Goldmanns WELTRAUM Taschenbücher sind eine moderne Buchreihe, in der Romane, Erzählungen und Kurzgeschichten der besten...
152 downloads
867 Views
881KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Goldmanns WELTRAUM Taschenbücher sind eine moderne Buchreihe, in der Romane, Erzählungen und Kurzgeschichten der besten internationalen Science-Fiction-Autoren veröffent licht werden. Diese Werke vermitteln dem Leser ein packendes Bild der Entwicklung in naher oder ferner Zukunft, wie sie auf Grund, der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse möglich sein könnte. Sie alle sind, wie der ›Telegraf‹ in Berlin treffend schrieb, sowohl spannende Unterhaltung als auch »Mahnung, Warnung und ein wenig Vorbereitung auf die Umwälzungen, mit denen die Menschheit zu rechnen hat.« Der Blick in eine technisierte Zukunft erfüllt diese Bücher mit einer ungewöhnlichen Spannung und Dramatik. Immer wieder steht der Leser vor den Fragen: »Wird es so werden?« – »Darf es so werden?« – »Muß es so werden?« Diese Fragen sind vor allem dann berechtigt, wenn bei der Darstellung des fesselnden Stof fes die Gewissenhaftigkeit der wissenschaftlichen Grundlage erhalten bleibt. Goldmanns WELTRAUM Taschenbücher zeigen die Welt von morgen, wie sie sein wird oder werden könnte. Es ist die Welt, in die wir gehen, eine Welt voller Probleme und Abenteuer. Über den Inhalt: Das Weltraumschiff ›Nina‹ ist von einer interstellaren Expedi tion nicht zurückgekehrt. Der letzte Funkspruch war ein Hilfe ruf: Ein riesiges unbekanntes Raumschiff näherte sich ›Nina‹; die Besatzung bestand aus menschenähnlichen Wesen ... Diese Nachricht versetzt die Menschheit in Panik. Droht nun die Invasion aus dem Weltraum?
DANIEL F. GALOUYE
WELTRAUMSCHIFF ›NINA‹ MELDET
Ein utopisch-technischer Abenteuerroman
WILHELM GOLDMANN VERLAG
MÜNCHEN
Ungekürzte Ausgabe • Made in Germany
© 1966 by Daniel F. Galouye.
Titel des englischen Originals: The lost Perception.
Ins Deutsche übertragen von Hans-Ulrich Nichau.
Herausgegeben von Dr. Herbert W. Franke.
Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages.
Umschlagentwurf: Eyke Volkmer.
Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua.
Druck: Presse Druck- und Verlags-GmbH. Augsburg.
Verlagsnummer: 087 • Su
VORSPIEL
Sechs Milliarden Jahre alt, 77 000 Lichtjahre lang, die großen Linsen funkelnd in kosmischer Erhabenheit, so rollt sie durch die dunklen Weiten des Unendlichen … Gattungsmäßig ist sie – für die Lebensformen, bei denen die Wortbedeutung eine Rolle spielt – eine ›Galaxis‹. Eine Form neigt zu altmodischen, romantischen Ausdrücken und bezeich net sie als ›Milchstraße‹. Für die andere ist sie: ›Eines der sechs Milliarden Augen Gottes‹. Solche rein subjektiven Deutungen der galaktischen Struktur sind verständlich. Denn die sogenannte Milchstraße kann in ihrem vollen Umfang von keinem intelligenten Lebewesen begriffen werden. Zehn Milliarden Sonnen von unendlicher Mannigfaltigkeit und endlosen Gruppierungen. Schimmernde Schwärme stellen, wie Myriaden Juwelen in herrlichen Kronen, ihre blendende himmlische Leuchtkraft zur Schau. Tausende von Nebelflecken. Große Wolken aus undurchsichtigen Stoffen und nicht leuch tender Körper senden auf Frequenzen, die von den empfind lichsten Ortungsimpulsen im 3800- bis 8000-Angström-Bereich nicht wahrgenommen werden können. Milliarden über Milliar den von Planeten, Satelliten, Kometen, Meteoren und interstel laren Fragmenten. Alles gefangen in einem ehrfurchtgebietenden Wirbel er starrter Bewegung. Dünne Lichtspiralen in einer schleierartigen Anordnung von unbegreiflicher Grazie und Schönheit. Fun kelnd mit dem grellen Glanz explodierender Sonnen – wie die
sporadische Brillanz atomarer Zertrümmerung in einem Mi krogramm Radium. Innerhalb von 200 Millionen Jahren dreht sich das ganze Sy stem einmal um seine eigene Achse; so wurde es in der Stan dardzeiteinheit jener Lebensformen gemessen, die das majestä tische System fröhlich und unbeschwert als Milchstraße be zeichnen. Daß solch ein superstellares Konglomerat etwas Unbegreifliches darstellt, entspricht dem Wesen der Kreaturen, deren Existenzspanne sich ungefähr der Halbwertszeit des Samariums 151 angleicht. Wirbel. Unmerkliche Formveränderung. Glühend im wei chen, doch grellen Lichtschein stellarer Verbrennung. Ständig neue Sonnen aus inchoaktivem Wasserstoff hervorbringend. Junge, feurige Sterne ausbrütend, die stolz ihren Daseinszyklus durchrasen, um dann in selbstzerstörerischer Raserei zusam menzuprallen und das Treibgut, aus dem ihre zweite Generati on entsteht, davonzuschleudern. Da ist der flimmernde und unerreichbare Kern des Systems. Ewig verboten, infolge seiner überwältigenden Dichte, für die forschenden Lebensformen, deren Neugier sie veranlaßt, mit zerbrechlichen Fahrzeugen in die unergründlichen Tiefen des Universums vorzustoßen. Hier findet man die Lyridenschwär me und Sternwolken, wie sie von jenen Lebewesen genannt werden, die sagen: Dies ist unsere Milchstraße. Und endlich gibt es dort – Chandeen, wie es ein weiser Ver treter jener Lebensform nennt. Vielleicht ist Chandeen die Aggregatstrahlung der variablen Lyriden. Oder die Ursache ihrer Schwankungen. Oder auch ein Konzentrat von Kräften im Zentrum der Galaxis, in dem sich
alle physischen Kraftfelder vereinen. Wie kann man den Wesen, die ein galaktisches System als Milchstraße bezeichnen, diesen hyperstofflichen Zusammen hang erklären? Man muß ihnen zunächst sagen, daß Chandeen wie eine Sonne ist. Daß seine Ausstrahlungen – von einer ›rault sensitiven‹ Kultur als ›Rault‹ bezeichnet – wie das Licht sind. Doch hier hört schon die Übereinstimmung auf. Denn man kann das, was jene Wesen unter ›Sehen‹ verstehen, keiner Kreatur erklären, die nicht ›lichtsensitiv‹ ist; und darum kann man ihr auch nicht ›Zylphen‹ beschreiben, wenn sie nicht weiß, was ›rault-sensitiv‹ bedeutet. So möge der Hinweis genügen, daß Rault, ausgestrahlt von Chandeen, alle physischen Objekte durchdringt, so wie es gleichermaßen die Sinne des rault-sensitiven Empfängers badet. Und es schließt Sender und Empfänger zu einer alles umfassen den Einheit zusammen. Zylphen ist in der Tat eine Form der Wahrnehmung, von der jene Wesen, die von ihrer Milchstraße sprechen, nichts wissen. Denn für die letzteren Kreaturen – deren Kontakt mit der Umwelt sich nur auf fühlbare Wahrnehmung, epitheliale Rei zung, Geruchsnervenreaktionen, Empfang von Molekularvibra tionen in einem mehr gasförmigen Medium und die Ansprech barkeit in den verschiedenen Bereichen des elektromagneti schen Spektrums beschränkt – für diese Kreaturen mag Zylphen mit der Funktion des sechsten Sinnes identisch sein.
1
Das Raumschiff der Internationalen Sicherheitsbehörde schoß hinter einer Formation von Kumuluswolken hervor, prüfte über der ausgebrannten Stadt Nizza seine Position und stieg dann in südöstlicher Richtung zum Mittelmeer auf. Arthur Gregson machte sich an den Kontrollgeräten zu schaffen, schaltete die automatische Steuerung ein und machte es sich in seinem Polstersitz bequem. Doch nur vorübergehend, denn bald begann die horizontale Steuerungseinheit wie wild auszuschlagen, und das Schiff reagierte wie ein Spürhund, der eine Hasenspur ausfindig gemacht hat. Befremdet schaltete er wieder auf Handsteuerung um und glaubte, auf dem Sitz neben sich ein trockenes Lachen zu hören. Doch allem Anschein nach schlief der hagere Engländer noch immer genauso fest wie beim Start in London. Wegen seines blassen Teints hätte man Gregson für einen amerikanischen Planktonfarmer halten können. Immerhin erinnerte sein dichtes, schwarzes und zerzaustes Haar an einen Seefahrer, und seine klobigen Hände konnten ihre Stärke beim Einholen der feinmaschigen, mit Meeresalgen gefüllten Stahl netze entwickelt haben. Selbst seine klaren braunen Augen schienen dem Gischt der Wellen zu trotzen. Natürlich war sein farbloser Teint das Resultat von dreißig Monaten, die er als diensthabender Projektingenieur an Bord der Vega-Startbasis verbracht hatte. Und er hatte bisher wenig Gelegenheit gehabt, seiner Haut eine bräunliche Tönung zu verleihen.
Sein Körper straffte sich, als er in das Licht der Morgensonne blickte. Da war es wieder – dieses silberne Stäubchen hoch über den Zirruswolken, das sich im Sonnenglanz versteckt zu haben schien. Das rhythmische Hämmern in einer der Kraftanlagen geriet ins Stottern und schreckte Kenneth Wellford auf. Er warf einen Blick auf die Steuerbordmaschine und murmelte: »Der verdammte Treibstoff! Ich würde mich nicht wundern, wenn sie das Zeug in Ginfässern destillieren!« »Wir haben andere Sorgen als minderwertigen Treibstoff.« »Irgend etwas ist immer faul«, stellte der Engländer phlegma tisch fest. »Die Treibstoffsituation wird sich – so hoffe ich – nach und nach regeln, wenn die Internationale Sicherheitsbe hörde wieder mehr Raffinerien in Betrieb nehmen kann.« Gregson sah ihn an. Wellford, der als Pendelschiffpilot an Bord der Vega-Startbasis Dienst gemacht hatte, bis das Welt raumschiff ›Nina‹ auf einer interstellaren Expedition ver schwand, hatte ein einfaches, freundliches Gesicht. Blaue Au gen, die mehr zu analysieren als nur zu betrachten schienen – doch Augen, die in jeder Situation ihr humorvolles Glitzern beibehielten. »Wir haben dort draußen Gesellschaft bekommen«, endete Gregson. Wellford krauste die Stirn und suchte den Himmel ab. »Wo?« Dann lächelte er. »Haben Sie nicht unnötig auf den Alarmknopf gedrückt? Sie neigen dazu, das wissen Sie ja …« »In der vergangenen Woche hat die ISB zwei Gleiter über den Vereinigten Staaten verloren«, erinnerte ihn Gregson. »Moment mal! Sie denken doch nicht an einen Angriff auf die Internationale Sicherheitsbehörde?«
»Und ein anderer Gleiter wurde über den Alpen angeschos sen. Es muß noch mehr passiert sein; wir haben nur nichts davon gehört.« Wellford schüttelte skeptisch den Kopf. »Ich gebe zu, daß möglicherweise ein paar aktive Nationali stengruppen existieren, die etwas gegen die provisorische Befehlsgewalt der ISB während einer Weltkrise haben. Aber wenn man daraus Rückschlüsse auf ein großangelegtes –« »Da!« Gregson deutete nach vorn. »Entschuldigung«, sagte der Engländer, »es sieht tatsächlich so aus. Aber da würde ich mir weiter keine Gedanken machen. Immerhin schleicht das Ding sich nicht von hinten an.« »Aber es befindet sich auf unserem Kurs.« »Kaum anzunehmen, daß unser Schiff das einzige im Welt raum ist.« »Und warum sollte es das nicht sein? Seit dieser ›Heuler‹ im Jahr 1995 den Stöpsel aus der Nuklearbombe gezogen hat, ist die Weltraumfahrt – den Flugverkehr der ISB ausgenommen – völlig lahmgelegt.« »Heute morgen müssen viele von uns unterwegs sein. Rad cliff hat alle Spezialagenten zwecks Einsatzbesprechungen nach Rom beordert.« Wie dem auch sei, die Beruhigungspille seines Kollegen stumpfte Gregsons Befürchtungen nicht ab. »Wir können uns ja bei ihm melden und erkundigen, wie die Heulersituation in dieser Gegend aussieht«, schlug Wellford vor. »Ich denke, das ist nicht nötig.« »Oder wir könnten bei der ISB Korsika einen bewaffneten
Geleitschutz anfordern.« »Nein, nein. Reden wir nicht mehr darüber …« Gregsons Hände auf den Kontrollgeräten entspannten sich, als ein kühler Luftzug seine transpirierenden Handflächen trockne te. Wellford hatte selbstverständlich recht. Wer würde, in diesen hektischen Tagen postnuklearer Wiedergenesung, auf den Gedanken kommen, die Sicherheitsbehörde herauszufor dern, um deren Regierungsfunktion wahllos auf internationale Ebene auszudehnen? Der Wiederaufbau, die Entseuchung, das Wegschaffen des Atommülls und das Zusammenfassen einer stark dezimierten Bevölkerung nahmen die vollen Energien aller Regierungen in Anspruch, die an der thermonuklearen Pleite des Jahres 1995 beteiligt gewesen waren. Und was auch immer an nationalen Hilfsquellen verblieben war, sie mußten gegen die verheerende Heuler-Epidemie mobilisiert werden. Gregson zweifelte nicht daran, daß die Zivilisation ohne die Sicherheitsbehörde längst in die Barbarei zurückgefallen wäre. Wie die Dinge lagen, sorgte die Weltpolizei für die innere Sicherheit der meisten Nationen, und ihre Behörden beaufsich tigten die Wiederherstellung der Versorgungsquellen. Ihr Papiergeld hatte die Währungen beinahe weltumfassend ersetzt. Ihre blau uniformierten Heulersammelgruppen patrouillierten die Straßen aller Städte, lasen die Opfer dieser Pest auf und transportierten sie zu den Isolierstationen der ISB. »Da ist unser Engel schon wieder«, gab Wellford bekannt. »Richtung drei Uhr.« Das unbekannte Flugobjekt hatte, wie Gregson sah, seine Ge
schwindigkeit reduziert und war tiefer gegangen. Aber es war immer noch ein glitzerndes Silberstäubchen am azurblauen Himmel. »Sprechen wir ihn auf der Behördenfrequenz an«, schlug er vor. Wellford sprach lebhaft in sein Mikrophon: »ISB-Flug LR 303. Vierzig-zwei-fünfzig Nord. Neun-dreißig-sechs Ost. Rufe Maschine in vierzigtausend Fuß Höhe. Bitten um Erkennungs signal.« Aber es kam keine Antwort. Wieder umklammerten Gregsons Hände das Steuer fester. »Nehmen wir kein Risiko in Kauf, Ken. Gehen Sie auf Dring lichkeitsfrequenz und fordern Sie von Korsika bewaffneten Geleitschutz.« »In Ordnung.« Als der Engländer dieser Aufforderung nachgekommen war, stärkte er sein Selbstbewußtsein mit der witzigen Feststellung: »Ich denke, Sie haben den Hang, die Büchse der Pandora als Glückstopf zu benutzen. Ringen Sie nicht die Hände über eine organisierte Verschwörung gegen die Behörde, dann weinen Sie wegen der Heulerepidemie Tränen in Ihr Bier.« »Eine Menge Leute haben schon wegen dieser Pest die Hände gerungen – die tun das jetzt schon seit vierzehn Jahren.« »Kann man wohl sagen. Das ist ganz gewiß in Mode. Sieht so aus, als würde alle Welt die Heulerrichtung einschlagen.« Gregson blickte auf die Seelandschaft hinunter und ließ das grell reflektierende Sonnenlicht in seine Augen eindringen, als könne es seine Gedanken von dieser Plage reinigen. Aber es war ein Thema, das man nicht im Unterbewußtsein vergraben
konnte. Besonders nicht im Unterbewußtsein von Gregson. Und besonders nicht jetzt … Zwei Heuler im Jahr 1983. Eine Handvoll 1984. Einige Hun derte im folgenden Jahre – noch verborgen in der Weltbevölke rung. Einige tausend im Jahr 1986. Und einige hunderttausend im Jahr 1990. Dann das aufsehenerregende Geständnis der medizinischen Wissenschaft, daß sie nicht in der Lage sei, die Ursache dieser Krankheit zu erkennen … Schließlich die zö gernde Konzession, daß von tausend Kranken nur ein Patient wieder völlig gesund würde. Zwei Millionen Heuler im Jahr 1993. Dann zeigte sich das Krankheitsbild auch in der Öffentlichkeit: Isolierstationen; Heulersammelkommandos in den Straßen; Erste Hilfe für die Erkrankten in Form von beruhigenden Injektionen, die die heulenden Sirenen zunächst einmal abschalteten. Dieses erbar mungswürdige Heulen war ganze Straßenblocks weit zu hören. Es war das Jahr, in dem die Vereinten Nationen nichtsdesto weniger beschlossen, die Vorbereitungen zur ersten interstella ren Expedition zu treffen – man wollte die Aufmerksamkeit der Masse von dieser Plage ablenken. Es war auch eine Prestigefra ge. Die Menschheit, obwohl mit den Beinen im Schlamassel der Heulerepidemie stehend, schien mit dem Kopf noch immer bis zu den Sternen vorzustoßen. Die stotternden Kraftanlagen rissen Gregson aus seinen Gedan ken, und er beschäftigte sich mit den Kontrollgeräten. »Wer sollte die ISB angreifen, Ken?« »Ja, wer wohl?« fragte Wellford. »Die ISB ist alles, was von den Vereinten Nationen übriggeblieben ist. Und sie ist der
einzige Faktor, der die Zivilisation noch zusammenhält.« »Sie wissen sehr gut, daß es irgendeine Streitmacht geben kann, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Behörde zu zerstören und alle Hoffnungen auf Einheit, Ordnung und eine permanen te Weltregierung zu vereiteln.« Der Engländer wölbte die Augenbrauen und lachte. »Ah, jetzt geht's schon wieder los! Sie vertreten den Stand punkt: ›Die Fremden sind unter uns‹. Wirklich, das ist doch –« »Da waren diese Meldungen von meinem Bruder an Bord des Weltraumschiffs ›Nina‹, das vor einem Monat aus dem System verschwand.« »Aber begreifen Sie denn nicht? Solche Meldungen kann man nur cum grano salis – mit einem Körnchen Salz – genie ßen – wenn überhaupt! Irgendwie ist diese Heulboje mit der Mannschaft an Bord gelangt. Und kein Heuler ist geistig zu rechnungsfähig.« »Ich habe mir die Bandaufnahmen dieser Meldungen ange hört. Manuel war gesund.« »Sehr gut«, knurrte der Engländer widerwillig. »Nehmen wir an, er und der Rest der Mannschaft sind noch nicht zu Heulern geworden. Müssen Sie sich dann nicht sagen, daß er zumindest ziemlich mit den Nerven herunter ist? Seine Vermutungen können einfach nicht zutreffen!« Gregson wiederholte nachdenklich: »›Hier draußen ist etwas! Vielleicht ein Raumschiff. Ich spüre es! Eine große, glänzende Kugel … Tausende von Meilen entfernt … gefüllt mit schreckli chen Wesen … Warten … Kommen!‹« Wellford nickte. »Ich kann mich deutlich erinnern«, sagte er. »Tatsache ist, daß die Meldungen des Weltraumschiffs ›Nina‹
eine Psychose ausgelöst haben. Die Leute dachten nur an eines: ›Die Fremden sind unter uns.‹ Nun ja, wenn man es mit einer Krankheit wie der Heulerpest zu tun hat, dann ist es nur menschlich, wenn man auf eine Erklärung hereinfällt, wonach irgend etwas von draußen diese Plage gebracht hat, um uns zu vernichten.« »Dann glauben Sie also nicht, daß es da draußen irgend et was gibt?« »Natürlich gibt es etwas: Milliarden von Sternen und Plane ten. Wir wären ja größenwahnsinnig, würden wir uns einbilden, die einzigen intelligenten Lebewesen des Universums zu sein. Wir wären aber auch naiv, zu glauben, daß sie uns in all den Milliarden Jahren ausgerechnet in dem Augenblick fanden, als wir in der Lage waren, sie auch zu entdecken.« »Vielleicht können wir uns in unserem System so lange ver stecken wie wir wollen; aber sobald wir einen interstellaren Vorstoß unternehmen, ziehen wir alles auf uns, was es da draußen gibt.« Wellford betrachtete Gregsons angespannte Gesichtszüge. »Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß die Reise des Weltraumschiffs ›Nina‹, die Plage und die fixe Idee, daß die Fremden unter uns sind, auf einen Nenner gebracht werden können? Vergessen Sie nicht, daß wir die Heuler schon vierzehn Jahre haben. Aber ›Nina‹ ging erst vor zwei Jahren verloren.« Immer war direkt oder indirekt von den Heulern die Rede. Vor zwei Monaten hätte das Gregson nicht weiter gestört. Doch jetzt … Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um den Kollegen nicht unnötig mißtrauisch zu machen. Wellford sollte nicht
glauben, daß er es mit einem Heuler im Anfangsstadium zu tun hatte. Einige heulten sofort und unwiderruflich los – eine abrupte Explosion von Geist und Körper in einen wilden Ausfall –, während ihre Entsetzensschreie den um sie herumstehenden Leuten eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Andere kämpften verzweifelt dagegen an und brachten es irgendwie fertig, den ersten, zweiten und sogar sechsten oder siebenten Anfall zu unterdrücken, ehe sie in den heulenden Abgrund geschleudert wurden. Gregson hatte schon lange beschlossen, nach dem ersten An sturm der ›brüllenden Lichter‹ jede weitere Etappe kämpfend zurückzulegen. Für ihn würde es keine Isolierstation geben – nicht, solange er sich dagegen wehren konnte. Schweißtropfen erschienen in seinem Gesicht, und seine Hände zitterten. Es würde passieren – jetzt! Wie von fern hörte er Wellfords besorgte Stimme: »Unser Engel scheint die Lücke zu schließen. Am besten, ich prüfe einmal, ob der bewaffnete Geleitschutz schon unterwegs ist …« Gregson stand auf. »Übernehmen Sie, Ken«, stieß er aus ei ner schon trockenen Kehle hervor. »Ich sehe mal nach, ob im Lagerraum alles in Ordnung ist.« »Jetzt?« fragte Wellford verwundert, während er auf das Flugobjekt starrte, das wesentlich näher herangekommen war. Irgendwie schaffte Gregson es bis in den Heckraum. Dort lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Luke und ballte seine Fäuste. Als letzte Vorbereitung für das Unvermeidliche schnall te er die Tasche mit dem Injektionszubehör vom Gürtel ab und warf sie weg. Die Sicherheitsbehörde konnte verlangen, daß er
Injektionsspritze und Beruhigungsserum stets bei sich trug. Aber sie konnte ihn nicht zwingen, es bei sich selbst anzuwen den. Dann packte ihn der Anfall mit infernalischer Gewalt. Gregsons Gehirn schien zu explodieren wie eine Sprengladung. Höllische Feuer verwüsteten mit gleißenden Flammen sein Bewußtsein. Nur seine riesige Willenskraft hielt ihn noch aufrecht. Während des endlos scheinenden Anfalls gab es Augenblik ke, in denen er völlig bewußt war. Für kurze Zeit, wenn diese teuflischen Mächte einen neuen Anlauf nahmen, erkannte er den Metallfußboden und spürte in seinem Rücken den harten Druck der Luke. Und so plötzlich, wie es begonnen hatte, hörte es auf. Es war, als würde ein Tuch über die qualvollen Schmerzen und wahnsinnigen Ängste gebreitet. Er richtete sich auf, zitterte noch und tupfte sich mit dem Taschentuch einen Blutfaden vom Mundwinkel. Seine Zunge schwoll an der Stelle an, wo sie zwischen seine Zähne geraten war, als sie sich wie ein Schraubstock zusammenpreßten, um seine Schreie zu unterdrücken. So sah ein Heuleranfall aus. Das war ein Anfall, der in der ganzen Welt Millionen von Menschen niederstreckte, ein schließlich der Besatzung des Weltraumschiffs ›Nina‹. Fast all diese Millionen waren gestorben und hatten Selbstmord verübt. Oder sie waren von ängstlichen Heulern im Anfangsstadium erschlagen worden. Das war eher eine barmherzige Lösung als eine weltweite Tragödie. Gegen die Bittgesuche der Heuler um ›Sterbehilfe‹ waren die
ISB und die mit ihr zusammenarbeitenden nationalen Regie rungen beinahe machtlos. Man konnte nichts dagegen tun – und vielleicht war das die beste Lösung. Denn die Isolierstatio nen konnten schon lange nicht mehr alle Leute aufnehmen, die von der Heulerepidemie erfaßt wurden. Gregson spürte plötzlich die Schlingerbewegungen der Ma schine und taumelte gegen das Schott. Er öffnete die Luke und kehrte in die Kanzel zurück. Die Maschine visierte mit dem Bug das Mittelmeer an. Wellford zog in dem Augenblick hoch, als Gregson in seinem Sitz Platz genommen hatte. Der Engländer grinste. »Wo waren Sie denn?« fragte er. »Sie hätten etwas Interessantes sehen können.« Er richtete die Maschine wieder auf und ließ sie scharf nach Steuerbord schwenken – gerade rechtzeitig, um einem wie ein Schneidbrenner wirkenden Laserstrahl auszuweichen. Trotz dem nahm er noch ein Stück von der Flügelspitze der Back bordseite mit. Dann sah Gregson das angreifende Flugobjekt. Es war eine aeronautische Karikatur. Die Flügelstruktur erinnerte an einen russischen Transporter, vielleicht Worashow II, während der Düsenantrieb offensichtlich britischer Herkunft war. Der Rumpf war entschieden eine französische Konstruktion der pränuklearen Ära. Unter dem Pilotenfenster war ein Wappen mit einer Sonne – ein Symbol, das japanische Flugzeuge Anfang der vierziger Jahre hatten. Es zog sich in Angriffsposition zu rück und feuerte einen weiteren Laserstrahl ab, der wesentlich schwächer war. Obwohl er das ISB-Schiff in der Rumpfmitte traf, war die Wirkung nur geringfügig. »Sie haben ihr Laserpotential verbraucht!« sagte Wellford
lachend. »Jetzt sind wir wieder klar, wenn sie nicht noch eine andere Überraschung haben. Ich möchte wissen, wo unser Geleitschutz bleibt …« »Ich rufe noch einmal Korsika.« »Machen Sie sich keine Mühe. Die Situation sollte innerhalb der nächsten Minuten geklärt sein. Aber ich wollte, wir hätten auch Waffen an Bord. Erinnern Sie mich daran, daß ich in Rom mit Radcliff über diese Angelegenheit spreche.« Die andere Maschine hatte tatsächlich noch eine weitere Ü berraschung auf Lager. Beim nächsten Anflug – Wellford hatte nicht mehr ganz ausweichen können – hämmerte ein altes Maschinengewehr vom Kaliber 50 los. Die Kugeln drangen in die rechte Kraftanlage, die prompt aussetzte. Wellford schob den Steuerknüppel nach vorn, und die Ma schine schoß auf das glitzernde Wasser zu. »Möchten Sie übernehmen und auch etwas von diesem Spaß mitbekommen?« »Sie machen das schon richtig. Ich fordere noch einmal Ver stärkung an.« Doch als Gregson nach dem Mikrophon griff, rasselte im Kabinenlautsprecher eine Stimme: »ISB-Flug LR 303, wir haben euch und die andere Maschine geortet. Fliegt so tief wie mög lich und kommt uns nicht in die Quere.« Wenig später sah Gregson die angreifende Maschine bren nend ins Meer stürzen.
2
Gregson lenkte die beschädigte Maschine auf den südlich von Rom gelegenen Notlandeplatz Neu-Aprilia. Der einstige Flug hafen hatte sich in einen riesigen Krater verwandelt. Selbst nach zwei Jahren suchten Entseuchungstrupps noch immer die Kraterwände nach radioaktiven Rückständen ab. Die Raketen abwehr hatte im Jahre 1995 die Weltbevölkerung vor der restlo sen Vernichtung bewahrt. Man hatte mittlerweile größere Landstriche ›gesäubert‹, aber die Narben dieser Verwüstung waren jetzt in geographischer Hinsicht konstant. Als Gregson auf die Parkschneise zurollte, gab der Lautspre cher bekannt, daß man in Rom die Straßen zu benutzen habe; denn die Gleitflüge über der Stadt seien jetzt verboten. »Ich glaube, in der Via del Corso hat es in der vergangenen Woche einen Knall gegeben«, murmelte Wellford. »Fünfzig Tote. Wahrscheinlich hat der Pilot sich in einen Heuler ver wandelt.« Minuten später fuhr der Wagen, mit einem italienischen Fahrer am Steuer, die Via Appia entlang in Richtung des Stadt zentrums. Wellford rutschte auf dem Sitz des schleudernden Wagens herum und protestierte: »So eilig haben wird es nun auch wieder nicht.« »Aber Antonio hat es eilig, Signore«, grinste der Fahrer. »Nicht gut, mit Heulern auf der Hauptstraße zu sein. Gestern drei.« Er hob eine Hand in die Höhe und spreizte drei Finger. »Aber wir kommen gut voran, wie?«
»Ja«, gab Wellford unschlüssig zu. »So oder so …« Gregson starrte auf die Stadt, als der Wagen in eine Kurve glitt. Die Stadt war schon immer wegen ihrer klassischen Rui nen bekannt gewesen – nur war offenbar eine Anzahl hochmo derner Trümmer hinzugekommen. »Sicher, Signore«, sagte der Fahrer und nickte düster. »Bei uns waren es drei – bum-bum-bum! Aber wir konnten evaku iert werden. Arbeit, Lebensmittel und Kleidung, das sind jetzt die wichtigsten Probleme.« »Das wird sich schon alles ausbügeln«, versicherte ihm Greg son. »Die ISB bringt nach und nach alles wieder ins Lot.« »Sicherheitsbehörde – ha!« schnaufte Antonio. Doch ehe er seinen impulsiven Gedanken weiterverfolgen konnte, deutete er nach vorn. »Dort! Sehen Sie? Was habe ich gesagt?« Noch ehe sie die durchbrochene Absperrung erreicht hatten, konnte Gregson unten das laute Heulen hören. Anscheinend hatte der neue Heuler sich eine Injektion verabfolgt, ehe er die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. Die zentrale Isolierstation im Herzen von Rom war ein wuchti ges, hauptsächlich aus Glas konstruiertes Gebäude, das nach 1995 erbaut worden war. Es ruhte auf Betonsäulen von unge fähr dreißig Fuß Höhe, wurde dann ein kompaktes Bauwerk und stieg senkrecht nach oben. Wie eine Henne über ihren Küken thronte das Gebäude über den Ruinen des Forum Tra jan, unberührt von den Jahrhunderten und den verzierten Säulen zur Erinnerung an die Eroberung Dakiens. Mit italienischen Flüchen um sich werfend, bremste Antonio
den Wagen einen Block vor dem Gebäude. Ein paar Leute, die vor einer Lebensmittelverteilungsstelle standen, stoben ausein ander. »Hallo!« rief er. »Dort vorn ist ein Heuler! Wollt ihr ihn ho len? Ich fahre nicht nach dort!« Es dauerte nicht lange, da bewegten sieh alle Leute auf der Straße schreiend und gestikulierend in die bezeichnete Rich tung. »Wollen Sie nicht weiter?« fragte Wellford den Fahrer. »Nein, ich halte hier an!« Er riß die Tür auf und ließ seine Passagiere aussteigen. Neugierig drängte Gregson sich zwischen die Leute. In die entrüsteten Stimmen mischte sich das qualvolle Kreischen eines männlichen Heulers. »Warum benachrichtigt niemand das Sammelkommando?« fragte Wellford. »Die Isolierstation ist doch gleich auf der anderen Straßenseite.« Dann sahen sie den Heuler. Er lag, das Gesicht nach oben, im offenen Wagen. Bei jedem Schrei und jeder Zuckung seines Körpers brüllte die Menge ihren Protest gegen die Gefahr einer Verseuchung hinaus. Nur eine messerschwingende Frau und ein älterer Mann mit einer Heugabel hielten den Mob zurück. Wellford ging auf den Wagen zu und zog die Injektionssprit ze aus seiner Gürteltasche. Die Frau sah die glitzernde Nadel und zog ihn eifrig auf den Heuler zu. Ironischerweise war es das plötzliche Aufheulen, das die Pa nik entfesselte. Gregson wurde von den Leuten zur Seite ge schoben. Hilflos sah er zu, wie die Zinken der Heugabel sich immer wieder hoben und senkten. Dann verstummte das
markerschütternde Geheul plötzlich. Die Menge begann sich zu zerstreuen, während die einsame Frau über dem Leichnam ihres erschlagenen Heulermannes weinte. Das war Rom im späten Oktober 1997 – vierzehn Jahre nach der Erkrankung des ersten Menschen im Territorium von Sansibar. Dort hatte sich ein Angehöriger des Suaheli-Stammes in einen Heuler verwandelt; zwei Jahre danach hatte das gleiche Schicksal einen Russen ereilt, dessen einzige Pflicht es gewesen war, in seinem U-Boot unter der Oberfläche des Polarmeeres eine Hand über den Nukleardrücker zu halten – bildlich gese hen. Sie stiegen in den Lift aus Plexiglas und fuhren bis zum vier zehnten Stock. Im Verwaltungsbüro der Zentralen Isolierstation teilte ihnen eine dunkelhaarige Empfangsdame mit, sie würde den Direktor zunächst einmal suchen, und die Gäste könnten ja inzwischen einen Blick durch das Beobachtungsfenster werfen. Unter ihnen lag, im Schatten vieler Wolkenkratzer, das breite Band der Via dei Fori Imperiali. Zur rechten Hand ragten die Gebäude hoch über die Ruinen des Forum Romanum hinaus. Das Kolosseum und die anderen antiken Überbleibsel der Stadt schienen nach wie vor über die modernen Bauten zu triumphie ren. Während sie auf Radcliff warteten, mußte Gregson daran denken, daß sich unter dieser künstlichen Dichte moderner römischer Architektur Zeugen einer Tyrannei befanden, die die zivilisierte Welt einmal geplagt hatte. Und er war sicher, daß auch der Terror der Heulerplage sich früher oder später dem menschlichen Scharfsinn beugen würde.
Die Stimme der Empfangsdame holte ihn in die rauhe Ge genwart des Jahres 1997 zurück. »Mr. Radcliff erwartet Sie im Labor 271-B.« Auf der Schwelle des Labors schlugen ihnen beißende Form aldehyd-Dämpfe entgegen. Es war ein großer Raum mit über wiegend chemischem Zubehör und Laboranten, die an Arbeits tischen aus rostfreiem Stahl beschäftigt waren. Am nächsten Tisch stand ein kleiner Mann mit spärlichem Haarwuchs und einem schmuddeligen Kittel. Er hatte sich über ein menschli ches Hirn gebeugt und sagte ohne aufzublicken: »Wenn Sie Gregson und Wellford sind – Radcliff kommt sofort. Ich bin McClellan, Untersuchungsabteilung.« Er schob sein Skalpell in einen Einschnitt im Gehirn und verbreiterte die Öffnung. »Wir befassen uns mit Großhirnen«, sagte er mit einem sonderbaren Lächeln. »Dem Organ, das – wie die Heuler behaupten – ›brennen‹ soll. Aber ich entdecke hier keine Spuren.« Er wandte sich Wellford zu. »Glauben Sie, daß ein ›sengender‹ Schmerz hauptsächlich psychische Ursa chen hat?« »So?« sagte der Engländer belustigt. »Aber wäre dann nicht jede Form des Schmerzes psychisch?« fuhr McClellan fort. »Ihr Hand kann keinen Schmerz fühlen. Nur Ihr Gehirn. Aber das Gehirn empfindet nicht den Schmerz eines gequetschten Daumens, es registriert ihn nur.« Gregson blickte durch das Fenster. Sein Blick konzentrierte sich auf das Kolosseum. Er hatte Angst, daß eine Diskussion über die Heuler die gleichen Folgen haben könne wie im Flug zeug. McClellan gähnte.
»Genug düstere Spekulationen. Ich glaube nicht, daß wir je mals hinter die Heulerursache kommen. Was hat denn unsere ISB-Agenten nach Rom geführt?« »Weldon Radcliff«, antwortete Gregson. »Macht die Forschung Fortschritte?« schaltete sich Wellford ein. »Überhaupt nicht. Kein einziger Lichtblick! Von tausend Heulern sterben nach wie vor neunhundertneunundneunzig. Wenn sie nicht vor Angst oder Schmerzen sterben, erwachen sie aus ihrer Betäubung und bringen sich selber um.« »Warum kommen nicht die Tiefschlaf- beziehungsweise Scheintodtherapien zur Anwendung?« »Man kann die Heuler nicht einfach zwei Jahre lang bewußt los halten. Man muß sie auch beaufsichtigen, sie gelegentlich wecken, so daß sich eine gewisse Immunität bildet.« Weldon Radcliff trat ein, warf Gregson ein förmliches »Noch einen kleinen Augenblick!« zu, ging weiter, überlegte es sich aber anders und begrüßte die beiden Spezialagenten sofort. Er war ein kräftiger Mann mit athletischem Körperbau und offen bar voller Schwung und Energie. Obwohl seine Augen lebhaft blickten, hatte sein Gesicht tiefere Linien als das bei einem Mann Anfang fünfzig normalerweise der Fall ist. »Wie ich hörte, soll es über dem Mittelmeer ziemlich stür misch hergegangen sein.« »Laserstrahlen mit 50er-Kugeln gewürzt«, erwähnte Well ford. »Wir verloren eine Flügelspitze und eine Maschine. Da müßte man doch eigentlich meinen, daß Sie ein Interesse daran haben, unsere Kiste mit ein paar eigenen Stacheln auszurüsten.«
»Das wollen wir auch, und zwar schon morgen.« Gregson krauste die Stirn. »Dann ist also schon bekannt, daß unsere Maschinen syste matisch angegriffen werden?« »Ja. Tut mir leid.« Radcliff betrachtete seine Hände. »Gegen unsere Maschinen, Personen in einigen Fällen, und sogar gegen unsere Einrichtungen. Erst gestern wurde ein Nuklearkraftwerk durch Mörserfeuer außer Betrieb gesetzt – in Teheran.« »Aber – aber wer? Warum –?« »Wir kennen ein paar Einzelheiten«, sagte der Direktor dü ster. »Und darum sind Sie hier. Es hat sich etwas entwickelt, das der Mission der ISB neue Dimensionen hinzufügt.« Er wandte sich an McClellan. »Befassen Sie sich immer noch mit dem Bindegewebe des Zentralnervensystems?« McClellan beugte sich über ein Mikroskop und nickte, ohne aufzublicken. »Nach den fadenscheinigsten Anhaltspunkten.« Er richtete sich auf. »Und ich möchte fast sagen, daß eine leichte Schwellung vorhanden ist.« »Und was bedeutet das?« »Sie müssen wissen, daß die Gliazellen – die Neuroglia – sich in einer sowohl strategischen als auch anatomischen Position befinden, die den Heuleranfällen gewissermaßen entgegen kommt. Im Zentralnervensystem gibt es bekanntlich eine bindegewebige Stützsubstanz, wahrscheinlich einfache Eiweiß körper, die –« »Keine Fachsimpeleien, bitte.« »Nun gut. Die Gliazellen decken alle Neuronen beziehungs weise Nervenzellen des Gehirns. Sie sind in allen Bezirken gegenwärtig. Und wenn sich diese Zellen verändern, dann kann
eine Veränderung der Neuronen für alle Formen der Halluzina tion verantwortlich sein.« »Und worauf deutet das hin?« »Auf die Möglichkeit, daß eine Gliaverzerrung die Heuler krankheit bewirkt.« Radcliff blieb skeptisch. »Könnte solch eine Veränderung nicht eine Folge dieses Lei dens sein?« »Das vermutet auch Doktor Elkhart. Er hat Angst, daß ich eine verkehrte Richtung verfolge. Er behauptet, die Schwellung trete nicht deutlich genug hervor. Was meinen Sie?« »Zu Elkhart habe ich nur das größte Vertrauen und würde vorschlagen, daß Sie alles übernehmen, was er vorschlägt.« Der Direktor deutete Gregson und Wellford an, zum ande ren Ende des Arbeitstisches zu kommen. Dann zog er die Pla stikdecke von einem Topf. Gregson brauchte einen Augenblick, um die in Formaldehyd schwimmenden Objekte zu erkennen. »Zwei Herzen!« »Ich würde Ihnen empfehlen, sich die Sache einmal genauer anzusehen«, sagte Radcliff. Wellford richtete sich auf, beugte sich wieder vor und sah aufmerksam hin. »Die sind ja miteinander verbunden!« »Das verstehe ich nicht«, sagte Gregson. »Ist das nun eine Mißbildung oder das Resultat einer chirurgischen Glanzlei stung?« Radcliff führte sie zur Tür und sagte: »Ich wollte Ihnen das nur zeigen – bevor wir in die Leichenhalle gehen. Behalten Sie es als einen Teil des Ganzen im Gedächtnis. Ich werde Sie mit
den restlichen Einzelheiten bekannt machen, sofern sie mir zur Verfügung stehen.« Während sie auf den Lift warteten, betupfte sich der Direktor mit einem sauber gefalteten Taschentuch das Gesicht. »Wir haben uns sehr lange mit den Meldungen des Raumschiffes ›Nina‹ befaßt, Greg. Sie hatten wohl auch Gelegenheit dazu, da Ihr Bruder ein Mitglied der Besatzung war.« »Von Manuel stammen die letzten beiden Meldungen«, er innerte ihn Gregson. Der Lift kam. Sie stiegen ein. Radcliff drückte auf den Knopf mit dem nach unten zeigenden Pfeil. »Ja, ja, er sagte etwas von einem Schiff – eine ›große, glänzende Kugel‹ und ›schreckliche Wesen‹ – den zehnten Teil eines Lichtjahres außerhalb des Systems …« Wellfords Blick wechselte von Gregson auf den Direktor ü ber. Dann sagte er lachend: »Falls Sie es noch nicht wissen sollten, Greg ist ein Verfechter der Theorie, daß ›die Fremden unter uns‹ sind. Sie untermauern seinen Glauben, Direktor.« Doch Radcliffs Gesichtsausdruck blieb vollkommen humor los. »Vielleicht war Manuel gar nicht einmal so erschöpft, wie wir uns das vorstellen …« Wellford sah plötzlich nicht mehr so lustig aus. Der Lift hielt. Sie stiegen aus und traten in einen Korridor mit rastlosem Betrieb und entnervenden Lauten, die Gregsons Gedanken von seinem Bruder, dem Weltraumschiff ›Nina‹ und den Zwillingsherzen in McClellans Labortopf ablenkten. Zur linken Hand des Korridors hörte man eine fast ununterbroche ne Folge von Schreien aus vielen Kehlen. Diese heulenden
Schreie wurden durch die geschlossenen Türen ein wenig gedämpft. Radcliff führte sie schweigend weiter. Im nächsten Korridor trafen sie mit einer hageren Frau zusammen. Sie trug Pantoffeln an den Füßen und einen Hausmantel. »Ich weiß, was die Heuler sind«, murmelte sie in italienischer Sprache. »Ich weiß, was sie sind …« Der Direktor deutete in ihre Richtung und sagte: »Nicht we nige ›wissen, was die Heuler sind‹, wenn sie aus der Narkose erwachen: Rachegeister; die zweite Plage; Bakterien von der Lunar- oder Marsbasis, bevor wir diese Einrichtungen auflö sten; monströse Schatten aus dem All, die unser Gehirn aussau gen.« Noch immer vor sich hinmurmelnd, nahm die Frau am Ende des Korridors vor einem Fenster Aufstellung. Vor dem Eingang der Leichenhalle blieb Radcliff stehen und sagte: »Was Sie jetzt sehen werden, ist der Leichnam eines verhinderten Meuchelmörders, der vor zwei Tagen den vorläu figen italienischen Präsidenten umbringen wollte, der ebenfalls technischer Beirat bei der ISB ist. Unser Meuchelmörder wurde beim Fluchtversuch erschossen – mit ihm ein Sizilianer.« Sie gingen hinein und blieben vor einem der Kühlfächer ste hen, die bis an die Decke reichten. »Der Attentäter wurde auf der Stelle getötet«, fuhr Radcliff fort. »Aber dem Sizilianer konnten wir vor seinem Tod noch einige Fragen stellen. Mit den meisten Antworten, die er gab, wußten wir nicht viel anzufangen – bis wir dann den Leichnam des Attentäters untersuchten.« Er zog das Fach auf.
Zögernd blickte Gregson auf die starren, blassen Gesichtszü ge eines Mannes mittleren Alters, dessen Schädel fast kahl war. Die Nase war schmal und lang. Die zusammengepreßten dün nen Lippen schienen die Schärfe des spitz zulaufenden Kinns zu mildern. Er hatte einen olivfarbenen Teint, den die Todesblässe hatte ergrauen lassen. »Hier ist noch etwas.« Radcliff griff in ein kleines Nebenfach und brachte vier falsche Fingernägel zum Vorschein. Er winkte die beiden Agenten näher heran und deutete auf eine Hand des Mannes. Die Finger hatten keine Nägel – nur halbmondförmige Einkerbungen auf jeder Fingerspitze. Und es war offensichtlich, daß die künstlichen Nägel in diese chirurgischen Schlitze ge schoben werden konnten. »Großer Gott! entfuhr es Wellford. »Der Sizilianer, der mit ihm zusammen war, sagte, der Mann sei ein ›Valorianer‹. Doch der Sizilianer starb, ehe wir mehr aus ihm herausbekommen konnten. Wie dem auch sei, wir konnten einige Schlüsse ziehen. Erstens müssen sich eine Anzahl dieser Valorianer unter uns befinden. Gestern wurde einer beim Angriff auf das Kraftwerk in Teheran getötet. Vor zwei Wochen wurde einer erschossen, der an einem Versorgungsflugzeug Sabotage verüben wollte.« »Hört sich an wie eine Aktion auf breiter Basis«, meinte Wellford. »Und es scheint, als seien auch Menschen unserer Erde daran beteiligt«, sagte der Direktor. »Sie meinen, daß es Menschen gibt, die sich mit diesen« – er deutete auf den Leichnam – »verbünden?« »Sie haben uns zu einem anderen Schluß geführt«, sagte der
Direktor. »Die Valorianer müssen etwas von der Überredungs kunst verstehen. Wir wissen nicht, welcher Mittel sie sich dabei bedienen. Nun, ob mit oder ohne Gewalt – der Sizilianer glaub te beispielsweise, er würde den Valorianern helfen, die ›Menschheit zu retten‹.« »Vor was denn?« Radcliff zuckte die Achseln. »Vor allen möglichen Übeln«, murmelte er. »Vor der Heulerpest zum Beispiel – oder vielleicht auch, in gewisser Hinsicht, vor der Sicherheitsbehörde.« Wellford sah den Direktor an und fragte: »Ja, aber was wol len die Valorianer hier erreichen?« »Eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist die vordringlich ste Aufgabe aller Spezialagenten der ISB.« »Mir scheint«, sagte der Engländer, »daß es unsere vordring lichste Aufgabe ist, zunächst einmal einen Valorianer zu finden, dem wir die nötigen Fragen stellen können.« Der Direktor wölbte seine Augenbrauen. »Allerdings. Aber das dürfte wohl das schwierigste Problem sein … Wir wissen nur, daß die Valorianer von einer überwältigenden Beredsam keit sind. So müssen wir vor allem auf der Hut sein und dürfen uns nicht täuschen lassen – wie das offenbar bei vielen anderen Leuten nicht der Fall gewesen ist.« Gregson blickte auf. »Ist das eine Geheimsache?« »Natürlich. Wir möchten nichts an die Öffentlichkeit drin gen lassen, bis wir in der Lage sind, ein paar konkrete Angaben zu machen. Ich möchte, daß Sie Ihre Tätigkeit von New York aus aufnehmen. Wenn diese Angelegenheit eine Herausforde rung an die Weltregierung ist, wird man schließlich eine geziel
te Aktion gegen die Zentrale der Sicherheitsbehörde starten.« Im Korridor hörte man das Geräusch splitternden Glases und einen wahnsinnigen Schrei, der innerhalb einer Sekunde schwächer wurde und verstummte. Gregson erreichte den Korridor zuerst. Vor dem zersplitter ten Fenster sah er einen Krankenwärter stehen, der verwundert in die Tiefe blickte. »Sie wollte immer wissen, was die Heuler sind«, murmelte der Mann. »Dann sah ich, daß sie Selbstmord verüben wollte. Aber ich konnte sie nicht mehr zurückhalten.«
3 Von seinem Büro im alten Gebäude der Vereinten Nationen starrte Gregson in den klaren Herbstmorgen hinaus. New York mit seinen hin und her flitzenden Luftgleitern über den Dä chern hatte ihn immer beeindruckt – sie schwirrten herum wie riesige Insekten. Doch jetzt sah man keine Luftgleiter; auch auf den Straßen herrschte nach dem Nuklearkrieg wenig Verkehr. Wellford kam ins Büro geschlendert, nahm Platz und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Da sitzen wir nun in unserm Plüschquartier, haben die Hände in den Schoß gelegt und warten – aber worauf?« Gregson mußte zugeben, daß die Zentrale der Sicherheitsbe hörde in der Tat eine Plüschangelegenheit war. Nach einer Detonation, die den Vorort Yonkers demoliert und dem Hud
son River zu einer neuen Bucht verholfen hatte, waren die oberen Stockwerke des Gebäudes ausgebrannt. Aber der Rest des Gebäudes war renoviert worden und beherbergte nun die Verwaltungszentrale eines koordinierten weltweiten Wieder aufbauunternehmens und des Kampfes gegen die Heulerplage. »Ich sagte«, wiederholte Wellford, »worauf warten wir noch?« »Wenn Radcliffs Vermutungen stimmen, werden Sie früher oder später Arbeit bekommen.« »Früher wäre mit lieber; auf diese Weise schaltet man unnö tige seelische Spannungen aus.« »Wenigstens hat die ISB keine komplette Niete gezogen.« »Meinen Sie das, was sich in der vergangenen Woche in den Pyrenäen abspielte? Das war so gut wie nichts. Nicht sehr befriedigend, eine evakuierte Basis zu zertrümmern und dann das Flugzeug, das einen hingeführt hat, verschwinden zu las sen.« Gregson beugte sich ein wenig vor, um einen besseren Blick auf die First Avenue zu haben. Seine Aufmerksamkeit konzen trierte sich auf einen altmodischen Wagen, der langsam an dem Gebäude vorbeifuhr. Er hielt an, fuhr langsam weiter und bog in die 44. Straße ein. Wellford trat ans Fenster. »Das Ganze kommt mir einiger maßen komisch vor – eine kampflustige Kultur, die den inter stellaren Raum erobert und das Gesicht der Erde geprägt hat und die trotzdem durch die Hintertür ins Haus schleicht.« »Vielleicht kann man die Strategie der Valorianer nicht mit den Normen der menschlichen Logik messen …« Gregson betrachtete die Straße aufmerksamer.
»Ich habe mir immer eingebildet, daß alle logischen Systeme den gleichen Wert haben müssen. Ich würde sagen – was gibt's da unten zu sehen?« »Der Wagen … Was fällt Ihnen an dem Wagen auf?« »Der Fahrer scheint sich für unser Gebäude zu interessie ren.« »Stimmt. Er dreht schon die dritte oder vierte Runde. Da – jetzt biegt er wieder in die 44. Straße ein.« »Nun dann«, sagte der Engländer. »Sehen wir ihn uns einmal aus der Nähe an, wenn er die vierte oder fünfte Runde gedreht hat.« Draußen gingen Gregson und Wellford an einem Kordon blau uniformierter Beamten der Weltpolizei vorbei. Sie überquerten die Rasenfläche und die Auffahrt – und im gleichen Augenblick bog die Limousine Radcliffs von der Straße ein. Wellford betrachtete den anhaltenden Wagen und sagte: »Der Bursche neben dem Direktor kommt mir irgendwie bekannt vor.« »Das sollte er auch. Er ist Frederick Armister, Gouverneur von New York.« »Ja, natürlich … Ein bemerkenswerter Mann, soviel ich weiß. Ein Ex-Heuler, habe ich recht?« Gregson nickte und dachte an die Wahlkampagne des ver flossenen Jahres. Armisters Wahlslogan war bemerkenswert gewesen: ›Ihr könnt es euch einfach nicht leisten, keinen ExHeuler zum Gouverneur zu haben. Meine Kandidatur ist die einzige, die eine Stabilität der Verwaltung garantiert, denn ich bin immun und muß meinen Amtssitz nicht plötzlich mit einer
Isolierstation vertauschen.‹ Mit dem gleichen Argument hatten schon andere Kandida ten erfolgreich die Heulerbarriere überklettert. Man sah in ihnen die zuverlässigsten Leute und hatte schon zu einem früheren Zeitpunkt damit begonnen, den Ex-Heulern einfluß reiche Positionen zuzuschanzen. Der Direktor stieg aus, ging um den Wagen herum und öff nete dem Mr. Armister – einem unscheinbaren, kleinen Mann mit gelblichem Teint und eingefallenen Wangen – die Tür. Im nächsten Augenblick wurde Radcliff blaß, schob den Gouverneur hastig in den Wagen zurück und sprang mit einem Satz hinter ihm her. Plötzlich war auch das neugierige Auto wieder da, rollte über den Bürgersteig und über die Rasenfläche. Das veraltete Modell eines Schnellfeuergewehrs ragte aus dem rechten Seitenfenster. Gregson versetzte Wellford einen gewal tigen Schulterstoß und beförderte ihn auf diese Weise aus der Schußlinie. Das Gewehr schoß ein ganzes Magazin leer. Doch Radcliff hatte die Tür der Limousine zuziehen können; die Kugeln prallten von den Panzerplatten ab und jaulten als Quer schläger davon. Das angreifende Fahrzeug beendete seine Wendung und roll te auf die Straße zurück in dem Augenblick, als hinter ihm ein halbes Dutzend Laserwaffen die Luft zerteilten. Einer der Beamten hatte Erfolg; der Strahl seiner Laserwaffe traf den linken Hinterreifen. Der Wagen geriet ins Schleudern und prallte an der nächsten Straßenkreuzung gegen einen Lastwagen. Die beiden Insassen des Personenkraftwagens sprangen heraus und rannten die 43. Straße hinunter. Der Engländer folgte Gregson dichtauf, als dieser hinter den
beiden Männern herrannte. Die Feststellung, daß der Fahrer eine Ähnlichkeit mit dem Leichnam des Valorianers in Rom hatte – olivfarbener Teint, schmales Gesicht, zusammengeknif fene Lippen, spitz zulaufendes Kinn und spärliches Haar –, spornte ihn mächtig an. Gregson entdeckte das flüchtende Paar, kaum daß er in die 43. Straße eingebogen war. Einen halben Block weiter rannten die beiden den Bürgersteig entlang, der sich schon mit der Flut der Büroangestellten zu füllen begann, die Mittagspause hatten. Anscheinend konnte der Valorianer mit seinem offenbar menschlichen Komplicen nicht Schritt halten. An der Ecke der Second Avenue brach er impulsiv nach rechts aus, während der andere auf der 43. Straße seine Flucht fortsetzte. Gregson erreichte die Kreuzung noch vor Wellford und sah, daß es dem Fremden nicht gelungen war, im Verkehr der Second Avenue unterzutauchen. Er deutete an, daß Wellford hinter dem anderen herlaufen solle, während er selbst die Verfolgung des Valorianers fortsetzte. Einen Moment später prallte der Fremde gegen einen Ein käufer, flog zur Seite, prallte gegen einen anderen und taumelte gegen eine Hauswand. Aber er sah seinen Verfolger aufholen und stolperte weiter. Wie dem auch sei, an der Kreuzung der 2. und 44. Straße glitt sein Fuß von der Bordsteinkante. Er ging in die Knie, blickte hastig über seine Schulter, rappelte sich wieder auf, bog nach rechts in die 44. Straße ab und rannte in Flußrich tung. Der Bürgersteig wurde schmaler, Gregson konnte immer schlechter ausweichen und stolperte über die mit Fahrzeugen
gespickte Straße. Einmal blieb er kurz an einem Kotflügel hängen, sprang zur Seite und wäre beinahe von einem anderen Wagen überfahren worden. Bremsen quietschten. Wenig später hatte er den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite erreicht. Gregson war zwanzig Schritte hinter ihm, rannte, was er konnte, und ließ fluchende Fußgänger zurück. Der kleine Mann stützte sich verzweifelt gegen eine Haus wand, keuchte heftig und spähte nach dem nächsten Ausweg. Dann schob er eine Hand in die Rocktasche und schien sofort wieder neuen Auftrieb zu bekommen. Er raste los und machte weder einen verletzten noch erschöpften Eindruck. Er über querte wieder die Straße, wich außerordentlich flink den Fahr zeugen aus und setzte seine Flucht auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig fort. Nun war Gregson derjenige, der erschöpft zurückblieb. Vor ihm kam ein Wagen aus der Spur, krachte gegen einen anderen, und der Fahrer hatte sich aus dem Seitenfenster ge beugt, um irrsinnig laut zu heulen. Während Gregson vorbeira ste, gab jemand dem neuen Heuler eine Injektion. Dann sah Gregson den Flüchtenden wieder – gerade als die ser in eine Seitenstraße verschwinden wollte. Aber er verlor wertvolle Sekunden, weil zwei weitere Personen von der Heu lerpest befallen wurden und sich auf dem Bürgersteig wälzten. Er sprang mit einem langen Satz über sie hinweg, raste in die Seitenstraße und sah, daß der Valorianer vor einem unüber steigbaren Schutthaufen angekommen war, von denen es in New York noch immer genügend gab Gregson verlangsamte sein Tempo. Er wußte, daß er sich nun ein wenig mehr Zeit lassen konnte, und ging schließlich
nur noch im Schritt. Hinter ihm erfüllte ein Heulertrio den Canyon der 44. Straße mit seinen schrillen, kläglichen Schreien. Der Valorianer, die Furcht verstärkte noch die Schärfe seiner Gesichtszüge, wich nach rechts in die schmale Gasse zwischen zwei Gebäuden aus. Dann stürzte Gregson abrupt auf die Knie und schlug die Hände vor das Gesicht. Um Himmels willen! dachte er. Nicht jetzt! Keinen Heuler anfall in diesem Augenblick. Doch schon tobten in seinem Gehirn all diese brüllenden Flammenbündel. Sie waren nicht direkt hell, aber sie entwickel ten eine weiße Glut. Es war, als hätte eine unsichtbare Macht eine Barriere weggerissen, um die qualvollen Schmerzen mit voller Stärke auf ihn zu konzentrieren. Er sank in die Knie und hörte sich schließlich unterdrückt schreien. Seine Hände tasteten an der Klappe der Gürteltasche mit der Injektionsausrüstung herum. Irgendwie gelang es ihm, die große Injektionsspritze herauszuziehen. Doch er ließ sie beinahe fallen, als eine neue Glutwelle durch sein Gehirn rollte. Das Blut der Gehirnzellen schien sich in flüssige Lava zu ver wandeln. Aber er durfte nicht losheulen; denn beugte er sich dem An fall, war sein Widerstand für alle Zeiten gebrochen. Langsam erlosch die Glut. Und dann, ganz plötzlich, schien die Barriere zwischen ihm und jenem qualvollen Wahnsinn wieder heil zu sein. Der Anfall war vorbei. Er saß im Dreck der schmalen Straße und schluchzte unter den Nachwirkungen der Tortur. Er verbarg seine Verzweiflung hinter der glühenden
Hoffnung, daß man diese Schreie unter Aufbietung aller Wil lenskräfte möglicherweise bezwingen könne. Würde er diese Anspannung bis in alle Ewigkeit ertragen können? Dann fiel ihm der Valorianer ein. Er richtete sich auf. Seine Beine waren noch so schwach, daß sie kaum sein Körperge wicht tragen konnten. Rechts neben dem Schutthaufen, in einer dunklen Nische zwischen den beiden Gebäuden, entdeckte er den Valorianer. Aber er näherte sich ihm mit Vorsicht. Welch einer Taktik würde er begegnen? Welchen Angriffs- und Abwehrmethoden? Welche Mittel standen dem Fremden zur Verfügung? Wie konnte man jemanden herausfordern, dessen Reaktionen man nicht abschätzen konnte? Impulsiv ging Gregson einfach auf ihn los und schwang die Injektionsnadel wie einen Dolch. Die Frage war nur, ob eine Injektion bei dem Valorianer auch wirken würde. Der Fremde trat flink zur Seite, und die Nadel stach an seiner Schulter vorbei. Gregson fand sein Gleichgewicht wieder, zog sich zurück und stach noch einmal mit der Nadel zu. Wieder hatte der Fremde damit gerechnet und wich geschickt aus. Da ließ Gregson jede Vorsicht außer acht, sprang auf ihn zu und schlang seinen Arm um sein Genick. Als habe er alles vorausgesehen, entging der Fremde diesem Schraubstockgriff, packte zur gleichen Zeit Gregsons anderen Arm und zog ihn nach vorn. Gregson hatte dem Valorianer die Injektionsnadel ins Genick stechen wollen, doch weil er nicht auf den Gegenangriff vorbe reitet gewesen war, stach er sich selbst in den linken Oberarm
muskel. Sofort heulte die ›Sirene‹ los, und der Fremde trat zurück, um Gregson nach vorn und in Bewußtlosigkeit fallen zu lassen. Wie aus den unendlichen Weiten des Weltraums kam Manuels resonante doch tonlose Stimme. Die Worte vibrierten in ihrer Zusammenhanglosigkeit; sie strömten zu merkwürdigen Satz gebilden zusammen, die einen Sinn ergaben, den man wieder um nicht in Worte kleiden konnte … Es passierte nicht zum ersten Male, daß Arthur Gregson mit seinem Zwillingsbruder für kurze Zeit in seelischer Verbindung stand. Das war während des Probefluges des Weltraumschiffs ›Nina‹ zum Planeten Pluto gewesen, bevor der kosmische Sender installiert worden war. Die ionischen Beschleuniger hatten nicht funktioniert. In diesem Augenblick drohenden Unheils hatte er irgendwie gewußt, daß Manuel sich in Gefahr befand. Diesmal war es jedoch eine völlig andere Art von Emotion, die sich Manuels bemächtigt hatte – etwas, das so völlig fremd war, daß man es nicht in die Skala menschlicher Empfindungen einreihen konnte. Unbeschreibliche Reflexionen der Empfin dungswelt des anderen, die in dem gemarterten Hirn eines Heulers entstanden sein konnten. Und wieder und wieder kamen die Wortsymbole ›zylph‹ und ›rault‹. Aber das waren Worte ohne Bedeutung, provozierende Fetzen semantischer Nichtigkeiten … Gregson redete sich ein, daß dieser parapsychologische Kon takt mit seinem Bruder nur seiner eigenen Phantasie entsprun gen war. Oder gab es eine seelische Brücke von Mensch zu
Mensch, die Millionen von Meilen überspannen konnte? Be fand sich sein Bruder irgendwo auf der Erde? War er vielleicht der Gefangene jenes Fremden, dem er, Gregson, eben in dieser schmalen Seitengasse gegenübergestanden hatte? Die Erinnerung an den siegreichen Valorianer schreckte ihn auf. Er hob den Kopf vom Kissen und blickte in Wellfords Gesicht – gerade in dem Moment, als Wellfords besorgter Gesichtsausdruck von einem Grinsen abgelöst wurde. »Willkommen im Verein der ›Frühheuler‹«, begrüßte ihn der Engländer. »Teufel, wir hatten wirklich alle Mühe, das Heuler sammelkommando davon zu überzeugen, daß Sie das Opfer eines Schurkenstreichs geworden waren. Sie wären um ein Haar in der Isolierstation gelandet.« Gregson stellte fest, daß er sich im Krankenrevier befand, und fragte: »Was ist passiert?« »Ich hoffe, Sie werden uns das selber erzählen können.« »Ich – ich hatte ihn. Aber irgendwie gab ich mir selber eine Injektion.« »Das dachten wir uns. Durchtriebene Burschen, diese men schenähnlichen Valorianer!« Er tippte auf eine dunkle Schwel lung unter seinem linken Auge. »Durchtrieben und geschickt. Der Bursche, den Sie für mich ausgesucht hatten, hatte keine sehr höflichen Manieren.« »Dann sind wir beide mit leeren Händen zurückgekom men?« »Durchaus nicht. Ich hatte alle Hände voll zu tun, bis die Be amten der Weltpolizei mich ablösten.« Gregson fuhr steil in die Höhe. »Soll das heißen, daß wir ihn haben? Hier?«
Wellford nickte. »Radcliff und seine Spezialfragesteller hatten ihn ein paar Stunden hübsch in der Mangel. Übrigens rief der Direktor mich an. Er möchte uns beide in seinem Büro sehen, sobald Ihre Beine wieder belastungsfähig sind.« Als Gregson und Wellford ihre Verfolgungsjagd geschildert hatten, wanderte ISB-Direktor Radcliff noch längere Zeit vor dem Fenster mit Blick auf den East River auf und ab. Er schien noch einmal gründlich über alles nachzudenken. Schließlich sagte er: »Sie haben gute Arbeit geleistet.« »Aber –«, setzte Gregson abwehrend an. »Ich weiß. Der Valorianer konnte flüchten. Aber darüber machen Sie sich einstweilen keine Gedanken. Ich bin sicher, daß Ihr Bericht große Lücken füllen wird. Heute morgen wurde übrigens von einem ähnlichen Zwischenfall in Bayern berichtet. Allerdings richtete der Agent die Laserpistole auf sich selbst. Sie hatten also Glück.« »Was haben wir denn inzwischen von unserem Gefangenen erfahren?« »Bis jetzt nicht sehr viel, tut mir leid. Er redete während des Verhörs unzusammenhängendes Zeug. Man hatte fast den Eindruck, daß er von irgendeiner Seite darauf vorbereitet wurde, unter derartigen Umständen vernunftwidrig zu reagie ren.« »Können wir ihn mal sehen?« erkundigte sich Wellford. Radcliff schüttelte den Kopf. »Er hält sich nicht mehr hier auf. Es ist besser, diese Angelegenheit diskret zu behandeln, und das gilt für alle weiteren Gefangenen.« »Wir sind aber begreiflicherweise sehr neugierig«, protestier te der Engländer. »Und je mehr Informationen wir bekommen,
um so besser helfen sie uns voran.« »Da haben Sie vollkommen recht. Sobald unsere gemeinsame Zusammenarbeit wirklich reife Früchte zeigt, werden Sie auch umfassendes Informationsmaterial bekommen.« Er ging an den Schreibtisch und schaltete ein Tonbandgerät an. »Ich führe Ihnen ein paar Ausschnitte des Verhörs vor und mache Sie darauf aufmerksam, daß die ganze Bandaufnahme sich nicht von diesen Ausschnitten unterscheidet.« Zunächst donnerte eine lange Tirade von Flüchen und son stigen Äußerungen des Unmuts aus dem Lautsprecher. »Das ist unser Freund«, sagte Wellford belustigt. »Praktisch alles, was er mir an den Kopf geworfen hat.« Radcliff ließ das Band ein Stück weiter ablaufen und schaltete wieder den Ton ein: ›Sie sind gut, sage ich! Die Valorianer sind gut! Sie wissen, daß sie gut sind! Sie sind gekommen, um uns zu retten! Ihr dürft sie nicht mehr verfolgen! Ihr sollt nicht –‹ Dann weitere Flüche und Schmähreden, alle mit einer ver zweifelt und theatralisch klingenden Stimme geschrien. Radcliff schaltete das Bandgerät ab und sagte: »Der Mann glaubt tatsächlich, daß seine Valorianer Wohltäter sind. Sie sehen also, womit wir es zu tun haben.« »Er ist absolut wahnsinnig«, erklärte Wellford. »Hat er irgendwie zu der Heulerplage Stellung genommen?« fragte Gregson. »Nur daß die Valorianer, wenn man ihnen eine Chance gibt, die Epidemie beseitigen werden. Aber denken Sie einmal dar über nach, Greg. Im Kielwasser des Mannes, den Sie heute vormittag verfolgten, verwandelten sich drei Personen in Heu
ler.« Nach einem Moment fügte Radcliff hinzu: »Ich glaube, es ist offensichtlich, daß zwischen den Valorianern und der Heu lerepidemie ein Zusammenhang besteht – trotz der Tatsache, daß die Epidemie schon vor vierzehn Jahren ausbrach. Und damals wußten wir noch nichts von der Anwesenheit der Fremden …
4 Eine Woche später lösten kalte Novemberwinde den Herbst ab und durchsetzten den East River mit weißen Schaumkronen. Gregson sah sich gezwungen, untätig in seinem Büro zu sitzen, und Wellfords plötzliche Versetzung in das Londoner Büro der ISB gestaltete dieses Warten noch langweiliger. Es war eine Periode, in der die Valorianer sich anscheinend in die Tiefen des Weltraums zurückgezogen hatten; aber die Heulerepidemie war geblieben. Gregsons Sekretärin erschien im Türrahmen. »Ein dringendes Fernsehgespräch aus Pennsylvania.« Er legte den Hebel um. Auf dem Bildschirm erschien das verängstigte tränenüberströmte Gesicht einer jungen blonden Frau. »Helen! Was gibt's?« »Oh, Greg! Onkel Bill … Er hat eben einen Heuleranfall be kommen! Ich kann ihn nicht erreichen. Und wir haben hier auch kein Sammelkommando!«
Gregson wurde blaß bei dem Gedanken, daß Bill Forsythe sich irgendwo draußen auf der Farm zu Tode heulte – und keine Hilfe in der Nähe. »Hat er sich keine Injektion gegeben?« »Nein. Er hat keine Spritze. Und ich kann ihm auch keine geben!« Sie hob ihre Hand und schaltete ab. Doch bevor der Bild schirm noch ganz dunkel war, hörte Gregson im Hintergrund die Schreie Bill Forsythes. Zweimal versuchte Gregson zurückzurufen. Aber er bekam keine Antwort. Dann rief er die Monroe-Isolierstation an, und es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete. Er erstattete Bericht. Dann stand seine Sekretärin wieder im Türrahmen und sag te: »Der Luftverkehr stellt einen Gleiter zur Verfügung unter der Bedingung, daß Sie nicht das Stadtgebiet überfliegen, so wichtig Ihr Flug auch ist.« »In Ordnung.« Doch als Gregson erst einmal in der Luft war, flog er kühn über New York und den ausgebombten Industriebezirk von New Jersey hinweg in Richtung Pennsylvanien. Bill Forsythe – ein Heuler, dem niemand helfen konnte. Und Gregson fragte sich, ob er nicht für diese Situation verantwort lich war. Vor dem Unfall an Bord der Vega-Startbasis hatte Gregson dem Wunsch des alten Mannes, weiterhin Satellitenin genieur zu bleiben, stattgegeben. Er hatte jedoch auf einer gemeinsamen Farm im Osten von Pennsylvanien bestanden. Damals schien das keine schlechte Idee zu sein. Doch nun war
Forsythe ein Heuler. Und in der Abgeschiedenheit der Farm war seine Nichte leider nicht fähig, ihm die Injektion zu geben, die möglicherweise sein Leben retten konnte. Nach zehn Minuten überquerte Gregson die Staatsgrenze, änderte abrupt seinen Kurs und flog in Richtung der MonroeIsolierstation außerhalb von Stroudsburg. Man sagte ihm, daß kein William Forsythe eingeliefert wor den sei, man habe aber ein Sammelkommando zur Farm ge schickt, er müsse also in diesem Augenblick noch auf der Farm sein. Nein, ein Fernsehtelefon könne er hier nicht benutzen. Er flog weiter und dachte an Helen. Nicht genug damit, daß ihr Verlobter vor drei Jahren von der Heulerpest befallen wor den war und Selbstmord verübt hatte, dann ein knappes Jahr später war bei einer nuklearen Detonation, die Cleveland unter einem Arm des Erie-Sees begrub, ihre ganze Familie ums Leben gekommen. Was würde sie jetzt ohne ihren Onkel anfangen? Vor zwei Monaten hätte Gregson ihr einen Ausweg aus diesem Dilemma zeigen können, aber nicht jetzt, wo er praktisch schon ein Opfer der Heulerpest war. Er landete wenig später neben den Farmgebäuden, stieg aus, rannte auf das Haus zu, blieb in der Küchentür stehen und wollte Helen rufen. Aber Bill saß in der Küche! Er hatte seinen rechten Fuß in eine Wanne mit dampfendem Wasser gestellt. »Greg?« fragte der Alte. »Ja, ja«, murmelte Greg verwundert. »Dann – dann ist wohl alles in Ordnung, wie?« »Das würdest du an meiner Stelle bestimmt nicht sagen!« Forsythe hob vorsichtig den Fuß hoch. Er war ein untersetzter Mann und hatte eine gesunde Gesichtsfarbe unter seinem
dichten weißen Haar. Seine rundliche Erscheinung strahlte etwas Vergnügtes aus. Doch mit diesem grimmigen Gesicht machte er nicht gerade einen heiteren Eindruck. »Was ist passiert?« erkundigte sich Greg. Helen erschien im Flur und blickte in Türrichtung. Sie hatte noch immer ein wenig verweinte Augen, sah aber so hübsch aus, wie Gregson sie in Erinnerung gehabt hatte. Sie trat ein in einer graziösen Haltung, die gar nicht so recht auf eine Farm paßte. »Ich muß wohl alle Vorwürfe auf mein dickes Fell nehmen«, sagte Forsythe. »Ich denke, ich habe gebrüllt wie ein verwunde ter Elefant. Da war mir auch gleich klar, was Helen denken mußte.« Schließlich wich die Spannung von Gregson, und er fragte noch einmal: »Was ist denn passiert?« »Bin ausgerutscht und habe mir 'nen eingewachsenen Ze hennagel abgerissen!« »Ich wollte anrufen, als er sich halbwegs beruhigt hatte«, er klärte Helen und glättete ihr Kleid über den wohlgebauten Hüften. »Hätte ich sehen können, wäre ich hinter ihr hergelaufen«, fügte Forsythe hinzu. Bill wußte natürlich, daß er nie mehr sehen würde. Das war das Urteil der Ärzte gewesen, nachdem sie monatelang an ihm herumoperiert hatten. Gregson rief die Zentrale an, sagte, er würde heute nicht mehr zurückkehren, aber man könne ihn am Samstagvormittag erwarten. Nach dem Mittagessen schlug Gregson einen Spazier gang vor. Helen sah in ihrem grobmaschigen Pullover sehr
hübsch aus, aber Gregson sträubte sich gegen jede gefühlsmäßi ge Regung. Wenn er ihr die kalte Schulter zeigte, konnte er nur hoffen, daß sie sich nicht allzu beleidigt fühlen würde. Unterwegs sagte sie plötzlich: »Bill und ich hoffen, daß du so bald wie möglich nach Hause kommst und ständig auf der Farm bleibst.« »Eines Tages werde ich kommen«, sagte er zögernd. Noch vor zwei Monaten wäre er mit Freuden auf diesen Vor schlag eingegangen. Aber nicht jetzt. »Es sieht jetzt vieles anders aus«, fuhr sie fort. »Mit dem Wiederaufbau geht es rasch voran. Neue Bahnverbindungen sind in Betrieb genommen, und die Lebensmittel sind auch nicht mehr so knapp. In diesem Sommer hat es keinen einzigen Erntediebstahl gegeben.« Sie blieben unter einem Baum stehen. Sie lehnte sich gegen den Stamm, und der Wind wehte ihr blondes Haar über die dunkle Borke. »Ja«, gab er zu. »Ich könnte Bill eine Arbeitskraft besorgen.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Warum quittierst du nicht den Dienst bei der ISB? Da gehörst du doch gar nicht hin. Und du hast dort einen sehr gefährlichen Dienst.« Er starrte sie an. Woher wußte sie das? »Die Internationale Sicherheitsbehörde ist heute die wichtig ste Behörde der Welt«, erklärte er. »Manche Leute behaupten, daß die ISB zuviel Macht hat und fast alles kontrolliert.« »Die Leute wissen nicht, was sie reden, Helen. Wir kämpfen gegen eine weltweite Pest und brauchen daher auch weltweite Vollmachten.« Sie seufzte und sagte lächelnd: »Oh, reden wir von was ande
rem. Ich wollte nur ein bestimmtes Thema ansteuern – wollte deine Frage beantworten.« Und er wollte wieder nicht ihre Antwort hören, die ›ja‹ lau ten würde. »Arthur Gregson!« sagte sie mit vorgetäuschter Empörung. »Vor einem Jahr hast du mir einen Heiratsantrag gemacht. Ich sagte, das wäre nur Mitleid. Vor sechs Monaten hast du deinen Heiratsantrag wiederholt. Ich sagte, du wärst ein netter Mensch. Im August hast du deine Frage wiederholt. Ich sagte: ›Vielleicht eines Tages.‹ Nun« – sie breitete ihre Arme aus –, »heute ist der Tag.« Die ganze Zeit hatte er so was Ähnliches befürchtet – seit seinem ersten Heuleranfall. Er konnte nur den Kopf senken. Ihr Lächeln verschwand; sie blickte zur Seite. »Ich denke, jetzt ist es umgekehrt …« Er sah ein, daß er sie verletzt hatte. Dabei empfand er den gleichen Schmerz wie sie. Er riß sie impulsiv an sich und küßte ihren Mund, ahnte aber schon, daß sie diesen Zärtlichkeitsbe weis mißverstehen würde. Sie zog sich auch prompt zurück und fragte: »Wirst du dann deinen Dienst quittieren?« Nach einem Moment schüttelte er entschieden den Kopf. Ihre Augenbrauen wölbten sich. »Das verstehe ich nicht.« Und er würde es ihr nie erklären können. Er sagte nur: »Ge rade jetzt gibt es eine Unmenge zu tun.« »Und wenn das erledigt ist?« »Das wird noch eine Weile dauern«, erwiderte er. »Oder gibt es eine andere, Greg?« Er sagte nichts, drehte sich nur um und schlenderte zum Haus zurück.
Nach dem schweigsamen Abendessen zu urteilen, mußte er sie wohl stark entmutigt haben. Das war etwas, das ihn mit einer dumpfen Verzweiflung erfüllte. Er setzte dieses Schweigen fort, als er später mit Bill im Wohnzimmer saß. »Und in New York?« fragte Forsythe, der die Angewohnheit hatte, den ersten Teil des Satzes zu unterschlagen. »Die Hölle. Lebensmittelknappheit, Rationierungen, Schlan gen. Überall Heuler. Die Wagen der Sammelkommandos sind überall. Du weißt nicht, was für ein Glück du hier hast.« »Dachte viel über die Heuler nach, Greg. Ist vielleicht über haupt keine Krankheit.« »Was könnte es sonst sein?« »Keine Ahnung. Sind furchtbar, die Heuler. Die Leute schreien sich mit ›Lichtern im Kopf‹ zu Tode.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Teufel, ich würde meinen rechten Arm für irgendeinen Funken Licht hergeben – für jede Art von Licht!« Gregson dachte an seine eigenen Anfälle, an den Gnadentod und den Heugabelmord auf der Via dei Fori Imperiali. Am liebsten hätte er Forsythe niedergeschrien. Da fiel sein Blick auf eine drei Wochen alte Ausgabe der Zeitung ›Monroe CountyClarion‹. Auf der zweiten Seite las er die Schlagzeile: ›Fremden legende wird wahr! Kleine grüne Männer mit den alten Tricks!‹ Gregson wollte die Zeitung schon zur Seite legen, als er von einer Beobachtung las, die ein Farmer namens Enos Cromley gemacht haben wollte. Dieser Mann wohnte nicht einmal sehr weit von Forsythes Farm entfernt. Cromley schwor Stein und Bein, daß er mit diesen ›Fremden‹ gesprochen habe. Sie wollten die Menschheit vor einem Schick sal retten, das schlimmer sei als die Heulerepidemie und der
Nuklearkrieg. Und sie hatten den Farmer gefragt, ob er noch andere Leute kenne, die ihnen helfen würden. Gregson richtete sich im Sessel auf. Erstens gab es diese Fremden tatsächlich und zweitens hatten sie schon eine Anzahl hilfloser Menschenwesen in ihrem Netz. Sie mußten ein be stimmtes System haben, um mit den Menschen Beziehungen anknüpfen zu können. Diese Gruppen, die sich aus Menschen und Fremden zusammensetzten, mußten nicht unbedingt in den Städten oder in der Nähe von Zielen zu finden sein, die sie anzugreifen gedachten. Das war zu riskant. Ländliche Bezirke in der Nähe des Operationsgebietes waren günstiger. »Doc Holt gibt doch die ›Clarion‹ heraus, nicht wahr?« fragte Gregson. »Stimmt. Machte alles selbst. So ein Ein-Mann-Betrieb.« »Er machte?« Forsythe nickte. »Bis vor zwei Wochen. Dann verkaufte er den Laden. Sehr günstig, soviel ich weiß. Dann zog er mit seiner Frau weg. In der nächsten Woche ist Danksagungstag. Du hast versprochen, diesen Tag bei uns zu verbringen.« »Ich werde da sein«, versprach Gregson es ihm noch einmal. »Enos Cromley – ist das der Farmer, der nur zwei Meilen weiter wohnt?« »Richtig. Wenn man ihn ›Farmer‹ nennen kann. Hat den mi serabelsten Hof in dieser Gegend. Auch Schulden. Stürzte sich gleich nach dem Nuklearkrieg auf die Landwirtschaft. Ist auch Verwalter der Wilson-Jagdhütte.«
Das Gras war am nächsten Morgen noch taufrisch, als Gregson seinen Gleiter vor Enos Cromleys Farmhaus aufsetzte. Noch vor der Landung hatte er geahnt, daß das Haus verlassen war. Nichtsdestoweniger rief er einige Male und trat vorsichtig ein. Die Zimmer waren spärlich möbliert, die Möbel von einer beachtlichen Staubschicht bedeckt. Doch im Flur und in der Küche brannte Licht. Offenbar war Cromley trotz der unbezahl ten Lichtrechnung noch nicht der Storm gesperrt worden. In der Küche entdeckte Gregson Spuren eines stattgefundenen Kampfes: Umgestürzte Möbel, Spuren von Laserstrahlen an den Wänden und an der Decke. Neben dem Tisch lag eine zer knautschte Zeitung – als habe sie jemand wütend zur Seite geworfen. Als Gregson sie aufgehoben hatte und glättete, blickte er auf die Seite mit dem Artikel ›Fremdenlegende wird wahr‹. Und im Lichtschein der Morgensonne, die durch die offene Hintertür einfiel, sah er einen langen falschen Fingernagel glitzern – allein diese Entdeckung machte seinen Besuch auf Cromleys Farm lohnenswert. Er kehrte zu seiner Maschine zurück, rief dort seine Dienst stelle an und berichtete, was geschehen war. Er teilte auch mit, daß er zu Fuß zur Wilson-Jagdhütte weitergehen wolle, und beschrieb die nähere Umgebung. Weiter forderte er eine Grup pe Beamten der Internationalen Weltpolizei an mit der Bitte um schnellste Entsendung. Der Beamte am anderen Leitungsende nahm die Instruktio nen zur Kenntnis und fügte hinzu: »Was für eine Suppe Sie auch auf dem Feuer haben, die kann warten. Sie haben soeben eine wichtige Nachricht von Radcliff bekommen. Er hält sich in England auf. Am Montagmorgen findet in London eine
Einsatzbesprechung der Spezialagenten statt.« »Also aufgeschoben?« »Keine Ahnung. Radcliff hat auch keine näheren Einzelhei ten bekanntgegeben.« Eine halbe Stunde später schlich Gregson vorsichtig durch das Unterholz auf Cromleys Hütte zu, aus deren Schornstein eine Rauchfahne stieg. Er hörte hinter sich einen Ast knacken. Doch ehe er noch seine Laserpistole gezogen hatte, landete auf seiner Schläfe ein Hieb, der beinahe die Wucht eines Pferdehufs hatte. Gregson stürzte in eine pechschwarze Tiefe. Als Gregson erwachte, sackte sein Oberkörper nach vorn; aber eine kräftige Hand drückte gegen seine Brust, so daß er wieder aufrecht im Sessel saß. Er öffnete die Augen und starrte in das Rohr seiner eigenen Laserpistole, die ein stämmiger, ungefähr fünfundvierzig Jahre alter Mann in der Hand hielt. Sein schwar zes Haar war an den Schläfen ergraut. Neben diesem Mann stand ein wesentlich älterer Zeitgenosse, der Gregsons Briefta sche durchsuchte. »Nichts drin«, sagte der Ältere, »nur eine New Yorker Luft gleiterlizenz. Sein Name ist Gregson, Arthur Gregson. Einund dreißig Jahre.« »Wir werden alles erfahren, was wir wissen wollen«, sagte der Stämmige, nach Gregsons Kragenaufschlag greifend. »Wer sind Sie? Was tun Sie hier?« Gregson schüttelte den Kopf und sagte dann: »Ich las den Artikel in der ›Clarion‹ und –« Wapp! Er spürte die Knöchel des Mannes an seiner Kinnla de.
»Sie kamen aus New York, lasen den Artikel und schwirrten hierher?« »Ich kam durch Stroudsburg.« »Warum haben Sie Ihren Luftgleiter auf der Farm zurückge lassen und sich durch die Büsche geschlagen statt die Straße entlangzugehen?« »Kein Platz zum Landen.« Wapp! Die Knöchel schlugen seinen Kopf zur Seite. »Da ist Platz genug.« »Das wußte ich nicht.« »Und woher wußten Sie, daß Sie hier nach Cromley suchen konnten?« »Sind Sie Cromley?« Wapp! Diesmal war es ein Fausthieb, und Gregson leckte sich das Blut von den Lippen. »Der ist Cromley.« Der Mann schwenkte die Pistole in die Richtung des Älteren. Gregson sagte zu ihm: »Sie haben in Druckbuchstaben mit geteilt, was ich die ganze Zeit vermutete. Sie brauchten Hilfe. Ich wollte Ihnen helfen – bis jetzt jedenfalls.« »Das war ein Fehler«, sagte Cromley. »Sie meinten, das hätte ich nicht tun sollen – mit Doc Holt sprechen, meine ich. Ich habe zuviel geredet und –« »Mund halten!« befahl der stämmige Mann. Dann zu Greg son: »Noch einmal – wer sind Sie? Wer hat Sie hergeschickt? Was wollen Sie?« »Ich möchte helfen«, sagte Gregson und fügte, einem Einfall folgend, hinzu: »Ich würde alles tun, was ich kann, um uns die ISB vom Leib zu halten, bevor es zu spät ist.«
Cromley und der andere Mann wechselten mehrmals un schlüssige Blicke. Plötzlich von der Tür her eine hohe, aufgeregte Stimme: »Er ist von der ISB! Er ist ein Spezialagent!« Der Fragesteller drehte sich ruckartig nach Gregson um, als der Mann mit der aufgeregten Stimme im Türrahmen erschien. Er trug einen Hausmantel, Pantoffeln und war zweifellos ein Valorianer. Man sah es ihm auch an den Fingerspitzen an, die keine Nägel hatten. Die Laserpistole zeigte auf Gregsons Gesicht. »Einen Moment!« rief der Valorianer. »Das Mädchen von Forsythe sagte –« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Sie kom men! Sie sind hier!« Die Fensterscheibe schmolz; ein schwerer Laserstrahl glitt wie ein Blitz in den Raum und traf die Brust des Mannes, der Gregson bedrohte. Zwei weitere Strahlen trafen Cromley und den Valorianer. Sie brachen zusammen. Sekunden später kamen Beamte der Weltpolizei in die Hütte gestürmt, angeführt von dem Inspektor der Spezialagenten. »Eine dramatische Rettungsaktion, nicht wahr?« sagte der Inspektor und starrte auf den bewußtlosen Valorianer. Doch Gregson hüllte sich in Schweigen. Warum hatte der Fremde den Namen Helens erwähnt? Und woher wußte der Valorianer, wer er war? Oder daß die Beamten der Weltpolizei in Nähe der Hütte gestanden hatten? »Ich dachte mir, daß diese Situation eine leise Annäherungs technik erfordern würde«, witzelte der Inspektor. »Alles in Ordnung?«
Gregson betastete Kinn und Wange. »Ich möchte gern beim Verhör dieser beiden zugegen sein.« »Tut mir leid. Wir haben Anordnung, alle Gefangenen sofort zu isolieren.«
5 Das Fernsehtelefon auf dem Nachttisch rasselte und ließ Greg son steil in die Höhe fahren. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß er sich in einem Zimmer des ›Royal Hotels‹ in London befand. Und am Montagabend fand die Einsatzbespre chung für Spezialagenten statt. Er drückte auf den Hebel; Wellfords Gesicht erschien auf dem kleinen Bildschirm. »Entschuldigen Sie die Störung; ich dachte, Sie wären schon auf, obwohl wir heute – nach unserer Zeitrechnung – Sonntag haben.« »Wie spät?« »Bald Zeit zum Mittagessen. Sie haben mich zu einem York shire-Pudding eingeladen, den ich mit Spannung erwarte. Ziehen wir gleich los?« »Ich bin sofort unten.« Wellford machte ein skeptisches Gesicht. »Sofort? Das wäre, meiner Berechnung nach, in einer halben Stunde. Ich habe übrigens von Ihrem gestrigen Erkundungsgang gelesen. Ich wußte doch, daß einer von uns beiden einen Valorianer ins
Schlepp nehmen würde.« Als der Engländer das Gespräch beendet hatte, kehrten Greg sons Gedanken noch einmal auf die Ereignisse in der Jagdhütte zurück, und er hörte die Stimme des Valorianers: ›Das Mäd chen von Forsythe sagte …‹ Helen – ein Mitglied dieser fremden Sabotagegruppen? War sie veranlaßt worden, sich auf die Seite der Valorianer zu stel len? Wie Cromley und dessen Begleiter? Wie der gescheiterte Attentäter, den Wellford in New York erwischt hatte? Er konnte nur hoffen, daß Helen von Cromley und dem anderen nicht in diese Geschichte hineingezogen wurde. Wenn er rasch genug nach Pennsylvanien zurückkehren konnte, würde er Gelegen heit finden, ihr ein paar Fragen unter vier Augen zu stellen. Gregson und Wellford stiegen in ein Taxi, das rasch und unbe hindert die Oxford Street entlangfuhr. Nach der Zerstörung des Industriepotentials im Jahre 1995 gab es in England nicht mehr viele Fahrzeuge. Und wer ein Fahrzeug besaß, der hatte so gut wie überall freie Bahn. »Ich sagte«, begann Wellford noch einmal, weil Gregson of fenbar nicht zugehört hatte, »daß Sie gerade zur rechten Zeit gekommen sind, um an meiner Feier teilzunehmen. Gestern sollte ich mir wohl das Heulerpäckchen besorgen. Wurde aber nichts daraus. Anscheinend bin ich der ruhigste Heuler, dem Sie jemals begegnet sind.« Gregson zog eine Grimasse und sagte gedehnt: »Heulen ist keine Angelegenheit, über die man Witze reißen sollte.« »Ja, das stimmt natürlich. Aber dann ist Lady Sheffington ein Witz.«
»Wer ist Lady Sheffington?« »Das werden Sie zur rechten Zeit herausfinden. Nun ja, was ich heute morgen über Sie gelesen habe, das hat mich einiger maßen fasziniert. Aber Sie dürften nicht der erste Mann sein, der einen Valorianer eingepackt hat.« »Was reden Sie da?« »Ich habe den Eindruck gewonnen, daß Radcliff einen Valo rianer mit Erfolg verhört hat. Er will das Resultat und die sich daraus ergebenden Schlüsse bekanntgeben.« Am Trafalgar Square kam selbst der spärliche Verkehr zum Halten. Gregson drehte das Fenster hoch, um nicht die Schreie eines Heulers zu hören, der vor der Nelsonsäule einen Anfall bekommen hatte. Die lauten Schreie verscheuchten selbst den Tauben schwarm, der sich in die Cockspur Street absetzte. Kaum waren die Tauben gelandet, scheuchte sie das grelle Bimmeln eines Ambulanzwagens der ISB wieder auf. »Gehen wir zu Fuß«, schlug Wellford vor. »Ich habe noch etwas bei Lady Sheffington zu begleichen.« Zu Fuß gingen sie an der Brustwehr vorbei, von der aus man den Platz überblicken konnte, und kümmerten sich nicht um die schweigenden Leute, die sich dort versammelt hatten. Doch als die Bremsen des Ambulanzwagens quietschten, warf Greg son doch einen Blick in Richtung des nächsten ruhenden Bron zelöwen. Jemand hatte den Heuler wie eine Opfergabe auf die Vorderpfoten des massigen Tieres gelegt. Es war ein kleiner Junge – höchstens sechs Jahre alt. Seine Waden zitterten, denn die Beruhigungsinjektion war offensichtlich zu schwach gewe sen. Wenigstens schrie er nicht mehr.
Die Leute vom Sammelkommando stiegen aus, legten den Jungen auf eine Bahre und trugen ihn rasch zum Wagen, der wenig später davonraste. Eine atemlose Stille blieb zurück, in der die Leute sich wieder zerstreuten. Dann schwirrte wieder der Taubenschwarm heran und lan dete im Schatten Lord Nelsons, der über den Terror nachzu denken schien, der sich an jenem ruhigen Sonntagnachmittag im Herzen Londons ausgebreitet hatte. Als sie sich dem Gebäude mit den geschmacklos wirkenden Buchstaben auf der Fassade näherten, erklärte Wellford, daß Lady Sheffington keine Angehörige des englischen Adels sei, obwohl sie ›Lady‹ genannt werde. Gregson las die goldenen Buchstaben: ›Glück oder Unglück? Seien Sie auf Ihr Schicksal vorbereitet! Erwartet Sie das Schick sal eines Heulers?‹ »Lady Sheffington hat Ihnen ein Heulerschicksal vorausge sagt, nicht wahr?« fragte Gregson. Wellford nickte. »Jetzt muß sie mir mein Geld zurückzah len.« Er kam Gregsons nächster Frage zuvor und sagte: »Nein, nein, normalerweise verschwende ich keine Zeit mit der Wahr sagerei. Ich war nur neugierig. Ich kenne zufällig drei Ex-Heuler – und allen dreien hat Lady Sheffington mit erstaunlicher Genauigkeit ihr Schicksal vorausgesagt.« Lady Sheffington war eine stämmige Frau mit grobschlächti gen Gesichtszügen und einer entsprechenden Stimme. Selbst in ihrem mit dicken Teppichen ausgelegten Büro hatte sie sich mehrere Pelzschals um den Hals gewickelt und somit das ton nenartige Aussehen ihrer Figur noch mehr verstärkt. Ihr Atem roch nach Gin, dessen stimulierende Wirkung ein maskenhaftes
Lächeln in ihr Gesicht geprägt hatte. Sie blickte Wellford an und fragte lachend: »Sie wollen wohl ihre Moneten zurückhaben, was?« »Ich heule ja schließlich nicht – oder hören Sie vielleicht et was?« »Dann sehen Sie sich mal Ihre Quittung an, mein Lieber. Ka renzzeit drei Tage früher oder drei Tage später!« Sie lachte heiser. »Sie verrechnen sich selten, wie?« fragte Wellford belustigt. »Oh, das kommt schon mal vor.« »Oder waren Sie auch einmal ein Heuler, hm?« »Ich?« Sie kicherte. »Ich habe im ganzen Leben noch nicht geheult, Liebling! Höchstens nach jener Nacht in Chelsea – mit diesem hübschen nichtsnutzigen Burschen. Er war nur leider kein Gentleman.« Ihr Gesicht wurde ernst. »Nun gut, ich war ein Heuler. Aber ich rede nicht darüber. Klar?« Sie stieß ein schnaufendes Lachen aus und sah Gregson düster an. »Wollen Sie 'ne Voraussage hören? Hören Sie ausnahmsweise umsonst. Ich an Ihrer Stelle würde mich noch nicht seßhaft machen. Eine Farm mit 'nem blinden alten Burschen ist nicht der ideale Aufenthalt, wenn das Heulerpäckchen schließlich geliefert wird …« Gregson bekam einen gelinden Schreck und blickte Wellford mißtrauisch an. Er hatte diesen Scherz sicher vorbereitet, aber es handelte sich um einen reichlich groben Scherz. Trotzdem lachte er, denn letzten Endes hatten sie einander noch derbere Streiche gespielt.
Die Besprechung am Montagmorgen begann offenbar mit Verspätung. Gregson und Wellford saßen in der dritten Reihe. Agenten aus den meisten Weltstädten der zivilisierten Nationen strömten in den Zuhörerraum. Wenige Minuten später erschien Radcliff auf der Bühne. Er blickte im Zuhörerraum herum, dann auf seine Uhr und schließlich auf Gregson. Er nickte ihm zu, blickte noch einmal herum und verschwand wieder. »Eine imposante Erscheinung, dieser Radcliff«, meinte Well ford. »Er hat Schultern wie ein Ringkämpfer«, gab Gregson zu. »Wenn ich jemals Heuler werden sollte, wie Lady Sheffing ton mir prophezeit hat, dann kann ich nur hoffen, daß ich es halb so gut überstehe wie unser Direktor.« »Radcliff – ein Ex-Heuler?« fragte Gregson skeptisch. »Natürlich. Wußten Sie das noch nicht? Einer von den ersten Barrierenüberspringern. Jahrgang 86, soviel ich weiß.« »Das wußte ich wirklich nicht«, murmelte Gregson. Der Engländer lachte. »Sie wundern sich so sehr über die Tatsache, daß unser Direktor ein Heuler war, wie ich über die Entdeckung, daß der Gouverneur von New York auch schon einmal durch die Isolierstation gegangen ist. Auch der Präsident von Italien gehörte diesem Verein einige Zeit an.« Gregson hatte das schon gewußt und sagte: »Eine Menge e hemaliger Heuler sind heute prominente Leute. Wir wissen ja schon, daß die Leute, die erfolgreich über die Barriere hinweg gesprungen sind, die besten Voraussetzungen für verantwor tungsvolle Posten haben.« »Stimmt«, sagte Wellford.
Gregson dachte an das, was Gouverneur Armister während seiner Wahlkampagne gesagt hatte: ›Es herrscht ein fürchterli ches Durcheinander. Leute, die wie ich gegen die Plage immun geworden sind, haben alle Voraussetzungen, in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens den ihnen gestellten Aufga ben gerecht zu werden!‹ Dann wieder, um an die Gefühle der Wähler zu appellieren: ›Wir haben diese ungeheure Zahl der von der Heulerplage heimgesuchten Menschen. Andererseits haben wir nur eine Handvoll Ex-Heuler. Wem leuchtet es da nicht ein, daß jene Leute, die erfolgreich die Barriere übersprungen haben, den anderen die Last der Verantwortung für die ganze zivilisierte Welt abnehmen?‹ »Ich habe ein paar Andeutungen gemacht«, drang Wellfords Stimme in Gregsons Überlegungen. »Vielleicht können Sie etwas damit anfangen und kommen zu dem gleichen Schluß wie ich.« »Das wächst mir alles über den Kopf«, sagte Gregson, zur Seite blickend. »Warum sollten Ex-Heuler die Hauptangriffsziele der sich aus Menschen und Valorianern zusammensetzenden Gruppen sein?« Gregson krauste die Stirn und murmelte: »Das wächst mir auch über den Kopf. Aber wenn die Valorianer auf Eroberun gen aus sind, können sie am besten Verwirrung stiften, wenn sie alle einflußreichen Leute vernichten, wo immer sie dieselben treffen.«
Der Zuhörerraum hatte sich schließlich gefüllt. Radcliff er schien wieder auf der Bühne und nahm hinter dem Rednerpult Aufstellung. Er begrüßte die Anwesenden und begann: »Unser Hiersein steht im Zeichen richtungweisender Erörterungen. Ich freue mich, sagen zu können, daß wir nunmehr die Mittel besitzen, um eine wirksame Kampagne gegen die Valorianer starten zu können. Wir wollen uns so kurz wie möglich fassen. Sie werden bereits einen Bericht über Gregsons Kontakt in Pennsylvanien erhalten haben. Anschließend werde ich ihn zwecks Befragung auf die Bühne bitten. Jeder kann ihm Fragen stellen – Fragen, die auch nur in irgendeiner Beziehung mit den Valorianern zu tun haben. Ich darf sagen, daß Gregson sehr viel zur Aufklärung des die Valorianer umgebenden Geheimnisses beigetragen hat. Er deutete beispielsweise an, daß die großen Städte, unsere Regierungszentren also, kaum die Orte sein dürften, in denen sich die Suche nach Valorianern lohnt, ob wohl sie gelegentlich auf ihren aggressiven Missionen auch hier auftauchen.« Hinter dem Vorhang hörte man ein Geräusch. Radcliff blick te befremdet über seine Schulter und räusperte sich. »Hören wir uns nun die Ausführungen eines anderen Agen ten an – Eric Friedmann aus Bayern. Friedmann?« Ein hochgewachsener Mann mit schmalem Kopf erschien auf der Bühne. »Da wir noch keinen Bericht von Ihnen haben«, sagte Rad cliff, »erzählen Sie so kurz wie möglich, was vorgefallen ist.« »Wir erhielten einen Bericht vom Lufttransport der ISB«, sagte der Mann mit sonorer Stimme. »Demzufolge wurde südlich von München ein Flugzeug mit einem Sonnenwappen
beobachtet, das offenbar schon gelandet war. Wir trafen recht zeitig ein, aber die Insassen fuhren leider schon mit einem Wagen davon. Wir verfolgten den Wagen. Er bog plötzlich von der Straße ab und fuhr quer über ein Feld. Wir wollten ihm folgen, aber das Feld war voller Baumstümpfe, und wir demo lierten unseren Wagen.« »Doch die Valorianer kamen ohne Schwierigkeiten über das Feld hinweg?« »Ja.« Eric Friedmann nahm Platz. Radcliff griff nach dem Wasserglas und trank einen Schluck. »Zurück zu Gregsons Erlebnissen in New York«, sagte er. »Sie alle kennen die Einzelheiten aus dem amtlichen Rundschreiben. Er kämpfte mit dem Fremden und stach sich dabei versehent lich mit der eigenen Injektionsnadel.« Er legte eine kurze Pause ein. »Gentlemen, ich nehme an, daß der von Friedmann ver folgte Wagen der Valorianer gar nicht von der Straße abbog. Friedmann bildete sich das nur ein. Und Gregson kämpfte auch nicht in der Seitengasse mit dem Fremden. Der Valorianer veranlaßte Gregson vielmehr, sich diesen ›Kampf‹ vorzustellen und sich selbst die Injektion zu verabreichen.« Überraschtes Gemurmel, und Wellford flüsterte: »Das ist doch kaum zu glauben!« »Sie sehen, Gentlemen«, fuhr Radcliff düster fort, »die Valo rianer sind mehr als Überredungskünstler. Sie arbeiten mit Halluzinationen und sind Experten auf dem Gebiet hypnoti scher Illusionen. Das Beispiel eines entflohenen valorianischen Gefangenen hat uns das gelehrt.« Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn und trank das ganze Wasserglas leer. »Warum die Valorianer hier sind«, fuhr er dann mit einer leiseren Stimme
fort, »wissen wir nicht und können nur Vermutungen anstellen. Natürlich planen sie, mit einem Minimum an Anstrengung, den Menschen die Zügel aus der Hand zu nehmen. Wir haben einigen Grund zu der Annahme, daß sie für unseren Nuklear krieg verantwortlich zeichnen.« Gregson zuckte zusammen. Hatte Helen etwas mit diesen Plänen zu tun? Er nahm sich vor, so bald wie möglich nach Pennsylvanien zurückzukehren. Radcliff schlug mit der Faust auf das Rednerpult. »Aber jetzt wissen wir, wie wir sie zu bekämpfen haben! Unsere Hauptstra tegie wird sie des Geheimnisses berauben, das ihnen gestattet, in ländlichen Bezirken unverdächtige Personen für die menschli chen und valorianischen Zellen zu rekrutieren, die uns vernich ten wollen!« Er starrte gedankenschwer auf die Zuhörerschaft. »Morgen, Gentlemen, wird die ganze Welt über alle Einzelhei ten informiert sein, die Sie jetzt erfahren. Und anschließend werden wir in unserem Kampf nicht mehr allein sein!« Wieder nahm seine Stimme einen sanfteren Tonfall an. »Ich sagte, daß einer unserer Valorianer geflohen war. Blieben noch zwei übrig. Einer ist heute hier – selbstverständlich in betäubtem Zustand, so daß er keine Gefahr ist.« Er machte ein Zeichen in Richtung der Kulissen. Die Vor hänge öffneten sich. Die Zuhörer sahen einen an einen Stuhl gefesselten Valorianer, dessen Kinn auf die Brust gesunken war. Radcliff riß den Kopf des Fremden hoch und fragte scharf: »Wo kommen Sie her?« »Vom valorianischen System.« »Wie kommt es, daß Sie sich wie ein Mensch benehmen können?«
»Beobachtung. Intensives Training. Chirurgie.« »Was verstehen Sie unter ›Heulern‹?« »Eine Krankheit von einem anderen System.« »Haben Sie diese Krankheit auf die Erde gebracht?« Nach längerem Zögern: »Ja.« »Ist diese Krankheit heilbar?« »Sie ist nicht heilbar. Sie nimmt ihren Lauf und endet von allein.« »Sind die Valorianer immun?« »Ja.« »Mit welchen Mitteln bewegen sie die Menschen, sich auf ihre Seite zu stellen?« »Durch hypnotische Beeinflussung.« »Weshalb sind die Valorianer hier?« »Das System der Erde und die Ordnung wird unter der Plage zusammenbrechen. Dann wird eure Welt nicht mehr existenz fähig sein.« Radcliff ging um den Stuhl herum und stellte sich hinter des sen Lehne auf. Gregson sah ihn eine Laserpistole aus der Rock tasche ziehen. Ein kurzes Zischen der Waffe war deutlich zu vernehmen, als der Laserstrahl sich in den Hinterkopf des Valorianers bohrte, dessen Kopf wieder nach vorn kippte. Dann ließ Radcliff seinen grimmigen Blick über die Zuhörer schweifen. »Das war eine kleine Demonstration«, gab er be kannt. »Ich will damit beweisen, daß sentimentale Gefühle fehl am Platz sind. Nur ein toter Valorianer ist harmlos.« Gregson spürte plötzlich einen harten Griff um seinen Arm, blickte zur Seite und sah, daß Wellford am ganzen Körper
zitterte. Die Augen des Engländers waren vor Angst geweitet, und seine Lippen bewegten sich heftig doch geräuschlos. Schließlich, als er seine Hände vor die Augen schlug, entrang sich der erste gellende Schrei seiner Kehle. Dann erfüllte er den Zuhörerraum mit einer ganzen Serie wilder Schreie. Gregson erwachte aus seiner Erstarrung und verabreichte Wellford die für Heuler bestimmte Injektion.
6 Die mißglückte Expedition des Weltraumschiffs ›Nina‹ hatte zur Folge, daß der Komplex: ›Die Fremden sind unter uns!‹ nahezu groteske Formen annahm. Vieles, was man bisher nur vermutet hatte, schien handfeste Formen angenommen zu haben. Trotzdem war niemand auf die Pressekonferenz vorbereitet, die an jenem Dienstag im alten Gebäude der Vereinten Natio nen stattfand. Vor den Fernsehkameras war die Hierarchie der ISB ver sammelt, angeführt von Direktor Radcliff, dem Kommandeur der Weltpolizei und den kommandierenden Offizieren des Nachrichtendienstes und der Weltraumabteilungen. Radcliff hielt ungefähr die gleiche Ansprache, die er während der Agentenbesprechung in London gehalten hatte. Das galt auch für Gregson und Friedmann. Dann befahl Radcliff, dem Gefangenen den Knebel aus dem
Mund zu nehmen. Der Mann fluchte einige Male, zerrte an seinen Fesseln und schrie: »Ihr verdammten Narren! Seht ihr denn nicht, was sie tun? Sie wollen euch alle in Ketten legen! Die Valorianer kön nen niemanden hypnotisieren! Sie –« Radcliff deutete mittels einer Kopfbewegung an, den Gefan genen wieder zu knebeln. Dann wandte er sich den Presseleuten zu. »Das ist die Gefahr, gegen die wir ankämpfen. Eine Macht, die uns in gefühllose Roboter verwandeln kann. Sie zerstört unseren Widerstandswillen. Sie degradiert uns zu einem geistund kritiklosen Werkzeug.« Als der Film mit dem Verhör des Valorianers während der Londoner Besprechung gezeigt wurde, kehrten Gregsons Ge danken noch einmal zu seinem Freund Wellford zurück, der in die Londoner Isolierstation am Hyde Park überführt worden war. Und er dachte auch an die Prophezeihung Lady Sheffing tons. Mit dem kurzen Zischen von Radcliffs Laserpistole endete der Film, und Gregson wunderte sich, daß der Direktor auch diese Szene vorgeführt hatte. Aber sie sollte offenbar einen Schlachtruf auslösen und war gewissermaßen als ›aufmunternder Zuruf‹ gedacht, der alle Menschen zum Kampf gegen die Valorianer ermutigen sollte. Ehe die Pressekonferenz noch beendet war, wurden von der Nachrichtenzentrale der ISB die ersten Reaktionen gemeldet. In Buenos Aires erkrankte eine Frau in dem Augenblick, als sie die Pressekonferenz auf dem Bildschirm im Fenster eines
Reviers der Weltpolizei beobachtete. Sofort richtete sich der Zorn der verstörten Argentinier auf einen schmächtigen, klei nen Mann mit olivfarbenem Teint und spärlichem Haarwuchs. Dieser Mann beteuerte vergeblich, kein Valorianer zu sein. In Monroe County, im Bundesstaat Pennsylvanien wurden spontan Suchkommandos zusammengestellt, die Haus um Haus durchstöberten. Einige Mitglieder dieses Selbstschutzver bandes hielten es für angebracht, die Wälder ›auszuräuchern‹. In Osaka legten einige Japaner wegen einer fehlerhaften Ü bersetzungsanlage die Pressekonferenz falsch aus. Sie glaubten, daß die Heulerplage nicht von den Valorianern ausgelöst wor den sei, sondern daß die Heuler Valorianer seien. Demzufolge ließen sie ihre Isolierstation in Flammen aufgehen. Nach der Pressekonferenz sagte Radcliff zu Gregson, er sei wegen dieser menschlichen ›Fehlzündung‹ nicht allzu besorgt. Die Pressekonferenz habe einen zu starken Eindruck vermittelt, aber es sei immerhin ein gutes Zeichen, daß man sich nunmehr zum aktiven Widerstand gegen die Valorianer entschlossen habe. Auch in New York hatte die Pressekonferenz unvorhergese hene Folgen. Tausende von Menschen hatten sich in der East Avenue und am Flußufer eingefunden. Sie waren entschlossen, die Zentrale zu bewachen, von der aus die Gegenoffensive gegen die Valorianer gelenkt wurde. Keinem Valorianer sollte die Möglichkeit eines Angriffs geboten werden. Diese Entwicklung vereinfachte Gregsons neue Pflichten als Verteidigungsoffizier des alten Gebäudes der Vereinten Natio nen. So hatte er Zeit, sich am Dienstag und Mittwoch fernsehte lefonisch mit Helen zu unterhalten. Er war nicht überrascht,
daß sie auswich, wenn er versuchte, die Pressekonferenz zur Sprache zu bringen. Und angesichts des bekümmerten Ausse hens des Mädchens verzichtete er auf weitere Fragen. Er wußte nicht, welch ein ›Stichwort‹ sie möglicherweise in eine tobende Verteidigerin der Fremden verwandeln könne. Am Mittwoch nachmittag flog Radcliff nach Montreal, wo eine Sondergruppe von Beamten einen Sabotagering zerschla gen hatte, in dem sich auch zwei Valorianer befanden. Vor seinem Abflug sagte er lächelnd zu Gregson: »Ich denke, wir halten die Burschen auf Trab. Dank Ihrer Erfahrungen wissen wir, wo sie zu suchen sind. Sie haben tatsächlich einen Urlaub verdient. Übertragen Sie Ihre Amtsgewalt einem Untergebenen. Melden Sie sich gelegentlich, aber kehren Sie nicht früher zurück, bis Sie sich wirklich ausgeruht haben.« Unter diesen Umständen traf er am Vorabend des Danksa gungstages auf Bill Forsythes Farm ein. Er war erstaunt, den Farmer unweit des Landeplatzes auf einem Traktor sitzen zu sehen. »Bist du es, Greg?« rief Forsythe, mit blinden Augen in Rich tung des Landeplatzes blickend. »Ja!« rief Gregson zurück, kam näher und sagte: »Warte, ich fahre uns zum Haus. Helen hat den Traktor für dich aufs Feld gefahren, wie?« »Das dachte ich mir! Nein, nein, Helen hat es nicht getan. Vielleicht bekomme ich nie einen Führerschein, aber kein Mensch kann mich hindern, auf meiner eigenen Farm herum zukutschieren. Steig auf!« Ein wenig mißtrauisch nahm Greg neben dem Fahrersitz
Platz und betrachtete Forsythes Gesicht. Stolz und Entschlos senheit standen in diesem Gesicht geschrieben, und das graue Haar darüber wehte trotzig im kalten Wind. Forsythe führte die meisten Arbeiten aus, die er auch vor dem Unfall verrichtet hatte. Er war anscheinend entschlossen, seiner Blindheit keiner lei Zugeständnisse zu machen. Er lenkte das Fahrzeug herum und fuhr in Richtung des Hauses, als könne er es deutlich sehen. »Valorianer, hm?« fragte er. »Dachte mir doch, daß es mit den Meldungen deines Bruders vom Weltraumschiff ›Nina‹ was auf sich hatte. Dachte wohl jeder. Aber wer hätte die Burschen hier vermutet?« »Dafür hatten die Fremden ihre Gründe, Bill.« Forsythe hob einen Arm und griff nach einem dünnen Kabel, das von einem Pfahl zum anderen gespannt war. So macht er das also, dachte Gregson. Wenn er von seinem Kurs abkam, brauchte er nur eine Hand in die Höhe zu halten, bis seine Finger das Kabel berührten … »Hätte mich gestern in der Nähe aufhalten sollen«, fuhr For sythe fort. »Bildeten in Stroudsburg eine Autoreihe. Fuhren hier herüber. Brannten Wilsons Jagdhütte und den ganzen Wald rundherum nieder.« Gregson hatte im Augenblick andere Sorgen; er sah, daß der Traktor sich dem Pfahl näherte, und hielt einen Zusammenstoß für unvermeidlich. Dann sah er in dem Kabel einen Knoten, gerade als Forsythes Hand ihn ertastet hatte. In diesem Augen blick bog er scharf rechts ab, hielt die Hand weiterhin hoch, bis seine Finger das nächste Kabel entdeckt hatten, das bis zum Haus führte.
»Wie geht's Helen?« erkundigte sich Gregson. »Weiß ich nicht genau. Zu ruhig. Und nervös auch. Viel leicht hat sie Angst wegen dieser Valorianergeschichte. Ich hörte sie die ganze Nacht herumlaufen.« Zehn Schritte vor der Hoftür hatte seine Hand einen weite ren Knoten erreicht. Er trat auf das Bremspedal. »Okay?« »Gute Arbeit«, sagte Gregson. »Du hast wohl schon eine lan ge Praxis hinter dir?« Forsythe ging nach dem Abendessen schon früh zu Bett, wäh rend Gregson in dem offenen Herdfeuer stocherte und dann mit einem Glas Brandy davor Platz nahm. Helen beschäftigte sich in der Küche mit den Vorbereitungen für das Festmahl des folgenden Tages. Später nahm Helen neben ihm auf der Couch Platz, und der Feuerschein verwandelte ihr blondes Haar in einen Heiligen schein. Gregson stand auf, stellte sein Brandyglas auf den Tisch und öffnete das Injektionsetui. Er tat es unauffällig und für den Fall, daß sie eine beruhigende Injektion nötig hatte. Er konnte eine Konfrontation nicht länger hinauszögern. Sie starrte eine Weile in die Flammen und sagte plötzlich: »Ich denke gerade an die Sabotagegruppe in der Jagdhütte, Greg. Du hast bei jener Razzia nicht alle Mitglieder entdeckt. Da war noch jemand – versteckt auf dem Dachboden. Er sollte Wache halten, während Kavorba schlief. Er –« »Kavorba?« »Kavorba war der valorianische Leiter der Gruppe. Der Mann in der Dachkammer hielt sich weiterhin dort versteckt,
als die Beamten angriffen. Später – als er Pennsylvanien verließ – sagte er, Kavorba habe in deiner Gegenwart über mich ge sprochen. Du mußtest also wissen, daß auch ich eine Angehöri ge der Gruppe war.« Plötzlich schluchzte sie, und Gregson wußte, daß er auf eine beruhigende Injektion verzichten konnte. Er gab ihr einen Schluck Brandy zu trinken, und sie berichtete, wie die Valoria ner vor einem Monat mit ihr Kontakt aufgenommen hatten, wie Enos Cromley und der Valorianer sie unter Druck gesetzt hatten, um durch sie mehr von Gregson zu erfahren. Cromley war regelmäßig an Forsythes Farm vorbeigekom men und hatte sich mit ihr auf dem Hof oder dem Feld unter halten. Sie fand seine Theorie: ›Die Fremden sind unter uns‹ belustigend und hatte sogar gelacht, als er behauptete, daß die Sicherheitsbehörde die einzige Institution sei, die die Valorianer hindere, der Erde zu helfen. Und Gregson befinde sich in Ge fahr, weil er für die ISB arbeite. »Ich wußte damals nicht«, erklärte sie, noch immer zitternd, »daß sie durch mich mit dir Kontakt aufnehmen wollten. Ich nehme an, sie wollten jemanden von der Sicherheitsbehörde unter Druck setzen.« »Wo ist dir dieser Valorianer begegnet?« Helen war in das Waldstück hinter der Farm gegangen und hatte Cromley und Kavorba getroffen. Cromley hatte sie letzt lich davon überzeugen können, daß sein Begleiter ein Valoria ner sei. »Er konnte so überzeugend reden … Vieles von dem, was er sagte, verstand ich nicht richtig. Aber es klang so aufrichtig. Dabei kam er mir so müde und hilflos vor …«
»Was sagte er zu dir?« »Daß sie die Erde retten wollten.« Schon wieder der Rettungstrick! »Vor den Heulern?« Sie nickte. »Aber noch eher vor der Sicherheitsbehörde – be vor die Behörde sie vernichten könne – und uns dazu.« »Du hast ihm geglaubt?« »Oh, Greg! Ich wußte es nicht. Erst seit gestern weiß ich es. Die Fernsehübertragung der Pressekonferenz hat mir begreif lich gemacht, daß sie im Grunde nur Verwirrung stiften wollen. Kavorba sagte mir sogar, daß die Heulerpest keine Krankheit ist, sondern nur eine andere Form der Wahrnehmung.« »Ein – was?« »Ein sechster Sinn. Eine neue Art, die Dinge zu sehen. Er sagte, die Heulerpest sei etwas, das jeder durchmachen müsse.« »Und du hast nicht daran gedacht, daß alles Lüge sein könn te?« Sie schüttelte den Kopf. »Er sagte mir, was ich dachte. Er konnte Gedanken lesen. Aber ich wußte nicht, daß er mich Dinge sehen ließ, die in Wirklichkeit überhaupt nicht existier ten.« Sie begann wieder zu schluchzen, und Gregson goß ihr ein neues Glas Brandy ein und nahm sie in seine Arme, bis sie sich wieder beruhigt hatte. »Du sagst, sie wollten mit mir Kontakt aufnehmen?« »Ja. Sie brauchen Büropersonal.« »Und du wolltest mich ihnen ausliefern?« »Ich dachte dabei an dich, nicht an sie. Denn sie überzeugten mich davon, daß sie die ISB zerstören würden. Was sie auch tun – sie wollen angeblich nur die Welt retten.« »Und dann wolltest du mich den Valorianern übergeben?«
Wieder nickte sie. »Onkel Bills Zehennagel war die erste Ge legenheit dazu.« »Du wußtest, daß er in Wirklichkeit gar kein Heuler gewor den war?« »Ja, das stimmt. Seine Schmerzensschreie und seine Flüche waren anders als die Darbietung eines Heulers. So rief ich dich dann an. Kavorba wollte am Tag deines Eintreffens mit dir Verbindung aufnehmen. Aber ich dachte nicht an die Möglich keit, daß dir alles schon bekannt sein könne.« Sie nahm ihren Kopf von seiner Schulter und blickte zu ihm auf. Er sagte: »Darum wolltest du mich plötzlich heiraten, He len?« »O nein, das war nicht der Grund! Das haben sie mir nicht eingeredet. Aber als sie mir von der Gefahr erzählten, in der du angeblich schwebtest, habe ich meinen Entschluß nur ein wenig vorverlegt.« Sie starrte in das langsam verglühende Feuer. »Und dann sagtest du am letzten Freitag, es gäbe noch etwas anderes … Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Außerdem hatte ich den Eindruck, daß du der ISB so treu ergeben bist, daß du deinen Dienst niemals quittieren wirst.« »Es gab keine andere und gibt keine andere«, sagte er, ihre Schulter umfassend. »Jetzt weiß ich es. Die Fernsehübertragung hat alles aufge klärt. Die Valorianer haben mich getäuscht. Ich weiß auch, wie wichtig deine Arbeit ist.« Er hüllte sich in Schweigen und ließ sie glauben, daß sein Pflichtgefühl die einzige Barriere zwischen ihnen sei. Er redete sich sogar ein, daß die über ihm schwebende Heulerdrohung
nicht existierte. »Hast du irgend etwas herausgefunden?« fragte er. »Viel leicht etwas über die weiteren Pläne der Valorianer?« »Ich weiß nur, daß sie ihre Position festigen wollen. Oh, da gibt es natürlich noch die aggressiven Gruppen, die über Waf fen verfügen, so daß sie die Außenposten der Sicherheitsbehör de angreifen können. Aber der Rest ist organisatorisch noch im Aufbau begriffen.« Es war offensichtlich, daß Helen, obwohl ihre Erfahrungen mit der Geheimgruppe begrenzt waren, dennoch wichtige Informationen bezüglich der Pläne der Valorianer liefern konnte. Aber wie sollte er diese Informationen der Dienststelle zuleiten, ohne Helen in diese Angelegenheit zu verwickeln?« »Vielleicht kommt die Behörde früher oder später doch auf mich zurück«, sagte sie. »Vielleicht auch nicht. Wir machen immer mehr und mehr Gefangene, können aber nicht alle ausfragen.« »Wenn sie mich holen, werde ich bereit sein«, sagte sie leise. Aber sie werden nicht kommen, dachte Gregson. Und wenn er Radcliff alles erklärte, würde dieser Mann Verständnis haben. Als Gregson am nächsten Morgen in die Küche geschlendert kam, roch es ungemein appetitlich. Helen war, im Kontrast zu gestern abend, in strahlender Laune. Sie fuchtelte mit einem Kochlöffel vor seinem Gesicht herum und sagte: »Spätaufsteher bekommen kein Frühstück!« Er stand in Türnähe, eingehüllt in die Wärme der Küche, und blickte auf die in der Sonne glitzernde Neuschneedecke. Helen breitete eine Decke über den Tisch und summte dabei
einen Schlager. Er hatte sie schon lange nicht mehr so glücklich gesehen. Nach dem Frühstück fragte Helen im scherzenden Tonfall: »Möchtest du mal meinen angefangenen Schneemann bewun dern? Er steht hinter der Scheune. Wärst du ein Frühaufsteher, hättest du mir helfen können.« Sie gingen hinaus. Der Schneemann war eine grotesk ausse hende Konstruktion. Während Gregson ihn betrachtete, flog ihm ein Schneeball ins Genick, und als er sich umdrehte, warf Helen gerade den nächsten. Er rannte hinter ihr her. Sie bückte sich lachend und raffte wieder eine Handvoll Schnee zusam men. Doch ehe sie den Schnee ballen konnte, hatte er ihr einen Schubs versetzt und sie in eine Schneeverwehung geworfen. Aus der Bewegung heraus stolperte er und stürzte auf sie. Er hielt ihren sich windenden Körper fest. Sie lachte und warf den Kopf von einer Seite zur anderen. Schneekristalle funkelten in ihrem Haar. Die Sonne floß über ihr Gesicht und vertiefte das Azur blau ihrer Augen. Ihre Zähne, entblößt hinter feuchten Lippen, waren faszinierend in ihrem reinen Weiß. Sie lag jetzt still unter ihm, die Frivolität war aus ihrem Gesicht verschwunden. Als er sie küßte, hatte er noch immer ihre Handgelenke umklammert. Da wurde ihm klar, daß es nicht seine Absicht gewesen war, eine derartige Situation herbeizuführen. Er richtete sich auf, fuhr mit der Hand durch sein Haar und sagte: »Ich –« Aber er hatte keine Gelegenheit mehr, diesen Gedanken in Worte zu kleiden. Die Sonne selbst schien in seinem Schädel zu explodieren. Es war ein furchtbarer reißender Schmerz, der jedes Neuron sprengte und jede Zellwand zerfetzte. Einmal hörte er deutlich seine eigenen heiseren Schreckens-
und Schmerzensschreie. Er wußte nun, daß dieses nicht nur ein sporadischer Anfall war; das war vielmehr die Heulerpest in ihrer letzten und alles vernichtenden Angriffsphase. Er spürte nur den feinen Stich der Injektionsnadel, aber die gnadenlosen Höllenqualen wüteten unvermindert weiter.
ZWISCHENSPIEL
Auf einem Hintergrund galaktischer Brillanz schwebte das valorianische Beobachtungsschiff ›Starfarer‹ im interstellaren Raum. Seine endlosen Korridore und Abteilungen waren in Dunkel getaucht. Es war eine Dunkelheit, die nur von den thermoionischen Ausstrahlungen der verschiedenen Kontroll instrumente unterbrochen wurde. War an Bord des Schiffs zufällig ein Licht zu sehen, so han delte es sich um ein Nebenprodukt des raultronischen Prozes ses, so wie Geräusche die Folgen arbeitender Maschinen waren. Glühende oder fluoreszierende Leuchtkörper wären im Raum schiff der Valorianer so überflüssig gewesen wie die Installation lärmverursachender Apparaturen im menschlichen Lebensbe reich. Das dachte Lanurk, der Leiter der Mission, als er über den blanken Fußboden seiner Konferenzkabine schritt. Er horchte auf die Raultgeneratoren – ›Lichtwerfer‹ wäre die angemessene menschliche Bezeichnung gewesen, denn der
Mensch verfügt nur über fünf armselige Sinne. Die großen Dynamos arbeiteten, um das ›Stygum‹ zurückzuhalten – eine ›Art von metaphysischer Dunkelheit‹ hätte der Mensch es möglicherweise genannt. Doch hier, in dieser Raumposition war das ›Stygumbra‹ – und wie sollte man das einem Erdmen schen erklären? – von einer schrecklichen Intensität, und La nurk war besorgt. Ja, wie konnte man einem Menschen erklären, was Stygum bra für eine Bedeutung hatte? Da mußte man diesem Menschen erst einmal Chandeen schildern, jene großartige Konzentration kosmischer Kräfte im galaktischen Zentrum. Man konnte sagen, daß Chandeen all das natürliche Rault überstrahlte, das Zylphen möglich machte. Und man konnte ihm anschließend etwas über das Stygumfeld in der Nähe des galaktischen Zen trums erzählen – eine Gegenkraft, die alle Strahlungen blockier te und sie in eine undurchdringliche ›Raultlosigkeit‹ schleuder te, die dahinter lag und bis zum Rand der Galaxis vorstieß. Weiter konnte man sagen, daß in der erhabenen ›Stygumbra‹ niemand zylphen konnte – nicht einmal ein Valorianer. Lanurk war stolz darauf, etwas in Worte gekleidet zu haben, das ein Erdmensch möglicherweise verstehen konnte. Dann beschäftigte er sich wieder mit anderen Problemen. Hier, am äußersten Rand des Stygumbra, löste die Furcht ein fast spürbares Zittern seines Herzens aus. Er konnte sich vor stellen, daß einem Erdmenschen ähnlich zumute sein mußte, wenn dieser am Rand eines tiefen Abgrunds auf dem Boden einer nur schwach erhellten Höhle stand. Chandeen spendete Lanurk wenig Trost, denn Chandeen stieg wie eine Raultexplo sion der Zuversicht über die Kante des krebsartigen Stygumfel
des. Das Stygum war so dicht, daß er kaum die Gehirntätigkeit von Evaller und Fuscan zylphen konnte, die die strategische Konferenz erwarteten. Er konnte ja kaum bis zum Rumpf des Sternenschiffes zylphen. Sie mußten weiter in das Stygumbra hineingetrieben sein! ›Nein, Lanurk‹, zylphte er Evallers Gedanken, ›der Anker hält. Aber wir müssen die Raultgeneratoren drosseln, um eine Überhitzung zu vermeiden …‹ Lanurk wußte, daß mit den Dynamos etwas nicht stimmte. Die Spulen waren überhitzt wegen der ständigen Spitzenge schwindigkeit und Hochleistung. Besorgt gab er Anweisung, sich aus dem Stygumbra zurückzuziehen. Das Antriebssystem begann zu hämmern, das Schiff setzte sich in raschere Bewegung. Lanurk nahm am oberen Tischende Platz und sagte münd lich: »Wir können zylphen, daß unsere Expedition nicht gut verlaufen ist. Wir haben von allen kein Wort mehr gehört. Es ist klar, daß mit ihrem Verbindungssystem etwas nicht stimmt …« »Vielleicht sollten wir eine weitere Gruppe losschicken«, schlug Fuscan vor. Lanurk hatte unbewußt in eine der Mikrostrukturen auf der Tischoberfläche gezylpht, fasziniert von einigen Molekülen der Holzsubstanz, die ein leichter Luftzug gelöst hatte. Er fuhr mündlich fort: »Nein, ich glaube nicht, daß wir die sen Wilden eine weitere Gruppe preisgeben sollten – jedenfalls nicht im Augenblick.« »Sollen wir versuchen, eine Umlaufbahn um ihre Welt einzu schlagen?« fragte Evaller.
»Großer raultbeschirmender Chandeen – nein!« flüsterte Fuscan. Lanurks Ansichten stimmten mit denen von Fuscan überein. »Es wäre Wahnsinn, das Schiff in dieses infernalische Stygum bra zu schicken. Vielleicht sollten wir eine weitere Transforma tion in Erwägung ziehen.« »Das braucht seine Zeit«, führte Evaller aus. »Training, Sprechunterricht, Fingerspitzenchirurgie und –« Hätte Lanurk sich nicht auf die Unterhaltung konzentriert, würde er zweifellos Schwierigkeiten gezylpht haben. Doch wie die Dinge lagen, hatte es keine Warnung gegeben. Im nächsten Augenblick waren alle Raultgeneratoren ausgefallen. In der unerträglichen Raultlosigkeit wurde Lanurk von einer tiefgreifenden Furcht befallen.
7 Die heulenden Schreie waren eine brutale Attacke, die das Hirn versengten, die Seele zerrissen und den Geist hart am Rande des Wahnsinns entlangtrieben. Für Gregson war es eine einzige Kette von Terror, die nur von einer – ach, so seltenen – Injekti on unterbrochen wurde, ein wenig Erleichterung brachte. Die Feuer waren weder leuchtend noch weißglühend, aber sie blendeten die Sinne mit einem feurigen Licht, das man weder in Wellenlängen noch in Größen messen konnte. Es war, als habe sich sein Gehirn einen Spaltbreit geöffnet,
und in diesen Spalt drangen alle Schmerzen und Halluzinatio nen, die ein aus den Fugen geratenes Universum jemals hervor gebracht hatte. Manchmal schien sich sein ganzes Sein aufzulö sen und in unbekannte Dimensionen zu treiben, während die fernen Sterne wie glühende Kohlen im Gewebe seiner Seele brannten. Sein Geist schien durch fremde Bezirke zu wandern; er hörte seltsame Geräusche, die an Summtöne erinnerten. Einmal war er lange genug bei Bewußtsein, um sich nach der Zeit erkundigen zu können. Die Mitteilung der Schwester, daß seit seiner Erkrankung über ein Jahr vergangen sei, schleuderte ihn wieder in den Abgrund der Verzweiflung. Bald sah er, daß es auch sein Schicksal war, die Ängste der anderen Heuler zu teilen. Ja, es gab Zeiten, in denen seine Leiden die der anderen noch zu absorbieren schienen. Jedes Gesicht in der Isolierstation war grotesk verzerrt, so als blicke er in die Spiegel eines Lachkabinetts. Seine Schmerzen und seine Hilflosigkeit nahmen derartige Formen an, daß er sich mit Selbstmordgedanken beschäftigte. Denn gab es in dieser Hölle noch einen anderen Ausweg? Es gelang ihm, die Fesseln abzustreifen, die ihn im Bett fest hielten. Er wälzte sich aus dem Bett, blieb eine Weile auf dem Fußboden liegen und richtete sich mühselig auf. Dann stand er zitternd da und wußte nicht mehr, wie er sich vom Fleck bewe gen sollte. Plötzlich erfaßte ihn ein Schwindelgefühl. Er klam merte sich an den Bettpfosten und würgte qualvoll. Dann stieß er sich ab, taumelte, konnte sich im letzten Augenblick abfan gen und setzte unter Aufbietung aller Energie einen Fuß vor den anderen. Das nächste Fenster schien unendlich weit ent fernt zu sein, obwohl er es sehen konnte.
Er schwankte von einem Bettpfosten zum nächsten. Das Fen ster rückte näher. Eine Ewigkeit später war er nur noch wenige Schritte vom Fenster entfernt. Aber er war zu erschöpft, um diese Schritte ohne Pause zurückzulegen. Um ihn herum heise re Heulerschreie, ein furchtbarer Chor, der ihn wieder ansporn te. Vernünftig klingende Rufe, die warnen wollten. Dann eilten Schritte den Mittelgang entlang und holten rasch auf. Da wußte Gregson, daß der Pfleger zurückgekehrt war. Aber es waren nicht seine Selbstmordgedanken, die ihn zu äußerster Kraftan strengung antrieben, sondern er fürchtete sich noch mehr vor dem Schicksal, wieder in diese schreckliche halluzinatorische Welt der Heulpest zurückkehren zu müssen. Die Station wirbel te um ihn herum. Alle Betten mit den darin liegenden Heuler patienten schienen sich hinter ihm herzuschieben. Er hörte die furchtbaren Schreie, brüllte selbst, legte die letzten Schritte zurück und warf sich durch das Fenster … Aber er hatte nicht gewußt, daß die Station sich im Erdge schoß befand und er – kaum aus dem Fenster hinaus – im weichen Gestrüpp landen würde. Als er wieder zu Bewußtsein kam, war es Winter. Er konnte durch die gleiche Fensterscheibe die kahlen Äste eines Baumes mit Pulverschnee darauf sehen. Gregson war auch in einen neuen Flügel verlegt worden, der der Monroe-Isolierstation angegliedert worden war. »Greg!« Die besorgt und sanft klingende Stimme war inmitten der Schreie kaum zu hören.
Er wandte den Kopf und sah Helen. Sie versuchte tapfer, ihre Besorgnis zu verbergen. Doch ihre Anwesenheit, ihre Haltung, ihr gesundes, sonnengebräuntes Aussehen, all das erinnerte Gregson höhnisch an sein eigenes verschwendetes Leben. »Du wirst es schon scharfen, Greg!« sagte sie, seine Schulter berührend. »Wir werden warten, Greg. Bill ist auch optimistisch und überzeugt, daß du durchkommen wirst.« Er wollte antworten, stellte aber fest, daß monatelanges Schreien seine Kehle stimmlos zurückgelassen hatte. Und ein neuer Krampf schüttelte ihn. Er kniff die Augen zusammen und spannte seinen Körper an, um Helen seinen erbärmlichen Zustand nach Möglichkeit nicht zu zeigen. Aber rasselnde Laute entrangen sich seiner Kehle, als sich die feurigen Lavaströme in sein Gehirn ergossen. Er stürzte in die Welt der Trugbilder und Halluzinationen zurück, verlor sich in den grotesken Formen seiner Phantasiegebilde. Und doch spürte er irgendwie, daß Helen weggeführt wurde. Er wußte es, ohne zu sehen oder zu hören. Denn seine Augen waren noch immer geschlossen, und seine Ohren hörten nur das Schreien der anderen Heuler. Plötzlich sah er einen blitzenden Gegenstand auf sich zu kommen, der ihn zunächst mit Furcht und dann mit Erleichte rung erfüllte. Er erkannte die Injektionsspritze und begrüßte den Einstich in seinen Oberarm. Anfang Februar 1999 war er drei Stunden bei Bewußtsein und hatte keinen Anfall. Am 25. und 27. Februar konnte er einen ganzen Abend klar denken. Anfang März blieb seinem Gehirn die Qual einen ganzen Tag erspart, und Ende des Mo nats konnte er auf drei anfallfreie Tage zurückblicken. Am nächsten Morgen fragte der Stationsaufseher, ob er eine
andere Umgebung wünsche. Gregson konnte ihn nur fassungslos anstarren. »Es geht Ihnen schon besser«, sagte der Mann. »Aber gesund bin ich noch nicht«, stieß Gregson hervor. »Bei uns gibt es keine endgültige Genesung. Ihre Rückkehr ins normale Leben ist einzig und allein von Ihrer Willenskraft abhängig. Sie haben eine beachtliche Energie. Wir haben die Injektionen stark eingeschränkt. Sie werden mit den meisten Anfällen allein fertig.« Die neue Station war kleiner. Durch das breite Fenster konn te er sehen, wie sehr sich die Station vergrößert hatte. Doch über den Feldern dahinter war Frühling. Hier gab es keine Schreie, auch keine Injektionen. Jeder Patient brütete vor sich hin und wehrte sich allein und ohne Schmerzensschreie gegen die Attacken. Gregson erinnerte sich, daß die Mehrzahl aller Patienten in diesem Zustand Selbstmord verübten. Und er konnte sich denken, warum. Ein Leben, in dem man stets mit einem neuen, wenn auch seltener gewordenen Anfall rechnen mußte, konnte man kaum als lebenswert bezeichnen. Im Juni wurde er plötzlich entlassen. Helen holte ihn ab und half ihm in den Wagen. Bald war die Isolierstation hinter den Bergen verschwunden. Sie fuhren in Richtung von Forsythes Farm. Um ihn abzulenken, sprach Helen über alle möglichen Din ge, aber Gregson war nur darauf bedacht, in ihrer Gegenwart keinen Anfall zu bekommen, und dazu war wiederum Konzen tration erforderlich. Auf der Farm war Forsythe ihm beim Aussteigen behilflich
und führte ihn ins Haus. Helen kochte Kaffee. Gregson ließ sich in einen Sessel fallen und spürte die scharfen Spitzen seiner Knie und Ellenbogen. »Ich komme mir so fehl am Platz vor«, sagte er erschöpft. »So, als wäre ich auf der Stelle stehengeblieben, während die Welt sich indessen zwei Jahre weitergedreht hat …« »Wir werden dich wieder neu orientieren«, versicherte ihm Forsythe. »In der Isolierstation hat uns niemand erzählt, was draußen in der Welt vorgeht. Ich denke, ich muß eine Menge dazuler nen.« »Eine ganze Menge. Aber alles zu seiner Zeit.« »Was ist mit den Valorianern?« »Pa! Alles vorbei – fast vorbei. Wenigstens darüber brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen.« Alles vorbei! dachte Gregson. Verschwunden wie durch eine Handbewegung. Natürlich sind zwei Jahre eine lange Zeit. »Hat fast ein Jahr gedauert«, fuhr Forsythe fort und starrte blind geradeaus. »Haben sie aber ausgerodet. Oh, ein paar Gruppen sind noch übriggeblieben. Doch wenn ein Kopf aus dem Versteck auftaucht, schlagen wir zu.« Helen brachte den Kaffee. Sie mußte Gregsons Tasse umrüh ren, denn seine zitternde Hand konnte nicht den Löffel halten. »Andererseits haben wir das Problem der wirtschaftlichen Situation«, sagte Forsythe. »Nach der Vernichtung der Valoria ner hat die Sicherheitsbehörde dieses neue Forschungsprojekt in Angriff genommen und –« »Ich glaube nicht, daß Greg gern die Leidensgeschichte der Welt hören möchte«, unterbrach ihn Helen leichthin.
»Ein neues Forschungsprojekt?« fragte Gregson teilnahms los. »Die Heuler.« Gregson sank entmutigt in seinen Sessel zurück. Helen wußte, daß ihr Onkel zu vorlaut gewesen war; aber sie konnte ihn nicht daran hindern, ohne es ihm zu sagen. »Und die Sicherheitsbehörde«, fuhr Forsythe unbeschwert fort, »ist ganz aufgeregt. Die Leute glauben nämlich, daß es sich doch um ein organisches Leiden handelt, aber um einen Zu stand, der von irgendeiner Strahlung im Sonnensystem ausge löst wird. Eine Strahlung, die einen direkten Einfluß auf das Gemüt hat.« »Bill«, sagte Helen und sah, daß auf Gregsons Stirn Schweiß perlen erschienen. »Bill, ich glaube, ich habe die Herdplatte nicht ausgeschaltet. Sei so gut und sieh mal nach.« »Hm? Was? O ja, natürlich, natürlich.« Er schlurfte lachend hinaus. Anscheinend war er überzeugt, daß die beiden nur gern allein sein wollten. Doch Gregson wußte, was gespielt wurde, und diese Er kenntnis brachte ihn hart an den Rand eines Anfalls. Helen kniete vor ihm nieder und nahm seine Hände in die ihren. »Alles wird wieder so sein wie vor zwei Jahren, mein Liebling«, sagte sie. »Und es wird noch besser sein.« Er blickte auf sie herab und schöpfte aus ihrer Aufrichtigkeit neue Zuversicht. Bis Mitte Juli war Helen eine sich aufopfernde Pflegerin. Sie ließ sich nicht durch sein gelegentliches Schweigen entmutigen, wenn er seine Energiereserven mobilisierte, um den nächsten
Anfall abzuwenden. Gewiß, die Anfälle kamen, aber nicht mehr so häufig. Sie kamen meistens vor dem Einschlafen oder nach dem Erwachen. Von Forsythe sah er merkwürdigerweise nicht viel. Er dirigierte seine beiden Hilfskräfte, hielt sich aber sonst abseits und nahm sogar seine Mahlzeiten in seinem Zimmer ein. Zunächst hatte Gregson von Bills Vorliebe für die Einsamkeit kaum Notiz genommen, doch als er sich wieder kräftiger zu fühlen begann, hatte er den Eindruck, daß auch Helen unter irgendeiner Spannung zu stehen schien. Während eines Spa ziergangs kam er darauf zu sprechen. Sie gingen den gleichen Weg, den sie vor fast zwei Jahren eingeschlagen hatten. Und unter dem Baum, an dessen Stamm Helen gelehnt hatte, kam er ohne Umschweife auf das Thema zu sprechen. Was ist denn mit Bill los? Ich habe den Eindruck, daß er sich in seiner eigenen Gesellschaft am wohlsten fühlt.« Er glaubte, ein unschlüssiges Flackern in ihren Augen zu se hen. Dann lächelte sie und sagte: »Mit Bill ist alles in Ordnung. Vielleicht ärgert er sich ein wenig. Ich habe ihm gesagt, er soll dir nicht vor den Füßen herumstehen.« Doch Gregson wurde nicht den Eindruck los, daß Helen ihm etwas verschwieg. »Ich bin nicht mehr der kleine Junge, dem man Sand in die Augen wirft. Dreißig Pfund habe ich während der vergangenen sechs Wochen zugenommen. Seit vier Wochen hatte ich keinen Anfall mehr. Ich kann sogar darüber sprechen. Mit anderen Worten, du brauchst nichts mehr vor mir zu verbergen.« Er hatte den Eindruck, als wolle sie ihm etwas verraten; aber dann lachte sie einfach und sagte: »Das einzige, was ich vor dir
verberge, ist ein Plumpudding mit Rumsoße!« Sie lehnte sich an den Baumstamm, wie sie das vor langer Zeit getan hatte, und die Wärme dieses Julisamstags legte einen besonders sanften Schimmer in ihre Augen. Er war nicht mehr so schwach und hohläugig wie beim Verlassen der Isolierstati on. Doch als er sie küßte, antwortete sie nur kühl und drehte fast gleichzeitig den Kopf zur Seite. »Wieder einmal ist es umgekehrt«, stellte er verwundert fest. »Vor zwei Jahren warst du einverstanden – genau an dieser Stelle.« »Und du warst dagegen«, murmelte sie. »Und jetzt bist du wieder an der Reihe?« Sie nagte an ihrer Oberlippe und nickte. »Das begreife ich nicht«, sagte er. »Schließlich kehre ich nicht mehr zur ISB zurück …« »Nicht nur deine Arbeit stand zwischen uns, Greg. Du erin nerst dich doch an Philip, nicht wahr?« Er konnte es nicht verleugnen. Ihre Augen blickten in die Ferne. »Zuerst gab es Philip, dann dich. Und jetzt –« »Und jetzt?« Sie zuckte die Achseln. »Ich möchte diese Chance nicht wahrnehmen, Greg.« »Aber ich habe die Barriere übersprungen!« »Und ich nicht. Wenn ich nun von dieser Pest befallen werde – muß das nicht schrecklich für die Kinder sein? Oder werden sich meine eigenen Kinder in meinen Armen zu Tode schrei en?« Er konnte weder gegen die Logik noch gegen die Gefühle ein Argument anführen.
Der Luftgleiter schwebte über die Hecke, schoß noch einmal kurz nach oben und senkte sich auf das Landezeichen. Helen freute sich über diese Unterbrechung. »Besuch! Komm, laufen wir um die Wette!« Er war stolz auf die Tatsache, daß er sie bei diesem Wettlauf einwandfrei schlug. Neben dem Luftgleiter stand ein hagerer junger Mann. Er trug die Armbinde der ISB-Sanitätsabteilung. »Sind Sie Arthur Gregson?« fragte der Arzt. Und als Gregson nickte: »Wie fühlen Sie sich? Alles in Ordnung, würde ich sagen. Ihre Lungen scheinen tadellos zu funktionieren. Ich habe Sie laufen sehen. Mein Name ist übrigens Horace Miles.« Gregson stellte ihm Helen vor und fragte: »Sind Sie dienst lich hier?« »Nachbehandlung. Aber nach allem, was ich beobachtet habe … Haben Sie noch Schwierigkeiten?« »Seit über einem Monat nicht mehr. Warum?« »Hmhm!« Miles begleitete sie zum Haus. »Entlassung vor sechs Wochen, keinen Rückschlag seit vier Wochen. So gut wie vollkommen gesund, möchte sich sagen. Radcliff wird sich darüber freuen.« »Ich habe nicht die Absicht, wieder in den Dienstbetrieb zu rückzukehren.« »Natürlich nicht«, sagte Miles. »Sie haben während der er sten Offensiven gegen die Valorianer Überdurchschnittliches geleistet. Radcliff läßt Ihnen folgendes mitteilen: Die Arbeit, die Sie – und nur Sie – tun können, ist jetzt wichtiger als das, was Sie schon geleistet haben.« »Was ist es?« »Das kann ich leider nicht sagen. Ich bin nur ein Mediziner,
dem man eine Nachricht anvertraut hat. Doch ich hörte sagen, daß man Sie braucht, um der Heulerplage ein Ende zu setzen. Radcliff erwartet Sie jedenfalls am Montag in seinem Büro.« Eine Stunde später, als Miles sich verabschiedet hatte, sagte Helen betrübt: »Ich nehme an, daß du am Montag abreisen wirst …« »Ich wäre nicht mit menschlicher Neugier ausgestattet, wenn ich es nicht tun würde. Und könnte ich nur einen einzigen Menschen vor dem bewahren, was ich durchgemacht habe, so ist das die Anstrengung wert.« Helen blickte dem Luftgleiter des Arztes nach und betrachte te dann ihre Hände. »Ich wollte es dir nicht sagen, aber wenn du dich übermorgen verabschieden willst, dann ist es wohl besser –« Er griff nach ihren Schultern. »Was ist es, Helen?« »Ich weiß, weshalb Onkel Bill so schweigsam ist und am lieb sten mit sich allein ist. Ich habe in seinem Zimmer mehrere Fläschchen mit Beruhigungsmitteln gefunden. –« »Du meinst –?« »Ja, die Heulerpest streckt die Krallen nach ihm aus. Er spürt es, aber er verliert kein Wort darüber.«
8
Erst am Sonntagabend und weil er am Montagmorgen abreisen mußte, beschloß Gregson, mit Forsythe ein Wort unter vier Augen zu reden. Kein Zweifel, daß Bill versuchte, die Krankheit abzuschüt teln. Gregson hatte ihn an jenem Morgen durch das Küchenfen ster beobachtet. Forsythe lehnte sich gegen die Scheune, schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu zittern. Es war offen sichtlich, daß in seinem Gehirn alle Feuer der Hölle tobten. Den ganzen Tag hatte Gregson überlegt, wie er dieses Pro blem am besten und unaufdringlichsten zur Sprache bringen könne. Am späten Abend führte Helen ihn in Forsythes Schlaf zimmer. Sie knipste die Nachttischlampe an und zog vorsichtig einen Ärmel von Forsythes Nachthemd hoch. »Siehst du das, Greg?« Gregson sah die vielen roten Punkte in Forsythes Oberarm muskel. »Er gibt sich schon seit Wochen schmerzlindernde Injektio nen«, erklärte sie. Forsythe erwachte. »Greg? Helen?« »Ja, Bill – Helen und ich sind hier.« »Nun, dann wißt ihr alles … Ich hätte es wohl kaum länger verbergen können.« »Ich rufe die Ambulanz.« »Nicht früher, bis ich schreie und nicht mehr aufhören kann. Bis jetzt bin ich über die Runden gekommen.« »Das dachte ich auch einmal«, sagte Gregson. »Aber bei mei
nem siebenten Anfall stürzte das Dach endgültig ein.« »Sieben? Teufel, ich hatte siebzig und halte mich immer noch.« Forsythe setzte sich auf die Bettkante. »Man muß anund abschalten können, bevor man weiß, was das alles bedeu tet.« »Und was ist das?« »Helen hat es uns gesagt. Vor zwei Jahren. Ein sechster Sinn.« »Das habe ich nicht gesagt«, protestierte Helen. »Ich sagte lediglich, daß ein ›sechster Sinn‹ einer der Tricks war, mit denen Kavorba mich verwirrte.« »Und ich glaube nicht, daß er dich nur verwirren wollte. Er wollte dir nur begreiflich machen, was die Heuler wirklich sind.« »Und was sind sie?« fragte Gregson. »Ich würde sagen, sie sind etwas Natürliches – eine neue Form der Wahrnehmung.« Gregson fragte sich ernsthaft, ob Forsythes Verstand nicht schon allzusehr in Mitleidenschaft gezogen worden war. »Teufel noch mal«, fuhr Forsythe fort, »die Sicherheitsbe hörde hat doch selbst zugegeben, daß es sich um eine Krankheit handelt, die von einer Strahlung aus dem Raum ausgelöst wird.« »Aber eine Strahlenbombardierung des Gehirns dürfte kaum etwas mit einer ›neuen Form der Wahrnehmung‹ zu tun ha ben.« Forsythe lachte trocken. »Wahrnehmungen gehen schließlich noch immer von den Sinnesorganen aus!« Gregson sah ein, daß alles, was der alte Mann sagte, mit Vor sicht zu genießen war. Denn Forsythe war offenbar fest davon
überzeugt, daß die Heulerpest etwas war, dem man sich anpas sen konnte. Helen setzte sich und sagte zu ihm: »Glaubst du, du würdest das alles nur wegen dem mitmachen, was mir der Valorianer vor zwei Jahren erzählte?« Forsythe schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe meine persön lichen Ansichten. Denke einmal an eine Welt, die nie das Licht gekannt hat, obwohl deren Bewohner Augen haben. Nehmen wir einmal den Fall von Mister X. Er ist bisher mit vier Sinnen durchs Leben gegangen. Plötzlich kommt er um eine Ecke, und jemand leuchtet ihm mit einem Scheinwerfer ins Gesicht. Was wird dann passieren?« »Ich – ich weiß es nicht«, stammelte Helen. »Vermutlich wird er einen Schreck bekommen.« »Und was für einen Schreck! Er muß erst lernen, seine Au gen vor diesem fremden grellen Etwas zu schließen – sonst wird er wahnsinnig, stirbt vor Angst oder bringt sich um.« Gregson griff nach dem Bettpfosten und sagte: »Wir interes sieren uns nicht für deine Version dieser Krankheit, Bill. Wir sind nur daran interessiert, daß du die notwendige Pflege bekommst.« »Das stimmt, Bill«, fügte Helen ernst hinzu. »Aber ich werde es überstehen! Ich brauche nur ein wenig Zeit zum Lernen. Begreifst du das nicht? Ich kann mir schon jetzt viele Dinge erklären!« Helen schüttelte den Kopf. »Du willst alles gewaltsam in ver nünftige Bahnen lenken und redest dir ein, daß alles nicht so schlimm ist.« Forsythe schnaufte wütend. »Ich bin noch lange nicht reif für
den Psychiater, junge Dame. Und was sind, abgesehen von den Höllenqualen, die Hauptsymptome eines Heuleranfalls?« Er beantwortete seine Frage selbst: »Halluzinationen! Und ist es nicht merkwürdig, daß man früher oder später den Eindruck hat, es handelt sich bei diesen Halluzinationen um groteske, verzerrte Darstellungen der Dinge um einen herum?« »Ich werde die Station anrufen, Bill«, sagte Gregson. »Aber begreifst du denn nicht? Wenn es sich um eine neue Form der Wahrnehmungen handelt, dann muß es doch so sein! Zuerst kann man seine Umgebung mit diesem neuen Sinn nicht wahrnehmen. Nehmen wir doch mal eine blinde Person, die plötzlich Sterne sieht. Oder einen Wasserfall. Sie muß erst einmal das Aussehen eines Wasserfalls kennenlernen.« Gregson sah keine Möglichkeit, ihn zu beruhigen. »Ich kann dir sagen, wie der sechste Sinn aussieht«, fuhr For sythe eifrig fort. »Sieh dir deine Hände an. Du siehst alle mögli chen Linien, Falten und Härchen. Das ist wesentlich mehr, als du fühlen kannst.« Gregson betrachtete seine Hände – nicht weil er Forsythe verstand, sondern weil er ihm einen Gefallen tun wollte. Denn er wußte nun, daß Forsythe unbedingt eine neue Form der Wahrnehmung annehmen wollte; er brauchte einen ausglei chenden Sinn für seine Blindheit. »Wenn wir diesen sechsten Sinn deuten können«, sagte For sythe, »dann können wir möglicherweise tief in die Gedanken bezirke der anderen Menschen ›sehen‹!« Helen stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. »Und man könnte auch in die Zukunft sehen«, fuhr Forsythe fast verzweifelt fort. »Greg, sagtest du nicht einmal, daß eine
Frau in London dir deine Anfälle prophezeit hat?« »So ungefähr. Aber das trifft wohl besser für meinen Freund Wellford zu.« »Und könnte das nicht bedeuten, daß sie den ›sechsten Sinn‹ hat, ohne es zu wissen?« Gregson wußte, daß Forsythe seine ganze Theorie auf diesem einen Zufall aufgebaut hatte. »Bill, du hast alle Chancen, einer von tausend Menschen zu sein, die die Heulerpest überleben. Ich konnte auch die ersten Anfälle niederzwingen. Und ich bin jetzt über dem Berg. Wir bringen dich in die Station und –« »Ihr könnt mich nur dann hinbringen, wenn ich buchstäb lich schreie und um mich schlage«, beharrte Forsythe. Später am Abend, als Helen in der Küche für Gregson einen Kaffee aufbrühte, fragte sie: »Was sollen wir tun, Greg?« »Weiß ich nicht. Ich würde mich schließlich auch nicht in die Isolierstation schleppen lassen, wenn mir nicht danach zumute ist.« »Aber er glaubt doch, den sechsten Sinn zu haben!« »Er klammert sich nur an diesen Gedanken.« »Wirst du morgen nach New York fliegen?« »Ich muß es tun.« »Und was soll ich inzwischen machen?« »Halte dich in Bills Nähe auf, bis ich wieder zurück bin.« »Wie lange wird das dauern?« »Bestimmt nicht lange. Ich teile der Sicherheitsbehörde nur mit, daß ich nicht mehr auf meinen Platz zurückkehre – egal, wie mein zukünftiger Job aussieht.«
Gregson hielt sich im Vorzimmer des Büros von Direktor Weldon Radcliff auf. Er sah durch das Fenster. New York schien sich während seiner zweijährigen Abwesenheit kaum verändert zu haben. Auch der Wiederaufbau hatte nur unwesentliche Fortschritte gemacht. Die Gebäude, die im Jahre 1997 ausgebrannt und eingestürzt waren, sahen heute nicht viel besser aus. Unten auf der Straße sah man weniger Menschen und weniger Fahrzeuge; statt dessen hörte man um so mehr Sirenen – ein unheilvoller Unterton, der an die überall lauernden Schrecken erinnerte. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Ecke East Avenue – 42. Straße; dort kam eine Marschkolonne in Sicht. Ein paar Leute trugen Plakate mit großen Buchstaben. Gregson konnte die Worte selbst aus dieser Entfernung lesen: ›Die Sicherheitsbehörde beutet uns aus! Die Sicherheitsbehörde reißt die staatliche Macht an sich! Milliarden verschwendet – keine Heulerkur! Warum eine Weltpolizei ohne Fremdendrohung! Löst die ISB auf! Zuerst die Nation!‹ Gregson sah einen Armeelastwagen halten. Eine Abteilung US-Miliz stieg aus. Die Soldaten waren recht schlampig geklei det, und ihre Erscheinung stand im krassen Gegensatz zu den tadellosen Uniformen der Polizeibeamten, die das Gebäude bewachten. Jetzt setzten sie Gasmasken auf und begannen Tränengasbomben zu werfen. Anschließend befahlen sie den Demonstranten, auf den Lastwagen zu steigen. Eine ältere Sekretärin rief Gregson auf und führte ihn ins Bü ro des Direktors. Radcliff saß massig hinter seinem Schreibtisch und unter schrieb in rascher Folge Formulare.
Gregson trat näher. Er war nicht auf den dumpfen Knall vor bereitet, als die Sekretärin hinter ihm die Tür zuschlug. In der nächsten Sekunde spürte er wieder die wahnsinnigen Schmer zen, raffte sich aber sofort zusammen und blockierte die Qualen dieser Attacke. Radcliff blickte lächelnd auf. »Machen Sie Miss Ashley kei nen Vorwurf«, sagte er. »Das war nur ein Test. Und Ihre Selbst beherrschung scheint ausgezeichnet zu sein.« »Danke«, sagte Gregson. »Das hatte mir wirklich noch ge fehlt.« Radcliff kam um den Schreibtisch herum und streckte Greg son die Hand entgegen. »Willkommen in der alten Mühle! Wir haben eine Menge Arbeit für Sie.« »Tut mir leid, aber mich interessiert in erster Linie ein ruhi ges Leben.« »Ich denke, Sie werden es sich überlegen. Nehmen Sie doch Platz.« Gregson setzte sich und fragte: »Haben Sie etwas von Well ford gehört?« »Dem englischen Agenten? Der noch vor Ihnen von der Heulerpest befallen wurde? Er wurde vor einem halben Jahr aus der Isolierstation entlassen.« Dann hatte Ken es also auch geschafft! »Wo ist er jetzt? Ich möchte gern wieder mit ihm Verbindung aufnehmen.« »Wenn Sie das wollen, dann müssen Sie schon mit schwerer Artillerie anrücken. Eine der noch existierenden Valorianer gruppen hat ihn in Beschlag genommen. Vor vier Monaten, glaube ich.«
Gregson schüttelte befremdet den Kopf. »Nicht Wellford!« »Leider ist es so. Wir haben dadurch herausfinden können, daß die Fremden Ex-Heuler bevorzugen – dann brauchen Sie nicht zu fürchten, daß ihre Marionetten krank werden.« »Aber ich dachte, die Bedrohung durch die Valorianer sei zu Ende?« »Praktisch ist sie auch zu Ende. Oh, es gibt hier und da noch ein paar Gruppen. Aber immer, wenn wir eine Gruppe umzin gelt haben, lösen die anderen sich rasch auf. Jetzt werden wir eine neue Taktik anwenden. Wir landen den großen Schlag und räuchern alle auf einmal aus, sobald uns deren Lage bekannt ist.« »Aber zunächst holen Sie natürlich Wellford zurück.« »Wir arbeiten an diesem Unternehmen, ja.« »Da würde ich allerdings gern mitmachen.« »Wir brauchen Sie für eine wichtigere Aufgabe.« Radcliff leg te eine Pause ein und sagte: »Greg, ich denke, wir haben die Lösung.« »Beruht sie auf der Annahme, daß es sich um eine Raum strahlung handelt?« Der Direktor nickte. Er griff in eine Schublade und legte ein kleines Metallkästchen mit einem einfachen Knopf und einer eingelassenen roten Birne auf die Tischplatte. »Dies«, sagte er, »sollte die Lösung sein. Man muß sich diese Apparatur nur bedeutend größer vorstellen.« Gregson beugte sich neugierig vor. »Was ist das?« fragte er. »Ein Abfanggerät. Es kann, wenn auch nur in einem kleinen Bereich, die Strahlung abfangen, die während der verflossenen sechzehn Jahre beinahe unsere gesamte Zivilisation vernichte
te.« Radcliff drehte an dem Knopf, und die rote Birne warf einen milden Schein in den Raum.« »Ich spüre nichts«, sagte Gregson. »Natürlich nicht. Aber – nun ja, Sie werden sehen.« Er drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch. Die Fen stervorhänge schlossen sich, und aus der Wand zur Linken leuchtete plötzlich der Lichtschein eines Projektors. Gregson sah eine Szene aus dem Krankensaal einer Isolier station. Radcliff drehte am Knopf des Lautverstärkers, und schon war das Büro von den qualvollen Schreien der Patienten erfüllt, die an ihre Betten gefesselt waren. Dann erschien der Direktor selbst auf der Leinwand und brachte das gleiche Metallkästchen zum Vorschein, das jetzt auf dem Schreibtisch lag. Er drehte am Knopf. Die rote Birne glühte auf. Alle Patienten in den nächsten Betten hörten sofort zu schreien auf – als habe sich ein Vorhang gesenkt, der sie von ihren Qualen trennte. Sie starrten verwundert Radcliff an, der an den Betten vorbeiging. Sie wunderten sich genauso wie Gregson in diesem Augenblick. Es war unglaublich! Also gab es doch eine Möglichkeit, die entsetzlichen Schreie zu mildern. Radcliff ging weiter den Mittelgang entlang. Es war, als ob er von einer Aura der Ruhe umgeben wäre, die alle Schmerzen um ihn herum linderte. Doch hinter ihm wanden die Patienten sich wieder in ihren Qualen. Der Direktor schaltete den Projektor ab. »Nun, was sagen Sie dazu?« Gregson dachte an seine zweijährige Isolierung, an Forsythe
und die vielen Millionen, die den gleichen Qualen ausgesetzt waren. »Das ist gewaltig! Das sollten alle erfahren!« Radcliff lachte. »Damit die Leute über uns herfallen? Außer dem haben wir nur eine Handvoll von diesen Abfanggeräten. Und wir haben sie noch nicht in jeder Beziehung getestet.« Gregson beugte sich wieder über den Schreibtisch. »Was soll ich tun? Wie kann ich helfen?« »Sie waren doch diensthabender Projektingenieur an Bord der Vega-Startbasis, nicht wahr?« »Bis wir diese Basis aufgaben; dann wurde ich zur ISB ver setzt.« »Sie sind der einzige Mann, Greg, der sich in allen Systemen der Startbasis auskennt. Und die Vega-Startbasis ist sehr wichtig für unsere Pläne.« »Was hat die VSB damit zu tun?« »Wir wollen ein Superabfanggerät konstruieren – mit einer Reichweite von Tausenden von Meilen. Die Generatoren müs sen wir irgendwo im Raum installieren. Wir haben schon die Raumfahrtabteilung mit der Ausarbeitung der genauen Pläne beauftragt.« »Und die VSB –?« »Die ist doch schon oben, Greg. Wir müssen die Station nur umbauen beziehungsweise erweitern, damit das Superabfangge rät Platz hat und voll zur Wirkung kommt. Dann werden wir in der Lage sein, alle Strahlungen auszulöschen, die die Heulerpest auslösen. Sind Sie auf unsrer Seite, Greg?« »Ich könnte morgen reisefertig sein. Teufel, ich könnte noch heute starten!« Radcliff grinste. »Ich habe mit dieser Antwort gerechnet. A
ber so leid es mir tut, Sie können nicht schon morgen oder übermorgen starten.« Er kritzelte etwas auf einen Block, riß das Blatt ab und gab es Greg. »Morgen werden Sie sich bei dieser Adresse in Paris melden. Wir haben in Paris ein Kontrollzen trum für die Operation VSB eingerichtet. Dort wird man Sie auf Ihre weiteren Qualifikationen hin testen. Dann wird man Sie nach Versailles zu einer Spezialausbildung schicken.« »Ich brauche keine Spezialausbildung. Ich kenne mich in dem System gründlich aus. Ich habe schließlich drei Jahre an Bord der Vega-Startbasis gelebt.« »Ihre Ausbildung wird mit der Strahlung zu tun haben, die wir abfangen wollen. Zweiundzwanzigtausend Meilen draußen wird diese Strahlung entsprechend stärker sein. Wenn Sie nicht hundertprozentig in Form sind, kann es möglich sein, daß Ihre Schreikrämpfe noch einmal von vorn beginnen.«
9 Die Transportmaschine der ISB flog über den Bois de Vincen nes hinweg in Richtung des neuen Flughafens Orly. Es war Gregsons erster Blick auf Paris seit dem Nuklearkrieg im Jahre 1995. Der größte Teil des Westens war der Zerstörung entgan gen, aber die von den Raketen zurückgelassenen Spuren waren nicht zu übersehen. Der Nordosten, jenseits des Montmartre, war ein schwarzge branntes Gelände, das ein nuklearer Sprengkopf verursacht
hatte. Obwohl der Hügel jetzt beinahe flach war, hatte er die Stadt vor der völligen Vernichtung bewahrt. Vieles vom Bois de Vincennes existierte nicht mehr. Eine Reihe Kraterseen, von der Seine gespeist, hatten weite Gebiete des Waldes eingenommen. Die Maschine setzte auf einem mit Unkraut bewachsenen Landestreifen auf und rollte auf ein scheunenartiges Gebäude zu, dessen Dach mit Teerpappe ausgelegt war. Ein handgemal tes Schild mit den Buchstaben: ›Division de l'Aérotransportati on – Bureau de la Sûreté – Paris‹ hing über der Tür. Gregson stieg aus und ging mit den anderen Passagieren auf das Gebäude zu. In der schlichten Halle entdeckte er eine leere Fernsehtelefonzelle. ›Nur Ton, kein Bild‹ war auf einer Tafel zu lesen. Er ließ sich zunächst mit der Sicherheitsbehörde und dann mit Forsythes Farm verbinden. Dann hörte er die Stimme von Helen und sagte, er habe sie von New York aus leider nicht anrufen können, weil die Lei tung gestört gewesen sei. Als er ihr erzählte, daß er sich in Paris aufhalte, war sie gleichermaßen verwundert und enttäuscht. »Es war nicht anders möglich«, sagte er entschuldigend. »Es handelt sich um einen Auftrag, den nur ich allein erledigen kann. Jedenfalls ist das Direktor Radcliffs Meinung.« »Das habe ich schon kommen sehen«, murmelte sie. »Die Einzelheiten kann ich dir nicht erklären, aber« – er dämpfte seine Stimme – »vielleicht wird in wenigen Wochen das Gebäude abgerissen, in dem ich die letzten zwei Jahre verbracht habe.« »Oh, Greg! Wirklich?« »Ich rufe dich bei der nächstbesten Gelegenheit wieder an.
Übrigens – wie geht es Bill?« »Noch immer so stur wie ein Maulesel.« »Rede ihm nicht allzu eifrig zu, was die Isolierstation betrifft. Ich habe es zwei Monate draußen ausgehalten. Hoffentlich hält er es noch ein wenig länger aus.« Rue de la Sérénité 17, die Adresse auf Gregsons Zettel, war ein altes, doch guterhaltenes Appartementgebäude in der Nähe des Arc de Triomphe und der Avenue Foch. Es stand hinter einem eisernen Zaun war achtunddreißig Stockwerke hoch und blickte gönnerhaft auf die schattige Straße und den Hof herab. Gregson zahlte, stieg aus dem Taxi und ging zögernd auf das wuchtige Tor zu. »Sie wünschen, Monsieur?« fragte der Hausmeister. »Mein Name ist Gregson – Arthur Gregson.« »Ah, Monsieur Gregson. Madame Carnot finden Sie im ach ten Stock.« »Miss Karen Rakaar sollte mich hier erwarten.« »Gewiß. Einstweilen erwartet Sie Madame Carnot.« Der Mann deutete auf einen winzigen Lift, der von dem schnecken artigen Gewinde der Treppe umschlossen war. Daß Rue de la Sérénité 17 kein Appartementgebäude war, sah Gregson ein, als der Lift nach oben schwebte. Der zweite Stock war eine Art große Halle; der dritte und vierte Stock waren in gläserne Kabinen aufgeteilt; die nächsten beiden Stockwerke schienen Wohnungen zu sein, wie die Plüschläufer in den schmalen Korridoren verrieten. Im siebenten Stock saßen ein paar Leute vor großen Schaltta feln. In der Mitte des Raumes drehte sich ein von innen er
leuchteter Globus, dessen Achse vom Fußboden bis zur Decke reichte. Der Äquator rund herum war ein steifer, durchsichtiger Kragen, auf dessen Rand – über dem Ozean – ein leuchtender Punkt mit der Flagge ›VSB‹ zu sehen war. Es war die gleiche Kontrollvorrichtung, die die Operationen der Vega-Startbasis gelenkt hatte. Während der Lift weiterschwebte, dachte Gregson über das Geheimnis nach, das diese Operation umgab. Warum versteck te man eine Bodenkontrollzentrale hinter der Fassade eines Appartementgebäudes? Dann kam ihm der Gedanke, daß man das Superfanggerät in hermetischer Abgeschlossenheit entwik keln mußte, um einer demoralisierten Welt keine falschen Hoffnungen zu machen. An einem Tag noch die schrecklichen Schreie, am nächsten Tag möglicherweise Ruhe und Frieden. Oben stieg er aus und stand in einem Flur, der in ein luxuriös ausgestattetes Wohnzimmer führte. Der angenehme Geruch tropischer Gewächse schwebte in der Luft. Die dicken Teppiche verschluckten jedes Geräusch. »Treten Sie ein, Monsieur Gregson!« Die Stimme kam durch die französischen Fenster des Dach gartens, dessen mit Fliesen ausgelegte Terrasse in der Sonne glitzerte. Er trat in einen wahren Dschungel kostbarer Urwald gewächse hinaus und sah eine Frau auf einer mit Satin bezoge nen Chaiselongue sitzen. Sie hatte ihre unaufhörlich zitternden Finger gekrümmt, und ihr dünnes weißes Haar zeichnete sich lediglich durch seine Spärlichkeit aus. »O ja, Monsieur«, sagte sie, als habe sie seine Gedanken erra ten, »ich bin tatsächlich eine Greisin.« In dieser Feststellung schwang kein Bedauern mit.
»Aber warum sollte ich mich beklagen? Sie sehen kein Bild der Schwäche, sondern eines der Stärke. Denn ich bin die mächtigste Frau der ganzen Welt.« Sie sagte es mit einer Art kindischer Eitelkeit. Er beobachtete sie wachsam. Eine alte Frau, senil und alters schwach? Oder ein wenig mehr als das? Zweimal schien sie genau gewußt zu haben, was er dachte. Sie lachte. »Sogar noch mehr. Ich weiß sogar, was Sie noch denken werden. Monsieur Forsythe kam der Wahrheit sehr nahe.« Verwundert griff er nach ihren Armen. Doch zum Sprechen hatte er keine Gelegenheit, denn plötzlich erschien, hinter einem Pflanzenkübel hervortretend, ein Beamter der Weltpoli zei mit einem Lasergewehr. In dem gegenüberliegenden Dach garten erschienen zwei bewaffnete Männer von der Sicherheits behörde. Gregson ließ die Arme der Frau los, und die drei Bewacher zogen sich wieder in den Hintergrund zurück. Madame Carnot deutete auf einen Sessel. »Nehmen Sie Platz. Mademoiselle Rakaar wird gleich kommen.« Gregson konnte die Frau nur anstarren. Sie kannte seine Ge danken! Woher hätte sie sonst etwas über Bill Forsythe wissen sollen? Und weshalb war Forsythe der Wahrheit sehr nahe gewesen? Bill hatte die Heulerpest mit ›Gedankensehen‹ vergli chen und … »Aber nein, Monsieur von ›Sehen‹ hat er doch nichts gesagt – oder?« »Trotzdem hatte er recht«, murmelte Gregson verblüfft. Denn demonstrierte diese zerbrechliche kindische Frau nicht das, was Bill gesagt hatte?
Madame Carnot lachte und entblößte dabei ihre gelblichen Zähne. »Voilà! Sie haben Ihre eigene Frage beantwortet.« »Waren Sie auch einmal an der Heulerpest erkrankt?« Sie nickte und machte ein düsteres Gesicht. »Ja, vor langer Zeit. Das, Monsieur, haben wir gemeinsam. Und Sie sind nun zu uns gekommen, um zu lernen, welche Kräfte Ihnen zur Verfügung stehen. Gut, ich will Ihnen etwas verraten, während wir auf Mademoiselle Rakaar warten. Zunächst, Monsieur, wollen wir unsere Gehirne dem feurigen Licht öffnen. Dann werden Sie vielleicht begreifen, daß unser alter Freund nicht so verrückt ist, wie Sie glauben.« Er konnte die Frau nur anstarren. »Können Sie bewußt die blinde Dunkelheit anrufen, die brausende Stille?« Sie lachte. »Erst wenn Sie das gelernt haben, werden Sie zylphen können.« Zylphen? Dieses Wort kam ihm bekannt vor. Er mußte es schon einmal gehört haben, wußte aber nicht, in welch einer Verbindung. Madame Carnot schloß die Augen. »Sehr gut … Weil Sie so gut wie nichts wissen, will ich Sie führen. Bilden wir uns ein, daß unser Gehirn Augen hat. Und nun öffnen wir langsam diese Augen …« Abrupt begannen die unsichtbaren Flammen zu züngeln. Er schreckte zurück. »Wir haben keine Furcht«, ermutigte ihn die Frau. »Das Feu er tut uns nicht weh. Nein, Monsieur, es ist etwas, wonach wir uns sehnen – so wie die Motte vom Licht angezogen wird. Überlassen wir uns ganz der milden Strahlung und gewöhnen
uns an deren Weichheit.« Gregson hatte die Augen geschlossen und verlor sich in be fremdenden Empfindungen. Es war, als gleite er durch ein unendliches Feuer, das jedoch eine kühle Ausstrahlung hatte. Es gab weder Schrecken noch Ängste. Die Empfindungen waren nicht optischer Natur und hatten auch nichts mit Licht zu tun. »Nein, kein Licht«, sagte die Frau. »Etwas mehr als Licht. Ei ne Hypervision. Im Augenblick zylphen wir nur die Superstrah lung. Doch nun wollen wir uns diesen Eindrücken in noch stärkerem Maße überlassen …« Das unendliche Meer des Lichts begann sich zu drehen und ging in Wallung über, wobei es seltsame Dinge formte. Doch nichts war von Bestand, alles zerfloß ständig und bildete sich neu. Waren das die Formen, in denen er während seiner Krankheit halluzinatorische Erscheinungen gesehen hatte? »Das sind die Dinge um Sie herum, Monsieur«, flüsterte die Frau. »Sie kennen sie nicht, können Sie nicht kennen, weil Sie diese Objekte noch nie gezylpht haben. Sie haben sie nur gese hen oder gehört. Hat Monsieur Forsythe nicht gesagt, daß eine blinde Person, die plötzlich sehen kann, viele Dinge nicht erkennen würde?« »Woher wissen Sie, was Bill gesagt hat?« fragte Gregson. »Was er sagte oder dachte, hat sich in Ihrem Gehirn einge prägt. Und das Hyperlicht kann solche Spuren sichtbar machen. Auch jetzt zylphe ich, daß sich Ihre Aufmerksamkeit auf eine massige Form konzentriert. Sie möchten wissen, was es ist? Konzentrieren Sie sich stärker, Monsieur. Sie müssen es in seiner Gesamtheit zylphen! Sie müssen wissen, was es bedeu
tet!« Und dann wußte er es! Es war der Arc de Triomphe, der in den sonnigen Pariser Himmel hineinragte und nur wenige Blocks entfernt war. Plötzlich, mit explosiver Gewalt, erkannte er fast alles, was man mit diesem gewaltigen Monument in Zusammenhang bringen konnte: seine Masse, sein Gewicht, die genaue Anzahl der Steine. Und er konnte sogar das radspeichenartige Muster des Straßengefüges erkennen. »Ach, Monsieur lernt schnell«, sagte die Frau. In Gregsons Wahrnehmungsbezirk entstand eine riesige, ver schwommene Silhouette, in der er Madame Carnot erkannte. Die Verzerrung sah in hohem Maße phantastisch aus, und er sah ihre Habgier und Böswilligkeit, als seien es Attribute, die untrennbar mit ihrem Hyperimage verbunden waren. »Nun gut«, sagte die Frau. »Monsieur kennt nun den Sinn des Zylphens – nicht wahr?« Ihre Worte klangen klar, aber er spürte die lebhaften Gedan ken dahinter, spürte ihre Belustigung über die Tatsache, daß er sie hypervisuell studierte. Der ganze Eindruck, den er von ihr gewann, schien ihre Gedanken und Ansichten zu widerspiegeln. »Sehr gut«, fügte sie hinzu, und er spürte deutlich das Unheil in ihren Worten. »Vielleicht können wir – wie er es in seinem Dialekt nennen würde – ein wenig Licht auf den Gegenstand werfen.« Obwohl er die Augen noch immer geschlossen hatte, wußte er, daß Madame Carnots Hand unter die gesteppte Chaise longuedecke glitt und nach etwas griff. Dann zuckte die fürch terlichste Helligkeit durch sein Hirn, die er jemals wahrge
nommen hatte, und überschwemmte all seine Sinne mit einer übernatürlichen Brillanz. Einer der Wächter auf dem gegenüberliegenden Dach schrie etwas und senkte sein Gewehr. Unten auf der Straße kündeten schrille Schreie an, daß jemand von einem Heulkrampf befallen worden war. Die wenig später aufheulende Sirene war der Beweis. Gregsons Bewußtsein schien sich instinktiv abzukapseln; er öffnete die Augen und starrte die grinsende Madame Carnot an. Neben ihr stand ein schlankes brünettes Mädchen, das die Arme in die Hüften gestemmt hatte und Madame Carnot wütend zusammenstauchte. Madame Carnot grinste weiter und sprach: »Ich habe mir nur einen harmlosen Scherz erlaubt und unsern Kandidaten mit dem Raultwerfer geprüft.« »Und?« fauchte das Mädchen. »Ich prophezeie, daß Radcliff bedauern wird, ihn angewor ben zu haben.« »Sind Sie sicher?« »Bien sûr – ganz sicher. – »Sie können sich irren.« Madame Carnot hob eine skelettartige Hand. »Das ist mög lich«, sagte sie, »aber diese Möglichkeit ist sehr gering.« »Aber Radcliff nimmt das Risiko in Kauf.« »Das war unvermeidlich.« Damit legte die alte Frau sich auf der Couch zurück und sagte: »Ich bin restlos erschöpft …« Sie schien sofort in tiefen Schlaf zu fallen. Das Mädchen wandte sich dem noch immer verstört drein
blickenden Gregson zu. Ihr Gesicht war, wie er bemerkte, auffallend schön – haselnußbraune Augen und brünettes Haar, das ihr sanft über die Schultern fiel; volle Lippen verzogen sich zu einem angenehmen Lächeln. »Ich bin Karen Rakaar«, sagte sie. »Ich werde in Versailles Ihre Lehrerin sein. Sie müssen Madame Carnot verzeihen. Sie ist manchmal sehr kindisch in ihrer Senilität. Sie hat nämlich ihren eigenen Tod vorausgesehen und glaubte, Sie würden in irgendeiner Weise damit in Verbindung stehen.« Gregson bemühte sich, das heftige Hämmern in seinem Kopf auszuschalten. Er dachte daran, daß Forsythe einmal gesagt hatte: ›… mit dieser neuen Art der Wahrnehmung müßte man in die Zukunft sehen können.‹ Hatte die alte Frau ihren Tod auf diese Weise vorausgesehen? Karen Rakaar griff unter die Decke der Chaiselongue und nahm ein Metallkästchen hervor, das Radcliff als Abfanggerät bezeichnet hatte. Der einzige Unterschied war, daß es keine rote, sondern eine grüne Birne über dem Knopf hatte. Sie stellte das Kästchen auf den Tisch. »Ist das dieser Apparat, der –?« Er zog eine schmerzliche Grimasse und legte eine Hand auf seine Stirn. »– die Schreie mit ihrer ganzen Wucht zurückbringt?« Sie lachte, wenn auch ohne Spott. »Ja. Radcliff hat Ihnen schon einen Raultfänger vorgestellt. Dies ist ein Raultwerfer.« Sie nahm neben Gregson Aufstellung, hüllte ihn in ein Par füm ein, das herausfordernd weiblich war, und begann mit ihren schlanken Fingern seine Schläfen zu massieren, bis der Schmerz verschwunden war. »Rault?« wiederholte er.
»Rault in seiner natürlichen Form«, antwortete sie, »ist die Hyperstrahlung, welche die Heulersymptome auslöst. Ein Raultwerfer ist ein Apparat, der eine künstliche Strahlung erzeugt, und ein Raultfänger hebt die Wirkung wieder auf.« Ihre Stimme war sanft wie das Rascheln weicher Seide, aber sie hatte einen Klang, der tiefe Gefühle verriet. »Der Werfer und der Fänger – sind das valorianische Erfin dungen?« fragte er. »Sie wurden der valorianischen Technologie entnommen.« »Zu welchem Zweck verwenden sie die Fremden?« »Die Werfer? So wie man eine Taschenlampe benutzt – um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Die Fänger? Um das Rault abzudämpfen. Sie benutzen beide Instrumente, um uns zu verwirren und zu erschrecken.« Gregson dachte an den Valorianer, den er in New York ge jagt hatte. Der Fremde war zunächst über alles gestolpert und hatte dann ein Exempel seiner übernatürlichen Fähigkeiten statuiert, indem er auf seinem Fluchtweg drei Personen mit Schreikrämpfen zurückließ und Gregson selbst einen schweren Anfall bescherte. Hatte er mitten in der Flucht einen Raultwer fer angeschaltet, um seinen Weg in die Sicherheit besser ›zylphen‹ zu können? Zylphen? Natürlich, das war das von dem Valorianer benutz te Wort in der Jagdhütte gewesen, bevor die Polizeibeamten ihn im Laserstrahl hatten! Und Gregson erinnerte sich auch, daß sein Milliarden von Meilen entfernter Bruder ihm dieses Wort auf telepathischem Wege übermittelt hatte. Lebte Manuel noch irgendwo? War er ein Gefangener der Fremden? »Dann sind die Valorianer auch hypersensitiv?« fragte er.
»Außerordentlich.« »Warum verbirgt die Behörde die Einzelheiten des sechsten Sinns?« Sie stand freundlich lächelnd vor ihm und sagte: »Das möch ten viele gern wissen, Greg. Sie stellen zu viele komplizierte Fragen. Madame Carnot hat die Dinge kompliziert, weil sie Sie vorzeitig mit diesen Vorgängen bekannt machte. Sie werden auf alle Ihre Fragen eine Antwort bekommen – aber zur rechten Zeit. Darum wurden Sie nach Versailles beordert, wissen Sie.« »Aber die Sicherheitsbehörde hat es gewußt und –« »Sie kennt seit einigen Monaten die Natur der Heulerplage«, unterbrach sie ihn. »Aber sie muß dieses Wissen einstweilen verbergen. Tatsache ist, daß wir nicht darauf vorbereitet sind, rault-sensitiv zu werden. Einige Leute werden vielleicht ein wenden, daß wir –« »Ich bin es. Madame Carnot ist es. Und Sie müssen es auch sein.« Er stand auf. »Das stimmt. Doch jeder von uns, der eingeweiht ist, hat Tausende von Menschen auf dem Gewissen, die schreiend gestorben sind. Ein zu hoher Preis für den sechsten Sinn, wie?« Ihr Gesicht wurde plötzlich ernst. »Nein, es ist besser, wenn die Hyperstrahlung – das Rault – von dem Superfanggerät der Sicherheitsbehörde abgeschirmt wird.« Doch Gregson verstand diese Unaufrichtigkeit der ISB nicht. Warum hatte Radcliff ihm nicht schon alles erklärt? Warum diese Doppelzüngigkeit? Madame Carnot rührte sich, hustete schwach und schlief wieder ein. Lächelnd deutete Karen auf die alte Frau. »Ich nehme an, sie
hat Ihnen erzählt, daß sie die mächtigste Frau der Welt ist. Nun, das ist sie auch. Mit Hilfe ihres Hyperwahrnehmungsvermögens hat sie den Kampf der Sicherheitsbehörde gegen die Valorianer nun schon seit Jahren geleitet.« Sie tippte flüchtig seinen Arm an, und sie gingen zum Lift. »Wenn Sie restloses Vertrauen zu mir haben«, sagte Karen, »werden Sie bald Fortschritte machen. Wir dürfen nichts überstürzen, sonst würden Sie wieder in der Isolierstation landen. Ich möchte nicht, daß so etwas passiert.« Sie drückte leicht seinen Arm und blickte lächelnd zu ihm auf. »Was soll ich in Versailles tun?« erkundigte er sich. »Arbeiten. Es gibt viel Arbeit. Und Sie werden Leute kennen lernen, die so hypersensitiv sind wie wir. Man wird Ihren sech sten Sinn schulen, so daß Sie es in dieser Beziehung mit jedem Valorianer aufnehmen können. Dann werden wir alle besser vorbereitet sein, wenn das Superabfanggerät auf der VegaStartbasis installiert wird.« Als sie auf den Lift warteten, fügte sie lächelnd hinzu: »Aber Sie werden auch Abwechslung haben, dafür sorgen wir schon.«
10 Im Sommer 1999 waren die Gärten von Versailles besonders schön. Terrassenbeete mit Blumen und gleichmäßigen Hecken zogen sich anmutig auf den Grand Canal zu. Das Sonnenlicht glitzerte silbern in den Teichen und flackerte auf dem tiefen Grün der Kastanienbäume.
Gregson blickte hingerissen durch eines der Palastfenster, als die Stimme von Juan Alvarez in sein Bewußtsein drang. »So, Mr. Gregson«, sagte der Lehrer, »die Aufnahmefähigkeit der Gliazellen beruht – worauf?« Gregson machte den Versuch einer Antwort. »Auf dem en dokrinen Gleichgewicht?« »Genau«, sagte der kleine, unansehnliche Südamerikaner. Gliazellen … Gregson wiederholte im Geiste das Wort und dachte daran, daß ein Forschungstechniker im römischen Zentral-Isolierinstitut nachgewiesen hatte, daß zwischen den Heulern und diesen Zellen ein Zusammenhang bestand. Alvarez legte eine Pause ein und ließ seinen Blick über die Klasse schweifen. »Miss O'Rourke, Sie versuchen doch nicht zu zylphen – oder?« Die attraktive junge Blondine neben Gregson richtete sich auf. Ihre blauen Augen blickten Alvarez verwundert an. »Dies, Miss O'Rourke, ist ein Raultabfänger«, sagte der Leh rer und zeigte auf das Metallkästchen mit der glühenden roten Birne. »Während er in Betrieb ist, kann nicht gezylpht werden, und darum bin ich jetzt Ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher.« Er räusperte sich. »Fahren wir also fort …« Ein älterer Mann in der vorderen Reihe hob die Hand. »Ja, Mr. Simmons?« Simmons, der einzige andere Amerikaner in der Gruppe, stand zögernd auf. »Wo kommt das Rault her? Ich meine, das natürliche Rault, nicht die Strahlung unserer Raultwerfer.« Alvarez verschränkte die Arme. »Viele von Ihnen haben die se Frage bereits gestellt, also werde ich sie beantworten.« Er
drehte den Knopf des Apparates auf null. »Wenn Sie jetzt Ihre Gliazellen öffnen wollen, so gebe ich – Chandeen.« Und nach einer Weile: »Sie öffnen nun langsam Ihre inneren Augenlider. Alles bereit?« Gregson konzentrierte sich. »Ich dirigiere Ihre Aufmerksamkeit auf Chandeen. Stellen Sie sich vor, Sie zylphen jetzt tief in den Weltraum hinein. Jenseits der Sterne – annähernd über Ihre linke Schulter.« Während der Lehrer sprach, nahm Gregson andere Eindrük ke wahr. Er sah die großen Sterne, die sich um das Zentrum der Galaxis drehten, sah die nebelhaften Schleier und die gewaltige Ausdehnung des leeren Raums. Dann zylphte er Chandeen, majestätisch schimmernd, seine Raultstrahlung auf die Milliar den Sterne der Galaxis aussendend. »Es ist herrlich!« rief Sharon O'Rourke aus. »Man kann Chandeen mit der Sonne vergleichen«, sagte Al varez. »Das Rault, das er in die Galaxis ausstrahlt, macht zylphen möglich. Seine Hyperstrahlung durchdringt alle physi schen Objekte und vereinigt jeden Zylpher mit dem Mikrokos mos und dem Makrokosmos.« Selbstvergessen badete Gregson seine Sinne in der Flut von Chandeen, bis er Alvarez sagen hörte: »Ja, Miss Rakaar?« Er ließ seine Transsensivität erlöschen und sah Karen im Türrahmen stehen. Sie entdeckte Gregson, lächelte und wechselte ein paar Worte mit Alvarez, der sagte: »Mr. Gregson ist hier entschul digt.« Einundzwanzig Augenpaare folgten ihm zur Tür – alle ExHeuler, die, wie er, von der Sicherheitsbehörde angeworben worden waren, um die Welt von der Heulerplage zu befreien. Er
sollte eine Sonderbehandlung erhalten. Die anderen waren dagegen, er spürte es deutlich. Doch Sharon war nicht im mindesten ärgerlich, obwohl sie sich im Augenblick über Karen Gedanken machte. Draußen wurde Gregson von seiner Speziallehrerin zu einer Bank geführt. Sie saßen im Terrassengarten, umgeben von der gepflegten Gartenbaukunst aus der Zeit des Königs Louis XIV. »Dieses kleine irdische Ding!« sagte Karen mit einem nur angedeuteten Lächeln. »Ich habe nicht richtig gezylpht, Greg. Ich habe nur hier gesessen und an Sie gedacht.« »Sharon hat nichts dergleichen gesagt«, protestierte er gutge launt. »Nein, aber sie hat es gedacht!« Man wußte nie, ob Karen spröde oder witzig war. Es wäre sehr nützlich, dachte er, wenn ich die Fähigkeit besäße, die Gedanken zylphen zu können. »Aber dann wäre ich im Nachteil«, ging sie lachend auf sei nen Gedanken ein. »Ich bin dafür, daß alles so bleibt. Sie haben den Unterrichtsraum nur ungern verlassen, wie?« »Alvarez steuerte gerade das Stygumfeld an und –« »Aber davon habe ich Ihnen doch schon erzählt.« »Ich verstehe es immer noch nicht ganz.« Sie griff nach seinen Händen. »Das wirkt sich günstig auf die Konzentration aus. Zunächst müssen wir auf kosmischer Ebene zylphen. Fertig?« Er schloß die Augen, und diesmal setzte die Gliaempfind samkeit rascher ein. Wieder spürte er die Faszination der maje stätischen Milchstraße. Es war, als könne er Milliarden von Sternen gleichzeitig erfassen und das leise Schwirren schillern
der Nebel hören. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die irdische Ebene, und er glaubte, bis auf den Erdkern zu blicken. »Sie bekommen für Erkennen die Note 1«, witzelte Karen. »Sollen wir zu Chandeen zurückkehren?« Er fand Konzentration schwieriger. Doch schließlich emp fing er wieder die transsensorischen Eindrücke der Galaxis mit Chandeen als Mittelpunkt. Er spürte auch die Gegenwart eines enormen undurchdringlichen Schattens, der einen kegelförmi gen Ausschnitt der Milchstraße beeinflußte und die Gestirn schwärme ein wenig verdüsterte. Und am äußersten Rand dieses Schleiers konnte er die Erde durch den endlosen, raul tarmen Raum schwimmen sehen. Karen verlieh ihrer Stimme eine höhere Tonlage und imitier te Alvarez. »Sie haben mit Erfolg Stygumbra empfangen, wenn ich so kühn sein und mir diesen Ausdruck aus dem valoriani schen Vokabular leihen darf. Die Stygumbra wird vom Stygum feld geschützt, einer sich um Chandeen bewegenden Kraft, die die Erde seit fünfzigtausend Jahren vor jeglicher Raultstrahlung bewahrt hat. Aber jetzt treiben wir aus der Stygumbra und in die Millionen Jahre eines raulterfüllten Universums.« Die Imitation der Stimme des südamerikanischen Lehrers war so perfekt, daß beide lachen mußten und den Bann des Zylphens brachen. »Und ruhende Gliazellen«, sagte er, »sprechen auf die Rault strahlung an, die durch das Stygumfeld sickert.« »Genau«, entgegnete sie mit ihrer normalen Stimme. »Die sensibleren Personen reagieren zuerst, indem sie zu Heulern werden.«
»Wie lange dauert es, bis wir völlig aus dem Schatten heraus sind?« »Nicht mehr sehr lange. Dann werden fast alle Leute auf die Raultstimulation ansprechen. Aber wenn wir erst auf der VegaStartbasis unser Abfanggerät installiert haben, werden wir die Hyperstrahlung ablenken können.« »Und können wir die Leute nicht in die Vorgänge einwei hen?« »Das dürfte kaum einen Sinn haben. Man kann keine Neuro se dadurch bekämpfen, indem man beispielsweise einem Solda ten erzählt, er brauche sich nicht vor dem Schlachtfeld zu fürchten.« Sie hatten zu zylphen aufgehört, verharrten aber immer noch in der ›Haltung der Konzentration‹. Sie hielten ihre Hände und sahen sich an. Während sie sprachen, waren ihre Lippen ganz nahe gewesen, und ihre weiche Wange hatte gelegentlich fast die seine berührt. Er starrte unwillkürlich in die Tiefen ihrer Augen. Sie rückte ein wenig näher. Der synthetische Stoff ihres Overalls raschelte, als er seine Hüfte streifte. Fasziniert von ihrer Schönheit, küßte er sie. Doch sie drehte plötzlich den Kopf zur Seite und ließ seine Hände los. »Diese Helen – ist sie schön?« Wie kam sie auf Forsythes Nichte? Aber dann fiel ihm ein, daß seine Gedanken ihren Gliaempfängern geöffnet waren, und er sagte: »Ich wundere mich, weshalb sie noch nicht angerufen hat.« »Aber so hattet ihr das doch vereinbart. Sagte sie nicht vor zwei Wochen, daß sie sich nur dann melden würde, wenn etwas
Außergewöhnliches vorgefallen sei?« Gregson hatte Karen nichts davon erzählt, er dachte nicht einmal daran. Er konnte sich nur über ihre Fähigkeit wundern, diesen und jenen Gedanken aus seinem Unterbewußtsein zu ziehen. Sie stand auf, schien nicht im mindesten niedergeschlagen zu sein und sagte: »Zeit zum Essen. Anschließend beginnt der praktische Unterricht im Labor.« Gregsons Nachmittagsunterricht war das Erkennen und Koor dinieren bekannter Objekte. Mehrere Stunden tappte er mit verbundenen Augen zwischen Tischen und verzierten Stühlen herum. Er versuchte auch, Statuen und Kunstgegenstände geistig zu erfassen, was man in diesem Fall wortwörtlich neh men konnte. Diese Übungen dienten der Schärfung des Hyperwahrneh mungsvermögens. Wie dem auch sei, die Gegenstände waren selten das, was er erfühlte. Ein Delphin aus Bronze schien vor seinen Versuchen, seine Lage zu lokalisieren, hartnäckig zu rückzuschrecken. Er fühlte ihn jeweils zu spät, was die dunklen Flecken an seinen Schienbeinen bewiesen. Lange bevor diese praktischen Übungsstunden vorbei waren, hatte er den Eindruck, daß eine bisher noch nicht bekannte Unsicherheit für seine Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, verantwortlich war. Denn er hatte begonnen, sich der Unwich tigkeit aller Dinge bewußt zu werden, mit denen er laufend konfrontiert wurde. Warum all diese Schulungen? Warum mußte er lernen, seinen sechsten Sinn zu gebrauchen? Damit er sich an die Hyperstrahlung an Bord der Vega-Startbasis gewöh
ne, hatten sie gesagt. Aber das war keine befriedigende Antwort. Wenn es für die Strahlungen Abfanggeräte gab, konnten sie dann nicht auch an Bord der VSB benutzt werden, um die Arbeiter zu schützen, die das Superabfanggerät bauten? Warum machte man sich die Mühe, die Raultsensitivität zu lehren, wenn man in wenigen Wochen allen Leuten die Möglichkeit nahm, raultintensiv zu sein? Nach dem Unterricht suchte er die Einsamkeit eines Palast gartens auf und schlenderte nachdenklich die von sauber ge stutzten Buchsbaumhecken begrenzten Wege entlang. Am fernen Ende eines Heckenwegs – mit Statuen rechts und links – gingen zwei uniformierte Wächter mit steifen Schritten aufeinander zu. Sie machten gleichzeitig kehrt und marschier ten wieder weg. Selbst hier, inmitten der Schönheit und Heiter keit der Gärten von Versailles, waren Sicherheitsvorkehrungen notwendig. Die Behörde wollte die Öffentlichkeit nicht wissen lassen, daß die Schulung etwas mit dem sechsten Sinn zu tun hatte. Aber wie war dieses Geheimnis bisher gewahrt geblieben? Hatte Forsythe in seiner Blindheit nicht schon herausgefunden, was die Heulerplage tatsächlich war? Mußten viele andere nicht auch diese Entdeckung gemacht haben? Doch irgendwie kann ten nur die Leute von der ISB die wahre Natur dieser Epidemie. Er mußte unwillkürlich an die Frau denken, die er im Korri dor der Zentral-Isolierstation von Rom gesehen hatte. Sie murmelte etwas wie: ›Jetzt weiß ich, was die Heuler sind …‹ Hatte sie es wirklich gewußt? »Wie herrlich der Garten zylpht! Finden Sie nicht auch, Greg?« Er warf seine Zigarette in einen spiegelglatten Teich und
drehte sich nach Sharon O'Rourke um, die auf ihn zugeschlen dert kam. Die Augen des irischen Mädchens waren geöffnet, schienen aber in eine weite Ferne zu blicken. »Ich weiß es nicht«, sagte er lächelnd, »denn ich zylphe nicht.« Sie schlenderte neben ihm her und schloß die Augen. »Sie sind ein sonderbarer Mensch, Greg.« »Warum? Weil ich für heute vom Zylphen genug habe?« »Natürlich nicht. Sie scheinen nur nicht von der Begabung, die uns gemeinsam ist, beeindruckt zu sein. Ich meine, diese Fähigkeit verkörpert eine große Macht.« Er stutzte bei diesen Worten. Seit seiner Ankunft in Versail les hatte er eine milde Atmosphäre empfunden. Es war, als habe man diesen Eindruck künstlich hervorgerufen; aber jetzt hatte das blonde irische Mädchen mit dem einzigen Wort ›Macht‹ den geheimnisvollen Schleier gelüftet. »Bedeutet Macht so viel?« fragte er. »Vielleicht bedeutet sie Ihnen nicht viel. Oder dem anderen Amerikaner. Doch ich glaube, Simmons war während der Isolation unausgeglichen.« Sie forschte in seinen Augen. »Seien Sie niemals so wie Simmons, Greg. Akzeptieren Sie, was ge schehen ist, und erkennen Sie, daß der Vorteil auf unserer Seite ist. Noch nie zuvor hatte eine kleine Elitegruppe eine derart große Macht!« Er distanzierte sich von ihrer lebhaften Begeisterung. »Wir stehen über einer ganzen Welt!« erklärte sie. »Wir wer den in einem modernen Feudalsystem leben – jeder von uns wird ein Stück der Welt beherrschen!« Mit ihren eigenen herausfordernden Gedanken beschäftigt,
schlenderte Sharon ihm voraus. Sie hatte offenbar schon verges sen, daß sie sich mit ihm unterhalten hatte. Eine halbe Stunde später wanderte Gregson noch immer in den Gärten herum. Er hielt sich jetzt im südlichen Teil auf. Plötzlich sah er in der Dämmerung die massige Gestalt von Henri Lanier auftauchen. Der Superintendent der Akademie von Versailles eilte auf seine Privatresidenz zu. Gregson schloß impulsiv die Augen und zylphte. Er wunderte sich über die fast spontane Reaktion seiner Gliaempfänger, die brandende Flut von Ein drücken, die ihn umgaben, die beachtlichen Einzelheiten, die er fühlen konnte, das Minimum an Verzerrung. Doch nirgendwo in der Gesamtkonzeption aller Eindrücke, die er zylphte, war auch nur die Spur von Henri Lanier zu erkennen. Dann vermu tete er den Grund dieser Unstimmigkeit: Lanier mußte einen Raultfänger tragen. Aber warum? Er schützte sich vor der Hyperstrahlung, so daß niemand seine Gedanken zylphen konnte. Trug er eine Information in sich, von der kein Student etwas wissen durfte? Was sollte diese Geheimnistuerei? Es war jetzt fast dunkel; ein Rascheln hinter der Hecke zu seiner Rechten fesselte Gregsons Aufmerksamkeit. Und dann zylphte er die Nähe von Simmons, der sich in einem Gebüsch verborgen hatte. Der andere Amerikaner trat hervor. »Helfen Sie mir!« »Was ist los?« fragte Gregson gespannt. »Sie wollen mich umbringen!« »Wer?« »Lanier. Er hatte seinen Raultfänger nicht eingeschaltet, und
ich konnte zylphen, was er dachte. Seine Wächter sollen mich umbringen!« »Aber warum?« »Weil die Macht mich nicht interessiert. Darum wollen sie mich nicht haben! Aber sie können mich auch nicht gehen lassen! Ich habe herausgefunden –« In einiger Entfernung trafen sich die beiden Posten, machten kehrt und entfernten sich voneinander. »Was haben Sie herausgefunden?« fragte Gregson. Simmons drehte den Kopf, bis seine Augen im blassen Licht des Mondes schimmerten. Während er das tat, verzerrte sich Gregsons Hyperwahrnehmungsvermögen angesichts der Angst des anderen. Es mußte so sein, wie das irische Mädchen gesagt hatte: Der Mann war während seiner Zeit in der Isolation unausgeglichen gewesen und hatte diese Eigenschaft bis heute behalten. Simmons warf einen besorgten Blick auf die Posten und rannte den terrassenförmigen Hang hinunter. Gregson verfolgte ihn hypervisuell. Simmons rannte an plätschernden Brunnen vorbei und durch das raultgetränkte Gehölz. Dann ließ er, erschöpft von dem Energieverbrauch transsensorischer Wahr nehmung, seine Gliaempfänger im endokrinen Gleichgewicht ruhen. Er wußte, daß die Sicherheitsorgane Simmons finden würden, um das mit ihm zu machen, was angeordnet worden war.
11
Über das Geräusch spritzenden Wassers schwang sich Bill Forsythes gellend schreiende Stimme. Er griff nach seinen blinden Augen, als er auf einem nackten, nassen Bein herum hüpfte. Sein eingerissener Zehennagel hämmerte unerträglich, als der scharfe Wasserstrahl in die offene Wunde drang. Und Gregson spürte den Schmerz, als sei es sein eigener. Aber die Duschanlage verwandelte sich in eine Isolierstation, und Forsythes Schreie wurden zu Explosionen des Terrors, als glühende Lavamassen in sein Bewußtsein drangen. Wutent brannt zerrissen die anderen Heuler ihre Fesseln und jagten ihn einen endlosen Korridor entlang. Es war nur nicht Forsythe, der brüllte; es war der Amerikaner namens Simmons, der durch die Gärten von Versailles rannte, die Blumen zertrat, durch flache Teiche platschte und zwischen den Kastanienbäumen herumstolperte. Eine ganze Armee der Weltpolizei verfolgte ihn unbarmher zig, und die Strahlen ihrer Lasergewehre durchschnitten die Luft. Aber dann verwandelten sich die Verfolger in lauter Madame Carnots, die mit Spazierstöcken durch den Wald humpelten und Forsythes Namen gellten – bis sie sich in Valo rianer mit fußlangen Fingernägeln verwandelten. Plötzlich rannte Gregson, nur im Pyjama, neben Simmons und Forsythe her und floh vor den Verfolgern. Simmons richtete Forsythes flackernde, blinde Augen auf ihn und platzte heraus: »Darum wollen sie mich nicht haben. Aber sie können mich auch nicht gehen lassen. Helfen Sie mir! Hel fen Sie mir!«
In seine Decken gehüllt wachte Gregson auf und blinzelte in das durch den hohen Fensterflügel sickernde Sonnenlicht. Die Nachwirkungen seines Traumes verschwanden rasch, denn er war nicht viel unheimlicher gewesen als seine zweiwöchige hektische Schulung des sechsten Sinns. Doch die phantastische Episode mit Forsythe erinnerte ihn daran, daß Bill tatsächlich Schwierigkeiten hatte und es nur eine Frage von Tagen war, bis der alte Mann seinen ersten und nicht mehr zu kontrollierenden Anfall bekommen würde. Diese Gedanken veranlaßten Greg, sich eilig anzukleiden und in den Salon hinunterzugehen. Aber als er auf die Fernsehtelefonzelle zuging, verstellte ihm ein Posten den Weg. »Keine Gespräche nach außerhalb«, sagte der Mann steif. »Superintendent Laniers Anweisung.« »Dann rufen Sie Lanier an und sagen ihm, daß Gregson sagt, wenn er nicht nach außerhalb telefonieren kann, wird er sich persönlich außerhalb aufhalten – und zwar für immer!« Der Mann kehrte an seinen Schreibtisch zurück, gab diese Nachricht weiter und kam nach wenigen Minuten wieder. »Der Superintendent sagt, es ginge in Ordnung.« Wieder ein Sonderprivileg, dachte Gregson, als er sich mit Pennsylvanien verbinden ließ. Er mußte lange warten; dann sah er das starre Gesicht und hörte die unpersönliche Stimme des Mädchens in der Vermitt lung der ISB-Zentrale in New York. Sie gab ihm zu wissen, daß der Teilnehmer sich nicht melde. Anschließend rief er die Monroe-Isolierstation an und er fuhr, daß ein Mann namens Forsythe nicht eingeliefert worden sei. Dann rief er Bill Forsythes nächsten Nachbarn an, der sagte:
»Ich habe schon seit Tagen keinen Menschen auf der Farm gesehen. Ich denke, die Leute sind weggezogen.« Befremdet ging Gregson in den Speiseraum, bestellte Kaffee und Hörnchen und überdachte die Möglichkeit, Radcliff zu bitten, einen Spezialagenten zur Farm zu schicken oder selber nach dem Rechten zu sehen. Er war noch immer mit diesen Gedanken beschäftigt, als Ka ren – lebhaft und frisch wirkend in ihrem plissierten Rock und der gazeartigen Bluse – an seinem Tisch Platz nahm. »Ein herrlicher Morgen zum Zylphen«, begrüßte sie ihn. Er schob sein Frühstück zur Seite. »Wie kommt man hier heraus, Karen? Vorübergehend, sagen wir mal.« Sie zuckte die Achseln. »Es gibt besondere Antragsformulare. Doch für Sie –« Karen sprach den Satz nicht zu Ende und schüttelte den Kopf. »Sie bekommen ja die Luxusbehandlung. Erste Garnitur. Haben Sie vielleicht Sorgen?« »Möglich.« Als er nichts mehr sagte, erinnerte sie ihn: »Ich könnte es aus Ihnen herauszylphen, wissen Sie …« Er hatte nichts dagegen. Vielleicht war sie sogar so freund lich, ihm bei der Kontaktaufnahme mit Radcliff behilflich zu sein. Aber es schien ihr recht zu sein, daß er dieses Problem nicht weiter verfolgte. Sie blickte in ihre Kaffeetasse und murmelte: »Nehmen wir einmal an, Greg, die ISB ist nicht genau das, was Sie sich darunter vorstellen …« »Ja?« »Nehmen wir an, ihre Politik, ihre Aktionen und Methoden
können verschiedenartig ausgelegt werden …« »Wie meinen Sie das?« »Es ist nicht immer möglich, zurechtgeschneiderte Meinun gen zu vermeiden – damit sie auch passen. Und die Sicherheits behörde leistet eine bewundernswerte Arbeit, indem sie die Menschheit durch die Heulerplage führt und sogar eine Mög lichkeit zur Bekämpfung dieser Plage entdeckt hat, indem sie die Hyperstrahlung wirkungslos macht.« »Wenn die VSB-Operation hilft«, erinnerte er sie. »Oh, sie wird bestimmt ein Erfolg. Doch während dieser ganzen Krise – dem Nuklearkrieg, der Epidemie, der valoriani schen Expedition – stellen wir eine Autorität dar, die praktisch über alles zu entscheiden hat.« Gregson trank seine Tasse leer und sagte: »Das ist nur provi sorisch.« »Provisorisch, doch maßgeblich.« Er hatte den vagen Eindruck, daß sie seine Gedanken zylphen und ihn zu gewissen Konzessionen veranlassen könne. »Wenn die Operation VSB beendet ist, wird das Leben auf der Erde wieder normal sein. Dann kann die Autorität wieder in repräsentative Hände gelegt werden.« Sie zögerte kurz. »Nehmen wir an, die Autorität bleibt in den Händen der Sicherheitsbehörde.« »Ich bin sicher, daß die Regierungen der einzelnen Länder sich wieder behaupten werden.« Sie entgegnete schroff: »Es wäre eine Schande, wenn sie das täten, nicht wahr?« »Warum? Eine Selbstregierung ist die einzige –« »Aber ist eine Weltregierung nicht wichtiger? Eine zentrali
sierte Autorität? Kein Nuklearkrieg mehr. Eine einzige Regie rung, die die Erde vor den Valorianern beschützt und der Hyperstrahlung.« Sie legte ihre Hand auf die seine und fuhr fort: »Vielleicht ist es Utopia, Greg. Ein plötzlicher Vorstoß auf das Ziel, dem die Menschheit seit dem Höhlenzeitalter entge genstrebt.« Er sah die Holländerin verstohlen an und hatte beinahe den Eindruck, als versuche sie, ihn politisch zu beeinflussen. Ein schriller Pfiff ertönte im Garten. Er blickte aus dem Fen ster und sah an einem der Teiche mehrere Posten. Dankbar für diese Unterbrechung schlug er vor: »Sehen wir einmal nach, was da draußen vorgefallen ist.« Karen folgte ihm. Dann stand er vor einem Teich und starrte Simmons an, dessen Leichnam mit nach oben gekehrtem Ge sicht im Wasser lag. Gregson dachte an seine nächtliche Begeg nung mit Simmons und dachte an dessen unzusammenhängen den Worte. War Simmons normal gewesen? Oder war sein Tod die Folge eines Unfalls? Er trat näher an den Teich heran und versuchte instinktiv zu zylphen. Doch es war, als öffne er die Augen in einem dunklen Raum. Praktisch war überhaupt keine Hyperstrahlung vorhan den. »Ich kann nichts zylphen«, beschwerte sich jemand. »Vorübergehende Verdunkelung«, erklärte einer der Posten. Darüber wunderten sich die meisten anderen Leute. Doch Karen hatte Gregson erklärt, daß die Raultstrahlung Schwan kungen unterworfen sei, je nachdem ob die Erde sich vom Stygumbra-Schatten fortbewege oder auf ihn zusteuere. Doch selbst in dieser spärlichen Hyperstrahlung konnte Gregson
zylphen, daß Simmons kein Opfer eines Unfalls geworden war. Die Spuren eines Kampfes waren unverkennbar. Unter Sim mons nassem Haar konnte Gregson den gespaltenen Schädel förmlich fühlen. Sein Körper hatte auch bläuliche Flecken, die von den Kolben der Lasergewehre herrührten. Und es war kein zylphbares Wasser in seinen Lungen. Plötzlich wurde die ohnehin schwache Strahlung völlig aus geblasen. Superintendent Henri Lanier drängte sich vor, und Gregson sah in seiner Tasche die Umrisse eines Raultabfängers, den er immer bei sich trug. Der Superintendent unterhielt sich leise mit zwei Posten. Er war ein stämmiger, kräftiger Mann, dessen Augen unter den dunklen Brauen tief in den fleischigen Falten seines Gesichts ruhten. Warum, fragte sich Gregson, mußte Lanier seine Ge danken mit einem Abfanggerät tarnen? Damit jene Leute, die in der Akademie von Versailles nicht zu gebrauchen waren, nicht erfahren sollten, daß man sie zu beseitigen gedachte? Aber wenn das der Fall war, hätte Simmons Leichnam verschwunden sein müssen. Sollte das hier für die anderen eine Warnung sein? Er schlenderte wieder auf den Palast zu. Die Elemente seiner Verwirrung waren in Dunkel gehüllt. Simmons' Ermordung; der Machtrausch, der alle Leute in Versailles erfaßt zu haben schien; seine eigenen geheimnisvollen Erfahrungen bei der Schulung des sechsten Sinns; Karens Hinweis, daß die Autorität der Sicherheitsbehörde sich unendlich ausdehnen könne; Laniers Mantel des Geheimnisvollen … Und er fragte sich, ob er jemals in der Lage sein würde, zu zylphen, was in dem Super intendenten vor sich ging, wie Simmons das getan hatte. Doch selbst wenn diese Gelegenheit sich bot – besaß er diesen Grad
von Raultintensivität? Und jetzt, wo er sich zu dieser Aktion entschlossen hatte – wer garantierte ihm dann, daß seine mögli chen Absichten nicht gezylpht wurden? Und da kam ihm plötzlich in den Sinn, daß sein Mißtrauen seinen weiteren Aufenthalt in Versailles in hohem Maße gefähr lich machte. Er war nicht sicherer, als Simmons es gewesen war. Doch wie konnte er entkommen? Glücklicherweise blieb das Stygumfeld undurchdringlich, so daß Gregsons Gedanken vorerst sein Privateigentum bleiben würden. Während Alvarez erklärte, daß Rault sich mit unendlicher Geschwindigkeit ausbreite und die Eindrücke des sechsten Sinns augenblicklich übertrage, machte Gregson sich Sorgen über die Möglichkeit, daß seine eigenen rebellischen Gedanken von anderen Raultsensitiven registriert werden könnten. Gegen Ende des Nachmittagsunterrichts wurde seine Auf merksamkeit wieder auf Alvarez gelenkt, der seine Arme aus breitete und sagte: »Berücksichtigen wir, daß die Erde sich vor fünfzigtausend Jahren jenseits des Stygumfeldes bewegte. Zu jener Zeit steckte die Menschheit wahrscheinlich noch in den Kinderschuhen; eine sich auf unmaterialistischen Ebenen entwickelnde Gesellschaft. Als die Erde in das Stygumbra-Feld geriet, muß es gewesen sein, als zwinge man den modernen Menschen plötzlich in einer Welt der ewigen Finsternis zu leben. Es muß intellektuelle Niedergänge und cerebrale Rück bildungen gegeben haben. Ist es also ein Wunder, daß wir das symbolische Gleichnis der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies haben?« Nach einer Pause sprach er lebhaft gestikulie rend weiter. »Ja, ich bin der Meinung, daß ein Leben, basierend
auf transsensorischer Wahrnehmung, elementarer und erfüllter ist als wir es uns vorzustellen vermögen. Es können noch Jahre vergehen, bis wir jene neue Fähigkeit im vollen Umfang begrif fen haben. Im Augenblick sind wir noch Kinder, die kurz nach ihrer Geburt erstmals die Augen geöffnet haben.« Er hob seine Stimme. »Begreifen Sie das nicht? In einer Gesellschaft, in der jeder zylphen kann, wird nur für den Willensstarken Platz sein! Die bourgeoise Vorliebe für Selbstbestimmung wird sofort entlarvt werden! Keiner wird Zuflucht in privaten Gedanken suchen können, keiner wird sich gegen eine Gesellschaftsform auflehnen können, die ihm von einer Elitegruppe vorgeschrie ben wird.« Gregson war über diese philosophische Ansprache einiger maßen entsetzt. Wenn Zylphen, aus dieser fanatischen Perspek tive betrachtet, so erstrebenswert war und die Sicherheitsbehör de sich dieser Philosophie verschrieben hatte – war es dann nicht wahrscheinlich, daß eben diese Behörde die Erde in ein totales Stygum hüllen würde, um die Heulerplage zum Still stand zu bringen? Gab es nicht eine Möglichkeit, die Hypersensitivität einer kleinen Gruppe innerhalb der Behörde zu erhalten – einer Gruppe, die über den Rest der Menschheit herrschen würde? Gregson hatte das Gefühl, sich in einer Gruppe von Verschwö rern zu befinden. Aber wo konnte er eine Bestätigung dieses Verdachts erhalten? Hier in Versailles? In der Rue de la Sérénité 17 in Paris? Alvarez sprach immer noch über die ›von einer Elitegruppe vorgeschriebenen Gesellschaftsform‹, und Gregson hatte den Eindruck, daß der Südamerikaner ein ideologisches Fundament
legte. Denn die ›Gruppe‹ konnte nicht die Menschheit in ihrer Gesamtheit vertreten, sondern lediglich eine bürokratische Oligarchie bilden. Der Unterricht war zu Ende. Lehrer und Studenten strömten hinaus. Gregson folgte ihnen zögernd. Würde draußen im Korridor – fern von dem Raultfänger im Klassenzimmer – eine ausreichende natürliche Hyperstrahlung vorhanden sein, die seine widerspenstigen Überzeugungen den anderen zuleiten konnte? Würde sein Fluchtversuch von vornherein vereitelt werden? Er hörte Sharon O'Rourke, das irische Mädchen, rufen: »Oh, zylphe das Rault! Es kehrt in voller Kraft zurück! Und da ist Chandeen! Ist das nicht herrlich?« Er kehrte noch einmal ins Klassenzimmer zurück, ging zö gernd auf den Tisch zu und studierte den Raultabfänger. Wenn diese Vorrichtung Laniers Gedanken abschirmen konnte – warum nicht auch seine eigenen? Natürlich würde er den ande ren aus dem Wege gehen müssen, bis sich ihm eine Gelegenheit zur Flucht bot; sonst wunderten sie sich, weshalb er gesehen, aber nicht gezylpht werden konnte. Er schob die Apparatur in seine Tasche und trat vorsichtig in den jetzt verlassenen Korri dor hinaus. Erst als er im Dämmerlicht des Kastanienhains neben einer griechischen Statue untergetaucht war, genoß er den Erfolg. Denn die erste Phase seiner Flucht war ihm nun geglückt. Er beschloß, eine Stunde zu warten. Dann wurden die Posten abgelöst. Ihre Wachsamkeit würde dann vorübergehend – wenigstens in visueller Hinsicht – nachlassen. Dann wurde sein Blick von Laniers hellem Haus angezogen,
das unweit des Kastanienhaines stand. Zwischen ihm und dem Haus des Superintendenten waren keine nennenswerten Hin dernisse zu erspähen – und keine Posten. Bot ihm ein Ausflug nach dort Gelegenheit, die hinter dem fleischigen Gesicht verborgenen Geheimnisse zu zylphen, die sich sonst ständig in der Festung eines Raultabfängers befan den? Kühn ging er auf das Haus zu. Er mußte durch eine Anzahl von Fenstern blicken, ehe er den Superintendenten sah. Der saß in einem Ohrensessel, hatte die Augen geschlossen und das Kinn auf der Brust. Auf dem Tisch standen ein silberner Eiskübel, aus dem der Hals einer Weinfla sche ragte, und ein eingeschalteter Raultabfänger. Daneben stand ein Raultwerfer, dessen grünes Licht andeutete, daß er ebenfalls in Betrieb war. Gregson wunderte sich. Abfänger und Werfer arbeiteten gleichzeitig … Er nahm an, daß das kleinere Raultfeld innerhalb eines größeren Feldes projizierten Stygums aufgebaut werden konnte, wie eine in der Dunkelheit leuchtende Birne. Dieses Arrangement gestattete Lanier, in seiner unmittelbaren Umge bung Dinge zu zylphen, während er gleichzeitig vor der Mög lichkeit geschützt war, daß raultgeborene Eindrücke durch die größere Sphäre der Metafinsternis drangen. Er probierte zwei Fenster aus, ehe er eines entdeckte, das nicht verschlossen war. Die Schnarchlaute führten ihn in La niers Arbeitszimmer. Vor der Tür blieb er stehen. Es sah so aus, als habe der Superintendent eine volle Flasche Wein getrunken, der er einen tiefen Schlaf verdankte. Gregson schaltete seinen Raultabfänger aus. Er stellte wie
erwartet fest, daß das größere Feld des Raultabfängers im Zim mer ihn beim Zylphen hinderte. Doch als er sich Lanier näher te, wunderte er sich über die Flut von Rault, die seine Gli aempfänger einhüllte. Sofort zylphte er alles in der näheren Umgebung des Superintendenten. Er zog sich ins Stygum zurück, doch nicht früher, als bis er die Trunkenheit des Mannes bestätigt fand. Die raultgeborenen Eindrücke waren unmißverständlich – die chemische Ver kehrtheit des Alkohols in seinem System, die lähmende Wir kung auf die Gehirnzellen, das Verschwinden der Gliaempfind lichkeit. Dann stieß Gregson in das innere Raultfeld zurück. Er lenkte die Flut transsensorischer Eindrücke ab und seine Aufmerk samkeit auf den Geist des Superintendenten, um die Gedanken des Unterbewußtseins zu entdecken. Und dann begann er, wenn auch vage, die wichtigsten Charakterzüge wahrzunehmen: das Warten auf die Macht, ein Hunger nach Stärke. Jetzt wur den die abstrakten Vorstellungen deutlicher zylphbar. Das Imperium, von dem er träumte, schien ihm von der Oligarchie versprochen worden zu sein. Und schon jetzt hatte man den Eindruck, daß er ganz Frankreich beherrsche, möglicherweise den ganzen Kontinent. Er hatte ein Konzept im Kopf, das eine derart kühne Verschwörung verriet, daß man sie nicht mit wenigen Worten beschreiben konnte. Gregson erkannte auch, als habe er sie den unbewußten Ge danken des anderen nachempfunden, den Grund seiner Anwe senheit in Versailles. Man wollte sein Hyperwahrnehmungs vermögen schulen, um ihn auf eine taktvolle Weise den Macht komplexeinflüsterungen der Behörde zugänglicher zu machen. Und Karens Hauptfunktion war die einer Verführerin, die
seinen Sinn für Werte in die falsche Richtung lenken sollte. Lanier wachte plötzlich auf. Mit der Wiederkehr seines Be wußtseins zylphte Gregson die große Konzentration wahrneh mender Kraft und die fortgeschrittene Fähigkeit, hypersensitiv zu sein. Gregson griff ihn sofort an, weil er wußte, daß Laniers erster Impuls dem Abschalten des Raultabfanggerätes gelten würde, damit er seinen Untergebenen zylphen konnte, daß in seinem Haus etwas nicht in Ordnung war. Aber Lanier wich ihm aus, denn auch er hatte die Handlung seines Gegners vorausgesehen. Er wollte nach dem Raultabfänger greifen, konnte ihn aber nur vom Tisch fegen. Gregson gelang es, von hinten einen Arm um den muskulö sen Nacken des Mannes zu legen. Doch Lanier schlug mit einem Fuß nach hinten aus und traf Gregsons Schienbeine. Als Gregson schmerzerfüllt nach vorn kippte, griff der Superinten dent nach dem massiven Eiskübel. Aber er war noch vom Alkohol umnebelt und stolperte. So hatte Gregson den Eiskübel früher in den Händen und ließ ihn hart auf den Kopf des ande ren Mannes niedersausen. Als der Superintendent zusammenbrach, nahm Gregson den Raultwerfer vom Tisch und drehte an dem Knopf, bis das grüne Licht erlosch und somit Lanier seiner Hypervision beraubte. Neben anderen Eindrücken, die er während des Kampfes empfangen hatte, spielten die Schlüssel in Laniers Tasche eine nicht zu unterschätzende Rolle. Einer dieser Schlüssel gehörte zu dem vor dem Haus stehenden Wagen. Und mit diesem Wagen mußte er die VSB-Bodenkontrollzentrale in Paris errei chen, wo eine prahlerisch veranlagte Madame Carnot sein Wissen über eine Verschwörung der Sicherheitsbehörde un termauern würde.
12
Gregson fuhr vorsichtig auf das Eingangstor des Palastes zu. Auf dem Sitz neben sich glühte die Birne des Raultabfängers, so daß sein Näherkommen, wenigstens hypervisuell, nicht festzu stellen war. Was die Möglichkeit betraf, optisch wahrgenom men zu werden, zeigte ihm ein Blick durch das Fenster des Wachhauses: die Posten hatten noch keinen Verdacht ge schöpft. Er ließ den Wagen auf das Tor zurollen. Dann gab er Gas und brauste davon. Innerhalb von wenigen Minuten hatte er die Kurven der neuen Schnellstraße um Mont-Valerien genommen. Das Mondlicht floß über die sanften Böschungen und erfüllte den hinter Nebelschwaden verborgenen alten Amerikanischen Friedhof in der Nähe von Suresnes mit einem geisterhaften Leben. Bald ärgerte er sich über die Gesellschaft des Raultabfängers und bedauerte, nicht in Richtung Versailles zylphen zu können, um sich zu vergewissern, ob Lanier schon gefunden worden war. Seine Hände am Steuerrad entspannten sich, als er die Be weise einer Verschwörung der Sicherheitsbehörde noch einmal Revue passieren ließ. Da war zunächst die Akademie von Ver sailles, in der eine ›universelle Macht‹ gelehrt wurde. Sharon, das irische Mädchen, hatte kühn von einer herrschenden ›Elite gruppe‹ gesprochen, die von einem ›modernen Feudalsystem‹ gestützt wurde. Und Karen hatte das Machtkonzept bestätigt, obwohl sie es stark abgemildert hatte, indem sie es als Segen für
die Menschheit bezeichnete. Dann war Simmons ermordet worden, weil seine Ideen nicht mit denen der Sicherheitsbehör de übereinstimmten – weil er sich nicht für eine Machtkonzen tration interessierte. Und schließlich hatte Lanier von einem Imperium geträumt, dessen Oligarchie schon jetzt mit Kom mandoführern durchsetzt werden sollte. Wollte die Sicherheits behörde tatsächlich die Kontrolle über die ganze Erde erlangen? Vielleicht – vielleicht auch nicht. Aber wenn es eine derartige Verschwörung gab, konnte Madame Carnot alle Einzelheiten erfahren. Gregson vergaß diese Gedanken für einen Moment und nahm die Gelegenheit wahr, seine Gliaaufmerksamkeit auf Chandeen zu konzentrieren. Die brillante Hyperstrahlung erfüllte ihn mit neuer Zuversicht. Doch wie kam er auf Chandeen? Schirmte ihn der Raultab fänger nicht vor dessen Ausstrahlungen ab? Er blickte auf den Sitz neben sich. Das Kontrollicht brannte nur noch sehr schwach! Der Apparat hatte Energie verloren, und das schüt zende künstliche Stygumfeld brach zusammen! Dann suchte er nach hypersensitiven Eindrücken und be merkte prompt den ihn verfolgenden Wagen. Er trat auf das Gaspedal, und der Wagen machte einen jähen Satz nach vorn. Natürlich hatten sie ihn gezylpht! Das von seinem Abfänger produzierte Stygum war kaum stark genug, um ihn selbst zu verbergen – wie hätten da seine Verfolger die hypervisuelle Anomalie eines Wagens übersehen können, der die Schnellstra ße entlangbrauste? Dann sah er auch, worauf das zurückzuführen war. Beim Rütteln des Wagens drückte der Kontrollknopf des Instruments
gegen den Sitz und hatte sich bis auf Null gedreht. Er griff danach, doch seine Hand blieb auf dem Knopf liegen, als neue Eindrücke seine Aufmerksamkeit erregten. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, daß er am Rand der Atmosphäre erhöhte Aktivität zylphte. Und es dauerte noch einen Moment, bis er in hypersensorischen Einzelheiten eine Maschine der ISB-Raumfahrtabteilung erkannte, die im freien Fall nach unten stürzte und mit ihren schweren Laserwaffen feuerte. Ziel des Angriffs war ein unbekanntes Objekt, das er bisher weder gesehen noch gezylpht hatte. Es verschwand jetzt aus der Reichweite der Laserstrahlen, während seine Außenhül le sich löste. Das seltsame Schiff war von mehreren Laserstrah len getroffen worden. Er wußte, daß die ganze Kapsel ver dampft sein würde, wenn sie gelandet war. Und er wußte auch, daß sich ein Valorianer darin aufhielt! Selbst aus dieser Entfer nung konnte er die Schläge der Zwillingsherzen hören. Sie schlugen nur sehr schwach – wahrscheinlich hatte sich der Insasse eine Kopfverletzung zugezogen. Gregson zylphte, daß der Fremde bewußtlos war. Er lenkte den Wagen um eine scharfe Kurve und wäre um ein Haar im Graben gelandet. Er drehte den Knopf des Raultab fängers zurück. Die Birne glühte wieder auf, und er konnte überhaupt nichts mehr zylphen. Er blickte zurück und sah, daß seine Verfolger aufgeholt hat ten. Sie befanden sich jetzt in visuellem Kontakt. Ein Laserstrahl durchbohrte die Dunkelheit und schnitt zu seiner Linken einen Baum ab. Die Betonstraße beschrieb nun eine Serie abfallender Kurven und führte durch einen Wald. Hinter der nächsten Kurve sah er
im Licht der Scheinwerfer eine Seitenstraße auftauchen und trat auf das Bremspedal. Die Reifen quietschten, als er den Wagen von der Schnellstraße herunterriß. Er verschwand hinter einer Baumgruppe und schaltete die Scheinwerfer aus. Sekunden später fegte der andere Wagen an ihm vorbei. Nur das Mondlicht wies ihm den Weg, als er weiterfuhr in der Hoffnung, auf eine nach Paris führende Straße zu stoßen. Dann sah er zur linken Hand etwas glitzern und erinnerte sich an die niedergegangene Kapsel. Er wußte, daß die Posten diese Kapsel längst gezylpht haben mußten und wenig später zur Stelle sein würden. Nichtsdestoweniger hielt er an und über querte zu Fuß das Feld. Schon vor langer Zeit hatte er einem Valorianer Fragen stellen wollen, aber immer bestand die Gefahr, daß neugierige Spezialagenten davon Wind bekamen und Dinge erfahren konnten, die sie nichts angingen. Er ging weiter auf die Kapsel zu und dachte an seine Begeg nung mit dem Fremden in New York. Damals war er davon überzeugt gewesen, daß die Selbstinjektion seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben war. Radcliff hatte von einem hypnotischen Zwang gesprochen, doch Gregson glaubte nicht mehr so recht daran und wollte es nun persönlich herausfinden. Als er die Stelle erreicht hatte, an der die Kapsel zur Ruhe gekommen war, fand er nur den bewußtlosen Fremden. Er trug den Valorianer zu seinem Wagen und war enttäuscht, daß er auf eine weniger gefährliche Gelegenheit warten mußte, um die Gedanken des Mannes erforschen zu können. Das Mannes? fragte er sich, als er den Valorianer auf den Rücksitz legte. Er knipste kurz die Innenbeleuchtung des Wa gens an. Es war zweifellos eine Frau. Sie trug eine Hose und eine
Bluse im Pariser Stil. Ihr dunkles glattes Haar ließ ihren Teint weniger olivfarben erscheinen. Er fragte sich, ob sie ernsthaft verletzt sei, wußte nicht, was er mit seiner Gefangenen beginnen sollte, und startete wieder den Wagen, um eine andere und sicherere Straße nach Paris zu suchen. Es war fast zwei Uhr morgens, als er in die Rue de Madrid einbog und durch den ihm besser bekannten Bois de Boulogne fuhr. Doch wo einst ein Vergnügungspark gewesen war, stand heute ein riesiger Gebäudekomplex, die Heuler-Isolierstation, die steil in den nächtlichen Himmel ragte und in der antisepti schen Brillanz ihrer Illumination glänzte. Ambulanzwagen trafen aus allen Richtungen ein, und es sah so aus, als sei eine ungewohnt große Anzahl von Leuten von der Heulerplage erfaßt worden. In Maillot verließ er den Bois de Boulogne und gestattete sich einen letzten Blick auf das gewaltige Bauwerk. Der Gedanke, daß die ISB alle Isolierstationen beaufsichtigte, beunruhigte ihn jetzt. Die Behörde konnte alle eingelieferten Patienten kontrol lieren. Waren diese Isolierstationen eher dazu bestimmt, die Überlebenden der Plage auszusondern und ihnen bestimmte Rollen zuzuteilen? Mit bangen Gefühlen sah er eine Verschwörung, die jede Opposition im Keim erstickte und ihre Mitglieder in allen Nationen in die höchsten gesellschaftlichen Stellungen katapul tierte und dabei alle Kräfte vernichtete, die eine Intrige witter ten. Der Fall Simmons in Versailles war ein Musterbeispiel. Und wie war das mit jener Frau in der Isolierstation von Rom
gewesen? Plötzlich erkannte er, daß Forsythes Entschluß, den sechsten Sinn zu meistern, ein denkbar gefährliches Unterfangen war. Denn Forsythe gehörte nicht der Verschwörung an. Und was noch schlimmer war, die Sicherheitsbehörde kannte seinen Fall, weil er in Gregsons Erinnerungsvermögen eingegraben war, das allen Zylphern der Sicherheitsbehörde in Versailles zur Verfü gung gestanden hatte. Darum würde die Verschwörung Forsyt hes unabhängige Existenz nicht dulden! War die Farm aus diesem Grunde plötzlich verlassen worden? Waren Helen und Forsythe deshalb spurlos verschwunden? Gregson war entschlossen, Madame Carnot aufzusuchen; er bog in die Avenue Foch ein, mußte aber die Geschwindigkeit herabsetzen. Auf den Bürgersteigen sah er Leute mit verstörten Gesichtern. In ängstlicher Erwartung eines Heuleranfalls trugen fast alle ihre Injektionsausrüstung griffbereit. Gregson fand es erstaunlich, daß so viele Personen einem Anfall nahe waren oder schon den ersten Anfall hinter sich hatten. Dann begriff er, daß der Raultausbruch, der gestern begonnen hatte, sich fast unbehindert durch einen Riß im Stygumfeld ergoß. Er war zweimal von Ambulanzwagen aufgehalten worden, als er endlich in die Rue de la Sérénité einbiegen konnte. Hier war eine andere Welt, friedlich und ruhig wie der Name der Straße. Er hielt vor einem verzierten Eisenzaun und glaubte, den Grund dieser Ruhe ergründen zu können. Alle Gebäude um das Haus Nr. 17 gehörten zur VSB-Bodenkontrollzentrale und befanden sich im Feld eines großen Raultabfängers. Er überprüfte diese Annahme, indem er seinen eigenen Apparat
abschaltete. Er hatte richtig vermutet, denn er konnte nach wie vor nichts zylphen. Bevor er ausstieg, warf er einen unschlüssigen Blick auf die Valorianerin auf dem Rücksitz. Selbst wenn es seine Absicht gewesen wäre, hätte er im Augenblick nichts für die Frau tun können. Auf dem Bürgersteig blieb er noch einmal stehen und be trachtete den sich auf den Eingang zuschiebenden Menschen strom. Eine Aura drohender Gefahr schien das Gebäude zu umgeben, und er fragte sich, ob das etwas mit dem plötzlichen Raultausbruch von Chandeen zu tun haben könnte. Er schloß sich einer Gruppe an, die sich über den Hof beweg te. An der Tür stand ein Posten, aber er konnte an ihm vorbei gehen, was der offenbar herrschenden Verwirrung, der Außer gewöhnlichkeit irgendeines Vorfalls zuzuschreiben war. Mit den anderen stieg er die Treppe hinauf. Die meisten Leu te blieben in der Halle des zweiten Stocks zurück. Dort hatte sich eine Zuhörerschar vor der noch leeren Bühne versammelt. Er sah die gläsernen Kabinen im dritten und vierten Stock und bemerkte an den Wänden die leuchtenden Projektionen ver schiedener Länder der Welt. Vorherrschend waren Karten mit Sektionen der Vereinigten Staaten und Europa. Doch die gewaltige planetarische Sphäre des siebenten Stocks war in Dunkel gehüllt, und das galt auch für den ganzen Raum mit seinem elektronischen Zubehör und den kineskopischen Schirmen. Angesichts der lebhaften Aktivität im ganzen Gebäude war er nicht überrascht, Madame Carnot wach vorzufinden. Sie saß in
ihrem mit Satin tapezierten Wohnzimmer. Die Vorhänge der Dachgartenfenster waren zugezogen. Die alte Frau saß in ihrem Rollstuhl vor einem transportablen Bildschirm und einem Schaltpult. Immer, wenn ihre verkrüppelten Finger einen Knopf berührten, wechselte die Szene auf dem Bildschirm. Auf dem Tisch neben Madame Carnot stand ein Raultwerfer, dessen grüne Birne im Augenblick nicht leuchtete. Und daß sie Greg sons Anwesenheit nicht gezylpht hatte, war ein weiterer Beweis dafür, daß der Werfer nicht in Betrieb war. Dennoch drehte sie sich plötzlich nach ihm um. Er sprang vor, griff nach dem Rollstuhl und zerrte ihn vom Kontrollpult weg. Furcht stand in ihrem zerknitterten Gesicht geschrieben. Sie wollte aufstehen, fiel aber heftig atmend zurück. Dann zog sie ihre Robe fester zusammen und schien aus deren Wärme neue Energie zu schöpfen. »Sie kommen spät, Monsieur«, sagte sie. »Ich habe Sie schon viel früher erwartet!« »Sie wußten, daß ich Versailles verlassen habe?« »Ich wußte, daß Sie es verlassen würden. Das habe ich schon gezylpht, als Sie vor zwei Wochen hier waren. Aber Sie er schrecken mich nicht, Monsieur. Sie müssen wissen, daß Sie dem Tod sehr nahe sind.« Ihre blassen Augen unter den dün nen Brauen blitzten plötzlich belustigt über seinen verwirrten Gesichtsausdruck. »Ja, Monsieur, dem Tod sehr nahe. Den ganzen Tag habe ich seine Nähe gezylpht. Er ist hier in diesem Raum! Alles sprach dafür, und ich fürchtete schon, mein eige nes Ende wahrzunehmen.« Ihr Lächeln, obwohl schwach, hatte einen deutlichen spöttischen Zug. »Doch schließlich zylphte ich, daß es ein gewaltsamer feuriger Tod sein würde. Und ich wußte, daß mir nichts passieren würde, denn in diesem Zimmer
kann ich keinem gewaltsamen Tod zum Opfer fallen. Als Sie eintraten, da wußte ich, daß mein Omen gerechtfertigt war.« Sie wollte ihm Angst einjagen. Er wich diesem Versuch aus und fragte: »Die Sicherheitsbehörde will eine ständige, totale Weltkontrolle, nicht wahr?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das wollen wir nicht – wir haben sie schon. Es gibt kaum noch eine nationale Regie rung, die die Zügel nicht mit Duldung der Sicherheitsbehörde in den Händen hält. Denn wir haben unsere eigenen Männer ausgeschickt, unsere eigenen Zylpher, die in all jenen Regierun gen höchste Positionen bekleiden. Wir haben unser Personal auch schon lange in alle Positionen der wirtschaftlichen Ver antwortung geschleust.« Gregson dachte kurz über ihre Ausführungen nach. Längst war es üblich, die Ex-Heuler auf verantwortungsvolle und vor allem führende Positionen zu heben. Das war die Antwort der Gesellschaft auf die Plage. Man war der Ansicht, daß alle Leute, die die Heulerplage überlebt hatten, auch die besten Regie rungsvertreter wären. »Und der Reichtum der Welt?« fuhr Madame Carnot mit prahlerischer Überschwenglichkeit fort. »Wir haben genug davon. Und der Rest ist uns sicher. Durch nationale Steuerein nahmen besitzen wir mehr als die Hälfte der Einkünfte aller Regierungen. Aber das ist noch wenig, wenn man berücksich tigt, was uns nach der Beseitigung der Heuler zufließen wird – wenn die Weltproduktion sich wieder erholt hat.« Gregson beugte sich ein wenig vor und sagte ernst: »Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Sobald der Abfänger auf der Vega-Startbasis in Betrieb genommen ist, werden sich alle
Menschen in der Welt erheben und ihre Fesseln abstreifen.« Sie zuckte die Achseln. »Die Leute werden es versuchen, aber keinen Erfolg haben. Unsere Weltpolizei ist überall. Und wenn unsere Autorität in Gefahr ist, brauchen wir den Abfänger nur auszuschalten, um die Leute wieder an die Heulerplage zu erinnern.« Eine Zwangsherrschaft … Und Gregson sah ein, daß dieses Projekt Erfolg haben würde, daß es kaum eine andere Wahl gab. Entweder war die Weltbevölkerung durch die fatalen Folgen der Hypersensitivität zum langsamen Aussterben verdammt oder sie mußte sich, um der Heulerplage zu entgehen, den Bedin gungen der Sicherheitsbehörde beugen. Er griff nach ihrem Handgelenk. »Erzählen Sie mir etwas über die Valorianer! Warum sind sie wirklich hier?« Aber sie riß ihren Arm zurück und sagte mit einer kindi schen Betonung: »Einer, der kaum zylphen kann, stellt einer Madame Carnot keine Fragen!« Sie saß mit eigensinnig zu sammengepreßten Lippen da. Er nahm den Raultwerfer vom Tisch und drehte an dessen Knopf, bis seine Gliaempfänger den Einfluß künstlicher Hyper strahlung aufnahmen. Zunächst zylphte er nur seinen eigenen Körper, den Fluß des Blutes durch die Adern und Kapillargefä ße, die absterbenden und neu entstehenden Zellen. Er drehte den Knopf eine Raste weiter, bis er Madame Car nots Gegenwart im Strahlungsfeld hatte. Er konzentrierte sich auf die Struktur ihres Geistes, um ihre geheimen Gedanken aufzuspüren. Er entdeckte sofort das Üble, Niederträchtige, das Machtstreben, das trotz ihrer Senilität noch vorhanden war.
Doch da war noch etwas in ihrem Gemüt – eine gierige Erwar tung, die sich wie eine vibrierende Saite durch das ganze Spek trum ihres Unterbewußtseins zog. Im nächsten Moment wurde ihm der Raultwerfer aus der Hand geschlagen. Der Angreifer war so plötzlich im Hyper strahlungsfeld erschienen, daß Gregson ihn nicht mehr hatte zylphen können. Das Instrument fiel zu Boden. Gregsons Arme wurden nach hinten gerissen. Er stand zwischen zwei Posten, und ein dritter Mann beugte sich aufmerksam über Madame Carnot. »Tötet ihn! Tötet ihn!« kreischte sie. »Tötet ihn – sofort!« Schon zielte ein Posten mit dem Lasergewehr auf Gregson. Doch in diesem Moment füllte sich der Raum mit einem gewal tigen Raultausbruch, und abrupt war Gregson in der Lage, das ganze Gebäude zu zylphen: die elektronische Aktivität im Stromkreis sämtlicher Computer, Kontrollpulte und automati schen Projektoren. Madame Carnot schrie entsetzt; ihre Augen blicken starr nach oben, so als könne sie durch die Zimmerdek ke starren. Dann entdeckte Gregson die Ursache einer feurigen Bran dung von Hyperstrahlung. Es war ein kräftiger Raultwerfer an Bord eines Langstreckengleiters, der mit einem lauten Krachen auf den Fliesen des Dachgartens landete, wobei er die tropi schen Gewächse umknickte und die Terrassenmöbel demolier te. Die Posten eröffneten das Feuer. Valorianer und Menschen strömten aus dem Langstrecken gleiter. Die Fenster flogen auf, und Laserstrahlen schnitten in den Raum hinein. Gregson befand sich im Kreuzfeuer und ging rasch zu Boden. Zwei Posten brachen zusammen, und Madame
Carnot – von mehreren Strahlen getroffen – kippte in ihrem Rollstuhl nach vorn. Selbst in der Verwirrung des Augenblicks konnte Gregson mehrere abscheuliche Dinge zylphen, die durch den nächtli chen Himmel schossen und einige hundert, vielleicht sogar tausend Meilen entfernt waren. Seine Aufmerksamkeit war durch ihre Größe, ihre Unempfindlichkeit und ihren brutalen Zweck auf sie gelenkt worden. Und er konnte auch die nukleare Natur jeder Nutzlast zylphen. »Gregson! Gregson!« Er erkannte visuell seinen englischen Freund Kenneth Well ford, der sich in London das ›Heulerpäckchen‹ gekauft hatte. Gregson wollte aufstehen. Wellford versuchte, dem neben ihm stehenden Valorianer das Gewehr aus der Hand zu schla gen; aber es gelang ihm nicht. Der Linearverstärker spie einen Strahl aus, der Gregson in die Brust traf.
ZWISCHENSPIEL In mehr als zweiundzwanzigtausend Meilen Höhe, im Welt raum und über dem Atlantischen Ozean schwebend, zog der massige radförmige Rumpf der Vega-Startbasis seine Umlauf bahn. Die Station arbeitete mit einem Minimum an Energie, und die Nerven ihres Lebenssystems wiesen starke Mängel auf. Sobald qualifiziertes Personal zur Verfügung stand, würden
diese Mängel behoben sein. Dann würde die Luft sich rascher erneuern, die Drehung ständig auf einen konstanten G-Faktor abgestimmt bleiben und die Strahlungsdämpfer mehr als nur in einem Minimum wirksam sein. Dringend benötigt wurden Techniker, die sich in dem Sy stem auskannten, ohne vom Rault abhängig zu sein. Denn die Vega-Startbasis regenerierte schon jetzt das noch im Entstehen befindliche Stygumfeld, das sich ausdehnen und die ganze Erde abdecken würde. Und schon jetzt war das Feld so stark, daß die Werfer in Hunderten von Meilen Umkreis keine zylphbare Hyperstrahlung produzieren konnten. August Pritchard, der stellvertretende Raumdirektor der ISB, stand vor der Bildschirmreihe und beobachtete fasziniert die verschiedenen Szenen. »Wie schätzen Sie den Radius unseres Feldes ein, Swanson?« sprach er in ein Mikrophon. »Ungefähr fünftausend Meilen«, kam die prompte Antwort. »Wir müssen noch eine Anzahl mehr Generatoreneinheiten hinaufbringen und sie dem Abfangkreis eingliedern, bevor wir die Anlage zu vergrößern beginnen.« Pritchard öffnete den oberen Knopf seiner Uniformbluse. Das lockere Fleisch seines Genicks wölbte sich entspannt über den Kragen hinaus. »Wann beginnen wir mit dem nächsten Produktionstest?« fragte Swanson. »Ein Pendelschiff ist auf dem Weg nach oben. Es wird uns ein Signal geben, sobald es in unser Stygum eintritt.« Pritchard fuhr mit der Hand über seinen kahlen Schädel. Er krauste die Nase – die Luft schien wieder einmal ziemlich verbraucht zu sein. Als er an die Bildschirme zurückkehrte, fand
er, daß seine Schritte schwerer geworden waren. Die Station schien noch immer nicht richtig stabilisiert zu sein. Verdammt noch mal, wann schicken sie endlich einen Mann, der Ordnung in dieses Durcheinander bringen konnte? Sie hatten von einem Mann namens Gregson gesprochen. Er war Projektingenieur an Bord der VSB gewesen und mußte sich auf allen Gebieten auskennen. Die Halbtür schwang auf. Ein hagerer Mann trat ein, dessen Größe von dem hohen Kragen seiner Uniformbluse mit den Insignien der Raumfahrtabteilung nur noch unterstri chen wurde. Die fünf Sterne auf seinem Kragen identifizierten ihn als den Direktor dieser Abteilung. »Das Testschiff nähert sich«, gab General Forrester bekannt. »Wir können es auf Bildschirm 13 beobachten.« Pritchard schaltete ein und sah das Schiff über der blaugrü nen Farbe der Erde. »Wir haben noch immer keinen Kontakt mit der Pariser Bo denkontrolle«, sagte Forrester. »Ich frage mich, was passiert ist.« »Nichts von Bedeutung, davon bin ich überzeugt. Wahr scheinlich machen ihnen die Operationsbasen der Valorianer zu schaffen.« »Das denke ich mir auch. Aber was mich wundert, ist, daß wir erst vier unserer nuklearen Vögel gestartet haben. Ich dachte, wir hätten zweiundzwanzig Valorianerzellen zu demo lieren.« »Braucht alles seine Zeit.« »Aber das ist ja der springende Punkt. Es war doch vorgese hen, alle zur gleichen Zeit zu zerstören. Keiner sollte davon kommen.«
Pritchard drehte sich wieder nach den Bildschirmen um. Zur Rechten beobachtete er in der sonnenhellen Halbkugel eine Nuklearwolke, die über der südlichen Ukraine aufstieg; eine andere in Ägypten, östlich von Kairo. Auf der schwarzen Halb kugel, der irdischen Nacht, erschienen ebenfalls zwei Nuklear pilze – einer in Quebec und ein anderer nordwestlich des Golfs von Mexiko. »Eine hübsche Show«, meinte Pritchard. »Noch besser wäre es, wenn wir mehr zählen könnten«, sagte Forrester unschlüssig. In der Sprechanlage rasselte eine Stimme: »Pendelschiff nä hert sich Stygumfeld.« Pritchard sah das Testschiff, das sich jetzt groß von der klei ner gewordenen Erdkugel abhob. Wenig später kam das Signal. Das Schiff stieg in das gewalti ge Stygumfeld der Vega-Startbasis auf. »Wie steht's mit der Entfernung?« rief Pritchard ins Mikro phon. Einen Moment später kam die Antwort: »Achttausend Mei len!« Forrester stieß einen Pfiff aus. »Wesentlich besser, als wir erwartet haben!« Pritchard nickte grinsend. »Dann brauchen wir unsern Radi us nur auf ungefähr zwölftausend zu erweitern.« »Dann können wir die VSB in eine tiefere Umlaufbahn steu ern und die Erde ständig in unserm Feld halten – geschützt vor jeglicher Hyperstrahlung.« »Die Sache hat nur einen Haken«, erinnerte ihn Pritchard. »Wir brauchen Gregson. Er muß die Station hinuntersteuern und sie in ihrer neuen Umlaufbahn stabilisieren.«
13
Gregson wälzte sich auf dem straffen Segeltuch herum und zuckte zusammen, als er die Schmerzen in seiner Brust spürte. Dann erinnerte er sich an Madame Carnot und das Laserge fecht. Er richtete sich auf und schüttelte den Kopf. Um ihn herum war feuchtes, verschimmelndes Mauerwerk. Der Raum war ungeheuer groß. Eine in die Felsen gehauene Treppe führte in eine Seitenkammer der Wand, machte einen Knick und stieg weiter in die Höhe. Er griff nach seiner Brust und stolperte auf ein Fenster zu. Unten sah er ein Panorama mit Wällen und Zinnen, die von einem Festungswall umgeben waren. Es gab noch verschiedene kleinere Gebäude mit Türmchen und Bastionen, die den In nenhof schützten. All diese abbröckelnden Mauern waren von wilden Weinranken und Efeu überwuchert. Jenseits des Festungsgrabens stieg eine bewaldete Anhöhe in den blauen Himmel. In der entgegengesetzten Richtung der gleichen Anhöhe schob sich ein Weingarten mit krausen, vernachlässigten Rebstöcken bis an das Ufer eines breiten Flusses mit schnellem Gewässer. Das konnte nur der Rhein sein. Und er befand sich in einem Kellergewölbe des mittleren Turmes einer noch aus der Ritter zeit stammenden Burg. Eine Bewegung im Innenhof erregte seine Aufmerksamkeit. Er konnte durch die Sträucher blicken und zwei Langstrecken gleiter sehen. Er erinnerte sich seiner Gliazellen und machte sie lichtempfindlich. Doch in der stygumbraischen Dunkelheit
konnte er nichts zylphen. Sekunden später stürmte eine kräftige Welle Hyperstrahlung auf ihn ein. Sie war nicht auf synthetischem Wege produziert worden, denn er konnte zylphen, daß sie von Chandeen ausge strahlt wurde. Jemand mußte einen Abfänger ausgeschaltet haben, der jegliches Rault auslöschte und die Burg in ein Feld künstlichen Stygums hüllte. Visuell konzentrierte er sich auf die beiden Männer, die er durch die offene Luke des nächsten Gleiters sehen konnte. Doch er konnte sie nicht zylphen, denn der Gleiter war in einer Sphäre von Metafinsternis verborgen, die sich in seinem Hy perwahrnehmungsfeld ausdehnte und dann wieder zusammen schrumpfte. Offenbar war es das gleiche schwankende Feld, das ihn unlängst eingehüllt hatte. Gregson wandte seine transsensorische Aufmerksamkeit wieder der Burg zu. Sie war völlig verlassen, zwei Bezirke aus genommen. In einer altersschwachen Kapelle auf dem Burghof bauten einige Männer eine Apparatur zusammen, die wie ein hyperelektromagnetischer Kommunikator für weite Entfernun gen aussah – ein kosmischer Sender, der Raultträgersignale ausstrahlen konnte. Zwei der Männer waren Valorianer. Selbst aus dieser Entfer nung war es nicht schwer, ihre Zwillingsherzen zu zylphen. Um die Kapelle herum standen einige Werfer, die noch immer Hyperstrahlung produzierten, obwohl das künstliche Stygum feld zusammengebrochen war. Dann zylphte er in der Zentralstruktur der Burg, zwei Etagen tiefer, Wellford und zwei Valorianer. Die Frau, die er auf einem Feld vor Paris aus der Kapsel geborgen hatte, saß mit banda
giertem Kopf auf einer Pritsche. Plötzlich spürte er, daß Wellford in seine Richtung zylphte. Doch gerade in diesem Augenblick blähte sich das Stygumfeld des Gleiters ballonartig auf, und Gregson konnte nichts mehr empfangen. Wenig später hörte er Schritte auf der Treppe. Wellford trat grinsend in Erscheinung. »Willkommen in der Klasse der Zylpher. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie in diesen Klub gehö ren.« Er hatte sich verändert, wenn auch nicht stark. Der Scheitel in seinem blonden Haar war schräg, und sein Gesichtsausdruck, obwohl lebhaft wirkend, konnte seine Sorgen unter der Ober fläche nicht verbergen. Wie dem auch sei, er schien noch immer der muntere Engländer zu sein, der er auch vor zwei Jahren gewesen war. Er kam näher und drückte Gregson die Hand. »Entschuldi gen Sie die Sache von gestern abend. Ich wollte den Lauf des Lasergewehrs zur Seite schlagen. Glücklicherweise war es kein scharfer Strahl.« Als Gregson ihn nur unschlüssig anstarrte, fügte er hinzu: »Ich glaube, Sie irren sich, Greg. Ich bin nicht unter den verhängnisvollen Einfluß der boshaften Valorianer geraten. Ich bin nicht ihr willenloses Werkzeug.« »Woher wissen Sie, daß man mir das erzählt hat?« »Ich hatte Gelegenheit, es zu zylphen, als wir Sie gestern nacht auflasen.« Er nahm auf der Pritsche Platz und bot ihm eine Zigarette an. »Was bereiten Sie mit den Valorianern vor – eine Gegenver schwörung?« »Ungefähr. Wir scheinen in der vergangenen Nacht einige
Fortschritte gemacht zu haben. Finden Sie nicht auch? Ich spreche von unserem Überfall auf die Pariser Bodenkontrolle.« »Anscheinend hatte sie Erfolg.« »Kann man sagen. Wir haben ein paar Hornissen aus dem Nest geholt und, was Madame Carnot betrifft, ganze Arbeit geleistet. Und es wird einige Kopflosigkeit entstehen, wenn die Spitze der Pyramide abgebröckelt ist.« »War sie wirklich diese Spitze?« »Eine der ersten Raultsensitiven. Unglaublich mit dem Zylphen vertraut.« »So gut wie die Valorianer?« »Oh, natürlich nicht. Wir stehen erst am Anfang des Zylphens – selbst Radcliff. Die Valorianer kennen es ihr ganzes Leben lang. Und wir zylphen in einem fast totalen Stygum, wenn man es mit dem raultreichen Feld vergleicht, in dem sich Valoria befindet.« Gregson blickte von seiner Zigarette auf. »Und wo ist das?« »Näher am Zentrum der Galaxis. Übrigens besten Dank für die Bergung von Andelia. Wir zylphten sie in Ihrem Wagen, kurz vor unserer Umgruppierung. Sie ist keine Hypnotiseurin. Kein Valorianer hat etwas damit zu tun.« Gregson war nicht ganz bereit, sich davon überzeugen zu las sen, daß die Fremden die Kehrseite der Medaille waren. Denn hatte man die Wahl zwischen den Valorianern und der Sicher heitsbehörde, so konnte man von zwei Übeln lediglich das kleinere wählen. Angenommen, die Valorianer hatten auf dem Gebiet der Hypnose Erfahrungen gesammelt? Gregson sagte gedehnt: »Die Sicherheitsbehörde hat doch allerlei unternommen, um uns glauben zu machen, daß die
Valorianer Meister der suggestiven Technik sind, nicht wahr?« Er beobachtete die Reaktion des Engländers. »Nicht wahr? Wie Sie wissen werden, haben sie einen ihrer Lakaien betäubt, ihn auf einer Bühne in London zur Schau gestellt und ihn hypnotische Suggestionen zugeben lassen. Armer Narr … Er wußte nicht, daß er im Interesse einer über zeugenden Demonstration umgebracht werden sollte.« War das wirklich geschehen? Oder hatten die Valorianer Wellford das alles nur eingeredet? Der Engländer zuckte die Achseln. »Wie dem auch sei, es war die Anstrengungen wert. Alle Leute waren bereit, jeden Valo rianer auf Anhieb umzubringen, sofern sie einem begegneten.« Stand Wellford auch jetzt unter einem hypnotischen Zwang, der ihn veranlaßte, die Valorianer in Schutz zu nehmen? Da fielen Gregson die Eindrücke ein, die er in Madame Carnots Zimmer wahrgenommen hatte. »Es hat ein nukleares Gefecht stattgefunden!« Wellford schüttelte den Kopf. »Kein Gefecht«, sagte er, »nur ein Angriff. Der Beginn eines Angriffs auf unsere valorianischen Einrichtungen. Das war der Hauptzweck unseres Überfalls: die Offensive noch im Keim zu ersticken. Wir hatten einen beacht lichen Teilerfolg, denn nur vier nukleare Vögel kamen in die Luft. Zwei trafen ihre Ziele, aber wir hatten die Bewohner des einen Areals schon evakuiert. Die Zwangspause des Überfalls versetzte uns in die Lage, auch die anderen Leute evakuieren zu können. »Ich dachte, es wäre schon 1995 alles vorbei gewesen.« »Es ist nur eine leichte Nuklearausrüstung zurückgeblieben. Und alle Arsenale gehören der Sicherheitsbehörde. Weil ihr die
Länder gehören, will sie von einer weiteren Zerstörung ihres Eigentums absehen – wie das im Jahr 1995 der Fall war.« »Sie meinen, daß die Sicherheitsbehörde –?« »Aber natürlich!« Wellford strich das Haar aus der Stirn. »Das war ein Meisterstück ihrer Strategie. Die Behörde hatte vor vier Jahren den Finger am Nuklearabzug. Und das hatte einen sehr einleuchtenden Grund. Dieser Schußwechsel sollte die Regierungen nur zur Ohnmacht verdammen und ein Vaku um der Furcht und der militärischen Unzulänglichkeit schaffen. Trat die Sicherheitsbehörde in dieses Vakuum – als Wohltäterin natürlich –, so konnte sie zu einer fast unbegrenzten Macht gelangen.« Er drückte seine Zigarette aus, stand auf und blickte durch das Fenster auf die vom rötlichen Schein der unterge henden Sonne überflossenen Berge. »Sie werden Hunger haben. Ich habe unten etwas zubereitet.« Auf dem Weg nach unten fügte er hinzu: »Ich habe zufällig eine wundervolle Neuigkeit, die ein anderer eher verdient hat als ich.« »Helen und Bill!« entfuhr es Gregson. Wellford blieb auf der Treppe stehen. »Nein, nicht Ihre Freunde«, sagte er. »Wir können im Augenblick auch nichts für sie tun.« »Ich möchte gern noch einmal die Farm anrufen.« »Das ist leider unmöglich. Wir arbeiten unter strikter Ge heimhaltung. Auch die Fernsprechverbindungen machen keine Ausnahme. Dieses Projekt ist von außergewöhnlicher Wichtig keit. Wir können unsere Chancen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, indem wir der Sicherheitsbehörde die Suche nach uns erleichtern.«
»Was ist denn das für ein Projekt?« »Ein Aufruf zur Unterstützung der Valorianer. In ein, zwei Tagen hoffen wir, unsere Meldung verbreiten zu können. Dann haben Sie Zeit, sich um Forsythe und dessen Nichte zu küm mern.« In einem ähnlichen Raum, eine Etage tiefer, nahm Gregson seine Mahlzeit ein, während Wellford hinausging, um bei der Montage des Senders mitzuhelfen. Als er gegessen hatte, suchte er in seinen Taschen nach dem Raultabfänger, den er in Versail les eingesteckt hatte. Doch der Apparat war nicht mehr vorhan den. Er zündete sich eine Zigarette an, trat auf den balkonartigen Vorbau hinaus und lehnte sich über dessen steinerne Brüstung. Er betrachtete den jetzt von Mondlicht überflossenen Berghang. Seine Unschlüssigkeit bedrückte ihn. Er fragte sich, ob er flie hen solle, bevor es zu spät war – bevor sie Gelegenheit hatten, ihn ihrem Willen zu unterwerfen. Er studierte die inneren und äußeren Wälle, von denen die Burg umgeben war, und entdeckte dabei einen der Tunnel, die ins Freie führten. Die Burg wurde offenbar nicht bewacht. Dann stellte er in der Tunnelöffnung eine Bewegung fest. Da kam ein Mann auf den Innenhof, vorsichtig und in geduckter Haltung. Der Linearverstärker einer Laserpistole glitzerte im Mondlicht. Eine weitere Bewegung, noch vorsichtiger, lenkte Gregsons Aufmerksamkeit auf sich. Er erkannte die Gestalt über der Tunnelöffnung, die sich plötzlich abstieß, durch die Luft schnellte und auf dem bewaffneten Mann landete. Beide stürz ten, miteinander ringend, zu Boden. Der Strahl der Laserpistole
kappte die Spitze eines kleinen Türmchens ab. Dann flog die Waffe dem Mann aus der Hand, und er stieß mit gutturaler Stimme eine Serie deutscher Flüche aus. Plötzlich war die ganze Szene taghell erleuchtet; Valorianer und Menschen kamen aus der Kapelle gelaufen. Gregson trat in den Schatten zurück, so daß niemand wußte, daß er Zeuge dieses Vorfalls gewesen war. Der Eindringling wand sich unter den Griffen mehrerer Va lorianer. Er war ein stämmiger Mann mittleren Alters, der unaufhörlich seine Flüche brüllte. Wellford ging auf ihn zu und mußte seinerseits einige Male brüllen, bis der andere sich beruhigt hatte. Dann unterhielten sie sich in deutscher Sprache. »Was sagt er?« fragte einer der Valorianer. »Er ist der Kapitän eines Schleppers und wohnt in der Nähe. Er sah unsere Lichter.« »Dann ist er nicht von der Sicherheitsbehörde?« »Nein, es sieht nicht so aus. Natürlich können wir das später genau feststellen.« »Er gefällt mir«, sagte der Valorianer, der dem Deutschen die Laserpistole weggenommen hatte. »Wir könnten ihn gut ge brauchen.« »Es steht fest, daß wir ihn nicht laufenlassen dürfen«, meinte Wellford. »Dann bewachen wir ihn, bis sich eine Gelegenheit bietet, ihn zum Mitmachen zu überreden.« Sie bugsierten den Deutschen in die Kapelle. Das Flutlicht erlosch. Gregson mußte zugeben, daß die Burg sogar sehr sorgfältig bewacht wurde. »Er wird sich wohl fühlen, sobald er alles begriffen hat«, sagte
eine Stimme hinter ihm. Gregson drehte sich um und sah eine Valorianerin im Tür rahmen stehen. »Tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe«, entschuldigte sie sich. »Ich bin Andelia.« »Und was soll der Mann dort unten begreifen, Andelia?« fragte Gregson, ihr vorsichtig in den Raum folgend. »Die meisten Dinge, die Sie schon wissen, und viele Dinge, die Ihnen noch unbekannt sind.« Selbst nach irdischen Maßstäben konnte man sie als attraktiv bezeichnen. Die weiße Kopfbandage saß wie ein Turban über ihrem glatten olivfarbenen Gesicht und betonte ihr orientali sches Aussehen. »Und wenn wir ihm das Zylphen beigebracht haben«, fuhr sie fort, »wird alles glaubwürdig sein.« »Sie können ihm das Zylphen beibringen?« »Ziemlich leicht. In ein paar Wochen …« »Und Sie können das allen Leuten beibringen?« »Natürlich. Das war auch unsere Absicht, als wir die erste Expedition starteten.« Diese Täuschung war zu kühn. Niemand konnte sich an die Heuler gewöhnen und in ein paar Wochen hypersensitiv wer den. Das konnte er selbst am besten beurteilen. »Sie haben mir das Leben gerettet«, fuhr Andelia nachdenk lich fort, »und Ihr Freund Wellford hat mir erzählt, daß ich meiner Dankbarkeit am besten Ausdruck verleihen kann, indem ich Ihnen von Manuel berichte.« Gregson war erstaunt. »Sie wissen etwas von meinem Bruder?«
»Er überlebte. Es geht ihm gut. Sie werden ihn zylphen kön nen.« »Woher wissen Sie das? Was ist geschehen?« »Unser Schiff entdeckte Ihre Expedition, als sie die Stygum bra verließ. Tagelang war die Mannschaft dem Rault ausgesetzt. Viele starben. Einige wurden wahnsinnig. Wir konnten nur wenige retten.« Gregson starrte die Valorianerin skeptisch an und sagte: »Würde Manuel wirklich noch leben, wäre er längst zurückge kehrt.« »Er kann nicht zurückkehren – erst wenn Ihre Welt das Sty gumbrafeld verlassen hat.« »Warum nicht?« Andelia ging einmal um den Tisch herum, langsam und vor sichtig wie eine Seiltänzerin. Zunächst wunderte Gregson sich darüber; dann begriff er, daß eine Valorianerin in einer raultlo sen Umgebung nicht so sicher gehen konnte. Sie wußte nicht, was sich vor jedem Schritt befand. Sie trat ans Fenster und blickte den Hang hinunter. »Viel leicht begreifen Sie es anhand eines Gleichnisses. Nehmen wir an, ein Angehöriger Ihrer Rasse hat sein ganzes Leben in einer Höhle verbracht. Nehmen wir weiter an, Sie führen ihn hinaus und helfen ihm, sehen zu lernen. Gewöhnt er sich daran, wird er andere Fähigkeiten der Wahrnehmung bis zu einem gewissen Grad verlieren. Zwingen Sie ihn, wieder in die Höhle zurückzu kehren, so wird er sich fürchten. Und seine Furcht vor der Dunkelheit wäre verständlich. Denn er würde in eine Grube stürzen und sterben.« Gregson war mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Er konnte
sich nicht vorstellen, daß ein paar Jahre Zylphen Manuel Angst vor dem Stygum einflößen würden, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte. »Was hatte eigentlich Ihr Schiff außerhalb der Stygumbra verloren?« fragte er. »Manchmal sahen wir Ihre Welt. Aber wir konnten nicht in den stygumbraischen Kegel eintreten, weil unsere Navigations instrumente raultorientiert waren.« »Und dennoch wolltet ihr uns helfen?« fragte Gregson. »Ja. Euch sollte nicht dasselbe passieren, was über uns he reinbrach, als Valoria die Stygumbra verließ. Unsere politischen Folgen waren verheerend. Wir litten viele Generationen lang im Joch valonanischer Tyrannen.« Noch skeptischer sagte Gregson: »Aber als ihr uns schließlich eine Rettungsmission schicktet, war sie machtlos.« Andelia schlug ihre Augen nieder. »Die Expedition sollte sich einen Überblick über die Lage verschaffen, mit den Regierungs vertretern Ihrer Welt Kontakt aufnehmen, damit die entspre chenden Kliniken zur Anpassung an Hypersensitivität gebaut würden. Doch unser Sender wurde während der Kapsellandung zerstört. So konnten wir nicht melden, daß eine Handvoll Neozylpher bereits Machtpositionen erobert hatte. Und wenn wir das Ihren Menschen erzählen wollten, wurden wir von der Sicherheitsbehörde daran gehindert.« Gregson schwieg einen Moment. »Wenn euer Sender wieder einsatzfähig ist, welche Art von Meldungen werdet ihr dann zurückstrahlen?« »Wenn wir die Sicherheitsbehörde überwältigen und verhin dern, daß Milliarden der Sklaverei oder dem Tod zum Opfer
fallen, dann wird das entweder sehr bald sein oder überhaupt nicht. Wir werden alles beschlagnahmen, was wir für die Er richtung unserer Kliniken benötigen. Wir hoffen, daß es bis zu diesem Zeitpunkt keine Opposition geben wird.« »Und wie wollt ihr eine Opposition beseitigen?« »Sie wollen mehr wissen als ich selber weiß.« Andelia richtete ihren Oberkörper auf. »Man hat mich noch nicht in all unsere Pläne eingeweiht.« Oder wollte sie nur sein Vertrauen gewinnen, um gleichzeitig die wichtigsten Einzelheiten zu unterschlagen? »Warum sind nirgendwo Raultwerfer zu sehen?« fragte er. »Damit ich diese Pläne nicht zylphen kann?« »Alle Werfer werden für die Konstruktion unseres Senders benötigt.« »Oh, ich verstehe.« Gregson verlieh seiner Stimme einen überzeugenden Klang, denn es war ein Fehler gewesen, sein Mißtrauen allzu deutlich durchschimmern zu lassen. Sie ging auf die Treppe zu, blieb aber kurz vor der ersten Stu fe stehen. »Oh, ich sollte Ihnen sagen, daß Sie in dem oberen Raum übernachten werden. Wellford ist der Meinung, daß Sie Ruhe nötig haben.« Gregson fand in dieser Nacht keinen Schlaf und betrachtete den Mond, der über den Bergen am Westufer des Rheins mild leuchtete.
14
Die Burg befand sich immer noch in dem künstlichen Stygum feld, als Gregson und Wellford am nächsten Morgen gemein sam frühstückten. Der Engländer machte einen derart ausgegli chenen Eindruck, daß es Gregson schwerfiel, zu glauben, keinen freien Agenten vor sich zu haben. »Wir machen mit dem Sender große Fortschritte«, sagte Wellford, den letzten Schluck Kaffee schlürfend. »Ohne die Unterbrechung in der vergangenen Nacht wäre er jetzt schon fertig. Hoffentlich hat man Sie nicht gestört.« »Der neugierige Deutsche?« Gregson hatte geglaubt, man würde ihm nichts von diesem Zwischenfall erzählen. Wellford nickte. »Andelia sagte, Sie hätten alles beobachtet. Armer Kerl. Ich kann mir vorstellen, daß es ein unbefriedigen des Gefühl ist, wenn man all seine eingefleischten Vorurteile über die Valorianer verwerfen muß …« »Wie geht es ihm?« »Er will sich noch immer wehren. Doch Andelia unterhält sich mit ihm. Wir hoffen, ihn in kurzer Zeit überzeugt zu ha ben.« »Werdet ihr ihm das Zylphen beibringen?« fragte Gregson vorsichtig. »Früher oder später. Wenn die Gelegenheit günstig ist. Aber im Augenblick haben wir andere Sorgen.« »Andelia sagt, die Valorianer könnten ihn in nur wenigen Wochen umschulen.« »In drei Wochen, soviel ich weiß.«
»Haben Sie das schon einmal erlebt?« »Noch nicht. Aber sie haben Kliniken, die auf zwei ihrer Ba sen operieren.« Gregson fand, daß er weit genug in diese Richtung vorgesto ßen war und wechselte das Thema. »Seit wann ist die ISB über die Valorianer informiert?« »Seit im Jahre 1996 ihre erste Expedition landete – das Jahr nach dem Verschwinden des Weltraumschiffs ›Nina‹.« »Und wie hat die ISB die Valorianer entdeckt?« Wellford zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich zurück und blies eine dicke Rauchwolke in den quer über die Tischflä che fallenden Sonnenstrahl. »Die Valorianer wollten zunächst Verbindung mit den Regierungskreisen aufnehmen – mit den Staatsoberhäuptern, wenn möglich. Doch fast alle Leute, mit denen sie sich in Verbindung setzen konnten, waren Ex-Heuler, die der Verschwörung angehörten. Zuerst wollten sie mit dem englischen Premierminister Kontakt aufnehmen. Die ISB erfuhr dann auch, daß ihr Traum von der absoluten Weltherrschaft durch die Ankunft der Fremden nicht mehr so einfach zu verwirklichen war. Denn die Fremden wollten eine derartige Verschwörung verhindern.« »Und der erste Valorianer, den wir sahen? Der Leichnam in Rom?« »Er war einer der letzten Valorianer, die versuchten, die Bar rieren zu durchbrechen. Aber der Präsident von Italien war ebenfalls ein Ex-Heuler, der unter dem Einfluß der ISB stand.« Gregson bemühte sich, kein allzu skeptisches Gesicht zu ma chen. »Aber sicher gab es doch andere Wege, die Meldungen
durchzubringen.« »Kaum. Schon vor Jahren hatten die Sicherheitsbehörde und deren zivile Mitverschwörer das Nachrichtennetz unter ihrer Kontrolle – eine Stufe auf dem Weg zur absoluten Weltherr schaft.« Der Engländer stand abrupt auf. »Ich muß gehen. Wenn Sie bei uns mitmachen wollen, sagen Sie mir Bescheid. Irgendwo passen Sie schon hin.« »Wieso?« »Tun Sie nicht so bescheiden. Sie wissen genau, daß Sie der einzige Mann sind, der mit der Vega-Startbasis umgehen kann. Und darum wird man Sie suchen wie eine Stecknadel.« »Sie werden auch ohne mich auskommen.« »Zugegeben. Aber nicht zur rechten Zeit.« »Nicht zur rechten Zeit? Inwiefern?« »Die Erde bewegt sich rasch aus dem Stygumbrafeld heraus. Tausende von Menschen werden zu Heulern werden. Das Risiko, das Hyperwahrnehmungsvermögen zu dämpfen, ist zu groß für die neuen Heuler, das heißt, sie können nicht mehr von den Isolierstationen kontrolliert werden. Und solange die VSB nicht ihr künstliches Stygum über der Erde ausbreiten kann, entgleiten der Sicherheitsbehörde die Zügel.« Als Wellford gegangen war, wanderte Gregson eine halbe Stunde lang auf und ab. Dann verwandelte sich seine Bestür zung in Entschlossenheit. Er mußte wissen, ob alles wirklich so war, wie Wellford es geschildert hatte. Möglicherweise war der Engländer einer Täuschung zum Opfer gefallen und wußte nicht, daß die Valorianer ihn für ihre Zwecke eingespannt hatten. Er ging hinaus und betrachtete die Burgkapelle, in der am
raultronischen Sender gearbeitet wurde. Alles in der Burg, die Umgebung des Senders ausgenommen, war in ein künstliches Stygum gehüllt, für das der Raultabfänger eines Luftgleiters sorgte. Doch der Arbeitsbezirk in der Kapelle und deren nähe rer Umgebung war hyperilluminiert durch Raultwerfer. Vielleicht konnte er, vom Rand dieses Feldes, die Valorianer zu einem Zeitpunkt zylphen, wenn sie derart mit ihrer Arbeit beschäftigt waren, daß sie sein Interesse nicht wahrnehmen konnten. In letzterem Fall konnte er in Erfahrung bringen, ob die Valorianer als echte ›Wohltäter‹ auftraten oder nur mit der ISB wetteiferten, weil sie selbst die Absicht hatten, die Weltbe völkerung unter ihre despotische Kontrolle zu bringen. Er schlenderte, scheinbar gleichgültig, auf die Kapelle zu und stand im nächsten Augenblick einem Fremden gegenüber, der sagte: »Sie dürfen nicht eintreten.« Es war offensichtlich, daß man seine Freiheit eingeschränkt hatte, obwohl man ansonst bestrebt war, seine Sympathie zu gewinnen. Doch als er in anderer Richtung weiterging, stellte er fest, daß niemand von ihm Notiz nahm. Er wanderte durch einen Tunnel im inneren Burgwall und hatte wieder Gelegenheit, sich zu wundern. Denn plötzlich stand er zwischen zwei Langstreckengleitern, ohne von einem Posten verscheucht zu werden. Obwohl er eine Falle vermutete, stieg er nichtsdestoweniger in einen Gleiter, dessen Abfanggerät die Burg beschirmte. Einen Moment später startete er den Gleiter, lenkte ihn scharf nach Westen und stieg in transozeanische Höhen. Wenn das eine Falle gewesen war, dann war er samt dem Köder entkommen … Schon drei Stunden später flog er über die Küste der Verei nigten Staaten hinweg und weiter ins Zwielicht der Dämme
rung hinein. Während er seinen Gleiter lenkte, dachte er über alle Punkte nach, ohne daß es ihm gelang, diese verwirrende Gedankenfülle zu ordnen. Die Valorianer waren geheimnisvolle Wesen. Natürlich war es möglich, daß sie sich auf einer ›Missi on der Barmherzigkeit‹ befanden, doch sie konnten auch Schlingen ausgelegt haben, die weitaus gefährlicher waren als die Fußangeln der Sicherheitsbehörde. Er überflog die Grenze New Jersey – Pennsylvanien und re duzierte die Geschwindigkeit, als der Gleiter in dichtere Luft massen eintauchte. Er erkannte Forsythes Farm und steuerte den winzigen Landeplatz an. Dann stieg er aus und rief: »Helen! Bill!« Doch in Forsythes Haus, dessen Fenster im ersten Licht der Frühdämmerung noch dunkel waren, blieb alles still. Er starrte unschlüssig den Luftgleiter an. Wenn er den Raultabfänger ausschaltete, konnte er vielleicht durch diesen Mantel des Geheimnisvollen zylphen, der das Gebäude umgab. Plötzlich eine heisere Stimme: »Stehenbleiben! Keine Bewe gung!« Zwei Beamte der Weltpolizei, ihre Lasergewehre in Anschlag, kamen aus der Scheune. »Sind Sie Gregson?« wollte einer von ihnen wissen. »Natürlich ist er es«, sagte der andere. »Wer denn sonst wür de mit einem eingeschalteten Raultabfänger landen?« Der erste Mann kam näher und befahl: »Drehen Sie sich um!« Als Gregson das getan hatte, spürte er in seinem Genick den Einstich einer Injektionsnadel.
Er erwachte aus seiner Bewußtlosigkeit und blickte in die grel len flackernden Lichter an einer mit akustischen Ziegeln ausge legten Decke. Er schirmte seine Augen mit den Händen ab, richtete sich auf der Plastikcouch auf. Die betäubende Wirkung der Injektion würde noch einige Zeit andauern. Als seine Augen sich an das grelle Licht gewöhnt hatten, blickte er durch ein Fenster. Er sah einen Betonstreifen, auf dem mehrere Pendelschiffe standen, deren spitze, glänzende Nasen in den Himmel deuteten. Vor den Hangars und den Gebäuden um den Betonstreifen herum entfaltete das Personal in den Uniformen der Weltpolizei, der Raumfahrtabteilung und der US-Armee eine fieberhafte Tätigkeit. In der Ferne sah man kahle Bergzacken. Er hörte Papier rascheln, drehte sich um und sah Weldon Radcliff hinter einem polierten Schreibtisch sitzen. Radcliff blätterte in einer Aktenmappe. Ein Plüschteppich streckte sich wie ein Rasen von einer mit Mahagoniholz getäfelten Wand zur anderen. Neben der Tür stand ein Posten, das Lasergewehr in die Beuge seines Ellenbogens gelegt. Unter den Gegenständen auf dem Schreibtisch befand sich auch ein Raultabfänger mit einer rotglühenden Birne. Doch Gregson nahm an, daß das Instrument noch nicht lange eingeschaltet war und der Direktor die Gedanken seines Gesprächspartners gezylpht hatte. Radcliff blickte auf und sagte: »Wir unterhalten uns gleich. Sie sind in der Kommandozentrale der Raumfahrtabteilung.« Nach einer Weile klappte er die Aktenmappe zu, legte den Raultabfänger in eine Schublade und sagte zu dem Posten: »Bringen Sie ihn hier herüber.« Gregson wurde zu dem Sessel geführt, auf den Radcliff ge
deutet hatte. »Ich hoffe, Sie wollen sich nicht absichtlich in Schwierigkei ten stürzen«, sagte der Direktor. »Immerhin waren Sie ja dumm genug, zu Forsythes Farm zurückzukehren.« »Was haben Sie mit mir vor?« »Wir starten heute nacht zur VSB. Ich fliege mit meinem Stab persönlich mit. Sie werden die Abteilungen Antrieb und Instandhaltung übernehmen.« Er legte seine Hände auf dem Schreibtisch übereinander. »Ich stehe in Ihrer Schuld, denn Sie haben eine Menge wertvoller Informationen geliefert. Wir haben diesen Sender nämlich gesucht und brauchen uns nun, dank Ihrer Mitwirkung, keine Sorgen mehr zu machen.« »Sie haben den Sender zerstört?« »Vor Stunden.« »Und was ist aus den Leuten geworden?« »Aus Wellford und den Valorianern? Sie entkamen unglück licherweise. Alle – bis auf einen. Wir haben die Valorianerin aufgegriffen. Ein Jammer, daß Sie nicht herausgefunden haben, wo die anderen Stützpunkte liegen …« Gregson bedauerte das Schicksal Andelias. Sie war so hilflos und schien so aufrichtig zu sein. Er erhob sich und trat näher an den Schreibtisch des Direktors heran. »Sind die Valorianer hier, um uns zu versklaven?« Radcliff machte eine ungeduldige Geste. »Haben Sie keinen Verstand im Kopf, Mann? Weshalb soll ten die Valorianer sonst hier sein?« »Sie wollen uns helfen, hypersensitiv zu werden.« »Sie reden, als stünden Sie unter valorianischem Zwang!« »Gibt es denn so was Ähnliches wie einen valorianischen
Zwang?« »Ich –« Radcliff sprach den Satz nicht zu Ende. »Ja, haben Sie denn nicht erlebt, was sie alles tun können? Haben Sie nicht beobachtet, daß Wellford ihnen den Staub von den Schuhen leckt?« Gregson sank wieder in den Sessel zurück und wußte nun, mit welch einer Sorgfalt Radcliff seine Gedanken gezylpht hatte. Radcliff kam um den Schreibtisch herum auf ihn zu und griff nach seiner Schulter. »Sie waren auf Seiten der Valorianer und werden jetzt begriffen haben, daß es nicht so einfach ist, sich über die Heulerbarriere hinwegzusetzen. So wollen wir die Angelegenheit von der praktischen Seite betrachten.« Gregson starrte ihn fragend an. »Die Welt will erobert werden«, fuhr Radcliff fort. »Es ist so und nicht anders. Wenn wir nicht zugreifen, tun das die Valo rianer. Aber ich denke, wir sollten es sein. Immerhin sind wir Menschen, die Valorianer sind es nicht. Und wir haben letzten Endes das Erlöschen der Heulerplage anzubieten.« »Wird der Abfänger auf der Vega-Startbasis arbeiten? Kön nen Sie der Heulerplage ein Ende bereiten?« »In einem Radius von zehntausend Meilen um die Station haben wir bereits jegliches Rault abgefangen. Sobald wir in der Lage sind, dieses Feld auf zwölftausend Meilen zu erweitern, ist das gleichbedeutend mit dem Ende der Hypersensitivität. Sie müssen uns lediglich helfen, die VSB in eine tiefere Umlauf bahn zu lenken.« »Und dann wird die Hierarchie der Sicherheitsbehörde Raultwerfer benutzen, um den Vorteil des Zylphens wahrzu nehmen, wann immer sie es für nötig hält. Auf diese Weise
wollen Sie Ihre Macht verewigen.« Radcliff dachte einen Moment nach. »Nennen Sie es so«, sag te er dann. »Wie dem auch sei, es muß eine Gruppe geben, die eine weltweite Kontrolle ausübt und diese Kontrolle als Boll werk sowohl gegen die Hyperstrahlung als auch gegen die Valorianer betrachtet. Denn sonst würden Milliarden Men schen den Heulertod sterben!« »Die Valorianer sagen, wir können völlig raultsensitiv wer den – ohne Krankheitssymptome und innerhalb weniger Wo chen.« »Glauben Sie das?« »Forsythe hat sich anscheinend mit der Hypersensitivität ab gefunden – und er ist kein Heuler geworden, obwohl er schon eine Unzahl von Anfällen hatte.« »Großer Gott, Sie können doch nicht von Forsythe auf alle anderen schließen! Er ist blind. Und wie ich aus Ihrem Unter bewußtsein zylphen konnte, hat er oft den Wunsch gehabt, diese ›verdammten Lichter‹ zu sehen.« Er legte eine Pause ein. »Tatsache ist, daß die Menschheit für den sechsten Sinn noch nicht reif ist.« Er gestattete sich ein Lächeln. »Würden noch mehr Menschen die Heulerplage überleben, so würde der Kampf um die Macht chaotische Formen annehmen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« Gregson schwieg eine Weile. Dann: »Angenommen, ich teile nicht Ihre Meinung?« »Das werden Sie«, versicherte ihm Radcliff. »Wir haben nämlich Forsythe und dessen Nichte. Und wir wissen auch, daß Sie sehr an diesen beiden Personen hängen.« Gregson sprang auf, doch einer der Posten senkte sofort sein
Lasergewehr. Der Direktor saß ruhig da und betrachtete seine gefalteten Hände. Das Fernsehtelefon auf dem Schreibtisch surrte, und Radcliff schaltete den Bildschirm ein. »Colonel Reynolds möchte Sie sprechen, Sir«, hörte Gregson eine weibliche Stimme sagen. »Schicken Sie ihn zu mir.« Reynolds, klein und ein wenig hager, trug eine Uniform der US-Armee. Er trat vor den Schreibtisch und betupfte seine Stirn mit einem Taschentuch, obwohl es in dem Raum nicht warm war. »Draußen vor dem Tor steht ein weiterer Zivilist und erzählt uns, daß die Heuler eine – äh – neue Art des Sehens erleben«, sagte er. Radcliff deutete mit dem Finger auf den Offizier. »Falls Sie die Vorschriften vergessen haben sollten, möchte ich Sie daran erinnern, daß man solche Leute sofort der Weltpolizei zu über geben hat!« »Aber –« »Wir haben bereits darüber diskutiert, Colonel Reynolds. Ihre Regierung erkennt in solchen Fällen die Autorität der ISB an.« »Ich würde dem Mann am Tor gern ein paar Fragen stellen«, sagte Reynolds entschlossen. »Das ist Sache der Sicherheitsbehörde!« Reynolds straffte seinen Oberkörper und schob das Kinn vor. »Ich habe mich bereits mit diesem Mann unterhalten«, konterte er. »Er führte namentlich alle Utensilien auf, die ich in der Tasche hatte. Er wußte sogar, daß ich einen Metallnagel im
Oberschenkel habe.« Ein atemloses Schweigen breitete sich in dem Raum aus. Unangemeldet trat ein weiterer Offizier ein. Er war groß, schon älter, und trug auf jedem Schulterstück einen Silberstern. Seine Erscheinung entsprach der militärischen Tradition, nur das Päckchen mit dem Injektionszubehör hob sich deutlich unter dem Stoff seiner Uniformjacke ab. »Was gibt's, Colonel Reynolds?« fragte er. Radcliff übernahm die Antwort und sagte: »Reynolds hat ei nen Zivilisten festgenommen und möchte ihn selbst verhören.« »Stimmt das, Colonel?« »Jawohl, General Munston.« »Sie sind sich doch darüber im klaren, daß Sie damit störend in die Angelegenheiten der Sicherheitsbehörde eingreifen?« »Ich würde gern noch in andere Angelegenheiten eingrei fen!« platzte Reynolds heraus. »Wir sitzen nur da und warten, bis es der Sicherheitsbehörde und der Raumfahrtabteilung einfällt, uns ein Kommando zu geben!« »Laut Vertrag liegen gewisse Dinge in den Händen interna tionaler Organisationen«, erinnerte ihn der General. »Wie dem auch sei« – er schien nachzugeben –, »warum sollten wir den Mann am Tor verhören?« »Weil ich glaube, was er mir bereits gesagt hat!« »Ausgezeichnet, Colonel«, sagte der General. »Ich stehe hin ter Ihnen, und der Vertrag soll verdammt sein. Gehen wir und hören ihn uns an.« Sie waren noch nicht lange weg, als im Korridor laute Schreie ertönten. Schließlich kehrte General Munston zurück. Die offene Klappe seiner Injektionstasche verriet, daß er die Spritze
benutzt hatte. »Ist das nicht ein Pech?« sagte er. »Colonel Reynolds hat e ben einen Heuleranfall bekommen und mußte zur Isolierstation gebracht werden.« Radcliff schüttelte den Kopf und murmelte: »Das ist wirklich ein Pech …« Als sie Gregson an jenem Nachmittag im Wachgebäude einge sperrt hatten, wartete er immer noch auf den Augenblick, in dem er sich außer Reichweite des Raultabfängers befand. Dann konnte er zylphen und vielleicht den gegenwärtigen Aufenthalt von Helen und Bill erfahren. Aber das Stygum war undurch dringlich. Er ging in seiner Zelle auf und ab und dachte intensiv nach. War er erst einmal an Bord der Vega-Startbasis, dann konnte er keinerlei Informationen von Radcliff und den anderen zylphen. Nicht im Mittelpunkt eines Stygumfeldes von ungefähr zwan zigtausend Meilen. Er setzte sich auf die Kante seiner Pritsche, preßte die Hand flächen zusammen und fragte sich, ob er eine Zusammenarbeit mit der Verschwörung verantworten konnte. Es war eine Ver schwörung, die mächtiger war als alles, was er in der Welt gekannt hatte. Er dachte an den brutal ermordeten Mann in London, an die Leiche von Simmons im Teich zu Versailles, an die Frau, die aus dem Fenster der Isolierstation in Rom gestürzt war. Auch das Schicksal Colonel Reynolds' schien ungewiß zu sein. Dann dachte er an Helen und Bill, die Geiseln der Sicher heitsbehörde waren, und an die Milliarden Menschen, die bald
der Heulerplage zum Opfer fallen würden, falls der Raultabfän ger an Bord des Satelliten nicht seinen Zweck erfüllte. Er hatte keine Wahl – auch nicht, wenn die Valorianer selbstloser Opfer fähig waren. Denn waren sie vor der Allmacht der Sicherheits behörde nicht hilflos? Selbst wenn sie einer neuen Heulerwelle von unbekanntem Ausmaß vorbeugen wollten, konnten sie es jetzt, wo ihr Sender zerstört worden war, nicht mehr tun. Gregson sah ein, daß es von größter Wichtigkeit war, sofort ein weltweites Stygumfeld zu schaffen, so daß die Heulerplage endete.
15 Die Vega-Startbasis erinnerte an einen riesigen Pfannkuchen, der in der Stille des Weltraums um seine knotenförmige Nabe rotierte. Ihre Konstruktion erinnerte an ein Rad mit acht Spei chen, die die Nabe mit dem Radkranz verbanden. In diesen Speichen befanden sich die Wohnquartiere, Werkstätten und Büros. Der ganze Pfannkuchen hatte einen Durchmesser von sechshundert Fuß. Umfuhr man diesen Kranz mit einem Elek trokarren, so hatte man, wieder am Ausgangspunkt angekom men, über anderthalb Meilen zurückgelegt. Im äußeren Rad kranz befanden sich Irisblenden und Luftschleusen, an denen die Spitzen der Pendelschiffe ansetzen konnten, und Stabilisie rungsdüsen. Im Außenring befanden sich die ›besseren‹ Wohnquartiere,
eine Stadt im kleinen. Kommandozentrale, Lebenskontrollsy stem, Schwerkraftmanagement, Sendeanlage, Erholungszen trum, Versammlungsräume, Eßräume und ein Miniaturpark mit Swimmingpool mit dem Sonnenlicht entsprechender Strahlung. Gregson hielt sich im Augenblick im Schwerkraftmanage ment auf und stand vor einem ungefähr zwanzig Fuß langen Schaltbrett. Dahinter standen zwei Männer, die nach seinen Anweisungen Messungen vornahmen. »Noch eine Drehung nach rechts sollte genügen«, sagte er. Ein Zeiger bewegte sich infolge einer leichten Zunahme der Schwerkraft, als die Umdrehungsdüsen zu arbeiten begannen und die Station kaum merklich rascher um ihre Achse rotieren ließen. Die Männer kamen hinter der Schaltanlage hervor und assi stierten Gregson. »Das wär's«, sagte er und warf einen Blick auf die Kontroll zeiger und -lichter. »Alles läuft jetzt vollautomatisch.« »Vor einigen Tagen, kurz vor Ihrem Eintreffen, war hier der Teufel los«, sagte einer der Männer. »Ich denke, wir hatten manchmal nur ein Viertel der Schwerkraft.« »Das liegt daran«, meinte der andere, »weil alle schweren Ausrüstungsgegenstände in die Kontradrehung verlagert wur den.« Gregson heuchelte Aufmerksamkeit, als die Peripherierake ten kaum vernehmbar zu vibrieren begannen. Doch in Wirk lichkeit versuchte er, eine Raultstrahlung wahrzunehmen. Aber das Stygum war erdrückend, beengend. Wo konnte der Supe rabfänger versteckt sein?
Wenn er ihn erreichen und eine Möglichkeit finden konnte, ihn abzuschalten, dann konnte er zylphen und herausfinden, ob sich Helen und deren Onkel irgendwo an Bord befanden. Ein Beamter der Weltpolizei betrat das Schwerkraftmanage ment und kam auf Gregson zu. »Haben Sie hier alles erledigt?« Auch dieser Mann war mit einem Lasergewehr bewaffnet, dessen Selektor auf ›Breitspur‹ geschaltet war, so daß die Waffe keine direkt tödliche, sondern eher betäubende Wirkung hatte. Gregson nickte. »Dann werden Sie jetzt in der Kommandozentrale ge wünscht«, sagte der Mann. Gregson fuhr mit seinem Karren langsam den Korridor ent lang, blickte in die Seitengänge, starrte verschlossene Türen an oder durch Glaswände, die Erholungszentren und Eßräume voneinander trennten. Irgendwo an Bord mußte ein gewaltiger Raultabfänger installiert worden sein. Er wußte nicht, wie groß er war, aber bestimmt mußte er zu erkennen sein – wenn nicht an seinem Aussehen, so doch durch die Aktivität, die von ihm ausgehen mußte, wenn ein neuer Satz Generatoren eingebaut wurde, um seine Leistung zu erhöhen. Gregson sah den Posten, der ihn nicht aus den Augen ließ, und wußte, daß sich so bald keine Gelegenheit bieten würde, nach dem Superabfänger zu suchen. Seit über einer Woche stand er an Bord der Station unter ständiger Beobachtung. Er sah eine Gruppe Leute in Zivil und Uniformen aus einem Versammlungsraum kommen. Ein großer, vornehm aussehender Mann, der eine bemerkenswerte korrekte Haltung hatte, führte die Gruppe an.
Gregson brachte sein Fahrzeug zum Stillstand, ließ die Leute an sich vorübergehen und sah sich den Mann gründlich aus nächster Nähe an. Der Posten holte auf und sagte: »Alles wichtige Leute, Greg son.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Prozession. »Nur deshalb wichtig, weil sie ihren Weg nach oben gezylpht haben.« »Sehen Sie den großen, grauhaarigen Mann? Das ist Stanley Heath.« »Ich habe ihn schon gestern gesehen.« Der Posten schüttelte mißbilligend den Kopf. »Und Sie wa ren nicht einmal über die Begegnung mit dem Präsidenten Ihres Landes erbaut?« Die Prozession war vorbeigezogen. Gregson drehte sich nach einem kräftig aussehenden Mann um, der mit ungelenken Schritten ging und ein elektronisches Hörgerät ans Ohr hielt, um zu verstehen, was die beiden Frauen in seiner Nähe sagten. »Kennen Sie den?« fragte der Posten, Gregsons Blick folgend. »Nein.« Gregson hatte den Mann gestern an Bord kommen sehen. Radcliff hatte seinetwegen viel Aufhebens gemacht. »Das ist Sergilow Baranowsky«, sagte der Posten beein druckt. »Der Premier der Sowjetunion.« Als Gregson in die Kommandozentrale trat, stand Radcliff vor einer Reihe von Bildschirmen und beobachtete die sich der Station nähernden Pendelschiffe. Neben dem Direktor stand ein breitschultriger Mann mit eher groben Gesichtszügen. Er trug eine Uniform der Raumfahrtabteilung und auf jeder Schulter klappe fünf Sterne.
Radcliff rief Gregson näher und sagte: »Das ist General For rester, Kommandierender der Raumfahrtabteilung. Sie unter stehen seinem Kommando, sobald wir die Vega-Startbasis in die Umlaufbahn von zweitausend Meilen gebracht haben.« Niemand nahm diese Vorstellung zur Kenntnis. »Ich sehe, Sie haben unseren Umdrehungsausgleich korrekt stabilisiert«, sagte Forrester. »Er hat auch in den anderen Systemen wahre Wunder voll bracht«, bestätigte Radcliff. »Natürlich gibt es immer noch etwas zu tun, aber das hat Zeit bis zu dem Augenblick, in dem wir die neue Umlaufbahn eingeschlagen haben.« »Wird dieser Wechsel schwierig sein?« wollte Forrester wis sen. »Nicht besonders.« Gregson nahm in einem Beobachtungs sessel Platz. »Geschieht das vollautomatisch?« fragte Radcliff. Gregson nickte. »Die Steuerung muß manuell beaufsichtigt werden, doch ausschlaggebend ist das automatische Kontrollsy stem.« »Kennen Sie sich darin aus?« fragte Forrester skeptisch. »Ich bin auf dem Gebiet der Antriebskontrolle ausgebildet worden.« »Ist das automatische System einsatzfähig?« »Praktisch ja. Eine Folge der Justierungen, die wir im Schwerkraftmanagement vorgenommen haben. Es müssen noch weitere Kontrollen vorgenommen werden.« Forrester krauste die Stirn, und Gregson nahm darum an, daß er seine Position eher seinen hypersensitiven als techni schen Qualifikationen verdankte.
»Was hat das Schwerkraftmanagement damit zu tun?« fragte der General. Geduldig erklärte Gregson: »Schwerkraftmanagement und Drehkontrolle sind im Prinzip dasselbe.« Es war offensichtlich, daß Forrester ein bißchen Rault her beiwünschte, um die Antworten auf seine Fragen zu zylphen. Dann hätte er sich nicht nach den Einzelheiten zu erkundigen brauchen. Der General wandte sich an Radcliff und sagte: »Sie scheinen den richtigen Mann für diesen Job zu haben, Weldon.« »Davon bin ich überzeugt. Und er arbeitet willig.« »Zylphpotential?« »Noch nicht sehr stark. Aber er hat gerade die Schwelle über schritten. Noch einige Zeit, dann wird er genausogut zylphen wie wir.« Dann sah Radcliff Gregson an. »Ehrlich gesagt, wir brauchen Sie und würden Sie gern auf unserer Seite sehen – freiwillig.« »Sie haben meine Zusage«, erklärte Gregson. »Nicht so sehr wegen der beiden Geiseln, aber –« »Wenn nicht wegen der Geiseln, Mr. Gregson«, warf der Ge neral ein, »warum helfen Sie uns dann?« Es war Radcliff, der mit einem belustigenden Lächeln ant wortete: »Weil er weiß, daß es an der Zeit ist, die Erde unter den Einfluß des Raultabfängers auf der VSB zu bringen, um die Heulerplage zu stoppen. Er wird, so sehe ich es, unserer Mei nung sein, bis alles erledigt ist. Und anschließend wird er – sollen wir es melodramatisch formulieren? – alles tun, was in seinen Kräften steht, um der Sicherheitsbehörde Hindernisse in den Weg zu legen. Ist das richtig, Greg?«
Gregson sagte nichts. »In diesem Fall«, fuhr Radcliff witzig fort, »werde ich etwas unternehmen müssen, um Mr. Gregson zu besänftigen. Und auf diesem Gebiet wurde bereits etwas unternommen. Sie werden am Swimming-pool erwartet, Greg.« Gregson fuhr mit dem Elektrokarren zum Park. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Radcliff genügend Menschlichkeit besaß, Helen freizulassen. Aber es war möglich. Eine Geisel, die sich in den Räumlichkeiten eines Satelliten ungehindert bewegen konnte, büßte keineswegs ihren Wert ein. Er bog in den Park ein und stellte den Elektrokarren neben einem eingetopften Baum ab, auf dessen Blättern Wassertrop fen glitzerten. Er ging um ein Blumenbeet herum und blieb auf der mit Fliesen ausgelegten Terrasse stehen, die den Swimming pool umrandete. Ungefähr dreißig Personen schwammen im Wasser herum oder sonnten sich in Liegestühlen. Mehr als die Hälfte aller Personen waren Frauen. Sein Blick bewegte sich von einer Badenixe zur anderen. Dann entdeckte er sie. Sie lag mit ihrem Gesicht nach unten, trug ein zweiteiliges Badetrikot und hatte ihren Kopf mit einem Handtuch bedeckt. Sie war es! Er eilte auf sie zu und kniete neben ihr nieder. »Helen!« »Hallo, Greg!« Sie hatte ihn anscheinend erwartet. Aber ihre Stimme war zu tief, um Helen zu gehören! Karen Rakaar richtete sich lächelnd auf und sagte, nach sei ner Hand greifend: »Großes Treffen der ehemaligen Studenten von Versailles, was?« Gregson konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Das
Erinnerungsbild von Helen verschwand nur langsam. »Ich war wirklich angenehm überrascht, zu hören, daß Sie Versailles nicht auf die gleiche Weise wie Simmons verlassen haben«, sagte sie lebhaft. »Ich bin nicht hier, weil ich gern hier sein möchte.« »Ich verstehe. Aber vielleicht überlegen Sie es sich anders, nicht wahr?« Sie veränderte ihre Lage und zog ihre formvollen deten Beine an. Diese leicht sinnlichen Bewegungen waren so herausfordernd wie ihr fleischfarbenes Badetrikot. »Oh, Greg«, sagte sie mit einem kurzen Kopfschütteln, »denken Sie doch endlich praktisch!« »Sollen Sie mir zu dieser praktischen Denkweise verhelfen?« »Nun ja.« Sie griff nach seinem Arm und drückte ihn an sich. »Das mit der Praxis wäre keine schlechte Idee … Sie müssen wissen daß Sie für die Sicherheitsbehörde sehr wertvoll sind. Für Ihre wichtigen Dienste könnten Sie – vorausgesetzt, Sie leisten diese Dienste freiwillig – einen entsprechenden Preis verlangen.« Sie rückte ein wenig näher an ihn heran. »Für uns, Greg, könnte es Utopia sein. Uns beide trennt nicht die Barriere der Hypersensitivität. Wir sind beide Meister, beide Zylpher.« Sie war offenbar in alle Einzelheiten eingeweiht worden, wenn sie nicht schon selbst alles gezylpht hatte. Er blickte auf sie herab und mußte zugeben, daß sie sehr attraktiv aussah. Ihre Augen waren wie das Blau des Swimming-pools; ihre Lippen verrieten Heiterkeit und Sinn für leidenschaftliche Gefühle. Sie stand auf, um sich abzutrocknen. Gregson mußte an eine aus Marmor gemeißelte griechische Statue denken. Ermutigt durch sein anerkennendes Starren, blickte sie auf ihre Armbanduhr. »Oh, es ist schon Zeit zum Essen! Ich habe
mich sofort angezogen. Übrigens sagte Radcliff, Sie hätten heute abend nichts mehr zu tun. Wie wär's mit einem Cocktail – oder zwei? Dann essen wir, und anschließend – nun, Sie können ja einen Vorschlag machen.« Er sagte nichts, aber sie sah in seinem Schweigen eine Bestä tigung, drückte ihm flüchtig die Hand und versprach: »Ich bin sofort wieder da.« Er betrachtete ihre langen Beine, als sie mit elastischen Schritten davonging. Zweifellos hatte er keine sehr günstigen Karten. Solange sie ihn beobachteten, konnte er Helen und ihrem Onkel ohnehin nicht helfen. Aber was würde geschehen, wenn er so reagierte, wie sie es von ihm erhofften? Zwischen Einverständnis und Gewissensbissen schwankend, wartete er auf Karen. Und als sie gemeinsam den Park verlie ßen, stellte er fest, daß er zum erstenmal, seitdem er an Bord der VSB gekommen war, nicht bewacht wurde. Entweder hatte Karen sich geirrt oder ihm bewußt die Unwahr heit gesagt, jedenfalls wurde nichts aus seinem freien Abend. Als sie gegessen, sich in ihr Zimmer zurückzogen, leise Musik angeschaltet und Drinks gemixt hatten, klopfte jemand an die Tür. Sie sind genau über unsere Taktik unterrichtet, dachte Gregson, als draußen eine Stimme sagte: »Ich wußte, daß Sie hier sind. Sie werden im Peripherie-Hörsaal B verlangt.« Karen hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. »Ich stelle die Drinks kalt.« Hörsaal B, dessen Fußboden sanft in zwei Richtungen abfiel, war nur spärlich erleuchtet, weil er auch als Beobachtungsabtei lung diente. Durch die transparente Decke war jetzt die nacht
dunkle, doch im Mondlicht gebadete Halbkugel der Erde zu sehen. Sie erinnerte an einen riesigen Opal, umgeben von Diamantensplittern. Gregson blieb abwartend im Hintergrund stehen. Alles in allem waren fünfzig Personen versammelt, überwiegend Män ner. Radcliff, von zwei bewaffneten Posten flankiert, stand auf dem Podium und beugte sich über das Rednerpult. » … und nach der Schließung der Isolierstationen wird die Weltpolizei im Rahmen einer militärischen Aushebung –« Der Sowjetpremier Baranowsky unterbrach ihn mit der Fra ge: »Wie lange wird es dauern, bis wir in der Lage sind, zur Offensive gegen die orientalische Machtstruktur überzugehen?« »In wenigen Wochen. Wir kennen noch nicht die Stärke der Opposition. Aber wir werden vorbereitet sein.« »Und die Zylpher in Peking?« fragte eine Stimme mit Ox ford-Akzent »Werden sie sich unserer Organisation anschlie ßen?« »Möglich, Herr Premierminister. Natürlich sind sie nicht an nähernd so gut organisiert wie wir. Aber sie werden ihr Gebiet kontrollieren. Um so leichter werden wir ihnen den Rang streitig machen können. Das ist besser, als ihre Machtposition zum Einsturz zu bringen.« Als keine weiteren Fragen gestellt wurden, fügte Radcliff hin zu: »Das wäre dann alles – bis zu unserer morgigen ersten strategischen Sitzung.« Als die Zuhörer den Raum verließen, deutete Radcliff Greg son an, auf das Podium zu kommen. »Wie Sie sehen, Greg, haben wir endlich alles organisiert. Ich hoffe, die Überraschung, die ich für Sie arrangiert hatte, war für
Sie keine Enttäuschung.« »Tun Sie alles, um den Gehilfen zufriedenzustellen?« »Wenn Sie das so nennen wollen. Doch soviel ich weiß, hat Karen eine Schwäche für Sie.« »Und was wird sie bekommen?« »Die Niederlande. Aber es könnte noch mehr sein – für Ka ren und Sie.« Gregson tat, als denke er nach, und sagte: »Karen ist zweifel los ein sehr hübsches Mädchen.« Radcliff lächelte. »Ich hatte gehofft, daß Sie dieser Meinung sein würden Nun, übermorgen lichten wir die Anker und schweben auf unsere Zweitausend-Meilen-Umlaufbahn zu. Können Sie das Antriebssystem bis zu diesem Zeitpunkt start klar machen?« »Leicht. Innerhalb von zwei Stunden kann ich meine Kon trollen beendet haben.« »Ausgezeichnet.« »Produziert der Raultabfänger an Bord genügend Stygum?« »Wir erzeugen jetzt eine raultfreie Sphäre von vierzehntau send Meilen Radius. Erledigen Sie Ihre Arbeit, dann werden die Heuler innerhalb von wenigen Tagen nicht mehr heulen – und das wird immer so bleiben.« Es war ungefähr drei Uhr morgens – die Vega-Startbasis durch querte auf ihrer Umlaufbahn den Erdschatten –, als Gregson Karens Kopf sanft von seiner Schulter schob und einschlief. Aber sein Schlummer war nicht traumlos. Denn bald schien er wie ein Gott durch die Weiten des galaktischen Raumes zu schweben; die Sterne der Milchstraße umgaben ihn wie ein
funkelnder Krönungsmantel; er fühlte sich eins mit der gesam ten kosmischen Schöpfung. Es gab Augenblicke, in denen er alle Geheimnisse des Universums zu kennen glaubte. Er kannte alle Sterne, deren Größen und Entfernungen, ihre absoluten Höhen, Frequenzen und Strahlungsfelder. Es war sein erster Traum mit Hyperwahrnehmung … Und in diesem Traum war er in der Lage, die Hyperstrahlung zu zylphen, hinter deren Glanz selbst die Sterne verblaßten. In Chandeen sah er den Juwel aller Juwelen, welcher der von ihm beherrschten Galaxis Sinn und Bedeutung verlieh. Die Harmonie, die Chandeen über jedes Atom in seinem Be reich verströmte, wurde nur von der Gegenwart der Stygumbra der Hyperdunkelheit gestört, die Millionen von Sternen und Meteoritenschwärmen verschluckte. Am äußersten Rand dieses Schattens erkannte Gregson die Sonne und deren Planetenfami lie, als sie nach Jahrtausenden stygumbraischer Dunkelheit ihrer Taufe durch das Rault entgegentrieben. Wieder wechselte seine Perspektive von der kosmischen auf die weltliche Ebene über. Er sah das neben ihm schlafende Mädchen, das seine so deutlich zylphbaren Träume eines Uto pia träumte, in dem sie eine majestätische Macht ausübte. Gregson hob seinen Kopf und erkannte plötzlich, daß er über haupt nicht träumte. Er war wach, war die ganze Zeit wach gewesen! Der starke Abfänger an Bord der VSB hatte versagt, seine Stygumsphäre war zusammengebrochen.
16
Er horchte auf die emsige Aktivität verratenden Geräusche, die durch die Schotts der VSB drangen. Verwundert nahm er auf der Bettkante Platz und merkte nicht, daß Karen sich bewegte, bevor sie in einen noch tieferen Schlummer zurücksank. Er konzentrierte sich auf Hyperwahrnehmung und fand sei ne Aufmerksamkeit auf die ferne Erde gelenkt. Er sah die ge krümmten Linien der Magnetfelder wie Finger aus kaltem Feuer nach den Stromkreisen der VSB greifen. Die helle und dunkle Halbkugel der Erde vermischte sich mit kosmischen Einflüssen. Er konnte nicht die Energieballungen elektrischer Felder übersehen, die die Lage jeder Metropole kennzeichneten. Und er erkannte die Hyperausstrahlungen der Verzweiflung, als die Erde unerbittlich aus dem Bereich des Stygumbras getragen wurde und zusätzliche Tausende ihren ersten schreck lichen Heulerkrampf durchlebten, weil sie die Raultsensivität erfaßt hatte. Dann zylphte er abrupt die Station selbst. Jeden Korridor, jedes Abteil, jede Spannung der elektronischen Instrumente, jeden Riegel, jeden Bolzen und jedes Metallblättchen, die indi viduellen Komponente der Arbeitssysteme und deren Maschi nen. So überwältigend war dieser Ansturm sensibler Wahr nehmungen, daß er nicht hoffen konnte, sie jemals auf einen Nenner zu bringen. Das Bild wechselte – er zylphte jetzt nur die wirbelnden Luft ströme, die durch das Ventilationssystem der Station rasten. Es war, als habe man ein Schema vor ihm ausgebreitet; er erkannte
jeden Filter, jedes Ventil, jeden chemischen Arbeitsvorgang, alle Rohre und Leitungen. Und da waren Hunderte von Personen an Bord der VSB – viele schliefen noch, andere tasteten mit ihren Sinnen in dem zusammengebrochenen Abfängerfeld herum. Gregson stellte mit Erleichterung fest, daß sie zu beschäftigt waren, um zu bemerken, daß ein aufmerksamer Zylpher ihre Aktionen ver folgte. Er empfing das schwache, pulsierende Feld des die Nabe der Station umgebenden Stygums und wußte, wo sich der Superab fänger befand. Es war nur allzu logisch, daß der Stygumgenera tor sich in der Mitte der VSB befinden mußte, denn dort war die Zentrifugalkraft auf ein Minimum reduziert und das Sicher heitsproblem weniger aktuell. Er nahm die Gelegenheit wahr, herauszufinden, ob Helen und ihr Onkel an Bord seien. Gespannt zylphte er von Abteilung zu Abteilung, nahm gan ze Sektionen des peripherischen Ringes in sich auf und durch suchte alles noch ein zweites und drittes Mal. Mittlerweile hatte das Stygumfeld die Nabe erreicht, blähte sieh auf und fiel zusammen wie ein monströses Meeresunge heuer, das an Land gespült worden war und seinen letzten Atemzug gemacht hatte. Schließlich gab er sich mit dem Wissen zufrieden, daß Helen und Bill sich nirgendwo im Zylphbereich aufhielten. Waren sie dennoch an Bord, dann nur im Mittelpunkt der Station, wo der Raultabfänger installiert war. Abrupt bewegte sich das Stygumfeld nach außen, hüllte die ganze Station ein und ließ Gregson ohne Hyperwahrnehmung zurück. Dann brach es plötzlich wieder zusammen. Doch nun
spürte er, daß jemand sein Interesse erwecken wollte – jemand in einer optisch dunklen Abteilung im Außenring des periphe rischen Korridors. Er spürte das Zupfen an seinem Bewußtsein wie ein Tippen auf die Schulter. Es war, als sei er die einzige sehende Person in einem gewal tigen, mit blinden Personen gefülltem Raum und als habe ihm eine dieser Personen zugeblinzelt. Er wollte sich von dieser störenden Empfindung abwenden, konzentrierte sich dann aber auf das dunkle, mit Kisten vollgepfropfte Abteil. Er sah eine verschlossene Tür und dahinter Andelia, die Valorianerin. Verzweiflung und Furcht umgaben sie. Aber nach außen hin wirkte sie ruhig, als sie sich gegen eine Kiste lehnte und seine direkte Aufmerksamkeit erwiderte. Dann konnte er ihre Ge danken lesen. ›Sie müssen nicht tun, was man Ihnen sagt, Gregson‹, schien sie ihn verzweifelt zu warnen. Ihre Gefühle erreichten ihn mit einer derartigen Klarheit und Aufrichtigkeit, daß er sie unmög lich länger verdächtigen konnte. Denn die Hyperstrahlung war wie ein alles enthüllendes Licht, ein heiliges Feuer, das bis auf den Grund der Seele drang. ›Der Abfänger darf nicht benutzt werden‹, bat sie. ›Wir müs sen uns weigern, ihnen zu helfen!‹ ›Aber ich kann es nicht!‹ dachte er unwillkürlich. ›Ich weiß, daß es schrecklich ist, der Erde den Schutz des Raul tabfängers zu versagen. Aber wir müssen es tun – wenigstens für einige Zeit!‹ ›Doch innerhalb von wenigen Tagen haben sich Millionen zu Tode geheult!‹ ›Es bleibt keine andere Wahl! Wir arbeiten an einem Plan –
Wellford und zwei Seniormitglieder der valorianischen Expediti on.‹ ›Was ist das für ein Plan?‹ ›Nur drei von ihnen wissen es. Darum kann die ISB nicht viel erfahren, wenn einer von uns in ihre Hände gerät!‹ ›Wie sollen wir helfen können, wenn wir nicht einmal wissen, was vorgeht?‹ ›Was immer sie planen, es muß mit der unmittelbaren Zu kunft zu tun haben!‹ ›Wenn sie die VSB in die neue Umlaufbahn gebracht haben?‹ ›Vielleicht schon früher!‹ ›Dann müssen wir die weitere Entwicklung aufhalten, bis Wellford und die anderen in Aktion treten können?‹ ›So ist es‹, dachte Andelia. ›Und alle Hindernisse, die wir der Sicherheitsbehörde in den Weg legen, können von entscheidender Bedeutung sein!‹ Hypervisuell betrachtete er Andelia einen Augenblick. Ihre Aufrichtigkeit war sehr eindrucksvoll und zwingend. Er bereu te, daß er an Wellford und den Valorianern gezweifelt hatte. ›Ja, wir verstehen‹, versicherte ihm Andelia. ›Wir haben spä ter begriffen, daß wir selbst für Ihr Mißtrauen in der Burg ver antwortlich waren. Aber wir wußten nicht, wie sorgfältig Sie sich auf uns vorbereitet hatten.‹ ›Die Valorianer – haben sie keine hypnotischen Fähigkeiten?‹ ›Nein, Gregson, nichts dergleichen.‹ ›Was kann ich tun?‹ ›Sie können darauf achten, daß die Station ihre Umlaufbahn nicht früher verläßt, bis wir zum Handeln bereit sind.‹
›Aber begreifen Sie denn nicht? Ich bin nicht frei, kann also auch nicht tun, was ich gern möchte! Sie haben –‹ Abrupt zogen sich seine kommunikativen Gedanken zurück, denn wieder wölbte sich die Stygumsphäre, diesmal mit ent schiedener Gewalt. Zwei Stunden später saß Gregson noch immer auf der Bett kante, während Karen Rakaar an seiner Seite schlief. Er hatte Andelia noch viele Fragen zu stellen. Vielleicht wußte sie sogar, ob Helen und Bill sich im Zentrum der Station aufhielten. Doch er spürte, daß der Defekt am Abfänger beseitigt wor den war. Wollte er von Andelia weitere Informationen haben, mußte er sich mündlich mit ihr unterhalten. Als im Korridor leise der 0800-Summer ertönte, ging er in die Bar, um einen Kaffee zu trinken. Dann kehrte er wieder in Karens Zimmer zurück, um den Schlaf nachzuholen, den er in der Nacht ver säumt hatte. Als er vier Stunden später mit Karen im Speisesaal saß, war sie in einer ungewöhnlich guten Stimmung. Ihr sorgfältig frisiertes brünettes Haar war festgesteckt, damit es nicht von der Be schleunigung und den zentrifugalen Schwankungen zerzaust werden konnte, wenn die VSB in eine andere Umlaufbahn überwechselte. Ihre Augen, immer herausfordernd, waren besonders gewinnend, wenn sie gelegentlich zu ihm aufblickte. »Mach einfach mit, Greg«, bat sie ihn. »Wie ich schon sagte, du kannst den Preis bestimmen.« Ich muß Andelia sehen, dachte er. Aber wie? Karen legte ihre schlanke, wohlmanikürte Hand auf seinen Unterarm. »Weißt du denn nicht, daß Radcliff dich dringend
braucht, Greg? Wenn du die Manöver der VSB unter den Bedingungen des totalen Stygums beaufsichtigst, erweist du ihm einen Dienst, den er für Geld nicht kaufen kann.« Er tat, als dächte er über ihren Vorschlag nach, und er war froh, daß der Raultabfänger in Betrieb war und seine Gedanken abschirmte. Andererseits war er auf das Rault angewiesen, um Andelias Gedanken zylphen zu können. »Vielleicht kann ich es so einrichten, daß ich ständig an Bord bleibe«, sagte sie ernst. Doch Gregson rekonstruierte im Geiste das System der Ven tilationsschächte, die er während der Störung des Abfängers gezylpht hatte. Wie er sich entsann, befand sich das Einlaßgitter in der Nähe des Swimming-pools, verborgen hinter einem Strauch. Keine zweihundert Fuß weiter war der gleiche Schacht mit einem anderen verbunden, der in den Lagerraum führte, wo die Valorianerin eingesperrt war. »Und die VSB wird bald ein wenig mehr sein als nur eine Behausung des Raultabfängers«, fuhr Karen fort. »Er wird vielmehr ein Sitz der Autorität sein, später vergrößert werden und eine luxuriöse –« Radcliff tauchte unerwartet am Tisch auf und sprach lä chelnd: »Ich störe doch hoffentlich nicht?« Karen lächelte zunächst Gregson und dann den Direktor an. »Oh, durchaus nicht«, sagte sie. Radcliff nahm Platz. »Ich habe Sie heute morgen in den Tag hinein leben lassen«, sagte er zu Gregson, »damit Sie ein wenig Energie speichern können. Morgen abend werden wir in unsere Zweitausend-Meilen-Umlaufbahn einschwenken. Bis zu diesem Zeitpunkt haben Sie noch eine Menge zu tun.«
Gregson war überrascht. »Sie wollen tiefer gehen, obwohl –« Er sprach den letzten Satz nicht zu Ende, hätte aber schon früher aufhören sollen. Radcliff wölbte eine Augenbraue. »Oh, Sie wissen, daß der Raultabfänger Schwierigkeiten machte? Haben Sie gezylpht, was geschehen ist?« »Schwierigkeiten?« fragte Karen verwundert. »Nein«, log Gregson. »Ich hörte heute morgen nur so etwas. Wir haben die ganze Sache verschlafen.« »Was haben wir verschlafen?« wollte Karen wissen. »Unser Abfänger war heute früh fast drei Stunden außer Be trieb«, erklärte der Direktor. »Etwas Ernstes?« »O nein. Wir schlossen unsere sämtlichen Stygumgenerato ren an und überspannten prompt den Bogen. Das Feld brach zusammen.« »Aber jetzt ist doch alles wieder in Ordnung?« »Alles. Wir haben zwei zusätzliche Krafteinheiten mit auto matischem Ausgleich installiert. Derartige Schwierigkeiten werden nicht mehr vorkommen. Bis zum Zeitpunkt unseres transorbitalen Manövers wird die Anlage einem Test von drei ßig Stunden unterworfen.« Er blickte auf die Uhr. »Die Flitter wochen sind vorbei. Es wird Zeit, daß Sie Ihre Kontrollen an unserem Antriebssystem vornehmen, Greg. Ich habe der Kom mandozentrale die erforderliche Mannschaft zugeteilt.« Weil Gregson für den Rest des Tages vollauf von seiner Arbeit in Anspruch genommen wurde, hatte er nur abends einige Minuten für sich allein.
Zweimal war er im Laufe des Nachmittags an dem Lager raum vorbeigekommen, in dem Andelia festgehalten wurde. Weil er sich stets in Begleitung von Technikern befand, hatte er es vermieden, die Tür auch nur anzusehen. Am frühen Abend – er gab Anweisungen zur Entleerung des Swimming-pools – hatte er einen Blick auf den hinter Sträuchern verborgenen Ventilationseinlaß geworfen. Alles war so, wie er es gezylpht hatte. Das Gitter war von vier Schrauben festgehalten, die man leicht herausdrehen konnte. Anschließend beaufsichtigte er das Tanken der vorderen und hinteren Drehkontrolldüsen. Dann erteilte er zwei Gruppen den Auftrag, alle lockeren Gegenstände an Bord zu sichern und sämtliche Betten mit Beschleunigungsschutzdecken auszustat ten. Nachdem er die Acht-Uhr-Schicht eingeteilt und Radcliffs Kompliment: »Bis jetzt ein guter Job!« abgewehrt hatte, gab er bekannt, daß er zum Essen gehen wolle. Er ging auf den Speiseraum zu, blieb stehen, um sich zu ver gewissern, daß ihn im Korridor niemand beobachtete, und trat dann rasch in die jetzt verlassene Miniaturparkanlage. Die vier Schrauben des Ventilationsgitters hatte er rasch her ausgedreht. Dann kroch er in den Schacht und richtete sich nach den übersinnlichen Eindrücken, die er von diesem System gewonnen hatte. Er entdeckte die zum Lagerraum führende Öffnung, rief An delias Namen und stieß mit den Füßen das Gitter weg. Er glitt in den Lagerraum hinunter und fand die Valorianerin auf dem gleichen Platz, an dem er sie in der vergangenen Nacht geistig wahrgenommen hatte. »Ich wußte, daß Sie durch den Ventilationsschacht kommen
würden«, sagte sie. »Aber ich hatte nicht einmal daran gedacht!« »Vielleicht nicht bewußt.« »Morgen wollen wir die VSB in die Zweitausend-MeilenUmlaufbahn lenken«, erklärte er. »Ich weiß. Man hat es mir erzählt.« »Ich habe alle Vorbereitungen getroffen.« »Dann haben Sie beschlossen, alle Befehle auszuführen?« »Ja.« Er spreizte hilflos die Hände. »Man kann nicht so ein fach gegen Radcliff anrennen. Sie müssen wissen, daß er zwei Geiseln hat.« Sie senkte den Blick und murmelte: »Eine Person bedeutet ihnen sehr viel …« »Beide.« »Aber erkennen Sie denn nicht –?« Sie sprach den Satz nicht zu Ende und blickte zur Seite. »Ich wollte sagen, daß es sich lediglich um zwei Personen handelt.« »Ich kann zählen«, sagte er verärgert. »Sind sie an Bord der VSB?« »Ich weiß es nicht. Wenn sie an Bord sind, dann im Mittel punkt der Station. Ich glaube nicht, daß ich Ihnen einen Vor wurf machen kann, wenn Sie beschlossen haben, diese Men schen zu schützen.« »Ich habe mich noch nicht entschieden – nicht endgültig. Ich weiß, was auf dem Spiel steht. Und die VSB wird ihre Umlauf bahn nicht planmäßig verlassen.« Ein anerkennendes Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Dann wollen Sie das Manöver verzögern?« »Ich werde mir in letzter Minute etwas einfallen lassen. Es
wird überzeugend wirken, so daß ich eine gute Ausrede habe.« Sie trat in eine Nische neben der Tür. »Wenn Sie nur fliehen könnten! Dann wären sie nicht in der Lage, die Station in eine andere Umlaufbahn zu lenken.« »Ich könnte ja doch nicht weg – solange sie Helen und Bill haben.« »Sie haben ein Pendelschiff an Bord. Wenn sich das Schiff in der Schleuse befindet und Ihre beiden Freunde in der Nähe sind –« Andelia starrte die Tür an. Ein Schlüssel wurde herumge dreht. Gregson versteckte sich hinter einer Kiste. Die Tür öffnete sich. Ein Posten trat ein und zog die Tür hin ter sich zu. Er hatte Gregson den Rücken zugekehrt und stand der Valorianerin gegenüber. »Radcliff hält Sie für überflüssig, und ich soll etwas dagegen tun.« Der rötliche Blitz seiner Laserpistole erhellte für den Bruch teil einer Sekunde das Zwielicht des Raumes. Andelia stürzte nach vorn, wobei sie nach der Wunde griff, die der Laserstrahl in ihre Zwillingsherzen gebohrt hatte. Gregson war wütend auf sich selbst, weil er nicht mit einer derartigen Wendung gerechnet hatte. Impulsiv sprang er auf den Posten los und schickte ihn mit einem gefährlichen Nak kenschlag zu Boden. Während der Mann sich unter der lähmenden Wirkung die ses Hiebes auf dem Boden krümmte, hob Gregson die Laserpi stole auf und ließ deren Strahl kreuz und quer über den Körper des Postens gleiten. Die tödliche Ladung war schon schwächer
geworden, als Gregson erkannte, daß er lediglich die Feuerkraft der Waffe verringerte. Er steckte die Laserpistole ein und trat auf den Korridor hinaus. Er konnte den Wünschen des Direktors nicht mehr entge genkommen. Wenn die beiden Leichen entdeckt wurden, dann würde sich der Verdacht ausschließlich auf ihn konzentrieren. Er mußte handeln – sofort. Er hatte herauszufinden, ob Helen und Bill sich in der Nabe der Station befanden und wie stark sie bewacht wurden. Weiterhin mußte er feststellen, ob sich ein Pendelschiff in der Schleuse befand. Er ging auf den nächsten Liftschacht zu. Er stieg die Leiter zur Nabe hinunter, prüfte den Span nungsmesser der Laserpistole und stellte fest, daß deren Strahl keine tödliche Wirkung mehr haben würde. Gregsons Schwer kraft verringerte sich langsam, bis nur die berechnete allmähli che Beschleunigung des Lifts seine Füße auf dem Boden hielt. Als das rote Licht aufblitzte, griff er nach dem Umstellungshe bel. Der Lift verlangsamte seine Fahrt; Gregsons Körper be schrieb eine halbe Drehung, dann berührten seine Füße die Decke. Der Lift hielt. Die Tür glitt auf. Gregson stieß sich ab, schwebte in den peripherischen Korridor der Nabe hinein und auf den nächsten Eingang zu. Hinter einer Biegung prallte er mit dem schwebenden Körper eines Postens zusammen, der anscheinend einem tödlichen Laserstrahl zum Opfer gefallen war. Vorsichtig hangelte Gregson sich von einem Pfosten zum anderen, bis er den Eingang erreicht hatte. Drinnen war die Beleuchtung nur spärlich. Strukturträger warfen breite Schatten
gegen die zylindrischen Wände. Durch das halboffene Schott einer Luftschleuse konnte er die schlanke Nase eines Pendel schiffs sehen. Der Rumpf war mit radarimpulsabsorbierenden Scheiben bestückt. Und dann sah er den Raultabfänger der Station – eine gewal tige Konzentration elektronischer Geräte mit Leitungsdrähten und Führungskabeln, die an einen Energiespeicher angeschlos sen waren. Drei Männer schwebten im schwerelosen Zustand um den Generator herum. Sie hatten Schreibblöcke in der Hand, prüften die Aggregate und machten gelegentlich Notizen oder Skizzen. Gregson hangelte sich an einem T-Träger näher an die Män ner heran. Aber seine Schulter stieß gegen eine schwebende Laserpistole, die er nicht bemerkt hatte. Die Waffe prallte ab und schepperte gegen einen Pfosten. Sofort wirbelten die drei Männer herum. Der nächste Mann war Wellford, der blitz schnell reagierte. Wellford feuerte eine Laserpistole ab. Er hatte genau gezielt …
17 Sirenen heulten in der Vega-Startbasis, als Luken zuschlugen und die Sektion abriegelten, deren Luftleck den Alarm ausgelöst hatte. Wenig später ging ein Zittern durch die ganze Station. Die Drehkontrolldüsen schalteten sich ein, um den zentrifuga len Ausgleich konstant zu halten. Aber es dauerte eine halbe
Stunde, bis nähere Einzelheiten durchsickerten. Radcliff prüfte die Beobachtungsschirme. Ein Telesensor, eine Meile von der Vega-Startbasis entfernt, schickte Fotos eines klaffenden Lecks im Außenring. Schließlich gab der Lautsprecher bekannt: »Zerstörung be schränkt sich auf Pendelschiffkontrolle. Die ganze Sektion vernichtet.« »Meteor?« fragte Radcliff. »Kaum. Wahrscheinlich ein Geschoß.« Eine andere Station meldete: »Pendelschiff SC-142 wird ver mißt!« Kurz darauf: »Der Bewacher des Raultabfängers wurde umgebracht!« »Nach Gregson suchen!« befahl Radcliff allen Stationen. »So fort zu mir bringen!« Doch alle Stationen gaben bekannt, daß Gregson nirgendwo zu finden sei. Dann plötzlich: »Schlingerndes Wrack – zweitausend Meilen – in Wiederein trittsflugbahn! Sieht aus wie SC-142!« Radcliff konnte sich denken, was geschehen war: Gregson hatte einen Raumanzug gefunden, den Wächter niedergeschla gen, sich in das Pendelschiff gezwängt und es durch die VegaStartbasis in den Raum hinausschießen lassen … Als Gregson aus tiefer Bewußtlosigkeit erwachte, tastete er mit einer Hand nach seinem schmerzenden Kopf. »Wirklich, Greg, das wird allmählich langweilig – Sie zu be täuben und zu warten, bis Sie wieder aufwachen, meine ich.« Wellford saß breitbeinig auf einem Stuhl und hatte die Arme hinter der Lehne verschränkt.
Gregson lag auf dem Fußboden und betrachtete die rohen Holzwände. Das Licht sickerte durch die Vorhangschlitze. »Wenn Sie zu zylphen versuchen –«, setzte Wellford an. »Ich weiß«, spottete Gregson. »Sie haben mich schon ge zylpht. Aber seitdem wird der Bezirk von einem Raultabfänger geschützt.« »Das stimmt. Oder es stimmt beinahe. Wir haben individuel le Abfänger für jede Person, jede Struktur, jeden Ausrüstungs gegenstand. Ihren Raultabfänger finden Sie in der Rocktasche.« Gregson starrte aus dem Fenster. Überall Bäume, dazwischen kleinere Lichtungen. Weiter im Hintergrund sah er Berge, hier und dort waren Hütten. Er sah Tarnnetze an den Stellen, wo das Laubwerk dünn war. Dann entdeckte er auch drei Pendelschiffe der Raumfahrtabteilung – zwei davon glitzerten wie Silber, das andere war pechschwarz und mit einer Anzahl Radarantennen ausgestattet. »Wo sind wir hier?« fragte er. »Ich glaube nicht, daß man Ihnen die Antwort vorenthalten sollte. Wir sind in den österreichischen Alpen.« Gregson stand fluchend auf. »Ich bin ein verdammter Narr. In der Burg dachte ich, Sie wären den Valorianern hörig und –« »Ich kann mich in Ihre Gefühle versetzen. Tut mir leid, Ih nen all diese fragwürdigen Umstände gemacht zu haben. Natür lich bedauere ich mein Versehen. Und ich habe gezylpht, daß Sie auch Ihre Irrtümer erkannt haben.« »Ein Irrtum von mir kostete uns Andelia.« »Ja, ich weiß. Aber dafür sind wir in gewissem Sinne alle ver antwortlich.«
Gregson trat ans Fenster. »Andelia nahm an, Sie würden eine Generaloffensive ausarbeiten.« »Das haben wir auch getan. Und Sie haben uns beachtlich geholfen, indem Sie sich von uns aus der VSB holen ließen.« »Warum habe ich Ihnen geholfen?« »Heute abend sollte die Station in eine tiefere Umlaufbahn gebracht werden. Das gab uns nicht genügend Zeit zum Han deln. Doch nun können sie ihr Manöver vorerst nicht starten, und wir haben Zeit bis zu unserm nächsten Unternehmen.« »Was für ein Unternehmen?« Der Engländer zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Tut mir leid, aber das kann ich nicht ausplaudern. Warum nicht, das hat Andelia erklärt.« Gregson hatte Verständnis, daß man ihn bei der strategi schen Planung ausgeklammert hatte. Er schien die Angewohn heit zu haben, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Aber Wellford legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sie brauchen sich nicht ausgeschlossen zu fühlen. Sagen wir mal so: Jetzt sind Sie wieder unter uns und werden in unserem Plan eine maßgebliche Rolle spielen.« Ein Valorianer erschien im Türrahmen und deutete auf ei nen Berggipfel. »Remanu hat soeben gezylpht, da sich das Schiff der Raumfahrtabteilung in einer niedrigen Umlaufbahn befin det.« »Sehr gut«, sagte der Engländer. »Er soll sein Zylphen auf ein Minimum herabsetzen. Und sorgen Sie dafür, daß alles abge schirmt wird.« Als der Valorianer gegangen war, deutete Gregson auf eines der drei Raumschiffe.
»Sie planen anscheinend einen Angriff auf die VSB. Aber glauben Sie nicht, daß Radcliff – nach Ihrem gestrigen Überfall – darauf vorbereitet ist?« »Ich wäre sehr überrascht, wenn er wüßte, daß wir uns hier aufhalten. Wir haben uns den Abfänger lediglich angesehen. Und was Ihre Entführung betrifft, so haben wir uns einfach eines der verankerten Schiffe geschnappt.« Wellford erklärte, wie sich alles abgespielt hatte. »Und was Radcliffs Standpunkt betrifft, so sind Sie der Mörder der beiden Posten und ein Märtyrer von eigenen Gnaden.« Gregson mußte sich über Wellfords Sorgfalt und Geschick lichkeit wundern. »Haben Sie in der Burg senden können?« fragte er. »Wir stellten den Sender fertig. Die Suchantenne funktio nierte einwandfrei Dann landete auch schon der Gleiter der Sicherheitsbehörde. Immerhin konnten wir die Meldung noch aufgeben, bevor die Burg zerstört wurde.« »Wenn ich recht verstanden habe, wird eine bewaffnete valo rianische Streitmacht eingreifen.« »Nein. Sie werden sich nicht einmischen. Die Regierungs neubildung ist unsere eigene Angelegenheit.« »Was war denn der Zweck dieser Meldung?« »Wir wollten wissen, ob wir – nach der Niederschlagung der Verschwörung – mit technischem Personal und Hilfsmitteln rechnen könnten, um unsere Kliniken auszustatten und unsere Leute in eine schmerzlose Raultsensitivität versetzen zu kön nen.« Wellford schwieg kurze Zeit und fügte hinzu: »Und weil davon die Rede ist, scheinen Sie noch immer skeptisch zu sein. Ich spreche von der Fähigkeit der Valorianer, eine durch
schnittliche Person innerhalb von drei Wochen durch die Heulerkrankheit zu bringen.« Gregson schüttelte langsam den Kopf. »Das kann man nicht so einfach glauben. Sie und ich, wir haben schließlich beide zwei Jahre in der Isolierstation verbracht. Und sagten Sie nicht einmal, Ihnen wäre noch kein Fall bekannt, der erfolgreich behandelt worden sei?« »Das stimmt. Aber ich hatte seit Wochen keinen Kontakt mit unserer Basis.« »Dann gibt es Leute, die in dieser kurzen Zeit gesund wur den?« »Eine ganze Reihe.« Ein dumpfes Geräusch kündete einen Langstreckengleiter an, der auf einer Lichtung landete, keine hundert Meter vom Fen ster entfernt. Der Pilot und zwei Passagiere kamen die Rampe herunter. Einer der Männer, stämmig und schon älter, tastete sich am Geländer entlang und hatte eine Hand auf die Schulter der ihm vorausgehenden jungen Frau gelegt. Gregson beugte sich unwillkürlich vor. Helen und ihr Onkel! Wellford lachte belustigt. »Sie sehen, daß Radcliff sie niemals festgenommen hatte. Er wußte, daß Sie keinerlei Informationen über ihren Aufenthalt hatten. Zumindest konnte er behaupten, daß sie seine Gefangenen wären.« »Aber wie –?« »Auch die Valorianer suchten Leute, die sich selber mit dem Hyperwahrnehmungsvermögen vertraut gemacht hatten. So fanden sie vor einem knappen Monat Forsythe und dessen Nichte.«
»Warum haben Sie mir das nicht erzählt?« »Ich erfuhr erst davon, nachdem wir die Burg geräumt hat ten.« Gregson rief den Namen Helens, winkte ihr zu und rannte zur Tür. Doch Wellford griff nach seinem Arm. »Da fällt mir ein, daß Sie sich an unsere Proklamation halten sollten, die das Zylphen verbietet.« »Wie meinen Sie das?« Der andere zückte die Achseln. »Wirklich, Sie haben sich durchaus normal benommen. Ich an Ihrer Stelle hätte wohl kaum anders gehandelt, aber …« »Wovon reden Sie eigentlich?« »Nun, ich meine die Nacht auf der Vega-Startbasis und Ka ren … Wenn Helen das zylphen sollte, wird sie bestimmt nicht ganz damit einverstanden sein.« »Oh!« Gregson öffnete die Tür, aber nicht mehr so stür misch. Dann blieb er stehen und drehte sich um. »Helen? Zylphen?« »Natürlich. Sie ist der Beweis dafür, daß die Valorianer die Behandlung innerhalb von drei Wochen durchführen können. Sie kann noch nicht perfekt zylphen, aber immerhin, so gut wie Sie oder ich.« Einen Moment später schlang Helen ihre Arme um Gregsons Hals. Er wirbelte sie einmal herum und griff nach Bills ausge streckter Hand. »Wir waren furchtbar aufgeregt, als wir heute morgen von dir hörten!« sagte Helen, besorgt sein Gesicht betrachtend. »Dann warst du also an Bord der VSB gefangen«, murmelte Forsythe. »Das war bestimmt keine schöne Zeit.«
Während Gregson eine unzulängliche Antwort gab, sagte Wellford: »Ja, Greg hat alles Mögliche mitgemacht – auch Erfahrungen gesammelt, die eigentlich nichts mit dem Pflicht bewußtsein zu tun hatten. Und so möchte auch ich kein Wort mehr darüber verlieren.« »Es muß furchtbar gewesen sein, Greg!« sagte Helen, ihn ver liebt ansehend. »Ich hoffe«, sprach Wellford weiter, »Sie werden es zu wür digen wissen, daß Greg alles nur in Ihrem Interesse unternom men und -erlebt hat.« Sie gingen auf die Hütte zu. Helen hatte Gregson unter gehakt. Sie trug eine Hose aus synthetischem Stoff. Helens blondes Haar schien weicher zu sein als der Kaschmirpullover, den sie jetzt anhatte. Sie sah sehr attraktiv aus, aber ihre Schön heit war von anderer Art als die Karens. Ein Valorianer kam aus der Hütte. Er trug ein Funkgerät. »Remanu hat hoch in der Atmosphäre drei Luftgleiter der Sicherheitsbehörde gezylpht«, meldete er. »Sie scheinen die Alpen abzukämmen.« Nach dem Essen saßen Gregson und Helen auf der Treppe der Hütte. Forsythe stand im Türrahmen und rauchte seine Pfeife. Im Zwielicht des Abends sah man Männer, die sich an dem pechschwarzen Pendelschiff zu schaffen machten. Auch an den anderen beiden Pendelschiffen wurde fieberhaft gearbeitet. Die Öffnungen in ihren schlanken, glänzenden Hüllen wurden mit schweren Laserwaffen bestückt. »Was geht da draußen vor, Greg?« fragte Forsythe. Gregson schilderte ihm die Szene. Als er fertig war, lachte
Helen und ermahnte ihren Onkel: »Wenn du daran denkst, deinen Raultabfänger auszuschalten, dann rufe ich Wellford!« »Keine Angst«, sagte er. Gregson wußte, was Zylphen für Forsythe bedeutete. Sein Blindendasein war nicht einmal unangenehm – nicht im Super licht der Hypersensitivität. Diese neue Form der Wahrnehmung war für ihn ein Gottesgeschenk. Helen legte seinen Arm in ihren. »Wie denkst du darüber?« »Wir kommen auch ohne das Hyperwahrnehmungsvermö gen aus«, sagte Gregson. »Ich bin ganz deiner Meinung, Greg«, murmelte Forsythe, »aber nur, wenn du an eine endlose Folge von Krieg und Verbrechen denkst.« »Wie meinst du das, Bill?« Helen blickte in seine Augen und antwortete: »Siehst du nicht, was die Raultsensitivität wirklich bedeutet? Keiner wird mehr vor dem anderen sicher sein. Jedes Gehirn und alle Ge danken darin sind der Neugier anderer Menschen preisgegeben. Der harmloseste Gedanke ist kein Privateigentum mehr. Es kann weder Lügen noch Geheimnisse oder Verrat geben.« Gregson erinnerte sich an seinen Lehrmeister in Versailles, der einmal philosophiert hatte, daß es in einer Gesellschaft, in der jeder zylphen könne, keine Zuflucht für private Gedanken gäbe. »Es wird eine andere Welt sein«, sagte er. »Wir müssen ler nen, uns gegenseitig anzupassen, tolerant und hilfsbereit zu sein.« Wellford kam von dem schwarzen Pendelschiff und setzte einen Fuß auf die untere Treppenstufe. »Gestern ist es mir nicht
aufgefallen, Greg, aber können Sie mir etwas über die Kommu nikationen der VSB mit der Erde sagen? Sind alle Verbindungs systeme in Ordnung?« Gregson nickte. »Ich habe sie in der vergangenen Woche überprüft.« »Dann ist das offenbar ein wichtiger Teil von Radcliffs Stra tegie.« »Ein sehr wichtiger Teil. Erstens das Ende der Heulerplage. Zweitens eine weltweite militärische Konsolidierung. Drittens läßt die Verschwörung ihre Maske fallen und benutzt die irdi schen Kommunikationen als Stimme der Autorität.« Plötzlich hörte man das ferne Geräusch eines Langstrecken gleiters, der in die Atmosphäre eintauchte. »Einer von Ihren Gleitern?« fragte Forsythe besorgt. »Nein.« Wellford horchte. Das dumpfe Dröhnen entfernte sich im trüben Zwielicht der Abenddämmerung. Später – es war ein milder, friedlicher Abend – gingen Greg son und Helen Hand in Hand auf die Lichtung im Süden der Pendelschiffe zu. Am Rand des Schattens nahm sie am Fuß eines Felsens Platz, lehnte sich mit dem Rücken dagegen, reckte die Arme und blickte zu ihm auf. Ihr Haar glitzerte im Licht der Sterne wie die Schneeflocken an jenem kalten Wintertag in Pennsylvanien. Gregson zündete eine Zigarette an. Am südwestlichen Him mel zog inmitten der Sterne ein Lichtpunkt seine Kreise – die Vega-Startbasis. Er blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. In wenigen Stunden würde die Station in den Erdschatten eintauchen. Er schob seine Hand in die Tasche, betastete das Metallge
häuse seines Raultabfängers und fühlte die Wärme der glühenden roten Birne. Er fand, daß die Nacht zu heiter war, um ein lauerndes Unheil zu verbergen, und schaltete den Apparat ab. Sofort spürte er die große Flut der Hyperstrahlung, die sich über die nähere Umgebung ergoß. Nur Helen war nicht wahr zunehmen. Obwohl sie auf dem Felsen saß und sich in unmit telbarer Nähe befand, war sie nirgendwo zu zylphen. Denn ihr Raultabfänger hüllte sie in ein Vakuum. Trotz der optischen Dunkelheit waren die Strahlungen Chandeens ungedämpft in ihrer Intensität. Er zylphte alle Einzelheiten des Waldes, jeden Baum, jedes Blatt, die schlafende Vogelwelt, die Insekten und größeren Tiere des Waldes im Dickicht. Er ließ seine Hyperwahrnehmung in kosmische Bezirke schweifen und nahm alle Sterne der Galaxis in sein Bewußtsein auf. Und jetzt zylphte er den Rand Chandeens, gleich unterhalb des visuellen Horizonts. Da war ein herrlicher, alles überwältigender Glanz, die Hyperbrillanz der Raultquelle … »Dein Raultabfänger ist ausgeschaltet, nicht wahr?« fragte Helen. Aber seine Sinne waren mit der raultgetränkten Schönheit des Kosmos beschäftigt, und so hörte er kaum, als sie sagte: »Wir haben noch nie miteinender gezylpht, nicht wahr?« Sie rückte näher an ihn heran. Plötzlich sank das sie umhüllende Stygum zurück, als sie ebenfalls ihren Raultabfänger ausschalte te. Seine Aufmerksamkeit kehrte in seine unmittelbare Umge bung zurück, und er merkte sofort, daß Helen seine Erfahrung mit Karen an Bord der Vega-Startbasis zylphte. Es war alles in
seinem Bewußtsein ausgebreitet, und sie sollte es ruhig wissen. Allerdings konnte er seine Verlegenheit nicht ganz verbergen. Aber er hatte auch keinen Grund dazu. Helen war nicht nur tolerant, sie begriff auch, daß ihm die Flucht von der VSB niemals geglückt wäre, hätte er nicht das Vertrauen Karens und Radcliffs gewonnen. Er griff nach ihren Schultern, ihre Haare glitten über seine Handrücken … Abrupt konzentrierte sich seine Aufmerksam keit auf die Himmelskuppel. Ein Gleiter bewegte sich langsam und im Tiefflug über die östlichen Berggipfel. Und plötzlich wußte er, daß der Pilot Helen und ihn selbst gezylpht hatte, ehe sie die Maschine noch wahrgenommen hatten. Sofort schaltete Gregson seinen Raultabfänger ein. Aber es war zu spät. Gregson griff nach Helens Hand und rannte mit dem Mädchen auf die Hütte zu. Der Gleiter dröhnte jetzt furchtbar als er die Lichtung an steuerte. Dann wurde die Dunkelheit des Waldes von den Blitzen schwerer Laserstrahlen erhellt, die die Position des Gleiters verrieten. Aber schon richteten sich vom Boden auf schießende Laserstrahlen auf die Maschine. Das Dröhnen der Antriebsaggregate verwandelte sich in ein Stottern und verstummte dann ganz. Sekundenlang war alles still. Dann hörte man eine donnernde Explosion, und der Wald wurde von einem rötlichen Lichtschein überflossen. Menschen rannten in der folgenden Dunkelheit herum, das Flutlicht blendete auf und machte die Hütten, Gleiter und Pendelschiffe sichtbar. »Greg!« rief Wellford. »Hier herüber!« Der Engländer stand auf der Rampe des schwarzen Pendel
schiffes und gab der Mannschaft der anderen beiden Schiffe das Kommando, an Bord zu gehen. Helen blieb zurück, während Gregson auf Wellford zurannte. »Das war meine Schuld«, begann er. »Ich hatte nämlich –« »Spielt keine Rolle mehr«, unterbrach ihn Wellford. »Vielleicht war es gut so. Hätten wir noch länger gewartet, wären wir möglicherweise von den Ereignissen überrollt worden.« Er hielt seine Hände an den Mund und rief: »Alles ausschwärmen! Vielleicht ist das nicht der letzte Angriff!« Gregson wollte dem Beispiel der Leute folgen, doch Wellford sagte: »Sie kommen mit mir, Greg. Wir brauchen Sie bei diesem Unternehmen.«
18 Auf halbem Weg zur Vega-Startbasis machte Wellford eine letzte Flugbahnkorrektur und stellte den Raultabfänger des Schiffes auf ein Maximum an Produktion ein. Gregson, der neben ihm saß, sagte: »Wir brauchen das Gerät jetzt nicht. Wir befinden uns im Stygumfeld der Station.« »Wir müssen die Garantie haben, daß sie nur unsere anderen beiden Pendelschiffe zylphen können, falls sie auf die Idee kommen, ihren Raultabfänger auszuschalten.« »Sie benutzen die beiden Pendelschiffe, um die Aufmerk samkeit der VSB abzulenken?« »Genau. Wir werden uns indessen wichtigeren Aufgaben
zuwenden. Kümmern Sie sich einen Augenblick um den Laden; ich schwebe mal nach vorn.« Wellford lockerte die Schnallen des Sitzes und zog sich zum Laderaum. Gregson schaltete den Teleschirm an und richtete die Senso ren nach rückwärts aus. Aber er konnte kein Schiff der ISB entdecken. Dann wußte er, woran das lag: die Pendelverkehrs kontrolle war außer Betrieb, jedes Anlagemanöver mußte manuell bewerkstelligt werden. Während die Vega-Startbasis sich im Erdschatten befand, mußten alle diesbezüglichen Ma növer unterbleiben. Hatte der Engländer das so geplant? Hatte er die Kontrolle absichtlich zerstört, so daß um diese Zeit keine Schiffe in der Nähe waren? Wellford kam wieder und sah den eingeschalteten Bild schirm. »Ich glaube nicht, daß Sie irgend etwas entdecken werden«, sagte er, auf seine Uhr blickend. »Vor fünfzehn Minuten haben unsere Erdstreitkräfte einen massiven Angriff auf die Kom mandozentrale der Raumfahrtabteilung gestartet. Natürlich soll die Basis nicht zerstört werden; denn wir wollen sie später benutzen. Doch wenn unsere Offensive Verwirrung auslöst und die Pendelschiffoperation einige Stunden lang unterbindet, sollten wir mehr als zufrieden sein.« Durch die Luke der Pforte gesehen, war die VSB nur ein Lichtpunkt, der fast unauffällig über dem stellaren Hintergrund schwebte und noch nicht in den Erdschatten eingetreten war. Wellford lehnte sich in seinem Sitz zurück und schwenkte den Bildschirm herum, so daß er ebenfalls beobachten konnte. Er drehte ihn wieder zurück, als die anderen beiden Pendel
schiffe wie silberne Splitter erschienen. »Müßte man nicht meinen, Greg, daß die Radar- und Tele sensoren des Satelliten unsere Streitmacht entdeckt haben?« »Das kann ich mir lebhaft vorstellen.« »An diesem Punkt wird die Sache ein wenig riskant. Unser Erfolg ist von den beiden Pendelschiffen abhängig. Sie müssen die totale Aufmerksamkeit auf sich lenken, so daß alle Augen und Sensoren an Bord ausschließlich auf sie gerichtet sind.« »Sieht so aus, als hätten Sie dieses Schiff gegen Radar und visuelle Entdeckung abgesichert.« »Nur während des freien Falls. Wie dem auch sei, wir kön nen nicht mehr damit rechnen, so heil davonzukommen wie gestern abend. Darum haben wir uns für einen Frontalangriff entschieden, der mit diesem Unternehmen parallel läuft.« Zehn Minuten von der Station entfernt, schaltete Wellford die Servomechanik ein. Ihre Sitze schwangen um hundertacht zig Grad herum. Die Fahrt verlangsamte sich rasch. Der Druck war so stark, daß sich ein Schleier über ihre Sinne legte. Die Treibstoffzufuhr stoppte automatisch und zu einem vorher festgesetzten Zeitpunkt. Gregson erwachte zuerst und schaltete die Sitze wieder nach vorn. Die Vega-Startbasis, jetzt von der Erde verdunkelt, war ein gewaltiger schemenhafter Ring, er leuchtet von den Laserstrahlen, die aus den peripherischen Schießscharten in die Dunkelheit stachen. Wellford erwachte ebenfalls und murmelte: »War ziemlich hart, wie?« Er starrte in Richtung des Satelliten. »Na, wenigstens zielt kein Laserstrahl in unsere Richtung. Ich glaube, wir dürfen behaupten, daß wir bis jetzt eine Menge Glück gehabt haben.« Gregson konnte jetzt das Ablenkungsmanöver beobachten.
Ein Schiff auf jeder Seite des Riesenrades. Beide feuerten aus allen Rohren, während sie gleichzeitig der schweren Laserartil lerie auszuweichen versuchten. Die Vega-Startbasis vergrößerte sich in der Sichtluke, als das Schiff auf den Ring zutrieb. Wellford verlangsamte noch ein mal, nahm eine Kurskorrektur vor, dann noch eine. Die Rück stoßdüsen arbeiteten kurz, und Gregson spürte den Druck der Sitzgurte. Schließlich steuerten sie direkt die Luke der Schleu senkammer im Zentrum der Stationsnabe an. Wellford grinste. »Wir stoßen jetzt auf den Kern des Pro blems. Als wir uns damals in Paris sahen, zylphte ich eine interessante Erfahrung, die Sie mit Madame Carnot gemacht hatten. Erinnern Sie sich?« Gregson schüttelte den Kopf. »Sie spielte Ihnen einen abscheulichen Streich«, sagte Well ford. »Als Sie es am wenigsten erwarteten, stellte sie ihren Raultwerfer auf Hochleistung ein. Was war das für ein Gefühl?« »Als ob in meinem Gehirn hundert Glühbirnen zersprän gen.« Gregson sah eines der angreifenden Schiffe. Es wurde breit seits von einem bleistiftdünnen Laserstrahl getroffen und in zwei Hälften geschnitten. Das andere Schiff zog sich weiter zurück und feuerte dafür um so heftiger. »Seitdem haben wir von den Valorianern gelernt, daß eine intensive Konzentration Hyperstrahlung auf die Gliazellen die gleiche Wirkung hat wie ein greller Lichtbogen auf die Augen.« Als Gregson nichts sagte, fuhr der Engländer fort: »Diese Blöße kann die Gliaempfangsfähigkeit vollständig und für immer zerstören. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die
Gliastruktur überall im Gehirn anzutreffen ist und jedes Neu ron umschließt. Diese Zerstörung ist nicht den Raultempfän gern allein zuzuschreiben.« Gregson versuchte, vorauszudenken, doch es glückte ihm nicht. »So?« »Was würde geschehen, wenn ein Raultabfänger – so stark, daß er im Umkreis von Tausenden von Meilen eine Sty gumsphäre erzeugen kann, statt dessen eine gleiche Menge Hyperstrahlung erzeugt?« Gregson nahm den Faden auf und sagte: »Und die ganze Verschwörungshierarchie innerhalb einer halben Meile des toten Punktes …« »Da haben Sie das Bild. Wir werden ihren Raultabfänger an zapfen und eine Parallelschaltung einbauen, die ihn in einen Raultwerfer verwandelt. Praktisch brauchen wir nur die Kri stallregler einzuschieben.« »Und diese Veränderungen wollen wir jetzt vornehmen?« Wellford nickte. »Die Parallelschaltung wird mittels eines Zeitauslösers vorgenommen. Wir haben fünfundvierzig Minu ten Zeit zum Verschwinden. Es wird einen kurzen Raultaus bruch geben – nur dreißig Sekunden. Dann schaltet sich wieder der Abfänger ein. Es wird interessant sein, festzustellen, welche Bedingungen anschließend an Bord der VSB herrschen.« Der Engländer gab ihm ein schematisches Diagramm. »Hier aus ist ersichtlich, was getan werden muß.« Noch ein kurzer Ruck der Antriebsdüse, dann rastete der spitze Bug des Schiffes ein. Der Irisverschluß öffnete sich, und das Schiff wurde in die Luftschleuse hineingezogen. Magnetische
Blöcke hielten es fest. Die Ankömmlinge stiegen aus, schwebten durch den Laderaum und ins Innere der Nabe des Satelliten. Sie passierten eine verwirrende Anzahl von Trägern und Stützpfo sten, deren Silhouetten im schwachen Licht der Röhren des Superabfängers zu sehen waren. »Hier!« Wellford gab Gregson eine Laserpistole. »Betäu bungsstrahl auf alles, was sich bewegt, noch ehe es Alarm schla gen kann.« Gregson blickte von einer Korridoröffnung zur anderen und prüfte jede der acht Zugangsluken. Wellford kehrte wieder ins Schiff zurück, erschien wenig später wieder und hatte einen der ersten kompakten Kristallregler unter dem Arm. Er griff nach einem der isolierten Hauptkabel und hangelte sich daran ent lang auf den Superabfänger zu. Er zog dabei eine scheinbar endlose Kette kleiner Metallkästchen hinter sich her. Als er den Raultabfänger erreicht hatte, klemmte er das erste Kästchen mit einer Haftschale in einen Winkel des Trägers. Dann zog er rasch den Rest dieser Kette aus dem Schiff und befestigte sie der Reihe nach an dem Träger. Dann kehrte er ins Schiff zurück, begann mit der zweiten und dann mit der dritten Kette. An schließend holte er noch eine Tasche mit Elektrikerwerkzeugen, einen kleinen Schaltkasten mit sechs Leitungsdrähten und das Schema des Raultabfängers. Er winkte Gregson zu und sagte: »Wenn Sie den Schalter übernehmen, bringe ich jetzt die Sa chen an.« Gregson hängte sich mit dem Ellenbogengelenk an einen Führungsdraht, so daß er den Schaltkasten und seine Laserpi stole halten konnte. Abwechselnd beobachtete er Wellford und die acht Zugangsluken.
»Da!« sagte der Engländer erleichtert. »Wir haben die Lei tungen, die angezapft werden müssen.« Dann begann er an jedem Kabel an zwei Stellen die Isolie rung abzukratzen. »Ich bringe jetzt unseren Zeitauslöser an. Er wird den Stromkreis des Raultabfängers nicht unterbrechen.« Er befestigte vier der Schaltkastendrähte an den beiden Ka beln. An den restlichen beiden Drähten befestigte er die Kette mit den Kristallreglern. Als er damit fertig war, zog er eine Drahtschere aus der Werkzeugtasche. »Jetzt brauchen wir die Kabel nur durchzuschneiden und schalten damit unseren Zeitauslöser an.« Doch in diesem Augenblick wurde Gregson von einem in das Abteil schießenden roten Laserstrahl geblendet. Er duckte sich instinktiv und feuerte. Ein Posten hielt sich an einem Griff der nächsten Luke fest. Gregsons Laserstrahl traf den Mann, ehe er die zweite Ladung abfeuern konnte. Dann schob er sich in den Korridor hinaus und stieß den leblosen Posten zur Seite. Er sah sich blitzschnell um und prüfte alle Liftanzeiger. Aber es war kein Lift in Bewegung. Wieder zurückgekehrt, sah er Wellford in halbbewußtlosem Zustand im Raum treiben. Der Laserstrahl hatte ihm offenbar einen Teil der Kopfhaut abgerissen. Gregson riß einen Streifen von seinem Hemd ab und legte ihm einen Notverband an. »Der Schaltkasten ist angeschlossen«, murmelte der Englän der. »Schneiden Sie die Kabel durch – und dann nichts wie weg von hier!« Gregson kehrte zum Raultabfänger zurück, suchte nach der Drahtschere, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Seine Laserpistole erfüllte den gleichen Zweck. Anschließend zog er Wellford ins Schiff.
Er steuerte das Pendelschiff rückwärts von der VSB weg. Nach ungefähr hundert Metern bremste er mit einem Treibstoffstoß von zehn Sekunden Dauer ab. »Das genügt«, sagte Wellford mit schmerzverzerrtem Ge sicht. »Wenn sie uns entdecken, werden sie die mittlere Abtei lung der Station inspizieren.« Es sah aus, als würde sich das Schiff immer weiter von der VSB entfernen. Die Laserbatterien des Außenringes hatten ihr Feuer eingestellt, und das zweite Pendelschiff war nicht zu sehen. Zwanzig Minuten später meinte Wellford: »Okay, drehen wir ab. Mit Spitzengeschwindigkeit sollten wir uns bis zum Rault ausbruch einige tausend Meilen entfernt haben.« Und während Gregson die Spitze des Schiffes herumlenkte, fügte Wellford hinzu: »Überzeugen wir uns, daß all unsere Raultabfänger mit voller Kraft arbeiten. Vielleicht mildert das ein wenig die Meta brillanz dieses Blitzes.« Ungefähr fünfzehn Minuten später bäumte Gregson sich in seinem Sitz auf, als seine Gliaempfänger die intensivste Hyper strahlung wahrnahmen, die er jemals gezylpht hatte. Dieses überwältigende Gefühl war ein sengender physischer Schmerz, der ihn an seine Heuleranfälle in der Isolierstation erinnerte. Er versuchte, mit seinem Willen dagegen anzukämpfen. Aber dieser Blitz war so gewaltig, daß jeder Widerstand im Keim erstickt wurde. Als diese Tortur endlich vorbei war, hing er erschöpft und lahm in seinen Sitzgurten und beobachtete Wellford, der ebenfalls aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte. Der Engländer blinzelte einige Male und murmelte: »Das war die Hölle, wie? Und nun sollten wir allmählich wieder zur
Vega-Startbasis zurückkehren. Wir waren diesem Rault ausbruch verdammt nahe. Unsere Gliaempfänger haben von dem Geschehen eine ganze Menge mitbekommen. Ich glaube, ich werde einige Jahre nicht mehr in der Lage sein, etwas zu zylphen.« Sie entdeckten den Direktor der Raumabteilung in der Kom mandozentrale. General Forrester kroch über den Fußboden und ließ eine Speichelspur zurück. Das war an Bord der VSB kein ungewöhnlicher Anblick. Einige Leute lagen auf dem Rücken, murmelten und schlugen um sich. Andere schliefen, Beine und Arme angezogen. »Wenn unser Bodenangriff den gleichen Erfolg gehabt hat«, sagte Wellford, »dann werden unsere Pendelschiffe innerhalb kurzer Zeit Hilfe bringen, so daß wir unsere Hemdsärmel hochrollen und dieses Durcheinander aufräumen können.« Im peripherischen Korridor fanden sie zwei Elektrokarren, stiegen auf und setzten ihren Weg auf diese Weise fort. Der Engländer erklärte: »Natürlich wird unsere erste Hand lung sein, die Station auf die Zweitausend-Meilen-Umlaufbahn zu bringen, um der Heulerplage ein Ende zu setzen. Dann werden wir alle Fernsehstationen benachrichtigen. Anschlie ßend wird ein raultronischer Sender gebaut, damit wir weiter hin mit den Valorianern in Verbindung bleiben können. Und dann –« Doch Gregson hörte ihm nicht zu. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf eine einsame Gestalt. Sie lag in dem breiten Korridor unter dem Wrack eines Elektrokarrens. Es war Weldon Radcliff.
Der Kopf des Direktors lag in einem merkwürdig schiefen Winkel auf den Schultern, und seine Augen blickten starr und glasig in die Unendlichkeit. ENDE