Trümmer hinüber, um das eigenartige Bild zu knipsen, und bei näherem Zusehen wurde es noch eigenartiger: das Denkmal entpuppte sich als Kachelofen mit einer eingelassenen zweilöcherigen Herdplatte. Er war fast unbeschädigt. Aus der Rückseite starrten zwei Wasserrohrenden, das eine dicht unter dem oberen Rand, das andere drei Viertel Meter darunter. Liebedorn machte die Aufnahme und ging zum Schlitten zurück. „Der Ofen ist doch tadellos, warum holt ihn denn niemand?“ fragte er. Die Bevölkerung fürchte sich wahrscheinlich, ihn wegzunehmen, weil er wohl in der Wohnung eines hohen Parteifunktionärs gestanden sei und die Deutschen hielten ihn offenbar, wie auch er zunächst, für einen Denkmalsockel, antwortete Frau Pokow. Wozu wohl die Rohrenden in ihm steckten? Es werde ein Boiler eingebaut sein. Liebedorn bewegte besondere Gedanken in seinem Köpfchen. Die Stadt bot auch kein wesentlich anderes Bild als andere russische Städte mittlerer Größe. Auffallend war nur eine abseits liegende riesenhafte Neubauanlage: Eine ganze Anzahl langgestreckter Frontfluchten in Karrees oder Gevierten, von Straßen durchbrochen, mit wuchtigen turmartigen Überhöhungen. „Das sollte ein amerikanisches Motorenwerk werden“, erklärte Nina Pokowa. „Ford baut es.“ Nun wird es voraussichtlich ein Reichsbahnausbesserungswerk werden, dachte Liebedorn, noch ohne zu wissen, daß er recht behalten sollte. Der Markt bot ein originelles Bild. Es war kein Markt, wie man sich einen solchen vorzustellen pflegt, mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen etwa oder auch mit Töpfer-, Seiler-, Korb- und Küblerwaren. Das meiste war Trödel. Es waren auch keine Stände oder gar Buden vorhanden. Auf Schlitten lagen die Dinge, die veräußert werden sollten. Auf Brettern, die über zwei Steine oder Holzklötze oder einfach in den Schnee gelegt waren. Häufig 251
aber nur auf ausgebreiteten Decken und Tüchern. Meist gebrauchter Hausrat, selten ein neues handwerkliches Erzeugnis. Männer, Frauen, Kinder hockten dabei. Da und dort lagen sie neben ihrem Hab und Gut einfach im Schnee und schliefen. Neugierige Landser mischten sich unter die russischen Käufer und erstanden sich auch dies und das, zum Beispiel originelle Spielzeugschnitzereien, gegen Rubel oder auch irgendeine Mangelware. Und woran hätte die Bevölkerung keinen Mangel gehabt? Liebedorn hatte mit einem Mal Interesse für Dinge, an die er eine Stunde vorher nicht im Traume gedacht hatte. Als er aber nach Hause kam, hatte er nichts bei sich, als den Samowar und eine Petroleumhängelampe. Schepperl hätte den Firlefanz am liebsten umgehend hinausgeworfen. Er hatte auch keine Teemaschine daheim. Ob sie denn überhaupt Tee tränken? fragte ihn Liebedorn. Natürlich nicht. Bier selbstverständlich. Na also! Da gäbe es gar kein Na — also! Liebedorn lachte nur; er war an Schepperls unter allen Umständen antipreußische Logik gewöhnt. Auch Glück war nicht der Meinung, daß der Apparat 10 Liter Petroleum wert war. Wichtiger war schon die prunkvoll bunte und verschnörkelte Lampe aus der Zeit Iwans des Schrecklichen. Liebedorn indessen machte nach wie vor eine solch undurchdringlich überlegene Miene, als könnten die Leistungen der andern seinen das Wasser nicht reichen und rückte dann mit einem merkwürdigen Anliegen heraus: Er wolle mit Glück den Dienst tauschen, der Grund sei privater Natur. Glück kniff ein Auge zu, aber ihm war's recht. Wahrscheinlich war morgen die andere Hälfte der Lokomotiven auch noch eingefroren und überhaupt kein Dienst mehr. Er hatte, angeregt von Sigis Geheimnis, die Absicht, einmal nach einem gewissen Antlitz hinter einem bestimmten Fenster Umschau zu halten. Da der Herr Fahrdienstleiter aber auch auf Schepperls Hilfe als Weichensteller verzichtete und der Häuserklau demzufolge beschloß, in eigener Sache vorsichtig einmal im Bahnhof Näheres
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zu eruieren, hielt es der Petroleumkönig für seine kameradschaftliche Pflicht, ihm zur Seite zu bleiben. Glücklicherweise bestand keinerlei Verdacht in Richtung Abzweigstelle. Der Herr Stabszahlmeister hatte zwar einen Tobsuchtsanfall erlitten und sofort nicht nur den zweifellos hauptschuldigen Lademeister, sondern das gesamte Bahnhofspersonal an die „Wand stellen lassen wollen. Aber der Bahnhofsoffizier, ein alter Major mit Humor, den bereits freundliche menschliche Beziehungen mit dem blauen Dienstvorsteher verbanden, hatte ihm bedeutet, daß man die Leute zwar inzwischen mal ihr Massengrab ausheben lassen könne, daß aber vor der Exekution wenigstens pro forma eine kriegsgerichtliche Untersuchung stattfinden müsse. Da die Wehrmachttransporte nicht eingestellt werden dürften, könne der Herr Stabszahlmeister dann den Bahnbetrieb so lange mit seinem Verpflegungslagerkommando durchführen. Der Herr Stabszahlmeister hatte den Bahnhof sporenklirrend mit dem Schwur verlassen, diesen skandalösen Fall eisenbahnerischen Partisanentums unerbittlich bis zur blutigen Sühne zu verfolgen, aber bisher war nicht bekannt geworden, daß er zu diesem Behufe Schritte nach oben unternommen hätte. Der alte Major mit Humor, zu Hause Apotheker, Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr und Vorstand des Kegelklubs „Feuchte Kugel“, führte das darauf zurück, daß dem Herrn Generalintendant in spe wahrscheinlich noch nicht gelungen war, die Begründung für seinen Anspruch, ein eigenes Holzhaus und ein privates Hirsedepot in zwei gewissermaßen ständig beschlagnahmten Güterwagen zu hegen und zu pflegen, überzeugend zu formulieren. Auch der Stabsgefreite Kuficke, der den Auftrag hatte, selbständig nach Spuren zu suchen und eben dabei war, die Rotkreuzhelferinnen der Wehrmachtsverpflegungsstelle über etwaige Wahrnehmungen und nebenbei auch über die Aussichten eines gemeinsamen Kinobesuches zu befragen, teilte die Meinung, daß sein hoher Chef nicht allzuviel Staub aufwirbeln werde. „Bals d'amoi an Petroli brauchst, nacha kimmst, mir hamm“, sagte Schepperl und steckte zufrieden die stabszahlmeisterliche 253
Zigarre an, obgleich sie diesmal keine daumenbreite Bauchbinde hatte. Glück verhochdeutschte und machte eine förmliche Einladung zur feierlichen Einweihung der Abzweigstelle M. P. daraus. Schepperl hatte eine Laune wie auf der Kirchweih. Leider sah er nirgends eine Gelegenheit, seinen leiblichen und seelischen Kraftüberschuß in einer zünftigen Rauferei an den Mann zu bringen. Also suchte er seinen Bahnhofsvorsteher auf und beschwerte sich in aller Schepperlscher Form, daß sie auf der dem Wind besonders ausgesetzten Außenstelle noch immer keinen Ofen und weder Kopfschützer, noch warme Westen, noch gefütterte Fäustlinge hatten. Der Oberinspektor versicherte ernsthaft, daß eine Beschwerde über die mangelnde Winterbekleidung bereits abgegangen sei. Die Antwort werde ein Runderlaß sein, in dem es u. a. heißen werde, daß man mit einer Dauer des Ostfeldzuges bis in den Winter hinein nicht gerechnet habe und außerdem von dem verfrühten und gleich so rasanten Einbruch der Kälte überrascht worden sei. Schepperl sagte, auf diese läppische Entschuldigung möge der Herr Oberinspektor dann im Namen des Betriebswarts Schepperl Josef entgegnen, daß auch einem Dümmeren, als er sei, hätte klar sein müssen, daß man den Riesengewaltstaat nicht in ein paar Wochen werde überrennen können wie das kleine Polen und das windige Frankreich. Im übrigen wisse jeder Pimpf, daß man zum Beispiel auch in Oberbayern schon im Oktober-November mit Schnee und Eis rechnen müsse und nicht erst drei Stund vor Sibirien. Anschließend begab sich Schepperl, der sich in Wirklichkeit gar keine Wintersorgen um seine Gliedmaßen machte, weil er glaubte, gleich seinen beiden Gefährten aus privatem Bestand warm genug ausgestattet zu sein, mit Glück ins Soldatenkino. Die ,Wochenschau' zeigte unabsehbare Weizenfelder und undurchdringliche Sonnenblumenfelder in der Ukraine und lachende Landser, von denen der Schweiß rann, daß man eine Lok damit hätte bewässern können. Ein ,Kulturfilm' gab Anschauungsunterricht über die Herstellung von Bomben und Granaten und über ihre Wirkung — beim Gegner. Und dann kam 254
Zarah Leander und bemühte sich vergeblich, Schepperls erotischen Nerv in Schwingungen zu versetzen. Er gedachte lediglich in einem zufriedenen Gefühl zuverläßlichen Besitztums vergangener und zukünftiger naturhaft unproblematischer Ehefreuden. Glück lächelte allen Reizraffinessen gegenüber nur das überlegen ablehnende Lächeln des abgebrühten Weiberkenners, wobei er unlogischerweise immerzu ein verführerisch lockendes Lippenpaar und zwei Augen, die ihre Farbe wie Sterne wechselten, im Sinne hatte. Weil es inzwischen Nacht geworden war, sie die Gewehre natürlich nicht mitgenommen hatten und Glück nur sein lächerliches Terzerol, ein Nickel-Trommelrevolverchen aus Großvaters Jugendzeit, in der Tasche trug, zogen sie es vor, nicht auf dem nächsten Weg durch unheimliche Stadtrandviertel und quer über unkontrolliertes Gelände, sondern über den Bahnhof und am Bahnkörper entlang nach Hause zu pilgern. Auf dem Bahnhof und im Betriebswerk herrschte einige Aufregung. Hohe Herrn aus Minsk wurden erwartet, mit ihnen zusammen auch ein bevollmächtigter General des Transportchefs. In einer halben Stunde etwa mußte der Dienstzug von Naroskoje her eintreffen. Sie sollten schleunigst machen, daß sie auf ihre Dienststelle kämen. Die beiden Kleinrußkinajer störte das nicht. Schon aus Opposition ehrenhalber machte Schepperl weder längere noch raschere Schritte. Halbwegs begann Glück zu fluchen und schlug sich seitwärts. Schepperl ging gemächlich weiter, dann dauerte es ihm zu lange und er setzte sich kurzerhand neben das Gleis. Es begann eben wieder zu schneien. Und obgleich der Eisenbahnlärm Schepperls Dasein beherrschte und er kein poetischer Naturschwärmer war, empfand er die Störung der winterlichen Stille durch das Rangiergetöse als Roheit. Auf dem Gleis nebenan rasselte ein Leerzug vorbei. In der Ferne pfiff eine Lok, anhaltend, wütend. Das konnte nur der Dienstzug sein mit der Bonzokratie. Er grinste innerlich aus zwei Gründen: die sollten ruhig auch mal ein bißchen warten und der Herr Sekretär kam allein offenbar doch nicht rasch genug mit Telefon, Weichen und Signalen zurecht.
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Schepperl visierte dem Gleis nach, das durch die rollenden Räder schon seit dem Morgen wieder blank gefegt war, mit tiefgesenktem Kopf das in Nacht und Schneetreiben verborgene Stellwerk M. P. an; vielleicht konnte er trotz der Abblendung die Loklichter sehen. Sie sah er nicht, aber etwas anderes fiel ihm auf, gerade noch undeutlich zu erkennen: Da war ein schwarzer Klecks im Weißgrau neben dem Geleise. Und der Klecks bewegte sich. Vielleicht ein Hund. Ein sehr großer Hund. Aber große Hunde hatte er in Rußland noch nie gesehen. Wahrscheinlich, weil sie immer schon in die Suppentöpfe wanderten, ehe sie groß waren. Wäre Glück nicht hinter, sondern vor ihm, würde er denken, das Schwein habe sich — — Bei dieser Stelle seines Gedankens angekommen, hörte Schepperl zu denken auf und begann zu handeln, er schlich sich vom Geleise weg ins weiße Feld, so gebückt, daß der Brustkorb an die Knie stieß, den dunklen Körper nicht aus den Augen lassend, und dann lief er, das Geräusch nach Möglichkeit dämpfend, was er aus seinen ebenso schwerfälligen wie stämmigen Beinen herausholen konnte, auf ihn zu. Aber lange, ehe er ihn erreicht hatte, schnellte der schwarze Fleck plötzlich aus der Breite in die Höhe, war deutlich erkennbar ein Mensch und rannte über die Geleise davon. „Halt!“ schrie Schepperl. Stoj, du Hund! Stoj!“ Aber dem Hund, der gar kein Hund war, fiel das gar nicht ein. Er machte ein paar Sätze wie ein olympischer Hürdenläufer und schon war er jenseits des Bahnkörpers verschwunden. Dort war der Wald. Der Zug draußen auf der Strecke pfiff anhaltender noch und durchdringender als zuvor. „Kruzitürk'n! Bluatshund miserabliga!“ grollte Schepperl und schwor sich, in diesem Hodalumpnland keinen Schritt mehr ohne Gewehr zu machen. Der Hanse hätte wenigstens das Terzerol gehabt. Jetzt, wo es zu spät war, kam er angelaufen, schrie schon von weitem: „Sepp! Was ist denn los! He! Sepp?“ Schepperl gab keine Antwort, er keuchte weiter, die Stelle suchend, wo der Kerl aufgesprungen war, fand sie auch leicht,
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denn da war der Schnee zerdrückt, bei einer Schwelle ganz deutlich weggescharrt, Kies darauf, Sand — Schon lag Schepperl davor auf den Knien, rief Glück zu: „Halt den Zug auf!“ „Warum denn?“ „Tu net lang frag'n. Laaf!“ Glück lief, aber Schepperl wußte, falls er überhaupt vom Lokführer beachtet wurde, war es doch zu spät, um selbst bei mäßigem Tempo den Zug zum Halten zu bringen. Man hörte ihn schon und sah trotz der Abblendung den Lichtfleck im grauweißen Dunkel; er hatte M. P. passiert. Schepperl trat der Schweiß auf die Stirne. Unter der einen Schwelle hin war ein gutes Stück weit der Kies vorgescharrt und zwischen ihr und der Nachbarschwelle unter dem Schienenstoß selbst ein großes Loch ausgehöhlt. Er hatte schon alles Mögliche über Minen gehört, aber gedacht, was gehen mich Minen an! und sich nicht weiter darum gekümmert. Zwar konnte er sich alles selber zusammenreimen. „Wenn die Lok über die hohl liegende Schwelle fuhr, drückte sich die Schiene durch und genau darunter war die Mine eingebuddelt, durch den Druck wurde die Zündung ausgelöst, die Lok wurde schwer beschädigt, von den Schienen gehoben und der Zug entgleiste. Wie man so eine Mine jedoch ohne Gefahr entfernte, wußte er nicht. Ob da nicht Drähte waren, an denen man nicht ziehen, Kontakte, auf die man nicht drücken durfte? Vielleicht hätte der Hanse mehr davon verstanden, aber dann hätte er, Schepperl, dem Zug entgegenlaufen müssen und er konnte vorher schon kaum mehr schnaufen. Und es hätte so ausgesehen, als ob sich der Schepperl Sepp von der Gefahr drückte und den andern draufgehen ließ. Wenn er nun in die Luft flog, war dem Zug allerdings auch nicht geholfen, denn dann brach die Lok eben in das schon vorhandene Sprengloch und die Wagen warf es die Böschung hinab. Der Bandit hatte die einzige Stelle zwischen dem Bahnhof und der Abzweigstelle gewählt, wo der Bahnkörper nicht in einer Ebene mit dem Gelände lag, sondern eine kurze, aber ziemlich steile Mulde schnitt. Schepperl suchte mit Augen und Händen, lauernden Augen und vorsichtig tastenden Händen, nach Drähten. Über die Schiene 257
hin, an der Innen- und Außenseite entlang. Nichts. Er suchte unter der Schiene, fühlte harte Kanten, griff den eisig kalten Packen ab. Er hörte Glück brüllen. Viel zu nah! Sah deutlich die Lichtbahn auf dem Geleise näher geistern. Hörte die Lok schnaufen, das Brausen des Zuges lauter, hohler, drohender werden. Er hörte die Schienen vor seinem Kopfe sausen und fühlte den Boden unter seinen Knien zittern. Lauf weg! Saus' den Damm nunta! Grad kannst di no rett'n! schrie 's in ihm. Aber er packte zu in einem verzweifelten Entschluß, hob, ohne zu reißen, mit den vorgestreckten Armen das schwere Paket ein wenig an, zog. „Heilige Maria, Mutter Gottes hilf!“ schrie seine Seele. Der Packen gab nach. Er war nicht festgemacht. Ein gellender Pfiff, ein zweiter, panikerregend, anhaltend, ging ihm durch Mark und Bein. Schepperl überwand sich, nicht zu reißen, zog die Mine Zoll für Zoll, langsam mit dem Körper zurückweichend, vor und zu sich heran, starrte darauf, als könnte, als müßte sein Blick die Explosion verhüten, und schon war der Donner der Lok über ihm. Der Bahnkörper bebte und schütterte und sein ganzer Körper bebte und schütterte mit. Wenn die Erschütterung nur die Mine nicht auslöste, die einen halben Meter von der Schiene entfernt zwischen seinen Armen lag! Das ohrenbetäubende Signal riß ab. Die Welt schien unterzugehen. Dampf und kochendes Wasser sprühte über ihn. Er fühlte die Hitze des eisernen Kolosses. Wie aus einer fernen brausenden Wolke hörte er eine Stimme brüllen. Er verstand nichts. Es war auch gleichgültig. Die Lok drückte das unterhöhlte Schwellenende nieder, die Schiene. Sie holperte und neigte sich gefährlich, als wenn sie sich auf ihn stürzen wollte, und jeder Wagen stieß und schwankte in der gleichen Weise. Schepperl sah es nicht. Er lag auf den Knien, grau im Gesicht, und hielt noch immer das Paket zwischen den Händen: große gelbe Seifenstücke, mit allen möglichen Bändern zusammengeschnürt, ein merkwürdiges Kästchen aufgesetzt. Er wagte nicht es anzurühren, starrte darauf, ohne etwas denken zu können. Wie ein Nebel nur war alles um ihn. Daß die Bremsklötze kreischten und funkten, daß der Zug hielt, als der letzte Wagen vorbei war, daß Glück wieder da war, schwitzend und dennoch 258
bleich, daß Wagentüren schlugen, es auf und ab am Zug lebendig wurde und Eisenbahner in Rudeln herbeiliefen „Nimm mal die Hände weg von dem Ding“, sagte Glück endlich mit rauher Stimme. Schepperl hörte nicht. Glück zog ihm die Hände fort. Da waren auch die vordersten aus dem Zug da. Eisenbahner. Ausrufe schwirrten. Fragen überstürzten sich. Jetzt raffte sich Schepperl auf. Er hatte wieder Farbe im Gesicht und sah wütend aus. Der Aufstand paßte ihm nicht. Verlegen und hastig klopfte er sich die Schneebatzen von Knien und Ellenbogen, den Schneestaub aus den Haaren, bückte sich nach seiner Mütze, die 's ihm vom Kopf gerissen hatte und ging wortlos weg, Richtung M. P. „Bleib doch hier, Sepp!“ rief Glück ihm nach. Aber Schepperl ging nur noch rascher. Er konnte jetzt niemand brauchen, kein Geschwätz hören. Er mußte erst einmal sein inneres Gleichgewicht wiederfinden. Und ein Dankeswörtchen mit dem lieben Gott reden. Vielleicht war gar nichts dabei gewesen. Vielleicht war es gar nicht gefährlich, so eine Mine aus dem Loch unter der Schiene herauszuholen. Er aber verstand ja nichts davon und für ihn war das auf jeden Fall eine ganz a b'schissane G'schicht g'wän. „I hätt' ja au jeden Moment in tausend Fetzerln z'riss'n sei kenna“, entschuldigte er die Angst, die er ausgestanden hatte, vor sich selbst. Er ging auch nicht gleich ins Haus, sondern lehnte sich an den Telefonmast. Vom Draht rieselte es herunter. Liebedorn kam mit der Laterne aus dem Haus, stellte Weichen, legte ein Signal um, ging wieder hinein, er hatte ihn nicht gesehen. Schepperl hörte ihn telefonieren. Das Fenster mußte offen sein. Der spinnate Lackl! De ganz Koit'n einilass'n! Schepperl fand langsam ins normalirdische Dasein zurück. Glück kam, sah ihn stehen. „Weshalb läufst du denn davon, Mensch? Ein ganzer Haufen Reichsbahnräte! Auch ein Transportgeneral mit seinem Stab! Was es doch alles gibt! Du — allerhand Seife hatten die da zusammengebunden! 6 Kilo! Da wär' mancherlei in die Luft gegangen. Keiner wollte glauben, daß du das Ding ausgebuddelt hast, ohne was von Minen —“
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„Koit is'“, unterbrach ihn Schepperl kurz und ging zum Haus. Das Fenster war tatsächlich offen und ein merkwürdig rauchloser Hauch von Wärme war spürbar. Als sie eintraten, umfloß sie diese Wärme wie Sommer. Liebedorn saß im Schein der über dem Tisch hängenden Petroleumlampe vor den Kurbelkästen, einen Hörer am Ohr, und mit einer Eintragung ins Zugmeldebuch beschäftigt. Er sah sich gar nicht um nach ihnen und Schepperl blieb das spöttisch gedachte „hab die Ehr, Herr Sekretär“ auf der Zunge liegen wie das Auge auf dem graublauen Kachelofen, der vom Fußboden bis zur Decke reichte. „Bluatsau“, stöhnte er. In der Kochnische stand der Samowar. „Mensch! Sigi!“ lachte Glück. „Das ist wirklich eine großartige Überraschung!“ Sie zogen schleunigst die Mäntel aus und die Jacken gleich dazu, denn sie kamen aus 15 Grad Kälte und da waren 25 Grad Wärme. Eine afrikanische Hitze. Dann betrachteten sie sich das Prunkstück auf den drei sichtbaren Seiten eingehend von oben bis unten. „In die Wand einjebaut“, erklärte Liebedorn großartig. „Die Rückseite ist draußen.“ Aha! Daher die Wärme im Vorraum, obgleich der Hauseingang noch keine Türe hatte. „Superkomfort!“ staunte Glück. „Wo hast du ihn geklaut?“ „Drück dir, bitte, jewählter aus“, tadelte Liebedorn sanft. Im übrigen war er nicht gesonnen, seinen Nimbus zu zerstören, indem er die ganz unheroische Herkunft dieses wichtigsten Teiles ihrer Einrichtung bekanntgab. Sie würden noch mehr staunen — nur immer mit die Ruhe! Nur so nebenhin sagte er: „Da unsere Dienstwohnung bis uff die Haustüre, die morjen jemacht wird, so weit fertig ist, habe ick mich erlaubt, zwo Damen einzuladen.“ Schepperl knurrte: „Mi leckst“ und auch Glück war keineswegs so lebhaft interessiert, wie Liebedorn geglaubt hatte. „Deutsche?“ fragte er nur. „Nee“, sagte Liebedorn, es klang beinahe verächtlich. „Zigeunamenscha!“ höhnte Schepperl. „Ooch nich. Russinnen. Aber janz wat Besonderes.“ 260
„Mit gschiaglate Leis und kropfate Wanz'n“, brummte Schepperl. Liebedorn hielt es für unter seiner Würde, darauf zu antworten, aber für an der Zeit, seinen letzten Trumpf auszuspielen. Er sagte: „Hans übernimm doch, bitte, jetzt deinen Dienst wieder. Ick will een Bad nehmen.“ „Wos magst?“ fragte Schepperl mit offenem Munde, als ob er ihn nicht verstanden hätte und Glück lachte schallend: „Nimmst du's im Kochgeschirr oder schlägst du dir am See ein Loch ins Eis?“ Mit der Miene eines Witzblattaristokraten hauchte Liebedorn „weder — noch“, zündete die zweite Laterne an und ging hinaus. Die Zwei warteten darauf, daß er mit irgend einem Eimer oder sonstigen Gefäß wiederkäme. Dabei inspizierten sie die Reste ihrer Verpflegung. Seit sie im frontnäheren Einsatzgebiet waren, hatten sich die Zuteilungen etwas verbessert. Die Blauen im Russkinaja-Bezirk waren in der Verpflegungsskala um eins hinaufgekommen und zweitletzte geworden. Aber selbst mit zwei Scheiben Schwarzbrot, einem Klecks Marmelade, einem würfelzuckergroßen Stück Butter und einer Viertelpfunddose Streichleberwurst für drei Mann, konnte man keine Freßorgie veranstalten. Zum Saufen hatte man erst recht nichts, weil Petroleum, selbst in verdünntem Zustand, nicht zu empfehlen war. Mitten in ihrer frugalen Mahlzeit horchten beide auf. Wasser plätscherte, ohne aufzuhören. Sie fuhren zur Türe hinaus. Da war nur die schummerige Schneehelligkeit, die vom Eingang hereinfiel, aber im fast schwarzen Hintergrund des Vorraumes, woher das Plätschern kam, war oben ein schmaler Querstreifen Licht und aus diesem Streifen quoll Dampf. Schepperl war schon dort, riß den Vorhang, auch eine neue Errungenschaft, zur Seite und starrte, und über seine Schulter weg starrte Glück. Da stand Liebedorn wie Adam vor dem Sündenfall im matten Laternenschein in eine Dampfwolke gehüllt, die aus einer ausgewachsenen Zinkbadewanne quoll, schöpfte aus einem großen Faß mit einem regelrechten Holzschaff kaltes Wasser und goß es in die Wanne zu dem heißen. Das heiße Wasser schoß aus einem metallumkleideten dünnen Schlauch, der mit einem Faßhahnen an einem kurzen Rohrspund in der Rückwand des 261
Ofens angeschlossen war. Fast am oberen Ofenrand befand sich ein kurzes und dickes offenes Rohrende, etwas nach oben stehend. An diesem Rohrende hing ihre bisherige Waschschüssel, der Marmeladeeimer. Liebedorns Kleider lagen teils ordentlich auf einem Hocker, teils hingen sie an der Wand. Auf einem Regal am Kopfende der Wanne waren seine Toilettenutensilien aufgebaut. Der Betonboden war mit einem Lattenrost bedeckt. „Bitte, den Vorhang zu schließen!“ sagte Liebedorn im liebenswürdigen Tone eines Mannes, der weiß, daß er aufrichtig bewundert wird. Die beiden Zaungäste drückten sich schleunigst vollends hinein. Ohne sich im Wasserschöpfen stören zu lassen, ließ sich der Badedirektor zu einer kurzen Erklärung herbei: In der oberen Hälfte des Ofens sei ein Wasserbehälter mit rund 150 Liter Fassungsvermögen eingebaut. Die ursprünglichen Rohrleitungen seien leider nicht mehr vorhanden gewesen, der Anschluß fürs Bad habe daher behelfsmäßig hergestellt werden müssen. Durch das obere Rohrstück müsse der Boiler von Hand gefüllt werden; es könne mit einem dicken Korken verschlossen werden und diene zugleich als Dampfüberdruckventil. Der Eimer sei aufgehängt, um überquellendes kochendes Wasser aufzufangen. Das Abflußrohr der Wanne war durch die Mauer in den kleinen Graben hinter dem Schuppen geführt worden. „Ultrasuperkomfort“, stellte Glück fest. „O mei, o mei! Dös gibt a Hetz“, meinte Schepperl, „bals unsa Reiberhöhl’n amoi ausheb'n.“ Liebedorn pfiff überlegen „was kann der Sigismund dafür, daß er so schön ist“, prüfte mit dem großen Zehen die Wärme des Wassers, drehte den Faßhahn zu und stieg hinein, hörte zu pfeifen auf und sagte: „Einer könnte mich nachher mal den Rücken schrubben.“ Ein Telefon klingelte. Glück ging, seinen Dienst machen. Schepperl sagte: „Schrubbma glei an Buckl. Mir wird's z'hoaß herin.“ In den Kleidern konnte man das Dampfbad wirklich nicht aushalten. Mitten in seiner Arbeit brach er mit aller angestammten
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Art und platzte mit einer direkten Frage heraus: „Geh weita, Sigi, sag halt, wo d'as herhost?“ „Besser du weeßt et nich“, antwortete Liebedorn bedächtig. „Du kannst det dann mit jutem Jewiss'n beschwörn.“ „Do feit si nix, aa wanns d'ös sogst.“ Aber Liebedorn schüttelte den Kopf. „Vom Stabszahlmeister eppert?“ fragte Schepperl. „Nee Mensch! Wat denkste. So'n Ofen mit Bad. Von wejen Zahlmeester? Viel höher!“ Schepperl fragte nichts mehr. Er schrubbte ganz demütig. Bis ihm etwas einfiel. Woher denn das viele Wasser zu all dem Luxus käme? Er werde nicht damit behelligt, beruhigte ihn Liebedorn, es werde nach Bedarf in einem Faß aus dem Dorfbrunnen gebracht. Da war's der Schepperl Josef vollends zufrieden. Wenn baden auch kein allzu dringendes Bedürfnis für ihn war, so alle drei, vier Wochen „kunnt ma scho amoi a hoaß Wasser aa vatrag'n.“ Liebedorn war gerade wieder angekleidet, als sein Besuch kam. Nina Feodorowna Pokowa und ihre Schwester Tamara Feodorowna. Gruschkin brachte sie. Er brachte noch mehr: zwei Hammelkeulen und zwei Flaschen Wodka. Und die Russinnen hatten in einem Korb Geschirr und Bestecke und ein großes eisernes Kasserol. Liebedorn war entzückt von den Teetassen und der schönen weißen Hand, die ihm das echte chinesische Porzellan zeigte, und er war enttäuscht, daß Glück diese Hand und die Tamaras schon als guter Bekannter drückte. Von dieser Bekanntschaft hatte der Heimtücker nichts verraten. Klar, weil er die Konkurrenz gefürchtet hatte. Sie tranken zusammen Wodka aus kleinen Wassergläsern zum Willkomm. Dann ging's ans Kochen und Braten. Liebedorn entfaltete in der Unterhaltung der Besucherinnen Kurfürstendammwitz und Kavalierstemperament in so ungeahntem Maße, daß Glück, der durch seinen Dienst stark behindert war, immer düsterer dreinsah, zumal ausgerechnet heute seit den Abendstunden mehr Verkehr über M. P. ging, als die letzten Tage zusammen.
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Schepperl löste ihn ab. Er mache sich nichts aus Weibern, brummte er. Seiner Anni könne doch keine das Wasser reichen. Und um zehn beginne seine Partie sowieso. Glück holte zum ersten Mal, seit sie von Malenka Russkinaja Besitz ergriffen hatten, das Akkordeon aus dem Kasten, begann mit einem überlegenen Seitenblick auf den schönen Sigismund mit dem Schlager „Du hast Glück bei den Frau'n, bel ami“ und war überzeugt, Liebedorn auf den zweiten Platz verwiesen zu haben. Bald darauf ging die Türe auf. Kuficke kam. Mit avec. Das avec war eine Rotkreuzhelferin aus dem Soldatenheim, Brustumfang 155. „Saggera“, bewunderte Schepperl rückhaltlos, „deh hot Hoiz vor da Hütt'n!“ „Wir werden anbauen müssen“, flüsterte Liebedorn. Marieke war so wenig empfindsam wie ihr Hummel-Hummel. Sie duldeten auch beide, daß Schepperl ihr mal zur Probe auf die Schinken klopfte und feststellte, daß sie ein prima Gstoi habe, grad wie seine Alte. Jetzt stinkte er ihm doch, daß er Pfundshammi, er damischa, zwei Stunden Dienst übernommen hatte, die ihn einen Dreck angingen, und anschließend selber an der Reihe war. Als, trotz seines Protestes, über den von ihm verhüteten Anschlag auf den Zug der Großkopfeten gesprochen wurde und Marieke naiv fragte, ob die Partisanen in dieser Nacht auch wieder sprengen würden, sagte er: „Mr wollens net hoff'n, aber Gott geb's.“ Das Gelächter war allgemein. Im Krieg wurden auch über Tragödien Witze gemacht, sie waren sonst zu schwer verdaulich. Am belustigtsten war Tamara. Sie war Medizinstudentin und sprach fast so gut deutsch wie ihre Schwester. Das Essen war fertig. Sie setzten sich zu Tisch. Ein Platz war zu wenig, Schepperl mußte im Stehen essen. Er meinte, es mache ihm nichts aus, er müsse sowieso dauernd rennen. Außerdem stellte er sich dicht hinter Marieke und sah ihr über die runden Schultern. Sie hatte die Strickweste ausgezogen und er hatte aus der Vogelschau eine prachtvolle Aussicht in die Bluse. Von Zeit zu Zeit legte er dann angeregt freundschaftlich die Pratze an ihre Hüfte. Auch Telefon und Zugmeldebuch mußte er stehend bedienen. Jedesmal, wenn er hinausging und wenn er wieder 264
hereinkam, tätschelte er Marieke zum Abschied und zur „Wiederbegrüßung irgendwo. Das war ja kein Treubruch, wo sie doch genau wie seine Anni war. Kuficke achtete nicht so sehr auf Marieke, der die animalische Atmosphäre Röte auf die heiteren Pausbacken trieb, und je satter er wurde, um so grüblerischer ging sein Blick fast unausgesetzt über die Holzwände und Fenster, den Fußboden und die Decke. So etwas von Ähnlichkeit war ihm noch nicht vorgekommen! Wenn er nicht genau gewußt hätte, daß es sich nur um die Innenverschalung eines Steinhauses handelte, das ein wuchtiges Strohdach trug, hätte er geschworen, sich in der verschwundenen Stabszahlmeistervilla zu befinden. Und dann hörte er mit vollem. Munde zu kauen auf — sie war es auch! Unbedingt war sie es, trotz der kleinen Veränderungen! Er sah Schepperl an und warf dann einen vielsagenden Blick um sich herum. „Junge, Junge“, hauchte er. Und als er sich ein wenig erholt hatte, fügte er hinzu: „Ik gloobe, ihr bringt et fertig, eenem General dat Pferd unterm Hintern wech zu klauen.“ Klar. Und dann lüden sie ihn noch zum Gulasch ein. Guratschewo bot einen Zug an. Schepperl wollte eben im Bahnhof anfragen, ob er ihn durchfahren lassen könne, als das Telefon klingelte. „Abzweigstelle Kloa-Scheißkram“, meldete er sich. Eine unbekannte Stimme sagte: „Hier spricht Oberreichsbahnrat Halden.“ „Hier spricht Betriebswart Schepperl Josef. Gengen S' weg vo da Stripp'n. I brauch d'n Fahrdienstleiter.“ „Können Sie das nicht ein wenig höflicher sagen?“ „Naa. Dienst is Dienst.“ „So. Ja. Dann bitte einen Augenblick.“ Da war auch schon Funke. „Bist du's, Sumpfbiba? Lass di griass'n, oide Hütt'n. — Kannst an Zug brauchen? Guat. Wann'r kimmt, is 'r do.“ Kaum hatte er aufgelegt, klingelte der Apparat wieder. Diesmal war's der Bahnhofsvorsteher. Er solle mal rüberkommen. Der Herr General und die Herrn aus Minsk wollten ihn kennen lernen und lüden ihn zu einer kleinen Feier ein in den Salonwagen des Dienstzuges. 265
Das gehe nicht, sagte Schepperl, er habe Dienst. Es solle ihn so lang ein anderer vertreten. Das ginge erst recht nicht, sie hätten selber eine Feier. „Aber Schepperl! Wenn so hohe Vorgesetzte wünschen, daß Sie ihnen vorgestellt werden, so ist das doch ein Befehl und eine Ehre für Sie!“ „Üch brauche koine Ehre nücht“, flötete Schepperl in seinem liebenswürdigsten Hochdeutsch. „I hätt ka Zeit net, sag'n S'. Morgen kimmi dann scho. Und's nächste Moi lass i d'Mina liag'n, wann ma bloß so a Gfrett hot davo.“ Der Bahnhofsvorsteher gab keine Antwort mehr und Schepperl beteiligte sich gutgelaunt wieder an den Freuden der Tafel und der Unterhaltung. Kuficke hatte Zigarren und Zigaretten mitgebracht und ein kleines Quantum Zucker. Die erste Flasche Wodka ging zur Neige. Die Stimmung hatte bereits jene Stufe erreicht, auf der sich das Naturmenschliche zu entfalten beginnt. Nina Feodorowna war am stillsten. Liebedorn hing an dem schönen Antlitz mit immer feuchter glänzenden Augen und trank den Klang ihrer Stimme wie Rauschgift in das schmerzlich glückliche Herz. Er sah aus wie ein trauriger Clown. Gruschkin sang mit gewaltigem Baß ein Lied, während die Frauen den Tisch abdeckten und ihn dann in den Schlafraum stellten, damit man sich freier bewegen konnte. Das Lied hatte einen Trinkrefrain, in den Nina und Tamara einfielen, jedesmal mußte dann ein anderer Gast mit allen Gastgebern anstoßen und Bruderschaft mit ihnen trinken. Die Russinnen umarmten die Männer in lustiger schwesterlicher Weise, Marieke mit verlegenem Kichern. Glück spielte einen Rumba. Tamara begann zu tanzen. Das feurige spanische und das wilde slawische Temperament trafen sich in dem aufpeitschenden Rhythmus. Tamara tanzte ihn russisch. Wie ein Kosak tanzte sie ihn, die Röcke bis an den Bauch hebend. Die anderen klatschten in die Hände. Gruschkin stampfte mit den Stiefeln, daß die ganze Hütte wie eine Riesentrommel zwischen den Mauern dröhnte. Liebedorn atmete mit offenem Munde, preßte seinen Mund auf Ninas Schultern und stammelte verliebte Worte. Sie wandte ihm den Kopf zu, ihre großen, dunklen, ruhigen Augen hielten seinen 266
Blick fest, ernst sagte sie, während ihre Hände nicht aufhörten, den Takt des Tanzes zu klatschen: „Vergiß nicht, Brüderchen, daß ich Gattin bin. Und Russin.“ Glück spielte, wie er noch nie gespielt hatte. Seine Augen brannten unter den schwarzen Brauen. Kaum war er von Hella geheilt, war er wieder krank. Von Tamara. Er war wütend darüber. Seine zynische Überlegenheit war zerstoben. Er war wieder ein wehrlos seiner Leidenschaft verfallener Hanswurst. Sie würde ihm nun Tag und Nacht keine Ruhe mehr lassen. Sein Spiel wurde immer wilder, so wild wie sein Herz. Und Tamara tanzte hemmungslos. Dämonisch. Er empfand die Gefährlichkeit des Mädchens. Aber er würde diese Lippen küssen und wenn es ein tödliches Abenteuer war! Marieke starrte mit offenem Munde und preßte selbstvergessen Kufickes Hand, obgleich sie an einer Stelle lag, wo sie nach den Regeln gesellschaftlichen Benehmens nicht hingehörte. Sie duldete auch den Arm Schepperls, der, nur weil sie seiner Anni so gleich war, mit zärtlichem Druck um ihren Nacken lag. Liebedorn war mit schwermütigem Lächeln aufgestanden, öffnete die Türe, weil es vor Hitze nicht mehr auszuhalten war. Da blitzte ihnen Gold entgegen. Goldene Adler und Flügelräder, goldene Mützenkordeln, goldene Passanten, Rosetten und goldene Knöpfe auf blauem Tuch. Die Musik brach ab, die Hände hörten zu klatschen, die Füße zu stampfen auf, Tamara aber sprang und schnellte und wirbelte noch eine ganze Weile weiter, ehe sie mit einem schrillen Schrei plötzlich wie angewurzelt stand. Ihr schmales Antlitz war eine Flamme. Liebedorn erinnerte sich seiner Hausherrnund Dienstvorsteherpflicht, fuhr in seine Jacke und ging den hohen Besuchern entgegen, die noch immer im Gang vor der Türe standen, bat sie einzutreten. Seine Verlegenheit gab seinem Gesicht einen so komischen Ausdruck, daß Halden lachend die Hand ausstreckte: „Na, Herr Sekretär, Sie sind wohl nicht sehr erbaut von unserem Besuch? Wir werden nicht lange stören. Aber weil es unser Freund Schepperl für eine Belästigung hielt, zu mir kommen zu müssen, mußte ich's eben umgekehrt machen. Wir
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fahren nämlich heute nacht schon weiter und ich wollte ihn doch wenigstens mal sehen und ihm die Hand schütteln.“ Halden hatte die Mütze abgenommen und trat nun ein, gefolgt von einem Reichsbahnrat und zwei deutlich als Zugführer und als Lokführer zu erkennenden Kumpeln. Schepperl konnte nicht mehr anders, er löste den Arm von Mariekes Nacken und stand auf, ließ sich die Hand schütteln. „Kamerad Schepperl“, sagte Halden, „wir sind eine Abordnung des ganzen Zuges und auch im Auftrag des Generals und seiner Offiziere. Sie wissen warum. Ich will keine großen Worte machen. Einer Auszeichnung können Sie nicht entgehen. Und wenn Sie einmal einen brauchen, der Ihnen hilft, dann kommen Sie zu mir.“ Schepperl sah etwas beschämt in das auffallend rosig glatte, heitere Gesicht. Er packte in der Erregung, die ihn trotz seiner sonst so standhaften Widersetzlichkeit jetzt ergriffen hatte, fester zu, als für Halden angenehm war. „'ntschuldigen S' halt, Herr Oberrat“, sagte er. „Ja dös, wann i g'wußt hätt', daß ihr bei der Direktion so gführige Manna seids, nacha war i scho zuiwikemma.“ Halden lachte von Herzen. „Nichts zu entschuldigen! Ihre Weigerung war vollauf berechtigt. Sachlich betrachtet, weil derjenige, welcher sich bedanken will, zum andern zu kommen hat und menschlich betrachtet, weil man eine so — herzhafte Gesellschaft“ — sein lachendes Auge ruhte dabei auf Mariekes strotzender Fülle — „selbstverständlich nicht gerne verläßt.“ Sie gaben der Reihe nach Schepperl die Hand. Es wurde zu eng in der Stube; Gruschkin grüßte höflich und ging hinaus. Halden sah ihm einen Augenblick nach. „Seid vorsichtig mit den Russen“, flüsterte er Liebedorn zu. Tamara hörte es; sie war im gleichen Augenblick unerwartet neben die beiden getreten, weil dort ihr Glas stand. Sie hob das Glas gegen Halden, kippte den Schnaps in die Kehle und sagte lächelnd: „Wenn Vorsicht nützen! Nicht geben bessere Vorsicht, als haben Freundschaft von russische Frau.“ Halden nahm ihr das Glas aus der Hand, schenkte sich aus der Wodkaflasche selbst ein, trank ihr zu und dann antwortete er in heiterem Tonfall nur vier Wörtchen: „Freundschaft — auf wie lange?“ 268
Die Abordnung war nicht mit leeren Händen gekommen. Sie brachte eine Ehrengabe mit: Eine Flasche echten französischen Kognak und ein Kistchen mit Zigarren und Zigaretten. Schepperl brummte. Der Lokführer beruhigte ihn: Der Kognak sei von den Großkopfeten, auch die Zigarren und wegen der paar Zigaretten dürfe er die Kameraden nicht kränken. Natürlich durften die Besucher jetzt auch nicht gleich wieder gehen. Sie mußten die Flasche Kognak erst noch mittrinken. Sie zogen ihre Mäntel aus. Schepperl und Liebedorn hängten sie in den Vorraum. Die beiden Koppel mit den Pistolen und die beiden Gewehre blieben in der Stube. „Viele Waffen!“ lachte Tamara wie ein ungezogenes Kind. „Viele Waffen, viel Angst!“ „Dummkopf“, sagte Halden. „Russen nicht Dummköpfe!“ fuhr Tamara hoch. „Gewiß nicht alle“, sagte Halden und verbeugte sich vor Nina Feodorowna. „Ich habe jedenfalls ein ganz tolles Stück erlebt“, sagte der Lokführer und erzählte. Es war vier Wochen her. Sein Zug entgleiste kurz vor Smolensk. Auf hundert Meter waren sämtliche Schrauben gelöst. „War das dumm?“ warf Tamara ein. Der Lokführer erzählte unbeirrt weiter. Die Partisanen hatten ihn geschnappt und in ein Lager geschleppt. Am nächsten Tag in ein anderes. Am Tage darauf in ein drittes. Und in allen drei Lagern hatten sie ihn über Deutschland und das Leben der Deutschen ausgefragt, die sonderbarsten Dinge wissen wollen. Er hatte sehr gerne und wahrheitsgemäß geantwortet, aber jedesmal hatten sie erklärt, das ist eine Lüge. Und dann hatten sie ihm gesagt: Alles was ihr Deitschen besitzt, habt ihr in Rußland gestohlen. Nichts gibt es in Deitschland, was es nicht zuvor und viel schöner und viel besser in großes russisches Vaterland gegeben hatte. Deitschland schräcklich kleines und armes Land und schräcklich böse Menschen. Und so schmutzig. Nix Seife für außen, nix Wodka für innen. Nix Kultura. Aber kommen und alles nehmen gute, fleißige Russki. Schließlich hatte er wütend gesagt: Dann haben wir nur ein paar kleine Dinge mitzunehmen vergessen — euere Flöhe, euere Läuse und euere Wanzen. Da hatten sie triumphierend ausgerufen: Härrliche große russische Land nix 269
gehabt Flöh, nix gehabt Laus, nix gehabt Wanz. Alles gebracht schmutzige Deitsche in saubere russische Bett zu scheene Paninka. Er hatte gedacht, stell dich so dumm, wie sie sind und gesagt, er habe das nicht gewußt. Und er hatte ihnen versprochen, daß er armes dummes, von seine verbrächerische Regierung belogenes deitsches Volk über gute, kluge Towarischtschi und große russische Wahrheit aufklären werde. Da hatten sie ihn in Wodka fast ertränkt und laufen lassen. Alle lachten. Tamara am lautesten. Nina lächelte nur. Und alle tranken. „Warum dumm?“ rief Tamara. „Russische Propaganda serr klug!“ „Grotesk“, sagte Halden. „In Deutschland würde kein Mensch so dumm sein, auch nur ein Wort davon zu glauben.“ Zum ersten Mal beteiligte sich Nina Feodorowna am Gespräch. „Der arme Teufel von Russe glaubt es nicht aus Dummheit, er will es glauben, der eine aus Haß, der andere, weil es glücklich macht.“ „Ich auch Geschichte erzählen“, rief Tamara. Der Versuch der Schwester, sie davon abzubringen, war vergeblich, zumal die Männer sie natürlich aufmunterten. Und ohne auch nur ein einziges Mal zu zögern, erzählte sie völlig unbekümmert, als handle es sich um einen harmlosen Scherz: Ein KomsomolFunktionär, ein russischer Jugendführer, hatte einer Studentin der Medizin die Ehe versprochen. Er war ein hübscher und kluger Mann und sie hatte bei ihm geschlafen. Sie hatte gesagt: jetzt sind wir verheiratet. Ja, hatte er geantwortet, auf Probe. Nach kurzer Zeit betrog sie der Gatte auf Probe mit einer anderen Studentin, der er ebenfalls die Ehe versprochen hatte, und wenige Wochen später machte er es mit einer dritten so. Als die drei betrogenen Mädchen dahinter gekommen waren, was für ein Bursche er war, wurden sie Freundinnen und kamen überein, sich gemeinsam zu rächen. Eines Abends erwarteten sie ihn alle drei bei der Studentin der Medizin. Sie wollten sich in guter Laune von ihm trennen, sagten sie, und Abschied feiern. Sie küßten ihn gemeinsam und machten ihn betrunken, dann banden sie ihn auf
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das Bett, daß er sich nicht rühren konnte. Und die Medizinerin entmannte ihn kunstgerecht. Tamara lachte, dann fuhr sie fort: „Alle drei bekommen zehn Jahre Kerker, das sein Zwangsarbeitslager. Die Studentin von Medizin hatte nichts als sich selber. Damit bestechen Kommandanten und er helfen ihr Flucht.“ Diesmal lachte sie nicht. Sie starrte an allen vorbei gegen die Wand. Nina Feodorowna sah mit gesenktem Kopf auf ihre Hände. Tamara griff nach der Flasche, schenkte ein, trank das Gläschen aus, warf es an die Wand, rief Glück zu: „Spiele, Towarischtsch!“ Glück war ein Virtuose auf dem Akkordeon, er flocht die Melodien ineinander, Czardas, Fandango, Krakowiak. Und Tamara war eine Virtuosin leidenschaftlichen Tanzes. Immer mehr wandte sie sich dabei Halden zu, sprang ihn einen Augenblick an und tuschelte etwas in sein Ohr. Halden lachte. Glück brach mit einer schreienden Dissonanz ab, warf das Akkordeon Schepperl in die Arme und ging hinaus. Einen Augenblick war peinliche Stille, dann sagte Schepperl entschuldigend: „Dr Hanse hot vui zvui gsuffa.“ Tamara sagte offen, was jeder wußte: „Nein. Ich schuld. Ich versöhnen und bringen zurück.“ Wie ein Wirbelwind fegte sie hinaus. Glück lehnte am Telefonmast. Sterne standen am Himmel und die Luft klirrte vor Frost. Tamara trat dicht zu ihm. Er sah über sie hinweg. In der Ferne heulte durchdringend eine Lok. Wie ein Hilfeschrei war das. Sie faßte mit beiden Händen sein Gesicht und zwang ihn, sie anzusehen. Ihre Augen flimmerten wie die Sterne. Ein Fenster wurde geöffnet, Stimmen wurden laut und Rauch zog heraus. Sie brachte ihr Gesicht dem seinen ganz nahe, flüsterte „Wozu du glauben, Tamara kommen zu dir?“ Er packte eine ihrer Hände am Gelenk, daß sie leise aufschrie. „Was hast du zu ihm gesagt?“ stieß er heraus. Ihren Mund dicht vor seinem Mund antwortete sie leise: „Ich ihn verführen und Zunge beißen ab, weil Dummkopf sagen zu mir.“ Er griff mit der freien Hand in ihr Haar. „Und weißt du, was ich jetzt mit dir machen werde?“ 271
„Natürlich ich wissen.“
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12. KAPITEL
Sie hatten leere Köpfe am anderen Tag. Nicht nur leere Köpfe. Den ganzen Körper empfanden sie wie ausgehöhlt, kein Mark in den Knochen, kein Blut in den Adern. Sie begriffen, was der russische Schnaps bedeutet: Gleichgültigkeit. Wer ein Volk unter Schnaps setzt, knechtet es mühelos. Etwas Schnaps schürte die Kräfte, verbrannte Hemmungen und Überlegungen, entfesselte Mut. Viel Schnaps lähmte Hirn und Willen. Aber selbst mit ihren ausgehöhlten Köpfen begriffen sie auch, was der sibirische Kälteüberfall bedeutete: Das Ende der deutschen Lokomotiven. Das Ende des Betriebes auf den umgespurten Strecken. Das Thermometer am Bahnhofsgebäude zeigte minus 35 Grad Celsius. Im November! Solchen Frostgraden waren deutsche Lokomotiven nicht gewachsen. Schon die Schmiermittel waren für sie ungeeignet. Die Achslager liefen heiß. Ihre frostempfindlichen Speisepumpen und Vorwärmer froren ein. Mußte ein Zug aus irgendwelchen Gründen liegen bleiben, und zwei von drei mußten es, war es meist um die Lok geschehen. Man hätte das Feuer Tag und Nacht nicht ausgehen lassen dürfen, aber Kohle war knapp. Die Tender führten Eis statt Wasser. „Mit den russischen Lokomotiven geht es doch auch!“ mäkelten Militärs, die mit Fachwissen nicht gesegnet waren. Nicht alle ließen sich gutwillig belehren, daß die russischen Lokomotiven für den harten östlichen Winter eben auch besonders konstruiert waren. Sie besaßen zum Beispiel zwei Injektoren, die im Betrieb viel weniger empfindlich waren, als der eine der eingesetzten deutschen Lok. Warum ist der Winterschutz nicht besser vorbereitet, nicht rechtzeitig durchgeführt worden? Natürlich waren entsprechende Anweisungen ergangen, aber dieser Winter kam so plötzlich und so heftig, wie selbst hier im 273
Osten seit Menschengedenken nicht. Und mit theoretischen Anweisungen fängt ein Eisenbahner gar nichts an, wenn er nicht auch die praktischen Mittel erhält, sie durchzuführen. Wo aber blieben die angeforderten Lokersatzteile? Die Luftpumpen, Speisepumpen und Schmierpumpen? Die Vorwärmer? Die Dampfstrahlpumpen? Wo blieben die Lokgeräteausrüstungen, die Schlosser- und die Kesselschmiedewerkzeuge? Was nützte es, daß ein bevollmächtigter General des Transportwesens herumfuhr und befahl: Es muß gefahren werden! Hatte er die technischen Mittel mitgebracht, den Kältetod der Lokomotiven zu verhindern? Die Erstarrten wieder ins Leben zurückzurufen? Mußte es sie nicht verbittern, statt begeistern, wenn einer von seiner, ihren Entbehrungen und Mühsalen und Gefahren entrückten Höhe herab glaubte, an ihr Pflichtgefühl appellieren und sie zu größerer Leistung anspornen zu müssen? Leisteten sie denn nicht aus eigenem Antrieb, aus eigener Erkenntnis der Notwendigkeit das Menschenmögliche? Für die fachlichen Ratschläge und Hinweise des Maschinendezernenten und sein Versprechen praktischer Hilfe im Rahmen der bei der Direktion anfallenden Mittel war man dankbar gewesen. Aber dieser Hilfe bedurften alle Betriebswerke und zunächst waren einmal zwei Drittel der Lok unbrauchbar geworden. Unablässig mußten Ersatzlok auf die Strecken geschickt werden, um die liegengebliebenen Züge zu holen und dann kamen sie wieder nicht weiter und verstopften die Bahnhöfe. Auftaustände wurden aus dem Boden gestampft, aber das Auftauen behob die entstandenen Schäden nicht. Den Schäden mußte vorgebeugt werden, aber wie? Hunderte von Händen befreiten die Lokomotiven vom Eispanzer, umwickelten die Außenteile des Kessels, die Rohr- und Kabelleitungen mit dicken Bandagen oder um die hinteren zwei Drittel der Lok, bis hinab zum Triebwerk und an den Führerstand, wurde ein vollständiger Holzverschlag gebaut mit einer verschließbaren Einstiegluke zu jenen Teilen, die laufend der pflegenden Hand bedurften. Das Kleeblatt der Abzweigstelle Klein Russkinaja hatte nichts mit der Lok zu tun und doch tat ihnen das Eisenbahnerherz weh, wenn sie in diesen Tagen auf den Bahnhof kamen und die gemarterten Loks samt ihren Tendern überschneit und mit Eis 274
behangen stehen sahen, ein Dutzend, zwei Dutzend, vom Winter geschlagen. Aber nicht nur die Maschinen, auch die Gleise und Weichen machten mehr zu schaffen als je. Die Partisanen brauchten sie nicht mehr zu sprengen. Das besorgte der Frost, das Eis. Frostbeulen, wie Maulwurfshügel so groß, hoben an hundert Stellen die Schienen, verbogen sie zu Schlangen, zerbrachen sie. Gewiß waren die Rotten sofort da, aber es gab Verzögerungen ohne Zahl, Aufenthalte über Aufenthalte. Die Loks erstarrten oder sie verbrauchten Kohle und Wasser an Ort und Stelle und erreichten die Ziele nicht mehr, wo sie neu bekohlt und bewässert werden konnten. Nun hatte man auch die zweigleisige Strecke über Karasiny mit dem großen Damm durch die endlosen Wälder nach Oglewsk besetzt und in Betrieb genommen. Sie war von größter Bedeutung, eben weil sie nicht umgespurt war und mit den frostsicheren russischen Lokomotiven befahren werden konnte. Für das Kleeblatt M. P. gab es mehr Arbeit. Auch das zweite Telefon war nun in Betrieb, ein weiteres Zugmeldebuch aufgelegt worden. Das tat ihrer guten Laune keinen Abbruch. Im Gegenteil, sie wußten sich erst jetzt voll beschäftigt und fühlten sich in ihrem Selbstbewußtsein gehoben. Etwas anderes machte ihnen mehr zu schaffen. Die Kälte ließ nach und es schneite wieder. Auch der Schnee wäre noch nicht schlimm gewesen, aber der Wind. Er trieb ihn in Wolken vor sich her, türmte ihn vor Hindernissen, riß ihn wieder hoch und warf ihn in mannshohen Bergen auf die Schienenstränge. Schnee wälzte sich in schweren Wogen über die Gleise, verschüttete die Weichen, deckte die Signale zu und der Wind preßte ihn fest. Schnee begrub die Bahnhöfe, die Strecken. Hunderte, Tausende, Zehntausende arbeiteten, soweit die Bahnen reichten. Gleich ob Rottenarbeiter oder Handwerker im Bw, ob Weichenwärter oder Fahrdienstleiter, ob Stellwerksmeister, Lademeister oder Rangierer. Lokführer, Heizer, Zugführer und Schaffner griffen zu Hacken und Schaufeln, der Dienstvorsteher stand neben dem Bua und schippte. Landser wurden kommandiert, Kriegsgefangene eingesetzt, die Bevölkerung dazu, Soldaten rückten aus liegengebliebenen Transporten an. 275
Schneezäune! Woher nehmen? Aus dem Ärmel schütteln? Sie waren anderweitig verwendet worden. Oder sie waren verbrannt. Von den Landsern, von den russischen Truppen, von der Bevölkerung. Auch von Eisenbahnern! In den Lokomotiven. In den Öfen der Waggons. In den trostlos kalten Löchern, die ihre Quartiere waren. Warum hatte man nicht rechtzeitig Ersatz beschafft? Weil man schon alle Köpfe und Hände voll zu tun gehabt hatte, um der bisherigen allgemeinen Betriebsschwierigkeiten Herr zu werden, um den Betrieb erst einmal richtig aufzubauen, zu regeln und gegen alle Tücken des Objekts und des Feindes aufrecht zu erhalten. Auch bisher hatten schon jeder Tag und jede Nacht ihre eigene Sorge und Plage gehabt. Dennoch war auch mit der Herstellung von Schneezäunen begonnen worden. Aber dazu brauchte man erst recht die russischen Hände. Schließlich konnten die nicht gleichzeitig überall sein. Und sie konnten überhaupt nirgends mehr sein, wenn man sie fortholte. Nach Deutschland oder sonstwohin. Außerdem waren Hände wenig willig, wenn man die Menschen, die sie rührten, als Minderwertige behandelte und sie waren kraftlos, wenn sie schlecht genährt wurden. Dann hatte man Schneezäune, aber nicht jeder wußte, wo sie aufgestellt werden mußten. Da gab es physikalische Gesetze und wenn sie nicht beachtet wurden, war es gerade der Zaun, der die Schneetrift auf die Gleise lenkte. Der Himmel wurde wieder blau. Es gab sternklare Nächte. Das Thermometer sank auf 40 Grad unter Null. Der Schnee war besiegt, nun löste ihn die Kälte wieder ab. Der Betrieb fror ein. Man war im Freien durch die Schutzhüllen in der Arbeit behindert und man konnte sich trotz der Schutzhüllen nicht lange der Kälte aussetzen, wenn man nicht Erfrierungen und maßlose körperliche Qualen erleiden wollte. Auch die Front fror ein. Mit bis auf die Augen vermummten Köpfen und mit Händen, die mit Woilachfetzen oder Stücken wattierter Russenjacken umwickelt waren, konnte man nicht kämpfen. Auch nicht mit festgefrorenen Gewehrschlössern, auch nicht mit Panzern, deren Munition verschossen war, und nicht mit 276
Maschinenwaffen, die infolge Fettverdickung an chronischer Ladehemmung litten. Der Landser konnte in seinem fadenscheinigen Mäntelchen nicht im Freien liegen, er mußte sich in die Häuser verkriechen oder in die Bunker unter die Erde. Die Russen lagen stundenlang im Schnee und es störte sie so wenig wie Eskimohunde. Wenn sie Lust hatten, konnten sie sich zwischen den Orten, in denen sich die Deutschen vor ihrem schlimmsten Gegner, dem Winter, schützten, spazierengehn. Die Front wich nicht, aber sie löste sich vielfach in Stützpunkte auf. In Igelstellungen. Gegen die dünnen Sicherungslinien dazwischen rannte der Russe an. Dann war er plötzlich irgendwo hinten, tauchte auf der Strecke auf und liquidierte einen Zug. Oder er stattete einer Station einen Besuch ab, sprengte zuerst die Lokomotiven, dann Weichen, Betriebseinrichtungen und Gebäude, und wer von den Eisenbahnern nicht rechtzeitig entkommen war, wurde erschossen, erschlagen oder in Gefangenschaft geschleppt. Der Nachschub stockte. Tage genügten, dann begann es an allem zu fehlen. Die Rationen wurden verkleinert, da und dort fielen sie ganz aus. Die motorisierten Kolonnen lagen genau so lahm wie die Bahn. Drei Viertel aller Kraftfahrzeuge waren am laufenden Band in Reparatur und zur Reparatur fehlten bei der Hälfte der drei Viertel die Ersatzteile. Die Motoren des vierten Viertels erstarrten im Frost. Neben der Bahn und auf den weißen Straßen zogen endlose Karawanen von Horizont zu Horizont: Pferdebespannte Truppenfahrzeuge und Panjeschlitten, Bauernfuhrwerke mit Ochsen davor, Ackerwagen, zu dreien und vieren hinter Traktoren gekoppelt, Handschlitten und Handwagen, geschoben und gezogen von Landsern, russischen Weibern und Kindern. Sie holten das Allernötigste herbei, 30, 50, 100 Kilometer weit. Wo die Front nicht zu fern und die Sicht klar war, tuckerten die Ratas an, warfen kleine Bomben, meckerten mit Maschinengewehren, bummerten mit Bordkanonen. Die Eisenbahner ballten die Fäuste gegen den Winter. Aber nicht in der Tasche, sondern um ihre Hacken und Schaufeln, um ihre Werkzeuge, um die Schienenbrücken, die man über die Brüche schraubte, eine Erfindung des Lokführers Wagner vom Bw. Molodeczno, um die zusammengeeisten Kupplungen, um die 277
Behelfsöfen, mit denen man die eingefrorenen Wasserkrane auftaute, unter denen meterhohe, kopfdicke Eisspargel hochwuchsen und um die herum eine Eisbahn die Geleise bedeckte. Sie arbeiteten Tag und Nacht. In den Betriebswerken qualmten und dampften die Lock wieder, wurden vor die wartenden, enteisten Wagenschlangen gespannt und auf den Strecken rollten wieder die Räder. Die Heeresberichte waren bescheiden geworden. Von Riesenschlachten, von Monstersiegen, von einer Völkerwanderung der Gefangenen, Zersetzungserscheinungen in der Roten Armee, letzten Divisionen des Gegners, jubelndem Empfang der deutschen Befreier durch das russische Volk war nicht mehr die Rede. Und doch war die Leistung, daß nun die Front nicht zusammenbrach, vielleicht die größte und bewundernswerteste des ganzen Krieges. Daß unter Kampfverhältnissen, die bei Armeen anderer Völker wahrscheinlich Panik ausgelöst haben würden, noch angegriffen wurde, war genau so ein deutsches Wunder wie in den wenigen Jahren die Ausbildung, Ausrüstung und Beseelung einer Wehrmacht, die dazu fähig war. Zu Beginn des November war der Zugang zur Krim noch erkämpft, der Oberlauf des Donez überschritten und am Wolchow die Lage gefestigt worden. Im Donezbecken hatten sich auch die italienischen Verbände weiter vorwärtsgekämpft. Südlich Tula wurde eine angreifende russische Kavalleriedivision zerschlagen und jetzt hieß es: Im Mittelabschnitt wurden Gegenangriffe des Feindes abgewiesen, die Operationen im Donezbecken fortgesetzt und Feldstellungen zäh verteidigt. Die Waffen-SS nahm Rostow. Die Bevölkerung fiel ihr, sich am Kampfe beteiligend, in den Rücken. Es gab ein Blutbad. Überall, gleich auf welchem Kriegsschauplatz und gleich zwischen welchen Gegnern, hätte es dieses Blutbad gegeben. Die Engländer, die Amerikaner, jede andere Truppe irgend eines Staates auf der Welt hätte es genau so angerichtet, aber jetzt verdrehten ihre Zeitungen und Sender die Tatsachen und die Augen und flehten Gottes Strafgericht auf die deutschen Mordbestien herab. Von russischen Mordbestien war nicht die Rede.
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Die feindliche Propaganda stieß Siegesfanfaren aus. Die Engländer, deren geschlagener, flüchtender Armee Hitler in seiner kindlichen Hoffnung, doch noch eine vernünftige und objektive Haltung der Downingstreetmachthaber gewinnen zu können, großmütig erlaubt hatte, über den Kanal zu entkommen, deren preisgegebene Insel er darum auch zur Zeit ihrer größten Schwäche unangetastet ließ, überboten sich in Hohn und Beschimpfungen, schwelgten in Rachewonnen. Weshalb? Was hatte Deutschland jemals den Engländern getan? Der Winter macht den Germans den Garaus! jubelten sie. Sie werden niemals zurückkommen! Und dennoch fuhren die Züge wieder. Sie fuhren durch die Bezirke der Haupteisenbahndirektionen, sie fuhren auf den Strecken der Feldeisenbahner, sie fuhren bei den Eisenbahnpionieren bis ins Niemandsland. Der Nachschub war wieder da! Verpflegung, Munition, Waffen, Geräte, Ersatzteile. Winterausrüstung — ein Anfang. Und Soldaten! Deutsche, ungarische, italienische, rumänische Truppen. Frontlücken wurden aufgefüllt, Durchbrüche abgeriegelt. Dazu stimmte die Partei die geistloseste aller Litaneien an: Wir werden siegen, weil wir siegen müssen! Wenn wir diesen Krieg verlören, hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren! Phrasen, Phrasen, Phrasen! Es waren schon viel gewaltigere Reiche untergegangen. Aber die Front bannte die Gefahr. Die fluchende, wütende, verbissene Gegenwehr des Landsers, der Unteroffiziere und Offiziere dieser in den Urkampf des Lebens mit allen Qualen und allen Schrecken und Todesnöten zurückgeschleuderten Haufen. Und hinter der Front bannte der Eisenbahner die Katastrophe, der kleine Eisenbahner in Grau und Blau. Der kleine Eisenbahner auf den Lokomotiven, auf den Streckengängen, auf den weltverlorenen kleinen Stationen und Blockstellen, in den Betriebswerken. Sie standen und wichen nicht, trotzten dem Winter und allen Gefahren, nicht abstrakter Ideale wegen, sondern einfach, weil sie Männer waren und für Deutschland standen, dessen Herz in ihnen schlug. Für das Leben des Reiches, in dem ihr Leben wurzelte, das Leben ihrer Frauen und Kinder. 279
Lokomotiven waren so wichtig wie Panzer. Daß die Räder rollten, war nicht weniger notwendig, als daß die Kanonen schossen. Kohle so wichtig wie Munition. Und die Dienststelle des Kohlekommissars im Reich, die sie den Bedarfsträgern zuteilte, schickte den Ramsch nach dem Osten. Sie war schlechter, als die schon übel genug verschlackende, durch die Roste fallende russische Kohle, die man mit Öl tränken mußte. „Blumenerde“ sagten die Eisenbahner. Reichsbahnrat Dr. Dornberg schleppte den bevollmächtigten Transportgeneral zu den Kohlenhalden in Minsk, hielt ihm eine Handvoll unter die Nase und höhnte, inwendig bebend vor Zorn: „Wir wollen doch keine Gärtnereien anlegen, Herr General, sondern Lokomotiven heizen!“ Gewiß, der General war nicht schuld daran, aber vielleicht war er schuld daran, daß sich nichts änderte. Also luden die Eisenbahner, wie in den Anfangstagen des Ostfeldzuges die Stapel russischer Schwellen auf die Tender und warfen sie in die Feuerungen. Das gab Dampf! Natürlich sollte man es nicht tun. Später brauchte man die Schwellen und dann waren sie fort. Aber es hatte keinen Sinn, an das Morgen zu denken, wenn man das Heute nicht meisterte. Die Räder mußten rollen für die armen Teufel da vorne in Eis und Schnee, Kugelregen und Trommelfeuer. Mehr als von der Hand des Russen fielen von der Hand des Winters. Auf eine Verwundung kamen zehn Erfrierungen, auf einen Gefallenen drei Erfrorene. Da lagen sie draußen zwischen den Stellungen, schrien um Hilfe, brüllten vor Qualen. Lagen sie nicht in voller Deckung, machten sie Maschinengewehrgarben stumm, lagen sie aber ein paar Stunden, tötete sie der Frost. Und wenn die Kameraden versuchten, sie zu holen, brachen sie unter den Kugeln der feindlichen Scharfschützen zusammen. Nicht nur bei den Landsern vor dem Feinde, auch im Hinterlande, auch unter den Eisenbahnern hielt der Kältetod seine Ernte. Wer draußen im Schneesturm keinen Schutz fand, wer sich im Nebel verirrte und vor Müdigkeit einschlief, wer, von Partisanen angeschossen oder stundenweit in die Öde gejagt, vor Erschöpfung liegen blieb, schlug nie wieder seine Augen auf. Und kroch einer stundenlang durch den Schnee und hatte er endlich 280
unter grausamen Qualen einen Ort der Hilfe erreicht, dann war er mit erfrorenen Händen, Knien, Füßen zum Krüppel geworden. Das Eisenbahnertrio von Malenka Russkinaja aber saß in seinem polarsicheren Bau, dessen äußerer Eingang inzwischen ebenfalls eine Türe erhalten hatte. Es steckte die Nasen nicht öfter und nicht länger ins Freie hinaus, als zur Bedienung der Weichen und Signale nötig war. Ihr Posten, zwischen zwei nicht allzufernen, militärisch gesicherten Punkten, dem Bahnhof und der Brücke gelegen, erschien ihnen auch nicht durch Partisanen gefährdet. „Wenn sie aus ihrer Geborgenheit heraus an die Kollegen in der Unheimlichkeit der einsamen Weiten und Wälder dachten, überkam sie ein wohliges Gruseln und etwas wie Schamgefühl, als ob es eine Schuld wäre, daß ihnen ein besseres Los zugefallen war. Nicht nur so ganz zugefallen, auch mit Wagemut, praktischer Erfahrung, Begabung und Instinkt verbessert. Mit der Bevölkerung standen sie auf gutem Fuße, auch mit den Zigeunern. Wo man ihre Hilfe brauchte, halfen sie, und wenn sie Hilfe brauchten, war sie da. Sie stillten manchen Hunger, wenn auch meist nur mit Hirse und einem Stück Brot ab und zu. Leben und leben lassen, war der Grundton ihres Wesens. Wir sind alle Menschen und jeder möcht' ein bißchen Glück. Und auf dem Umweg über einen halben Liter Petroleum brachten sie viel Freude in elende Hütten. Sie waren überzeugt, sich in der näheren Umgebung und in Malenka Russkinaja, dem endlos verstreuten Dorf, ohne Sorge bewegen zu können. Gruschkin, der stets zu jeder Hilfeleistung bereit war, der von ihrer Sprache noch immer nur wenig kannte und sie trotzdem verstand, sah häufig bei ihnen vorbei. Oft kamen Zigeuner, auch der Alte selbst, und nie wurde etwas gestohlen. Viele von ihnen hatten Arbeit auf dem Bahnhof und auch im Betriebswerk gefunden. Von Zeit zu Zeit saßen auch Nina und Tamara auf der Bank am Ofen, buken Süßigkeiten, der Samowar brodelte leise und sie tranken Tee zusammen aus dem chinesischen Porzellan. Dann hatte Liebedorn glänzende Kinderaugen und ein Herz voll bittersüßer Empfindungen. Er entdeckte, daß sein Name in
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Beziehung zu seinem Wesen stand, daß er seine Bestimmung, sein Kismet bedeutete. Auch Glück war kein glücklicher Liebhaber. Wenn nach dem geflügelten Wort ,nomen et omen' der Name wirklich eine Vorbedeutung hatte, dann hatte sie bei ihm jene unerklärliche Schicksalsmacht, die man vom geistig primitivsten bis zum geistig höchststehenden Volk auf der ganzen Erde als wirklich vorhanden annahm, ohne sie beweisen zu können, ins Gegenteil verkehrt. Dessen war er nun ganz sicher. Ein Schock hatte ihn von einer Liebe gelöst, deren Wesen demütige Hörigkeit und weinerliche Schwäche gewesen war, nun war er einer anderen, einer brutal begehrenden Leidenschaft verfallen. Er hatte nach seinem ersten leichten Sieg gewähnt, sie zynisch herrisch meistern zu können, nun aber knechtete sie ihn und sein Herz tanzte nach ihrer Pfeife. Niemals mehr hatte Tamara geduldet, daß er sie in die Arme nahm, nie mehr hatte sie ihm Gelegenheit gegeben, allein mit ihr zu sein. Wenn sie tanzen wollte, spielte er, aber auch wenn sie getrunken hatte, tanzte sie nicht mehr mit jener unbekümmert sich enthüllenden Dämonie. Und dennoch lockte sie ihn unablässig unter der Maske eines leichten, heiteren Spiels, als wäre nie etwas anderes zwischen ihnen gewesen. Sie quälte raffinierter als eine Alraune. Heute, unter Tür und Angel, hielt er sie zurück. Gruschkin war mit Nina schon vor dem Haus. Man hörte ihre Unterhaltung mit Schepperl und Liebedorn. Das Fenster war geöffnet, um den Rauch hinausziehen zu lassen. „Du bist eine Wildkatze“, sagte Glück leise, „Aber ich bin keine Maus, sondern ein Wildkater.“ Er zog sie heftig in die Arme. „Vorsicht, Wildkaterchen!“ lächelte sie. Die Flügel ihrer schmalen Nase zuckten. Ihre Zähne glänzten zwischen den hellroten Lippen. Jäh faßte er ihren Kopf, küßte sie. Sie fauchte, biß kurz zu. Er taumelte zurück vor Schmerz, schlug ihr ins Gesicht, das Blut sprang aus seinen Lippen. Wut über sie, Scham über sich erfüllte ihn. Ein häßlicher Schluß. Gut.
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Er riß Mantel und Mütze vom Haken, stieß sie zur Seite, ohne sie anzusehen, stürmte hinaus, vorbei an der Gruppe der andern. Nicht dem Bahnhof zu. Entgegengesetzt. Wo der hohe Damm war, die stille weite Eisfläche des überschneiten Sees, der endlose Wald. „Wo willste denn hin?“ rief ihm Liebedorn nach. „Mach keenen Blödsinn, Mensch!“ Schepperl ließ sich nicht stören. Er stellte gerade die Weiche für den aus dem Bahnhof angesagten Hilfskrankenzug. Er sagte nur „Samenkolla“ und ging hinein ans Telefon. D' Hitzn wird'm scho vageh, dachte er. Der Frost hatte zwar nachgelassen, aber 15 Grad reichten zu rascher Abkühlung sicher auch schon aus. Glück spürte sie nicht. Er ging mit langen Schritten über den hartgefrorenen Schnee. Die Sohlen knirschten. Er war dem Damm schon ganz nahe, als der Zug hinter ihm kam, trat zur Seite, sah ihm entgegen. Die Lok stieß schnaufend ein ganzes Wolkengebirge aus. Die Wagen rasselten vorüber. Nur Güterwagen. Auch Ofenrohre sahen an der Seite nicht heraus; sie hatten also überhaupt keine Heizung. Glück fuhr zusammen, als stünde ihm bevor, in diesen Wagen zu fahren. Tage und Nächte. Das war doch unmöglich! Da drin kam man ja um vor Kälte! In den Türen waren zwei kopfgroße Luken mit Schiebedeckel ausgeschnitten, damit man von Zeit zu Zeit frische Luft und ein bißchen Licht einlassen konnte. Wie durfte man in solchen unheizbaren Garnituren Kranke und Verletzte befördern! Landser mit Erfrierungen! Natürlich waren längst Anordnungen für den feuersicheren Einbau von eisernen Öfen ergangen und mit der Vorbereitung der Durchführung begonnen worden. Aber mit Anordnungen kann man nicht heizen und auch nicht mit Öfen, die erst hergestellt wurden. Hunderte hatte man beschafft, Tausende wurden gebraucht. Waggons voll Öfen rollten in alle Abschnitte, aber auch sie blieben oft liegen oder waren, noch ohne endgültigen Bestimmungsort, irgendwo abgestellt. Und dem kranken, verletzten, halberfrorenen Landser war es zunächst nur wichtig, daß er überhaupt erst einmal wegkam. So rasch wie möglich wegkam von da vorne! Auch die Sanitätsdienststellen wußten oft nicht, wo noch hin mit den 283
Leuten, mußten sie in ungeheizten Verschlägen oder gar im Freien liegen lassen. Oft ließ die Feindlage nicht zu, zu warten, bis ein anständiger Lazarettzug kam, oder er fiel einem Luftangriff oder durchgebrochenen Panzern zum Opfer und man stellte die nächstbesten G-Wagen zusammen, weil man selbst eine Reise in ihnen für das kleinere Übel hielt. Und den Reisebeginn erwärmte das Glücksgefühl, der unmittelbaren Todesgefahr entronnen zu sein. Auf der Fahrt in die Heimat zu sein, auf jeden Fall weit nach hinten, wo geheizte Räume und Betten waren. Das gab ihnen erstaunliche seelische und leibliche Widerstandskräfte. Sie vermochten zu lachen, wenn ihnen vor Frostschmerzen das Wasser aus den Augen sprang. Sie waren im Herzen noch warm von der Vorfreude auf die schöne Zeit, die nach den Stunden oder Tagen dieser letzten Peinigung anbrach, wenn sie vor Kälte so starr waren, daß nicht einmal mehr die Zähne aufeinanderschlagen konnten. Selbst, wenn man nur als Krüppel nach Hause kam, daheim war Wärme und Frieden, waren Menschen, die man liebte und von denen man geliebt wurde. Und es gab nach dem ewigen Feldküchenfraß auch wieder einmal Braten mit Kartoffeln. Der Zug rasselte mit 20 Stundenkilometern an Glück entlang. Er stutzte. Da war doch Geschrei in einem Wagen. Kaum war er vorbei, wurde die Tür aufgerissen, Rauch fegte heraus, Feuerschein flackerte, ein Mensch sprang heraus, seine Kleider brannten. Er schlug krachend neben den Bahnkörper, blieb regungslos liegen. Glück rannte zu ihm hin, erstickte mit seinem Mantel die Flammen. Der Mann hatte den Arm in einer Bandage und rührte sich nicht. Er konnte sich nicht weiter um ihn kümmern, er mußte den Zug zum Halten bringen, mußte irgendwo hinauf. Er rannte nebenher, was er rennen konnte. Er hörte noch immer das Gebrüll und jetzt sprang da vorne wieder einer. Der Zug hatte den Damm erreicht. Der Körper, im Dunkel gerade noch zu erkennen, überschlug sich ein paar Mal den steilen Hang hinunter, platschte aufs Eis. Noch einer folgte. Glück lief, halb rückwärts dem Zuge zugewandt, neben ihm her, bis der letzte Wagen kam, sprang sofort zwischen die Schienen, spurtete, packte mit der Linken den linken Pufferteller, mit der
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Rechten den Lufthahn und riß ihn nach unten. Mit wildem Gezisch entwich die Luft. Befreit aufatmend ließ er los, ging langsam, das Gebockel und Gelärm wie Musik empfindend, dem Zuge nach, der schon nach kurzer Strecke stand. Bald hatte er den brennenden Wagen erreicht, sah Landser herausklettern, sah, wie sie einander halfen, Rauchschwaden über den Köpfen. Wie Kameraden herausgehoben wurden, die nicht gehen konnten. Noch immer flackerte es im Hintergrund, Stroh brannte und Wand und Fußboden waren angegangen. Der Zugführer, zwei Schaffner kamen gelaufen, Lokführer und Heizer, das Sanitätspersonal. Es bedurfte keiner weiteren Erklärung. Mit großen Schneebrocken erstickten sie den Brand. Glück war ziemlich fertig. Seine Knie zitterten. Er setzte sich auf das Trittbrett. „Zwei liegen dreihundert Meter weiter hinten, auf dem Eis unten“, sagte er matt. „Einer auf dem Damm. Ich glaube, der ist tot.“ Außer den drei Hinausgesprungenen waren noch zwanzig Landser in dem brennenden Wagen gewesen. Die Hälfte von ihnen hatte mehr oder weniger schwere Brandwunden. Der Kamerad, der als erster brennend aus dem Wagen gesprungen war, hatte eine Flasche Benzin gehabt und war eben dabei gewesen, ein paar Feuerzeuge neu zu füllen, mit denen sie sich die Hände und Gesichter ein wenig wärmten, als die Flasche plötzlich mit einer Stichflamme explodiert war. Im gleichen Augenblick hatte sein Mantel gebrannt und war auch das Stroh aufgeflammt, das immerhin handhoch den Boden fast des ganzen Wagens bedeckte. Das Zugpersonal schloß sein Telefon an die Leitung, um aus Russkinaja einen Hilfszug herbeizurufen. Glück sprach mit Schepperl. Warum er fortgelaufen war, wurde nicht berührt. „Man müßte den armen Hunden wenigstens mehr Stroh besorgen.“ „Hol’ ma“, sagte Schepperl. Wie lange es dauern würde, bis der Zug weiterfahren könne? Zwei, drei Stunden mindestens. Gut, das reiche. Glück solle zu den Zigeunern gehn. Überm See drüben sei ein Riesenstrohberg. Er müsse aber ein paar Landser 285
mitnehmen, für den Fall, daß gerade eine Streife um den Weg sei. Er selber bringe noch Gruschkin mit Leuten aus dem Dorf. Eine halbe Stunde später waren die Zigeuner unterwegs, quer hinüber über den See. Sie kannten den Weg. Glück und ein Unteroffizier, der einen Steckschuß im Ellenbogengelenk hatte, gingen mit an der Spitze, den Schluß bildeten zwei Landser mit verbundenen Köpfen. Sie hatten Nase und Ohren erfroren. Wenn das mit den Spitzbuben da nur gut geht, dachten sie, nahmen die umgehängten Gewehre doch lieber unter den Arm und etwas Abstand. Die Dörfler kamen mit großen und kleinen Schlitten. Der Strohberg war so groß wie je drei Katen aneinander und aufeinander gestellt. Mindestens hundert Menschen waren da, aber sie verhielten sich leise und die Sowchosegebäude waren so weit entfernt, daß es keinen Alarm gab, nicht einmal Hunde schlugen an. Vielleicht waren sie auch dort schon alle weggefangen für die Bratpfannen. Wenn ein Landwirtschaftsführer aufgetaucht wäre, hätte es immerhin Schwierigkeiten geben können, die vielleicht nicht einmal Schepperls dialektische Überzeugungskunst zu bereinigen imstande gewesen wäre. Aber es geschah nichts. Friedlich zog die Strohkarawane durch die vom Ostwind durchblasene Nacht über die vielfach unangenehm blank gefegte Fläche. Sie kamen noch lange zurecht und es gab große Augen. Es war soviel Stroh, daß sich die Landser dick darin einbauen konnten. Die Eisenbahner waren doch zünftige Kerle! Und sie versprachen den blauen Kameraden nach dem traurigen Erlebnis, das zweien von ihnen das Leben gekostet hatte und das noch viel schlimmer hätte ausgehen können, Feuerzeuge und Streichhölzer völlig unangetastet zu lassen und eisern auch auf das Rauchen zu verzichten. Es war noch eine Menge Stroh übrig. Schepperl ließ es zur Abzweigstelle fahren. Reserve für weitere Fälle. Die beiden andern hatten Bedenken. Wenn die Sonderführer dem Strohraub nachgingen und der Haufen bei ihnen gefunden würde? Die könnten ihn, sagte Schepperl nur.
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Liebedorn hatte eine Idee. „Wenn schon — denn schon!“ sagte er und ließ das Stroh jenseits der Gleise auf einer kleinen Erdkuppe möglichst hoch aufschichten. Das ergab eine fast sechs Meter hohe, steile Pyramide. Jetzt waren sie alle drei begeistert: Eine Leiter — und sie hatten einen Aussichtsturm! „Köpfchen!“ sagte Liebedorn. Aber als sich zwei Stunden nach Sonnenaufgang zwei verdächtige offiziersähnliche Gestalten der Abzweigstelle näherten, verdrückte er sich durch den Mauerdurchschlupf in jenes Örtchen im Schuppen, obwohl dort das Köpfche gar keine Rolle spielte. Auch Schepperl sah sie kommen und schnurstracks auf den Strohbau zugehen. Saggera! saggera! Er hatte gerade mit den Weichen zu tun, da kam auch schon einer von den beiden herüber. Schepperl nahm einen zusätzlichen Brustkorb voll Ozon. Er sah nichts. „Heil Hitler!“ sagte eine Stimme. Sie klang nicht sehr freundlich. Es war begreiflich. Schepperl zeigte die gebückte Rückseite. „I bi net da Hitla“, knurrte er und schimpfte los: „Bluatsweichen, varreckte!“ „Aber den deutschen Gruß kennen sie doch?“ Schepperl brummte: „Kenn i scho“, und gab der Weiche einen Tritt, richtete sich auf, drehte sich um, sagte „Grüasgohd“ und ging dem Haus zu. „Sie! Hören Sie mal!“ schrie ihm der Sonderführer nach. „Laufen Sie nicht weg! Ich habe Sie etwas zu fragen!“ „Geh, brüllen S' fei net aso aaf unsna Dienststoin! D'Aaskunft is im Bahnhof hint.“ „Ja, Himmelkreuzdonnerwetter! Ich will wissen, wo Sie das Stroh her haben!“ „Was moanst?“ Aber nach dieser Frage hatte Schepperl keine Zeit mehr, sich um den hochdeutschen Sonderführer zu kümmern. „Ja, gibts en dös aa! Der Schepperl Sepperl!“ klangs nämlich von der andern Seite. Und da stand der zweite der Besucher. Der hatte sogar einen Stern auf dem Schulterstück und grinste über das ganze gesunde Bauerngesicht. „Ja - mihleckst“, stammelte Schepperl. „Der Stoahofa Simmerl!“ 287
Der Steinhof-Bauer Simon Huber war der Ortsbauernführer von Schepperls Heimatdorf und sie hatten zusammen die Schulbank gedrückt. Jetzt drückten sie einander die Pratzen und verschwanden miteinander im Haus. Den dritten Mann hatten sie beide vergessen. Er hätte noch lange draußen stehen können, wenn ihn Liebedorn nicht liebenswürdig eingeladen hätte, zwei Minuten hineinzukommen und einen Schnaps mitzutrinken. Nach zwei Stunden tranken sie immer noch einen Schnaps und der Sepperl und der Simmerl hatten sich trotz aller beschaulichen Maulfaulheit so viel zu erzählen, daß schon mindestens tausend Worte Bayrisch gefallen waren, aber noch immer nicht das Wörtchen Stroh. Es wäre überhaupt nicht gefallen, wenn nicht Schepperl aus freien Stücken beim Aufbruch der Besucher noch unter Tür und Angel die Geschichte erzählt hätte. „Sixtes, du Hammi“, sagte der Sowchoseleiter Sonderführer Simon Huber zu seinem Kameraden, „'s is oiss in da Ordnung.“ Und als man dann auseinanderging, wußte das Schepperltrio, daß es künftig manche fette Zulage zu den mageren Verpflegungssätzen 3. Klasse geben würde und der Steinhofer Simmerl hatte die Gewißheit, daß sie nicht wieder eine Woche lang am Abend ohne Licht sein würden, weil Kerzen und Petroleum ausgegangen waren. Kaum waren die beiden Besucher fort, kamen zwei andere. Der Hummel-Hummel mit Marieke. „Zum letzten Male“, sagte Kuficke, lachte und sah aus wie ein kleiner Bub, der eine saftige Ohrfeige erhalten hat, aber aus Stolz den Schmerz verbeißt. Als Abschiedsgeschenk hatte er ihnen in einem Kistchen ein halbes Dutzend Stielhandgranaten mitgebracht; vielleicht hatten sie mal Verwendung dafür. Zünder waren schon eingesetzt. Also Vorsicht! Brauchten nur abgezogen zu werden. Liebedorn wackelte nervös mit der Nase, Schepperl nahm das Kistchen, trug es in den Schlafraum und schob es unters Bettgestell. Der Herr Stabszahlmeister war mit Kuficke nicht mehr zufrieden; er war zu seinem Truppenteil zurückversetzt und der rückte morgen oder übermorgen ab an die Front. Kuficke mußte allerdings zugeben, daß ihn das gute Beispiel seiner Spezi von der Eisenbahn in seiner Ausschöpfung stabszahlmeisterlicher
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Genußquellen zu einigen auffallenden Spitzenleistungen angefeuert hatte. Schiet! Denn an der Front sah es mulmig aus. Das wußte Kuficke aus authentischen Quellen. Bei Rostow nahmen die Gegenangriffe kein Ende. Im Donezbecken konnten sich die physisch erschöpften deutschen Truppen kaum noch gegen die Massenangriffe behaupten, aber in Angriffen auf den Moskauer Verteidigungsring wurden noch immer Tausende geopfert. Sogar der Heeresbericht bekannte, daß man im Zuge des Übergangs von den Offensivoperationen zum Stellungskrieg der Wintermonate einige Frontverbesserungen und -Verkürzungen vorgenommen habe. Auch hier im Mittelabschnitt bereitete der Iwan eine Offensive vor. Der Aufmarsch dazu konnte durch noch so harte Schläge der Kampf- und Sturzkampfflieger nicht entscheidend getroffen werden. Andererseits konnten die deutschen Jagdflieger und das bißchen Flak im Hinterland die vermehrten Luftangriffe auf die wichtigsten Strecken und Knoten der Haupteisenbahndirektion Mitte und der Feldeisenbahndirektion 2 weder unterbinden noch unschädlich machen. Die Kette der Zerstörungen riß nicht mehr ab. Vielfach konnten schon jetzt Reserven, die an die hauptsächlich bedroht erscheinenden Frontpunkte geworfen werden sollten, und auch Versorgungszüge nur mit tagelangen Verzögerungen herangebracht werden oder auf großen Umwegen, was dasselbe war. Auch über Russkinaja war eine Truppenbewegung unter dem Decknamen „Eisbrecher“ angekündigt. Das war aber nicht der Grund, weshalb das Kleeblatt auf der Abzweigstelle gerade jetzt, wo Kuficke und Marieke zum Abschiednehmen gekommen waren, sich zwei Stunden lang überhaupt nicht um sie kümmern konnte. Der Grund war ein Augenzwinkern Liebedorns gewesen, dem ein paar kurze Worte vor der Tür gefolgt waren und dann hatten sie, um das Tageslicht noch auszunützen, alle drei so viel draußen zu tun, daß Glück die Telefone und Zugmeldebücher vors Fenster stellte, um mit dem ewigen Reingelaufe nicht so viel Zeit zu versäumen. Sie könnten ja die Abschiedsflasche nachher auch noch zusammen trinken, tröstete Liebedorn die Gäste und
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stellte ihnen bis dahin den ganzen Ultrasuperkomfort ihres Heimes, ausdrücklich einschließlich Bad, zur Verfügung. Als dann am späten Abend der Abschiedstrunk vorbei war und der Abschiedshändedruck kam, lachte Kuficke breit, obgleich seine Augen durchaus nicht fröhlich waren und hinter Mariekes erregtem glücklichen Glanz Tränen standen. Aus der Dunkelheit klang noch einmal ein forsches Hummel-Hummel zurück. Aber keiner von den dreien glaubte an diese Forschheit. Sie besäßen sie auch nicht. Jeder tarnte die Furcht vor der Todeszone, denn man schämte sich, vor andern und auch vor sich selbst, feige zu erscheinen. Vielleicht brannte man von der Glut des Grauens und Sterbens, wenn man ihr lange genug ausgesetzt blieb, innerlich allmählich so aus, daß man dafür kein Empfinden mehr hatte, daß der tobende, verzweifelte Widerstand gegen das Todesurteil erlahmte, das Herz erstarrte. Aber furchtlos forsch in dieses Grauen und Sterben gehen, das konnte nur ein ahnungsloser Laie oder ein Geisteskranker. Auge in Auge mit dem blutigen, brüllenden Entsetzen selbst war Forschheit seelischer Schwindel. Eiserner staatlicher Zwang, Vaterlandsliebe und pflichtbewußte Mannhaftigkeit hatten die Mauer der Millionen gefügt, die das Leben des Reiches und des Volkes schützte. Eiserner staatlicher Zwang, Pflichtgefühl, Mannhaftigkeit hielten sie zusammen, und jener seltsamste, stärkste, härteste sich selbst überwindende Idealismus: die Kameradschaft. Das empfanden auch die drei blauen Eisenbahner von Malenka Russkinaja, als sie Kuficke und Marieke eine Weile nachsahen, ohne sie noch sehen zu können. Nachsannen. Sie empfanden, daß dieselben vier Kräfte auch den Einsatz der Eisenbahner trugen, auch sie zusammenhielten. Ihren Kampf gegen Eis und Schnee und gegen die Partisanen täglich neu erzwang und beseelte. Die Wintersicherung des Betriebs wurde unablässig vorangetrieben. Trotz tollen Kältegraden wurde gebaut und gebaut, wurden die Einrichtungen weiter verbessert und erneuert, soweit die Stoffe beschafft und herbeigeschafft werden konnten. Gewaltige Baupläne von der Planungsabteilung des Transportchefs nach den Anträgen der Eisenbahndienststellen
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aufgestellt und abgestimmt auf die weitere strategische Planung, waren in Angriff genommen. Inzwischen schneite und stürmte es wieder. Wieder wurden die Strecken verweht. Wieder war man Tag und Nacht dabei, sie freizuschaufeln und freizuhalten. Und noch immer arbeiteten Tausende an der Herstellung von Schneezäunen. Die Bewegung ,Eisbrecher' lief an. Beide Strecken über Russkinaja waren fast ausschließlich von den Militärtransporten belegt. Einen Tag ging es gut. Im Blockabstand folgte Zug um Zug. Die Weichen und Signale und die drei Paar Hände der Abzweigstelle M.P. kamen nicht mehr zur Ruhe. Aber schon in der zweiten Nacht wurden beide Strecken durch Sprengungen unterbrochen. Als wieder gefahren werden konnte, entgleiste auf der Naroskojer Strecke ein Zug, weil der Truppenkommandeur den Lokführer mit vorgehaltener Pistole gezwungen hatte, schneller zu fahren, als der Zustand der Strecke vertrug. Es gab eine ganze Anzahl Schwerverletzte, großen Materialschaden und sieben Stunden Aufenthalt. In der folgenden Nacht wurde die Waldstrecke so stark vermint, daß nicht mehr gefahren werden konnte. Sonderkommandos aus Pionieren, die auf Transport waren, und Eisenbahnern bauten annähernd 100 Druck- und Kontaktminen aus. In einem Fall explodierte eine Mine, zwei noch unerfahrene Eisenbahner fanden den Tod. Gegen Abend war die Strecke frei. In der Nacht wurde sie wieder vermint. Zweifellos war die Bewegung Eisbrecher, trotz ihres Decknamens dem Gegner bekannt geworden und er setzte alles daran, sie zu unterbinden. Zum Schutz der Waldstrecke wurde nun ein rückwärtiges Landesschützenbataillon eingesetzt. Es knallte an allen Ecken und Enden und die Züge konnten fahren. In der nächsten Nacht klarte das Wetter auf. Kaum war es Tag, erschienen russische Bomber über dem Bahnhof Russkinaja, aber der Hauptangriff galt der Brücke nach Guratschewo. Die Vierlingsflak an der Brücke selbst und die schwere Flak am Stadtrand drängten die Maschinen ab. Die Piloten schienen nicht unbedingt Wert darauf zu legen, abgeschossen zu werden, sie begnügten sich mit einem Treffer zwischen den Geleisen des Güterbahnhofs und mit einigen Löchern im freien Feld.
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Gegen Mittag war bekannt, daß im Morgengrauen die Offensive der Russen im Mittelabschnitt begonnen hatte. „Packma unsa Graffl zamm“, sagte Schepperl. „Fünf Minuten wollen wir noch warten“, meinte Glück. „Da der Führer immer recht hat und diese These bisher nicht widerrufen wurde, kann die rote Offensive nur auf einem Irrtum Stalins beruhen.“ Schepperl hängte sich umgehend an die Strippe und fragte bei Stitzenbacher an, wie es sich damit verhalte. Die Entgegnung war äußerst klar formuliert, aber die Frage selbst klärte sie nicht. Die Scherze würden ihnen noch vergehn, sagte Liebedorn. Er sehe schwarz. Sie vergingen ihnen auch umgehend. Am Himmel brummte es, und die Flak fing wieder zu bullern an. Die drei standen unter der Türe, hielten vorsichtig nach den Maschinen Ausschau. Sie schienen alle weitab zu sein. Bomben fielen in der Stadt. Unter der Zivilbevölkerung gab es Tote. Im Dorf Russkinaja wurden zwei Katen über den Haufen geworfen. Frauen, Männer, Kinder krabbelten unbeschädigt aus den Trümmern heraus. Das Kleeblatt hatte sich schon von den schützenden Mauern des Hauses entfernt und Liebedorn mit dem Fernglas die Strohpyramide bestiegen, um Umschau zu halten. Die Flak schoß nicht mehr. Nur ein ganz sanftes Summen hoch über ihnen war noch zu hören. Und dann kam es so plötzlich, ein Sausen, sekundenschnell lauter werdend, unheimlich, atemberaubend, daß Schepperl und Glück nach der Schrecksekunde mit Riesensprüngen, als würden sie von einer fremden Kraft geworfen, Deckung suchten und Liebedorn mit der Geschicklichkeit und Geschwindigkeit eines Zirkusartisten über die Holmen der Leiter herunterrutschte. Aber er hatte nur noch Zeit, sich platt niederzuwerfen, krampfhaft den Leib in den Schnee zu pressen, da gab es einen eigentümlichen Platschlaut, wie wenn ein Schwimmer beim Hechtsprung mit dem Bauch aufs Wasser platscht und dann wars still. Mäuschenstill. Nach einer Weile wagte er den Kopf zu heben, sah unweit die beiden andern liegen. Auch die hoben vorsichtig die Köpfe, um die Bombe zu suchen. Keiner konnte etwas entdecken.
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Glück erhob sich, sagte „Blindgänger“. Schepperl blieb liegen, flüsterte „oda Zeitzünda“, sprang dann doch plötzlich auf und rannte spornstreichs ins Haus. Ins Haus war sie nicht gefallen, also war man dort am sichersten. Beide Telefone rappelten. Alle drei Fahrdienstleiter boten einen Zug an und jedem sagte Schepperl, er könne jetzt keinen fahren lassen, indem daß ein Blindgänger auf dem Bahnkörper liegen müsse. Inzwischen kamen auch die beiden andern. In ihren vier Wänden fühlten sie sich geborgen, die Panik fiel von ihnen ab, sie schämten sich ihrer ein wenig und gingen hinaus, auch auf die Gefahr, daß es sich um einen Zeitzünder handelte, um die nähere Umgebung nach der Bombe abzusuchen. Aber sie entdeckten weit und breit weder eine Bombe, noch ein Loch, in dem sie verschwunden sein konnte. Genau so ging es den Streifen, die der Bahnhofsvorsteher und der Bahnhofsoffizier losschickten und die nicht nur weithin die Bahnkörper absuchten, sondern auch einen breiten Geländestreifen zu beiden Seiten. Nach der allseitigen Fehlanzeige wurde auf beiden Telefonen der Abzweigstelle M. P. angefragt, wieviel die Kollegen heute schon getrunken hätten? Der Betrieb lief weiter. Dennoch waren Schepperl, Liebedorn und Glück ungewöhnlich nervös, während die nächsten Züge die Abzweigstelle passierten. Aber es geschah tatsächlich nichts. Inzwischen hatte die Bewegung Eisbrecher gegenüber den theoretischen Berechnungen und vorgesehenen Terminen zwei Tage Verspätung. In der Nacht gab es verschiedentlich Alarm. Ein Anschlag auf die Brücke wurde verhütet. Im Morgengrauen wurde er durch einen größeren, gut bewaffneten Trupp Partisanen wiederholt, scheiterte aber auch diesmal, was hauptsächlich der Vierlingsflak zu danken war. Auf beiden Seiten hatte es Tote und Verwundete gegeben. Diese Anzeichen führten dazu, daß der General des Transportwesens bei der Heeresgruppe Mitte befahl, die Brücke bei Russkinaja müsse durch einen gut ausgebauten und stark besetzten Stützpunkt gesichert werden. Sie dürfe unter keinen Umständen verloren gehen. Die Brückenwache wurde sofort erheblich verstärkt. Eine Baukompanie rückte an. Mehrere hundert Kriegsgefangene 293
wurden ihr zugeteilt. Ein halber Fichtenwald wurde geschlagen. In wenigen Tagen entstand ein Fort, ähnlich den Anlagen, wie sie einst die in Nordamerika eindringenden Europäer gegen die indianische Bevölkerung errichtet hatten. Eine doppelte Umwallung aus zwischen Stämmen aufgeschichteter Erde mit Eckbastionen, einem Hochbunker und einem Wachturm boten Gewähr für die erfolgreiche Verteidigung der Brücke auch im Falle eines ernsthaften Angriffs. Eines Tages rannte aus einer Infanterieabteilung, die hinter zwei schweren Maschinengewehren her an der Abzweigstelle vorbeitrottete, ein Landser herüber, schüttelte den dreien lachend die Hand. „Hab ich einen Dusel!“ rief er. „Nix Front! Bin da vorne im Stützpunkt. Wir lösen die Landesschützen ab. Nitschewo! Sagt Marieke Bescheid! Hummel-Hummel!“ Und fort war er. Sie freuten sich für Kuficke. Auch für Marieke. Und für sich selbst. Zwischen dem gut bewachten Bahnhof und dem Brückenfort erschien ihnen die Abzweigstelle außer Gefahr. Von der Bevölkerung befürchteten sie nichts, außerdem rechneten sie damit, von ihren engeren Freunden gewarnt zu werden. Die Gefahr eines Durchbruchs der Russen auf breiter Front schien auch gebannt zu sein. Die Bewegung Eisbrecher hatte, wenn sie auch nicht planmäßig durchgeführt werden konnte, immerhin noch rechtzeitig so viel Infanteriebataillone, Sturmgeschützabteilungen, Panzer und Pak in die bedrohten Abschnitte geführt, daß man zunächst mit einer Stabilisierung der Lage rechnen konnte. Es handelte sich um Kerntruppen, die im Westen abgezogen und noch in der Heimat gut für den russischen Winter ausgerüstet worden waren. War erst einmal die ganze Division am Feind, dürfte das Scheitern der gegnerischen Offensive auch im Mittelabschnitt als endgültig angesehen werden. Schepperls Ledertasche blieb also vorläufig ungepackt in der Kofferecke im Vorraum stehen, Liebedorn sah nicht mehr so schwarz und Glück behauptete, jetzt brauchten sie sich hinsichtlich ihrer friedlichen Überwinterung überhaupt keine Sorge mehr zu machen. Er hatte noch die Schrunde von Tamaras Biß in der Lippe, war keineswegs mehr beschämt, sondern dachte mit Genugtuung daran, daß er sie geschlagen hatte, und war mit 294
einem spöttischen Fatalismus darauf gespannt, auf welche Weise sie sich dafür rächen werde. Denn er war überzeugt, daß sie ihn liebte. Mit ihrer ganzen urnatürlichen, moralische Kinkerlitzchen verlachenden Sinnenfreude. Haha! Er konnte warten. Sie würde kommen. Weil sie mehr Zeit hatte als er. Weil sie nicht müde war, wenn sie schlafen ging. Weil sie unablässig ihre Leidenschaft und das Brennen der geschlagenen Wangen empfinden würde. In ihrer optimistischen Stimmung erschien den dreien ein Anruf des Oberinspektors persönlich, der ihnen dringend empfahl, recht wachsam zu sein, einigermaßen verwunderlich. Die geheime Feldpolizei habe beobachtet, daß in der Bevölkerung eine außergewöhnliche Unruhe herrsche. Es sei aber nicht herauszubekommen, was für einen besonderen Anlaß sie dazu habe. Für alle Besatzungsdienststellen sei Alarmbereitschaft befohlen. An der Front renne der Russe wieder mit vermehrter Wucht an; es hänge jetzt alles davon ab, die Bewegung Eisbrecher mit äußerster Energie ohne weitere Verzögerungen vollends durchzuführen. Man befürchte deshalb, daß die Partisanen, von der russischen Heeresführung ferngesteuert, alles daran setzen würden, eben das zu verhindern. Für die Bewachung der Strecken und Bahnhöfe stünde leider mehr Militär nicht zur Verfügung. Der Standort Russkinaja habe das meiste nach Nischkowo und an die Strecke nach Ustscha abgeben müssen. Die übrigen Posten müßten von den Eisenbahnern selbst geschützt werden. Auch die Abzweigstelle. „Schmarrn“, brummte Schepperl und legte sich aufs Ohr. Er hatte in der Nacht Dienst. Eine Frau kam und bat um etwas Hirse. Gruschkin käme am Abend, flüsterte sie. Mit lautem Wortschwall und vielen Knicksen zog sie dann mit ihrem Säckchen Hirse ab. Hm. Die Bettelei war nur Tarnung gewesen. Es schien doch etwas nicht zu stimmen. Am Wasserturm im Bahnhof ging am hellen Mittag das leichte Dach hoch. Die Sprengladung war zwischen die beiden nebeneinander stehenden Wasserbehälter gelegt worden, wohl in der Absicht, sie zum Absturz zu bringen. Aber die Sprengwirkung war in Richtung des geringsten Widerstandes verpufft. Die
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geringen Schäden an den Reservoirs konnten rasch beseitigt werden. Hm, dachten die drei. Es war sicher angebracht, auf ihre drei Weichen aufzupassen. Noch ehe es dunkelte, wurde auf dem hohen Damm einer von zwei Streckenläufern erschossen, die auf eine Gruppe verdächtiger Personen gestoßen waren. Es kam ein Befehl heraus, auf jeden Zivilisten, der auf oder am Bahnkörper betroffen wurde, sofort zu schießen. Der alte Zigeuner kam. Ob er noch etwas Petroleum bekommen könne? Sie zögen fort, sagte er. „Warum?“ „Nicht mehr gut sein hier.“ „Allmählich wird mich unheimlich“, sagte Liebedorn. „Mach nur deinen Dienst“, beruhigte ihn Glück. „Ich paß schon auf.“ Den besten Überblick hatte man natürlich vom Aussichtsturm oben. Leider war es auch der kälteste Platz, denn dort zog es am meisten, aber man konnte sich ja ins Stroh einbetten. Liebedorn hatte eben für einen Zug aus Karasiny die Fahrstraße gebildet und die Weiche verschlossen, jetzt sah er zu, wie Glück, das Gewehr umgehängt, die Leiter hinaufstieg. Als er mit dem Oberkörper über die Schneekappe oben ragte, blieb er stehn und beugte sich einen Augenblick weit hinüber, fuhr dann zusammen und zurück und mit den Schenkeln an den Holmen der Leiter wieder herunter. Liebedorn schien, der Gefährte ginge auf unsicheren Füßen. Nun stand Glück vor ihm, starrte ihn bleich und schweigend an. Es ist heute wirklich alles unheimlich, dachte Liebedorn und spürte sein Herz heftig klopfen, fragte beunruhigt: „Red doch, Mensch! Wat haste denn?“ „Die Bombe“, sagte Glück leise. „Wat forne Bombe?“ „Sie ist im Stroh.“
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13. KAPITEL
Es war wirklich unheimlich, so nahe mit einer Bombe zusammenzuleben. Zwar legte sich die anfängliche Nervosität schnell, denn wenn sie in all den Tagen nicht krepiert war, würde sie das ohne besonderen Anlaß wohl auch weiter nicht tun. Aber konnte es nicht unversehens einen solchen besonderen Anlaß geben? „Wo Hecht se denn?“ fragte Liebedorn. Selbst nachzusehen hielt er nicht für ratsam. Er würde sich dem Strohturm überhaupt nicht mehr nähern. Ihm lief noch jetzt ein Schauer über die Haut, wenn er daran dachte, daß er drei Sekunden vorher noch gesessen hatte, wo die Bombe aufgefallen war und daß sie eigentlich in dem Augenblick krepiert wäre, als er am Fuße der Leiter in den Schnee geplatscht war. Seine Beerdigung hätte sich das Betriebsamt sparen können. Er konnte sich vorstellen, wie es dann um Sigismunds Schönheit bestellt gewesen wäre. „Sie hat genau in der Mitte einen runden Schacht bis dicht über den Boden durchgerissen“, sagte Glück. „Man sieht nur einen Flügel der Schraube.“ Ein Dutzend Kerle hatten gesucht und keiner war auf den Gedanken gekommen. Obgleich der Strohturm doch auffallend genug dastand! Nicht einmal sie selber. Dabei hatten sie den Luftzug gespürt und das böse Platschen gehört. Wie begriffsstutzig war doch manchmal der Mensch! Sie hatten schließlich selber geglaubt, daß sie einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen waren. Daß es vielleicht auch Luftspiegelungen solcher Art gab. Schalltrugbilder. „Schön“, sagte Liebedorn. „Lass'n mr det Aas abholen.“ „Nein. Wir lassen sie liegen. Weil sie beim Abholen oder Entschärfen krepieren kann. Vielleicht wirft sie uns die Villa um.“ Aber die Weichen so dicht neben einer Bombe bedienen, sei kein angenehmes Gefühl.
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Bisher sei die Bombe auch dagewesen und kein unangenehmes Gefühl. Das war eben das tragikomisch Menschliche: Man ging seelenvergnügt und sicher auf dem Randstein, wäre aber rechts und links ein Abgrund, würden die Knie wackeln und man stürzte ab. Liebedorn weckte Schepperl. Die Mehrheit sollte entscheiden. „Liegn lassn tan m'rs“, brummte Schepperl, weil er wütend war, daß ihn der Preiß geweckt hatte. Glück ging noch einmal zum Strohturm und nahm vorsichtig die Leiter weg. Gruschkin kam nicht. Glück suchte sich einen anderen Ausguck. Es blieb nur das Dach. Er zog den Schafpelz wieder an, die Fellmütze über die Ohren, hängte die Knarre wieder um, stieg aufs Haus, lehnte sich an den Kamin und saß ganz bequem. Es war schon dunkel, aber der Schnee gab jene unbestimmte Helligkeit, die dennoch ähnlich wie bei schwachem Mondlicht sehen ließ. An die Weichen oder gar ans Haus konnte niemand unbemerkt kommen. Nur wer sich hinter dem Strohturm näherte, konnte erst gesehen werden, wenn er um ihn herumkam. Und da kam doch etwas von der Dorfseite. Wie ein kleines Tier sah es aus. Es hob sich kaum vom Schnee ab, huschte zum Hause, verschwand, kam, noch ehe Glück einen Entschluß gefaßt hatte, wieder zum Vorschein und huschte davon. Jetzt sah er es genauer. Ein kleines Mädchen. Was hatte es gewollt? Was hatte es getan? Er benutzte nicht lange die Leiter, er rutschte einfach übers Dach ab, ließ sich in den Schnee fallen, warf die Knarre weg, den schweren Überziehmantel, lief dem Kinde nach. Es stieß einen kleinen Schrei aus, blieb stehen, starrte zu ihm auf. Es zitterte. Vielleicht vor Furcht, vielleicht vor Kälte. Es war Sinaida. „Was hast du gemacht?“ fragte er ruhig. Die Worte verstand die Kleine natürlich nicht, aber den Sinn der Frage. Sie sagte rasch etwas und zeigte nach dem Haus. „Komm mit“, sagte er, nahm sie kurzerhand auf den Arm, trug sie hinüber. Auf der Schwelle, mit einem Stein beschwert, lag ein Zettel. 298
Er hob ihn auf, nahm Sinaida mit hinein. „Na nu?“ sagte Liebedorn und bewegte lebhaft die Nase. Glück hielt den Zettel dicht an die Lampe; er war sehr schmutzig, aber man konnte noch lesen, was darauf stand: „Nicht gehn weg von Haus! Gross Gefahr!“ „Wer hat dir den Zettel gegeben?“ fragte Glück. Liebedorn nahm ihn, schnupperte daran. „Nina“, sagte er. Sinaida sagte: „Da-da“. „Wir wollen sie hierbehalten“, schlug Liebedorn vor. Er hatte Mitleid mit dem armen Wurm. „Wenn du sie erst ausziehst, ins Bad steckst und die Lumpen draußen verbrennst. Abgesehen davon, glaube ich, daß Nina auf die Rückkehr der Kleinen wartet und sicher würde ihre Mutter vor Angst halb umkommen, wenn sie nicht zurückkäme.“ Liebedorn hatte ganz feuchte Augen, so erbarmte ihn das magere, schmutzige Dingelchen in seinem erbärmlichen Zeug. Er ging in den Schlafraum, holte sein zweites wollenes Unterleibchen und zog es ihm über. Sinaida ging es bis an die Knöchel. Und er gab ihm seine letzte Tafel Schokolade. Sinaida krampfte die kleine Hand darum und ehe sich's die beiden versehen hatten, war sie zur Türe hinausgehuscht, als fürchtete sie, die Schokolade würde ihr wieder weggenommen. Liebedorn und Glück lachten so laut, daß Schepperl nebenan aufwachte und sie mit einem ganzen Lexikon bayerischer Spezialbeschimpfungen zudeckte. Da drückten sie sich hinaus. Liebedorn, weil gleich der nächste Zug kommen mußte und Glück, weil er wieder seinen Dachposten beziehen wollte. Kaum saß er droben, glaubte er einen fernen schwachen Laut zu hören. Einen Augenblick dachte er an das Kind. Aber der Laut war sehr undeutlich gewesen, vielleicht nur ein Geräusch. Vielleicht war es von dem Zug gekommen, der jetzt langsam, böse fauchend und doch so, als fauchte er nur aus Angst, daherrollte. Das Geräusch des Zuges verhallte in Richtung Bahnhof, da schrak Glück zusammen. Schreie durchdrangen die Stille. Obgleich durch die Entfernung gedämpft, klangen sie furchtbar. Es war eine Männerstimme. Und es waren deutsche Worte: „Hilfe! Kameraden, Hilfe!“ Dann brachen die Schreie ab und nur noch ein Aufstöhnen war von Zeit zu Zeit zu hören.
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Glücks Herz trommelte. Es wurde ihm kalt und heiß. Man war eben kein Frontsoldat! War das Entsetzen nicht gewöhnt. Herrgott, man mußte dem da draußen in der Nacht doch zu Hilfe kommen! Aber er fürchtete sich davor. Liebedorn hatte die Schreie sogar im Hause gehört. Er kam heraus, auch ziemlich verstört. „Was tun? Sie durften doch den Posten nicht verlassen! In einer halben Stunde kam ein Munitionszug. Und Ninas „Warnung? Glück blieb auf dem Dach, Liebedorn ging hinein, rief die Station an. Es könne niemand abkommen, hieß es. Das Bahnhofsgebäude sei in Brand gesteckt und drei ganz in der Nähe wohnende russische Eisenbahnerfamilien seien ermordet worden. Darunter die des russischen Betriebsobmanns. Männer, Frauen und Kinder, sogar zwei Säuglinge, erschossen und erschlagen. Und eben komme die Nachricht, daß der „Wasserturm in Nischkowo gesprengt sei. Die Betriebsspitzen bei den Feldeisenbahnern lägen unter Beschuß russischer Ferngeschütze. Schepperl kam aus dem Schlafraum. Bei dem dauernden Krach konnte kein Mensch schlafen. Liebedorn erzählte ihm alles! „So? Um Hülf hot's geschrien? Und koana is ganga?“ Er zog den Mantel an, setzte die Mütze auf, steckte sich zwei Handgranaten ans Koppel und nahm die Knarre. „Sepp, bleib da!“ rief Glück vom Dach herunter. „Wir dürfen hier jetzt nicht weg. Stell dir vor, es passiert an den Weichen was!“ „Erst kimmt da Mensch, nachat kemma de Weich'na.“ „Frau Pokow hat uns einen Zettel geschickt mit einer „Warnung, wir sollten nicht vom Haus weggehen.“ Eben hörte man das Gestöhn wieder. „Wann i da draußt schrain tat, tatst da anet wegganga?“ Glück stieg vom Dach herunter. „Warte, ich sage Sigi Bescheid.“ Liebedorn legte eben den Hörer auf; er hatte den Munitionszug von Karasiny angenommen, trug die Zeit im Buch ein. „Hast du Angst, wenn wir dich allein lassen?“ fragte Glück. „Nö. Aber et is nich richtich. „Wenn hier wat los is —“
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„Na, 's wird ja nicht ausgerechnet jetzt was passieren. Schließ dich ein. Draußen ist ja schon alles in Ordnung.“ „Ich muß hinaus, wenn der Zug kommt.“ „Während der vorbeifährt, geschieht ja auch nichts. Außerdem sind wir bald wieder zurück. Der Mann kann höchstens 200, 300 Meter weit liegen.“ Glück mußte laufen, Schepperl war schon vorausgegangen. Liebedorn war kein ausgesprochen feiger, aber auch kein ausgesprochen mutiger Charakter; er ging einer Gefahr für Leib und Leben vernünftigerweise nach Möglichkeit aus dem Wege. Aber so nervös wie jetzt war er noch nie gewesen. Das machten die Hiobsbotschaften. Und überhaupt, es war alles so unheimlich heute. Er hörte Glücks Schritte noch und ging rasch nach den Weichen, um sich noch einmal zu überzeugen, daß er sie nach der Durchfahrt des letzten Zuges aus Guratschewo richtig gestellt hatte und die grüne Scheibe vor der Laterne war. Dann ging er rasch wieder zum Haus. Von Glück und Schepperl war nichts mehr zu hören. Die letzten Schritte lief er, fuhr durch den Eingang wie ein verfolgter Fuchs in die Röhre, schlug die Türe hinter sich zu und warf den Holzriegel vor. Es war ihm wirklich ein kalter Schauer den Rücken hinuntergelaufen. Er dachte an die ständige Verlassenheit der paar Eisenbahner in den Riesenwäldern — er würde auf und davongehen. Mißtrauisch sah er nach, ob die Fensterläden festgemacht waren und dann ging er in den Schuppen, sich zu überzeugen, daß sie auch dort die Türe verschlossen und die Querbalken vorgelegt hatten. Jetzt war er ruhiger. Er löschte noch die Petroleumlampe und deckte die Laterne ab. Wenn sich draußen einer ans Haus heranschlich, konnte er hereinsehen, denn die Läden hatten ganz überflüssigerweise einen Herzausschnitt. Schepperls Marotte. Bisher war das allerdings noch keinem von ihnen gefährlich erschienen. Er würde die Ausschnitte einfach zunageln, wenn die andern zurück waren. Mensch — da kamen sie ja schon! Er hörte ihre Schritte. Wie ein Stein plumpste die Angst von seinem Herzen. Er lachte, riß die Stubentüre auf. Nichts mehr von einem Gefühl des Unheimlichen!
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„Einen Mommang!“ rief er. „Ick mache uff!“, denn sie drückten an der Türe herum. Er hatte schon die Hand am Riegel, da fiel ihm auf, daß sich der Schepperl draußen das Maul noch nicht aufriß, weil die Türe verschlossen war, daß überhaupt keiner einen Ton von sich gab. Außerdem kam jetzt auch vom Schuppen her ein Geräusch. Liebedorn hielt die Luft an, nahm die Hand vom Riegel. Es wurde ihm heiß und kalt. Rückwärts und ganz an die Seite gedrückt, auf den Fußspitzen, tastete er sich in die Stube zurück, zog behutsam die Türe zu, schob auch da den Riegel vor. Die paar Sekunden hatten ihm den Schweiß auf die Stirne getrieben; sie hätten durch die Türe schießen können. Er rief den Bahnhof an. Die Leitung war tot. Unterbrochen. Auch Karasiny gab keine Antwort und Guratschewo nicht. Liebedorns große blaue Kinderaugen wurden noch größer und starr vor Erschütterung. Jetzt war er verloren. Wenn sie die Türen einschlugen, konnte er vielleicht gerade einen Schuß abgeben und er bezweifelte, daß der treffen würde, so zitterten seine Hände. Er schämte sich gar nicht darüber. Nein, er war kein Held und wollte auch keiner sein. Wenn er nicht schoß, wenn er sich gleich ergab, vielleicht würden sie ihn dann nicht umbringen. Niemand schlug die Türen ein, es waren andere Geräusche draußen. Es wurde gearbeitet. Sie zerstörten die Weichen oder bauten Minen ein. Eigentlich war das selbstverständlich, denn dazu waren sie natürlich gekommen und nicht, um durchaus dem Sigismund das Genick umzudrehen. Und doch traf es ihn wie ein Schlag. Aber dieser Schlag lähmte ihn nicht, sondern rüttelte ihn auf. Der Eisenbahner war getroffen und da er selbst offenbar nicht unmittelbar bedroht war, so lange er sich in seinen vier Wänden still verhielt, verließ ihn zunächst mal die schlotternde Furcht um sein Leben. Statt dessen erfüllte ihn Scham, daß die Abzweigstelle sozusagen unter seinen Augen zerstört wurde, und Wut auf Schepperl, der an allem Schuld war. Da lag Ninas Zettel noch! Und — jetzt erst fiel ihm das Schlimmste ein: In einer Viertelstunde war der Munitionszug da. Flog der in die Luft, dann gab es hier nicht nur ein paar Sprengtrichterchen und zerknautschte Weichen, sondern überhaupt keine Abzweigstelle
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und auch keinen Fahrdienstleiter Liebedorn mehr. Nur noch einen furchtbaren Krater. „Weiche 1 konnte man vom Fenster aus sehen. Nun hatte Schepperls Marotte doch ihr Gutes. Liebedorn schob vorsichtig seinen Kopf hinter der Wand vor und brachte ein Auge vor den Herzausschnitt, in seiner lebhaften Fantasie gewärtig, in ein anderes Auge da draußen oder in einen Pistolenlauf zu sehen. Nichts dergleichen. Ungehindert fiel sein Blick auf Weiche 1 und die drei Kerle, die sich da zu schaffen machten; sie schienen sie regelrecht auszubauen. „Was er aber noch sah, nahm ihm jede Hoffnung, in irgend einer Form eingreifen zu können. Er sah nämlich gerade noch den Strohberg und wollte seinen Augen nicht trauen: Obenauf waren ein paar Kerle mit einem leichten Maschinengewehr. Sie beherrschten von dort aus die ganze Gegend und Eingang und Fenster des Hauses. Auch die Schuppentüre. Der Schacht in der Mitte ihres Hochsitzes schien sie nicht gestört zu haben. Die Bombe! Die Bombe! Jetzt, wenn sie krepierte, dürfte sie ruhig auch das Dach vom Hause werfen, die da droben und die Weichen-Schänder unten würden dann nie wieder einen Anschlag verüben! Jetzt eine Brandfackel ins Stroh werfen können! In Brand schießen müßte man's! Es mußte überhaupt knallen, damit Schepperl und Glück gewarnt waren. Die liefen ja sonst ahnungslos den Banditen in die Hände. Vor das MG. Das mußte er unter allen Umständen verhüten. Und er mußte auch hinaus. Unbedingt, Mit rotem Licht den Munizug aufhalten. Mußte sich auf irgendeine Weise Bahn schaffen! Aber wie? Er hatte eine Chance. Seine anfängliche Verzagtheit kam ihm jetzt zu Nutze. Sicher rechneten die Banditen nicht mehr damit, daß der Eisenbahner, der sich ins Haus verkrochen hatte wie eine Maus ins Loch, noch etwas unternehmen würde. Wenn er sie plötzlich schreckte, verwirrte, wenn zum Beispiel eine Handgranate draußen krepierte — —? Liebedorn hatte noch nie eine Handgranate geworfen. Er hätte auch nicht gewußt, wie man den Zünder einsetzt, aber er wußte, sie waren geschärft. Als er nun zwei von ihnen in der Hand hielt, 303
wollte ihn doch wieder Verzagtheit überfallen. Da fiel draußen ein Schuß und gleich hinterher feuerte das MG. Entweder kam eine Streife oder es galt den beiden Kameraden. Herrgott, wenn sie nur nicht schon getroffen waren! Das MG mußte aufhören! Jetzt war sein Wille doch stärker als alle Verzagtheit, gab ihm einen Ruck. Er stopfte die eine Handgranate links, die andere rechts in die Manteltasche, den Griff nach oben, lief zum Eingang, legte leise, aber entschlossen den Riegel zurück, öffnete trotz des Lärms draußen die Türe behutsam, sah, an die Wand gedrückt, die ihm Deckung bot, das Mündungsfeuer des MG, nahm die eine Handgranate, legte den Zeigefinger in die Abzugsschlinge, riß, sprang vor die Türe, um ausholen zu können. 30 oder 35 Meter nur und das Ziel 6 Meter hoch und 8 Meter breit — er holte Schwung mit seinem langen Arm und warf, flitzte wieder in den Eingang zurück, drückte sich an die Wand. Ein stotternder Atemzug, drei wilde Herzschläge, dann krachte es draußen und gleich darauf gab es ein wildes Geschrei. Nun werden die MGGarben gegen das Haus prasseln, in den Eingang herein, dachte Liebedorn. Nein, das MG schwieg. Das aufgeregte Geschrei nahm zu. Er schob den Kopf so weit vor, daß er die Strohpyramide sehen konnte. Da war Rauch. Sie brannte. Ein ganzes Rudel Banditen war teils dem MG-Trupp behilflich, herunterzukommen, teils versuchte es wohl, das Feuer zu ersticken. An Weiche 1 war niemand mehr, von Weiche 2 und 3, die Liebedorn nicht sehen konnte, kamen noch harte Geräusche und nun krachten dort auch wieder Gewehre. Heller Mut, aus dem Erfolg seines ersten Wurfes aufschießend, trieb Liebedorn und er sprang noch einmal hinaus, warf jetzt völlig zielsicher und mit noch größerem Schwung die zweite Handgranate, flitzte aber nicht mehr in den Eingang zurück, sondern setzte mit zwei, drei gewaltigen Sprüngen seiner langen Beine an der Hausfront entlang und um die Ecke, hinter der er der Sicht und dem Beschuß des Gegners ebenfalls entzogen war. Auch diesem Krachen folgten Gebrüll, Todesschreie, Schmerzensschreie. Er schob kurz seinen Kopf vor. Am rauchenden Strohberg leckte jetzt eine helle Flamme hoch. Sie ergriff in wenigen Augenblicken die ganze Vorderseite. Obenauf war niemand mehr zu sehen, vielleicht waren die Banditen hinten 304
heruntergekommen. An seinem Fuße lagen und krochen, schreiend und jammernd einige herum. Andere liefen eben hinzu, wahrscheinlich die von Weiche 2 und 3. Die Arbeitsgeräusche hatten aufgehört. Aber jetzt krachten von beiden Seiten des Strohturms her Gewehre. Liebedorn hörte die Kugeln in die Hausmauer patschen, in das Holz der Läden. Scheiben zerklirrten. Er wartete nicht länger. Dem Zuge, auch wenn er jetzt kam, brauchte er kein Haltsignal mehr zu geben. Mochte das grüne Licht ruhig brennen. Der riesigen lohenden Fackel würde der Lokführer mit seiner Fracht unter keinen Umständen zu nahe kommen. Liebedorn sah noch, wie der Wind brennende Strohfahnen vom First des Turmes riß und davontrug, dann rannte er hinter das Haus und weiter, weiter! Denn hinter ihm würde in einer Minute, vielleicht in Sekunden die Welt untergehen. Der goldrote Feuerschein färbte weithin den Himmel und den Schnee. Noch immer krachten jenseits des Hauses Gewehre und die Einschläge patschten. Er sah seitwärts die Müllgrube, ein eineinhalb Meter tiefes Loch, in das sie ihre leeren Büchsen und unverbrennbaren Abfälle warfen. An sie hatte er gar nicht gedacht. In spontanem Entschluß sprang er auf sie zu und hinunter und indem er sprang, sah er zwei Köpfe hochkommen, dachte: jetzt ist's aus mit mir! und landete in den Armen Schepperls und Glücks. Aber zur Begrüßung war keine Zeit, denn im gleichen Augenblick ging ein Zittern durch den Boden, erhob sich ein Sturm, erschütterte der Donner der Explosion Luft und Erde, pfiffen, jaulten, surrten, klackten böse und mordsüchtig ringsum Trümmer, Splitter, Steine, Eisbrocken, daß sie die Köpfe bis in die stinkigen Büchsen drückten. Eine Feuergarbe schoß in den Himmel, schleuderte Feuerregen nach allen Seiten, löste sich in Tausende von glühenden Schlangen und Sternen auf, die, vom Winde nach Westen getrieben, sanft und verlöschend langsam niedersanken. Dann war Grabesstille. Schepperl stieg als erster hinaus. Langsam. Es eilte nicht. Die andern folgten. Beschossen zu werden, hatten sie wahrscheinlich nicht mehr zu befürchten, dennoch gingen sie mit einigen Schritten Zwischenraum nebeneinander her. Drei Paar Augen starrten durch das Dunkel 305
nach dem Haus. Das Strohdach sah aus wie der Kopf des Struwelpeters, aber es war noch drauf und es brannte nicht. Sie atmeten auf. Die vordere Hauswand war mit Splitter- und Kugeleinschlägen übersät. Innen Nachschau zu halten, war jetzt keine Zeit. Das nächste war, daß Schepperl, der jetzt Dienst hatte, das Signal auf Halt stellte. Man hörte den Zug jetzt. Er mußte etwa draußen auf dem Damm sein. Dann sahen sie vorsichtig nach, was die Partisanen unternommen hatten. Weiche 1 war zur Hälfte ausgebaut, daneben lagen noch die Werkzeuge. Die Weichen 2 und 3 waren unterhöhlt, die Minen, eine Kontakt- und eine Druckmine, lagen noch davor. Vom Bahnhof kam die Kastendraisine der Bahnmeisterei mit einer Gruppe Landser, ein paar Eisenbahnern und dem Bahnhofsvorsteher persönlich. Eine Stunde später waren die Bahnanlagen wieder in Ordnung, die Telefonleitungen geflickt und der Betrieb ging weiter. Von Partisanen hatte man außer einigen furchtbar zugerichteten Leichen, ein paar Schaufeln voll verschmorter Überreste in der Nähe und vielen weit verstreuten Leichenteilen nichts mehr gehört und gesehen. Es war anzunehmen, daß sie alle umgekommen waren, aber ihre Zahl konnte nicht mehr festgestellt werden. Nach den Beobachtungen Liebedorns, Glücks und Schepperls mußten es etwa fünfzehn gewesen sein. Die Schäden, die im Inneren angerichtet worden waren, ließen sich ertragen. Milchglas und Zylinder der Hängelampe waren zertrümmert. Eine Stuhllehne, der Fußboden, Bettgestelle und Strohsäcke hatten Löcher und ein paar Kleidungs- und Wäschestücke. Schepperl war sehr kleinlaut. „I Schohf bei da Nacht!“ grollte er mit sich selbst. Ang'schmiert hatten sie ihn! Er rennt in die Nacht eini und das Gestöhn rennt voraus, daß er gar net nachkimmt! Weglocken hat er sich lassen! Er, der Schepperl Josef! „Jo i bi ja so a damische Ritta, daß ganz aus is!“ Und als sie schließlich umgekehrt waren und wütend aber sorglos daherkamen, fangt eine solchene Knallerei an, daß eahm dr Arsch mit Grundeis ganga is. Auf’m Bauch hota kriach'n müss'n, vor dene Partisana, dene Saggramentsschlawihna, dene ausgschamtn, windign, dene 306
varecktn! Bloß daß er no lebendig in dös Scheißbüchsnloch einikimma is, in dös mistige, stinkate! Und der Preiß hat recht ghabt! Und verteidigt die Dienststoin mutterseelenalleinig! Der Deifi! Der Dahdirl! Und laßt die Bomben hochgehn und dee ganz Sippschaft dazua! Und jetzt spielt er den Bescheidenen und behauptet, er hätte in der eenen Viertelstunde mehr Angst ausgestanden als in seen janzen Leben bisher. Die zweite Hälfte der Nacht verlief ohne Störung. Liebedorn hatte sich schlafen gelegt. Glück saß auf dem Dach, obgleich Schepperl erklärt hatte, er passe schon selber auf. Er hatte viel zu viel zu tun, um aufpassen zu können. Noch drei Züge der Bewegung Eisbrecher kamen. Ein Lazarettzug, der vorn und hinten eine Lok und in der Mitte noch einen Heizkesselwagen hatte und ein Hilfskrankenzug, der diesmal mit Öfen ausgestattet war und aus allen Ritzen rauchte, wurden in der Gegenrichtung durchgeschleust. Bei allen Zügen waren jetzt der Lok ein oder mehrere Leerwagen vorgespannt, offene Güterwagen. Am vorderen, mit Sand oder Kies, mitunter auch mit alten Schwellen beladen, hing ein wagenbreiter Eisenbügel bis dicht über die Schienen, dazu bestimmt, die Stabe etwaiger Kontaktminen zu fassen und die Explosion auszulösen. Man konnte, da die Züge bei Nacht nur im Schritt fuhren, in diesem Fall damit rechnen, daß es schlimmstenfalls noch zu einer harmlosen Entgleisung, aber keiner schwereren Beschädigung der Lok mehr kam. Auf dem zweiten Wagen führte man gleich Ersatzschienen, Gleisbrücken und sonstiges für die sofortige Wiederinstandsetzung des Bahnkörpers notwendiges Material und Handwerkszeug mit und irgendwo im Zuge eine Handvoll Bahnunterhaltungsarbeiter mit einem Rottenführer, so daß der Aufenthalt auf kürzeste Frist begrenzt werden konnte. „Wenn Züge vor der Abzweigstelle halten mußten und einer von den dreien den Lokführern und Heizern in die Gesichter sah, erkannte er, unter welch aufreibender Anspannung aller Sinne und Kräfte diese Männer standen. Mit ihnen fuhr der Tod. Das war es, was aus diesen Zügen, diesen Augen sprach. Keiner von ihnen wußte jemals, wenn er in seinem Betriebswerk auf die Lok stieg, ob er es wiedersehen würde. Wenn sie auf einer Station abfuhren, wußten 307
sie nicht, ob sie die nächste erreichen würden. An wie viel Gräbern fuhren sie vorüber, auf deren schlichten Holzkreuzen die Eisenbahnermütze hing! „Wo würde einmal das ihre gegraben werden? Eine Nacht auf einem Dache sitzen, ist kein Vergnügen, auch wenn man so warm vermummt ist, wie es Glück war. Auch wenn man das Herz voller Bilder und Rätsel und heißer Träume hat. Und es ist kaum etwas schwerer, als Stunde um Stunde ins Unsichtbare zu starren und zu horchen und wach zu bleiben. „Wenn Schepperl unten nicht immer wieder aus- und eingegangen wäre, um Weichen zu stellen, Signale zu wechseln, und dabei jedesmal mit ihm gesprochen hätte, wären ihm längst die Augen zugefallen. Er hörte auch das Telefon klingeln. Gedämpft, wie man einen Wecker hört, wenn man ihn unter die Decke steckt. Und jetzt hörte er ein Flugzeug. Er sah auf die Uhr. Fünf. In zwei Stunden war es Tag. Er hatte sich noch nie so sehr auf den Strohsack gefreut. Das Motorengeräusch in der Luft kam rasch näher, von oben nach unten, schien es. Es war ganz dumpf. Es mußte eine mehrmotorige schwere Maschine sein. Die schwere Flak nördlich Russkinaja fing zu bollern an. Das dumpfe Brummen zog rasch westwärts und plötzlich verstummte es. Kam auch nicht wieder. Glück hob verwundert den Kopf. Wo war die Maschine geblieben? Abgeschossen? Abgestürzt? Es war nicht anders möglich. Eine halbe Stunde später donnerte sie daher, nördlich vorbei, zweifellos so niedrig, daß man sie am Tage mit einem MG hätte abschießen können. Die Vierlingsflak an der Brücke schoß eine Minute lang Leuchtspur. Erst als die Motoren schon fern im Osten verhallten, schoß auch die schwere Flak, stellte aber das Feuer nach wenigen Schuß wieder ein. Liebedorn schlief wie ein Sack, aber Schepperl war herausgekommen. Er kratzte sich hinter den Ohren. Und eine halbe Stunde später wiederholte sich derselbe Vorgang, aber nicht in nordwestlicher, sondern südwestlicher Richtung. Nach zehn Minuten kam ein Anruf: Erhöhte Aufmerksamkeit aller
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Militär- und Bahndienststellen. Wahrscheinlich wurden oder werden russische Fallschirmjäger oder Partisanen abgesetzt. „Sauba“, knurrte Schepperl und machte sich daran, zwischendurch aus seinen sieben Sachen das Unentbehrlichste auszusuchen und der Ledertasche näherzubringen. Alles, was in Russkinaja und einem Umkreis von 30 Kilometern an Militär und Polizei lag, ausgenommen die wichtigsten Wachen, wurde an diesem Morgen zur Absuchung der Dörfer und Wälder nach Partisanen und russischen Soldaten eingesetzt. Man griff eine Anzahl besonders verdächtig erscheinender Männer und Frauen auf, aber um alle Verdächtigen sicherzustellen, hätte man so ziemlich die ganze Bevölkerung internieren müssen. Von Fallschirmabspringern oder gelandeten Russkis fand man nicht eine Spur. Niemand weit und breit wollte von solchen etwas wahrgenommen haben. In Russkinaja stockte seit Mitternacht der Zugverkehr. Denn in Richtung Nischkowo mußten die Lokomotiven mit zwei Tendern ausgerüstet werden, weil ja dort kein Wasser gefaßt werden konnte, bevor die Notbewasserungsanlage nicht geschaffen war. Der Wasservorrat nur eines Tenders hätte für Hin- und Rückfahrt nicht gereicht. Da aber erst wenige Lok zwei Tender hatten, konnte nur ein Teil der Züge gefahren werden. Der andere, größere Teil staute sich, nun auch schon rückwärts in Guratschewo und Karasiny. Die Lage im Frontabschnitt spitzte sich zu. Die rettenden Reserven kamen nicht, der Munitionsersatz blieb aus, die Verpflegung wurde knapp. Es gab tobende Kommandeure bis zum Bataillonskommandeur hinunter. „Himmelkreuzdonnerwetter!“ schrien sie in die Feldtelefone. „Wo bleiben die Verstärkungen? Wo bleibt die Munition? Wo bleibt das Fressen?“ Sie mußten schreien, damit sie die Abschüsse der eigenen Geschütze und das Krachen der russischen Granaten und Bomben übertönten. Und sie schlugen die Hörer auf die Gabeln und knurrten „Scheißkerle!“ Auf den Hektorleitungen pfiffen die Generalstabsoffiziere des Transportwesens die Amtsvorstände an, verlangten von der Haupteisenbahndirektion Mitte und der Feldeisenbahndirektion 2 genaue schriftliche Berichte, warum es wieder einmal nicht 309
klappte? Die Herrn, die nach ihren Berechnungen Züge fahren ließen und mit Tinte Krieg führten, hätten ja nur einmal ihre Stabsquartiere verlassen und dort Platz zu nehmen brauchen, wo Krieg mit Blut geschrieben wurde. Sie brauchten nur ein einziges Mal von Minsk nach Russkinaja—Nischkowo—Betriebsspitze auf den Lokomotiven mitzufahren. Nur einen Tag und eine Nacht lang von einer der gottverlassenen Stationen zur anderen zu pilgern und zu erleben, wie ihnen die Kugeln um die Köpfe pfiffen oder eine Mine hochging oder eine Handgranate durchs Fenster klirrte. Mit dem Transportoffizier im Knoten Russkinaja konnte man reden. Der wackere alte Major sah ja, was los war! Der wußte genau so wie alle Vorsteher der Betriebswerke und Bahnhöfe und wie der Betriebsleiter und die Dezernenten in Minsk, wie man auch von der polnisch-russischen Grenze bis an die Hauptkampflinie den Eisenbahnbetrieb im Handumdrehen friedensmäßig flüssig gestalten und erhalten konnte. Die Mittel waren: Friedensmäßige Betriebseinrichtungen und ihre friedensmäßige Besetzung mit Beamten, Zuführung von 3.000 Lokomotiven, Sonderkonstruktion für Sibirienkälte, Zufuhr von ausreichenden Mengen eisenbahnüblicher Kohle und Einsatz von drei Armeekorps einschließlich Luftwaffe zum Schutz der Strecken, Brücken, Bahnhöfe. Kein Mensch ist vollkommen, auch der Eisenbahner nicht. Und Nieten gibt es überall. Aber nicht nur im blauen Rock, auch im grauen und gerade da bis ganz oben hinauf, wo sie allerdings hinter ihrer glänzenden Fassade nur noch selten und zu spät zu entdecken sind. Natürlich durfte man auch da nicht in der Ausnahme die Regel sehen, im auffallenden Idioten oder Kaffer den Typus erblicken. Der Transportchef hätte nicht so viel Galle zu spucken brauchen und seine bevollmächtigten Generale hätten nicht länger nach Sündenböcken gesucht, wenn sie sich mit den Beamten in den Betriebs- und Maschinenämtern, den Bahnhöfen und den Betriebswerken zusammengesetzt hätten, als Kameraden, als Menschen unter Menschen. Auch Schepperl hätte ihnen gewiß mit Freuden Rede und Antwort gestanden. Er gehörte zu denen, die nicht einmal dem lieben Gott gegenüber ein Blatt vor den Mund nehmen. 310
Auch an diesem TD61n.4g 0.672789w746.43mp.00332e22TBT/TT0
Untersuchen und Verbinden. Leises Stöhnen und heftige Schmerzlaute übertönten das Geräusch der Räder und das Wassergeplätscher. Einige Fenster waren zerschossen. An der Seite war eine Bahre aufgestellt. Eine Schwester lag darauf, starr ausgestreckt, Kopf und Brust mit ihrer Schürze zugedeckt. Der Assistenzarzt sah auf, als Bunz hinter dem über einen Verletzten gebeugten Oberarzt stehen blieb, und fragte: „Wünschen Sie etwas?“ „Mein Kamerad auf der Lok braucht Hilfe. Ich glaube, er hat einen schweren Schuß. Herholen kann man ihn schlecht.“ Der Oberarzt Dr. Knork richtete sich hoch, wandte sich um, sagte: „Ich komme gleich selbst mit“, ergriff dabei Bunz' Hand, drückte sie und sagte weiter: „Ich danke euch. Für alle, die ihr gerettet habt.“ „Donnerwetter!“ dachte Bunz. Dieser Knork war ja ganz anders, als Racke ihn geschildert hatte. Oder hatte ihn die Geschichte so gewandelt? „Es geht aber über den Tender“, sagte Bunz. „Ich werde es schon auch fertigbringen.“ Schweigend schloß sich eine der Schwestern an. Sie trug Instrumente und Verbandszeug. Bunz nahm es ihr ab, sagte: „Nein, Schwester, über den Tender klettern ist nichts für Sie. Ich helfe dem Doktor schon.“ Die zwei Blauen standen immer noch da. Sie machten wieder beide die Münder auf, aber sie kamen wieder nicht dazu, etwas zu sagen, denn schon redete Bunz. „Du kannst mitkommen und helfen!“ sagte er zu dem Kleineren, Kraftprotzigen, und zu dem Langen: „Du suchst den Oberinspektor — den Sonderführer mit den Hauptmannsschulterstücken!“ „Jawoll!“ sagte der Lange so militärisch straff, als stecke auch er in Feldgrau, und er beeilte sich, als hätte ihm ein General einen Befehl gegeben. Der Zug hatte nicht mehr viel Fahrt. Bunz stieg voraus zur Lok. „Wir sind schon da, Hensch“, sagte er tröstend. Hensch gab keine Antwort. Er war ganz in sich zusammengesunken. Sie richteten ihn vorsichtig auf. Das Gesicht war wachsgelb. Der Mund stand weit offen wie in höchster
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Atemnot. Auch die Augen standen auf, aber man sah nur das Weiße. Hensch war tot. Bunz wußte es, noch ehe der Arzt ein Wort gesprochen hatte. Er hatte bei der Strafkompanie viele so gesehen und in die Erde gescharrt. „Wir wollen doch noch nachsehen“, sagte der Arzt. Bunz warf einen Blick auf Regler und Steuerung. Das war in Ordnung, das Manometer aber zeigte kaum noch 4 atü. Das neue Feuer unterm Kessel nützte noch nichts. Der breitschultrige Blaue mit der gesträubten Bartbürste half dem Arzt so geschickt wie ein gelernter Sanitäter, Henschs Oberkörper freizumachen. Der Heizer hatte gerade unter der letzten Rippe rechts ein faustgroßes Loch und innen alles zerfetzt, ein blutiger Matsch. „Ich hätte früher gehen müssen“, murmelte Bunz, als müßte er sich vor dem Toten entschuldigen. „Warum hast du's denn nicht gleich gesagt!“ Dr. Knork richtete sich auf. „Ich hätte ihm auch nicht helfen können, wenn Sie mich sofort geholt hätten“, sagte er. Vielleicht hatte er Bunz' Worte falsch verstanden. „Explosivgeschoß in der Leber.“ „Ich habe Sie sofort geholt, Herr Oberarzt. Ich hab's ja nicht gewußt. Er hat noch Feuer gemacht. Nachher erst hat's ihn umgeworfen.“ „Was hat er?“ Ungläubig starrte Dr. Knork auf Bunz. Auf den Toten. „Mit dieser Verletzung hat er noch —?“ Er lehnte sich ohne Rücksicht auf den Ruß neben das Fenster, zündete sich eine Zigarette an, nahm ein paar tiefe Züge, dann sagte er: „Ich hab euch Eisenbahnern allerhand abzubitten. Wenn euer Sonderführer nicht umgekommen wäre, würde ich ihn —“ Dr. Knork unterbrach sich, der Lokführer hatte seinen Arm gepackt, sah aus, als ob er wütend auf ihn wäre. „Was sagen Sie da?“ stieß Bunz heraus. „Racke ist umgekommen?“ „Ach so“, sagte der Arzt und befreite mit einer kleinen Bewegung seinen Arm von Bunz' Hand. „Das wissen Sie ja gar nicht. Der Zugführer Willicke hat es mir mitgeteilt, kurz ehe Sie mich geholt haben. Der letzte Wagen habe gleich nach der Abfahrt zwei 421
Granatvolltreffer abbekommen. Der ganze vordere Teil sei zerschlagen und dabei losgerissen worden. Den Rest habe es herumgedreht und bis zur Hälfte ins Wasser geworfen. Willicke sagt, der Sonderführer und eine der Krementschuger Schwestern seien noch in diesem Wagen gewesen.“ Der Zug war in diesen Minuten noch langsamer geworden, jetzt blieb er stehen. Bunz schloß den Regler. Dann klappte er die Feuertüre auf, ohne Lärm, als wollte er den Toten nicht stören, fuhr mit der Gabel hinein und zog das Feuer mehr nach vorne und nach den Seiten, warf ein paar Schaufeln Kohle zu, schloß die Türe wieder. Sie waren bis auf knapp tausend Meter an das Bahnhofsgebäude herangekommen. Es lag wie ein Schiff im Wasser. Dicht bei ihm stand die vordere Hälfte des Lazarettzuges. Auf der Dorfinsel schien sich nichts geändert zu haben. „Wie lange wird es dauern“, fragte Knork, „bis wir weiterfahren können?“ „Ich denke in einer Stunde haben wir wieder Dampf genug“, antwortete Bunz. Dr. Knork warf die halbgerauchte Zigarette hinaus ins Wasser. „Ich muß zu meinen Patienten zurück“, sagte er. Der blaue Eisenbahner nahm den Kasten mit dem Besteck und Verbandszeug, wandte sich, ehe er dem Arzt nachkletterte, Bunz zu. „Wos is'n dös für a Racke, der Sonderführer? I kenn fei aa an Racke, aba dös is a blaua Inschpekta.“ Was, der kann auch reden? dachte Bunz und antwortete kurz: „Der Inspektor ist sein Bruder.“ Der Stierköpfige wurde lebendig. „Woaßt du, wo deer is?“ „Ja. Er wird auch kommen. Heute noch oder morgen. Er holt Plattformdraisinen.“ Jo gibt's 'n dös aa? Da Racke kimmt!? Oisdann pfüati!“ Er drehte sich noch einmal um. „Woaßt, i hoaß Schepperl. Die Arche Noah do hint is seit gestern unsa Station. Mir san nämlich aus'm Mittelabschnitt dahera vasetzt worn. Aus'm Reg'n in' Trauf'n — vastehst! S' Wassa is aso gach dag'wä'n, daß ma denkt ham, mia dasaufa. Da samma in den Lazarettzug eini. So a Bleedsinn!“ 422
Schepperl verzog sich über den Tender wieder zum Zug zurück und Bunz setzte sich auf den Tenderabsatz und steckte sich eine Pfeife an. Als sie ausgeraucht war, sah er nach dem Manometer, nickte zufrieden, sah nach dem Feuer, schippte Kohle nach. Inzwischen saßen Schepperl und Liebedorn bei Willicke. „Sie meenen wirklich, Kolleche“, fragte Liebedorn, „dat der Herr Sonderführer und det Meechen von die Jranaten jetötet wurden oder ertrunken sin?“ „Leider ja.“ „Hostas gsäh'n, wia's hin warn?“ fragte Schepperl. „Bitte?“ „Er meent, ob Se die beeden tot jeseh'n hab'n“, verdeutschte Liebedorn. „Nö, det jerade nich.“ „Oiso, kennas no lebendig im Wog'n stecka aa.“ Willicke schüttelte den grauen Kopf. Nein, nachdem, was er gesehen hatte, hielt er das für ganz ausgeschlossen. Aber Schepperl entschied kurz und bündig: „Bals Nocht is, nacha schauma nach.“ Liebedorns Nase schnüffelte lebhafter, sein Gurgelknopf jedoch blieb stecken. Und dann fragte er beunruhigt: „Zu Fuß?“ „Dös säg'n ma no scho“, fertigte ihn Schepperl kurz ab. Der Zug hatte nach einer halben Stunde wieder Dampf genug. Bunz fuhr ihn vollends in den Bahnhof. Der Sekretär Liebedorn und der Betriebswart Schepperl schickten sich an, ihren Fahrdienst zu übernehmen. Dem Lokführer die Lok ab- und anspannen, sollte einer der beiden Schaffner machen; die konnten ruhig auch mal Eisbeine bekommen. Schepperl zog die Knobelbecher und die Strümpfe aus, krempelte die Hose übers Knie hinauf und die Unterhose, so weit es ging. Liebedorn folgte seinem Beispiel. Nebeneinander patschten sie, so rasch es gehen wollte, zu ihrer Arche, um zum Rangieren und zur Ausfahrt des wieder vereinten Zuges die Weichen und Signale zu stellen. Das Wasser ging Schepperl freundlicherweise nicht ganz und Liebedorn nur halb bis ans Knie. Telefon war nicht zu bedienen, also holte sich jeder einen Stuhl heraus, stellte ihn vor die Weichen- und Signalhebelanlage und setzte sich, Schepperl wie ein Türke die hochgezogenen Haxen 423
gekreuzt, Liebedorn, vorsichtig den Schwerpunkt ausbalancierend, mit dem Hintern auf die Lehne, mit den Füßen auf den Sitz. Der schöne Sigi hatte das blaue Schifferl unternehmungslustig schief aufs Ohr gedrückt, Schepperl die Prunkmütze ins Genick geschoben. Ihre Gesichter glänzten im Sonnenschein. Sie sahen so selbstbewußt gleichmütig drein, als wären sie nie vor dem bisserl Wasser davongelaufen und gewillt, mit ihrem Bahnhof unterzugehen wie Kapitäne mit ihrem Schiff. Als Willickes Pfeife trillerte und der Zug ausfuhr, stellten sie sich auf die Stühle. Die Lok stieß trotz ihrer Kreislaufstörungen lärmend ein gewaltiges Schwarzweißgemisch von Rauch und Dampf aus dem Schlot. Sie grüßten Bunz so respektvoll, als trüge er nicht eine einfache Landseruniform unter seinem verrußten und ölverschmierten Schlosseranzug, sondern Raupen oder goldene Reichsbahnratspassanten auf den Schultern. Bunz nickte ihnen erheitert zu, obwohl ihm ziemlich finster zumute war. Vor jedem Gesicht, das an einem der, vielfach zertrümmerten, Fenster erschien, hoben sie die Hand an den Mützenrand. Der Graukopf Willicke stand noch auf dem Trittbrett des letzten Wagens. „Ick an euerer Stelle würde wieder mitfahren“, hatte er ihnen geraten. „Wat wollt ihr denn hier? In die nächsten Tache fährt da doch nischt!“ Aber Schepperl hatte Bunz gefragt: „Moanst wirkli, daß da Inspekta kimmt?“ Und Bunz hatte geantwortet: „Darauf kannst du einen lassen.“ Worauf Schepperl das getan und vergnügt gesagt hatte: „Oisdann bleib'ma.“ Und Schepperls Wille war Liebedorn Befehl. Der Zug entschwand in der weiten See. Schepperl brummte: „Kloane Meeve, fliag noch Helgoland...“, aber Liebedorn ließ die Unterlippe hängen. „Jetzt ist's zappendüster“, murrte er. „Gengma eini, oide Hütt'n“, munterte Schepperl ihn auf, brach das Helgolandlied ab und sang: „I bin so gern, so gern dahoam, dahoam in meina schtillän Kla—ause...“ Sie nahmen ihre Stühle, patschten ins Haus hinein, räumten Kochgeschirr, Teller und Löffel vom Tisch, dann bauten sie auf, was sie sonst zu essen hatten. Im Lazarettzug hatten sie zwar Suppe, Tee und Brot bekommen, aber das war schon eine ganze Weile her. Sie holten ihre Handtücher, kletterten auf die Stühle,
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trockneten sich die Füße und zogen dann Unterhose und Hose wieder herunter, aber Strümpfe und Schuhe nicht an. Mit 20 Gramm Vielfruchtmarmelade aus Orangeschalen, einer fingerdünnen Scheibe Brot und 10 Drops „schlugen sie sich den Bauch voll“. Dann spielten sie 17 und 4. Aber die immerwährenden Gedanken konnten sie nicht verscheuchen. Sie wurden immer unruhiger, je mehr es auf den Abend zuging. Immer öfter warf Schepperl einen Blick durchs Fenster auf die versunkene Strecke, Richtung Poltawa. Aber weder ein Zug, noch ein Schiff dampfte an. Und da hinten hockten der Sonderführer Racke und die Schwester im dasoff'nen Wog'n bis am Hals im Wassa und bals net bald aussa g'holt würden, wer'n s' hin! Aber er konnte sich den Kopf zerbrechen, wie er wollte, er fand keinen Rat, wie er mit dem Sigi, dem Tropf, dem wasserscheuch'n, stundenlang durchs Wasser und wie sie vor allem zwischen den Russen durchkommen sollten. Als die Sonne unterging, war die Frage gelöst. Nicht durch Schepperls Erfindungsgabe, sondern durch Günther Rackes Ankunft. „Bluatsau! Se kemma!“ schrie Schepperl mit einemmal, warf die Karten auf den Tisch, obgleich er gerade 21 hatte und den Groschen eingesteckt hätte, stülpte Hose und Unterhose wieder hoch und platschte hinaus, daß ihm das Wasser bis ins Genick spritzte. Ein merkwürdiges Vehikel kam da an. Zwei mit Drahtseil aneinandergekuppelte Plattformdraisinen mit Handantrieb waren das, ein flacher Flußkahn draufgeladen und eine ganze Kolonne Streckenarbeiter und Landesschützen. Und da war auch Bunz. Und — ja! — Schepperl stieß einen Juchzer aus — das war er! Der Spitzbuamheiptling von Minsk und Pinsk! Der Nowy Wiezyczyianer! Der Freind von dem Jendik, dem Hadalump'n! „Racke! Racke! Oida Spehzi, lass di griaßn!“ schrie Schepperl und war sich gar nicht bewußt, daß er mit dem Inspektor durchaus nicht auf dem Duzfuß war, außer in seinem Herzen. Dem Inspektor schien es aber genau so zu gehn, denn er sprang zwar nicht in den Teich hinunter, um Schepperl um den Hals zu fallen, aber er packte ihn mit beiden Händen an beiden Schultern und schüttelte ihn, das heißt, er versuchte ihn zu schütteln, und 425
sagte: „Verdammt freu ich mich, daß ich euch wiederseh.“ Und er winkte zu Liebedorn hinüber, der flach mit dem Bauch über den Sims aus dem Fenster lag, weil er die Füße hinten auf dem Stuhl hatte, aus lauter Begeisterung „Heil Hitler, Herr Inspektor!“ schrie und mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelte. „Kommt ihr mit? Es eilt sehr!“ drängte Racke. Schepperl wuchtete sich auf die Draisine hinauf und schrie zu Liebedorn hinüber: „Geh hera, Lackl damischa! Bring meine Stiefel und Sock'n mit, d'Schiaßprieg'l und d'Stahlhelm! Und unsane Handgranat'n!“ „Was, Handgranaten habt ihr auch?“ staunte Racke. „Ihr seid ja großartig!“ „Dös glaabst!“ bestätigte Schepperl. „Die hamma vo Russkinaja mitgeh' lass'n.“ „Jesses, Jesses!“ rief da einer der Landesschützen. „Die kenn i ja! Ihr seid ja die Petroleumschieber von dera Abzweigstell!“ „Samma, samma!“ bestätigte Schepperl. „Und wer büscht na du, ha?“ „Ja kennschme denn nemme? D'r Lämmle!“ „Was hoaßt da Lemmle? Büscht eppa der Obergefreite, der wo —“ „Freilich! Der bene gwä! Ab'r jetzet bene Ond'roffizier!“ „Dees is m'r aa wurscht“, brummte Schepperl und dann hatte er keine Zeit mehr für den Unteroffizier Lämmle, dann brüllte er den Sigi an, der ihm, beladen wie ein Packesel und bedächtig wie ein Storch im Salat, viel zu langsam durch das Wasser stelzte: „Du lahmarschiga Preiß! A bisserl dalli, daß ma weitakemma!“ Jetzt aber fragte Günther Racke: „Wo ist denn Glück?“ Liebedorn saß schon lange mit dabei, da erzählte Schepperl immer noch. Racke hörte sehr still zu. Glück tat ihm aufrichtig leid. An ein solches Ende hätte er nicht gedacht. Sie waren nur ein Vorkommando, erklärte Racke den beiden Kameraden aus den Herbsttagen. Der Lazarettzug war in Ganowka abgestellt worden, denn Poltawa war inzwischen auch vom Hochwasser eingeschlossen und auch sonst ziemlich bedroht. Der Standortkommandeur war unterrichtet. Noch in der Nacht, spätestens gegen Morgen würde ein kompaniestarkes Aufgebot gegen die Russen anrücken. Das Vorkommando wollte 426
versuchen, den Sonderführer Racke und die DRK-Schwester herauszuholen, wenn sie noch am Leben waren. Bunz, Schepperl und Liebedorn kannten das Gelände. Die Taktik war ganz einfach: Zunächst mußte erkundet werden, wo sich die Russen jetzt befanden und was mit ihnen los war. Notfalls mußten sie durch Scheinüberfälle von der Strecke abgelenkt und von den Hügeln beim Bahnabschnitt vertrieben werden. Dafür würde alles eingesetzt bis auf Racke, Bunz und drei Mann von der Rotte. Sie würden mit den Draisinen und dem Nachen drauf zu dem Waggonwrack durchstoßen und bis sie auf dem Rückweg wieder zwischen den Hügeln durch waren, mußte ihnen der Weg offengehalten werden. Es würde sich um eine Viertelstunde handeln, höchstens um zwanzig Minuten. Treffpunkt für die Rückfahrt des Kommandos war die Grenze des Hochwassers um den Schepperlbahnhof. Sobald Rackes Abteilung den Hügeleinschnitt wieder erreicht hatte, würde sie Sichtsignale mit der Stablampe geben, erst weiß, dann grün. Rasch war es Nacht geworden. Keiner sprach mehr, das Rauchen wurde eingestellt und jeder vermeidbare Laut vermieden. Nur das gleichmäßige Fahrgeräusch war zu hören. Sie durchbohrten die Dunkelheit mit den Blicken und spitzten die Ohren. Als man nach Bunz' und Schepperls Dafürhalten etwa bis auf fünfhundert Meter an die Hügel herangekommen war, gingen die Landesschützen auf Erkundung. Es dauerte die Ewigkeit von einer geschlagenen Stunde. Inzwischen hatte der Himmel alle seine Sterne angezündet. Die Russen hatten auf den Hügelkuppen beiderseits der Bahn Wachposten aufgestellt. Der Haufen selbst lag, in kleine Gruppen aufgelöst, am Uferhang an niedergebrannten Feuern, wohl fast alles schon im Schlafe. Auch den Standort der Granatwerfer hatte der Spähtrupp schon erkundet. „Dee holma“, sagte Schepperl. „Mit'm Maul“, brummte einer der Landser. Schepperl gab keine Antwort. Unteroffizier Lämmle teilte zwei Stoßtrupps zu je zwei Landesschützen und zwei Eisenbahnern ein; Hügel links, Hügel rechts. Sie hatten die Wachposten anzuschleichen und zu überfallen. „Bleibet uffem Bauch, bis er se an dr Gurgel hennt“, 427
mahnte er. Dann hatten sie die Kuppen zu besetzen und ein Feuer zu eröffnen, daß die Russen meinen mußten, ein ganzes Bataillon wäre im Angriff. Diese Meinung mußte gestützt werden durch einen markierten Flankenangriff des Gros, das unter seiner Führung aus dem fünften Landser und den restlichen Eisenbahnern einschließlich Schepperl bestand. Das Kampfziel war lediglich, der Draisine den Weg zu öffnen und offen zu halten. Auch nach Pak-Feldwebel Rackes Meinung mußte das ohne Schwierigkeiten gelingen und mehr brauchte nicht riskiert zu werden. Lämmle mußte mit seiner Abteilung zuerst an Ort und Stelle sein. Zwanzig Minuten genügten dazu. Um 23 Uhr mußte an allen drei Stellen der Feuerzauber gleichzeitig beginnen. Wäre gelacht, wenn die aus dem Schlaf geweckten Russkis nicht zunächst einmal liefen, wenn man ihnen den Fluchtweg zum Walde offen ließ, und wenn's tausend wären! Liebedorn hatte sich die Gruppe für den rechten, den höheren Hügel ausgesucht, weil sich bei ihr das LMG befand und er sich am sichersten fühlte, wo die stärkste Feuerkraft eingesetzt werden konnte und außerdem die Rückzugsstraße, der Bahnkörper, am nächsten war. Er hielt sich auch etwas zurück, weil es ja doch besser war, wenn einer von ihnen ganz speziell auf die Rückkunft der Draisine achtete, damit der Abbruch der Feindseligkeiten nicht unnötig verzögert wurde. Er hatte zwar schon einmal ganz allein eine Bande Partisanen erledigt, aber nicht aus heldischem Triebe, sondern der Not gehorchend und dem zornigen kameradschaftlichen Aufruhr seines Herzens. Und als nun der Feuerzauber losging und er weit drüben Schepperls raufsüchtiges Geschrei vernahm: „Auf geht's beim Schiechtl, Buam! Hol ma die Hurasaggramentsgranatwerfer aussa!“, da war dem schönen Sigismund hinter seiner Hügelkuppe seelisch und körperlich fast so wohl zumute, wie den Feldherrn, die hundert und tausend Kilometer hinterm Schuß per Funk und Telefon die Schlachten lenkten. Als das vereinbarte Gebrüll auf beiden Kuppen anzeigte, daß der Schienenweg frei war, legten sich Bunz und die drei Bua ,in die Riemen'. Ohne viel Geräusch rollte das Amphibien-Fahrzeug zum Scheitelpunkt der Strecke zwischen den Hügeln, dann mit 428
zunehmender Geschwindigkeit leicht abwärts und rauschend ins aufschäumende Wasser. Bei dem krachenden Feuerzauber, den die Kameraden veranstalteten, brauchten sie nicht zu befürchten, vom Iwan gehört zu werden und sein besonderes Interesse auf sich zu lenken. Jetzt mußten sich die Arme kräftig rühren. Langsam stieg das Wasser bis dicht unter die Plattform. Die Männer wurden unruhig; es begann unheimlich zu werden, so in der Nacht. Der Gedanke ging ihnen durch den Kopf, daß sie plötzlich absacken konnten, weil der Damm da unten inzwischen zerstört worden war. Wozu hatten sie den Nachen mitgeschleppt? Sie hielten und brachten ihn zu Wasser. Zwei Mann hielten die vordere Draisine auf der Stelle, der dritte und Bunz stiegen mit Racke in den Nachen. Aber jetzt hatten sie keine Räder auf den Schienen mehr, die sie auf dem richtigen Weg hielten. Sie überlegten sich, was sie tun konnten, um nicht abzukommen von der unsichtbaren Straße. Glücklicherweise führte sie hier, wie Bunz ja wußte, geradeaus. So merkten sie sich die Sterngruppe, die in der ursprünglichen Richtung lag, es war der Orion. Sie sahen rückwärts und merkten sich, daß der Hügeleinschnitt gerade unter dem Polarstern sein mußte. Die Strömung wurde stärker, die Ruderer hatten Mühe, den Nachen gegen sie in der Richtung zu halten. Rasch waren die Draisinen und die beiden Kameraden auf ihnen unsichtbar geworden. Bunz saß am Heck und steuerte den Zielstern, den untersten im Schwert des Orion an. Er visierte über den Kopf des in der Mitte des Kahnes rudernden Kameraden weg, der mit dem Gesicht zum Heck saß und dafür sorgte, daß es unter dem Polarstern blieb. Günther Racke kauerte im Bug und tat ein übriges. Er fühlte mit einer der Stangen den Grund ab und drückte sie gegen die Schiene. Solange er an ihr blieb, befand sich der Nachen überm Gleis. Sein Herz pochte die Sekunden. Er legte sich ganz flach und spähte dicht über das Wasser hin. Minute um Minute verrann, dann ging es wie ein leichter Ruck durch ihn, er hob rasch die Hand, flüsterte: „Vorsicht! Langsam! Da kommt einer übers Wasser her.“ Auch die beiden andern bückten sich, legten die Köpfe schief und sahen die schwarze Gestalt vor dem Sternhimmel schon 429
ganz nahe auf sie zukommen, ohne daß sie sich bewegte. Um sie herum bunkerte das Wasser. Günther hob die Pistole, dann fragte er halblaut: „Wolf, bist du das?“ Ein rauher, gedämpfter Ruf klang zurück: „Hallo — Günther!“ Natürlich kam die Gestalt nicht auf sie zu, sondern umgekehrt. Wolf stand auch nicht wie ein Wundertäter auf dem Wasser, sondern auf dem letzten Streifen des leicht gewölbten Daches, der noch einen Zoll herausragte. Auch Wolf Racke hatte die Pistole in der Hand, jetzt steckte er sie ein. Der Nachen schürchte an etwas. Wolf faßte Günthers entgegengestreckte Hand und stieg mit einem weiten Schritt auf die Spitze des Nachens über. Er hatte eine Decke umhängen. „Danke euch“, sagte er nur. Seine ganze Erregung und Erschöpfung klang aus den zwei Wörtchen. Kurz nachdem die Schießerei begonnen hatte, war der Waggon noch einmal eingebrochen. Wolf setzte sich auf den Rand des Nachens und sank ganz in sich zusammen. Günther legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wolf, war nicht auch eine Schwester —?“ „Ja. Sie wurde schon vor über zwei Stunden in einem kleinen Gummiboot auf die Krementschuger Seite gebracht.“ Sie ruderten zu den Draisinen zurück, hoben den Nachen wieder hinauf, vier Paar kräftige Arme trieben sie rückwärts. Alle waren froh, daß sie Wolf Racke herausgeholt hatten und daß auch die Schwester gerettet war. Der Gefechtslärm war abgeflaut gewesen, jetzt gab es wieder Gekrach und Geschrei, jedoch ziemlich weit linksab. Sie sahen das Aufblitzen der Schüsse und das Feuerzucken krepierender Handgranaten. Günther Racke beugte sich zu Wolf. „Wer war denn die Schwester?“ „Eva.“ Einen Augenblick blieb Günther der Atem stehn. „Glaubst du, daß sie hinübergekommen ist?“ „Ja.“ Ohne besondere Eile, auf möglichste Stille bedacht, fuhren sie den Hügeln zu. Liebedorn hörte und sah sie kommen. Und weil er 430
kein Horn hatte, um „Retraite“ zu blasen, nahm er die Hände vor den Mund und schrie nach allen Seiten „Hallali! Hallali!“ in die Nacht, bis ihm die Stimme überschnappte und sein Gurgelknopf den Krampf bekam. Racke gab die Lichtsignale. Liebedorn flitzte holpernd und stolpernd und dennoch ohne zu fallen, die steile Böschung hinab; noch zwei, drei Kameraden rannten daher. Sie sparten sich den Fußmarsch. Nach zwanzig Minuten hatte die Fahrzeugabteilung die Wassergrenze erreicht. Sie warteten vereinbarungsgemäß. In kleinen Gruppen kamen die andern. Schließlich waren sie alle da und niemand war verwundet, nur Lämmle und Schepperl fehlten noch. Eine halbe Stunde verging, sie kamen nicht. Die meisten der Wartenden hatten sich an den flachen Damm gelegt und waren eingeschlafen; auch Bunz und Liebedorn. „Wir müssen sie suchen“, sagte Günther Racke. „Das ist meine Sache“, widersprach Wolf. „Nein. Du hast genug hinter dir.“ „Ich bin wieder in Form und gehe.“ „Wir gehen mit“, sagte einer der Kameraden Lämmles für alle. Sie luden den Nachen ab, kuppelten die beiden Draisinen auseinander. Sie sahen nicht ein, warum sie latschen sollten, wenn man auch fahren konnte, aber eine genügte ihnen. Vielleicht konnten sie auch für Lämmle und Schepperl das Fahrzeug gut brauchen. Sehr optimistisch waren sie nicht, was die beiden betraf. Günther und Wolf starrten und lauschten in das Dunkel. Außer dem weichen Klang der Räder und dem gleichmäßigen Rhythmus der härteren Schienenstöße war alles still. Aber weit waren sie noch nicht gekommen, da hörten sie es dahertappen, leise erst, undeutlich, dann immer lauter, unverkennbar: viele schwere, schlurfende Tritte. „Vorsicht!“ flüsterte Günther. „Runter!“ Sie ließen die Draisine stehen, gingen leise, aber eilends noch ein Stück weiter und legten sich mit schußbereiten Pistolen und angelegten Gewehren zwanzig Schritte in den Acker hinaus. Eine kleine Kolonne tauchte aus dem Dunkel. Russen. An die zwanzig mochten es sein. Die meisten hatten die Gewehre um 431
den Hals gehängt und zogen zwei Geschütze. Das waren die Granatwerfer. Die Russen trotteten dahin, als befänden sie sich nach einer Übung auf dem Marsch in die Kaserne. Jetzt zogen sie vor den im dunklen Acker Liegenden vorbei. Mit fünf Schritt Abstand stapften Lämmle und Schepperl hinterdrein. Der Landser schwang im Takt eine Stielhandgranate. Der Eisenbahner handhabte sein Gewehr wie einen Spazierstock und stieß alle vier Schritte den Kolben auf eine Schwelle, daß es schepperte. Baß bloß uff!“ schrie ihn Lämmle jetzt an, „daß d'rs net los-goht!“ „Haha!“ lachte Schepperl. „Balsas kennt! 's is jo nimma glod'n!“ Die sieben standen aus dem Acker auf. Lämmle sah sie, hatte schon den Finger in der Abzugsschlinge seines Taktstocks und schrie: „Halt! Wer da?“ mit einer solchen Donnerstimme, daß die Kolonne vor ihm mit einem Ruck erstarrte. Aber noch ehe er ausgeschrien hatte, erkannte er seine Kameraden und Racke, und der Offizier dabei, das mußte der Sonderführerhauptmann sein. Er spritzte drei Schritte her, senkte die Handgranate wie einen Degen und brüllte: „Unteroffizier Lämmle mit zwei Granatwerfer, naizeh Gfangene und einem Schepperl auf dem Marsch nach Ganowka. Wolf Racke lachte hellauf, Günther Racke stöhnte: „Lämmle, Sie sind großartig!“ Lämmle antwortete: „Sell glaube! Sie miesset bloß entschuldige, daß' so lang dauert hot, bis mei Freind Schepperl die Kerle zom Ziehge beinander kett hot.“ Dann rannte er an der Kolonne vor, schrie: „Abteilung marsch! Dawai! Dawai! ihr Scheireburzler!“ und schüttelte die Handgranate überm Kopf. Die Brüder Racke fuhren voraus, damit der Triumphzug nicht blindlings mit einer Schießerei empfangen wurde. Es gab ein großes Hallo. Da aber weder auf den Draisinen noch im Nachen auch noch Platz für die Gefangenen und die Beute an Waffen war, Schepperl und Lämmle in ihrer überzeugungskräftigen Ausdrucksweise von vorneherein dagegen protestierten, daß ihre armen Teufel stundenlang bis an den Bauch durch das saukalte Wasser patschen sollten, Eisenbahner und Landser außerdem vor Müdigkeit fast umsanken, trockenes Land nun vor drei Stunden nicht mehr 432
erreicht wurde und der Standort nicht vor sechs, hob man die Draisinen vom Gleis, damit sie nicht peinlich wirkten, wenn der Transport mit dem Jagdkommando kam, und rückte nach einem etwas abseits liegenden Wäldchen ab, um sich an den Busen der Natur zu betten und mit dem Sternentuch des Himmels zuzudecken. Beutegewehre und Granatwerfer wurden mitgenommen. So hatte man auch die Gewähr, daß man, wenn der kriegerische Einheitsführer mit seinem Haufen anrückte, nicht geschnappt und gleich wieder zu neuen Taten mit eingereiht wurde. An Ort und Stelle wickelten sich die Gefangenen alsbald in ihre Decken und setzten, dicht beieinanderliegend, ihren vor zwei Stunden so unfriedlich unterbrochenen Schlaf friedlich fort. Die Eisenbahner stellten eine Wache auf mit einstündiger Ablösung. Sekretär Liebedorn, der Druckpunktnehmer, den der Betriebswart Schepperl bisher keines Blickes, geschweige denn eines Wortes gewürdigt hatte, übernahm eifrig die Aufgabe des Wachhabenden, zumal er als SA-Scharführer darin geschult war, die erste Wache aber übernahmen Wolf und Günther Racke. Lange standen sie schweigend nebeneinander, lauschten in die Nacht. Dann begann Wolf flüsternd zu erzählen, wie er Eva getroffen hatte, wie sie in den Lazarettzug gekommen war und wie sie miteinander auf den Tod gewartet hatten, als der Waggon auch noch eingebrochen und immer tiefer eingesunken war. Dann standen sie wieder schweigend. Sie sahen zwischen dem Wipfelgeäst die Sterne. Sie hörten den Atem und die Geräusche der Schlafenden, das feine Ziehen des Wassers und den Wind. Und sie hörten in ihren Herzen das Pochen des Unausgesprochenen.
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19. KAPITEL
Wasser und Land hatten sich wieder geschieden. Aus dem Dnjeprmeer war wieder ein Strom, aus den Seen waren Flüsse, den Flüssen wieder Bäche geworden. Und indessen hatte unversehens der Frühling seinen Einzug gehalten. Liebedorn und Schepperl gingen wieder trockenen Fußes im Haus und ums Haus, sahen mit ungläubigen Augen, daß die Welt grün wurde, daß es auch in diesem Reich der endlosen Tragödie Knospen und Blüten, Laub und Blumen gab. Daß Eva wohlbehalten, allerdings mit schwerer nervöser Erschöpfung in ihr Lazarett zurückgekommen war, hatte Günther Racke über die Nachrichtenwege der Wehrmacht erfahren. Mit dem ersten Zug, der über die wiederhergestellte Strecke rollte, fuhr er nach Krementschug. Überall an der Strecke, überall an den Dämmen arbeiteten noch Pioniere und Arbeitsdienst im Verein mit den Eisenbahnern, aber vergeblich hörte er sich nach jenem Feldwebel Engel um und im Lazarett erlebte er die heftigste Enttäuschung seines Lebens. Sie war das bittere Gegenstück zu jener unsagbaren Glückseligkeit, als an einem Dezembertag Eva in dem Kämmerchen in Poltawa plötzlich vor ihm gestanden war: sie war nicht mehr da. Ohne erkennbare organische Ursache hatte sie wiederholt bedenkliche Herzschwächen erlitten. Der Puls schwankte oft stundenlang zwischen niedrigsten und höchsten Zahlen. Da hatte sie gerade am Vortage der Chefarzt einfach mit in ein Flugzeug gesteckt, in dem ein schwerverwundeter, mit dem Eichenlaub ausgezeichneter Fliegerfeldwebel zu Sauerbruch geflogen wurde, weil der Professor der einzige Chirurg war, der mit einer kleinen Aussicht auf Gelingen die Operation ausführen konnte, die das Leben des hervorragenden Fliegers vielleicht zu retten vermochte. So sehr es Günther im Grunde genommen freute und beruhigte, daß seine junge Frau nun der unablässigen Gefahr entzogen war 434
und sich ihre Herzneurose, oder was es sein mochte, im elterlichen Heim sicher bald wieder verlieren würde, so leer fühlte er sich selbst. Wie eine ins Wasser getauchte Katze kam er sich vor und wie ein verprügelter Hund trottete er zum Bahnhof zurück. Seit jenem nächtlichen Gespräch mit Wolf hatte er eine ihm bisher fremd gewesene wilde und wehe Sehnsucht nach Eva empfunden. Er kämpfte mit dem Gedanken, ihr nachzufahren. Sicher würde ihm die Betriebsleitung Osten auf Antrag ein paar Tage Sonderurlaub bewilligen. Aber der Minister hatte gesagt: „Sehen Sie, daß Sie an die Brennpunkte kommen!“ Freiwillig hatte er den Auftrag übernommen. Und jetzt, wo es überall brannte, lief er davon? War das nicht ein Vertrauensbruch? Konnten das die andern? Die Tausende und Zehntausende, Landser und Eisenbahner, die, sachlich betrachtet, viel dringendere Gründe hätten? Was war das für ein verlogener Idealismus, der in der Stunde, da er sich bewähren sollte, über Bord geworfen wurde, sich als eitler Dünkel enthüllte? Günther Racke fuhr auf den kleinen Bahnhof zurück. Auch er sah in dem Grünen und Blühen etwas fast Unbegreifliches. Aber allen drei zusammen wollte es noch unbegreiflicher erscheinen, daß es nicht nur Frühling geworden, sondern daß da auch immer noch, wie im Herbst, der Landser war und der Eisenbahner. Daß in unerschütterlicher Beharrlichkeit die Räder rollten auf den stählernen Straßen. Der durch das Hochwasser verursachte Stau an Truppen- und Versorgungszügen wurde nicht bloß wieder nach Regelfahrplan, sondern gleich bündelweise aufgearbeitet. Oft sprang Racke ein und machte Fahrdienst mit, wenn sogar auf dem harmlosen Durchgangsbahnhöfchen zwei Paar Beine, Arme und Hände und vor allem auch die zwei Köpfe nicht ausreichen wollten. Oder wenn es notwendig war, gegen Eigenmächtigkeiten von Transportführern und gegen mancherlei Frontschweingewohnheiten, die gegenüber Eisenbahndienststellen schlecht am Platze waren, das Betriebsinteresse und die Betriebsvorschrift durchzusetzen, was häufig weder Liebedorns Liebenswürdigkeit, noch Schepperls bajuwarischem Sprachschatz gelang. 435
In diesen Tagen fügte Günther Racke seiner Chronik den Abschnitt Russkinaja ein, weil sich in den Erlebnissen des Kleeblatts nicht nur die Einsatznöte und Betriebschwierigkeiten der blauen Eisenbahner des Mittelabschnitts in den vergangenen Wintermonaten umfassend widerspiegelten, sondern auch der Eisenbahner selbst in seiner Mühsal, seinen Leiden und Freuden und seiner existentiellen Findigkeit so plastisch sich darstellte. Schepperl war im Gegensatz zu Liebedorn wenig literaturbeflissen, in Rackes Aufzeichnungen aber konnte er seine Nase nicht oft genug hineinstecken. „Saggra, saggra“, brummte er immer wieder, wenn ihm aus ihnen klar wurde, wie trügerisch in all der Zeit der Boden unter ihren Füßen gewesen war. Der einzelne kleine Eisenbahner sah ja über seinen Bahnhof, sein Betriebswerk oder bestenfalls den Zugleitungsbezirk nicht hinaus. Das örtliche Geschehen allein war jedoch auf diesem Kriegsschauplatz kein Anhaltspunkt für die Gesamtlage. Es konnte hier verzweifelt düsteren Pessimismus erwecken und anderswo den gedankenlosen oder mangels bisheriger schlechter Erfahrungen herrschenden Optimismus nähren. Der Gesamtüberblick dagegen ließ einerseits die unablässige schwere Bedrohung der deutschen Front und ihres Hinterlandes erkennen, andererseits aber auch den unbeugsamen Willen, der sie hielt, jedoch nur halten konnte, weil dem deutschen Soldaten noch das Selbstbewußtsein seiner persönlichen menschlichen und soldatischen Überlegenheit und seiner Kampferfahrung seelische Kräfte verlieh, die trotz des Mangels an allem, trotz des katastrophalen Verschleißes der technischen Ausrüstung die Panik verhütete. Stolz, Trotz, Humor und eine Pflichttreue ohne Grenzen kennzeichneten die Stimmung des Landsers selbst noch in der unverkennbaren Niederlage. Was für die Hauptkampflinie, für den Landser galt, galt auch für den Bereich der Eisenbahner. Von Mitte Februar an hatte es Bomben gehagelt, insbesondere auf die NormalspurHauptrolIbahn Sinelnikowo—Jasinowataja—Uspenskaja, das ganze Industriegebiet, vor allem auch auf den Bahnhof Dshankoj, das Tor zur Krim, ferner auf das als Lok-Wechselbahnhof ausgebaute Postyschewo. Gerade dieses unentbehrlichste 436
Betriebswerk fiel fast eine Woche ganz aus. Das Lokspeisewasser mußte in Tender-Pendelzügen herbeigeschafft werden. Die Angriffe folgten stets mehrere Tage lang so rasch aufeinander, daß es kaum möglich war, überhaupt noch Betrieb durchzuführen. Das bißchen Flak und die paar Jagdflieger, die den riesigen Bereich schützen sollten, nützten nur wenig; so oft und so dringend aber auch stärkere Abwehrkräfte gefordert wurden — alle Hilferufe blieben wirkungslos, weil eben einfach nicht mehr zur Verfügung stand. Auch das Personal reichte nicht mehr aus, denn die einheimischen Arbeitskräfte verließen nicht nur ihre Arbeitsplätze, sondern vielfach sogar ihre Wohnstätten; Rangier-, Weichen- und Zugbegleitdienst mußten von den Feldeisenbahnern selbst übernommen werden. Dazu kam die Betriebsbehinderung und Betriebsgefährdung infolge der Zerstörung der Fernsprechleitungen. Tag und Nacht waren die Fernsprechtrupps unterwegs, aber kaum war eine Leitung wieder hergestellt, wurde sie erneut zerschlagen. Bahnhöfe in Frontnähe wurden außerdem von der russischen Artillerie unter Feuer genommen, auf allen Strecken die Züge mit Bordkanonen und Maschinengewehren beschossen. Die Zahl der Toten und Verletzten dieser Luftoffensive hielt sich in mäßigen Grenzen, noch erstaunlicher jedoch war, daß ihr praktischer Erfolg, gemessen am Aufwand des Gegners, als unbedeutend zu bezeichnen war. Selbstverständlich war es nicht möglich gewesen, in dieser Zeit die Verkehrsdichte durchzuhalten, nirgends aber war es zu einer Stillegung des Verkehrs gekommen, wie sie eigentlich hatte befürchtet werden müssen. Nach der ersten Märzwoche hatte der Einbruch einer Schlechtwetterperiode endlich wieder weniger entnervende Verhältnisse gebracht, denn der Eisenbahner war inzwischen so hart gesotten, daß er davon Abstand nahm, seine Nerven zu verlieren, weil schon weit westlich, im Rücken dieses ganzen Gebietes, die durchgebrochenen russischen Kräfte operierten. Die von der Luftoffensive heimgesuchten Strecken lebten umgehend wieder auf, der Betrieb war und blieb flüssig trotz unablässig steigender Zugzahlen. Auch die weiter nördlich gelegenen Breitspurstrecken um Charkow herum und nach Kursk 437
hinauf bewältigten einen sehr regen Verkehr, nachdem die nötigen Breitspurlokomotiven zur Stelle waren. Sorgenkind war nur der Knoten Woroshba. Dort fand der Umschlag der normalspurig von Bachmatsch anrollenden Züge auf die Breitspurstrecken nach Kursk und nach Charkow statt. Woroshba war jedoch gleismäßig viel zu beschränkt, um im gleichen Tempo mitzukommen. Außerdem mußte es laufend vordringliche Truppentransporte von Kursk nach Charkow umleiten. Liebedorns kleines Kinn wich unter dem Eindruck seiner Nichtigkeit gegenüber dem Kolossalgemälde der Chronik Rackes noch mehr zurück und auch sogar Schepperl wurde sich etwas kleinlaut bewußt, welch kleines Rädchen selbst sein weiß-blaues in diesem gewaltigen Getriebe war. Günther Racke stellte ihr Wertbewußtsein wieder her. Was würden die großen Räder nützen, wenn die kleinen nicht wären? Was wären die blauen und grauen Generalstäbe der Eisenbahn ohne die Bunz und Schepperl und Liebedorn? Generale ohne Armeen! — — Der Mai brachte nicht nur den Frühling, er brachte auch den Höhepunkt des russischen Aufmarsches gegen Charkow. Und eines Tages packte Inspektor Racke seinen Gebirgsjägerrucksack, schüttelte den beiden Kameraden die Hand und fuhr nach Poltawa. Immer noch verteidigten Kampfgruppen der blauen und grauen Eisenbahner Seite an Seite mit der Truppe den Knotenbahnhof Konstantinograd und den Raum der Strecken Konstantinograd—Merefa—Charkow und Konstantinograd—Charkow. Zu der Kampfgruppe des Majors Ziegelmayer, die im Bereich der 305. Infanteriedivision eingesetzt war, hatte sich auch Wolf Racke gemeldet. Tag für Tag kostete Opfer an Blut und Leben. Über eine Woche rang sie erbittert mit einem an Zahl und Bewaffnung vielfach überlegenen Gegner. In letzter Stunde, als alles verloren schien, heulten Sturzkampfflieger an und zerschlugen die zum entscheidenden Angriff angetretenen russischen Einheiten. Das war am 19. Mai. Einen Tag später stand Günther Racke bei Krasnograd am Grabe des Bruders. Er hielt in schweigender Erschütterung einen Zettel in der Hand. Ein Sanitätsunteroffizier hatte ihm diesen Zettel mit Uhr, Siegelring und Brieftasche des Sonderführers (K) 438
Wolf Dieter Racke ausgehändigt. Auf dem Zettel standen, kaum leserlich, nur ein paar Worte. „Lebt wohl. Es ist gut so.“ In dieser Nacht schrieb Günther an Eva. „Der Mensch wächst nicht an seinem Glück, sondern an seinem Leid.“ Er schrieb beim Scheine seiner Taschenlampe in einem Zelt mit einer kleinen Unterlage auf den Knien. Er mußte Buchstaben für Buchstaben malen, denn die Erde zitterte vom Donner der Geschütze. Der große deutsche Gegenangriff hatte begonnen. Die Kampfgruppen der Eisenbahner kehrten auf ihre Dienststellen zurück. Auch die Abteilung des Oberleutnants Haake, die sich unter seiner Führung besonders ausgezeichnet hatte. Der Betrieb lief auf Hochtouren in allen seinen Teilen. Aber mit einem Ohr und einem Auge hingen die Blauen und die Grauen an der Ferne. An der Front. Spähten nach ihren Bränden aus. Horchten auf ihr Wummern und Poltern. Und sie atmeten auf. In den beiden gewaltigen Entscheidungsschlachten siegten die Deutschen. Und wie im vergangenen Sommer und Herbst, so stießen auch jetzt wieder die Eisenbahner der Front nach. Die Betriebsleiter, Abteilungsleiter, Dezernenten der Direktionen schlugen sich, so weit möglich, in tagelangen, langwierigen Bahnfahrten zu den neuen Einsatzräumen durch. So weit nicht möglich, fuhren sie in Kraftwagen und flogen im Fieseler Storch ins Niemandsland zur Erkundung der Strecken, der wichtigen Knoten und Betriebswerke. Sie hatten ihre Leistungsfähigkeit zu berechnen, die notwendigen Wiederaufbauarbeiten festzustellen, den für die von der militärischen Führung geforderten Zugzahlen erforderlichen zusätzlichen. Ausbau zu veranschlagen. Es waren gefährliche Aufträge, die von diesen Männern ausgeführt werden mußten. Auf sich selbst gestellt, durchstöberten sie Bahnanlagen, die noch von Minen verseucht waren, drangen mutterseelenallein in Bahnhöfe ein, in Betriebswerke und Hallen, wo weit und breit kein Landser mehr oder noch nicht wieder zu sehen war, einem aber plötzlich Russen in Haufen gegenüberstanden, die eher wie Räuber als 439
wie ,gutt Kamradd' aussahen. Bei all dem hing das Damoklesschwert der Verantwortlichkeit über den Erkundern. Ihre Angaben wurden den Planungen des Chefs des Transportwesens zugrunde gelegt. Auf den gemeldeten Transportmöglichkeiten und Terminen des Eisenbahnbetriebsaufbaus fußten die strategischen Pläne mit. Falsche Darstellungen, unzuverlässige Berechnungen konnten für den fraglichen Frontabschnitt verhängnisvoll werden und den Verantwortlichen den Kopf kosten. „Wieder wurden Bahnhofsbesetzungen und Betriebswerkbelegschaften in Kraftwagenkolonnen an ihre Einsatzorte gebracht. Bauplätze schossen wie Pilze aus der Erde. Und wieder fraßen sich Bauzüge und Umspurzüge auf den zerstörten Strecken voran; hinter ihnen her rollte der Verkehr, weiter und weiter, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten. Und man hatte eine einjährige Erfahrung hinter sich, war mit allen Fronthunden, insbesondere den Polarhunden gehetzt. Aus den harten Lehren der Anfangsmonate mit den leeren Händen und aus den Winterschrecken hatten alle gelernt und nun hatte man auch ganz andere Hilfsmittel. Als sich angesichts der katastrophalen Verhältnisse des Spätjahres die Köche des Feldzugs zu der Einsicht durchgerungen hatten, daß auch die Eisenbahn nur mit Wasser kochen kann, war um die Jahreswende endlich ein den Forderungen der Direktionen entsprechendes ,Sofortprogramm' für den Ausbau der Strecken und Betriebsanlagen befohlen worden. Zur Ergänzung der zahlenmäßig bei weitem nicht ausreichenden Kräfte der Eisenbahnpioniere waren 6.000 Hochbaukräfte des Baustabs Speer allein für den Bezirk der FED 3 aus dem Reich herbeigeholt worden. Bis sie jedoch jeweils an Ort und Stelle eintrafen, waren bei den Betriebsverhältnissen des Januar und Februar Wochen vergangen und das verlorene Vierteljahr war nicht mehr aufzuholen. Nun aber hatten Wiederherstellung und Neubau der Bahnhofshochbauten, in erster Linie der Lokschuppen, Auftaustände, Wassertürme, Stellwerke, Fahrdienstleiter- und Weichenwärterbuden, und der maschinentechnischen Einrichtungen, der Bekohlungs- und
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Entschlackungsanlagen, Pumpstationen und Wasserkräne gewaltige Fortschritte gemacht. Und man war nicht dabei stehen geblieben. Von Minsk bis Smolensk und Kursk, von Kiew bis Charkow, hinab ans Schwarze Meer und zur Krim, zum Asowschen Meer und ins Donezbecken war bis zum Frühjahr auf dem Gebiet der Verkehrseroberung des riesigen Raumes eine ebenso riesige Leistung vollbracht. Es waren allerdings auch ungeheuere finanzielle Mittel und alle Reserven des Reiches, der Industrie und Bauorganisationen, an Material, an technischen Mitteln und an Arbeitskräften eingesetzt worden und das Äußerste an Willen und Kraft jedes einzelnen. Mitte April waren 30.000 Kilometer Gleise umgespurt und die Achsen von 73.000 russischen Güterwagen auf Normalspur umgepreßt, 1.800 Kilometer zweigleisig ausgebaut, 15.500 Weichen eingebaut, 1.250 Brücken wiederhergestellt, 3.300 Lokstände gebaut, 410 neue Wassertürme errichtet, 180.000 Kilometer Fernsprechleitungen gelegt, 35.000 Kilometer Fernschreib- und Morseleitungen. Und jetzt trieb dieser Wiederaufbau über die ganze Breite der Front weiter und weiter nach Osten vor. Denn nach der Zerschlagung der sowjetischen Frühjahrsoffensive blieben die deutschen Armeen nicht stehen. In den Juniwochen mußte im Hinterland mit versprengten großen Verbänden und üblen Banden noch hart gekämpft werden. Inzwischen wurde der Brückenkopf, den der Iwan noch diesseits des Donez hielt, genommen, jenseits eine starke Kräftegruppe niedergerungen, Entlastungsangriffe im Räume von Kursk abgewiesen, die noch südostwärts stehenden Divisionen niedergeworfen. Und am 1. Juli, dem Tage, an dem nach dreiwöchentlichem, von einem mitreißenden Siegeswillen getragenen Ringen Sewastopol erobert war, die anerkannt stärkste Land- und Seefestung der ganzen Welt, begann die Somrneroffensive der Wehrmacht. Inzwischen war schon Ende Mai von den blauen Eisenbahnern die Bahnmeisterei Ljubotin aufgebaut worden, der wichtige Knoten, in dem sich die Strecken Charkow—Poltawa und Woroshba—Merefa kreuzten. Sie umfaßte rund 170 Streckenkilometer und sie schaffte das mit 25 deutschen Eisenbahnern und 3.500 Ukrainern, Männern und Frauen. Der 441
Inspektor, ein Württemberger, hatte die Einheimischen nicht gepreßt, sondern zur freiwilligen Mitarbeit aufgerufen. Sie wurden gut behandelt. Er richtete Werkküchen ein und verköstigte sie samt Kindern. Schwierige Arbeiten und überdurchschnittliche Leistungen wurden mit zusätzlicher Verpflegung belohnt. Kindergärten wurden geschaffen, sogar ein Eisenbahnerkrankenhaus in Schwung gebracht. Die Menschen erwiesen sich dankbar durch Fleiß und Zuverlässigkeit und das ganze Jahr gab es nicht eine einzige Gleissprengung. Auch die Etappe Poltawa, in der man Monate lang wie auf einem Pulverfaß gesessen hatte, hob das eingezogene Haupt wieder aus den Schultern. Sie wurde nicht nur wieder lebhafter, sondern auch umfangreicher. Zu den Eisenbahnern, die auf dem Bummel des lebensdurstigen Militärs das Feldgrau freundlich mit Blau durchsetzten, zählten auch Schepperl und Liebedorn. Sie warteten mit ihren Minsker Kollegen noch immer auf die Rückversetzung zu ihrer Direktion. Schepperl trug neuerdings das Band des Verdienstkreuzes im Knopfloch. Er hatte sich lange überlegt, ob er die Auszeichnung anlegen sollte. Denn erstens wurmte ihn, daß es, je höher hinauf um so mehr und um so höhere Auszeichnungen gab, also — mit jenen Ausnahmen, die die Regel bestätigen — gerade im umgekehrten Verhältnis zur eigentlichen Leistung und zur wirklichen Tapferkeit. Zweitens ,stinkte er ihm', daß er nicht das EK, sondern den obligatorischen Fernkampforden erhalten hatte. Drittens, daß der Sigi leer ausgegangen war. Wenn er auch Berliner und nicht Münchner war und wenn er auch der Tapferkeit vorsichtig aus dem Wege ging, damals hatte er einen ganzen Haufen Partisanen hochgehen lassen und die Abzweigstelle M.P. und den Munitionszug gerettet. Schepperl trug das Band nicht seiner selbst wegen, sondern für das Ansehen der kleinen blauen Eisenbahner allgemein. Sie schritten einher, die beiden Unzertrennlichen, wie es sich für kriegswichtige Männer geziemt und so wie Vergnügungsreisende das tun, die sich die Welt besehen. Sie hatten so heitere Gesichter, als handelte es sich nicht mehr um Krieg und harten Dienst, sondern nur noch darum, in Frieden die Früchte des Sieges und ihrer Arbeit zu genießen. 442
Auch der Bevölkerung war sichtlich wohler zu Mut als bisher. Die Lüfte waren lind und nicht mehr so eisenhaltig, auch bestand keine Gefahr der ‚Befreiung' durch rote Truppen und Kommissare mehr, und den Partisanenbanden waren die Ungarn, die Honveds, auf den Fersen. Die Ukrainerinnen hatten ihre Sommerkleider aus den Pappkartons geholt, die ihre verheizten Schränke ersetzten, soweit sie solche jemals gehabt hatten. Da sie arm an Unterkleidung waren oder sie für überflüssig hielten, war es ein Vergnügen, gegen die Sonne ihre Silhouetten zu beschauen. Zur Abwechslung konnte man auch ins frische Grün hinauswandern, an der wieder so braven, idyllischen Worskla entlang, oder an den Rändern kleiner Bäche dem Konzert der Frösche lauschen und Sumpfschildkröten fangen. Inspektor Racke erhielt zum ersten Mal einen besonderen Auftrag aus Warschau: „Was ist in Kursk los? Rückstau verstopft die Strecken!“ Es war ganz einfach: Der Nachschub für die Front bei Woronesh rollte und rollte, aber Kursk besaß nicht genügend Ausladestellen und die vorhandenen waren zu klein. In Kursk konnten täglich nur 6, auf den weiteren Bahnhöfen bis vor zur derzeitigen Betriebsspitze Marmyshi zusammen nicht mehr als 9 Versorgungszüge verarbeitet werden. Daß der Bevollmächtigte Transportoffizier das Doppelte hatte anrollen lassen, beruhte auf oberflächlichen Meldungen einer Kodeis-Dienststelle, die den praktischen Verhältnissen in keiner Weise entsprachen. Außerdem war das Kodeis-Lager in Kursk ausgerechnet in einer wichtigen Gleisgruppe mit Rampe und Ladestraßen errichtet worden. Sonst wären 12 statt 6 Versorgungszüge zu bewältigen gewesen. Und diese Zahl hätte sich auch auf 15 erhöhen lassen, wenn rechtzeitig die nötigen Voraussetzungen geschaffen worden wären. Die Haupteisenbahndirektion Süd und Mitte und die Feldeisenbahnbetriebsleitung, auch all die Bahnhöfe und ihr Personal traf nicht die geringste Schuld. Noch während Racke in Kursk war, fiel Woronesh. Die Züge wurden über Marmyshi hinaus bis Kastornaja vorgetrieben. Dort traf er alte Bekannte. Den Pioniergefreiten Georg Blümlein, jetzt planmäßiger Inspektor, und den Pionierfeldwebel Lokführer
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Huckle. Die Betriebskompanie Surfleisch war im Aufbruch begriffen. „Wohin soll's denn gehen?“ fragte Racke. „In den Kaukasus“, flüsterte Blümlein. „Scheißhausparole?“ Nee, nee, mei Gudester, Dadsache! Streng geheem!“ „Das merkt man“, lachte Racke. „Aber Rostow, das Tor in den Kaukasus, haben doch die Russen noch.“ „Nemme lang“, versicherte Huckle. Als Racke zurückkam, war die Feldeisenbahndirektion, inzwischen in Feldeisenbahnkommando umgetauft, nach Charkow übergesiedelt, ins Direktionsgebäude der früheren Südbahn. Der Kommandeur war zum Oberst befördert. Die ewig alten, ewig neuen internen Kämpfe begannen. Der Kampf gegen die Ruhranfälle und die notdürftigen hygienischen Verhältnisse. Es war längst allen klar: Der Schnaps war für Rußland eine Lebensfrage. Ohne seine innere Desinfektion war der Tod. Und der Kampf gegen die Wanzen. Es half nur wenig, daß man die Bettgestellfüße in Petroleum stellte, man mußte den Biestern mit verdünntem Kampfgas zu Leibe rücken; es fand so wenigstens eine menschenfreundliche Verwendung. Den nie aufhörenden Bemühungen gelang es immer wieder, die widerlichen Blutsauger zu dezimieren, doch niemals gelang es, sie auszurotten. Als bei einer Besprechung sogar dem Oberst Freiherr von Bergen eine Wanze aus der Mütze und über die Eisenbahnkarte marschierte, wurde diese Begebenheit mit Sachkunde und Genugtuung registriert, und als Beweis dafür, daß das Prinzip der Gleichheit im kommunistischen Staatsvorbild auf einem Gebiet tatsächlich durchgeführt war, auf dem des Ungeziefers. Inspektor Racke traf sie alle wieder, die Oberräte Brandner und Lob und eines Tages stand er mit gebührender Verblüffung Dr. Dornberg gegenüber. Er hätte ihn in der Offiziersuniform kaum erkannt. „Sicher hielten Sie mich für krematorisiert!“ lachte Dornberg. „Das nicht, Herr Sonderführer. Ich weiß, daß sich der Herr Minister selbst für Sie eingesetzt hat und daß Sie aus dem KZ entlassen, sogar zum Oberrat befördert wurden.“ 444
„Ja, formell wurde ich rehabilitiert. Man hat mich nach Holland geschickt und jetzt wurde ich auf Befehl des Transportchefs als Betriebsleiter zum FEK 3 versetzt. Der bisherige Betriebsleiter hat den Präsidenten der HVD-Mitte abgelöst.“ Racke lernte nun auch Charkow näher kennen, die größte Stadt der Ukraine. Vor dem Kriege hatte sie fast 700.000 Einwohner gezählt, ein Fünftel mehr als die Hauptstadt Kiew. Auch als Industrie- und Handelsmittelpunkt war Charkow bedeutender und hatte außerdem die Universität erhalten. Ohne eine Millionenstadt zu sein, war es Weltstadt, deren Bevölkerung etwa zu gleichen Teilen aus Großrussen und Ukrainern bestand. Viel mehr natürlich als Kiew, das mit seinen berühmten Kirchen und Klöstern einst die geistige Hochburg der griechisch-katholischen Orthodoxie und Hierarchie gewesen war, fühlte man hier den östlichen Atem des russischen Kolosses, den Anhauch Asiens. Wie in allen Sowjetstädten erhoben sich auch hier die riesigen Prunkbauten und Gebäudekomplexe des Staates und der Kommunistischen Partei aus der Menge der schmucklosen Straßen dürftiger Steinhäuser und der Masse elender Hütten an ebenso elenden schmutzigen Wegen und Plätzen. Die großen, schönen Straßen der Geschäftsviertel mit stattlichen, oft villenartigen Häusern, die alles Leben an sich zogen, und parkartig angelegte Plätze waren umgeben von der trostlosen Weite armseliger Gassen und nackter Flächen. Die Masse der Bevölkerung war noch bedrückt von der monatelangen Bedrohung der Stadt durch die Front. Der Hunger schwang seine Geißel über ihr, denn es war in all der Zeit technisch unmöglich gewesen und auch jetzt noch nicht möglich geworden, sie auch nur annähernd ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. Es hieß, daß hundert Menschen jeden Tag an Hunger stürben. Für einen Apfel wurde eine Mark bezahlt, für ein Ei 1,20. Das waren 12 Rubel. Die Landser verkauften ein Kommißbrot für 25 Mark und die Einheitsseife, diesen Sandschmierbatzen, für 3 Mark. Eine Flasche Wodka kostete 40 Mark. Der Lohn für ukrainische Eisenbahner war von 4,32 RM bis 7 RM gestuft, der Verpflegungssatz betrug 4,20 pro Woche. Gauner schmierten die Bevölkerung mit wertlosen
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Tausendmarkscheinen aus der Inflationszeit an. Es war heiß und es gab kein Wasser; jetzt war man froh, wenn es einmal regnete. Oberrat Brandner kam von einer Erkundung im ,Storch' zurück. Lachend erzählte er von einem Ausbesserungswerk in Bobrinskaja. Porphyrsäulen vor der Fassade erweckten den Eindruck einer festlichen Halle, eines Theaters. Bei näherem Zusehen waren die Säulen Atrappen aus Sperrholz mit rotem Farbanstrich, ganz zu schweigen davon, wie es innen aussah. Die Einrichtung war samt den Arbeitern verschleppt. Und das tollste: über dem Bw. Walujki stand in mannshohen russischen Buchstaben „Tod den menschenfressenden Faschistenbanditen!“ Lächerlich. Grotesk lächerlich. Und doch furchtbar. Was war für alle Zukunft von einem Staate zu erwarten, der das Gehirn seiner unwissenden Völker mit solch ungeheuerlichen Lügen tränkte? Walujki! Ein neuer Name. Nicht der einzige. Sie schossen wie Pilze auf aus dem neuen Hinterland der Front, die Namen der großen Bahnhöfe. Wie weit lagen Kursk, Belgorod, Charkow zurück! Von Woronesh, wo die unablässigen Gegenangriffe am verbissenen Widerstand und kühnen Vorstößen schneller Verbände scheiterten, verlief die Front südlich nach Liski, von dort jedoch sprang sie weit vor nach Osten. Bei Kalatsch, zwischen Don und Choper, war der Landser schon wieder dabei, die zurückgeworfenen Divisionen einzukesseln. Woroschilowgrad, die größte und wichtigste Stadt im nördlichen Donez-Industriegebiet war genommen. Von Millerowo aus, schon rund 300 Kilometer ostwärts Charkow, stieß eine Panzerarmee in das Donknie vor gegen Stalingrad. Was trieb er, der Eisenbahnkriegsberichter Racke, sich noch da hinten herum? Rostow war gefallen. Huckle hatte recht behalten. Der Vormarsch in den Kaukasus hatte begonnen und Kodeis machte schon auf kaukasischen Strecken Betrieb. Die erst im Juni wiedergewonnene Strecke Charkow—Lesowaja—Slawiansk, die Strecke von Charkow über Osnawa nach Isjum, die kaum in Besitz genommene neue Strecke Kursk—Belgorod—Charkow waren für die Eisenbahn bereits wieder Etappe, ihre neue Front zeichnete sich ab in den Strecken Charkow—Kupjansk, Kupjansk—Walujki, Walujki—Kastornaja, Walujki—Ostrogoshsk, 446
das dicht hinter dem Frontabschnitt der Italiener vor Liski lag, Walujki—Starobjelsk—Kondraschewskaja und weiter nach Millerowo, Millerowo—Rossosch—Jewdakowo, ebenfalls vor Liski, und Millerowo—Kamenskaja—Lichaja. Lichaja aber war der Ausgangsknoten der Strecke südwärts nach Rostow und ostwärts nach Stalingrad. Inspektor Racke setzte sich bald zu diesem, bald zu jenem Dezernenten, diesem und jenem Amtsvorstand oder diesem und jenem Vorauskommando einer Bahnhofsbesetzung in den PKW oder LKW, schlingerte stundenlang, meist neben endlosen Wehrmachtskolonnen her, in eine Dreckwolke gehüllt, über das laufende Band der Schlaglöcher, säuselte in einem Draisinchen oder rasselte im Schienen-LKW als erster auf eben wieder hergestellten Gleisen von einem eben wieder in Betrieb genommenen Bahnhof zum andern. Er kam durch romantisches Bergland, durch liebliche Täler, vorbei an unabsehbaren goldenen Weizenfeldern, durch Flußauen und durch trostlose Öden schachbrettebener Steppe. Und während er in den Augustwochen Wiederaufbau, Arbeit und ersten Betrieb an den neuen Hauptschlagadern der Truppenbewegungen und Nachschubversorgung erlebte und für die Zukunft festhielt in Wort und Bild, drangen die deutschen Verbände aus dem Raume um Rostow bis an den Kuban vor, wurden Maikop und Krasnodar genommen, die sowjetischen Kräfte im großen Donbogen zerschlagen und ihre Reste über den Fluß geworfen. Der Don wurde überschritten. Zwischen Donknie und Wolga, südlich und nördlich von Stalingrad begann der Kampf um die Zweimillionenstadt, den industriellen und strategischen Schlüsselpunkt der unteren Wolga. So wie der Frontabschnitt bei Woronesh, gegen den der Gegner immer wieder mit neuen Kräften anrannte, von der Leistung der Bahnstrecke Kursk—Kastornaja—Latnaja abhing, so die Front bei Liski von der Strecke Kubjansk—Walujki—Ostrogoshsk und ihrer Parallelstrecke Millerowo—Jewdakowo. Diese beiden Strecken trafen sich in Liski, das der Iwan in der Hand hatte. Um sie zusammenzuführen, wurde durch das bergige Gelände eine völlig neue, 28 Kilometer lange Verbindungskurve gebaut. Sie führte außerhalb Feindsicht von Jujutio zwischen Alexejewka und 447
Ostrogoshsk nach Jewdakowo. Da 130 Meter Höhenunterschied zu überwinden waren, mußte eine Spitzkehre eingelegt werden. Das größte Sorgenkind war nun aber die Linie Lichaja—Tschir, die unendliche, wasserarme Steppenstrecke nach Stalingrad. An ihr hing die Versorgung der Armeen im Donknie und vor der Wolgametropole. Sie war, wie die meisten Ost-West-Linien, nur eingleisig und wenig leistungsfähig. Dazu kam, daß die Zufuhr von Millerowo her gehemmt war, weil die große Donezbrücke bei Kamenskaja nicht wieder hergestellt wurde, so daß über den Fluß umgeschlagen werden mußte. Auch zwischen Belaja und Kalitwa. Die Wiederherstellung dieser Donezbrücke wurde allerdings beschleunigt betrieben und anschließend würde sofort umgespurt werden. Die Ausladebahnhöfe Tatzinskaja für den Feldflughafen und Morosowskaja, das Lokwechselbahnhof und Versorgungsbahnhof war, wurden bereits in fieberhafter Arbeit verstärkt. 12 Kreuzungsstellen wurden auf der Strecke eingebaut. Günther Racke vergingen die Tage wie im Fluge. Es war September geworden und auch der September ging schon wieder dem Ende zu. Ein Telegramm erreichte ihn: „Wolf Günther gesund angekommen. Eva.“ Von einem neuen seltsam ernsten Glücksgefühl erfüllt, fuhr er nach Tschir, dem Endbahnhof des Regelspurbetriebs vor der tausend Meter langen zerstörten Donbrücke. Es war der wichtigste Umschlagplatz für die Versorgung der 6. Armee. Jenseits des Don betrieb Kodeis einen Breitspurpendelverkehr. In Tschir erlebte er eine große Freude. Er traf Bunz. Der Freund fuhr neuerdings bei Kodeis drüben überm Don. Auch andere Feldeisenbahner waren aushilfsweise den Betriebskompanien der Eisenbahnpioniere zugeteilt worden. Von Tschir war auch eine Feldbahn im Bau und schon in Teilbetrieb. Sie wurde nach Norden in die Steppe getrieben, den Nachschubkolonnen der Don-Truppen entgegen, die bisher Hunderte von Kilometern weit zu den Ausladeplätzen an der Hauptstrecke rollen mußten. Dasselbe geschah auch von Obliwskaja und Morosowskaja aus. Und als Günther auf der Rückfahrt in Obliwskaja weilte, sah er kurz vor der Abfahrt seines Schienen-LKW einen feldgrauen Eisenbahner vorbeistapfen, dessen Gestalt und Gang ihm merkwürdig bekannt vorkamen. 448
„Schepperl!“ brüllte er. Der Landser fuhr herum, er hätte beinahe das Waggonfenster fallen lassen, das er unterm Arme trug. Racke lief auf ihn zu, packte seine freie Pratze. „Wie kommst du denn in Feldgrau?“ „Fahr’ mit nach Tapor, nacha sog i dir's scho.“ Dabei sah ihn Schepperl so wild an, als wollte er ihm im nächsten Augenblick das Waggonfenster auf den Schädel hauen, zugleich aber auch so voll heißer Freude, als würde er ihn anschließend an seiner Freundesbrust zerquetschen. Racke fragte nicht nach Liebedorn. Daß der war, wo Schepperl war, war keine Frage. Er zögerte auch keinen Augenblick, seinen Rucksack aus dem Schienen-LKW zu holen. „Wie weit ist's denn?“ fragte er, als er neben Schepperl den Schuppen und den im Freien lagernden Bergen von Versorgungsgütern zuschritt, bei denen die Feldbahn begann. „Werst äs scho seng“, knurrte Schepperl.
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20. KAPITEL
Das Dorf hieß Tapor und lag tief im Donknie. ,Tapor' bedeute so viel wie ,Ende' behaupteten einige. Sackgasse — hier geht's nicht weiter — Schluß. Als Schepperls und Liebedorns Haufen im Zuge der Streckeneroberung Anfang September dem unverfehlbaren ‚Trampelpfad' einer Panzerkolonne folgend, von Obliwskaja weg immer weiter nach Norden in die Steppe eingedrungen war, bei glühender Hitze in eine Wolke von Staub gehüllt, hatte es auch wirklich den Anschein gehabt, daß sie an der Welt Ende kämen. Auf 100 Kilometer zwei kleine Ortschaften und sonst nichts als Weite und Einsamkeit. Da war auch in einem Gebiet, größer als Bayern, Württemberg und Baden zusammen, gar keine Strecke. Eben darum: Es sollte eine entstehen. Nicht Normalspur etwa wie die Verbindungskurve vor Liski. Nein, so rasch wie möglich! Einfach Feldbahn! Nicht eine, drei! 150, 170 Kilometer lang! Da war der Befehl — also mußten auch die Feldbahnen da sein! Die Jagd auf die Gleise, auf die Weichen und Kreuzungen, auf die Lokomotiven und Wagen begann. In Deutschland und in allen früherer Herren Ländern. Kommissionen erschienen auf den großen Baustellen, in Baulagern, und beschlagnahmten alles vorhandene Material, zum Teil samt den Arbeitern und Bauführern. Los! Ab nach Rußland! Ab an den Don! Es gab große und kleine Feldbahnen, Spurweite 900 mm, 750 mm, 650 mm. Es gab kleine Dampfloks und es gab Motormaschinchen, es gab Wagen aller Größen, vom ovalen Baukinderwägelchen bis zur vierachsigen, vier Meter langen Loren, die mehr trugen als der schwerste LKW. Und das alles wurde verladen, gleich wie es kam, rollte Tausende von Kilometern in Eiltransporten hinter die Front vor Stalingrad. Mit diesem Material ergoß sich ein Riesenschwarm von OT-Männern, Arbeitsdienst, Dienstverpflichteten, feldgrauen Eisenbahnerrotten, Büroangestellten, einer Hand voll Baufachleuten in OT-Uniform 450
und Technischen Eisenbahnern im Feldgrau der Pioniere. Sie ergossen sich der Trasse der Bahnen nach in die Steppe auf zehn, zwanzig Baustellen zugleich. Lager entstanden, primitiv wie bei den ersten Goldgräbern in Amerika. Auch die Feldbahn bekam Bahnhöfe, nämlich Ausladeplätze. Auch sie brauchten Fahrdienstleiter. Kodeis hatte vorher schon zu wenig Betriebsfachleute, also schnappte sich der Kommandeur kurzerhand Feldeisenbahner auf den Bahnhöfen zwischen Morosowskaja und Tschir. Was sollten die Bahnhofsvorsteher machen! „Sie kommen mit zwei Leuten weniger auch aus! Mit Ihrem Kommando in Charkow wird das geregelt!“ Und aus diesem Grunde befanden sich Schepperl und Liebedorn auf dem sogenannten Bahnhof Tapor. Liebedorn ließ den Kopf hängen, seit man die von Minsk entliehenen Blauen in Poltawa an das Feldeisenbahnkommando abgegeben, kurzerhand in eine mehr oder weniger passende feldgraue Kluft gesteckt und einer Schnellausbildung in militärischen Formen unterzogen hatte. Tapor war nicht nur das Ende der Welt, es war auch das Ende seines Berufsstolzes und seines Humors. Schepperl hatte sich zwar verschworen, dene Spitzbuama, dene Großkopfat'n, die ihn dem Barras ausgeliefert hatten, bei der ersten zivilen Gelegenheit einen Maßkrug auf den Schädel zu hauen, aber im übrigen gehörte er ja zu jenen glücklichen Naturen, die Unabänderliches auf den Stiernacken luden, ohne an ihrer zarten Seele Schaden zu nehmen. Außerdem war er rasch dahinter gekommen, daß man als Landser-Eisenbahner im Vergleich mit den Blauen in mancher Hinsicht recht angenehm im Vorteil war. Jetzt freuten sie sich in ihrer Verbannung wie Kinder, daß Racke da war. Daß sie nicht mehr zu fürchten brauchten, völlig vergessen zu sein. Sie saßen zwar in keiner Villa mit Ultrasuperkomfort, sondern in einer Bretterbude, die sie sich aus Munitionskisten zusammengezimmert hatten, in der ein winziges, eisernes Öfchen mit rostigem, rissigen Ofenrohr stand, und in die das von Schepperl aus einem russischen Personenwagen organisierte Fenster noch eingelassen werden mußte, aber plötzlich war alles nicht mehr so schlimm. Sie hatten auch zu rauchen und zu trinken und immer reichlich zu futtern. Denn in 451
Tapor war ein Verpflegungslager und wo ein Verpflegungslager war, gab. es Zahlmeister und wo es Zahlmeister gab, gab es auch Kufickes. Schepperls Kuficke zwo war aber nicht nur Landser und Ordonnanz, sondern selbst Zahlmeister, wenn auch nur ,Unter'. Er hieß Traugott Kipf, war in Zivil Kollege vom Fahrkartenschalter und stammte aus Meckenbeuren auf der Schwäbischen Alb, jenem Mäggebeure, das durch das Lied von 'de Schwäbische Eisebahne' Weltruhm erlangt hat. Er befleißigte sich einer ins Schriftdeutsche gemilderten allgemeinverständlichen Mundart und trotz seiner Herzensliebe zu seinem Schwobeländle ging ihm nichts über Jodler und Schuhplattler, seit er einmal im Platzl in München gewesen war. Darum hatte er an Schepperl einen besonderen Narren gefressen. Selbstverständlich spielte er als naturmusikalischer Schwabe nicht nur Schnuffelrutsch, sondern auch Ziehorgel. Das Akkordeon Glücks, das seine beiden Erben als unveräußerliches Andenken unentwegt mit sich geschleppt hatten, erwachte im Kistenhäuschen in der Donsteppe zu neuem klingenden Leben. Kipf spielte allerdings keine wilden Tanzrhythmen, dieweil es auch keine Tamara gab, sondern Landler und Lieder aus Wien und aus den Bergen von der Steiermark bis in die Schweiz, die einem das Gemüt umdrehten, daß man vor Freude über das Menschenherz weinen konnte. Auch die beliebtesten Soldatenlieder, von der ,Lili Marien' bis zu ,Antje, herzliebstes Mädel mein'. Sie erzählten Racke stundenlang. Schepperl war gesprächiger als jemals in seinem Leben. Tapor war unversehrt. So unversehrt ein Dorf sein kann, wenn ein paar tausend Soldaten, russische und deutsche, Rumänen und Kroaten mit ihren Trossen durchgezogen sind. Von Kampfhandlungen war es verschont geblieben. Darum war es bis an den Rand voll mit Stäben rückwärtiger Dienste. Für Bauhorden und Eisenbahner war da nichts mehr zu machen. Wo die Einwohner hausten, soweit sie im Dorf geblieben waren, Frauen und Kinder, ein paar Greise und halbwüchsige Burschen und Mädchen, war rätselhaft. Liebedorn und Schepperl kannten nur eine der Frauen; sie wusch ihnen die Wäsche außer Haus. Sie hieß Mirka und war 452
Kirgisin. Die Frau eines Kosaken, der fort war wie alle Männer von Tapor. Schon ein Jahr. Sie wußte nichts von ihm. Von keinem von allen wußte man etwas. Fort. Mirka zählte an den Fingern ab, daß sie neunzehn Jahre alt sei. Als sie geheiratet hatte, war sie sechzehn gewesen. Sie hatte vier Kinder. Die Großmutter war mit ihnen davongefahren, als die Deutschen gekommen waren. Mirka war geblieben. Sie hatte ein rundes hellbraunes Gesicht, schwarzes Haar, das sie in kurzen Zöpfen trug und schwarze Schlitzaugen. Alle Frauen von Tapor hatten mehr Holz vor dem Haus, als Schepperl und Liebedorn und Kipf jemals erlebt hatten, Mirka aber war mit Abstand die Busenkönigin. Liebedorn waren die Augen aus den Höhlen getreten und der Adamsapfel stillgestanden, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Er behauptete, Marieke freundlichen Angedenkens sei eine Bohnenstange dagegen. Mirka wohnte mit einer letzten Kuh, einem letzten kleinen Schwein und einem letzten Huhn im Stall hinter ihrer Kate, in die sich der Stab des Oberzahlmeisters einquartiert hatte. Der Stall bestand aus riesigen Maisstrohbündeln, die in Zeltform um ein paar Stangen herumgebaut waren und mit Hanf zusammengehalten wurden. Im Dorf war ein einziger Brunnen. Er war 30 Meter tief. Er wurde von einem Bach gespeist, der sich eine Balka in den harten Steppenboden gefressen hatte. Im Sommer trocknete der Bach aus. Auch jetzt noch war er nur an seinem Bett zu erkennen. Wasser führte er erst wieder vom Spätherbst an, wenn es ein paarmal ergiebig geregnet hatte, und nach der Schneeschmelze und Regenzeit im Frühjahr. Der Ausladeplatz Tapor hatte der Balka wegen zehn Minuten vom Ort entfernt angelegt werden müssen. Dort war der neue Ort entstanden: Offene Schuppen, Baracken, ein paar kleine Hütten, Zelte. Das Wasser wurde hergefahren. Auf der ganzen Strecke war noch alles in Arbeit, einige Teilstücke fehlten noch ganz, weil das Gleismaterial anderswo angefahren worden war oder die Spurweite nicht stimmte. Es war noch kaum Betrieb möglich, dennoch wurde Betrieb gemacht. Der Baustab fuhr im PKW noch von Baustelle zu Baustelle, da kam schon rasselnd und 453
brummend das erste Zügchen an und dann ging es Hals über Kopf weiter voran. Anfänglich, als sie gekommen waren, war es noch heiß gewesen. Sie waren im Drillich herumgelümmelt. Wenn sie eine halbe Stunde in die Steppe gelaufen waren, hatten sie sich fühlen können, als wären sie allein auf der Welt. Tausende von Grillen hatten gezirpt, Schwärme von Insekten gesummt, Zieselmäuse, groß wie Hamster, graubraun und rostbraun, hatten sich in Scharen um sie herum getummelt. Pfeifend wie Ratten waren sie in ihre Löcher gefahren, wenn sie erschreckt wurden, um gleich darauf neugierig und verspielt wieder herumzutollen; sie hatten keinen Feind als den Falken. Da draußen war kein Lärm und Getriebe, kein Staub und kein Gestank, nur die sanft singende Stille, der Geruch der warmen Erde, der Gräser und Kräuter und über allem der Himmel, wie eine blaue gläserne Glocke über die grüne und braune Erde gestülpt. Racke blieb einen Tag bei ihnen, dann nahm er Abschied, er wollte den Betrieb im Kaukasus kennen lernen. Zunächst aber würde er nach Charkow zurückfahren, um Dr. Dornberg zu bitten, die beiden tüchtigen Beamten, an die er sich gewiß noch erinnerte, doch aus diesem Feldbahnkrawallbetrieb, der sie ,seelisch am Boden zerstörte', wieder herauszuholen. Sicher hatte das FEK keine Ahnung, wen sich der Kodeis überhaupt geschnappt hatte. Und wenn das nicht möglich war, würde er alles tun, um den längst verdienten Urlaub für sie herauszuschinden. Für Schepperl war die Dringlichkeit schon durch seine Eigenschaft als fast kinderreicher Familienvater gegeben und Liebedorn war als bräutereicher Anwärter auf dieses bevölkerungspolitisch wichtige Amt nach sechzehnmonatiger Abwesenheit von Berlin nicht weniger dringlich einzustufen. Auch er selbst mußte endlich einmal aus der Frontatmosphäre heraus, um als Mensch wieder zu sich selbst zu finden und bei Eva und seinem Kinde vierzehn Tage lang den Krieg zu vergessen. Falls die Sowjetmacht auch nach dem Fall von Stalingrad und wenn der Kaukasus und sein Öl unter der Kontrolle der Wehrmacht standen, noch nicht zusammenbrechen würde, dann begann eben wieder der winterliche Stellungskrieg. 454
Auch für den Eisenbahner. Es würde keine neubesetzten Räume, also auch keine neu zu besetzenden Strecken mehr geben, sondern nur Ausbau der bisher gewonnenen. Da konnte er wahrhaftig in Urlaub fahren, ohne besorgt sein zu müssen, seine Aufgabe als Eisenbahn-Kriegsberichter zu vernachlässigen. Vielleicht konnten sie zusammen fahren. „Wurde aber aus allem nichts, dann sah er einmal wieder nach ihnen. Racke brauchte zur Rückreise nicht die Feldbahnpendelstreckenstücke zu benutzen. Er konnte mit einem OT-Frontführer im PKW fahren. Schepperl und Liebedorn winkten ihm nach, solange sie den Staubwirbel sehen konnten, dann gaben sie sich ihrer bisherigen Taporer Hauptbeschäftigung hin: sie ließen die Köpfe hängen. Schließlich trotteten sie in die Steppe hinaus zu den Zieseln. Zwei Stunden saßen sie da, ohne ein Wort zu sprechen. Erst auf dem Heimweg, als sie ihre Bruchbude schon liegen sahen, fragte Liebedorn zaghaft: „Meenste, wir werden versetzt?“ „Woass i dees?“ „Mensch, Seppchen! Urloob! Gloobste dran?“ „Bals d'no amoi Säppchön sagst, drucki da dei Adamsapferl zamm, daß d'bloss no an oanzig'n Schnaufa mach'n kunnst. Hint ausse. Host mi?“ Liebedorn war glücklich über Schepperls kameradschaftliche Gesprächigkeit. „Und wenn allens schief jeht“, fragte er weiter, „meenste, Racke wird kommen?“ „Hota gsogt, dassa kimmt oder net?“ „Jesagt hat er det schon —“ „Oiso kimmta.“ Vier Wochen warteten sie geduldig. Sie gewöhnten sich allmählich an den groben Lärm, die meist wüste Tonart und das äußere Bild des unordentlichen, regelwidrigen Baustellen- und Fahrkolonnenbetriebs, das Durcheinander von Organisationen, Arbeitern und Landsern, in dem so zwei Eisenbahner in Grau und ohne den geringsten Dienstgrad so unbeachtet untergingen, als ob sie gar nicht vorhanden wären. Jetzt in der Hoffnung, die sie trotz eines bleibenden Restes von Vorbehalt mehr und mehr als Gewißheit nahmen, sahen sie sogar zeitweise mit einer heimlichen heiteren Überlegenheit auf alles herab. 455
In der fünften Woche hängte sich Schepperl mehrmals an die Strippe, hangelte sich von Haltepunkt zu Haltepunkt durch, bis er eines Tages tatsächlich einen maßgeblichen Kodeisvorgesetzten erreichte. Was mit ihrer Versetzung oder dem Urlaub sei? fragte er in seinen durchschlagendsten Redewendungen. Aber er hatte Pech. Der Pionierhauptmann am anderen Ende der Strippe war ein alter Bautechnischer Reichsbahnamtmann und auch ein Bayer und zwar aus der Oberpfalz, und seine Antwort bestand in einem so oberpfälzisch-bayerisch ton- und formvollendeten Anschiß, daß Schepperl schrie: „Du gescherta Rammi! Du Bluatsschundniggel, du abscheiliga! Sauhund varreckta! — — Saupreiss!“ Aber erst, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. Schepperl war an dem Abend so verbittert grantig, daß er sogar seinen Freund Kipf samt dem Schifferklavier hinauswarf. Dann packte er sein Verdienstkreuz und schickte es an die Direktion in Charkow zurück mit dem Bemerken, als gewissermaßen strafverbannter Eisenbahner II. Klasse halte er sich nicht für würdig, es zu tragen. Die fünfte Woche verging, Racke kam nicht. Etwas anderes geschah. Bahnhof und Streckenstück Tapor — Liebedorn verzog das Gesicht wie von Zahnschmerzen, wenn er Bahnhof hörte — waren endgültig fertig, die Baustelle rückte ab. Die Hüttchen und Baracken wurden abgerissen, verschwanden, allerlei Gerümpel und Berge von Abfall und Unrat blieben liegen und ein Haufen Gleise, die teils falsche Spurweite hatten, teils für die Verlängerung der Strecke vorgesehen waren. In den drei Tagen des Abzugs der Bauarbeiter war Schepperl mehr um den Baulagerplatz herum, als in der ganzen Zeit zuvor zusammengenommen. Insbesondere in den Nächten. Seine Bitte, ihnen soviel Balken und Bretter da zu lassen, daß sie sich für den Winter eine festere und doppelwandige Unterkunft zimmern könnten, war barsch abgewiesen worden. Er organisierte also. Und so besaßen die beiden nun erst recht mancherlei zur besseren Ausstattung ihres Heimes, vor allem so viel Dachpappe, daß sie es von Kopf bis Fuß doppelt darin einhüllen konnten, und Holz für eine zweite Wand. Und das Feldbahnwunder geschah tatsächlich: In Tapor kamen Züge an. Manchmal fünf am Tage, manchmal nur zwei, 456
manchmal null. Die Motoren der Diesellokomotiven brummten wie Hummeln, die Schienen klapperten, die Weichen kreischten und die Signale waren Schepperls und Liebedorns Arme unter Zuhilfenahme einer vorne rot, hinten grün gestrichenen Blechscheibe mit Stiel. Der Ausladepunkt Tapor hatte zwei Gleise, die in 50 Meter Abstand von der noch fortzuführenden Durchgangsstrecke abzweigten und vor einem Dreckhaufen endeten. An ihnen entlang lagen auf beiden Seiten Rampen, das waren planierte Wälle aus aufgeworfener Steppenerde mit einiger Holzbefestigung. Sie waren 120 Meter lang, so daß zwei Züge hintereinander anfahren, also vier zu gleicher Zeit ausgeladen werden konnten. Schepperl erklärte einem Lokführer im Verlaufe eines Streites, er nähme sein Maschinerl samt den Wagerln im Urlaub mit hoam, no könnten seine Buam in da Stu'm mit spui'n, und mit eahm dazua. Der Lokführer hieß Lehmann und war ein heller Junge aus dem Ruhrgebiet. Handlungsgehilfe. Er gehörte als Schütze einer Infanteriedivision an, die am Donknie lag. Und als das Personal für die drei Feldbahnen aus dem Boden gestampft werden mußte, hatte der Spieß eines Tages in den Haufen gebrüllt: „Wer von euch kann eine Feldbahnlokomotive fahren?“ Da war der Handlungsgehilfe Lehmann vorgespritzt. „Wieso?“ „Meine Straßenbaufirma hat zwei Rollwagenbahnen und eine Dampfwalze laufen.“ „Los, marsch! Auf die Schreibstube!“ Darum fuhr jetzt Lehmann in der Etappe vergnügt sein Bähnchen, statt da vorne sein helles Köpf eben hinzuhalten. Als er sich bei Kodeis gemeldet hatte, war er auf Befragen des Schreibers, eines Lehramtspraktikanten, nicht mehr Handlungsgehilfe, sondern Maschinist gewesen. Bisher hatte kein Mensch von dem Berufswechsel etwas gemerkt, Hauptsache war: die Lok fuhr. Einen Motor laufen lassen, konnte schließlich jeder, im übrigen hatte er eine Hilfskraft vom Arbeitsdienst, einen Motorenschlosserlehrling. Lehmann begriff nicht, daß es Leute gab, wie diese beiden angeblichen Eisenbahnbeamten, die auch nicht anders aussahen 457
als er, die mit ihrem Los da hinten in der friedlichen Steppe nicht zufrieden waren. Keine Bombe, keine Granate, kein Schuß den ganzen Tag! „Mann“, sagte er zu Schepperl, „mit dir gehn se wohl! Steck mal deinen Rammskopf ein bißchen weiter vorne hinein, dann meinste, du lebst hier im Himmel!“ Zweng dem Rammskopf wollte Schepperl den gschiaglat'n Rohzbuam seine Münchna Dackln zum fress'n mitbrenga, aber so a Hundsfress'n rührat'n dee gor net o. Noch eine Woche verging. Der Oktober war zu Ende. Er hatte im Kaukasus noch Erfolge gebracht und am 16. Oktober waren die ersten Stoßtrupps in eine Fabrikvorstadt von Stalingrad eingedrungen. Bis Ende des Monats hatten sich die deutschen Streitkräfte Haus um Haus, Fabrikhalle um Fabrikhalle, Straße um Straße weiter durchgebissen. Eisenbahnpioniere und Feldeisenbahner waren in noch brennende, unter Sprengungen, Granat- und Bombeneinschlägen berstende Vorortbahnhöfe vorgestoßen, um die Möglichkeit zu erkunden, Versorgungszüge bis an den Stadtrand zu fahren. Währenddem waren die Sowjettruppen zwischen Wolga und Don unablässig gegen die deutschen Stellungen, insbesondere den rumänischen Frontabschnitt angestürmt. Auch bei Liski, im Abschnitt der Italiener, war der Teufel los. Woronesh war ständig umkämpft. Aus der Kalmückensteppe brachen Panzer und Reiterscharen immer wieder durch die weit klaffenden Lücken der Hauptkampflinie durch und die rückwärts gestaffelten schnellen Verbände hatten Mühe, sie zu packen, aufzureiben oder wieder zurückzutreiben. Im Raume nördlich Kursk gab und gab es keine Ruhe. Im Kaukasus versteifte sich der Widerstand des Gegners, der unablässig frische Truppen zuführte, immer unbrechbarer. Im Nordabschnitt stellten die Sowjets neue Armeen zu einer Entlastungsoffensive bereit. In der ersten Oktoberhälfte hatten sie auch noch schönes Wetter gehabt. Mitte des Monats war es trübe und kalt geworden. Jetzt war es November. Der Boden war gefroren und der Atem dampfte vor dem Mund. Man fröstelte, obgleich es noch lange nicht Winter war. Schepperl bekam dicke Mandeln. Liebedorn holte ihm bei
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dem hinausgeworfenen Unterzahlmeister Kipf ungefragt Halswehpastillen. „Friss dean Drehg selba“, knurrte Schepperl, wickelte sich mit einem Wollschal einen in heißes Schmalz getauchten Leinenlappen um den Hals, gurgelte mit Schnaps und wurde gesund. Die Halswehpastillen schmeckten gut, wie Bonbon mit interessantem Beigeschmack. Liebedorn aß sie an einem Tage auf und wurde krank. Er fühle sich, sagte er, wie wenn er von einer Kreuzotter gebissen wäre oder giftige Pilze gegessen hätte. „Hot di scho amoi oane biss'n?“ fragte Schepperl mühsam. „Nö.“ „Host scho amoi giftige Schwammerl g'fress'n?“ „Nö? Wieso?“ „Nacha is net schlimm. Du kennst bloß dei Bleedheit nimma aushoit'n.“ Tag um Tag, Nacht um Nacht verstrich. Tag und Nacht zogen schreiende Scharen von Wildgänsen und Kranichen hoch über Tapor. Es kam weder ein Versetzungsbefehl, noch ein Urlaubsschein. Nicht einmal Post. Seit sie in diesem gottvergessenen Steppennest hockten, hatten sie noch keinen Brief, nicht ein einziges Packerl erhalten. Bei jedem Zug, der kam, stand Schepperl auf der Lok, noch ehe sie hielt. „Host was mitbrocht für uns?“ Immer Fehlanzeige. Dagegen brachten die Landser der Fahrkolonnen schlimme Gerüchte. Seit einer Woche rissen die Versuche des Iwan, über den Don herüberzukommen, nicht mehr ab. Es sei ihm jetzt auch da und dort gelungen und es trieben sich schon große Banden im Rücken der Front herum. Aber Kampftruppen, um sie einzukesseln, stünden nicht zur Verfügung. Die Weite der Steppe zog sich von Tag zu Tag enger zusammen. Von Tag zu Tag kam man sich verlorener vor. Der Himmel wurde immer düsterer, dann brach er herunter. Es regnete Bindfaden von morgens bis abends. Dabei war es hundekalt. Schepperl und Liebedorn liefen, soweit sie draußen zu tun hatten, im wasserdichten Stahlhelm und mit übergehängter Zeltbahn herum. Sonst saßen sie abwechselnd am kleinen Fenster und starrten hinaus. Noch nie waren sie von einer solchen Weltuntergangsstimmung bedrückt gewesen. 459
„Hin is a!“ knurrte Schepperl plötzlich wie mitten aus einer heftigen Unterhaltung heraus, obwohl sie beide schon lange schweigend ihren trüben Gedanken nachhingen. Liebedorn fuhr zusammen. „Hin? — Wer?“ „Da Kacke.“ Liebedorn starrte den Gefährten mit offenem Munde und so verzweifelten Augen an, daß Schepperl eine kleine Einschränkung für ein Gebot der Menschlichkeit hielt. „Wena net hin war, war a kemma.“ Dann hingen sie in ihren Träumen besseren Zeiten nach. In der Villa M. P. hatten sie bei 40 Grad Kälte hemdsärmelig gesessen, in diesem Kistenbretterverhau froren sie bei null Grad Nässe wie zehn nackte Neger am Nordpol. Was nun, wenn Schepperl die Dachpappe nicht gestohlen hätte? Dann könnten sie auch im trauten Heim den Stahlhelm auf- und die triefende Zeltbahn umbehalten. Nun aber mußte noch mehr geschehen. Aber was? Mit einer Überwinterung hatten sie nicht gerechnet. „Ick wüßte wat“, begann Liebedorn vorsichtig. „Wos?“ fragte Schepperl scharf und mißtrauisch. „Mirka.“ „Naa!“ fuhr Schepperl auf. „A Wanz'nbud'n. Aussadem san d' Praiss'n drin, die wo 's Spritlaga bewacha.“ „Wees ick ooch. Meen ick nich. Ick meen den Stall.“ „Geh weita! Is a vui z'weit!“ „Doch nich hinziehn!“ erklärte Liebedorn. Sie würden den Stall dort abreißen und um ihr Bretterhäuschen herum wieder aufbauen. „Und 's Weib?“ „Kommt mit.“ „Dia gschiaglat Loas? Naa!“ „Warum denn nich? Sie soll ja nich bei uns wohnen, sondern im Stall.“ „Dees tuat's net. Eini kimmt's.“ „Aber so wat macht doch Mirka nich!“ „Bei dene Hammi drent machts' es aa.“ „Na und wenn! War ooch nich schlimm.“ „So? Wo s' rassisch versaut is!“ empörte sich Schepperl. „Wieso?“ 460
„Von de Praiss'n!“ „Ick nehm se ja uff mir.“ Schepperl vernichtete ihn mit einer einzigen Handbewegung und drei winzigen Wörtchen: „Duu? — Dee? — Nia!“ Es wurde sternklar und eisig kalt. Noch ehe es Tag war, wälzte sich Schepperl fluchend vom Stroh. „Gengama! Holma 'n Stoi hera!“ Sie organisierten einen kleinen LKW. Nach zwei Stunden sprang er an. Die Sonne zog über die Steppe. Das Thermometer vor dem Zahlmeisterquartier zeigte im Schatten -15 Grad. Der Regen hatte etwas Gutes für sie gehabt: Dienst gab es nicht. Der leichte Bahnkörper der Feldbahn war stellenweise ausgewaschen, eingesunken, abgerutscht. Die Gleise lagen da und dort hohl oder schief. Daran änderte auch der Frost nichts mehr. Nachdem zwei Züge entgleist und bei dem einen die Lok umgestürzt war, wobei der Lokführer, Schütze Lehmann, tödlich verunglückt war, hatte man den Betrieb eingestellt. Die Schadstellen mußten zunächst ausgebessert werden. Ihre Bretterbude lag mitten in der Sonne. Es wurde ihnen warm bei der Arbeit, bei der Mirka die Sachkundige war und allein so viel schaffte, wie sie zusammen. Als die Sonne tief stand und ihre Strahlen nicht mehr wärmten und die verschwitzten Hemden zum Steiffrieren hätten aufgehängt werden können, war von ihrem Häuschen nichts mehr zu sehen, als das noch einmal verlängerte und feuersicher dick in Lehm eingebettete Ofenrohr und die Hälfte des Fensterchens, alles andere war doppelt mannsdick unter Maisstroh begraben. Ihr Türchen ging in den Stall und die Stalltüre war nichts weiter als ein Strohbündel, das man wegnahm und wieder hinstellte. Obgleich ihr ganzes Häuschen drin stand, war im Stall noch genug Platz für Kuh, Schweinchen, Huhn und Mirka. Sigi strahlte. Er kachelte mächtig ein. Holzabfälle und Kohlen hatten sie fürs erste genug. Auch dafür hatte Schepperl gesorgt. Das eiserne Öfchen glühte samt dem ersten halben Meter Rohr, aber es stand weit genug ab von der Wand und dahinter und darunter war ein Blech. Genau genommen war es der erste vernünftige Abend, seit Racke dagewesen war. Es wurde zu heiß in ihrer Kiste, sie 461
mußten das Türchen aufmachen. Die Kuh rührte sich und muhte sanft. Das Schweinchen grunzte freundlich und das Huhn gackerte leise im Schlaf. Ob Mirka da war, wußten sie nicht. Die Hitze, die hinausdrang, machte auch die Maisstrohwände warm, das Heu und dürre Steppenkrautfutter und die Streu. Stall- und Feldgeruch erwachten und füllten ihr Stäbchen. Schepperl blies die Nasenlöcher auf und zog die Jacke aus. Es wurde ihm heimatlich bäuerlich zu Mut und mächtig warm ums Herz. Er warf Liebedorn einen seit Wochen nicht mehr erlebten freundlichen Blick zu und brummte zart: „Geh weita, Sigi, magst net an Kipferl mit da Orgel hol'n?“ Liebedorn war immer willig wie ein nettes Mädchen. Er zog Jacke und Mantel an, drückte das Schifferl auf den blonden Scheitel und ging. Nach zwei Minuten war er wieder da. Er hielt Gesicht und Hände über das Öfchen, knackte die Finger und rieb sich die Nase. „Is a so koit?“ wunderte sich Schepperl. „Bodennebel und mindestens 20 Grad.“ „Wos? Bei dera Hitz'n?“ Schepperl schnaufte schwer und zog die graue Barrasweste aus. Liebedorn zog noch einen Pullover unter und einen Kopfschützer übers Gesicht, wickelte einen Schal um den Hals und steckte die Hände in Fäustlinge. Als er nach einer halben Stunde mit Traugott Kipf wiederkam, duftete es appetitanregend. Mirka stand vor dem Öfchen und buk Pirogi. Das Öfchen stand wie unter einem Balkon. „Och, Pastetchen!“ freute sich Liebedorn. Schepperl saß in der kühlsten Ecke, er hatte das Hemd geöffnet, die Ärmel hochgekrempelt und schaukelte das vergnügt quiekende Schweinchen auf dem Schoß. Das Huhn pickte mit kleinen Glückslauten Krümel aus den Ritzen des Fußbodens. Unterzahlmeister Kipf war nicht mit leeren Händen gekommen. Sie hatten außer den Pastetchen noch mancherlei zu schmausen. Sie aßen immer wieder, verdünnten den Schnaps mit heißem Tee, halb und halb, und tranken immerzu. Je mehr sich Schepperls und Liebedorns Geist befeuerte, um so mehr verwischten sich die Unterschiede zwischen der Villa und ihrem Leben in Russkinaja und ihrem Dasein hier. Sie entdeckten sogar 462
Vorzüge. Sie hatten die Wirtschafterin im Hause. Schepperl verstand überhaupt nicht mehr, wie er sich dagegen hatte sträuben können! Das Proviantlager befand sich in angemessener Nähe. Sie hatten täglich frische Milch. Arbeit gab es so wenig, daß Tapor eigentlich keine Dienststelle, sondern ein Erholungsaufenthalt war. Als die erste Flasche zur Neige ging, begriffen sie überhaupt nicht mehr, daß sie durchaus hier weg- und auf eine Hauptstrecke zurückgewollt hatten. Waren sie jemals so ungeschoren geblieben wie hier? Wo könnten sie den neuen Winter so geruhsam verschlafen? Vielleicht vergaß man sie überhaupt, dann blieben sie in aller Stille in ihrem Steppenwigwam sitzen, bis Pan Iwan kam und sagte: Geht heim, Towarischtschi, der Krieg ist aus. Jedesmal wenn einer hinausgegangen war, rieb er sich Nase und Hände, wenn er wieder hereinkam. Die Kuh schlief, das Schweinchen lag in seiner kleinen Kiste, auf deren Kante das Huhn saß. Mirka war schon lange verschwunden und nicht mehr gekommen; es wäre wirklich zu eng gewesen. Allmählich wurden sie auch müde. Kipf wollte sich eben auf den Heimweg machen, da stand Mirka da. Sie war von draußen gekommen. Die Kälte stand um sie. Sie hatte kaum Atem, der Riesenbusen wogte erschreckend. Es hätte die drei zum Lachen gereizt, wenn nicht der starre Schreck in Mirkas Augen, wenn nicht die Worte gewesen wären, die sie ausstieß. „Russkije wajsska! Konnitza!“ Der Iwan. Kavallerie. Sie hatten kein Blut mehr in den Gesichtern. Schepperl und Liebedorn fuhren in die warmen Sachen, die Jacken, die Mäntel, nahmen sich nicht Zeit umzuschnallen, griffen nach den Gewehren, rannten hinaus. Jetzt hörten sie es, das dumpfe Poltern vieler Hufe. Schüsse fielen, vom Dorf her. Bei der Wache am Spritlager wurde es lebendig. Wildes Gebrüll fremder Kehlen. Kurz ein LMG. Gellende Todesschreie. Der Bodennebel war verschwunden. Im Dorf brannte es. Ein SMG schoß. Kipf schien hinüberlaufen zu wollen. Schepperl riß ihn zurück. „Wos wuist drent? Pfeigrod varrecka! Umasunst!“ 463
Kipf murmelte „die andern“, aber er rannte mit. Der Sepp hatte recht. Weg von der Bahn! So schnell und so weit wie möglich in die Steppe hinaus! „Laufet wie g'sengte Sau!“ keuchte er und lief voraus. Es war so viel Lärm hinter ihnen, daß sie nicht zu befürchten brauchten, gehört zu werden. Nach wenigen Minuten stöhnte Schepperl vor Seitenstechen; er konnte nicht mehr, blieb zurück. Sie warteten, zerrten ihn mit. Hundert Schritt liefen sie, hundert Schritte gingen sie. Hinter ihnen wurde es stiller und stiller. Nach zehn Minuten verschnauften sie kurz. Über dem Schwarz der Steppe schwelte die Glut des Brandes. Darüber flimmerten die Sterne, wie winzige Lichtchen, die ein Wind bewegt. Langsam gingen sie weiter. Sie brauchten nicht mehr zu hetzen. Dann umwob sie eine merkwürdige Helligkeit. Sie wandten sich um. Das Benzinlager brannte. Weithin erhellte es die Nacht. Darüber hing eine schwarze Wolke von Qualm. Sie setzten sich ins erfrorene Gras und sahen dem Untergang Tapors zu. Sie sahen Reiter an der Bahnlinie, winzig klein wie Zinnsoldaten. Sie waren in Schweiß gebadet und begannen nach wenigen Minuten zu frieren. Sie rafften ihren Willen und ihre Knochen zusammen und gingen weiter. Nach einiger Zeit schwenkten sie aus der Westrichtung nach Süden ab. Nach Westen würden sie nie an ein Ziel kommen. Bis nach Millerowo waren es Hunderte von Kilometern. Obliwskaja konnten sie in drei bis vier Tagen erreichen. Sie hatten nichts zu essen und in der Steppe gab es nichts zu trinken. Aber vielleicht konnten sie schon morgen zur Bahnlinie zurückkehren. Vielleicht stießen die Russen nicht weiter an ihr vor. Dann war alles gut. Vielleicht auch liefen sie einer Bande in die Hände und wurden erschlagen. Vielleicht trieb sie der Iwan weiter und weiter von der Feldbahn ab und sie kamen um vor Durst, Hunger, Frost. Es war auch möglich, daß die Front zerbrochen war, daß russische Truppen die ganze Steppe überfluteten und daß sie die Heimat nie mehr wiedersehen würden. Sie marschierten. Im Gleichschritt. Nicht aus Kommißgeist. Im Rhythmus ging es sich leichter. 464
Immer noch waberte das Licht des Brandes von Tapor seitwärts hinter ihnen. Die Steppe war stumm wie eine Sphinx. Es war vieles möglich.
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21. KAPITEL
„Bis hierher und nicht weiter“, sagte der Hilfslokführer, ein junger Arbeitsmann, heiter. Das Maschinchen kreischte und hielt. Es dunkelte schon, aber die entgleisten Wagen sah man ein Stückchen weiter gut noch liegen und den Anfang der Schäden am Bahnkörper. Dieser Sauregen! Und heute blau wie im schönsten Sommer und kalt wie im dicksten Winter! „Wollen Sie nicht lieber wieder mit zurückfahren?“ fragte der Junge. „Zu Fuß sind es mindestens noch vier Stunden.“ Racke lachte: „Dann hätte ich ja nicht erst herzufahren brauchen.“ Der Junge dachte: da war es Tag und die Sonne schien und sie hätten schon am frühen Nachmittag hier sein müssen, aber sie waren an drei Baustellen liegen geblieben. Er sagte: „Morgen wird das hier auch gemacht, dann können wir bis Tapor fahren.“ „Was morgen ist, weiß man nicht“, antwortete Racke, nahm den Rucksack und stieg hinunter. Der Rucksack war nicht schwer: Decke, Zeltbahn, Kochgeschirr und Feldflasche, Glas und Foto, Eiserne Ration und zusätzliche warme Sachen. Racke reichte dem Jungen die Hand hinauf. Eine Hand voll Zigaretten. „Viel Glück weiter!“ „Sicher!“ lachte der kleine Lokführer herunter. „Auf Wiedersehn, Herr Inspektor!“ Der Motor brummte wieder. Das Maschinchen rasselte rückwärts davon. Racke nahm den Weg unter die Füße — zerfahrene, zertrampelte Steppe. Seit die Sonne untergegangen war, nebelte es ein wenig über dem Boden. Es wurde kälter und kälter. Man hätte meinen können, von einem Atemzug zum andern. Rasch nachtete der Himmel. Aus seinem Dunkel traten die Sterne. Jetzt könnte er schon bei Eva und seinem Bübchen sein! Als er aus dem Kaukasus zurückgekommen war, hatte er in Charkow einen Brief von Eva mit einem Bildchen von ihr und dem 466
Kleinen vorgefunden, außerdem die Nachricht, daß man ihn bei der Generalverkehrsdirektion in Warschau zu einer Rücksprache erwarte. Er könne dann von dort aus einen dreiwöchigen Urlaub antreten. Aber da war Stalingrad! Jenseits des Don wurde gebaut, wurde Betrieb gemacht, fuhren kühne Eisenbahner, unter ihnen der Lokführer Bunz, Züge bis in die Vororte hinein! Sollte er als Sonderberichter, dem der Minister selbst diese Aufgabe anvertraut hatte, sagen müssen: Jenseits des Don war ich nicht —? Weit hinüber war er allerdings nicht gekommen. Drüben wurde mehr geschossen als gefahren. Die Vorstöße der Russen nahmen kein Ende. Er hatte auch Bunz nicht auffinden können. Diesseits des Don war es nicht viel besser. Immer wieder brandeten alle möglichen Horden bis an die Bahnhöfe vor. Der Bahnbetrieb vollzog sich unter ständigen Abwehrkämpfen durch schwache deutsche Kräfte, schleppte sich nur mühsam hin. Die Ausladerei dauerte zu lange. Es handelte sich meist nur um kleine, mit ihren Anlagen der Bewältigung eines Nachschubs, wie ihn die Armeen vor Stalingrad und am Donbogen benötigten, in keiner Weise gewachsenen Bahnhöfe, vielfach nur um Rampen, die improvisiert auf freier Strecke gebaut worden oder auch im Bau begriffen waren. Die Fahrkolonnen, deren brauchbare Fahrzeuge wieder einmal auf einen Rest zusammengeschrumpft waren, brachten die Versorgungsgüter nicht rasch genug weg. Häufige Umdisponierung der Transportoffiziere, durch Verschiebungen an der Front bedingt, Luftangriffe und Fernbeschuß brachten immer wieder alles durcheinander. Dazu trat auch wiederholt Lokmangel ein, schon wieder durch Frostschäden bedingt, noch ehe Schnee gefallen war, in der Hauptsache jedoch durch den Mangel an Wasserstellen. Auch die vorhandenen waren meist nicht ergiebig genug. Neue Brunnen waren im Bau. Bis 300 Meter tief mußte gebohrt werden. Racke hatte sich drei Tage vorgenommen gehabt, acht Tage waren daraus geworden. Er hätte die Rückfahrt nach Charkow nicht zu unterbrechen brauchen. Nichts zwang ihn, nun auch noch 150 Kilometer in die Steppe zu fahren. Nichts als seine Kameradschaft. Die beiden in Tapor erwarteten ihn. Gerade, daß er ihnen nicht viel Erfreuliches mitbringen konnte, trieb ihn zu 467
ihnen. Zur Zeit habe er keine Möglichkeit, hatte Dr. Dornberg gesagt, die beiden bei Kodeis herauszuholen. Für einen Urlaub Liebedorns bestünde auch keine Aussicht. Seine vier Bräute könnten nicht ernsthaft als bevölkerungspolitischer Dringlichkeitsgrund gewertet werden, eben weil es vier waren. Er werde aber alles tun, daß Schepperl zu Weihnachten Urlaub bekomme. Der verhütete Anschlag auf den Minsker Dienstzug, sei nicht vergessen worden. Die Rücksendung des Verdienstkreuzes werde als ungeschehen betrachtet. Die Dezernenten seien ständig bemüht, ihre bewährten Eisenbahner wieder zur Reichsverkehrsdirektion Mitte, wie sie jetzt hieß, zurückzubekommen. Zügig schritt Racke aus. Vor ihm über dem Horizont stand der Große Bär. ,Der Wagen' hatten sie als Kinder gesagt. Ein Lied fiel ihm ein. „Sieben Sterne hat der Große Bär...“ Und mit diesem Lied fiel ihm das Mädchen im Moor ein. Das Lied war aus einem Film mit russischer Handlung. Er erzählte von der Liebe eines Mädchens zu einem Kosaken. Das Mädchen ging ins Bordell, um das Geld für den Geliebten zu verdienen, damit er sich ein Pferd kaufen und Offizier werden konnte. Als sie es ihm gestand, verließ er sie. Es war ein wunderbares Lied. Es hatte in seiner Seele geschlummert, nun war es aufgewacht. Seine wehmütige Süßigkeit begleitete ihn auf dem Gang durch die Nacht. Sieben Sterne hat der Große Bär...
Mädel, gib mir deine Hände her...
Die Sonne liebt den Mond, der Mond die Sterne...
Sag mir, Mädel, hast du mich auch gerne...
Sieben Sterne hat der Große Bär...
ohne dich war' selbst der Himmel leer.....
Günther Racke marschierte. Die Stunden vergingen. Die Füße begannen zu schmerzen, die Beine wurden müde. Die Sterne hingen über ihm, das Lied klang in ihm und die Erinnerung an das Mädchen im Moor. Er blieb stehn. Starrte. Vielleicht war der Himmel schon lange rot gewesen, ehe er den Kopf gehoben hatte. Dort war Tapor. Es brannte. 468
Racke ging rascher. Es war schwer zu sagen, wie weit es noch war. Licht in der Nacht trügt. Wurde nicht geschossen? Er holte das Glas aus dem Rucksack; aber in der Nacht war die Entfernung noch zu groß. Er hastete vorwärts. Ein neuer Brand flammte auf. Ein weißer Brand. Erhellte die Gegend weithin mit einem grellen Schein, über dem sich eine schwarze Wolke wälzte. So brannten Spritzüge oder Spritlager. Hier war der Russe! Und Schepperl? Und Liebedorn? Racke lief, und als er sich mit leichtem Erschrecken bewußt wurde, daß er in das grelle Licht gelaufen war, tausend Schritte weit zu sehen, daß ihn ja wahrscheinlich nicht mehr die beiden Kameraden empfangen würden, sondern der Iwan — da war es zu spät. Reiter preschten daher. Fort! Zurück! In die dunkle Steppe! Er rannte. Geschrei klang, der dumpfe Trommellaut galoppierender Hufe. Kugeln zirpten, klatschten in die Erde, schrillten auf den Schienen. Racke blieb stehen, wandte sich um, dem Brand zu, hob die Hände hoch mit gespreizten Fingern. Wie Teufel sprengten sie daher und wie Teufel sahen sie aus. Sie schwangen krumme Säbel, Karabiner. Er dachte, sie reiten dich über den Haufen. Ein wilder Schrei klang, wohl ein Kommando. Sie parierten ihre Pferde aus voller Karriere auf wenige Schritte. Er sah über die Köpfe der dampfenden, struppigen Tiere hinweg in gelbe und graubraune Gesichter unter allen möglichen Mützen. Gesichter mit Schlitzaugen, starken Backenknochen, glatte Gesichter und Gesichter mit schwarzen dünnen Lippenbärten. Es war ihm, als starrten ihn alle diese schiefen, glitzernden Augen mit viel mehr Verwunderung als Mordgier an. Einer trieb sein Rößlein an Rackes Seite, nahm ihm die Mütze vom Kopf, betrachtete sie, riß den Goldblechadler ab, betastete das Tuch des Mantels, zog an einem Knopf, hängte sich vom Pferd und biß hinein. Jetzt erst nahm er Racke die Pistole aus der Tasche und das Glas weg. Sicher hatten die Steppensöhne, die wohl von weit hinter der Wolga kamen, noch nie die Uniform eines blauen Eisenbahners 469
gesehen. Sie wußten nicht, was sie von ihm halten sollten. Vielleicht hielten sie ihn für einen Offizier eines fremden, vielleicht gar verbündeten Staates. Oder einen Diplomaten. Sie zogen ihm den Rucksack von den Schultern, rüttelten an seinem steifen Arm. Zwei Reiter nahmen ihn zwischen sich, zwei schlossen sich an. Die andern schrien, rissen ihre Gäule herum und stoben auf beiden Seiten der Bahn nach Süden. Es waren etwa dreißig, vierzig. Dort wo sie hinkamen, waren ein paar Eisenbahner-Landser, ein Haufen Arbeiter mit Pickel und Schaufel. Und auch der kleine Hilfslokomotivführer. Sie würden schlafen. Es waren vierzig Kilometer. In zwei Stunden würde die Horde dort sein. Vielleicht ritt sie nicht so weit. Racke hatte geglaubt, rennen zu müssen, bis ihm nicht nur die Zunge, sondern auch die Lunge aus dem Halse hing. Aber seine Eskorte ritt im Schritt, in weitem Bogen ostwärts um das brennende Benzinlager. Das Flammenmeer verdeckte den Blick auf den Ausladebahnhof. Es ging an Tapor vorbei. Die Katen lagen fast alle in Asche. Aus den Schutthaufen und Trümmerresten quoll Rauch und es stank nach verbrannten Leichen. Aus den wenigen Behausungen, die noch standen, klangen Geschrei, Gegröle, Gelächter und mitunter Frauenstimmen und wildes Jauchzen. Die vier Reiter bogen mit ihrem Gefangenen in die trockene Bachschlucht ein. Sie stand weithin voller Pferde. Nur ein paar gleich verwegene Gestalten tauchten auf, verschwanden wieder. Sie gaben Racke ein Pferdchen und banden ihm die Füße an die Steigbügel und die Trense seines Pferdchens an den Sattelknopf eines anderen. Sie entdeckten, daß er nicht reiten konnte und starrten ihn noch verwunderter an, als bei seinem ersten Anblick. Dann trabten sie los. Er wurde so durchgeschüttelt, daß er glaubte, seine Eingeweide und sämtliche inneren Organe, einschließlich des Gehirns, würden zu Brei zerschlagen. Die Tortur war unerträglich. Er stellte sich in den Steigbügeln auf und klammerte sich in der dicken Mähne des Gaules fest, versuchte aber immer wieder die Haltung seiner Begleiter nachzuahmen. Es machte ihnen Spaß und sie halfen ihm mit Worten, die er nicht verstand, und lachend mit Gesten und rauhen Griffen, die ihm 470
mehr beibrachten, als ein vierwöchiger Reitkurs vermocht hätte. Nach einer Stunde Trab klebte er völlig erschöpft, aber so weich an seinem Rößlein, als ob er mit ihm verwachsen geboren wäre. Trab, Trab, unaufhörlicher Trab nach Nordosten. Der große Bär stand halblinks. Nun Racke nicht mehr durchgerüttelt wurde, spürte er die Kälte in alle Knochen schleichen. Unaufhörlich bewegte er die Zehen, den ganzen Fuß in den Stiefeln, die Hände in den Handschuhen, drückte das Gesicht immer wieder in die Pferdemähne. Sie machten nur eine kurze Rast gegen Morgen. Er bekam ein pfundschweres Stück Fleisch, das halbroh und zäh wie Leder war. Er kaute, schon wieder im Sattel, noch eine Stunde daran. Es stillte den Hunger und kräftigte spürbar. Er hatte eine Kräftigung nötig, denn sein Gesäß war rohes Fleisch geworden. Am hellen Tag bleierner Schlaf auf der hartgefrorenen Erde; er wußte nicht wie lange. Und weiter. Die Füße wurden ihm nicht mehr an die Steigbügel gebunden. Traben. Traben. Bis zum Abend. Bis zum Morgen. Ein paar kurze Rasten. Eine Handvoll Hirse, eine Handvoll Sonnenblumenkerne. Und wieder Tag. Grauer Himmel, graue Erde. Ebene. Ebene, Steppe. Frost ohne Schnee. Wind. Ein paar Mal Reiter am Horizont. Da und dort. Drei, vier. Das Gelände bekam Formen. Schützenlöcher tauchten auf, Grabenstücke, MG- und Werferstände, Bunker, die man selbst vom Pferd herunter erst entdeckte, wenn man schon vorbeiritt. Ein schmales Tal öffnete sich mit Wald. Noch hing Laub, braun und erfroren, in den Zweigen, den Grund deckte es mit einem bunten Teppich. Zum ersten Mal in der Steppe sah Racke in der Ferne Wasser schimmern. Vieh weidete weithin. Hinter zwei sich überschneidenden Bodenwellen lag eine Ortschaft und ihre ganze Umgebung war ein Heerlager. Pelzmäntel und Pelzmützen, Soldatenmützen, kurze Felljacken, vorherrschend aber das Braun der russischen Uniform. Die verschiedenartigsten asiatischen Rassemerkmale zwischen dem europäisch-russischen Volkstypus, noch ausgeprägter, als sie ihm in den letzten Monaten bei Gefangenentransporten aufgefallen waren. Zwei der Begleiter Rackes jagten voraus. Als die beiden andern mit ihm das Dorf erreicht hatten, wurde er in einen kleinen 471
Schuppen neben einem etwas abseits liegenden größeren Hause gebracht. Nach kurzer Zeit kam ein Soldat, ein bärtiger Russe, der auch Pole oder ein Kärntner Bauer hätte sein können, eine MP unter den Arm geklemmt. „Komm“, sagte er, spielte an seiner Pistole und hob sie grinsend ein wenig gegen Racke an, ließ ihn ins Haus gehn. Man trat von der Straße in die Stube. Der Soldat blieb draußen. In der Stube stand ein Mann am Fenster. Ein russischer Offizier. Er wandte sich um. Trotz der Uniform und obgleich er keinen Bart mehr trug, erkannte ihn Racke sofort. Jendik. Seine Verblüffung über dieses Wiedersehn war so groß, daß er wie ein kleiner Junge dastand und kein Wort herausbrachte. Jendik verzog keine Miene. „Setzen Sie sich“, sagte er. Damals hatte Jendik du gesagt. Racke gehorchte schweigend, aber er setzte sich wie auf Eier. Er mußte die Zähne zusammenpressen, um nicht laut zu stöhnen. Jendik legte Zigaretten auf den Tisch und ein Feuerzeug. Es war eine amerikanische Packung. Racke rührte sich nicht, so maßlos war seine Überraschung. Jendik setzte sich auf die Tischkante. „Ich weiß nicht“, sagte er, „was daran so verwunderlich sein soll, daß ich hier bin. Ich bin mit anderen Partisanenführern schon im Januar mit Flugzeug an den Donez geholt und zum Major gemacht worden. Euere Sommeroffensive hat uns in die Steppe und euere Säuberung teilweise über den Don getrieben. Wir sind in den letzten Tagen wieder herübergekommen und haben hier noch verstreute Gruppen zusammengeschlossen. Das ist alles.“ Racke gab keine Antwort, aber er hatte sich gefaßt und zündete sich eine Zigarette an. „Weit erstaunlicher ist“, fuhr Jendik fort, „daß gerade wir beide uns hier wiedersehen. Nach vierzehn Monaten. Von den Pripetsümpfen in die Donsteppe! Die blaue Uniform hat Sie gerettet, sonst hätten Ihnen die Nachkommen Dschingis Khans unzweifelhaft den Hals abgeschnitten. Das ist so ihre Art. Gefangene machen wir alle nicht. Wir können sie hier nicht brauchen. Sobald die Kämpfe losgehn, spätestens morgen, wird man Sie erschießen.“
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„Ich habe oft ans Moor zurückgedacht“, das war das erste, was Racke sagte, als hätte er Jendiks letzte Worte nicht gehört. Es wurde ihm zu warm. Er zog den Mantel aus, warf ihn auf die Ofenbank. „Es wird keine große Sache“, sprach Jendik weiter. „Ein Soldat wird sagen: komm! und Sie vorausgehen lassen. Vielleicht hören Sie den Knall noch, dann ist's schon vorbei. Zum Schmerzempfinden kommen Sie gar nicht mehr. Ich kann es allerdings nicht genau sagen, ich habe es noch nicht erlebt.“ „Ich werde es dir nachher leider auch nicht mehr sagen können.“ Er kümmerte sich nicht um Jendiks ,Sie', er blieb bei dem ,Du’ aus dem Moor. „Sie können diesen betrüblichen Abschluß Ihres Lebens auch vermeiden.“ „Ich wüßte nicht, was ich lieber täte. Vielleicht kannst du mir verraten wie.“ „Ganz einfach. Sie erklären sich bereit, in den russischen Eisenbahndienst zu treten und möglichst viele deutsche Eisenbahner zu veranlassen, dasselbe zu tun.“ „Sicher. Ganz einfach.“ „Wir werden Ihnen die Möglichkeit verschaffen, mit den Bahnhöfen zu telefonieren und Ihre Kameraden aufzufordern, nicht alles zu zerstören und davonzufahren, wenn unsere Truppen kommen, sondern sie vertrauensvoll zu erwarten und ihnen die Bahnhöfe zu übergeben.“ „Und du glaubst, daß ich dazu ja sagen werde?“ „Nicht so ohne weiteres. Sie sollten sich's aber gut überlegen. Und damit es Ihre Vernunft leichter hat, sich fürs Leben zu entscheiden, weil jedes weitere Opfer für euere verlorene Sache sinnlos ist, will ich Ihnen sagen, was in den nächsten Tagen oder Wochen geschehen wird. Euere Front am Don wird zusammenbrechen. Diesmal werden euere Armeen geschlagen, eingekesselt und vernichtet werden. Vernichten ist doch das Lieblingswort eueres Führers? Aber jetzt sind wir soweit und jetzt wird mit der Vernichtung seiner Wehrmacht und seines Reiches begonnen.“ Racke schwieg lange, dann antwortete er: „Jendik, harte Kämpfe mag es geben, wie immer schon. Daß ihr bereits wieder 473
zahlenmäßig weit überlegene Truppen und Panzerkräfte bereitgestellt habt, weiß auch ich. Es ist also möglich, daß wir zurückgehen müssen. Aber daß es jemals gelingen könnte, uns divisions- und armeeweise einzukesseln, unsere „Wehrmacht mit ihrer eigenen Taktik zu schlagen — Mensch, das glaubst du doch selber nicht!“ Jendik fuhr auf. „Auch wenn das nicht gelänge, euer Rückzug wird unter allen Umständen beginnen. Und enden wird er nicht mehr. Darauf kannst du dich verlassen. Nicht am Dnjepr und nicht an der Weichsel.“ „Darauf würde ich mich nicht verlassen.“ „Du bist ein Narr, Racke!“ Er hatte jetzt das ,Sie' endgültig fallen lassen. „Ihr alle seid Narren! Ihr müßt von euerem Hitler mit Blindheit geschlagen sein! Seht ihr denn nicht, ihr, die ihr hier vornedran seid, daß ihr fertig seid? Euere Hilfsquellen, euere Kriegspotenz schwinden hin, wie eine Lunge an der Galoppierenden Schwindsucht! Aber der Krieg fängt erst an!“ Jendik war aufgesprungen, hatte geschrien. Jetzt zündete auch er sich eine Zigarette an, fuhr ruhig, fast leise fort: „Und wenn der Krieg zu Ende ist, hat das Hitlerreich aufgehört zu existieren.“ Racke rauchte wieder eine „Weile schweigend, dann entgegnete er: „Niemand kann sagen, wie dieser Krieg enden wird. Ich will dir jedoch gerne gestehen, daß mir selbst bange um seinen Ausgang ist. Vor allem um die furchtbaren Opfer, die er noch kosten wird. Aber wie oft schon haben unerwartete Ereignisse bereits vollendet scheinende Tatsachen über den Haufen geworfen! Und eines halte ich für ganz ausgeschlossen: Daß das Deutsche Reich von Rußland vernichtet wird. Das können selbst unsere schlimmsten Feinde in Europa um ihrer eigenen Zukunft willen weder wollen noch dulden, es sei denn, ihre Regierungen verfolgen das Ziel, sowjetisch zu werden. Bei nur einer Spur von politischer Vernunft werden England und Amerika die roten Armeen nicht einmal mehr nach Polen hineinlassen. Um Polen vor Hitlers Aggression zu schützen, haben sie angeblich den Krieg begonnen, können sie es also Stalin ausliefern?“ Jendik lachte schallend.
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„Das Roosevelt-Amerika! Stalin in den Arm fallen? Im Gegenteil! Je mehr er von Deutschland zerstört, je mehr Deutsche umgebracht, nach Sibirien verschleppt werden, um so begeisterter wird Roosevelt Beifall klatschen. Aufteilen will er Deutschland! Aus dem Rest Kartoffeläcker machen! Sterilisiert sollt ihr werden!“ Jendik lachte wieder schallend. „Racke, es tut mir direkt leid, daß du das nicht erleben wirst.“ Er sprang auf, lief nebenan und kam mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück, schenkte ein. „Da sauf!“ Racke trank, stellte das Glas weg, sagte: „Auch du wirst das nicht erleben und wenn du noch so alt würdest.“ „Stimmt. Aber nur aus einem einzigen Grunde nicht. Weil Stalin euch nämlich davor bewahren wird. Er wird aus Deutschland keinen Trümmerhaufen und keinen Kartoffelacker, sondern einen Staat der Sowjetunion machen. Er wird zwanzig Millionen Faschisten und Nationalisten und Pfaffen und Bauernschädel ausrotten, aus der breiten Masse der Deutschen aber ein Fünfzigmillionenheer von Arbeitern, Arbeiterinnen und Soldaten machen. Und wenn Deutschland heute russisch ist — da hast du recht, Racke! — dann ist Europa morgen bolschewistisch. Sowjetdeutschland ist der Anfang vom Endsieg der kommunistischen Weltrevolution!“ Jendik schenkte wieder ein, schrie: „Sauf! Wenn die Flasche leer ist, erschieße ich dich!“ Racke trank aus, nahm sich eine neue amerikanische Zigarette. Sie schmeckte ihm besser als die amerikanische Politik. Ob Jendik ihn wirklich erschießen würde? Wahrscheinlich war es ihm ernst. Er würde sich besaufen und dann würde er es tun. Es war eigentlich sogar anständig: Er ersparte ihm das scheußliche Warten auf den Augenblick, wo ihn wieder ein Soldat aus dem Schuppen holen würde. Nach einer Weile fragte Racke: „Hast du eigentlich ganz vergessen, daß du Deutscher bist?“ „Ich habe es in der gleichen Weise vergessen, wie ihr vergessen habt, daß auch diejenigen Deutsche sind, die in eueren Konzentrationslagern verrecken.“ 475
Er riß das Fenster auf. Die Kälte drang herein und ein ganz leises, ganz fernes Donnern. Das war die Front. Sie war näher gekommen. Diesseits des Don. Jendik schloß das Fenster wieder, kam zurück, setzte sich an den Tisch. Racke sah ihn fragend an. Jendik sagte: „Bei den Rumänen. Sie weichen schon. Laufen uns dann in die Maschinengewehre.“ Sie schwiegen, rauchten, tranken, waren beide in ihre Gedanken versunken, plötzlich fragte Racke: „Was ist eigentlich aus dem Mädchen geworden?“ „Aus welchem Mädchen?“ „Aus der Kleinen im Moor.“ „Warum?“ „Ich kann sie nicht vergessen.“ „So.“ Jendik schenkte wieder ein, hielt die Flasche gegen das Licht, lachte leicht auf. „Viel ist nicht mehr drin!“ Von der Türe in die Stube nebenan kam ein Geräusch. Racke sah auf. Da stand ein Soldat, ein junger Bursche. Die Uniform war ihm viel zu groß. Racke fuhr leicht zusammen. Er erkannte sie sofort. Das kurze braune Jungenhaar stand nicht mehr struppig um den Kopf, sondern war in weichen „Wellen gekämmt. Blaß war das Gesicht immer noch, aber es war voller und die Augen größer geworden. Ihren traurig wissenden Ausdruck hatten sie behalten. Sie kam zum Tisch her, griff nach der Flasche. Es war, als sähe sie Racke nicht, ihr Blick lag auf Jendik. Jendik rührte sich nicht. Er starrte sie an, ließ wortlos geschehen, daß sie die Flasche wegnahm und wieder ging. Racke sah am Ausdruck seines Gesichtes: dieses Mädchen war Jendiks Leben. Jendik stand auf, öffnete die Türe. Da stand der Soldat mit der MP. Jendik sagte ein paar Worte zu ihm, der Soldat nickte, drehte sich um, ging gleich darauf am Fenster vorbei. Jendik ging, ohne Racke noch einmal anzusehen, nebenan, machte die Türe hinter sich zu. Er kam nicht zurück.
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Racke war müde. So müde, daß er am Tisch einschlief. Er erwachte, weil jemand hereinkam. Es war eine Frau. Sie stellte einen Napf mit heißer Suppe auf den Tisch und legte ein Stück weißes Brot dazu. Racke aß. Es dämmerte. Die Frau kam wieder, brachte eine brennende Kerze, klebte sie auf den Tisch, nahm den leeren Napf mit hinaus. Im Dorf wurde es lebendig. Man hörte viele Stimmen, Geschimpfe, Kommandorufe, Pferdegetrappel, Motoren- und Gleiskettengeräusche. Eine Stunde lang. Und man hörte die kurzen fernen Donnerschläge und das langanhaltende böse Grollen durch die geschlossenen Fenster. Racke dachte unablässig an das Mädchen aus dem Moor. Es wurde Nacht. Sie kam. Er hatte gewußt, daß sie kommen würde. Er erhob sich. Ein paar Schritte vor ihm blieb sie stehen. Stumm sahen sie einander an, lange Zeit. Er brauchte nichts zu fragen und sie brauchte nichts zu sagen. Es stand alles in ihrem Antlitz. Bleibe bei mir. Racke griff in die Brusttasche, holte das Segeltuchmäppchen heraus, gab ihr das Bildchen von Eva mit Wolf Günther. Sie setzte sich an den Tisch, betrachtete es lange im flackernden Kerzenlicht. Wortlos gab sie es ihm zurück, ging hinaus. Er drückte seine Lippen auf das Bildchen und steckte es wieder ein. Dann löschte er die Kerze, legte sich auf die Ofenbank, den Mantel unterm Kopf, aber er war voll Unruhe und ehe er ganz eingeschlafen war, berührte ihn eine Hand. Er fuhr auf. „Komm“, flüsterte sie. Im Nebenraum wurde es laut. Noch ehe Racke im Mantel war, polterte es an der Türe; sie wurde aufgerissen. Der Türrahmen wurde hell, innen brannte Licht. Racke sah Jendik stehen, die Pistole in der Hand. Jendik schwankte, stieß in wildem Zorn polnische Worte aus, die dem Mädchen galten. Auch der Stimme hörte man an, daß er betrunken war. Racke wußte nicht, würde Jendik das Mädchen oder nur ihn oder sie beide niederschießen, aber er wußte, daß ihm unter allen Umständen nur noch blitzschnelles Handeln eine Möglichkeit des Entrinnens bot. Er packte den Stuhl, neben dem er stand, und schleuderte ihn, sich selbst zur Seite werfend, gegen Jendik. Der 477
taumelte mit einem Schmerz- und Wutlaut zurück und die Pistole entfiel seiner Hand. Zugleich fiel Racke ihn an, schlug ihm mit aller Wucht, zu der sein gesunder Arm fähig war, die Faust in die Magengrube und trat ihn in der nächsten Sekunde gegen das Schienbein. Jendik stürzte, wand sich mit weit aufgerissenem Munde, ohne Luft zu bekommen und ohne einen Laut herauszubringen, am Boden. Racke wußte, daß er ihn töten mußte. Ließe er ihn am Leben, schlüge Jendik in der nächsten halben Minute Alarm. Er riß die Pistole an sich, wagte jedoch nicht zu schießen, packte sie am Lauf und zerschlug Jendik mit der ganzen Kraft, zu der er fähig war, den Schädel. Es wurde ihm fast übel dabei vor Widerwillen und er kam sich wie ein Mörder vor. Nur Sekunden waren vergangen. Das Mädchen hatte sich nicht von der Stelle gerührt und keinen Laut von sich gegeben. Er sah sie jetzt im matten Licht, das aus dem Nebenraum fiel, regungslos stehen, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Sie hatte einen Fellmantel an und eine Fellmütze auf, eine schmal zusammengelegte Decke und einen Brotbeutel umgehängt. Er zog seinen Mantel an, setzte die Mütze auf und nun sagte er: „Komm.“ Da ging sie voraus. Es war sternhell und bitter kalt. Sie führte ihn an einigen Häusern vorbei, die still und dunkel lagen, einen Hang hinauf zwischen Bäumen und hohen Stauden, über kahle Felder in die Steppe hinein. Er nahm ihre Hand und sie ließ sie ihm. So gingen sie ohne ein Wort. Stunde um Stunde, bis der Himmel im Osten hell wurde. Manchmal war die Erde kahl und zerschrundet. An einem dieser kleinen Einbrüche blieb sie stehen. „Wir müssen rasten“, sagte sie. Sie sprach deutsch, fast ohne Akzent. Im Moor hatte sie es noch nicht gekonnt. Sicher hatte sie es von Jendik gelernt. Sie legte die Decke in die Bodenschrunde und setzte sich darauf. Er setzte sich zu ihr. Sie hatte kleine Maiskuchen im Brotbeutel und eine Flasche mit Tee. Sie labten sich. Er fror trotz des Mantels und wickelte sich mit ihr in die Decke. Und jetzt fragte er wieder, was er sie damals in der Mooshütte gefragt und worauf er keine Antwort erhalten hatte. 478
„Wie heißt du?“ Diesmal antwortete sie ohne zu zögern. „Janka.“ Er legte ganz leicht, brüderlich, seinen Arm um sie. „Willst du nicht mit mir kommen, Janka?“ Sie las lange schweigend in seinen Augen, dann verneinte sie mit einer ganz kleinen Kopfbewegung. „Ich könnte dich nach Deutschland bringen oder du könntest als Dolmetscherin bei mir bleiben.“ Wieder der lange, unergründliche Blick. Wieder das leichte Kopfschütteln. Er ließ langsam seinen Arm sinken. Strahlend ging die Sonne auf. Racke entdeckte am Horizont in kurzen Abständen lange graue Streifen. Das waren keine Wolken, das war Staub. Das waren Kolonnen. Janka folgte seinem Blick und nickte. „Dort. Ja. Deine Kameraden.“ „Eine Stunde oder zwei wollen wir noch ruhen,“ sagte er. Sie nickte. Sie schob ihm den Brotbeutel unter den Kopf und legte sich an seiner Seite mit ausgestreckten Armen auf den Bauch. Er spürte sie neben sich, bis er in bleiernen Schlaf versunken war. Als er erwachte, stand die Sonne fast im Mittag. Janka lag nicht mehr da. Vielleicht kommt sie gleich wieder, dachte er. Sie kam nicht. Er rief. Sie gab keine Antwort. Er ging hierhin, dorthin, fand sie nicht. Er suchte mit traurigen Augen die Steppe ab, in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Er konnte sie nicht mehr entdecken. Es war ihm weh ums Herz. Er schrie ihren Namen. „Janka!“ — „Janka!“ Der Ruf verhallte schwach in der grenzenlosen Weite. Es kam keine Antwort. Racke nahm die Decke auf, hängte den Brotbeutel um, öffnete den Mantel und wanderte nach Osten, wo von Norden bis Süden die Staubfahnen der Kolonnen standen. Er wußte nicht, daß
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Janka kaum hundert Schritte hinter ihm in einer Erdrille kauerte und ihm nachsah. So wie damals im Moor. *
* *
Nicht nur Licht und Feuer in der Nacht, auch Entfernungen in einer unabsehbaren nackten Ebene trügen. Erst spät, als es schon dunkelte, erreichte Racke die Straße der Kolonnen. Es war nicht eine Straße, es waren ein Dutzend Straßen, über eine Breite von tausend Metern nebeneinander in die Steppe gefahren, gezeichnet von liegengebliebenen Kraftwagen, zusammengebrochenen Fahrzeugen und Pferdekadavern. Es war die Rückzugstraße der Rumänen. Troß neben Troß, Kraftwagen hinter Kraftwagen, Fuhrwerke aller Art, ein ganzer Verbandsplatz in Omnibussen, Geschütze jeder Gattung, motorbewegte und pferdebespannte, Stäbe und Marschkolonnen trieben auf ihr hin. Es war der Beginn des Rückzugs, noch ohne Panik, ein wenig vorsorglich, noch gedeckt von kämpfenden Einheiten. Inspektor Racke kam, ritterlich liebenswürdig aufgenommen, mit einem hohen Stab in großen Kraftwagen in zwei Tagen nach Tschir. Bei der Bahn war nach wie vor Betrieb, mit den unabdingbaren Hindernissen zwar, aber als stünde die Front auf ehernen Füßen. Er machte seine Meldung bei der Kommandantur. Die Herrn zuckten die Achseln. Die Steppe noch einmal säubern? Mit was für Truppen? Man würde die Meldung weitergeben, aber was bedeutete sie noch zu einem Zeitpunkt, da der Iwan bereits an mehreren Stellen über den Don drang und es schon größter Anstrengungen bedurfte, die Einbruchstellen abzuriegeln? Racke fuhr nach Obliwskaja. Auch hier war alles wie zuvor. Der Feldbahnbetrieb ging schon wieder bis Tapor. Man konnte sich das gar nicht vorstellen, wenn man aus dem Schrecken kam. „Sind denn die beiden Fahrdienstleiter noch dort?“ „I wo! Zwei neue. Die beiden vorherigen liegen in der Krankenbaracke. Dem Gemetzel in Tapor sind sie entgangen, weil sie noch rechtzeitig mit einem Unterzahlmeister zusammen in 480
die Steppe verschwinden konnten. Aber sie sind dann, von Hunger und Durst getrieben, am Abend des folgenden Tages wieder zur Strecke zurückgekehrt und haben die sechzig Leichen der Baustelle Kilometer 117 gefunden, die alle geköpft und bis auf die Haut ausgeraubt waren. Die drei waren zuvor schon körperlich und seelisch am Ende ihrer Kräfte. Die grauenhafte Szene gab ihnen den Rest. Sie brachen völlig zusammen, blieben einfach liegen und wurden in der Frühe von einer Honvedabteilung, die losgeschickt worden war, halb erfroren aufgefunden. Es geht aber schon wieder.“ „Können Sie denn die beiden nun nicht zum Kommando in Charkow zurückschicken?“ „Jetzt schon. Wenn Sie wollen und die beiden können, dann nehmen Sie sie gleich mit. Urlaub brauchen die jetzt mal auf jeden Fall.“ Zehn Minuten später drückte Racke Schepperl und Liebedorn die Hand. „Do is er ja“, sagte Schepperl ganz sanft. Zu Kraftausdrücken reichte seine Kraft noch nicht. „Ich war auch in Tapor“, sagte Racke. „Aber da brannte es schon. Ich erzähle euch später mehr davon. Sobald ihr aufstehen könnt, fahren wir zusammen nach Charkow und dann geht's in Urlaub.“ Sie sahen ihn an, als wären sie schwerhörig und hätten ihn nicht verstanden. „Wos? Hoam? Zu meina Oid'n?“ stotterte Schepperl. „Zu meine Buam und mei'm Dearndl?“ Er fuhr sich wütend mit dem Handrücken ein paarmal über die Augen. Fuhr sich selber an: „Geh weita! Fangt dee Bluatsflennerei wieda o!“ Liebedorn schluckte nur. Dann setzten sie sich auf, dann hängten sie die Beine aus dem Bett und dann stellten sie sich drauf. Es war noch nicht viel los mit ihnen, aber es ging. Bis zum Bahnhof würden sie schon kommen. „Aba oans sag i da, Racke! Z'ruck in des Kaff, in des nixige, gschlampate, varreckte, bringen s' mi nimma!“ „Ich glaube, darüber brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen. Dafür sorgt schon der Iwan.“
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Und dann ging Günther Racke hinaus. Die beiden Kameraden waren gerettet, es war nichts mehr zu tun. Er mußte wieder zu sich selbst finden, mußte allein sein. Allein mit all dem, was ihn nun, nachdem alles vorbei war und die Entspannung kam, wie mit Fäusten schüttelte. Wieder standen die Sterne am Himmel. Im Norden der Große Bär. Über Tapor und über Janka. Was hatte damals in Minsk jener Transportoffizier gesagt? „Wir brauchen zu den stählernen Straßen auch stählerne Herzen.“ Und Dornberg? „Unglücklicherweise ist das Menschenherz aus Fleisch und Blut.“ Und er? Was hatte er gesagt? „Glücklicherweise.“ Lange hing Rackes Auge an den sieben Sternen. Wirklich glücklicherweise? Ja.
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Karl Eugen Hahn
Eisenbahner in Krieg und Frieden Ein Lebensschicksal 256 Seiten, Ganzleinen, DM 12,80 Zum ersten Male seit dem Zusammenbruch, werden die Probleme des Eisenbahntransportwesens im letzten Krieg in ihrer entscheidenden Bedeutung von einem deutschen Eisenbahner behandelt. Der Verfasser, heute Betriebsleiter der Bundesbahndirektion Stuttgart, schildert seinen Werdegang und seine Erlebnisse als Eisenbahner vor und besonders während des 2. Weltkrieges. Anhand dieses Einzelschicksals rollt noch einmal diese schwere, inhaltsreiche Zeit an uns vorüber und wir erfahren eindringlich, mit welchen Schwierigkeiten die Eisenbahner damals zu kämpfen hatten und welche übermenschlichen Anstrengungen gemacht wurden, um sie zu bewältigen. Das Buch ist fesselnd geschrieben, in einer knappen, klaren, mit Humor gewürzten Sprache. Der Eisenbahner Hahn weiß in seinem Buch nicht nur sehr interessant und spannend über seine und seiner Mitarbeiter Taten und Erlebnisse zu erzählen, sondern weist auch auf die vielen Friktionen hin, die durch falsche Organisation, unzulängliche Ausrüstung und schlechte Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht und Reichsbahn entstanden. Ein sehr umfangreicher Anhang mit zahlreichen Dokumenten dient der Erläuterung. Stuttgarter Zeitung Das Buch ist nicht nur eine Lebensschilderung, sondern ein sachlicher und offener Rechenschaftsbericht. Zahlreiche lebendige Federzeichnungen von Franz Xaver B u die r und viele im Anhang zusammengefaßte interessante Abdrucke von OriginalBefehlen und -Belegen bereichern dieses bemerkenswerte Buch, das nicht nur solche Leser fesseln dürfte, die dabei waren. Deutsche Presse Agentur
LANZENREITER VERLAG FRANKFURT A. M.
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Heinrich Eisen
Die verlorene Kompanie Roman 487 Seiten, Ganzleinen, DM 12,80 Die Auflage, die um 200 000 liegt, macht das Buch, zumal Kriegsbücher nach 1945 eigentlich keine Konjunktur hatten, bemerkenswert. Was Eisen hier gestaltet, ist mehr Chronik als Dichtung, die aber, dichterisch gestaltet, zu einem ergreifenden Dokument wird. Hier ist keine Verherrlichung des Krieges, nicht einmal des Soldatentums, aber Krieg und Kameradschaft, die zur Schicksalsgemeinschaft wird. Monatsinformationen BVD Dieses Buch ragt unter der großen Zahl der Kriegsromane und Berichte erfreulich und wirksam heraus. Es ist ein Buch, das in aller Schlichtheit und Würde das Soldatentum so schildert, wie es wirklich ist, mit all seinen Höhen und Tiefen. Dieses Buch behält seinen Wert, man wird es immer wieder lesen. Heimatbrücke Leer Ein männliches und menschliches Buch. Bayerische Staatszeitung „Die verlorene Kompanie“ ist ein maßlos erregendes Buch. Es ist buchstäblich so spannend, daß man fast bis zum vorletzten Satz wieder nicht weiß, wie die Sache ausgehen wird. Ein recht ungewöhnliches Moment bei Kriegsromanen. Selbst die größten unter ihnen „Krieg und Frieden“, „Leu Feu“, „Im Westen nichts Neues“, sind nicht eigentlich spannend. In solchen Romanen wird gestorben. Das ist tragisch, aber nicht aufregend. Staats Herold Corporation New York Eisens Roman, den man den „Robinson der Ostfront“ nennen könnte, ist völlig unpolitisch, fern von der pathetischen Phrase. Das Buch Eisens bewegt sich nicht auf hohen Stelzen und schwelgt keineswegs in tiefgründigen Meditationen, aber es erfüllt die Aufgabe, die es sich gestellt hat, nämlich das harte Kriegserlebnis zu vermenschlichen und dabei auch den Landserhumor zu schlagen, in trefflicher xmd unterhaltender Weise. Aachener Nachrichten
DIKREITER VERLAGSGESELLSCHAFT m. b. H. Freiburg i. Br.
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